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Full text of "Mschrft Psychiat Neurol 1913 33"

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Monatsschrift 


fiir 

Psychiatrie und Neurologie. 


Herausgegeben von 


K. Bonhoeffer. 


Bd. XXXIII. 


Mit zahlreichen Abbildungen ira Text und 20 Tafoln. 



BERLIN 1913. 

VERLAG VON S. KARGER. 

KARLSTBA8SB IS. 


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A lie Rechte vorbehalten. 


Oedmokt bel Tmbenr & Lefton G. m. b. H. in Berlin SW. 09. 


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Inhalts -V erzeichnis. 


Selte 


Original-Arbeiten. 

Benedek, L., Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.520 

Berger, H., Ueber die Folgen einer voriibergehenden Unter- 
brechung der Blutzufuhr fur das Zentralnervensystem 

des Menschen .Ill 

Botten, 0. C., Pathogenese und Therapie der Epilepsie ... 119 

Bonhoeffer, K., Ueber die Beziehung der Zwangsvorstellungen 

zum Manisch-Depressiven.354 

Bregmann, L. E. und Krukowski, G., Beitrage zur Meningitis 

serosa.283 

Forster, E., Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. (Hier- 

zu Taf. XVIII—XIX) .493 

Haenisch, G., Zur diagnostischen Bedeutung des Ganserschen 

Symptoms .439 

Henneberg, R. und Westenhofer, M., Ueber asymmetrische 
Diastematomyelie vom Typus der „Vorderhom- 

abschniirung“.(Hierzu Taf. VII—X) . . . 205 

Klieneberger, O., Optikusatrophie bei Gehirnarteriosklerose. 519 

Kramer, Fr., Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem . . 500 

Kutzinski, A., Ueber die Beeinflussung des Vorstellungs- 

ablaufes durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken 78 

159, 254 

Lampe, C., Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall . . . 335 

Mendel, K., Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten . . 310 

MiiUer, V. J., Zur Kenntnis der Leitungsbahnen des psycho- 

galvanischen Reflexphanomens. (Hierzu Taf. XI) . . 235 

Ojypenheim, H., Weitere Beitrage zur Diagnose und 
Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. (Hier¬ 
zu Taf. XX).451 


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— iv — 

Seite 


Peritz, Georg, Hypophysenerkrankungen. (Hierzu Taf. XVI 

bis XVII).404 

Romagna- Manoja, A. ,Ueber cephalalgische und hemikranische 

Psychosen.294 

Roper, E., Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 5(5 


Schonhals, P., Ueber einige Falle von induziertem Irresein 40 
Schuster, Paul, Anatomischer Befund eines mit der Forsler- 
schen Operation behandelten Falles von multipier 
Sklerose nebst Bemerkungcn zur Histologie der 
multiplen Sklerose. (Hierzu Taf. XII—XV) .... 384 

Sinn, R., Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der 


Vogel. (Hierzu Taf. I—VI.) '. 1 

Sittig, Otto, Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.3(51 


Berichte. 

Bericht iiber die XVIII. Versammlung mitteldeutscher 
Psychiater und Neurologen in Halle a. S. am 26. Oktober 
1912. Referent: Dr. H. Willige in Halle.179 

Buchanzeigen . . ,. 109, 202, 279, 358, 449, 531 

Personalien . 110, 204, 282, 450 


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Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

Von 

R. SINtf 

in Neubabeteberg. 

(Hierzu Tafel I—VI und 1 Abbildung im Text,) 

Unsere Kenntnisse vom Bau des Zentralnervensystems der 
gesamten Tierwelt sind in den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche 
Arbeiten wesentlich bereichert und geklart worden. Relativ ver- 
nachlassigt wurde bisher das Zentralnervensystem der Vogel. 
Und doch bietet die Stellung der Vogel in der Tierreihe Aussiclit 
auf interessante Vergleiche mit den hoheren und niederen Wirbel- 
tierklassen. Auch ist das Material nicht schwer zu beschaffen. 
In der neueren Literatur sah ich mich fast ausschlieBlich auf die 
ausfiihrliche Arbeit von Brandis angewiesen, die heute aber als 
veraltet gelten muB. Weitere Angaben iiber das verlangerte Mark 
der Vogel fand ich in der Westfalschen Dissertation (s. Literatur- 
verzeichnis). Wallenbergs Untersuchungen, soweit sie sich auf die 
Medulla oblongata erstrecken, gelten nur einzelnen Bahnen. 
Meine eigenen Untersuchungen beschranken sich auf das Gebiet 
der Medulla oblongata bis hinauf zu den Keraen des Trigeminus. 
Sie gelten weniger den Zellen als dem Faserverlauf. Zur Verfiigung 
standen mir in Frontalserien folgende Vogelgehirne: 

1. Ibycter australis, Chimango (Falke). 

2. Ardea cinerea (Reiher). 

3. Plegadis falcinellus (Sichler). 

4. Plotus anhinga (Schlangenhalsvogel). 

5. Ente. 

6. Schwan. 

7. Athene noctua (Steinkauz). 

8. Papagei (Genus und Spezies leider nicht bekamit). 

9. Huhn (5 Wochen alt). 

10. Rhea americana (StrauB), auBerdem eine Sagittalserie 
der Ente. 

Legt man die Fiirbringer&che Einteilung zugrunde, so gehoren 
die Spezies 1—6 zu den StoBvogeln (Pelagornithes), No. 7 vertritt 
die Korakornithes, No. 8 die Psittakomithes, No. 9 die Alectoror- 
nithes, No. 10 die Rheomithes. 

Alle diese Serien wurden nach der Pafachen Methode gefarbt. 
AuBer ihnen verfiigte ich iiber eine Nisske rie vom Huhn. 

In der folgenden Beschreibung werde ich von einer fast liicken- 
losen Serie von Plotus anhinga ausgehen und dann die anderen 
Vogel, soweit sich Abweichungen ergeben, besprechen. 

MonaUsohrlft f. Psychiatric u. Neorologie. Bd. XXXIII.- Heft 1. 1 


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2 Sinn. Beit rag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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Der erste mir zur Verfiigung stehende Schnitt von Anhinga ist 
in einer Hohe gelegt, in welcher die Umformung des Riicken- 
marks zur Medulla oblongata soeben begonnen hat. Der Quer- 
schnitt hat eine quer ovale, an der ventralen Seite etwas abgeflachte 
Form. Der transversale Durchmesser betragt 3,2 mm, der dor so- 
ventrale 2,5 mm. 

Die Fissura mediana anterior schneidet tief in den Querschnitt 
ein; der Sulcus medianus posterior fehlt fast ganz. Das Septum 
medianum posterius istkaum angedeutet. Die Gliahillle ist ungleich- 
maBig, an einzelnen umschriebenen Stellen ungewohnlich stark, 
so namentlich an der vorderen lateralen Peripherie, wo sie als 
flaches, auBerst faserarmes, schon von Brandis beschriebenes 
Dreieck (a der Fig. 1 und 2) in den Querschnitt einspringt. Der 
Zentralkanal hat die Gestalt eines dorsoventral gestellten Ovals. 
Er ist in der grauen Substanz stark ventralwarts verschoben, 
so daB die intrazentrale vordere Kommissur ventralwarts vor- 
gebuchtet wird. Die Vorderhomer sind breit und kurz und er- 
strecken sich bis etwa halbwegs gegen die ventrale Peripherie. Ihr 
lateraler Rand verlauft annahernd sagittal, der mediale weicht 
ventralwarts nach auBen ab. Die dorsolaterale Ecke bildet einen 
scharf ausgepragten, nahezu rechten Winkel, dessen hinterer 
(querer) Schenkel mehr oder weniger senkrecht auf die Medianlinie 
zulauft. Der Hals des Hinterhoms ist duxch die vorspringenden 
Seitenstrange eng eingeschniirt und der von ihm und dem Vorder- 
hom gebildete sogenannte Seitenstrangwinkel ziemlich spitz. Die 
Entwicklung des Processus reticularis ist nur maBig und sein Netz- 
werk locker. An den Hinterhomem fallt auf, daB die rechte und 
linke Substantia Roland! zusammenflieBen, wie man dies ahnlicli 
bei manchen niederen Saugern und z. B. auch den Ungulaten 
sieht. Im Bereiche der Hinterhorner ist die Gliahiille diinn. An 
sie schlieBt sich als lockere, von Gliabalken durchsetzte Schicht 
die LissauerBche Randzone. Das Stratum zonale der Substantia 
Rolandi ist nicht deutlich erkennbar. GroBere Anhaufungen von 
Zellen finden sich besonders in der Spitze des Vorderhornes und 
in der Gegend des Processus reticularis. 

Im dorsalen Teile des Seitenstranggebietes zwischen Vorder- 
hom und Substantia Rolandi fallt eine mehr weniger zusammen- 
hangende graue Masse auf, deren Konturen undeutlich sind. Auf 
kaudaleren Schnitten steht sie im Zusammenhang mit dem Hinter- 
hom, in ahnlicher Weise wie das Seitenhorn mit dem Vorderhorn. 
Proximalwarts geht dieser Zusammenhang mehr und mehr verloren. 
Wir wollen diese fiir das Vogelgehirn sehr charakteristische graue 
Masse als Mittelhom (b. m.) bezeichnen. 

Wahrend die vordere intrazentrale Kommissur sehr schmal 
ist, ist die vordere weiBe Kommissur gut entwickelt. Ihre Kreu- 
zungen vollziehen sich unter ziemlich spitzem Winkel. Man sieht 
fast ausschlieBlich starke Fasern, welche in dorsalkonvexem 
Bogen aus den Vorderhomern in die Vorderstrange der anderen 
Seite hiniiberkreuzen. Einzelne Fasern verlaufen ventralwarts am 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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Rande der Fissura mediana anterior entlang. Die Mehrzahl aber 
verliert sich alsbald im Gebiete der Vordeistiange. 

Die Commissura intraccntialis posterior nimmt, da ja die 
Substantiae Rolandi zusammenflieBen, einen breiten Raum ein. 
Inmitten dieser Kommissur findet man regelmaCig ein dichteres 
Biindel feiner Fasern, welches in transversaler Richtung durcb 
sie hindurchzieht. 

Der Oollsche Kern ist in dieser Hohe schon deutlich ausgebildet. 
Man erkennt (Fig. 1 und 2) zwischen den beiden lateralen einen 
dritten medianen Kern, der sich als Keil von ansehnlicher Breite 
zwischen jene einschiebt. Balkchen grauer Substanz ziehen sich 
von den Kernen zum zentralen Grau hiniiber. Auf der einen Seite 
ist der Processus cuneatus bereits angedeutet. Das von grauer 
Masse noch freie G-ebiet der Hintei strange erscheint relativ dunkel 
gefarbt. Es liegen hier Fasern von feinem Querschnitt dicht zu- 
sammen. Noch dunkler farbt sich ein nahezu dreieckiges Feld 
KSBa+KSBd im Seitenstrang lateral von der Substantia Rolandi. 
Es handelt sich sehr wahrscheinlich um eine Kleinhirnseitenstrang- 
bahn, wahrscheinlich aber nicht nur um die dorsale ow/steigende von 
Flech8ig, sondem auch um eine a&steigende, die Friedlander (1. c., 
Sep.-Abdr., S. 19) „lateral vom Kopf des Hinterhorns“ nach Zer- 
storung des Kleinhirnkorpers bei der Taube degenerieren sah. Sie 
setzt sich nur aus feinkalibrigen, ziemlich dichten Fasern zusammen. 
Eine weitere dunkle Zone wird von einem Fasersaum an der ven- 
tralen Seite des Vorderhorns gebildet. Hier liegen zahlreiche feme 
Fasern unter solche von starkerem Kaliber eingestreut. 

Besonders hell erscheint die Gegend, welche dem ventralen 
Teil der Vorderstrange entspricht, und am hellsten in dieser Gegend 
wieder die mediale Partie. Hier erkennt man vorwiegend starke, 
aber wenig gefarbte Faserquerschnitte, daneben aber doch iiberall 
auch feinere Faserkaliber von dunlderer Farbe. In den Seiten- 
strangen ist der als Vorwall (V) bezeichnete Teil lateral vom Vorder- 
horn als deutlich abgegrenztes Gebiet auf alien Schnitten leicht 
aufzufinden. Er ist etwas heller gefarbt und auch etwas lockerer 
angeordnet als die peripheren Schichten des Seitenstranges. Die 
letzteren enthalten auBerdem starkkalibrige Fasern in groBerer 
Anzahl als jener. Von den genannten Seitenstrangteilen lassen 
sich die den Seitenstrangwinkel bildenden Partien wiedeium durch 
ihre Zusammensetzung unterscheiden. Man vermag namlich an 
diesen, was weiter cerebralwarts noch deutlicher wird, eine An- 
ordnung in m ehreren charakteristischen Schichten schon hier gut 
zu erkennen. 

Die bisher geschilderten Verhaltnisse finden sich bei alien von 
mir untersuchten Vogeln ohne wesentliche Abweichungen. 

1 mm weiter proximalwarts (Fig. 2) hat sich die Form des 
Querschnittes kaum verandert, dagegen haben seine Dimensionen 
zugenommen. Er miBt bei Anhinga dorsoventral 3,3 mm, trans¬ 
versal 4,2 mm. Die Gliahiille ist gleichmaBiger. Der Zentralkanal 
hat eine rundliche Gestalt angenommen. Man erkennt jetzt in 

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seinem Lumen meistens eine anscheinend homogene Masse, die 
mit den Wanden netzartig verbunden ist. Das Vorderhom hat sich 
stark aufgelockert und ist reicher an Fasemetzwerk geworden. 
Der Processus reticularis hat sich verdichtet; der Vorwall ist wie 
friiher deutlich erkennbar. Die dorsolaterale Ecke des Vorder- 
hornes ist jetzt mehr abgerundet. Im Seitenstrangwinkel hat sich 
durch betrachtliche Zunahme der Faserquerschnitte ein fast recht- 
eckig vorspringendes Feld entwickelt, durch welches das Hinterhorn 
von seiner Basis abgedrangt wird, und auf das ich weiter unten 
naher eingehen werde. Da von der dorsalen Peripherie sich die an- 
wachsenden Hinterstrangskerne breit zwischen die Hinterhomer 
drangen, so imponiert die Substantia Bolandi bereits als selb- 
standige abgerundete Masse, obgleich sie ventro-medial mit dem 
zentralen Grau und der Substantia Bolandi der anderen Seite noch 
in breiter Verbindung steht. Aus dem medialen Teil der Hinter- 
strange ziehen feine Faserziige im Bogen ventralwarts, wo sie sich 
bis hart an die vordere weifie Kommissur verfolgen lassen. Es 
handelt sich hier offenbar um die Fasern der medialen Schleife. 
Sehr konstant sind sodann zwei querverlaufende Ziige der Commis- 
sura intracentralis posterior, der eine am ventralen Bande der 
Substantia Bolandi, der andere etwas weiter dorsalwarts. Wahrend 
sich der erstere auBerhalb der Kommissur nicht sicher verfolgen 
laBt, sieht man den letzteren beiderseitig in die Substantia Bolandi 
hineinziehen. Er verliert sich hier zwischen den zahlreichen feinen 
Meridionalfasem, welche die Rolandosche Substanz in geraden oder 
maBig gebogenen Linien durchziehen. Es handelt sich offenbar um 
den dorsalen und mittleren Faserzug der sog. hinteren Kommissur 
der Sauger (Bamon y Cajal’s manojo posterior u. medio). Das 
ganze Gebiet der grauen Kommissur ist im iibrigen mit einem 
Netzwerk auBerst feiner Fasern angefiillt, das sich weiterhin 
kontinuierlich in das Schiitzsche Biindel verfolgen laBt. 

An Stelle des Apex ist mehr und mehr eine graue Masse ge- 
treten, welche auf der Figur 2 mit Pro bezeichnet ist und die 
wir Promontorium nennen wollen. Dieses Promontorium streckt 
sich mehr und mehr in die Lange, so daB es schlieBlich dem Kopf 
des Hinterhornes bezw. dem Kern der spinalen Quintuswurzel in 
voller Ausdehnung parallel lauft. Andeutungsweise findet es sich 
auch bei manchen Mammaliern. 

Zugleich sind die Lissauerschen Fasern in ihrem lateralen Teil 
immer sparlicher geworden. Statt ihrer findet man am Bande 
des Querschnittes peripheriewarts von dem Promontorium einen 
Saum quergeschnittener Fasern, welche allmahlich aus den Hinter- 
strangen hierher sich verlagert haben. Die Grenze zwischen diesem 
Feld und dem Hinterstrangsfeld ist auBerordentlich schwer zu 
ziehen. In diesem Faserfeld, welches zwischen Substantia Bolandi 
und Promontorium liegt, haben wir zweifellos die spinale Quintus 
wurzel vor uns. Es ergibt sich das aus cerebraleren Schnitten, 
wo man eine Umlagerung seiner Fasern lateral- und ventralwarts 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 5 


verfolgen und ihre Gruppierung um die Masse des Trigeminus- 
kerns sicher feststellen kann (vgl. Fig. 4). 

Der mediane Gollsche Kern ist nur noch sehr schmal und auf 
vielen Schnitten mit den beiden lateralen zu einer einzigen Masse 
verschmolzen. Der Burdachsche Kern hat seine starkste Aus- 
dehnung hier schon iiberschritten und ist im Abnehmen begriffen. 
Die Begrenzung der Hinterstrangskerne ist durch den Austritt 
zahlreicher Fasern verwischt. Auch gegeneinander sind sie oft 
schwer abzugrenzen. Eine ganz diffuse Anordnung fand sich bei 
Ente und Schwan. Es tauchen hier gleichzeitig im ganzen Hinter- 
strangsfeld graue Inseln auf, die sich auch auf proximaleren 
Schnitten zu eigentlichen Kernen nicht zusammenschlieBen. Man 
kann bei diesen Vogeln daher auch von einem medianen GoMschen 
Kern im engeren Sinne nicht sprechen. Doch fehlt auch bei ihnen 
ein Septum med. post, vollstandig. Bei den iibrigen Vogeln war 
der mediane Gollsche Kern deutlich ausgepragt, am starksten bei 
Chimango, am wenigsten bei Athene. Bei letzterem Vogel ist 
die zentrale graue Substanz in der Medianlinie nur zu einer Spitze 
ausgezogen. Rhea hat einen netzformigen medianen Kern. Bei 
alien Vogeln sind die lateralen Gollschen Kerne sehr gut entwickelt. 
Meist fiUlen sie schon bald nach ihrem Erscheinen den ganzen 
Gollschen Strang aus und reichen als bogenformige zerkliiftete 
Masse bis an das Promontorium. Die Abgrenzung gegen den 
Burdachschen Kernen ist nicht leicht. Man muB dazu die Kerne 
von ihrem ersten Erscheinen an Schnitt fiir Schnitt aufwarts ver¬ 
folgen. Als sicher kann gel ten, daB die Burdachschen Kerne bei 
alien Vogeln nur schwach ausgebildet sind. Ihr lateraler Teil, der 
sog. auBere Burdachsche Kern von Blumenau , ist fast immer 
auffindbar, oft aber vom medialen Teil des Piomontoriums schwer 
zu trennen. Der eigentliche Processus cuneatus fehlt der Mehrzahl 
der Vogel fast ganz. Bei Anhinga ist er eben angedeutet. Die Sub¬ 
stantia Rolandi erscheint daher steiler. Es ist auffallend, daB im 
Vergleich zu den Gollschen Kernen die Burdachschen nur maBig 
entwickelt sind, auch bei guten Fliegern wie Chimango. Ein um- 
gekehrtes Verhaltnis wiirde verstandlicher sein. Die Erklarung 
liegt wohl darin, daB das Fliegen eine Prinzipalbewegung im Sinne 
Munks ist, bei welcher die kinasthetische Anpassung keine so 
erhebliche Rolle spielt. Das Promontorium ist bei alien Vogeln 
sehr gut ausgebildet. Bei Chimango bildet es mit den GoZfechen 
Kernen einen zusammenhangenden grauen Streifen, der sich bis 
zur Medianlinie erstreckt. 

Erwahnen mochte ich noch, daB ich eine rosenkranzartige An¬ 
ordnung des medianen Gollschen Kernes, vie sie bei Hund, Katze 
und Hapale beschrieben ist (Bischoff), bei keinem der von mir unter- 
suchten Vogel feststellen konnte. 

Die absteigende Kleinhirnseitenstrangbahn (vgl. S. 3) bildet 
jetzt ein fast rechtwinkliges, sehr charakteristisches Dreieck, an 
dessen Hypotenuse sich bis zur Querschnittsperipherie die auf - 
steigende dorsale Kleinhirnseitenstrangbahn anschlieBt und dessen 


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6 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

rechter Winkel in die graue Substanz einspringt. Ein Saum von 
Fasern, der sich an KSBa medial anschlieBt, aber durch graue Ziige 
von KSBa getrennt bleibt, ist seiner Lage nach identisch mit der 
Wallenbergschen absteigenden Vestibularisbahn 1 ). Herr Wallenberg 
hatte die groBe Freundlichkeit, uns Einsicht in seine Praparate 
nehmen zu lassen. Das von ihm mit f bezeichnete Feld degenerierter 
Fasern liegt genau an der Stelle des auch von uns auf Fig. 4 mit 
f bezeichneten Feldes. 

Im Seitenstrangwinkel kann man, wie schon erwahnt, mehrere 
Schichten jetzt deutlich unterscheiden. Man sieht 1. zwischen 
Substantia Rolandi und Mittelhom einen feinkalibrigen Fasersaum. 
der der Substantia Rolandi in ihrer ganzen Breite eng anliegt und 
in dieser Hohe mehr schrag als quer getroffen ist (g). Die Fasern 
sind locker angeordnet. Kaudalwarts gehen die Schragschnitte in 
Querschnitte iiber, und ihre Abgrenzung gegen den iibrigen Seiten- 
strang verwisclit sich mehr und mehr. Auch proximalwarts geht 
die scharfe Abgrenzung des Feldes allmahlich verloren. Auf 
manchen Schnitten gewinnt man den Eindruck, als kreuzten seine 
Fasern in der intrazentralen Kommissur zur anderen Seite hiniiber. 
Ein sicheres Urteil kann man sich indessen nicht bilden. Lateral- 
warts wird der Ueberblick dadurch erschwert, daB hier auch die 
anderen Fasern des Seitenstrangsgebietes mehr schraggeschnitten 
erscheinen; 2. zwischen Mittel- und Vorderhorn ein Feld stark- 
kalibriger dichtgelagerter, quergeschnittener Fasern, das spitz- 
winklig nach dem zentralen Grau vorspringt und lateralwarts gegen 
das Seitenstranggebiet sich nicht abgrenzen laBt. Dieses von einem 
grauen Netzwerk durchzogenen Feld ist identisch mit dem Processus 
reticularis der Sauger (Pr. r.). 

Durch die vordere weiBe Kommissur kreuzen jetzt in groBerer 
Zahl starke Fasern aus dem Vorderstrang schrag hiniiber in das 
Vorderhorn der anderen Seite. Im Vorderhorn biegen sie groBten- 
teils als breites Faserbiischel ventralwarts um. Ein Teil von ihnen 
nimmt aber auch die Richtung auf die Gegend der Seitenstrange zu. 
Ventral von der vorderen Kommissur ziehen andere Fasern teils 
dicht an der Raphe, teils allmahlich von ihr abriickend im Bogen 
zur ventralen Peripherie, wo sie sich als tangentiale Fasern sammeln. 
Auf den nachsthoheren Schnitten sieht man diese Fasern in ihrem 
Verlauf sich mehr und mehr der Raphe anlegen. Sie bilden so bald 
ein kompaktes Biindel, welches mit der Raphe bis zur Peripherie 
zieht, dann lateralwarts im rechten Winkel umbiegt und sich zu- 
nachst bis zur Ursprungslinie der vorderen Wurzeln, spa ter an- 
scheinend bis an den lateralen Rand des Querschnittes verfolgen 
laBt, wo sich die Faserbiindel zwischen Inseln grauer Substanz, die 
dort auftauchen, verlieren. 

Die Vorderstrange enthalten jetzt auch in den dorsaleren 
Abschnitten starke Faserquerschnitte mit dicker Markscheide, so 

x ) Wallenberg . Ueber zentrale Ends tat ten des Nervus octavus der 
Taube. Anat. Anzeiger. Bd. 17. 1900. S. 102. 


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Sinn, Beitrag zur Kemitnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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daft die Verteilung von starken und feineren Fasern im Gesamt- 
areal der Vorderstrange gleichmaBiger erscheint. Immerhin uber- 
wiegen aber auch hier die starken Fasern noch in der ventralen 
Partie. 

Fragt man sich, inwiefem sich die eben beschriebenen 
Dekussationsfasem (Fig. 2, b) von denjenigen der Commissura 
anterior des Riickenmarks, abgesehen von ihrer groBeren Zahl, 
unterscheiden, so ergeben sich folgende Differenzen: 

1. Die Herkunft der Fasern laBt sich nicht sicher bestimmen. 
Sie lassen sich jedenfalls zum Teil nicht in das kontralaterale Vorder- 
hom verfolgen. Es ware moglich, daB sie zum Teil mit jenen Fasern 
identisch sind, die aus den Hinterstrangen stammen und an die 
vordere weiBe Kommissur herantreten. 

2. Ihr Verlauf nach der Kreuzung ist fur Kommissurenfasern 
sehr ungewohnlich. Sie ziehen entweder dicht an der Raphe ventral- 
warts oder weichen doch nur aufierordentlich wenig von der 
Raphe ab. 

3. Noch auffallender ist ihre Endigung. Sie lassen sich liber 
das Gebiet der Vorderstrange hinaus verfolgen bis zu den erwahnten 
grauen Inseln, welche wir weiterhin besprechen werden und als 
untere Olive auffassen. Ob sich Fasern in diesem Grau aufsplittern, 
ist nicht eicher zu entscheiden. 

DieDeutung diesesFaserzuges ist also nicht leicht. Am nachsten 
liegt, seinen Ursprung in den Hinterstrangskemen zu suchen, in 
ihm also eine sekundare sensible Bahn, entsprechend der medialen 
Schleife der Sauger, zu finden. Wie beschrieben, ziehen zahlreiche 
Fasern aus den Hinterstrangskemen ventralwarts konvergierend 
nach der vorderen Kommissur hin. Weiter kann man sie direkt 
nicht verfolgen. Gleichzeitig treten nun die Dekussationsfasem auf. 
In diesen die Fortsetzung der ersteren zu sehen, liegt nahe. Man 
brauchtnuranzunehmen,daBsichdieFaseminnerhalbderKommissur 
nicht nur kreuzen, sondero auch aufwarts oder abwarts in eine 
andere Horizontalebene umbiegen. Diese Vermutung drangt sich 
um so mehr auf, als sich eine andere Fortsetzung der zahlreichen 
medialen Hinterstrangsfasern nicht auffinden laBt. Zweifel werden 
dann aber durch den weiteren Verlauf erweckt, denn fur Schleifen- 
fasem ziehen die Dekussationsfasem an der ventralen Peripherie 
dann ungewohnlich weit lateralwarts. Man gewinnt mitunter den 
Eindruck, als faserten sie sich in der Olive auf oder zogen gar 
durch sie hindurch bezw. iiber sie hinaus lateralwarts. Indessen 
liegt die Moglichkeit doch nicht fern, daB bei der einfacheren und 
kleineren Bauart der Olive die Hinterstrangsfasern sich in breiterer 
und lockerer Anordnung zur Olivenzwischenschicht sammeln, 
und daB wir in denjenigen Fasern, welche sich in der Olive auf- 
zusplittem scheinen, keine Dekussationsfasem vor uns haben, 
sondem etwa Fasern einesBecAfcrewschenTractus parolivaris, dessen 
Existenz allerdings fiir die Vogel noch nicht erwiesen ist. 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


Die Moglichkeit miissen wir jedenfalls often lassen, daB diese 
Dekussationsfasern einen neuen, dem Vogelgehim eigenen Zug 
darstellen. 

Auf unserer Textfigur 2sehen wir den zuletzt beschriebenen 
Faserzug in schon etwas vermehrter Starke sowohl auf seinem Ver- 
lauf langs der Raphe als auch an der Peripherie. Hier kommen 
nun Fasern hinzu, welche denVerlauf des beschriebenen Faserzuges 
langs der Peripherie mitmachen, dann aber unter Umkreisung der 
seichten Fissura mediana anterior, also ohne in die Raphe umzu- 
biegen, in den Zug der anderen Seite hiniiberziehen (Bo.). Gleich- 
zeitig taucht in der vorderen seitlichen Ecke des Querschnittes 
lateral von den oben erwahnten grauen Inseln und zum Teil in 
Verbindung mit ihnen eine groBere zusammenhangende graue 
Masse auf. Dieselbe hat die Form eines kurzen und breiten stumpf- 
winklig gebogenen Bandes. Die Oeffnung des von ihr gebildeten 
Winkels liegt nach dem Vorderhom zu. Sein ventraler Schenkel er- 
streckt sich parallel zur ventralen Querschnittsperipherie, sein 
lateraler Schenkel parallel zur seitlichen. Der laterale Schenkel greift 
also um das Vorderhom herum und ohne scharfe Grenze auf das 
Gebiet der Seitenstrange iiber. Peripheriewarts wird diese graue 
Masse von zahlreichen und sehr dicht gelagerten Langsfasem 
umsaumt. Eine kleine Zahl zieht auch innen an ihr entlang. 
Andere ziehen nach Ueberschreitung der Medianlinie in sie hinein 
und verschwinden dort. Es laBt sich nicht mit Bestimmtheit 
entscheiden, welche von diesen Fasem dem peripheren Bogenzuge 
und welche den oben beschriebenen Dekussationsfasern zuzu- 
rechnen sind. In dieser winkligen grauen Masse und den mit ihr 
konfluierenden Inseln haben wir die untere Olive vor uns, worauf 
ich noch zuriickkomme. 

Fast in derselben Hohe wie die Olive erscheint lateral von ihr 
eine weitere aber viel diffusere Anhaufung grauer Substanz, die 
ihrer ganzen Lage nach offenbar dem Nucleus lateralis externus 
entspricht (N. 1. e. der Fig. 4). Sehr anschaulich zeigt das ein Ver- 
gleich unseres Bildes mit z. B. dem Querschnittsbild von Makropus 
rufus in Ziehens Zentralnervensystem der Monotremen und 
Marsupialier (p. 888). Proximalwarts wird die Abgrenzung des 
Nucl. lateralis schon bald recht schwierig, weil das ganze Fasergebiet 
der Seitenstrange von grauer Substanz durchsetzt erscheint. Meist 
verschiebt sich der Nucl. lateralis externus proximalwarts mehr 
nach dorsal. Ich komme weiter unten noch auf ihn zuriick. Von 
der Olive laBt er sich immer trennen. Ich halte es iibrigens fiir sehr 
wohl moglich, daB der oben erwahnte Vorwall (V, Fig. 2) als Nucleus 
lateralis intemus aufzufassen ist. 

Dicht am medialen Rande der Olive streben die ersten Biindel 
der Hypoglossuswurzel der Peripherie zu. Im Seitenstranggebiet 
ist bemerkenswert, daB die Faserbiindel der dunklen Randzone 
jetzt samtlich mehr schrag getroffen sind, und daB die Schragschnitte 
von dorsal- und medial- nach ventral- und lateralwarts gerichtet 
sind. Nach der ventralen Querschnittsperipherie zu gehen die 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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schraggeschnittenen Fasem dann mehr und mehr in langs- 
geschnittene iiber. Die Kleinhimseitenstrangbahn zeigt noch die- 
selbe intensive Farbung, hat sich aber etwas mehr nach der 
Peripherie hin zusammengezogen. Von den Fasem, welche die 
Substantia Rolandi radiar durchziehen, sieht man jetzt einen Teil 
an der medialen und ventralen Seite die Jtolandosche Substanz 
verlassen und im Bogen an ihr entlang lateralwarts ziehen. Diese 
Fasem entstammen wahrscheinlich mu- dem medialsten Teil der 
Hinterstrange. Sie dringen auf ihrem Wege durch das beschriebene 
Feld quergeschnittener Fasem (g) hindurch, welches die Rolando- 
sche Substanz ventralwarts begrenzt. In diesem Felde vermag man 
aber noch andere auBerst feine Fasern zu unterscheiden, welche in 
kurzen Schragschnitten aus der Gegend der Kleinhimseitenstrang¬ 
bahn medialwarts zu verfolgen sind und am Rande des zentralen 
Graus zur vorderen Kommissur einzubiegen scheinen. Ueber 
Ursprung und Verbleib der beiden letztgenannten Faserkategorien 
lafit sich sicherer AufschluB nicht gewinnen. 

In der Raphe kann man nach dem bisher Gesagten also ihrer 
Herkimft nach folgende Faserarten unterscheiden: 

1. Die Fasem, welche aus dem medialen Teil der Hinterstrange 
ventralwarts am lateralen Rande des zentralen Graus entlangziehen 
und in oder vielmehr oberhalb der vorderen weiBen Kommissur und 
im dorsalen Teil der Raphe kreuzen. Diese Fasern entsprechen 
wohl jedenfalls der medialen Schleifenkreuzung der plazentalen und 
aplazentalen Saugetiere. Sie finden ihre Fortsetzung wahrscheinlich 
in den beschriebenen Dekussationsfasern. 

2. Fasern, welche aus dem Kern der spinalen Trigeminuswurzel, 
und zwar vorzugsweise aus seinem medialen Abschnitt in feinen 
Biindeln hervorgehen und sich den sub 1 genannten Fasern 
ventralwarts anschlieGen. Es liegt nahe, diese Fasem als Quintus- 
anteil der Schleife aufzufassen. 

3. Fasem, welche aus dem Vorderhorn entspringen und in 
starken Biindeln in die Raphe eintreten. Die Kreuzung dieser 
Fasem ist in kaudaleren Schnitten auf das dorsalste Rapheende 
beschrankt. Weiter cerebralwarts breitet sie sich ventralwarts 
bis etwa halbwegs zur Peripherie aus. Nicht ausgeschlossen ist 
es, daB ein Teil dieser Fasem auch aus dem groben Maschenwerk 
entspringt, welches den ventralen Teil des Seitenstrangwinkels 
ausfullt, wie man z. B. bei Rhea sehr deutlich zu erkennen glaubt. 

Auf dem in der Textfigur No. 4 wiedergegebenen Schnitt 
durch eine nur wenig hohere Ebene hat der Querschnitt der Medulla 
mehr die Form eines Rechtecks mit stark abgerundeten Ecken 
angenommen. Sein dorsoventraler Durchmesser betragt jetzt 
3,5 mm, der transversale 4,8 mm. Die Fissura mediana anterior 
ist nur noch eine auBerst seichte Einbuchtung, die Gliahiille an der 
ventralen Peripherie besonders kraftig entwickelt. Die graue 
Substanz ist fast ganz auf die dorsale Querschnittshalfte be¬ 
schrankt, da die Vorderhorner sich auGerordentlich stark auf- 
gelockert haben und von ihrer Basis durch die Faserbiindel ab- 


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10 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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gegrenzt werden, welche auf ihrem Wege von den Hinterstrangen 
zur vorderen Kommissur das zentrale Grau eng umziehen. Dafiir 
nimmt die graue Substanz den dorsalen Teil des Querschnittes fast 
in seiner ganzen Ausdehnung ein, da sowohl die Substantia Bolandi 
als das Promontorium sich stark in die Breite ausgedehnt haben und 
von weiBer Substanz nur die spinale Quintuswurzel und die peri- 
pheren Faserziige aus den Hinterstrangen iibriggeblieben sind. 
Die Quintuswurzel ist eben im Begriff, ihre Verlagerung lateral- 
und ventralwarts anzutreten. Die transversalen Faserziige in der 
breiten Commissura intracentralis posterior heben sich aus dem 
dort liegenden Netzwerk nicht mehr deutlich ab, doch erkennt 
man immer noch zahlreiche quer verlaufende Einzelfasern. 

Zu beiden Seiten des weiter dorsalwarts verschobenen Zentral- 
kanals liegen am ventralen Saum der grauen Substanz in einem 
feinen Fasemnetz Anhaufungen von Zellen: der Begiim des dorsalen 
Hauptkerns des Hypoglossus (N. XII. d.). Eine andere Gruppe 
groBerer Zellen sieht man in der Gegend der Vorderhomspitze. 
Sie bilden, wie die von hier ausgehenden Wurzelfasem zeigen, den 
ventralen Nebenkem des Hypoglossus (N. XII. v.). Auch in der 
Gegend der Basis der Substantia Bolandi und in dem Grau des 
Promontoriums treten besondere Anhaufungen von Zellen auf 1 ). 

Von der stark entwickelten Baphe gehen zahlreiche Fasern 
seitlich ab, im dorsalen Teil schlagen sie eine genau laterale 
Bichtung ein, im ventralen ziehen sie bogenformig zunachst 
ventralwarts, um dann lateralwarts einzubiegen. Alle diese Fasern 
verschwinden aber nach kurzem Verlauf aus dem Gesichtsfelde, 
offenbar, weil sie schrag cerebralwarts verlaufen. Das Gebiet der 
Vorderstrange zeichnet sich durch die sehr dichte und gleichmaBige 
Anordnung seiner quergetroffenen Fasern aus. Ganz besonders 
dicht imd dabei wenig markhaltig sind in ihm diejenigen Fasern, 
welche dem zentralen Grau dicht anliegen. Diese Fasern diirften 
bereits dem hinteren Ldngsbiindel zuzurechnen sein. 

Die Bogenfasern (Bo.) an der ventralen Querschnittsperipherie 
haben sich zu einem machtigen Fasersystem entwickelt, an dem sich 
eine Beziehung znr Baphe nicht mehr konstatieren laBt. Die eng 
zusammenliegenden Fasern gehen lateralwarts aUmahlich in Quer- 
schnitte iiber und sind hier von den Bandgebieten der Seitenstrange 
nicht abgrenzbar. Sie treten auf diesem Verlauf zu der gleich- 

*) Unrichtig ist die Beschreibung. welche sich bei Kreis iiber den 
Hypoglossuskem findet. Kreis faBt den ventralen Kern richtig als Hypo- 
glossuskem auf, den dorsalen hingegen (Taf. V, m) irrtiimlich als Accessorius- 
kern. Er hat zwar auch gesehen. daB Wurzelfasem am ventralen Kem 
voriiber dorsalwarts ziehen, nimmt aber an, daB diese direkt in die Baphe 
eintreten. Solche Wurzelfasem. welche ohne Unterbrechung in einem der 
Kerne durch die Raphe kreuzen. glaube auch ich sicher beobachtet zu haben. 
Ihre Zahl ist aber sehr gering im Vergleich zu denen. die nur bis in dew Be- 
reich des dorsalen Kernes gelangen, woselbst sie offenbar entspringen. — 
Eher kame in Betracht. ob nicht etwa der ventrale Kem als Kem des 
Vorderstranges (Obersteiner) aufgefaOt werden konnte; doch spricht ein 
Vergleich mit der Oblongata der Aplacentalier auch gegen diese Auffassung. 


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S i ii n . Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 11 

seitigen Olive in diesen Ebenen in keine Beziehung. Diese hat sich 
medialwarts mehr und mehr ausgebreitet und konfluiert jetzt mit 
der Olive der anderen Seite, so daB beide, da sich gleichzeitig ihre 
Winkelung abgerundet hat, jetzt die ganze ventrale Querschnitts- 
halfte wie ein einziges bogenformiges Band durchziehen. Der in der 
Medianlinie liegende Teil des grauen Bandes charakterisiert sich 
auf hoheren Schnitten mehr und mehr als selbstandiges Kemgebilde. 
Er zieht sich nach dorsalwarts aus und grenzt sich nach den Oliven 
zu ziemlich deutlich ab, entspricht also wohl dem Saulenkem der 
Raphe. Fasemetzwerk ist im Olivengrau fast gar nicht vorhanden, 
nur in den medialen Partien, etwa in dem zwischen den beider- 
seitigen Hypoglossuswurzeln liegenden Teil, sieht man deutliche 
Faserziige in nahezu transversaler Richtung die Mitte kreuzen. Sie 
entspringen anscheinend einerseits in der Olive und gehen anderer- 
seits nach flacher Kreuzung mit den entsprechenden Fasem der 
kontralateralen Seite zum Teil in die peripheren Bogenfasem dieser 
Seite fiber. Ein anderer Teil zieht in die kontralaterale Olive 
hinein, wieder andere erwecken den bestimmten Eindruck, als 
zogen sie durch diese Olive hindurch und als Fibrae arcuatae 
intemae weiter. Ein strikter Beweis ffir eine solche Kontinuitat 
laOt sich an der Hand unserer Querschnittsbilder freilich nicht 
erbringen. 

Die Deutung dieses machtigen, ffir das Vogelgehim sehr 
charakteristischen Bogenzuges erscheint zunachst schwierig. Man 
konnte daran denken, in ihm Brfickenfasem oder auch Schleifen- 
fasern vor sich zu haben. Beides laBt sich aber bei genauerer Ver- 
folgung nicht halten. Es handelt sich vielmehr offenbar um eine 
Faserverbindung zwischen der unteren Olive und dem unteren 
Kleinhimstiel, die allerdings im Vergleich zu den niederen Saugern 
sehr stark entwickelt ist. Damit ist zugleich die Auffassung der 
bandformigen Masse als Oliva inferior festgelegt. Ich wfiBte auch 
in der Tat ffir diesen grauen Kem eine andere Deutung nicht zu 
geben. Es ist auffallend, daB Brandis ihn zwar anschaulich be- 
schreibt, aber nicht identifiziert. Seiner Lage nach stimmt er jeden- 
falls fast genau mit der der Olive mancher niederer Sauger fiberein 1 ). 
Ffir ihren einfachen Bau finden sich ebenfalls eine Reihe Analoga in 
derTierreihe,z. B. bei denReptilien. Nun ist allerdings die Lage allein 
ffir die Bestimmung der Identitat nicht ausreichend. Doch kann 
nach den Querschnittsbildem als sicher gelten, daB der als Olive 
angesprochene Kern eingeschaltet ist in ein Fasersystem zwischen 
den Hinterstrangen und dem Corpus restiforme. Es besteht also 
auch Uebereinstimmung der Verbindungsbahnen. Ich will fibrigens 
erwahnen, daB einige Autoren, wie Kreis und Schulgin, bereitswie 
ich den groBen und konstanten Kern im ventralen Teil der Medulla 
als Olive aufgefaBt haben. 


l ) Williams bildet die Olive von Fringilla domestica ab und beschreibt 
diejenige von Columba , Qans und Phoenicopterus. Seine Auffassung scheint 
mit der unsrigen ubereinzustimmen. 


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12 Sinn. Beitrag znr Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


Erwahnen mochte ich noch, daB man haufiger eine Asymmetrie 
der Oliven findet, insofern als die eine Olive groBer als die andere ist. 
Man ist aber leicht Tauschungen ausgesetzt, weil selten ein Quer- 
schnitt beide Oliven genau in gleicher Hohe durchschneiden wird. 

Etwa 500 1 1 weiter cerebral warts hat der Querschnitt besonders 
in seinem dorsolateralen Teil an Umfang zugenommen, so daB hier 
der groBte Querdurchmesser 5,4 mm betragt; der dorsoventrale 
miBt noch 3,5 mm. Der Sulcus medianus posterior stellt sich jetzt 
als breite Mulde dar. Der Wurm des Kleinhirns ist bereits ange- 
schnitten. Das zentrale Grau ist jetzt auf das dorsale Drittel des 
ganzen Querschnittes beschrankt. Dorsalwarts erreicht es nahezu 
die freie Oberflache in sehr breiter Ausdehnung. Die spinale 
Quintuswurzel sieht man hier sich ziemlich scharf lateralwarts 
wenden, um dann wieder in die reineLangsrichtung zuriickzukehren. 
Ihre Fasem erscheinen dementsprechend, soweit sie der dorsalen 
Peripherie parallel verlaufen, als flache Schragschnitte. Seitlich 
gehen sie dann ziemlich plotzlich wieder in Querschnitte iiber. Das 
Promontorium ist hier nur noch als diinner grauer Streifen erkenn- 
bar, der mehr und mehr durch kurze Faserschragschnitte aus- 
gefiillt wird, welche sich teils den oberflachlichen Fasem aus den 
Hinterstrangen zugesellen, teils aber auch den Quintusfasem sich 
anzuschlieBen scheinen. Dieser graue Streifen, die Kerne der 
Hinterstrange und das zentrale Grau bilden jetzt eine konfluierende 
und scheinbar homogene graue Masse, deren einzelne Bestandteile 
sich nicht voneinander trennen lassen. Die urspriingliche Sub¬ 
stantia Rolandi, jetzt zweifellos Kern der spinalen Quintuswurzel, 
ist zwar inzwischen weit lateralwarts geriickt, aber auch jetzt 
von dem iibrigen Grau noch nicht scharf abzugrenzen. Sie wird 
von den Fasern der Quintuswurzel bald mehr in ihrem medialen, 
bald mehr in ihrem lateralen Gebiet durchsetzt, und es werden mit- 
unter ganze Inseln durch diese Fasern von der Hauptmasse ab- 
gesprengt. Inmitten des zentralen Graus, etwa halbwegs zwischen 
Zentralkanal und dorsaler Peripherie, verlaufen jetzt wieder zwei 
starkere transversale Faserbiindel, die noch ganz der Commissura 
intracentralis posterior entsprechen und nicht iiberall scharf von¬ 
einander zu trennen sind. Wie sich spater ergibt, haben wir hier die 
sich kreuzenden Fasem (Kollateralen) des Fasciculm solitarius vor 
uns, jedenfalls in dem dorsalen Faserzuge, wahrscheinlich aber auch 
in dem ventralen (Fig. 3). Aus der Gegend der Hinterstrange 
ziehen immer noch Biindel feiner Fasern im Bogen zur vorderen 
Kommissur, doch nehmen sie jetzt nicht nur aus dem medialen und 
dem lateralsten Teil der Hinterstrange ihren Ursprung, sondem aus 
dem ganzen, den Hinterstrangen zuzurechnenden Gebiet. Nimmt 
man an, daB wie bei den niedersten Saugern so auch bei den Vogeln 
ein Teil der Pyramidenbahnen in den Hinterstrangen verlauft, so 
bestiinde die Moglichkeit, daB sich unter den zur vorderen Kom¬ 
missur ziehenden Fasern auch solche aus den Pyramidenbahnen 
befinden, ohne daB man sich iiber den weiteren Verlauf zunachst 
eine Anschauung bilden kann (s. Seite 18). Den Saum des dorsalen 


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Sinn. Beit rag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 13 


Querschnittes nehmen auch hier noch die oberflachlichen Bogen- 
fasem aus den Hinterstrangen ein, welche mehr und mehr als lange 
Schragschnitte in die Schnittebene fallen und sich als solche bis in 
das Gebiet der Kleinhirnseitenstrangbahn bezw. der Seitenstrange 
verfolgen lassen. Durch diese Fasern bricht quer ein star kesNer veil - 
biindel zur Peripherie durch, das kaudalste Wurzelbiindel desNervus 
accessorius cerebralis. Dorsal von diesem sieht man eine Gruppe von 
Zellen in die dort liegenden Fasern eingestreut, die vielleicht als 
Monakotvacher Kern aufzufassen ist. In der ventralen Querschnitts- 
halfte tritt peripher von der Olive eine weitere langliche graueMasse 
auf, und zwar zuerst in der ventrolateralen Querschnittsecke. Sie 
verlauft medialwarts im spitzen Winkel auf die Olive zu und flieBt 
auf etwas hoheren Schnitten mit ihr zusammen. Wir haben es hier 
also offenbar mit 2 Teilen ein und desselben Gebildes zu tun. Die 
Olive bildet demnach auch bei den Vogeln gewissermaBen einen 
Hohlkorper. Nur ist seine Oeffnung umgekehrt wie bei den hoheren 
Saugern lateral- und kaudalwarts gekehrt. AuBerdem reicht die 
dorsale Wand weiter kaudalwarts als die ventrale. Median warts geht 
das Grau der Olive meist ohne scharfe Grenze in den Saulenkem 
der Raphe iiber. Beide Wande senken sich mit ihrem lateralen Teil 
tiefer als mit dem medialen, so daB in aufsteigenden Querschnitten 
die lateralen Partien zuerst auftreten. Die dorsale Wand reicht 
lateralwarts nahezu doppelt so weit als die ventrale und ist im Sinne 
der Querschnittsperipherie gebogen. Dieser Bau der Olive ist bei 
alien von mir untersuchten Vogeln im wesentlichen der gleiche. 1 ) 
Scharf abgegrenzte Nebenoliven wie bei den hoheren Saugern habe 
ich beim Vogel nicht auffinden konnen. Man sieht aber haufig 
kleinere graue Inseln in losem Zusammenhang mit dem Grau der 
Olive, am konstantesten solche, welche medial von der eigentlichen 
Olivenmasse nahe an der Raphe liegen (Fig. 5). 

DieHypoglossuswurzel zieht mit ihren kaudalstenFaserbiindeln 
medial an der grauen Hauptmasse der Olive vorbei; weiter cerebral- 
warts aber, wenn sich die Blatter der Olive nach der Mittellinie zu 
einander nahem, treten sie in der Art durch die Olive hindurch, 
daB etwa ein Drittel der Olive medial und zwei Drittel lateral 
von der Hypoglossuswurzel bleiben. Die Hypoglossuswurzel erreicht 
in dieser Hohe iibrigens ihre starkste Ausdehnung. Der groBere 
Teil ihrer Fasern tritt jetzt durch den ventralen Kern hindurch 
und zieht zu dem Hauptkem im zentralen Grau. Der letztere nimmt 
proximalwarts noch eine kurze Zeit an Umfang zu. Er wird 
dann auch an der freien Oberflache des zur Rautengrube eroffneten 
Zentralkanales erkennbar. Man sieht dort 3 Vorwolbungen neben- 
einander. Die erste bildet die Seitenwand des eroffneten Zentral- 
kanals und entspricht dem Gebiete des dorsalen Hypoglossus - und 
des VctgusJcernes , doch ist der Hypoglossuskern, der am Boden 

l ) Ich mochte nach wiederholter Priifung iibrigens die Moglichkeit 
offen lassen, daB auf Fig. 5 die als ventrales Olivenblatt aufgefaBte graue 
Masse vielmehr als Nucleus lateralis extemus zu deuten ist (vgl. Fig. 4). 
Die Deutung des als N1 bezeichneten Kerns wird nur dann sehr schwierig. 


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14 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

der Rautengrube liegt, von dem des Vagus wiederum durch eine 
allerdings seichte Furche getrennt. Der zweite Hocker tritt dort 
hervor, wo die dorsale Peripherie in die laterale umbiegt. Er ent- 
spricht, wie unten noch erortert wird, dem Tuberculum cuneatum 
der Sauger, jedoch nur in seinem kapitalen Bereich. Ventral 
von diesem folgt dann der 3. Hocker, welcher der spinalen Quintus- 
wurzel entspricht und daher als Tuberculum cinereum s. Rolandi 
bezeichnet werden soil. Zwischen den beiden letzten Hockern 
treten in einer Richtung, die vom dorsalen Rapheende her lateral- 
und etwas dorsalwarts verlauft, die Wurzeln des sog. ,,seitlich 
gemischten Systems" (Accessorius cerebr., Vagus und Glosso- 
pharyngeus) zur Peripherie. Es ist beachtenswert, daB sonach der 
Austritt dieser Wurzeln ungemein weit dorsalwarts erfolgt. Durch 
sie wird das Querschnittsbild in zwei sehr ungleiche Teile zerlegt, 
einen kleinen dorsalen, vorwiegend aus grauer Substanz, und einen 
groBen ventralen, fast nur aus weiBer Substanz bestehenden Teil. 
In den ersteren dringt der mediane Spalt der Rautengrube bis nahe 
an das dorsale Rapheende vor. Der Wurm des Kleinhims ist jetzt 
in groBer Ausdehnung angeschnitten. Durch den schmalen Saum 
grauer Substanz zwischen Raphe und Ventrikelboden verlaufen 
feine Kommissurenfasem, welche das engmaschige Fasernetz des 
Hauptkemes des Hypoglossus mit dem der anderen Seite verbinden. 
Lateral und dorsal vom HypoglossuBkem erblickt man eine weitere 
graue Masse und in ihr ein sehr feines Fasernetz, den dorsalen 
Vaguskern (Fig. 5 und 6), aus dessen ventrolateraler Seite sich ein 
breiter Zug feiner, aber gut tingierter Fasern entwickelt. Diese 
ziehen groBtenteils als Vaguswurzel lateralwarts, einige aber auch, 
wie bei den Saugern, langs des Saumes der grauen Substanz zur 
Raphe. Andere wieder iiberschreiten die Vaguswurzel in spitzem 
Winkel ventrolateralwarts und gelangen sehr wenig divergierend 
geraden Zuges bis in dieGegend ventral von der spinalen Trigeminus- 
wurzel, wo sie sich in dem von diffuser grauer Substanz reich durch- 
setzten Faserfeld verlieren. Lateral vom Vaguskern sieht man 
dann inmitten der grauen Substanz eine Gruppe quer getroffener 
Faserbiindel liegen, derselben, welche auf kaudaleren Schnitten, 
wie oben beschrieben, Kollateralen zur Commissura intracentralis 
posterior abgeben und dem Fasciculus solitarius entsprechen; 
die sie umgebende graue Masse ist der Nucleus fasciculi solit. Be- 
merkenswert ist, daB bei alien Vogeln der Fasciculus solitarius 
eine sehr diffuse Anordnung zeigt. 

Das Gebiet des Tuberculum cuneatum setzt sich in dieser 
Hohe aus 2 Schichten zusammen. Die Peripherie wird von einer 
gut gefarbten Schicht quer oder schrag geschnittener Fasern ein- 
genommen, die sich wie ein breiter Saum kappenformig um die 
zweite innere Schicht legt. Diese zweite Schicht besteht wiederum 
aus 2 Feldern: a) der Faserkappe liegt ein Feld fast rein grauer 
Substanz an. In diesem sieht man, wenn man es von der Peripherie 
her nach innen mustert, mehr und mehr ein engmaschiges Fasernetz 
entstehen. Letzteres setzt sich dann weiterhin in b) ein Feld 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 15 


schwach gefarbter feiner Fasern fort, aus dem sich innere Bogen- 
fasern ventralwarts entwickeln. Dieses Feld begrenzt den Tractus 
solitarius an seiner lateralen und zum Teil auch ventralen Seite. 
Man findet in ibm immer eine Anzahl groBer Zellen. 

Man kann beobachten, wie sich die auBere Schicht aus den oben 
beschriebenen auBeren Bogenfasern des Hinterstrangsgebietes, das 
graue Feld durch Umformung und Vermehrung eines Teiles des 
Promontoriums bildet. Die Quintuswurzel liegt jetzt dicht an der 
ventralen Seite des austretenden Vagus. Ihre Kernsubstanz bildet 
auch jetzt noch kein geschlossenes Feld; man kann auf vielen 
Schnitten mehrere graue Feldchen unterscheiden, welche durch 
die Faserbiindel der spinalen Trigeminuswurzel voneinander ge- 
trennt werden. Im ventralen Querschnittsteil haben sich die Oliven 
beiderseits zu einem mehr abgerundetenFelde zusammengeschlossen, 
konfluieren aber noch miteinander und mit dem Saulenkem der 
Raphe. Dieser ist bei alien Vogeln deutlich ausgebildet. Er hat die 
Form eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Spitze etwa bis zur 
Halfte der Raphe dorsalwarts reicht. In ihm ziehen jetzt, an der 
Raphe entlang ventralwarts allmahlich sich ausbreitend, in groBer 
Zahl feine Fasern zur ventralen Peripherie (Fig. 10, p.). Hier durch- 
setzen sie die peripheren Bogenfasern und scheinen in der auBersten 
Peripherie des Querschnittes zu enden, doch sieht man sehr viele 
von ihnen noch einen kurzen lateral gerichteten Bogen beschreiben. 

Sehr zahlreich sind in dieser Schnittebene die Fibrae arcuatae 
intemae. Aus der dorsolateralen Querschnittsecke ziehen sie, 
allmahlich divergierend, im Bogen ventralwarts und schlieBlich 
rechtwinklig auf die Raphe zu. Der Quintuswurzel liegen sie nach 
innen an. Fibrae arcuatae externae fehlen hier fast ganz. 

Der in Fig. 7 wiedergegebene Schnitt zeigt im allgemeinen 
noch dieselben Verhaltnisse wie der eben beschriebene, nur wird 
hier auch das Gebiet grauer Substanz zwischen dem dorsalen Vagus- 
kern und dem Fasciculus solitarius von einem feinen lockeren 
Fasemetz durchzogen. Ein starkeres Biindel von Fasern zieht aus 
diesem Netz dicht an der medialen und ventralen Peripherie des 
Fasciculus solitarius entlang im Bogen zur austretenden Vagus- 
wurzel hin. Ihm schlieBt sich etwas weiter lateralwarts eine groBe 
Anzahl Fasern an, welche zwischen den Biindeln des Fasciculus 
solitarius selbst heraustreten, aber mit der Vaguswurzel sich 
nicht vereinigen und sich erst in nachster Nahe der Peripherie 
zu dichteren Biindeln zusammenlegen. Es ist dies wahrschein- 
lich der Nervus glossopharyngeus. Bei oberflachlicher Be- 
trachtung erscheint der Glossopharyngeus mit dem Vagus zu 
einem einzigen breiten Wurzelbundel zusammengeschlossen. Ge- 
naue Untersuchung lehrt aber, daB die Fasern des ersteren sich nur 
dicht an die Dorsalseite der Vaguswurzel anlegen und erst in 
cerebraleren Ebenen auftreten. 

Ein weiteres Biindel feiner Fasern zieht aus der Gegend, wo 
der Hauptkem des Hypoglossus und der Vaguskern aneinander 
grenzen, am unteren Rande des Hypoglossuskernes entlang oder 


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IB Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

durch ihn hindurch medialwarts und biegt nach kurzem Verlauf 
in dieser Richtung ventralwarts um. Die Bedeutung dieses Biindels 
(Fig. 7, e) ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Vielleicht handelt 
es sich um etwas eigentiimlich verlaufende Wurzelbiindel dorsaler 
Kemzellen des Hypoglossus, vielleicht auch um afferente (ge- 
kreuzte ?) Fasem des Hypoglossus- oder Vaguskerns. 

Der Vaguskem hat erheblich zu-, der Hauptkem des Hypo¬ 
glossus schon etwas abgenommen. Ueber das Verhaltnis der beiden 
Kerne bemerke ich noch folgendes: Bei einem Vergleich des Vogel- 
hirns mit einem Saugetierhirn fallt sofort auf, daB bei den Vogeln 
der Vaguskem in seinem ventralsten Teil sehr viel starker entwickelt 
ist, viel mehr groBe Zellen vom motrischen Typus enthalt und vor 
allem schon in viel distaleren Ebenen auftritt, wahrend der Haupt- 
kern des Hypoglossus, d. h. der dorsale, relativ schwach entwickelt 
ist, namentlich in den distalen Ebenen. Diese interessante Tat- 
sache hangt wohl damit zusammen, daB bei den Vogeln das hoch- 
entwickelte und den ganzen Organismus beeinflussende Atmungs- 
system und die Verdoppelung des Kehlkopfapparates (Larynx 
bronchotrachealis) eine viel ausgiebigere Innervation als bei den 
Saugern verlangt, wahrend die Zungenbewegungen entsprechend 
dem Wegfall des Kauens bei den Vogeln eine viel unbedeutendere 
Rolle spielen. Dabei ist jedoch zu bemerken, daB der groBzellige 
ventrale Teil des Vaguskemes (vgl. N. X. auf Fig. 5) vielleicht auch 
Hypoglossusfasern abgibt. Brandis z. B. (Bd. 41, Taf. 35, Fig. 5) 
spricht geradezu von einem ,,gemeinschaftlichen Vagus-Hypo- 
glossuskern“, der mit demventralenVaguskem zusammenfallen soil, 
Nur Versuche liber retrograde Degeneration konnen hieriiber eine 
definitive Aufklarung bringen. Wenn Brandis auBer seinem ge- 
mischten Kem noch einen ungemischten dorsalen Vaguskem unter- 
scheidet, der ebenfalls groBe Zellen enthalten soil (auf seinen 
Figuren mit d bezeichnet), so mochten wir demgegeniiber allerdings 
glauben, daB die Trennung von dem gemischten Kern (c) schwerlich 
scharf durchzufiihren ist. 

Die spinale Quintuswurzel erscheint jetzt infolge der dichten 
Lagerung ihrer Fasern dunkler gefarbt. Sie umschlieBt jetzt 
von lateral, ventral und dorsal ihre graue Kernmasse und ahnelt 
daher mehr dem charakteristischen Bilde, das wir bei der ganzen 
Reihe der Sauger zu sehen gewohnt sind, doch sieht man lateral von 
den Wurzelfasern immer noch zwei winzige, von der Hauptmasse 
getrennte Feldchen. Es ist bemerkenswert, daB bei den meisten 
Vogeln die Vaguswurzel in toto dorsatwarts von der spinalen 
Quintuswurzel austritt. Eine Ausnahme bildet unter den von mir 
untersuchten Gattungen nur Rhea. Bei dieser bricht ein Teil der 
Wurzelfasern durch die dorsale Halfte des Quintusfeldes hindurch. 

Von nun an verbreitert sich der Ventrikelspalt mehr und mehr 
zu einer tiefen Grube mit schmaler longitudinaler Grundfurche. 

Gleichzeitig beginnt die Mitte der Mulde, welche wir allmahlich 
aus der Fissura mediana anterior entstehen sahen, sich nach auBen 


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Sinn, Beitrag Zur Kemitnis der Medulla oblongata der Vogel. 17 

vorzuwolben. Dieser medianen Vorwolbung der ventralen Peripherie 
entspricht im Innern der Saulenkein der Raphe (N. R.). 

Dorsal von letzterem laBt sich neben der Raphe beiderseits 
sehr regelmaBig eine andere Kernmasse abgrenzen, der Nucleus 
reticularis tegmenti (N. r. t., Fig. 5) 1 ). Der Nucleus centralis inf. 
ist inkonstant. 

Im Innern des Querschnittsbildes bleibt auf langere Zeit nocli 
der starke Zug der Vaguswurzel vorherrschend. Ein Teil seiner 
Fasern zieht von der Peripherie nunmehr geradenwegs bis zum 
dorsalen Ende der Raphe und biegt dort in diese ein. Einige Fasern 
gelangen vielleicht direkt zur kontralateralen Seite hiniiber. 
Wahrend der Hauptkern des Hypoglossus rasch verschwindet, 
nimmt die Entwicklung des Fasemetzes im Vaguskem noch 
weiter zu. Eine Gliederung des Vaguskerns in einen motorischen 
und sensiblen Teil ist mir nicht gelungen. Die Fasern, welche in 
ventrolateraler Richtung vom Vaguskem gegen den Trigeminuskern 
hin verlaufen, sind vielleicht als eine sekundare Vagusbahn, mog- 
licherweise auch (Kolliker) als eine Verbindung des Vaguskernes 
mit dem Trigeminus zu deuten. 

Andere Fasern ahnlicher Richtung entstammen offenbar einem 
Kerngebilde, das ventral und medial dicht an der Quintuswurzel 
liegt. Es ist bei den meisten von mir untersuchten Vogeln vom 
Nucleus lateralis nicht leicht abzugrenzen. Am deutlichsten gelingt 
es bei Rhea (s. Fig. 11). Hier findet man einen scharf umgrenzten 
runden oder ovalen Kern, von dem dorsomedial warts ein Faser- 
bxindel (h.) schleifenformig in der Richtung auf das dorsale Raphe- 
ende hinzieht. Proximalwarts nimmt der Kern an Umfang erheblich 
zu und bildet dann bald nur mehr einen Teil des recht diffusen 
Seitenstrangkems, so daB er als selbstandiges Kerngebilde sich 
nicht mehr abgrenzen laBt. Seiner Lage und diesem Faserverlauf 
nach halte ich diesen Kern fur den Nucleus ambiguus. Ich glaube 
auch beobachtet zu haben, daB von seinen Fasern ein Teil im Bogen 
zu den Vaguswurzelfasem zieht, ein anderer Teil zum XII. Kem 
umbiegt. Der Seitenstrangkern charakterisiert sich bei den Vogeln 
in ausgesprochenem MaBe als externer Kem. Er liegt dicht an der 
Peripherie und man findet fast stets eine ihm entsprechende 
auBere Vorwolbung. Er ist voluminos, aber nicht geschlossen. 
Es gelingt nicht, von ihm einen dorsalen Teil als selbstandigen Kem 
(Nucleus lat. ext. dors. Obersteiners) abzusondern. Ein zusammen- 
hangender Nucleus lateralis internus existiert, wenn man den Vor- 
wall (S. 3) nicht als einen distalen Nucleus lateralis internus deuten 
will, bei den Vogeln nicht. Wohl aber fand ich an seiner Stelle 
Ansammlungen einzelner Zellen in der retikularen Substanz, die 

* *) Bechterew , der diese Kerne zuerst beschrieben hat. hat leider, wie 
ein Vergleich von Fig. 227 rait Figg. 103, 105 und 107 seines Hauptwerkes 
(Leitungsbahnen in Gehim und Riickenmark, Leipzig 1899) lehrt, offenbar 
unter dieser Bezeichnung sehr verschiedene Kerne zusammengeworfen. 
Der von mir oben beschriebene deekt sich wohl mit demjenigen von Fig. 105. 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 2 


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18 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


z. B. bei Chimango von auffallender GroBe waren. Sie sind wohl 
sicher dem Nucleus centralis inferior von Roller zuzurechnen. 

Die proximalsten Fasem ausdemVagus-und Glossopharyngeus- 
kem werden auf ihrem Weg zur Austrittsstelle von Bogenfasem 
gekreuzt, welche aus der dorsolateralen Querschnittsecke in 
medioventraler Richtung durch den Fasciculus solitarius durch- 
brechen und bogenformig weiter zur Raphe ziehen. Auf unseren 
Figuren sind diese Fasem, die sich spater zu einem starken Bogen- 
zuge entwickeln, mit H bezeichnet. Sie entwickeln sich aus einem 
groberen Netzwerk von Fasem, das sich an Stelle der inneren 
Faserschicht des Tuberculum cuneatum entwickelt hat und graue 
Balkchen und Inseln in sich einschlieBt. 

Proximalwarts weichen die Seitenwande der Rautengrube 
von jetzt ab rasch auseinander und dementsprechend erscheinen die 
von den Vaguskemen gebildeten Hocker weniger vorgewolbt. Der 
Sulcus medianus der Rautengrube hat sich zu einem breiten 
Graben erweitert. An Stelle des Tuberculum cuneatum ist das sehr 
stark entwickelte Tuberculum acusticum getreten, welches von dem 
Hocker des Vaguskernes durch eine leichte Einsenkung deutlich ab- 
gegrenzt ist. Auch an der ventralen Peripherie sieht man lateral 
von dem durch den Saulenkem der Raphe vorgetriebenen Hocker 
beiderseits eine starkere Vorwolbung, welche der unteren Olive ent- 
spricht, die sich durch allmahliche Verschmelzung ihrer beiden 
Wande in eine abgerundete graue Masse umgewandelt hat. 

Wie schon auf vielen Schnitten angedeutet war, ist die ventrale 
Querschnittsperipherie jetzt von einem schmalen Saum grauer 
Substanz iiberzogen, in der sich locker eingestreute quergeschnittene 
Fasem rechts und links vom Hocker des Saulenkemes zu zwei losen, 
flachen, sehr diirftigen Biindeln zusammenschlieBen, welche durch 
ihre Lage an rudimentare Pyramiden erinnem. Den XJrsprung dieser 
Faserquerschnitte hat man wahrscheinlich in denjenigen Fasem 
zu suchen, welche wir (S. 15) an der Raphe herunter etwas diver- 
gierend ventralwarts ziehen und an der auBersten Peripherie 
enden sahen (Fig. 10, p.). Fiir diesen XJrsprung spricht auch der 
Umstand, daB diese Querschnitte so kurz nach dem Erscheinen 
jener Fasem aus der Raphe zuerst auftreten. Ich nehme also an, 
daB es sich um Fasem handelt, die auf dem Wege der vorderen 
Kommissur aus den Hinter- Oder Seitenstrangen kommen, und es 
ware damit die Moglichkeit gegeben, daB es sich in der Tat um eine 
rudimentare Pyramidenbahn handelt. Durch zahlreiche Degene- 
rationsversuche (Sandberg) ist wohl einwandfrei festgestellt, daB 
bei den Vogeln die motorische Innervation der Extremitaten 
nicht auf dem Wege der Pyramidenbahnen erfolgt. Denn die er- 
zielten Degenerationen reichten nicht ins Cervikalmark hinab. Die 
motorische Innervation der Extremitaten vollzieht sich also wahr¬ 
scheinlich auf dem Wege des Tractus rubrospinalis. Dieser laBt 
sich auf unseren Querschnittsbildera nicht identifizieren, doch ist 
das Areal der Vorderstrangsfasem, in deren Gebiet wir ihn zu 
suchen haben, bei den Vogeln sehr stark entwickelt. Sind Py- 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 19 


ramidenbahnen vorhanden, so kommen diese mithin im Wesent- 
lichen nur fiir die motorischen Lftmnerven in Frage. Dann ist aber 
nicht verwunderlich, daB die Pyramidenbahnen so wenig zahl- 
reicbe und feine Fasem haben und daB ihre Kreuzung sich im 
Gegensatz zu den Saugem cerebralwarts von der Schleifenkreuzung 
vollzieht. Die definitive Entscheidung iiber diese Frage muB 
weiteren Experimentaluntersuchungen vorbehalten bleiben. 

In dieser Hohe sendet der Vaguakem noch immer ein starkes 
Buschel von Fasern radiar in die lateralen Querschnittspartien 
hinein. Zu ahnlichem Verlauf biegen jetzt sehr deutlich auch vom 
oberen Rapheende Fasern ventralwarts um und streben wenig 
auseinanderfahrend der ventralen Peripherie zu, die man sie aber 
nirgends erreichen sieht. Da medial von ihnen fast wie ein feiner 
Faserregen das schon mehrfach erwahnte Biindel p. bis an die 
ventrale Peripherie niederzieht, so ist der ganze ventral von der 
Vaguswurzel liegende Teil des Querschnittes einmal von beinahe 
konzentrisch angeordneten Bogenfasem (ventraler Bogenzug und 
Fibrae arcuatae intemae), sodann aber von radiaren Fasern ange- 
fiillt, welche die ersteren mehr oder weniger rechtwinklig kreuzen. 
Da die gesamte Faseranordnung recht locker ist, so bleiben iiberall 
weite Liicken, welche von grauer Substanz eingenommen werden. 
In dieser findet man allenthalben in ziemlichgleichmaBiger Streuung 
Biindel von quergeschnittenen Fasem. Zahlreicher und groB- 
kalibriger sieht man sie im dorsalen und pradorsalen Langsbiindel 
sowie im Gebiet des Kleinhirnstieles. 

Im dorsalen Teil des Querschnittes fallt vor allem der schon 
erwahnte Bogenzug zur Raphe ins Auge. Nach lateralwarts setzen 
sich seine Fasem zunachst anscheinend bis nahe an die Peripherie 
fort. Sie trennen hier von einem Felde quergeschnittener Biindel, 
das inmitten eines wirren Faserwerkes den Raum zwischen dem 
Bogenzuge und der Glossopharyngeuswurzel ausfiillt und das, 
■wie hier schon erwahnt werden soil, der spinalen Vestibulariswurzel 
zuzurechnen ist, ein den dorsalsten Teil des Tuberculum acusticum 
einnehmendes Gebiet ab. Dasselbe besteht aus einem regelmaBigen, 
ziemlich engmaschigen Fasemetz, dessen Maschen in die Lange ver- 
zogen erscheinen und daher spindelformig aussehen. In diese sind 
zahlreiche relativ kleine Zellen eingestreut. Wir haben hier den 
Beginn eines Akustikuskemes vor uns, den wir weiter oben seiner 
Lage und Gestalt nach als ein Homologon des Nucleus triangularis 
der Sauger erkennen werden und daher mit N. tr. bezeichnen wollen. 
Dorsolateral von diesem Kem beginnt sodann sehr bald ein rasch 
sich vergroBerndes, fast kreisrundes gemischtes Feld sich abzu- 
grenzen, in welches die Fasem des Bogenzuges einstrahlen. Die 
Zellen, welche man in dem letzteren Felde wahmimmt, imter- 
scheiden sich von denen des Triangularkernes schon in Pal-Pra- 
paraten durch ihr erheblich grofleres Volumen. Dieses Feld ist, wie 
wir spater sehen werden, die eigentliche Endstatte der Cochlearis- 
fasem und soli als der gro/izellige Cochleariskern bezeichnet werden. 
Brandis nennt ihn den groBzelligen Kern. Er kann auch als Haupt- 

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20 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


kern des Tuberculum acusticum bezeichnet werden und findet 
sich in ganz ahnlicher Lage bereits bei den Reptilien 1 ). Der Bogen- 
zug stellt offenbar eine Cochlearbahn zweiter Ordnung dar und ist, 
wie oben erwahnt, mit H bezeichnet. 

Im Gegensatz zum groBzelligen Cochleariskem ist der 
Triangularkem hier noch wenig scharf begrenzt auch nach der 
dorsalen Seite hin, wo man im Grau des Ventrikelgrundes einzelne 
Faserbiischel langs der Peripherie lateralwarts ziehen sieht. 

Proximalwarts andert sich das Querschnittsbild dorsal von der 
Vaguswurzel von jetzt ab rasch. Wahrend der Vaguskern sich zu- 
sehends erschopft und bald nur noch einen kleinen medialsten Teil 
des Hohlengraus einnimmt, schiebt sich in den ganzen iibrigen dorsal 
vomBogenzuge H verbleibenden Raum des Hohlengraus der Nucleus 
triangularis ein, indem er den Vaguskern medialwarts und den 
Fasciculus solitarius ventralwarts verdrangt. Er laBt sich vom 
Vaguskern zwar nicht immer scharf, aber doch meistens unschwer 
abtrennen, da sein Fasemetz feiner und sein Gehalt an BlutgefaBen 
reicher ist als bei jenem. Einen sicheren MaBstab fiir das Vorriicken 
des Triangularkemes nach medialwarts hat man auch an der aller- 
dings sehr seichten Furche, welche an der freien Oberflache die 
Wolbungen der Kerne trennt (s. Fig. 9). Der Triangularkem liegt 
also hier an der freien Oberflache des Ventrikels und ragt als breite 
aber niedrige Vorwolbung in ihn hinein. Er hat im Querschnittsbild 
etwa die Form einer horizontalen Spindel, deren mediale Spitze ven¬ 
tralwarts geneigt ist. Ventrolateralwarts begrenzt ihn der Bogenzug 
und in dessen Verlangerung der runde grofizellige Cochleariskem. 
Der letztere ist durch sein stark entwickeltes rundes Fasergehause 
und seine groBen Zellen ungemein charakteristisch. Er dehnt sich 
rasch bis nahe an die dorsale Peripherie des Querschnittes aus tind 
beginnt einen eigenen Hocker in den Ventrikel vorzutreiben. Doch 
bleibt ihm gegen die freie Oberflache ein schmaler Saum vorgelagert, 
in welchem ingrauer, mit dem Triangularkem zusammenhangender 
Grundsubstanz Fasern aus dem Triangularkem lateralwarts ziehen. 
Die letzteren gelangen hier in die dorsolaterale Randzone, wie wir 
das Gebiet nennen wollen, welches lateralwarts vom groBzelligen 
Cochleariskem und der spinalenVestibulariswurzel liegt und ventral¬ 
warts an die jetzt biischelformig austretenden Vaguswurzeln 
stoBt, und verschwinden hier aus dem Gesichtsfeld. Mitunter 
glaubt man, was auch Brandis (p. 97) gesehen zu haben scheint, 
diese Fasern als Fibrae arcuatae intemae weiter verfolgen zu 
konnen. Derartige Fasern waren dann als Bogenfasern aus den 
Hinterstrangresten aufzufassen. Die eigentlichen Triangularfasem 
glaube ich sicher bis zum Corpus restiforme verfolgt zu haben, in 
dessen medialen Teil sie eingehen. 

Das bereits erwahnte Feld der spinalen Vestibulariswurzel 
(fruher Feld der aufsteigenden Akustikuswurzel genannt) ist mit 

*) Vgl. z. B. die Abbildung der Oblongata von Alligator lucius bei 
Edinger , Vorlesungen iiber den Ban der nervosen Zentralorgane. 6. Aitfl. 
1900. Fig. 59. 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 21 

F f (Formatio fasciculata) bezeichnet (vgl. Fig. 9.). Es zeigen 
sich hier schon zahlreiche grobe Maschen und Anhaufungen von 
grauer Substanz. 

Zu den Fibrae arcuatae internae sah ich bei Anliinga auf einem 
Teil ihres Weges sich ein Biindel von Fasern gesellen, welche im 
Bogenzuge anscheinend aus dem groBzelligen Kern O herunter- 
ziehen, diesen Zug aber auf halbem Wege lateralwarts verlassen und 
nun in s-formigem Bogen zunachst die Formatio fasciculata um- 
kreisen, dann aber iiber die Vaguswurzel hinweg ventralwart6 
biegen, um endlich — hier schon breit auseinander gefahren — 
in der Richtung innerer Bogenfasem in die Gegend der Trigeminus- 
wurzel einzustrahlen. Weiter lassen sich die Fasern mit Sicherheit 
nicht verfolgen. Ich fand diesen Zug nur auf wenigen Schnitten 
in einer Gesamtschnitthohe von etwa 100 ft. Auch konnte ich ihn 
aufier bei Anhinga bei keinem anderen Vogel finden. Ich habe ihm 
deshalb besondere Beachtung gesclienkt, weil ich daran dachte, 
in ihm Trapezfasern aus dem groBzelligen Cochleariskem vor mir 
zu haben. Bei seinem vereinzelten Vorkommen kann ich indessen 
diese Deutung nicht aufrecht halten. Vielleicht handelt es sich 
um Trapezfasern, die mehr kaudalwarts verlaufen als das Haupt- 
biindel und die daher einen Ur sprung aus dem groBzelligen Kern 
vortauschen. 

Von Schnitt zu Schnitt wird jetzt die Rautengrube flacher 
und breiter. Dem entspriclit eine Abflachung der Wolbung des 
Triangularkernes, der sich mehr und mehr in die Breite ausdehnt 
und bald das ganze Hohlengrau von der Raphe bis fast zur dorso- 
lateralen Querschnittsecke einnimmt. Die Furche zwischen 
Triangular- und Vaguskern verschwindet mit letzterem. Deutlicher 
wird dagegen die Einsenkung, welche den Hocker des dreieckigan 
von dem des groBzelligen Kernes trennt. Der letztere riickt mehr 
und mehr an die freie Oberflache des Ventrikels. Er verliert dabei 
seine runde Form, indem er zuerst im Querdurchmesser starker 
wachst als im dorsoventralen und dann im letzteren sogar abnimmt. 
So liegt er schlieBlich als langlicher, sehr charakteristischerKem der 
dorsolateralen Quersclinittsperipherie dicht an. Hier treten jetzt 
auch die Cochlear iswurzelfasern an den Kern her an, und zwar be- 
sonders an seiner dorsalen und lateralen Seite. Da ihre Querschnitte 
kaudalwarts mehr und mehr abnehmen, so treten sie offenbar fort- 
gesetzt zu den Zellen des Kerns in Beziehimg. Bei anderen Vogeln 
konnte ich den direkten Eintritt der Wurzelfasem in den Kern sehr 
anschaulich beobachten (Fig. 9 und 10). Sodann wird der Kem 
an seiner ventralen bezw. ventromedialen Seite durch einen neuen 
Kem (P) gewissermaBen eingestiilpt. Dieser entwickelt sich in 
folgender Weise: In Querschnittsebenen, in welchen der groBzellige 
Kern seine Kugelform noch nicht verloren hat, taucht an seiner 
ventralen Seite, und zwar in demWinkel, welchen er mit demBogen- 
zug bildet, ein kleines Biindel dichter feiner Faserquerschnitte auf, 
w r elches sich von der viel loseren Formatio fasciculata deutlich ab- 
hebt. Dieses Faserbiindel (Fig. 8 r) riickt proximalwarts in jenen 


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22 S i n 11 , Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


Winkel hinein und lockert sich gleichzeitig auf. Dann taucht 
zwischen ihm und dem groBzelligen Kern der neue Kern auf. Der 
letztere legt sich also der ventralen Faserschicht des groBzelligen 
Kernes dicht an und wachst lateralwarts sehr rasch zu einem 
langgestreckten Oval, indem er die ventrale Partie des groBzelligen 
Kernes von der medialen Seite her mehr und mehr verdrangt. 
Er zeichnet sich aus durch seine Armut an Netzfasern, hat kleine, 
in Pal-Praparaten kaum sichtbare Zellen und bietet ein sehr homo¬ 
genes Aussehen dar. Brandis hat diesen Kern den ,,kleinzelligen“ 
genannt. Wir wollen ihn praziser den kleinzelligen Cochlearis- 
kern nennen und werden diese Benennung spater noch begriinden. 
Er ist an seiner Dorsalseite gegen den groBzelligen Kern im allge- 
meinen scharf abgegrenzt, doch kann man gleich von seinem ersten 
Auftreten an Fasern beobachten, welche in seiner dorsalen Band- 
zone auftauchen und zwischen den Faserbiindeln des groBzelligen 
Kernes verscl.winden. An seiner ventralen und mehr noch an seiner 
medialen Seite ist der Kern von einer Kappe von Faserbundeln 
iiberzogen, die teils langs, teils quer getroffen sind und die direkte 
Fortsetzung des Faserfeldes bilden. Sie haben wie der Kern selbst 
ein eigentiimlich gelatinoses Aussehen. Dieses eigenartige Aussehen 
fand ich bei meinen Vogeln ebenso konstant wie einen auffallenden 
Reichtum an BlutgefaBen. Im lateralen Teil entwickelt der Kem 
in seiner grauen Masse ein etwas starkeres Fasemetz, an das sich 
auBen unvermittelt ein breites Feld kurzer Schragschnitte von aus- 
tretenden Wurzelfasem anschlieBt, welche dem Vestibularis an- 
gehoren. Einige wenige Fasern ziehen anscheinend aus dem Wurzel- 
feld in den Kem P, doch sind dies wahrscheinlich aberrierende 
Cochlearisfasern. 

Der Triangularkem ist hier stark reduziert. Man sieht an seiner 
lateralen Grenze Zellen von derselben GroBe wie die des groBzelligen 
Kernes und in unmittelbarem Zusammenhange mit ihnen. Wie sicb 
spater ergibt, haben wir hier die Anfange eines dritten Cochlearis- 
kernes vor uns. 

Die Biindel des Bogenzuges H weichen in dieser Hohe auf 
ihrem Wege zur Raphe oft weit auseinander, beschreiben dabei zum 
Teil unregelmaBige Windungen und iiberkreuzen einander meistens 
vor ihrem Eintritt in die Raphe. Manche verschwinden schon, bevor 
sie die Raphe erreichen. 

Die Formatio fasciculata nimmt cerebralwarts an Zahl der 
Faserbiindel wie an grauen Inseln erheblich zu und dehnt sich 
ventralwarts und lateralwarts weiter aus. Sie ist gegen die Um- 
gebung leicht abzugrenzen und hat eine im ganzen runde Form. 
Zwischen ihr und dem kleinzelligen Kem verlaufen transversale 
Faserbiindel, welche aus der Raphe zu kommen scheinen. Zu diesen 
gesellen sich auch feine Fasem aus dem Triangularkem. Diese 
Fasern lassen sich lateralwarts nicht verfolgen. Zahlreicher und 
iibersichtlicher sind Faserbiindel, welche die Formatio fasciculata 
ventralwarts umziehen. Diese kommen groBtenteils aus dem Trian- 
gularkern, zu einem kleinen Teil vom dorsalen Rapheende und ver- 


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Sian, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dt*r Vogel. 23 


lieren sich im Felde der eintretenden Vestibulariswurzel. Zwischen 
dem kleinzelligen Cochleariskem (F) und der Formatio fasciculata 
schiebt sich in dieser Hohe ein von letzterer zunachst nur schwer 
abzugrenzender Streifen grauer Substanz ein, der aber schon sehr 
bald das Faserfeld und die Faserkappe des Kernes P auf ihrer 
ganzen Grenzlinie trennt. Dieser graue Streifen ist der Anfang des 
Deitersschen Kernes und wird auf den Bildem mit D bezeichnet. 
Der iibrige Teil des Querschnittes hat sich kaum verandert. An 
Stelle der Oliven finden sich hier nur noch sehr unbestimmt ab- 
gegrenzte diffuse graue Massen. 

Die Seitenwande der Rautengrube werden von jetzt ab wieder 
etwas steiler. In ihrem Boden bilden sich den hinteren Langsbiindeln 
entsprechend zwei leichte Vorwolbungen. Dorsal von der austreten- 
den Cochleariswurzel bildet sich nim abermals ein Kern mit groBen 
Zellen, welcher die auBerste dorsolaterale Ecke des Querschnittes 
einnimmt. Er ist zwar vom groBzelligen Kem O durch Wurzel- 
fasem getreimt, doch ist diese Trennung unvollstandig, da die 
Wurzelfasem zum Teil durch diesen neuen Kem hindurchziehen. 
Wir wollen ihn seiner Lage entsprechend mit Brandis als Eckkem (E) 
bezeichnen, jedoch mit dem Vorbehalt, daB er moglicherweise nur 
ein Teil des groBzelligen Kemes ist, dem er auch in seiner Struktur, 
seiner Faseranordnung und in der Form seiner Zellen gleicht. 
Das ganze Gebiet ventralwarts von der Cochleariswurzel bis zur 
spinalen Quintuswurzel hin wird jetzt von den schraggeschnittenen 
Vestibulariswurzeln eingenommen, die also in sehr breiter Aus- 
dehnung und etwas konvergierend hier eintreten. Sie sind bei 
ihrem Eintritt offenbar ziemlich stark cerebralwarts gerichtet, 
denn man sieht sie in aufsteigenden Frontalschnitten zuerst an 
der Peripherie auftreten und dann langsam medialwarts vorriicken. 
Doch schlagen die proximalen eine mehr horizontale Richtung ein. 
Medialwarts hin sieht man sie in die Formatio fasciculata eindringen 
und hier sich der weiteren Verfolgung entziehen. Auf ihren weiteren 
Verlauf werde ich weiter unten naher eingehen (S. 26). 

Charakteristisch tritt jetzt auch die Lagebeziehung des 
Vestibularis zum Corpus restiforme zutage. Es hat hier die dem 
Corpus restiforme und der spinalen Quintuswurzel entsprechende 
Vorwolbung des Querschnitts eine machtige Entwicklung erlangt 
und wird in ihrer ganzen Ausdehnung von den Wurzelbiindeln des 
Vestibularis durchzogen. Es tritt also der Vestibularis wie bei An- 
hinga so auch bei den anderen bis jetzt von mir untersuchten Vogel- 
arten stets durch das Corpus restiforme. Daraus ergibt sich eine 
ganz gesetzmaBige Skala beim Absteigen in der Vertebratenreihe. 
BeimMenschen sowie bei den iibrigenPrimaten tritt die Vestibularis¬ 
wurzel in toto ventral vom Strickkorper ein. Auch bei den Carni- 
voren und Ungulaten gilt das noch von der Hauptmasse der Fasern. 
Bei den Insektivoren und Aplazentaliem durchbrechen sie schon 
zum Teil das Corpus restiforme. Bei den Monotremen (Orni- 
thorhynchus und Echidna) durchzieht der groBte Teil der Vesti- 
bulariswurzelfasern das Corpus restiforme oder umschlingt dasselbe 


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24 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

sogar dorsal warts. An das letztere Verhalten schlieBt sich der Be- 
fund bei den Vogeln eng an. 

In der auBeren Konfiguration des Querschnitts machen sich 
noch weitere Veranderungen bemerkbar. So schrumpft der dem 
Triangularkern entsprechende Hocker in der Seitenwand des 
Ventrikels nach medialwarts zusammen. Das dadurch lateral 
von ihm freiwerdende Gebiet wird zunachst noch von der Wolbung 
des stark abnehmenden groBzelligen Kernes 0 eingenommen, weil 
dieser fast nur in seiner dorsoventralen Ausdehnung zuriickgeht; 
an diese Wolbung schlieBt sich jetzt aber lateralwarts ein weiterer 
flacher, aber breiter Hocker an, den hier der dorsalwaxts vorgeriickte 
kleinzellige Kern bildet. Eine sehr seichte Einsenkung trennt ihn 
lateralwarts von der starkeren Wolbung des Eckkemes. Der klein¬ 
zellige Kern ist also zwischen dem groBzelligen und dem Eckkern 
an die freie Oberflache eingeriickt, doch ist ihm in dieser Hohe 
noch ein schmaler Saum des Ventrikelbodens vorgelagert, in dem 
Fasern der Cochleariswurzel zum groBzelligen Kern vordringen. 
Diese Fasern beobachtet man selbst dann noch, wenn der groB- 
zellige Kern aus dem Querschnitt schon eine Weile verschwunden 
ist. Ueber dem Kern angelangt biegen sie spinalwarts zu ihm um. 
Der kleinzellige Kern erreicht in der hier beschriebenen Hohe 
seine starkste Ausdehnung und gibt dem ganzen Querschnittsbild 
sein Geprage (Figg. 11—14). Er ist im Querschnitt etwa doppelt 
so groB als der groBzellige Kern, bei manchen Vogeln noch groBer, 
und durch die ihn umschlieBenden Faserziige scharf umgrenzt. 
Er hat eine ovale, mitunter stark in die Lange gezogene Form 
(Chimango) und ist ausgezeichnet durch Armut an Fasernetzwerk 
und eine sehr gleichmaBige Anordnung seiner Zellen. Sein eigen- 
tiimlich gelatinoses Aussehen und seinen Reichtum an BlutgefaBen 
habe ich schon erwahnt. 

Der Eckkern hat im Querschnitt in seinem spinalen Teil eine 
unregelmaBige, proximalwarts aber fast stets eine rundliche Form. 
Man sieht in einem vielmaschigen Fasemetz groBe Zellen in regel- 
loser Anordnung. Von der auBeren Faserkappe, die ihn namenthch 
an der freien Oberflache umgibt, sieht man radiare Fasern, oft in 
stemformiger Anordnung, ventralwarts ziehen und sich hier sammeln. 
Sie gehen hier in Schrag- und Querschnitte iiber und der Kern er- 
scheint wie aufgestiilpt auf den so gebildeten Faserstiel. Es ist 
hochst wahrscheinlich, daB dieser Stiel von Cochleariswurzel - 
fasern gebildet wird, die nach ihrem Eintritt in die Medulla kapital- 
warts umbiegen. In den kaudaleren Partien sieht man Wurzel- 
fasem auch unmittelbar von auBen und von innen in den Kern 
eindringen. Immerhin ist ihr Eindringen weniger anschaulich als 
beim groBzelligen Kern. Bei alien Vogeln macht der Kern 
proximalwarts eine leichte scheinbare Drehung in dem Sinne, daB 
der zunachst nach ventral- und seitwarts gerichtete Faserstiel 
etwas nach innen hiniiberkreist. Die Ursache ist darin zu suchen, 
daB sich an der Bildung des Faserstiels mehr und mehr solche Fasern 
beteiligen, die aus dem Kern als Bogenfasern zur Raphe ziehen, also 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dor Vogel. 25 


wohl als Eckkemanteil des Bogenzuges aufzufassen sind, wahrend 
in demselben MaBe die eindringenden Wurzelfasera verschwinden. 

An der ventralen Seite des Kernes P beobaclitet man in diesem 
Niveau die Entwicklung eines auBerst starken Faserzuges, und zwar 
zunachst in seinem medialen Teile. Die zahlreichen Biindelchen 
desselben strahlen aus dem Innern des Kernes konvergierend durch 
die ventrale Faserkappe in die Formatio fasciculata, schlieBen sich, 
indem sie sich etwas lateralwarts wenden, vorubergehend zu losen 
Bundein zusammen und breiten sich dann wieder ventralwarts 
einbiegend iiber den lateralen Teil des Querschnittes aus. Sie 
bleiben dabei groBtenteils medialwarts von der spinalen Trigeminus- 
wurzel, einzelne Biindel dringen indessen auch durch den Quintus 
hindurch oder umkreisen ihn. Dieser Faserzug entspricht offenbar 
dem Corpus trapezoides, zum Teil wohl auch dem /Zefdschen Biindel 
der Sauger und ist in den Abbildungen mit C. tr. bezeichnet 
(Figg. 14 und 16). 

Ventral und etwas lateral vom hinteren Langsbiindel ist beider- 
seits eine kleine Gruppe grauer Inseln aufgetreten, der Beginn der 
Abduzenskeme. Aus ihr zieht die Abduzenswurzel als starkes 
Biindel fast geradlinig zur ventralen Peripherie, etwa in derselben 
Bichtung wie weiter unten der Hypoglossus (Fig. 15). Sie verlaBt 
den Querschnitt lateral von einem an der auBersten ventralen 
Peripherie sich entwickelnden Kerngebilde, dessen erste Anfange 
man kurz nach dem volligen Verschwinden der unteren Olive etwas 
mehr peripheriewarts als diese beobachtet (wahrscheinlich Nucleus 
trapezoides). 

Je machtiger die Trapezfasern aus dem kleinzelligen Cochlearis- 
kern sich entwickeln, um so mehr erschopft sich der Bogenzug, und 
der Triangularkem breitet sich ventrolateralwarts weiter aus und 
flieBt stellenweise mit dem wachsenden Deitersschen Kern 
zusammen. Die graue Substanz erfahrt also in dieser Hohe einen 
erheblichen Zuwachs, zumal auch iiberall da, wo in dem Geflecht 
der Biindel des Vestibularis und des Trapezkorpers eine Liicke 
bleibt, graue Inselchen sich anlegen. 

Wenn man die Wurzelbiindel des Vestibularis medialwarts ver- 
folgt, so sieht man sie nach ihrer Kreuzung mit den Trapezfasern in 
ihrer groBeren Mehrzahl plotzlich abbrechen, ohne daB man zu¬ 
nachst auf den cerebraleren Schnitten eine deutliche Fortsetzung 
auffinden kann oder auch eine entsprechend starke Ansammlung 
von Faserquerschnitten sahe. Auch eine Aufsplittenmg ihrer 
Fasern lafit sich nirgends sicher nachweisen. Eine Schicht schrag- 
und quergeschnittener Fasern findet man nur an zwei Stellen: 
einmal ventral vom Eckkern und sodann dort, wo die Vestibularis- 
fasern das Feld der Formatio fasciculata erreichen. Solange nur die 
lateralen Abschnitte der Vestibularisbiindel in den Querschnitt 
fallen, ist dieses Faserfeld von ihnen scharf abgegrenzt. Je mehr 
man dann die Vestibularisfasem medialwarts vordringen sieht, 
um so mehr erscheint die laterale Grenze des Faserfeldes verwischt 
und um so mehr gehen seine quergetroffenen Faserbiindel in 


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26 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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kurze Schragschnitte iiber. Es laBt sich daher mit groBer Bestimmt- 
heit sagen, daB wir in dem Faserfeld der Formatio fasciculata die 
spinaie Vestibulariswurzel vor uns haben. 

AuBer dieser spinalen Wurzel habe ich folgenden Faserziigen als 
etwaiger Fortsetzung von Vestibulariswurzelfasem besondere Be- 
achtung geschenkt. 

1. Man sieht Vestibularisfasem durch die Formatio fasciculata 
hindurch den Bogenzug H iiberschreiten und in den Nucleus 
triangularis eintreten. Diese Fasem sind fein und wenig zahlreich. 
Es handelt sich hier offenbar um den Triangularanteil des 
Vestibularis. 

2. Ziemlich weit cerebralwarts konnte ich eine groBere Zahl 
Vestibularisfasem verfolgen, welche nach ihrer Kreuzung mit den 
Trapezfasern plotzlich ventralwarts umbiegen, sich aber nach sehr 
kurzem ventralemVerlauf wieder medialwarts der Raphe zuwenden. 
Sie verschwinden dann in nachster Nahe der Raphe aus dem Quer- 
schnitt. Es sind das Fasem aus dem dorsalen Teil der Vestibularis- 
wurzel. Ventrale Wurzelbiindel ziehen in geradem Zuge auf die 
Raphe zu. Ob diese Fasem zu den vielen verstreuten grauen Inseln 
der von ihnen durchzogenen Gegend in Beziehung treten, ist nicht 
ersichtlich. 

3. Auf etwas kaudaleren Schnitten sah ich im Feld der ein- 
tretenden Vestibulariswurzel einige Faserbiindel, welche unmittel- 
bar nach ihrem Eintritt in den Querschnitt dorsalwarts in der 
Richtung auf den Eckkem zu umbiegen. Wahrscheinlich handelt 
es sich hier aber um aberrierende Fasem des Cochlearis. 

4. Etwas weiter proximalwarts als die letztgenannten fand 
ich eine kleine Zahl von Faserbiindeln, die aus der nachsten 
ventralen Umgebung des kleinzelligen Cochleariskems P im Bogen 
sich zu den Vestibulariswurzeln zu gesellen scheinen. Hier handelt 
es sich hochstwahrscheinlich um Trapezfasern. AuBerdem findet 
sich in dieser Hohe lateral vom kleinzelligen Kem eine kleine Gruppe 
groBer Zellen, von der aus ebenfalls Fasem in kurzem Bogen lateral- 
warts zu den Vestibulariswurzeln treten. Auch diese Fasem sind 
jedoch wahrscheinlich als Trapezfasern aufzufassen. 

Der groBzellige Cochleariskern O ist in der Hohe des Vesti- 
bulariseintritts nahezu vollig verschwunden. Mit ihm der Bogenzug. 
An seiner Stelle sieht man jetzt Faserziige, welche von der Raphe 
her auf den kleinzelligen Kem zu ziehen. Sie kommen aber nicht 
nur vom dorsalen Ende der Raphe, sondem aus der ganzen dorsalen 
Halfte derselben her, auch schlieBen sie sich in ihrem dorsalen 
Verlauf nicht zu einem Zug zusammen, sondern verlaufen ziemlich 
zerstreut und holen gleichzeitig, um den inzwischen vergroBerten 
Triangularkem zu umziehen, weiter lateralwarts aus. Sind sie 
beim kleinzelligen Kem angelangt, so bleibt der groBere Teil an 
dessen ventraler Peripherie, ein kleinerer biegt aber um das mediale 
Ende herum zu seiner dorsalen Seite hiniiber. Wir glauben diese 
Fasern vom Bogenzug H ganz trennen zu konnen. Sie bestehen 
zwar schon neben ihm, haben indessen einen zwar eng benach- 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dcr Vogel. 27 


bar ten, aber doch verschiedenen Verlauf. Auch ist das Auftreten 
und das Verschwinden der starken Bogenfasern offenbar ganz 
abhangig von der Entwicklung des groBzelligen Kernes, wahrend 
die jetzt in Bede stehenden Fasem nach Verschwinden desselben 
noch fortbestehen. Brandis macht keinen ausdriicklichen Unter- 
schied zwischen den beiden Faserziigen, deutet einen solchen aber 
doch an, wenn er sagt, daB der Bogenzug cerebralwarts seine Be- 
ziehung zum groBzelligen Kern verliere und den Weg bilde, auf 
dem Fasem aus dem ganzen Querschnitt der Medulla zum Klein- 
him ziehen. 

Besonderer Beachtung bedarf auch ein Feld von Faserquer- 
schnitten ventral vom £>e*<ersschen Kern. Dasselbe hat die Form 
eines spitzwinkligen Dreiecks, das mit der Spitze nach dem Eckkern 
zu liegt und mit der Grundlinie an das Vestibularisfeld grenzt. Die 
innere Seite stoBt an den DeitersBchen Kern, die auBere lauft nahe 
am Innenrand des Corpus restiforme entlang. Es deckt zum Teil 
denselben Baum wie der Faserstiel des Eckkerns, speziell mit seiner 
Spitze, besteht aber nur aus quergeschnittenen Faserbiindeln. 
Kaudalwarts laBt es sich bis in die Formatio fasciculata verfolgen, 
und zwar bis zur Hohe der eintretenden Vestibulariswurzel. Es 
stellt daher offenbar eine Vestibulariswurzel dar, wie der weitere 
Verlauf (S. 32) auch bestatigt. 

An seiner lateralen Seite tritt jetzt das Corpus restiforme 
pragnant hervor, und zwar um so mehr, als die Vestibulariswurzel, 
die ja sein Feld durchsetzt und es der Beobachtung so gut wie ganz 
entzieht, sich erschopft. Der Strickkorper erstreckt sich von der 
Quintuswurzel bis zum Eckkern des Akustikus. Von auBen nach 
innen kann man vier, allerdings nicht scharf abgegrenzte, Schichten 
unterscheiden: 

1. Tangentialfasem in geringer Menge; 

2. eine Schicht lockerer, groBkalibriger, quergetroffener Fasem 
mit zahlreichen auffallig groben Fasem; 

3. eine Schicht dichter quergetroffener Fasern von etwas 
kleinerem Kaliber mit vereinzelten groben Fasein; 

4. eine Schicht feiner lockerer Faserquerschnitte in einer 
grauen Grundsubstanz von gelblichem Ton, welche sich medial- 
warts rasch auflockert und ohne scharfe Grenze in das benachbarte 
Grau iibergeht.i 

Da spinal vom Vestibulariseintritt die Schicht 3 und 4 fehlt, 
so wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten diirfen, 
daB diese Schichten direkt oder indirekt aus dem Vestibularis 
stammen. Es stimmt dies auch mit der Erfahrung bei den Saugern 
iiberein, bei welchen ebenfalls der mediale Teil des Corpus restiforme 
ausschlieBlich oder fast ausschlieBlich von Vestibularisfasern ge- 
bildet wird. Ein Unterschied wiirde nur insofern bestehen. als 
beim Vogel 1. auffallig verschiedene Faserkaliber sich finden, 
2. schon sow'eit kaudal sich die Vestibularisfasern dem Corpus 
restiforme anschlieBen. 


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28 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

Vergleicht man die Vestibulariswurzeln und -kerne eines guten 
Fliegers wie Chimango mit denen eines Nichtfliegers, z. B. Rhea, 
so ist die starkere Entwicklung bei ersterem zwar nicht gerade 
auffallig, aber doch unverkennbar. Sie zeigt sich in der Zahl der 
Wurzelbiindel, in der Entwicklung der Kemsubstanz der For mat io 
fasciculata, des Deitersschen und Bechterew schen Kernes und auch 
der spinalen Wurzel, jedenfaUs am wenigsten beim Triangularis- 
kern. Aehnlich wie Chimango verhalt sich Athene. Hier fand sich 
ein besonders breites Feld eintretender Wurzelfasern. Beim Huhn 
(5 Wochen alt) konnte ich die gekreuzte Vestibulariswurzel und 
den Eintritt von Wurzelfasern in den dreieckigen Kern am schonsten 
beobachten. 

Eine sehr schwierige Frage bleibt noch zu beantworten: wo 
namlich der sog. vordere oder ventrale Akustikuskern der Vogel zu 
suchen ist. Da in der Cochleariswurzel selbst unerverhaltnismaBig 
wenig Ganglienzellen zu finden sind, liegt der Gedanke sehr nahe, 
den Eckkern E und vielleicht (?) auch noch P mit dem vorderen 
Akustikuskern zu homologisieren. 

Dicht an die ventralsten Wurzelbiindel des Vestibularis legen 
sich Fasern an, welche sich durch starkeres Kaliber, intensivere 
Far bung und langeren Verlauf in der horizontalen Schnittebene 
von jenen abheben. Es sind das die kaudalsten Wurzelfasern des 
Neivus facialis. Sie tauchen seitlich von dem hinteren Langs- 
biindel auf und ziehen lateralwarts durch die spinale Quintus- 
wuizel hindurch (Fig. 13). 

Der Abducens erreicht in dieser Hohe seine starkste Entwick¬ 
lung. Er bildet mehrere starke parallel laufende Wurzelbiindel, 
welche aus dem Kern als ein Biischel feiner Fasern hervorgehen und 
sich dann sofort zu Biindeln vereinigen. Der Kern selbst ist relativ 
klein, wenig scharf begrenzt und haufig von den dorsalsten Bogen- 
fasern durchsetzt. Er erscheint meistens in dorsoventrader Richtung 
groBer als in transversaler und hat im allgemeinen die Gestalt eines 
unregelmaBigen Ovals. 

Eine ungewohnlich starke Entwicklung hat inzwischen das 
hintere Langsbiindel erreicht. Es wurde schon gesagt, daB es am 
Boden des Ventrikels eine sehr deutliche Vorwolbung bildet. Bei 
dichterer Lagerung seiner Fasern hat sich das Biindel nach lateral¬ 
warts ganz erheblich verbreitert. Nach ventralwarts ist seine Aus- 
dehnung etwa dieselbe geblieben. Seine Fasern sind groBten- 
teils von starkem Kaliber. Man sieht auch eine Anzahl von 
Riesenfasern. Fasern feineren Kalibers sind aber gleichmaBig ein- 
gestreut. Das pradorsale Langsbiindel ist in dieser Hohe gleich- 
falls gut ausgebildet, vom hinteren Langsbiindel aber nicht sicher 
abzugrenzen. Die starkste Entwicklung des dorsalen Biindels fand 
ich bei Athene, nachst dieser bei Chimango und Ardea, die 
schwachste bei Cycnus. Doch sind die Differenzen nicht erheblich. 

Einen Ueberblick iiber die Gesamtanordnung der Akustikus- 
kerne gibt das Schema am Kopf der folgenden Seite. 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


29 


N. vest. 


X. cochl. 


C. trap. 

SchematisGhe Darstellung der Akustikuskerne. 

Cochlearis liniert, Vestibularis punktiert. 

Proximalwarts (vgl. Fig. 14 ff.) stellt sich jetzt rasch im Klein- 
himstiel eine breite Verbindung des Hirnstamraes mit dem Klein- 
him her. In den stfeilen Seitenwanden des Ventrikels erkennt man 
deutlich eine Vorwolbung, die auf kaudaleren Schnitten dem klein- 
z«lligen Cochleariskern, auf proximaleren dem Deitersschen Kem 
exitspricht. Den Hocker, welchen der noch gut erhaltene Eckkem 
friiher bildete, haben Faserziige zum Kieinhirn mehr und mehr 
iiberdacht und so von der freien Oberflache verdrangt. 

Es ist auBerordentlich schwer, festzustellen, ob sich unter 
diesen Ziigen zum Kieinhirn solche befinden, welche aus dem klein- 
zelligen Cochleariskern hervorgehen. Brandis ist geneigt, solche 
Fasern anzunehmen. Er sagt (p. 103): ,,Inzwischen haben sich 
ventral vom kleinzelligen Kerne dichte Ziige von Nervenfasem 
angesammelt, welche fast von der ganzen Lange der Raphe ent- 
springen und zum Teil direkt in den Kleinhirnschenkel einstrahlen, 
zum Teil jedoch den kleinzelligen Kern erst als einzelne Fasern 
passieren und vielleicht dort durch die Zellen eine Unterbrechung 
erleiden. Der kleinzellige Kern erinnert so einerseits durch seine 
Beziehungen zum Kieinhirn, andererseits aber auch durch seine 
Struktur an die einfach gebauten unteren Oliven niederer Sauger.“ 
Und bei der Beschreibung des Kleinhirns sagt er (p. 792): ..In 
den sich auf diese Weise bildenden Processus cerebelli ziehen nun 
von innen her die Fasern des Bogenzuges hinein, welche sich um 
den kleinzelligen Kern herum angesammelt hatten.“ Auch 



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30 Sinn, Beitrag ziir Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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Westphal, welcher den kleinzelligen Kern richtig als eine Modi- 
fikation des groBzelligen, jedenfalls also als Cochleariskems auf- 
faBt, spricht von der „Kleinhirnverbindung, die doch bei dem 
kleinzelligen Kern der Vogel so ausgesprochen ist“. Wenn die 
Faserbiindel zum Kleinhim tatsachlich aus dem kleinzelligen 
Kerne stammten, dann diirfte man erwarten, daB sie entweder zur 
Zeit der starksten Entwicklung des Kernes am deutlichsten sind, 
oder daB sich beim Verschwinden des Kernes ein starkes Feld von 
Faserquerschnitten findet, Keines von beiden ist aber der Fall. 
Die Biindel erscheinen erst, wenn der kleinzellige Kern kaum noch 
erkennbar ist, und eine Anhaufung von quergeschnittenen Fasem 
siebt man auch dann nicht. Es ist daher hochst wahrscheinlich, daB 
diejenigen Faserbiindel zum Kleinbirn, welche nicht aus dem 
Deitersachen Kern hervorgehen, sondem sich absteigend mehr 
medialwarts wenden und sich sicber bis an die Dorsalseite des 
kleinzelligen Kernes verfolgen lassen, entweder Bahnen aus den 
zahlreichen zerstreuten, dem Deitersschen Kern zuzurechnenden 
grauen Inseln sind oder aber aus dem dreieckigen Kern stammen. 
Eine dritte Moglichkeit ware noch, daB wir in ihnen eine gekreuzte 
Vestibulariswurzel vor uns haben, die aus der dorsalen Baphegegend 
mit den Cochlearisbiindeln, die von dort zum kleinzelligen Kern 
ziehen, hierher gelangt. Der Beweis, daB Fasem aus dem klein¬ 
zelligen Kem ins Kleinhim ziehen, ist jedenfalls nicht erbracht, und 
es ergibt sich daher keine Schwierigkeit, diesen Kem als Cochlearis- 
kern aufzufassen, eine Anschauung, zu der man durch den Ursprung 
unzweifelhafter Trapezfasem aus ibm unwiderstehlich gedrangt ist. 

Gut zu iibersehen ist in derselben Hohe der Verlauf des 
Facialis. Lateral vom Abducenskem, etwa ebenso weit von ihm 
entfernt wie dieser von der Raphe, biegen die vom Kem herauf- 
ziehenden Facialisbiindel spitzwinklig lateralwarts um. Von dem 
so gebildeten Knie ab scblieBen sie sich zu scbmalen, aber sehr 
dichten Biindeln zusammen, und diese Biindel erscheinen stellen- 
weise wie zu einem Seile umeinander gedreht (Fig. 15). Schon 
bevor sie die Quintuswurzel passieren, fahren sie indessen wieder 
etwas auseinander und verlassen den Querschnitt in Form eines 
schmalen Deltas, das lateral vom Quintus in ventraler Richtung 
noch einmal starker ausbiegt (Fig. 13). Die Austrittsweise ent- 
spricbt also fast genau derjenigen, wie sie Ziehen fur Echidna be- 
schrieben hat (4. Monographic, S. 803). Verfolgt man den Facialis 
proxdmalwarts fiber das Knie hinaus, so uberblickt man in derselben 
Querschnittsebene wie den austretenden Schenkel auch das Knie 
und den Kernschenkel. Es ist also das Knie nicht zu einem Langs- 
schenkel ausgebildet. Der Kernschenkel beginnt gleich am Knie 
als ein Biischel von Fasem, das nach sehr kurzem Verlauf auf einen 
gut abgrenzbaren runden Kem trifft, den dorsalen Facialiskem. 
Ein Teil der Fasem findet in diesem Kem offenbar sein Ende, 
ein anderer Teil aber, und zwar die Randfasem des Biischels, zieht 
an diesem Kem voriiber in gerader Richtung peripheriewarts weiter, 
entweder parallel zueinander oder auch etwas konvergierend. Sie 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 31 

endigen dann nahe an der Peripherie in einer nicht immer scharf 
begrenzten Kemmasse, dem ventralen Facialiskem. Dieser scheint 
bei einigen Vogeln, z. B. Anhinga (Fig. 15), in zwei Teile zu zerfallen, 
die allerdings nur sehr unvollstandig getrennt sind, einen dorso- 
lateralen und einen ventromedialen. Es gelingt aber in dem 
diffusen Grau dieser Gegend auBerst schwer, Kernmassen sicher 
abzugrenzen. Jedenfalls sind der dorsale wie der ventrale Facialis¬ 
kem bei alien Vogeln dentlich ansgebildet, ersterer durchschnittlich 
starker als letzterer. Das spricht iibrigens nicht zugunsten der Auf- 
tassung, daB der dorsale Kem, wie man ofters angenommen hat, der 
Innervation der Lippen dient. 

Die auffallig stark gefarbtenFaserbiindel ventral vom ventralen 
Facialiskem sind wahrscheinlich als die von Kolliker und Ziehen bei 
Aplacentaliem beschriebenen ZonaWiindel aufzufassen. 

Sicherer abzugrenzen als der ventrale Facialiskem ist meist 
eine etwas weiter medialwarts auftauchende Kemmasse, welche 
sich als kleiner, abgeschlossener, rundlicher, grauer Korper auf alien 
Schnitten gut erkennen laBt. Man sieht in einem ziemlich stark 
entwickelten Fasemetz graue Inselh von groBer rimdlicher Form, 
dazwischen reichliche Querschnitte feiner Fasem. Rundum ver- 
lauft ein dichterer Fasersaum, der an der lateralen Seite zu einem 
breiteren Felde longitudinaler Fasern anwachst. Aus diesem Kem 
entspringen Fasem (St.), welche dem Kemschenkel des Facialis 
parallel, und zwar medial von ihm, dorsalwarts ziehen und dann, 
wie allerdings erst proximalere Schnitte ergeben, medialwarts zum 
Abducenskem umbiegen. Diese Fasem verlaufen also, bevor sie 
sich medialwarts wenden, erst noch ein kleines Stuck cerebralwarts. 
In diesen Fasem haben wir offenbar den Stiel der oberen Olive vor 
uns, in der Kemmasse (01. s.) daher die obere Olive. Bestatigt wird 
diese Auffassung durch die noch zu beschreibende Beziehung des 
Kernes zu den Trapezfasem. Der Olivenstiel ist bei den Vogeln sehr 
diirftig, ebenso die obere Olive selbst. Auf einigen Schnitten sah ich 
iibrigens auch Fasem des Olivenstieles, die in ganz ungewohnlicher 
Weise die austretende Abducenswurzelfasem etwa in halber Hohe 
kreuzen und dann in einem flachen Bogen sich dem Abducenskem 
zuwenden (s. Fig. 15, Ost.). 

In demselben MaBe, in dem der kleinzellige Cochleariskem ab- 
nimmt, erlischt auch der Zug der Trapezfasem, die aus ihm hervor- 
gehen. Wenn man von der grauen Masse des kleinzelligen Kernes 
(P) kaum noch etwas wahmimmt, sieht man an seiner Dorsalseite 
Faserbundel dorsolateralwarts ziehen, um sich dem Corpus 
restiforme medialwarts anzuschlieBen. Die Bedeutung dieser 
Fasem ist bereits erortert worden. Fasem gleichen Verlaufs 
kommen in losenZiigen aus dem machtig entwickelten Detteraschen 
Kem. Diese schieben sich zwischen die erstgenannten und das 
Corpus restiforme ein und iiberdachen so den Eckkern desAkustikus. 
Lateralwarts wird dieser vom Corpus restiforme begrenzt. Auch er 
ist in dieser Hohe schon im Abnehmen begriffen. Er zeigt jetzt eine 
ziemlich homogene Struktur aus grauer Substanz und Fasemetz- 


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32 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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werk und ist ringsum von starkeren Randfasern umsaumt. Das 
keilformige Feld von Faserquerschnitten, welches wir als auf- 
steigende Vestibular is wurzel aufgefaBt hatten (S. 27), hat seine 
dichte Struktur und seine scharfe mediale Begrenzung nach und 
nach verloren. Aus dem DetJersschen Kern sind graue Balkchen 
und Inseln in sein Fasergefiige eingedrungen. Bald darauf tauchen 
an seiner lateralen Grenze groBere Inseln grauer Substanz auf, 
die sich ebenfalls an seiner Auflockerung beteiligen. Zur selben Zeit 
sieht man aus dem Eckkern ventralwarts in breiter Ausdehnung 
Faserbiindel sich entwickeln, welche denselben Verlauf nehmen wie 
die Trapezfasern des kleinzelligen Kernes und zweifellos den Eck- 
kernanteil des Corpus trapezoides darstellen. Sie durchsetzen in 
mannigfacher Richtung das keilformige Faserfeld und tragen so 
ihrerseits zur Verwischung seiner Struktur noch bei. Einen ahnlichen 
Verlauf nehmen auch Fasern, die aus dem Deitersschen Kern 
ventralwarts ziehen. Sie sind von feinerem Kaliber und lockerer 
angeordnet. Sie ziehen nahezu senkrecht auf den austretenden 
Facialisschenkel zu, um hier zu verschwinden. Nur eine kleine 
Zahl glaubte ich iiber die Wurzel hinweg als Fibrae arcuatae 
internae weiter ziehen zu sehen. Ein Teil scheint sich auch der 
Gegend des Facialisknies zuzuwenden und verliert sich in dem 
dortigen Fasergewirr. Von diesen Fasern lassen sich einige weiterhin 
bis zur Raphe verfolgen. 

Wenige Schnitte weiter cerebral warts hat die Ventrikelhohle 
an Volumen schon betrachtlich zugenommen. In der Hohe des 
Ventrikelgrundes ist bei Anhinga der imtere Kleinhirnstiel 
jetzt 3,5 mm breit. Das hintere Langsbiindel miBt 0,7 mm in der 
Breite und 0,8 mm in der Tiefe. Der dorsoventrale Durchmesser 
des Hirnstammes betragt langs der Raphe 3,6 mm. Die Raphe ist, 
soweit sie die Langsbiindel trennt, breit, sehr dunkel tingiert und 
dicht gefasert. Wo sie zwischen den Langsbiindeln hervortritt, 
reduziert sich ihre Breite ziemlich plotzlich auf fast ein Drittel. 
Als diinnes Fasergeflecht zieht sie sich so bis zur ventralen Peri¬ 
pherie hin, indem sie sich im Bereich des Saulenkernes der Raphe, 
der nur noch schwach erkennbar ist, etwas auffasert. Es fallen jetzt 
die Faserbiindel stark ins Auge, welche von der Raphe lateralwarts 
allenthalben in den Querschnitt einstrahlen. Untersucht man ihren 
Verlauf in der Raphe genauer, so sieht man sie in nachster Nahe 
derselben sich auffasern und dann teils ventralwarts, teils dorsal- 
warts der Raphe anschlieBen. Seltener sieht man Fasern direkt 
in die andere Querschnittshalfte hiniiber kreuzen. Die starksten 
dieser Faserbiindel verlaufen im Bereiche der hinteren Langsbiindel. 
Sie alle verschwinden nach kurzem Verlauf aus dem Gesichtsfelde. 
Parallel zur Raphe ziehen auBerdem in ihrer unmittelbaren Nahe 
zahlreiche andere feine Fasern. Die Abducenswurzel ist nicht mehr 
sichtbar, wohl aber vermag man den Abducenskem an seiner alten 
Stelle noch wahrzunehmen. Vom Facialis sind die Kerne, der 
biischelformig heraufziehende Kernschenkel und das Knie noch 
gut erkennbar, vom austretenden Schenkel dagegen nur noch das 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 33 


medialste Stuck. Die austretende Wurzel senkt sich also auf 
ihrem Weg zur Peripherie etwas kaudalwarts. Auf mehreren 
Schnitten gewinnt man den Eindruck, daB nicht alle Fasem des 
Austrittsschenkels am Knie zum Kern in den gleichseitigen Kern- 
schenkel umbiegen, sondern daB einzelne Biindel zur Raphe ziehen 
und diese iiberschreiten. Bekanntlich ist eine solche gekreuzte 
Facialiswurzel fast bei alien Saugetieren beschrieben worden. 

Die graue Substanz am Boden des Ventrikels bildet nur mehr 
ein kleines, fast gleichseitiges Dreieck, dessen Grundlinie dem 
Facialisknie und dessen Spitze dem Kleinhim zugekehrt ist. Das 
iibrige Gebiet dorsal vom Austrittsschenkel des Facialis und dem 
Querschnitt der spinalen Trigeminuswurzel und medial von den 
cerebellarwarts ziehenden Faserziigen aus dem Deiters schen Kern 
wird gewissermaBen durcli das wachsende Corpus restiforme von 
der Seite zusammengedriickt, und seine Teile weichen dem Druck 
dorsalwarts aus. Der Deiterssche Kern stellt sich so mit seinem 
groBten Durchmesser nicht mehr quer wie bisher, sondern fast genau 
dorsoventral ein. Die Trapezfasein aus dem Eckkern des Akustikus 
lassen sich jetzt als starke parallele Biindel weithin verfolgen 
(Fig. 16). Sie ziehen zunachst genau ventralwarts, biegen dann 
lateralwarts stark aus, um die Quintuswurzel zu durchbrechen, und 
wenden sich hierauf wieder mehr medialwarts. Im ventralenFacialis- 
kem erfahren sie zum groBten Teil eine geringe Richtungsablenkung 
in aszendierendem Sinn. Auf proximaleren Schnitten sieht man 
sie durch den Facialiskern hindurchtreten und nun, soweit erkenn- 
bar, auf die obere Olive zu ziehen. Ihre Beziehungen zur oberen 
Olive sind bei der diirftigen Entwicklung der letzteren schwer 
festzustellen. Moglich ist durchaus, daB ein Teil von ihnen in der 
Olive endet. Ein anderer Teil zieht dagegen offenbar iiber die Olive 
weg der Raphe zu, um dort in zierlichen Bogen mit den ent- 
sprechenden Fasem der anderen Seite zu kreuzen. Dieser Teil ihres 
Verlaufes ist auf hoheren Schnitten etwas klarer zu iibersehen. 

Von diesen Faserziigen ist mit ziemlicher Sicherheit ein 
anderer abzutrennen, der an der auBersten Peripherie des Quer- 
schnittes aus dem Corpus restiforme als diinnes Biindel ventralwarts 
zieht und ebenfalls mit dem entsprechenden Biindel der anderen 
Seite eine Kreuzung eingeht. 

Nach der Kreuzung breiten sich die Trapezfasem etwas aus- 
einander und enden anscheinend in einem sehr pragnanten Kern, 
welcher unmittelbar an der ventralen Peripherie ziemlich dicht 
neben der Raphe liegt und dem Nucleus trapezoides der Sauger 
entsprechen diirfte (vgl. S. 25). Lateral von letzterem liegt ein 
zweiter Kem, der wahrscheinlich dem unteren Kem der lateralen 
Schleife entspricht und gleichfalls Trapezfasem aufnimmt. 

Mustert man die Schnitte weiter cerebralwarts, so fallt im 
dorsalen Teil auf, daB derKleinhirnstiel an seiner Basis anBreite ab- 
nimmt. Diese Verschmalerung wird dadurch veruisacht, daB der 
auBerordentlich starke Deiterssche Kern weiter cerebellarwarts, 
riickt und daB das Grau des Ventrikelbodens und der Eckkern des 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Nenrologie. Bd. XXXIII. Heft 1. 3 


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34 S inn. Beit rag znr Kenntms der Medulla oblongata der Vogel. 


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Cochlearis immermehr zusammenschiumpfen,wahrendsich zugleicli 
die Hauptmasse der Fasern des Corpus restiforme cerebellarwarts 
verschiebt. Der Deiterssche Kern erfahrt auBerdem noch eine 
eigentiimliche Umwandlung. Zwischen den starken Faserbiindeln, 
welche er besonders an seiner medialen Seite cerebellarwai ts 
entsendet und die offenbar eine Vestibularisbahn zweiter Ordnung 
darstellen, tauchen zunachst vereinzelt sehr helle graue Inseln auf. 
Diese haufen sicli dann rasch und bilden dorsal vom Deitersschen 
Kern inmitten der Faserbiindel eine besondere Abteilung des Kerns, 
welche mit dem Bechtereuischen Kerne identisch sein diirfte. Er 
zeichnet sich durch seine auffallend helle Substanz aus und liefert 
auf manchen Querschnitten sternformige Bilder, da von alien 
Seiten Faserbiindel in ihn eintauchen. Die Biindel sammeln sich an 
seiner medialen und dorsalen Seite zu machtigen Ziigen ins Klein- 
hirn. Die von der ventralen Seite an ihn herantretenden Fasern 
lassen sich zum Teil anscheinend ventral- und spinalwarts durch 
die Hauptmasse des Deitersschen Kernes hindurch bis in die Nahe 
jener zerstreuten grauen Inseln verfolgen, welche zum Deiters schen 
Kern hinzugehoren, doch ist diese Beobachtung unsicher. Be- 
merkenswert ist auBerdem ein Faserbiindel, welches sich medial an 
dem noch zu beschreibenden sensiblen Trigeminuskern entlang zum 
Bechterewschen Kern begibt (Fig. 17, i, vgl. S. 35). 

Der Deiterssche Kern sendet, wenn der Bechterewsche auftritt , 
dorsalwarts ziehende Fasern auch an seiner lateralen Seite aus, 
die sich im Bogen den Ziigen des nahen Corpus restiforme zu- 
gesellen. Diese Fasern kommen tiefer aus dem Keminnem heraus, 
wie denn iiberhaupt das Faserwerk im Innern des Kernes jetzt 
deutlicher geworden ist. Doch bleibt im iibrigen seine Struktur 
immer noch ziemlich verwaschen und seine Begrenzung unbe- 
stimmt. 

Das Areal der spinalen Quintuswurzel erfahrt in dieser Hohe 
eine nicht unbetrachtliche Vermehrung sowohl der grauen Substanz 
als der Faserquerschnitte. Es riickt gleichzeitig noch mehr an die 
laterale Peripherie. Von dieser her dringen die sensiblen Wurzel- 
biindel in das Quintusfeld ein und durchbrechen es in breitem 
dor somedial warts gerichteten Zuge. Der Haup tan teil der Wurzel- 
biindel tritt zu einem groBen, gut abgegrenzten Kern, der dorsal 
von der grauen Masse des Nucleus tract, spinalis trigem. liegt und 
den sensiblen Hauptkem des Trigeminus bildet. Dieser Kern 
ist von der Peripherie nur durch eine schmale Faserschicht 
getrennt. Bei einzelnen Vogeln ist er so machtig entwickelt 
(vgl. z. B. Plegadis, Fig. 18), daB er sich liber das Niveau 
des Rautenbodens erhebt. Er erinnert geradezu an den Lobus 
trigemini (Nucl. terminalis trig.) mancher Fische 1 ). Der Angabe 
Edingers, daB der frontale sensorische Trigeminuskern bei den 
Vogeln viel weniger entwickelt sei, konnen wir also nicht zustimmen. 


*) Vgl. z. B. Edinger. Vorlesimgen uber den Ban der nervosen Zentral- 
organe. 6. Aufl. Fig. 63 (Scyllium). 


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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 35 


Auch Brandis liebt hervor, dali er zuweilen eine bedeutende Hervor- 
wolbung bildet, z. B. bei einigen Enten 1 ). 

Der ventralste Anteil der Wurzelbiindel zieht an diesem Kern 
vorbei dorsomedialwarts weiter und strebt in dorsalkonvexem 
Bogen dem dorsalen Rapheende zu. Dieser Anteil ist die gekreuzte 
Trigeminuswurzel, die auch beim Vogel zum Teil motorisch sein 
diirfte. Man konnte sie bei ihrer kraftigen Entwicklung mit der 
Facia]iswurzel verwechseln, doch liegt sie nicht nur weiter proximal, 
sondern auch im Querschnitt im Gegensatz zum Facialis ventral 
vom spinalen Quintusfeld. Der sensible Hauptkern ist bei alien 
Vogeln sehr gut ausgebildet, am starksten bei Sichler und Ente. 
An Umfang ubertrifft er noch die groBen Akustikuskerne. Die 
schwachste Entwicklung fand ich bei Ibycter. Seine Zellen sind 
klein, aber zahlreich und liegen eng beieinander. Er ist ringsum 
scharf abgegrenzt, nur gegen die spinale Wurzel hin ist die Grenze 
verwaschen. Bei Plegadis ist allerdings auch diese Grenze durch 
die zum Kern in der Ebene des Schnittes ziehenden Wurzelbiindel 
scharfer markiert. Als selbstandiges Kerngebilde imponiert er, ab- 
gesehen von seiner Ausdehnung, auch dadurch, daB er entweder 
ganz oder doch mit seiner Hauptmasse mehr dorsal vom Wurzelfeld 
liegt, wahrend das Kerngrau der spinalen Wurzel in distaleren 
Ebenen in das Wurzelfeld selbst eingelagert erscheint Oder ihm mehr 
ventral anliegt. Keinen Unterschied in der Starke zeigt bei den 
verschiedenen Vogeln die kraftige gekreuzte Wurzel. Verfolgt man 
diese proximalwarts, so stoBt man etwa an der Stelle, an der in 
kaudaleren Schnitten das Facialisknie sich findet, auf eine kleine 
Gruppe von Zellen, zu der einzelne Fasern in Beziehung zu treten 
scheinen. Vielleicht entspricht diese Gruppe pigmentfreier Zellen 
der Substantia ferruginea, deren Zellen bekanntlich auch bei den 
Saugem mit Ausnahme des Menschen Pigment nicht enthalten. 
Der groBte Teil der gekreuzten Wurzel diirfte jedoch dorsal an 
dieser Zellgruppe vorbei zur anderen Seite hiniiberkreuzen. Eine 
weitere Anzahl sensibler Wurzelfasern erweckt den Eindruck, als 
zoge sie, ohne in Kernzellen eine Unterbrechung zu erfahren, 
ventral am Hauptkern vorbei dem Kleinhim zu. Diese Partie ent¬ 
spricht ihrem Verlauf nach der cerebello-nuklearen Quintusbahn 
Edingers. Das Fehlen einer Unterbrechung in Kernzellen ist nach 
Edinger nur vorgetauscht, eine Moglichkeit, die auch nach unseren 
Bildem zugegeben werden muB. Die Beobachtung der Fasern 
ist dadurch erschwert, daB in gleicher Richtung immer noch 
unzweifelhafte Trapezfasern aus dem kapitalsten Teil des 
akustischen Eckkemes herunterziehen. Die Trapezfasern storen 
auch die weitere Verfolgung des oben (S. 34) bereits erwahnten 
Faserbiindels i, welches von der Seitenwand des Ventrikels ventro- 
lateralwarts herabzieht und dann in die Nahe dieser cerebellc- 
nuklearen Quintusbahn gelangt (Fig. 17). Wahrscheinlich ist es 
als die Aquaduktwurzel des Quintus aufzufassen. Moglicherweise 


>) 1. c. Bd. 44. Taf. 32. Fig. 5. 

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36 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 


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befindet sich unter den Fasern dieser Gegend und Richtung auch 
noch ein weiterer besonderer Anteil, der als Faisceau en crochet 
(Thomas, Russel) beschriebene Zug aus dem Dachkem zum 
Akustikuskemgebiet und zur Haube. Isolieren laBt sich dieser 
Faserzug auf unseren Bildem nicht. 

Gut zu iibersehen ist beim Vogel der Uebergang eines recht 
erheblichen Anteils der sensiblen Wurzelbiindel des Trigeminus 
in das Querschnittsfeld der spinalen Wurzel. Es sind vorwiegend 
die proximalsten Biindel, die sich an der Bildung dieser Wurzel be- 
teiligen. 

Beachtung verdient dann noch ein bei alien untersuchten 
Vogeln vorhandener Faserzug k', der aus der Gegend des 
Bechtereivs chen Kerns ventromedialwarts auf das dorsale Raphe- 
ende zu zieht. Diese Fasern scheinen aus dem genannten Kern 
selbst hervorzugehen. Es liegt nahe, sie als eine Bahn zweiter 
Ordnung aus dem Bechterewschen Kern aufzufassen. Ventral von 
ihnen verlaufen andere Biindel, die ventral vom Bechteretvschen 
Kern lateralwarts ziehen. Sie sind auf Fig. 17 mit k bezeichnet 
und entsprechen wahrscheinlich einem in neuerer Zeit ofter be- 
schriebenen Biindel aus dem Flockenstiel, das am Boden des vierten 
Ventrikels medialwarts zieht (vgl. z. B. Obersteiner). 

Die motorische Quintuswurzel ist beim Vogel nicht immer in 
demselben Verhaltnis entwickelt wie die sensible. Ihre Fasern 
liegen der sensiblen Wurzel ventromedial an, erscheinen aber in 
Querschnittsbildem erst in einer Hohe, in welcher der sensible 
Hauptkem schon angeschnitten ist. Die kaudaleren Biindel 
entstammen einem Kern, der sich in der Gegend des dorsalen 
Facialiskemes anlegt und von diesem nicht immer sicher abzu- 
grenzen ist 1 ). Auf Fig. 17 ist er mit NV m I bezeichnet. Eine 
zweite grofiere Gruppe motorischer Quintusfasem entstammt einem 
ziemlich umfangreichen Kern NV m II, welcher sich zuerst an 
der ventralen Seite der motorischen Wurzel lateral von dem erst- 
genannten motorischen Kern anlegt, bald aber auch auf die dorsale 
Seite der Wurzel hiniibergreift. 

Im ventralen Teil des Querschnittes hat der Schleifenkem in 
dieser Hohe an GroJJe den Trapezkem nahezu erreicht. Man iiber- 
sieht jetzt den Verlauf der Trapezfasern zwischen den beiden oberen 
Oliven, sowie die Entbiindelung der peripheren Faserbiindel auch 
im Schleifenkem. Dorsolateral von der Olive sammelt sich bereits 
ein Feld quergeschnittener Fasern an, das weiter cerebralwarts 
pragnanter hervortritt, die laterale Schleife. 

Zusammenfassung. 

1. Beim Uebergang des Riickenmarks zur Medulla oblongata 
grenzt sich beim Vogel vom Hinterhorn ein ventraler Teil ab, 
den wir als Mittelhorn bezeichnet haben. Von den Hinterstrangs- 


1 ) Ich mochte auch noch nicht mit absoluter Sioherheit ausschlie L'cn. 
daB er doch vielleicht zum Facialis gehort. 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 37 

kernen sind die Oollschen erheblich starker als die Burdach&chen. 
Konstant findet sich ein medianer Gollseher Kern. Femer tritt 
im Hinterstrangsgebiet weiter proximalwarts eine bogenformige 
graue Masse, das Promontorium, auf. 

2. Der Vogel hat eine gut ausgebildete untere Olive von ahnlich 
einfachem Bau wie die niederen Sauger. Ein starker Zug ventraler 
peripherer Bogenfasem muB als Oliven-Kleinhirnbahn gedeutet 
warden. Nebenoliven sind nicht konstant, die Pyramidenbahn, 
wenn iiberhaupt vorhanden, nur rudimentar. Sie fiihrt wahr- 
seheinlich nur Fasem der Hirnnerven und kreuzt proximalwarts 
von der Schleifenkreuzung. 

3. Der Hypoglossus hat einen ventralen und einen starkeren 
dorsalen Kern. 

4. Die Vaguswurzel tritt groBtenteils dorsal vom Feld der 
spinalen Quintuswurzel aus. Eine Teilung des sehr stark ent- 
wickelten Vaguskerns ist nicht moglich. Man kann nur einen 
groBzelligen ventralen Teil abgrenzen, der vielleicht auch Hypo- 
glossusfasern abgibt (vgl. S. 15). Als sicher kann eine Faser- 
verbindung mit dem Nucleus ambiguus gelten, soweit dieser auf- 
findbar. Die Glossopharyngeuswurzel liegt dorsal von der des 
Vagus, ihr Kern lateral vomVaguskern. DieKreuzung desFasciculus 
solitarius bezw. seiner Kollateralen findet man bei alien unter- 
suchten Vogeln. 

5. Der Nucleus lateralis extemus ist umfangreich und konstant. 
Eine Teilung in einen dorsalen und ventralen Abschnitt ist nicht 
moglich. Den Nucleus lateralis intemus bildet eine diffuse An- 
haufung wenig zahlreicher zerstreuter Zellen. Als selbstandiges 
Gebilde laBt sich nur bei einzelnen Gattungen (Rhea) der 
Nucleus ambiguus nachweisen. 

6. Der Cochlearis hat 3 Kerne, den groBzelligen, den klein- 
zelligen und den Eckkern. Der Eintritt von Wurzelfasern in den 
kleinzelligen Kern ist nicht leicht nachzuweisen, trotzdem ist sein 
Zusammenhang mit dem Cochlearis unzweifelhaft, da er dem 
groBeren Teil der Trapezfasern den Ursprung gibt. Ein kleinerer, 
aber nicht unbetrachtlicher Teil der Trapezfasern entstammt dem 
Eckkern, der vielleicht zum Teil dem vorderen Akustikuskern der 
Sauger entspricht. Der grofizellige Kern, der dem Hauptkern des 
sog. Tuberculum acusticum der niederen Sauger homolog ist, ist 
An der Bildung des Trapezkorpers unbeteiligt, entsendet dagegen 
starke Bogenfasern zur Raphe, die wir als ein Analogon der 
Heldachen Bahn und der Striae acusticae der Sauger auffassen. 
Kleinzelliger und Eckkern entsenden keine oder nur sparliche 
derartige Bogenfasern. Zwischen dem gro'B- und kleinzelligen 
Kern scheint eine umfangreiche Faserverbindung zu bestehen. 
Ziige ins Kleinhirn sind nicht nachweisbar. Der Trapezkorper 
ist bei alien Vogeln sehr gut entwickelt. 

7. Als Endstatten des Vestibularis kommen die Kernsubstanz 
der Formatio fasciculata, der Triangularkern, der Deitert sche und 
der Bechterewsche Kern in Frage. Alle diese Kernmassen sind stark 


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38 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 

ausgebildet. Relativ sparlich ist der Eintritt vonWurzelfasern in,den 
dreieckigen Kern. Sicher besteht eine gekreuzte Wurze]. Alle Kerne 
haben hochstwahrscheinlich Verbindungen zum Kleinhirn; sicher 
existiert eine solche Faser verbindung beim Deiters&chen und 
Bechtereiv schen Kern, am starksten bei letzterem. 

8. Der Facialis hat 2 Kerne, einen ventralen und einen dorsalen, 
wahrscheinlich auch eine gekreuzte Wurzel. Das Facialisknie ist 
nicht zu einem Sagittalschenkel ausgezogen. Die austretende 
Wurzel liegt im wesentlichen lateral von der spinalen Trigeminus- 
wurzel. 

9. Fur den Abducens laBt sich nur ein Kern nachweisen. Seine 
Verbindung mit der oberen Olive, der Olivenstiel, ist bei alien 
Vogeln auffindbar, aber diirftig. 

10. Der Trigeminus hat einen sehr voluminosen und zellreichen 
sensiblen Hauptkern. Namentlich bei Plegadis ist er so enorm 
entwickelt, daB er sich seitlich weit iiber das Niveau des Rauten- 
bodens erhebt und geradezu an den Lobus nervi trigemini mancher 
Fische erinnert. Die spinale Wurzel entspricht derjenigen der 
Sauger. Die gekreuzte Wurzel ist stark. Eine Verbindung zum Klein- 
him laBt sich mit groBer Wahrscheinlichkeit identifizieren, weniger 
sicher die Substantia ferruginea. Der motorische Quintus hat 
wahrscheinlich zwei Kerne, von denen der eine dem Hauptkern 
der Sauger entspricht, wahrend der andere die Stelle des dorsalen 
Facialiskernes in proximalen Ebenen einnimmt. 

11. Von weiteren Kerngebilden findet sich beim Vogel konstant 
und gut differenziert der Saulenkern der Raphe, die obere Olive, 
der Trapezkern und der Kern der lateralen Schleife. 

Ich beschlieBe diese Arbeit, indem ich meinem hochverehrten 
Lehrer, Herrn Geheimrat Ziehen , auch an dieser Stelle fur die rege 
Forderung meiner Untersuchungen aufrichtigen Dank ausspreche. 

Literatur - Verzeichnis. 

1. E . Bi8choff , Zur Anatomie der Hinterstrangskerne bei Saugetieren. 
Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 1899. 2. F. Brandis . Untersuchungen liber das 
Gehirn der Vogel. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 41. 3. Drdseke , Beitrag zur 
vergleichenden Anatomie der Medulla oblongata der Wirbeltiere. speziell 
mit Riicksicht auf die Medulla oblongata der Pinnipedier. Monatsschr. f. 
Psych, u. Neurol Bd. VII. 4. Edinger . Vorlesungen liber den Bau der nervosen 
Zentralorgane. 6. Aufl. 1900. 5. Friedlander , Untersuchungen iiber das 

Riickenmark und das Kleinhirn der Vogel. Neurol. Zbl. 1898. No. 8 u. 9. 

6. S . Ph. Gage , Proceed. Amer. Microsc. Soc. 1895. Bd. 17. S. 185—238. 

7. v. KoUnker . Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Leipzig 1893. 

8. Kre%8 . Zur Kenntnis der Medulla oblongata des Vogelgehirns. Dissert. 

Zurich 1882. 9. Meizler , De medullae spinalis avium textura. Inaug.-Dissert. 
Dorpat 1855. 10. Obersteiner , Anleitung beim Studium des Baues der 

nervosen Zentralorgane. 1912. 11. Ramon y Cajal, Estructura de los centros 
nerviosos de las aves. Revista trimestral de histologia normal y patologiea. 
Madrid 1888. 12. P. Schilpbach, Beitrage zur Anatomie und Physiologie der 
Ganglienzellen im Zentralnervensystem der Taube. Ztschr. f. Biologie. 1906. 
13. Stieda , Studien iiber das zentrale Nervensystem der Vogel und Saugetiere. 
Ztschr. f. wissenschaftl. Zoologie. Bd. 19. 14. Derselbe, Studien iiber das 
zentrale Nervensystem der Wirbeltiere. Ztschr. f. wissenschaftl. Zoologie. 
Bd. 20. 15. Wallenberg , Die basalen Aeste des Scheidenwandbiindels der 


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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 39 

Vogel (Rami basales tractus septo-mesencephalici). Anat. Anz. Bd. XXVIII. 
1906. 16. Derselbe, Neue Untersuchungen iiber den Himstamm der Taube. 
Anat. Anzeiger. Bd. XXIV it. XXV. 1903—1904. 17. Derselbe, Der Ur- 
spnmg des Tractus isthmo-striatus (oder bulbo-striatus) der Taube. Neurol. 
Zbl. 1903. 18. Derselbe, Eine zentrifugal leitende direkte Verbindimg der 
frontalen Vorderhirnbasis mit der Oblongata (und Riickenmark?) bei der 
Ente. Anat. Anzeiger. Bd. XXII. 1902. 19. Derselbe, Eine Verbindung- 
kaudaler Himteile der Taube mit dem Striatum (Tractus isthmo-striatus 
oder bulbo-striatus ?). Neurol. Zbl. 1898. 20. K. Westphal, Ueber Akustikus-. 
Mittel- itnd Zwischenhirn der Vogel. Dissert. Berlin 1898. 21. E . AT. 

Williams, Arbeiten aus dem neurologischen Institut in Wien. 1908. Bd. 17. 
S. 137. 22. Th. Ziehen , Makroskopische und mikroskopische Anatomic des 
Ruckenmarks. Bardelebens Handb. d. Anat. d. Menschen. 

Abkurzungen. 

a. == faserarmes Feld an der ventrolateralen Peripherie, b. = Dekus- 
sationsfasern der Raphe. B. = Bechterews cher Kern. Bo. = Bogenzug an der 
ventralen Peripherie, c. = gekreuzte Vaguswurzel. C. a. = Vorderhom. 
C. m. = Mittelhom. C. p. = Hinterhorn. C. tr. = Corpus trapezoides. 
d. = Fasem aits dem Vaguskem in der Richtung auf die spinalo Quint us- 
wurzel imd den Nucleus lateralis externus. D. = Deitersscher Kern. 

0. = wahrscheinlich afferente Fasern zum Vaguskern. E. — Eckkern des 
Akustikus. f. = absteigende Vestibulerbahn. F. f. — Formatio fasciculate. 
F. 1. p. = Fasciculus longitudinalis posterior. F. m. a. — Fissura mid. 
anterior. Fn. a. = Vorderstrang. F. s. — Fasciculus solitarius. F. S. dec. 
= Kollateralenkreuzung des Fasc. solitarius. g. = Faserfeld zwisclien 
Substantia Rolandi und Mittelhom. H. =* Heldsc.he Bahn. h. = Stiel- 
fasem des Nucleus ambiguus. i. = wahrscheinlich Aquaduktwurzel des 
Trigeminus. k. = Flockenstielfasern ? k' = sekundare Bahn aus dem 
Bechtereivschen Kern ? K S B a = aufsteigende (dorsale) Kleinhirnseiten- 
strangbahn (Fleehsigsches Biindel). K S B d. = Kleinhirnseitenstrang- 
bahn, wahrscheinlich absteigend (vgl. S. 3). 1. = Trapezfasem + cerebello- 
nukleare Trigeminusfasem 4- Faisceau en crochet. L. = Lissauersche Rand- 
zone. N. a. = Nucleus ambiguus. N. B. = Burdachacher Kern. N. G. ■ 
Goll&cher Kern. N. G. m. = medianer (roW>cher Kern. N. 1. — Nucleus 
lateralis. N. 1. e. = Nucleus lateralis externus. N. 1. i. = Nucleus lateralis 
intemus. N. lm. 1. = lateraler Schleifenkern. N. R. = Saulenkem der Raphe. 
N. r. t. = Nucleus reticularis tegmenti. N.tr. — Tri^ngularkem des Akustikus. 
N. trap. — Trapezkem. N. V. m. = motorischer Trigeminitskern (I und II). 
N. V. S. = sansibler Hauptkern des Trigeminus. N. V. sp. = Kern der spinalen 
Trigeminuswurzel. N. VI. == Abducenskern. N. VII. d. = dorsalor Facialis- 
kern. N. VII. V. = ventraler FacialLskern. N. IX. = Keni des GIosso- 
pharyngeus. N. X. = Kern des Vagus. N. XII. d. = dorsaler Hypoglossus- 
kem. N. XII. V. = ventraler Hypoglossuskem. 0. = groBzelliger Cocli- 
leariskern. 01 . i. = untere Olive. 01 . i. d. — dorsales Blatt der unteren 
Olive. 01 . i. V. = ventrales Blatt der unteren Olive. Co. = Nebenoliven. 
Ol. S. = obere Olive. Ov st. = Stielfasem der oberen Olive, p. — Pyra- 
midenfasern ? P. = kleinzelliger Cochlearlskern. Pro. = Promontorium. 
Pr. r. = Processus reticularis. Py. = rudimentare Pyramiden ? r. = Faier- 
biindel zwischen Form?atio fasciculata und kleinzelligem Cochleariskern. 
R. = Raphe. S. f. = Substantia ferruginea ? S. R. = Substantia Rolandi. 
V. = Vorwall. V. m. = motorischer Trigeminus. V. s. = sensibler Trige¬ 
minus. V. sp. = spinale Wurzel des Trigeminus. VI. = Nervus abducnes. 
VII. = Nervus facialis. VIII. C. = Ner\ r us cochlearis. VIII. v. = Nervus 
vestibularis. I X. = Nervus glossopharyngeus. X. = Nervus vagus. 
XII. = Nervus hypoglossus. 

Fig. 1 und 11 stollen Sclmitte von Rhea. Fig. 2 einen Schnitt von 
Cycnus, Fig. 5, 6 und 9 Schnitte vom Huhn. Fig. 10 und 14 Schnitte 
von lbycter. Fig. 12 und 19 Schnitte von der Ente, Fig. 18 einen Schnitt 
von Plegadis, alle anderen Figuren Schnitte von Anhinga dar. 


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40 S c h o e n h a 1 s , Uober einige Falle von induziertem Irresein. 


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(Aus der Psychiatrischon Universitatsklinik Jena. 
[Direktor: Geheimrat Professor Bin stranger.]) 

Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 

Von 

Oberarzt Dr. SCHOENHALS, 

kommandiert zur Klinik. 


Der Umstand, dali eine ganze Familie, Mutter und drei Solme, 
in der hiesigen Klinik zur gleichen Zeit wegen der gleichen Seelen- 
storung behandelt wurde, gibt mir Veranlassung, diesen nach meh- 
reren Richtungen hin interessanten Fall und einige im Laufe der 
Jahre ebenfalls hier zur Beobachtung gelangte Falle von in- 
duziertem Irresein zur Verbffentlichung zu bringen. 

Aus einer benachbarten Stadt des GroBherzogtums wurde auf bezirks- 
arztliohes Zeugnis der 27 jahrige Landwirt Gustav K. in die hiesige Klinik 
eingeliefert, indem zugleich im amtsarztlichen Attest mitgeteilt wurde, daB 
auch die Mutter und die beiden Briider des Eingelieferten gemeingefahrlich 
geisteskrank seien und in den nachsten Tagen gleichfalls eingeliefert 
werden wiirden, nachdem gegen sie der Antrag auf Entmiindigung gestellt 
worden ware. Der Grund zu dieser MaBnahme war folgender, wie sich aus 
dem pfarramtlichen Gutachten, welches nach einer sehr nachahmenswerten 
Gewohnheit im GroBherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach den bezirks- 
arztlichen Zeugnissen bei der Einlieferung beigefiigt wird, ergibt: 

Eines Tages kam die Mutter des Patienten, die Witwe K.. zum Pfarrer 
imd meldete ihm an, dali sie nebst ihren drei Sohnen aus der Gegend fort- 
ziehen wiirden, weil sie vom ganzen Dorfe verfolgt imd gehetzt wiirden. So 
sei z. B. im Hause „Gift gestreut“, das sich durch einen immerwahrenden 
„Leiohengeruch“ bemerkbar mache. Der Pfairer begab sich darauf mit 
Frau K. in deren Gehoft. Bei seinem Eintritt fand er die Familie ziemlich 
triibselig um denTisch sitzend. Der alteste Sohn, jener zuerst eingelieferte 
Gustav K., bestatigte dem Pfarrer, daB iiberall im Hause von unbekannter 
Hand „Gift gestreut“ sei, und zeigte auf Verlangen demselben die Spuren 
an mehreren Mehlsacken und an dem staubigen, rufligen Kiichenfenster, 
fiihrte den Pfarrer dann in die Schlafstube, wo angeblich ein „deutlicher 
Leichengeruch“ bemerkbar sein sollte, und sprach auch sein MiBtrauen 
gegen die Mutter und die von ihr bereiteten Speisen aus. 

Bis zum Abend hatten dann die Briider ein von Gustav K. auf der 
Kasseler landwirtschaftlichen Ausstellung aufgelesenes Schriftchen (iiber 
Peru-Guano) und einen dort gekauften Anzug im Garten vergraben . Sie 
fiihlten sich darauf freier und waren im Begriff, noch weiter in der Art 
„in dem Hause aufzuraumen 44 , indem sie mit Hilfe der Mutter allerlei Sachen, 
Kleidungsstucke, Ackergeratschaften im Garten vergruben und in den 
Brunnen warfen. 

Der Pfarrer, sofort das Krankhafte dieses Gebarens erkennend, ging 
mit dem Gustav K. zum Bezirksarzt, welcher die Einweisung desselben in die 
hiesige Klinik und der iibrigen Familie in das Eisenacher Krankenhaus in die 
Wege leitete, von wo letztere hierher iibergefiihrt wurden. 

Derselbe Pfarrer gibt dann auch in dankenswerter Weise von seiner 
Kenntnis der Familie K. und deren Vorfahren folgenden Bericht, der vom 
Lehrer des Ortes noch durch untenstehenden Stammbaum vervollstandigt 
mirde. 


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S c h o e n h a U . Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 41 


Von den Vorfahren mutterlicherseits ist der GroBvater des Patienten 
lange Jahre Schulze gewesen, von dem die alteren Leute noch heute mit 
groBer Achtung reden, und die Familie K. wird daher heute noch allgemein 
im Dorfe „Schulzens“ genannt. Von der GroBmutter mutterlicherseits ist 
nichts, was auf eine geistige Abnormitat schlieBen lieBe, bekannt. Die aus 
dieser Ehe entsprossenen Sohne 1—5, sowie die Tochter No. 7 waren geistig 
zwar nicht hervorragend, aber gesund: stille Leute, die ihre Arbeit ver- 
richteten, sich des beaten Rufes erfreuten, miiBig und niichtern, gutmiitig, 
aufriclitig und ehrlich in ihrer Gesinnung. Korperlich schienen sie etwas der 
Frische und Elastizitat zu entbehren (wie der Lehrer schreibt); besonders 
aber hatte der Vater des Patienten, Johannes K. (No. 6) etwas Mattes in 
seinem Wesen. 

Eine wesentlich starkere Belastung findet sich auf miitterlicher Seite; 
der GroBvater mutterlicherseits war ausgesprochener Alkoholiker, streit- 
siichtig, tyrannisch und soli im Wirtshaus nach einem Streite mit seinem 
Sohne plotzlich gestorben sein. Seine Frau, die GroBmutter mutterlicherseits 
wurde allgemein als tiichtige, brave Hausfrau gelobt, die sehr unter der 
tyrannischen Art ihres Mannes zu leiden gehabt hatte. 

Die vier aus dieser Ehe entsprossenen Kinder, von denen die Mutter 
imserer Patienten die zweitalteste ist, waren a lie nicht normal. Die alteste 
Tochter (la) war leutescheu und geistig beschrankt, zeigte sich fast nie in der 
Oeffentlichkeit. Einer der dortigen Einwohner gab an, daB er sie wahrend 
seines 19 jahrigen Dortseins nur zweimal zu sehen bekommen habe. Die 
Mutter unseres Patienten, Anna Katharina (2a), wird als ehrgeizige, geld- 
stolze, dabei aber strebsame, fleiflige Hausfrau geschildert. die sich jedoch 
scheu von den anderen Frauen des Dorfes femhielt und bei der ein sehr tnifi- 
trauisches Wesen , sowie eine gewisse geistige Beschrankt heit auffiel. Der 
nachfolgende Bruder (3a) war ebenfalls leutescheu, sprach fast niemals 
jemand an, dankte nicht, wenn er gegriiBt wurde, hielt sein Anwesen im 
groBen und ganzen gut in Ordnung, schloB aber seine Familienmitglieder von 
der AuBenwelt ab. Niemand mochte ihn leiden. Dabei war er der Familie 
gegeniiber aufbrausend imd herrisch. Er ist eines plotzlichen Todes ge¬ 
storben. Die jungste Schwester (4a) der Mutter lebt als imheilbare Geistes- 
kranke in einer hiesigen Pflegeanstalt. 

Ueber die Patientin selbst wird berichtet, daB sie die einklassige Volks- 
schule besucht habe und dann die Fortbildungsschule. Der Aelteste besonders, 
Gustav, war ein gut begabter Junge, der meist die Zensur 1 erhielt, die anderen 
waren nicht gut begabt. Die ganze Familie hielt sich von den Dorfbewohnern 
abgesondert, was auch darin zum Ausdruck kam, daB das Hoftor fast stets 
verschlossen war. 

Bei Gustav K., dem zuerst eingelieferten Familienmitglied und altesten 
Sohne, scheinen schon langere Zeit Verfolgimgs- und Beziehungsideen be- 
standen zu haben. Er gibt bier an, daB die Dorfbewohner der Familie schon 
scets nicht wohl gesinnt seien: „Das Vieh werde behext, so daB es nicht 
ziehen wolle; beim Pfliigen werde er des ofteren beschimpft.“ In ein akutes 
Stadium ist aber anseheinend diese latente Geistesstorimg nach dem Be- 
suche der Kasseler landwirtschaftlichen Ausstellung im Juni 1911 getreten. 
Auf der Riickfahrt von dieser Ausstellung, wo der sonst sehr zuriickgezogen 
lebende Menseh nun plotzlich eine Unmenge neuer, verwirrender Eindriicke 
zu verarbeiten gehabt hatte, fiel ihm auf dem Boden seines Abteils im Zuge 
ein Fleck auf, welcher nach seiner Meinung einen liblen Geruch ausstromte. 
Damals sei, wie er angab, zuerst der Gedanke gekommen, daB man ihm nach 
dem Leben trachte und dieser Fleck von einer von den Feinden hinge- 
gossenen giftigen Fliissigkeit herriihre, die ihn hatte betauben sollen. Auch 
an der schon angefiihrten Idee, daB seine Feinde zu Hause Gift gestreut 
hatten, hielt er in der ersten Zeit mit Zahigkeit feat. 

Korperlich fand sich bei dem schlanken,gesund aussehenden 27jahrigen 
Menschen nichts Besonderes. Der etwas eckige, 59 cm im Umfang messende 
Schadel zeigte keine auffallenden Degenerationszeichen. Die inneren 
Organe waren gesimd. Am Nervensystem fanden sich beiderseits gleiche, 
mittelstarke Sehnen- und Hautreflexe. Die Pupillenreaktion war ungestort. 


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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 43 


Wahrend er in der ersten Zeit die eingangs erwahnten Wahnideen fest- 
hielt und auch gelegentlich Stimmen hdrte, oft unruhig und angstlich war 
und in dieser Period© eine Unmenge hypochondrischer Ideen auflerte, zeit- 
weise auBerordentlich erregt wurde, unter dem Verlangen seiner sofortigen 
Entlassung eine drohende Haltung annahm, die aber bald in weinerliche 
Stimmung umschiug, kam er doch allmahlich zu einer gewissen Krankheits- 
einsicht, korrigierte seine Wahnideen, die sehr wechselnde Stimmung wurde 
gleichmafiiger. Er bat ruhig und sachlioh um seine Entlassung, welche ihm, 
da er in der letztenZeit eigentlich nur noch ein etwas verschrobenes, barockes 
Wesen darbot, aber in der Anstalt unter Aufsicht tiichtig arbeitete, schlieB- 
lich mit Einwilligung des Vormundes — er war in der Zwischenzeit ent- 
miindigt worden — in der Form der vorlaufigen Beurlaubung gewahrt 
wurde, ein Modus, der seine sofortige Wiedereinlieferung bei auftretender 
Verschlimmerung ohne weitere Formalitaten ermoglicht. 

Der 22 jahrige Bruder Reinhold K., welcher ebenfalls korperlich 
kraftig und gut genahrt war, am Nervensystem nichts Auffalliges zeigte, 
bot bei einer genaueren Intelligenzpriifung eine gewisse geistige Schwache 
dar, besonders was die Urteilsfahigkeit betraf. Er auBerte bei seiner Auf- 
nahme die gleiehen wahnhaften Ideen der Verfolgung und Vorgiftung wie 
der altere Bruder. Auch er war fest davon uberzeugt, daB irgendwelche 
Feinde im Dorfe Gift im Hause gestreut hatten, daB das Vieh verhext 
worden sei; denn anders konne er es nicht erklaren, daB ein Ochse plotzlich 
nicht mehr ziehen wolle und sich hinlege. Er gibt zu, mit Mutter und 
Briidern Kleidungsstiicke, die „wie Leichen rochen 44 , teils vergraben, teils mit 
Ackergeratschaften in den Brunnen geworfen zu haben, ,,weil sonst der- 
jenige, der diese Kleidungsstucke angezogen hatte, sicher hatte langsam 
absterben rniissen 44 . Die Kleidungsstucke gehorten zum groBten Teil^dem 
alteren Bruder; dieser habe sie auf der Ausstellung in Kassel getragen. Er 
gibt femer an, er und die ganze Familie hatten Hans und Gegend verlassen 
wollen, wenn nicht ihre Internierung dazwischengekommen ware. Ja sein 
Bruder habe sogar das ganze Anwesen niederbrermen wollen. Manche Nachte 
hatten sie alle nicht schlafen konnen des iiblen Geruchs wegen. Sie seien 
manchmal fast betaubt gewesen. Dann habe die Mutter mit den drei Sohnen 
das ganze Haus von oben bis unten durchsucht, hatte aber nichts we iter ge- 
funden als hier und da ein Haufchen, das wie Pulver aussah. Dieses sei auch 
in das Essen gefalien und habe es vergiftet, so daB sie es oft hatten weg* 
werfen rniissen. Von ihm wurde auch ein bestimmter Nachbar, der Bauer D., 
als derjenige bezeichnet, welcher die ganzen Feinde im Dorfe aufhetze, und die 
Mutter habe dem jiingsten Bruder schon oft zugeredet, dessen Sohn, den 
kleinen D., ,.zu erschlagen, wenn der Geruch imd die Schmahreden nicht 
aufhorten 44 . Auch der Biirgermeister ist ihr Feind und ,,vom kleinen D. ( !) 
aufgehetzt 44 . 

Interessant war es, wie bei wiederholten Unterredimgen und Fragen des 
Patienten dieser allmahlich die Wahnideen nicht mehr als eigene Wahr- 
nehmungen vorbrachte, sondern die Beobachtimgen des anscheinend in der 
Familie die groBte Autoritat genieBenden alteren zuerst erkrankten Bruders 
zu den seinigen gemacht hatte, indem er stets, wenn einer der geheimnis- 
vollen Vorgange in Zweifel gezogen wurde, antwortete: ,,Gustav hat es doch 
gehort, Gustav hat es doch gerochen 44 , und schlieBlich kamen ihm doch 
Zweifel, ob er selbst wohl die von ihm und seinem Bruder angegebenen 
Wahrnehmungen wirklich gemacht habe, bis er endlich die Wahnideen voll- 
kommen korrigierte und den alteren Bruder fur krank hielt und alle diese 
Vorgange im elterlichen Hause als einen AusfluB dessen geistiger Storung 
betrachtete. Auf die Frage, wie er denn zu solchen Einbildiingen gekommen 
sei, antwortete er: „Wir haben das auch alles gerochen und an die Ver- 
folgungen gedacht, weil Gustav es sagte, weil er doch der Alteste ist und die 
Leitung hat.“ 

Auch Reinhold K. wurde nach Abgabe eines Gutachtens, in welchem 
ausgefuhrt wurde, daB die Geiste3storung zwar abgeklungen sei, aber die an- 
geborene Urteilschwache, auf deren Boden sie entstanden sei, auch noch 


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44 Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 


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weiterhin bestehen bliebe, wegen Geistesschwache im Sinne des § 6 BGB. 
entmiindigt. 

Der jiingste Sohn, Amo K.. 18 Jahre alfc. welcher korperlich nichts Ab- 
nomies, intellektuell ebenfalls eine gewisse Urteilsachwaohe darbot, machte 
im gro&en und ganzen dieselben Angaben wie sein vier Jahre alterer Bruder. 
Er korrigierte noch schneller und konnte bereita nach vier Wochen wieder 
entlassen werden. Es wurde die Diagnose Debilitat und psychische Infektion 
gestellt. 

Die Mutter schliefilich, 62 Jahre alt, ist ebenfalls etwas debil, korper- 
lieh gesund, hielt sieh nicht fur krank, teilte in Bezug auf die Wahn- und 
Yerfolgungsideen ganz die Anschauungen ihres altesten Sohnes, doch war sie 
lange nicht so erregt, stellte ihre krankhaften Vorstellungen gar nicht in den 
Vordergrund, verhielt sich hier geordnet und konnte ebenfalls bald gebeseert 
entlassen werden. 

Wenn man zuerst einmal den Stammbaum betrachtet, so ist es 
interessant, zu sehen, wie einerseits die ganze miitterliche Familie 
als Deszendenten eines Alkoholikers in der Familie alle geistig 
abnorm sind, bei einigen sich diese Abnormitat bis zum ausge- 
sprochenen Schwachsinn gesteigert hat. 

Weiterhin sehen wir, daB hier als Eltern unserer Patienten zwei 
originar verschrobene, scheue, miBtrauische Menschen zusammen- 
treffen und daB durch diese konvergente Belastung eine Geistes- 
krankheit resultiert, welche sich ganz in der paranoischen Ge- 
dankemichtung der Eltern bewegt. 

Femer ist es moglich, in diesem Falle den Mechanismus geistiger 
Infektion zu studieren. Wie der zweite Bruder hier angab und schon 
oben erwahnt wurde, waren ihm niemals Zweifel an der tat- 
sachlichen Grundlage der von Gustav geauBerten Verfolgungs- 
und Beeintrachtigungsideen gekommen, weil dieser als der Aelteste 
die Leitung des Haushalts hatte, die Landwirtschaft besorgte und 
eine groBe Autoritat besaB. Erwahnt ist schon worden, daB die 
ganze Familie mehr oder weniger urteilschwach war und daB sie 
alle in der gleichen Weise wie der zuerst erkrankte alteste Bruder 
erblich belastet waren. 

Wir haben also eine suggestive Beeinflussung mehrerer dis - 
ponierter, geistig minderwertiger Individuen durch den — Autoritat 
und Einflup geniefienden — Geisteskranken, dessen krankhafte Wahn - 
ideen als solche zu erkennen ihre kritische Veranlagung nicht aus - 
reichte. 

Will man nun den Fall dieser Familienerkrankung klassi- 
fizieren, so muB man sich nochmals klar machen, daB die Frage 
der Uebertragung geistiger Erkrankungen von einer Person auf die 
andere — also das induzierte Irresein — im Laufe der Zeit eine 
ziemliche Wandlung erfahren hat. Auch jetzt sind noch nicht die 
Akten endgiiltig darxiber geschlossen, was strenggenommen zum 
induzierten Irresein gerechnet werden soil. 

In der ziemlich umfangreichen Literatur sind eine Menge Falle 
beschrieben, die heute nicht mehr dazu gerechnet werden wiirden. 
Besonders Schonfeldt hat in diesem Sinne den Begriff einzuschranken 
versucht, indem er den Satz aufstellte, daB es nicht geniige, wenn 
z. B. zwei Personen gleichzeitig unter den gleichen Pradispositionen 


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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 45 


geistig erkrankten, sondern es miisse die Erkrankung des einen in dei- 
cies anderen ihre spezifische Ursache haben. 

In demselben Sinne auBert sich auch Weygandt. Noch weiter 
. geht Schonfeldt aber in seiner Einschrankung, wenn er verlangt, daB 
nur das strenggenommen zum induzierten Irresein zu rechnen ist, 
wenn nach Trennung des zuerst erkrankten A. von dem induzierten 
B. die Psychose des letzteren sich auch nach der Trennung unab- 
hangig weiter entwickeln und ausgebaut werden soil. 

Eine wesentlich weitere Umgrenzung des Begriffs zeigt die 
franzosische Auffassung, wie sie von Regis , Marandon de Montyel 
u. A. interpretiert wird. Sie unterscheiden drei Forraen: 

1. Folie simultanee, 

2. Folie imposee, 

3. Folie communiquee. 

Die erste Form wiirde dem Falle entsprechen, daB zwei Per- 
sonen sich unter denselben schadigenden Ursachen dieselbe psy- 
chische Erkrankung zuziehen. Es fehlt hier vollstandig die Beein- 
flussung des einen durch den anderen, also der innere Zusammen- 
hang beider Erkrankungen. 

Bei der Folie imposee werden die Wahnideen des A., welcher 
geisteskrank ist, auf B. iibertragen, der infolge einer moralischen 
oder intellektuellen Schwache dieselbe annimmt, aber sobald eine 
Trennung der beiden vorgenommenen wird und der EinfluB des 
intellektuellen Uebergewichts aufhort, davon ablaBt. 

Die dritte Form der Franzosen, die Folie communiquee, wiirde 
mit dem von Schonfeldt, Wollenberg, Weygandt geforderten engeren 
Begriffe sich in der Hauptsache decken: Ein Geisteskranker, A., 
iibertragt seine krankhaften Ideen auf B., der sie zu den seinigen 
macht und sie auch nach Trennung von A. selbstandig in demselben 
Sinne weiterentwickelt. 

Diese franzosische Einteilung hat jedenfalls den Vorzug des 
Praktischen, wenn auch anerkannt werden muB, daB bei der ersten 
Form, der Entwicklung zweier Geisteskrankheiten imter denselben 
auBeren Bedingungen, von einem induzierten Irresein eigentlich 
nicht die Rede sein kann. 

Um auf unsere Familie zuriickzukommen, so ware solche ein 
typisches Bild fiir die sogenannte Folie imposee. Fiir letztere 
wurde in der hiesigen Klinik noch ein anderer typischer Fall 
beobachtet. 

Es handelte sich um einen 34 jahrigen Agenten Max B., der sich iin 
Jahre 1905 sechs Wochen zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand in der 
hiesizen Klinik aufhielt und hier exkulpiert wurde. Das Gutaohten, das ich 
der Gute des Herrn Professor Berger verdanke und in dem alles Wesentliohe 
enthalten ist, mag hier folgen. 

Der Agent Max B., geb. am 8. April 1871 zu Schm. ist, soweit bekannt, 
erblich nicht belastet. Sein Vater, der Tischler war, starb in hohem Lebens- 
alter an einem Nierenleiden; seine Mutter erlag gleichfalls hochbetagt 
einem Schlaganfall. 

Ueber seine Entwicklung in der friihesten Jugend ist nichts bekannt. 
Als Kind hatte er etwa im 7. Lebensjahre Diphtherie und hat im gieiohen 
Alter einen Sturz auf den Kopf erlitten, indem er von einer Scheune herabfiel. 


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S c h o e n h a 1 s . Ueber einige Ftille von induziertem Irresein. 


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Er war immer etwas schwachlich, hat sich jedoch geistig gut entwickelt und, 
wie er selbst angibt, auch in der Sohule sehr gut gelernt. Nach seiner Ent- 
lassung aus der Sohule beschaftigte er sich zunachst als Zigarrenmacher, 
gab aber schon nach ca. sechswochiger Arbeit diesen Beruf aus gesund- 
heit lichen Riicksichten auf und trat bei einem Schuhmacher in die Lehre; er 
blieb bei diesem drei Jahre lang, bis er ausgelemt hatte. Auci diesen Beruf 
lieB er bald wieder fallen, well er wegen seiner schwachlichen Brust das 
Sitzen nicht vertragen konnte, und fand in G. in einem Manufakturwaren- 
geschaft eine Stellung als Hausdiener, die er ungefahr ein Jahr innehatte. 
Infolge eines Sturzes hatte er sich eine Quetschung des Brustkastens zu- 
gezogen, wurde etwa * 4 Jahr lang im Krankenhause zu G. behandelt und 
gebessert entlassen. Nach seiner Wiederherstellung ging er nach W. und 
arbeitete dort als Schuhmacher. Doch auch hier hielt er nur kurze Zeit aus 
und trieb sioh dann auf der Wanderschaft ein Jahr lang in Deutschland, der 
Schweiz, Siidfrankreich, Oberitalien und Oesterreich umher, arbeitete aber 
nur gelegentlich kurze Zeit. Dann arbeitete er ein halbes Jahr lang in G. in 
Oberschlesien als Schuhmacher, in B. bei W. einige Wochen und kehrte im 
Jahre 1894 wieder in seine Heimat nach G. zuriick. Dort nahm er zunachst 
seine Tatigkeit als Schuhmacher wieder auf imd war zwei Jahre bei einem 
Schuhmacher in Stellung, bis er sich im Jahre 1896 verheiratete. Er lieB sich 
darauf als selbstandiger Schuhmacher in G. nieder, konnte sich jedoch nur 
ein Jahr lang halten und trat dann als Arbeiter in eine Fabrik ein, in der er 
bis zum Jahre 1898 tatig war. 1898 gab er auch diese Stellung wieder auf 
und ubernahm Agenturen; er vermittelte Geldgeschafte u. s. w. Da er auch 
hierbei ein geniigendes Auskommen nicht finden konnte, ging er im Jahre 
1900 in die chemische Fabrik nach Gr. a. M., in der er bereits nach y 4 Jahre 
eine schwere Anilinvergiftung sich zuzog. Nach dem Krankenjournal des 
Stadtischen Krankenhauses zu H. a. M. wurde er dort am 14. November 1900 
durch Vermittlung der Polizei eingeliefert, nachdem er in H. (seinem Wohn- 
orte) auf dem Bahnhofe bewuBtlos zusammengebrochen war. Sein Zustand 
war ein sehr bedenklicher, besserte sich jedoch so weit, daB er schon am 
26. deaselben Monats auf sein Drangen hin entlassen werden konnte. Er 
wollte zu seiner Familie nach G. heimreisen, obwohl noch sehr ausgepragte 
Kopfschmerzen, Schwindelgefiihl und Uebelkeit bestanden. Auf dieser Reise 
nach G. iiberfielen ihn noch zweimal kurze Ohnmachten, und bei seiner 
Ankunft war er noch so schwach, daB er sich in seine Wohnung fahren lassen 
muBte. Er lag dann langere Zeit in G. krank und wurde am 7. Mai 1901 auf 
Veranlassung des behandelnden Arztes auf Kosten der Thiiringischen Ver- 
sicherungsanstalt zu W. in einem Erholungsheim zu Kl. untergebracht, aus 
demeram 6. Juli 1901 gebessert entlassen wurde; jedoch war, wie aus den 
uns zur Verfiigung gestellten Akten der Thiiringer Versicherungsanstalt 
hervorgeht, sein Zustand immer noch ein derartiger, daB ihm die Invaliden- 
rento, die er jetzt noch erhalt, bewilligt werden muBte. Seit 1903 versuchte 
er sich durch Agenturen einen Ncbenerwerb zu verschaffen; jedoch scheint 
es, wie der Stadtratskommissar fur die Invalidenversicherung in G. am 
29. Juni 1904 der Thiiringer Versicherungsanstalt mitteilt, daB sein Ver- 
dienst aus diesen Geschaften nur gering gewesen sei. Er will nur wenig Al- 
kohol zu sich genommen und mafiig geraucht haben. 

Im November 1904 erhielt B. von dem an Verfolgungswahn (Paranoia) 
leidenden und wegen dieser chronischen Geisteskrankheit entmiindigten 
Dr. Hans L. in G. den Auftrag, ihm gegen ein entsprechendes Honorar 
Material zu verschaffen, welches die Tatsachlichkeit der Verfolgungen des 
Dr. L. von seiten seiner Umgebung nachweisen und so die Aufhebung der 
Entmimdigung ermoglichen sollte. B. hat sich von diesem Zeitpunkte an, 
besonders da diese Angelegenheit bei dem groBen Vermogen des Auftrag- 
gebere sehr gewinnbringend zu werden versprach. eingehend mit dieser Aid- 
gabe befaBt, zahlreiohe Besprechungen mit dem Kranken gehabt und auch 
dfters die Nachte in dem Hause desselben zugebracht, um seine Beobachtun- 
gen anstellen zu konnen. Der Kranke selbst hat ihm bei diesen Zusammen- 
kiinften, ebenso wie auch seine Gattin, die an der gleichen Krankheit zu 
leiden scheint und die krankhaften Vorstellungen ihres Mannes fiir Wahr- 


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Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 47 


heit halt, seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mitgeteilt und mit 
ihm ausfiihrlich durchgesprochen. Sie haben ihn femer in die pekuniaren 
Verhaltnisse der Famihe genau eingeweiht nnd ihm den Verdacht, daB einer 
ihrer Verwandten den Dr. L. deshalb fur geisteskrank erklart haben 
wollte, um ungehindert iiber das grofle Vermogen schaiten zu konnen, be- 
kannt gegeben. B. hat sich nun junausgesetzt und sehr intensiv dieser An- 
gelegenheit gewidmet und glaubte naeh einiger Zeit durch eigene Beob¬ 
achtungen den Verdacht des Dr. L. bestiitigen und ihm geeignetes tatsachr 
lichee Material fur seine Zwecke liefern zu konnen. 

In dem Termin am 24. Dezember 1904 machte B. unter Eid eine ganze 
Reihe von Angaben iiber Tatsachen, die er beobachtet haben wollte und 
durch welche die Verfolgungen des Dr. L. f ja selbst Vergiftungsversuche 
der Dr. L.schen Familie bestatigt werden sollten. Die Unrichtigkeit dieser 
Angaben lieB sich sehr leicht nachweisen, imd gegen den Agenten Max B. 
wurde von der Staatsanwaltschaft in G. die Anklage wegen Meineids erhoben. 

In der Voruntersuchung gegen ihn hatte er am 21. Mnrz 1905 und am 
31. Marz 1905 zugestanden, unter Eid einige unrichtige Angaben gemacht 
zu haben, um so den von Dr. L. gewiinschton Nachweis leisten zu konnen. 
Dieses teilweise Gestandnis hat er spater wieder zuriickgenommen und 
gleichzeitig in zahlreichen Eingaben und Briefen, die er wiihrend seiner 
TJntersuchungshaft verfaBt hat, eine ganze Anzahl von Vorstellungsver- 
kniipfungen geauBert, die Zweifel an seiner Zurechnungsfahigkeit aufsteigen 
lieflen. Es wurde daher zu der Schwurgerichtsitzung am 4. Juli 1905 ein 
psychiatrischer Sachverstandiger hinzugezogen. der auf Grund der bei der 
Vernehmung gemachten Beobachtungen nach § 81 StPO. den Antrag auf 
Ueberweisimg des B. in eine offentliche Irrenanstalt zur Beobaohtung seines 
Geisteszustandes stellte. B. wurde daher am 13. Juli 1905 in die hiesige 
psychiatrische Klinik aufgenommen und hierselbst bis zum 23. August 1905 
beobachtet. 

Die hiesige objektive Untersuchung ergab folgendes: 

B. ist von schwachlichem Korperbau, hat eine GroBe von 160 cm und 
ein Gewicht von 50 kg. Seine Gesichtsfarbe ist blaB. Die Schleimhaute sind 
sehr blaB und leicht blaulich verfarbt. Der Schadel ist leicht asymmetrisch 
gebaut und zeigt einen Umfang von 57 cm. Auf der Scheitelhohe befindet 
sich an der hinteren Grenze des Stimbeins, derselben parallel verlaufend, 
eine ca. 10 cm lange, mit dem Schadelknochen nicht verwachsene Haut- 
narbe. Der Befund an den inneren Organen ist ein normaler, jedoch besteht 
eine leichte Abschwaehung des Schalles iiber den hinteren und unteren 
Partieen der linken Lunge imd sind vereinzelto Rasselgerausche liber der 
linken Spitze derselben zu horen. 

Die Untersuchung des Nervensystems ergab eine leichte Steigerung der 
Sehnenphanomene. Es besteht maBiges Zittem der Hande. Die Pupillen 
sind mittehveit, gleich, rund und reagieren prompt bei Lichteinfall und bei 
Konvergenz. Die Sprachartikulation ist intakt. 

B. selbst klagt iiber Kopfsehmerzen, die sich gelegentlich zu ReiBen 
in der linken Kopfsoite steigern, Appetitlosigkeit und eine gewisse Schwache 
der linken Hand und des linken Beins — Erscheinungen, die er wohl mit 
Recht auf die schwere Anilinvergiftung im Jahre 1900 zuriickfiihrt. 

Auf geistigem Gebiete zeigt sich bei B. folgendes: 

Er ist vollstandig ortlich und zeitlich orientiert. gibt in zusammen- 
hiingender Weise seine Vorgeschichte an und antwortet prompt auf alle an 
ihn gerichteten Fragen. Sinnestauschungen bestehen nicht. und es sind auch 
Anzeichen, die auf solche schlieBen lieBen, wiihrend der ganzen Dauer seines 
hiesigen Aufenthaltes nicht beobachtet worden. Er zeigte immer ein scheues 
und gedriicktes Wesen und lehnte es haufig ab, sich mit dem Arzte iiber seine 
Angelegcnheiten zu unterhalten. Zu anderen Zeiten gab er gute Auskimft 
una produzierte dabei eine ganze Reihe krankhafter Vorstellungen. So 
auBerte er am 21. Juli 1905: die ganze Verhandlung gegen ihn sei nur ziim 
Schein gewesen. Die Gerichtschreiber und der Staateanwalt hatten sehr 
gehofft, daB auch er wie Dr. L. fiir geisteskrank erklart werde, damit die von 
ihm erbraohten Beweisstiicke ignorieit werden konnten. Dieselben Men- 


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48 Schoonhals. Ueber einige Fiillt* von induziertem Irresein. 


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schen, die Dr. L. verfolgten, wollten auch ihn auf das Eis locken. Der 
Assistant von der Staatsanwaltschaft sei der Vermogermvormund von Dr. L.. 
nnd deshalb sei der Steatsanwalt gegen Dr. L. nnd ebenso gegen ibn ein- 
genommen. Dies sei ihm im Verlaufe dtr Verhandlungen immer mehr und 
mehr klar geworden. In einer anderen Unterredung. am 10. August 1905. 
auBerte er auch Bedenken gegen seinen Verteidiger imd sprach die Absicht 
aus, denselben beiseite zu schieben und seine Angelegenheit selbst zu fiihren; 
denn auch der Rechtsanwalt sei von seinen Verfolgern gegen ihn beeinfluBt. 
Er meint ganz zuversichtlich lachelnd, er habe seine Beweise und wolle es 
schon machen. Zu anderen Zeiten zweifelt B. doch an der Richtigkeit seiner 
Vermutungen und glaubt selbst, daB er zahlreiche Vorstellungen von Dr. L. 
iibemommen habe; so z. B. am 14. August. Er gibt als Erklarung an, daB er 
sich unausgesetzt mit der L.schen Angelegenheit beschaftigt und, da die 
Angaben des Herrn Dr. L. von dessen Frau bestatigt wurden, dieselben mehr 
und mehr fiir zutreffend gehalten und vielleicht manche Tatsache unter 
dem Einflusse der ihn beherrschenden Vorstellungen falseh gedeutet habe. 
Jedoch ist diese Einsicht in die Krankhaftigkeit einiger Ideenkreise von ihm 
nur eine voriibergehende, imd er halt z. B. am Tage seiner Entlassung aus der 
Klinik wieder an den alten Vorstellungen, daB der SStaatsanwalt beteiligt 
sei u. s. w. fest, glaubt sich in den Besitz von Gegenbeweisen und schneidet 
jede weitere Unterhaltung mit dem Arztc dadurch ab, daB er darauf hinweist, 
daB diese Verfolgungen seiner Pei son mit der augenblicklich gegen ihn er- 
hobenen Anklage nichts zu tun hatten. Mit aller Entschiedenheit erklart 
er sich dagegen, daB man ihn etwa fur geisteskrank lialten konnte. 

Die hier geschilderten Krankheitserscheinungen bieten das 
wohlbekannte Bild des Verfolgungswahns, der Paranoia, dar, und 
B. scheint daher an derselben Erkrankung zu leiden, mit welcher 
sein Auftraggeber, Herr Dr. L., seit vielen Jahren behaftet ist. 
Bei dieser Feststellung taucht natiirlich zunachst die Frage auf. 
ob B., der die Krankheitsgeschichte des Dr. L. kennt, nicht einfach 
simuliert, um so der Strafe wegen seines Meineides zu entgehen. 
Gegen diese Annahme spricht 1. der Umstand, daB er die 
Wahnideen des Dr. L. in konsequenter Weise weitergebildet hat, 
indem er sie auf seine Personlichkeit ausdehnt und so weit geht. 
daB er auch seinen Verteidiger fiir seinen Feind halt. Vor alien 
Dingen spricht dagegen, daB B. selbst auf das lebhafteste dagegen 
protestiert, als geisteskrank zu gelten, wahrend alle Simulanten es 
sich angelegen sein lassen, in den Augen ihrer Umgebung als 
geistesgestort zu erscheinen, und krankhafte Erscheinungen auf den 
verschiedensten Sinnesgebieten simulieren, was bei B. nie der Fall 
gewesen ist und wozu er auch nie, selbst auf suggestive Fragen von 
seiten des Arztes, verleitet werden konnte. Er sieht auch in der 
psychiatrischen Begutachtung eine Machenschaft der L.schen 
Gegner mit dem Zwecke, ihn mundtot zu machen. Auch das 
Schwankende in seinen Angaben spricht nicht, wie vielleicht unein- 
geweihte Beurteiler annehmen mochten, fiir Simulation, sondern 
steht in innigster Beziehung mit der anzunehmenden Entstehungs- 
weise der Erkrankung des B. Er leidet zwar an derselben Krank- 
heit wie Dr. L., jedoch ist die Entstehung derselben bei ihm eine 
ganz andere. Wir miissen die bei ihm vorliegende geistige Erkran¬ 
kung als sogenanntes „induziertes Irresein “ auffassen: B. ist der 
psychischen Infektion von seiten des Dr. L. erlegen und hat die 
krankhaften Vorstellungen desselben ubernommen und selbstandig 


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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 49 


weitergebildet. Die ihm zweifellos trotz ihrer Erkrankung geistig 
iiberlegene Personlichkeit des Dr. L., dessen krankhafte Vor- 
stellungen durch die Frau L. eine Bestatigung erfuhren, hat be- 
stimmend auf die Vorstellungskreise des B., dem der lockende 
GeWinn und der Wunsch, etwas zu finden, das klare Urteil triibte, 
eingewirkt. Bei seiner intensiven Beschaftigung mit dieser Ange- 
gelegenheit, die ihn am Tage und zum Teil auch nachts in Anspruch 
nahm, hat er sich mehr und mehr in die Gedanken- und Ideenkreise 
des ihm auch an Bildung weit iiberlegenen Auftraggebers hinein- 
gelebt und wohl schlieBlich selbst an die vielleieht anfangs nur mit 
Vorsicht aufgenommenen Angaben desselben geglaubt. DaB Dr. Jj. 
eine geeignete Personlichkeit ist, um einen derartigen EinfluB auf 
seine Umgebung auszuiiben, geht daraus hervor, daB es ihm ge- 
lungen zu sein scheint, seine Frau vollstandig von der Tatsachlich- 
keit seiner Vorstellungen zu iiberzeugen und somit bei ihr auch eine 
induzierte Paranoia hervorzurufen. Bei dem innigen Zusammen- 
leben der Ehegatten miteinander ist dies sehr haufig. Auffallend ist, 
•daB die kurze Zeit, in welcher B. in innigerem Kontakt mit dem 
Geisteskranken stand, geniigt haben soil, bei ihm gleichfalls ein 
induziertes Irresein hervorzurufen. Die Form der bei ihm gefun- 
denen induzierten Paranoia ist diejenige, welche man mit dem fran- 
zosischen Namen als ,,Folie imposee“ bezeichnet und welche sich 
dadurch auszeichnet, daB einem geistig und moralisch schwachen 
Individuum die Wahnideen von einer ihm iiberlegenen Personlich¬ 
keit aufgedrangt werden. Auch hier tritt dem geisteskranken B. 
kein normales Individuum gegeniiber, das imstande ware, den 
krankhaften Vorstellungen eine geeignete Kritik entgegenzusetzen; 
B. hatte im Jahre 1900 eine schwere, mit nervosen Erscheinungen 
einhergehende Intoxikation durchgemacht, die seine dauernde In¬ 
validity bedingte. Sein Gedachtnis imd seine sonstige geistige 
Leistungsfahigkeit scheint durch diese Intoxikation nicht wesent- 
lich gelitten zu haben; jedoch sinti, wie sehr haufig, die hochsten 
und kompliziertesten Leistungen wie die Bildung von Begriffen 
zweifellos geschadigt, imd so erklaren sich die kritiklosen Behaup- 
tungen, die er im Termin am 24. Dezember 1904 ausgesprochen, 
sowie die wirre Weise, wie er die Angaben des Dr. L. liber den 
Vergiftungsversuch fur Tatsache halt und als solche dritten Per- 
sonen weiter erzahlt. DaB bereits zur Zeit der Ableistung des Eides 
am 24. Dezember 1904 die oben skizzierte psychische Erkrankung 
vorgelegen hat, dafur spricht auBer den in diesem Termin ge- 
machten abenteuerlichen Angaben vor allem ein Brief, den B. am 
26. Dezember 1904 an die Redaktion des ,,Volksblattes“ in G. ge- 
schrieben hat. In demselben spricht er von Aktenfalsehungen, Ver- 
mogensunterschlagungen u. dergl. mehr. 

Der Verlauf des induzierten Irreseins, namentlich aber der als 
Folie impose bezeichneten Form der induzierten Paranoia, ist 
meist ein derartiger, daB das psychisch infizierte Individuum, 
sowie es dem verhangnisvollen Einflusse der infizierenden Person¬ 
lichkeit entzogen wird, allmahlich die iibernommenen Wahnideen 

Monataschrlft f. Psychiatric ru Keurologie. Bd. XXXIII. Heft 1. 4 


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50 Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 


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korrigiert, deren Haltlosigkeit einsieht und sie daher fallen laBt. Ini’ 
vorliegenden Falle hat die den ihn ganz beherrschenden Vorstellun- 
gen sich widerspruchslos angliedernde gegen ihn erhobene Anklage 
wegen Meineides zweifellos fordernd auf die Bildung neuer Wahn- 
ideen und begiinstigend auf den weiteren Ausbau der von Dr. L. 
iibernommenen V orstellungen gewirkt. Doch auch in diesem Falle 
sehen wir, wie das infizierte Individuum, durch die Uatersuchungs- 
haft dem ungiinstigen personlichen Einflusse entzogen, trotz der 
oben angefiihrten, die Wahnbildungen fordemden Momente sich 
zeitweise zur Kritik derselben durchringt und die in den Akten ent- 
haltenen Gestandnisse ablegt. Auch wahrend seines hiesigen Auf- 
enthaltes sind solche Zeiten klareren Urteils vorgekommen, und es 
ist zu hoffen, daB B., den Einfliissen Dr. L.s entzogen, nach Er- 
ledigung der eigenen gerichtlichen Angelegenheit die Wahnideen, 
mit denen er sich notgedrungen immer wieder beschaftigen muB, 
vollstandig korrigiert und zu einer gesunden Kritik der ihm von 
Dr. L. aufgedrangten und der zum Teil selbstandig entwickelten 
krankhaften Vorstellungen gelangt. 

Das von uns erforderte Gutachten fassen wir dahin zusammen: 

Der Agent Max B. aus G. leidet an einer Form des induzierten 
Irreseins, die man als induzierte Paranoia bezeichnet. Dieselbe 
hat zur Zeit der Ableistung des Eides am 94. Dezember 1904 bereits 
bestanden und muB als krankhafte Storung der Geistestatigkeit, 
welche die freie Willensbestimmung ausschlieBt, im Sinne des 
§ 51 StGB aufgefaBt werden. 

Ein anderer Fall, welcher dem Typ der Folie communiquee 
ganz entsprechen woirde, ist der Fall Sch. 

Die 55 jahrige Vermieterin Louise Sch. wurde im Jahre 1899 durch 
bezirksarztliches Zeugnis wegen chronischer Paranoia in die hiesige KJinik 
eingewiesen. Die Patientin wollte als Kind nie erheblich krank gewesen sein; 
sie litt besonders seit der Pubertatszeit anAnamie, hatte bei der Periode viel 
Beschwerden iu^d schrie laut auf. Der Arzt bezeiclmete sie damals als. 
..hysterisch 14 , Auch emstere Krankheiten in den spateren Jahren negiei te sie. 
Nur hatte sie zeitweise iiber Kopfschmerzen und migraneartige Anfalle zu 
klagen. Ihre intellektuelle Ent wick lung war nach Angabe ihrer Sch wester 
Sophie eine ausgezeichnete. Patientin soil in der Schule eine der fleiBigsten 
imd lebhaftesten gew’esen sein. 

Die geistige Erkrankung der Luise Sch. begann im Jahre 1879. Sie 
lemte in P., wo sie damals zusammen mit ihrer Sch wester ein Putzgeschaft 
inne hatte, den Prediger Dr. K., einen Freimaurer, kennen, dem sie einmal 
in der Zeitung ein Gedicht widmete. Dieses Gedicht soil besonders unter den 
Geistlichen einen enormen Aufruhr herv-orgerufen haben. Seit diesei* Zeit 
wahnte Patientin sich von den Geistlichen, vor allem von Dr. K. verfolgt und 
glaubte, daC die mit Dr. K. verbiindeten Freimaurer ihr Geschaft zugrur.de 
richteten. Sie verliefi mit ihrer Sch wester P. und w^anderte nach England aus.. 
Sie konnte aber auch dadurch der Verfolgung nicht entgehen; denn iiberall, 
auf der Eisenbahn, auf dem Schiffe, in Holland zeigten sich ihre Feinde. So 
soil auf der Fahrt nach England ein Englander auf sie gedeutet imd gesagt 
haben: „She is pronounced the cat“, ein Doppelsinn, den sie auslegte: 
sie sei die zu Dr. K. gehorende Katze. Ein Bahnbeamter habe auf der Fahrt 
nach Holland im Abteil zu einem Englander gesagt: ,,Die Freimaurer ver- 
treiben diese Madchen.“ 

Nach der Riickkehr aus England betrieb Patientin in J. ein Putzge¬ 
schaft mit ihrer Sch wester zusammen. Auch hier setzten die Geistlichen und 


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Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 51 

Freimaurer ihr© Verfolgungen fort. Durch allerlei Machinationen wurde sie 
vom Besuche der Kirche abgehalten : imraer sei jem^nd in der letzten 
Minute mit einer dringenden Bestellung dazwischengekommen; sei es ihr 
wirklich einmal gelungen, in die Kirche hineinzukommen, so habe sie sie 
bald wieder verlassen miissen, urn Wasser zu lessen. Die Freimaurer 
sorgten auch dafiir, daB sie in alien Geschaften iibervorteilt wurde imd alles 
teurer kaufen mvisse als andere Leute. Auch benutzten sie die in jhrem. 
Zimmer steher.den Glasschranke als Telephon imd belauschten dadurch ihre 
Gesprache; all© Worte, die sie spreche, stiinden am nachsten Tage in der 
Zeitung. Auch ihr Hauswirt stecke mit ihnen unter einer Decke, er steno¬ 
graphies alles nach, was sie rede. Die Studenten, die bei ihr zur Miete 
wohnten, hat ten immer alle ihre Wiinsche gewuBt imd waren zu nichts 
anderem dagewesen, als sie zu argem, indem sie z. B. ihre Miete nicht 
bezahlten. 

Seit 1891 litt die Patientin an ,,AufstoBen von Worten“, wie „der, die,. 
das“, „baby“ u. s. w. Sie gab einmal verdorbenen Speisen die Schuld, ein 
andermal dem Umstand, daB ihr Hauswirt in einer Irrenanstalt gewesen sei, 
ein drittes Mai fiihrt sie das AufstoBen auf Gift zuriick, das ihr in die Speisen 
geschiittet worden sei. 

Seit 1898 hatte die Patientin Phoneme, „ein Klingen und Singen in den 
Ohren“, meist hohe Tone, die sie mit „i“ bezeichnete. Diese einzelnen Tone 
gingen allmahlich in ein ,,Stimmengewirr“ liber, bis deutliche Akoasmen sich. 
einstellten. Sie horte einzelne Worte 20—30 mal hintereinander, so ,,um 
Gottes willen, um Gottes willen!“ oder .,iiberall verflucht, uberall verflucht !“ 
oder ,,du bist verflucht an Leib und Seele! ‘ Wahrend eines Konzertes horte 
sie bestandig den Refrain: ,,Luischen Sch., du bist verriickt!“ Sie fiihlte 
sich dadurch offentlich blamiert. Einmal ist sie durch Stimmen verleitet 
worden, auf den Bahnhof zu gehen, um dort ihre Stiefmutter abzuholen. 
Als sie dieselbe nicht fand imd wieder nach Hause ging, horte sie einen 
hinter ihr gehenden Passanten sprechen: ,,Das ist ja das arme Weibchen, 
das durch die Stimmen irregeleitet werden soll.“ Seit dieser Zeit wisse sie r 
daB die Stimmen sie necken und belastigen wollten. Auch sprachen die 
Stimmen ihr immer vor, was sie gerade zu tun beabsichtige. 

Zuweilen hat Patientin auch ,.Fratzen“ gesehen und im Halbschlaf bei 
geschlossenen Augen Visionen gehabt. 

Die korperliche Untersuchung hier ergab auBer Anamie und be- 
ginnender Arteriosklerose nichts Besonderes. Die Reflexe waren lebhaft, 
nicht ganz gleich, die Iliakalpunkte beiderseits druckschmerzhaft. Die Be- 
riihrungsempfindlichkeit war nicht halbseitig gestort. Gehor imd Geschmctck 
waren vollkommen intakt. 

Patientin auBerte hier die oben angefiihrten Wahnideen in erregtem 
Tone und gab den Geistlichen und Freimaurem die Schuld, daB sie in eine 
Irrenanstalt gebracht worden sei. Sie klagte uber mangelnden Stuhlgang, 
eine Erscheinung. die sie schon seit dem Jahre 1889 beobachtet haben will., 
Er sei infolge eines ,.Ekels“ ausgeblieben. Sie negierte auch hier Stuhlgang, 
trotzdem derselbe in normaler Weis© vorhanden war. Von dem Opium, das 
ihr verordnet wurde, glaubte sie ,.Zuckungen“ zu bekommen. 

Sie wurde auf Antrag ihrer Schwester wieder entlassen. 

Diese drei Jahre alter© Schwester, Sophie Sch., litt, wie aus dem 
bezirksarzt lichen Zeugnisse hervorging, an den gleichen Wahnvorstellungen 
wie Luise; jedoch hatte sie koine Halluzinationen. Von ihrer Einlieferung 
in die Klinik hatte der Bezirksarzt abgesehen. 

Die intellektuelle Entwicklung Sopliiens scheint mit der ihrer Schwester 
nicht Schritt gehalten zu haben: sie lemte etwas schwer und beschaftigte 
sich im Gegensatz zu Luise fast ausschliefllich mit hauslichen Arbeiten. Sie, 
auBerte bei einem Besuche der Schwester Wahnideen, die sich zwar mit 
denen der Luise zum groBen Teil decken, aber doch verschiedene Ab- 
weichungen aufweisen, die auf einen selbstandigen weiteren Ausbau des 
Wahnsystems sch lie Ben lassen. 

Auch Sophie fiihrte die geschaftlichen Verluste auf die Verfolgungen 
des Dr. K. zuriick. Eine Verwandte dieses Herrn, die bei ihr zur Miete 

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52 Schoenhals. Ueber einige Fall© von induziertem Irresein. 


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wohnte, hab© ©inmal geauBert, si© begreife nicht, daB si© (die Schwestern 
Sch.) iiberhaupt noch lachen konnten. Aus diesen Worten hab© si© ge- 
schlossen, daB Dr. K. etwas gegen si© im Schild© fiihr©. D©r Glaub© an ©in© 
Verfolgung wurd© befestigt, da ©in Schneidenneister zu ihr sagte, jedes 
Hans in P. sei ©in Freimaurerhaus und di© Freimaurer konnten in ihr Ge- 
schaft hineinsehen. Das Erstaunen dieses Mannes iiber ihren EntschluB, 
nach England auszuwandem, deutete sie als ,.Entsetzen, als ob si© in den 
Tod gehen wollten“. Auch si© hat den Englander auf dem Schiffe die 
doppeldeutigen Wort© sprechen gehort und im Sinne der Patientin ausgelegt. 
Auch sie habe di© Worte: ,,Die Freimaurer vertreiben diese Madchen“ ver- 
nommen und sie, da sie die einzigen Frauen im Abteil gewesen seien, auf sich 
und ihr© Schwester bezogen. Sie legte diese Worte einem Englander und 
nicht dem Eisenbahnbeamten in den Mund. Seit dieser Zeit wollte sie von 
einer Verfolgung durch die Freimaurer nichts mehr gehort haben. 

Auch Sophie hat sich gewundert, daB die Logisherren alles gewuBt 
hat ten, was sie mit ihrer Schwester gesprochen habe. Si© hatten sich z. B. 
einmal einen Vogel gewiinscht; am Nachmittag sei jeder der Herren mit 
einem Vogel, den er fur sich gokauft habe, nach Hause gekommen. Wie die 
Patientin glaubte auch sie. daB der Hauswirt alle ihre Gesprache und Ge- 
danken kenne. 

Die Schwester Sophie litt an ,,AufstoBen von Worten“ erst seit 
1 y 2 Jahren. Sie fiihrte dies auf eine ihr nicht bekannte Substanz zruiick, die 
ihr in den Wein oder ins Essen geschiittet worden sei, oder auf den schlechten 
Geruch in der Wohnung. Dieselbe Erscheinung bei der Patientin erklarte sie 
sich aus dem GenuB von Salizylpulver. Seit einem halben Jahre war das 
,,AufstoBen von Worten“ wieder verschwunden. 

Stimmen hat die Schwester nicht gehort; nur klagte auch sie iiber 
..Singen in den Ohren“, wenn sie sich biicke. 

Hier findet sich folgender Mechanismus: Zwei Schwestern, die 
in inniger Gemeinschaft leben, erkranken beide an Paranoia. Lie 
zuerst erkrankte Lnise, der geistig iiberlegene Teil, iibertragt die 
Krankheit auf die zweite Schwester Sophie, die aber die Wahnideen 
auch nach der Trennung noch weiter und selbstandig entwickelt. 

Den ersten Fall der franzosischen Auffassung, die Folie 
simultanee, d. i. das gleichzeitige Nebeneinandersichentwickeln 
zweier Geisteskrankheiten ohne irgendwelche Einwirkung des A. 
auf den B. wiirde folgender Fall darstellen: 

Im August 1899 wurde uns die 52 jahrige Miillerstochter Karoline K. 
wegen Melancholie zugefiihrt. Von einer erblichen Belastung war nichts 
bekannt. Ein Bruder ist nach Amerika ausgewandert und dort verschollen; 
eine Schwester hat 3 Wochen vor der Einlieferung der Patientin Suizid 
begangen. Ernstere Kinderkrankheiten wollte die Patientin nicht iiber- 
standen haben. Die Periode stellte sich mit dem 14. Lebensjahie ein. 
Patientin war nicht verheiratet, half nach Verlassen der Schule den Eltern 
in der Wirtschaft imd lebte seit dem Tode des Vaters mit der oben erwahnten 
Schwester zusammen. 

Nach dem pfarramt lichen Gutachten gingen die unklaren Gedenken 
der Kranken weiter zuriick, soweit ersichtlich, darauf, daB sie sich f Is schul- 
dig betrachtet, daB dem in Amerika weilenden Bruder des von ihm eibetene 
Geld verweigert worden war. Sie rechnete sich das als Siinde an und ergab 
sich einem steten Griibeln dariiber, arbeitete nicht mehr, irrle ruhelos tmixer, 
war nicht mehr unter Menschen zu bringen. Eine ernstere Bespiechi r.g mit 
dem Pfarrer schien gute Erfolge zu haben, der kurz darauf erfolgei.de Selbst- 
mord der Schwester wirkte r.ber verschlimmerr d euf ihren Geisles zusU i d. 
Wie der Bezirksarzt sich auslieB, zeigte sie acht Wochen vor ihrer Aufnsl me 
Gem itsverstimm mg und LebensiiberdruB, Erscheinimgen, die sich so weit 
steigerten, dafl sie die Nahnmg verweigerte. Wegen Selbstmordgefahr 
erschien die beschleunigie Einlieferung in die Anstalt notwendig. 


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S choenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 53 


Nach eigenen Angaben war Patientin seit zwei Jahren krmk, und 
zwar „nervds“. Die „traurige Stimmung" soli seit 1898 besftirden haben. 
Seit dieser Zeit habe sie an Schlaflosigkeit gelitten und nur wenig Nahrung 
zu sich genommen. Sie gestand wiederholte Strangulationsversuche 
ein und hatte auch noch in der ersten Zeit ihres Hierseins die Absicht, sich 
das Leben zu nehmen. 

Bei ihrerAufnahme befand sie si eh in eincm sehr schlechtenEmahrungs- 
und K^aftezustande. Die Reflexe waren lebhaft, zum Teil nicht ganz gleich. 
Die Klagen iiber allgemeine Druck- und Klopfempfindlichkeit cm Korper 
waren hauptsachlich hypochondrischer Natur. 

Wahrend ihres Aufenthaltes in der Klinik auBerte Patientin messen- 
hafte Wahnideen, hielt sich fur ,,des Teufels GroBmutter* 4 , glaubte, da alle 
ihre Suizidversuche miBgluckt waren, sie sei kein Mensch und konne iiber- 
haupt nicht sterben. Sie bekem haufig Angstzustande, in denen sie sehr 
erregt wurde, jaramerte viel und miehte sich Vorwiirfe: sie habe eino groBe 
Siinde begangen, sie sei schuld, daB der Himmel imraer grau sei. Sie sorgte 
sich darum, wiesie die Aerzte fur die vielen Bemuhungen bezahlen konnte: 
sie wolle die Wasche dafiir waschen oder man solle sie in den Schnee hinunter- 
werfen. Haliuzination wurde bestimmt in Ah ode gestellt. 

Unter dem EinfluB einer Opiumbehandlung schwanden die Angst- 
anfalle allm'ihlich, Patientin zeigte Krankheitseinsicht, fing wieder an zu 
arbeiten, war ruhig und geordnet nehm an Korpergewicht standig zu und 
konnte nach acht Monaten als geheilt wieder entlassen werden. 

Die Schwester der Patientin war im Mai 1899 ebenfalls an Melancholic 
erkrankt. Ueber ihre Entwicklung in den der Erkrankung voraufgegangenen 
Jahren ist nichts bekannt. Die Ursache der Gemutsverstimmung bei dieser 
Schwester war die Krankheit der Patientin: sie qualte sich mit Sorgen 
iiber deren Zustand, wurde traurig, konnte nicht mehr arbeiten und machte 
nach wiederholten miBgliickten Suizidversuchen drei Wochen, bevor uns die 
Schwester gebracht wurde, ihrem Leben durch Erhangen ein Ende. 

Es mig hinzugefiigfc werden, d&B die Patientin, Karoline K., im Juli 
die3es Jahres wieder in die hiesige Klinik eingeliefert. wurde, und zwar 
wegen Dementia post apoplexiam. Die Zwischenanomnese ergab, dafi sie 
iramer still fiir sich allein gelebt und sich nie recht beschaftigt hatte. Acht 
Wochen vor ihrer Aufnahme erlitt sie einen Schlaganfall, konnte aber nach 
10 Tagen bereits wieder aufstehen. Sie auOerte aOerhand verschrobene 
Ideen, w'ollte durchaus in den Himmel, mochte aber nicht sterben. Es 
stellten sich Angstzustande ein, und sie wurde sehr erregt. Die Sprache 
wurde erschwert, Patientin aB nicht mehr allein und muBte gefiittert werden. 
Nach 14 tagigem Aufenthalt in der Anstalt erlag sie einem Herzschlage. 

Ein anderer Fall, der anhangsweise angefiihrt werden soli 
wegen des medizinisch-juristischen Interesses, das er bietet, und den 
man wohl auch, obwohl die andere Halfte, die Ehefrau, nicht ver- 
nommen werden konnte, der Folie imposee zuzurechnen ist, soli 
hier im Auszuge folgen: 

Rudolf K., Rechtsanwalt, 69 Jahre alt, ist sowohl von vaterlicher als 
auch von miitterlicher Seite her belastet. Der GroBvater vaterlicherseits 
war Trinker und ist an einem Schlaganfall gestorben. Ein Onkel miitter- 
licherseits ist geisteskrank, ein Vetter von dieser Seite befindet sich in der 
Irrenanstalt Sch., ein Bruder Ks. ist in der gleichen Anstalt verstorben. 

K. besuchte das Gymnasium, diente als Einjahrig-Freiwilliger und 
studierte dann Rechtswissenschoften. Als Referendar nahm er an dem 
Feldzuge 1866 teil und zog sich hier ein Magenleiden zu, zu dem spater ein 
Herzleiden sich gesellte. Er ist verheiratet, hat keine Kinder. Bis zum 
Jahre 1884 war er Amtsrichter in Z., dann Rechtsanwalt in B., seit 1895 in C., 
wo er bis zu seiner Aufnahme in die Irrenanstalt seine Praxis ausiibte. 

Die geistige Erkrankung machte sich zuerst dadurch bemerkbar, daB 
K. sich in Z. von einem Hilfsrichter zumGegenstand systematischer Angriffe 
gemacht fiihlte. Dieser Hilfsrichter soil auch andere, insbesondere hohere 


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» 54 Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 


, Justizbeamte, den Landgerichts- und Oberlandesgerichtsprasidenten, gegen 
K. gehetzt haben, so daB dessen Beschweiden stets abschlagig beschieden 
wurden. Um den Verfolgungen in Z. zu entgehen, trat K. aus dem Justiz- 
dienste aus und zog nach B., um dort eine Praxis als Rechtsanwalt aus- 
zuiiben. 

In B. wurden ihm sofort neue Hindernisse in den Weg gelegt. Der 
Justizm inis ter verweigerte ihm die Zulassung als Rechtsanwalt, und K. 
konnte dieselbe erst durch eine reichsgerichtliche Entscheidung durchsetzen. 
Er muBte nun erfahren, daB seine Verfolger sich nicht mit seiner Ver- 
drangung aus dem Richteramt begnugten, sondern ihm auch nach Leib und 
Leben trachteten. 

Einen mit ihm dasselbe Haus bewohnenden Chemiker Dr. Sch. und 
dessen Familie beschuldigte er des Diebstahls, der Hehlerei und des ver- 
suchten Giftmordes. Er behauptete, Sch. verfolge ihn standig Ha.it giftigen 
Gasen und stifte seine (Ks.) Dienstboten und Schreiber zu gleichen Nach- 
stellungen an. Seine Frau klagfce ihm, daB sie in der Kiiche wiederholt 
durch aus der darunter belegenen Sch.schen Wohnung aufsteigende 
Chemische Diinste inkommodiert worden sei, wovon er sich selbst iiberzeugt 
habe. Ferner soil Dr. Sch. geruchloses Pulver in die Betten des K.schen 
Ehepaares imd in das Essen gestreut und fliichtige Giftstoffe in den Hausflur, 
in die Wohnraume und Betten Ks. gespritzt haben, die bei K. und seiner 
Frau Benommenheit des Kopfes und Uebelkeit hervorgerufen hatten. Auch 
soil Sch. nachts in K.’s Schlaf zimmer eingeschlichen sein, um ein Attentat 
auf denselben zu veriiben. K. strengte einen ProzeB gegen diesen Verfolger 
an, fing aber, da er sein venneintliches Recht bei den Gerichten nicht fand, 
an, selbst AbwehrmaBregeln zu treffen. Er riistete seine Dienstmadchen mit 
Revolvem aus und suchte mit dem Schleppsabel be waff net gemeinsam mit 
seiner Frau bei Nacht die Wohnung nach Dieben ab. Er ging mit der Waffe 
in der Hand den Weg, den Di. Sch. zu gehen gezwungen war, und verriegelte, 
wieder in Gemeinschaft mit seiner Frau, die Sch.sche Wohnung, so daB dieser 
die Tiir durch den Schlosser offnen lassen muBte. 

In einer anderen Wohnung bezichtigte er einen unter ihm wohnenden 
Drogisten des versuchten Giftmordes. Dieser Drogist soli die Zimmerdecke 
durchbohrt und giftige Diinste in die K.sche Wohnung geleitet haben. Die 
so entwickelten Gase hatten bei K. imd seiner Frau Schwindel und Ohn- 
machten hervorgerufen. 

Nachst den Mitbewohnem beschuldigte er seine Kollegen der gegen 
sein Leben gerichteten Verfolgung. Er behauptete, seine Amtsrobe sei mit 
Gift bespritzt worden; als er dieselbe angezogen habe, habe er in der Herz- 
gegend einen furchtbaren Schmerz verspiirt. In dem Koffer, in*dem er seine 
Robe aufzubewahren pflegte, fand er einen Fleck, den er als von einer giftigen 
Fliissigkeit herriihrend deutete. 

Durch Anzeigen bei Gericht verwickelte er sich in zahlreiche Prozesse, 
die jedoch durchweg zu seinen Ungunsten entschieden wurden. Es nutzte 
auch nichts, daB er die Prozesse bis in die hochsten Instanzen trieb und Be- 
schwerde iiber Beschwerde einreichte. Er trat schliefilich die Flucht in die 
Oeffentlichkeit an und gab unter dem Titel „Kein Rechtsschutz bei der 
heutigen Justiz“ eine Broschiire heraus, in der er sich iiber die Koiruption 
des Richterstandes, seine Parteilichkeit und Bestechlichkeit beklagte. 

Nach seiner tlbersiedelung nach C. wurden die Verfolgungen daselbst 
in der gleichen Weise wie in B. fortgesetzt. Es bildete sich ein ganzes Kon- 
sortium von Leuten, die ihm nach dem Leben trachteten, um sich seine 
Grundstiicke zu minderwertigen Preisen anzueignen. Der Mittelpunkt dieser 
Ver8chworung soli der Justizrat Sch. gewesen sein, der sich zur Erreichung 
seines Zweckes aller Personen bediente, die Gelegenheit hatten, mit K. in 
nahere Beriihnmg zu kommen: der Dienstboten K.s, seiner Schreiber. 
seiner Hausgenossen. Sch. selbst soil ihn mittels eines Taschenzerstaubers 
mit einer giftigen Fliissigkeit bespritzt und ihn in den Gerichtsraumen 
standig mit giftigen Stoffen angegiiffen haben. Die Dienstmadchen sollen 
auf Veranlassung Sch.s die Hiihner K.s mit Wundwatte vergiftet und 
ihm und seiner Frau Gift ins Bett und ins Essen gestreut haben. Die Folgen 


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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 55 

bestanden fiir das K.sche Ehepaar gewohnlich in hochgiadiger Erregung 
verbunden mit Schlaflosigkeit (woran sie sonst nie gelitten hatten) und in 
:gastrischen Beschwarden. Die Gleichheit des Giftes — ein geschmackloses 
NTarkotikum — imd die zweck- und kunstgemaBe Verwendung desselben 
lie Ben K. auf einen Feind schlieBen, der Sachkenntnis besitze. 

Da die Dienstmadchen immer zu schikanosen Handlungen gegen das 
K.sche Ehepaar angestiftet wurden und oft nur zu diesem Zwecke in dessen 
Diensfc traten, so war dieses gezwungen, sich mit einer Aufwartung zu be- 
helfen. Als auch diese sich den feindlichen Einfliissen zuganglich zeigte, lebte 
K. mit seiner Frau ganzlich isoliert, beide in standigor Angst, sie konnten 
von ihren Veifolgem umgebracht werden. 

Seine Schreiber, unter denen standiger Wechsel herrschte, da er sie 
wegen Verdachts, sie wollten ihn vergiften, bald wieder entlieB, sollen mit 
einem Nachschiussel das Bureau geoffnet und daselbst Sublimatpulver 
gestreut haben. 

K. sowohl wie seine Frau machten die Wahrnehmung, daB zu dem 
Zeugleutnant G., der mit ihnen das Haus bewohnte, nachtlicherweile ein 
Mann gekommen sei, der sie dadurch angriffe, daB er ihnen von der Wohnung 
-des G. imd dessen Keller aus durch den Fuflboden und die Decke einen un- 
riechbaren, aber sehr heftig wirkenden gasformigen St off — wahrscheinlich 
arsenige Saure — zusandte. Nach dem Auszuge G.s sollen die Angriffe vom 
Nachbarhause aus fortgesetzt worden sein. 

In Eingaben imd Anzeigen, in denen er mit groBem Geschick zufallige 
Vorkommnisse imd gewisses Zeugenmaterial in seinem Sinne zu verwenden 
wuBte, beschwerte er sich bei dei Polizei, beim Landgericht imd Ober- 
lande8gericht, jedoch ohne jeden Erfolg. Dafur, daB seine Feinde ihre Ver- 
folgungen ungehindert betreiben konnten, machte er die Staatsanwaltschaft 
ver ant wort lich, die er beschuldigte, dafi sie wohlhabenden \'erbrechem die 
weitestgehende Schonung angedeihen lasse. Auch den katholischen Ge- 
meindekirchenrat und die stadtischen Behorden von C. bezichtigte er, 
seinen Verfolgem Vorschub zu leisten. Als ihm schlieBlich die Entmundigung 
droht, greift er zur Notwehr; er tragt stets ein groBes, im Heft feststehendes 
Messer bei sich, und sein Wahlspruch ist: .,Vim vi repellere licet!“ 

In der Irrenanstalt, in die er zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand 
zwecks Entmiindigung eingeliefert worden war, setzte er die maBlosen Ver- 
-dachtigungen gegen die Gerichte und seine vermeintlichen Feinde fort und 
fiihrte des ofteren seine Frau als Zvugin fiir die Tatsachlichkeit seiner Wahr- 
nehmungen an; denn sie habe an ihrem eigenen Leibe die Folgen des Giftes 
-gespurt, durch das seine Verfolger ihn zu vemichten drohten. 

Der arztliche Gutachter gab sein Votum fur die Entmundigung K.s 
wegen Geisteskrankheit („Verrucktheit‘-) im Sinne des § 6 BGB. ab. 

Das sind die Falle, welche in der hiesigen Klinik in einem Zeit- 
raum von 13% J&hren beobachtet worden sind. 

Es ergibt sich, daB — auch wenn wir den Begriff des indu- 
zierten Irreseins weiter fassen — diese Psychose eine relativ seltene 
Erscheinung ist. 

In Beziehung zu der hiesigen Aufnahmeziffer macht sie 
0,028 pCt. der Falle aus. 

Literatur - Verzeichnis . 

Finkelnburg , Ueber den EinfluB des Nachahmungstriebes auf die 
Verbreitung des sporadischen Irreseins. Ztschr. f. Psych. Bd. 18. — Mohr 9 
Das modeme „Zungenreden‘*. Eine psychische Massenepidemie. Psych, 
neurolog. Woch. No. 8. u. 9. — Schonfeldt , Max , Ueber das induzierte Lre- 
«ein (Folie communiqu6e). Arch. f. Psych. XXVI. — Silcorski , Eine psy¬ 
chische Erkrankung im Kiew’schen Gouvernement im Jahre 1892. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 50. Heft III IV. — Derselbe, Epidemischer freiwilliger Tod 


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Roper, Ziir Aetiologie der multiplen Sklerose. 


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und Totschlag in den Temowskischen Gehoften von Tiraspol, vgl. Ztschr. L 
Psych. Bd. 55. Heft III. — Velthusen , Darstellung und Beurteilung der 
Erweckungen im Elberfelder Krankenhause. Ztschr. f. Psych. Bd. 19. 
— Witkowski, L, 9 Einige Bemerkungen liber den Veitstanz des Mittelalters 
und iiber psychische Infektion. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 35. — Woods+ 
Notes of some cases of folie a deux in serveral members of the same family. 
Joum. of Mens. Science. 1897. Oktob. vgl. Neurol. Zbl. 1893. S. 1055 f.— 
Derselbe, Ueber die neueste psychische Epidemic. Psych.-k lin. Woch. 1907. 
S. 187 u. 191. — Literatur bei Wollenberg , Ueber psvchische Infektion. 
Arch. f. Psych. NX. 


(Aus der psyehiatrischen Klinik zu Jena. 

[Direktor: Geh. Rat Prof. O. Binswanger.]) 

Zur Aetiologie der multiplen Sklerose 1 ). 

Von 

Lr. ERICH ROPER, 

Die Aetiologie der multiplen Sklerose ist zurzeit noch un- 
geklart. Die meisten Autoren nehmen an, daB exogene Schadlich- 
keiten das Leiden verursachen. Pierre Marie wies 1884 nachdriick- 
lich auf das haufige Vorkommen von Infektionskrankheiten vor 
dem Beginn der multiplen Sklerose hin; vor ihm hatten schon 
Kahler und Pick den Zusammenhang zwischen Infektionskrank¬ 
heiten und multipler Sklerose betont. Oppenheim veroffentlichte 
1896 28 Falle, bei denen er genaue Erhebungen iiber die 
Entstehung des Leidens angestellt hatte; 11 der Patienten waren 
fur langere Zeit in innige Beruhrung mit Giften gekommen. Die 
meisten hatten mit Blei, einige mit Kupfer, Griinspan und Zink, 
einer mit Anilinfarben zu tun, in einem Falle war eine Vergiftung 
mit Kohlenoxyd voraufgegangen. Der Verfasser zieht aus dieser 
Zusammenstellung den SchluB, daB die Intoxikation zu den 
wichtigsten Ursachen der disseminierten Sklerose gehore, doch will 
er damit den anderen Momenten — Infektionskrankheiten und 
Trauma — ihre Bedeutung nicht absprechen. 

Von einer Reihe von Autoren wird auf die atiologische Be¬ 
deutung des Traumas hingewiesen, zuerst von Leube 1871; hieriiber 
besteht, wegen der praktischen Konsequenzen in Bezug auf die 
Unfallgesetzgebung, eine besonders reiche Kasuistik. Leyden 
betont eine besondere Art von Trauma, namlich die Erschiitterung 
der Wirbelsaule. 

In einer Dissertation veroffentlicht Focke 1888 die in der 
Literatur verstreuten Angaben des psychischen Traumas. 

l ) Vortrag gchalten auf der Versammlung der Vereinigung in it tel- 
dealt seller Psychiater und Neurologen in Hallo. *27. Okt. 1912. 


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Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 57 

Mit Nachdruck weist von Krafft-Ebing zuerst 1895 darauf hin„ 
dali unter den veranlassenden Momenten Erkaltung und Durch- 
nassung eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Auch Strapazen 
sollen das Leiden verursachen konnen. 

Manche Autoren messen auch dem Alkohol gewisse atiologische 
Bedeutung bei, andere auch dem Partus. Fast ubereinstimmend 
wird der Syphilis fur die Entstehung der multiplen Sklerose jede 
Bedeutung abgesprochen. 

Striimpell erkennt diese exogenen Faktoren iiberhaupt nicht ala 
atiologische Momente der multiplen Sklerose an. Die nach akuten 
Infektionskranklieiten auftretenden Krankheitsbilder, welche 
klinisch als multiple Sklerose imponieren, sind seiner Ansicht 
nach pathologisch-anatomisch als akute disseminierte Myelitis auf- 
zufassen. Ebensowenig erkennt Strumpell den Zusammenhang der 
multiplen Sklerose mit chronischen Intoxikationen an ; er gibt an^ 
in der Mehrzahl seiner Beobachtungen trotz genauem Nachfragen 
gar keine wesentliche auBere Krankheitsursache festgestellt zu 
haben. So kommt er zu dem SchluB, die Krankheit sei endogener 
Natur, und zwar eine auf kongenitaler abnormer Veranlagung 
beruhende multiple Gliose. Den atiologischen Faktoren, denen die 
Anhanger der Amsicht, daB das Leiden exogener Natur sei, die 
groBte Wichtigkeit beimessen, spricht er hochstens die Rolle ver- 
anlassender Momente zu. Eine hereditare Disposition liegt nach 
Striimpells Ansicht hochstens in vereinzelten Fallen vor. 

Eduard Muller , Striimpells Schuler, vertritt dieselbe Ansicht 
wie dieser; er hat sie in seiner Monographie ,,Die multiple Sklerose 
des Gehirns und Riickenmarks 44 eingehend begriindet. Nach ihm 
sind alle bekannten exogenen Momente nur imstande, bei bestehen- 
der Veranlagung das Leiden als ,.Agents provocateurs 44 zu mani- 
festieren und zu verschlimmern. Die nach Infektionskrankheiten 
auftretende, der multiplen Sklerose ahnelnde Krankheit halt er fur 
eine sekundare multiple Skleiose im Sinne von Schmaus und Ziegler ; 
wenigstens in den meisten Fallen sei es so. 

Jede dieser beiden divergierenden Ansichten hat eine Reihe 
namhafter Vertreter; sie alle aufzuzahlen, iiberschritte den Rahmen 
dieser Arbeit, in neuerer Zeit haben sich Siemerling und Raecke 
entschieden gegen die Hypothese einer endogenen Entstehung 
der multiplen Sklerose ausgesprochen. 

Die alteren Autoren weisen auf eine hereditare Disposition hin; 
so schreibt Gowers: ,,Direkte Hereditat oder das gleichzeitige Er- 
kranken zweier Briider oder Schwestern ist zuweilen beobachtet 
worden, ist aber selten. Haufiger stammen die Kranken aus neuro- 
pathischen Familien, in welchen Epilepsie oder eine andere Form 
von chronischer Lahmung vorgekommen ist, noch haufiger aber 
laBt sich eine derartige Pradisposition nicht nachweisen. 44 

Erb schreibt: ..Als pradisponierend zu der multiplen Sklerose 
konnen in raanchen Fallen wohl hereditare Einfliisse betrachtet 
werden: Duchenne sail hereditare Uebertragung der Krankheit in 
einem Falle; ich habe dasselbe beobachtet. Frerichs seh zwei Ge- 


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*58 K 6 p e r . Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 

schwister von der Krankheit befallen, und mir ist ein gleicher Fall 
vorgekommen. Allgemeine neuropathische Belastung mag hier 
ebenfalls ihre bekannte Rolle spielen; Hysterie imd andere nervose 
Storungen gehen manchmal, wenn auch relativ selten, der Krank¬ 
heit voraus. Sonst ist iiber diese Verhaltnisse nicht viel bekannt.“ 

Ein Fall von multipler Sklerose bei Briidern, den ich genau zu 
beobachten Gelegenheit hatte, veranlaBte mich, die Literatnr auf 
das familiare Vorkommen dieser Erkrankung hin durchzusehen. 
In ungefahr chronologischer Folge teile ieh in nachstehendem das 
Resultat meiner Bemiihungen mit. 

Aus der oben zitierten Mitteilung geht hervor, daB Erb und 
Duchenne hereditare Uebertrsgung in einem Falle sahen, dann sah 
Frerichs einen Fall von multipler Sklerose bei Gesehwistern, das 
gleiche sah Erb. 

1885 teilt Pelizaeus 5 unter dem Bilde der multiplen Sklerose 
vollig gleichartig verlaufende Krankheitsfalle mit, die Mitglieder 
•derselben Familie betrafen, und zwar betraf die Krankheit nur die 
mannlichen Individuen; die Frauen blieben verschont, doch ver- 
erbten sie die Krankheit. Ich erwahne diese 5 Falle nur des Zu- 
sammenhanges wegen; wie aus einer Arbeit Merzbachers hervor- 
geht, handelt es sich in diesen Fallen nicht um eine multiple Sklerose, 
aondern um eine eigenartige familiar-hereditare Erkrankungsform, 
die er Aplasia axialis extracorticalis congenita nennt. Merzbacher 
hatte eine Reihe dieser Krankheitsfalle selbstandig beobachtet 
und einen histologisch genau untersucht, als er zufallig entdeckte, 
daB seine Kranken aus eben derselben Familie, wie die 5 von 
Pelizaeus beschriebenen, stammten. 

Pelizaeus erwahnt dann noch zwei Falle von Dreschfeld, wo die 
Krankheit bei Briidern in den ersten Lebensjahren auftrat. 

Miljanitsch beschreibt 1889 in einem russischen Blatte einen 
Fall von multipler Sklerose bei Briidern aus dem Daniel-Hospital in 
Cetinje. In der Literaturiibersicht der ,,Petersburger medizinischen 
Wochenschrift“ heiBt es: zwei wohlcharakterisierte Falle von 
multipler Sklerose des Riickenmarkes, deren Aetiologie interessant 
ist, indem der eine Pat. nach Malaria, der andere nach einem hef- 
tigen Schreck erkrankte. 

Totzke beschreibt in einer Dissertation iiber die multiple Herd- 
sklerose des Zentralnervensystems im Kindesalter eingehend zwei 
Falle dieser Krankheit bei Gesehwistern, die hier im Auszuge kurz 
wiedergegeben seien: 

Mutter nervos, Vater gesund, Mutteis Bruder an Phlhifee gestorben. 
Grofimutter vaterJieherseits Gicht, GroCvater Apoplexie. Zwei Geschwister 
klein gestorben, 3 Geschwister sind am Leben, eines davon skrofulos. 

Kmilie L., erste Erscheinungen im 8. Lebensjahre, angeblich durch 
zweifelhafte psychische Traumen Verschlechterung. Bei dem im 11. Lebens¬ 
jahre auf genommenen Status fand sich: starker Intent ions! remor beidei- 
seits. Spasmen in Armen und Beinen. Spastisch-paretisch-ataktischer 
Wackelgang. Pupillen ieagieren schlecht auf Lichteinfall. MaOiger Nystag¬ 
mus. Sprache hesitierend. Sensibilitat intakt. Sehnenreflexe gesteigeit. Es 
hesteht ein gewisser Grad von Demenz. 


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K 6 per . Zur Aetiologie der nmltiplen Sklerose. 


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Martha L. Erste Krankheitserecheinungen etwa mit 10 Jahren, keine 
Aetiologie bekannt. Untersuchung im 14. Leben jahre: Intentions tremor. 
Bei schnellem Gehen wackelt Patientin. Sprache deutlich skandierend. 
Pupillen ungleich, reagieien schJecht auf Lichteinfall. Nystagmus an- 
gedeutet. Sehscharfe hochgradig herabgesetzt. Sensibilitat intakt. Mafiige 
Demenz. 

Er erwahnt dann noch einen Fall Ungers , in dem das Leiden 
auch Geschwister befiel, ferner eine Beobachtung Liebermeisters. 

Irma Klausner erwahnt in ihrer Statistik 2 Falle von multipler 
Sklerose bei Geschwistern. 

Im ersten Falle handelt es sich um einen bei Beginn des Leidens 
32 jahrigen Baumeister, dessen Bruder jahrelang ein ahnliches 
Leiden gehabt hatte. Die GroBmutter miitterlicherseits der beiden 
Kranken war nervenleidend, ,,kindisch“. 

Im zweiten Falle ist es ein im 39. Lebensjahre erkrankter 
Zigarrenarbeiter, dessen Schwester dasselbe Leiden hatte. Ein 
Bruder der beiden starb im 32. Lebensjahre an Krampfen. 

if. Cesian und 6?. Guillain berichten ferner iiber die Geschwister 
Leontine und Henry B., die an multipler Sklerose litten; zwei 
andere Geschwister litten an Epilepsie. 

Die Symptome beider Falle sind durchaus typisch. Bei Henry 
kam das Leiden deutlich zum Ausbruch, als er 16 Jahre alt war; 
<loch wird bemerkt, daB er nie ausdauernd hatte gehen konnen. Es 
bestand bei der Untersuchung: unsicherer, spastischer Gang, 
«kandierende Sprache, Nystagmus, Sehnervenabblassung, leichte 
Ataxie der Arme. Leontine hatte seit ihrem 20. Lebensjahre 
Sprachstorung; bei der Untersuchung war sie 32 Jahre alt; es fand 
sich auBer der hesitierenden Sprache spastischer Gang, Intentions- 
tremor der Arme, Nystagmus, gesteigerte Sehnenreflexe und das 
Babinskische Phanomen. Der Augenhintergrund war in diesem 
Falle normal. 

S. Reynolds berichtet iiber zwei Familien, bei denen er mehrere 
Falle von multipler Sklerose zu beobachten Gelegenheit hatte. 

Die Familie X. 

Der Vater erkrankte an einer Melancholie mit 66 Jahren. Ein Cousin 
des Vaters starb an fortgeschrittenei multipler Sklerose. Eine Cousine des 
dee Vaters hatte einen ausgesprochenen Basedow. Eine Schwester der 
Mutter erkrankte 52 Jahre alt an einer Melancholie. 

Aus dieser belasteten Aszendenz stammen die 6 Gesohwister, von 
denen drei an multipler Sklerose erkrankt waren. 

1. Madchen: litt an Melancholie. 

2. Mary: die ersten Beachwerden traten mit 33 Jahren auf, bietet das 
Bild der m. Ski. 

3. Madchen: leidet peiiodisch an Ischias. 

4. John: bemerkte mit etwa 29 Jahren, daB sein Gang unsicher wurde 
und dafl er leicht beim Gehen ermiidete. Bietet jetzt ebenfalls das Bild 
der multiplen Sklerose; zudem hat sich ein Kropf entwickelt. 

5. Mann: gesund. 

6. Edward: bemerkte mit etwa 27 Jahren beim Tennis- oder Kricket- 
spielen, daB er pldtzlieh die Kontiolle uber sein linkes Bein verlor. All- 
mahlich entwickelte sich auch hier eine multiple Sklerose. 


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GO Roper ., Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 

Reynolds sagt tiber diese Falle: .,It may possibly be thought 
from my description that a diagnosis of disseminated sclerosis is not 
justified in all the cases, but the symptoms are, on personal 
examination, much more pronounced than can be easly described. 
At least two of the cases have bed* seen also by eminent London 
neurologists, who have at once confirmed the diagnosis.“ 

Verfasser teilt dann noch die Krankengeschichten zweier 
Schwestern mit, die ebenfalls an multipler Sklerose litten. 

Ueber die Eltern macht er keine Angaben; die beiden Kranken haben 
noch eine Schwester, die gesund ist. Die alteste der Kranken, MiB Jane J., 
war zur Zeit der Untersuchung 25 Jahie alt. Seit 10 Jahren litt sie an Kopf- 
und Augenschmerzen, vor 5 Jahren hatte sie Doppelbilder, vor 4 Jahren 
fing sie an, schlecht zu gehen; dann wurde die Sprache undeutlich, die 
Handschrift schlecht; es entwickelte sich ein Intentionstremor. Storungen 
von seiten der Augen bestanden nicht zur Zeit des Berichtes. 

Mabel J. war nach einer Influenza an multipler Skleiose erkrankt 
und war zur Zeit in einem sehr voigeschrittenen Stadium der Krankheit. 

R. meint, dali, wenn wir nur vertrrutcr mit den atypischen 
Formen der multiplen Sklerose wiirden, das familiare Vorkommen 
derselben auch haufiger wiirde. Er teilt dann am Schlusse seiner 
Arbeit noch einen Fall von Basedow plus multipler Sklerose mit. 

Batten beschreibt 1909 zwei Krankheitsfalle, die unter dem 
Bilde der multiplen Sklerose verliefen und Geschwister betrafen. 

E. S., 27 Jahre alt. B. sah sie zuerst im August 1908. Sie ist die alteste 
von 6 Geschwistern, 3 Briidern und 3 Schwestern. Die beiden Schwestern 
sind gesund, aber einer ihrer Briider leidet an einer ahnlichen Krankheit. 

Mit 25 Jahren bemerkte sie zuerst Zittern der Hand, das stalker wurde,. 
wenn sie etwas zu fassen versuchte. Allmahlich entwickelte sich ein dent- 
iicher Intent ionstremor, dazu kam eine langsame, hesitierende Sprache, 
Taubheit in den Beinen und unsicherer Gang, unkoordinierte Bewegungen 
der rechten Hand. Leichter Tremor des Kopfes. Der Augenbefund war 
normal, die Sehnenreflexe auslosbar. 

T. S., 25 Jahre alt, Bruder der vorstehend eiwahnten Patient in, 
zweites Kind. Vor 4 Jahren Schmerzen im Riicken, die in die Beine hinuntei- 
zogen. Der Gang wurde unsicher und allmahlich schlecht er, dazu kem In- 
tentionstremor beiderseits und unkoordinierte Bewegungen lechts. Die 
Sprache wurde schlecht, gelegentlich trat Doppeltsehen auf. Leichter 
Romberg. Keine Sensibilitatsstorungen. Sehnenreflexe auslosbar, beider¬ 
seits Fufiklonus. 

In beiden Fallen war die Intelligenz ungeschadigt. 

Batten selbst ist nicht recht geneigt, diese Falle der multiplen 
Sklerose zuzurechnen, weil sie nicht alle typischen Merkmale dieses 
Leidens darbieten. Er gibt jedoch das familiare Vorkommen zu 
und teilt mit, er habe zurzeit zwei Mitglieder derselben Familie 
in Behandlung, die an einer typischen disseminierten Sklerose 
erkrankt seien. 

In der Diskussion, die sich an die Demonstration dieser beiden 
Falle anschlieBt, bemerkt Dr. James Collier , dafi er die Krankheit 
fur eine multiple Sklerose halte; er wisse mehrere Beispiele, wo 
zwei Mitglieder einer Familie an disseminierter Sklerose litten. In 
einem dieser Falle habe er vor mehreren Jahren die Sektion gemacht, 
und der pathologische Befund war der fur disseminierte Sklerose 
typische; die sklerosierten Plaques fanden sich in der Kleinhim- 


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Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


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Bruckenregion. (Hier ist also die von Striimpell und Oppenheim 
so dringend verlangte Bestatigung durch den Sektionsbefund!) 

Mir scheinen die Falle von Batten am besten erklart, wenn 
man multiple Sklerose annimmt; die Art der Beschwerden spricht 
doch sehr dafiir, femer das Alter beim Auftreten des Leidens. Die 
Friedreichsche Ataxie ist mir viel unwahrscheinlicher; ganz aus- 
geschlossen erscheint mir, daB es sich um eine Analogie der Falle 
Pelizaeus-Merzbacher handelt. 

Coriat bcrichtet in der New England Pediatric Society im 
Januar 1909 iiber eine eigenartigc Form eines familiaren Nerven- 
leidens, das Kinder betrifft und anscheinend der multiplen Sklerose 
zuzuzahlen ist. 4 Falle teilt er mit, in alien Fallen betrifft es Kinder 
russischer Juden. Er meint, mannigfache Symptome sprachen fur 
multiple Sklerose, wahrend andere an die amaurotische familiare 
Idiotie erinnerten. Von den Kranken sind zwei Gcschwister. Da 
diese Falle uns besonders interessieren, seien sie in folgendem kurz 
wiedergegeben. 

Beide Eltem scheinen gesund zu sein, ebenso 3 Geschwister. Eine 
Cousine des Vaters hatte seit dem 14. Lebensjahre einen starken Tremor 
xnanuum. 

Die ersfce Patientin, M. K., hatte als kleines Kind Diphtheritis, sonst war 
sie inuner gesund gewesen. Mit 9 Jahren begann Unsicherheit der Hande, 
auch litt sie an leichtem Schwindel. Die Beschwerden nahmen zu, es traten 
dann noch Schmerzen im linken Bein auf. Bei der Untersuchung fand sich 
folgendes: MaBige Ataxie der Aime und Beine, die bei AugenschluB zunahm 
und in der linken Hand am deutlichsten war. Leichtes Kombergsches 
Schwanken. Keine Sprach- oder Augenstor ungen, keine Storung der 
Schmerz- imd Beruhrungsempfindliehkeit. Feinschlagiger Tremor dei aus- 
gestreckten Hande, der bei willkiirlichen Bewegungen zunahm. Knie- 
phanomene abgeschwacht, Achillessehnenphanomene fehlend. Kein FuB- 
klonus. Rechts Babinski und Oppenheim. Keine Muskelatrophien. Vor- 
ubergehend Spasmen im linken Bein. Intelligenz gut. 

A. K., Schwester der vorigen Patientin. Mit 12 Jahren bemerkte sie 
einen grobschlagigen Tremor der rechten Hand. Bei der Untersuchung 
Intent ionstremor, links mehr als rechts. Knie- und Achillessehnenphanomen 
schwach. Kein FuBklonus. Gehen und Stehen ohne Besonderheiten. 
JBibinski und Oppenheim nicht vorharden. Keine Atrophien. Keine Sen- 
sibilitatsstorungen. Kein pathologischer Augenbefund. Zurge zitterte. 

Es ist wohl wahrscheinlich, daB sich aus diesen bciden Krank- 
heitsbildern eine typische multiple Sklerose entwickeln wird, aus 
dem oben wiedergegebenen Befunde wiirde ich noch nicht wagen, 
oin'3 sichcre Diagnose zu stellen. 

Einen Fall von hereditar-familiarem Auftreten der multiplen 
Sklerose, der von Th . Weiflenburg beschrieben ist, erwahnt noch 
Otto Marburg ; leider gelang es mir nicht, uns das Arch, of Diagnosis 
1909 April zuganglich zu machen. 

Ich komme jetzt zur Beschreibung der von mir beobachteten 
Falle. Bemerken will ich, daB sie, auBer von mir, von Herrn 
Professor H. Berger eingehend untersucht sind. 

Am 26. VII. 1910 kam wegen vermeintlicher neurasthenischer Be¬ 
schwerden der damals 38 Jahre alte Lehrei August E. (J.-N. 8790) zur Be- 
handlung in die Neivenabteilung unserer Klinik. 


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R o p e r . Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


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Ueber seine Familie machte uns der sehr intelligent© und fiir sein. 
Leiden sehr interessierte Patient folgende Angaben: 

„Mein Vater war Tischlermeister; er erlitt im Jahre 1888 einen Unfall r 
bei dem er ein Bein brach. Jedenfalls hatte er sich aber auch inner© Ver- 
letzungen dabei zugezogen, denn er war vom Unfalltage ab bettlagerig. 
Im Herbste 1889 kam ein Blutsturz dazu, der sich nach einigen Tagen 
wiederholte und den Tod zur Folge hatte. In arztlicher Behandlung befand 
er sich in letzter Zeit nicht mehr. Der Vater des Vaters ist an Alteisschwache 
gestorben, liber die Mutter des Vaters ist nichts Naheres bekannt. Ein 
Bruder des Vaters lebt, mehr ere Geschwister sind an Tuberkulose ge¬ 
storben. Nervenkrankheiten sind in der Femilie meines Vaters nicht vor- 
gekommen. 4 ' 

Es scheint hiernach nicht unwahrscheinlich, daB auch der Vater 
an Phthisis pulmonum zugrunde gegangen ist. 

„Meine Mutter lebt noeh; sie ist jetzt — 1912 — 62 Jahre alt; soweit 
bekannt, war sie immer gesiuid. Jetzt ist mir aufgefallen, daB sie nach 
korperlichen Anstrengungen auffallend unsicher geht.‘‘ 

Es liegt mir iiber den jetzigen korperlichen Zustand ein arztlicher 
Bericht vor; darin heiBt es: „Ein Befimd, der auf ein zentral gelegenes 
Nervenleiden schlieBen laBt, ist nicht zu erheben gewesen. Die Knie- 
sehnenphanomene waren erhalten, nicht gesteigert. KeinFuBklonus. Periost- 
reflexe am Arm vorhanden, aber nicht gesteigert. Pupillen reagieren beide 
auf Licht- und Accommodation gleichmaBig. Der Gang hat keinen spastischen 
oder ataktischen Charakter. Auffallend ist nur die etwas vorgebeugte 
Korperhaltung, dhnlich wie bei Paralysis agitans. Die Sprache ist normal 
und ungestort. Intentionstremor nur eben angedeutet, Sensibilitat, Blase 
und Mastdarm intakt. Intelligenz nicht beeinfluBt. 44 

„Dei Vater der Mutter ist 85 Jahre alt gestorben, er war stets gesund. 
Die Mutter der Mutter starb 65 Jahre alt, sie hatte einmal ,Nervenfieber‘ 
und war stets schwach in den Nerven, doch geistig gesund. Eine Schwester 
der Mutter starb an Wassersucht, 4 weitere Geschwister leben und sollen 
gesimd sein.“ 

Unser Patient hat nur einen Bruder, Hugo; von dem gab er 1910 an r 
er habe seit mehreren Jahren einen sehr schwankenden Gang und sei leicht 
erregbar. Mit diesem Bruder werden wir uns nachher noch eingehend be- 
schaftigen; bemerkt mull noch werden, daB die Fama loci behauptet, die 
Vater der beiden Bruder seien nicht dieselben, jedenfalls ist Hugo vor 
der Ehe geboren. 

Ueber seinen Lebenslauf und seine Krankengeschichte macht Pat. 
1910 folgende Angaben: 

„AuBer an Masern und Scharlach im Kindesalter bin ich nie krank 
gewesen. In der Schule habe ich stets gut gelernt. 1892 geniigte ich meinei 
Militarpflicht , 1895 imd 98 habe ich Reserveubungen gemacht. Seit 1896 bin 
ich verheiratet; die Ehe ist, wohl infolge Krankheit meiner Frau, bis jetzt 
kinderlos geblieben. Geschlechtskrank bin ich nie gewesen. Im GenuE von 
Alkohol und Nikotin war ich stets maOig. 

Schon seit meinem 20. Lebensjahre muEte ich dieBeobachtung machen, 
dafi ich leicht umkippte und mir so den FuB vertrat. Ich beachtete diesen 
Umstand weiter nicht. Eine leichte Herzerweiterung verlor sich infolge 
Kurgebrauches von 1904—06. Im Sommer 1908, gelegentlich einer Unfcer- 
suohung fur eine Lebensversicherungsgesellschaft, machte mich der Arzt 
darauf aufraerksam, daB mit meinen Nerven nicht alles in Ordnung zu sein 
schiene. Von diesem Zeitpunkte ab merkte ich, wie die Elastizitat aus 
meinen unteren Extremitaten allmahlich wich und mein Gang nach und 
nach immer schwankender wurde. Ich dokteite viel herum, 1910 kam ich 
dann in Ihre KJinik.“ 

Zu bemerken ist noch, daB Patient ein eifriger Jager war. Fehl- 
geburten hat die Frau nicht gehabt. Patient verrichtet noch jetzt seinen 
Dienst. 

Pat. war 1910 34 Tage lang hier zui Behandlung. Schon damals wurde 
dieWahrscheinlichkeitsdiagnose gestellt, daB es sich um eine multiple Sklerose 


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K oper , Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


handle. In der Folge hat Pat. sich dann noch mehimals bei uns vorgestelltp 
an der Diagnose ist jetzt kein Zweifel mehr. Ich gebe den Status praesens 
vom 2. IV. 1912 nachfolgend wieder: 

Kraftigei, mittelgroBer Mann in gutem Ernahrungszustande. Gesichts- 
farbe gebiaunt. Das Skelett zeigt keine Besonderheiten. Der harte Gaumen 
ist etwas steil. Die sichtbaren Schleimhaute sind gut durchblutet. Die- 
Zahne sind gut erhalten. Der Schadel zeigt nichts Besonderes. 

Der Lungenbefund ist regelreeht. Das Herz liegt in normalen Grenzen, 
iiber der Heizspitze ist ein deutliches systolisches Geiausch horbar. Der 
zweite Pulmonalton ist etwas laut. Puls voll, regelmaBig, sehlagt 66—68 mal 
in der Minute. Arterien weich, gerade. Die Bauchorgane weiden, soweit es 
sich nachweisen laBt, normal. Im Urin fanden sich keine pathologischen 
Bestandteile. 

Der Befund am Nervensystem war folgender: Hautnachroten +»■ 
mechanische Muskelerregbarkeit schwach. Ankonausphanomen +, ==. 
Periostradiusreflex +, =. Kniephanomen beiderseits gesteigert, doch rechts 
mehr als links, ebenso das Achillessehnenphanomen. Kein Patellar- oder 
Dorsalklonus. Plant arreflexe beiderseits schwach. Babinski beideiseits 
angedeutet, links mehr als rechts. Bauchreflexe kaum auslosbar. Ki emaster- 
reflex +. Beklopfen des Kopfes und dex Wirbelsaule wurde nicht besonders 
schmerzhaft empfunden. Die Nervenaustrittsstellen und die grossen Nerven- 
stamme waren nicht besonders druckempfindlieh. Beruhrungsempfindjich- 
keit intakt. Lokalisation genau. Sehmerzempfind lichkeit normal. Tem- 
peratursinn, ebenso das Lagegefiihl nicht gestort. Die Arm- und Bein- 
bewegungen waren beiderseits frei und kraftig. Ataxie der Aime beiderseits 
angedeutet. Auch best and beiderseits ein maBiger Intent ionstremor. Bei 
aufgetragenen Beinbew'egungen werden auffallend umstandliche Bewegungen 
gemacht. Der Gang ist unsicher und ausgesprochen spastisch. Bei ge- 
sohlossenen Augen nimmt die Unsicherheit sehr zu. Das Bombergsche Pha- 
nomen ist positiv. Die Augenbewegungen sind frei; bei langerer Konvergenz. 
treten deutlich nystagmusartige Zucknngen auf, ebenso bei extremem Seit- 
wartssehen. Die Pupillen waren gleich, mittelweit und rund, die Reaktion 
auf Lichteinfall und Annaherung erfolgte prompt und ausgiebig. Korneal- 
reflex beiderseits schwach, Konjunktivalreflex beiderseits fehlend. Dia 
Innervation des Gesichtes war eine gleichmaBige. Der weiche Gaumen wurde 
gleichmaBig gehoben, der Wiirgreflex w r ar sehi schwach. Die Zimge wurde 
annahernd gerade vorgestreckt, zittert nicht. Gehor und Gernch waren in¬ 
takt. Die JPapillen zeigten beiderseits temporale Abblassimg, rechts aus- 
geeprochener als links. Die Sprache war deutlich skandierend. Eine nennens- 
werte Aenderung der Schrift bestand nicht. Die Wassermannsche Reaktion 
im Blut fiel negativ aus. Die Potentia coeundi hat nach Angabe des Pa- 
tienten und der Ehefrau keine Einbufle erlitten. Patient soil jetzt leichter 
reizbar sein als friiher. Auffallend war, daB er fast immer eine lachelnde 
Miene zur Schau trug. Die Frau gab spontan an: „auBerlich lacht er, wenn 
er innerlich weint; er kann es wohl nicht anders. 44 Die Intelligenz des Pa- 
tienten ist durchaus ungeschadigt. 

Niemand wird bei diesem Schulfalle zweifeln, daB es sich um 
eine typische multiple Sklerose handelt, auch wenn die mikro- 
skopische Bestatigung nicht vorliegt! Gfegeniiber der Angabe unserea 
Patienten, daB sein Bruder an demselben Leiden schon seit vielen 
Jahren litte, waren wir anfangs begreiflicherweise recht skeptisch. 
Doch hatten wir Gelegenheit, auch von Hugo E. eine genaue Kran- 
kengeschichte aufzunehmen, die wir nachstehend ausfuhrlich 
wiedergeben. 

Die Entwicklung des Patienten war eine normale; er hat rechtzeitig 
laufen und sprechen gelemt; besondei e Kinderkrankheiten hat er nicht 
durchgemacht. In der Schule hat er sehr gut gelemt, nach Angabe seines 
Bruder8 war er einer der Intelligentesten. Nach der Konfiimation lernte er 



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Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


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als Porzellanmalei. Soldat i9t er nicht gewesen, nach seiner Meinung wegen 
allgemeiner Korperschwache. Geschlechtskrank will er nie gewesen sein. 
Alkoholabusus wird in Abrede gestellt, Pat. ist kein Rauch er. 

Pat. heiratete im 26. Lebensjahre. Die Frau war 6 mal schwanger, zwei 
Kinder sind am Leben und gesund, zw’ei sind klein an Diphtheiitis gestorben 
und zwei tot geboren. Potentia coeundi und Libido sexualis nach Angabe 
<ies Kranken noch jetzt ungestoit. 

„Das jetzige Leiden begann 1892 in meinem 20. Lebensjahre nach einer 
schweren Lungenentziindung. Bei meinem ersten Ausgang nach einem vier- 
wochigen Kiankenlager wuide ich gewahr, dafl das Laufen nimmer so 
ging wie zuvor. Bemerken will ich, da6 ich friiher ein Hotter Tanzer war.** 
1905 bemerkte Pat., daO die Sprache imdeutlich und schwerfallig w’urde. 
Bis zu dieser Zeit hatte er noch in der Dorfkapelle mitgespielt, jetzt muBte 
er es aufgeben, da er bei den Marsclien nicht mehr mitkommen konnte. Auch 
wechselte er auf den Rat seines Arztes seinen Beruf und kaufte sich eine 
kleineOekonomie. ImMarz dieses Jahres trat eine plotzlicheVerschlechterung 
ein; das Gehen wollte nun fast gar nicht mehr ohne Unterstiitzung gelingen. 

Blasen- und Mastdai mstorimgen bestehen nicht. 

Der Status praesens vora 3. VI. 1912 ist folgender: 

Der Kranke ist ein mittelgroBer, maUig kraftiger Mann in genligendem 
Einahrungszustande; seine Gesichtsfarbe ist gebraunt. Der Schadel bietet 
keine Besonderheiten. Lungen und Herz zeigen keine krankhaften Ver- 
anderungen. Der Puls schlagt 78 mal in der Minute, legelmaBig, und ist 
von entsprechender Fiille und Spannung. Es besteht keine periphe re Arterio- 
sklerose. Die Bauchorgane bieten nichts Besondeies. Der Uiin ist klar, 
enthalt weder EiweiB noch Zucker. Driisenschwell ungen bestehen nicht. 

Hautnachroten und mechanische Muskelerregbarkeit sind nicht be- 
sonders lebhaft. Das Ankonausphanomen fehlt beiderseits, der Periost- 
radiusreflex ist in normaler Weise auslosbar. Das Kniephanomen ist beider¬ 
seits schwach, rechts noch etwas schwacher als links. Das Achillessehnen- 
phanomen ist beiderseits gleich lebhaft. Patellar- oder FuBklonus besteht 
nicht. Der Plantarreflex ist beiderseitsauffallend gesteigert. Das Babinskiache 
Phanomen ist beiderseits vorhanden. Der oV)ere Bauohreflex ist beiderseits 
ganz schwach und verlangsamt. Kremasterreflex +, =. Kopfperkussion 
etwas schmerzhaft. Beklopfen der Domfortsatze nicht besonders schmerzhaft. 
Beriihrungsempfindlichkeit intakt. I okalisation gen an. Schmerzempfind- 
lichkeit erhoht. Armbewegungen kraftig, unsicher, ausfahrend. Inten- 
tionstremor beiderseits, doch links mehr als rechts. Handedruck: rechts 
37 kg, links 33 kg. Beiderseits Ataxie der Arme, links mehr als rechts. 
Beinbewegungen spastisch, ausfahrend, es besteht deutliche Ataxie. Das 
Lagegefvihl ist in den Beincn herabgesetzt. Der Gang ist spastisch, 
paretisch, ataktisch; ohne sich festzuhaiten oder unterstiitzt zu werden, 
kann Pat. iiberhaupt nicht gehen. Er gibt an, friihmorgens sei es mit 
dem Gang etwas besser. Romberg stark +. Augenbewegungen frei; in 
den Endstellungen, besonders beim Blick nach oben nystagmusartige 
Zuckungen. Lichtreaktion etw r as wenig prompt, maOig ausgiebig. Con- 
vergenzreaktion prompt und ausgiebig. Mundfacialis rechts etwas weniger 
ausgiebig als links. Es scheint, als wenn die ganze rechte Gesichtshalfte 
etwas w'eniger entwickelt ist als die linke. Die Innervation des Augenfacialis- 
gebietes gescliieht symmetrisch, ebenso das Stimrunzeln. Koineal- und 
Skleralreflex fehlen beiderseits. Die Zunge wird gersde vorgestreckt, 
zittert nicht auffallend. Gaumen- und Wiirgreflex sind in noimaler Weise 
auslosbar. Hor- und Riechvermogen sind nicht gestort. Die Papillen sind 
in toto etwas blaB, temporalwarts mehr als nasalwarts. Die temporale Ab- 
blassung ist links ausgesprochener als rechts. Die Sprache ist undeutlich, 
verwaschen, skandierend. Die Schrift zeigt in mafiigem Grade fiii multiple 
Sklerose typische Veriinderungen. 

Das Symptom des Zwangslachens bestand bei Hugo in sehr viel aus- 
gesprochenerem MaOe als bei dem jiingeren Bruder. 

Die Was8ermannsche Reaktion im Blute fiel einwandfrei negativ aus, 
<lie Stemsche Reaktion war schwach positiv. 


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Roper, Zur Aetiologie der multiple!! Sklerose. 


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Wenn ich meine bisherigen Ausfiihrungen zusammenfasse, so 
ist das Resultat: Das Vorkommen der multiplen Sklerose bei 
Geschwistem wurde von 13 Autoren beobachtet; diese sind 
Frerichs, Erb, Dreschfeld, Miljanitsch, Totzke, Irma Klausner, 
Unger, Liebermeister, Cestan und Guillain, Reynolds, Batten und 
Collier ; hierzu kommt noch der von Marburg erwahnte Weifien- 
6«rjrsche Pall. Krankheitsfalle bei Geschwistem, die unter dem 
Bilde der multiplen Sklerose verliefen, bei denen sich aber die Be- 
obachter nicht zu einer bestimmten Diagnose entschlielien konnten, 
sahen: Batten, Coriat u. A. 1 ). 

Das heriditare Vorkommen der multiplen Sklerose ist eben- 
falls mehrfach beschrieben worden. Am bekanntesten ist die Ver- 
offentlichung von Eichhorst aus dem Jahre 1896; es handelt sich 
dort um einen anatomisch sichergestellten Fall, der eine 42 Jahre 
alte Frau und ihren 8 Jahre alten Sohn betraf. 

Vor Eichhorst haben sich schon Duchenne und Erb fur das 
hereditare Vorkommen ausgesprochen, nach ihm Ella. 

Da die Angaben uber die Aetiologie der multiplen Sklerose sehr 
schwankende sind, habe ich die mir zur Verfiigung stehenden Kran- 
kengeschichten in Bezug auf Erblichkeit und Entstehungsursachen 
durchgearbeitet und zusammen mit einigen groBeren Statistiken in 
eine Tabelle gebracht, um so groBere Zahlen zu gewinnen; es gelang 
mir, auf diese Art 763 Falle zusammenzubringen. Ich konnte 
natiirlich nur Statistiken benutzen, in denen Angaben fiber die 
fiir mich wissenswerten atiologischen Momente enthalten und die 
ungefahr nach gleichen Gesichtspunkten angefertigt sind. So ist es 
mir, glaube ich, gelungen, einigermaBen verwertbare Prozentzahlen 
zu finden. Verzichtet habe ich darauf, mein Material auch 
auf die Haufigkeit der einzelnen Symptome hin durchzuarbeiten; 
es liegen hieriiber von Berger, Irma Klausner u. a. ja sehr ein- 
gehende Arbeiten vor. Bemerken will ich jedoch zwei Tatsachen, 
die sich mir beim Durcharbeiten der Krankengeschichten auf- 
drangten: 

1. Die in Bezug auf die 3 Kardinalsymptome atypisch ver- 
laufenden Falle, sind weit haufiger als die typischen. 

2. Am konstantesten sind die Erscheinungen von seiten 
der Beine. 

Einen Vorzug mag mein Material vor anderem haben : da es 
aus einer psychiatrischen Klinik stammt, ist, wie ich annehme, die 
Frage der Hereditat eingehender und systematischer behandelt 
als in den Kliniken der inneren Medizin. 

Im folgenden sei in tabellariScherUebersicht das wiedergegeben, 
was mir in atiologischer Hinsicht an meinem Material wichtig 
erschien. Selbstverstandlich habe ich nur die Falle beriicksichtigt, 
in denen es sich um eine primdre multiple Sklerose handelt. . 

1 ) Wahrend des Druckes wild mir von Henn Privatdozenten 
Dr. Queckenstedt mitgeteilt, daB in der Rostocker nr.edizinischen Klinik 
2 einwandsfreie Falle von typischer multipier Sklerose bei Briidem be- 
obaehtet sind. Leider sind diese Falle noch nicht veroffentlicht. 

Monataechrift %• Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 5 


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K o p e r . Zur Aetiologie der lniiltiplen Sklerose. 

Manner. 


66 


J oumal-Nummer. 
Jetziger Beruf, even- 
tuell auch friihere. 
Jahr der Aufnahme 

Erblichkeit 

Alter boim 

Bemerken der 

ersten Erschei- 

nungen, Obel 

der Aufiitthrae. 

Aetiologie 

1. J.-N. 1088. Schuler. 
1890. 

GroBmutter litt an Gicht 
u. stets an starken Kopf- 
schmerzen. 37 Jahre alt |. 

; s 
(id 

i 

lm 4. Lebensjahre starker Schreck. 
Pat. wurde (iberfahren. 

2. J.-N. 1126. Prakt. 
Arzt. 1890. 


29 

(33) 

Stets etwas eigenartiger Mensch. Mit 
24 Jahren Typhus. Die ersten Be- 
schwerden traten nach einer starken' 
Gemiitsbewegung — plotzlicher Tod 
des Kindes — auf. 

3. J.-N. 1602. Lehrer. 
1893. 

Pater: sehr hitzig, leicht 
reizbar. GroBvater: etwaa 
heftig. Mutter der Mutter 
an Tb. pulm. Bruder der 

Mutter Phthise. 1 Bruder 
hort schlecht. 

20 

(21) 

Beginn der Beschwerden nach einer 
anstrengenden militarischen Uebung. 

4. J.-N. 1630. Geriehts- 
asBistent. vorher 14 
Jahre lang Soldat. 
1893. 

6 Geschwister in den ersten 
Lebensjahre t» 4 leben 
und sind gesund. 

24 

(41) 

Nach einer Durchnassung. 

5. J.-N. 1750. Buch- 
biuder. 1894. 

1 Bruder u. 1 Schwester 
jung sonst keine Ge¬ 

schwister. 

25 

(36) 

Im 13. Lebensjahre nachts Anfalle von 
i Starrkrampf, sonst Entwicklung nor- 
j mal. Keine weitere Aetiologie. 

6. J.-N. 2344. Berg- 
mann. 1896. 

1 Schwester klein f, 3 Ge¬ 
schwister leben und sind 
gesund. Vater jung f* 

36 
| (40) 

i j 

In der Kindheit Krampfe. Debiler 
Mensch. Newh Verbriihung des linken 
| Beines in heiBer Lauge allmahliche 
, Entstehung des Leidens. 

7. J.-N. 3727. Apothe- 
ker. 1900. 

— 

: 32 | 

| (39) 

Ohne erkennbaren Grund plotzliches 
Entstehen des Leidens. 

8. J.-N. 4778. Lemte 
ale Sattler, dann 12 
Jahre Soldat, jetzt 
S teuerkontrol leur. 
1903. 


i 38 
j (40) 

Mit 38 Jahren Typhus, Pat. lag 5 Mo- 
nate lang krank. daran anschlieBend 
! entwickelten sich die ersten Zeichen 
j des jetzigen Leidens. 

9. J.-N. 4805. Por- 

zellanmaler. 1903. 

Schwester der Mutter ..ner- 
vos“ u. deshalb in einer 
Irrenanstalt. 

1 18 
i (21) 

t 

Schon als Knabe eigentiimlicher Gang, 
mit 18 Jahren die ersten typischen. 
Beschwerden. Keine Aetiologie. 

10. J.-N. 5137. Land- 
wirt. 1904. 

Vater ist ganz zusammen- 
gewachsen, geht mit der 
Nase fast auf dem Erd- 
boden. 

! 20 
! (28) 

i 

i 

1 

Im 19. Lebensjahre heftiger Schlag 
gegen das linke Stirnbein. im nachst<exx 
Jahre Soldat. Furunkulose. Wegen. 
multipler Sklerose vom Militar ent- 
las8en. 


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Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


67 


J oumal-N umrner, 
Jetziger Beruf, 
eventuell auch friihere. 
Jahr der Aufnahme 


Erblichkeit 



Aetiologie 


11. J.-N. 4714. I«and- 
wirt. 1903. 


12. J.-N. 5605. Ma- j 

schinenschlosser. 
1905. ! 

13. J.-N. 5880. Weber, 
arbeitete friiher 27 
Jahre lang in einer 
Uhren - Fabrik, viel 
Messingstaub. 


Beide Eltem debil. 


Mutter lebt, 74 Jahre alt, 
hat seit Jahren Zittem in 
einer Hand. 


14. J.-N. 5951. Arbeiter, i; 3 Geschwister klein t* 
1906 jfSonst keine Geschwister. 


15. J.-N. 6113. Holz- 
hauer. 1906. Nochin 
der Anstalt. 


16 . 


J.-N. 6496. 
1906. 


Heizer. 


17. J.-N. 7835. Schuh- 
macher. 

18. J.-N. 7858. Mecha- 
niker, Installateur. 
Hat haufig mit ver- 
bleiten Rohren zu tun, 

19. J.-N. 8688. Bis zum 
14. Jahre mit dem 
Vater auf der Land- 
straBe, hernach Etui- 
arbe iter und Kellner. 
1910. 

20. J.-N. 8987. Miihlen- 
bauer. 1910. 


21. J.-N. 8989. 
nat. 1910. 


cand. 


Mutter ,,Krampfe“. 1 Ab¬ 
ort der Frau, 1 Kind klein 
f. 2 gesunde Kinder. 

Vater als Schulknabe ,,ner-| 
venkrank“. 


Geschwister klein 
keine am Leben. 


19 

( 22 ) 


19 

( 20 ) 

38 

(44) 


20 

( 22 ) 

25 

(30) 

20 

(27) 


27 

(30) 


Mutter 40 Jahre alt | ! 17 

Vater Asthma, 1 Abort der !■ (26) 
Frau, sonst keine Kinder. I 


Pater potator strenuus, 
Landstreicher. Bruderdes 
Vaters Suizid. Mehrere Ge¬ 
schwister des Vaters an 
Tb. f, 1 Fehlgeburt der 
Frau, eine Totgeburt. 

1 Kind stottert hochgradig, 
3 weitere gesund. 

Mutter nervenleidend, nachj: 
Mitteilung eines Nerven- 
arztes beim Bruder eben- 
falls beginnendes organi- 
sches Nervenleiden, Natur 
desselben noch fraglich. 


etwa 30| 
36 


30 

(31) 

25 

(26) 


Mit 19 Jahren ,,sohwerer Lungen- 
katarrh" (Pneumonie ? Lungenbefund 
im Status o. B.), damach begann das 
jetzige Leiden, das noch mit einem 
ausgesprochenen zirkularen Irresein 
kompliziert ist. 

Mit 19 Jahren Influenza, daran an- 
schlieBend Beginn der Beschwerden. 


Seit dem 38. Xiebensjahre zimehmende 
Insicherheit beim Gehen, jetzt ty- 
pische multiple Sklerose. 


Im 20 Xiebensjahre 5 Monate lang an 
Unterleibsentziindung krank (Typhus ?) 
Seitdem Erschwerung der Sprache usw. 

Etwa mit 25 Jahren Beginn d< r Er- 
krankung, keine Entstehungsursache. 


Beginn des Iieidens nach einem hef- 
tigen Fall auf den Hinterkopf. (Pat. 
fiel 10 Stufen einer Treppe herunter.) 

AnschlieBend an Gesichtsrose Beginn 
des Iieidens. 

Erste Ersche inungen schon etwa im 
17. Lebensjahre. 


Eine Enstehungsursache ist nicht an- 
gegeben. Wassermann im Blut:—. 


Keine Entstehungsursache. Wasser¬ 
mann im Blut:—. 

Mit 25 Jahren bemerkte Pat. die ersten 
Ersche inungen des jetzigen Leidens. 
Keine unmittelbare Entstehungsur¬ 
sache, angegeben wird Ueberarbeitung 
bei der Vorbereitung aufs Staats- 
examen. 


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68 


Roper. Zur Aetiologie tier multiplen Sklerose. 


Journal-Nummer. 
Jetziger Beruf, 
eventuell auch friihere. 
Jahr der Aufnahme 


Erblichkeit 


22. J.-N. 9104. AlsMau-i 
rer gelemt, dann Zie- 
geleiarbeiter. 1911. 


aim 

•Sgg-fj 

g~ 

9 « C 

2 s| ! 


Aetiologie 


3") Mehrere 
(37) 


leichte Traumen. Wasser- 
mann im Blut: —. 


23. J.-N. 9262. Spinne- 
reiarbeiter, dann Fa- 
sanenwarter. 1911. 


24. 


25. 


J.-N. 9367. 
macher. 


Knopf - 
1911. 


J.-N. 9437. 
arbeit-er. 


Schwester der Mutter 
Potatrix. Suizid. 


,Vater nervos. 39 Jahre alt 
an Herzschlag f. 1 Bruder 
Idea Pat. 51 Jahre alt an 
|i Herzschlag t, 1 Schwester. 
l! 34 Jahre alt an Tb. pulm. 
i| Frau Suizid in Melancholic. 
1 Kind nervos u. Pavor 
noctumus. 


Fabrik- j. 1 Bruder in einer Lungen- 
1911. 1 heilstatte. 


(33) 


31 

(53) 


(30) 


Keine Entstehungsursache. 
i mann im Blut:—. 


Wasser- 


Mit 31 Jahren Schlaganfall nach star- 
I ker Erkaltung. Viele gemiitliche Er- 
regtmgen. 


;! Nach der Militarzeit mit 20 Jahren 
J alle Jahre 1 mal Gelenkrheumatismus; 
llvielleicht waren das aber schon die 
jjersten Beschwerden des jetzigen Lei- 
I’ dens. 


26. J.-N. 9562. lnstru-| 
mentenmacher. Frii- 
her Tischler. 1911. 


i 2 Geschwister klein t. 
2 leben und sind gesund. 


27. J.-N. 9903. Land- - Schwester des Vaters j 
wirt. 1912. Noch in i Suizid. 3.Geschwister klein | 
der Kiinik. j! t- 


28. 


J.-N. 8790 a. 
August E. 


Lehrer 

1910. 


29. 


J.-N. 8790 b. Por- 
zellanmaler Hugo E. 
1912. 


Mutter Paralysis agitans : 
Mutter der Mutter nervos. 
Vater Tb. pulm. ? Ge¬ 
schwister des Vaters tuber- 
kulos. Bruder leidet eben- 
falls an multipler Sklerose. 


Wie oben. 


30 

(37) 


(25) 


20 

(39) 


24 

(44) 


Keine Entstehungsiu'sache. 


Schon mit 8 Jahren klagtePat., nach 
Angabe des Vaters ohne Grund: Die 
Fliegen bissen ihn in die Waden; mit 
15 Jahren schon ausgesprochene Krank- 
heitserscheinungen. Der Vater gibt an,. 
„er hat die Krankheit von Kindes- 
beinen an, nur schlimmer ist es ge- 
worden.“ Pat. gibt Durchnassung als 
Entstehungsursache an. 

IF* 

s. ausfiihrlichen BeriQht. Keine aus- 
losenden Moment© bekannt. Wasser- 
mann im Blut: — 


[Nach Pneumonie. Wassermann im 
Blut: — 


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Roper. Zur Aetiologie der multiplen 8klero.se. 


69 


Frauen . 


J ournal-N ummer. 
Friihere Berufe. 

Jetziger Beruf. 

Wann in der Anstalt. 

j 

| a) Erbliehkeit 

1 b) Geburten 

i 

s^li 

sm 
: ^ © 

1 

Aetiologische Momente 

j 

1. J.-N. 1730. Ledige 
Fabrikantentochter. 
1897. 

a) Pater:Apoplexie; Mater: 
nervos, 1 Bruder u. 1 
Schwester Gicht. 

30 

(36) 

— 

2. J.-N. 2139. Land-! 
wirtefrau. 

a) —; b) 1 gesunde Toehter. | 

18 

(42) 

Erste Beschwerden nach starker Chlo- 
rose. Sehr langsamer Verlauf. 

3. J.-N. 2182(867). Le¬ 
dige Oberstleutnants- 
tochter, 1899. 

i 

a) Mutter Phthise, nervos. ; 
Mutter der Mutter Tb. ? 

1 Bruder der Mutter kleint, 

1 Schwester der Mutter 

somnambul. 1 Bruder 

Typhus t, 1 Bruder Suizid. 

2 Bruder Phthise. sehr 
nervos. 1 SchwesterPhthise. 

sehr nervos. ^ 

43 

(67) 

Stets sehr nervos, friiher schon wegen 
hvsterischenlrreseins in der Klinik, seit 
dem 43. Lebensjahre fiir multiple Skle- 
rose typische Beschwerden. (Ein- 

wandfreier Fall.) 

4. J.-N. 2439. Giefierei- 
besitzerswitwe, 1900. 

a) Vater seit dem 60. Le- ‘ 
bensjahre gelahmte Beine. 

1 Schwester des Vaters 
Gicht, 1 Bruder Asthma. 
Mutter mit 45 Jahren 
Schlaganfall. Schwester 

der Mutter Schlaganfall. 

1 Bruder Neurastheniker, 

1 Schwester Suizid. j 

b) 2 Kinder klein ti 1 Sohn 

lebt, gesund. 

43 

(47) 

Als Kind skrofulos, stets blutarm. Mit 
43 Jahren Beginn des Leidens mit 
Schwache im r. Arm. Patientin hatte 
13 Jahre lang Strophantus und Digi¬ 
talis genommen, darauf fiibrte sie ihr 
Leiden zuriick. 

5. J.-N. 2684. Auf- 

warterin. 

a) —, b) 1 Abort ? 1 Solm t, 

1 Sohu lebt. 

26 

(30) 

Sclerosis multiplex -f- Hysterie. Mit 
ca. 26 Jahren Rheumatismus, darnach 
Beginn der Beschwerden. 

6. J.-N. 2846. Hoteliers- 
frau, 1902. 

a) 1 Bruder kkin t» 1 Bru¬ 
der an Appendicitis f» 

1 Schwester sehr lebhaft, 
etwaseigentiimlich. Vaters 
Bruder lungenleidend. 2 
Sohwestem der Mutter im 
Wochenbett t; Mutters- 1 
bruder Apoplexie. b) 2 j 
Kinder klein ^ Kinder 

gesund. 

ca. 30 
(36) 

Wit dem 30. Lebensjahre etwa Be¬ 
schwerden. nach einer Graviditat 
schnelie Verschlimmerung. 

7. J.-N. 2961. Arbei- 
terin in einer Gummi- 
ware niabrik, 1902. 

a) Vaters Schwester jung tJ 
Mutter im Kindbett f ; 1 
4 Geschwister gesund. 

b >- | 

21 

1 (22) 

i 

! 

1 j 

20 ! 
(37) | 

i 

Verse hi immerung der bestehenden Be¬ 
schwerden durch Unfall. 

8. J.-N. 3584. Kauf- 
niamisfrau. 1904. 

a) Mutter nervos. 1 Bruder) 
sehr nervos; b) 1 Abort, 

2 gesunde Kinder. | 

1 Erste Erscheinungen mit 20 Jahren, 

' nach dem zweiten Partus auffallende 
V erschl immerung. 


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70 


Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


J oumal-Nunimer. 
Friihere Berufe. 
Jetziger Beruf. 
Warm in der Anstalt. 


9. J.-N. 3951. Fabrik- 
arbeiterin in einer 
Porzellanf abrik .1906. 

10. J.-N. 4001. Maurers- 
frau, 1906. 


11. J.-N. 4766. Tochter 
eines Eisenbahn- 
beamten, 1908. 


12. J.-N.4948. Lehrers- 
frau, 1908. 


13. J.-N. 5242. Bahn- 
beamtenstocht.. 1909. 

14. J.-N. 5300. Stiitze. 
1909. 


15. J.-N. 5683. Korb- 
machersfrau undAuf-l 
warterin, 1910. j 


16. J.-N. 6018. Friiher 
Kochin, jetzt Op- 
tikersfrau, 1911. 


17. J.-N. 6075. Kauf- 
mannstochter, 1911. 


18. J.-N. 3478. Lehrers- 
tochter, 1904—1911. 


a) Erblichkeit 

b) Geburten 

I L'Z 2 

: 

Jjf I 

• i ZZ bo 5 s. 

!l S SJ.§ 

Aetiologische Momente 

a) Vater 43 Jahre alt aus 1 

; 21 ! 

Mit 21 Jahren Influenza, darnach Be- 

unbekannter Ursache f- ! 

‘ (24) 

ginn der Beschwerden. 

b )-. , 


a) 1 Bruder Suizid; 1 Bru¬ 

1 21 

Keine auslosende Ursache bekannt. 

der mit 40 Jahren Apo- 

! (37) 

t 

i 

plexie. b) 4 gesundeKinder. 

i 

a) Mehrere Briider des j 

! 21 

Beginn des Leidens nach Erkaltung- 

Vaters jung t* einer an' 

i (22) 


galoppierender Tb., 1 Bru-| 
der der Mutter verschollen. ! 
2 Geschwister jung t< 2 ge- i 
sund. b) —. Ii 


a) Vater 53 Jahre alt an 
Asthma u. Wassersucht. 1 
Mutter 63 Jahre alt an 
Wassersucht. b) —. 


31 Ehe mit 19 Jahren, 5 Wochen nach 
(36) der Hochzeit plotzlich Schlaganfall, 
sehr krank, dann wieder eine Reihe von 
Jahren gesund. 1903 Geschwiir ini r. 
Ohr. um diese Zeit Beginn des Leidens. 


a) —; b) —. 


12 Beginn im 12. Lebensjahre nach der 
(20) | Revakzination. 


a) Vater der Mutter an ■ 
Lungenleiden t; b) —. \ 


a) 8 Geschwister klein 
4 leben. Einzige Tochter,, 
lemt inaBig, sehr nervos; 

b) 1 Fehlgeburt, 1 Tochter i 

lebt. 

a) V^ter leidet viel an 
Kopfschmerzen, kann 
schlecht gehen. Bruder des 
Vaters nervenleidend. 2 
Bruder der Mutter 50 Jahre j 
alt plotzlich f- b) 1 Kind j 
Vitiurn cordis. 1 Kind ge¬ 
sund. 

a) —; b) —, , 22 

(82) 


26 

(27) 


35 

(48) 


j Nach sehr anstrengender Krankcn- 
j pflege hochgradige Erschopfung, da- 
*| nach Beginn des Leidens. 


i 

I! 


Mit 35 Jahren post partiun Beginn de& 
Leidens. 


Keine Entstchungsursache angegeben. 


Schon als Kind immer eigenartig und. 
miirrisch. Mit 22 Jahren Appendicitis- 
operation, seitdem Zunahme der Be- 
schwerden. Hysterie + Sclerosis mul¬ 
tiplex. 


a) Bruder Neurastheniker, 20 
mehrere Geschwister klein (21) 

t; b) -. 


Mit 20Jahren Pertussis und Scarlatina, 
danach Beginn des jetzigen Leidens. 
t 28 Jahre alt. Sehr fettleibig. (Der 
Fall ist durch Sektionsbefund be- 
statigt.) 


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Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


71 


Joumal-N uramer. 
Fruhere Berufe. 
Jetziger Beruf. 

Warm in der Anstalt. 

a) Erblichkeit 

b) Geburten 

M 

® C> - CB 

t- a §'3 

m 

Aetiologische Moinente 

19. J.-N. 4569. Flei- 
schersgattin, friiher 
Heimarbeiterin 
(Schiefer). 1911. 

a) Vater kranklich. Rheu- 
matismufl. Mutters Eltem 
heruntergekommen. Mut- 

tersbrudersohn geistes- 
krank. Schwester Suizid. 

b) 3 Kinder gesund; 2 Kin¬ 

der klein t- 

28 

1 (32) 

1 

! Begmn des Leidens walirend einer 

1 Graviditat. 

1 

i 

20. J.-N. 4692. Lehrerin. 
1909. 

a) Vatersbruder sehr ner- 
vos, ein Sohn desselben 
Suizidversuch. b) —. 

21 

(22) 

Beginn des Leidens akut nach an- 
strengendem Tanzen. 

21. J.-N. 5113. Naherin.j 
dann Arbeiterin in 
Kartonfabrik, 1909. | 

a) Schwester Lupus; b) 1 
gesundes Kind. 

22 

(23) | 

! 1 

Keine Entstehungsursache angegeben. 
j (Beginn des Leidens fallt mit der Gra¬ 
viditat znsammen.) 

22. J.-N. 2738. Tape- 
zieregattin, 1901. 

a) Pater Phthise. 10 Ge¬ 
schwister des Vaters an 
Phthise t* Von den Ge- 
schwistem der Pat. lebt 
nur noch 1 Schwester, 11 an 
Phthise t; b) —• 

ca. 57 ! 
(61) J 

Keine Entstehungsursache. Durehaus 
tvpisches Krankheitsbild. 

1 

! 

23. J.-N. 6314. Glas- 
schleifersfrau, 1912. 

a) —; b) 1 Friihgeburt, 

2 gesund. 

h 

21 

(27) |, 

Mit 21 Jahren — wahrend der Gra- 
1 viditat -— Beginn der Beschwerden. 
Beim 2. u. 3. Partus jedesmal Ver- 
I schlimmerung. 


Unter die erblich Belasteten rechne ich die Falle 1, 3, 9, 11, 15, 
16, 19, 21, 23, 24, 28, 29 und 30 bei den Mannern, und bei den 
Frauen: 1, 3, 4, 6, 8, 10, 15, 16, 18, 19, 20, 22. Also 25 mal liegt 
erbliche Belastung vor, d. i. etwa in der Halfte aller Falle. 

Als disponiert zu einem Nervenleiden nehme ich die Patienten 
an, bei denen in der Anamnese irgend etwas fiir eine bestehende 
geringereWiderstandsfahigkeit des Zentralnervensystems spricht, so 
z. B. eine komplizierende Geisteskrankheit oder Debilitat (Manner: 
2, 5, 6, 7, 11; Frauen: 3,17); doch rechne ich hierher auch die Fade, 
bei denen ausdriicklich hervorgehoben ist, dad alle Oder die meisten 
Geschwister klein gestorben sind, wie es in den Fallen: 4, 5, 14,17,28 
bei den Mannern, und 15 und 18 bei den Frauen der Fad ist. Ferner 
auch die Fade, bei denen in der Anamnese Stoffwechselkrankheiten 
bei den nachsten Blutsverwandten bemerkt sind; besonders ist 
mir aufgefaden, daB sich sowohl in meinen Faden wie in Fallen 
anderer Autoren haufig die Angabe lindet, die Eltem hatten 
an Gicht gelitten (Manner 1; Frauen 3, 17). Da bei No. 5 M. 
und No. 3 und 17 Fr. zwei disponierende Ursachen zusammen- 
treffen, behalte ich 14 Fade, in denen ich Disposition annehmen 
kann. In den Fallen No. 9 und 27 waren die ersten Er- 


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72 


Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


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scheinungen schon in friiher Kindheit aufgetreten, sonst fiel der Be- 
ginn des Leidens meistens in das dritte Dezennium. Angeblich 
sind bei der Patientin No. 22 die ersten Erscheinungen erst im 
57. Lebensjahre aufgetreten; die Anamnese ist ganz eingehend und 
die Krankheitserscheinungen durchaus typisch, so daB ich mich 
nicht fur berechtigt hielt, diesen Pall auszuschalten, wie ich es sonst 
bei zweifelhaften oder unwahrscheinlichen Fallen getan habe. 
Das 43. Lebensjahr wird als Alter beim Beginn der Beschwerden 
von den Patientinnen 3 und 4 angegeben, der Patient No. 13 will 
ebenfalls erst gegen Ende des 4. Dezenniums erkrankt sein. Nun, 
so ganz etwas AuBergewohnMches ist dieses spate Auftreten der 
multiplen Sklerose nicht; in den schon erwahnten statistischen 
Arbeiten sind analogs Falle erwahnt. 

Die Moglichkeit, daB chronische Intoxikationen bei der Ent- 
stehung des Leidens mit wirksam gewesen seien, liegt 3 mal vor; 
einmal ist es jahrelanges Arbeiten in Messingstaub (M. 13), das 
andere Mal 13 Jahre langer Gebrauch von Digitalis und Strophan- 
thus (Fr. 4). In einem dritten Falle (M. 18) hatte Patient haufig 
mit verbleiten Rohren zu tun. In alien 3 Fallen ist mir der Zu- 
sammenhang zwischen dem bestehenden Leiden und der In- 
toxikation nicht recht wahrscheinlich. Bemerken will ich hierbei 
noch, daB ich, um der Oppenheimschen Forderung zu entsprechen, 
in jedem Falle auch auf eventuelle friihere Berufe gefahndet habe. 

11 mal werden Infektionskrankheiten als Entstehungsursache 
angegeben; selbstverstandlich habe ich nur die Falle beriicksichtigt, 
bei denen ein ganz nahes Zusammentreffen zwischen Entstehung 
des Leidens und der Infektionskrankheit bestand (M. 8, 11, 12, 14, 
17, 29; Ft. 5, 9, 12, 13, 18). Der Fall 25 ist mir fraglich. 

Korperliche und psychische Traumen, sowie die Graviditat 
und der Partus werden 14 mal als auslosende oder verschlimmemde 
Momente genannt, es sind dies bei den Mannem die Falle 6, 10, 16, 
22?; 1?, 2 und 24, bei den Frauen 7 (Verschlimmerung durch 
Trauma), 17; 15,19, 21, 23; 6, 8, 23 (Entstehung durch den 1. Partus 
und bei jeder weiteren Graviditat Verschlimmerung). 

Das Moment der Erkaltung spielt 3 mal eine Rolle (M. 4, 24; 
Fr. 11). 

Ueberanstrengung wird 4 mal angeschuldigt, das Leiden aus- 
gelost zu haben. 

In 17 Fallen (M. 5, 7, 9, 15, 18, 19, 20, 23, 26, 28; Fr. 1, 3, 6, 
8, 10, 16, 22) war es nicht moglich, eine Entstehungsursache zu 
eruieren; das ware also etwa l / t aller Falle. Bei starkem Skeptizis- 
mus wxirde man wohl sogar in 50 pCt. aller Falle annehmen miissen, 
daB die das Leiden auslosenden Momente ungeklart seien. 

Ich wiirde in die Fehler mancher anderer Autoren verfallen, 
wenn ich jetzt auf Grund meiner 52 Falle Prozentzahlen angeben 
wollte; groBe Beweiskraft wiirden derartige Zahlen nicht haben; 
anders ist es, wenn ich eine Statistik von 763 Fallen zusammen- 
trage, so miissen sich doch einigermaBen beachtenswerte Zahlen 
gewinnen lassen. 


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Roper. Z\ir Aetiologie der lnultipleu Sklerose. 


73 


Die zwolf Spalten meiner Tabelle geben manche interessantc* 
Auskunft. Als erstes scheint es mir wichtig, daB eine Verhaltnis- 
zahl gefunden ist fiir die Haufigkeit, in der die beiden Geschlechter 
betroffen werden. Zur Gewinnung dieser Zahl habe ich die 51 Falle 
von Lent ausgeschaltet, da diesem nicht alle Frauenkranken- 
geschichten zur Verfiigung standen. Es bleiben hiernach 712 Falie 
iibrig; von diesen betreffen 427 mannliche und 285 weibliche 
Kranke, so daB wir sagen konnen, es besteht ein Verhaltnis von 
10: 7. 

Erblichkeit und Disposition sind meiner Ansicht nach sehr 
wichtige Faktoren fiir das Entstehen der multiplen Sklerose. In 
fast derHalfte aller meiner Falle gelang es mir, nachzuweisen, daB 
bei den Aszendenten korperliche oder geistige Anomalien vorhan- 
den waren, die den SchluB zulieBen: es besteht eine Verschlechterung 
der Art. Eine verringerte VViderstandsfahigkeit des Einzelindi- 
viduums gegenviber Schadigungen, die das Zentralnervensystem 
betreffen, habe ich 14 mal, also in etwa 25 pCt. der Falle an- 
genommen. Meine Verhaltniszahlen sind sehr viel hoher als 
die anderer Autoren; ich erklare es damit, daB erstens, wie 
oben ausgefuhrt, in unseren Krankengeschichten der Frage der 
Hereditat groflere Aufmerksamkeit geschenkt 1st, zweitens dadurch, 
daB ich nicht nur Nerven- oder Geisteskrankheiten als belastend 
angenommen habe, sondern auch tuberkulose Erkrankungen und 
Erkrankungen des Stoffwechsels. Es erscheint mir iiberhaupt ein 
Mangel vieler Krankenberichte, wenn die Angaben iiber die Here¬ 
ditat damit kurz erledigt werden, daB man vermerkt: keine Nerven- 
krankheiten bei den Blutsverwandten. Eine starke tuberkulose 
Belastung und Erkrankungen des Stoffwechsels bei denAszendenten, 
eventuell auch bei den Deszendenten — zu den Stoffwechselkrank- 
heiten rechne ich: Diabetes mellitus, Gicht, Fettsucht, Psoriasis, 
eventuell noch einige andere — sind meiner Ansicht nach fiir die 
Frage der Hereditat durchaus ebenso zu beurteilen wie die Nerven- 
krankheiten. Tuberkulose und Stoffwechselerkrankungen sind 
bei der Frage der Hereditat nicht nur als keimschadigende 
Momente zu betrachten, sondern zweifellos bestehen in der Ver- 
erbung mannigfache Wechselbeziehimgen zwischen diesen ver- 
schiedenen Erkrankungsformen, die alle nur als ein Symptom der 
Artverschlechterung aufzufassen sind. Auf diese Seite der Be¬ 
lastung miiBte allgemein mehr Wert gelegt werden. 

Brauchbare Angaben iiber Erblichkeit sind in unserer Tabelle 
unter: I, II, III, VII und VIII zu finden; es kommen hier auf 
435 Kranke 102 Belastete, d. s. etwa 20 pCt. 

Aus I, III und VIII erhalte ich die Zahl fiir die Haufigkeit des 
Bestehens einer Disposition zu einem organischen Leiden des 
Zentralnervensystems: es kommen auf 286 Kranke 50 derartig 
disponierte, d. s. etwa 18 pCt. Rechne ich aus demselben Material 
die Hereditat aus, so kommen auf diese 286 Kranken 79 Belastete, 
d. h. 27 pCt. Disposition oder Hereditat liegt also in 45 pCt. der 
Falle vor. In einzelnen Fallen ist es moglich, daB Disposition und 


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74 


Roper, Zur Aetiologie der raultiplen Sklerose. 



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1. : 

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Irma Klausner 126 

78 

48 

: 

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31 

23 

18 

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j 

8t 

2. 

Arthur Berger 206 

140 

66 

21 

; 

12 « 

3 Lues 

5 Pb 

4 Alkohol 

6t 

I 

3. 

v.Krafft-Ebing 100+8 

58 

42 

22 

13t 

6 

4 Potus 

6 


3 

5 

1 

1 

2 Lues 

1 

4. 

Eduard Muller 75 i 

1 

35 

40 

i 

| 

(6?) 




5. 

J. Hoffmann 100 J 

1 

53 

47 

1 

1 

; 

“ i 

| 

4 

(1 Pb 
| 3 Co. 

1 

j 

5 

1 

6. 

1 

Carl Lotsch 45 j 

31 

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14 


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7t 

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1 

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| 



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7. 

Sent 5 1 

37 j 

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14t 

1 

1 

2 | 

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15 

t 

( 3 Lues | 
7 Potus 

15 Pb , 

10 


8. 

E. Roper 52 

29 ! 

23 

25 

j 

i 

i 14 

j 


3 

1 

n +1 t 


763 1 

j 1(1 

| 

: 7 

! 

20% | 

! in 

9% 

8% 


Hereditat bei derselben Person gezahlt ist, immerhin bleibt aber die 
Tatsache bestehen, daB fast in der Halfte aller Falle eine ver- 
minderte Widerstandskraft des Zentralnervensystems nachweisbar 
ist und nicht, wie Hoffmann annimmt, die Hereditat nicht haufiger 
ist als bei anderen Krankheiten, die ihren Sitz nicht im Nerven- 
system haben. 

In den Rubriken I, II, III, V, VII und VIII sind Angaben 
liber die Haufigkeit chronischer Intoxikationen enthalten: auf 


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Koper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 


75 



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1 5 (anfangs 15) 


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Beim*rkungen 


14% 



t Autor gibt 25 Falle an, er hat 
aber dabei die letzten 10 Jahre in 
Betracht gezogen. nur in 8 Fallen 
nahes zeitliches Zusammentreffen 
von der Infektionskrankheit und Be- 
ginn der multiplen Sklerose. 

t Autor gibt 40 Falle an. unseren 
Bedingungen genii gen nur 6. 


0 ii 


41 

4 

2 


1H++ 


5 11 


4tft 


1 ~ 


3 


«°o H 3% 17% 5% 6% 


14 0/ 

1 4 0 


12 °{, 


47° n 


f Neuropathische Konstitution. 


7r, % 


50% 


Leider sind iiber die atiologischen 
Momente nur Betrachtungen an- 
gestellt und keine Zahlen angegeben. 
Bei den 6 Disponierten sind nur die 
schwer belasteten mitgezahlt. 

t Autor gibt an. Hereditat sei nicht 
haufiger als bei anderen Erkran- 
kungen. die ihren Sitz nicht im Ner- 
vensystem haben. 

tf Wahrscheinlieh 13 mal. 
fff Noch auBerdem 11 mal in Kom- 
bination mit anderen atiologischen 
Momenten. 

j| wie Autor angibt, denn in 

lldem Falle No. 7, S. 287 handelt es 
! sich doch wohl um Erkaltung. 
j |t Autor gibt auch hier 8 Falle an. 
I 2 habe ich unter 8 u. 9 rubriciert, 2 
weitere (No. 3 u. 4, S. 275) unter 11. 
j t Es waren dem Autor nicht 
alle Frauen betreffenden Kranken- 
geschichcen zuganglich. 

t Enter Spalte 6 ist eine Chlorose 
mit eingereiht. No. 2. 

ft In einem Falle hatte ein Trauma 
das schon bestehende Leiden ver- 
schlimmert. No. 7. 

I 


(543 Falle wird die Moglichkeit dieses atiologischen Faktors 58 mal 
angegeben, d. s. etwa 9 pCt. Die Infektionskrankheiten sind als 
atiologisches Moment in 688 Fallen 55 mal aufgezahlt, d. s. 8 pCt. 
Da von vielen Autoren den Infektionskrankheiten fast die groBte 
ursachliche Bedeutung fiir die multiple Sklerose zugeschrieben 
wird, hatte man hier eine viel groBere Zahl erwarten sollen; be- 
merken will ich nochmals, daB ich mich bemiiht habe, meine Sta¬ 
tist ik von den Fallen zu saubem, in denen Jahre zwischen dem 


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76 Koper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 

Ueberstehen der Infektionskrankheit und dem Beginne des Leidens 
lagen. 

Korperliche und geistige Traumen, sowie Graviditat und 
Partus werden unter 688 (nur Muller gibt hieriiber keine Zahlen) 
Fallen 96 mal als Ursache angegeben, d. s. ca. 14pCt.; als ver- 
schlimmernd noch 9 mal. 

Die Prozentzahlen hierfiir sind: 

Korperliche Traumen: 6 pCt. 

Psychische Traumen: 3 pCt. 

Graviditat und Partus: 17 pCt. (27 mal auf 159 Falle). 

Ueberanstrengung finde ich in 6 pCt. der. Falle angegeben 
(I, III, VII, VIII, 337 : 20). 

Ueber die Haufigkeit der Erkaltung als atiologisches Moment 
machen alle Autoren Angaben: bei 763 Fallen findet sich Erkaltung 
als Entstehungsursache 89 mal, also etwa in 12 pCt. 

Ziehen wir aus dieser Statistik den SchluB, so kommen wir 
zu dem Resultate, daB in etwa 50 pCt. der Falle exogene Momente 
als Entstehungsursachen des Leidens angegeben werden, wahrend 
in 38 pCt. der Falle Hereditat und Disposition den Boden fur die 
Krankheit darbieten. 

Die in der Einleitung aufgefiihrten widersprechenden An- 
sichten finden durch diese Zahlen ihre Erklarung. Die Anhanger 
der Theorie, daB die Entstehung der multiplen Sklerose durch 
exogene Schadigungen zu erklaren sei, fuBen auf die 50pCt., in 
denen Traumen, Intoxikationen, Infektionskrankheiten, Erkal- 
tungen und Ueberanstrengungen als Entstehungsursache an¬ 
gegeben werden; die Anhanger der endogenen Entstehungstheorie 
nehmen natiirlich in erster Linie die 50pCt. fiir sich in Anspruch, 
in denen alle derartigen Angaben fehlen, zum Teil auch die Tat- 
sache, daB haufig Belastung, Disposition und familiares Auftreten 
bestehen. 

Bei griindlicher Wiirdigung aller Tatsachen, die fiir die ver- 
schiedenen Theorien iiber die Entstehimg der multiplen Sklerose 
zusammengetragen sind, scheint uns folgende Theorie die richtige: 
Es ist durchaus unwahrscheinlich, daB allein durch die auBeren 
Schadlichkeiten das Leiden entstehen kann, denn diese atiolo- 
gischen Faktoren treffen doch bei allzu vielen ganz gesunden 
Individuen zu, zum wenigsten miiBte die multiple Sklerose dann 
ein sohr viel haufigeres Leiden sein. Die Ansicht , daft das Zu- 
sammentreffm einer angeborenen oder erworbenen verringerten 
Wiederstandsfdhigkeit des Zentralnervensystems und einer der an- 
gegebenen Schadlichkeiten zur Entstehung der multiplen Sklerose 
notwendig sei, scheint uns die grofite Wahrscheinlichkeit fiir sich 
zu haben. Beide Momente sind ungefahr von derselben Wichtigkeit. 

Die chronische Intoxikation mochte ich nicht wie Oppenheim 
als ein auslosendes Moment ansprechen, sondern ich glaube, daB 
sie erst die verringerte Widerstandsfahigkeit des Zentralnerven¬ 
systems verursacht, oder falls eine solche schon besteht, dieselbe 


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K oper , Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 77 

erhoht und dem Eindringen der auBeren Schadigung den Boden 
ebnet. 

Fraglos sind uns noch nicht alle auBeren Schadigungen bekannt, 
die im Verein mit der Disposition das Leiden bewirken konnen; 
hinweisen mochte ich auf die Edinger&che Aufbrauchstheorie, 
deren Anwendbarkeit auf die multiple Sklerose mir durchaus 
gereehtfertigt erscheint. So wiirde man z. B. das fast typische 
Alter beim Auftreten der Erscheinungen gut erklaren konnen; 
das wenig widerstandsfahige Zentralnervcnsystem hat etwa 
2 Dezennien lang seine Schuldigkeit getan, jetzt ist seine Leistungs- 
fahigkeit erschopft, die Spannkraft des funktionstragenden Ge- 
webes laBt nach, dieses halt dem Gewebe der Stiitzsubstanz nicht 
mehr das Gleichgewicht, es kommt zu einerWucherung des letzteren. 
Zu dieser Erklarung wiirde auch gut die Tatsache passen, daB die 
Erscheinungen von seiten der Beine die konstantesten sind. 

Die hier entwickelte Ansicht iiber die Aetiologie der multiplen 
Sklerose wird mit gestiitzt durch die Tatsache, daB das Auftreten 
des Leidens bei Geschwistem nicht ganz so seiten ist, wie die 
meisten Autoren annehmen; vielleicht gibt diese Arbeit Anregung 
zu weiteren Nachforschungen in dieser Richtung, 

LitercUur- Verzeichnis. 

Batten, F. E., Two Cases of a Family Disease, the Symptoms of which 
chosely resemble Disseminated Sclerosis. Proceedings of the Royal Society 
2f Medicine, January 1909. Vol. II. No. 3. — Berger, A. Eine Statistik iiber 
106 Falle von multipler Sklerose. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. Leipzig u. Wien. 
o905. XXV. Band. S. 198. — Blvmreich, L .. und Jacoby, M ., Zur Aetiologie 
der multiplen Sklerose. Dtsch. med. Woch. 1897. No. 28. — Bernhardt, M., 
Beitrag zur Lehre von den familiaren Erkrankungen des Zentialnerven- 
systems. Virch. Arch. Band 126. 1891. S. 59. — Cestan, R ., et G. Guillain , 
La paraplegic spasmodique familial© et la sclerose en plaques familiale. 
Revue de M£decine. 1900. S. 813. (r. N. Z. 1902. pag. 903.) — Collier , James, 
Diskussionsbemerkung; siehe Batten. — Coriat , J. H., A peculiar form of 
family nervous disease resembling multiple sclerosis occuring in cbildien. 
The Boston Medical and Surgical Journal. Volume CLX. January-June. 
1909. pag. 506. — DreschfeLd nach Pelizaetis . — Duchenne nach Erb. — 
Erb, Wilhelm, Handbuch der Krankheiten des Nervensystems I. Zweite 
Halfte. Leipzig. 1878. S. 86. — Eichhorst, Hermann, Ueber infantile und 
hereditare multiple Sklerose. Virch. Arch. Band. 146. Berlin. 1896. — 
Focke nach Edvard MuUer. — Frerichs nach Erb . — Gowers, W. R., Hand¬ 
buch der Nervenkrankheiten. Dtsch. Ausgabe von Dr. Karl Grvbe. II. Band. 
Bonn. 1892. S. 559. — Hoffmann, J ., Die multiple Sklerose des Zentral- 
nervensystems. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 1902. S. 1. —■ Kahler und 
Pick nach Oppenheim. — Klausner, Irma . Ein Beitrag zur Aetiologie der 
multiplen Sklerose. Arch. f. Psych. 34. S. 841 u. ff. — Konig, W ., Cerebrale 
Diplegie der Kinder, Friedreichsche Krankheit und multiple Sklerose. Berl. 
klin. Woch. 1895. No. 33. S. 717. — v. Krafft-Ebing, Zur Aetiologie der 
multiplen Sklerose. Wien. klin. Woch. 1895. N. 51. — IAebermeister nach 
Totzke. — Leyden nach Oppenheim. — Lent, Georg, Ueber die Aetiologie der 
multiplen Sklerose. Inaug.-Diss. Berlin. 1894. — Marburg, Otto, Handbuch 
der Neurologic. Herausgegeben von M. Lewandowsky, Berlin. 1911. II. Bd. 
Spezielle Neurologic I. — Marie, Pierre nach Oppenheim. — Merzbacher, 
L., Eine eigenartige familiar-hereditare Erkrankungsform (Aplasia axialis 
extracorticalis congenita). Ztschr. fur die gesamte Neurologic und Psychi¬ 
atric. Dritter Band. 1910. S. 1. — Miljanitsch, Multiple Sklerose bei 


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78 


Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


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2 Brudem. Aus dem Daniel-Hospital in Cetinje. Original-Artikel in Medi- 
zinskoje Obosrenije No. 11. Zitiert nach: St. Petersburger med. Woch. XIV. 
Jahrgang. 1899. Uebersicht iiber die russische med. Lit. No. 8. — Muller , 
Eduard, Die multiple Sklerose des Qehims und Ruckenmarks. Jena. 1904. 

— Oppenheim, H., Lehrbuch der Nervenkrankheiten, I. Band. Berlin. 1905. 
S. 347, und Zur Lehre von der multiplen Sklerose. Berl. klin. Woch. 1896. 
S. 184. — Pelizaeus, Fr mf Arch. f. Psych.u. Nervenkrankh. XVI. 1885. — 
Reynolds , Ernest , Some Cases of Family Disseminated Sclerosis. Brain: 
A Journal of Neurology. Vol. XXVII. 1904. — Schilder, Paul , Zur Kennt- 
nis der sogenannten diffusen Sklerose (Ueber Encephalitis periaxialis 
diffusa). Zeitschrift fur die gesamte Neurologic u. Psychiatric. X. 1912. 
Archiv fur Psychiatric und Nervenkrankheiten. 48. Bd. 1911. S. 824. 
Siemerling , E. und Raeeke , J.: Zur pathalogischen Anatomie imd Patho- 
genese der multiplen Sklerose. — StrumpeU, Adolf , Lehrbuch II. 17. Aufl. 
1909. — Totzke , Alfred , Inaug.-Diss. Ueber die multiple Herdsklerose des 
Zentralnervensystems im Kindesalter. Berlin. 1893.— Unger nach Totzke. 

— Weifienburg nach Marburg . 


(Aus der^psyehintrischen und Nervenklinik der Konigl. Chari to in Berlin. 

[Geh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer .]) 

Ueber die Beeinflussung des Vorstellungsablaufes 
durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken. 

Von 

Dr. ARNOLD KUTZINSKI, 

Assist enl an der Nervenklinik der Charity. 

Einleitung. 

Eine Beeinflussung des Vorstellungsablaufes ist standig ge- 
geben, jeder Sinneseindruck, jeder Vorstellungskomplex, jede 
friihere Handlung muB in irgendeiner Weise bei aktuellen psy- 
chischen Erlebnissen wirksam sein. Diese Wirksamkeit ist in 
verschiedener Richtung moglich; bald bestimmen Gefiihle, bald 
Tendenzen, bald Assoziation^skomplexe das Auftreten einer Vor- 
stellungsreihe. Wahle 1 ) hat fiir diesen EinfluB das Wort Kon- 
stellation gepragt. Neben der assoziativen Verwandtschaft, der 
Deutlichkeit der Vorstellung und des Gefuhlstones kommt die 
Konstellation als vierter Faktor im Wettbewerb der Vorstellungen 
in Betracht. Wenn in zwei Rindenelementen B und C, die als 
Nachfolgerin des Elementes A in Frage kommen, eine Erregung 
von bestimmter GroBe besteht, so konnen sich die Erregungs- 
groBen gegenseitig modifizieren. Die Modifikation kann einmal 
in einer Hemmung, wie auch in einer Anregung bestehen. In 
dieser Weise definiert Ziehen 2 ) seinen Konstellationsbegriff. Die 

*) Wahle , Bemerkungen zur Beschreibung etc. Vierteliahrsschrift f. 
Philosoph. 1885. 

a ) Ziehen , Leitfaden der physiolog. Psychol. 1908. S. 192. 


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des Vorstellungsablaufea durch Geschichtskomplexe etc. 


79 


Konstellation ist auBerordentlich wechselnd, bald folgt auf A C, 
wenige Stunden spater auf dasselbe A B. Die Konstellation ist 
imstande, alle anderen Faktoren zu verdrangen, dabei ist sie nicht 
von BewuBtsein begleitet. 

Im AnschluB an Kries und Ziehen hat Levy 1 ) den Begriff 
der Konstellation in seiner Bedeutung fur den Vorstellungsablauf 
klargelegt. Er erweitert den Umfang der Konstellation zu einer 
sogenannten Totalkonstellation; damit soil zum Ausdruck gebracht 
werden, ,,daB sich unbemerkt die fernstliegenden Einwirkungen 
noch geltend machen konnen 44 . So kann ein groBer Teil der 
mitbestimmenden Umstande, wie Wirkung des Milieus, des Be- 
rufes, der Kindheit etc. ohne weiteres durch den Totalbegriff 
umschlossen werden, mit anderen Worten, ,,es wird die Tatsache 
zum Ausdruck gebracht, daB der Gesamtheit der uberhaupt voran- 
gegangenen BewuBtseinsvorgange es jederzeit moglich ist, eine 
Einwirkung auf den Ablauf der Vorstellungen, sei es auch in 
auBert verwickeltem Kausalnexus, auszuiiben 44 . Levy fiihrt einige 
Versuche an, die dem Nachweis der Konstellation dienen sollen. 
In einer Gruppe von Reizworten befandpn sich ein oder mehrere 
Lockworte, d. h. solche, die neben vielen anderen Beziehungen 
auch die zu einem bestimmten Gregenstand besitzen. Nach einiger 
Zeit (Tage oder Wochen) wurde der Zuruf des Reizwortes wieder- 
holt, dabei wurde vor Beginn des Versuches die Aufmerksamkeit 
der Versuchsperson unauffallig auf die Gegenstande, deren Be- 
zeichnungen als Lockwort in der Reihe verteilt waren, hingelenkt. 
So muBte z. B. das vorgelegte Objekt vor Beginn des Versuches 
bezeichnet oder stereognostisch erkannt werden. In der 
Reihe befand sich das Wort ,,Haar 44 . Vor dem Versuch muBte 
die Versuchsperson einen Kamm erkennen. Die Reaktion I auf 
Haar lautete ,,Kopf 44 , die Reaktion II ,,kammen“. Hier hat also 
die Stereognose des Gegenstandes Kamm konstellierend gewirkt. 
Als besonders geeignet zur Feststellimg der Konstellation dienen 
nach Levy doppelsinnige Reizworter, wie z. B. ,,die Feder 44 . Wenn 
bei dem 2. Versuch die Reaktion im Sinne des konstellierenden 
Gregenstandes erfolgt und dann sogar die Fixierung der Assoziation 
durch die vorangegangene neutrale Reihe durchbrochen wird, so 
muB die Veranderung lediglich als unbewuBte Einwirkung der 
experimented erzeugten Konstellation betrachtet werden. Levy 
hat bereits selbst die Schwierigkeiten dieser Versuchsform hervor- 
gehoben. Das Eingreifen anderer alter, unbekannter oder nicht 
nachweisbarer Konstellationen wird oft oder sogar meist den 
EinfluB des experimented wirkenden affektiv gleichgiiltigen oder 
isoliert gegebenen Komplexes zuriickdrangen und unwirksam 
machen. Levy hat als konstellierende Faktoren stets Objekte 
angewandt, die so gelaufig sind und eine so reiche Verkniipfungs- 
moglichkeit besitzen, daB selbst die angefiihrten beweisenden Bei- 


! ) M. Leuy-Suhl. Ueber experimentelle Beeinflussung des VorsteJlungs- 
ablaufs. 1911. S. 29. 


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80 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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spiele nur mifc Vorsicht zu verwerten sind. Am 17. reagierte die 
Versuchspers6n ohne Konstellation auf ,,Feder“ mit ,,Gans“, am 
Tage darauf unter dem EinfluB des Komplexes „Bleistift“ mit 
,,Halter“. Levy hat hier die Moglichkeit, daB vielleicht die Absicht 
der Versuchsperson bestand, die Reaktion zu variieren, gar nicht 
in Betracht gezogen. DaB bei anderen indifferenten Reizen die 
erste Reaktion wiederkehrt, spricht nicht dagegen, weil ja eben 
die Vielheit der Beziehungen dieser Reize zu ihren konstanten 
Reaktionen nicht bekannt ist. Wenn z. B. auf ,,Papier“ in beiden 
Reihen die Reaktion ,,Buch“ erfolgte, so konnte hier jedesmal 
der Sinneseindruck des Buches, in dem der Verfasser seine Auf- 
zeichnungen eintrug, bestimmend gewesen sein, also es erscheint 
mir zweifelhaft, daB die Resultate dieser sinnreichen Methode 
einwandfrei zu verwerten sind. Ueberdies sind die mitgeteilten 
Erfahrungen zu diirftig. 

Jung und Riklin 1 ) haben den Begriff Konstellation zu- 
sammengefaBt mit dem der Perseveration. Sie nannten die Ein- 
wirkung einer Reaktion auf die unmittelbar folgende Perseveration, 
die Einwirkung iiber eine unbeeinfluBte Reaktion hinweg be- 
zeichneten sie als Konstellation. Die Perseverationen konnen so- 
wohl durch unbekannte psychophysische Ursachen, als auch durch 
besondere Gefiihlskonstellationen bedingt sein. Bekanntlich haben 
ja diese Autoren den EinfluB gefiihlsbetonter Komplexe auf die 
Assoziationen festzustellen versucht. Die Mangel ihrer Methoden 
bestehen vor allem darin, daB sio^den Komplex aus der Versuchs¬ 
person erfragten. Auf ihre Merkmale eines einfluBausiibenden 
Gefiihlskomplexes wird spater genauer eingegangen werden. 
Hier sei nur darauf verwiesen, daB ihre Komplexmerkmale 
nur fiir die Assoziationen Gebildeter Geltung haben sollen. 
Schnitder 2 ) halt eine Diagnostik auf Grund dieser Symptomato- 
logie fiir unmoglich. Er hat bei Versuchspersonen, denen ein 
Examen, eine Operation oder eine Entbindung bevorstand, die 
Jungschen Komplexsymptome nicht nachweisen konnen. 

Versuche, den EinfluB eines objektiv gegebenen Komplexes 
auf den Vorstellungsablauf nachzuweisen, hat vor allem ScholP) 
gemacht. Seine Methode bestand darin, daB der Versuchsperson 
an mehreren Versuchstagen 60 Reizworte zur freien Assoziation 
zugerufen wurden. An alien Versuchstagen, auBer dem ersten 
und letzten, ging der Aufnahme der Reihe die Exposition eines 
Bildes voraus. Er gab seinen Versuchspersonen die Instruktion, 
nach jeder Antwort zwischen je zwei Assoziationsversuchen sich 
das zu Beginn des Versuchstages gezeigte Bild wieder anschaulich 
zu vergegenwartigen. Scholl hat selbst betont, daB ungebildete 
Geisteskranke nur zu einem kleinenTeil fiir diese Methode brauchbar 

*) Jung und Riklin . Untersuchungen iiber Assoziationen Gesunder. 
S. 31. 

2 ) Schnitzler. Folia neiuo-biologica. 1. Bd. S. 614. 

3 ) Scholl. Klinik fiir nervose und psychische Krankheiten. III. Bd. 

H. 3. 1908.< 


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dee Voratellungeablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


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sind. Aus dem Befund bei Gesunden verdient hervorgehoben zu 
werden, dab die Perseveration eine groBe Rolle spielte. Die Bild- 
reaktion ist nicht immer eine einfache Reproduktion einer dem 
Bild entstammenden Vorsteliung, sondem oft das Produkt einer 
Verschmelzung zwischen der aus der Zeit vor dem Einsetzen des 
Reizwortes perseverierenden anschaulichen Vorsteliung und der 
Reizwortvorstellung. Die Assoziationen aus dem Bildkomplex 
sind schwankend. Die eine Versuchsperson hat in 180 Fallen 
assoziativ dngekniipft, Versuchsperson II nur in 32 Fallen. Ob 
wirklich die Unfahigkeit der Versuchsperson II, das Bild nicht 
anschaulich reproduzieren zu konnen, die Ursache dieser Tat- 
sache bedeutet, erscheint noch zweifelhaft. Bemerkenswert ist 
weiter, daB die Reaktionszeiten an dem ersten Bildtage stark ver- 
langert sind. Diese Beeinflussung der Zeit wurde bei Nervosen 
und Geisteskranken von Scholl nicht beobachtet. Weiter verdient 
Erwahnung, daB bei Ungebildeten die Bildreaktionen meist haufiger 
sind, nur bei einem Manischen fehlte die Komplexwirkung ganz. 
Der Verfasser weist selbst darauf hin, daB man die geringen Zahlen 
der Bildreaktionen nicht ohne weiteres als psychopathologisch 
auffassen diirfte, indem er an die individuellen Differenzen fur die 
Perseveration und den sensorischen Typ erinnert. 

Die von Scholl verwandte Methode zeigt bei der Verwendung 
fiir ungebildete Geisteskranke eine Reihe von Mangeln. Die Auf- 
fassung von Bildern ist ein von Ungebildeten selten geiibter Vor- 
gang, bei dem oft fiir sie Schwierigkeiten entstehen. Die Auf- 
forderung, sich das Bild anschaulich zu vergegenwartigen, wirkte 
vielfach verwirrend auf die Reaktionsweise. Die Aufgabe ist dem 
Fassungsvermogen der Ungebildeten nicht geniigend angepaBt. 
Sie ist MiBdeutungen ausgesetzt; infolge der doppelten Aufgaben- 
stellung, auf das Reizwort zu reagieren und an das gezeigte Bild 
zu denken, entsteht ein Konflikt in der Erfiillung beider Aufgaben, 
der zwar an sich psychologisches Interesse bietet, aber fiir die 
Klarung der Frage: ,,Wie wirkt ein objektiver Komplex auf unge- 
bildete Versuchspersonen ein ?“ imgunstig ist. 

Versuehsanordnung. 

Um den einfachen Verhaltnissen bei Geisteskranken gerecht 
zu werden, wurde eine moglichst unkomplizierte Versuehsanordnung 
hergestellt. Jede Versuchsreaktion bestand aus 2—3 Versuchs- 
tagen. Am ersten Tage wurden 30 Reizworte exponiert. Am SchluB 
der Komplexreihe wurden noch 6 Lockworte im Sinne Ziehens 
und Levys hinzugefiigt, dabei wurde der Versuchsperson iiber- 
lassen, nach Belieben zu reagieren, insbesondere wurde es ver- 
mieden, ihnen nahezulegen, immer mit einem Wort zu assoziieren. 
Es wurde darauf geachtet, daB die Versuchsperson voiles Ver- 
standnis fiir die Aufgabe zeigte und moglichst ohne Zwang reagierte. 
Es wurden bei den Versuchen nur drei Reaktionsbeispiele gegeben, 
die bald Worte, bald Satze zum Reaktionsinhalt hatten. Die 

MonatMohrift f. Psjohiatrie n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 6 


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82 Kutziaski, Ueber die Beeinflussung 

geringe Zahl und die Mannigfaltigkeit der Beispiele schien am 
besten geeignet, eine Einstellung auf eine bestimmte Reaktions- 
form zu verhiiten. Die Aufgabe, moglichst schnell zu reagieren, 
wurde nicht gegeben. Die Instruction fiir den Assoziationsversuch 
jautete: „Ich werde Ihnen ein Wort zurufen, Sie sagen dann das, 
was Ihnen einfallt.“ Die Zeitmessung wurde in einer Reihe von 
fallen mit der Fiinftelsekundenuhr aufgenommen. Das Material 
von Reizworten war so gewahlt, daB viele von ihnen auf den 
Komplex, der am 2. Versuchstage vor Beginn der Assoziations- 
reihe exponiert wurde, Bezug haben konnten. Die Moglichkeit und 
die Starke dieser Beziehungen war variierend. Die Reizworte 
waren weder selten, noch sehr gelaufig, so daB sprachlich-mecha- 
nisohe Ankniipfungen moglichst sparlich angeregt wurden. Bei 
auffalligen Reaktionen wurden unbestimmte Fragen an die Ver- 
suchsperson gerichtet, wie ,,Bedeutet das irgend etwas Die 
Auffordervmg an die Versuchsperson, moglichst alle Erlebnisse 
mitzuteilen, wurden sparlich befolgt, da die Kranken iiber ihre 
Erlebnisse kaum Mitteilung machen konnten. Es wurde daher 
auf die Selbstbeobachtung der Versuchsperson von vornherein 
verzichtet. Als Komplex wurde das Lesen und die Reproduktion 
einer einfachen Geschichte gewahlt. Es handelt sich um die 
JIaifi^chgeschiclite, die bereits an anderer Stelle von mir verwertet 
wurde 1 ). Machte die Reproduktion Schwierigkeiten, so. wurde 
vom Versuchsleiter das Wesentliche und Markante der Geschichte 
der Versuchsperson noch einmal vergegenwartigt. Dabei wurden 
nur die Resultate der Versuchspersonen, bei denen der Versuchs¬ 
leiter die Ueberzeugung gewann, daB die Geschichte im wesent- 
lichen aufgefaBt war, verwertet. Zum SchluB der Komplexreihe 
wurde noch die unbestimmte Frage an die Versuchsperson ge¬ 
richtet, ob sie nicht an irgend etwas gedacht habe, was sie erlebt, 
gesehen, gelesen oder gehort hatte. Bei der letzten Versuchsreihe 
wurde die Frage direkt formuliert: „Haben Sie nicht an die Ge¬ 
schichte gedacht ?“ Auf den EinfluB dieser Fragestellung wird 
bei der Besprechung des Materials noch naher eingegangen 
werden. 

Die Dauer des Versuchs betrug an jedem Tag hochstens 
Y 2 Stunde, eine langere Dauer erschien unzweckmaBig, weil die 
Versuchsperson sichtlich ermiidete. Eine Variation der Aufgabe 


*) Koppen und Kutzinaki, Systematisohe Beobachtungen iiber ’ die 
Wiedergabe kleiner Erzahlungen etc. S. Karger. 1909. 

J ) Geschichte: Von einem Haifisch verschlungen wurde im Indischen 
Ozean der Sohn des Pfarrers Herbig aus Holzengel bei GreuSen. Er war 
als Erster Offizier auf einem Hamburger Handelsdampfer angestellt und 
wurde durch eine Sturzsee plotzlich iiber Bord gespiilt. Da eine Rettung 
sioh als unmoglich erwies, wurde der tmgliickliche junge Mann vor den 
Augen der entsetzten Schiffsmannsohaft von einem den Dampfer um- 
kreisenden Haifisch erfaflt und zum Meeresgrtmde gezogen, einen dunkel- 
roten Blutstreifen hinter sioh lassend. 


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dee Vorstellungsablaaifes durch Geschiohtakomplexe etc. 


83 


bestand darin, daB der Komplex schon am ersten Versuchstage 
exponiert wurde 1 ).. 

Gruppierung des Materials. 

Die Schwierigkeiten bei der Verwertung der gewonnenen 
Reaktionen sind von vielen Autoren geniigend gewiirdigt worden, 
so daB ich mich hier auf das Notwendigste beschranken kann. 
In neuerer Zeit hat besonders Levy 2 ) die Mangel der friiheren 
Einteilung kritisch dargestellt. Aus seinen Erorterungen geht 
deutlich hervor, daB die von Aschafjenburg gegebene uhd von 
Jung und Riklin modifizierte Einteilung gewaltsam ist und an 
die Stelle von psychologischen Tatsacnen logische Beziehungen 
setzt. . Auch Isserlin 2 ) hat bei seinen Untersuchungen schwer- 
wiegende Einwande gegen das Schema dieser Autoren erhoben. 
Er hat oft peinlich empfunden, wie wenig ein solches Schema der 
Fiille der Einzelheiten gerecht wird. Die Tatsache, daB bei Ver- 
suchen an Geisteskranken theoretisch psychologische Interessen 
zuriicktreten, laBt die Anwendung des logischen Schemas nicht 
brauchbarer erscheinen. Das Schema beriicksichtigt auch gar nicht, 
daB es sich um sprachlich nur sehr wenig eingeiibte Vorstelluiigen 
handelt. Der Assoziationsmechanismus ist schon, wie Messer*) 
sagt, an sich auf verniinftiges Denken angelegt, das zeigt sich unter 
anderem auch in der Gleichformigkeit der meisten Reaktionen 
meiner Versuchspersonen. Bei einer Betrachtung einer Reaktion 
lassen sich keine Unterschiede angeben, die eine psychologische 
Erklarung bilden konnten. Wir haben keine sicheren psycho¬ 
logischen trennenden Merkmale dafiir, ob es sich um eine sachlich 
zusammengehorige Vorstellungs- oder um eine Verbalreaktion 
handelt. Auch die Selbstbeobachtung als Unterstiitzung bei 
der Einteilung der Reaktion zu benutzen, ist ein zweifelhaftes 
Verfahren. Vor den Tauschungen einer zu eingehenden Selbst¬ 
beobachtung hat unter anderen erst jiingst G. E. Muller 8 ) ge- 
niigend gewarnt. Diese Fehlerquelle wird um so bedeutsamer 
Zu veranschlagen sein, wenn es sich um psychologisch ungeiibte 
Versuchspersonen handelt. Es erscheint doch nicht ohne weiteres 
berechtigt, eine Reaktion, wie z. B. Mutter — Kind, nur auf 
Grand der Angaben der ungeschulten VersuchsperBon zu den 
auBeren Assoziationen zu rechnen, wie Jung und Riklin es getan 
haben. Oft fehlt die introspektive Fahigkeit, und wo sie vor- 
handen ist, wird meist die kritische Sichtung vermiBt. Bei Unge- 


x ) Ich bezeichne als A-Seri© diejenige, bei der die Geschiohte vor d^r 
1. Versuch8reihe, als B-Serie die, bei der die Geschichte vor der 2. Versuchs- 
reihe exponiert wurde. 
f ) a. a. O. 

*) IsserUn Pyschologische Untersuchungen an Manisch-Depressiven. 
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1907. S. 302. 

4 ) Messer , Empfindung und Denken. 1908. 

' *) O E. Midler , Zur Analyse der Gedftchtnistatigkeit. Erganzungsh. 
d. Ztschr. f. Psychol. 1911. 

6 * 


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Kutzinski, Ueber die Beeinflusming 


bildeten ist eine Einteilung nach diesen Gesichtspunkten nicht 
moglich, man muB sich darauf beschranken, nur bei besonders 
auffallenden Beaktionen den Tatbestand des psychischen Erleb- 
nisses aufklaren zu lassen. Von vomherein ist zu erwarten, daB 
die Auffassung des Reizwortes Geisteskranken groBere Schwierig- 
keiten bereitet als Normalen, dazu kommt noch eine gewisse 
Erschwerung infolge der geringeren sprachlichen Gewandtheit. 
Die „Verbluffbarkeit“, die Wehrlin 1 ) bei Versuchen an Imbezillen 
beobachtet hat, ist in meinen Protokollen fur den Beginn der Ver- 
suche oft verzeichnet, doch erreicht sie nicht einen so hohen Grad, 
daB die Reaktion durch sie erheblich beeinfluBt wurde, hochstens 
hat sie die Verlangsamung der Reaktionszeit mitverursacht. Auch 
Wehrlin erkannte, daB die Einteilung der friiher genannten Autoren 
gegenuber kranken Versuchspersonen versagte, eine der Wirklich- 
keit angepafite Einteilung muB von anderen Gesichtspunkten 
ausgehen. Jung und Riklin haben schon gezeigt, daB bei 
ungebildeten Normalen hauptsachlich der Bedeutungswert wirk- 
sam ist. Wehrlin erblickt in dieser Reaktionsweise eine Er- 
klarungstendenz der Reizworte. Die Imbezillen und auch die 
ungebildeten Normalen fassen das Reizwort als Frage auf. So 
kommt es, daB sie die Satzform in der Reaktion bevorzugen. Die 
Betrachtung meiner Versuche fiihrt zu einer ahnlichen Anschauuug. 
Die Versuchspersonen fassen die Beziehung zwischen Reiz und 
Reaktion in dem Sinne der Aufgabe auf, Zusammenhange herzu- 
stellen. Die Zusammenhange konnen mm den Inhalt oder das 
rein Sprachliche oder endlich personliche Beziehungen zum Gegen- 
stande haben. Es wurde daher nach diesen Gesichtspunkten eine 
grobere Einteilung in Objekt-, Verbal- und egozentrische Re- 
aktionen vorgenommen, diese geniigte meinen Zwecken. Die Ein- 
teilung hat den Vorzug, daB sie vom Individuum vollig unab- 
hangig ist. Als Objektreaktionen bezeichne ich solche, welche die 
Erklarungstendenz des Reizwortbegriffes zum Ausdruck bringt, 
als Verbale werden nur solche betrachtet, bei denen die sprachlich 
motorische Tendenz, als die Assoziation gestiftet wurde, vor- 
herrschend war. Zu ihnen gehoren also einmal die Klangreaktionen 
im Sinne der anderen Autoren und die Wortzusammensetzungen, 
wie z. B. Kopf — tuch. Ob iibrigens eine Wortzusammensetzung 
immer eine Verbalreaktion ist, wird in zweifelhaften Fallen der 
Tonfall entscheiden. Auch Sprichworter und Zitate sind dieser 
Gruppe zugewiesen, denn sie haben infolge ihrer rhythmischen 
Fixation eine rein sprachliche Bedeutung gewonnen. Vor allem 
aber war bei ihrer Einpragung die rhythmische Tendenz maB- 
gebender als der Inhalt, dagegen erscheint es nicht gerechtfertigt, 
gelaufige Begriffsverbindungen, wie Kummer — Sorge, Raum — 
Zeit, Katze — Maus, als verbale Assoziation, wie Jung und 
andere es tun, zu betrachten. Entscheidend ist, daB hier bei der 


') K. Wehrlin, Ueber die Assoziation von Imbezillen etc. Diagn. 
Assoziationsstud. 1906. 


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dee Voratellungsablaufes durch Geechiohtakomplexe etc. 85 

Stiftung der Inhalt bedeutungsvoll war. Erst allmahlich wurde 
durch haufige Wiederkehr dieser Beziehungen eine sprachlich 
gelaufige Reaktion geschaffen. Aus gleichem Grunde ist auch 
nicht anzuerkennen, daB Kontrastreaktionen, wie dunkel — hell, 
weiB — schwarz etc., als Verbalverkniipfungen aufzufassen sind, 
inwiefem sie flacher sind als die inneren, doch auch haufig geiibten 
Reaktionen, wie Morder — gemein oder „Fisch — schwimmen* 1 . 
ist nicht ersichtlich. Beiden Beaktionsformen gemeinsam ist, 
daB sie urspriinglich aus inhaltlichen Motiven heraus gestiftet 
wurden. Selbst bei einer Befragung der Versuchspersonen wird 
man in dieser Beziehung kaum verwertbare Angaben erhalten. 
Zusammenfassend muB man also sagen, daB zwar beide Reaktions- 
arten beide Komponenten, sowohl sprachliche wie inhaltliche Be- 
standteile enthalten, aber das Pravalieren des einen oder anderen 
hat die Einordnung der Reaktion bestimmt. 

Die Objektreaktionen habe ich zum Teil im AnschluB an 
Wehrlin in bestimmte Gruppen zerlegt. Bei vielen Individuen 
auBerte sich die Tendenz, das Reizwort zu erklaren, darin, daB 
tautologische Verdeutlichungen vorgenommen wurden. Es sind 
das die bekannten Reaktionen in der Form eines „Wenn-Satzes“. 
Eine andere Art Definitionstendenz zeigen die Reaktionen, welche 
Merkmale des Reizes zum Gegenstand haben, bald werden nur 
einzelne beschreibende Merkmale des Begriffes vorgebracht, bald 
kommt es zu sogenannten Zweckdefinitionen. Die erste Reaktions- 
weise kann man als Definition in dem Sinne auffassen, daB sie 
nur das rein Tatsachliche kennzeichnet. Die Zweckreaktionen 
lassen das Bestreben erkennen, einen tieferen, vor alien Dingen 
einen praktisch wichtigeren Zusammenhang herzustellen, wieder 
andere Beziehungen reprasentieren die raumlich zeitliche An- 
ordnung des Reizes oder die fiir den Reizinhalt in Frage kommende 
Tatigkeit. Bei dieser Abtrennung war der Gesichtspunkt mafi- 
gebend, ob sich nicht vielleicht besondere Reaktionstypen heraus- 
stellen wurden. Es ware doch moglich, daB eine Reihe der Ver¬ 
suchspersonen iiberwiegend Zweck-, eine andere Tatigkeitsreak- 
tionen vorbrachte. Es wurde dabei in Betracht gezogen, ob nicht 
so die sachlichen Typen feiner nuanciert werden konnten. Auf 
die Resultate dieser Gruppierung soil an anderer Stelle eingegangen 
werden. Gesondert betrachtet wurden die sogenannten Gefiihls- 
Teaktionen. Diese sind dadurch charakterisiert, daB der Gefiihlston 
des Reizwortes vorherrscht. Sie entsprechen den Reaktionen 
Junga, wie Schuler — brav, Wasser — erfrischend, Sonne — schon. 
Von den Gefiihlsreaktionen ist die dritte und letzte Hauptgruppe 
scharf zu sondem, bei der zwischen Reiz und Reaktion person- 
liche Beziehungen bestehen. In dieser Gruppe wird Jung und 
Rildina einfacher Konstellations- und Komplexreaktionstyp zu- 
sammengefaBt. 

Die Wiederholungen, Nachwirkungen und Fehlerreaktionen 
wurden getrennt verwertet tmd sollen in den Versuchsergebnissen 
naher geschildert werden. Hier sei nur darauf hingewiesen, daB 


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86 Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 

Synonyms als Reaktionen fast'niemals aufgetreten sind. Das 
hangt wahrscheinlich damit zusammen, daB den ungebildeten 
Versuchspersonen die sprachliche Gewandtheit a'bgeht. Die Zahl 
der Synonyms war so gering, daB sie bei der Verwertung der 
Resultate vernachlassigt werden konnte. Auch die beziehungs- 
losen Ankniipfungen, die sinnlosen Reaktionen anderer Autoren, 
waren so sparlich vertreten, daB sie keine irgendwie nennens- 
werte Bedeutung haben, auch das ist der Ausdruck dafur, 
daB sieh die Versuchspersonen vorwiegend auf den Inhalt des 
Reizwortes einstellen. 

Neben den Durchschnittsberechnungen des gesamten Materials 
habe ich noch eine Gruppienmg der Versuchspersonen nach 
klinischen Gesichtspunkten vorgenommen. Ich bin mir der 
Schwierigkeiten, die die Zusammenfassung eines so heterogenen 
Materials mit sich bringt, wohl bewuBt, aber die Fehler, die bei 
normalen Versuchspersonen in Betracht kommen, die individuellen 
dauernden und momentanen Differenzen haben andere Autoren 
vor Durchschnittsberechnungen nicht zuriickschrecken lassen. 
Meine Resultate erscheinen zu solchen um so mehr geeignet, als 
ja durch die gleichartigen krankhaften psychischen Veranderungen 
die individuellen Differenzen verwischt werden. Aus diesem 
Grunde habe ich neben den allgemeinen Berechnungen die Sonder- 
berechnung vorgenommen. Die Zusammenfassung geschah nicht 
nach bestimmten diagnostischen Gesichtspunkten einer Schule, 
sondem nach dominierenden gleichartigen Zustandsbildem. Es 
versteht sich von selbst, daB nur einwandfreie Falle zur Ver¬ 
wertung gekommen sind. So wurden folgende Gruppen gebildet: 

1. Hysterische Zustande, 

2. epileptische Dammerzustande, 

3. Amnesie bei Chorea, 

4. epileptische Demenz, 

5. paralytische Demenz, 

6. senile Demenz, 

7. leichte alkoholische Demenz, 

8. Dementia hebephrenica, 

9. Korsakoff bei Lues, 

10. manische Zustande, 

11. depressive Zustande, 

12. paranoische Zustande, 

13. angeborener Schwachsinn mittleren Grades. 

Bei den Demenzen sei noch hervorgehoben, daB nur Falle 
mit deutlichem Defekt benutzt wurden. NaturgemaB durfte 
dieser aber nicht so hochgradig sein, daB die Aufgabe nicht auf- 
gefaBt und erfiillt werden konnte. 

Beschreibimg der Aufgabe und Definition der angewandten Begriffe. 

Bei der Vieldeutigkeit der Begriffe Assoziation und, Repro- 
duktion ist es notwendig, eine kurze Definition zu geben, in. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


87 


welchem Sinne man diese Begriffe anwenden will 1 ). Jedes psy- 
chische Erlebnis hinterlaBt eine Disposition. Die Vorstellungs- 
dispositionen sind latent und wirkungslos. Wird eine Disposition 
in Wirksamkeit gesetzt, so nennen wir diesen Vorgang Reproduktion. 
Eine solche Wirksamkeit ist aber nur moglich, wenn durch Reize 
identischer oder ahrilicher Natur die Disposition durch andere 
Vorstellungsdispositionen zur Reproduktion angeregt wird. Die 
Art, wie andere Vorstellungsdispositionen zu einer Reproduktion 
fiihren, ist die folgende: Zwischen 2 Vorstellimgen werde eine 
Verknupfung gestiftet, diese Verkniipfung hinterlaBt eine Dis¬ 
position zur Weitererregung von der einen Vorstellung zur anderen. 
Diese Disposition zur Weitererregung nennen wir Assoziation. 
Die Assoziation ist also naoh unserer Terminologie nur eine Teil- 
bedingung der Reproduktion. Sie ist eine besondere Art der Dis¬ 
position, die dadurch charakterisiert wird, daB sie wirksam ist, 
wenn nur ein Vorstellungsinhalt gegeben ist. Eine andere Teil- 
bedingung der Reproduktion, die fur unsere Versuche in Frage 
kommt, ist die Reproduktion auf Grand der Aehnlichkeit und 
die Auslosung der Reproduktion durch den Eintritt eines dem 
ersten Reiz adaquaten Reizes. Dabei soil hier die Frage nach 
der Berechtigung der Unterscheidung zwischen Aehnlichkeit und 
Assoziationsreproduktion nicht erortert werden. MaBgebend war 
fiir mich, daB diese Trennung fiir die Aufgabe am zweckmaBigsten 
erschieri. Auch die anderen Bedingungen der Reproduktion werden 
nur so weit berucksichtigt, als es die Versuche erfordern. 

Auf Grand der eben gegebenen Terminologie laBt sich der 
Versuch dahin formulieren, daB der Versuchsperson die Aufgabe 
gegeben wird, auf eine Vorstellungsreihe mit dem, was ihr gerade 
einfallt, zu reagieren. Wir konnen durch diese Aufgabe neue Ver- 
kniipfungen, neue Assoziationen zwischen Vorstellungsdispositionen 
schaffen Oder, und das ist das gewohnliche, durch das Reizwort 
die Reproduktion einer alten Verbindung anregen. Durch das 
Reizwort werden natiirlich die mannigfachsten Vorstellungskreise 
in Bereitschaft gestellt. Diese Vorstellungskreise konnen alle 
moglichen Denk- und Anschauungsformen zum Inhalt haben. 
Welcher Vorstellungskreis beim Wettstreit siegt und zu einem 
symbolisierenden sprachlichen Ausdruck kommt, kann im Einzel- 
fall nicht angegeben werden. Das hangt von der Starke der 
Disposition ab. Immerhin hat man die allgemeinen Bedingungen 
einer solchen Disposition in neuerer Zeit genauer festzustellen 
versucht. Ich erinnere an die Untersuchungen von Meumann, 
Kulpe und vielen anderen. Zum Verstandnis der Aufgabe gehort 
es, sich noch einmal diese Faktoren zu vergegenwartigen. Zu- 
nachst wird die an Intensitat starkere Disposition von den durch 
das Reizwort angeregten Komplexen mit mehr Wahrscheinlich- 


x ) Die Definition der Begriffe folgt im wesentliehen den Anschau- 
ungen von Offner ,,Das Gedachtnis“, 1911, und Lipps ..Leitfaden der 
P8ycbologie“, 1909 


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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


keit wirksam werden, als die an Intensitat schwachere. 
Auch die Dauer dee psychischen Vorganges, als er aktuell war, 
ist hier von EinfluB. Endlich ist die Haufigkeit seines friiheren 
Auftretens, die Art und Zahl seiner Einpragungen und friiheren 
Wiederholungen wichtig fur sein Wiederauftreten. Alle diese 
Momente sind ja durch die Untersuchungen von Ebbinghaus, 
Miiller- Pilzecker, Miiller-Schumann u. A. festgestellt. Bei einer 
so komplexen und vielgestaltigen Leistung, wie sie bei der ublichen 
Assoziationsmethode zur Geltung kommt, konnen die bisher 
besprochenen Faktoren nicht in ihrer Wirkung und Bedeutung 
analysiert werden. Die elementaren Methoden der eben genannten 
Autoren sind aber wiederum fiir unsere Zwecke bei Geisteskranken 
nicht geeignet, weil sie eine diesen fast stets fehlende Konzentration 
voraussetzten. Andere Bedingungen der Beproduktion sind die 
Aufmerksamkeit. Wir haben den Grad ihrer Wirksamkeit bei der 
Entstehung der Disposition vie auch bei ihrer durch das Reiz- 
wort ausgelosten Wiederkehr zu bestimmen. Auch hier miissen 
wir auf alle feineren Details verzichten. Es geniigt fiir unsere 
Zwecke die Feststellung, daB die Aufmerksamkeit, liber deren 
Natur hier nichts ausgesagt werden soil — wir wollen damit nur 
den allgemein bekannten Tatbestand bezeichnen —, bei meinen 
Versuchspersonen meist eine an Intensitat geringe war. Im iibrigen 
war sie ausreichend, um der von uns gestellten Aufgabe nach- 
kommen zu konnen. Auch der EinfluB der Stimmung, sei es 
bei der Aufgabe an sich, sei es durch den Inhalt der Aufgabe oder 
sei es der EinfluB der krankhaften Stimmung der Versuchsperson, 
ist von mir nicht beriicksichtigt worden. Es geniigt, hervorzuheben, 
daB in den meisten Fallen die Stimmung einen hemmenden EinfluB 
bei der Erfiillung der Aufgabe ausiibte. Die Versuchspersonen 
waren unlustig, weil sie iiberhaupt tatig sein sollten, oder weil sie 
an sich depressiv waren, oder weil beides gemeinsam wirksam 
war. In anderen Fallen war die Stimmung ohne sichtbaren EinfluB 
auf den Versuch. 

Den zweiten, wichtigeren Teil der Aufgabe bildete nun die 
Untersuchung iiber den EinfluB eines nicht sehr alten, nicht 
wesentlich gefiihlsbetonten Vorstellungskomplexes auf die zu 
einer spateren Zeit durch die gleichen Reizworte ausgelosten 
Beproduktionen. Diesen EinfluB festzustellen und in seiner 
Wirkung zu untersuchen, war der eigentliche Zweck der Versuchs- 
anordnung. Dem Komplex war eine erhohte Festigkeit dadurch 
verliehen, daB er zunachst als solcher in seiner Gesamtheit repro- 
duziert werden sollte. Bei der Anregung der Beproduktion durch 
einen verbalen Beiz nach Wirkung des Komplexes sind nun mehrere 
Momente zu beriicksichtigen. Zunachst wirken die schon vor- 
handenen oder bei der ersten Versuchsreihe gestifteten Assoziationen 
hemmend auf die Bildung neuer Dispositionen. Die schon vor- 
handenen Dispositionen beeintrachtigen die Entstehung von neuen 
Verkniipfungen. Nachteilig ist auch der gleichzeitige Ablauf 
anderer psychischer Vorgange, weil dadurch eine Teilung der 


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des Voratellungsablaufes durch Geachichtskomplexe etc. 


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Aufmerksamkeit bewirkt wird. Diese zwei Faktoren spielen auch 
bei der Beproduktion eine wichtige Bolle. Bei meinen Versuchen 
handelt es sich ja vor allem um das letztere. Eine Disposition 
kann zur Wirksamkeit angeregt werden durch die Wiederkehr 
eines bei der Stiftung der Assoziation identischen oder adaquaten 
Beizes, d. i. zum groBen Teil bei der zweiten Versuchsreihe der 
Fall. In dem Kampf der Dispositionen um das Wirksamwerden 
sind auch die Starke der Dispositionen und ihre Bereitschaft von 
Bedeutung. Die Bereitschaft eines Inhaltes hangt auch davon ab, 
wie oft er friiher schon reproduziert wurde, wie nachhaltig seine 
Wirksamkeit war und endlich, wie reiche und mannigfaltige Be- 
ziehungen zu anderen Vorstellungsinhalten bestehen. Es ist klar, 
daB wir nicht im Einzelfall die Wichtigkeit dieses oder jenes Faktors 
geniigend herausheben konnen. Zeitmessende Untersuchungen 
haben ja bekanntlich gezeigt, daB die Beproduktionszeit fiir den 
Beichtum von Vorstellungs- und Assoziationsdispositionen ge- 
wisse Anhaltspunkte ergibt. Ich habe bei den Versuchen aus 
gesondert zu erorternden Griinden von einer Bewertung der 
Beproduktionszeit Abstand genommen. 

Einen Gegensatz zu den reproduktiven Hemmungen bildet 
die Konstellation. Sie stellt unter sonst gleichen Bedingungen, 
besonders der Starke der Disposition und der Aufmerksamkeit, 
die Summe der Hilfen dar, wie Herbart es nennt, die die eine 
Disposition vor der anderen zum Siege fiihrt. Die Zahl der Hilfen 
begiinstigt die Beproduktion. Dabei konnen die Formen, in 
denen diese Hilfen wirksam werden, nicht vernachlassigt werden. 
Verschiedene Moglichkeiten hat Miinsterberg 1 ) in seinen Versuchen 
klargelegt. Er lieB Beihen von Farbenbezeichnungen und solche 
von Zahlen akustisch auswendig lernen, dann wurden sie nur 
gezeigt, endlich sowohl visuell wie auch akustisch eingepragt. 
Die Beproduktion der kombiniert erlemten Beihe ergab viel 
weniger Fehler, als die der isoliert erlemten. Dieses Beispiel 
stellt den einfachsten Fall der Konstellation dar. Die visuelle 
bezw. die akustische Beihe bildet die Konstellation fiir das Wirk¬ 
samwerden der motorischen Disposition, des Aussprechens der 
Bezeichnungen. Man konnte diese Art der Konstellation als die 
assoziative bezeichnen. 

Eine zweite Form wird durch das oft zitierte von Wahle 
gehabte Erlebnis charakterisiert. Wahle hatte lange nicht an 
Venedig gedacht, obwohl das Bathaus seiner Vaterstadt geeignet 
gewesen ware, die Erinnerung an den Dogenpalast wachzurufen. 
Eines Tages trat ihm beim Anblick dieses Bauwerkes das Er- 
innerungsbild des Palastes vor Augen. Nach einigem Besinnen 
fiel ihm ein, daB er vor 2 Stunden bei einer Dame eine Brosche 
in der Form einer venezianischen Gondel gesehen hatte. Hier 
ist der Einf luB eines neuen Komplexes auf die Beproduktion ganz 
offensichtlich. Aber hier kommt zu dem Faktor der assoziativen 

') Mtinsterbcrg, Beitrage zur experiment®lien Psychologic. I—IV. 


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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


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Hilfe, den wir eben erortert haben, das Moment der Nachwirkung 
hinzu. DaB der Vorstellungsablauf beim Anblick des Bathauses 
gerade diesen Weg gegangen ist, hangt hauptsachlich von der 
zeitlichen Beziehung ab. DaB Wahle zwei Stunden vor dem er- 
neuten Anblick des Bathauses den Eindrafck der Gondel hatte, 
ist das Entscheidende. Gerade die Frische des Eindruckes infolge 
der Kiirze der verflossenen Zeit gibt diesem Beispiel seinen be- 
sonderen Charakter. Auf den Begriff der Nachwirkung soli hier 
nicht naher eingegangen werden. Man muB aber die Tatsache zu- 
geben, daB alles zusammenhangende Denken, alle Einheitlichkeit 
eines Kunstwerkes oder einer Melodie nicht bestehen konnte, 
wenn nicht die verflossenen Teile des Ganzen irgendwie wirkam 
waren. Zweifelhaft bliebe nur bei dem TFoWeschen Beispiel, ob 
sich der Einflufi des Eindrucks der venezianischen Gondel auch 
noch iiber die unmittelbare Zeit der Wirksamkeit hinaus geltend 
machen konnte. Ich glaube, daB man die Selbstandigkeit einer 
Nachwirkung nicht wird in Abrede stellen. Wir miissen uns den 
Vorgang so vor stellen, daB der Vorstellungskomplex des Dogen- 
palastes mit dem des Bathauses der Vaterstadt auf Grand der 
Aehnlichkeit einst verkniipft wurde. Es bestand also eine Tendenz, 
bei dem Anblick des Bathauses das Erinnerungsbild des Dogen- 
palastes zu reproduzieren. Diese Tendenz wurde leichter wirksam 
bei Eintritt des neuen Beizes. So weit ware der Tatbestand einer 
assoziativen Konstellation gegeben. Nun kommt aber als Neues 
hinzu, daB wahrscheinlich das Erinnerungsbild der Brosche ver- 
blaBt und ohne EinfluB geblieben ware, wenn das Zeitoptimum 
seiner Wirksamkeit iiberschritten ware. Dabei muB man annehmen, 
daB jede Erregung einen gewissen Hohepunkt in ihrer zeitlichen 
Wirksamkeit erreicht. Dieser ZeiteinfluB wird je nach der In¬ 
tensity und der Wertigkeit der Erregung fur die gesamte psy- 
chische Personlichkeit schwanken. Ein lebenswichtiges, affekt- 
betontes Erlebnis wird eine langer dauernde Wirkung haben als 
andere. So viel ist ferner sicher, daB auch relativ gleichgiiltige 
Vorgange fur kiirzere oder langere Zeit nach ihrer manifeeten 
Wirkung noch zur Geltung kommen; wie lange Zeit eine solche 
Wirkung bestehen kann, ist zurzeit noch nicht feststellbar. 

Die dritte Form der Konstellation kommt in dem EinfluB 
einer Aufgabe, einer einheitlichen Zielrichtuhg zum Ausdruck. 
Dabei soil auf die Frage der BewuBtheit nicht eingegangen werden. 
Ist, um das Beispiel von v. Kries 1 ) zu wahlen, einer Notenfolge der 
Bafischliissel vorgezeichnet, so ist meinem Vorstellungsablauf durch 
den Schliissel eine bestimmte Bichtung gegeben. Hier ist also 
dem Notenlesenden eine bestimmte Aufgabe gestellt. Diese er- 
zwingt das Auftreten eindeutiger Noten; alle assoziativen oder 
perseveratorisch wirkenden miissen unterdriickt werden. Wenn 
vieldeutige Worte von uns gelesen werden, ist ja nach dem Zu- 

*) v. Kries, Ueber die Natur gewisser Hirnzustande. Ztachr. f. Psych, 
u. Phys. Bd. vm. ; 


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des Yorstellungsablaufes durch Gesehichtskomplexe etc. 91 

sammenh&ng des Textes bald der eine, bald der andere Sinn 
wirksam. So wird das gehorte Wort „Meer“ bald als Substantiv, 
bald als Adverb aufgefaBt werden konnen. Die Erklarung dieses 
psychischen Vorganges kann uns nicht beschaftigen. Es muB 
aber schon hier darauf hingewiesen werden, daB die Erweiterung 
des Begriffes Konstellation, wie es Levy im AnschluB an die Ziehen- 
sche Definition getan hat, indem er von einer Totalkonstellation 
spricht, nUr die Tatsachen verschleiert. Es ist ja zweifellos richtig, 
daB die gesamte psychische Personlichkeit stets jede einzelne 
Reproduktion mitbestimmt, aber wir gewinnen nichts damit, 
wenn wir diese allgemeine Tatsache als Totalkonstellation be- 
zeichnen. Der Begriff Konstellation hat nur Wert und Bedeutung 
fiir die gerade wirksamen, fiir die aktuellen Vorstellungen, wie 
Ziehen es nennt. Man kann, wenn man will, den EinfluB eines 
bestilnmten Planes, Zweckes auf unsere gesamte Arbeits- un4 
Lebensweise als Konstellationswirkung auffassen. Wir unir 
schreiben aber damit nur den Tatbestand, ohne unsere Erkenntnis 
zu erweitem. Dagegen ist das ein neues Moment, daB jeder aktuelle 
Vorgang, auch wenn er keine irgendwie erkennbare Beziehung 
zu dem gesamten psychischen Geschehen hat, in seinem Ablauf 
durch eine der Konstellationsformen mitbeeinfluBt wird. Stets 
wirken die einzelnen Formen der Konstellation zusammen. Die 
assoziative und perseverative Konstellation macht ihren EinfluB 
vor allem auf den Inhalt, die determinierende auf die Richtung 
des Vorstellungsablaufs gel tend. Auf das Wesen der Konstellation 

soil spater eingegangen werden. 

♦ * 

♦ 

Wenn ich nach diesen kurzen allgemeinen Vorbemerkimgen 
zu meinen Versuchen zuruckkehre, so muB ich feststellen, daB 
die durch die Reizworte angeregte, vom Komplex beeinfluBte 
Reproduktion im wesentlichen von 3 Faktoren abhangt: von 
der Art, wie die Aufgabe gestellt wurde, vom Inhalt des Reizes 
und vom Inhalt des Komplexes. Nebenfaktoren, wie z. B. der 
EinfluB der vorausgegangenen Reaktionen, konnen bei der Grup- 
pierung vernachlassigt werden. 

Ob die Weisung, sich der Greschichte zu erinnem, nur zu 
Beginn der Prufung oder beim Einwirken jedes Reizwortes gegeben 
wurde, oder ob sie iiberhaupt unterblieb, das alles variiert die 
Reaktion. Auch die Einwirkung des Komplexes vor der ersten 
oder vor der zweiten Versuchsreihe muB eine Veranderung der 
Vorstellungsfolge herbeifiihren. In zweiter Linie wird eine Reaktion 
den EinfluB des Komplexes in verschiedenem MaBe zeigen, je 
mehr oder je weniger reich die Beziehungen des Reizwortes zu 
den einzelnen Komplexworten sind. Auch die Formen, in denen 
sich der EinfluB dieser Komponenten auBert, lassen sich angeben. 
Einmal kann das Reizwort zu einer Wiedererkennung der Ge- 
schichte fuhren. Das dokumentiert sich dann in Reaktionen, 
wie „das ist ja aus der Geschichte“ u. a. In anderen Fallen konnen 
Erlebnisse und Erfahrungen, die denen der Geschichte ahnlioh 
sind, geweckt werden. Das driickt sich in AeuBerungen aus, wie 


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92 


Kutzinaki, Ueber die Beeinflussung 


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,,mein Vater hat so etwas erlebt“ oder „ich bin schon ins Wassei 
gefalien und herausgezogen worden“. Endlich kann eine Assoziation, 
die dem Komplex entstammt oder bei seinem Horen gestiftet wurde, 
den EinfluB des Komplexes offenbaren. Das zeigen z. B. Reaktionen 
wie Ueberbordspiilen“ auf das Reizwort ,,Bord“, oder „vom 
Haifisch verschlungen“ auf den Reiz „verschlungen“. Letztere 
Art ist die gewohnlichste Verknupfung. Zum ScbluB bleibt noch 
die Moglichkeit, daB zwar eine Weckung des Geschichtskomplexes 
durch einzelne Vorstellungen stattfand, daB es aber nicht zu einer 
sprachlichen Formulierung aus irgendwelchen Griinden, meist 
weil die alten oder die Nebenassoziationen starker waren, ge- 
kommen ist. Hier gibt die anfangs unbestimmte, spater bestimm- 
tere Frage „haben Sie an etwas gedacht, was Sie erlebt, gesehen, 
gebort oder gelesen haben“ bezw. ,,haben Sie an die Geschichte 
gedacht" Aufklarung. Oft lost diese Frage die Bemerkung aus: 
„Ja, bei dem Wort habe ich daran gedacht." Bei aller Vorsicht 
in der Verwertung von Aussagen Geisteskranker wird man eine 
solche AeuBerung doch als dem psychischen Tatbestand ent- 
sprechend betrachten miissen, denn bei anderen, fast gleich leb- 
haften Reizworten wird diese Frage verneint. 

Man kann die Reizworte in ibrem Verhaltnis zum Komplex 
in drei Gruppen zusammenfassen. Eine Reihe von Zurufen ist 
wortlich der Geschichte entlehnt. Wir wollen sie nach dem Vor- 
gange Ziehens ,,Lockworte“ nennen. Unter diesen Reizen sind 
auch solche, die bereits zum alten Besitz der Versuchspersonen 
gehoren. Dadurch wird natiirlich ihre Beziehung zu den neuen 
Vorstellungen des Komplexes in ihrer Wirkung gehemmt. Zu 
dieser Gruppe, es braucht nicht erst gesagt zu werden, daB die 
Trennung etwas Willkiirliches, Kiinstliches ist, rechne ich die 
Reizworte ,,Sohn, Offizier, Rettung, verschlungen, Bord, spiilen, 
streifen, umkreisen, Augen". Die zweite Gruppe gehort zwar zum 
Vorstellungskreis der Geschichte, ohne in ihr wortlich aufzutreten. 
Das sind die Reizworte „Fisch, tot, fahren, Meer, Blut, Ungliick, 
Schiff, Kirche, essen, rot". Indifferente Reize bilden die Zurufe 
„Gold, tanzen, Gift, Schlange, Berlin, Sonne, schon, Wald, Hoch- 
zeit, Liebe, Siinde, Armut, schlecht, alt, Kaiser, Farbe, kaufen". 
Bei diesen Reizen bestehen also keine erkennbaren Zusammen- 
hange zwischen Komplex und Zuruf. Es ist selbstverstandlich, 
daB auch hier solche hergestellt werden konnen, und zuweilen 
bietet gerade diese Art der Verknupfung ein besonderes Interesse. 

Die Ordnung der durch das Reizwort ausgelosten Reaktionen 
findet in der eben dargelegten Weise statt. Sprachlich nicht 
formulierte Beziehungen haben sich nicht sicher feststellen lassen. 
Sie werden in dem Kapitel ,,BewuBtheit“ eine nahere Erorterung 
finden. Auch Wiedererkennungsvorgange sind nur sparlich auf- 
getreten. So lost das Reizwort ,,verschlungen“ gelegentlich die 
Reaktion „ist auch aus.der Geschichte" aus. Ebenso verhalt sich 
eine Versuchsperson bei den Zurufen „Rettung“ und „Schiff". 
Auch eine Reaktion wie ,,der Mann auf dem Schiff ist iiber Bord 


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des Vorstellungaablaufes durch Geschiohtskomplexe etc. 


93 


geworfen, habe ich gelesen" gehort hierher. Das Reizwort 
,,Streifen“ weckt die Erinnerung an den Komplex in der Form 
der Geschichte ,,Blutstreifen“. Aehnlichkeitsbeziehungen werden 
noch seltener hergestellt, z. B. beim Reizwort ,,Rettung“: „ich 
habe gesehen, wie sie einen aus dem Wasser gerettet haben", 
Oder „wie sie ihn aus dem Wasser gezogen haben“. Ein 
anderes Mai wird die Reaktion in der Ichform vorgebracht, 
z. B. „ich bin selbst in die Hohe geklettert auf dem Dampfer und 
ware da beinahe ins Wasser gefallen“. Bei einer anderen Versuchs- 
person erfolgt auf das Reizwort ,,Bord“ die Aehnlichkeitsreaktion: 
„der Bruder ist iiber Bord gefallen“. Weit haufiger sind die rein 
assoziativen Ankniipfungen. Zunachst sei bemerkt, daB einzelne 
Worter, die wortlich der Geschichte entlehnt sind, infolge ihrer 
zahlreichen Beziehungen gar keine Ankniipfungen auslosten, z. B. 
die Reize „Sohn“, „Offizier“, „Augen“. Andererseits findet man 
solche, die als indifferente Reize zu betrachten sind und doch 
gelegentlich durch den Komplex beeinfluBt werden, z. B. 
„Schlange“; auf diesen Reiz erfolgt die Reaktion „die einen ver- 
schlingen will", auf „essen‘*, „Tiere“, auf „tot“ ,,ist der Mann". 
Diese Reaktionen treten nur in der Komplexreihe auf, wahrend 
sie vorher und nachher durch gewohnliche Ankniipfungen ersetzt 
werden, so auf „tot“ „ist gefahrlich", ,,essen‘‘,,Hunger", ,,Schlange“ 
„im Wald". Das Reizwort „rot" bewirkt in der 1. Versuchsreihe 
Reaktionen wie „wenn einem heiB ist", oder „der Tod", oder 
„Rock“, oder „ist die Sonne". Nach dem GeschichtseinfluB 
stellen sich haufiger die Antworten „Blut" ein, und diese werden 
in der 3. Versuchsreihe wieder durch andere Ankniipfungen 
ersetzt. Aehnliches beobachten wir bei dem Reizwort ,,Blut", 
auch hier assoziative Beziehungen, die in der Komplexreihe be- 
sonders markant sind. Als Beispiel nenne ich die Reaktionen 
..verabscheue ich" und „verliere ich" in der 1., ,,ist rot" in der 
2. Reaktionsreihe. Selbst das sonst so gelaufige Reizwort „Augen“ 
fiihrt gelegentlich einmal zu Komplexanknupfungen, wie folgende 
Beispiele zeigen: Zunachst keine Reaktion, dann ,,des Tieres", 
oder „Augen sind gut", dann ,,der Hai hat groBe Augen". Seltener 
wird durch das Wort „spiilen" der Komplex ausgelost. Einmal 
findet man in der Komplexreihe die Antwort „Meer“, in den 
anderen Reihen die Reaktion „Wasche", ein anderes Mai die 
Reaktion „Flaschen“ und in der Komplexreihe die direkte An- 
lehnung „die Wellen haben ihn fortgespiilt". Auch der Reiz 
„Schiff" fiihrt nur selten zu Anlehnungen, einmal wird die Reaktion 
„Dampfer", „Handelsdampfer“ und „Schiffsmannschaft“, ein 
anderes Mai ,,geht unter" ausgelost. Diese Ankniipfungen sind 
nur mit Vorsicht zu verwerten, um so mehr, als die Versuchs- 
person keine Erinnerung an den Komplex bei Befragen zeigte. 
Tmmerhin ist es auffallig, daB die 1. und 3. Versuchsreihe derartige 
Beziehungen vermissen laBt, und daB hier gelaufige Beziehungen 
wie Schiff„bruch“, ,,-Wrack" u. a. iiberwiegen. Aehnliche Be- 
obachtungen ergibt die Betrachtung der Reaktionen auf das 


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5)4 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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Reizwort „Bord“. Hier treten Ankniipfungen wie ,,der Steuer- 
mann fiel iiber Bord", oder „iiber Bord werfen", oder „der junge 
Offizier stiirzte iiber Bord“ auf. In diesem Fall zeigt die der 
Komplexeinwirkung folgende 3. Versuchsreihe keine Veranderung 
der Reaktionen, aber hier geht ja aus der Art der Ankniipfung 
selbst der EinfluB des Komplexes geniigend hervor. Beim Reiz 
,,Fisch“ erfolgt nur dreimal die so naheliegende Reaktion ,,Hai¬ 
fisch". Ein anderes Mai wird in einem ganzen Satz geantwortet: 
„vom Haifisch, der den Seeoffizier verschlungen hat“. Unbe- 
stimmtere Arten des Einflusses zeigen Antworten wie ,,im Meer“, 
,,im Ozean“, die einen Gegensatz bilden zu den sonstigen Re¬ 
aktionen, wie ,,Teich“, „Wasser“, „gebraten“. Besonders markant 
kann man den EinfluB des Komplexes nachweisen bei doppelsinnigen 
Worten, wie „Meer“. In der A-Serie z. B. hat eine Reaktion im 
Sinne der Geschichte etwa 6 mal stattgefunden. Oft trat nur 
die Frage, ob ,,Meer“ oder „mehr“ gemeint ist, auf. Die Re¬ 
aktionen sind alle etwas imbestimmt und beschranken sich auf 
Ausdriicke wie ,,Meeresgrund“, „unergrundlich“, ,Fisch“ „ist 
ein Wasser“, „Dampfer". Selten findet man deutlichere Ge- 
schichtseinfliisse, so einmal ,,das Meer hat groBe Wellen ge- 
schlagen“, „der Offizier hat sich ins Wasser gestiirzt“, ,,indiseh“. 
Auch das Wort ,,Streifen“ wird oft doppelsinnig aufgefaBt. Am 
gelaufigsten sind den Versuchspersonen Antworten wie „Papier- 
streifen“, „durch den Wald streifen“. Als Zeichen der Ankniipfung 
treten Reaktionen, wie ,,Militarstreifen“, „Blutstreifen“ imd „der 
Offizier hinterlieB einen Blutstreifen" auf. Bei dem Reiz ,,Um- 
kreisen" hatten die meisten Versuchspersonen SchWierigkeiten; 
nur sehr wenige stellten iiberhaupt Beziehungen zum Komplex 
her. Diese waren meist unbestimmter Natur, wie z. B. ,,wenn 
von Tieren umkreist wird“, oder ,,der Hai umkreiste das Schiff“. 
Die haufigsten Ankniipfungen findet man bei den Worten ,,Ret- 
tung“ und „verschlungen“. Auch diese sind oft sehr vage und 
unanschaulich in ihrer Ausdrucksweise, aber sie lassen an dem 
EinfluB des Komplexes nieht zweifeln, auch wenn dieser nicht 
bewuBt erinnert wird. Neben Ankniipfungen wie „wenn einer 
gerettet wird“, ,,dem Ertrinkenden ist Rettung notig“, „Rettungs- 
ball“ oder „wenn man versimken ist“ finden wir ganz bestimmte 
Reaktionen wie „Rettung ist manchmal vergebens“, ,,ist im- 
moglich“, „des Kapitans“, ,,Schiff“. Einmal erfolgen Reaktionen 
Wie ,,der Offizier, der Matrose wurde gerettet“,‘ das „Rettimgs- 
boot“. Auch bei dem Reizwort „verschlungen", das ja wohl als 
das anschaulichste zu betrachten ist, fallt die verhaltnismaBig 
geringe Zahl der Ankniipfungen auf. Diese sind auch hier unbe- 
holfen und eintonig. Am haufigsten kehrt die einfache Wortfolge 
„von einem Haifisch verschlungen" wieder, seltener stoBen wir 
auf Antworten wie „ist der Sohn des Pfarrers", ,,wurde ein Fisch 
vom anderen", ,,ist das Kind vom Walfisch". Auch hier sind 
Ankniipfimgen ohne begleitende Erinnerung zu verzeichnen. Zu- 
sammenfassend muB ich noch einmal auf die sehr geringe Zahl 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


95 


der iiberhaupt erkennbaren Komplexreaktionen verweisen. Eine 
prozentuelle Berechnung, das Verhaltnis der Komplexreaktionen 
zu den iibrigen betreffend, ergibt nachfolgende Zahlen: 


Tabelle I. 

Komplexreaktionen auegedriickt in Prozenten der Oemmtreaktionen. 



A-Serie 


B-Serie 


Versuchsreihe 

Versuchsreihe 


1 i 

ii 

Ill 

I 

n 

III 

Durehschnitt . 

4,4 

5,8 

2,6 

1 

5,8 

5,4 

Melancholische Gruppe . . . 

1,7 

0 

0 


2,5 

1,9 

Paranoische Zustande • • 

5,5 

2,8 

— 

j 

2,7 

1.7 

Manische Zustande. 

8,3 

9.7 

5,5 


4,2 

1,4 

Debilitat . 

5,6 

5,6 

5.6 


2,8 

1,3 

Dementia paralytica .... 

0 

11.1 

8.3 

i 

3,4 

3,4 

Dementia epileptica .... 

5,4 

2,5 

— 

i 

8,3 

8,3 

Dementia praecox 

5.5 

5,5 

- — 


6,2 

4,9 

Dementia senilis. 

5,6 

8,3 

— 

i 

8,4 

11,1 

Hysterie . 

6.5 

8.3 

4.1 

i 

6,7 

8,3 

Dammerzustande. 

0 

13,9 

2.8 

1 

10,8 

2,8 

Amentia . 

— 

— 

— 

i 

8,3 

2,8 

Dementia alcoholica .... 

— 

— 

— 

i 

4,2 

4.2 

Korsakoff .. 

— 

— 

_ 1 

i 

i 

3,0 

2.0 


Auf welche Weise nun die Wirkung eines Komplexes noch 
zur Geltung kommen kann, hat Jung bekanntlich fur gefiihls- 
betonte Komplexe festzustellen versucht. Wenn auch Schnitzler 
fiir normale gefiihlsbetonte Komplexe, wie bevorstehendes Examen, 
Erwartung der Entbindung, die Resultate Jungs nicht bestatigen 
konnte, so hat er sie doch nicht zweifelsfrei widerlegt. Seine 
Untersuchungen lassen vor allem einen Bericht dariiber vermissen, 
ob nicht eine Verdrangung des Komplexes stattgefunden hat, 
und ob sich dieser nicht durch andere Symptome, ,,Impondera- 
bilien“, wie „Erroten“, Ausbleiben der Reaktion etc. kundgab. 
Es sollen die von Jung und Riklin hervorgehobenen Momente 
bei den Versuchen zur Anwendung gebracht werden mit der 
Absicht, ob irgendwelche positiven Resultate bei dem nicht ge- 
fiihlsbetonten Komplex erzielt werden. 

I. Reaktionszeit. 

Als Hauptzeichen einer Komplexreaktion betrachten diese 
Autoren die Verlangerung der Reaktionszeit. Wenn auch von 
Jung selbst hervorgehoben wird, daB diese Auffassung fiir Unge- 
bildete nur mit Vorsicht zu verwerten ist, so kommt er doch zu 
dem Resultat, daB auch bei diesen gefiihlsstarke Reizworter die 
Reaktionszeit verlangern. Wir haben es bei unseren Versuchen 
nur mit Ungebildeten zu tun, meist handelt es sich ja um schwer 
psychisch Erkrankte. Wir haben schon aus diesem auBeren Grunde 
von einer durchgehenden Feststellung der Reaktionszeit abge- 


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96 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


* 


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sehen. Dazu kommt, daft in unseren Fallen, wenn auch als Reiz- 
worter absichtlich gelaufige Worte gewahlt wurden, die Versuchs- 
person oft sichtliche Schwierigkeiten bei der Auffassung des 
Reizes hat. Verlangert das schon an sich die Reaktionszeit, so 
kommt weiter als hemmend hinzu, daft die Versuchsperson die 
Aufgabe meist nur unlustig, widerstrebend, oft angstlich und er- 
wartungsvoll befolgte. Endlich wirkte oft die Gefiihlslage des 
Individuums an sich schon verzogernd und beeintrachtigend auf 
den Vorstellungsverlauf, die Einstellung auf den Versuch war 
eine sehr langsame. Es wird im Einzelfalle unmoglich sein, alle 
diese Komponenten in ihrer Bedeutung richtig zu werten, auch 
Durchschnittsberechnungen, wie sie Jung 1 ) und andere angestellt 
haben, entwerfen kein richtiges Bild. Die Beschrankung auf eine 
individuelle Betrachtungsweise, wie sie von Ziehen gefordert wird, 
i8t geeignet, den Tatsachen am meisten gerecht zu werden, aber 
auch diese konnte bei unseren Versuchen nicht zur Anwendung 
kommen, weil unsere Versuchspersonen ja nur eine ungeniigende 
Selbstbeobachtung haben. 

Ich habe etwa in einem Drittel der Falle mittels der Sekunden- 
uhr die mittleren Zeiten fiir die Reaktionen mit und ohne Komplex- 
wirkung bestimmt. Bald gewann ich einen niedrigen Durch- 
schnittswert von 1,8', bald einen hohen von 6,2', ein Einfluft 
des Komplexes war zweifelhaft. Ich habe daher von einer Ver- 
wertung der Resultate abgesehen, weil ich beobachtete, daft ich 
den Schwankungen der Stimmungen bei den verschiedenen Ver- 
suchsreihen nicht geniigend Rechnung tragen konnte, und weil 
oft der sprachlichen Reaktion eine mimische voranging. Die 
letztere Tatsache, auf die auch schon Isserlin hingewiesen hat, 
verdient besonders betont zu werden, weil sie noch nicht geniigend 
beachtet wurde. 

Die Reproduktionszeit ist ja bekanntlich zunachst von der 
Starke im Alter und der Haufigkeit der Vorstellungsdisposition 
abhangig. Wichtiger sind die Intensitat der Aufmerksamkeit, 
ihre fortgeBetzten Schwankungen, endlich bestimmt auch der 
Gefuhlston, wie Mayer und Orth nachgewiesen haben, die Dauer 
der Reproduktion. Sind wir von einem starken Affekt beherrscht, 
so wirkt dieser storend und hemmend auf den Ablauf unserer 
Vorstellungen ein. Werden wir umgekehrt durch einen aufteren 
Reiz an diesen Affekt erinnert, dabei sei die Frage, ob bewuftt 
Oder unbewuBt, hier ausgeschaltet, so haften wir langer bei 
dem zugehorigen Vorstellungskomplex und fiihren so eine Ver- 
zogerung der Reproduktion herbei. Das ist ja eine gelaufige Tat¬ 
sache. Unlogisch ist es aber, diese Tatsache in ihrer Wirkung 
umkehren zu wollen. Daraus, daft eine Reproduktionszeit langer 
als die vorhergehende und nachfolgende dauert, folgt noch nicht, 
daft Gefiihle die Ursache dieser Verlangerung sind. Wenn z. B. 


l ) G.O.Jung, Ueber das Verhalten der Reaktionszeit „in Diagnostisohe*' 
Assoziationsstudien. 1906. 


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des Vorstellungsablaufes durcli CJeschichtskomplexe c^tc. 


97 


Jung bei Reizwortern wie ,,Warter“, ,,leise“ Gefiihle als zeit- 
verlangernd annimmt, so zeigt die nahere Begriindung die Hin- 
falligkeit seiner Auffassung. Warum die Klangahnlichkeit ,,leise, 
Lause“ bei 6 Versuchspersonen wirksam sein sollte, warum das 
Wort ,,Lause“ bei einem, der selbst noch keine gehabt hat, als 
Gefiihlskomplex darken m u B, bleibt unverstandlich. Wenn bei 
dem Worte ,,Buch“ 7 von 11 Versuchspersonen zu lange Zeiten 
haben, weil im Dialekt ,,Buch“ als ,,Buocli“ ausgesprochen wird, 
und das Dialektwort ,,Buch“ ,,Bauch“ bedeutet, so erscheint es 
doch naherliegend, durch die Konkurrenz dieser klangverwandten 
Worte bei ihrer Wirksamkeit die Verlangerung der Reaktionen 
zu erklaren. Ueberdies hat fiir viele das Reizwort ,,Bauch“ 
durchaus keine nennenswerte Gefiihlsbetonung. Wenn man 
demgegeniiber auf den unbewuBten EinfluB des Gefuhls verweisen 
will, so ist zu erwidern, daB man damit alles erklaren kann. Der 
gefuhlsbetonte, vom BewuBtsein momentan abgespaltene Komplex 
soli eine Wirkung ausiiben, die bestandig mit dem Ichkomplex 
konkurriert. So sollen Assoziationen auftauclien, von deren Be- 
deutung der Ichkomplex keine Ahnung hat. Wie zweifelhaft und 
individuell verschieden das ist, zeigt ein Komplex wie der der 
Graviditat. Wahrend er bei der JWgrschen Versuchsperson ver- 
langerte Reaktionszeiten auslost, hat Schnitzler liberhaupt nicht 
irgendvae den Nachweis des Graviditatskomplexes bei seiner 
Versuchsperson fiihren komien. Wie kommt denn das BewuBt- 
werden imbewuJJter Zustande zustande ? Wir reagieren auf ein 
Reizwort in einer dem Versuchsleiter qualitativ oder quantitativ 
auffalligen Weise. Er fordert uns auf, nach den Beziehungen der 
beiden Worte zu suchen. Diese Aufforderung enthalt bereits eine 
Absicht und bestimmt damit unseren Vorstellungsablauf. Bei 
der Verfolgung der Absicht findet eine Auswahl statt; wir wahlen 
aus unserem BewuQtseinsinhalt das, was uns am wichtigsten 
erscheint, und das sind Gefiihlskomplexe. So kommen wir zu 
eigentiimlichen Tauschungen bei dem InsbewuBteinheben von 
Vorstellungsreihen. Beim Suchen nach Erklarungen drangen 
sich gefiihlsstarke Erlebnisse vor, daraus darf man aber noch 
nicht folgern, daB der Reiz an sich implicite den Gefiihlskomplex 
hervorgerufen hat. 

Eine zweite Quelle der Tauschung liegt in der Befragungs- 
methode liberhaupt, die ja auf der systematischen Selbstbeobach- 
tung beruht. Ich will die Notwendigkeit und Wichtigkeit der 
Befragung einer Versuchsperson nicht bestreiten, schlieBlich ist 
ja jedes Inbeziehungsetzen von einem Ich zum anderen nur mittels 
Befragung und nachfolgender Deutung moglicb. Gerade Assozia- 
tionsversuche, wie sie in der Pathologie so oft angewandt werden, 
verlangen die Beriicksichtigung dieser Faktoren. Aber schon Wundt 
und nach ihm, wie bereits erwahnt wurde, in jiingster Zeit G. E. 
Muller haben auf die Gefahren hingewiesen, die eine zu weitgehende 
Befragung mit sich bringt. Selbst wenn man die Befragungs- 
methode nur bei in der Selbstbeobachtung geiibten Individuen 

Monatasotirift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft l» 7 


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9<S 


K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung 


anwendefc, lassen sich diese Gefahren nicht vermeiden. Die Gnter- 
suchungen von Biihler haben das meines Erachtens deutlich gezeigt. 
Es wiirde von unserer Aufgabe abfuhren, wollte man das im 
einzelnen begrlinden. Es ist hier nur auf die in der Psychiatrie 
bekannte Erfahrung hinzuweisen, daB man selbst bei sonst der 
Suggestion nicht zuganglichen intelligenten Patienten nach der 
Genesung nur schwer verwertbare retrospektive Angaben bekommt, 
weil die Beeinflussung durch die Exploration zu groB ist. 

Um die teils willkiirliche, und wie zugegeben werden soil, 
oft geistvolle Kombination Jungs noch naher zu beleuchten, 
seien weitere Beispiele genannt. Die Reizworter ,,Freiheit“, 
„ungerecht“, ,,aufpassen“ sollen beim Wartepersonal, weil sie 
gefiihlsbetont sind, zeitverlangernd wirken. Die Moglichkeit sei 
zugegeben, aber konnte man nicht mit dem gleichen Recht be- 
haupten, daB diese dem Wartepersonal so gelaufigen Begriffe im 
allgemeinen ihren Gefiihlswert verloren haben ? Hier steht also 
Vermutung gegen Vermutung. Eine Methode, welche die Moglich- 
keiten entgegengesetzter Auffassung zulaBt, zeigt dadurch ge- 
ntigend ihre Unzulanglichkeit und Unsicherheit. In anderen Fallen 
wird wieder das Vorhandensein des Gefiihlstones zugegeben, aber 
es fehlt die zeitliche Verlangerung. Auf das Reizwort ,,stechen 4i 
z. B. wird mit ,,schneiden‘* reagiert, die Versuclisperson will bei 
der Reaktion ein ,,angstliches Gefiihl“ gehabt haben. Das Aus- 
bleiben der Zeitstorung wird mit dem leichteren Grad des auf- 
getretenen Gefiihls erklart und der leichtere Grad daraus er- 
schlossen , daB der Versuchsperson der Zusammenhang nicht auf- 
fiel. Hier sei zunachst auf die von Jung angefiihrte, dem ,,leichteren 
Grad des Gefiihls“ wider sprechende Tatsache hingewiesen, daB 
das Reaktionswort ,,schneiden“ zum bedeutsamen Graviditats- 
komplex gehort. Wichtiger ist aber, daB der Versuchsperson (ich 
zitiere Jung) ,,der Zusammenhang nicht auffiel“. Das zeigt uns, 
daB Beziehungen, die der Versuchsperson nicht als auffallig er- 
scheinen, auch so hingenommen werden. Oft genug werden aber 
bei den Deutungsversuchen Jungs Reaktionen, iiber deren Wichtig- 
keit die Versuchsperson nichts aussagen kann, nur auf Grand der 
verlangerten Reaktionszeit als affektbetonte verwertet. Es wird 
also dem subjektiven Faktor eine sich nicht nach bestimmten 
Grundsatzen richtende Bedeutung beigelegt, das zeigt uns, daB 
der einheitliche Gesichtspunkt vermiBt wird. Auch viele andere 
Beispiele dieser Autoren tragen einen deutlichen Komplexcharakter, 
und trotzdem bleibt eine verwertbare Verlangerung der Reaktions¬ 
zeit aus. Als Beispiel dienen die auf S. 213 angefuhrten Reaktionen: 
krank — arm 1,2", 
gelb — viel 1.2", 
spielen — Ball 1,2", 

Stengel—lang 1,2". 

(Das wahrscheinliche Mittel dieser Versuchsperson betrug 1,2 Sek.) 
Der Einwand, daB die nachfolgende Reaktion verspatet auftrat, ist 
nicht ausreichend, um den Zweifel an einer solchen Deutung 


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des Vorstellungsablaufes durch (jeschiclitskomplexe etc. 


99 


zuriickzudrangen, denn in anderen Fallen fehlt auch diese Ver- 
spatung. Wenn in anderen Reaktionen die Zeiten trotz eines 
Komplexwortes kurz sind, z. B.: 

lieben — 1,0", 

Pflicht — treu 0,8", 

Schlange — falsch 0,8", 

Wechsel — falsch 0,8", 

so wird das dahin interpretiert, daB die Versuchsperson fur diese 
Worter eine Vorliebe hat, und sie deshalb allmahlich mit ver- 
kiirzter Reaktionszeit aufzutreten scheinen. Diese Erklarung mag 
zutreffen, aber folgt nicht gerade daraus ohne weiteres, daB dann 
die verlangerte Reaktionszeit nicht als Zeichen einer Komplex- 
wirkung betrachtet werden darf ? Konnen iibrigens nicht Re¬ 
aktionen, wie z. B. ,,Schlange — falsch“, die doch eine sehr ge- 
laufige Verbindung darstellt, eine indifferente Bedeutung haben ? 
Jetzt bediirfen noch die Assoziationen, welche die Vorliebe fiir 
ein bestimmtes Reizwort dartun sollen, einer Betrachtung, z. B.: 
richtig — falsch 1,0", 
folgt — treu 1,4". 

Die Befragung ergab, daB die Reaktion ,,falsch “ die Befiirchtung 
der Abkiiklung des Gatten angeregt habe. Auch hier hat nicht 
die Verlangerung der Zeit, sondern die Angabe der Versuchsperson, 
daB die vorherige Reaktion noch nachwirkte, zur Erkennung der 
Komplexwirkung gefiihrt. Aus der unerheblichen Zeitvermehrung 
konnte diese nur vage vermutet werden. Das gleiche trifft fiir 
die Reaktionen ,,Salz — salzig“ 1;4" zu, bei der auch nur mit 
Hilfe der Befragung ein sicherer Nachweis der Komplexwirkung 
gelang. Endlich gibt es in den Versuchsreihen Jungs wiederholt 
Reaktionen, die gefiihlsbetont sind und trotzdem keine ver- 
langerten Zeiten erforderten, z. B.: 

lang — groB 1,2", 

Schiff — groB 1,0", 

Stengel — lang 1,2". 

See — groB 1,2", 
spielen — Ball 1,2" 

[wahrscheinliches Mittel 1.2"] 1 ). 

Alle diese Erwagungen und Tatsachen zeigen, daB aus der 
Zeitdauer iiberhaupt nicht oder hochstens mit groBter Vorsicht 
selbst bei gesunden und gebildeten Versuchspersonen eine Komplex- 
wirkung erschlossen werden kann. Es ist immer eine genaue 
kritische Selbstbeobachtung und irgendein qualitativ auffalliges 
Moment die notwendige Voraussetzung fur die Wertung langer 
dauernder Reaktionen. 

Eine Verlangerung der Reaktionszeit bildet aber sicher in 
einzelnen Fallen den selbstandigen Beweis fiir die Wirksamkeit 
eines Gefiihlskomplexes. Reizworter, die an sich schon vor allem 
einen affektiven Charakter haben, wie z. B. ,,Hoffnung“, oder zu 


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100 


K 11 t z i 11 s k i . Ueber die Beeinflussung 


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einem dominierenden Erwartungskomplex gehoren, wie z. B. 
,,Storch“ bei der graviden Versuchsperson I (S. 209) von Jung 
und Riklin, rufen natiirlich Gefiihlsreaktionen hervor. Wenn es 
zu einer Verlangerung der Zeiten kommt, so ist das durch die 
Stauung, um in einem Bilde zu reden, der geweckten Gefiihls- 
erlebnisse zu erklaren. Vielleicht hat aber auch ein Konkurrenz- 
kampf der einzelnen Komplexe in ihrem Bestreben, zur Geltung 
zu kommen. die Verlangerung der Reaktionszeit verursacht. Was 
diese Reaktionsformen von den anderen von Jung als Komplex- 
reaktion bezeichneten unterscheidet, ist ihre Unmittelbarkeit, die 
Versuchsperson sucht nicht erst nach dem Zusammenhang zwischen 
Reiz und Komplex, dieser Zusammenhang ist vielmehr direkt 
gegeben. 

Eine Beeinflussung der Reaktionszeit tritt ferner ein, wenn 
eine kontinuierliche. einheitliche, depressive oder auch spannende 
Gefrihlslage den Vorstellungswechsel bestimmt. Hier handelt es 
sich um eine quantitative Minderleistung aller psychischen Funk- 
tionen. Es eriibrigt sich, an dieser Stelle auf Einzelheiten einzu- 
gehen. Schon die Alltagsbeobachtung lehrt uns, daB gedriickte 
Stimmung die Gedankenentwicklung verlangsamt. 

AeuBere, in der Versuchsperson liegende Schwierigkeiten und 
die obigen theoretischen Betrachtungen haben mich die Zeit- 
messung nur in einzelnen Fallen anwenden lassen. Uebrigens 
zeigen auch Scholls Resultate erhebliche Schwankungen des Zeit- 
wertes. Ebenso ist auch Messer zu keinem verwertbaren Resultat 
gekommen. 

Sind nun auch die quantitativen Merkmale eines Komplexes 
nur sehr unsicher oder gar nicht nachzuweisen, so haben Jung 
und Riklin doch eine Reihe qualitativer Faktoren angefiihrt, 
denen man die Abhangigkeit von Gefiihlswerten nicht absprechen 
kann. Wenn ein Ausfall der Reaktion oder ihre Sonderbarkeit, 
ein Versprechen, eine Uebersetzung in eine fremde Sprache, Kraft- 
ausdriicke, Zitate, auftreten, so sind diese Reaktionen als komplex- 
verdachtig aufzufassgn. Oft wird die Reizvorstellung nicht in 
ihrem eigentlichen und gewohnlichen, sondern in einem speziellen, 
dem Komplex angepaBten Sinne aufgefaBt. Ich habe versueht, 
diese qualitativen Faktoren auch fur unsere Versuche zu benutzen. 
Es handelt sich zwar nicht um einen Gefiihlskomplex, es ist doch 
aber, wenn Jungs Anschauungen richtig sind, a priori anzu- 
nehmen, daB alles, was geeignet ist, den gewohnten Vorstellungs- 
verlauf zu unterbrechen, auch analoge Reaktionssymptome herbei- 
fiihren muB. Man wird natiirlich der Bedeutung des Gefiihles 
nicht andere Momente gleichsetzen konnen, aber man wird auch 
den EinfluB von neuen, fremdartigen und als solchen lebhaften 
Eindriicken auf den Vorstellungsablauf von vornherein nicht ab- 
lehnen, noch zumal, wenn man bedenkt, daB der Komplex von 
einer autoritativen Person, dem Arzt, den Versuchspersonen ge¬ 
geben wurde. Einen Ueberblick iiber unsere Resultate in dieser 
Hinsicht zeigen die nachfolgenden Tabellen. Von den Komplex- 


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des Yorstellungsablaufes duroli Geschiehtskomplexe etc. 


101 


merkmalen wurden nur die verwertct, die in nennenswerter Zahi 
bei den Versuchspersonen gefunden wurden. Die in Betracht 
kommenden Komplexreaktionen wurden in Prozenten der Gesamt- 
reaktionen ausgedriickt. Von den von Jung angefiihrten Zeichen 
einer Komplexwirkung scheiden eine Reihe aus. weil sie fur unsere 
Zwecke nicht geeignet sind: Kraftausdriicke, Uebersetzung in eine 
fremde Sprache und Versprechungen. Diese Reaktionen sind in 
meinen Protokollen so selten, daB sie vernachlassigt werden konnen. 
Die Nachwirkung, die Wiederholung des Reaktionswortes, der 
Ausfall der Reaktionen w r erden einer gesonderten Besprechung 
unterzogen. Zitate sowie sonderbare Reaktionen, die man besser 
beziehungslose nennen sollte, babe ich zusammengefaBt. Alle 
diese Reaktionen sind selten vermerkt und sollen im Zusammen- 
hang kurz besprochen werden. 

I. Ausfall der Reaktionen. 

Unter Ausfall der Reaktionen verstehen wir das, was Jung 
und Riklin als Fehler bezeiclmet haben. Wir haben dann ein 
Ausbleiben der Reaktion angenommen, wenn nach 30 Sekunden 
keine Antwort erfolgte. Einen Veberblick uber die Resultate er- 
gibt die folgende 

Tabelle II. 

I' A-Serie B-Serie 

i; Versuchsreihe ' Versuchsreihe 

! : i ir hi i 1 it i hi 


AusfalIs-Reaktion. ( .Mi 8.3 13.4 9.7 \ 9 8 | 8.5 

Komplex-Reaktion .i 4 4 5 8 2.G l j -- 5 8 1 5.4 


So berechtigt Einwande gegen eine solche grobe Zusammen- 
fassung von heterogenen Reaktionsweisen auch sein mogen, die 
eine Tatsache zeigt die Tabelle, daB der Komplex die Zahl der 
Fehler, w r enn auch nicht erheblich, so doch deutlich vermehrt hat. 
DaB Hemmungen Schw ierigkeiten beim Reproduzieren, Armut der 
Vorstellungen u. a. die Resultate entwerten, ist uns nicht ent- 
gangen. Zunachst scheint ja. trotz dieser Einwande, die Zahl der 
Fehler bei unmittelbarer Wirkung der Geschichte zu wachsen; 
bei der 3. Versuchsreihe, bei der man eine Abnahme der Fehler- 
reaktionen erwarten sollte, finden w r ir in der A-Serie eine Zunahme 
(13,4 pCt.). Eine genauere Betrachtimg ergibt, daB ein manischer 
Zustand mittlerer Starke, der auch bei der 3. Versuchsreihe viel 
Geschichtsankniipfungen hot, diese Zunahme verursaclit hatte. 
Es ware also denkbar, daB auch in der 3. Versuchsreihe der Komplex 
sich w irksam gezeigt hat. Dem scheint aber das Zahlenergebnis fur 
Versuchsreihe 2 der A- und Versuchsreihe 3 der B-Serie zu wider- 
sprechen, da diese Zahlen ja niedriger als die anderen sind. Das 
wird nicht verw r undern, w'enn man bedenkt. daB am SchluB der 


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102 


K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung 


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Komplexreihe die Versuchsperson immer danach gefragt wurde, ob 
sie sich des Komplexes erinnert habe. Die Frage konnte sehr wohl 
eine Anregung geben, haufiger an den Komplex zu denken. Dieser 
Annahme entspricht aber nicht die 3. Versuchsreihe der B-Serie. 
Der geringe Prozentsatz dieser Reihe findet eine gewisse Er- 
klarung darin, daB hier die Intervalle zwischen 2. und 3. Versuchs¬ 
reihe groBer waren, die Frage nach dem Komplex ihre Wirkung 
daher nicht voll entfalten konnte. Um nun den Uebelstand einer 
Zusammenfassung ohne Beriicksichtigung der sonstigen Ursachen 
zu vermeiden, habe ich eine Gruppierung des Materials nach klini- 
schen Gesichtspunkten vorgenommen. Es wurden also alle gleich- 
artigen Zustande zusammengefaBt, so wie es in der Versuchs- 
anordnung mitgeteilt worden ist. 

Tabelle III. 


|j A-Serie j ! B-Serie 

Diagnose Versuchsreihe Versuchsreihe 

° .1 



i 

II 

III 

i i 

n , 

III 

Debilitat. 

: ii.i 

5 5 


i 

8 7 

9 2 

7.2 

Dementia epileptica .... 

4.1 

13 9 

- 

0 

2 8 

2.8 

Dementia paralytica .... 

•25.0 

89.0 

30 5 

4 2 

4 2 

2.5 

Dementia hebephrenica . . . 

25 2 

fT5 

— 

S 3 

5 5 , 

2.1 

Dementia senilis. 

o a 

4.1 


0 

2.4 

0 

Melancholische Zustande 

,i <) 9 

4 1 


11.8 

12.2 

4.4 

Paranoische Zustande . . . 

0 

(1 

0 

Ml 

0 1 

4.4 

Hysterische Zustande . . . . 

11.1 

13 9 

13.9 

9.2 

8 8 

10.6 

Manische Zustande. 

! 15.3 

9.7 

25.0 

13 3 

20 8 

9.7 

Dammerzustande. 

jl IM 

11.1 

- 

10.0 

2.8 

19.3 

Amentia . 

. 


-- ' 

00.0 

69.0 

72.2 


Aus diesen Tabellen geht nicht hervor, ob die Ausfall- 
reaktionen als AeuBerungen des Komplexes aufzufassen sind. 
Die Schwankungen der Resultate hangen von den verschiedensten 
bereits genannten Momenten ab. Sie im einzelnen festzustellen, 
ist kaum moglich. Die GroBe der Schwankungen wird uns bei 
dem Materialgemisch nicht wundern, um so weniger, wenn wir an 
die individuellen Schwankungen der Fehler erinnern, die z. B. bei 
einer Versuchsperson Isserlins zwischen 0 und 8 pCt. betrugen, 
dabei war aber die Stimmung eine iiberwiegend depressive. Um 
nun den EinfluB des Komplexes naher festzustellen, wird man 
am besten die Prozentzahl der Komplexreaktionen mit der der 
Fehler vergleichen und so etwaige Beziehungen aufzudecken ver- 
suchen. Es muB dabei vorausgeschickt werden, daB die 3. Ver¬ 
suchsreihe meist nur zu Vergleichszwecken angestellt wurde, der 
Abstand von den vorhergehenden Versuchsreihen oft erheblich 
groBer war, als der zwischen der 1. und 2. Versuchsreihe, und daB 
deshalb die Resultate nicht ohne weiteres zu verwerten sind. Bei 
der Betrachtung der Werte ist immer von der Komplexreihe, wie 
wir sie kurz nennen wollen, auszugehen. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


103 


Es lassen sich nun vier Moglichkeiten denken: 1. die Komplex- 
und Fehlerreaktionen verhalten sich analog in ihrem Steigen oder 
Fallen, weil beide der Ausdruck einer unmittelbaren Komplex- 
wirksamkeit sind; oder 2. beide Werte verhalten sich umgekehrt, 
weil die Komplexreaktionen den unmittelbaren, die Ausfall- 
reaktionen den mittelbaren EinfluB des Komplexes reprasentieren. 
Je nach Individualitat, pathologischem Verhalten und anderen 
Umstanden wird die eine oder andere Art des Einflusses sich iiber- 
wiegend geltend machen; 3. konnte die Zahl der Fehler steigen, 
wahrend die Zahl der Komplexreaktionen konstant bleibt. Das 
wiirde dadurch zustande kommen, daB individuelle gefiihlsbetonte 
Komplexe durch frische, wenn auch objektive verdrangt werden. 
Diese Verdrangung wiirde sich dann in einer Zunahme der Fehler 
auBern. Endlich kann die Zahl der Komplexreaktionen konstant 
bleiben, die der Fehler aber abnehmen. Es liegt nahe, hier an die 
zeitlichen Verhaltnisse zu denken. Die Komplexreaktion als eine 
direkte Ankniipfung kommt leichter zur f ixation, der mittelbare 
EinfluB der Geschichte fur die Ausfallreaktion wird aber bei 
spateren Reihen geringer werden, weil sich hier die gewohnten Be- 
ziehxmgen leichter als dort vordrangen. Betrachten wir zunachst 
die Werte der Dementia paralytica: 


Tabelle IV. 


A-Serie ' B-Serie 

Vorsuchsreihe j Yersuehsreihe 



I 

II ! 

III 

I 

II 

III 

Fehlerreaktion. 

. . 25.0 | 

39.5 

■ ■ TT 

30.5 ;| 

4.2 

i 

4.2 

2.5 

KompJexreaktion .... 

. . 0 

11.1 

S.3 !| 

— 

1 3,4 i 

3,4 


Bei der A-Serie findet man eine analoge Zu- oder Abnahme. 
Ein direktes zahlenmaBiges, proportional es Verhaltnis diirfen 
wir nicht erwarten, weil ja noch andere mittelbare Komplex¬ 
reaktionen in Frage kommen. Wenn bei der Komplexreihe die 
Geschichtsreaktionen 0 sind, um spater bedeutend hohere Werte 
zu erreichen, so konnte das ja eine Folge der iiberhaupt verlang- 
samten Reaktion der Paralytiker sein. Die B-Serie bestatigt die 
Zahlen der A-Serie. Bei unmittelbarer Komplexeinwirkung wachst, 
wie der Vergleich der Versuchsreihen 2 und 3 zeigt, die Zahl der 
Auslassungen. Diese Uebereinstimmung beider Serien berechtigt 
anzunehmen, daB nicht allein die Schwierigkeit und Hemmung 
in der Auffassung, sondern auch die Einwirkung des neuen Ein- 
druckes die Veranderung der Reaktionen hervorgerufen hat. Um 
das Resultat noch mehr zu sichern, habe ich auch individuelle 
Zahlenberechnungenangewandt. So bietenVersuchsreihen 22 und 56 
folgende Werte: 


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104 


K u t z i n s k i , Ueber die Beoinflussung 


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Tabelle V. 



Reaktionsform 

| 

Versuchs¬ 
reihe I 

Versuchs¬ 
reihe II 

Versuchs¬ 
reihe III 

Fall 22 

i Feh lerreakt ion 

25.0 

39.0 

i 

30.5 

(A-Serie) 

Komplexreaktion 

0 

11.1 

8 3 

Fall 56 

i 

Feh lerreakt ion 

13.0 

0 

0 

(A-Serie) ! 

j Komplexreaktion 

It 

!l 13.9 

| 13.9 


Der Fall 22 bestatigt die allgemeinen Resultate. Versuchs- 
person 56 zeigt, unter dem EinfluB des Komplexes, eine Reduktion 
der Fehler auf 0, das Verhaltnis von Komplex- zu Ausfallreaktionen 
bleibt konstant. Das Verhalten der Hysterie ergibt die folgende 
Tabelle: 


Tabelle VI. 


»! 

Reektionsform 


Fell lerreakt ion . 
Koinp lexreak t ion 


A-Serie 
Versuchsreihe 
I II J III 

11.1 13,9 13.9 
6.5 8.3 4.1 


B-Serie 
Versuchsreihe 
I J II J III 

9,2 ! 8.8 10.6 

6.7 8 3 


Auch hier wachst die Zahl der FehJer mit der der Komplex- 
reaktionen, aueh hier miissen wir Versuchsreihe 3 der A-Serie 
vernachlassigen, weil hier der Zeitfehler, d. h. die GroBe des Zeit- 
inter vails, in Frage kommt. Bei Zustanden von Dissoziation 
(Amentia) finden wir andere, aber doch verwandte Beziehungen: 


Tabelle VII. 


Reaktionsforrn 


! Versuchsreihe I il Versuchsreihe H Versuchsreihe III 


Komplexreaktion — I 8 3 

Feh lerreakt ion . . 60.0 69.0 


2.8 

72.2 


In der 3. Versuchsreihe fallt die Zahl der Komplexreaktionen, 
wahrend die der Fehler steigt, bei direkter Komplexwirkung 
aber bemerken wir zugleich eine erhebliche Zunahme der Fehler. 
Das ist ein Beleg dafiir, daB die Zahlen der Ausfallreaktionen 
nicht rein zufallig sein konnen; denn es lage doch naher, wenn 
19,1 pCt. Komplexreaktionen auftreten, daB sich dann die Fehler- 
zahl verringerte. Eine weitere Stiitze gibt uns die A-Serie der 
dissoziativen Zustande. Hier scheint die Geschichte iiberhaupt 
keine Veranderung verursacht zu haben, denn die Zahl der Kom¬ 
plexreaktionen betragt stets 0 pCt., und die der Fehler bleibt 
konstant (11,1 pCt.). Bei melancholischen Zustanden beobachten 


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des Vorstellungsablaufes durch (ieschichtskomplexe etc. 


105 


wir, daB die Werte der Ausfall- und Komplexreaktionen parallel 
gehen. Die maximalen Fehlerreaktionen treten bei unmittelbarer 
Komplexwirkung auf. Das verdeutlicht die untenstehende Tabelle: 

Tabelle VIII. 


!j A-Serie I B-Serie 

Reaktionsform ; Versuchsreihe !; Versuchsreihe 

______ ‘i_ i_n_ in !_i H m 

Fehlerreaktion. 6.9 i 4.1 j 11 11.8 I 12.2 j 4.4 

Komplexreaktion. 1.7 0 | 0 — 2 5 1.9 


Diese Beispiele sollen geniigen, um nicht zu ermiiden. Es sei 
aber festgestellt, daB bei den anderen klinischen Grnppen die 
gleichen Beziehungen bestehen. Ein Vergleich der Gesamtwerte 
bildet einen hinreichenden Beweis (vgl. Tabelle II). 

Bei unmittelbarer Geschichtswirkung e r - 
hoht sich die Zahl der Ausfallreaktionen, bei in 
Wachsen der Komplexreaktionen fallt dieFehler- 
zahl und umgekehrt. Als Ursachen kommen die eben 
genannten Moglichkeiten in Frage, die bald isoliert, bald kom- 
biniert wirken konnen. Unsicher bleibt, ob verdrangte eigene 
unbewuBte Komplexe zum Ausdruck kommen. Diese Frage muB 
unerortert gelassen werden, da ja eine Befragung der Versuclis- 
personen nieht moglich war. 

Es ist nun der sehr naheliegende Ein wand zu widerlegen, 
daB ahnliche oder gleiche Zahlenverhaltnisse aueh bei indifferenten 
Reaktionsformen auftreten konnen, dariiber belehren uns die 
weiteren Uebersichten. Ich habe wieder zusammengehorige Zu- 
stande in ihren Prozentzahlen dargestellt. Als Vergleich wurden 
die Worterganzungsreaktionen gewahlt: 


Tabelle IX. 



i | 

A-Serie 


\ 

B-Serie 


Diagnose 

| Reaktionsform 

! i 

Versuchsreihe 

Versuchsreihe 


i : 

i _ 1 

I 

II 

III 

I ! 

\ II 

III 

1. Hysteric 

Worterganzung 

i 0.9 1 

0.9 

6,2 

1.3 

1.0 i 

i 

1,3 


Fehler 

| 11.1 

13.9 

13.9 

9,2 

8,8 

10.6 


i Komplexreaktion 

j 6.5 i 

8.3 

4.1 


6.7 

8,3 

2. Dement. • 

Worterganzung j 

1 13.9 : 

8.3 

— 

i 



senilis j 

1 Fehler 

5.5 

4.1 

1 

i 




Komplexreaktion 

5,5 

S3 

1 

i 



3. Melanch. 1 Worterganzung 

1 i 


. 

1.0 

0.6 

0.6 

Znstandel 

Fehler 

j i 



11 8 

12,2 

4.4 

l 

Komplexreaktion 





2.5 

1.9 


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106 


Kutzinski, Ueber die Bee inf luss ung 


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Bei der Beurteilung der Werte ist wieder an die Tatsache zu 
erinnern, daB die 3. Versuchsreihe nur Vergleichszwecken dient, 
sie darf selbstandig nicht beurteilt werden, da sie vom ZeitintervaU 
abhangt. Diese Reaktionen \< r urden in verschieden langen Zeiten 
nach Einwirkung des Komplexes aufgenommen, wahrend die 
Zeitspanne zwischen 1. und 2. Versuchsreihe immer konstant blieb. 
Wir ersehen, daB die Werte der Worterganzungen konstant bleiben, 
wahrend die der Komplexreaktionen wachsen. Die maximalen 
Zahlen finden wir bei der 3. und nicht bei der 2., der Komplexreihe. 
Bei den Dementia-senilis-Fallen scheint ja zunachst bei unmittel- 
barem KomplexeinfluB die Zahl der Worterganzungen zu wachsen, 
auch ihrem Fallen in Versuchsreihe 2 ein Steigen der Komplex¬ 
reaktionen zu entsprechen, die beiden Werte sind aber gleich 
(8,3 pCt.), dabei sollte man eine Erhohung oder Verringerung 
des einen von beiden Werten erwarten. Bei der letzten Gruppe wird 
der Mangel an Uebereinstimmung mit unseren Fehlerresultaten 
noch deutlicher. Der maximale Wert tritt in der 1. Versuchsreihe 
auf, die Komplexreaktionen sinken, die Worterganzungswerte 
bleiben konstant. 

Es wurden auch Objektreaktionen zum Vergleich herange- 
zogen, z. B. die Zweckankniipfungen: 


Tabelle X. 



1 I 

A-Serie 


B-Serie 


Diagnose 

Reek t ions for m 

i i' 

Versuchsreihe 

Versuchsreihe 



I IT 

III 

I 

i n 

III 

Dementia 

1 Zweckreaktion 

i 

! 

1.8 

2.8 

3,7 

paralyt. 

Komp lexreak t i on 




3.4 

3.4 

Melanchol. 

Zweckreaktion 

1.7 U | 

1 U 

- i 

2.5 

1,9 

Zustande 

.i Komp lexreak tion 

4,1 4.1 1 

I 2.7 , 

0.3 ! 

1.2 

0.6 

Hysterie 

II Zweckreaktion 

2.8 | 1.9 

1 0 ! '; 

" ! 

0 

0 3 

II Komplexreaktion jl 

6.9 | 8,3 

1 4,1 ; 

! 

1 

6,7 | 

8.3 


Dieser Ueberblick zeigt uns fiir die 1. Gruppe, daB bei Konstanz 
der Geschichtsreaktionen die anderen Reaktionen zunehmen, daB 
die Maximalzahl bei der 3. Versuchsreihe auftritt. Auch bei der 
Melancliolie finden wir ganz willkiirliche Zahlen. Hier ist der Wert 
der Zweckreaktionen unverandert, wahrend der der Komplex¬ 
reaktionen sinkt. DaB gelegentlich, wie z. B. bei der B-Serie der 
Melancholie, Uebereinstimmungen mit den Resultaten der Aus- 
fallreaktionen bemerkt werden, darf nicht wundernehmen. Wir 
haben aber dann stets festgestellt, daB sich die Resultate der 
A- und B-Versuchsserie widersprechen. So ist es auch bei der 
Melancholie. Bei der A-Serie der Hysterie findet ein kontinuier- 
liches Fallen der Zweckreaktionen statt, wahrend die Werte des 
Komplexes zunachst steigen, um dann auch zu sinken. Mit der 
A-Serie sind die Ergebnisse der B-Serie nicht in Einklang zu 


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des Yorstellungsablaul'es durch Geschichtskomplexe etc. 


107 


bringen. Endlich zeigen auch die Zahlen bei Zusammenfassung 
der Zweckreaktionen keine Abliangigkeitsbeziehungen: 

Tabelle XI. 


I A-Serie B-Serie 

Reaktionsforin I Yersuchsreihe i; Yersuchsreihe 



,1 

I 

n 

JII ! 

j_I__ 

II 1 

III 

Zweckreaktion . . . . 

1' 

2.8 

1.9 ! 

1.9 

j 0.5 

0.9 

1.1 

Komplexreaktioi\ • • . 

, . . . i| 

4.4 

5.S 

2.6 


5.8 

5,4 


Die Maxima entsprechen nicht immer der unmittelbaren 
Komplexeinwirkung und die Zweckreaktionen behalten ihre Werte, 
wahrend sich die Komplexe andern. Diese Tatsachen sind nicht 
mit aller Bestimmtheit aufzunehmen, sie bediirfen noch der Be- 
statigung durch eingehendere Vergleiche, aber sie besitzen doch 
einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Es ware seltsam, 
wenn diese Uebereinstimmung der Beziehungen nur Zufall sein 
sollte. 

Wir lernen aus diesen Tatsachen, daB bei 
geisteskranken Versuchspersonen Ausfall- 
reaktionen nicht nur die Folge von ver- 
drangten Gefiihlskomplexen sind, sondern 
daB jeder Wettstreit zwischen gelaufigen und 
frischen eindrucksvo11en Vorste11 u ngen die 
Reaktion auf Reize verzogert oder hemmt. 
Andererseits gibt unsere Feststellung der 
Jungschen Auffassung von der Bedeutung der 
Ausf allreaktionen als Zeichen eines w irk- 
samen Komplexes ii b'e rhaupt eine neue Stiitze. 

Wir wenden uns jetzt den anderen Zeichen einer Komplex- 
wirkung zu: 

II. Zitate. 

Zitate sind in unseren Protokollen nur sparlich vorhanden, 
weil es sich um ungebildete Versuchspersonen handelte, die die 
Sprache nicht so flieBend beherrschen. Von Jung und Riklin 
wird das Auftreten von Zitaten darauf zuriickgefuhrt, daB der 
Komplex diese benutzt, um zu ,,markieren“. Das Lied oder Zitat 
wird benutzt, um nur rudimentar vorhandene Gefiihle zu iiber- 
treiben. DaB man mit demselben Recht sagen kann, das stark vor¬ 
handene Gefiihl fiihrt zum Zitat, bedarf keines Beweises. Immerhin 
muB man Jung die Moglichkeit einer solchen Komplexwirkung 
zugestehen. Es ist aber nicht recht ersichtlich, warum auch Zitate 
der Ausdruck der Hemmungen oder der Konkurrenz von Vor- 
stellungen sein sollten, es erscheint vielmehr naherliegend, sie als 
das Zeichen einer sofortigen Reproduktion aufzufassen. Ein Zitat 


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108 


Kutzinski. Ueber die Beeinflussung etc. 


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kehrt leichter und schneller wieder, weil es meist eine eingeiibte 
und sprachlich fixierte Vorstellungsreihe darstellt. In unseren 
Zahlen finden wir denn auch keine Zusammenhange zwischen Zitat 
und Komplexreaktion. Einige Beispiele sollen geniigen: 


Tabelle XII. 


j! A -Serie B-Serie 

Diagnose Reaktionsform Versuchsreihe Versuchsroihe 



1 

i i 

II ! 

III 

I 

ii 

III 

Hyst er ie 

! 

Zitatereaktion j 

3.7 

4.6 

2.8 

j 0.8 j 

0.6 

0 

Komplexreaktion || 

6.5 

8.3 

4,1 


6,7 

| 8.3 

Dement. 

Zitatereaktion ! 

i 

— 


i 3.3 ; 

2,8 

0 

paralyt. 

Komplexreaktion 




1 

3.4 ; 

3.4 

Melanehol. 

Zitatereaktion 

0 

0 

0 

1,3 

1,4 

1.1 

Zustande 

Komplexreaktion 

1.7 

0 

0 

— 

2,5 

1.9 

Manische 1 

! Zitatereaktion , 

5.6 

5.6 

2,8 

i 1 - 7 

1,4 

1.4 

Zustande | 

Komplexreaktion ! 

8.3 

9.7 

5.5 


4.2 

1.4 

Delirante 

Zitatereaktion 

5,6 

2.8 

8 4 I 


0.5 1 

0.6 

Zustande | 

| Komplexreaktion 

5,6 ' 

5,6 

5,6 j 

1.1 1 

2,8 | 

1.7 

Algem. Zu- 1 

1 Zitatereaktion 

2.9 

^ 2.8 1 

276 j 

V~Trr~ 

1.2 I 

0.9 

sammen- 

i Komplexreaktion 

4.4 

5.8 | 

2.6 


5.8 

5.4 

fassung 




l 




Wir sehen aus dieser Zusammenfassung, daB hier von den bei 
den Ausfallreaktionen besprochenen Beziehungsmoglichkeitcn 
ganz willkiirlich bald die eine, bald die andere vorliegt, daB sich 
Widerspriiche ergeben, die keine Erklarung im Sinne einer Kom- 
plexwirkung zulassen. Bei der Manie z. B. bleiben die Zitatwerte 
in der A-Serie konstant (5,6), wahrend die Komplexzahlen hoher 
werden. In der B-Serie wieder sind die Zitatreaktionen der 
3. Versuchsreihe gleich der der zweiten, die Komplexreaktionen 
aber sinken. DaB die Maximalwerte bei unmittelbarer Geschichts- 
wirkung auftreten, ist durchaus nicht immer der Fall, bald steigen 
Zitat- und Komplexreaktionen konform, ohne daB wir eine zu- 
reichende Erklarung dafiir finden konnen, bald wird z. B. bei der 
Debilitat die Zahl der Komplexreaktionen 0, die der anderen Reihe 
dagegen waclist liber die Zahl der Komplexreihe hinaus. Auch 
die allgemeine Zusammenfassung lehrt uns, daB alle motivierten 
Beziehungen fehlen. 

III. Beziehungslose Reaktionen. 

Bei dieser Reaktionsform konnen wir uns noch kiirzer fassen. 
In der A-Versuchsreihe hat nur die Manie sinnlose Anknupfungen 
geboten, die ganz unabhangig vom Komplex waren. Aus der 
B-Serie stammt die folgende Tabelle: 


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Buchanzeigen. 


109 


Tabelle XIII. 


Diagnose 

j! 

1 

Reaktionsform i 

1 

Versuclisreihe 

I | II III 

;i 

Melanchol. Zustande i 

Beziehungslose Reaktion 

0.3 2,8 

1.1 

1 

Komplexreaktion 1 

i 2.5 

1,9 

Dementia praecox i 

Beziehungslose Reaktion 

0 1.1 

1.4 


Komp lexreak t ion 

6 2 

4,9 

Dementia senilis 1 

Beziehungslose Reaktion | 

5.6 0 

0 

l; 

1 

Komplexreaktion j 

— 8.4 

11.1 


Bei der Dementia senilis steigt die Zahl der Komplexreaktionen, 
imd die der beziehungslosen sinkt. Die maximalen Werte treten 
zu beliebigen Zeitpunkten auf. Aehnliches Verhalten zeigen die 
anderen Gruppen. Im ganzen sind die sinnlosen Reaktionen nur 
sehr sparlich vorhanden. Auch das bestatigt die Tatsache, daB 
sich die kranken Versuchspersonen meist auf den Inhalt einstellen. 

Aus dem Gebrauch des Artikels eine SchluBfolgerung beziiglich 
der Einwirkung eines Komplexes zu ziehen, halte ich nur dann 
fur zulassig, wenn bei seiner Anwendung eine besondere Nuancierung 
der Aussprache beobachtet wurde, wie z. B. ,,die Person**, auch 
dann wird eine Befragung unerlaBlich sein. Mir sind derartige 
Anwendungen nur sparlich begegnet; da ferner keine Befragung 
stattfand, habe ich von einer Verwertung des Materials in diesem 
Sinne abgesehen. (SchluB folgt). 

Buchanzeigen. 

Bumke: Ueber nzrvose Entartung . Berlin 1912 t Julius Springer. Preis 5.60 M. 

Die Arbeit bildet das ersteHeft der , .Monographien aus dem Gesamt- 
gebiete der Neurologic und Psychiatric, herausgegeben von Alzheimer und 
Lewando\*sky“. Verfasser bringt in ihr in einheitlicher Geschlossenheit, 
aufbauend auf der breiten Basis reichen biologischen, medizinischen und 
allgemeinen Wissens in knappem Rahmen eine bewundemswerte Fiille von 
Tatsachen und fein durchdachtenGedanken fiber die gerade fur denPsychiater 
so enorm wichtige Frage der Entartung. Bei dem Reich turn des Inhalts 
muB schon der Versuch einer Wiedergabe im Referat mi B1 ingen. Bemerkt 
sei nur, daB Verfasser in eingehender Begriindung die Vererbbarkeit er- 
worbener Eigenschaften — vielleicht in einer etwas zu prazisen Form — ab- 
lehnt, und daher die Gesetze der Vererbung ausschlieBlich fiir die Art der 
Uebertragung, nicht aber fiir die Entstehung degenerativer Erscheinungen 
verantwortlieh macht. Fiir die Entstehung von nervoser Entartung kommen 
daher nur Keimschadigungen (Alkohol, Lues u. s. w.) und andere im streng- 
sten Sinne des Wortes exogene Schadigungen als Folge unserer Lebensweise, 
vor allem des gesteigerten Kampfes umsDasein, inBetracht. Eine allgemeine 
nervose Entartung vmseres Volkes oder unserer Basse im Sinne einer zwangs- 
maBig fortschreitenden Verschlechterung der Art aus inneren Griinden 
lehnt Verfasser daher als unmoglich ab und das ganze Problem wird ihm zu 
einem sozialen, das heiBt bei richtiger Erkennung in giinstiger Weise zu 
losenden Problem. — Moge der Arbeit ein recht groBer Kreis sorgsamer 
Leser beschieden sein; dann diirfte sie berufen sein, viele unklare und ver- 
waschene Vorstellungen, die dem Fortschreiten psychiatrischer Erkenntnis 
hinderlich sind, zu klaren oder zu beseitigen. Stier. 


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110 


Personalien. 


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Gruhle: Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalitdt. 
Studien zur Frage: Milieu oder Anlage. Berlin 1912, Springer. 454 Seiten. 

Die umfangreiche Arbeit bildet das 1. Heft der ,,Abhandlungen aus 
dem Gesamtgebiete der Kriminalpsychologie (Heidelberger Abhandlungen), 
herausgegeben von v. Lilienthal, Nifil , Schott . WUmanns". Verfasser bringt 
in ihr eingehende Beschreibung der Lebenslaufe von 105 Fiirsorgezoglingen 
einer badischen Anstalt, die er alle in der Anstalt selbst untersucht hat und 
deren Vorleben, Abstammung u. s. w. er durch Mithilfe der Behorden in 
einer Weise klar- und sichergestellt hat, wie es eben nur in einem kleinen 
Lande und auch dort nur imter Anwendung ungewohnlicher Sorgfalt mog- 
lich ist. Durch die absichtliche Einschrankung der Arbeit auf das rein Tat- 
sachliche wild das Studium des zahlenreichen Werkes zu einer wirklichen 
Arbeit fur den Laser, aber einer Arbeit, die der Miihe lolint. 

Unter der groBen Ffille der Ergebnwse, die die Arbeit, ohne daB Ver¬ 
fasser es eigentlich will, dem Leser durch die Sammlung und eingehende 
kritische Sichtung des Materials von selbst gleichsam entgegenbringt, steht 
obenan. daB das Milieu in sehr viel hoherem MaBe. als gerade von psychia- 
trischer Seite meist angenoramen wird, fiir die Entstehung von Verwahr- 
losung in Betracht komint, selbst z. B. bei der Trunksucht des Vaters, und 
ferner, daB die erbliche Belastung, bezw. die geistig abnorme Veranlagung 
nicfit zusammenfallt mit der asozialen Artung eines Menschen; die Beziehun- 
gen zwischen geistiger Anomalie einerseits und Verbrechen und \'ei wahr- 
losung andererseits sind vielmehr viel komplizierter, als man gewohnlich 
denkt. Und gerade die Aufdeckung dieser Beziehungen in aller ilirer Kompli- 
ziertheit bei 105 bis in die letzte Moglichkeit studierten Fallen bildet das 
Hauptverdienst dieser wertvollen, in ihrer Methodik vorbildlichen Arbeit , 
die als feste Grundlage fur weitere Studien dauernden Wert behalten wdrd. 

Stier. 

C. Rieger, Wiirzburg: Ueber arztliche QiUachten im Strafrecht und Ver- 
8icherung8we8en . Vierter Bericht (vom Jahre 1911) aus der psychiati ischen 
Klinik der Universitat Wiirzburg. Wurzburg 1912. C. Kabitzsch. 

R. bespricht in dem vierten Bericht aus seiner Klinik alleilei MiB- 
stande, Irrtiimer und menschliche Schwachen, die bei der arztlichen Begut- 
achtung in Straf- und Rent-enverfahren zur Greltung kommen. Er lurteilt 
scharf ab iiber die Kriminalanatomie und Lombroso, er kam]>ft gegen die 
Ueberschatzung der angeborenen Anlage zum Verbrechen (,.das Gerede 
vom geborenen Verbrechei “ stellt er auf eine Stufe mit der Astrologie). er 
bringt seine Bedenken vor gegen die Abschaffung des StrafmaBes, er riigt 
die schlechten arztlichen Gutachter rmd ihre Leichtfertigkeit in der Ver- 
wertung von auBeren Ursachen, spottet fiber das Juristendeutsch (imter 
Beibringung einer schonen Bliitenlese von Verschrobenheicen und Entglei- 
sungen aus den Akten) und iiber die Gendarmerieberichte ,,als die eigent- 
liche Grundlage der ganzen Rriminaljustiz“, er plaudert fiber die Leicht- 
glaubigkeit vieler Genealogen (..pater semper incertus“). so wie iiber die 
Psychiater, welche sich nicht mit Psychiatric. sondern als ,,Hans Dampf 
in alien Gassen“ mit Rassenliygiene u. a. m. beschiiftigen. 

R. verspricht am SchluB, in einem sechsten Bericlit nochmals zuriick- 
zukommen auf den Grundgedanken seiner Erortenmgen: auf die groBe, 
die Rechtssicherheit gefahrdende Subjektivitat in den Begutachtungen, 
welohe zur Folge hat. daB bei den wich tigs ten Fragen die Entscheidimg 
wesentlich davon abhangt, welcher Arzt gerade zufallig das Gutachten 
macht. Der nachste (ffinfte) Bericht soli die Beziehungen der Wiirzburger 
psychiatrischen Klinik zu dem Juliusspital darstellen. P. Schroder. 


Personalien. 


Prof. Schroeder- Berlin ist als o. o. Professor und Direktor der 
psychiatrischen Klinik nacli Greifswald berufen worden und hat den 
Kuf angenomnion. 


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Ueber die Folgen einer voriibergehenden Unterbrechung 
der Blutzufuhr fiir das Zentralnervensystem des Menschen. 

Von 

Prof. HANS BERGER 

in Jena. 


Allbekannt ist die groBe Bedeutung, welche einer ausreichenden 
Blutzufuhr fiir die Tatigkeit dea Gehims beim Menachen und auch 
bei hoheren Wirbeltieren zukommt. Eine Kompreaaion der Karo- 
tiden beim Menachen, welche zwar zu einer Verminderung dea Blut- 
zufluaaea zum GroBhim, jedoch infolge der baaalen Verbindungen 
der Arterien untereinander keineawega zu einer Aufhebung der 
Blutveraorgung des GroBhima fiihrt, bedingt, wie ea Mosso gezeigt 
hat, eine fast sofortige Triibung des BewuBtaeina und Einsetzen 
leichter krampfartiger Zuckungen in den Gliedem. Aus dem Tier- 
versuch iat uns bekannt, daB auch das Riickenmark aehr bald nach 
Abachneiden der Blutzufuhr seine Funktion einstellt. Ich erinnere 
an die bekannten Verauche einer voriibergehenden Kompreaaion 
der Bauchaorta beim Kaninchen, welche zu einer Lahmung beider 
Hinterbeine, einer passageren Paraplegie, fiihrt. Bei diesen Ex- 
perimenten kann man zeigen, daB die sich schon anatomisch durch 
atarkeren GefaBreichtum auazeichnende graue Substanz es iat, 
welcher man diese Funktionastorung zuschreiben muB, da die 
weiBen Strange bei der Kiirze der Unterbrechung noch keineawega 
ihre Leitfahigkeit fiir durchlaufende Reizvorgange verloren haben. 
Man kann durch AnalogieschluB also auch annehmen, daB die 
graue Rinde dea GroBhima derjenige Teil sein muB, der zuerat unter 
der ungeniigenden Blutzufuhr bei Karotidenkompression zu leiden 
hat. Bekanntlich findet man nach Aortenunterbindung beim 
Kaninchen auch sehr ausgepragte Degenerationsvorgange in den 
Vorderhomzellen des Riickenmarka, die sich, wie schon Nissl 
seinerzeit gezeigt hat, durch seine Methode der Ganglienzellfarbung 
mit Leichtigkeit in ganz ausgezeichneter Weiae daratellen lassen. 
Fiir die Deutung der Lebensvorgange im Nervensystem wiirde es 
natiirlich von groBer Bedeutung sein, festzustellen, ob es der Ab- 
schluB der notigen Sauerstoffzufuhr allein ist, welche diese raache 
Aufhebung der Funktionen des Zentralnervensystems bedingt, oder 
ob dabei noch andere Momente in Frage kommen. Es liegt auf der 
Hand, daB man die aehr interessanten Ergebnisse Verworns und 
seiner Schiiler iiber die Vorgange der Erschopfung, der Ermiidung 
u8w. dea Nervengewebes der Kaltbliiter nicht so ohne weiteres 

Monatsschrift L Psychiatric n. Neurologic. Bd. XXX III. Heft 2 8 


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112 


Berger. Ueber die Folgen 


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auf das der Warmbliiter und den hochst organisierten Teil desselben. 
die Hirnrinde, iibertragen darf. Verworn verdankt seine wichtigen 
Aufschliisse vor allem der Verwendung einer kiinstlichen Durch- 
spiilung des Zentralnervensystems mit Nahrfliissigkeiten beim 
Frosch; und es lag daher auBerst nah, ahnlich beim Warmbliiter 
vorzugehen. Cyan hat schon im Jahre 1874 in Pfliigers Archiv 1 ) ein 
Verfahren angegeben fiir eine kiinstliche Durchblutung des Gehims 
beim Hunde und kam im Jahre 1899 s ) auf dasselbe zuriick. Diese 
Methode ist insofem fehlerhaft, als die Unterbindung der Karotiden 
und Vertebralarterien beim Hunde keineswegs, wie Hill gezeigt 
hat, zu einer Aufhebung der Blutzufuhr zum Grehim fiihrt, da noch 
andere Verbindungen zwischen den spinalen und GehimgefaBen 
existieren 8 ). 

Muller und Ott wahlten daher im Jahre 1904 4 ) bei ahnlichen 
Versuchen, die sie im Berliner physiologischen Institut anstellten, 
Kaninchen als Versuchstiere, bei denen solche GefaB-Anastomosen 
nicht bestehen, sondem bei denen eine Unterbindung aller vier zu- 
fiihrenden GefaBe des Gehims den Tod des Tieres bedingt. Bei 
ihren Durchspiilungen des Zentralnervensystems mit Ringerscher 
Losung, welche die Korperwarme besaB und der ausreichende 
Sauerstoffmengen zugesetzt waren, gelang es ihnen nicht, die 
Rindenteile des GroBhims am Leben zu erhalten. Die elektrische 
Erregbarkeit der GroBhimrinde erlosch sofort, sowie die Rin- 
gerlosung aus den Venen abfloB, obwohl tiefere Teile des Gehims 
noch erregbar waren. Giinstigere Erfolge hatten Guthrie, Pike und 
Stewart, welche ihre Resultate 1906 6 ) veroffentlichten. Sie ver- 
wendeten drei verschiedene Versuchsanordnungen. Bei Ersatz 
des Blutes durch Locke sche Losung erlosch sofort die Hirntatigkeit. 
Bei Durchstromung mit defibriniertem und mit Sauerstoff ange- 
reichertem Blute konnten sie beim Hunde 9 Minuten lang den 
Pupillar-Reflex erzielen. Die besten Resultate erhielten sie, als sie 
die Karotiden und Jugularvenen eines Hundes mit den zentralen 
Enden derselben GefaBe eines andem Hundes verbanden und dann 
den Kopf des ersteren vollstandig abtrennten. Der in Aether- 
narkose gehaltene zweite Hund versorgte dann auch das Grehim 
des abgeschnittenen Kopfes, und sie konnten bei einem solchen 
Versuche 27 Minuten lang den Pupillarreflex am abgeschnittenen 
Kopfe auslosen, ein Beweis dafiir, daB sicherlich das Grehim des 
vom Rumpfe getrennten Kopfes funktionsfahig war. 

Ferner hat im physiologischen Institut zu Turin Herlitzka 
erfolgreiche Versuche am kiinstlich durchbluteten Zentralnerven- 
system des Hundes angestellt 6 ). Mit der Verwendung vonTde- 


*) Ueber den EinfluB der Temperaturveranderungen auf die zentralen 
Enden der Herznerven. Bd. 8. Seite 342. 

») Pfliigers Arch. Bd. 77. S. 236. 

*) Hill, the cerebral circulation, London. 1896. S. 123—125. 

*) Arch. f. Physiol. 1904. Bd. 103. S. 493. 
s ) Americain Journal of Physiologie. 

•) Pfliigers Arch. 1911. Bd. 138. S. 185. 


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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 113 


fibriniertem Blut und einer komplizierten Purapeinrichtung hatte 
er MiBerfolge, dagegen gelang es ihm, das Herz selbst durch ent- 
sprechende Unterbindungen usw. fiir eine isolierte Durchstromung 
des Gehims zu verwenden. Er konnte Kornealreflex und Rinden- 
erregbarkeit bis zu einer Stunde und 50 Minuten unterhalten. Es 
zeigte sich dabei aber die interessante Tatsache, daB defibriniertes 
Blut, welches allein durch den Vorderteil des Korpers zirkuliert, 
unfahig wird, die Tatigkeit des Zentralnervensystems zu unter¬ 
halten. Herlitzka ist auBerstande zu entscheiden, ob Stoffwechsel- 
produkte des Zentralnervensystems, die normalerweise in anderen 
Korperorganen vernichtet werden, oder aber der Mangel an ge- 
wissen Bestandteilen, die an anderer Stelle gebildet werden und bei 
der kunstlichen Durchblutung ausfallen, an dieser Unfahigkeit 
Schuld sind. Jedenfalls gelang es Herlitzka mit seiner Methode, 
die schon erloschene Tatigkeit des Zentralnervensystems fiir kurze 
Zeit wieder zu beleben. Ich selbst habe beim Hunde im Jahre 1911 
sieben Versuche mit kiinstlicher Durchblutung angestellt. Ich 
verwendete dabei die Vorrichtungen, wie sie Netibauer und Grofi 
zu ihren Versuchen der kunstlichen Durchblutung der Leber 
gebraucht hatten 1 ). 

Ein durch einen Elektromotor zusammengedriickter Klyso- 
pomp stellt dabei das Herz dar. Es gelingt so in der Tat, die 
mechanischen Verhaltnisse des Kreislaufes in ausgezeichneter 
Weise nachzuahmen. Fiir die Durchstromungsversuche wurden 
ziemlich groBe Hunde verwendet. Die Zahl der StoBe des kiinst- 
lichen Herzens betrug 100—120 in der Minute und das Manometer 
verzeichnete Druckhohen um 160 mm Quecksilber. Als Durch- 
stromungsfliissigkeit wurde ausschlieBlich defibriniertes Hundeblut, 
das kurz vorher entnommen und wahrend der Durchstromung durch 
Einleiten von Sauerstoff in der von Neubauer und Grofi angegebenen 
Weise ausreichend arterialisiert wurde, verwendet. Die Blutzufuhr 
zum Gehim geschah durch die beiden Karotiden, als AbfluBwege 
wurden die Jugularvenen verwendet. Unter sieben Versuchen 
gelang es nur zweimal, eine gute Zirkulation durch das Zentral- 
nervensystem mit deutlicher Pulsation des an einer umschriebenen 
Trepanstelle vorliegenden Gehims zu erzielen. Der erste gelungene 
Versuch wurde mit einem Schaferhunde angestellt. Bei demselben 
war vorher in Narkose das Zentrum des Augen- und Mundfacialis 
durch faradische Rindenreizuug bestimmt worden. Nachdem 
Kaniilen in die Karotiden und Jugularvenen eingebunden waren, 
wurde rasch der Hals durchgeschnitten, mid der isolierte Kopf mit 
defibriniertem Blut durchstromt. Es gelang durch raches Anlegen 
von Schiebem, die Vertebralarterien und die anderen blutenden 
GefaBe der Halswunde zu versorgen. Das Blut trat mit einer 
Temperatur von 39 0 hellrot in das Gehirn ein und stromte dunkel 
gefarbt aus den Jugularvenen in das Reservoir zuriick. Es bestand 
also sicherlich ein guter Hirnkreislauf. Trotzdem blieb derKorneal- 


*) Ztschr. f. physiologischc Chemie. 1910. Bd. 67. S. 219, namentlich 
S. 222—227. 


8 * 


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114 


Berger. Ueber die Folgen 


reflex vollstandig erloschen, und auch die Erregbarkeit der GroB- 
himrinde kehrte nicht wieder. Ein zweiter Versuch, bei dem eben- 
falls ein dem natiirlichen entsprechender Kreislauf im Gehim 
erzielt wurde, wurde so angestellt, daB ein Hund, der nicht nar- 
kotisiert war, durch einen Beilschlag gekopft und die GefaBe an die 
kiinstliche Zirkulation angeschlossen wurden, wahrend man gleich- 
zeitig den Muskelstumpf fest umschniirte und auch die Blutung aus 
dem Knochen und dem Wirbelkanal zum Stehen brachte. Das Blut 
stromte bei einem Druck von 160 mm Quecksilber und mit einer 
Temperatur von 37,0° bis 37,8° in das Gehirn ein. Es fand, wie man 
auch da aus dem Farbenwechsel ersehen konnte, eine ausreichende 
Sauerstoffversorgung statt. Der Komealreflex kehrte nicht wieder 
und die Hirnrinde blieb in der Gegend des Facialiszentrums trotz 
deutlicher Pulsationen unerregbar. Beide Versuche haben also 
das gleiche negative Resultat ergeben, und es scheint auch nach 
den Beobachtungen anderer Untersucher hochst unwahrscheinlich, 
daB eine Wiederbelebung des Zentralnervensystems eines vom 
Rumpfe vollstandig getrennten Kopfes bei Durchstromung mit 
defibriniertem Blute und Verwendung eines kiinstlichen Motors 
moglieh ist. Am aussichtsvollsten erscheint noch die Versuchs- 
anordnung, bei der das Herz selbst als Motor fur die Unterhaltung 
des Kreislaufs dient. Natiirlich ist dadurch die Moglichkeit der 
experimentellen Untersuchung der Ernahrungsbedingungen des 
Zentralnervensystems des Warmbliiters eine sehr beschrankte. 
Jedenfalls geht das eine aus all diesen Versuchen hervor, daB eine 
geniigende Sauerstoffversorgung allein keineswegs ausreicht, um 
das Zentralnervensystem der Warmbliiter langere Zeit iiberlebend 
zu erhalten. Schon Ehrlich 1 ) hat darauf hingewiesen, daB das Gehirn 
und speziell die graue Rinde desselben neben dem Herzen am 
besten mit Sauerstoff versorgt wird und im Leben einen Sauerstoff- 
uberschuB besitzt. Nach dem Tode setzen sehr bald, beim Kaninchen 
schon oft nach zwei Minuten, Reduktionsvorgange in der Gehirn- 
rinde ein. 

Usui 2 ) behauptet zwar in seinen Untersuchungen, daB die 
Oxydationsprozesse im Zentralnervensystem nicht empfindlicher 
seien als die in anderen Zellen und findet, daB der Sauerstoffver- 
brauch desselben, absolut wie relativ, ganz die gleichen Verhaltnisse 
zeigt, wie bei Bakterien, Blutzellen und Leberzellen. Seine Unter¬ 
suchungen beziehen sich jedoch nur auf das Nervengewebe des 
Frosches und gestatten keineswegs ohne weiteres eine Uebertragung 
auf die Hirnrinde der Warmbliiter. 

Muller und Ott haben bei ihren oben erwahnten Versuchen 
beim Kaninchen auch festgestellt, daB in der wahrend des Lebens 
alkalisch reagierenden Hirnrinde sehr bald nach dem Tode eine 
saure Reaktion nachweisbar ist. In Einklang damit stehen die 


1 ) Das Sauerstoffbediirfnis des Organismus. Berlin. 1885. 
*) Pfliigers Arch. 1912. Bd. 147. S. 100. 


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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 115 

neuerlichen Feststellungen von Wertheimer und Duvillier 1 ), welche 
beim Hunde durch Injektionen von Lycopodium kiinstliche 
Anamien im Gebiete der GroBhirnrinde erzielten und durch 
systematische Priifungen der faradischen Erregbarkeit feststellen 
konnten, daB die Rinde und die weiBe subkortikale Substanz sofort 
nach der vollstandigen Anamie unerregbar werden. 

In gewissem Gegensatz zu diesen Feststellungen iiber das 
rasche Erloschen der spezifischen Funktion im Zentralnervensystem 
der Warmbluter stehen die Erfolge der Wiederbelebungsversuche 
bei unversehrtem Korper der Versuchstiere. Boehm 2 ) hat an Katzen 
experimentiert und Wiederbelebungsversuche nach Chloroform- 
vergiftung, nach Vergiftung mit Kalisalzen, Erstickung und Er- 
stickungen im Wasserstoffgas angestellt. Es ergab sich im wesent- 
lichen, unabhangig von der Todesart, das gleiche Resultat. Die 
Wiederbelebung wurde durch kiinstliche Atmung und Zusammen- 
driicken des Brustkorbes erzielt. Die Herztatigkeit setzte bis zum 
Beginn der Wiederbelebungsversuche 3 1 /,, 5 bis 9 Minuten aus. 
Je langer die Herztatigkeit ausgesetzt hatte, um so ungiinstiger 
waren die Resultate; jedoch wurde in einem Versuche, in dem erst 
10 Minuten nach dem Herzstillstand mit den Wiederbelebungs- 
versuchen begonnen war, und bei dem erst nach weiteren 9 Minuten 
das Herz wieder normal zu schlagen begann, noch ein voller Erfolg 
erzielt. Boehm teilt sehr ausfiihrlich die Folgen des Scheintodes an 
den wiederbelebten TierCn mit. Nach Riickkehr der Reflexe stellt 
sich eine bedeutende Steigerung der Reflexerregbarkeit iiberhaupt 
ein, die so hochgradig werden kann, wie nach Strychninvergiftungen 
oder im Tetanus. Sie schwindet nach mehreren Stunden; jedoch 
werden die willkiirlichen Bewegungen, namentlich der Vorderbeine, 
des Halses und Nackens noch oft von tonischen Krampfen der 
innervierten Muskeln begleitet. Die Bewegungen selbst sind 
unsicher und in den ersten Tagen ataktisch, die Beriihrungs- und 
Schmerzempfindlichkeit ist in den ersten Stunden vollstandig auf- 
gehoben und kehrt erst ganz allmahlich wieder. Bei einem Hunde, 
an dem auch diese Wiederbelebungsversuche angestellt wurden, 
war noch nach mehreren Wochen die Schmerzempfindlichkeit 
herabgesetzt. Alle wiederbelebten Tiere sind zunachst vollstandig 
blind bei normalem Befund am Augenhintergrund und deutlicher 
aber trager Reaktion der Pupillen auf Lichteinfall. Meist schwindet 
diese Blmdheit nach 2 bis 3 Tagen, kann aber auch wochenlang an- 
dauem. Auch eine Taubheit laBt sich meist, wenigstens fur den 
ersten Tag. nachweisen. Die Korpertemperatur ist eine subnormale 
und der Urin enthalt meist Zucker. Boehm fiihrt diese Ausfalls- 
erscheinungen auf einen langsamen und unvollstandigen Ausgleich 
der durch den Tod bedingten Funktionsstorungen der Rinde des 
GroBhims zuriick. Im Jahre 1900 hat Prus 3 ) ahnliche Wieder- 

x ) Soci4>t4 de biologie. 30. III. 1912. ref. Fol. neurobiologica. Bd 6, 
1912. 8. 269. 

*) Arch. f. experimented© Pathol. 1878. Bd. 8. S. 68. 

*) Wien. klin. Woch. 1900. S. 451. 


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116 


Berger. Ueber die Folgen 


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belebungsversuche an Hunden angestellt. Er wandte neben der 
kiinstlichen Atmung eine direkte Herzmassage an. Bei einem Hunde, 
bei dem eine Zeit von 6 Minuten zwischen dem Aussetzen der Herz- 
tatigkeit und dem Beginn der Massage verflossen war, bestand am 
ersten Tage nach der Operation groBe Schlafsucht, imd zeitweise 
traten klonische Zuekungen, besonders in den Vorderbeinen auf. 
Auch bei diesem Tiere fand sich eine hochgradige Beeintracbtigung 
des Seh- und Horvermogens, bestand femer eine Unsicherheit 
und Ataxie des Ganges, und war die Korpertemperatur eine sub¬ 
normal. Jedoch gingen die Erscheinungen sehon am dritten Tage 
zuriick. Die von Prus angegebene Methode der Herzmassage wurde 
dann auch sehr bald beim Menschen angewandt. und 1909 konnte 
Cachovic 1 ) bereits 46 Falle aus der Literatur zusammenstellen. Ein 
Erfolg war in 37 pCt. der Falle erzielt worden. Wenn erst 10 Mi¬ 
nuten nach dem Herzstillstand mit der Massage begonnen worden 
war, so waren die Wiederbelebungsversuche erfolglos geblieben. 

Seitdem ist die Herzmassage noch oft von chirurgischer Seite 
beim plotzlichen Todesfall, namentlich in der Narkose zur Ver- 
wendung gekommen. Ich selbst hatte vor kurzem Gelegenheit, 
in der hiesigen chirurgischen Klinik einen Kranken, der durch 
Wiederbelebungsversuche zunachst dem Tode entrissen worden 
war, zu untersuchen und nach seinem Tode das Zentralnerven- 
system zu durchforschen 2 ). 

Es handelte sich uni einen 15 jahrigen juiigen Menschen, bei dem im 
Verlauf einer Nierenoperation plotzlich in der Chloroformnarkose neich einer 
Dauer derselben von 20 Minuten und einem Chloroformverbrauch von 
15 ccm ein Herzstillstand eingetreten war. Da sich eine indirekte Herz¬ 
massage unwirksain erwdes, wurde die Eroffnung des Zwerchfells vor- 
genommen und eine direkte Herzmassage noch innerhalb 10 Minuten 
nach Aussetzen des Herzschlags begonnen. Die Herztatigkeit setzte nach 
1 Stunde und 30 Minuten wieder ein, und die kiinstliche Atmung konnte auf- 
gegeben werden. 1 Stunde spater erwachte der Knabe aus der Narkose, 
sprach nach einigen Stiuiden wenige Worte und reagierte auf Aufforderungen 
mit entsprechenden Bewegungen. Ich sah den Patienten am nachsten 
Vormittag; er lag mit geschlossenen Augen tief benommen im Bett, ree^- 
gierte nicht auf Anruf, hatte allerdings auch etwa eine Stunde vor her 
etwas Morphin erhalten, da er am Morgen anscheinend Schmerzen hatte. 
Meine Untersuchung ergab, daB die Pupillen ziemlich eng waren und auf 
Lichteinfall etwas trage reagierten, was wohl auch auf die verabreichte 
Morphiumdosis bezogen werden konnte. Die gesamte Muskulatur war 
schlaff, und irgendwelche tonischen Krampfe lieBen sich nicht nachweisen. 
Die Gesichtsmuskulatur wurde gleichmaBig iimerviert; die Sehnenreflexe 
an Armen und Beinen, namentlich die Kniephanome, waren deuthch ge- 
steigert, jedoch bestanden keine Andeutungen von Klonus imd vor allem 
fehlte auch das Babinski&che Phanomen vollstandig. Die Plantarreflexe 
waren von mittlerer Starke. 

Am Abend desselben Tages, nachdem der Patient viele Stunden 
morphinfrei geblieben wen*, erhob ich den gleichen Befund. Er war voll- 
st&ndig somnolent, reeigierte auf keinen Reiz, Pupillen undReflexe waren wie 


1 ) Arch. f. klinische Chirurgie. 1909. Bd. 88. 

*) Ich mochte auch an dieser Stelle Herrn Kollegen Wrede, der mir 
die Untersuchung dieses Falles, iiber den er auch auf der Naturforscher- 
versammlung in Mlinchen berichtet hat, iiberlassen hat, meinen beaten Dank 
aussprechen. 


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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 117 


am Morgen. Nachdem der Kranke noch 2 Tage in diesem Zustand verharrt 
hatte, trat der Tod ein. 

Gehim und Riickenmark wurde bei der wenige Stunden nach dem 
Tode stattfindenden Sektion, welche eine fibrinos eitrige Pericarditis und 
achwere Herzveranderungen ergeben hatte, sofort in 20 proz. Formalin- 
losung eingelegt und rnir zur Untersuchung iibergeben. 

Die makroskopische Durchsicht des Gehimes ergab folgendes: das 
Gehim ist von normaler GroBe, die Himh&ute sind zart, in den Maschen des 
Subarachnoidalgewebes findet sich nur wenig Fliissigkeit. Rinde und Mark 
des GroBhimes sind deutlich voneinander geschieden, und auch die Seiten- 
kammem sind ebenso wie der 3. und 4. Ventrikel nicht erweitert. Ueber der 
linken Gehimhalfte findet sich in der Gegend der vorderen Zentralwindung 
in der Nahe der Mantelkante neben einer Pachionischen Granulation eine 
kleine, zirka 1 nun im Durclunesser haltende Blutung zwischen Pia und 
Arachnoidea. Ein etwa gleichgroBerBluterguB findet sich unter dem Ependym 
des linken Unterhoms und ein etwas groBerer BluterguB in der Nachbar- 
schaft einer groBeren strotzend gefiillten Vene im Gewebe des Balkens, etwa 
in der Hohe seines Knies. Weitere Blutherde lieBen sich auch bei genauester 
Durchsicht in den iibrigen Teilen des Zentralnervensystems, die ein voll¬ 
standig normales Aussehen darboten, nicht nachweisen. 

Die mikroskopische Untersuchung wurde an Pr&paraten, die mit 
Thionin, mit Seifenmethylenblau, mit Hamatoxylineosin und nach der 
Methode von Bielschowski gefarbt worden waren, durchgefiihrt. Die Unter¬ 
suchung der groflen Zellen eines Spinalganglions der Lendenanschwellung 
ergab einen vollstandig normalen Befund. und ebenso konnte an den Vorder- 
homzellen des Riickenmarks in der Lenden- und Halsanschwellung weder 
an den Nisslpraparaten noch mit der schon gelungenen Fibrillenmethode eine 
Abweichung vom normalen Befund festgestellt werden. Auch die GefaBe des 
Riickenmarks, seine Hiillen und die weiBe Substanz erschienen normal. 
Schnitte durch das verlangerte Mark in der Hohe der Vagushypoglossuskenie 
und ebenso in der Hohe des Facialiskemes ergaben vollstandig normals Zell- 
bilder. Auch die beiden Kerne des Vagus wiesen Zellen auf, wie sie sich 
beim Normalen finden. Die groBen Zellen des Facialis- und Hypoglossus- 
kemes boten prachtige Nisslbilder dar. Dagegen fanden sich in der Hohe des 
Facialiskemes, medialwarts von der aufsteigenden Trigeminuswurzel ein 
mikroskopisch erkennbares kleinzelliges Infiltrat und konnte in derselben 
Hohe ein weiBer Thrombus in einer kleineren Arterie, die zu dem GefaB- 
gebiete der Arteria basilaris gehorte, nachgewiesen werden. In der Hohe 
der Vaguskeme fand sich ebenfalls auf der linken Seite lateral vom Nucleus 
ambiguus ein eben erkennbares kleinzelliges Infiltrat. Die Zellen der Grofl- 
himrinde, namentlich die Riesenpyramidenzellen der vorderen Zentral¬ 
windung und des Lobulus paracentralis zeigten ein vollstandig normales 
Aussehen; dieNisslschollen waren gut entwickelt, der Kem stand ausnahms- 
los zentral, und auch die intrazellularen Fibrillen, welche bei Krankheits- 
prozessen doch zuerst zu schwinden pflegen, w€u*en vollstandig normal. 
Auch im Occipitallappen, im Stimhim und im Schlafenlappen konnten 
krankhafte Veranderungen der Rindenzellen nicht nachgewiesen werden, 
und das Marklager lieB nirgends etwc^ Pathologisches erkennen. Die Ge¬ 
faBe der weiBen und grauen Substanz waren iiberall stark geflillt. namentlich 
waren die Venen oft bis ziim Platzen ausgedehnt, jedoch konnten nirgends 
Blutaustritte oder auch kleinzellige Infiltrate, wie wir sie in der Medulla 
oblongata gefunden haben, festgestellt werden. Schnitte durch die kleine 
Blutung iiber der vorderen Zentralwindung ergaben, daB das Blut aus einer 
zerrissenen Vene stammte. Die erwahnte Blutung in der Gegend des 
Balkenknies zeigte bei mikroskopischer Durchsicht der Praparate, daB 
es sich da um einen groBeren Blutaustritt aus einem zerrissenen venosen 
GefaB handelte. Das Blut hatte das Balkengewebe zertriiimnert und sich 
in Gewebsspalten ziemlich weit verbreitet. Mehrere kleinere GefaBe ent- 
hielten im Innem Thromben und waren von der Blutung umgeben. Irgend- 
welche reaktive Erscheinungen von seiten des Nervengewebes waren nicht 
nachweislmr. Der Befund an der kleinen Blutimgsstelle im linken Unterhorn 


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Berger. Ueber die Folgen etc. 


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war im wesentlichen der gleiche. Eine offenbar durch einen Thrombus ver- 
schlossene Vene, welche in der Mitte des Blutergusses liegt, hat bei ihrer Zer- 
reifiung das Blut ergossen. welches das Gewebe zertriimmert und das 
Ependym abgehoben hat. Auch hier fehlen sekundare Veranderungen der 
geschadigten Gewebe vollstandig. Wirfinden also mehrfache, allerdings nur 
kleine Blutungen, welche durch ZerreiB ungen von. Venen, in denen eine 
Thrombose eingetreten war, bedingt sind. 

Aus den interessanten Untersuchungen von Thacker 1 ) kennen 
wir den EinfluB einer plotzlichen Stauung auf die verschiedenen 
Korperorgane. Er fand, daB das Gehirn und die Leber bei einer 
experimentellen Behinderung des Abflusses nach dem rechten 
Vorhof sofort deutlich an Volumen zunahmen, wahrend die Niere, 
die Milz und die Extremitaten eine Volumenabnahme aufwiesen. 
Er erklart den Befund durch eine starke venose Stauung, die im 
Gehirn und in der Leber auftritt, wahrend in den andem Organen 
eine aktive Kontraktion der Arterien erfolgt. Seine Versuchs- 
anordnung entspricht dem, was wir beim Menschen bei einer akuten 
Herzinsufficienz zu erwarten hatten. Wir konnen daher unbedenk- 
lich diese experimentellen Ergebnisse auf unseren Fall ubertragen. 
Das plotzliche Aussetzen der Herztatigkeit hat zu einer starken 
venosen Stauung im Gehirn gefiihrt. Es ist auch an verschiedenen 
Stellen zu Thrombenbildungen gekommen, und hochstwahrschein- 
lich hat die direkte Herzmassage mit den weiteren Steigerungen 
des Druckes im GefaBsystem zu diesen kleinen ZerreiBungen 
gefiihrt. Im Gegensatz zu den kleinen aber doch dauemden 
organischen Veranderungen des Zentralnervensystems, welche 
durch diese Blutungen bedingt sind, sind die zelligen Elemente 
vollstandig normal. Damit in Einklang steht auch die Beob- 
achtung, daB der Patient am Morgen nach der Operation durch 
Anruf geweckt werden konnte und sich zweifellos BewuBtseins- 
vorgange bei ihm abspielten, da er auf Fragen, wenn auch unvoll- 
kommen Antwort gab. Auch das Ergebnis meiner LTntersuchung 
spricht dagegen, daB etwa durch die voriibergehende Anamie eine 
unausgleichbare Schadigung der GroBhirnrinde geschaffen worden 
sei. Die motorischen Zentren, speziell diejenigen Elemente, welche 
den Ursprung der Pyramidenbahn darstellen, waren jedenfalls 
funktionsfahig, denn sonst hatte das Babinski&che Phanomen auf- 
treten miissen. Diesem klinischen Befimd entspricht auch das 
Ergebnis der histologischen Untersuchung. Die Nervenzellen imd 
vor allem auch die Zellen der Himrinde lassen keine Veranderungen 
bei unseren Farbungen erkennen. Nun wissen wir allerdings, daB die 
Neurofibrillen, und zwar auch die intrazellularen, welche am 
friihesten geschadigt zu werden pflegen, bei experimentellen Ein- 
griffen eine groBe Widerstandsfahigkeit zeigen, so daB es uns nicht 
verwundem darf, wenn wir mit der Bielschowskifarbung keine 
Veranderungen nachweisen konnten. Die Zellen konnen trotz des 
normalen Fibrillenbildes schwer geschadigt sein. Wir wissen aber 
femer, daB das Aequivalentbild der Zelle, wie wir es bei der 

l ) Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1909. Bd. 97. S. 104. 


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B o 11 e n , Pathogenese unci Therapie der genuinen Epilepsie. 119 

Nissl-Farbung erhalten, sehr viel empfindlicher ist gegen die ver- 
schiedensten Schadigungen und uns sehr friihzeitig krankhafte 
Veranderungen zu erkennen gestattet. So hat z. B. Belilzki 1 ) 
schon 20 Minuten, nachdem er die Aorta mit einer Schieber- 
pinzette zugeklemmt hatte, beim Kaninchen den Zerfall der 
Nissikorper an den Vorderhornzellen erkennen konnen, wahrend 
man das Fibrillenbild der Vorderhornzellen nach den Unter- 
suchimgen von Scarpini noch normal findet, selbst wenn die 
Anamie langereZeit angedauert hat, und alle Nis lschollen langst 
zerfallen sind. Wir haben aber weder an den Zellen der Hirnrinde, 
noch an den Zellen der Kerne der Medulla oblongata, an den Vorder- 
homzellen des Riickenmarks, an den Spinalganglienzellen Ab- 
weichungen des normalen Aequivalentbildes auffinden konnen, 
so daB wir wohl mit Recht annehmen miissen, es kann sich im vor- 
liegenden Falle nur um funktionelle, also ausgleichbare, Storungen 
der zelligen Elemente des Zentralnervensystems gehandelt haben. 
Bei einem Weiterleben des Patienten, der seinen schweren Herz- 
veranderungen erlag, waren dauernde Schadigungen in dieser 
Richtung nicht zu erwarten. Erscheinungen von tonischen 
Krampfen, wie sie im Tierexperiment auftreten, und wie sie auch 
gar nicht so selten bei wiederbelebten Erhangten beobachtet 
wurden 2 ), traten bei diesem Patienten nicht in Erscheinung, wohl 
weil die Anamie der Grollhirnrinde doch nur eine verhaltnismaBig 
kurze war und schon bald durch die Herzmassage eine Kimzir- 
kulation wieder hergestellt wurde. 


Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

Von 

Dr. G. C. BOLTEN 

in Haag. 

Jetzige Auffassungen. 

Von den zahlreichen Ansichten iiber Wesen und Entstehen 
der Epilepsie, die im vorigen Jahrhundert ein so groBes Ansehen 
genossen batten, ist jetzt wenig oder nichts mehr iibrig. GroBen 
EinfluB haben die Untersuchungen gehabt u. a. von Kufimaul 
und Tenner, die in den BlutgefaBen und in den GefaBnerven die 
Ursache suchten: ,,Es ist wahrscheinlich, daB gewisse Formen 
der Fallsucht in einem Krampf der GefaBmuskeln der Gehim- 
arterien beruhen,“ und: ,,die Medulla oblongata scheint als Ur- 


') Ref. Neurol. Zbl. 1900. S. 854. 

*) WoUenberg, Arch. f. Psych. 1898. Bd. 31. S. 241. 


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120 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

sprungsstelle der Glottisverenger und der vasomotorischen Nerven 
haufig der Ausgangapunkt eklamptischer und epileptischer An¬ 
falle darzustellen." DaB bei dem epileptischen Anfall Gefafi- 
krampf auftritt, ist sehr wahrscheinlich, doch als Fblge und nicht 
als Ursache der Krankheit. Von den jetzigen, mit mehr oder 
weniger Autoritat bekleideten Schriftstellem halt nur noch allein 
Turner an der Ansicht fest, daB die Ursache der Epilepsie in dem 
BlutgefaBsystem zu suchen ist: er fand namlich bei einer groBen 
Anzahl Epileptiker (41) post mortem stets dieselben Abweichungen, 
und zwar eigentiimliche Stockungen in den kleinsten GefaBen 
(dabei auch verschiedene Veranderungen im Gehimgewebe), und 
daraufhin hat er den Stockungskoeffizienten des Blutes bestimmt 
bei Epileptikem und bei Gesunden, und er fand, daB die Stockung 
des Blutes der Epileptiker um so schneller eintrat, je naher die 
Patienten sich einem Anfall gegeniiber befanden, und es wurde also 
flugs die Theorie aufgebaut, daB Epilepsie entsteht bei Personen 
mit pradestinierten Gehimen, durch Neigung zur Trombose- 
bildung in den kleinsten RindengefaBen. Auch ein Jahr spater 
verteidigte er diese Theorie aufs neue, wobei er nur einen kleinen 
Vorbehalt machte, daB namlich bei solchen, die an selteneren An- 
fallen litten, der Stockungskoeffizient allein eben vor und wahrend 
des Anfalles erhoht wurde. Turners Theorie wurde iibrigens 
weder klinisch, noch pathologisch-anatomisch, durch keine einzige 
Tatsache oder Warhnehmung selbst nur wahrscheinlich gemacht, 
das will sagen, bewiesen. Merkwiirdig ist sicherlich, daB Btsta 
gerade fand, daB die Stockung des Blutes der Epileptiker ver- 
mindert ist, was er der verringerten Wirkung des Fibrinferments 
zuschreibt, welche auf der zu gering vorhandenen Menge von Kalk 
beruht, einem der notwendigsten Elemente des Fibrinferments. 
Natiirlich hat Besta unmittelbar eine Theorie bereit: ,,Epilepsie 
ist eine Dyskrasie, wobei der Mangel an Kalksalzen die Ursache 
der Krampfe ist!“ Ebenso steht es mit den Auffassungen von 
Hallager und von 'Russell, die die Anfalle einer Gehimanamie 
zuschreiben; der letztere meint wahrgenommen zu haben, daB vor 
dem Anfall der Puls oft aussetzt; diese Auffassung entbehrt jeder 
Begrundung. Munson hat denn auch durch ausfiihrliche Unter- 
suchungen Russells Auffassungen griindlich widerlegt. 

Wie wohl beinahe selbstverstandlich ist, hat die Neigung, 
iiberall Mikroben zu suchen, auch ein paar Epilepsieforscher 
angesteckt: Bra meint bei nicht weniger als 70 Epileptikem einen 
Micrococcus im Blute gefunden zu haben; er ist in den anfalls- 
freien Zeiten sehr selten im peripheren Blute, dagegen wahrend 
der Anfalle sehr zahlreich; Bra vergleicht dann auch Epilepsie 
mit Malaria: die Anfalle der ersteren sollten dann iibereinstimmen 
mit den Fieberanfallen der letzteren. Die neue Mikrobe wird aus- 
fiihrlich beschrieben und abgebildet und ,,Neurococcus" genannt; 
selbst werden ihr verschiedene Eigenschaften angedichtet (leicht 
zu ziichten bei 34—37° C, aerob usw.). Natiirlich sind Bras Auf¬ 
fassungen von alien Seiten heftig bestritten; doch noch im Jahre 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 121 

1905 hielt Bra seine Meinung aufrecht und versuchte seine An- 
greifer ausfiihrlich zu widerlegen. 

Und noch ganz kiirzlich tat Lion, sei es auch nur beilaufig, 
die Moglichkeit einer Spirillose als der Ursache der Epilepsie dar, 
und solches auf Grund von angeblichen guten Resultaten, die er 
mit einem Arsenikpraparat erlangt haben will. Sein Beweis ist 
jedoch zu oberflachlich und so ganzlich von Argumenten und Be- 
weisgriinden entbloBt, als daB er als emst gemeint beschaut 
werden konnte. 

AuBer diesen kurz gemeldeten und auf sich selbst stehenden 
Anschauungen eines einzelnen Schriftstellers finden wir die 
heutigen Auffassungen in zwei Lager verteilt; namlich in das der 
Kliniker und das der pathologischen Anatomen, d. h. derjenigen 
(kurz Kliniker genannt), die iiberwiegend die klinischen Wahr- 
nehmungen und Erfahrungen beriicksichtigen, ohne sich viel um 
die Funde der pathologischen Anatomen zu bekiimmem; sie 
hangen iiberwiegend der Auffassung an, daB Epilepsie eine Auto- 
intoxikation ist von bisher unbekanntem Ursprunge, wahrend dem 
diametral eine groBe Gruppe von Forschem gegeniibersteht, die 
von keiner Intoxikation wissen wollen und die gut verstandlichen 
Ergebnisse der pathologischen Anatomie als Ausgangspunkt der 
Pathogenese der Epilepsie zu nehmen wiinschen. 

In der Tat sind, dank einer groBen Reihe wichtiger Unter- 
suchungen wahrend der letzten 20 Jahre, die im Gehim auftretenden 
Abweichungen nun sehr gut bekannt, und es hat sich dadurch 
ein bestimmter Teil des Krankheitsbildes stark seiner Vollendung 
genahert. Chaslin war wohl der erste, der in dieser Richtung einen 
tiichtigen Schritt voraus tat: er fand bei einem groBen, aus der 
Klinik von Fire herstammenden Material bei mikroskopischer 
Untersuchung (und bei An- oder Abwesenheit von makroskopisch 
wahmehmbaren Abweichungen) Veranderungen in den Rinden- 
elementen, die in der Tat vollkommen iibereinstimmen mit einem 
leichten Grade von Gliawucherung, also Vermehrung der Glia- 
fasem und der Gliazellen. Das vermehrte und hypertrophische 
Glianetz bildete an vielen Stellen groBe kompakte Biindel; in 
den GefaBen im allgemeinen keine Veranderungen, nur hier und 
da eine hyaline Degeneration der Kapillarwande. Makroskopisch 
waren die Windungen meistens vferschrumpelt, klein, hart, glatt 
oder gekerbt, ohne Verklebungen mit der sonst normalen Pia. 
Diese Veranderungen erstreckten sich iiber einen sehr wechselnden 
Teil der Gehimrinde, auffallend oft waren die Ammonshorner 
und die Medulla oblongata mit affiziert, wahrend andere Teile 
ganzlich frei blieben. Chaslin hielt den ProzeB fiir eine rein 
ektodermale, gliose Wucherung, die er jedoch als die Folge und 
nicht als die Ursache der Epilepsie ansieht; iibrigens auBert er 
wiederholt als seine Meinung, daB die Hypothese iiber die Auto- 
intoxikation noch ganz unbewiesen ist. 

Nach Chaslin, der bereits im Jahre 1890 seine Mitteilungen 
iiber die Gliawucherungen in der Gehimrinde veroffentlichte 


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122 B o 11 e n , Pathogenes© und Therapie der genuinen Epilepsie. 


(Annales m^dico-psychol. 1890), haben eine ganze Reihe Forscher 
den durch ihn eingeschlagenen Weg weiter verfolgt und seine 
Funde bestatigt und weiter ausgedehnt, so u. a. Bratz , Alzheimer , 
Weber , Pohlmann , Lubimow , Marinesco , Heboid , Hajos , Orloff , 
C7ar& und Prdut , Jolly, Worcester und viele andere. Fassen wir 
ihre Untersuchungen, die alle beinahe gleiche Ergebnisse lieferten, 
zusammen, so konnen wir sagen, daB bei an Epilepsie leidenden 
Patienten post mortem oft gefunden sind: ausgebreitete diffuse, 
degenerative Erscheinungen in der Gehimrinde, die in sehr aus- 
einanderlaufenden Teilen der Rinde auftreten, und oft das Am- 
monshom (an einer oder beiden Seiten) treffen und in einer deut- 
lichen Wucherung der Gliaelemente bestehen (Fasern und Zellen), 
femer zahlreiche Heine Blutungen in der Rinde, allesErscheinungen, 
die die Vemichtung der wesentlichen Elemente (Ganglienzellen, 
Assoziationsfasem, Projektionsfasem) in der Form einer komigen 
Degeneration begleiten (Kleinerwerden der Zellen, Zellenkeme 
stark zusammengeschrumpft oder ganz verschwunden, Chromatine 
feinkomig degeneriert, die Dendridenfortsatze manchmal zer- 
brockelt). 1st das Ammonshom zu gleicher Zeit angegriffen, so ist 
nicht seltenEntzundung der Fascia den tata unddesEpendymsdabei, 
so daB dann gleichzeitig Hydrocephalus intemus entsteht. Weiter 
werden viele GefaB veranderungen (Bindegewebewucherungen, 
hyaline Degeneration usw.) und auch Sklerose des Uncus unddes Cor¬ 
pus mammillare, und Blutungen imPons und in den Ammonshomem 
— eine Folge der GefaBveranderungen und des erhohten Druckes 
wahrend der Anfalle — regelmaBig gemeldet. Von den jiingsten 
Untersuchungen sind noch sehr erwahnenswert die von Eisath 
und von Lafora; der erste fand an erster Stelle die diffuse Glia- 
wucherung (oftmals angedeutet mit dem Namen ,,Randgliose“), 
weiter perivaskulare Korperchen, amoboide Zellen und Ver- 
schwinden der Komer; merkwiirdig sind dabei rasenartige Wuche- 
rungen der Weigert&chen und Plasmafasem, besonders im Mark: 
weiter Veranderungen im kleinen Gehim, wodurch Eicath die 
Zwangbewegungen der Epileptiker zu erklaren vermeint. Lafora 
fand Corpora amylacea an Stellen, wo sie bis jetzt noch nicht 
bekannt waren, namlich sowohl in zahlreichen Ganglienzellen 
als in Gliazellen und auch frei im Gewebe liegend; bisweilen 
fand er 7 Corpora amylacea in einer Zelle, die Nifils chen Komer 
waren oftmals noch vorhanden und lagen rund um die Corpora 
amylacea, wodurch sie offensichtlich weggedriickt wurden. Das 
Auffinden der Corpora amylacea (Abfallprodukte von sehr ver- 
schiedenen Elementen) bestatigt naher den Untergang der ner- 
vosen Elemente der Gehimrinde. 

So wichtig all diese Ergebnisse auch fur die Kenntnis der bei 
der Epilepsie moglich vorhandenen Veranderungen im Gehirn 
sein mogen, iiber die Pathogenese der Epilepsie lehren sie uns nichts; 
da sie nicht im allergeringsten Antwort geben auf die Frage: 
post oder propter. Und wenn auch Bregmann (auf Grund von 
Resultaten bei operativer Behandlung), Heboid , Bratz , Worcester 


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Bolten. Pathogeneee und Therapie der genuinen-Epilepsie. 123 

und viele andere die hier geschilderten pathologisch-anatomischen 
Abweichungen fur primar halten, so fallt es doch sehr leicht, 
nachzuweisen, daB alle genannten Veranderungen sekundar, 
also die Folge und nicht die Ursache der Epilepsie sind. Der 
beruhmte Psychiater Esquirol sprach sich bereits im Jahre 1838 
dariiber in folgenden Worten aus: „Avouons franchement que 
les travaux de l’anatomie pathologique n’ont repandu jusqu’ici 
aucune lumiere sur le siege immediat de l’epilepsie. Cependant 
il ne faut pas se decourager: la nature ne sera pas toujours rebelle 
aux efforts de ses investigateurs." Wie wenig wird Esquirol wohl 
geahnt haben, daB diese Worte im Jahre 1912, also beinahe drei- 
viertel Jahrhunderte spater, noch ebenso viel Wahrheit enthalten 
sollten! 

Gleichwohl, wie Bouche, Birmccmger imd viele andere behauptet 
haben, sind alle hier beschriebenen Abweichungen alles andere 
als konstant bei Epilepsie; sie kommen nur bei den sehr chronischen 
Fallen vor, die in eine totale, sekundare Dementia verfallen sind, 
wahrend in den Fallen, wo die Epilepsie nur seit kurzer Zeit 
bestand, und die an interkurrierenden Krankheiten starben, 
lange bevor Dementia auftrat, nichts von alldem zu finden ist. 
Es steht damit genau so wie bei Alkoholpsychosen: Stirbt jemand 
an einer akuten Alkoholvergiftung (ohne daB eine chronische vor- 
hergegangen ist), so findet man in der Gehimrinde nichts; bei 
chronischem Alkoholismus, soweit dieser wenigstens einige De¬ 
mentia verursacht hat, dagegen Abweichungen (u. a. auch Glia- 
wucherung und Untergang der essentiellen Rindenelemente), die 
viel Ahnlichkeit mit der Randgliose der Epilepsie haben, aber 
weniger intensiv sind als bei letzterer. 

Nun hat zwar Bratz die Ansicht verkiindet, daB die ausfiihrlich 
von ihm beschriebenen Veranderungen in den Ammonshomem 
— kurz Sklerose genannt — primar und spezifisch fur die Epilepsie 
seien, weil sie bei anderen Psychosen nicht vorkommen (er wollte 
sie u. a. nicht haben nachweisen konnen bei vielen an Dementia 
paralytica, Hysterie, Gehimtuberkulose und Dementia senilis Leiden- 
den, noch bei Normalen, wahrend sie allein bei den Paralytikem 
vorhanden sein konnen, die an epileptiformen Anfallen litten), 
doch viele andere Forscher entkrafteten durch ihre Fimde diese 
Auffassung ganz und gar. 

So fand z. B. Orloff bei Epileptikem Veranderungen in der 
Gehimrinde (Randgliose), die seiner Meinung nach vollkommen 
ubereinstimmen mit den Gliawucherungen bei Dementia senilis, 
Dementia paralytica, chronischem Alkoholismus usw. Und bei 
der sogenannten Alzheimerschen Krankheit, einem Symptomen- 
komplex, wobei zwar seltsame epileptiforme Anfalle vorkommen, 
die aber nichts mit echter Epilepsie zu tun haben, findet man 
bestandig als Hauptkennzeichen eine sehr deutliche Randgliose. 

AuBerdem, und darauf muB die Aufmerksamkeit gelenkt 
werden, ist die Ammonshomsklerose bei weitem kein fest- 
stehendes Ergebnis fiir echte Epilepsie; Orldff fand sie nur in einem 


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124 B o 11 e n , Fathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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von seinen vier Fallen, und merkwiirdig ist sicherlich, daB Bratz, 
der dieser pathologisch-anatomischen Abweichung solch eine 
wichtige Rolle zuschreibt, sie nur in ungefahr der Halfte seiner 
Falle nachweisen kann. Andere Forscher finden dasselbe oder 
ein noch schlechteres Verhaltnis. Pohlmann findet die Ammons- 
hornsklerose nur in 46 von 113 Fallen, Worcester in 20 von 43 
Fallen; Clark und Proitt geben sehr ausfiihrliche Beschreibungen 
der Randgliose, sprechen aber nicht von Ammonshornsklerose; 
auch Eisath fand diese Veranderung nicht. 

Auch die Randgliose steht nicht sehr fest; so fand z. B. More 
Alexander bei Epileptikem in der Rinde keine Abweichungen. 

Vermeldet sei hier noch, dafl Marchand den Fall eines Mannes 
beschrieben hat, der mit 26 Jahren zuerst Erscheinungqn der 
Epilepsie zeigte und zwei Jahre spater starb; Marchand hatte 
Gelegenheit, die ganze Gehimrinde eingehend zu untersuchen. 
Mit der Weigerlschen Neurogliafarbung konnte er jedoch nirgends 
eine nennenswerte Vermehrung des Gliagewebes feststellen. So 
wie sich wohl von selbst versteht, will Marchand dann auch nichts 
von einer primaren Randgliose, als Ursache der echten Epilepsie, 
wissen. 

Claude und Schmiergeld machen ausfiihrliche Mitteilungen 
iiber 17 Falle, die sie pathologisch-anatomisch untersuchen konnten; 
nur bei 7 waren in den Gehimen Abweichungen zu finden, wahrend 
bei 10 jugendlichen Patienten, die alle in einem Status epilepticus 
gestorben waren, sowohl Randgliose als auch Ammonshom- 
sklerose fehlten. 

Zieht man dann noch in Betracht, daB Pighini, Hermann u. A. 
auBerdem noch deutliche (sekundare) Blutungen in den Ammons- 
homern beschrieben haben, daB Creite von multipeln, kleinen 
Angiomen spricht, die er in der Gehimrinde fand, und daB Steiner 
bei einem 34 jahrigen Epileptiker ein umschriebenes Gliom in 
der Rinde fand und eine diffuse, typische Chaslinsche Gliose (die 
am starksten war in urimittelbarer Nahe des Glioms), und daB 
Steiner dabei sowohl dem Gliom als auch der diffusen Gliawuche- 
rung dieselbe atiologische Rolle hinsichtlich der Epilepsie zu¬ 
schreibt, und daB Astwazaturow Zusammenhang sucht zwischen 
Epilepsie und Gliom der Ammonshomer, kombiniert mit Tumoren 
des Schlafenlappens, so leuchtet uns doch wohl die auBerordentlich 
groBe Verschiedenheit der pathologisch-anatomischen Befunde ein, 
eine Verschiedenheit, die sowohl qualitativ wie quantitativ so groB 
ist, daB dadurch die Annahme eines primaren Gehirnleidens als 
Ursache der Epilepsie viel an Glaubwiirdigkeit und Wahrscheinlich- 
keit verliert. Gleichwohl kann zum Schlusse kein Forscher, sei 
er auch ein noch so eifriger Verfechter der rein cerebralen 
Pathogenese der Epilepsie, folgende zwei Satze widerlegen oder 
ihnen widersprechen: 1. Die zwei Gruppen der meist kennzeich- 
nenden pathologisch-anatomischen Abweichungen in cerebro 
namlich die Ammonshornsklerose und die Randgliose, werden 
allein in sehr chronischen Fallen angetroffen, die wahrend des 


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Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 125 


Lebens eine deutliche sekundare Dementia zeigen; bei jungen 
Fallen kommen sie fiberhaupt nicht vor. 2. Umgekehrt sind die 
Ammonshomsklerose und die Randgliose durchaus nichts Spe- 
zifisches fiir Epilepsie, da die Randgliose ohne Ausnahme bei 
alien moglichen Psychosen vorkommt, wobei Dementia auftritt 
(Dementia praecox, Dementia senilis, Dementia paralytica, Alkohol- 
dementia, Alzheimer&che Krankheit usw.). Randgliose weist 
dann auch auf das Bestehen irgendeiner nicht angeborenen Defekt- 
psychose hin. 

Auf Grund dieser Tatsachen muB als vollkommen feststehend 
angenommen werden, daB die bei Epilepsie gefundenen Ab- 
weichungen, namlich die Ammonshomsklerose und die Randgliose 
die Folge und nicht die Ursache der Krankheit sind. Mit Bbuche 
und vielen anderen miissen wir die Ursache denn auch ganz auBer- 
halb des zentralen Nervensystems suchen; es ist denn auch kein 
einziger Grund gegeben, die Epilepsie einzureihen zwischen die 
Meningo-Encephalitis, die Porencephalie und die cerebrale Kinder- 
lahmung. 

Bouche wiederholt denn auch den soeben genannten Aus- 
spruch seines beriihmten Landsmannes Esquirol in anderen 
Worten: ,,La cause intime, active de la maladie, c’est k la physio¬ 
logic qu’il faut la demander et non a l’anatomie. Celle-ci ne fait 
que l’archeologie morbide.“ 

Auch darauf muB hingewiesen werden, dass oft die Sache 
erschwert wurde dadurch, daB manche Forscher keine Grenze zu 
ziehen wuBten zwischen genuiner (essentieller) Epilepse und der 
symptomatischen oder Rindenepilepsie. So meldet z. B. Marchand, 
daB er regelmaBig ein Verwachsen der Pia mater mit der Gehim- 
rinde antraf, und daB darauf die Krankheitserscheinungen beruhen. 
Dies ist vollkommen richtig, doch er vergiBt, daB er es in diesen 
Fallen mit den Folgen einer fiberstandenen Meningitis und nicht 
mit genuiner Epilepsie zu tun hat. 

Gibt die pathologische Anatomie uns also keine Fingerzeige 
fiber Ursprung und Wesen der Epilepsie, so konnen die klinischen 
Erscheinimgen uns etwas lehren durch Vergleichung mit anderen 
Krankheiten, bei denen Anfalle vorkommen, und auch die Tier- 
versuche konnen dazu etwas beitragen; stellen wir dann voran, daB 
bei frischen Fallen von Epilepsie keine Abweichungen in cerebro 
bestehen, so werden wir durch die klinischen Erfahnmgen wohl 
gezwungen zu der Auffassung, daB* Epilepsie eine chronische Ver- 
giftung ist. Gleichwohl, bei zahlreichen chronischen Vergiftungen 
kommen epileptiforme Anfalle vor, so u. a. bei Bleivergiftung, 
bei Pellagra, bei Santoninvergiftung, bei chronischem Alkoholismus, 
bei Absinth- und Tabakvergiftung, bei Acetonamie bei Kindem, 
bei Diabetes im letzten Stadium, bei Uramie und bei Eklampsie, 
bei Vergiftung mit Tribromkampfer usw. DaB alle diese Ver¬ 
giftungen anders verlaufen als Epilepsie und von dieser letzteren 
in klinischer Hinsicht sehr abweichen konnen, liegt daran, daB bei 
den meisten der hier genannten Vergiftungen die Rede ist von einem 


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126 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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van auBen eingefiihrten Gift, wahrend bei Epilepsie nur die Rede 
sein kann von dem einen oder anderen giftigen Stoffwechselprodukt, 
das sich bei jedem normalen Individuum ebenso bildet, doch bei- 
zeiten umgesetzt, abgebrochen oder auf andere Weise unschadlich 
gemacht (eliminiert) wird, wahrend dies bei den Epileptikem 
nicht der Fall ist. Bei den Epileptikem weisen der beinahe unmerk- 
bare Beginn der Krankheit, die langsame Verschlimmerung, die 
regelmaBig auftretenden Charakterabweichungen, die stets und 
mit einer gewissen RegelmaBigkeit zuriickkehrenden Anfalle, die 
doch nicht anders beschaut werden konnen als ein, sei es auch un- 
angenehmes und bisweilen selbst gefahrliches, natiirliches Ab- 
wehrmittel, um die toxischen Stoffe aus dem Korper zu entfemen 
oder unschadlich zu machen, und die langsam auftretende und 
sich verschlimmemde Dementia auf eine Vergiftung mit dem 
einen oder anderen, nicht von auBen eingefiihrten toxischen 
Agens. Und zum Schlusse sprechen die pathologisch-anatomischen 
Veranderungen (namlich das Pehlen jeglicher Abweichung im Ge- 
him bei jungen Fallen, und das Vorhandensein des anatomischen 
Substrats der sekundaren Dementia — der CAowZinschen Gliose 
usw. — nur in sehr veralteten Fallen) ebenso sehr stark fiir Auto- 
intoxikation. Heinrich driickt das wohl sehr kraB, doch m. E. voll- 
kornmen richtig aus, wenn er sagt: ,,A11 diese Theorien (Atrophie 
der Ammonshomer, Erkrankungen des Pons-Ao/AraageZ-Befundes 
von Alzheimer) haben sich als vollkommen unhaltbar erwiesen. 
Echte oder besser gesagt essentielle Epilepsie wird verursacht 
durch eine eigenartige Stoning im Stoffwechsel, eine Auto- 
intoxikation." 

In der Tat weisen zahllose Tatsachen und Befimde darauf, 
daB bei den Epileptikem Abweichungen im Stoffwechsel vor- 
kommen, doch leider sind die Funde der zahllosen Forscher noch 
zu unbestimmt, zu unzusammenhangend, zu umstandlich und 
zum Teil auch miteinander zu sehr im Widerspruche, als daB 
auch nur annahernd der Weg angegeben werden kann, der zur 
Kenntnis der Art und des Wesens des „epileptischen Giftes“ fiihrt. 
Krainsky entwickelte mit vielem Talent die Theorie, daB Epilepsie 
eine Vergiftung durch karbaminsaures Ammoniak sein soli; er 
fand namlich einen regelmaBigen Zusammenhang zwischen den 
Anfallen und dem' Urinsauregehalt des Urins: vor den Anfallen 
verminderte sich der Gehalt, um naeh den Anfallen wieder zu 
steigen, und Krainsky fand diese Erscheinung so regelmaBig, daB 
er aus dem Sinken des Urinsauregehaltes des Urins (bis unter 
0,45 g in 24 Stunden) einen sich nahemden Anfall voraussagen 
konnte. Nun kann jedoch Urinsaure selbst unmoglich das ver- 
giftende Agens sein, so daB Krainsky auf den Gedanken kam, daB 
der Giftstoff unter den Vorprodukten gesucht werden muB, also 
Stoffen, aus denen Urinsaure gebildet wird. Da nun Urinsaure 
aus karbaminsaurem Ammoniak gebildet werden kann, sah 
Krainsky diesen Stoff als das Gift an, um so mehr, da Versuche 
mit Einspritzungen von karbaminsaurem Natrium und Kalk 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 127 


diese Meinung sehr zu befestigen schienen. Diese Theorie, obwohl 
bereits ungefahr 15 Jahre alt, ist noch nimmer unumstoBlich be- 
festigt worden, noch auch widerlegt, und wiewohl sie viel Anlocken- 
des hat, muB doch vorangestellt werden, daB sie bis jetzt rein 
hypothetisch ist, und daB von einem Beweise weder Schein noch 
Schatten gefunden wurde. Wohl ist zwar Karbaminsaure (in der 
Form von Salzen) vorhanden im Blut, doch nur in sehr geringer 
Menge (Drechsel), da, wie die Untersuchungen von Nencki und 
Hahn beweisen, dieser Stoff zum groBten Teil in der Leber in 
Ureum umgesetzt wird. Diese letzten zeigten an, daB karbamin- 
saures Natrium, in groBen Mengen in den Magen gebracht, beim 
Hunde durchaus nicht giftig wirkt, wohl dagegen, wenn sie eine 
sogenannte „Ecksche Fistel“ (das Einpflanzen der Vena portae 
dicht bei dem Leberhilus in die Vena cava inferior) anlegten; t s 
traten dann dieselben Vergiftungserscheinungen auf wie bei 
intravenoser Anwendung von karbaminsaurem Natrium und Kalk 
(Somnolenz, Ataxie, Katalepsie, epileptiforme Krampfe, Te¬ 
tanus usw.). AuBerdem stelite sich bei Fistelhunden der Urin 
viel reicher heraus an Karbamaten als bei den nicht operierten 
Hunden; Karbaminsaure (oder besser gesagt seine Salze, denn 
Karbaminsaure ist unbestandig) miissen wir also als ein ziemlich 
giftiges, in dem Darm gebildetes EiweiBzersetzungsprodukt be- 
schauen, das jedoch, bevor es in die Zirkulation kommt, durch das 
Pfortaderblut nach der Leber gefiihrt und dort in unschuldiges 
Ureum umgesetzt wird. 

Wenn nun Krainsky ziemlich groBe Mengen von Karbamaten 
intravenos einspritzt, so schaltet er also die Leberfunktion ganz 
und gar aus und schafft dadurch Bedingungen, die seine Versuche 
fiir die Frage nach der Epilepsiepathogenese wertlos machen, 
denn der Epileptiker kann wohl seine Leber benutzen, um das 
karbaminsaures Ammoniak unschadlich zu machen. AuBerdem 
ist es sehr die Frage, ob karbaminsaure Salze, wofern sie nicht direkt 
in die Blutbahn gebracht werden, wohl so giftig sind: Abel und 
Muirhead (siehe Hammersten) konnten beim Menschen und beim 
Hunde eine reichliche Menge von Karbamaten im Urin hervorrufen, 
dadurch, daB sie sie groBe Mengen Kalkmilch trinken lieBen, ohne 
daB dabei Vergiftungserscheinungen eintraten. Nun hat zwar 
Ouidi Krainskys Theorie verteidigt auf Grand seiner Wahrnehmung, 
daB der totale Reichtum des Urins an Ammoniakverbindungen 
den Anfallen ganz parallel verlauft, andere fanden jedoch die 
regelmaBigen Schwankungen des Ammoniakstickstoffes nicht. 
Auch Kaufmann fand unmittelbar vor und nach den Anfallen 
den Ammoniakstickstoffgehalt des Blutes erhoht, aber er fand 
zugleich auch eine Vermehrung der fliichtigen Fettsauren. Und 
daB bei diesem VergiftungsprozeB, den wir Epilepsie nennen, 
Ureum oder einer seiner Mutterstoffe eine Rolle ^pielen soil, 
ist gleichfalls nicht wahrscheinlich. So kommt z. B. NeUon Teeter 
zu folgendem Schlusse: Bei der Epilepsie ist ziemlich regelmaBig 
einerhohterUreumgehaltdesBlutes vorhanden, dochein bestimmtes, 

Monatsschrift f. Psychiatrle n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 2. 9 


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128 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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standiges Verhaltnis zwischen den Anfalien und dem Ureumgehalt 
im Blut und Urin ist nicht festzustellen; der erhohte Ureumgehalt 
des Urins nach dem Anfall ist dann auch der erhohten Muskel- 
wirkung wahrend des Anfalls zuzuschreiben (noch zu beweisen). 
Auch Urinsaure spielt, wie die Untersuchungen von Hoppe ergeben, 
keineRolle: ob er denEpileptikern iiberwiegendbestimmtetierische, 
purinreiche EiweiBe, die viel Urinsaure liefern, oder aber das von 
Pflanzen herstammende, das nur halb so viel Urinsaure liefert, 
gab, hatte auf die Haufigkeit der Anfalle nicht den mindesten 
EinfluB. Hoppe leitet daraus zugleich ab, daB Krainskys Theorie 
unhaltbar ist, doch ist m. E. die Begriindung von Hoppes SchluB 
unrichtig: Urinsaure entsteht durch Oxydation aus den Purin- 
stoffen (den sogenannten Xanthinbasen, wie Guanin, Adenin, 
Xanthin, Hypoxanthin usw.), wahrend Karbaminsaure durch Oxy¬ 
dation aus Aminosaure entsteht und wieder in Ureum umgesetzt 
wird. Krainskys Theorie beruht denn auch auf einer unrichtigen 
Annahme: Urinsaure wird nicht aus karbaminsauren Salzen 
gebildet. 

Guido hat Spater noch die Meinung ausgesprochen, daB bei 
Epilepsie eine Vergiftung mit Ammoniumkarbonat eine groBe 
Rolle spielen soil, da er bei Epileptikem stets durch Eingabe dieses 
Mittels eine starke Zunahme der Anfalle eintreten sah, eine Er- 
scheinung, die ausblieb bei an Anfallen leidenden Hysterikern. 
Diese Annahme ist jedoch unhaltbar: Ammoniumkarbonat 
kommt ohne Zweifel im Blut vor, doch wird ebenso wie Ammonium- 
karbamat in der Leber in Ureum umgesetzt (Versuche von Schroeder , 
Nencki , Pawlow u. A. Siehe Hammereten, 1. c. S. 648) und also 
unscftadlich gemacht. Ziveri , welcher Guidis Versuche nach- 
machte, konnte dann auch nahezu nichts von dieser schadlichen 
Wirkung feststellen (allein in einem zweifelhaften Falle einer 
26 jahrigen, an vollkommener Dementia leidenden Epileptikerin 
war das Ergebnis positiv). 

Ernstlich beschuldigt als die Ursache der Epilepsie ist auch 
Cholin, und zwar von Donath , der zugleich Ammoniak und or- 
ganische Ammoniakbasen wie Creatin und Trimethylamin in den 
ProzeB hineinbezieht. Doch seine Auffassung ist vollkommen 
unhaltbar: Cholin, ein Zersetzungsprodukt aus Lecithin, ist nur 
wenig giftig, und Creatin, wie sein Anhydrid Crcatinin, ein Zer¬ 
setzungsprodukt von Fleisch sowohl wie ein Stoffwechselprodukt 
unserer eigenen Muskeln, ist durchaus nicht giftig und kommt 
dann auch stets in einigermaBen wechselnder Menge beim Menschen 
im Blut und im Urin vor. Handekmann widerspricht denn auch 
den Ergebnissen Donaths hinsichtlich des Cholingehaltes der Cerebro- 
spinalfliissigkeit und glaubt nicht an die toxischen Wirkungen de^ 
Cholins. Auch Ziveri fand im Blute und in der Cerebrospinal- 
fliissigkeit der Epileptiker bei 26 Patienten nur einmal Cholin in 
nachweisbarer Menge; er will darum diesem Stoffe auch nicht 
den geringsten spezifischen EinfluB bei Epilepsie zuerkannt 
wissen. Der Merkwiirdigkeit wegen sei noch vermeldet, daB 


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Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 129 

auch Cesari nichts von der Cholintheorie wissen will, und das 
noch mit der allertorichtsten Begriindung, daB er bei Hunden. 
denen er durch elektrische Strome ,,convulsions epileptifornies“ 
besorgt hatte, keine Spur Cholin in der Cerebrospinalfliissigkeit 
hat nachweisen konnen. Als ob durch elektrische Reizungen her- 
vorgerufene Krampfe etwas mit echter Epilepsie zu tun hatten! 

Bei der Bekanntschaft mit den fast zahllosen Mitteilungen 
liber die Chemopathologie der Epileptiker trifft man an erster 
Stelle auf die auBergewohnliche Verschiedenheit der wirklichen 
oder vermeintlichen Ergebnisse und an zweiter Stelle auf die Regel- 
maBigkeit, mit der der eine den Befunden des anderen widerspricht. 
Im Hinblick auf unsere noch sehr elementare Kenntnis der 
physiologischen Chemie kann diese Impotentia der pathologischen 
Chemie uns sicher nicht in Erstaunen setzen. So nimmt Heinrich 
als feststehend an, daB der Organismus bei Epileptikern unter 
dem EinfluB der Anfalle an Phosphor armer wird. In der Tat 
fand Loewe den Uringehalt an organisch gebundenem Phosphor 
wahrend der Anfalle und nach denselben deutlich erhoht, was 
also weisen miiBte auf ein vermehrtes Abbrechen des phosphor- 
enthaltenden Eiweisses (der Nukleropoteiden, worm die Nuklein- 
saure der phosphorenthaltende Bestandteil ist). Doch Bornstein 
und Siroman fanden gerade wahrend und unmittelbar nach den 
Anfallen im Urin eine stark vermehrte Ausscheidung an Kalk 
und Magnesiumsalzen, parallel mit einer nur sehr viel geringeren 
Vermehrung an Phosphaten. Und de Buck fand keine einzige Ver- 
anderung in der Phosphatabscheidung, weder eine Vermehrung, 
noch eine Verminderung. 

DaB wahrend der Anfalle im Organismus erhohter Abbruch 
stattfindet, kann wohl als feststehend angesehen werden; so fanden 
Stadelmann und Tintemann eine ziemlich stark erhohte Urinsaure- 
ausscheidung nach den Anfallen, Florence und CUment erhohte 
Ammoniakausscheidung, vor allem bei haufigen Anfallen bei 
bromfreien Patienten, und Bosenoff ebenso einen erhohten Stick- 
stoffgehalt des Urins nach dem Anfall. Selbst daran ist gedacht, 
daB Urinsaure die Ursache der Toxikose sein soli (Haig), doch 
kann da von nicht die Rede sein: Urinsaure ist nicht giftig, und 
die erhohte Ausscheidung ist hochstwahrscheinlich die Folge und 
nicht die Ursache des Anfalles: infolge der groBen Muskelarbeit 
und des stark erhohten Blutdruckes wahrend des Anfalles, gepaart 
mit sehr erhohter Herzwirkung, entsteht eine plotzliche und ge- 
waltige Steigerung des Stoffwechsels. Die von Galanle gefundene 
Albuminurie beruht gleichfalls auf der Erhohung des Blutdruckes, 
vielleicht auch auf der Wirkung der noch unbekannten epilep- 
tischen Giftstoffe auf die Nierenep'ithelien. 

Auch die sehr sorgfaltigen neueren Untersuchungen von 
Tintemann bringen wenig feststehende und bleibende Ergebnisse: 
charakteristisch scheint eine Vermehrung der totalen Saure- 
menge des Urins bei ganzen Reihen von Anfallen (diese Saure- 
vermehrung beruht auf einer Vermehrung sehr verschiedener 

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130 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


Sauren); auch der Urinsauregehalt und die Phosphorausscheidung 
waren regelmaBig erhoht bei Reihen von Anfallen; zwischen den 
beiden erhohten Ausscheidungen konnte selbst ein gewisser Par¬ 
allelisms zu entdecken sein. Vom Stickstoff-Stoffwechsel waren 
keine feststehenden Ergebnisse zu erhalten; hin und wieder schien 
in den anfallsfreien Perioden eine deutliche Stickstoffverhaltung 
zu sein, in anderen Fkllen fehlte diese jedoch vollkommen. Wahrend 
der Anfalle gleichfalls wechselnde Stickstoffausscheidung. 

Die Veranderungen in der Urinsaureabscheidung bei Epi- 
leptikem, wie sie Krainsky angegeben hat (24—48 Stunden vor 
dera Anfall soli stets eine wichtige Abnahme der Urinsaureab¬ 
scheidung eintreten, und zwar so feststehend, daB Krainsky den 
sich nahemden Anfall mit Sicherheit vorhersagen konnte), sind 
aueh noch keineswegs hinreichend feststehend; Caro bestatigt die 
Wahrnehmungen Krainskys, doch Putnam und Pjaff wider- 
sprechen ihnen direkt. Auch Mainzer kann nichts von einem 
bestimmten, konstanten Zusammenhange fesstellen: hin und wieder 
waren die Anfalle nicht eingeleitet durch ein Fallen, dann wieder 
trat wohl ein Fallen ein, ohne daB ein Anfall folgte ( Mainzir 
glaubt dann auch nicht, daB karbaminsaures Ammoniak — 
Krainsky — die Ursache der epileptischen Vergiftung ist). 

Selbstverstandlich ist hierbei allein die Rede von endogener 
Urinsaure, wahrend die exogene, die aus der Nahrung entsteht, 
ausgeschaltet wird dadurch, daB man den Patienten auf vollkom¬ 
men purinfreie Diat setzt. Doch auch bei den notwendigen Bedin- 
gungen diirfen Schwankungen in der Urinsaureausseheidung nicht 
zu hoch angeschlagen werden, da auch normalerweise einige 
Schwankung vorkommt und auch iiber manche Punkte noch 
keine Einstimmigkeit herrscht. So fand Stadelmann z. B. deutliche 
Unterschiede in der Urinsaureausseheidung bei eifriger Muskel- 
arbeit und im Ruhezustande; Hammersten meldet jedoch, daB 
.Arbeit und Ruhe keinen feststehenden EinfluB auf die Urinsaure- 
ausscheidung auszuiiben scheinen. 

Was nun die Ergebnisse des ausgeschiedenen Ammoniak^ be- 
trifft, so muB man sich vor allem hiiten, diese zu hoch anzu- 
schlagen, da allerlei Einflusse sich dabei geltend machen: gleich- 
wohl hat Gammeltoft festgestellt, daB, wie auch schon LoS mit- 
geteilt hat, die Ammoniakausscheidung per 24 Stunden wohl 
zwar einen ziemlich standfesten Wert hat, doch daB dessenunge- 
achtet eine ziemlich groBe Verschiedenheit besteht in der Aus- 
scheidung wahrend der verschiedenen Zeitpunkte in 24 Stunden: 
2—4 Stunden nach der Mahlzeit verringert sich sowohl die absolute 
als die relative Ammoniakausscheidung, darnach erfolgt in dem 
Darm die Resorbtion der aus dem Magen kommenden Saure, die 
an Ammoniak gebunden werden muB, und es folgt daher auf die 
Periode einer verminderten Ammoniakausscheidung eine von 
erhohter. 

AuBerdem besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen 
Magensaftabscheidung und Ammoniakabscheidung: ist im Magen 


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Bo] ten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 131 

viel freie Salzsaure, dann ist also auch viel Ammoniak notig, um 
diese wieder zu binden; bei Patienten mit Hypersekretion von 
Magensaft wird denn auch ein relativ hoherer Ammoniakgehalt 
gefunden als bei Patienten mit Achylia. Umgekehrt stellte sich 
heraus, daB bei einem Patienten mit Ulcus ventriculi, der alles 
ausbrach, und bei dem also wenig oder keine Salzsaure in den 
Darm kam, die Ammoniakausscheidung sowohl relativ wie absolut 
vermindert war; nach der Operation (Anlegen einer Gastroenteros- 
tomie) stieg der Ammoniakgehalt des Urins bis auf die normale 
Hohe. Aus diesen Wahrnehmungen folgt ganz deutlich, daB eine 
Vermehrung des Ammoniakstickstoffes im Urin durchaus nicht 
abhangig zu sein braucht von dem epileptischen ProzeB als solchem, 
da die hier genannten Faktoren (Zeitpunkt der Untersuchung 
hinsichtlich der Mahlzeit und das Vorhandensein im Magen von 
viel, maBig oder gar keiner freien Salzsaure) ebensosehr wichtige 
Schwankungen in genannter Ausscheidung verursachen konnen. 
Hinzu kommt noch, daB diese Faktoren bei Epilepsie oft vor- 
handen sind. So weisen z. B. Mac Caskey und verschiedene andere 
Schriftsteller, u. a. Gowers , Rodiet, de Fleury darauf, daB bei 
Epileptikern oft Magen-Darmstorungen vorkommen, u. a. ab- 
wechselnd von sehr erhohter Salzsaureabscheidung bis zu sehr er- 
niedrigter, bzw. selbst Anaciditat. Diese beiden letztgenannten 
Schriftsteller erkennen diesen Sekretionsstorungen (mit daraus 
hervorgehenden Abweichungen von den normalen Zersetzungs- 
prozessen im Darmkanal) eine groBe Bedeutung zu fiir die Patho¬ 
genese der Epilepsie; hierin irren sie sich, da die genannten Sto- 
rungen Folge und nicht Ursache der Epilepsie sind. Doch ab- 
gesehen davon stehen die Storungen in der Magensaftabscheidung 
bei Epilepsie wohl fest, und dies vermindert wieder sehr den Wert 
der gefundenen Schwankungen in der Ausscheidung von Ammoniak 
im Urin. 

Sind also bis jetzt die AussprUche der verschiedenen Forscher, 
die da meinten, einen mit Namen zu nennenden Stoff als Ursache 
der Toxikose ,,Epilepsie“ angeben zu konnen, alle schon gleich- 
falls anfechtbar, nicht weniger ist dies der Fall mit der Auffassung 
von de Buck, welcher durch Einspritzung von Blut und Serum 
von Epileptikern bei Kaninchen feststellen konnte, daB bei diesen 
Tieren keinerlei toxische Wirkung festzustellen ist, wohl dagegen 
beim Menschen; und er kommt zu dem Schlusse, daB Epilepsie 
eine Vergiftung ist, die nicht durch das eine oder andere normale 
Stoffwechselprodukt verursacht wird, sondem durch ein echtes 
Gift, welches zu den Cytotoxinen gehort und, wie de Buck ,,be- 
wiesen“ erachtet, aus einem thermolabilen Alexin und einem 
thermostabilen sensibilisierenden Stoffe besteht. Naherer Beweis 
ist jedoch sehr erwiinscht! 

Es besteht dann noch eine nicht unwichtige Gruppe von 
Forschem, die sich weniger fiir die chemische Zusammenstellung 
des eventuellen Giftes erwarmt haben, sondem durch Versuche 
haben feststellen wollen, daB wenigstens eine Vergiftung im Spiele 


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132 B o 1 t v n , Pathogene.se und Therapie der geiminen Epilepsie. 


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ist, und wiewohl diese Versuche gleichfalls nicht zu gleichlautenden 
und ganz festst-ehenden Ergebnissen gefiihrt haben, haben sie doeli 
in jedem Fall zur Feststellung der toxamischen Pathogenese der 
Epilepsie etvvas beigetragen. 

80 fand u. a. Ceni , dab Blutserum von Epileptikern nicht 
schadlich fiir Hunde und Kaninchen war, doch wohl haben Ein- 
spritzungen mit dem hypertoxischen Serum einen verschlimmernden 
EinfluB (Zunahine der Anfalle) auf den Patienten selbst. Er meint, 
daB die Toxinen der Epilepsie hamolytisch wirken und daB im 
Blutserum der Epileptiker Prazipitinen vorkommen, die spe- 
zifisch zu sein scheinen. De Buck konnnt zu iibereinstimmenden 
Ergebnissen, andere Schriftsteller jedoch, u. a. Schuckmann , 
widersprechen ihnen entschieden. Bereits friiher hat Ceni die 
Giftigkeit des Blutserums bei Epileptikern nachzuweisen gesucht 
durch Einspritzung desselben in Huhnereier, wobei er zur Kon- 
trolle eine gleiche Anzahl Eier mit derselben Menge Blutserum 
von Normalen behandelte. Die Ergebnisse dieser Versuche gaben 
Ceni bereits die Uberzeugung, daB Blutserum von Epileptikern 
vergiftete Stoffe enthalten miiBte. 

Ausgebreitete Versuche unternahm Cololian; er nahm eine 
feststehende Menge Blutserum von Epileptikern bzw. von Pa¬ 
tienten, entnommen in der anfallsfreien Zeit, gerade vor dem 
Anfall, unmittelbar nach demselben, und 2—4 Sunden nach ihm, 
und spritzte es Versuchstieren ein (Mause und Kaninchen). Dabei 
ergab sich, daB das Blutserum in der anfallsfreien Zeit nur wenig 
giftig war (wechselnde Ergebnisse), ebenso wie das Blutserum, 
das 2—4 Stunden nach dem Anfall entnommen war. Dagegen 
ergab sich, daB das Blut unmittelbar vor und nach dem Anfall 
sehr giftig wirkte (Krampfe, Somnolenz, Tod der Versuchstiere). 
Aus seinen Kontrollversuchen zeigte sich, daB dieselbe Menge 
Blutserum, das von gesunden Personen stammte, vollkommen 
unwirksam war. Er konnte selbst feststellen, daB vom giftigsten 
Blutserum (unmittelbar nach dem Anfall) 5 — G cm per kg Tier 
stets hinreichend waren, um das Yersuchstier zu tciten. Mairet 
und Ardin Delteil fanden genau dasselbe, wenn sie an Stelle von 
Blutserum SchweiB von Epileptikern nahmen: der SchweiB. 
wahrend und gleich nach dem Anfall gesammelt, wirkte bei Ver¬ 
suchstieren vergiftend (Tod, vorangegangen von Krampfen oder 
auch nicht), dagegen wirkte der in anfalLsfreier Zeit gesammelte 
SchweiB nicht anders, denn der von gesunden Menschen. Heboid 
und Bratz wiederholten diese ^ T ersuche, doch kamen sie zu ganz 
anderen Ergebnissen: Eine feststehende giftige Wirkung der 
Korpersalte von Epileptikern (Blutserum, Urin, SchweiB) konnten 
sie nicht feststellen, da, wenn auch bei einer ersten Einspritzung 
sich wohl einmal eine vergiftende Wirkung kennbar machte, es 
ihnen niemals gliickte, diese Erscheinungen bei demselben Ver- 
suchtstier mehreremale herv f orzurufen. Doch man kann diesen 
Forschern entgegenhalten: 1. daB sie offenbar mit viel zu niedrigen 
Mengen arbeiteten, da ja kein einziges Mai das Sterben der Ver- 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 133 


suchstiere erwahnt wird, sei es mit oder ohne eintretende Krampfe, 
und 2. daB die Einspritzung ihrer geringen Menge epileptischen 
Giftes bei den Versuchstieren gerade Immunitat gegen die 
folgenden Einspritzungen hervorgerufen hat. Galdi und Tarugi 
haben Versuche gemacht nach der krampferregenden Wirkung 
des Urins von Epileptikem, den sie bei Cavias einspritzten in die 
Vena femoralis; sie fanden dabei, daB der Urin, der unmittelbar 
vor deni Anfall gelost war, am starksten krampferregend war. 
Ueber die Giftigkeit des Urins der Epileptiker fanden Pfeiffer 
und Albrecht etwas dergleiches: sie fallt vor dem Anfall, um damach 
stark und schnell zu steigen und sich wahrend der anfallsfreien 
Zeiten auf einem erhohten Niveau zu halten. 

Der Erwahnung sehr wert sind noch die Untersuchungen von 
Meyer; er konnte feststellen: 1. daB Blut von Epileptikem in der 
anfallsfreien Zeit, bei Cavias eingespritzt (intraperitoneal) auch 
bereits mehrere Erscheinungen hervorrief als Blut von Nicht- 
epileptikem; 2. daB das sogenannte ,,Anfallsblut“ sich als sehr 
gif tig zeigt: 9 der 10 Versuchstiere reagierten auf die Einspritzung 
mit Krampfanfalien, meist in ganzen Serien mit allgemeinem 
Unwohlsein und Sinken der Temperatur (und dabei ergab sich 
noch die Merkwiirdigkeit, daB die Reaktion der Versuchstiere 
um so starker war, je mehr das Blut herstammte von Patienten 
mit vielen und schweren Anfallen), 3. das Blut,. wahrend der epi¬ 
leptischen Traumzustande entnommen, verursachte in einem Falle 
wohl Reaktion, im anderen nicht; 4. wurden die Tiere, die nach 
dem ersten Versuche nicht zugrunde gegangen waren, einem 
zweiten Versuche unterworfen (10 Tage spater), dann fiel die sehr 
stark verminderte Empfindlichkeit der Tiere offenbar auf (wahr- 
scheinlich, weil sie sich inzwischen an das Gift gewohnt hatten, 
also eine Art Immunitat) und 5. daB die giftigen Eigenschaften 
iiberwiegend ans Blutserum gebunden sind: in der Mehrzahl der 
Falle waren die Blutkorperchen vollkommen unwirksam, und das 
Serum wirkte toxisch. Nur in einem Falle war dies umgekehrt 
(was vorlaufig als vollkommen unerklarbar angesehen werden 
muB). 

Femer sind noch viele Wahrnehmungen und Tatsachen vor- 
handen, wenn sie auch an sich selbst keinen iiberwiegenden Ein- 
fluB besitzen auf das Wahrscheinlichmachen des toxamischen Ur- 
spnmgs der Epilepsie, doch alle ein Glied bilden in der langen 
Kette der Griinde, die alle beieinander genommen zum Schlusse 
wohl die Ueberzeugung befestigen miissen, daB Epilepsie ein sehr 
chronischer VergiftungsprozeB ist. So fand Bouche nicht allein. 
daB man bei Katzen durch Vergiftung mit Bromkampfer Anfalle 
hervorrufen konnte — das haben uberdies andere auch nachgewiesen 
— doch er fand bei diesen Tieren in der Gehimrinde dieselben 
Gliawucherungen, die Chaslin , Alzheimer , Bratz u. A. als das 
anatomische Substrat der Epilepsie beschauen. 

Und Ballet weist auf die Tatsache hin, daB bei Frauen die 
Anfalle viel haufiger vorkommen eben vor und wahrend der Men- 


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134 B o 11 e n . Pathogenese und Therapi© der genuinen Epilepsie. 


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struationsperiode, als nach derselben: die Menstruation ist eines 
der Mittel, durch welche der Organismus die Gifte ausscheidet, 
nach der monatlichen Reinigung ist der Korper also arm an Toxinen, 
vor und im Beginn davon sind die Toxinen jedoch im Blute ange- 
hauft. Weber legt Nachdruck auf die Ergebnisse, die durch Re- 
gelung der Nahrung erhalten werden konnen und schlieBt daraus, 
daB Toxinen im Spiel sind, die wohl verschiedenen Ursprung 
haben, doch teilweise aus Zersetzungsprodukten der Nahrungs- 
stoffe bestehen. Tramonii kommt zum toxamischen Ursprung 
der Epilepsie auf Grund der sehr groBen Giftigkeit des Urins 
(Versuche an Kaninchen), der nach epileptischen Equivalenten 
gelost war, und meint diese Giftigkeit auf Rechnung organischer 
Stoffe setzen zu miissen. Ardin-Delteil nimmt an, daB giftige 
Stoffe im Spiel sind, doch zugleich, daB der Epileptiker eine erhohte 
Empfindlichkeit fiir diese Gifte in der Gehimrinde besitzt, da er 
sonst die Hypotoxizitat des Urins in den anfallsfreien Perioden 
nicht erklaren kann. Das von Ardin-Delteil neu hinzugebrachte 
Moment, die erhohte Empfindlichkeit der Gehirnrinde der Epi¬ 
leptiker, ist von verschiedenen anderen Forschern auch angedeutet; 
sosagt z. B. Binswanger , dass, wenn einmal die Gehimrinde in einen 
Zustand gekommen ist, dass der erste AnfaM auftritt, damach 
ein bleibender, verminderter Widerstand gegen physiologische als 
auch pathologische Reize besteht. Neuere Forscher bringen uns 
liber diesen Punkt wieder einen Schritt voraus: bereits ist durch 
ausgebreitete Versuche von Ehrlich nachgewiesen, daB in den 
Korper gebrachte Stoffe sich nicht gleichmaBig liber alle Organe 
verteilen, sondem deutlich fur bestimnite Organe eine erhohte 
Affinitat zu besitzen scheinen; Jacoby konnte dies flir Salizylsaure 
feststellen und van den Velden fiir Jodkali. Wichtige Unter- 
suchungen machten femer Guillain und Laroche , die sich im be- 
sonderen mit der Affinitat des zentralen Nervensystems fiir Gifte 
beschaftigten. Ihre Funde bringen uns wieder weiter in dieser 
Richtung, da sie u. a. fanden, daB besonders das Tetanus- und 
das Diphtheriegift sich stark aufhauften in bestimmten Teilen 
des zentralen Nervensystems, was durch Tierversuche sehr deutlich 
wurde. Auch fiir verschiedene Alkaloide, wie Strichnin, Morphium 
und Kokain, und fiir andere Gifte, wie Chloroform und Alkohol, 
besitzt das zentrale Nervensystem eine groBere Affinitat als 
andere Organe. Und so wird sich vielleicht auch bald heraussteilen, 
daB die Gehimrinde eine besonders groBe Affinitat fiir die Epilepsie- 
toxinen besitzt. Es ist dann auch nicht notig, wie Shaw beilaufig 
tut, anzunehmen, daB bei Epilepsie und bei anderen Krampf- 
zustanden die Rede ist von echter Anaphylaxie: die sehr wahr- 
scheinliche, groBe Affinitat der Gehimrinde fiir Epilepsietoxin, 
vielleicht gepaart mit einer bereits bestehenden und stets zu- 
nehmenden Empfindlichkeit der Rinde fiir dieses Toxin, ist hin- 
reichend fiir die Erklarung der klinischen Erscheinungen. 

Es sei noch bemerkt, daB mit dem toxamischen Ursprunge 
der Epilepsie vielleicht die von Masoin gefundene Tataache in Ver- 


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B o i t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 135 


bindung steht, daB vor und wahrend des Auftretens des sogenannten 
Status epilepticus und auch, wenn auch in geringerem MaBe, bei 
einzelnen Anfallen bei Epileptikem mit sekundarer Dementia 
die Diazo-Reaktion oft positiv ausfallt. 

Eigene Untersuchungen. 

Gegeniiber der beinahe sprichwortlichen Unbestandigkeit der 
Ergebnisse der Forscher und in Anbetracht der peinigenden Regel- 
maBigkeit, mit welcher der eine die Ergebnisse des andern wider- 
spricht, muB gleichwohl anerkannt werden, daB es ,,une mer k 
boire“ gleich ist, wenn man durch sj^stematische Untersuchungen 
einen Weg finden will in den zahlreichen und sehr auseinander- 
laufenden Auffassungen iiber das Entstehen und Wesen der Epi¬ 
lepsie. Ein groBes Material, hauptsachlich in klinischer Behand- 
lung, setzte mich in die Gelegenheit, wahrend der letzten 7 Jahre 
ununterbrochen Versuche anzustellen. Dabei muB vorangestellt 
werden, daB auf Grund klinischer Wahrnehmungen und wegen der 
Unhaltbarkeit des cerebralen Ursprungs der Epilepsie mir die 
Theorie iiber den toxamischen Ursprung stets am meisten zugesagt 
hat. Um moglichst systematise}! zu Werk zu gehen, wurden stets 
eine Anzahl Patienten, die bereits einige Zeit in klinischer Obser¬ 
vation waxen und von denen also der Allgemeinzustand und 
auch allerlei Besonderheiten gut bekannt waren (Haufigkeit und 
Beschaffenheit der Anfalle, ,,petit mal“, Aequivalente, Kopf- 
schmerzen, Stimmungs- und Charakterabweichungen), wahrend 
geraumer Zeit, meistens drei Monate oder langer einem bestimmten 
System unterworfen, und es wurde dabei von der Voraussetzung 
ausgegangen, daB Epilepsie die Folge sein konnte von: 

a) Darmfaulnis (anormale Garungsprozesse im Dannkanal 
oder im Magen oder andere Verdauungsstorungen) oder Darm- 
parasiten; 

b) Vergiftung durch Zersetzungsprodukte des EiweiB (Albu- 
mose, Purinbasen usw.); 

c) Retention von Kochsalz und sekundare Kochsalzvergiftung ; 

d) Hyperfunktion einer oder mehrerer Driisen mit interner 
Sekretion; 

e) Insuffizienz einer oder mehrerer Driisen mit interner 
Sekretion. 

Sub a) Wie allgemein bekannt ist, hat man lange und viel 
gehammert auf dem AmboB der Darmfaulnis bei Epilepsie; es 
ist bereits hingewiesen auf die Meinung von Rodiet , de Fleury , 
Mac Caskey und vielen anderen, die in anormalen Garungspro- 
zessen im Darmkanal die Ursache der Epilepsie suchen; auch 
Spratting hat sich sehr stark in dieser Richtung geauBert: ,,wenn 
die Kochkunst ebenso eingehend ausgeiibt wihde, wie die Heil- 
kunde, so wiirde nach ein paar Geschlechtem die Epilepsie aus- 
gestorben sein.“ (! ?). Femer hat auch Bouman sich ausgesprochen, 
daB der Verband zwischen den Anfallen und Storungen im Magen- 


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136 B o 1 t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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darmkanal ,.geniigend“ feststeht. Und de Groot fand, im AnschluB 
an Mangelsdorf , bsi Epileptikern haufig einen atonischen und dila- 
tierten Magen und auBerdem bei zwei Patienten Hyperchlor- 
hydrie. 

Unter Beriicksichtigung aller hier genannten Moglichkeiten, 
wozu dann auch noch die habituelle Konstipation gerechnet werden 
muB, wurde eine Reihe Patienten auf Diat gesetzt: sie be- 
kamen per Tag 5 Mahlzeiten, doch ausschlieBlich von auBerst 
leicht verdaulicher, salzarmer (nicht salzloser) Nahrung und in 
geringeren Mengen als sonst gebrauchlich war. Dabei wurden 
alle anreizenden Stoffe (Essig, Mostrich, Pfeffer und andere Ge- 
wiirze) und weniger verdaubare Stoffe (Kohlsorten, roher Salat, 
Gurken) und auch rohe Fnichte ihnen vorenthalten, auBerdem, 
wie sich wohl von selbst versteht, jede Spur von Alkohol und Tabak. 
Schien Hyperchlorhydrie zu bestehen, so wurde des Abends das 
souverane Mittel dagegen, Olivenol, eingegeben. Wurde irgendwie 
Darmgarung vermutet, so wurden kleine Dosen Bismut oder Ka- 
lomel gegeben. Ferner wurde regelmaBig jeden Tag zweimal der 
Darmkanal mit groBen Wasserspulungen reingemacht. Die Diat 
war iiberwiegend lakto-vegetabil und wiirde bei Sauglingen von 
einem halben Jalire sicherlich keine Magendarmstor ungen hervor- 
gerufen haben. Das Ergebnis war jedoch sehr armselig. Wohl 
schienen bei Patienten, die vorher an habitueller Konstipation 
oder an ausgesprochenen Magendarmstorungen litten, unter dem 
EinfluB der Diat sich die Anfalle einigermaBen zu verringem. sie 
verschwanden jedoch keineswegs. Und das liegt auch wohl sehr auf 
der Hand: Denn sollte Epilepsie die Folge von Magendarmstorungen 
sein, so ware sie eine ziemlich unschuldige, leicht zu bestreitende 
Krankheit, doch dann sollte man auch viel mehr Epilepsie auf- 
treten sehen bei Menschen mit langwierigen Magendarmstorungen, 
und das sieht man — abgesehen von der Acetonamie bei jungen 
Kindern — gerade uberhaupt nicht. Umgekehrt gibt Darmfatilnis 
AnlaB zur erhohten Bildung von Indol, Phenol, Skatol, Schwefel- 
wasserstoff usw. im Darm und erhohtem Indicangehalt desUrins; 
bei Epileptikern ohne Verdauungsstorungen findet man jedoch 
niemals erhohten Indicangehalt des Urins. 

Nehmen wir auBerdem in Betracht. daB Epileptiker zu SO pCt. 
oder mehr aus erblich Belasteten bestehen und daB vor allem die 
im Rausch erzeugten Kinder fiir Epilepsie pradisponiert sind, 
so muB es doch wohl deutlich sein, daB Epilepsie ein angeborener 
Zustand der Degeneration oder Minderwertigkeit ist und nichts 
zu tun haben kann mit den infolge von Diatfehlern erst be - 
komrnenen Magendarmstorungen. Und dann, der verschlimmernde 
EinfluB der Magendarmstorungen, Konstipation einbegriffen, auf 
die Haufigkeit der Anfalle ist sehr leicht zu erklaren: es handelt 
sich hier um eine Anhciufoing toxischer Reize. Wie allgemein be- 
kannt ist, ist der Epileptiker sehr empfindlich gegen allerlei Nar- 
kotika, wie Alkohol, Aether, Chloroform, Chlorathyl usw.; selbst 
ein paar Tropfchen Chloroform oder Aether konnen einen Anfall 


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B o 1 t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 137 

erregen, und wean man einem Epileptiker des Abends eine nicht 
allzukleine Menge Alkohol gebrauchen laBt, so wird ziemlich 
sicher in der Nacht ein Anfall erfolgen (Cramer in Gottingen wagte 
sogar die vorgebliche Epilepsie in einem forensischen Falle auszu- 
schlieBen, weil nach einem tiichtigen Alkoholgebrauch der Anfall 
ausblieb). Nun wird man doch nicht behaupten, daB Epilepsie 
eine Chloroform- oder Alkoholvergiftung ist ? Ebenso ist es mit 
den Magendarmstorungen: der Epileptiker kann, durch eine de- 
fekte Veranlagung, seine endogenen Toxinen nicht genugend 
abbrechen, umsetzen oder unschadlich machen; was man dann noch 
an exogenen Giften oder schadlichen Stoffen hinzubringt, also auch 
die Magendarmstorungen, verargert den Zustand. Durch eine 
sorgfaltige Regulierung der Diat kann jman denn auch, vor allem 
wenn die Verdauung vorher nicht ganz in Ordnung war, einige 
Yerbesserung erzeugen: man sinkt mit den Erscheinungen bis zu 
einem bestimmten Niveau, und das ist das Niveau der rein 
epileptischen Vergiftung; doch ntedriger kommt man niemals. 
Eine gleiche Meinung ist unlangst durch Moore Alexander ver- 
teidigt worden und ausfiihrlich erlautert u. a. durch die Tat- 
sachen, daB bei Epileptikern die Menge Indicans in dem Urin 
nicht vermehrt wurde und daB die bakteriologische Untersuchung 
der Fakalien der Epileptiker dieselben Ergebnisse lieferte wie 
die bei Gesunden. 

Sub b) Stets ist den Zersetzungsprodukten des EiweiB als 
der Ursache der Epilepsie und wohl speziell den sogenannten 
Purinbasen eine gioBe Rolle zugeschrieben worden. Diese, auch 
wohl Alloxan- oder Xanthinbasen geheiBen, stammen von den 
sogenannten Nucleoproteiden (Verbindungen von EiweiB mit 
Nucleinsaure); dazu gehoren: Xanthin, Paraxanthin, Guanin, 
Adenin, Karnin, Hypoxanthin usw. (auch Kaffein und Theobromin 
rechnen hierher). Von alien diesen Stoffen, die eng miteinander 
verwandt sind, ist Adenin noch am meisten giftig, die anderen 
sind alle ziemlich unschuldig; durch Oxydation gehen sie alle 
(ausgenommen Kaffein und Theobromin) in Urinsaure iiber. Die 
Purinbasen kommen iiberwiegend im Tierreich vor, und zwar 
beinahe ausschlieBlich in den Zellenkemen, gebunden an Nuclein¬ 
saure; in einigen Geweben, die arm an Kemen sind, z. B. Muskeln, 
kommen sie bisweilen auch in freiem Zustande vor (Harnmarsten). 
Im Blut der an Leukamie Leidenden ist durch Vermehrung der 
Leukozyten der Gehalt an Purinbasen gewaltig gestiegen, und bei 
dieser Krankheit kommt bisweilen Adenin im Urin vor. 

Nun ist es sehr bequem, den eventuellen EinfluB der Purin¬ 
basen auf den epileptischen ProzeB zu verfolgen, da man dem 
Patienten ungestraft und so lange man will purinfreie Nahrung 
geben kann: Eier, Milch, Gemiise, Leguminosen und Pflanzenfette 
sind immerhin so gut wie vollkommen purinfrei. Auch diesem Ver- 
suche wurden eine Anzahl Patienten geraume Zeit unterworfen. 
doch das Ergebnis war gleichfalls negativ (dergleichen Versuche 
nniBten stets sehr lange fortgesetzt werden, am liebsten bei Pa- 


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138 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

tienten, die man schon lange und gut kannte, da Veranderungen 
und Schwankungen in den Erscheinungen stets vorkommen). 
leh unterschreibe denn auch vollkommen die Meinung von Hoppe , 
der nicht den geringsten Unterschied sah bei Ernahrung mit purin- 
reichem tierischem EiweiB, die viel Urinsaure gibt (0,63 g per Tag), 
und bei Ernahrung mit PflanzeneiweiB, u. a. mit sogenanntem 
,,Roborat“, das wenig Urinsaure (0,32 g per Tag) und also wenig 
Purinbasen liefert. In der Tat bin ich auf Grund meiner Versuche 
zu dem SchluB gekommen, daB purinreiche Nahrung nicht den 
mindesten verargernden EinfluB auf die Erscheinungen hat, 
wofern man nur dafiir Sorge tragt, daB alle Verdauungsstorungen 
vermieden werden. 

AuBer den bereits genannten Purinbasen gibt es noch ver- 
schiedene andere EiweiB Zersetzungsprodukte, die in Betracht 
kommen konnten, so z. B. Cholin, Neurin und Albumose. Cholin, 
dem Donath mit Unrecht einen so hervorragenden Platz ein- 
raumt, ist ein Spaltprodukt von Lecithin und muB als nur wenig 
gif tig angesehen werden; es kommt in sehr geringer Menge im nor- 
malen Blut vor und ist auch in der Nebenniere und in anderen 
Organen gefunden worden. Cholin scheint ein Antagonist von 
Adrenalin zu sein, da es blutdruckerniedrigend wirkt (Hammersten). 
Neurin ist eine viel giftigere Base, die durch Bakterienwirkung 
aus Cholin entsteht und auch aus Kephalin wird entstehen konnen, 
ein Stoff, der gleichfalls zur Lecithingruppe gerechnet werden muB. 
Bestimmt sehr giftig ist Albumose, der Bequemlichkeit wegen als 
einfacher Begriff gebraucht, denn es ist wohl sicher, daB im Darm 
als Spaltprodukt aller moglichen EiweiBe auBer Aminos&ure 
eine ganze Gruppe von Albumosen gebildet wird, die in dem 
Dunndarminhalt reichlich vorkommen, doch im Blut noch niemals 
nachgewiesen werden konnten. Hochstwahrscheinlich wird Al¬ 
bumose denn auch beim Passieren durch die Darmwand wieder 
umgesetzt, oder richtiger gesagt synthetisch aufgebaut zu Plasma- 
eiweiB. Bei dieser Synthese, wenigstens beim Ueberbringen der 
Albumose durch die Darmwand, spielen hochstwahrscheinlich die 
weiBen Blutkorperchen eine bedeutende Rolle (Hoffmeister). Wenn 
nun dieser Aufbau von EiweiB gestort wurde und also die Albumose 
als solche in die Blutbahn kam, so wiirde damit die Moglichkeit 
einer ernsten chronischen Vergiftung geschaffen sein. 

Da nun Albumose aus alien moglichen EiweiBen entsteht, 
sowohl tierischen als pflanzlichen, und die ersten wohl vollkommen, 
die zweiten jedoch nur sehr unvollkommen ferngehalten werden 
konnen, so sind hieriiber keine beweiskraftigen Versuche zu machen. 
Dennoch schien es moglieh. wenigstens etwas liber die Wahrschein- 
lichkeit einer eventuellen Albumosevergiftung zu erfahren: Einige 
Patienten wurden auf Diat gesetzt, wobei tierische EiweiBe voll¬ 
kommen, und die pflanzlichen so gut wie moglieh ferngehalten 
wurden (viel Blattgemuse, viel saftige Friichte, Fette, Reis, Kar- 
toffeln, GrieBmehl usw.: eine solche eiweiBarme Diat schien bei 
bettlagerigen Patienten wahrend geraumer Zeit sehr gut moglieh, 


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6 o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsia. 139 

ohne daB irgendein Gewichtsverlust eintrat; aUein iiber Eintonig- 
keit wurde geklagt). Doch auch hierbei war von irgendeineni 
positiven Ergebnis nicht die Rede: es zeigte sich nicht die mindeste . 
Verbesserung in den Erscheinungen. Diese Tatsache, namlich daII 
eine eiweiBreiche Nahrung durchaus keine weiteren Erscheinungen 
hervorruft als eine Ernahrung, die so arm wie moglich an Ei- 
weiBen ist, laBt doch die Annahme einer Vergiftung durch Cholin 
oder Neurin, als auch durch Albumose mindestens sehr unwahr- 
scheinlich werden. 

SchlieBlich werden auch einige Patienten auf reine Milchdiat 
gesetzt; Vollmich enthalt immerhin nur 314 pCt. EiweiB (Ham- 
mersten), und auBerdem hatte Wislocki besonders giinstige Ergeb- 
nisse mit dieser Diat erhalten; wir kamen jedoch zu derselben 
SchluBfolgerung wie Bregmann, namlich daB auch eine strong 
durchgefiihrte Milchdiat keinen deutlichen EinfluB auf die epilep- 
tischen Symptome ausiibt. Auch Schlo/l fand nichts bei der iiber- 
wiegenden Milchnahrung (laktovegetabilische Diat); bei seinen 
Untersuchungen kam es selbst vor, daB in der Periode der starkeren 
Fleischemahrung weniger Anfalle vorfielen als in der Milchdiat. 
Und auch bei Alt, der eine Reihe Versuche bei Kindem machte, 
ergab sich, daB 3 Patienten sich bei Fleischnahrung am besten 
befanden, wahrend bei anderen wieder bei Milchnahrung Ver¬ 
besserung eintrat. Dagegen hatten 4 Kinder mit reiner Milch¬ 
nahrung in dieser Periode eine erhohte Anzahl von Anfallen; nicht 
mit Unrecht schreibt Alt dieses der bei diesen bestehenden hart- 
nackigen Stuhlverstopfung und der dadurch verursachten Indi- 
kanurie zu. Durch die sehr abweichenden Resultate sind die Ver¬ 
suche von Alt wertlos fur die Feststellung irgendeines Einflusses 
der Diat. Man kann im Gegenteil aus seinen Versuchen lernen, 
daB die Diat iiberhaupt keinen EinfluB hat, wofern man nur 
dafiir sorgt, alle moglichen Magen-Darmstorungen zu vermeiden. 
l T nd da gerade Kinder so leicht Darmstorungen mit Acetonamie 
als Folge zeigen, so miissen diese Diatversuche vor allem nicht 
bei Kindern genommen werden. 

Sub c) Die salzlose (salzarme) Diat. Diese Methode, durch 
Toulouse und Richet zuerst beschrieben, kommt, wie als bekannt 
vorausgesetzt werden kann, darauf hinaus, daB alle Nahrung dar- 
gereicht wird ohne Beigabe von Kochsalz, so daB der Organismus 
also kein anderes Chlomatrium erhalt, als in jeder pflanzlichen 
oder tierischen Zelle vorhanden ist (auch Milch enthalt Koch¬ 
salz); femer wird 3—5 g Brom gegeben. Dabei kann man dann 
sowohl eine reine Milchdiat als eine laktovegetabile Diat und selbst 
eine Fleischdiat anwenden. Wie Toulouse und Richet zeigen. 
waren die Ergebnisse glanzend und ohne Zweifel der Salzenthalttuig 
zuzuschreiben; denn wurde wieder die salzenthaltende Diat ge¬ 
geben, so kamen die Anfalle schnell wieder zum Vorschein. Auch 
viele andere Forscher (Gordon, Roux, Bouman, Lortat, Jacob, 
Balint u. A.) haben diese giinstigen Ergebnisse bekraftigen konnen, 
einige andere, z. B. Helmstddt, sahen nur negative Erfolge. DaB 


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140 B o 1 t e n . Pathogenese und Therapie der genninen Epilepsie. 

nun jedoch diese guten Resultate. deren Vorhandensein wohl nicht 
bezweifelt werden kann, der Koehsalzenthaltung als solcher 
. zugeschrieben werden miissen, ist sicherJich unriehtig. Gleichwohl 
hat sich aus den ausfiihrlichen Stoffwechseluntersuchungen von 
Hoppe , Laudenheimer u. A. ergeben. daB sich die Halogenen im 
Organismus zu einem groBen Teile gegenseitig ersetzen konnen. 
Gibt man namlich einem Patienten. der bis dahin niemals Brom- 
salz gebraucht hat, Brompraparate, so wird die taglich zugefiihrte 
Menge nicht ganz wieder ausgeschieden, doch es bleibt ein Teil 
da von im Organismus zuriick, und es bildet sich dann ein sogenann- 
tes Bromdepot". Erst wenn dieses Depot seinen Maximalwert, 
der sehr groBen individuellen Sehwankungen unterworfen ist, 
erreicht hat, wird das eingegebene Brom wieder in derselben 
Menge ausgeschieden. Nun fanden genannte Forscher, daB das 
Bromdepot sich viel schneller und zu einem groBeren Maximum 
bildet, wenn Kochsalz dem Korper entzogen wird (was durch 
Verminderung -der Zufuhr von Kochsalz geschah; die Aus- 
scheidung davon blieb dann noch einige Zeit konstant, und in- 
zwischen verarmt der Organismus stark an Kochsalz). DaB in 
der Tat die Halogenen einander verdrangen, wird ganz deutlich 
durch die Tatsache bewiesen, daB ein Patient mit bereits gebildetem 
Bromdepot, der in salzarmer Diat lebt, plotzlich eine groBe Menge 
Brom ausscheidet (und darum wieder viel mehr Anfalle bekommt), 
wenn man die salzarme Diat unterlaBt und wieder die gewohnliche 
Menge Kochsalz (8—10g) mit dem Essen gibt. Tn alien moglichen 
Korpersaften, u. a. auch im Magensaft, scheint das Brom das 
Chlor verdrangen und ersetzen zu konnen. 

Aus obenstehendem ergibt sich bereits sehr deutlich, daB die 
Absicht der salzarmen Diat behandlung nach Toulouse und Richet 
durchaus nicht ist, den Organismus an Kochsalz verarmen zu 
lassen, sondern daB es nur dazu dient, die Brombehandlung 
intensiver zur Wirkung zu bringen. 

Um nun den EinfluB der salzlosen Diat zu erforschen (ohne 
hinzugefiigtes Kochsalz), wurde eine Reihe Patienten dieser Diat 
unterworfen, ohne gleichzeitig Brom zu verabreichen. Das Resultat 
war vollkommen nihil, selbst als die Behandlung monatelang fort- 
gesetzt wurde; wohl wurde, wie von den meisten Forschern, eine 
Verbesserung gesehen bei der salzarmen Diat kombiniert mit 
Brombehandlung. Da der Zweck der hier beschriebenen Versuche, 
die zusammen 7 Jahre in Anspruch genommen haben, war, 
zu versuchen, die Pathogenese der Epilepsie festzustellen, um 
dadurch zu einer spezifischen Behandlung zu gelangen, wurde 
mit diesem symptomatischen Heilmittel nicht weiter experimen- 
tiert; immerhin vermindern Bromsalze die Empfindlichkeit der 
Gehimrinde und konnen dadurch zur Bestreitung des Symptomes 
,,Anfalle" (welcher Art und welchen Ursprunges auch) beitragen. 
haben jedoch iibrigens auf den Verlauf der Krankheit ,,Epilepsie" 
nicht den geringsten EinfluB. Auch van der Kolk teilte bereits 
die vollkommen negativen Ergebnisse der salzarmen Diat als 


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B o 1 t e n . Pathogenese unci Therapie der genuinen Epilepsie. 141 


soldier (also ohne Beigabe von Bromsalzen) mit; nun konnte 
man vielleicht den Einwurf machen, daB das Material van der Kolks 
weniger geeignet fiir derartige Versuche war, da es ausschlieBlich 
Irrenhauspatienten betraf, also chronische Epileptiker, die bereits 
an einer ernsten Psychose erkrankt waren, und wo also allerlei 
sekundare anatomische Abweichungen im Gehirn zu finden sein 
muBten. Diese Bemerkung gilt jedoch nicht fiir meine Patienten, 
da ich diese Versuche ausschlieBlich machte bei Epileptikern, die 
noch keinerlei psychische Storungen zeigten. 

Mit groBer Sicherheit kann denn auch festgestellt werden, 
daB Epilepsie ganz entschieden nicht beruht auf einer auBer- 
gewohnlichen Anhaufung von Kochsalz im Organismus, sei sie 
nun gepaart mit einer (angeborenen) Intoleranz dagegen oder nicht. 
Ob nun die Darreichung sehr groBer Mengen Kochsalz zu der 
sehr groBen Gruppe von Faktoren, die eine Summation toxischer 
Reize verursachen konnen, gehort, lasse ich hier unentschieden; 
wahrscheinlich erachte ich dies in jedem Falle jedoch nicht. 

Sub d). Verschiedene Wahrnehmungen und AeuBerungen 
anderer Forscher lieBen vermuten, daB auf dem Gebiete der so- 
genannten ..Driisen mit interner Sekretion £< funktionelle Ab¬ 
weichungen festgestellt werden konnten. Ohlmacher hat ja in einer 
Reihe wichtiger Mitteilungen darauf hingewiesen, daB bei der 
Leichensehau einer groBen Anzahl Epileptiker oft der sogenannte 
,.Status Iymphaticus“ angetroffen wurde, d. h. starke Hyperplasie 
des lymphoiden Gewebes und der Lymphfollikel im Darmkanal 
und in der Milz, VergroBerung der Lymphdriisen an vielen Stellen, 
Hyperplasie der Arterienwande und dadurch entstandene Ver- 
engung des Lumens (vor allem der Aorta), persistierender Thymus 
usw. das eine und das andere oft kombiniert mit rachitischen 
Abweichungen. Auch Volland fand bei der Sektion von 102 
Epileptikern 24 mal einen persistierenden Thymus und auch ofter 
eine enge Aorta, aber nicht die Hyperplasie der iibrigen Arterien. 

Laut dieser Tatsachen schien also die Moglichkeit gegeben, 
daB Epilepsie eine Vergiftung sein konnte, die entstanden sei 
durch Hykersekretion des (bleibenden) Thymus, um so mehr 
als dieses Organ nachweisbare Mengen Adenin, der giftigsten aller 
Purinbasen, enthalt. Ein vorsichtiger Versuch unter Anwendung 
dieses Organs lag also auf der Hand. Um dabei nun die Wirkung 
des Magensaftes auszuschlieBen, wurde stets gepreBter Saft frischer 
Organe gebraucht (denn Thymus, in den Magen gebracht, wirkt 
durchaus nicht giftig). Dieser frische PreBsaft wird nun erst in 
sehr kleinen, dann in stets steigenden Mengen einer Anzahl Epi¬ 
leptiker rektal eingegeben. Dabei ergab sich nicht die allermindeste 
Verschlimmerung eines oder mehrerer epileptischer Symptome; 
auch auf den Puls fand nicht die geringste Einwirkung statt. Auch 
von den Nebennieren mit dem blutdruckerhohenden Produkt, 
dem Adrenalin, konnte vielleicht noch einiger EinfluB in der hier 
gemeinten Richtung erwartet werden. Darum wurden dieselben 
Versuche mit frischem PreBsaft von Nebennieren wiederholt. 


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142 Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

Hierbei ergab sich allein, daB der Nebennierensaft sowohl einen 
zusammenziehenden EinfluB auf die glatten Muskeln des Darmes 
als auch auf die der BlutgefaBe ausiibt, so daB, wenn der PreBsaft 
nur wenig verdiinnt eingegeben wurde, alle Patienten ohne Aus- 
nahme sehr bald nach der Einspritzung Krampf zeigten, so daB 
sie die Flussigkeit nicht bei sich behalten konnten; wurde dieselbe 
Menge stark verdiinnt angewendet, so fand die Resorption unge- 
stort statt. Auch bei dieser Reihe von Versuchen war von irgend- 
einem EinfluB auf die Erscheinungen der Epilepsie absolut nichts 
zu sehen. 

Damach wurden diese Versuche noch wiederholt mit dem 
PreBsaft von beinahe alien Drusen mit intemer Sekretion (Hypo- 
physe, Schilddriise,Epithelk6rperchen = Nebenschilddruse,Testikel, 
Ovarium 1 ) und auBerdem mit dem PreBsaft der Leber, der Milz 
und der Bauchspeicheldriise). Bei all diesen Versuchen, die, in 
Reihen verteilt, jeder geraume Zeit fortgesetzt wurden, um nicht 
auf zufalligen oder unbestandigen Ergebnissen weiter zu bauen, 
konnte niemals festgestellt werden, daB einer oder mehrere dieser 
PreBsafte, selbst in groBer Menge eingegeben, irgendeine Er- 
scheinung der Krankheit verschlimmerte. 

Sub e). Stellte es sich also aus den vorigen Reihen von Ver¬ 
suchen heraus, daB bei Epilepsie von einer Hyperfunktion einer 
oder mehrerer Drusen mit interner Sekretion nicht die Rede 
sein konnte, so ergab sich sehr schnell, daB bei dieser Krankheit 
wohl eine Insuffizienz im Spiel ist. Wahrend Einspritzungen mit 
den ubrigen frischen Saften nicht den geringsten EinfluB zum 
Guten hatten, schien von der Zusammenfiigung von dem PreBsaft 
der Epithelkorperchen (Glandulae parathyreoideae) und Schild- 
driise eine sehr heilsame Wirkung auszugehen: einige Patienten 
wurden nahezu unmittelbar, also beinahe vom Beginn der Be- 
handlung an, ganz frei von Symptomen, bei anderen dauerte das 
langer, bei einigen selbst sehr lange (z. B. 6—8 Monate), doch 
bei alien Fallen von genuiner (essentieller) Epilepsie trat eine sehr 
merkbare Verbesserung ein , wenigstens wenn noch keine sekundare 
Dementia bestand. Diese Verbesserung war um so auffallender, 
da es fast ausschlieBlich chronische Falle betraf, die bereits jahrelang 
eine mehr oder minder kraftige Menge Brom gebrauchten, und die 
beim Anfang meiner Behandlung sogleich jeden Bromgebrauch 
unterlieBen. Wie allgemein bekannt ist und noch unlangst von 
Jodicke bewiesen, bietet es groBe Gefahr, Epileptikern, die regel- 
maBig Brom gebrauchen, jedes Brom plotzlich zu enthalten, da 
T;ie dann oft in den gefiirehteten „Status epilepticus“ verfallen; 
auch bei meinen Patienten waren zwei, deren Familien aus Er- 
fahrung sehr gut wuBten, daB totale Enthaltung des Broms schnell 
ganze Reihen Anfalle zur Folge hatte; doch ich habe diese Kata- 


*) Fiir die regelmafiige und sehr lange fortgesetzte Uebersendung 
dieser Organe bin ich den Direktoren des Leidener und Haager Gemeinde- 
Schlachthauses groBen Dank schuldig. 


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13 o 1 t e n . Pathogenese and Therapie der genuinen Epilepsie. 143 

strophe niemals gesehen, obgleich jedes Brom sogleich und fur 
gut verbannt wurde (siehe weiter bei der Krankheitsgeschichte). 

Aus den erhaltenen Resultaten, die oft sehr iiberrascliend 
waren (so wurden z. B. zwei Falle, wo die Krankheit resp. 10 und 
5 Jahre bestand, und die beide sehr viele Anfalle hatten, schon 
nach zwei Wochen ganz frei von Erscheinungen), steht wohl un- 
umstoBlich fest, daB Epilepsie beruht auf einer Funktionsstorung 
des Thyreoidenorgans (Schilddruse plus Epithelkorperchen); doch 
ist diese Tatsache noch nicht gut zu reimen mit anderen klinischen 
Befunden, so z. B. daB bei Cachexia strumipriva so gut wie niemals 
Epilepsie vorkommt, und daB umgekehrt bei Epilepsie keine 
myxodematbsen Abweichungen gefunden werden; vorlaufig weiB 
ich dafiir nur diese Erklarung: Die Schilddruse bildet mit den 
Nebenschilddriisen ein Organ, das sehr gewichtige. aber zugleich 
auch sehr verschiedene Funktionen erfiillt: es muB a) den Organis- 
mus von verschiedenen in die Zirkulation gelangten Giften befreien 
und b) den Stoffwechsel regeln und dafiir einen bestimmten EinfluB 
auf andere Organe ausliben; bei Epilepsie ist die unter a) und bei 
Myxodem die unter b genannte Funktion gestort, Funktionen, 
welche vielleicht an verschiedene Zellen oder an verschiedene 
lnnervationen gebunden sind. 

Vom Chemismus und der physiologischen Wirkung der Schild¬ 
druse und der Epithelkorperchen ist bis jetzt wenig mit Sicherheit 
bekannt; daB ein unzweifelhafter Verband zwischen Tetanie und 
Erkrankung der Epithelkorperchen besteht, darf wohl als fest- 
stehend angesehen werden; um nicht zuausfiihrlich zu werden. sei 
hier verwiesen auf die Untersuchungen von Walter , Hirsch , BiedL 
Jtedlich u. A. Dieser letztere beschaftigte sich besonders mit den 
Untersuchung der ihm personlich und aus der Literatur bekannten 
Falle (im ganzen 72), wo Epilepsie und Tetanie gleichzeitig vor- 
kommen. 

Bekannt ist von der Schilddruse, daB sie Jod enthalt; wie sie 
dazu kommt, ist mit Sicherheit nicht zu sagen, vermutlich stammt 
all ihr Jod aus der Zirkulation her, denn Schilddriisen von Neu- 
geborenen enthalten kein Jodium, und die Darreichung von 
Jodsalzen bewirkt, daB der Jodgehalt der Schilddruse unmittelbar 
zunimmt. Das aus der Schilddruse zu bereitende Jodothyrin oder 
Thyreojodin scheint in der lebenden Schilddruse nicht vorhanden 
zu sein, doch ein Umsatzprodukt des durch Oswald entdeckten 
,,Thyreoglobulin*das zu der Gruppe der Globulinen gehort {Oswald 
fand auch zugleich in der Schilddruse ein Nukleoproteid, das 
kein Jod enthalt). Vielleicht ist dies Thyreoglobulin der St off, 
welcher, wenn er in ungeniigendem MaBe abgeschieden wird, die 
epileptischen Erscheinungen hervorruft, da er (ware es auch nur 
in der Umsetzung ,,Thyreoidin £< ) laut Untersuchungen von Frohner 
und Hoppe die Ausscheidung der stickstoffhaltenden Stoffwechsel- 
produkte sehr befordert. Und es sollte also moglicherweise ein 
unbekanntes, giftiges N. enthaltendes Stoffwechselprodukt nicht 
geniigend eliminiert werden und somit AnlaB geben zur epileptischen 

Monateschrlft f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. ITeft ?• 10 


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144 B o 11 e n , Patliogenese und Therapie der geiiuinen Epilepsie. 


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Intoxikation. Doch viele andere Annahmen sind moglich. So fand 
Frankel in der Schilddriise einen weiBen, kristallinischen, schwach 
neutral reagierenden, sehr hygroskopischen Stoff, dem er die 
entgiftende Wirkung der Schilddriise zuschrieb, und den er dann 
sogleich auch mit dem vielsagenden Namen ,,Thyreoantitoxin“ 
taufte. 1st nun bei Epilepsie die Abscheidung dieses Thyreo- 
antitoxins erniedrigt, und werden dadurch zu wenig Toxine 
eliminiert ? Auch nach dieser Richtung wurden Versuche unter- 
nommen. Prof. Pekelharing in Utrecht war so freundlich, 2% g 
dieses Stoffes fiir mich herzustellen; diese Menge kommt mit 1 kg 
Schilddriisen iiberein (wohl geht bei der Reinigung dieses kristal¬ 
linischen, nicht leicht rein zu bereitenden Stoffes etwas verloren, 
so daB wohl etwas mehr als 2 1 2 g aus 1 kg Schilddriisen herzustellen 
sein konnten, doch in jedem Falle enthalt die Schilddriise noch kein 
halbes Prozent dieses Stoffes, so daB von dem chemisch reinen- 
Produkt sicherlich eine sehr starke Wirkung ausgehen miiBte, wenn 
mindestens gerade daran ein Zukurz bestand). Aus den Versuchen 
mit ,,Thyreoantitoxin“ konnten keine deutlichen Folgerungen 
gemacht werden, da die mir zur Verfiigung stehende Menge nicht 
groB genug war, um eine lang fortgesetzte Probe in Reihen machen 
zu konnen; der globale Eindruck war jedoch, daB ,,Thyreoanti- 
toxin“ viel weniger wirksam war als der von mir angewendete 
frische PreBsaft von Schilddriisen und Nebenschilddriisen. Frankel 
meldet noch, daB er sein ,,Thyreoantitoxin“ als ,,den“ Haupt- 
bestandteil der Schilddriise ansieht, weil er nach einer Darreichung 
eine Pulsbeschleunigung und Abmagerung eintreten sah; dieser 
Beweis ist natiirlich sehr schwach, und er sollte in jedem Falle 
mehr dafiir sprechen, daB ,.Thyreoantitoxin“ der Stoff war, der 
die Herztatigkeit und den Stoffwechsel regelte, als der Stoff, der 
verschiedene Gifte aus der Zirkulation unschadlich machen muBte; 
iiberdies liefert Frankel nicht die Spur eines Beweises fiir die wirk- 
lich antitoxisehe Wirkung seines ,,Antitoxins". Spater hat Frankel 
noch berichtet, daB Drechsel und Kocher in der Schilddriise zwei 
Basen gefunden haben, deren eine identisch ist mit „Thyreo- 
antitoxin"; auf die physiologische Wirkung geht er jedoch weiter 
nicht ein. Doch auBerdem, daB die Schilddriise Stoffe abscheidet, 
die die Herztatigkeit und den Stoffwechsel regeln, und wieder 
andere, die entgiftend wirken, iibt sie auch noch einen wichtigen 
EinfluB auf andere Organe aus, und zwar auf das chromaffine 
System (Nebennieren) und die Bauchspeicheldriise. Nach Biedl 
soli namlich die Schilddriise akzelerierend wirken auf das chrom¬ 
affine System, dagegen hemmend auf die Bauchspeicheldriise, 
nach Juschtschenko befordert die Schilddriise die Bildung von 
Fermenten, besonders von Nuklease und Katalase, wahrend auch 
die antitryptische Wirkung des Blutes unter EinfluB der Schild- 
driise zu stehen scheint. Wo also ein deutlicher Verband zwischen 
Schilddriise und zahlreichen Enzymwirkungen im Gesamtkorper 
zu bestehen scheint, da ist doch wohl die auBergewohnlich zu- 
sammengesetzte Funktion der Schilddriise klar; ist diese gestort, 


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Bolten, Pftthogeneee und Therapie der genuinen Epilepsie. 145 

so ist auf dem Versuchswege festgestellt, daB EiweiB-, Fett- und 
Salzstoffwechsel verzogert und gehemmt werden, doch ob dabei 
von einer direkten Wirkung der Schilddriise oder wohl von einem 
verminderten akzelerierenden EinfluB auf andere Organe (Leber, 
Pankreas, Nebenniere) die Rede ist, liegt noch ganz und gar im 
Dunkeln. Welcher der genannten Faktoren bei Epilepsie die Haupt- 
rolle spielt, ist dann auch jetzt noch nicht einmal zu vermuten, 
doch es darf dabei in jedem Falle nicht aus dem Auge verloren 
werden, daB die Schilddriise sicherlich dafiir zu sorgen hat, daB 
giftige Jodverbindungen aus der Zirkulation entfernt werden, 
und daB also dadurch die Moglichkeit geschaffen ist, daB Epilepsie 
auf einer Vergiftung von unzureichend eliminierten giftigen 
(anorganischen) Jodverbindungen beruht. 

Die Untersuchungen von Claude und Schmiergeld, obwohl sie 
zu denselben Ergebnissen leiteten wie meine klinischen Versuche, 
muBten doch vorlaufig angesehen werden als wenig beitragend 
zur Pathogenese der Epilepsie; ihre Untersuchungen waren ja alle 
von pathologisch-anatomischer Art und muBten also ebenso 
getroffen werden durch das bereits angefiihrte Wort von Bouche: 
,,La cause intime de la maladie, c’est a la physiologie qu’il faut 
la demander, et non a l’anatomie“. In der Tat fanden Claude 
und Schmiergeld bei einer Reihe von 17 Epileptikem, von denen 
7 im Status epilepticus gestorben waren, zahlreiche Abweichungen 
in den Driisen mit intemer Sekretion, vor allem in der Schild- 
driise und in den Nebenschilddriisen, bestehend in groBeren oder 
kleineren sklerotischen Herden, Abweichungen von der Colloid- 
selbstandigkeit usw. („douze fois la structure de la glande etait 
completement bouleversee"). Aus ihren Befunden schlieBen sie 
auf eine „Hypofunktion“ der Schilddriise in vielen Fallen, doch 
vorlaufig muBte man annehmen, daB die Funktion eines Organes 
bis jetzt nur unzureichend aus einem mikroskopischen Praparate 
herzuleiten ist. Dies gilt im besonderen von der Schilddriise, da 
die colloide Selbstandigkeit wechselnd an Menge ist, was erklarbar 
ist, da nach Oswald der Colloidgehalt der Schilddriise mitjihrem 
Jodgehalt symmetrisch ist. Und nach Halliburton ist das Colloid 
selbst das spezielle Abscheidungsprodukt der Schilddriise, so daB 
auch aus diesen Griinden eine sehr wechselnde Menge davon zu 
erwarten ist. Auch Levi meint denn auch. daB aus den Unter¬ 
suchungen von Claude und Schmiergeld keine feststehenden Fol- 
gerungen zu ziehen seien, und daB aus mikroskopischen Praparaten 
im besonderen nichts iiber die Funktion der lebenden Driise 
hergeleitet werden kann; nach ihm bestatigen die Ergebnisse 
von Claude und Schmiergeld denn auch allein die von Rothschild u. A. 
beschriebene ,,instability thyr^oidienne 1 '. Doch es darf nichtjbe- 
stritten werden, daB das regelmafiige Antreffen von sklerotischen 
Herden, mit deutlich regressiven Veranderungen in den Epithel- 
zellen einen Hinweis auf den Zustand der Driisenfunktion geben 
kann. Und auBer der Bindegewebewucherung (Sklerose) fanden 
Claude und Schmiergeld noch, daB die Schilddriise der Epileptiker 

10 * 


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146 B o 1 ten, Pathogene.se und Therapie der genuinen Epilepsie. 


ill vielen Fallen kleiner als normal war. Auch kierin soil ein Hinweis 
liegen konnen. Nach Wiener wurde jedoch die Schilddriise iiber- 
wiegend innerviert vom Ganglion infimum sympathici aus: bei 
Durchschneidung dieses Ganglions trat regelmaBig Atrophie der 
Druse auf, mit gleichzeitiger Abnahme des Thyreoglobulingehalts 
(das Ganglion supremum schien diesen EinfluB iiberhaupt nicht 
zu besitzen). Sollte nun vielleicht die Hypofunktion der Schild- 
driise und der Nebenschilddriise auf einer primaren Storung ini 
Ganglion infimum sympathici beruhen ? Eine Antwort auf diese 
Frage ist vorlaufig absolut nicht zu geben; das Studium der Lebens- 
verrichtungen dieser wichtigen Unterteile des zentralen Nerven- 
systems gehort, wenigstens beim Menschen, noch zu den totalen 
Unmoglichkeiten; selbst konnte ich in der Literatur nirgends 
einen Bericht liber die pathologisch-anatomischen Abweichungen 
in diesem Ganglion antreffen, die bei Epilepsie oder welcher Krank- 
heit auch gefimden worden sind. Sicher ist wohl, daB das Suchen 
in dieser Richtung, namlich in der Schilddriise, den Epithel- 
korperchen und ihren Nervenzentren, an erster Stelle durch den 
Physiologen, doch auch durch den Patholog-Anatomen in nachster 
Zukunft weit befriedigendere Ergebnisse liefern werden, als das 
endlose Ausklauben sekundarer Veranderungen, die nach sehr 
lange bestehender Intoxikation, welche zur Dementia gefiihrt hat, 
in der Gehirnrinde auftreten. 

Eine gleichfalls noch vollkommen offene Frage ist, was nun 
eigentlich an der Funktion der Schilddriise fehlt; als sicher miissen 
wir annehmen, daB die Funktionsstorung nur teilweise ist, denn 
bei den vielen Tausenden Epileptikern, die bereits eingehend wahr- 
genommen sind, sind nur , r eltenErscheinungen festgestellt, die in das 
Kader von Myxodem passen. Ist die Abscheidung von Colloid 
unzureichend ? An diese Moglichkeit ist sicherlich zu denken, 
da nach Hirsch das Vorhandensein von Jod und von Colloid 
vollkommen parallel laufen: nur Driisen, die Colloid bilden, ent- 
halten Jodium, und mit dem Jodiumgehalt der Schilddriise steigt 
gleichfalls der Colloidgehalt. Vermutlich hat die Schilddriise diese 
doppelteFunktion: SienimmtdievergiftendenJodiumverbindungen 
(anorganische ?) aus der Zirkulation und bindet diese an EiweiB- 
stoffe (Thyreoglobulin), und dieser neugebildete Stoff hat wiederum 
die Funktion, die Ausscheidung der stickstoffhaltenden Stoff- 
wechselprodukte zu beforderri. Eine Storung in der Colloidbildung 
wiirde also ohne Zweifel Storungen in der Haushaltung unseres 
Organismus nach sich ziehen. Doch es ist noch mehr: Nach Frankel , 
Biedl y Hammersten u. A. enthalt die Schilddriise und wohl speziell 
das Colloid auBer Stoffen aus der Xanthingruppe (u. a. Xanthin 
und Hypoxanthin) auch Cholin und Leucin und auBerdem Thyreo¬ 
globulin, Thyreoproteide und Thyreoantitoxin. Welche dieser Stoffe 
kommen nun zu wenig bei der Epilepsie vor ? Auf diese Fragen 
miissen ebenso viele Antworten noch gegeben werden; wie bereits 
gesagt, bekam ich nicht den Eindruck, daB Thyreoantitoxin 
(Frankel) der Stoff ist, an dem ein Zukurz bestehen sollte; auch 


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B o 1 t e n , Pathogenese and Therapie der genuinen Epilepsie. 147 


bekam ich den Eindruck (doch mehr als ein Eindruck war es auch 
nicht, da ein eventueller Beweis nicht zu liefern ist), daB wohl noch 
von einem oder mehreren Fermenten die Rede sein konnte. Denn 
ich erhielt die feste Ueberzeugung, daB die Darreichung per os 
von getrockneten Schilddriisenpraparaten sowohl als von frischen, 
oder von frischem PreBsaft viel weniger gute Folgen hatte als 
das rektale Darreichen des frischen PreBsaftes. Moglicherweise 
enthalt dies letztere nun Fermente, die beim Trocknen und auch 
durch die Salzsaure des Magens vernichtet werden. 

DaB bei Epilepsie die Schilddriisenfunktion gestort ist, wurde 
auBer durch die Verminderung und das Verschwinden aller auf 
die Epilepsie zuriickzufiihrenden Erscheinungen auBerdem wahr- 
scheinlich gemacht durch folgende Wahrnehmungen: 1. Selbst 
bei der Darreichung groBer Mengen frischen PreBsaftes wurden 
Abmagerung und Pulsbeschleunigung niemals wahrgenommen, 
wahrend beide Erscheinungen stets auftreten beim inneren Ge- 
brauch getrockneter Schilddriisenpraparate und Frankel sie auch 
sah nach Gebrauch seines Thyreoantitoxins. 2. Bei alien Patienten 
trat eine mehr oder minder deutliche Verbesserung des Stuhlganges 
ein; wie bekannt ist, gehort auch Verstopfung zu den Erscheinungen 
des Hypothyreoidismus, und 3. traten in Fallen von Epilepsie 
bei jungen Kindem, auBer Verminderungen der Anfalle, auch 
Verbesserungen im Wachstum, im Zahnen und im Intellekt auf. 

Dagegen konnte ich niemals feststellen den ReizeinfluB, der 
nach Biedl von der Schilddriise auf den Sympathicus ausgeiibt 
wird (nach dem Fortfall der Schilddriisenfunktion trat eine ver- 
minderte Wirkung des Sympathicus ein, der sich in verminderter 
Zirkulation und trophischen Storungen auBerte). Vermutlich ist 
also bei Epilepsie die Hypofunktion der Schilddriise nicht groB 
genug, um die akzelerierende Wirkung auf das sympathische 
System gleichfalls fortfallen zu lassen. 

DaB inzwischen von der Biochemie der Schilddriise noch 
wenig mit Sicherheit bekannt ist, und daB auch hier noch viele 
Widerspriiche und ungeloste Fragen bestehen, wird wohl durch den 
Fund von TschiJcste gezeigt; er fand im Colloid der Schilddriise 
ein Nukleoproteid, das (wenigstens bei einem Patienten, der an 
Morbus Basedowii litt) zu Stickstoff- und Phosphorretention 
AnlaB gab. Dies wiirde dann gerade das Gegenteil sein von dem, 
was bis jetzt allgemein angenommen wurde, namlich, daB der 
jodiumenthaltende Teil des Colloids, also das Thyreoglobulin, die 
Macht hat, die Ausscheidung der stickst off enthalt enden Stoff- 
wechselprodukte zu befordern. Auch Tschiksle erwahnt die Mog- 
lichkeit von Fermenten. 

Es scheint, daB verschiedene Stoffe und Gifte die Wirkung 
der Schilddriise erhohen konnen; immerhin muB diese Moglichkeit 
angenommen werden. Auf diese Weise konnte die giinstige Wirkung 
zu erklaren sein, die Gelineau erzielte durch Darreichung von Brom, 
dem Picrotoxin zugefiigt war. Vielleicht beruht auch die Wirkung 
vonCobragift auf einer derartigenakzelerierendenWirkung: Facken - 


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148 Bolten. Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

heim meldet, daB der amerikanische Arzt Self, der an Epilepsie 
litt, durch den BiB einer Klapperschlange von dieser Qual ge- 
nesen sein sollte, und d&BSpangler, auch ein amerikanischer Kollege, 
in 11 Fallen sehr gute Resultate erzielte mit einem aus Schlangen- 
gift verfertigten Pulver. Fackenheim wiederholte die Versuche 
Spanglers und erzielte gleichfalls gute Ergebnisse. Es muB jedoch 
bezweifelt werden. ob diese Methode sich als stichhaltig heraus- 
stellen wird. 

Ferner steht wohl fest, daB Tuberkulose einen giinstigen 
EinfluB auf Epilepsie ausiiben kann; verschiedene Schriftsteller 
( Raviar , Leuridan u. A.) melden, daB die epileptischen Erscheinun- 
gen teilweise und selbst ganz unter dem Einflusse verschiedener 
infektioser Prozesse, u. a. Tuberkulose. verschwinden konnen. 
Ich selbst kenne drei Falle schwerer Epilepsie, die alle vor dieser 
Qual unbehandelt geblieben sind, doch deren epileptische Er- 
scheinungen die letzten Jahre ihres Lebens (sie starben ziemlich 
jung), als sich ernste Lungentuberkulose entwickelt hatte, voll- 
kommen wegblieben. Dagegen teilen einige andere Forscher mit, 
daB Typhus gerade einen besonders ungiinstigen EinfluB auf den 
ferneren Verlauf einer bestehenden Epilepsie hat. Vorlaufig ist 
es vollkommen unmoglich, eine Erklarung fiir dieseWahrnehmungen 
zu geben; wirken bestimmte Toxine (Tbc. u. a.) akzelerierend 
auf die Schilddriise oder auf das Ganglion infimum sympathici ? 
Typhus dagegen gibt AnlaB zur Meningitis und diese wiederum 
zu epileptischen Symptomen, bzw. zur Verschlimmerung schon 
bestehender Epilepsie. 

Vielleicht wird der Einwurf gemacht werden, daB die Er¬ 
gebnisse der chirurgischen Behandlung der Epilepsie gegen deren 
toxamischen Ursprung sprechen. In Wirklichkeit sprechen sie 
jedoch stark dafiir, da die Ergebnisse bei der echten (essentiellen) 
Epilepsie ungefahr nihil sind, dagegen oft sehr befriedigend bei 
allerlei Formen der Rindenepilepsie. Ohne Zweifel muB denn 
auch ein groBer Teil der Falle, von denen die Chirurgen bezeugen, 
daB sie sehr gute Resultate sahen der operativen Behandlung 
bei „Epilepsie“, bei der symptomatischen (Rinden-) Epilepsie 
untergebracht werden. So muBten die Falle, die durch Anton 
beschrieben sind. und wobei oft durch chirurgische Behandlung 
bedeutende Verbesserung und selbst Heilung erzielt wurde, aus- 
schlieBlich zu der sogenannten traumatischen Epilepsie (subdural 
Hamatom, Knochensplitter in der Rinde, Duraverwundung usw.) 
oder zu den sekundaren Rindenepilepsien nach Meningitis, bei 
cerebraler Kinderlahmung, GehirnabszeB usw. gerechnet werden. 
Bei der echten Epilepsie konnte durch Trepanation nur einige 
Verbesserung, speziell beim Status epilepticus, erreicht werden. 
Die mir bekannten Falle echter Epilepsie, die nach der Kocherschen 
Methode operiert wurden, haben durch die Behandlung nicht die 
mindeste oder geringste Besserung erfahren. Auch Buzzard halt die 
operative Behandlung der echten Epilepsie fiir ,,immer fruchtlos“, 
ohne weiteres. Doch ist dies letzte nicht ganz richtig: bei lange 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 149 


bestehender Epilepsie, vor allem, wenn diese zu sekundarer De¬ 
mentia gefiihrt hat, findet man stets Oedem der Pia und Stauungen 
der PialgefaBe, was sowohl post mortem als bei Operationen nach- 
gewiesen ist (W. Alexander, Doberer und viele andere), und diese 
Fliissigkeitsanhaufung gibt AnlaB zu erhohtem Druck auf die 
Gehirnrinde und also leicht auch zur Verargerung der Erscheinun- 
gen, mit Inbegriff der Dementia. Doberer, iiberzeugt, daB die Er- 
gebnisse der JfocAerschen Operation wenig glanzend sind, schnitt 
darum die Dura kreuzformig ein und bildete einen dauemden 
Abfuhrkanal fiir die Cerebrospinalfliissigkeit in den DiploegefaBen; 
das bleibende Ergebnis war dadurch besser, wenn sich auch heraus- 
stellen wird, daB von wirklicher Heilung keine Rede sein kann. 
Auch Krause, der dieses Problem in sehr ausfiihrlicher Besprechung 
behandelt und alle Falle nicht-traumatischer Epilepsie zueinander- 
fiigt (ist dies wohl eine erlaubte Zusammenfiigung ? Es gibt immer- 
hin zahlreiche Formen der Rindenepilepsie, die nicht traumatisch 
entstanden sind und doch nichts mit echter oder essentieller 
Epilepsie zu tun haben), spricht von der Notwendigkeit, stets 
zuerst das ,,primar krampfende Zentrum“ aufzusuchen; wohl 
ein Beweis, daB die in der Tat guten Resultate, die er mitteilt, 
iiberwiegend sich auf Falle von Rindenepilepsie beziehen, wahrend 
die Resultate der .,Veritilbildung“ bei echter Epilepsie auf der 
Verminderung der Stauung in der Arachnoidea und in dem Sub- 
arachnoidealraum beruhen. - Horsley, vielleicht der meist erfahrene 
Chirurg-Neurologe auf diesem Gebiete, achtet denn auch Indikation 
zur Operation vorliegend in alien Fallen von Epilepsie, deren 
idiopathischer Ursprung nicht unzweifelhaft feststeht. Weil geht 
noch etwas weiter und nimmt m. E. den richtigen Standpunkt 
ein, wenn er sagt, daB Operation kontraindiziert ist bei reiner, 
echter Epilepsie. 

Diese Befunde der Chirurgen sind einigermaBen ausfiihrlich 
mitgeteilt, um zu zeigen, daB Bregmann und die vielen anderen, 
die seine Meinung teilen, vollkommen Unrecht haben, wenn sie 
sich auf die Ergebnisse der chirurgischen Behandlung berufen zur 
Unterstiitzung ihrer Auffassung iiber den rein cerebralen Ursprung 
der echten Epilepsie. 

Behandlung und Krankheitsgeschichten. 

Aus der durch Versuche mit Sicherheit festgestellten Tatsache. 
daB namlich Epilepsie eine Vergiftimg mit normalen Stoffwechsel- 
produkten ist, die durch Hypofunktion der Schilddriise und der 
Nebenschilddriisen nicht geniigend entgiftet wurden, folgt die Be¬ 
handlung von selbst; man fiille bei dem Patienten das Zuwenig 
an, und um dies so vollkommen wie moglich zu tun, wurde stets 
frischer PreBsaft angewendet. Dabei fiel sogleich auf, daB es bis 
jetzt immer unmoglich erschien, vorher eine Dosierung festzu- 
stellen; hierbei ergab sich, daB sehr groBe individuelle Unterschiede 
bestehen, so daB der eine mehr notig zu haben schien als der 


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150 B o l t o n . Patliogenose und Therapie dor genninen Epilepsie. 


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andere; merkwiirdig war hierbei, daB das offensichtliche Zuwenig 
an Schilddriisensekret nicht in einem nachweisbaren Verhaltnis 
steht zu der Heftigkeit und der Art der klinischen Erscheinungen. 
Bei der Behandlung muBte also jeder Patient als auf sieh selbst 
stehender Fall betrachtet werden, und es muBte auf dem Versuchs- 
wege festgestellt werden, welche Menge des PreBsaftes fur ihn die 
giinstigsten Folgen hat. Wie bereits gesagt ist, wurde das Mittel 
stets rektal dargereicht, um eine eventuelle schadliche Wirkung 
der Salzsaure des Magens auszuschlieBen, mit in Verband mit dem 
moglichen Vorhandensein von Fermenten. 

In alien Fallen, wo noch keine deutliche sekundare Dementia 
eingetreten war, trat durch die Behandlung eine sehr gewichtige 
Besserung resp. ein vollstandig gelungenes Verschwinden der 
Erscheinungen ein. Ein zweiter Faktor, der sich vorher durchaus 
nicht berechnen, ja selbst annahemd nicht einmal schatzen lieB, 
ist die Zeit, die notig ist, um eine deutliche Verbesserung zu er- 
reichen; in manchen Fallen, die aus verschiedenen Griinden doch 
sicherlich nicht zu den leichtesten gerechnet werden konnten 
(bereits mehrjahriges Bestehen der Erscheinungen, viele bezw. 
schwere Anfalle), trat die Verbesserung wunderbar rasch ein — 
so daB diese Besserung anfanglich mit groflem Argwohn angesehen 
wurde —, da in den genannten Fallen eigentlich vom Beginn der 
Behandlung an alle Erscheinungen so gut als vollkommen wegblieben. 
Dagegen forderten andere Falle, die sich augenscheinlich viel 
leichter ansehen lieBen, bisweilen viel mehr Zeit; so dauerte es in 
einem Falle beinahe 7 Monate, ehe sich eine merkbare Besserung 
einstellte; diese war aber dann auch sehr ins Auge springend und 
hielt bis jetzt an. Aus dieser Tatsache, daB namlich die so ge- 
wiinschten Resultate wohl einmal ziemlich lange auf sich warten 
lassen, ist zu erklaren, daB in nicht so seltenen Fallen der Patient 
die Kur unterbrach: es scheint nun einmal, daB des Menschen 
Geduld in vielen Fallen nicht groB ist; die hier gemeinten Patienten 
achteten w r enigstens — und das zumal noch bei ganz kostenloser 
Behandlung — ihre Geduld bereits iiberbelastet, wenn innerhalb 
6 Wochen noch keine fiihlbaren Resultate erzielt waren. Auch in 
anderer Hinsicht sind Tauschungen uns nicht erspart geblieben, 
und zwar, weil es in nicht seltenen Fallen unmoglich ist, mit Sicherheit 
die Diagnose zu stellen , und in Wirklichkeit erst die Leichenoffnung 
dariiber vollkommene Sicherheit geben konnte. Ist namlich die 
differentielle Diagnose zwischen Epilepsie und Hysterie, wenn sie 
auch oft weit davon entfernt ist, bequem zu sein, bei klinischen 
Wahrnehmungen wohl immer mit Sicherheit zu stellen, so ist 
dies nicht der Fall in dem Dilemma: echte (essentielle) Epilepsie 
oder Folge einer uberstandenen Meningo-encephalitis ? Wie bereits 
gesagt ist, fand Marchand bei seinen Fallen von ,,Epilepsie 4 ‘ stets 
eine Verwachsung zwischen Gehirnrinde und Pia mater, wohl ein 
Beweis, daB er ausschlieBlich Falle von Meningitis auf den 
Seziertisch bekommen hat, denn gerade in alien Fallen der echten 
Epilepsie sind die Gehirnhaute immer vollkommen unversehrt. 


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B o 1 t e u . Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 151 

In Anbetracht der auBergewohnlichen Mannigfaltigkeit an 
Meningitis im jugendlichen Lebensalter folgt hieraus die gewaltig 
groBe Moglichkeit, die wir haben, eine verkehrte Diagnose zn 
stellen, wenn wir nicht iiber eine sehr zuverlassige und eingehende 
Anamnese verfiigen (und das ist bei Patienten aus der Volksklasse 
sehr oft der Fall). Ich habe denn auch sehr viele Falle gehabt, 
wo auf Grund langdauernder klinischer Wahrnehmung und durch 
die Art der Erseheinungen, bei vollkommenem Fehlen von Herd- 
symptomen, keine andere Diagnose gestellt werden konnte als 
,,echte Epilepsie 44 , und wo doch an einem oder anderem Tage durch 
zuverlassige anamnestische Tatsachen plotzlich die l T eberzeugung 
kam, daB wir mit den Folgen einer alten Meningitis zu tun hatten. 
Diese Tatsache hat bis jetzt zu sehr viel Verwirrung AnlaB gegeben. 
So sagt z. B. kein geringerer als Oppenheim , daB ,,eine in der 
Kindheit uberstandene organische Hirnkrankheit den AnstoB zur 
Entwickelung der Epilepsie geben kann. Einige Forscher wie 
Marie , Freud u. A. gehen selbst so weit, die Epilepsie generell auf 
eine derartige organische Erkrankung der Hirnrinden zuriick- 
fiihren zu wollen“ usw. Dies ist naturlich eine vollkommen unrichtig 
Vorstellung der Vorgange: bei Gehirnrinden- und Gehirnhaut- 
entziindungen tritt spater oft eine Krankheit auf, wobei auch 
Anfalle sich einstellen, doch das ist dann eerebrale Epilepsie, die 
nichts mit der genuinen oder essentiellen Epilepsie zu tun hat, 
wobei allein als sekundare Erscheinung Abweichungen in cerebro 
vorkommen konnen, aber nicht miissen. Es wird denn auch hohe 
Zeit, daB eine scharfe Grenze gezogen wird zwischen der cerebralen 
(Rinden-) Epilepsie undjder echten Epilepsie, zwei Krankheiten, 
die auBerlich wunderbar einander gleichen, doch atiologisch und 
pathogenetisch buchstablich nichts miteinander zu tun haben. 

Tilmann hat darauf hingewiesen, daB die Unterscheidung in 
allgemeine und partielle Krampfe nur sehr relativen Wert hat: 
partielle Krampfe konnen ohne Herdlasion auftreten, und diese 
letzten konnen auch allgemeine Krampfe geben. Jelgersma sagt 
denn auch vollkommen mit Recht: ,,Ob die Gehirnrinde durch 
Alkohol oder durch ein anderes Gift gereizt wird, oder daB der Reiz 
durch einen pathologischen Herd im Gehim entsteht, tut zum 
Effekt, dem epileptischen Insult, im Prinzip nichts.“ Auch Bins- 
wanger weist darauf hin, daB ein ortlicher Reiz der Rinde zur 
,,Ladung t£ der ganzen Rinde AnlaB geben kann. 

In erster Linie liegen also wohl diese Schwierigkeiten: ab- 
gesehen von den Fallen, wo ein oder mehrere Herdsymptome als 
Hinwels fiir eine zu lokalisierende Erkrankung vorhanden sind, 
kommt es sehr oft vor, daB jede Herderscheinung auf einmal 
fehlt, und doch eine primare, diffuse Erkrankung der Gehirnrinde 
oder der Gehimhaute (gewohnlich von beiden) vorliegt. Wiewohl 
ich geraume Zeit versehiedene Falle klinisch habe wahmehmen 
konnen, wo die Diagnose auf Grund der klinischen Erseheinungen 
auf echte Epilepsie gestellt werden muBte, und wo sich spater 
(anamnestiseh) herausstellte, daB eine alte Meningitis im Spiel 


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152 Bolt-en, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 

war, hat es mir nicht gelingen wollen, auch nicht durch Lumbal- 
punktion und zytologische Untersuchung, irgendein brauchbares. 
Differentialdiagnostikum festzustellen. Immerhin, es erschien 
uns, daB die negativen Ergebnisse der Untersuchung der Cerebro- 
spinalfliissigkeit darum eine friiher uberstandene Meningitis nicht 
per se ausschlieBen. 

Unter den 40 Patienten, die ich langer als drei Monate be- 
handelte (abgesehen von denjenigen, die aus Mangel an Geduld 
kiirzer unter Behandlung blieben), waren acht, von denen all- 
mahlich angenommen werden muBte auf Gnrnd anamnestischer 
Tatsachen, daB sie in ihrer friihen Jugend eine Meningitis resp. 
eine Meningoencephalitis durchgemacht hatten, wahrend dies in 
drei Fallen zweifelhaft, wenn auch wahrscheinlich war. In diesen 
letzten drei Fallen hatten die Patienten in ihrer friihen Jugend an 
,,Krampfe“ gelitten, doch es war nicht moglich, hinreichende 
Angaben tiber Art, Dauer, Heftigkeit dieser Krampfe, Fieber und 
andere Besonderheiten zu sammeln, so daB nicht mit Sicherheit 
Meningitis angenommen werden konnte. Dagegen waren bei den 
acht ersten Fallen allmahlich die notigen Criteria zusammenzu- 
bekommen (plotzlich heftiges Krankwerden mit hohem Fieber, 
Erbrechen, Nackensteifheit und Krampfe, die bisweilen viele 
Stunden dauerten usw.). Bei diesen elf Fallen hatte die Behandlung 
nicht den mindesten Erfolg, und dies ist natiirlich sehr leicht 
erklarbar mit Riicksicht auf die anfanglich verkehrt gestellte 
Diagnose. ^ 

Bei nicht weniger als acht Fallen trat sehr schnell eine sehr 
merkbare und bleibende Besserung ein, die beinahe immer tiber- 
einkam mit einem volligen Verschwinden der Erscheinungen. 

1. G., Mann von 45 Jahren 1 ). Litt seit vielen Jahren an „Schwindel- 
anfallen“ und seit 5 Jahren an Krampfanfallen, 2—5 in 24 Stunden, haupt- 
sachlich des Nachts; ZungenbeiBen und unwillkiirliches Urinlassen sind 
dabei Regel. 

Hereditare Belastung: sein Vater war Potator strenuus. Behandlung 
begonnen Anfang 1911. Hat seit diesem Zeitpunkt so gut vrie keine Erschei¬ 
nungen von Epilepsie mehr gezeigt. 

2. S., junger Mann von 18 Jahren. Leidet seit ungefahr 10 Jahren 
an Anfallen von ,,Petit mal“ und etwas kiirzer an Krampfanfallen; diese 
letzteren kamen in den letzten Jahren auBerordentlich regelmaBig 1 oder 
2 mal in einer oder zwei Wochen; dabei viele Anfalle von „Petit mal“. 
Anfalle iiberwiegend des Morgens friih beim Anziehen. GroBe erbliche 
Belastung: der Vater der Mutter war Potator, die Mutter ist Hysterica 
und eine Schwester der Mutter Epileptica. Patient ist, mit zwei Briidern 
und seiner Mutter, regelmaBig unter meiner Behandlung, alle wegen Nerven- 
8torungen. Behandlung begonnen am 28. XII. 1910; seit d/iesem Datum 
ist Patient so gut wie vollkommen frei von alien Erscheinungen seiner Krankheit 
gewesen , wobei noch hinzukommt, daB sein Intellekt merkbar aufgeklart ist. 


1 ) Um nicht zu ausfiihrlich zu werden, werden diese Krankhoits- 
geschichten nur sehr verkiirzt gegeben. Darum sei hier mitgeteilt, daB von 
alien zu meldenden Fallen die Diagnose ,,echte Epilepsie 4 * hinreichend fest- 
steht, und daB namentlich Hysterie, organische Gehirnentzundungen und 
die „Affekt-Epilepsie 44 von Bratz auszuschlieBen sind. 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 153 


3 . K., Mann 35 Jahre. Seit ungefahr 5 Jahren von schweren Anfallen 
geplagt; er ist bereits einmal ins Haager Krankenhaus im Status epilepticus 
gebracht worden; zeigte danach einen langdauernden deliranten Traum- 
zustand, der seine Aufnahme in eine Anstalt notwendig machte. Ist daraus 
nach ca. 3 Monaten wieder entlassen. Vererbt: Vater Potator, Bruder des 
Patienten ein Hysterisch-Irrsinniger. 

Ist van Beginn der Bekandlung an frei von Erscheinungen geblieben. 

4 . S., Mann, 34 Jahre. Hat seit 7 Jahren an Schwindeianfallenzu ieiden, 
die Ursache waren, daB er aus seinem Dienst als Landgendarm entlassen 
werden rauBte; spater sind auch Anfalle hinzugetreten, wobei ZungenbeiBen 
und unwillkiirliches Urinlassen vorkamen. Ueber hereditare Momente ist 
nichts bekannt. 1st vom Begirm der Bekandlung frei v>on Erscheinungen 
geblieben . 

5. H., Mann, 32 Jahre. Anfalle von Ende 1910 an; hatte im ganzen 
10 Anfalle, bevor er in Behandlung k*m. Stammt au-i neuropathischer 
Familie (Mutter und Bruder des Patienten sind sehr nervo^,) Anfalle mit 
ZungenbeiBen, unwillkiirliches Urinlassen und starke Gyano3e. Beliandlung 
begonnen Oktober 1911; seitdern keine E rscheinungen mehr gehabt. 

6. B., Madchen, 28 Jahre. Anfalle vom 17. Jahre an, anfanglich jeden 
Monat, und dann 6—8 hintereinander; allmahlich wurden die Anfalle zahl- 
reicher und sehwerer, dabei waren der „Cri dpileptique“, ZungenbeiBen 
und unwillkiirliches Urinlassen regelmaflig vorhanden. In den letzten 
Jahren selten langer als 3 Tage frei von Anfallen; meist jede Naeht, gegen 
Morgen, ein Anfall, gefolgt von schweren Kopfschmerzen. Ist nun drei 
Monate unter Behandlung und in dieser Zeit so gut wie gam frei von Anfallen 
gewesen. 

7 . S., Mann, 25 Jahre. Anfalle seit einem Jahre, meistens des Nachts 
und verbunden mit ZungenbeiBen und unwillkiirlichem Urinlassen, Neuro- 
pathische Familie: Mutter sehr nervos. Bruder mit groBen psychischen 
Defekten behaftet. Behandlung begonnen €im 26. X. 1911; seitdem frei 
von Erscheinungen. 

8. G., Madchen, 18 Jahre alt. Anfalle seit Jahren, anfangs mit langen 
Zwischenpausen, die jedoch allmahlich kiirzer wiirden, so daB Patient in 
in den letzten Jahren durchschnittlich einen Anfall per Woche hatte. AuBer- 
dem jeden Tag, vor allem des Morgens beim Aufstehen und Ankleiden, 
zahlreiche (5—25) kleine inotorische Entladungen, welche die Familie 
„Zuckungen“ nannte, und wobei sie eine oder einige kraftige Zusammen- 
ziehungen der Kopf-, Humpf- und Armmuskeln ausfiihrte. Hereditare Be- 
lastung nicht vorhanden. Patient in gebrauchte viel Brom. Die Familie 
wuBte, daB sie beim Aufhoren des Bromgebrauches unmittelbar ganze 
Reihen Anfalle bekam. Behandlung begann Juli 1911; alles Brom wurde, 
ebenso wie in alien anderen Fallen, sogleich unterlassen, und trotzdem hat 
Patientin nur noch zweimal einen sehr leichtenAnfall gehabt, und es sind auch 
die „Shocks“ schnell imd sehr stark vermindert. 

AuBer diesen acht Fallen, bei denen die Ergebnisse auffallend 
giinstig waren und sich bereits sehr schnell zeigten, waren 18, bei 
denen die gewiinschte Verbesserung langer auf sich warten lieB, 
und es waren 3—6 Monate notig, bevor eine unverkennbare Ab- 
nahme der Erscheinungen eintrat. Doch dann wurde auch die 
beiderseitige Geduld belohnt, und es kamen regelmaBig die ge- 
wiinschten Veranderungen in der Form von Verminderung der 
Anfalle, Schwindelzustande, Kopfschmerzen, wahrend oft in den 
ersten zwei oder drei Monaten nicht die geringste Veranderung 
oder Verbesserung zu spiiren war. Aus der Dauer der Krankheit. 
der Art, der Mannigfaltigkeit und der Heftigkeit der verschiedenen 
Erscheinungen konnte man von vornherein durchaus nicht be- 


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154 B o 11 e n . Pathogenese und Therapie der genuincn Epilepsie. 

stimmen, ob die Resultato lange Zeit auf sich warten lassen wurden 
oder nicht. In einem Falle (Anfalle seit 8 Jahren nicht haufig, 
bisweilen hintereinander lange Zeiten abgewechselt durch Aequi- 
valente in der Form von Angstanfallen mit starken vasomotorischen 
Storungen) dauerte es selbst ungefahr 7 Monate, ehe eine merkbare 
Yerbesserung eintrat. 

Dann waren vier Patienten, Kinder unter 6 Jahren; auf Grund 
des beinahe unmerkbaren Beginnes ihrer Erscheinungen (Augen- 
verdrehen, Starraugen, kleine tonieche Krampfe und Zuckungen) 
und des langsamen Aergerwerdens bis zu vollkommenen Anfallen 
konnte in alien vier Fallen die Diagnose ,,Epilepsie“ mit Sicherheit 
gestellt werden. AuBer den Anfallen zeigten sie auch andere 
Erscheinungen: leichtes Zurtickbleiben des Intellektes, Storungen 
im Zahnen, Enuresis noctuma usw.; bei alien vier verschwanden 
die Zufalle ebenso wie das Bettnassen, wahrend der Intellekt 
merkbar klarer wurde und das Zahnen beschleunigt wurde. 

Nur 2 von den gut 40 Patienten, die auf diese Weise behandelt 
wurden (rektale Darreichung von frischem PreBsaft der Schild- 
drlise und Nebenschilddrusen, ohne Anwendung von Brom oder 
eines anderen Heilmittels), wurden nicht besser, trotzdem beide 
beinahe zwei Jahre regelmaBig behandelt wurden (abgesehen von 
den elf Fallen von Meningoencephalitis, die auch nicht heilten). 
Doch bei beiden war be re its eine deutliche sekundare Dementia 
aufgetreten; es muB also wohl als ausgemacht beschaut werden, 
daB, wenn die Intoxikation bereits eine deutliche Randgliose usw. in 
der Gehimrinde hervorgerufen hat, der weitere Verlauf der Krank- 
heit nicht mehr aufzuhalten ist; hochstens kann gesagt werden, 
daB der Zustand dieser Patienten sich nicht verschlimmerte. 

Einige lose Bemerkungen mogen hier noch einen Platz finden; 
ob Dipsomanie eine Aeusserimg periodischer epileptischer ,,Ver- 
stimmung 44 ist, wie Kraepelin u. A. behaupten, konnte ich ex- 
perimentell nicht nachgehen; w r ohl konnte ich feststellen, daB 
Epilepsia tarda und echte Epilepsie pathogenetisch nichts mit- 
einander zu tun haben: ich habe einen Kollegen, welcher an 
,,Spatepilepsie <4 litt, ein voiles Jahr ,,antiepileptisch 4t behandelt, 
jedoch ohne irgendeinen Erfolg. Auch w r ar es mir vergonnt, zwei 
Falle der ,,Affektepilepsie“ von Bratz w r ahrzunehmen; da deren 
Anfalle beim Aufhoren der emotiven Reize von selbst aufhoren, 
war bei ihnen keine antiepileptische Behandlung anzuwenden. 
Was die Pathogenese betrifft, so wage ich zu behaupten, daB als 
Folge der Emotionen zeitliche funktionelle Storungen (GefaB- 
krampf usw.) im sympathischen System auftreten und darum 
eine verminderte Funktion der Schilddriise, die unter dem EinfluB 
des Ganglion infimum nervi sympathici steht. Ist diese Erklarung 
richtig, so besteht also mehr Verwandtschaft zwischen echter 
Epilepsie und Affektepilepsie von Bratz , als man oberflachlich 
hatte vermuten konnen; die erste stellt eine permanente Insuffizienz 
der Schilddriisensekretion dar, vielleicht unter dem EinfluB von 
Lasionen des Nervus svmpathicus, die zweite ist die Folge derselben 


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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 155 


Storungen, die voriibergehend unter EinfluB starker Affekte 
auftreten. 

Was die Behandlung betrifft, so muB noeh bemerkt werden, 
daB damach gestrebt wurde, die Wirkiing der Schild- und Neben- 
schilddriise zu erhohen durch Hinzufiigung anderer frischer PreB- 
safte (Nebenniere, Ovaria, Leber, Pankreas usw.), doch daB diese 
erhohte therapeutische Wirkung ausblieb. Zwar beschreiben 
Claude und Schmiergeld auch bestandige, degenerative Yer- 
anderungen in den Ovarien, doch iniissen diese hochstwahrscheinlich 
als von sekundarer Art betrachtet werden; ebenso wie die Ver- 
anderungen im chromaffinen System, die von Carl beschrieben 
sind bei Tetanus (Verminderung der Anzahl chromaffiner Zellen 
in den Nebennieren). 

Es sei hier noch mitgeteilt, daB meine Zahlen fiir die erbliche 
Predisposition fiir Epilepsie hoher sind, als die meisten Forscher 
sie angeben: unzweifelhafte hereditare Predisposition bestand in 
85pCt. der Feile, in 5pCt. war sie zweifelhaft, wehrend in nur 
lOpCt. keine erblichen Momente nachweisbar waren. Bei den 
erblich Belasteten war fiir gut die Heifte der Feile die Ursache 
fiir Epilepsie (das will sagen die indirekte Ursache) in der Trunk- 
sucht eines Teiles der Eltern oder beider zu suchen; damach 
kamen Psychosen oder Neurosen bei einem Teil der Eltern oder 
bei beiden. 

Zusammenfassend konnen wir aus unseren Untersuchungen 
folgende Schlusse ziehen: 

1. Echte oder essentielle Epilepsie ist eine Toxikose, die 
(vermutlich) verursacht ist sowohl durch normale Zersetzungs- 
produkte unserer Nahrungsstoffe als durch normale Stoffwechsel- 
produkt^e unserer eigenen Zellen; die Art dieser Toxine ist noch 
nicht festzustellen. 

2. Diese toxischen Stoffe werden unzureichend neutralisiert 
(oder eliminiert, umgesetzt) durch unzureichende Wirkung der 
Schilddriise und der Nebenschilddriisen, der Organe, die das 
zentrale Nervensystem gegen Toxine schutzen miissen. 

3. Die Insuffizienz der Schilddriise und der Nebenschilddriisen 
ist vielleicht auch wieder sekundar, \md zwar abhangig von Storun- 
gen im Ganglion infimum nervi sympathici. 

4. Die bei echter Epilepsie in der Gehimrinde gefundenen 
Abweichungen sind entschieden nicht die Ursache der Krankheit, 
sondem sekundar: sie werden durch die chronische Intoxikation 
verursacht. 

5. Echte Epilepsie ist in vielen Fallen klinisch nicht zu unter- 
scheiden von symptomatischer Epilepsie infolge von Meningitis 
(bzw. Meningoencephalitis); diese letztere ist oft nicht durch 
Symptomatologie, sondern nur durch Anamnese oder Leichen- 
offnung festzustellen. 

6. Auch die Epilepsia tarda, wenn sie auch in den Erscheinungen 
viel mit echter Epilepsie ubereinstimmt, hat mit der letzten, was 
die Pathogenese betrifft, nichts zu tun. 


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156 Bolton, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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7. Echte oder essentielle Epilepsie ist sehr gut heilbar (d. 
w. s. man kann den Patienten vollkommen frei von Symptomen 
bekommen) durch rektale Einspritzungen mit frischem PreBsaft 
der Schilddrus? und der N ebensehilddriise von Rindem. 

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158 Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 


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K u t z i n s k i , Ueber die Beeinf lussung etc. 


159 


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„Stoffwechselimtersuchungen an Kranken mit epileptischen und epilepti- 
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S. 1. — Tilmann , „Die chirurgische Behandlung der traumatischen Epi- 
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Morbus Basedowii. 44 Dtsch. med. Woch. 1911. No. 48. — E. Toulouse , 
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No. 10. — Volland, „Organuntersuchungen bei Epilepsie. 44 Ztschr. f. die 
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der Autointoxikation bei der Epilepsie. 44 Miinch. med. Woch. 1898. No. 26. 
— F. K. Walter , „Ueber den Einflufi der Schilddriise auf die Regeneration 
periph. Nerven/ 4 Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 38. S. 1. — S. WeiU 
,,Die operative Behandlung der Epilepsie. 44 Beitr. z. klin. Chir. 1910. Bd. 70. 
S. 639.— H. Wiener , „Ueber denThyreoglobulingehalt der Schilddriise nach 
experimentellen Eingriffen. 44 Arch. f. experimentelle Pathologie. 1909. 
Bd. 61. S. 297. — Worcester , „Sclerosis of the cornu Ammonia in epilepsy. 4 * 
Joum. of nerv. and mental disease. 1897. S. 288. — A. Ziveri , ,,Sur la 
presence de la choline et du potassium dans le liquide cephalo-rachidien 
et dans le sang des 6pileptiques. 44 Revue neurol. 1908. S. 671 (Ref.). 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite in Berlin. 

JGeh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.]) 

Ueber die Beeinflussung des VorsteUungsablaufes 
durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken. 

Von 

Dr. ARNOLD KUTZINSKI, 

Assistent an der Nervenklinik der Charite. 

(Fortsetzung.) 

IV. Objektreaktionen. 

Jung und Riklin haben als Pradikattyp diejenigen Formen 
bezeichnet, bei denen die inneren Assoziationen gegeniiber den 
sprachlich-motorischen vorherrschen und bei denen die Anzahl 
der Pradikate durchschnittlich um das Doppelte die der Koordi- 

Monatwchrift f. Psyohiatrie u. Neuroloffie. Bd. XXXIIL Heft 2. 11 


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160 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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nationen iiberwiegt. Diese Autoren haben die Koexistenz und 
Identitat zu den aufieren Assoziationen gerechnet. In der Ein- 
teilung der Assoziationen habe ich meine Zweifel an der Be- 
rechtigung dieser Spaltung naher prazisiert. Ich erinnere an die 
fiir unsere Zwecke notwendige Forderung, daB wir die Reaktion 
als das Resultat einer von der Versuchsperson sich selbst gestellten 
Aufgabe betrachten. Fiir uns hat die Gegeniiberstellung innerer 
und auBerer Assoziationsformen, wie es von Jung, Aschajfenburg u.A. 
geschehen ist, keine Bedeutung, weil wir ja von den Versuchs- 
personen eine Auskunft iiber die Qualitat nicht erlangen konnten. 
Ich verweise auf unsere Trennung in Objekt- und Verbalassozia- 
tionen. Gesondert wurden die Gefuhlsreaktionen beurteilt. Auch 
die Tautologien sind selbstandig zu verwerten. 

Ich habe mir nun die Frage vorgelegt, ob nicht durch den 
Komplex die eine oder andere Reaktionsform verschiedentlich 
beeinfluBt ivird. Zunachst konnte man ja eine Vermehrung der 
Objektreaktionen erwarten, wenn die Annahme von Jung und 
Riklin auch fiir Komplexe unserer Art zutrifft. Danach sollen 
beim Pradikattyp infolge der groBeren Lebhaftigkeit des inneren 
Bildes mehr gefiihlsbetonte Komplexe angeregt werden, als bei 
anderen Typen. Diese Tatsache ist dahin zu variieren, daB bei 
vermehrten Komplexreaktionen die Zahl der inneren — in unserem 
Fall der Objektreaktionen zunimmt. Zu Vergleichszwecken ver¬ 
weise ich darauf, daB unsere Gruppe der Objektreaktionen 
den groBten Teil der inneren und auBeren von Jung 
und Riklin in sich begreift. Es kommen nur einzelne unerheb- 
liche andere Reaktionsweisen, namlich Sprichworter, Zitate 
und Worterganzungen in Fortfall. Diese Reaktionen sind mu 
sehr sparlich vorhanden mid mit 2 pCt. der Gesamtzahl nicht zu 
hoch veranschlagt, sie sind unter Verbalreaktionen zu rubrizieren. 
FaBt man mit Vernachlassigung dieser Fehlerquelle die Werte 
von Jung imd Riklin fiir ungebildete Frauen und Manner zu- 
sammen, so findet man, daB bei ihnen di? Objektassoziationen im 
Durchschnitt 96 pCt. ausmachen, bei uns schwanken sie zwischen 
67,7 und 78,6 pCt. Die Differenz findet nicht in den ego- 
zentrischen Reaktionen ihre Erklarung, wenn diese auch in alien 
Versuchsreihen um 1—4 pCt. hoher ist, als bei den zitierten 
Autoren. Es ware moglich, daB die zahlreichen Fehlerreaktionen, 
deren Grenzzahlen 8,3 und 13,4 pCt. betragen, diese Unter- 
schiede verursachten. Wie vielgestaltig die Deutung der hohen 
Fehlerzahl ist, ist bereits hervorgehoben. DaB Schwierigkeit 
und Langsamkeit der Auffassung des Reizwortes nicht die 
Hauptursache der Fehler bilden, zeigen Tatsachen wie das Fehlen 
von Ausfallsreaktionen bei Dammerzustanden oder der Kontrast 
bei melancholischen Zustanden. Bei diesen treten trotz. gleicher 
Stimmungslage bei der 1. und 2. Versuchsreihe 6,9 und 4,1 pCt. 
Fehler auf, und in der 3. Versuchsreihe sind sie iiberhaupt nicht 
vorhanden. DaB bei der i/vsterie eine erschwerte Auffassung des 
Reizwortes besteht, ist nicht w r ahrscheinlich. Trotzdem zeigt auch 


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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 161 

diese Gruppe als Hochstwert nur 80,6 pCt. Objektreaktionen. 
Die Fehler konnen also nicht als alleinige Ursache der relativ ge- 
ringen inneren Assoziationen betrachtet werden, wenn sie auch im 
Vergleich zu den Fehlern bei anderen Autoren eine deutliche Ver- 
mehrung aufweisen. Selbst wenn man von dieser Hanptquelle 
verminderter Objektassoziationen absieht, fiihrt immer noch der 
Vergleich mit den Verbalreaktionen zu dem beachtenswerten 
Resultat, daB bei vielen Einzelgruppen und auch im Durchschnitt 
die Verbalassoziationen starker als bei Jungs und Biklins Ver- 
suchen vorhanden sind. 

Wichtiger ist die Frage, ob der Komplex eine Ablenkung dar- 
stellt, bei deren Einwirkung die inneren Assoziationen gegeniiber 
den sprachlichen zuriicktreten. Das ist nicht einwandfrei nach- 
zuweisen. Es besteht, wie aus Tabelle XlVa hervorgeht, sogar 
eine wenn auch unbedeutende Verringerung der letzteren bei er- 
hohtem KomplexeinfluB. 


Tabelle XIV a. 

In Prozent. 


Ij A-Serie 1 B-Serie 

BeaktionHform || Yersuchsreiho j Yorsuchsreiho 


1 

L.r_ n 

i in i 

II 

III 

Verbalreaktion. 

| 3,4 ; 2,9 

2 0 < 4,8 

3.7 

4,9 

Objektreaktion. 

| 75.1 | 78,6 

78,1 ; 66,0 

68,2 

68.5 

Komplexreaktion. 

1 4,4 | 5,8 , 

I 2.6 I! — 

5 8 

5,4 


Es ist also auch moglich, daB die Geschichte statt zu einer 
Verflachung zu einer Verinnerlichung der Assoziationen fiihrte. 
Diese Faktoren werden anschaulicher bei Betrachtung der ein- 
zelnen Gruppen. 

DaB von einer bestimmten RegelmaBigkeit nicht die Rede sein 
kann, bedarf bei dem mannigfaltigen Material keiner nochmaligen 
Betonung. Zunachst gibt es Typen, bei denen Hohe der Komplex- 
reaktion und Objektreaktion parallel gchtn. Hierzu rechne ich 
die Dementia epileptica und die Debilitat. Den hohen Komplex- 
werten entspricht durchgangig eine hohe Zahl von inhaltlichen 
Assoziationen. Diese iiberwiegen auch bei den paranoischen Zu- 
standen und der Amentia. Auch hier scheint Sinken der Komplex- 
reaktionen zu einer Abnahme der Objektreaktionen zu fiihren (z. B. 
93,2 : 5,5 gegeniiber 85,6 :2,7). DaB die Fixierung und die 
Uebung durch die 1. Versuchsreihe, ferner die verschiedenen Grade 
der Komplexwirkung, je nachdem der Komplex unmittelbar oder 
mittelbar, an erster oder an zweiter Stelle exponiert wird, die 
Resultate beeintrachtigen, wird man dabei nicht vergessen diirfen. 
Gerade die Zunahme von inneren Assoziationen bei der 2. Paranoia- 
reihe der A-Serie trotz herabgesetzter Komplexzahlen beweist uns 
das. In diesem Fall hat die Fixation der 1. Versuchsreihe die zu 

11 * 


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K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung 


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Tabelle XIV b. 

In Prozenten. 



i' 

A-Serie 



B-Serie 


Diagnose 

Keaktionsform '■ 

Versnchsreihe 

1 Versuchsreihe 

! 

. [ 

1 

II 

hi 

Li j 

ii | 

III 

Dem. epil. 

1 

Objektreaktion 

i 

93,1 i 

83,2 

_ _ 

80.2 

i 

99,4 1 

99 8 


Verbalreaktion 

— 

-— 

— 

6,6 

2 8 

0 0 


Komplexreaktion j 

4.0 | 

2,5 

i 



8,3 

8,3 

Debilitat- 

Objektreaktion 

83.4 

91,5 

91,1 

i 

71.0 

74.8 


j Verbalreaktion 1 

! 5.6 

2,8 

8,4 ! 

71,4 

1,6 

0.6 

i 

i Komplexreaktion ; 

5,6 

5,6 

5,6 

, 2.3 

2.8 , 

1,3 

Hysteric 

Objektreaktion 

i 76,2 

68,1 

76,4 I 

1 80,6 1 

80,5 

68,3 

1 

Verbalreaktion 

4 6 1 

6,4 

9.0 | 

1 2,3 

1,6 

; P3 

1 

1 Komplexreaktion 

| 6.5 

8,3 

1 4,1 1 

! 

6,7 | 

8.3 

Paranoisch. 

| Objektreaktion 

93.2 1 

1 97.2 


84.6 ! 

85.6 ' 

78.1 

Zustande | 

Verbalreaktion 

| 0 1 

2,8 


1.6 

1.2 

0,7 


Komplexreaktion 

5,5 | 

| 2.8 



2,7 

1.7 

Hebephre- 

Objektreaktion 11 66,6 ' 

94,0 

— 

1 68.7 

72.8 ! 

| 63,8 

nie 

Verbalreaktion 

0 l 

i 0 

— 

| 6.6 

6,7 i 

! 12.5 


Komplexreaktion 

5,5 1 

1 5,5 


i — 

6.2 : 

1 4,9 

I laminer- 

! Objektreaktion 1 

69,4 . 

61,0 | 

94,5 

1 86,6 

88.9 ! 

77,5 

zustande 

Verbalreaktion | 

0 

0 ! 

0 

1 0 

0 1 

0 


Komplexreaktion |! 

I 0 

13,9 j 

2,8 

— 

10.8 | 

2.8 

Ament ia 

Objektreaktion 

! - 

— 

— 

26,6 

30.6 

i 27.8 


Verbalreaktion 

j- 

— 

— ; 

3,3 

0 

0 


Komp lexreaktion 

l 

— 

— 

! — 

8,3 

; 2.8 

Dem. paral. 

Objektreaktion 

| 64.0 

63,8" 

1 58.2 

58.9 

73.7 

78,1 


Verbalreaktion 

0 

0 

0 

3.3 

3,7 j 

0 9 


Komplexreaktion 

i 0 

11,1 

1 8.3 

— 

3,4 

3,4 

Manie 

Objektreaktion 

79.6 

84,8 

69.2 1 

84,7 

59,7 

76.3 


Verbalreaktion 

5,6 

5,6 

2.8 

3,4 

1,4 

3.1 


Komp lexreaktion 

8.3 

9,7 

5.5 

— 

4,2 

1,4 

Dem. senil. 

1 Objektreaktion i 

50,0 

37,2 

— 

: 36.6 

55,6 

53 1 


Verbalreaktion ; 

13,9 

11,1 


1 49,9 ! 

1 36,1 

38,8 


1 Komplexreaktion 

5,6 

8.3 

— 

1 

1 8,4 

11.1 

Melancholie 

1 Objektreaktion 

75,2 

1 85,0 

! 78,3 

I 83,3 

76,8 

91,0 


Verbalreaktion 

0 

! o 

0 

2.6 

2,0 

1,7 


Komplexreaktion 

1.7 

0 

0 


2,5 

1.9 

Dementia 

1 Objektreaktion 



1 

1 86.2 

80.9 

87,5 

alcohol. 

Verbalreaktion 




6.6 

0,8 

2,8 


| Komplexreaktion 




n 

4,2 

4,2 

Korsakoff 

Objektreaktion | 




j 10.0 

16,7 

19,5 


Verbalreaktion j 

| 


1 

36,6 

41,7 

39,4 


Komplexreaktion | 

1 



1 

3,0 

2,0 


erwartende Abnahme verhindert. Bei anderen Gruppen besteht 
ein reziprokes Verhaltnis zwischen Komplexreaktionen und inneren 
Assoziationen. Dabei werden aber diese nicht durch Verbal- 
reaktionen ersetzt. So verhalt es sich z. B. bei der Melancholie. 
Hier wird durch den Komplex die Zahl der Objektreaktionen 
verringert, ohne daB eine entsprechende Zunahme der Verbal- 
reaktionen eintritt. Das gleiche Verhalten bietet die Hysteric. 


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des Vorstellungsablaufes diirch Geschicht-skomplexo etc. 163 

Ob gerade diese Gruppen nicht den normalen Typ reprasentieren, 
kann ich nicht entscheiden. Ich mochte es bezweifeln, weil die 
inhaltlichen Reaktionen bei ihnen relativ gering sind, aber nach 
unserer Auf Jung sich stiitzenden Anschauung bei Normalen sonst 
sehr hohe Werte haben. Ein Beispiel fiir groQe Schwankungen 
bilden die Dimmerzustande, bei denen bald die eine, bald die 
andere Kombination beobachtet wird. Auch bei ihnen sind die 
inneren Assoziationen relativ niedrig. Hier findet aber diese Tat- 
sache in der hohen Zahl der Fehler ihre Erklarung. Bei der Manie 
wird durch den Komplex die Prozentzahl der Objektreaktionen 
verringert, ohne daB eine entsprechende Zunahme der anderen 
Reaktionsweise stattfindet, aber eine durchgehende Einheitlich- 
keit wird auch bei der Manie vermiBt. 

Zusammenfassend kann man fiir die S 16 - 
rungen der Dissoziation sagen, daB dort, wo 
eine Befolgung der Aufgabe zwar stattfindet, 
aber nur fiir kurze Zeit, die Aufgabe eine 
deutliche Steigerung der K o n z e n t r a t io n her- 
vorruft. Diese Steigerung macht sich in der 
Vermehrung der inneren Assoziationen b e - 
m e r k b ar. 

Am groBten ist der Kontrast bei der Hebephrenie, bei der 
ein Zusammenhang auch mit der Zahl der Komplexreaktionen 
nicht konstatiert wird. Auffallig bleibt, daB bei der Paralyse 
trotz groBer Komplexwirkung die Zahl der Objektreaktionen nur 
gering ist. Eine anscheinende Abhangigkeit der Verbalasso- 
ziationen von der Hohe der Objektreaktionen und dem Komplex 
scheint bei der Dementia senilis und dem Korsakoff 
zu bestehen. Mit vermehrter Geschichtswirkung nimmt der 
Prozenteatz von inhaltlichen Reaktionen ab, von verbalen zu. 
Bei diesen beiden Formen tritt also eine Ve r- 
flachung der Assoziationen ein, wennwir sie 
vom EinfluB des Komplexes aus betrachten. 
Bei unmittelbaremGeschichtseinfluB scheint 
aber eine deutliche Vermehrung der inneren 
Assoziationen stattzufinden. 

Gegen diese Betrachtung richtet sich der Ein wand, daB wir 
in unserer Gruppierung eine zu groBe Zahl von inneren Assoziationen 
haben. Ich habe deshalb fur einzelne Gruppen eine Zusammen- 
fassung der Reaktionen, dem Jungachen Schema entsprechend, 
vorgenommen. Auch hier sind einwandfreie Ablenkungswirkungen 
nicht erkennbar. Zu demselbenResultat fiihrt dieZusammenstellung 
von pradikativen Reaktionen. Es soli auf sie spater bei Erorterung 
der grammatikalischen Beziehungen eingegangen werden. Ueber- 
blickt man ohne Beriicksichtigung des Komplexeinflusses die 
Haupttabelle, so stoBt man auf eine groBe Zahl von Verbal* 
assoziationen bei den Zustanden mit schwerem Merkdefekt. Auch 
in den Gruppen, bei denen im Mittelpunkt die Aufmerksamkeits- 
storung steht, sind Verbalassoziationen starker vertreten, be- 


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164 


Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


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sonders dort, wo es zu schweren Sejunktionsstorungen gekommen 
ist (Dammerzustande), wahrend die Manie nur mittlere Zahlen 
aufweist. Auch bei der Hysterie, bei der ja die sprachliche Ge- 
wandtheit am besten entwickelt ist, tritt nur einmal ein etwas 
hoherer Wert (9,0 pCt.) auf. Bemerkenswert ist, daB bei der 
Melaneholie Verbalassoziationen sparlich vorhanden sind. 

Der Gegensatz zu dem groBen Prozentsatz sprachlich-moto- 
rischer Formen bei Jungs und Riklins ungebildeten Frauen und 
Mannern wird auch nicht ausgeglichen, wenn ich nach dem Vorbild 
dieser Autoren die Tautologien den Verbalwerten zufiige. DaB 
iibrigens diese Zusammenkoppelung fur unsere Zwecke nicht be- 
rechtigt ist, lehren die Prozentvergleiche. Es miiBte, wenn es sich 
um gleichwertige Vorgange handelte, eine parallel gehende 
Steigerung bei beiden Reaktionsformen stattfinden. Wir sehen 
statt dessen bei verbalstarken Gruppen, wie z. B. beim Korsakoff, 
nur sparliche Tautologien. Auch die Erwartung, daB der Komplex 
eine Herabminderung dieser Reaktionsformen ausloste, bestatigt 
sich nicht durcligehend. 


Tautologieen Tabelle XV. 

In Prozenten. 


Diagnose 

A-Serie 

Versuchsreihe 

I ! II ! in 

B-Serie 

Versuchsre 

I II 

sihe 

_m_ 

Durchschnittswerte. 

i- 

7.2 

7,04 

i 

5,04 

10,3 

8,8 

7.7 

Dementia paralytica .... 

16,7 

5.5 

5,5 

5,6 

4,6 

3.7 

Manische Zustande. 

2,8 

2,8 

0 

0 

0 

0 

Dementia praecox. 

16,7 

30,6 

— 

20,7 

21,7 

15,3 

Dementia epileptica 

11,1 

8.3 

— 

! 6,6 

0 

3,1 

Melancholische Zustande . . 

11.1 

18.0 

25,0 

9,7 

6,7 

3.7 

Debilitat. 

— 

— 


13,8 

11,2 

16,7 

Hysterie . 

i 0 

0 

0 

6,9 

6,1 

4,5 

Dementia senilis. 

11,1 

8.3 

— 

3,3 

0 

3,3 

Paranoische Zustande . . . 

■ 2.8 

2.8 

— ■ 

i 10,6 

10.0 

11,8 

Epilept. Dammerzustande . . 

2,8 

0 

0 

i 0 

0 

0 

Korsakoff. 

! — 

— 

— ! 

' 0 

3.1 

5.6 

Dementia alcoholica . . . . I 

1 — 

— 

— j 

6.6 

3.1 

3,1 

Amentia . 

— 

— 

— 1 

i 3,i ; 

o 

i o 


Die Durchschnittsberechnung ergibt in der A-Serie keine 
Differenzen, in der B-Serie findet eine Abnahme bei unmittelbarer 
Komplexwirkung statt (von 10,3 auf 8,8 pCt.). Einen Wider- 
spruch scheint der Wert der 3. Versuchsreihe zu bilden (7,7). Die 
Einzelbetrachtung zeigt aber, daB in den meisten Gruppen eine 
Zunahme stattgefunden hat. Nur die groBen Schwankimgen bei 
der Hebephrenie haben diesen Widerspruch verursacht. Bei dieser 
Gruppe sind auch an sich die Zahlen der Tautologieform rehr groB. 
Hier sind sie wohl als eine Folge der Bequemlichkeit und Tragheit 


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des Vorstellungsablauf©a durch Gescliichtskomplexe etc. 


165 


aufzufassen. Auch bei den Hemmungszustanden und in debilen 
Fallen zeigen sich diese Reaktionsweisen in verstarkter Zahl, 
wahrend sie bei manischen, hysterischen und Dammerzustanden 
sowie der Dementia senilis nur gering vorhanden sind. 

Die Tendenz, mit Zwecken zu reagieren, ist nur wenig ent- 
wickelt, am ausgesprochensten bei .den Formen, die auch viele 
Tautologien vorbrachten; auszunehmen ist nur die Hebephrenie- 
gruppe. Das darf nicht wundern, wenn man beriicksichtigt, daB 
gerade beilndividuen mit schwerfalligem, verlangsamtem, umstand- 
lichem Denken die Zwecke der Dinge als das Lebenswichtigste sich 
vordrangen. Ihr Interesse ist eingeschrankt, sie haben nur geringe 
Teilnahme an dem Objektiven, dem Reingegenstandlichen. 

Mehr Interesse bieten die Reaktionen, welche eine Tatigkeit 
zum Ausdruck bringen. Sie sind zahlreicher vertreten und lassen 
oft anschaulich die gesteigerte geistige Beweglichkeit erkennen. 
Diesen Reaktionen begegnet man auch bei Typen, die an der 
Grenze des Normalen stehen (leichte Hysterie). Bei torpiden 
und apathischen Gruppen sind sie sparlich vorhanden und 
schwanken zwischen 1,6 und 5,6 pCt. Bei fast normalen, sonst 
in nichts auffalligen Reaktionstypen betragt der Durchschnitt 
6,12 pCt. Bei manischen erhalten wir sehr hohe Werte (20 pCt.). 
In einem Fall von Melancholie wird die gleiche Hohe erreicht, es 
handelte sich aber um einen Mischzustand, bei dem die depressiven 
und angstlichen Phasen starker entwickelt waren. Die gleiche 
Erklarung findet die Steigerung dieser Reaktionsform bei einer 
Hebephrenie (33 pCt.), bei der zur Zeit der Priifung ein leicht 
manischer Zustand bestand. Ein EinfluB des Komplexes ist nicht 
nachweisbar. 

Auch die Gefuhlsreaktionen zeigen kein einheitliches Bild. 
Die Vermutung, daB die Geschichte zu einer konstanten Ver- 
anderung fiihren wiirde, hat sich nicht bestatigt. Allgemein patho- 
logisch ist zu erwahnen, daB die Gefiihlstone der Reizworter bei 
der.Manie, der Melancholie und Paranoia am haufigsten auftraten. 
Als arithmetischen Mittelwert samtlicher Reihen ergaben sich 
die Zahlen 5,8, 5,7 und 7,6 pCt. Die Hysterie zeigte einen deutlich 
geringeren Wert (4,6 pCt.). Beachtung verdient die geringe Quote 
von Gefiihlsreaktionen bei der Hebephrenie (2,7 pCt. a. M.) und 
bei der Dementia epileptica (1,3 pCt. a. M.). Die Werte der anderen 
Zustande schwankten in den Einzelfalien je nach der Intensitat 
des gerade herrschenden Affektes. 

Bei den egozentrischen Reaktionen sollte man eine umge- 
kehrte Beziehung zum Geschichtskomplex erwarten. Wenn 
iiberhaupt eine Beeinflussung stattfindet, so miiBte diese dem 
egozentrischen Komplex entgegenwirken. Dieser Annahme ent- 
spricht die Tatsache, daB fast in alien Gruppen — ausgenommen 
die A-Serie der Manie — die Komplexreihe einen geringeren 
Prozentsatz an eigenbeziiglichen Arikniipfungen aufweist, als die 
anderen Reihen. 


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166 


K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung 


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Tabelle XVI. 

In Prozenten. 


J) iagno.se 


A-Serie 


B-Serie 


Versuchsreihe Versuchsreihe 


1 

___ J 

_I 

i n 

m 

I 

1 ±I._ 

LI?L. 

Durchsclinitt . 

4.G 

' i 

1 5.9 

1.9 ! 

4.2 

3,4 

3.0 

Hysterie . 

7.6 j 

! 8.2 ! 

5.5 | 

7.8 

4,0 

0.8 

Paranoische Zustande • ■ 

0 

1 o j 

— 

1.7 

1.2 

6,6 

Melaneholische Zustande . . 

0 

! 0 1 

0 i 

1.1 

2.2 

0.6 

Manische Zustande. 

1.85 

I 1.4 ; 

0 1 

3 3 

0 

0 

Dementia epileptica . . . . ! 

! 1.85 

1.85 

- 1 

3 3 

0 

3,3 

Dementia paralytica .... 

1 0 

0 

1) ! 

| 16.7 

15,8 

15.0 

Dementia senilis. 

22.2 

44.4 

| 

0 | 

0 

0 

Debilitat. 

~7f 

0 

11 ; 

1.7 ; 

0 

0 

Epileptische Dammerzust ande 

1 1.85 

8.3 

0 j 

1.6 ] 

0 

0 

Dementia praecox . 

i 0 

0 

— | 

2.6 

1.1 

0 

Dementia alcoholica .... 


, 


0 1 

0 

0 

Amentia . 




0 

0 

0 

Korsakoff. 


| 


0 

0 

0 


Grammatikalische Form. 

Es bestehen drei Typen der Beziehung zwischen Reiz und 
Reaktion: inhaltliche, sprachliche und personliche. Die inhalt- 
lichen Beziehungen konnen rein objektive Tatsachen oder Gefiihls- 
werte des Reizinhaltes sein. Den verschiedenen Reaktionsweisen 
miiBte, wie man erwarten sollte, eine verschieden sprachliche 
Ausdrucksform entsprechen. Die letztere wird aber durch die 
Form des Reizes mitbestimmt. 

Mit Riicksicht darauf, daB nach Jung und Riklin doppelt 
so viel Substantiva als Adjektiva und Verba in der Schriftsprache 
angewandt werden, habe ich die ersteren vorzugsweise benutzt. 
Die Reihe besteht aus 22 bezw. 25 Substantiven, 4 bezw. 6 Verben 
und 4 bezw. 5 Adjektiven. Ein Substantiv als Reizwort wird 
infolge seines haufigeren Auftretens leichter als eine andere Wort- 
form beantwortet, bei Verben und Adjektiven dagegen wird die 
groBere Seltenheit ihrer sprachlichen Anwendung der Reaktion 
mehr Schwierigkeiten bereiten; ferner scheint ein isoliert wirk- 
sames Substantiv leichter als ein zusammenhangloses Adjektiv 
oder Verbum Beziehungen zu wecken. Bei der Auswahl der Sub¬ 
stantiva wurden moglichst stereotype Reize vermieden, die ge- 
eignet waren, sprachlich sehr gelaufige Assoziationen auszulosen; 
daB aber andererseits die Reize dem gewohnten Sprachschatz 
angehoren miissen, bedarf keiner weiteren Erorterung. Man kann 
demnach den EinfluB der sprachlichen Komponente vernach- 
lassigen. 

Zunachst ist zu berlicksichtigen, ob das Reizwort an sich die 
Tendenz enthalt, die gleiche grammatikalische Form zu reprodu- 
zieren. Die Zahlen von Jung und Riklin 1 ) zeigen bei ungebildeten 


1 ) n. a. O.. 1. Seite 122. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


167 


Frauen und Mannern 63,2 bezw. 604 pCt., im Durchschnitt 59,2 
gleichartige Reaktionen. Bei meinen Versuchsreihen ergeben sich 
erheblich geringere Zahlen. 



A-Serie 

B-Serie 


Tabelle XVII. 


Gleichartige Reaktionen in Prozenten. 


Versuchsreihe I I Versuchsreihe II 


Versuchsreihe III 


22.4 13.0 10.6 

16.1 19.6 19,5 


Diese Werte belegen die Tatsache, daB die Versuchspersonen 
sich auf den Inhalt, nicht auf das Wort als Wortklang vorwiegend 
einstellen. Nach Jung und Riklin besteht bei Ungebildeten eine 
groBere Uebereinstimmung in der Form des Reiz- und Reaktions- 
wortes. Die Autoren deuten das dahin, daB sich der Ungebildete 
mehr an die Form des Reizwortes klammert als der Gebildete. 
Die obigen Werte zeigen, wie wenig berechtigt diese Erklarung 
fiir meine Falle ist. DaB aber die Uebereinstimmung in der 
Form bei Ablenkungsversuchen wachst, damit decken sich die 
mitgeteilten Resultate. Betrachtet man fiir diesen besonderen 
Zweck die Einwirkung des Komplexes zugleich als eine Ablenkung, 
so findet man eine Vermehrung der gleichartigen Reaktionsformen 
bei unmittelbarem GeschichtseinfluB. Die Werte steigen von 
13,0 bezw. 16,1 pCt. auf 22,4 bezw. 19,6 pCt. Der Grund fiir 
dieses Verhalten ist wohl darin zu suchen, daB bei der Ablenkung, 
die zugleich eine Belebung, eine Anregung des Vorstellungsablaufes 
darstellt, eine Verflachung der Reaktion eintritt. Auch meine 
Versuchspersonen scheinen sich bei Ablenkung haufiger auf das 
Klangbild, als auf den Inhalt einzustellen. Ob diese Tatsache 
sich weiter rechtfertigt, kann erst beurteilt werden, wenn man 
die Reaktionen auf die einzelnen Wortformen betrachtet. Um 
das Verhaltnis zwischen gleichartigen und ungleichartigen Re¬ 
aktionen besser zu charakterisieren, wurde die folgende Berechnung 
angestellt: 

Tabelle XVIII 1 ). 

In Prozenten . 



Auf Verba reagiert mit j 

Auf Adjektiva reagiert mit i 

Auf Substantive reag. mit 


Subst.| 

Adj. 

Verba 1 

Satz. i 

SubstJ 

Adj. 

| Verba 

1 Satz. j| 

SubstJ 

Adj. | 

Verba 

| Satz. 

A-Serie 




I 



F 




i 

' | 

.... 

Versuchsr. I j 

14.4 

0 

12.2 

41,1 

2 7 

43.3 

, o 

37.3 

! 20.8 

3.4 

6,7 ! 

38,1 

» n 

j 15,6 

1.1 

5,6 

44.4 

8,0 

15.6 

1.4 

49,3 

14.1 

6.7 

5,6 

49,5 

„ in 

1 36.1 

5,6 

2,8 

41.6 

5.3 

12.3 

i 0 

63,3 ’ 

; 3o - 7 , 

10.1 

7,5 

45,3 

B-Serie ' 

1 1 
t 

j 











Versuchsr. I ii 29,2 

s 3.7 

11,9 

40,1 l! 

19.3 

9.9 

5.2 

50,5 1 

21,1 

8.5 

7,6 

27,9 

„ ir 

1 26.1 ! 

1 4 - 1 

9,7 

30 8 ii 
29,5 | 

15,8 i 

7,9 

, 2,1 

36,2 i! 

23,5 : 

7.2 

5,8 

36,3 

mi 

' 37,6 

! 2,4 

14.8 

22,8 | 

8,6 

| 2.8 

42,2 ,| 

32,0 I 

7.4 

7,5 

1 31,8 


l ) Die an 100 fehlenden Prozentzahlen enthalten die Fehler- 
reaktionen. die bekanntlich einen grofien Raum einnehmen. 


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168 


K u t z i n s k i, Ueber die Beeinflussung 


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Die Bedeutung dieser Zahlen beruht ja nur auf ihrer gegen- 
seitigen Relation. Der EinfluB des Komplexes zeigt sich darin, 
daB die Satzreaktionen sinken. Da diese meist einen inhaltlichen 
Charakter haben, so bildet das Resultat eine Erganzung zu den 
allgemeinen Ergebnissen. Die Verflachung der Assoziationen 
kommt auch darin zum Ausdruck, daB in der Komplexreihe die 
gleichartigen Reaktionen an Zahl starker vertreten sind, als in 
den anderen Versuchsreihen. In einzelnen Fallen beschrankt sich 
der EinfluB nur auf die Verringerung der Satzreaktionen. Einmal 
bleibt diese aus, doch dafiir findet eine Vermehrung der gleich¬ 
artigen Reaktionen statt. 

Aus der Tabelle gewinnt man einen weiteren Ueberblick iiber 
die Tendenz der einzelnen Wortfoimen, gleiche Reaktionen aus- 
zulosen. An sich sind diese iiberhaupt nur gering entwickelt; 
wahrend bei anderen Untersuchern die gleichartigen Verbal- 
reaktionen zwischen 20 und 45 pCt. schwanken, fiir Adjektiva 
zwischen 43 und 64 pCt., enthalt die obige Uebersicht weit ge- 
ringere Werte. Den Hohepunkt erreichen die Substantiva, bei 
denen ein Prozentsatz von 14—32 pCt. konstatiert wird. Bei 
Jung und Riklin findet man fiir diese Wortgruppen keine ziffern- 
maBigen Angaben. Bei den Verben variieren die Werte zwischen 2,8 
und 14,8 pCt., bei den Adjektiven zwischen 43,3 und 7,9 pCt. 
Trotz des einzelnen abweichenden hohen Wertes von 43,3 pCt., 
fiir den eine Erklarung nicht gefunden wurde, bleibt im Durch- 
schnitt die Zahl der gleichartigen Reaktionen auch bei den Ad¬ 
jektiven als Reizwort noch um 7 pCt. hinter der der Substantiven 
zuriick. Die geringe Zahl gleichartiger Reaktionen 
bestatigt, wie hoch bei ungebildeten Versuchs- 
personen der BedeutungseinfluB des Reizwortes 
ist. Auh im allgemeinen sind die Zahlen bei ungleichartigen 
Reizen sehr gering, mu* die Substantiva sind starker vor- 
handen. Vergleicht man die Substantivreaktionen bei Verben 
und Adjektiven als Reize, so entfallen auf Verba betracht- 
lich hohere Zahlen als auf Adjektiva. Diese Tatsache entspricht 
den von Jung und Riklin 1 ) angegebenen Zahlen; deren Schlufl- 
folgerung, daB meist das Substantiv seiner groBeren Gelaufigkeit 
wegen vorgezogen wurde, trifft mit gewisser Einschrankung auch 
fiir ungebildete krankhafte Versuchspersonen zu. Die Einschran¬ 
kung wird durch die zahlreichen Satzreaktionen bedingt. Ohne 
einen groBen Fehler zu begehen, ist man berechtigt, die Satz¬ 
reaktionen als innere im Sinne dieser Autoren aufzufassen, da 
solche als Sprichworter und rein motorische Reaktionen niemals 
aufgetreten sind. Ihnen sind die ungleichartigen Reaktionen, was 
ihre Wertigkeit anbelangt, gleichzusetzen. Diese beiden Reaktions- 
formen zeigen, daB alle ungebildeten Rranken den Pradikattyp 
reprasentieren. 

Jung und Riklin und nach ihnen Scholl verstehen darimter, 
a. a. O., 1, Seite 138. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


169 


wie bereits erwahnt wurde, eine Reaktionsweise, bei der eine 
hohe Anzahl yon pradikativen und egozentrischen Reaktionen 
auftritt, und bei der die Reaktion auf Worte meist mit Substantiven 
erfolgen soil. Bei dem Pradikattyp iiberwiegen die inneren Assozia- 
tionen, die sich aus Koordinationen, pradikativen Beziehungen 
und Kausalabhangigkeiten zusammensetzen. Der Pradikattyp im 
Sinne der Autoren lafit bei Ablenkung keine Veranderung er- 
kennen. Im Gegensatz dazu hat der Geschichtskomplex bei meinen 
Versuchspersonen einen variierenden EinfluB ausgeiibt, doch nicht 
in dem Sinne, daB eine Verstarkung der pradikativen Reaktionen 
stattfand. Die Resultate decken sich demnach nicht mit den von 
Scholl in einzelnen Fallen mitgeteilten. Scholl hat eine Zunahme 
festgestellt, das mag auf der Verschiedenheit der Instruktionen 
beruhen. 

Ob bei den einzelnen klinischen Formen eine besondere 
Reaktionsweise hervortritt, zeigt die nachfolgende Tabelle, die eine 
Uebersicht iiber die Satzreaktionen gewahrt: 


Tabelle XIX. 

Satzreaktionen in Prozenten . 




A-Serie 



B-Serie 


Diagnose 

Versuchsreihe 

Versuchsreihe 


i 

II 

[..in 

i 

n _ 

hi 

Dementia hebephrenica . . . 

33,3 

41,1 


i 

55,0 

47,2 

40,0 

Korsakoff. 




10.0 

12,0 

16.7 

Dementia alcoholica .... 




23,3 

22,2 

25,0 

Manische Zustande. 

41,6 

41.6 

— 

18.3 

27,8 

23,7 

Melancholische Zustande . . 

| 36,1 

70.8 

• 69,9 

32,7 

36,4 

22,8 

Paranoische Zustande . . . 

1 33,0 

41.7 

— 

64,0 

51.1 

52,4 

Epileptische Dammerzustande 1 

! 61.1 

77,7 

22.2 

— 

— 

— 

Amentia . 

_ 

j 

— 

40,0 

36.1 

— 

Hysterische Zustande . . . . j 

i 35,4 

39,7 

9.7 

28,4 

28,1 

27.0 

Dementia paralytica . . . . 

, 22,2 

36.1 

29,0 

50,0 

44,4 

46,0 

Dementia epileptica 

1 47.1 

43,0 

— 

68.3 

37.5 

38,9 

Dementia senilis.1 

i 47.2 

1 47,5 


36,7 1 

8.4 

13,9 

Debilitat.j 

58.3 

1 61,4 

63,9 

nicht berechnet 


Bei der Beurteilung ist der Einwand zu erwarten, daB infolge 
der groBeren Uebung die Zahl der Pradikate in der zweiten und 
dritten Versuchsreihe abnimmt, so daB eine Verwertung der 
Zahlen bedeutungslos ware. Die Uebersicht zeigt aber, daB das 
Verhaltnis der einzelnen Versuchsreihen willkiirlich schwankt. 
Mehr Bedeutung gewinnt der EinfluB des klinischen Prozesses auf 
das Verhalten der Satzreaktion. Bei Hemmungszustanden treten 
bis zu 69,9 pCt. Satzreaktionen auf. Die Defektprozesse bieten 
bald hohe, bald niedrige Werte, jedoch wird die untere Grenze 
von 33 pCt. nur einmal iiberschritten. Handelt es sich uni 
redselige pseudomanische Individuen, so sinken trotz des zweifel- 
losen Defektes die Zahlen erheblich unter den Durchschnitt. Bei 


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170 


K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung 


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einem Korsakoff variieren die inneren Assoziationen zwischen 10 
und 16,7 pCt., bei der Dementia senilis treten sogar nur 8,4 und 
13,9 pCt. auf. Einen Gegensatz dazu bilden die Zahlen der Manie, 
die niemals unter 18 pCt. fallen. Es seheint, als ob dann, wenn 
affektive Vorgange eine Rolle spielen, mehr Pradikate auftreten. 
So muB besonders auf die affektiven Gruppen, Hysterie und 
paranoische Zustande hingewiesen werden, deren hohe Zahlen 
von Satzreaktionen sicher nicht durch Schwerfalligkeit des Aus- 
drucks verursacht werden. 

Ein Vergleich mit den Fehlerreaktionen lehrt, daB eine 
Parallele dieser zu den pradikativen Reaktionen nicht besteht. 
Bei der Hysterie z. B. entsprechen 11,1, 13,9 und 13,9 pCt. Fehler¬ 
reaktionen 35,4, 39,7 und 11,9 Satzreaktionen. DaB das Verhalten 
der Fehler einen EinfluB des Komplexes zum Ausdruck bringt, 
erscheint naheliegend, die beliebigen Schwankungen der Pradikate 
lassen aber derartige Beziehungen nicht erkennen. Ein analoges 
Verhalten zeigen die anderen klinischen Gruppen; auch ein 
Hervortreten starkerer egozentrischer Reaktionen beim Vor- 
handensein zahlreicher Pradikate ist nicht nachweisbar. E s 
ergibt sich demnach, daB pradikative Be¬ 
ziehungen im Sinne Jungs u n d Riklins, wie diese 
sie bei Gebildeten gefunden haben, bei den 
untersuchten Versuchspersonen nicht be¬ 
st e h e n. 

V. Wiederholungen. 
a) Wiederholungen des Reizwortes. 

Jung und Riklin haben bereits darauf hingewiesen, daB viele 
normale Individuen das Reizwort vor der Reaktion zu wieder- 
holen pflegen. Sie bezeichnen das als eine Angewohnheit. Ich 
habe es fast bei alien Versuchspersonen beobachtet und betrachte 
es nicht nur als eine Angewohnheit. Es hangt die Art, die In¬ 
tensity, selbst die Haufigkeit — oft wurde das Reizwort auch 
mehrmals ausgesprochen —, mit der das Reizwort wiederholt 
wurde, von der Schwierigkeit seiner Auffassung und seinem Ge- 
fiihiston ab. Dieses Verhalten zeigen nicht nur Defekt- und ange- 
borene Schwachezustande, sondern auch manische. DaB eine Ab- 
lenkung der Versuchspersonen durch den Geschichtskomplex die 
Zahl der Reizwortwiederholungen vermehrt hat, kann ich nicht 
bestatigen. Fur die Reizwortwiederholungen, die zugleich die 
Reaktion reprasentieren, sind die gleichen Erwagungen zutreffend. 
Auch diese tritt meist bei Schwierigkeiten, Vieldeutigkeit des 
Reizwortes oder Affektbetonung auf. Sie findet in fragender 
Form statt, z. B.: ,,Kaiser ?“ Gerade diese fragende Form be- 
weist, daB nicht der Gefiihlston allein, wie Jung und Wreschner 
glauben, die Ursache dieser Reaktionsform bildet. Im iibrigen 
bietet sie iiberhaupt wegen ihrer Seltenheit kein wesentliches 
Interesse. Die Zahlen fiir die beiden Serien lassen Zusammen- 
hange mit dem Komplex nicht erkennen: 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 

Tabelle XX. 


171 


Serie 


A-Serie 
B-Serie 


Versuchsreihe I 


Versuchsreihe II 


Versuchsreihe III 


13 

3.8 


o 
. o 


1.1% ' 0.9", 

3.7 |; 2.8 


b. Wiederholungen des Realdionsivortes. 

Mehr Beachtung verdienen die Wiederholungen des Re- 
aktionswortes. Als solche sollen nur die Assoziationen in Frage 
kommen, die in derselben Form schon friiher aufgetreten sind. 
Hat eine Verarbeitung oder eine grammatische Aenderung statt- 
gefunden, so werden die Reaktionen an anderer Stelle bertick- 
sichtigt. Wiederholungen in derselben Versuchsreihe werden nur 
vereinzelt konstatiert. Hier war gewiB die Tendenz der Versuchs- 
person bestimmend, immer etwas Neues, von dem Vorherigen Ab- 
weichendes zu suchen; dazu kam das vorherrschende Bestreben, 
einen sinnvollen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion 
herzustellen. 

Wichtiger sind Wiederholungen bei spateren Versuchsreihen. 
Hier ist zunachst die Fixation der Reproduktion in ihrer Be- 
ziehung zur Komplexwirkung festzustellen. Einen Ueberblick 
iiber alle Wiederholungen dieser Art gibt die nachfolgende Tabelle: 

Tabelle XXI. 

Wiederholungen in Prozenten. 

A-Serie I B-Serie 

i 1 


26,4 ! j 32.5 
30.2 47.7 

Nach diesen Zahlen scheint es, als ob die Beziehung auf die 
Geschichte der Fixation entgegenwirke, eine Tatsache, die mit 
den Resultaten Scholls iibereinstimmen wiirde. Dagegen spricht 
allerdings, daB diese Zahlen ja nur einen groben Ueberblick ge- 
wahren. Trotzdem ist der Unterschied in dem Verhalten der 
A- und B-Serie bemerkenswert, hier eine deutliche, aber geringe 
Vermehrung, dort eine Zunahme von etwa 15 pCt. DaB iiberhaupt 
eine Zunahme stattfindet, war bei der zweiten Wiederholung der 
Reihe zu erwarten, weil ja eine mehrfache Wiederholung zu einer 
Haufung der schon dagewesenen Reaktionen fiihren muB. DaB 
bei der B-Serie 6 Reizworte nur einmal wiederkehren, kann das 
groBe MiBverhaltnis der Werte nicht aufklaren, wir miissen also 
den EinfluB des Komplexes als Ursache dafiir betrachten, daB 
bei der 2. Versuchsreihe der Vorstellungswechsel ein relativ leb- 
hafterer ist, als bei der ersten. Nun ist aber weiter der EinfluB 
des Zeitintervalles zu berucksichtigen Diesen zeigen die folgenden 
Prozentzahlen: 


2. Versuchsreihe 

3. Versuchsreihe 


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172 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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Tabelle XXU. 

Wiederholungen in ProzerUen. 


Intervall 

A-Serie 

1 

\ ersuchs- 1 \ ersuchs- j 
reihe II reihe III 

B-Serie 

Versuehs- 1 Versuchs¬ 
reihe 11 I reihe III 

1 Tag . 

25,0 

, 

31,6 

77.8 

2 Tage . 

25.0 

34.7 

30,6 

— 

3 . 


l 

26,8 

4,1 

4. 



21,7 

42.6 

5 . 


36,1 | 

52.8 

61.1 

6. 


■ 


44,4 

7 . 

30.6 * 

27.8 

. 

35,3 

8 . 


22.2 

! 

i 30,1 

9 „ . 


| 


46,5 


Die Intervallzeiten beziehen sich auf den Zeitraum zwischen 
1. und 2., sowie 2. und 3. Versuch, die Prozente sind beziiglich 
der Gesamtsumme der Reaktionen fur die einzelnen Tntervalle 
berechnet. Ein Vergleich der Werte der 2. und 3. Versuchsreihe 
ist, um es wieder zu betonen, nur in beschranktem MaBe zulassig, 
weil ja die 3. Versuchsreihe der ungiinstigen Bedingung der zwei- 
maligen Reizwortwirkung unterworfen ist Diese Beschrankung 
hat aber keine erhebliche Bedeutung, wie aus den Angaben Scholls 
hervorgeht. Auch bei ihm kehren ja am 2., 3., 4. und 5. Versuchs- 
tage die Reizworte immer wieder. Er konstatierte meist ein lang- 
sames Zunehmen der Zahl der Wiederholungen, aber am letzten 
Tage trat eine erhebliche Vermehrung auf; iiberdies zeigte sich, 
daB die Bildreaktionen nur einen sehr geringen prozentualen Anted 
an den Wiederholungen hatten. In unserer Zusammenstellung ist 
die Zunahme der Wiederholungen in der 3. Versuchsreihe nicht 
durchgangig, aber iiberwiegend vorhanden, nur bei einem Intervall 
von 3 Tagen stoBen wir bei der B-Serie auf eine auffallige Ab- 
nahme, sonst betragt die Zunahme einen groBen Prozentsatz 
samtlicher Reaktionen. Die niedrigen Werte des dreitagigen 
Intervalles haben ihren Grund in den Zustanden, bei denen die 
Versuche vorgenommen wurden. Es handelte sich um schwere 
Dissoziationsstorungen, die naturgemaB ein sehr ungleichmaBiges 
Verhalten hoten, und bei denen iiberhaupt nur wenig Wieder- 
holungen auftraten, weil ja die gestifteten Beziehungen zwischen 
den jeweiligen Vorstellungen nur sehr lockere oder, wie die Zahl 
der Fehler zeigt, nur sehr sparliche warcn. Eine deutliche Ab- 
hangigkeit von der Lange des Intervalls besteht nicht. Die hochsten 
Werte finden wir bei ein- und fiinftagigen Intervallen. Eine 
Steigerung der Wiederholung von 21,7 auf 42,6 pCt. ist nach 
einem viertagigen Intervall eingetreten. Bei groBeren Zwischen- 
raumen sinkt die Zahl der gleichen Repioduktion. Auch in Scholls 
Fallen muB man dem Rechnung tragen, was von dem Autor nicht 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtakomplexe etc. 


173 


immer geschehen ist. Wenn oft am letzten Tage der Serie ein 
starkes Anschwellen der Wiederholungen vermiBt wird, so ist 
daran die GroBe des Zeitintervalles schuld. Bei Geisteskranken 
kommt es iiberhaupt nioht so schnell zur Fixierung der Assozia- 
tionen, ferner haben die gestifteten Verbindungen eine geringere 
Nachhaltigkeit. Um ein sicheres Urteii zu bekommen, ist es 
zweckmaBig, die Zahl der Komplexreaktionen bei verschiedenen 
Intervallen mit der der Wiederholungen zu vergleichen. Diese 
Methode ist aber bei unseren Versuchen nicht ohne Bedenken an- 
wendbar, weil ja der Komplex auch bei der 3. Versuchsreihe oft genug 
noch deutlich wirksam ist, weil ferner die individuellen Eigentiim- 
lichkeiten, wie Haftenbleiben einmal gestifteter Assoziationen, bei 
unseren Versuchsreihen nicht vernachlassigt werden konnen. DaB 
trotzdem eine Reihe von Beziehungen zwischen KomplexeinfluB 
und Zahl der Wiederholungen bestehen, weist die Tabelle XXIII 
nach, welche von Einzelfallen eine Zusammenstellung gibt. Die 
Beispiele sind nur aus der B-Serie genommen,' weil die A-Serie 
zu wenig Falle iiberhaupt hat. 

(Hier folgt Tabelle XXIII von S. 174.) 

Zunachst ist, wenn nur sparliche (1—2 Komplexreaktionen) 
oder gar keine erkennbaren Wirkungen des Komplexes bestehen, 
bei kurzen Intervallen eine Zunahme, bei langeren Intervallen 
dagegen eine Abnahme der Wiederholungen zu konstatieren. Als 
Ursache kommt in Betracht, daB die GroBe des Intervalles das 
Verhaltnis der W iederholungen reguliert. Bei reichlicheren Kom¬ 
plexreaktionen tritt, auch wenn die Intervalle erhebliche sind, in 
der 3. Versuchsreihe keine Abnahme, sondem eine Zunahme ein. 
Dieser steht eine unverhaltnismaBig geringe Zahl von Wieder¬ 
holungen in der 2. Reihe gegeniiber. Das berechtigt zu der An- 
nahme, daB der Komplex einen groBeren Vorstellungswechsel 
herbeigefiihrt hat. Eine Bestatigung geben die Zahlen der A-Serie, 
die bei gleichen Intervallen einen deutlich geringeren Prozentsatz 
an Wiederholungen in beiden Reihen gegeniiber der B-Serie auf- 
weisen. Hier muB also der bereits bei der 1. Versuchsreihe ein- 
wirkende Komplex einen lebhafteren Wechsel der Assoziationen 
verursacht haben. Bei der Uebersicht ist noch zu erganzen, daB 
der EinfluB des Zeitintervalles auf die Komplexreaktionen vernach¬ 
lassigt werden kann, da ja selbst bei neuntagigen Intervallen 
zwischen 2. und 3. Reaktion die Zahl der Komplexreaktionen un- 
verandert blieb. 

Es muB weiter untersucht werden, ob bei einzelnen Gruppen 
die Zahl der Wiederholungen sehr groB oder gering ist, ob und 
in welcher Weise ferner ein EinfluB durch das Intervall stattfindet. 
Nach Kraepelin kehren bei viertagigem Intervall 50 pCt. der 
Reaktionen wieder. Einen Ueberblick der Resultate fiir diese Zeit 
gibt Tabelle XXIV: 


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174 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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Tabelle XXIII. 

W iederholungen. 


I 

Diagnose 

lntervall 

II. Wieder- 
holung 

im. Wieder- 
holung 

| Komplex- 
| reaktion 

Hysterie. 

1 

4 

13 

3 

1 

9 



3 

o 

1 

14 

7 

1 


8 


1 

1 

3 

1 

18 

1 

! 5 

2 


8 



2 

4 

1 

12 

17 

5 


9 


, 

4 

5 

^ 1 

15 

26 

4 


1 4 


| 

3 

6 

5 

19 

| 

i 28 

4 

! 1 



3 

7 

1 

17 

26 

4 


| 4 


1 

i 

5 

8 

2 

9 

i 13 

3 


3 


i 

2 

9 

1 

9 

13 

4 


4 



3 

Dementia hebephrenica 

4 

5 

17 

1 

10 

4 

i. i 

i 

1 

11 

1 

18 

33 1 

3 


4 



1 1 

i 

12 

2 

; ii 

19 ; 

l 

! ') 


7 

i 

j 

0 

Dementia paralytica . . 

1 

i 

„ j 

2 

13 

7 

10 

15 

0 

14 

3 

8 

i 

1 i 

! o 


7 


i 

; o 

15 

4 

2 

12 : 

5 


7 


i 

f 5 

Melancholic. 

1 


i 

i 1 

16 

5 

1 15 

10 | 

0 

17 

1 

i 17 

24 

2 


8 

I 


1 

18 

1 

! 17 

19 

0 


8 

j 

1 

0 

i 

Manie . 

1 

5 

ii i 

3 

19 

9 


1 

1 

20 

2 

13 

i 

12 

0 





n 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomploxe etc. 


175 


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Tabelle XXIV. 


Arithmetische8 Mittel. 

Diagnose 

M 

Versuchsreilie II 

Versuchsreihe III 

Hysterie . 

. 9,0 

15,3 

Melancholische Zustande 

.1! 21.0 

_ 

Paranoische Zustande 

'i 

8,0 

Dementia hebephrenica . 

. 3,0 

16,1 

Dementia paralytica . . 

. 1 2,0 

_ 

Dementia epileptica . . 

.' 2,0 

4.0 

Debilitat. 

.i| — 

19 0 


Die Tabelle zeigt zunachst fiir die 2. Versuchsreihe, daB bei alien 
klinischen Gruppen auBer der Melancholie der Prozent satz Kraepelins 
nicht erreicht wird, bei der Melancholie kehren 21,0 = 58,3 pCt. 
der Wiederholungen wieder. Zieht man fiir die Intervalle von 
1—10 Tagen der Versuchsreihen einen Vergleich mit Wreschners 
Zahlen, der bei einem Abstand von 7 Tagen 60 pCt. neuer Ant- 
worten fand, so erhalt man folgende Werte im arithmetischen 
Mittel: 

(Hier folgt Tabelle XXV von S. 176.) 

Als Fehlerquelle der Versuche ist hervorznheben, daB ja bei 
der ersten Wiederholung der B-Serie durch die Vermehrung der 
Reizworte der Wiederholungstendenz entgcgengewirkt wird. Diese 
Fehlerquelle ist aber ohne Bedeutung, wenn man die Zahlen mit 
denen der A-Serie vergleicht. Immer sind die Werte der B-Serie 
hoher als die der A-Serie. 

Bedeutsamer ist die Frage nach dem Verhaltnis zwischen den 
Zahlen der 1. und 2. Wiederholung fiir das gleiche Interval!. Es 
handelt sich ja hier um Durchschnittsberechnungen, bei denen 
die zusammengehorigen Reihen auseinandergerissen wurden. Die 
1. Wiederholungsreihe wird davon nicht beriihrt, wohl aber die 
zweite. Man sollte erwarten, daB sich bei gleichem Intervall 
zwischen 2. und 3., aber verschiedenem zwischen 1. und 2. Ver¬ 
suchsreihe das Resultat beziiglich der Wiederholungen verandern 
wiirde. Es seien zunachst die Einzelprotokolle angefiihrt: 

(Hier folgt Tabelle XXVI von S. 177 u. 178.) 

Man ersieht daraus, daB die Zunahme, auch wenn das Intervall 
nur 1 Tag oder 2 Tage betragt, oft nur minimal ist, z. B. nur 
1 oder 2 Wiederholungen (Versuchsperson 25). In seltenen Fallen 
findet sogar eine Abnahme der wiederkehrenden Reaktionen statt 
(z. B. Versuchspersonen 7, 32, 17, 60), trotzdem in den Fallen 7 
und 60 die Differenz der beiden Versuchsreihen nur 1 bezw f . 3 Tage 
betrug. In anderen Beispielen findet man selbst bei langen Zwischen- 
raumen eine deutliche Vermehrung der gleichen Assoziationen 
(z. B. Versuchspersonen 26, 27, 79), in wieder anderen bleibt die 
Zahl der gleichen Reaktionen auch bei langem Intervall etwa 

Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd.|XXXIII. Heft 2. 12 


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K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung 


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17b 


TabeUe XXV. 


I in arithmelischen Mittel. 


Klinische Gruppe 

Inter- 

vail 

1 

| A-Serie 

1. Wieder-1 2. Wieder- 
| holimg j holung 

B-S 

1. Wieder- 
holung 

►erie 

2. Wieder- 
holung 

Hysterie. 

1 

9.5 

! 10,7 

28.0 


2 


1 8.0 



3 

9.5 




4 



15.3 . 


5 


19 



(j 



16 


7 


10 


7 


8 

9 



5 


9 

1 


14,3 

Melancholic . • . 

1 



12,2 



2 

! 


8,5 



4 

' 


21 



5 




10 


(i 

j 


1 



7 

i 



19 


8 




24 

Paranoia . . • . 1 

1 



14,5 


i 

2 



12.3 

8 


4 



1 

9 

Dem. hebephrenica 

1 

2 



18 

13 



3 



3 j 

2 


4 



t 

16,1 


7 



i 

19 

Dement, paralytica 

1 i 



10 



2 | 

in 

20 




3 1 

2 


6 



7 

11 



9,5 

i 

8 1 




15,0 

Dement, epileptics 

l | 

8 


i 

4 

Korsakoff .... 

2 






3 



22 j 

24 

Manie. 

1 

0 

0 

5 ! 



2 

i 

18 



3 

7 i 




5 


13 

— 

12 


9 




11 

Debilitat .... 

r 



14 

10 

Dementia senilis . j 

2 

10 




Dammerzustande . 

1 



8 



2 

6 





10 




3 

Amentia. 

3 !: 1 

, 

i 

4 1 

1 


konstant (z. B. Versuchsperson 49). Bei einzelnen Versuchs- 
pereonen ist es auffallig, daB trotz geringer Prozentzahl der 
Wiederholungen bei der 2. Versuchsreihe die 3. Versuchsreihe eine 
erhebliche Vermehrung zeigt (Versuchspersonen 14 und 13). 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


177 


Tabelle XXVI. 

Zahl der Wiederholungen. 


Diagnose 

j Intervall 

1 . Wieder- 
holung 

2 . Wieder- 
holung 

Melaneholischer Zustand. ! 

i 

__ 

2 



5 

1 


10 

Dementia paralytica. 

4 

5 i 


i 

j 4 


7 

Dementia epileptica. 

4 

2 


| 

4 


4 

Manischer Zustand . 

3 

7 


! 

5 

1 

13 

Hysteric. 

1 

4 



9 


13 

Amentia. | 

3 

4 


| 

4 1 


2 

Dammerzustand. 

4 1 

4 



1 1 


2 

Dementia paralytica. 

1 

2 

10 



2 


20 

Hysteric. 

2 

13 



4 


12 

Paranoischer Zustand • * . 

1 

11 



3 


8 

Melaneholischer Zustand. 

1 

15 



5 

I 

10 

Hysteric. 

1 

17 



4 

| | 

26 

Hysteric. 

1 

! , ! 

i “ i 



4 

1 l 

5 

Dementia paralytica. 

4 

2 



7 

i ! 

12 

Manischer Zustand. 

1 1 

5 



9 

! ; 

11 

Hysterie. 

5 

19 



1 

1 

28 

Epileptischer Dammerzustand • • - 

1 

8 

1 


10 || 

i 

3 

Paranoischer Zustand. 

1 

18 1 



9 

i i 

19 

Dementia praecox. 

2 

1 11 1 



7 

i I 

19 


12 * 


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178 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung etc. 


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! 

Diagnose 

1 

1 Intervall 
i » 

j 1. Wieder- 
j holung 

| 2. Wieder- 
holung 

Manischer Zustand . 

i 

0 

13 

■ 


i 11 


12 

Hysterie. 

1 2 

1 9 

i 

i 


1 15 


15 

Dementia praecox. 

1 

18 

1 


1 4 

i ! 

33 

Debilitat. 

1 1 

15 



1 4 

1, 

1 26 

Hysterie. ( 

1 1 

i 

11 I 



6 

i 

16 

Paranoischer Zustand. 

9 

7 i 



, 1 

1 

8 

Hysterie. 

1 

ii 12 



1 9 

1 

i 

17 

Melancholic. 

, 1 

1 

1 17 



7 

i 

i i 

24 

Melancholic. 

1 

i 

i 17 



7 


19 

Dementia paralytica . 

3 

i 8 



7 

j 

7 

Dementia paralytica .j 

l * ! 

i 10 


! 

8 


15 

Korsakoff. 

2 

ii 

li 22 



9 

1 

24 

Hysteric. 

1 

18 



! 7 

I 1 

7 

Hysterie.I 

1 

i 14 



' 8 

|! 

5 

Hysterie. 

2 

9 



9 

ji 

13 


(SchluB folgt im nachsten Heft ) 


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Bericht iiber die XVIII. Versammlung etc. 


179 


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Berieht fiber die XVIII. Versammlung 
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 
am 26. Oktober 1912. 

Referent: Dr. Hans WiUige^HsMe. 

1. Herr Flechsig- Leipzig: Ueber die Flachengliederung der mensch- 
llchen GroBhirnrinde unter spezieller Beriicksichtigung der neuerdings von 
Brodmann versuchten Einteilung in cyto-architektonische Felder. 

Es mufl auffallen, dafl die Zahl dieser Felder sich annahemd deckt 
mit der Summe der vom Vortr. unterschiedenen myelogenetischen Zonen 
(durchschnittlich 49). Hierzu komint, dafl Vortr. bereits Anfang 1904 
(Einige Bemerkungen iiber die Untersuchungsmethoden der GroBhirnrinde, 
Berichte der Konigl. S&chs. Gesellsch. d. Wissensch., Sitzung vom 11.1.1904, 
S. 70) generell betont hat, dafl diese Felder nicht nur durch ihre besondere 
Entwicklungszeit und durch ihre leitenden Verbindungen, sondern auoh 
durch einen besonderen Ban (Form und Anordnung der GanglienzeUen) sich 
unterscheiden. Beriicksichtigt man femer, daB die von Brodmann unter¬ 
schiedenen Felder sich zum Teil vollkommen, zum Teil in der Hauptsache 
nach Lage und GroBe mit den vom Vortr. weit friiher abgebildeten decken, 
so ist ohne weiteres ersichtlich, daB die Brodmannsche cyto-architektonische 
Einteilung im wesentlichen nichts anderes darstellt als eine etwas veranderte 
Nachahmung der myelogenetischen Felder des Vortr. Die von Brodmann 
gezogenen Grenzlinien, welche sich auf den verschiedenen myelogenetischen 
Skizzen des Vortr. nicht finden, erweisen sich bei Nachpriifung als hochst 
unzuverlassig: toils sind sie iiberhaupt nicht aufzufinden, toils ist ihre All- 
gemeingiiltigkeit durchaus unerwiesen — ganz abgesehen davon, dafl die 
funktionelle Bedeutung der von Brodmann bet on ten und von ihm angeblich 
zuerst aufgefundenen Strukturunterschiede g&nzlich hypothetisch ist. Da 
Brodmann auflerdem wirklioh vorhandene cyto-architektonische Grenzen 
vielfach ubersehen hat (z. B. in der Insel, im Hinterhauptslappen usw.), so 
erweist sich seine Einteilung als weit weniger zuverlassig als die myelo- 
genetische. Brodmann hat von seinen 52 cyto-architektonischen Typen 
iiberhaupt nur 8 abgebildet. In seinen samtlichen Mitteilungen gibt er zwar 
insgesamt 44 Abbildungen von Rindenstrukturen des Menschen. Davon 
betreffen indes 18 die Rinde der Fissura calcarina (Area striata), 21 die 
Zentralwindungen, je 2 Felder 18 und 7, je 1 Feld 5 und 6. Indem er iramer 
und immer wieder die 2 Felder abbildet, welche (langst vor Brodmann 
bekannte) scharf ausgepragte Besonderheiten der Struktur darbieten. 
entsteht der Schein , als ob iiberhaupt seine Felder charakteristische Unter- 
schiede darboten, was sich bei sorgfal tiger Nachpriifung als T&uschung er¬ 
weist. Die Beschreibung der einzelnen Felder im Text beweist nur, dafl die 
angeblichen Unterschiedo, auf welche Brodmann Gewicht legt, vielfach ge- 
ringer sind als die Differenzen im Bau fast aller Windungen an Scheitel. 
Abhang und in der Furchentiefe. Die myelogenetischen Orenzen sind weit 
scharf er und auf Hire Allgemeingiiltigkeit relativ leicht zu priifen. Die Brod- 
tnannsche cyto-architektonische Skizze der Hirnoberflacho des Menschen 
stellt demgemafl keineswegs eine Verbesserung. sondern im wesentlichen 
nur eine urn zahlreiche Irrtiimer bereicherte Imitation der myelogenetischen 
Einteilung des Vortr. dar. Der Vortr. demonstriert hierauf an Praparaten 
und Skizzen die Uebereinstimmungen beider Hirnkarten, die von ihm 
selbst gefundenen Strukturunterschiede von 18 myelogenetischen Feldern. 
die scharfen Grenzen der letzteren (entgegen den total irrefiihrenden Be- 
hauptungen 0. Vogts, daB die Grenzen verwaschen seien). Er betont, daB 
in Wirklichkeit die myelogenetische und cyto-architektonische Gliederung 


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180 


Bericht iiber die XVIII. Versammlung 


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in alien wesentlichen Punkten iibereinstimmen; die vorlaufig bestehenden 
Differenzen beruhen einesteils auf einigen Liicken in der Kenntnis der 
myelogenetischen Felder nnd andererseits auf der Schwierigkeit. die cyto- 
architektonischen Grenzen, insbesondere, wo wenig differente Typen in Be- 
tracht kommen, allgemeingultig darzustellen. Mit der fortschreitenden 
Korrektur der noeh bestehenden Fehler wird es gelingen, die w r eitgehende, 
d. h. auf alle wiclitigen Punkte sich erstreckende Uebereinstimmung nach- 
zuweisen. Die fragliche Gliederung der Hirnoberflache ist aber ohne Zweifel 
zuerst vom Vortr. auf myelogenetischem Wege gefunden worden. Brodmanns 
be8onder.s auch aus der vergleichenden Architektonik gezogenen Sehliisse auf 
die Lokalisation der Hpra-che im imteren Drittel der Stirnwindung, auf die 
Natur der Felder, die Abgrenzung der Horsphare usw\ bilden leicht nach- 
weisbare Trugsehliisse und stehen zu gesicherten Ergebnissen der klinischen 
bezw. pathologisch-anatomischen Forschung in unlosbarem Widerspruche, 
w T ahrend die myelogenetischen Ergebnisse befriedigend mit letzteren uber¬ 
einstiinmen . (Autoreferat.) 

2. Herr Abderhalden-HaWe: Ueber die Verwertbarkeit der Ergebnisse 
neuerer Forschungen auf dem Gebiete des Zelistoffwechsels zur Ldsung von 
Fragestellungen auf dem Gebiete der Pathologfe des Nervensystems. 

Der Vortr. erortert die Mafinahmen. liber die der tierische Organismus 
verfiigt, uin von der Art der aufgenommenen Nahrung in weit^n Grenzen 
unabhangig zu sein. Den Nalirungsstoffen wird durch weitgehenden Abbau 
ihre Eigenart genoimnen. Zur Aufnahme gelangt ein Gemiseh einfachster. 
jeder sjieziellen Eigenart entbehrender Bruchstiicke. Mannigfaltige Ein- 
richtungen sorgen dafiir, dafi das resorbiertc Material einer eingehenden 
Kontrolle unterliegt. So ist die Leber dem grofien Blutkreislauf vorgelagert. 
Die Leberzellen kontrollieren alle aufgenommenen Substanzen. Femer 
spielt der Lymphapparat mit seinen Hilfsorganen in dieser Beziehung auch 
eine grofle Rolle. Das Blut bleibt so vor Fremdartigem bewahrt. Auch die 
Zellen selbst entlassen nichts, was niclit vorher seiner der Zelle angepafiten 
Eigenart entkleidet ware. 

Durch alle diese Mafinahmen bewirkt der tierische Organismus. dafi 
zwar im Zellenstaate jede Zellart ihren eigenen Stoffwechsel besitzt. dafi 
jedoch die Flussigkeit, die gewissermafien direkt und indirekt alien Zellen 
in gleiclier Weise dienen soli, in engen Grenzen unabhangig in ihrer Zu- 
sammensetzung von den einzelnen Zellen wird. Weder die Korperzellen 
werden vom Bluto aus Ueberraschungen aller Art ausgesetzt. noch werden 
normalerweise dem Bluto Substanzen ubermittelt, die diesem fremdartig 
sind. 

Vollfiihrt eine Zellart ilu*en Stoffwechsel nicht in den fiir jede Orga- 
nismenart festgelegten Bahnen, entlafit sie Stoffe, die noch Ziige der Eigen¬ 
art der betreffenden Zelle aufweisen, dann haben wir fremdartige. unge- 
wolmte Produkte in der Lymplie, und falls liier der unvollstandige Abbau 
nicht vollendet resp. der unrichtige Abbau nicht korrigiert wird, solche im 
Blute. Direkte Versuche haben ergeben. dafi unter solchen Umstanden der 
Organismus diesen Stoffen nicht welu-los preisgegeben ist. Er wehrt sich, 
indem er in die Blut balm Ferment e abgibt. die das Fremdartige zerlegep, 
bis indifferente Bausteine iibrig bieiben. Bei der Schwangerschaft konnten 
z. B. Fermente nachgewiesen werden, die Placentaeiw-eifi zerlegen. Diese 
neue Eigenschaft des Seriuns Schwangerer hat eine neue Methode zur Fest- 
stellung der Schwangerschaft ergeben. 

Im Blute auftretende, sonst nicht nachweisbare oder nur in geringer 
Menge vorhandene Fermente weisen auf das Vorhandensein blutfremden 
Materials hin. Dieses kann vom Darin infolge ungeniigender Funktion der 
Darmfermente zur Aufnahme gelangt sein. Es konnen aber auch bestimmte 
Zellarten Produkte aus ihrem Leibe entlassen haben, die ungeniigend 
zerlegt sind. Dies< s Produkte konnen ilirerseits Storungen aller Art in be- 
stimmten Zellkomplexen hervorrufen. Es konnen aber auch erst durch 
erfolgenden Abbau in der Blutbahn auf ganz bestimmte Zellarten giftig 
w r irkende Vcrbindungen entstehen. 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 1S1 

Diese Vorstellungen regen dazu an, imBlute bei solchen Erkrankungen, 
fiir die wir eine bestimmte auBere oder innere Ursache nicht kennen, nach 
bestimmten, anf gewisse Organe eingestellten Fermenten zu fahnden. Sie 
liefern uns das feinste Reagens, das wir zurzeit besitzen. auf blutfremde 
Produkte, und gleichzeitig enthiillen sie uns Storungen des Zellstoffwechsels, 
die uns bis jetzt verborgen blieben. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Herr Leivandowsky-JSertin fragt an, ob etwas iiber eventuelle fermen¬ 
tative Prozesse bei der Muskeldegeneration bekannt ist. 

Herr Abderhalden: Bei Muskeldegeneration nach Nervendurch- 
schneidung muB man in erster Linie an autolytische Prozesse denken infolge 
Wegfalls bestimmter Regulationen. 

3. Herr Ahrens- Jena: Zur Zirkulation des Liquor cerebrospinalis. 

In dem Kongorot fand Vortr. ein Mittel, das vom Liquor und Lymph¬ 
strom prompter transportiert wird als die sonst iiblichen Farbstoffe. Wenn 
man diesen Farbstoff subaraclmoideal an die Gehirnoberflache bringt, so 
dringt er durch die intraadvent it iellen Raume in das Gehirn ein und tritt 
nach einiger Zeit ira Plexus und Ependym wieder zutage. Vortr. zeigt ein 
derartiges Praparat vor. Da der Farbstoff bei solchen Versuchen nicht ent- 
gegen dem Lymphstrom in die Ventrikel eindrang, muB er durch die Hirn- 
substanz von der Gehirnoberflache in Ventrikel und Ependym gelangt sein. 
Durch den standigen Transport abnormer Stoffwechselprodukte aus dem 
Gehirn in das Ependym erklaren sich die Veranderungen geradc des Ep- 
endyms bei der progressiven Paralyse. Wenn Vortr. die Gehirnarterien durch 
Emboli verstopfte, so horte der* Lymphstrom im intraadvent it iellen 
Raum der verstopften Arterie momentan auf. Somit scheint der Blut- 
strom den Liquorstrom ein Stuck dadurch zu treiben. daB die jeweilige 
Blutwelle das GefaBlumen etwas ausweitet, den intraadventitiellen Raum 
an fortlaufender S telle komprimiert und so den darin befindlichen Liquor 
vor sich hertreibt. Der leer gewordene intraadventitielle Raiun kann dann 
aus dem subarachnoidealen Raum neuen Liquor ansaugen. (Autoreferat.) 

Diskussion . 

Herr Anfon-Halle: Fiir die Liquorbewegung muB die Venenbewegung 
imd Venenstauung gleichzeitig mit in Betracht gezogen werden. Die 
Stromung des Liquor gegen den Ventrikel zu hat schon Burkhardl an- 
gegeben. Dieser Autor gibt zu, daB von den Ventrikeln aus andererseits nach 
alien Orten die Saftstromung erfolgen kann. Es besteht also die Moglichkeit, 
von hier aus nach den anderen Teilen des Zentralnervensystems Fliissigkeit 
gelangen zu lassen, natiirlich wenn die Wege nicht verlegt sind. Was nun 
die Venen betrifft, so haben unsere Operationen uns ergeben, daB auch 
geringe Druckentlastungen ausreichen, tun die Venenbewegung ersichtlich 
abzuandern. Insbesondere ist es auffallig. daB bei Operationen das Gehirn 
mit dem Auge keine Pulsation erkennen laflt, und daB nach Entfernung von 
relativ wenig Fliissigkeit- diese Gehirn be wegungen deutlicli herv^ortreten. 
Es scheinen also nur geringe Druckdifferenzen zu geniigen, den Venenkreis- 
lauf zu behindern. Andererseits beeintrachtigt ein bellinderter Venenkreis- 
lauf die Stromung des Liquor. Wahrscheinlich werden die einzelnen Teile 
des GroBhirns verschieden in Mitleidenschaft gezogen. Denn die Ein- 
richtungen der Falx cerebri und ihre Venenmundungen sind im Stirnhirn 
anders als im Hinterhauptshirn. Zu bemerken ist auch, daB man bei Er- 
offnung oder Punktion des V r entrikels sich iiberzeugen kann, daB in einzelnen 
Fallen der Liquor sich mit erstaunlicher Schnelligkeit erneuert, daB also 
chemische oder anatomische Prozesse die Sekretion enorm steigern konnen 
(z. B. bei Cysticercosis), wodurch an und fiir sich die Saftstromung wiederum 
durch einen anderen Faktor beeinfluBt wird. Zum Schlusse sei noch auf 
eine Tatsache hingewiesen, welche noch wenig erortert w\u*de: Bei den 
Operationen ist ersichtlich, daB bei Collaps und Herzscluvache das ganze 
Gehirn auffallig einsinkt, wohl durch mangelnde Fiillung der Arterien. 


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1$2 Bericht liber die XVIII. Versammlung 

Andererseits ist schon durch Druif nachgewiesen, daB selbst beim Verbluten 
das Himvolumen wieder zunehmen kann. Wir wissen auch, daB das Gehim 
bei relativ normalen Verhaltnissen die Schadelhohle viel mehr ausfiillt als 
bei Col laps wahrend der Operation. Es scheint der Liquor die Moglichkeit 
zu haben, in die Gewebe einzudringen und die Gewebsfceile auszufullen. 

Herr Ahrens betont, daB die Blutwelle nur so lange als treibende Kraft 
fiir den Liquorstrom angesehen werden miisse, als er sich neben der Blut- 
bahn im intraadventitiellen Raume bewege; fiir die Weiterbewegung kamen 
auch andere Faktoren in Betracht. 

4. Herr Jaegrer-Halle: Ueber Goldsolreaktion im Liquor cerebrospinalis. 

Die Lange sche Goldsolreaktion (Berl. klin. Woch. No. 19. 1912) 

ist vom Vortr. mit M. Goldstein zusammen in 80 Fallen bisher nachgepriift. 
Die Reaktio n ©rweist sich als eine auBerordentlich feine und erstreckt sich 
wahrscheinlich ®uf alle im Liquor vorhandenen EiweiBkorper. 

Eine auBerordentlich starke Ausflockung trat bei den 23 F&Ilen 
von Paralyse ein, ebenso wie bei Langes 18 Paralysefallen; gleich starke 
Reaktion ergaben die samtlichen Falle von Lues cerebrospinalis, so wie ein 
Teil der Tabesfaile, wahrend andere Tabesfalle, bei denen zum Teil 
Wassermami negativ war, eine schwache Ausflockung ergaben. Nur bei 
einem HirnabszeB nach SchuBverletzung trat ebenso starke Ausflockung 
ein wie bei Paralyse. Schwache Reaktion gaben auBer den schon er- 
wahnten Tabesfalien auch multiple Sklerose, Himarteriosklerose und andere 
organische Erkrankungen, femer mehrere Neurosen und Psychosen, 
wahrend ein anderer Teil dieser letzteren, so wie Hydrocephalus und 
Keratitis parenchymatosa, negativ war. 

Verschiebung des Ausflockungsmaximums nach oben trat bei Tumor 
cerebri auf. Falle von sicherer Meningitis haben sie noch nicht aufzuweisen. 
Es kann deshalb ein Urteil dariiber, ob die Verschiebung des Ausflockungs¬ 
maximums nach oben von differentialdiagnostischem Werte ist, noch nicht 
gef&llt werden; die Moglichkeit wird aber zugegeben. Die Ausflockungs- 
kurven der verschiedenen organischen, nicht luetischen Nervenkrankheiten 
zeigten bisher keine cliarakteristischen Unterschiede, dagegen waren die 
starken Ausflockungen fiir metaluetische Erkrankungen charakteristisch 
(den 1 Fall von AbszeB ausgenommen), bei Paralyse und Lues cerebro¬ 
spinalis in 100 pCt. 

Es ist wiinschenswert, iiber diese Reaktion ein groBes Material zu 
sammeln; sie kann in jeder Klinik bequem und schnell ausgefiihrt werden; 
nur die Herstellung der Losung muB imter gewissen Kautelen erfolgen und 
gelingt nicht immer gut. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Herr Zaloziecki- Leipzig weist darauf hin, daB die Goldsolreaktion als 
sehr feine Kolloidreaktion von EiweiBgehalt, Lymphozytose und anderen 
komplexeren Faktoren abhangig sei; daher ihre klinische Deutbarkeit eine 
schwierige sein miisse. Qualitative Differenzen in der Reaktion, wie sie 
Lange gesehen habe, konnte Zaloziecki bisher nicht beobachten. Es sei 
vorlaufig vor irgendwelchen Schliissen, wie sie sich bereits in der neuesten 
Literatur vorfinden, zu wamen. Da die Reaktion bei alien mbglichen 
organischen Affektionen positiv sei, konne sie die Wassermann-Reaktion 
nicht ersetzen. Die Beobachtung der einzelnen EiweiBphasen (Fibrin- 
gerinnung, Nonne-Apelt, GesamteiweiB usw.) fiihre diagnostisch viel weiter. 

Herr Jaeger halt doch fiir moglich, daB qualitative Unterschiede in 
der Eiweiflzusammensetzung zu verschiedenen Goldsolreaktionen fiihren 
konnen; bisher hat sich allerdings nur die Kurve bei Paralyse und Lues cerebri 
als charakteristisch erwiesen. 

5. Herr Neuendorff-Bernburg : Zur Be hand lung aufgeregter Geistes- 
kranker. 

Ich bitte nur ganz kurz auf einige Minuten um Ihre Aufmerksamkeit. 
Es kommt mir darauf an, Sie damit bekannt zu machen, wie wir in unserer 
Anstalt einen Teil unserer erregten Kranken behandeln, da wir, wie ich das 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 183 


seinerzeit bei einer Versammlung in Jena in der Diskussion gelegentlich 
andeutete, die Isolierraume ganzlich aufgegeben haben. 

Ich will mich durchaus nicht darauf einlassen, die einzelnen Behand- 
lungsweisen zu beleuchten, ob Dauerbad, Isolierraum, Bettbehandlung, 
Packung oder Schutzbett den Vorzug verdient. Deis macht jeder, wie er es 
fur richtig halt, wie seine Erfahrung ihn das gelehrt hat und vor allem wie 
er in der Lage ist, seine Methode auszufiihren. Jeder muft sich nach seiner 
Decke strecken. Je nach den Baulichkeiten, nach dem Platz, nach der 
Moglichkeit, das geniigende Personal verwenden zu konnen, nach der Menge 
der frisch zugefuhrten aufgeregten Kranken wird jede dieser Maftnahmen 
in verstandiger Kombination vielleicht am Platze sein. Ob das Mittel, den 
aufgeregten Kranken zu beruhigen, oder ihn an unsinnigen Handlungen, die 
seine Aufgeregtheit mit sich bringt, zu verhindem, schon aussieht und man 
deshalb den Isolierraum dem Schutzbett vorzieht, wie das von Bailer, 
Allgem. Ztschr., Bd. 6, H. 2, vorgeschlagen ist, ware fiir uns gleichgiiltig. 
Wenn nur das Mittel zweckentsprechend ist und eine dauernde Kontrolle 
liber den Kranken ermoglicht. 

Das Letztere aber leistet nach meiner Ueberzeugung der Isolier¬ 
raum nicht. 

Noch eher konnte man das Schutzbett vorziehen, wie es von Walter 
und Wolff beschrieben ist, da man hier eine dauernde Kontrolle ausuben 
kann. (Allgem. Ztschr. 66. H. 6.) 

Wir ersetzen das Schutzbett durch eine Hangematte, die nicht auf- 
gehangt wird, sondem den im Bett liegenden Kranken umhiillt. Urn das 
unbequeme Liegen auf den Knoten des Oewebes zu verhindern, wird der 
untere Teil der Hangemate durch einen Segeltucheinsatz ersetzt, so daft ein 
vollstandig glattes Lager vorhanden ist. Die Hangematte, in welcher sich 
der Kranke im Bett befindet, wird an den beiden Stirnseiten desselben be- 
festigt. Eine Schnur wird durch die offenen Seiten der Hangematte so durch- 
gezogen, daft die Hangematte nach oben geschlossen ist. Die Schnur, welche 
duren einen miteingedrehten farbigen Bindfaden kemitlich ist, kann jeder- 
zeit schnell wieder entfemt werden. 

In die Hangematte kommt Kopfkissen und je nach Bedarf Decke oder 
Plumeau. 

Die Kranken konnen sich so vollkommen frei bewegen, sie liegen im 
Bett. konnen sich nicht an irgendwelchem harten Gegenstand (sei es das 
Gitter von Holz oder Draht) verletzen, nicht das Bett ohne Zutun des Pflege- 
personals verlassen und sind Tag und Nacht unter direkter Aufsicht. 

Die9© Moglichkeit der dauernden Kontrolle war fur uns das Maft- 
gebende. 

' Die Unterbringung in die Hangematte nennen wir kurz Netzbehand- 
lung, da bei unserer Anwendung die Hangematte der Funktion des Hangens 
entkleidet ist und jedes ad hoc eingerichtete Netz denselben Dienst versieht. 
Gewahlt wurde die Hangematte, da solche in der Anstalt zu anderen Zwecken 
vorhanden waren, um ebenso wie wohl in anderen Anstaiten beispielsweise 
korperlich Leidende im Freien in ruhender Lage imterbringen zu konnen, 
weil sie verhaltnismaftig billig zu erlangen waren und einer besonderen 
Anfertigung nicht bedurften. Schlieftlich war ihre Anwendung vor der Hand 
ein Versuch, der spater w’eiter ausgebaut wurde. 

Diese Methode hat sich seit 10 Jahren — so lange ist es etwa her. 
daft in Treptow die Diskussion liber die zellenlose Behandlung gefiihrt 
wurde — bei uns durchaus bewahrt und bildet im Verein mit Bettbehandlung, 
Dauerbad und Verabreichung von Schlafmitteln bei strengem Individuali- 
sieren die Behandlung unserer erregten Kranken. 

Ungliicksfalle haben wir nicht zu verzeichnen geliabt. 

Daft es notwendig ist, verschieden starke Netze zu haben, ist mit Riick- 
sicht auf die verschiedenen Korperkrafte, z. B. bei tobsiichtigen epileptischen 
M&nnem, verstandhch. 

Ich bemerkte, daft ich Ihnen mitteilen wollte, wie ein Teil unserer er¬ 
regten Kranken behandelt wird, und deswegen ist nicht zu verschweigen, 


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184 


Bericht Tiber die XVIII. Yersarnmlung 


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dafl 68 Kranke gibt, die das Netz gar nicht vertragen und sich darin so angst- 
lich gebarden wie ein eingesperrter Vogel, wahrend sie das Dauerbad aus- 
gezeichnet vertragen. Ebenso gibt es umgekehrt Kranke, die im Dauerbade 
einfach unmoglieh sind. wenigstens bei uns, die wir einfaehe Badewannen 
ohne besondere Vorrichtnng haben, die riicksichtslos aus der Wanne streben. 
mit aller Gewalt sich widersetzen, daher viel Personal verbrauchen, aber im 
Xetz sich ganz still verhalten. 

Wir haben diese Erfahrimg u. a. bei periodisch in die Anstalt wieder- 
kehrenden Kranken gemacht. 

Dieselbe Form, deren Diagnose bei der langen, sich auf Jahre er- 
streckenden Dauer feststeht, muBte bei verschiedenen Personen einer ver- 
schiedenen Behandlung unterworfen werden. d. h. die eine kam bei ihren 
Riickfallen inimer wieder in das Netz, die andere in das Dauerbad. Von 
Interesse ist es, daC eine der Kranken, die sonst in ihrer manischen Phase 
immer isoliert gewesen, als sie, da Isolierraume nicht mehr vorhanden 
waren, ins Netz kam, sturmisch nach dem Isolierraume verlangte, ..urn sich 
austoben zu konnen'*. Es wurde mit dem Dauerbad versucht. und seitdem 
hat auch diese Behandiung den gewiinschten Erfolg. 

Kranke, die friiher isoliert waren, haben mir wiederholt gesagt, als 
sie klar wurden, da!3 sie init der jetzigen Behandiung zufrieden sind. Der 
Isolierraum, wemi er auch ausgiebiger in der Bewegung gewesen ware, habe 
inmier etwas Unheiinliches fiir sie gehabt, schon deswegen, weil sie sich 
so allein und abgesehlossen gefuhlt batten. 

Das Netz hat auch eine gewisse suggestive Wirkung. Schon das ein- 
fache Legeii in das Netz, ohne es zu schliefien, geniigte bei einigen Kranken, 
um sie im Bett zu halten. Bei einer Kranken mit Vorstellungen perseku- 
torischen Inhaltes machten wir die Beobachtung, dafi sie z. B. zur Be- 
friedigung eines Bediirfnisses mu* so lange auBerhalb des Netzes blieb, wie 
es durchaus notwendig war, und dann sofort wieder die Umhiillung be- 
gehrte, scheinbar in dem Gedanken, dafi ihr im Netze nichts geschehen 
konnte. Regel ist, daO, sobald es irgend geht, das Netz geoffnet oder ganz 
entfernt wird. 

Als Schadigungen durch das Netz konnte man anfiihren, dafi nament- 
lich bei Frauen die Haare in Unordnung geraten und daher of ter gekammt 
werden miissen. Bei sehr zarter Haut und grofier Unruhe kornrnt auch ein- 
mal eine durchgeriebene Stelle vor. Docli haben wir nie davon iible Folgen 
gesehen, auch ist das durch Aufmerksamkeit zu vermeiden und fallt im Ver- 
gleich zum Vorteil der Methode nicht schwer ins Gewicht. Im ubrigen hat 
auch die Badebehandlung nach dieser Richtung gewisse Schattenseiten. Ich 
darf nui an die Badeekzeme erinnem. 

Die Einzelbeobachtungen, die fiir die Netzbehandlung sprechen, hier 
weiter auszufuhren. wiirde unsere Zeit zu sehr in Anspruch nehmen, ebenso 
eine Aufzahlung der Formen der Seelenstorungen, die sich fur Netzbehand¬ 
lung eignen oder nicht. 

Mit der Methode der Netzbehandlung im Verein mit Dauerbadern und 
Schlafmitteln haben wir fiir unsere Verhaltnisse den Isolierraum aufgeben 
konnen. 

Das in den letzten 10 Jaliren zugewachsene Personal kennt keine 
andere MaBnahme fiir unruhige Kranke. 

Das Netz ist Schutz fiir den Kranken und die Umgebung des Kranken 
nicht minder fiir die nahe befindliclien Sachen (Fensterscheiben usw.). Es 
ist eine gewisse Erleichterung der Bettbehandlung und spart Personal. 

Wir haben mit dieser Behandiung durchaus befriedigende Result ate 
erzielt und mocht^n sie nicht mehr entbehren. 

Da wir 10 Jahre der Erfahrimg hinter uns haben, in der wir die be- 
sprochene Methode ausgebaut haben, wollte ich Ihre Aufmerksamkeit 
darauf lenken. 

Man kann uns nicht entgegnen. daB wir nicht so schwer Kranke haben 
und deshalb den Isolierraum entbeliren konnen. Schon deswegen nicht, 
weil wir alle Kategorien von (h»isteskranken in unserer Anstalt haben iniissen 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 185 


und weil wir nicht in der Lage sind, unsere Kranken in cine andere Anstalt 
abschieben zu konnen. Es gibt also reeht viele erregte Kranke bei uns. 

Was uns noch veranlaBt hat, die Netzbehandlung auszubauen, liegt 
in unserem nicht groBen Lande, wo die Beriihrung zwischen Heilanstalt und 
Publikum eine sehr innige ist, und weil wir einen verhaltnismaBig hohen 
Prozentsatz, iiber 17 pCt. Kranke besserer Klassen haben. 

Fiir das Publikum aber ist eine Hangematte etwas Harmloses, walirend 
man das vom Isolierraum oder Einzelzimmer nicht sagen kann. 

Sie werden mir glauben. dafl ich am liebsten auch ohne Netz aus- 
gekommen w&re. Das aber hat sich bei uns nicht verwirkLichen lassen. Zu 
der Netzbehandlung zwang uns die Not. Wir hatten 1901 eine Patientin, 
die 3 Jahre bei uns war und dann genesen entlassen werden konnte. Die 
letzte Nachricht stammt vom Friihjahr dieses Jahres. Sie ist bis dahin 
gesund geblieben. Sie machte melirere Perioden der auBersten Unruhe 
durch. Dabei stiirzte sie sich rucksichtslos aus dem Bett und suchte sich auf 
alle mogliche Art zu schadigen. Es waren meist 4 Personen notig. die P. 
zu halten. Bei dieser Tag und Nacht dauernden Anspannung wurde das 
Personal verbraucht. Im Bade ging es nicht; mit dem Wickel hatten wir 
schlechte Erfahrungen gernacht; Hypnotika konnten in so groBem UebermaB 
nicht gegeben werden; der Isolierraum war bei dieser Form der Erkrankung 
nicht am Platze; denn die Kranke hatte sich ohne weiteres den Sehadel ein- 
gerannt. Da kam uns der Gedanke, es mit einer Hangematte zu versuchen. 
die schwebend befestigt werden sollte. Wunderbarerweise war das gar nicht 
notig. Die Kranke beruliigte sich, als sie mit der Hangematte ins Bett gelegt 
wurde, wie ja solche verbluffenden Momento bei Katatonikern nichts 
Seltenes sind. und seit der Zeit haben wir die Netzbehandlkng eingefilhrt und 
ausgebaut. 

Fiir die, welche mir entgegenhalten, daB Isolierraume notig sind. urn 
die laut stbre'nden P^lemente aus den Wachsalen zu entfernen, mochte ich 
lunzufugen, daB ich auf der Frauenabteilung 5, darunter einen kleinen 
teilbaren zu 6 imd 3 Personen, und auf der Mannerseite zurzeit 4 Wachsale 
eingerichtet habe und der fiinfte noch da zu gebaut werden soil. 

Wir sind also in der Lage, die Krankheitsformen auseinanderzu- 
halten. 

Ich mochte dabei bemerken, daB ich gerade bei den seit Jahrzehnten 
in die Anstalt wiederkehrenden, z. B. manischen Kranken. die friiher isoliert 
wurden, nicht die Erfahrung gernacht habe. daB die Krankheit im lsolier- 
rauin anders verlaufen ist als im Wachsaal. ja ich mochte fast sagen, daB bei 
der jetzigen Behandlung das ,,Austoben 4 ‘ nicht so grell in die Erscheinung 
tritt. Das Dauerbad ist eine gewisse Isolierung, bei der Netzbehandlung 
trifft es in keiner Weise zu. 

Ich habe uber die Netzbehandlung auf anderen Anstalten nichts gehort 
oder gelesen. Es wiirde mich freuen, wenn ich durch meine Anregung dort, 
wo die Verhaltnisse es erlaubsn. zu einem Versuch ermuntert hiitte. 

(Autoreferat.) 

6. Herr Lewandowxky- Berlin: Beobachtungen iiber die Reflexe naeh 
Riickenmarksverletzung. 

Vortr. berichtet iiber Versuche an einer Patientin, deren Riickenmark 
oberhalb des 7. Dorsalsegments vollig durchschossen war (Autopsie). Die 
Kranke hatte 14 Tage nach Eintritt der Paraplegie weder Haut- noch Sehnen- 
reflexe. Es gelang dann durch Faradisation der unteren Extremitaten die 
Keflexerregbarkeit w'ieder wachzurufen. Nach langerem Faradisieren einer 
Extremitat erschienen zuerst Hautreflexe, dann der Achillessehnenreflex. 
Dies© Erhohung der Erregbarkeit uberdauerte die elektrische Keizxmg 
langere Zeit. Danach verschwanden zuerst die Sehnenreflexe wieder dann 
verschwand die Erregbarkeit der Hautreflexe. Diese Versuche konnten 
wahrend der 14 Tage. welche die Patientin noch lebte, immer wieder be¬ 
st atigt werden. Die Patellarreflexe konnten nicht ausgelost werden. Vortr. 
erinnert an Versuche von GoUin, dem es in einigen Fallen gelungen war. 
bis zum 10. Tage nach der Verletzung die Patellarreflexe durch Faradisieren 


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lSt) Bericht liber die XVIII. Versammlung 

wieder hervorzurufen, ohne dafi er auf die anderen Reflexe geachtet h&tte. 
Die Wirksamkeit der Faradisation beruht unzweifelhaft auf der sensiblen 
Reizung, die das Riickenmark reflektorisch beeinfluBt. (Ausfiihrliche Mit- 
teilung in der Ztschr. f. d. ges. Neiirol. u. Psych.) (Autoreferat.) 

Disku88ion . 

Herr Liepmann- Berlin fragt an, ob andere sensible Reize mit derselben 
Wirkung angewandt worden sind. Das wiirde sichern, daB der faradische 
Strom nur als sensibler Reiz wirkte. 

Herr Jacobsohn- Berlin kann in der voriibergehenden Erzielung der 
Reflexe durch peripher ausgeiibte Reize noch keinen vollen Beweis dafur 
sehen, dafi der Ausfall funktionell bedingt sei. Das ware nur der Fall, wenn 
eine dauemde Wiederkehr oder eine linger dauernde Wiederkehr zu er- 
zieien ware. 

Herr Saenger- Hamburg fragt, ob in dem vorgetragenen Falle ana- 
tomisch nachgewiesen worden ist, dafi das Riickenmark voUstdndig quer 
durchtrennt war. 

Herr Lewandowsky- Berlin: Herm Liepmann ist zu erwidem, daB die 
doppelseitige Wirkung der Faradisation bei Deutung der Wirkung durch 
Beeinflussung der Muskulatur unmoglich ist. Auch gelang es, wenn die Er- 
regbarkeit einen gewissen Grad erreichte, durch oft wiederholtes Streichen 
der FuBsohle ohne Faradisieren die Erregbarkeit zu steigern. 

Herm Jacobsohn ist zu erwidern, daB die anatomische Sch&digung 
doch nur aus der fehlenden Funktion gefolgert wurde. Wenn die Funktions- 
fahigkeit nachgewiesen ist, ist eine nicht nachweisbare anatomische 
Sch&digung nicht mehr anzunehmen. 

Herm Saenger ist zu erwidern, daB an dem Vorkommen von Sehnen- 
reflexen bei to taler Querdurchtrennung nach Ausweis der Literatur ( Kausch) 
nicht zu zweifeln ist. In dem vom Vortr. untersuchten Falle war schon bei 
der Operation zur Entfernung der Kugel aus dem Wirbelkanal die total© 
Querdurchtrennung festgestellt worden. 

7. Herr Anfcro-Halle: Erfolgreiche Behandlung des Status epilepticus 
mit Balkenstich. 

Herr Anton stellt ein 11 jahriges M&dchen vor, das an epileptischen 
Krampfen litt mit schweren BewuBtseinsstorungen. 

Das Kind ist mittels Zange nach langer Geburtsdauer entbunden. 
Anfangs entwickelte es sich gut. Im zweiten Lebensjahr aber stellten sich 
Kr&mpfe ein, nachdem schon vorher Andeutimgen sich gezeigt hatten. Es 
konnte daher nur hauslicher Unterricht erteilt werden. In diesem Jahre trat 
eine Steigerung der Anfalle auf, denen Dammerzustande mit Benommenheit 
folgten. In der letzten Zeit lieB sie alles unter sich. verstand keine Frage 
und befolgte keine Aufforderung. Trotz sorgsamster Behandlung mittels 
Medikationen, Diat und Pflege war keine Besserung zu erzielen. Vielmehr 
h&uften sich die Anfalle dermaBen, daB 2 mal Status epilepticus beobachtet 
wurde. Das Rontgenbild ergab eine auffallige Verdiinnung des ganzen 
Schadels. wobei nahe der Mittellinie stark erweiterte Venen nachgewiesen 
werden konnten. In einer anfallfreien Zeit wurde sie, da die schwere Be¬ 
nommenheit nicht wich, der chirurgischen Klinik (Bramann) zugefuhrt, 
wo der Balkenstich vorgenommen wurde. Nach der Eroffnung des Schadels 
zeigte sich die Dura stark gespannt. Schon unter ihr hatte sich Liquor an- 
gesammelt. Nach Einfiihrung der Kanlile floB unter erheblichem Dmcke im 
Bogen auch neben der Sonde Fliissigkeit heraus. Bei der Freilegung der 
Gehirnoberflache waren keine Hirnbewegungen sichtbar. Nach AbfluB des 
Liquor kehrten die Gehimbewegungen in voller normaler Deutlichkeit 
wieder. Die Ventrikel konnten mittels der tastenden Sonde bei der Operation 
als erweitert nachgewiesen werden. Seither wurde die Patientin luzider. 
Die Anfalle sistierten. Es erfolgte eine relativ rasche Kl&rung und Ordnung. 
14 Tage nach der Operation schrieb der Vater: Sie ist andauernd klar, 
interassiert sich fiir alles, zeigt ein gutes Ged&chtnis fiir ihre Erlebnisse; die 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 


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Stumpfheit hat aufgehort; die Kleine ist lebhaft, spielt Klavier. Seither 
sind 3 Monate vergangen. ohne da!3 ein Krampfanfali sich zeigte. 

(Autoreferat.) 


Disknssion . 


Herr Bimwanger- Jena fragt an, ob nicht bei dem Kinde intervallare 
Halbseitensymptome beobachtet worden sind. Er weist darauf hin. daC 
organische Epilepsie mit Hydrocophalie nach traumatischen und infektiosen 
Erkrankungen sich oft erst mehrere Jahre nach der urspriinglichen Er- 
krankung einstellen kann. Falle, die irrtumlich der konstitutionellen 
Epilepsie zugezahlt wurden. 

Herr Anton: Anzeichen von Tumor, ebenso latente Herdsymptome 
konnten nicht nachgewiesen werden. 


8. Herr Roper- Jena: Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 

Einleitend stellt Vortr. die verschiedenen Ansichten iiber die Ent- 
stehung der multiplen Sklerose gegeniiber. Er teilt dann einen Fall von 
multipler Sklerose bei Briidern mit. In der Literatur sind noch 13 Falle von 
multipier Sklerose bei Geschwistern zerstreut; hierzu kommt ein bisher noch 
nicht veroffentlichter Fall, der in der medizinischen Klinik Rostock be¬ 
obachtet ist. Weiterhin hat Vortr. die ihm zur Verfiigung stehenden 
Krankengeschichten in bezug auf die atiologischen Momente fur die Ent- 
stehung der multiplen Sklerose hin durchgearbeitet und die Resultate zu- 
sammen mit einer Reihe anderer Statistiken in einer Tabelle vereinigt. 
Es gelang so, 763 Falle zusammenzutragen. 

Es ergab sich das Verhaltnis von Frauen zu Mannem wie 7 : 10. 
Hereditat fand sich in 20 pCt. Disposition in 18 pCt. Die Moglichkeit von 
Intoxikationen bestand in 9 pCt. der Falle. Die ungemeine Haufigkeit einer 
voraufgegangenen Infektionskrankheit, die von vielen Autoren hervorge- 
hoben wird, konnte Vortr. nicht bestatigt finden. Nur in 8 pCt. der Falle 
konnte eine voraufgegangene Infektionskrankheit als atiologisches Moment 
mit einiger Sicherheit angesprochen werden. Korperliche Traumen waren in 
6 pCt. die wahrscheinliche Ursache fur die Entstehung des Leidens. 
psychische Traumen etwa in 3 pCt. In 179 Fallen der Frauen waren die 
Graviditat und das Wochenbett die Zeit fur die Entstehung des Leidens; 
Verschlimmerung des schon bestehenden Leidens durch Graviditat oder 
Wochenbett fand sich in 5 pCt. Ueberanstrengung war in 337 Fallen 20 mal 
angegeben, d. h. etwa in 6 pCt. Bei den 763 Fallen fand sich die Erkaltung 
als Entstehungsursache 89 mal, das sind etwa 12 pCt. 

Vortr. kommt zu dem Resultat, dafi in etwa 50 pCt. exogene Momente 
als Entstehungsursache angegeben werden, wahrend in 80 pCt. Hereditat 
und Disposition den Boden fur die Krankheit darbieten. Er kommt zu 
folgender Theorie iiber die Entstehung der multiplen Sklerose: 

Es ist durchaus unwahrscheinlich, daO allein durch &uflere Schadlich- 
keiten das Leiden entstehen kann. Denn diese atiologischen Faktoren treffen 
doch bei allzu vielen ganz gesunden Individuen zu; zum wenigsten miifite dann 
die multiple Sklerose ein sehr viel hiiufigeres Leiden sein. Es ist das Zusammen- 
treffen einer angeborenon oder erworbenen verringerien Widerstandsfahigkeit 
des Zentralnervensystems und einer der angegebenen Schddlichkeiten zur Ent¬ 
stehung der multiplen Sklerose notwendig. Fraglos sind noch nicht allc 
diese aufleren Schadlichkeiten bekannt. (Autoreferat.) 

9. Herr Kluge-Totsdnin : Wie weit ist bis jetzt die praktische Mitarbeit 
des Psychiaters bei der Fiirsorgeerziehung gediehen? 

Seitens des Vorstandes des Allgeineinen Fiirsorge-Erziehungstages 
ist ein von dem Vortr. abgefaflter Fragebogen an samtliche Bundesstaaten 
und Kommunalverbande des Deutschen Reiches versandt worden, in dem 
iiber die praktische Mitarbeit des Psychiaters, wie iiber die verschiedenen 
psychiatrischen Fragen iiberhaupt Feststellungen gemacht werden sollten. 
Der Fragebogen ist bis April d. Js. ausgefiillt worden; es fehlen nur die Er- 
gebnisse des Kommunalverbandes Berlin und Rheinprovinz. Der Vortrag 
beschrankt sich auf die Antworten des preufiischen Provinzialverbande, 
da diese nur eine gewisse Einheitlieheit bieten. Im einzelnen werden 


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Bericht iiber die XV r III. Yersammlung 


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die Fragen nach der psychiatrischen Untersuchung der Jugendlichen nocli 
bei der Einleitung des Fiirsorgeerziehungsverfahrens selbst beriihrt, sodann 
die der Untersuchung naeh der Ueberweisung, ferner die nach dein 
Vorhandensein von Beobachtungsabteilungen, nach der Zahl der jeweilig 
beobachteten Fall©, nach der etwaigen Einlieferung besonderer Fragebogen 
zur Ermittlung pathologischer Elemente und nach der Schaffung von 
psychiatrischen Beratungs- und Zentralstellen. Die ferneren Punkte be- 
schaftigen sich mit der Festsetzung des Prozentsatzes der als abnorm zu 
erachtenden Zoglinge. mit ihrer Yersorgung in Unterklassen und Hilfs- 
schulen. mit ihrer Unterbringung in Idioten-. Epileptiker- und Irren- 
anstalten und mit der Einrichtung besonderer Abteilungen oder Anstalten 
fur die Klasse der psychopathischen Zoglinge. SchlieBlich wird noch die 
Entmiindigungsfrage beziiglich der aus der Fiirsorgeerziehung aus- 
sclieidenden Zoglinge beriicksichtigt und als letzter Punkt die nach der 
Notwendigkeit der Unterbringung friiherer Fiirsorgezoglinge in Idioten-, 
Epileptiker- und Irrenanstalten. 

Von besonderer Wichtigkeit erscheinen die Fragen nach der Bereit- 
stelhmg besonderer Beobachtungsabteilungen und nach der Errichtung be¬ 
sonderer Abteilungen oder Anstalten fiir die psychopathischen Zoglinge. 
Hier wurde die Mitarbeit des Psychiaters von erhebliclier Bedeutung werden. 

Der Vortrag konnte nur kurze statistic he Daten bringen; er erscheint 
ausfiihrlich in der Vogt-Weygandtschen Ztschr. f. d. Erforschung und Behand- 
lung des jugendlichen Schwachsinns. (Autoreferat.) 

10. Herr Binsuanger- Jena: 1. Ueber Pseudomyasthenle. 

Die Beobachtung betraf einen Fall, der klinisch das typische Bild der 
Myasthenia gravis pseudoparalytica dargeboten hatte und bei dem die 
mikroskopische Untersuchung eine groBere Zahl miliarer nekrotischer Herde 
in der Medulla oblongata aufdeckte. 

A. H., 34 Jahre alt, erkrankte im Fruliling 1909. Zuerst stellte sich 
Flimmern vor beiden Augen ein, dann wurde die Sprache langsamer, 
undeutlich; die Hand© wurde n schwach, dafi ihnen gelegentlich Gegenstande 
entfielen. Feinere Bewegungen, z. B. Kleidzuknopfen, wurden allmahlich 
unmoglich. Beim Haarmachen koimte sie die Arme nicht mehr in die Hohe 
bringen. Es stellten sich Kau- und Schluckstorungen ein. Fliissigkeit kam 
ofter wieder zur Nase heraus, feste Bissen blieben im Halse stecken. Dann 
stellte sich im Laufe der Sommermonate Schwache der unteren Extremitaten 
ein. Sie knickte auf der Treppe zusammen und konnte nicht mehr weit 
gehen. Auch der Riicken war allmahlich an der Muskelschwache beteiligt ; 
sie konnte sich im Bett nicht mehr aufrichten. Im Winter klagte sie ofter iiber 
Doppeltsehen; der Umgebung fiel auf. daB sie schielte. Alle diese Symptome 
der Muskelschwache waren morgens geringer und steigerten sich im Laufe 
des Tages. Es wurde besonders deutlich an der Sprache, die morgens klar 
und verstandlich war. gegen Abend immer undeutlicher wurde. Die rasche 
Ermiidbarkeit war ihr beim Kauen selbst aufgefallen. 

Aufnahme in die Klinik zu Jena am 9. VIII. 1910. 

Aus dem Status sei hervorgehoben: Mittellappen der Schilddriise etwas 
vergroBert. Beiderseits Ptosis. Augenzukneifen gelingt beiderseits nicht ganz. 
Leichter Lagophthalmus. Hechter Abducens leicht paretisch. Beim Blick 
nach unten treten Doppelbilder auf. die neben-. beim Blick nach oben iiber- 
einander stehen. Corneal- und Konjunktivalreflex erhalten. Pupillenreaktion 
normal. Leichte Parese des Mundfacialis. Mundspitzen und Beickenaufblcwen 
unmoglich. Beide Mundwinkel hangen. Zunge nur wenig iiber die Unterlippe 
vorgestreckt; lebhafte fibrillare Unruhe. Uvula nach rechts. Schwache 
symmetrische Innervation des Gaumensegels. Sprachartikulation st«u*k 
verwaschen; leicht naselnd. Grobe motorische Kraft der oberen Extremit&ten 
stark herabgesetzt. Schulterheben noch ziemlich kraftig. Doch gelingt 
Hochheben der Arme iiber den Kopf mu* unter lebhaften Zitterbewegungen. 
links starker ausgepragt als rechts. Alle Arm-, Hand- und Fingerbewegungen 
ausfuhrbar, aber schwach. Beinbewegungen ziemlich kraftig, doch rasche 
Ermiidbarkeit. Gang ohne Besonderheiten, langsam: rasche Ermiidbarkeit. 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 189 


Patientin erholte sich erst w&hrend des klinischen Aufenthaltes 
(leichte Massage, Fichte nnadelbader. Darreichung von Arsen); Gewichts- 
zunalnne. 1m November wird bemerkt, daB die rechte Zungenhalfte leicht 
atrophisch ist. Kehikopfspiegelbefund normal. Sie kann die erste Halfte 
eines Butterbrotes noch gut kauen, bei der zweiten Halfte versagt sie infolge 
Enniidung. Dynamometrische Untersuchungen in den Morgen- und Abend- 
stunden ergaben nur geringfiigige und unregelmaBige Unterschiede. Da- 
gegen ist die Ermiidbarkeit bei der Sprachartikulation offensichtlich; 
morgens konnte sie bis zu 70 Zahlen zahlen, abends bis zu 27. Feinere Zungen- 
bewegungen unmoglich. Die myasthenische Reaktion war nicht sicher 
nachzuweisen. 

Ende November stellte sich Husten, Fieber und ziehende Schmerzen 
im ganzen Korper ein, Anfalle von Herzschwache und Atemnot, voriiber- 
gehend Durchfalle. 

Am 27. Erstickungsanfall. da sie einen Schleimklumpen nicht lieraus- 
wiirgen konnte. 

Am 29. plotzlicher Tod ohne dyspnoische Erscheinungen. 

Die Autopsie (Prof. Bo file) ergab als Todesursache akute eitrige 
diffuse Bronchitis und Kapillarbronchitis mit Bildung peribronchitischer 
Herde. 

Gehirngewicht 1270. Die makroskopische Untersuchung des Gehirnes 
ergab nichts Besonderes. Bei der mikroskopischen Durchforschung fanden 
sich in der unteren Halfte der Medulla oblongata in der Hohe des Hypo- 
glossus-Trigeminuskernes mehrere miliare altere nekrotische Herde ohne 
jede entzundliche Reaktion. Auf einem Frontalschnitte wurden 7 solcher 
Herde gez&hlt. und zwar einer im linken Trigeminuskern. ein zweiter im 
linken Hypoglossuskern. ein dritter in der Nahe des Nucleus cochlearis, ein 
vierter und funfter in der linken Pyramide. In der rechten H&lfte der 
Medulla fand sich im Tract us thalamoolivaris und in der Pyramide je ein 
Herd. 

Die mikroskopische Durchforschung der peripheren Nerven ergab 
nichts Besonderes. Auffallend war bei der Untersuchung der oberen Extre- 
mitat (Biceps) das Vorhandensein einer groBeren Zahl auffallend schmaler 
Muskelfasern mit deutlicher Vermehrung der Sarkolemmkerne. Die Quer- 
streifung war uberall gut erhalten. 

2 . Trepanation bei Hirntumor; Ruckbildung desselben. 

Im zweiten Falle hatte sich die iiberaus seltene Gelegenheit geboten. 
einen operativ behandelten Fall von Tumor cerebri 12 Jahre post operationem 
anatomisch zu untersuchen. Der operative Eingriff erstreckte sich nur auf 
die Oeffnung der Schadelkapsel und Druckentlastung. Durch den operativen 
Eingriff war ein groBer Teil der schweren lebensbedrohenden Krankheits- 
erscheinungen geschwunden und als bleibendes Ausfallssymptom die 
Hemianopsie iibriggeblieben. Es ergab sich der seltene anatomische Befund, 
daB der Tumor zu einer derben, fibrosen, gliomatosen Masse geschrumpft 
war. 

A. T., Bahnbeamter, 58 Jahre alt. Aufgenommen 28. XII. 1897. 

Der friiher gesund aussehende Mann bot zuerst in seinem 43. Lebens- 
jahre die Anzeichen einer geistigen Veranderung dar. Er wurde phlegmatisch, 
faul. vergeBlich, er konnte selbst geringe Mengen Alkohol nicht mehr ver- 
tragen und machte schon nach 1—2 Glas Bier den Eindruck eines Be- 
trunkenen. 

Nach einem psychischen Shock gelegentlieh eines Eisenbahnungliicks 
(ca. 1 \ 2 Jahr spater) wurde er angstlich erregt und klagte liber lahmungs- 
artige Schwache der rechten Korperhalfte mit ziehenden Schmerzen daselbst. 
Er konnte nur miihevoll schreiben und nicht mehr telegraphieren. Der 
Arzt diagnostizierte einen Schlaganfall. T. klagte in der Folge immer iiber 
,,rheumatische“ Schmerzen, besonders in der rechten Korperhalfte. Es 
entwickelte sich ganz allmahlich eine Parese der rechten Korperhalfte. Die 
Sprache wurde schwerfallig. Pat. klagte iiber undeutliches Sehen. Nach 
Angabe der Frau konnte er besonders Gegenstande, die auf seiner rechten 


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Bericht iiber die XVIII. Yersammlung 


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Korperseite sich befanden, nieht melir sehen. Er wurde stumpfsinnig, teil- 
nahmlos, vergefilich, antwortete oft ganz unklar. Zugleich stellte sich 
Schwerhorigkeit ein. 3 Wochen vor der Aufnahme in die Klinik gesellte 
sich taumelnder Gang hinzu und ofter unwillkiirlicher Abgang des Urins. 

Bei der ersten Untersuchung fand sich rechtsseitige Parese des Augen- 
und Mundfacialis, rechte Pupille > als die linke, Lichtreaktion rechts tr&ger 
und weniger ausgiebig als links. Zunge deviiert spurweise nach rechts, 
starke fibrillare Zuekungen, Armbewegungen beiderseits schwach. Gang 
unsicher; das rechte Bein wird leicht nachgeschleppt. Bei FuBaugenschluB 
f&llt Pat. nach rechts und hinteniiber. Sehnenphanomene beiderseits in 
gleicher Weise gesteigert; rechts FuBclonus angedeutet. Geruch rechts>>link8. 
Gehor beiderseits herabgesetzt. Die Gesichtsfelder zeigten eine ganz aus- 
gepragte rechtsseitige homonyme Hemianopsie. Ophthalmoskopisch fand 
sich am rechten Auge eine deutliche Papillitis n. optici. Sprachartikulation 
undeutlich, leicht hesitierend. 

Psychischer Status: Pat. meist teilnahmslos, schlafrig, ofter unrein; 
schlechter Schlaf, nachts oft angstlich erregt. Klagt iiber nachtliche Yisionen 
(schwarze Gestalten). Deutliche Merkdefekte, Erschwerung aller in- 
tellektuellen Leistungen: kann z. B. die Wochentage nicht ordentlich 
hintereinander aufzahlen. Vorgehaltene Gegenstande benennt er oft falsch. 
Auch wenn er sie betastet, findet er nicht die richtige Bezeichnung. Einzelne 
Buchstaben benennt er beim Lesen ganz richtig, vennag aber oft nicht die 
einfachsten Worte zusammenhangend zu lesen. Puls klein, 76, ofters Brech- 
neigung, Singultus. Ofters spontane Kopfschmerzen, die auf Stirn und 
Hinterkopf lokalisiert werden. 

Der weitere Yerlauf der Behandlung zeigt eine deutliche Steigerung des 
rechten Kniephanomens und deutliche FuBldoni rechts. Dynamometrisch 
Handedruck rechts betrachtlich < links. Somnolenz und Unreinlichkeit 
nimmt zu. Keine hemianopische Pupillenreaktion. Schrift wird fast 
unleserlich. Deutliche Pulsverlangsamungen. Parapraktische und para- 
phasische Storungen. Mundfacialis rechts starker paretisch, fibrillare 
Zuekungen im Mundfacialis. Leichte Atrophie des rechten Oberschenkels. 
Keine Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit. 

Im Februar 1898 deutliche Retropulsionen bei Gehversuchen. Linke 
Papille verwaschen. Zunehmende Somnolenz. 

26. II. 1898. Operation in der chirurgischen Klinik: AufmeiBelung des 
Schadels hinter dem linken Tuber parietale. Dura prall gespannt; Gehim- 
oberflache nach Inzision der Dura sehr blaB. wenig pulsierend. Windimgen 
plattgedriickt; GefaBe wenig gefiillt. Bei Punktion entleert sich reichliche 
Menge klarer Fliissigkeit mit Einsinken des Gehims. Es findet sich nirgends 
auf der freigelegten Gehirnoberflache eine krankhafte Veranderug. 

Wahrend des Heilungsverlaufes ofters geringe Temperaturerhohimgen. 
Dann fortschreitende auffallige Besserung des psychischen Verhaltens. Pat. 
wird klarer, reinlicher. Die Sprache bessert sich. Doch sind noch trans- 
kortikale motorisch-aphasische Storungen deutlich erkennbar. Geistig rascli 
ermiidbar. Die Stauungspapille ist gegen friiher entschieden zuriick- 
gegangen. 

5. IV. Genaue Analyse der Sprachstorung. 

1. Aufforderungen werden langsam und zogernd, aber meist richtig 
ausgefuhrt. Dabei tritt eine deutliche Hemmung der Auffassung zutage, 
und oft fiihrt erst eine wiederliolte Aufforderung zum Ziel. 

,,Reichen Sie mir die Hand!* 4 — Reicht die linke (!). 

..Die rechte!“ — Zogert, dann schwerfallig die rechte. 

Bei Wechsel komplizierterer Bewegungen, z. B. Oeffnen und SchlieBen 
der Augen und des Mundes, tritt deutliche lntentionsataxie ein. 

2. Bezeichnung optischer Eindrucke. 

Pat. benennt eine Anzahl alltaglicher Gebrauchsgegenstande richtig. 
andere falsch. Teils suchf er sich mit Umschreibungen und mit Ausfiiichten 
zu helfen. Ermiidet rasch und findet dann gar keine Namen mehr. 

Beispiele. Pat. benennt gesehene Gegenstande: 

Schlusselbund — richtig. 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 191 


Bleistift — Bleifeder (zogernd, suchend). 

Streichholz — ? 

„Ist das nicht ein Streichholz ?“ — ,,Ja, ein Streichholz.“ 

Streichholzschachtel — ,,Auch ein Streichholz." 

Den Gebrauch dieser Gegenstande kennt er nur mangelhaft, z. B. 
sucht er lange vergebens vora Streichholz Feuer zu bekommen, er findet die 
Reibfl&che nicht, nimnit das Holz falsch in die Hand, bekommt dann endlich 
Feuer, weiB aber auch jetzt die Benennung nicht zu finden, trotzdem er sie 
wenige Sekunden vorher gehort und ausgesprochen hat. Er kann auch 
den Gebrauch nicht beschreiben: ,,Man nimmt es und legt es daneben." 

3. Nachsprechen intakt. 

Bei schwierigen Worten rasch Enniidung, die durch relativ kurze 
ESrholungspausen sich ausgleicht. MiBerfolge erzeugen angstliche Erregung. 
Er wird verlegen, greift sich an die Stirn, stammelt Entschuldigungen. 

4. Perzeption vorgesprochener Worte und Laut verstandnis. 

Vorgesprochene Worte werden nicht nur als solche identifiziert, 

sondem auch teilweise in ihrer Bedeutung erkannt, da er Aufforderungen 
noeist richtig ausfiihrt. 

Das Wortverstandnis erstreckt sich aber mehr auf ganze Satze und 
gebr&uchlichere Worte fur allt&gliche Gebrauchsgegenstande z. B. Loffel, 
Oabel, Messer, Kamm, Biirste usw. Sie werden meist in ihrer Bedeutung 
erkannt (sekundare Identifikation nach Wernicke ), weniger gebrauchliche 
Worte dagegen versteht Pat. nicht. Es wird ihm eine Reihe Bezeichnungen 
von vorgelegten Gegenstanden vorgesagt; er soil die Objekte heraussuchen. 

Uhrschliissel — identifiziert er nicht mit dem Objekt. 

Baum — nicht. 

Thermometer — nicht. 

Nadel — nicht. 

5. Perzeption und Reproduktion visueller Wortbilder: 

a) Identifiziert einzelne Buchstaben als die diesbeziiglichen Schrift- 
zeichen, ebenso Ziffern. 

b) Einzelne Worte identifiziert er mit den entsprechenden Objekt- 
bildern, z. B. Tiir (geschrieben) — deutet darauf hin. 

Messer — richtig. 

Andere schriftlich bezeichnete Objekte erkennt er nicht, z. B. Buch. 

c) Lektiire. 

A. Einzelne Worte — stotternd, buchstabierend, mit Auslassung von 
Silben und Buchstaben. 

B. S&tze ohne Verstandnis, z. B. ,.Die Sonne und das Leben“ — ,.Die 
Fenster und das Leben.“ 

6. Schrift. 

a) Spontanschreiben: Personalien sehr zogernd, mu* teilweise, unter 
wiederholten Ansatzen. Geburtsdatum unrichtig; Alter zwischen 40 imd 50 
angegeben. 

b) Diktatschreiben: einzelne Worte wie Satze vollig paragraphisch. 

c) Abschreiben: Nach wiederholten Fehlversuchen richtig. ,,Die 
Sonne und das Leben“ — ohne Verstandnis; schreibt zunachst ein sinnloses 
Wort: ,,Vannte“. Korrigiert die Fehler nicht. 

d) Schriftliches Rechnen auf Diktat: verwechselt Addition und Sub- 
traktion, bekommt dann ein komplettes Fehlresultat, z. B. 39+88=117. 
Ziffemschrift mangelhaft. 

Aus dem Nervenstatus ist hervorzuheben: motorische Kraft der Armo 
r, -< L, feiner stat. Tremor der Hande, Beinbewegungen r. < 1. Gang nach 
rechts hangend, rechter FuB schleift etwas. Leichte Kontrakturen im 
rechten Knie- und Elibogengelenk. Starker Romberg mit subjektivem 
Schwindelgefiihl und Dberstiirzen nach rechts. Sehnenphanomene iiberall 
rechts gesteigert. Hautreflexe links > rechts. 

Paraphasische Storungen in der Folge auffallend schwankend. Perse- 
veratorische Erscheimmgen bei sprachlicher Reproduktion. 

Monataschrift f. Psyohi&trie u. Neurologies Bd. XXXIII. Heft 2. 13 


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192 


Bericht iiber die XVIII. Versammlung 


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20. IV. 1898. Starkes Hervortreten des Hirns an der Operationsstelle. 
Pat. klagt iiber Re i Ben in der Gegend der Nasenwnrzel, der rechten Wange 
und iiber dem rechten Auge. Puls 68. Bei Punktion des Prolapses entleert 
sich reichliche Menge klaren Serums. 

Wiederholung der Punktion am 30. IV. mit gleichem Erfoig. Zeitlich 
und ortlich desorientiert. 

1. VI. Ophthalmoskopisch: linkes Auge: nasaler Rand der Papille 
noch etwas verwaschen, temp. Rand scharf begrenzt. Im Zentrum ein weiB 
glanzender Fleck. Rechtes Auge: ganze Papille scharf, temp. Rand vollig 
frei, nasaler Rand, besonders nach oben hin noch etwas unscharf. Hemi- 
anopische Defekte wie friiher. 

Allmahlich zunehmende Besserung, Zuriiokgehen des Hirnprolapses. 
Aphasische Storungen fast unverandert. Eigentiimliche Eifersuchtsideen 
gegen seine Frau. Oefters noch vollig desorientiert. 

17. XI. 1901. Entlassung aus der Klinik. 

Pat. stellte sich, nach 11 Jahren (19. VI. 1912), in der poliklinischen 
Sprechstunde wieder vor. Sein psychisches Verhalten war gegeniiber dem 
Entlassungsbefunde auffallend gebessert. Er konnte genau angeben, wann 
er aus der Anstalt entlassen war, benennt die damals behandelnden Aerzte 
rich tig. Die ersten 1V 2 Jahre nach der Entlassung hatte er sich nur mit 
Spazierengehen beschaftigt, nachher aber regelmaBig Gartenarbeit getrieben 
imd sich wieder gesund gearbeitet. Er besorgt seinen V 2 Morgen groBen 
Garten ganz ailein. Die Sprache hat er allmahlich wiedergefunden. seine 
Korperkrafte waren gewachsen. Das Gehen hatte ihm keine Beschwerden 
mehr geraacht. Seine 1899 stattgehabte Entmiindigung war unter groBen 
Schwiergkeiten 1909 aufgehoben. 

Seit 1 Y 2 Jahren fiihlt er .sich magenkrank. Alle Angaben macht er in 
klarer Weise. Er ist zeitlich und ortlich vollig orientiert. Einfache Rechen- 
aufgaben und Zinsrechnung lost er rasch und richtig. 

Aus dem Status sei nur hervorgehoben: Die Sehnenreflexe sind rechts 
noch liberal 1 gesteigert. Babinski rechts angedeutet. Armbewegungen 
beiderseits kraftig. Bei passiven Bewegungen rechts geringer spastischer 
Widerstand. Das rechte Bein wird beim Gehen etwas nachgezogen und 
zirkumduziert. Rechter Mundfacialis leicht paretisch. Zunge weicht spur- 
weise nach links ab. Ophthalmoskopisch: Papille links temp, stark abgeblaBt, 
rechts in toto blaB, nasal warts stark abgeflacht. Die Gesichtsf elder zeigen, 
wie friiher nachgewiesen, rechtsseitige homonyme Hemianopsie. Sprach- 
artikulation: bei schwierigen Worten leicht stockend und undeutlicher, doch 
immer verstandlich, keine aphasischen Storungen. 

Pat. laBt sich wegen seiner Beschwerden in die Klinik aufnehmen, 
genieBt nur fliissige Kost. Sobald er feste Nahrung zu nehmen versucht, tritt 
Brechen ein. Beim Versuch, eine Magenspiilung vorzimehinen, findet sich 
ein deutlicher Widerstand in der Gegend der Cardia. Bei Palpation des 
Magens ist ein Tumor nicht erkennbar. Bei der Rontgenuntersuchung des 
Pat. in der chirurgischen Klinik wird Cardia- Karzinom festgestellt. Oeso¬ 
phagus und Cardia wurden operativ freigelegt und es wurde festgestellt, 
daB ein ausgedehntes Karzinom in der Cardia und in der ganzen kleinen 
Kurvatur besteht. Von weiteren operativen Eingriffen wurde abgesehen. 

Der Tod erfolgte am 11. VIII. infolge Pneumonie. 

Bei der Sektion wurde ein grofles weiches Karzinom der Cardia mit 
geringem Uebergreifen auf den unteren Oesophagus toil festgestellt. Kleine 
Metastasen im Pankreas. Im linken Temporallappen fand sich ein haselnuB- 
groBer Tumor. 

Der Tumor nimmt auf einem Frontalschnitte ungefahr auf der Grenze 
zwischen vorderem imd mittlerem Drittel der Schlafegegend das Marklager 
der mittleren und unteren Schlafenwindung ein imd erstreckt sich median- 
w&rts bis in den Linsenkem und nach oben bis in den Tractus opticus imd 
in die untersten Abschnitte des Nucleus lentiformis liinein. Die inneren 
zwei Drittel der Geschwulstmasse sind eine derbe, solide Masse, wahrend 
das ftuBere Drittel von vielbuchtigen, mit derben B&ndem ausgekleideten 
Hohlraumen durchsetzt ist. 


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mifcteldeutscher Psychiater und Xeurologen in Halle a. S. 193 


Mikroskopisch setzt sich der Tumor zusammen aus langen Gliafasern 
mit langsovalen groBen Kernen. Die Fasern sind vielfach wellig angeordnet 
und von vielfachen dicht zusannnengedrangten GefaBen durchsetzt. Die 
Gef&Be selbst zeigen in der Media keine Kernvermehrung dagegen ist die 
Adventitia sehr betr&chtlich verdickt und von welligem derbfaserigem 
Gewebe umgeben. 

Diagnose: Geschrumpftes, derbfaseriges Gliom mit deutlichen 
Retraktionserscheinungen. (Autoreferat.) 

Diskussion . 

Herr Anton-Halle: Einen ahnlich strukturierten Tumor hat vor einigen 
Tagen von Bramann operiert bei einem 5 jahrigen Madchen. Wir haben bei 
ihr nur diffuse Zunahme des G esam ts c hade Is und enorme Verdiinnung der 
Schadelwandungen konst at ieren konnen. Symptomatisch bestand eine 
halbseitige Schwache wecliseinder Art, und keine Stauungspapille. Beim 
ersten Tempo der Operation, d. i. bei der Trepanation der linken zentro- 
parietalen Gegend, konnte ein harter Tumor, scharf begrenzt, getastet 
werden. Die Probestiickchen, die entfernt wurden, wurden mikroskopisch 
untersucht. Auffallig waren die langgestreckten, spindeligen Zellelemente. 
Die Kerne waren wie Stabchen anzusehen. Allerdings fanden sich auch 
spindelzellenartige strahlige Bildungen. Das Stroma war iiberall sehr 
reichlich fein fibrillar, Herr Prof. Beneke, welcher die Befimde kontrollierte, 
sah die Geschwulst als Glioma durum an. Der Fail Binswangers ist uns auch 
daduroh lehrreich, daB wir fiir eine Geschwulst, die derzeit noch im Schadel 
sitzt, nunmehr eine scharfere Abgrenzung und Ausschalbarkeit erhoffen 
konnen. 

Die Geschwulst wurde seither entfernt. Sie war derb und hockerig. 
Das Gewicht betrug 180 g. Die Wunde ist bereits geschlossen. Die Pat. 
fiihlt sich wohl und steht auf. Die Lahmung ist geringer. 

Herr Saengrcr-Hamburg meint, daB Horsley von regressiv gewordenen 
Tumoren Mitteilung gemacht habe nach Palliativtrepanation. Er weist auf 
die fiinf von ihm in der letzten Yersammlung deutscher Nervenarzte in 
Hamburg demonstrierten Falle von Palliativtrepanation hin. In diesen Fallen 
war die Diagnose auf Hirntumor gestellt worden. Der eine Fall w r ar vor 13, 
der andere vor 8, der dritte vor 4 Jahren operiert worden. Diese Patienten 
sind wieder ganz arbeitsfahig geworden. Der an Heilung grenzende Erfolg 
machte die Diagnose Hirntumor zw r eifelhaft. Es wurde daher das Vorhanden- 
sein eines Hydrocephalus oder einer Hirnschwellung in Erwagung gezogen. 
Der eben demonstrierte hochinteressante Fall Binswangers laBt nun die 
Annahme eines ebenfalls regressiv gewordenen Hirntumors in den 5 palliativ 
trepfiuiierten Fallen durchaus als moglich, ja als wahrscheinlich erscheinen. 

11. Herr i?u/iZe-Uchtspringe: Experimentelle Studien iiber tumorartig 
wachsende Fremdkdrper im Tiergehirn. 

Die Erfahrung, dafl man in der Umgebung eines wachsenden Hirn- 
turaor8 eine reaktive glioinatose Wucherung beobachtet, brachte den Vortr. 
auf den Gedanken, experimented am Tiergehirn dieses Verhaltnis nachzu- 
ahmen, indem er versuchte, einen sich langsam vergroBernden Fremdkorper 
in das Tiergehirn einzufiihren und die Wirkung dieses sich ausdehnenden 
Fremdkorpers auf das umgebende Hirngewebe zu studieren. Als das 
Zweckm&Bigste erwiesen sich schlieBlich kleine Laminariastiicke, die er, um 
das relativ schnelle Aufquellen wenigstens einigermaBen zu verzbgem, mit 
einer Paraffinhiille iiberzog. die perforiert wurde. So wruden einigermaBen 
dem natiirlichen A T organge eines w achsenden Tumors ahnliche Verhaltnisse 
erzielt. Die Laminariastiicke wuirden bei Kaninchen zw'ischen Dura und Pia 
eingefiihrt. Nennensw r erte klinische Symptome traten nicht auf. Die Gehime 
wuklen nach einer postoperativeil Lebensdauer von Tagen bis zu 2 Jahren 
untersucht. Es fanden sich in der Umgebung des gequollenen und teilweise 
stark vergroBerten Laminariastiickchens deutliche Veranderungen des Him- 
gewebes, bestehend inVerlagerung der Ganglienzellen, Markscheidenschwund, 
starke Neurophagie, Wuchenmg der Gliazellen, wenig Gliafasern zahlreichen 
Plasmazellen. Vortr. konstatiert, daB wohl reaktive Gliawucherung vorliege. 

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Bericht iiber die XVIII. Versammlung 


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aber keine eigentliche Gliombildung. Er demonstriert Mikrophotogramme 
und Lumieremikrophotogramme. 

Herr En^eZfcen-Uchtspringe macht zur technischen Herstellung der 
Bilder darauf aufmerksam, daB Mikrophotogramme auf Autoehromplatten 
nur notwendig sind, wenn es sich run Darstellung mikrochemischer Reak- 
tionen handelt, wahrend andere histologische Praparate besser in Schwarz- 
WeiB photographiert werden. Die vorgefiihrten Vergleichsaufnahmen 
wurden je auf einer Platte durch Verschiebung hinter entsprechenden 
Blendplatten hergestellt. Zur Aufnahme dienten Zeifl sche Apochromate und 
Planate. Die Licht filter wurden entsprechend der spektroskopischen Unter- 
suchung der fiir die Praparate benutzten Farbstoffe ausgewahlt und von der 
Firma Voigtlander hergestellt. Als Lichtquelle diente die ZeiBsche Nernst- 
lampe, die aber fiir die Autochromaufnahmen sehr lange Expositionen notig 
macht und daher besser durch eine Schwachstrombogenlampe ersetzt wird. 

12. Herr P/ei/er-Nietleben: Ueber experimented Studien am Zwischen- 
hirn und Mittelhirn. 

Vortr. berichtet iiber Reizungen und Lasionen am Zwischenhirn und 
Mittelhirn von 10 Resusaffen und 35 Katzen, die in F. Horsleys Labora- 
torium fiir experimented Neurologie in London teils von Horsley , teils von 
ihm selbst ausgefiihrt wurden. Dabei wurde das von Horsley und Clarke 
ausgearbeitete Verfahren der Einfiihrung einer unipolaren, durch Glashiillen 
isolierten Elektrode mittels des stereotaxischen Instrumentes Clarkes nach 
vorheriger genauer Berechnung der Reiz- bezw\ Lasionsstelle an Gefrier- 
schnittsphotogrammen angewandt. An den Stellen, an denen bei faradischer 
Reizung ein bemerkenswerter Reizeffekt erzielt wurde, wurde mittels gal- 
vanischen Stromes von meist 8—10M.-A. Starke und 10 Minuten Dauer 
eine elektrolytische Lasion gesetzt. Die Methode wird eingehend be- 
schrieben und an Lichtbildern erlautert. Sodann wird eine Anzahl der 
am Mittel- und Zwdschenliirn gesetzten Lasionen demonstriert und be- 
sonders auf deren gut umschriebene Form und das fast ganzliche Fehlen 
von Nebenverletzungen hingewiesen. 

Beziiglich der beobachteten Reiz- imd Ausfallssymptome sowie der 
sekundaren Degenerationen, die an liickenlosen Frontalserien nach Marchi- 
behandlimg festgestellt wurden, wird auf weitere Publikation verwiesen. 
Nur die an den Pupillen beobachteten Reizerscheinungen werden noch ge¬ 
nauer besprochen. Bei 19 Tieren rnit reinen Thalamuslasionen hatte die 
Reizung 8 mal Pupillenerweiterung ergeben, and zwar 7 mal als isoliertes 
Symptom, einmal mit Lidspaltenerweiterung verbunden. Die an der Reiz- 
stelle gesetzte Lasion saB jedesmal im medialen Thalamuskem. Ebenso 
bei zwei weiteren Fallen, bei denen der Reizeffekt in Lidspaltenerweiterung 
ohne deutliche Pupillenerweiterung bestand. Hinweis auf ahnliche Resultate 
v. Beekterews. In 4 weiteren Fallen wurde Pupillenverengerung festgestellt. 
Als Reizstelle kommt hierfiir der kaudal-dorsale Anteil des medialen 
Thalamuskernes in Betracht. 

13. Herr R 7 e5er-Chemnitz: Commotio cerebri mit anatomischen 
Befunden. 

46 jahriger Arzt stiirzt vom Motorrad und gerat mit dem Kopf unter 
einen Tafelw agen. Er iibt am Tage des Sturzes noch seine Praxis aus, hat 
aber dabei Erbrechen. Am folgenden Tag angstliche Erregung; weite starre 
Pupillen. Vorstehen des rechten Augapfels, Schwindel und Kopfschmerzen. 
In den folgenden Tagen bis zur 2. Krankheitswoche zeitweilige Pulsverlang- 
samung, Unsicherheit beim Stehen. Polyurie, angstliche Erregung und Ver- 
wirrtheit abwechselnd mit psychischer Klarheit bei dauernder Verstimmung 
und Schlaflosigkeit; am 14. Tage nach dem Unfall sehr langsamer Puls, 
schlechte Herztatigkeit, Atemnot; mehrere Morphiuminjektionen. 14 Stunde 
nach dem letzten arztlichen Besuch plotzlicher Tod. 

Die Sektion ergab an den iibrigen Organen nichts Besonderes. Dura 
mit dem Sch&deldach verwachsen; an der linken Seite der Sch&delbasis ein 
KnochenriB ohne Dislokation bei intakter Dura. Innenfl&che der Dura 


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mitteldeutscher Psychiater und Xeiirologen in Halle a. 8. 


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unverandert. Das Gehirn odematbs ohne mikroskopisch erkennbare Ver¬ 
anderungen. 

Die mikroskopische Cntersuchung ergab: 1. akute Veranderungen: 
Pralle Fiilliing vieler kleinster GefaBe und Kapillaren. erweiterte Lymph- 
r&ume. manchmal mit amorphen Massen gefiillt. miliare perivaskulare 
Blutungen frischer und alterer Art. perivaskulares Oedeni, Auflockerung 
des perivaskularen Hirngewebes. Etat crible. An wenigen Stellen. besonders 
in der Medulla oblongata, auch Lymphozyten- und Leukozyteninfiltrate 
der Lymphscheiden und des perivaskularen Gewebes. Einzelne GefaBchen 
sind total komprimiert und von dein ausgepreBten Blutinhalt umgeben. 
2. Chronische Veranderungen: An den feineren GefaBen der Kinde binde- 
gewebige Verdickungen. hyaline Entartung. Sklerose; an einzelnen GefaBen 
Aufblatterung der verdickten Wande, deren Maschen mit Blut ausgefiillt 
sind. 

Der Fall zeigt folgendes: Es handelt sich, wie der klinische Verlauf und 
der negative makroskopische Befund zeigt, unx echte Commotio ohne grobere 
Zerstorung oder Quetsehung der Hirnsubstanz. Die akuten Veranderungen: 
perivaskulare Blutungen und Oedenie sind nicht die direkte imd sofortige 
Folge der mechanischen Gewalteinwirkung. Vorausgegangen ist vermutlich 
eine Erweiterung der RindengefaBe, hervorgerufen durch reflektorische 
Lahmung des Vasomotorenzentrums. Die GefaBe sind aber infolge ihrer 
fibrosen, sklerotischen und hyalinen Degeneration und der dadurch ver- 
minderten Elastizitiit ihrer Wandungen den starken imd plotzlichen 
Zirkuiations8ch\vankungen nicht mehr gewachsen gewesen. 8o kam es zu 
Oedem und Blutungen ohne direkte GefaBzerreiBung. Auch die ver- 
schiedenen Entwicklungsstadieu der Blutungen (altere und frische) zeigen, 
daB sie nicht auf einmal unmittelbar nach der Gewalteinwirkung entstanden 
sind, sondern alhnahlich im Laufe der 14 tagigen Krankheitsdauer je nach 
der Beschaffenheit der GefaBwande. Die klinisehen Erscheinungen, nament- 
lich Erbrechen, Pulsverlangsainung. Protrusio bulbi, angstliche N'erwirrtheit, 
werden durch das sekundare Hirnodem erklart. 

Viele Falle auch schwerer Commotio verlaufen nicht todlich, weil die 
Betroffenen noch intakte, den Zirkulationsschwankungen noch gewachsen© 
HirngefaBe besitzen. In den Fallen, die langero Zeit, Jalxre nach der 
Commotio zur Sektion und mikroskopischen Cntersuchung kamen ( Kron - 
thal , Friedmann u. A.), ist es fraglich, ob die gefundenen degenerativen Ge< 
faBprozesse und die mit ihnen in Zusammenhang gebrachte ,.tramnatische 
Demenz“ immer die ausschlieBliche Folge der mechanischen Gewaltein¬ 
wirkung sind. Vielleicht haben GefaBveranderungen schon vorher auch in 
geringerem, klinisch nicht bemerkbarem Grade bestanden und sind nur die 
Ursache dafiir, daB das Gehirn einer volligen Regeneration nicht mehr 
f&hig w T ar. Die Prozesse kbnnen durch die akute Delxnung der GefaBe ver- 
starkt und in ihrer weiteren Entwicklung beschleunigt werden. Es wuirden 
also die Falle von Commotio hauptsachlich todlich verlaufen oder zu einer 
dauernden schw r eren Schadigung fiihren, bei denen die HirngefaBe schon 
vorher, wenn auch nicht klinisch nachweisbar. verandert waren. In solchen 
Fallen geniigt schon eine mitt else hwere Erschiitterung zur Herbeifiihrung 
eines ungiinstigen Ausganges, wahrend intakte Gehirn© auch ein schwereres 
Trauma iiberstehen konnen. 

Auch dieser Fall zeigt wieder, daB vielfach letal veriaufende Hirner- 
krankungen nur erklart werden konnen durch Einwirkung einer akuten — 
hier mechanischen — Schadigung auf einen schon langer. wenn auch latent 
bestehenden chronischen ProzeB. 

Disk us,si on. 

Herr Binswanger- Jena: Die Bilder erinnern sehr an die fruher von mir 
beschriebenen Anfangsstadien der Arteriosclerosis cerebri, die ich als 
Arteriofibrosis bezeichnet habe. Liegen hier klinische Befunde zur Annahnxe 
eines solchen Prozesses vor ? 

Herr Weber bejaht dies und erkl&rt, daB er dies© GefaBveranderungen 
als Arteriofibrosis, weniger als Arteriosclerosis bezeichnen mochte. 


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Bericht iiber die XY1II. Versammlung 


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14. Herr Forster- Berlin: Demonstration des Gehirnes eines Patienten, 
der apraktische Symptome im Leben dargeboten hatte. 

Pat. war am 1. VIII. 1912 in die Klinik aufgenommen worden, weil er 
nach Angabe der Wirtin in der Nacht vom 30. zum 31. VII. Zuckungen gehabt 
und laut gestohnt hatte. Am 31. habe er verkehrt gesprochen und sei im 
Bett geblieben. 

Am 1. VIII. morgens habe er in Gegenwart des Arztes Krampfe be- 
koinmen; es seien Zuckungen am ganzen Korper aufgetreten, rechts mehr 
als links. Pat. selbst gab an, er sei aufgenommen. weil er Kr&mpfe gehabt 
habe, bei denen er das BewuBtsein nicht verloren habe. Friiher sei er stets 
ganz gesund gewesen. 

Die korperliche Untersuchung ergab eine ganz leichte rechtsseitige 
Pyramidenhemiparese mit ganz geringem Zuriickbleiben des rechten Facialis. 
Die aphasische Untersuchung ergab, daB Pat. beim Spontansprechen in den 
Ausdrucken ofters fehlgriff, das Reihensprechen war intakt, das Nach- 
sprechen ebenfalls. mu* manchmal etwas stockend. Beim Bezeichnen von 
Gegenstanden erfolgten die Antworten langsain und nach langem Besinnen. 
Seltenere Gegenstande kann er manchmal nicht bezeichnen. So findet er 
das Wort fur Wiirfel und Revolver nicht. Die Bezeichnung von Korper- 
teilen ist richtig. Auf die Aufforderung, wie ein Soldat zu griiBen, legt er 
nach langem Besinnen einen Finger an den Kopf. ..Fine lange Nase machen“ 
kann er nicht; als es vorgemacht w’ird. macht er es zuerst richtig, mit der 
anderen Hand aber gleich wieder falsch. Auch bei anderen Handlungen aus 
demGedachtnis.sowohl rechts wie links, Entgleisungen und apraktische Fehl- 
reaktionen. Das Spontanschreiben und Selireiben nach Diktat war auBerst 
schlecht und ungeschickt. Kopieren ging ganz gut. Die Feder wurde dabei 
geschickt angefaBt. AufschlieBen mit dem Schlussel wurde richtig gemacht. 
Beim Lesen best and geringe Aufmerksamkeit. Es wurde ofters fasch gelesen, 
so fur Dampfschiff — Dainpfspritze. 

Am 3. VIII. bekam Pat. morgens einen typischen JacJcson&chen 
epileptischen Aiifall. der dann auf Beine und rechten Facialis ubergriff, 
Dauer 2 Minuten. Es fanden an diesem Tage noch 13 derartige Anfalle statt. 
Nach jedem Anfall blieb eine Lahmung des Amies zuriick. Pat. wurde in- 
folge der Anf&lle mehr und mehr benommen. Eine Prufung war nicht mehr 
moglich. Der Augenhintergrund blieb dauernd normal. Die Untersuchung 
des Blutes ergab negative Wassennanrmche Reaktion. In den nachsten Tagen 
15, 12 und 14 Anfalle. 

Pat. wurde dann zwecks Operation nach der chirurgischen Klinik ver- 
legt, wo am 6. VIII. iiber dem Stirnhirn vor dem Armzentrum ein gut nuB- 
groBes Gliom entfemt wurde. Am nachsten Tage Exitus. 

Die Sektion ergab einen Tumor, von dem die Randpartien an den 
Praparaten noch sichtbar sind (Demonstration), am FuBe der zweiten Stim- 
windung direkt vor der vorderen Zentralwindung gelegen. Der Tumor greift 
nur wenig in die erste und dritte Stirnwindung iiber. 

Vortr. ist sich wohl bewuBt, daB die Symptome der Apraxie auch als 
Fernwirkung gedeutet werden konnen. Er halt diese Stelle jedoch nicht 
fiir bedeutungslos fiir die Lokalisation der leichten apraktischen Storungen, 
wie sie bei Ausfiihren der Bewegungen aus dem Gedaehtnis ziu* Beobachtung 
kommen. Bemerkenswert ist, daB beide Hande beteiligt waren. Der Gyrus 
supramarginalis ist sicher frei. Gegen die Ansicht, daB die Stoning doch von 
der vorderen Zentralwindung ausgehe. kann immerhin angefiihrt werden, 
daB die Symptome der Apraxie schon deutlich zutage traten, bevor eine 
wesentliche Lahmung vorhanden %var und daB doch die ganz in der Nahe 
des Tumor gelegene Brocasche Windung keine Funktionsstorung zeigte. 
Es sind zwar schon vor der Untersuchung Jacksonsche Anfalle beobachtet 
worden. Da jedoch die Apraxie nicht zu den regelmaBigen Begleiterschei- 
nungen der JacA*sonschen Anfalle des Amies gehort, ist die Deutung, daB 
die apraktischen Stomngen als Herds^mptome des Tumors in der zweiten 
Stirnwindung aufzufassen sind. durchaus moglich. (Autoreferat.) 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 197 


Diskussion. 

Herr Niefil von Mayendorf: Apraxie kann nicht dort diagnostiziert 
werden, wo sich Zeichen von sensorischer Aphasie bemerkbar machen und 
Paresen an dem vermutlich apraktischen Glied gefunden werden. Der 
Kranke muB alle Anforderungen wohl verstehen und die Absicht, die Hand- 
lung auszufuhren, unzweideutig zu erkennen geben. Es muB der Nachweis 
gefiihrt w r erden, daB er den bei alltaglichen Handlungen dem BewuiBtsein zu- 
gefiihrten Komplex von Innervationsempfindungen vergessen hat. Das 
ist bier nicht geschehen, selbst wenn dies gelungen ware, wiirden trotzdem 
keine Schliisse betreffs der Lokalisation der unerregbaren Innervationsbilder 
gezogen werden diirfen. Zugegeben endhch die Verwertbarkeit dieses Falles 
nach dieser Richtung, wird er fiir eine hier versuchte Lokalisation dadurch 
unbrauchbar, daB es sich um einen Tumor handelt. 

Herr Liepmann- Berlin: Ich habe seinerzeit selbst auf Grund der 
Haufigkeit dyspraktischer Storungen bei motorisch Aphasischen in Er- 
wagung gezogen, ob im Stimhirn ein sogenanntes ,.Extremitatenbroca“ ge- 
legen sei, hielt es aber fiir wahrscheinlicher, daB die Storungen auf Schadigung 
des Zentrums der oberen Extremitat resp. der Kommissurenfaserung, 
welche von diesem zur rechten Hemisphere zieht, beruht. Forsters Fall 
scheint mir zwischen den beiden Moglichkeiten keine Differenzierung zu- 
zulassen. Denn auch abgesehen von der Fernwirkung, die ein Tumor macht, 
liegt der Herd unmittelbar dem Gyrus centralis anterior an, geht sogar, wie 
erst Serienschnitte entscheiden konnen, vielleicht in ihn hinein. DaB dem 
unmittelbar vor der vorderen Zentralwindung gelegenen Gebiete eine Rolle 
bei der Praxie zufallt, ist iibrigens durchaus mogiich, aber sicher eine ge- 
ringere als dem Scheitellappen. Von einem Praxie-Zentrum darf man iiber- 
haupt nicht reden, der Scheitellappen ist nur quoad Praxie das vulnerabelste 
Gebiet. 

Herr Forster : Herm Liepmann schlieBt sich Vortr. vollstandig an. Er 
macht nochmals darauf aufmerksam, daB die Doppelseitigkeit der Apraxie 
bemerkenswert ist, und daB das Fehlen von Symptomen der JBrocaschen 
Windung beweist, daB die Fernwirkung noch keine sehr groBe gewesen sein 
kann, und daB man sehr wohl die zweite Stirnwindung in Beziehung zur 
Apraxie bringen kann. Ob der Tumor nicht doch noch auf die Zentral¬ 
windung libergegriffen hat, miissen allerdings Serienschnitte erst zeigen. 

Herm Niefil von Mayendorf versichert Vortr., daB die Priifung auf 
Apraxie richtig ausgefiihrt wurde. Die Einwande Niefils hat er sich selbst- 
verstandlich auch vorgelegt und danach gehandelt. Er hielt es jedoch fiir 
iiberfliissig, der Corona, die doch weifi, wie man auf Apraxie pruift, bei der 
beschr&nkten Zeit diese Einzelheiten noch vorzutragen. 

15. Herr K&wrt-Erlangen: Anatomische Befunde bei Huntingtonscher 
Chorea. 

An dem Gehirn eines Falles von HurUingtonscher Chorea, das Med.- 
Prakt. Frl. KieseJJbach und der Vortr. untersuchten — die Befunde werden 
ausfiihrlich in der Dissertation von Frl. Kieselbach veroffentlicht werden — 
fand sich: 1. eine hoeligradige Atrophie der Nuclei caudati beiderseits und 
der Putamina beider Linsenkerne. Auf Schnitten durch diese Kerne wurden 
im Gesichtsfelde 4—5 mal weniger Zellen gezahlt als an Schnitten eines 
normalen Gehims. Die Glia ist in den Schwanzkernen und den Putamina 
auBerordentlich vermehrt. 2. Die iibrigen Teile des Zentralnervensystems 
sind ebenfalls kleiner als die entsprechenden Teile eines normalen Gehims; 
besonders ist das GroBhirnmark an Masse reduziert. Es finden sich auch an 
den Nervenzellen der iibrigen Teile des Zentralnervensystems gewisse atro- 
phische Veranderungen. die aber nirgends auch nur entfernt den Grad und 
Umfang der Atrophie der Nuclei caudati und der Putamina erreichen. Be¬ 
sonders fallt gegeniiber der Entartung dieser Gebilde die relative Unversehrt- 
heit des Globus pallidus, des Thalamus opticus, des Nucleus ruber, des 
Corpus subthalamicum und der Kleinhirnkerne auf. 3. Atheromatose Ver- 
Andenmgen und Arteriofibrosis an den GehirngefaBen. Vereinzelte mikro- 
skopische Erweichungsherde sowohl in den Basalganglien wie in derHirnrinde 


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Bericht liber die XVIII. Versammlung 


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4. Die atrophischen Veranderungen, insbesondere die Atrophie der Nuclei 
caudati und der Putamina hat nicht herdartigen Charakter, ist nicht durch 
die GefaBerkrankung bedingt, sondern stellt sich als ein eigenartiger Degene- 
rationsprozeB dar, der auch von dem der senilen Demenz (keine Fischorschen 
Drusen, keine Alzheimerschen Fibrillen veranderungen) verschieden ist. Es 
handelt sich auch um keinen entziindlichen \ T organg. Keine GefaBinfiltration. 

Nach Art und Lokalisation ahnliche Befunde wurden von Jelgersma , 
Alzheimer und Marie-L'hermite veroffentlicht. Die Beschrankung der 
schweren Erkrankung auf den Schwanzkem, im Falle Jelgersma . bezw. auf 
den Schwanzkern imd das Putamen in unserem Falle ist fiir das Yerstandnis 
der choreatischen Bewegungss torung von Bedeutung. Sie bestatigt Antons 
Lehre, der schon friiher die athetotisch-choreatischen Storungen eines Falles 
auf die vorgefundene Degeneration der Putamina zuriickgefuhrt hatte imd 
zeigt, daB choreatische Erscheinungen nicht nur die Folge von Affektionen 
der Bindearmbahn ( Bonhoffer ), sondern auch von solchen der Schwanzkerne 
und Putamina sein konnen. Wahrscheinlich kommt auch die Bindearm- 
chorea erst dadurch zustande, daB die Affektion des Bindearmes eine 
Storung im Ablauf der an das Corpus striatum gebundenen automatischen 
Bewegungen nach sich zieht. (Autoreferat.) 

Diskussion, 

Herr Flechsig- Leipzig: Wir haben in einer ganzen Reihe schwerster 
akuter Chorea mit Fieber und psychischen Storungen in Linsenkem iiber- 
einstimmende Veranderungen gefunden. AuBer Schwund von markhaltigen 
Fasern und Ganglienzellen treten an Hamatoxylinpraparaten nach Weigert- 
Pal konzentrisch geschichtete Korper. offenbar verkalkte Abbauprodukte 
hervor, welche die Ganglienzellen an Grofie vielfach ubertrafen. AuBerdem 
karaen auch kleinere runde. meist in Reihen geordnete Korper vor, welche 
von Hamatoxylin intensiv blau gefarbt wurden. Wir haben ahnliche Korper 
ja auch in Gehimen Nichtchoreatischer gef unden, indes nie in dieser Menge 
und GroBe wie bei den Fallen von Chorea gravis. Das betreffende Gebiet 
des Linsenkernes ist gegeniiber den hinteren Teilen des Globus pallidus 
myelogenetisch durch etwas spateres Auftreten der Markscheiden ausge- 
zeichnet imd offenbar mit dem roten Kern, bezw. den Bindearmen des Klein- 
hirns ausgiebig verbunden. Da die letzteren auch mit dem Thalamus 
(ventraler, lateraler Kern) und hierdurch mit den Zentralwindungen zu- 
sammenhangen, so wird Erkrankung des roten Kernes und seiner Faser- 
systeme auf die verschiedenste Weise zu choreatischen Reizerscheinungen 
fiihren konnen. 

Herr Liepmann- Berlin glaubt auch, daB Herde im Linsen- und Schwanz¬ 
kem fiir choreatische und verwandte Bewegungen in Betracht kommen. 
Er hat bei einer alten Dame eine typische Hemichorea apoplektisch auf¬ 
treten sehen, ohne jede L&hinungserscheinung. Der bisher nur makro- 
skopische Behind zeigt nur eine Erweichung der vorderen Halfte des Putamen, 
die sich durch den vorderen Schenkel der inneren Kapsel in den Schwanzkern- 
kopf eratreckt; der hintere Schenkel der inneren Kapsel ist vollkommen frei. 

Herr Klien- Leipzig erwahnt einen Fall, in welchem ein etwa 60 jahriger 
Mann akut unter heftigsten choreatischen Bewegungen von Huntingtonschem 
Typus erkrankte und innerhalb einiger Tage zum Exitus kam. Bei der 
Sektion fanden sich als einzige ohne eingehende mikroskopische Unter- 
suchung nachweisbare Veranderung mehrere kleine und kleinste frische Er- 
weichungsherde in beiden Linsenkemen. 

Herr Lewandowsky- Berlin: AuBer der Chorea Huntington sind 2 andere 
Erkrankungen auf das Corpus striatum bezogen worden. namlich eine 
Paralysis agitans ahnliche luetische Erkrankung von Wilson und die 
Athetose double von C. Vogt und Oppenheim. Diese 3 Erkrankungen sind 
aber sehr verschieden. Vielleicht haben sie ein oder mehrere Symptome ge- 
meinsam. die auf das Corpus striatum bezogen werden miissen; daB alle die 
Symptome auf eine Lokalisation bezogen werden konnten. diirfte aber sehr 
unwahrscheinlich sein. Vielleicht gelingt es auch, neben der Chorea oder der 
Athetose noch eine oder mehrere Arten von Bewegungsstorungen auszu- 


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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 199 


scheiden. Zur Losung dieser Frage sind nicht nur anatomische, sondern auch 
kinematographische Auf zeichnungen iiber die einzelnen Falle erforderlich. 
Es ist notig, daB moglichst bald eine Zentralstelle fur die Aufbewahrung 
solcher kinematographischer Aufnahmen geschaffen wird. Ohne die Moglich- 
keit, die Bewegungsstorungen sich zu vergegenwartigen, haben selbst die 
anatomischen Untersuchungen nur beschrankten Wert. 

Herr Niefil von M ay endorf-Leipzig: Die Huntin/jtonsche Chorea weist 
Hirnrindenveranderungen auf die keineswegs rein atrophischer Natur sind. 
sondern die Merkmale akuter und chronischer Entziindungen unzweifelhaft 
besitzen. Dasselbe gilt natiirlich auch fur die subkortikalen Veranderungen, 
denen fiir das Auftauchen der choreatischen Zuckung die letzte ursachliche 
Bedeutung zukommt. Dazu gehoren die star ken Quellungszustande an den 
Ganglienzelleixund am Kern, die Tigrolyse, das Auftreten von Vakuolen und 
Pigment innerhalb der Zellen und vor alleni die enorme Wucherung der Glia- 
kerne. Das zentrale Nervensystem ist auflerordentlich odematos und sinkt 
bei Alkoholbehandlung kolossal zusammen. Andererseits ist zuzugeben, 
daB die GefaBe im allgemeinen im Gegensatz zu entziindlichen Vorgangen 
hier weniger beteiligt zu sein scheinen. Die Linsenkernhypothese halte ich 
bezviglich des Zustandekommens der Chorea deshalb fur abgetan, weil es 
eine Anzahl doppelseitiger Linsenkernzerstorungen gibt. welche ohne 
choreatische Zuckungen verliefen ( Reichel , Raymond und d'Artaud. Liep- 
mann u. A.). Die Herniathetose ist nicht, wie Lewandowsky meint, von der 
Hemichorea wesentlich verschieden, sondern beruht auf demselben Gehirn- 
mechanisinus und unterscheidet sich von diesem nur in funktioneller, nicht 
in lokalisatorischer Beziehung. Es ist endlich inkorrekt, fur die chroe- 
atischen Zuckungen den Terminus Bewegungsstorungen zuwahlen: W'elche 
Bewegung ist dabei eigentlich gestort ? 

16. Herr Xtirfcite-Sonnenstein: Ueber Zeichnungen Geisteskranker. 

Vortr. bespricht zuerst die engan Beziehungen zwischen Schrift, 

Sprache und zeichnerischem Produkt bei Geisteskranken und zeigt dann 
an der Hand von Zeichnungen nach Vorlage, wie vielfache Ueberein- 
stimmungen zwischen der Kopie und dem sonstigen klinischen Verhalten 
bestehen. Analogien. die auch in den Spontanzeiehnungen deutlich zuin 
Ausdruck kommen. Dementia-praecox-Kranke z. B. zeichnen steif, stoB- 
weise, oft inkoharent; Perseveration und Stereotypie spielen eine groBe 
Rolle. Manische fiigen allerlei hinzu, aber stets sinnvoll und ziisammen- 
hangend, im Gegensatz zu den erregten Katatonikern. Ferner wurden in 
den Zeichnungen auch unsichtbare Dinge z. B. Stellen vora Riicken, zur 
Darstellung gebracht, und es fand auch eine Verwechslung von Profil und 
en face statt, Beobachtungen, die Vortr. mit den gleichen Erfahrungen bei 
den Bildern von Naturvolkern und Kindern in Parallele setzt. (Ausfiihrliche 
Mitteilungen in der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 13. H. 2.) 

(Autoreferat.) 

17. Herr Grober - Jena: Ueber Selbstheilung von Basedowscher 
Krankheit. 

Vortr. berichtet iiber einen Fall von ausgesprochener Basedows cher 
Krankheit, der zuerst im Jahre 1906 auf der med. Klinik in Jena von ihm 
beobachtet worden ist. Es fehlte keines der wesentlichen Symptome. Die 
Erkrankung war in wenigen Monaten zu der damaligen Hohe angestiegen; 
die Prognose war dementsprechend ungiinstig fvir den weiteren Verlauf zu 
stellen. Im Jahre 1910 kam die Kranke wieder zur Beobaclitung. Vortr. 
sah sie auch 1912 wieder. Schon 1910 waren die meisten Basedow-Symptome 
so gut wie verschwunden. Der Halsumfang war urn 4 cm geringer und damit 
normal geworden. Die Augensymptome waren und sind verschwunden. Der 
SpitzenstoB, der 1906 in der vorderen Achsellinie gefunden worden war, 
befindet sich jetzt 1 cm innerhalb der Brustwarzenlinie. Tremor, Schweifle 
und Palpitationen sind nicht mehr vorhanden. Bei sehr genauer Unter- 
suchung sind noch einzelne wenige Reste der Basedow-Symptome zu finden, 
auch diese aber nur eben angedeutet. Dagegen hat sich umgekehrt parallel 
der zuriickweichenden Basedows chen Krankheit eine Lungenveranderung 


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Bericht iiber die XVIII. Versammlung 


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entwickelt, die neben den deutlichen Anzeichen einer chronischen Phthise 
mit den entsprechenden Ver&nderungen des rechten Herzens die Diagnose 
groBerer, vielleicht bronchiektatischer Hohlr&ume wahrscheinlich macht. 
Es sind auBer ,,maulvoller“ Expektoration vor allem ausgeprochene 
Trommelschlagelfinger vorhanden. 

Vortr. erwagt die Moglichkeit, daB der umgekehrte Parallelismus 
der beiden Krankheiten einen ursachlichen Zusammenhang verrat, insofern 
als etwa die toxischen Wirkungen der Basedow-Driise durch die der kranken 
Lunge in den Hintergrund gedrangt oder aufgehoben wiirden. Es ist aber 
auch die Moglichkeit gegeben, daB die Gifte der zweiten Erkrankung 
— Tuberkuline oder resorbierte Toxine der Bronchiektasen — direkt 
sch&digend auf die Struma gewirkt und ihre Verkleinerung veranlaBt haben. 
Doch bedarf es zu einer Erorterung noch mehr ahnlicher Falle von Selbst- 
heilung, die der Vortr. in Aussicht stellt, um die genannte Vermutung wahr- 
scheinlicher zu machen. Jedenfalls ist der Fall mit seinen besonderen Ver- 
haltnissen ein seltenes Vorkommnis. (Autoreferat.) 

18. Herr Nifil von Mayendorf-Leipzig : Ueber die pathologischen 
Komponenten des choreatischen Phanomens. (Erscheint als OriginaJartikel 
in der Berl. klin. Wochenschr.) 

Vortr. analysiert die Bewegungsphanomene bei der Chorea. Er kommt 
zu demResultate, daB eine besondere kortiko-subkortikaleBahn angenommen 
werden muB, die von der GroBhirnrinde zum roten Kern fiihrt. Eine Schadi- 
gung dieser Bahn an irgendeiner Stelle ihres Verlaufes verursacht Chorea. 
Vortr. demonstriert Praparate von Veranderungen der Rinde der Zentral- 
windung und des roten Kernes bei Fallen von Chorea. 

19. Herr Wichura-Schierke: Ueber einen Fall von Eklampsie mit 
bleibenden Stbrungen des Gedachtnisses, Erkennens und Handelns. 

Die 18 j&hrige Primipara hatte am Tage der Geburt 17, am folgenden 
Tage noch 7 eklamptische Anfalle und war mehr als 8 Tage benommen. 

Sie bot spater eine schwere retro- und anterograde Amnesie, Verlust 
der r&umlichen und zeitlichen Orientierung, zum Teil im Sinne einer zeitlich 
zuriickliegenden Situation zuerst Akinese und Mutazismus — beide zeitweise 
unterbrochen durch Jaktationen und Schreien — dami Apraxie — auch des 
Rumpfes und der Arme — und amnestische Aphasie. Der Verlust des Lesens. 
Schreibens und Zeichnens. das Symptom der Balintschen optischen Ataxie, 
die starke Einschrankung des Gesichtsfeldes und Herabsetzung des Sehver- 
mogens ohne objektiven Befund, sowie der Mangel des optischen Vor- 
stellung8venn6gens legten den Gedanken an eine besondere Sch&digung des 
linken Gyrus angularis und supramarginalis sowie des angrenzenden Teiles 
des Hinterhauptlappens nahe. 

Der Zustand besserte sich im ersten Jahr standig, im zweiten Jahr 
trotz des Unterrichts nur wenig. Jetzt, mehr als 2 Jahre post pcurtum, 
steht die Kranke psychisch etwa auf der Stufe eines 7 jahrigen Kindes. 
Es bestehen noch anmestische Defekte, Herabsetzung der Merkf&higkeit. das 
Rechnen ist auf Addieren beschrankt. Schreiben und Lesen erfolgt fehlerhaft, 
Zeichnen und Formensehen mangelhaft, es besteht ideokinetisehe Apraxie. 
Pathologisch-anatomisch werden diffuse Veranderungen, vielleicht mit star- 
kerer Auspragung im Gebiete des linken Hinterhauptlappens angenommen. 
Das Hirnpunktat im Gebiete des linken unteren Scheitellappens ergab 
degenerative Veranderung und Wucherungen der Glia. 

Eine Heilung erscheint ausgeschlossen. (Autoreferat.) 

20. Herr Quensel-Leipzig: Ueber einen Fall von Kohlenoxydvergiflung. 

F. A., 22% jahriger italienischer Hiittenarbeiter, erlitt am 27. VI. 1912 
eine Vergiftung durch Hochofengifte bei der Reparatur einer Auspuffkammer 
Die Dauer der Vergiftung ist nicht ganz sicher festgestellt, sie diirfte 
% Stunde betragen haben. Er kam bewuBtlos ins Krankenhaus, hatte 
schwachen Puls, schwache Atmung, erholte sich erst allmahlich im Laufe des 
Tages unter Exzitantien. Dann ging es ihm gut bis zum 4. Tage. Er bekam 
schwachen Puls, plotzlich Kopfschmerzen, konnte nicht mehr sehen. irrte 
durch die Zimmer, ohne sich zurecht zu finden. aber auch ohne anzustoBen, 


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inittoldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 201 

sah blode aus, war leicht erregt, gedachtnisschwach, zeitweise Katalepsie, 
wmBte sich mit nichts zu behelfen, er aB, verlangte aber nicht nach Essen, 
konnte sich nicht mehr selbst bedienen, unterhielt sich mit anderen. N| 

Ins Bergmannswohl aufgenommen am 1. X. 1912. Klagt iiber Kopf- 
schmerzen, Schwindel, Augenbeschwerden. Innere Organ©, Allgemein- 
befinden ungestort, kein Fieber, Puls nur ganz leicht beschleunigt, etwas 
kleinschlagiges Zittern der Finger, lebhafte Kniescheiben- und Fersenreflexe. 
Augenhintergrund normal. 

Pat. sieht, zeigt keine Hemiopie, sieht Farben. kann sie aber nicht 
zueinander sortieren, nicht benennen, auf Erfordem eine bestimmte Farbe 
nicht heraussortieren, sich die Farbe genannter Gegenstande nicht vor- 
stellen. Formen kann er miihsam nachahmen, nicht benennen, erkennt 
w^eder Zeichnungen noch Objekte, vermag den Gebrauch nicht anzugeben. 
Er sieht auffallend nahe auf die Objekte, die ihm gereicht werden, starrt 
sie verstandnislos an. Zu lesen vermag er weder Zahlen noch Buchstaben, 
auch nicht seinen Namen. 

Gehor auch fiir Fliisterstimme, Stimmgabel, Galtonpfeife usw. Tone 
und Gerausche werden zum Teil erkannt z. B. benennt er sofort ,,Glocke“, 
,.Pfeifen“. Nicht benannt werden nach Gehor Taschenuhr, Schliisselbund, 
Geld, Stimmgabel. Wort© hort und versteht er sofort. Er vermag eine ganze 
Zahl von Objekten aus einer Zahl vorgelegter auszuwahlen z. B. Uhr, 
Schliissel, Bleistift, Messer, haufig sieht er andere Objekte verstandnislos an. 

Beriihrungen, Nadelstiche. Temperaturunterschiede werden gefiihlt, 
er tastet richtig, vermag aber Objekte durch das Tasten nicht zu erkennen 
und auch nicht zu benennen. 

Geruch und Geschmack scheinen erhalten, genaue Priifung unmoglich. 

Einzelne Bewegungen werden ausgefiihrt, es besteht keine Lahmung, 
doch sind die Bewegungen zittrig und etwas ungeschickt. Spontan zeigt Pat. 
keine Initiative, sitzt und steht stumpfsinnig herum, muB zu allem an- 
getrieben werden. Vorgemachte Bewegungen werden etwas ungeschickt, 
aber doch im ganzen zutreffend nachgeahmt, z. B. Drohen, Lange-Nase- 
machen, Winken, Handeklatschen u. dgl. Bewegungen aus der Erinnerung 
werden ganz mangelhaft ausgefiihrt, meist weiB er nicht, was er machen soil. 
Mit Objekten vermag er sich nicht zu behelfen, bringt ein Taschenmesser 
nicht auf. Bleistiftanspitzen, Streichholz- und auch Lichtanziinden u. dgl. 
unmoglich. Beim Verlassen des Zimmers hantiert er ungeschickt an der 
Klinke herum. Zu schreiben vermag er iiberhaupt nicht, was er friiher konnte. 
Er spricht ohne jede Stoning, spontan und auch auf Vorsprechen. 

Allgemein besteht eine hochgradige Stoning der Merkf&higkeit, schon 
nach w^enigen Stunden wreiB er von den markantesten Veranderungen nichts 
mehr. Die Erinnenmg an friihere Daten ist dagegen gut erhalten und zwar 
bis zu seinem Unfalle. Er ist raumlich und zeitlicli desorientiert, erkennt die 
Personen seiner Umgebung nur in ganz vager Weise, hauptsachlich seheint 
er seinen Arzt an der Stimme zu erkennen. Zeitweilig deprimiert. Er- 
regungszustande sind bei uns nicht mehr vorgekommen. Tageweise ist sein 
Zustand besser, an anderen Tagen erscheint er ganz dammerig. 

Es handelt sich um den typischen Verlauf einer schweren Kohlen- 
oxydvergiftung mit diffusen. aber offenbar regionar starker entwickelten 
Veranderungen im GroBhim. Die Prognose erscheint sehr zweifelhaft. Der 
Defekt w’ird voraussichtlich in der Hauptsache bestehen bleiben. 

(Autoreferat.) 

22. Herr Grund-HaMe: Eine Familie mit atrophischer Myotonie. 

In einer neuropathisch ziemlich schwer belasteten Familie (Myotonie 
in der weiteren Aszendenz nicht sicher) sind die Mutter und 2 Sohne erkrankt, 
wahrend ein Sohn und eine Tochter gesund sind. Die Mutter ist am leich- 
testen erkrankt, die Sohne sind schwerer betroffen, am meisten der jungste. 
Gesicht, Sternocleidomastoideus und Vorderarmmuskeln sind bei alien 
3 Patienten stark atrophisch. Zunge, Kaumuskeln, tiefe Halsmuskeln und 
Bauchmuskeln nehmen mit zunehmender Schw'ere der Erkrankung in 
starkerem Grade an der Atrophie teil, wahrend eine Peroneuslahmung 


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nur beim jiingsten Bohn besteht. Daraus zieht Vortr. den BchluB, daB die 
Erkrankung von Gesicht, Sternocleidomastoideus und Vorderarmmuskeln 
hier das Typische sei; die anderen Muskeln erkrankten erst in zweiter Linie. 
Interessant ist der Nachweis, daB in der vorgestellten Familie schon die erst- 
erkrankte Generation bereits Myotonie und Atrophie in typischer Form ver- 
bunden aufweist, nicht Myotonie allein. Die atrophische Myotonie scheint 
eine Erkrankung sui generis zu sein. nicht aus der gewohnlichen Myotonie 
hervorzugehen. (Autoreferat.) 


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C. V. Monakow, Arbeiten aus dem hirnanatomischen Institut in Zurich . H. 6. 

Die erste Arbeit von v. Monakow selbst iiber Hirnforschungsinstitute 
und Hirnmuseen behandelt die Frage der Zentralisation der Hirnforschung 
in Spezialinstituten und Hirnmuseen. v, Monakow verspricht sich von der 
Entwicklung solcher Zentralinstitute eine wesentliche Forderung der 
Forschung. Man wird ihm ohne Bedenken zustimmen konnen. wenn die 
Griindung solcher Instiute, so wie es bis jetzt der Fall ist. im wesentlichen 
nichts anderes bedeutet, als staatliche Anerkennung und staatliche Unter- 
stiitzung hervorragender Hirnforscher in ihren Instituten mit der Auflage 
einer gewissen Verpflichtung, ihr Material den Interessenten zuganglieh zu 
machen. Das MaBgebende fur den Fortschritt warden iinmer die Personlich- 
keiten bleiben, und diese werden auch femerhin aus individuell gesehenen 
Beobachtungen und Erfahrungen schopfen und im wesentlichen unabhangig 
sein von der mehr oder weniger groBen Vollstandigkeit ihres Museums. An 
eine eigentliche Zentralisation denkt auch v. Monakow selbst nicht. Bestimmte 
Gebiete werden, wie er sagt, in jedem Institut eine groBere Beriicksichtigung 
finden als andere. Also kann es im wesentlichen so bleiben, wie es bisher war. 

Diezweite Arbeit ist eine vergleichende anatomisch-experimentelle 
Studie von Dr. Fuse iiber die innere Abteilung des Kleinhirnstieles. Sie 
zeigt die den Arbeiten des Instituts eigene Griindlichkeit. 

Dasselbe gilt von der anatomisch und klinisch gleich bemerkenswerten 
Arbeit „IXeber einen Fall von doppelseitigen symmetrischen Erweichungs- 
cysten im verlangerten Mark 44 von Dr. K. Brun. 

Den Schlufi bildet eine vergleichende anatomische Arbeit von 
Dr. Fuse ,,Ueber den Abducenskem der Sauger 44 . B. 

Havelock Ellis, Rassenhygiene und Volksgesundheit. Deutsche Original - 

ausgabe von H. Kurella. Wurzburg. Verlag C. Kabitzsch. 

Das Buch behandelt in der bekannten temperamentvollen Art des 
Verfassers die Probleme der sinkenden Geburtenziffer, die Frauenfrage, die 
Hygiene der Liebe, der Erziehung, die soziale Bedeutung der Wohnungsfrage 
— hier hat der Herausgeber eigenes eingefiigt —, die Fragen der inter¬ 
na tionalen Sprache, der Abschaffung des Krieges und manches andere. 
Das Buch ist durch die Fiille des Materials lesenswert und anregend. 
Man ist sich bei derLektiire klar, daB durch ein anderes Temperament gesehen 
viele der Fragen anders aussehen. B. 

Sommer, Klinik fiir psychische und nervdse Krankheiten . VII. Bd. 1. Heft. 

1912. 

Das Heft enthalt eine iibersichtliche Darstellung Sommers iiber die 
Methoden der Intelligenzprufung. Dabei gibt Verfasser, wie stets, eine 
Reihe von Anregungen, denen nachzugehen sehr verdienstvoll ware. Be- 
Bonders mochte ich auf seine Erorterungen des Kausalitatsbegriffes hin- 
weisen. Hier haben uns bisher alle Methoden im Stich gelassen. Wir miissen 
im Gebiet der klinischen Psychiatrie mit den einfachsten Formen der Kausa- 


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litatsvoistellungen anfangen und untersuchen, in welcher Weis© die Ent- 
stehung eines Zustandes aus dem andern richtig aufgefafit wird. Dafi dies© 
Untersuchung auch fiir das Strafrecht von grofierer Bedeutung sein wiirde, 
bedarf keines naheren Beweises. 

Ro88olimo setzt seine Arbeit iiber die psychologischen Profile fort. 
Die SchluBfolgerungen vom Verfasser sind nur mit Vorsicht aufzunehmen. 
Er will bestimmte Profiltypen fiir die einzelnen Schwa chsinnsgrade fest- 
gestellt haben, aber der Wert der auf dies© Weise gefundenen Resultate er- 
scheint doch nur sehr begrenzt. 

A. Dannenbergsr hat die bekannte mikrocephale Familie Becker in 
Biirgel einer Nachuntersuchung unterzogen. Es handelt sioh um 9 Ge- 
schwister, von denen einzelne bereits von Bischoff-Virchow u. A. beschrieben 
warden. Neu sind die genauen psychischen Untersuchungen an der jetzt 
42 jahrigen Margaret©. Sie ist niemals zu einer geordneten Sprache ge- 
kommen. Bei genauerer Analyse zeigte sich, dafi vor allem die aufiere 
Sprache unvollkommen ist. Der Wortschatz umfafit nur die 3 Worte: 
Papa, Mama, na. Verfasser ist es gelungen, sie zum gelegentlichen Nach- 
sprechen zu bringen. Die inner© Sprache ist besser entwickelt. Fiir eine 
Reihe von konkreten Gegenstanden besitzt sie das innere Wortsymbol. 
Eine Abstraktionsfahigkeit ist nicht sicher nachweisbar. Die Triebe sind 
nur gering entfaltet. Der Sexualtrieb fehlt iiberhaupt. 

Masturbation wurde nur selten beobachtet. Ein Unterschied in ihrem 
Verhalten den beiden Geschlechtem gegeniiber ist nicht beobachtet woiden. 

Beziiglich der interessanten anatomischen Resultate mufi auf das 
Original verwiesen werden. Verfasser erscheint es auf Grund seiner Zu- 
sammen8tellung wahrscheinlich, dafi die Mikrencephalie in alien diesen 
Fallen durch entziindliche Prozesse des Stiitzgewebes oder der nervosen 
Gewebe hervorgerufen worden ist. Es ist nicht anzunehmen, dafi eine lokale 
Erkrankung der Zeugungsorgane der Mutter die Mikrencephalie in diesem 
Falle bedingt hat. Es ist moglich, dafi ein im Blut der Mutter gelostes, 
vielleicht in der Heimatgegend gefundenes Gift die Krankheit hervorge¬ 
rufen hat. Kutzinski. 

Ebbinghaus, Ahrifi der Psychologie. 4. Auflage. 1912. 

Bei der immer wachsenden Erkenntnis der grofien Bedeutung der 
Psychologie fiir die Psychiatiie ergreift man gem die Gelegenheit beim Er- 
scheinen der 4. Auflage des Abrisses, auf die wertvolle, klare Darstellung 
des Biichleins hinzuweisen. Naturgemafi beschrankt es sich auf die Haupt- 
tatsachen. Dabei werden auch die Forschungen der Psychiatrie nicht ver- 
nachlassigt. Der Wert des Buches scheint mir vor allem darin zu liegen, 
dafi es nicht einseitig unter dem Einflufi der in medizinisch-psychiatrischen 
Kreisen gelaufigen Assoziationspsychologie geschrieben ist. Die Anschau- 
lichkeit der Darstellung ist geeignet, auch den Anfanger ohne Schwierig- 
keiten in die Problem© der Psychologie einzufiihren. Die Sichtung und 
Erganzung durch die bewahrte Hand Durrs in Bern soli nicht unerwahnt 
bleiben. 

Beschaftigungsbuch fiir Kranke und Rekonvaleszenten. Bearbeitet von 
Anna Wiest , mit einer Vorrede von Prof. v. Romberg. Stuttgart. F. Enke, 

Eine Anleitung zu verschiedenartigen Arbeiten. Die Zusammen- 
stellung ist sehr mannigfaltig. Wenn man auch bei vielen der Handarbeiten 
nicht gerade den Wunsch hegt, sich mit ihnen beschenkt zu sehen, so bildet 
das Buch doch eine dankenswerte Bereicherung fiir die Therapie. Es ist 
geeignet, den Krankenschwestem in den Rrankenhausern, in denen die 
Beschaftigungstherapie sich im wesentlichen im Zimmer abzuspielen hat, 
Anregung zu w’echselnder Beschaftigung ihrer Patienten zu geben. B. 

Georg Flatau, Sexuelle Neurasthenie. Berlin. 1912. Fischers med. Buchhandl. 
H. Komfeld. 

Das vorliegende Buch ist im wesentlichen fur den praktischen Arzt 
bestimmt; der Verf. geht deshalb iiber die theoretischen Fragen verhaltnis- 
mafiig schnell hinweg, jedoch nicht ohne jedesmal die Anschauungen der 


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maBgebenden Autoren zu erwahnen und seine eigene Stellungnahme kurz 
zu begriinden. In ausfiihrlicherer Weise wird dagegen die Symptomatologie 
und speziell die Therapie der sexueilen Neurasthenie besprochen. Fur 
den Praktiker diirfte dews Buch besonders auch deshalb von Nutzen sein. 
weil es auBerdem iiber die Prophylaxe — die unter Umst&nden schon in 
friiher Kindheit einsetzen muB — die erforderlichen Anweisungen gibt. 

L. BorcharcU. 

Georg Burgl, Die Hysteric und die strajrechUiche V erantwortlichkeit der 

HysXeripchen. Stuttgart. 1912. Verlag Ferd. Enke. 

Das nahezu 300 Seiten umfassende Buch besteht aus 3 Abschnitten; 
der letzte bringt nur kaeuistisches Material; der zweite Teil behandelt 
die strafrechtliche Verantwortlichkeit speziell und zeigt, dafl der Verf. 
zu weitgehender Exkulpation der Hysteriker neigt. Der psychiatrisch ge- 
schulte Arzt findet hier kaum etwas Neues; dafi stets genau untersucht und 
eine eingehende Anamnese erhoben warden muB, auch scheinbar nebensach- 
liche Dinge sorgfaltig zu beachten sind. daB bewuBte Simulation nicht allzu 
haufig ist, diirfte jedem erfahrenen Gutachter bekannt sein. Es muBte 
aber hier gesagt werden. weil sich der Autor an Aerzte ohne spezialistische 
Vorbildung und auch an Juristen wendet. Aus diesem Doppelzw'eck des 
Buches ergeben sich besondere Schwierigkeiten, deren der Verfasser wohl 
nicht ganz Herr geworden ist. In der Absicht, eine moglichst eingehende 
und vor allem gemeinverstandliche Darstellung der Hysterie zu geben, 
verliert er sich vielfach in Einzelheiten, die mehr verwirren als klaren, 
um so mehr, als sich grobe fundamentale Unrichtigkeiten (z. B. Mutismus 
= motorische Aphasie!) eingeschlichen haben. L. Borchardt. 

William Hirsch, Religion und Zivilisation votn Standpunkte des Psychiaters. 

Miinchen. E. W. Bonsels <fc Co. 

Hirsch hat in dem vorliegenden Band den Versuch gemacht, den Inhalt 
der Bibel und der Evangelien wissenschaftlich zu erklaren, Ausspriiche 
und Taten der Keligionsstifter vom Standpunkte des Psychiaters zu be- 
trachten. Er iiberbriickt die Widerspriiche, die zwischen biblischen Vor- 
gangen und moderner Wissenschaft bestehen, durch den apodiktischen Satz. 
daB die Erz&hlungen der Testamente als Produkte geistiger Entartung 
aufzufassen sind. Aus ihrem Fanatismus, aus dem Bekenntnis ihrer gott- 
lichen Sendung, leitet er bei Cliristus, Moses, den Propheten die Diagnose 
einer typischen halluzinatorischen Paranoia ab. Diese Pathographien 
der Keligionsstifter sind mit Temperament und Leidenschaft geschrieben. 
In der volligen Beseitigung der Religion, dieses ..Ueberbleibsels des Bar- 
barentums 44 , erblickt H. den groBten Fortschritt der Zivilisation. 

Hirsch glaubt lediglich vom intellektuellen, nicht vom emotionellen 
Standpunkt aus Fragen der Religion definitiv entscheiden zu konnen. 
Diese Voraussetzung ist falsch, die Polemik damit auf eine unaichere Basis 
gestellt. In dem Streit um den Frieden zwischen Glauben und Wissen, 
in dem Kampf gar um Kultur und Zivilisation bringt uns das recht unphilo- 
sophisch gehaltene Buch nicht um ein Jota w r eiter. Kurt Singer- Berlin. 


Personalien. 


Prof. Dr. Ludwig WtUe in Basel ist gestorben; er war der erste In- 
haber des Lehrstuhles fiir Psychiatrie an der Universitat und Erbauer der 
Irrenklinik ,,Friedmatt“. 


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(Aus dem Patliologischen Institut- der Konigl. Chirurg. Universitats-Klinik 

in Berlin.) 

Ueber asymmetrische Diastematomyelie vom Typus 
der „Vorderhornabschnunmg“ bei Spina bifida. 

Von 

Prof. Dr. R. HENNEBERG und Prof. Dr. M. WESTENHOFER. 

(Hierzu Taf. VII—X.) 

Die kongenitalen MiBbildungen und Entwicklungsst or ungen des 
zentralen Nervensystems haben in neuerer Zeit immer mehr an 
Interesse gewonnen, seitdem sie durch exakte Untersuchungen fur 
die Entwicklungsgeschichte, Anatomie, Physiologie und Patho- 
genese nutzbar gemacht worden sind. Die als Diastematomyelie 
bezeichnete MiBbildung des Riickenmarkes gestattet interessante 
Einblicke in die Entwicklungsmechanik des Riickenmarkes. Ein 
weiteres Interesse bieten die hierher gehorenden Falle durch die 
Beziehungen, in denen die Ruckenmarksanomalie zu den ver- 
schiedenen Formen der Spina bifida steht und schlieBlich durch die 
Tatsache, daB die MiBbildung gelegentlich klinische Symptome 
bedingt, deren Deutung Schwierigkeiten bieten kann. 

Exakte Untersuchungen liber Diastematomyelie liegen in der 
Literatur nur in Sehr geringer Anzahl vor. Die beschriebenen Falle 
beziehen sich zudem fast durchweg auf Neugeborene bzw. sehr 
friih gestorbene Kinder, meist zeigten sie einen hohen Grad von 
Spina-bifida-Bildung. Der im nachstehenden eingehend beschrie- 
bene Fall, in dem sich bisher noch nicht beschriebene Riicken- 
marksformationen auffinden lieBen, diirfte somit eine wertvolle 
Bereicherung der Kasuistik sein. 

Krankengeschichte. 

Anna F., Naherin. 17 Jahre alt. aufgenommen auf die chirurgische 
Klinik (Prof. Bier) am 3. II. 1912. Mutter an Lungentuberkulose gestorben. 
Vater gesund, ebenso mehrere Geschwister. MiBbildungen sind in der Familie 
bisher nicht vorgekommen. Von Geburt an besteht eine Geschwulst in der 
Kreuzgegend. 

Seit der Kindheit vermag Pat. den Urin nicht ordentlich zu halten. 
Namentlich beim Hus ten und Lachen erfolgt unwillkiirlicher Urinabgang. 
Elektrische Behandlung der Blase ohne Erfolg. Ekzem in der Genitalgegend. 

Befund : Pat. ist ilirem Alter nicht entsprechend entwickelt. Herz 
und Lungen ohne Besonderheiten. Am Riicken in der Gegend der Lenden- 
wirbel eine funfmarkstiickgroBe weiche. halbkugelige Geschwulst, die keine 
Fluktuation zeigt. Ein Spalt in der Wirbelsaule ist nicht fiihlbar. Unter 
der Geschwulst lassen sich jedocli Dornfortsatze nicht fiihlen. 

Monataschrift f. Payohiatrie vl Neurologie. Bd. XXXIIL Heft 3. 14 


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206 H enneberg-W estenhofer, Leber asymmetrische 


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Linker FuB in Equinovarus-Stellung. Rohe Kraft des linken Beines 
wesentlich geringer als die des rechten. Umfang des rechten Oberschenkels 
(12 cm liber der Patella) 41 cm, links 41 cm. Wadenumfang (10 cm unter 
der Patella) rechts 27 cm, links 25 cm. Empfindung fur warm und kalt, 
spitz und stumpf am linken Unterschenkel und FuB etwas herabgesetzt. 
Patellar- und Achillessehnenreflex fehlt beiderseits. Links deutlicher 
Bab inski. Kein FuBklonus. 

Operation 12. II. 1912 (Prof. Bier). Aethernarkose. Langsschnitt 
in der Mittellinie vom 1. Lendenwirbel bis zur Mitte des Kreuzbeines, Frei- 
legung der Wirbelsaule durch Abtrennung der Muskulatur. Der Dorn- 
fortsatz des 4. und 5. Lendenwirbels fehlt, desgleichen der obere Teil des 
Bogens des 1. Kreuzbeinwirbels. Aus dem Wirbelspalt drangt sich ein 
hiihnereigroBer Tumor. Abtragung des Tumors (starke Blutung), Eroffnung 
des Wirbelkanales durch Abkneifen der Wirbelbogen des 1. bis 3. Lenden¬ 
wirbels und der den fingerbreit klaffenden Wirbelsaulenspalt begrenzenden 
seitlichen Wirbelbogenteile. Nach Eroffnung des Duralsackes laBt das 
Riickenmark keine deutlichen Veranderungen erkennen. Keine Ver- 
wachsungen oder Kompression. Naht der Dura. Vereinigung der Musku¬ 
latur durch Messingdraht. Faszien- und Hautnaht. 

17. II. Wiederholtes Erbrechen, keine Nackensteifigkeit. Tempe- 
ratur 40,5. Verbandwechsel. UrinabfluB wie vor der Operation unwill- 
kiirlich. 

18. II. Erbrechen und hohes Fieber bestehen fort. 

19. II. Operationswunde per primam verheilt. Stichkanale der 
Drahtnarben etwas vereitert. Nach Trennung der Weichteile in der Narben- 
linie reichlicher AbfluB von klarem Liquor. Keine Nackensteifigkeit. 
Schlechter Puls. Exitus. 

Die mikroskopische Untersuchung der abgetragenen Geschwulst eigibt 
ihre Zusammensetzung aus Muskel- und Fettgewebe. 

Sektionsprotokoll. Grazil gebaute weibliche Leiche. Die Mammae gut 
entwickelt. Die Beine, insbesondere die Unterschenkel, von fast kindlichem 
Habitus. Geringer Pes equinovarus links. 

Schddel: Die Gegend der (gut erhaltenen) Pfeilnaht mit den angrenzen- 
den Randern der Scheitelbeine springt flach kuppelartig vor. EinenQuer- 
finger nach links von der Pfeilnaht befindet sich eine etwa z we imark stuck- 
groBe, allmahlich verschwindende, grauweiB gefarbte, flache Verdickung 
des Knochens, die an der Tabula interna einen etwas deutlicheren 
Vorsprung als an der Tabula externa bildet. Auf dem Durchschnitt sieht 
man die ganze Diploe in entsprechender Ausdehnung verbreitert und von 
einer grauweiBen, ziemlich harten, • nicht rein knochernen Geschwulst 
eingenommen, von der sich die Tabula externa an der dicksten Stelle der 
Geschwulst gerade noch unterscheiden l&Bt, wahrend die Tabula interna 
an der dicksten Stelle etwa auf eine Strecke von 1 cm Durchmesser nicht 
mehr zu unterscheiden ist. Bei genauer Betrachtung laBt sich eine feine 
alveolare Struktur erkennen. Die Stirnnaht ist erhalten. Der Schadel- 
knochen zeigt im Bereich des ZusammenstoBes der Pfeil-, Stim- und Kranz- 
naht eine ungemein durchscheinende und diinne herzformige Stelle. 

Dura mater mit dem Schadeldach langs des Langsblutleiters maBig 
stark verwachsen. Die weiche Hirnhaut, besonders im Bereich des Stirn- 
hirns, leicht milchig getriibt. 

Auf der Schnittflache des Gehirns treten zahlreiche Blutpunkte aus, 
die leicht zerflieBen und ablaufen. Am Gehirn sonst keine Verftnderungen. 

Die Blutleiter der harten Hirnhaut teils mit flussigem Blut, teils mit Blut 
und Speckgerinnsel gefiillt. Schadelbasis ohne Besonderheiten. 

Brust - und Bauchhohle. 

Bauchfell: feucht. glatt und glanzend. 

Blase: Stark gefiillt, steht 3 Querfinger oberhalb der Symphyse. 

Beide Lungen durch einige sparliche, ganz zarte Adh&sionen an der 
seitlichen Brustwand befestigt, im iibrigen lufthaltig und ohne Ver¬ 
anderungen. 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


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Herz klein, Durchmesser der aufgeschnittenen Aorta direkt iiber den 
Klappen 4,5 cm. Muskulatur triibe, Klappen ohne Ver&nderung. 

Leber blutreich. 

MHz 12X7,5X2,3 cm mit ziemlich reichlichen Einkerbungen, Pulpa 
geschwollen. 

Linke Niere bedeutend vergroflert, mit 2 Becken und 2 Ureteren. das 
Nierenbecken erweitert, stark gerotet, mit etwas Eifcer gefiillt. Niere selbst 
triibe, Rinde verbreitert. 

Das Fettgewebe in der Umgebung der rechten Niere besonders nach 
hinten zu von reichlichen schwieligen Narben durchzogen. Die Fett- 
gewebskapsel selbst ist verdickt, zum Teil leicht, zum Teil mit Substanz- 
verlust von der Rinde abziehbar, wobei reichlich eitrige Fliissigkeit ab- 
flieBt. Das Nierengewebe an den eingerissenen Stellen von schmutzig 
graugelber Farbe und mit Eiter durchsetzt. Diese eingerissenen Stellen, 
sowie andere einge.schnittene Abszesse dor Rinde, aus denen der unter 
starkem Druck stehende Eiter abflieBt, kommunizieren mehr oder weniger 
deutlich mit den erweiterten und mit Eiter gefiillten Nierenkelchen, besonders 
des oberen Pols, der ein eigenes Becken mit besonderem Ureter besitzt. Hier 
ist nur noch ein sehmaler Rindensaum erhalten. Unter diesem stark 
atrophischen eine halbe Niere darstellenden Abschnitt liegt eine wohl- 
gebildete kleine Niere, ebenfalls mit eigenem Becken und Ureter, mit breiter, 
triiber, gelber Rinde, maBig abgeflachten Papillen. und am unteren Pol 
mit eitriger Infiltration und Erweichung der Rinde in der Umgebung eines 
erweiterten Calix. Dieser Herd steht mit einem iiber pflaumengroBen Eiter- 
herd zwischen Kapsel und Rinde in Verbindung. 

Die beiden getrennten Ureteren vereinigen sich innerhalb der Blasen- 
wand zu einer gemeinsamen Eimniindungsstelle in die Blase. 

Die Blase ist mit tiiibem eitrigem Urin prall gefiillt. Die Blasenschleim- 
haut zeigt eine schmutzige. dunkelgrau-gelbrote Farbe. Besonders an der 
seitlichen und Vorderwand finden sich zahlreiche teils scharfrandige, teils 
ausgefressene, teils reine, teils mit nekrotisehen halb abgestoBenen und 
unterminierten Pfropfen versehene Geschwiire. 

Im Blasenhals und im Trigonum vereinzelte granulare und poly pose 
Wucherungen der Schleimhaut. 

Uterus von normaler GroBe. 

Beide Ovarien vergroBert, im linken eine pflaumengroBe, und in beiden 
mehrere erbsengroBe Cysten und mehrere Ovulationsnarben. 

Tuben unverandert. Am rechten Fimrbrienende 2 kurzgestielte 
Blaschen (Morgagnische Hydatiden). 

Darm ohne Veranderung. 

Wirbelsdule: Die Korper des 3. und 4. Lendenwirbels springen in 
sanften Bogen etwas nach vorn vor und sind breiter als normal. Am Riicken 
findet sich iiber den Lendenwirbeln eine 12 cm lange vemahte Wunde, in 
deren Tiefe die Dornfortsatze und Seitenbogen des 2. bis 5. Lendenwirbels 
fehlen. 

Die Dura mater spinalis ist hier in einer Ausdehnung von ungef&hr 
10 cm Lknge durchtrennt und durch Nfthte vereinigt; im iibrigen ist sie 
an der Innenseite ebenso wie die weiche Riicken marks haut feucht, glatt 
und glknzend und ohne Verknderung. 

Das Riickenmark reicht bis zum 5. Lendenwirbel herab. Cauda 
equina und Filum terminale sind daher sehr kurz. Das Lendenmark ist 
auf eine Strecke von 4—5 cm verdoppelt. Der Conus medullaris einheit- 
lich und verbreitert. 

Nach Entfemung de3 Ruckenmarks aus dem Wirbelkanal zeigt sich 
der Kanal der ganzen Lendenwirbelsaule auffallend tief und breit ausgehohlt, 
mit einem ziemlich scharfen Uebergang der normalen, flacheren Aushohlung 
der Wirbelkorper der Brustwirbelsaule in die tiefe und weite buchtige Aus¬ 
hohlung der Lendenwirbelsaule. Die W&nde der Hohle sind dabei uberall 
glatt und abgesehen von der durch die Operation hervorgerufenen Blut- 
infiltration olrne Ver&nderung. Insbesondere bestehen keinerlei pathologische 

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208 H enneberg-Wesfc enhofer, Ueber asymmetrische 


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Verwachsungen zwischen dem Knoehen und der Dura mater und zwischen 
dieser und den weichen Riickenmarksh&uten. 

Anatomische Diagnose. Diastematomyelie des Lendenmarks, operierte 
Spina bifida, schwere chronische eitrige und ulzerose Cystitis und Pyelo¬ 
nephritis mit rechtsseitiger Peri- und Paranephritis, Hyperplasie der Milz- 
pulpa, triibe Schwellung des Herzens. Endotheliales Sarkom der Diploe des 
rechten Scheitelbeines, persistierende Frontalnaht. Doppelte Nieren mit 
doppelten Becken und doppelten Ureteren, zahlreiche Einkerbungen der 
Milz. GroBe und kleine Cysten beider Ovarien, 2 gestielte Morgagnische 
Hydatiden an der rechten Tube. Goring© Lordose und Exkavation des 
Wirbelkanals der Lendenwirbelsaule. Embryonale Lage des Riickenmarks 
im Wirbelkanal, kindlicher Habitus der unteren Extremitaten. Geringer 
Pes equinovarus links. _ 

Bei eingehender Betrachtung des Riickenmarks (Taf. VII Fig. 1 u. 2) er- 
scheint das gesamte Cervikal- und Dorsalmark von normaler Beschaffenheit. 
In der Hohedes ersten Lumbalsegmentes erweitert sich die vordere Langsfissur. 
Es hat den Anschein, als schneide die Langsfurche distalwarts iinmer tiefer 
ein und fiihre auf diese Weise zu einer Langsspaltung des Ruckenmarkes. In 
den unteren Ebenen des 1. Lumbalsegmentes ist die Spaltung in 2 Saulen 
bereits vollendet. Beide Arme des gespaltenen Ruckenmarkes sind von 
zylindrischer Gestalt. Der rechte Strang ist wesentlich, zumindest fast 
doppelt so dick wie der link©. Die Dicke des linken nimmt kaudalwarts lang- 
sam zu und erreicht an der Stelle der Wiedervereinigung fast den Lhnfang 
des rechten Stranges. Beide Riickenmarksstrange sind lediglich durch sehr 
zarte Balken und Blatter der Arachnoidea miteinander verbunden. Nirgends 
findet sich ein Gewebe. das als trennendes Septum bezeichnet werden konnte. 
Nur kurz oberhalb der unteren Vereinigungsstelle findet sich eine festere 
bindegewebige Verbindung. Die Lange der Spaltung betragt 42 mm. Aus 
dem rechten Arm entspringen 4 (Lumbalwurzel 2 bis 5) kraftig entwickelte 
vordere und hintere Wurzeln. 

Die vorderen entspringen in einer ziemlich geraden Langslinie, die 
nicht in der Mitte der vorderen Peripherie, sondem mehr an der medialen 
Seite des rechten Riickenmarkstranges verlauft. Die hinteren Wurzeln 
inserieren an der hinteren und sakralen Peripherie. Einzelne abirrende 
Biindelchen scheinen von der medialen Peripherie ihren Ursprung zu 
nehmen. Die zu den rechten Lumbalwurzeln gehorenden Spinalganglien 
liegen an der normalen Stelle auBerhalb des Duralsackes. Aus dem linken 
Arm entspringen an dem Toil, der dem 2. und 3. Lumbalsegment entspricht. 
nur zarte Wurzeibiindel. 5 an der Zahl, die wohl durchweg vorderen Wurzel- 
fasern entsprechen. Sie entspringen nicht in einer regelmaBigen Linie. 
sondern bald mehr vorn, bald mehr lateral und vereinigen sich nicht zu 
einem Biindel, sondern erreichen an verschiedenen Stellen die Dura. Die 
Wurzeln. die der 4. und 5. Lumbalwurzel entsprechen, sind viel kraftiger, 
wenn sie auch langst nicht den Durchmesser der rechten Wurzeln erreichen. 
Diesen unteren beiden vorderen Lumbalwurzeln gesellen sich wieder deut- 
liche hintere Wurzeln zu. Umnittelbar liber der unteren Vereinigungsstelle 
entspringt eine sehr kraftige hintere Wurzel. Sie kommt aus der Tiefe des 
Spaltes (aus der rechten Saule), schlingt sich nach auBen run die hintere 
Peripherie der linken Ruckenmarkssaule und begibt sich zu einem intra¬ 
dural lateral von der linken Saule gelegenen Spinalganglion. Unmittelbar 
unterhalb der unteren Y T ereinigungss telle nimmt die Breite des Rucken¬ 
markes stark zu. Die vorderen Sakralwurzeln sind kraftig entwickelt. 
Auf dem Querschnitt erscheint das Sakralmark viel breiter in der Frontal- 
ebene als in dorsoventraler Richtung. Die vordere Flache ist zu einer 
rautenfonnigen Grube vertieft. Auf den wallartigen Randern der Ver- 
tiefung entspringen die vorderen Sakralw'urzeln. Sie scheinen beiderseits 
vollzahlig vorhanden zu sein. wenn auch die Abgrenzung und Abzahlung 
der einzelnen Wurzeln auf Schwierigkeiten stoBt infolge der Abtrennung 
der Cauda bei der Sektion. Die hinteren Sakralwurzeln sind sehmachtig 
und hindchtlich der Zahl der Biindel stark reduziert. Die Feststellung, 
^velche Wurzeln fehlen, erweist sich als undurchfiihrbar, da der Zusammen- 


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hang mit den vorderen Wurzeln und den Dnrchtrittsstellen durch die Dura 
bei der He ausnahme des Riickenmarkes zerstort wurde. Els lieB sich auch 
leider iiber dasVerhalten der Spinalganglien des Sakralmarkes nichts eruieren. 

Mlkroskopischer Befund. Cervikalmark: Die Konfiguration des Quer- 
schnittes ist normal. Im 4. Segment (Segment 1 bis 3 ging verloren) tritt 
die Helwegsche Bahn sehr deutlich als diffuse Abblassung hervor. In der 
Gegend dieses Biindels zeigt die Kontur des Querschnittes eine leichte Ein- 
ziehung. Der linke Hinterstrang ist iim ein weniges schmaler als der rechte. 
Ein Septum paramedianum fehlt hier beiderseits. Im 6 bis 8. Segment 
fallt eine dent lie he Differenz in dem Volumen der (7o#schen Strange auf. 
Der linke Gollsche Strang ist etwa ein Drittel kleiner als der rechte. Das 
Septum paramedianum ist auf der rechten Seite deutlich ausgebildet, wahrend 
es auf der linken Seite fehlt oder nur andeutungsweise vorhanden ist (Fig. 3). 
Anch da, wo das Septum auf der linken Seite vollig fehlt, ist die Ausdehnung 
de 3 6?oWschen Stranges an der hinteren Riickenmarksperipherie infolge einer 
Einkerbung an der Grenze des Burdachschen undGoWschen Stranges deutlich 
erkennbar. Eine weitere Abweichung von der Norm findet sich in alien 
untersuchten Segmenten insofern, als die Kleinhirnseitenstrangbahn sich 
deutlich von der Pyramidenseitenstrangbahn absetzt. Dies ist dadurch 
bedingt, daB auf der Grenze beider Bahnen eine Gliaverdichtung vorliegt, 
die sich auf Markscheidenpraparate als helle Zone gel tend macht. Sie ist 
am breitesten und dent lichs ten am Hin ter horn bzw. in der Gegend der 
Lissauerschen Zonen und verliert sich allmahlich nach vorn. Durch diese 
Grenzlinie laBt sich die Ausdehnung der Kleinhirnseitenstrangbahnbeiderseits 
deutlich erkennen, urn so mehr, als das Areal dunkler als das der Pyramiden- 
bahnen gefarbt erscheint. Das Areal der linken Kleinhirnseitenstrangbahn 
ist links etwa kleiner als rechts. Der Zentralkanal ist im ganzen Cervikal¬ 
mark nicht obliteriert. Im unteren Cervikalmark ist er spaltformig (frontal-v 
gestellt). In der ependymaren Glia finden sich nur sparlich versprengte 
Ependymzellen. 

Oberes Dorsal mark. Ill der Konfiguration beider Querschnitt- 
halften nehmen die Differenzen rasch zu. Vom 2. bis 4. Segment ist das 
Seitenhorn links viel schwacher entwickelt wie rechts. Der Seitenstrang ist 
links deutlich weniger voluminos als rechts, offenbar eine Folge der 
schwacheren Entwicklung der Kleinhirnseitenstrangbahn links, wenn auch 
die Bahn sich in den in Rede stehenden Segmenten nicht mehr abgrenzen 
l&Bt. Die Differenz der GoUs chen Strange nimmt rasch zu. Im 4. Dorsal- 
segment ist der rechte Gollsche Strang mehr als doppelt so voluminos als 
der linke. Die Verkleinerung des linken Gollschen Stranges ist nicht nur 
durch eine Verschmalerung bedingt-, sondern auch in der Langsrichtung ist 
eine Reduktion bemerkbar. Dadurch ist es bedingt, dafi die Kuppen der 
Hinterstrange stark asymmetrisch sind. Das hintere Septum weicht vorn 
stark von der Mittellinie ab, und der linke Hinterstrang reicht nicht so weit 
als der rechte. Das Septum paramedianum fehlt links auf vielen Schnitten. 
Der Zentralkanal ist offen, klein, spaltformig bzw. unregelmaBig. EJs 
besteht keine Vermehrung der zentralen Gliaanhaufung. 

Mlttleres Dorsal mark. Auch im 5. bis 8. Segment bestehen keine 
groberen Anomalien der Konfiguration. Die Veranderungen sind im wesent- 
lichen die gleichen wie in den oberen Dorsalsegmenten. Am vorderen Seiten¬ 
strang, etwa da, wo eine durch die Spitze der Vorderhomer gelegte Frontal- 
linie die Peripherie schneidet, findet sich eine mehr oder weniger tiefe Ein¬ 
kerbung. Im allgemeinen ist diese Furche auf der linken Seite starker 
ausgepragt als auf der rechten. Die linke Ruckenmarkshalfte erscheint im 
ganzen etwas kleiner als die rechte. Doch erstreckt sich die Reduktion nicht 
auf den Vorderstrang und auf die graue Substanz. Der linke Hinterstrang 
ist lira mehr als ein Drittel kleiner als der rechte. Das Septum post, erreicht 
die graue Substanz stark links von der Mittellinie an der Stelle, wo die 
Hinterwurzelfasern zu den Clarkeschen Saulen in das H interhorn eintreten. 
Die Clarke schen Saulen stoBen im 8. Segment in der Mittellinie zusammen. 
Sie zeigen keine GroBendifferenz. Der Zentralkanal ist offen, klein. ring- 
bzw. spaltformig. Versprengte Ependymzellen sind nur sp&rlich (Fig. 4). 


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210 H enneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische 


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Unteres Dorsalm&rk. 9. bis 11. Segment. Die Verhaltnisse bleiben in 
die3en Segmenten im wesentlichen die gleichen. Hervorzuheben ist, daB die 
gut entwickelten Clarkeschen Saulen in der Mittellinie breit zusammen- 
stoBen, so daB eine selir breite graue Kommissur re3ultiert. Mit der Verlage- 
rung der Clarke schen Saulen nach der Mittellinie zu hangt es offenbar zu- 
saramen, daB die laterale Kontur der grauen Substanz viel weniger gestreckt 
ala in der Norm verlauft. 1m Uebergangsgebiet vom Vorder- zum H in ter horn 
findet sich eine stark© Einbuchtung des lateralen Kontur. Der Zentralkanal 
ist im 9. und 10. Segment rund und often, etwas weiter als in den bisher 
beschriebenen Segmenten. Im 11. Segment vergroBert sich der Zentral¬ 
kanal rasch. Er bildet einen Spalt mit nicht deutlichem Lumen etwa von 
4©r Breite des Vorderhornes (am vorderen Ende). Er ist nicht genau frontal 
gestellt, sondern verlauft von links hinten nach rechts vorn. 

Mit dem 12. Dorsalsegment (Taf.VIII, Fig.5)beginnt eine starke Defor¬ 
mation des Querschnittes. In der Gegend der Lissauerschen Zonen zeigt sich 
beiderseits eine sehr starke Einziehung. Die Randglia drangt sich in Gestalt 
eines breiten Septums in da3 Hinterhorn vor und zwar rechts weiter als links. 
Beide Hinterhorner erscheinen in dorsoventraler Richtung zusammenge- 
schoben, rechtsmehr wie links. Die Clarke schen Saulen sind sehr groB und 
stoBen in der Mittellinie zusammen. Der rechte Hinterstrang ist wenigstens 
doppelt so umfangreich wie der linke, er ist entschieden voluminoser als ein 
normaler Hinterstrang im 12. Dorsalsegment. Das Septum post, trifft ventral 
auf die Mitte der linken Clarke schen Saule deren groBter Durchmesser dorse- 
ventral verlauft, wahrend der groBte Durchmesser der rechten Saule fast in 
der Frontalebene liegt. Aus dem ventraien Pol der linken Clarkeschen S&ule 
sieht man ein starke3 Faserbiindel in die Gegend de3 Seitenhorns ziehen. Die 
Seitenhomer sind beiderseits zu langen Spitzen ausgezogen. Aus beiden 
Hinterstrangen treten kraftige Faserbiindel in die Hinterhorner ein. Die 
Lisaauerschen Zonen sind gut erkennbar. Die extramedullaren hinteren 
Wurzelnzeigennormale Beschaffenheit. Der von einer fast kontinuierlichen 
Epithelschicht ausgekleidete Zentralkanal ist stark erweitert. Sein Quer- 
schnitt zeigt eine rechtwinklig dreieckige Ge 3 talt. Die groBere Kathete 
verlauft ungefahr in der Frontalebene, die Hypotenuse von hinten links 
nach rechts vom. Die zentrale Glia ist betrachtlich vermehrt. 

Lumbalmark. In der oberen Halfte des I. Lumbalsegmentes (Fig. 6) 
liegen im wesentlichen dieselben Veranderungen vor wie im 12.Dorsalsegment 
Die vordere Langsspalte hat sich betrachtlich erweitert. Der Zentralkanal 
ist stark erweitert und verlauft von links hinten nach rechts vorn. Sein 
Lumen bildet einen unregelm&Bigen Spalt, der links wesentlich weiter ist 
als rechts. Das Epithel ist fast durchweg sehr gut erhalten. Die Substantia 
gelatinosa centr. ist stark vermehrt, besonders links, so daB hier ein Bild 
vorliegt, wie wir es bei initialer Syringomyelic haufig sehen. Die gliose 
W ucherung drangt sich zwischen die beiden Clarke schen Saulen und tritt in 
Verbindung mit dem ventraien Ende des Septum post. In das linke 
Hinterhorn zwischen Clarkes cher Saule und Substantia gelat. Rol. drangen 
sich longitudinale Biindel des Hinterstranges. 

Weiter kaudalwarts (Fig. 7) beginnt die „Abschniirung“ der linken 
Riickenmarkshalfte. Die vordere Langsspalte offnet sich breit. Der Zentral¬ 
kanal spaltet sich in 2 kleine Kanale, die rasch auseinanderriicken. Wahrend 
der linke ein spaltformiges Lumen zeigt mit regelmaBigem Epithel, findet 
sich rechts nur ein unregelmaBiger Haufen von Epithelzellen ohne deutliches 
Liunen,nicht weit davon nach vom und rechts liegt ein versprengter kleinerer 
Haufen von Epithelzellen. Beide Zentralkanale sind nicht durch einen 
< rliastreifen miteinander verbunden. Die Formation des linken Hinterhomes 
wird vollig verwaschen. Samtliche Gebilde desselben einschlieBlich der Sub¬ 
stantia gelatinosa und der Clarkeschen Saule sind als solche nicht mehr er¬ 
kennbar. Man sieht an Stelle des linken Hinterhomes lediglich ein an die 
graue Substanz erinnerndes Gewebe, das ohne scharfe Grenze in den Mark- 
mantel (ibergeht. Hier und da sieht man einige Zellen, die als Clarke sche 
Zellen anzusprechen sind. Die Vorderhomzellen sind links sparlicher als recht, 
zeigen aber sonst keine Besonderheiten. Ein linker Hinterstrang l&Bt sich 


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nicht abgrenzen. An der Stelle. an der man ihn erwarten sollte, finden sich 
vorwiegend schrag getroffene Fasern. Hier findet sich eine starke Einziehung 
<ler Peripherie, die auf eine Stelle gerichtet ist, die in der Mitte zwischen beiden 
Zentralkanftlen liegt. Ein deutliches Septum post, ist nicht vorhanden. 
Die rechte Riickeninarkshalfte zeigt keine grofleren Deformationen. Das 
Vorderhorn ist abnorm schmal und nach der Mittellinie gebogen. Der Hals 
<ies Hinterhornes ist von longitudinal verlaufenden Faserbiindeln vollig 
Hurchsetzt und erscheint wie abgeschniirt. Die Schichten des Hinterhornes 
sind gut entwickelt, auch die Lismuerache Zone und die eintretenden 
Wurzelfasern. Der rechte Hinterstrang ist voluminos und von einem 
schwachen, neugebildeten, nicht bis an die graue Substanz reichenden 
Septum in 2 ungleiche Halften zerlegt. 

In den unteren Ebenen des 1. Lumbalsegmentes ist die Spaltung voll- 
zogen. Beide Teile haben einen besonderen und von einander unabhangigen 
Pi aiiberzug. 

2. Lumbalsegment (Fig. 8). Hechter Querschnitt: Vorderhorn. 
Clarke sche S&ule und Hinterhorn zeigen fast normale Bildung. Der Hals 
•des Hinterhornes wird dadurch sehr verschmalert, daB umfangreiche 
Biindel des H in ter stranges in diese Gegend des Hinterhorns eindringen. 
Die eintretenden Hinterwiuzelfasem, auch die zu den Clarkeachen Saulen 
ziehenden, sind gut entwickelt. Vorder- und Seitenstrang sind normal ge- 
bildet. Der voluminose Hinterstrang ist durch ein bis zur Clarke schen S&ule 
reichendes zarfces Septum in zwei ungefahr gleiche Halften geteilt. Der 
Zentralkanal ist oval, klein, offen, das Epithel sehr regelmaBig. Versprengte 
Zellen finden sich nicht. Die zentrale Glia ist nicht gewuchert. Es findet sich 
kein nach der Peripherie ziehender Gliastreif. Die graue Substanz der 
Clarkeaohvn Saule ist medialwarts in einen diinnen Fortsatz ausgezogen, der 
sich an der medialen Peripherie ventralwarts zieht. Die Fasern der vorderen 
Kommissur sind deutlich, sie lassen sich zum Teil bis an die mediate Peri¬ 
pherie verfolgen, sie biegen hier aus der horizontalen Richtung ab. In der 
Mitte des abgeplatteten medialen Randes — der Querschnitt ist im iibrigen 
fast kreisrund — findet sich eine Einziehung, die ventral von der vorderen 
Kommissur in der Richtung auf den Zentralkanal vordringt. In dieser 
Einziehung liegen groBe GefaBquerschnitte und einige Wurzelbiindel. 

Linker Querschnitt Die Flache des linken Querschnittes betragt 
zirka ein Drittel des rechten. Seine Gestalt ist unregelmaBig rundlich, der 
Rand zeigt zwei Einziehungen. Die tiefere liegt der beschriebenen Ein¬ 
ziehung des rechten Querschnittes gegeniiber und entspricht dieser vollig. 
Sie stellt eine echte Fissur mit Piafortsatz dar, und erreicht den sehr 
kleinen, spaltformigen, offenen, etw«is dorsal und medial von der Mitte 
gelegenen Zentralkanal nicht, sondem biegt drosalwarts ab, um fast in der 
Mitte des Querschnittes zu enden. Die zweite starke Einziehung liegt in der 
Mitte der dorsalen Peripherie und ist von einer Yerdickung der Randglia 
umgeben. Die Pia ist ziemlich dick. Zarte Wurzelquerschnitte finden sich 
am dorsalen und am vertikalen Umfange, groBere GefaBe am medialen. 

Die graue Substanz entspricht dem Vorderhorn und der Clarke schen 
Saule ( ?). Das Hinterhorn fehlt. Die Konfiguration des Vorderhornes 
entspricht dem der rechten Seite, doch ist sein Umfang etwas kleiner. Die 
unregelmaBig halbmondformige (Konkavitat medialwarts) graue Substanz 
wird von einem kontinuierlichen Markmantel umgeben. DerVorderstrang ist 
links ebenso groB als rechts. Der Seitenstrang ist sehr reduziert. Der Hinter- 
«trang ist nicht deutlich abgesetzt und sehr klein. Wir sind geneigt, den Teil 
des Markmantels, der sich von der dorsalen Einziehung bis zu medialen er- 
streckt, als Hinterstrang aufzufassen. Ein- bzw. austretende Wurzelfasern 
sind sehr sp&rlich. Sie finden sich im vorderen Teile des Markmantels bzw. 
Lin ten in der Gegend der dorsalen Einziehung. In den entsprechenden 
Gegenden finden sich cxtramedull&re zarte Wurzelbiindelchen. Eine 
Entscheidung. ob die an der hinteren Peripherie sich findenden Biindel 
hintere Wurzelfasern sind, laBt sich nicht treffen, doch sind wir geneigt. 
Hies anzunehmen. In der grauen Substanz sind die Vorderhornganglien- 


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212 H enneberg-W e s t cnhofer , Ueber asymmeti ische 


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zellen gut entwickelt. In der der Clarkeschen Saule entspreehenden Gegend 
finden sich einige Zellen vom Typus der Clarkes chen Zellen. 

3. Lumbalsegment (Fig. 9). Hechter Querschnitt. Der Querschnitt 
ist den normalen Verhaltnissen entsprechend grower geworden. Das Vorder- 
horn ist wesentlich breiter und plumper als im Bereich des 2. Lumbal- 
segmentes. Eine wesentliche Abweichung von den beschriebenen Schnitten 
aus dem 2. Lumbalsegment besteht insofern, als ein allerdings noch mangel- 
haft entwickeltes mediates V order- und Hinterhorn aufgetreten ist. Der 
linke (laterale) Vorder- und Seitenstrang und das Vorderhorn zeigen fast 
uormale Verhaltnisse. Das laterale Hinterhorn ist etwas in die Lange ge- 
zogen und zeigt eine hochgradige Verschmalerung des Halses. Diese ist be- 
dingt durch das Hereindrangen von Fasermassen, die dem Hinterstrang an- 
gehoren. Auffallend ist ferner, daB die die Substantia gelatinosa durch- 
ziehenden Wurzelfasern in einigen dicken Biindeln zusammengeschlossen 
verlaufen. Der Hinterstrang ist voluminos, ventral viel breiter als in der 
Norm und zeigt koine Gliederung durch ein Septum. Aus seiner Kuppe lassen 
sich zahlreiche Fasem in die graue Substanz hinein verfolgen. Die vordere 
Langsplatte verhalt sich wie im 2. Lumbalsegment. Das mediate Vorderhorn 
zeigt verwaschene Konturen und ist zirka halb so groB wie das laterale. Es 
ist umgeben von einem schmalen Vorderseitenstrang. Dorsal gelit das 
mediale Vorderhorn breit in ein Gebilde uber. das ungefahr den Ban eines 
Hinterhorns zeigt. Die sehr umfangreiche Substantia gelatinosa desselben 
wird dorsal und ventral von horizont al verlaufenden Fasern umzogen, die der 
zentralen grauen Masse bzw. der Gegend der Clarke schen Saule zustreben. 
Die Fasern kommen von der Peripherie und entsprechen offenbar hinteren 
Wurzelfasern. Es findet sich auch eine Zone, die der Lissauerschon Zone 
entspricht. Vordere Wurzelfasern lassen sich nur ganz vereinzelt naeh- 
weisen. Dementsprechend finden sich nur ganz vereinzelte schlecht ent- 
wickelte Ganglienzellen im inedialen Vorderhorn. Der Zentralkanal ist ein 
kleiner offener ovaler Ring. Am dorsalen Ende des vorderen Septums liegt 
ein unregelmaBiger Haufen von Epithelzellen. Dieser ist mit dem Zentral¬ 
kanal durch eine StraBe von im Gewebe liegenden Epithelzellen verbunden. 

Der linke Querschnitt ist etwas kleiner als im 2. Lumbalsegment. 
Diese Verkleinerung ist zum Teil beddingt durch das Schwinden einer 
grauen, im 2. Lumbalsegment vorhandenen Masse, die wir als Clarke sche 
S&ule angesprochen haben. Aber auch abgesehen davon erscheint die graue 
Substanz sehr stark reduziert. Die Gestalt der grauen Substanz ist eine 
unregelmaBig halbmondformige mit Konkavitat nach der Seite des vorderen 
Langsspaltes. Dieser verhalt sich wie im 2. Lumbalsegment, doch gabelt 
er sich am dorsalen Ende imd fast einen dreieckigen Teil des Markmantels 
zwischen sich. Vor dem Langsspalt, der mu einen sehr zarten Binde- 
gewebsfortsatz enthalt, liegen 3 Querschnitte groBerer Gef&fie. Die Pia, die 
den Querschnitt kontinuierlich umzieht, ist ziemlich dick. Der Zentralkanal 
besteht in einem Haufen ungeordneter Epithelzellen ohne Lumen. In der 
grauen Substanz finden sich nur vereinzelte diirftige Ganglienzellen. Da- 
gegen sieht man deutlich ziemlich zahlreiche Wurzelfasern die graue Substanz 
verlassen. 2 Biindel treten besonders hervor, die aus der dorsalen und 
ventralen Seite der grauen Substanz entspringen und nach der Peripherie 
ziehen. Hier treten sie an Stellen der Peripherie aus. die durch eine Ein- 
ziehung kenntlich sind. Extramedullar finden sich hier gut gebildete Wurzel- 
querschnitte, und zwar dorsal solche vom Typus der hinteren Wurzeln. 
Auffallend ist. daB die dorsal das Riickenmark verlassenedn Fasern zunachst 
eine Strecke an der Peripherie entlang laufen, bevor sie austreten. 

4. Lumbalsegment (Fig. 10). Hechter Querschnitt. Der Querschnitt 
ist fast kreisformig. Die laterale (in Wirklichkeit liegt sie ventral) graue 
Substanz ist fast normal gebildet. Auffallend ist nur die schon oben be- 
schriebene Verschmalerung des Halses des Hinterhornes und der Umstand, 
daB die Hintervvnirzelfasern in Gestalt eines geschlossenen Biindels die 
Substantia gelatinosa durchziehen. Der Hinterstrang ist voluminos. keil- 
formig mit abgestumpfter Spitze. Ein Septum post, fehlt, auch fehlt eine 
Commissura post. An den Hinterstrang schlieBt sich medial ein dunkel 


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Diastematoniyelie vom Typus etc. 


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wie der Hinterstrang gefarbtes Feld, das die Substantia gelatinosa des 
medialen Hinterhornes mngibt. Es handelt sich hier mn ein Feld, das einem 
medialen Hinterstrang entspricht. Dies ergibt sich aus den weiter distal 
folgenden Bildern. Die mediale graue Substanz hat sich mehr den norinalen 
Verhaltnissen genahert, doch ist sie wesentlich kleiner als die late rale. 
Die lateralen Teile des V T orderhomes zeigen die Struktur einer Substantia 
reticularis. Das Hinterhom ist selir gedrungen. Die Grenze gegen den Hinter¬ 
strang geradlinig. Eine Lissauer&che Zone fehlt. Die Substantia gelatinosa 
Rol. wird von kraftigen in der Schnittebene verlaufenden Faserbiindeln 
umzogen. Die am meisten medial, d. h. dem Hinterstrang anliegenden 
Fasern kommen von der Peripherie her, von einer Stelle, die der norinalen 
Wurzeleinrittsstelle ungefahr entspricht. Die iibrigen Fasern schwenken 
in den Seitenstrang mn und lassen sich bis an die mittlere Peripherie ver- 
folgen, wo sie eintreten. Extramedullare Wurzelquerschnitte liegen hier der 
Peripherie an. Der Seitenstrang ist kleiner und etwas blasser (Markscheiden- 
farbung) als der der anderen Seite. Der Vorderstrang ist fast ebenso 
voluminos als der laterale. Die vordere Kommissur ist deutlich. Vorderhorn- 
zellen und austretende Wurzelfasern finden sich im medialen Vorderhorn nur 
sehr sp&rlich. Der Zentralkanal ist offen, klein und ziemlich regelmaBig. 

Der linke Querschnitt ist wesentlich groBer als im 3. Lumbalsegment. 
Er ist fast kreisrund und zeigt einen vorderen Langsspalt, der medialwarts 
gerichtet ist und dem des rechten Querschnittes gegeniiberliegt. Die fast 
runde graue Substanz wird von einem schinalen. iiberall fast gleich breiten, 
nicht gegliederten Markmantel umgeben, der in der Gegend des vorderen 
Langsspaltes durch ein kommissurartiges Gebilde geschlossen bleibt. Mit 
Her grauen Substanz treten durch den medialen Teil des Markmantels 
kr&ftige Biindel von vorderen Wurzelfasern, denen wohl entwickelte extra¬ 
medullare Wurzelbiindel von Vorderwurzeltypus entsprechen. Aber auch 
an anderen Sellen ziehen vereinzelte Wurzelfasern radiar durch die weiBe 
Substanz. Fasern. die als Hinterwurzelfasern angesprochenen werden 
konnten, fehlen vollig. Die groBen Ganglienzelien sind ebenso zahlreich 
wie in dem lateralen Vorderhorn des rechten Querschnittes, sie liegen be- 
sonders in dem ventralen Abschnitt der grauen Substanz, der dem lateralen 
Vorderhorn des rechten Querschnittes gegeniiberliegt. Der offene Zentral¬ 
kanal liegt nahe dem zentralen Ende des vorderen Langsspaltes, er ist 
wesentlich groBer als der des rechten Querschnittes und mit regelmaBigem 
Epithel ausgekleidet. In seiner Umgebung finden sich kleine versprengte 
Epithelnester. 

5. Lumbalsegment (Taf.IX Fig. 11). Rechter Querschnitt. Die Verhalt- 
nisse haben sich wenig geandert. Die laterale Halfte entspricht fast der 
Norm. Der Hinterstrang ist voluminos, ohne Septum und entspricht offenbar 
lediglich dem rechten Hinterstrang des normal gedeuteten Riickenmarkes. 
Unmittelbar am medialen Rande des medialen Hinterhornes verlauft ein 
Septum, das bis zur hinteren Peripherie gelangt. Dieses Septum entspricht 
dem hinteren Septum des normal gedachten Querschnittes. 

Durch das Auftreten dieses Septums wird es moglich. einen medialen 
Hinterstrang, der bereits im 4. Lumbalsegment erkennbar war, abzugrenzen, 
er umgibt die sehr breite Substantia gelatinosa des medialen Hinterhornes 
Das mediale Hinterhom ist sehr breit. faserarm und geht breit in das sehr 
reduzierte mediale Vorderhorn liber. Der mediale Seiten- und Vorders trang 
ist sehr klein und in einzelne Biindel zerkliiftet. Die vordere Kommissur ist 
sehr faserreich. Den Zentralkanal stellt ein Haufen Epithelzellen ohne Lumen 
dar. Im medialen Vorderhorn finden sich nur vereinzelte groBe Ganglien- 
zellen. 

Der linke Querschnitt zeigt dasselbe Bild wie im 4. Lumbalsegment. 
.Lateral liegt ihm ein wohlgebildetes groBes Spinalganglion an. Die Fasern, 
die aus diesem entspringen, ziehen zum medialen Hinterhom des rechten 
Querschnittes. Sie treten hier ziunTeil in die Substantia gelatinosa desselben 
ein, zum Teil bilden sie den medialen kleinen Hinterstrang. 

In den tieferen Ebenen des 5. Lumbalsegmentes nimmt der linke 
Querschnitt rasch an Umfang zu. Die graue Substanz streckt sich und 


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214 H enneberg-Westenhofer. Ueber asymmetrische 

niinmt eine nierenformige Gestalt an. Die Einbuchtung liegt der vorderen 
Langsfissur an. Die beiden Anschwellungen nehmen imraer mehr die Form 
von Vorderhornern an, so daB jetzt auch am linken Querschnitt ein later-ales 
und ein mediales Vorerhorn zn unterscheiden ist. Im medialen Horn finden 
sich nur vereinzelte groBe Ganglienzellen. Ans dem lateralen Horn treten 
sehr kraftige vordere Wurzelfasem. Hinterhomartige Formationen fehlen zu¬ 
nachst noch vollig. Von dem dem linken Querschnitt anliegenden Spinal- 
ganglion ziehen sehr kraftige Biindel ziun medialen Hinterhorn des rechten 
Querschnitte. In die untersten Ebenen des Segmentes entwickelt sich im 
linken Querschnitte zunachst ein sehr breites mediales (richtiger beiden Vorder¬ 
hornern zugehorendes) Hinterhorn, das allerdings zunachst sehr deformiert er- 
scheint, aber eine deutliche Substantia gelatinosa erkennen laBt (Fig. 12). Auf 
eine kurze Strecke bildet dieses Hinterhorn gleichsam einen Anhang an den 
linken Querschnitt und springt gegen das mediate Hinterhorn des rechten 
Querschnittes vor. Es entsteht hier eine schmale Faserbriicke, die beide 
Substantiae gelatinosae miteinander verbindet. Es treten hier zweifellos 
zahlreiche Fasern in das Riickenmark ein. Sie ziehen zum Teil in das Hinter¬ 
horn, zum Teil lateralwarts in den Markinantel, wo sie sich an der Peripherie 
weit verfolgen lassen. Diese Fasern kommen zum Teil aus dem rechten 
Querschnitt durch die Briicke. Ob ein Teil der Fasern aus dem hetero- 
topischen Spinalganglion kommt, konnten wir nicht entscheiden. Bald 
darauf wird das gemeinsame Hinterhorn durch das Auftreten von Faser- 
massen in ein mediales und laterales Hinterhorn gespalten. Die Mark- 
briicke zwischen beiden Querschnitten ist geschwunden. 

Oberes Sakralmark (Fig. 13—17). DieDifferenzierungder Querschnitte 
erreicht hier ihren hochsten Grad. Wir sehen eine mehrere Millimeter lange 
Strecke des Riickenmarkes vollig verdoppelt. Beide Querschnitte haben 
sich so weit erganzt, daB sie alle Teile des Riickenmarkes enthalten. Im 
einzelnen bestehen allerdings vielfache Abweichungen von der Norm. 
Die beiden vollig selbstandigen Querschnitte liegen jetzt so nebeneinander, 
daB die beiden vorderen Langsfissuren sich verlangert unter einem Winkel 
von ca. 45° treffen wiirden. Beide Querschnitte besitzen eine selbst&ndige 
Piaiunhiillung. Ein Trennungsgewebe ist nicht vorhanden. Die Pia ist zart 
und von normaler Beschaffenheit. 

Rechter Querschnitt. Von den vier grauen Saulen ist die rechte laterale 
am besten entwickelt. Ihre Form entspricht fast vollig der Norm. Hervor- 
zuheben ist nur, daB der Hals des H inter homes eine starke Verschm&lerung 
infolge von Eindringen abgesprengter Biindel des Hinterstranges zeigt. Der 
laterale Hinterstrang ist groB und medial von einem sehr deutlichen hinteren 
Septum begrenzt, das mit der vorderen Langsfissur einen medialwarts offenen 
stiunpfen Winkel (ca. 140°) bildet. Das mediate V T orderhorn ist sehr klein und 
enth&lt nur vereinzelte groBe Ganglienzellen. Viel besser ist das mediate 
Hinterhorn entwickelt, das alle normalen Teile erkennen lafit. Zahlreiche 
hintere Wurzeln treten durch die Substantia gelatinosa und durch den 
medialen Hinterstrang ein. Dieser nimmt nur ca. ein Viertel des Areales 
des lateralen Hinterstranges ein, er reicht nicht fiber die Substantia gelatinosa 
nach vorn, so daB das Septum post, auf eine groBe Strecke hin der grauen 
Sub3tanz des Hinterhornes anliegt. Eine Lismuersche Zone ist vorhanden, 
doch weicht sie insofern von dem normalen Bild ab, als sie aus einzelnen 
Biindeln besteht. Der Seitenstrang ist sehr klein, auch der Vorderstrang 
bleibt hinter dem der lateralen Seite zuriick. Der Zentralkanal wird von 
einem lang gestreckten (in der Richtung des hinteren Sep turns) Zellstreifen 
gebildet. 

Der linke Querschnitt ist deformiert; der dorsaie Abschnitt ist stark 
medialwarts verschoben. Das laterale Vorderhom ist voluminds und enthalt 
sehr zahlreiche Ganglienzellen. Die graue Kommissur ist sehr breit, so daB 
die beiden Vorderhorner zusammenflieBen. Die vordere Kommissur ist 
der Norm entsprechend gebildet. Der Hinterstrang zeigt nur eine Andeutung 
eines Septums. Die mediate Halfte des Querschnittes ist wesentlich kleiner 
als die laterale.^ In dem verkummerten Vorderhorn finden sich vereinzelte 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


215 


Ganglienzellen. Der offene Zentralkanal zeigt eine regelnxaBige Epithel- 
anordnung. Von der medialen Lismuerschen Zone und der Substantia 
gelatinosa ziehen sehr kraftige Faserbiindel durch den Hinterstrang in der 
Richtung nach dem Hals de3 lateralen Hinterhornes. Sie biegen hier aus der 
Schnittebene ab. Im Hals des lateralen Hinterhornes sieht man zahlreiche 
quergetroffene Biindel. Er treten auch direkt in das laterale Hinterhorn 
Fasern ein, allerdings nur ziemlich sparliche. 

Nicht weit unterhalb der beschriebenen Schnitthohe begimit die Ver- 
einigung der beiden Riickenmarkssaulen. Der ZusammenfluB beginnt in der 
Gegend der medialen Seitenstrange. gleichzeitig beriihren sich die medialen 
Substantiae gelatinosae. Zwischen diesen beiden Verbindungsstellen bleibt 
zunachst noch ein Spalt bestehen (Fig. 14). Eine dritte schmale Briicke 
formiert sich an der dorsalen Peripherie. Hier ziehen in der Schnittebene ver- 
laufende Faserbiindel, die aus dem linken medialen Hinterhorn zu kommen 
scheinen und nach dem rechten medialen Hinterhorn gelangen. Mediate 
hintere Wurzelfasern sind, wenn iiberhaupt, nur sparlich vorhanden. Der 
Zentralkanal rechts ist offen. Ein langgestreckter Haufen von Zellen ver- 
bindet ihn mit dem ventralen Ende des hinteren Sep turns. Links finden sich 
zwei offene Zentralkanaie, die hintereinander liegen. Zwischen beiden liegt 
ein ganz kleiner Kanal mit sehr engem Lumen. In der Einsenkung zwischen 
beiden medialen Vorderstrangen liegt ein Wurzelquerschnitt, der insofern 
von der Norm abweicht, als er zahlreiche runde Querschnitte von Gliazapfen 
enth&lt. Vordere Wurzelfasern an den medialen Vorderhomern sind nur 
sp&rlich vorhanden. 

Die Vereinigung der beiden Querschnitte schreitet fort (Fig. 15 undl6). 
in dem sich zunachst eine Verb indung zwischen den beiden medialen Vorder- 
hornem bildet, die jedoch bald voriibergehend wieder verschwindet, so daB 
nur die schmalen Seitenstrange zusammenflieBen. In dieser Hohe sind die 
beiden medialen Hinterhorner mit ihrem gelatinosen Abschnitte breit zu- 
sammengeflossen. Ventral von dieser Vereinigungsstelle der Hinterhorner 
zeigt sich eine sehr schmale, dorsal von derselben eine sehr breite Kommissur 
von in der Schnittebene verlaufenden Fasern. Darauf flieBen die medialen 
Vorderhorner wieder breit zusammen und verkleinern sich wesentlich, gleich¬ 
zeitig tritt eine rasch fortschreitende Vereinigung der beiden Hinterhorner 
dss rechten Querschnittes ein (Fig. 16 und 17). Das gemeinsame rechte 
Hinterhorn zeigt eine sehr (in der Frontalebene) breite Substantia gelatinosa; 
die sich bandformig an der dorsalen Peripherie entlang zieht. Dieses 
monstrose Hinterhorn nimmt rasch an Umfang ab. 

Die Hinterhorner des linken Querschnittes haben sich viel rascher 
verkleinert und sind in der Hohe, die das soeben beschriebene monstrose 
Hinterhorn im rechten Querschnitt zeigt, schon vollig geschwunden (Taf. X 
Fig. 17). Die mediale graue Substanz des linken Querschnittes hat sehr an 
Volumen abgenommen. Die Zentralkanaie sind klein und offen. Am ven¬ 
tralen Rand d©3 Querschnittes finden sich 3 Langsspalten. Die mittlere 
entspricht der Stelle, an der beide Querschnitte sich zusammenlegten. 

Nachdem alle vier Hinterhorner im mittleren Sakralmark (Fig. 18) 
vollig geschwunden sind, zeigt der Querschnitt eine nierenformige Gestalt. 
Die Einbuchtung liegt ventral. Von ihr gehen die beiden divergierenden 
L&ngsfissuren aus, die nach vom verlangert, sich unter einem Winkel von 
45° schneiden wilrden. Zwischen beiden Langsspalten liegt eine kurze Spalte, 
der am dorsalen Rande eine Einsenkung entspricht. Beide Gebilde deuten 
die Verwachsungslinie beider Riickenmarke an. Die graue Substanz ist 
plump hantelformig, die rechte Halfte ist wesentlich groBer als die linke. Im 
Gnmde jeder L&ngsfissur finden sich eine vordere Kommissur und dorsal 
davon ein Zentralkanal. Beide Kanale sind offen und von regelmaBigem 
Epithel ausgekleidet. In den lateralen Anschwellungen der grauen Substanz, 
die den lateralen Vorderhomern entsprechen, finden sich zahlreiche Ganglien¬ 
zellen. In dem Verbindungsstiick, das den medialen Vorderhomern ent¬ 
spricht, lassen sich nur vereinzelte Ganglienzellen nachweisen. Formationen, 
die an ein Hinterhorn erinnern, fehlen vollig, doch treten in der Mitte der 
hinteren Peripherie sparliche Wurzelfasern in den Markmantel ein. Der 


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216 H e n n e b e r g - W e s t e n h 6 f e r , Feber asymmetrische 


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Markmantel zeigt. abgeschen von den vorderen Langsfissuren keinerlei 
Gliederung. Ein hinteres Septum fehlt vollig. Der mediale Teil des hinteren 
Markrnantels ist von vielen in der Schnittebene verlaufenden und schrag ge- 
troffenen Fasern durchsetzt. Zuin Teil handelt es sieh inn Fasern, die in die 
graue Substanz ziehen und wohl hinteren Wurzelfasern cntsprechen. Den 
vorderen Marksaiun durchsetzen zahlreiehe Vorderwurzel fasern. 

In den weiter distal gelegenen Ebenen des mittleren Sakralmarkes be- 
ginnt bald wiederum eine Spaltung des Riiekenmarks (Fig. 19 und 20). Zu- 
nachst verdiinnt sieh das Mittelstiick der grauen Substanz und schwindet 
schliefilich vollig dadureh entstehen zwei graue, vondem zusammenflieBenden 
Markmantel umgebene Masson, eine kleinere runde links und eine groBere 
rechts, die mehr die Form eines nonnalen Vorderhorns zeigt. Die vollige 
Trennung erfolgt durch ein Piaseptum. naehdem vorher an der Trennungs- 
stelle ein Biindel von dorsoventral im Querschnitt verlaufenden Fasern auf- 
getreten Lst. Die beiden Querschnitte sind so orientiert. daB die beiden 
vorderen Septen in der Frontalebene liegen und einander gegeniiberstehen. 
In beiden grauen Massen sind zahlreiehe Ganglienzellen, namentlich in den 
ventralen Abschnitten. vorhanden. die vorderen Wurzeln treten auf der 
ventraien Seite aus. Hintere Wurzelfasern sind sparlich vorhanden und 
treten als geschlossene Biiridel in den Markmantel. Weiter distal verkleinem 
sieh beide Querschnitte allmahlieh, immer bleibt jedoeh der linke kleiner 
als der reclite. Hinterhornartige Formationen treten nicht auf. Die Zentral- 
kanale sind offen und von einer breiten Schicht Ependymzellen umgeben. 

Von dem Befund in den untersten Ebenen des mittleren Sakralmarkes 
(Fig. 21J 1 ) ist noch folgendc^s hervorzuheben: Eine Hinterhornformation felilt 
vollig. Die eintretenden Hinterwurzelfasern sind diirftig. In dem Septum, 
das beide Querschnitte tremit, finden sieh Inseln von glioser Substanz ein- 
gesprengt. In derUmgebung der unregelmaBigen Zent-ralkanale findet sieh 
viel gliose Substanz und sehr zahlreiehe versprengte Ependymzellen. Im 
rechten Querschnitt findet sieh ein Spalt, der den lateralen Markmantel 
von der Peripherie in dorsoventraler Richtung diuchzieht, die ventrale 
Peripherie jedoeh nicht erreicht. Dieser Spalt off net sieh in den subpialen 
Haum. Seine Wandung wird von verdichteter Glia gebildet (wie bei 
Syringomyelie). Eine Beziehung zum Zentralkanal besteht nicht. 

Im unteren Sakralmark wtichsen die beiden Querschnitte wieder zu- 
sammen. Die Vereinigung beider Half ten findet so statt, daB das Septum 
zunachst dorsal schwindet und hier eine rasch an Breite zunehmende Briicke 
entsteht (Fig. 22). 

Weiter distal bestehen noch deutlich zwei Ruckenmarksanlagen. die 
fast symmetrisch gebildet sind. Der gesamte Querschnitt ist nierenformig. 
Die Einziehung am ventralen Rand ist sehr tief. Die lateralen Vorderhorner 
sind gut entwickelt. die rudimentaren, medialen flieBen breit zusammen. Von 
den Hinterhornem sind nur die lateralen ausgebildet, aber auch diesen fehlt 
eine deutliche Substantia gelatinosa Rolandi. Der gemeinsame Hinterstrang 
zeigt eine Andeutung eines Septum post. Zu beiden Seiten des dorsalen Endes 
des vorderen Langsspaltes liegt ein offener kleiner Zentralkanal mit vielen 
versprengten Zellen in der Umgebung. Die Pia ist verdickt, ebenso das 
vordere Septum. 

Im untersten Sakralmark ist eine sehr starke Deformierung des Quer- 
schnittes. Man sieht ventral einen halbmondformigen Markmantel zentral 
und dorsal unregelm&fiige Markfelder. Das Gebiet der grauen Substanz ist 
im wesentlichen von 2 vollig getrennten, groBen, unregelmaBig spalt- 
formigen Zentralkanalen. die dorsoventral gestellt sind und die dorsale 
Peripherie erreichen, eingenommen. Der dorsalen Peripherie liegen Binde- 
gewebsmassen auf.^die GefftBe 'mit verdickten Wandungen enthalten. 

Zusammenfas8ung . 17 jahriges Madchen, angeborene hiihnerei- 
groBe Geschwiilst in der Kreuzbeingegend, Blasenschwache, kind- 

! ) Fig. 21 und 22 sind etwas starker vergrdBert als die iibrigen. Fig. 3 
bis 20 zeigen die gleiche VergroBerung. 


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Diastomatomyelie vom Typus etc. 


217 


licher Habitus der unteren Extremitaten, Schwache des linken 
Beines, linker FuB in Equino-varus-Stellung. Herabsetzung der 
Sensibilitat am linken Unterschenkel und FuB, Fehlen der Sehnen- 
reflexe an beiden Beinen. 

Befund: 4.und5.LendenwirbelundobererTeildes l.Sakralwirbels 
hinten nicht geschlossen, Cystitis und Pyelonephritis, Verdoppelung 
der Nieren und Ureteren, embryonale Lage des Riickenmarkes. 

Verkleinerung des linken Hinterstranges im Cervikal- und 
Dorsalmark, Spaltung des Riickenmarkes im 1. Lumbalsegment 
unter dem Bilde der Abschniirung des linken Vorderhornes, im Be- 
reich des 2. bis 5. Lumbalsegmentes vervollstandigt sich die rechte 
Ruckenmarkssaule allmahlich durch Auftreten eines medialen 
Vorder- und Hinterhomes und eines rudimentaren medialen Hinter¬ 
stranges. Die linke Saule stellt ein Vorder horn mit Markmantel 
dar, erst im 5. Lumbalsegment beginnt die Vervollstandigung des 
Querschnittes durch Auftreten eines medialen Hinterhornes. Im 
1. Sakralsegment zunachst 2 vollig getrennte vollstandige Riicken- 
marksquerschnitte, dann Verschmelzung beider Querschnitte und 
Schwund samtlicher 4 Hinterhorner. Im mittleren Sakralmark 
emeute Trennung beider hinterhornloser Saulen. Unvollstandige 
Verschmelzung beider Querschnitte im unteren Sakralmark. 
undeutliche Hinterhornanlagen. 


Bei der Beurteilung eines Falles von sogenannter DoppelmiB- 
bildung des Riickenmarkes ist zunachst die Frage zu entscheiden, 
ob es sich tatsachlich um eine angeborene MiBbildung handelt, oder 
ob ein postmortales Artefakt vorhegt. Wie van Gieson 1892 in seiner 
bekannten verdienstvollen Arbeit nachgewiesen hat, beziehen sich 
zahlreiche der alteren Veroffentlichungen iiber DoppelmiBbildungen 
des Riickenmarks auf Kunstprodukte. Als Beispiele seien die 
Arbeiten von Filrstner und Zacher , Kronthal , Jacobsohn, Feist und 
Brasch genannt. Aber auch nach der Veroffentlichung von van 
Gieson sind noch gelegentlich Kunstprodukte als MiBbildungen be- 
schrieben worden, so von Zingerle. Petren und Sibelius haben bereits 
die von Zingerle sehr ausf iihrlich mitgeteilten und an der Hand von 
18 Abbildungen leicht nachpriifbaren Befunde als Artefakte er- 
kannt, imd wir wiirden auf den Fall nicht zuriickkommen, wenn die 
Beobachtung Zingerles nicht immer wieder herangezogen (so von 
Kaufmann , A . Westphal) wiirde. In dem im Erscheinen begriffenen 
Handbuch der MiBbildungen von E . Schwalbe referiert Ernst den Fall 
Zingerles eingehend und reproduziert eine Abbildung. ohne auch nur 
auf die Moglichkeit des Vorliegens eines Kunstproduktes hinzu- 
weisen. Dabei ergibt sich bereits aus der zusammenfassendenCharak- 
terisierung des Falles durch Zingerle . daB ein Artefakt vorliegen 
muB. Er sagt u. a.: 

,,Freilich wird die Deutung der Befunde in hohem MaBe er- 
schwert durch die Mannigfaltigkeit der bestehenden Formverande- 
rungen, wie sie bisher noch in keinem beschriebenen Falle be- 
obachtet wurde, und durch welche dieses Ruckenmark zu einem 


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218 H enneberg-Westenhofer. Ueber asynimetrische 


in der Literatur ganz isoliert dastehenden Falle gestempelt wird. 
Dnrch das ganze Brust- und Halsmark wechseln die Bilder in 
rascher Aufeinanderfolge, nicht nur segmentweise, sondem vielfach 
tritt uns innerhalb eines Segmentes eine wiederholte Umformung 
entgegen, die zu den verschiedensten und merkwiirdigsten G-e- 
staltungen fiihrt.“ Dieser rasche Wechsel der Querschnittsbilder 
ist fiir Verquetschungen des Riickenmarkes ungemein charakte- 
ristisch. Bei MiBbildungen laBt sich dagegen der ganz allmahliche 
Uebergang von einer Querschnittsform in die andere an Serien- 
schnitten stets nachweisen. DaB Zingerle ein gesetzmaBiges Ver- 
halten in den Umformungen des Querschnittes nachweisen konnte, 
beweist natiirlich nichts gegen die artifizielle Natur seiner Befunde, 
denn selbstverstandlich kommen auch die Artefakte auf Grund 
gesetzmaBiger mechaniscber Verhaltnisse, d. h. ZerreiBlichkeit 
und Verschieblichkeit der weiBen und grauen Massen zustande. 

Zingerle kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen: Fehlerhafte 
Bildungen des Zentralkanales sind von bestimmendem EinfluB auf 
das Wachstum der Riickenmarksanlage. Defekt oder Yerlagerung 
des Epithelrohres ist von Defekten oder Verlagerungen der Hinter- 
strangsareale, der Hinterhorner und Clarke schen Saulen begleitet. 
Bei mehrfachen, aus der Mittellinie verschobenen Zentralkanalen 
bildet sich jedem entsprechend ein Hinterstrang und nimmt die 
umgebende graue Substanz den Bau von Hinterhornern an. Jedem 
Zentralkanal lagert auch ein der weiBen Kommissur ahnliches 
Markfaserareal an. Aus der Anlage eines Riickenmarkes konnen 
auf diesem Wege Zwei- und Mehrfachteilungen desselben zustande 
kommen. Es ist leicht ersichtlich, daB derartige Schliisse nur 
auf Grund von Artefakten gezogen werden konnten. Der Zentral¬ 
kanal bildet mit den Hinterstrangen und Hinterhornern eine zu- 
sammenhangende Masse, die sich leicht gegen die iibrigen Teile 
des Querschnittes bei Verquetschungen verschiebt (Sibelius). 
Die Hinterstrange haben mit dem Zentralkanal nichts zu tun, wir 
wissen, daB sie im wesentlichen durch das Hineinwachsen der 
hinteren Wurzelfasem zustande kommen. Fehlen die hinteren 
Wurzeln bzw. die Spinalganglien, so unterbleibt die Entwicklung 
der Hinterstrange bzw. der Hinterhorner trotz gut entwickeltem 
Zentralkanal. Dies zeigt imser Fall sehr deutlich. 

Wir nehmen im Gegensatz zu Sibelius, der nicht alle Ab- 
weichungen in dem Falle Zingerles fiir Artefakte erachten will, 
an, daB es sich um ein urspriinglich normal gebildetes, bei der 
Herausnahme stark verquetschtes Riickenmark handelt. Patho- 
logisch war an dem Riickenmark lediglich eine mit der HimmiB- 
bildung (Zyklopie) in Zusammenhang stehende Hypoplasie der 
Pyramidenbahnen und die von derselben abhangige Seitenstrangs- 
furchenbildung (Anton, Schiirhoff, Paltauf) in der Gegend der 
Pyramidenseitenstrange. Zu der Annahme, daB es sich um ein 
normal gebildetes Riickenmark handelte, veranlaBt mis, abgesehen 
von den Querschnittsbildem, die durchweg den Charakter von 
Artefakten tragen, noch folgendes: Zingerle fand im Halsmark und 


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Diastematoinyelie vom Typus etc. 


219 


Lendenmark (Fig. 52 und 30) eine normale Konfiguration des 
Querschnittes. Unser Fall zeigt sehr deutlich, daB oberhalb und 
unterhalb des miBbildeten Riickenmarksteiles Veranderungen 
nicht vermiBt werden. Besondere Beachtung verdient unseres 
Erachtens die in unserem Falle im Dorsal- und Cervikalmark be- 
stehende Asymmetrie in den Hinterstrangen. Die aus dem Lumbo- 
sakralmark stammenden Hinterwurzelfasem, die im Cervikalmark 
im GoMschen Strang liegen, sind auf der linken Seite stark reduziert 
infolge des Defektes der lumbosakralen Spinalganglien und hinteren 
Wurzeln. Die Verkleinerung des Areals, in dem die hinteren 
lumbalen und sakralen Wurzeln verlaufen, laBt sich durch das ganze 
Dorsal- und Cervikalmark verfolgen. Dieser Befund bildet in un¬ 
serem Falle einen Beweis, daB die Veranderungen im Lumbosakral- 
mark keine Artefakte sein konnen. Die Frage, ob in unserem Falle 
ein Kunstprodukt vorliegen konne. bedarf keiner weiteren Er- 
orterung. Wir beschranken uns darauf, auf folgende Momente hin- 
zuweisen. Das Riickenmark wurde makroskopisch genau unter- 
sucht, es fanden sich nirgends Anzeichen von Quetschung. Die vor- 
gefundenen Querschnittsbilder stimmen bis auf einige bisher nocb 
nicht beschriebene mit den Befunden in einwandfreien Diastemato- 
myeliefallen iiberein. Die Querschnittsformationen entwickeln 
sich ganz allmahlich, wie sich an Serienschnitten verfolgen laBt. 
Nirgends macht sich ein rascher Wechsel der Bilder, wie ihn 
Zingerle bei der Beschreibung der artifiziellen Verdoppelung be- 
echreibt, bemerkbar. SchlieBlich sei noch auf das Verhalten der 
Pia hingewiesen. In unserem Falle zeigt jede Riickenmarkssaule 
einen vollstandigen und selbstandigen pialen Ueberzug, wahrend bei 
artifiziellen Doppelbildungen entweder beide Querschnitte in 
einer gemeinsamen Piahiille liegen oder ein Querschnitt extrapial 
zu liegen scbeint. 

Der beschriebene Diastematomyeliefall ist zunachst dadurch 
ausgezeichnet, daB im Lumbalmark die beiden Riickenmarkssaulen 
ungleich voluminos sind, und daB ihre Querschnitte stark asym- 
metrische Bilder aufweisen. Die Durchsicht der Literatur ergibt, 
daB derartige Falle nur in geringer Anzahl beobachtet worden sind. 
Am nachsten stehen unserem Falle die Beobachtungen von Beneke, 
Naegeli, Steffens und RecUich. Die Beschreibung dieser Falle ist nicht 
eingehend genug, um eine Vergleichung der Befunde mit den unseren 
betreffs aller Einzelheiten zu ermoglichen. Es macht sich in Sonder- 
heit der Mangel an ausreichenden Abbildungen geltend. Beneke hat 
fiir den Befund, der in unserem Falle im 1. bis 5. Lumbalsegment 
vorliegt, dieBezeichnung: ,,Vorderhornabschnurung“ inAnwendung 
gebmcht. Wenngleich diese Benennung das Wesen der Veranderung 
nicht trifft tmd hinsichtlich der Genese auf einer falschen Annahme 
beruht, ist sie von anderen Autoren akzeptiert worden, da der in Rede 
stehende Typus der Diastematomyelie durch den Terminus in ein- 
facher Weise charakterisiert wird. 

In dem Falle Benekes drangte sich zwischen Hauptteil des 
Riickenmarkes — so bezeichnet Beneke die voluminosere Saule im 


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220 Henneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische 

Gegensatz zu der rudimentaren — und der ,,abgeschniirten“ Saule 
ein Septum. Es bestand aus Knorpelgewebe mit beginnender Ver- 
knocherung im Zentrum, die auBeren Schichten bildeten derbes 
Bindegewebe und eine von der Arachnoidea gebildete Scheide. 
Einen ahnlichen Befund erhob Sulzer in einem Falle, in dem im 
Bereich des 2. und 3. Lumbalsegmentes Querschnittsbilder vor- 
lagen, die unseren Befunden nahe stehen. Auchv. Recklinghausen , 
Cruveilhier, Bonome und Steffens beschreiben Septumbildungen bei 
Diastematomyelie. In einem Fall von Warrington und Monsarrat 
zeigte sich an Stelle eines Septums eine Exostose. 

Diese Platten oder Septen faBte v. Recklinghausen als versenktes 
und transponiertes Duragewebe auf und lehnte die Vorstellung, 
daB es sich um entziindliche Adhasionen handeln konne, ab. 

Beneke nahm fiir seinen Fall nun an, daB durch Kompression 
d. h. infolge von Hineinwachsen eines derartigen bindegewebigen 
Septums die Abtrennung des einen Vorderhomes herbeigefiihrt 
worden sei, und zwar soil sich nach dem genannten Autor der 
ProzeB abgespielt haben, nachdem sich das Medullarrohr bereits 
geschlossen hatte und die graue Substanz differenziert war. 

Die Griinde, die gegen die Annahme Benekes sprechen, hat 
Sibelius bereits eingehend erortert. Gegen ein aktives und kompri- 
mierendes Vorwachsen des mesodermalen Gewebes spricht der 
Umstand, daB das Septum in alien Fallen in der dorsoventralen 
Mittellinie gegen das Riickenmark vordrangt. Man sollte an- 
nehmen, daB die Zerlegung des Riickenmarkes oft auch an anderer 
Stelle und in anderer Richtung stattfande. Durch das Hinein¬ 
wachsen eines Septums ist die bereits geschlossene Riickenmarks- 
anlage ist nicht das regehnaBige Auftreten von medialen Verbanden 
erklart, femer nicht die Tatsache, daB im Hauptteil sich nur ein 
Hinterstrang findet. Das Eindringen eines Septums kann allenfalls 
den Befund getrennter Riickenmarkssaulen erklaren, nicht aber 
die in der Regel in Diastematomyeliefallen vorhandenen Ver- 
schmelzungsbilder, d. h. Konfigurationen mit iiberzahligen Ver¬ 
banden ohne Septum. 

Eine auf eine so lange Strecke des Riickenmarkes, wie sie in 
manchen Fallen in Frage kommt, gleichmaBig einwirkende Kom- 
pressionswirkung mit dem Erfolge einer Langsspaltung des Riicken- 
markes ist durchaus unwahrscheinlich. 

SchlieBlich spricht auch das fast regelmaBige Vorhandensein 
eines selbstandigen Zentralkanales im Zentrum des ,,abgeschniirten c< 
Teiles gegen die Annahme einer mechaniseh bedingtenAbschniirung. 
Wollte man die Annahme machen, daB es sich dabei um eine Ab- 
schniirung von dem urspriinglich einfachen Zentralkanal handele, 
so miiBte man zum wenigsten erwarten, daB ein Gliastreif nach- 
weisbar ware, der vom Zentralkanal bis zur Peripherie des Quer- 
schnittes verliefe. 

Unser Fall ist nun dadurch von besonderem Interesse, als er 
zeigt, daB das Bild der Vorderhornabschnurung auch ohne Septum- 
bildung und ohne Kompression von seiten einer Cyste, Exostose 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


221 


oder Knorpelspange vorkommt. Auch in dem Falle Naegelis, in dem 
es sich gleichfalls um eine asymmetrische Diastematomyelie 
handelt, fand sich kein komprimierendes Gewebe. In unserem 
Falle ist die Pia im Bereich des Lumbalmarkes durchweg zart. 
Jede Riickenmarkssaule ist von einer nicht verdickten Pia um- 
scheidet. Eine septumartige Bildung findet sich iiberhaupt nicht. 
UnserFall beweist somit, da 13, wie bei Diastematomyelie iiberhaupt, 
so auch bei der asymmetrischen Form derselben, die unser Fall 
reprasentiert, eine Septumbildung nicht die Rolle spielen kann, 
die ihr Beneke zuschreibt, und berechtigt zu dem SchluB, daB 
in Fallen, in denen sich ein Septum, eine Knorpelspange etc. vor- 
findet, diese nicht als die Ursache der Diastematomyelie auf- 
gefaBt werden darf. 

Die Moglichkeit einer Abschniirung durch aktive Proliferation 
des mesodermalen Gewebes halt Sibelius nicht fur vollig ausge- 
schlossen. Er halt sie jedoch nur in denjenigen Fallen fur wahr- 
scheinlich, in denen es wie in dem Falle von Neumann zu einer mehr- 
fachen Teilung der Medullarplatte gekommen ist. Wir sind der 
Meinung, daB eine Zerlegung des schon fertig gebildeten Riicken- 
markes, d. h. des bereits geschlossenen Neuralrohres durch ein- 
wachsendes Bindegewebe wohl iiberhaupt nicht vorkommt. Da- 
gegen ist es uns sehr wahrscheinlich, daB in sehr friihen embryonalen 
Stadien, d. h. vor der Vereinigung der beiden Medullarplatten- 
halften abnorme Wachstumsvorgange in der Umgebung des 
Ruckenmarkes den normalen ZusammenschluB desselben ver- 
hindern konnen, und daB dies gelegentlich durch ein Eindringen von 
me8odermalem Gewebe zwischen beide Plattenhalften geschehen 
kann. In solchen Fallen miiBte man Residuen dieses Gewebes 
finden etwa ahnlich der von v. Recklinghausen beschriebenen ,,Ge- 
webstransposition bei den Gehim- und Riickenmarkshernien“, die 
freilich aus einer spateren Entwicklungsperiode stammen, da im 
transponierten Gewebe auch quergestreifte Muskulatur gefunden 
wurde. 

v. Recklinghausen erblickte die Ursache der Diastemato¬ 
myelie in einer Hemmung der Riickenmarksentwicklung. Zur Vor- 
aussetzung hatte diese Auffassung der Doppelbildung des Riicken- 
markes die symmetrische bilaterale Anlage der Medullarplatte. 
Der Ansicht v. Recklinghausens haben sich die neueren Autoren vor- 
wiegend angeschlossen. Sibelius hat neuerdings die Frage an der 
Hand eines sehr exakt untersuchten Falles von Diastematomyelie 
bei Spina bifida erschopfend behandelt, so daB seinen Ausfiihrungen 
nur wenig hinzuzufiigen sein diirfte. Sibelius kommt zu dem 
Resultat, daB alle bei Diastematomyelie vorkommenden Quer- 
schnittsbilder sich auf Grund der Annahme erklaren lassen, daB 
die Medullarplattenhalften sich nicht in normaler Weise zu einer 
Rohre geschlossen haben. sondem jede fiir sich zur SchlieBung 
gelangte. Es handelt sich somit nicht um eine wahre Doppelbildung, 
nicht um einen WachstumsexzeB, sondern um eine MiBbildung in- 

MonatMChrift f. Psyohlatrle u. Neuroloirie. Bd. XXX III. Heft 3. 15 


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222 H enneberg-W estenhofer, Veber asymmetrische 


folge von Defekt. In den Fallen von asymmetrischer Diastemato- 
myelie vom Typus der Vorderhornabschniirung kommt eine 
mangelhafte Entwicklung der einen Medullarplattenhalfte dazu, 
aus der die rudimentare Riickenmarkssaule hervorgeht. Die 
sonst bei Diastematomyelie vorkommenden Konfigurationen 
stellen Verschmelzungstypen dar, bei denen bald die ventrale, 
bald die dorsale Naht ungeschlossen ist. 

Priifen wir unseren Fall unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt 
sich im einzelnen folgendes: 

Wie in anderen Fallen von Diastematomyelie zeigen in unserem 
Falle die je fur sich geschlossenen Medullarplatten sehr deutlich 
die Tendenz, selbstandig ein moglichst vollstandiges Riickenmark 
zu bilden. Nach der Spaltung (richtiger Nichtvereinigung) bilden 
sich zunachst im rechten Querschnitt mediale Verbande. Wie in 
ahnlichen Fallen bleibt die Ausbildung des Vorderhomes hinter 
der des Hinterhornes zuriick. Die Abgrenzung des medialen Vorder- 
hornes bleibt undeiitlich. Es entstehen Formationen, die an die 
Substantia reticularis erinnern. Die Entwicklung von medialen 
Hinterstrangen hangt natiirlich davon ab, ob hintere Wurzelfasem 
in die mediale Halfte des Querschnittes eintreten. Auch die Bildung 
von medialen Hinterhornem scheint von dem Eintritt hinterer 
Wurzelfasern abhangig zu sein. In unserem Falle laBt sich der Ein¬ 
tritt von Hinterwurzelfasem in die medialen Hinterhorner im 
Lumbalmark und 1. Sakralsegment konstatieren. Es handelt sich 
stellenweise nur um sparliche Fasern. Ihr Auftreten ist keineswegs 
ein Beweis, daB ein dem betreffenden Segment zugehoriges mediales 
Spinalganglion vorhanden ist. Es kann sich um Fasern handeln, 
die sich von der lateralen hinteren Wurzel abzweigen, auch konnen 
sie von der linken Saule heruberkommen. Die linke Saule bleibt 
vom 2. bis 5. Lumbalsegment rudimentar, holt dann aber in der 
Ausbildung die rechte Saule rasch ein. Im 1. Sakralsegment ist die 
Differenzierung der noch vollig getrennten Saulen so vollstandig, 
wie sie bisher nur sehr selten (u. a. von Steiner) beobachtet wurde. 
Man muB annehmen, daB hier die Medullarplattenhalften in nor- 
maler Weise entwickelt waren, als sie sich friihzeitig und zwar jede 
fur sich schlossen. 

Zwei fur sich geschlossene Plattenhalften vereinigen sich in der 
Regel zuerst mit den medialen Teilen, und zwar mit den medialen 
Seitenstrangen, dann erfolgt der ZusammenfluB der grauen Massen. 

Fiir die Annahme, daB die beiden Riickenmarkssaulen nicht 
das Produkt einer sekundaren Abschniirung sind, sondem sich aus 
den urspriinglich bilateral angelegten Halften der Riickenmarks- 
anlage entwickelt haben, spricht von den bereits angefuhrten 
Momenten besonders das Verhalten des Hinterstranges im Lumbal¬ 
mark. Es fehlt hier in dem Hinterstrang der rechten Riickenmarks- 
saule (in dem „Hauptteil“) das hintere Septum. Bei genauer Be- 
trachtung ergibt sich in einwandfreier Weise, daB der Hinterstrang 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


223 


des rechten Querschnittes dem rechten Hinterstrang des normal 
gedachten Riickenmarkes entspricht. Hierauf weist neben dem 
Mangel eines Septums in der Mitte des Hinterstranges die volJig 
geradlinig verlaufende Begrenzung des Hinterstranges (besonders 
deutlich im 4. u. 5. Lumbalsegment) gegen das mediale Hinterhorn 
hin. Allerdings findet sich vom 3. Lumbalsegment an (nach ab- 
warts) ein kleines Areal dorsal von der Substantia gelatinosa 
des rechten medialen Hinterhornes. Wie weiter unten noch aus- 
gefiihrt wird, handelt es sich hier um einen rudimentaren medialen 
Hinterstrang. 

Die Kleinheit des Querschnittes der linken Ruckenmarkssaule 
im Bereich des 2. bis 4. Lumbalsegments (Fig. 8—10) erklart sich 
aus dem Defekt des Hinterhornes einschlieBlich der Gegend der 
Clarke schen Saule und dem Fehlen des Hinterstranges. Wir nehmen 
an, daB dieser Defekt die Folge einer Aplasie der linken Fliigelplatte 
darstellt. Es ist jedoch auch ohne weiteres ersichtlich, daB wenigstens 
im mittleren Lumbalmark die graue Substanz der linken Saule 
wesentlich kleiner ist als ein-normales Vorderhorn in dieser Segment- 
hohe, und auch der Markmantel der linken Saule ist kleiner als 
das Volumen des Vorderseitenstranges der rechten Saule. Diese 
Befunde weisen darauf hin, daB die Ursachen der Verkleinerung 
der linken Saule nicht lediglich in einer Agenesie bzw. Hypoplasie 
der betreffenden Spinalganglien erblickt werden darf. Selbst wenn 
man annimmt, daB das Fehlen der Spinalganglien ein Ausbleiben 
der Hinterhornentwicklung zur Folge hat, bedarf es noch einer Er- 
klarung der Hypoplasie der iibrigen Querschnittsteile. Wir miissen 
somit noch die weitere Annahme machen, daB auch die Grundplatte 
der linken Riickenmarkshalfte wenigstens im Bereich des dritten 
Lumbalsegmentes mangelhaft angelegt wurde. 

Ein besonderes Interesse bietet die Querschnittsformation 
im mittleren Sakralmark. Wahrend die bisher besprochenen Bilder 
bereits mehrfach beschrieben wurden, scheint die in Rede stehende 
Konfiguration bisher noch nicht bei Diastematomyelie beobachtet 
worden zu sein. Wir sehen im 2. Sakralsegment eine nierenformige 
graue Masse, die von einem schmalen Markmantel umgeben ist. 
Verfolgt man die Entstehung dieses Querschnittbildes an Serien- 
schnitten, so laBt sich leicht erkennen, daB die auffallende Form 
der grauen Substanz durch Schwinden der vier im 1. Sakralsegment 
vorhandenen Hinterhorner bedingt ist. Es laBt sich auch erkennen, 
daB es sich um 2 relativ oberflachliche zusammengeflossene 
selbstandige Querschnitte handelt. Hierfiir spricht das Vor- 
handensein zweier vollig getrennten, nicht durch einen Streifen von 
Substantia gelatinosa verbundenen Zentralkanale, die Lagerung 
der groBen Ganglienzellen in den lateralen und ventralen Teilen der 
grauen Substanz, die den lateralen Vorderhomem der Querschnitts- 
figur im 1. Sakralsegment entsprechen, und die Tatsache, daB in der 
Verschmelzungslinie im dorsalen Teil des Markmantels sich viele in 
der Schnittebene verlaufende Fasem finden. 

15 * 


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224 Henneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische 


In tieferen Ebenen der Sakralmarkes (Fig. 19 und 20) wird 
durch Auseinanderriieken des grauen Massen das Zustandekommen 
des Querschnittsbildes im 2. Sakralsegment ohne weiteres ver- 
standlich. Wir sehen zwei voneinander vollig getrennte, selbstandig 
geschlossene Riickenmarkshaiften, die einen Defekt der grauen 
Substanz aufweisen, der vollig dem entspricht, der in der linken 
Saule im Bereich des Lumbalmarkes vorliegt. Wir werden daher 
das Zustandekommen der beiden Querschnittsbilder in derselben 
Weise auffassen, wie die des linken Querschnittes im Lumbalmark. 
Aus dem Fehlen der Hinterhomer und der sehr weit gehenden 
Reduktion der hinteren Wurzelfasern konnen wir den SchluB ziehen, 
daB die dem Sakralmark zugehorenden Spinalganglien fehlen bzw. 
sehr schwach entwickelt sind. Wir miissen annehmen, daB derselbe 
ProzeB, der sich im Lumbalmark nur links abspielte, sich im Sakral¬ 
mark beiderseits geltend machte, d. h. daB die Fliigelplatten beider- 
seits schwer geschadigt wurden oder iiberhaupt ganz mangelhaft 
angelegt wurden. 

Das Spinalganglion, das sich auBen neben der linken Saule in 
der Hohe des 5. Lumbalsegments vorfindet, gehort diesem Segment 
an. Das normale Emporsteigen des Riickenmarkes, das zur Folge 
hat, daB die Spinalganglien der tiefer gelegenen Segmente be- 
trachtlich unterhalb der Segmente liegen, zu denen ihre Wurzel¬ 
fasern ziehen, ist in unserem Falle offenbar im Zusammenhang 
mit der Spina-bifida-Bildung ausgeblieben 1 ). Die Folge davon ist, 
daB die Spinalganglien viel naher als in der Norm ihren zugehoren¬ 
den Segmenten benachbart liegen. Zu der Annahme, daB das in 
Rede stehende heterotopisch innerhalb des Durasackes liegende 
Spinalganglion dem 5. Lumbalsegment angehort, zwingt uns die 
Tatsache, daB in manchen Schnitten Fasern aus dem Spinal¬ 
ganglion in die rechte Riickenmarkssaule zu verfolgen sind (Fig. 11). 
Damit ist es aber sehr wahrscheinlich gemacht, daB das Spinal¬ 
ganglion ein mediates ist, d. h. daB es sich um ein iiberzahliges 
Ganglion handelt, das den iiberzahligen Formationen der grauen 
Substanz analog ist. 

Atypisch gelagerte Spinalganglien wurden bei Diastemato- 
myelie mehrfach beobachtet ( v . Recklinghausen , Beneke , Steffens , 
Steiner , Wieting, Jacoby , Altmann). Nur selten kommen jedoch 
iiberzahlige mediate Spinalganglien vor (Sibelius). Sie liegen ent- 
weder im Spaltungsgewebe ( Theodor , Sulzer , Altmann) oder im 


A ) Bei Spina bifida behalt das Riickenmark in der Regel die 
embryonale Lage, d. li. es reicht bis in die untersten Teile des Wirbel- 
kanals, ein Befund, der von den Autoren in dem Sinne gedeutet wird, 
daB das Riickenmark am Wiibelspalt mehr oder weniger fixieit wird und 
am Hinaufsteigen bei dem groBeren Wachstum der Wirbelsaule verhindert 
wird. Unser Fall zeigt, daB auch unabhangig von jeder Verwachsung mit 
der Wirbelspaltgegend das Hinaufsteigen des Riickenmarkes ausbleiben 
kann. 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 225 

Bereich des Riickenmarkes selbst neben der hinteren SchlieBungs- 
linie (Sibelius). 

W ir haben es als sehr wahrscheinlich bezeichnet, daB das heteroto- 
pische Spinalganglion in unserem Falle als iiberzahliges, mediales 
anzusprechen ist. Der Beweis fiir diese Annahme diirfte jedoch 
nicht zu erbringen sein. Es konnte sich um ein nicht aus dem Dura- 
sack ausgewandertes Spinalganglion der linken Riickenmarkshalfte 
handeln, das einen abnormen AnschluB seiner Fasem an das 
mediale Hinterhorn der rechten Saule gefunden hat. Das Vor- 
kommen von Spinalganglien innerhalb des Durasackes ist bei 
totaler und partieller Amyelie vielfach beobachtet worden und 
kommt unter normalen Verhaltnissen an den kaudalsten Wurzeln 
des Riickenmarkes vor. Auch die Tatsaehe, daB Fasem abnorme 
Wege einschlagen, ist bei Bildungsanomalien des Nervensystems 
nicht selten konstatiert worden. So sah Sibelius vordere Wurzel- 
fasem durch die vordere Kommissur verlaufen. In einem Falle 
von Arhinencephalie stand der Sehhiigelstabkranz in Beziehung 
zur gekreuzten GroBhimhalfte ( Zingerle ). In einem Falle Naegelis 
fanden sich Faserziige, die aus dem Cervikalmark in die Medulla 
oblongata traten und zwar an einer Stelle, an der infolge starker 
Knickung Medulla oblongata vmd Riickenmark sich in abnormer 
Weise beruhrten. 

Auf Grand derartiger Beobachtungen lieBe sich die Annahme 
begriinden, daB es sich in unserem Falle um ein linksseitiges 
Spinalganglion handelt — auch die Lage lateral von der .linken 
Saule stiitzt diese Annahme —, das seine Fasem zum rechten 
Hinterstrang sohickte. 

Die aus dem Spinalganglion stammenden Fasem schlieBen sich 
im 4. Lumbalsegment (Fig. 10) dem einfachen Hinterstrang der 
rechten Saule an und auf Rechnung dieses Zuflusses von Fasem 
diirfte die Volumenvermehrung des rechten Hinterstranges in 
den hoheren Segmenten zu setzen sein. Wir haben bereits in der Be- 
schreibung hervorgehoben, daB der Umfang des rechten Hinter¬ 
stranges iiber die Norm hinausgeht. Es ist dies zum wenigsten 
der Fall im Bereich des unteren Dorsalmarkes (vgl. Fig. 4 und 5). 
Weiter oralwarts tritt die VergroBerung nicht mehr deutlich in Er- 
scheinung, offenbar, weil sehr viele Fasem, wie dies dem normalen 
Verhalten entspricht, in die graue Substanz abschwenken. 

DaB die gegebene Erklarung unserer Befunde viele Fragen unbe- 
antwortet laflt, soli ohne weiteres eingeraumt werden. Es muB 
vor allem auffallen, daB der Defekt in der linken Riickenmarks- 
halfte in den betroffenen Segmenten kein gleichmaBiger ist. Im 
1. Sakralsegment (Fig. 13) sehen wir eine gute Entwicklung der der 
Fliigelplatte entstammenden Gebilde, d. h. des Hinterhornes, 
der hinterenWurzeln und des Spinalganglions. Aus dem Vorhanden- 
sein einer gut entwickelten hinteren Wurzel diirfen wir auf das 
Vorhandensein eines Spinalganglions mit Sicherheit schlieBen. 


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226 H enneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische 

Bald darauf (im 2. Sakralsegment) geraten diese Teile wieder in Ver- 
lust und zwar nicht nur auf der linken, sondern auch auf der rechten 
Seite. Nimmt man also eine primare Entwicklungsschwache als 
Ursache des Defektes an, so muB man weiter annehmen, daB auch 
die rechte Halfte der Riickenmarksanlage von dieser primaren 
Entwicklungsschwache im Bereich der Sakralsegmente betroffen 
war. 

Man konnte im Hinblick auf diese Schwierigkeiten eine 
anderweitige Erklarung fur annehmbarer halten. Man konnte an¬ 
nehmen, daB durch einen KrankheitsprozeB die nicht zur Ent- 
wicklung gelangten Teile in sehr friihem Stadium der Entwicklung 
zerstort worden sind. Die eigenartige Verteilung des Defektes ware 
unter der Annahme eines pathologischen Prozesses leicht ver- 
standlich, insonderheit auch die Tatsache, daB im Sakralmark 
die Spinalganglien beiderseits zugrunde gegangen sind. Wir wissen, 
daB in einer bestimmten Phase der Entwicklung die Spinalganglien 
dorsal vom Neuralrohr dicht beieinanderliegen und voriibergehend 
einen einheitlichen Strang bilden. Von einem KrankheitsprozeB 
konnten sie somit leicht gleichzeitig betroffen sein. Gegen diese 
Annahme, die Sibelius 1 ) (personliche Mitteilung) fiir die wahrschein- 
lichere halt, scheint uns die Tatsache zu sprechen, daB sich Residuen 
eines destruierenden Prozesses nicht nachweisen lassen. Auch da, 
wo der Defekt des Querschnittes den hochsten Grad erreicht, d. h. 
im 3. Lumbalsegment (Fig. 9) — die graue Substanz in der linken 
Saule betragt hier nur einen kleinen Bruchteil der normalen 
Masse —, ist der histologische Bau ein durchaus normaler. Man 
bemerkt ferner nirgends ein Hineinwuchern des Bindegewebes in das 
Nervengewebe, ein Befund, den wir nach friihzeitig abgelaufenen 
entziindlichen oder anderweitigen destruierenden Vorgangen in der 
Regel konstatieren. Unter diesen Umstanden halten wir es fiir 
wahrscheinlich, daB es sich in unserem Falle um einen primaren 
Defekt in der Anlage der Medullarplatte handelt und nicht um 
eine Zerstorung normal angelegter Teile derselben durch einen 
pathologischen ProzeB. 

Abnorme histologische Bildungen finden sich in unserem 
Falle nicht, wenn wir von den Anhaufungen von gliosen Massen 
im untersten Sakralmark absehen. Allerdings haben wir nur die 
gewohnlichen Farbmethoden angewandt, so daB sich feinere Ab- 
weichungen der Struktur der Beobachtung entzogen haben konnen 
Die Lokalisation der groBen motorischen Vorderhomzellen ent- 
spricht dem gewohnlichen Befunde bei Diastematomyelie. In den 
medialen Vorderhornern sind sie nur sparlich vorhanden. Aller¬ 
dings gibt Steiner an, daB in seinem Falle in den iiberzahligen 
Vorderhornern sich zahlreiche groBe Ganglienzellen fanden. 
Es scheinen also in der Verteilung der Zellen Verschiedenheiten 


*) Herr Prof. Sibelius war so freundlich, unsere Praparate durch- 
zusehen und uns seine Ansioht iiber den vorliegenden Fall mitzuteilen. 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


227 


vorzukommen. Vielleicht steht die Entwicklung der Ganglien- 
zellen in Abhahgigkeit von der Lokalisation der Arteria spinalis 
anterior (Sibelius). 

In Fallen von Diastematomyelie finden sich fast regelmaBig 
Veranderungen an der lumbosakralen Wirbelsaule, die der Gruppe 
von MiBbildungen angehoren, die seit Tulpius unter der Bezeich- 
nung Spina bifida zusammengefaBt werden. Nur in wenigen 
Fallen wurde eine Veranderung an der Wirbelsaule und der be- 
deckenden Haut vermiBt (Foa , v. Recklinghausen , Miura , Altmann, 
Schroeder), und man kann annehmen, daB in diesen Fallen viel¬ 
leicht leichte Veranderungen der Wirbelsaule sich der Kon- 
statierimg entzogen haben; diese Annahme scheint um so 
mehr berechtigt, als es sich zum Teil um nicht erwartete Befunde 
am Riickenmark handelte und eine genauere Untersuchung der 
Wirbelbogen vor der Zerstorang derselben bei der Sektion wohl 
kaum immer stattgefunden haben diirfte. 

Es werden verschiedeneFormen der Spina bifida unterschieden, 
und zwar auf Grand der Art der Beteiligung des Riickenmarkes 
und der Haute desselben an der MiBbildung. 

Unser Fall entspricht jedoch keiner der typischen Formen 
der Spina bifida. Die Myelocele bzw. Myelomeningocele und 
die Myelocystocele bzw. Myelocystomeningocele kommen fur 
imseren Befund nicht in Frage, da das Riickenmark zwar eine 
Veranderung zeigt, die auf Spaltung oder richtiger nicht erfolgter 
Vereinigung der Medullarplatte zuriickzufiihren ist, jedoch im 
Wirbelkanal lag und an der Geschwulstbildung in keiner Weise 
beteiligt war. 

Bei dem Fehlen eines mit Fliissigkeit gefiillten Sackes kann 
man unseren Fall auch dem Begriff der Spina bifida occulta 
unterordnen. Diese MiBbildung steht der Meningocele zweifellos 
nahe und wird von einigen Autoren als ein Folgezustand einer 
zuriickgebildeten bzw. nach friihzeitigem Platzen des Sackes 
vemarbten Meningocele aufgefaBt. Bei Spina bifida occ. wurden 
nicht so selten Lipome in der Kreuzbeingegend beobachtet. Eine 
solche Geschwulst lag auch in unserem Falle vor. Dagegen bestand 
in unserem Falle gar keine Beziehung des Riickenmarkes zu dem 
Tumor. Es fand sich auch kein abnormes Gewebe in der Um- 
gebung des Riickenmarkes, wie es v. Recklinghausen (Myolipo- 
fibrom), Gowers und Ribbert fanden. In den Fallen v. Reckling¬ 
hausen und Ribbert fanden sich nur Anomalien des Riickenmarkes. 
die in engster Beziehung zu dem erwahnten abnormen Gewebe 
zu stehen schienen. Ob dies bei Spina bifida occulta in der Regel 
der Fall ist, wissen wir nicht, da bisher nur eine geringe Anzahl 
von einschlagigen Beobachtungen vorliegt. Jedenfalls ist das 
Riickenmark bei Spina bifida occulta oft in Mitleidenschaft ge- 
zogen; dies ergibt sich aus der Tatsache, daB spinale Ausfalls- 
erscheinungen, wenn auch nur leichten Grades, bei Spina bifida 


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228 H e n n e b e r g - W e s t e n li of er , Ueber asymmetr ischc 


occulta haufig sind. Es ist nieht ohne Interesse, daB in unserem 
Falle die schwere MiBbildung des Riickenmarkes vollig unabhangig 
von einer derartigen atypischen Gewebsbildung bestand. Eine 
Tatsache, die in dem Sinne verwertbar erscheint, daB die Anomalien 
des Riickenmarkes in Spina-bifida-Fallen mit Geschwulstbildung 
nicht von der Ausbildung des geschwulstartigen Gewebes abhangig 
zu denken sind. Es handelt sich vielmehr offenbar um koordinierte 
Veranderungen. 

Die verschiedenen Formen der Spina bifida mit und ohne 
Riickenmarksbeteiligung und Diastematomyelie mit und ohne 
Wirbelspalt stellen offenbar verschiedene Stufen xmd Variationen 
ein und desselben Vorganges dar. 

Die Tatsache. daB Spina bifida sich sehr oft, wie auch inumerem 
Fall mit anderweitigen MiBbildungen vergesellschaftet und nicht so 
selten bei Geschwistern beobachtet wurde, weist darauf hin, daB die 
primare Storung nicht ein im intrauterinen Leben durch eocogene 
Momente bedingter lokaler ErkrankungsprozeB ist. Alle Theorien, 
die einen solchen, z. B. embryonalen Hydromyelus, Verwachsung 
mit den Eihauten, voraussetzen, sind daher wenig wahrscheinlich, 
wenn auch durch neuere experimentelle Untersuchungen bei Tieren 
festgestellt ist ; daB durch allerlei Schadigungen, die man auf das 
Ei einwirken laBt, Entwicklungsstorungen, die der Spina bifida 
analog erscheinen, leicht hervorgerufen werden konnen. Nach 
O . Hertivig handelt es sich dabei um eine Wachstumshemmung, 
die den VerschluB des Urmundes betrifft, nach Kollmann um 
Storungen im Bereich des Canalis neurentericns. Es diirfte sich 
dabei um den Ausdruck einer allgemeinen Schadigung des Embryos 
handeln. 

Nach v. Recklinghausen liegt die primare Storung in der 
Knochenmuskelplatte, d. h. es bleibt die mediane Vereinigung 
der bilateralen Anlage der Wirbelsaule aus und zwar infolge 
einer primaren Herabsetzung der Wachstumsenergie. 

Neben dem Wachstumsmangel der Knochenmuskelplatte ist 
nach v . Recklinghausen bei dem Zustandekommen der Spina bifida 
ein Hydrops der Meningen wirksam. Von der Lage der Fliissig- 
keitsansammlung ist es abhangig, welche Unterform der Spina 
bifida (Myelocele, Myelocystocele, Meningocele) zustande kommt. 
Nach v . Bergmann handelt es sich allerdings nicht um einen 
primaren Hydrops, sondern um eine vermehrte Transsudation 
von Fliissigkeit aus den GefaBen der weichen Haute infolge des 
Defektes in den Hiillen (Bockenheimer). 

Da das Ruckenmark in der Regel an dem ProzeB beteiligt 
ist — Meningocele ohne jede Riickenmarksanomalie diirfte sehr 
selten sein — und die SchlieBung der Medullarrinne zum Medullar- 
rohr schon sehr friihzeitig (beim Menschen vor dem 12. Tage der 
Entwicklung) stattfindet, muB fur die Falle von Spina bifida 
mit Beteiligung des Riickenmarkes im Sinne einer mehr oder 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 


229 


weniger entwickelten Diastematomyelie angenommen werden, 
daB die primare Storung sich bereits sehr friihzeitag, d. h. bei der 
SchlieBung des Medullarrohres abspielt. Die Storung in dem 
VerschluB der Knochenmuskelplatte darf nicht ohne weiteres 
als Folgeerscheinung der Entwicklungshemmung des Riicken- 
markes aufgefaBt werden, denn sie ist nicht immer bei Diastemato- 
myelie vorhanden. Die Wachstumshemmung der Riickenmarks- 
anlage, der Meningen, der Knochenmuskelplatte und der Haut 
sind mehr oder weniger koordinierte Vorgange, die in Abhangig- 
keit von einer uns noch vollig unbekannten letzten Ursache stehen. 

Man sollte nun denken, daB ein Fall wie der unsrige geeignet 
ware, iiber diese letzte Ursache der Spina bifida einiges Licht zu 
verbreiten. In unserem Falle feblt ja bloB eine Verdoppelung der 
Wirbelkorper, um der Theorie Hertwigs beweisende Kraft zu geben, 
daB die Spina bifida die Folge eines Offenbleibens der Primitiv- 
rinne (oder des Urmundes) sei, vielleicht infolge zu machtiger 
Entwicklung des Dotters oder sonst eines hemmenden Einflusses 
in der SchlieBung des Urmundes, oder nach Kollmann des Canalis 
neurentericus. Ernst meint ganz richtig, daB man in alien diesen 
Fallen die Untersuchung auf das Vorhandensein einer doppelten 
Chorda dorsalis in den Zwischenwirbelscheiben richten miisse, da, 
wenn auch die Wirbelkorper einheitlich waren. vielleicht doch noch 
in jenen die Reste einer doppelten Chorda erkannt werden konnten. 
Wir haben nun auBer in diesem Fall auch noch in einem anderen 
Fall von Spina bifida mit Myelocystomeningocele bei einem neu- 
geborenen Kinde unser Augenmerk hierauf gerichtet, jedoch ohne 
Erfolg. Und das hat ja seine gute Erklarung darin, daB, selbst 
wenn die Chorda urspriinglich doppelt angelegt gewesen ware, diese 
Verdopplung doch durch die spater erfolgende Verbreitervmg der 
Chorda zum Nucleus gelatinosus der Bandscheibe verloren gehen, 
jedenfalls nicht mit Sicherheit erkannt werden wiirde. _ 

Es gibt nim zwei Moglichkeiten fiir die Behinderung der Ver- 
einigung der Rander der vorderen Urmundslippe, entweder besteht 
ein mechanisches Hindernis durch Dazwischenlagem einer fremden 
Substanz oder durch Zug an den Randern nach auBen oder aber 
die Bildungsenergie der Rander ist so herabgesetzt, daB sie sich 
nicht vereinigen konnen. 

Was den erstenFall betrifft, so denken wir hierbei nicht etwa an 
Verwachsungen des Amnions, das um diese Zeit noch gar nicht ge- 
bildet ist oder doch erst in der Bildung begriffen ist, und derenFolgen 
fast immer unregelmaBige Spalten zu sein pflegen, sondem etwa an 
einen starkeren Zug des aufieren Keimblattes auf die Urmund- 
rander. Die Ursache hierfiir konnte in einer anomalen Entwicklung 
des Dotters liegen, der die ventrale Seite des Eies starker verwolbte 
und dadurch einen Zug aufs auBere Keimblatt in dorsoventraler 
Richtung ausubte, zumal wenn auch noch ein Teil der urspriing- 
lichen Keimblasenhohle erhalten geblieben ware. In diesem Falle 


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230 Henneberg-Westenhofer, I'eber asymmetrische 


konnte es zu alien Begleiterscheinungen der Spina bifida kommen, 
da der Zug nicht nur auf die Riickenmarksanlage, sondem auch 
nachtraglich noch auf die Riickenmarkshaute sieh erstrecken wiirde, 
und wir wiirden verstehen, warum bei der Area medullo-vasculosa 
die Pia mater nach auBen gestiilpt ist und allmahlich in die Epi¬ 
dermis iibergeht, und warum, wie v. Recklinghausen ganz bestimmt 
behauptet, die Dura mater im AuBenbereieh der Area fehlt, weil 
namlich, ehe sie sich nach hinten herumlegt, die weiche nachgiebigere 
Pia schon nach auBen umgebogen ist und ihr den weiteren Weg ver- 
sperrt. Bei einem derartigen Zug des auBeren Keimblatts konnte 
wie bei der Rachischisis totalis das Riickenmark fehlen oder nur in 
Rudimenten vorhanden und dabei gleichzeitig verdoppelt sein. 
Das wiirde dem hochsten Grad des Zuges entsprechem Bei ge- 
ringeren Graden konnen alle die anderen bekannten Veranderungen 
des Riickenmarks und seiner Haute eintreten, keineswegs wiirde 
es aber bei derartigen Fallen eine notwendige Folge sein, daB auch 
das Riickenmark oder gar die Korperachse verdoppelt wird; denn 
die Veranderung wiirde ja nur die auBeren, nicht aber die inneren 
Urmundsrander (nur den Anfangsteil des Canalis neurentericus) 
betreffen. Allerdings kann bei der Annahme eines solchen Zugs 
die Riickenmarksvereinigung so behindert werden, daB eine mehr 
oder weniger gleichmaBige Verdopplung eintritt. 

Nun konnte man ja dieser Hypothese denselben Einwurf 
machen, den man der Hertivigschen gemacht hat, daB namlich 
ein derartiger Zug die ganze Langsachse betreffen miiBte, daB er 
also nur fiir die Falle von totaler Cranio- und Rachischisis gelten 
konne. Demgegeniiber ist einzuwenden, daB ja nachtraglich eine 
Vereinigung eintreten konne, mit Ausnahme derjenigen Stellen, 
wo schon sekundare Veranderungen vor sich gegangen sind wie 
z. B. Myelocystocele, — Meningocele oder eine Transposition meso- 
dermalen und mesenchymalen Gewebes, wie z. B. in dem Falle 
von v. Recklinghausen und wie in unserem Falle (Myolipofibrom). 

Das ziehende Umwachsen des auBeren Keimblattes um den 
vergroBerten Dotter wird nicht nur durch den einfachen Zug an 
den Urmundsrandern und den dort sich entwickelnden Teilen 
wirken, es kann auch die Ursache dafiir sein, daB der Dotter nicht 
eingestiilpt, sondern im Gegenteil gew^issermaBen aus dem Urmund 
in Gestalt eines groBen Dotterpfropfes (im Sinne des Amphibien- 
eies) herausgepreBt wird und nun selbst zum Hindernis fiir die 
Vereinigung der Rander wird. Ein und dieselbe Ursache. namlich 
die DottervergroBerung konnte also in 2 Formen, die sich kombi- 
nieren konnen, zur Wirkung gelangen. Ist das Keimblatt 
fester und widerstandsfahig, so wird es auf den vergroBerten 
Dotter einen Druck ausiiben und ihn zum Urmund hinaustreiben; 
ist es aber nachgiebig, dann wird der vergroBerte Dotter an der 
ventralen Seite einen Druck auf das Keimblatt so ausiiben, daB 
an den Urmundrandem ein Zug ausgeiibt wird, der ihre Vereini- 


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Diantetnatomyelie vom Typus etc. 


231 


gung verhindert. Vielleicht geschieht das ganz besonders zur 
Zeit der Entwicklung des Amnions. 

Diese Hypothese unterscheidet sich wesentlich von derjenigen, 
die in einem Quellen desDotters und dadurch eintretendem Platzen 
des Riickens die Ursache der Spina bifida sieht. Sie schlieBt sich 
eng an die Hertwig&chen Beobachtimgen an, indem sie versucht, 
die mangelhafte SchlieBung des Riickens mechanisch zu erklaren. 

Freilich ist Hertwig durchaus abgeneigt, dem Dotter eine 
wesentliche Rolle bei der Entstehimg der Spina bifida zuzu- 
schreiben; er sieht in jener zweiten Moglichkeit den Hauptfaktor, 
namlich in einer primaren Wachstumsstorung des Zellenmaterials 
im Bereich des Urmunds, die eine Art Hemmungsbildung des 
Gastrulastadiums besonders in vorgeschrittenen Fallen darstelle. 

Schon seine Anfang der 90 er Jahre mit verschiedenen Koch- 
salzlosungen und Temperaturgraden, als auch ganz besonders seine 
vor 3 Jahren angestellten ungemein lehrreichen imd besonders 
auch fur die Frage der Vererbung interessanten Versuche mit 
Radiumbestrahlung von Froscheiern und -samen lieBen ihn zu 
dem SchluB kommen, daB bei gestorter Gastrulation die Urmunds- 
lippe an der Stelle der Keimblase stehen bleibe, wo sie zuerst ge- 
bildet werde, daB sie zu einem weiten Ringe werde, und daB durch 
Unterbleiben der Umwachsung und Einstiilpimg der vegetativen 
Hemisphare ein riesiger Dotterpfropf entstiinde, wodurch eine 
normale Riickenbildung des Embryos unterbliebe. Je nach dem 
Grade der Hemmung entstehen die verschiedenen Grade der Spina 
bifida. DaB in der Tat erhebliche Storungen der Zellen des 
animalischen Pols bis zum volligen Tod bei Radiumbestrahlung 
auftreten, hat Hertwig mikroskopisch nachgewiesen. Aber auch 
der Dotter erfahrt allerhand Veranderungen, und wir halten es fur 
denkbar, daB seine eventuelle Ladung mit Radiumemanation nach 
Art gleichnamiger Elektrizitat oder negativen Chemotropismus 
sein Umwachsen von seiten der Urmundsrander verhindere. 

Wie dem auch sei, sowohl bei unserer mechanischen Hypo¬ 
these als auch bei den Hertwigschen Experimenten ergibt sich ein 
ausgesprochenes Mifiverhdltnis zwischen Dotter und Keimanlage. 
Ob es beim Menschen Krankheiten der Geschlechtszellen gibt, die 
ahnlich der Radiumkrankheit der Froscheier diese Entwicklungs- 
storung hervorrufen, wissen wir nicht. Durch das MiBverhaltnis 
zwischen Dotter und Keimbezirk nahert sich jedenfalls das holo- 
blastische Ei, zu dem ja auch das Froschei gehort, dem Typus des 
meroblastischen Eies der Vogel und Reptilien. Es ist daher 
wenigstens die Moglichkeit in Betracht zu ziehen, ob nicht vielleicht 
diese ganze MiBbUdung der Spina bifida nichts anderes als der 
Ausdruck einer Art Ruckschlages des holoblastischen Eies in das 
meroblastische darstellt, von dem ja das holoblastische Saugetierei 
abstammt, um so mehr, als wir wissen, daB gerade bei den mero¬ 
blastischen Eiem diese MiBbildung unter natiirlichen Verhaltnissen 


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232 H enneberg-Westonhofcr, Ueber asymmetrische 


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haufiger vorkommt als bei Saugetieren, was man, wie uns Herr 
Professor Pell mitzuteilen die Giite hatte, z. B. bei jeder Forellen- 
zucht ohne Schwierigkeiten feststellen kann. 

In klinischer Beziehung schlieBt sich unser FaU den Befunden 
an, die in leichten Fallen von Spina bifida, in Sonderheit auch 
bei Spina bifida occulta nicht so selten gemacht wurden. In 
solchen Fallen werden schwerere Lahmungserscheinungen und 
MiBbildungen an anderen Korperteilen, wie sie in Fallen von 
vollentwickelter Spina bifida insbesondere bei Myelocele haufig 
sind, vermiBt. Beobachtet wurde: Verkriimmung der Wirbel- 
saule (Foa), Pes varus und valgus, Genu valgum, Huftgelenk- 
luxation, Verbildung der Zehen, Hypertrichosis an den Beinen 
(v. Recklinghausen), malum-perforans-artige Geschwiire (v. Reck - 
linghausen, Krogius, Foa, Brunner), Angiome, Pigmentanomalien, 
Parese und Atrophie eines Beines, Aufhebung der Sehnenreflexe, 
Herabsetzung der Sensibilitat und Blasenlahmung. 

Diese spinalen Symptome bieten nicht s Charakteristisches. 
Es handelt sich um Syndrome, wie sie bei Lasionen des Lumbo- 
sakralmarkes bzw. der Cauda equina in Erscheinung treten. 
In unserem FaU hat eine exakte neurologische Untersuchung 
leider nicht stattgefunden. Von Interesse ware insonderheit die 
Feststellung der oberen Grenze der Sensibilitatsstorung gewesen. 
Die Tatsache, daB das linke Bein die starkeren motorischen imd 
sensiblen AusfaUserscheinungen aufwies, steht in gutem Einklang 
mit dem Befund. DaB es im Bereich des Innervationsgebietes 
der Lumbalsegmente links nicht zu einer starken Abschwachung 
der Sensibilitat gekommen war, ist vieUeicht dadurch zu erklaren, 
daB — wie oben ausgefiihrt — ein Teil der sensiblen Fasem An- 
schluB an die rechte Riickenmarkssaule gewann. Ein Grand fur 
das Fehlen des Patellarreflexes auf der rechten Seite ist aus dem 
anatomischen Befund nicht herzuleiten. Ganz im Vordergrand 
der Symptome stand die Blasenschwache, die schlieBlich zu 
Cystitis, Pyelonephritis fiihrte und den Exitus bedingte. DaB 
der Tod erst im 17. Lebensjahre eintrat, ist beach tens wert. 

Bohnstedt teilt einen Fall mit, in dem ein Mann im 20. Lebens¬ 
jahre an Cystitis zugrunde ging infolge einer durch Spina bifida 
occulta bedingten Blasenlahmung. In diesem Falle war der Conus 
von abnormen Gewebsmassen eingehiiUt und komprimiert. In 
derartigen Fallen braucht man nicht anzunehmen, daB durch 
Vorgange am Riickenmark eine progressive Verschlechterung des 
Zustandes der Blase bedingt wurde. 

Immerhin liegen Beobachtungen vor, die darauf hinweisen, 
daB bei Spina bifida Verschlechterungen, die iiber die von Geburt 
bestehenden AusfaUserscheinungen hinausgehen, vorkommen. 
Zerrungen infolge von Verwachsungen, der Fliissigkeitsdrack, 
wachsende Neoplasmen konnen zu Degenerationen imd Korn- 
pressionserscheinungen fiihren. DaB in solchen Fallen durch einen 


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Diastematomyelie vom Typus etc. 233 

operativen Eingriff gelegentlich eine Besserung erzielt werden 
kann, ist nicht von der Hand zu weisen. In unserem Falle lagen 
die Verhaltnisse so, daO von einer operativen Behandlung keine 
Rede sein konnte. Allerdings waren die Verhaltnisse, die die 
Sektion am Ruckenmark aufdeckte, intra vitam nicht voraus- 
zusehen. 

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234 h enneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische etc. 


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H. 91. — Warrington und Monsarrat , A case of arrested development of the 
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nervensystems auf Grundlage der Untersuchung von Gehim-Riickenmarks- 
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M ii 1 1 e r , Zur Kenntnis der Leitungsbahnen etc. 


235 


Neurologisehe Arbeiten unter der Leitung von Dr. Otto Veraguth , 
Privatdozent an der Universit&t Zurich. 

Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 
des psychogalvanischen Reflexphanomens. 

Von 

VICTOR J. MtLLER, 

Assisteuzurzt a. d. Univeroifcats-Frauenklinik Zurich. 

(Hierzu Taf. XI.) 

I. Fragestellung. 

Das psychogalvanische Phanomen ist unter den Begriff 
Reflex eingereiht worden 1 ). Um diese Bezeichnung zu begriinden, 
wird von Veraguth diejenige Definition des Begriffes Reflex her- 
beigezogen, welche eine dreiteilige Nervenbahn fiir die Reizleitung 
alg Kriterium fordert. Das anatomische Substrat des Reflex- 
bogens ist jedoch in seinem zentralen und seinem zentrifugalen 
Schenkel noch unbekannt. Es soli die Aufgabe meiner Arbeit 
sein, die Forschung nach den Leitungsbahnen, auf welchen sich 
das psychogalvanische Reflexphanomen abspielt, zu beginnen 
durch Untersuchung eines ihrer Teile. 

Der zentripetale Schenkel des psychogalvanischen Reflex- 
phanomens ist gegeben durch die Sinnesorgane. Auch die sog. 
autochthonen Reize verdanken ihre Entstehung dieser Reizleitung. 

Der zentrale Schenkel wird mit groBter Wahrscheinlichkeit 
irgendwo im GroBhirti liegen. 

Ueber die Existenz des zentrifugalen Schenkels lassen die bis 
jetzt gemachten Erfahrungstatsachen gewisse Schliisse zu. Als 
das Ausdrucksorgan des reflektorischen Vorganges hat sich in 
unanfechtbarer Weise nur die Haut herausgestellt. Es miissen 
folglich gewisse Organe nervoser Natur vorhanden sein, welche 
die Verbindung des Zentralorgans mit der Haut herstellen. 
Diese Vermutung diirfen wir lokalisatorisch noch praziser fassen. 
Friihere Versuche haben gezeigt, daB sich keine SteDe am ganzen 
Korper so gut als Antwortsorgan eignet, wie die Palma manus. 
und die Planta pedis : an diesen Stellen bekommen wir stets die 
kraftigsten Galvanometerausschlage. Es ist daher die Vermutung 
zulassig, daB gerade zwischen diesen Hautteilen und dem Zentral- 


J ) Veraguth , Das psychogalvanische Reflexph&nomen. VI. Bericht. 
8. 173. Karger. Berlin. 1909. 


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236 


M ii 1 1 o r , Zur Kenntnis der Leitungsbalinen 


organ eine Verbindung zu suchen sei, welche die direkte Aus- 
losung des Reflexes iibermittelt. 

Von diesen hypothetischen Annahmen gehen unsere ana- 
tomischen Untersuchungen aus. Um den zentrifugalen Schenkel 
zu finden, boten sich uns zwei Wege: entweder wir begannen die 
Untersuchungen vom Zentrum aus nach der Peripherie zu, oder 
aber von der Haut aus nach dem Zentralorgan zu. Wir wahlten 
letzteren, jedoch mit einer gewissen Einschrankung. Die Haut 
selbst nahmen wir namlich nicht als Ausgangspunkt der Unter¬ 
suchung, sondern, die die Vola manus und Planta pedis sensibel 
versorgenden Nervenaste, und zwar erst von jenem Punkt an, 
wo sie zu makroskopisch sichtbaren Nervenbiindeln zusammen- 
treten, bezw. bevor sie sich in mikroskopisch kleine Faserchen 
zersplittern. In einem einzigen Veisuch nur such ten wir die 
feinsten Nervenendigungen jener Hautpartien selbst direkt zu 
beeinflussen. 

Um den genannten Nerven beizukommen. standen uns wieder- 
um zwei Moglichkeiten of fen: entweder konnten wir die Nerven 
durch spezifisch wirkende Stoffe beeinflussen und deren Verhalten 
zum psychogalvanischen Reflexphanomen vor und nach der 
Beeinflussung beobachten, oder wir suchten durch Unterbindung 
oder Durchtrennung derselben Ausfallserscheinungen hervor- 
zurufen, welche die Beziehungen des Nerven zum Phanomen 
deuten liessen. 

Die anatomisch-physiologische Untersuchung am Menschen 
vorzunehmen, wird nur in den wenigen Fallen moglich sein, wo 
es sich um Traumen handelt, bei denen bestimmte Nervenbezirke 
in gewisser, hochst seltener Kombination verletzt worden sind. Die 
Schwierigkeit der Beschaffung eines solchen Materials — es muB 
sich stets um frische Falle handeln — ergibt sich von selbst. 

Aber durch die Feststellung der Tatsache, daB auch Tiere das 
psychogalvanische Reflexphanomen aufweisen*), ist der Weg 
zum experimentellen Studium der Frage eroffnet. Die Berechtigung 
der Schlusse vom Tier auf den Menschen ist zum mindesten 
beziiglich der peripheren Nerven eine weitgehende. 

Die chemische Beeinflussung der Nerven gestattet schon eher 
den Menschen selbst als Versuchsobjekt zu Experimenten heran- 
zuziehen. 

Der Gang der vorzunehmenden Untersuchungen sollte sich un- 
gefahr an folgende Fragestellung ankniipfen: 

1. Zeigt unser Versuchstier, dessen die Palma manus und 
Planta pedis sensibel versorgende Nerven zur Untersuchung be- 
nutzt werden sollten, iiberhaupt das psychogalvanische Reflex¬ 
phanomen ? 


l ) Vercujuth. Das psychogalvanische Keflexphanomen. V. Berieht. 
S. 150. Karger. Berlin. 1909. 


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des psychogalvanischen Reflexphanomens. 237 

2. Wie verhalt sich das Phanomen. wenn die Leitung der 
ebengenannten Nerven durch perineurale Injektion chemischer 
Substanzen, z. B. von Alkaloiden wie Kokain, unterbrochen wird, 
eventuell welche Wirkung haben diese Stoffe auf das psycho- 
galvanische Reflexphanomen, wenn sie in die Nerven des Menschen 
injiziert werden ? 

3. 1st eine Beeinflussung des Phanomens beim Versuchstier 
moglich, wenn die genannten Nerven durchtrennt werden, 
und zwar 

a) wie verhalt es sich unmittelbar nach der Durchtrennung, 

b) wie verhalt es sich nach Verlauf einiger Tage post ope- 
rationem ? 


II. Methoden. 

1. Apparatur. 

Bei alien Experimenten wurde eine ezosomatische Stromquelle 
benutzt, und zwar in Form einer Batterie, bestehend aus zwei 
hintereinander geschalteten Leclanche- Elementen, deren Gesamt- 
di uerspannung ungefahr 2,4 Volt betrug. 

1 Als Indikator fur die Stromschwankungen benutzten wir ein 
lAehspulengalvanometer nach Deprez-d’Arsonval von Carpentier, 
P^ris. 

i Zwischen Galvanometer und Stromquelle war ein Neben- 
s^hluBwiderstand, ein Shunt , eingeschaltet, der eine Verkleinerung 
der Ausschlagsamplitude und eine starkere Dampfung des Galvano¬ 
meters gestattete. 

Als Elekiroden wurden entweder Plattenelektroden aus 3 mm 
dicken, glatt polierten Nickelplatten oder Fliissigkeitselektroden 
benutzt. Letztere bestanden aus weithalsigen Flaschen, gefiillt 
mit einer auf Korpertemperatur erwarmten physiologischen Koch- 
salzlosung. Zur Stromiibertragung waren vermittels gut isolierter 
Kupferdrahte ein Paar Griffelektroden in die Fliissigkeit ver- 
senkt. Die Fliissigkeitselektroden, in welche die ganze Pfote des 
Versuchstieres hineingesteckt werden konnte, gestatteten, daB 
diese als ganzes als Antwortsorgan benutzt werden konnten. 

Die Anordnung der Ver- 
suche erklart sich ohne wei- 
teres aus nachfolgendem 
Schema: 

wo G das Galvanometer, 

St die exosomatische 
Stromquelle, 

E die Elektroden, 

W denNebenschluBwider- 
stand 
darstellt. 

Die Spiegeldrehungendes 
Galvanometers wurden ver- W 

Monatsschrift f. Psychiatrie u. Nenrologie. Bd. XXXIII. Heft 3 10 



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238 


Muller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 


mittels einer elektrischen Einfadenlampe auf den Registrierapparat 
von Veraguth projiziert. Ohne einer BeschreibungdesneuenApparates 
durch den Autor selbst vorgreifen zu wollen, darf hier erwahnt 
werden, daB der Apparat gestattet, die Spiegelschwankungen 
direkt auf einer rotierenden, mit Millimeterpapier armierten 
Trommel nachzuzeichnen. Die personliche Gleichung des Beob- 
achters, sowie auch der Umstand, daB durch die Brechung der 
Strahlen die Kurven nicht mathematisch genau mit den Spiegel- 
drehungen selbst iibereinstimmen (Tangentenwerte statt Winkel- 
werte, vergroBernde Ablenkung durch zweite Brechung) diirften 
bei unseren Experimenten vemachlassigt werden, da fiir uns in 
erster Linie das Auftreten oder Nichtauftreten des Galvanometer- 
ausschlages maBgebend war. Quantitative Fragen kamen nur fur 
relative Vergleichungen in Betracht. 

Die auf dem Millimeterpapier aufgenommenen Kurven wurden 
spater auf ein anderes Millimeterpapier iibertragen und durch 
photochemisches Verfahren auf beiliegender Tabelle wiedergegeben. 

2. Versuchstier. 

Um bei anatomisch-physiologischen Tierexperimenten Riick- 
schliisse auf den Menschen ziehen zu diirfen, ist es notig, moglichst 
hochentwickelte Saugetiere zu den Experimenten zu verwenden. 
Aus diesem Grunde sollten die folgenden Untersuchungen an einer 
Affenart vorgenommen werden. Wir wahlten einen Vertreter der 
Gattung Macacus, einen jungen, ca. 70 cm langen Macacus Cyno- 
molgus. Das noch wilde, unseren Versuchen — wenig Sympathie 
entgegenbringende Tier muBte jeweils in einen Sack hineingelockt 
werden, der fiir den Kopf und die Extremitaten dei einen Seite 
je eine Oeffnung hatte. Somit konnten wir die Vola manus und 
Planta pedis je einer Seite einzeln mit den Elektroden in Kontakt 
bringen und vor dem freiliegenden Gesicht die notigen Reize sich 
abspielen lassen. Um das Versuchstier in moglichst ruhiger Stellung 
zu bewahren, wurde es von einem Assistenten, dessen Hande zui 
Verhiitung eines Nebenschlusses mit lsolierhandschuhen aus 
dickem Gummi bedeckt waren, festgehalten und die Hand- und 
FuBflache, wenn notig, vermittels gleichmaBigen Druckes auf den 
Plattenelektroden fixiert. Trotzdem gelang es nicht immer, das 
Tier in absoluter Ruhe zu erhalten, so daB, wie wir spater sehen 
werden, hin und wieder Kontaktanderungen und etwa Aktions- 
strome auftraten, welche den normalen Verlauf der Kurven stoiten. 

Um eine genaue Durchtrennung der Nerven und eine erfolg- 
reiche Injektion ins Perineurium derselben zu erzielen, war es 
notig, eine anatomische Voruntersuchung an einer Tierleiche vor- 
zunehmen. Mir stand ein Formaldehydpraparat eines Macacus 
Rhesus zur Verfugung, an welchem ich die die Palma manus und 
Planta pedis innervierenden Nerven praparando freilegte. 

Es kamen in Betracht: 


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des psvchogalvanischen Reflexphanomens. 


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A. Ail der Vola manus: 

1. Der Ramus palmaris e nervo ulnari. Dieser Nervenast liegt direkt 
unter der oberflachlichen Fascie und ist nach deren Spaltung in der Hohe 
des stcurk prominenten Os pisiforme leicht erreichbar. Als Injektionsstelle 
merkte ioh mir eine Stelle in der Hohe de9 Os pisiforme ca. 3 mra radialwarts. 

2. Der Ramus palmaris e nervo mediano , welcher als feiner Strang 
ca. 5 mm oberhalb dem proximalen Rande des Lig. carpi transversum 
zwischen den Sehnen des M. flexor carpi radialis und des M. palmaris longus 
durch die Oberflachenfascie tritt; etwa 1 2 cm proximalw&rts liegt zwischen 
den Sehnen die Abgangsstelle dieses Hautastes vom Stamm des N. medianus. 
Als Injektionsstelle wurde die Mitte der Handwurzel in der Hohe des Os 
pisiforme vorgemerkt. Aueh sollte an dieser Stelle die Durchtrennung des 
Nerven vollzogen werden. 

3. Der Ramus superficialis e nervo radiali zeigte einen ziemlich starken 
palmaren Nebenast, der sich volar warts liber den ganzen Daumenballen 
verzweigte. Da er offenbar sensible Fasern fiir jene Hautpartie enthalt, 
muBte er auch in den Bereich unserer Untersuchung gezogen werden. Als 
Injektions- und Durchtrennungsstelle wurde der ulnare Rand des Pro¬ 
cessus styloideus radii gewahlt. 

4. An der ulnaren Seite des Processus styloideus radii verl&uft eine 
Vene. welche zum Stammgebiet der V. cephalica gehort und mit ihr 
ein ziemlich derber Nervenstrang, der zwei Aeste an dio volare Seite des 
Thenars abgibt. Bei der Preparation ergab sich, daC es sich um eine End- 
verzweigung des A T . cutaneus antibrachii e nervo musculocutaneo handelt. 
Injektions- und Durchtrennungsstelle decken sich mit der des palmaren 
Astes des Ramus superficialis e nervo radiali. 

B. An der Planta pedis: 

1. Die N. plantares medialis et lateralis. Die Praparation derselben 
machte wegen der derben Aponeurosis plantaris gewisse Schwierigkeiten. 
Es war vorauszusehen. da(3 eine ausgiebige Durchtrennung alter Ver- 
zweigungen ohne erheblichen chirurgischen Eingriff (Oefahr der Verletzung 
der Aa. plantares) kaum moglich sei. lch entschlofi mich deshalb, die beiden 
Nerven noch vor ihrer Trennung als X. tibialis fiir die Injektion und Durch¬ 
trennung vorzumerken. Die als notige Folge auftretende Lahmung der 
kleinen FuBmuskeln war fiir unsere Untersuehungen ohne Belang. Als 
giinstigste Injektions- und Durchtrennungsstelle ergab sich die Mitte 
zwischen medialem Achillessehnenrand und Malleolus medialis; dort liegt 
der N. tibialis direkt unter der Fascie. 

2. Der X. saphenus major gibt einen ziemlich starken Ast nach der 
medialen Fuflkante ab, so daB seine sensible Innervation dort vielleieht 
noch von Bedeutung sein konnte. Er wurde zur Injektion und Durch¬ 
trennung vorgemerkt, und zvvar 1 Querfinger breit iiber dem Malleolus 
med ialis, in der Mitte zwischen diesem und der medialen Tibiakante. 

Zur Injektion in das Perineurium benutzten wir eine 0,5 proz. 
Novocain-Adrenalinlosung. Von dieser wurde bei Versuch III 
1 cm 8 , bei Versuch VII 1,5 cm 3 fiir alle 5 obengenannten Injektions- 
stellen (3 an der oberen und 2 an der unteren Ertremitat) verwendet. 

Die Durchtrennung der Nerven wurde in Chloroformtropf- 
narkose und unter Innehalten einer strengen Asepsis vollzogen: 

Rasieren des Operationsfeldes, Hautdesinfektion mit Alkohol 
und Tinct. Jodi. An der oberen Extremitat: Bogcnformiger Haut- 
schnitt vom Os pisiforme iiber die Handwurzel zum radialen 
Rand des Processus styloideus radii. Zuriickpraparieren des 

x ) Fiir die Ueberlassung des Praparate.s sind wir Herrn Prof. Huge, 
Direktor des anatomischen Institute der Universitat Zurich zu Dank ver- 
pflichtet. V. 

16 * 


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240 


Muller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 


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Hautlappens, Langsinzision der Fascia superficialis diiekt iiber 
den durchschimmernden Nerven, Freipraparieren derselben und 
Exzision eines jeweils ca. 3—4 mm langen Stiiekes. 

An der unteren Extremitat: Schrager Hautschnitt von der 
Achillessehne iiber den Malleolus medialis zum medialen Tibia- 
rand. Von diesem Schnitt aus lnzision der Faszie, Preparation 
des N. tibialis und N. saphenus major, Exzision eines ca. 4—5 mm 
langen Stiiekes. VerschluC der Hautwunde vermittels Seiden- 
knopfnahten. Steriler Deckverband. Heilung per primam in- 
tentionem. 

Um eine Benetzung des Verbandes und somit auch der Wunde 
bei den Experimenten mit Fliissigkeitselektroden zu verhiiten, 
wurde iiber den Verband jeweils eine dicht anliegende, wasser- 
dichte Manschette, aus einem Kondomfingerling verfertigt, iiber- 
gestiilpt. 

3. Versuche am Menvehen. 

Um eine Leitungsunterbrechung des N. medianus und N. ul- 
naris beim Menschen zu erzielen, lieB ich mir fiir Versuch XXVIII 
einmal eine Injektion von je 1 cm 3 einer 0,5 proz. Novocain- 
Adrenalinlosung, ein anderesmal je 1 cm 3 einer 2 proz. Losung 
ins Perineurium obengenannter Nerven meiner linken Hand in- 
jizieren, und zwar nach Kochers 1 ) Vorschlag: fiir den N. medianus: 
Einstich oberhalb des Handgelenks von der ulnaren Seite unter 
der Sehne des M. palmaris longus; fiir den N. ulnaris: Einstich 
am Handgelenk von der ulnaien Seite unter der Sehne des M. ulnaris 
internus. 

Eine andere Beeinflussung der Sensibilitat der Vola manus 
— nicht eine absolute Anasthesie! — sollte fiir Versuch XXVII 
durch folgendes Verfahren erzielt werden. Die anasthesierende 
Wirkung des Phenols macht sich besonders bei langandauernder 
Handedesinfektion durch Kresolseifenlosung geltend. Ich ver- 
suchte daher durch langeres Bearbeiten der Vola manus vermittels 
Biirste und einer warmen 5 proz. Lysollosung eine Hypasthesie 
des betreffenden Hautabschnittes zu erzielen. 

4. Beize. 

Die bei den Experimenten applizierten Reize waren sensorische, 
und zwar handelte es sich 

a) beim Versuchstier um: 

1. im wesentlichen optische Reize. 

Aufleuchten eines elektrischen Lampchens direkt vor den 
Augen des Versuchstieres 

Vorzeigen eines blanken Instrumentes (vernickelte Ohren- 


l ) Kocher, Ohirurgische Operationslelire. Aufl. S. 34. Fischer. 
Jena. 1907. 


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dos psychogrtlvanisehen Kef lexphanomens. 


241 


spritze, deren Vorzeigen einen ausgesprochenen Cnlustaffekt beim 
Versuchstier hervorrief), 

Vorzeigen einer Affenleiche. 

Vorzeigen einer Banane. 

Vorzeigen einer lebenden Fliege. 

Die beiden letzten Reize diirfen jedoch nicht als rein optische 
aufgefaBt werden, da ohne Zweifel bei dem einen die Geruchs- 
nerven, bei dem andern (Summen dei Fliege) der Acusticus mit- 
gereizt wurde. Es handelt sich somit um ,.gemischte Reize“. 

2. Akustische Reize. 

Pfiff vermittels einer grell tonenden Pfeife. 

3. Schmerzreize. 

Energischer Nadelstich in die Kopfhaut. 

Zweifelsohne haben in dem einen oder anderen Fall auch 
endopsychische Reize komplizierterer Art mitgespielt, indem das 
Versuchstier, welches jede Manipulation der Experimentatoren 
a,ufmerksam verfolgte, in einen Zustand der Erwartung .versetzt 
wurde, was sich vor Applikation des Reizes durch das Auftreten 
einer Erwartungskurve kundgab. 

b) Bei den Versuchen am Menschen wurden namentJich Haut- 
schmerzreize (Nadelstich Brennen mit heiBer Nadel, Kneifen usw.) 
unter Beobachtung der bekannten Kautelen angewendet. 

Der Registrierapparat von Veraguth gestattet ein Markieren 
des Reizmomentes auf der Kurve seJbst. Es geschieht dies durch 
ein Tambour-System, welches die Reizmarken auf die Seite der 
Kurve notiert. Da die Kurven selbst auf Millimeterpapier aufge- 
zeichnet werden war es ein leichtes, die Reizmarken an die richtige 
Stelle der Kurven selbst zuiibertragen. 


III. Resultate. 

Den Ausgangspunkt fur alle vorzunehmenden Tierexperimente 
muBte die Losung der Frage darstellen: Zeigt unser Versuchstier, 
der Macacus Cynomolgus, iiberhaupt das psycho-gaImnische Reflex - 
phdnomen ? 

Versuch I (siehe Kurve No. I). Rechte Extremitaten des nor- 
malen Cynomolgus. Plattenelektroden. 

3 optische Reize (I, II. IIT), 

1 taktiler Reiz (IV). 

Wie aus der Kurve ersichtlich ist, erfolgte auf alle Reize 
hin unzweideutige Galvanometerausschlage. Reiz I und II sind, 
wie es den normalen Verhaltnissen entspricht, von einer Latenz- 
periode gefolgt. Bei Reiz III fehlt scheinbar die Latenzperiode. 
Es handelt sich hier um das Einsetzen des Reizes wahrend des 
Ablaufes einer Erwartungskurve (siehe Methoden), bei welchem 
Versuch der endopsychische Reiz zur Wirkung kam, bevor der 


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242 


M ii 1 I er , Zur Kenntnis tier Leitiingsbahnon 


auBere Reiz (III) einsetzte. Die beiden Elevationen zwischen III a. 
und Illb miissen ebenfalls als Erwartungskurven angesprochen 
weiden, weil hier ein auBerer Reiz iiberhaupt nicht appbziert, 
sondem nur vorbereitet worden ist. Die Marke 111 a zeigt nur den 
Moment an, in welchem der Experimentator eine Handbewegung 
macht, um nach dem Reizinstrument zu greifen. Derselbe Vorgang 
mit demselben Resultat wiederholte sich bei III b. 

Reiz IV mit nachfolgeoder Kurve entspricht wiederum 
normalenVerhaltnissen. Es gelang hier, das Versuchstier von hinten 
her mit einem Nadelstich zu riberraschen. 

Nachdem die rechte Korperhalfte unseres Versuchstieres eine 
Losung der gestellten Frage gab, sollte zur Sicherheit noch die 
linke Korperhalfte zur Untersuchung benutzt werden: 

Versuch II (keine Kurve). Linke Extremitaten des noimalen 
Cynomolgus. 

Dieselben Reize wie bei Versuch I. 

Das Resultat war dasselbe. Auf jeden gesetzten Reiz hin 
erfolgte nach einer Latenzperiode von einigen Sekunden ein Gal- 
vanometerausschlag. 

Wir diirfen somit als erwiesene Tatsache hinstellen: Macacus 
Cynomolgus zeigt das psycho-galvanische Reflex phdnomen in Form 
typischer Reiz- und Erwartungskurven. 

Wie in der Fragestellung bereits betont wurde, muBte der 
zentrifugale Schenkel des Reflexbogen$ zwischen Vola manus und 
Planta pedis einerseits und dem GroBhirn anderseits gesucht 
werden. Da die genannten Hautpartien sich u. a. durch ihren 
Reichtum an sensiblen Nervenendigungen auszeiclinen, lag der 
Gedanke nahe, daB vielleicht gerade die sensiblen Nerven jener 
Hautpartien in einem gewissen Zusammenhang mit dem zentri- 
fugalen Schenkel des psychogalvanischen Reflexbogens stehen 
konnten. Aus dieser Annahme heraus sollte nun versucht werden, 
die Leitung jener Nerven zu unterbreclien. Zuerst wurde dies auf 
chemisch em We ge versucht. 

"VersuclTTlI (siehe Kurve No. II)A|Linke Extremitaten des 
Cvnomolgus mit anasthesierter Vola manus und Planta pedis. 
(Siehe Methoden.) Plattenelektroden. 

Ein Vorversuch ca. 8 Min. nach vollzogener Injektion ergab 
auf Reize noch minimale Ausschlage des Galvanometers. Zu gleicher 
Zeit vorgenommene Sensibilitatsprufungen ergaben eine noch nicht 
vollstandige Anasthesie. 

12 Minuten nach der Injektion — die Haut von FuB- und Hand- 
flache war nun vollkommen anasthetisch — wurde Kurve II auf- 
genommen bei Applikation von 

3 optischen Reizen (I, IV, V). 

1 Schmerzreiz (II), 

1 gemischten Reiz (III). 

Auf die diei ersten Reize folgte kein Oalvammeterausschlag. 
Auf Reiz IV hin machte dasVeisuchstiex eine ausgiebige Bewegung, 


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ties psychogalvanischen Reflexphanomens. 


243 


die von einem Galvanometerausschlag begleitet war. Wir diirfen 
diese Galvanometerschwankung als den Ausdruck einer Kontakt- 
anderung oder eines aufgetretenen Aktionsstromes betrachten, 
denn die Wiederholung desselben Reizes (Marke V). wobei sich 
das Versuchstier absolut ruhig veihielt, ergab gar keinen Galvano- 
meterausschlag. 

Versuch IV (keine Kurve). Dieselbe Anordnung und dieselben 
Reize wie im Versuch III. 

1. 15 Min. nach der Injektion 

2 20 

.J.MlS ; y ; * jy J » 

Das Versuchstier verhielt sich nach alien Reizen absolut 
ruhig; ein Galvanometerausschlag konnte auch nicht andeutungs- 
weise konstatiert werden. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, dad unsere Annahme 
zu Recht bestand. Der zentrifugale Schenkel des psychogalva¬ 
nischen Reflexphanomens mud eng gebunden sein an die Nerven, 
welche Vola manus und Planta pedis sensibel innervieren. Denn 
auf der einen Seite vermochten wir durch Injektion eines Anasthe- 
tikums die genannten Hautpartien zu anasthesieren, auf der anderen 
Seite gelang uns durch dieselbe Prozedur eine Unterdriickung des 
Phanomens. 

Die von uns aufgestellte Frage konnte somit wie folgt be- 
antwortet werden: Durch perineurale Injektion eines Andsthetikums 
in die Nerven, welche Vola manus und Planta pedis sensibel inner¬ 
vieren, ist es moglich, beirn Cynomolgus das psychogalvanische 
Reflexphanomen an der andsthetischen Stelle zu unterdriicken. 

Mit einer vollstandigen Resorption des Anasthetikums ging 
Hand in Hand ein Wiederauftreten der Sensibilitat einerseits und 
des psycho-galvanischen Reflexphanomens anderseits. 

Dies zeigte: 

Versuch V (keine Kurve). Linke Extremitaten des Cynomolgus. 
Plattenelektroden. 1 }/ 2 Stunde nach der Injektion. 

Sensibilitatspriifungen ergaben fiir Vola manus und Planta 
pedis im Vergleich zur rechten Seite — soweit dies an einem 
Versuchstier festgestellt werden kann — keine Herabsetzung der 
Empfindung fiir Schmerz und Druck. 

4 optische und Schmerzreize hatten jeweils ausgiebige 
Galvanometerausschlage zur Folge. 

Die Unterdriickung des psychogalvanischen Reflexphanomens 
durch perineurale Injektion eines Andsthetikums ist somit eine 
temporare. Die Frage, ob die sensible und die psycho-galvanische 
Lahmung in paralleler Lime verschwinden, kann am Tier nicht 
deutlich entschieden werden. (Siehe unten Versuch XXVIII.) 

Nach diesem Ergebnis interessierte es uns, zu erfahren, wie 
sich das Dorsum manus et pedis des Cynomolgus als Antworts- 
organ fiir das psycho-galvanische Reflexphanomen verhalten. Be- 
kanntlich haben friihere Versuche am Menschen gezeigt, daB das 
Dorsum manus sich bei der experimentellen Anordnung mit exo- 


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M ii 11 e r , Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 


somatischer Stroraquelle als Antwortsorgan nicht eignet. Bei 
unserm Versuchstier war vorauszusehen, daB die starke Behaarung 
des Hautriickens einern ausgiebigen Kontakt mit den Platten- 
elektroden hinderlich war. Wir wahlten daher fiir diese Versuche 
Fliissigkeitselektroden, in welche die ganze Hand und der ganze 
FuB hineingesteckt werden konnte. Natiirlich muBte dabei die 
Vola manus und die Plant a pedis als Antwortsorgan ausgeschaltet 
werden. Wie dies moglich ist, hat uns Versuch III gelehrt: wir 
anasthesieren Vola und Planta und erreichen sorait deren Aus- 
schaltung als Antwortsorgan. 

Bevor wir dies jedoch versuchten, wollten wir uns zuerst 
davon iiberzeugen, daB das Phanomen auch vermittels Fliissig- 
keitselektroden beim Cynomolgus erhaltlich sei. 

Versuch VI (siehe Kurve No. III). Rechte, nicht anasthesierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Fliissigkeitselektroden. 

2 Schmerzreize (I IV), 

2 optische Reize (II, III). 

auf welche, wie auf der Kurve ersichtlich ist. jeweils ein Galvano- 
meterausschlag folgte. 

Nun konnte die Versuchsanordnung mit ausgeschalteter 
Vola manus und Planta pedis folgen: 

Versuch VII (siehe Kurve No. IV). Rechte Extremitaten des 
Cynomolgus mit perineuraler Injektion derselben Nerven, wie in 
Versuch III. Fliissigkeitselektroden. 

1 optischer Reiz (I). 

1 akustischer Reiz (II). 

1 Schmerzreiz (III). 

2 gemischte Reize (IV und IV a). 

15 Minuten nach vollendeter Injektion, wobei auch eine vor- 
genommene Sensibilitatspriifung eine absolute Anasthesie der be- 
treffenden Hautbeziike ergab, wurde Kurve No. IV aufgenommen. 

Auf jeden der 4 ersten Reize trat ein Galvanometerausschlag 
nicht auf. Bei Marke IV a wurde dem Versuchstier eine Fliege so 
dicht vors Gesicht gehalten, daB es nach derselben schnappen und sie 
verschlingen konnte. Als Ausdruck dieser Bewegung (Schnappen, 
Kau- und Schluckbewegung) erhielten wir einen Galvanometer¬ 
ausschlag, den wir wiederum nicht als positives psychogalvanisches 
Reflexphanomen, sondern als Folge des durch die Muskelaktion 
entstandenen Aktionsstromes auffassen miissen. Eine Kontakt- 
anderung konnte nicht vorliegen, denn es war fiir das Versuchstier 
unmoglich, die Pfoten aus der Fliissigkeit herauszuziehen, und nur 
Bewegungen in derselben konnten den Kontakt nicht andern, da 
die Pfoten stets gleichmaBig von der Fliissigkeit umspiilt waren. 

Versuch VIII (keine Kurve) bei genau derselben Anordnung 
und denselben Reizen ergab wiederum keine Galvanometeraus- 
schlage. Wir konnen somit aus diesen Versuchen den SchluB ziehen, 
da/i bei einer Anasthesierung der Palma und Planta es unmoglich 


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des psychogalvanisehen Keflexphanomens. 


245 


ist , das psychogalvanische lieflexphanomen durch das Dorsum 
manu8 ef pedis als Antwortsorgan auszuldsen. 

Zwei Tage nach diesem Experiment, da von einer Nachwirkung 
des Anasthetikums keine Rede mehr sein konnte (siehe Versuch* V), 
wurden in Chloroformnarkose (siehe Methoden) die folgenden 
Nervenaste der rechten Hand und des rechten FuBes des Cvno- 
molgus durchtrennt: 

1. Ramus palmaris e nervo ulnari, Ramus palmaris e nervo 
mediano, Ramus palmaris rami superficial^ e nervo radiali, N. cu- 
taneus antibrachii e nervo musculocutaneo. 

2. N. tibialis, N. saphenus major. 

Nach dem Erwachen aus der Narkose war das Versuchstier 
noch stark benommen. Die Hirnrinde stand noch unter der Ein- 
wirkung des Narkotikums und mit ihr wohl auch der zentrale 
Schenkel des psychogalvanisehen Reflexphanomens, denn die vor- 
genommenen Vorversuche auf der linken, also nicht ladierten 
Seite ergaben auch keine Ausschlage. 

Zirka 15 Minuten nach dem Erwachen aus der Narkose war 
das Versuchstier wieder lebhaft, so daB der folgende Versuch ge- 
macht werden konnte. 

Versuch IX (siehe Kurve No. V). Linke, also nicht operierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden. 

1 optischer Reiz (I), 

1 Schmerzreiz (II), 

1 akustischer Reiz (III), 

1 gemischter Reiz (IV), 

worauf jetzt jeiesmal ein deutlicher Galvanometerausschlag folgte. 
Damit wird bewiesen, daB das psychogalvanische Reflexphanomen 
nur so lange ausgeschaltet blieb, als das Cerebrum des Versuchs- 
tiers imter der Einwirkung des Narkotikums stand. 

Direkt anschlieBend an diesen Versuch folgte: 

Versuch X (siehe Kurve No. VI). Rechte, also operierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden. 

1 optischer Reiz (I), 

1 akustischer Reiz (II). 

1 Schmerzreiz (III), 

3 gemischte Reize (IV, lVa, IVb). 

Wie aus der Kurve ersichtlich ist, traten auf keinen der Reize 
hin Galvanometerausschlage, auch nicht andeutungsweise, auf. 

Versuch XI (ohne Kurve). Wiederum rechte, also operierte 
Extremitaten des Cynomolgus mit der Aenderung, daB statt der 
Flussigkeitselektroden Plattenelektroden benutzt wurden. 

1 optischer Reiz, 

1 Schmerzreiz, 

2 akustisehe Reize, 

auf welche nie ein Galvanometerausschlag folgte. 

Er wurden nun zwei Ruhetage eingeschaltet, in welchen sich 
das Versuchstier vomEingriff ganzlich erholen konnte. Dann folgte: 


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246 


Muller, Zur Kenntnis dor Leitungsbahnen 


Versuch XII (siehe Kurve No. VII). War in seiner Anordnung 
eine genaue Wiederholung von Versuch X. 

1 optischer Reiz (I), 

1 akustischer Reiz (II), 

1 Schmerzreiz (III), 

1 gemischter Reiz (IV). 

Auch hier traten wiederum keine Galvanometerschwankungen 

a uf. 

Somit ist es uns gelungen, durch Durchtrennung der Nerven, 
welche Vola manus und Planta pedis sensibel innervieren, eine 
Auslosung des psychogalvanischen Reflexphanomens zu unter- 
driicken. 

Nach dem XII. Versuche wurde wiederum eine Ruhepause 
eingeschaltet, diesmal eine von 7 Tagen, um nach Ablauf derselben 
uns wieder liber das Verhalten des psychogalvanischen Reflex¬ 
phanomens auf der operierten Seite zu informieren. 

Versuch XIII (siehe Kurve No. VIII). Rechte, also operierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Vola und Planta auf Platten- 
elektroden. 9 Tage post operationem. 

1 optischer Reiz (I), 

2 akustische Reize (II und II a), 

2 Schmerzreize (III und III a), 

2 gemischte Reize (IV und IVa). 

Die ersten drei Reize (I, II und II a) ergaben keine Galvano- 
meterausschlage, ebenfalls nicht die zwei letzten (IV und IV a). 
Auf die zwei Schmerzreize (III und III a) jedoch folgte je ein 
deutlicher Galvanometerausschlag. Diese Galvanometerscbwan- 
kungen konnten wir diesmal nicht alsFoIge von Kontaktanderungen 
oder von Aktionsstromen deuten, da bei genauer Beobachtung 
des Versuchstiers eine Lageveranderung der Extremitaten nicht 
konstatiert werden konnte. 

Dieses plotzliche Wiederauftreten des psychogalvanischen 
Reflexphanomens auf der operierten Seite sollte nun an Hand 
mehrerer Experimente genau studiert werden. Upi technische 
Fehler durch Anwendung der Plattenelektroden auszuschalten, 
wollten wir beobachten, wie sich der Reflex verhalt, wenn die 
operierten Extremitaten, analog Versuch X, in Fliissigkeits- 
elektroden getaucht werden. 

Versuch XIV (siehe Kurve No. IX.). Rechte, also operierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden. 9 Tage 
post operat. 

1 optischer Reiz (I), 

1 akustischer Reiz (II), 

2 Schmerzreize (III u. Ill a), 

2 gemischte Reize (IV u. IVa). 

Auf jeden dieser Reize folgte nach einer Latenzperiode ein 
unzweideutiger Galvanometerausschlag. 

Die Konstanz dieser ohne weiteres nicht erklarbaren Er- 


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des psychogalvanischen Reflexphanornens. 247 

scheinung mufite nun an einer Reihe gleicher Versuche festgelegt 
werden. 

Versuch XV (ohne Kurve) in genau derselben Anordnung 
wie Versuch XIV, jedoch 11 Tage post operat., sowie 

Versuch XVII (siehe Kurve No. X), auch in genau derselben 
Anordnung wie Versuch XIV, jedoch 12 Tage post operationem, 
ergaben stets dieselben Resultate: Die Extremitaten des Cyno- 
molgus erwiesen sich bei Anwendung von Fliissigkeitselektroden 
schon nach 9 Tagen, nachdem ihre sensiblen Nerven fur Vola 
manus und Planta pedis durchtrennt worden waren, wieder als 
gunstiges Aniwortsorgan fur das psychogalvanische Reflexphanomen. 
Dieses Resultat steht im auffallenden Gegensatz zu dem der Ver¬ 
suche X und XII. Dort war unmittelbar und auch 2 Tage nach 
der Nervendurchtrennung ein Galvanometerausschlag auch bei An¬ 
wendung von Fliissigkeitselektroden nicht zu erzielen. 

Gleichzeitig mit obigen Versuchen priiften wir das Verhalten 
des psychogalvanischen Reflexphanomens, indem wir wiederum 
nur die Vola manus und Planta pedis der operierten Seite als 
Antwortsorgan heranzogen, uns also der Plattenelektroden be- 
dienten. Denn bei dieser Versuchsanordnung war ja zum ersten 
Mai nach einer wochentlichen Ruhepause der Galvanometeraus¬ 
schlag wieder aufgetreten, nachdem seine Auslosung direkt und 
2 Tage nach der Operation nicht gelungen war. (Siehe Versuch XIII, 
Kurve No. VIII, Reizmarke III und III a.) 

Versuch XVI (keine Kurve). Rechte (operierte) Extremitaten 
des Cynomolgus. Vola und Planta auf Plattenelektroden. 11 Tage 
post operationem. 

Auf je einen akustischen, einen Schmerzreiz und 2 optische 
Reize folgte, auch nicht andeutungsweise, ein Galvanometer¬ 
ausschlag. 

Versuch XVIII (keine Kurve). Genau dieselbe Anordnung 
wie bei Versuch XVI, jedoch 12 Tage post operationem. 

Auch bei diesem Versuche konnten wir nicht die Spur eines 
Galvanometerausschlages konstatieren. 

Folglich diirfen wir an dem nach den Versuchen X, XI u. XII 
aufgestellten Satz festhalten: Die Vola manus und die Planta pedis 
bleiben , nachdem ihre sensibeln Nerven durchtrennt worden sind , 
als Aniwortsorgan fiir das psychogalvanische Reflexphanomen 
unbrauchbar. 

Wenn nun einerseits die Vola und Planta keine psychogalva¬ 
nische Antwort mehr ergaben, anderseits diese aber erschien, 
wenn wir Vola und Planta zusammen mit dem Dorsum als 
Antwortsorgan benutzten, so brauchten wir gleichsam nur das 
arithmetische Exempel zu losen, mid unsere Aufmerksamkeit mufite 
sich auf das Dorsum manus et pedis lenken. 

Versuch XIX (siehe Kurve No. XI). Rechte (operierte) 
Extremitaten des Cynomolgus. Dorsum manus et pedis auf Platten¬ 
elektroden . Um die durch die starke Behaarung bedingte Isolier- 


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248 


Miiller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 


schicht moglichst zu iiberwinden, wurde das Dorsum mit gleich- 
maBigem aber festem Druck auf die Plattenelektroden gedriickt. 
1 akustischer Reiz (I), 

1 Schmerzreiz (II), 

1 gemischter Reiz (III), 

1 optischer Reiz (IV). 

Wie zu erwarten war, traten nach jedem dieser Reize aus- 
giebige Galvanometerschwankungen auf. 

DaB dieses Verhalten des Dorsums nicht der Norm entspricht, 
zeigen einmal die Versuche VII, X und XII mit den Kurven IV. 
VI und VII. In diesen Versuchen waren Vola und Plant a teils 
durch Anasthesierung, teils durch Nervendurchtrennung aus- 
geschaltet, wobei sich das Dorsum als absolut ungeeignetes Ant- 
wortsorgan erwies. Der folgende Versuch beweist dies weiterhin: 

Versuch XX (siehe Kurve No. XII). Linke, also nicht operierte 
Extremitaten des Cynomolgus. Dorsum manus et pedis auf Platten¬ 
elektroden, ebenfalls durch kraftigen, gleichmaBigen Druck gut 
fixiert. 

1 akustischer Reiz (I). 

1 gemischter Reiz (II), 

1 Schmerzreiz (III), 

1 optischer Reiz (IV). 

Wie die Kurve zeigt, erfolgten auf diese Reize ganz minimule 
Galvanometerausschlage. 

Die letzten Versuche wurden in den folgenden Tagen alle noch 
einmal wiederholt, deren Anordnung und Resultate ich zwecks 
einer besseren Uebersicht in Form einer Tabelle wiedergebe. 

Spatresultate. 


Ver¬ 

such 

No. 

Intakte Seite 

1 

Operierte Seite 

Elektroden 

Galvanometer- 

ausschlag 

XXI 

1 

Vola u. Planta. 


Platten-E. 

typische Ausschl. 
keine ,, 

XXII 

i 

! Vola u. Planta .... 

| Platten-E. 

XXIII 

Vola u. Planta -(- Dors. . . | 

Fliissigk.-E. 

Fliissigk.-E. 

Platten-E. 

typische .. 

typische 
ganz minim. 
typische ,, 

XXIV 


Vola u. Planta+Dors. 

XXV 

Dorsum.! 

XXVI 


Dorsum. 

Platten-E. 


Die folgende Tabelle gibt das Verhalten des psycho-galva- 
nischen Reflexphanomens unmittelbar und 2 Tage nach der 
Nervendurchtrennung wieder und dient zum Vergleiche mit Ver¬ 
such XXII und XXIV. 


Friihresultate. 


XI 

1 

Vola u. Planta 

Platten-E. | 

Keine Ausschl. 

X/XII 


Vola u.Planta -[-Dors. 

Fliissigk.-E.' 

Keine Ausschl. 


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des psychogalvanischen Keflexphanomens. 


249 


Der Vergleich dieser beiden Tabellen und die Resultate unserer 
friiheren Experimente haben gezeigt, dafi nach Durchtrennung 
der sensiblen Nerven der Vola manus und der Planta pedis das 
psychogalvanische Reflexphanomen auf keine Weise mehr aus- 
losbar war. Nach Verlauf einer Woche hingegen trot es wieder auf, 
jedoch nicht mehr an typischer Stelle, der Vola und Planta, son - 
dern am Dorsum manus et pedis, einern Hautbezirk , der sich, nach 
unsern bis anhin gemachten Erfahrungen , unter normalen Verhalt- 
nissen als wenig geeignetes Antwortsorgan fur das psycho-galvanische 
Reflexphanomen heransgestellt hat. 


Zwei Versuchsreihen seien hier noch erwahnt, deren Zweck 
es war, das psycho-galvanische Reflexphanomen am Menschen 
zu studieren, nachdem die sensiblen Nerven der Vola manus der 
Einwirkung von Anasthetika ausgesetzt worden waren. Ich mochte 
dabei betonen, daB es sich hier nur um Zitation der gemachten 
Versuche handelt, die noch nicht zu einem abschlieBenden Resultat 
gefiihrt haben. 

Versuch XXVII (keine Kurve). Rechte Hand der Versuchs- 
person durch Lysolbehandlung hypasthesiert (siehe Methoden). 
Ulnare Halfte der Vola manus auf der einen, radiale Halfte auf der 
andem Plattenelektrode. Die linke, nicht hypasthesierte Vola 
manus derselben Versuchsperson konnte somit zu Vergleichen 
benutzt werden. 

Auf alle applizierten Reize traten jeweils typische Galvano¬ 
meterausschlage auf, die im Vergleich mit der normalen linken 
Vola keinen Unterschied zeigten. 

Versuch XXVIII (keine Kurve). Linke Hand derselben 
Versuchsperson. Perineurale Injektion in die Nn. medianus und 
ulnaris. Plattenelektroden wie bei Versuch XXVII. 

Die Schmerz- und Beriihrungsempfindung wurde nach erfolgter 
Injektion in Intervallen von je 20 Minuten vermittels Nadelstichen 
und Sievekingschem Aesthesiometer bestimmt. Im AnschluB 
daran wurden jeweils sensorische Reize appliziert, um das Ver- 
halten des psychogalvanischen Reflexphanomens zu studieren. 

Die Schmerz- und Beriihrungsempfindung nahm sukzessive 
ab und erreichte nach 60 Minuten ihr Minimum, ohne daB dabei 
eine vollkommene Anasthesierung der Vola manus erzielt werden 
konnte. Von jenem Zeitpunkte an nahm die Sensibilitat wieder 
rasch zu. Die auf die Reize hin erfolgten Galvanometerausschlage 
zeigten anfanglich keinen Qualitatsunterschied, sowohl gegen 
die der rechten Hand als auch gegen die, welche vor der Injektion 
an der linken Hand auf traten. AUmahlich wurde auch ihre Inten- 
sitat schwacher; ihr Minimum jedoch erreichten sie erst nach 
110 Minuten, also zu einer Zeit, wo die Schmerz- und Beruhrungs- 
empfindung sich wieder normal zu verhalten begannen. Von der 
110. Minute an wurden die Galvanometerausschlage wieder kraf- 


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250 


Miiller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen 


tiger. DaB es sich nicht um eine Ermiidungserscheinung handeln 
konnte, zeigen die Vergleichsversuche mit der rechten Hand, 
welche wahrend der ganzen Dauer des Experimentes Galvano- 
meterausschlage von konstanter GroBe gaben. 

Die Beeinflussung der Sensibilitdt und der Leitung des psycho - 
galvanischen Reflexphanomens durch perineurale Injektion eines 
Anasthetikums zeigt somit einen tempordr ungleichen Ablauf. 


IV. Epikrise und Zusammenfassung. 

Die Resultate, welche die Losung der ersten von uns auf- 
gestellten Fragen gebracht haben, benotigen einer weiteren Be- 
sprechung nicht. Wir halten an der Tatsache fest, daB Macacus 
Cynomolgus — und wahrscheinlich auch viele andere Vertreter 
der Primaten — wertvolle Versuchstiere fur das Studium des 
psychogalvanischen Reflexphanomens darstellen. 

Durch die perineurale Injektion einer mit Adrenalin ver- 
mischten Novocainlosung gelang es uns, die Palma manus und die 
Planta pedis als Antwortsorgan zu sperren. Auffallend ist hierbei 
die Art und Weise der Wirkung des Anasthetikums. Das Kokain 
und die Benzoylverbindungen vermogen bekanntlich bei perine- 
uraler Injektion infolge ihrer elektiven Eigenschaften eine Leitungs- 
unterbrechung sensibler Nervenfasern fiir zentripetale Impulse 
hervorzurufen. Zentrifugale Impulse, z. B. motorische und sekre- 
torische, vermogen sie nicht zu untardriicken. Nun ist aber die 
Weiterleitung des psychogalvanischen Reflexphanomens vom 
Zentralorgan bis hinaus zur Palma und Planta zweifelsohne ein 
zentrifugaler Vorgang. Somit wiirde sich die Wirkung des Novocains 
bei einer Leitungsunterbrechung sensibler Nerven nicht nur auf 
zentripetale , sondern auch auf zentrifugale Impulse beziehen . 

In Bezug auf das psychogalvanische Reflexphanomen be- 
rechtigt diese Tatsache uns zu der Vermutung, daB die sensiblen 
Nerven der Vola manus und der Planta pedis einzelne Fasem 
enthalten, welche bei ahnlicher Beschaffenheit (elektive Wirkung 
des Kokains auf sensible Nerven) wie jene, die Trager des 
zentrifugalen Schenkels des psychogalvanischen Reflexphanomens 
darstellen. 

Diese Vermutung diirfen wir allerdings nicht allein gestiitzt 
auf unsere Erfahnmgen mit der Anasthesierung machen, denn 
gerade diese perineurale Injektion kann in ihrer lokalisatorischen 
Wirkung angezweifelt werden. Denn bei der geringen GroBe der 
Injektionsbasis des kleinen Versuchstiers und der relativ groBen 
Menge der verbrauchten Injektionsfliissigkeit ware es denkbar, 
daB auch andere Nervenastchen, als die von uns beabsichtigten, 
der Einwirkung des Anasthetikums ausgesetzt worden sind. 

Eine prazise lokalisatorische Beeinflussung der Nerven konnte 
allein durch die Durchtrennung derselben erzielt werden. Das 


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des psychogalvanischen Reflexphanomens. 


251 


Resultat der Durchtrennung deckt sich mit dem der Anasthesierung. 
Das psychogalvanische Reflexphanomen war nach der Operation 
weder volar- noch dorsalwarts auslosbar. Die Entgegnung, daB 
der Reflex durch Lahmung des Zentrums infolge der Narkose ge- 
heramt worden sei, wird ohne weiteres widerlegt durch die Tat- 
sache, daB Versuche an der nicht operierten Seite, welche gleich- 
zeitig gemacht wurden, stets positive Resultate ergaben. Auch 
war noch nach 2 Tagen post operationem das psychogalvanische 
Reflexphanomen nicht auslosbar, also zu einer Zeit, wo von einer 
Nachwirkung des Narkotikums nicht mehr die Rede sein konnte. 

Wie aber lassen sich die beiden Galvanometerausschlage des 
Versuchs XIII (Kurve VIII) erklaren ? Wir benutzten dort als 
Antwortsorgan Palma und Planta der operierten Seite auf Platten- 
elektroden. Von den 6 applizierten Reizen ergaben 2 ein positives 
Phanomen, wahrend die 4 ubrigen ein solches nicht ergaben. Hatte 
sich diese Erscheinung in den nachfolgenden Kontrollversuchen 
wiederholt, so ware es moglich, hierfur eine Erklarung zu geben. Wir 
konnten annehmen, daB durch die Nervendurchtrennung in der Ex¬ 
tremist eine Shockwirkung aufgetreten sei, welche eine Auslosung 
des psychogalvanischen Reflexphanomens sperrte. Diese Shock¬ 
wirkung ware nur temporar gewesen, wie z.B. die bei Nervenlasionen 
auf tretenden trophischenStorungen des betreffendenN ervenbezirkes. 
In Versuch XIII konnte somit bereits eine Erholung eingetreten sein, 
die jedoch noch nicht vollstandig war, so daB immerhin noch eine 
Reihe von Reizen (I, II, II a und III) notig war, deren Summation 
endlich den Galvanometerausschlag ergab. Da jedoch die nach¬ 
folgenden Versuche XVI und XVIII nie mehr ein positives psycho- 
galvanisches Reflexphanomen erkennen lieBen, die Vola und Planta 
somit als Antwortsorgan unbrauchbar blieben, muB eine andere 
Erklarung fur jene beiden Galvanometerausschlage gesucht werden. 
Von einer Regeneration der ladierten Nerven in einer so kurzen 
Spanne Zeit kann naturlich nicht die Rede sein. Auch war durch 
die Exzision eines Nervenstiickchens eine momentane Adaptierung 
der beiden Stiimpfe, welche vielleicht bei ganz giinstiger Lagerung 
ein Ueberspringen der Erregung gestattet hatte, unmoglich. Die 
Autopsie ergab dann auch eine ausgiebige Retraktion der zen- 
tralen Stiimpfe. Mir scheinen nur die beiden folgenden Erklarungen 
zulassig zu sein: Entweder hat das Versuchstier leise Bewegungen 
gemacht, welche von den Experimentatoren nicht beobachtet 
worden sind — und somit waren die Galvanometerausschlage 
infolge eines Aktionsstromes oder durch Kontaktanderung ent- 
standen — oder aber es gelang dem Versuchstier, unter dem dicken 
Gummihandschuh des Assistenten, welcher die Pfote auf die 
Plattenelektrode driickte, eine leichte Rotation im Hand- oder 
FuBgelenk zu machen. Diese Rotation miiBte derart gewesen sein, 
daB die Seitenflache der einen Pfote, eventuell auch ein Teil des 
Dorsums auf die Elektrode zu liegen kam. Damit ware zum ersten 
Male jenes Phanomen aufgetreten, welches wir erst durch die 
folgenden Versuche kennen lernten. 


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252 


Miiller, Zur Keimtnis der Leitungsbahnen 


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Wahrend namlich das psycho-galvanische Reflexphanomen 
auf der Vola und Planta nicht mehr erhaltlich war, ergaben sich 
nun auf dem Dorsum auf jeden Reiz hin Galvanometerausschlage. 
Ein Vergleich mit der nicht operierten Seite ergab, daB diese dort 
bedeutend geringer waren, ja sogar hin und wieder gar nicht 
auftraten, wahrend sie auf der operierten Seite sehr ausgiebig 
ausfielen. Es war somit eine Verschiebung des Antwortsorgans 
fur das psycho-galvanische Reflexphanomen von der Vola und 
Planta nach dem Dorsum manus et pedis aufgetreten. 

Wie laBt sich diese Verschiebung nun erklaren ? 

Die Nerven, welche die Vola und das Dorsum innervieren, 
stehen trotz der scheinbaren topographischen Trennung in einer 
nervosen Verbindung. Neben den zahlreichen Verbindungen der 
einzelnen Neuronen im Gehim, wahrend ihres Verlaufes im Riicken- 
mark und im Plexus brachialis einerseits und sacralis anderseits 
entstehen im peripherischen Gebiet zwischen den einzelnen Nerven- 
stammen undNervenstammchenmannigfache Verbindimgenfeinster 
Art. Es bilden sich die sogenannten auBeren Plexus. Dazu tritt 
noch das iiber den ganzen Korper verbreitete sympathische 
Nervengeflecht, welches wiederum gewiB eine Verbindung einzelner 
peripherischer, cerebrospinaler Nerven ermoglicht. (Sympathische 
Fasern in den cerebrospinalen Nerven selbst, sympathische GefaB- 
plexus.) 

Wenn wir, unter Hinweis auf die anatomische Tatsache der 
feinen Ausladungen sympathiseher und cerebrospinaler Fasem, 
an einer gegenseitigen tonischen Beeinflussung halten, so liegt die 
Annahme nahe, daB bei Durchtrennung der einen Gruppe infolge 
der genannten nervosen Verbindung die andere Gruppe auch 
beeinfluBt werden muB. Es ist nicht ausgeschlossen, daB die Durch¬ 
trennung sowohl im Gebiete dieses, als auch im Gebiete jenes 
Nerven, welcher von ihm tonisch beeinfluBt wird, eine Shock- 
wirkung hervorgerufen hat, welche sich in unserem Falle durch 
eine Sperrung des psycho-galvanischen Reflexphanomens auBert. 
Nach einiger Zeit konnte sich der nicht ladierte Nerv von der 
Shockwirkung erholen, jedoch steht er jetzt unter einem andem 
tonischen EinfluB der Gegengruppe, weil dort der Nerv und mit 
ihm ein Teil der Verbindungsfibrillen durchgesehnitten sind. Es ist 
sehr wolil moglich, daB dieser andere tonische EinfluB ein starkerer 
sein kann, als unter normalen Verhaltnissen (Reizwirkungen vom 
degenerierenden Stumpf aus, Reizstauung im zentralen Stumpf). 
Es waren somit fiir die Dorsalnerven neue Erregungskombinationen 
geschaffen worden, welche ihn zu einer neuen, diesmal vermehrten 
Tatigkeit gebracht haben, als deren Endresultat wir das Auftreten 
des psycho-galvanischen Reflexphanomens auf dem Dorsum 
manus et pedis konstatieren konnten. Dieser Vorgang, den wir bei 
Lasionen periperer Nerven beobaehtet haben, erinnert lebhaft an 
die Erscheinungen der Diaschisis, welchen Ausdruck von Monakow 
geschaffen hat fur dynamische Vorgange, die sich bei Lasionen 
des Gehims oder Riickenmarks an entfernter Stelle abspielen. 


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des psychogalvanischen Reflexphanomens. 


253 


Auch hier wiirde es sich nach unserer Auffassung um dynamische 
Verschiebungen in der Funktion eines unverletzten Nervengebietes 
handeln zufolge einer anatomischen Lasion in einem angeschlossenen 
Gebiete. Der Unterschied zwischen diesen beiden physiopatho- 
logischen Vorgangen wiirde darin bestehen, daB bei der Diaschisis 
von der Lasion eine hypotonisierende Femwirkung ausgehen 
wiirde, in unserem Experiment aber eine hypertonisierende 
Wirkung. 

Zum SchluB gebe ich die Zusammenfassung unserer Resultate 
in Form einer prazisen Beantwortung unserer eingangs gestellten 
Fragen. 

1. Unser Versuchstier, der Macacus Cynomolgus , zeigt auf sen- 
sorische Beize hin, ein positives psychogalvanisches Reflexphanomen. 

2. Wenn die Leitung der Nerven , welche Vola manus und Planta 
pedis sensibel innervieren , durch perineurale Injektion eines An- 
dstheiikums unterbrochen wird> ist es moglich , beim Versuchstier eine 
Auslosung des psychogalvanischen Reflexphanomens zu unterdriicken . 
Beim Menschen haben die bis anhin gemachten Versuche noch kein 
endguUiges Resultat ergeben . Immerhin konnte eine Beeinflussung 
des psychogalvanischen Reflexphanomens im Sinne einer Herab- 
setzung konstatiert werden. 

3. Durchtrennt man beim Versuchstier die oben genannten 
Nerven , so 

ist a) unmittelbar und auch noch 2 Tage nach der Durchtrennung 
ein psychogalvanisches Reflexphanomen nicht mehr auslosbar; 

bleibt b) auch nach langerer Zeit die Vola manus und Planta 
pedis als Antwortsorgan fur das psychogalvanische Reflexphanomen 
unbrauchbar. Das Dorsum manus et pedis jedoch , das unter normalen 
Verhaltnissen kein oder nur andeutungsweise ein psychogalvanisches 
Reflexphanomen zeigt , ivird im Verlauf einiger Tage — vielleicht 
infolge einer Diaschisistvirkung — ein gut brauchbares Antworts¬ 
organ fur das psychogalvanische, Reflexphanomen . 


An dieser Stelle sei es mir gestattet, Herm Privatdozent 
Dr. Otto Veraguth meinen besten Dank auszusprechen fiir die 
Anregung, die er mir zu der vorliegenden Arbeit gab, und fiir die 
Ratschlage und Unterstiitzungen, welche er mir wahrend derselben 
angedeihen lieB. 


MonatRschrift f. Psychiatrie u. Neurologrie. Bd. XXXIII. Heft 3. 17 


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Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charity in Berlin# 
[Geh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.]) 

Ueber die Beeinflussung des Vorstellungsablaufes 
durch Gesehichtskomplexe bei Geisteskranken. 

Von 

Dr. ARNOLD KUTZINSKI, 

Asslatent an der Nervenklinik der Chari 1 6. 

(Schlufi.) 

Bei der 1. Wiederholungsreihe — hier sind auch die Zahlen 
bei nur zwei angestellten Versuchsreihen verarbeitet — wurde 
der Prozentsatz Kraepeltns nur 3 mal iiberschritten: bei einem 
Korsakoff, bei einer Melancholie und bei einer Hysterie; fast 
oder vollig erreicht wurde er in 12 Fallen. Immerhin verdient 
Erwahnung, daB von 65 Fallen der 2. Versuchsreihe 38 eine Wieder- 
holung von 30 pCt. und darunter, 19 sogar unter 20 pCt. aufwiesen. 
Die Falle gehoren nicht etwa zur Gruppe mit schwerem Merk- 
defekt oder Inkoharenz, sondern wir finden diese Werte auch 
bei Melancholie, Hysterie und paranoischen Zustanden. Bei der 
Hysterie beobachten wir ein ganz ungleichmaBiges Verhalten, bald . 
eine starke, bald eine minimale Wiederholungszahl. Man wird 
geneigt sein, diese Schwankungen durch individuelle Faktoren 
zu erklaren, aber diese kommen nicht vorwiegend in Betracht. 
Auch die Lange des Zeitintervalles ist kaum von erheblicher Be- 
deutung, wenn ihm auch Rechnung getragen werden muB. Wir 
finden nach eintagigem Interval! bald 5, bald 18 Wiederholungen 
imd nach fiinftagigem Intervall wieder 19 wiederkehrende Re- 
aktionen. Es bliebe noch die Moglichkeit, daB eine Abhangigkeit 
vom Komplex besteht. Je intensiver dessen Wirksamkeit ist, 
um so geringer konnte die Zahl der gleichen Assoziationen sein. 
Betrachtet man 12 Hysteriefalle, die fiir diese Zwecke verwertet 
werden konnten (die anderen schieden wegen Fehlens 2. Wieder- 
holungsreihen aus), so miissen zunachst die zwei durch Debilitat 
komplizierten vemachlassigt werden. Von den 10 benutzten 
Fallen zeigen nur 3 eine erhebliche Zunahme der alten Reaktionen. 

In 7 Fallen wurde entweder eine geringe Zahl alter Assoziationen 
und viele Komplexreaktionen oder das Umgekehrte festgestellt. 
Dadurch wird w a h r s c h e i n 1 ic h gemacht, daB 
der Komplex der Fixation hemmend ent- 
gegensteht. Warum der EinfluB der Geschichte nicht durch- 
gehend wirksam ist, wird sich im einzelnen nicht nachweisen 
lassen, doch mahnt diese Tatsache zur Vorsicht in den SchluB- 
folgerungen. Aehnliche Befunde ergeben die anderen klinischen 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschiclitskomplexe etc. 


255 


Gruppen. In den meisten Depressionen und Angstzustanden 
ist die Zahl der Wiederholungen eine sehr groBe, die der 
Komplexreaktionen eine sehr geringe. Wo nur wenige Wieder¬ 
holungen (z. B. Versuchsperson 8) beobachtet werden, handelte 
es sich um Versuclispersonen, bei denen viele Auslassungen auf- 
getreten waren. 

Im Gregensatz zur Hysteriegruppe ist bei den melancholischen 
Zustanden nur einmal eine Abnahme der Wiederholungen, die 
vielleicht in dem langen Intervall ihre Ursache hat, zu kon- 
statieren. Grerade bei dieser Gruppe scheint das Intervall nicht 
ganz bedeutungslos zu sein. So zeigfe sich bei einem sechs- 
tagigen Intervall nui’ eine Wiederholung. Derartige Abhangig- 
keiten bestehen bei paranoischen Zustanden nicht. Hier findet 
nach dreitagigem Intervall eine Abnahme, nach neuntagigem eine 
geringe Zunahme statt. Ein EinfluB durch den Komplex ist nicht 
bemerkbar. Die Komplexreaktionen sind iiberhaupt hier nur 
sehr gering. Auffallig ist die gelegentliche Abnahme und vor 
allem die stets geringe Zunahme der Wiederholungen bei der 
3. Versuchsreihe. 

Bei der Dementia paralytica zeigt sich dagegen auch bei 
langen Zwischenraumen (vgl. Versuchspersonen 12, 4, 30), z. B. 
von 8 Tagen, bei der 2. Wiederholung eine deutliche Vermehrung 
an alten Reaktionen. Wemi Versuchsperson 29 eine Ausnahme 
zu bilden scheint, so ist die Ursache in den schweren Angst¬ 
zustanden zu suchen. An sich ist bei der Paralyse die Zahl 
der Wiederholungen im Vergleich zu der der anderen Gruppen 
sehr gering. Man konnte bei dem Merkdefekt der Paralyse er- 
warten, daB die Zahl der Wiederholungen verringert wiirde. 
Pappenheim 1 ) hat ja auch bei einem Kranken mit starker Merk- 
fahigkeitsstorung bei unmittelbarer Reizwortwiederholung zahl- 
reiche Neuassoziationen gefunden. Bei einem Fall von ausge- 
sprochenem Korsakoff kann ich das nicht bestatigen. Hier kehrten 
bei einem Intervall von 2 Tagen 22 und bei einem Intervall von 
3 Tagen zwischen 2. und 3. Versuchsreihe 24 Reaktionen wieder. 
Diesen Unterschied der Resultate durch die Verschiedenheit des 
Zeitintervalls (in meinem Fall wurde 2 Tage spater die Reihe 
wiederholt) zu erklaren, erscheint nicht angangig. Das deutet darauf 
hin, daB die Beziehungen zwischen Merkdefekt und Assoziations- 
stiftung doch keine vollig abhangigen sein konnen. Die letztere 
bezw. die durch den Reiz angeregte Reproduktion einer friiher 
geschaffenen Verbindung beruht auf dem Reichtum des Vor- 
stellungsmaterials und seiner Liquiditat, der Merkdefekt ist besser 
als Storung des Haftens im Sinne Heilbronners 2 ) aufzufassen. 
Ist nun die Vorstellungsmasse nur sparlich vorhanden oder nur 
schwer fliissig zu machen, so kommt es trotz mangelhaften Haften- 

x ) A. Pappenheim , Merkfahigkeit und Assoziationsversuch. Ztschr. 
f. Psych. Bd. 38. 1906. 

*) Heilbronner, Das Haftenbleiben. Ergzh. d. Monatsh. f. Neurol, u. 
Psychiat. 1908. 

17* 


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256 


K u t z i n s k i , Ue-ber die Beeinflussung 


bleibens zu einer so grolien Wiederholung der Reaktionen wie im 
eben zitierten Fall. Die von Pappenheim beobachtete Tatsache, 
daB bei Gesunden bei unmittelbar erneuter Priifung die meisten 
Assoziationen wiederkehrten, widerspricht dem nicht; denn hier 
wirkten die Frische und Lebhaftigkeit der eben gestifteten Ver- 
bindungen hemmend gegeniiber neuen Reaktionen. So ist wohl 
auch der Reichtnm der Wiederholungen bei Paranoischen zu er- 
klaren. Bei der Paralyse wird je nach der Fiille des Vorstellungs- 
materials und dem Grade des Merkdefektes die Zahl der alten 
Reaktionen schwanken. Als Hilfsmoment unterstiitzt aber noch 
den Vorstellungsweehsel die Komplexwirkung. In den Fallen von 
Dementia paralytica fand sich eine relativ hohe Zahl von Komplex- 
ankniipfungen. Je groBer diese Zahl ist, um so seltener treten 
Wiederholungen auf. Es eriibrigt sich hervorzuheben, daB auch 
hier die Zeitintervalle keine besondere Bedeutung beanspruchen, 
da bald nach 7 Tagen Intervall 11, nach 3 Tagen 8, dann wieder 
nach 2 Tagen 10 Wiederholungen in der 2. Versuchsreihe festge- 
stellt wurden. Auch bei der Dementia senilis sind geringe Wieder¬ 
holungen und ein hoher Prozentsatz an Komplexreaktionen be- 
merkenswert. Die Zahlen der letzteren betragen z. B. 3 und 4 
fur die 2. und 3. Versuchsreihe, denen nur 3 und 9 Wiederholungen 
entsprechen. Das Material ist zu gering, um eine allgemeine Auf- 
fassung zuzulassen. Aber daB analoge Verhaltnisse wie bei der 
Paralyse bestehen, ist sehr wahrscheinlicli. Die Kombination 
von Merkdefekt und geringer Liquiditat der Vorstellungen tritt 
sehr pragnant bei der Dementia epileptica auf. Trotz eines nur 
eintagigen Intervalles werden nur 8 Reaktionen wiederholt. Nach 
viertagigem Intervall findet man 2 bei der 2. Versuchsreihe, 4 Re¬ 
aktionen bei der 3. Versuchsreihe. Einen Gegensatz dazu bilden 
wiederum die Werte der Komplexassoziationen (8,3 pCt. fur die 
1. und 2. Wiederholungsreihe). 

DaB bei dissoziativen Zustanden die Reihe der alten Ver- 
bindungen niedrig sein muB, bestatigen die Prozentzahlen. Bei 
einem epileptischen Dammerzustande betragt die Zahl der Wieder¬ 
holungen nach einem eintagigen Intervall nur 8, bei einem hyste- 
rischen Dammerzustande nur 4 Reaktionen, bei der 2. Wieder¬ 
holung nur 3 bezw. 2 Reaktionen. Das gleiche trifft fur die 
Amentia zu. Bei einer Versuchsperson fehlt die Komplexwirkung, 
weil es sich um eine nur auf religiose Dinge konzentrierte Kranke 
handelte, die sich den Reizen der AuBenwelt gegeniiber vollig 
ablehnend verhielt. Ein ahnliches Verhalten wie die dissoziativen 
Zustande zeigte die Manie, bei der an sich nur wenige Wieder¬ 
holungen bemerkt wurden, bei der aber trotz langer Intervalle 
(von 9 Tagen) ein Zuwachs an alten Assoziationen von 5 auf 11 
stattfand. In einem anderen Falle verringerte sich sogar die Zahl 
um 1 Reaktion. Auch bei diesen Storungen der Aufmerksamkeit 
hat die Lange des Zeitintervalls keinen erkennbaren EinfluB aus- 
geiibt. Dabei besteht auch hier eine Beziehung 
zwischen Vermehrung der alten und Haufung der 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


257 


Komplexreaktionen in bereits charakterisiertem 
Sinne. Bei Zunakme der letzteren sinkt die Zalil 
der Wiederholungen und umgekehrt. 

Die Resultate der Debilitat sind sehr einfach zu deuten, da 
nur eine starke Vermehrung der Wiederholungen eintritt und 
Komplexreaktionen fehlen. Schwierigkeiten bereitet die Auf- 
fassung der Dementia hebephrenica, bei der teils zahlreiche Wieder¬ 
holungen auftreten, teils iiberhaupt fehlen. So betrug einmal die 
Zahl der alten Reaktionen 2 und 1, und die der Komplexreaktionen 
3 bezw. 6 in den Versuchsreihen. Die Lange des Intervalles ist nicht 
entecheidend, denn bald ist bei viertagigem Intervall die Wieder- 
holungszahl 0, bald nur 4, bald 33. Auffallig ist die meist sehr 
schnelle Zunahme der Wiederholungen bei der 3. Versuchsreihe. 
Ob egozentrische oder paranoide Beziehungen dieses Verhalten 
bestimmen, ist nicht festzustellen. Man miiBte sich dann denken, 
daB die Eigen beziehungen sowohl geringe Wiederholungen, wie 
auch sparliche Komplexreaktionen bedingen, und umgekehrt. Bei 
einer Betrachtung der Einzelfalle zeigt Versuchsperson 22 18 
und 33 Wiederholungen und 3 bezw. 1 Komplexreaktion, dabei 
handelt es sich nicht um einen paranoid starker ausgepragten 
Zustand. Ein Verstandnis dieses Verhaltens gibt uns die vorherr- 
schende Stimmungslage. Sie war bei dieser Versuchsperson 
apathisch und teilnahmslos. Wenn trotzdem Komplexwirkungen 
stattfanden, so sind diese eine Folge der Nachwirkung. Versuchs¬ 
person 19 entspricht der Erfahrung, daB Komplexreaktionen und 
Wiederholungen in umgekelirtem Verhaltnis zueinander stehen, 
das trifft auch fur Versuchsperson 35 und 36 zu. Bei Versuchs¬ 
person 2 verbindet sich mit der fehlenden Komplexreaktion und 
den geringen Wiederholungen der 1. Reihe eine erhohte Nach¬ 
wirkung. Auch hier handelt es sich wie in Fall 22 um eine apathische 
Versuchsperson. Wenn man von diesen beiden Fallen absieht, so 
hat man schlieBlich auch bei dieser Gruppe ein einheitliches Bild 
gewonnen. 

Zusammenfassend kann man sagen, daB in 
alien Fallen mit ausgesprochener Wiederholungs- 
tendenz eine sparliche Komplexwirkung zu kon- 
statieren ist und umgekehrt, d. h. mit anderen 
Worten, bei Versuchspersonen mit reichem Vor- 
stellungsmaterial und der Moglichkeit, neue 
Assoziationen schnell und ausreichend zu er- 
werben, wird durch den EinfluB des Komplexes 
ein groBerer Vorstellungswechsel herbeigefiihrt. 

Nachwirkung. 

Die Wiederholung ist nur ein spezieller Fall der Nachwirkung. 
Bei der Wiederholung kommt in der 2. Versuchsreihe wieder zur 
Wirkung, was sich bei der Darbietung des Reizwortes im BewuBt- 
sein abgespielt hat. Alle angeklungenen und mit in Schwingung 


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258 


K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung 


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versetzten Vorstellungsbeziehungen gelangen wieder zur Wirksam- 
keit und bestimmen die Reproduktion. Die Starke der Wieder- 
holungstendenz hangt von der Intensitat der durch das Reizwort 
miterregten psychischen Vorgange, bei langeren Intervallen und 
individuell variierend von der Zeit und endiich von der Nach- 
haltigkeit, demHaftenbleiben der einmal entstandenenAssoziations- 
bildung ab. Die letztere Komponente ist bei der Nachwirkung 
in den Vordergrund geriickt. Sehr haufig zeigt sich das Beharren 
auf motorischem Gebiet in der sprachliehen Form. Es wechselt 
zwar der Inhalt, aber die sprachliche Formulierung wird monoton 
festgehalten. Von 65 Versuchspersonen sind bei 19 wiederholt 
derartige Nachwirkungen konstatiert worden. In einem Fall z. B. 
wird immer das Wort ,,Mensch“ in der Reaktion angewandt. 
Zuweilen taucht das Wort ,,Haupt“ auf. Ein Debiler bedient sich 
standig des Ausdruckes „gibt’s auch viel“ und „ist verschieden"; 
ein anderer der Redensart „kami jeder" und ,,muB man“. Oftmals 
findet die Einleitung des Reaktionssatzes mit einem ,,Wenn“ 
statt, z. B. ,,wenn ich etwas kaufen tue, wenn ich vieles habe“. 
Das ist iibrigens nicht nur bei Versuchspersonen mit Intelligenz- 
defekt der Fall. Wieder andere wenden sehr haufig Hilfsverben 
an, z. B. ,,schon— sein“, „rot — sein“, ,,Kaiser — sein“ etc. In 
einem Korsakoff-Fall wurden immer die Silben ,,nis“ oder ,,heit“ 
als Erganzung des Reizwortes benutzt, z. B. ,,schon — heit“; 
selbst sinnlose Wortneubildungen kommen so zustande, wie 
„Farbnis“. Bei einzelnen Versuchspersonen auBert sich die Nach¬ 
wirkung der Form darin, daB die folgende Reaktion immer mit 
einem ,,ist auch“ beginnt. Bei den sprachlich monotonen Re- 
aktionen ist eine erkennbare Storung des Zusammenhanges zwischen 
Reiz und Antwort nur selten vorhanden. Man muB diese FaUe 
von den iterativen Reaktionen Sommers und anderer trennen, 
weil hier ja die Reaktion nur dann, wenn sie paBt, wiederkehrt; 
daB sie wiederkehrt, driickt zwar eine sprachliche Armut aus, 
aber damit wird noch nichts an sich fiber den geistigen Gesamt- 
zustand der Versuchsperson ausgesagt. Das trifft erst zu, wenn 
durch die formale Nachwirkung sinnlose Reaktionen zustande 
kommen, wie z. B. in dem Fall von Korsakoff. Wenn eine Melan¬ 
cholic die Reaktion ,,Mensch“ sehr oft anwendet, aber von ihr 
absieht, sobald der Sinn leidet, so zeigt das die Berechtigung dieser 
Trennung. 

Bei den inhaltlichen Nachwirkungen ist zunachst bemerkens- 
wert, daB sie in 27 unter 65 Fallen gefunden wurden. Eine Einzel- 
betrachtung zeigt sie am haufigsten bei den unmittelbar aufein- 
anderfolgenden Reizworten ,,Kaiser" und ,,Sohn“. Auf ,,Sohn“ 
wird dann oft mit,.Kaiser Friedrich" oder ,.Wilhelm" oder „Kron- 
prinz" reagiert. Aehnliches tritt bei den Reizwortern „Gift" und 
,,Schlange“ auf. Das erstere lost oft die Reaktion ,,giftig“ auf 
,,Schlange“ aus. Weniger oft beeinfluBt das Reizwort ,^aufen“ 
die Auffassung des Reizwortes ,,Meer“, das bald als Substantiv 
..Wasser", bald als Adjektiv ,,mehr“ bei der Reaktion verwertet 


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des Voratellungsablaufes durch Geechichtakomplexe etc. 


259 


wird. Es handelt sich hier um eine unmittelbare Nachwirkung, 
die Vorstellungsreihen des 1. Reizwortes stehen gewissermaBen 
noch in Bereitsehaft, vor allem aber ist bedeutsam, daB zwischen 
den Reizw'ortem „Kaiser“ und ,,Sohn“ bezw. ,,Gift“ und 
„Schlange“, „kaufen“ und „Meer“ schon an sich eine gelaufige 
Beziehung besteht. Seltenere Reaktionen, die aber eine deutliche 
assoziative Verkniipfung zeigen, sind solche wie: 

Berlin — Stadt, 

Kaiser — Kaiserstadt, 

oder Berlin — Hauptstadt, 

Kaiser — der Erste in der Hauptstadt. 

Entlegenere Beziehungen zu dem geweckten Vorstellungskreis 
weisen die folgenden Reaktionen auf: 

27 Liebe, 

28 Ungliick — in der Liebe; 

15 fahren — der Wagen, 

17 Hochzeit — der Wagen; 

23 Ararat — Traurigkeit, 

28 Ungliick — Traurigkeit. 

Ein deutlicher, wenn aucli schon lockerer, etwas befremdender 
Zusammenhang besteht bei Reaktionen wie: 

11 Sonne — Himmel, 

13 schon — Himmel; 

11 Sonne — ein Planet, 

12 Farbe — von der Sonne ? 

11 Sonne — geht im Osten auf, 

12 Farbe — goldgelb; 

24 Schiff, 

25 schlecht — wenn einem auf dem Schiff schlecht wird, 
hat der die Seekrankheit. 

Eine klangliche Beziehung zeigt die Assoziationsfolge: 

17 Hochzeit — Mahl, 

18 Offizier — Gemahlin. 

Nur schwer laBt sich ein Sinn in den folgenden Reaktionen 
erkennen: 

30 rot —, 

31 umkreisen — rot umkreisen; 

11 Sonne — Untergang, 

12 Farbe — Farbenuntergang. 

Wahrend dem normalen Verhalten entsprechend hoheProzent- 
zahlen fiir die Wiederholungen festgestellt wurden, sind nur wenige 
Nachwirkungen vorhanden. 


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260 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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Serie 


A- Serie 
B-Serie 


Tabelle XXVII. 

In Prozenten. 


Versuchsreilie I j Versuchsreihe II ',i Versuchsreihe III 


(i ' |i ..“ 

1.7 0,2 0,5 

1.7 i| 1.9 0.8 


Von 65 Fallen zeigen liberliaupt nur 27 deutliche Nach- 
wirkungen. Einen Ueberblick iiber die klinischen Gruppen ge- 
wahrt in Prozenten die nachfolgende Tabelle : 


Tabelle XXVIII. 


Diagnose || 

II 

A-Serie 

Versuchsreihe 

I II III 

B-Serie 

Versuchsreihe 

I II III 

Melancholische Zustande 

2.8 

0 

1.4 

i 

2 3 | 

1.9 

2.8 

Paranoische Zustande . • . 

0 

0 


2.0 1 

0 

0,9 

Dementia epileptica . . . . J 

2.8 

1.4 


6.7 j 

2 8 

2,8 

Dementia praecox.] 

0 j 

0 

0 

2.5 1 

5.6 

2.8 

Dementia paralytica .... 

8,3 1 

0 

0 

3.3 j 

2,8 

1,4 

Hysterie . 

0 

0 

o ! 

0.6 

0,2 

0.2 

Amentia . 



1 

3.3 

5,6 

0 

Korsakoff. 




0 | 

5,6 

0 

Manie.i 

1.4 

0 


1A ! 

0 

0 

Epileptische Dammerzustande j| 

0 

0 

0 

o ! 

0 

0 

Dementia alcoholica . . . . ! ; 




0 

0 I 

0 

Dementia senilis., 

0 1 

0 

0 

0 

0 

0 


Am haufigsten tritt die Nachwirkung auf bei gehemmten, 
angstlichen Kranken, ferner bei Defektzustanden, sei es, daB es 
sich um einen erworbenen oder angeborenen Schwachsinnsgrad 
handelt. DaB auch Hemmimgen die Nachwirkungen bedingen, 
zeigt die stuporose Form der Amentia; aus der Literatur sei an 
die Versnche Isserlins 1 ) erinnert, bei denen in der Hemmung oder 
im depressiven Zustande stets ein vermehrter Prozentsatz von 
Perseverationen vermerkt wurde. Besondere Erwahnung ver- 
dienen die geringen Zeichen der Nachwirkung bei der Hysterie. 
Die Zustande, bei denen eine groBe Fliichtigkeit der Vorstellungen 
besteht (Dementia senilis, Korsakoff und Manie) lassen erheb- 
lichere Beeinflussungen dureh friihere Vorstellungen vermissen. 
In diesen Fallen findet man gerade einen hohen Prozentsatz von 
Komplexreaktionen. Bei anderen klinischen Gruppen macht sich 
die Nachwirkung meist dann geltend, wenn eine Kombination 
mit Debilitat vorliegt. 

Eine beziehungslose Nachwirkung kommt iiberhaupt nur 
zweimal im ganzen vor. Jung und Riklin haben ja bei der 
Nachwirkung nur die Einwirkung auf die unmittelbar folgende 


>) a. a. O. 


Gck igle 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


261 


Reaktion beriicksichtigt. Die Einwirkung iiber eine unbeein- 
fluBte Reaktion hinweg bezeichneten sie mit dem allgemeineren 
Begriff Konstellation. Ueber den Zusammenhang der beiden 
Erscheinungen auBern sie sich nicht. Aus ihren Durchschnitts- 
berechnnngen ergibt sich fiir die Perseveration bei Gebildeten 
ein Prozentsatz von 1,5, bei Ungebildeten von 0,8, also Werte, 
die den meinen annahernd gleichkommen. Hinzugerechnet aber 
miissen noch 7,3 pCt. Wiederholungen bei Gebildeten und 10,9 
bei Ungebildeten werden. Die naheliegende Annahme, daB die 
zahlreichen Wiederholungen durch die groBe Zahl von Reaktionen 
bedingt ist, daB eine gewisse Miidigkeit feintritt, wie Jung es nennt, 
widerlegt die Tatsache, daB oftmals die Wiederholungen im ersten 
Hundert des Versuchs starker als im zweiten Hundert auftreten. 
Auch die anderen Bedingungen, die innere und auBere Ablenkung, 
iiben keinen EinfluB aus. Man muB also annehmen, daB bei der 
groBen Zahl der Reizworter oft die gleichen Vorstellungskreise 
wiederholt angeregt werden, und daB die kurz vorher aufge- 
tretenen Assoziationen bei der neuen Assoziation mitwirken. 
Ferner muB beriicksichtigt werden, daB es sich urn gelaufige Ver- 
bindungen handelt, wie z. B. „Wasser — Wein“, „Essig — Wein“, 
„stinken — schmecken“, ,,ekeln — schmecken“. DaB nur die 
Haufigkeit der Assoziation die Ursache der gleichen Reproduktion 
ist, erscheint nicht zutreffend. Denn eine Assoziation wie 
,,Essig — sauer“ ist doch mindestens so eingeiibt wie die ,,Essig — 
Wein“. Es muB also noch ein Plus hinzukommen, eine Beein- 
flussung, die am ehesten durch die vor kurzem erfolgte ahnliche 
Reaktion stattfindet. Jung und Riklin haben die Wiederholungen 
derselben Versuchsreihen nicht von diesem Standpunkt aus 
betrachtet, wenigstens geht das aus ihren Protokollen nicht hervor. 
Sie lassen die Perseveration entweder durch unbekannte, psycho- 
physische Ursachen oder durch Gefuhlskonstellationen bedingt 
sein, dabei fiigen sie hinzu, daB sie mit dieser Feststellung nichts 
prajudizieren wollen, libersehen aber, daB „Gefiihlskonstellation“ 
bereits ein sehr komplizierter und ,,psychophysische Ursachen 1 ' 
in diesem Zusammenhange ein unklarer Begriff ist. 

DaB bei meinen Versuchspersonen gefiihlsbetonte Erlebnisse 
eine nennenswerte Rolle spielen, ist nicht anzunehmen. Denn die 
Zahl der Nachwirkungen ist an sich schon sehr gering, und auBerdem 
tritt diese bei an sich indifferenten Reizworten auf,wie z. B. ,,Farbe“, 
,,Meer“ u. a. In anderen Fallen ist das Reizwort zwar gefiihls- 
betont, die Nachwirkung wird aber durch das vorhergehende 
indifferente Reizwort bestimmt. Auch die Art der Reaktionen zeigt, 
daB Gefiihlsmomente keinen entscheidenden EinfluB gehabt haben, 
sondern daB nur assoziative Tendenzen wirksam waren. 

Isserlin 1 ) hat als Wiederholung nur die Reaktion bezeichnet, 
welche in der Wiederkehr der unmittelbar vorhergehenden Reiz- 


>) a. a. O. 


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262 Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 

oder Reaktionsworter bestand. Die Perseveration ist nach ihm 
eine Reaktion, die einen erkennenden EinfluB einer friiher dage- 
wesenen Reaktion oder eines friiher dagewesenen Reizwortes 
verrat. Auch diese Form der Wiederholungen ist nur ein Sonder- 
fall der Nachwirkung. Wenn man die unmittelbare Nachwirkung 
als etwas qualitativ vollig Verschiedenes betrachten wollte, so 
ware das nicht gerechtfertigt. Man miiBte dann diese als ein dem 
Erinnerungsnachbild analogen Vorgang auffassen. 

Bereits Fechner 1 ) hat die Abhangigkeit des ,,Erinnerimgs- 
Nachbildes“ von der Aufmerksamkeit hervorgehoben. Wir be- 
merken es nur, wenn wir ihm unsere Aufmerksamkeit be- 
sonders zuwenden. Es ist nicht wahrscheinlich, daB in den 
Reaktionen auf die nachwirkenden Worter gerade eine besondere 
Aufmerksamkeit gerichtet war, sie haben auch im allgemeinen 
keinen besonders gefuhlsbetonten Charakter, sind vielmehr ge- 
laufig und oft eingeiibt. Ueberdies ist es iiberhaupt fraglich, ob 
isolierte Wortreize so lange, wie es in den zitierten Beispielen 
der Fall ist, nachklingen konnen. Unmittelbare und spatere Wieder¬ 
holungen scheinen also nur durch die von der Zeitdauer abhangige 
Intensitat der angeregten Vorstellungen unterschieden zu sein. 
Sollte es sich doch nur um ein klangliches Nachbild handeln, so 
ware zu erwarten, daB oft die Wiederholung gleichzeitig eine 
Sinnlosigkeit reprasentierte. Tatsachlich sind aber siimlose Re¬ 
aktionen bei den meisten Versuchen iiberhaupt nicht vorhanden. 
In einem Fall war die Zahl der Perseverationen so groB (32,7 pCt.), 
daB dadurch siimlose Reaktionen zustande kommen muBten. 
Immerhin waren nur 29,75 pCt. ohne Zusammenhang, mid davon 
waren viele durch eine Nachwirkung oder Wiederholung nicht zu 
erklaren. DaB die unmittelbaren Wiederholungen bei den Ver¬ 
suchen so sparlich auftreten, ist begreiflich, wenn man an die 
bereits von Jung und Riklin hervorgehobene Tatsache erinnert 
wird, daB sich Ungebildete bei ihren Reaktionen meist auf den 
Sinn einstellen. Vermoge ihrer Absicht, stets Zusammenhange zu 
schaffen, liberwinden sie das natiirliche Bestreben, das Jiingst- 
vergangene wieder vorzubringen. 

Besonders wichtig ist das Verhaltnis zwischen Nachwirkung 
und Komplex. Wie bei der Wiederholung besteht auch hier ein 
Wechselverhaltnis. Je starker die Komplexreaktionen, um so 
seltener sind die Nachwirkungen, wie nachfolgende Beispiele 
dartun: 

(Hier folgt Tabelle XXIX.) 

Die Durchschnittswerte der Komplexreaktionen sind erheblich 
hoher als die der Nachwirkung. Bei den Gesamtwerten sind Be- 
ziehungen wie in den Einzelfallen nicht moglich, weil die Summe 
der Reaktionen zu gering ist. Doch tritt bei der B-Serie unter der 

') Fechner, Psychophysik. Tl. 2.J- S. 493. 


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des Vorstellungsablaufes durch GeschichtBkomplexe etc. 263 


Tabelle XXIX. 


Versuchs- 

person 

Reaktionsform J 

Versuchs- 
reihe I 

Versuchs- 
reihe IE 

Versuohs- 
reihe HI 

15 

Nachwirkung 

i 

i 

1 2 

0 

i 

Komplex | 

I “ ! 

1 3 

i 

6 

57 j 

Nachwirkimg 

0 

0 

0 

1 

Komplex 

— 

i 4 

5 

14 

Nachwirkung j 


1 

1 


Komplex j 

_ i 

i 

1 3 

3 

18 

Nachwirkung | 

0 

0 

0 


Komplex 

6 1 

4 

1 

17 

Nachwirkimg i 

0 

0 

0 


Komplex , 

4 

5 

4 

13 

Nachwirkung 

2 

4 

1 


Komplex j 

— 

1 

0 

22 

Nachwirkung 1 

3 

0 

0 


Komplex 


4 

3 

52 

Nachwirkung 

l j 

0 

0 


Komplex 

i 

j 

1 4 

3 

56 

1 

Nachwirkung j 

l ; 

i 1 

0 


Komplex | 

_ i 

5 

5 

58 

Nachwirkung :j 

0 

0 

0 


Komplex ; 

•— 

3 

7 

i 

59 

*i 

Nachwirkung 1 

2 

i 

9 l 

1 3 


Komplex 

— 

o ! 

0 


Wirkung der Geschichte eine erhebliche Abnahme der Nacb- 
wirkungsreaktion ein: von 1,3 der 1. Versuchsreihe auf 0,2 der 
2. Versucbereihe. Die A-Serie zeigt dagegen bei direktem Kom- 
plexeinfluB die hochste Prozentzahl, um sie spater nur wenig zu 
verringem. Auch dieses Moment spricht dafiir, daB ein starkerer 
Vorstellungswechsel durch den Komplex hervorgerufen wird. Es 
ware aber irrig, aus diesen Abhangigkeitsbeziehungen Schliisse 
iiber das Verhaltnis von Konstellation zur Nachwirkung zu zieben. 
Diese Frage wird davon nicht betroffen und soli erst in der Dis- 
kussion der Ergebnisse zur Sprache kommen. Ein Vergleich der 
egozentrischen Beaktionen mit der Zahl der Nacbwirkungen gibt 
Auf schliisse iiber die Entstehung der Perseveration. Jung und 
Riklin fiihren die vermehrten Perseverationen der mannlichen 
Versuchspersonen auf die erhohte Beizwirkung personlicher Er- 
lebnisse zuriick, weil diese eine groBere Nacbbaltigkeit besitzen. 
Man vergleiche daraufhin die von mir gefundenen Zahlen: 


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264 


Kutzinski, Ueber die Beeinflussung 


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Tabelle XXX. 


Reaktionsform 

jj A-Serie 

I* Versuchsreihe j 

B-Serie 

Versuchsreihe 


1! I 1 

1 II | 

III -i 

I II III 

Egozentrische Reaktion . . . 

l! 

: 4.6 

5.9 

1.9 

4.2 3.4 3.0 

Nachwirkung. 

h 1-7 

1.1 

0,9 

1.3 0.2 0.9 


Eine parallele Ab- bezw. Zunahme ist nicht zu konstatieren. 
Die egozentrischen Reaktionen nehmen in der 2. Reihe der A-Serie 
zu, die Perseverationen ab; in der B-Serie bestehen auffallige 
Schwankungen der Perseverationen, wahrend eine kontinuierliche 
Abnahme der egozentrischen Zahlen eintritt. In der 8. Versuchs- 
reihe der B-Serie entspricht einer Zunahme der Nach wirkungen 
eine Abnahme der anderen Reaktionsform. Die Betrachtung von 
Einzelfallen ergibt gleiche Resultate: 


Tabelle XXXI. 


Diagnose 

Reaktions— 

form 

Versuchs¬ 
reihe I 

Versuchs¬ 
reihe II 

| Versuchs- 
! reihe III 

Melanchol. Zustand 

Egozentrische 

i 




Reaktion 

1 

0 

0 


Nachwirkung 

2 

2 

3 

Paralyse . 

1 

1 Egozentrische 
Reaktion 

0 

i 

0 

1 

sl 0 


j Nachwirkung 

3 

0 

j 

0 

Paranoischer Zustand j 

Egozentrische 

Reaktion 

0 

1 

0 1 

(1 

i 

i Nachwirkung' 

i ■ 2 

I 

1 


Wie aus den obigen Zahlen hervorgeht, sind trotz relativ 
zahlreicher Naohwirkungen keine egozentrischen Reaktionen vor- 
handen. Auch der Vergleich mit Gefuhlsreaktionen zeigt, daB 
eine Vermehrung dieser die Zunahme der Nach wirkungen nicht 
entspricht: 

Tabelle XXXII. 


Reaktionsform 


A-Serie 

Versuchsreihe 


B-Serie 

Versuchsreihe 



I 

n 

hi 1 

| I II HI 

Gefuhlsreaktiori. — 

Nachwirkung.i — 

— 

i 

: 1,2 
: 1.3 | 

1.3 1,4 

0.2 0.9 


Fur meine Versuchspersonen ist also die von 
Jung und Rikl in angenommene Beziehung 
zwischen egozentrischen und nachwirkenden 


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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 265 

Reaktionen nicht zutreffend. Verlangsamung 
des Vorstellungsablaufs und eine Verarmung des 
Inhalts werden wahrscheinlich in den meisten 
Fallen Nach wirkungsr eak tionen auslosen, zu- 
weilen sind sie auch als Ausdruck der Verlegen- 
heit aufzufassen. 

EinfluB der Aufgabe. 

Die Tatsaclie, daB die Aufgabe ihrer Fojm und ihrem Inhalt 
naeh die Reaktion beeinfluBt, ist nach den Untersuchungen von 
Ach 1 ), Watt 2 ), Messer 8 ) u. A. allgemein anerkannt. Die Vereuche 
dieser Autoren sind von diesen selbst als Willensvorgange be- 
zeichnet worden. Ihre Voraussetzung bildet die Bereitwilligkeit, 
auf die Anordnungen des Versuchsleiters einzugehen. Auch bei 
meinen Versuchspersonen ist das die erste unerlaBliche Bedingung. 
Ich habe, wie die Einleitung zeigt, im allgemeinen solche Versuchs¬ 
personen gewahlt, die zunachst die Aufgaben, die Geschichte zu 
erzahlen und auf Reize zu reagieren, prompt erfiillten. Trotzdem 
ist mir oft Teilnahmlosigkeit, Unlust oder auch Scheu begegnet. 
DaB diese Momente die Art der Reaktion und die Komplexwirkung 
beeintrachtigen, bedarf keines Be weises, sie wirken verzogernd, 
hemmend, irritierend. Ein detaillierter Bericht iiber den Grad 
dieser Einfliisse ist bei meinem Material nicht zu erlangen. Die 
mangelnde Selbstbeobachtung und die Gefahr der Suggestion durch 
die Befragung machen es unmoglich. Ungeachtet dieser Schwierig- 
keiten wird vielleicht eine groBe Serie von Untersuchungen gleich- 
artiger Zustande auch hier sichere Resultate zutage fordern. Meine 
Versuchsreihen sind zu diirftig, um nach dieser Richtung verwertet 
werden zu konnen. In der besonderen Gruppierung der Aufgabe 
ist auch zugleich eine bestimmte Richtung fiir ihre Wirksamkeit 
gegeben. In meinen Versuchen besteht eine Verkoppelung zweier 
Aufgaben, zwischen denen bestimmte Beziehungen geschaffen 
wurden, und es soil nun der EinfluB der einen auf die andere fest- 
gestellt werden. Diese Beziehungen sind in dem Inhalt der Reiz- 
worter gegeben. 

Die Resultate zerfallen in 2 Hauptgruppen, je nachdem die 
Geschichte vor der 1. oder 2. Versuchsreihe exponiert wurde. Die 
Erwartung, daB sich 2 verschiedene Typen herausbilden wiirden, 
solche, bei denen Reize aus jiingster Zeit rasch, und solche, 
bei denen sie langsam oder iiberhaupt nicht wirksam werden, 
hat sich nicht bestatigt. Auch die Vergleiche der einzelnen 
Reaktionsformen laBt keinen EinfluB der geanderten Anordnung 
erkennen. Die Schwankungen der Werte, ihre Abhangigkeit vom 

J ) AcK Ueber die Willenstatigkeit und das Denken. Gottingen 1906. 

*) Wait. Experimentelle Beitrage zu einer Therapie des Denkens. 
Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 4. 

3 ) Messer, Experimentellpsychologische Untersuchungen iiber das 
Denken. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. VIII. 


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266 Kutzinaki, Ueber die Beeinflussung 

Geschichtskomplex, von der Fixation etc. wurde bereits friiher 
erortert. Die Fixation durch die 1. Versuchsreihe der B-Serie 
fiihrt bei den einzelnen Gruppen selten zu einer Abnahme, oft 
findet sogar eine vermehrte Komplexwirkung statt. Die Durch- 
schnittszahl der Komplexreaktionen ist dagegen, wie man erwarten 
muBte, bei der A-Serie hoher, aber die Differenzen sind nur un- 
bedeutend. Dagegen bewirkte die Frage am Ende der 1. Versuchs¬ 
reihe, ob die Versuchsperson nicht an die Geschichte gedacht habe 
— eine Frage, die doch zugleich eine Umgestaltung der 2. Versuchs¬ 
reihe mit sich bringt —, in beiden Serien, besonders in der A-Serie, 
eine Erhohung der Komplexreaktionen. Die Gruppenbetrachtung 
weist keine nennenswerten Veranderungen auf, wie schon friihere 
Resultate gezeigt haben. 

Eine 3., nur in einzelnen Fallen (10) angewandte Aenderung 
der Aufgabe bestand darin, daB samtliche Beizworter, auch die 
letzten 6 auffalligen Lockworte bereits bei der 1. Versuchsreihe 
benutzt wurden, um auf diese Weise eine etwaige Abnahme 
der Komplexreaktionen durch Fixation festzustellen. Bei diesen 
Komplexwerten ist nur eine geringe Abnahme im Vergleich 
mit den friiheren Zahlen zu vermerken: 0,2 pCt. Ein EinfluB 
der Intervalle auf die Zahl der Beaktionen besteht nicht. Bei 
einem Intervall von 6 Tagen treten 5, bei einem von 5 Tagen 
0 Komplexantworten auf. Eine Melancholie laBt nach 6 Tagen 
noch einen EinfluB des Komplexes erkennen, wahrend bei 
einem paranoischen Zustand iiberhaupt keine Ankniipfung an die 
Geschichte stattfindet. Die Hysterie weist 13,8 pCt., ein epi- 
leptischer Dammerzustand 5,6 pCt. und eine Melancholie 2,8 pCt. 
Komplexreaktionen auf. Diese Besultate decken sich ihrer Qualitat 
nach mit den friiheren Befunden. Der Prozentsatz der Fehler ist 
gering. Auch hier nehmen die Werte bei unmittelbarer Geschichts- 
exposition ab: von 7,2 auf 6,1 pCt. Das entspricht nicht vollig 
den Besultaten der friiheren Methode. Der Satz, daB bei der Zu- 
nahme der Komplexreaktionen die Fehler heruntergehen, bestatigt 
sich; fiir den 2. Teil der obigen Ergebnisse, daB einer Vermehrung 
der einen Beaktionsform eine Zunahme der anderen parallel geht, 
fehlen Vergleichsversuche. Auch in den Einzelfalien ist eine Differenz 
in den Fehlerzahlen der 1. und 2. Beihe wenig ausgesprochen. 

Die Zahl der Wiederholungen (31,1) bleibt hinter der der all- 
gemeinen Versuche nicht zuriick. Bei der Hysterie haben wir nur 2, 
bei der Melancholie 15 Wiederholungen. In einem Fall von Amentia, 
paranoischem Zustand und epileptischem Dammerzustand findet 
man je 10 oder 12 wiederkehrende Beaktionen. Also auch in 
diesen Fallen ist der Prozentsatz der Wiederholungen im Vergleich 
mit den Besultaten bei Normalen zu gering. 

Von den Beziehungen zwischen Nachwirkung und Komplex- 
einfluB ist auszusagen, daB bei der zusammenfassenden Berechnung 
die Zahlen der ersteren, wenn die Geschichte eingewirkt hat, von 
5 auf 5,5 pCt. zunehmen. In den einzelnen Fallen aber zeigt sich. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


267 


daB dort, wo es iiberhaupt zu einem erheblichen KomplexeinfluB 
kommt, die Prozente der Nachwirkung etwa konstant bleiben. 
Das Nahere erlautert die folgende 


Tabelle XXXIII. 


Diagnose 


j Komplexreaktion Ij Nachwirkung 

■' Versuchs- \ Versuchs- Versuchs- I Versuchs- 
reihe I reihe II reiho I | reihe II 


Hysteria. i 

Melancholische Zustande . ! 
Dammerzustand . . . 


5 

1 


3 

3 


3 

4 


Bei anderen Versuchspersonen kommt es zu Nachwirkungen, 
aber es wird der erkennbare GeschichtseinfluB vermiBt, bei einem 
paranoischen Zustand fehlt sogar beides. Fur die Beziehungen 
dieser beiden Momente haben also die bisherigen Resultate keine 
zur Beurteilung ausreichenden Werte ergeben. 

Anders verhalt es sich bei einer 2. Variation der Aufgabe, bei 
der die Geschichte der Versuchsperson 1—7 Tage vor der Asso- 
ziationsreihe gegeben wurde. Hier bestehen zahlreiche * Nach¬ 
wirkungen (7,3 pCt.) und wenige Komplexankniipfungen (3 pCt.). 
DaB sich die Nachwirkung starker geltend machte, ist naturgemaB, 
da die wiederkehrenden Reaktionsworter frischer als die Geschichts- 
vorstellungen sind. Die Zahl beider Reaktionsformen war aber 
doch zum Teil unabhangig von der Lange des Intervalles zwischen 
Geschichtsdarbietung und Versuch. In einem Fall wird, trotz 
7 tagigen Zwischenraumes 3 mal an die Geschichte angekniipft, 
in anderen nach 3 tagigen Intervallen nur zweimal u. s. f. Die Ver¬ 
suchspersonen, welche zahlreiche Nachwirkungen bo ten, wurden 
von der Geschichte nur wenig beeinfluBt. So treten bei 5 oder bei 
4 Nachwirkungsreaktionen 1 bezw. kein Komplexwort auf. Um- 
gekehrt sind mir bei lebhafteren Komplexbeziehungen zwei, eine 
oder gar keine Nachwirkungsreaktionen begegnet. Die Zahl der 
Fehler ist sehr gering. Nur in 2 Fallen wurden solche beobachtet. 
Bei diesen sind auch die vielen Komplexreaktionen bemerkenswert. 
Die hochste Fehlerzahl zeigte eine Dementia paralytica. Die nahe- 
liegende Auffassung, die Fehler seien nur durch den Defekt, die 
Vorstellungsarmut verursacht, widerlegt ein 2. Fall von Dementia 
paralytica, bei dem iiberhaupt keine Ausfallreaktion beobachtet 
wurde; dazu sei erganzend betont, daB der Grad der geistigen 
Schwache in beiden Fallen etwa der gleiche war. Da das Zeit- 
intervall bei beiden nur 1 Tag betrug, da die Nachwirkung etwa 
gleich stark war und da endlich in dem 1. Fall Komplexreaktionen 
bestanden und im 2. fehlten, so ist die Annahme berechtigt, daB 
im Falle 1 die Fehler zum Teil auch von dem EinfluB des Komplexes 
mitbestimmt wurden. 

Diese Variationen der Hauptaufgabe haben keine erheblichen 
Abweichungen von den friiheren Resultaten ergeben. 


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26S 


K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung 


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Die letzte wichtigste Umbildung der Aufgabe bestand darin, 
daB vor der 2. Versuchsreihe eine Geschichte vorgelesen wurde mit 
der Instruction, unmittelbar bevor auf das Reizwort reagiert wurde, 
an die Geschichte zu denken 1 ). Die Aufforderung lautete wort- 
lich: Denken Sie an die Geschichte; sie wurde vor jedem Reizwort 
getan. Bei Vorversuchen beschrankte sich diese Instruction auf 
den Beginn der Assoziationsreihe. Dabei stellte sich heraus, daB 
eine Aenderung in der Reaktionsweise gegeniiber den eigentlichen 
Versuchen nicht stattfand, und daB eine starkere Komplexwirkung 
nicht einsetzte. Dazu kam, daB es ungewiB blieb, ob auch die 
Versuchsperson standig die Instruktion befolgt hatte. Selbst bei 
der Wiederholung, kurz vor dem Aussprechen des Reizwortes, ver- 
sagte sie zuweilen in ihrer Wirkung. Eine nachherige Befragung 
der Versuchsperson, ob sie auch an die Geschichte gedacht 
hatte, ergab unsichere Resultate. Viele Versuchspersonen klagten 
dariiber, daB sie durch die Instruktion gestort wurden. In 
anderen Fallen ward die Instruktion befolgt, aber es tritt 
keine Komplexreaktion auf. Eine einwandfreie Deutung dieses 
Verhaltens wird sich nicht geben lassen, vielleicht ist das 
Gefuhl der Stoning, der fortgesetzten Vorstellungsunterbrechung 
als Ursache anzusehen. Einzelne Versuchspersonen glauben, sie 
miiBten nach einem Zusammenhang zwischen Reizw r ort und Ge¬ 
schichte suchen. Dadurch kommt es zu Auslassungen, Verlegen- 
heitsassoziationen und vor allem zur Verlangsamung der Reak- 
tionszeit. Oft haben die Versuchspersonen das Gefuhl, als „ginge 
es durcheinander“. DaB, auch wenn das BewuBtsein, an die (Je- 
schichte gedacht zu haben, fehlte, eine erhohte Determination 
durch die Instruktion gegeben war, zeigten Kontrollversuche bei 
Normalen. So berichtet eine normale Versuchsperson, daB sie „nicht 
immer“ an die Geschichte gedacht habe; trotzdem sind 20 pCt. ihrer 
Reaktionen als Komplexwirkung anzusehen. Eine andere zeigt zwar 
keine Komplexreaktion, aber in 20 pCt. will sie an die Geschichte 
erinnert worden sein. Das traf nicht nur fur wortliche Reize, 
sondern auch bei Reizen, die gar keine oder nur lockere Beziehungen 
erkennen lassen, wie z. B. ,,Schlange“, „fahren“, zu. 

Der Prozentsatz der beeinfluBten Reaktionen betragt 20 pCt., 
ist also durchschnittlich etwa 4 mal so hoch als bei den anderen 
Versuchen. Besonders bevorzugt sind dabei die hysterische und 
melancholische Gruppe mit 18,3 bezw. 34,1 pCt. Der hohe letztere 
Wert wird dadurch mitbedingt, daB in dem einen Fall nach einem 


*) Die Geschichte ist auch dem Buch von Koppen und KtUzinski 
entlehnt. Ootteshavsgeschichie: Der Tischlermeister G. aus der Eisenbahn- 
straBe begab sich nach Strausberg, engagierte dort einen Kutscher fiir 
den ganzen Tag, fuhr mit diesem in der Umgegend herum und kehrte in 
verschiedene Wirtachaften ein. Im ..Hungrigen Wolf“ erzahlte er dem Wirt, 
daft es ihm in Strausberg immer sehr gut gefallen, und daB er besonders die 
Marienkapelle lieb gewonnen habe. Da habe er sich schon lange vorgenommen: 
,,Hier hangst du dich einmal auf.“ Der Wirt verwies ihm diese Redensarten. 
G. hat aber sein Vorhaben ausgefiihrt und sich im Gotteshause das Leben 
genommen. 


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des Vorstellungsablaufes durch Gesohichtskomplexe etc. 269 

Zusammenhang gesucht wurde. Uebrigens bilden diese Werte 
einen bemerkenswerten Gegensatz zu den anderen Werten des 
Hauptversuches. Wahrend sich im Durchschnitt der EinfluB der 
variierten Aufgabe in einer vierfachen Vermehrung dokumentiert, 
betragt die Vermehrung bei der Melancholiegruppe das Achtzehn- 
fache. Trotz der wenigen Versuchspersonen wird man die Moglich- 
keit des Zufalligen ablehnen miissen. Es diirfte sich hier vielmehr 
um eine Folge der Instruktion handeln. Diese hat bei den ge- 
hemmten Versuchspersonen teils zu einer schnelleren Ueberwindung 
der Hemmung gefiihrt, als bei den Hauptversuchen, teils besitzt 
aber auch die Instruktion infolge der Hemmung eine groBere 
Nachhaltigkeit. Eine Bestatigung ergeben die Fehlerreaktionen 
der melancholischen Gruppe. An sich nimmt, wie bei den Haupt¬ 
versuchen, die Zahl der Fehler in der Komplexreihe erheblich zu, 
aber im Vergleiche zu der Fehlerzahl der Hauptversuche hat sie 
sich nur um das iy 2 —3fache vermehrt (14 pCt.). Auch bei der 
Hysteric lost der Komplex eine Vermehrung der Fehler aus, die 
der der Komplexreaktionen entspricht (23,3 pCt.). In einem Fall 
eines paranoischen Zustandes treten iiberhaupt keine Geschichts- 
ankniipfungen hervor, dafur ist aber die Zahl der Fehler von 0 
der 1. Versuchsreihe auf 18 in der 2. gewachsen. Das letztere ist 
nicht als eine Folge der Komplexwirkung zu betrachten. In den 
Hauptversuchen pflegt ja bei den paranoischen Zustanden die 
Zahl der Fehler nur sparlich und, wie bemerkt, nur eine Folge der 
begleitenden Debilitat zu sein. Durch die fortgesetzte Storung bei 
der standig wirksamen Instruktion erklart sich dieser hohe Prozent- 
satz. Auch eine Dementia paralytica laBt Beeinflussungen, abge- 
sehen von einer geringen Fehlerzunahme, vermissen. Dagegen weist 
die Hebephrenie vermehrte Komplexzahlen auf (13,3), ohne daB die 
Fehler sich steigem. 

Die Zahl der Wiederholungen ist auffallig gering (18,7 pCt.). 
Im einzelnen entfallen 4,4 pCt. auf melancholische Zustande, 
28,3 pCt. auf Hysterie und 18,3 pCt. auf Hebephrenie. Bei der 
Dementia paralytica kehren 36,7 pCt., bei den paranoischen Zu¬ 
standen 16,7 pCt. der Reaktionen wieder. Am wichtigsten sind 
die Nachwirkungen, bei denen auch hier keine Beziehungen zu 
den Komplexreaktionen bestanden. Hire Zahl ist sehr gering: 
2,7 pCt. in der 1., 2,3 pCt. in der 2. Versuchsreihe. In einem Fall 
von Hysterie findet man eine gesteigerte Nachwirkung; die Be- 
fragung ergibt, daB die Versuchsperson fortgesetzt durch die In¬ 
struktion abgelenkt wurde, ihre Komplexzahlen sind niedrig. In 
einem anderen Fall von Hysterie sind die Einwirkungen durch die 
Geschichte sehr groB, wahrend Nachwirkungen vermiBt werden; 
auch sonst fehlen die letzteren, nur bei der Hebephrenie wurden sie 
einmal konstatiert. 

Vergleicht man die Resultate dieser Aufgabe mit denen der 
Hauptversuche, so muB vor alien Dingen auf den Unterschied in 
der Zahl der Komplexreaktionen hingewiesen werden. Dabei wirken 
nicht stets die gleichen Reizworter besonders komplexanregend, 

Monatasohrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 3. 18 


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270 


Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


das scheint individuelle, nicht weiter nachweisbare Ursachen zu 
haben. Soweit die vorgenommenen Kontroilversuche bei Nor- 
malen ein Urteil gestatten, sind bei diesen noeh geringere Komplex- 
einfliisse vorhanden, selbst wenn die Determination, ,,im Inter vail 
an die Geschiehte zu denken“, gegeben ist. Diese hat bei 3 Nor- 
malen nur 2,3 und 0 Ankniipfungen hervorgerufen. Es liegt das 
nicht an der groBeren Fliichtigkeit des akustisch wirksamen Kom- 
plexes, an seiner geringeren Anschaulichkeit; denn auch bei Scholls 1 ) 
Bildversuchen zeigt die 2. gebildete Versuchsperson nur sehr wenig 
Bildassoziationen. Als Ursache ist nicht allein die Art und Energie 
der Einpragung des Komplexes zu betrachten, sondem wichtiger 
ist die Intensitat, mit der die Instruktion zur Geltung kommt. 

Ueber das Wissen von dem EinfluB des Komplexes. 

Die Untersuchungen von Ach , Messer , Watt haben gelehrt, daB 
Determinationen, Aufgaben zwar nicht im BewuBtsein sein, aber doch 
bei der Reproduktion wirken konnen. Wenn auch in unseren Haupt- 
versuchen von der Wirkung einer Aufgabe im Sinne dieser Antworten 
nicht die Rede sein kann, so haben wir doch eine deutliche Beeinflus¬ 
sung der Richtung des Vorstellungsablaufs in Einzelfallen festgestellt. 
Aber diese Beeinflussung kommtdurchaus nicht immer den Versuchs- 
personen zum BewuBtsein. Ich habe durch die unbestimmte Frage 
,,Haben Sie an etwas gedacht ?“ dariiber Klarheit gewinnen wollen; 
wo sie versagte, wurde die Frage am SchluB der Reihe bestimmter 
formuliert : Haben Sie bei einer Hirer Antworten an die eben ge- 
lesene Geschiehte gedacht ? Oft geniigte diese Anregung, um die 
Erinnerung an den Komplex zu erweeken, die dann meist in den 
Worten ,,jetzt fallt es mir ein“ zum Ausdruck kam. Meist war 
gerade die Entscheidung dariiber, ob die Frage erst zur Reproduk¬ 
tion Veranlassung gab, oder ob die Versuchspersonen spontan an die 
Geschiehte dachten, mit Sicherheit zu treffen. In 9 Fallen wurde 
weder an den Komplex angekniipft, noch wurde er spontan oder 
auf Befragen erinnert. Einmal trat spontan die Erinnerung an das 
Gelesene auf, ohne daB sonst irgendwelche Beeinflussungen er- 
kennbar waren, nur 3 mal wurde das letztere festgestellt. Dabei 
wurde vernachlassigt, ob nicht oft der Komplex spontan auftauchte, 
ohne daB die Versuchspersonen es mitteilten. Die Befragung hat 
hier zu keinem eindeutigen Resultat gefuhrt, meist wurde sie ver- 
neint. Haufiger, wenn auch selten genug (in 9 Fallen), wurde die 
Geschiehte erinnert, ohne daB eine Ankniipfung stattfand. Mit 
61 Reaktionen war zugleich ein Wissen um den Komplex verbunden. 
Die Verteilung zeigt die folgende Tabelle: 

Tabelle XXXIV. 

In Prozenten der Gesamtreaktionen. 


Serie Versuchsreihe I !! Versuchsreihe II | Versuchsreihe III 

I I 

A-Serie.I 1,6 j 3,3 1,8 

B-Serie. ' 0 9 1,2 


J ) a. a. O. 








des Vorstellungsablaufes durcli Geschichtskomplexe etc. 


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Die meisten Reaktionen entfalien auf die A-Serie. Das Resultat 
entspricht den Werten der Komplexreaktionen. In der 2. Reihe 
nach der Komplexwirkung steigt die Zahl der vom Wissen be- 
gleiteten Reaktionen. Das weist darauf hin, daB die Frage am 
SchluB der 1. Versuchsreihe die BewuBtheit verstarkt hat. Auf- 
fallig erscheint, daB bei der A-Serie groBere Werte auftreten als 
bei der B-Serie. Die Fixation, die auch bei den Komplexreaktionen 
den geringeren Prozentsatz mit kervorgerufen hat, bildet nicht die 
alleinige Ursache. Denn gerade solche Reize, die zugleich Lock- 
worte waren, wurden erst in der 2. Reihe benutzt. Femer ware 
zu erwarten, daB die Wirkung der Fixation auch in den Fallen, 
wo eine Ankniipfung ohne Wissen stattfindet, erkennbar ware. 
Hier verhalt es sich aber umgekelirt. Die B-Serie liefert die hoheren 
Werte: 3,1 pCt. und 2,8 pCt. der B-Serie stehen 2,9 pCt., 2,4pCt. 
und 1,4 pCt. der A-Serie gegeniiber. Daraus folgt, daB als Ursache 
noch ein anderes Moment in Frage kommen muB. 

Es liegt nahe, daB bei der sofortigen Exposition der Geschichte, 
auch ohne ausdriickliches GeheiB, die Tendenz bestand, Beziehungen 
zwischen Reizwort und Komplex herzustellen. Die Tendenz war 
nicht in klarer BewuBtseinslage gegeben, aber sie war zweifellos wirk- 
sam. Die Geschichte als Ganzes beeinfluBte den durch die Reizwdrter 
angeregten Vorstellungsablauf, sie bestimmte zum Teil seine Rich- 
tung mit. Man muB beachten, daB diese Art der Beeinflussung 
von der durch den Inhalt, durch die Einzelvorstellungen gesetzten 
zu unterscheiden ist. Das letztere ist als eine besondere Form der 
Nachwirkung zu betrachten, als perseveratorische Konstellation, 
wie man es auch nennen kann. Diese Art des Einflusses friiherer 
Vorstellungen meint Liepmann , wenn er Nachwirkung und Kon¬ 
stellation identifiziert. Die Tatsache der groBeren BewuBtheit 
kann aber durch die Nachwirkung eines Inhaltes nicht erklart 
werden. Eine Abhangigkeit des einen Momentes vom andem 
besteht nicht. Wie deutlich die Tendenz der Beziehung wirkt, 
zeigen die Zahlen der unbewuBten Reaktionen; bei unmittelbarem 
EinfluB der Komplexreaktionen treten die hochsten Werte auf 
(2,9 bezw. 3,1 pCt.), bei mittelbarem EinfluB sinken sie (1,4 bezw. 
2,8 pCt.). Bei der B-Serie ist durch die Fixation die Inbeziehung- 
setzung zwischen Reizwort und Komplex erschwert, dadurch wurde 
auch eine groBere BewuBtheit unmoglich gemacht. Es handelt 
sich aber nicht nur um die Fixation im einzelnen, im Inhaltlichen, 
sondern es findet auch in der Richtung des Vorstellungsablaufes 
eine bestimmte Fixation durch den EinfluB eines einheitlichen 
Komplexes statt. Der Grad dieses Einflusses ist je nach der In¬ 
tensity oder der Affektbetonung des Komplexes verschieden. Bei 
den mitgeteilten Versuchen ist er verhaltnismaBig gering; wieweit 
pathologische Prozesse daran beteiligt sind, laBt sich nicht ent- 
scheiden, da ja ausreichende Normalversuche fehlen. So viel 
scheint aber ersichtlich zu sein, daB bei Normalen An- 
kniipfung an die Geschichte und das Wissen dar- 
um meist parallel gehen. Bei meinen Versuchs- 

18 * • 


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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


personen fa lit die g r o B e Zahl der unbewuBten 
Komplexreaktionen im Vergleieh zu den bewuB- 
ten auf. 

Es ware denkbar, daB das Inbeziehungsetzen als ein kompli- 
zierterer psychischer Akt bei krankhaften Versuchspersonen nicht 
so haufig zur Anwendung kommt, wie bei anderen Versuchs¬ 
personen. An Stelle der Herstellung von Beziehungen treten ein- 
fache Nachwirkungen auf. das bildet die Genese der zahlreichen 
unbewuBten Ankniipfungen. Damit steht nicht im Widerspruch, 
daB im allgemeinen das Inbeziehungsetzen zwischen Komplex 
und Reaktion bei Normalen viel seltener ist, daB diese noch viel 
weniger Komplexreaktionen bringen als meine Versuchspersonen. 
Denn der Normale stellt nur aus inneren Griinden, oder wenn ihm 
eine Aufgabe gegeben wird, Beziehungen her. Und diese werden 
gleichzeitig sofort bewuBt, der Kranke schafft Beziehungen auch 
aus auBeren, oberflachlicheren. wenig gefiihlsstarken Veran- 
lassimgen heraus. 

Die Betrachtung der einzelnen Gruppen hat keine Besonder- 
heiten ergeben. Vor allem besteht keine Einheitlichkeit in dem 
Verhaltnis der BewuBtheit zur Zahl der Komplexreaktionen. Bei 
der Hysterie finden sich zahlreiche Ankniipfungen bald mit, bald 
ohne begleitendes Wissen; seltener ist bei starker BewuBtheit eine 
geringe Ankniipfung zu konstatieren. Die Defektzustande zeigen 
meist eine sparliche BewuBtheit der Geschichte. Manische zeigen, 
trotz minimaler Ankniipfung, eine deutliche Erinnerung, bei Dam- 
merzustanden verhalt es sich meist umgekehrt. 

Ergebnisse. 

Es seien noch einmal die Ergebnisse zusammengestellt: 

1. Die Komplexreaktionen sind nur sparlich aufgetreten und 
tragen einen monotonen Charakter. 

2. Die Zeitmessung ist fiir die Beurteilung der Reaktionen bei 
der gegebenen Aufgabestellung ohne erhebliche Bedeutimg. 

3. Es bestehen Abhangigkeitsbeziehungen zwischen Ausfall- 
und Komplexreaktionen, die eine Bestatigung, zugleich 
aber auch eine Erweiterung der von Jung imd Riklin ent- 
wickelten Anschauungen bilden. Nicht nur Gefiihlskom- 
plexe, sondern auch neue, frische Komplexe beeinflussen 
die Zahl der Fehler. 

4. Der EinfluB des Komplexes kann sich bald in einer Ver- 
flachung, bald in einer Verinnerlichung der Objekt-Asso- 
ziationen auBern. Welcher von beiden Faktoren iiberwiegt, 
scheint nicht vom Individuum, sondern vom Krankheits- 
typus abzuhangen. 

5. Eine Zunahme der pradikativen Reaktionen im Sinne Jungs 
imd Riklins bei unmittelbarer Komplexwirkung war nicht 
vorhanden. Dagegen nimmt deren Zahl bei affektiven Zu- 
standen zu. 


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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplex© etc. 273 

6. Zwischen Komplexrcaktionen und Zahl der Wiederholungen 
besteht ein Wechselverhaltnis in der Weise, daB die Zunahme 
der einen eine Abnahme der anderen mit sich bringt. Das 
gleiche trifft fiir die Naehwirkung zu. 

7. Die Methode ist geeignet, eine deutliche Anschauung von 
dem EinfluB verschiedener, ahnlicher Aufgaben zu geben. 
Die Instruktion, zwischen den einzelnen Reaktionen an 
die Geschichte zu denken, hat meist, aber nicht durch- 
gangig, zu einer Erhohung der Komplexreaktionen gefiihrt. 

8. Bei Normalen pflegt Ankniipfung an die Geschichte und 
das Wissen darum meist parallel zu gehen, bei den mit- 
geteilten Versuchen fallt die unverhaltnismaBig groBe Zahl 
unbewuBter Reaktionen auf. 

DaB diese Resultate konstant sind, wird dadurch wahrschein- 
lich gemacht, daB sie bei den verschiedenen klinischen Gruppen 
im wesentlichen iibereinstimmend aufgetreten sind. 

Von einer Verwertung in diagnostischer Beziehung wurde 
abgesehen, weil die Beobachtungen fiir diesen Zweck noch nicht 
ausreichend sind. Soweit diagnostische Erwagungen angebracht 
waren, sind sie in die Erorterungen eingestreut worden. Bekannt- 
lich hat man aus der Reaktionsform der iiblichen Assoziations- 
versuche Schliisse auf den vorliegenden RrankheitsprozeB gezogen. 
Meines Erachtens wird man nach den bisherigen Erfahrungen in 
dieser Beziehung keine zu hohen Erwartungen haben diirfen. Die 
Resultate scheinen geeignet, das klinisch gewonnene Bild anschau- 
licher zu machen. Das gleiche laBt sich von unserer komplizierteren 
Aufgabe sagen. Es ist moglich, daB die Methode bei detaillierterer 
Anwendung geeignet ist, die Beziehungen zwischen dem eigenen 
Vorstellungsbesitz und fremden, hineingetragenen Komplexen auf- 
zudecken und zu einer scharferen Abgrenzung der verschiedenen 
Arten der Geistesstorung zu fiihren, dabei wird man aber stets 
den individuellen Differenzen Rechnung tragen miissen. 

Wichtiger als differentialdiagnostische Erwagungen ist die 
Frage, ob die gefundenen Tatsachen geeignet sind, das Wesen der 
Konstellation zu erklaren. Liejmiann 1 ) hat als Erster den Kon- 
stellationsbegriff scharf umgrenzt. Zum Verstandnis seiner grund- 
legenden Darlegungen ist ein naheres Eingehen auf seine Erlaute- 
rung des geschlossenen Gedankenganges erforderlich. Charakte- 
ristisch fiir diesen ist, daB nicht das letzte Glied des erst entwickelten 
Gedankens den Fortgang bestimmt, sondem der Gedanke als 
Ganzes. Liepmann erlautert das bekanntlich an dem Beispiel des 
Themas, er hebt diesen EinfluB deutlich heraus, indem er die 
leitende Vorstellung als Obervorstellung bezeichnet. Die Ober- 
vorstellungen sind dadurch richtunggebend, daB sie die Regel der 
Verkniipfung einer ganzen Reihe einzelner Vorstellungen enthalten. 
In dem geordneten Denken geht nach Liejmiann die Verkniipfung 
dem Verkniipften voraus. Beim bloBen Assoziieren geraten Vor- 


x ) Liepmann , Ueber Ideenfluoht. Halle 1905. Marhold. 


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274 


Kutzinski. Ueber die Beeinflussung 


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stellungen beliebig zusammen, beim geordneten Denken werden 
nur zusammengehorige Vorstellungen miteinander verkniipft, dabei 
wird die Verkniipfung durch die herrschende Obervorstellung be- 
stimmt. Diese Herrschaft fallt nach Liepmann mit dem zusammen, 
was man gewohnlich Aufmerksamkeit zu nennen pflegt. Die Auf- 
merksamkeit ergreift einen Vorstellungskomplex und verleiht da- 
durch seinen Komponenten ein Uebergewicht iiber das nur asso- 
ziativ Anklingende. 

Nun erhebt sich die Frage. ob diese von Liepmann fiir das 
geordnete Denken postulierte Herrschaft der Obervorstellungen 
nicht eine besondere Form der Konstellation reprasenticrt. 
Liepmann hat diesen Einwand bereits selbst widerlegt. Wollte 
man die Gesamtheit der unbekannten Faktoren, die beim ge¬ 
ordneten Vorstellungsablauf wirksam sind, Konstellation nennen, 
so wiirde man dadurch nur alle Unterschiede verwischen. Wir 
wollen aber doch gerade die Eigentiimlichkeit der Konstellation 
charakterisieren, welche das geordnete Denken vom bloBen Asso- 
ziieren unterscheidet. Wahrend, um Liepmanns Worte noch ein- 
mal zu wiederholen, in dem einen Fall eine und dieselbe Vorstellung 
einen bestimmenden EinfluB auf eine ganze Reihe von Vor¬ 
stellungen ausiibt, bringt die Konstellation nur das gelegentliche 
und stellenweise Nachwirken einer friiheren Vorstellung zum Aus- 
druck. 

So scharfsinnig auch diese Definitionen sind, so sehr sie auch 
die Erkenntnis vom Wesen der Ideenflucht gefordert haben, es 
scheint, als ob die Identifikation von Konstellation und Nach- 
wirkimg den Tatsachen nicht gerecht wird. Gerade in dieser Be- 
ziehung sind obige Resultate bedeutungsvoll. Wenn Liepmanns 
Ansicht zutrifft, so sollte man erwarten, daB die Nachwirkungs- 
und Komplexreaktionen einander parallel gehen. Nun zeigen aber 
die Untersuchungen, daB immer, wenn die Pi*ozentzahl der einen 
Reaktionsform sinkt, die der anderen steigt, und umgekehrt. Ferner 
treten in vielen Fallen Konstellationsreaktionen auf, wahrend ein- 
fache Nachwirkungsankniipfungen naher zu liegen scheinen. Das 
sollen einige Beispiele erlautern : Das Reizwort ,,Blut“ lost in der 
ersten Versuchsreihe die Reaktion ..krank sein“, das spater folgende 
Reizwort ,,rot“ die Reaktion ,,der Tod u aus. In der Komplexreihe 
findet auf ,,rot“ die Assoziation ,,Blut“ statt, die in der 3. Ver¬ 
suchsreihe wieder durch das Reaktionswort ,,Liebe <4 ersetzt wird. 
Wollte man nun die Reaktion ,,Blut“ der 3. Komplexreihe durch 
die Nachwirkung des kurz vorhergegangenen Reizwortes ,,Blut“ 
erklaren, so bliebe unverstandlich, warum dieser EinfluB sich nicht 
auch schon in der 1. und dann nicht auch wieder in der 3. Versuchs¬ 
reihe geltend gemacht hat. Es ist auch nicht eine absichtliche 
Beziehung in der Komplexreihe zwischen ,,rot“ und ,,Blut“ her- 
gestellt worden. Die Versuchsperson weiB gar nichts von diesem 
EinfluB. Es bleibt demnach nur iibrig, daB hier noch eine besondere 
Wirkungsform stattgefunden haben muB. Noch deutlicher wird 
diese Tatsache an dem folgenden Beispiel: Auf das Reizwort 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 275 

,,kaufen“ reagiert die Versuchsperson mit ,,konnen“, auf das un- 
mittelbar darauf folgende doppelsinnige Reizwort ,,Meer“ init 
,,besitzen“. In der Komplexreihe wird aber dieses Reizwort im 
Sinne des Komplexes aufgefabt und weckt die Beziehung ,,ist 
griin“. Auch hier fehlte alles Wissen um die Ankniipfung. In 
diesem Falle hat also, trotzdem die kurz vorhergehende Reaktion 
,,kaufen“ der Auffassung des Wortes ,,Meer“ im Sinne des Kom¬ 
plexes entgegenwirkte, der Komplex sich dennoch durchgesetzt. 
Die Versuchsperson zeigte sehr viele Komplexeinflusse, aber keinen 
Fall von Nachwirkung. Fine Erganzung bildet das 3. Beispiel: 
Hier wurden viele Ankniipfungen ausgefiihrt. Dabei hatte man den 
Eindruck, als ob die Versuchsperson zwischen Reizwort und Kom¬ 
plex Beziehungen herzustellen versuchte. Sie zeigte auch beim 
Befragen stets ein Wissen um die Ankniipfung. Auffallig ist aber, 
dab das Reizwort „Offizier“ z. B. keine Ankniipfung hervorrief, 
wahrend das Reizwort ,,Bord“ sofort die Reaktion ,,der Offizier 
ist fiber Bord gestiirzt“ ausloste. Ich habe 3 typische Beispiele, 
das Verhaltnis zwischen Konstellation und Nachwirkung betreffend, 
ausgewahlt. 

Man kann dagegen einwenden, dab die anderen Hilfsfaktoren 
des geordneten Denkens, wie assoziative Verwandtschaft, besondere 
Frische und Lebendigkeit des Reizes, oder endlich Gefiihls- 
momente diese Reaktionen verursaeht haben. Eine Betrachtimg 
der in Frage kommenden Reaktionen lehrt aber, dab sie sich 
gegeniiber den anderen in nichts unterscheiden. Die assoziative 
Verwandtschaft zwischen ,,rot“ — ,,der Tod“, ,,rot — Blut“ und 
,,rot — Liebe“ erscheint nicht nennenswert different. Ueberdies 
ist, wie auch von Liepmami hervorgehoben ist, der Begriff asso¬ 
ziative Verwandtschaft ein recht vager und unbestimmter, der 
nicht geeignet ist, eine klare Abgrenzung zu gewahren. Es bliebe 
auch unverstandlich, warum die Beziehung ,,rot — Blut“ eine 
frischere, lebhaftere sein sollte, als die anderen Ankniipfungen. Im 
Gegenteil, man konnte sogar vermuten, dab die Reaktion ,,der 
Tod“ einen Gefiihlscharakter hat, so dab also hier der objektive 
Komplex den Gefiihlston verdrangt hat. Im 2. Beispiel sind die 
starken Einfliisse der Uebung und der Frische infolge der sehr ge- 
laufigen Reaktionen der ersten Versuchsreihe noch deutlicher 
vorhanden, trotzdem kommen sie nicht zur Geltung. Auch die 
Nachwirkung des Wortes ,,Ozean 4<1 ) wiirde nicht zur Erklarung aus- 
reichen. Es lage doch naher, dab das soeben vorangegangene und 
auch in der 1. Versuchsreihe aufgetretene Reizwort ,,kaufen“ 
einen starker nachwirkenden Einflub ausiibte. Dab andererseits 
eine Nachwirkung ausbleibt, trotzdem man sie erwartet hatte, 
zeigt das 3. Beispiel. Hier treten viele Komplexankniipfungen auf, 
und bei dem im anderen Zusammenhang wirksamen Reizwort 
,,Offizier“ fehlt sie. Die Aktualitat und Frische des Reizwortes 
,,Offizier“ ist dabei kaum schwacher entwickelt, als die der eine 


x ) V. aus der Geschichte. 


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K u tzi nski , Ueber die Beeinflussung 


Komplexwirkung auslosenden Reize. Es bestatigt sich also auch 
an diesem Beispiel, daB Nachwirkung nnd Konstellation nicht 
identisch sind. 

Um nun zum Verstandnis dieser Tatsache zu gelangen, mochte 
ich auf Anschauungen hinweisen, wie sie von Lipps 1 ) entwickelt 
wurden. Unter Aufmerksamkeit versteht man die Wirksamkeit 
desjenigen, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist. Wenn sie 
z. B. auf eine Wahrnehmung gerichtet ist, so bedeutet das, daB 
eben jetzt diese Wahrnehmung vor den anderen Vorgangen mein 
psychisches Geschehen bestimmt. Das Erlebnis, dem sich die 
Aufmerksamkeit zuwendet, verdrangt alle anderen. Fiir unsere 
Zwecke geniigt diese Tatsache, um den Tatbestand der Aufmerk¬ 
samkeit zu kennzeichnen. Naher auf ihr Wesen einzugehen, ist an 
diesem Ort nicht angangig. Die Aufmerksamkeit hat also nach 
dieser Auffassung nichts mit dem Inhalt des psychischen Ge- 
schehens zu tun. Sie ist nur ein BewuBtseinsvorgang, eine Tatig- 
keit der Seele. Die Obervorstellungen bilden den Inhalt dieser 
Tatigkeit, sie geben der Aufmerksamkeit die Richtung. 

Aber diese Momente allein wurden nicht ausreichen, um das ge- 
ordnete Denken zu erklaren. Es kommt ein drittes hinzu: Die Seele 
hat die Tendenz, Einheiten nach bestimmten Gesichtspunkten zu 
bilden. Diese Einheitsbeziehungen finden fortwahrend statt. Es 
werde jemandem das Reizwort ,,Goethe 44 zugerufen. Dadurch wird 
die Aufmerksamkeit gefesselt. Zugleich stellt sich eine Reihe einge- 
iibter Vorstellungen ein, wie z. B. ,,Schiller, Frankfurt 44 etc., oder, 
wenn ich mich zufallig am Vormittag mit ,,Spinoza 44 beschaftigt 
habe,,,Spinoza 44 ein. Warum nun die Aufmerksamkeit gerade eine 
von diesen Vorstellungen auswahlt und zur sprachlichen Fixierung 
bringt, kann nicht erklart werden, wenn man nicht jene Tendenz 
zu Einheitsbeziehungen annimmt. Dabei wird vorausgesetzt, daB 
bei alien zugleich in Bereitschaft tretenden Vorstellungen der Ge- 
fiihlston, die Intensitat und Gelaufigkeit gleich stark vorhanden ist. 
DaB die Nachwirkung an sich nicht ausreicht, haben die Beispiele 
gezeigt. Die Einheitsbeziehung bedient sich nur einer dieser 
Reproduktionsformen, wie der Uebung, der Aehnlichkeit, der 
Nachwirkung, um wirksam zu werden. Andererseits ware es falsch, 
sie mit der Aufmerksamkeit zu identifizieren. 

Die Tatsache des Beziehens von Objekten oder Vorstellungen 
ist ein ebenso unmittelbares Erlebnis, wie der Vorgang der Auf¬ 
merksamkeit. Es ist gleichgiiltig dabei, ob man die Einheits¬ 
beziehung als ein etwas nicht weiter Zerlegbares, oder als ein 
Ergebnis betrachtet, dessen Bedingungen in objektiven und sub- 
jektiven Momenten gegeben sind. Die Schwierigkeit bei der Be- 
urteilung liegt nur darin, daB die 3 Faktoren Obervorstellung, 
Aufmerksamkeit, Einheitsbeziehungen stets gemeinschaftlich und 
gleichzeitig wirken und die Tendenz zu Einheitsbeziehungen nichts 
anschaulich Gegebenes ist. 


’) Lipps , Leitfaden der Psychologic. 1909. 


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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 


277 


Liepmann hat in seiner Arbeit gerade dieses Moment zu wenig 
beriicksichtigt. Oft kommt der iiber ein bestimmtes Thema Vor- 
tragende im Verlauf der Rede auf einen anderen Gedanken. Wenn 
z. B. jemand, urn Liepmanns Beispiel zu wahlen, iiber die Stellung der 
Frau bei den Romem spricht und dann zur Frage der Stellung der 
Frau bei den Griechen iibergeht, so soil hier kein rein assoziativer 
Vorgang vorliegen. Liepmann glaubt, daB sich der Redner in 
diesem Fall eine neue Obervorstellung, die Stellung der Frau im 
Altertum, geschaffen hat. Das Auftreten der Nebenvorstellung 
„Stellung der Frau bei den Griechen 14 miiBte doch aber, auch wenn 
nicht an das letzte Glied des erst entwickelten Gedankens angekniipf t 
wird, als assoziativ betrachtet werden; dabei kann man zugeben, 
daB die Obervorstellung gewechselt hat und allgemeiner geworden 
ist. Hier wiirde es sich um das Aneinanderreihen von Vor- 
stellungskomplexen handeln. Alle derartigen Uebergange wiirden 
ein unvermitteltes Geprage tragen, wenn nicht zwischen den ein- 
zelnen herrschenden Vorstellungen bestimmte einheitliche Be- 
ziehungen geschaffen werden. Die Obervorstellungen reprasentieren 
nur den Inhalt des Vorganges, aber nicht seine einheitliche Ab- 
laufsform. Die Einheitsbeziehungen sagen aber ebensowenig wie 
die Aufmerksamkeit iiber den Inhalt der Vorgange etwas aus. Man 
ist berechtigt, in diesem Sinne die Tendenz zu Einheitsbeziehungen 
als eine Bedingung der Aufmerksamkeit zu betrachten. 

Die Einheitsbeziehungen werden mitbestimmt durch die Ober¬ 
vorstellungen. Wo eine solche fehlt oder nur undeutlich gegeben 
ist, kann man nun die Einheitsbeziehungen besser studieren. Des- 
halb erscheinen die obigen Versuche zu ihrem Studium besonders 
geeignet. Bei der gestellten Aufgabe ist iiberhaupt keine deutliche 
Obervorstellung gegeben. Die Richtungen, die hier wirksam sind, 
fallen mit den Richtungen, die in der Gesamtpersonlichkeit liegen, 
zusammen. Diese bestimmt also vermoge ihrer besonderen An- 
lagen, ihres augenblicklichen Gesamtzustandes, ihrer momentanen 
Stimmung die einzelnen Reaktionen. DaB z. B. bei dem Reizwort 
„Fisch“ bald die Reaktion ,,schwimmen“, bald ,,Schuppen“ ge- 
wahlt wird, wird durch die Einheitsbeziehungen, die sich im Moment 
der Bildung unter dem EinfluB unbekannter augenblicklicher 
Richtungen vollziehen, verursacht. 

Gelegentlich, aber seltener, weil der Vorgang weniger geiibt 
und fur die Einheitlichkeit des Denkens unzweckmaBiger ist, be- 
nutzen solche Einheitsbeziehungen Nachwirkungen des Inhalts. 
Beim Normalen tritt diese Art der Beziehung fast vollig zuriick. 
So kommt es, daB bei den normalen Kontrollversuchen nur sehr 
sparlich Einfliisse der Geschichte bemerkbar waren. Bei Normalen 
sind die Einheitsbeziehungen auf Grund fruherer Inhalte imd alter 
bestimmender Obervorstellungen starker vorhanden, als bei vielen 
krankhaften Versuchspersonen. Bemerkenswert ist, daB die Zu- 
stande, die die schwerste Storung im Zusammenhang des Denkens 
zeigen, sei es auf Grund einer starken Dissoziation oder auf Grund 
eines erheblichen Merkdefektes, am haufigsten den EinfluB der 


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Kutzinski, Ueber die Beeinflussung etc. 


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Geschichte erkennen lassen. Uebrigens zeigt auch die Beteiligung 
der Merkstorungen, daB nicht die Nachwirkung des Inhalts, wie 
Liepmann es darstellt, die Ursache der haufigeren Anknupfungen 
sein kann; denn bekanntlich pflegt die Nachwirkung bei Korsakoff- 
Zustanden von sehr kurzer Dauer zu sein, vor allem ist sie nicht 
noch nach Tagen wirksam. 

Man kann also die Konstellation am besten so definieren, 
daB sie sich aus 2 Bestandteilen zusammensetzt, einem inhaltlichen 
und einem formalen. Der letztere reprasentiert die Tendenz zu 
Einheitsbeziehungen. Diese ist bei dem gewohnten, alltaglichen 
Gedankenablauf weniger deutlich, weil es sich um fast automati- 
sierte Prozesse handelt. Je nach dem Gegenstand der Einheits- 
beziehung kann man, wie es auch geschehen ist, von einer asso- 
ziativen, perseverativen und determinierenden Konstellation 
sprechen. Man muB sich aber dabei bewuBt bleiben, daB diese 
Inhalte an sich wesensverschieden sind. Was sie gemeinsam haben, 
ist nur der allgemein psychische Vorgang der Beziehungsetzung, 
der Vereinheitlichung. 

Der Haupteinwand gegen diese Betrachtung besteht darin, 
daB die Einheitsbeziehungen nur unbewuBte Obervorstellimgen 
bedeuten sollen. So sagt Liepmann , daB die Obervorstellung ge- 
wohnlich bewuBt ist, aber manchmal ist sie auch unter der Scliwelle 
des BewuBtseins und macht sich dann nur durch ihre Wirksam- 
keit gel tend. Ach und andere haben denn auch den Vorgang 
Konstellation mit dem der determinierenden Tendenzen identifi- 
ziert. Dagegen sprechen aber die bereits erwahnten Einwande, die 
Liepmann gegen eine solche Zusammenfassung erhoben hat. Vor 
allem spriclit auch dagegen, daB man in den Protokollen die 
Lektiire der Geschichte vor der 2. Versuchsreihe nicht als eine 
determinierende Tendenz auffassen kann. Wenn man also dort, 
wo eine Konstellation besteht, die Amiahme einer reinen Nach¬ 
wirkung im Sinne Liepmanns ablehnt, so bleibt nichts anderes iibrig, 
als einen selbstandig wirkenden aktuellen Faktor anzunehmen. 
Dieser Anschauung kommt auch das Ergebnis von Versuchen ent- 
gegen, bei denen der ausdriickliche Auftrag gegeben war, zwischen 
2 Reaktionen an den Komplex zu denken. Es zeigte sich in diesen 
Fallen, daB durchaus nicht immer eine Vermehrung der Komplex- 
reaktionen stattfand, und doch gaben die Versuchspersonen an, 
sie hatten die Instruktion dahin aufgefaBt, daB sie absichtlich einen 
Zusammenhang zwischen Reiz und Komplex scliaffen sollten. Trotz 
dieser Absicht, trotz prompter Befolgung der Aufgabe, bleiben die 
Anknupfungen teilweise aus. Man muB also annehmen, daB fur 
dieses Verhalten nicht nur die eingeiibten assoziativen Ver- 
kniipfungen — denn diese waren ja auch bei den Reizworten, bei 
denen der Komplex zur Geltung kam, wirksam —, sondern auch 
die fast automatisierten Einheitsbeziehungen als Ursache in Be- 
tracht zu ziehen sind. Wo die letzteren fehlen, oder aus patho- 
logischen Griinden unvollkommen stattfinden, ist auch ein ge- 
ordnetes, zielgerichtetes Denken nicht moglich. 


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Diese Betrachtungsweise stellt unter Benutzung der ge- 
wonnenen Result ate und der Selbstbeobachtung den Versuch dar, 
Liepmanns grundlegende Anschauungen weiter zu entwickeln. 
Da bei bin ich da von ausgegangen, daB Liepmanns Identifikation 
von Konstellation und Nachwirkung den Tatsachen nicht vollig 
gerecht wird. Ich bin mir wohl bewuBt, daB die oben gegebene 
Definition eine Umgestaltung des Begriffes Konstellation bedeutet, 
aber sie war notwendig, weil Liepmanns Abgrenzung zu eng und 
die der anderen Autoren zu unscharf und unbestimmt war. Die 
Zusammenfassung der beiden Komponenten, des inhaltlichen und 
formalen Faktors, ist ebenso berechtigt, wie wenn Liepmann den 
Begriff der Obervorstellung und den der Aufmerksamkeit zu einer 
Einheit verbindet. DaB diese beiden Momente identisch sind, hat 
wohl auch Liepmann nicht behaupten wollen. DaB die obigen 
rntersuchungen nichts Abgeschlossenes bieten, das wird bei der 
Schwierigkeit der Fragestellung begreiflich erscheinen. 


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E. Redlich } Die Psyehosen bei Gehirnerkrankutujen im Handbuch der 
Psychiatric. Herausgeg. von G. Aschaffenburg. Leipzig und Wien. 

Die Psyehosen bei Gehirnerkrankungen. die zunachst nur durch einon 
auBeren Gesichtspunkt. ihre grob organise he Drsache. zusammengehalt.cn 
werden, bieten, wie Verf. in der Einleitung hervorhebt, aueh in sympto- 
matologischer Hinsicht gewisse Gemeinsamkeiten. Hierdurch. sowie durch 
den Umstand. daB sie Veranlassung zur Erorterung einiger Eragen von prin- 
zipieller Bedeutung geben, rechtfertigt sich ihre gesonderte Behandlung. 
In svmptomatologischer Beziehung stehen in erster Keihe alle diejenigen 
psyehischen Erseheinungen. weiclie auf eine Allgenieinsehadigung des 
Gehirns zuruckzufiihren sind und bei den organisehen Hirnerkrankungen 
insbesondere aueh als Folge des gesteigerten Hirndruckes auftreten. wie 
Herabsetzung des Sensoriuins init den dazu gehorigen Einzelsymptomen, 
amnestische Erseheinungen. Delirien u. a. 

Den breitesten Kaum ninimt das Kapitel fiber Hirntumoren ein. 
Verf. bet out die Haufigkeit des Vorkonunens psyehischer Abnormitaten 
bei den Gehimgeschwiilsten. Nur in einer Minderzahl handele es sich uni zu- 
fallige Kmnplikationen oder um durch das organische Leiden ausgeloste 
endogene Psyehosen; in der Mehrzahl der Falle lasse sich die unmittelbare 
Abhangigkeit der ]>syehischen Erseheinungen vom Tumor sowohl aus dem 
Svmptombild. als aueh aus dem Verlaufe, z. B. aus der Besserung nach der 
Operation naehweisen. 

Verf. sieht die Drucksteigerung als das wesentlichste Moment fur die 
Entstehung der psyehischen Syunptome an. Gegeniiber dem Bestreben, 
enge Beziehungen zwischen der Lokalisation des Tumors und der Art der 
psyehischen Erseheinungen herzustellen, nimmt Verf. eiuen ziemlieh ab- 
iehnenden Standpunkt ein; er betont. daB hier nur quantitative, jedoch 
keine qualitativen Unterschiede bestehen. indem bei Erkrankung bestimmter 
Hirnbezirke gewisse Symptome haufiger. jedoch nie ausschlieBlich auftreten. 
Es ist dies ja aueh a priori zu vemniten, da die Lokalerkrankung als ur- 
sachliehes Moment gegen liber der Allgenieinsehadigung zuriicktritt. 

In den nachsten Kapiteln wird MirnabszeB. Sinusthrombose und Ence¬ 
phalitis besproehen. Eine ausfiilirliche Behandlung findet dann die Hun - 
tingtonsche Chorea, die in ihrer psyehischen Symptomatologie etwas aus dem 
Rahmen der anderen hier behandelten Erkrankungen herausfallt. 


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In dem Kapitel iiber Meningitis ist praktisch wichtig der Hinweis 
auf die psychischen Symptom©, die schon im Prodromalstadium zu einer 
Zeit auftreten, wo der korperliche Befund noch kein ausgesprochenes 
Krankheitsbild gibt. Die nach apoplektischen Insulten (Blutung und Er- 
weichung) auftretenden Erscheinnngen bieten der Beurteilung insofern 
erhebliclie Schwierigkeiten, als sie von den durch das Grundleiden (Arterio- 
sklerose etc.) bedingten Ausfallen nur schwer zu treimen sind. Verf. weist 
hier auf das Symptom des Nicht bewuBtwerde ns schwerer Ausfallssymptome 
hin. Das SchluBkapitel bildet die Besprechung der multiplen Sklerose. 

Kramer- Berlin. 

Die Onanie. Vierzehn Beitrage zu einer Diskussion der ,,Wiener Psycho- 
analytischen Vereinigung“. Wiesbaden. 1912. I. F. Bergmann. 

Das Heft bringt 14 Referate zura Abdruck, welche in der Wiener 
Psychoanalytischen Vereinigung iiber das Thema Onanie gehalten worden 
sind. Die Referate sind naturgemaB im einzelnen verschiedenwertig und 
nicht gleich interessant, doch lassen alle eines jedenfalls erkennen, das uns 
von anderen Publikationen aus der Schule Freuds bekannt ist: das ernst- 
hafte Streben. die gewissenliafte, eingehende Beschaftigung mit dem zur 
Diskussion stehenden Problem; nur aus diesem Ernst heraus und aus dem 
damit verkniipften festen Ueberzeugtsein von der Richtigkeit der eigenen 
Meinung ist wohl beispielsweise auch die sonst fur eine wissenschaftliche 
Arbeit ungewohnliche Stelle in der Einleitung zu verstehen, daB sich aus 
dem Beifall ,,und vielleicht noch deutlicher aus dem Tadel der Leser“ 
ergeben werde. w’ie weit die von den Vortragenden verfolgte Absicht ge- 
lungen sei. 

Wir stoBen iiberhaupt in deraHeft auf dieselbenHarten, die demFerner- 
stehenden einen Teil der Arbeiten von Sehiilern Freuds schwer genieBbar 
machen; inhaitlich sind das vor allem Gedankengange imd Gedanken- 
spriinge, die den nicht zu den Eingeweihten Gehorigen oft geradezu mittel- 
alterlich-scholastisch anmuten, und als deren Stiitzen, wenn andere Beweise 
nicht zur Hand sind, das durch die ,,Psychoanalyse 4 ‘ konstatierte ,,Un- 
bewu6te“ aushelfen muB (vergl. namentlich Sadger); der durch Veran- 
lagung und Beschaftigung weniger lebhaft und weniger dauernd auf sexueile 
Vorstellungen eingestellte und der weniger in rein sprachlichen Symbolen 
denkende Leser des Heftes wird notgedrungen gelegentlich abreagieren 
durch Ausdriicke, die an Kraft die von Rieger dariiber ausgesprochenen 
noch iibertreffen. 

Wir sehen aus den Referaten, daB der Begriff der Masturbation von 
den Diskutierenden recht verschieden weit gefaBt wird, zum Teil so weit. 
daB er alles Pragnante verliert, und daB man mit ihm nach Belieben schalten 
kann; zum anderen Teil wird er prazis definiert und eng gefaBt (z.B. Reislcr). 
Fiir das, was man eventuell alles als Ausdruck und Folge der Masturbation 
ansprechen kann, gibt namentlich Sadger erstaunliche Beispiele. 

Von einem erheblichen Teil der Referenten wird die Frage nach der 
Bedeutung der Onanie als ursachlichen Faktors bei der Entstehung von 
Neurosen stark in den Vordergrund geriickt, — wie aus einem Satz im 
SchluBwort hervorgeht gegen den urspriinglichen Willen von Freud selber. 
Vieles von dem, was wir dariiber horen, ist verstandig und zweifellos gut; 
im allgemeinen wird vor der Ueberschatzung der schadigenden Wirkung 
der Onanie gewamt; Stekel fallt sogar gleich in das andere Extrem und 
lehrt uns: die Neurose ist eine Folge der Abstinenz, wir sehen die schlimmsten 
Neurosen, weim die Leute die langgeiibte Onanie aufgeben. 

Stbrend wirkt fast durchgehend die wenig psychiatrische Art der Be- 
handlung des Themas; man wird bei der Lektiire die Empfindung nicht los. 
als gehore zur Besprechung derartiger Probleme etwas melir psychiatrische 
Schulung (eine erfreuliche Ausnahme macht in dieser Hinsicht eigentlich 
nur das Referat VII und auch das IX.); Folge davon ist die oft wenig prazise 
Unterscheidung zwischen speziellem Vorstellungsinhait und allgemeiner 
Vorstellungsrichtung, beispielsweise bei F&llen von anscheinender Melan- 
cholie (S. 16, 39), ferner die einseitig symptomatologische Darstellungs- 


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und Auffas.sungsweise, die Vemachlassigung der pathologischen Gesaint- 
personlichkeit der Patienten gegeniiber dem gerade wichtig erscheinenden 
Einzelsymptom, und damit die Ueberschatzung der Berechtigung, die offen- 
bar fast ausschlieBlich an schweren Psychopathen gewonnenen Erfahrungen 
ohne weiteres zu verallgemeinern. 

A lies in allem: Hartes und dem Femstehenden zunachst schwer 
Verstandl idles enthalten die Keferate genug; wer sich entschlieBen kann, 
dariiber hinwegzusehen, wird mancherlei Ai^regendes finden. Im wesent- 
lichen sind es die bekannten Ideen Freuds , welche wiederholt, modifiziert 
und ausgebaut werden. P. 6V/*r6Y/er-Greifs\vald. 

L. Laquer, Lie Heilbarkeit nervoser Unfallfolgen. Dauernde Rente oder ein- 
malige Kapitalabjindung ? C. Marhold. Halle, a. S. 

An der Hand einer groBeren Anzahl eigener Beobachtungen behandelt 
der Autor die in der Ueberschrift gegebene Fragc^stellung und kommt 
zu einem Ergebnis, dem wohl die Melirzahl der Xeurologen zustimmt, daB 
eine allzu rasehe Gewahrung von Dauerrenten an Unfallneurotiker der 
Heilung hinderlich ist, wahrend die Erfahrung zeigt, daB bei Abfindung durch 
Kapitalzahlung eine rasehe Beseitigung der nervdsen Unfallfolgen eintritt. 
Urn diagnostische Irrtiimer — Beispiele werden angefiihrt — zu vermeiden, 
halt es der Autor fur zweckinaBig, 5 Jahre lango nicht zu kleine Teilrenten 
zu bezahlen und dann endgiiltige Abfindung eintreten zu lassen. 

Ft. Schultze und Dr. Stursberg, Erfahrungen iiber Neurosen nach Unfallen. 

Der allgemeine Teil von F. Schultze ist besonders durch die Zusammen- 
stellung der Daten iiber die relative Seltenheit der Unfallneurosen bemerkens- 
wert. Der Prozentsatz der Unfallneurosen unter den gemeldeten Unfallen 
schwankt nach den einzelnen statistischen Untersuchungen zwischen 
0,3 pro mille und 2,06 pro mille, ist also unter alien Umstanden reclrt gering. 
Die scliwarzseherischen Betrachtungen Windscheids und neuerdings des 
Nationalokonomen Bernhard fiber die Rentenhysterien als einer ethischen 
und sozialen Gefahr fiir das ganze Volk sind demnach nicht gereclitfertigt. 

Zu dem der Untersuchung und Diagnose gewidmeten Abschnitte ist 
zu sagen, daB Schultze trotz seiner berechtigten Kritik an der Bewertung 
der einzelnen somatischen neurologischen Storungen docli wohl die Tatsache 
etwas unterschatzt, daB auch subjektive und psychische S^unptome ihre 
GesetzmaBigkeit haben, insbesondere wdrd man seinen Ausfuhrungen liber die 
Depression nicht in alien Punkten beipflichten konnen. Man kann eine 
Depression aus der charakteristischen psychischen Symptomgruppierung 
auch ohne langere Beobachtung diagnostizieren. 

In dasselbe Kapitel der unzulanglichen Bewertung subjektiver Sym- 
ptome gehort es, wenn Stursberg sich den Satz Windscheids zu eigen macht, 
daB die Gewahrung hoher Renten an Unfallverletzte auf Grund vorwiegend 
subjektiver Beschwerden verfehlt- sei. So sehr ich die Ansicht der Autoren 
teile, daB im allgemeinen hohe Renten fiir Rentenneurotiker vom Uebel 
sind, so gewifi hat die Frage der Arbeitsfahigkeit nichts Wesentliches mit dem 
Mehr oder Weniger an den Syrnptomen der Reflexsteigerung, der Puls- 
labilitat, des Dermographismus, der Gesichtsfeldeinschrankung, der Anal- 
gesien usw. zu tun, und auf der anderen Seite unterliegt es keinem Zweifel, 
daB das Insuffizienzgefiihl und die subjektive Hemmung der echten 
Depression den Patienten voll erwerbsunfahig machen konnen, auch bei 
vollig normalem objektivem neurologischem Befunde. Es ist gewifl be- 
quemer und fiir den Laien iiberzeugender, wenn man von objektiven nervosen 
Verclnderungen berichten kami, aber fiir die Bewertung der Arbeitsf&higkeit 
der Rentenneurotiker sind diese Symptome tats&chlich, solange sie sich 
innerhalb sicher funktioneller Grenzen halten, ziemlich irrelevant. 

Hinsichtlich der Kapitalabfindung haben die Autoren das Bedenken, 
daB der Lockruf einer Kapitalerw'artung vielleicht noch eher dazu fiihren 
werde, die Zahl der Unfallneurotiker zu vermehren, und daB die Sehnsucht 
nach einem neuen Kapitel leicht aus kleinen Verletzungen Rezidive der 
Xeurose erwachsen lassen werde. DaB die Befiirchtungen der Autoren nicht 
lediglich akademischer Natur sind, hat mir selbst vor kurzein ein Fall gezeigt. 


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Persona lien. 


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Kin Neurotiker erholte sich nach einem schweren Automobilunfall von seiner 
Neurose in wenigen Monaten. Ks war eine Kapitalabfindung von 20 000 Mk. 
eingetreten. Einige Zeit darauf stieB er sich (vielleicht!) wahrend der Bahn- 
fahrt bei einem kleinen sonst niemand schadigenden Kuck gegen das 
Coup^fenster, ohne sich zu verletzen. Die Folge war eine neue, jetzt schon 
Jahre dauernde Neurose mit hohen Rentenanspriichen und der Behauptung 
nunmehr volliger Erwerbsunfahigkeit. 

Schultze glaubt, daB es zweckmaBig sei, zunachst in der Kapital- 
abfindungsfrage die weiteren Erfahrungen der Lander, die sie eingefiihrt 
haben, abzuwarten. 

Der zweite spezielle von Stursberg bearbeitete Teil bespricht die Frage 
der Haufigkeit von Simulation und Uebertreibung und die Prognose der 
Unfallneurosen. Ob die Trennung der bewuBten Uebertreibung von der 
autosuggestiven BewuBtseinsfalschung wirklich so leicht durchzufiihren und 
so wichtig ist, wie der Verfasser glaubt, scheint mir zweifelhaft. Fur die 
praktische Boliandlung jedenfalls kommt man im einen wie im anderen Fall 
auf dasselbe hinaus, denn auch fiir den Fall der Annahme einer auto- 
suggostiven BewuBtseinsfalschung unter dem EinfluB des Rentenwunsch- 
koinplexes wird man die Arbeitsfahigkeit hoher veranschlagen, als der 
Patient, weil die Arbeitsnotigung eine kraftige therapeutisch wirksame 
Gegensuggestion gibt. Eine Betrachtung, welche die letztere Moglichkeit 
offen laBt, hat aber den Vorzug, daB sie nicht moralisiert, was dem Arzte im 
allgemeinen besser ansteht, und zwar besonders in Dingen, die sich vielfach 
einer wirklich zwingenden Beweisfiihrung entziehen. B. 

BischOff, Lehrbueh der gerichtlichen Psychiatric fur Mediziner und Juristen. 

Berlin und Wien 1912. Urban und Schwarzenberg. 8,00 Mk. 

Das Buch ist geschrieben fiir Juristen und fiir Medziner, die Psychiatrie 
nicht als Spezialfach betreiben. In einem einleitenden Kapitel wird auf die 
Schwierigkeiten hingewiesen, die dem psychiatrischen Sachverstandigen 
entgegentreten, und der EinfluB des Fortschrittes der Psychiatrie auf die 
Ansichten in Fragen der Kriminalitat gestreift. Dann werden die wichtigsten 
der fiir den psychiatrischen Sachverstandigen in Betracht kommenden 
Paragraphen des osterreichischen und deutschen Strafgesetzes und Biirger- 
lichen Gesetzbuches kurz besprochen. Bei § 1910 B. G. B. diirfte der letzte 
Satz des Paragraphen nicht fehlen; einige Erlauterungen iiber den Begriff 
der Verstandigung im Sinne des Paragraphen waren hier am Platze. Die 
fiir den Sachverstandigen wichtigen Bestimmungen der StrafprozeBordnung 
werden in einem spateren Kapitel kurz erwahnt. Die strafrechtlichen 
Reformbestrebungen werden nach dem osterreichischen Entwurf skizziert. 
Es folgen dann einige Erlauterungen und Ratschlage fiir die praktische Tatig- 
keit dos Sachverstandigen. 

Den weitesten Raum nimmt der Abschnitt iiber allgemeine Psycho- 
pathologie ein. Der Verfasser geht dabei von dem richtigen Grundsatz aus, 
daB zur Einfiihrung in das Gebiet die allgemeine Symptomatologie vor der 
speziellen klinischen Psychiatrie in den Vordergrund treten muB. 

Nach Ausfiihrungen iiber Hereditat, Predisposition und Ursache der 
Geistesstroungen wird die allgemeine Symptomatologie der Psychosen be- 
handelt, soweit sie fiir den psychiatrischen Laien von Interesse ist; es wird 
darauf hingewiesen, welche forensische Bedeutung einzelne Symptome und 
psychotische Zustande haben konnen. Dann werden die klinischen Krank- 
heitsbilder besprochen und durch Beispiele erlautert. 

Die Darstellung ist klar und wohl auch fiir den psychiatrischen Laien 
zum groBten Teil verstandlich. Seelert. 


Personalien. 


In Cagliari wurde der a. o. Prof. Dr. C. Ceni zum ordentl. Professor 
der Neurologie und Psychiatrie emannt. 


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(Aiis dem stadtischen jiidischen Krankenhaus in Warschau. 

[Abteilung: Dr. Bregman.]) 

Beitrage zur Meningitis serosa. 

Von 

L. E. BREGMAN und G. KRUKOWSKI. 

I. 

Zur pathologischen Anatomie der Meningitis serosa. 

Die pathologische Anatomie der Meningitis serosa hat bisher 
keine einheitlichen Befunde ergeben. Auf der einen Seite steht 
eine Reihe von Fallen, in denen die anatomischen Veranderungen 
sich auf die durch Vermehrung des Liquor certbrospinalis bedingten 
V erdnderunegn beschrankten — Erweitenmg der Ventrikel und der 
subarachnoidealen Raume, Abplattung der Gyri, Verflachung der 
Sulci, Plattdriickung mancher Gehimteile und Gehirnnerven 
(Falle von Anuske, Morton - Prince, Quincke, Bonhoeffer, Kupftr- 
berg, Finkelnburg, Nonne). In einem Teil dieser Falle wurde keine 
mikroskopische Untersuchung vorgenommen, in manchen, z. B. in 
den Fallen von Nonne mid Finkelnburg, wurden auch mikroskopisch 
keine Veranderungen gefunden. 

Diesen Fallen steht eine Reihe anderer gegeniiber (Nonne, 
Heidenhein, Bresler, Quincke, Orober, Morton-Prince, Eichhorst, 
Beck, Oerhardt, Finkelnburg, Fuchs), wo das Ependym der Ventrikel, 
die Tela chorioidea, die weichen Himhaute an der Konvexitat 
oder an der Basis verschiedenartige entziindliche Veranderungen 
darboten: Verdickmig, Triibung, Schwellung, kleinzellige Infil¬ 
tration, Cystenbildung. 

Wir haben vor einigen Jahren J ) einen Fall beschrieben, der 
nach subakutem mehrwochigem Verlauf plotzlich zum Exitus kam. 

Bei der Sektion erwiesen sich die Hirnventrikel namentlich 
der IV. sehr stark erweitert, Pons Varoli und Medulla oblongata 
plattgedriickt; die Arachnoidea war an der Basis durch Fliissigkeits* 
ansammlung stark gespannt, Dura mater hyperamisch, Pia leicht 
getriibt; bei mikroskopischer Betrachtung fanden sich weder im 
Ependym der Ventrikel noch in den Plexus chorioidei noch in 
den weichen Himhauten irgendwelche Veranderungen. Der Fall 
war aufier dem Fehlen entziindlicher Veranderungen dadurch 
bemerkenswert, daB die Fliissigkeitsansammlung vorziiglich den 
IV. Ventrikel betraf und hier Druckwirkungen ausiibte, die fiir 

A ) Bregman und Krukowski , Medycyna i Kronika Lekarska. 1909. 
S. 828. 

Monataschrift I. Psyohiatri© xl Nenroloffie. Bd. Him. Heft 4. 19 


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284 Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 


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den Kranken besonders fatal wurden; wir spraehen die Ver- 
mutung aus, dafi diese Lokalisation vielleicht mit der Lokalisation 
des Traumas, welches zur Entwicklung des Leidens Anlafi gab 
(Schlag auf’s Hinterhaupt), in Zusammenhang stand. 

Heute bietet sich uns die Gelegenheit, iiber einen Fall zu be- 
richten, der in einem gewissen Gegensatz zu dem vorigen steht. 

Fall I. Sz. F., 12 Jahre alt (aufgenommen am 24. V. 1909). Vor 9 Mo- 
naten bekam Patient einen Schlag auf den Kopf mit einem Stock. Vor den 
Angreifern fliichtend, stieB er mit der Stirn gegen eine Saule der elektrischen 
StraBenbahn. Das BewuBtsein blieb erhalten. Die durch das Trauma her- 
vorgerufene Geschwulst am Kopf schwand nach einer Woche, der Kranke 
fiihlte sich wohl und kehrte zu seiner Beschaftigung (Burstenmacher) 
zurlick. Nach 4 Monaten Kopfschmerzen in der Scheitel- und Stimgegend. 
Seit 2 Wochen Erbrechen. Seit 5 Tagen Schwachegefuhl in den unteren 
Extremitaten, Schivanken beim Gehen, erschwerte Sprache. 

Korperbau, Emahrungszustand gut. Puls 75, leicht arythmisch. 
Temperatur normal. Inner© Orgaee gee und. Harn eiweifi- und zuckerfrei. 

Beiderseits Stauungspapille mit starker Schwellung der Papille und 
Blutergiissen. Sehscharfe auf dem rechten Auge */*> auf dem linken V 2 . 

Gehor auf dem linken Ohr herabgesetzt: hort die Uhr in 10 cm Ent- 
fernung, auf dem rechten Ohr in 40 cm. 

Sprache undeutlich, mit hasalem Beiklang, manchmal explosiv. 

Die Bewegungen der linken Extremitaten werden mit groBerer Miihe 
und geringerer Kraft ausgefiihrt als die der rechtsseitigen Extremitaten 
Statische und dynamische Ataxie aller Extremitaten, auf der linken Seifce 
st&rker ausgesprochen. als auf der rechten. Gang ataktisch: der Kranke 
schwankt nach beiden Seiten ohne Unterschied. Romberg positiv. 

Nach einigen Tagen besserte sich der Zustand des Patienten erhebhch: 
die Ataxie nahm ab, die Kopfschmerzen schwanden. 

5. VI. Der Kranke klagt noch iiber Kopfschwindel, namentlich des 
Morgens beim Aufstehen, und iiber einen dumpfen Schmerz in der Stirn. 
Gang gut. Motorische Kraft der Extremitaten auf beiden Seiten gleich. 

18. VI. Zustand subjektiv und objektiv gut. Ataxie der Extremitaten 
geschwunden, Romberg negativ. Stauungspapille wie friiher, frische Blut- 
ergiisse. Sehscharfe wie friiher. Gesichtsfeld fiirWeiB und Farben ein- 
geechrankt. 

22. VI. Patient verlieB das Krankenhaus und verblieb zu Hause bis 
zum 22. VII. W&hrend dieser Zeit hatte er einige Male Kopfschmerzen 
(gleichfalls in der Stirn) und Erbrechen. 

Am 22. VII. kam er wieder auf unsere Abteilung, Puls 90, regelm&Big. 
Stauungspapille sehr hochgradig. Sehscharfe auf dem rechten Auge %, auf 
dem linken Neine andem Nervensymptome. 

31. VII. Gestern stark© Kopfschmerzen und Erbrechen. Mehrmals 
am Tage voriibergehende , einige Minuten dauemde Erblindung . 

2. VIII. Starke Kopfschmerzen und Erbrechen. Beim Gehen leichtes 
Schwanken. 

6. VIII. Kopf leicht nach links geneigt. Die Bewegungen des Kopfes 
nach riickwarts eingeschr&nkt, schmerzhaft. Perkussion der linken Schlafen- 
imd Scheitelgegend schmerzhaft. Leicht© linksseitige Facialisparese. Gang, 
Kehrtmachen gut. Kann nicht laufen. 

10. IX. Von Zeit zu Zeit Kopfschmerzen. 

16. IX. Wahrend des Friihstiicks plotzlich Exitus. 

Die von uns ausgefiihrte Sektion ergab folgendes: Gyri an der Hirn- 
konvexit&t abgeplattet, Sulci flach, alle Himventrikel stark erweitert 
und mit durchsichtiger Fliissigkeit erfiillt. In den inneren Organen keine 
V er&nderungen. 

Bei mihroakopischer Betrachtung Pia verdickt, kleinzellig infiltriert. 
Piagef&Be vermehrt, GefaBwandungen verdickt. Die Grenze zwischen 
Pia und Hirnoberfl&che gleichsam eingedriickt. Herd© kleinzelliger In- 


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Bregman-Kr ukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 285 

filtration und Blufcergiisse innerhalb der Hirnsubstanz, namentlich in den 
oberflachlichen Schichten (Meningoencephalitis diffusa). 

Auf Nifi /praparaten keine Veranderungen der Himzellen. 

Tela chorioidea im allgemeinen unverandert, nur ist an manchen 
Stellen im losen Bindegewebe eine groBere Anzahl roter Blutkorperchen 
angesammelt. Die Ependymzellen des III. Ventrikels stellenweise ge- 
wuchert. 

Kurz zusammenfassend handelte es sich um einen 12 jahrigen 
Knaben, der 4 Monate nach einem doppelten Kopftrauma fiber 
Kopfschmerzen zu klagen begann, spater Erbrechen, Schwache 
in den unteren Extremitaten, Schwanken beim Gehen, Sprach- 
storungen. 

Objektiv doppelseitige Stauungspapille, nasale Sprache, Herab- 
setzung des Gehors auf dem linken Ohr; cerebellare Ataxie beim 
Stehen und Gehen, Romberg; statische und dynamische Ataxie 
aller 4 Extremitaten. Geringe linksseitige Hemiparese. Nach 
einigen Tagen Besserung, die Ataxie schwand, die Kopfschmerzen 
nahmen ab; die Stauungspapille jedoch bestand weiter, es wurden 
sogar neue Hamorrhagien am Augengrund gefunden. Nach 
einem Monat verlieB Patient das Krankenhaus, um nach einem 
weiteren Monat wiederzukehren. Abnahme des Sehvermogens. 
zeitweilig kurzdauemde totale Amaurose; leichtes Schwanken beim 
Gehen; linksseitige Facialisparese. Plotzlicher Exitus wahrend 
des Frfihstticks. 

Das Gehim zeigte bei makroskopischer Betrachtung bloB 
Erweiterung der Ventrikel durch fibermaBige Liquoransammlung 
mit den bekannten Folgeerscheinungen gesteigerten Hirndrucks. 
Bei mikroskopischer Untersuchung Verdickung und kleinzellige 
Infiltration der weichen Himhaute, Vermehrung ihrer GefaBe und 
Verdickung der GefaBwande. Ependymwucherung im III. Ven¬ 
trikel. Blutaustritt im losen Bindegewebe der Tela chorioidea. 
Die oberflachlichen Schichten des Gehims sind in Mitleidenschaft 
gezogen, die Grenze zwischen Pia und Hirnoberflache verwaschen; 
letztere erscheint an vielen Stellen ausgehohlt xmd infiltriert, 
auch innerhalb der Hirnsubstanz fanden sich Herde kleinzelliger 
Infiltration und Blutaustritte. 

Der Fall bietet sowohl in klinischer als auch in anatomischer 
Hinsicht groBes Interesse. Klinisch hatten wir das Bild einer 
starken allgemeinen intrakraniellen Drucksteigerung (Kopfschmerz, 
Erbrechen, Schwindel, Stauungspapille) und Herdsymptome, 
welche auf die hintere Schadelgrube — Kleinhirn, Medulla oblongata 
— hinwiesen (cerebellare Ataxie, statische und dynamische Ataxie 
der Extremitaten, bulbare Sprache, Herabsetzung des Gehors 
auf einem Ohr). Die Symptome entwickelten sich allmahlich, 
einige Monate nach einem Trauma. 

Unter diesen Umstanden lag es am n&chsten, an eine 
Hirngeschvmlst im Bereich der hinteren Schadelgnibe zu denken. 
Wie groB war aber imsere Ueberraschung, als nach einigen 
Tagen der Zustand des Kranken sich zu bessem begann und 
die Besserung sehr bald so weit vorschritt, daB von alien Sym- 

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286 Bregraan-Krukowski , Beitrage zur Meningitis serosa. 


ptomen eigentlich nur die Stauungspapille zuriickblieb. Angesichts 
dieser so raschen und hochgradigen Besserung mufite die Annahme 
einer Hirngeschwulst unwahrscheinlich erscheinen. Die Diagnose 
konnte nur noch zwischen einer Meningitis serosa und einem 
Pseudotumor schwanken. Es ist bekannt, daB die Meningitis 
serosa chronica sehr haufig unter dem Bild einer Hirngeschwulst 
verlauft und beim Vorhandensein ataktischer Storungen, hoch- 
gradiger allgemeiner Druckerscheinungen und verschiedenartiger 
Hirnnervensymptome eine Geschwulst der hinteren Schadel- 
grube vortauschen kann. Aber auch die bisher ratselhafte Krank- 
heit, die von Nonne *) zuerst beschrieben wurde — klinisch Sym- 
ptome einer Hirngeschwulst, anatomisch weder Hirngeschwrdst 
noch Hydrocephalus — tritt nicht selten gerade unter der Gestalt 
einer Geschwulst der hinteren Schadelgrube auf. Eine Lumbal - 
jmnktion wurde vielleicht auf den pathologischen ProzeB einiges 
Licht werfen: vermehrter EiweiBgehalt, Zellenreichtum des Liquors 
konnten event, zugunsten einer Meningitis verwertet werden. 
Indes muBten wir angesichts des Verdachts auf einen patho¬ 
logischen ProzeB in der hinteren Schadelgrube davon Abstand 
nehmen. 

Die Besserung hielt leider, wde wir horten, nicht lange an: 
das Sehvermogen begann abzunehmen, das Gesichtsfeld engte sich 
sehr ein, das Schwanken beim Gehen stellte sich von neuem ein, 
Facialisparese trat hinzu, und nach einigenWochen kam es zu einem 
plotzlichen Exitus. Unsere Diagnose war auch in diesem zweiten 
Krankheitsstadium unsicher: angesichts dessen, daB die Remission 
von so kurzer Dauer war, war sogar die urspriingliche Diagnose 
einer Hirngeschwulst nicht ganz von der Hand zu weisen 2 ). Die 
anatomische Untersuchung zeigte, daB eine Hirngeschwulst nicht 
vorlag, daB der Fall aber auch nicht zu den Pseudotumoren zu 
rechnen ist, da sich ausgesprochene entzundliche Veranderungen 
in den Meningen vorfanden. Letztere beschrankten sich iibrigens 
nicht auf die weichen Himhaute, sondern erstreckten sich auch 
auf die oberflachlichen Schichten des Gehims (Meningoencephalitis 
serosa diffusa chronica). 

Es gehort demnach dieser Fall zu der zweiten oben erwahnten 
Gruppe mit positivem anatomischem Befund. Die mikroskopischen 
Veranderungen entsprachen im groBen und ganzen denjenigen, 
die auch in anderen Fallen gefunden woirden, nur war die kleinzellige 
Infiltration der Meningen hier besonders stark ausgesprochen, 


l ) Vergl. auch das Sammelreferat von Finkelnburg im Zentralbl. f. 
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1912. No. 9. 

*) Anm. In einem Fall von Nonne (Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 27. S. 205) — Tumor (Sarkom) des IV. Ventrikels mit Hydrocephalus 
— waren die Tumorsymptome 3 / 4 Jahre lang geschwunden; N. meint, daB in 
solchen Fallen die Geschwulst sekundar HydLrocephalus hervorruft, welcher 
die schweren Himsymptome bedingt; dieser Hydrocephalus schwand (viel¬ 
leicht unter Wirkung des Quecksilbers), kam dann von neuem wieder und 
fiihrte rasch den Exitus herbei. 


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Bregnian-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 287 


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wahrend die Plexus chorioidei relativ weniger verandert waren; 
auBerdem war die Beteiligung der oberflachlichen Gehirnschichten 
sehr bemerkenswert. Aehnliches haben Beck *) und Fuchs 1 2 * ) und 
in letzterer Zeit Claude und Lejonne 8 ) beobachtet; letzte Autoren 
legen auf diesen Befund ganz besonderes Gewicht und heben seine 
Bedeutung fur die Gestaltung des klinischen Krankheitsbildes 
hervor. 

Zur Aetiologie der Meningitis serosa. 

Unter den atiologischen Momenten, welche irastande sind, 
eine Meningitis serosa hervorzurufen, wird das Trauma, speziell 
das Kopftrauma mit Recht an erster Stelle genannt. Es folgen 
in Beziehung auf Haufigkeit: Infektionskrankheiten, Insolation, 
otitische Erkrankungen. Relativ selten werden in den beziiglichen 
Krankengeschichten chronische psychischeErregungen— Sorgen und 
Rummer—als atiologischerFaktor angefiihrt. FAnakutes psychisches 
Trauma findet sich nur in einem Fall von Nonne 4 ): Ein Arbeiter 
erfahrt wahrend der Arbeit, daB seine Frau von einem StraBenbahn- 
wagen iiberfahren worden ist; sofort allgemeines Sehwachegefiihl, 
Erbrechen; am nachsten Tage Kopfschmerz, dann schwere Gehirn- 
erscheinungen — Sopor, Pulsverlangsamimg, Pupillenstarre, Coma, 
Exitus. Die Sektion ergab Hydrocephalus intemus, Hyperamie 
und frische Granulierung des Ependyms aller Ventrikel. 

Wir haben bei der Durchsicht der uns zugangigen Literatur 
keinen zweiten Fall finden konnen. in dem die Krankheit durch 
akute psychische Erregung bedingt wurde; in der letzten Auflage 
des Oppenheimschen Lehrbuches wird gleichfalls nur auf den 
Nonne schen Fall hingewiesen. Es soli deshalb der folgende Fall, 
in dem diese Aetiologie vorhanden ist, etwas ausfiihrlicher mitge- 
teilt werden. 

Fall II. Ch. C., 21J ahre alt (wurde am 23. V. 1911 ins Kranken- 
haus aufgenommen). 

Patientin erkrankte plotzlich vor 5 Jahren, wahrend der Revolutions - 
tage ; sie befand sich in einer StraBenmenge, welche vom Militar gewaltsam 
auseinandergetrieben wurde. Am Abend desselben Tages bekam sie starke 
Kopfschmerzen; spator gesellten sich Schwindel, Uebelkeiten, Erbrechen 
dazu; die Kopfschmerzen und das Erbrechen hielten ca. 8 Wochen an. 
Xach einiger Zeit trat Doppelsehen auf, nach 5 Monaten .d&no&me des Seh~ 
vermogens , die sehr rasch fortschritt. Sie wurde damals auf die Abteilung 
des Herrn Koll. E. Flatau aufgenommen, wo Atrophia n. optioorum post 
neuritidem, Abducenslahmung, schwache nystagmiforme Zuckungen fest- 
gestellt wurden. Sie wurde mit Quecksilbereinreibungen und Einspritzungen 
sowie Lumbalpunktion behandelt. Seit jener Zeit keine weitere Zunahme 
der Symptome. 

Gegenw&rtig suchte sie das Krankenhaus wegen verschiedener Be- 
schwerden auf: allgemeine SchwAche, dyspeptische Erscheinungen, Schmer- 
zen in Rumpf und Extremit&ten. 

Die objektive Untersuchung ergab folgendes: Sehschdrfe auf dem 
rechten Auge: Patientin zahlt Finger auf 3 Meter Entfemung und erkennt 

1 ) Beck, Jahrb. f. Kinderheilk. 1903. 

*) Fuchs , Obersteiners Arbeiten. Bd. XI. 

*) Claude und Lejonne , Gazette des Hopitaux. 1910. No. 35. 

4 ) Nonne , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. S. 212. 


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288 Bregman-Krukowski , Beitrage zirr Meningitis serosa. 


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groBe Buchstaben; auf dem linken Auge zahlt sie Finger in unniittelbarer 
Nahe des Auges. Erkennt WeiB, Schwarz und Blau gut; Grun, Rot, Gelb 
mit Miihe. Mit der Holmgrenschen Probe wird nur Blau exakt gefunden. Dae 
Oesic?Usfeld (ohne Perimetermessung) erscheint auf dem rechtenAuge normal, 
auf dem linken ist das zentrale Sehen aufgehoben und nur ein kleines Seg¬ 
ment des peripheren Gesichtsfeldes nach links vom Fixierpunkt erhalten. 

Ophthalmoskopisch: Atrophia post neuritidem auf beiden Augen. 
Die rechte Papille zeigt im Vergleich mit der linken vermehrte BlutgefaBe 
und starkere Fiillung derselben. 

Pupillen liber mittelbreit, die rechte reagiert gut, die linke schw&cher. 
Bewegungen des linken Bulbus normal; am rechten ist die Bewegung nach 
aufien erheblich eingeschrankt; kein Nystagmus. Bei der Konvergenz be- 
wegt sich nur das rechte Auge nach innen. 

Keine weiteren Storungen weder im Nervensystem noch in den inneren 
Organen. 

Es hat sich demnach bei einem jungen Madchen in direktem 
AnschluB an eine starke, mit Schreck verbundene psychische 
Erregung ein schweres Himleiden entwickelt, welches hauptsachlich 
durch allgemeine Himdruckerscheinungen — Kopfschmerz, Schwin- 
del, Erbrechen, doppelseitige Neuritis optica — gekennzeichnet 
war. Das Leiden entwickelte sich in svJbakuter Weise, nahm spater, 
wie in einigen von Quincke beschriebenen Fallen, einen mehr cAro- 
nischen Verlauf und kam nach ca. 8—9 Monaten zum Stillstand. 
Es hinterlieB eine Atrophie beider Sehnerven mit ziemlich betracht- 
licher Sehstorung. 

Da fiir Lues nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden 
waren und eine Himgeschwulst bei solchem Verlauf mit Sicher- 
heit auszuschlieBen ist, auch fiir einen Pseudotumor der subakute 
Beginn und die vorhandene Aetiologie nicht paBt, kann in diesem 
Fall nur eine Meningitis serosa diagnostiziert werden. 

Es liegt nahe, solche durch heftige psychische Erregung 
direkt bedingte Falle gemaB der Ansicht Quinckes *) auf angio - 
neurotische Storungen zuriickzufiihren, welche zu einer vermehrten 
Ausscheidung des Liquor cerebrospinalis AnlaB geben. 

Wahrend aber im Nonne schen Fall durch dieselbe Ursache 
eine akute Erkrankung mit totlichemAusgang hervorgerufen wurde. 
wurde hier eine Meningitis mit subakutem Beginn und weiterem 
chronischem Verlauf ausgelost. Es scheint demnach, daB hier, 
nachdem durch den gesetzten Reiz die vermehrte Ausscheidung 
des Liquors angeregt wurde, die Krankheit weiter ihren selb- 
standigen Verlauf nahm und erst nach langer Zeit das Gleich- 
gewicht wieder erlangte. 

Gregenwartig kam Patientin ins Krankenhaus wegen ver- 
schiedener Beschwerden— allgemeines Schwachegefiihl, Schmerz, 
deprimierte Stimmung—, welche uns als neurasthenische imponierten 
und auf die durch die Amblyopie bedingte Erwerbsunfahigkeit 
zuriickgefuhrt wurden. Es ware aber andererseits moglich, daB 
auch diese Beschwerden durch latente meningitische Verdnderungen 
bedingt werden. Nach den Erfahrungen Quinckes 1 2 ) bleiben solche 


1 ) Quincke , Dtech. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 9. S. 165. 

2 ) Quincke , Dtsch. Ztschr. fiir Nervenheilk. Bd. 40. S. 127. 


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Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 289 

Beachwerden, die schwer von neurasthenisehen zu unterscheiden 
sind, auch nach giinstig verlaufenden Fallen zuriick, konnen lange 
Zeit wegbleiben und wiederholt wiederkommen 1 ). 

Zum Kapitel der Slorungen im Opticusgebiet bei Meningitis serosa. 

Stauungspapille ist bekanntlich bei Meningitis serosa ein recht 
haufiger, jedoch durchaus nicht konstanter Befund. Nach Quincke 
findet man sie haufiger in den subakuten und chronisch verlaufen¬ 
den Fallen, in den akuten dagegen fehlt sie meistens oder ist nur 
leicht angedeutet. In der ersten Serie der Quinckeschen Falle 2 ) 
wurden unter 6 akuten Fallen nur 2 mal verwaschene Papillen- 
grenzen notiert, unter 4 chronischen dagegen 2 mal starke 
Stauungspapille, 1 mal Papille triibe, ihre Grenzen verwaschen, 
Venen geschlangelt; nur in einem Fall (rezidivierende Form der 
Meningitis serosa) war die Papille normal. In der zweiten 
Serie desselben Autors 8 ) wurde bei 11 akuten Fallen 3 mal 
Stauungspapille, 3 mal verwaschene Papillengrenzen gefunden, 
bei 4 chronischen Fallen 3 mal Stauungspapille, 1 mal keine 
Angabe iiber den Augenfundus. Oppenheim meint, dafi in den 
chronischen unter dem Bild einer Himgeschwulst verlaufenden 
Fallen Neuritis optica einen fast konstanten Befund darstellt, 
und hebt den Fall von Bresler *) (Meningitis chronica auf dem 
Boden eines chronischen Alkoholismus), in welchem der Augen¬ 
fundus normal war, besonders hervor. Kupferberg *) halt gerade 
die starksten Grade der Stauungspapille mit zahlreichen Blutungen 
auf der Retina und Papille fur besonders charakteristisch fur die 
chronischen Falle der Meningitis serosa, die er als idiopathischen 
(chronischen) Hydrocephalus der Erwachsenen bezeichnet. Auch 
in den 6 hierher gehorigen Fallen von Nonne •) wurde eine aus- 
gesprochene Stauungspapille gefunden; desgleichen in den Fallen 
von Muskens 7 ) und Oerhardt •). 

Wir hatten vor einigen Jahren eine Serie von 7 Fallen ver- 
offentlicht •) (4 akute, 2 subakute, 1 mit akutem Beginn, spater 
chronischem Verlauf): der Augenbefund war in 4 Fallen normal, 
in 3 keine Angabe iiber den Augenfundus. Seit jener Veroffent- 
lichung hatten wir Gelegenheit, weitere 13 Falle von Meningitis 
serosa auf der Abteilung zu beobachten (9 akute und 4 chronische); 
von den 9 akuten Fallen war in 4 der Augenfundus normal, in 5 
bestand eine doppelseitige Neuritis optica; in den 5 chronischen 

*) Vergl. auch Koerlichen. Sammelreferat iiber Meningitis serosa. 
Arbeiten des ersten polnischen Neurologen-Kongresses. 1910. 

*) Quincke , Dtsch. Ztechr. f. Nervenheilk. Bd. 9. 

*) Quincke , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 36. 

4 ) Bresler y Neurol. Zentralbl. 1898. 

5 ) Kupferberg , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. IX. S. 94. 

•) Nonne , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. S. 204. 

7 ) Muskens , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 39. St. 421. 

8 ) Oerhardt , Neurol. Zentralbl. 1903. S. 697. 

•) L. E. Bregman und Krukowski , 1. c. 


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290 Bregroan-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 


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Fallen wurde ausnahmslos eine Neuritis optica resp. Stauungs- 
papille oder residuale postneuritische Atrophie konstatiert. 

Wir konnen daher auf Grund unserer eigenen Erfahrungen 
bestatigen, daB in chronischen Fallen von Meningitis serosa Stau- 
ung8papille resp. Neuritis optica in der Regel vorhanden ist, in 
akuten dagegen einmal sich findet f ein andermal fehlt. Ein be- 
stimmtes Verhaltnis zwischen dem Vorhandensein resp. Fehlen 
einer Stauungspapille in akuten Fallen einerseits und der Schwere 
der Erkrankung resp. ihrer Prognose andererseits konnten wir 
nicht eruieren. In Fallen mit relativ leicktem Verlauf und raschem 
Ausgang in Genesung beobachteten wir ausgesprochene Papillen- 
verander ungen. 

Fall III. W. Z., 38 j&hriger Mann (aufgenoinmen am 31. VIII. 191 1). 
Erkrankte vor 9 Tagen plotzlich, ohne bekannte Ursache. Starke Kopf- 
schmerzen. Schwindeh Uebelkeiten and Erbrechen. 

Bewufitsein erhaiten. Puls 76. Temperatur 37,6. Schadelperkussion 
diffus schmerzhaft. Nackenstarre, Opisthotonus, Kopfbewegungen ein- 
geschr&nkt. Kcmigs Symptom. Abdomen eingesunken. Nystagmus rota- 
torius von groBer Amplitude bei alien Bewegungen der Bulbi. Pupillen eng* 
reagieren gut. Sehvermogen vermindert. Doppelseitige Neuritis optica . 
Liquor cerebrospinal is von goldgelber Farbe, triibe, enth&lt zahlreiche 
Lymphozyten (keine Leukozyten) und Erythrozyten. 

Rasche Besserung aller Symptome, auBer dem Sehvermogen. Am 
19. IX. 1911 wurde Patient als gesund ausgeschrieben. 

Fall IV. L. S., 36 j&hrige Frau (aufgenommen am 4. VI. 1911). 

Ist vor 10 Tagen von der Hohe einer Etage herabgestiirzt. Einige 
Tage lang bewuBtlos, mehrmals Erbrechen, Haemoptoe, AusfluB von 
Fliissigkeit aus der Nase und aus einem Ohr. Klagt uber Kopfschmerzen 
(am Scheitel), Kopfschwindel. 

Temperatur normal. Puls 96, arhythmisch. Nackenstarre. Kopfbe¬ 
wegungen eingeechrankt, schmerzhaft. Nystagmiforme Zuckungen beim 
Blick nach oben und nach beiden Seiten. Ophthalmoskopisch betderseitige 
Neuritis optica . Keine andem Storungen seitens des Nervensystems. Liquor 
cerebrospinalis von gelber Farbe und rascher Gerinnbarkeit, enth&lt ver- 
mehrte Lymphozyten. 

Rasche Besserung. Am 18. VI. verlieB Patientin fast vollig her- 
gestellt das Krankenhaus. 

In beiden hier angefiihrten Fallen batten wir ausgesprochene 
Symptome einer akuten Meningitis, die wohl nicht anders als eine 
Meningitis serosa zu deuten ist; in beiden trat rasche Besserung 
bis zur volligen Genesung ein. In beiden bestand eine ausgesprochene 
Neuritis optica , die zugleich mit den anderen Symptomen ge- 
schwunden ist. Ein Gegenstuck dazu bieten folgende Falle: 

Fall V. R. T. 43 jahriger Mann (aufgenommen am 3. VI. 1912). 

Seit 10 Tagen starke Kopfschmerzen, Uebelkeiten, Erbrechen; seit 
3 Tagen Bewufitsein getrUbt; verkennt die Umgebung, h&lt sinnlose Reden. 
Aetiologie unbekannt. 

Patient unruhig, stohnt, weint, will aus dem Bett springen; spricht 
nichts, schaut starr um sich herum; aufgetragene Bewegungen werden nicht 
ausgefiihrt. Puls 94. Temperatur 37,6. 

Augenbefund normal; Photophobia. Pupillen etwas ungleich (rechte 
weiter), reagieren gut. Nackenstarre. Rechtsseitige Hemiparese mit Be- 
teiligung des Gesichts; kann nicht gehen ohne Unterstiitzung, schleift den 
rechten FuB am Boden; FuBsohlenreflex auf der linken Seite normal, auf 
der rechten atypisch ohne Beteiligung der groBen Zehe. Reagiert auf Stiche 
auf der rechten Korperh&lfte schlechter. 


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Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 291 

# Die Lumbalpunktion ergibt Xanthochromie, erhohten Fliissigkeit*- 
druck, keine Lymphozytose. 

In den n&chstfolgenden Tagen besserte sich der Zustand des Kranken, 
das BewuBtsein hellte sich auf, Patient vollfiihrt Bewegungen, die man 
ihm auftrug, beantwortet Fragen, die Hemipareso schwand, zugleich traten 
aber starkere psychische Storungen in den Vordergrund: Patient wurde 
dermaOen unruhig, daB wir ernstlich seine Ueberfiihmng in die psychische 
Abteilung in Erwagung zogen, er sprang aus dem Bett, bel&stigte die 
anderen Kranken. W&hrend der Krankenvisite auBerte er eine groBe 
Euphorie und machte unpassende Witze. Aber auch diese Symptome 
schwanden sehr bald; am 20. VI. verlieB Patient gesund das Krankenhaus. 

Der Fall stellt eine Meningitis serosa vor mit akutem Beginn, 
sehr schweren Symptomen (auBer den gewohnlichen meningealen 
Symptomen sehr starke psychische Storungen und eine voriiber- 
gehende Hemiparese), jedoch rasche Besserung und Ausgang in 
Genesung. Der Augenfundus war wahrend der ganzen Beobach- 
tungszeit normal. Noch schwerer und langwieriger war der Verlauf 
in folgendem Fall: 

Fall VI. P. G., 33 jahriger Rabbiner (aufgenommen am 24. IX. 1912). 

Seit 2 Wochen Kopfschmerzen. Vor einigen Tagen plotzlich bewuBtlos, 
Erbrechen. Aetiologie unbekannt. Sensorium benommen. Patient l&Bt 
Harn unter sich. Stbhnt, greift oft nach dem Kopf. Puls 120, arhytmisch. 
Nackenstarre. Opisthotonus. Schadelperkussion diffus schmerzhaft. Bulbus- 
bewegungen nach links eingeschr&nkt, der linke Bulbus iiberschreitet nur 
wenig die Mittellinie. Linksseitige Hemiparese mit Bevorzugung der linken 
unteren Extremit&t und Beteiligung des Gesichts. Hypalgesie der linken 
Korperhalfte. Muskelspannung in den linken Extremitaten erhoht. Links- 
seitiger Babinski. 

In den folgenden Tagen Zustand sehr schwer. Mehrmals epileptische 
Krampfe. Bei einer Lumbalpunktion war die cerebrospinale Flussigkeit 
mit Blut vermischt (eine zweite Punktion wurde leider von der Familie 
nicht zugelaesen). 

Am 1. X. Patient sehr unruhig , beschimpft und flucht auf die 
Krankenwarter, ja sogar seine eigene Mutter, fiihrt unzilchtige Reden (sagt 
z. B. zu seiner Mutter, sie solle ihm ein M&dchen zufiihren). Die L&hmung 
der linksseitigen Extremit&ten ist total geworden. 

5. X. Puls 132, sehr schwach. Allgemeine Prostration. 

7. X. Besserung. Patient ortlich und zeitlich orientiert, ruhig. Kopf 
nacli hinten und links geneigt, Nackenmuskeln steif. Puls 126— 146, sehr 
klein (verschwindend). 

23. X. Nachts epileptische RrAmpfe. Erbrechen. Puls 136. 

24. X. Starke Kopfschmerzen. 

28. X. In den letzten Tagen beginnende Besserung. Kopfschmerzen 
und Nackenstarre geringer. Minimale Bewegungen der Finger der linken 
Hand. 

1*. XI. Allgemeinzustand erheblich besser. Puls 101, von mittlerer 
Spannung. Bewegungen der linken Hand ausgiebiger. Starke Schmerzen 
in der linken unteren Extremit&t. 

8. XI. Beginnende Bewegimgen der linken unteren Extremit&t im 
Hiift- und Kniegelenk. 

15. XI. Bewegungen des linken FuBes und der Zehen. 

20. XII. Geht ohne Unterstiitzung und gebraucht ausgiebig seine 
linke Hand. 

Das Gesamtbild der Krankheit — Kopfschmerzen, Erbrechen. 
Nackenstarre, BewuBtseinstriibung und spater psychische Er- 
regung, Storungen der Herztatigkeit, Temperaturerhohung — 
weist auch in diesem Fall auf eine meningeale Erkrankung hin. 


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292 Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 

Die Hemiplegie und Hemianasthesie lassen auf eine MitbeteiliguVig 
der Gehimsubstanz schlieBen (Meningoencephailtis serosa acuta). 
Die allmahliche Entwicklung der Hemiplegie, die Bevorzugung 
der unteren Extremitat deuten darauf hin, daB dieselbe nicht 
kapsularen Ursprunges war, sondem durch ndher der Rinde gelegene 
Herde im Marklager der Hemisphere bedingt wurde (vergl. oben die 
Bemerkungen zur pathologischen Anatomie der Meningitis serosa). 
Die benigne Natur dieser Herde wird bewiesen durch die relativ 
rasche Riickbildung der Hemiplegie. Trotz des auBerordentlich 
schweren Krankheitsbildes war der Augenfundus bis auf eine un- 
erhebliche Erweiterung der Papillarvenen wahrend der ganzen 
Krankheitsdauer normal. 

Was die funktionellen Sehstorungen betrifft, boten die meisten 
von uns beobachteten Falle keine Besonderheiten, in vielen Fallen 
war die Sehfunktion erhalten, auch trotz mehr oder weniger 
ausgepragten Veranderungen der Opticuspapillen, in einigen wurde 
eine Herabsetzung des Sehvermogens auf einem oder beiden Augen 
festgestellt. In dem oben beschriebenen Fall I (mit anatomischem 
Befund) trat mehrmals vorvbergehende Erblindung ein, wie wir das 
bei Himgeschwiilsten als Vorlaufer der endgiiltigen Erblindung 
beobachten. In einem Fall stellte sich plotzlich totaler Verlust 
des Sehvermogens ein. 

Fall VII. Es handelt sich um einen 60 j&hrigen Mann, S. K. (der am 
16. X. 1910 zu uns aus der Abteilung des Roll. O. Lewin iibertragen wurde), 
der seit mehreren Monaten iiber stark© Kopfschmerzen klagte, seit einigen 
Wochen fiebert. Die Kopfschmerzen hielten fast ununterbrochen an. Vor 
einigen Tagen BewuBteeinsverlust von kurzer Dauer, wonach eine total© 
Amaurose zuriickblieb. 

In den inneren Organen keine Veranderungen, Ham frei von Eiweifl 
und Zucker. M&Bige Arteriosklerose. Ophthalmoskopisch beiderseite post- 
neuritische Atrophie. Keine anderen Stbmngen seitens des Nervensystems. 

Ein relativ seltenes Vorkommnis ist bei Meningitis serosa 
die bitemporale Hemianopsie , die durch Druck des blasig aus- 
gestiilpten Bodens des III. Ventrikels auf das Mittelstiick des 
Chiasma opticorum zustande kommt. Oppenheim *) hat zuerst 
einen solchen Fall beobachtet und bei der Sektion fast vollkomme- 
nen Schwund des Chiasma festgestellt. Wir beobachten gegen- 
wartig eine junge Frau, bei der mit groBer Wahrscheinlichkeit 
eine Meningitis serosa diagnostiziert werden kann und neben 
hochgradiger Amblyopie eine bitemporale Hemianopsie zu kon- 
statieren ist. 

Fall VIII. Ch. J., 38 j&hrige Frau (aufgenommen am 21. X. 1912). 

Seit 1 y 2 Jahren ohne bekannte Aetiologie Anf&lle von Kopfschmerzen , 
anfangs selten (einmal im Monat), sp&ter haufiger, alle 3—4 Tage. Die 
Schmerzen sind sehr stark, ohne bestimmte Lokalisation, dauern ungef&hr 
einen Tag, in letzter Zeit am SchluB des Anfalls Erbrechen. Zugleich mit 
dem ere ten Auftritt der Kopfschmerzen Abnahme des Sehvermogens zuerst 
auf dem linken, spater auch auf dem rechten Auge. Objektiv Allgemein- 
zustand gut, inner© Organ© gesund. Auf beiden Augen Atrophia simplex 
nervi optici. Lichtreaktion der Pupillen herabgesetzt. Mit dem rechten 

! ) Oppenheim , Charit6-Ann. 1890. Bd. 15. 


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Bregman-Krukowski , Beitrage zur Meningitis serosa. 293 

Auge zahlt Patientin Finger in der Entfernung von 1 m; mit dem linken 
kann sie keine Finger zahlen, erkennt jedoch groflere Gegenst&nde unmittel- 
bar vor dem Auge von der nasalen Seite. Perimeteruntersuchung nicht 
durchfiihrbar. Bei der Priifung mit grofien Gegenstanden zeigt sich, daB 
auf dem rechten Auge die temporale und in der Mittellinie nur die obere 
Gesichtsfeldh&Ifte, auf dem linken Auge die temporale und in der Mittel¬ 
linie nur die untere Gesichtsfeldhalfte aufgehoben ist. 

Geruchssinn auf beiden Seiten aufgehoben. Keine anderen Storungen 
seitens des Nervensystems. Sella turcica auf dem Rontgenogramm nicht 
erweitert. Keine Hypophysissymptome. Bei der Lumbalpunktion Cerebro- 
spinalfliissigkeit klar, imter hohem Druck; keine Lymphozytose. 

Noch seltener als die bitemporal© Hemianopsie und schwerer 
zu erklaren ist der Befund eines zentralen Skotoms. - 

Fall IX. Wir beobachteten es bei einem 12 jahrigen Knaben (B. M.), 
welcher am 18. IV. 1911 auf unsere Abteilung aufgenommen wurde. 

Das Leiden begann vor 3 Jahren mit anfallsweise auftretenden Kopf¬ 
schmerzen und Erbrechen; nach dem Anfall schlief Patient ein. Die Anfalle 
wiederholten sich im Anfang ziemlich seiten (jede 4—6 Wochen), seit 3 Mo- 
naten wurden sie haufiger — alle 2—3 Tage. Wahrend des Anfalls klagt 
Patient iiber Kopfschwindel. Seit 3 Monaten progressive Abnahme des 
Sehvermdgen8. Irgendeine Ursache der Krankheit konnte nicht eruiert 
werden. Wassermann negativ. Bei der objektiven Untersuchung (Dr. 
L. Endelman ): Neuritis optica , besonders in temporaler Papillenh&lfte 
ausgesprochen. Auf beiden Augen zentrales Skotom. Sehvermogen bedeutend 
herabgesetzt (zahlt Finger dicht vor den Augen). Keine sonstigen Storungen 
seitens des Nervensystems und der inneren Organe. Lumbalpunktion 
ergibt ein klares Punktat, hohen Druck, keine Lymphozytose. 

Patient verbheb im Krankenhaus bis zum 2. VI. 1911. 14 Queck- 

silbereinreibungen a 1,0. Die Kopfschmerzen wurden seltener, das Sehver¬ 
mogen unver&ndert. Laut eingezogenen Erkundigungen ist Patient jetzt 
gesund und als Laufbursche beschaftigt, das Sehvermogen hat sich aber 
nicht gebessert. 

In einem anderen Fall, der schon oben wegen seiner ungewohn- 
lichen Aetiologie ausfiihrlicher beschrieben wurde (Fall II), blieb 
nach einer Meningitis serosa eine fast vollstandige Amaurose zu- 
riick, bei genauer Betrachtung konnte man jedoch noch auf einem 
Auge einen parazentralen Rest des Gesichtsfeldes feststellen, so 
daB auch hier das zentrale Sehen am starksten gelitten zu haben 
scheint. 

In der Literatur fanden wir nur einen Fall von Goldstein *), 
in welchem gleichfalls ein zentrales Skotom beobachtet wurde. 

Es handelte sich um einen 17 jahrigen Gymnasiasten. In der Kindheit 
haufig Kopfschmerzen. Kopf immer unverhaltnismaBig groB. Kleiner 
Korperwuchs, Fettreichtum; infantiler, femininer Habitus, geringe Be- 
haarung, Atrophie der Hoden. Doppelseitige Opticusatrophie. Sehstorungen 
neunentlich in Beziehung auf das Farbensehen. Konzentrische Gesichtsfeld- 
einengung mit Bevorzugung der temporalen Halfte und Ausfall des zentralen 
Farbensehens. 

Goldstein fiihrt diesen Fall sowie 2 andere Falle als Beispiele 
einer unter Hypophysissymptomen verlaufenden Meningitis serosa 
an. Die Sehstorungen erklart er im AnschluB an Crzellitzer durch 
Druck des Recessus des III. Ventrikels auf das Chiasma opticorum. 
Wenn der Druck von oben her das Chiasma affiziert, so trifft er 


Goldstein , Arch. f. Psych. Bd. 47. H. 3—4. 


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294 


Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische 


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zuerst die sich kreuzenden Fasern des papillomakularen Biindels 
und kann auf diese Weise die Entstehung kleiner parazentraler 
und bitemporaler Skotome veranlassen. Wenn aber der Druck auf 
das Chiasma in breiterer Ausdehnung wirkt, dann werden auch die 
ungekreuzten makularen Biindel getroffen; es entsteht eine totales 
zentrales Skotom x ). Wenn diese Auffassung richtig ist, sollte 
man erwarten, daB zentrale Skotome im Verlauf der Meningitis 
serosa viel haufiger zur Beobachtung gelangen werden, als es bis 
jetzt der Fall war. 

Da nach unserer Erfahrung auch die bitemporale Hemianopsie 
bei Meningitis serosa kein haufiges Vorkommnis darstellt, wird 
man wohl annehmen miissen, daB die Meningitis nur selten Bedin- 
gungen schafft, die einen lokalen Druck auf das Chiasma durch 
Erweiterung des Infundibulums zustande kommen lassen. In den 
Fallen aber, wo ein solcher Druck vorhanden ist, miiBte eine genaue 
Untersuchung, namentlich im Entwicklungsstadium der Krankheit, 
makulare Ausfallsymptome zum Vorschein bringen. 


(Aus der Irrenanstalt zu Rom. [Loiter: Prof. O. Mingavtini.}) 

Uber cephalalgische und hemlkranische Psychosen. 

Von 

l>r. A. ROMAGNA-MANOJA 

Assist ent. 

Viele Jahre sind vergangen, seitdem das Studium einiger 
Psychopathien, die in engem ursachlichem Zusammenhang mit dem 
neuralgischen Schmerz auftraten, Gegenstand interessanter Er- 
orterungen von Seiten vieler Forscher geworden, und die Frage 
blieb, so zu sagen, sub judice. In der Folge beschaftigten sich nur 
wenige mit der Frage, obwoht von Zeit zu Zeit ein neuer Beitrag 
an das Licht kam, der einen Beweis da von ablegt, daB die Auf- 
merksamkeit noch immer auf die in Rede stehende Frage gelenkt ist. 


1 ) Crzellitzer (Berl. klin. Woch. 1909. No. 20) gibt diese Erkl&rung 
fiir einen Fall von Hypophysisgeschwulst, bei der er gleichfalls ein zentrales 
Skotom beobachtete. 

Auch Hen8chen (Neurol. Zentralbl. 1909. S. 1004) sah zentrales 
Skotom in einem friihen Stadium der Hypophysengeschwiilste. Die Ge- 
schwulst druckt zuerst auf das ventral gelegene, in der Mitte des Chiasmas 
sich kreuzende Macularbiindel und bedingt eine maculare Hemianopsie 
nach oben, die sich spater zu einem zentralen Skotom vervollstandigt. 
Ferner berichtet Higier (Neurol. Ztbl. 1909. S. 1003) uber eine benigne 
Hypophysisgeschwulst, bei der im Beginn ein zentrales Skotom, sp&ter 
eine bitemporale Hemianopsie beobewjhtet wurde. 


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und hemikranische Psychosen. 296 

Ich werde kurz die Geschichte jener Psychosen zusammen- 
fassen, die zuerst von Mingazzini und dann von Mingazzini und 
Pacetti als cephalalgische resp. hemikranische Psychosen, in sensu 
lato, studiert wurden. 

Nach diesen Verfassern befallt der Schmerz einen Teil des 
Schadels, oder die auBerhalb des Schadels verlaufenden Nerven, 
daher stellten sie den Unterschied in cephalische und extraen- 
cephalische Neuralgien auf. Sowohl in der ersten wie in der 
zweiten Kategorie beschrankt sich die psychische Stoning auf 
die Anwesenheit einer einfachen elementaren Storung (abortive 
Form), oder zu dieser fiigt sich der Verlust des BewuBtseins, der 
jedoch langere Zeit anhalt, und zwar von einigen Stimden bis 
zu zwei Wochen (transitorische oder hyperakute Form), oder 
der Schmerz und die Cephalaea bestehen einige Wochen oder 
Monate fort (verlangerte Form). Die studierten Psychosen fanden 
sich in Individuen, welche an: 

1. Prosopalgien, 2. Cephalalgien, 3. Migranen, 4. extraence- 
phalischen Neuralgien litten. 

Nach Mingazzini und Pacetti sind es die Cephalalgien, welche 
die zahlreichsten und verschiedenartigsten Formen von Psycno- 
pathien hervorrufen: diesen folgen sofort die Hemikranien; seltener 
sind die, welche auf Prosopalgien und auf extraencephalische 
Schmerzen zuriickzufiihren sind. Die protrahierten psycho- 
pathischenFormen, die sich nachHemicrania und nach Prosopalgien 
entwickeln, sind sehr selten: haufiger werden sie durch Cephalalgie 
hervorgerufen, sie fehlen hingegen bei Hemicrania. Die hallu- 
zinatorischen, von einer mehr oder weniger schweren Confusion 
begleiteten Psychosen herrschen in den durch Schmerz encephali- 
schen Ursprungs hervorgerufenen Psychosen vor: selten sind die 
paranoischen Delirien. Ein mit Depression und mit Wahnalle- 
gorisierung des Deliriums vergesellschafteter Angstzustand, ist 
fast das Charakteristikum der Psychosen durch Schmerz extra- 
encephalischen Ursprungs. 

Die Schmerzpsychosen wiirde im groBen und ganzen mehr 
die Manner als die Frauen befallen; wahrend jedoch die abortiven 
(postcephalalgischen) Formen ausschlieBlich bei Frauen vor- 
herrschen, sind die transitorischen oder hyperakuten psycho- 
pathischen Formen (sowohl infolge von Migrane wie von 
Cephalalgie) bei den Mannem am haufigsten ( Mingazzini und 
Pacetti). 

Zahlreiche Forscher beschaftigten sich besonders mit den 
Migranepsychosen (B. Fire, Bordoni, Koppen, Ziehen, Sciamanna, 
Cornu, Kowalewsky, Hoeflmayer, Horstmann, Pappenheim usw.), 
indem sie die Ansichten Mingazzinis und Pacettis bestatigten 
(Bioglio, Ziehen, Consiglio, Havber,Forli,Flatau), oder systematise!^ 
wie Mobius, oder wenig iiberzeugend, wie Krafft-Ebing und Krae- 
pelin, widersprachen. 

Die Einwiirfe, die gegen die Entitat dieser Psychosen und 


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296 Komagna-Manoja, Ueber cephalalgische 

besonders der Migraneform erhoben wurden und noch erhoben 
werden, konnen folgendermaBen zusammengefaBt werden: 

a) Die Basis auf der die psychischen Storungen entstehen. 
ist immer eine hysterische oder eine epileptische ( Mobiua ), und 
da es folglich schwer ist, die Epilepsie und die Hysterie in den 
cephalalgischen Formen zu unterscheiden, so fallen die psychi¬ 
schen Storungen unter die Delirien der Hysteriker und der Epilep- 
tiker. 

b) Es besteht kein Zusammenhang zwischen Ursache und 
Wirkung des Schmerzes und Auftreten der psychischen Storungen, 
sondern beide konnen das Produkt ein und derselben Ursache 
sein. Da endlich ein besonderes einheitliches Bild der sogenannten 
cephalalgischen Psychosen nicht besteht, so ist die Notwendig- 
keit, eine besondere nosologische Entitat daraus zu machen 
nicht einzusehen. 

Nun haben diese Einwiirfe der Kritik nicht widerstehen konnen. 
und die erste Frage beantworteten bereits Mingazzini und Pacetti. 
Dennoch ist es zweckmaBig, hervorzuheben, daB man haufig bei 
der Erklarung einer funktionellen oder organischen Storung zu 
viel Gewicht auf eine latente, chronische Intoxikation oder auf eine 
anomale Konstitution legt, so daB die Annahme nicht moglich 
scheint, daB sich bei einem Individuum eine akute, pathologische. 
von der anomalen, physiopathologischen Konstitution des Sub- 
jektes unabhangige Erkrankung einstelle. Gerade deshalb emp- 
fanden Mingazzini und Pacetti das Bedurfnis, die cephalalgischen 
Psychosen der Aetiologie nach einzuteilen, und zwar in: 

a) vollstandig reine und autonome Formen; 

b) eventuell mit Hysterie oder Epilepsie verbundene Formen: 

c) cephalalgische Episoden, die im Laufe anderer Geistes- 
krankheiten auftraten. 

Beziiglich der Darstellung der reinen oder autonomen Formen. 
ist es bekannt, daB viele Argumente die These bestatigen, daB in 
vielen Fallen von cephalalgiseher Psychopathie die Hysterie 
oder die Epilepsie gar nicht in Betracht kommen. 

Schon Mingazzini hat nachgewiesen, daB in einer groBen 
Anzahl von Individuen, die wohl einige Stigmata der Hysterie 
aufwiesen, das Delirium nicht das dieser Psychose charakteristische 
war, und dies besonders deshalb, weil der Charakter der Hallu- 
zinationen sowohl in den Psychopathien der Hysteriker wie in 
anderen Krankheitszustanden ungefahr der gleiche ist und das 
Verhalten des Kranken sowohl in dem Prodromalstadium wie 
wahrend der psychopathischen Periode und in dem nachfolgenden 
Stadium von dem der Hysteriker sehr verschieden ist. Eine 
Bekraftigung dieser Behauptung besteht in der Tatsache, daB 
jene Falle, in denen die Neuralgien des Trigeminus tatsachlich 
eine einfache Aura des hysterischen Paroxysmus waren, nie ver- 
fehlten, die Symptome dieses letzteren in ihrer ganzen Ausdehnung 
aufzuweisen. (Beobachtungen Krafft-Ebinga und Schiiles.) 


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und hemikranische Psychosen. 


297 


In den Beobachtungen Mingazzinis wurde das Vorhanden- 
sein der Hysterie 12 mal von 75 Fallen festgestellt, zu denen auch 
jene gerechnet waren, in denen sich die Erscheinungen auf eine 
geringe Schmerzhaftigkeit in der Eieratockgegend und eine leichte 
Verengung des Gesichtsfeldes beschrankte. Die Tatsache, daB man 
bisweilen in den untersuchten Fallen einige unbedeutende Stigmata 
antrifft, die auf Hysterie zuriickzufuhren sind, ist nicht von groBer 
Wichtigkeit, denn zahlreiche Beobachtungen beweisen, daB 
hysterische Stigmata sich auch haufig in einigen Formen einfacher 
Cephalaea oder Migrane vorfinden, in denen sich nie psycho- 
pathische Storungen gezeigt haben. Wenndas Vorhandensein dieser 
Stigmata bei diesen Kranken der Index einer latenten hysterischen 
Neurose ware, so wiirde man nicht verstehen, wie es moglich ware, 
die Entwicklung psychischer Storungen nur in einigen seltenen 
Fallen auszulosen. (Mingazzini und Pacetti.) Ueberdies, davon 
abgesehen, haben die Kliniker einwandfreie Falle veroffentlicht, 
in denen es nicht moglich war, bei den Kranken hysterische, 
somatische und psychische Stigmata wahrzunehmen. Beweisende 
Beispiele wurden in der Tat ven Bioglio und von Consiglio ver¬ 
offentlicht. 

In der Frage der Epilepsie gehen die Meinungen ausein- 
ander, besonders iin Zusammenhang mit der Frage der Be- 
ziehungen zwischen Migrane und Epilepsie (Krafft-Ebing, Mobius, 
Stromayer, Epstein usw.) und der Identitat, welche viele zwischen 
den Migrane- und den epileptischen Psychosen annehmen. Als 
Stutze ihrer Anschauung wiesen Mingazzini und Pacetti nach, 
daB in den von ihnen studierten Fallen der Traum — und der 
Dammerzustand, sowie der den epileptischen Paroxysmen eigene 
Stupor fehlten; ebenso fehlten die aufeinanderfolgenden Anfalle, 
die Aequivalente, besonders in den protrahierten Formen, in denen 
die Epilepsie, falls sie besteht, sich hatte zu erkennen geben konnen. 
Seither haben zahlreiche Beobachtungen die nosographischen 
Kriterien dieser Autoren bestatigt. 

Brackmann hat einen interessanten Fall veroffentlicht, in dem 
es sich um einen Kaufmann handelt, der seit seinem 15. Lebens- 
jahre an typischen Migraneanfallen litt: im Alter von 23 Jahren 
entwickelte sich eine Psychose, welche 1 Vj> Jahre dauerte, mit 
Gehorstauschungen und Verfolgungsideen. Wahrend der Rekon- 
valeszenz wurden die Migraneanfalle, die vorher etwas abgenommen 
hatten, heftiger, und gegen Abend zeigten sich wahrend dieser 
Anfalle voriibergehende Geistesstorungen mit Delirium, das sich 
auf den Verkehr bezog, den Pat. im Laufe des Tages mit Personen 
oder Sachen gehabt hatte. Hierauf verfiel er in Schlaf, dem eine 
Amnesie des Geschehenen folgte. 

Das Charakteristikum der Beziehung zwischen Migrane- 
episoden und dem Auftreten psychischer Storungen, ohne das 
Vorhandensein der Epilepsie, fiihrten Verf. zur Annahme, daB der 
Migranereiz in einem dazu veranlagten Him psychische 
Storungen auslose. 


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Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische 


Bioglio bemerkte mehrere differentielle Charaktere, zwischen 
Migrane und Epilepsie, sowohl von anthropologischer, neuro- 
logischer Seite ala in den klinischen Kundgebungen. Er kam zu dem 
Schlusse, daB man annehmen kann, daB nicht alle an Migrane 
Leidenden Epileptiker oder Hysteriker sind: daB die verschiedenen 
Neurosen sich auch untereinander ersetzen und auf den verschiede¬ 
nen klinischen Beobachtungsgebieten zahlreiche Beriihrungspunkte 
aufweisen konnen. In einigen Fallen, vielleicht, erkennen sie ein 
und dasselbe atiologische Moment an, aber der Endeffekt der- 
selben ist nicht immer gleich fur alle drei und die Motive, auf 
denen das unbekannte atiologische Element seine Wiifeung zum 
Ausdmick bringt, sind wahrscheinlich nicht die gleichen. Beziig- 
lich der Beziehungen zwischen den Schmerzkrisen der Migrane 
und den epileptischen Psychosen erwahnt Bioglio, daB die Migrane- 
psychosen, verschiedener Griinde halber, nicht mit den epi¬ 
leptischen identifiziert werden konnen. Bei den Migranekranken 
fehlen oft die wahren und echten epileptischen Antezedenzien, 
Krampfanfalle vor, wahrend und nach dem Auftreten des psycho- 
pathischen Symptomenkomplexes: in der psychischen Sphare 
findet man nicht jene Abnormitat des Vorstellungs- und des Affekt- 
kreises, welche den Epileptikem eigen ist; ebenso fehlt in der lange 
protrahierten Form der auf die Anfalle folgende schwere Stupor; 
auch findet man keinen geistigen Defekt, selbst nach lang andauern- 
den psychopathischen Anfallen; endlich treten bei diesen Kranken 
die degenerativen anthropologischen Zeichen sehr selten auf. 

Havber zitiert den Fall eines 21 jahrigen Mannes mit erblicher 
Degeneration, der seit ungefahr dem 10. Lebensjahre alle zwei 
oder drei Wochen an Kopfschmerzen litt, die jedesmal 2—3 Tage 
dauerten. Im Alter von 21 Jahren wurden sie so heftig, daB Pat. 
wahrend derselben oft in einen Aufregungszustand versetzt wurde, 
dem eine Depressionsphase folgte. Eines Tages ging er baden, trank 
zwei Glas Wein und fiel, von heftigem Kopfschmerz befallen, in den 
Zustand einer Benommenheit, wahrend welcher er ziellos in der 
Stadt umherirrte und zahlreiche torichte Handlungen beging, an 
die er eine oberflachliche Erinnerung bewahrte; am folgenden 
Morgen feuerte er einen RevolverschuB auf sich ab. Spater er- 
klarte er, dies getan zu haben, weil die Kopfschmerzen unertraglich 
geworden waren. In diesem, Falle sagt Verf., muB auf Grimd der 
Anamnese und der objektiven Untersuchung die Hysterie und die 
Epilepsie ausgeschlossen und angenommen werden, daB es sich 
um einen reinen psychopathischen Migranezustand handele. Aus 
der Durchsicht der Literatur schlieBt er, daB, obwohl viele als 
Migranepsychosen angegebene Geistesstorungen nicht der Migrane 
angehoren, sondem Ausdriicke anderer Neurosen sind (Hysterie 
und Epilepsie), man doch das Bestehen wahrer Migranepsychosen 
nicht leugnen kann. Diese konnen, nach ihm, durch die Heftig- 
keit des Schmerzes (neuralgische Dysphrenien im Sinne von 
Schiile) oder durch vasomotorische Storungen (Kontraktion oder 
Erschlaffung der GefaBteile) oder durch nachfolgende Zirkulations- 


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und hetnikranische Psychosen. 


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storungen (Anamie oder Hyperamie des Hims) hervorgerufen 
werden, ahnlich wie es bei den Congestiven und den angiospasti- 
schen Dammerzustanden der Fall ist. 

M. Ulrich fand in 20pCt. seiner Migranefalle psychische 
Storungen im Zusammenhang mit dieser. Der groBte Teil derselben 
wies wahrend des Anfalles Storungen des affektiven Lebens auf: 
bei einigen steigerte sich die Reizbarkeit: in einem Falle krank- 
hafte Apathie; in zwei Fallen war die Stimmung so deprimiert, 
daB die Patienten an Selbstmord dachten. In sechs Fallen bestanden 
wahre Angstzustande: in zwei Halluzinationen; in einem Verfol- 
gungsideen und in zwei Fallen krankhafte notorische Reaktionen 
in Form von Selbstmordversuchen. Einer der vom Verf. mitge- 
teilten Falle ist der folgende: 

Jnnger Mann von 18 Jahren. Psychopath. Mutter hysterisch. Migr&ne, 
Vater nervos. Pat. leidet an ophthalmischer Migrane. Wahrend des An¬ 
falles bleibt er oft wie bet&ubt, konfus, apathisch. Einmal fuhrte er am 
Tage nach dem Anfalle einen Selbstmordversuch aus. Bisweilen irrt er 
lange Zeit in der Stadt umher; hiervon bleiben .liickenhafte Erinnerungen. 
Hftufige Visionen. Wahrend eines Anfalles verschwendete er, ohne zu wissen 
wie, tausend Mark, die ihm kurz zuvor anvertraut worden waren. In diesem 
Falle glaubt Verf., daB es sich am wahre psychische Aequivalente der 
Migrane handle. 

Flatau hat kiirzdch die obenerwahnte Frage eingehend be- 
handelt und nimmt, nachdem er die in der Literatur niedergeleg- 
ten Fade von Migranepsychose angefiihrt und untersucht hat, 
samtUche Stufen der psychischen Storungen, von den einfachen 
bis zu den komplexen Psychosen, als bei den Migranikern moglich 
an und behauptet, daB die Psychose haufig ohne ein deutdches 
atiologisches Moment auftrete, aber nur in seltenen Fallen infolge 
von ..psychischem Trauma". Der Migraneschmerz kann der 
psychischen Storung vorausgehen, dieselbe begleiten, oder ihr 
folgen; er kann auch fehlen (in den Zwischenperioden). Die jenem 
Verf. nach haufigste Migranepsychose ist ein Dammerzustand, 
in welchem die Kranken benommen, unorientiert, verwirrt er- 
scheinen und oft Halluzinationen des Gesichts und des Gehors 
aufweisen, die nicht selten einen schreckhaften Charakter besitzen 
und beim Pat. Erregungszustande und Gewalttatigkeiten hervor- 
rufen. Die psychische Storung entwickelt sich schnell, mit ver- 
schiedenen Nuancen beziiglich der .Tiefe des Verwirrungszustandes, 
dessen Dauer verschieden lang sein kann, von Stunden bis Monaten. 
Dies vorausgeschickt, fande man nach Flatau bei den Migranikern. 
die dieser Art von Psychose ausgesetzt sind, die besonderen, von 
Kaerpelin, Aschafferiburg, Kramer, Binswanger, bei den Epilep- 
tikem studierten Zeichen: so hatten die Depressionszustande, 
die Vorlaufer der wahren Dammerungszustande, die BewuBtseins- 
stonmgen selbst, eine groBe Analogic in den Migranepsychosen 
und den deutlich epileptischen. Auf Grand dieser Analogic sieht 
der erwahnte Verf., obwohl er die vollstandige Affinitat der 
Migrane mit der Epdepsie zugibt, nicht die Notwendigkeit, beide 
Neurosen in den gleichen Topf zu tverfen und sie zu verschmelzen. 

Monatmohrift f. Psychiatric n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 4. 20 


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300 


Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische 


Er glaubt, daB es eher der Wahrheit entspricht, der Migrane das- 
selbe Recht der Selbstandigkeit zuzuerkennen wie der psychischen 
Epilepsie, indem er zweekmaBigerweise hervorhebt, wie letztere 
nicht weniger haufig ist, als erstere. Noch deutlicher driickt sich 
vor kurzem Pelz aus beziiglich derselben Frage. Er ist iiberzeugt, 
daB die Epilepsie und die Migrane viele Beriihrungspunkte haben 
und gleiche Storungen der Hirnfunktion aufweisen konnen, ohne 
daB man eine Identitat zwischen den beiden Krankheiten anzu- 
nehmen brauchte. Sowohl bei der einen wie bei der andera, be- 
8tiinde haufig, den Verfassem nach, eine direkte Vererbung, eine 
hereditare Degeneration, und beide weisen einen typischen, peri- 
odischen Verlauf auf: der Anfall ware ebenfalls durch Vorlaufer 
charakterisiert, die von einer Entladung in die motorische oder 
sensitive Sphare gefolgt werden, hierauf tritt dann eine Er- 
schopfungsperiode ein. In beiden Formen konnen sich die Anfalle 
wiederholen, so daB sich ein Status epilepticus wie auch ein Status 
hemicranicus bildet. Die ahnlichen Verhaltnisse sprechen jedoch 
nicht fur die Identitat beider Krankheiten, und Pelz nimmt an, 
daB auch die Anfalle, seien sie in der Form des grand mal oder 
des petit mal, im Laufe einer Migrane in vielen Fallen direkt von 
dieser und nicht von der Epilepsie abhangen. Diese Anfalle sollen 
meistens auftreten, wenn die Migrane schon seit langer Zeit 
erschienen ist; eine auBerliche Gelegenheitsursache konnte durch 
die Schwangerschaft oder die Gemutsbewegung gesetzt werden. 
Die Differentialdiagnose mit der echten Epilepsie konnte in diesen 
Fallen auf Grand der direkten Hereditat, oder des Beginnes der 
Krankheit im jugendlichen Alter, oder weil sie seit langer Zeit 
aufgetreten ist, wegen des Mangels wirklicher epileptischer oder 
epileptoider Antezedenzien und der Abwesenheit eines auf die 
Anfalle folgenden geistigen Schwachezustandes durchgefiihrt wer¬ 
den. So nimmt Pelz auch fur die Migranepsychosen an, daB vor- 
iibergehende Psychopathien der Art bestehen, wie es neur- 
asthenische oder hysterische Psychosen gibt. Er nimmt an (nach der 
schon von Mingazzini und dann von Krafft-Ebing ausgediiickten 
Ansicht), daB eine beschrankte Stoning der Funktion der Him- 
rinde (schmerzhafter Migraneanfall) sich ausdehnen oder unter 
gewissen Bedingungen eine Psychopathic hervorrufen konne: 
diese bilde den Hohepunkt des MigraneanfaUes. Pelz glaubt da- 
her, daB die Migrane einer Grappe von Hirndegenerationen an- 
gehort, deren charakteristisches Merkmal die Neigung ist, in 
periodischer Form zu verlaufen. In derselben konnen motorische 
Entladungen wie auch qualitative und quantitative BewuBtseins- 
storangen, wie Ohnmachten, transitorische psychopathische Er- 
scheinungen, Zustande von BewuBtseintriibung, auftreten. 

Alle diese Verfasser sprechen im allgemeinen von Migrane¬ 
psychosen. Der Annahme Mingazzinis und Paeettis folgend habe 
ich es fiir zweckmaBig gehalten, die cephalalgischen Psychosen 
von den Migranepsychosen zu unterscheiden, und da mir sowohl 
von der einen wie von der andern Art einige Falle in der Irren- 


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und heinikranische Psychosen. 


301 


anstalt zu Rom begegnet sind, halte ich es fur nicht uberfliissig, 
dieselben mitzuteilen, da es sich um eine Frage handelt, die 
jetzt erst beginnt die Kliniker zu interessieren. 

1. Fall: Cephalalgische Psy chose. 

Ma . Angelo, 22 Jahre alt. aus Guarcino, Kapuzinerpater, von hoher 
Bi Idling, katholischer Religion. 

Anamnese : Vater lebt, 70 Jahre alt, friiher starker WeinmiBbrauch. 
Die Mutter scheint an Krampfeanfallen gelitten zu haben, wahrend welcher 
sie dens BewuBtsein verlor, Schaum vor den Mund trat und clonische 
Zuckungen sich in den Extremitaten zeigten. Derartige Anfalle dauerten 
ungefahr 19 Minuten und lieBen sie verwirrt. Eine Sch wester des Patienten 
i8t an einer Lungenkrankheit gestorben, eine andere ist gegenwartig krank, 
anamisch, abgezehrt. Andere Sch western und zwei Briider erfreuen sich 
einer guten Gesundheit. Ein Onkel, Bruder der Mutter, ist in der Jrren- 
anstalt gestorben. 

Pat. ist im Alter von 17 Jahren in das Kloster getreten. Er erfreute 
sich stets einer guten Gesundheit, jedoch hat er in der Y T ergangenheit einen 
ziemlich starken MiBbrauch mit Wein getrieben. Masturbation bestand 
nie; ebenso hat er nie an epileptoiden, konvulsiven oder Schwindelanf&llen 
gelitten; diese Storungen verminderten sich jedoch nach und nach, infolge 
einer entsprechenden Kur. 

Als Rekrut wurde er reformiert. wegen Tachykardie. Nach seiner 
Riickkehr ins Kloster wurde er einige Tage spater von heftigem. am Scheitel 
lokalisiertem Kopfschmerz befallen. Der Schmerz wird AuBerst stark; am 
folgenden Tage verliert er, auf dem Hohepunkt des Schmerzes, das Be¬ 
wuBtsein und hat keine Erinnerung von dem, was darauf vor sich geht. 
Zwei Tage lang befand er sich in einem Zustande der Aufregung mit Ge- 
sichtshalluzinationen; er sagte, er wolle nach Rom gehen zum Papste, um 
zu beichten, da er sterben wolle. Er wurde in die Irrenanstalt zu Rom 
iibergefiihrt. 

Status: 24. VTI. 1910. Pat. war beim Eintritt in die Irrenanstalt 
sich des Ortes bewuBt, doch befand er sich in einem Zustande wahrer Angst; 
stierte, bestandig von Gesichts- und Gehorshalluzinationen gequalt, bald 
hier-, bald dorthin; er sah Manner, die ihn zu toten versuchten. horte furcht- 
bares Schreien und Heulen. Der Kopfschmerz war zuerst auBerst heftig. 
nahm dann einige Stunden etwas ab, und die Halluzinationen lieBen nach. 
Am folgenden Tage verschlimmerte sich der Kopfschmerz und die Hallu¬ 
zinationen kehrten wieder. Es bestand iiberhaupt eine deiUliche Be - 
ziehung zunschen diesen und der Intensitdt des Kopfschmerzes. Nach drei 
Tagen nahmen die Geistesstorungen und der Kopfschmerz allm&hlich ab. 
um am 10. Tage vollstandig zu verschwinden. Pat. wurde weniger traurig 
und niedergeschlagen. 

In der Folge besserte sich der Zustand immer mehr, die heftigen 
Kopfschmerzen der ersten Tage bestanden nicht mehr, nur einige Male er- 
wachte er am Morgen mit einem Schwere- und Hitzegefiihl am Scheitel, 
nach einigen Stunden jedoch verschwand alles, ohne irgendwelche Sinnes- 
storungen hervorzurufen. 

Nfitch ungefahr einem Monat w’ar das Verhalten des Pat. sehr korrekt, 
er war bei vollem BewuBtsein, gut orientiert. Er korrigierte vollstandig 
die iiberstandenen Halluzinationen. die, wie er angab. durch den steurken 
Kopfschmerz verursacht worden waren. In der Gedachtnissphare bemerkt 
man eine Liicke. die sich vom Beginn des Kopfschmerzes bis zum Augen- 
blick des Eintrittes in die Irrenanstalt erstreckt. Er verbrachte seine Zeit 
mit Lesen und Spazierengehen im Garten. Die Genugtuung der physio- 
logischen Bediirfnisse ist gut erhalten. Die ethischen, affektiven, familiaren 
Gefiihle normal. 

Die objektive Untersuchung ergibt folgendes Resultat: Plagiocephalia 
levis, combinata (frontalis s., occipitalis d.). Schadel Subdolichocephalus, 

20 * 


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302 Romagna -Man oja, Ueber cephalalgische 

Stirn gerade, Stirnhocker ausgepragt, Gesicht symmetrisch, Prognatismus 
alveolaris. 

Der allgemeine Ernahrungszustand etwas herabgekommen. Herz: 
Iktus am 5. Zwischenrippenraum links, etwas nach innen von der Linea 
mamillaris sichtbar; 1. Ton unrein an der Spitze, deutlich rauschend an 
der Basis. Pulsation sichtbar am Epigastrium und an den HalsgefaBen, 
Puls von normalem Drucke; Respirationsorgane gesund. Nichts von seiten 
der Unterleibsorgane. Temperatur stets normal. Harnuntersuchung auf 
Zucker und EiweiB negativ. 

Die neurologische Untersuchung war beziiglich der Motilitat negativ. 
Beim ersten, einige Tage nach der Aufnahme vorgenommenen Examen 
konnte man keine sichem Angaben beziiglich der verschiedenen Sensifcili- 
tatsformen und der spezifischen Sinne erlangen. 

Bei einer neuen, 14 Tage spater vorgenommenen Untersuchung zeigte 
sich der Status ganz normal. 

Pat. wurde als geheilt entlassen am 14. September 1910. 

2. Fall: Cephalalgische Psy chose. 

Croc ...» Prudenza, 31 Jahre alt, aus Tessenmarco (Rom), ver- 
heiratet. Neuropsychopathische Vererbung besteht nicht. Pat. hat immer 
in der Familie gelebt hat w&hrend der Entwicklung keine Anomalien 
physischer- noch psychischerseits aufgewiesen; im Kindesalter hat sie an 
keiner Art von nervosen Rrankheiten oder Traumen gelitten. 

Sie hat nie Alkohol- noch N arkotikuminifibrauch getrieben. In der 
Jugend litt sie wahrend einer unbestimmbaren Zeit an einer Lungen- 
krankheit, Temperament vielmehr verschlossen, schweigsam. Sie hat nie 
konvulsive Anf&lle von hysterischem oder epileptischem Typus gehabt. 

Im Jahre 1908. im Alter von 29 Jahren, bleibt sie nach dem Tode des 
Vaters sehr empfindlich. Sie machte eine Periode dutch , wahrend welcher 
sie an heftigem , besonders auf den Scheitel lokalisiertem Kopfschmerz litt , der 
in den ersten Tagen von kurzer Dauer war (3—4 Stunden). dann kontinuier - 
lich wurde und einen ganzen Tag dauerte. Wahrend dieser Periode, von un- 
gef&hr einem Monat, war Pat. Weinanf&llen und Gesichtshalluzinationen 
ausgesetzt, stiefi unverst&ndliche Schreie aus, zeigte eine intensive motorische 
Erregung. Dann lieB alles allm&hlich nach unter feist vollst&ndiger Amnesia 
der krankhaften Periode. 

Am 5. September 1910 heiratete sie und befand sich einen Monat 
lang wohl. 

Am 20. Oktober desselben Jahres begann sie von neuem fiber heftigen 
Kopfschmerz zu klagen, der ihr keine Ruhe liefi; sie wurde unruhig. sagte, 
man wiirde sie in die Irrenanstalt bringen, weinte bostandig, begann die 
Nahrung zu verweigem. Ins Krankenhaus von Civitavecchia gebracht, 
wurde die Erregung immer heftiger, und es wurde notwendig, sie am 27. Ok¬ 
tober 1910 in die Irrenanstalt zu Rom iiberzufiihren. 

Status 28. Oktober 1910: Person von regelm&Bigem Skelettbau, 
Muskelmassen gut entwickelt, Hautfarbe blaBbraun, Herz in normalen 
Grenzen. Tone sein Harn normal beziiglich der Quantit&t und der Qualit&t, 
Augenbewegung normal. Faciales intakt, Zunge beweglich. gut gestreckt, 
ohne Abweichung und ohne besonderes Zittem. Weder dysarthrische noch 
dysphasische Storungen. Die aktiven und passiven Bewegungen der oberen 
und unteren Extremitaten normal, Gang normal, obere Sehnenreflexe 
lebhaft, auf beiden Seiten, sehr lebhaft die Achillessehnen- und Patellar- 
reflexe; weder Patellar- noch Fuftclonus. Plantarreflexe in Flexion. Be- 
riihrungs-, Warme- und Schmerzgefiihl scheinen normal auf beiden Korper- 
haiften. Keine wahmehmbare Storung der spezifischen Sinne. Ausgeprag- 
ter Dermographismus in der angioparetischen Phase. 

Bei ihrem Eintritt in die Anstalt wies Pat. einen Zustand bedeuten- 
der Aufregung auf: sie schrie, war feindlich gesinnt gegen die Anstalt, 
reagierte gegen die W&rter. hatte metabolische Illusionen, sie bat, aus der 
Holle gerettet zu werden, horte verschiedene Stimmen. Spater wurde sie 
ruhig, wies aber von Zeit zu Zeit einen leichten Angstzustand auf, w&hrend 


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und hemikranische Psychosen. 


303 


desselben steigerte sich die motorische Aufregung. sie rief mit lauter 
Stimme die Heiligen an, stand vom Bette auf, versuchte zu fliehen, indem 
sie glaubte, daB man sie toten wolle, sie verweigerte die Nahrung. 

Nach zwei oder drei Tagen jedoch wurde sie mit der Abnahme des 
Kopfschmerzes ruhiger. Es gelang, wenn auch nur fur kurze Zeit, ihre Auf- 
merksamkeit zu konzentrieren. Die Wahrnehmung der Umgebung war 
gut. ebenso der an sie gerichteten Fragen. doch erfolgten die Antworten 
langsam. 

Was die psychischen Storungen anbetrifft, so hatte sie nur eine ober- 
flachliche und liickenhafte Erinnerung. Sie erinnerte sich ihrer Ueber- 
fiihrung in das Krankenhaus in Civitavecchia; sie behauptete, sich des 
Zimmers zu erinnern. in weichem sie sich befand, doch konnte sie nicht 
angeben, wieviel Betten darin waren, ob der Arzt sie besuchte, ob Schwestern 
dort waren, usw. Sie erinnerte sich in konfuser Weise. vom Krankenhause 
in Civitavecchia zum Bahnhof gegangen zu sein, gereist zu sein, und 
hierher gefiihrt worden zu sein. Dann schwindet die Erinnerung bis zum 
5. November 1910. 

Status: Vom 5. November an beginnt die Kranke sich zu erinnern, 
der Umgebung eine gewisse Teilnahme zu widmen, die Personen zu er- 
kennen. Sie wuBte, daB sie sich in Rom befand. aber nicht wo, sie wuBte 
weder den Tag. noch den Monat anzugeben, im Referenten erkannte sie 
einen Arzt. Es besteht eine bedeutende Schwierigkeit in alien geistigen, 
selbst einfachen Handlungen, besonders der Assoziation, der Abstraction. der 
Erinnerung. Es fehlten krankhafte Ideen oder halluzinatorische Storungen. 
Geringes Interesse fiir die Umgebung. schwache Willensstarke. Affektive 
Gefiihle gut erhalten. Die Befriedigung der physiologischen Bediirfnisse 
gut erhalten. 

Status 16. XI. 1910; Pat. ist immer ruhig gewesen. Seit einigen Tagen 
hat sie wieder liber heftigere Kopfschmerzen geklagt, vorige Nacht ist sie 
vom Bette aufgestanden und zur diensttuenden W&rterin gegangen,,uin zu 
fragen. ob s&mtliche Kranken Frauen seien; sodann fiigte sie hinzu: ..Wenn 
sie mich toten miissen, so toten Sie mich, denn vor den Mannem habe ich 
Angst. 44 

Am folgenden Tage befragt. antwortet sie. daB sie sich an nichts 
erinnere. 

Status 23. I. 1911: Pat. beschaftigt sich seit einigen Tagen mit den 
Arbeiten im Krankensaal. klagt immer iiber am Scheitel lokalisierten 
Kopfschmerz. weniger heftig als vorher, doch starker am Morgen. Gestem 
besuchte sie der Ehemann. Bei seinem Anblicke war sie sehr geriihit. Sie 
bat ihn, sie mitzunehmen und geriet in Aufregung. als sie sah, daB dies nicht 
moglich war. Sie beruhigte sich nach einer halben Stunde nach der Da- 
zwischenkunft des Arztes. 

27. II. 1911: Befinden ausgezeichnet. Keine Storung mehr seit 
einigen Tagen. Sie ist die tatigste Pat. auf der ganzen Abteilung sie fiihrt 
die ihr zugeteilten Arbeiten besser aus, sie ist geselIsohaftlicher und guter 
*Laune. 

Pat. als geheilt entlassen am 5. IT. 1911. 

3. Fall: Psychosis hemicranica. 

F . . ., Angela. 24 Jahre. Naherin. unverheiratet. 

Anamnestische Bemerkung: Der Vater lebt, doch weiB man nicht, 
wo er sich befindet, da er die Familie seit 19 Jahren verlassen hat. Die 
Mutter lebt; sie hat einen Abort und viele Kinder durchgemacht; sechs 
derselben starben sehr fruh, an nicht festgesetzten Krankheiten. 

Pat. hat in der Kindheit keine nennenswerten Krankheiten dnrch- 
gemacht. Nie Konvulsionen von hysterischem oder epileptischem Typus, 
nie Aequivalente. Seit einigen Jahren war sie periodischen diffusen , jedoch 
am Scheitel am heftigsten auftretenden Kopfschmerzen ausgesetzt; fcisweilen 
gesellt sich zu dem Kopfschmerz eine Amblyopie. und wenn der Schmerz 
stark war. sah sie lauter Funken vor den Augen und hatte Gerausche in 
den Ohren ,.wie ein Wind“. Der Schmerz ist bisweilen von Erbrechen 


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Romagna-Manojft, Ueber cephalalgische 


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begleitet, jedoch besteht kein Unterschied in der Intensitat der Schmerzen 
am Morgen und jener der Schmerzen am Abend. Der Kopfschmerz war 
starker in der Menstruationsperiode. Es bestand auch Schwindel, doch 
hat sie nie an Konvulsionen, noch an BewuBtseinverlust, noch an unfrei- 
willigem Harnlassen gelitten. 

Ungefahr drei Monate vor der Einliefenmg waren die Kopfschmerzen 
intensiver und anhaltender geworden. Pat. wurde dann unruhig und be- 
trachtet die AuBenwelt in feindlichem Sinne, sie sagt, alle argem sie, machen 
unanstandige und spottische Bewegungen usw. Gehorshalluzinationen scheint 
sie nicht gehabt zu haben. In diesem Zustande versucht sie sich zu ver- 
giften, indem sie eine Vitriollosung trinkt, und wird deshalb in die Irren- 
anstalt gebracht. 

Objektive Untersuchung : Elliptischer Schadel mit reichlichem Haar- 
wuchs, Stim vonmittlerer Weite; Glabella etwas vertieft. Jochbeine etwas 
ausgepragt, kleine Nase, Mikrodontismus, besonders der oberen seitlichen 
Schneidezahne; kleine. abstehende Ohren (Typus Wildermuth), mit auf 
den Tragus vorspringenden Antitragus. 

Skelettbau regelmaBig Muskelmassen sparlich entwickelt, die sicht- 
baren Schleimh&ute sind blaB. Auf Kosten der Bmst- und Bauchorgane 
ist nichts zu bemerken. Harnuntersuchung auf EiweiB und Zucker negativ. 
Temperatur normal. 

Leichtes Vorteten der Augapfel. Augenbewegung normal, Hypokinesis 
der VII. Inferiores; vibratorisches Zittem der Finger, bei ausgestreckter 
Hand. Normal sind die aktiven und passiven Bewegungen der Arme und 
der^Beine. Obere Sehnenreflexe lebhaft, Patellar- und Achillesreflexe gleich 
und normal auf beiden Seiten. Zehenplantar-, Bauchreflexe schwach, 
Comealreflexe lebhaft; weite Pupillen. Licht- und Akkommodationsreak- 
tion der Iris gut. 

Leichte Verspatung des Schmerzgefiihles. sonst nichts auf Kosten 
der anderen Formen der Sensibilitat und der spezifischen Sinne. Aus- 
gepr&gte vasomotorische Erscheinimgen. 

Status: Wahrend der ersten Tage ihres Aufenthaltes in der Irren- 
anstalt zeigte Pat. ein feindseliges Benehmen; sie wiinschte allein gelassen 
zu werden und wollte nicht mit Fragen belastigt werden, ebensowenig 
mit Ermutigungen. Sie zog vor. in einem Zustande fast vollst&ndiger 
Apathie auf einer Bank zu liegen, und klagte von Zeit zu Zeit liber Kopf- 
scnmerzen. heftiger als gewohnlich und am Scheitel lokalisiert. Der Ge- 
sichtsausdruck ist ein trauriger, der Blick irrend. Bei dem Verhor leistet 
sie wenige spontane Aufmerksamkeit; aus den Fragen ergibt sich, daB sie 
topographisch und bezuglich der Personen gut, chronologisch unvollstAndig 
onentiert ist. In der Unterhaltung bemerkt man eine Langsamkeit in der 
Erinnerung, eine Schw ierigkeit in der Koordination der Antworten. Ge- 
dftchtnis etwas unsicher, leichte Reizbarkeit und unertr&gliche Laune. 

Es erweisen sich keine halluzinatorischen Storungen in €M;tu, Pat* 
erinnertsich wohl, auf dem Hohepunkte des Schmerzes ,,Streifen“. „Funken‘% 
.,Stemchen‘ 4 gesehen zu haben. Sie nahm in egozentrischer Weise Hand- 
1 ungen wahr, die in ihrer Gegenwart ausgefuhrt wurden. so wandte sie sich 
oft an die Wftrterinnen mit der Frage: ..Haben sie es mit mir?“ In der- 
selben Weise wandte sie sich an den Verf.. wenn sie ihn schreiben sah. Es 
bestanden keine Storungen in der Befriedigung der physiologischen Be- 
diirfnisse. nur bisweilen Schlaflosigkeit oder Neigung zur Nahrungsver- 
weigerung, aber nur auf kurze Zeit. 

Dem soeben beschriebenen Zustande folgte eine Ruheperiode, w&hrend 
welcher die Kranke nicht mehr viber Kopfschmerzen klagte, doch bleibt 
sie apathisch imd gleichgiiltig. einige Monate hindurch. Dann beginnt 
sie sich mit Arbeiten in der Abteilung zu beschaftigen. wirkliche krank- 
hafte Ideen weist sie nicht auf, wie auch das Benehmen immer ein 
korrektes war. 

Nach ungefahr 1 H Jahren wird sie vollstkndig geheilt entlassen. 


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und hemikranische Psychosen. 


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Wenn wir nun kurz die klinischen Eigenschaften dieser drei 
Falle analysieren, so sehen wir, dad im ersten der Kopfschmerz 
fast plotzlich und in akuter Weise auftrat: mit groBer Schnellig- 
keit erreichte er einen paroxystischen Charakter und dann 
traten Erregung, Gesichtshalluzinationen, Wahnideen depressiven 
Charakters, vollstdndige Koharenz zwischen Gefuhlszustand und 
Inhalt der krankhaften Ideen auf. Von Wichtigkeit ist der be- 
standige Zusammenhang zwischen der Intensitat des Schmerzes 
und der psychischen Storungen, in den Schwankungen, die der 
ersten sehr akuten Phase folgten. Die Dauer der Form war einige 
Tage. Mit dem Verschwinden des Schmerzes verschwindet auch 
jede psychische Storung, die eine nimmt gleichzeitig mit dem andern 
ab. Die objektive Untersuchung und die Anamnese sind negativ: 
es fehlen samtliche hysterischen oder epileptischen Zeichen, hin- 
gegen besteht eine neuropsychopathisehe Vererbung, die in 
diesem Falle gewiB die Pradisposition des Patienten zur psycho- 
pathischen Reaktion auf den Kopfschmerz gebildet. 

Im zweiten Falle haben wir zwei kurz aufeinander folgende 
psychopathische Perioden bei einer j ungen Frau ohne neurop- 
sychopathische Belastung, ohne hysterische oder epileptische 
Stigmata, ohne Anomalie in den Funktionen des vegetativen 
Lebens. Die erste Periode ist kurz und lost sich infolge eines 
psychischen Traumas axis; die zweite, in der Entfernung von 
weniger als zwei Jahren, ohne augenscheinliche Ursache: 
in beiden stellen sich, wexm der Kopfschmerz den Hohepunkt 
erreicht, die psychischen Storungen ein. Diese bestehen in 
psychomotorischer Erregung, die immer zunimmt, im Auftreten 
von Gesichtshalluzinationen, metabolischen Illusionen, feind- 
seligen Apperzeptionen, krankhaften Reaktionen, Gedachtnis- 
storungen in Bezug auf die krankhafte Periode. Beide Perioden 
sind allmahlich zur Heilvmg gelangt, aber auch wahrend ihres 
Verlaufes treten die psychischen Storungen ausgepragter auf, 
in Zusammenhang mit leichten und voriibergehenden Zunahmen 
des Schmerzes. 

Der dritte Fall wird von einer Migraneform bei einer j ungen 
Frau geliefert, bei welcher andere Zeichen der Neurose fehlen. 
Wahrend der Kopfschmerz gewohnlich ein periodischer, voriiber- 
gehender war, wird er auf einmal anhaltender, so daB xmter dem 
EinfluB eines fast bestandigen Schmerzes nach einigen Monaten 
(protrahierte Form) die psychopathischen Storungen beginnen, die 
ihren Ausdruck entweder in Anomalien des Benehmens oder in 
feindseligen Apperzeptionen, illusorischen Erscheinungen, oder 
in an sich gefahrlichen Reaktionen (Selbstmordversuch) finden. 
Auf diese Periode folgt eine andere, eine wirkliche Depressions- 
periode, wahrend welcher,’ allmahlich, mit der Verminderung 
des Kopfschmerzes der psychopathische Zustand verschwindet 
und vollstandige Heilung eintritt. 

In all diesen drei Fallen war die Reaktion auf die Wahnideen 
stets sehr leicht und nur im dritten Falle hatte man einen wahren 


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Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische 


Selbstmordversuch ohne Folgen. Es fehlte jedoch in ihnen 
irgendwelche Erscheinung, welche die hysterische oder die 
epileptische Neurose anzuzeigen pflegt, und auBer dem Mangel 
physischer Zeichen wie auch anthropologischer rechtfertigte 
das Benehmen vor dem Eintritte in die Anstalt, und wahrend 
des Aufenthaltes in ihr nicht im entferntesten den Verdacht 
auf eine derartige Neurose. Man hat somit das Recht, zu behaupten, 
daB man es in alien drei Fallen mit wirklichen und eigentlichen 
cephalalgischen und Migranepsychosen zu tun hatte. 

Mingazzini und Pacetti stellten beziiglich dieser cephal¬ 
algischen Psychosen die Hypothese auf, daB der Schmerz und die 
psychischen Storungen im Verhaltnis von Kausalitat und 
Wirkung stehen, in sofem als die psychischen Storungen haufig 
mit dem Schmerze oder nachdem derselbe schon eine Zeitlang 
gedauert, auftreten, und die hochste Intensitat des Schmerzes 
mit der schwersten Periode der Psychose zusammenfallt. Auch 
Koppen ist derselben Meinung beziiglich der Migranepsychosen: 
wenn, nach diesem Verf., die psychischen Storungen plotzlich im 
Laufe der Migrane auftreten, so hat das Delirium als Gegenstand 
schreckhafte Ideen, die Erregung erreicht einen hohen Grad, und 
es zeigt sich vollstandige und teilweise Amnesie beziiglich der 
Ereignisse wahrend der aufgeregten Periode. 

Sicher ist die Annahme, daB das ursachliche kausale organische 
Element in vielen Individuen, wie Mingazzini und Pacetti annehmen, 
durch Ausstrahlung des irritativen Reizes des Trigeminus (was 
haufig die Hauptursache des Kopfschmerzes ist) bis zu den zen- 
tralen Kemen und durch die Beziehungen, welche diese Zentren 
besonders mit den optischen Zentren bis zur Gesichtssphare der 
Rinde haben (daher die Halluzinationen), wirkt, moglich und 
zufriedenstellend. Doch miissen wir freilich mit Consiglio an¬ 
nehmen, daB der Hauptfaktor die neuropsychische Konstitution 
des Individuums sei: und dies erklart, warum die Psychopathien 
unter den so zahlreichen Cephalalgischen so selten sind, und warum 
bei gewissen Individuen die geringsten Ursachen Kopfschmerzen 
hervorrufen und dieser Schmerz bei einigen leicht, durch eine 
groBere Empfindlichkeit des Nerven, fast den Charakter einer 
organischen Hyperasthesie annimmt. 

In vielen Fallen muB man auBerdem auf den Gedanken 
kommen, daB die Ursache, die die Neuralgie hervorruft, auch die 
psychische Storung hervorrufen kann. Wenn man bedenkt, daB 
eine rheumatische, toxische, vasomotorische Ursache den Kopf- 
schmerz hervorruft, so lost dieselbe Ursache durch Einwirken auf 
fur eine abnorme Reaktion pradisponierte Hirnzonen die ver- 
schiedenen Symptome aus, die daher in ihren Erscheinungen 
gleichen Schrittes mit ihrer Intensitat gehen. Besonders im Falle 
der Intoxikation, sagt Consiglio, meist intestinalen oder alimen- 
taren Ursprungs, ist auch eine Storung im Gleichgewicht des 
Hiras anzunehmen, so daB die Nerven der Himhaute in Mitleiden- 
schaft gezogen und schmerzhaft werden: daher eine Unbestandig- 


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und heraikranische Psychosen. 


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keit im vasomotorischen und respiratorischen Zentrum, die leichter 
Storungen erfahren, wenn auf die schmerzhafte, cephalalgische 
Ursache die psychomotorische Reaktion folgt, ebenso wie in den 
Hirnzellen die energetische Potentialitat unbestandiger ist. 

In unseren drei obenerwahnten Fallen fehlte auBer jeglichem 
hysterischen oder epileptischen Stigma irgendwelches deutliche 
Zeichen einer Intoxikation in actu: und folglich ist es logisch, zu 
behaupten, daB die obenerwahnten Psychosen keinen anderen Ur- 
sprung haben als die Cephalalgie und die Migrane. Es ist 
daher nicht auszuschlieBen, daB das Schmerzphanomen und die 
psychischen Storungen auf einer identischen Ursache beruhen, die 
mit unseren gegenwartigen Untersuchungsmitteln nicht auf- 
gedeckt werden konnte. 

Man kann also nicht sicher behaupten, daB die psychischen 
Storungen in diesen Fallen als eine direkte Folge des schweren 
Kopfschmerzes aufgetreten seien. Dies schwacht jedoch keines- 
wegs den klinischen Wert der Beziehimgen zwischen Migrane und 
Psyohose, und somit bestatigen die obenerwahnten drei Falle noch 
einmal das Bestehen wahrer und eigentlicher cephalalgischer 
resp. migranischer Psychosen, wie solche in unumstoBlicher Weise 
in den letzten Jahrzehnt von zahlreichen Forschem selbst nach 
einer eingehenden Kritik angenommen worden sind. um so mehr, 
da man in der Psychiatrie auch von epileptischen Phsycosen 
redet, obwohl allgemein anerkannt ist, daB es nicht der Krampf- 
anfall ist, der die psychopathische Storting auslost, sondem daB 
dieselbe Ursache, welche den Anfall hervorruft, auch die Geistes- 
storung verursachen kann. 

DaB aber in einigen Fallen der Schmerz an sich fahig ist, 
einen psychopathischen Zustand auszulosen, scheint mir sehr 
wahrscheinlich, besonders wenn dieser Schmerz sehr heftig und 
andauemd ist (siehe die Falle Bioglios ): die psychischen Storungen 
haben den Charakter einer wahren Reaktion (oft hypochondrischen 
Typus) auf den Schmerz selbst. Nachstehender Fall liefert ein 
deutliches Beispiel. 

4. Fall: Cephalalgische Psychose. 

O . . . Raffaele, 40 Jahre alt, Feldhuter. 

Anamnese : Vater kein Trinker, seit vielen Jahren tot, infolge un- 
bekannter Krankheit. Mutter lebt, erfreut sich einer guten Gesundheit. 
Eine neuropsychopathische Belastung ist nicht vorhanden. Pat. ist nach 
regelmaQiger Schwangerschaft geboren worden und hat sich sowohl physich 
wie psychlsch gut entwickelt. Zuerst war er Kuhhirt, dann Feldhuter seit 
12 Jahren. 

Im Alter von 25 Jahren heiratete er und zeugte zwei Kinder: eines 
derselben ist im Alter von 8 Monaten gestorben und das andere von 
wenigen Monaten. ist ebenfalls Brandwunden erlegen. Gewohnlich trinkt 
er 1 Liter Wein im Tage, bisweilen auch 2—3. Er hat nie an venerischen 
Krankheiten gelitten. aber Malariafieber durchgemacht. Er ist von gutem 
Charakter, gewohnlich lustig und gesellschaftlich und h&ngt sehr an der 
Familie; er kommt mit Eifer seinem Berufe nach. 

Tm Februar 1908 wurde er eines Abends von einem heftigen Kopf- 
schmerz an der linken Temporofrontalgegend befallen. Pat. verglich den 


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Romagn a-Manoja, Ueber cephalalgische 


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Schmerz mit einem Nagel, der sich in den Kopf bohre. Dieser Schmerz 
erstreckte sich auf den linken Augapfel, ohne jedoch von Phosphenen 
oder von Erbrechen begleitet zu sein. Der Schmerz dauerte sehr heftig die 
ganze Nacht hindurch und verschwand am Morgen, um in den folgenden 
Naehten wiederzukehren, ohne das irgend ein Gebrauch oder MiBbrauch 
von Wein stattgefunden hatte. Nach 15 Tagen verscharfte sich der dauernd 
bestehendb, mehr oder weniger heftige Schmerz; die Schmerzanfalle waren 
sowohl bei Tag wie bei Nacht haufig. Unter den vielen angewandten Mitteln 
konnte nur das Aspirin den Schmerz lindem. Sobald die Wirkung dieses 
Mittels voriiber war, begann der Schmerz von neuem. Er unterzog sich 
einer supraorbitalen Neurektomie, da man eine Trigeminus neuralgic an- 
genommen hatte, doch lieB der Schmerz durchaus nicht nach. ja er ver- 
breitete sich hinter dem linken Ohre, in die postero-laterale Gegend des 
Halses. 

5 Monate, nachdem Pat. schon an diosen Schmerzanf&llen litt, ver- 
fiel er in Angstzust&nde, lief im Hause hin und her, klagte, litt an Schlaf- 
losigkeit. rief den Tod an, und legte den Verwandten gegeniiber ein feind- 
seliges Benehmen an den Tag und auBerte bestandig Selsbtmordvors&tze. 
Der behandelnde Arzt sorgte fiir die Ueberfiihrung in die Irrenanstalt 
(19. XI. 1908). 

Wahrend seines Aufenthaltes in der Irrenanstalt verhielt sich Pat. 
ziemlich ruhig, doch war er traurig und oft schwer zuganglich. In der 
Folge nahm der Kopf schmerz so ab, daB ihn Pat. nicht mehr beach tete, 
und bei den verschiedenen Untersuchungen behauptete er, infolge des 
heftigen Schmerzes, an dem er gelitten, gezwimgen gewesen zu sein, unge- 
wohnliche Dinge zu sagen und zu tun. Er zeigte sich nur intolerant dem 
Geschrei und dem Larmen der anderen Kranken gegeniiber, da diese ihn 
bel&stigten. 

Die objektive neurologische Untersuchung fiel negativ aus. Es er- 
gab sich keine Schmerzempfindung auf Druck irgendeines peripheren 
Nerven. Nach ungefahr einem Monat wird Pat. geheilt entlassen. 

Dieser Fall beweist also die Moglichkeit, daB die elniachen 
psychischen Storungen als krankhafte Reaktion auf andauernden 
Schmerz auftreten. 

Auch den vasomotorischen Storungen, als Faktoren des Gleich- 
gewichtes in den geistigen Funktionen und als haufiges Element 
in den Cephalalgien, wurde schon von Mingazzini und Pacetti 
eine Bedeutung zugeschrieben. 

Wenn nach diesen Verfassem der neuralgische Reiz seine 
Wirkung in einigen Fallen auf umschriebene Rindenbezirke be- 
schrankt, so verarsacht er isolierte Erscheinungen in den ver¬ 
schiedenen Spharen, die auBerdem bei vollstandig hellem BewuBt- 
sein verlaufen. Gesellt sich zu diesen lokalisierten Symptomen 
eine diffuse Kongestion der Rinde, so zeigt sich sekundar eine 
schwere Triibung des BewuBtseins. 

Hauber selbst schreibt den vasomotorischen Storungen eine 
groBe Redeutung zu. 

Neuerdings hat Zylberlast , auf Grand eines von ihm studierten 
Falles, in dem das Auftreten der psychischen Storungen bei einem 
unzweifelhaften Migraniker von einer serosen Meningitis be¬ 
gleitet war, angenommen, daB diese von einem gesteigerten 
interkraniellen Dracke abhangen, und daB die Zunahme der 
Zerebrospinalfliissigkeit zwei Quellen habe, namlich das serose 
Transsudat, das die Migrane begleite, und das Exsudat, welches 
die serose Meningitis verursache. Wenn, nach diesem Verf., die 


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und hemikranische Psychosen. 


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psychischen Storungen von kurzer Dauer sind, waren sie durch 
die iibertriebene interkranielle Pression hervorgernfen, die in den 
meisten Fallen die pathologisch-anatomische Grundlage der Migrane 
bildet. Treten auBer der Migrane andere Ursachen auf (moralische 
Traumen), so bestiinde mit Recht die Vermutung, daB neben dem 
gewohnlichen Transsudate der Migrane sich ein entziindliches 
Exsudat der serosen Meningitis einstellt; ersteres verschwindet 
erst viel spater als letzteres, indem es neue Hirnsymptome und 
psychische Storungen hervorruft. 

Aus der Durchsicht all des bisher Beschriebenen beziiglich 
der cephalalgischen und der Migranepsy chosen, sowie aus dem 
Studium meiner Falle kann man also den SchluB ziehen, daB neben 
den psychopathischen Formen in enger Verbindung mit anderen 
Neurosen (Epilepsie, Hysterie) zweifellos eine Anzahl psychotischer 
Zustande besteht (cephalalgische, Migranepsy chosen), die nicht 
sehr haufig sind und ein einformiges khnisches Bild 
darbieten, die ihren Urspnmg anscheinend aus einem Schmerze 
nehmen, der haufiger ein cephalalgischer Schmerz, bisweilen eine 
Migrane, seltener ein prosopalgischer ist, und die extraencephalen 
Nerven befallt. In vielen dieser Falle besteht eine neuropathische 
Konstitution oder eine neuropsychopathische Belastung. Jedoch 
fehlen samtliche physischen und psychischen Zeichen einer hysteri- 
schen oder epileptischen Konstitution, und haufig auch objektive 
Angaben eines toxischen Zustandes (des Magendarmtraktes, der 
Nieren). 

Literature Verzeichnis: 

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Bioglio , Disturbi psichici acuti transitori su base cefalalgica ed emicrania. 
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l’epilessia emicranica. Policlinico, 1897.— Brackmann. Migrane und Psychose. 
All. Zeitschr. f. Psych. 1897, 34, S. 190. — Consiglio . Le disfrenie cefalal- 
giche. Policlinico, Sez. Prat. 10—11, 05. — Cornu , Contribution a l’6tude 
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Th6se de Lyon, 1902. — Epstein , Migrane und Epilepsie. Zit. Neurol. 
Zentralbl. 1904. S. 973, und 1905, S. 295. — E. Flatau , Die Migrane. Berlin, 
Verlag Julius Spiinger, 1912. — Hauber , Migrane und Schmerzd&mmer- 
zustande. Berlin, Universit&t, 1912. — Horstmann , Migrane und Epilepsie. 
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Zentralbl. f. Nervenheilk., 1908, S, 100. — Kowctiewsky , Epilepsie et migraine. 
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Daselbst, 1897, H. I. — Krafft-Ebing , Ueber Migranepsychosen. Jahrb. 
f. Psych. 1902, 21, S. 38. — Mingazzini . Sui rapportitraP emicrania oftal- 
mica e gli stati psisopatici transitori. Riv. sperim. di Freniatrie, 1893, S. 16. 

— Mingazzini , Sopra una speciale sindroma emicranice (disfrenia hemi- 

cranica transitoria) . Riv. di Freniatra, 1896, S. 64. — Mingazzini , Femere 
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Mon. f. Psychiatrie und N. Bd. I., H. 2. 1897. — Mingazzini e PaceUi , 

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Freniatria. Bd. XXV, 1899. — Mobius , Die Migr&ne. Spez. Pathol, und 
Therapie. Nothnagel, 1894. — PeZz, A., Ueber die Beziehung der Migr&ne 
zur Epilepsie. Zeitschr, f. d. ges. Neur und Psych. Berlin, Oktober, 1912. 

— Schiile, Die Dysphrenia neuralgica. Karlsruhe. 1876. — Sdamanna, 


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310 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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Nevrosi emicraniche. Bollettino della, Society Lancisiana. 1896. — Strom - 
mayer , Ueber die Beziehungen zwischen Epilepsie und Migrane. Miinch. 
m. W., 50. Jahrg. — Ulrich , M.> Beitr&ge zur Aetiologie und zur klinischen 
Stellung der Migr&ne. Monatsschr. f. Psych, und Neur. Berlin. Juni, 1912. 
Zylberlast , Troubles mentaux nans un cas de m^nincite s^reuse. Revue 
Neurologique. 30. IV. 1912. 


Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 

Von 

Dr. KURT MENDEL 

in Berlin- 

I. Forensisches. 

Eine nicht geringe Anzahl von Entscheidungen der verschie- 
denen Instanzen des Versicherungswesens, insbesondere des Reichs- 
Versicherungsamtes, beschaftigt sich mit dem Selbstmord der 
Unfallverletzten und der eventuellen Entschadigungspflicht an 
die Hinterbliebenen. Aus diesen Rechtsprechungen geht als Fazit 
folgendes hervor: Damit die Hinterbliebenen einen Anspruch auf 
Unfallrente haben, miissen 2 Bedingungen erfullt sein: 1. es mud 
der Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung aus- 
schlieBenden Zustande, „ohne Vorsatz" (§8, Abs. II des GUVG. 
vom 30. Juni 1906) ausgefiihrt worden und 2. es mull die krank- 
hafte Storung der Geistestatigkeit, die zum Suizid fiihrte. eine — 
unmittelbare oder mittelbare — Folge des in Frage stehenden 
Betriebsunfalls sein. 

So selbstverstandlich die zweite Forderung ist, so strittig 
erscheint die Berechtigung der ersten. Das Reichs-Versicherungs- 
amt selbst ist hierin nicht immer konsequent vorgegangen: es 
hat zwar zumeist die Frage erwogen, ob der Selbstmorder als 
,,Willenlo8er von den durch seinen korperlich-geistigen Zustand 
bedingten Empfindungen und Antrieben in den Tod getrieben 
wurde“ (Entscheidung vom 24. IX. 1888) oder zum mindesten 
in seiner freien Willensbestimmung erheblich beeintrachtigt war 
(Entscheidung vom 3. VII. 1903), und nur bei Bejahung dieser 
Fragen den Entschadigungsanspruch zuerkannt; es gibt aber 
andererseits Entscheidungen des Reichs-Versicherungsamtes, nach 
denen der Anspruch auf Hinterbliebenenrente anerkannt wurde, 
trotzdem nach Ansicht der Gerichte die freie Willensbestimmung 
des Selbstmorders durchaus nicht aufgehoben war. 

Diese mildere Rechtsprechung ist von psychiatrischer Seite 
aus mit Freuden zu begriiHen. Abgesehen davon, daB mit Fortfall 
der Forderung 1 auch der leidige Begriff der freien Willens¬ 
bestimmung, der weder hier noch im Strafrecht noch im Biirger- 
lichen Gesetzbuche Verwendung finden sollte, wegfallen wiirde. 
ist zu bedenken, daB ein sogenannter ,.physiologischer“ Selbstmord 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 311 

etwas iiberaus Seltenes darstellt, vielleicht uberhaupt gar nicht 
vorkommt. In diesem Punkte sind die einzelnen Psychiater, wie 
Gaupp, Helenefriederike Stelzner, Hubner, Finkh, Viallon, Ph. Jolly 
u. A., vollig der gleichen Meinung. Schon Esquirol erklarte alle 
Selbstmorder ohne weiteres fiir geisteskrank, schon Griesinger 
betonte, daB der Selbstmord in der groBen Mehrzahl der Falle 
in einer psychisch abnormen Veranlagung des betreffenden Indi- 
viduums wurzle. Sind es auch meist nicht offenkundige Psychosen, 
— Kraepelin fand unter seinen geretteten Selbstmordern nur in 
30 pCt. der Falle eine klinisch ausgepragte Geisteskrankheit, 
Waseermeyer in 50 pCt. —, so handelt es sich doch um Psycho- 
pathen, D6g6ner6s, Hysteriker, Epileptiker und sonstige willens- 
schwache, psychisch nicht widerstandsfahige Personen, welche 
gewaltsam aus dem Lehen scheiden. Von 124 Fallen, die Gaupp 
sammelte, erschien nur einer geistesgesund, und hier handelte es 
sich um ein im 8. Monat der Graviditat stehendes Dienstmadchen, 
das von ihrem Geliebten der Untreue bezichtigt worden war. Also 
auch hier ein durch die Schwangerschaft bedingter abnormer 
Geisteszustand. Helenefriederike Stelzner fand, daB von 200 Selbst- 
morderinnen 169 klinisch ausgepragte Psychosen aufwiesen, und 
nur bei 31 weder vor noch nach der Tat eine Geisteskrankheit 
nachweisbar war. Bei diesen 31 Selbstmorderinnen walteten aber 
so eigenartige Hereditatsverhaltnisse, oder es bestanden so zahl- 
reiche psycho- und neuropathische Ziige, daB man bei ihnen un- 
moglich von einem „physiologischen“ Selbstmord sprechen kann. 

Pfeiffer schreibt, daB der Selbstmord fast ausnahmslos ein 
ubermaBig starker und zweckwidriger Reflex auf Reize ist, die 
ihrem Wesen nach der Person selbst nur selten klar zum BewuBt- 
sein kommen; fast immer sei der Selbstmord eine der Veranlagung 
inaquate Affekthandlung. 

Hubner fand fast stets ein MiBverhaltnis zwischen der Gering- 
fiigigkeit des Motivs und der Schwere der Reaktion auf dieses 
Motiv, nach ihm waren es sicher bei mehr als 90 pCt. der Selbst- 
mordfalle Storungen des Gemiitslebens, und zwar entweder traurige 
Verstimmung oder gesteigerte Reizbarkeit, die von wesentlicher 
Bedeutung fiir das Zustandekommen des Selbstmordes waren. 

Den psychiatrischen Ansichten gegeniiber halt das Reichs- 
Versicherungsamt im Prinzip noch an der Annahme des Vor- 
kommens eines physiologischen Selbstmordes fest, bei welchem 
alsdann der ,,Mangel an gewissen, in der Charaktereigenart des 
Verstorbenen gelegenen geistigen und moralischen Eigenschaften" 
den Vorsatz und die AusfUhrung des Suizids nicht verhindem kann. 
Eine solche mangelhafte Widerstandskraft und Willensstarke 
muB aber vom psychiatrischen Standpunkte aus bereits als patho- 
logisch, als Grenzzustand oder leichterer Grad derjenigen psy- 
chischen Storung angesehen werden, welche — in verstarktem 
Grade — die Zurechnungsfahigkeit ausschlieBt; wird ein Selbst¬ 
mord in einem solchen Zustande ausgefuhrt, oder basieren die 
Motive, welche die Selbstmordgedanken entstehen lassen, auf 


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312 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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diesem krankhaften Grunde, so miissen die Hinterbliebenen 
durchaus entschadigungsberechtigt sein, sofern nur die zweite 
Bedingung, daB namlich dieser Zustand eine Unfallsfolge darstellt, 
erfiillt ist. Und hier hat das RVA. zumeist in fur die Hinter¬ 
bliebenen giinstiger Weise entschieden, indem es den Selbstmord 
so erklarte, daB das Trauma und seine Folgen, wie Schmerzen, 
Krankenlager, Nahrungssorgen, Untatigkeit, lange Krankenhaus- 
behandlung mit Trennung von der Familie, auf die mangelhafte 
Anlage des Verletzten einwirkten und so den Selbstmord hervor- 
riefen. Es hat ferner oft fur genugend erachtet, wenn der Nachweis 
erbracht war, daB die durch das Trauma verursachten psychischen 
Symptome bei dem Entschlusse zur Tat wesentlich mitgewirkt 
haben. 

Beziiglich des indenReichs-Versicherungsamts-Entscheidungen 
gebrauchten Ausdrucks: „freie Willensbestimmung“ fiihrt ubrigens 
Koppen — mit vollem Recht — folgendes aus: 

„Eine Unzurechnungsfahigkeit, durch die der freie Wille 
ausgeschlossen ist, konnte popular etwa so aufgefaBt werden, 
als wenn ein Zustand in Frage kommt, in dem eine Handlung 
unter einem bestimmten auBeren Zwang steht und das Gefiihl, 

frei gehandelt zu haben, fehlt.Jedenfalls muB betont werden, 

daB die Anschauungen, welche beim Versicherungswesen gelten 
miissen, nicht sich vollstandig decken konnen mit den An¬ 
schauungen, welche im Strafgesetzbuch den Leitstern bilden. 
Man wird einen Unfallkranken anders beurteilen miissen als 
einen gesunden Verbrecher. Wie weit unter solchen Verhaltnissen 
der Mangel an Standhaftigkeit, Ausdauer und Selbstiiberwindung 
in Ansatz zu bringen ist, wird sehr zu erortern sein.“ 

Wenn es fernerhin in der ersten Forderung heiBt, der Selbst¬ 
mord miisse „ohne Vorsatz“ ausgefiihrt worden sein, so ist psych- 
iatrischerseits zu bedenken, daB diese Bedingung — im strengen 
Sinne des Wortes — wohl nie erfiillt wird; die Ausfuhrung des 
Suizids geschieht stets mit Vorsatz”, meist sogar nach reiflicher 
langer Ueberlegung; aber die Motive zur Tat sind krankhafter 
Natur, und die Hemmimgen fehlen. Andererseits ist wohl eine 
Selbstentleibung „mit Vorsatz“ in dem Sinne, daB ein Verletzter 
nur in der — alsdann irrtiimlichen — Erwagung Suizid begeht, 
daB seine Hinterbliebenen einer Rente teilhaftig werden, also 
ein „Rentensuchtsselbstmord“ (ich denke hier an Falle, die 
solchen entsprechen wiirden, welche bei Lebensversicherungs- 
gesellschaften vorkommen) ausgeschlossen. Dazu ist der Selbst- 
erhaltungstrieb zu groB. 

So kommt es denn, daB von psychiatrischer Seite, insbesondere 
von Hiibner, betont wird, daB schon der Nachweis der zweiten 
Forderung (die krankhafte Geistesstorung, die zum Selbstmord 
fiihrte, muB Unfallfolge sein) zur Gewahrung der Hinterbliebenen- 
rente geniigen wiirde. Am besten ware es — so fiihrt Hubner aus —. 
von vomherein auf den Nachweis einer die freie Willensbestimmung 
ausschlieBenden geistigen Storung ganz zu verzichten und das 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 313 


Schwergewicht der Beweisaufnahme vielmehr lediglich auf den 
Nachweis zu legen, daB der Selbstmord direkte oder indirekte 
Unfallfolge ist. „Praktisch wiirde sich die Sache in jedem Falle 
so gestalten, daB die Briicke zwischen Selbstmord und Unfall in 
einer langere Zeit oder nur voriibergehend vorhandenen psychischen 
Storung bestiinde, deren Existenz und Abhangigkeit von dem 
Unfall nachgewiesen werden miiBte.“ 

Es ist hierbei ein selbstverstandliches Erfordemis, daB die 
Verletzung ein Unfall im Sinne des Gesetzes war, d. h. durch 
ein plotzlich in die Betriebstatigkeit eingreifendes Ereignis bedingt 
wurde, daB es sich also z. B. nicht handelte um eine anhaltende 
Berufsschadigung. Es ist ferner zu betonen, daB — wie dies ja 
bei alien Unfallbegutachtungen gehandhabt wird — das Trauma 
nicht ganz allein die psychische Storung herbeigefuhrt zu haben 
braucht; es genttgt, wenn der Unfall als mitwirkender, auslosender 
oder verschhmmernder Faktor figurierte. 

Ein Beispiel dafiir, daB es auch vorkommen kann, daB die 
Hinterbliebenen aus betriigerischer Absicht einen ausgefiihrten 
Selbstmord als ,,Unfall“ anzeigen und somit pekuniaren Vorteil 
fiir sich herauszuschlagen suchen, fiihrt Knepper an: In der Unfall- 
anzeige hatte die Witwe angegeben.. ihr Mann habe auf dem 
Scheunenboden nach dem Stroh sehen wollen, sei bei dieser Ge- 
legenheit ausgeglitten, auf die Tenne gestiirzt und an den Folgen 
dieses Unfalles kurz darauf gestorben. In Wirklichkeit lag aber, 
wie durch die angestellten Ermittlungen unzweifelhaft erwiesen 
werden konnte, ein Selbstmord vor; der schon seit langerer Zeit 
deprimierte und suizidverdachtige Mann hatte sich in selbst- 
morderischer Absicht von einem Geriist auf die Tenne herab- 
gestiirzt und so den Tod gefunden. 

II. Klinisches. 

In der Literatur finden wir nur eine verhaltnismaBig geringe 
Zahl von Fallen veroffentlicht, wo der Verletzte Selbstmord beging 
und ein ursachlicher Zusammenhang zwischen letzterem und dem 
Unfall angenommen werden konnte. Ich nenne hier nur die Falle 
von Thiem, Viedenz, Quensel, E. Schultze, Jolly und ganz besonders 
diejenigen von Hiibner , der iiber 40 Falle von Suizid nach Trauma 
verfiigt. 

Diesen Fallen aus der Literatur fiige ich zundchst die mir zu 
Oebote stehende eigene Kasuistik, die ich ungefahr in der Form der 
seinerzeit erstatteten Gutackten wiedergebe, an, um hieran unter 
Wiirdigung der in der Literatur niedergelegten Anschauungen und 
publizierten Falle meine epikritischen Bemerkungen und Schlufl- 
folgerungen anzukniipfen. 

Ich selbst verfiige iiber 7 Falle; in zwei derselben lag nur 
ein SelbstmordversticA vor, in den fiinf iibrigen hatte der Versuch 
den von dem Verletzten erwiinschten Erfolg gehabt. 


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314 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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Gutachten I. 

19 jahriger Arbeiter. Vor Unfall gesund. UnfaU : Huftquetschung . 
Itn A nschlup daran hypochondrische Melancholie. Selbstmordversuch (Revolver- 
schup in Herzgegend). Spdterhin Besserung des GemiUsleidens. Meldung 
zum Wdrterdien8t in Irrenanstalt. 

(Unfalls-Gutachten No. 1163.) O. K., Arbeiter, 19 Jahre alt. Vater 
seit 15 Jahren verschollen. Mutter und 4 Geschwister gesund. Keine Nerven- 
oder Gemiitskrankheiten in Familie. Ob Potus des Vaters vorlag, vermag 
Pat. nicht anzugeben. 

Bis Unfall stets gesund bis auf Masem im Alter von 3 oder 4 Jahren. 
In der Schule einmal sitzen geblieben, sonst gut mitgekommen. Starke 
Onanie wahrend der Schulzeit zugegeben. Potus und Geschlechtskrankheit 
negiert. 

Unfall am 11. V. 1900: 

Pat. trug einen mit Stahlmagneten gefiillten Kasten die Treppe 
hinab, glitt nach vom liber aus, fiel 4—5 Stufen hinab und zwar auf die 
Stim, dabei fiel der Kasten in die Gegend des Riickens und der rechten 
Hiifte. Keine Wunde. Keine BewuBtlosigkeit. K. konnte schlecht gehen, 
hatte Schinerzen in der rechten Huftgegend, muflte die Arbeit aussetzen. 
Der Arzt stellte am nachsten Tage eine Quetschung der rechten Hiifte 
fest. 6—7 Tage spater begann Kopfschmerz. Dann 2 mal zwecks Beobach- 
tung im Krankenhaus, daselbst gedriicktes, verschlossenes, miirrisches 
Wesen festgestellt; Diagnose: Neurasthenic nach Trauma. Uebertreibung. 
25 pCt. Unfallrente. Nach 3 Wochen Arbeit muBte K. seiner Beschwerden 
wegen (Kopfschmerz und allgemeine Schwache) die Tatigkeit wieder aus¬ 
setzen. Oktober/November 1900 im Genesungsheim Heinersdorf. Da die 
Beschwerden fortbestanden und er nichts verdienen konnte, wurde Pat. 
in der Folgezeit sehr erregt und verzweifelt, er sorgte sich um seine Zukunft 
und diejenige seiner Mutter, welcher er zur Last falien wurde , und kam so 
zu dem EntschluB, sich das Leben zu nehmen. Nachdem er einen Brief 
an seine Mutter geschrieben hatte, schoB er sich am 9. IV. 1901 mit einem 
Revolver eine Kugel in die linke Brustseite; er fiihrte den Selbstmord¬ 
versuch im Humboldthain aus, fiel hin, wurde bewuBtlos ins Augusta- 
Hospital gebracht, woselbst durch Rontgenaufnahme das GeschoB in dem 
linken III. Zwischenrippenraum liegend erkannt wurde. Wahrend der 
Krankenhausbehandlung oft trube Gedanken, Weinen, Furcht vor Geistes- 
krankheit. Nach der Entlassung aus dem Augusta-Hospital wurde K. als 
Krankenwarter in der Kgl. Charity angestellt; bei seiner Einstellung daselbst 
verheimlichte er den Selbstmordversuch. Spater Pfleger in einer Kuranstalt. 

Wahrend der von mir vorgenommenen Beobachtung imParksanatorium 
zu Pankow bei Berlin (23. V./4. VI. 1902)klagte K. iiber allgemeineSchwache, 
traurige Stimmung, Schmerz in der Stirngegend. 

Der objektive Befund war bis auf Tatowierungen an den oberen 
GliedmaBen und die von dem Suizidversuch herriihrende dreimarkstiick- 
groBe Narbe unterhalb der linken Clavicula negativ. Wahrend der Be- 
obachtungszeit oft st€u*ke Verstimmung, Weinen. Pat. auBert, daB er wohl 
wegen Gexsteskrankheit mal nach Dalldorf rnupte , da es mit ihm gar nicht 
besser werde. Nie Selbstvorwiirfe. Nach den Griinden fiir seinen Suizid¬ 
versuch befragt, auBerte er stets, daB es lediglich die Sorge um seine Zukunft 
und die seiner Mutter gewesen sei, die ihn zu dem Entschlusse getrieben habe. 

Gutachten : Der p. K. leidet an einer Gemiitskrankheit, die als hypo - 
chondrische Melancholie zu bezeichnen ist. Die Sorge und die Angst um 
seinen korperlichen und geistigen Zustand, insbesondere die Furcht, arbeits- 
unfahig und geisteskrank zu werden, beschaftigen ihn fast dauernd. Damit 
verbunden sind allerhand krankhafte Empfindungen, besonders im Kopf, 
und ein allgemeines Schwachegefiihl. Diese Empfindungen sind das Produkt 
der krankhaften Gemiitsstimmung und demnach als hypochondrische zu 
bezeichnen. 

Die Entwicklung der Krankheit ist in folgender Weise aufzufassen: 
K. befand sich, als er den Unfall erlitt, in der sogenannten Entwicklungs- 
periode, er hatte femer viel onaniert, und damit waren zwei Momenta 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 315 

gegeben, welche der Entwicklung einer Krankheit dea Nervensy stems 
giinstig waren. Der Unfall rief dawn auf dem disponierten Boden eine hypo- 
chondrische Stimmung hervor , welche sich mit melancholischen Sorgen um 
die Zukunft verband. In der nachfolgenden Zeit versuchte K. immer wieder 
zu arbeiten, er muBte aber immer wieder aussetzen, weil seine durch die 
hypochondrischen Vorstellungen geschwachten Krafte nicht ausreichten; 
und als er schlieBlich sah, daB all die verschiedenen Versuche fehlschlugen, 
griff er zum Revolver. Es ist eine nicht seltene Erfahrung, daB gerade 
Menschen, welche von der Angst befallen sind, daB sie krank, speziell 
geisteskrank werden wiirden, sich mit einer gewissen Vorliebe, sei es zum 
arztlichen, sei es zum Warterdienst in die Irrenanstalten drangen, und 
diese Erfahrung findet auch hier wieder eine Bestatigung. 

Gutachten II. 

48 jdhriger Arbeiter. Pot us in Familie. Pat. selbst friiher PotcUor. 
UnfaU: Wadenbeinbruch und Brustquetschung. 6 Wochen nach dem UnfaU 
Beginn einer hypochondrischen Melancholie. Selbstmordversuch (Strangulation 
mit Hosentrdger). 

(Unfalls-Gutachten No. 1524.) W. G., Arbeiter, 48 Jahre alt. Einige 
seiner Briider sind starke Alkoholiker. Sonst keine Nerven- oder Geistes- 
krankheiten in der Familie. G. ist 22 Jahre verheiratet und Vater von 
5 Kindem. Friiher war er stark dem AlkoholgenuB ergeben, seit 3 Jahren 
will er im GenuB geistiger Getranke auBerst maBig gewesen sein. Wieder- 
holte innere Erkrankungen imd Verletzungen sind ohne nachbleibende 
Storungen geheilt. 

Unfall am 23. VI. 1905: Eine eichene Weichenschwelle fiel G. auf 
das linke Bein, er selbst stiirzte mit der Brust gegen eine andere Schwelle. 
Bruch des linken Wadenbeines und Quetschung der oberen Brustbein- 
gegend. Der Knochenbruch war tun 19. VIII. 1905 geheilt, ortliche Folgen 
der Brustquetschung waren nicht mehr nachzuweisen. Etwa 6 Wochen 
nach dem Unfall hatten sich Angst- und Druckgefiihl in der Brust, Schlaf- 
losigkeit und im weiteren Verlauf melancholische Ideen eingestellt. G. dufierte 
einem A rzte gegeniiber, daft er sehr krank sei und nicht mehr werdegesund werden , 
nie mehr wieder werde arbeiten konnen. Als G. die Aufforderung der Berufs- 
genossenschaft erhielt, sich am 23. IX. 1905 zur Aufnahme in die mediko- 
mechanische Anstalt zu Posen zu melden, geriet er in einen Zustand dauemder 
Unruhe, er glaubte, daB er von dort nicht mehr lebend zu den Seinigen 
zuriickkehren werde. Seine Familie muBte verhungem, seine Kinder miiBten 
zugrunde gehen. Er weinte sehr viel, nahm wenig Nahrung zu sich, war 
schlaflos und trug sich mit Selbstmordgedanken. 

In der Klinik zeigte er ein scheues, angstliches Wesen, deprimierte 
Gemiitsstimmung, er bot das Bild der hypochondrischen Melancholie mit 
Wahnvorstellungen und machte einen Selbstmordversuch durch Strangu- 
lieren mit dem Hosentrager. 

Gutachten: G. hatte ein wenig widerstandsfahiges Gehim, er war 
insofern erblich belastet, als in seiner Familie Neigung zum Alkoholismus 
bestand, er selbst war langere Zeit Alkoholist gewesen und — wie sich aus 
den Akten ergibt — ein geistig etwas beschrankter Mensch. So konnte die 
im AnschluB an den erlittenen Unfall entstandene Vorstellung, daB er nicht 
wieder gesund, nicht wieder erwerbsfahig werden wiirde, leicht, ohne Wider- 
stand zu finden, in seinem Seelenleben Platz fassen, und daran kniipfte 
sich dann logisch, aber doch in krankhafter Begriindung, die Vorstellung, 
daB er und seine Familie zugrunde gehen miissen. Auf dem Boden hypo- 
chondrischer Vorstellungen entwickelte sich ein Depressionszustand mit 
Wahnvorstellungen und dem Selbstmordversuch. 

Das Gemiitsleiden des G. und der Suizidversuch stehen damit in 
mittelbarem ursachlichem Zusammenhang mit seinem Unfall. 

Gutachten IIL 

48 jdhriger Arbeiter. Bis UnfaU gesund. UnfaU: Brustquetschung. 
Schliisselbeinbruch. Nach UnfaU verdndertes Wesen , hypochondrische Vor- 

Honatetchrift f. P&ychlatrte a. Neurolojrie. Bd. XXXIU. Heft 4. 21 


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316 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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steUungen , Depression. Rentenherabsetzung , Ueberweisung an Armendirektion. 
4 umniindige Kinder. Selbstmord ( Erhdngen ). 

(Unfalls-Gutachten No. 394.) H. K., Arbeiter, 48 Jahre alt. 21 Jahre 
verheiratet, Vater von 5 Kindera im Alter von 20, 12, 10, 5 und 4 Jahren. 
Potus negiert. Bis Unfall gesund. 

Unfall am 8. XII. 1893: K. wurde von 5 Sacken Kartoffelmehl 
(A 2 Zentner) gegen ein eisernes Gelander gedriickt. Linksseitiger Schliissel- 
beinbruch. K. sah unmittelbar nach dem Unfall sehr blafi aus und sprach 
fast nichts. Der Schliisselbeinbruch heilte gut, es blieb eine leichte Atrophie 
der linken Schultermuskulatur zuriick. Deshalb Behandlung (Massage 
und Elektrisieren) in einem mediko-mechanischen Institut. 33 1 /* proz. Un- 
fallrente, dann Besserung: 15 pCt. K. wurde vorzeitig aus dem Institute 
entlassen, „weil sein Betragen derart renitent und aufsassig wurde, daB 
dadurch der Fortgang der Besserung gehemmt wurde* 4 . Gegen die Herab- 
setzung der Unfallrente seitens der Berufsgenossenschaft legte K. am 
30. X. 1894 die Berufung ein, nahm sich jedoch bereits am 2. XI. 1894 
durch Erhangen das Leben. Berufsgenossenschaft imd Schiedsgericht 
lehnten die Anspriiche der Witwe ab, indem sie einen Zusammenhang 
zwischen dem Selbstmord und dem erlittenen Unfall nicht anerkannten. 
Die Witwe legte Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein. Aussagen 
von Zeugen ergaben nun des weiteren folgendes: Nach dem Unfall zeigte K. 
ein verandertes Wesen, er fiihrte ofter unzusammenhangende Reden, saB 
haufig hinbriitend da und sprach davon, daB er sich das Leben nehmen 
miisse, weil er brank bleiben und nicht mehr sein Auskommen haben werde. 
Dieser Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Wiederholt auBerte K.: 
„Der Unfall ist mein Tod. 44 Diesen Satz schrieb er auch kurz vor dem 
Erhangen zum Abschiede fur seine Familie auf das Fensterbrett auf. 

Gutachten : Nach den ubereinstimmenden Aussagen der Zeugen kann 
es nicht zweifelhaft sein, daB nach dem Unfall eine Veranderung in dem 
geistigen Befinden des K. eingetreten ist, und zwar bestand diese Ver¬ 
anderung in einer hypochondrischen Geistesstorung : K. war der Ansicht, 
daB nicht nur die Schadigung in der Bewegungsfahigkeit des linken Armes, 
sondern auch andere Storungen in seinem Zustande durch den Unfall 
hervorgebracht worden waren, welche ihn in der Zukunft fiir die Arbeit 
unfahig machten („der Unfall ist mein Tod 4 *). Es muB angenommen werden, 
daB der Gedanke an das durch den Unfall fiir ihn geschaffene Elend ihn 
unaufhorlich beschaftigte, daB er keinen Ausweg aus jenem Zustande sah 
und auch von einer Fortsetzung der Behandlung im mediko-mechanischen 
Institut sich keine Besserung versprach, deshalb daselbst ,,renitent und 
aufsassig 44 wurde. Auf diese hypochondrische Geistesstorung muBte selbst- 
verstandlich die Mitteilung, daB die Rente weiterhin gekiirzt werden solle, 
den nachteiligsten EinfluB ausiiben, desgleichen die Tatsache, daB er der 
Armendirektion iiberwiesen wurde und fiir vier unmiindige Kinder noch 
zu sorgen hatte. So wird es erklarlich, daB beides zusammen, die hypo¬ 
chondrische Geistesstorung, welche ihm das Bestehen einer unheilbaren 
Krankheit vortauschte, und die Tatsache, daB er aller Mittel entbloBt war, 
zum Selbstmord trieb, welch letzterem kurz voranging die Niederschrift 
des wesentlichen Inhalts seiner krankhaften Vorstellung: „Der Unfall ist 
mein Tod. 44 Wenn unter diesen Umstanden der Selbstmord des K. sich im 
wesentlichen erklart aus der hypochondrischen Geistesstorung, die nach 
dem Unfall auftrat, so entsteht die weitere Frage, ob diese Geistesstorung 
auch wirklich durch den Unfall bedingt ist. Diese Frage ist unbedingt zu 
bejahen, zumal anzunehmen ist, daB anlaBlich des Unfalls, welcher eine 
starke Erschutterung und Kreislauf storung samtlicher Korperorgane 
hervorrief, eine heftige Gemiitserregung, ein psychischer Shock bei K. 
eingetreten ist. 

Der am 2. XI. 1894 durch Erhangen begangene Selbstmord des K. 
ist demnach unter dem EinfluB einer mit dem Unfall vom 8. XII. 1893 
in unmittelbarem ursachlichem Zusammenhang stehenden Geisteskrankheit 
(hypochondrische Melancholie) veriibt worden. 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 317 


Gutachten IV. 

41 jahriger Arbeiter. Keine Belastung. Bis UnfaU nie erheblich krank. 
Unfall: Erschiitterung der WirbelsauU durch zwei Zentner schweren, auf 
ihn fallenden Sack. In der Folgezeit Brust- und Riickenschmerzen , dann 
unfreiunlliger Samenabgang. Hypochondrische Verstimmuug. Selbstmord 
durch Erhangen. 

(Unfalls-Gutachten No. 928.) G. H., Arbeiter, 41 Jahre alt. Keine 
Nerven- oder Geisteskrankheiten in Familie. Vier gesunde Kinder. Lues 
negiert, ebenso Potus. Wahrend seiner Militarzeit erlitt er auBerdienstlich 
eine Verstiimmelung der einen Hand. 1894 Quetschung der Zehen. 1891 
und 1894 Influenza. 

Unfall am 24. X. 1895: H. fiel, einen Zuckersack im Gewicht von 
2 Zentnern tragend, hin, der Sack auf ihn hinauf. Er trug an demselben 
Tage noch weitere Sacke, mufite aber spater leichtere Arbeit verrichten, 
weil er die Sacke nicht tragen konnte. H. klagte sofort nach dem Unfall 
iiber Kreuz- und Brustschmerzen. Objektive Zeichen der Verletzung 
konnten 2 Tage nach dem Unfall nicht festgestellt werden. H. arbeitete 
mit Unterbrechung bis zum 2. I. 1896 und nahm am 21. I. seine Entlassung 
aus der Fabrik, weil er seine Arbeit nicht mehr voll verrichten konnte. 
Er war dann spater mit Unterbrechungen von 1—3 Wochen bis zum 5. III. 
1897 bei einem anderen Arbeitgeber als Bauarbeiter beschaftigt. 

Vom 2. III. bis 25. V. 1897 war er in arztlicher Behandlung, und zwar 
wegen Riickenschmerzen, Erloschens des Geschlechtstriebes, unfrei- 
willigen Samenabgangs, Appetit- und Schlaflosigkeit. H. aufierte dem Arzte 
gegeniiber , dafi man die Schwere seines Leidens nicht erkenne y er bitte ihn 
instdndig um eine nochmalige intensive Unlersuchung. Vom 20.—26. IV. 1897 
wurde er in einem Krankenhause wegen Rheumatismus behandelt. Nach 
Entlassung aus dem Krankenhause begab er sich wegen obiger Beschwerden 
sowie haufiger nachtlicher Pollutionen zu einem seiner Krankenkasse nicht 
zugehorigen Arzte. Am 25. V. 1897 machte H. durch Erhangen seinem 
Leben ein Ende. Ein hinterlassenes Sclireiben beginnt fo 1 gendermaBen: 
,,Meine Stunden sind gezahlt, ich bin nicht mehr zu helfen, aus dem Kreuze 
und Brust werde ich’s nicht wieder los, und die Schmerzen werden immer 
mehr und nicht weniger. 44 

Gutachten: Dariiber, daB H. in einer hypochondrischen Gemiits- 
stimmung in den Tod gegangen ist, kann nach seinem Abschiedsbrief nicht 
zweifelhaft sein; die Schmerzen, welche sich stetig steigern, zusammen 
mit der sicheren Ueberzeugung, daB ihm nicht zu helfen sei, trieben ihn 
zum Selbstmord. Diese hypochondrische Stimmung auBerte sich auch 
in seiner Angabe dem Arzte gegeniiber, daB man die Schwere seines Leidens 
nicht erkenne, sowie in dem Umstande, daB er mehrmals andere Aerzte 
neben seinem Krankenkassenarzt konsultierte, welche er aus eigenen 
Mitteln bezahlen muBte. Nach dem vorliegenden Aktenmaterial muB aber 
angenommen werden, daB diese Hypochondrie sich entwickelt hat aus den 
Schmerzen, iiber welche er besonders an Brust und Riicken klagte und 
auch aus dem unfreiwilligen SamenfluB, welcher in der letzten Zeit seines 
Lebens ihn ganz besonders belastigte. (Die Erfahrung lehrt, daB hypochon¬ 
drische Stimmungen sich ganz besonders haufig mit solchen Samenfliissen 
verbinden.) Zwischen den Beschwerden des H. und seinem Unfall besteht 
aber ein zeitlicher und somit mit Wahrscheinlichkeit auch ein ursachlicher 
Zusammenhang: eine Last von 2 Zentnern ist H. auf den Riicken gefallen, 
und diese geniigt unzweifelhaft sehr wohl, um eine Erschiitterung der 
Wirbelsaule und des Riickenmarks herbeizufiihren, auch wenn auBere 
Verletzungen dabei nicht nachweisbar sind. Es ist nach allem anzunehmen, 
daB H. infolge der am 24. X. 1895 erlittenen Erschiitterung des Inhalts 
des Wirbelkanals Riickenschmerzen und spater unfreiwilligen Samen¬ 
abgang bekommen hat, daB infolge dieser Leiden und infolge der dadurch 
herbeigefiihrten beschrankten Arbeitsfahigkeit sich eine Hypochondrie 
entwickelt und daB die durch die Hypochondrie hervorgerufene Verzweiflung 
an der Zukunft ihn in den Tod getrieben hat. Es ist demnach der Selbst¬ 
mord als Folge des erlittenen Unfalls anzusehen. 

21 * 


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318 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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Gutachten V. 

40 jdhriger Kaufmann. Keine erbliche Belastung. Lues zugegeben. 
UnfaU: Stop gegen die Brust. lm AnschluP hieran Neurasthenie, in der 
Folgezeit hypochondrische Qedanken und depressive Stimmung. Hinzu kamen 
Geschaftssorgen , Krankheit der Ehefrau , lange ProzePdauer. Schlieplich 
Selbstmord. 

(Unfalls-Gutachten No. 1279.) K. K., Kaufmann, 40 Jahre alt. 
Keine erbliche Belastung. Lues zugegeben, doch seit 1884 keinerlei Zeichen 
inehr davon. 

Unfall am 13. IV. 1901: Ein Passagier eines StraBenbahnwagens, 
der sich mit ihm auf dem Hinterperron befand, stieB mit dem Ellbogen 
gegen die Brust des K. Im AnschluB hieran entwickelte sich eine typische 
Neurasthenie, welche zunachst eine Herabsetzung der Erwerbsfahigkeit 
auf 33 1 / i pCt. bedingte imd sich besonders darin kundgab, daB K. beim 
Biicken an der verletzten Stelle Schmerzen bekam, nicht lange aufrecht 
sitzen konnte, schlecht schlief und an Kopfschmerzen litt. Am 3. V. 1903 
hatte K. einen Weinkrampf von ca. 1 y 2 stundiger Dauer. Laut Zeugen- 
aussage wurde dann spater K. zweimal „wimmernd und apathisch“ auf 
der Chaiselongue liegend angetroffen. Femer klagte K. des ofteren dariiber, 
daB ihn die verklagte StraBenbahn als Saufer hinstelle, was er geradezu 
als Gemeinheit bezeichnet. Oft qualte ihn in der Folgezeit der Gedanke, 
dap er fur sein Kind nicht mehr werde sorgen konnen , wie er es wiinsche ; 
er wisse nicht mehr, was er beginnen solle. 10 Tage vor dem Tode des K. 
muBte seine Ehefrau zweeks einer schweren Operation ins Krankenhaus 
gebracht werden. K. auBerte damals wiederholt, was aus dem Kinde werden 
solle, wenn seine Frau stiirbe, er selbst wurde wohl auch nicht mehr lange 
leben. Er wurde dann voUig apathisch, muBte zum Essen herangeholt 
werden, klagte iiber Frost, so daB er ins Bett gebracht werden muBte. 
Am 5. X. 1902 beging K. Selbstmord. Es bestanden nie objektive Zeichen, 
die fur ein organisches Nervenleiden sprachen, insbesondere war progressive 
Paralyse auszuschlieBen. 

Gutachten: K. befand sich in den letzten Wochen seines Lebens in 
einer melancholisch-hypochondrischen Stimmung. Aus dieser Stimmung 
heraus entwickelte sich die Idee des Selbstmordes, welche K. dann zur 
Ausfiihrung brachte. Eine Reihe tatsachlicher Momente (schlechte Ge- 
schaftslage, Krankheit der Ehefrau) hat unzweifelhaft eingewirkt, um K. 
betriibt fur die Gegenwart und sorgenvoll fiir die Zukunft zu machen. 
Dazu kam dann auch der langjahrige Proz^B, welchen er gegen die StraBen¬ 
bahn fiihrte, und welcher zu einem definitiven AbschluB immer noch nicht 
gebracht worden war. 

In ahnlichen und noch viel schlimmeren Umstanden befindet sich 
eine groBe Anzahl von Menschen, ohne daB sie zum Selbstmord getrieben 
werden, und es ist daher in dem Falle des Selbstmordes immer noch nach 
einem besonderen Moment zu suchen, welches den Selbstmorder in seinem 
Kampfe mit den ungiinstigen Bedingungen des Lebens zum Unterliegen 
brachte. In vielen Fallen ist hier die erbliche Anlage, das mehrfache Vor- 
kommen von Selbstmord in der Familie, das schlieBlich Entscheidende. 
Im vorliegenden Falle laBt sich in der Vorgeschichte nichts finden, was 
jenes auslosende Moment bilden konnte. Sicher ist es nicht die durch- 
gemachte Syphilis, zumal dieselbe seit dem Jahre 1884 keinerlei Zeichen 
mehr hervorgerufen hatte. Das einzige, was hier in Betracht kommt, ist 
die Schwachung des Nervensystems, welche durch den Unfall vom 13. IV. 
1901 hervorgebracht wurde. Die durch diesen Unfall bedingte Neurasthenie 
hat ihm die Widerstandskraft genommen. SchlieBlich weiB er auch den 
auBeren ungiinstigen Umstanden, welche auf ihn eindringen, keine Kraft 
entgegenzusetzen, und aus dem Gefiihl heraus, dem gegeniiber ohnmachtig 
zu sein, tritt der Selbstmordgedanke bei ihm auf. 

Nach allem ist der Selbstmord des K. als eine Folgewirkung des 
am 13. IV. 1901 erlittenen Unfalls insofem anzusehen, als die durch den 
letzteren bewirkte Schwachung des Nervensystems dem K. die Wider- 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 319 


standsfahigkeit geraubt hat, die notwendig war, nm den verschiedenen anf 
ihn eindringenden depresaiven Einflussen Widerstand zu leisten. 

Gutachten VI. 

47 jahriger Kachelschleifer. Keine erbliche Belastung. Kranke Ehefrau. 
Ein unmiindiges Kind. Unfall: Fall von der Treppe aufs Gesafi. Im Anschlufi 
daran Hdmatomyelie , dann hypochondrische Melancholic. Selbstmord. 

(Unfalls-Gutachten No. 1388.) K. B., Kachelschleifer, 47 Jahre alt. 
Keine erbliche Belastung. Zwei Kinder von 19 bezw. 8 Jahren. Seine 
Ehefrau soli krank sein und Lungenbluten haben. Er selbst war bis zum 
Unfall gesund. Keine Lues, kein Potus. 

Unfall am 27. V. 1904: B. stiirzte eine Treppe von 16 Stufen herab; 
er fiel auf das GesaB, wo die Haut in groBerer Ausdehnung rotblau verfarbt 
war. Es traten auch in der ersten Zeit Beschwerden beim Urinlassen ein, 
und geringe Mengen von Blut zeigten sich im Urin. Wahrend in der Folge- 
zeit einzelne Beschwerden zuriickgingen, trat eine bedeutende Abnahme 
der Wadenmuskulatur und Schwache der Beine auf, und der Patellarreflex 
fehlte beiderseits. Die Stiminung des B. wurde auBerst gedriickt, er ver- 
zweifelte an jeder Besserung , sah seinen Ruin vor Augen und bedauerte seine 
Familie , die verhungem miisse. Am 17. VIII. 1904 machte B. seinem Leben 
durch Erhangen ein Ende. 

Gutachten: Durch den Unfall vom 27. V. 1904 hat B. eine Blutung 
in das Riickenmark (Hamatomyelie) erlitten (Storungen des Urinlassens, 
Fehlen der Kniereflexe, Parese der unteren Extremitaten, Atrophie der 
Wadenmuskulatur). Wenn auch die sich entwickelnde Besorgnis des B., 
daB er in Zukunft nicht wieder arbeitsfahig werden wiirde, nicht als unbe- 
rechtigt erscheinen und dabei ihm das Schicksal seiner kranken Frau und 
seiner unmiindigen Tochter ihn die Zukunft als bcsonders triibe erscheinen 
lassen muBte, so muB man doch auf der anderen Seite sagen, daB die hoch- 
gradig verzweifelte Stimmung, wie sie sich in AeuBerungen seiner Frau, 
dem Arzte und seinen Arbeitskollegen gegeniiber kundgab, als eine krank- 
hafte und als eine hypochondrisch-melancholische zu bezeichnen ist. Infolge 
Mitschadigung der Hirnfunktionen (neben der Las ion des Ruckenmarks, 
die zu krankhaften Storungen im Gehirn bekanntlich disponiert) fehlte 
dem B. die Kraft der hemmenden Vorstellungen, welche eine durch den 
Zustand sich entwickelnde und nahegelegte Neigung zum Selbstmord an 
der Ausfiihrung zu hindem und die Umsetzung des Triebes in die Tat zu 
hemmen imstande sind. 

Nach Lage des Falles ist demnach mit ausreichender Wahrscheinlich- 
keit anzunehmen, daB der Unfall vom 27. V. 1904 zu einer geistigen Ge- 
stdrtheit des B. gefiihrt hat, und demnach der Selbstmord des B. als mitt el- 
bare Folge seines Unfalles anzusehen ist. 

Gutachten VII. 

36 jahriger Arbeiter. Keine hereditdre Belastung. Bis UnfaU gesund. 
UnfaU: Kopfverletzung mit kurzdauemder Bewufitlosigkeit. Dann typische 
Neurasthenic post trauma. Auf dem Boden der neurasthenischen Beschwerden 
entwickelt sich eine Hypochondrie. Angst vor dem Irrenhaus. Selbstmord. 

(Unfalls-Gutachten No. 1584.) A. Sch., Arbeiter, 36 Jahre alt. Keine 
Nerven- und Geisteskrankheiten in Familie. 4 Briider gesund. 1 Bruder 
soli dem Trunk© ergeben sein. 2 Kinder gesund. Sch. selbst negiert Potus 
und Lues. Bis Unfall gesund. 

UnfaU am 23. VII. 1903: Es fiel ihm ein iy 4 m langer Balken auf 
den Kopf, Sch. schlug mit der Stim auf die herausgezogene Unterform 
seiner Press© auf. Wurde bewuBtlos ins Freie getragen, wo er alsbald zu 
sich kam. Keine Wunde, kein Erbrechen, kein Blut aus Mund, Nase oder 
Ohren. Er arbeitete nach 2 Stunden weiter und zwar noch 2 Tage. Dann 
Aussetzen der Arbeit wegen Kopfschmerzen. Allmahliche Verschlimmerung. 
Zu den Kopfschmerzen trat Schwindel, Erregbarkeit, Appetit- und Schlaf- 
losigkeit hinzu. 


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320 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 

Die Beobachtung im Parksanatorium zu Pankow bei Berlin (3. bis 
17. V. 1904) ergab eine typische Neurasthenie post trauma (Tremor linguae 
et manuum, lebhafte Kniereflexe, Pulsbeschleunigung, Romberg). In Bezug 
auf den geistigen Zustand wurden irgendwelche Abnorrnitaten wahrend der 
Zeit der klinischen Beobachtung nicht festgestellt. Unfallrente von 33 1 /, pCt. 

Bei spateren Untersuchungen zeigte Sell, ein etwas erregtes, miirrisches 
Wesen, spater gab er an, daB er sich mit Selbstmordgedanken trage, weil 
er befiirchtete , er konne ins Irrenhaus Jcommen. Am 10. XII. 1905 war Sch. 
zu Bett gegangen, er erhob sich kurz darauf noch einmal mit den Worten: 
„Ich muB noch einmal auf den Hof gehen, die Hoftiire offnen, damit der 
fehlende Hund hineinkann.“ Von diesem Gange kehrte er nicht wieder 
zuriick, und als man nach ihm suchte, fand man ihn an der AuBentiire 
aufgehkngt. 

Qutachten : Die Ursache des Selbstmordes des Sch. liegt zweifellos 
in einer hypochondrischen Geistesstorung. Die durch die tatsachlichen 
Verhaltnisse nicht begriindete Furcht vor der Unheilbarkeit seines Leidens 
und die aus seinen Kopfbeschwerden entspringende Angst vor dem Irren- 
liause hat ihn in den Tod getrieben. Diese hypochondrische Geistesstorung 
ist nicht als eine clireJcte Folge der erlittenen Kopfverletzung zu betrachten. 
Ware sie direkt durch den Unfall hervorgebracht worden, so wurden die 
Zeichen derselben wahrend der Beobachtung im Parksanatorium, welche 
% Jahre nach dem Unfall erfolgte, hervorgetreten sein, sie zeigten sich 
aber weder hier noch bei einer 5 Monate spater erfolgten arztlichen Unter- 
suchung. Sie sind jedenfalls erst im Laufe des Jahres 1905, also etwa zwei 
Jahre nach dem Unfalle, aufgetreten. Es muB aber als sehr wahrsclieinlich 
erachtet werden, daB ein indirelcter Zusammenhang zwischen hypochon- 
drischer Geistesstorung und dem dadurch bedingten Selbstmord einerseits 
und dem Unfalle andererseits besteht, und dies um so mehr, als die F.r- 
mittlungen irgendeine andere Ursache fiir den Selbstmord nicht haben 
finden lassen. Sch. gab sich den durch den Unfall hervorgerufenen neur- 
asthenischen Beschwerden hin, ohne ihnen irgendwelchen Widerstand, 
irgendwelche Ablenkung durch Arbeit entgegenzusetzen. Die Neurasthenie 
bUdete den Uebergang zu dem hypochondrischen Hinbriiten liber seine 
Beschwerden, das Zwischenglied zwischen Unfall und der spater auftretenden 
hypochondrischen Depression des Verletzten. Die bittere Armut, welche 
in seinem Hause herrschte, mag mit dazu beigetragen haben, die geistige 
Storung hervorzurufen. 

Somit ist der Selbstmord infolge einer hypochondrischen Geistos- 
storung erfolgt, welch letztere zwar nicht direkt durch don Unfall hervor- 
gerufen worden ist, sich aber auf dem Boden der durch den Unfall bedingten 
neurasthenischen Beschwerden entwickelt und bei ungiinstigen auBeren 
Verhaltnissen und dem Mangel an Widerstandskraft seitens des Verletzten 
zum Selbstmorde gefiihrt hat. Der Selbstmord steht deinnach in ursach- 
lichem Zusammenhang mit dem am 23. VII. 1903 erlittenen Unfalle. 

Sehen wir das vorliegende Material beziiglich einiger Fragen, 
welche auf den Selbstmord und seine Beziehungen zum Unfall 
Bezug haben, durch, so ergibt sich folgendes: 

A. Lebensalter der Begutachteten. 

Fall I 19 Jahre 

II 48 „ 

„ III 48 

.. IV 41 ., 

V 40 „ 

„ VI 47 .. 

VII 36 „ 

Demnach: Durchschniltsalter: 40 Jahre. 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 321 


Nach Hubner fallen die hochsten Selbstmordzahlen bei Unfall- 
kranken in das Alter von 30—49 Jahren, was durchaus verstandlich 
sei, da dieses Alter wohl auch die meisten gewerblichen Arbeiter 
stellt. Im iibrigen, d. h. bei Nioht-Unfallverletzten, erfahren die 
Selbstmorde mit zunehmendem Alter eine'allmahliche Steigerung 
(Gaupp, Hubner) ; sie weisen ferner zur Zeit der Pubertat einen 
leichten Anstieg auf. 

Hier einige Zahlen: 

Maximum der Selbstmorde in der Lebensepoche 

nach Pilcz .von 21—30 

,, Dupin . ,, 41—50 

,, Prevost . % ,, 50—60 

,, Heller bei Mannern 31—50, bei Frauen 21—30 

„ Morselli .von 40—50 

„ Tissot . „ 20—30 

„ Pfeiffer .meist urn das 30. Lebensjahr. 

Bei meinem Material mag das verhaltnismaBig jugendliche 
Alter im ersten Falle hervorgehoben werden; hier hatten entschieden 
die Entwicklimgsperiode, in welcher sich der Verletzte befand, 
und starke Onanie das Terrain geebnet, auf welchem dann der 
Unfall das Gemutsleiden ausloste. Sonst entsprach das Alter 
demjenigen, in welchem auch sonst Unfallkranke zur Begutachtung 
kommen; daB ein hoheres Lebensalter als das 49. nicht vertreten 
ist, stimmt mit der Tabelle Huhners insofern iiberein, als auch 
hier vom 50. Jahre ab ein deutlicher Abstieg der Selbstmorde seiner 
Unfallkranken verzeichnet ist. 

Um einen Beitrag zu der Frage zu liefern, in welcher Jahreszeit 
bzw. in welchem Monat Selbstmorde am haufigsten vorkommen, 
dazu ist mein Material zu klein, auBerdem spielen gerade bei Unfall¬ 
kranken andere Momente (Zeit des Unfalls. Ablehnungsbescheid, 
besondere Notlage) mit, welche gewichtiger sind als der EinfluB 
seitens der Jahreszeit. Bekanntlich erfahren sonst Selbstmorde im 
Friihjahr einen erheblichen Anstieg, der im Laufe des Sommers 
zuriickgeht; die Hochstzahlen liegen nach Hubner, Mathews, 
Ferrini, Geek im Juni und Juli, nach Pilcz und Masaryk im Mai, 
nach Gaupp im Mai und Juni, nach Weir im Juli/September. 
nach Diez im November, nach Pfeiffer im Februar, Juni, Oktober. 
DaB bei unseren Kranken die Wintermonate bevorzugt sind, mag 
mit der in denselben herrschenden groBeren Notlage in Ver- 
bindung stehen. 

Ebenso wie fiir die Frage der Jahreszeit, in welcher der Selbst¬ 
mord erfolgte, ist auch betreffs des Berufes des Selbstmorders sowie 
betreffs der Frage, ob verheiratet oder ledig, mein Material ohne 
wesentlichen Belang.. Da fast stets die materielle Sorge um die Zu- 
kunft eine Hauptrolle bei dem Vorsatz zur Tat spielt, erscheint es 
nicht auffallig, daB alle Verletzten — bis auf den ersten, erst 
19 jahrigen — in nicht kinderloser Ehe verheiratet sind; im Fall III 


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322 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverleteten. 


war entschieden das Vorhandensein von 4 noch unmiindigen Kindern 
mit ausschlaggebend bei dem EntschluB zur Tat. Nach Gaupp, 
welcher Selbstmorder im allgemeinen beriicksichtigt, weisen ledige, 
verwitwete und geschiedene Personen sowie kinderlose Ehen mehr 
Selbstmorder auf. 


B. Todesart. 

Fall I: RevolverschuB. 

,, II: Strangulation mit Hosentrager. 

,, III: Erhangen. 

,, IV: Erhangen. 

., V: nicht mehr sicher zu eruieren. 

,, VI: Erhangen. 

„ VII: Erhangen. 

In der iiberwiegenden Mehrzahl der Falle war demnach das 
Erhangen gewahlt worden. 

Betreffs der Todesart ergibt die Tabelle Hubners bei seinen 
40 unfallverletzten Selbstmordem folgendes Ergebnis: 


durch Erhangen.23 

„ Ertranken. 8 

„ ErschieBen. 3 

„ Vergiften. 2 

„ Halsdurchschneiden. 2 

,, Ueberfahren. 1 

„ Stichverletzung. 1 


Hubner fiigt diesen Zahlen die Betrachtung hinzu, daB fast stets 
ZweckmaBigkeitsgriinde, Nachahmung oder lokale Umstande, 
erstere aber vornehmlich, fur die Wahl der Todesart maBgebend 
waren. Das Erhangen wurde anscheinend deshalb bevorzugt, weil 
die dazu erforderlichen Bequisiten (Hosentrager, Handtuch, Leib- 
riemen) zur Zeit des Entschlusses an dem Orte, an dem sich die 
Kranken befanden, gerade vorhanden waren. 

Bekanntlich sind die Todesarten der Selbstmorder sehr mannig- 
facher Art, und es ist zumeist nicht moglich, aus dem Mittel, welches 
der Selbstmorder zur Erreichung seines Zieles benutzt, einen 
SchluB zu ziehen auf den Geisteszustand des Taters zur Zeit der Tat 
bzw. auf die Art seines Gemiitsleidens. Noch weniger erlaubt ist es, 
aus der Todesart bzw. aus der Art der Ausfiihrung, der Umsicht und 
Ueberlegung etwa den SchluB auf geistige Gesundheit ziehen zu 
wollen, wie dies von juristischer Seite zuweilen geschieht. Fiir 
einzelne Krankheiten gibt es allerdings Pradilektionstodesarten: 
der Hysterische sucht nicht selten „in Schonheit" zu sterben, 
indem er — fast stets bleibt es bei dem Versuche — dramatisch und 
erfindungsreich vorgeht, der Epileptiker wendet oft brutale Gewalt 
an und bedient sich der SchuBwaffe, der typische Melancholiker 
mit Selbstvorwiirfen geht zuweilen einem moglichst qualvollen 
Tode entgegen; beim vorgeschritten Dementen soli die Todesart 
nicht selten besonders ausgefallen und grausam sein, der Paranoiker 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unf silver lets, ten. 323 

bevorzugt das Oeffnen der Pulsader. Im allgemeinen wird aber doch 
der nachstliegende Weg gewahlt. An Haufigkeit steht obenan der 
Tod durch Erhangen, besonders auch bei Insassen von Irren- 
anstalten; dann folgt derjenige durch Ertranken; bei Frauen soli 
allerdings letzteres haufiger sein als das Erhangen. Pilcz fand bei 
Frauen als haufigste Todesart das Vergiften, bei Mannern das Er¬ 
hangen, desgleichen Heller, Rehfisch, Littlejohn, Buschan, Thomsen, 
Beer. Bei Sichels 18 Selbstmordern erfolgte der Tod 12 mal durch 
Erhangen, je 2 mal durch ErschieBen, Sturz aus dem Fenster und 
durch Lysol. Pfeiffer fand am haufigsten Erhangen (35 pCt.) und 
ErschieBen (34 pCt.), dann folgt mit je 12 pCt. Vergiften und Er¬ 
tranken; letzteres beides herrscht bei der Frau, ersteres beim 
Manne vor. Nach der preuBischen Statistik soli am haufigsten 
das ErschieCen vorkommen, dann Ertranken, viel seltener Erhangen. 

Wenn in der groBen Mehrzahl meiner Falle das Erhangen 
gewahlt wurde, so schreibe ich dies, in Uebereinstimmung mit 
Hubner, lokalen Umstanden zu. Keinesfalls gestattete die Wahl 
der Todesart irgendwelche Schliisse auf die Diagnose des Gemiits- 
zustandes, der zur Tat fuhrte. 

In 38 von 40 Fallen Hiibners gliickte der Selbstmord, bei 
meinen 7 Fallen gliickte er 5 mal, wahrend es 2 mal beim Suizid- 
versuch blieb. 


C. Art des Unfalls. 

Fall I: Hiiftquetschung. 

II: Fall auf Brust. Unterschenkelbruch, Brustquetschung. 

,, III: Brustquetschung. Schliisselbeinbruch. 

,, IV: Erschiitterung der Wirbelsaule durch schweren herab- 
fallenden Sack, Brust- und Riickenquetschung. 

,, V: StoB gegen die Brust. 

VI: Fall von der Treppe aufs GesaB. 

,, VII: Schadelquetschung durch fallenden Balken. 

Beziiglich der Art des Traumas schreibt Schultze mit vollem 
Recht wie folgt: „Das Reichs-Versicherungsamt hat mehrfach „aus 
der Art der Verletzung" den SchluB gezogen, daB „eine geistige 
Umnachtung“ zur Zeit des Selbstmordes nicht vorgelegen hat. Es 
ist nicht moglich, so bestimmte Beziehungen zwischen der Art 
der Verletzung und der Schwere der Psychose allgemein fest- 
zustellen. Die Moglichkeit kann nicht scharf genug hervorgehoben 
werden, daB auch eine leichte Verletzvmg, vor allem bei einem von 
Haus aus schon minderwertigen oder labilen Menschen, eine 
geistige Stoning nach sich ziehen kann, die zu den lebhaftesten 
Affektschwankungen fiihrt und so den Selbstmord ermoglicht. 
GewiB wird eine Verletzung schlechtweg, und vor allem eine Kopf- 
verletzung, um so eher eine Psychose nach sich ziehen, je schwerer 
sie ist; aber man darf den Satz nicht umkehren und ihn verall- 
gemeinem, besonders nicht, nachdem uns die Unfallgesetzgebung 
mit psychogenen Storungen noch vertrauter gemacht hat.“ 


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324 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 

In den iibrigen Arbeiten findet man kaum allgemeinere Be- 
trachtungen fiber die Beziehungen des Selbstmordes zu der Art des 
stattgehabten Unfalls. Nach Leppmann sollen, wie ich aus einem 
von ihm gehaltenen Vortrage erfuhr, Beschadigungen der Augen 
besonders haufig zur Hypochondrie nebst Suizid ffihren. Bei der 
Durchsicht von Hubners Fallen von Selbstmord Unfallverletzter 
fiel mir auf, daB verhaltnismaBig selten das Trauma eine Ver- 
letzung des Kopfes darstellte; vielmehr handelte es sich zumeist um 
Quetschungen der Extremitaten oder des Rumpfes. Auch die Be- 
trachtung meines Materials nach dieser Richtung hin ergibt ein 
ahnliches Resultat: nur in einem einzigen Falle (VII) bestand das 
Trauma in einer Schadelverletzung, wahrend es sich in samtlichen 
iibrigen Fallen um eine Quetschung des Rumpfes (Brust, Rticken, 
GesaB) handelte. Sehr auffallig ist der Umstand, daB in alien 
meinen Fallen der Unfall ein verhaltnismaBig unerheblicher war; 
als „schwer“ ist er in keinem einzigen meiner Falle zu bezeichnen; 
das gleiche gilt auch ffir zahlreiche — wenn auch nicht alle — Falle 
aus Hiibners Kasuistik. Die Selbstmordneignug hangt also keines- 
falls von der Schwere des Traumas ab; im Gegenteil: wenn fiber- 
haupt ein SchluB aus den vorliegenden Beobachtungen gezogen 
werden darf, so kann er nur so lauten, daB gerade die leichten Ver- 
letzungen und solche, welche den Kopf nicht betreffen, die Selbst- 
mordkandidaten zu liefern scheinen; demzufolge kann auch — nach 
dem vorliegenden Material — die zum Selbstmord ftihrende Ge- 
mtitsverfassung nicht auf eine traumatisch bedingte Hirn- oder 
Hirnrindenschadigung zurtickgeftihrt werden; wenigstens war bei 
meinen Fallen fiberhaupt nur 1 mal, bei Hubners Beobachtungen 
in der Minderzahl der Falle der Schadel mitverletzt. 

D. Zeitdauer zwischen Unfall und Selbstmord. 

Fall I: 11 Monate 
,, II: 31/4 Monate 
,, III: 11 Monate 
„ IV: 1V 2 Jahre 
,, V: 1 y 2 Jahre 
VI: 3 Monate 
,, VII: 2*4 Jahre. 

Ueber das Intervall zwischen Trauma und Selbstmord finde ich 
nur bei Hiibner Aufzeichnungen, und zwar in folgender Tabelle: 

Es begingen den Selbstmord: 


sofort nach dem Unfall 2 


1 Woche danach 

3 

2 Jahre nach dem Unfall 8 

1 Monat danach 

5 

3 „ 

5 

3 

0 

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1 

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1 

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1 Jahr 

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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 325 


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Hiernach sowie nach meiner Kasuistik erscheinen die ersten 
2 Jahre am gefahrdetsten; es ist in meiner Tabelle vom psycho- 
pathologischen Standpimkte aus unschwer zu erklaren, daB nach 
dem UnfaU erst Monate vergehen, ehe der Selbstmordgedanke auf- 
keimt, um schlieBlich zur Tat zu reifen. 

Diese Zeit zwischen Unfall und Selbstmordgedanke ist aus- 
gefiillt mit neurasthenisch-hypochondrischen Storungen, die direkte 
Unfallfolge sind und das Zwischenglied zwischen dem Trauma 
und dem Suizid abgeben. 

Der Nachweis dieser ,,Briicke“ und ihrer Abhangigkeit vom 
Unfall ist von groBter Wichtigkeit fur die in positivem Sinne 
erfolgende Beantwortung der Frage, ob der Selbstmord die Folge 
des Unfalls darstellt, die Hinterbliebenen also entschadigungs- 
berechtigt sind oder nicht. 

E. Diagnose des Gemutsleidens, welches zum Selbstmord fiihrte. 

Vorweg bemerkt sei, daB es sich in keinem meiner Falle um 
einen sog. ,,physiologischen“ Selbstmord handelte; in jedem Falle 
ging vielmehr der Tat eine mehr minder lang anhaltende krank- 
hafte Gemiitsverfassung voraus, welche vom Unfall zum Suizid 
iiberleitete. Rekapitulieren wir kurz unsere Falle unter dem Ge- 
sichtswinkel der bei ihnen zu stellenden Diagnose, so ergibt sich 
folgendes: 

Fall I: Im AnschluB an Unfall Kopfschmerz, dann gedriiektes, 
verschlossenes Wesen, Sorge um seine Zukunft und diejenige seiner 
Mutter, der er zur Last fallen werde. Furcht vor Geisteskrankheit 
(Paranoia oder Paralyse); er werde wohl noch wegen Geisteskrank¬ 
heit nach Dalldorf kommen miissen. Anamnestisch: starke Onanie. 
Diagnose: Hypochondrie. 

Fall II: 6 Wochen nach Unfall Angstgefuhl, Schlaflosigkeit, 
dann Depression; Furcht, sehr krank zu sein, nie mehr gesund zu 
werden, nie mehr wieder arbeiten zu konnen, sterben zu miissen; 
seine Familie miisse dann verhimgem; seine Kinder zugrunde gehn. 
Schlaflosigkeit. Anamnestisch: Potus zugegeben. Diagnose : 
Hypochondrie. 

Fall III: Nach Unfall ,,renitentes“ Wesen. verandert; Furcht, 
krank zu bleiben, nicht mehr wieder arbeiten zu konnen, De¬ 
pression. Diagnose: Hypochondrie. 

Fall IV : Nach Unfall Brust- und Kreuzschmerzen, dann 
Erloschen des Geschlechtstriebes, unfreiwilliger Samenabgang, 
Appetit- und Schlaflosigkeit; Furcht, schwer erkrankt zu sein, keine 
Hilfe mehr finden zu konnen. Diagnose : Hypochondrie. 

Fall V: Nach Unfall neurasthenische Beschwerden, dann In- 
teresselosigkeit; Furcht, fur seine Familie nicht mehr sorgen zu 
konnen, nicht mehr lange zu leben. Diagnose: Hypochondrie. 

Fall VI: Im AnschluB an Trauma Hamatomyelie. Dann 
gedriickte Stimmung, Pat. verzweifelt an jeder Besserung, sieht 
seinen und seiner Familie Untergang vor Augen. Diagnose : 
Hamatomyelie. Hypochondrie. 


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326 Mendel, Ueber den Seibetmord bei Unfallverletzten. 


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bei seinen 
Fall 


Falle 

Fall 

Falle 


Fall 


Fall VII: Im AnschluB an Trauma neurasthenische Be- 
schwerden, dann murrisches Wesen, erregbar; Furcht, ins Irrenhaus 
kommen zu miissen, unheilbar krank zu sein. Diagnose: Hypo- 
chondrie. 

Ehe wir auf unser Material epikritisch eingehen, wollen wir uns 
in der Literatur beziiglich des in Frage stehenden Punktes um- 
sehen. Hubner, dessen Arbeit die gToOte Statistik betreffs der 
unfallverletzten Selbstmorder beibringt, notierte 
39 Fallen die folgenden Diagnosen: 

Progressive Paralyse .1 

Dementia senilis.1 

Arteriosklerotische Gehimerkrankung ... 1 

Grobe Verletzung der Himsubstanz ... 1 

Imbezillitat . 1 

Epilepsie.2 

Alkoholismus. 

Fragliche organische Gehirnkrankheit ... 1 

Melancholie .4 

Hypochondrie. 14 

Neurasthenie.6 

Hysterie.2 

Degeneration.2 

Traumatische Demenz.1 

Paranoider Zustand.1 ,, 

Hierzu mochte ieh auf Grund der Durchsicht der Hubnerschen 
Krankengeschichten bemerken, daB ich die Falle 13, 14 und 15 ent- 
schieden nicht zur Melancholie rechnen, dieselben vielmehr durch- 
aus der Hypochondrie hinzuzahlen wiirde; hingegen scheint mir 
den Fallen 20 und 21 die Diagnose Hysterie (bei Fall 21 kombiniert 
mit querulatorischen Ideen) zuzukommen. Fall 12 stellt — wie 
auch Hubner anfiihrt — eine reine Melancholie dar, es handelte 
sich aber bei dieser Beobachtung nicht urn ein korperliches, 
sondern um ein rein psychisches Trauma. 

Gegenuber der obigen Hubnerachen Tabelle, welche lediglich 
unfallkranke Selbstmorder beriicksichtigt, ergibt die Durchsicht 
der Diagnose bei 52 nicht unfallverletzten Selbstmordern der Bonner 
Klinik folgend'e Zahlen: 

Melancholie.15 

Hysterie.11 

Hypochondrie.7 

Degeneration.3 

Dementia praecox.4 

Imbezillitat.4 

Arteriosklerose.2 

Chron. Paranoia.4 

Akute Paranoia.1 

Alkoholismus mit Angstzustanden 1 „ l ) 

1 ) Sichel schreibt ganz im allgemeinen, ohne Zahlen zu bringen, dafi 
der Selbstmord selten bei angeborenem Schwachsinn und der hebephrenen 


Falle 


Fall 


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Mendel, Ueber den Selbetmord bei Unfallverletzten. 


327 


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Wir ersehen aus dem Vergleich beider Tabellen, daB bei den 
unfallkranken Selbstmordern die Hypochondrie sehr stark in den 
Vordergrund tritt, die Melancholie aber, die sonst bei Selbstmordern 
als Ursache ihrer Tat an erster Stelle steht, sowie die Hysterie weit 
zuriickgedrangt und von der Hypochondrie in hohem MaBe tiber- 
fliigelt werden. 

Diese Tats ache — d. h. das hochgradige Ueberwiegen der 
hypochondrischen Geistesstorung als Selbstmordursache bei den 
unfallverletzten Selbstmordern — wird nun durch mein Material 
sehr deutlich bestatigt und sogar stark unterstrichen. Hierin liegt 
gerade eine gewisse klinische Besonderheit, welche den unfall¬ 
kranken Selbstmordern zukommt. 

Statt daB — wie sonst — die Melancholiker mit ihren Selbst- 
vorwiirfen und Selbstverschuldungsideen ein groBes bzw. das 
groBte Kontingent zu den Selbstmordern stellen 1 ), sind es hier — 
bei den Unfallverletzten — die Hypochonder, die die erste Stelle 
einnehmen, ja fast ausschlieBlich in Betracht kommen. 

Der Verlauf und die Entwicklung des Leidens des Unfall- 
kranken bis zur Ausfiihnmg des Selbstmordes sind eigentlich in 
jedem einzelnen meiner Falle durchaus die gleichen, und dies- 
bezuglich gleicht eigentlich ein Fall vollstandig dem andern: 
immer itn Anschluji an den — meist unerheblichen — Unfall ein 
neurasthenisches Vor stadium (nur in einem Falle [VI] kombiniert 
mit einer organischen Erkrankung [Hamatomyelie]), hier durch 
Abnahme der Widerstandskraft gegeniiber den von auBen ein- 
dringenden Schadlichkeiten und Miseren, darauf hypochondrische 
Vorstellungen (Furcht, nicht wieder gesund zu werden, nicht mehr 
arbeiten zu konnen, anderen zur Last zu fallen), hierdurch zu- 
nehmende Depression , die dann schliefilich den Entschlu/3 zum Selbst- 
mord reifen la fit. In keinem einzigen der Falle geht das hypo¬ 
chondrische Stadium in ein echt melancholisches iiber, denn 
nirgends sehen wir zu dem Momente der hypochondrischen De¬ 
pression dasjenige der Selbstverschuldung hinzutreten, nirgends 

Form der Dementia praecox angetroffen wird, haufiger komme er vor 
bei Hysterie, Epilepsie, Alkoholismus, psychopathischen Personlichkeiten 
(Schiilerselbstmorde!), Paranoia, Paralyse, Gravidit&ts-, Puerperal- und 
Laktationspsychosen, Katatonie, Psychosen des Seniums, am h&ufigsten 
aber beim manisch-depressiven Irresein. 

1 ) Ohne selbst eine Statistik beibringen zu konnen, mochte ich aller- 
dings sagen, daB ich personlich — entgegen dem in der Literatur Nieder- 
gelegten — den Eindruck habe, als ob auch sonst vomehmlich Hypochonder 
mit starker Depression sich unter den Selbstmordern befinden. Es mag 
aber dieses Differieren meiner Erfahrung von derjenigen anderer Autoren, 
die ja der Melancholie die erste Stelle vindizieren, an der Zusammensetzung 
meines Materials liegen, das sich mehr auf neurologischem als auf rein 
psychiatrischem Boden bewegt. Jedenfalls ist aber die Selbstmordgefahr 
bei zu starken Depressionen neigenden, schweren Hypochondern nicht zu 
unterschatzen, und gerade in offenen Sanatorien gehoren wohl die meisten 
Suizidalen dieser Kategorie von FLranken an. Die Hysterie rangiert 
■— meiner Erfahrung nach — erst weit hinter der Hypochondrie und 
Melancholie ein, nicht, wie sich aus Hubners Tabelle ergibt, zwischen beiden. 


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328 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 

tauchen irgendwelche Selbstvorwiirfe oder gar Versiindigungsideen 
auf; im Gegenteil, der Verletzte fiihlt sich eher als Opfer des Unfalls 
und der G-esetzgebung, die nicht hinreichend Sorge tragt fiir sein 
weiteres Fortkommen und ihn fiir die Unfallfolgen nicht in ge- 
niigender Weise entschadigt. In keinem Falle bestanden Zeichen 
von Hebephrenie oder Katatonie, auch wies in keinem Falle 
Anamnese, Untersuchung oder Beobachtung des Krankheits- 
verlaufes auf das Bestehen eines manisch-depressiven Irreseins hin. 
Immer eine typische reine Hypochondrie mit starker Gemiltsdepression! 
Nur im 1. und 2. Falle zeigte sich zeitweise eine gewisse Agitation 
und Unruhe mit Angstgefiihl, im iibrigen gehorten samtliche Falle 
der gehemmten Form der Hypochondrie an. 

Anhangsweise mochte ich hier noch erwahnen, daB einUnter- 
schied zwischen denjenigen Individuen, denen der Selbstmord 
gliickte, und den Geretteten, bei denen es beim Selbstmordverswc/i 
blieb, beziiglich ihres Leidens nicht bestand. 

F. Bestanden endogene Oder exogene Faktoren, welche bei Ent- 
wicklung des Gemiitsleidens mitwiiklen? Oder war das Tiauma 
die alleinige Ursache? 

Fall I: Vater verschollen. Starke Onanie. Trauma fiel in die 
Zeit der Pubertat. Daher disponierter Boden. 

Fall II: Einige der Briider starke Alkoholiker. Pat. war auch 
selbst friiher dem AlkoholgenuB stark ergeben. 

Fall III: Hochgradige materielle Notlage; 4 unmiindige 
Kinder. 

Fall IV: Nichts Wesentliches zu ermitteln. 

Fall V: Schlechte geschaftliche Lage, Krankheit und Operation 
der Ehefrau, langjahriges Prozessieren. 

Fall VI: Lungenleiden der Frau. Beim Pat. selbst Riicken- 
marksblutung als direkte Unfallfolge. 

Fall VII: Hochgradige materielle Notlage. 

Betreffs der endo- und exogenen Momente lesen wir bei 
Hubner etwa folgendes: „Fiir die Mehrzahl aller Selbstmorde finden 
wir den Satz Pelmans bestatigt, daB ein Suizid eine Gleichung 
von mehreren Unbekannten ist, in der, abgesehen von dem 
psychischen Zustande, auBere Umstande gleichfalls eine Rolle 


spielen.Eine Kette von ungiinstigen U mstanden bereitet die 

Stimmung des zweifellos psychopathisch veranlagten Individuums 
vor.Unter der Last des depressiven Affektes schwindet die 


Kritik mehr und mehr.Der Selbstmord stellt dann die Ent- 

ladung dar.“ 

Insbesondere hebt Hubner als — fast stets nachweisbare 
endogene Momente eine von Haus aus vorhandene gesteigerte Reiz- 
barkeit und Neigung zu depressiver Lebensauffassung hervor, als 
exogene Faktoren das Milieu, in welchem der Erkrankte lebt, 
korperliche Krankheit (Infektionskrankheiten, Lues), Intoxi- 
kationen (vorziiglich Alkoholismus) oder sonstige Schadlichkeiten 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 329 

(ungeheure Uitze in den Tropen, in Maschinen- und Heizraumen 
etc.). Solche exogenen Momente brauchen aber nicht vorhanden 
zu sein oder sie brauchen auch nur eine untergeordnete Rolle zu 
spielen. Sie konnen z. B. fehlen bei ,,Melancholikern, die entweder 
aus innerer Angst oder infolge ihrer Wahnvorstellungen, mitunter 
auch wegen zwangsmaBig sich aufdrangender Selbstmordgedanken 
Selbstbeschadigungen begehen. Ferner gehoren die unter Sinnes- 
tauschungen stehenden Kranken (angstliche Deliranten, Para- 
noiker, ein Teil der im Dammerzustand befindlichen Suizidalen) 
hierher. AuBerdem die verstimmten Epileptiker, die Degenerierten 
mit Angstanfallen und solche mit Zwangsvorstellungen suizidalen 
Inhaltes“. {Hubner S. 80). 

Unter den exogenen Momenten spielt der chronische und akute 
Alkoholismus eine besonders hervorragende Rolle. Wassermeyer 
meint, daB unter den ,,nicht geisteskranken“ mannlichen Selbst- 
mordern etwa 8 / 8 der Falle Alkoholisten sind, Pelman macht gleich- 
falls auf den Alkoholismus in der Vorgeschichte der Selbstmorder 
aufmerksam, und Hubner schreibt diesbeziiglich: ,,Auch unter den 
Suizidalen sind die chronischen Trinker verhaltnismaBig selten, da- 
gegen ist haufig — und zwar beiMannern undFrauen (vgl. Stelzner) — 
nachgewiesen worden, daB sie vor der Tat reichlich Alkohol zu sich 
genommen hatten. Schon bei meinem kleinen Unfallmaterial tritt 
diese Tatsache evident hervor.“ Bei meinen Fallen kam nur in 
Fall II friiherer AlkoholmiBbrauch sowie Alkoholismus in der 
Familie in Betracht; hingegen geschah in keinem meiner Falle der 
Selbstmord im direkten AnschluB an AlkoholgenuB. 

Eine korperliche Krankheit, welche bei Entstehung des Ge- 
miitsleidens hatte mitwirken konnen, war in keinem Falle voran- 
gegangen; in Fall V hatte zwar Pat. Syphilis durchgemacht, doch 
hatte letztere seit ca. 20 Jahren keinerlei Zeichen mehr gemacht; 
im Fall VI war durch den Unfall zunachst eine Hamatomyelie ver- 
ursacht worden. 

Beziiglich der endogenen Faktoren, die bei Entwicklung der zum 
Selbstmord fuhrenden psychischen Stbrung mitgewirkt haben, ist 
zu erwahnen, daB eine erbliche Belastung nur in Fall I und II an- 
zunehmen ist; eine gleichartige Hereditat in der Weise, daB Selbst¬ 
mord bereits in der Familie vorgekommen ist, lag nie vor. Ueber 
eine gesteigerte Affekterregbarkeit, eine Neigung zu trauriger Ver- 
stimmung oder zu depressiver Lebensauffassung vor dem Unfall war 
in keinem Falle etwas zu eruieren, vielmehr schienen samtliche 
Patienten bis zum Unfall psychisch vollig normal, nur Fall II war 
stets geistig etwas beschrankt. Erst der Unfall und seine Folgen 
losten durch Vermittlung eines neurasthenischen Vorstadiums die 
hypochondrische Depression aus, welche schlieBlich zur Tat fiihrte. 
Trotzdem es sich aber um anscheinend bis zum Unf all psychisch 
intakte Individuen handelte, mufi man dennoch annehmen, daf$ es 
prddisponierie, von Haus aus psychisch labile Personen waren, die mit 
nicht genugend Energie und Widerstandskraft ausgerustet sind, um 


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330 Mendel, Ueber den Selbstmord bei UnfaUverletzten. 

den Kampf ums Dasein erfolgreich zu fiihren und auch in schwierigen 
Lagen ihren Mann zu stehen, vielmehr friiher verzagen und erliegen, 
als es in gleicher Situation der vollig normale Mensch tun wurde. 
,.Es handelt sich um Menschen, die entweder als kranke Jugend- 
liche dem ernstbaften Ansturm der Lebens- und Berufsaufgaben 
nicht standhielten, oder um solche, die von Natur aus wohl mit 
widerstandsfahigen, gesunden Sinnen begabt, allmahlich im Ver- 
lauf von Dezennieo, oft zu friih fiir ihr Alter, zu miidei) Greisen ge- 
worden sind“ (Pfeiffer). Wir konnen auch in keinem unserer Fdlle 
den SeU>8tmord als geniigend motiviert, als ,,physiologisch“ bezeichnen ; 
in jedern einzelnen Falle trubte die hypochondrische Furcht in Bezug 
auf den gegenwdrtigen oder zukiinftigen Zustand des eigenen Korpers 
das Urteil des Verletzten und matte ihm Oegenwart und Zukunft in 
iibertrieben schwarzen Farben aus. Zu dem wohl von Haus aus 
labilen oder im Laufe der Zeit labil gewordenen Nervensystem kam 
die durch den Unfall bedingte Neurasthenie hinzu, um die Wider- 
standskraft noch wetter zu schwachen: der Verletzte vermag den 
aufieren ungiin8tigen Umstanden, dye auf ihn eindringen, nicht ge¬ 
niigend Kraft entgegenzusetzen, und aus dem GefiiM heraus, dem 
gegenuber ohnmdchtig zu sein, tritt die Idee des Setbstmordes bei ihm 
auf. Und wiederum fehlt ihm dann auch weiterhin —infolge teils an- 
geborener, teils durch den Unfall erworbener Widerstandsschwache — 
jene geistige Kraft, welche die Umsetzung des Selbstmordtriebes in die 
Tat zu hemmen imstande ist. 

Dies die psychologische Erklarung. Wir ersehen daravs, daft 
das Trauma eine gewattige Rolle bei der Entwicklung der zum Selbst- 
mord fuhrenden Geistesstdrung spielen kann, daft es als ein sehr 
gewichtiges exogenes Momnet beim Suicidium anzvsprechen ist. 
DaB es allerdings ganz allein und fiir sich den schuldigen Teil ab- 
gibt, ist nicht anzunehmen; es figuriert vielmehr nur als wesent- 
lich mitwirkender oder auch als einziger exogener Faktor bei 
endogen zur Depression veranlagten Individuen, d. h. auf vor- 
bereitetem Boden. Der Weg ware demnach folgender: angeborene 
oder erworbene (Alkohol!) Disposition —Trauma —Neurasthenie 
— Hypochondrie — Depression und Abnahme der Widerstands- 
kraft — Selbstmordgedanke — Widerstandsschwache gegenuber 
dem Selbstmordtriebe — Selbstmord. Vom Trauma aber sind 
samtliche Etappen in vorwiegendem MaBe exogen, und zwar durch 
das Trauma selbst (meist verbunden mit materieller Notlage) be- 
dingt; damit aber der Unfall so deletar wirken kann, wie er wirkte, 
ist Etappe I: d. h. das Vorhandensein einer angeborenen bezw. 
erworbenen Disposition erforderlich. Das Trauma ist also die 
Haupt-, doch nicht die alleinige Ursache des zum Selbstmord 
fuhrenden Gemiitsleidens. Ohne den Unfall ware es wohl nie zur 
Katastrophe gekommen, mit demselben kam es zur Tat, nur weil das 
Trauma ein disponiertes Individuum traf. DaB somit den Hinter- 
blieben die Rente zukam, war in alien meinen Fallen iiber jeden 
Zweifel erhaben. 


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Mendel , Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


331 


III. Zusammenfassung. 

Fasse ich im folgenden die Ergebnisse meiner Beobachtungen 
zusammen und yergleiche ich insbesondere das fiir den Selbstmord 
Unfallverletzter Geltende mit dem iiber den Selbstmord im all- 
jemeinen Bekannten. so ergeben sich im wesentlichen die folgenden 
P unkte: 

1 . Wahrend von Unfallkranken recht haufig — oft allerdings 
lediglich zwecks Unterstreichung der geklagten Beschwerden — 
LebensiiberdruB und Todesverlangen geauBert werden, ist der 
Selbstmord bei Unfallverletzten immerhin ein seltenes Ereignis; 
unter meinen ea. 2000 Unfallgutachten figurieren nur 7, in 
denen liber den Zusammenhang zwischen Selbstmord bzw. Selbst- 
mordversuch und Unfa]] entschieden werden sollte. Viele Trau- 
matiker drohen mit Selbstmord, aber wenige fiihren ihn aus. 

2. Bei der Frage nach dem Alter der unfallverletzten Selbst- 
morder fallen in Anbetracht der Art des Materials das jugendliche 
und das spatere Alter fort; das beste Mannesalter liefert — als das- 
jenige Alter, welches hauptsachlich vom Trauma betroffen wird — 
das groBte Kontingent. Die Art des Materials bringt es fernerhin mit 
sich, daB die unfallverletzten Selbstmcrder zumeist verheiratet sind. 
Dabei kann d'e Vielzahl nicht versorgter Kinder— wie in unserem 
Fall III — eine Rolle beim EntschluB zur Tat mitspielen. 

3. Die Todesart laBt- bei den unfallverletzten Selbstmcrdern 
— ebenso wie auch sonst bei Suizidalen im allgemeinen — einen 
SchluB auf die Art des vorhanden gewesenen Gemiitsleidens nicht 
zu. Weitaus am haufigsten wird von den unfallverletzten Selbst- 
mordern der Tod durch Erhangen gewahlt. 

Der TJnfall selbst braucht durchaus nieht schwer zu sein und 
auch nicht den Kopf zu treffen, er ist sogar gar nicht selten — in 
meinen Fallen durchweg — auffallend unerheblich und steht in gar 
keinem Verhaltnis zu der Schwere der nachfolgenden nervdsen und 
psychischen Storungen. 

4. Das Intervall zwischen Trauma und Suizid betragt zumeist 
1 —2 Jahre, dasselbe ist ausgefiillt mit neurasthenisch-hypochon- 
drischen Beschwerden traumatischer Genese, welche das Zwischen- 
glied zwischen dem Unfall und dem Selbstmord bilden. 

5. Tn der ganz uberwiegenden Mehrzahl der Fallc sind es 
hypochcndrische Depressionszustdnde , welche den EntschluB zur 
Tat bei dem Unfallverletzten reifen lassen. In meinem Material 
figuriert nur die Hypochondrie als Diagnose des zum Selbstmord 
fiihrenden Gemiitsleidens. Die Melancholie, Hysterie und die 
iibrigenPsychosen, welche bei den gewohnlichen—d. h. nicht imfall- 
verletzten — Selbstmordern die erste Stel’e einnehmen. werden be- 
ziiglich der unfallverletzten Suizidalen durch die Hypochondrie 
stark zuriickgedrangt und treten rehr in den Hintergrund. Die 
hypochondrische Furcht triibt dasUrteil des Verletzten und laBt den 
Selbstmord in jedem einzelnen Falle als nicht geniigend motiviert, 
als nicht-physiologisch erscheinen. 

Monatsschrlft f. Pdjohiatrie u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 4. 22 


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332 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 


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6 . Es ist nicht anzunehmen, daB der Unfall ganz allein und fur 
sich schuld tragt an dem spateren Selbstmord; vielmehr erscheint 
die Annahme berechtigt, daB ein endogener Faktor — eine gewisse 

-Disposition zu depressiver Verstimmung — erforderlicb ist, damit 
der Unfall in dieser deletaren Weise wirken kann: einen praparierten 
Boden muB das Trauma treffen, um auf dem iiber die Neur 
asthenie und Hypochondrie fiihrenden Wege eine so schwere De¬ 
pression und einen so starken Fortfall von Hemmungen zu ver- 
ursachen, daB schlieBlich der EntschluB zum Selbstmord auftaucht 
und der Selbstmord seinerseits zur Ausfiihrung gelangt. Ist aber 
dieses endogene Moment vorhanden, so kann das Trauma als 
einziger exogener Faktor oder wenigstens als wesentlicher Haupt- 
faktor bei der Genese des Suizids in die Wagscha.'e fallen. 

7. In seiner Arbeit (S. 85) fiihrt Hubner aus, daB man bei der 
Frage nach dem Zusammenhange zwischen Unfall und Selbstmord 
5 Moglichkeiten untersoheiden miisse: 

a) Der Unfall lost unmittelbar einen Selbstmordversuch aus 
(ein Psychopath begeht ihn in pathologischer Erregung aus Furcht 
vor dauernder Erwerbsunfahigkeit oder vor Schmerzen, oder es 
setzt sofort ein Verwirrtheitszustand ein, in dem der Pat. Suizid 
begeht. Auch in einzelnen Fallen von Melancholie kann ein der- 
artiger Zusammenhang bestehen). 

b) Der Unfall lost eine Geistesstorung aus (direkte Gehirn- 
verletzung, Melancholie, Gehirnerweichung oder Gehirnarterio- 
sklerose usw.), und im Verlaufe derselben begeht der Kranke 
Selbstmord. 

c) Ein von ieher krankhaft veranlagter Mensch bekommt nach 
Unfall eine hypochondrische Verstimmung. Es entspinnt sich ein 
Rentenkampf, in dessen Verlauf der Kranke aus Arger dariiber, 
daB seine Anspriiche nicht anerkannt werden, Selbstmord begeht. 

d) Ein Unfallhypochonder begeht durch andere Ereignisse 
veranlaBt Selbstmord. 

e) Eine Psychose hat schon vorher bestanden. Im Verlaufe 
derselben erleidet der Pat. einen Unfall und schlieBt daran den 
Selbstmord. 

In meinen Fallen kommen von diesen Moglichkeiten nur die- 
jenigen sub b—d in Betracht; meine Beobachtungen — und wohl 
auch sonst die meisten Unfallselbstmorder — gehoren in der Haupt- 
sache dem Typus d an. 

8 . In jedem Falle, wo das Trauma eine mitwirkende Rolle beim 
Entstehen des Selbstmordentschlusses spielt (und nur ganz aus- 
nahmsweise wird dieser Nachweis beim unfallverletzten Selbst- 
morder nicht zu erbrihgen sein), steht naturgemaB den Hinter- 
bliebenen die Rente zu. Wenn in den Entscheidungen der ver- 
Bchiedenen Instanzen des Versicherungswesens immer betont wird, 
daB zur Anerkennung der Hinterbliebenenrente 2 Bedingungen 
erfiillt sein miissen: 1. der AusschluB der freien Willensbestimmung 
zur Zeit der Tat und 2. der Nachweis, daB die zum Suizid fiihrende 
Geistesstorung eine UnfallsfoJge darstellt, so ist vom arztlichen 


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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 333 

Standpunkte aus die Streichung der ersten Bedingung zu empfehlen: 
es ist als vollig geniigend zu erachten, wenn der Nachweis erbracht 
ist, daB psychische Storungen, die unmittelbar oder mittelbar durch 
das Trauma verursacht sind, bei dem Entschlusse zum Selbstmord 
allein oder wesentlich mitgewirkt haben. In diesem Sinne einer 
milderen Bechtsprechung ist auch tatsachlich haufig seitens des 
Reichs-Versicherungsamtes die Entscheidung gefallt worden. 

9. Beziiglich der Frage der Hinterbliebenenrente konnen sich 
grofie Schwierigkeiten darbieten, besonders dann, wenn iiber das 
psychische Verhalten des Selbstmorders wahrend oder vor der Tat 
bzw. in der Zwischenzeit zwischen Unfall und Suizid Angaben 
fehlen oder nur sparlich sind. Hier hat die Berufsgenossenschaft die 
Pflicht, durch Vernehmung der Mitarbeiter, Anverwandten usw. 
nach Moglichkeit und auch moglichst schnell Klarheit zu schaffen, 
alle Angaben seitens der Umgebung aufs genaueste und wohl- 
wollend zu priifen und auch bestrebt zu sein, durch eine von 
sachverstandiger Seite ausgefiihrte Obduktion die genaue Todes- 
ursache festzustellen. Eine Autopsie vermag auch vorkommenden 
Falles die Frage aufzuklaren, ob iiberhaupt in Wahrheit ein Selbst¬ 
mord vorliegt oder aber ein Ungliicksfall oder ein Verbrechen. 

IV. Zur Prophylaxe. 

Bei Durchsicht meines Materials sowie der einschlagigen 
Literatur drangte sich naturgemaB des ofteren die Frage auf, ob und 
eventuell wie man bei Unfallverletzten dem Selbstmord vorbeugen 
konne. DaB dies moglich ist, steht auBer Zweifel. Es handelt sich 
nur um das ,/wie“. 

Auch hier gilt zunachst das, was auch sonst ganz allgemein 
fur — nicht unfallverletzte — Selbstmordkandidaten gilt: es ist 
selbstverstandlich, daB Suizidverdachtige in einer geschlossenen 
Anstalt unterzubringen sind, da nur hier eine geniigende Ueber- 
wachung und Beaufsichtigung stattfinden kann. Im iibrigen wird 
zur Linderung des Selbstmordtriebes eine Behandlung des diesem 
Triebe zugrunde hegenden Gemiitsleidens erforderlich sein, eine 
Behandlung, die vorwiegend eine psychische sein muB. Hier kann 
der den Unfallkranken behandelnde Arzt durch Zuspruch und 
Psychotherapie viel zur Besserung der hypochondrischen Depression 
und somit zur Verhiitung des Selbstmordes beitragen. Andrerseits 
sind Falle bekannt— ich selbst verfiige iiber einen solchen, hier nicht 
mitgeteilten —, wo der begutachtende oder behandelnde Arzt durch 
seine pessimistische Auffassung des Leidens und Mitteilung der 
schlechten Prognose an den Kranken die Mitursache an der Ent- 
wicklung des depressiven Gemiitszustandes und demnach an dem 
spateren Unheil war. Deshalb ist Vorsicht in der Prognosestellung 
dem Kranken gegeniiber durchaus anzuraten. Bei vorhandenem 
AlkoholmiBbrauch ist eine Unterdriickung desselben zu erstreben. 

Was nun speziell die Unfallselbstmorde und deren Verhiitung 
betrifft, so wird hier — wie sich auch aus obigen Kranken- 

22 * 


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334 M e ii del, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 

geschichten ergibt — vor allem der Verhiitung und Linderung der 
materiellen Not die Aufmerksamkeit zugewandt werden mussen; 
des weiteren ist nach Moglichkeit der Entwicklung des hypo- 
chondrischen Depressionszustandes entgegenzuarbeiten. Nicht 
unwichtig wird es in dieser Beziehung sein, daB auch die Ehefrau 
des Verletzten, welche oft in ganz unglaublicher Weise den Ver 
letzten durch stetes Hervorkehren seiner ungiinstigen Lage, durch 
diisteres Ausmalen der ihn erwartenden Zukunft ungiinstig beein- 
fluBt und foltert und ihn riicksichtslos seinen ganzen Jammer fiihlen 
laBt, arztlicherseits instruiert und zur Vernunft zuruckgefiihrt wird. 
Beiden Zwecken, der Verhiitung der materiellen Not sowie der 
Vermeidung der Depressionsentwicklung, dient aber amehesten eine 
moglichst schnelle Bearbeitung der Unfallsache. moglichste Ab- 
kiirzung des Verfahrens und friihe Rentenfestsetzung sowie ganz 
besonders eine nach Moglichkeit auszudehnende Kapitalabfindung; 
ferner wiirde aber das so sehr zu erstrebende Ziel: die Verschaffung 
von Arbeit fur Unfallverletzte in ganz hervorragendem MaBe dazu 
beitragen konnen, sowohl die materielle Not zu lindern, wie auch 
zu verhindern, daB sich auf dem Boden der traumatischen Neur¬ 
asthenic die hypochondrische Depression entwickelt, und so der 
Selbstmordneigung entgegenarbeiten. 

Um aber bsizeiten das Vorhandensein einer solchen fest- 
zustellen, um also die Selbstmordverdachtigen unter den Unfall- 
kranken zur Zeit herauszuerkennen, wird es vor allem erforderlich 
sein, daB in alien dazu auffordernden Fallen eine genaue psych - 
iatrische Begutaehtung, event, klinische Beobachtung erfolgt, die 
auch der Frage eventueller Simulation nachzugehen, letztere aber 
nur nach ganz besonders sorgfaltiger Priifung als vorhanden an- 
zunehmen hat. Nur ein psychiatrisch gut vorgebildeter Arzt soil die 
Begutaehtung iibernehmen; in Fall III wurde der Verletzte seines 
,,renitenten“ Wesens halber vorzeitig aus der arztlichen Behand- 
lung entlassen, die Pyschose also nicht erkannt und somit die Ver- 
hiitung ihrer Folgen hintangehalten. Diesbeziiglich schreibt 
Hubner mit vollem Recht (S. 54): ,,Angesichts derartiger Falle muB 
der Arzt sich immer wieder die Frage vorlegen, ob die Diagnose. 
daB es sich um eine schwere psychische Storung handelte, nicht 
rechtzeitig hatte gestellt werden konnen. Gerade diejenigen Falle, 
in denen einer Unsumme von subjektiven Beschwerden ein gerxnger 
objektiver Befund gegeniibersteht, sind zum mindesten immer sehr 
verdaehtig auf Hypochondrie, und sie werden vielfach beziiglich 
ihrer Schwere erheblich unterschatzt. . . . Ein schwer deprimierter 
Hvpochonder ist mindestens ebenso selbstmordverdachtig wie ein 
Melancholischer. ‘ ‘ 

Der Begutachter kann hierbei gerade in zweifelhaften und ver- 
dachtigen Fallen von seiten der Berufsgenossenschaften, Kranken- 
kassen usw. in zweckmaBiger Weise unterstutzt werden: un- 
erwartete Kontrollen im Hause des Verletzten konnen iiber die Be- 
schaftigung, das psychische Verhalten, die Stimmung des Er- 
krankten usw. Auskunft geben und so die Erhebungen bei der arzt- 


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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


335 


lichen Untersuchung erganzen, bzw. auf die Notwendigkeit einer 
psychiatrischen Exploration hinweisen. Letztere bleibt dabei aber 
immer die Hauptsache. 


Benutzte Literatur. 

Gaupp , Ueber den Selbstmord. Aerztl. Rundsch. Miinchen 1905. 
2. Aufl., und Neurol. Zbl. 1906. S. 924. — Hubner , Ueber den Selbstmord. 
G. Fischer. Jena 1910. — Jolly , Ph. y Selbstmord nach Unfall. Aerztl. 
Sachv.-Ztg. 1911. No. 15. — Knepper , Zwei Falle von Selbstmord. Ztschr, 
f. Versicherungsmedizin. 1913. H. 1. — Koppen y Zur Frage der Beurteilung 
des Selbstmordes in Versicherungsangelegonheitcn. Charite-Annalen. 1911. 
XXXV. — Pelman , Psychische Grenzzustande. F. Cohen. Bonn 1910. — 
Pfeiffer , Ueber den Selbstmord. G. Fischer. Jena 1912. — PUcz , Zur 
Lehre vom Selbstmord. Jahrb. f. Psych. 1905. XXVI. — Quensel, Me- 
lancholische Depression durch Kohlenoxydvergiftung. Aerztl. Sachv.-Ztg. 
1912. No. 15. — Schultze , Ernst , Der Kampf uni die Rente und der Selbst¬ 
mord in der Rechtsprechung des Reichs-Versicherungsamts. Hoches Samml. 
zwanglos. Abhandl. aus dem Gebiete der Nerven- u. Geisteskrankh. 1910. 
IX. H. 1. — Sichel , Zur Psychopathologie des Selbstmordes. Dtsch. 
med. Woch. 1911. No. 10. — Thiem , Handb. d. Unfallerkrankungen. II. 
1. Teil. F. Enke. Stuttgart 1910. — Viedenz , Ueber psychische Storungen 
nach Schadelverletzungen. Arch. f. Psych. 1903. Bd. XXXVI. — Wasser- 
meyer , Ueber Selbstmord. Arch. f. Psych. L. 1912. H. 1. 


(Ans der Stadtischen Nervenheilanstait Chemnitz. 

[Direktnr: Prof. Dr. L. W. Weber.]) 

Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 

Von 

CARL LAMPE. 

Die Beziehungen zwischen Arteriosklerose, Paralyse und Unfall 
sind in der Literatur des letzten Jahrzehnts vielfach besprochen 
und im wesentlichen klar gestellt worden. Ohne die umfangreiche 
Literatur im einzelnen hier wieder zu beachten, soil jetzt nur das 
Ergebnis dieser Untersuchungen zusammengefaBt werden. Be- 
treffs der Entstehung der Arteriosklerose im allgemeinen und der Ge- 
him-Arteriosklerose im besonderen besteht wohl so ziemlich Ueber- 
einstimmung dariiber, daB die Arteriosklerose eine Abnutzungs- 
oder Aufbrauchs-Erkrankung der GefaBe ist, die wir in gewisser- 
maBen physiologischem Grade uberall im Riickbildungsalter an- 
treffen, daB diese Krankheit aber unter dem EinfluB besonderer 
Momente z. B. einer angeborenen, verringerten Widerstandsfahig- 
keit und spezieller Schadlichkeiten, wie chronische Infektion oder 
Intoxikation, in friiherem Lebensalter imd in schwereren Formen 
auftreten kann. Zu den besonderen Sch&digungen konnen auch 
traumatische Einfliisse gezahlt werden. Gerade fiir die sklerotischen 


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Lsmpo, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


Erkrankungen der HirngefaBe sei hier auf die Beobachtungen 
von Sperling und Kronthal hinge wiesen, die bei verhaltnismafiig 
jugendlichen Individuen kiirzere oder langere Zeit nach einem 
Trauma weitgehende Gef&fisklerosen im Him und Riickenmark 
fanden. Wie diese Veranderungen zustande kommen, darauf 
weisen vielleicht weitere Beobachtungen von Friedmann hin, 
der als Folgeerscheinungen von Gehirnerschiitterungen frischere 
und altere Veranderungen in der Wand und in den Lymphscheiden 
der feineren HirngefaBe, insbesondere auch hyaline Degeneration 
der Hirngefafie nachwies. Ueber ahnliches berichten Arbeiten von 
Yoshikawa, Koppen und Dinkier. Dabei mufi allerdings die 
Moglichkeit beriicksichtigt werden, auf die Weber an der Hand 
eines einschlagigen Falles hinweist, dafi diese Gef&Bsklerose — 
wenn auch klinisch latent — schon vor dem Unfalle bestanden hat. 
Man kann also zusammenfassend sagen, dafi bei einer im verhaltnis¬ 
mafiig friihen Lebensalter auftretenden Gehim-Arteriosklerose, 
wenn andere schwere exogene Schadigungen nicht nachzuweisen 
sind, eine vorhergegangene traumatische Einwirkung mit als 
Ursache in Betracht gezogen werden kann. Zu dem gleichen 
Resultate kommt auch Lamdsbergen in seiner Dissertation aus der 
Cramerschen Klinik. 

Klarer gestellt ist namentlich durch die Arbeiten von Ziehen, 
K. Mendel, Weygandt, Weber u. A. der Zusammenhang zwischen 
traumatischen Einwirkungen und paralytischen Erkrankungen. 
Nachdem heute die syphilitische Grundlage der echten progressiven 
Paralyse vollig aufier Zweifel gestellt ist, kann das Thema nur noch 
so formuliert werden: Ist es moglich, dafi ein korperliches Trauma 
die bis dahin latente Krankheitsdisposition zum friiheren Aus- 
bruch bringen kann, oder vermag ein solches Trauma wenigstens 
den Verlauf einer schon bestehenden Paralyse zu verschlimmem ? 
Das Ergebnis der genannten Arbeiten geht dahin, dafi beide Moglich- 
keiten unter Umstanden zu bejahen sind, wobei allerdings ganz 
bestimmte Kriterien fiir die Annahme eines solchen ursachlichen 
Zusammenhanges zwischen Unfall und Paralyse zu fordern sind. 
Dahin gehort, wie Ziehen ausfiihrt, der Nachweis, dafi vor dem 
Unfall keine Zeichen einer Paralyse bestanden, femer dafi der 
Unfall von einer gewissen, erheblichen Intensitat war und auf den 
Schadel und seinen Inhalt direkt eingewirkt hat (klinische Sym- 
ptome von Gehimerschiitterung), sowie dafi eine nicht allzulange 
Zeit zwischen Unfall und Ausbruch der Paralyse verstrichen ist, 
wobei man allerdings von der Festlegung einer zeitlichen Grenze 
Abstand nehmen mufi. Im einzelnen Falle mufi immer die Be- 
deutung der drei genannten Momente gegeneinander abgewogen 
werden; vielleicht kann auch noch manchmal als viertes Moment 
ein besonderer atypischer, hauptsachlich durch Herdsymptome 
oder durch rapiden Verfall gekennzeichneter Verlauf der Paralyse 
und ein bestimmter, anatomischer Befund, z. B. ausgedehnte 
Verkalkung der Media kleinerer Gehirngefafie, mit herangezogen 
werden. Diese letzteren Gesichtspunkte wird man hauptsachlich 


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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


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verwerten konnen zur Entscheidung der Frage, ob eine bereits be- 
stehende Paralyse durch einen Unfall verschlimmert wurde. 
Weygandt berichtet uber solche Falle, wahrend er mit Becht ein 
Trauma als ausschlieBliche Ursache einer progressiven Paralyse 
ablehnt. Eine Anzahl ahnlicher Falle aus der Cramerschen Klinik 
berichtet Landsbergen in seiner Dissertation. 

Ueber die Beziehungen zwischen Arteriosklerose und Paralyse 
wissen wir, daB namentlich bei Paralyse im vorgeriickten Alter 
haufig sklerotische Entartungen der groBen GefaBstamme des 
Gehims beobachtet werden. Gelegentlich treten solche auch bei 
jugendlicheren Paralysen auf, und es muB hier wohl die Syphilis 
noch einmal als Ursache dieser GefaBsklerose, welche aber keinen 
spezifisch syphilitischen Charakter zu tragen braucht, ange- 
schuldigt werden. Alzheimer weist auch darauf hin, daB man bei 
Paralyse gelegentlich auch in den kleineren GefaBen der Pia sowohl, 
als der Himrinde Aufsplitterungen der elastischen Membranen, 
Quellungen derselben und hyaline Entartungen der GefaBw&nde 
findet, ohne daB dieser Befund fur das Wesen des paralytischen 
Erkrankungsvorganges eine besondere Bedeutung beansprucht. 
Alzheimer betont auch mit Becht, daB eine einwandfreie, histo- 
logische Begriffsbestimmung der Arteriosklerose noch nicht 
existiert, und daB unter diesem Namen mannigfache, regressive 
Prozesse der GefaBw&nde zusammengefaBt werden, von denen 
natiirlich einige auch bei der Paralyse vorkommen, ohne daB sie in 
naheren Zusammenhang mit der Arteriosklerose zu bringen sind. 
DaB die arteriosklerotische Gehimerkrankung im allgemeinen 
mehr organische Herdsymptome macht als die progressive Paralyse, 
und daB auch das psychische Bild der Him-Arteriosklerose andere 
Typen aufweist als die progressive Paralyse, ist ebenfalls aus 
Arbeiten von Binsivanger und von Alzheimer bekannt. Trotzdem 
kommen, wie L. W. Weber gezeigt hat, Falle vor, bei denen ein 
der Paralyse weitgehend ahnliches Krankheitsbild lediglich durch 
arteriosklerotische Veranderungen bedingt wurde. Diese Falle 
bereiten der klinischen Diagnose erhebliche Schwierigkeiten und 
auch nach den von Weber angegebenen Gesichtspunkten wird es 
nicht immer moglich sein, sie im Leben von der Paralyse abzu- 
grenzen. Aber in den meisten Fallen gelingt dies wenigstens nach 
dem Tode auf Grund einer eingehenden anatomischen und mikro- 
skopischen Untersuchung. 

DaB aber die Verh&ltnisse noch komplizierter gestaltet sein 
konnen, so daB beide pathologischen Prozesse, der der Arterio¬ 
sklerose und der der Paralyse, fur die Erkl&rung der Krankheits- 
erscheinungen in Frage kommen konnen, soli der folgende klinisch 
und anatomisch beobachtete Fall zeigen. Er ist femer deshalb 
interessant, weil es sich um eine Paralyse handelt, deren Beginn 
an die oberste Grenze des fur die Paralyse in Frage kommenden 
Alters f&llt, und weil auBerdem bei der Entstehung dieses para¬ 
lytischen Krankheitsprozesses auch traumatische Momente eine 
Bolle spielen. 


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Lampe. Arteriosklerose. Spatparalyse und Unfall. 


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Der Fall betrifft einen 64 jahrigen Kaufmann. 

Anamnese : Ueber irgendwelche erbliche Belastung ist nichts bekannt. 
Er war stets solide, fleifiig; Potus negiert. Dem behandelnden Arzte ist er 
seit 12 Jahren bekannt. Nach dessen Angaben hat er den Krieg 1870/71 
als Offizier mitgemacht und aller Wahrseheinlichkeit nach sich damals rait 
Lues infiziert. Als Kaufmann ist er immer sehr tuchtig gewesen, so daB mehr- 
fach sein Rat als kaufmannischer Sachverstandiger eingeholt wnrde. Im 
Verkehr ist er etwa seit den letzten 10 Jahren durch eine gewisse Redseligkeit 
und Geschwatzigkeit aufgefallen; Patient ist vorzeitig gealtert und leidet 
seit 4 Jahren an Diabetes mellitus, bei dem manchmal bis zu 4 pCt. Zucker 
nachgewiesen wurden. Im Mai 1911 erlitt Patient beim Uebersehreiten 
eines freien Platzes dadurch einen Unfall, daB er von einem Radfahrer im 
Riicken angefahren wurde und dabei heftig auf den Hinterkopf aufschlug. 
Patient war einige Stunden bewuBtlos und hatte eine Suggilation leichten 
Grades am Hinterhaupt davongetragen. Am folgenden Tage war er wieder 
vollig klar; doch war eine deutliche Amnesie fur die Ereignisse am vorher- 
gehenden Tage vorhanden. Mittags hatte Patient wiederholtes Erbrechen, 
und von hier an machte sich eine rechtsseitige Parese mit alien ihren 
Symptomen bemerkbar, die jedoch innerhalb weniger Tage wieder ver- 
schwand bis auf eine gewisse Schwache in der rechten Hand und eine ausge- 
sprochene Sprachstorung von aphasischem und artikulatorischem Charakter. 
Allmahlich fiel eine in Remissionen zunehmende Gedachtnisschwache auf; 
dazu kamen im Dezember Halluzinationen und Verfolgungsideen, ab- 
gelost durch Selbstiiberschatzung. Im Januar des Jahres 1912 erlitt Patient 
einen ,,apoplektischen Insult 44 mit nachfolgenden deliranten Erregungs- 
zustanden und nachtlicher Unruhe. Er wird deshalb am 19. II. 1912 in die 
Nervenheilanstalt eingewiesen mit der Diagnose: Progressive Paralyse. 

Korperlicher Befund: Mann von mittlerer GroBe, in leidlichem Er- 
nahrungszustande. Lymphdriisen nicht zu fiihlen. Puls hart, jedoch nicht 
besonders gespannt, 74. Arterien pulsieren sichtbar in der Schenkel- und 
Ellenbogenbeuge. 

Die Gesichtsmuskulatur gleichmaBig innerviert. Lippenbeben, 
Zuckungen und Flattem der Gesichtsmuskulatur beim Sprechen. 

Pupillen: mittelweit, leicht entrundet, reagieren auf grebes Licht fast 
gar nicht, ebensowenig auf Akkommodation. 

Zunge: wird stoBweise gerade hervorgestreckt, zittert lebhaft. 

Patellarreflexe: etwas herabgesetzt, ohne Differenz. 

Gang: keine Ataxie. 

Sprache: deutliches Silbenstolpern, Auslassungen, verwaschen und 
hesitierend. 

Psychischer Status : Bei der Aufnahme ist Patient lebhaft, redselig; 
erzahlt von seinen „Wolkenkratzern“ in Amerika. AeuBert auch sonst 
GroBenideen. Er fiihrt weder den Satz, noch die Gedanken zu Ende. Er 
gibt an, er sei soeben zum Major befordert worden. Verwickelt sich fort- 
wahrend in seinen Erzahlungen. So behauptet er, am schleswig-holsteinischen 
Feldzuge t<eilgenommen zu ha ben. Datum und Jahr vermag er nicht an- 
zugeben, ebensowenig Geburtsjahr und Geburtstag. Sein Alter gibt er riehtig 
an; behauptet, hier in einer Eisenfabrik zu sein. Er habe eben gesehen, wie 
30 Mann getotet worden seien; man habe sie in eine GuBrohre hineingesteckt. 

23. II. 1912. Ausgesprochene Stimmimgsschwankung; verkennt 
Personen. Patient ist nicht zu fixieren; sehr miBtrauisch. Auf Fragen gibt 
er keine Auskunft, sondem sagt: ,,Reden Sie keinen Unsinn! 44 Behauptet 
andauemd, er sei in einem Morderhaus. Hierher habe ihn sein Prokurist 
,, Judas Ischarioth 44 gebracht. Den Arzt scheint er als solchen nicht zu er- 
kennen. 

24. II. 1912. Verweigert die Nahrung. Auf eine Unterhaltimg 
laBt er sich nicht ein; schimpft vor sich hin, ist leicht gereizt. Die korperliche 
Untersuchung ergibt heute keine Abweichung von dem Befunde bei der 
Aufnahme. Vorubergehend angedeuteter Babinsky links. Korperlich seit 
gestem sehr hinfallig. Puls ist klein, 96. Temperatur 36,4. Er ist zeitlich 
und ortlich vollig desorientiert. Bringt seine Grofienideen auch jetzt noch 


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L a m p e . Arteriosklerose. Spatparalyse und UnfaU. 339 

zu8ammenhang8lo8 vor. Widerspricht man ihm, daB er Hauptmann der 
Reserve sei, so wird er grob und ausfallend. Er wolle jetzt wieder mit in den 
Krieg gehen, werde auch noch mehrere Hauser kaufen. Er sei nicht krank, 
habe viel Geld, hier wiirden Menschen ermordet. 

25. II. 1912. Patient ist ruhelos, wirft sich im Bett umher. Vor- 
mittags hat er noch etwas Nahrung zu sich genommen; nachmittags ist er 
plotzlich vollig verfallen. Temperatur 37,9. Puls 90, leicht unregelmaBig. 
4 Uhr 30 Min. stirbt Patient. 

Die Sektion durch Herrn Prof. Xauwerck ergibt: 

Schddelhdhle: Auf dem linken Scheitelbein eine etwa linsengroBe 
Exostose. Dio Dura haftet dem Schadeldach, besonders an dem Stirn- und 
hinteren Scheitelbein fester an. An der Tabula interna zahlreiche tiefe 
GefaBfurchen; in der Mitte ist diese etwas hirnwindungsartig, weiBlich ver- 
dickt. Die Dura ist diffus verdickt, ziemlich blutreich, etwas schlaff. Sinus 
longitudinalis enthalt wenig fliissiges Blut. Im Subduralraum wasserige 
Fliissigkeit; ziemlich viel Pacchionische Granulationen; hochgradige, 
diffuse Leptomeningitis chronica fibrosa der Konvexitat. Hydrops menin- 
geus, mittlere Venenfullung der Pia. Die Seitenventrikel sind leer. Carotis 
interna stark skierotisch mit Kalkeinlagerung. Auch die Vertebralarterien 
sind stark geschlangelt und sklerotisch. Hirngewicht 1370 g. Auch an der 
Basis bestelit ein leiehterer Grad von fibroser Leptomeningitis an Stirn- und 
Schlafenlappen. Weiter nach hinten ist die Pia zart. Die Basilararterien sind 
durchgangig. Die Pia laBt sich leicht und ohne Substanzverlust als koharente, 
fellartige Membran losen. Die Hirnwindungen sind zahlreich, im allgemeinen 
etwas schmal, aber ohne differentes Verhalten etwa im Stirnhirn. Die Hirn- 
oberflache ist nicht auffallend gerotet. Sehr zarte Ependymitis granularis 
im Seitenventrikel, am ehesten noch am Septum. Gegend der Stria termi- 
nalis leicht verdickt. Schnittflache des Hirnmantels feucht glanzend, etwas 
weich, ziemlich zahlreiche Blutpunkte. Rinde und Mark gut abgesetzt. 
Rinde blaB graurotlich. Keine Erweichungsherde im Marklager. Kleinhirn 
nach Form und GroBe normal. Ganz zarte Ependymitis granularis im 
4. Ventrikel, besonders im Recess us. Keine groben Arterienverkalkungen. 
Im Bereich der basalen Ganglien leichte Erweiterung der perivaskularen 
Lymphraume. Graue Substanz daselbst graurotlich, nicht auffallend dunkel. 
Augenhintergrund und Mitteloliren usw. ohne Befund. Auf der Riickseite 
des Ruckenmarkes erscheint die Pia iiber dem Dorsalmark leicht fibros ver¬ 
dickt. Die Arachnoi'dea enthalt ebenda einige liarte weiBliche Fleckchen. 
Vordereeite des Ruckenmarkes ohne Besonderheiten auf den Durchschnitten. 

Das Gehirn wurde iuis von Herrn Prof. Nauwerck zur mikroskopischen 
Untersuchung iiberlassen. Dazu wurden nach vorausgegangener Formol- 
hartung aus alien Hirnabschnitten Stticke entnommen und teils mit dem Ge- 
frier-Mikrotom, teils in Parafin geschnitten; einzelne Stiicke wurden auch 
nach weiterer Fixierung in Miillerscher Fliissigkeit in Celloidin eingebettet 
geschnitten. Es kamen aus alien Abschnitten des Gehirns Stucke zur L T nter- 
suchung, die mit Toluidinblau, nach van Gieson , mit der Weigertschen Glia- 
methode und der Weigertschen Markscheidenfarbungsmethode gefarbt 
wurden. Die Befunde waren folgende: 

Die Pia ist im mikroskopischen Bilde allenthalben verbreitert und ge- 
wuchert und zwar so, daB an dieser Verbreiterung nur zum Teil eine Ver- 
mehrimg und Verdickung der Bindegewebssepta beteiligt ist. Dieses ist 
besonders in den oberen Schichten der Pia der Fall. Die unteren Schichten 
der Pia enthalten in iliren Maschenraumen zahlreiche Kerne, und zwar ab- 
gestoBene Endothelien und PlasmazelJen. Auch die fixen Bindegewebskeme 
sind vermehrt. Die Oberflache der Pia ist stellenweise mit Kappen von 
mehrschichtig gewucherten Endothelien versehen, die an Endotheliom- 
bildung erinnem. Die groBeren GefaBe der Pia, sowohl Venen als Arterien, 
zeigen verdickte Wandungen; insbesondere sind die Adventitiaschichten 
bindegewebig verdickt und bilden mit den Balken der Pia zusammen oft 
starke Schwielen. Auch die Bindegewebskeme der auBeren und mittleren 
Wande der GefaBe sind vielfach stark vermehrt. Die elastische Membran 
ist haufig aufgesplittert und gespalten. Die Intima zeigt nur selten eine 


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Lamp©, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


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starkere Wucherung. Die GefaBe sind meist prall gefiillt. Manchmal finden 
sich Blutaustritte in den Maschen der Pia; manchmal sind die Piamaschen 
auch mit abgelagertem Pigment angefiillt. 

In der Hirnsubstanz selbst sollen zunachst die Gefdfie beschrieben 
werden. Die RindengefaBe sind meist sehr prall gefiillt, so daB man auch 
schon bei schwacher VergroBerung liberal 1 die Kapillaren sehr stark hervor- 
treten sieht. Im iibrigen finden sich in den GefaBen zweierlei Veranderungen 
namlich 1. chronische; das sind bindegewebige Verdickungen der kleineren 
und kleinsten GefaBe, so dafi bei der van Gteson-Farbung breite, rote Flecken 
und Streifen schon bei schwacher VergroBerung deutlich hervortreten. Bei 
starkerer VergroBerung sieht man an solclien GefaBen das Bindegewebe ver- 
dickt. die Kerne vermehrt, und zwar hauptsachlich die spindelformigen und 
linearen Kerne. Man kann an einzelnen Prakapillaren sehr deutlich die Wand- 
verdickung verfolgen. Dann erscheint das Lumen des GefaBes erst in 
normaler Weite; von einem gewissen Punkte an wird es weiter, die Wand 
breiter, oft aufgespalten, die Bindegewebskerne in diesem Abschnitte ver¬ 
mehrt. Nur an einzelnen GefaBen, besonders in der obersten Rindenschicht 
und unter dem Ependym fehlt diese Kernvermehrung, und die verbreiterte 
GefaBwand erscheint in der bekannten leuchtenden roten Farbe der hyalinen 
Entartung und ist fast kernlos. Auch im Riickenmark findet man solche 
stark verdickte GefaBwande, die sich oft in breiten Flecken und Streifen 
durch die ganze Substanz ziehen, ohne daB zwischen grauer und weiBer 
Substanz hierin ein durchgreifender Unterschied besteht. Auch an den 
feineren GefaBen und an vielen Kapillaren, die wegen ihres geringen Gehaltes 
an Bindegewebe sich nicht durch eine starke Rotfarbung im van Gieson - 
Praparat erkennen lassen, zeigt sich bei starkerer VergroBerung vielfach eine 
Vermehrung der linearen und lanzettformigen Bindegowebskerne, so daB 
kleinste GefaBe (Kapillaren und Prakapillaren) auf dem Durchschnitt oft 
6—8 solche Kerne, also eine unverhaltnismaBig groBe Zahl derselben er¬ 
kennen lassen. An einzelnen Stellen sind auch deutliche Schlangelungen 
und Varicenbildungen der GefaBe, namentlich im Mark, zu erkennen, in denen 
hier auf dem Querschnitt 2—3 durch Bindegewebe eng miteinander ver- 
bundene GefaB lumina erscheinen. 

Diese clironischen Veranderungen finden sich nicht nur in den obersten 
Rindenschichten an den aus der Pia eintretenden GefaBen, sondem auch an 
den langen GefaBen der Markkegel, in den tieferen Markschichten, in den 
Stammganglien, im Hirnstamm und selbst im Riickenmark. Namentlich im 
Riickenmark sind einzelne Stellen besonders aus der grauen Substanz sehr 
charakteristisch. So sieht man im Lendenmark unmittelbar neben dem 
Zentralkanal eine Vene, in einer erweiterten Lymphscheide liegend. Die 
Media dieser Vene ist verdickt, noch mehr aber die Adventitia, so daB die 
ganze erweiterte Lymphscheide von kemreiehen Bindegewebsfasern aus- 
gefiillt wird. Aehnliche Befunde sieht man vielfach auch an den GefaBen 
innerhalb der grofien Glia-septa der weiBen Substanz. 

Die andere Gruppe von GefaB veranderungen kann kurz zusammen- 
gefaBt als die typisch-paralytische bezeichnet werden, d. h. es finden sich 
an mittleren und feinsten GefaBchen die Lymphscheiden manchmal vollig 
ausgefiillt und vollgepfropft mit Exsudat- und Infiltratzellen, so daB die be¬ 
kannten Bilder der Kernmantel um die GefaBe zustande kommen. Manch¬ 
mal, namentlich bei Kapillaren und Prakapillaren, sindes auch nur einzelne 
wenige Plasmazellen, welche sich in der sonst freien Lymphscheide befinden. 
Oft sind diese Kernmantel 2—3 mal so groB als das von ihnen eingeschlossene 
GefaB. Bei der genaueren Untersuchung mit Toluidinblau oder mit der 
Paqypenheimschen Farbung findet man reichliche Plasmazellen in Haufen 
oder vereinzelt in den Lymphscheiden, daneben Lymphozyten und Kerne, 
die wohl den Adventitiazellen zugehoren. Gelegentlich, namentlich an den 
kleineren Venen des Markes sieht man auch am auBeren Rande der Lymph¬ 
scheide reihenweise gestellte Gliakerne, die aber nicht in immittelbarem 
Zusammenhang mit dem iiorigen Infiltrat der Lymphscheide stehen. Endlich 
ist das Auftreten zahlreicher Pigraentkernchen teils hamatogenen, teils 
lipoiden Ursprungs in den Lymplischeiden zu erwahnen. DaB darunter auch 


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Lampe, Arteriosklerose. Spatparalyse und Unfall. 


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lipoide Abbauprodukte sind, zeigt die Farbung mit Sudan III, die in den 
Lymphscheiden eine Menge lebhaft rot gefarbter Massen, teils in Zellen ein- 
geschlossen, teils extrazellular erkennen laBt. Weiter finden sich namentlich 
in der Rinde entsehieden neu gebildete Kapillaren rait diinner Wand und 
endlich, teils in Begleitung diinnwandiger Kapillaren, teils scheinbar frei 
im Gewebe, zahlreiche Stabchenzellen. Bei genauerer Untersuchung erkennt 
man, daB die scheinbar frei im Gewebe liegenden Stabchenzellen haufig zu- 
grunde gehenden oder gegangenen Kapillaren angehoren. Denn man kann 
an solchen GefaBchen eine Strecke weit gute Wandungen mit Kemen und 
intaktem Blutinhalt erkennen; dann wird die Wand undeutlich, die ganze 
Kapillare schattenhaft; man sieht keine Endothelkeme mehr und nur noch 
die sofort durch ihre Lange auffallenden, diinnen, linearen Gebilde oder 
Stabchenkerne. Die paralytischen GefaBveranderungen sind liber das ganze 
Gehim verbreitet, nicht nur in der Rinde, sondern auch in den tieferen 
Schichten, z. B. im Pons und im Riickenmark. 

tJber das Verhaltnis beider Veranderungen zueinander ist folgendes 
zu sagen: 

An einer groBen Anzahl mittlerer und kleinster GefaBe kann man 
neben dem starken paralytischen Infiltrat der Lymphscheide eine chronische 
Veranderung der GefaBwande nicht erkennen. Bei anderen, feineren GefaB- 
chen mit weniger reicher Anfiillung der Lymphscheide zeigt sich die Wand im 
iibrigen vollig intakt und nur einige Plasmazellen langs der Wand oder in der 
Lymphscheide vorteilt. Daneben aber findet man eine groBe Anzahl anderer 
mittlerer und kleinster GefaBe, bei denen chronische Veranderungen der 
oben beschriebenen Art zu erkennen sind, in Gestalt von Verdickung der 
Wande und Vermehrung der Bindegewebskerne. Aber neben diesen 
chronischen Veranderungen sind die paralytischen gleichfalls ausgesprochen, 
so daB zwischen den Bindegewebsbiindeln der verdickten Adventitia Plasma¬ 
zellen und Lymphozyten eingelagert sind. Auch an feineren GefaBen der 
Rinde, die bei schwacher VergroBerung mit der van Gieson-F arbung als ver- 
dickte, rote Strange erscheinen, kann man bei genauer Untersuchung mit 
der starkeren VergroBerung erkennen, wie neben den langlichen und lanzett- 
formigen Bindegewebskernen in der Lymphscheide und an der GefaBwand 
vereinzelte oder zahlreiche Plasmazellen liegen. Nicht immer sind beide Ver¬ 
anderungen gleichmafiig verteilt, sondern man hat den Eindruck, besonders 
in der Rinde, daB einzelne mittlere GefaBe und ihre samtlichen Verzweigungen 
von den arteriosklerotischen Veranderimgen, andere von den paralytischen 
Veranderungen befallen sind oder frei bleiben, wahrend wieder an anderen 
Gruppen beide Veranderungen vorkommen. 

Die Glia ist ziemlich gewuchert, ohne daB dariiber etwas besonders 
Auffalliges zu berichten ist. Besonders starke Gliawucherungen finden sich 
an der Rinde unterhalb der Pia in Gestalt eines verbreiterten ziemlich 
grobfaserigen Filzes, in dem bei der Weigert -Farbung zahlreiche sehr starre 
Fasern und zahlreiche unechte Spinnenzellen vorkommen. Dieser Faserfilz 
begleitet auch die RindengefaBe auf weite Strecken in den tieferen Schichten. 
Um die starker erkrankten GefaBe findet man zahlreiche Spinnenzellen in 
alien Stadien der Entwicklung. Aehnlich stark verdickt ist der subependy- 
male Gliafilz. DaB die Gliakerne langs dem feineren Mark fehlen, reihenweise 
vermehrt und aufgereiht sind, wurde schon oben erwahnt. In den obersten 
Rindenschichten und unter dem Ependym, ferner auch in der Ammons- 
homrinde findet man zahlreiche Kolloidkorperchen. Erwahnt mag an dieser 
Stelle noch eins werden, dafi in einem Abschnitt des Riickenmarkes (Hals- 
und oberes Brustmark) der Zentralkanal deutlich verdoppelt ist, und daB 
beide Kanale von einem vollstandigem Epithelring ausgekleidet sind. Die 
Markfasern sind in maBigem Grad dezimiert, doch so, daB noch Tangential- 
fasern erhalten sind. Etwas Besonderes ist dariiber nicht zu sagen. Im 
Riickenmark finden sich nur in der Pyramidenseitenstrangbahn einige 
grobere Faserausfalle, wahrend in den Himstrangen solche nicht deutlich zu 
erkennen sind. Nur sind hier die Gliasepta wohl etwas verbreitert. 

Die Nervenzellen zeigen in der Rinde iiberall noch die richtige Reihen- 
anordnung, wie iiberhaupt die Rindenstruktur vollig erhalten ist. Im 


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Lamp©. Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


einzelnen sind Kerne und Kemkorperchen der Rindenzellen meist erhalten, 
die Zellen selbst teils intakt, teils stark geschrumpft. Im Zellleib findet sich 
durchweg viel Pigment, das bei der Sudan-Far bung noch starker hervortritt, 
so daB oft zwei Drittel des Zellleibes davon eingenommen werden. 

Zitsammenfassung: Auf korperlichem Gebiete Pupillenstarre, 
herabgesetzte Patellarreflexe und Sprachstorung. Dazu kommen 
im psychischen Verhalten: GroBenideen, Urteilsschwache, Merk- 
fahigkeitsstorung, Gedachtnisschwache und Stimmungsschwankung. 
Diese Symptome sprechen fur eine progressive Paralyse; doch ist 
wegen vorgeriickten Alters, der absoluten Pupillenstarre und der 
Zeichen von peripherer Arteriosklerose auch an eine ateriosklero- 
tische Erkrankung des Gehims zu denken. Aehnliche Falle be- 
schreibt auch L. W. Weber aus der Gottinger Anstalt, die nach 
Lebensalter, psychischem wie korperlichem Befund anfangs wohl 
die Diagnose Paralyse vollig rechtfertigten, bei denen man aber 
spater, zum Teil aus dem weiteren klinischen Verlauf, dem Auf- 
treten von herdformigen Ausfallssymptomen, zum Teil durch den 
Sektionsbefund und durch die mikroskopische Untersuchung ge- 
zwungen war, die Diagnose auf Arteriosklerose richtig zu stellen. 
Auch Schob schildert einen ahnlichen Fall, allerdings in jugend- 
licherem Alter, der auch erst nach der Sektion mikroskopisch auf- 
geklart werden konnte und bei dem dann ebenfalls die intra vitam 
gestellte Diagnose progressive Paralyse in arteriosklerotisch be- 
dingte Erkrankung des Gehirns umgewandelt werden muBte. 

Auch wir haben einen ahnlichen Fall beobachtet: 

Ein Buchdruckereibesitzer war seit 2 Jahren peychisch verandert 
und bot allmahlich die psychischen und korperlichen Symptome einer 
progressiven Paralyse; nebenbei trat zeitweilig der amnestische Sym- 
ptomenkomplex in den Vordergrund, und es fand sich beidei seitige Stauungs- 
papille. Die Sektion ergab aber keine Paralyse, dagegen diffuse arterio- 
sklerotische Veranderungen der kleineren GefaBe und ihrer Verzweigungen 
und multiple miliare Erweichungsherde durch das ganze Gehim verstreut. 

Es mag dabei offen gelassen werden, ob diese diffuse Er¬ 
krankung der GefaBe auf dem Boden einer Lues entstanden war, 
wofiir der positive Wassermann sprach. Um eine echte Himlues 
handelt es sich jedenfalls nicht. In klinischer Beziehung war der 
Fall von der Paralyse insofem abweichend, als er durch den zeit¬ 
weilig vorhandenen Korsakoffschen Symptomkomplex kompliziert 
war. Man wird bei der Differentialdiagnose zwischen Arteriosklerose 
und Paralyse nicht allzu viel Gewicht auf die Unterscheidung 
zwischen isolierter Lichtstarre und absoluter Starre legen diirfen; 
denn daB in vielen Fallen echter Paralyse absolute Starre vorkommt, 
erscheint nach der Literatur, wie nach unserer Beobachtung zweifel- 
los. Fraglich ist nur. ob nicht im vorliegenden Falle (und in vielen 
anderen Paralysefallen, die nicht so genau anatomisch untersucht 
wurden) das Hinzutreten der Akkommodationsstarre zu der reinen 
Lichtstarre lediglich eine Erscheinung des Endausganges der 
Paralyse ist oder durch das Hinzutreten einer diffusen Arterio¬ 
sklerose zu dem paralytischen HirnprozeB bedingt ist. Man wird 
aber in jedem Falle, ob rein oder kombiniert mit akkommodativen 


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Lampe, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


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Storungen, den Verdacht der Paralyse hegen miissen. Von 
Wichtigkeit fiir die Differentialdiagnose ist dann eine genaue Be- 
obachtung dariiber, ob die Pupillenbefunde und die Formen der 
Pupillen konstant oder schwankend sind. DaB Entrundung fiir 
Paralyse spricht, betont auch Hoche in seiner neuesten Arbeit. 
Das Schwanken aller Pupillenbefunde (Entrundung, Licht- oder 
akkommodative Starre) wird im allgemeinen mehr als charakte- 
ristisch fiir die Hirnlues bezeichnet; aber die Beobachtung von 
Landsbergen aus der Cramerschen Klinik zeigt, daB das wechselnde 
Verhalten der Pupillenbefunde auch bei Kombination von Paralyse 
und Hirnlues vorkommt. Auch bei der diffusen Arteriosklerose 
sind die Pupillenbefunde nicht so konstant wie bei der Paralyse. 
Endlich ist darauf hinzuweisen, daB genau regelmaBig wiederholte 
Beobachtungen auch bei der echten Paralyse nicht nur in den An- 
fangsstadien, sondern iiber langeren Verlauf hin einen Wechsel der 
Pupillensymptome ergeben. Gerade bei unserem Chemnitzer 
Material wurden wiederholt Falle beobachtet, bei denen zeitweise 
die Pupillen wieder auf Licht und Akkommodation reagierten, so- 
wohl wahrend des Weiterfortschreitens der Erkrankung als in 
Remissionen, wahrend der klinische Verlauf, der positive Wasser- 
mann im Blut und in der Lumbalfliissigkeit und in einzelnen Fallen 
auch spater die Sektion das Vorhandensein einer typischen Paralyse 
ergaben. Nur wo dauernd die Pupillenreaktionen intakt bleiben, 
wird man die Diagnose Paralyse in Zweifel ziehen miissen und 
immer wieder auf eine andere Erkrankung (Tumor, Lues, Arterio¬ 
sklerose) fahnden miissen, auch wenn die iibrigen klinischen 
Symptome fiir Paralyse sprechen. Die iibrigen, korperlichen 
Symptome — Sprachstorung, herabgesetzte Patellarreflexe — 
sind nicht so charakteristisch, daB wir sie zur Differentialdiagnose 
heranziehen konnten. 

Dagegen gibt das Alter des Kranken AnlaB zu einigen Be- 
merkungen. Er stand bei Beginn der Erkrankung im 64. Lebens- 
jahr. Das spricht im allgemeinen mehr fiir Arteriosklerose oder 
prasenile Demenz, als fiir Paralyse, denn es ist bekannt, und alle 
einschlagigen Statistiken bestatigen dies, daB das Pradilektions- 
alter der Paralyse unter dem 50. Jahre liegt, daB dariiber hinaus 
und namentlich jenseits des 60. Jahres die Paralyse zu den Selten- 
heiten gehort. Bei unserem Kranken ist auch die lange Inkubations- 
zeit auffallig. Wie wir bei Vervollstandigung unserer Anamnese 
erfuhren, hat Patient seit 1874 in auBerst gliicklicher Ehe gelebt; 
er ist immer sehr solid gewesen und hat sich seit seiner Ver- 
heiratung wahrscheinlich nicht mit Lues infiziert, soweit bei 
solchen Fragen iiberhaupt eine Feststellung moglich ist. Da ist 
man berechtigt, anzunehmen, daB die Infektion wahrend des Krieges 
1870/71 stattgefunden hat. Es ware dann aber zwischen ihr und 
dem Ausbruch der Paralyse immerhin eine Zeit von 40 Jahren ver- 
strichen. Wie wir aus den Arbeiten vieler Autoren, besonders 
aus denen von Kraepelin , Junius und Arndt wissen. betragt die 
Zwischenzeit zwischen Ansteckung und Paralyse gewohnlich 10 bis 


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Lampe, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


15 Jahre. Aus diesen Arbeiten, besonders bei Kraepelin, ersieht 
man auch, daB die kiirzeste Zwischenzeit 3 Jahre, wahrend der 
langste beobachtete Intervall 30 Jahre, nach Olivier sogar 44 Jahre 
betragen kann. Es wiirde sich demnach auch bei unserem Kranken 
um eine Paralyse mit auBergewohnlich langer Inkubationszeit 
handeln. Doch scheinen heute schon mehrfach derartige Falle be- 
obachtet zu sein, denn auch Matauschek und Pilcz haben in ihrer 
Statistik iiber 4134 katamnestisch verfolgte Falle von luetischer 
Infektion zwei Falle von Paralyse nach 39 jahriger Zwischenzeit. 

Von den psychischen Symptomen stehen in unserem Falle im 
Vordergrunde des Krankheitsbildes die GroBenideen, die ja nach 
der Auffassung der meisten Autoren wenigstens fiir die expansive 
Form der progressiven Paralyse etwas Charakteristisches haben. 
Wir wissen, daB sie sich auszeichnen durch die Kritiklosigkeit, 
mit der sie vorgebracht werden, durch einen hohen Grad von Ur- 
teilsschwache und durch ihre Unbestandigkeit, sowie durch ihre 
suggestive BeeinfluBbarkeit. 

DaB aber auch bei der arteriosklerotischen Psychose GroBen- 
ideen vorkommen, wissen wir besonders durch Weber, der fiir sie 
auch die wesentlichen Unterschiedsmerkmale im Gegensatz zur 
Paralyse festgesetzt hat. Er fand bei seinen Fallen von Arterio¬ 
sklerose, daB die GroBenideen dem Berufsleben und dem speziellen 
Vorstellungskreis seiner Kranken entnommen waren, und meint, 
daB sie gerade nur dann als solche angesehen werden konnen, wenn 
man die ganze Sachlage, die komplizierten Verhaltnisse innerhalb 
dieser Berufsstande beriicksichtigt. Ihm schlieBt sich Nonne und 
in neuerer Zeit auch wieder Spielmeyer an. Er halt die GroBen¬ 
ideen der Arteriosklerotiker fiir wenig suggestiv zu beeinflussen 
und hat gefunden, daB bei diesen Kranken auch bei hochgradigster 
Erregung fast immer das PersonlichkeitsbewuBtsein, ,,der Kern 
der Personlichkeit" erhalten bleibt. In unserem Falle passen die 
GroBenideen weniger in das Bild einer Paralyse als in das einer 
Arteriosklerose. Wenn Patient von seinen ,,Wolkenkratzern“ er- 
zahlt, so muB man beriicksichtigen, daB Patient friiher in sehr 
guter Vermogenslage gelebt hat, und daB er selbst Hausbesitzer 
gewesen ist. Auch seine anderen Wahnideen erklaren sich vollig 
aus seinem Vorstellungskreis; so hat er einmal angegeben, er sei 
Major a. D. Auch diese Idee ist aus seinem Berufsstande, da er 
Reserveoffizier war, sehr leicht zu erklaren. 

Die Urteilsschwache haben wir schon bei Besprechung der 
paralytischen GroBenideen erwahnt. Nach den meisten Autoren 
ist gerade sie eine schon sehr friih sich bemerkbar machende 
Storung in der Verstandnistatigkeit der Paralytiker; schon ganz 
im Beginn der Krankheit, wenn noch die meisten anderen Sym- 
ptome fehlen, bemerkt man Auslassungen in der Schrift, Um- 
stellung von Buchstaben, Fehler, die dem Kranken durchaus nicht 
auffallen. Auf dieser Grundlage bauen sich dann auch die Wahn- 
vorstellungen der Paralytiker auf. Beim Arteriosklerotiker ist man 
aber manchmal iiber sein gutes Urteil bei anscheinend schon hoch- 


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Lampe, Arteriosklerose. Spatparalyse und Unfall. 


345 


gradiger Verblodung hochst erstaunt. Bei ihm ist die Urteils- 
schwache mehr zirkumskript und auch dann nicht so hochgradig, 
daB man von einer eigentHchen Kritiklosigkeit sprechen konnte. 
Manchmal besteht sogar eine, wenn auch nur affektlose Krankheits- 
einsicht, die doch immerhin noch auf einen gewissen Grad Urteils- 
kraft hindeutet. Weber kommt daher zu dem Resultate, daB bei 
der Arteriosklerose ,,in der Mehrzahl der Falle eine gewisse Krank- 
heitseinsicht vorhanden ist, ohne daB bei sonst erhaltener Urteils- 
fahigkeit mit dem entsprechenden Affekt darauf reagiert wird“. 
Darum paBte der beschriebene Fall auch wieder mehr in das Bild 
der arteriosklerotischen Seelenstorung. So hat Patient noch bis 
kurze Zeit vor der Einlieferung in dieAnstalt seinenBerufsgeschaften 
leidlich nachgehen konnen, wozu doch immerhin auch noch ein 
gewisser Grad von Urteilskraft gehort. Er hat noch ein ausge- 
sprochenes PersonlichkeitsbewuBtsein bis zum Ende der Krankheit 

Die Sektion ergab neben den Anzeichen von Arteriosklerose 
deutliche paralytische Veranderungen. Ich begniige mich mit einer 
kurzen Aufzahlung; es fand sich: Leptomeningitis chronica, 
Ependymitis granularis, leichte Arteriosklerose, Verdickung des 
Schadeldaches, Verdickung der Dura, Hydrops meningeus und Him- 
atrophie. 

Die W assermannsche Reaktion wurde wahrend der Krankheit 
des Patienten nicht mehr gemacht; aber bei der Sektion wurde zu 
diesem Zwecke Blut entnommen, und die Reaktion fiel positiv aus. 
Ihre Bewertung fiir die Diagnosestellung der Paralyse steht heute 
wohl einwandsfrei fest. Eichelberg bemerkt allerdings, daB diese 
Reaktion nicht als spezifisch fiir Syphilis zu bezeichnen sei, da sie 
auch bei anderen Erkrankungen positiv ausfalle, worauf auch eine 
Beobachtung von Bittorj und Schidorski hinweist. 

Von verschiedenen Seiten ist auch auf den lumbalen Wasser- 
mann als diagnostisches Hilfsmittel bei arteriosklerotischer, 
syphilitischer und metasyphilitischer Erkrankung des Nerven- 
systems hingewiesen worden. Als eine Erfahrung der Praxis aber 
mochte ich die Tatsache verzeichnen, daB gerade bei Arterio- 
sklerotikem, gelegentlich auch bei Senilen die Lumbalpunktion 
haufig versagt insofem, als es nicht moglich ist, trotz Eindringens 
der Nadel in den Vertebralkanal Fliissigkeit zu erhalten. Woran 
dies liegt, weiB ich nicht. Auch die Rolle des Blut-Wassermanns 
bei der uns hier interessierenden Differentialdiagnose ist nicht in 
alien Fallen eine ausschlaggebende, denn wir wissen heute, daB auf 
dem Boden einer syphilitischen Infektion leichter auch eine ge- 
wohnliche Arteriosklerose zu Stande kommen kann, die nichts 
Syphilitisches an sich hat und nicht einmal histologisch als 
syphilitischer oder metasyphilitischer Natur angesprochen werden 
kann. Der positive Blut-Wassermann sagt uns also in solchen 
Fallen, daB der Kranke einmal Lues gehabt hat, aber nicht, ob die 
jetzt bei ihm vorhandene organische Gehimerkrankung luetischer, 
paralytischer oder arteriosklerotischer Natur ist. 


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steik'tt. dai.5 sntyh Idiniseh zwciftdhaiV Kvatikbc-ilsbild,-! badim-h 
■ iife Paralyse fpsda«;srelit warden. ' Bei *U>n»- vw , ik , ift'Utivn -Falle 



d*-r Gev.(>bsmrts<-heri «r»d Hie ken mid des iVivi bt 4 * delhtd. mit ab 
^kIoBohou- Endothelial, Lympbr>xyten und plas!«iazel!en ; BmTs 
dnreb Verdipkimu nnd Yrmitdirmig dev lihKlege\veb'd'aM?rn zn- 
stande knrnjsit. f dtnebi <t linden sk-li an de v Id;), vielfneh die KAj*|k*iv 
voo gevvnehcrtrm K’lidolhel. aid die frown- wnlil /.a>H’.st bei seiner 
Ik’seluvibungcl«?r pin^lvtisvltc-n Befniiile liinircrVivM’H hat Mankk-lit 

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tiWtaW’D iJfcdai&fcSn tier 1%. ■' 


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Lampe. Arteriosklerose. Sp&tparalyse und Unfall. 347 

diese ganz charakteristischen Gebilde namentlich auf der Hohe 
der Windungen, die oberste Sohicht der Pia wie eine Kappe be- 
deckend. Fig. 1. Sie bestehen aus mehrschichtig auf einander 
gelagerten Endothelien und haben das Aussehen beginnender 
Endotheliome. An den GefaBen der Pia konnen wir eine pralle 
Fiillung und zahlreiche Blutaustritte und deren Uberreste in Ge- 
stalt von Pigment in ihrer Umgebung in den Maschen der Pia nach- 
weisen. Der ganze Befund an der Pia deutet also darauf hin, daB 
sich hier teils eine chronische Veranderung, teils ein akuter Ent- 
ziindungsprozeB abgespielt hat. 

In der Hirnsubstanz selbst haben wir drei Gruppen von Be- 
funden zu unterscheiden: Einmal die an den GefaBen, sodann die 
Veranderungen am Gliagewebe und schlieBlich die an den Nerven- 
zellen und Fasem selbst. Die pathologischen Prozesse an den Ge¬ 
faBen sind deutlich paralytischer Natur; die GefaBscheiden sind 
vollgepfropft mit Zellen, unter denen man Plasmazellen, Lympho- 
zyten und gewucherte Adventitiazellen unterscheiden kaim. Femer 
finden sich zum Teil in der Begleitung neu gebildeter, diinn- 
wandiger Kapillaren, zum Teil iiber das ganze Gewebe zerstreut 
zahlreiche Stabchenzellen, deren Auftreten Kraepelin fiir bedingt 
halt durch den paralytischen KrankheitsprozeB und deren Ur- 
sprung aus den Adventitiazellen fiir ihn sichersteht. Die Verande¬ 
rungen an der Glia, namlich eine grobfaserige unregelmaBige 
Verdickung des subpialen und perivaskularen Faserfilzes unter 
Beteiligung zahlreicher in alien Stadien der Entwicklung und Riick- 
bildung befindlicher Spinnenzellen weist ebenfalls auf die Paralyse 
hin, wenn auch von einem absolut charakteristischen Befunde hier- 
bei nicht gesprochen werden kann. Ebenso verhalt es sich mit den 
Veranderungen im eigentlichen Nervenparenchym. Wir sehen an 
den Nervenzellen neben erhaltenen Elementen alle Formen und 
Stadien des Unterganges, und die Markfaserung zeigt die Ausfalle 
im tangentialen und supraradiaren Fasersystem, welche man friiher 
fiir ausschlieBlich charakteristisch fiir die Paralyse hielt, von denen 
man aber heute weiB, daB sie vielleicht graduell verschieden bei 
alien chronischen Gehimerkrankungen vorkommen. 

Es kann also nach dem Ergebnis dieser mikroskopischen Be¬ 
funde kein Zweifel sein, daB bei dem Verstorbenen eine echte Para¬ 
lyse vorgelegen hat, und zwar war sie, um dies gleich hier zu be- 
merken, in sehr ausgedehnter Weise iiber das gesamte Gehim ver- 
breitet; denn im Gegensatz zu vielen anderen Fallen fand sie sich 
nicht nur in der Rinde des Stimhims, sondem in alien Teilen der 
GroBhimrinde und ihres Markes und in den hinteren Abschnitten, 
namentlich im Himstamm bis in die Medulla oblongata hinein. 
Die Veranderungen, namentlich an den GefaBen, sind weiter sehr 
intensive und weisen im allgemeinen auf einen noch in voller Blute 
stehenden KrankheitsprozeB hin. 

Neben diesem typisch-paralytischen Befund bestanden aber die 
Zeichen einer ausgesprochenen diffusen Arteriosklerose der Himge- 
gefaBe nicht nur makroskopisch, sondern auch bei mikroskopischer 

Monatwohrlft f. Psychiatric jl Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 6. 23 


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348 




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banflnffc. i 1 rt.fi fornw fwiftHtaaif i»«dm rv<te»»is<? fdviVa. »rm ^rw-v.ifisob 



K*:vn- ehm{ FaseatymiivHrujjg an tier Media and Adventitia, IV 
senders sohdn swdn .man dies an (fen vam 'ait^m-fVaparafen \m 



Arteviouklarost dttrip.lt ikr g«'ge.n»nitig<^ Anfmnanderwirken. an* 
sohtuiiend nicht erffthren. \Vir linden Aart-fet Und dire Vcrzmn* 



Fig. •-’. Fig. 3. 

Kleinem GeinSeheti uus tier Vt'rdicktirtg dw W'twiil, Vermbhruitg 

d<5T BrndegeweV.iskerjis; van (7u-«nri- Fftrliaiiir. 





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Bmd(?gpwcbf?ferhe f'Jasistaielten an d^r Uefii(iw%w4 «n<i ire tyttiph- 
ranm aut'treten (Fig. 4 nud 5J, und su.dyn WtSrkvrvn (lefaLten wieht 
iviiui zwi.sclw'u den derbc-ii Sindegtnvd^bfti^bbi die para!yii*eh£n; ; 
Infiltrate dot Lymphoayteh urul Pla^mayellcn emgelagert i.wlor «ueh 
die fixen i H- wehszeiien, narnentlieh die advent it i;ti>: ji Kk riiente 
in iebhal'ter; "VVneliei uu.g bygrdfen. ps. Hchotni also die An- 
vesenhed emer cluonUehen atiennsklt-iniiseheij ‘ PkvfaUwdarlung 
kem Hindernis «« Hein fiir die pf Hhlieriing eu-en geflt jnwalyimhen 
EokratdUingK[MX>?;eHiHS ate {iiimdbdb tlefalhvu nil:. • yUtn-ny - ’d'afi es 
kidi liter urn die /on belt spitfire Fntwu-kbmg 4*?r Paralyse in dear 
ehroniseh lauger von der' dd’ftjHen ArK-rVosklerov.- Wallunhn' Gr- 
hivfi handed. vrscheihi naeh drtn garden Behind srn wahrstliein- 
liehBten. E* fcamu aueh aulkv dieser Kfklarung nuv nueii die sane 
Mbgliehkvit in Bctraeht, dali \\'it ex kit e unit eiiiyr alteren Paralyse 
vnri rhumiselmro \Vrhuif ?.u tun hivhen, hei der t* v.u zqidrek-hen: 
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imimnehmbar, vvei! mhlmehca frfeche. |turaiyt.iBehe Ver&nderuugeu 
bur au linden Hind, und wail trot* tier imugen Koto hi nation bonier 

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weiseiv kdtmnu at« die veryin^eltvn Bid unde iryis keti gobikinten und 


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D 






350 Lampe, Arterioskleroae, Spfttparalyse und Unfall. 

wieder zugrunde gehenden Kapillaren und den sie begleitenden 
Stabchenzellen. DaB die Annahme einer auf dem Boden bereits 
vorhandener diffuser Arteriosklerose nachtraglich entstandenen 
akuten Paralyse auch aus dem klinischen Verlauf gestiitzt werden 
kann, soil nachher noch gezeigt werden. Hier sei nur auf das histo- 
pathologische Interesse, das dieser Befund beanspruchen kann, 
verwiesen. 

Wenn somit die makroskopischen imd mikroskopischen Unter- 
suchungen eine innige Mischung von alteren arteriosklerotischen 
und frischeren paralytischen Veranderungen ergeben haben, so 
brauchen wir ims nicht zu wundem, daB unsere differential- 
diagnostischen Erw&gungen nicht hindurchfanden. Es sei aber hier 
noch auf einige Fragen der Entstehung und des Verlaufes dieses 
Krankheitsfalles hinge wiesen, die ebenfalls durch den anatomischen 
Befund naher beleuchtet werden. 

tJnser Patient war 64 Jahre alt. Er stand also immerhin in 
einem Alter, in dera die Paralyse auBerst selten ist. Es sind bisher 
nach den Statistiken immer nur sehr wenig mannliche Patienten, 
die in dem Alter von 60—65 Jahren erkranken. Das sagen sowohl 
Kraepelin wie auch Junius und Arndt, deren Zahlen in neuerer Zeit 
auch wieder von Pilcz und Matauschek bestatigt werden konnten. 
Nach diesen Statistiken nimmt ungefahr vom 50. Lebensjahr die 
Zahl der Paralysefalle sowohl absolut ab, als auch beziiglich des 
Uberwiegens des mannlichen liber das weibliche Geschlecht, so daB 
z. B. nach der Statistik von Junius und Arndt vom 60. Jahre ab 
nur noch 9 Paralysen vorkommen, unter denen 6 mannliche, 
3 weibliche sind. Es ist also schon nach dieser Bichtung der Fall 
von besonderem Interesse, weil er eins der wenigen Beispiele dafiir 
ist, daB auch in so hohem Lebensalter noch das voll entwickelte 
klinische und anatomische Bild der Paralyse auftreten kann. 
Bemerkenswert ist dann weiter die auBerordentlich lange Zwischen- 
zeit zwischen luetischer Infektion und Ausbruch der Paralyse. 
Nach unserer Annahme lagen also zwischen Infektion und Aus¬ 
bruch der Paralyse ein Zeitraum von etwa 40 Jahren und es wiirde 
sich also um eine Inkubationszeit von dieser Dauer handeln. 
DaB dies moglich ist, wird auch von Kraepelin zugegeben, wenn 
er auf Olivier mit seinem Fall von 44 jahriger Inkubationszeit hin- 
weist, und neuerdings wird es auch wieder von Matauschek und 
Pilcz best&tigt. 

DaB eine luetische Grundlage auch bei unserem Patienten vor- 
handen ist, beweist uns der positive Blut-Wassermann, iiber dessen 
Bewertung wir ja schon gesprochen haben. Doch konnen wir sie 
nicht allein verantwortlich machen; wir miissen bei der Ent¬ 
stehung dieser Paralyse auch den Unfall im Mai 1911 beriick- 
sichtigen. DaB wie andere Sch&dlichkeiten auch traumatische 
wenigstens eine Paralyse auslosen konnen, scheint sicher zu sein; 
wenn man aber einen solchen Zusammenhang annehmen will, so 
miissen die oben erwShnten Voraussetzungen erfiillt sein. Dazu 
gehoren der Nachweis, daB vorher keine paralytischen Symptome 


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L a m p e . Arteriosklerose, Spiitparalyse und Unfall. 351 

vorhanden waren, eine gewisse zu Kommotionssymptomen 
fiihrende Intensit&t des Unfalles, eine verh&ltnism&Big kurze 
Zwischenzeit zwischen Unfall und Ausbruch der Psychose und in 
manchen Fallen ein besonders foudroyanter Verlauf mid besondere 
anatomische Befunde. Fiir den vorliegenden Fall treffen einige 
dieser Voraussetzungen zu; insbesondere hat vor dem Unfall kein 
klinis ches Symptom der Paralyse bestanden. Wir wissen zwar 
aus der Anamnese, daB er seit etwa 12 Jahren vor dem Tode seiner 
Familie und seinen Bekannten durch ein etwas ver&ndertes 
psychisches Verhalten auffiel. Er war etwas redselig geworden und 
neigte zu renomierenden Erz&hlungen; doch wurden keinerlei 
ausgesprochene psychische Storungen beobachtet; ebensowenig 
Nachlassigkeiten in gesch&ftlicher oder gesellschaftlicher Beziehung. 
Es w&re gezwungen, diese schon etwa 10 Jahre dem Unfall und der 
todlichen Erkrankung vorhergehenden leichten Storungen auf die 
progressive Paralyse zu beziehen. Denn es ist nicht denkbar, daB 
diese Paralyse, die schlieBlich so foudroyant und ohne erst einen 
weitgehenden korperlichen Verfall zu machen, zum Tode fiihrte, 
daB diese Erkrankung vorher 10 Jahre lang in verh&ltnism&Big 
harmloser Form bestanden haben soil, so daB sie den Kranken 
an der Besorgung seiner Gesch&fte nicht hinderte. Dann wiirde 
vermutlich auch das mikroskopische Bild anders ausgesehen haben; 
wir wurden eine weiter gehende Zerstorung der normalen Rinden- 
architektur und nicht so viele frische Prozesse finden. Wenn der 
Hausarzt und die Umgebung des Kranken geneigt waren, diese 
leichte psychische Veranderung auf ein friihzeitiges Altem zuriick- 
zufiihren, so wissen wir jetzt aus dem anatomischen Befund, daB 
die Ursache dafiir in einer diffusen Arteriosklerose der Cerebral- 
gef&Be zu suchen war. Und es mag mit besonderem Nachdruck 
betont werden, daB es sich auch hier nicht ausschlieBlich um die 
Sklerose der groBen Basalarterien handelt, die man ja oft findet, 
ohne daB die Funktionen des betreffenden Gehirns irgendwie 
beeintrachtigt waren, sondem es liegt auch hier wieder vor eine 
fibrose Entartung und Elastizitatsabnahme an den feineren, be¬ 
sonders den kortikalen Gef&B&sten. Von dieser Ver&nderung 
kann man umso eher eine Beeinflussung des psychischen Verhaltens 
erwarten, als es sich ja dabei infolge der Beteiligung zahlreicher 
Aste um eine diffuse Erkrankung handelt. Auf diesem durch 
arteriosklerotische, aber nicht durch paralytische Ver&nderungen 
vorbereiteten Boden hat also der Unfall eingewirkt. Der . Unfall 
selbst war von erheblicher Intensit&t, denn er machte die 
Symptome einer Gehimerschiitterung mit langer dauemder Be- 
wuBtlosigkeit, Amnesie, Erbrechen und Zeichen einer herdformigen 
Schadigung. Ferner erholte Patient sich nie mehr vollig von dem 
Unfall, sondem bot bis zum Ausbruch der psychischen Storungen 
(7 Monate nach dem Unfall) die deutlichen Zeichen einer organischen 
Gehimerkrankung, von der vor dem Unfall keine Spur vorhanden 
war, n&mlich eine Sprachstorung, die nach der Schilderung einen 
paraphasischen oder amnestisch-aphasischen Charakter gehabt 


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352 


L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


haben muB. Endlich war der manifeste Verlauf der Paralyse sonst 
ein entschieden abgekiirzter, denn sie fiihrte in 3 Monaten zum 
totlichen Ausgang. Man wird also nicht umhin konnen, in diesem 
Falle dem Unfall die Bedeutung eines auslosenden und den Verlauf 
der Paralyse beschleunigenden und verschlimmemden Momentes 
zuzuschreiben. wie dies auch in versicherungsrechtlicher Beziehung 
anerkannt wurde. Die Annahme ist also berechtigt, daB der 
Patient ohne den vorangegangenen Unfall trotz iiberstandener Lues 
nicht paralytisch erkrankt ware, und daB er bei seiner nur geringen 
arteriosklerotischen Erkrankung noch voraussichtlich Jahre hin- 
durch seinem Beruf hatte nachgehen konnen, wenn er auch viel- 
leicht etwas weniger leistungsfahig geworden ware. Auch darin 
weicht unser Fall von den gewohnlichen Vorkommnissen ab, daB 
hier auf dem Boden der Arteriosklerose noch eine Paralyse durch 
die traumatische Einwirkung entstanden ist. Denn sonst sehen wir 
bei alterer Arteriosklerose durch Gehimerschutterung wohl miliare 
Himblutungcn, wie sie Friedmann , oder diffuse hyaline Entartung, 
wie sie Weber beschrieben hat, entstehen. Hier aber vermochte 
trotz des vorgeriickten Alters die weit zuriickliegende luetische In- 
fektion noch eine ausgedehnte und stark paralytische Gewebs- 
veranderung hervorzurufen. 

Man kommt also auf Grund der Anamnese, des klinischen 
Beobachtungsergebnisses und des Sektionsbefundes dazu, sich den 
Hergang folgendermaBen zu denken: Ein 40 Jahre vor dem Tode 
mit Syphilis infizierter Mensch zeigt etwa vom 53. Lebensjahre ab 
leichtere psychische Veranderungen, die auf eine beginnende 
Arteriosklerose bezogen werden miissen. Auf diesem Boden wirkt 
im 64. Lebensjahr eine Himerschiitterung als auslosendes Moment 
fiir den 6 Monate nach dem Unfall erfolgenden Ausbruch einer 
Paralyse, welche nach dreimonatlichem foudroyanten Verlauf zum 
Tode fiihrt. 

Fassen wir die SchluBfolgerungen zusammen, die wir aus der 
klinischen Beobachtung und anatomisch-mikroskopischen Unter- 
suchung dieses Falles ziehen konnen, so laBt sich folgendes sagen: 

Auch im vorgeriickten Alter — jenseits des 60. Lebensjahres — 
kommen Paralysen vor, die den klinischen Verlauf der expansiven 
Form mit GroBenideen und motorischer Erregung nehmen und bei 
denen anatomisch und mikroskopisch dieselben Befunde erhoben 
werden wie bei den Paralysen jugendlicheren Alters. Namentlich 
zeigen die reichlichen, ausgedehnten und weitverbreiteten Lymph- 
scheideninfiltrate aus den typischen Elementen, daB auch das 
greisenhafte, in Riickbildung begriffene Gehim noch zu so lebhaften 
produktiven und exsudativen Gewebsprozessen f&hig ist, wie sie 
die paralytischen Gef&Bveranderungen darstellen. DaB auch diese 
Spatparalyse syphilitischen Ursprunges ist, ist sicher; mit Wahr- 
scheinlichkeit wird man sogar eine ungewohnlich lange Inkubations- 
zeit fur sie in Anspruch nehmen miissen — soweit man xiberhaupt 
in solchen Fallen von einer Sicherheit sprechen kann. 


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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall. 


353 


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Weiter ergibt sich, daB eine Kombination von diffuser 
Arteriosklerose und Paralyse raoglich ist, nicht nur im Sinne einer 
zufalligen Beimischung arteriosklerotischer Befunde zur Paralyse, 
sondem so, daB die Arteriosklerose langere Zeit fiir sich allein be- 
standen hat und bestimmte klinische Erscheinungen verursachte 
und daB erst spater sich dazu die paralytische Erkrankung gesellte. 
Dabei ist von besonderem histologischem Interesse, wie die beiden 
an demselben mesodermalen Gewebe, dem BlutgefaBbindegewebs- 
apparat, sich abspielenden pathologischen Prozesse nebeneinander 
hergehen und sich gegenseitig beeinflussen. 

Endlich zeigt auch dieser Fall wieder, daB man das Trauma 
wenigstens als auslosende Ursache fiir das Auftreten einer Paralyse 
nicht von der Hand weisen darf, wenn bestimmte Momente vor- 
liegen: das Fehlen paralytischer Symptome vor dem Unfall, eine 
besondere Intensitat des direkt auf den Schadel und seinen Inhalt 
einwirkenden Traumas (in diesem Falle eine typische Him- 
erschiitterung), Auftreten deutlicher Zeichen dauemd gestorter 
Himfunktion unmittelbar nach dem Unfall, die in ununter- 
brochener Reihe zu dem Ausbruch der paralytischen Erkrankung 
selbst hinleiten und ein abgekiirzter foudroyanter Verlauf der 
letzteren, der dem Leben ein Ende setzte, ehe der weitgehende 
korperliche Verfall der gewohnlichen Paralyse einsetzte. Diese 
Momente waren im vorhegenden Fall vorhanden; die Mehrzahl 
derselben wird man fordem miissen, wenn man einen ursachlichen 
Zusammenhang zwischen Unfall und Paralyse annehmen will. 

Literatur- Verzeichnis . 

Alzheimer, Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progres- 
siven Paralyse. Abdruek aus den histologischen und histopathologischen 
Arbeiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Fr. NiBl, Heidelberg. Bd. I. 1904. 
— Derselbe, Referat auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen 
Lrenarzte. Miinchen 1902. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 59. H. 5. —Der¬ 
selbe, Die Frage der stationaren Paralyse der Irren. Gaupp und Alzheimer. 
Zbl. f. Nervenheilk. u. Psych. No. 245. 1907. — Binstvanger , Die Ab- 

grenzung der allgemeinen progressiven Paralyse. Berl. klin. Woch. 1894. — 
Cramer, Gerichtliche Psychiatric. Jena. Gustav Fischer. 4. Aufl. — Derselbe, 
Pathologische Anatomie der Psychosen. Handbuch der pathologischen 
Anatomie des Nervensystems von Flatau, Jacobsohn und Minor. Bd. 2. — 
Dinkier, Arch. f. Psych. 1905. Bd. 39. S. 445. — Eichelberg, Vortrag in 
der Sitzung des Vereins der Irrenarzte Niedersachsens und Westfalens am 
4. V. 1912. — Friedmann, Ueber eine besondere, schwere Form von Folge- 
zustanden nach Gehirnerschiitterung und liber den vasomotorischen 
Symptomenkomplex bei derselben im allgemeinen. Westphals Arch. 
Bd. XXIII.. 1892. — Derselbe, Ueber einen weiteren Fall von nervosen 
Folgezustanden nach Gehirnerschiitterung, mit Sektionsbefund. Dtsch. 
Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. XI. 1897. — Hoche, Dementia paralytica. 
Handb. d. Psych, v. Aschaffenburg. Spez. Teil. 5. Abteilimg. — Junius 
und Arndt, Beitrage zur Statistik, Aetiologie, Symptomato^gie und patho- 
logisohen Anatomie der progressiven Paralyse. Arch. f. Psych. 44. — 
Koppen, Arch. f. Psych. 1900. — Kraepelin , Psychiatric. 8. Auflage. 
Bd. II. 1. Teil. — Landsbergen, Paralyse und Unfall. ein kritischer 
Beitrag. Dissert. Gottingen. 1909. — Derselbe, Lues cerebri und 

progressive Paralyse, ein klinischer und anatomischer Beitrag. Monatsschr. 
f. Psych, u. Neurol. Bd. XXIX. — Leppmann, Ztschr. f. arztliche Fort- 


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354 


Bonhoeffer, Ueber die Beziehung 


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bildung. No. 22. 1911. S. 679. — McUauschek und Pilot, Beitrag zur Lues- 
Paralyse-Frage. Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. VIII. — Mendel, K., 
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXI. H. 5. u. 6. — Nifil. Kritische 
Fragen der Nervenzellenanatomie. Neurol. Zbl. 1896. — Derselb©, 
Psyohiatrie und Himanatomie. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. III. — 
Derselb©, Sind wir imstande, aus dem path ologisch-ana tom ischen Befunde 
die Diagnose der progressiven Paralyse zu stellen ? Monatsschr. f. Psych, u. 
Neurol. IV. — Derselbe, Die Diagnose der progressiven Paralyse. Neurol. 
Zbl. 21. — Nonne, Die Diagnose der Syphilis bei Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems. Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. III. — Derselbe, 
Syphilis und Nervensystem. II. Aufl. Berlin 1909. — Pach , WieD. klin. 
Woch. No. 32. S. 1162. — Plant , Untersuchungen zur Syphilisdiagnose fcei 
Dementia paralytica und Lues cerebri. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 
Bd. XXII. — Plant und Alzheimer , Die syphilitische Geistesstorung. Munch, 
med. Woch. 1909. No. 31. — Plant und Fischer , Die Lues-Paralyse-Frage. 
Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 66. S. 340. — Sperling und Kronthal, Eine trau- 
matische Neurose mit Sektionsbefund. Neurol. Zbl. 1889. S. 325 ff. — 
Spielmeyer , Die Psychosen des Riickbildungs- und GreisenaIters. Handb. 
d. Psych, von Aschaffenburg. Spez. Teil. 5. Abt. — Derselbe, Die Behard- 
lung der Paralyse. Referat auf der Jahreeversammlung des deutschen 
Vereins fur Psyohiatrie in Kiel 1912. — Schob, Ein eigenartiger Fall von 
diffuser, arteriosklerotisch bedingter Erkrankung der Grofi- und Kleinhirn- 
rinde; paralyseahnliches Krankheitsbild. Ztschr. f. d. ges. Neurologie u. 
Psych. Bd. VI. — Weber , L . W Zur Klinik der arteriosklerotischen Seelen- 
storung. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXIII. Erganzungsheft aus 
der Kgl. Klinik und Poliklinik fur psychische und Nervenkrankheiten an 
der Universitat Gottingen. (Direktor Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Cramer.) — 
Derselbe, Die Pathogenese und pathologische Anatomie der Geistes- 
storungen. (Ergebnisse der allgemeinen Pathologic und pathologischen 
Anatom ie des Menschen und der Tiere von Lubarsch und Ostertag. XIII. 
Jahrg.) — Derselbe, Akute Verschlimmerung von Geistesstorungen durch 
Unfalle. Referat auf dem 4. internationalen KongreB fur Versicherungs- 
medizin. Berlin 1906. — Derselbe, Hyaline GefaSentartung als Uisache 
miliarer Gehirnblutung. Arch. f. Psych. 1901. — Derselbe, Ein Fall von 
Himerschiitterung mit anatomischem Befund. Vortrag, gehalten auf der 
18. Versammlung Mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 
am 26. und 27. X. 1912. — Weygandt , Ueber Begutachtung im Falle von 
Trauma und Paralyse. Mitteilungen aus den Hamburgischen Staatskranken- 
anstalten. Bd. IX. H. 14. — WohlwiU , Zur Frage der traumatischen Para¬ 
lyse. Arch. f. Psych. S. 1263. — Yoshikcma , J., Ueber feinere Ver- 
anderungen im Gehim nach Kopftrauma. Allg. Ztschr. f. Psych. Bd. 65. 
H. 6. — 2jiehen % Organische Geisteskrankheit und Unfall. Amtl. Nachrichten 
des Reiohsversicherungsamts. 1911. No. 10. 


Ueber die Beziehung der Zwangsvorstellungen 
zum Manisch-Depressiven 1 ). 

Von 

K. BONHOEFFER 

in Berlin. 

Die 51 jahrige Kranke, die ich Ihnen hier zeige, leidet unter echten 
Zwangsvorstellungen. Es drangen sich ihr, wie sie sagt, immerfort Ge- 


l ) Nach einer Demonstration in der Berliner psychiatr.-neurologischen 
Geselischaft. 


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der Zwangsvorstellungen zum Manisch-Depressiven. 355 

danken auf, sie muB immerfort denken, ,,was sinnlos, was zwecklos und 
nicht zu ergriibeln ist 44 . Bald sind es an sich vollig gleichgiiltige Dinge 
der AuBenwelt, die sie beunrnhigen, z. B. wieviel Aepfel heute dagelegen 
haben, was heute gesprochen worden ist, was gestern, bald hangen sich die 
Vorstellungen an korperliche Vorgange, an den Horakt und den SSchluckakt. 
Sie muB z. B. immerfort dariiber nachdenken, ob sie bemerkt hat, daB sie 
geschluckt hat, oder ob es ihr entgangen ist. In ahnlicher Weise muB sie 
registrieren, was ihr ins Ohr fallt. Sie spricht von ihren H dr gedanken, 
von ihren Schluckgedanken. Neu auftauchende Gedanken wecken ihr 
unangenehme Sensationen in den Ohren. 

Sie ist sich vollig klar dariiber, daB es ihre Gedanken sind. Sie 
fiirchtet, weil sie ihrer nicht Herr werden kann, daB sie verriickt werden wird. 

Die Kranke halt den Zustand fur aussichtslos, die Gedanken er- 
scheinen ihr „schlimmer, als wenn sie im Zuchthaus ware 44 . 

Sie fiihlt sich auBerst ungliicklich, sie hat an Interesse, an Lebens- 
und Arbeitslust verloren und klagt, daB sie zu keinem EntschluB kommen 
kann. 

Bei der Exploration der Kranken ist bemerkenswert die auBer- 
ordentliche Lebhaftigkeit und Mitteilsamkeit, mit der die Patientin ihren 
Zustand schildert, die Bereitwilligkeit, mit der die Patientin trotz ihrer 
gesellschaftlichen Stellung, und trotzdem ich sie heute selbst ziun ersten 
Male sehe, sich vorstellen laBt. Auch besteht ein Kontrast- in der Lebhaftig¬ 
keit der Mimik, dem Glanze der Augen zu der deprimierten Stimmung der 
Kranken. Gelegentlieh tritt uns auch ein nicht ausreichend motiviertes 
Laeheln entgegen. Der jetzige Zustand hat sich vor etwa 1% Jahren ent- 
wickelt mit Verstimmung und schlechtem Schlaf und allmahlich ver- 
schlimmert. Anfanglich hatten auch Angstgefiihle, Wiirgen im Halse und 
Erbrechen bestanden. 

Es scheint, daB in letzter Zeit sich eine Besserung vorbereitet; das 
Korpergewicht nimmt zu. Die Stimmung ist nicht mehr dauernd ungliicklich. 
Sie hat Zeiten, in denen sie Karten spielen und lachen kann. Wenn sie 
sich freier fiihlt, weiB sie „vor Vergniigen nicht, was sie tim soil 44 . gH 

Von Natur ist die Kranke lebhaften heiteren Temperaments, unter- 
nehmend und tatkraftig. Friiher hat sie an Migrane gelitten. Seit dem 
Beginn der jetzigen Erkrankung hat diese aufgehort und erst in allerletzter 
Zeit sich wieder einmal eingestellt; 

Die jetzt bei ihr bestehende Erkrankung ist die dritte dieser Art 
wahrend ihres Lebens. Mit dem Klimakterium hangt sie nicht zusammen. 
Die Menses haben schon im 43. Lebensjahr aufgehort. 

Die erste gleichfalls mit Zwangsdenken eithergehende Erkrankung 
hat im 22. Lebensjahr eingesetzt und % Jahre gedauert, die zweite trat 
16 Jahre spater ein und dauerte ebensolange. Sie selbst hat die Empfindimg, 
daB die jetzige Erkrankung die schwerste ist. 

Wir sehen also ein ausgesprochen periodisches Auftreten 
von Zwangsvorstellungen. 

Auf diese Erscheinung der Periodizitat des Auftretens von 
Zwangsvorstellungen, die auch schon anderen Beobachtem (Fried¬ 
mann, Aschafferiburg , Kraepelin, Sommer) aufgefalien ist, wollte 
ich an diesem besonders augenfalligen Beispiele hinweisen. Seit 
einer Reihe von Jahren, wahrend deren ich darauf achte, hat 
sich mir bei genauerem Zusehen dieser periodische Charakter 
bei einer so auBerordentlich grofien Zahl von Fallen heraus- 
gestellt, daB ich darin etwas GesetzmaBiges zu sehen geneigt 
bin. Die Haufigkeit der Periodizitat und eine Reihe anderer noch 
zu erwahnender Punkte machen es mir in hohem MaBe wahrschein- 
lich, daB das Auftreten von Zwangsvorstellungen auBerordentlich 


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35b Bonhoeffer, Ueber die Beziehung 

enge innere Beziehungen zur manischdepressiven Anlage hat 1 ). 
Ich glaube, daB in sehr vielen, ich sage nicht in alien Fallen 
der Zusammenhang so liegt, daB die Zwangsvorstellungen ledig- 
lich das Symptom darstellen, das den an Depression Erkrankten 
am meisten beunruhigt und deshalb in den Vordergrund gestellt 
wird. 

Tatsachlich laBt sich bei Patienten, die an Zwangsvorstellungen 
leiden, wie es scheint, regelmaBig ein begleitender depressiver 
Symptomenkomplex feststellen. Die Kranken geben meist, wenn 
man sie nur ausreiehend sich aussprechen laBt, unzweideutige 
Auskunft iiber Insuffizienzgefiihl, EntschluBunfahigkeit, Gefiihl der 
Abstumpfung, der Interessen- und Gedachtnisabnahme, Ungliicks- 
gefiihl und mehr oder weniger ausgesprochene Andeutungen von 
Selbst vorwurfen. 

Diesen depressiven Symptomenkomplex als etwas Sekundares, 
als eine Folgeerscheinung der Zwangsvorstellungen zu betrachten, 
wie es meist geschieht und wie es vielfach die Patienten selbst 
auch tun, entspricht, wie ich glaube, nicht dem tatsachlichen 
Kausalverhaltnis. Das ergibt sich erstens daraus, daB bei zahl- 
reichen dieser Patienten bei fruheren Attacken einfache Depres- 
sionen ohne Zwangsvorstellungen bestanden haben (vgl. auch 
Friedmann ), und daB sich gelegentlich zeigen laBt, daB zunachst 
eine einfache Depression ohne Zwangsvorstellungen die Er- 
krankung einleitete, daB die Intensitat der Depression durch- 
aus nicht immer der Starke der Zwangsvorstellungen parallel 
gehen. DaB die Patienten selbst die Zwangsvorstellungen 
als Ursache der Depression ansehen, entspricht der bei De- 
pressionen auch sonst bekannten Erfahrung, daB der Kausal- 
zusammenhang der Symptome verkannt wird. Ich erinnere an 
die zahlreichen wegen Blutarmut, Bleichsucht, gastrischer, 
intestinaler, herzneurotischer und anderer Symptome behandelten 
periodischen Depressionen. Es ist ganz gewohnlich, daB hier die 
somatischen Beschwerden — nicht zum wenigsten auch von den 
Aerzten — in den Vordergrund gestellt werden, und erst die 
darauf gerichtete psychische Untersuchung deckt den Charakter 
der Storung als Teilerscheinung der Zyklothymie oder der peri¬ 
odischen Depression auf, wenn nicht gelegentlich ein interkurrenter 
Suizidversuch die Bedeutung des depressiven Komplexes schorl 
vorher ins richtige Licht setzt. 

*) Anmerkung. Wahrend der Korrektur sehe ich aus einer Publikation 
Heilbronners (Zwangsvorstellung und Psychose. Zeitschrift f. d. gesamte 
Neurologie und Psychiatrie. 1912. Bd. IX), daB auch ihm die Haufigkeit 
der Periodizitat der Zwangsvorstellungen nicht entgangen ist. Auch er 
erortert die Beziehungen zum Manisch-Depressiven, und ich behalte luir 
vor, auf seine Erwiderungen in dieser Frage bei der zusammenfassenden 
Darstellung unseres Materials naher einzugehen. Ich pflege bei der Be- 
sprechung der Zwangsvorstellungen in der Klinik seit einer Reihe von 
Jahren auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, der fur den Praktiker vor 
allem auch von der prognostischen Seite aus von Wichtigkeit ist. (Vgl. 
auch Zeitschr. f. Psych. Bd. 69. S. 785.) Auch diese Seite wird von 
Heitbronner beriihrt. 


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der Zwangsvorstellungen zum Manisch-Depressiven. 


357 


Bekannt ist, wie sich in manchen unzweideutigen melancholi- 
schen Depressionen der depressive Vorstellungskreis der Ver- 
armungsideen, der Selbstvorwiirfe stark dem Charakter der 
Zwangsvorstellung nahert. Es gibt depressiv Erkrankte, die 
sich liber die Torheit ihrer Verarmungsideen und Selbstvorwiirfe 
durchaus klar sind, die aueh die Unfahigkeit, von diesen Gedanken 
loszukommen, durchaus als krankhaften Denkzwang empfinden. 
Auch das Schwanken zwischen depressiver eigentlicher Wahnidee 
und Zwangsvorstellung ist zu beobachten. 

Vor aflem wichtig scheint mir aber fiir die Auffassung, daB 
es sich bei dem depressiven Symptomenkomplex bei den Zwangs¬ 
vorstellungen nicht um eine psychologische Folgeerscheinung, 
sondem um eine innere klinische Beziehung handelt, die Ver- 
bindung mjt manischen Elementen. In unserem Falle traten diese 
in der Mitteilsamkeit, in dem auBerst lebhaften Mienenspiel, 
dem gelegentlichen Lacheln, dem durchbrechenden iibermutigen 
Affekt, wenn sie vor Vergniigen nicht weiB, was sie tun soli, dem 
in gesunden Tagen bestehenden hypomanischen Temperament 
hervor. 

Auch sonst habe ich nicht selten bei Zwangsvorstellungs- 
kranken manische Ziige beobachtet, vor allem die Erscheinung 
der inneren Ideenflucht, die Klage, daB neben den zwangsmaBig 
sich aufdrangenden Vorstellungen abgerissene Gedanken und 
Erinnerungen sich jagen, daB auBerordentlich viele Gedanken 
kommen, ist nicht selten festzustellen. Gelegentlich habe ich 
auch die gesteigerte Ablenkbarkeit mit Zwangsvorstellungen 
sich zu einem eigenartigen Bilde vereinigen sehen. Auch bei der 
eben besprochenen Kranken hangt vielleiclit die Eigenart der 
Zwangsvorstellungen, alle Horeindriicke und die Schluck- 
bewegungen zu registrieren, mit der Wahrnehmung der ge- 
steigerten Ablenkbarkeit zusammen. 

Ein weiteres wichtiges Moment, was mir den inneren Zusammen- 
hang von Zwangsvorstellungen und manisch-depressiver Anlage be- 
statigt, sehe ich in der Haufigkeit, in der sich bei der Aszendenz 
und Konsanguinitat von Zwangsvorstellungspatienten manisch- 
depressive Erkrankungen und periodische Depressionen meist 
leichterer Art finden. 

Diese manisch-depressiven Antezedentien bei der Aszendenz 
sind mir bemerkenswerter Weise auch bei solchen an Zwangs- 
denken leidenden Kranken aufgefallen, bei denen der von Jugend 
auf bestehende und scheinbar durch ganze Dezennien sich hin- 
ziehende Krankheitsverlauf keinen periodischen Charakter mehr, 
sondern einen Habitualzustand, der hochstens noch Intensitats- 
schwankungen aufweist, erkennen laBt. Es besteht vielleicht 
zwischen diesen Formen und den ausgesprochen periodischen 
dasselbe Verhaltnis wie zwischen den konstitutionellen Depressionen 
zu den periodischen. Doch bedarf das noch genauerer Unter- 
suchung; 

Eine Bestatigung der hier ausgesprochenen Auffassung von 


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358 


Buchanseige. 


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der nosologischen Stellung der Zwangsvorstellungen ist vielleicht 
auch darin zu erblicken, daB die therapeutischen Erfolge eine 
groBe Uebereinstimmung mit denen der echten Depression zeigen. 
Hier wie dort hat derjenige den Heilerfolg, der das Gluck hat, 
den Patienten in der Zeit zu bekommen, in welcher die Krank- 
heit nach den unbekannten Gesetzen des endogenen Prozesses 
spontan ihrem Ende zuneigt. In dieser Phase pflegt dann auch 
alles sich niitzlich zu zeigen. was in einer andem Phase der 
Erkrankung versagt hat. 


Buehanzeige. 

Theodor Heller, Orundrifi der Heilpddagogik. Leipzig 1912. Wilhelm Engel- 
mann. 676 S. 

L. Scholz. Anomale Kinder. Berlin 1912. S. Karger. 442 S. 

In dem Worte Heilpadagogik liegt bereits der Doppelkern einer neuen 
Grenzwissenschaft, die sich mit der Tatigkeit des Lehrers und der des Arztes 
an einer bestimmten Gruppe Jugendlicher befaBt. Vollstandig in dieses 
Gebiet fallen die beiden oben erwahnten umfangreichen Arbeiten, und zwar 
wendet sich der Psychiater Scholz mit seinem Buch an Eltern, Erzieher, Leiter 
und Lehrer an Heilpadagogien, an Fiirsorgeinstituten, Hilfsschulen und An- 
stalten fur geisteskranke Kinder, wahrend der Padagoge Heller die im Kindes- 
alter vorkommenden Geistes- und Nervenkrankheiten und deren heiler- 
zieherische Behandlung zu schildem versucht, „ohne die Milhilfe eines Fach- 
arztes in Anspruch zu nehmen, aber bestrebt, die einschlagige medizinische 
Literatur bei seiner Arbeit zu beriicksichtigen. 44 

Vergleichen wir die beiden denselben Zielen zusteuemden Werke mit- 
einander, so lassen sich ihre Tendenzen kurz dahin zusammenfassen: Scholz 
gibt aus der Summe seiner psychiatrischen Erfahrung heraus das, was fur den 
dabei interessierten medizinischen Laien, in erster Lime fur den Padagogen 
Interesse hat und sucht dies auf eine einfache gemeinverstandliche Formel zu 
bringen, zeigt aber dabei eine Reihe von Ausblicken, die auch den Psychiater 
interessieren. Heller dagegen stellt seinen GrundriB der Heilpadagogik auf 
eine fast zu breite psychiatrische Basis, die gerade in den dieser Basis ein- 
geordneten Teilen dem Facharzt nichts Neues bringt, dem Erzieher aber viel¬ 
leicht ein verwirrendes Zuviel iibermittelt. Ein Philologe von den Qualitaten 
Hellers konnte es wohl wagen ein Buch zu schreiben, das zu reichlich zwei 
Drittel seines Umfanges die Atiologie und Klinik der anomalen Kinder und 
vieles andere weniger der Padagogik als vielmehr der Psychiatrie Zufallende 
behandelt. Was bei Heller aus einer ganz iiberragenden Kenntnis der ein- 
schlagigen Literatur hervorgewachsen ist und aus fortlaufenden oft sehr 
ausfiihrlichen Zitaten erganzt wird, iibermittelt dem Psychiater zwar 
kein neues Wissen, einiges wird er sogar nicht unbedingt unterschreiben, aber 
eine hiibsche Auffrischung alles dessen, was in alterer und jiingerer Zeit von 
dem und jenem Standpunkte in der angeregfen Richtung geauBert wurde. 
Da das Werk nicht den Anspruch macht, ein Lehrbuch der Psychiatrie dar- 
zustellen, so laBt sich gegen An- und Einordnung der besehriebenen Er- 
krankungen auch nichts sagen. Trotz einiger erwfthnenswerten Anregungen 
fiir den Facharzt mochten wir doch warnen, „quod licet Jovi non licet bovi 44 
und hoffen, daB sich, durch Hellers Beispiel verfiihrt, jetzt nicht andere 
padagogische Anstaltsleiter darauf legen, Psychiatrie zu dozieren. Die 
Deutung der von ihnen beobachteten und gesammelten Symptome wird 
inuner dem Psychiater verbleiben miissen. Es konnte sonst noch an einem 
anderen Platze zum Kampf um die Grenzgebiete kommen, wie ein solcher 
schon einmal im Jahre 1893 wegen der Frage entbrannt war, wer soil Leiter 
von Anstalten fiir Schwachsinnige sein, der PMagoge oder der Psychiater ? 

Heller teilt sein Buch in folgende 2 Teile: 1. Der infantile Schwachsinn 
und 2. Nervose Zustande im Kindesalter, ihre padagogische Therapie und 
Prophylaxe. Das groBte Interesse beanspruchen naturgem&B die Abschnitte, 
die sich mit der heilpadagogischen Erziehung beschaftigen und durch eine 


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Buchanzeige. 


359 


Menge von Beobachtungen und Hinweisen eine entschiedene Bereicherung 
der ftrztlichen Wissenschaft bedeuten. Die Abnormen im Schul- und Er- 
ziehungsleben werden hier in so umfassender Weise beleuchtet, wie dies 
vielleicht noch nie vorher so liickenlos geschah, und man merkt so recht, 
wie Verf. hier aus dem eigenen Vollen schopft. Heilpadagogischer Unterricht 
und heilpadagogischePJrziehung,die er in zwei ausfiihrlichen sehr lesenswerten 
Kapiteln behandelt, dfirfen nach seiner Erfahrung bei den Schwachsinnigen 
nicht in getrennte Disizplinen aufgelost, sondern iniissen in derselbe Hand 
vereinigt sein, weil sonst die Gefahr besteht, daB der Erzieher seine Arbeit 
vom Lehrer durchkreuzt sieht, oder daB der Lehrer mit seinen Bemfihungen 
Schiffbruch leidet, da ihm die Gelegenheit fehlt, auch anBerhalb der Lehr- 
stunden an gemeinsame Erlebnisse ankniipfend dem schwachsinnigen Kinde 
Wissenswertes zu ubermitteln. Die Friichte feinster Beobachtung legt Verf. 
in den Bemerkungen fiber Strafe und Belohnung, ferner fiber das Leben 
Schwachsinniger bei den Eltern nieder „I)ie erziehliche Behandlung im 
Eltemhaus ist oft nichts anderes alspsyehischeMifihandlung“und schlieBlich 
iiber die Qualitat der Erzieher. Das Kapitel fiber den heilpadagogischen 
Unterricht stellt sich als ein systematischer Aufbau dar, dessen einzelne 
Stufen die Ausbildung zunachst der einfachsten korperlichen Verrichtungen 
bedeuten: Gehen, Greifen, gymnastische Uebungen, Tumen und enrhyth- 
misches Tumen, Singen und Handfertigkeiten. Das Zeichnen ffihrt fiber zu 
den eigentlichen Schulfachem Lesen, Schreiben, Rechnen. Es folgt Moral- 
unterricht, der kein moral is ierender sein soil, biblische Geschichte, niir unter 
Anschauung groBer Bildertafeln vermittelt, Naturlehre, Heimatkunde mit 
Schulwanderungen anstatt Karten, Geographie mit bildlichen Darstellungen 
und personlichen Anknfipfungen, Geschichte ohne chronologische Zusammen- 
h&nge nur unter Heranziehung jener Momente, welche fur die sittliche Ent- 
wicklung von Bedeutung sind. Der Anschauungsunterricht muB bei 
den Schwachsinnigen durchaus im Vordergrund stehen, und wo Bilder fehlen, 
trete die Herbartsche Forderung ein, daB der Heilpadagoge imstande sein 
soli, so zu beschreiben, 1 daB der Zogling zu sehen glaube. Den Einzelunter- 
richt verwirft Heller als zu anstrengend auch dfirfe keine Lelirstiuide mehr 
als 30 Minuten umfassen und keine Hausarbeiten gefordert werden. Ein um- 
fassendes Kapitel fiber Geschichte und gegenwartigen Stand der Schwach- 
sinnigenffirsorge beschlieBt den ersten Teil. 

Der zweite Teil, der in 2 Kapiteln die nervosen und die psychopathischen 
Konstitutionen behandelt, grenzt noch als ein drittes die Hysteric ab, nicht 
ohne daB dabei die Frendschen Theorien mit einbezogen wiirden. Bei Auf- 
z&hlung der schadigendenMoment,weelche nervoseKonstitution begfinstigen, 
spricht Heller einige eindrfickliche Worte fiber den EinfluB der Familie, der 
nicht nur durch die Not der unteren Klassen ein sch&digender ist, sondern 

„Die AuBerachtlassung der Familienpflichten, die mangelnde 
miitterliche Pflege und Aufsicht gibt gegenwartig der Erziehung der Kinder 
besitzender Kreise das charakteristische Geprage. Die egoistisclien Geffihle 
und Gesinnungen persistieren, die altruistischen Gemfitsbewegungen bleiben 
dem Wesen des Kindes fremd. Es erscheint immer mehr als Recht des Kindes. 
sich an dem Sinnen- und Genufileben des Erwachsenen zu beteiligen! — 

Die Heilpadagogik hat gegenwartig vielfach die Aufgabe, begangene Er- 
ziehungsfehler auszugleichen. 4 ‘ 

Tief hinein in das Wesen der Abnormen leuchtet der Abschnitt Ffir- 
sorgeerziehung und Heilpadagogik. Verf. verlangt, daB die modeme Ffir- 
sergeerziehung ihrem Wesen nach identisch mit Heilerziehung sei, daB 
die Fiirsorgeerziehungsanstalten zu Heilerziehungsanstalten umgewandelt 
werden. Hier ist das eigentliche bildungsfahige Material, das der heil- 
padagogischen Anstaltsarbeit neue dankbare Aufgaben stellt, die Wert und 
Bedeutung der Hilfspadagogik in ein klares Licht riicken wfirden. HeUer 
betont, daB daraus ein dringendes Bedfirfnis nach heilpadagogischen 
Seminarien, an denen auch Aerzte als Lehrer wirken, hervorgehe. Wenn 
man das Buch zu Endo gelesen hat, so kann man nicht anders als in seinen 
SchluBsatz einstimmen: 

„Vermag die Hilfspadagogik die asozialen und antisozialen Elemente 
zu verringern, so schafft sie Werte, die zahlenm&Big nicht ausgedrfickt werden 
konnen. Sie erffillt aber auch eine der wichtigsten Kulturaufgaben, die darin 


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Buchanzeige. 


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besteht, Bildung und Gesittung denjenigen zu verleihen, deren Krafte zu 
schwach sind, urn aus eigenem Antrieb der Segnungen der Menschheit teil- 
haftig zu werden. “ 

Wenn schon der reichen Kenntnis und Anwendung der psychiatrischen 
Literatur Erwahnung geschah, so darf nicht unerw&hnt bleiben, dafl die 
strengeWissenschaftlichkeit Hellers ihn die Autoren aller einschlagigcn F&cher 
heranziehen lieB, und es ist wohl kaum ein philosophisches, juristisches, pad- 
agogisches, sozialwissenschaftliches, psyehologisches, theologisches usw. 
Werk in den letzten 30 Jahren zur Sache geschrieben, das Heller nicht ein- 
bezieht. Das Literaturverzeichnis umfafit allein an GOO Namen. 

Scholz behandelt in seinen ,,Anomalen Kindern 44 dieselben Typen 
wie Heller t nur treten naturgemafi die Erziehungsmaflnahmen mehr zuriick. 
Die Form ist von seinem eigenen Wunsche dirigiert, ,,zwischen den beiden 
Klippen der Ueberwissenschaftlichkeit und der Trivialitat eine leidlich 
glatte Durchfahrt zu finden. 44 Und das ist ihm ganz ausgezeichnet gelungen. 
Er hat es verstanden, die psychiatrische Materie so zu formen, dafi die Nicht- 
arzte, fiir die er schreibt, ein klares und ansehauliches Bild bekoinmen, dem 
sie ihre padagogischen MaBnahmen anpassen konnen. Das ganze Buch ist 
von einem guten und verniinftigen Geist erfiillt und sein angenehm ins Ohr 
fallender Stii, die manchmal etwas drastische Ausdrucksweise, die aus- 
gesprochene Bereitschaft des Verf. zu Zitaten aus der schonen Literatur 
rnachen es zu einem leicht lesbaren. 

Wenn in temperamentvoller Verfolgung einer Zielrichtung (Anfiihrung 
der den Selbstmord verherrlichenden Klassiker) Schillers Marquis Posa als 
durch eigene Hand fallend angefiihrt wird, so iaBt sich dies vielleicht in 
einer zweiten Auflage vermeiden.) 

Die wertvolle Besonderlieit des Werkes, das ja als populares gedacht ist, 
besteht darin, daB die Materie, wo irgend moglich, konkret gefaBt ist und 
Fachausdriicke nach Kraften vermieden werden. Aus seinen psychiatri¬ 
schen Wissens schopfend, ist es Verf. gelungen, einfach zu sein, ohne 
an der Oberflache zu bleiben. Gelegentlich schiirft er wohl auch mal 
etwas zu tief, z. B. in Schilderung der Untersuchungsmethoden an Schwach- 
sinnigen, durch die sicher mancher Laie sich befugt glauben wird, Diagnosen 
zu stellen. Zu welchem Ende ? Seine Bemerkungen zur „Intelligenz der 
Schwachsiimigen* 4 zeigen Scholz als feinen Beobachter der Kindesseele, wie 
er stagnierendes und fliefiendes Wissen, Nachbeten imd eigenes Denken, 
reproduktives und produktives Vermogen abgrenzt und in einzelnen Typen 
aufbaut. Bei Besprechung des Charakters und der Lebensfiihrung der 
Schwachsinnigen gibt er einige interessante neue Ausblicke, namentlich in 
Bezug auf die meist als solche nicht diagnostizierten Debilen der hoheren Ge- 
sellschaftsklassen. Neben dem Schwachsinn werden noch alle Formen der 
kindlichen Nem*o- und l’sychopathie abgehandelt. Wie Scholz ’ gesamte 
Darstellungen von einem sich manchmal bis zum Ergreifenden steigernden 
Verstandnis und Mitgefiihl fur die psychi^ch abnormen Jugendlichen ge- 
tragen sind, so bemuht er sich auch, die so viel gehafiten Hysterischen gegen 
falsche Urteile und falsche Behandlung zu schiitzen und aufklarend zu wirken. 

Was er liber „die Manischen“ sagt, konnte wohl einigerinaCen Ver- 
wirrung anrichten: die in diesem Kapitel geschilderten Krankheitsbilder 
zeigen doch nur hypomanische Symptome und sind durchaus nicht als echte 
Manien aufzufassen. Auch diirfte es kaum chronisch hypomanische In- 
dividuen ohne jeden depressiven Einschub geben. 

Bei Erorterung der allgemeinen Gesichtspunkte steht Verf. natiirlich 
auf dem Standpunkt, daB die Leitung von Anstalten fur schwachsinnige und 
geisteskranke Kinder in die Hand der Irrenarzte gehore. Ausfiihrliche Be¬ 
sprechung ist der Behandlung der Abnormen sowohl in psychiatrischer als pa- 
dagogischer Hinsicht und betreffs der sozialen Fiirsorge gewidmet. Besonders 
wichtig in einer popularen Arbeit ist das Kapitel Vorbeugung, in welchem die 
Forderung gesetzlicher Heiratsverbote oder diesen gleichkommende MaB- 
nahmen fiir Kranke mit vererbbaren Leiden und fur Gewohnheitsverbrecher 
gefordert, in welcher als Entartungsquellen der Alkohol und die Syphilis 
beleuchtet werden. 

Scholz hat seinem Buche ein ganz kurzes, in 3 Abschnitte geteiltes 
Literaturverzeichnis beigelegt, d«^ sich mit der Psychologic des normalen 
Kindes, mit geistigen Anomalien iiberhaupt und mit solchen beim Kinde 
beschaftigt. Dr. Helene Friderike Stelzner. 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



(Aus der deutechen psychiatrischen Universitatsklinik in Prag. 

[Vorstand: Prof. A. Pick.]) 

Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 

Von 

Dr. OTTO SITTIG, 

Assistant. 

(Mit 7 Abbildungen im Text.) 

Die Erscheinungen der Makropsie und Mikropsie haben seit 
langem wegen ihrer Eigenart und Auffalligkeit bei den Psychiatem 
das groBte Interesse erregt, und es wurde viele Miihe und viel 
Scharfsinn darauf verwendet, eine Erklarung fiir diese merk- 
wiirdige Storung zu finden. Immerhin ist die Zahl solcher Falle 
eine verhaltnismaBig nicht sehr groBe. Der Zufall hat uns vier 
einschlagige Falle in kurzer Zeit nacheinander zugefiihrt. 

Wenn wir also glauben, diese Falle veroffentlichen zu diirfen, 
so geschieht es deshalb, weil diese pathologische Erscheinung zu 
den selteneren gehort und weil unsere Falle manche eigenartige 
Ziige aufweisen, die alien gemeinsam sind und die vielleicht fiir 
eine Erklarung einmal von Bedeutung sein konnten. 

Es soli mu* die Dysmegalopsie nervosen Ureprungs beriick- 
sichtigt werden, nicht aber die durch direkte Beeinflussung der 
Akkommodation und Konvergenz durch kiinstliche Mittel hervor- 
gerufene. Charcot beschreibt schon mehrere Falle dieser Art, und 
auch nach ihm finden wir hie und da solche Falle in der Literatur 
erwahnt. Veraguth (1) begniigte sich nicht mit der Beschreibung 
seiner Kranken, sondern er versuchte auch eine Erklarung fiir die 
Erscheinung zu finden und fiihrte sie auf eine Storung der ,,Dynam- 
asthesie" zuriick. Heilbronner (2) hat einen Fall beschrieben, der 
eine reine Porropsie zeigte; auch er fiihrt diese Erscheinung, die 
in innerem Zusammenhang mit der Dysmegalopsie steht, auf eine 
,,krankhafte Storung in den Rindengebieten, welche die Wahr- 
nehmung von Zustanden der Korpermuskulatur inklusive der 
Augenmuskeln vermitteln", zuriick. Er weist noch auf die nahen 
Beziehungen zum Schwindel hin. Weiter sei an den Fall Pfisters (3) 
erinnert. 0. Fischer (4, 5) hat dann gestiitzt auf eingehende 
Beobachtungen und Versuche in unserer Klinik, eine Theorie der 
Dysmegalopsie aufgestellt. Er fand bei seinen Kranken den peri- 
pheren Akkommodationsapparat ganz intakt; femer veranderte 
jedes Mittel, welches die Akkommodation beeinfluBte, durch ein- 

Mon*t«eohrlft f. Psyohi&trie n. Nenroloffie. Bd. XXXIII. Heft 5. 24 


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Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 



362 


S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


fache Summation die vorhandene Dysmegalopsie. Durch Atropin, 
welches die Akkommodation vollkommen lahmt, verschwand die 
Dysmegalopsie. Im peripheren Akkommodationsapparat kann 
daher die Storung nicht liegen, denn dieser ist intakt. Auch im 
Oculomotorius und seinen Zentren kann die Storung nicht liegen, 
da sich keine Veranderung nachweisen lieB. Fischer stellt nim 
ein Schema fur den Akkommodationsvorgang auf. Vom motori- 
schen Zentrum geht der Impuls zum Muskel; bei der Kontraktion 
desselben wird aber ein sensibler Reiz im Zentrum hervorgerufen, 
nach dessen GroBe die Akkommodationsleistung beurteilt wird. 
Dieses Zentrum konne nun im Sinne einer Hyp- oder Hyper- 
asthesie erkranken. Bei Hypasthesie bekomme man bei sonst 
gleicher Akkommodationstatigkeit die Empfindung, wie wenn 
weniger akkommodiert wird, es kommt dann zu Makropsie. Bei 
Hyperasthesie bekomme man die Empfindung, wie wenn mehr 
als unter normalen Umstanden akkommodiert wird, es kommt zu 
Mikropsie. 

Fischer unterscheidet zwei Arten der nervosen Dysmegalopsie. 
Die erste, deren Ursache er ins entsprechende Projektionszentrum 
verlegt, folgt den anatomisch-physiologischen Gesetzen. Er be- 
zeichnet sie als kortikale Dysmegalopsie. Die zweite, die den 
anatomisch-physiologischen Gesetzen nicht folgt, deren Ursache 
in psychischen, transkortikalen Storungen liegt, bezeichnet er als 
transkortikale Dysmegalopsie 1 ). Diese beiden Formen unter- 
scheiden sich u. a. dadurch, daB eventuell vorkommende Hallu- 
zinationen bei der ersteren nicht dysmegalopisch, bei der letzteren 
dagegen dysmegalopisch erscheinen. 

Einen interessanten Fall beschreibt Janet (6), der mit dem 
einen Fischers groBe Aehnlichkeit hat. Er erklart das einseitige 
Auftreten damit, daB er eine Ausschaltung des einen Auges an- 
nimmt. 

Eine groBere Abhandlung iiber den in Frage stehenden Gegen- 
stand hat di Gaspero (7) veroffentlicht. Er schildert zwei Falle, 
bei denen Makropsie bei akuten alkoholischen Geistesstorungen 
auftrat; in dem einen handelte es sich um einen transitorischen 
toxischen Dammerzustand, im andern um eine akute Halluzinose. 
Weiter versucht di Gaspero eine Erklarung dieser Zustande, wobei 
er zu dem Ergebnis kommt, die dysmegalopischen Storungen „als 
den Effekt einer Alteration der Gesichtsvorstellungen durch eine 
pathologische Transformation normal gewonnener Wahrnehmungs- 
bilder“ aufzufassen. Er rechnet sie zu den Orientierungsstorungen 
im weitesten Sinne des Begriffes. 

Ein neues interessantes Symptom, das in naher Beziehung zur 
Dysmegalopsie steht, beschrieb Heveroch (8) in 2 Fallen traumati- 
scher Neurose; die von ihm Stereohemidysmetrese genannte Er- 
scheinung. Hier kam zu dysmegalopischen Erscheinungen noch 


*) Im Sinne Wernickes . 


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8 i 1 1 i g v Zur Kasuistik der Dyamegalopaie. 363 

«eine Storung der GroBenschatzung durch den Tastsinn (einseitig) 
hinzu. 

Noch ist der interessante Fall Liebschers (9) zu erwahnen, 
der neben Dysmegalopsie und Stereohemidysmetrese komplizierte 
Sehstorungen (Zittern der Seh-Dinge, Abgebogensehen von ge- 
raden Staben) darbot. 

Ferner hat Liebscher (10) einen Fall von hysterischer Dys¬ 
megalopsie untersucht und beschrieben; er fand, daB die Storung 
aich psychisch beeinflussen lieB, daB z. B. nicht nur Mydriatika 
und Miotika, sondem auch indifferente Fliissigkeiten wie destil- 
liertes Wasser das Sehen beeinfluBten, daB auch — entgegen den 
bisherigen Beobachtungen — Makropsie mit Makrographie ver- 
^esellschaftet war. 

Was die Makro- und Mikrographie anbelangt, so hat zuerst 
Pick (11) im Jahre 1903 zwei Falle von organisch bedingter Mikro¬ 
graphie mitgeteilt; ferner einen weiteren solchen Fall im Jahre 
1906 (12). Mit motorisch bedingter Mikrographie beschaftigt 
sich auch die Arbeit Lowys (13). AuBerdem hat aber auch Pick (14) 
im Jahre 1905 zum erstenmal auf die hysterische Mikrographie 
aufmerksam gemacht und eine Erklarung dafiir zu geben versucht. 

Jetzt sollen die Krankengeschichten unserer 4 Falle ausfiihr- 
lich wiedergegeben werden. 

Fall I 1 ). 

H. M., 26 jahriges Dienstmadchen, wurde am 6. II. 1894 zum ersten 
Male auf die Klinik eingeliefert. Sie war wenige Tage zuvor an Handen 
und FiiBen gefesselt, an die Tischbeine gebunden, von der Dienstfrau ge- 
funden worden, der sehon einige Zeit ihre Niedergeschlagenheit aufgefallen 
war. Sie gab an, daB ein unbekannter Mann sie iiberfallen und in bewuBt- 
losem Zustande vergewaltigt habe. Da aber das Hymen ganz intakt war, 
die Fesselung offenbar von ihr selbst herruhrte, die Wohnungsture von der 
Frau versperrt gefunden wurde und nach Aussage der Hausbewohner 
kein Fremder das Haus betreten hatte, wurden die Aussagen der Patientin 
als wahnhaft erkannt. Sie hatte sich durch eine Bekannte schon friiher 
nach Diktat Liebesbriefe schreiben lassen, wie sie auch spater selbst erzahlte. 

Bei der Einbringung gedriicktes Wesen, hatte seit mehreren Tagen 
nichts gegessen. Aufgefordert, erzahlte sie ausfuhrlich von dem angeb- 
lichen Attentate, sowie von anderen Nachstellungen, unter denen sie seit 
dem 14. Jahre leide. Sie habe hie und da Anfalle von Zittern, bleibe dann 
bewuBtlos. Wird hie und da pathetisch, weint und jammert laut. Die 
Dienstfrau gab an, daB sie von jeher „sentimental und melancholisch“ 
gewesen sei. 

Pat. ist maBig hereditar belastet, Onkel und Vater abnorm. 

Der Status praesens ergab normalen Befund. Sensibilitat, Reflexe 
intakt. Spezifische Lungenaffektion. 

Hie und da auBerte sie Selbstmordabsichten, sie sei hier im Ge- 
fangnis, verlangte eine Schere, um sich die Haare abzuschneiden, verweigerte 
-die Nahrung. Spater war das GesichtsfeZd konzentrisch auf ungefahr 
30 Grad eingeschrankt, hochgradige Storung der Beriihrungs- und Schmerz- 
empfindung in abgegrenzten Hautbezirken. Es wurden auch mehrmals 


Dieser Fall wurde aus anderen Griinden von Herrn Prof. Pick 
bereits im Jahre 1895 publiziert. Vergl. Jahrb. f. Psych. XIV. „Ueber 
pathologische Traumerei imd ihre Beziehungen zur Hysterie“. Es ist der 
-zweite der dort beschriebenen Falle. 

24 % 


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364 


S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


hysterische Krampfanfalle mit d&ran anschliefiendem tagelangem Stupor 
beobachtet. Wiederholt traten traumhafte Zustande auf, wahrend welcher 
si© sich bei Gericht glaubte, die Personen verkannt©, den Professor ala. 
Vater ihres Kindes bat, fur dasselbe zu sorgen. Am 2. VIII. 1896 wurde- 
sie auf Wunsch der Angehorigen ungebessert entlassen, kam nach wenigen 
Monaten wieder, war dann mit wenigen Unterbrechungen bis zu ihrem Tode 
Mai 1912 auf der Klinik. Ihr Zustand war im wesentlichen unverandertr 
Bei mittlerer Intelligenz zeigte sie ein kindisches Wesen, war von wechselnder 
Stimmung, beschaftigte sich mit Nahen und Hausarbeit; im AnschluB an 
die hysterischen Krampfanfalle traten bald Aufregungszustande, bald 
Stupor auf; sie auBerte verschiedene phantastische Wahnideen, die sie 
meist selbst wieder korrigierte. 

Am 27. I. 1912 machte Pat. bei der Friihvisite spontan die Angabe^ 
sie sehe alles so groB und dunkel, alle Leute haben dicke Kopfe und voile 
Gesichter. Das Gesichtsfeld war konzentrisch auf ungefahr 40 Grad ein- 
geschrankt. 

Ein Bleistift erscheint ihr beim Betrachten mit dem rechten Auge 
deutlich langer als beim Betrachten mit dem linken Auge; dabei auBert 
sie, der Bleistift sei mit dem linken Auge gesehen normal groB, mit dem 
rechten Auge gesehen vergroBert. Es wird ihr darauf ein Papierstreifen 
vorgelegt, den sie mit dem rechten Auge betrachten soil (bei verdecktem 
linken) und sie soil aus einer Reihe verschieden groBer Papierstreifen, die- 
selben nur mit dem linken betrachtend, einen gleich langen heraussuchen* 
worauf sie ganz prompt einen wesentlich langeren herausgreift und halt 
diesen fur ebenso groB wie den erstgesehenen (es besteht also eine Makropsie 
des rechten Auges). Die Differenz dieser GroBenschatzung ist so groB,. 
daB ein 4 cm langer Streifen, der mit dem linken Auge richtig als 4 cm 
geschatzt wird, mit dem rechten Auge der Kranken 5 y 2 cm lang erscheint^ 




Beim stereoskopischen Versuch, der so angestellt wird, daB im Bild 
rechts Liegendes mit dem linken Auge gesehen wird und umgekehrt, sah 
Pat. den ihr rechts erscheinenden Strich, der tatsachlich vom linken Augo 
gesehen wird, groBer als den links liegenden. 

Die Anordnung dieses von Fischer angegebenen Versuches ist folgende: 
In dem untenstehenden Bilde (Fig. 1) sind die 4 senkrechten Linien so ge- 
zeichnet, daB sich die beiden auBeren groBeren beim stereoskopischen Sehen 
decken miissen; dann erscheint von den beiden inneren kiirzeren Senkrechten 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


365 


<Lie tatsachlich rechtsliegende links und umgekehrt die linksliegende rechts. 
Die links erscheinende kurze Linie wird also mit dem rechten Auge gesehen 
und umgekehrt. Sieht nun die Rranke den im Bild rechts erscheinenden 
Strich groBer und besteht Makropsie des rechten Auges, so ist dies ein Be- 
T^eis dafiir, daB dieses Stoning nicht im Auge (mid seinem ganzen peripheren 
und kortikalen Apparat) gelegen sein kann, da ja, wie oben angefiihrt, bei 
<Lem stereoskopischen Versuch der groBer erscheinende rechte Strich tat¬ 
sachlich vom linken Auge gesehen wird. 

Da die Kranke sonst Geldstiicke mit dem rechten Auge allein groBer 
sah, mit dem linken normal groB, also Makropsie rechts bestand, so ist damit 
die transkortikaie Genese der Dysmegalopsie erwiesen. 

a) rechtes Auge 


b) linkes Auge 



Fig. 2. 


Das Schreiben verhielt sich folgendermaBen: Am 28. I. schrieb Pat. 
mit dem rechten Auge allein kleiner als mit dem linken Auge (Fig. 2). Am 
3). II., als Pat. Mikropsie des linken Auges hatte, schrieb sie mit dem linken 


a) rechtes Auge 




b) linkes Auge 


J/iomn^cL 


c) mit beiden Augen 


d) beide Augen geschlossen 


Fig. 3. 

Auge allein groBer als mit dem rechten und auch groBer als mit beiden ge- 
dffneten Augen. Mit geschlossenen Augen wird ebenso groB geschrieben 
wie mit offenen Augen (Fig. 3). 

Erkennen dutch den Tastsinn. 

Rechte Hand: 10 Heller halt sie fur 20 Heller. 

Linke Hand: 1 Krone bezeichnet sie als gleich groB mit dem vorher 
gezeigten Gelds tuck. 


6 


C 




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S i 1t i g , Zur K&suistik der Dysmegalopsie. 


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1 Gulden wird mit der linken Hand richtig erkannt, mit der rechten* 
fiir 5 Kronen gehalten. 

Wenn ihr in die rechte Hand ein 20-Heller-Stiick, in die linke 1 Krone 
gelegt wird, halt sie beide fiir gleich. 

20 Heller links und 10 Heller reehts halt sie fiir gleich groB. 

An einem spateren Tage anderte sich der Zustand insofern, als sie 
mit dem linken Auge allein die Gegenstande (Miinzen) kleiner sieht, mit 
dem rechten in normaler GroBe oder manchmal auch kleiner. 

Z. B. 20 Heller werden mit dem linken Auge als 1 Gulden bezeichnet,- 
mit dem rechten Auge groBer als 5 Kronen, doch urteilt sie, es gebe ja keine 
groBeren Miinzen. 

Die Mikropsie des linken Auges bleibt in den nachsten Tagen, wahrend 
am rechten Auge Makropsie besteht. Dabei verandert sich die GroBe der 
Gegenstande mit der Entfernung vom Auge, und zwar nimmt die Makropsie 
des rechten Auges mit wachsender Entfernung zu, mit dem linken Auge- 
sieht Pat. die Gegenstande in groBer Nahe kleiner, bei zunehmender Ent— 
fernung wachsen sie, um dann wieder kleiner zu werden. 

Es seien einige Zahlen dazu angefuhrt: 


Ein 10 cm langer Papierstreifen. 

Linkes Auge. Entfernung 30 cm wird geschatzt 10 cm 


Rechtes Auge. 


Linkes Auge. Entfernung 


Rechtes Auge. 


50 

»» 

99 

99 

15 

99 

80 

99 

99 

99 

15 

99 

120 

99 

99 


10 

99 

150 

99 

99 

9 9 

8 

99 

400 

M 

99 

9 9 

5 

99 

600 

♦ » 

99 


5 

99 

30 

99 

99 

9 9 

10 

99 

50 

99 

99 

99 

15 

»♦ 

120 

99 

99 

99 

18 

,, 

300 

99 

99 

99 

6 


600 „ „ 

Streifen. 

99 

4 

99 

20 

cm 

wird geschatzt 

10 

cm 

50 

99 

99 

99 

15 

99 

100 

99 

99 

99 

12 

99 

150 

99 

99 

99 

10 


300 

99 

99 

99 

7 

99 

600 

»> 

99 

99 

6 

99 

20 

99 

99 

99 

15 

99 

50 

99 

99 

99 

20 

99 

100 

99 

99 

99 

18 

,, 

150 

99 

99 

99 

20 

99 

300 

99 

99 

99 

10 

99 

600 

99 

99 

99 

6 

99 


7 cm langer Streifen. 

Linkes Auge. Entfernung 20 cm wird geschatzt 6 

50 „ „ „ 10 

100 „ „ „ 8 

150 ,, ,, ,, 6 

300 „ „ „ 4 

600 „ „ „ 3 

Rechtes Auge. 20 „ „ „ 10 

50 y, ,, ,, 15 

100 „ „ „ 13 

150 „ „ „ 10 

300 „ „ „ 7 

600 „ „ „ 5 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 










S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


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Man sieht, daB Abweichungen wohl vorkommen, aber doeh eine 
gewisse GesetzmaBigkeit vorhanden ist. Es werden die Zahlen fur die 
geschatzten Langen zunachst immer groBer, um bei weiterer Zunahme der 
Entfernung wieder abzunehmen. 

Die Schatzung von Gewichten verhielt sich f ol gender maBen: 

Linke Hand 60 g — rechte Hand 20 g; gleich 

,, „ 20 ,, — ,, „ 80 rechts etwas schwerer 

„ ,, 40 ,, — ,, „ 20 „; rechts schwerer. 

Miotika und Mydriatika anderten die Dysmegalopsie im gewohn- 

lichen Sinne. 

Am 9. II. wird bei normaler GroBenschatzung des rechten Auges 
Mikropsie des linken Auges konstatiert. Dabei werden auch mit der linken 
Hand Gegenstande kleiner geschatzt, als sie wirklich sind, wahrend sie mit 
der rechten Hand richtig erkannt werden. 

Gewichte werden rechts schwerer als links empfunden. 

Pat. war spater so heruntergekommen, daB eine weitere Unter- 
suchung unmoglich wurde, und starb am 13. V. 

ZusammengefaBt bot die Kranke also folgende Erscheinungen: zu¬ 
nachst Makropsie des rechten Auges, spater Mikropsie des linken Auges, 
wahrend beidemal das andere Auge sich normal verhielt. SchlieBlich zeigte 
sie Makropsie des rechten Auges bei gleichzeitiger Mikropsie des andern 
Auges. 

Der EinfluB der Entfernung war derartig, daB die scheinbare GroBe 
zunachst wuchs, dann mit wachsender Entfernung abnahm (gleichgultig, 
ob Makropsie oder Mikropsie bestand). 

Die Stoning der GroBenschatzung durch den Tastsinn zeigte im all- 
gemeinen folgende Beziehung zur Dysmegalopsie: 

Pat. schatzte mit der rechten Hand die Dinge groBer, wahrend am 
rechten Auge Makropsie bestand und das linke Auge normal sah. Spater 
war Mikropsie des linken Auges mit Kleinerschatzen der linken Hand 
vergesellschaftet bei normalem Verhalten des rechten Auges und der 
rechten Hand. 

Fall II. 

J. A. war 5 mal in der Klinik gewesen; in den Jahren 1897 (2 mal), 
1900, 1902, 1905; jedesmal war der Hergang ein fast ganz gleicher. Pat., 
der ein Trinker ist, beging an den Tagen vor der Einbringung einen Alkohol- 
exzefi, daraufhin begann er plotzlich zu toben, schrie, raufte, knirschte mit 
den Zahnen, glaubte sich manchmal verfolgt. Gewohnlich dauerte dieser 
Zustand kaum einen Tag; meist war er bei der Einbringung in die Klinik 
ruhig, nur zeigte er Amnesie fur das in der Erregung Getane, er wuBte nur, 
daB er mehr getrunken habe als sonst, dann horte die Erinnerung auf. 

Am 6. VI. 1912 wurde Pat. wieder um 12% Uhr nachts gefesselt ein- 
gebracht. Er verhielt sich in der Klinik, nachdem ihm die Fesseln ab- 
genommen waren, ganz ruhig, sprach gar nichts, auch auf Fragen ant- 
wortete er nicht. In der Nacht schlief er wenig, doch lag er ruhig im Bette. 

Am nachsten Tage friih gab er zunachst sehr unwirsch Antworten 
auf Befragen iiber seine Generalien. 

Beim Examen erkannte er den Professor, zeigte sich vollkommen 
orientiert; er gab an, er habe tags zuvor der Fronleichnams-Feierlichkeit 
zugeschaut, es sei sehr heiB gewesen, er habe deshalb etwas getrunken. 
Mittags sei er nach Hause gekommen, habeMittag gegessen, dann sei er in 
einen benachbarten Ort auf Bier gegangen. Er sei dann nach Hause ge¬ 
kommen, habe sich niedergelegt und nach einer Weile seien Polizisten 
dagewesen. 

Bei der darauf vorgenommenen Priifung des subjektiven Gesichts- 
feldes mit dem linken Auge sagte Pat., nachdem er das rechte Auge mit 
der Hand bedeckt hatte, spontan unter verwundertem Lachen: ,,Sie sind 
so klein und schwarz und so weit wie ein Bild.“ 

Das Gesichtsfeld zeigte sich nicht wesentlich eingeschrankt. 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


Mit beiden Augen, sowie mit dem rechten Auge allein erschien dein 
Patienten der Examinator in normaler GroBe. 

Mit dem linken Auge : 

Bleistift wird um die Halfte verkleinert gesehen. Die Entfernung 
von 25 cm wird auf 2 m geschatzt. 

5-Kronen-Stuck: 1 Krone 
1-Kronen- Stuck: 10 Heller 
1 Gulden: 1 Krone. 

Bei langerem Fixieren eines ihm gezeigten Geldstiickes sagt Pat.: 
„Das wird schwarz und immer kleiner, es existiert gar kein solches Geld- 
stiick.“ 

Eine Strecke von 10 cm schatzt er mit dem rechten Auge rich tig, 
mit dem linken auf 5 cm. 

Tasten: In beiden Handen werden die Gegenstande kleiner getastet. 
Die Uhr des Examinators wird fiir eine Damenuhr gehalten; als sie ihm 
dann bei offenen Augen gezeigt wird, sagt er: „Sie haben mir eine andere 
gezeigt, die war so klein. Es macht sich alles kleiner, wenn ich die Augen 
zu habe.“ 

Oervichtsproben: 

250 g werden geschatzt links 300, rechts 500 

500 „ „ „ „ 500, „ 700 

750 „ „ „ „ 1000, „ 1100 bis 1150. 

250 g in jeder Hand gleichzeitig wird in der linken Hand um 100 g 
leichter empfunden als rechts. 

125 g in jeder Hand gleichzeitig: in der rechten Hand um 10—13 dkg 
schwerer als in der linken. 

Am Perimeter zeigte sich das Gesichtsfeld des linken Auges fiir WeiB 
in geringem MaBe eingeschrankt (ca. 10 Grad), das des rechten Auges in 
den normalen Grenzen. Visus betrug links •/«> rechts Vs- 

Mit + 1*5 warden die Gegenstande (Miinzen) vergroBert gesehen, 
mit — 1,5 wurden die Gegenstande verkleinert gesehen. 

Wurden ihm die Miinzen von der Kante, nicht von der Flache aus 
gezeigt, so erkannte er die richtige GroBe. 

Diese Storung dauerte nur ein paar Stunden, dann zeigte Pat. in 
jeder Hinsicht normales Verhalten. 

Aus der Anamnese ergab sich, daB die Angaben des Pat. richtig waren. 
Er war um 9 Uhr abends nach Hause gekommen, hatte iiber Kopfschmerzen 
geklagt. Er kleidete sich dann aus und legte sich ins Bett. Plotzlich be- 
gann er sich in den Kopf zu schlagen, sagte, man solle ihm einen anderen 
Kopf geben, zerriB das Hemd, knirschte mit den Zahnen. Es wurden 
Polizisten geholt; bei ihrem Erscheinen war er aber bereits bei BewuBtsein, 
nannte den Wachmann bei seinem Namen und bat, man moge ihn nicht in 
die Klinik bringen, er habe jetzt viel Arbeit. 

Eine schriftliche Darstellimg der Dysmegalopsie, die vom Pat. selbst 
herriihrt, sei in der Uebersetzung wortlich wiedergegeben: 

I. Mein erstes Sehen mit dem linken Auge verhielt sich folgendermaBen: 
Kurze Zeit nach Verdecken des rechten Auges, etwa innerhalb einer Minute, 
triibte sich mir das Auge, so daB der Gegenstand, auf den ich schaute, 
sich standig entfernte (und zwar) in eine solche Entfernung, daB er wie ein 
schwarzes Bild war. Der Gegenstand war der Herr Professor. 

II. Zweitens waren Miinzen die Gegenstande: 1 Krone, 2 Kronen 
(Gulden), 5 Kronen. Diese Miinzen sah ich stets kleiner, als ihr MaB ist, 
so daB ich 1 Krone fiir 10 Heller, 1 Gulden fiir 1 Krone, 5 Kronen fiir 1 Gulden 
schatzte. Wenn ich durch Glaser (sc. Linsen) schaute, erschien mir alles 
wieder groB, aber es war verschmiert. 

III. Der dritte Fall war die Uhr des Herrn Professors. Ich bekam 
die Uhr in die rechte Hand, diese Uhr schien mir so klein wie eine Damenuhr, 
nahm ich sie aber in die linke Hand, so war sie wieder groBer. Das wieder- 


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S i 1t i g» Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


369 


holte sich auch bei Geldstiicken, daC ich sie immer in der rechten Hand 
kleiner schatzte. 

Dies© Saehe wiederholte sich auch bei Sackchen, die mit einem schweren 
Stoff angefiillt waren; in der rechten Hand schatzte ich immer das Ding 
schwerer als in der linken. Auch das Schatzen der Gewichte fiel stets 
falsch aus in der rechten Hand, in der linken Hand war das Schatzen der 
Gewichte immer sicherer. 

IV. Mit den Maften verhielt es sich gleich. Mit dem linken Auge 
schatzte ich 1 dm auf 5 cm, mit dem rechten Auge rich tiger. 

Fall III. 

K. A., 17 Jahre alt, kam am 1. V. 1912 vom Gerichte zur Klinik. Er 
war wegen Diebstahls angeklagt, doch von den Gerichtsarzten exkulpiert 
worden, da anamnestisch erhoben wurde, daB Fat. seit einigen Jahren an 
hysterischen Anfallen leide. 

In der Klinik benahm sich Pat. vollkommen ruhig und geordnet, 
war arbeitswillig, beteiligte sich unaufgefordert an Zimmerarbeiten. 

Am 31. V. hatte Pat. nach einem Besuch einer Verwandten abends 
einen Anfall; er kriimmte sich am Boden, schlug mit Armen und Beinen 
um sich, reagierte nicht auf Anruf, auf den ersten Nadelstich reagierte er 
durch leichtes Zucken, auf die folgenden nicht. Pupillen reagierten prompt. 
Er schlief dann die ganze Nacht und wuBte fruh nichts aus eigener Erfahrung 
iiber den Anfall. 


a) mit dem rechten 
Auge 



b) mit dem linken 
Auge 



c) mit dem linken 
Auge + 4 D 




d) beide Augen 
geschlossen 



/?/£. 


e) beide Augen 
offen 



Fig. 4. 


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370 


Sit tig, Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


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Am 2. VI. hatte Pat. neuerlich einen gleichen Anfall; nachher blieben 
noch rhythmische Zuckungen um den linken Mundwinkel und im linken 
Arm langere Zeit bestehen. 

Am 11. VI. ein sehr heftiger Anfall derselben Art; Pat. fiel um, schlug 
mit Armen und Beinen um sich, atmete tief; die Pupillen reagierten, auf 
Anruf reagierte Pat. nicht. Allmahlich wurde Pat. ruhiger, es blieben nur 
rhythmische Zuckungen im linken Mundwinkel, linken Arm mid linken 
Bein zuriick, die auch noch bestanden, als Pat. bereits bei BewuBtsein war. 

Bei einer gleich darauf vorgenommenen Priifung gab Pat. an, daB 
er mit dem linken Auge allein die Gegenstande kleiner sah, wahrend sie 
mit dem rechten Auge oder mit beiden Augen gesehen normal groB er- 
schienen. Dies zeigte sich auch in der Schrift des Pat.: mit beiden Augen 
oder mit dem rechten Auge allein schrieb er in seiner gewohnlichen GroBe, 
wahrend mit dem linken Auge allein die Schrift groBer ausfiel (Fig. 4). 
Dabei sah Pat. die Gegenstande mit dem linken Auge um so kleiner, je 
entfernter sie waren. 

AuBerdem erschien ihm beim Sehen mit dem linken Auge alles 
dunkler. 

Beispiele : 

Linkes Auge in 1 m Entfernung: 1 Krone bezeichnet er als 10 Heller, 

20 Heller bezeichnet er als kleiner wie 
Miinzen iiberhaupt, 

in y 2 m Entfernung: 1 Krone bezeichnet er als 20 Heller, 
10 Heller bezeichnet er als 1 Kreuzer 
(2 Heller). 

Rechtes Auge, sowie beide Augen: Miinzen rich tig bezeichnet. 

Schatzen von Langen: 

in 20 cm Entfernung: 2 cm werden als 1 cm bezeichnet 
,, 1 / m ,, 2 ,, ,, ,, l /2 ,, »» 

,, 2 ,, ,, 2 ,, „ „ ein Punkt bezeichnet. 

GroBenschatzung durch Tasten mit einer Hand. 

Linke Hand: 1 Krone als 20 Heller 
1 „ „ 10 „ 

1 Gulden „ 20 „ 

5 Kronen ,, 1 Krone 

Reehte Hand: 1 Krone ,, 20 Heller 

1 Gulden „ 1 Krone. 

Es wurde ihm in die reehte Hand 1 Krone gegeben und er aufgefordert, 
mit geschlossenen Augen mit der linken Hand ein gleich groBes Geldstiick 
unter mehreren auf dem Tische liegenden Miinzen herauszusuchen; er be- 
zeichnete dabei ein Fiinfkronenstiick als das gleich groBe. 

Aufgefordert, bei geschlossenen Augen abwechselnd (einmal mit 
dem linken, einmal mit dem rechten Arm) Kreise von bestimmtem Durch- 
messer zu beschreiben, fielen diese links kleiner aus als rechts. 

Bei der Aufgabe, mit geschlossenen Augen bestimmte Langen mit 
beiden Handen in der Luft anzuzeigen, zeigte er kleinere Strecken an, und 
es fiel dabei auf, daB fast nur die reehte Hand bewegt wurde, wahrend die 
linke immer in derselben Lage blieb. 

12. VI. Die Untersuchung ergab linksseitige Hemianasthesie und 
Hemianalgesie des ganzen Korpers, ebenso linksseitige Anosmie, Gesichts- 
feldeinschrankimg, besonders am linken Auge (Fig. 5). 

GroBenschatzung mit dem linken Auge: 

5 Kronen als 1 Krone. 

1 Krone bezeichnet er als 1 Krone, fiigt aber hinzu, er schlieBe das aus 
dem Kopfe, es sei aber kleiner als 1 Krone. Gleiche Gewichte werden links 
schwerer empfunden als rechts. 

Interessant waren die Angaben des Pat., wenn ihm lange Gegenstande 
gezeigt wurden (Bleistift, Lineal). 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


371 


Linkes Auge: Einen quer gehaltenen Bleistift sieht er rechts starker 
als links. 

Gleich darauf erscheint ihm der Bleistift in seiner ganzen Lange 
gleichm&Big diinner als gewohnlich. 

Rechtes Auge: Er sieht den quergehaltenen Bleistift rechts diinner 
als links. 

Bei einer Wiederholung der gleichen Priifung unmittelbar darauf 
macht er die Angabe, er sehe den Bleistift sowohl mit dem linken als mit 
dem rechten Auge allein an der linken Seite starker als an der rechten. 



Fig. 5. Kobl. 1. Fig. 5. KobL r. 


Ein quergestelltes Lineal sieht er mit beiden Augen parallel, mit dem 
rechten Auge links breiter, mit dem linken Auge rechts breiter. Das langs- 
gestellte Lineal sieht er mit dem linken Auge nach unten breiter werdend, 
wahrend es ihm mit dem rechten Auge und mit beiden Augen gleichmaBig 
breit, parallel erscheint. 

Farbenpriifung: Dunkelrot bezeichnet er als Rosa, Gelb als Oliv, Blau 
als Violett. 

+ 4 D. vor das linke Auge gesetzt: 

*20 Heller bezeichnet er als 1 Krone, 

10 „ „ „ „ 20 Heller. 

— 3D. vor das linke Auge gesetzt: 

10 Heller bezeichnet er als 1 Kreuzer, 

20 „ „ „ „ 20 Heller, 

1 Krone „ „ ,, 20 Heller. 

Es wurde ihm A tropin ins linke Auge getraufelt; bei entsprechender 
Einstellung auf die betreffende Entfernung sieht er dann die Dinge in der 
richtigen GroBe. 1 Krone, 20 Heller, 10 Heller, 2 Heller werden richtig 
bezeichnet. 

Die Storungen blieben noch einige Tage bestehen. Die Schrift blieb 
groBer, wenn Pat. das linke Auge allein geoffnet hatte, und wurde noch 
groBer, wenn er mit der linken Hand schrieb. Mit geschlossenen Augen fiel 
die Schrift ebenfalls groBer aus. 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


Langen schatzte er folgendermaBen: 

Rechtes Auge: 15 cm als 10 cm 


10 „ 
20 ,. 
50 „ 

Linkes Auge: 10 ,, 


10 „ 
„ 20 „ 
„ 1 m 

„ 3 cm 


20 


,, 5—6 cm. 


Es sei noch ganz kurz erwahnt, daB der Pat. mit dem rechten Auge 
und mit beiden Augen horizon tale Linien ziemlich richtig halbierte; mit 
-dem linken Auge allein wurde dagegen dabei so geteilt, daB der rechte Teil 
bedeutend groBer ausfiel als der linke. Erwahnenswert ist noch folgender 
Befund: Es wurden dem Pat. einfache geometrische Figuren ganz kurze 
Zeit gezeigt und er aufgefordert, sie sofort nachzuzeichnen. Dabei machte 
•er selbst bei sehr einfachen Formen Fehler. Es moge jetzt eine Selbstschilde- 
rung des Pat. folgen. 

,,Vor dem Anfalle habe ich manchmal einen oder auch mehrere Tage 
heftiges Kopfweh und zuweilen Zerstreutheit des Geistes. Z. B.: Ich mache 
irgendwelche Arbeit, und auf einmal spiire ich starkes Stechen im Kopfe, 
und meine Gedanken fangen an, sich zu zerstreuen. Ich denke dann an 
gar nichts mehr, und es wird mir schwarz vor den Augen, im Kopfe brummt 
es mir, und ich verliere nach und nach das Gedachtnis. Dann folgt der An- 
fall. Noch hinzufiigen muB ich, daB mir vor dem Anfalle alles kleiner, 
dunkler, weiter und z. B. Stimmen leise vorkommen. Wie der Anfall vor 
sich geht, kann ich aus eigenem Gedachtnis wegen meiner beim Anfall 
dauernden BewuBtlosigkeit nicht schildern, ich weiB nur aus der Mit- 
teilung meiner Umgebung, daB der Anfall folgendermaBen vor sich geht: 
Ich mache z. B. eine Arbeit, falle oder bleibe auch sitzen, fange an zu zucken, 
herumzuhauen, mich zu stemmen, atme tief, erweitere die Brust, reiBe die 
Augen auf, manchmal atme ich einige Augenblicke nicht; am heftigsten 
sollen die Zuckungen auf der linken Seite, bis in den Mund sein. Die An- 
ialle sind nicht von gleicher Dauer. 

Nach dem Anfalle soil ich wie dumm, nicht sprechen, nervos sein. 
Nach beilaufig ein oder zwei Stunden komme ich wilder zu mir, aber nur 
ouf einige Minuten, dann stellen sich starke Kopfschmerzen ein, so daB 
ich keine Lust zur Arbeit und keinen Appetit zum Essen habe. Ich bin 
iiberhaupt dabei ganz verdriefilich. Dann folgt starker Blutandrang zum 
Kopf, so daB ich sehr nervos und ungeduldig bin und mich um meine Um¬ 
gebung wenig kiimmere. Dieser Blutandrang kommt auch auBer den An- 
fkllen zeitweise vor. 

Dieser Zustand dauert nach den Anfallen zwei, drei Tage, dann 
fiihle ich mich wieder ganz normal. AuBerdem bekomme ich manchmal 
Kopfschmerzen, welche 1—2 Tage andauern. Bei den Anfallen, wie mir 
gesagt wurde, wie nach den Anfallen, was ich selbst weiB, habe ich Zuckungen 
auf der linken Seite, und zwar im linken Beine, Arme und im Munde. Erst- 
.genannte Zuckungen vergehen innerhalb 1—2 Tagen, wogegen letztere bis 
zu 3—4 Tagen anhalten. Dann sehe ich auch auf dem linken Auge nach dem 
Anfall© viel schlechter; wie und woher das kommt, kann ich nicht sagen. 
Beide diese Veranderungen sind erst in der letzten Zeit vorgekommen. 
Beim ersten Male hatte ich Angst, daB mir diese Folgen bleiben, aber wie 
os verging und sich dieselben wiederholten, blieb ich schon beruhigt, weil ich 
ersah, daB es nur nach dem Anfalle vorkommt. 

Mitteilen kann ich nur das, dessen ich mich vor und nach den An¬ 
fallen gut erinnern kann, und zwar: 

Wie ich schon selbst beilaufig ein Jahr bemerke, hat sich mein Seh- 
vermogen ziemlich verschlechtert, wodurch, kann ich selbst nicht be- 
urteilen. Und zwar spiire ich sowohl durch langere geistige oder Augen- 
-anstrengung ein Stechen in den Augen, welches, wie ich bemerke, vom Gehirn 
herunter auf die Augen geht. Beim Lesen oder Schreiben, Gehen oder 
Stehen machen sich plotzlich Kreise verschiedener GroBe und Farbe vor mir. 
Dies geschieht taglich zu unbestimmter Zeit, wobei ich heftiges Stechen, 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopaie. 37£ 

sowohl in den Augen als auch im Kopfe spiire; auch erscheinen mir manch- 
mal verschiedene Gestalten: z. B. erscheint mir meine selige Mutter, deren 
Tod mich von jeher sehr gekrankt hat, durch welchen ich alles verloren habe. 
Mir erscheint die selige Mutter, wie sie mich und meine Briider belehrt und 
sich von uns Geschwistern vor ihrem Tode verabschiedet hat. Meine jetzige 
Mutter (Stiefmutter) hat mich und die ganze Familie vernichtet und meine 
Krankheit selbst verschuldet. 

Nach den Anfallen bemerke ich in der letzten Zeit, daB ich auf das 
linke Auge schlechter sehe als auf das rechte, daB aber beide Augen nach 
einer Dauer von 3—4-Tagen ziemlich gut sind. Und zwar geht die Ver- 
schlechterung des Sehvermogens auf folgende Weise vor sich: Ich sehe 
z. B. eine Schrift im Anfang gar nicht, nur groBe Gegenstande, auf welche 
ich geradeau8 schaue , je nach der GroBe, viel kleiner, aber auch viel weiter 
entfernt. 


a) mit dem linken Auge j 

t 

(1 


b) mit beiden Augen 



c) mit dem recht. Auge 



Fig. 6. 


Im Gehen oder im Stehen, wenn ich unbemerkt Sachen (Gegenstande)* 
sehe, so sind sie einmal groB, dann wieder klein, rund, dunkel oder licht,. 
nahe oder weit. Wie z. B. bei einem Menschen sehe ich einen langen Kopf 
oder runden Kopf oder kleinen Korper. 

Noch muB ich hinzufiigen, daB mir in der Nacht sehr oft traumt^ 
daB ich aus dem Bette falle oder daB mich jemand herauswirft. Dann packt 
mich manchmal eine Angst, weshalb aber weiB ich nicht. 

Einen Tisch habe ich so gesehen: (Fig. 6.) 

Eine Krone habe ich so gesehen: (Fig. 7.)“ 

Fall IV. 

R. Z., 20 Jahre altes Dienstmadchen, ist bereits das drittemal in der 
Klinik. 


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S i t■Hf* '%M Xasruiatik ti^z 


^rtiVh-d^r* Ab&^tw dr\ >I«Unr mit n 3&htm **b'r ^-m?.hrooken 
siHfb KidFm Muijo fein ift *?nebJS*di*r and luibe. 

ifeft; *fef ".JZTmj.’*.' ; v tel iw)i dnr Itand^, ■*« ba0 sie dabei meHfc- 

aFkcfibbii uad wcbt arbtbnm ktinup.' .Siv iatbe oft nmr H^wsf* tveg korrune 
dtirfttg’ ftefctaui*u £imu:k mid ste war. 


a) ?Mjl d»Vt» b/lkl-U yUU. 

i . . 



■;' : .S 




l>) uiit tlfHu rochteu 'A&tgh. 





c1 tviit beiden Augeu 


Fig.; 7. 



lu .dgr Kiiddi . h&tte -tife >V4ihreud ihre* fasten Aufeutlralta baufig 
typfeehe . b^Vbmwit^. .KrHn)pfAni’aiU>. N&cb 2 jfiUrrigw* Auf ent I i*U i« bar 



i wiekinr etngebr.k: 

ita'gen •• hutM nun omtgo kurxdduwvd^'-' 

Oawru^rziis$t^iuh;% in d>?t»*?n ;$ie; .zi|«»xTt!0lf?MT»fitV? $n\d[ ■?»> ^io|i frUx-kttk 
Am Fb I..'"1.^18 uoiiyrhv sir bei tU>r- Visitv wpontrm. mv0 sic' all.es . 
grotf sebt*. : '< 7 / '; * - -7 

Mit bekleix An gen sieht sie 7 vru v-in*moke}u‘n urbJ?»^r‘\.-. Ein 
• ‘Fittifkronensf iiek be^eidumt, *»k> ate grclE-r Mis em Fvmffcreneustncfc. 

Bmjii Tafci&xi mil de>r imk<mliaiid br</*n hi id ste » ni Pti n t krouvnst tick 
/unarhst ate Gulden, da»m nehtig, in d«r nHdiitfn jiktid t&*f efc Sjte es gli-ieh 
grofi. 

Mit dem linkafi Auge tttlein tbeht $ie *iik\ Gvgpti&t&nti^ gr^ft^rV'.dAKbgen 
nut: dem rer.hUni ullem sieht sin die i^^vgenst jutvbvklrnH>r als niit doin'linkm/ 
Z; B. .SL-hatzt sie mit dbm linkeii ,• Krone-.afe : .einen• :Ouidan>.'. 

mit drrtj reohten Ange richti is als Ivtone. 

.. Vlwichnr komiiie sie ^absnlut A $ch&t*fci»‘, vm«i man. konntn sn* 

tU\hvr bur yvrglmdioft ia^ds- iiattij Jiiiuden 

bp k^rn ihr dm in d^r .Bafid ^ibvvrer iw, JvEOt ®wi uin 

die Grwiebtn weeb^bk so nrschomt ‘hr-' nacld^r' vieckt -da^ < trwioht in 
der link< ,n Hand iwhw&r^p.' 

YVWden iht 2 gkncfh grofie nfl^Ueuiander vor- 

golialtnn* no striv&titixii ibr sowofd mif h^id^n irpi dw> iiiriwnri 

ulleiu dbr Ifcdkc*: grdfiirr., wiibrend mitt dc^b 'r<*H 4 hl«ii.• Atfgfc. aitam 

schau^nd bt?Mn gi(&iob grnG sieUt. 


'.0:*.V:■X.Qngmalf 
’^NlVEfeftY dF 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


375 


Zwei Linien von verschiedener GroBe werden ihr in verschiedener 
Weise gezeigt (Fig. 8). 


L. R. 


Beide Augen: 


links groBer. 


wird als gleich bezeichnet. 


Linkes Auge: 


links groBer. 


links kleiner. 


Rechtes Auge: 


links groBer. 


links kleiner. 


Fig. 8. 


L 


R 


Fig. 9. 


Beim stereoskopischen Versuch (Erklarung siehe oben) sah sie den 
links erscheinenden Strich groBer als den rechten, also so (Fig. 9). 


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Bfei Vemitb mjit 'Linsatt. e?gab sbh tolgesktear 

Liukv* An>rev Rei Votaetzen von -j- Oder — GJ&serji -arscheint chr 
alles grd&er Ale (Es WMfcde bis — &gegdttgan). 

Beehies Ar»ge: Bei Vorbetzto von — Glaeef n siabt eie dje Oegenstand© 
kleiner. 

Ale jhr j&zt wilder vpr das JtAfee Augo gegebati w-urdw* 

sail sie jjetfei kbinev 


a) mit darn 
reebt, Auge 


b) nut dem 
Unkon Aug® 


0) rnit b&idon 
Augeu 


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Moo&tefcojirirt f. u NAiirolo^i^. Bd. XXX TIT. HeCt .’i. §fr 


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378 


S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


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Sehr interessant ist aber in diesem Falle die Schrift. Pat. schrieb 
namlich mit beiden Augen sehr groB, mit dem rechten allein normal, mit ge- 
geschlossenen Augen sehr groB (Fig. 10). 

Es bestand also bei linksseitiger Makropsie Makrographie. 

Stets erklarte die Kranke auch, dafi sie neblig sehe. 

Das Gesichtsfeld war am linken Auge etwas eingeengt (Fig. 11). 

Spater, als die Stbrung schon geschwunden war, sagte sie, sie habe 
alles dicker gesehen; dabei sei ihralle^ doppelt erschienen, und zwar hinter- 
einander, das nahere Bild sei schon klar und rein gewesen, das dahinter be- 
findliche dagegen unscharf und mit braunen Flecken. Auf die Frage, wieso 
sie das dahinter befindliche Bild habe sehen konnen, antwortet sie, das 
vordere Bild sei durchsichtig gewesen. Ferner bemerkt sie, daB das zweite 
Bild sich bestandig auf- und abbewegte. 

Epikrise. 

Fall 1 . Bei einer jungen Hysterika fand sich eines Tages eine 
Makropsie, auf die sie spontan aufmerksam machte. Eine genauere 
Untersuchung ergab, daB eigentlich nur dann Makropsie bestand, 
wenn die Pat. mit dem rechten Auge allein sah bei geschlossenem 
linken, daB sie aber mit dem linken Auge allein die Gegenstande 
in ihrer normalen GroBe erfaBte. Gleichzeitig wurden die Dinge 
in der rechten Hand groBer und schwerer gesehatzt, links dagegen 
richtig. Beim stereoskopischen Versuch Fischers und bei An- 
wendung die Akkommodation beeinflussender Substanzen verhielt 
sie sich entsprechend den von Fischer gefundenen Gesetzen wie 
eine transkortikale Dysmegalopsie. 

Die Schrift verhielt sich so wie in den Fallen Picks und Fischers. 
Bei anfanglicher rechtsseitiger Makropsie war beim Schreiben bei 
geschlossenem linken Auge Mikrographie vorhanden, wahrend bei 
geschlossenem rechten Auge normal groB geschrieben wurde. Bei 
offenen und geschlossenen Augen hatte die Schrift normale GroBe. 

Interessant und charakteristisch fur die hysterische Genese 
dieser Erscheinung war auch, daB diese Stoning spater in Mikropsie 
des linken Auges umschlug, wobei auch Gegenstande in der linken 
Hand kleiner und leichter gesehatzt wurden. 

Endlich bestand auch einmal Makropsie des rechten Auges 
neben Mikropsie des linken. 

Es ist selbstverstandlich, daB in den Resultaten der Unter- 
suchungen sich hie und da kleine Abweichungen finden, doch wird 
dies begreiflich, wenn man bedenkt, daB das Schatzen an und fur 
sich auch vom Normalen oft nicht richtig getroffen wird, ferner 
daB man es mit einer somatisch schwer kranken, bettlagerigen 
Person zu tun hatte und daB ja die Storungen wechselten. 

Fall II. Nach einem pathologischen Rausch bemerkte ein 
Alkoholiker, als er nur mit dem linken Auge allein schauen sollte, 
daB er alles sehr klein und entfernt sah; mit dem rechten und mit 
beiden Augen sah er normal groB. Gewichte wurden in der rechten 
Hand schwerer getastet, in der linken richtig. Beim Tasten mit 
beiden Handen zugleich schienen dem Kranken die Gegenstande 
kleiner zu sein, als wenn er sie mit beiden Augen ansah. Die 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopaie. 


379 


Stoning dauerte nur ganz kurze Zeit (etwa 2 Stunden), so daB 
weitere Priifungen nicht vorgenommen werden konnten. 

Fall III. Ein junger Hysterikus zeigte nach einem Anfall neben 
snderen linksseitigen Erscheinungen beim Sehen mit dem linken 
Auge Mikropsie, wahrend er mit dem rechten imd mit beiden 
Augen richtig sah. Die Gegenstande wurden in der linken Hand 
bedeutend kleiner getastet. Gewichte wurden links schwerer ge- 
schatzt. Die Schrift war beim Schreiben mit beiden Augen oder 
geoffnetem rechten Auge normal groB, mit offenem linken Auge 
vergroBert, noch groBer bei geschlossenen Augen. 

Pat. machte auch die Angabe, daB er manchmal die Gegen¬ 
stande nur in ihrem linken Anted verkleinert sehe, und zwar manch¬ 
mal beim Sehen mit beiden Augen, manchmal aber auch beim Sehen 
mit dem linken Auge allein. Was die Bewertung der Angaben 
dieses Kranken betrilft, so hatte man oft, besonders spater nach 
oftmaliger Wiederholung der Versuche, den Eindruck, daB er durch 
dieselben beeinfluBt war und nicht immer die Wahrheit sagte. 

Fall IV. Bei einer j ungen Hysterika trat eines Tages Makropsie 
auf, auf die sie spontan aufmerksam machte. Bei der Untersuchung 
zeigte sich, daB nur mit dem linken Auge und mit beiden Augen 
groB gesehen wurde, wahrend mit dem rechten die Gegenstande 
in normaler GroBe erschienen. Die Schrift zeigte Makrographie 
mit beiden Augen, mit dem linken und mit geschlossenen Augen, 
dagegen normale GroBe mit dem rechten Auge. Das Tasten war 
insofern gestort, als zumeist links die Gegenstande groBer und 
schwerer geschatzt wurden; doch war dieses Verhalten nicht 
regelmaBig. Der stereoskopische Versuch erwies diese Makropsie 
als transkortikale. Ferner waren Symptome vorhanden (Doppelt- 
sehen hintereinander), die auf eine Storung der Tiefenwahmehmung 
schlieBen lassen. 


Es sollen jetzt die analogen Erscheinungen bei den ver- 
schiedenen Fallen zusammeugefaBt und verglichen werden, damit 
wir sehen, ob sich irgendwelche GesetzmaBigkeiten und Zusammen- 
hange der einzelnen Symptome daraus ableiten lassen. 

I. 

Zunachst die Sehstorung. Diese stellt sich dar als eine Storung 
des GroBenschatzens. Die Kranken sehen die Dinge entweder 
groBer oder kleiner als normal. Das Auffalligste in unseren Fallen 
ist, daB die Storung sich auf ein Auge oder besser auf eine Seite 
beschrankte. Noch merkwurdiger aber ist, daB diese Storung fast 
in jedem Falle bei genauer Untersuchung sich anders verhielt. 

Einen Fall von beiderseitiger Dysmegalopsie, wie es z. B. der 
^erste Fall Fischers war, haben wir nicht unter unserem Material. 
Ein Fall zeigte Mikropsie eines Auges allein, aber beim Sehen mit 
beiden Augen trat dies nicht zutage, sondern erst wenn das normale 

26 * 


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380 S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 

Auge geschlossen wurde; daher wuBte der Kranke von der Storung 
nichts, bevor er nicht monokular untersucht wurde (Fall II und III). 
Zwei Annahmen sind fur diese Falle mdglich. Entweder bestand 
die einseitige Storung nur dann, wenn der Kranke mit einem Auge 
sah, oder die Storung dieser Seite war wohl vorhanden, wurde aber 
durch das normale Bild des gesunden Auges gewissermaBen iiber- 
deckt oder kompensiert. 

Bei einer zweiten Form nahmen die Kranken die Storung 
wahr und machten spontandarauf aufmerksam, und erst die Unter- 
suchung deckte auf, daB die Storung nur einseitig war (Fall I 
und IV). Hier pravalierte also gleichsam die kranke iiber die ge- 
sunde Seite. Diesem Typus der Unterdriickung konnte man einen 
zweiten Typus gegeniiberstellen, den der Versehmelzung. Allein 
fiir sich gepriift sieht das eine Auge normal, das andere dys- 
megalopisch. Mit beiden Augen gesehen erscheinen die Dinge 
verzerrt (Fall II Fischers ). DaB es sich hier nicht um eine Storung 
handelt, die an das eine Auge gebunden ist, hat Fischer durch den 
stereoskopischen Versuch nachgewiesen. Einen weiteren Beweis- 
fiir diese Auffassung liefert unser Fall II, bei dem zeitweise ein 
Verzerrtsehen auch bei monokularer Betrachtung der Gegen- 
stande auftrat. 

Eine wirkliche Erklarung fiir diese Erscheinungen konnen wir 
vorlaufig nicht geben. Die Theorie, die Fischer aufgestellt hat, 
kann fiir die kortikale Form der Dysmegalopsie als die klarste 
und brauchbarste vorlaufig bezeichnet werden, da sie mit keinen 
uns bis jetzt bekannt gewordenen Tatsachen im Widerspruch steht. 
Fiir die transkortikale Form hingegen nahm schon Fischer an, 
daB sie nicht den physiologischen Gesetzen folgt. Zieht man noch 
in Erwagung, daB es sich um halbseitige Storungen handelt — ein 
Umstand, der auf den hysterischen Charakter der Storung hin- 
weist —, so wird man die Schwierigkeiten eines Erklarungsversuchs 
leicht begreifen konnen. Ist es auch nicht moglich, auf Grund 
der vorliegenden Beobachtungen einen solchen Versuch zu machen, 
so mochten wir doch auf die Richtung kurz hinweisen, in der weitere 
Untersuchungen vielleicht mit Aussicht auf Erfolg unternommen 
werden konnten. Die neuere Psychologie ist bestrebt, in den 
Wahmehmungsvorgangen die Denkprozesse nachzuweisen und 
ihren Anteil an dem Zustandekommen der Wahrnehmungen zu 
bestimmen. Ich mochte nur auf die Arbeit von Jaensch iiber die 
Analyse der Gesichtswahrnehmungen 1 ) hinweisen, ohne naher auf 
sie einzugehen, und mochte namentlich daran erinnern, daB in 
dieser Arbeit der Autor zeigt, wie es moglich ware, fiir die hysteri- 
sche Gesichtsfeldeinschrankung eine Erklarung zu finden auf 
Grund psychologischer Analyse der normalen Gesichtswahmeh- 
mungen. So konnten vielleicht auch in der uns hier beschaftigenden. 
Frage analoge Untersuchungen der GroBenschatzung zu einem 
Ziele fiihren. 


l ) Ztschr. f. Psych. Erganzungsbd. 4. 1909. 


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S i 11 i g , Zur Kasuisfcik der Dysmegalopsie. 


381 


IT. 

Wir kommen jetzt zu einer zweiten Storung, die in alien Fallen 
von Dysmegalopsie beobachtet wurde, der Storung der Schrift. 
Pick hat zuerst die Mikrographie bei Hysterie beschrieben und 
oine Erklarung dafiir gegeben. Er nimmt an, daB die Mikro¬ 
graphie bei Makropsie direkt durch die Sehstorung bewirkt wird 
und daB keine Korrektur durch die kinasthetischen Vorstellungen 
eintritt. Fischer schheBt sich in seiner Arbeit dieser Anschauung 
an. Die Erklarung ist eine sehr einfache: wenn der Kranke die 
Gegenstande sehr klein sieht, so muB er natiirlich beim Schreiben 
die Buchstaben sehr groB machen, damit sie ihm in der normalen 
GroBe erscheinen, und ebenso, nur im umgekehrten Verhaltnis, 
bei Makropsie. Diese Annahme stiitzt sich auf die Beobachtung, 
daB bis dahin stets Makropsie mit Mikrographie und umgekehrt 
Mikropsie mit Makrographie vergesellschaftet war und daB beim 
Schreiben mit geschlossenen Augen normale oder doch fast normale 
GroBe der geschriebenen Buchstaben da war. Wie verhalt sich 
die Schrift in unseren Fallen ? Zunachst fallt auf, daB auch die 
Schreibstorung ,,einseitig“ ist; wenn die Kranken mit geoffnetem 
krankem Auge schreiben, ist die Schrift gestort, wahrend sie beim 
Schreiben mit geoffnetem gesundem Auge normal ist. In unserem 
ersten Falle war das Verhalten analog dem der Falle Picks und 
Fischers , d. h. es bestand bei rechtsseitiger Makropsie rechtsseitige 
Mikrographie, wahrend mit dem linken Auge allein normal groB 
geschrieben wurde. Mit beiden Augen, sowie mit geschlossenen 
Augen wurde fast normal groB geschrieben. Die Differenzen waren 
zwar nicht groB, doch ganz deutlich merkbar, dazu muB man noch 
beriicksichtigen, daB die Patientin somatisch schwer krank und 
bettlagerig war, so daB schon dies die Untersuchung sehr erschwerte 
und die Schrift veranderte. 

Viel scharfer trat die Schreibstorung in unserem dritten Falle 
hervor. Dieser Kranke schrieb namlich sowohl mit beiden Augen 
als auch mit dem rechten Auge normal groB, dagegen mit dem linken 
Auge makrographisch. Wahrend also hier das Verhalten das 
gewohnliche war, verhielt sich die Schrift bei geschlossenen Augen 
anders — sie war namlich auch vergroBert. Wir miissen hier an- 
nehmen, daB entweder bei AugenschluB die Storung der kinastheti¬ 
schen und Tastempfindungen, von welch letzteren spater noch die 
Rede sein wird, hier zutage trat oder, falls diese beim Schreiben 
mit geschlossenen Augen nicht beteiligt sind, die optischen Vor¬ 
stellungen selbst sozusagen vergroBert sind. Fur die erstere An¬ 
nahme sprache der Fall Veraguths , in dem dem Kranken alle Be- 
wegungen vergroBert erschienen, und ebenso der analoge Fall 
Heilbronners. DaB die zweite Annahme auch ihre Berechtigung 
hatte, ergibt sich aus einer kurzen Bemerkung Heverochs , der von 
einem Epileptiker erzahlt, dem die Dinge nur in der Vorstellung, 
nicht aber in der Wahrnehmung vergroBert erschienen. Es ware 
hier noch die Frage aufzuwerfen, ob nicht dieses Verhalten der 
Schrift fur die transkortikale Dysmegalopsie charakteristisch ist. 


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382 S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 

Der erste Fall Fischers wird vom Autor als kortikale Form auf- 
gefaBt. unser Fall ist sicher als transkortikal zu bezeichnen. In 
der Literatur habe ich diesbeziigliche Beobachtungen bei trans- 
kortikalen Fallen nicht verzeichnet gefunden. Es ware daher 
wohl moglich, daB wir darin ein weiteres Kriterium dieser Form 
des Dysmegalopsie hatten, das eine wertvolle Erganzung der 
anderen differentialdiagnostischen Momente bilden konnte. Zu 
diesen rechnet Fischer das Verhalten der Halluzinationen und den 
stereoskopischen Versuch. Eine Stutze fur unsere Annahme bildet 
unser vierter Fall, indem die Kranke das gleiche Verhalten beim 
Schreiben mit geschlossenen Augen zeigte wie Fall III, sie schrieb 
mit geschlossenen Augen auch makrographisch. Eine besondere 
Besprechung erfordert der 4. Fall hinsichtlich der Schrift, da er 
sich ganz anders verhalt als die bisher besprochenen. Hier war 
namlich Makropsie der linken Seite mit Makrographie verbunden. 
Die Erklarungen von Pick und Fischer konnen hier keine Ver- 
wendung finden, und man muB wieder auf die Erklarungsmoglich- 
keit zuriickgreifen, die wir oben fur das Schreiben bei geschlossenen 
Augen erwahnt haben; entweder kann man annehmen, daB ,,ver- 
groBerte Vorstellungen“ entsprechend ohne Korrektur des Auges- 
geschrieben werden oder daB die Storung der Bewegungsempfin- 
dungen die Ursache ist. Ganz analog verhielt sich xibrigens, was* 
die Schrift anbelangt, der Fall Liebschers . Jedenfalls miissen 
wir aus dem verschiedenen Verhalten der Schrift bei unseren 
Kranken annehmen, daB bei diesen Storungen eine verschiedene 
Genese moglich ist. 

III. 

Ferner wurden Storungen der GroBenschatzung durch den 
Tastsinn und solche der Gewichtsschatzung in alien unseren Fallen 
konstatiert, und zwar auch einseitig, also vollkommen entsprechend 
der Hemidysmetrese Heverochs. In unserem ersten Falle wurde 
in der rechten Hand alles groBer getastet imd schwerer empfunden. 
Man konnte hier an eine RegelmaBigkeit denken, indem auf der 
Seite der Makropsie alles groBer und schwerer geschatzt wird, 
aber in den anderen Fallen war dieses Verhalten kein so regel- 
maBiges. In unserem zweiten Falle wurden namlich bei links - 
seitiger Mikropsie in der rechten Hand Gegenstande schwerer 
empfunden, wahrend sie in der linken richtig geschatzt wurden > 
die Gegenstande wurden in beiden Handen kleiner getastet. Im 
dritten Fall schatzt der Kranke bei linksseitiger Mikropsie die 
Gegenstande links kleiner und schwerer. Die linksseitige Makropsie 
des vierten Falles war verbunden mit GroBer- und Schwerer- 
schatzung in der linken Hand. Nur der erste und der vierte Fall 
zeigen also eine gewisse RegelmaBigkeit, wogegen die beideu 
andern keine solche erkennen lassen. 

Ganz kurz mochten wir noch darauf aufmerksam machen, 
daB im vierten Falle sichtlich eine Storung der Tiefenwahrnehmung; 
bestand; Pat. gab nachtraglich an, sie habe die Gegenstande 


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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie. 


383 


doppelt gesehen, und zwar' hintereinander. Jedenfalls ist diese 
Storung etwas so Merkwiirdiges und Exzej)tionelles, daB wir dafiir 
keine Erklarung zu geben versuchen und sie nur erwahnen. Aucb 
wird im Fall II und III angegeben, daB die Gegenstande sehr ent- 
femt erschienen. 

Nach Besprechung dieser einzelnen Erscheinungen ware jetzt 
noch darauf hinzuweisen, daB die Dysmegalopsie nicht eine isoliert 
auftretende Krankheitserscheinung zu sein seheint, sondern daB 
sie mit ahnlichen Symptomen auf anderen Sinnesgebieten ver- 
gesellschaftet vorkommt, was darauf hinweist, daB eine allgemeine 
Storung diesen Erscheinungen zugrunde liegt. Daneben finden 
sich andere halbseitige Storungen Hemianasthesie und Hemi- 
analgesie, Gesichtsfeldeinschrankung des einen Auges. Alles dieses 
weist darauf hin, daB die Genese dieser Storungen eine hysterische 
ist. In unserem zweiten I^alle lag den Erscheinungen ein patho- 
logischer Rausch zugrunde; einen Fall gleicher Aetiologie be- 
schreibt di Gaspero. 

Fassen wir unsere Ergebnisse zusammen, so kommen wir zu 
folgenden Resultaten: 

1. Die hysterische Dysmegalopsie kann einseitig auftreten. 

2. Die hysterische Dysmegalopsie ist kombiniert mit Storungen 
der GroBenschatzung durch den Tastsinn. 

3. Diese Kombination der Storungen auf verschiedenen 
Sinnesgebieten weist darauf hin, daB ihnen eine gemeinsarfte, in 
der Pathologie der Hysterie gelegene Ursache zugrunde liegt. 

4. Es hat sich ergeben, daB bei der hysterischen Dysmegalopsie 
sich nicht solche GesetzmaBigkeiten auffinden lassen wie bei der 
kortikalen. So zeigt namentlich die Schrift kein gesetzmaBiges 
Verhalten, indem Makropsie mit Makrographie vergesellschaftet 
vorkommen kann. 

5. Die einseitigen Storungen der GroBenschatzung mit dem 
Gesichtssinn konnen durch eine Art Unterdriickung oder Kom¬ 
bination des veranderten und des normalen Bildes zu verschiedenen 
Formen fiihren. Es kann namlich zu einer Unterdriickung des 
(einseitigen) pathologischen Bildes kommen oder zu einer Unter- 
driickung der normalen Seite oder zu einer Kombination beider 
Seiten oder zu Kombinationserscheinungen schon bei monokularem 
Sehen. Im ersten Falle wird die betreffende Person mit beiden 
Augen normal sehen, und erst beim AugenschluB auf der ge- 
sunden Seite wird die Storung zutage treten, im zweiten Falle 
tritt die Storung auch beim Sehen mit beiden Augen auf, im 
dritten Falle kommt es beim Sehen mit beiden Augen zu ver- 
zerrtem Sehen, wahrend im vierten Falle dies schon bei monoku¬ 
larem Sehen auftritt. 

6. Bei transkortikaler Dysmegalopsie seheint das Schreiben 
mit geschlossenen Augen nicht in normaler, sondern in entsprechend 
veranderter GroBe zu geschehen, was ein differentialdiagnostisches 
Kriterium zwischen kortikaler und transkortikaler Dysmegalopsie 
ware. 


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384 Schuster, Anatomischer Behind 

Literatur- Verzeichnis. 

1. Veraguth , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 24. 1903. 2. Heil - 

bronner , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. 1904. 3. Pfister , Neurolog. 
Centralbl. 1904. 4. 0. Fischer , Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 19. 

1906. 5. Derselbe, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 21. 1907. 6. Janet , 
N6oroses et idees fixes. 7. di Qaspero , Joum. f. Psych, u. Neur. Bd. 11. 
1908. 8. Heveroch , Casopis 16kaKiv Seskych. 1908. No. 29. 9. Liebscher , 

Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 28. Erganzungsheft. 10. Derselbe, 
Jahrb. f. Psych. Bd. 28. 1907. 11. Pick , Prager med. Woch. 1903. 
No. 1. 12. Derselbe, Wien. klin. Woch. 1906. No. 25. 13. Lowy , Monats- 
schrift f. Psych, u. Neur. 1907. No. 18. Erganzungsheft. 14. Pick , 
Wien. klin. Woch. 1905. No. 1. 


Anatomischer Befund eines mit der Forsterschen Operation 
behandeltenFailes von multipier Sklerose nebst Bemerkungen 
zur Histologic der multiplen Sklerose. 

Von 

PAUL SCHUSTER 

in Berlin. 

(Hierzu Taf. XII—XV.) 

Ein nach mehrjahriger Beobachtung im AnschluB an die Durch- 
schneidung der hinteren Wurzeln znr Sektion gekommener Fall 
von multipler Sklerose gab mir Veranlassung, nach mehreren 
Richtungen hin Untersuchungen anzustellen. Der Fall schien mir 
aussichtsvoll hinsichtlich der Feststellung eventueller sekundarer 
Degenerationen in den Hinterstrangen, hinsichtlich des Eintrittes 
von Zellveranderungen in den Vorderhornern und er schien mir 
weiter interessant im Hinblick auf das sich aus alten und aus 
aufgepfropften frischen Veranderungen zusammensetzende patho- 
logisch-anatomische Bild. 

SchlieBlich konnte der Fall auch Gelegenheit geben zum 
Studium gewisser Einzelheiten der anatomischen Grundlage der 
multiplen Sklerose. 

Indem ich auf Wiedergabe der ausfiihrlichen Krankheits- 
geschichte verzichte, sei betreffs des klinischen Verlaufes nur 
folgendes berichtet: 

Die damals 33 Jahre alte Kaufmannsfrau F. kam am 3. IV. 1909 in 
meine Behandlung und klagte dariiber, dafi ihr seit 7—8 Monaten das 
Heben der Fiifie schwer werde, dafi sie Brennen in den Fiifien habe und dafi 
sie an Verstopfung leide. Keine weiteren Klagen. Lues negiert (Wasser- 
mann negativ). 

Pat. hat zweimal geboren, einmal abortiert. Das eine Kind (von mir 
mitersucht) ist ausgesprochen neuropathisch. 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Fa lies etc. 385 


Bei der Untersuchung der Pat. fand ich eine gutgen&hrte, nicht 
leidend aussehende Frau. Die Pupillen waren gleich, reagierten gut auf 
Lichteinfall undAkkommodation; keine Augenmuskelstorungen, kein Nystag¬ 
mus; leichtes Lidflimmern beim LidschluB. Sonst nichts Bemerkenswertes 
seitens der Hirnnerven. Arme und Hande kr&ftig, keine Ataxie der Hande, 
kein Intentions tremor. Dagegen bestand starker Handetremor beim Spreizen 
und Vorstrecken der Hande. Ebenso wie die Arme waren auch die Beine 
krftftig. Der Tricepsreflex war beiderseits lebhaft, die Patellar- und Achilles- 
reflexe beiderseits deutlieh gesteigert. Sowohl rechts als auch links lieB sich 
FuBclonus und ebenso Bab inski feststellen. Der Mendel-Bechterewsche 
Reflex war dagegen rechts und links normal. Die Bauchdeckenreflexe fehlten 
beiderseits. Die Sensibilitat, welche im Gesicht und am Oberkorper normal 
war, zeigte an den Beinen leichte und unsichere Storungen: Stiche wurden 
libera 11 schmerzhaft empfunden, warm und kalt wurde jedoch — besonders 
auf den FuBsohlen — verwechselt. Auch an der AuBenseite des rechten 
Ober- und Unterschenkels wurde anfanglich eine leichte Stoning derTempera- 
turempfindung angegeben, welche alierdings nachher verschwand. Am 
&uBeren FuBrand und an der Fufisohle bestand eine Unempfindlichkeit fiir 
leichte Watteberiihrungen. Starker© Beriihrungen wurden hier empfunden, 
aber weniger als an anderen Stellen. 

Keine Ataxie der Beine, keine Lagegefiihlsstorung. Leicht spastischer 
Gang. 

Organbefund ohne Besonderheiten, Urin frei von EiweiB und Zucker. 
Keine Driisenschwellungen. keine Narben oder dergl. 

Im Oktober 1909 zeigte sich der Gang der Patientin etwas verschlech- 
tert und der rechte N. opticus erschien mir etwas blaB. Der Augenarzt fand 
beiderseits stark myopischen Astigmatismus mit (rechts) angeborener 
Amblyopie, erklarte aber den Sehnerv fiir nicht pathologiseh abgeblaBt. 
Drei Monate sp&ter fand der Augenarzt eine leichte konzentrische Gesichts- 
feldeinengung, erklarte jedoch abermals, daB die leichte Opticusbl&sse rechts 
innerhalb der Norm lage. 

Ohne daB nun neue Krankheitserscheinungen aufgetreten waren, 
verschlechterte sich der Zustand der unteren Extremitaten allmdhlich immer 
mehr, besonders wurde das Gehen immer schleehter und die anfanglich nur 
geringen Muskelsteifigkeiten wurden langsam immer starker. Im Februar 
1910 bestand eine starke spastische Parese der Beine. Neu war eine ganz 
leichte, aber bei wiederholten Untersuchungen jedesmal konstatierte taktile 
Hypasthesie anscheinend segmentaren Charakters. Hinten, ungefahr 
vom unteren Schulterblattwinkel ab, und vorn von der 5.— 6. Rippe ab — 
beiderseits — wurde die Nadelspitze zwar noch als Spitze erkannt, aber 
iiberall unterhalb der genannten Linie als „nicht so scharf“ bezeichnet als 
oberhalb der betreffenden Linie. Die — spater wieder verschwundene — 
Sensibilitatsstorung war trotz ihrer Geringfahigkeit so ausgesprochen, daB 
zeitweise an der Diagnose der multiplen Sklerose gezweifelt und an einen 
spinalen Tumor gedacht wurde. 

Jede Therapie erwies sich als machtlos; auch eine intensive Schmier- 
kur, welche trotz des negativenWassermann(Blut) von uns eingeleitet worden 
war, hatte keinen Erfolg. Im Januar 1912 konnte die Kranke auf der 
StraBe iiberhaupt nicht mehr gehen, im Zimmer konnte sie ungestiitzt nur 
3—4 Schritte machen. Der Gang war maximal spastisch. In der Riicken- 
lage traten sehr starke Muskelsteifigkeiten der Beine — auch der Ad- 
duktoren — zutage. Die Kraft der Beine war dabei relativ gut. Neu auf¬ 
getreten war jetzt ein leichter horizontaler Nystagmus, besonders beim Blick 
nach links. Die Sprache war nach wie vor in Ordnung. Die friiher vorhanden 
gewesenen Sensibilitatsstorungen waren nicht mehr nachweisbar, vielleicht 
bestand vom auf dem Rumpf von der Mitte des Brustbeins ab noch eine 
minimale Hypasthesie. Keine Blasen- und Mastdarmstorungen. alierdings 
dauernde Verstopfung. Keine Schmerzen. Reflex© wie friiher. 

Da die Patientin andauernd vollig unfahig war, sich vom Platze 
zu bewegen, so wurden die Chancen einer chirurgischen Behand- 


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38(i Schuster, Anatomischer Befund 

lung, auf welche die Patientin selbst dauernd drangte, mit dem 
Ehegatten besprochen. Trotzdem mir bekannt war, daB die 
Erfolge der Forsterschen Operation gerade bei der Sclerosis multi¬ 
plex die am wenigsten guten waren, — Forster 1 ) erwahnt 1911 
5 operierte Falle mit 4 Todesfallen; dazu kommt noch ein gleich- 
falls letal verlaufener Fall van Oehuchtens 2 ) —, wurde angesichts 
der dauernd fortschreitenden Verschlimmerung der Spasmen und 
angesichts der volligen Aussichtslosigkeit der internen Behandlung 
auf einen gewissen Erfolg der Operation gehofft. 

Am 10. I. 1912 nahm Herr Prof. Bockenheimer die Laminekto- 
mie vor und durchschnitt beiderseits die 2., 3. und 5. Lumbal- 
und die erste Sakralwurzel. Die Operation war bei dem ziemlich 
starken Fettpolster der Pat. recht miihsam und dauerte ca. eine 
Stunde. Eine nennenswerte Zerrung oder eine Verletzung der 
vorderen Wurzel fand nicht statt. 

Nach der Operation bestand bei der Patientin ca. 2 Tage 
lang eine allmahlich sich etwas aufhellende leichte Benommenheit. 
Die Temperatur stieg am Abend des Operationstages auf 38° 
und schwankte von da ab zwischen 38° und 39°. Es zeigte sich 
schlieBlich leichte Genicksteifigkeit. Ein Verbandwechsel ergab 
keine Sekretverhaltung, nichts von Eiterung. und glatten Wund- 
verlauf. Bei dem benommenen Zustand der Kranken konnten 
feinere neurologisehe Feststellungen naturgemaB nicht gemacht 
werden. Die Untersuchung der Hirnnerven ergab nichts Neues, 
besonders nichts am Augenhintergrunde. Soweit die Sensibilitat 
gepriift werden konnte, zeigte sich, daB Pat. auf der Streckseite 
der beiden Oberschenkel sowie in den proximalen Partien der Un- 
terschenkelstreckseite die Nadelspitze nicht als solche erkannte. 
An den FiiBen wurde die Nadelspitze erkannt. Willkurliche Be- 
wegungen fuhrte Patientin nicht aus: es konnte bei der Benommen¬ 
heit nicht entschieden werden, ob Pat. wirklich unfahig war, die 
Beine zu bewegen, oder ob Pat. die Bewegungen aus Furcht vor 
Schmerzen scheute. 

Beiderseits bestand schwacher Babinski, der Patellarreflex 
war beiderseits spurweise auslosbar. Auf die Piiifung des Achilles- 
reflexes muBte verzichtet werden, da die Pat. bei Anhebung der 
Beine starke Schmerzen empfand. 

Der Exitus erfolgte am 17. Januar — 7 Tage nach der Ope¬ 
ration — unter weiterer Temperatursteigerung und den Erschei- 
nungen einer Pneumonie. 

Aus auBeren Griinden konnte nur eine Sektion des Riicken- 
marks vorgenommen werden. Weder an den Riickenmarkshauten 
noch am Riickenmark selbst — soweit dasselbe sichtbar war — 
wurde bei der Herausnahme etwas Krankhaftes bemerkt. Quer- 
schnitte durch das Riickenmark wurden nicht angelegt und das 
Organ in toto in Formalin gebracht. Hervorgehoben zu werden 


*) N&vraxe. Bd. XI. 1911. 

■) Ergebnisse der Chir. u. Orthopadie. Band 2. 


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eines mit der Fdrsterschen Operation behandelten Falles etc. 387 

verdient, daB die Operationsstelle sowohl auBen auf der Haut 
als auch weiter nach innen hin einen vollig unauffalligen Eindruck 
machte, und daB nirgends eine Spur von Eiterung zu sehen war. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung kam es mir zunachst 
auf etwaige Zellveranderungen in der Vorderhomern der operierten 
Segmente, sowie auf Degenerationen in der weiBen Substanz an. 
Ich untersuchte somit zuerst NiBl- und dann Marchi-Praparate 
der betreffenden Hohen. * 

Man hat bekanntlich vielfach versucht, die — wohl in erster 
Reihe aus der Beobachtung der Sehnenreflexe gefolgerte, dann 
durch zahlreiche klinische Erfahrungen gestiitzte und zuletzt 
durch die Forsterache Operation bestatigte — Annahme eines engen 
physiologischen Zusammenhanges zwischen hinterer Wurzel und 
motorischer Vorderhornzelle anatomisch zu verifizieren. Hierzu hat 
man sich sowohl des Tierexperimentes bedient, als auch anatomi- 
sche Befunde aus der menschlichen Pathologie verwertet. 

Kahler und Pick 1 ), Friedlander und Krause 2 ) und Homen 
fanden in den 80 er und 90 er Jahren bei der Untersuchung des 
Riickenmarkes Amputierter neben anderen spinalen Veranderungen 
auch solche des Vorderhomes, welche sie — zum Teil wenigstens — 
mit den Schadigungen des Systemes der hinteren Wurzeln in Ver- 
bindung brachten. Nach Friedlander und Krause waren die von 
den hinteren Wurzeln abhangigen Vorderhornzellen diejenigen der 
hinteren seitlichen Gruppe. 1893 fand Lambert und 2 Jahre spater 
Mann [zit. nach Lapinsky 3 )] Strukturveranderungen der Vorder¬ 
hornzellen nach elektrischer Reizung der sensiblen Nerven und 
bestatigten damit anscheinend die kurz vorher (1892) von Mari - 
nesco ausgesprochenen Ideen iiber die trophische Abhangigkeit 
der Vorderhornzellen von den sensiblen Impulsen. 

Von weiteren experimentellen Untersuchungen, welche sich 
mit dem EinfluB der hinteren Wurzeln auf die motorische Sphare 
beschaftigten, ist die aus dem Jahre 1895 stammende Arbeit von 
Mott und Sherrington 4 ) zu erwahnen. In dieser Arbeit werden zwar 
gewisse Storungen der Motilitat, aber keine trophischen Muskel- 
storungen oder diesen entsprechenden histologischen Befunde mit- 
geteilt 5 ). Aus der gleichfalls im Jahre 1895 erschienen Onufachen 
Arbeit, die sich der damals soeben eingefiihrten March tschen und 
der Nifttachen Methode bediente, laBt sich ebensowenig wie aus der 
Mott-Sherringtonachen mit iiberzeugender Sicherheit eine trophi¬ 
sche Abhangigkeit der Vorderhornzelle von der hinteren Wurzel 
ableiten. Denn in den meisten Onufachen Versuchen war neben 
der hinteren auch die vordere Wurzel durchschnitten, und nur in 
einem Experiment Onufs (Durchschneidung eines Astes einea 
Interkostalnerven) konnten die Veranderungen in den Vorderhorn- 

Arch. f. Psych. Bd. 10. 

2 ) Fortschritt© d. Med. 1886. 

3 ) Arch. f. Psych. Bd. 42. 1907. 

4 ) Proceedings of the royal Soc. of London. 1895. Bd. 57. 

5 ) Joum. of nerv. and ment. diseases. Oktober 1895. 


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388 


Schuster, Anatomischer Befund 


zellen — und zwar der hinteren aufieren Gruppe — event, mit der 
Lasion der sensiblen Sphare in Verbindung gebracht werden. 

Trotzdem von nun ab die Ni/Slsche Methode und vereinzelt 
auch die Fibrillendarstellung [Pesker 1 )] angewandt wurde, ergaben 
die — meist experimentellen — Studien der letzten beiden Dezen- 
nien kein vollige Uebereinstimmung der Befunde untereinander. 
Flemming 2 ) (1897), Warrington 3 ), Braunig*) (1903), Lapinsky s ) 
(1907), Pesker (1907), Mingazzini und Polimanti ®) (1904) sahen 
Veranderungen der Vorderhornzellen, Braunig sogar auch solche 
der vorderen extraspinalen Wurzeln und bezogen dieselben auf 
die Lasion der hinteren Wurzeln. Dagegen {and Kopcynsiki 1 ) 
(1906) in seinen an Affen angestellten Versuchen keine Vorderhorn- 
erkrankung, und Knape 8 ) (1901) will die nach Nervendurchtrennung 
konstatierten Veranderungen der Vorderhornzellen viel eher auf 
die Schadigung des motorischen als auf diejenige des sensiblen 
Anteils des durchtrennten Nerven bezogen wissen und wendet 
■sich dabei bestimmt gegen die Marinescosche Auffassung. 

Bemerkenswert erscheint, dafi zwar wiederholt die hintere 
laterale Gruppe des Vorderhoms als die befallene bezeichnet wird, 
dafi aber demgegeniiber einzelne Beobachter (Mingazzini und 
Polimanti) die erkrankten Vorderhornzellen zerstreut im ganzen 
Vorderhorn — und nicht auf eine einzelne Gruppe beschrankt — 
gesehen haben wollen.. Auch das verdient erwahnt zu werden, 
dafi bald die Vorderhornzellen der operierten, bald der gegen- 
iiberliegenden Seite, bald beider Seiten affiziert gefunden wurden. 
Fast alle Untersucher, welche Zellveranderungen fanden, leiten 
dieselben ohne weiteres direkt von dem Ausfall der hinteren 
Wurzelreize (via Reflexzollateralbahn) ab. Lediglich Pesker 
bezieht die Veranderungen im Vorderhorn nicht auf den Ausfall 
der hinteren Wurzelreize, sondern auf die operativ geschaffenen 
Zirkulations- und ahnliche Storungen. Die Zahl der erkrankten 
Vorderhornzellen wird meist als recht grofi bezeichnet. Warrington 
spricht von V 5 —V 4 der Vorderhornzellen, Pesker meint, es seien, 
,,viel mehr Zellen, als man erwarten sollte". 

Was die Hohenlokalisation der gefundenen Zellveranderungen 
gegeniiber der Hohe der gesetzten Wurzelschadigung angeht, so 
wurden die Zellen einige Male (Lapinsky) nur in einem bestimmten 
Abschnitt des operierten Segmentes erkrankt gefunden, ein andermal 
(Braunig) wurden nicht in alien, sondern nur in einigen der operier¬ 
ten Segmente Zellveranderungen der Vorderhorner konstatiert. 

') l’Enc6phale. 1907. Bd. II. 

2 ) Edinb. Med. Journ. 1897. Bd. 43. 

3 ) Joum. of Physiology. Bd. 23 u. 24. 

4 ) Arch. f. Anat. u. Phys. Phys. Abt. 1903. 

fi ) Arch. f. Psych. Bd. 42. 1907. 

6 ) Jahresbericht liber die Leistungen und Fortschritte der Neurologie 
und Psychiatrie. 1904. 

7 ) Neur. Zentralbl. 1906, S. 297. 

®) Zieglers Beitrage. 1901. Bd. 29. 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 389 

Wie man sieht, stimmen die Resultate der einzelnen Ex- 
perimentatoren auch hier noch keineswegs hinreichend mit- 
einander iiberein. Vielleicht sind hierfur Differenzen in der An- 
ordnung der Versuche (verschiedene Tierarten, ungleichmaBige 
Ausfuhrung der Operation, verschieden lange Zeitraume zwischen 
Operation und Totung), vielleicht aber auch noch andere Momente 
verantwortlich zu machen. 

Der EinfluB der am Menschen ausgefiihrten hinteren Radiko- 
tomie auf die Vorderhornzellen ist, soweit ich aus der Literatur 
ersehe, erst einmal studiert worden. Groves 1 ) (1911) untersuchte 
das Riickenmark eines Tabikers, welchem wegen seiner heftigen 
Magenkrisen die 7.—10. hintere Dorsalwurzel durchtrennt worden 
war. Nach der am 26. August vorgenommenen Operation besserten 
sich die Schmerzen, es trat jedoch sehr heftiger Durchfall auf. 
Am 21. September starb Pat. plotzlich. Die Sektion ergab Degene¬ 
ration der Hinterstrange im Cervikalmark. ,,AuBerdem zeigten 
viele Vorderhornzellen in der Dorsalregion ausgesprochene 
Chromatolyse. ‘ ‘ 

Wie war nun das Resultat der Untersuchung meines eigenen 
Falles mit Riicksicht auf die oben behandelte Frage ? Alle5 Lumbal - 
segmente und das erste Sakralsegment waren nach der At^fechen 
Methode untersucht worden, auBerdem waren von jedem Segment 
auch Weigert-Pal Schnitte und — mit Ausnahme von L 2 — auch 
Marchi-Praparate gemacht worden. Die Durchsicht der Schnitte 
ergab nun in S x und in L 5 , L 4 , L 3 , L 2 in einer Anzahl motorischer 
Vorderhornzellen Veranderungen, welche als frische angesehen 
werden muBten. In L x waren diese frischen Zellveranderungen 
nicht mit ganz der gleichen Sicherheit festzustellen. In L 2 und 
S x waren sie bei weitem am starksten. 

Eine bestimmte Zahl der in jedem Schnitte als krank zu 
bezeichnenden Vorderhornzellen laBt sich nicht angeben; schatzungs- 
weise mochte es der ca. 10. Teil aller motorischen Zellen gewesen 
sein. Die erkrankten Zellen zeigten Zerfall der Granula, der nicht 
selten bis zur staubformigen Umwandlung der chromatophilen 
Substanz ging. Die Zelle war nie geschrumpft, eher geschwollen 
und sah manchmal stark geblaht aus. Die Fortsatze waren bei 
den Ganglienzellen der zuletzt geschilderten Art geschwunden, 
im allgemeinen jedoch gut erkennbar. Der Zellkern lag nur selten 
exzentrisch und wies meist ein gut gefarbtes Kemkorperchen auf. 
In den geblahten, mit staubformig verandertem, schwer farbbarem 
Protoplasma erfiillten Zellen war der Kern entweder ganz ge¬ 
schwunden, oder er hatte einen zerfallenen detritusahnlichen Inhalt r 
welcher sich graublau tingierte. (Vergl. Taf. XIV/XV, Abb. 2.) 

Neben diesen offenbar akut erkrankten Zellen war die Mehr- 
zahl der Zellen in alien Hohen des Lenden- und Sakralmarkes 
vollig gesund. Als sehr auffallig muB hervorgehoben werden, 
daB der Pigmentgehalt samtlicher Vorderhornzellen — auch der 


*) Lancet. 8. VII. 1911. 


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Schuster, Anatomischer Behind 


gesunden — ein ganz auBerordentlich groBer wax*. Diese Besonder- 
heit teilten die Vorderhornzellen des Lenden- und Sakralmarkes 
jedoch — wie wir noch sehen werden und wie sich iibrigens auch 
aus der Betrachtung der Marchi- und Weigert-Praparate ergibt — 
mit den Vorderhornzellen der Cervikal- und Dorsalsegmente. 

Noch ein wichtige Tatsache ist zu berichten: die erkrankten 
Zellen lagen in keinem einzigen Praparat in einer Gruppe ver- 
einigt, sondern sie lagen zerstreut zwischen den iibrigen, gesunden 
Zellen, bald mehr im hinteren, bald mehr im vorderen Teil des 
Vorderhornes. Die hintere laterale Gruppe, welcher besonders 
nahe Beziehungen zu den hinteren Wurzeln nachgesagt werden, 
war in keinem einzigen Praparat besonders stark beteihgt. 

Es fragt sich nun, ob wir die gefundenen frischen Verande- 
rungen der Vorderhornzellen des Lenden- und Sakralmarkes mit 
der operativen Wurzeldurchschneidung in Zusammenhang bringen 
<liirfen. Dies wiirde ohne weiteres der Fall sein, wenn auBer der 
Radikotomie kein anderes atiologisches Moment fur die Zell¬ 
er krankung in Betracht kame. Dem ist aber nicht so. AuBer der 
7 Tage vor dem Tode vorgenommenen Abtrennung der hinteren 
Wurzeln miissen bei der Deutung der konstatierten Zellveranderun- 
gen noch in Betracht gezogen werden der sklerotische Grund- 
prozeB sowie die finale fieberhafte, leichte leptomeningitische 
Reizung des Riickenmarkes. 

Angesichts der Schwierigkeiten, welche sich der Beurteilung 
<ier Zellveranderungen bei dieser Vielheit der moglichen ursach- 
lichen Momente entgegenstellten, konnte man nur dadurch zu einem 
^ewissen Resultat zu kommen hoffen und sich nur so helfen, daB 
man die Zellpraparate des Lenden- und Sakralmarks mit Zell- 
praparaten aus dem Cervikalteil und Dorsalteil verghch und unter- 
suchte, ob sich auch im Cervikal- und Dorsalteil Zellen erkrankt 
zeigten, und ob die gleichen atiologischen Momente wie im Lumbal - 
teil auch in jenen Hohen wirksam gewesen sein konnten. 

Zum Vergleich wurden neben den iibrigen Segmenten be¬ 
sonders herangezogen das 6. Cervicalsegment und das 6. Dorsal - 
segment. Von diesen Hohen waren auBer den Marchi-Weigert- 
und van Gieson-Praparaten auch NiBl-Praparate gemacht worden. 

Die Betrachtung der NiBl-Praparate von C 6 und D e ergab nun 
als augenfalligen Unterschied gegeniiber den Zellpraparaten der 
Lumbal- und Sakralgegend, daB frisch erkrankte Vorderhornzellen 
vollkommen fehlten. Dagegen waren die NiBl-Praparate des Hals- 
und Brustmarkes ihrerseits dadurch auffallig, daB die Mehrzahl 
der Vorderhornzellen geschrumpft erschienen und in einem durch 
die Retraktion entstandenen groBen pericellularen Hof lagen. 
Der Kern und die Zellgranula waren durchweg gut erhalten, aUer- 
dings hatte die achromatische Substanz vielfach den Farbstoff 
mehr oder weniger angenommen. Die Zellfortsatze waren in der 
Mehrzahl der Zellen erhalten und fehlten nur an wenigen, vollig 
geschrumpft und abgerundet aussehenden Zellen. Manchmal 
sahen die Zellfortsatze auch eigentiimlich spiralig aus, gleichsam 


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eines mit der Forstorschen Operation behandelten Falles etc. 391 


als waren sie durch eine elastische Kraft zusammengeschnurrt. 
Auch in dem Cervikal- und Dorsalmark hatten alle Zellen auBerst 
viel gelbes Pigment. Im ganzen hatte man die Zellveranderungen 
des Cervikal- und Dorsalteiles ohne weiteres und mit Bestimmtheit 
als den Ausdruck einer alten chronischen Zellerkrankung auffassen 
miissen, wenn die auf NiBl-Praparaten so deutliche Schrumpfung 
des Zelleibes nicht auf den Weigert-, Marchi- und Gieson-Schnitten 
gefehlt hatte. Da die meisten Zellen der genannten Kontroll- 
praparate nicht geschrumpft erschienen, und da auBerdem der 
Kern fast durchgehends normal aussah, so ergab sich eine groBe 
Wahrscheinlichkeit dafiir, daB die Schrumpfung der Zellen auf 
den NiBl-Praparaten ein Artefakt war. 

Absolut sichere Zellveranderungen in den Vorderhornern 
der hoheren Riickenmarkssegmente sind somit in nennenswerter 
Zahl nicht vorhanden, auf keinen Fall aber derartige frtsche Zell- 
verdnderungen, wie wir sie im Lenden- und Sakralteil beobachtet 
haben. Beziiglich der Beschaffenheit der Vorderhornzellen besteht 
also eine erhebliche Differenz zwischen dem Lendenmark und den 
hoheren Bezirken. 

Wie verhielten sich nun diese letzteren in Bezug auf jene 
beiden anderen Momente, welche eventuell fur den Eintritt der 
Zellveranderungen verantwortlich gemacht werden konnten ? Der 
finale, iibrigens niu* unerhebliche meningitische ProzeB fand sich 
— wie wir weiter unten noch genauer sehen werden — keineswegs 
auf die lumbalen Teile des Riickenmarks beschrankt, sondern 
er hatte das Dorsalmark und ebenso auch das Cervicalmark in 
mindest gleicher Weise wie die tieferen Teile ergriffen. Ja stellen- 
weise hatte der frisch entziindliche ProzeB in den hoheren Riicken- 
marksabschnitten deutlich den Riickenmarksquerschnitt in Mit- 
leidenschaft gezogen. Wollte man demnach den frischen menin- 
gitischen ProzeB mit den akuten Zellerkrankungen des Lumbal- 
markes in Verbindung bringen, so hatte man mindestens die 
gleichen Zellveranderungen wie im Lumbal- und Sakralteil auch 
im Cervikal- und Dorsalteil finden miissen; denn hier hatte die 
meningitische Noxe mindest ebenso stark eingewirkt wie im 
Lendenmark. 

Auch der sklerotische GrundprozeB konnte wohl kaum als 
Ursache der akuten Zellveranderungen der Lumbalsegmente an- 
gesehen werden. DaB der pathologisch-anatomische ProzeB der 
multiplen Sklerose die Nervenzellen erfahrangsgemaB iiberhaupt 
auffallend wenig schadigt, davon wird spater noch — ebenso wie von 
den Einzelheiten des sklerotischen Prozesses und seiner Ausbreitung 
im vorliegenden Fall — die Rede sein. Fs kann aber schon hier gesagt 
werden, daB die pathologisch-anatomischen Veranderuugen des 
Grundprozesses die graue Substanz der proximaleren Segmente 
ebenso befallen hatten wie diejenige des Lendenmarkes. Ein 
Unterschied hinsichtlich des anatomischen Grundprozesses be- 
stand zwischen den beiden in Betracht kommendne Hohen 
nur insofern, als der sklerotische ProzeB in den hoheren 


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392 


Schuster, Anatomischer Befund 


Abschnitten offenbar weit alter war und zu viel erheblicheren 
Sklerosierungen gefiihrt hatte als in den distaleren Abschnitten. 

Per exclusionen kommen wie also zu der Auffassung, daB 
die frischen Zellveranderungen in den Segmenten L 2 —L 6 und in 
wahrscheinlich auf die Durchschneidung der hinteren Wurzeln 
zuriickzufuhren sind. Dieser SchluB kann jedoch nur mit einer 
gewissen Wahrscheinlichkeit , gewiB nicht mit Sicherheit gemacht 
werden. Denn die Verhaltnisse sind im vorliegenden Fah bei der 
Kompliziertheit des anatomischen Substrates und der Multi- 
plizitat der Noxen nicht durchsichtig und einfach genug, als daB 
man die operativ geschaffene Situation als einwandfreies Ex¬ 
periment bezeichnen diirfte. 

An und fur sich und besonders auch im Hinblick auf die vor¬ 
liegenden Erfahrungen des Tierexperimentes ist der Zusammen- 
hang der Vorderhornzellaffektion mit der Wurzeldurchschneidung 
allerdings nicht unwahrscheinlich. Der Umstand, daB die erkrank- 
ten Zellen keine fur sich abgeschlossene Gruppe bildeten, sondern 
zerstreut zwischen den anderen gesunden Zellen lagen, spricht 
wohl kaum gegen jenen Zusammenhang. Denn auch Brdunig 
sowie Mingazzini und Polimanti und in einem Falle auch Warring¬ 
ton (Cervikalwurzeldurchtrennung) beobachteten Chromatolyse 
und andere Zellveranderungen in den verschiedensten Bezirken 
des Vorderhomes. 

Es ist noch eines Umstandes Erwahnung zu tun, welcher auf 
den ersten Blick gegen eine Beziehung zwischen Wurzeldurch- 
trennung und Zellerkrankung sprechen konnte: namlich, daB sich 
auch in dem ersten und vierten Lumbalsegment Veranderungen 
fanden, wahrend die Wurzeln dieser Segmente doch nicht durch- 
schnitten worden waren. Dieser Widerspruch ist aber offenbar 
nur ein scheinbarer; denn wir diirfen ungezwungen annehmen, 
daB von den durchschnittenen hinteren Wurzelfasern geniigend 
Kollateralen zu den nachst hoher resp. tiefer gelegenen Segmenten 
gehen, um auch in diesen eventuelle Veranderungen zu erzeugen. 
(Der Eintritt von Zellveranderungen in den dem operierten Segment 
benachbarten Segmenten wird von Knape sogar fur so selbstverstand- 
lich und obligatorisch gehalten, dafi dieser Autor das Fehlen von 
Zellveranderungen in den dem operierten Segment benachbarten 
Hohen als Beweismittel gegen die Richtigkeit der Marinesco&chen 
Auffassung anfiihrt, nach welcher die Vorderhornzelle nutritiv 
von den afferenten Impulsen der hinteren Wurzel abhangig sei.) 

Hangt nun die Chromatolyse und die iibrigen frischen Zell¬ 
veranderungen des Lenden- und oberen Sakralmarkes in unserem 
Falle wirklich mit der Radikotomie zusammen — und es spricht, 
wie gesagt, manches hierfiir — so wiirde unser Befund die Theorie 
Marinescos u. A. unbedingt stiitzen. In unseren Praparaten finden 
sich keine Blutungen, keine Oedeme usw., wie sie Pesker fur den 
Eintritt der Zellveranderungen verantwortlich machen will. Auch 
sind (vgl. weiter unten) in unserm Fall keine frischen Faser- 
veranderungen oder -schwellungen im Bereiche der durchtrennten 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 393 


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Wurzeln oder ihrer Kollateralen zu entdecken, welche nach 
Lapinsky ,,wie ein Keil“ auf die Vorderhornzellen driicken und 
diese infolgedessen schadigen konnten. Die Schadigung der 
Vorderhomzelle miiBte somit in der Tat auf den Ausfall zentri- 
petaler Reize zu beziehen sein. 

Die gleiche Unreinheit, wie sie leider der vorliegenden Be- 
obachtung hinsichtlich der zur Diskussion stehenden Frage an- 
haftet, macht sich auch bei den iibrigen aus der mensehlichen 
Pathologie stammenden Fallen storend bemerkbar. Die alteren 
Berichte ( Kahler und Pick , Friedldnder und Krause , Homen u. A.) 
sind, wie schon bemerkt, deshalb nicht sicher zu verwerten, weil 
es sich bei ihnen nie um den reinen Ausfall der hinteren Wurzel 
handelt. Es wurden von jenen Autoren vielmehr stets die durch 
den gemeinsamen Ausfall der hinteren und vorderen Wurzeln er- 
zeugten spinalen Veranderungen studiert. 

Lediglich Groves’ Beobachtung konnte vielleicht von ausschlag- 
gebender Bedeutung sein. Groves’ Mitteilung beschrankt sich jedoch 
auf einige wenige Worte und wir ktwegen ihrer lapidaren Kiirze 
nicht iiberzeugend. 

Es ist zu hoffen, daB sich in der Folgezeit bei dem sich mehren- 
den operativen Material auch einwandfreie und eindeutige Falle 
fiir die Beantwortung der Frage finden werden, ob auch beim 
Menschen nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln Ver¬ 
anderungen der Vorderhornzellen auftreten. 

Eine weitere, gleichfalls mit der Wurzelduchschneidxmg zu- 
sammenhangende Besonderheit unseres Falles, welche ein gewisses 
allgemein anatomisches Interesse beanspruchen darf, wurde weiter 
oben schon erwahnt: Es fiel sofort bei der Betrachtung der Marchi- 
Praparate auf, daB weder in der Hohe der durchschnittenen hinteren 
Wurzeln noch auch weiter proximal warts eine Spur von Mark- 
scheidenschwarzung — weder in den Hinterstrangen noch in einem 
anderen Bezirk der weiBen Substanz — zu sehen war, trotzdem die 
Marchi-Praparate gut gelungen waren. Bemerkenswerterweise 
zeigten auch die extramedullaren Teile der — weiter distalwarts — 
durchschnittenen hinteren Wurzeln keine frischen Degenerations- 
zustande. Lediglich in S x und L 6 und weiter oben in C 8 und C 5 
waren an der Stelle, an welcher die hintere Wurzel in den Quer- 
schnitt eintritt, einige schwarze Schollen, wie man sie oft auch 
unter normalen Verhaltnissen an jener Stelle antrifft. 

Da im allgemeinen angenommen wird, daB die bei der Marchi - 
schen Methode zutage tretenden Markveranderungen ca. 6 Tage 
nach dem Eintritt der betreffenden Lasion nachweisbar zu werden 
beginnen .und ihr Maximum in der 2.—4. Woche erreichen, so 
erscheint das vollige Fehlen aller Veranderungen der Markscheiden 
im vorliegenden Fall sehr auffallig und schwer verstandlich, wenn 
man bedenkt, daB unsere Pat. noch 7 Tage nach der Operation 
lebte. 


Monat«8chrift f. Psychiatric n. Neuroloprie. Bd. XXXIII. Heft 5. 26 


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Schuster, Anatomischer Befund 


Wir wollen uns jetzt den durch das Grundleiden hervorge- 
rufenen anatomischen Veranderungen des Falles zuwenden. Be- 
treffs der Veranderungen des frischen Praparates konnen wir nur 
aussagen, daB die Hiillen des Riickenmarks fiir die makroskopische 
Betrachtung nirgendswo etwas Auffalliges darboten. Von der 
Anlegung eines Querschnittes war mit Riicksicht auf die Hartung 
abgesehen worden. AuBer den NiBl- und Marchi-Praparaten 
wurden Weigert-, Kulschitzky- und van Gieson - Praparate an- 
gefertigt. Schliefllich wurde auch noch die Bielschowskysche 
Fibrillen-Methode herangezogen. Im ganzen untersucht wurden: 
Cg, C«, Cg, D 2 , D 9 , Li, L 2j L 3 , L 4 , Lg } 8 V 

Auf Weigert-Praparaten sah man makroskopisch in alien 
Hohen groBe, ziemlich scharf begrenzte, aber unregelmaBig ge- 
formte, weiBe resp. ungefarbte Flecke. (Vergl. Taf. XII u. XIII. 
Abbild. 1—4.) Dieselben lagen bald im Vorderseitenstrang (C«), 
bald im Bereiche eines Vorderhomes und griffen nach alien 
Seiten auf die angrenzende weiBe Substanz iiber, wahrend gleich- 
zeitig ein zweiter Herd von der grauen Kommissur in die Hinter- 
strange vordrang (D 6 ), bald lagen sie in einem Vorder- und 
Vorderseitenstrang, hatten fast die ganze graue Substanz ein- 
genommen und griffen von dort derart auf die weiBe Substanz 
iiber, daB nur eine Randzone der letzteren erhalten blieb (D 9 ). 

In L x waren fast symmetrische Herde in den beiden Seiten- 
strangen gelegen,welche sich nicht an ein bestimmtesSystem hielten 
und auch das eine Hinterhorn mitergriffen hatten. Aehnliche, 
aber viel kleinere Herde sah man auch in L 2 und L 3 . L 4 , L 5 und 

S x schienen bei makroskopischer Betrachtung hochstens einen 
leichten Faserausfall in den Seiten- und Vorderstrangen zu haben. 

Die grobsten und ausgebreitetsten Ausfalle zeigten die Cervikal- 
segmente und Dorsalsegmente; in D 9 war fast der ganze Quer- 
schnitt von den Herden eingenommen. Vom 1. Lumbalsegment 
nach abwarts wurden die Ausfalle sehr viel schwacher und zeigten 
nicht mehr den scharfen Kontrast zwischen gefarbter und unge- 
farbter Marksubstanz. Nie nahmen die Herde in zwei aufeinander- 
folgenden Segmenten die gleiche Stelle des Querschnittes ein, viel- 
mehr bestand ein ganz auffalliger und willkiirlicher Wechsel in 
der Lage der Herde. Zwischendurch war auch ein Segment ein- 
mal fast frei, so D 2 . 

Schon bei makroskopischer Betrachtung der Weigert-Schnitte 
sah man weiter, daB ausgesprochene auf- oder absteigende Degene- 
rationen fehlten. Nur in einzelnen Hohen zeigten sich in den Hinter- 
strangen und vielleicht auch in den Seitenstrangen neben den 
geschilderten Herden Ansatze zu einer sekundaren Degeneration. 

Nach dem Vorstehenden wird es verstandlich, daB man schon 
nach bloBer makroskopischer Betrachtung der Markscheiden- 
praparate die Diagnose auf multiple Sklerose zu stellen geneigt war. 

Die mikroskopische Betrachtung der Weigert-Praparate ergab, 
daB die bei makroskopischer Betrachtung anscheinend vollig 


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fines mit der Forstejschen Opeiation behandelten Falles etc. 395 


scharfe Begrenzung der weilien Herde in Wirklichkeit weniger 
scharf war. 

In dem Areal der weiBen Herde waren auf Weigert- 
Praparaten nur BlutgefaBe und Blut, sonst jedoch nichts Sicheres 
erkennbar. Auch die Betrachtung der Marchi-Praparate ergab 
nichts, was ernstlich gegen die Diagnose der Sclerosis multiplex 
hatte sprechen konnen. Diejenigen Partien, welche auf den Weigert- 
Praparaten vollig farblos erschienen waren, reprasentierten sich 
auf den Marchi-Praparaten als Lichtungen und leichte Aufhellun- 
gen in dem gelben Fond des Praparates. Frische, nach Marchi 
darstellbare Fasererkrankungen zeigten sich — wie schon gesagt — 
nirgendswo. Nur vereinzelt wurden einige schwarze Schollen an 
dem Eintritt der hinteren Wurzeln gesehen, und nur in einer Hohe 
—beiC # —fand man inden—offenbar altenHerdenentsprechenden— 
Aufhellungen in der Nahe der Peripherie des Querschnittes ver- 
einzelte Fettkornchenzellen. 

Soweit es sich demnach nur um die Markscheiden- und Marchi- 
Praparate handelte, schien nichts gegen die Diagnose der multiplen 
Sklerose zu sprechen. Die Sachlage anderte sich jedoch, als die 
van Gieson- und NiBl-Praparate einer Durchsicht imterzogen 
wurden. Da zeigte sich als am meisten in die Augen springende 
Erscheinung eineauBerst intensive Beteiligung des GefaBapparates, 
starke entziindliche Erscheinungen an den extraspinalen Wurzeln 
und deutliche Veranderungen an den Ruckenmarkshauten. Die 
letzteren, welche stellenweise zu eiterahnlichen Zellbelagen der 
Pia gefiihrt hatten, waren — wie wir noch sehen werden — so 
erheblich, daB sich sehr ernste Zweifel an der Diagnose der 
multiplen Sklerose erhoben, und daB mit der Moglichkeit ge- 
rechnet wurde, daB es sich um eine syphilitische Erkrankung 
Oder um eine besondere Form der chronischen Myelitis handeln 
konne. (Vgl. Taf. XII—XIII, Abbild. 5, 7, 8.) 

Im einzelnen waren die auf den van Gieson- und NiBl- 
Paparaten zutage tretenden histologischen Veranderungen die 
folgenden: 

Die Pia ist durchweg verdickt und von Kerninfiltrationen 
durchsetzt. In manchen Hohen, besonders im Cervikalmark, ist 
sie in einzelne sich homogen farbende Lamellen aufgefasert. Stellen¬ 
weise erscheint die Pia geradezu durch die Kerninfiltration einge- 
schmolzen. Die von der Peripherie in die weiBe Substanz ziehenden 
Septen und GefaBe treten deutlich vor, grobere und massige Gewebs- 
massen — wie man sie bei syphilitischen Veranderungen sieht — 
greifen jedoch nirgendswo von der Pia her auf den Riickenmarks- 
querschnitt iiber. (Taf. XII—XIII, Abbild. 7.) 

Die Kerninfiltrate in der Pia sind teils solche von mono- 
nuklearem, lymphoidem Charakter, teils haben die Kerne poly- 
nukleares, leukocytares Aussehen. Der polynukleare Charakter der 
Zellen ist besonders ausgepragt an der Dorsalseite des Riickenmarks 
sowie in den auBeren Schichten der Pia. In der Hohe des oberen 
und unteren Brustmarkes sowie im Lendenmark, vor alien Dingen 

2S* 


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Schuster, Anatomischer Befund 


in der Hohe des 1. und 4. Lendenscgmentes, ist die polynukleare 
Infiltration stellenweise zu einem reinen, vielschichtigen, vonFibrin- 
gerinnseln durchwirkten Leukozytenbelag geworden. (Taf. XIV 
bis XV, Abbild. 8 u. 10.) Dieser Belag liegt der Pia in den 
genannten Hohen dorsalwarts schwartenartig auf, oft umhiillt 
er auch die extramedullaren hinteren Wurzeln. Weiter kaudal- 
warts in L 5 und Sj verschwindet dieser Belag wieder. In einigen 
Segmenten, so in L x , wurden Haufen von Staphylokokken in dem 
der Pia anhaftenden leukozytaren Zellbelag und vereinzelt auch 
im Gewebe selbst gefunden. (NiOl-Praparate.) 

Die extramedullaren Wurzeln zeigten samtlich eine sich aus 
den gleichen Zellelementen zusammensetzende Infiltration wie die 
Pia. Die Keminfiltrate drangen dabei zwischen die einzelnen 
Wurzelfasem langs der Bindegewebssepten ein. Manchmal batten 
die lymphozytaren Zellen im Gegensatz zu den sich bei Nifil klar 
blau farbenden polynuklearen Zellen eine leichte Lilafarbung. 
AuBer den soeben beschriebenen, zum groBen Teil wohl frischeren 
(Fibringerinnsel!) Veranderungen zeigte die Pia, vor allem in der 
Pia des Cervikalmarks, als Ausdruck eines alteren Prozesses sehr 
zahlreiche spindelformige, mit einem braunen Pigment angefullte 
Pigmentzellen. Es sei noch bemerkt, daB Kemanhauf ungen, wie 
man sie bei Gummiknoten oder Tuberkelbildung sieht, nicht vor- 
kamen, daB der Riickenmarksquerschnitt auch nie durch die ver- 
dickten Haute zu einer dreieckigen Figur zusammengedriickt 
erschien. Der Eindruck der akuten Erkrankung, welchen man bei 
der ersten Betrachtung der van Gieson-Praparate erhielt, war in 
erster Reihe zwar auf das Aussehen der Riickenmarkshaute zuriick- 
zufiihren, aber auch das Verhalten des GefaBapparates war auf- 
fallig. Ueberall tratendie GefaBe stark und prall gefiillt vor; am 
starkstcn wohl inD 9 ,wo das von der Peripherie in die Riickenmarks- 
substanz radiar einstrahlende GefaBsystem dem Bilde das bekannte 
charakteristische Aussehen gab. (Vgl. auch D 4 ; Taf. XII—XIII, 
Abbild. 7.) 

Von den Veranderungen der GefaBwandungen traten die- 
jenigen der Intima am wenigsten hervor, nur vereinzelt, in einigen 
Schnitten aus D 4 und L 2 , ist in den Protokollen von Intimawuche- 
nmgen die Rede. Die meisten Wand veranderungen fanden sich in 
der Adventitia. Hier warenKernvermehrungen undMitosen deutlich 
vorhanden; oft lieB sich allerdings nicht mit Sicherheit entscheiden, 
ob die einem langsvcrlaufenden GefaB aufgelagerten Kerne und 
Zellen lediglich in der perivaskularen Scheide lagen oder noch zum 
Gewebe der Adventitia gehorten. 

Selten waren die Wande kleiner GefaBe sklerosiert und sahen 
dann vollig homogen aus; vereinzelte kleine GefaBquerschnitte 
in der Pia waren vollig obliteriert. 

Neu gebildete GefaBe mit korkzieherartigem Verlauf wurden 
hauptsachlich im 6. Cervikalsegment gesehen. Sie zogen von der 
Peripherie radiar gegen die graue Substanz. Im ganzen zeigten 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 397 

die kleinen GefaBe mehr Veranderungen als die groBeren GefaB- 
stammchen. 

Die perivaskularen Scheiden waren im allgemeinen nicht stark 
angefiillt. Von groBeren GefaBen zeigte besonders die Arterie des 
vorderen Spaltes fast stets eine Zellansammlung in der peri- 
vascularen Scheide. Merkwiirdigerweise lagen hier die Zellen 
nicht iiberall in der ganzen Scheide der langsgetroffenen Arteria 
fiss. ant. auf, sondern sie lagen wie Plaques nur an bestimmten 
Stellen und immer nur auf einer Seite des GefaBes. Die GefaBe 
der Pia boten in ihren Scheiden oft wahre massive Zellinfiltrate, 
welche sich zwischen die einzelnen Lamellen der Pia und mehr- 
reihig zu beiden Seiten des GefaBes etabliert hatten. Die kleinen 
quergetroffenen GefaBe des Riickenmarksquerschnittes waren 
von viel weniger massigen Zellanhaufungen umgeben. Die in den 
GefaBscheiden befindlichen Zellen waren lymphoide einkemige 
Zellen mit eingestreuten seltenen Plasmazellen. Letztere zeigten 
bei NiBl-Farbung die bekannte Metachromasie. Mastzellen waren 
nicht vorhanden. Polynukleare Zellen fanden sich nur sehr seiten 
in der GefaBwand. 

Die im Vorstehenden zusammenfassend dargestellten Ver¬ 
anderungen der Riickenmarkshaute und des GefaBapparates, welche 
in vielen Punkten auf einen akuten KranklieitsprozeB hinwiesen, 
waren zweifelsohne sehr dazu angetan, die auf Grund der Weigert- 
Praparate gestellte Diagnose der Sclerosis multiplex zu erschiittern. 
Dagegen sprach das Verhalten der Glia, wie es sich auf den van 
Gieson- und NiBl-Praparaten darbot, wieder sehr zugunsten der 
multiplen Sklerose. 

Zunachst sah man, daB diejenigen Stellen, welche auf Weigert- 
Praparaten vollig ungefarbt erschienen waren und auch auf 
Marchi-Praparaten als alt erkrankt zu erkennen waren, sich auf van 
Gieson-Praparaten besonders intensiv gefarbt hatten und aus sehr 
stark vermehrtem und in seinen einzelnen Balken verdicktem 
Gliageriist mit auBerst zahlreichen Kernen bestanden. (Taf. 
XII—XIII, Abb. 5.) Es konnte kein Zweifel sein, daB die 
genannten Herde aus starken Gliawucherungen bestanden. 
Wahrend im Zentrum des Herdes — mochte dieser sich in 
der grauen oder in der weiBen Substanz befinden — nur ein 
dichtes rot gefarbtes, fast homogenes Grundgewebe ohne deut- 
lich erkennbare Struktur mit sehr zahlreichen eingelagerten 
Kernen zu unterscheiden war, war die Peripherie des Herdes, 
vor allem, wenn sie in der weiBen Substanz lag, leichter zu 
entwirren. Es zeigte sich, daB das normalerweise auBerst diinne, 
zwischen den einzelnen Nervenfasern liegende Gliagitter sich ver- 
breitert und verdickt hatte und dadurch die einzelnen Sonnen- 
bildchen immer weiter auseinandergetrieben hatte. Je mehr es 
ins Zentrum des Herdes ging, um so mehr verschwanden die 
Nervenfasern, und um so dichter wurde das Gliagewebe. 

In der weiBen Substanz hatten die Gliakeme, mochte es sich 
um die kleinen dunklen oder die groBen hellen Kerne der normalen 


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Schuster, Anatomischcr Befuiid 


Glia handeln, oft einen mehr oder weniger groBen Protoplasma- 
saum, welcher sich zum Teil erheblich vergroBerte und dabei das 
eigentiimliche homogene Aussehen annahm, welches den Zell- 
leib der Spinnenzellen auszeichnet. Spinnenzellen wurden in 
groBer Anzahl in alien Hohen — besonders in der weiBen Substanz 
— gefunden. Ihr Zelleib hob sich wenig von der Umgebung ab. 
Der Kem war meist groB, hell, mit mehreren Kemkorperchen und 
zeigte oft Abschniirungen. Die bekannten Monsterzellen mit sehr 
groBem quallenartigem Leib und vielen Kemen—bis 10 und mehr — 
kamen gleichfalls oft vor (Taf. XIV—XV, Abb. Ill) und zeigten 
auch bier die oft erwahnten, und auch von mir mit Bielschowsky 
(1897) 1 ) bei der multiplen Sklerose schon beschriebenen Be- 
ziehungen zu den GefaBen. Sowohl in den Kernen der Glia als 
auch in den GefaBwandungen wurden sehr zahlreiche und sehr 
schone Mitosen, Spindeln usw. gesehen. (Taf. XIV—XV, Abb. 6.) 
Die NiBl-Praparate lieBen diese Mitosen, welche sich oft in einem 
etwas anderen Ton farbten als die Umgebung, schon bei weniger 
starker VergroBerung hervortreten. 

Den ersten Beginn der Bildung eines derartigen Herdes von 
Gliawucherung (Taf. XIV—XV, Abb. 1) bildeten offenbar Kern- 
anhaufungen mit leichter Verbreiterung der Gliabalkchen, welche 
man sowohl auf NiBl- als auch besonders auf van Gieson- 
Praparaten zahlreich und deutlich beobachtete. Man sah dann — 
meist in der weiBen Substanz — schon bei schwacher Ver¬ 
groBerung ziemlich zirkumskripte kleine Kernanhaufungen sowie 
eine Verdickung des Gliageriistes im Bereiche der Kernhaufen. 
Der Kerne hatten oft eine leichte Protoplasmaumkleidung, 
welche ohne scharfe Begrenzung in die Masse der verdickten 
Gliabalkchen uberzugehen schien. Dadurch zeigten die Zellen — 
abgesehen von ihrer geringeren GroBe — eine unverkennbare 
Aehnlichkeit mit den Spinnenzellen. Fast konstant sah man 
iibrigens auch — besonders gut auf NiBl-Praparaten — wohl 
charakterisierte kleine Spinnenzellen in den kleinen Herden. 
Der Kern der Zellen hatte eine tief dunkle Kemmembran und 
zahlreiche scharf hervortretende Kemkorperchen. Die GroBe 
der Kerne iibertraf etwas diejenige der ruhenden Gliakeme. 

Bei der Beschreibung der Erscheinungen am GefaBapparat, 
wie ich sie weiter oben gegeben habe, wurde nichts iiber die Be- 
ziehungen der GefaBe zu den iibrigen Veranderungen des Gewebes 
gesagt. Dies muB hier nachgeholt werden. Die Betrachtung jedes 
einzelnen der soeben geschilderten kleinen Kernhaufen — wie sie 
sich in manchen Hohen zahllos auf dem Ruckenmarksquerschnitt 
vorfanden — ergab ganz in die Augen springende Beziehungen 
zu einem kleineren GefaB. (Taf. XIV—XV, Abbild. Ib u. c.) 
Die Kemwucherung und mit ihr die Verbreiterung der Septen 
umgab das GefaB konzentrisch oder mantelformig und richtete 
sich mit seiner Konfiguration nach dem Verlauf des GefaBes. Bei 


*) Zeitschrift f. klinische Medizin. Bd. 34. 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 399 

oberflachlicher Betrachtung hatte man glauben konnen, es handle 
sich um zahlreiche kleine GefaBe, welche von ausgewanderten 
Zellen umgeben waren. Das zentrale GefaB selbst war in der 
Regel, wenn es sich um eine Kapillare handelte, ziemlich normal 
oder zeigte nur eine leichte Kernvermehrung der Wand. War das 
GefaB aber etwas groBer, so war seine Wand mit gewucherten 
Kernen besetzt. Die Sonnenbildchen zwischen den Balkchen und 
Kernen des entstehenden Herdes waren meist intakt, hochstens 
erschien die eine oder andere Markscheide etwas geschwollen. 
(Taf. XIV—XV, Abbild. Ib u. c.) In manchen Hohen reihte sich 
auf dem Ruckenmarksquerschnitt ein Herdchen der geschilderten 
Art an das andere: hier hatte man es offenbar mit einem spateren 
Stadium der Gliaveranderung zu tun. 

Eine recht eigentiimliche topographische Beziehung der Glia- 
wucherungen zu dem Ruckenmarksquerschnitt ist hier noch zu er- 
wahnen. Die Randpartien der weiBen Substanz waren meist gut 
erhalten, und die Gliawucherung begann in der Regel nicht — wie 
z. B. bei den syphilitischen Veranderungen — unmiitelbar an der 
Pia, sondern sie blieb von der Riickenmarkshaut und von der 
Peripherie des Ruckenmarks durch einen Giirtel normalen Ge- 
webes getrennt. In die graue Substanz, besonders diejenige der 
Vorderhorner, ging die Gliawucherung ohne Unterbrechung iiber. 

Die beschriebenen Gliawucherungen fanden sich gleichfalls, 
wenn auch natiirlich weniger stark, in fast alien denjenigen Partien, 
welche auf dem Weigert- oder Marchi-Praparat normal erschienen 
waren. 

Es eriibrigt noch, das Verhalten der eigentlichen nervosen 
Substanz zu skizzieren, wie es sich bei starker VergroBerung der 
Weigert-, Gieson- und NiBl-Praparate darbot. DaB die weiBe 
Substanz in einer der Pia unmittelbar anliegenden Grenzschicht 
meist normal war, und daB die Gliawucherungen erst in einer von 
der Pia etwas entfernteren Zone begannen, habe ich schon gesagt. 
Diese Erscheinung trat auf Weigert-Schnitten besonders klar zu- 
tage. Soweit sich das Verhalten der Nervenfasern in den skleroti- 
schen Herden bei van Gieson beurteilen lieB, zeigte sich hier schon 
eine gewisse relative Widerstandsfahigkeit des Axenzylinders 
dem KrankheitsprozeB gegeniiber im Vergleich zu der Markscheide. 
Besonders in den Kuppen der Hinterstrange, welche im 3. Lumbal- 
segment von der Gliawucherung ziemlich verschont geblieben 
waren, sah man auch auf Gieson-Praparaten erhaltene Axen- 
zylinder bei fehlender Markscheide. Man sah ferner, wie der 
Axenzylinder oft auBerordentlich geschwollen und verdickt war 
und wie sich auf dem Querschnitt des gequollenen Axenzylinders 
Kerne niedergelassen hatten. Relativ selten sah man auch — auf 
Weigert-Schnitten — eine Quellung oder ofter noch ein ZerflieBen 
der Markscheide, so besonders in D # , wo sich in der Gegend des 
Kleinhirnseitenstranges ganz vereinzelte Fettkomchenzellen vor- 
fanden. Eine Quellimg der Markscheide wurde ferner in manchen 
extramedullaren Wurzeln gesehen. 


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400 


Schuster, Anatomischer Behind 


Die Ausbildung eines sog. Luckenfeldes (Taf. XII—XIII, 
Abbild. 9), wie es haufig ak Endresultat der Markscheiden- 
quellung vorkommt, wurde nur andeutungsweise und nur in 
wenigen Hohen (D e , S x ) beobachtet. In S x waren die Maschen 
des kleinen Luckenfeldes mit einer homogenen gelben Masse 
(Gieson-Praparat) angefiillt, deren Identitat (Mark ?) oder Her- 
kunft sich nicht feststellen lieB. 

Nirgends sah man Bilder — dies muB besondres hervorgehoben 
werden —, auf welchen eine starke Beteiligung der Nervenfasern 
sich neben einer beginnenden Gliawucherung gezeigt hdtte ; in der 
Nachbarschaft der beginnenden Gliawucherung erschien die 
nervose Substanz vielmehr fast stets intakt. 

Ueber die Ganglienzellen, resp. deren leichtest zu beurteilende 
Reprasentanten, die Vorderhornzellen, haben wir eingangs schon 
ausfuhrlich berichtet. Erganzend soil noch gesagt werden, 
daB das Gros der Zellen auch in der Nahe der Gliawuche- 
rungen und selbst in diesen auffallig wenig geschadigt war. Die 
Gliawucherung schien der Integritat der Nervenzelle auffallend 
wenig anzuhaben. Nicht selten lag eine offenbar normale Vorder- 
homzelle unmittelbar an oder inmitten eines sklerotischen Herdes. 
Kernanhaufungen um die Ganglienzellen, wie man sie bei der 
sog. Neuronophagie zu sehen bekommt, wurden niemals be¬ 
obachtet. 

Die Gesamtheit der bis jetzt beschriebenen anatomischen 
Bilder unterstiitzte zwar unverkennbar die zu Anfang gestellte 
anatomische Diagnose der multiplen Sklerose, aber eine befriedi- 
gende und vollig iiberzeugende Deutung des histologischen Beftmdes 
war immer noch nicht moglich. Hier schaffte nun die ausgezeich- 
nete Fibrillenmethode Bielschotvskys mit einem Schlage Klarheit. 
Die Silberimpragnation 1 ) lieB erkennen, daB auch in den aller- 
dichtesten Herden der Gliawucherung. in welchen man nie und 
nimmer noch nervose Substanz vermutet hatte, noch zahllose 
Axenzylinder erhalten waren. (Taf. XIV—XV, Abbild. 5.) Wenn 
auch bekanntlich bei sehr vielen chronischen nichtentziindlichen 
und besonders auch entziindlichen Prozessen des Ruckenmarks 
stets eine gewisse Anzahl nackter Axenzylinder bestehen bleibt, 
so ist doch ein derartiges massenhaftes und geradezu prinzipielles 
Verschontbleiben der Axenzylinder, wie es die Bielschowsky- 
Praparate offenbarten, unbedingt als charakteristich fiir die 
multiple Sklerose zu bezeichnen. 

Von Einzelheiten, welche auf den Silberpraparaten zutage 
traten, erwahne ich noch folgende: Der nackte Axenzylinder ist 
stellenweise verdickt, stellenweise abnorm diinn oder abgeblaBt 
und zeigt in seinem Verlaufe oft eigenartige winklige Knickungen, 
Knotenbildung oder auch eine eigentumliche spindelformige Auf- 
splitterung, so daB anscheinend die einzelnen Fibrillen zutage 

’) Einige sehr instruktive Praparate verdanke ich Herrn. Professor 
M. BieUchowsky. 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 401 

treten. Die Quellung des Axenzylinders macht aich auf dem 
Querschnitt in Form einer gewissen Verklumpung bemerkbar. 

Auch auf den Silberpraparaten trat das wiederholt von mir 
betonte verschiedenartige Verhalten der beiden Gewebskom- 
ponenten in den ersten Anfangen des sklerosierenden Prozesses 
zutage. Oft sah man in der Nahe kleiner GefaBe zirkumskripte 
Gliawucherung mit Spinnenzellen, ohne daB die nervose Faser- 
masse irgend etwas Pathologisches aufgewiesen hatte. 

Nachdem wir somit wesentlich mit Hilfe der Biehchowsky- 
schen Methode zu der sicheren Diagnose der multiplen Sklerose 
gekommen sind, fragt es sich, wie die geschilderten auffalligen, 
offenbar akuten Veranderungen in der Pia und in dem GefaB- 
apparat zu deuten sind. Die Erklarung hierfiir ist jetzt leicht, 
nachdem wir in den Stand gesetzt sind, den festen Kern der Haupt- 
affektion mit Sicherheit a us der Gesamtheit der anatomischen 
Veranderungen herauszuschalen: Es handelt sich nicht um einen 
einzigen anatomischen KrankheitsprozeB, sondern um zwei ver- 
schiedene Prozesse, welche sich miteinander kombiniert haben. 
Auf den alten ProzeB der multiplen Sklerose — dessen Anfange 
imd friiheste Stadien offenbar imCervikal- undDorsalmark liegen— 
haben sich akut entziindliche, postoperative Veranderungen, be- 
sonders solche der Pia und der extramedullaren Wurzeln aufge- 
pfropft. Durch die Kombination der beiden Krankheitsprozesse 
entstanden Bilder, weldhe voriibergehend an eine syphilitische 
Meningomyelitis oder an eine andere chronische Form der Myelitis 
denken lieBen. Besonders mit der Moglichkeit einer cerebrospinalen 
Lues muBte trotz des klinischen Beftmdes und trotz des Mangels 
gummoser Erscheinungen sowie trotz des Fehlens der fur Syphilis 
so charkteristischen, von der Peripherie in den Riickenmarksquer- 
schnitt vordringenden Gewebsbalken emstlich gerechnet werden. 
Besonders die kleinen Infiltrate, welche sich zwischen die einzelnen 
Lamellen der Pia schoben, muBten den Verdacht auf Syphilis 
erwecken. 

Wir wollen jetzt zusehen, ob die weiter oben beschriebenen 
anatomischen Bilder uns erlauben, zu einigen Fragen der Histo¬ 
logic der multiplen Sklerose Stellung zu nehmen. Die Tatsache, 
daB wir die deutlichen Elemente der Gliawucherung auch an 
Gewebsstellen auBerhalb der makroskopisch erkennbaren Herde 
fanden, steht in Uebereinstimmung mit den Befunden fruherer 
Beobachter (Flatau, Koelichen). 

Der wichtigste Punkt fiir die ganze Auffassung der Natur 
der multiplen Sklerose, namlich die'Frage, ob die Gliawucherung 
das primare oder sekundare Moment gegeniiber der Parenchym- 
beteiligung darstelle, ist auch heute noch strittig. Wie in meinem 
im Jahre 1897 mit Bielschowsky untersuchten Fall, so ist auch 
in diesem Falle die Gliawucherung zweifellos eine primare und 
nicht — wie die Wiener Schule lehrt — sekundar reparatorische. 
Die weiter oben geschilderten Befunde, nach welchen sich in der 
Nahe der GefaBe kleine Herde beginnender Gliawucherung 


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402 


Schuster, Anatomischer Befund 


zeigten, ohne daB das Parenchym irgend eine Storung dargeboten 
hatte, beweisen durchaus, daB es bei der Bildung sklerotischer 
Herde zum mindesten auch anders zugehen kann, als Redlich , 
Adamkiewicz und neuerdings Marburg behaupten. 

Die von Flatau und Koelichen zitierten Worte Voelschs , daB 
die Friihzeitigkeit und Massenhaftigkeit der Gliawucherung, vor 
allem aber die Tnkongruenz zwischen Zerfall des Nervengewebes 
und Starke und Entwicklungsstadium der Gliahyperplasie durch¬ 
aus dafiir sprachen, daB die Noxe proliferationsanregend auf die 
Glia wirke, passen auch fur unsern Fall vollkommen. 

Es erscheint mir auf Grund der durchaus eindeutigen und 
miteinander iibereinstimmenden Bilder geradezu ausgeschlossen, 
im vorliegenden Fall eine primdre Erkrankung der Nervenfasem 
anzunehmen. Uebrigens deutet auch der Umstand, daB nur an 
einigen wenigen Stellen leichte Ansatze zur Entwicklung eines sog. 
Liickenfeldes vorhanden waren, darauf hin, daB die Parenchym - 
erkrankung hier vollkommen hinter den gliosen Wucherungs- 
vorgangen zuriicktrat. Im allgemeinen entsprach unser Fall somit 
dem zweiten der beiden von Flatau und Koelichen aufgestellten 
Typen der Gliawucherung. Hiermit stimmt iibrigens auch iiber- 
ein, daB die G-efaB veranderungen, soweit sie dem ProzeB der 
multiplen Sklerose zur Last zu legen waren, keine hochgradigen 
waren. 

Die schon auBerordentlich oft betonte und immer wieder 
abgeleugnete Abhangigkeit der Herde von den GefaBen trat in 
diesem Fall absolut klar zutage. Die kleinsten GrefaBe, welche 
das Zentrum des beginnenden sklerotischen Herdes bildeten, 
erschienen meist normal. Infolgedessen wirft imser Fall auch auf 
die Frage nach der primaren GtefaBerkrankung ein gewisses Licht. 
Da man somit als wahrscheinlich annehmen muB, daB durch die 
anfanglich normalen GefaBe ein dje Gliawucherung anregendes 
Agens in das Riickenmark gelange, so ist dies ein Moment, welches 
viel eher gegen als fur die Strilmpells che Auffassung von der endo- 
genen Natur der Krankheit spricht. 

Was die Zelleinlagerungen in den GefaBscheiden angeht, so 
konnten wir die in einigen neueren Arbeiten vermerkten Befunde 
der Plasmazellen auch in der Pia bestatigen (Taf. XIV—XV, 
Abb. 6), Mastzellen dagegen waren nicht auffindbar. 

Beziiglich der relativen Unabhangigkeit der Ganglienzellen 
gegeniiber dem sklerotischen ProzeB, die schon Leyden notiert 
hatte, sowie beziiglich des Ausbleibens nennenswerter sekundarer 
Degenerationen bestatigt mein jetziger Fall die allgemein be- 
kannten Erfahrungen. 

Da ich — vgl. weiter oben — nicht annehme, daB die samt- 
lichen entziindlichen Veranderungen der Pia akuter postoperativer 
Natur sind, sondern da sich auch an Stellen, welche offenbar frei 
von akuten Erscheinungen waren, meningeale Verdickungen, 
Pigmentzellen usw. fanden, so schlieBt sich unser Fall auch be- 
ziigUch des Vorhandenseins leichter meningealer Veranderungen 
den Beobachtungen anderer Autoren an. 


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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 403 


SchlieBlich noch eine Bemerkung in klinischer Hinsicht. Die 
Forstersche Operation ist in den Fallen von multipler Sklerose 
so oft ungiinstig ausgelaufen, und es ist so auBerordentlich oft ent- 
weder direkt oder nach einem Intervall von 1—3 Wochen unter 
fieberhaften (in meinem Fall meningealen) Erscheinungen der 
Exitus eingetreten — soviel ich sehe, unter 7 Fallen Gmal 1 ) —. 
daB man hierin kaum einen Zufall sehen kann. Man muB viel- 
mehr m. A. daran denken, ob nicht vielleicht das sklerotische 
Riickenmark in einer gewissen spezifischen Weise ungiinstig 
durch den operativen Eingriff beeinfluBt wird. Die gewohnlichen 
Zufalle, wie sie sich in der allgemeinen Gefahrenskala als Folgen 
einer jeden schweren Operation darstellen, reichen wohl kaum aus 
zur Erklarung der besonders groBen Mortalitat der radikotomierten 
Sklerotiker. 

Erklarungen der Abbildungen auf Taf. XII—XV. 

Fig. 1. C. 6. Fig. 2. D 6. Fig. 3. D. 9. Fig. 4. L. 1. Markscheiden- 
fiirbung. 

Fig. 5. D. 9. van Gieson-Farbung. Die sklerotischen Flecke treten 
stark gefarbt vor (das Praparat liegt umgekehrt wie Fig. 3). 

fig. 6. van Gieson-Praparat. WeiBe Substanz des 6. Dorsalsegmentes. 
Bei a beginnende Herdbildung. 

Fig. 7. D. 4. van Gieson-Praparat. Starkes Vortreten der GefaBe 
auf dem Querschnitt, leichte Verdickung der Pia. 

Fig. 8. L. 1. van Gieson-Praparat. Bei 1 starke, schwartenartige, 
leukozytare Auflagerung. Pia, besonders dorsalwarts, stark infiltriert. 

Fig. 9. S. 1. van Gieson-Praparat. Vorderseitenstrang mit einem 
Stuck des Vorderhorns. Bei g Vorderhornzellen, bei a leichte Liickenfeld- 
bildung der weifien Substanz. 

Fig. 10. L. 1. van Gieson-Praparat. Stelle aus der lcukozytaren Auf¬ 
lagerung bei starker VergroBerung. 

Taf. XIV—XV. Fig. 1. Leitz, Okul. 3, Obj. 7, Tubus 170 mm. 
van Giesonfarbung. Gliotischer Herd der weiBen Substanz in den ersten An- 
fangen. Bei a zentrales GefaB. b gewucherte Gliakerne, c gequollene Mark- 
scheiden, d verdickte Gliabalkchen. 

Fig. 2. Leitz, Okul. 1, Obj. 3, Tubus eingeschoben. Nissl-Farbung. 
Partie aus dem Vorderhorn des Lumbalmarkes; bei a vollig normale Vorder¬ 
hornzellen, bei b erkrankte Zellen ohne Granula und ohne Kern. 

. Fig. 3. Leitz, Okul. 3, Obj. 7, Tubus 170. Nissl-Praparat. Viel- 
kernige sehr stark vergroBerte Gliazellen. 

Fig. 4. Leitz, Okul. 1, Obj. 7, Tubus eingeschoben. Van Gieson- 
Farbung. Hauptsachlich frische entziindliche Veranderungen an der Pia 
des Brustmarks; bei a leukozytare Zellansammlung, welche sich auBen auf 
die verdickte Pia (b) auflagert; bei c Fibrinfaserchen mit eingelagerten 
Kemen zwischen innersten Piaschichten und Riickenmarksquersclinitt. 

Fig. 5. Leitz, Okul. 1, Obj. 7, Tubus eingeschoben. Bielschowsky- 
farbung. Partie aus einem sklerotischen Fleck des Hinterstranges, in 
welchem bei Markscheidenfarbung fast keine Nervenfasern mehr erkennbar 
waren; bei A massenhafte nackte Achsenzylinder, bei M einige erhaltene 
Markscheiden. 

Fig. 6 . Leitz, Okul. 3, Imm. Vi,. Nissifarbung; bei M Mitose, bei P 
Plasmazellen. 

! ) Gelegentlich der Demonstration in der Sitzung der neurologischen 
Gesellschaft berichtete Herr Geh.-Rat Bonhoeffer noch von einem weiterea 
gleichfalls nach Radikotomie letal verlaufenen Fall. 


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404 


P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


(Aus der II. medizinischen Klinik der Charite.) 

Hypophysenerkrankungen. 

Von 

GEORG PERITZ, 

Berlin. 

(Hierzu Taf. XVI—XVII und 9 Abbildungen im Texte.) 

Als Marie die Akromegalie in Beziehung zu den Geschwiilsten 
der Hypophyse setzte und erklarte, daB es sich bei der Akromegalie 
um eine Unterfunktion der Hypophyse handele, glaubte man, daB 
man in der Erkenntnis iiber das Wesen des Gehirnabhanges um 
ein gutes Stuck weiter gekommen ware. Trotzdem alle moglichen 
Bedenken gegen den Zusammenhang zwischen Hypophysentumor 
und Akromegalie erhoben warden, und verschiedentlich Falle von 
Akromegalie ohne Hypophysentumor und umgekehrt Hypophysen- 
geschwiilste ohne Akromegalie mitgeteilt wurden, brach sich all- 
mahlich doch die Erkenntnis Bahn, daB ein enger Zusammenhang 
zwischen der Hypophyse und dem W&chstum bestehe. Man er- 
kannte aber, daB es sich nicht um eine Unterfunktion der Hypo¬ 
physe handeln konne, sondern gerade im Gegenteil um eine ver- 
mehrte Funktion. Vornehmlich den Untersuchungen Bendas war 
diese Erkenntnis zu danken, der nachwies, daB es sich bei der 
Akromegalie um ein gutartiges Adenom der Hypophyse handelt, 
daB man allerdings nicht selten bosartige Geschwiilste bei der 
Autopsie antrifft, weil spater eine Veranderung des Geschwulst- 
charakters aus einem gutartigen Adenom in eine bosartige Ge- 
schwulst eintritt. In den letzten Jahren hat das Studium der Driisen 
mit innerer Sekretion allmahlich erkennen lassen, daB diese Driisen 
nicht einer Funktion dienen, sondern daB sie polyvalente Sekrete 
liefem. Am klarsten ist diese Tatsache zutage getreten bei der 
SchilddrUse. Hier sah man, daB neben den hauptsachlichsten 
Symptomen einer Uebererregbarkeit des Sympathikus auch solche 
einer starkeren Erregbarkeit des Vagus vorhanden sind. Dahin 
gehoren vornehmlich die Aktionspulse und der trotz Sympathikus- 
reizung normale Blutdruck. Von Asher und Flack wurde dann der 
Beweis erbracht, daB von der Schilddriise aus sowohl die Neben- 
niere und damit der Sympathikus erregt wurden als auch der 
Depressor des Herzens. Aber auch die anderen Driisen mit innerer 
Sekretion liefem verschiedene Sekrete. So scheint das Ovarium 
neben seinem eigentlichen Sekret noch ein solches des Corpus 
luteum zu liefem. Von der Nebenniere kennen wir bislang nur 
das Adrenalin. Die groBartige Entdeckung des Adrenalins und seine 
synthetische Herstellung haben bis jetzt die Forscher, die sich mit 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


405 


der Nebenniere beschaftigten, abgehalten, danach zu suchen, 
ob nicht auch die Nebenniere noch andere Sekrete liefert. DaB die 
Hypophyse nicht allein ein Sekret produzieren, nicht allein einer 
Funktion dienen wiirde, war allein schon aus dem Bau der Dr use 
anzunehmen. Sie besteht, wie man ja weiB, aus 3 Teilen: demVorder- 
lappen, einem driisigen Gebilde mit den bekannten chromophilen 
Zellen, dem nervosen Teil, dem sogenannten Hinterlappen und dem 
dazwischenliegenden Teil, der Pars intermedia, welche in ihrem 
Bau dem der Schilddriise ahnelt und Colloid liefert. Als das 
wesentlichste Produkt dieses Teiles wurden zuerst von Herring 
die sogenannten hyalinen Korperchen angesprochen, die nach 
Cushing und Goetsch sich auch im nervosen Teil der Hypophyse 
finden und auch im Infundibularteil. Auch Kraus sah die von 
ihm beschriebenen hyalinen Korper durch die Pars intermedia 
und den nervosen Teil in den Infundibularteil wandern. Dieser 
komplizierte Bau der Hypophyse lieB erwarten, daB die Hypophyse 
nicht bloB mit dem Knochenwachstum, wie man es auf Grund der 
Veranderungen bei der Akromegalie annehmen muBte, zu tun habe, 
sondern daB noch andere Funktionen durch sie reguliert werden 
wurden. Ich gehe auf die Theorien von v. Zyon nicht naher ein. 
Seine elektrischen Reizungsversuche der Hypophyse, die die Grund- 
lage seiner Theorie bilden, daB die Hypophyse einen Regulations- 
apparat darstelle, miissen als widerlegt gelten, nachdem die ver- 
schiedensten Untersucher, wie Masay , Schafer und Herring , ge- 
funden haben, daB auch durch Reizung anderer Hirnteile dieselben 
Erscheinungen zu erzielen sind, und auf der anderen Seite Livon 
Pirrone , Lo Monaco und van Ryriberg die Unerregbarkeit der Hypo¬ 
physe dargetan haben. Dagegen haben die Untersuchungen der 
letzten Jahre gezeigt, daB die Hypophyse verschiedene Sekrete 
liefert, die verschiedentliche Wirkungen haben. Hauptsachlich 
die Experiments der letzten Jahre, die sich mit der Entfernung 
der Hypophyse beschaftigten, haben Resultate ergeben, welche 
auch fiir die menschliche Pathologie verwertbar sind. Nachdem von 
verschiedenen Seiten versucht worden war, die Hypophyse voll- 
kommen zu entfernen, hat Aschner endlich mit seiner Operations* 
methode Erfolge erzielt, bei denen die Tiere lange Zeit leben blieben. 
Aschner konnte damit zeigen, daB die Hypophyse kein absolut 
lebenswichtiges Organ sei, wahrend alle Untersucher vor ihm, 
mit Ausnahme weniger, so Friedmann und Maafi , das Gegenteil 
behauptet haben. Dagegen geht Aschner zu weit, wenn er Cushings 
Verdienste um die Erkenntnis der Hypophysenfunktionen nicht 
anerkennt. Cushing und seine Mitarbeiter haben, trotzdem sie 
glaubten, daB die vollkommene Entfernung der Hypophyse in 
kurzer Zeit zum Tode fiihren miisse, alles das, was Aschner bei 
seinen Versuchen feststellte, schon friiher gefunden, wenn sie ge- 
ringe Reste des Vorderlappens stehen lieBen. 

Es scheint, daB die Hypophyse eine auBerordentliche Be- 
deutung fiir die gesamten trophischen Vorgange des Organismus hat. 
Cushing und seine Mitarbeiter, und neuerdings Aschner haben vor 


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406 


P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


alien Dingen gezeigt, daB durch die Entfernung der Hypophyse 
eine schwere Wachstumsstorung beim wachsenden Tiere auftritt. 
Gegeniiber den Kontrolltieren bleiben diese Tiere zwerghaft und 
klein. Es handelt sich dabei um eine Wachstumsstorung, die vor- 
nehmlich die Knochen betrifft. Ob diese Wachstumsstorung aus- 
schlieBlich als ein Produkt des Hypophysenausfalles anzusehen ist, 
ist natiirlich vorlaufig nicht so ohne weiteres zu bejahen. Wir 
wissen ja, daB auch bei Entfernung der Schilddriise ein Zwerg- 
wachstum bei Tieren beobachtet wird, und neuerdings haben auch 
Klose und Foy* nach Exstirpation der ThymusdriisegleicheResultate 
erzielt. Die zweite Storung, die nach Entfernung der Hypophyse 
zu beobachten ist, ist die auBerordentliche Fettsucht dieser Tiere. 
Es tritt eine Adipositas auf, die ganz enorm ist und die sowohl 
die inneren Organe wie das Unterhautfettgewebe betrifft. Cushing , 
Livon, Ascoli und Aschner haben diese Tatsache feststellen konnen. 
Dann hat Cushing nach Entfernung der Hypophyse das Auftreten 
einer Hyperglykamie beobachtet, die allerdings Aschner nicht ge- 
funden hat, die aber mit den Beobachtungen am Menschen gut 
iibereinstimmt. Cushing hat mit seinen Mitarbeitern zusammen die 
Art und den Modus der Hyperglykamie des genaueren untersucht. 
Er fand, daB vorziiglich diese Hyperglykamie gebunden sei an den 
Verlust des hinteren Lappens. In solchen Fallen trat auch eine 
Steigerung der Toleranz fur Zucker, der sowohl intravenos wie per 
os eingefiihrt wurde, ein. Nachdem anfangs unmittelbar nach der 
Operation immer eine Glykosurie zu beobachten war, die er als 
Folge der Operation ansieht, hat er stets nach Entfernung des 
hinteren Lappens oder auch in solchen Fallen, in denen ein Teil des 
Vorderlappens mit entfernt war, eine groBere Toleranz gegen Zucker 
wahrgenommen. Dagegen trat eine solche Toleranzsteigerung bei 
Entfernung des Vorderlappens nicht ein. Wurde dann Hinterlappen- 
extrakt oder Pituitrinum infundibulare injiziert, so war die Folge 
davon die, daB jetzt die Toleranzgrenze fur den Zucker herabsank 
und etwa den Grad wie vor der Operation hatte. Und zu diesen 
Untersuchungen von Cushing passen auch die Versuche von Falla 
und Bernstein , die beim Menschen Pituitrin injizierten und den Gas- 
wechsel beobachteten. Sie spritzten einmal den Extrakt des in- 
fundibularen Teiles ein und fanden, ohne daB der respiratorische 
Quotient sich veranderte, einen erheblichen Anstieg des Sauerstoff- 
verbrauchs, dessen Hohepunkt nach % Stunden in manchen 
Versuchen noch nicht erreicht war. Verwandten sie aber einen 
Extrakt vom glandularen Teil der Hypophyse, so erhielten sie ein 
Absinken des Sauerstoffverbrauches, der viel rascher stattstand als 
die Abnahme der Kohlensaureproduktion, so daB der respiratorische 
Quotient ganz erheblich anstieg. Es weist das darauf hin, daB 
hier eine Steigerung im Kohlehydratstoffwechsel vor sich geht. 
Falta und Bernstein machen auch darauf aufmerksam, daB bei 
der Akromegalie, einem Ueberfunktionszustand der Hypophyse, 
sich bekanntlich in einem sehr groBen Teil der Falle Glykosurie 
findet, wahrend umgekehrt bei der Dystrophia adiposogenitalis die 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


407 


Assimilationsgrenze fur Kohlehydrate eine Erhohung erfahrt. Es 
soli also bei der Akromegalie eine besondere Lebhaftigkeit, bei der 
Dystrophie eine Tragheit des Kohlehydratstoffwechsels stattfinden. 
Dazu wiirde die Anschauung von Cushing gut passen, welcher 
glaubt, daB die Dystrophia adiposogenitalis dureh die Stauung des 
Zuckers bedingt wird. Ich gehe auf diesen Punkt genauer ein, weil 
ich glaube, daB gerade diese Tatsachen, die der Tierversuch uns 
gelehrt hat, geeignet sind, uns die Diagnose einer Hypophysen- 
erkrankung in gewissen Fallen zu erleichtern. Auch die Tatsache, 
die Aschner gefunden hat, daB bei Entfernung der Hypophyse die 
Adrenalin-Glykosurie auf ein Minimum reduziert wird, spricht fur 
eine Einwirkung der Hypophyse auf den Zuckerstoffwechsel, wie 
sie durch die Cushingschen Versuche bewiesen wird, wenn auch 
Aschner diesen EinfluB bestreitet und glaubt, daB die Stoning des 
Zuckerstoffwechsels durch eine Verletzung des Tuber cinereum aus- 
gelost wird. Wie groB der EinfluB der Hypophyse auf den gesamten 
Stoffwechsel ist, geht auch aus den Versuchen von Porges und 
Aschner hervor, die zeigten, daB durch das Fehlen dieser Druse 
ahnlich wie bei dem der Schilddriie eine Herabsetzung des Gas- 
stoffwechsels eintritt. Von Cushing wird die Hyperglykamie als 
die Ursache der Fettsucht angesehen, weil er der Meinung ist, 
daB der Zucker gestaut wird, nicht verbrannt und infolgedessen 
als Fett abgesetzt wird. Untersuchungen, die ich eben anstelle, 
werden ergeben, ob diese Anschauung richtig ist, oder der Modus 
ein anderer. Auf jeden Fall ware es auBerordentlich interessant, 
wenn die hypophysare Adipositas nicht als direkte Folge der 
Storung der Hypophysentatigkeit anzusehen ware, sondern erst 
indirekt iiber die Storung im Zuckerhaushalt ginge. 

Unter den Tatsachen, die durch die neueren Versuche iiber die 
Physiologie der Hypophyse uns bekannt geworden sind, muB auf 
eine besonders hingewiesen werden, weil sie fur uns Kliniker von 
Interesse ist. Schafer konnte zeigen, daB Verletzungen der Hypo¬ 
physe bei Hunden eine Vermehrung der Harnentleerung zur Folge 
hat. Ebenso sah Cushing bei seinen Hunden unmittelbar nach der 
Operation eine Polyurie, und^dann hat Schafer auch gesehen, daB 
Verfiitterung von kleinen Mengen Hypophyse eine Ausscheidung 
groBerer Mengen von Urin zur Folge hatte, aber nur dann, wenn 
Zwischenteil und Hinterlappen als Futter benutzt wurden. Es ist 
diese Tatsache ja von Interesse fur die Frage, ob die Polyurie und 
Polydipsie, die man bei Hypophysenerkrankungen beobachtet, zu 
den Erscheinungen zu rechnen ist, welche direkt auf die Hypophyse 
zu beziehen sind, oder aber ob sie indirekt als Folge eines Druckes 
des Bodens des dritten Ventrikels anzusehen sind. Es ist auch 
leicht moglich, daB diese Polyurie in Zusammenhang steht mit den 
Erscheinungen, welche durch Injektion von Pituitrin an den 
Beckenorganen hervorgerufen werden. An der Niere ruft das 
Pituitrin zwei entgegengesetzte Vorgange hervor: einmal eine 
Blutdrucksteigerung und zwei tens eine Hemmung der Sekretion; 
in anderen Fallen aber bedingte die Injektion nach Schafer und 


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P e r i t z , Hypophysenorkrankungen. 


Magnus eine Vermehrung der Urinsekretion, und es kam vor, daB 
selbst ohne Blutdrucksteigerung eine starkere Diurese sich bemerk- 
bar machte, so daB Schafer annimmt, daB im Extrakt eine Sub- 
stanz vorhanden ist, welche direkt reizend auf die sekretorischen 
Zellen der Niere wirkt. Als eine weitere Veranderung des Organismus 
durch den Ausfall der Hypophyse ist das Zugrundegehen der 
Keimdriisen anzusehen. Der enge Zusammenhang, der zwischen 
Keimdriise und Hypophyse besteht, ist ja schon friihzeitig erkannt 
worden und hat Tandler zu dem Ausspruch gefiihrt, daB die 
Keimdriisen das MaB des Wachstums bestimmen, die Hypophyse 
aber das Wachstum selbst. Tandler glaubt auch, daB die Korper- 
groBe der unter verschiedenen Breiten lebenden Volker abhangig 
sei von der verschiedenen friihen oder spaten Reifung der Keim- 
driisen. Je langer die Hypophyse ihre Alleinherrschaft ausiibt, 
desto langbeiniger werden die Menschen. Volker, bei denen die 
Keimdriisenreifung friih einsetzt, wie bei den siidlichen, bleiben 
daher klein. Je weiter man nach Norden heraufkommt, desto spater 
tritt diese Reifung ein, und um so grcBer wird der Menschenschlag. 
Fur Europa scheint dies zuzutreffen, weniger fur die Lappen und 
die Eskimos. 

Bekanntlich hat die Klinik zuerst festgestellt, daB bei Hypo- 
physenerkrankungen die Keimdiiisenfunktion abnimmt. Nun 
haben die Experiment Aschners deutlich gezeigt, daB eine Ent- 
fernung der Hypophyse eine Atrophie der Keimdriise zur Folge 
hat, aber nur bei jungen Tieren; bei alteren, geschlechtsreifen Tieren 
findet sich diese Atrophie nicht, wenigstens bestreitet Aschner 
diese Tatsache, wahrend Biedl und Cushing auch bei erwachsenen 
Tieren in einigen Fallen nach partieller Exstirpation der Hypophyse 
eine hochgradige Atrophie des Genitales gesehen haben. Aschner 
dagegen glaubt, daB in diesen Fallen eine accidentelle Himschadi- 
gung vorgelegen habe. Er bestreitet auch die von Cushing beob- 
achtete Tatsache, daB nach Hypophysenexstirpation eine Steige- 
rung der Genitalfunktion zu beobachten sei. 

Das Interesse fur die Funktion der Hypophyse ist in letzter 
Zeit durch die Entdeckung von Frankl-Hochwart imd Frohlich 
sehr stark geworden. Sie konnten zeigen, daB das Extrakt aus dem 
hinteren Lappen der Hypophyse vornehmlich auf die sympathischen 
Nerven der Beckenorgane wirkt, und daB diese Wirksamkeit noch 
starker am graviden Uterus zum Ausdruck kommt. Das Pituitrin 
wurde als schwacheres, aber als ein langer wirkendes dem Adrenalin 
gleichzusetzendes Mittel erkannt . Die Folge dieser Entdeckung war, 
daB man das Pituitrin in die Praxis als Wehenmittel einfiihrte, 
und die vielen Veroffentlichungen des letzten Jahres zeigen, wie 
groB der Erfolg dieses Mittels als geburtsfordemdes ist. Diese Wirk¬ 
samkeit des Pituitrins auf den Sympathikus und vornehmlich den 
der Beckenorgane scheint aber in der Pathologie keine wesentliche 
Rolle zu spielen. Weder im Tierversuch noch bei Hypophysen- 
erkrankungen der Menschen hat man bislang Erscheinungen fest- 
stellen konnen, die sich als Folgeerscheinung der Reizung oder des 


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P e r i t z, Hypophysenerkrank ungen. 409 

Wegfalls eines Reizes der sympathischen Beckennerven charakteri- 
sieren lie Ben. 

Es mag hier schlieBlich noch darauf hingewiesen werden, daB 
auch in der Hypophyse eine Substanz vorhanden ist, welche auf 
den Blutdruck erniedrigend wirkt. Da man aber in alien anderen 
Driisen eine solche Substanz gefunden hat, so wird allgemein an- 
genommen, daB dieses den Blutdruck herabsetzende Sekret kein 
Spezifikum ist. Nach den Untersuchungen von v. Fiirth und 
Schwarz wird diese Substanz als Cholin angesehen, und auch von 
verschiedenen Autoren wird diese Annahme als richtig erkannt, 
wahrend nur Popielski dem widerspricht und die Wirkung seinem 
hypothetischen Hypotensin zuerteilt. 

Will man nun auf Grund der experimentellen Studien und 
unserer pathologischen Erfahrungen eine Einteilung der Funk- 
tionen auf die verschiedenen Teile der Hypophyse wagen, so, glaube 
ich, wird das heute in groBen Umrissen schon gelingen. Aus der 
Pathologie der Akromegalie wissen wir, daB es sich stets um Ge- 
schwiilste des Vorderlappens handelt, welche zu dieser Krankheit 
fiihren. Dem entspricht es auch, daB man bei der Entfernung der 
gesamten Hypophyse einen Zwergwuchs findet. Man wird also mit 
gutem Recht annehmen konnen, daB der Vorderlappen ein Sekret 
liefert, welches fur das Wachstum von EinfluB ist. Dagegen scheint 
dem Hinterlappen und der Pars intermedia einHormon eigen zu sein, 
das dem Adrenalin ahnlich ist. Seine Wirkung auf den Sympathikus 
ist bekannt, und die Cushingschen Untersuchungen haben ergeben, 
daB dieses Hormon ebenfalls mit dem Zuckerstoffwechsel, wie das 
Adrenalin, etwas zu tun hat. Wenn die Annahme Cushings richtig 
ist, die auBerordentlich viel Wahrscheinlichkeit hat, daB der Mangel 
der Verbrennung des Zuckers zur Fettsucht fiihrt, so wiirde die 
bei der Hypophyse zu beobachtende Fettsucht ebenfalls auf den 
Hinterlappen zu beziehen sein. Fischer hat ja die Vermutung zuerst 
ausgesprochen, daB die hypophysare Adipositas die Folge einer 
Unterfunktion des Hinterlappens der Hypophyse sei, und hat das 
durch pathologische Studien zu beweisen gesucht, indem er zeigte, 
daB durch den Tumor des Vorderlappens der Hinterlappen durch 
Druck geschadigt wiirde. Zugleich nimmt er auch an, daB das 
Sekret des Hinterlappens einen EinfluB auf die Keimdriisen austibt. 
Und endlich hat Schafer gezeigt, daB die Verfiitterung der Pars 
intermedia und des Hinterlappens zur Polyurie fiihrt. Verteilt man 
die Funktionen dergestalt auf die verschiedenen Driisenabschnitte, 
so kommt man auch zu einer Einteilung der Hypophysenerkran- 
kungen, wenn auch diese Einteilung vorlaufig noch sehr schematisch 
sein muB. Man kann sowohl bei dem Vorderlappen wie bei dem mit 
der Pars intermedia verbundenen Hinterlappen von Erkrankungen 
sprechen, welche sowohl auf eine Hyperfunktion als auch auf eine 
verminderte Funktion zuruckzufuhren sind. AuBerdem gibt es 
Mischformen, und endlich ist auch eine Miterkrankung der Hypo¬ 
physe als Folge einer allgemeinen Erkrankung der endokrinen 

Monataschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 5. 27 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


Driisen oder nur einer derselben, vorziiglich der Keimdriise, zu 
konstatieren. Es ergibt sich daraus folgendes Schema: 

I. Erkrankung des Vorderlappens. 

a) Unterfunktion: Zwergwuchs. 

b) Hyperfunktion: Akromegalie, Gigantismus. 

II. Erkrankung des Hinterlappens. 

a) Verminderte Funktion: hypophysare Adipositas. 

b) Hyperfunktion: Diabetes insipidus ? 

III. Mischformen. 

a) Gesteigerte Funktion des Vorderlappens mit ver- 
minderter Funktion des Hinterlappens: Akromegalie 
mit hypophysarer Adipositas. 

b) Unterfunktion der gesamten Hypophyse: Zwergwuchs 
mit hypophysarer Adipositas. 

IV. Erkrankung der Hypophyse in Gemeinschaft mit anderen 

Driisen. 

a) Keimdriise und Hypophyse: Eunuchoidismus. 

b) Erkrankung aller Driisen mit innerer Sekretion: 
pluriglandulare Erkrankung von Claude und Qougerot, 
multiple Sklerose der endokrinen Driisen von Falta, 
partieller Gigantismus. 

Bei der Besprechung der einzelnen Krankheitsbilder will ich 
mich aber nicht in der Reihenfolge genau an dieses Schema halten, 
sondern sie ihrer inneren Zusammengehorigkeit nach gruppieren. 
Ich werde daher den Eunuchoidismus und die Kombination der 
Akromegalie mit Adipositas der Akromegalie und dem Gigantismus, 
denen er symptomatologisch nahe steht, anreihen. 

Ueber den Apituitarismus des Vorderlappens wissen wir vor- 
laufig noch sehr wenig. Benda hat als erster ein Sarkom der 
Hypophyse beschrieben, welches zu einem Zwergwuchs fiihrte. 
Es entspricht ja der experimentellen Erfahrung, daB die Unter¬ 
funktion des Hypophysen-Vorderlappens, wie das Aschner gezeigt 
hat, den Zwergwuchs veranlaBt. Man darf aber nicht iibersehen, 
daB auch verschiedene andere Driisen mit innerer Sekretion einen 
ahnlichen EinfluB auf das Knochenwachstum ausiibt. Am langsten 
bekannt ist jaderZwergwuchs alsFolge der Schilddriisenerkrankung, 
und neuerdings haben Klose und Vogt und u. a. auch Matti gezeigt, 
daB nach Thymektomie eine gleiche Wachstumsstorung erfolgt. 
Beim Menschen ist der thyreogene Infantilismus seit langem be¬ 
kannt, der ein formaler Infantilismus ist. Dagegen ftihrt der Status 
thymico-lymphaticus durchaus nicht zum Zwergwuchs. Es kommen 
zwar Individuen mit einer geringen KorpergroBe vor, doch findet 
sich nach Bartels eine groBere Anzahl mit iibemormaler KorpergroBe. 
Ueber den menschlichen Zwergwuchs als Folge einer Unterfunktion 
der Hypophyse wissen wir vorlaufig nichts. Ich habe mir vergeblich 
Mtihe gegeben, Zwerge, wie sie haufig hier in Berlin ausgestellt sind, 
zu untersuchen. Es ist mir aber nicht gelungen. Es sind das natiirlich 
Zwerge verschiedenster pathologischer Dignitat. Auffallig ist, daB 
der groBte Teil der wirklichen Zwerge bartlos ist und jene Haut 


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P e> t it*, Hypopliyaeoerkranktmgen. 


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besit-it, weioUo man hei don Etmuohoiden zn sehen bekoiamt, die 
sogeu'anate (beisenhaut, die von gdhlichgfauer Farbe ist, geriinzdt 
und ohne eigeofchohen Turgor, fis soli aber hier gleieh uuf einen 
Piinkt aufhierkfcnm gemacht worden. tier fur die gesamte 
Diftgtiostik dor Hvp<>{>hyso,nerktajikungeti von Bedeut.oflg ist, 
nuf den auob Weygimdi bei Vunstoljung von 2wergen mit bypo- 
phys&rer . iiikehe ntrfififcrksarn getnaoht hat. Das weaent- 


Hyj>ophyaengessli>vut?t. emm&t dutch Mitnrfciankung de$ Nery us 
opticus in FdPiO doerhUemporslen Hymianopsie odor den Naob- 
\feig viner Kf'vidtmiiig dor Sollft turcica im Kontgonbildp in Ver*. 

4*. i .-1 11 ,y -mi/** 1 ' 4 -,'. .J 1 1 .'<4^ Cf^-ni , 1 Tltmni'mi'iti « «v< 


hypophysaren ErkfUftMmg in fiber (^sdfwulsi dor Hypophyse zu 
scheot vierrncbr k»nn der Hyper- und Pyspifcuttarimsus tin rein 
fimbtionellet . «ein, m-lchec sic-b mcht dureh. die oben genannten 
GWrakfebitiko. orkennrn. lafifc. UnS aolehe Stormigdu aber toil 
Sidierbeit v pirktwumep, be winsen die %^Snderungen dee H'ypophyae 
bet ddr Sahvvangerstdiaft und naeb der Kastration, ferner aber 
Audi Hektionstogebnis^, die bui dor pi (iriglandularen Erkrankung 
festgesteUi worden sind. Bidaog besifczen ; 

Wir kebie strifcien Erkennungszdehen fiir die- . 
verinekHe Oder vermittderle Funktion, und 
ich will gerade im weiteren Verlauf dieser Ar¬ 
beit ausfiihren^wo dieMogiichkeit. einor solchett - 
Hiagnbstik liegt. 



amtologie di@tu K rnnkheit z« gebei). Bi'e 
ist so yteljfadtr ; ^sf«Mfben. wnwiea uml so gut 
bekannt. dull .die Bdiildernng der gesanifcen 
Symptouiatolbgie nur onudtig Flatz weg- 
nehnieti wiitde. Tub ml! bier nur nuf vvenige 
Momeute an finer ksatn mud tern die im ganzeh 
wetiiger Berueksicbtigiing gefundbn ha bed oder 
bei deneur ein gewfescs MiByerstatidnfe,. wit imr 
scheint... vorfieg?.. Es mag hter Kuerst noclv ein- 
mal darauC hingmviesen werden, wie. das ja 
aueh schon von mfidorer Seite ge&obeb'en ist, 
da8 die Vergtbflemng dor distalen Trite do* 
Korpers nk-ht a Hein die K nocben betrifft, 
sondern aucb sieher Muskeln und Haut. 
Aucb aid die tuiphiaohen Storungeo der H.vui: 
ist veracbiedentHeb sehon hiiigewiesen wordcvi. 
die kbtuion eine.j) erhcbliebeon Grad aumdcmen; 
maudkmfd handed es sieb, wde in dem Fail, 
desson Abbnduyig { {) icb bier zeige, nur um 
t ine verdiekie tbiuE die sicb kiUil aniuhlt 



Fig. 1. 
27* 


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fl gi na I ■ 




412 


P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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und schlecht vaskularisiert ist. In einem zweiten Fall, den ich 
j lings t gesehen habe, von dem ich leider keine Abbildung besitze, 
waren die Hande kalt, die Haut livide verfarbt, stark verdickt und 
feucht anzufiihlen. Was den eben erwahnten ersten Fall betrifft, 
so handelt es sicb bei diesem Patienten um einen Menschen von 
36 Jahren, bei dem sich eine Erweiterung der Sella turcica im 
Rontgenbild vorfindet, ohne daB aber eine Stdrung am Opticus 
nachzuweisen ist. Der einzige Befund, der sich erheben laBt, ist eine 
konzentrische Einengung fur Blau. Die beigegebene Abbildung 
zeigt ja zur Geniige, daB es sich um eine typische Akromegabe 
handelt: Die VergroBerung der Akra, die Kyphose, der Befund im 
Rontgenbild (Taf. XVI, Fig. 1). Dagegen ist es auffalbg, daB 
Barthaar, Achselhaar und Schamhaar stehen geblieben sind. Der 
Patient gibt zwar an, daB ihm in letzter Zeit die Haare vielfach 
ausgefallen seien, aber dieser Haarausfall ist doch nicht so erheb- 
lich, wie man allgemein bei der Akromegabe annimmt. Der Mann 
ist seit 6 Jahren erkrankt. Er hat aber immer noch seine Potenz. 
Vor 4 Jahren hat sogar seine Frau von ihm ein Kind bekommen, 
und er selbst gibt an, daB er auch in diesem Jahr den Coitus mehr- 
fach ausgefuhrt habe, wenn auch seine Libido in letzter Zeit er- 
hebbch abgenommen habe. Hamoglobingehalt = 97 % Erythro- 
cyten = 5 200 000, Leukocyten 7 200 davon 26, 28 % kleine 
Lymphocyten, grosse Lymphocyten = 11,42 0 /°, Eosinophile 
= 3,42 °/°, Leukoblasten = 4,0 °/ 0 , Monocyten = 4,0 % 
Neutrocyphile = 50,85, Blutdruck = 120/75. EndUcb mochte 
ioh bei diesem Patienten betonen, daB er keine Glykosurie hat, und 
daB der Blutzuckergehalt 0,1 betragt, nach der Beicher-Steinachen 
Methode bestimmt. Als normal muB man einen Blutzuckergehalt 
von 0,09 bis 0,12 annehmen. Es besteht also hier keine Hyper- 
glykamie. Was nun den zweiten Fall betrifft, so ist bei diesem 
ebenfalls eine ausgesprochene Akromegabe vorhanden. Bemerkens- 
wert an diesem Patienten ist, daB im Rontgenbild eine Erweiterung 
der Sella turcica nicht festzustellen ist, und daB femer bei diesem 
Patienten, der jetzt 21 Jahre alt ist und der mit dem 17. Jahre eine 
VergroBerung seiner Hande beobachtete (er tragt jetzt Handschuh- 
nummer 11), anfangs eine erbebbche Steigerung des Sexualtriebes 
vorhanden war, wahrend jetzt nach seiner Angabe der Sexualtrieb 
normal ist. Die Behaarung in der Acbselhijhle und in der Scham- 
gegend ist normal. Eine Glykosurie besteht bei dem Patienten 
nicht. 

Falle, bei denen, wie bei unserem zweiten Fall, im Rontgenbild 
eine Erweiterung der Sella turcica nicht gefunden worden ist oder 
auch bei der Sektion ein Tumor der Hypophyse nicht zu konstatieren 
war, sind ja bekannt. Wir wissen, daB auch Tumoren, deren 
Grundlage Hypophysengewebe ist, sich in den Keilbeinhohlen 
finden konnen. Im iibrigen ist es ja durchaus nicht sicher, ob sich 
nicht mit der Zeit bei unserem Patienten noch eine VergroBerung 
der Hypophyse einstellen wird. Der Punkt, den ich aber hier be- 
sonders betonen mochte, ist das Erhaltenbleiben der Geschlecbts- 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


413 


funktion, 5 Jahre nach Beginn des Leidens. Die irtiimliche all- 
gemeine Meinung geht dahin, daB die Geschlechtsfunktion am 
ehesten geschadigt wird; und daB es direkt als ein Zeichen der 
Hypophysenerkrankung anzusehen ist, wenn eine Storung der 
Geschlechtsfunktion bei sonstigen cerebralen Symptomen eintritt. 
Auch Fischer glaubt, daB der Eintritt einer Funktionslosigkeit der 
Keimdrusen eher eintritt, als die hypophysare Adipositas. Man kann 
sich aber, wenn man die Rrankengeschichten solcher Kranken ge- 
nauer durchstudiert, davon iiberzeugen, daB dies durchaus nicht 
immer der Fall ist. Es kann die Geschlechtsfunktion ziemlich 
lange erhalten bleiben. Und so finde ich in einer Arbeit von 
Pausini aus dem Jahre 1898, daB eine Frau, die an Akromegalie 
erkrankt war, nicht nur im Beginn ihres Leidens, sondern auch 
zu einer Zeit, als ihr Leiden schon in voller Entwicklung war, je ein 
Kind geboren hat, die beide geistig und korperlich normal heran- 
wuchsen. 

Die Erklarung der Beeinflussung der Keimdriisenfunktionen 
durch die Hypophyse und umgekehrt macht alien Erklarem auBer- 
ordentlich viel Schwierigkeit. Ich mochte zuerst die nackten Tat- 
sachen einmal gegenuberstellen. Wir wissen erstens, daB das 
Adenom der Hypophyse, welches mit einer Hypersekxetion des 
Vorderlappens verbimden ist, aber auch, daB andere Geschwiilste 
des Vorderlappens, wie der jiingst von Pick beschriebene Tumor, 
der wesentlich aus den basophilen Zellen des Hypophysen-Vorder- 
lappens bestand, zu einer Atrophie der Keimdriisen und zum 
Sistieren ihrer Funktion fiihren konnen. Dabei meint Fischer, 
daB die Schadigung der Keimdriisenfunktion eine der ersten ist 
bei der Ausbildung eines Hypophysentumors. Die Falle, die ich 
letzthin beobachten konnte, zeigen gerade das Gegenteil. Auf der 
anderen Seite hat nun die Operation und die Entfernung des 
Hypophysentumors gezeigt,daB auch nur bei teilweiser Exstirpation 
des Vorderlappentumors die Keimdrusen wieder regelrecht ihre 
Tatigkeit aufnehmen konnen. Hier zeigt sich also, daB eine Ver- 
groBerung des Vorderlappens zu einer Storung der Keimdriisen¬ 
funktion fiihrt. Zweitens ist zuerst von Erdheim und Stumme fest- 
gestellt worden, daB bei Schwangeren eine VergroBerung der 
Hypophyse auftritt, die zuriickzufiihren ist auf eine Vermehrung 
der Hauptzellen, die sich in sogenannte Schwangerschaftszellen 
umbilden. Dann habeh auch Fischer, Tandler und Or oft und 
Jutaka Kon gezeigt, daB nach Kastration eine VergroBerung 
der Hypophyse sich bemerkbar macht, wobei sich mikroskopisch 
eine Vermehrung der eosinophilen Zellen feststellen laBt. Kolde hat 
neuerdings diese verschiedenen Resultate von neuem bestatigt. 

Man muB also annehmen, daB durch den Ausfall der inneren 
sekretorischen Tatigkeit der Keimdriise nach Kastration die Hypo¬ 
physe zur Hypertrophie angeregt wird, und daB diese Hyper- 
trophie sich im Vorderlappen der Driise abspielt. Auch bei graviden 
Frauen hat man eine VergroBerung der Hypophyse gefunden 
(Comte, Launois und Mulon). Reu/S hat sogar einen Fall veroffent- 


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P e r i t z, Hypophysenerkrankungen. 


licht, bei dem efl infolge der Graviditats-Hypertrophie der Hypophyse 
mit Wahrscheinlichkeit zu einer Abnahme der Sehkraft infolge 
Drucks auf den Sehnerven gekommen ist. Nach der Geburt tritt ein 
rascher Riickgang der Hypophysen-Hypertrophie ein. Tandler und 
Grofi haben vornehmlich darauf hingewiesen, daB die Gesichts- 
veranderung bei den Schwangeren ganz auffallende Aehnlichkeit 
mit denen bei der Akromegalie habe; vor allem die Plumpheit der 
Gesichtsweichteile und der Extremitaten am Ende der Graviditat 
fiihren sie auf die Hyperfunktion der Hypophyse zuriick. Auoh 
Stumme macht darauf aufmerksam, daB sich in der Schwangerschaft 
oft akromegalie-ahnliche Verdickungen an Nase, Lippen und 
Handen finden, die er wieder als Ausdruck einer Hypersekretion 
der Hypophyse ansieht. DaB bei Kastraten und bei Eunuchen eine 
VergroBerung der Hypophyse auftritt, haben Tandler und Grofl 
gefunden. Ich mochte dann noch darauf hinweisen, daB auch bei 
den Riesen, bei denen ein Dysgenitalismus von Anfang an besteht, 
nicht nur eine Hypertrophie der Hypophyse, sondern sogar ein 
Tumor festgestellt worden ist, wie in dem Fall von Launois und 
Roy. Auf das Verhaltnis zwischen Gigantismus und Akromegalie 
soil nachher noch eingegangen werden. Es besteht also ein enger 
Zusammenhang zwischen Keimdriise und Vorderlappen der Hypo¬ 
physe. Als dritte Tatsache ergibt sich aus den Untersuchungen von 
Biedl, Cushing und von Aschner, daB die Entfernung der Hypo¬ 
physe zu einer Atrophie des ganzen Genitales fiihrt. Cushing sah 
diese Atrophie nicht nur bei jungen Tieren, sondern ebenso wie 
Biedl bei Erwachsenen, wahrend Aschner diese Veranderung nur 
bei jungen Tieren gefunden haben will. Bei Cushing handelt es sich 
auch nicht um eine vollkommene Entfernung der Hypophyse, 
sondern um eine partielle, bei dem der ganze Hinterlappen, die 
Pars intermedia und ein Teil des Vorderlappens entfernt worden 
war, wahrend der andere Teil des Vorderlappens bei der Sektion 
gut erhalten vorgefunden wurde. Wenn man sich die verschiedenen 
Tatsachen vor Augen halt, so lieBen sich am ehesten die Tatsachen 
durch die Annahme in Einklang bringen, daB die Hypertrophie des 
Vorderlappens der Hypophyse zu einem Untergang oder zu einem 
Aussetzen der Keirndriisenfunktion fiihrt, und daB umgekehrt die 
Entfernung der Keimdriise eine Hyperfunktion der Hypophyse 
veranlaBt. Man muBte sich dann vorstellen, daB ein Antagonismus 
zwischen dem Vorderlappen der Hypophyse und den Keimdriisen 
besteht, derart, daB das Sekret der einen Druse das der anderen 
Druse hemmt. Ware diese Annahme richtig, so muBte man er- 
warten, daB nach Entfernung der Hypophyse eine Hyperfunktion 
der Keimdriisen eintritt, genau so wie umgekehrt nach Ent- 
fernung der Keimdriisen eine solche der Hypophyse sich bemerkbar 
macht. Dem ist nun aber nicht so. Es tritt vielmehr gerade das 
Gegenteil ein. Nach Entfernung der Hypophyse gehen die Keim- 
driisen ebenfalls zugrunde. Man muB also annehmen, daB in der 
Hypophyse neben dem hemmenden Sekret fiir die Keimdriise auch 
ein fordemdes vorhanden ist, das starker wirkt als das hemmende 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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und im Augenblick des Fortfalls zu einem Zugrundegehen der 
Keirndriisen fiihrt. Um diesen unerklarlichen Zwiespalt zu losen, 
hat Fischer als erster angenommen, daB die Beeinflussung der 
Keirndriisen von der Hypophyse nicht vom Vorderlappen ausgeht, 
aondern vom Hinterlappen; er nimmt dann femer an, daB die 
Hypertrophie des Vorderlappens mechanisch zu einer Schadigung 
des Hinterlappens fiihrt, und so bei Tumoren des Vorderlappens 
des Himanhanges die Genitalatrophie eintritt. Wahrend Aschner 
rundweg den EinfluB des Hinterlappens auf die Keimdriise ohne 
jede Begriindung bestreitet, sucht Fischer mit einem aus der 
menschlichen Pathologie gesammelten Material seine Behauptung 
zu bekraftigen. Er sowohl wie Slumpf behaupten nicht, daB im 
Hinterlappen ein Zentrum fur die Keimdriise liegt. Diese durch 
nichts bewiesene Hypothese hat erst Miinzer aufgebracht. Miinzer 
will sogar in dem hinteren Lappen der Hypophyse ein psychisches 
Zentrum fiir die Geschlechtsfunktion sehen. Ich komme auf diese 
Behauptung spater noch zuriick. Fischer hat dagegen, und ich 
glaube mit guten Griinden, gezeigt, daB im Hinterlappen ein Sekret 
fiir die Funktion der Keirndriisen geliefert wird, und daB der Druck 
eines Tumors oder eines hypertrophierten Vorderlappens des Ge- 
hirnanhanges entweder das Infundibulum zusammendriickt oder 
den Hinterlappen als Ganzes schadigt. Er fiihrt auch mit vollem 
Recht die Operationsresultate an, die da gezeigt haben, daB durch 
teilweise Entfernung des Hypophysentumors schon die Keim- 
driisenfunktion zuriickkehrt. Vor alien Dingen macht er aber darauf 
aufmerksam, daB Hildebrandt in einem Fall allein durch eine 
Trepanation, durch Entlastung des Gehims eine Wiederkehr der 
Genitalfunktion gesehen hat. Hier muB also das mechanische 
Moment im Vordergrund stehen. Nach meiner Ansicht aber iiber- 
sieht Fischer, der das mechanische Moment so vollstandig in den 
Vordergrund stellt, eine Tatsache, namlich die, daB bei primarer 
Keimdriisenatrophie oder bei Keimdriisenaplasie eine Vermehrung 
der eosinophilen Zellen im Vorderlappen der Hypophyse gefunden 
und bei Eunuchen und Skopzen eine Hypertrophie der Hypophyse 
von Tandler und Grofi beschrieben worden ist, endlich, daB bei 
Riesen, bei denen der primare Dysgenitalismus im Vordergrund 
stand, sich allmahlich eine Akromegalie entwickelt hat. Es bildet 
sich also nach einer primaren Keimdriisenschadigung dasselbe 
pathologische Tumorgewebe, das bei einem primaren Hypophysen- 
tumor entsteht. Bei beiden Fallen handelt es sich also um eine 
Adenombildung mit Ueberwiegen der eosinophilen Zellen. Ich 
mochte nun ebensowenig wie Fischer und Pick behaupten, daB wir 
wissen, welches Sekret in der Hypophyse die Wachstumsanderung 
bedingt. Da es durch nichts bewiesen ist, daB gerade die eosino¬ 
philen Zellen dieses Sekret liefem, gilt uns die Vermehrung der 
eosinophilen Zellen nur als Beweis dafiir, daB der driisige Anted 
des Himanhanges hypertrophiert ist und eine Hypersekretion 
zeigt. Der primare Dysgenitalismus fiihrt also zu dem gleichen 
pathologischen Bild wie die primare Hypophysenerkrankung, die 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungea. 


ihrerseits zu einem sekundaren Dysgenitalismus hinleitet. Da muB 
also ein anderes Moment noch eine Rolle spielen als die einfache 
mechanische Einwirkung. Es muB sich um chemische Ein- 
wirkungen handeln, sei es nun im Sinne eines Fermentes oder eines 
Hormons, wie wir sie ja sonst bei den Sekreten der endokrinen 
Driisen finden. Man muB also zwei auf die Keimdriise entgegen- 
gesetzt wirkende Momente in der Hypophyse annehmen. Nun 
spricht die Tatsache, daB der Hypophysen-Hinterlappen eine stark 
erregende Wirkung auf die Beckenorgane ausiibt, sehr fur die 
Theorie, daB im Hinterlappen der Hypophyse ein Sekret gebildet 
wird, welches auf die Keimdriisenfunktion erregend wirkt. Will 
man aber nun nicht sehr komplizierte Verhaltnisse, die iiber die 
anderen Driisen mit innerer Sekretion gehen, ins Auge fassen, so 
muB man nach meiner Ansicht zu folgenden Moglichkeiten 
kommen: entweder liefert die Hypophyse zwei verschiedene 
Sekrete fur die Keimdriise, von denen das eine fordernde im 
Hinterlappen gebildet wird, und das zweite, das hemmende, 
im Vorderlappen. Zugleich muB man aber auch dann an¬ 
nehmen, daB von der Keimdriise zwei Sekrete wiederum geliefert 
werden, die genau dieselben Wirkungen auf die Hypophyse aus- 
iiben, wie die Hypophyse auf die Keimdriise hat, fordernd und 
hemmend. Wenigstens kann man nur so die Hypertrophie des 
Vorderlappens bei der Kastration erklaren und die Adipositas, die wir 
ja schon langst als Folge der Kastration kennen und die in vielem 
Aehnlichkeit mit der hypophysaren Adipositas hat. Oder aber die 
zweite Erklarung, die ich jetzt geben will, ist die richtige; sie scheint 
es mir deswegen, weil sie bei weitem einfacher ist, und eine Anzahl 
Tatsachen, die wir kennen, als Beweismaterial fiir sich hat. Ich 
nehme an, daB im Hinterlappen ein Sekret entsteht, welches 
fordernd auf die Funktion der Keimdriisen wirkt, und daB ein 
gleiches von den Keimdriisen ausgeht mit seiner Wirkung auf den 
Hinterlappen der Hypophyse. Geht eine von den beiden Driisen 
zugrunde, so wird damit auch die andere geschadigt. Zugleich 
scheint mir aber die Annahme berechtigt, daB ein Antagonismus 
zwischen dem Vorder- und dem Hinterlappen der Hypophyse vor- 
handen ist. Es sprechen dafiir die Tatsachen, die ich im physio- 
logischen Teil schon erwahnt habe. Bei Injektion von Pituitrinum 
infundibulare findet eine Steigerung des Gasstoffwechsels statt. 
Umgekehrt aber bei Injektion des glandularen Teiles der Hypo¬ 
physe geschieht ein Absinken sowohl des Sauerstoffs wie des 
Kohlensaureverbrauchs, wobei zuerst der Sauerstoffverbrauch ein- 
geschrankt wird, infolgedessen der respiratorische Quotient an- 
steigt. Diese Tatsachen sind von Bernstein und Falta experimentell 
festgestellt worden. Umgekehrt sieht man bei der Akromegalie 
eine leichte Steigerung des Gasstoffwechsels, und Falta und Bern¬ 
stein nehmen nach Analogie bei der Kastration bei der Dystrophia 
adiposogenitalis eine Herabsetzung des Gasstoffwechsels an. Man 
sieht, es besteht ein Antagonismus. Ganz einfach ist aber auch dieser 
nicht, weil auch hier wieder die Korrelation mit anderen Driisen in 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


417 


Betracht kommt. AuBerdem aber macht sich auch in Bezug auf den 
Zuckerstoffwechsel ein Antagonismus zwischen beiden Halften der 
Druse bemerkbar. Bei der Akromegalie findet sich sehr haufig eine 
Glykosnrie. Dagegen hat Cushing zuerst festgestellt, daB bei der 
Dystrophia adiposogenitalis der Zuckerspiegel im Blut erhoht 
ist, dagegen keine Glykosurie besteht. Ebenso ist die Assimilations- 
grenze fiir den Zucker erhoht. Erst wenn man Pituitrinum in- 
fundibulare einspritzt, kehrt bei Tieren, denen der Hinterlappen 
entfernt worden ist, die Assimilation fiir Zucker zu dem alten Stand 
vor der Operation zuriick, allerdings nur so lange, als die Injektion 
wirkt. Auf Grund dieses Antagonismus wiirden sich beide Halften 
der Hypophyse in normalem Zustand das Geichgewicht halten. 
Beginnt aber eine starker zu funktionieren als die andere, so wirkt 
sie schadigend auf die letztere. Und umgekehrt, geht der eine Teil 
zu Grunde, so wird der andere sich starker entwickeln und lebhafter 
funktionieren. Geht also der nervose Teil des Hirnanhanges infolge 
der Atrophie oder Aplasie der Keirndriisen zugrunde, so verliert 
der Vorderlappen seinen Antagonismus und kann sich nun iiber- 
maBig entwickeln, dessen Ausdruck wir in der Vermehrung der 
eosinophilen Zellen des Vorderlappens haben und der Adenom- 
bildung. Beginnt aber der Vorderlappen sich endogen in ein 
Adenom umzubilden, so erdriickt er chemisch, nicht nur mechanisch 
den Hinterlappen und wirkt so durch das Zugrundegehen des 
Hinterlappens sekundar auf die Keirndriisen. die ebenfalls zu¬ 
grunde gehen, da ihnen das fordemde Hypophysensekret fehlt. 
Die von Fischer beigebrachten Tatsachen lassen sich sowohl in dem 
einen wie in dem anderen Sinn verwerten. Man kann ebensogut 
annehmen, daB mechanisch der Hinterlappen vernichtet wird, als 
daB durch die starkere Funktion des Vorderlappens das Hinter- 
lappensekret vernichtet wird. Auch die durch die Operation er- 
zielten Erfolge, bei der ein Teil des Vorderlappens weggenommen 
wird, und so die Quantitat des Vorderlappensekrets vermindert, 
kann in dem einen und dem anderen Sinn gedeutet werden. Die 
Operation wiirde dann der entsprechen, welche man bei der 
Basedow schen Krankheit vornimmt, wo durch die Entfemung eines 
Teils der hypertrophierten Schilddriise die schadliche Wirkung des 
zuviel produzierten Sekretes ausgeschaltet wird. Einzig und allein 
scheint das von Hildebrandt erzielte Resultat gegen eine chemische 
und fiir eine mechanische Erklarung zu sprechen. Ich bin auch der 
Ansicht, daB sehr wohl mechanische Momente mitsprechen konnen, 
und in dem Fall von Hildebrandt konnte es vielleicht so sein, daB 
durch den Tumor das Infundibulum abgeknickt wird. Da nun nach 
den Versuchen von Herring, von Cushing und Qoetsch und endlich 
von Kraus in Prag ein Teil der Hypophysensekrete durch das In¬ 
fundibulum dem Liquor cerebro-spinalis zugefiihrt wird, so konnte 
durch Verlegung des Infundibulums der AbfluB der Hypophysen¬ 
sekrete gehindert sein, und so die schadigende Wirkung des Mangels 
eines Hypophysensekretes herbeigefiihrt werden. Wird nun durch 
eine druckentlastende Operation das Infundibulum frei, so kann 


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418 


P e r i t z, Hypophysenerkrankungen. 


auch wieder das Sekret abstromen und seine Funktionen fUr den 
Korper erfiillen. Auch die Tatsache, daB bei der Akromegalie in 
einem Teil der Falle eine sehr gesteigerte Keimdriisenfunktion 
beobachtet worden ist, laBt keinen SchluB dariiber zu, ob mecha- 
nische oder chemische Momente eine Rolle spielen. Eine beginnende 
Hypertrophie kann zuerst eine Reizung des Hinterlappens ver- 
ursachen, sowohl mechanisch wie chemisch, ebenso wie wir ja 
annehmen miissen, daB der bei der Akromegalie beobachtete 
Diabetes insipidus durch Reizung der Pars intermedia entsteht. 

Ich ging davon aus, daB es eine irrige Ansicht ist, wenn man 
annimmt, daB bei der Akromegalie stets als ein erstes Zeichen 
die Keimdriisenschadigung zu konstatieren sei. Creutzfeld hat in 
seiner Zusammenstellung von 118 klinischen Beobachtungen nur 
43 mal, d. h. in 36,4 pCt. der Falle eine Atrophia genitalis ver- 
zeichnet, 3 mal, d. h. in 2,5 pCt. der Falle eine Hyperplasia genitalis. 
Es zeigt sich also, daB ein langes Erhaltenbleiben der Sexual- 
funktion durchaus keine Seltenheit ist. Mit der Zeit scheint sie aber 
stets zugrunde zu gehen. Auch hier kann sowohl das mechanische 
Moment wie das chemische Moment schuld daran sein. Es ist ja 
nicht gesagt, daB jeder Tumor des Vorderlappens in der Richtung 
auf den Hinterlappen wachsen muB, ebensowenig wie jeder Fall von 
Hypophysentumor Veranderungen am Augenhintergrund und 
Storungen des Sehvermogens zeitigt. Ich verweise hier nur z. B. 
auf den einen der von mir beschriebenen Falle, der nur eine 
konzentrische Einengung fiir Blau aufweist. Chemisch kann man 
es sich aber so vorstellen, daB die Quantitaten Sekret, welche von 
dem hypertrophierten Yorderlappen geliefert werden, noch immer 
von dem normal funktionierenden Hinterlappen neutralisiert 
werden und so eine schadliche Wirkung vermieden wird. Das 
quantitative Verhaltnis von Vorderlappen- und Hinterlappen- 
sekret sind wir ja vorlaufig gar nicht zu schatzen imstande. Wir 
schlieBen einfach aus dem mehr oder weniger groBen Tumor, den 
wir feststellen konnen, auf seine groBere oder geringere Sekretion. 
Dabei vergessen wir aber ganz, daB das keinen MaBstab darstellt, 
da sicherlich eine normal groBe Druse auch ein Mehr an Sekret 
liefem kann, wenn z. B. die paralysierenden Sekrete der anderen 
Driisen nur in geringem MaBe vorhanden sind. So konnte man sich 
z. B. in dem von mir beschriebenen Fall 2, falls nicht doch in den 
Keilbeinhohlen sich ein Tumor entwickelt, das normale Aussehen 
der Sella turcica bei voll entwickelter Akromegalie vorstellen. Ich 
verweise nur auf die Analogie mit den Fallen von Basedow, bei 
denen keine Struma vorhanden ist. 

Ich komme nun auf eine Theorie zu sprechen, welche die Ent- 
stehung der Akromegalie in die Keimdrusen verlegt. Freund hatte 
zuerst darauf hingewiesen, und Slumme hat vor alien Dingen es be- 
tont, daB der Untergang der Keimdrusen es sei, welcher zur 
Hypertrophie der Hypophyse anregt und die Akromegalie bedingt. 
Als Beweis dafiir werden von Slumme die Analogie zu den Kastraten 


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Perltz, HypophystirittrkrHnkiuignn. 419 

an^- aufth die akronicgalie-ahnUcljeft ^etatMierungen in der 
Sebivangersehaft angefuhrt. Eodlkdi wird web, in einem Fall von 
CreiUzkld, die Hypophysenhyperplaftie direkt aid die vorher durch- 
gemaehkm 12 Sehwangej«<>h9ten liexogeri. Dali die K ei mdntsen- 
apla-sjf ineht iit alien Fallen die primare Trsaebe darstelli, be- 
wesson die FiUk\ m deuen jalu-efang eine Aktoinegidie bet er- 
haltener Potent beisteht. 1'ingekeiirt aber ke often wir Ftitle von 
GigantiamiSii. wit* tier von imr wihon zitkrte Fall yon Lonum;; und 
Roy, bei dentui die K eieidriiaenaplakie das Primate wrti. I>a Keirn- 
diuse und llypophyse iiv einem fordemden und antagbrtktkelien 
Yerhabuis nm mauder steljien, odef wit' Tardier «ieh a usdnickA, 
in evmm tyversiblea Vmbaltrtk, so vA dieMoglichkeit dure hap* njeht 
ausge-schlosse». dad in eiuem Tail der Falle die Akronitgalie von den 
Reimdriisen aiiageht, in erne :-m andereo Toil aber, und das setveint 
mir der gvbLV-re m .icm, von der Hypo- ^Sj 
physc selbsL ' • , ' ' 

■Der (Jigaiit isiptie fcoigt Am vkuit - 
lichstcn seine Abbangigki it in isejner 
Entstehung xt?m Teil vtrtw BysgenStivlk 
ran* und zntp anderett Tidt ,vdn tinev 
primams. Erkrankmig dor Hypopby-f- 
Aliev ftfchen wir am h&utsgftfen FSJIe 
vines, pniiuiren DysgenitaiifcTtJOs,- At> , 
derej^ite firaleo #ieh abe!r niebt wenjg. 

Falte unte*. den Riesen, bet deoem -on 
fangs «i be aorjna le K ei rmivi wot if unlvt.io t * 
vprbanden war. F^Uber ging man von 
der Anscbmmng ana,- daQ die Riesen 
ihre endgultige KOrpmgiblk- bje eum 
SO. -Ijobeikjatij* embebt bktten Hie 
lekr.’ten jab^^tinte 
babeti aber ergeten dftS dak VVaehs- 
fcuny der RicftOn erKts JUWih dctn 

20. Lt v ben§jahr ein&etjyt, und dali @ie 
dann bis zuin dOodabr stefcig vveiter 
wachsen. loll beobuehte r. B. 2 ju.nge 
Manner.‘die bettie jemeits deft’20. Le- 
bensjahres stebro Umi m<ch duuernd 
ivaobsen. Der eiuebk irin typkeh in - 
ffttltiler, obne Baythaai und mit ge - 
ringetn Aehftolbaar, aber vorhandenei 
Poteaz, d«?r 1.0(> m grod ist, jotzr 28 
•falue silt und a«eb psyohisoh infantil 
Bei iktii be?tan<l vor 0 .Jafneti koine Er- 
weiterung der frVlia turcioa. Pir dls- 
daleu Epipii^kkiidgeAi ^ bei ibm 
gesnbloftften, watiiend die proxirtjalen 
nidht ynt&rfttiobi iyarift*n,^iidta.eir i8t seiii 
j^jeidiicilier:. '.^IwdAiliKbci^is;' • var alien 


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420 Peritz, Hypophysenerkrankungen. 

Dingen seine Aengstlichkeit so groB, daB er sich nichtwieder rontgen 
lassen will. Der zweite Fall (Fig. 2) betrifft einen Epileptiker, der 
20 Jahre alt ist, bei dem sich die Zeichen der Spasmophilie, wie 
ich sie alsKonstitutionsanomaliebeiErwaehsenen beschrieben habe, 
finden: elektrische, anodische Uebererregbarkeit, mechanische 
Muskeliibererregbarkeit, CArostefesches Symptom, Hypertonie der 
Arterie, kalte und livide Hande und eine leukoblastische Verande- 
rung des Blutbildes. AuBerdem ist bei diesem Menschen ein Status 
thymicolymphaticus vorhanden. Er ist jetzt 1,90 m groB, im 
letzten Jahre ist er noch 2 1 /2 cm gewachsen. Die proximalen 
Epiphysenfugen sind noch often, doch beweist das fur das Alter 
gar nichts. Er zeigt einen typischen psychischen Infantilismus, 
hat keinen Bartwuchs, dagegen ist die Potenz erhalten. Die Selle 
turcica ist nicht erweitert. Der Blutzuckergehalt betragt bei ihm 
0,09, er ist also normal. Einen echten ausgewachsenen Riesen 
habe ich leider bis jetzt noch nicht untersuchen konnen, weil auch 
diese Menschen ebenso wie die Zwerge schwer zuganglich sind. 

Die typischen Symptome des Riesenwuchses zeigen die 
beiden eben beschriebenen Falle nicht. Nur ihr psychischesVerhalten 
entspricht dem der Riesen. Nun scheinen sich aber meistenteils die 
krankhaften Zeichen des Gigantismus erst mit dem 30. Jahre aus- 
zubilden, so daB man also bei beiden Fallen die weitere Entwicklung 
abwarten muB, ehe man ein sicheres Urteil liber die Krankhaftigkeit 
bei diesen beiden abnorm groBen Menschen abgeben kann. Um 
diese Zeit treten die Veranderungen am Skelett ein, welche auch bei 
iVkromegalen gefunden werden, vor alien Dingen das Genu valgum 
und die Kyphose der Wirbelsaule, endlich auch die Hypertrophie 
der Hypophyse. Es sind nicht wenig Falle von Riesenwuchs be- 
kannt, bei denen sich gerade diese VergroBerung der Hypophyse 
feststellen lieB, und darum haben auch die Franzosen, vor alien 
Dingen Brissaud, ebenso wie Meige , Launois und Roy , die Ansicht 
ausgedriickt, daB der Gigantismus und die Akromegalie in enger 
Beziehung zueinander stehen. Es gibt aber femer auch eine ganze 
Anzahl Falle von Riesenwuchs, bei denen nicht nur diese Gelenk- 
veranderungen und Verkriimmungen vorhanden waren, sondern 
auch typische akromegale Erscheinungen an den distalen Partien 
des Korpers. Den Giganten auf dysgenitaler Basis entsprechen 
wohl die von Tandler beschriebenen Eunuchoiden mit Hochwuchs. 
Das Langenwaehstum dieser Menschen wird sicherlich, wie Brissaud 
es ausdriickt, dadurch bedingt, daB die Epiphysenfugen linger 
often bleiben als bei normlaen Menschen. Die Hypophysenfunktion 
bringt das Langenwaehstum hervor, wahrend die Keimdriise das 
MaB des Wachstums bestimmt. Bei alien diesen Formen, die ich 
bis jetzt beschrieben habe, fehlt im allgemeinen die hypophysare 
Adipositas. Doch kann sie bei der Akromegalie angetroffen werden. 
Es sind das Falle, bei denen die Schadigung des Hinterlappens sich 
nicht nur durch Atrophie der Keimdriise ausdriickt, sondern auch 
durch weitere Ausfallst'rscheinungen. Ich habe es bis jetzt ge- 


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, 


P &? i i z, 421 

.fl|ssen(J]ohaQt«!i{a»^!a;VoudorhypQ}iby^fch^^i)osiiBK'*.ztt«;pi'e'0^e>'p i . 
wed ich sie erst-. in ihmv (jk'SarttheH jetst-be^pmlm tooebte, 

fm al]gemetn«'«lHj>^iohjtiyt man du-m- Kr&akiki i ult BystropHia- 
adiposogeniiaii*. t'oter diesem Nansen finden sieh Faile von 
jpittniiSrey Ktdnulru»ena|dasie, die- yon Tnndltr mil dMi Nsmen. 
eiWtlcfeokk-t iVttwuebs belegt worded Kind. Daon tnfftman ferner 
n*lfi.e .Falk von hypopliysarem Feltwuehs nut oder ohne Kr- 

endlieb die «?.fat)« erwaFnten 
Falk von. AkboiHegalio rnit Fet twviehs, und sehlieBlieh die 
Kotnbiriatipti von •Fett-woeJm und Z'.vergwuehs, Dee Vollat&udigkeh. 


wegen alwr mufierwivUnl wmden, dad 
dte Afiiporfta^ d<dora#ae die tktmm- 
ache Kr.'mkbvjttv in Re/,iehung gei;H'ft,eht. 
wird zur hyj>o{>hysai'en. Adipositfns. 

IcbiBoehie zuerakdefe tmnuchoiden 
FettwuchjB bnaprcehen. Weil er dem 
Gsgantisftnts auf dysgenitaler Basis am 
naehstert atehf A noli aufieTlicli ahnelt 
or ihm Sehr dark. teh gel>< hier die 


AbbiUiung (Fig-A and 4) ej|tes Knaiicboidgn, an der man deutiicb 

die AelmUeiifceit mil do-ni Rjeseivwuchs erkemveu kann. 

tSie /.eigr sehr ausgosproelie^ db AusbiIdling des-Oemt valgum, 
Sip zf'igi dcntlieh die Bart, uud HaarJosigken jo dor rSc-bam- und 
Aehstdgegeml; xeigt den /.wmnfihoiden, FWl«ruchs> and endlicb. 
wo vmi Tandler niui (iroji bemudors aufmerksani gomaeM ktben, 
das Vennebrtf; Mngeivw&ekst urn dev Extvemiiateri. wabrend der 


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422 P e r i t z , Hypophyaenerkrankungen. 

Rumpf normale GroBe behalten hat. Was beide Formen voneinander 
unterscheidet, ist die KorpergroBe. Die Eunuchoiden mit Fettwuchs 
haben fur gewohnlich eine normale GroBe. Die Abbildung des 
Eunuchoiden zeigt einen solchen, beidem die KorpergroBe fiber das 
Normale hinausgegangen ist, ohne daB man hier von Riesenwuchs 
sprechen konnte. Es scheint also, wie ich schon in meiner Arbeit 
iiber den Infantilismus betonte, Uebergangsformen zu geben vom 
eunuchoiden Hochwuchs, zu dem auch die wirklichen Eunuchen 
und die Skopzen gehoren, zum eunuchoiden Fettwuchs. AuBerdem 
unterscheiden sich die eigentlichen Giganten von den Eunuchoiden 
durch die Trophik ihrer Haut. Bei den Eunuchoiden hat die Haut 
Ae hn lichkeit mit der der Greise, daher wird sie auch als Geroderma 
bezeichnet. Sie ist schlaff, nmzelig, ohne Turgor imd von gelblich- 
blasser Farbe. Bei dieser Form findet sich eine Fettentwicklung, 
die ganz bestimmt lokalisiert ist. Sie ist nicht fiber den ganzen 
Korper gleichmaBig verteilt, sondem bevorzugt gewisse Partien. 
Die Lokalisation des Fettansatzes ist charakteristisch. Man sieht 
Fettwiilste an den oberen Augenlidem, vomehmlich anden Mammae; 
hier entwickelt sich der Fettansatz so stark, daB man den Eindruck 
einer weiblichen Brust hat. Eine starke Fettansammlung laBt sich 
bei den meisten auch an den Hiiften feststellen. Auch diese Fett- 
anhaufung verstarkt noch den Eindruck des weiblichen Charakters, 
ebenso wie die Fettbildung an den Nates, so daB es nicht ver- 
wunderlich erscheint, wenn diese Krankheit mit dem Namen 
„Feminismus“ bezeiclmet worden ist. Dazu kommt dann noch bei 
alteren Individuen die hohe Stimme, das bartlose Gesicht, so daB 
man wirklich derartige Manner, wenn sie in Frauenkleidung ge- 
steckt sind, als alte Frauen ansehen kann. Eine weitere Fettan- 
haufung ist noch in der unteren Bauchregion beobachtet. Ebenso 
hat derMons Veneris durch seine starke Fettanhaufung das Aussehen 
des Mons veneris beim Kinde. Neuerdings hat auch Falta eine An- 
zahl Falle von Spateunuchoidismus zusammengestellt, die die 
gleichen Symptome wie der kongenitale Eunuchoidismus haben; be- 
sonders iiberzeugend sind die Falle, die traumatischen Ursprungs 
sind, wahrend man bei den anderen Fallen, die atiologisch zum 
Teil auf Lues, zum Teil auf andere Infektionen zuriickzufiihren sind, 
mehr an pluriglandulare Erkrankungen denken kann. Besonders 
stark tritt bei den Eunuchoiden auch der psychische Infantilismus 
in den Vordergrund: ihre leichte Erregbarkeit, die Suggestibilitat, 
das Fehlen von Werturteilen, das Vorherrschen von Individual- 
assoziationen gegenfiber allgemeinen Assoziationen. Diese Dinge 
sind sehr ausffihrlich von Anton, von Di Oaspero und von mir be- 
sprochen worden. Ich komme hier im Zusammenhang mit den hypo- 
physaren Erkrankungen auf diese psychischen Veranderungen der 
Eunuchoiden zuriick, weil auch Frankl-Hochuurt bei den Menschen 
mit Hirnanhangstumoren eine sogenannte hypophysare Stimmung 
beschrieben hat: eine eigentfimliche Gleichgiiltigkeit, eine gewisse 
Zufriedenheit, eine sonderbare Euphorie, die oft nicht im Einklang 
zu den schweren Symptomen steht, wie Kopfschmerzen und Er- 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


423 


blindung, an denen diese Menschen leiden. Aus dieser Beobachtung 
Frankl-Hochwart8 hat nun Miinzer gleich auf ein psychisches 
Zentrum in dem Hinterlappen der Hypophyse geschlossen. Icb 
glaube nun, daB bei sehr vielen Hirnkranken eine gewisse Gleich- 
giiltigkeit zu beobachten ist, ebenso wie sehr viele Schwerkranke 
eine Euphorie erkennen lassen, die dem Unbeteiligten ganz unver- 
standlich ist. Man denke doch dabei nur an die Phthisiker. Ich 
kenne auch tabische Kranke, die eine ganz erhebliche Ataxie haben 
und sich fiber die lustigen Beine der anderen Tabischen amusieren. 
Selbst aber zugegeben, daB bei den Hypophysentumoren diese Er- 
scheinungen im weiteren Verlauf der Erkrankung vorhanden sind, 
so sind sie anfangs sicherlieh nicht zu konstatieren. Die Menschen 
sind vollkommen geschaftsfahig. Ich bin der Ansicht, daB diese 
Storungen vielmehr im Zusammenhang stehen mit dem Zugrunde- 
gehen der Keimdriisenfunktion, und daB die psychischen Erschei- 
nungen viel Aehnlichkeit haben, wenn auch in abgeblaBter Form, 
mit dem Infantilismus der Eunuchoiden. Aus den Untersuchungen 
von Nufibaum und vor alien Dingen von Steinach wissen wir, daB 
das innere Sekret der Keimdriise auf die Psyche wirkt. Steinach 
konnte zeigen, daB kastrierte mannliche Batten, denen er Ovarien 
implantierte, nicht nur korperlich feminin wurden, sondern auch 
psychisch. Wenn Miinzer experimentell den Nachweis bringen 
wird, daB die Hypophyse irgendwelche psychischen Einfliisse 
direkt und nicht auf dem Umweg iiber die Keimdriise ausiibt, 
werde ich ihm zugeben, daB ein psychisches Zentrum im Hinter¬ 
lappen der Hypophyse liegt. Bis dahin werde ich diese Annahme 
als eine vage Hypothese ansehen. Frankl-Hochivart fiihrt noch die 
Veranderungen der Psyche bei den Akromegalen nach der Operation 
an. Ich glaube aber, daB einmal der Wegfall des driickenden 
Tumors in der Hypophyse die Ursache fiir die Veranderung abgeben 
kann, und zweitens das Wiedererwachen der Keimdriisenfunktion. 

Eine eigene Form der hypophysaren Adipositas habe ich bei 
zwei Schwestem beobachtet, die beide die vollkommen gleiche Form 
einer Adipositas zeigen, so daB man sie verwechseln konnte. Die 
Abbildungen (5—7) illustrieren diese meine Behauptung. 

Die eine Kranke, M., 33 Jahre alt (Fig. 5), war seit einigen Mona ten 
kurz nach der Entbindung des 5. Kindes mit Kopfschmerzen, Sehstorungen 
und allgemeiner Schwache und Mattigkeit erki ankt. Sie bemei kte fei ner, 
daB von den Hiiften abwarts sich Fett entwickelte. Sonst will sie stets 
gesund gewesen sein, und auch in ihrer Familie sollen keine Krankheiten vor- 
gekommen sein. DaB ihre Schwester an einer ahnlichen Fettsucht leidet 
wie sie, eiwahnt sie nicht. Syphilis wurde negieit. 

Die Untersuchung ergab, daB der Obeikorper bis zu den Hiiften 
vollkommen fettfrei war, daB dagegen eine Fettansammlung von den Hiiften 
bis zu den Knocheln herab sich voifand, so daB man den Eindruck von 
Pandurenhosen hatte. Das Fett fiihlt sich dei b und feet an, von einem Oedem 
ist keine Rede. Der Druck auf das Fett ist schn.eizhaft, ebenso wie die 
Patientin vielfach iiber ischiatische Schn.eizen klagt. Eine Lahn.ung der 
Augenmuskelnerven ist nicht vorhanden. Dagegen besteht eine Stauungs- 
papille, die im iibrigen sioh nach einiger Zeit besseite, zusammen nit den 
Kopfschmerzen. Uebelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kran.pfe waien 
nicht vorhanden. Die Menses waren i egeln.aBig, im Urin ist kein Zucker und 


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EivrrtQ das Bint 0 ? 25 pCt Ziick<r;r/^f«c?,© 7 K©bIsehe 

;}i^per.giykimfe-. 

hir* perunot r/sehe l*nfc*rsuehtifA# konnt t nicht aitogeftihrt wrj&efo, 
dir V-'iiituipi dnr^ii'AUfe.riicht in .stand© war, si eh sru kon/.enti taret*, Bet 
derefsteTi R6n?.ge'rmme*rorbung fondwdi zu mtnnf-iii.Era ta* m*u ©in* 

turejuw Ate o*h d«m< t> -pater, *1& v<m heoom eine Vsi&chlimni©- 

rung, des Leiden* nipt rav. x ine fromgentinte» ftiiehun£ vortmhtn,;%e*grci' sitfh 
oine devitiiclu Krwyttemnc dka S*-M& tiir-dca' imd eitt Zusarmuerihruch dor 
• .KeiIboinhcihton (Taf. X.Vi Ftg.2}. Eine 1 4 Tugo .spate?* wiedervorgemmimene 
Kont£6ntuwe^ dis-.'-jafe>‘fchn Bijj. 


I>luhre alt ^Fig. ts uii&Ih fcdmiu m&* w.rrl 

filhJtev . in id Biih^tbrUtt^tv hestehen ben thr 

Su? gibt m, Jgih$ jpjbhdjdt ..mh'&t 

wworden wi\u\ riftnp iidfier arhebiioher .M«v4**tecii fl&t'ho irgendwelche 
An \iervn hrwiiwvufcri ihy ompitititi&u 'ty'ovd&u tel Liridei'']^ 

vprheirxi^t,, liar «dm i^vhmjUi»jibr* Menses 

•Die Viitiwreiiobnn.il-Wgiftt dt%a gieiebo Angelica \vi© bed da &el\ wester 
Itez.i i}it sinct die itimren Organ© gesund, m&n findet $onst keuin Verandorung 
4m >?©rvvt^y*h:m> aur.h thxr Angeithifit«rgi*»uid i$t normal. Die grobeMu^keJ- 
krrdit let lm n5lgc‘rtix?inen herabge^etzt Dor Bltdan l ekerge)itUt konftte bei der 
1 Mi ion tin ;ch anUeren Ot unden bis jetzt rtichf bestimmt warden* Per I/T; in 
ist fret eon /ud>>r mid EiweiiL Ibe Hontgcmuiiter^iehiuig ergibt ke)ne?-)v* 
Vie..»i.iii.loniiig**n an dot IWi* crank tTuf XYMFig. 3). 



i-' > i it H , liypophy^-ii>rkrs>oVita^ii- 425 

iM'iWhv'ipv.in hoidc FniiiWi noranttL Sit? sind uielit ijl.orioitfliR 

Aft inch Gi ilaA uftreton eisict so eigenavtig lokaiisierten 
Fettsueht in faimharer Fotni.sebr itderesskfefc Anf den eystets BHck 
tiaben dit-se Falle mit d<?r run* bckanoteft, hyjJtCf'Fbv'S&jfen Adipositas 
nioht* genudn. Nu,r dM Voiim:«xie/tiron*. von:. AugenViorungeti, 

; Kopfot4imef?.cni'und:8t'hvrimli , Ixi»ii.dcr er«it*.n Put tout in .tie d Pitied; 
cf-rebraJen I’rspmng vemnfem. Cm cuMuiim*'-! *v u kh, ala ich 
im Bontgenbild keine Ver&ttdenmg fitndi Ale'in Eraiaaneji war itfepr- 
’ ■• noyh viyl groilcr alsfe MonateSpaPuydiv deydUcfeeErweilervmg 
dei Sf-lia t nrtiica *ieh feed. Heinet .Erfedmutg; naeft. is* 

t'itVe Bkobaohtimg; dafi Jirtterboilt vonIf sich 

pldtzlieb. eiiVo Erwetforung SvUa turcica ausbiidefc. .obeli nioht 
gemavfetwbrdtm. An.fangs:daohte k?h an emeu. Hydrocephalus, det 
dutch Ef-rcitcraug- tics drititors ■Aexdcikcb das Infundibulum z\i- 
sasmttt-iidrupki and. So die il>^*>phyae;s<d«Mtgt.. Utugekehrt- lie8 
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BescbWprden, welche da- Paticntin zu tnir fiihrt, 
huhJ iiUseiteirie ivbep«srea}uviit'fi«% die starkt’:- i'.r- 
niiidbTirkRit utui kiti ftuufrgfls t£eraklrii>fyVi. Sir 

imtem i^eauadus Kind. IJieUttterenicJnuii.t ervifet 
«>itu* w-hr starko Fettsurh:t, weltihe vor^ aiieti Fig,. 8., 

Monatssohrift J. Psycbtatrle o. NouroiOKle.J Bd.JXSXlIf. Heft fit 28 


Disi" Go gle 





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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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Dingen den Rumpf betrifft, aber auch Oberarme und Oberschenkel, wahrend 
sie Unterschenkel, Unterarme, Hande und FiiBe frei laBt. Ebenso ist das Ge- 
sicht nicht iibermaBig fettreich. Es besteht eine allgemeine Muskelschwache. 
Sonst findet sich nichts Besonderes. Der Blutdruck ist normal, der Urin 
ist frei von Zucker und EiweiB. Der Blutzuckergehalt ist dagegen auBer- 
ordentlich erhoht, er betragt 0,3 pCt. Die Untersuchung des Schadels im 
Rdntgenbild ergab nichts Abnormes. Die Wassermann sche Reaktion ist 
jetzt negativ. 

Man konnte hier an die Dercumsche Krankheit denken, 
wenigstens gibt es Formen derselben, bei welcher die Lokalisation 
des Fettes die gleiche wie hier ist. Auch die Muskelschwache ist 
hier wie dort vorhanden, nur fehlt die Schmerzhaftigkeit des Fettes. 
AuBerdem ist in diesem Fall eine Progredienz nicht wahrzunehmen. 

Ich mochte aber nicht nur im Zusammenhang mit diesen Fallen 
die Dercumsche Krankheit erwahnen, sondern iiberhaupt darauf hin- 
weisen, daB die Entstehung dieser eigenartigen Krankheit in Ver- 
bindung gebracht wird sowohl mit der Schilddriise wie mit der 
Hypophyse, zumal man in der Halfte der Falle, die zur Sektion 
kamen, Hypophysentumoren festgestellt hat. AuBerdem hat man 
auch vielfach Storungen der Keimdriisenfunktion bei dieser Krank¬ 
heit gef unden. 

Das Bild, welches die echte hypophysare Adipositas in Bezug 
auf die Fettvert^ilung gibt, ist aber ebenfalls kein einheitliches. 
Wir finden Falle, welche in ihrem auBeren Aspekt durchaus den 
Fallen von eunuchoidem Fettwuchs gleichen. Hier wie dort ist 
das Fett hauptsachlich in der Gegend der Mammae, des Bauches, 
der Hiiften, Nates und Mons veneris verteilt. Die Falle hypo- 
physaren Ursprunges haben aber gewohnlich nicht jene eigen- 
artige Haut der Eunuchoiden, besonders nicht die jugendlichen 
Kranken. Sie haben vielmehr ein rundes, vollmondartiges, fettes 
Gesicht mit weicher, zarter Haut. AuBer dieser Form, die Neurath 
bei den jugendlichen Kranken unter dem Namen der Fettkinder 
beschrieben hat, finden sich aber Kranke mit hypophysarer Adi¬ 
positas, bei denen sich spater das Fett ganz allgemein iiber den 
Korper verbreitet hat, ohne besondere Pradilektionsstelle, so z. B. 
in dem von Pick beschriebenen Fall. Einen ahnlichen Kranken habe 
ich in letzter Zeit gesehen, bei dem eine hypophysare Adipositas mit 
leichten akromegalen Symptomen besteht. 

Es handelt sich um einen 26 jahrigen Arbeiter, der bis vor 
% Jahren gesund war. Er hat vor einem Jahr geheiratet. Seit dem 
letzten Sommer bemerkt er, daB er schlechter als friiher sieht. In 
letzter Zeit hat die Sehkraft erheblich abgenommen. Er bemerkt 
auch, daB er seit dieser Zeit bei weitem fetter geworden ist. Wahrend 
er friiher hohlwangig war, ist sein Gesicht rund und dick geworden. 
Seine Libido und seine Potenz haben seit einem halben Jahr ab¬ 
genommen. Er fiihlt sich allgemein miide und vermag nicht mehr 
ohne Anstrengung zu arbeiten. Er klagt iiber Kopfschmerzen, 
aber kein Erbrechen. Er leugnet, Lues gehabt zu haben. 

Patient ist ein mittelgroBer Mann mit blasser Gesichtsfarbe, zarter, 
kiihler Haut, und einer allgemeinen Fettsucht, die sich in nichts von der 


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Fettheit anderer gut genahrter Menschen unterscheidet. Es ist hochstens 
auffallig, daB sich besonderB viel Fett an den Mammae findet. Patient gibt 
aber an, daB er stets dort sehr fett gewesen sei. Die Nase ist sehr prominent, 
der Unterkiefer massig und unformig, die Zahne stehen ziemlich weit aus- 
einander, dagegen zeigen die Hande und FiiBe nichts Abnormes. Die Hoden 
sind gut entwickelt. Knie- und Achillessehnenreflexe sind normal. Es be- 
stehen keine Lahmungen an den Augenmuskeln. Beide Pupillen sind gleieh 
weit, reagieren gut auf Lichteinfall. Es besteht eine bitemporale Hemianopsie. 
Nach Angabe von Dr. May , dem ich diesen Fall verdanke, schwankt dies© 
Hemianopsie an den verschiedenen Tagen. Bis vor kurzem fand sich die 
Gesichtsfeldeinengung nur auf dem rechten Auge, zeitweise statt ihrer aber 
ein zentrales Skotom. Auf dem rechten Auge besteht eine Sehnervenatrophie. 
Die Rontgenuntersuchung ergibt eine erhebliche Erweiterung der Sella 
turcica. Die Wa^ssermannsche Reaktion ist negativ. Blutdruck 120/90, 
Hamoglobingehalt = 97 %, Erythrocyten = 4,900 000, Leukocyten = 7800 
kleine Lymphocyten = 23.7 %, grosse Lymphocyten = 7 %, Mononuclear© 
= 7 %, Neutrophile = 66,6 %, Leukoblasten = 0,7 %, Mastzellen = 0,9%. 

Es handelt sich also hier um einen Fall, bei dem nur angedeutet 
die Zeichen der Akromegalie in Form der VergroBerung des Unter- 
kiefers und derNase sind, wahrend die Zeichen der Fettsucht und 
der Genitalatrophie sehr viel starker in die Augen springen. Dazu 
kommen die cerebralen Symptome, die sich sehr schnell hier ent¬ 
wickelt haben, im Gegensatz zu der Akromegalie des ersten von mir 
beschriebenen Falles. Dort bestehen die Beschwerden seit 5 Jahren, 
ohne cerebrale Zeichen hervorgerufen zu haben, hier erst seit einem 
halben Jahr. Es scheint die Wachstumsrichtung des Tumors zu sein, 
die dafiir maBgebend ist, ob sich friiher oder spater die cerebralen 
Symptome ausbilden, vielleicht auch die Geraumigkeit der Sella 
turcica. Die Hauptsache, auf die ich aufmerksam machen wollte, 
ist aber die, daB die Fettverteilung bei vielen derartigen Fallen 
nichts Spezifisches an sich hat. 

Es soli hier noch einmal darauf hingewiesen werden, daB in 
alien bis auf den letzten der von mir beschriebenen Falle die Keim- 
driisenfunktion nicht gestort war, daB also auch fur die hypo- 
physare Adipositas der Satz nicht unbedingt Geltung hat, daB die 
Keimdrusenfunktion in jedem Fall gestort sein muB. Dann aber 
mochte ich auch die Schwierigkeit betonen, die fur die Diagnostik 
derartiger Formen von Fettsucht besteht, wenn sich Veranderungen 
an der Basis cranii im Rontgenbild nicht finden und cerebrale 
Storungen fehlen (cf. Fall 2 u. 3 hypophysomer Adipositas). 

Kann man aus der verschiedenartigen Verteilung des Fettes 
Riickschliisse machen ? Ich habe zuerst die Eunuchoiden beschrie- 
ben, bei denen die Fettverteilung ganz bestimmt ist. Dann jene 
beiden eigenartigen Falle mit ebenfalls fester Lokalisation des 
Fettes. Endlich jene dritte From einer Fettverteilung, wie sie bei 
der diffusen Form der Dercumschen Krankheit zu konstatieren ist, 
wahrend bei der umschriebenen Form der Dercumschen Krankheit 
sich das Fett vornehmlich an den Oberschenkeln und Oberarmen 
keulenartig absetzt. Trotz dieser verschiedenen Lokalisation 
haben sich bei all diesen Formen Hypophysenveranderungen ge- 
funden. Ein Grund, warum die Lokalisationen so verschieden sind^ 
laBt sich vorlaufig nicht angeben. Es laBt sich daher aus der ver- 

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schiedenen Lokalisation die Diagnose, ob man es mit einer hypo- 
physaren Fettsucht zu tun hat, nicht stellen. Will man eine Trennung 
dieser Falle vomehmen, so kann man einmal auf das kindliche 
psychische Verhalten der Eunuchoiden hinweisen, das bei den 
Kranken mit hypophysarer Adipositas fehlt, und auf die Haut- 
veranderungen, wahrend bei eintretendem sekundarem Dysgeni- 
talismus das Schwinden der sekundaren Geschlechtscharaktere 
hier wie dort wahrzunehmen ist. Die Verteilung des Fettes ist 
auch, wie eben auseinandergesetzt, bei den echten Fallen hypo¬ 
physarer Adipositas nicht konstant, worauf auch Guggenheimer 
aufmerksam macht. 

Ich mochte aber auf einem anderen Weg die Entscheidung 
suchen, ob diese verschiedenen Formen von Adipositas hypophysar 
sind oder nicht. Ich habe im physiologischen Teil ausgefiihrt, daB 
der Zuckerstoffwechsel bei ihrer Hypophyse beraubten Tieren 
gestort ist, und zwar in der Weise, daB der Zuckerspiegel im Blut 
erhoht ist, wahrend eine Glykosurie nicht besteht, und daB femer, 
wie Cushing gezeigt hat, die Assimilationsgrenze fiir Zucker erhoht 
ist. Cushing hat dann die Behauptung aufgestellt, daB die Stauung 
des Zuckers die Veranlassung fiir die Fettbildung abgibt. Es be¬ 
steht also in solchen Fallen sicherlich eine erhohte Dichtigkeit der 
Nieren gegeniiber der Zuckerausscheidung, die durch Injektion von 
Pituitrin nach Cushing wieder herabgesetzt wird. AuBerdem haben 
Borchard und neuerdings Claude und Baudouin gezeigt, daB eine 
alimentare Glykosurie auftritt, wenn man Hinterlappenextrakt 
der Hypophyse nach einer Mahlzeit einspritzt. Der Mechanismus, 
wie aus Zucker Fett entsteht, ware der, daB der nicht verbrannte 
Zucker durch Abgabe von Sauerstoff sich in Fett verwandelt. Es 
ist das eine Tatsache, die mehrfach untersucht worden ist. Bleibtreu 
hat bei Nudelgansen diesen Vorgang untersucht mid hat durch 
Feststellung des respiratorischen Quotienten die Umwandlung von 
Zucker in Fett sichergestellt. Wird namlich Fett allein verbrannt, 
so betragt der respiratorische Quotient, das Verhaltnis von aus- 
geatmeter Kohlensaure zu eingeatmetem Sauerstoff, 0,7, bei 
alleiniger Verbrennung von Zucker gerade 1. Wird nun der Zucker in 
Fett verwandelt, so wird der iiberschiissige Sauerstoff zu Kohlensaure 
und Wasser. Die Folge davon ist, daB mehr Kohlensaure aus- als 
Sauerstoff eingeatmet wird. Dadurch steigt dann der respiratorische 
Quotient iiber 1, so nach Bleibtreu bei den genudelten Gansen auf 
1,34. Umgekehrt kann aber der respiratorische Quotient bis auf 
0,64 fallen, wenn Fett in Kohlehydrat bei vollkommen kohlehydrat- 
freier Nahrung umgewandelt wird. Nun muB sich bei der Unter- 
suchung von derartigen Kranken mittels des respiratorischen Gas- 
stoffwechsels unter genauer Priifung des Blutzuckergehaltes fest- 
stellen lassen, ob tatsachlich bei passender Ernahrung eine Steige- 
rung des respiratorischen Quotienten iiber 1 stattfindet. Der hohe 
Blutzuckergehalt, den ich bei 2 Patienten feststellen konnte, laBt 
wohl die Annahme zu, daB die Verhaltnisse ahnlich liegen. Auch die 
Muskelschwache, iiber die alle diese Patienten klagen, kann man 


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als Sttitze fur die Richtigkeit dieser Anschauung anfiihren. Sie 
ware darauf zuriickzufiihren, daB der Zucker, der fiir die Muskel- 
arbeit notwendig ist, ungenutzt und unverbrannt in Fett ver- 
wandelt wiirde. 

Ich habe diese Auseinandersetzungen hier gemacht, nicht nur, 
um neue Hypothesen aufzustellen, sondern um eine moglichst 
allgemeine Priifung anzuregen, weil ich glaube, daB bei der Sparlich- 
keit des Materials an verschiedenen Stellen zugleich untersucht 
werden muB, um gut fundierte Resultate zu erzielen. Ich glaube 
aber, daB erst diese Untersuchungen die Moglichkeit geben 
werden, festzustellen, warum manche Formen der Akromegalie 
sich mit Adipositas vergesellschaften, wahrend die letztere bei 
anderen fehlt. Es wird sich dann zeigen, ob alle Tumoren des Vorder- 
lappens in gleicher Weise den Stoffwechsel beeinflussen oder in 
manchen Fallen der Gasstoffwechsel mehr im Sinne einer Dys- 
funktion des Hinterlappens oder einer Hyperfunktion des Vorder- 
lappens verandert ist. Denn daB ein Antagonismus zwischen diesen 
beiden Teilen besteht, habe ich ja schon auseinandergesetzt. Es 
wird auch ferner dann die Moglichkeit gegeben sein, festzustellen, 
ob gewisse Formen der Adipositas, z. B. auch die nach der Kastration, 
hypophysaren Ursprungs sind oder nicht, besonders dann, wenn 
man keine Veranderung der Sella turcica im Rontgenbilde sieht 
und sich zur Fettsucht noch die Muskelschwache gesellt. End- 
lich habe ich aber diese Ausfiihrung hier gemacht, um zu 
zeigen, wie kompliziert die Erklarung gewisser Symptome ist, 
die sich bei Storungen der Driisen mit innerer Sekretion kund- 
tun, und daB es darum ganz unstatthaft ist, alle moglichen 
Erscheinungen auf einen EinfluB vom Nervensystem zuriickzu- 
fiihren. SchlieBlich liegt vielleicht auch eine andere Moglichkeit 
der Differentialdiagnose fiir die verschiedenen Formen der Hypo¬ 
physenerkrankungen in dem Befund von Falta und Nowaczinski, 
die eine erhebliche Zunahme der Hamsaureausscheidung bei 
Akromegalen feststellten. 

Ich habe bis jetzt mit Ausnahmen des letzten nur Falle von 
reiner hypophysarer Adipositas mitgeteilt. Im Anfang meiner 
Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daB ein Antagonismus 
zwischen Vorder- und Hinterlappen besteht. Man miiBte also an- 
nehmen, daB stets bei dem Dyspituitarismus des Hinterlappens 
eine Steigerung der Vorderlappentatigkeit einsetzt, und die Folge 
davon die Kombination einer hypophysaren Adipositas mit Akro¬ 
megalie ist (cf. den letzten der mitgeteilten Falle). Ferner sehen wir 
beim Eunuchoidismus tatsachlich die Adipositas vergesellschaftet 
mit einer Wachstumssteigerung der Extremitaten. Es fragt sich 
nun, ob es Falle von hypophysarer Adipositas gibt, bei denen eine 
Storung der Knochentrophik ausbleiben muB. Es wird sich, wenn 
bei Erwachsenen ein Tumor im Vorderlappen die Sekretion des 
Vorderlappens aufhebt und zugleich auch den Hinterlappen 
mechanisch zerstort oder auBer Funktion setzt, nur eine hypo- 
physare Adipositas einstellen, wie etwa in dem Fall von Pick. 


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*1 ypnph j f se.riv rk ra nk ungeii 


IklcJ ftbej'. *ieh bei EtWS<b*er!bn pine iSklerj>H> der ganxeu 

fiypbpliyxo aiiftbUdot . wie b>-*« den pi imgkitMhilareu Erkrankungen. 
(kiruiwerdeii vvir nttrAlie AtlsdaHseraelUdnungfen seheii kbnrieii Bei 
den Fallen. ybn derteji teh die Abbildnngesi hier gegeben babe,, wird 
man wahraOhvmlroh anrtehmen nnisserp dab die gfkb'tt* Hy^ophyse 

s, 'liaijiuf isj: Widen beinenBfbWestern 

H dujreh bine ups 1 1 1diek it ct nfntrsaehe, bei 

dew dritteri Fall iUireb tlie ifues. Die 

gCisamte XAriUfdiiuiig' d+'t kivjaiphyse, 
die tk ‘\m Ilera ; nwiv6h*3r<dpii Zwergwijtche 
B^pind FefMiK'ld bedingi.. sieh bei 
Ervuiehsenert ana dew iinHerbi! RUd 
• vorlaulig niolft -kbl^t^tipreii, solange 
Bffi iir niellitb itber deli AA-ilaid des Gae- 
*tbtt\veebijelK Dsvgegeir vytineig 


wiUii’fciid ifar V\ r aeh.stHiHrf|Jeripde ’ta*aJ. 
An dieyfan Enlt |$p}i at-eh die. 

Seiiwieefgkeil dfM' Diagnose, wenn eere- 
bride iSymptcmte b-hlen. sehr dentin h 
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JS* fmndeit aitih niji Admin jnnet-n 
;»P nscluMi VOli ..Mi .tnljreu ( Abb 0)., vivlrl.ua 
nil A'ltrt' von < 4 JiUireu orknmkti. (• i >••• 
•bwwfttb lAuiwhi'M 

bliV'b er im WmMistun'i istohon Anlierde.io 
l ine er an. tibef Ktjpfacdimorzirii ,*n kluufr'n. 
Kino Substbrimtr bat or iiii-bt, wal.vv,' 
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Utir. ituifsp Menseb is-p 1.3< m grnifc, 
•atnsf a bar proport iunieri yrebaiit.. Die Kelt- 
verteHuhg betrifft dus Oe&ieht, die Mjniimib-,‘ 
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


431 


Hydrocephalus zuriickgefuhrt wurde. Wahrscheinlich wird durch 
diesen Hydrocephalus entweder eine Abklemmung des Infundi- 
bulums bewirkt und so verhindert, daB das Sekret der Hypophyse 
dem Korper zugefiihrt wird, oder aber der Druck der hydro- 
cephalischen Fliissigkeit laBt es nicht dazu kommen, daB das Sekret 
in die Cerebrospinalfliissigkeit iibertreten kann. Durch den Mangel 
dieser Sekrete wird dann die Hypophyse vollkommen ausgeschaltet, 
und wir sehen das, was wir im Experiment nach Entfernung der ge- 
samten Hypophyse zu beobachten Gelegenheit haben, Zwerg- 
wuchs und Adipositas. Man konnte also in diesem Fall entweder 
einen Hydrocephalus annehmen, welcher auf das Infundibulum 
und die Hypophyse driickt, oder aber, wie das schon Oppenheim in 
einem Fall beschrieben hat, eine Lues der Hypophyse supponieren. 
Die Diagnose griindet sich hier allein auf die Aehnlichkeit mit 
anderen Fallen von Dystrophia adiposogenitalis, bei der ein 
Hydrocephalus mit Sicherheit angenommen werden konnte, oder 
der durch die Sektion bestatigt wurde. Das Fehlen des Ausfalls 
.der Genitalfunktion laBt sich gegen die Diagnose einer Dystrophia 
adiposo-genitalis nicht anfiihren, da Biedl gezeigt hat, daB unter 
32 derartig beschriebenen Fallen nur 12 mal Genitalatrophie 
vorhanden war. Weder Neurath noch Tandler und Grofi sehen die 
Genitalatrophie bei der hypophysaren Adipositas als etwas Obli- 
gatorisches an, sondern nur derHypophysenerkrankung koordiniert. 
Es zeigt aber auch dieser Fall wieder, wie miBlich es ist, eine 
Diagnose nur allein aus dem Aspekt zu stellen. Wir sind aber darauf 
angewiesen, solange sich nicht cerebrale Symptome und die 
sonstigen Zeichen eines Hypophysentumors in Form der Er- 
weiterung der Sella turcica im Rontgenbilde vorfinden. lch ver- 
weise auch hier wieder auf den Fall II der Schwestern mit hypo- 
physarer Adipositas, der keine Tumorerscheinungen hat und auch 
keine Veranderungen der Sella turcica aufweist. Wurde man ihn 
allein zu Gesicht bekommen, ohne daB man die Schwester kennt. 
so wurde auch hier die gleiche Schwierigkeit einer Diagnose vorliegen 
wie in dem eben mitgeteilten Fall. Hier tritt deutlich die Wichtig- 
keit einer genaueren Untersuchung des Zucker- und des Gasstoff- 
wechsels vor Augen. Auch die von Guggenheimer beobachtete Zu- 
nahme der Lymphocyten, die auch in 2 Fallen (Fall 1 der 
Akromegalen und dem Fall von Fettsucht mit akromegalischen 
Symptomen) von mir bonstatiert wurde, konnte dazu dienen, 
die Diagnose auf eine Erkrankung der endokrinen Driisen zu 
sichern, da ja bekanntlich auch die Erkrankungen der Schild- 
driise zur Lymphocytose (Kocher , Borchardt) fiihren. Gelingt 
es mit Hilfe dieser Untersuchungen, ausgesprochene Storungen 
zu finden, so wird man dann nicht mehr allein auf das 
Rontgenbild angewiesen sein. Es wird dann auch moglich 
sein, festzustellen, ob die Fettentwicklung beim Eunuchoi- 
dismus auf derselben Basis beruht wie die echte hypophysare 
Adipositias; und vielleicht gelingt es auch fiir die DemmscheKrank- 
heit nachzuweisen, ob ihr Ursprung von der Hypophyse ausgeht. 


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432 P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 

Als Folge einer gesteigerten Erregung der Pars intermedia des 
Hinterlappens wird von Schafer eine Polyurie angenommen. Er be- 
griindet das einmal mit seinen Fiitterungsversuchen und mit der 
weiteren Tatsache, daB durch mechanische oder thermische In- 
sultierung des freigelegten Gehirnanhanges eine viele Tage lang 
dauemde Polyurie erreicht werden konnte. Dabei zeigte es sich, 
daB der Vorderlappen intakt geblieben, wahrend die Pars inter¬ 
media von Blutungen durchsetzt war. Auf Grund dieser Unter- 
suchungsergebnisse hat E. Frank zuerst das Tatsachenmaterial 
beim Diabetes insipidus auf die Frage hin zusammengestellt, 
ob nicht dabei eine Hypophysenerkrankung vorliegen konne. Be- 
kannt ist ja, daB bei der Akromegalie nicht gar zu selten eine 
Polyurie zu beobachten ist. Erst jiingst hat Simmonds einen Fall 
von Diabetes insipidus in Verbindung mit Akromegalie beschrieben. 
Seltener ist schon der Diabetes insipidus oder die Polyurie in Ver¬ 
bindung mit einer Dystrophia adiposogenitalis. Dagegen ist es 
ferner auffallig, wie haufig die Lues cerebri, bei der sich eine 
bitemporale Gesichtsfeldeinschrankung findet, verbindet mit einer. 
Polyurie oder mit einem Diabetes insipidus. Bekanntlich lokalisiert 
sich die basale Meningitis luetica am haufigsten in der Gegend des 
Chiasma, also in jener Gegend, von der aus die Hypophyse am 
leichtesten gereizt werden kann. Er ftihrt dann ferner als Beweis 
jene Falle von Commotio cerebri an, bei denen sich ebenfalls wieder 
eine bitemporale Hemianopsie mit dem Diabetes insipidus kombi- 
niert. Endlich erwahnt Frank einen Fall von Hagenbach , bei einem 
4 1 / 2 jahrigen Madchen mit Polyurie und Polydipsie, bei dem sich 
bei der Sektion neben einer Meningitis tuberculosa ein Tuberkel 
im Infundibulum fand, wahrend die Hypophyse makroskopisch 
unverandert war. Und schlieBlich hat Frank selbst einen Fall 
beobachtet, bei dem eine Kugel in die mittleren und hinteren 
Partien der Sella turcica hineinragte, so daB eine dauernde 
mechanische Insultierung der Hypophyse vorhanden war. Bei 
diesem Fall bestand ein echter dauernder Diabetes insipidus in 
Verbindung mit einem gewissen Grade von Dystrophia adiposo¬ 
genitalis. Frank weist endlich noch darauf hin, daB in den Fallen 
von idiopathischem vererbbarem Diabetes insipidus neben diesem 
Fettleibigkeit festgestellt worden ist, oder daB die betreffenden 
Individuen im ganzen in der Entwicklung zuriickgeblieben waren, 
oder aber daB bei ihnen nur eine Hypoplasie der Genitalien oder 
Mangel der Scham- und Achselhaare bemerkt wurde. Auch Straufi 
hat jiingst auf die Kombination von Diabetes insipidus undEnt- 
wicklungshemmungen hingewiesen. Nach alledem kommt E. Frank 
zu dem SchluB, daB die Idee einer einheitlichen hypophyso- 
zentrischen Auffassung des echten Diabetes insipidus wohl moglich 
ist. Im AnschluB an diese Arbeit hat Steiger dann einen Fall von 
Diabetes insipidus untersucht. Auf Grund dieser Untersuchung hat 
er geschlossen, daB in seinem Fall ein hypophysarer Ursprung nicht 
vorhanden, aber daB eine Reizung des erweiterten Vagussystems 
vorliegt. Mir ist seine Beweisfiihrung nicht recht einleuchtend, 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


43a 


aber interessant an diesem Fall ist einmal, daB im Rontgenbild nach 
Aussage eines erfahrenen Rontgenologen eine vergroBerte und 
namentlich vertiefte Sella turcica vorhanden war. DaB in diesem 
Falle eine Storung am Opticus nicht zu beobachten ist, beweist 
natiirlich fiir eine Veranderung in der Hypophyse nichts. Denn 
wir sehen selbst bei Akromegalie mit erheblicher VergroBerung der 
Sella turcica (ich verweise auf Fall I) auch nicht immer Verande- 
rungen am Opticus. Interessant dagegen ist in seinem Fall die 
Priifung der Assimilationsgrenze fiir Zucker. Bei voller Fliissig- 
keitszufuhr (22 Liter), 1 Milligram Adrenalin subkutan und 200 g 
Traubenzucker war keine Glykosurie vorhanden. Erst bei 300 g 
Traubenzucker traten reduzierende Substanzen im Urin auf. Die 
gesunde Vergleichsperson schied schon bei 100 g Traubenzucker 
und 1 Milligramm Adrenalin Zucker im Urin aus. Es zeigt sich also 
hier eine Erhohung der Assimilationsgrenze fiir Zucker, wie wir sie 
auch bei hypophysarer Adipositas finden, ebenso wie sie femer 
Aschner bei seinen Adrenalinversuchen an hypophysopriven Tieren 
feststellte, und endlich Cushing bei seinen des Hinterlappens 
beraubten Tieren beobachtete. Diese Feststellungen sind auBer- 
ordentlich interessant, sie wiirden auch als Stiitze fiir eine Er- 
krankung der Hypophyse dienen konnen, wenn man sie haufiger 
beim Diabetes insipidus finden wiirde. 

Vorlaufig wird man sich mit der Registrierung dieser Falle 
allein zu beschaftigen haben. Es werden erst die weiteren Unter- 
suchungen ergeben, ob tatsachlich jede Form des Diabetes insipidus 
oder ob nur gewisse Formen, besonders die, welche mit Ak¬ 
romegalie oder mit der Dystrophia adiposogenitalis kombiniert 
sind, im Zusammenhang mit der Hypophyse stehen. Die weiteren 
Forschungen werden auch zeigen, ob noch andere Symptome als 
nur der Diabetes insipidus eine Folge der Uebererregbarkeit des 
Mittel- und des Hinterlappens sind. 

Von Claude und Oougerot sind im Jahre 1907 zuerst Falle be- 
schrieben worden bei alteren Personen, welche sie als Folge einer 
Erkrankung aller endokrinen Driisen feststellten und auch durch 
die Sektion als solche beweisen konnten. Bei diesen Erkrankungen 
ist auch die Hypophyse mit beteiligt. Doch sind wir nicht imstande, 
zu sagen, welcher Anteil jeder einzelnen Druse bei dem Symptomen- 
bild zukommt. Bespricht man aber die Krankheitsbilder, welche 
durch die Erkrankung der Hypophyse entstehen konnen, so 
gehort auch dieses Bild mit in den Rahmen. Sie sind des- 
wegen auch interessant, weil bei ihnen fiir gewohnlich nicht die 
Tumorbildung der Hypophyse zur Erkrankung AnlaB gibt, sondern 
eine Sklerose. Man muB auch hier wieder unterscheiden, zwischen 
der pluriglandularenErkrankung imKindesalterund derim spateren. 
Ich habe im Jahre 1910 in der Berliner Neurologischen Gesellschaft 
einen Fall vorgestellt, den ich als partiellen Gigantismus bezeich- 
nete und als Folge einer pluriglandularen Erkrankung ansah, auch 
so in meiner Arbeit iiber den Infantilismus des genaueren be- 
sprochen. 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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Es handelt sich urn einen Fall eines 20 jahrigen jungen Madchens, bei 
dem vor alien Dingen neben einer verhaltnismaBig kleinen Statur und 
grazilem Korperbau die Lange der Hande und FiiBe auffiel. Das Madchen 
ist noch vollkommen unentwickelt, es besteht noch keinerlei Behaarung in 
der Achselhohle und am Mons Veneris. Die auBeren Geschlechtssteile er- 
scheinen wie bei einem Kinde, der Uterus ist inf an til, es bestehen noch keine 
Menses. Auch die Mammae sind noch ganz schwach entwickelt und enthalten 
niir Fett. Abgesehen davon ist Patientin aber mager und grazil gebaut und 
nicht liber das Mittelmafi groB. Nur die Hande und FiiBe sind abnorm groB. 
Die Hand ist vom Radiokarpalgelenk bis zur Kuppe des Mittelfingers 19 cm 
lang. Im Rontgenbild sieht man deutlich daB es sich nur uni eine abnorme 
Verlangerung der Metacarpi und Phalangen handelt, nicht aber um eine 
Zunahme des Dickenwachstums und eine VergroBerung der Weichteile. 
Zugleich erkennt man, daB anomale Epiphysenspalten an diesen Knochen 
noch vorhanden sind; auch an den distalen Teilen der Ulna und des Radius 
sieht man Epiphysenspalten. Doch ist ihr Vorkommen hier bis zum 20. 
Lebensjahr nach Gegenbaur noch normal. Auch das Rontgenbild der FiiBe 
laBt das gleiche erkennen. Es besteht eine ausgesprochene weiche Struma, 
keine Tachykardie, kein Exophthalmus imd kein Tremor manuum. Im 
iibrigen ist das Nervensystem normal, ebenso der Augenhintergrund. Im 
Rontgenbilde laBt sich eine VergroBerung der Sella turcica nicht nachweisen. 
Das junge Madchen ist in seinem ganzen Wesen kindlich, wie auch der Ge- 
sichtsausdruck dies zeigt. 

Fall II. Es handelt sich hier um einen Knaben von 10 Jahren, welcher 
1 m grofl ist. Die Mutter kommt in die Poliklinik, weil der Knabe noch sehr 
unentwickelt ist, in eine Hilfsschule gehen muB und schlecht spricht. Die 
Mutter gibt an, daB das Kind bei der Geburt auBerordentlich dick und fett 
gewesen sei. Nach einer Photographic im ersten Lebensjahr sieht man 
das auch. Nach Angabe der Mutter saB der Kopf direkt auf den Schultern, 
dicke FettwiAlste umgaben den Hals, auch die Beine und der Leib sollen ab¬ 
norm fett gewesen sein. Allmahlich hat sich das Fett verloren. Der Knabe 
ist aber nicht wie andere Kinder gewachsen, hat auch das Sprechen schwer 
und spat erlernt und hat bis jetzt noch immer seine Milchzahne. Nach An¬ 
gabe der Mutter hort der Knabe auch schwer. Er geht in eine Hilfsschule 
und lernt dort sehr wenig. 

Die Untersuchung ergibt, daB er ein fiir sein Alter abnorm kleiner 
Junge ist, der auf alle Fragen mit rauher, monotoner, tiefer Stimme ant- 
wortet. Eine abnorme Fettbildung am Korper ist nicht vorhanden. Die Haut 
ist trocken und schilfert ab, die Lippen sind wulstig, aber die Zunge ist nicht 
erheblich verdickt. Man sieht im Gebifl noch alle Milchzahne, und im 
Rontgenbild vermag man die Zahnkeime fiir die zweiten Zahne wahrzu- 
nehmen. Es ist ein leichter Strabismus convergens vorhanden. An beiden 
Ohren findet sich eine Otitis media chronica, es mag das auch die Ursache fiir 
die Schwerhorigkeit abgeben. Die Thyreoidea ist nicht zu fiihlen, ebenso- 
wenig im Skrotum die Hoden, auch im Leistenkanal sind sie nicht vorhanden. 
Der Penis ist normal entwickelt. Im Rontgenbild sieht man auBerdem eine 
Eaweiterung der Sella turcia (Taf. XVII Fig. 4). Psychisch ist der Knabe 
sehr zuriickgeblieben, er kann noch nicht einmal zahlen, ebenso nicht- 
Jesen; auch die Farben vermag er nicht zu unterscheiden. 

Der Knabe erhielt Thyreoidintabletten, und er ist infolgedessen 
innerhalb 6 Monaten um 7 cm gewachsen. Nach Angabe der Mutter macht 
er auch in der Schule Fortschritte, so daB der Lehrer spontan dariiber be- 
richtet hat. Er kann jetzt zahlen und macht auch einen bei weitem ge- 
weckteren Eindruck. Dagegen sind die Milchzahne noch nicht ausgefallen, 
und auch die zweiten Zahne treten noch nicht hervor. 

Im ersten Fall wird man die Diagnose einer pluriglandularen 
Erkrankung damit zu begriinden haben, daB einmal eine Struma 
vorhanden ist, zweitens ein vollkommen infantiler Uterus mit 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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seinen Adnexen und auch das Fehlen des Eintritts der Menses. 
Nimmt man dazu, daB die VergroBerung der Hande und FtiBe 
durchaus der bei der Akromegalie ahnelt, so ist man wohl be- 
rechtigt auch anzunehmen, daB hier trotz Fehlen einer VergroBerung 
der Sella turcica im Rontgenbild eine Erkrankung der Hypophyse 
vorliegt, und zwar im Sinne einer gesteigerten Funktion. Es ware 
natiirlich auch moglich, daB bei der primaren Unterfunktion und 
Aplasie der Keimdriisen die Hypophyse indirekt, wie ich das im 
Anfang auseinandergesetzt habe, mitbeteiligt ist, und daB die akro- 
megalen Erscheinungen also als sekundare anzusehen sind. Es ist 
aber bei diesen Krankheitsbildern sehr schwer zu entscheiden, 
was primar und was sekundar erkrankt ist. Darum bin ich dafur, 
bei diesen Krankheitsbildern immer mehr von einer pluriglandularen 
Erkrankung zu sprechen und nicht irgendeine Druse mit innerer 
Sekretion in den Vordergrund zu stellen. Bei diesem Fall zeigt es 
sich auch, daB der Name einer pluriglandularen Erkrankung bei 
weitem besser ist als der von Falta vorgeschlagene einer multiplen 
Sklerose der endokrinen Driisen. Denn hier prajudiziert die Be- 
zeichnung einer Sklerose den pathologischen ProzeB, der in diesem 
Fall fur die vorhandene Struma doch nicht zu verwenden ware. 
Das Gemeinsame in alien diesen Fallen scheint mir aber auch in 
diesem Fall hervorzutreten, namlich das Verhalten der Haut und 
der ganze Ernahrungszustand: eine kiihle, blasse, trockene und 
leicht abschilfernde Haut und das psychische Verhalten, das sich 
vornehmlich durch Indolenz und Apathie ausdriickt. Diese beiden 
Momente kann man auch im zweiten Fall konstatieren. Sonst zeigen 
die beiden Falle wenig Aehnlichkeit. Hier scheint der EinfluB der 
fehlenden Thyreoidea noch vorzuherrschen, wenn auch die eigent- 
liche myxodematose Veranderung der Haut nicht vorhanden ist, 
dagegen aber das Tatzenformige der Hande, die eigenartige mono¬ 
tone tiefe und rauhe Sprache und der Zwergwuchs, der natiirlich 
auch von der vergroBerten Hypophyse abgeleitet werden konnte, 
wenn man annehmen wollte, daB die VergroBerung der Sella turcica 
die Folge eines Tumors ware, dessen Funktion gestort sei. Doch ist 
natiirlich diese Annahme eine sehr eigenmachtige und durch nichts 
begriindet. Man kann natiirlich auch bei diesem Fall sagen, daB 
die Erkrankung der Thyreoidea das Primare sei und die Genital - 
aplasie ebenso wie der Hypophysentumor das Sekundare, da man 
beide Storungen beim Kretinismus schon festgestellt hat. Aus den 
schon angegebenen Griinden glaube ich aber, daB es richtiger ist, 
auch hier von einer pluriglandularen Erkrankung zu sprechen und 
sich nicht in eine Diskussion einzulassen, welches Organ primar 
erkrankt ist. DaB die Thyreoidea nicht einzig und allein das 
primar erkrankte Organ ist, geht auch aus der Schilddriisen- 
behandlung hervor. Denn wohl ist das Wachstum gebessert, aber 
die Fortschritte der Psyche sind doch sehr minimal, ebenso wie auch 
die Sprache sich wenig geandert hat. Da eben mehr als eine Driise 
hier erkrankt ist, so laBt sich auch nicht erwarten, daB mit Hilfe 


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436 P e r i t z , Hypophysenerkrankimgen. 

eines Driisensekretes sich eine erhebliche Besserung einstellen wird. 
Bei dieser Gelegenheit mochte ich darauf aufmerksam machen, 
daB ich jiingst einen Fall von kongenitalem Myxodem gesehen habe, 
bei dem sich eine erhebliche elektrische Uebererregbarkeit im Sinne 
einer spasmophilen feststellen lieB, und daB bei dieser Patientin 
auch eine mechanische Muskeliibererregbarkeit und ein Chvostek 
vorhanden war. Moglicherweise finden sich nicht selten Falle von 
Kretinismus, bei denen auch die Epithelkorperchen mit erkrankt 
sind. Auch in diesem Fall war eine leukoblastische Veranderung 
im Blutbilde zu konstatieren, ganz ahnlich wie das Essex in 
seinem Fall von Myxodem gesehen hat und wie ich das bei den 
Spasmophilen als regelmaBigen Befund feststellen konnte. Man 
muB vorlaufig diese Tatsache nur feststellen, denn weitere Unter- 
suchungen miissen ergeben, ob beim Myxodem sich ebenfalls diese 
Veranderung des Blutbildes zeigt oder ob es sich in solchen Fallen 
stets um eine Miterkrankung der Epithelkorperchen handelt. 
Wahrend bei der pluriglandularen Erkrankimg im spateren Alter 
ein viel scharfer und fester umrissenes Krankheitsbild sich ein- 
stellt, ist das Bild in der Kindheit bei weitem mannigfaltiger. Es 
kommt das wahrscheinlich daher, daB beim wachsenden Organis- 
mus die Einwirkung der Driisen nicht gleichmaBig ist. Wir wissen 
ja auch aus den Experimenten, daB die Storungen beim wachsenden 
Organismus sich ganz anders darstellen als beim ausgebildeten, 
wie das vor alien Dingen die Versuche von Aschner nach Ab- 
tragung der Hypophyse zeigen. Vielleicht liegen die Dinge auch 
hier so, daB die schwerer erkrankte Druse viel scharfer die Aus- 
fallserscheinungen sehen laBt, wie die anfanglich weniger be- 
troffenen. 

Falla hat dann neuerdings die multiple Blutdriisensklerose 
genauer beschrieben, und das Krankheitsbild, nachdem er die ver- 
schiedenen Veroffentlichungen zusammengestellt hat, noch einmal 
gezeichnet. Neben den Symptomen des Spat-Eunuchoidismus 
findet er eine allgemeine fortschreitende Kachexie und eine aus* 
gesprochene Anamie. Trotz der knabenhaften Bartlosigkeit des 
Gesichts sehen die Patienten nicht jiinger aus, sondem friihzeitig 
gealtert; manche haben sogar ein greisenhaftes Aussehen. Eine 
hypophysare Adipositas vom Typus der Eunuchoiden fehlt bei 
ihnen, und es gelingt auch nicht, sie aufzumasten. Er findet dann 
auBerdem eine Gedunsenheit der Haut im Gesicht, besonders an 
den Wangen und an der Haut des Hand- und des FuBriickens, 
in manchen Fallen ganz ausgesprochenes Myxodem, das sich auch 
durch Thyreoidinmedikation teilweise, aber nicht vollstandig 
zuriickbildete. Daneben beobachtet er aber eine ausgesprochene 
Atrophie der iibrigen Haut, hochgradige Trockenheit und Ab* 
schilferung. Femer entwickeln sich in der Mehrzahl der Falle 
Pigmentienmgen der Haut, besonders an den belichteten Stellen 
oder dort, wo die Kleider driicken. Es besteht eine allgemeine 
Hypotonie und daneben Asthenie, die sich zu hochgradiger 
Prostration der Krafte steigert, und Apathie, femer Grefiihl von 


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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 


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Kopfdruck, Schlaflosigkeit, eventuell voriibergehende rheumatische 
Schmerzen in den Gliedern. Falta bespricht auch die Einwirkung 
der verschiedenenDriisen auf dasKrankheitsbild. Es interessiert uns 
hier im wesentlichen die Hypophyse, und er ftihrt auf die Sklerose 
der Hypophyse die allgemeine Kachexie zuriick. 

Er ist der Ansicht, daB es zur Ausbildung der hypophysaren 
Fettsucht infolge der Miterkrankung der anderen Driisen nicht 
kommt. Er betont auch, daB bei noch nicht voll entwickelten In- 
dividuen, die von dieser Krankheit befallen werden, das Ausbleiben 
des eunuchoiden Hochwuchses verstandlich ware, weil durch die 
Insuffizienz der Hypophyse die Einwirkung der Keimdriisen- 
insuffizienz auf die Skelettentwicklung kompensiert wird. In dem 
zweiten Fall, den ich beschrieben habe, ist wohl dieses Verhaltnis 
anzunehmen. Dagegen scheint im ersten Fall doch eine nur teil- 
weise Steigerung der Hypophysenfunktion vorzuliegen, so daB es 
hier zu einem partiellen Riesenwuchs gekommen ist. Es ist aber 
der Sachverhalt in diesen Fallen noch auflerordentlich ungeklart, 
und es ist schwer zu verstehen, warum es bei einer allgemeinen 
Driisenerkrankung, die wohl als sicher anzunehmen ist, zu einer 
partiellen Wachstumshypertrophie gekommen ist. Dieser Wachs- 
tumshypertrophie ware vielleicht die von Falta des ofteren be- 
obachtete Polyurie bei derartigen Fallen an die Seite zu setzen, 
denn auch die Polyurie muB ebenso wie das gesteigerte Wachstum 
als eine Hyperfunktion angesehen werden und kann hier nur die 
Folge eines Reizzustandes sein. Es ware also moglich, daB im Be- 
ginn des Prozesses durch irritative Vorgange zuerst eine Reiz- 
zustand erzeugt wtirde, ehe die Driise selbst ihre Funktion ein- 
stellt. Wahrend die Polyurie ein voriibergehendes Symptom ist, 
bleibt die Wachstumshypertrophie in Form eines partiellen Gigan- 
tismus als Zeuge des Reizungszustandes der Driise erhalten. 

In der Aetiologie der pluriglandularen Erkrankungen spielen 
bei den Erwachsenen die Lues und Infektionskrankheiten, endlich 
auch die Tuberkulose eine Rolle. Bei der kindlichen Form muB 
man an einen kongenitalen Defekt denken, an aplastische Zu- 
stande, wie wir sie beim kongenitalenMyxodem zu sehen bekommen. 
In dem Fall I ist die Aetiologie schwer zu beantworten. Moglicher- 
weise handelt es sich auch um eine kongenitale allgemeine Stoning 
der Blutdriisen. In beiden Fallen waren keine sichtbaren Zeichen 
von Lues vorhanden und auch die Wassermannsche Reaktion 
negativ. Auch bei den spater einsetzenden Fallen vermag man 
haufig ein atiologisches Moment nicht zu eruieren, so daB Claude 
und Gougerod zu der Anschauung kommen, in solchen Fallen lage 
eine angeborene Schwache des Blutdriisensystems vor. Falta meint, 
daB in solchen Fallen auch voriibergehend eine Insuffizienz des 
Blutdriisensystems vorkommen konne. 

Wende ich mich zum SchluB noch der Behandlung der Hypo¬ 
physenerkrankungen zu, so ist es ja heute auf Grand der ver- 
schiedenen Ergebnisse der Chirurgen allgemein anerkannt, daB die 
Hypophysentumoren zu operieren sind. Ich glaube aber, daB wir 


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438 P e r i t z , Hypophysenerkrankungen. 

die Indikation zur Operation nur dann stellen konnen, wenn neben 
den Erscheinungen, die durch die Hypophyse direkt erzeugt 
werden, die allgemeinen cerebralen Erscheinungen infolge des 
Druckes sehr stark in den Vordergrund treten. Ich habe den Ein- 
druck, daB weder die Akromegalie noch die hypophysare Adipositas 
die Trager dieser Leiden schwer mitnehmen. Im allgemeinen sind 
es, wenn keine starken cerebralen Erscheinungen vorhanden sind, 
nebensachliche Klagen. die die Patienten zum Arzt fiihren. Tritt 
aber die Abnahme des Sehvermogens sehr schnell auf oder macht 
sie sich iiberhaupt bemerkbar neben starken Kopfschmerzen, so 
soli man unter alien Umstanden operieren. Das trifft sowohl fur die 
Akromegalie wie fur die hypophysare Adipositas zu, da ja beide 
Formen durch Tumoren des Vorderlappens entstehen konnen. 
Pick hat dies in seiner umfassenden Arbeit sehr ausfuhrlich 
besprochen. Bekannt ist, daB man nicht den ganzen Vorder- 
lappen entfernen darf, sondern nur einen Teil desselben. Es ist 
hier genau so wie bei der Basedo wschen Erkrankung, bei der auch 
nur ein Teil der Schilddriise entfernt werden darf. 

Ganz anders liegen die Verhaltnisse bei den Fallen, welche nicht 
durch einen Tumor des Vorderlappens erzeugt werden. Hier muB 
man stets an einen Hydrocephalus denken und zusehen, ob man 
durch eine Lumbalpunktion nicht imstande ist, die Symptome zur 
Riickbildung zu bringen. Dagegen ist vorlaufig unsere Therapie 
in den Fallen, in welchen es zu einer Insuffizienz der Hypophyse 
kommt, sei es infolge einer Sklerose oder aber ohne anatomische 
Grundlage, vollkommen machtlos. Es ist moglich, daB wir imstande 
sind, durch eine Behandlung mittels eines Drusenextraktes Er- 
folge zu erzielen. Die Resultate, die mittels des Hinterlappen- 
extraktes der Hypophyse bis jetzt erreicht worden sind, sind aber 
nicht sehr ermutigend. 

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Erwachsenen. Ztschr. f. klin. Med. 1913. 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite in Berlin. 
[Geheimrat Professor Dr. Bonhoeffer.]) 

Zur diagnostischen Bedeutung 
des Ganser’schen Symptoms 1 ). 

Von 

Dr. GERHARD HAENISCH. 

Stabsarzt, Assistent der Klinik. 

Ganser hatdieerstenFalle des nach ihm benannten Symptomen- 
komplexes 1897 veroffentlicht, unter Hinweis darauf, daB ahnliche 
schon friiher, aber in falscher Beurteilung als Simulation bekannt 

Nach einem Vortrage im psychiatrischen Verein zu Berlin. 


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440 


H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung 


gegeben seien. Seine 3 Beobachtungen betreffen Kriminelle, davon 
2 Untersuchungsgefangene: Schadigungen, wie Typhus oder Kopf- 
verletzung, waren einige Zeit vorhergegangen. Die Kranken zeigten 
mehr oder weniger tiefe BewuBtseinstriibung, alle aber hysterische 
Stigmata, An- und Hyperalgesien, femer Sinnestauschungen. 
Daneben aber vermochten sie Fragen einfachster Art nicht riehtig 
zu beantworten, obwohl ihre Antwort zeigte, daB die Frage ver- 
standen sei. Kenntnisse, die die Kranken ganz bestimmt besessen 
hatten oder noch besaBen, fielen aus. Nach wenigen Tagen schwand 
der Zustand und hinterlieB Amnesie. Ganser stellte die Diagnose 
auf hysterische Dammerzustande. 

An diese Veroffentlichung hat sich eine immerhin recht reich- 
haltige Literatur angeschlossen, die ich aber groBtenteils iibergehen 
kann, weil sie mit meinem speziellen Thema nur lose zusammen- 
hangt. Hervorheben mochte ich, daB die erste Beschreibung des 
Vorbeiredens von Moeli herriihrt. Nach Ganser8 Verofffentlichung 
wurden einschlagige Falle von verschiedenen Seiten mitgeteilt, die 
bei Kriminellen, Rentenbewerbem, aber auch in nicht foren- 
sischen Fallen beobachtet waren. Nifil brachte diese Be- 
obachtungen aus dem Gebiet der Kasuistik in das prinzipiell- 
diagnostischer Erwagungen. In seinem 1901 vor den siidwest- 
deutschen Irrenarzten gehaltenen Vortrage tiber ..Hysterische 
Symptome bei einfachen Seelenstorungen" bestreitet er zwar nicht, 
daB das Symptom des „Vorbeiredens“ bei Hysterie vorkommen 
konne, nimmt es aber vorwiegend fiir die Katatonie, und zwar als 
negativistisch, in Anspruch. Er spricht Ganser und Baecke die 
Berechtigung ab, ihre Falle als hysterische Dammerzustande zu 
bezeichnen. Beide Autoren haben spater an ihren Diagnosen fest- 
gehalten, auf Grund weiterer katamnestischer Verfolgung ihrer 
Falle. Ganser halt auch daran fest, daB sein Symptom ,,hysterisch“ 
sei. Komme es bei Katatonikern vor, so handle es sich um Kompli- 
kation mit Hysterie. 

Henneberg sondert die ,,unsinnigen und inadaquaten“ Ant- 
worten der Katatoniker ab. Fiir das eigentliche Gansersche 
Symptom fordert er „nahe Beziehung zur Fragestellung und zur 
richtigen Antwort“. Falle, die dem von Ganser geschilderten Typus 
•genau entsprechen, sind seiten, das Symptom ist nicht kenn- 
zeichnend fiir eine bestimmte Form hysterischer Pay chose, sondern 
abhangig von auBeren Umstanden, besonders der Art des Fragens. 
Meist kommen Begehrungsvorstellungen in Betracht (Rente, 
Delikt). Es empfiehlt sich, die Gewwerschen Antworten moglichst 
wenig zu beachten. 

1910 hat Stertz in einer Veroffentlichung aus der Breslauer 
Klinik emeut auf das Symptom hingewiesen, besonders auf die ohne 
BewuBtseinstriibimg auftretende ,,Pseudodemenz“. Er nennt es 
eine Frage der Auffassung, ob man solche sicherlich psychogenen 
Zustande als hysterisch bezeichnen wolle, mit der Kraepelinschen 
Auffassung z. B. hatten sie wenig gemein. FaBt man mit Bonhoeffer 
als hysterisch die unter einer bestimmten Willensrichtung und be- 


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des Ganserschen Symptoms. 


441 


stimmten W unsch vorstellungen sich entwickelnden Storungen auf, 
so liegt natiirlich keinBedenken vor, gerade diese Pseudodemenzen, 
wie auch die Dammer- und Stuporzustande der Haft und des 
Rentenkampfes als hysterisch zu bezeichnen. 

So darf man die Ganserschen Dammerzustande und die 
Pseudodemenzen in gewissem Sinne als charakteristisch und auch 
als diagnostisch an sich verwertbar ansehen. Indes drangt sich eine 
weitere Frage auf: geht diese diagnostische Bedeutung so weit. daB 
der psychogene, hysterische ProzeB ohne weiteres aus diesem 
Symptom diagnostiziert werden darf ? Ohne Zweifel ist man nicht 
nur berechtigt, sondern direkt verpflichtet, bei derartigen Zu- 
standen nach der psychischen Aetiologie zu suchen, xmd man wird 
sie kaum je vermissen. LaBt man aber selbst die Frage der Ab- 
grenzung gegeniiber Dementia praecox hiqr fort, so ist es schon 
a priori nicht ausgeschlossen, daB man organische, korperliche Ver- 
anderungen findet, die auch den Verdacht einer im engeren Sinne 
organischen Psychose wachrufen. Ueber derartige Falle findet 
man wenig in der Literatur, ich mochte daher heute drei ein- 
schlagige Beobachtungen kurz mitteilen. Ich habe die Henneberg - 
sche Forderung, moglichst wenig derartige Antworten zu provo- 
zieren, seinerzeit befolgt, mehr vielleicht, als mir heute bei der 
Veroffentlichung lieb ist. Immerhin glaube ich, daB aus den beiden 
eigenen Beobachtungen die Zugehorigkeit zur Pseudodemenz sich 
ergibt. 

1. F. W., 59 Jahre, Bankwachter/aufgenommen 30. IV. 1913 

W. war am 26. lV.wahrend einer Nachtwache bei kleineren Diebereien 
ertappt worden, hatte sich zuerst vor dem Kriminalbeamten versteckt, 
nachher diesem und dem Hausinspektor gegeniiber sein Vergehen ein- 
gestanden. Er wurde uns vom Sohne eingeliefert mit folgenden, allerdings 
erst am 5. V. gemachten Angaben: Illegitim. Teilweise stark getrunken. 
1910 Kopfverletzung, stundenlang bewuBtlos. Seit Jahren teils stumpf, 
teils 8innlos erregt, vor 10 Jahren Madchen auf der Strafie belastigt, 
auf der Polizeiwache getobt. Seit dem Unfall Verschlimmerung. Am 
„Sonnabend 24. IV.“ (tatsachlich friihestens Sonnabend 27. IV.) unruhig, 
uber den Kopf geklagt, unruhig umhergelaufen, nicht gegessen. „Montag“ 
abend fortgegangen, „8 Tage“ ausgeblieben. Bei der Kuckkehr wirr geredet, 
wollte Gift haben; hatte sich einen Strick gekauft; schlug mit dem Kopf 
auf die Erde, mit der Faust gegen die Wand. Schrie im Schlafe auf; rief 
,;,jetzt kommen sie 4i , wollte fliehen. — Die Akten und die spatere Verhandlung 
ergaben, daB W. vor der Abfassung keineswegs auffallig gewesen war. Wir 
nahmen an, daB die Familie an sich richtige Dinge iibertrieben darst^llte. 

Somatisch fand sich Arteriosklerose, Extrasystolen, leicht6 Facialis- 
differenz, Babinski rechts. Ferner psychogene Steigeiung der Reflexe, Be- 
wegung oft schon in Erwartung des Reizes. Sprachstorung, Silbenauslassen 
bei Probeworten, die sich jedoch bald ganzlich verlor. Tremor. 

Psychisch vollig freies Sensorium; fand sich sofort in die Situation* 
bot scheinbar unbeachtet nichts Auffalliges. Den Aeizten erzahlte er, er 
sei durch Versehen des Diebstahls beschuldigt; die Kollegen seien neidisch, 
weil er mehr Geld gespart habe, als sie. War 4 Tage auf Reisen, Hamburg, 
Frankfurt a. O., Kiistrin. Wollte ins Wasser gehen, da kam eine Leiche ge- 
schwommen. Auf weitere Fragen brachte er folgende Antworten: 

Ort: Urbankrankenhaus. 

Datum: Dienstag, 23. April 1914. 

Wer bin ich ?: Bar bier, Sie haben mich heute schon rasiert. 

Monateschrlft f. Psychlatrle u. Nenrologfe. Bd. XXXIII. Heft 5. 29 


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H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung 


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Da ran halt er auch nach der Untersuchung fest und behauptet, ieh 
konne kein Arzt sein, die seien all© auf dem KongieB. 

Von 5 vorgesprochenen Ziffern wiederholt er 4 unrichtig. 

7 X 8=32. Von den Monaten laBt er zwei aus, behauptet, es gebe viel- 
leicht ein Jahr mit 10 Monaten. Sich selbst bezeichnet er als Personalchef. 
,,Sie sind doch Wachter!“ „Wachter und Personalchef". Sein Sohn ist 
Rechtsanwalt in Mexiko. 

Wahrend der Beobachtungszeit bestand nie Triibung des Bewufltseins. 
W. beobachtete seine Umgebung sehr scharf und treffend, verhielt sich stets 
angemessen. Oft klagte er iiber Kopfschmerz; Beeintrachtigung des Schlafs 
konnte festgestellt werden. 

Demgegeniiber produzierte er bei der Untersuchung phantastische 
Verfolgungsideen, Manner kamen nachts durchs Fenster und bedi oh ten ihn; 
er wird sich mit dem Hausinspektor schieBen, „mit 2 Revolvern vom Corps 
Rhenania". 

Am 5. VIII. 1912 entlassen, zeigte er auch in der Gerichtsverhandlung 
sich geordnet, brachte aber ahnliche Verfolgungsvoistellungen zutage, die 
er ziemlich geschickt verwertete, um sich als Opfer eines Racheaktes hin- 
zustellen. 

Wir finden bei einem 59 jahrigen Alkoholisten, einem wohl 
von jeher psychopathischen, auch bereits zweimal wegen Dieb- 
stahls vorbestraften Manne, Zeichen von Arteriosklerose und 
wiirden uns nicht wundern, wenn wir bei ihm eine wirkliche, mehr 
oder minder hochgradige geistige Abschwachung fanden. Aber 
es stehen ungeheuerliche Defekte der Orientierung und in der 
Kenntnis einfacher Dinge gegeniiber vollig erhaltenem BewuBtsein 
und guter Beobachtung der Umgebung. Die Pseudodemenz hat 
sich an einen Dammerzustand mit poriomanischen Erscheinungen 
angeschlossen und ist vergesellschaftet mit persekutorischen Ideen, 
vielleicht auch mit entsprechenden Sinnestauschungen; die Syste- 
matisierung bleibt recht oberflachlich, eine Reaktion im gewohn- 
lichen Verhalten fehlt, obwohl sie mit lebhaftestem Affekt vor- 
gebracht werden. Da der Zustand sich erst im AnschluB an die 
Entdeckung entwickelt hat, habe ich das Vorliegen von § 51 zur 
Zeit der Tat vemeint. 

2. E. F., 32 Jahre, Maurerpolier. Aus der Untersuchungshaft zur 
Begutachtung eingeliefei t; 8. VI. bis 19. VII. 1912 in der Klinik. 

Die Frau gab an: Guter Schuler, in der Militarzeit Lues, 6 Kuren. 
1905 Heirat, 1 Abort, 1 Kind (Lues hereditaria ?). 1906 Fall 4 Stockwerke 

hoch, bewuBtlos, Blutung aus Mund und Nase, schon tags darauf wieder 
gearbeitet. 1909 von Streikenden iiberfallen, Messerstiche, Schlage auf 
den Kopf. Seit 1908 aufgeregt, heftig, gewalttatig. Spricht Unsinn, ist 
nach AlkoholgenuB vollig veiwirrt. Oft Schwindelanfalle, nachher fehlen 
ihm die Worte. Inkontinenz. Potenz erloschen bei erhaltener Libido. 
Jetzt wegen Diebstahls in Haft. 

Nach den Akten mehrfach" wegen Diebstahls, Betruges, Korper- 
verletzung voibestraft. Jetzt hat er aus einem Schaufenster einen photo- 
graphischen Apparat gestohlen, diesen reparieien lassen, ist veihaftet, als 
or ihn duieh einen Jungen abholen lieB. 

Zalilreiche Narben. Tic impulsif des Gesichts. Fast totale Pupillen- 
starre, Facialisdifferenz, Zunge nach rechts, globes Zittein. Stotteit bei 
einzelnen Probeworten und liiBt Silben aus, andere Testworte fehlerlos, 
keino Storung dor Spontansp aclie. Tiemor manuum rechts >> links. Beim 
Finger-Nosen-Versuch g obesDanebenfahren. Funktionelle Muskelschwiiche. 
Hypotonic, leichte Ataxie der Beine; Hypalgesie am ganzen Korper, iiber 


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des Ganserschen Symptoms 


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Lagegefuhl unsichere Angaben. Kniereflex rechts abgesehwacht, Achilles- 
reflexe fehlen. Babinski rechts neutral, links 0 . 

F. berichtete ebenfalls iiber die beiden Unfalle, gab an, daB er friiher 
jahrelang fiir 7—8 Mk. Schnaps und Bier getrunken, taglich 20 bis 
50 Zigaretten geraucht habe. Alle 2—3 Tage habe er Anfalle. Es sei, als 
wenn alles auf ihn zukomme, er falle bewuBtlos um, nachher seierdosig; 
habe sich dabei auf Zunge und Lippen gebissen. Ueber die Straftat erzahlt 
er eine unwahrscheinliche Geschichte. 

Zeigt scheinbar sehr starke Liicken der einfachsten Kenntnisse. 
7X 8=48. Kann kleine Rechnungen nicht losen. Fiinfpfennigmarke braun, 
Zehnpfennigmarke grim. Was hat der Ochse auf dem Kopfe?: „Ich habe 
lange keinen Ochsen gesehen, ein Ochs ist eine Art Hiisch“. Kann die 
Wochentage, die Monate nicht aufzahlen. Der Arzt ist ein Rechtsanwalt, 
er selbst ist wegen Schwindsucht hier im Krankenhause. 

Wahrend der Beobachtung zweimal hysterische Anfalle arztlich be- 
obachtet, dabei Reaktion auf starkere Reize erhalten, angstlich verstorter 
Gesichtsausdruck. Zeitweise Klagen iiber lanzinierende Schmerzen, die 
iibertrieben anmuten; bisweilen Erbrechen (provoziert ?), Klagen iiber 
Inkontinenz, einige Male Einnassen. „Schlaft“ bei den Visiten, kommt all- 
mahlich zu sich. 

Am 12. VI. nachts erzahlte er der Wache, er habe 470 000 Mk. im 
Tegeler Walde versteckt, wolle 1000 Mk. davon dem Warter geben. Fragt 
dann, wie die Klinik bewacht wird, mochte noch diese Woche fliehen. 

Blut und Liquor gaben positive Reaktionen. 

Gegen Ende der Beobachtung mehrten sich die korperlichen Klagen. 
F. betonte mehrfach, daB er doch nicht haftfahig sei. 

Man kann hier Simulation ganz gewiB nicht sicher ausschlieBen. 
Das nachtliche Gesprach mit der Wache, die Verbramung der 
F. wichtigen Fragen mit abenteuerlichen Schatzgrabergeschichten, 
die faustdicke epileptisch-paralytische Anamnese weisen allzusehr 
auf solche Elemente. Aber es wurden ausgepragte hysterische 
Anfalle mit deutlicher BewuBtseinstriibung arztlich beobachtet, 
imd deshalb mochte ich daran festhalten, daB wenigstens ein Teil 
der funktionellen Symptome nicht simuliert war. Weit schwerer 
und wichtiger aber ist die andere Frage, ob hier nicht eine organische 
Psychose vorlag. Korperlich fehlte eigentlich nicht viel am Bilde 
einer Paralyse, jedenfalls hatten die korperlichen Erscheinungen 
eine solche Diagnose sehr unterstiitzt. Auch Blut und Liquor 
wiesen den klassischen Befund syphilitischer Erkrankung des 
Zentralnervensystems auf. Gegen organische Psychose, bespnders 
Paralyse sprach, daB doch das Verhalten des Mannes der Situation 
eigentlich dauernd angemessen war. Ich glaube, daB wir den Plan, 
zuerst womoglich als geisteskrank erklart zu werden, und als er 
das MiBlingen erkannte, seine Haftunfahigkeit zu beweisen,, nicht 
nur in sein Verhalten hineingelesen haben. Aehnlich zielbewuBt 
verfuhr er auch in Einzelheiten, er verteidigte sich in gewandtester 
Weise in der Hauptverhandlung, und so lautete das Gutachteh 
dahin, daB sich fiir das Vorliegen von § 51 kein ausreichender 
Anhaltspunkt ergeben habe. 

Der dritte Fall stammt aus der Breslauer Klinik und ist bereits 
friiher veroffentlicht. Ich gebe ihn wortlich wieder (Stertz). 

3. J. F., 38 Jahre, Monteur, oberschlesischer Pole, vom 9. IV. bis 
19. XI. 1909 in der Klinik. 

Pat. soil vor 3 Jahren (1906) einen Unfall erlitten haben, indem ihni 

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H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung 


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ein Holzbalken auf den Kopf fiel. Die unmittelbaren Folgen scheinen nicht 
erheblich gewesen zu sein, da die Meldung zunachst unterblieb. Erst etwa 
2^4 Jabre spater trat F. an die Berufsgenossenschaft mit einer Ent- 
schadigungsforderung heran. Einige Zeit vorher, am 13. V. 1908, war er nach 
fast einjahriger, ununterbrochener Arbeit aus einem stadtischen Betriebe 
entlassen worden. Er gab an, daB er seit dem Unfall leidend sei und 
of ter die Arbeit habe aussetzen miissen. Seit April 1908 leide er an Anfallen 
von BewuBtseinsstorung. Am 3. XI. 1908 stellte er anch Antrag auf In- 
validisierung. Bei der Beobachtung durch die Invaliditatsversicherung 
wurde ein miides, leicht benommenes Aussehen, eine Herabsetzung der 
Schmerzempfindung auf der rechten Seite und eine kongenitale Einengung 
des Gesichtsfeldes festgestellt, auf psychischem Gebiet intellektuelle 
Schwache imd schlechtes Gedachtnis. Es wurden ferner mehrere hysteri- 
forme Anfalle beobachtet. Das Leiden wurde fur eine Kombination von 
Hysterie und Epilepsie gehalten und dem F. die Invalidenrente zugebilligt. 
Die Berufsgenossenschaft indes lehnte seine Anspriiche ab wegen Verjahrung 
der Angelegenheit. Hiergegen legte F. beim Schiedsgericht Berufung ein, 
liber die zurzeit noch nicht entschieden ist. 2 Monate nach dem abweisenden 
Beecheid der Berufsgenossenschaft stellte sich eine psychische Erkrankung 
ein. F. benahm sich oft eigentiimlich, war sehr vergeBlich, erkannte einmal 
den Sohn nicht, stand nachts auf, um die Tiir zu olen, erging sich in 
theatralischer Weise in religiosen Reden und Handlungen. Die Geistee- 
gestortheit trat nur periodenweise auf, und diese Perioden schlossen sich zum 
mindesten teilweise an die genannten Anfalle an, die jetzt angeblich in groBe- 
rer Zahl, manchmal mehrmals am Tage auftraten. Die Veranlassung zur Auf- 
nahme gab ein Zustand von Geistesstdrung, in welchem F. gewaltsam in eine 
fremde Wohnung eingedrungen war und die betreffenden Leute in groBen 
Schrecken versetzt hatte. 

Die Angaben iiber diese Storungen stammen von der Ehefrau, die sich 
of ter widersprach und unklar ausdriickte. Friiher — vor dem Unfall — will 
F. immer gesund gewesen sein imd fleiBig gearbeitet haben. Potus wird 
negiert, F. hat zwei gesunde Kinder. 

F. hatte bei der Aufnahme einen etwas dosigen Gesichtsausdruck, 
seine Hautfarbe war blaB, sein Ernahrungszustand ziemlich diirftig. Seine 
Haltung war schlaff und eilergielos. Die inneren Organe waren gesund. 
Es bestand eine motorisch-sensible rechtsseitige Hemiparese und eine 
konzentrische Gesichtsfeldeinengung. Die Sehnenreflexe waren gesteigert. 

Bei der Aufnahme war er zeitlich und ortlich orientiert und in seinem 
Benehmen geordnet. Bald aber stellte sich spontan, und allmahlich immer 
ausgesprochener, ein Dammerzustand ein. Seine Reden und Handlungen 
hatten dabei etwas gesucht Blodsinniges an sich. Er miBdeutete an der Wand 
hangende Bilder in phantastischer Weise, verkannte ein Schiff als Mutter- 
go ttesbild, vor dem er niederkniete, verkannte bald den Arzt, bald den 
Pfleger als seinen Bruder, wollte die Witterung andern, damit keine Menschen 
mehr krank wurden, konfabulierte in dieser Weise weiter allerlei unsinniges 
Zeug. Dabei war er nur voriibergehend zu fixieren, klagte iiber Kopf- 
schmerzen und zeigte sich ganz affektlos. Seine Antworten erinnerten an 
Vorbeireden, die Reproduktion war sehr erschwert. Die ortliche Orientierung 
verlor er dabei nicht. Merkwiirdigerweise loste er in dieser Zeit einige nicht 
ganz leichte Rechenexempel. 3x37, 3x63, 3x21) richtig und ziemlich 
schnell. 

Zwischendurch lag er stumpf und indolent wie benommen im Bett, 
klagte nur iiber Kopfschmerzen. Im Laufe einiger Tage traten die aktiven 
Elements ganz zuriick, desgleichen hellte sich das BewuBtsein auf. Indessen 
blieb wahrend der darauffolgenden mehrmonatigen Beobach tungszeit 
ein etwas eingenommener Gesichtsausdruck habituell. Konstant wurde 
seitdem eine khnliche Art und Weise auf psychische Anforderungen zu 
reagieren festgestellt, wie bei den anderen Kranken. 

Die Angabe seines Alters und Geburtstages machte ihm groBe 
Schwierigkeiten; wann er ziu Schule gegangen sei, wisse er nicht mehr, 
ebenso bei wem er nachher gearbeitet habe, wann er nach B. gezogen sei, 


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des Ganserschen Symptoms. 445 

wann er geheiratet habe, nsw. Auch wann ihm sein Unfall zugestoBen sei, 
hatte er vergessen. 

Charakteristisch war seine Art, auf allereinfachste Fragen zu ant- 
worten. 

Farbe des Himmels ? „Nun blau doch wohl nicht ? — blau, ja, — 44 
besinnt sich. 

Farbe des Grases ? Besinnt sich lange; „ist doch grim, nicht wahr ?“ 

Farbe des Kanarienvogels ? „ Ja, der ist doch grau und hell 44 . 

Farbe des Blutes ? „Das sieht man doch hier, rot, es kann doch nicht 
anders sein 44 (Miene tiefen Nachdenkens). 

2x9? . . . „17 . . . nein ... 16 auch nicht . . . 18. 44 

3X3? „1 X3=3, 2X3=6, 6+3=9. 44 

Wieviel Finger hat der Mensch ? Besieht seine Hand genau — „nim, 
5, zusammen 10, ja, 10“. 

Das Lesen geschah langsam, etwa nach der Manier eines Kindes von 
8 Jahren, langere Worte machten besondere Schwierigkeiten, ab und zu 
machte er Fehler; las statt Hauslein = Hauslein, statt Riicken = Biicken, 
und so fort. 

Beim Schreiben dieselben Schwierigkeiten und Fehler. Ein auf Auf- 
forderung verfaBter Brief lautete: ,,Liebe Frau, sei so gut unt kume zu x 
mier besuchen. Mit meiner gesuntheit ist nicht am pesten. Josef F.“ 

Bei Zeichenversuchen zeigte er sich zur Darstellung auch der aller- 
einfachsten Formen nicht imstande. 1 Jahre habe 11 oder 12 Monate, genau 
wisse er es nicht, eine Woche habe 6 Tage. Der Kaiser heifle Wilhelm, der 
erste sei es wohl nicht mehr; wann Kaisers Geburtstag ist, wisse er nicht, den 
Namen des ersten Reichskanzlers ebensowenig. Die Monate zahlte er folgen- 
dermaBen auf: . . . Januar, Februar, Mai, April, April, Mai, Juli, Juni, 
Juli . . . Oktober, Dezember. Bei den Wochentagen ahnlich, desgleichen 
beim Vaterunser. 

Die Merkfahigkeit erschien bei der Prufung nach jeder Richtung Inn 
wesentlich herabgesetzt. Ob er schon gefriihstuckt habe, war ihm entfallen. 
Aus 8 Bildern 3 vorher gezeigte auszusuchen, gelang unvollkommen (2), 
die Zahl 375 wurde nach in 365, nach in 265, nach 1%' in 355 um- 
gewandelt. 

Kombinatorische Leistungen waren kaum zu erzielen. Seine Wort- 
erganzungen waren sinnlos, einfache Ratsel wurden trotz scheinbar intensiver 
Anlstrengung nicht gelost, einmal aber kam bemerkenswerterweise statt der 
Losung ,,Kirschbaum“ die Losung „Kirchhof“ heraus. Beim Benennen von 
Bildern fiel ihm teils das Wort nicht ein, teils erkannte er nach seiner Angabe 
das betreffende Bild gar nicht (z. B. GieBkanne, Schneemann), einige wurden 
rich tig benannt, bei einigen der Gattungsname angegeben (Blume statt Rose, 
Vogel statt Gans). Bei Wahlreaktion ergaben sich ahnliche Resultate. 

Der Definition von Begriffen und Prazisierung von Unterschieden 
gegeniiber benahm er sich vollig hilflos. 

Auftrage fiihrte er verlangsamt und schwerfallig aus, einmal gelang 
es ihm aber nicht, eine Ttir aufzuschlieBen. Er wahlte zunachst einen offen- 
kundig falschen Schliissel, steckte den richtigen falsch hinein und wurde 
mit dem Auftrag nicht fertig. 

Das Sensorium war wahrend dieser Untersuchungen trotz des dosigen 
Ausdrucks nicht eigentlich benommen.. S 

Auffassung und Aufmerksamkeit waren ganz gut und sanken auch bei 
langerer Inanspruchnahme nicht ab. — Trotz der scheinbaren Stumpfheit 
und Indolenz waren Gefiihlsregungen doch stets zu provozieren: den Vor- 
schlag, ihn in eine Provinzialanstalt oder ins Armenhaus zu verlegen, wies 
er entriistet von sich, ebenso lehnte er mit Affekt den wahrend des R«nten- 
verfahrens angeregten Vorschlag der Entmiindigung ab.^ 

F. lebte in den Tag hinein, ohne spontanen Antrieb zur Arbeit. Er 
unterhielt sich wenig, las wenig, und bei Versuchen, ihn zu leichter Arbeit 
anzustellen, versagte er in der Regel, weil er bald starkere Kopfschmerzen 
bekam. Abgesehen von den letzteren auBerte er nur selten hypochondrische 


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Haenisch, Zur diagnostischen Bedeutung 


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Klagen. Innerhalb dieses Dauerzustandes traten von Zeit zu Zeit in unregel- 
maBigen Zwischenraumen, teils im AnschluB an irgendwelche Affekt- 
erregungen, teils auch ganz spontan Anfalle von tieferer Benommenheit auf. 
F. starrte erst wie geistesabwesend vor sich hin, wobei ihm reichlich Speichel 
aus dem halb geoffneten Munde floB, dann stand er auf, ging einige Schritte 
und lehnte sich, unverstandlich vor sich hinmuimelnd, an die Wand, dabei 
war er etwas erblaBt, und hatte einen frequenten Puls. Die Pupillen zeigten 
keine Storung der Reaktion. Nach einer Minute war der Zustand voriiber, 
er behauptete dann, nichts davon zu wissen. Die Anfalle waren unter- 
einander nicht ganz gleich. Einige Male sank er um, ohne sich zu verletzen. 
Zungenbifi, Enuresis, Konvulsionen wurden niemals beobachtet. 

Manchmal schlossen sich daran, wenn man sich mit dem Patienten be- 
schaftigte, Dammei zustande von ausgesprochen psychogener Farbung. Die- 
selben zeichneten sich im wesentlichen dadurch aus, daB die auch gewohnlich 
vorhandene Schwierigkeit der Reaktion auf alien Gebieten in noch viel 
plumperer Weise zutage trat. Auf korperlichem Gebiet tiaten dabei ab und 
zu Zuckungen und Tremor auf. Sich selbst iiberlassen, sprach er einige Zeit 
verworren und schwer verstandlich vor sich hin, allmahlich machte dieser 
Zustand wieder dem gewohnlichen Verhalten Platz. 

Die Anfalle wurden allmahlich seltener, sonst trat im Laufe der mehr 
als 7 monatigen Behandlung keine Aenderung ein. 

Da die Ehefrau sich weigerte, ihn in Familienpflege zu nehmen, wurde 
er ins Armenhaus iibergefiihrt. 

Das Folgende ist der dortigen Krankengeschichte entnommen. Die 
Anfalle dauerten 2—5', dabei war F. bewuBtlos, hinterher trat Schlaf, oder 
Dammerzustand, Oder ein Zustand langsamer Reaktion, zweckloser Hand- 
lungen ein. Die Kopfschmerzen bestanden weiter, es bildeten sich hypo- 
chondrische Vorstellungen mit Erklarungswahnideen aus; in der rechten 
Seite zeigten sich Parasthesien. AeuBerlich war F. geordnet, litt t a gel an g 
an Verstimmungszustanden. 

Am 7. IX. 1910 trat nach einem Anfall tiefer Sopor ein, Puls und 
Atmung horten plotzlich auf, Exitus. 

Die Sektion ergab einen Tumor im linken Parietalhirn, wahr- 
scheinlich von der Pia ausgehend. 

Der Zusammenhang mit dem Unfall wurde im Gutachten 
abgelehnt wegen des zeitlichen Ablaufs und weil das Trauma 
die rechte, gesund gebliebene Kopfhalfte getroffen hatte. 

Das Symptom des Danebenredens, der unrichtigen, oder an- 
scheinend iibertrieben miihsamen Beantwortung einfacher Fragen 
hatte lange im Vordergrunde gestanden und zur Diagnose psycho¬ 
gener Pseudodemenz Veranlassung gegeben. Eine Reihe auBerer 
Umstande schien ebenfalls dafiir zu sprechen. Die unsicheren An- 
gaben der Ehefrau erweckten Zweifel an der Intensitat der 
psychischen Veranderungen, der Rentenkampf lieB den EinfluB 
von Begehrungsvorstellungen annehmen. 

Freilich, uberblickt man im sicheren Besitz der autoptischen 
Diagnose retrospektiv die Krankengeschichte, so finden sich 
allerlei Zeichen, die auf ein organisches Leiden hindeuten. Dann 
ist die sensible Hemiparese vielleieht organisch bedingt, einzelne 
pseudodemente Antworten erweisen sich als paraphasisch, unge- 
schickte Handlungen deuten auf apraktische Storungen. Auch bei 
einzelnen Anfalien ist in der Krankengeschichte schon erwahnt, 
daB sie heute „mehr epileptischen Eindruck“ machen. Zum Teil 
wird sich die Hemmung und die zeitweise vorhandene Benommen¬ 
heit als Folge des Tumors erklaren, ein Beweis, daB es gelegentlich 


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des Ganserschen Symptoms. 


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Schwierigkeiten machen kann, einen hysterischen Stupor you 
einem organischen zu trennen. 

Derartige Falle, die sich iibrigens nach meinem Eindruck wohl 
vermehren lieBen, haben zunachst ein erhebliches diagnostisches 
Interesse. Es ist natiirlich fur Therapie und Begutachtung ein 
himmelweiter Unterschied, ob wir eine organische oder funktionelle 
Psychose diagnostizieren. Die Lehre, die man aus den beigebrachten 
Fallen ziehen muB, ist die, daB man bei Feststellung der Pseudo- 
demenz nicht halt machen darf. Man muB die Fehlreaktionen 
kritisch analysieren. Zum andem aber schlieBt auch die wirkliche 
Pseudodemenz ein organisches Leiden nicht aus, und es gilt nun, 
das gegenseitige Verhaltnis beider Storungen festzustellen. 

Pseudodemente Symptome sind imstande, den wirklichen 
Grad der Intelligenzstorung gewissermaBen zu verdecken. Es 
mag leicht sein, ihr Vorliegen festzustellen, jedenfalls erschweren 
sie die Erkennung des wirklichen Geisteszustandes. Man wird hier 
mehr auf indirekte Schliisse angewiesen sein. Ist vorher die In- 
telligenz ausreichend gewesen, kann man die psychogene Entstehung 
sicher nachweisen, weist in der Anamnese, dem Korperzustande. 
und dem allgemeinen Verhalten nichts auf eine tiefgehende Er- 
krankung, so wird die Entscheidung mit Wahrscheinlichkeit auf 
bloBe Pseudodemenz lauten. Anders aber, wo wie in unseren Fallen 
erhebliche korperliche Zeichen organischer Himerkrankung vor¬ 
liegen. Hier wird man guttun, seine Diagnose und sein forensisches 
Urteil unter einer gewissen Reserve zu bilden. 

Neben dieser praktischen Bedeutung hat die Pseudodemenz 
bei organischen Himerkrankungen noch eine prinzipielle, im Sinne 
der von Kraepelin-Nifil aufgeworfenen Fragen. Sind gemeinhin als 
,,hysterisch“ bezeichnete Symptome oder Symptomenkomplexe 
wie die geschilderte Pseudodemenz als Symptome der organischen 
Psychose anzusehen, oder sind wir berechtigt, hier zwei nebenein- 
ander bestehende Krankheitsprozesse anzunehmen ? 

Wir haben nach und nach so oft ,,hysterische“ funktionelle 
Symptome bei zweifellos organischen Krankheiten, Tumor cerebri, 
Arteriosklerose, Lues cerebri kennen gelemt, oder vielmehr Sym¬ 
ptome, die den hysterischen gleichen, daB wir gut tun werden, dies 
Nebeneinander auBerst skeptisch zu betrachten. Behandlungs- 
bediirftigkeit, Labilitat der Stimmung, Verschiedenheit des Auf- 
tretens gegeniiber Arzt und Mitkranken, theatralisches Wesen, alles 
das, was man, was. besonders der Laie als hysterisches Wesen be- 
zeichnet, konnen wir so oft bei organisch Kranken beobachten, daB 
wir hier die Krankheit ,,Hysterie“ besser nicht diagnostizieren, wenn 
keine Wunsche und Willensrichtungen nachweisbar sind, die fiber 
ein gewisses Beachtungsbediirfnis hinausgehen. 

Wir werden daran denken, daB wir ,,hysterische“ Symptome 
bei sonst Nervengesunden unter dem EinfluB schwerer geistiger 
Erschiitterung finden (ich erinnere mit allem Vorbehalt an den 
,,heftigen Weinkrampf“ Bismarcks am 23. VII. 1866, Gedanken und 


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Haenisch, Zur diagnostischen Bedeutung etc. 


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Erinnerungen, Kapitel 20, IV), wahrend Psychopathen schon bei 
Kleinigkeiten dazu neigen. Wir miissen damit rechnen, daB die 
organische Krankheit vieles auflost oder auBer Wirkung setzt, was 
eine Folge der Erziehung im weitesten Sinne ist, durch uns selbst 
und andere. Selbstbeherrschung in geistiger und korperlicher 
Beziehung, richtige Kritik an uns selbst und andem, eine sozusagen 
objektive Betrachtung auch der eigenen Leiden, gehoren sie nicht 
zu den hochsten Leistungen und Zielen des Menschen ? Sind nicht 
die, denen sie mehr oder weniger fehlen, Frauen, Kinder ,Ungebildete 
auch fur hysterische Erkrankungen besonders disponiert? DaB 
so die hysterische Reaktion gewissermaBen praformiert, nur eben 
leichter oder schwerer auslosbar ist, diese Annahme iiberhebt uns 
wohl in den meisten Fallen der Notwendigkeit, „Hysterie“ neben 
organischer Krankheit zu diagnostizieren. 

Anders liegt es, wenn bei einer organischen Psychose, einer 
Lues, einer eben beginnenden Paralyse, einer Arteriosklerose 
voriibergehend Zustande auftreten, die nach Veranlassung, Verlauf, 
Symptomen und dauernder Abhangigkeit von den uns bekannten 
psychischen Motiven, vor allem Wunschvorstellungen, denCharakter 
z. B. der Pseudodemenz tragen. Hier meine ich, hat man das Recht, 
von einer hysterischen psychischen Stoning zu sprechen, die als 
Komplikation der organischen Erkrankung aufzufassen ist. Ich 
halte diesen Fall wohl fur moglich, ohne allerdings ein bestimmtes 
Beispiel anfuhren zu konnen. Selbstverstandlich hat bei der prak- 
tischen Wiirdigung die organische Psychose als die tiefergreifende 
den Vorrang. 


Literatur-V erzeichnis. 

Es sind nur die in der Arbeit besonders angefuhrten Veroffentlichungen 
aufgefiihrt, daneben zwei in neuester Zeit erschienene, die auch die Literatur 

der letzten Jahre beriicksichtigen. __ 

Gamer, Ueber einen eigenartigen hysterischen Danunerzustand. 
Arch. f.Psvch. 30. —Derselbe, Zur Lehre vomhysterischen Dammerzustand. 
Ebenda. 38. — Moeli, Ueber irre Verbrecher. Berlin 1888. — Nifil, 
Hysterische Symptome bei einfachen Seelenstorungen. Zbl. f. Neurol. 1902. 
— Raecke, Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Dammerzustandes. 
Ztschr. f. Psych. 58.— Henneberg, Ueber das Garwersche Symptom. Ebenda. 
61. — Stertz, Ueber psychogene Erkrankungen usw. nach Trauma. Ztschr. 
f. arztl. Fortb. 1910. — Bonhoeffer, Wie weit kommen psychogene Krank- 
heitszustande vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen sind. Ztschr. f. Psych. 
68. — Stem, Beitrage zur Klinik hysterischer Situationspsychosen. Arch. f. 
Psych. 50. — Flatau, Ueber den Gonserschen Symptomenkomplex. Ztschr. 
f. d. ges. Psych. 15. 


Gougle 


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Buchanzeigen. 


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Buchanzeigen. 


Die Onante. Vierzehn Beitrage zu einer Diskussion der „ Wiener Psycho- 

analysischen Vereinigung“. Wiesbaden 1912. I. F. Bergmann. 

Das Heft bringt 14 Referate zura Abdruck, welche in der Wiener 
Psychoanalysischen Vereinigung iiber das Thema Onanie gehalten worden 
sind. Die Referate sind im einzelnen verschiedenwertig und nicht gleich 
interessant, doch lassen alle eines jedenfalls erkennen, das uns von anderen 
Publikationen aus der Schule Freuds bekannt ist: das ernsthafte S ter ben, 
die gewissenhafte, eingehende Beschaftigung mit dem zur Diskussion 
stehenden Problem. Nur aus diesem Ernst heraus und aus dem damit ver- 
kniipften festen Ueberzeugtsein von der Richtigkeit der eigenen Meinung 
ist wohl beispielsweise auch die sonst fiir eine wissenschaftliche Arbeit unge- 
wohniiche Stelle in der Einleitung zu verstehen, dai3 sich aus dem Beifall 
„und vielleicht noch deutlicher aus dem Tadel der Leser“ ergeben werde, 
wieweit die von den Vortragenden verfolgte Absicht gelungen sei. 

Wir stolen iiberhaupt in dem Heft auf dieselben Harten, die dem 
Femerstehenden einen Teil der Arbeiten von Schiilern Freuds schwer genieB- 
bar machen; inhaltlich sind dew vor allem Gedankengange und Gedanken- 
spr tinge, die dem nicht zu den Eingeweihten gehorigen oft geradezu mittel- 
alterlich-scholastisch anmuten, und als deren Stiitzen, wenn andere Beweise 
nicht zur Hand sind, mit Vorliebe dew durch die,,Psychoanalyse 4 ‘ konstatierte 
„UnbewuBte“ aushelfen muB (vgl. namentlich Sadger); der durch Ver- 
anlagung und Beschaftigung weniger lebhaft und weniger dauernd auf 
sexuelle Vorstellungen eingestellte und der weniger in rein sprachlichen 
Symbolen denkende Leser des Heftes wird notgedrungen gelegentlich ^fo¬ 
re agieren 44 durch Ausdriicke, die an Kraft die von Rieger dariiber ausge- 
sprochenen noch iibertreffen. 

Wir sehen aus den Referaten, daB der Begriff der Masturbation von 
den Diskutierenden auBerordentlich verschieden weit gefaBt wird, zum Teil 
so weit, daB er alles Pragnante verliert, und daB man mit ihm nach Belieben 
schalten kann, zum andern Teil wird er prazis definiert und aufgefaBt (z. B. 
Reisler), Fur dew, wew man alles eventuell als Ausdruck und Folge der 
Mewturbation ansprechen kann, gibt namentlich Sadger erstaunliche Bei- 
spiele. 

Von einem erheblichen Teil der Referenten wird die Frage nach der 
Bedeutung der Onanie als urs&chlichen Faktors bei der Entstehung von Neu¬ 
rosen stark in den Vordergrund geriickt, wie aus einem Satz im SchluBwort 
hervorgeht. gegen den urspriinglichen Willen von Freud selber. Vieles 
von dem, was wir dariiber horen, ist verstandig und gut; im allgemeinen 
wird vor der Ueberschatzung der schadigenden Wirkung der Onanie gewamt; 
Stekel f&llt sogar gleich in dew andere Extrem und lehrt uns: die Neurose ist 
eine Folge der Abstinenz, wir sehen die schlimmsten Neurosen, wenn die 
Leute die lang geiibte Onanie aufgeben. 

Storend wirkt fewt durchgehend die wenig psychiatrische Art der Be- 
handlung des Themas; man wird bei der Lektiire die Empfindung nicht los, 
als gehore zur Besprechung derartiger Probleme etwas mehr psychiatrische 
Schulung (eine erfreuliche Ausnahme macht in dieser Hinsicht eigentlich 
nur das lieferat VII und auch das IX.); Folge davon ist die oft wenig prazise 
Unterscheidung zwischen speziellem Vorstellungsinhalt und allgemeiner 
Vorstellungsrichtung, beispielsweise bei Fallen von anscheinender Melan- 
cholie (S. 16, 39), ferner die einseitig symptomatologische Darstellungs- und 
Auffa8sungsweise, die Vernachlassigung der pathologischen Gesamtperson- 
lichkeit der Patienten gegeniiber dem gerade wichtig erscheinenden Einzel- 
symptom, und damit die Ueberschatzung der Berechtigung, die offenbar fast 
ausschlieBlich an schweren Psychopathen gewonnenen Erfahrungen ohne 
weiteres zu verallgemeinern. 

Alles in allem: Hartes und dem Femerstehenden zunachst schwer Ver- 
standliches enthalten die Referate genug; wersich entschlieBen kann, daruber 
hinwegzusehen, wird mancherlei Anregendes finden. Im wesentlichen sind 
es die bekannten Ideen Freuds , welche wiederholt, modifiziert und ausgebaut 
werden. P. Schroder- Greifswald. 


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Buchanzeigen. 


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Max Kauffmann, Die Psychologic desVerbrech&ns. Berlin. 1912. Julius Springer. 

Der Verfasser will una zunachst klarmachen, daB die bisherigen 
Bearbeiter eine falsche Methodik angewandt haben. Dabei ergeht er sich 
iippig in Paradoxen und k&mpft mit ritterlicher Geste gegen Windmiihlen. 
,.In den Berichten der Psychiater liber die schlechten Schulleistungen der 
von ihnen untersuchten Personen findet man als Endurteil Schwachsinn; 
hier wird regelmaBig der Irrtum begangen, daB man die schlechten Leistungen 
als Folge von geistiger Minderwertigkeit betrachtet, statt als eine Folge 
der mangelnden Aufmerksamkeit." Wirklich ? Nun, es wird kunftig nicht 
mehr vorkommen! Dann erz&hlt uns Herr Kauffmann , wie er mit Ver- 
breohem verkehrt hat, wie er in Kneipen, in Ballsalen, in Zuh&ltervereinen 
und Prostituiertenbuden photographiert und gelauscht, mit Verbrechem 
geplaudert und getrunken hat. Dazwischen streut der Verfasser mit frei- 
giebiger Hand Apper 9 us und Erinnerungen aus seinen vielfachen, durch 
vielseitiges Studium in den Gebieten der Medizin, Jurisprudenz und Philo¬ 
sophic erworbenen Erfahrungen; aber er kargt dabei mcht mit oberfl&ch- 
lichen Behauptungen, widersinnigen Pramissen, haarstraubenden Bana- 
lit&ten und sinnlosen Ausfalien gegen Psychiatrie und angebliche Lehren 
und AeuBerungen von Psychiatem. Dm Buch ist geschmiickt mit Bildem 
von vielen Verbrechem, unter denen ich auch manchen alten Bekannten 
wiedergefunden habe, ohne daB Lebenslauf oder Krankengeschichte dieser 
Personen den Bildern Bedeutung verleiht. Eingefiigte Essays von Ver- 
breohem (liber das Zuhaltertum) vermogen Interesse zu erregen. 

Das also ist die richtige Methodik ? Von der pathologischen Psycho- 
logie des Verbrechers erfahren wir auBerst wenig. und Verfasser ist uns den 
Beweis schuldig geblieben, daB seine Streifziige ins Verbrechermilieu die 
Kenntnis der Psyche des Verbrechers gefordert haben. Vielleicht aber liegt 
es daran, daB Verfasser zwar mit anerkennenswertem Eifer die Biertisch- 
abende der Verbrecher beobachtet hat, daB er aber gar nicht systematiseh 
untersuchte. Und daB letzteres uns wirklich nach der Methode des Ver- 
fassers besser moglich sein sollte, als in einer Klinik oder in einem Unter 
suchungszimmer, davon haben mich die groben Worte gegen die ,.Zunft- 
psychiatrie“ nicht iiberzeugt. Immerhin hat Verfasser bei seinen Fahrten 
manches Material gesammelt, das bei sachverst&ndiger Bearbeitung sich 
als wertvoll und beachtenswert erweisen wird. Forster. 

A. Schittenhelm und W. Weichardt, Der endemische Kropf , mit besonderer 
Beriick8ichtigungde8Vorkommen8imKonigreich Bayern. Berlin. J. Springer. 

Die Verfasser haben sich der Miihe unterzogen, durch eigene Unter- 
suchungen und unter Zuhilfenahme der Angaben aller Kreisarzte das Vor¬ 
kommen des Rropfes im Konigreich Bayern statistisch festzustellen. Dabei 
legten sie mit Recht Wert auf den Nachweis auch geringen Kropf es bei 
Kindern. 

Sie kommen zu demResultat, daB die geologische Bodenbeschaffenheit 
nicht als Ursache der Erkrankung in Betracht kommt, daB sie aber an be- 
stimmte Wasserlaufe gebunden erscheint. Sie meinen, daB ein lebender 
Erreger die Ursache ist (ahnlich dem von Chagas beschriebenen endemischen 
brasilianischen Kropf erreger) und daB dieser durch das Wasser iiber- 
tragen wird. 

Experimentelle Untersuchungen fiihrten bisher zu keinem Resultat: 
Verf. fordem zu weiteren experimentellen Untersuchungen, besonders mittels 
sterilen Kropfwassers, wie es ihnen im Grundwasser aus Ellgau in der Lech- 
ebene zur Verfiigung stand, auf. Forster. 


Personalien. 

Berlin: Den Professor titel haben erhalten: Priv.-Doz. Dr. Forster. 
Oberarzt der psych. Klinik der Kgl. Charite, Dr. Vogt , Vorsteher, und 
Dr. Bielschowsky > Abteilungsleiter am Neurobiologischen Laboratorium. 

Druckfehlerberichtigung. 

In Heft 4, Seite 356, Anmerkung, Zeile 6: lies A u s f u h r unge n 
statt Erwidenmgen. 



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Weitere Beitrage zur Diagnose und Differentialdiagnose 
des Tumor medullae spinalis. 

Von 

H. OPPENHEIM. 

(Hierzu Tafel XX und 2 Abbildungen iin Text.) 


I. Ueber den die Symptomatologie des Tumors vortauschenden 
EntzundungsprozeB am untersten Ruckenmarksabschnitt. 

In einer im Jahre 1911 in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol. 
(Bd. V) veroffentlichten Abhandlung bin ich an der Hand 
eigener, dort mitgeteilter Beobachtungen zu folgendem Hinweis 
gelangt: „Haufiger noch als am Kiickenmark kommen im Conus- 
Cauda-Gebiet Krankheitszustande vor, die sich in symptomatischer 
Hinsicht von den Tumoren dieses Sitzes auf Grund unserer der- 
zeitigen Kenntnisse nicht scharf trennen lassen. Ihr pathologisch- 
anatomischer Charakter muB noch durch kiinftige Forschungen 
erschlossen werden. Am nachsten liegt die Annahme, daB es sich 
um chronisch entziindliche Prozesse in der Substanz des Conus und 
der Caudawurzeln handelt, die h&ufig von entsprechenden menin- 
gealen Entziindungen serofibrosen Charakters begleitet werden. 
Ueber den definitiven Ausgang dieses Leidens sind wir nicht unter- 
richtet, doch kann es zum Stillstand, vielleicht selbst zur Aus- 
heilung kommen. In der Aetiologie spielt vielleicht die Lues und 
das Trauma eine Rolle“ usw. 

Zur weiteren Illustration dieser Krankheitszustande soli die 
folgende Beobachtung dienen. 

Der 51 jahrige Kaufmann A. M. wurde mir im November 1911 mit 
folgendem Briefe seines Arztes zur Behandlung iiberwiesen: „Stammt aus 
nervoser Familie, war selbst immer sehr nervos, leicht aufbrausend, sehr 
tatig und energisch. Er war niemals ernstlich krank, nur litt er wiederholt 
an akutem Muskelrheumatismus und Gicht. Vor dem Beginne des jetzigen 
Leidens (12. III. d. J.) hatte er eine stiirmische psychische Erregung, die 
sehr deprimierend auf ihn wirkte. Gleich darauf hatte er iiber Kreuz- 
schmerzen zu klagen. Dazu kamen Schmerzen in den Kniegelenken und in 
der groBen Zehe des linken FuBes. Die Schmerzen traten intermittierend 
mit groBer Heftigkeit auf. Dabei war das Nervensystem vollkommen zer- 
riittet, der Wille wie gelahmt, er zeigte charaktoristische Erscheinungen 
von Hysterie. ,Es konnte sehr leicht dabei eine Suggestion im Zustande des 
Wachens hervorgerufen werden; es geniigte hierzu ein energisch aus- 
gesprochener Befehl.* Er siedelte in eine Anstalt fur Nervenkranke iiber, 
in der er 5 Monate verblieb. Die Schmerzen im Kreuz und in den Beinen 
lieBen nach,aber das Gehvermogen war gestort und das Harnlassen erschwert, 
Er konnte nur miihsam gehen und nur sitzend den Urin entleeren. Hinzu 

Monatsschrift f. Psychiatrie n. Neurologie. Bd. XXXUI. Heft 6. 30 


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Oppenheim , Weitere Beitrage zur Diagnose 


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kamen Schmerzen in der Regio pubis, am Penis und am Scrotum ohne 
lokalen Befund. Keine Konkremente, keine Geschwulst; die Prostata in 
atrophischem Zustande. Da sich einige Hamorrhoidalknoten und Fissura 
ani fand, wurden die Blasenerscheinungen als reflektorische, vom Anus 
ausgehende, gedeutet. Sie dauerten aber nach Behandlung der lokalen 
Storungen fort, steigerten sich sogar zeitweise. Sie konnten also nur als 
nervose gedeutet werden, was sich dadurch bestatigte, daB es gelang, durch 
Wachsuggestion die Harnentleerung giinstig zu beeinflussen. Aber e.s 
stellte sich in der letzten Zeit eine Incontinentia urinae ein, die hoffentlich 
durch Suggestion beseitigt werden kann.“ Was das Gehen anbetrifft, so 
war, nachdem der Pat. in der Anstalt einen Monat im Bett verblieb, eine 
Unsicherheit mit rasch eintretender Miidigkeit zu beobachten. Es wurde 
ihm erklart, daB die Unsicherheit des Ganges durch das lange Liegen her- 
vorgerufen worden sei. So wurde von ihm gefordert, da £ er sich befleiBige, 
zu gehen. ,,Die objektive Untersuchung des Nervensystems erwies keine 
Symptome von organischer Erkrankung.“ Es muB hier nur darauf hin- 
gewiesen werden, daB die Patellarreflexe trage sind und waren. „Im Juli 
und August war im Gehen eine bedeutende Besserung eingetreten; der 
Kranke war imstande, Spaziergange zu machen, die 54 bis 1 Stunde 
dauerten. Aber nachher trat eine Verschlimmerung ein, die hauptsachlich 
darin bestand, daB ihn eine Angst befiel; er fing an zu taumeln, und 
schlieBlich stiirzte er um, dabei kam es zu schwerem Atmen, Gahnen etc. 
In meiner Anwesenheit, bei strengem Befehl konnte ein Anfall ver- 
mieden werden, und wenn der Kranke auch versicherte, daB er nichfc 
imstande sei, auf den FiiBen zu stehen, gelang es mir doch, ihn zum regel- 
maBigen Gehen zu bewegen; aber gleich darauf (in meiner Abwesenheit) 
konnte er nicht einen Schritt machen. Psychische Aufregungen ver- 
schlimmerten den Zustand. Wenn die Aufmerksamkeit auf andere Dinge 
gelenkt wurde, war der Gang ganz gut. Die Bewegungsstorungen tragen 
im allgemeinen den Charakter eine Basophobie. Was den Allgemeinzustand 
des Pat. betrifft, so ist er im ganzen gut, seine Emahrung hat nicht ge- 
litten; der psychische Zustand ist ein viel besserer, als er im Anfang 
der Krankheit war.“ 

So weit der Bericht des Hausarztes. 

Bei der ersten von mir in der Sprechstunde am 10. XI. 1911 
vorgenommenen Untersuchung machte Patient die Angabe, daB 
er im Mfirz d. J. nach einer groBen Aufregung von Schmerzen im 
Kreuz und in den Beinen befallen worden sei. Dazu habe sich erst 
Dysurie, dann Incontinentia urinae gesellt, im weiteren sei eine 
Gehstorung eingetreten, die suggestiv gebessert sei. Er habe 
3 Kinder, sei niemals geschlechtskrank gewesen. Auch habe die 
bisher ausgefiihrte spezifische Kur seinen Zustand nicht gebessert. 

Ueber das Ergebnis der ersten Untersuchung enthalt mein 
Journal nur folgende Notizen: 

Stark lordotische Haltung der Lendenwirbels&ule beim Gehen, 
Kniephanomen scheint rechts zu fehlen, ist links stark abge- 
schwacht, Achillesphanomen fehlt in der Riickenlage beiderseits; 
es besteht eine Schwache im Ileopsoas und in der Wadenmuskulatur. 
Zirkumanale Hypalgesie und Thermhypasthesie, keine Ver- 
anderungen am Riicken bzw. an der Wirbelsaule. 

Diagnose: Affektion im Conus-Cauda-Gebiet, und zwar Menin¬ 
gitis serofibrosa (auf gichtischer Grundlage ?) oder Neubildung. 
Daneben hysterische Abasie. Auch auf Lues weiter zu fahnden. 

Empfohlen: Aufnahme ins Hansa-Sanatorium, Rontgen- 
ruitersuchung und Priifung auf Wassermannsche Reaktion. Be- 
handlung nach weiterer Untersuchung zu bestimmen. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


453 


Genauere Untersuchung im Hansa-Sanatorium am 16. XI. 

Pat. klagt iiber Gehstorung infolge eines Gefiihls von Schwache und 
Mattigkeit in den Beinen, iiber ein Einschniirungsgefiihl am linken Ober- 
schenkel. Er betont die groBe Abhangigkeit seiner Beach werden von 
psych ischen Einfliissen. Ferner klagt er iiber betrachtliche Erschwerung 
des Harnlassens, besonders in den letzten Tagen; er hat z. B. eben nur mit 
groBer Miihe 10 ccm Urin entleert, iiber starke Abnahme der Potenz, seltene 
Erektionen, Taubheitsgefiihl am Penis und an der AuBenflache des linken 
Oberschenkels. Zeitweise stellen sich Parasthesien und heftige krampfhafte 
Schmerzen im linken, weniger im rechten Bein und der Sohle nach der 
Wade zu ein, die auch manchmal mit Zuckungen verbunden seien. Er betont 
auch Schmerzen in der rechten Schulter: Enorme Keizbarkeit besonders 
bei kleinen Ursachen, MiBtrauen und sehr labile Stimmung. 

Status praesens: Kniephanomen ist jetzt links ganz normal, rechts 
zwar abgeschwacht, aber deutlich vorhanden. Keine sichtbare Muskei- 
atrophie. Das linke FuBgelenk ist im ganzen aufgetrieben, geschwollen, 
auBerdem besteht hier ein deutliches Hautodem, rechts etwas weniger aus- 
gesprochen; Haut an den FiiBen kiihl und cyanotisch. Pulsation an der 
Art. dorsalis pedis undeutlich zu fiihlen, rechts deutlicher; an der Art. 
tibialis post, durch das (idem verdeckt. Feraenphanomen fehlt beider- 
seits, auch bei Priifung in knienderStellung. Sohlenreflex nicht deutlich, 
keine spastischen Reflexe. 

Aktive Bewegungen des rechten Beines: Am meisten beschrankt ist 
die Hiiftbeugung sowie die Dorsal- und Plantarflektion des FuBes; im 
ganzen ist es aber nur eine maBige Schwache, deren Intensitat sehr wechselnd 
sein soil. Das linke Bein ist im ganzen etwas schwacher als das rechte. 

Sensibilitat: Pinselberiihrungen warden am linken Bein (iberall 
gefiihlt. Unterscheidung von Pinsel und Druck ist unsicher, aber bei weiterer 
Priifung ergibt es sich, daB diese Unterscheidung nur am FuBriicken wirklich 
beeintrachtigt ist. Nadelstiche werden iiberall deutlich gefiihlt, am FuB, 
besonders am rechten, besteht Hypalgesie. In der zirkumanalen Gegend 
sind die Angaben bei der Sensibilitatspriifung sehr unsicher; bald empfindet 
er die Beriihrung gar nicht, bald verwechselt er sie mit Nadelstich, die 
psychische Erregung spielt dabei eine Rolle. Es besteht aber sicher eine 
zirkumanale Hypalgesie , die sich auch auf den Damm erstreckt. Analreflex 
links lebhaft, von rechts her nicht auszulosen. 

Es besteht eine Lordose der Lendenwirbelsaule, die sich namentlich 
beim Gehen deutlich markiert. Druck auf die Wirbel wird an keiner Stqlle 
.schmerzhaft empfunden, ebensowenig die Perkussion. Rontgen negativ. 
Bauch- und Kremasterreflex lassen sich zurzeit nicht auslosen (doch sind 
die Bauchdecken sehr gespannt). Incontinentia urinae. 

Sehnenphanomene an den Armen nicht erhoht. Handedruck kraftig. 
In den Handen weder Ataxie noch Tremor. 

Ophthalmoskopisch normal. Pupillenreaktion prompt; linke Pupille 
•etwas weiter als rechte. Puls von gewohnlicher Frequenz. Am Herzen 
nichts Abnormes. 

Die elektrische Untersuchung ergibt in der linken Waden- bezw. Unter- 
schenkelmuskulatur partieUe Entartungsreaktion , in der rechten quantitative 
Abnahme der Erregbarkeit. 

Die BltUuntersuchung auf Wassermannsche Reaktion hat ein negatives 
Ergebnis; von der Liquoruntersuchung wird auf Wunsch des Pat. Abstand 
genommen. 

Die Diagnose muBte auf einen KrankheitsprozeB im Bereich 
des Conus oder der Cauda equina gestellt werden, der aber dann 
wegen der Beteiligung des Ileopsoas hoch oben im proximalen 
Gebiet im Bereich des Conus seinen Sitz haben muBte. 

Natiirlich war schon im Hinblick auf die Intensit&tsschwan- 
kungen der Symptome in erster Linie an Lues zu denken. Aber 

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Oppenheim, Weitere Beitr&ge zur Diagnose 


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Anamnese, Korperuntersuchung und Blutreaktion hatten ein 
negatives Ergebnis, und die schon ausgefuhrte spezifische Kur, 
iiber deren Intensitat und Dauer allerdings keine Angaben vor- 
Jagen, hatte keine Besserung herbeigefiihrt. Es kam dann eine 
Neubildung sowie ein einfacher EntziindungsprozeB — eine 
Meningitis serofibrosa — im Conus-Cauda-Gebiet in Frage, und es 
muBte im Hinblick auf die gichtisehe Diathese und die zurzeit 
noch bestehende Gelenkschwellung an die Moglichkeit eines spinal- 
meningitischen Entziindungsprozesses auf dieser Grundlage gedacht 
werden. So wurde zunachst nebendem entsprechenden diatetischen 
Regime Atophan, lokale HeiBlufttherapie und Radiogenbehandlung 
in Anwendung gezogen, an deren Stelle spater, als das Leiden keine 
Besserung zeigte, Jodkalium (nach dem mir vorliegenden Rezept 
10,0 : 200, zeitweilig 6,0 : 200) und eine Inunlctionskur trat. 

4. XII. Pat. klagt heute iiber einen Schmerz im rechten Knie- und 
Fufigelenk; eine Schwellung ist nicht nachweisbar. Kondylen auf Druck 
empfindlich, doch spielt dabei die psychische Hyperasthesie eine Rolle. 

Schwache heute besonders in den linksseitigen Hiiftbeugern und in 
den FuBbeugern. 

Am 5. XII. iiberwies ich den Pat. Herrn Kollegen Weintraud in Wies¬ 
baden mit folgendem Brief: ,,Herr M. war immer sehr nervos und im- 
pressionabel, hatte auBerdem wiederholentlich gichtisehe Affektionen. 
Ueber Lues nichts bekannt, Wassermann im Blut negativ. Im Marz d. J. 
groBe Aufregung, danach Schwache der Beine, Unsicherheit, Blasenstorung. 
Zustand im ganzen sehr wechselnd und von psychischen Momenten so ab- 
hangig, daB sein Leiden in RuBland (auch von Nervenarzten) als hysterische 
Abasie gedeutet war. Das ist ein grober Irrtum, aber Hysterie ist als Begleit- 
erscheinung anzuerkennen. Im iibrigen handelt es sich sicher um eine 
schwere Erkrankung des Conus-Cauda-Gebietes, wahrscheinlich des letzteren. 
Es findet sich: Abschwachung der Kniephanomene, Fehlen des Fersen- 
phanomens beiderseits, Parese mit Muskelatrophie, besonders im linken 
Bein, mit Ea R im Triceps surae, anogenitale Hypasthesie bzw. Hypalgesie, 
Incontinentia urinae, Impotenz etc. In Frage kommt ein gichtischer 
ProzeB (zuinal auch jetzt Schwellung der FuBgelenke besteht) oder eine 
Neubildung bzw. Meningitis serosa circumscripta an der Cauda. 

Ich bitte Sie, sich des Pat. bei seiner Badekur anzunehmen, auBerdem 
w'are es ratsam, nach einiger Zeit eine LuTnbalpunktion (moglichst tief) 
vorzunehmen: 1. um festzustellen, ob der Liquor direkt eine Rolle spielt, 
2. um diesen auf spezifische Reaktionen einerseits, auf Geschwulstzellen 
andererseits zu untersuchen., Tch ware Ihnen dankbar, wenn Sie mich 
wegen des bemerkenswerten Falles auf dem laufenden halten wollten. 4 * 

Pat. blieb bis Anfang Januar in Wiesbaden. Ueber den 
dortigen Aufenthalt bzw. die arztlichen Beobachtimgen liegen nur 
ein paar Notizen vor. Eine wesentliche Veranderung hat der Zu- 
stand dort nicht erfahren. 

Die Lahmungserscheinungen waren von wechselnder Intensitat und 
besonders vom psychischen Befinden abhangig. Es bestand dauemd Blasen- 
schwache, und er muBte taglich katheterisiert werden. Er hat in Wies¬ 
baden 20 Bader genommen und ist taglich galvanisiert worden. Riickkehr 
a us Wiesbaden ins Hansa-Sanatorium am 15. I. 1912. 

16. I. Er klagt jetzt iiber Brennen und Schwache in den Beinen, 
sowie iiber eine Art von Fremdkorpergefiihl in der linken Sohle. Im Kreuz 
und Riicken verspiirt er zeitweise Schmerzen. Er kann eine Zeitlang ohne 
Stock durehs Zimmer gehen, muB sich dann ausruhen. Einige Male hatte 
rr Wadenkrampfe. Es besteht kein Oedem. Das Bestreichen der Haut 


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und Differentialdiagnose dee Tumor meduliae spinalis. 455 

an den Unterschenkeln und FiiBen wird schmerzhaft empfunden; ebenso 
der Druck auf die Wadenmuskulatur. 

Kniephanomen links nur mit Jendrassik auszulosen, rechts normal. 

Die Beugung des linken Unterschenkels wird mit sehr geringer Kraft 
ausgefiihrt, rechts mit guter Kraft; die Streckung ist beiderseits eine voll- 
kommene. Dorsalflexion des linken FuBes mit geringer Kraft, besonders die 
Abduktion; Plantarflexion etwas kraftiger. Rechts ist die Dorsalflexion 
des FuBes wohl etwas schwach, aber nicht so wie links, Plantarflexion ganz 
kraftig. Auch die Zehenbewegungen links schwacher als rechts. 

Druck auf die Lendenwirbelsaule wird nicht schmerzhaft empfunden. 

Sicher besteht Hypalgesie in der rechten Zirkumanalgegend, sie 
erstreckt sich ein Wenig auf die Innenseite des Obersehenkels nach dem 
Damm zu. An der linken Wade und in der Gegend der Achillessehne werden 
leise Beriihrungen nicht gefiihlt. Auch auf der Dorsaiflache des rechten FuBes 
besteht Hypalgesie. Lagegefiihl in der linken groBen Zehe herabgesetzt. 
rechts nicht. Beim Ergreifen der groBen Zehe schreit er laut auf, doch 
spielt dabei das psychische Moment eine Rolle. 

Die Auftreibungen an den FuBgelenken sind (dank der Wiesbadener 
Kur ?) geschwunden. Pat. richtet sich aus der Riickenlage gut auf. FiiBe 
immer kalt und cyanotisch. Druck auf Tuber ischii wird beiderseits etwas 
schmerzhaft empfunden. Perkutorisch nichts Abnormes. 

20. II. Die Motilitat im rechten Bein ist frei. Die Bewegungen 
im linken Bein in alien Gelenken ausfiihrbar, nur ist die Beugung und 
Streckung im FuBgelenk etwas schwacher wie rechts, doch ist die Schwache 
keine erhebliche. In der rechten Genitalgegend und besonders im obersten 
Viertel des Obersehenkels an der Hinterseite Hypalgesie. Das Fersen- 
phanomen fehlt auch beim Knien, wahrend das Kniephanomen zu er- 
zielen ist. 

28. II. Keine wesentliche Aenderung. 

11. III. Pat. klagt zurzeit viel liber Taubheitsgefiihl in der Leisten- 
gegend. Kremasterreflex nicht auszuldsen. In der rechten Leistengegend 
wird nur an einzelnen Stellen Stich nicht schmerzhaft, sondem als Be- 
ruhrung empfunden. In der rechten Glutaalgegend taktile Anasthesie in 
Ausdehnung von etwa Handbreite. Auch in der rechten Wadengegend 
an einigen Stellen taktile Anasthesie. In der rechten Glutaalgegend 
Analgesie. An der Hinterseite des rechten Obersehenkels und Wade einige 
hypalgetische Stellen. 

Keine Druckeinpfindlichkeit in der Kreuzbein-Lendenwirbel-Gegend. 

Eine Thermanasthesie findet sich in der rechten Zirkumanalgegend 
und zum Teil auch an der Hinterseite des Obersehenkels Sie erstreckt siph 
auch auf das Scrotum. 

Das Ergebnis der elektrischen Untersuchung entspricht dem friiheren, 
nur fallt es auf, daB im Sphincter ani ext. die elektrische Erregbarkeit 
erhoht ist. 

In Bezug auf die Motilitat ist nur insoweit eine Verschlechterung ein- 
getreten, als Pat. die Glutaalinuskeln nicht kraftig gebrauchen kann. 

Nachdem sich unter dem EinfluB der antisyphilitischen 
Therapie der Zustand eher verschlechtert hatte, muBte die operative 
Behandlung dringender empfohlen werden. Der Pat. und seine 
Angehorigen verlangten in dieser Frage noch das Urteil des Ge- 
heimrat Z. zu horen, dereinenTumorimCaudagebietdiagnostizierte 
und die chirurgische Behandlung energisch befiirwortete. Ich 
uberwies den Pat. an Prof. Krause mit folgendem Bericht: 

„Bei Herrn M., der von Haus aus ein sehr nervoser Mensch ist, hat 
sich im Marz v. J. angeblich nach groBen Erregungen einerseits eine hysteri- 
sche Abasie, andererseits eine Affektion desConus-Cauda-Gebietes entwickelt. 
Die Hauptsymptome des mit Schmerzen einhergehenden Leidpns sind 
Hamverhaltung, Fehlen des Fersenphanomens, Abschwachung des Knie- 


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456 


Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


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phenomena, atrophische Parese leichten Grades in den Unterschenkel- 
muskeln, besonders im Bereich des linken Tibialis post, mit partieller Ea R 
sowie in den Glutaalmuskeln, Sensibilitatsstcrungen, die am ausgesprochen- 
sten in der rechten Glutaalgegend und an der Hinterflache des Oberschenkels 
sind, aber auch links nicht fehlen. Wirbelsymptome fehlen. Eine gewisse 
Schwache besteht auch im Ileopsoas, wie sich in letzter Zeit auch die 
Sensibilitatsstorung bis in die Skrotal- und Leistengegend erstreckt. 

Art und Entwicklung des Leidens muBten von vomherein an einen 
Tumor denken lassen, aber die Erfahrungen, die wir gerade auf diesem 
Gebiet vielfach gemacht haben [Fall Engel 1 ) ist Ihnen ja auch bekannt], 
sowie der sehr remittierende Verlauf zwingen doch, mit der Moglichkeit zu 
rechnen, daB ein anderweitiger ProzeB (Meningitis serofibrosa oder dergl.) 
im Spiele ist. 

Diese Erwagung veranlaBte mich, zunachst ableitende, diaphoretische 
und resorbierende Kuren in Anwendung zu ziehen. Da aber in der letzten 
Zeit eine deutliche Progression zu konstatieren ist, muBte ich den wider- 
strebenden Kranken zur Operation drangen. Nach der Symptomatologie 
sitzt der ProzeB oben an der Cauda, so daB es ratsam ist, die Laminektomie 
am II. und III. Lendenwirbel vorzunehmen. 44 

Operation (I F. Krause) am 15. III. 1912. Chloroformnarkose. Wegnahme 
zunachst des Bogens der III. Vertebra lumbalis und dann des II. 

Der vorher markierte Proc. spin, des III. Lendenwirbels wurde in 
typischer Weise freigelegt und mit der Horsleyschen Zange fortgenommen. 
Beim Frasen des Bogens zeigte sich seine besondere Dicke, die den Gebrauch 
der Dahlgrenschen Zange unmoglich machte. Auch die rechte und linke Halfte 
des Bogens wurde mit der Horsleyschen Zange durchschnitten. Die Seiten- 
teile, die den Duralsack noch bedeckten, wurden daraufhin mit der Luer - 
schen Zange und der neuen HohlmeiBelzange so weit fortgenommen, daB der 
groBte Teil der Zirkumferenz des Duralsacks freilag. Fur die Freilegung des 
Riickenmarkes muBte der II. Lendenwirbelbogen in gleicher Weise entfemt 
werden. Der Duralsack pulsierte nicht. Als er inzidiert worden war, stromte 
Liquor im Strahl heraus. Die Wurzeln der Cauda equina sahen grau aus, 
waren infolge von GefaBinjektion stellenweise gerotet und zeigten eine 
eigentiimliche Fragmentierung. WeiBe Wurzeln waren kaum vertreten. 
Die intradurale Sondierung 5 cm nach oben und nach abwarts stieB auf kein 
Hinderni8. Der untere Teil des Conus war gleichfalls zwischen den Wurzeln 
sichtbar. Eine Geschwulst wurde nicht gefunden. Naht der Muskeln und 
der Faszien. 44 

Ich selbst hatte mir im AnschluB an die Operation, bei der ich zugegen 
war, notiert: ,,Dura sehr gespannt, keine Pulsation, starke Liquoransamm- 
lung, Wurzeln ganz grau, diinn und Hyperamie. Conus auBerlich nicht 
verandert. 44 

17. III. Eine genaue Untersuchung ist natiirlich heute nicht vorzu¬ 
nehmen. Man beschrankt sich darauf, festzustellen, daB keine Lahmung 
und keine Anasthesie besteht. Man kann sogar sagen, daB Beriihrungen 
an den vorderen Partien der unteren Extremitaten libera 11 empfunden 
werden. Pat. klagt iiber Schmerzen in den unteren Extremitaten beim 
Husten, die aber nicht erheblich zu sein scheinen. Harndrang will er ver- 
spiiren. 

25. III. Kniephanomene in der Riickenlage bei unvollkommener 
Untersuchung nicht zu erzielen. Die Beine konnen nicht von der Unter- 
lage emporgehoben werden, doch sind in alien Gelenken Bewegungen, wenn 
auch in unvollkommener Ausdehnung, erhalten und nicht am schlechtesten 
in den FuBgelenken. Die Sensibilitatsprufung beschrankt sich auf die 
Vorderflache der Extremitaten, an welchen an den meisten Stellen Be- 
riihrungen und Stiche gefiihlt werde. Letztere werden sehr schmerzhaft 
empfunden. Stuhlverstopfung und Incontinentia urinae. — Passive Be- 


2 ) Siehe Oppenheim, Beitrage z. Path. d. Ruck. Zeitschr. f. d. ges. 
Neurol. V. H. 5. S. 644. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 457 

wegungen werden namentlich am linken Bein schmerzhaft empfunden. Dio 
Cystitis macht Blasenspiilungen mit Albargin erforderlich. Stuhl durch Ein- 
lauf. Medikamente: Brom innerlich und subkutane Morphiuminjektionen. 

In den ersten Tagen nach der Operation Temperaturerhohung bis 
39,2, dann ca. 14 Tage normale Temperatur (resp. subfebrile, einige Male 
bis 38°). 

Vom 4. IV. ab verachlechtert sich daa Allgemeinbefinden, es entwickeln 
sich Zeichen von Herzschwaehe, Erechopf lings- und Verwirrungszustande 
bei ganzlichem Versagen des Appetite. Der Puls erreicht eine Frequenz von 
132 und sub finem vitae bis 150. Unter den Erscheinungen der Herzldhmung 
erfolgt am 17. IV. der Exitus. 

Am 9. IV. hatte die letzte Untersuchung des Nervensystems durch 
Dr. Cassirer stattgefunden, liber die mir folgende Notizen vorliegen: 

In der Zirkumanalgegend sicher keine Anasthesie, rechts nur eine 
hypasthetische Zone. Am Scrotum scheint hinten links und rechts 
Anasthesie und Hypalgesie zu bestehen, doch ist eine exakte Priifung 
nicht mdglich. Kniephanomen links deutlich, rechts nicht zu erzielen. 
Fersenphanomen fehlt beiderseits. Es besteht jedenfalls keine Lahmung 
der Extensoren des FuOes und der Zehen und auch nicht in den Beugem 
des Fufles. Am Oberschenkel werden alle Muskeln bewegt, nur zum Er- 
heben der Beine ist er nicht zu bewegen. 

Die Obduktion konnte nur unter schwierigen Verhaltnissen 
ausgefiihrt werden, und es wurde nur die Herausnahme des unteren 
Riickenmarksabschnittes erlaubt. 

Ueber den makroskopischen Befund habe ich am 20. IV. 
folgende Notizen gemacht: 

Uebergeben wird in Formol gehartet der unterste Riickenmarks- 
abschnitt bis zum oberen Ende des Lumbosakralmarkes und die Cauda 
equina. An der Dura nichts Abnormes sichtbar. An der Grenze zwischen 
Lumbal- und Sakralmark eine artifizielleVerletzung (von den Manipulationen 
bei der Obduktion herriihrend). Die Wurzeln der Cauda sind nicht mit- 
einander, auch nicht mit der Dura verwachsen, aber zum Teil grau verfarbt. 
Auch die Innenseite der Dura ist frei. Die Pia zoigt keine Veranderungen, 
nur einige eingelagerte Knochenplattchen. 

Es wird ein Durchschnitt durch den Conus gelegt in der Hohe von S I 
und S II. Die Zeichnung des Riickenmarks ist deutlich zu erkennen, aber 
namentlich der hintere Abschnitt erscheint etwas bunt und verwachsen. 
Dasselbe gilt fur einen Querschnitt im mittleren und oberen Lumbalmark. 
Nach oben zu ist an der Hinterflache des Riickenmarks eine starke Ent- 
wicklung der Venen auffallig. SchlieBlich wird noch ein Schnitt durch das 
unterste Sakralmark gelegt, der nichts Besonderes ergibt. 

Mikro8kopi8cke Untersuchung: Ein kleines Stiickchen aus dem Sakral¬ 
mark, welches nach dem ATi/Mschen Verfahren bzw. mit Kresylviolett oder 
Toluidinblau behandelt wurde, ergab folgende Veranderungen (Prof. 
Cassirer): „Infiltrationen teils um die Gefafie herum, teils dirfus in den 
Meningen. Die Infiltrationen bestehen aus verschiedenartigen Zellen. 
Zum gro&ten Teile sind es einkernige lymphozytare Elemente, vereinzelte 
polynukleare Leukozyten, lang ausgestreckte Fibroblasten mit chromatin- 
reichen Kemen, ganz vereinzelt geschwollene endotheliale Zellen sowie 
Plasmazellen (deren Kern deutlich in Radspeichenform erscheint). — 
GefaBwande selbst fibros verdickt, zum Teil auch hyalin verandert: 
Ganglienzellen zum Teil gut erhalten.“ 

Das ganze Lumbosakralmark wurde nach Hartung in Mullcr&cher 
Fliissigkeit und Farbung der Schnitte teils mit Gieson-Alaunhamatoxylin, 
teils nach Weigert von mir untersucht. 

Der Krankheitsprozefi erstreckt sich vom Conus bis ins untere Lumbal¬ 
mark, hat aber in den sakralen Gebieten seine starkste Entwicklung. Er 
kennzeichnet sich als ein Entziindungsprozefi. 


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Oppenheim , Weitere Beitrage zur Diagnose 


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Besonders auffallend (s. die Figg. A und B) ist die GefeBneubildung 
in der grauen Substanz sowie die Veranderungen in den Meningen. Die 
graue Substanz des Conus und Epiconus ist von neugebildeten GefaBen 
durchsetzt, deren Wandungen zum Teil vcrdickt sind. Ferner finden sich 
hier frische Hamorrhagien. Die Ganglienzellen sind im Conus zum groBen 
Teil zugrunde gegangen oder zeigen Veranderungen im Sinne der Degene¬ 
ration und Schrumpfung. Das Netzwerk der markhaltigen Fasern ist wohl 
auch gelichtet, doch fst die Mehrzahl gut erhalten. 

Die weiBe Substanz ist im ganzen in geringem MaBe betroffen. Die 
Veranderungen finden sich hier vornehmlich am peripherischen Saum im 
Bereich der Meningen und der auffallend verbreiterten gliosen Randschicht. 
Es handelt sich hier um einen teils diffusen, teils herdformigen Faser- 
schwund, wahrend die faserigen Element e der Glia vermehrt sind und an 
einer Stelle (s. Fig. B) eine fast geschwulstartige Wucherung fibrosen Ge- 
webes im Randgebiete des Markes auftritt. Hier und da besteht wohl auch 
eine Vermehrung zelliger Elemente, doch handelt es sich nirgends um An- 
haufungen, um groBere Infiltrate, um Granulationsbildungen. Auch 
gummose bzw. nekrobiotische Prozesse finden sich an keiner Stelle. 

Die Meningen sind an den meisten Stellen mehr oder weniger verdickt, 
am ausgesprochensten im Bereich der vorderen Fissur, an der es im Gebiet 
des Epiconus zu einer Verwachsung durch Bindegewebswucherung ge- 
kommen ist. Auch die hier verlaufenden GefaBe nehmen an der Erkrankung 
teil, ihre Wandungen sind verdickt, und es findet. sich auch eine Arterie 
von mittlerem Kaliber, die durch einen konsolidierten Thrombus ver- 
schlossen ist. 

Die in den Schnitten enthaltenen Caudawurzeln sind zum Teil er¬ 
halten, andemteils von einer mehr oder weniger betrachtlichen Atrophie 
betroffen. Nachtraglich wurien noch Schnitte durch die Cauda selbst 
gelegt; in diesen zeigen sich einzelne Wurzeln vollig entartet, andere 
stark degenerieit, wahrend der groBere Teil von normale: Beschaffen- 
heit ist. 

Man sieht wohl auch neu gebildete GefaBe und verdickte Bindegewebs- 
septen von den Meningen aus in das Riickenmark hineintreten, aber an 
keiner Stelle sind es granulomartige Zellenwucherungen, die zapfenformig 
ins Mark einstrahlen. Hier und da besteht wohl eine Kernvermehrung 
in den Meningen, aber nirgends ist es zu Rundzelleninfiltraten gekommen. 

Zu8ammenfas8ung und EpiJcrise: Ein 51 j&hriger, friiher im 
wesentlichen gesunder, aber sehr nervoser, zeitweise von gichtischen 
Erscheimingen betroffener Mann ohne syphilitische Antezedentien 
und ohne Zeichen konstitutioneller Syphilis erkrankt im Mai 1911 
nach einer heftigen psychischen Erregung mit Kreuzschmerzen, 
intermittierenden Schmerzen in den Kniegelenken und im linken 
GroBzehengelenk. AuBerdem stellt sich groBe Reizbarkeit, hysteri- 
sches Wesen und Gebaren sowie eine Dysbasie ein, die von dem 
behandelnden Arzte trotz hinzutretender Dysurie und Incontinentia 
urinae als hysterische Basophobie gedeutet wird wegen der Suggesti- 
bilitat des Pat. und des unbestftndigen Charakters der Erschei- 
nungen. Bei der ersten, am 10. XI. 1911 von mir in der Sprechstudne 
vorgenommenen Untersuchung fand ich eine Abschwachung des 
Kniephanomens, ein Fehlen des Fersenphanomens, Schwache im 
Ileopsoas und besonders im Triceps surae, zirkumanale Hypalgesie 
und Thermhyp&sthesie, auBerdem Gelenkveranderungen (wahr- 
scheinlich gichtischen Charakters). Ich stellte die Diagnose: 
Affektion im Conus-Cauda-Gebiet, und zwar Meningitis serofibrosa 
(auf gichtischer Grundlage?) oder Neubildung. Obgleich Lues in 


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und Different ialdiagiuxse des Tumor inedullae spinalis. 459 

Abrede gestellt wurde und auch alle Anhaltspunkte fiir diese 
Grundlage fehlten, eine erfolglose Merkurialkur auch voraus- 
gegangen war, muBte man doch im Hinblick auf die Natur und 
Unbest&ndigkeit des Leidens noch mit dieser Annahme rechnen. 
Aber das Ergebnis der Blutuntersuchung war ein negatives. 

Bei der nun folgenden Beobachtung und Behandlung des Pat. 
im Sanatorium bestatigte sich die Diagnose der Conus-Cauda- 
Erkrankung und einer sie begleitenden Hysterie. Wenn die Be- 
schwerden und Erscheinungen auch in ihrer Intensitat wechselten 
und der psychische Faktor dabei eine groBe Rolle spielte, handelte 
es sich doch immer um dieselbe Gruppe von Erscheinungen: 
Schmerzen und Parasthesien im Bereich der Sakralwurzein, 
Schmerz in der Kreuzgegend, Schwache im Ileopsoas und in den 
FuBmuskeln, besonders links, partielle Entartungsreaktion im 
linken Triceps surae und Peroneusgebiet, quantitative Abnahme 
der Erregbarkeit in den Unterschenkelmuskeln rechts, Fehlen 
des Fersenphanomens, leichte Sensibilitatsstorungen am FuBriicken, 
ausgesprochenere im Zirkumanalgebiet, besonders rechts und am 
Scrotum, Dysurie und Incontinentia urinae, Impotenz, Beein- 
trachtigung des Analreflexes von rechts her. Keine Veranderungen 
an der Wirbelsaule; auch rontgenologisch normaler Befund. 
Verlauf unter Schwankungen, Abhangigkeit der Gehfahigkeit zum 
Teil von psychischen Einflussen. Zunachst antigichtisches Regime 
(Atophan, Diat, HeiBluftapplikation, Radiogenkur). Befinden im 
ganzen unverandert. Vom 5. XII. 1911 bis 10. I. 1912 Badekur 
(und Galvanotherapie) in Wiesbaden. Der Zustand bleibt im 
wesentlichen derselbe bis auf die Riickbildung der gichtischen Er¬ 
scheinungen. Eine von mir empfohlene Lumbalpunktion mit 
Untersuchung des Liquor auf Syphilis und Geschwulstelemente 
kam nicht zur Ausfiihrung, wohl infolge Widerstrebens des Pat. 
Von Mitte Januar bis Mitte Marz Jodkur, von Mitte Februar bis 
Mitte M&rz Merkurial-Inunktionskur. Nach voriibergehender 
Besserung kommt es unter dieser Behandlung im Verlaufe des 
Mftrz zu einer Ausbreitung der Parasthesien und Anasthesie auf die 
Leistengegend; auch im Bereich der Wade und im zirkumanalen 
Bezirk wird die Sensibilitatsstorung deutlicher, und es kommt eine 
Schwache der Glutaalmuskulatur hinzu. 

Nun schien mir der Zeitpunkt fiir ein operatives Einschreiten 
gekommen. Von einem anderen Konsiliarius wurde noch energischer 
zur Operation gedrangt. W&hrend dieser die Diagnose Neubildung 
stellte, sprach ich mich so aus: ,,Art und Entwicklung des Leidens 
muBten von vomherein an einen Tumor denken lassen, aber die Er- 
fahrungen, die wir gerade auf diesem Gebiet vielfach gemacht 
haben, sowie der sehr remittierende Verlauf zwingen doch, mit der 
Moglichkeit zu rechnen, daB ein anderweitiger ProzeB (Meningitis 
serofibrosa oder dergleichen) im Spiele ist.“ Bei der von F. Krause 
am 15. III. 1912 ausgefiihrten Operation wurde kein Tumor ge- 
funden, dagegen eine ziemlich betrftchtliche Liquorvermehrung 
und grauliche Verfarbung der Caudawurzeln sowie GefaBinjektion. 


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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


Der Conus erschien auBerlich nicht verandert. In der ersten Woche 
ist das Befinden ein zufriedenstellendes, die Ausfallserscheinungen 
erfahren sogar in einigen Beziehungen eine deutliche Besserung, 
dann aber stellt sich ein Erschopfungszustand mit zunehmender 
Herzschwache ein, und Pat. erliegt seinem Leiden am 17. IV. 1912. 

Die Obduktion wurde verweigert; nur die Herausnahme des 
Lumbosakralmarkes und der Cauda konnte erlangt werden. 

Die histologische Untersuchung fiihrte zur Feststellung eines 
Entziindungsprozesses, einer Meningomyelitis im Bereich des Conus, 
Epiconus und unteren Lumbalmarkes mit starkster Entwicklung 
des Prozesses im Epiconus. Verdickung und zellige Infiltration 
der Meningen, enorme Vaskularisation bzw. GefSBneubildung 
besonders in der grauen Substanz des Riickenmarks, arteriitische 
Prozesse an den groBeren GefaBen, die zur Wandverdickung, an 
einzelnen Stellen auch zur Obliteration gefiihrt haben, Binde- 
gewebsneubildung bis zur Entstehimg einer rundlichen Anhaufung 
fibrillaren Gewebes an einer Stelle des Riickenmarkssaumes in der 
weiBen Substanz, diffuser und herdformiger Untergang der mark- 
haltigen Fasern in der weiBen Substanz, doch nur in maBigem 
Grade — das sind die Veranderungen, die sich nachweisen lieBen. 

Ebenso wie das klinische Bild muBte auch der pathologisch- 
anatomische ProzeB den Gedanken einer spezifischen Erkrankung 
aufkommen lassen. Indes wurden doch alle typischen und sicheren 
Merkmale vermiBt. An keiner Stelle fanden sich die dichtgedrangten 
Rundzellenansammlungen des syphilitischen Granulationsgewebes, 
ebensowenig nekrobiotische Prozesse bzw. Gummigeschwiilste. 

Allerdings konnte man nach zwei Richtungen unsere Unter¬ 
suchung als eine liickenhafte betrachten (ganz abgesehen davon, 
daB eine allgemeine Obduktion nicht bewilligt worden war). 
Einmal ist der Liquor cerebrospinalis nicht untersucht worden. 
Bei dem negativen Ergebnis der Blutuntersuchung, der unver- 
dachtigen Anamnese und der UnbeeinfluBbarkeit des Leidens durch 
die spezifische Therapie glaubten wir darauf nicht bestehen zu 
sollen. Femer ist eine Untersuchung des Riickenmarks auf Spiro- 
chaeta pallida nicht vorgenommen worden. 

Bei strenger Kritik muB man also die Moglichkeit bestehen 
lassen, daB das Leiden, obwohl es nicht den anatomischen Charakter 
der Meningomyelitis syphilitica hatte und auch keine Verdachts- 
momente fur diese Grundlage vorlagen, doch auf dieser Basis 
entstanden ist. Jedenfalls ist es im Interesse der Klarung dieser 
Zustande dringend erwiinscht, daB kiinftige Beobachter alle zu 
Gebote stehenden Hilfsmittel der Untersuchung in Anwendung 
ziehen, um dem Einwand, daB derartige entziir dlichen Prozesse im 
Conus-Cauda-Gebiet doch syphilitischer Herkunft sind, den Boden 
entziehen zu konnen. Die Leiter von Kliniken und Krankenhausern 
werden da ja in viel giinstigerer Lage sein als wir, die wir in der 
Privatpraxis auf viel mehr Faktoren Riicksicht nehmen miissen. 

Das Zuzammentreffen des Leidens mit gichtischen Gelenk- 
prozessen lieB die Vermutung aufkommen, daB die spinalen Ver- 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


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anderungen eine gichtische Grundlage hatten; der sichere Beweis 
dafiir konnte aber nicht erbracht werden. 

Der Fall schlieBt sich ganz eng an die in meiner friiheren 
Mitteilung 1 ) geschilderten an, nur daB wir uns dort- auf die Biopsie 
beschranken muBten, wahrend hier die pathologisch-anatomische 
Natur des Prozesses klargestellt werden konnte. Schon bei einer 
der friiheren Beobachtungen deutete der Operationsbefund (,, Quel- 
lung und Verdickung der Pia-Arachnoidea, Verwachsungsstrange, 
GefaBneubildung; mikroskopisch in den verdickten Arachnoideal- 
strangen Anhaufung von Rundzellen, Nekrosen rait GefaBwuche- 
rung in Umgebung“ etc., ,,die Substanz des Conus selbst erscheint 
verschmalert und gelblich verfarbt“) auf einen chronisch entziind- 
lichen ProzeB. Es war wohl auch der Verdacht einer tuberkulosen 
Erkrankung aufgetaucht, abererhatte keine geniigende Unterlage. 

Mit der heute mitgeteilten Beobachtung ist nun der Beweis 
gebracht worden, daB sich auf unbekannter Grundlage eine chroni- 
sche Meningomyelitis im Bereich des untersten Riickenmarks- 
abschnittes entwickeln kann, die sich in ihrer Symptomatologie 
sehr der des Tumors in diesem Gebiete nahert. Da sich unter 
radikularen Schmerzen und Parasthesien allmahlich Ausfallserschei- 
nungen motorischer und sensibler Natur im Bereich der Sakral- 
egmente (spater auch der lumbalen) entwickelten, ist eine sichere 
Unterscheidung vom Tumor, soweit ich sehe, iiberhaupt nicht 
moglich. Allenfalls hatte in dem beschriebenen Falle der unbe- 
standige Charakter der Erscheinungen, die verhaltnismaBig lang- 
same, zogemde Progression gegen die Annahme der Neubildung 
verwertet werden konnen; aber da die Schwankungen zum groBen 
Teil auf Rechnung der koinzidierenden Hysterie gebracht werden 
muBten, war auch damit der Diagnose Neubildung der Boden nicht 
entzogen. DaB ich trotzdem diese nur mit groBer Vorsicht stellte 
und der Moglichkeit eines entziindlichen Prozesses in bestimmter 
Weise das Wort redete, diese Zuriickhaltung war eine Frucht meiner 
friiheren Erfahrungen. 

Ich habe schon in meiner ersten Abhandlung darauf hinge- 
wiesen und an der Hand der Literatur dargetan, daB auch gutartige 
Krankheitsprozesse im Bereich des Conus und der Cauda vor- 
kommen, die spontan oder unter nicht-chirurgischer Behandlung 
zur Riickbildung gelangen. Aus der jiingsten Zeit scheint eine 
Beobachtung von Nonne hierherzugehoren, iiber die bis jetzt nur 
ein kurzer Bericht 2 ) vorliegt unter der Ueberschrift ,,Aus dem Ge- 
biet des Pseudotumor spinalis'*. Bei einem jungen Manne hatte sich 
unter heftigen und entsprechend lokalisierten Schmerzen das Bild 
einer Affektion des Conus terminalis bzw. Conus terminalis und 
Cauda equina entwickelt. Aetiologie nicht nachweisbar. Rontgen- 
bild negativ . . . Bei der Laminektomie fand sich nichts Abnormes; 


Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Bd. V. 1911. 

2 ) Verhandl. der Gesellschaft deutscher Nervenarzte Hamburg 1912, 
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 4 5. 


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O p p e n h e i m , Weitere Beitrage zur Diagnose 


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kein vermehrter Liquordruck. Nach der Operation zunachst 
Paraplegia inferior mit bis zur Hohe des Nabels aufsteigender, 
giirtelformig abschneidender Anasthesie. Dann im Laufe von 
4 Wochen Riickbildung des Krankheitsbildes zur Norm. Heilung 
seit 10 Monaten.“ 

Es bedarf noch vieler Beobachtungen, um zu erkennen, ob es 
sich in derartigen Fallen immer um entziindliche Vorgange handelt, 
oder ob noch anderweitige, bisher nicht bekannte Krankheits- 
prozesse in Frage kommen. 

Wie wird man sich kiinftig angesichts derartiger Erfahrungen 
in den therapeutischen Entscheidungen verhalten miissen ? Das 
eine steht jedenfalls fest, daB man mit der Empfehlung der Radikal- 
operation so zuriickhaltend wie moglich sein soil. Nur bei ent- 
schiedener bedrohlicher Progression der Erscheinungen wiirde ich 
mich (nach Ausschaltung der Lues) zu chirqrgischem Einschreiten 
entschlieBen. 

Ebenso konnte das Ergebnis der Lumbalpunktion, besonders 
wenn das Punktat Geschwulststellen enthalt, die Indikation be- 
griinden helfen. Die LiquorunterSuchung sollte in derartigen Fallen 
immer herangezogen werden. Besonders auch deshalb, um nichts 
unversucht zu lassen, was zur Feststellung der syphilitischen Grund- 
lage fiihren kann. Mit- dieser ist bei den Affektionen des Conus- 
Cauda-Gebietes immer zu rechnen, und es sind die entsprechenden 
Kuren mit aller Griindlichkeit durchzufuhren. Immer aber behalte 
man im Auge, daB einerseits Prozesse im Bereich des untersten 
Riickenmarksabschnittes vorkommen, die spo. tar> zum Stillstand 
und zur Riickbildung kommen konnen, andererseits Affektionen, 
deren Natur nicht genugend erforscht ist und fiir die deshalb auch 
einstweilen die Behandlungsgrundsatze nicht aufgestellt werden 
konnen. 

II. Ueber einen erfolgreieh operierten Tumor im Bereieh 
des mittleren-oberen Cervikalmarks. 

E. Sch., 12 Jahr© alt, aus N. in Ruflland. 

Erste Untersuchiing in meiner Poliklinik am 3. II. 1912. 

Anamnese : Seit 2 Jahren hat sich eine Schwache im rechten Arm 
und dann auch im rechten Bein entwickelt, die allmahlich zugenommen hat. 
Beim Aufsetzen der Spitze des rechten Fufles stellte sich zuweilen Zittem 
ein. Das Sehvermdgen hat nicht abgenommen. Kopfschmerz soli sich 
zuweilen in der rechten Kopfhalfte einstellen, doch scheint es sich nicht 
um erhebliche Beschwerden dieser Art zu handeln. 

Ueber die Ursache des Leidens ist nichts festzustellen. 

Befund: Augenhintergrund normal. Keine Pulsverlangsamung. 
Schadel ohne Besonderheit. Blasse Gesichtsfarbe. Beim Zahnefletschen 
Mngt der rechte Mundwinkel etwas. Keine Deviation des Unterkiefers. 
Zunge kommt gerade hervor. Keine Erhohung der mechanischen Erreg- 
barkeit im rechten Facialis. Masseterreflex nicht erhoht. Rechte Lidspalte 
etwas enger als linke, indem das rechte Augsnlid etwas mehr herabhangt. 
Augenbewegungen frei. 

Auch bei spaterer Untersuchung bleibt es bestehen, dafl der rechte 
Mundwinkel etwas tiefer steht ah der linke , aber die Differenz ist keine 
erhebliche. 


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und Differentialdiagnose des Tumor meduJJae spinalis. 


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Druck auf die rechten Querfortsatze der Cervikalwirbel schmerzhaft, 
Perkussionsschall in dieser Hohe abgeschwacht. Kopfbewegungen nicht 
behindert. Kein wesentlicher Volumenunterschied in der Muskulatur der 
oberen Extremitaten. Geringe Hypertonie, am ausgesprochensten beim 
Versuch, die pronierte Hand zu supinieren. Es besteht eine erhebliche 
Schwache im ganzen rechten Arm; er bringt ihn im Schultergelenk nur 
bis zur Hoiizontalen. Adduktion etwas besser. Beugung des Unterarmes 
sehr schwach. Im ganzen nimmt die Schwache distalwarts zu. Keine 
Ataxie in der rechten Hand. In beiden Handen werden Beriihrungen und 
Nadelstiche gut wahrgenommen. Bei Priifung der Stereognostik sehr un- 
genaue Angaben, aber beiderseits, an der rechten Hand sind wohl die 
mangelhaften Greifbewegungen daran schuld. 

Sehnenphanomene an beiden Armen nicht wesentlich gesteigert, 
rechts etwas mehr als links. Hypertonie im rechten Bein, FuBclonus, alle 
spastischen Reflexe typisch. Schwache im rechten Bein, nicht im linken. 
Bauchreflex fehlt rechts, links spurweise erhalten. Heute werden Be¬ 
riihrungen und Nadelstiche an beiden Beinen gut gefiihlt. 

Schadel an den verschiedensten Stellen druckempfindlich, keine 
perkutorischen Unterschiede. 

Fortsetzung der Untersuchung am 6. II. Die Steifigkeit des rechten 
Heines ist sehr groB. Bakinski auch links deutlich. Die Beeintrachtigung 
der aktiven Bewegungen ist besonders deutlich in den Full- und in den 
Zehengelenken (rechts), ist aber im wesentlichen die Folge der Hyper¬ 
tonie. Ausgepragte Neigung zu Mitbewegungen von rechts nach links, 
umgekehrt weniger. An den FliBen werden Pinselberiihrungen und 
Nadelstiche deutlich wahrgenommen, auch das Lagegefiihl ist erhalten. 
Am rechten Arm ist die Hypertonie kaum angedeutet, dement- 
sprechend sind hier auch die Sehnenphanomene sicher nicht gesteigert. 
Es besteht Schwache in der ganzen rechten Oberextremitat, aber die Be- 
wegungsbehinderung ist hier geringer als im Beine wegen Fehlens der 
Kontraktur. Am linken Bein sicher Anasthesie fiir kalt, an der linken 
Planta pedis ist auch das Schmerzgefiihl im Vergleich zu rechts deutlich 
herabgesetzt, es handelt sich also uni eine Broum-Sequardsche Lahmung. 

Der rechte Mundwinkel steht etwas tiefer als der linke, doch ist die 
Differenz keine • erhebliche, ebenso ist der LidschluB rechts eine Spur 
schwacher als links. 

Der Druck auf die rechten Querfortsatze der Halswirbelsaule ist 
schmerzhaft. Perkussionsschall in dieser Hohe abgeschwacht, aber Kopf¬ 
bewegungen frei. Ganz leichte Beriihrungen werden heute am radiaien 
und ulnaren Rande der rechten Hand nicht empfunden. Im ganzen ist 
an beiden Armen und mehr noch links das Schmerzgefiihl etwas ab¬ 
geschwacht, ohne daB sich diese Storung genau lokalisieren laBt. Am 
rechten kleinen Finger scheint das Lagegefiihl herabgesetzt zu sein. In 
beiden Handen leichte Bewegungsataxie. 

Keine deutliche Parese des rechten Phrenicus. Beim Erheben der 
Schultern bleibt die rechte urn eine Spur zuriick. 

Grobere Storungen der elektrischen Erregbarkeit in der Muskulatur 
des rechten Armes nicht nachweisbar. 

Die linke Schulter steht etwas tiefer als die rechte, das Schulterblatt 
etwas weiter von der Wirbelsaule entfernt, insbesondere steht der innere 
obere Winkel rechts hoher als links. Leichte Skoliose nach links. Die 
Adduktion und Erhebung der Schulterblatter gelingt. Auswartsrotation 
links gut, rechts mit verminderter Kraft. Die Stellunqsanomalie des rechten 
SchulterblaUes erkldrt sich im wesentlichen aus Muskelspannung in den 
Rhomboidei und im Levator anguli scapulae. Sicher erstreckt sich die Schwache 
des rechten Armes auch auf die Erbschen Muskeln. Eine Beteiligung der 
oberen Cervikalnerven ist nicht festzustellen. Es ist auch keine Hyper- 
asthesie im Bereich derselben nachweisbar. 

Diagnose: Hemiplegia spinalis dextra mit Broum-Sequard- 
schen Symptomen, allmahlich entstanden, wahrscheinlich lang- 


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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


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gestreckte Neubildung im Bereich des rechten Cervikalmarkes; 
ob extra- oder intramedullar, ist unsicher. 

Nachtrag: Die rechte Lidspalte und rechte Pupille ist eine Spur eager 
ala-die linke, die Differenz ist sicher. HeiB wird in der rechten Gesichtshalfte 
etwas weniger schmerzhaft empfunden als links. Keine Gaumenlahmung. 
Puls maBig beschleunigt. In Bezug auf das Schmerzgefiihl sicher kein 
Unterschied zwischen den beiden Gesichtshalften. 

Eine Rontgenaufnahme ist miBlungen. 

7. II. Die Thermhypasthesie in der rechten Gesichtshalfte bestatigt 
sich heute nicht, die Empfindung scheint ungefahr gleich zu sein. Die 
motorische Schwache ist im ganzen rechten Arm deutlich und ziemlicli 
gleichmaBig in alien Muskelgruppen, aber doch am ausgesprochensten in 
der Hand und in den Fingern. Die Hypalgesie am linken FuB ist deutlich. 
Das Lagegefiihl scheint an der rechten groBen Zehe herabgesetzt. Die 
Thermanasthesie am linken Bein ist sicher. Beim Husten keine Schmerzen. 
Die Storung des Schmerzgefiihls erstreckt sich in geringem Grade auch auf 
die linke Rumpfseite, eine Storung des Temperatursinns ist hier aber nicht 
nachzuweisen. Keine wesentlichen Urinbeschwerden. Es besteht Stuhl- 
verstopfung. 

10. II. 1912 Aufnahme ins Augustahospital (Geh.-R. Krause) 
mit folgenden Notizen aus meiner Poliklinik: 

Schadel ohne Besonderheiten. Beim Zahnefletschen hangt der rechte 
Mundwinkel etwas. Rechte Lidspalte und Pupille etwas enger als die linke. 
Keine Deviation des Unterkiefers. Zunge kommt gerade hervor. Auch bei 
spaterer Untersuchung bleibt es bestehen, daB der rechte Mundwinkel 
etwas tiefer steht als der linke, aber die Differenz ist keine erhebliche. 
Druck auf die rechten Querfortsatze der Cervikalwirbel schmerzhaft. 
Perkussions8chall in dieser Hohe abgeschwacht. Kopfbewegungen nicht 
behindert. 

Am rechten Arm Andeutung von Hypertonie, am ehesten noch bei 
der Pronation. Keine Steigerung der Sehnenphanomene. Schwache in der 
ganzen rechten oberen Extremitat. Bringt den Arm nur bis zur Horizontalen. 
Adduktion etwas besser, Beuger sehr schwach. Die Schwache nimmt 
distalwarts zu. Rechtes Bein: Sehr groBe Steifigkeit, Schwache besonders in 
den FuB-Zehenmuskeln. Ausgesprochene Neigung zu Mitbewegungen. FuB- 
.und Patellarclonus rechts, Babinski rechts, aber sicher auch links. Bauch- 
reflex beiderseits nicht hervorzurufen. Anasthesie fur kalt am linken Bein. 
Auch sichere Hypalgesie am linken FuB. Das Lagegefiihl an der rechten 
groBen Zehe herabgesetzt. Am Rumpf links Herabsetzung der Schmerz- 
empfindlichkeit nicht deutlich festzustellen. Im ganzen ist an beiden Armen, 
mehr noch am linken, das Schmerzgefiihl herabgesetzt. Ganz leichte Be- 
riihrungen werden am radialen und ulnaren Rand der rechten Hand nicht 
empfunden. Am rechten kleinen Finger scheint das Lagegefiihl etwas herab¬ 
gesetzt. In beiden Handen etwas Bewegungsataxie. Keine groberen Sto- 
rungen der elektrischen Erregbarkeit. Keine deutliche Parese der rechten 
Phrenicus. Hoherstehen des rechten Schulterblattes, im wesentlichen aus 
Muskelspannung zu erklaren. Reflex vom Infraspinalis rechts gesteigert. 
Keine Beteiligung der oberen Cervikalaste. Im Gesicht keine sicheren 
Sensibilitatsstorungen. Keine Blasenbeschwerden. 

Diagnose: Hemiplegia spinalis dextra mit Brown-Sequardachen 
Symptomen. Allmahlich entstanden, wahrscheinlich langgestreckte Neu¬ 
bildung im Bereich des Cervikalmarks, ob extra- oder intramedullar, nicht 
zu unterscheiden. 

Aus dem Krankenjoumal des Augustahospitals. 

Pat. gibt an, daB er seit 2 Jahren krank sei. Es stellte sich eine 
allmahlich zunehmende Schwache im rechten Arm und Bein ein. 

Status: Schwachlich gebauter Knabe. Beim Sprechen und beim 
Zahnefletschen wird der rechte Mundfacialis weniger innerviert. als der linke. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


465 


Obere Extremitaten: Rechte Hand steht in Dorsalflexion und radial 
flektiert. Im Handgelenk kann Pat. nur geringe Bewegungen ausfiihren, 
ebenso ist es passiv nicht moglich, groBere Bewegungen auszufiihren ( ? ?). 
Auch ist eine Bewegung der Finger nur in beschranktem MaBe moglich. 
Handedruck ist rechts bedeutend schwacher als links. Der rechte Arm im 
Ellbogengelenk etwas gebeugt gehalten, doch kann Pat. ihn vollkommen 
strecken. Ebenso sind die Bewegungen im Schultergelenk beschrankt. 
Er kann den rechten Arm nicht vollkommen erheben. Linker Arm intakt. 
Linke Hand: Fingerbewegungen, namentlich im kleinen Finger, nicht voll¬ 
kommen moglich. Beriihrungen mit dem Pinsel werden fast stets richtig an- 
gegeben, nur an der Ulnarseite des Unterarms werden sie zum Teil nicht 
gefiihlt. Spitz, stumpf, warm, kalt wird iiberall unterschieden. Reflex© nicht 
gesteigert. Muskulatur zeigt geringen Spasmus. 

Untere Extremitaten: Rechter FuB steht in SpitzfuBstellung, das Bein 
ein wenig im Kniegelenk gebeugt und maBig nach innen rotiert. Beim Gehen 
schleift die FuBspitze. Bewegungen im Kniegelenk nur in sehr geringem 
MaBe moglich. Patellarreflex beiderseits gesteigert. rechts mehr als links. 
Rechts Babinski links angedeutet. Lagegefiihl an der rechten groBen 
Zehe herabgesetzt. Der 6. und 7. Halswirbeldom sowie der des ersten 
Brustwirbels sind druckempfindlich. Keine Verkriimmung der Wirbelsaule. 
Bauchdeckenreflex beiderseits nicht auslosbar. 

12. II. (Oppenheim). Es fallt auf, daB Pat. in den letzten Tagen 
auch mit der linken Hand schlecht zufaBt, es besteht in dieser auch eine 
geringe statische Ataxie, keine Bewegungsataxie. Es hat Miihe, die End- 
phalangen der Finger der linken Hand zu strecken und zu adduzieren, 
besonders gilt das fur den kleinen Finger. Es scheint auch eine leichte 
Hypasthesie im linken Ulnargebiot zu bestehen, ebenso eine Bathyhyp- 
asthesie in der linken Hand, doch ist das zweifelhaft. 

Operation (F. Krause) 20. II. 1912. 

Erste Zeit. Beim Weichteilschnitt treten groBe Kniiuel bis zu Finger- 
dicke erweiterter Venen in der Muskulatur zutage. Da die Unterbindung der 
einzelnen Strange sich als unmoglich erweist, wird der Schnitt durch das 
Periost unter Schonung der Venen gefiihrt und das Periost mit den dariiber 
liegenden Weichteilen von den Dornfortsatzen und Seitenbogen abgehebelt. 
Die Dornfortsatze und Bogen werden zum Teil mit der Riickenmarkszange, 
zum Teil mit dem Laminektom entfernt, ohne Anlegung von Bohr- 
lochem, und zwar der VI., V., IV. Cervikalwirbel. 

Starke Knochenblutung wird zum Teil mit Tamponade gestillt. Die 
Dura am Halsmark ist fast kuglig verdickt. 

Drohender Kollaps, SchluB der Weichteilwunde nach Einlegen 
mehrerer Bindentampons. 

Postoperativer Verlauf: Keine Nachblutung. Temperaturanstieg 
am 21. II. auf 38,5 abends, fallt im Verlauf von 7 Tagen auf 38,1 abends 
und 37 morgens. 

Am 28. II. Zweite Zeit. Entfernung der Situationsnahte und Tampons 
und der Blutkoagula, letztere mit dem scharfen Loffel. Am Aussehen der 
Dura hat sich nichts verandert. Bei Eroffnung der Dura mit dem Messer 
in der Hohe des VI. Halswirbels flieBt unter starkem Druck reichlicli Liquor 
von unten her. Schon jetzt zeigt sich die Dura an dem Einschnitt stark 
verdickt. Der Schnitt in die Dura wird mit der Schere nach oben verlangert. 
In Hohe des IV. Halswirbels quillt auch von oben reichlich Liquor hervor. 
Gleichzeitig kann man an der Dura hangende feste Tumormassen erkennen. 
Da diese die obere Knochenkante noch iiberragen, muB der III. Bogen 
noch entfernt werden. Jetzt kann man den oberen Pol des Tumors, 
welcher mit der Medulla nicht verwachsen ist, sehen. Die Geschwulst 
entspricht der Hohe des III., IV. und V. Cervikalwirbels, hat eine 
Hohenausdehnung von 35 mm und ist mit der Innenflache der Dura 
verwachsen. Durch ovalare Exzision der Dura, die bei dem zweiten 
Schnitt mehr nach links gelegt wird, laBt sich der Tumor bequem 
von der Medulla und einer sich anspannenden linksseitigen hinteren 


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Be it rage 2 ur Diagnose 


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rwoltm dm /.we»t<*n .1 b'tepr * &jfil*£s* SekwHomk-m . s-w vdrd Finger 

kin^Axrv bnd vi^gkackjokc Fk?vjod dMr Futg^r ziemlieh 

kridt ia. Kx{ m&\<iu . ^duv^i^r . 3 be tihrk«on kk‘im*n K»wim«i*k»dn fnnktio- 
im o n , die Wr t >. Ft. .-*/?#.■ neiLb^e. ■ Fn.nat »«>>» mid Supirodum i.st mrklieh. 
lirwaitm* de;* FoVrenro »>t zorzrb mnm»Vb«'*li \ W no KUenbpgep flektierto 
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dk t.agc '.i>iwuW ; .|M4Vi-V»^feH- fltiuekndkx he.ide^eit^- jet'sct.^.dirtouden-, er- 
«<rbbpiv;,"3«djnelJ..; tm mdijtoh Hein b< st«dn n’otdi dm Hypertonie 
Trii-her,.'-'feelfi' \kVi1idiari?ioh"Ui! v -kcdn FnlHelumvs, lkabvtiek i -f : Afb 
FJe.xiOijeu dcr ZehtVn kni r« , i‘hton Fui3- 

Afu liiifcen i^fn jf^tzt pegalfv. 

K»ili mid wftnn Worden aro link on Hein iui a 1 Igeiuvmen btmtn 
ernpfur#rU*ro do»;h bv^Vehl: piicb emo fb^'absvr^nng gegopubef deni r^i-hrftb 
Hud ku-on.i/n ouf'h VT:fwr<di>iiiiri^n aiu Ibikor^ohenkid vor,: Am link* o ik iu 
besroiiT ♦iy|n»»a«v<ie.. Ain imkeo Arm irerde.ii Teiiiperat ntw rieht'• »m* 
arbiedon. ibe Hypa.s^heHKY iur Teibp^mtiir aViOb am Btimpf 
dii j HnjmI^xh- Jfih SoTi-d>.liiai ^n.rimtr an do?* rot'hteri Hand; a^t. 
bohwuodrvM. 

It* v ;«>!> *ior neAvkV-^^yiimwtrw ■ Wurcle ^*b»n ir^nige 7’*^; 

‘;:!'-i, ^,'i- S'hmiio!) a-'^ovirlii: 


do* lj ritityi mil vdller Svraf'r ^olir, bedout^d.i^die Bewe^Vn^sat^xie ljpf 
dor roobtoTi liftpd< in dor ImkFn dnr onged.outet. Pinsolhijndrfip^n ab 
iJ«-;• fwho n Hand und am Tntomnn a)>or nivti? lot AxfMuds^abmF; 

Sobr * rjo'l>heh Fi auch, die i^vb*'- Ataxie u\ d <-r roebom Hand 

Iih ri-ebten J^*it» Hypertonie and : Babinskis. Rosoolinm? 

'Z^wben JLiuk^ HeHo Vfr ribmiid. ImT^rb^eri B&ib kind die akti\ en Bewga^gep 



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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 467 

im ganzen ausgiebig und auch kraftvoll, wenn auch nicht die voile Kraft ge- 
leiatet wird. Die Dorsalflexion des FuBes ist durch Spannung der Achilles- 
sehne behindert. Pinselberuhrungen werden am Bein fast iiberall gefiihlt, 
Nadelstiche als schinerzhaft. An vielen Stellen des linken Heines wird 
warm als kalt bezeichnet. Lagegefiihl in den Zehen erhalten. In den 
Beinen keine Bewegungsataxie. Beim Gehen wird das rechte Bein in Ab- 
duktions- und AuBenrotationsstellung nachgezogen, auch Haltung des Armes 
ist noch eine gezwungene, ebenso die des Rumpfes. 

21. IV. (Prof. 0.). 

Das Gesicht ist heute ganz symmetrisch, Zunge kommt gerade heraus. 

Im rechten Arm keine Steifigkeit, Supinatorphanomen fehlt rechts, 
Tricepsphanomen erhalten; desgleichen links. 

Er kann den rechten Arm jetzt ziemlich ausgiebig in alien Gelenken 
bewegen, aber nicht mit voller Kraft. Er kann den Finger des Unter- 
suchenden ziemlich fest mit seiner rechten Hand umschlieBen, aber unter 
Mitbewegung der linken. 

Sehr starke Bewegungsataxie im rechten Arm. Pinselberuhrungen 
werden an der rechten oberen Extremitat fast immer gefiihlt, nur nicht an 
der radialen Seite des Unterarmes. Nadelstiche werden an der Ulnarseite des 
Unterarme8 als schinerzhaft — vielleicht sogar Hyperalgesie — empfunden. 
An der Radialseite Hypalgesie. Am rechten Bein unbedeutende Hypertonie. 

Kniephanomen rechts stark im Vergleich zu links; rechts maBiger 
FuBclonus. Babinski-f-, kein Oppenheim. Im rechten Bein sind die Be- 
wegungen in alien Gelenken, auch kraftvoll erhalten, nur die FuBbewegungen 
werden mit verringerter Kraft ausgefiihrt. Die Verkiirzung der Achillessehne 
beeintrachtigt die Dorsalflexion. Pinselberuhrungen werden an beiden 
Beinen gefiihlt, Nadelstiche schmerzhaft empfunden, am rechten aber 
besteht noch Hyperalgesie. HeiB und kalt wird jetzt an beiden Beinen 
gefiihlt, nur rechts scheinbar noch etwas intensiver. Lagegefiihl an beiden 
groBen Zehen erhalten. 

Keine Pupillendifferenz. 

Pat. in der Rekonvaleszenz entlassen. 

Zusammenfa88ung: Bei einem 12j&hrigen Knaben, mit dem 
die Verst&ndigung (Russe, der Jargon spricht) etwas erschwert ist, 
so daB nur eine unvollkommene Anamnese zu erhalten ist, hat sich 
im Laufe eines Jahres eine allmahlich zunehmende, im rechten 
Arm beginnende Hemiparesis dextra entwickelt. Auf den ersten 
Blick muBte diese den Eindruck einer Hemiplegia cerebralis er- 
wecken, um so mehr, als der rechte Mundwinkel bei den Bewegungen 
hinter dem linken zuriickblieb, auch der LidschluB rechts etwas 
schwacher war und das obere Lid etwas herabhing (Schwache des 
Frontalis). Die weitereUntersuchung machte es aber sofort deutlich, 
daB eine Hemiplegia spinalis bestand, bei der sich allmahlich 
die Brovm-Sequardschen Symptome manifestierten. Dement- 
sprechend fanden sich auch okulopupillare Symptome angedeutet, 
nftmlich eine Verengung der rechten Pupille und Lidspalte. Die 
Schwache im rechten Arm ist eine diffuse, nur daB sie in der Hand 
und den Fingem ausgesprochener ist als in den proximalen 
Muskeln, sie ist weder eine spastische noch eine atrophische, 
allenfalls ist Hypertonie in den Pronatoren angedeutet; die Sehnen- 
phanomene sind jedenfalls nicht wesentlich gesteigert. Beachtens- 
wert ist der Hochstand der rechten Scapula, der sich auf eine Kon- 
traktur in den Rhomboidei und dem Levator anguli scapulae 

Mon&tsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 6 31 


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468 


Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


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zuriickfiihren laBt. Im rechten Bein ist die Hypertonie sehr 
ausgesprochen, von den spastischen Reflexen findet sich das 
Babinskische Zeichen auch links. Die Parese beschrankt sich aber 
auf das rechte Bein. Bei der ersten Untersuchung scheint die 
Sensibilitat an den unteren Extremitaten intakt zu sein, bei der 
nachsten findet sich aber eine Hypalgesie und Thermohypasthesie 
am linken Unterschenkel und FuB, in etwas weniger best&ndiger 
Weise auch in der linken Rumpfhalfte, wahrend sich am rechten 
FuB Bathyhypasthesie nachweisen laBt. Der Bauchreflex fehlt 
rechts, ist auch links nur spurweise vorhanden. Neben der Schwache 
macht sich in den Armen, besonders im rechten, eine an Intensitat 
wechselnde, jedenfalls zunachst nur leichte Ataxie bemerkbar. 
Die Sensibilitat scheint an den Armen anfangs — wohl bei 
fliichtiger Untersuchung — intakt zu sein, nach und nach treten 
leichte Storungen, besonders am rechten Unterarm und an der 
Hand, zutage, und zwar taktile Hypasthesie, Bathyhypasthesie 
und Hypalgesie, letztere auch am linken Arm. 

Ueber wesentliche Schmerzen hat der Pat. wahrend der 
ganzen Zeit nicht zu klagen, es laBt sich auch an keiner Stelle 
Hyperasthesie feststellen. Dagegen wird der Druck auf die Quer- 
fortsatze der Halswirbel rechts schmerzhaft empfunden, ohne daB 
sich das Gebiet scharf begrenzen laBt, auch ist der Perkussions- 
schall hier abgeschwacht. Der Kopf wird frei bewegt. Keine Zeichen 
einer Phrenicuslahmung, doch wurde eine rontgenologische Priifung 
des Zwerchfells nicht vorgenommen. 

Bei der langsamen Entstehung einer Hemiplegia spinalis 
cervicalis von dem Typus der Broum-Sequardschen Lahmung muBte 
die Diagnose einer Neubildung im Bereiche des rechten Cervikal- 
markes gestellt werden. Bot auch das Vorhandensein der leichten 
Parese des rechten Facialis der Deuturg eine gewisse Schwierigkeit 
(s. w. u.), so war das Zeichen doch nicht so ausgepragt und so 
beschaffen, daB daran die Diagnose scheitern konnte. Dagegen 
schien uns die Frage, ob die Neubildung extra- oder intramedullos 
safle, nicht mit Sicherheit zu entscheiden zu sein. Wir haben 
die dafiir maBgabenden Kriterien so oft in wissenschaftlichen 
Abhandlungen diskutiert, daB es nicht angebracht ist, hier 
darauf zuriickzukommen. Fiir die speziellere Hohendiagnose 
boten sich nur ungeniigende Anhaltspunkte. Vor allem fehlten 
radikulare Symptome, jede lokalisierte Muskelatrophie. Auf der 
anderen Seite war auch in keinem Gebiet des rechten Armes die 
Hypertonie so ausgesprochen, daB man daraus hatte folgem 
konnen: Die Krankheit muB oberhalb dieser Segmente ihren Sitz 
haben. Da nun aber die Lahmungserscheinungen alle Segmente 
bis mindestens hinauf zum 5. betrafen, ohne daB die Ausfalls- 
erscheinungen im 6., 7. und 8. mit Hypertonie verkniipft waren, 
hatte die Annahme einer langgestreckten Neubildung am Hals- 
mark am meisten fiir sich. Die motorischen Reizphanomene im 
Bereich des Levator ar.guli scapulae und Rhomboideus lieBen 
vermuten, daB der obere Pol bis ins 4. und 3. Segment reiche. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 469 

doch stand darait die Tatsache, daB der Phrenicus verschont 
war, nicht recht im Einklang. Ich erteilte also den Rat, am V. 
und VI. Cervikalwirbel zu beginnen und dann die Laminektomie 
nach oben fortzusetzen. In der Hohe des III., IV. und V. Cervikal- 
wirbels fand sich im extramedullaren Gebiet rechts der derbe 
Tumor (ein Fibrosarkom), der unter Opferung einer Wurzel in 
toto entfernt werden konnte. Er war mit dem Rfickenmark nicht 
verwachsen, hatte es aber dellenformig eingedriickt. 

Obgleich die Operation mit starker Blutung verkniipft war, 
wurde sie gut fiberstanden. Und es schloB sich in gewohnter Weise 
eine fortschreitende Besserung der Funktionen an, mit der Ein- 
schrankung, daB die Ataxie in den Armen (besonders im rechten) 
post operationem eine betrachtliche Steigerung erfuhr. 

Besonders bemerkenswert war die Erscheinung, daB gleich in 
den ersten Tagen post operationem die Asymmetrie des Gesichtes 
sich ausglich, ebenso die okulopupill&ren Symptome. 

Ob der Hochstand des rechten Schulterblattes sich ebenfalls 
ausgeglichen hat, konnte in der ersten Zeit wegen des Verbandes 
nicht festgestellt werden; ich erinnere mich aber, daB bei der Ent- 
lassung die Stellung der Schulter eine normale war. 

Beachtenswert ist es femer, daB auch nach der Herausnahme 
der Geschwulst trotz der Manipulationen im Bereich des Phrenicus- 
ursprungs keinerlei Storungen der Atmungsfunktion zutage traten. 
Zu den friihesten Zeichen der Besserung gehorte die Wiederkehr 
des Bauchreflexes, das Schwinden des Babinskischen Zeichens 
am linken Bein, dann erst machte sich eine Besserung in den Funk¬ 
tionen der GliedmaBen bemerklich. 

Ueber erfolgreich operierte Geschwiilste am Cervikalmark 
ist von uns u. A. in den letzten Jahren so oft berichtet worden. 
daB ich auf das, was unsere heutige Beobachtung in dieser Beziehung 
lehrt, nicht nSher eingehen will. Es sind vielmehr einzelne Besonder- 
heiten der Symptomatologie, die mich veranlassen, in eine Be- 
sprechung einzutreten, der ich den nachsten Abschnitt widme. 

III. Zur Hemiplegia spinalis. 

Die Hemiplegia spinalis, die so viel seltener vorkommt als die 
vulgare cerebrale Hemiplegie, ist weit mannigfaltiger in ihren 
Erscheinungen und reicher an Varietaten als diese. Ihr Wesen ist 
— dank der zahlreichen Erfahrungen und Abhandlungen fiber die 
Broivn-Sequardsche Lahmung — in den Grundzfigen bekannt, 
aber auf manche Einzelheit ist noch hinzuweisen, und in vielen 
Fragen bedarf es noch der Klarung durch die kfinftige Forschung. 

In einen gewissen Gegensatz steht die spinale Hemiplegie zur 
cerebralen schon dadurch, daB ihre Entstehung, weim man von 
der traumatischen Genese absieht, fast immer eine nicht-akute ist. 
Sie entwickelt sich in der groBen Mehrzahl der Falle in subakuter 
und chronischer Weise, und es fehlt naturgemaB immer der apo- 
plektische Insult. Eine verhaltnismaBig akute Entstehung kommt 


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470 


Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


noch bei dem cervikalen Typus der multiplen Sklerose und der 
Lues spinalis vor, aber auch da erstreckt sich das Stadium evo- 
lutionis doch fast immer auf einige Tage oder Wochen. Hier und 
da wird auch von einem verhaltnismaBig akuten Einsetzen der 
Erscheinungen beim Tumor medullae spinalis berichtet, aber beim 
genaueren Nachforschen erweisen sich derartige Angaben fast immer 
als nicht zutreffend. 

Die Frage nach der Lokalisation der Hemiplegia spinalis ist 
schnell zu beantworten. Es ist ein verhaltnismaBig eng begrenztes 
Gebiet, auf dessen Lasion dieser Symptomenkomplex zuriick- 
zufuhren ist: das Cervikalmark. Unilaterale Erkrankungen des- 
selben, die sich auch auf tiefere Abschnitte erstrecken konnen, 
bilden die Grundlage der spinalen Hemiplegie. Man sollte voraus- 
setzen, daB damit eine verhaltnismaBig einfache und einheitliche 
Symptomatologie gegeben ware. Doch trifft das keineswegs zu. 

Den einfachsten und reinsten Typus des Leidens zeigt die , Uni¬ 
lateral spastic paralysis “ von Mills xmdSpiUer 1 ). Aber fur sie ist auch 
der rein spinale Sitz undUreprung am wenigsten sichergestellt. Wenn 
ihr auch eine unilaterale Pyramidendegeneration entspricht, steht 
es doch nicht fest, ob es sich da um eine primare Spinalaffektion 
oder um einen kortikospinalen DfegenerationsprozeB handelt. 
Allem Anschein nach hat das Leiden nahe Beziehungen zur 
amyotrophischen Lateralsklerose, und damit ist auch die Berechti- 
gung gegeben, es den Buckenmarkskrankheiten einzureihen; aber 
es bildet doch ein Mittelding zwischen den cerebralen und spinalen 
Hemiplegien. 

Ihm nahe steht die unilaterale Form der amyotrophischen 
LatercUsklerose; sie s.ellt den amyotrophisch-spastischen Typus 
der Hemiplegia spinalis dar. 

Dann folgt die rein atrophische Form der spinalen Hemiplegie 
und als deren Hauptreprasentant der hemiplegische Typus der 
spinalen Kinderldhmung. Es kommt nicht gerade selten vor, daB 
sich die Ausfallserscheinungen der Poliomyelitis anterior acuta 
auf die GliedmaBen einer Korperseite bes'jhranken. Nur einmal 
habe ich es gesehen, daB auch der Facialis der gleichen Seite an der 
L&hmung teilnahm, so daB bei oberflachlicher Betrachtung das 
Symptombild an das der cerebralen Hemiplegie erinnerte, wahrend 
die Untersuchung sofort die durchgreifenden, hier nicht zu er- 
ortemden Unterscheidungsmerkmale feststellen lieB. In der Regel 
findet sich ubrigens in derartigen Fallen eine lokalisierte Muskel- 
schw&che, eine Hypotonie, ein Verlust des Fersenphanomens auch 
auf der anderen Seite, so daB schon darin ein diagnostisches 
Kriterium gegeben ist. 

So sehr sich nun aber diese Form durch die Atonie imd 
degenerative Atrophie von der Hemiplegia cerebralis unterscheidet, 

J ) S. die entspr. Abhandlungen im Journ. of Nerv. and Ment. 1903, 
Journ. of Amor. mod.Assoc. 1906,etc., sowie Cassirer und Diskuss. in Neurol. 
Centralbl. 1908 und Oppenheim , Neurol. Centralbl. 1911. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medulla spinalis. 


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haben uns doch die Erfahrungen der epidemischen Kinderl&hmung 
gezeigt, daI3 es Falle gibt, bei denen im Beginn eine Annaherung 
an den cerebralen Typus dadurch stattfindet, dab sich mit der 
schlaffen atrophischen Lahmung des Armes spastische Symptome 
im Bein der gleichen Seite verbinden konnen. 

DaB auch in vereinzelten Fallen ein hemiplegischer Typus 
der Poliomyelitis anterior subacuta und chronica beobachtet wurde, 
sei nur der Vollst&ndigkeit halber angefuhrt. 

Die groBe Mannigfaltigkeit der Erscheinungen tritt aber 
weniger bei diesen durch Prozesse von systematischer, elektiver 
Verbreitung verursachten Formen als bei den durch unilaterale 
Herderkrankungen des Cervikcdmarks bedingten zutage. Hier 
wechselt die Symptomatologie zwar auch entsprechend der Natur 
des Leidens, aber ganz besonders steht sie doch in Abhangigkeit 
von dem Hohensitz desselben. 

In den vorliegenden Erfahrungen entsprechender Art nehmen 
die durch Verletzungen, namentlich Stichverletzungen des Hals- 
marks bedingten den ersten Platz ein. 

Die sich auf die Riickenmarksverletzungen und die Brown- 
Sequardsehe Lahmung beziehende Literatur birgt eine nicht kleine 
Zahl derartiger Beobachtungen. Ich will hier nur auf die Mit- 
teilungen und Abhandlungen von Beck 1 ), Neumann 2 ), Hoffmann, 
Enderlen 3 ), auf die besonders reiche und griindliche Kasuistik 
Kochers 1 ), auf Bode 3 ), Mann 3 ), Oppenheim 7 ), Jolly 6 ), Raymond 9 ), 
Rosier 10 ), Wagner-Stolper 11 ), Fabritius 12 ) und das Sammelreferat 
von G. Flatau 13 ) verweisen, in denen das Gros der entsprechenden 
Erfahrungen enthalten oder verwertet ist, werde mich aber in 
meinen Ausfiihrungen im wesentlichen auf das stiitzen, was ich 
selbst gesehen habe, und bin da in der Lage, weniger die traumati- 
schen Falle als die Tumoren im Bereich des Cervikalmarks zu ver- 
werten. 

Bei dem Versuch der Gruppierung betrachten wir 1. die durch 
Krankheitsherde im Bereich der Cervikalanschwellung bedingte 
Hemiplegia spinalis. In den typischen Fallen dieser Art ist die 
Lahmung am Arm eine atrophische, am Bein eine spastische, aber 
das trif ft, wie die weitere Betrachtung lehrt, schon nicht durchweg zu. 

■) V. A. Bd. 75 (1879). 

2 ) D. Arch. f. kl. M. 1886. 

3 ) Zeitschr. f. Chir. Bd. 40. 

4 ) Mitt, a us d. Grenzgeb. 1896. 

5 ) Berl. klin. Wochenschr. 1891. 

®) Zeitschr. f. Nerv. Bd. X. 

7 ) Arch. f. Anat. u. Physiol. Suppl. 1899. 

8 ) Arch. f. Psych. Bd. 33. 

9 ) Nouvelle Icon. 1897. 

10 ) Friedrichs Blatter 1900/01. 

11 ) Deutsche Chir. Bd. 40. 

12 ) Monatsschr. f. Psych. XXXI. 

13 ) Centralbl. f. Grenzgeb. 1905. 


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Oppenheim, Weitere Beitrage ziir Diagnose 


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Die spezielle Symptomatologie wird zunachst durch die Hohen- 
lage des Krankheitsprozesses bestimmt: man kann in dieser 
Hinsicht einen Typus inferior, medialis und superior unterscheiden. 

a) Der Typus inferior , bei dem der Krankheitsherd dem 
VIII. Cervikal- und I. Dorsalsegment entspricht, bietet bekanntlich 
folgende Symptomatologie: Atrophische Lahmung der kleinen 
Handmuskeln, meist auch des Triceps, Fehlen des Tricepsphano- 
mens 1 ), wahrend das Supinatorphanomen bzw. das der Unterarm- 
beuge und Pronatoren in der Regel erhalten bleibt und sogar ge- 
steigert sein kann, okulopupillare Symptome, spastische Lahmung 
des homolateralen Beines. Dazu friiher oder spater kontralaterale 
Anasthesie am Bein und Rumpf, homolaterale im unteren Wurzel- 
gebiet des Armes usw. Von den vasomotorischen und sekretorischen 
Storungen werde ich ganz absehen. Beobachtungen entsprechender 
Art enthalt die Tumor-Literatur, z. B. in einer Mitteilung von 
Oppenheim-Bor char dt 2 ), Oppenheim-Krause 3 ). Auch sind Riicken- 
marksverletzungen dieser Gegend mit entsprechender Sym¬ 
ptomatologie vielfach, so Von Kocher und Jolly , beschrieben 
worden. 

Es liegt in der Natur der Sache, daB die atrophische Lahmung 
auch auf Muskeln iibergreifen kann, die vom nachstbenachbarten 
Segment entspringen, imd daB die individuelle Innervations- 
variabilitat hier zur Geltung kommt. In einem unserer Falle waren 
die langen Daumenmuskeln, der Flexor dig. sublimis, die kostale 
Portion des Pectoralis major beteiligt. 

b) Der Typus superior . Hier betrifft die atrophische Lahmung 
die Erbschen .Muskeln, der Unterarmbeugereflex fehlt (Oppenheim ) 
und es kann statt dessen beim Beklopfen des Proc. styloid, radii 
eine Fingerbeugung eintreten [ Babinski 4 ]; ebenso ist nach meinen 
Erfahrungen unter diesen Verhaltnissen das Tricepsphanomen 
meist gesteigert; und die Parese der aus der unteren Cervikal- 
anschwellung entspringenden Muskeln kann einen spastischen 
Charakter haben. 

Beispiel: Beobachtung I. R., 34 jahrigor Arbeiter. Seit 3 Monaten 
Schmerzen in der rechten Schulter, seit 4 Wochen Schwache im rechten 
Arm, seit einigen Tagen auch im rechten Bein. Lues vor 15 Jahren. 
Wa88ermann im Blut positiv, im Liquor nicht untersucht. 

Be fund : Hypotonie des rechten Oberarmes im Schulter- und Ellcn- 
bogengelenk; beim Beklopfen des Proc. styloid, radii kommt es weder zur 
Unterarmbeugung noch zur Pronation, dagegen zu einer Kontraktion des 
Triceps und zu einer Fingerbeugimg. Tricepsphanomen erhalten. Parese 


*) Nach meinen Erfahrungen kommt fur diesen Reflex besonders das 
VIII. Segment in Frage, wahrend Babinski (Bullet, med. 1912) das Vll. 
fiir ihn in Anspruch nimmt. 

a ) Berl. klin. Wochenschr. 1906. 

3 ) Mitt, aus d. Grenzgeb. Bd. XV, ferner Oppenheim , Beitrage zur 
Diagnostik und Therapie dor Geschwiilste, Berlin 1907 (Beob. Ill, S. b'2), 
Oppenheim-Krause , Miinch. med. Wochenschr. 1909. 

4 ) D’inversion du/reflexe du radius, Bull, et mem., de la Soc. med. 
des hop. 1910. S. auch Marie-Barre , Sur le reflexe cubito-flechisseur des- 
doigts. Revue neurol. 1911. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


473 


des rechten Armes in alien Muskelgruppan. Ganz fehlt die Abduktion des 
Oberarmes, auch die Beugung des Unterarmes ist auf ein Minimum be- 
beschrankt; Auswartsrollung mit germger Kraft. In den I£r&schen Muskeln 
partielle Entartungsreaktion, am ausgesprochensten im M. deltoideus. In 
den Streckern der Hand wohl eine geringe quantitative Abnahme der 
Erregbarkeit, aber sonst nichts Abnormes. 

Keine okulopupillaren Symptome. 

In der rechten Schultergegend (Axillaris) taktile Hypasthesie und 
Hypalgesie, sonst keine nachweisbare Sensibilitatsstorung am rechten Arm. 

Im rechten Bein spastische Parese mit Babinskischem und Oppenheim- 
schem Zeichen. Keine Sensibilitatsstorung an den Beinen. Keine Blasen- 
schwache. Hirnnerven frei. Druck auf die Querfortsatze der mittleren Hals- 
wirbel wird rechts schmerzhaft empfunden. 

Diagnose: Lues spinalis, Meningomyelitis in der Hohe des V. und VI. 
Cervikalsegmentes rechts. — Inunktionskur. Acht Tage spater Status idem; 
aufierdem Hypalgesie und Thermhypasthesie an der linken, Hyperalgesie 
an der rechten Fuflsohle. , Nach 4 Wochen erhebliche Besserung. Innerhalb 
von 3 Monaten Heilung bis auf eine geringe Schwache im Deltoideus. 

c) Typus medialis. Ein Beispiel, in welchem dieser rein hervor- 
tritt, konnte ich in der Literatur, soweit ich sie zu revidieren ver- 
mochte, nicht auffinden, auch nicht unter meinem eigenen Material, 
dagegen zahlreiche Beobachtungen eines gemischten Typus, 
besonders in der Kasuistik der Stichverletzungen des Halsmarks. 
Ich bringe eine eigene Beobachtung. 

Beob. II. J. H., 25 jahriger Landwirt. Untersuchung im Mai 1911. 
Vor y 2 Jahr Messerstichverletzung in der Hohe zwischen dem V. und VI. 
Cervikalwirbel. Gleich darauf Lahmung aller vier Extremitaten, Harn~ 
verhaltung, ausgebreitete Anasthesie. Rasch fortschreitende Besserung bis 
auf den jetzigen Zustand. 

Status: Linker Arm im Schultergelenk frei beweglich, auch die 
Beugung im Ellenbogengelenk in voller Ausdehnung und kraftvoll, dagegen 
Triceps schwach, Tricepsphanomen fehlt. Pat. halt dauernd den Unterarm 
leicht gebeugt, den Oberarm abduziert. 

Atrophische Lahmung der kleinen Handmuskeln, der langen Finger- 
beuger, der Extensores carpi, des Extensor digit, communis mit teils starker 
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit, teils partieller EaR. Linke 
Pupiile und Lidspalte wesentlicli enger als rechte. Hypasthesie an der Hand 
und den Fingern sowie im ulnaren Gebiet des Unterarmes bis iiber die Mittel- 
linie hinaus. Am rechten Arm keine wesentliche Storung der Motilitat 
und Sensibilitat. Im linken Bein spastische Parese, Babinski sches Zeichen 
auch rechts angedeutet; Hyperalgesie in der linken Planta pedis, sonst keine 
wesentliche Sensibilitatsstorung in den unteren Extremitaten. 

Einmalige Untersuchung. 

Es handelt sich hier also um eine Hemiplegia spinalis durch 
Stichverletzimg der linken Riickenmarkshalfte und der ent- 
sprechenden Wurzeln in der Hohe des VII., VIII. Cervikal- und 
I. Dorsalsegmentes; auch das VI. oder die entsprechende Wurzel 
ist wohl noch zum Teil betroffen. 

Ich mache auf den schon seit Thorburn (nach welchem Hut¬ 
chinson die Erscheinung schon vorher beschrieben hat) bekannten 
Kontrakturzustand in den von den hoheren Segmenten innervierten 
Muskeln aufmerksam und die dadurch bedingte Haltimgsanomalie. 
Auch bei Kocher tritt sie in mehreren Fallen hervor und wird 
durch entsprechende Abbildungen illustriert. Die Erscheinung 
bedarf noch der weiteren Erorterung. 


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474 


Oppenheim, Weit-ere Beitrage zur Diagnose 


In diese Rubrik gehort eine von Oppenkeim-Krause 1 ) mit- 
geteilte Beobachtung, in welcher eine extramedullare Geschwulst 
am unteren Cervikalmark, deren oberer Pol bis zur Mitte des 
VI. Cervikalwirbels reichte, also dem VII. Segment entsprach, 
neben den kleinen Handmuskeln und dem Triceps usw. den Ext. 
digit, communis und die langen Daumenmuskeln in den Zustand 
atrophischer Lahmung versetzt hatte. 

Langgestreckte Neubildungen oder umschriebene, aber mit 
Meningitis serosa verkniipfte Gewachse sowie Pachymeningitiden 
von entsprechender Ausdehnung konnen nun auch die Hals- 
anschwellung einer Seite in alien ihren Teilen durch Kompression, 
Wurzellasion, Verdrangung usw. in dem MaBe schadigen, daB die 
Hemiplegia spinalis mit einer degenerativen Lahmung des Armes 
in alien seinen Muskelgruppen und mit Verlust aller Sehnen- 
phanomene einhergeht (Typus universalis). Auf die mannigfachen 
Modifikationen, die die Symptomatologie nun dadurch erfahren 
kann, daB bald dieses, bald jenes Segment ausgespart wird, die 
kontralaterale Seite bald mehr, bald weniger in Mitleidenschaft 
gezogen und — wie es besonders bei den Verletzungen vorkommt — 
auBer dem Hauptherde der Erkrankung noch versprengte an ent- 
legeneren Stellen bestehen, — auf alle diese Dinge soil hier nicht 
naher eingegangen werden. Ein Punkt bedarf aber der Beriicksichti- 
gung. Die Lehre, daB bei diesen Affektionen im Bereich der Hals- 
anschwellung die Lahmung am Arm einen atrophischen, am Bein 
einen spastischen Charakter habe, hat keine allgemeine Giiltigkeit. 

Gerade bei den extramedullaren Geschwiilsten habe ich es in 
vereinzelten Fallen beobachtet, daB der Druck, den sie auf die graue 
Substanz und die Wurzeln ausuben, diese so wenig und so all- 
mahlich beeintrachtigen kann, daB es nicht zu einer wesentlichen 
Atrophie und besonders nicht zu Veranderungen der elektrischen 
Erregbarkeit kommt, sie andererseits doch wieder so weit schadigt, 
daB die Kompression der weiBen Substanz sich nicht durch die 
Hypertonie dokumentieren kann, die bei einer reinen Seitenstrangs- 
erkrankung des Cervikalmarkes auch am Arme zustande kommen 
wiirde. Zwei Vorgange bzw. Einfliisse entgegengesetzter Art halten 
sich hier im Schach. Auch die oft bestehende Kompressionslasion 
der Hint erst range wirkt dem hypertonisierenden Moment entgegen. 

Es entwickelt sich dann eine einfache Parese ohne markante 
Atrophie und ohne deutliche Hypertonie. Damit kann sich Be- 
wegungsataxie verbinden. 

Es fehlt mir zwar ein typisches Beispiel dieser Art fur die 
Intumescentia cervicalis, aber der vorstehend im Abschnitt II 
dieser Abhandlung mitgeteilte Fall Sch. von erfolgreich exstir- 
piertem Tumor am mittleren Cervikalmark in der Hohe des III., 
IV. und V. Halswirbels ist durchaus geeignet, diese Tatsache zu 
illustrieren, insofem als hier 1. die Kompression des III. und 
IV. Halssegmentes keine Phrenicuslahmung hervorgebracht hat, 

Munch, med. Wochensehr. 1909. No. 20—22. 


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und Different ialdiagnose des Tumor meduilae spinalis. 


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2. der auf den Seitenstrang in dieser Hohe ausgefibte Druck 
wenigstens am Arm keine spastischen Erscheinungen produziert 
hat, allem Anschein nach deshalb nicht, weil der unterhalb der 
Geschwulst auf die Halsanschwellung einwirkende Liquordruck 
die graue Substanz oder die vorderen Wurzeln so weit schadigte, 
um der durch die Pyramidenkompression verursachten spastischen 
Komponente gerade das Gegengewicht zu halten. 

2. Die Hemiplegia spinalis durch Krankheitsherde oberhalb 
der Cervikalanschwellung . 

Riickt der KrankheitsprozeB fiber die Cervikalanschwellung 
auch nur um 1 bis 2 Segmente nach oben, so nahert sich die 
Symptomatologie der Hemiplegia spinalis wesentlich der der cere- 
bralen dadurch, daB nicht nur am Bein, sondem auch am Arm 
die Lahmung den spastischen Charakter hat. Es liegt freilich in 
der Natur der Sache, daB bei dem geringen Umfang des Markes in 
dieser Hohe scharf begrenzte Halbseitenlasionen selten vorkommen, 
daB es sich meist von vornherein oder im weiteren Verlauf um 
bilaterale Erkrankungen handelt. Immerhin fehlt es nicht an 
entsprechenden Beobachtungen. 

Einen charakteristischen Fall dieser Art habe ich 1 ) in meiner 
Abhandlung fiber die Brown-Sequardsche Lahmung erwahnt und 
abgebildet. Hier war die Kontraktur im Arm besonders stark aus- 
gebildet. Femer gehorte zu den bemerkenswerten Erscheinungen 
eine eigenartige Form von tonischen Muskelkrampfen, die ich unter 
der Bezeichnung Spasmodynia cruciata geschildert habe. 

Die motorischen Reizphanomene, die bei diesen Formen der 
Hemiplegia spastica spinalis auftreten, bediirfen fiberhaupt noch 
des eingehenden Studiums. In dem von Veraguth-Brun 2 ) ge- 
schilderten Falle war die Hypertonie imd Steigerung aller Sehnen 
phanomene im Arm sehr ausgesprochen. Dazu kam das be- 
merkenswerte Symptom des ,,Rotationsclonus“. ,,Bei halber Ab- 
duktion des linken Oberarmes und rechtwinkliger Flexion des 
Unterarmes tritt, sobald ein leiser Druck auf die Gegend zwischen 
Extensoren und Flexoren, distal vom Lacertus fibrosus, ausgefibt 
wird, ein auBerst kraftiger, schnellschlagiger Rotationsclonus auf, 
der sofort sistiert, sobald der auBereReiz aufhort.“ 

Es ist das wohl nichts anderes als eine Form des spastischen 
Zittems, wie sie z. B. in einer gleich zu erwahnenden entsprechenden 
eigenen Beobachtung durch aktive und passive Bewegungen als 
Handclonus auszulosen war. Veraguth erwahnt ferner die Erschei- 
nung, daB eine Reflexzuckung im Triceps durch sensible Reizung 
an entfemten Stellen ausgfelost werden konnte. 

Der spastische Charakter der Lahmung an der Oberextremitat 
wurde femer bei hoch am Cervikalmark sitzenden Geschwiilsten 


! ) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1899. Physiol. Abt. 8uppl. 
2 ) Korresp. f. Schweiz. Aerzte 1910. 


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Oppenheim, Weitere Beit rage zur Diagnose 


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von Schultze 1 ) und von Henneberg 2 ) festgestellt. Mann 3 ) bezeichnet 
diesen Typus als den seltensten, da er in der Literatur nur ver- 
einzelt, unter seinen Beobachtungen gar nicht vertreten sei. Wie 
die mitgeteilten eigenen und die angefiihrten Beobachtungen 
lehren, bildet die Hemiplegia spastica spinalis aber doch keinen 
so auBergewohnlichen Symptomenkomplex. 

Es gehort hierher ein sehr bemerkenswerter Typus, bei welchem 
die spastische Extremitaienldhmung von gleichseitiger Paralysis 
diaphragmatica begleitet ist. 

Derartige Beobachtungen finden sich in der alteren Literatur, 
ferner bei Kocher , Hoffmann , Henneberg , Mundelius 4 ) u. A. In 
meiner Arbeit iiber die BrouM-Sequardsche Lahmung aus dem 
Jahre 1899 erwahne ich schon einen Fall eigener Wahrnehmung, 
in welchem die spastische Extremitatenlahmung von einer gleich- 
seitigen Paralyse des N. phrenicus mit starker Herabsetzung der 
Erregbarkeit begleitet war. Ich kann heute weiteres Material 
beibringen. 

Beob. III. M. M., 28 Jahre alt. Seit \ 2 Jahr Schwache im rechten 
Arm und Bein, ziemlich gleichzeitig entstanden und vorgeschritten, dabei 
Schmerzen in der rechten Halsgegend, die sich besonders beim Husten und 
Niesen steigerten. Keine Aetiologie. Untersuchungsbefund: Im rechten 
Arm Hypertonie, lebhafte Steigerung aller Sehnenphanomene, Handclonus. 
Parese in alien Muskelgruppen, am ausgesprochensten im Deltoideus sowie 
in den Hand- imd Fingermuskeln. Spastische Parese auch im rechten Bein 
mit Babinskischem und Oppenheimschem Zeichen. Im linken Bein Reflexe 
normal, aber Fukclonus auch hier auszulosen. Bauchreflex fehlt rechts. 

Pat. klagt zwar iiber Parasthesien im rechten Arm, namentlich in den 
Fingern, aber es laflt sich bei oberflachlicher Untersuchung hier keine 
Sensibilitatsstorung nachweisen. Im rechten Fufi- und in den Zehen- 
gelenken ist das Lagegefiihl herabgesetzt. Am linken FuG besteht Therm- 
hypasthesie. Bei den Inspirationsbevvegungen f iihlt man die linke Zwerchfell- 
halfte deutlich herabtreten, wahrend die rechte unbev^egt bleibt; auch keine 
Verschiebung der Lungengrenzen rechts bei der Einatmung. Das auf der 
linken Seite deutliche Zwerchfellphanomen fehlt rechts. 

Bei galvanischer Reizung des linken N. phrenicus laBt sich bei einer 
Stromstarke von 5—6 MA. eine kurze inspiratorische Zuckung auslosen 
(Ka S Z), die rechts auch bei 8—10 MA. ausbleibt. Eine rontgenologische 
Priifung der ZwerchfellbeWegungen konnte leider nicht ausgefiihrt werden. 
Kneifen einer Hautfalte wird in der rechten Fossa supraclavicularis sehr 
schmerzhaft empfunden. 

Der Kopf wird bei Bewegungen des Korpers auffallend steif gehalten, 
aber es findct sich keine Beweglichkeitsbeschrankung in der Wirbelsaule 
und keine Deformitat, auch keine auffallende Drucksclunerzhaftigkeit. 

Ich stellte die Diagnose einer Neubildung am Cervikalmark mit 
Kompression des Markes in der Hoho des III. und IV. Segmentes. Zu einer 
operativen Behandlung lieB sich die Pat. nicht bewegen. Ich habe, da sie 
von auswart.s kam, iiber ihr weiteres Schicksal nichts in Erfahrung gebracht. 

Von noch groBerem Interesse ist der nachste Fall. Ich muB es 
mir aber versagen, auf alle sich an ihn kniipfenden Fragen an dieser 

') Zeitschr. f. Neur. Bd. XVI. 

2 ) Arch. f. Psych. Bd. XXXlir. 

3 ) Zeitschr. f. Neur. Bd. X. 

4 ) Beitriige zur topischijn Riickenmarksdiagnostik. Inaug.-l)iss. 
Greifswald 1900. 


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und Differential diagnose des Tumor medullae spinalis. 


477 


Stelle einzugehen und werde ihn nur so weit verwerten, wie er fur 
die Lehre von der Hemiplegia spinalis Bedeutung hat. 

Beob. IV. M. D., 27 Jahre alt. Mutter gesund, Vater an Tuberknlose 
gestorben. Sie selbst war gesund bis zum 13. Jahre. Dann hatte sie liber 
ein Gefiihl von Steifiykeit im Nacken zu klagen sowie liber Schmerzen in 
dieser Gegend, die allmahlich starker wurden. Sobald sie sich flach hinlegte, 
horten die Schmerzen auf. Zwei Jahre spater, im Marz 1900, erkrankte sie 
plotzlich mit Schmerzen im Kiicken, Fieber. muBte 3 Tage liegen. 

Von jener Zeit ab kehren die Schmerzen und die Steifigkeit im Genick 
immer wieder. Ende April 1900 konnte sie plotzlich eines Morgens den 
rechten Arm nicht ordentlieh bewegen, sie brachte ihn nur bis zu Schulterhohe. 
Der linke Arm zoigte keine Funktionsstdrung. Zu der Schwache im rechten 
Arm kam Gefuhllosigkeit, die sich aueh auf die rechte Klickenseite erstreckte. 

Sie konsultierte Erb> der eine Skoliose fand, keine bestimmte Diagnose 
stellte,aberan(rloisisdachte. Unterfaradischer Behandlunghabesichdannder 
Zustand verschlimmert, so daB sie nicht mehr schreiben konnte; sie empfand 
zuweilen auch Schwache in den Beinen. Das Befinden war abor ein im 
ganzen sehr wechselndes. In den Sommermonaten etwas Besserung. Herbst 
1900 erste Konsultation bei mir. Obgleich der rontgenologische Befund 
negativ war, hielt ich doch eine Caries der oberen Halswirbel fiir wahrschein- 
licli, lieB eine Extenswnsbehandlumj durchfiihren mit vollem Erfolg. Die 
Schmerzen im Genick schivanden , der rechte Arm erlawjte seine voile Beweglich - 
keit wieder , so dafl Pat. sich in der Malerei ausbilden lieB. Die Besserung 
war nicht nur eine vorlibergehende, sondern der Zustand blieb nun jahrelang 
ein giinstiger. Sie flihlte sich zwar mitunter etwas schwach, konnte zuweilen 
den rechten Arm nicht hochheben, war aber im allgemeinen recht leistungs- 
fahig, so daB sie sich damit abfand. So ging es viele Jahre lang. Im Friih- 
jahr 1908 flihlte sie sich nach Ueberanstrengung sehr angegriffen; auch 
hatte die Skoliose zugenommen. Besserung erfolgte durch eine Kur bei 
Zander, so daB sie ilire Tatigkeit im Zeichnen und Malen wieder aufnehmen 
konnte. Sommer 1909 Kur in Pyrmont. Im AnschluB daran stellte sich ein 
Zittern im rechten Arm ein, und die Schwache nahm zu. Dazu kam Schwache 
und Unsicherheit in den Beinen. 

Im Jahre 1910 konsultierte sie mich wieder und lieB sich auf ineinen 
Rat ins Hansa-Sanatorium aufnehmen. Dort stellte ich folgendes fest^ 

15. I. 1910. Keine Deformitat der Wirbelsaule; keinerlei Druck- 
empfindlichkeit. Kopf frei beweglich, ohne Schmerzen, keine Krepitation. 

R. CucuUaris stark atrophiert , fibrillares Zittern, Funktion dieses 
Muskels stark beeintrachtigt, aber nicht aufgehoben. In den mittleren und 
unteren Cucullarisblindeln quantitative Abnahme der elektrischen Erregbar- 
keit, keine deutliche Entartungsreaktion. Rechte Fossa supra- und infraspinata 
eingesunken. Im rechten Arm leichte Steifigkeit , lebhafte Steigerung aller 
Sehnenphanornene, die man von alien moglichen Punkten auslosen kann. 
Abduktion des rechten Oberarms ganz unvollkommen, unter spastischem 
Zittern. Handclonus liiBt sich auch durch passive Streckung der rechten 
Hand und Finger auslosen. Alle anderen BeWegungen des rechten Armes 
ziemlich gelaufig und kraftvoll. Deutliche Bewegungsataxie in der rechten 
Hand. Im Gebiet der rechten oberen Cervikalnerven, speziell am Hinter- 
haupt, Nacken, in der Fossa supraclavicularis besteht H ypalgesie und Therm - 
hypasthesie. In der rechten Hand besteht taktile Anasthesie, H>*palgesie 
und Bathyanasthesie. Auch an der linken ist die Sensibilitat gestort. 

Hyperidrosis und Haarausfall in der Hinterhauptsgegend. 

Pupillen und Lidspalten nahezu gleich weit, Reaktion gut. 

Im rechten Bein maBige Hypertonie, FuBclonus, Patellarclonus. Kein 
Babinskisches Zeichen, aber Oppenheimsches und Bossolimos auszulosen. 
Links besteht nur eine leichte Steigerung der Sehnenphanornene, ohne 
spastische Reflexe. Im rechten Bein ziemlich erhebliche motorische 
Schwache, links nur geringe. 

Harnentleerung soil normal sein. Es besteht Stuhlverstopfung. Bei 
Abfiihrmitteln kommt es bisweilen zu Incontinentia alvi. In den Beinen 


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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


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keine Ataxie und keine groberen Sensibilitatsstorungen fiir Beriihnmgen 
und Nadelstiche (Temperatursinn scheint nicht gepriift). 

Soweit ich mich erinnere, habe ich damals eine von einer abgelaufenen 
Spondylitis induzierte Pachymeningitis cervicalis hypertrophica am obersten 
Cervikalmark diagnostiziert. 

Die Behandlung bestand in Liegekur, Mastkur, Fibrolysininjektionen, 
lokaler Applikation von Moorumschlagen. Eine Besserung trat nur insoweit 
ein, als die Bewegungsataxie im reehten Arm geringer wurde. In der Folge- 
zeit wirkte ein Aufenthalt im Siiden giinstig. Aber die Schwache breitete 
sich dann auch auf den linken Arm aus, das Gehen Wurde schlechter, und der 
rechte Arm wurde fast vollig gebrauchsunfahig. Besonders aber verschlech- 
terte sich das Befinden nach einem Fall im Juni 1912. Sie wurde jetzt 
bettlagerig, hatte iiber heftigste Genickschmerzen zu klagen, schliefllich kam 
Hamverhaltnng mit Tenesmus hinzu, sie muflte taglich 2 mal katheterisiert 
werden. Auf Veranlassung ihres Hausarztes (Dr. Goebel) und nach Riick- 
sprache mit mir wurde die Dame im April 1913 behufs operativer Behandlung 
ins Augustahospital aufgenommen. Dort habe ich sie am 14. IV. genauer 
untersucht. 

Status : Wird der Oberkorper der im Bett liegenden Pat. dureh fremde 
Hilfe aufgerichtet, so kann sie den Kopf gut halten und bewegen, nur nach 
rechts ist die Drehbewegung eine unvollkommene. Keine Deformitat der 
Halswirbelsaule. Druck auf dieselbe wird nicht schmerzhaft empfimden. 
Auch vom Nacken aus nichts Abnormes zu palpieren. Im Gebiet des reehten 
N. occipitalis major, in der reehten Fossa supraspinata und supraclavicularis 
taktile Anasthesie und Hypalgesie. Auf der linken Seite leichte Storungen 
entsprechender Art. Es besteht eine betrachtliche Atrophie des reehten 
CucuUariSy der nur in seinern obersten Biindel noch funktioniert, wahrend 
die Adduktion des Sehulterblattes an die Wirbelsaule nicht moglich ist. 
Nachdem Pat. eine Weile aufrecht gesessen hat, stellt sich Dyspnoe ein, 
bei der sich hauptsachlich die Haismuskeln, nainentlich die Sternocleido- 
mastoidei anspannen. Die Zwerchfellatmung ist jedenfalls eine sehr geringe 
und zweifelhafte (s. w. u.). Bei der Inspiration erweitern sich nur die oberen 
Thoraxpartien. Keine subjektive Atemnot. 

Im reehten Schultergelenk leichte Adduktionskontraktur, im Ellen- 
bogengelenk Pronations- und Beugekontraktur. Sehnenphanomene am 
reehten Arm enorm gesteigert. Handclonus. Atrophie der kleinen Hand- 
muskeln. Krallenstellung der Finger angedeutet. 

Die aktive BeWeglichkeit ist im reehten Schultergelenk auf eine ganz 
unvollkommene Abduktion beschrankt; etwas kraftiger ist die Adduktion. 
Durch diese Bewegungen wird ein Zittern im reehten Arm ausgelost, das 
den Charakter des spastischen (Clonus) hat. Beugung und Streckung im 
Ellenbogengelenk wird noch mit ziemlich guter Kraft ausgefuhrt, aber sehr 
verlangsamt und unvollkommen. Beugebewegungen der Hand und Finger 
ziemlich kraftig, der Faustschlufi ist aber doeh zu iiberwinden. Die Streck- 
bewegungen sind sehr schwach und unvollkommen. Die Krallenstellung der 
Finger kann Pat. nicht ausgleichen; die Spreizung fehlt. Pro- und Supination 
auch sehr begrenzt und schwach. Auch am linken Arm Sehnenphanomene 
stark gesteigert, aber die aktive Beweglichkeit ist hier fast vollig erhalten. 
Leichte Pinselberiihrungen werden an der reehten Hand und den Fingern 
fast nirgends gefiihlt: auch am Ulnarrand des Unterarms werden sie an 
vielen Stellen nicht empfunden. Nadelstiche werden an der Hand und den 
Fingern nicht schmerzhaft gefiihlt. 

An der reehten Rumpfhalfte ist das Schmerzgefiihl erhalten, an der 
linken erloschen. Die Analgesic erstreckt sich auf die ganze linke Ober- 
extremitat. An einzelnen Stellen der linken Hand taktile Anasthesie. 
Vollkommene Bathyanasthesie beider Hande. In der reehten Hand starke, 
in der linken mafiige Bewegungsataxie, keine okulopupillaren Symptome. 
Schmerz- und Temperaturgeiifhl im Trigeminusgebiet beiderseits erhalten. 
Im reehten Hiift- und Kniegelenk ausgesprochene Hypertonie, dagegen ist 
sehr auffallend die vollkommene Erschlaffung der reehten Achillessehne. 
Kniephanomen rechts zum Clonus gesteigert, wahrend das Fersenphanomen 


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und Differentialdiagno8© des Tumor medullae spinalis. 


479 


in Riickenlage nicht auszuldsen ist; links dasselbe Verhalten. Die Zehen 
rechts in Beuges tel lung. Kein Babinskisches Zeichen, dagegen Oppenheim- 
sches sehr ausgesprochen. Links dasselbe, aber weniger deutlich. Kein 
Rossolimo, kein Bechterew-Mendel. 

An der rechten Sohle Hyperasthesie. Muskulatur an den Unter- 
schenkeln schlaff und welk. 

Die aktive Motilitat des rechten Beines auf ein ganz geringes Mafl 
beschrankt; sie kann es mit minimaler Kraft kaum einen FuB hoch von der 
Unterlage erheben. Im FuBgelenk ist eine schwache Adduktion und Streckung 
ausfiihrbar, auch die Plantarflexion ganz kraftlos. Zehenbewegungen sehr 
begrenzt und ohne Kraft. Im linken Bein all© Bewegungen besser, aber auch 
hier betrachtliche Pares©. Der Temperatursinn ist an der linken Rumpfhalfte 
ganz erloschen; an der rechten sind wenigstens die entsprechenden Unlust- 
gefiihle erhalten, aber Pat. vermag auch hier heiC und kalt nicht sicher zu 
differenzieren. Beriihrungen werden an vielen Stellen der unteren Extremi- 
taten wahrgenommen; an anderen, besonders an den FuBen, nicht. Fur 
Nadelstiche besteht am rechten Bein eine Hyperasthesie, wahrend das 
Schmerzgefiihl am linken erloschen ist. Am rechten Bein wird heiB und 
kalt empfunden, doch gibt sie bei kalt an: ,,Ich weiB jetzt, daB das Brennen 
kalt bedeutet.“ Am linken wird nur kalt empfunden. Lagegefiihl an 
beiden FiiBen stark herabgesetzt. 

Ophthalmoskopisch normal. Sprechen und Schlucken unbehindert. 

Diagnose: Es handeU sich um einen ausgebreiteten Prozefi am 
Cervikalmark , der bis in die obersten Cervikalsegmente reicht und sich 
andererseits auch noch bis zur Cervikalanschwellung forisetzt , da die 
Ldhmung der kleinen Handmuskeln einen atrophischen Charakter hat. 
Andererseits sind doch die Spasmen am rechten Arm so ausgesprochen , 
dafi die Hauptverdnderung too hi oberhalb der Cervikalanschwellung sitzt und 
die Atrophie der kleinen Handmuskeln vieUeicht als Inaktivitdtsatrophie zu 
deuten ist . Das wird wohl die elektrische Untersuchung lehren. Damit stimmt 
die Beteiligung des Phrenicus. Der Prozefi sitzt vorunegend an der rechten 
Seite und ivahrscheinlich besonders hinten. Visles spricht da fur, dafi er extra¬ 
medullar entstanden ist und das Riickenmark durch Kompression geschadigt 
hat. Im Hinblick auf die Entwicklung , den Verlauf und die urspriinglich 
erzieUe Besserung mittels Streckverband ist es anzunehmen , dafi das Leiden 
von der Wirbelsdule ausgegangen ist , dafi es sich also urspriinglich um eink 
Spondylitis cervicalis gehandelt hat , an die sich dann eine Pachymeningitis^ 
eventuell mit Meningitis serosa angeschlossen hat. Es ist aber auch nicht auszu- 
schliefien , dafi der Prozefi von vornherein ein meningealer war. Tumorbildung 
im eigentlichen Sinne des Wortes ist sehr unwahrscheinlich. Ein sehr dunklet 
Punkt im Krankheitsbilde ist die Atonie der Unterschenkelmuskulatur bei 
dem im ubrigen spastischen Charakter der Ldhmung. Wenn nicht Liquor- 
stauung in den untersten Riickenmarksabschnitten daran schuld ist , mu file 
man an Komplikationen denken. Vielleicht bringt die elektrische Priifunfy 
Aufschlufi. — Jedenfalls ist die Laminektomie dringend indiziert. 

Die auf meinen Rat ausgefiihrte Rontgenuntersuchung (Dr. M. Cohn) 
ergab eine Ldhmung des rechten ZwerchfeUs bei guter Funktion des linken; 
,,das rechte steht bei der Atrnung still und macht nur am Ende des Ex^ 
spiriums eine kurze zuckende Bewegung.“ 

Befund an der Halswirbelsaule negativ. „Am IV. Halswirbel beider- 
seits exostosenartige Verlangerung der Querfortsatze, denen wohl kaum 
eine zum Leiden in Beziehung stehende Bedeutung zukommt. 44 

Die elektrische Untersuchung, die ich durch Prof. Cassirer ausfiihren 
liefl, ergab: Faradisch: Streckmuskulatur am rechten Unterschenkel gut 
erregbar, Wadenmuskulatur gegen links herabgesetzt, ebenso der rechte 
Quadriceps. Galvanisch : Keine EaR, auch keine wesentliche Herabsetzung. 
An der rechten Hand alle Muskeln faradisch und galvanisch gut erregbar, 
auch vom Nerven aus. Der obere Abschnitt des Cucullaris ist fur beide 
Strome erregbar, ebenso der Supraspinatus und die Rhomboidei; der iibrige 
Cucullaris ist fur beide Strome unerregbar. Keine Entartungsreaktion. 


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480 O p p A h e i ip * WcitviV Be.itriigo zur Diftgnosi* 

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sio konnle> iw-fr-m Jir^duipfum; der Pal mehr m vidlkimHiioi.e*, Wejso an>-• 
yvfuhrt v/< T uJb«r jcvlenfol)* fur-fl viri* A- • mm obeKkii-buVhmj WiMa-h- 
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IHt bpgi.ebrmVkW Aaeii Auf vine'kurae WiedorgAbe do* W^en^iieAefi 

LdmiDt&tomift It. Dut* ^ssp&nAf , fck£h Dbfen 

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ttritt emu lunugestreckt<s hkiurot -vt?farhir f^svk^US zutdttr dem Hiieke'u- 
murk you himw und Inlanders von /Tveh.t* mUoidvAm- Oreuxe VrtW 

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rasp xum Tell eineu intraihodulj^rAu Sitz hftt, auAerclefp sofczt aie sk*h noeh 
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die Atmung. gnnz insuffiMent Wird, nmti die Operation, din Triton 1 V> .Spiridon,' 
vedtnmrt fiaf. tthgohroeheii wnrdeui 

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Die dbduktion, die $r» fof^Amfen 
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him eren Han-in dvr H?OniunilsvitAj>phAvn 
iieW^nfrttttdit und ^ixdj tiaeh tiimy **r neb lie] \. 
e^rljrmtdrt und kiioliferi/dmug verdkdd 
': (’Ivfc Dp Wahrnfid tue ' bier Sieher ■ • : 

nkdulikf L^t. adnr wenig^tens init ihi-ern 
g;rofiiten tTbifanp Ms dvr Kouliguration 
jM MT*rkns her^uHtritt # Jingt utderhulb 
itte A? btsbngenit \H\ 0}>eriUiotiggnhiet die 
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A^utkes sclb«t horau^g v^ebaii ‘‘A : / . * 

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Din H <il^uiiseiiwethiugbr)iemt iiaflen 
lieb- ; iik*.ht : Vvrunden, abej- die Substvtnv 
frilitt Sieb Aberal) ^- Jrj k an. . 

Geradn «m CenuA iuidfe^ 'Ach eih 

inphr uls^ vrbp&tigwfiex hUyu&s da-> 

^u30p u&sdt uut^ti os 

siv?X in der AraebnmciAti, d>> ^0 die Pau-> 
cjakiirzelu ;:ms dorn: < -AnA£ h«rv/^r«t.ehen-; 

Fig ik handed sk-h offenbar nm v«jix ;i rtk 

fivnutvrlr Vrmm 

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gdf^rbt : : . : • . % ' m* ' - 

Kav'hflem da* litickenmark tunige TAge.iti F^raatin ^hSttet 
n ,ir s konnlc idi das Protokoll duwli fojgwid€<. Nota^en- ergiazen: 
itje der HAtierfiaohe de^ biferSlOn ^Sombrma«so 


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imd Different ialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


481 


reicht mit ihrem obersten Fortsatze bis zum hinteren Rande des Cerebellum 
und zum unteren Ende des vierten Ventrikels. Der Operationsdefekt ent- 
spricht dem dritten Cervikalsegment. Die Halsanschwellung und das obere 
Dorsalmark erscheint auffallend voluminos. Ein Querschnitt in der Hohe 
der ersten Dorsalwurzel zeigt in der grauen Substanz eine Spaltbildung, die 
anscheinend nicht kiinstlich ist, auch erinnert die Anordnung der weifien 
Substanz an das Bild der Gliosis. Das mittlere Dorsalmark ist ebenfalls 
noch ungevvohnlich voluminos. Von hier bis in das Sakralmark hinab tritt 
in der Achse des Ruckenmarks eine braunrotlich gefarbte Masse hervor, 
die wahrseheinlich eine Hamatomyelie darstellt. Im Sakralmark nimmt sie 
an Umfang zu. 

Die Geschwulst hat den Charakter des Glioms. 

Zusammenfassung: Das im Beginn der Erkrankung 13 Jahre 
(bei seinem Tode 27 Jahre) alte Madchen, Tochter ernes tuberkulosen 
Vaters, verspiirte im Jahre 1898 zum ersten Male Steifigkeit und 
Schmerzen im Genick, die periodisch auftraten. Zwei Jahre spater 
(1900) kam es zu einem akuten fieberhaften Anfall von Schmerzen 
im Nacken und Genicksteifigkeit. Dazu gesellte sich eine allmahlich 
zunehmende Schwache im rechten Arm, spater auch eine Gefiihls- 
storung. Im Laufe der Zeit Steigerung dieser Erscheinungen unter 
Remissionen. Ich diagnostiziere bei der ersten Konsultation (1900) 
eine Caries der Halswirbelsaule, empfehle Extensionsbehandlung, 
unter der eine vollkommene Ruckbildung des Leidens erfolgt, so 
daO jahrelang volliges Wohlbefinden herrscht und Pat. sich als 
Mjalerin ausbilden kann. Erst in den Jahren 1908 und 1909 kommt 
es wieder zu groOeren Beschwerden, es gesellt sich Zittern in der 
rechten Hand hinzu. II. Konsultation Januar 1910. Befund: Wirbel- 
saule frei. Atrophische Lahmung des rechten Cucullaris, Anasthesie 
im Gebiet der rechten oberen Cervikalnerven, spastische Parese des 
rechten Armes in alien Teilen mit lebhafter Steigerung aller Sehnen- 
phanomene, Handclonus, Ataxie der rechten Hand, Sensibilitats- 
storung in beiden Handen, spastische Parese des rechten Beines. 
Damals am Phrenicus nichts Auffalliges. Diagnose: Nach ab- 
gelaufener Spondylitis cervicalis superior eingetretene Pachy¬ 
meningitis cervicalis hypertrophica. Fibrolysininjektionen ohne 
besonderen Erfolg. 

In der Folgezeit Zunahme der L&hmung im rechten Arm, 
Ausbreitung derselben auf die Beine; besonders erhebliche Ver- 
schlechtenmg nach einem Fall im Juni 1912; heftige Genick- 
schmerzen; Blasenlahmung (Entwicklung einer sehr hartnackigen 
Akne im Gesicht). 

III. Konsultation April 1913. Wirbelsaule nahezu frei beweglich. 
Passive Riickenlage. Im Gebiet der oberen Cervikalnerven rechts 
Anasthesie, links weniger, Atrophie des rechten Cucullaris in seinem 
mittleren und unteren Biindel mit starker Herabsetzung der elektri- 
schen Erregbarkeit, Dyspnoe, Lahmung des rechten Phrenicus, 
auch rontgenologisch sichergestellt, spastische Kontraktur imd 
unvollkommene Lahmung des rechten Armes, Atrophie der kleinen 
Handmuskeln (rechts) ohne Veraiiderung der elektrischen Erregbar¬ 
keit. Am linken Arm auch erhohte Sehnenphanomene, aber keine 
Lahmung. Sensibilitatsstorung in der rechten Hand, Bathy- 


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482 


() p penhei m , Weitere Beitrage ziu* Diagnose 


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anasthesie und Ataxie in beiden Handen, ferner Analgesie und 
Thermanasthesie in der linken Korperhalfte, Hyperasthesie am 
rechten FuB. Spastische Parese des reqhten Beines (fast Paralyse), 
weniger des linken, aber in beiden FuBgelenken Hypotonie und 
trotz Patellarclonus fehlt Fersenph&nomen, kein Babinski, aber 
Oppenheim usw. Keinerlei Bulbarsymptome usw. Diagnose: 
Komprimierender ProzeB am oberen Halsmark oberhalb der Hals- 
anschwellung, wahrscheinlich von hinten und rechts ausgehend. 
Es ist in erster Linie an eine von einer abgelaufenen Spondylitis 
tuberculosa induzierte Pachymeningitis zu denken. Tumor un- 
wahrscheinlich. Vielleicht komplizierende Affektion im Sakralgebiet. 

Bei der Operation findet sich ein langgestreckter Tumor, der 
die vier oberen Cervikalsegmente von hinten und rechts her kom- 
primiert und in der Hohe des III. und IV. Segmentes ins Mark 
eindringt, resp. von diesem ausgeht. Partielle Exstirpation. Exitus. 

Die Obduktion erganzt die Biopsie und zeigt, daB die Lokali- 
sation des Hauptprozesses eine vollkommen richtige war, daB der 
massive, zum groBen Teil extramedullar sitzende Tumor (Gliom) 
den vier obersten Halssegmenten entsprach, daB sich aber ein 
gliomatoser ProzeB von intramedullarem Sitz weit durch das 
Biickenmark nach abwarts erstreckte und daB zu diesem an- 
scheinend [durch den Fall 1 )] eine Hamatomyelie getreten war. 

Ich will den bemerkenswerten Fall, obgleich die histologische 
Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, hier insoweit beriick- 
sichtigen, als er in Beziehung zu unserem Thema steht. Zunachst 
ein Wort zur Rechtfertigung meiner Diagnose. So exakt diese 
in Bezug auf die Lokalisation gewesen ist, auch bezuglich der 
komplizierenden Affektion im Bereich des Sakralmarkes, so falsch 
war sie bezuglich der Natur des Prozesses. Statt der von mir 
urspriinglich diagnostizierten Caries und spater angenommenen 
Pachymeningitis cervicalis hypertrophica (tuberculosa?) fand sich 
eine Neubildung. Diese hatte ich fur unwahrscheinlich gehalten 
und muBte sie fiir unwahrscheinlich halten, weil es mir in den ersten 
Stadien des Leidens gelungen war, durch Extensionsbehandlung 
eine Heilimg zu erzielen, die sich auf eine Reihe von Jahren er¬ 
streckte. Das ist eine nach unseren bisherigen Erfahrungen und 
Anschauungen fiir einen Tumor unerhorte Erscheinung. Man 
konnte allenfalls noch die Hypothese aufstellen, daB es sich doch 
urspriinglich um einen meningealen EntziindungsprozeB gehandelt 
habe und daB erst auf diesem Boden die Geschwulst entstanden sei. 


*) Der Fall lelirt so recht, wie vorsichtig man in der Bewertung 
therapeutischer Kesultate und in der Begriindung der Diagnose e juvantibus 
sein muB. Erb liatte richtig vermutet, daB eine Gliose im Spiele sei, ich 
hatte falschlich eine Caries angenommen, aber durch die unter falscher 
Diagnose eingeleitete Extensionstherapie der Pat., ein sich iiber 7 bis 8 Jahre 
erstreckendes Wohlbefinden verschafft. Das war der Segen der falschen 
Auffassung, aber ihr Fluch war nun, dafi ich naturgemaB auf Grund des 
erzielten Erfolges auch in dor ganzen Folgezeit an meinem Irrtum festhielt. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


483 


Diese Annahme scheint mir aber sehr gewagt. Man konnte femer 
noch den Einwand erheben, daB die urspriingliche Diagnose einer 
Caries schon durch das negative Ergebnis der Rontgenuntersuchung 
widerlegt worden sei. Aber ganz abgesehen davon, daB auch heute 
noch Falle von Spondylitis tuberculosa beobachtet werden, in 
denen die Rontgenoskopie nicht zu einem eindeutigen Resultate 
fiihrt, war das Verfahren im Jahre 1900 doch noch unvollkommen 
ausgebildet. Als bei der spateren Untersuchung im Jahre 1910 
die Wirbelsaule sich ganz frei beweglich zeigte, gelangte ich zu der 
Auffassung, daB der Wirbelherd ausgeheilt sei, daB nun aber die 
auf dieser Basis entstandene Pachymeningitis chronica die Grund- 
lage der Erscheinungen bilde, da ich in Gemeinschaft mit F . Krause 
ahnliche Falle einer scheinbar primaren tuberkulosen Form der 
Pachymeningitis chronica beobachtet hatte. 

In klinisch-diagnostischer Hinsicht bildet unser Fall wegen 
seines Verlaufes ein Unikum; auch dadurch, daB fur die klinischen 
Erscheinungen fast nur der extramedullar gelagerte Tumor zur 
Geltung kam. Uns interessiert hier in erster Linie die Form der 
Hemiplegia spinalis. Sie schlieBt sich als Hemiplegia diaphrag- 
matico-brachiocruralis der als Beobachtung III geschilderten an, 
erganzt sie aber dadurch, daB 1. die Phrenicuslahmung auch 
rontgenologisch und 2. ihre Grundlage auch durch die ana- 
tomische Untersuchung festgestellt worden ist. Gerade im 
Ursprungsgebiet der III. und IV. Cervikalwurzel hatte der Tumor 
das Mark aufs schwerste geschadigt, und gerade diese Wurzeln 
hoben sich schon makroskopisch durch ihre Verfarbung und 
Atrophie ab. 

Der Fall leitet aber auBerdem durch die atrophische Cucullaris- 
lahmung zu einem weiteren Typus iiber und bedarf deshalb noch 
nachher der Beriicksichtigung. 

In Bezug auf die Frage der spinalen Paralysis diaphragmatica 
ist auch die von Veraguth-Brun mitgeteilte Beobachtung von 
Interesse, insofern, als auch hier diese Lahmung rontgenologisch 
festgestellt, die Diagnose und Lokalisation durch die Biopsie und 
den Erfolg der Therapie sichergestellt worden ist. 

Sehr beachtenswert ist nun aber die schon kurz angefiihrte 
Tatsache, daB unter gleichen Verhaltnissen die Lahmung des 
Phrenicus ausbleiben kann. AuBer dem heute mitgeteilten Fall 
Sch. (Abschnitt II dieser Abhandlung) ist in dieser Hinsicht 
besonders lehrreich ein von Krause und mir 1 ) beschriebener: eine 
extramedullare Geschwulst, die vom II. bis IV. Halswirbel reichte 
und das Ruckenmark so stark komprimierte, daB schwere 
motorische und sensible Ausfallserscheinungen an alien vier 
Extremitaten und am Rumpfe bestanden, hatte keinerlei Storungen 
der Zwerchfellfunktion verursacht. Auch der operative Eingriff 
an dieser Stelle — der zur dauemden Heilung fiihrte — hat 
nicht einmal eine temporare Lahmung des Nerven verursacht. 

J ) Munch, med. Woch. 1909. 

Monatapchrift f. Psycblatrie u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 0. 32 


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484 


Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


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Dasselbe haben Auerbach-Brodnitz 1 ) in ihrem Falle konstatiert 
und der Vermutung Ausdruck gegeben, daB der Phrenicuskem sich 
■durch eine besondere Resistenz auszeichne. Auch eine von West- 
phal 2 ) mitgeteilte Beobachtung ist fiir diese Frage lehrreich. 

Es sind das freilich Erscheinungen, die uns in der Nerven- 
pathologie iiberall begegnen: Zentren, Leitungsbahnen, Nerven- 
keme werden in dem einen Falle schon durch einen unbedeutenden 
ProzeB in ihrem Bereich, in ihrer Nachbarschaft bis zum volligen 
Versagen der Funktion geschadigt, in dem anderen bieten sie 
einem sie von alien Seiten bedrangenden und durchsetzenden 
Krankheitsvorgang Trotz und bewahren ihre Funktion unge- 
•schmalert. Bornstein 3 ) hat das auch auf experimentellem Wege fest- 
gestellt. GewiB spielt da der Umstand eine Rolle, ob es sich um 
eine akute oder allmahliche Entstehvmg handelt, femer ob mit dem 
Vorgang der Kompression usw. Zirkulationsstorungen und Gift- 
wirkungen verkniipft sind. Aber es ist auch die Annahme nicht 
von der Hand zu weisen, daB bestimmte Apparate, besonders die 
lebenswichtigen Zentren und Kerne, so luxurios angelegt sind, 
•daB sie betrachtlich reduziert werden konnen, ohne .daB ihre 
Funktion dadurch tangiert zu werden braucht. Fiir das spinale 
Zentrum des Zwerchfells imd seine Leitungsbahnen glaube ich das 
auf Grund der eigenen und fremden Erfahrungen annehmen zu 
•diirfen. Freilich diirfen wir es nicht auBer acht lassen, daB leichte 
Grade der Parese, besonders wenn nicht rontgenologisch 4 ) gepriift 
wird, sich hier der Feststellung entziehen konnen, daB wir einen 
so feinen Gradmesser fur die Hypoinnervation wie am Facialis, 
Hypoglossus usw. nicht besitzen, und daB die Beurteilung der 
elektrischen Erregbarkeit hier mit besonderen Schwierigkeiten 
verkniipft ist. Namentlich ist iiber die Entartimgsreaktion am 
Diaphragma nichts bekannt. Ich halte es aber nicht fiir ausge- 
schlossen, daB es auch einrnal gelingen diirfte, sie bei sehr mageren 
Individuen direkt oder bei Reizung unter Rontgendurchleuchtung 
wahrzunehmen. Bisher gelang es mir nur, die Abnahme oder den 
Verlust der Erregbarkeit am N. phrenicus festzustellen, ein Nach- 
weis, der erst dadurch bedeutungsvoll wurde, daB die Reizung des 
kontralateralen Nerven ein positives Ergebnis hatte oder daB — 
wie in Fallen von Alkoholneuritis —mit der Wiederkehr der 
Funktion auch die Erregbarkeit wiederkehrte. In dem Falle von 
Mundelius ist ebenfalls festgestellt worden, daB der N. phrenicus 
■elektrisch nicht erregbar war. 

*) Mitt. a. d. Grenzgeb. Bd. XV. 

*) Berl. klin. Wochenschr. 1911. 

*) Experim. u. anatom. Untera. iiber die Kompresaion des Riicken- 
marks, Vortrag gehalten auf dem II. KongreB polnischer Neurologen. 
1912. Ref. Zeitschr. f. d. ges. Nbur. VI. 

4 ) Vgl. zu dieaer Frage Kienbock, Levy-Dorn, Holzknecht, Moritz 
(Dtsch. med. Woch. 1906), Janin und besonders Eppinger, Allgemeine u. 
spez. Path. d. Zwerchfells. Nothnagela Handbuch Suppl. 1911. S. auch 
JStuertz, Ueber Zwerchfellbewegung nach einseitiger Phrenicusdurchtrennung, 
Dtsch. med. Woch. 1912. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 


485 


Die durch Erkrankungen des Halsmarks in der Hohe des 
Phrenicuskems bedingte Hemiplegia spinalis zeigt mannigfaltige 
Abarten infolge der Verschiedenartigkeit der durch die Lasion der 
sensiblen Leitungsbahnen verursachten kontralateralen und homo- 
lateralen Sensibilitatsstorungen. Auf diese Frage, die schon So 
vielfach — von Mann , Laehr, Kocher, Oppenheim, Brissaud, 
Henneberg, Petren, Jolly und vielen Anderen, zuletzt von Fabritius — 
diskutiert worden ist, soli hier nicht eingegangen werden. Aber auf 
einige Punkte ist noch hinzuweisen: zunachst auf die Reizzuslande, 
die sich in den oberhalb des Krajikheitsherdes entspringenden 
Wurzelgebieten entwickeln. Sie sind sensibler und motorischer 
Natur. Es geht aus den vorliegenden Erf a hr ungen und auch aus 
meinen personlichen nicht mit genugender Deutlichkeit hervor, 
ob es sich um die Folgen einer Reizung der nervosen Elemente durch 
den sie eben noch beriihrenden, aber nicht schwer schadigenden 
KrankheitsprozeB (oberster Geschwulstpol, Liquorstauung, Oedem 
usw.) handelt oder um ein Nachbarschaftssymptom, dadurch ver- 
ursacht, daB die Ausschaltung mehr oder weniger des gesamten 
Ruckenmarks den unversehrten obersten Riickenmarksabschnitt, 
dem vom Zentrum imd zum Teil auch von der Peripherie alle 
Impulse zustromen, in einen Zustand von Uebererregung versetzt. 
Es sind nach unserer Erfahrung beide Vorg&nge im Spiele, und 
es wrd sich aus diesen Reizphanomenen nicht bestimmt erkennen 
lassen, ob die entsprechenden Ruckenmarkssegmente noch in das 
oberste Niveau der Erkrankung fallen oder bereits oberhalb des- 
selben gelegen sind. 

Was die Erscheinungen selbst anlangt, so handelt es sich um 
das Symptom der Hyperasthesie einerseits, der Kontraktur anderer*- 
seits. Den Ursprung des ersteren, das auch oft dem Sitz der 
Wurzelschmerzen entspricht, pflegt man nach der bei der 
Brown-Sequardschen Lahmung gewonnenen Erfahrungen noch 
in das oberste Niveau des Krankheitsherdes zu verlegen. Ein 
typisches Beispiel dieser Art bildet der schon mehrfach an- 
gefiihrte, von Oppenheim-Krause geschilderte Fall, in welchem 
•die in der Hohe des II. bis IV. Halswirbels sitzende extramedullare 
Geschwulst mit einer Hyperasthesie im Bereich der oberen Cervikal- 
nerven (seitliche Halsgegend, Fossa supraclavicularis usw.) ein- 
herging. 

Sehr viel seltener ist bisher der entsprechenden motorischen 
Reizphanomene Erwahnung getan worden. Ich habe schon kurz 
angefuhrt, daB bei Krankheitsherden im Bereich der Halsan- 
schwellung, die unterhalb der V. und VI. Cervikalwurzel sitzen, 
die von diesen Wurzeln innervierten .ffr&schen Muskeln in einen 
Zustand dauemder Anspannung geraten konnen, wie das schon 
von Hutchinson, Thorburn, Kocher u. A. beschrieben sei. In einem 
unserer Falle 1 ) entsprach diesem motorischen Erregungszustand 
auch eine auffallende Steigerung der elektrischen Nervenerregbarkeit. 


l ) Oppenheim-Borchardt, Berl. klin. Woch. 1896. 

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4W Oppenheim, Weitere Beitrage zar Diagnose 

Es ist bislang, soweit ich sehe, nicht geniigend darauf geachtet 
worden, ob es sich dabei nur um eine Haltungsanomalie oder urn 
eine entsprechende Hypertonie resp. echte Kontraktur handelt. 
Nach meiner Erfahrung kommt beides vor. 

Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht unsere heute mitgeteilte 
Beobachtung Sch. (Abschnitt II),in welchereine das Riickenmark in 
der Hohe des III. bis V. Halssegmentes komprimierende Geschwulst 
zu einer Hemiplegia spinalis gefiihrt hatte, die mit Hochstand der 
Skapula durch dauemde Anspannung des Levator anguli scapulae 
und der Rhomboidei einherging. Auf dieses Symptom und seine 
lokalisat-orische Bedeutung muB in kiinftigen Beobachtungen 
genau geachtet werden, damit wir erkennen, welches die Be- 
dingungen fiir seine Entwicklung sind und ob diese Form der Kon¬ 
traktur von der spastischen unterschieden werden kann. Jedenfalls 
gibt es einen Typus der Hemiplegia spinalis , in welchem nicht nur 
die Extremitatenldhmung einen spastischen Charakter hat, sondern 
auch oberhalb des Krankheitsherdes entspringende Muskeln in einen 
Kontrakturzustandes geraten konnen, die nichts mit der Pyramiden- 
degeneration zu tim hat. 

Wir kommen damit zu dem letzten Typus (supremus) der 
Hemiplegia spinalis , wie sie sich bei Affektionen des obersten Hals- 
marks, der obersten zwei Cervikalsegmente entwickelt. 

Man sollte zunachst erwarten, daB auch unter diesen Verhalt- 
nissen das Zwerchfell an den Lahmungserscheinungen teilnehme. 
Allerdings lehren die experimentellen Untersuchungen von Porter , 
Kron 1 ), daB bei halbseitiger Unterbrechung der supranuklearen 
Bahnen des N. phrenicus die Impulse in der gekreuzten Rxicken- 
markhalfte zu dem homolateralen Kerne fortgeleitet werden 
konnen. Auch nimmt das spinale Zentrum des N. phrenicus insofern 
eine Sonderstellung ein, als es sich bei seiner Tatigkeit weniger 
um willkiirliche bezw. kortikofugale Impulse, als um eine reflek- 
torische, automatische Funktion handelt. 

Ferner ist nichts dariiber bekannt, ob sich bei Lasion der aus 
der Med. obi. zum Nucleus spinalis diaphragmatis herabziehenden 
Leitungsbahn dem spastischen Symptomenkomplex analoge Er- 
scheinungen am Zwerchfell entwickeln konnen. Jedenfalls wissen 
wir nichts von der Hypertonie dieses in der Tiefe verborgenen 
Muskels, der ja auch in Bezug auf die Anordnung seines sehnigen 
Teiles eigenartige Verhaltnisse bietet. Ich halte es aber nicht fiir 
ausgeschlossen (nach eigenen Beobachtungen), da/3 der Singultus 
auf diesem Wege zustande kommen kann . Es ist ferner denkbar, 
daB sich unter entsprechenden Verhaltnissen bei der Perkussion 
der unteren Rippen motorische Reizphanomene am Zwerchfell 
auslosen lassen, die wenigstens auf dem Rontgenschirm erkenn- 
bar sind. Meine bisherigen Versuche. auf mechanischem Wege eine 
nachweisbare Zwerchfellzuckung auszulosen, scheiterten daran, 
daB dabei eine Kontraktion der Bauchmuskeln eintritt, die eine 


2 ) Zeitwchr. f. Nerv. J^d. XXI1. 


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und Diffcrentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 4S7 

Beobachtung des Zwerchfells erschwert. Nur in einem Falle 
konnte ich auf diesem Wege eine inspiratorische Zuckung reap, 
eine krampfhafte Inspiration auslosen. 

Lassen wir die Frage nach dem Verhalten des Zwerchfells 
bei den Affektionen des obersten Halsmarkes auCer acht, so erfahrt 
die Hemiplegia spinalis bei dieser Lokalisation eine weitere Modi- 
fikation dadurch, dab sich eine atrophische Cucullarislahmung 
hinzugesellt. Mit der spastischen Lahmung des Armes und Beines, 
die sich eventuell auch auf einzelne Schulterblattmuekeln erstrecken 
kann, verbindet sich dann die Degeneration des M. cucullaris und 
eventuell des Sternocleidomastoideus. Eine eigtne Beobachtung 
dieser Art habe ich schon in meiner ersten Abhandlung liber 
die Broum-Sequardsche Lahmung erwiihnt. Die Cucullarislahmung 
war mit Entartungsreaktion verkniipft. Der heute mitgeteilte 
Fall (Beob. IV) bietet die Besonderheit, dab 1. die Lahmung 
nur die mittleren und unteren Biindel des M. cucullaris 
betraf, wahrend das oberste nahezu verschont blieb; 2. die Ver- 
anderung der elektrischen Erregbarkeit, die auch nur in diesem 
Teil des Muskels nachweisbar war, den Charakter einer einfachen 
quantitativen Abnahme der Erregbarkeit (allerdings betrachtlichen 
Grades) hatte. Die Atrophie der mittleren unteren Cucullaris- 
bundel wurde auch durch die anatomische Untersuchung festgestellt. 

Am Sternocleidomastoideus habe ich einen Beweglichkeits- 
defekt nicht nachweisen konnen, und es ist auch aus ftuberen 
Griinden die elektrische Untersuchung an diesen Muskeln nicht 
vorgenommen worden. Auch auf diesen Punkt wurde kiinftig 
genauer zu achten sein. 

Es darf femer nicht unerwahnt bleiben, dab unter scheinbar 
gleichen Verhaltnissen (Beob. Th. bei Oppenheim-Krause) die 
Funktion des Cucullaris bzw. N. accessorius unbeeintrachtigt 
bleiben kann. 

Von den in der Literatur niedergelegten Beobachtungen der 
spinalen Hemiplegie, die diesem Typus angehoren, sei die von 
Henneberg besonders angefiihrt. Sie zeigt eine Beteiligung des 
Cucullaris und Sternocleidomastoideus mit partieller Entartungs¬ 
reaktion im ersteren, ohne dab ein verschiedenes Verhalten der 
einzelnen Biindel hervorgehoben wird. Auch der Levator anguli 
scapulae und die Rhomboidei nahmen hier an der Lahmung teil. 

Naturgemab hat dieser Typus der spinalen Hemiplegie auch 
ein entsprechendes sensibles Segmentsymptom, indem die Anasthesie 
der homolateralen Seite sich auf das Gebiet der obersten Cervikal- 
nerven erstreckt (meine Beob. IV, femer Henneberg u. A.). 

Auch kann unter diesen Verhaltnissen die Empfindungslah- 
mung der gekreuzten Seite sich bis in das Gebiet der obersten 
Cervikalnerven erstrecken. Dm trifft natiirlich nur fiir die hochst- 
lokalisierte Form der unilateralen Halsmarkerkrankung zu, und 
wohl nur dann, wenn diese noch iiber das oberste Cervikalsegment 
hinausreicht. 


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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose 


Die Symptomatologie der Herderkrankungen dieses Sitzes 
kann nun noch in mancherlei Weise modifiziert weidtn. Zunaehst 
sollte man voraussetzen, daB mit dem Hinaufriicken des Krank- 
heitsprozesses in die obersten beiden Ceivikalsegmente Reiz- und 
Ausfallserscheinungen im Trigeminusgebiet auftreten. 

Ueber Reizerscheinungen im Quintusgebiet ist auBerordentlich 
wenig bekannt. Wir hatten sie in dem beute mitgeteilten Falle D. 
(Beob. IV) erwarten miissen; Pat. hat aber nie iiber Schmerzen im 
Gesicht geklagt und hat auch zu keinerZeit das Symptom der Hyper- 
asthesie (im Trigeminus) geboten. In der entsprechenden Literatur 
land ich nur eine Beobachtung (No. 34) von Kocher, in welcher eine 
Messerstichverletzung zwischen Occiput und Atlas durch Lasion 
des linken oberen Cervikalmarks eine typische Halbseitenlahmung 
hervorgebrcaht hatte mit einer auch die oberen Cervikalsegmente 
umfassenden dissoziierten Empfindungslahmung der rechten Seite, 
wahrend links die Hyperasthesie auch das Trigeminusgebiet betraf. 
Da es sich hier um eine schwere Verletzung handelte, deren Effekt 
sich auf die weitere Umgebung erstreckt haben kann, darf die 
Beobachtung nicht zu weitgehenden SchluBfolgerungen verwertet 
werden. 

Da die spinale Trigeminuswurzel bis ins zweite Halssegment 
hinabreicht, sollte man bei den destruierend wirkenden Affektionen 
des obersten Halsmarks Analgesie und Thermanasthesie im Gesicht 
erwarten. Es liegen vereinzelte Erfahrungen dieser Art in der 
Literatur vor, auf die sich Henneberg bezieht, aber es hat sich 
meist um Gliomatose resp. Syringomyelie mit Syringobulbie ge- 
handelt, um Falle, in denen der KrankheitsprozeB bis in die 
Oblongata heraufreichte, so daB der sichere Naehweis einer duic-h 
eine sich auf das oberste Halsmark beschrankende Affektion 
bedingten Trigeminuserkrankung mir noch nicht erbiacht zu sein 
scheint. Es ist mir wohl bekannt, daB von Ldhr, Solder, Schlesinger 
Wallenberg u. A. der cervikale Anteil der Trigeminuswurzel in Be- 
ziehung zu der vom ersten Aste des Neiven versorgten Hautpartie 
gebracht worden ist unter Annahme eines von der peripherischen 
Innervation verschiedenen Begrenzungstypus. Aber es scheint 
mir durchaus erwiinscht, daB die spinale Innervation des Gesichtes 
noch durch weitere einwandfreie Beobachtungen klargestellt wird. 

Ich habe unter meinem reichen Material nur einen einzigen 
Fall gesehen, der in unzweideutiger Weise erkennen laBt, daB eine 
sich auf die obersten Cervikalsegmente beschrankende Erkrankung 
eine dissoziierte Empfindungslahmung im Gesicht hervorbringen 
kann. In Gemeinschaft mit Cassirer, der den Fall genau be- 
schreiben wird, habe ich einen Pat. an einer Pachymeningitis 
cervicalis hypertrophica syphilitica des obersten Halsmarkes be- 
handelt, bei dem zu den typischen Symptomen einer derartigen 
“ Spinalerkrankung die Analgesie und Thermanasthesie im Gesicht 
gehorte, wahrend die Medulla oblongata nicht an der Erkrankung 
teilnahm. 


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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 48£ 

Wir sind damit zu der wichtigen Frage gelangt, ob, inwieweifc 
und unter welchen Verhaltnissen Bulbarsympiome bei den Er- 
krankungen des obersten Halsmarks auftreten konnen. 

Ueberraschend war ffir mich die Anteilnahme des homolateralen 
Facialis an der Hemiplegia spinalis, wie sie schon andeutungsweise 
im Fall Th. (< Oppenheim-Krause ) und dann in weit deutlicherer 
Ausbildung bei meinem Pat. Sch., auf den sich die Mitteilung im 
II. Absehnitt der heutigen Abhandlung bezieht, beobachtet worden 
ist. Wenn es sich auch nur um eine leichte Parese des Mundfacialis 
— und eine weit geringere des entsprechenden Musculus frontalis 
udorbicularis—handelte, war das Symptom doch ganz dazu angetan, 
der Hemiplegia spinalis den auBeren Aspekt der cerebralen zu ver- 
leihen. In der Literatur sind mir Erfahningen entsprechender Art 
nicht begegnet, da in dem Nonne schen Falle (s. u.) die Facialisparese 
eines von den vielen Zeichen einer bulbaren Lahmung bildete. 
Wollte man noch daran zweifeln, daB die Erscheinung in den beiden 
Fallen in Zusammenhang stand mit der Kompressicn des oberen 
Cervikalmarks durch die extramedullare Geschwukt, so ist der 
Be we is durch den Erfolg der Therapie erbracht worden, indem 
sich — man konnte fast sagen unmittelbar — naeh ihrer Ex- 
stirpation die Parese zuiiickbildete. 

Wie kommt das Phanomen zustande ? Bei der Beantwortung 
dieser Frage ist zun&chst daran zu erinnern, daB auch andere Bulbar- 
symptome bei Affektionen des oberen Hah marks in vereinzelten 
Fallen konstatiert worden sind. Dabei konnen wir wohl ganz ab- 
sehen von den im AnschluB an die schweren Verletzungen der 
Wirbelsaule und des Halsmarks auftretenden Erscheinungen 
(Uebelkeit, Erbrechen, Pulsverlangsamung usw.), weil bei diesen 
sowohl die mechanische Lasion als besonders die Erschiitterung und 
Shockwirkung weit fiber das direkt getroffene Gebiet hinausgreifen 
kann. Auch die Gliosis und Syringobulbie eigne t sich nicht fur diese 
Betrachtung, weil die letztere, wie schon der Name sagt, Ver- 
anderungen im Terrain des Bulbus hervorruft. 

Dagegen liegen vereinzelte Beobachtungen vor, hi welchen 
Geschwiilste im Bereich des obersten Halsmarks Bulbarsymptome 
hervorgebracht hatten. Dahin gehort zunachst die Mitteilung von 
H. Schlesinger 1 ), welche sich auf einen Solitartuberkel im obersten 
Halsmark bezieht. Hier hatte das Leiden plotzlich mit Schling- 
lahmung, Dysarthrie, Salivation, Aphonie usw. begonnen. Fur 
diese Symptome gab die mikroskopische Untersuchung der Kerne 
des Bulbus keine Erklarung, so daB Schlesinger sich geneigt sah, 
Zirkulationsstorungen und Oedem zu beschuldigen. Dann folgte 
die bemerkenswerte Beobachtung Nonnes 2 ), in welcher ein aszen- 
dierendes intramedullares Sarkom, das fiber das Halsmark nicht 
nach oben hinausgriff, in den letzten Lebenswochen Schling- 
lahmung, Parese der Abducentes, Faciales, Masseteren usw. sowie 

1 ) Zeitschr. f. klin. Med. Bd. XXXII. Suppl. 

2 ) Arch. f. Fsyeh. Bd. XXXIII. 


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Oppenhe i m , Weitere Beitrage zur Diagnose 


Neuritis optica hervorgebracht hatte. Nonne bezieht die Erschei- 
nungen auf Intoxikation. Ihm schlieBt sich in der Deutung Stertz 1 ) 
an, der in einem ahnlichen Falle, in welchem sich sub finem vitae 
Dysarthrie, heftiger Singultus, Tachykardie usw. entwickelt hatten, 
in den Kemen der Medulla oblongata keine Veranderung, nicht 
einmal Oedem nachweisen konnte. 

Die Literatur mag noch weitere Beobachtungcn entsprechender 
Art enthalten. Die angefiihrten geniigen, um die Tatsache zu 
demonstrieren, daB Erkrankungen im und am oberen Halsmark 
jedwedes Bulbarsymptom hervorbringen kcnnen. 

Ich halte auf Grund der eigenen Erfahrungen, die zum Teil 
auch von Nonne herangezogen werden, die Intoxikationstheorie 
fur begriindet. Aber es muB doch auf fallen, daB die Giftwirkung 
sich unter den genannten Verhaltnissen nur auf die bulbaren Nerven 
erstreckt und nur bei Nonne noch den Opticus in Mitleidenschaft 
zieht. Es diirften also noch andere Einfliisse dabei eine Rolle spielen. 
Auch die Zirkulationsstorung, das Oedem mag zu den wirksamen 
Momenten gehoren. Dazu kommt die von den friiheren Autoren 
noch nicht beriicksichtigte Liquorstauung oberhalb des Tumors, 
auf deren klinische Bedeutung ich die Aufmerksamkeit gelenkt 
habe, undes miiBte kiinftig darauf geachtet werden, ob sich bei den 
das obere Halsmark betreffenden Geschwiilsten diese in besonders 
starkem MaBe im Bereich der Medulla oblongata entwickelt. 

DaB in den heute mitgeteilten Fallen die Facialisparese nicht 
durch Giftwirkung erklart werden kann, liegt auf der Hand, da 
sie sich fast unmittelbar im AnschluB an die Exstirpation der Ge- 
schwulst zuriickbildete. Auch der Umstand, daB sie lange Zeit 
als isoliertes Symptom bestand, macht fur sie die Annahme der 
toxischen Genese hochst unwahrscheinlich. 

Ich bin also der Ansicht, daB bei der Erzeugung dieser Bulbar- 
symptome noch andere Beziehungen in Wirksamkeit treten. Wir 
haben gesehen, daB auch bei den Affektionen der tieferen Etagen 
des Halsmarks Erscheinungen auftreten, die auf den oberhalb des 
Krankheitsherdes gelegenen Riickenmarksabschnitt bezogen werden 
muBten. Wenn ich auch zuerst und immer wieder dafiir eingetreten 
bin, daB die Liquorstauung fiir einen Teil dieser Erscheinungen ver- 
antwortlich zu machen ist, habe ich doch schon in dieser Abhand- 
lung Gelegenheit genommen, auf weitere Tatsachen hinzuweisen. 
So glaubte ich als Erklarung fiir die Hyperasthesie der Haut 
und Kontraktur in den Muskeln, die den oberhalb des Locus morbi 
gelegenen nachst hoheren Segmenten entspringen, einen Zustand 
erhohter Erregbarkeit in diesen supponieren zu diirfen. Eine 
entsprechende Deutung habe ich fiir den Singultus herangezogen. 
Damit ist der Versuch einer Erklarung der Reizerscheinungen 
gemacht. Aber wie steht es mit den uns jetzt beschaftigenden 
Ausfallssymptomen ? 


l ) Mon. f. Psych. Bd. XX. 


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und Different ialdiagnose des Tumor meduilae spinalis. 491 

Ich bezweifle nicht, daB die Diaschisis im Sinne Monakows 
hier eine Rolle spielt. Da das Halsmark von auf- und absteigenden 
Bahnen durchzogen wird, welche Verbindungen herstellen zwischen 
bulbaren und spinalen Nervenkernen, ist es durchaus denkbar, 
daB eine schwere Schadigung dieser Gebilde im obersten Ceivikal- 
mark eineWirkung ausiibt, die sich bis in die Kerne der Medulla 
oblongata erstreekt und hier einen lahmenden EinfluB ausiibt. 

Wir haben damit eine Reihe von Wegen festgestellt, auf dcnen 
die Erkrankungen des obersten Halsmarks, ohne direkt auf den 
Himstamm iiberzugreifen, die Kerne und Bahnen der Medulla 
oblongata in Mitleidenschaft ziehen konnen. Die Kenntnis dieser 
Tatsache hat eine groBe praktische Wichtigkeit. Sie wird uns 
davor schiitzen, auf Grund von Bulbarsymptomen allein und 
schlechthin die Diagnose der Syringomyelie und Syringobulbie 
zu stellen bei Geschwiilsten am oberen Halsmark, die dem operativen 
Eingriff zuganglieh sind. 

Ieh will das durch ein weiteres Beispiel erlautern. 

Boob. V. E. W., 13 Jahre alt. Seit ca. 5 Jahren hat sich eine ganz 
allmahlich fortschreitende Schwache in der linken Korperseite entwickelt. 
Zuerst Wurde die linke Hand, dann der Arm, ein halbes Jahr spater auch 
das linke Bein ergriffen. Diese GliedmaBen blieben in der Entwicklung 
zuriick. Keine Schmerzen, keine Parasthesien, keine Krampfe. keine 
Zuckungen in der linken Korperseite. Keine Blasenbeschwerden. Normale 
Geburt und in der ersten Kindheit normale Entwicklung. Intelligenz un- 
beeintrachtigt. Eltem und Geschwister gesund. 

Status (21. II. 1912): Schtidel nirgends klopf- oder druckempfindlich. 
Pupillen gleich. Lichtreaktion prompt. Ophthalmoskopisch normal. Augen- 
bewegungen frei. Kein Nystagmus. Kornealreflex links fehlend, rechts 
herabgesetzt. Beim Lacheln ein geringe.s Tieferstehen des linken Mund- 
facialis. Die rechte Nasolabialfalte ist beim Fletschen ausgepriigter als die 
linke, LidschluB beiderseits gleich. Hypoglossus frei. Das linke Bein wird 
beim Gehen nachgeschleift, beim Schwingen des Beines kommt es zu einer 
Mitbewegung im Extensor halluc. longus. Das linke Bein ist etwas kiirzer 
als das rechte, der linke FuB in toto deutlich kleiner als der rechte. Knie- 
phanomen rechts schwach, links stark gesteigert, ebenso Fersenpha nomen; 
leichter FuBclonus links; typischer Babinski und Oppenheim, ersterer auch 
rechts angedeutet. Keine Rigiditat im linken Bein. Motorische Schwache 
maBigen Grades in alien Muskelgruppen des linken Beines. Bauchreflex 
fehlt links, ist rechts erhalten. Sehnenphanomene auch im linken Arm 
gegen rechts gesteigert. Der linke Arm ist kiirzer, die linke Hand kleiner 
als die rechte. Es be^teht eine Hypertonie in der linken oberen Extremitat; 
besonders in den Flexoren der Hand und Finger. Linker Arm etwas cyanot isch 
und die Haut kiihler als rechts. Schwache im ganzen linken Arm, besonders 
in der Hand und den Fingern. Schmerz- und Temper at urgefii hi in den 
linksseitigen GliedmaBen erhalten, an der linken Planta pedis Hyperalgesie, 
am rechten Bein ist das Schmerzgefiihl herabgesetzt, und Warm wird als Kalt 
empfunden. Lagegefiihl an den Zehen des rechten FuBes normal, links herab¬ 
gesetzt. An den Hiinden werden Beriihrungen und Nadelstiche beiderseits 
gleichmaBig empfunden, auch Temperaturreize. Ueber der linken Clavicula 
und etwas oberhalb derselben werden leichte Beriihrungen nicht gefiihlt, 
auch scheint in der linken Fossa supraclavicularis eine geringe Hypalgesie 
zu bestehen. Bei einer spateren Untersuchung beschrankt sich die Sensi- 
bilitatsstorung hier auf ein kleineres Gebiet. Keine Hemihyperidrosis. 

In den kleinen Handmuskeln der linken Seite ist die faradische Erreg- 
barkeit etwas herabgesetzt, doch bietet die elektrische Priifung nichts Wesent- 
1 iches. Im linken unteren Cucullaris quantitative Abnahme der Erregbarkeit, 


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O p p e n h e i in , Weitere Beitrage zur Diagnose etc. 


keine EaR. Bei Pnifung mit der faradischen Biirste bestatigt sieh die 
Hypalgesie in der linken Supraklavikulargegend. 

Es besteht eine Par esc des linken Gamnensegels und cine Lahmung 
des linken Recurrens. Zwerchfellbewegung beiderseits gleich. Bei einer 
spateren Untersuchung ist der Kornealreflex beiderseits stumpf, ohne 
Unterschied zwischen links und rechts. Puls normal. Druck auf die Quer- 
fortsatze der Halswirbel links schmerzhaft. 

Zusammenfassung: Bei einem 13 jahrigen Madchen hat sich 
seit 5 Jahren eine fortschreitende Schwache in der linken Korper- 
seite entwickelt ohne Schmerzen, ohne Parasthesien. Es findet 
sich eine typische Hemiparesis sinistra spinalis spastica [dabei 
sind die GliedmaBen diinner und kiirzer als die der rcchtcn Seite 1 )] 
mit kontralateraler dissoziierter Empfindungslahmung, die nur 
am Bein deutlich ausgesprochen ist, eine homolaterale Hypasthesie 
im Bereich der obersten Cervikalnerven, auBerdem eine gleichseitige 
Lahmung des Stimmbandes und Parese des Gaumensegels, eine 
leichte Hypo-Innervation des entsprechenden Mundfaeialis und eine 
Abschwachung der Homhautreflexe, besonders des gleichseitigen. 
Im linken Cucullaris — bzw. in den unteren Biindeln desselben — 
ist die elektrische Erregbarkeit herabgesetzt. 

DaB diesen Erscheinungen eine Neubildung im Bereich der 
obersten Segmente des linken Cervikalmarks zugrunde liegt, 
bedarf nicht der weiteren Begriindung. Fraglich ist es nur, ob es 
sich um einen auf diese Oertlichkeit begrenzten Tumor am oder 
im Halsmark oder um Gliosis mit Syringobulbie handelt. Ich 
verzichte darauf, alle differentialdiagnostuchtn Momcnte hier in 
Betracht zu ziehen, beschranke mich vielmehr auf die Hervor- 
hebung der Tatsache, daB ich nach den friiheren Erfahrungen hier 
bestimmt die Diagnose Syringomyelie und Syringobulbie gestellt 
haben wiirde, w&hrend ich es nach meinen neueren, heute mit- 
geteilten Beobachtungen wenigster.s fur moglich erklartn muB, 
daB ein auf das linke obere Halsmark driickender Tumor vorliegt, 
der nicht auf das Gebiet der Oblongata iibergegriffen zu haben 
braucht. Ich halte es nicht fiir ausgeschlossen, daB die geringe 
Parese des linken Mundfaeialis, die Hyporeflexie der Comeae und 
auch die linksseitige Re currenslahmung auf dem voretehend nfther 
bezeichneten Wege der Fernwirkung bzw. Diaschisis zustande ge- 
kommen sind. Nach Rothmanns 2 ) neuesten Feststellungen ware 
es sogar denkbar, daB die Recurrenslahmung ein direktes Herd- 
symptom der Affektion des obersten Halsmarkes ist. Es scheint 
mir aber noch nicht liber alien Zweifel sichergestellt, daB die 
Heiserkeit der von Rothmann operierten Tiere ein direktes Symptom 
der Lasion des Halsmarkes ist. Da sich die Erscheinung meist 
rasch zuriickbildete, ist doch mit der Moglichkeit einer Diaschisis- 
wirkung zu rechnen. Jedenfalls ist der von Rothmann herangezogene 
Fall aus der Kasuistik von Wagner und Stolper nicht beweiskraftig, 
da sich die Wirkung einer Fraktur des Epistropheus mit Eislokation 

l ) Vgl. beziiglich dieser Erscheinung H. Oppenheim, Brown-Sequard- 
8c*he Lahmung 1. c. 

*) Neurol. Centralbl. 1912. No. 5. 


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F orster, Uefcer Apraxie bei BaJkendurchtrennung. 


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des Atlas doch sicher fiber das Terrain des obersten Halsmarkes 
hinaus erstreckt, auch wenn der nachweisbare anatomische ProzeB 
nicht iiber das erste Cervikalsegment hinausgeht. Man bedenke, 
daB hier der Exitus schon 3 Tage nach dem Zusammenbruch eintrat 
und die Aphonie sich bis da schon gebessert hatte. 

Immerhin ist die Anregung, die Rothmann gegeben hat, sehr 
beachtenswert und legt die Verpflichtung auf, kiinftig bei alien 
Affektionen des oberen Cervikalmarkes eine cxakte laryngo- 
skopische Untersuchung vorzunehmen — aber die Hauptschwierig- 
keit wird es bleiben, zu entscheiden, ob die unter diesen Verhalt- 
nissen eventuell nachweisbare Kehlkopflahmung ein direktes 
Halsmarksymptom ist oder auf dem Wege der Diaschisis zustande 
kommt. 

Ich hoffe, mit diesen Beitragen gezeigt zu haben, daB die 
Symptomatologie der Hemiplegia spinalis eine iiberaus reiche und 
mannigfaltige, daB unser Wissen auf diesem Gebiete aber noch 
ein liickenhaftes und nicht vollig abgerundetes ist, so daB es in 
vielen Beziehungen noch der Vervollkommnung durch die kiinftige 
Forschung bedarf. Jeder Fortschritt in der Erkenntnis wird hier 
der Diagnostik zugute kommen, und da es sich ganz besonders um 
die Lehre von den Riickenmarksgeschwiilsten handelt, von der 
wir in dieser Abhandlung ausgegangen sind, auch die Heilkunst 
fordern. 

Erklarung der Abbildungen auf Tafel XX, 

Fig. A. Querschnitt durch den Conus, etwa dem IV. Sakralsegment 
entsprechend. Farbung Weigert. Vergr. 30 : 1. 

Fig. B. Querschnitt durch den Epiconas. Farbung: van Qieson. 
Bei h Bindegewebswucherung. Vergr.: 20 : 1. 


(Aue der Psych, u. Nervenklinik der Kgl. Charity. 

[Geh. Rat: Prof. Dr. Bonhoeffer.]) 

Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 

Von 

Prof. Dr. E. FORSTER, 

Assistent der Klinik. 

(Hierzu Taf. XVIII und XIX.) 

Ein Fall von Balkentumor, der auf Grund der Ergebnisse 
von Liepmanns Apraxieforschungen im Leben diagnostiziert 
wurde 1 ), gibt unter Beriicksichtigung von zwei anderen Fallen 

*) Das Him wurde 1908 in der Berliner Gesellschaft fur Psychiatric 
und Neurologic deinonstriert. 


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Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


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mit Sektionsbefund aus der Klinik die Veranlassung, auf die Be- 
deutung der vorderen Hirnpartien fur das Handeln einzugehen. 

Max H. Aufgenommen am 30. III. 1908. Gestorben am 17. IV. 
1908, 5,35 morgens. Kaufmann, 46 Jahre alt. 

Nerven-, Geistes- und Lungenleiden sind in der Familie nicht vor- 
gekommen. Die Entwicklung ist normal gewesen, Krampfe sind nie auf- 
getreten. Patient will die gewohnlichen Kinderkrankheiten durchgemacht 
haben, sicher Masern. Patient hat nicht gedient wegen allgemeiner Korper- 
schwache; er hat 4—5 Glas Bier taglich getrunken und 5—6 Zigairen 
geraucht. Lues wird negiert, Gonorrhoe von 14 Jahren. Er hat einc 
Narbe an der Gians penis, die er auf eine Verletzung bei der Geburt zuriick- 
fuhrt. Als Kind hat Patient einmal einen Schlag mit einer Spitzhacke auf 
den Hinterkopf erhalten, dabei sind Erscheinungen von Gehirnerschiitte- 
rungen oder Basisfraktur nicht aufgetreten. Die Wunde heilte schnell 
ohne weitere Storung ab. Ueberanstrengungen oder iibermaBige Aufregungen 
hat Patient nicht durchzumachen gehabt. Er ist seit 1893 verheiratet 
und hat ein Kind, das im Alter von 8 Monaten gestorben ist, zweitens hat 
die Frau eine Fehlgeburt im dritten Monat durchgemacht. 

Patient war von jeher leicht erregbar, gereizt und abgespannt und 
hatte bisweilen anfallsweise Kopfschmerzen im Hinterkopf. Ende 1907 
machte er eine unbedeutende Influenza durch, die ohne arztliche Hilfe 
heilte; seitdem fuhlte er sich nicht ganz wohl, er glaubte, er habe noch 
die Influenza, sie habe sich verschleppt. In den letzten Wochen fuhlte 
sich Patient matt und schwach, klagte iiber erhohten Harndrang und hart- 
nackige Verstopfung. Er suchte deshalb vor 14 Tagen den Arzt auf. Dieser 
verordnete Mixtura nervina. Letzten Mittwoch machte Patient eine 
Schwitzkur (wegen der verschleppten Influenza), bis Freitag ging er aber 
noch regelmaBig in sein Geschaft. Am Sonnabend schlief er fast den ganzen 
Tag und fuhlte sich sehr matt. Sonntag bemerkte er auf einem Spaziergang 
die sehr schnelle Ermiidbarkeit seiner Beine; sie wollten ihn nicht mehr 
tragen. Am Mon tag (8 Tage vor der Aufnahme) ging er abermals zum Arzt, 
weil die Schwache in den Beinen sehr stark zugenommen hatte, so daB 
Patient kaum die Treppen zu steigen vermochte. Der Arzt gab ihm Medizin 
und verordnete Elektrisieren der FiiBe. Patient legte sich dann ins Bett. 
Am Mittwoch zog die Frau einen Naturarzt hinzu, der Packungen ver¬ 
ordnete, die geholfen haben sollen; da Patient Donnerstag nicht mehr 
gehen konnte, wurde Freitag ein Nervenarzt hinzugezogen, der eine Alfektion 
des Riickenmarke8 annahm und zur Aufnahme in eine Klinik riet. Er konne 
nun nicht mehr gehen, es seien nur mehr leichte Bewegungen moglich. 
Er habe kein Fieber gehabt, keine Gefuhlsstorungen, keine lnkontinenz. 
Kopfschmerzen sind auBer den obenerwahnten nicht vorgekommen. 
Schwindel und Erbrechen niemals. In den ersten Tagen der Krankheit 
habe er Tupfen im linken Ohr gehabt, kein eigentliches Ohrensausen. Die 
Sehkraft habe seit einigen Jahren beim Lesen nachgelassen, dew Gedachtnis 
soil nachgelassen haben, sonst sei die Intelligenz ungestort. Wahrend der 
Anamnese bricht Patient einige Male in schluchzendes Weinen aus. Patient 
macht einen ziemlieh benommenen Eindruck. Er habe in der linken Hand 
mehr Kraft zum Arbeiten als in der rechten, aber geschrieben habe er 
stets mit der rechten Hand. 

Die korperliche Untersuehung ergibt folgendes; Es handelt sich um 
einen ziemlieh groBen Mann in gutem Ernahrungszustand. An der Gians 
penis befindet sich eine scharf umrandete vertiefte Narbe; Lunge und 
Herz ohne krankhafte Veranderungen; doppelseitig ein geringer auBerer 
Leistenbruch; der Puls betragt 4 X 21. Die BlutgefaBe sind maBig ver- 
hartet, der Schadel ist nicht klopfempfindlich. Der Geruch ist fiir Asa 
foetida rechts gleich links. Perubalsam wird rechts besser wie links ge- 
rochen. Die Pupillen sind gleich weit und rund, die Licht- und Konvergenz- 
reaktionen sind erhalten. Der Augenhintergrund ergibt eine leichte Ver- 
schleierung der Pupillengrenze, ohne daB die GefaBe schlangeln oder 
erweitert sind. Die Augenbewegungen sind frei; Nystagmus besteht 


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Forster, Ueber Apraxie bei Baikendurchtrennung. 495 

nicht. Der Cornealreflex ist intakt; weder im sensiblen noch im motorischen 
Trigeminus krankhafte Veranderungen. Der Facialis wird in Ruhe sym- 
rnetrisch innerviert. Augenzukneifen, Stirnrunzeln, Zahnefletschen ge- 
schieht symrnetrisch, beim Zahnefletschen bleibt die linke Halfte vielleicht 
etwas zuriick. Das Mundoffnen geschieht symrnetrisch, nur offnet Patient 
den Mund sehr wenig weit. Das Gehor ist gut; Weber wird nicht lateralisiert, 
Rinne beiderseits positiv. Der Geschmack ist nicht zu priifen, da Patient 
nicht genugend aufpaBt. Das Gaurnensegel wird symrnetrisch gehoben; 
der weiche Gaumenreflex und der Wiirgreflex fehlen. Kopfdrehen, Schulter- 
heben geschieht symrnetrisch. Die Zunge wird nur wenig vorgestreckt, 
sie weieht deutlich nach links ab. Die Sprache ist etwas verwaschen, Dampf- 
schiffschleppschiffahrt kann aber riclitig nachgesagt werden. Die Kraft in 
beiden Armen ist etwas herabgesetzt rechts mehr als links 35 (Patient 
ist, wie erwahnt, Linkshander). Seit der Erkrankung macht Patient lebhafte 
Bewegungen mitden Unterarmen und Handen, die angeblich vom Willen nur 
kurze Zeit unterdriickbar sind. Es bestehen leichte SSpasmen in den Unter- 
armbeugern, besonders rechts, ebenso in den Unterarmstreckem. Die 
Tripsesreflexe und Radiusperiostreflexe sind symrnetrisch gesteigert. Die 
Finger bewegungen geschehen ausgiebig, sie erscheinen aber eischwert, wie 
gegen eine Hemmung ausgefiihrt. Die Opposition geschieht beiderseits mit 
guter Kraft, aber nicht sehr ausgiebig. 

Der Fingernasenversuch: Patient fiihrt den Finger langsam und 
unter Ueberwindung der Spasmen bis ca. 5—10 cm von der Nasenspitze 
entfernt in Gesichtshohe, dann beginnen langsame Zuckungen, und die 
Nasenspitze wird nicht getroffen. Der Versuch fallt rechts schlechter aus 
als links. Die Nervenstellen sind nicht druckempfindlich, das Lagegefuhl 
ist vollig gestort; Patient gibt an, nicht zu wissen, weiche Finger bewegt 
werden. Das Aufrichten ohne Armhilfe ist unmoglich. Die Bauchdecken- 
und Kremasterreflexe fehlen beiderseits. Die Kraft in beiden Beinen ist 
herabgesetzt. Aktive Bewegungen sind in alien Gelenken moglich, jedoch 
sind sie auBerst erschw’ert und kraftlos. Besonders schwach sind die Knie- 
beuger und Dorsalflectoren des Fufies, es bestehen ziemlich starke Spasmen 
in den Beugern des Unterschenkels. Die Patellarsehnenreflexe sind beider¬ 
seits gesteigert, ebenso die Achillessehnenreflexe, beiderseits Fuficlonus 
und beiderseits Babinski. Das Spiel der Zehenbewegung geschieht beider- 
seit» auBerst langsam; bei der Priifung des Lagegefiihls werden beiderseits 
viel Fehler gemacht. Der Kniehackenversuch wird nicht ausgefiihrt. 
Lasegue besteht nicht, die Nervenstemmen sind nicht druckempfindlich. 
Die Sensibilitat scheint iiberall intakt, nur reagiert Patient sehr wenig 
auf Nadelstiche, auch laBt er liberal] gelegentlich Beriihrungen aus. Keine 
sensorischen oder motorischen aphasischen Storungen. 

31. III. Eine Schreibiibung ergibt folgendes Resultat: Beim Spontan- 
schreiben sowohl wie beim Kopieren und Diktatsclireiben wird nur ein 
unleserliches Gekritzel erzielt. 

Apraxiepriifung. Lange Nase machen: Patient setzt die rechte Hand 
richtig auf die Nase, hakt dann den Daumen der linken Hand um den 
fiinften Finger der rechten und halt die linke Hand horizontal. Winken: 
Macht zunachst mit der rechten Hand eine Faust, streckt dann nur den 
Daumen aus, legt endlich die Hand fast horizontal vor die Nase. Er macht 
die Bewegungen links genau wie rechts. Drohen: Er droht rechts eist mit 
dem Finger, dann mit der Faust; links macht er die Bewegungen nur mit 
der Faust. Klavierspielen: Patient macht die Bewegung rechts ungefahr 
richtig, links streckt er nur die Hand aus. Knipsen macht er richtig. Diri- 
gieren macht er richtig, nur etwas ungeschickt. Hantieren mit EBgeschirr 
und Streichholz richtig. 

1. IV. Beim Gehen laBt sich Patient nach hinteniiber fallen, so daB 
er ge8t(itzt werden muB. Die linke Schulter hangt stark herab, der Kopf 
wird nach rechts gedreht. Er macht kleine Schritte, bei denen Ataxie 
nicht zu bemerken ist. Beide FuBspitzen schleifen leicht nach. Es wird 
eine Lumbalpunktion vorgenommen; bei der Untersuchung findet sich 


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Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


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eine stark© Vermehrung der Lymphozyten, auBerdem 12 Teilstriche EiweiB 
im NiBlrohrchen. 

2. IV. Patient inacht einen viel benomrneneren Eindruck wie fruher. 
Er laBt tagsiiber keinen Urin. Keine choreiformen Bewegungen mehr. 

4. IV. Apraxiepriifung: Fliegenfangen geschieht rechte ungeschickt, 
links sehr ungeschickt. Korkzieher eindrehen: Rechts nur Pronations- 
bewegungen, links sehr ungeschickt© fuchtelnde Bewegungen. Als er die 
Hande hochheben soli, macht er rechts zunachst Perseverationen der 
vorigen Bewegungen, die linke Hand hebt er dann rich tig hoch. Zunge 
wird erst nach wiederholtem Auffordern herausgestreckt. Bei der Auf- 
forderung, die Augen zuzukneifen, macht er die Augen nur einen Moment 
zu, offnet sie dann sofort wieder. Babinski beiderseits stark positiv. 

6. IV. Fliegenfangen: Er wiegt die Hand zunachst mit gestreckten 
Fingern und schlieBt dann nach einer Weile die Finger zur Faust. Die 
ganze Bewegung ist sehr langsam und rechts und links gleichmaBig unge¬ 
schickt. Korkzieher eindrehen: Patient macht die richtige Pronations- 
bewegung, die Finger sind dabei gebeugt, und zwar der vierte und fiinfte 
Finger starker als der zweite und dritte. Der Daumen ist dabei an die 
Mittelphalanx des zweiten Fingers angelehnt; links wird eine ahnliche 
pronationsahnliche Bewegung sehr ungeschickt ausgefiihrt. Der Augen- 
hintergrund ergibt, daB bei beiden Papillen die Grenzen nicht ganz scharf 
sind. Die Gef&Be sind nicht verandert. 

7. IV. Refund der Augenklinik: Beide Papillen sind leicht verschleiert. 

8. IV. Auf der rechten Hinterbacke entwickelt sich ein kleiner 
Decubitus. 

9. IV. Gezeigte Gegenstande werden sofort richtig benannt, ebenso 
werden getastete Gegenstande sofort richtig bezeichnet. Beim Zufahren 
von links bleibt der Blinzelreflex links immer aus, wahrend er beim Zu¬ 
fahren von rechts gelegentlich vorhanden ist. Patient macht einen immer 
benomrneneren Eindruck. Er spricht fast gar nicht mehr, liegt gleich- 
giiltig im Bett; es fallt auf, daB die Korpermuskulatur sich fast stets in 
starker Spannung befindet. Schnelle Bewegungen hintereinander werden 
nicht ausgefiihrt. 

13. IV. Patient macht den Mund nicht auf, der Kiefer wird zuge- 
klemmt gehalten. Bei Fragen antwortet er, jedoch offnet er den Mund 
nur sehr wenig. Er hat in Armen und Beinen ii be rail starke Spasmen. 
Blick immer nach rechts. 

15. IV. Patient reagiert auf Anruf fast gar nicht mehr, er blickt 
immer nach rechts und hat den Kopf nach rechts gewendet. 

16. IV. Starke Benommenheit, die ganze Korpermuskulatur steif 
gespannt. ' Keine Spontanbewegungen. Nachts Exitus. 

Zuaammenfassung . Es handelt sich um einen bis dahin ge- 
sunden Menschen, der sich seit einer angeblichen Influenza Ende 
1907 nicht mehr recht wohl fiihlte. Mitte Marz 1908 wurde er 
matt und schwach, es kam erhohte Ermudbarkeit der Beine hinzu, 
schlieBlich wurde das Gehen unmoglich. Am 30. III. 1908 Auf- 
nahme in die Klinik. Es bestanden leichte Spasmen im Sinne 
des Pradilektionstypus an Armen und Beinen, beiderseits Babinski, 
leichte Benommenheit, leichte Verschleierung der Papille und 
unterdriickbare Bewegungen der Hande und Unterarme. Aphasische 
Storungen bestanden nicht, dagegen deutliche dyspraktische, links 
starker als rechts. Auffallend war der Mangel an Antrieb, Patient 
war nur schwer zu Bewegungen zu veranlassen. Bei zunehmender 
Erkrankung befand sich die ganze Korpermuskulatur stets in 
starker Spannung. Vom 9. IV. an wurde Patient immer be- 
nommener, er reagierte fast gar nicht mehr auf Anruf. Am 15. IV. 
Exitus. 


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F orster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 497 

Die Diagnose raumbeengender ProzeB in der Schadelkapsel 
konnte nicht zweifelhaft sein. Bei der stetigen Progression ohne 
Anhaltspunkt fiir Hydrocephalus war Tumor cerebri anzunehmen. 
Fur die Lokalisation kam folgendes in Betracht: Die Apraxie 
ware vielleicht durch die allgemeine Benommenheit des Patienten 
(der Aufforderungen immer nur unwillig ausfiihrte) zu erklaren 
gewesen. Es hatten aber die dyspraktischen Symptome rechts und 
links gleich sein miissen. Die Tatsache, daB die Storungen im Han- 
deln links besonders anfangs starker waren als rechts, wies unbedingt 
auf einen isolierten Ausfall hin. Da Patient fiir Kraftleistungen 
Dinkshander war, wahrend er rechtshandig schrieb, war anzu¬ 
nehmen, daB er mindestens teilweise Ambidexter war, wobei die 
linke Hemisphare fiir das feinere Handeln iiberwog. Bei dieser 
Auffassung muBte besonderes Gewicht auf das nur geiingfiigige 
Ueberwiegen der dyspraktischen Storungen links gelegt werden. 
Ware Patient reiner Rechtshander gewesen, so ware die links- 
seitige Dyspraxie vielleicht starker zur Geltung gekommen. 

Die dyspraktischen Storungen waren dann so aufzufassen, 
daB ein Teil, namlich der fiir beide Seiten identische, als eine 
ideatorisch-apraktische Storung oder als die Folge einer leichten 
Funktionsschadigung des ,,Eupraxiezentrums“ zu deuten ware, 
wahrend der starkere Ausfall der linken Hand die Folge einer 
Abtrennung vom ,,Eupraxiezentrum“, also die Folge einer 
Balkendurchtrennung sein miiBte. 

Nach dieser Ueberlegung muBte die Diagnose Balkentumor 
gestellt werden, wobei der Tumor vielleicht durch Druck oder 
Fernwirkung das „Eupraxiezentrum“ in der linken Hemisphare 
noch etwas in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die beiderseitige 
spastische ' Parese mit Babinski schien bei der Annahme eines 
Balkentumors leicht verstandlich, um so eher, als kurz vorher 
ein Fall von (in vivo nicht diagnostiziertem) Balkentumor zur 
Beobachtung gekommen war, bei dem abwechselnd rechts und 
links leichte insultartige Lahmungen mit gleich darauf folgender 
Erholung vorgekommen waren, die schlieBlich eine beiderseitige, 
rechts uberwiegende spastische Lahmung zuriickgelassen hatten. 
Es er schien demnach gerechtfertigt, die Diagnose Balkentumor 
zu stellen. 

Die Sektion ergab ein Gliom, das den vorderen Teil. des 
Balkens einnahm und sich nach hinten bis in den mittleren Teil 
des Balkens ausdehnte, bis in die Gegend der Verbindungen 
zwischen den Zentralwindungen. Seitlich war die Geschwulst 
beiderseits etwas in die Hemispharen hineingewuchert. 

Auf Serienschnitten, die in der Berliner Gesellschaft fiir 
Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1909 gezeigt wurden, zeigte 
sich, wie aus den beigegebenen Abbildungen hervorgeht, daB die 
Balkendurchtrennung eine vollstandige war. Wenn auch im 
Gebiet vor den vorderen Zentralwindungen (siehe Schnitt 6, 
Abb. I) vielleicht noch einige durchgehende Fasem erhalten 
geblieben sein mochten, die iibrigens kaum fiir eine wesentliche 


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498 


F orster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


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Funktionsiibermittlung ausgereicht haben diirften, so zeigt der 
kurz dahinter gelegene Schnitt 9 (Abb. 2), daB ein in den linken 
Teil des Balkens eingelagerter Geschwulstteil die Verbindung 
vollig durchbrochen hatte, so daB an den folgenden Schnitten 
(Schnitt 17, Abb. 3, Schnitt 24, der durch die Fissura Rolandi 
geht, Abb. 4) keine durchgehenden Fasern mehr vorhanden sind. 
In diesen letzten Schnitten sieht man einen Geschwulstteil das 
Gebiet des Linsenkerns ergreifen und besonders das Putamen 
verdrangen und infiltrieren. Es ist dies als Ursache der im Leben 
nicht geniigend beachteten unwillkurlichen, nicht unterdriick- 
baren Bewegungen anzusehen, wobei bei der nicht geniigend 
genauen Beschreibung in der Krankengeschichte dahingestellt 
bleiben muB, ob wirklich die unwillkurlichen Bewegungen doppel- 
seitig waren, und ob die Doppelseitigkeit als Mitbewegung auf- 
gefaBt werden muB. In dem zuletzt wiedergegebenen Schnitt, 
der durch die hintere Zentralwindung geht, sieht man den weitaus 
groBten Teil der Balkenfasern wieder erhalten, obwohl eine Auf- 
hellung im rechten Abschnitt des Balkens noch einen Ausfall von 
Fasern (trotz vieler erhaltener, wie das Mikroskop zeigt) an diesen 
Stellen anzeigte. 

Die Geschwulst dringt beiderseits, wie aus den Abbildungen 
ersichtlich, in das Areal der Projektiorsfasern vor. Das Cingulum 
bleibt rechts und links intakt. 

Betrachten wir, abgesehen von den ohne weiteres aus der 
Lage des Tumors verstandlichen Symptomen, wie den beider- 
seitigen Pyramidensymptomen, zunachst die zwar mit der Apraxie 
zusammenhangenden, aber nicht unbedingt von ihr abhangigen 
Symptome, so laBt sich der Mangel an Antrieb leicht durch daa 
Hineinwuchern des Tumors in das Stirnhirn erklaren (Hartmann 1 ), 
Kleist 2 ), Goldstein 3 )), und auch die abnormen Spannungszustande 
der ganzen Muskulatur konnen, wie aus teils schon lange be- 
kannten Fallen hervorgeht, auf die Stirnhirnerkrankung zuriick- 
gefiihrt werden. Eine genauere Lokalisation laBt sich auf den 
hier mitgeteilten Fall nicht begriinden. 

Was die apraktischen Symptome selbst betrifft, so ist auBer 
der Tatsache, daB auf die Liepmannschen Forschungen hin 
die Diagnose Balkentumor sich im Leben hat begriinden lassen, 
die Gegend der Balkendurchtrennung von Interesse. 

Wenn wir die nicht unwahrscheinliche Annahme machen, 
daB die Balkenfasern von vorn nach hinten auch die von vom 
nach hinten aufeinanderfolgenden Rindengebiete hintereinander 


l ) Hartmann , Der EinfluB des Stirnhirns auf den Bewegungsablauf. 
Kongr. f. innere Med. Miinchen 1906. Beitrage zur Apraxielehre. Monate- 
schrift f. Psych, u. Neurol. 1907. 

*) Kleist , Der Gang und gegenwartige Stand der Apraxieforschung. 
Erg. d. Neurol, u. Psych. I. 1911. 

3 ) Goldstein , Zur Lehre von der motorischen Apraxie. Journ. f. 
Psych, u. Neurol. Bd. 11. 1908. S. 169. — Der inakroskopische Hirn- 

befund etc. Neurol. Zbl. 1909. S. 898. 


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Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 499 

verbinden, so ist es nicht uninteressant, daB die vollstandige 
Durchbrechung in der Gegend der Zentralwindungen aufhort 
und im Gebiete der hinteren Zentralwindung die Verbindnng 
sich wieder herzustellen beginnt. 

Wir miissen daraus schlieBen, daB eine Schadigung der 
Leitungsiibertragung fur den in und vor den Zentralwindungen 
gelegenen Teil des der Eupraxie dienenden Feldes stattge- 
funden hat. 

Es kame demnach dieselbe Gegend fiir den Ausfall in Frage, 
die sich in dem kiirzlich von mir 1 ) in Halle demonstrierten Falle 
durch Tumor geschadigt fand. Auch in diesem letzten Falle ist 
eine genaue Abgrenzung, da die Serienschnitte noch ausstehen, 
bisher nicht moglich. Immerhin aber finden wir, daB der Ausfall 
der feineren aus dem Gedaehtnis zu reproduzierenden Be- 
wegungen in beiden Fallen zusammenhangt mit einer Schadigung 
der Gegend vor und eventuell in den Zentralwindungen (vielleicht 
dann auch nur der vorderen), wahrend die Gegend hinter der ♦ 
Zentralwindung, besonders der Gyrus supramarginalis, frei war. 

Wenn wir die motorische Aphasie sinngemaB als eine Apraxie 
der Sprechmuskulatur auffassen, so sehen wir klar, daB Goldstein 2 ) 
und Kleist 3 ) selbstverstandlich recht haben mit ihrer Ansicht, 
daB die Eupraxie einer Handlung nicht einfach auf der erhaltenen 
Ueberleitung sinnlicher Direktiven auf die Motilitat beruht. Wie 
Goldstein auf den, wie ich glaube, nicht haltbaren, aber frucht- 
baren und anregenden Auffassungen Storchs fuBend, annimmt, 
schaltet sich hier die raumliche Vorstellung ein, wahrend Kleist, 
der auch nicht den SWcAschen Standpunkt als unbedingt 
richtig annimmt, hier zweckmaBiger vom Engramm der Einzel- 
handlung spricht. 

Nun kommt aber das Engramm der Einzelhandlung keines- 
wegs infolge einer einheitlichen Funktion zustande, und wir 
konnen ebensowenig, wie wir ein einheitliches Sprachfeld aner- 
kennen konnten, nunmehr etwa ein einheitliches, den Engrammen 
der Handlungen dienendes Feld abgrerzen, das sich etwa von 
dem vor den Zentralwindungen gelegenen Teil des Stimhirns bis 
zum Gyrus supramarginalis ausdehnen wiirde. 

Wir diirfen nicht vernachlassigen, daB ein Unterschied besteht 
zwischen den Handlungen, die rein aus dem Gedaehtnis ohne die 
Hilfe von sinnlichen Eindriicken zustande kommen, und denjenigen, 
die unter direkter und dauernder Fiihrung von sinnlichen Ein¬ 
driicken (besonders optischen und taktilen) zustande kommen. 

Als reinstes Beispiel der Handlungen nur aus dem Gedaehtnis 


*) Forster , Demonstration. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1913. 
S. 196. 

*) Goldstein , Zur Lehre von der motorischen Apraxie. Journ. f. 
Psych, u. Neurol. 1908. S. 169. 

*) Kleist, Der Gang und der gegenwartige Stand der Apraxieforschung. 
Ergebn. d. Neurol, u. Psych. Bd. I. 1911. 

Monatwohrift f. Psychiatric xl Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 0. 33 


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500 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 

ist die SpracAhandlung aufzufassen, die geschadigt wird durch 
eine Verletzung des Gebietes vor der vorderen Zentralwindung. 

Es scheint demnach kein Zufall zu sein, daB die Schadigung 
der Ausdrucksbewegungen der Hand und das Nachmachen von 
Bewegungen aus dem Gedachtnis auch, wie durch unsere Falle 
illustriert wird, durch einen Funktionsausfall der Gegend vor den 
Zentralwindungen zustande kommt, wahrend die unter der direkten 
Fuhrung von sinnlichen Eindriicken zustande kommenden Be- 
wegungsfolgen, wie auch mein in Halle demonstrierter Fall zeigte, 
bei Schadigung dieser Gegend noch geleistet werden konnen. 
Fur diese letzteren Bewegungsfolgen ist, wie aus Lkpmanns 
Arbeiten und zuletzt aus Kleists zusammenfassender Darsellung 
hervorgeht, der Gyrus supramarginalis von besonderer Wichtigkeit. 

Wir miissen also annehmen, daB in der Gegend vor der vorderen 
Zentralwindung die Erregungen zusammenlaufen, die aus den 
dem Gedachtnis dienenden Hirnpartien geliefert werden und zum 
Zustandekommen der Handlung erforderlich sind, wahrend die 
von den Empfindungen (und den direkten Erinnerungsbildern) 
stammenden und zur Handlungsfolge erforderlichen Erregungen 
im Gyrus supramarginalis gesammelt werden. Wodurch sich das 
Stirnh’rn wieder als ,,Assoziationszentrum“ bewahren wiirde, da 
natiirlich im ,, Gedachtnis" auch wieder die Spuren der Emp¬ 
findungen und Erinnerungsbilder liegen, nur komplizierter und 
vielfacher assoziiert. 


(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu Berlin. 

[Direktor: Geh. Rat Bonhoeffer.)\ 

Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 

Von 

Prof. Dr. FRANZ KRAMER. 

Assistent der Klinik. 

(Mit 2 Abbildungen im Text.) 

Die Methodik der Intelligenzpriifungen ist trotz vielfacher 
auf ihre Ausbildung und Verbesserung gerichteten Bestrebungen 
noch immer relativ mangelhaft und erfiillt nicht die Anforderungen, 
die wir zum Zwecke der Feststellung und Abgrenzung psychischer 
Defektzustande an sie stellen. Sie kann sich an Exaktheit mit 
den fur die Untersuchung anderer psychischer Faktoren zur Ver- 
fiigung stehenden Methoden, wie etwa den Priifungen des Gedacht- 
nisses, der Aufmerksamkeit, der Auffassung usw., durchaus noch 
nicht messen. Die Griinde fur die Mangel der Intelligenzpriifungs- 
methoden liegen einerseits in der Schwierigkeit, den empirischen 
Begriff der Intelligenz in seine elementaren Faktoren zu zerlegen, 
andererseits und wohl vor allem aber darin, daB w r ir das komplexe 


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Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindem. 501 

Gebilde, das wir als Intelligenz zu bezeichnen pflegen, nicht aus- 
reichend von anderen psychischen Vorgangen zu isolieren ver- 
mogen, um es untersuchen und womoglich messen zu konnen. 
Mit der Intelligenzpriifung wollen wir eine Anlage priifen; unserer 
Untersuchung sind zuganglich jedoch nur Leistungen, die neben 
der Anlage abhangig sind von Momenten, die sich unserer Beein- 
flussung im Experimente me hr oder minder entziehen. 

Man hat auf zwei verschiedenen Wegen versucht, eine exakte 
Intelligenzpriifung zu schaffen. Man suchte durch psychologische 
Analyse dasjenige Element in den Intelligenzleistungen heraus- 
■zufinden, das diese vor alien anderen als solche charakterisiert, 
und diesen Faktor in moglichst praziser Weise durch eine Priifungs- 
methode zu bestimmen. In diese Kategorie fallen die Versuche, 
die Begriffs- und Urteilsbildung, die Kombinationsfahigkeit usw. 
als IntelligenzmaB zu benutzen. 

Man kann aber auch so vorgehen, daB man zur Untersuchung 
Leistungen heranzieht, die an sich, im Augenblick, wo sie verlangt 
werden, keine Anforderungen an die Intelligenz stellen, aber 
erfahrungsgemaB von dieser abhangig sind, so daB sie indirekt 
als Indikator der intellektuellen Veranlagung zu verwerten sind. 
Als Beispiel einer derartigen Methode ist besonders die Fest- 
stellung des Kenntnisschatzes eines Menschen zu nennen. Die 
Reproduktion von Kenntnissen ist an und fur sich eine rein 
reproduktive Tatigkeit; doch lassen sich aus dem geistigen Besitz- 
stand des Gepriiften bei Vorsicht und unter Beriicksichtigung 
aller mitwirkenden Umstande Schliisse auf seine Intelligenz ziehen. 

Die Untersuchungen haben ergeben, daB man mit einer 
Priifungsmethode nicht zum Ziel gelangt. Weder hat sich bisher 
ein psychisches Element aufweisen lassen, das die Intelligenz in 
ihrem Wesenskern charakterisiert und als MaB fur sie dienen 
kann, noch hat sich eine einheitliche psychische Leistung gefunden, 
die in so eindeutiger Beziehung zu ihr steht, daB sie als Indikator 
dienen kann. AuBerdem ist auch der Ausfall einer Priifungs- 
methode von Zufalligkeiten und von individuellen Differenzen zu 
sehr abhangig, als daB man aus ihr allein Schliisse ziehen kann. 
Man ist daher immer mehr dazu iibergegangen, zur Intelligenz¬ 
priifung eine Vielheit von Tests anzuwenden und diese so aus- 
zusuchen, daB sie uns ein moglichst prazises und umfassendes 
Bild der Begabung verschaffen. 

Eine der Hauptschwierigkeiten auf unserem Gebiete ist die 
Abgrenzung der produktiven intellektuellen Funktionen von 
den nur reproduktiven Gedachtnisleistungen. Da zu jeder In- 
telligenzleistung ein gewisses MaB von Kenntnissen erforderlich 
ist, so konnen wir uns von dem Wissensschatze des Priiflings nie 
ganz unabhangig machen. Es besteht dann auf der einen Seite 
die Gefahr, daB Menschen, die auf Grund auBerer Verhaltnisse 
nicht Gelegenheit hatten, Kenntnisse in ausreichendem MaBe zu 
erwerben, oder denen sie durch mangelnde Gelegenheit zur 
Reproduktion abhanden gekommen sind, in ihrer Intelligenz 

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502 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 


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unterschatzt werden; auf der anderen Seite, daB solche mit groBem 
Wissensbesitz zu hoch bewertet werden. Die letztere MogUchkeit 
besteht besondere bei Kranken mit erworbenen Intelligenzdefekten, 
z. B. bei Hebephrenen, deren Gedachtnisfunktionen ungestort 
geblieben sind. Diese Bedenken gelten durchaus nicht nur dann, 
wenn wir Kenntnisse als IntelligenzmaB benutzen, sondern auch 
bei jeder anderen Priifung; denn jede intellektuelle Leistung kann 
durch reproduktive Hilfen erleichtert werden, vor allem, wenn 
der betreffende Untersuchte Uebung in der Losung ahnlicher 
Aufgaben hatte, bezw. durch das Fehlen solcher erschwert werden. 
Die GroBe der Intelligenzleistung ist zu einem erheblichen Teil 
abhangig von dem Neuigkeitsgrade, den die Aufgabe fiir den 
Priifling hat, und dieser richtet sich eben nach Vorbildung, Beruf, 
Milieu U8W. 

Am gunstigsten liegen in dieser Beziehung die Verhaltnisse 
bei Kindem, besonders wenn man solche der gleichen Schulart 
miteinander vergleichen kann. Hier ist die Art der Vorbildung, 
der Kenntnisbesitz nahezu identisch, so daB die erwahnten Be¬ 
denken fast ganz wegfallen; auch kommen hier fast immer ange- 
borene oder friih erworbene Intelligenzzustande in Betracht, 
die bewirken, daB der gesamte Erwerb des geistigen Besitzstandes 
bereits unter dem Einflusse der intellektuellen Minderwertigkeit 
stand. Wir konnen darum hier in weit hoherem MaBe als bei 
Erwachsenen die Kenntnisse als Indikator der Intelligenz heran 
ziehen. Aus diesem Grunde ist auch die Methodik der Intelligenz- 
priifung im Jugendalter schon erheblich ausgebildeter, als die 
fiir die hoheren Altersstufen. 

Wir werden von einer brauchbaren Methode verlangen miissen, 
daB sie uns in klarer Weise erkennen laBt, ob eine Abweichung 
von der Norm vorliegt, und daB sie uns den Grad des Defektes 
in wenigstens grobem MaBstabe zu beurteilen gestattet. 

Fiir die Erfiillung dieser Erfordernisse ist Voraussetzung, 
daB die Methode nicht nur eine Aufgaben- und Fragesammlung 
ist, sondern genaue Angaben macht, was das MindestmaB dessen 
ist, was vom intellektuell Normalen verlangt werden muB. Bei 
Priifungen an Kindem wird dieses NormalmaB fiir die verschiedenen 
Altersstufen gesondert bestimmt werden miissen. Die Feststellung 
dieser Grenzen kann niemals auf theoretischem Wege, sondern 
nur an der Hand empirischer Untersuchung erfolgen. Aus dem 
oben Gesagten geht her vor, daB fiir die Abgrenzung verschiedener 
Intelligenzgrade niemals eine Priifungsart geniigen kann, sondern 
daB sie als Gesamtresultat aus einer Mehrzahl von Einzeltests 
erschlossen werden muB. Bei der Auswahl der letzteren ist nicht 
nur darauf zu achten, in welcher psychologischen Beziehung sie 
zur Intelligenz stehen, sondern ob sie sich zur Grenzbestimmung 
praktisch eignen. 

Alle diese erwahnten Gesichtspunkte finden wir beriick- 
sichtigt in der Intelligenzpriifungsmethode, die von Binet und 


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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 503 


Simon 1 ) ausgearbeitet worden ist. Die Autoren gingen dabei 
von dem Gedanken aus, fur die verschiedenen Altersstufen 
der Kinder eine Reihe von Tests zusammenzustellen, die von 
dem intellektuell normalen Kinde des entsprechenden Lebens- 
alters erfiillt werden, vom jiingeren Kinde dagegen noch nicht 
geleistet werden konnen. Man kann dann aus dem Ergebnisse der 
Priifung ersehen, ob die Leistung des Kindes seinem Lebensalter 
entspricht; oder wenn nur Aufgaben gelost werden, die fiir ein 
jiingeres Lebensalter angesetzt sind, erhalt man einen Anhalt 
fiir den Grad des intellektuellen Defektzustandes. 

Die Zusammenstellung der einzelnen Aufgaben geschah auf 
die Weise, daB Binet in langjahriger Arbeit die verschiedensten 
Untersuchungsmethoden, die iiberhaupt fiir die Priifung in- 
tellektueller Fahigkeiten in Betracht zu kommen schienen, an 
einem groBen Material von Kindern anwandte und dann diejenigen 
heraussuchte, bei welchen die Beziehung zwischen dem Ergebnisse 
und dem Lebensalter ausreichend eng und regelmaBig erschien. 
Es liegt in der Natur der Sache, daB diese Beziehung nie so eng 
sein kann, daB etwa Kinder von n Jahren die Aufgabe samtlich 
losen, wahrend Kinder von n—1 Jahren sie niemals erfiillen. 
Die UnregelmaBigkeiten sind jedoch einmal durch die zweckmaBige 
Auswahl der Tests auf ein Minimum reduziert und femer findet 
vor allem dadurch, daB es immer eine Mehrheit von Aufgaben ist, 
auf die sich das Resultat stiitzt, ein so weitgehender Ausgleich 
statt, daB, wie die Erfahrung lehrt. ein praktisch verwertbares 
Ergebnis resultiert. 

Es gelang Binet und Simon , fiir die Altersstufen von 3 bis 
13 Jahren (die fiir 13 Jahre angegebenen Tests wurden, weil sie 
uns nicht recht verwendbar erschienen, bei unseren Untersuchungen 
nicht beriicksichtigt) eine geniigende Anzahl von brauchbaren 
Tests zu finden. Ihre Zahl variiert zwischen 4 und 8 fiir die ein¬ 
zelnen Altersstufen. Die Aufgaben sind ihrer Art nach recht ver- 
schieden und setzen sich zusammen aus Priifungen von Kennt- 
nissen, praktischen Fertigkeiten, Untersuchungen der Begriffs- 
bildung, Kombinationsfahigkeit, Merkfahigkeit usw. Die hier 
folgende Zusammenstellung gibt einen Ueberblick iiber die Art 
der verschiedenen Tests. Die Beziehung zu den Lebensaltem 
gilt naturgemaB nur dann, wenn die Vorschriften Binets sowohl 
bei der Anstellung des einzelnen Experimentes, als auch bei der 
Bewertung des Resultates bis ins kleinste Detail innegehalten 
werden. Beziiglich dieser Einzelheiten sowie auch der psycho- 
logischen Bewertung der verschiedenen Tests muB hier auf die 
Publikation Binets selbst sowie auf die Arbeiten Bobertags 2 ), der 
die Methode in zweckentsprechender Weise fiir deutsche Ver- 
haltnisse eingerichtet hat, verwiesen werden. Die Untersuchung 
geschieht in der Weise, daB man allmahlich aufsteigend feststellt, 


*) Ann6e psychol. Bd. 14. 

*) Ztschr. f. angewandte Psychologie. Bd. 3 und Bd. 5. 


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504 Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindern. 


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bis zu welcher Altersstufe von dem Kinde die Proben geleistet 
werden. Es gilt diejenige Stufe als erreicht, in welcher zum ersten- 
mal ein Fehlresultat in einem Test auftritt. Sind auUerdem 
noch mindestens 5 Aufgaben aus hoheren Stufen gelost, so wird 
ein Jahr hinzugerechnet, bei mindestens 10 Aufgaben 2 Jahre. 
Dieser Berechnungsmodus ist natiirlich lediglich konventionell, 
hat sich jedoch praktisch ausreichend bewahrt. 


3 Jahre: 


4 J ahre: 


5 Jahre: 


6 Jahre: 


7 Jahre: 


8 Jahre: 


0 Jahre: 


10 Jahre: 


1. Mund, Augen, Nase zeigen. 

2. Nachsprechen von 6 silbigen Satzen und 

3. zwei (einstelligen) Zahlen. 

4. Beschreibung eines Bildes (Auf zahlen der Teile). 

5. Angabe des Familiennamens. 

1. Benennen vorgezeigter Gegenstande. 

2. Wiedergabe von 3 Zahlen. 

3. Angabe des Geschlechts. 

4. Vergleichen zweier Linien. 

1. Vergleichen zweier Kastchen von veischiedenem Ge- 
wicht (3 und 12 g, 6 und 15 g). 

2. Wiederholen von Satzen mit 10 Silben. 

3. Vier Gegenstande (Pfennige) abzahlen. 

4. Zusammensetzspiel (2 Dreiecke nach Vorlage zu einem 
Rech t eck zusannnensetzen). 

5. Abzeichnen eines Quadrates. 

1. Rechts und links unterscheiden. 

2. Vor- und Nachmittag unterscheiden. 

3. Angabe des Alters. 

4. Ausfiihrung dreier gleichzeitiger Auftrage. 

5. Wiederholung von Satzen mit 16 Silben. 

6. Aesthetische Vergleiche (Unterscheiden von schonen 
und haCIichen Bildern). 

7. Definieren von Konkreten (Zweckangaben). 

1. Beschreibung eines Bildes (Angabe der Einzelhand- 
lungen). 

2. Bemerken von Llicken in Zeichnungen. 

3. Abschreiben geschriebener Worte. 

4. Abzahlen von 13 Gegenstanden (Pfennigen). 

5. Zahl der Finger angeben. 

6. Abzeichnen eines Rhombus. 

7. Kenntnis von 4 Geldmiinzen. 

8. Wiederholen von 5 Zahlen. 

1. 3mal 1 Pfennig und 3mal 2 Pfennige zusammen- 
zahlen. 

2. Kenntnis der 4 Hauptfarben. 

3. Von 20 bis 0 riickwarts zahlen. 

4. Vergleichen zweier Gegenstande aus dem Gedachtnis. 

5. Angabe von Erinnerungen an Gelesenes (mindestens 
zwei Erinnerungen). 

1. Angabe des Datums mit Monat, Jahr und Wochentag. 

2. Aufsagen der Wochentage. 

3. Ordnen von 5 Kastchen nach dem Gewicht (3, 6, 9, 
12, 15 g). 

4. 80 Pfennige auf 1 Mark herausgeben. 

5. Definieren von Konkreten (Oberbegriff u. a.). 

6. Angaben von Erinnerungen an Gelesenes (mindestens 
6 Erinnerungen). 

1. Aufsagen der Monate. 

2. Kenntnis saintlicher Miinzen. 

3. Bilden von 2 Satzen mit 3 gegf benen Worten. 


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Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindem. 


505 


4. 3 leichte Intel]igenzfragen (was mufi man tun, wenn 
man den Zug verpaBt hat? u. a.). 

5. 5 schwere Intelligenzfragen (was muB man tun, ehe 
man etwas Wichtiges imternimmt ? usw.). 

11 Jahre: 1. Kritik absurder Satze. 

2. Bilden eines Satzes mit 3 Worten. 

3. Finden von mindestens 60 Worten in 3 Minuten. 

4. Definieren von abstrakten Begriffen. 

5. Ordnen von Worten zu einem Satz. 

12 Jahre: 1. Wiederholen von 7 Zahlen. 

2. Wiederholen von Satzen mit 26 Silben. 

3. Finden von Reimen. 

4. Erganzung von liickenhaften Texten. 

5. Betrachten eines Bildes mit Erklarung des Gesamt- 
zusammenhan ges. 

Ich beschrankte mich bei meinen Untersuchungen im wesent- 
lichen auf die Prufung abnormer Kinder, da mir die Brauchbarkeit 
der Methode bei normalen Kindern vor allem durch die Arbeiten 
Bobertags 1 ) geniigend erwiesen zu sein schien, daB eine Nachpriifung 
in dieser Beziehung als iiberfliissig angesehen werden konnte. 

Das Material, das ich zu meinen Priifungen benutzte, setzt 
sich zusammen aus zwei Kategorien, die ich in der statistischen 
Bearbeitung voneinander getrennt habe. Den einen Teil bilden 
Kinder verschiedener Altersstufen, die der Klinik durch die Bres- 
lauer Zentrale fiir Jugendfiirsorge zur Untersuchung zugefiihrt 
wurden. Es befinden sich hierunter keine Kinder, die sich bereits 
in Fiirsorgeerziehung befinden, sondern es sind nur solche, bei 
denen die Unterbringung in diese beabsichtigt ist, gegen die ein 
gerichtliches Verfahren schwebt, oder solche, bei denen wegen 
drohender Verwahrlosung bezw. irgendwelcher anderer Griinde 
ein Eingreifen der Zentrale wiinschenswert wurde. Es wurden 
uns vorwiegend diejenigen Kinder zugesandt, die bei den Organen 
der Zentrale den Verdacht erweckt hatten, daB psychische 
Anomalien vorliegen konnten. Man kann daher aus den Ergebnissen 
der Untersuchung nicht ohne weiteres Schliisse auf die Zusammen- 
setzung des Gesamtmaterials der Zentrale ziehen. Wie die von 
uns untersuchten Kinder in klinisch psycho-pathologischer Hinsicht 
zu beurteilen sind, dariiber hat Schroder 2 ) einige Mitteilungen 
gemacht. Ich werde hier auf diese Gesichtspunkte nur insoweit 
eingehen, als es zur Beurteilung des Ergebnisses der Intelligenz- 
priifung erforderlich ist. 

Die zweite Halfte des Materials wird von Patienten der Klinik 
undPoliklinik gebildet, und zwar vorwiegend ebenfalls von Kindern; 
nur in einigen wenigen Fallen wurden auch Erwachsene gepriift. 
Dieses Material ist naturgemaB ziemlich mannigfaltig zusammen- 
gesetzt. Ich bevorzugte Kinder mit Defektzustanden, untersuchte 
aber auch eine Reihe von jugendlichen Patienten mit anderen 
Affektionen des Nervensystems (Hysterie, Chorea, Hydrocephalus, 
Epilepsie, Dystrophie). Die Heranziehung der letztgenannten 

*) 1. c. 

*) Ztsehr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. IIT. 


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506 Kramer, Intel! igenr.priif ungen an abnormen Kindern. 


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Gruppen erschien wiinschenswert, einerseits, um auch einige Ver- 
gleichsresultate von nicht defekten Kindern zu besitzen, anderer- 
seits, um festzustellen, inwieweit etwa das Vorliegen solcher Er- 
krankungen mit ihrer oft erheblichen Beeintrachtigung des Schul- 
besuches einen EinfluO auf das Ergebnis der Intelligenzpriifung 
ausiibt. 

In Betracht kommen in beiden Hauptgruppen zunachst 
KiAder, die in das MeBbereich der Btnetechen Methode fallen, 
also zwischen 3 und 12 Jahren; Kinder unter 6 Jahren kamen, 
besonders in der Fiirsorgegruppe, nur in einigen wenigen Fallen 
zur Beobachtung. Kinder tiber 12 Jahren und Erwachsene konnten 
nur dann herangezogen werden, wenn bei ihnen so erhebliche 
Defekte vorlagen, daB sie in ihren Intelligenzleistungen hinter 
den 12 jahrigen Kindern zuriickblieben. Erwachsene Patienten 
mit erworbenen Defekten wurden nicht gepriift. Die Binetschen 
Priifungen setzen sich ja zu einem groBen Teile aus Priifungen 
von Kenntnissen imd Fertigkeiten zusammen, die der normale 
Mensch sich wahrend seiner geistigen Entwicklung aneignet und 
aus deren Nichtbesitz Schliisse auf die mangelnde intellektuele 
Entwicklung sich ziehen lassen. Sind jedoch diese Fahigkeiten 
einmal im jugendlichen Alter erworben worden, so bedeutet sowohl 
der Besitz als auch der Verlust etwas durchaus anderes, als der 
Nichterwerb. Es ist dann moglich, daB die friiher erworbenen 
Kenntnisse usw. trotz schwerer Intelligenzschadigung gedachtnis- 
maBig reproduziert werden. Aus diesem Grunde wurden wir 
bei Untereuchungen an im erwachsenen Alter entstandenen Defekt- 
zustanden Ergebnisse gewinnen, die mit den bei Kindern und bei 
angeborenem Schwachsinn erhaltenen keinen Vergleich erlauben. 

Bei der Berechnung der Resultate wurden die von der Zentrale 
fur die Jugendfursorge (J.-F.) uns zugewiesenen Kinder und 
die dem Material der Klinik und Poliklinik (Kl.) entnommenen 
gesondert behandelt, in der Erwtigung, daB auf Grund der relativ 
einheitlichen Zusammensetzung der ersteren Gruppe sich Besonder- 
heiten herausstellen konnten. 

Nicht berucksichtigt wurden die ersten etwa 15 Unter- 
suchungen, bei denen ich der gleichmaBigen Durchfuhrung der 
Priifung noch nicht geniigend sicher war. Nach Abzug dieser 
bleiben die Resultate von 118 Untersuchungen iibrig, von denen 59 
auf jede der beiden Gruppen fallen. Dem Alter nach verteilen 
sich die Falle in folgender Weise (vgl. Tabelle): 

Wir sehen, daB in der ersten Gruppe die Altersstufen zwischen 
12 und 16 Jahren, in der zweiten die zwischen 7 und 13 Jahren 
iiberwiegen. Von den alteren Stufen sind immer nur einzelne 
Falle vertreten, iiber 16 Jahre ist unter dem J.-F.-Material nur 
1 Fall von 20 Jahren, in dem Kl.-Material 7 Falle von denen 3 Er¬ 
wachsene iiber 20 Jahre betreffen; es sind dies, wie schon oben 
erwahnt, samtlich Patienten mit angeborenen oder friih erworbenen 
Defekten. 


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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 507 


i 

Alter 

II 

Zahl 

1 J-F. 

Zahl 

Kl. 

3 

1! 

1 

4 

1! i 

1 

« 5 

;| 

1 2 

6 

p i 

I 

7 

1 

7 

8 

3 

8 

9 

2 

8 

10 

[I I 

7 

11 

1 8 

5 

12 

I 7 

1 

13 

10 

0 

14 

! io 

3 

lo 

| 7 

1 

lfi 

| 7 

| 1 

17 


1 

18 


2 

19 

i 

1 

20 

! i 


2f> 


1 

27 

i 

1 1 

38 

i 

! i 

Sa. 

59 || 

| 59 


In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse der Intelligenz- 
priifung zusammengestellt, und zwar nach den Differenzen, die 
sich zwischen dem Intelligenzalter (I.-A.) und dem wirklichen 
Alter (A) des Untersuchten ergeben. Wir erhalten daraus eine 
Uebersicht dariiber, in welcher Zahl von Fallen sich Defekte nach- 
weisen lassen und in welcher Weise sich die GroBe der Defekte, in 
Jahresstufen ausgedriickt, auf die Falle verteilt. 

Aus der Gesamtzahl bleiben hier 2 Falle unberiicksichtigt, 
bei denen das Ergebnis der Intelligenzpriifung so nahe an der 
oberen Grenze des Priifungsbereiches lag, daB eine bestimmte 
Angabe des Intelligenzalters nicht moglich war. 

Es ergibt sich zunachst aus der Tabelle, daB nur in einem 
einzigen Falle das Intelligenzalter um 2 Jahre hoher als das Lebens- 
alter war. Es handelte sich hier um ein lOjahriges gesundes 
Madchen, das offentlich als Gedachtniskiinstlerin auftrat; sie 
loste samtliche Aufgaben bis zur hochsten Stufe einwandfrei. 
Es lagen hier besonders giinstige Umstande, sowohl von seiten 
der Veranlagung, als auch von seiten der Erziehung und des 
Unterrichtes vor. Beides hat wohl dazu beigetragen, um das 
iibernormale Resultat herbeizufuhren. 

Die nachsten drei Reihen, in denen das Intelligenzalter gleich 
dem Alter bezw. um 1 Jahr nach oben oder unten different ist, 
entsprechen nach den Untersuchungen an gesunden Kindern 1 ) 


*) Vergl. Binet und die Arbeiten von Bobertag. 


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508 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem, 


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J ugendfiirsorge 

Klinik und Poliklinik 


Gesamt¬ 

zahl 

3—12 

12—18 

! Gesamt- 
| zahl 

3—12 

12—18 

■ 

I.-A. > A. = 2 

0 

0 

i 

0 

1 

1 

0 

1 .-A. > A. = 1 

2 

2 

0 

6 

6 

0 

J.-A. = A. 

6 

6 

0 

13 

13 

0 

I.-A. <A. = 1 

7 

7 

0 

7 

7 

0 

r— O 

10 

7 

3 

9 

6 

3 

= 3 

13 

o 

11 

5 

o 

0 

— 4 

8 

0 

8 

5 

2 

3 

— 5 

4 

0 

4 

2 

0 

2 

6 

ft 

0 

5 

0 

0 

0 

= 7 

2 

0 

2 

2 

1 

1 

= 8 

0 

0 

o ! 

0 

0 

0 

= 9 

0 

0 

o , 

3 

0 

3 

— 10 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

= 11 


0 

1 

1 

0 

1 


(20) | 



(19) 



= 12 

0 

0 

0 

0 

0 | 

0 

= 13 

0 | 

0 

o ; 

i ! 

0 1 

1 





(17) : 



= 16 




! 1 

0 

1 

= 17 




(-«->) 

1 

0 

1 


1 1 



(27) 

I 


= 28 

1 



1 

0 

1 


1 



(38) 

1 



1 58 

f 24 

1 34 

1 58 

1 41 1 

17 


der Variationsbreite des Normalen. DaB diese nonnalen Werte, 
wie die Tabelle zeigt, riur zwischen 3—12 Jahren, jedoch nicht 
dariiber gefunden wurden, hat seinen Grund lediglich in dem 
Umstande, daB die Methode nur Tests bis zu 12 Jahren hat, so 
daB, wie erwahnt, altere Kinder nur dann gepriift werden konnten, 
wenn sie erhebliche Defekte zeigten und in ihrem Intelligenzalter 
unter 12 Jahre kamen. Dem Prozentsatz an Normalen in der 
Gesamtzahl der Gepriiften kommt eine wesentliche Bedeutung 
nicht zu, da die Zusammensetzung des Materials rein zufallig ist. 
DaB unter den J.-F.-Kindem die Zahl der Imbecillen so groB ist, 
darf nicht wundernehmen in Anbetracht des Umstandes, daB uns- 
nur die Kinder zugeschrieben wurden, bei denen der Verdacht 
einer psychischen Storung bestand. Unter den Kl.-Kindem ist 
die Zahl der Schwachsinnigen ebenfalls erheblich, da sich unser 
Interesse bei den Untersuchungen vor allem auf die abnormen 
Kinder erstreckte und die psychisch-normalen im wesentlichen' 
nur als Kontrolluntersuchungen angesehen wurden, um uns zu’ 
vergewissern, daB wir nicht zu hohe Anforderungen stellten. 

Wenn wir die Falle ins Auge fassen, die in ihrem Intelligenz¬ 
alter zwei und mehr Jahre hinter ihrem Lebensalter zuriickbleiben, 
die wir also als defekt betrachtrn, so fallt auf, daB die groBen 
Differenzen vorwiegend bei den Kindem iiber 12 Jahren vor- 


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Kramer, IntelJigenzpriif ungen an abnormen Kindem. 


509 


kommen. Bei der J.-F.-Gruppe kamen bei den Kindern unter 
12 Jahren iiberhaupt nur Differenzen bis zu 3 Jahren vor, wahrend 
bei den Untersuchten iiber 12 Jahren 20 Differenzen hoheren 
Grades aufwiesen. Bei der Kl.-Gruppe ist der Unterschied nicht 
so gro8, jedoch auch deutlich her vor tre tend. 

In den beigefiigten Kurven sind diese Verhaltnisse fiir die 
J.-F.-Kinder iibersichtlich dargestellt. Wahrend auf der Abzissen- 



4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 


-= A. -- J. A. 

Fig. 1. 



= A. . = J. A. +-M-+ = J. A. der Kinder unter 12 Jahren 

-- ^ J. A. der Kinder uber 12 Jahre. 

Fig. 2. 


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510 K r a in e r , Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 


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achse die Lebensjahre aufgetragen sind, geben uns die Ordinaten 
die Zahl der einzelnen Falle an. Die eine Kurve entspricht dem 
Lebensalter, die andere dem Intelligenzalter. Wir sehen aus der 
ersten Kurve, wie sich die untersuchten Falle auf die verschiedenen 
Lebensalter verteilen, wahrend uns die letztere zeigt, welche 
Intelligenzaltersstufen die Priifung of ter, welche seltener ergab. 
Wir sehen in Fig. 1, wie sich in der Intelligenzalterskurve 
alles auf die Stufen zwischen 9 und 11 Jahre zusammendrangt, 
so daB hier ein hoher Gipfel entsteht, wahrend die Alterskurve 
einen erheblich weniger steil ansteigenden Gipfel einige Jahre 
spater zeigt. 

In Fig. 2 sind dieselben Kurven fur die Altersstufen unter 12 
und iiber 12 gesondert dargestellt; wir finden hier, daB der Gipfel 
der Alterskurve unter 12 bei der Intelligenzalterskurve etwas 
zuriickgeriickt ist, wie es den Defekten entspricht, wahrend bei 
den entsprechenden Kurven iiber 12 Jahre die Zuriickriickung 
groBer ist. Die Zusammendrangung der Intelligenzalterskurven 
in Fig. 1 ist demnach darauf zuriickzufiihren, daB die Individuen 
iiber 12 Jahre im Durchschnitt groBere Differenzen zwischen 
Alter und Intelligenzalter zeigen, als die unter 12 Jahren. In der 
Kl.-Gruppe liegen die Verhaltnisse ahnlich, doch sind die Unter- 
schiede nicht so ausgepragt, vor allem auch wegen der relativ 
kleinen Zahl der Individuen iiber 12 Jahren. 

Das Ueberwiegen der groBen Differenzen bei den alteren 
Kindern ist ohne weiteres dadurch erklart, daB die Priifung nur 
bis zu 12 Jahren geht und daher Individuen iiber 12 Jahre nur 
aufgenommen werden konnten, wenn sie Defekte zeigten, die sie 
in intellektueller Hinsicht unter 12 Jahren rubrizieren lassen. 
Bemerkenswert ist nur die Tatsache, daB groBe Differenzen bei 
den jiingeren Kindern gar nicht bezw. recht selten gefunden 
wurden. Besonders lehrreich in dieser Beziehung ist das Jugend- 
fiirsorgematerial, das keine Auswahl ermoglichte und in seiner 
Zusammensetzung relativ einheitlich ist. Es liegt kein Anhalt 
dafiir vor, daB wir bei den hoheren Altersstufen vorwiegend schwere 
Imbecille, bei den jiingeren nur solche leichten Grades zugesandt 
erhielten; eher konnte man das Umgekehrte annehmen, da die 
schweren Defektzustande friiher aufzufallen pflegen als die 
leichteren. Wir miissen daraus schlieBen, daB die gleichen Differenz- 
zahlen in niederem Alter eine schwerwiegendere Bedeutung haben 
als in hoherem, daB bei einem Defektzustand gleichen Grades 
mit zunehmendem Alter auch die Differenz zwischen Lebensalter 
und Intelligenzalter allmahlich groBer wird. Es stimmt dies mit 
einer Angabe Binets gut iiberein; nach seinen Erfahrungen an 
Schwachsinnigen sollen Debile das Intelligenzalter von 9 Jahren 
niemals iiberschreiten. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese 
Fixierung auf ein bestimmtes Intelligenzalter mit voller Exaktheit 
zutrifft. Wenn jedoch das Prinzip dieser Konstatierung richtig 
ist, was wir auf Grund unserer Erfahrungen annehmen mochten, 
so folgt daraus, daB Schwachsinnige allmahlich, und gegeniiber 


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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 511 

der Norm verspatet, ein gewisses Inteliigenzalter erreichen, fiber 
das sie auch im Laufe der weiteren Entwicklung nicht mehr hinweg- 
kommen. Hieraus folgt unmittelbar die oben konstatierte Tat- 
sache, daB mit zunehmendem Alter sich die Differenzzahl ver- 
groBern muB. Bei einem im wesentlichen aus leichteren Defekt- 
zustanden zusammengesetzten Material, wie es bei der J.-F.- 
Gruppe der Fall ist, drangen sich dann die Inteliigenzalter in 
denjenigen Altersstufen zusammen, fiber die die Debilen nicht 
hinwegkommen, also, wie es unsere Kurve zeigt, in den Stufen 
von 9—11 Jahren. 

Aus diesen Beobachtungen ergibt sich demnach, daB wir 
die Differenzzahl als MaB ffir den Intelligenzdefekt nur dann 
benutzen konnen, wenn wir Kinder gleichen Lebensalters mit- 
einander vergleichen. Die gleiche Differenzzahl bedeutet, einen 
groBeren Defekt, wenn es sich um jtingere Kinder handelt und 
bedeutet um so weniger, je alter das geprtifte Individuum ist. 
Bei alteren Kindern und Erwachsenen ist als Anhalt ffir die GroBe 
des Defektes fiberhaupt nicht mehr die Differenz zwischen Lebens- 
und Inteliigenzalter, sondern die absolute Hohe des letzteren zu 
benutzen. 

Da die Bedeutung der Differenzzahl um so groBer ist, je jtinger 
das Kind ist, so ist zu bedenken, ob die ganzjahrigen Stufen ffir 
die jfingsten in Betracht gezogenen Altersklassen nicht zu groB 
sind, ob wir hier in der weiteren Ausgestaltung der Methode nicht 
zu kleineren Stufen werden fibergehen mtissen. Einen Anhalt in 
dieser Beziehung gaben mir einige Kinder zwischen 4 und 6 Jahren, 
bei denen ich nach dem sonstigen Verhalten einen wenn auch nicht 
erheblichen Defektzustand veimutete, bei denen jedoch die 
Prfifung ein normales oder annahemd normales Verhalten ergab. 
Bei alteren Kindern habe ich derartige Diskongruenzen nicht 
beobachtet. An dieser Stelle sei auch noch auf einen Punkt kurz 
eingegangen, um vor einem naheliegenden MiBverstandnis bei 
der Verwertung der Methode zu warnen. Man kann die Frage 
aufwerfen, ob wir denn berechtigt sind, einen Schwachsinnigen 
in Parallele zu setzen mit einem Normalen jfingeren Lebensalters. 
Ein Imbeciller entspricht natfirlich niemals in seiner psychischen 
Eigenart einem jfingeren Vollsinnigen. Es ist ein in Laienkreisen 
weit verbreiteter Irrtum, daB ein schwachsinniges Kind nur ein 
in der Entwicklung verlangsamtes, sonst normales Individuum ist. 
Man konnte der Methode den Vorwurf mac hen, daB sie durch die 
Fixierung des Intelligenzalters diese irrige Meinung stfitzt, ja 
fiberhaupt auf ihr basiert. Demgegentiber sei hervorgehoben, 
daB die Ansetzung des Intelligenzalters unter das Lebensalter 
nicht mehr besagt, als daB das Kind bezfiglich einiger psychischer 
Phanomene, deren Auswahl aus Grtinden praktischer Zweck- 
maBigkeit erfolgte, die Stufe nicht erreicht hat, die gleichaltrige 
normale Kinder in dem betreffenden Lebensalter erfahrungsgemaB 
schon gewonnen haben, sondern sich in dieser Beziehung noch 
einem jfingeren Kinde analog verhalt. Ueber alle anderen psy- 


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512 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 


chischen Eigenschaften ist damit nichts gesagt. Ein debiles Kind 
ist einera jiingeren normalen gleichen Intelligenzalters oft in vieler 
Beziehung iiberlegen, es hat in alien denDingen, die seinerlntelligenz 
zuganglich sind, naturgemaB eine umfangreichere Erfahrung er- 
worben, als dem jiingeren normalen Kinde in seiner kiirzeren 
Lebenszeit zuganglich war. 

Wenn wir die Ergebnisse der Intelligenzprufung in Beziehung 
zu den klinischen Diagnosen betrachten, so ergibt sich folgendes: 
Unter den J.-F.-Kindern sind schwerere Krankheitsbilder sowohl 
in psychischer als auch in korperlicher Beziehung, wie es nach 
■der Genese des Materials auch wahrscheinlich ist, nicht zu ver- 
zeichnen; es handelt sich hier vorwiegend um Schwachsinn und 
psychopathische Grenzzustande, oft beides miteinander kombiniert. 

Nur 2 Falle erwiesen sich als psychisch normal und zeigten 
auch keinerlei intellektuellen Defekte. 

In etwa der Halfte der Falle (29) lag Imbecillitat vor, die 
in einer groBen Zahl mit anderen psychopathischen Ziigen (Neigung 
zum Fortlaufen, Pseudologie, epileptoiden Symptomen etc.) ver- 
kniipft war. Es fanden sich in diesen Fallen Differenzen zwischen 
Alter und Intelligenzalter: in 6 Fallen von 2 Jahren, in 5 Fallen 
von 3 Jahren, in 8 Fallen von 4, in 2 Fallen von 5, in 5 Fallen 
von 6, in 2 Fallen von 7, in 1 Fall von 11 Jahren. Bei der Stellung 
der Diagnose Imbecillitat wurde zum Teil das Ergebnis der 
Intelligenzprufung mitverwertet. In dem groBten Teile der Falle 
waren wir jedoch in der Lage, aus der Anamnese und dem Er¬ 
gebnisse der sonstigen psychischen Untersuchung die Diagnose 
zu kontrollieren; augenfallige Widerspriiche zwischen diesen Er- 
gebnissen und dem Ausfall der Intelligenzprufung haben sich 
nicht herausgestellt. Auf die Beziehungen zu den Schulleistungen 
wird weiter unten naher eingegangen werden. 

In 5 Fallen best and ausgesprochene Epilepsie, von denen vier 
intellektuelle Defekte (von 2, 3, 4 und 5 Jahren) zeigten, wahrend 
der fiinfte sich als intellektuell normal erwies. 2 Falle gehorten 
einer Gruppe psychopathischer Kinder an, auf die hier noch kurz 
eingegangen werden soli. Es sind dies Kinder mit Defekten auf 
ethischem Gebiete, Individuen, die schon von Jugend an Ab- 
stumpfung des moralischen Empfindens zeigen, bei denen sich 
von friih auf ein Fehlen altruistischer Neigungen bemerkbar macht. 
Die Zahl dieser Kinder war naturgemaB unter dem J.-F.-Material 
relativ groB. Eine ausfiihrliche Schilderung dieses Typus ist von 
Schroder 1 ) gegeben worden; die Kinder, die er beschreibt, ent- 
stammen demselben Material, an welchem von mir die Intelligenz- 
priifungen angestellt wurden. Fiir die viel erorterte Frage, ob 
diese moralischen Defektzustande nur auf der Basis des intellek¬ 
tuellen Schwachsinnes oder auch unabhangig von diesem vor- 
kommen, ist das Ergebnis der Intelligenzprufung von wesent- 
licher Bedeutung. 


*) 1- c 


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Kramer, Intel ligenzpriif ungen an abnormen Kindern. 513 


Unter den 23 Kindern, die diesem Typus zuzurechnen sind, 
fanden sich 11 intellektuell normale, wahrend 12 auch intellektuelle 
Defekte aufwiesen. 

Wir sehen also, daB ein erheblicher Teil bei der Intelligenz - 
priifung ein normales Resultat ergab. Bei den Kindern, die gleich- 
zeitig intellektuelle Defekte hatten, bestand keineswegs ein 
Parallelismus zwischen diesen und den moralischen Anomalien, 
so daB wir nach unseren Ergebnissen annehmen miissen, daB es 
sich um voneinander unabhangige Storungen handelt. Bei der 
Beschaftigung mit den Kindern dieser Art gewinnt man in einem 
Teil der Falle den Eindruck, daB es sich um Individuen besonders 
guter. iibernormaler Intelligenz handelt; sie gelten auch bei ihrer 
Umgebung, bei Eltern, Bekannten und Lehrern, als sehr geweckt, 
an Verstand und Gewandtheit ihre Altersgenossen iiberragend. 
Diesen Eindruck hat jedoch die Intelligenzpriifung nicht bestatigt. 
Die Leistungen sind hierbei, wenn auch haufig der Norm ent- 
sprechend, doch nicht iiber diese hinausragend. Ein Teil dieser 
Kinder rangierte sogar unter den oben erwahnten mit leichten 
Defekten. Die besonders gute Intelligenz ist hier nur vorgetauscht 
durch andere psychische Eigenschaften, die zum Teil mehr auf 
psychomotorischem Gebiete liegen, als der Verstandesveranlagung 
angehoren; Lebhaftigkeit, sprachliche Gewandtheit, auch Mangel 
an Schuchtemheit u. a. spielen hierbei eine Rolle. 

Das aus der Klinik stammende Material ist naturgemaB bunter 
zusammengesetzt, als das relativ einformige Material der Jugend- 
fiirsorge. Imbecillitat fanden wir hier in 19 Fallen, in der Mehr- 
zahl einfache Imbecillitat, 2 mit epileptoiden, einige mit anderen 
psychopathischen Ziigen. Die Defekte verteilen sich derart, daB 
1 mal eine Differenz von 1 Jahr, 4 mal von 2 Jahren, 5 mal von 
3 Jahren, 2 mal von 4 Jahren, 1 mal von 5 Jahren und 1 mal 
von 7 Jahren gefunden wurden; 5 altere Individuen zeigten groBere 
Differenzen; von ihnen erreichten 1 Patient nur das Intelligenz- 
alter von 4 Jahren, wahrend 4 Debile auf 8—10 Jahre kamen. 
Die Gruppe der ethisch Defekten ist hier nur mit 2 vertreten, 
•die beide sich als intellektuell normal erwiesen. Ein 9 jahriger 
Knabe zeigte nur ein Zuriickbleiben der Sprachentwicklung, 
wahrend er bei der Priifung keine Defekte aufwies. Epilepsie bestand 
in 11 Fallen; unter diesen waren 7, groBtenteils jungere Kinder, 
intellektuell normal, wahrend 4 altere Kinder Defekte von 2, 4, und 
7 Jahren aufwiesen. In 12 Fallen wurde die Diagnose auf Hysterie 
oder psychopathische Konstitution gestellt; unter diesen wiesen 2 
leichte Intelligenzdefekte auf. 13 Kinder waren wegen organischer 
Nervenleiden in die Klinik gekommen. 2 Chorea, 1 Dystrophie, 
1 Hydrocephalus erwiesen sich als normal, wahrend eine cerebrale 
Kinderlahmung, ein Little, ein erblindeter Hydrocephalus Defekte 
'zeigten. Fiinf dieser Falle waren Turmschadel mit erheblichen 
fiehstbrungen, die uns aus der Augenklinik zugeschickt worden 
waren. Bei vier von diesen ergaben sich erhebliche Defekte in 
Uebereinstimmung mit, der auch sonst beobachteten Tatsache, 


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514 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 


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daB Turmschadel in der Verstandesentwicklung haufig zuriick- 
bleiben. Ein fast vollig erblindetes, in der Blindenanstalt befind- 
liches Kind von 10 Jahren erwies sich jedoch als intellektuell vollig 
normal; dieser Fall zeigt uns insbesondere auch, daB in den anderen 
Fallen der schlechte Ausfall der Priifung nicht etwa allein auf 
die Sehstorung zuruckgefiihrt werden kann. 

Als Kriterium fur den Wert der Biwetechen Intelligenz- 
priifung ware es wesentlich, wenn wir die Ergebnisse mit einer 
auf anderem Wege gewonnenen Beurteilung der Intelligenz der- 
selben Kinder vergleichen konnten. Hierfiir kommt nur ein 
Gesichtspunkt in Betracht, namlich die Gegeniiberstellung der 
Schulleistungen. Diese bieten uns fiir den Vergleich den erheb- 
lichen Vorteil, daB auch in den Schulen eine Gruppierung 
nach Altersstufen stattfindet, indem die schlechtlernenden 
Kinder zuriickbleiben und sich in einer Klasse befinden, die 
normalerweise einem niedrigeren Alter entspricht. Wenn wir also 
fiir jedes Kind feststellen, in welcher Klasse es sich befindet, und 
das Normalalter dieser Klasse einsetzen, so erhalten wir einen 
Zahlenwert, das Schulalter, den wir ohne weiteres mit dem 
Intelligenzalter vergleichen konnen. Es kommen hierin natur- 
gemaB nur grobe Differenzen in den Schulleistungen zum Aus- 
druck, die so erheblich sind, daB sie eben ein Zuriickbleiben ver- 
anlassen. Die sonstigen Unterschiede der Klassenleistungen zum 
Vergleiche heranzuziehen, schien mir nicht zweckmaBig, da hier 
die exakte zahlenmaBige Bestimmung Schwierigkeiten macht. 

Es fragt sich, was wir fiir ein Resultat des Versuches er- 
warten miissen, wenn die Intelligenzpriifung zuverlassig ist. Auf 
Grund der Erwagung, daB die Schulleistungen im wesentlichen 
von der Intelligenz abhangen, konnte man vermuten, daB die 
Ergebnisse einer Intelligenzpriifung, falls sie Anspruch auf Brauch- 
barkeit macht, jenen parallel gehen miiBte, daB wir also eine 
weitgehendeUebereinstimmung des Schulalters mit dem Intelligenz¬ 
alter verlangen miiBten, und daB, je genauer diese Uebereinstimmung 
ist, wir um so mehr Zutrauen zu der Methode haben konnten. 
Bei genauem Zusehen stellt sich jedoch diese Erwagung als 
unrichtig heraus. Es kann ja kein Zweifel dariiber bestehen, daB 
die Schulleistungen in hohem MaBe von der Intelligenz des Kindes 
abhangen; sie werden jedoch von einer Reihe anderer Faktoren 
so erheblich beeinfluBt, daB von einem strengen Parallelismus 
nicht die Rede sein kann, sondern daB dieser in einer gewissen 
Zahl von Einzelfalien durchbrochen werden muB. Von diesen 
Faktoren sind zunachst Umstande lediglich auBerer Natur zu 
nennen, so z. B. haufiger Schulwechsel, besonders wenn es sich 
um verschiedene Schularten, etwa Uebergang von der Dorfschule 
in eine mehrklassige groBstadtische Schule handelt; sodann haus- 
liche ungiinstige Verhaltnisse, die den Kindern einen regelmaBigen 
Schulbesuch und hausliche Schularbeit erschweren, sie fiir die 
Zwecke der Hauslichkeit und des Erwerbes stark in Anspruch 
nehmen. In gleicher Weise wirken Krankheiten, die den Schul- 


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Kramer, Intel ligenzpriifiungen an abnormen Kindem. 515 

besuch unterbrechen, oder korperliche Gebrechen, wie Seh- und 
Horstorungen, die das Kind aus dem normalen Unterricht iiber- 
haupt mehr oder minder ausschalten. 

AuBer diesen auBeren Momenten kommen mindestens ebenso 
stark Besonderheiten der psychischen Veranlagung des Kindes 
in Betracht. Die Schulleistungen sind — dies gilt vor allem fiir 
die ersten Schuljahre — neben der Intelligent von anderen Be- 
gabungselementen abhangig vor allem von der Merkfahigkeit. 
Besonders sind bei psychopathischen Kindern nicht selten Eigen- 
heiten zu beobachten, die ihr Verhalten im Schulunterricht un- 
giinstig beeinflussen, so die Unfahigkeit, die Aufmerksamkeit 
dauernd zu konzentrieren, iibermaBige Affekterregbarkeit, die sie 
leicht einschiichtern laBt, usw. Eine erhebliche Rolle spielen 
dann auch psychische Besonderheiten, die mehr in das Gebiet des 
Affektlebens gehoren, mangelnder Ehrgeiz und FleiB, Neigung 
zur Disziplinverletzung u. a. Alle diese Faktoren miissen bewirken, 
daB eine gewisse Zahl von Kindern in der Schule schlechter fort- 
kommt, als es ihrer Intelligenz entspricht. Wenn diese Zahl auch 
im Vergleich zur Gesamtmenge der Schuler verhaltnismaBig gering 
sein mag, so muB sie in dem von uns untersuchten Material mit 
besonderer Deutlichkeit hervortreten; denn wir haben es hier 
vor allem bei den Kindern, die dem Material der Klinik angehoren, 
mit kranken Individuen zu tun, deren Leiden nicht selten ihren 
Schulbesuch ungiinstig beeinflussen, wahrend bei den Kindern 
der Zentrale fiir Jugendfiirsorge ungiinstige soziale Verhaltnisse, 
psychopathische Veranlagung, Anomalien des Affektlebens und 
der ethischen Vorstellungen recht haufig bestanden. 

Wenn wir bei diesem Material eine durchgehende Ueberein- 
stimmung der Schulleistungen mit den Ergebnissen der Intelligenz- 
priifung finden wiirden, so miiBte dies ein erhebliches MiBtrauen 
gegen unsere Untersuchungsmethode hervorrufen; es ware dann 
wahrscheinlich, daB wir iiberhaupt nicht die Intelligenz priifen, 
sondern nur auf einem Umwege die in der Schule erworbenen 
Kenntnisse und Fertigkeiten. Wir konnten uns dann die Miihe 
der Priifung iiberhaupt in der Mehrzahl der Falle ersparen, da 
uns eine Auskunft iiber die Schulleistungen denselben AufschluB 
geben wiirde. Wenn wir dagegen Differenzen zwischen dem Schul- 
alter und dem Intelligenzalter finden in dem Sinne, daB das 
Schulalter geringer ist als dieses, so werden wir zu priifen haben, 
ob Griinde vorUegen, die das Zuriickbleiben des Kindes in der 
Schule imter der seiner Intelligenz entsprechenden Stufe in aus- 
reichendem MaBe erklaren. 

Es fallen fiir die Zusammenstellung eine Reihe von Kindem 
aus; diejenigen, die noch nicht in die Schule gehen oder die 
Zoglinge der Hilfsschule sind, ferner Kinder, die eine Dorfschule 
mit, geringer Klassenzahl besuchten, bei der infolgedessen das 
Schulalter nicht ausreichend prazise zu bestimmen war, vier 
andere Falle, bei denen die genaue Feststellung der SchulHasse 
unterlassen und spater nicht mehr nachzuholen war. Bei Priiflingen 

* Monatssohrift f. Psychiatric xl. Neurolofffo. B<L XXXIII. Heft 6. r 34 


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516 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 


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uber 14 Jahren, die bereits die Schule verlassen haben, wurde das 
Alter der Klasse, aus welcher sie abgegangen waren, dem Ver- 
gleiche zugrunde gelegt. 

In 9 Fallen ist das Schulalter hoher als das Intelligenzalter. 
Samtliche in diese Kategorie gehorigen sind intellektuell defekt. 
Sie sind jedoch in der Schule nicht so weit zuriickgeblieben, als 
es nach ihrem Intelligenzniveau zu erwarten ware. Bei der Mehr- 
zahl dieser Falle verschwindet bei genauerer Betrachtung das 
Auffallende dieser Differenz. In 2 Fallen, bei den Kindem Hans V. 
(A. = 7, I.-A. = 5, Sch.-A. = 6) und Anna S. (A. = 6, I.-A. = 5, 
Sch.-A. = 6) muBte das Schulalter, da sie sich in der untersten 
Schulklasse befanden, auf 6 Jahre angesetzt werden; bei beiden 
wurde jedoch ubereinstimmend angegeben, daB sie in der untersten 
Klasse nicht fortkommen, so daB tatsachlich die Schulleiatungen 
als mit dem Intelligenzalter von 5 Jahren ubereinstimmend anzu- 
sehen sind. In einem weiteren Falle handelte es sich um einen 
16 jahrigen Menschen, der bei einem Intelligenzalter von 10 Jahren 
aus der ersten Schulklasse abgegangen war; hier ergab die Anamnese, 
daB der Knabe erst 4 Monate vor seinem Abgange aus der Dorf- 
schule nach Breslau gekommen war, daB man ihn hier zunachst 
in die seinem Alter entsprechende erste Klasse einschulte und 
wegen der kurzen Zeit trotz seiner schlechten Leistungen von 
einer Riickversetzung Abstand nahm. In 4 Fallen, in denen die 
Differenz zwischen Schulalter und Intelligenzalter 1 Jahr zu- 
gunsten des ersteren betrug, wurde die dem Schulalter ent¬ 
sprechende Intelligenzstufe nahezu erreicht; es handelte sich hier 
immer nur um 1—2 Einzeltests, die dazu fehlten. Die mangelnde 
Uebereinstimmung fallt hier wohl darum nicht so erheblich ins 
Gewicht und ist auf die Notwendigkeit, kiinstlich scharfe Grenzen 
zu ziehen, zuriickzufiihren. Bei einem dieser Kinder war das Ver- 
sagen bei alien handliche Geschicklichkeit erfordemden Proben 
die Ursache des Zuriickbleibens. Nach Ausscheidung dieser 7 Falle, 
in denen die Differenz nur scheinbar bestand, bleiben noch zwei 
Kinder iibrig, bsi denen sie als tatsachlich vorliegend angesehen 
werden muB. In einem dieser Falle, Elfriede G., war es ein 
15 jahriges Madchen mit dem Intelligenzalter von 9 Jahren, das aus 
der zweiten Klasse (11 Jahre) abgegangen war; es bestandeine ein- 
fache Imbecillitat mit Neigung zu sexueller Depravation; sie soil 
in der Arbeit tiichtig und brauchbar sein. Es handelt sich wahr- 
scheinlich hier um eine jener Schwachsinnigen, die fleiBig, ordent- 
lich, ftigsam und willig sind und erst scheitem, wenn von ihnen 
selbstandige Leistungen verlangt werden, denen sie nicht ge- 
wachsen sind. Moglicherweise hat diese Charakterveranlagung 
bewirkt, daB sie in den Schulleistungen besser beurteilt wurde, 
als ihrer Intelligenz entsprach. Im letzten Falle handelt es sich 
um eine Schwachsinnige mit epileptischen Anfallen (Gertrud M., 
15 Jahre, I.-A. = 9, Sch.-A. = 11); hier lieB sich kein be- 
stimmter Grund fiir die Differenz finden; vielleicht liegt auf 
Grand der Epilepsie eine progrediente Verblodung vor. 


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Kramer, Intel ligenzpriifungen an abnormdn Kindern. 517 


In 39 Fallen stimmte das Schulalter mit dem Intelligenz¬ 
alter iiberein. In dieser Kategorie werden einige Falle mitgezahlt, 
bei denen scheinbar ein Zuruckbleiben der Schulleistungen um 
1 Jahr vorlag; es sind dies Kinder, die intellektuell um 1 Jahr 
ihrem Alter voraus sind und sich in den ihrem Alter entsprechenden 
Klassen befinden. Da ein solcher Schuler sich in der seinem 
Intelligenzalter entsprechenden Klasse gar nicht befinden kann, 
so rechtfertigt sich dieZuordnung zu denen,bei denenl.-A. = Sch.-A. 
ist. Bemerkenswert ist. daB bei den Fiirsorgekindern sich die 
Uebereinstimmung zwischen Schul- und Intelligenzalter nur bei 
4 intellektuell Normalen, dagegen bei 17 Defekten fand, wohin- 
gegen bei der Mehrzahl der Normalen die Schulleistungen zuriick- 
blieben. 

Ein niedrigeres Schulalter als Intelligenzalter zeigten im 
ganzen 36 Kinder. Besonders bemerkenswert sind hier diejenigen, 
bei denen die Differenz mehr als 1 Jahr betragt, worunter 1 Fall 
mit 5 Jahren Unterschied ist. An der Hand dieser Falle sollen 
die Griinde fiir das Zuruckbleiben in der Schule gezeigt werden. 

Als solche kommen zunachst Momente auBerer Natur in 
Betracht. Krankheiten, Schulwechsel u. a. kann die Kinder im 
Fortkommen in der Schule, unabhangig von ihrer Intelligenz, 
aufhalten. 

Agnes H., 12 Jahre alt (I.-A. = 10, Sch.-A. = 8), hat wegen Diphtheric 
und Lungenleiden lange im Hospital gelegen, leidet seit langerer Zeit an 
einer tuberku osen Erkrankung des rechten Ellenbogengelenkes, OhrenfluB 
und Schwerhorigkeit. Auflerdem bestehen recht ungiinstige hausliche 
Verhaltnisse. Alle dies© Dinge erklaren ausreichend, daB bei maBiger 
Debilitat das Kind 4 Jahie in der Schule zuiiickgeblieben ist. 

Aehnlich liegt es bei den beiden folgenden Fallen: Anna H. 
und Klara K., die an Opticusatrophie infolge Turmschadel leiden; 
sie wurden durch die Sehstorung am Fortkommen gehindert. 
In dem Falle Herbert K. (16 Jahre, I.-A. = 12, Sch.-A. = 10) 
war mehrmaliger Schulwechsel mit Uebergang von der Dorfschule 
in die Stadtschule bei maBiger Imbecillitat mit Wahrscheinlich- 
keit als Ursache dafiir anzusehen, daB er nur bis in die 3. Klasse 
gelangt ist 

Bei der folgenden Gruppe liegen die Griinde fiir das mangel- 
hafte Fortkommen in der Schule im wesentlichen in der 
psychischen Eigenart der Kinder begriindet. Es sind vor allem 
die schon oben erwahnten Defekte auf ethischem Gebiete, die 
hier wirksam sind. Die Kinder fiigen sich meist schlecht in die 
Schuldisziplin und halten sich den normalen Antrieben durch 
Ehrgeiz, Scham usw. gegeniiber refraktar, schwanzen die Schule* 
sind durch Strafen nicht beeinfluBbar. So bleiben sie trotz guter 
Intelligenz oft erheblich in der Schule zuriick. 

Klara P. (A. = 11, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9), von Jugend liignerisch; 
schwindelt und stiehlt; auBert keine Furcht. Sehr friihzeitige Neigung 
zu sexueller Betatigimg. Kommt in der Schule schlecht fort, schwatzhaft, 
unaufmerksam, faselig. Ist statt in der zweiten, erst in der vierten Klasse. 
Intellektuell bestehen keine Defekte. 

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518 Kramer, Intoliigenzpriif ungen an abnormen Kinderru 


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Ernst FI. (A. = 11, I.-A. = 10, Sch.-A. = 8). Verlogen, freeh„ 
gchwanzt andauemd die Schule, mu£ von der Polizei in die Schule geholt 
werden; ungiinstige hausliche Verhaltnisse. 1st bei annahernd normaler 
Intelligenz erst in der fiinften Klasse, sollte in der zweiten sein. k-. 

Richard^F. (A. = 12, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9). Ausgesprochene 
ethische Defekte, liigt viel, geschickt und raffiniert im Erfinden, lauft 
fort, treibt sich mit anderen Jungen herum, geht vie! hinter die Schule. 
Lebhaftes Wesen. Auskunft des Lehrers: FleiB mangeihaft, Auffassung 
und Gedachtnis gut, Aufmerksamkeit schlecht. Verlogen, lebhaft, schwer 
zu lei ten. A In der Intelligenz 1 Jahr, in der Schule 3 Jahre zuriick. 

Alfred W. (A. = 12, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9) ist ofters von Hause 
fortgelaufen, bleibt tagelang weg, wird meist erst mit Hilfe der Polizei 
gefimden. Kommt in der Schule schlecht fort. 

Wahrend die vier oben erwahnten Falle intellektuell ganz oder 
annahernd normal sind, sind in den folgenden 2 Fallen intellektuelle 
und moralische Defekte miteinander kombiniert. Die Kinder 
sind in der Schule weiter zuriick, als es nach dem Ergebnisse der 
Intelligenzpriifung der Fall sein miiBte. 

Kurt Sch. (A. = 13, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9). MaBiger Schwachsinn 
mit ethi8chen Defekten. Liigt, stiehlt. Verdacht auf Epilepsie. 

Arthur V. (A. = 13, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9), stumpfsinniger 
Imbeciller, begreift schwer; stiehlt, schwanzt haufig die Schule, bleibt 
oft tagelang fort. 

In zwei weiteren Fallen handelt es sich um intellektuell 
normale Kinder mit Epilepsie: 

Georg W. (A. = 10, I.-A. = 10, Sch.-A. = 8) und Rudolf P. (A. = 11, 
I.-A. = .12, Sch.-A. = 9), bei denen sowohl unregelmaBiger Schulbesuch und 
viele Krankheit, als auch die bestehende epileptische Charakterveranlagung 
als Ursachen fur das zweimalige Zuriickbleiben in Frage kommen. 

Die Zahl von Fallen, in denen das Schulalter hinter dem 
Intelligenzalter um 1 Jahr zuriickbleibt, ist erhebhch groBer; 
unter den Fiirsorgekindern finden sich 17, unter den die Klinik 
aufsuchenden Patienten 7. Sie bieten weniger Interesse, als die 
eben erwahnten, da die einjahrige Differenz auch durch Zufallig- 
keiten bedingt und durch die naturgemaB etwas willkiirliche, 
scharfe Abgrenzung bedingt sein kann, doch lieBen sich auch 
hier die ' Griinde fiir das Zuriickbleiben in der Mehrzahl mit 
Deutlichkeit aufweisen. Um Wiederholungen zu vermeiden, sollen 
diese Falle nur im Gesamtergebnis angefiihrt werden. Unter den 
17 Kindem aus der Zentrale fiir Jugendfiirsorge waren in 2 Fallen 
Krankheit und schlechte auBere Verhaltnisse als Ursache des 
Zuriickbleibens zu vermuten, wahrend bei den anderen 15 durchweg 
Defekte auf ethischem Gebiete, in 10 Fallen kombiniert mit 
intellektuellem Schwachsinn, manchmal auch mit anderen psycho- 
pathischen Besonderheiten, nachweisbar waren. 

Unter den sieben hierher zu zahlenden Kindern der KHnik 
sind 2 mal korperliche Krankheiten (Hydrocephalus, Turm- 
schadel mit starker Sehstorung), 3 mal Epilepsie mit Erregungs- 
zustanden und Poriomanie, 1 mal ethische Defekte zu verzeichnen, 
wahrend in einem Falle einfacher Imbecillitat sich kein aus- 
reichender Grund fiir das Zuriickbleiben nachweisen lieB. 


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Klieneberger, Opticusatrophie etc. 


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Dieses Ergebnis des Vergleiches zwischen dem Resultat der 
Intelligenzpriifung und den Schulleistungen der Kinder ist nach 
zwei Richtungen bemerkenswert. Fiir die Bewertung der Binet- 
schen Methode zeigt es uns, daB der naheliegende und gegen jedes 
solche Verfahren zunachst zu erhebende Einwand, daB man nur 
Schulkenntnisse priift, nicht berechtigt ist. Es ergibt sich im 
Gegenteil, daB wir in erheblichem Grade unabhangig sind von 
dem, was die Kinder in der Schule gelemt haben, und daB wir 
im wesentlichen Leistungen verlangen, die das normale Kind 
sich unbeeinfluBt von Erziehung und Unterricht in einem be- 
stimmten Alter anzueignen pflegt. DaB diese Erfahrungen das 
Vertrauen zu der Brauchbarkeit der Methoden erheblich starken, 
bedarf keiner besonderen Erlauterung. 

Wenn wir aimehmen, daB die Methode uns ein im ganzen 
zutreffendes Bild der Intelligenz gibt, so zeigen uns ferner die 
Ergebnisse, daB wir zur Beurteilung eines Kindes und zur Be- 
antwortung der uns gestellten praktischen Fragen nicht einseitig 
die Verstandesleistungen heranziehen, sondem die gesamte 
psychische Personlichkeit beriicksichtigen miissen. Wir sehen, 
in wie hohem Grade die Schulfahigkeit der Kinder von anderen 
psychischen Faktoren beeinfluBt wird; in gleichem MaBe gilt das 
das auch fiir das Fortkommen im Berufe, fiir die soziale Brauchbar¬ 
keit. Bei einer erheblichen Zahl der Kinder fand sich, daB das, 
was das Einschreiten der Zentrale fiir Jugendfiirsorge veranlaBt 
hatte, gar nicht oder nur zum Teil auf den intellektuellen Schwach- 
sinn, sondern auf andersartige psychische Anomalien, vor allem 
moralische Defektzustande, zuriickzufiihren war. Bei den Rat- 
schlagen, die wir in Bezug auf Unterbringung in Erziehungs- 
anstalten, auf Schulart und Berufswahl erteilen, werden wir 
selbstverstandlich das Ergebnis der Intelligenzpriifung durchaus 
beriicksichtigen, daneben jedoch immer die gerade bei diesem 
Material in reichlicher und mannigfaltiger Weise zu konstatierenden 
psychopathischen Besonderheiten beachten miissen. 


(Ails der Universitats-Poliklinik fiir Nervenkranke, Konigsberg. 
[Direktor: Prof. Dr. Ernst Meyer.]) 

Optikusatrophie bei Gehirnarteriosklerose. 

Von 

Privatdozent Dr. OTTO KLIENEBERGER. 

Die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten, die sich bei 
cerebralen GefaBerkrankungen ergeben, bewegen sich nach zwei 
Seiten. Es konnen einmal durch die Sklerose der GehimgefaBe 
andersartige Erkrankungen vorgetauscht werden, und daun 


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Klieneberger, Opticusatrophie 


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konnen organische Gehimerkrankimgen durch arteriosklerotische 
Storungen verdeckt oder besonders bei alten Leuten als solche 
verkannt werden. Erst in letzter Zeit hat Bonhoeffer 1 ) wieder 
auf diese differentialdiagnostischen Schwierigkeiten hingewiesen 
und insonderheit dargetan, daB die Unterscheidung zwischen 
cerebraler GefaBerkrankung und Himtumor nicht nur schwer, 
sondem gelegentlich geradezu kaum moglich sein kann. In dera 
Fall von Bonhoeffer , der dies Verhalten besonders anschaulich 
zur Darstellung bringt, wurde die Fehldiagnose Hirntumor wesent- 
lich durch das Auftreten einer sich langsam entwickelnden Stauungs- 
papille unterstiitzt, als deren Ursaehe Bonhoeffer arteriosklerotisch 
bedingte Erweichungen anspricht. Augenhintergrundsverande - 
rungen bei Himarteriosklerose sind, wie auch Bonhoeffer hervor- 
hebt, auBerordentlich selten. Es konnen auBer entziindlichen 
Veranderungen auch einfache degenerative Prozesse im Opticus 
vorkommen, die als durch cerebrale GefaBerkrankungen bedingt 
zu deuten sind. Wir hatten kiirzlich Gelegenheit, zwei solche 
Falle mit Opticusatrophie zu untersuchen, bei denen wir zunachst 
auch an einen andersartigen organischen HirnprozeB dachten, 
aber schlieBlich doch auf die, wie wir annehmen mochten, richtige 
Diagnose der Himarteriosklerose zuriickkamen. In der neuro- 
logischen Literatur habe ich einschlagige Beobachtungen nicht 
finden konnen 2 ). Es diirfte daher die Mitteilung dieser Krankheits- 
falle ein gewisses Interesse beanspruchen. 

Die erste Kranke suchte am 30. XI. 1912 die hiesige Poli- 
klinik auf. Dem Gesetz der Duplizitat folgend kam am 2. XII. 1912 
ein zweiter entsprechender Fall in unsere Beobachtung. Ich sah 
daraufhin die friiheren Jahrgange des hiesigen poliklinischen 
Materials durch, konnte aber nurmehr noch einen weiteren Fall 
ausfindig machen, der am 14. X. 1908 hier untersucht wurde 
und wesentlich das gleiche Krankheitsbild darstellt. Ich lasse 
zunachst die drei Krankengeschichten kurz folgen. 

Erste Beobachtung. 

Henriette M., Arbeiterfrau, 53jahrig. 14. X. 1908. 

Mann an Lungenleiden gestorben. 

8 Kinder, von denen mehrere klein gestorben. Keine Fehlgeburten. 
Iramer sehr schwere Entbindungen, sonst nie krank. 

Mit 27 Jahren (1882) Wochenbett, geschwollen, 7 Wochen blind. 
Vor 7 Jahren Menopause, seitdem oft geschwollene Glieder. Seit 5 Jahren 
ReiBen in rechter und linker Seite, besonders rechts, koinmt plotzlieh, 
halt eine Viertelstunde lang an, Stiche, als wenn mit Messer hineingehackt. 

Seit 1882 nicht mehr ordentlich geselien (vgl. oben). Seit 2—3 Jahren 
weitere Verschlechterung des Sehens. 

Leiclit mlide, Kopfschinerzen. Oft Schwindel, Herzklopfen und 


*) Zur Differentialdiagnose zwischen cerebralen GefaBerkrankungen 
und Himtumor. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. 32. 

*) Auch die Studie von R. Otto (erschienen bei Springer , Berlin , 1893), 
die sich mit der Untersuchung der Sehmrvenverdnderungen bei Arterio - 
sklerose beschaftigt, eine fast rein pathologisch-anatomische Arbeit, hat 
nur in der ophtalrnologischen Literatur Beachtung gefunden. 


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bei Gehirnarteriosklerose. 


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Beangstigung. Wasserlassen ohne Besonderheiten, nur beiin Heben lauft 
es ab. 

Pupillen gleich, eng. 

Patellarreflexe + , schwach; Achillesreflexe +. 

Zunge etwas naeh rechts. 

Facialis ohne Besonderheiten. 

Motilitat ohne Besonderheiten. 

Sensibilitat: sehr empfindlich. Ueberall Druckpnnkte aller Muskeln. 
Ovarie. Mastodynie. 

Puls klein, nicht regelmaBig. Herz etwas vergroBert, Tone unrein. 

Urin frei. 

Unter8uchung in der Augenklinik. 

12. IX. 1908 fortgesehrittene Sehnervenatrophie beiderseits. Die 
Sehscharfe betragt rechts Fingerzahlen in 3, links in 2 m. 

21. X. 1908 genuine Atrophie, fast totale Farbenblindheit. 

Untersuchung in der Nasenklinik. 

Rechts: Mittlere Muschel nicht wesentlich vergroBert, der laterale 
Spalt ist frei, ein schmaler blasiger Sekretstreifen ist am Rande sichtbar. 

Links: Derselbe Befund, die mittlere Muschel ist hier etwas voluminoser 
als auf der rechten Seite. Untere Muschel mafiig hypertrophisch. 

Nach Kokain keine Vermehrung der Sekretion. Die Durchleuchtung 
ergibt keine wesentliche Verdimkelung. 

Nach dem Befunde glaubt die Klinik eine eitrige Stimhohlenaffektion 
ebenso wie einen eitrigen SiebbeinprozeB ausschlieBen zu konnen. 

Zweite Beobachtung. 

Rahel A., Kaufmannswitwe, 63 jahrig. 30. XI. 1912. 

Auf dem rechten Auge seit 13 Jahren allmahlich eintretende Er- 
blindung, seit y 2 Jahre auch links. 

Kopfschmerzen und Schwindel seit langem. Manchmal ziehende 
Schmerzen im rechten Arm, Spicken in den Ohren. Sonst nie krank. Neun 
Kinder, von denen drei klein gestorben. 

Klein, kraftig, erhebliches Fettpolster. 

Schwerfallig in Auffassung, Reaktion und alien korperlichen Be- 
wegungen. 

Himnerven ohne Besonderheiten. 

Periost- und Sehnenreflexe lebhaft, gleich. 

Hautreflexe normal. 

Motilitat -f~. Keine Adiadochokinesis. Keine Ataxie. Keine Sensi- 
bilitatsstorung. 

Leichte Pulsbeschleunigung. Geringe periphere Arteriosklerose. 

Unter8uchung in der Augenklinik. 

Beiderseitige Opticusatrophie. Rechts blind, links Finger in 1 m. 
Gesichtsfeldaufnahme nicht moglich. 

Pupillen beiderseits mittelweit; vom rechten Auge keine Reaktion 
auszulosen, nur konsensuell vom linken; Reaktion links nur direkt, nicht 
konsensuell. 

Ophthalmoskopisch: Papille beiderseits schmutzig weiB, Grenzen 
leicht verwaschen, Tiipfelchen der Lamina cribrosa nicht zu erkennen; 
GefaBe, besonders Arterien diinn. 

Untersuchung in der Ohrenklinik. 

Beiderseits polypose Entartung der mittleren Muschel und des Sieb- 
beins. Verdacht auf tiefliegende Eiterung. 

Wa88ermann negativ. 


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Klieneberger, Opticusatrophie 


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Dritte Beobachtung. 

Auguste Sch., Kaufmannsfrau, 50 jahrig. 2. XII. 1912. 

Seit etwa 3 Jahren links blind, rechts seit Sommer 1912 Abnahme 
des Sehvermogens. 

Miidigkeit iiber den Augen. Friiher, als junge Frau, of ter Kopf- 
schmerzen, meist in Stim und Augen; jetzt nur noch ab und zu, wenn 
Schlaf schlecht. Herzschmerzen. Lungenkatarrh. 

Seit 2 Jahren ab und zu Schwindel; jetzt manchmal rechts Ohren- 
sausen. 

Gedachtnis etwas nachgelassen. 

Gesunde Kinder; 1 Fehlgeburt. 

Himnerven ohne Besonderheiten. 

Sehr lebhafte Sehnen- und Periostreflexe; linker Patellarreflex noch 
lebhafter als rechts. 

Keine Storungen, die auf Lasion der Pyramidenbahnen hindeuten. 

Sensibilitat +• Keine Ataxie, kein Romberg. 

Keine Adiadocliokinesis. 

MajBige periphere Arteriosklerose. 

Was8ermann mafiig stark positiv. 

Untersuchung in der Augenklinik. 

Genuine Opticusatrophie beiderseits, links > rechts, mit kon- 
zentrischer Gesichtsfeldeinschrankung fiir Farben bis auf 5—10 Grad. 
Pupillenreaktion: rechts starr, links paradox. 

UrUersuchung in der Nasenklinik. 

Hypertrophie der Schleimhaut. Beide unteren und beide mittleren 
Muscheln sind nicht unerheblich hypertrophisch. Eiter rhinoskopisch 
nicht nachweisbar, auch ergibt die Rontgenaufnahme keinen Anhalt dafiir; 
jedoch konnte es sich um einen serosen Ergufi im Keilbein und Siebbein 
handeln, wie es bei derartigen hypertrophischen Prozessen mit behindertem 
Sekretabflufl zur Beobachtung kommt. 

Da sich keine andere Ursache fiir das Augenleiden fand, wurde einige 
Tage spater eine Eroffnung der Nebenhohlen vorgenommen. Diese ergab 
weder in den hinteren Siebbeinzellen noch der Keilbeinhohle eine Eiterung 
oder ein schleimiges Exsudat, vielmehr zeigten sie sich vollig frei und 
lufthaltig. 

Bei alien drei Kranken handelt es sich um im Beginn des 
Seniums bezw. bereits im Senium stehende Frauen, bei denen 
ohne sonstige grobere, auf organische Lasionen hinweisende 
Storungen eine allmahlich und teilweise bis zur Erblindung fort- 
schreitende Abnahme des Sehvermogens sich eingestellt hat. 
Die Kranke M. ist angeblich bereits vor langen Jahren im Wochen- 
bett voriibergehend blind gewesen, vermutlich hat sie zugleich 
an einer Thrombose der Beinvenen gelitten; um was es sich aber 
damals gehandelt hat, laBt sich heute nicht mehr feststellen. 
Sie hat angeblich seitdem nicht mehr ordentlich gesehen; die 
Sehkraft hat sich aber seit 2—3 Jahren (1905—1906) weiterhin 
verschlechtert, so daB sie dessentwegen 1908 die Augenklinik 
aufgesucht hat. Es besteht bei ihr eine sehr hochgradige Seh- 
schwache, links noch mehr als rechts; ob sich diese nach und 
nach oder beiderseits gleichzeitig entwickelt hat, ist nicht zu 
entscheiden. Bei den beiden anderen Kranken hat das Sehvermogen 
erst auf dem einen Auge ganz allmahlich abgenommen, nach 
Jahren hat sich dann auch die Sehkraft des anderen Auges all- 


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bei Gehirnarteriosklerose. 


523 


mahlich fortschreitend verschlechtert. Die ophthalmoskopische 
Untersuchung ergibt bei alien das Bild der einfachen genuinen 
Atrophie. Es fehlen bei den drei Kranken weiterhin in der 
Anamnese sowohl wie im Befund Storungen, die auf eine irgendwie 
ernstere organische Himerkrankung hinweisen. Von eventuell als 
organisch imponierenden Symptomen besteht nur bei der Kranken 
Sch. eine geringe Differenz der Patellarreflexe, bei der Kranken M. 
eine geringe Deviation der Zunge; aber diese Abweichungen sind 
kaum gam sicher und zudem so gering, daB ihnen eine besondere 
Bedeutung nicht beigemessen werden kann. Hingegen sind den 
Kranken gemeinsam vereinzelte allgemein nervose Beschwerden 
leichter Art, wie wir sie in der Regel bei beginnenden Himarterio- 
sklerotikem antreffen, teils mehr, teils weniger ausgepragt, wie 
Schwindel, Kopfschmerz, Storungen von seiten des Herzens 
(Herzklopfen, Herzschmerzen, Beangstigungen), ziehende und 
reiBende Schmerzen im Korper, leichte Ermiidbarkeit und Ab- 
nahme des Gedachtnisses, sowie objektive Storungen von seiten 
des GefaBsystems: die Kranke Sch. zeigt eine maBige periphere 
Arteriosklerose, die Kranke A. dazu noch eine leichte Puls- 
beschleunigung, die Kranke M. einen kleinen nicht regelmaBigen 
Puls, VergroBerung des Herzens und Unreinheit der Tone. 

Bei dem Fehlen aller objektiv nachweisbaren Storungen seitens 
des Zentralnervensystems, die uns den Befund der Opticusatrophie 
auch nur einigermaBen erklaren konnten, imd in Anbetracht der 
langsamen, allmahlich fortschreitenden Erblindung ohne andere 
als allgemein nervose, vermutlich arteriosklerotische Beschwerden 
leichter Art bei geringen arteriosklerotischen Storungen seitens 
des GefaBsystems lag es nahe, daran zu denken, ob nicht auch 
die Erblindung selbst vielleicht arteriosklerotisch bedingt sein 
konnte; und zwar kame hier die Sklerose der Carotis und der 
Arteria ophthalmica in Betracht, sei es, daB diese durch Druck 
komprimierend auf den Nerven einwirken, sei es, daB sie ihn durch 
ungeniigende Emahrung schadigen. Andere organische Erkran- 
kimgen des Nervensystems konnten jedenfalls auf Gnmd der 
Entwicklung, des Verlaufs und des Befundes, sowie in Hinsicht 
auf das Alter der Patienten ausgeschlossen werden. Selbst bei 
der Kranken Sch., bei der die serologische Untersuchung des 
Blutes ein positives Ergebnis gezeigt hatte, lagen in Anbetracht 
des jahrelangen schleichenden Verlaufs bei sonst normalem Befund 
keine Anhalt spunkte vor, die Erblindung etwa als post- oder 
metasyphilitisch aufzufassen, nur muB man hier daran denken, 
daB die luetische Infektion vielleicht die Ursache fur eine relativ 
friihzeitige Arteriosklerose darstellt. Auch eine Erkrankung der 
Nebenhohlen lag, wie die Untersuchung bei M. und Sch. fest- 
stellte, nicht vor; auch bei A. ist sie wenig wahrscheinlich, selbst 
wenn sie bestande, wiirde sie den Befund kaum restlos erklaren, 
um so weniger, als gerade diese Kranke eine allgemein psychische 
und korperhche Schwerfalligkeit zeigt, wie sie fiir Arteriosklerose 
•charakteristisch ist. Es bleibt somit die Diagnose Arteriosklerose, 


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524 


K lieneberger, Opticusatrophie 


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und in der Tat ist das Vorkommen von Erblindung bei Him- 
arteriosklerose, wenn auch nicht in der neurologischen, so doeh 
in der ophthalmologischen Literatur, beschrieben. — Oppenheim 1 ) 
erwahnt nur ,,eine senile Form der Atrophia nervi optici“; „in 
einer langlebigen Familie betraf das in hoHem Grade auftretende 
Leiden mehrere Familienmitglieder“. Vielleicht sind diese Falle 
hierher zu rechnen. — So schreibt Fuchs in seinem Lehrbuch 
der Augenheilkunde, daB bei alten Leuten zuweilen eine nicht 
entziindliche Sehnervenatrophie leichten Grades vorkommt, welche 
durch die atheromatose Erkrankung der Carotis interna und der 
Arteria ophthalmica verursacht wird. Die ,,starrwandig ge- 
wordenen GefaBe bringen dann den Sehnerven, welchem sie in 
einer gewissen Ausdehnung unmittelbar anliegen, durch Druck 
zum teilweisen Schwund“. Ausfiihrliche Mitteilungen finden 
sich bei Liebrecht 2 ) und bei Wilbrandt 3 ) und Sanger*). Liebrecht 
faBt die bis 1902 erschienene Literatur zusammen und kommt 
auf Grund dieser sowie eigener, vorwiegend anatomischer Unter- 
suchungen zu dem Schlusse, daB die Arteriosklerose den Sehnerven 
in einem viel haufigeren Mape und in einem viel hoheren Grade 
schddigt, als bisher angenommen wurde. Von seinen weiteren SchluB- 
folgerungen mochte ich zwei hier anfiihren, die mir besonders 
wichtig und prinzipiell bedeutimgsvoll scheinen: 

1. Die Schadigung des Sehnerven durch Arteriosklerose erfolgt 
nicht, wie gewohnlich angenommen wird, im knochemen Canalis 
opticus, da die A. ophthalmica hier schon in die Duralscheide 
des Sehnerven eingetreten ist und keinen Druck mehr ausiiben 
kann. Wohl aber kann der Druck an drei anderen Stellen erfolgen. 
Am haufigsten findet die Schadigung statt in der Fortsetzung 
des knochemen Kanals nach der Schadelhohle zu, in dem fibrosen 
Teile des Kanals, durch das Einbohren der A. ophthalmica in den 
Sehnerven der Langsrichtung nach. Eine zweite Stelle ist der 
obere scharfkantige Rand des fibrosen Kanals nach der Schadel¬ 
hohle zu, an dem der Sehnerv durch die aufsteigende Carotis 
breit abgequetscht wird, und die dritte.liegt in der Mitte zwischen 
Kanal und Chiasma, dem Orte, wo sich Carotis und A. cerebri 
anterior unterhalb und oberhalb des Sehnerven kreuzen. 

2. Die Atrophie des Nervengewebes ist anfangs eine reine 
Druckatrophie, die sich deszendierend bis zur Nervenfaserschicht 
des Auges und aszendierend bis zum Chiasma fortpflanzt. Zu der 
Druckatrophie gesellen sich im Verlaufe der Erkrankung sekundar 
Bindegewebswucherung und GefaBneubildung. 

Ueber die Schadigung der Funktion des Sehens liegen nach Lieb¬ 
recht noch keine sicheren Beobachtungen vor. Doch ist er geneigt, 
,,auch hochgradigeHerabsetzung der Sehscharfe mit ausgesprochener 
Atrophie, fiir die keinerlei Ursache auch bei genauer Untersuchung 


1 ) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 5. Aufl. 

2 ) Arch. f. Augenheilk. 1907. 

3 ) Wilbrandt und Saenger, Neurologic des Auges. 


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bei Gehirnarteriosklerose. 


525 


cles Nervensystems nachzuweisen ist“ . . . „auf Einwirkung der 
Arteriosklerose zu beziehen“. Auch nach Wilbrandt-Saenger kann 
die Druckatrophie des Sehnerven und des Chiasmas mit dem 
ophthalmoskopischen Bild der einfachen Atrophie der Papille 
wie durch Tumoren an der Basis und durch Aneurysmen der 
Carotis interna, so auch durch Druck arteriosklerotischer Gref a Be 
auf den Nerven oder durch Abschnurung desselben durch arterio- 
sklerotisch veranderte GefaBe bedingt werden, abgesehen davon, 
daB die Opticusatrophie auch durch eine vollstandige oder an- 
dauernd ungeniigende Ernahrung des Sehnerven bei GefaBerkran- 
kungen, namentlich bei Arteriosklerose, hervorgerufen werden 
kann. Wilbrandt-Saenger stellen noch einmal die schon vonLiebrecht 
gebrachte und die seitdem neu hinzugekommene Literatur zu- 
sammen, zu der sie einige eigene Beobachtungen hinzufiigen, 
Beobachtungen, die auch zum groBen Teil anatomisch erhartet 
sind. Die Hauptschadigung des Opticus erblicken Wilbrandt und 
Saenger nicht in dem Druck, der durch die arteriosklerotisch ver¬ 
anderte Carotis ausgeubt wird, sondern weit mehr in der Er- 
nahrungsstorung, welche durch die arteriosklerotisch veranderten 
kleinen GefaBe bedingt wird, die von der Carotis interna aus direkt 
den intrakraniellen Sehnerven ernahren. Sie stiitzen sich dabei 
auf die Untersuchungen von Alzheimer 1 ), der dargetan hat, daB 
es offenbar nicht zu einem volligen VerschluB des Arterienrohres, 
sondern zu einer sehr hochgradigen Verengerung kommt. Am 
ehesten leidet darunter nach Alzheimer das nervose Gewebe, das 
offenbar die hochsten Anforderungen an die Ernahrung stellt. 
Es verandert sich regressiv und verfallt schlieBlich dem Untergang, 
wahrend das Stiitzgewebe noch zur Wucherung angeregt wird 
(perivaskulare Gliose). 

Mit den Ausfiihrungen von Liebrecht , Wilbrandt und Saenger 
decken sich unsere Ueberlegungen im wesentlichen,und die Diagnose 
der Hirnarteriosklerose scheint uns demnach auch in unseren 
Fallen von Opticusatrophie berechtigt. 

Jedenfalls kann an dem Vorkommen von einfacher Opticus¬ 
atrophie bei cerebraler Arteriosklerose nicht gezweifelt werden, 
und ganz abgesehen von dem klinischen Interesse, das solche 
Falle bieten, diirfte der Hinweis darauf auch aus therapeutischen 
Gresichtspunkten geboten sein, da es doch immerhin moglich sein 
kann, durch entsprechende MaBnahmen das Fortschreiten der 
Sehschwache bezw. des zugrundeliegenden arteriosklerotischen 
Prozesses zu verhiiten. 

J ) Die Seelenstorungen auf arteriosklerotischer Grundlage. Referat 
auf der Jah res versa rmnlung des Vereins der Deutschen Irrenarzte. AUg* 
Ztschr. f. Psych. 1902. 


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Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse. 


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(Aus der Nerven- und psychiatrischen Klinik der Universitat Kolozsvar. 
[Direktor: Hofrat Prof. Dr. K. Lechner.]) 

Lipoiden im Blutserum bei Paralyse. 

An der Hand von Verwertung 
der Neumann- und Hermannschen Reaktion. 

Von 

Dr. L. BENEDEK, 

Assistant. 


Die Veranderung des Blutchemismus bei Paralyse liefert im 
Laufe der letzten Jahre durch die Untersuchung der Alteration 
des lipoiden Stoffwechsels neue Daten. Wahrend nun einerseits 
die Annahme der allgemeinen Stoffwechselstorung — als Wesen 
der Krankheit — auch die lipoide Dekomposition verstandlich 
machen wiirde, regt sie andrerseits gerade in Bezug auf die Blut- 
ver&nderungen zur Aufsuchung neuer Exponenten an. Die Ab- 
nahme der Alkalizitat des paralytischen Blutes (Lambranzi, 
Bor stein), das Schwinden seiner bakteriziden Kraft (Idelsohn 
1899), seine gesteigerte Toxizit&t ( dA’bundo ), das Vorhandensein 
solcher Stoffe im Serum, die die Verminderung der Resistenz der 
roten Blutkorperchen Blutgiften gegeniiber hervorrufen (was 
Dealc und Verf. im ,,Orvosi Hetilap", 1912, No. 30, 31, 32, an Tier- 
experimenten nachgewiesen hat) usw. sind als Abweichungen be- 
funden worden. Hierzu kommt noch der Befund von Mott (Arch, 
of Neurology, 1902, Vol. II), wonach sich das Cholin im Blute von 
Paralytikem angehauft hat, was Mott aus dem Zerfallen des Nerven- 
gewebes erklart. Peritz hingegen fand denLecithingehalt desBlutes 
vermehrt (in 31,8 pCt.: 2,6—2,9proMille; in 40,9 pCt.: 3proMille 
und dariiber, in 11,4 pCt. hat er einen niederen Wert als den nor- 
malen bekommen: bis zu 1,3 pro Mille). Bei der Bestimmung des 
Lecithin verfuhr er nach Glikin, dessen Methode indessen nicht 
ganz zuverlassige Resultate liefert. Von seinen Resultaten aus- 
gehend sieht Peritz den Grund der Paralyse gerade in dem durch 
Luestoxine hervorgerufenen Lecithinverlust. Desgleichen hat er 
und Borstein die Lecithinarmut des Rnochenmarkes und des 
zentralen Nervensystems nachgewiesen. Privatdozent Dr. Elfer 
machte mich auf die Arbeiten von J. Neumann und E. Hermann 
aufmerksam, desgleichen war er so liebenswiirdig, meiue Resultate 
im Anfange zu kontrollieren, wofiir ich ihm auch an dieser Stelle 
danke. Diese Verfasser fanden zwischen der Tatigkeit der Ovarien 
und dem Cholesterin-Ester-Inhalt des Blutes eine standigeRelation. 
Aus der gesteigerten Anhaufung des letzteren bei graviden Frauen, 
imd zwar nach dem 3. Monat bis zum Kindbett in immer erhohterem 
MaBe, gestaltete sich die von ihnen inaugurierte Graviditats- 


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Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse. 


527 


reaktion (vergl. J. Neumann und E. Hermann, Biologische Studien 
iiber die weibliphe Keimdruse. Wien. klin. Woch., 24, 411, 1911). 
Bei Eklampsie ist die Reaktion besonders ausgepragt. Es ist eine 
allgemein bekannte Tatsache, dab Lipoidamie noch bei Diabetes, 
chronischem Alkoholismus und bei Arteriosklerose vorkommt. Die 
Anfalle von Eklampsie, das diabetische Koma, Alkoholepilepsie, 
senile Veranderungen fiihrt Kraepelin als Analogiebeweis daiiir 
an, dab die Paralyse eine allgemeine Stoffwechselstorung sei. Und 
wenn bei diesen das Vorhandensein von Cholesterin-Esteramie 
beziehungsweise im allgemeinen von Lipoidamie erwiesen ist, so 
ist schon von diesem Standpunkte aus das gesteigerte Interesse 
begriindet, welches die Forschungen der Lipoiden des paralytischen 
Blut£s verfolgt. Die Hermann und Neumannsche qualitative Reak¬ 
tion ist in ihrer Ganze wie folgt: Defibriniertes Blutserum schiitteln 
wir im Verhaltnisse von 1 : 10 mit 95 proz. Alkohol gut durch- 
einander und lassen es 24 Stunden stehen, dann zentrifugieren oder 
filtrieren wir den Niederschlag und setzen dem wasserklaren alkohol- 
haltigen Extrakt ein wenig destilliertes Wasser, diinnen Alkohol, 
salzsauren Alkohol, konzentrierte Schwefelsaure, konzentrierte 
Salzsaure zu, worauf sofort eine starke Triibung entsteht. Das 
ebenso praparierte Blutextrakt der Leibesfrucht hingegen gibt 
mit alkoholhaltigem Platinchlorid einen ahnlichen Niederschlag. 
Wahrend die Verfasser auf das besondere Verhalten des Leibes- 
fruchtblutes wegen der problematischen Emahrungsverhaltnisse 
des Embryos nicht genauer eingehen, bringen sie die fiir das miitter- 
liche Blut charakteristische und auch vom Standpunkte der ge- 
richtlichen Medizin fiir wertvoll gehaltene Reaktion durch ein- 
gehende experimentelle Untersuchungen mehrfach in Zusammen- 
hang mit der inneren Sekretion der Ovarien; in Bezug auf das 
Wesen der Reaktion nun gelangen sie zu dem Resultate, dab sie, 
wie ich schon erwahnte, durch das Vorhandensein von Cholesterin- 
Ester bedingt ist. 

Den obigen Mitteilungen fiigt Fraenkel die Bemerkung hinzu, 
wonach unter dem gestandenen Blute der graviden Frauen beson¬ 
dere Kristalle, n&mlich Cholesterin-Ester, sein konnen. 

Ich habe die Reaktion in insgesamt 95 Fallen mit dem Blute 
von 87 verschiedenen Individuen gemacht: in 38 Fallen mit dem 
Blute von 32 verschiedenen Individuen, die an Dementia paralytica 
progressiva litten, von diesen war in 2 Fallen chronischer Alkoho¬ 
lismus mitParalyse kombiniert, 3mal bei Paralysis incipiens, ISmal 
mit Blutserum von Normalen, in 15 FaUen mit luetischem Serum 
(teils primar, teils sekimdar und latent), das der Wassermann- 
Reaktion gegeniiber ein starkes Hindernis bildete — and schlieb- 
lich von zusammen 19 Graviden und Gebarenden — insgesamt in 
6 Serien. Die luetischen Seren habe ich von den Kranken des 
Priv. Doz. Vere/3, die gynakologischen Falle von hiesiger Klinik 
mir verschafft, weshalb ich dem Direktor des Institute, Herm 
Hofrat Prof. Dr. Dyonisius Szabo und dem Assistenten Herrn 
Maluschowszky zu Danke verpflichtet bin. Die iibrigen Falle 


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Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse. 


lieferte unser Institut. Ich trachtete danach, daB die BJutabzapfung 
tunlichst in der Friihe vor der Nahrungsaufnahme geschahe; diese 
Vorsorge ist deshalb notwendig, daB die alimentare Iipoide An- 
haufung die Reaktion moglichst nicht store; obgleich zwar weder 
die Dauer der letzteren, noch ihr Verlauf nach der letzten Nahrungs¬ 
aufnahme und auch im allgemeinen die lipoiden Inhaltsschwan- 
kungen im normalen und individuellen Blute (Goldschmidt) nicht 
entsprechend untersucht sind, so haben unsere Anordnungen 
dennoch die einzelnen Individuen in dieser Beziehung in nahezu 
ahnlichen Umstanden gruppiert. Bei dem Krankenmaterial unserer 
Anstalt, sowie bei dem in den meisten Fallen das normale Blut 
verabreichendenPflegepersonal stieB dies auf keineSchwierigkeiten, 
vielmehr habe ich bei einzelnen Kranken, bei denen die Reaktion 
sehr stark ausgepragt war, den Zeitraum nach der letzten Nahrungs¬ 
aufnahme sogar auf 20 Stunden ausgedehnt, indem ich den Kranken 
bis zur Blutabzapfung in sorgfaltigster Absonderung hielt. Aber 
auch in den anderen Fallen geschah die Blutabzapfung hochstens 
nach dem Friihstiick, was sich auch Peritz bei seinen Lecithin- 
untersuchungen erlaubte. Zur Ausflockung habe ich alle fiinf 
obigen Reagentien angewandt. In der ersten, aus 8 Gliedem be- 
stehenden Versuchsreihe war das Resultat ein auffalliges; es er- 
gaben namlich die Alkoholextrakte von 4 paralytischen Blutseris 
drei die Reaktion gut ausgepragt, eines blieb vollkommen klar, 
genau so, wie das Serumextrakt des 4. normalen Individuums. 
Hiemach befleiBigte ich mich groBerer Genauigkeit und arbeitete 
in den folgenden Fallen desVergleichs halber mit gleichen Gewichts- 
quantitaten und mit gleichen Volumina. Wenn dies Verfahren 
meine Hoffnungen auch nicht erfiillte, so lieferte es immerhin 
sehr interessante Daten. 

Als Extraktionsmittel habe ich auBer 95proz. Alkohol: lOproz. 
Chloroformalkohol, 5 proz. Petrol&ther, lOproz. Atheralkohol ge- 
braucht. AuBer dem Serum habe ich auch Extrakte gemacht mit 
4—5 fach ausgewaschenen roten Blutkorperchen, ganz und gar 
nur mit Blut, mit Blutkorperchen und mit Fibrin (jedesmal im 
Verhaltnis von 1: 10). Zur Ausflockung benutzte ich destilliertes 
Wasser, diinnen Alkohol, konzentrierte Schwefelsaure und kon- 
zentrierte Salzsaure. Die Reaktion habe ich im allgemeinen so 
gemacht, daB ich zu einem Kubikzentimeter Extrakt tropfenweise 
0,75—1,5 ccm des Ausscheidungsmittels hinzugab, in welchem Falle 
am Grunde des Probierglaschens bei ausgesprochener Reaktion 
schon nach Hinzuftigung von nur 0,35 ccm eine wolkenartige 
Triibung entstand, welche sich langsam nach oben und binnen 
1—2 Minuten sich langsam auf den ganzen Inhalt ausbreitete. 
Mit konzentrierter Schwefel- und Salzsaure bin ich auBerdem 
auch so verfahren, daB ich das Extrakt schichtete, darauf 
Schwefel- bezw. Salzsaure im Gehalt von 0,75—1 ccm goB, worauf 
sich nach abw&rts ein scharf abgegrenzter Ring bildete, welcher sich 
nach oben hin in unregelmaBigen Knauelformen nach der Ober- 
flache der Fliissigkeit zu ausbreitete. Des Vergleichs halber habe 
ich die Probierglaschen nach 2 Minuten durcheinandergeschiittelt. 


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Bencdek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse. 


529 


Beziiglich der Geschwindigkeit und der Starke des Erscheinens 
des Niederschlages unterschied ich 4 Grade, die ich mit dem 
iiblichen + bezeichne. 

Die samtlichen Resultate beziehen sich auf die Triibungen in 
den ersten 3 Minuten. Die in einem ausgepragten Falle wahrend 
dieser Zeit entstandene Niederschlagsquantit&t nimmt in der Regel 
sowieso nicht mehr zu. (Geringer gradige werden nur nach y 2 - bis 
1 stiindigem Stehen ausgepragter.) Es ist eine eigentumliche Er- 
scheinung, daC in einigen Fallen der mit dem Normalserum sich 
ergebende + -> + + -Niederschlag im Verhaltnis von 2:10 extrahiert 
zu einer minimalen Triibung zusammengeschrumpft ist, wahrend 
sie sich bei Paralyse zu + + + oder gar + + + + steigerte. 


Tabelle I. 












530 


Benedek) Lipoiden m Blutserum bei Paralyse. 


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Nach der 2. Tabelle fehlt — obzwar sie sich auch nur auf ver- 
haltnismaBig wenigeFalle bezieht — jene Steigerung der Beaktions- 
starke, welche nach Hermann und Neumann in Bezug auf das 
miitterliche Blut mit der Geburt aufhort; wir sehen namlich, daB 
wfihrend schon bei 7 monatig Graviden die Starke + + + +ig ist, 
bekommen wir im 9. Monat und auch nach der Geburt noch 
+ + +ige Triibungen. Das aus der Nabelschnur herausgepreBte 
Blut reagiert weniger, wahrend es mit 5 proz. alkoholhaltigem 
Platinchlorid sehr starke Triibungen ergibt. 

Im Verhalten des Extraktes von roten Blutkorperchen habe 
ich zwischen den krankhaften und normalen Fallen, sowie hinsicht- 
lich der iibrigen oben aufgezahlten Extraktionsmittel innerhalb der 
einzelnen Gruppen keinen standigen und wesentlichen Unterschied 
gefunden. (Hier muB ich bemerken, daB ich in mehreren Fallen 
Gelegenheit hatte, zu erfahren, daB die roten Blutkorperchen der 
Paralytiker nach Behandlung mit absolutem Alcohol, aether, sulf. 
(90 : 10) mit 10 proz. Alkohol ein reichen Niederschlag gewahrendes 
Extrakt geben.) 

Ich muB hervorheben, daB auBer dem erwahnten in 3 Fallen 
aus der Nabelschnur herausgepreBten Blutextrakte weder das 
Blutserumextrakt der Paralytiker, noch das der Normalen, noch 
das von luetischen Individuen je eine Platinchloridreaktion ge- 
geben hat, mit einem Wort, sie verhalten sich in dieser Hinsicht 
so wie die miitterlichen Blutsera. 

Die Cholesterin-Ester der hoheren Fettsauren im Blute der 
Saugetiere hat zuerst Hurthle gefunden, bevor noch im Jahre 1833 
isolierte Boudet die fettsauren Ester aus dem Blute unter dem 
Namen Serolin (siehe Hoppe-Seyler, Handbuch d. ph. u. p. chem. 
Analyse, 318—319). Im Blutserum des Hundes kommen die 
Cholesterin-Ester nach Liebreich im Prozentsatze von 0,12—0,22 
vor. Beziiglich der Eigenschaften der Cholesterin-Ester, ihrer 
Herstellung, ihrer Verhaltnisse, unter denen sie bei krankhaften 
Zustanden vorkommen, verweise ich auBer auf Hoppe-Seyler auch 
auf die Werke von Bang (Chemie und Biochemie der Lipoide 
20—27) und Aschoff (Beitr. z. path. Anat. u. z. allg. Path., 47.1909). 

Es gelang mir sowohl aus den Extrakten der Schwangeren als 
auch aus denen der Paralytiker, insofem sie eine ausgepragte 
Beaktion ergaben, denen von Fraenkel beschriebenen ahnliche 
Kristalle herzustellen. 

Zuriickkehrend auf die Besultate, kann es nicht meine Absicht 
sein, weiterzugehen als bis zur Festnagelung dessen, daB 1. die 
Cholesterin-Ester im Blute einer groBen Zahl von paralytischen 
Kranken im Vergleiche zu dem Normaler in gesteigerter Menge 
enthalten sind; und 2. daB die Hermann-Neumannsche Graviditats- 
reaktion zum Zwecke der Differenzierung nur mit Vorsicht ver- 
wertet werden kann; andemteils ist sie auch in nicht so enger 
Belation mit der Tatigkeit der Ovarien (hier mit der Progression 
der Graviditat), wie das ihre Beschreiber behaupteten. 


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Buohanzoigm. 


631 


Buchanzeigen. 


A. Hoehe, Dementia paralytica . Handbook der Psychiatric. Wien 1912. 
Franz Deutioke. 

Der geringe Umfang (73 Seiten) der Arbeit wird dadurob erklArt, 
dab sich Verf. bei der Symptomatologie, Verlauf und Anatomie darauf 
beschrAnkt, eine kurze Bars tell ung zu geben und im iibrigen auf die Unter- 
suchungen von Kraepelin und Alzheimer verweist. In den Mittelpunkt der 
Darstellung ist die Erorterung von der Ursache und dera Wesen der Paralyse 
geriickt. Dabei wendet Verfasser die allergrobte kritische Vorsicht an. So 
verweist er z. B. auf die groben Fehlerquellen bei den Statistiken hin, die 
iiber die Paralyse bei fremden StAmmen bestehen. Verf. bekennt sioh zu 
der Vorstellung, dab bei der Paralyse mit der Anwesenheit von SpirochAten 
im Korper zu reohnen sei, die aus irgendwelchen Grlinden in wechselnder 
Stflrke Gifte in den Kreislauf gelangen lassen und so die chronischen Gewebs- 
verAnderungen hervorrufen. Die Klarheit der Frageetellung und die fliebende 
Darstellung sind als besonders riihmenswert hervorzuheben. 

Kutzinski. 

Spielmeyer, Die Psychosen des Ruckbildungs - und Oreisenalters . Handbook 
der Psychiatric. 1912. 

Verfasser versuoht auf Grund der pathologischen Anatomie eine Ab- 
grenzung der einzelnen klinisehen Krankheitsbilder zu geben. Die einfache 
senile Demenz, die Presbyophrenic, die Alzheimereche Krankheit, die arterio- 
sklerotisohen Seelenstorungen in ihren einzelnen Unterformen, femer 
ungewohnliche organische Psychosen, bei denen schwere RindenverAnde- 
rungen beobachtet werden, die an Sp&tkatatonie erinnemden Krankheits¬ 
bilder werden anatomisch eingehend besprochen, dabei mub bei unserer 
liickenhaften Kenntnis der differentialen Momente die klinische Schilderung 
naturgemab in den Hintergrund treten. In dem Abschnitt funktionelle 
Psychosen des hoheren Lebensalters findet die Melancholic des Riickbildungs- 
alters und der prAsenile BeeintrAchtigungswahn eine kurze Darstellung. 
Insgesamt gibt uns die Arbeit einen klar orientierenden Ueberblick iiber 
den Stand der derzeitigen strittigen Fragen. Kutzinski . 

Vorkastner, Wichtige Entscheidungen auf dem Oebiete der gerichtlichen 

PsychicUrie. XI. Folge. Halle a. S. 1912. Carl Marhold. 1,00 Mk 

Verfasser gibt eine aus der juristisehen Literatur der Jahre 1910 und 
1911 zusammengestellte Sammlung von Entscheidung des Reichsgeriohts 
und der Oberlandesgerichte aus dem Gebiet des Strafgesetzbucl: as, der 
Strafprozebordnung, des Milit&rstrafgesetzbuches, der Milit&r- Strafgesetz- 
ordnung, des Biirgerlichen Gesetzbuches, der Zivilprozebordnung, des Haft- 
pflichtgesetzes, der Gewerbeordnung, des Gesetzes betreffend die dem 
Medizinalbeamten fur die Besorgung arztlicher uefw. GeschAfte zu gew&hrende 
Vdrgiitung, der Gebiihrenordnung und des Versicherungsrechtes. Neben der 
gerichtlichen Psychiatric sind auch Entscheidungen in Fragen von allge- 
raeinem Arztlichem Interesse beriioksichtigt, u. a. Berechtigung zur Vor- 
nahme einer Operation, Haftpflicht des Arztes fur Korperverletzung infolge 
vonKunstfehlern,EntschAdigungspflicht nach U nf&llen, Beeidigung und Ent- 
schAdigung des SachverstAndigen. Seelert . 

Laquer, Die Qrofistadtarbeit und ihre Hygiene . Marhold. 1,00 Mk. 

In zwangloser Form, der auch Ausblicke in die Vergangenheit und in 
andere LebensverhAltnisse, wie die Tropen, nicht femliegen, wird besonders 
auch die Kopfarbeit des GrobstAdters besprochen. Luftverderbnis und ihre 
BekAmpfung, GartenstAdte, die Nahrung, die beste Art und Zei t der Mahl- 
zeiten, wobei die englische Tischzeit empfohlen wird, friihzeitiger GeschAfts- 
schlub, „Wochenende“, BekAmpfung des Alkoholismus seien als Einzelpunkte 
genannt. Verfasser meint, dab die Grobstcultarbeit doch weit mehr Kultur- 
werte schaffe, als sie seelische zorstore. 

Mon&tMchrift f. PsjohUtrie n. Nenrolofrle. Bd. XXX IQ. Heft 6. 35 


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532 Buchanzeigen. 

Wilhelm, Operationsrecht des Antes und EinuHUigung des Patienten in der 

Rechtspflege. Berlin. Adler-Verlag. 1,00 Mk. 

Verf. bespricht kurz die Theorien, geht dann ausfiihrlicher auf die 
Recht&prechung bei einigen Fallen ein, in denen die Zustimmiing des Fat. 
oder semes gesetzlichen Vormundes fehlte. Er lehnt die Auffassung des ftrzt- 
iichen Eingriffs als Korperverletzung ab und fordert fiir die lex ferenda eine 
besondere Regelung. 

M&rcinowski, Nervositdt und Weltanschauung. 2. Aufl. Berlin O. Salle. 3 Mk. 

Da Nervosit&t nach des Verfassers Ansicht groflenteils durch Konflikte 
infolge der Zerrissenheit unserer Weltanschauung bedingt ist, sucht er dar- 
zustellen, wie er in Form eines Gesprachs die seinige einem derartig Kranken 
darlegt und ihn zu beeinflussen sucht. Es bleibt der Zweifel offen, ob die 
berichteten Erfolge dieser Weltanschauung an sich, oder nicht vielmehr der 
eingehenden, individuellen Beschaftigung mit dem einzelnen Kranken 
zuzuschreiben sind. Haenisch. 

R. Stern, Ueber korperliche Kennzeichen der Disposition zur Tabes. 

Der Verf. macht mit der vorliegenden Arbeit den Versuch, durch das 
klinische Studium des konstitutionellen Habitus der Tabiker und Para- 
lytiker den endogenetischen Faktor fiir diese Erkrankungen konkreter zu 
fassen und in den Bereich des Diagnostizierbaren zu ziehen. In Ueberein- 
stiimmmg mit Autoren wie Ndcke , Joffroy , Obersteiner u. A. stellt Stern den 
Satz auf, dafi Lues und eine spezifische Disposition Grundbedingungen fiir 
eine Erkrankung an Tabes und Paralyse sind. Zu diesen beiden Grund¬ 
bedingungen kommt als auslosende Ursaehe eine Pathofunktion bestimmter 
Blutdriisen mit innerer Sekretion liinzu. Diese drei atiologischen Faktoren 
stehen untereinander in bestimmten genetischen Beziehungen: die Dispositio 
paralytieans ist von vomherein mit der Chemie der Dysfunktion bestimmter 
Blutdriisen verankert. 

Verf. bespricht zunachst eingehend die in der Literatur niedergelegten 
Beobachtungen iiber konstitutionelle Anomalien und innersekretorische 
Storungen bei metaluetischen Erkrankungen. Es ergibt sich zunachst eine 
Beziehung der Metalues zu dem infantilen imd asthenischen Habitus, 
die ilirerseits in Beziehung zueinander stehen. Die angefiihrten Beob¬ 
achtungen iiber Storungen der inneren Sekretion erstrecken sich auf die 
Keimdriise, Schilddriise, Hypophyse, Epithelkorperchen und Nebennieren. 
Die Funktionsstorungen sind fiir die einzelnen Driisen bei Tabes und 
Paralyse teils gleiehartig, toils entgegengesetzt. Aus dem letzten Umstande 
erklart sich, dafi bei demselben asthenischen Habitus, der mit einer Unter- 
funktion der Keimdriise verbunden zu sein scheint, je nach dem Verhalten 
der anderen Blutdriisen das eine Mai eine tabische, das andere Mai eine 
paralytische Erkrankung eintritt. 

In dem zweiten Toil seiner Arbeit nimmt Verf. auf Grund seiner 
eigenen Beobachtungen in dem Nervenambulatorium der v. Noordenachen 
Klinik zu dieser Frage Stellung. Der Versuch einer konstitutionellen Grup- 
pierung der imtersuchten Tabiker imd Paralytiker hat zu manchen inter- 
essanten Beobachtungen gefiihrt: das verschiedene Verhalten der Wasser- 
mannschtm Reaktion bei den verschiedenen Gruppen, die Beziehungen der 
einzelnen tabischen Sy nip to me zu den verschiedenen Blutdriisen, aus denen 
sich vielleicht brauchbare Anregungen fiir die Therapie ergeben konnen. 

So anregend imd beachtenswert die mitgeteilten Beobachtungen auch 
sind, so niiissen sie docli irn einzelnen — wie dies auch der Verf. selbst 
hervorhebt — mit Vorsicht bewertet werden. Insbesondere die Schliisse, die 
aus der Symptomatologie der Blutdriisenerkrankungen auf die Beziehungen 
zwischen diesen und den verschiedenen Formen der Tabes und Paralyse 
gezogen werden, erscheinen nicht iminer zwanglos. Schwarz. 


Beriehtigung. 

In der Arbeit yon Peritz, Hypophysenerkrankung soil es auf Seite 432 
in dem Satz: Erst jiingst hat Simmonds einen Fall von Diabetes insipidus 
in Verb indung mit Akroniegalie beschrieben; statt Aki omegalie H y p o - 
p h ysenerkrankung heifien. 


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Verlag von S. Karger in Berlin. 

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Monatsschrift fur Psychiatrie und Neurologie. 


Bd. XXXIII. 


Jnnl 1913. 


Heft 6. 


Arsa- Lecin 


Phosphat-Eiweifi-Elsen mit 
Glycerinphosphors. und 
Arsen in wohlschmeckender 
Losung. 


Doeis 4—8 Gramm. Flast*ho mit 350 Gramm M. 1,75 in Apotheken. 

Lecin Araen-Leclntabletfen China*Lecin. 

Pro ben and Li tern tor won Dr. E. LAVES, H&MlOVer. 


MEDINAL 

(In loser Substanz, Tahletten a 0,5 
and in Sappositorien a 0,5 Medinal) 

Wirksamstes, sehr leicht lOsliches und schnell 
resorbierbares Hypnotikum und Sedativum. 
Auch rektal und subkutan anwendbar. 

Medinal erzeugt schnellen, oachhaltigen und erqaickenden 
Schlaf ohne unangenehme Nachwirkungen, da es auch 
schnell ausgeschieden wird. Medinal besitzt ferner 
deutliche sedative und schmerzstillende Wirkungen. 

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Rp.: Medinaltabletten 0,5 Nr. X „Originalpackung Schering“. 
Preis M. 1,80. 

Literatur und Proben kostenfrei. 

Chemlsche Fabrik auf Actien (vorm. E. Schering) 

BERLIN N., Mtillerstrasse 170/171. 


Medizinischer Verlag von S. KARGER in Berlin NW. 6. 


Aus der Psychiatrischen Klinik der Kgl. Charit6 (Geh.-Rat Prof. Dr. Ziehen). 

Analyse von 200 Selbstmordfallen 

nebet 

Beitrag zur Prognostik der mit Selbstmordgedanken 
verknupften Psychosen. 

Von 

Dr. Helenefriderike Stelzner 

in Berlin. 

Mit einern Vorwort von Prof. Dr. Th. Ziehen. 

Lex. 8*. Broseh. M. 4__ 


Medizinischer Verlag von S. KARGER in Berlin NW. 6. 


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Medizinischer Verlag von S. KARGER in Berlin NW. 6. 


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Die vasomotorisdi-trophisdien Neurosen. 

Eine Monographic 

von 

Prof. Dr. R. CASSIRER, 

in Berlin. 

Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. 

Lex.-8*. XVI und 988 S. Mit 24 Abbildungen im Text und 24 Tafeln. 

Broach. M. 30,—. Eleg. geb. M. 32,50. 

Zeitsehr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.:.Im einzelnen aber finden 

wir uberall eine Erg&nzung und Erweitenmg der Darstellung durch neuere 
personliche Erfahrungen des Verf., wie auoh durch die Hineinarbeitung 
der ganzen neueren Literatur. In der sorgsamen Registrierung und Be- 
sprechung auch der Einzelbeobachtungen auf einem so groBen Gebiet hat 
che vorliegende Monographic in der neurologischen Literatur kaum Analoga. 
Dieser Charakter und die Verarbeitung der groBen personlichen Erfahrung 
des Verf. machen das vorliegende Buch zu dem unentbehrlichen Grundwerk 
iiber die Klinik der vasomotorisch-trophischen Neurosen. 


Soeben ist erschienen: 


Hysterie 

Zur Frage Uber die Entstehung hysterischer Symptome 

Von 

Dr. J. Raimist, 

Leiter der Nervenabteilung des Jttdischen Hospitals in Odessa. 

8°. Broech. M. 3.50. 


Medizinischer Verlag von S. KARGER in Berlin NW. 6 

VerantwortUoh Wr liberate: 8. Knrger in Berlin NW. 6. 

Qedrookt bei Imbertr &. Lefaon O. m. b. H. in Berlin SW. 68. 


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