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Monatsschrift
fiir
Psychiatrie und Neurologie.
Herausgegeben von
K. Bonhoeffer.
Bd. XXXIII.
Mit zahlreichen Abbildungen ira Text und 20 Tafoln.
BERLIN 1913.
VERLAG VON S. KARGER.
KARLSTBA8SB IS.
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A lie Rechte vorbehalten.
Oedmokt bel Tmbenr & Lefton G. m. b. H. in Berlin SW. 09.
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Inhalts -V erzeichnis.
Selte
Original-Arbeiten.
Benedek, L., Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.520
Berger, H., Ueber die Folgen einer voriibergehenden Unter-
brechung der Blutzufuhr fur das Zentralnervensystem
des Menschen .Ill
Botten, 0. C., Pathogenese und Therapie der Epilepsie ... 119
Bonhoeffer, K., Ueber die Beziehung der Zwangsvorstellungen
zum Manisch-Depressiven.354
Bregmann, L. E. und Krukowski, G., Beitrage zur Meningitis
serosa.283
Forster, E., Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. (Hier-
zu Taf. XVIII—XIX) .493
Haenisch, G., Zur diagnostischen Bedeutung des Ganserschen
Symptoms .439
Henneberg, R. und Westenhofer, M., Ueber asymmetrische
Diastematomyelie vom Typus der „Vorderhom-
abschniirung“.(Hierzu Taf. VII—X) . . . 205
Klieneberger, O., Optikusatrophie bei Gehirnarteriosklerose. 519
Kramer, Fr., Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem . . 500
Kutzinski, A., Ueber die Beeinflussung des Vorstellungs-
ablaufes durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken 78
159, 254
Lampe, C., Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall . . . 335
Mendel, K., Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten . . 310
MiiUer, V. J., Zur Kenntnis der Leitungsbahnen des psycho-
galvanischen Reflexphanomens. (Hierzu Taf. XI) . . 235
Ojypenheim, H., Weitere Beitrage zur Diagnose und
Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. (Hier¬
zu Taf. XX).451
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263852
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— iv —
Seite
Peritz, Georg, Hypophysenerkrankungen. (Hierzu Taf. XVI
bis XVII).404
Romagna- Manoja, A. ,Ueber cephalalgische und hemikranische
Psychosen.294
Roper, E., Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 5(5
Schonhals, P., Ueber einige Falle von induziertem Irresein 40
Schuster, Paul, Anatomischer Befund eines mit der Forsler-
schen Operation behandelten Falles von multipier
Sklerose nebst Bemerkungcn zur Histologie der
multiplen Sklerose. (Hierzu Taf. XII—XV) .... 384
Sinn, R., Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der
Vogel. (Hierzu Taf. I—VI.) '. 1
Sittig, Otto, Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.3(51
Berichte.
Bericht iiber die XVIII. Versammlung mitteldeutscher
Psychiater und Neurologen in Halle a. S. am 26. Oktober
1912. Referent: Dr. H. Willige in Halle.179
Buchanzeigen . . ,. 109, 202, 279, 358, 449, 531
Personalien . 110, 204, 282, 450
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Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
Von
R. SINtf
in Neubabeteberg.
(Hierzu Tafel I—VI und 1 Abbildung im Text,)
Unsere Kenntnisse vom Bau des Zentralnervensystems der
gesamten Tierwelt sind in den letzten Jahrzehnten durch zahlreiche
Arbeiten wesentlich bereichert und geklart worden. Relativ ver-
nachlassigt wurde bisher das Zentralnervensystem der Vogel.
Und doch bietet die Stellung der Vogel in der Tierreihe Aussiclit
auf interessante Vergleiche mit den hoheren und niederen Wirbel-
tierklassen. Auch ist das Material nicht schwer zu beschaffen.
In der neueren Literatur sah ich mich fast ausschlieBlich auf die
ausfiihrliche Arbeit von Brandis angewiesen, die heute aber als
veraltet gelten muB. Weitere Angaben iiber das verlangerte Mark
der Vogel fand ich in der Westfalschen Dissertation (s. Literatur-
verzeichnis). Wallenbergs Untersuchungen, soweit sie sich auf die
Medulla oblongata erstrecken, gelten nur einzelnen Bahnen.
Meine eigenen Untersuchungen beschranken sich auf das Gebiet
der Medulla oblongata bis hinauf zu den Keraen des Trigeminus.
Sie gelten weniger den Zellen als dem Faserverlauf. Zur Verfiigung
standen mir in Frontalserien folgende Vogelgehirne:
1. Ibycter australis, Chimango (Falke).
2. Ardea cinerea (Reiher).
3. Plegadis falcinellus (Sichler).
4. Plotus anhinga (Schlangenhalsvogel).
5. Ente.
6. Schwan.
7. Athene noctua (Steinkauz).
8. Papagei (Genus und Spezies leider nicht bekamit).
9. Huhn (5 Wochen alt).
10. Rhea americana (StrauB), auBerdem eine Sagittalserie
der Ente.
Legt man die Fiirbringer&che Einteilung zugrunde, so gehoren
die Spezies 1—6 zu den StoBvogeln (Pelagornithes), No. 7 vertritt
die Korakornithes, No. 8 die Psittakomithes, No. 9 die Alectoror-
nithes, No. 10 die Rheomithes.
Alle diese Serien wurden nach der Pafachen Methode gefarbt.
AuBer ihnen verfiigte ich iiber eine Nisske rie vom Huhn.
In der folgenden Beschreibung werde ich von einer fast liicken-
losen Serie von Plotus anhinga ausgehen und dann die anderen
Vogel, soweit sich Abweichungen ergeben, besprechen.
MonaUsohrlft f. Psychiatric u. Neorologie. Bd. XXXIII.- Heft 1. 1
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2 Sinn. Beit rag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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Der erste mir zur Verfiigung stehende Schnitt von Anhinga ist
in einer Hohe gelegt, in welcher die Umformung des Riicken-
marks zur Medulla oblongata soeben begonnen hat. Der Quer-
schnitt hat eine quer ovale, an der ventralen Seite etwas abgeflachte
Form. Der transversale Durchmesser betragt 3,2 mm, der dor so-
ventrale 2,5 mm.
Die Fissura mediana anterior schneidet tief in den Querschnitt
ein; der Sulcus medianus posterior fehlt fast ganz. Das Septum
medianum posterius istkaum angedeutet. Die Gliahillle ist ungleich-
maBig, an einzelnen umschriebenen Stellen ungewohnlich stark,
so namentlich an der vorderen lateralen Peripherie, wo sie als
flaches, auBerst faserarmes, schon von Brandis beschriebenes
Dreieck (a der Fig. 1 und 2) in den Querschnitt einspringt. Der
Zentralkanal hat die Gestalt eines dorsoventral gestellten Ovals.
Er ist in der grauen Substanz stark ventralwarts verschoben,
so daB die intrazentrale vordere Kommissur ventralwarts vor-
gebuchtet wird. Die Vorderhomer sind breit und kurz und er-
strecken sich bis etwa halbwegs gegen die ventrale Peripherie. Ihr
lateraler Rand verlauft annahernd sagittal, der mediale weicht
ventralwarts nach auBen ab. Die dorsolaterale Ecke bildet einen
scharf ausgepragten, nahezu rechten Winkel, dessen hinterer
(querer) Schenkel mehr oder weniger senkrecht auf die Medianlinie
zulauft. Der Hals des Hinterhoms ist duxch die vorspringenden
Seitenstrange eng eingeschniirt und der von ihm und dem Vorder-
hom gebildete sogenannte Seitenstrangwinkel ziemlich spitz. Die
Entwicklung des Processus reticularis ist nur maBig und sein Netz-
werk locker. An den Hinterhomem fallt auf, daB die rechte und
linke Substantia Roland! zusammenflieBen, wie man dies ahnlicli
bei manchen niederen Saugern und z. B. auch den Ungulaten
sieht. Im Bereiche der Hinterhorner ist die Gliahiille diinn. An
sie schlieBt sich als lockere, von Gliabalken durchsetzte Schicht
die LissauerBche Randzone. Das Stratum zonale der Substantia
Rolandi ist nicht deutlich erkennbar. GroBere Anhaufungen von
Zellen finden sich besonders in der Spitze des Vorderhornes und
in der Gegend des Processus reticularis.
Im dorsalen Teile des Seitenstranggebietes zwischen Vorder-
hom und Substantia Rolandi fallt eine mehr weniger zusammen-
hangende graue Masse auf, deren Konturen undeutlich sind. Auf
kaudaleren Schnitten steht sie im Zusammenhang mit dem Hinter-
hom, in ahnlicher Weise wie das Seitenhorn mit dem Vorderhorn.
Proximalwarts geht dieser Zusammenhang mehr und mehr verloren.
Wir wollen diese fiir das Vogelgehirn sehr charakteristische graue
Masse als Mittelhom (b. m.) bezeichnen.
Wahrend die vordere intrazentrale Kommissur sehr schmal
ist, ist die vordere weiBe Kommissur gut entwickelt. Ihre Kreu-
zungen vollziehen sich unter ziemlich spitzem Winkel. Man sieht
fast ausschlieBlich starke Fasern, welche in dorsalkonvexem
Bogen aus den Vorderhomern in die Vorderstrange der anderen
Seite hiniiberkreuzen. Einzelne Fasern verlaufen ventralwarts am
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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Rande der Fissura mediana anterior entlang. Die Mehrzahl aber
verliert sich alsbald im Gebiete der Vordeistiange.
Die Commissura intraccntialis posterior nimmt, da ja die
Substantiae Rolandi zusammenflieBen, einen breiten Raum ein.
Inmitten dieser Kommissur findet man regelmaCig ein dichteres
Biindel feiner Fasern, welches in transversaler Richtung durcb
sie hindurchzieht.
Der Oollsche Kern ist in dieser Hohe schon deutlich ausgebildet.
Man erkennt (Fig. 1 und 2) zwischen den beiden lateralen einen
dritten medianen Kern, der sich als Keil von ansehnlicher Breite
zwischen jene einschiebt. Balkchen grauer Substanz ziehen sich
von den Kernen zum zentralen Grau hiniiber. Auf der einen Seite
ist der Processus cuneatus bereits angedeutet. Das von grauer
Masse noch freie G-ebiet der Hintei strange erscheint relativ dunkel
gefarbt. Es liegen hier Fasern von feinem Querschnitt dicht zu-
sammen. Noch dunkler farbt sich ein nahezu dreieckiges Feld
KSBa+KSBd im Seitenstrang lateral von der Substantia Rolandi.
Es handelt sich sehr wahrscheinlich um eine Kleinhirnseitenstrang-
bahn, wahrscheinlich aber nicht nur um die dorsale ow/steigende von
Flech8ig, sondem auch um eine a&steigende, die Friedlander (1. c.,
Sep.-Abdr., S. 19) „lateral vom Kopf des Hinterhorns“ nach Zer-
storung des Kleinhirnkorpers bei der Taube degenerieren sah. Sie
setzt sich nur aus feinkalibrigen, ziemlich dichten Fasern zusammen.
Eine weitere dunkle Zone wird von einem Fasersaum an der ven-
tralen Seite des Vorderhorns gebildet. Hier liegen zahlreiche feme
Fasern unter solche von starkerem Kaliber eingestreut.
Besonders hell erscheint die Gegend, welche dem ventralen
Teil der Vorderstrange entspricht, und am hellsten in dieser Gegend
wieder die mediale Partie. Hier erkennt man vorwiegend starke,
aber wenig gefarbte Faserquerschnitte, daneben aber doch iiberall
auch feinere Faserkaliber von dunlderer Farbe. In den Seiten-
strangen ist der als Vorwall (V) bezeichnete Teil lateral vom Vorder-
horn als deutlich abgegrenztes Gebiet auf alien Schnitten leicht
aufzufinden. Er ist etwas heller gefarbt und auch etwas lockerer
angeordnet als die peripheren Schichten des Seitenstranges. Die
letzteren enthalten auBerdem starkkalibrige Fasern in groBerer
Anzahl als jener. Von den genannten Seitenstrangteilen lassen
sich die den Seitenstrangwinkel bildenden Partien wiedeium durch
ihre Zusammensetzung unterscheiden. Man vermag namlich an
diesen, was weiter cerebralwarts noch deutlicher wird, eine An-
ordnung in m ehreren charakteristischen Schichten schon hier gut
zu erkennen.
Die bisher geschilderten Verhaltnisse finden sich bei alien von
mir untersuchten Vogeln ohne wesentliche Abweichungen.
1 mm weiter proximalwarts (Fig. 2) hat sich die Form des
Querschnittes kaum verandert, dagegen haben seine Dimensionen
zugenommen. Er miBt bei Anhinga dorsoventral 3,3 mm, trans¬
versal 4,2 mm. Die Gliahiille ist gleichmaBiger. Der Zentralkanal
hat eine rundliche Gestalt angenommen. Man erkennt jetzt in
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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seinem Lumen meistens eine anscheinend homogene Masse, die
mit den Wanden netzartig verbunden ist. Das Vorderhom hat sich
stark aufgelockert und ist reicher an Fasemetzwerk geworden.
Der Processus reticularis hat sich verdichtet; der Vorwall ist wie
friiher deutlich erkennbar. Die dorsolaterale Ecke des Vorder-
hornes ist jetzt mehr abgerundet. Im Seitenstrangwinkel hat sich
durch betrachtliche Zunahme der Faserquerschnitte ein fast recht-
eckig vorspringendes Feld entwickelt, durch welches das Hinterhorn
von seiner Basis abgedrangt wird, und auf das ich weiter unten
naher eingehen werde. Da von der dorsalen Peripherie sich die an-
wachsenden Hinterstrangskerne breit zwischen die Hinterhomer
drangen, so imponiert die Substantia Bolandi bereits als selb-
standige abgerundete Masse, obgleich sie ventro-medial mit dem
zentralen Grau und der Substantia Bolandi der anderen Seite noch
in breiter Verbindung steht. Aus dem medialen Teil der Hinter-
strange ziehen feine Faserziige im Bogen ventralwarts, wo sie sich
bis hart an die vordere weifie Kommissur verfolgen lassen. Es
handelt sich hier offenbar um die Fasern der medialen Schleife.
Sehr konstant sind sodann zwei querverlaufende Ziige der Commis-
sura intracentralis posterior, der eine am ventralen Bande der
Substantia Bolandi, der andere etwas weiter dorsalwarts. Wahrend
sich der erstere auBerhalb der Kommissur nicht sicher verfolgen
laBt, sieht man den letzteren beiderseitig in die Substantia Bolandi
hineinziehen. Er verliert sich hier zwischen den zahlreichen feinen
Meridionalfasem, welche die Rolandosche Substanz in geraden oder
maBig gebogenen Linien durchziehen. Es handelt sich offenbar um
den dorsalen und mittleren Faserzug der sog. hinteren Kommissur
der Sauger (Bamon y Cajal’s manojo posterior u. medio). Das
ganze Gebiet der grauen Kommissur ist im iibrigen mit einem
Netzwerk auBerst feiner Fasern angefiillt, das sich weiterhin
kontinuierlich in das Schiitzsche Biindel verfolgen laBt.
An Stelle des Apex ist mehr und mehr eine graue Masse ge-
treten, welche auf der Figur 2 mit Pro bezeichnet ist und die
wir Promontorium nennen wollen. Dieses Promontorium streckt
sich mehr und mehr in die Lange, so daB es schlieBlich dem Kopf
des Hinterhornes bezw. dem Kern der spinalen Quintuswurzel in
voller Ausdehnung parallel lauft. Andeutungsweise findet es sich
auch bei manchen Mammaliern.
Zugleich sind die Lissauerschen Fasern in ihrem lateralen Teil
immer sparlicher geworden. Statt ihrer findet man am Bande
des Querschnittes peripheriewarts von dem Promontorium einen
Saum quergeschnittener Fasern, welche allmahlich aus den Hinter-
strangen hierher sich verlagert haben. Die Grenze zwischen diesem
Feld und dem Hinterstrangsfeld ist auBerordentlich schwer zu
ziehen. In diesem Faserfeld, welches zwischen Substantia Bolandi
und Promontorium liegt, haben wir zweifellos die spinale Quintus
wurzel vor uns. Es ergibt sich das aus cerebraleren Schnitten,
wo man eine Umlagerung seiner Fasern lateral- und ventralwarts
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 5
verfolgen und ihre Gruppierung um die Masse des Trigeminus-
kerns sicher feststellen kann (vgl. Fig. 4).
Der mediane Gollsche Kern ist nur noch sehr schmal und auf
vielen Schnitten mit den beiden lateralen zu einer einzigen Masse
verschmolzen. Der Burdachsche Kern hat seine starkste Aus-
dehnung hier schon iiberschritten und ist im Abnehmen begriffen.
Die Begrenzung der Hinterstrangskerne ist durch den Austritt
zahlreicher Fasern verwischt. Auch gegeneinander sind sie oft
schwer abzugrenzen. Eine ganz diffuse Anordnung fand sich bei
Ente und Schwan. Es tauchen hier gleichzeitig im ganzen Hinter-
strangsfeld graue Inseln auf, die sich auch auf proximaleren
Schnitten zu eigentlichen Kernen nicht zusammenschlieBen. Man
kann bei diesen Vogeln daher auch von einem medianen GoMschen
Kern im engeren Sinne nicht sprechen. Doch fehlt auch bei ihnen
ein Septum med. post, vollstandig. Bei den iibrigen Vogeln war
der mediane Gollsche Kern deutlich ausgepragt, am starksten bei
Chimango, am wenigsten bei Athene. Bei letzterem Vogel ist
die zentrale graue Substanz in der Medianlinie nur zu einer Spitze
ausgezogen. Rhea hat einen netzformigen medianen Kern. Bei
alien Vogeln sind die lateralen Gollschen Kerne sehr gut entwickelt.
Meist fiUlen sie schon bald nach ihrem Erscheinen den ganzen
Gollschen Strang aus und reichen als bogenformige zerkliiftete
Masse bis an das Promontorium. Die Abgrenzung gegen den
Burdachschen Kernen ist nicht leicht. Man muB dazu die Kerne
von ihrem ersten Erscheinen an Schnitt fiir Schnitt aufwarts ver¬
folgen. Als sicher kann gel ten, daB die Burdachschen Kerne bei
alien Vogeln nur schwach ausgebildet sind. Ihr lateraler Teil, der
sog. auBere Burdachsche Kern von Blumenau , ist fast immer
auffindbar, oft aber vom medialen Teil des Piomontoriums schwer
zu trennen. Der eigentliche Processus cuneatus fehlt der Mehrzahl
der Vogel fast ganz. Bei Anhinga ist er eben angedeutet. Die Sub¬
stantia Rolandi erscheint daher steiler. Es ist auffallend, daB im
Vergleich zu den Gollschen Kernen die Burdachschen nur maBig
entwickelt sind, auch bei guten Fliegern wie Chimango. Ein um-
gekehrtes Verhaltnis wiirde verstandlicher sein. Die Erklarung
liegt wohl darin, daB das Fliegen eine Prinzipalbewegung im Sinne
Munks ist, bei welcher die kinasthetische Anpassung keine so
erhebliche Rolle spielt. Das Promontorium ist bei alien Vogeln
sehr gut ausgebildet. Bei Chimango bildet es mit den GoZfechen
Kernen einen zusammenhangenden grauen Streifen, der sich bis
zur Medianlinie erstreckt.
Erwahnen mochte ich noch, daB ich eine rosenkranzartige An¬
ordnung des medianen Gollschen Kernes, vie sie bei Hund, Katze
und Hapale beschrieben ist (Bischoff), bei keinem der von mir unter-
suchten Vogel feststellen konnte.
Die absteigende Kleinhirnseitenstrangbahn (vgl. S. 3) bildet
jetzt ein fast rechtwinkliges, sehr charakteristisches Dreieck, an
dessen Hypotenuse sich bis zur Querschnittsperipherie die auf -
steigende dorsale Kleinhirnseitenstrangbahn anschlieBt und dessen
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6 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
rechter Winkel in die graue Substanz einspringt. Ein Saum von
Fasern, der sich an KSBa medial anschlieBt, aber durch graue Ziige
von KSBa getrennt bleibt, ist seiner Lage nach identisch mit der
Wallenbergschen absteigenden Vestibularisbahn 1 ). Herr Wallenberg
hatte die groBe Freundlichkeit, uns Einsicht in seine Praparate
nehmen zu lassen. Das von ihm mit f bezeichnete Feld degenerierter
Fasern liegt genau an der Stelle des auch von uns auf Fig. 4 mit
f bezeichneten Feldes.
Im Seitenstrangwinkel kann man, wie schon erwahnt, mehrere
Schichten jetzt deutlich unterscheiden. Man sieht 1. zwischen
Substantia Rolandi und Mittelhom einen feinkalibrigen Fasersaum.
der der Substantia Rolandi in ihrer ganzen Breite eng anliegt und
in dieser Hohe mehr schrag als quer getroffen ist (g). Die Fasern
sind locker angeordnet. Kaudalwarts gehen die Schragschnitte in
Querschnitte iiber, und ihre Abgrenzung gegen den iibrigen Seiten-
strang verwisclit sich mehr und mehr. Auch proximalwarts geht
die scharfe Abgrenzung des Feldes allmahlich verloren. Auf
manchen Schnitten gewinnt man den Eindruck, als kreuzten seine
Fasern in der intrazentralen Kommissur zur anderen Seite hiniiber.
Ein sicheres Urteil kann man sich indessen nicht bilden. Lateral-
warts wird der Ueberblick dadurch erschwert, daB hier auch die
anderen Fasern des Seitenstrangsgebietes mehr schraggeschnitten
erscheinen; 2. zwischen Mittel- und Vorderhorn ein Feld stark-
kalibriger dichtgelagerter, quergeschnittener Fasern, das spitz-
winklig nach dem zentralen Grau vorspringt und lateralwarts gegen
das Seitenstranggebiet sich nicht abgrenzen laBt. Dieses von einem
grauen Netzwerk durchzogenen Feld ist identisch mit dem Processus
reticularis der Sauger (Pr. r.).
Durch die vordere weiBe Kommissur kreuzen jetzt in groBerer
Zahl starke Fasern aus dem Vorderstrang schrag hiniiber in das
Vorderhorn der anderen Seite. Im Vorderhorn biegen sie groBten-
teils als breites Faserbiischel ventralwarts um. Ein Teil von ihnen
nimmt aber auch die Richtung auf die Gegend der Seitenstrange zu.
Ventral von der vorderen Kommissur ziehen andere Fasern teils
dicht an der Raphe, teils allmahlich von ihr abriickend im Bogen
zur ventralen Peripherie, wo sie sich als tangentiale Fasern sammeln.
Auf den nachsthoheren Schnitten sieht man diese Fasern in ihrem
Verlauf sich mehr und mehr der Raphe anlegen. Sie bilden so bald
ein kompaktes Biindel, welches mit der Raphe bis zur Peripherie
zieht, dann lateralwarts im rechten Winkel umbiegt und sich zu-
nachst bis zur Ursprungslinie der vorderen Wurzeln, spa ter an-
scheinend bis an den lateralen Rand des Querschnittes verfolgen
laBt, wo sich die Faserbiindel zwischen Inseln grauer Substanz, die
dort auftauchen, verlieren.
Die Vorderstrange enthalten jetzt auch in den dorsaleren
Abschnitten starke Faserquerschnitte mit dicker Markscheide, so
x ) Wallenberg . Ueber zentrale Ends tat ten des Nervus octavus der
Taube. Anat. Anzeiger. Bd. 17. 1900. S. 102.
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Sinn, Beitrag zur Kemitnis der Medulla oblongata der Vogel.
7
daft die Verteilung von starken und feineren Fasern im Gesamt-
areal der Vorderstrange gleichmaBiger erscheint. Immerhin uber-
wiegen aber auch hier die starken Fasern noch in der ventralen
Partie.
Fragt man sich, inwiefem sich die eben beschriebenen
Dekussationsfasem (Fig. 2, b) von denjenigen der Commissura
anterior des Riickenmarks, abgesehen von ihrer groBeren Zahl,
unterscheiden, so ergeben sich folgende Differenzen:
1. Die Herkunft der Fasern laBt sich nicht sicher bestimmen.
Sie lassen sich jedenfalls zum Teil nicht in das kontralaterale Vorder-
hom verfolgen. Es ware moglich, daB sie zum Teil mit jenen Fasern
identisch sind, die aus den Hinterstrangen stammen und an die
vordere weiBe Kommissur herantreten.
2. Ihr Verlauf nach der Kreuzung ist fur Kommissurenfasern
sehr ungewohnlich. Sie ziehen entweder dicht an der Raphe ventral-
warts oder weichen doch nur aufierordentlich wenig von der
Raphe ab.
3. Noch auffallender ist ihre Endigung. Sie lassen sich liber
das Gebiet der Vorderstrange hinaus verfolgen bis zu den erwahnten
grauen Inseln, welche wir weiterhin besprechen werden und als
untere Olive auffassen. Ob sich Fasern in diesem Grau aufsplittern,
ist nicht eicher zu entscheiden.
DieDeutung diesesFaserzuges ist also nicht leicht. Am nachsten
liegt, seinen Ursprung in den Hinterstrangskemen zu suchen, in
ihm also eine sekundare sensible Bahn, entsprechend der medialen
Schleife der Sauger, zu finden. Wie beschrieben, ziehen zahlreiche
Fasern aus den Hinterstrangskemen ventralwarts konvergierend
nach der vorderen Kommissur hin. Weiter kann man sie direkt
nicht verfolgen. Gleichzeitig treten nun die Dekussationsfasem auf.
In diesen die Fortsetzung der ersteren zu sehen, liegt nahe. Man
brauchtnuranzunehmen,daBsichdieFaseminnerhalbderKommissur
nicht nur kreuzen, sondero auch aufwarts oder abwarts in eine
andere Horizontalebene umbiegen. Diese Vermutung drangt sich
um so mehr auf, als sich eine andere Fortsetzung der zahlreichen
medialen Hinterstrangsfasern nicht auffinden laBt. Zweifel werden
dann aber durch den weiteren Verlauf erweckt, denn fur Schleifen-
fasem ziehen die Dekussationsfasem an der ventralen Peripherie
dann ungewohnlich weit lateralwarts. Man gewinnt mitunter den
Eindruck, als faserten sie sich in der Olive auf oder zogen gar
durch sie hindurch bezw. iiber sie hinaus lateralwarts. Indessen
liegt die Moglichkeit doch nicht fern, daB bei der einfacheren und
kleineren Bauart der Olive die Hinterstrangsfasern sich in breiterer
und lockerer Anordnung zur Olivenzwischenschicht sammeln,
und daB wir in denjenigen Fasern, welche sich in der Olive auf-
zusplittem scheinen, keine Dekussationsfasem vor uns haben,
sondem etwa Fasern einesBecAfcrewschenTractus parolivaris, dessen
Existenz allerdings fiir die Vogel noch nicht erwiesen ist.
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
Die Moglichkeit miissen wir jedenfalls often lassen, daB diese
Dekussationsfasern einen neuen, dem Vogelgehim eigenen Zug
darstellen.
Auf unserer Textfigur 2sehen wir den zuletzt beschriebenen
Faserzug in schon etwas vermehrter Starke sowohl auf seinem Ver-
lauf langs der Raphe als auch an der Peripherie. Hier kommen
nun Fasern hinzu, welche denVerlauf des beschriebenen Faserzuges
langs der Peripherie mitmachen, dann aber unter Umkreisung der
seichten Fissura mediana anterior, also ohne in die Raphe umzu-
biegen, in den Zug der anderen Seite hiniiberziehen (Bo.). Gleich-
zeitig taucht in der vorderen seitlichen Ecke des Querschnittes
lateral von den oben erwahnten grauen Inseln und zum Teil in
Verbindung mit ihnen eine groBere zusammenhangende graue
Masse auf. Dieselbe hat die Form eines kurzen und breiten stumpf-
winklig gebogenen Bandes. Die Oeffnung des von ihr gebildeten
Winkels liegt nach dem Vorderhom zu. Sein ventraler Schenkel er-
streckt sich parallel zur ventralen Querschnittsperipherie, sein
lateraler Schenkel parallel zur seitlichen. Der laterale Schenkel greift
also um das Vorderhom herum und ohne scharfe Grenze auf das
Gebiet der Seitenstrange iiber. Peripheriewarts wird diese graue
Masse von zahlreichen und sehr dicht gelagerten Langsfasem
umsaumt. Eine kleine Zahl zieht auch innen an ihr entlang.
Andere ziehen nach Ueberschreitung der Medianlinie in sie hinein
und verschwinden dort. Es laBt sich nicht mit Bestimmtheit
entscheiden, welche von diesen Fasem dem peripheren Bogenzuge
und welche den oben beschriebenen Dekussationsfasern zuzu-
rechnen sind. In dieser winkligen grauen Masse und den mit ihr
konfluierenden Inseln haben wir die untere Olive vor uns, worauf
ich noch zuriickkomme.
Fast in derselben Hohe wie die Olive erscheint lateral von ihr
eine weitere aber viel diffusere Anhaufung grauer Substanz, die
ihrer ganzen Lage nach offenbar dem Nucleus lateralis externus
entspricht (N. 1. e. der Fig. 4). Sehr anschaulich zeigt das ein Ver-
gleich unseres Bildes mit z. B. dem Querschnittsbild von Makropus
rufus in Ziehens Zentralnervensystem der Monotremen und
Marsupialier (p. 888). Proximalwarts wird die Abgrenzung des
Nucl. lateralis schon bald recht schwierig, weil das ganze Fasergebiet
der Seitenstrange von grauer Substanz durchsetzt erscheint. Meist
verschiebt sich der Nucl. lateralis externus proximalwarts mehr
nach dorsal. Ich komme weiter unten noch auf ihn zuriick. Von
der Olive laBt er sich immer trennen. Ich halte es iibrigens fiir sehr
wohl moglich, daB der oben erwahnte Vorwall (V, Fig. 2) als Nucleus
lateralis intemus aufzufassen ist.
Dicht am medialen Rande der Olive streben die ersten Biindel
der Hypoglossuswurzel der Peripherie zu. Im Seitenstranggebiet
ist bemerkenswert, daB die Faserbiindel der dunklen Randzone
jetzt samtlich mehr schrag getroffen sind, und daB die Schragschnitte
von dorsal- und medial- nach ventral- und lateralwarts gerichtet
sind. Nach der ventralen Querschnittsperipherie zu gehen die
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
9
schraggeschnittenen Fasem dann mehr und mehr in langs-
geschnittene iiber. Die Kleinhimseitenstrangbahn zeigt noch die-
selbe intensive Farbung, hat sich aber etwas mehr nach der
Peripherie hin zusammengezogen. Von den Fasem, welche die
Substantia Rolandi radiar durchziehen, sieht man jetzt einen Teil
an der medialen und ventralen Seite die Jtolandosche Substanz
verlassen und im Bogen an ihr entlang lateralwarts ziehen. Diese
Fasem entstammen wahrscheinlich mu- dem medialsten Teil der
Hinterstrange. Sie dringen auf ihrem Wege durch das beschriebene
Feld quergeschnittener Fasem (g) hindurch, welches die Rolando-
sche Substanz ventralwarts begrenzt. In diesem Felde vermag man
aber noch andere auBerst feine Fasern zu unterscheiden, welche in
kurzen Schragschnitten aus der Gegend der Kleinhimseitenstrang¬
bahn medialwarts zu verfolgen sind und am Rande des zentralen
Graus zur vorderen Kommissur einzubiegen scheinen. Ueber
Ursprung und Verbleib der beiden letztgenannten Faserkategorien
lafit sich sicherer AufschluB nicht gewinnen.
In der Raphe kann man nach dem bisher Gesagten also ihrer
Herkimft nach folgende Faserarten unterscheiden:
1. Die Fasem, welche aus dem medialen Teil der Hinterstrange
ventralwarts am lateralen Rande des zentralen Graus entlangziehen
und in oder vielmehr oberhalb der vorderen weiBen Kommissur und
im dorsalen Teil der Raphe kreuzen. Diese Fasern entsprechen
wohl jedenfalls der medialen Schleifenkreuzung der plazentalen und
aplazentalen Saugetiere. Sie finden ihre Fortsetzung wahrscheinlich
in den beschriebenen Dekussationsfasern.
2. Fasern, welche aus dem Kern der spinalen Trigeminuswurzel,
und zwar vorzugsweise aus seinem medialen Abschnitt in feinen
Biindeln hervorgehen und sich den sub 1 genannten Fasern
ventralwarts anschlieGen. Es liegt nahe, diese Fasem als Quintus-
anteil der Schleife aufzufassen.
3. Fasem, welche aus dem Vorderhorn entspringen und in
starken Biindeln in die Raphe eintreten. Die Kreuzung dieser
Fasem ist in kaudaleren Schnitten auf das dorsalste Rapheende
beschrankt. Weiter cerebralwarts breitet sie sich ventralwarts
bis etwa halbwegs zur Peripherie aus. Nicht ausgeschlossen ist
es, daB ein Teil dieser Fasem auch aus dem groben Maschenwerk
entspringt, welches den ventralen Teil des Seitenstrangwinkels
ausfullt, wie man z. B. bei Rhea sehr deutlich zu erkennen glaubt.
Auf dem in der Textfigur No. 4 wiedergegebenen Schnitt
durch eine nur wenig hohere Ebene hat der Querschnitt der Medulla
mehr die Form eines Rechtecks mit stark abgerundeten Ecken
angenommen. Sein dorsoventraler Durchmesser betragt jetzt
3,5 mm, der transversale 4,8 mm. Die Fissura mediana anterior
ist nur noch eine auBerst seichte Einbuchtung, die Gliahiille an der
ventralen Peripherie besonders kraftig entwickelt. Die graue
Substanz ist fast ganz auf die dorsale Querschnittshalfte be¬
schrankt, da die Vorderhorner sich auGerordentlich stark auf-
gelockert haben und von ihrer Basis durch die Faserbiindel ab-
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10 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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gegrenzt werden, welche auf ihrem Wege von den Hinterstrangen
zur vorderen Kommissur das zentrale Grau eng umziehen. Dafiir
nimmt die graue Substanz den dorsalen Teil des Querschnittes fast
in seiner ganzen Ausdehnung ein, da sowohl die Substantia Bolandi
als das Promontorium sich stark in die Breite ausgedehnt haben und
von weiBer Substanz nur die spinale Quintuswurzel und die peri-
pheren Faserziige aus den Hinterstrangen iibriggeblieben sind.
Die Quintuswurzel ist eben im Begriff, ihre Verlagerung lateral-
und ventralwarts anzutreten. Die transversalen Faserziige in der
breiten Commissura intracentralis posterior heben sich aus dem
dort liegenden Netzwerk nicht mehr deutlich ab, doch erkennt
man immer noch zahlreiche quer verlaufende Einzelfasern.
Zu beiden Seiten des weiter dorsalwarts verschobenen Zentral-
kanals liegen am ventralen Saum der grauen Substanz in einem
feinen Fasemnetz Anhaufungen von Zellen: der Begiim des dorsalen
Hauptkerns des Hypoglossus (N. XII. d.). Eine andere Gruppe
groBerer Zellen sieht man in der Gegend der Vorderhomspitze.
Sie bilden, wie die von hier ausgehenden Wurzelfasem zeigen, den
ventralen Nebenkem des Hypoglossus (N. XII. v.). Auch in der
Gegend der Basis der Substantia Bolandi und in dem Grau des
Promontoriums treten besondere Anhaufungen von Zellen auf 1 ).
Von der stark entwickelten Baphe gehen zahlreiche Fasern
seitlich ab, im dorsalen Teil schlagen sie eine genau laterale
Bichtung ein, im ventralen ziehen sie bogenformig zunachst
ventralwarts, um dann lateralwarts einzubiegen. Alle diese Fasern
verschwinden aber nach kurzem Verlauf aus dem Gesichtsfelde,
offenbar, weil sie schrag cerebralwarts verlaufen. Das Gebiet der
Vorderstrange zeichnet sich durch die sehr dichte und gleichmaBige
Anordnung seiner quergetroffenen Fasern aus. Ganz besonders
dicht imd dabei wenig markhaltig sind in ihm diejenigen Fasern,
welche dem zentralen Grau dicht anliegen. Diese Fasern diirften
bereits dem hinteren Ldngsbiindel zuzurechnen sein.
Die Bogenfasern (Bo.) an der ventralen Querschnittsperipherie
haben sich zu einem machtigen Fasersystem entwickelt, an dem sich
eine Beziehung znr Baphe nicht mehr konstatieren laBt. Die eng
zusammenliegenden Fasern gehen lateralwarts aUmahlich in Quer-
schnitte iiber und sind hier von den Bandgebieten der Seitenstrange
nicht abgrenzbar. Sie treten auf diesem Verlauf zu der gleich-
*) Unrichtig ist die Beschreibung. welche sich bei Kreis iiber den
Hypoglossuskem findet. Kreis faBt den ventralen Kern richtig als Hypo-
glossuskem auf, den dorsalen hingegen (Taf. V, m) irrtiimlich als Accessorius-
kern. Er hat zwar auch gesehen. daB Wurzelfasem am ventralen Kem
voriiber dorsalwarts ziehen, nimmt aber an, daB diese direkt in die Baphe
eintreten. Solche Wurzelfasem. welche ohne Unterbrechung in einem der
Kerne durch die Raphe kreuzen. glaube auch ich sicher beobachtet zu haben.
Ihre Zahl ist aber sehr gering im Vergleich zu denen. die nur bis in dew Be-
reich des dorsalen Kernes gelangen, woselbst sie offenbar entspringen. —
Eher kame in Betracht. ob nicht etwa der ventrale Kem als Kem des
Vorderstranges (Obersteiner) aufgefaOt werden konnte; doch spricht ein
Vergleich mit der Oblongata der Aplacentalier auch gegen diese Auffassung.
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S i ii n . Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 11
seitigen Olive in diesen Ebenen in keine Beziehung. Diese hat sich
medialwarts mehr und mehr ausgebreitet und konfluiert jetzt mit
der Olive der anderen Seite, so daB beide, da sich gleichzeitig ihre
Winkelung abgerundet hat, jetzt die ganze ventrale Querschnitts-
halfte wie ein einziges bogenformiges Band durchziehen. Der in der
Medianlinie liegende Teil des grauen Bandes charakterisiert sich
auf hoheren Schnitten mehr und mehr als selbstandiges Kemgebilde.
Er zieht sich nach dorsalwarts aus und grenzt sich nach den Oliven
zu ziemlich deutlich ab, entspricht also wohl dem Saulenkem der
Raphe. Fasemetzwerk ist im Olivengrau fast gar nicht vorhanden,
nur in den medialen Partien, etwa in dem zwischen den beider-
seitigen Hypoglossuswurzeln liegenden Teil, sieht man deutliche
Faserziige in nahezu transversaler Richtung die Mitte kreuzen. Sie
entspringen anscheinend einerseits in der Olive und gehen anderer-
seits nach flacher Kreuzung mit den entsprechenden Fasem der
kontralateralen Seite zum Teil in die peripheren Bogenfasem dieser
Seite fiber. Ein anderer Teil zieht in die kontralaterale Olive
hinein, wieder andere erwecken den bestimmten Eindruck, als
zogen sie durch diese Olive hindurch und als Fibrae arcuatae
intemae weiter. Ein strikter Beweis ffir eine solche Kontinuitat
laOt sich an der Hand unserer Querschnittsbilder freilich nicht
erbringen.
Die Deutung dieses machtigen, ffir das Vogelgehim sehr
charakteristischen Bogenzuges erscheint zunachst schwierig. Man
konnte daran denken, in ihm Brfickenfasem oder auch Schleifen-
fasern vor sich zu haben. Beides laBt sich aber bei genauerer Ver-
folgung nicht halten. Es handelt sich vielmehr offenbar um eine
Faserverbindung zwischen der unteren Olive und dem unteren
Kleinhimstiel, die allerdings im Vergleich zu den niederen Saugern
sehr stark entwickelt ist. Damit ist zugleich die Auffassung der
bandformigen Masse als Oliva inferior festgelegt. Ich wfiBte auch
in der Tat ffir diesen grauen Kem eine andere Deutung nicht zu
geben. Es ist auffallend, daB Brandis ihn zwar anschaulich be-
schreibt, aber nicht identifiziert. Seiner Lage nach stimmt er jeden-
falls fast genau mit der der Olive mancher niederer Sauger fiberein 1 ).
Ffir ihren einfachen Bau finden sich ebenfalls eine Reihe Analoga in
derTierreihe,z. B. bei denReptilien. Nun ist allerdings die Lage allein
ffir die Bestimmung der Identitat nicht ausreichend. Doch kann
nach den Querschnittsbildem als sicher gelten, daB der als Olive
angesprochene Kern eingeschaltet ist in ein Fasersystem zwischen
den Hinterstrangen und dem Corpus restiforme. Es besteht also
auch Uebereinstimmung der Verbindungsbahnen. Ich will fibrigens
erwahnen, daB einige Autoren, wie Kreis und Schulgin, bereitswie
ich den groBen und konstanten Kern im ventralen Teil der Medulla
als Olive aufgefaBt haben.
l ) Williams bildet die Olive von Fringilla domestica ab und beschreibt
diejenige von Columba , Qans und Phoenicopterus. Seine Auffassung scheint
mit der unsrigen ubereinzustimmen.
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12 Sinn. Beitrag znr Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
Erwahnen mochte ich noch, daB man haufiger eine Asymmetrie
der Oliven findet, insofern als die eine Olive groBer als die andere ist.
Man ist aber leicht Tauschungen ausgesetzt, weil selten ein Quer-
schnitt beide Oliven genau in gleicher Hohe durchschneiden wird.
Etwa 500 1 1 weiter cerebral warts hat der Querschnitt besonders
in seinem dorsolateralen Teil an Umfang zugenommen, so daB hier
der groBte Querdurchmesser 5,4 mm betragt; der dorsoventrale
miBt noch 3,5 mm. Der Sulcus medianus posterior stellt sich jetzt
als breite Mulde dar. Der Wurm des Kleinhirns ist bereits ange-
schnitten. Das zentrale Grau ist jetzt auf das dorsale Drittel des
ganzen Querschnittes beschrankt. Dorsalwarts erreicht es nahezu
die freie Oberflache in sehr breiter Ausdehnung. Die spinale
Quintuswurzel sieht man hier sich ziemlich scharf lateralwarts
wenden, um dann wieder in die reineLangsrichtung zuriickzukehren.
Ihre Fasem erscheinen dementsprechend, soweit sie der dorsalen
Peripherie parallel verlaufen, als flache Schragschnitte. Seitlich
gehen sie dann ziemlich plotzlich wieder in Querschnitte iiber. Das
Promontorium ist hier nur noch als diinner grauer Streifen erkenn-
bar, der mehr und mehr durch kurze Faserschragschnitte aus-
gefiillt wird, welche sich teils den oberflachlichen Fasem aus den
Hinterstrangen zugesellen, teils aber auch den Quintusfasem sich
anzuschlieBen scheinen. Dieser graue Streifen, die Kerne der
Hinterstrange und das zentrale Grau bilden jetzt eine konfluierende
und scheinbar homogene graue Masse, deren einzelne Bestandteile
sich nicht voneinander trennen lassen. Die urspriingliche Sub¬
stantia Rolandi, jetzt zweifellos Kern der spinalen Quintuswurzel,
ist zwar inzwischen weit lateralwarts geriickt, aber auch jetzt
von dem iibrigen Grau noch nicht scharf abzugrenzen. Sie wird
von den Fasern der Quintuswurzel bald mehr in ihrem medialen,
bald mehr in ihrem lateralen Gebiet durchsetzt, und es werden mit-
unter ganze Inseln durch diese Fasern von der Hauptmasse ab-
gesprengt. Inmitten des zentralen Graus, etwa halbwegs zwischen
Zentralkanal und dorsaler Peripherie, verlaufen jetzt wieder zwei
starkere transversale Faserbiindel, die noch ganz der Commissura
intracentralis posterior entsprechen und nicht iiberall scharf von¬
einander zu trennen sind. Wie sich spater ergibt, haben wir hier die
sich kreuzenden Fasem (Kollateralen) des Fasciculm solitarius vor
uns, jedenfalls in dem dorsalen Faserzuge, wahrscheinlich aber auch
in dem ventralen (Fig. 3). Aus der Gegend der Hinterstrange
ziehen immer noch Biindel feiner Fasern im Bogen zur vorderen
Kommissur, doch nehmen sie jetzt nicht nur aus dem medialen und
dem lateralsten Teil der Hinterstrange ihren Ursprung, sondem aus
dem ganzen, den Hinterstrangen zuzurechnenden Gebiet. Nimmt
man an, daB wie bei den niedersten Saugern so auch bei den Vogeln
ein Teil der Pyramidenbahnen in den Hinterstrangen verlauft, so
bestiinde die Moglichkeit, daB sich unter den zur vorderen Kom¬
missur ziehenden Fasern auch solche aus den Pyramidenbahnen
befinden, ohne daB man sich iiber den weiteren Verlauf zunachst
eine Anschauung bilden kann (s. Seite 18). Den Saum des dorsalen
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Sinn. Beit rag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 13
Querschnittes nehmen auch hier noch die oberflachlichen Bogen-
fasem aus den Hinterstrangen ein, welche mehr und mehr als lange
Schragschnitte in die Schnittebene fallen und sich als solche bis in
das Gebiet der Kleinhirnseitenstrangbahn bezw. der Seitenstrange
verfolgen lassen. Durch diese Fasern bricht quer ein star kesNer veil -
biindel zur Peripherie durch, das kaudalste Wurzelbiindel desNervus
accessorius cerebralis. Dorsal von diesem sieht man eine Gruppe von
Zellen in die dort liegenden Fasern eingestreut, die vielleicht als
Monakotvacher Kern aufzufassen ist. In der ventralen Querschnitts-
halfte tritt peripher von der Olive eine weitere langliche graueMasse
auf, und zwar zuerst in der ventrolateralen Querschnittsecke. Sie
verlauft medialwarts im spitzen Winkel auf die Olive zu und flieBt
auf etwas hoheren Schnitten mit ihr zusammen. Wir haben es hier
also offenbar mit 2 Teilen ein und desselben Gebildes zu tun. Die
Olive bildet demnach auch bei den Vogeln gewissermaBen einen
Hohlkorper. Nur ist seine Oeffnung umgekehrt wie bei den hoheren
Saugern lateral- und kaudalwarts gekehrt. AuBerdem reicht die
dorsale Wand weiter kaudalwarts als die ventrale. Median warts geht
das Grau der Olive meist ohne scharfe Grenze in den Saulenkem
der Raphe iiber. Beide Wande senken sich mit ihrem lateralen Teil
tiefer als mit dem medialen, so daB in aufsteigenden Querschnitten
die lateralen Partien zuerst auftreten. Die dorsale Wand reicht
lateralwarts nahezu doppelt so weit als die ventrale und ist im Sinne
der Querschnittsperipherie gebogen. Dieser Bau der Olive ist bei
alien von mir untersuchten Vogeln im wesentlichen der gleiche. 1 )
Scharf abgegrenzte Nebenoliven wie bei den hoheren Saugern habe
ich beim Vogel nicht auffinden konnen. Man sieht aber haufig
kleinere graue Inseln in losem Zusammenhang mit dem Grau der
Olive, am konstantesten solche, welche medial von der eigentlichen
Olivenmasse nahe an der Raphe liegen (Fig. 5).
DieHypoglossuswurzel zieht mit ihren kaudalstenFaserbiindeln
medial an der grauen Hauptmasse der Olive vorbei; weiter cerebral-
warts aber, wenn sich die Blatter der Olive nach der Mittellinie zu
einander nahem, treten sie in der Art durch die Olive hindurch,
daB etwa ein Drittel der Olive medial und zwei Drittel lateral
von der Hypoglossuswurzel bleiben. Die Hypoglossuswurzel erreicht
in dieser Hohe iibrigens ihre starkste Ausdehnung. Der groBere
Teil ihrer Fasern tritt jetzt durch den ventralen Kern hindurch
und zieht zu dem Hauptkem im zentralen Grau. Der letztere nimmt
proximalwarts noch eine kurze Zeit an Umfang zu. Er wird
dann auch an der freien Oberflache des zur Rautengrube eroffneten
Zentralkanales erkennbar. Man sieht dort 3 Vorwolbungen neben-
einander. Die erste bildet die Seitenwand des eroffneten Zentral-
kanals und entspricht dem Gebiete des dorsalen Hypoglossus - und
des VctgusJcernes , doch ist der Hypoglossuskern, der am Boden
l ) Ich mochte nach wiederholter Priifung iibrigens die Moglichkeit
offen lassen, daB auf Fig. 5 die als ventrales Olivenblatt aufgefaBte graue
Masse vielmehr als Nucleus lateralis extemus zu deuten ist (vgl. Fig. 4).
Die Deutung des als N1 bezeichneten Kerns wird nur dann sehr schwierig.
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14 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
der Rautengrube liegt, von dem des Vagus wiederum durch eine
allerdings seichte Furche getrennt. Der zweite Hocker tritt dort
hervor, wo die dorsale Peripherie in die laterale umbiegt. Er ent-
spricht, wie unten noch erortert wird, dem Tuberculum cuneatum
der Sauger, jedoch nur in seinem kapitalen Bereich. Ventral
von diesem folgt dann der 3. Hocker, welcher der spinalen Quintus-
wurzel entspricht und daher als Tuberculum cinereum s. Rolandi
bezeichnet werden soil. Zwischen den beiden letzten Hockern
treten in einer Richtung, die vom dorsalen Rapheende her lateral-
und etwas dorsalwarts verlauft, die Wurzeln des sog. ,,seitlich
gemischten Systems" (Accessorius cerebr., Vagus und Glosso-
pharyngeus) zur Peripherie. Es ist beachtenswert, daB sonach der
Austritt dieser Wurzeln ungemein weit dorsalwarts erfolgt. Durch
sie wird das Querschnittsbild in zwei sehr ungleiche Teile zerlegt,
einen kleinen dorsalen, vorwiegend aus grauer Substanz, und einen
groBen ventralen, fast nur aus weiBer Substanz bestehenden Teil.
In den ersteren dringt der mediane Spalt der Rautengrube bis nahe
an das dorsale Rapheende vor. Der Wurm des Kleinhims ist jetzt
in groBer Ausdehnung angeschnitten. Durch den schmalen Saum
grauer Substanz zwischen Raphe und Ventrikelboden verlaufen
feine Kommissurenfasem, welche das engmaschige Fasernetz des
Hauptkemes des Hypoglossus mit dem der anderen Seite verbinden.
Lateral und dorsal vom HypoglossuBkem erblickt man eine weitere
graue Masse und in ihr ein sehr feines Fasernetz, den dorsalen
Vaguskern (Fig. 5 und 6), aus dessen ventrolateraler Seite sich ein
breiter Zug feiner, aber gut tingierter Fasern entwickelt. Diese
ziehen groBtenteils als Vaguswurzel lateralwarts, einige aber auch,
wie bei den Saugern, langs des Saumes der grauen Substanz zur
Raphe. Andere wieder iiberschreiten die Vaguswurzel in spitzem
Winkel ventrolateralwarts und gelangen sehr wenig divergierend
geraden Zuges bis in dieGegend ventral von der spinalen Trigeminus-
wurzel, wo sie sich in dem von diffuser grauer Substanz reich durch-
setzten Faserfeld verlieren. Lateral vom Vaguskern sieht man
dann inmitten der grauen Substanz eine Gruppe quer getroffener
Faserbiindel liegen, derselben, welche auf kaudaleren Schnitten,
wie oben beschrieben, Kollateralen zur Commissura intracentralis
posterior abgeben und dem Fasciculus solitarius entsprechen;
die sie umgebende graue Masse ist der Nucleus fasciculi solit. Be-
merkenswert ist, daB bei alien Vogeln der Fasciculus solitarius
eine sehr diffuse Anordnung zeigt.
Das Gebiet des Tuberculum cuneatum setzt sich in dieser
Hohe aus 2 Schichten zusammen. Die Peripherie wird von einer
gut gefarbten Schicht quer oder schrag geschnittener Fasern ein-
genommen, die sich wie ein breiter Saum kappenformig um die
zweite innere Schicht legt. Diese zweite Schicht besteht wiederum
aus 2 Feldern: a) der Faserkappe liegt ein Feld fast rein grauer
Substanz an. In diesem sieht man, wenn man es von der Peripherie
her nach innen mustert, mehr und mehr ein engmaschiges Fasernetz
entstehen. Letzteres setzt sich dann weiterhin in b) ein Feld
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 15
schwach gefarbter feiner Fasern fort, aus dem sich innere Bogen-
fasern ventralwarts entwickeln. Dieses Feld begrenzt den Tractus
solitarius an seiner lateralen und zum Teil auch ventralen Seite.
Man findet in ibm immer eine Anzahl groBer Zellen.
Man kann beobachten, wie sich die auBere Schicht aus den oben
beschriebenen auBeren Bogenfasern des Hinterstrangsgebietes, das
graue Feld durch Umformung und Vermehrung eines Teiles des
Promontoriums bildet. Die Quintuswurzel liegt jetzt dicht an der
ventralen Seite des austretenden Vagus. Ihre Kernsubstanz bildet
auch jetzt noch kein geschlossenes Feld; man kann auf vielen
Schnitten mehrere graue Feldchen unterscheiden, welche durch
die Faserbiindel der spinalen Trigeminuswurzel voneinander ge-
trennt werden. Im ventralen Querschnittsteil haben sich die Oliven
beiderseits zu einem mehr abgerundetenFelde zusammengeschlossen,
konfluieren aber noch miteinander und mit dem Saulenkem der
Raphe. Dieser ist bei alien Vogeln deutlich ausgebildet. Er hat die
Form eines gleichschenkligen Dreiecks, dessen Spitze etwa bis zur
Halfte der Raphe dorsalwarts reicht. In ihm ziehen jetzt, an der
Raphe entlang ventralwarts allmahlich sich ausbreitend, in groBer
Zahl feine Fasern zur ventralen Peripherie (Fig. 10, p.). Hier durch-
setzen sie die peripheren Bogenfasern und scheinen in der auBersten
Peripherie des Querschnittes zu enden, doch sieht man sehr viele
von ihnen noch einen kurzen lateral gerichteten Bogen beschreiben.
Sehr zahlreich sind in dieser Schnittebene die Fibrae arcuatae
intemae. Aus der dorsolateralen Querschnittsecke ziehen sie,
allmahlich divergierend, im Bogen ventralwarts und schlieBlich
rechtwinklig auf die Raphe zu. Der Quintuswurzel liegen sie nach
innen an. Fibrae arcuatae externae fehlen hier fast ganz.
Der in Fig. 7 wiedergegebene Schnitt zeigt im allgemeinen
noch dieselben Verhaltnisse wie der eben beschriebene, nur wird
hier auch das Gebiet grauer Substanz zwischen dem dorsalen Vagus-
kern und dem Fasciculus solitarius von einem feinen lockeren
Fasemetz durchzogen. Ein starkeres Biindel von Fasern zieht aus
diesem Netz dicht an der medialen und ventralen Peripherie des
Fasciculus solitarius entlang im Bogen zur austretenden Vagus-
wurzel hin. Ihm schlieBt sich etwas weiter lateralwarts eine groBe
Anzahl Fasern an, welche zwischen den Biindeln des Fasciculus
solitarius selbst heraustreten, aber mit der Vaguswurzel sich
nicht vereinigen und sich erst in nachster Nahe der Peripherie
zu dichteren Biindeln zusammenlegen. Es ist dies wahrschein-
lich der Nervus glossopharyngeus. Bei oberflachlicher Be-
trachtung erscheint der Glossopharyngeus mit dem Vagus zu
einem einzigen breiten Wurzelbundel zusammengeschlossen. Ge-
naue Untersuchung lehrt aber, daB die Fasern des ersteren sich nur
dicht an die Dorsalseite der Vaguswurzel anlegen und erst in
cerebraleren Ebenen auftreten.
Ein weiteres Biindel feiner Fasern zieht aus der Gegend, wo
der Hauptkem des Hypoglossus und der Vaguskern aneinander
grenzen, am unteren Rande des Hypoglossuskernes entlang oder
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IB Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
durch ihn hindurch medialwarts und biegt nach kurzem Verlauf
in dieser Richtung ventralwarts um. Die Bedeutung dieses Biindels
(Fig. 7, e) ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Vielleicht handelt
es sich um etwas eigentiimlich verlaufende Wurzelbiindel dorsaler
Kemzellen des Hypoglossus, vielleicht auch um afferente (ge-
kreuzte ?) Fasem des Hypoglossus- oder Vaguskerns.
Der Vaguskem hat erheblich zu-, der Hauptkem des Hypo¬
glossus schon etwas abgenommen. Ueber das Verhaltnis der beiden
Kerne bemerke ich noch folgendes: Bei einem Vergleich des Vogel-
hirns mit einem Saugetierhirn fallt sofort auf, daB bei den Vogeln
der Vaguskem in seinem ventralsten Teil sehr viel starker entwickelt
ist, viel mehr groBe Zellen vom motrischen Typus enthalt und vor
allem schon in viel distaleren Ebenen auftritt, wahrend der Haupt-
kern des Hypoglossus, d. h. der dorsale, relativ schwach entwickelt
ist, namentlich in den distalen Ebenen. Diese interessante Tat-
sache hangt wohl damit zusammen, daB bei den Vogeln das hoch-
entwickelte und den ganzen Organismus beeinflussende Atmungs-
system und die Verdoppelung des Kehlkopfapparates (Larynx
bronchotrachealis) eine viel ausgiebigere Innervation als bei den
Saugern verlangt, wahrend die Zungenbewegungen entsprechend
dem Wegfall des Kauens bei den Vogeln eine viel unbedeutendere
Rolle spielen. Dabei ist jedoch zu bemerken, daB der groBzellige
ventrale Teil des Vaguskemes (vgl. N. X. auf Fig. 5) vielleicht auch
Hypoglossusfasern abgibt. Brandis z. B. (Bd. 41, Taf. 35, Fig. 5)
spricht geradezu von einem ,,gemeinschaftlichen Vagus-Hypo-
glossuskern“, der mit demventralenVaguskem zusammenfallen soil,
Nur Versuche liber retrograde Degeneration konnen hieriiber eine
definitive Aufklarung bringen. Wenn Brandis auBer seinem ge-
mischten Kem noch einen ungemischten dorsalen Vaguskem unter-
scheidet, der ebenfalls groBe Zellen enthalten soil (auf seinen
Figuren mit d bezeichnet), so mochten wir demgegeniiber allerdings
glauben, daB die Trennung von dem gemischten Kern (c) schwerlich
scharf durchzufiihren ist.
Die spinale Quintuswurzel erscheint jetzt infolge der dichten
Lagerung ihrer Fasern dunkler gefarbt. Sie umschlieBt jetzt
von lateral, ventral und dorsal ihre graue Kernmasse und ahnelt
daher mehr dem charakteristischen Bilde, das wir bei der ganzen
Reihe der Sauger zu sehen gewohnt sind, doch sieht man lateral von
den Wurzelfasern immer noch zwei winzige, von der Hauptmasse
getrennte Feldchen. Es ist bemerkenswert, daB bei den meisten
Vogeln die Vaguswurzel in toto dorsatwarts von der spinalen
Quintuswurzel austritt. Eine Ausnahme bildet unter den von mir
untersuchten Gattungen nur Rhea. Bei dieser bricht ein Teil der
Wurzelfasern durch die dorsale Halfte des Quintusfeldes hindurch.
Von nun an verbreitert sich der Ventrikelspalt mehr und mehr
zu einer tiefen Grube mit schmaler longitudinaler Grundfurche.
Gleichzeitig beginnt die Mitte der Mulde, welche wir allmahlich
aus der Fissura mediana anterior entstehen sahen, sich nach auBen
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Sinn, Beitrag Zur Kemitnis der Medulla oblongata der Vogel. 17
vorzuwolben. Dieser medianen Vorwolbung der ventralen Peripherie
entspricht im Innern der Saulenkein der Raphe (N. R.).
Dorsal von letzterem laBt sich neben der Raphe beiderseits
sehr regelmaBig eine andere Kernmasse abgrenzen, der Nucleus
reticularis tegmenti (N. r. t., Fig. 5) 1 ). Der Nucleus centralis inf.
ist inkonstant.
Im Innern des Querschnittsbildes bleibt auf langere Zeit nocli
der starke Zug der Vaguswurzel vorherrschend. Ein Teil seiner
Fasern zieht von der Peripherie nunmehr geradenwegs bis zum
dorsalen Ende der Raphe und biegt dort in diese ein. Einige Fasern
gelangen vielleicht direkt zur kontralateralen Seite hiniiber.
Wahrend der Hauptkern des Hypoglossus rasch verschwindet,
nimmt die Entwicklung des Fasemetzes im Vaguskem noch
weiter zu. Eine Gliederung des Vaguskerns in einen motorischen
und sensiblen Teil ist mir nicht gelungen. Die Fasern, welche in
ventrolateraler Richtung vom Vaguskem gegen den Trigeminuskern
hin verlaufen, sind vielleicht als eine sekundare Vagusbahn, mog-
licherweise auch (Kolliker) als eine Verbindung des Vaguskernes
mit dem Trigeminus zu deuten.
Andere Fasern ahnlicher Richtung entstammen offenbar einem
Kerngebilde, das ventral und medial dicht an der Quintuswurzel
liegt. Es ist bei den meisten von mir untersuchten Vogeln vom
Nucleus lateralis nicht leicht abzugrenzen. Am deutlichsten gelingt
es bei Rhea (s. Fig. 11). Hier findet man einen scharf umgrenzten
runden oder ovalen Kern, von dem dorsomedial warts ein Faser-
bxindel (h.) schleifenformig in der Richtung auf das dorsale Raphe-
ende hinzieht. Proximalwarts nimmt der Kern an Umfang erheblich
zu und bildet dann bald nur mehr einen Teil des recht diffusen
Seitenstrangkems, so daB er als selbstandiges Kerngebilde sich
nicht mehr abgrenzen laBt. Seiner Lage und diesem Faserverlauf
nach halte ich diesen Kern fur den Nucleus ambiguus. Ich glaube
auch beobachtet zu haben, daB von seinen Fasern ein Teil im Bogen
zu den Vaguswurzelfasem zieht, ein anderer Teil zum XII. Kem
umbiegt. Der Seitenstrangkern charakterisiert sich bei den Vogeln
in ausgesprochenem MaBe als externer Kem. Er liegt dicht an der
Peripherie und man findet fast stets eine ihm entsprechende
auBere Vorwolbung. Er ist voluminos, aber nicht geschlossen.
Es gelingt nicht, von ihm einen dorsalen Teil als selbstandigen Kem
(Nucleus lat. ext. dors. Obersteiners) abzusondern. Ein zusammen-
hangender Nucleus lateralis internus existiert, wenn man den Vor-
wall (S. 3) nicht als einen distalen Nucleus lateralis internus deuten
will, bei den Vogeln nicht. Wohl aber fand ich an seiner Stelle
Ansammlungen einzelner Zellen in der retikularen Substanz, die
* *) Bechterew , der diese Kerne zuerst beschrieben hat. hat leider, wie
ein Vergleich von Fig. 227 rait Figg. 103, 105 und 107 seines Hauptwerkes
(Leitungsbahnen in Gehim und Riickenmark, Leipzig 1899) lehrt, offenbar
unter dieser Bezeichnung sehr verschiedene Kerne zusammengeworfen.
Der von mir oben beschriebene deekt sich wohl mit demjenigen von Fig. 105.
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 2
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18 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
z. B. bei Chimango von auffallender GroBe waren. Sie sind wohl
sicher dem Nucleus centralis inferior von Roller zuzurechnen.
Die proximalsten Fasem ausdemVagus-und Glossopharyngeus-
kem werden auf ihrem Weg zur Austrittsstelle von Bogenfasem
gekreuzt, welche aus der dorsolateralen Querschnittsecke in
medioventraler Richtung durch den Fasciculus solitarius durch-
brechen und bogenformig weiter zur Raphe ziehen. Auf unseren
Figuren sind diese Fasem, die sich spater zu einem starken Bogen-
zuge entwickeln, mit H bezeichnet. Sie entwickeln sich aus einem
groberen Netzwerk von Fasem, das sich an Stelle der inneren
Faserschicht des Tuberculum cuneatum entwickelt hat und graue
Balkchen und Inseln in sich einschlieBt.
Proximalwarts weichen die Seitenwande der Rautengrube
von jetzt ab rasch auseinander und dementsprechend erscheinen die
von den Vaguskemen gebildeten Hocker weniger vorgewolbt. Der
Sulcus medianus der Rautengrube hat sich zu einem breiten
Graben erweitert. An Stelle des Tuberculum cuneatum ist das sehr
stark entwickelte Tuberculum acusticum getreten, welches von dem
Hocker des Vaguskernes durch eine leichte Einsenkung deutlich ab-
gegrenzt ist. Auch an der ventralen Peripherie sieht man lateral
von dem durch den Saulenkem der Raphe vorgetriebenen Hocker
beiderseits eine starkere Vorwolbung, welche der unteren Olive ent-
spricht, die sich durch allmahliche Verschmelzung ihrer beiden
Wande in eine abgerundete graue Masse umgewandelt hat.
Wie schon auf vielen Schnitten angedeutet war, ist die ventrale
Querschnittsperipherie jetzt von einem schmalen Saum grauer
Substanz iiberzogen, in der sich locker eingestreute quergeschnittene
Fasem rechts und links vom Hocker des Saulenkemes zu zwei losen,
flachen, sehr diirftigen Biindeln zusammenschlieBen, welche durch
ihre Lage an rudimentare Pyramiden erinnem. Den XJrsprung dieser
Faserquerschnitte hat man wahrscheinlich in denjenigen Fasem
zu suchen, welche wir (S. 15) an der Raphe herunter etwas diver-
gierend ventralwarts ziehen und an der auBersten Peripherie
enden sahen (Fig. 10, p.). Fiir diesen XJrsprung spricht auch der
Umstand, daB diese Querschnitte so kurz nach dem Erscheinen
jener Fasem aus der Raphe zuerst auftreten. Ich nehme also an,
daB es sich um Fasem handelt, die auf dem Wege der vorderen
Kommissur aus den Hinter- Oder Seitenstrangen kommen, und es
ware damit die Moglichkeit gegeben, daB es sich in der Tat um eine
rudimentare Pyramidenbahn handelt. Durch zahlreiche Degene-
rationsversuche (Sandberg) ist wohl einwandfrei festgestellt, daB
bei den Vogeln die motorische Innervation der Extremitaten
nicht auf dem Wege der Pyramidenbahnen erfolgt. Denn die er-
zielten Degenerationen reichten nicht ins Cervikalmark hinab. Die
motorische Innervation der Extremitaten vollzieht sich also wahr¬
scheinlich auf dem Wege des Tractus rubrospinalis. Dieser laBt
sich auf unseren Querschnittsbildera nicht identifizieren, doch ist
das Areal der Vorderstrangsfasem, in deren Gebiet wir ihn zu
suchen haben, bei den Vogeln sehr stark entwickelt. Sind Py-
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 19
ramidenbahnen vorhanden, so kommen diese mithin im Wesent-
lichen nur fiir die motorischen Lftmnerven in Frage. Dann ist aber
nicht verwunderlich, daB die Pyramidenbahnen so wenig zahl-
reicbe und feine Fasem haben und daB ihre Kreuzung sich im
Gegensatz zu den Saugem cerebralwarts von der Schleifenkreuzung
vollzieht. Die definitive Entscheidung iiber diese Frage muB
weiteren Experimentaluntersuchungen vorbehalten bleiben.
In dieser Hohe sendet der Vaguakem noch immer ein starkes
Buschel von Fasern radiar in die lateralen Querschnittspartien
hinein. Zu ahnlichem Verlauf biegen jetzt sehr deutlich auch vom
oberen Rapheende Fasern ventralwarts um und streben wenig
auseinanderfahrend der ventralen Peripherie zu, die man sie aber
nirgends erreichen sieht. Da medial von ihnen fast wie ein feiner
Faserregen das schon mehrfach erwahnte Biindel p. bis an die
ventrale Peripherie niederzieht, so ist der ganze ventral von der
Vaguswurzel liegende Teil des Querschnittes einmal von beinahe
konzentrisch angeordneten Bogenfasem (ventraler Bogenzug und
Fibrae arcuatae intemae), sodann aber von radiaren Fasern ange-
fiillt, welche die ersteren mehr oder weniger rechtwinklig kreuzen.
Da die gesamte Faseranordnung recht locker ist, so bleiben iiberall
weite Liicken, welche von grauer Substanz eingenommen werden.
In dieser findet man allenthalben in ziemlichgleichmaBiger Streuung
Biindel von quergeschnittenen Fasem. Zahlreicher und groB-
kalibriger sieht man sie im dorsalen und pradorsalen Langsbiindel
sowie im Gebiet des Kleinhirnstieles.
Im dorsalen Teil des Querschnittes fallt vor allem der schon
erwahnte Bogenzug zur Raphe ins Auge. Nach lateralwarts setzen
sich seine Fasem zunachst anscheinend bis nahe an die Peripherie
fort. Sie trennen hier von einem Felde quergeschnittener Biindel,
das inmitten eines wirren Faserwerkes den Raum zwischen dem
Bogenzuge und der Glossopharyngeuswurzel ausfiillt und das,
■wie hier schon erwahnt werden soil, der spinalen Vestibulariswurzel
zuzurechnen ist, ein den dorsalsten Teil des Tuberculum acusticum
einnehmendes Gebiet ab. Dasselbe besteht aus einem regelmaBigen,
ziemlich engmaschigen Fasemetz, dessen Maschen in die Lange ver-
zogen erscheinen und daher spindelformig aussehen. In diese sind
zahlreiche relativ kleine Zellen eingestreut. Wir haben hier den
Beginn eines Akustikuskemes vor uns, den wir weiter oben seiner
Lage und Gestalt nach als ein Homologon des Nucleus triangularis
der Sauger erkennen werden und daher mit N. tr. bezeichnen wollen.
Dorsolateral von diesem Kem beginnt sodann sehr bald ein rasch
sich vergroBerndes, fast kreisrundes gemischtes Feld sich abzu-
grenzen, in welches die Fasem des Bogenzuges einstrahlen. Die
Zellen, welche man in dem letzteren Felde wahmimmt, imter-
scheiden sich von denen des Triangularkernes schon in Pal-Pra-
paraten durch ihr erheblich grofleres Volumen. Dieses Feld ist, wie
wir spater sehen werden, die eigentliche Endstatte der Cochlearis-
fasem und soli als der gro/izellige Cochleariskern bezeichnet werden.
Brandis nennt ihn den groBzelligen Kern. Er kann auch als Haupt-
2 *
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20 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
kern des Tuberculum acusticum bezeichnet werden und findet
sich in ganz ahnlicher Lage bereits bei den Reptilien 1 ). Der Bogen-
zug stellt offenbar eine Cochlearbahn zweiter Ordnung dar und ist,
wie oben erwahnt, mit H bezeichnet.
Im Gegensatz zum groBzelligen Cochleariskem ist der
Triangularkem hier noch wenig scharf begrenzt auch nach der
dorsalen Seite hin, wo man im Grau des Ventrikelgrundes einzelne
Faserbiischel langs der Peripherie lateralwarts ziehen sieht.
Proximalwarts andert sich das Querschnittsbild dorsal von der
Vaguswurzel von jetzt ab rasch. Wahrend der Vaguskern sich zu-
sehends erschopft und bald nur noch einen kleinen medialsten Teil
des Hohlengraus einnimmt, schiebt sich in den ganzen iibrigen dorsal
vomBogenzuge H verbleibenden Raum des Hohlengraus der Nucleus
triangularis ein, indem er den Vaguskern medialwarts und den
Fasciculus solitarius ventralwarts verdrangt. Er laBt sich vom
Vaguskern zwar nicht immer scharf, aber doch meistens unschwer
abtrennen, da sein Fasemetz feiner und sein Gehalt an BlutgefaBen
reicher ist als bei jenem. Einen sicheren MaBstab fiir das Vorriicken
des Triangularkemes nach medialwarts hat man auch an der aller-
dings sehr seichten Furche, welche an der freien Oberflache die
Wolbungen der Kerne trennt (s. Fig. 9). Der Triangularkem liegt
also hier an der freien Oberflache des Ventrikels und ragt als breite
aber niedrige Vorwolbung in ihn hinein. Er hat im Querschnittsbild
etwa die Form einer horizontalen Spindel, deren mediale Spitze ven¬
tralwarts geneigt ist. Ventrolateralwarts begrenzt ihn der Bogenzug
und in dessen Verlangerung der runde grofizellige Cochleariskem.
Der letztere ist durch sein stark entwickeltes rundes Fasergehause
und seine groBen Zellen ungemein charakteristisch. Er dehnt sich
rasch bis nahe an die dorsale Peripherie des Querschnittes aus tind
beginnt einen eigenen Hocker in den Ventrikel vorzutreiben. Doch
bleibt ihm gegen die freie Oberflache ein schmaler Saum vorgelagert,
in welchem ingrauer, mit dem Triangularkem zusammenhangender
Grundsubstanz Fasern aus dem Triangularkem lateralwarts ziehen.
Die letzteren gelangen hier in die dorsolaterale Randzone, wie wir
das Gebiet nennen wollen, welches lateralwarts vom groBzelligen
Cochleariskem und der spinalenVestibulariswurzel liegt und ventral¬
warts an die jetzt biischelformig austretenden Vaguswurzeln
stoBt, und verschwinden hier aus dem Gesichtsfeld. Mitunter
glaubt man, was auch Brandis (p. 97) gesehen zu haben scheint,
diese Fasern als Fibrae arcuatae intemae weiter verfolgen zu
konnen. Derartige Fasern waren dann als Bogenfasern aus den
Hinterstrangresten aufzufassen. Die eigentlichen Triangularfasem
glaube ich sicher bis zum Corpus restiforme verfolgt zu haben, in
dessen medialen Teil sie eingehen.
Das bereits erwahnte Feld der spinalen Vestibulariswurzel
(fruher Feld der aufsteigenden Akustikuswurzel genannt) ist mit
*) Vgl. z. B. die Abbildung der Oblongata von Alligator lucius bei
Edinger , Vorlesungen iiber den Ban der nervosen Zentralorgane. 6. Aitfl.
1900. Fig. 59.
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 21
F f (Formatio fasciculata) bezeichnet (vgl. Fig. 9.). Es zeigen
sich hier schon zahlreiche grobe Maschen und Anhaufungen von
grauer Substanz.
Zu den Fibrae arcuatae internae sah ich bei Anliinga auf einem
Teil ihres Weges sich ein Biindel von Fasern gesellen, welche im
Bogenzuge anscheinend aus dem groBzelligen Kern O herunter-
ziehen, diesen Zug aber auf halbem Wege lateralwarts verlassen und
nun in s-formigem Bogen zunachst die Formatio fasciculata um-
kreisen, dann aber iiber die Vaguswurzel hinweg ventralwart6
biegen, um endlich — hier schon breit auseinander gefahren —
in der Richtung innerer Bogenfasem in die Gegend der Trigeminus-
wurzel einzustrahlen. Weiter lassen sich die Fasern mit Sicherheit
nicht verfolgen. Ich fand diesen Zug nur auf wenigen Schnitten
in einer Gesamtschnitthohe von etwa 100 ft. Auch konnte ich ihn
aufier bei Anhinga bei keinem anderen Vogel finden. Ich habe ihm
deshalb besondere Beachtung gesclienkt, weil ich daran dachte,
in ihm Trapezfasern aus dem groBzelligen Cochleariskem vor mir
zu haben. Bei seinem vereinzelten Vorkommen kann ich indessen
diese Deutung nicht aufrecht halten. Vielleicht handelt es sich
um Trapezfasern, die mehr kaudalwarts verlaufen als das Haupt-
biindel und die daher einen Ur sprung aus dem groBzelligen Kern
vortauschen.
Von Schnitt zu Schnitt wird jetzt die Rautengrube flacher
und breiter. Dem entspriclit eine Abflachung der Wolbung des
Triangularkernes, der sich mehr und mehr in die Breite ausdehnt
und bald das ganze Hohlengrau von der Raphe bis fast zur dorso-
lateralen Querschnittsecke einnimmt. Die Furche zwischen
Triangular- und Vaguskern verschwindet mit letzterem. Deutlicher
wird dagegen die Einsenkung, welche den Hocker des dreieckigan
von dem des groBzelligen Kernes trennt. Der letztere riickt mehr
und mehr an die freie Oberflache des Ventrikels. Er verliert dabei
seine runde Form, indem er zuerst im Querdurchmesser starker
wachst als im dorsoventralen und dann im letzteren sogar abnimmt.
So liegt er schlieBlich als langlicher, sehr charakteristischerKem der
dorsolateralen Quersclinittsperipherie dicht an. Hier treten jetzt
auch die Cochlear iswurzelfasern an den Kern her an, und zwar be-
sonders an seiner dorsalen und lateralen Seite. Da ihre Querschnitte
kaudalwarts mehr und mehr abnehmen, so treten sie offenbar fort-
gesetzt zu den Zellen des Kerns in Beziehimg. Bei anderen Vogeln
konnte ich den direkten Eintritt der Wurzelfasem in den Kern sehr
anschaulich beobachten (Fig. 9 und 10). Sodann wird der Kem
an seiner ventralen bezw. ventromedialen Seite durch einen neuen
Kem (P) gewissermaBen eingestiilpt. Dieser entwickelt sich in
folgender Weise: In Querschnittsebenen, in welchen der groBzellige
Kern seine Kugelform noch nicht verloren hat, taucht an seiner
ventralen Seite, und zwar in demWinkel, welchen er mit demBogen-
zug bildet, ein kleines Biindel dichter feiner Faserquerschnitte auf,
w r elches sich von der viel loseren Formatio fasciculata deutlich ab-
hebt. Dieses Faserbiindel (Fig. 8 r) riickt proximalwarts in jenen
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22 S i n 11 , Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
Winkel hinein und lockert sich gleichzeitig auf. Dann taucht
zwischen ihm und dem groBzelligen Kern der neue Kern auf. Der
letztere legt sich also der ventralen Faserschicht des groBzelligen
Kernes dicht an und wachst lateralwarts sehr rasch zu einem
langgestreckten Oval, indem er die ventrale Partie des groBzelligen
Kernes von der medialen Seite her mehr und mehr verdrangt.
Er zeichnet sich aus durch seine Armut an Netzfasern, hat kleine,
in Pal-Praparaten kaum sichtbare Zellen und bietet ein sehr homo¬
genes Aussehen dar. Brandis hat diesen Kern den ,,kleinzelligen“
genannt. Wir wollen ihn praziser den kleinzelligen Cochlearis-
kern nennen und werden diese Benennung spater noch begriinden.
Er ist an seiner Dorsalseite gegen den groBzelligen Kern im allge-
meinen scharf abgegrenzt, doch kann man gleich von seinem ersten
Auftreten an Fasern beobachten, welche in seiner dorsalen Band-
zone auftauchen und zwischen den Faserbiindeln des groBzelligen
Kernes verscl.winden. An seiner ventralen und mehr noch an seiner
medialen Seite ist der Kern von einer Kappe von Faserbundeln
iiberzogen, die teils langs, teils quer getroffen sind und die direkte
Fortsetzung des Faserfeldes bilden. Sie haben wie der Kern selbst
ein eigentiimlich gelatinoses Aussehen. Dieses eigenartige Aussehen
fand ich bei meinen Vogeln ebenso konstant wie einen auffallenden
Reichtum an BlutgefaBen. Im lateralen Teil entwickelt der Kem
in seiner grauen Masse ein etwas starkeres Fasemetz, an das sich
auBen unvermittelt ein breites Feld kurzer Schragschnitte von aus-
tretenden Wurzelfasem anschlieBt, welche dem Vestibularis an-
gehoren. Einige wenige Fasern ziehen anscheinend aus dem Wurzel-
feld in den Kem P, doch sind dies wahrscheinlich aberrierende
Cochlearisfasern.
Der Triangularkem ist hier stark reduziert. Man sieht an seiner
lateralen Grenze Zellen von derselben GroBe wie die des groBzelligen
Kernes und in unmittelbarem Zusammenhange mit ihnen. Wie sicb
spater ergibt, haben wir hier die Anfange eines dritten Cochlearis-
kernes vor uns.
Die Biindel des Bogenzuges H weichen in dieser Hohe auf
ihrem Wege zur Raphe oft weit auseinander, beschreiben dabei zum
Teil unregelmaBige Windungen und iiberkreuzen einander meistens
vor ihrem Eintritt in die Raphe. Manche verschwinden schon, bevor
sie die Raphe erreichen.
Die Formatio fasciculata nimmt cerebralwarts an Zahl der
Faserbiindel wie an grauen Inseln erheblich zu und dehnt sich
ventralwarts und lateralwarts weiter aus. Sie ist gegen die Um-
gebung leicht abzugrenzen und hat eine im ganzen runde Form.
Zwischen ihr und dem kleinzelligen Kem verlaufen transversale
Faserbiindel, welche aus der Raphe zu kommen scheinen. Zu diesen
gesellen sich auch feine Fasem aus dem Triangularkem. Diese
Fasern lassen sich lateralwarts nicht verfolgen. Zahlreicher und
iibersichtlicher sind Faserbiindel, welche die Formatio fasciculata
ventralwarts umziehen. Diese kommen groBtenteils aus dem Trian-
gularkern, zu einem kleinen Teil vom dorsalen Rapheende und ver-
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Sian, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dt*r Vogel. 23
lieren sich im Felde der eintretenden Vestibulariswurzel. Zwischen
dem kleinzelligen Cochleariskem (F) und der Formatio fasciculata
schiebt sich in dieser Hohe ein von letzterer zunachst nur schwer
abzugrenzender Streifen grauer Substanz ein, der aber schon sehr
bald das Faserfeld und die Faserkappe des Kernes P auf ihrer
ganzen Grenzlinie trennt. Dieser graue Streifen ist der Anfang des
Deitersschen Kernes und wird auf den Bildem mit D bezeichnet.
Der iibrige Teil des Querschnittes hat sich kaum verandert. An
Stelle der Oliven finden sich hier nur noch sehr unbestimmt ab-
gegrenzte diffuse graue Massen.
Die Seitenwande der Rautengrube werden von jetzt ab wieder
etwas steiler. In ihrem Boden bilden sich den hinteren Langsbiindeln
entsprechend zwei leichte Vorwolbungen. Dorsal von der austreten-
den Cochleariswurzel bildet sich nim abermals ein Kern mit groBen
Zellen, welcher die auBerste dorsolaterale Ecke des Querschnittes
einnimmt. Er ist zwar vom groBzelligen Kem O durch Wurzel-
fasem getreimt, doch ist diese Trennung unvollstandig, da die
Wurzelfasem zum Teil durch diesen neuen Kem hindurchziehen.
Wir wollen ihn seiner Lage entsprechend mit Brandis als Eckkem (E)
bezeichnen, jedoch mit dem Vorbehalt, daB er moglicherweise nur
ein Teil des groBzelligen Kemes ist, dem er auch in seiner Struktur,
seiner Faseranordnung und in der Form seiner Zellen gleicht.
Das ganze Gebiet ventralwarts von der Cochleariswurzel bis zur
spinalen Quintuswurzel hin wird jetzt von den schraggeschnittenen
Vestibulariswurzeln eingenommen, die also in sehr breiter Aus-
dehnung und etwas konvergierend hier eintreten. Sie sind bei
ihrem Eintritt offenbar ziemlich stark cerebralwarts gerichtet,
denn man sieht sie in aufsteigenden Frontalschnitten zuerst an
der Peripherie auftreten und dann langsam medialwarts vorriicken.
Doch schlagen die proximalen eine mehr horizontale Richtung ein.
Medialwarts hin sieht man sie in die Formatio fasciculata eindringen
und hier sich der weiteren Verfolgung entziehen. Auf ihren weiteren
Verlauf werde ich weiter unten naher eingehen (S. 26).
Charakteristisch tritt jetzt auch die Lagebeziehung des
Vestibularis zum Corpus restiforme zutage. Es hat hier die dem
Corpus restiforme und der spinalen Quintuswurzel entsprechende
Vorwolbung des Querschnitts eine machtige Entwicklung erlangt
und wird in ihrer ganzen Ausdehnung von den Wurzelbiindeln des
Vestibularis durchzogen. Es tritt also der Vestibularis wie bei An-
hinga so auch bei den anderen bis jetzt von mir untersuchten Vogel-
arten stets durch das Corpus restiforme. Daraus ergibt sich eine
ganz gesetzmaBige Skala beim Absteigen in der Vertebratenreihe.
BeimMenschen sowie bei den iibrigenPrimaten tritt die Vestibularis¬
wurzel in toto ventral vom Strickkorper ein. Auch bei den Carni-
voren und Ungulaten gilt das noch von der Hauptmasse der Fasern.
Bei den Insektivoren und Aplazentaliem durchbrechen sie schon
zum Teil das Corpus restiforme. Bei den Monotremen (Orni-
thorhynchus und Echidna) durchzieht der groBte Teil der Vesti-
bulariswurzelfasern das Corpus restiforme oder umschlingt dasselbe
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24 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
sogar dorsal warts. An das letztere Verhalten schlieBt sich der Be-
fund bei den Vogeln eng an.
In der auBeren Konfiguration des Querschnitts machen sich
noch weitere Veranderungen bemerkbar. So schrumpft der dem
Triangularkern entsprechende Hocker in der Seitenwand des
Ventrikels nach medialwarts zusammen. Das dadurch lateral
von ihm freiwerdende Gebiet wird zunachst noch von der Wolbung
des stark abnehmenden groBzelligen Kernes 0 eingenommen, weil
dieser fast nur in seiner dorsoventralen Ausdehnung zuriickgeht;
an diese Wolbung schlieBt sich jetzt aber lateralwarts ein weiterer
flacher, aber breiter Hocker an, den hier der dorsalwaxts vorgeriickte
kleinzellige Kern bildet. Eine sehr seichte Einsenkung trennt ihn
lateralwarts von der starkeren Wolbung des Eckkemes. Der klein¬
zellige Kern ist also zwischen dem groBzelligen und dem Eckkern
an die freie Oberflache eingeriickt, doch ist ihm in dieser Hohe
noch ein schmaler Saum des Ventrikelbodens vorgelagert, in dem
Fasern der Cochleariswurzel zum groBzelligen Kern vordringen.
Diese Fasern beobachtet man selbst dann noch, wenn der groB-
zellige Kern aus dem Querschnitt schon eine Weile verschwunden
ist. Ueber dem Kern angelangt biegen sie spinalwarts zu ihm um.
Der kleinzellige Kern erreicht in der hier beschriebenen Hohe
seine starkste Ausdehnung und gibt dem ganzen Querschnittsbild
sein Geprage (Figg. 11—14). Er ist im Querschnitt etwa doppelt
so groB als der groBzellige Kern, bei manchen Vogeln noch groBer,
und durch die ihn umschlieBenden Faserziige scharf umgrenzt.
Er hat eine ovale, mitunter stark in die Lange gezogene Form
(Chimango) und ist ausgezeichnet durch Armut an Fasernetzwerk
und eine sehr gleichmaBige Anordnung seiner Zellen. Sein eigen-
tiimlich gelatinoses Aussehen und seinen Reichtum an BlutgefaBen
habe ich schon erwahnt.
Der Eckkern hat im Querschnitt in seinem spinalen Teil eine
unregelmaBige, proximalwarts aber fast stets eine rundliche Form.
Man sieht in einem vielmaschigen Fasemetz groBe Zellen in regel-
loser Anordnung. Von der auBeren Faserkappe, die ihn namenthch
an der freien Oberflache umgibt, sieht man radiare Fasern, oft in
stemformiger Anordnung, ventralwarts ziehen und sich hier sammeln.
Sie gehen hier in Schrag- und Querschnitte iiber und der Kern er-
scheint wie aufgestiilpt auf den so gebildeten Faserstiel. Es ist
hochst wahrscheinlich, daB dieser Stiel von Cochleariswurzel -
fasern gebildet wird, die nach ihrem Eintritt in die Medulla kapital-
warts umbiegen. In den kaudaleren Partien sieht man Wurzel-
fasem auch unmittelbar von auBen und von innen in den Kern
eindringen. Immerhin ist ihr Eindringen weniger anschaulich als
beim groBzelligen Kern. Bei alien Vogeln macht der Kern
proximalwarts eine leichte scheinbare Drehung in dem Sinne, daB
der zunachst nach ventral- und seitwarts gerichtete Faserstiel
etwas nach innen hiniiberkreist. Die Ursache ist darin zu suchen,
daB sich an der Bildung des Faserstiels mehr und mehr solche Fasern
beteiligen, die aus dem Kern als Bogenfasern zur Raphe ziehen, also
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dor Vogel. 25
wohl als Eckkemanteil des Bogenzuges aufzufassen sind, wahrend
in demselben MaBe die eindringenden Wurzelfasera verschwinden.
An der ventralen Seite des Kernes P beobaclitet man in diesem
Niveau die Entwicklung eines auBerst starken Faserzuges, und zwar
zunachst in seinem medialen Teile. Die zahlreichen Biindelchen
desselben strahlen aus dem Innern des Kernes konvergierend durch
die ventrale Faserkappe in die Formatio fasciculata, schlieBen sich,
indem sie sich etwas lateralwarts wenden, vorubergehend zu losen
Bundein zusammen und breiten sich dann wieder ventralwarts
einbiegend iiber den lateralen Teil des Querschnittes aus. Sie
bleiben dabei groBtenteils medialwarts von der spinalen Trigeminus-
wurzel, einzelne Biindel dringen indessen auch durch den Quintus
hindurch oder umkreisen ihn. Dieser Faserzug entspricht offenbar
dem Corpus trapezoides, zum Teil wohl auch dem /Zefdschen Biindel
der Sauger und ist in den Abbildungen mit C. tr. bezeichnet
(Figg. 14 und 16).
Ventral und etwas lateral vom hinteren Langsbiindel ist beider-
seits eine kleine Gruppe grauer Inseln aufgetreten, der Beginn der
Abduzenskeme. Aus ihr zieht die Abduzenswurzel als starkes
Biindel fast geradlinig zur ventralen Peripherie, etwa in derselben
Bichtung wie weiter unten der Hypoglossus (Fig. 15). Sie verlaBt
den Querschnitt lateral von einem an der auBersten ventralen
Peripherie sich entwickelnden Kerngebilde, dessen erste Anfange
man kurz nach dem volligen Verschwinden der unteren Olive etwas
mehr peripheriewarts als diese beobachtet (wahrscheinlich Nucleus
trapezoides).
Je machtiger die Trapezfasern aus dem kleinzelligen Cochlearis-
kern sich entwickeln, um so mehr erschopft sich der Bogenzug, und
der Triangularkem breitet sich ventrolateralwarts weiter aus und
flieBt stellenweise mit dem wachsenden Deitersschen Kern
zusammen. Die graue Substanz erfahrt also in dieser Hohe einen
erheblichen Zuwachs, zumal auch iiberall da, wo in dem Geflecht
der Biindel des Vestibularis und des Trapezkorpers eine Liicke
bleibt, graue Inselchen sich anlegen.
Wenn man die Wurzelbiindel des Vestibularis medialwarts ver-
folgt, so sieht man sie nach ihrer Kreuzung mit den Trapezfasern in
ihrer groBeren Mehrzahl plotzlich abbrechen, ohne daB man zu¬
nachst auf den cerebraleren Schnitten eine deutliche Fortsetzung
auffinden kann oder auch eine entsprechend starke Ansammlung
von Faserquerschnitten sahe. Auch eine Aufsplittenmg ihrer
Fasern lafit sich nirgends sicher nachweisen. Eine Schicht schrag-
und quergeschnittener Fasern findet man nur an zwei Stellen:
einmal ventral vom Eckkern und sodann dort, wo die Vestibularis-
fasern das Feld der Formatio fasciculata erreichen. Solange nur die
lateralen Abschnitte der Vestibularisbiindel in den Querschnitt
fallen, ist dieses Faserfeld von ihnen scharf abgegrenzt. Je mehr
man dann die Vestibularisfasem medialwarts vordringen sieht,
um so mehr erscheint die laterale Grenze des Faserfeldes verwischt
und um so mehr gehen seine quergetroffenen Faserbiindel in
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26 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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kurze Schragschnitte iiber. Es laBt sich daher mit groBer Bestimmt-
heit sagen, daB wir in dem Faserfeld der Formatio fasciculata die
spinaie Vestibulariswurzel vor uns haben.
AuBer dieser spinalen Wurzel habe ich folgenden Faserziigen als
etwaiger Fortsetzung von Vestibulariswurzelfasem besondere Be-
achtung geschenkt.
1. Man sieht Vestibularisfasem durch die Formatio fasciculata
hindurch den Bogenzug H iiberschreiten und in den Nucleus
triangularis eintreten. Diese Fasem sind fein und wenig zahlreich.
Es handelt sich hier offenbar um den Triangularanteil des
Vestibularis.
2. Ziemlich weit cerebralwarts konnte ich eine groBere Zahl
Vestibularisfasem verfolgen, welche nach ihrer Kreuzung mit den
Trapezfasern plotzlich ventralwarts umbiegen, sich aber nach sehr
kurzem ventralemVerlauf wieder medialwarts der Raphe zuwenden.
Sie verschwinden dann in nachster Nahe der Raphe aus dem Quer-
schnitt. Es sind das Fasem aus dem dorsalen Teil der Vestibularis-
wurzel. Ventrale Wurzelbiindel ziehen in geradem Zuge auf die
Raphe zu. Ob diese Fasem zu den vielen verstreuten grauen Inseln
der von ihnen durchzogenen Gegend in Beziehung treten, ist nicht
ersichtlich.
3. Auf etwas kaudaleren Schnitten sah ich im Feld der ein-
tretenden Vestibulariswurzel einige Faserbiindel, welche unmittel-
bar nach ihrem Eintritt in den Querschnitt dorsalwarts in der
Richtung auf den Eckkem zu umbiegen. Wahrscheinlich handelt
es sich hier aber um aberrierende Fasem des Cochlearis.
4. Etwas weiter proximalwarts als die letztgenannten fand
ich eine kleine Zahl von Faserbiindeln, die aus der nachsten
ventralen Umgebung des kleinzelligen Cochleariskems P im Bogen
sich zu den Vestibulariswurzeln zu gesellen scheinen. Hier handelt
es sich hochstwahrscheinlich um Trapezfasern. AuBerdem findet
sich in dieser Hohe lateral vom kleinzelligen Kem eine kleine Gruppe
groBer Zellen, von der aus ebenfalls Fasem in kurzem Bogen lateral-
warts zu den Vestibulariswurzeln treten. Auch diese Fasem sind
jedoch wahrscheinlich als Trapezfasern aufzufassen.
Der groBzellige Cochleariskern O ist in der Hohe des Vesti-
bulariseintritts nahezu vollig verschwunden. Mit ihm der Bogenzug.
An seiner Stelle sieht man jetzt Faserziige, welche von der Raphe
her auf den kleinzelligen Kem zu ziehen. Sie kommen aber nicht
nur vom dorsalen Ende der Raphe, sondem aus der ganzen dorsalen
Halfte derselben her, auch schlieBen sie sich in ihrem dorsalen
Verlauf nicht zu einem Zug zusammen, sondern verlaufen ziemlich
zerstreut und holen gleichzeitig, um den inzwischen vergroBerten
Triangularkem zu umziehen, weiter lateralwarts aus. Sind sie
beim kleinzelligen Kem angelangt, so bleibt der groBere Teil an
dessen ventraler Peripherie, ein kleinerer biegt aber um das mediale
Ende herum zu seiner dorsalen Seite hiniiber. Wir glauben diese
Fasern vom Bogenzug H ganz trennen zu konnen. Sie bestehen
zwar schon neben ihm, haben indessen einen zwar eng benach-
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata dcr Vogel. 27
bar ten, aber doch verschiedenen Verlauf. Auch ist das Auftreten
und das Verschwinden der starken Bogenfasern offenbar ganz
abhangig von der Entwicklung des groBzelligen Kernes, wahrend
die jetzt in Bede stehenden Fasem nach Verschwinden desselben
noch fortbestehen. Brandis macht keinen ausdriicklichen Unter-
schied zwischen den beiden Faserziigen, deutet einen solchen aber
doch an, wenn er sagt, daB der Bogenzug cerebralwarts seine Be-
ziehung zum groBzelligen Kern verliere und den Weg bilde, auf
dem Fasem aus dem ganzen Querschnitt der Medulla zum Klein-
him ziehen.
Besonderer Beachtung bedarf auch ein Feld von Faserquer-
schnitten ventral vom £>e*<ersschen Kern. Dasselbe hat die Form
eines spitzwinkligen Dreiecks, das mit der Spitze nach dem Eckkern
zu liegt und mit der Grundlinie an das Vestibularisfeld grenzt. Die
innere Seite stoBt an den DeitersBchen Kern, die auBere lauft nahe
am Innenrand des Corpus restiforme entlang. Es deckt zum Teil
denselben Baum wie der Faserstiel des Eckkerns, speziell mit seiner
Spitze, besteht aber nur aus quergeschnittenen Faserbiindeln.
Kaudalwarts laBt es sich bis in die Formatio fasciculata verfolgen,
und zwar bis zur Hohe der eintretenden Vestibulariswurzel. Es
stellt daher offenbar eine Vestibulariswurzel dar, wie der weitere
Verlauf (S. 32) auch bestatigt.
An seiner lateralen Seite tritt jetzt das Corpus restiforme
pragnant hervor, und zwar um so mehr, als die Vestibulariswurzel,
die ja sein Feld durchsetzt und es der Beobachtung so gut wie ganz
entzieht, sich erschopft. Der Strickkorper erstreckt sich von der
Quintuswurzel bis zum Eckkern des Akustikus. Von auBen nach
innen kann man vier, allerdings nicht scharf abgegrenzte, Schichten
unterscheiden:
1. Tangentialfasem in geringer Menge;
2. eine Schicht lockerer, groBkalibriger, quergetroffener Fasem
mit zahlreichen auffallig groben Fasem;
3. eine Schicht dichter quergetroffener Fasern von etwas
kleinerem Kaliber mit vereinzelten groben Fasein;
4. eine Schicht feiner lockerer Faserquerschnitte in einer
grauen Grundsubstanz von gelblichem Ton, welche sich medial-
warts rasch auflockert und ohne scharfe Grenze in das benachbarte
Grau iibergeht.i
Da spinal vom Vestibulariseintritt die Schicht 3 und 4 fehlt,
so wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten diirfen,
daB diese Schichten direkt oder indirekt aus dem Vestibularis
stammen. Es stimmt dies auch mit der Erfahrung bei den Saugern
iiberein, bei welchen ebenfalls der mediale Teil des Corpus restiforme
ausschlieBlich oder fast ausschlieBlich von Vestibularisfasern ge-
bildet wird. Ein Unterschied wiirde nur insofern bestehen. als
beim Vogel 1. auffallig verschiedene Faserkaliber sich finden,
2. schon sow'eit kaudal sich die Vestibularisfasern dem Corpus
restiforme anschlieBen.
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28 Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
Vergleicht man die Vestibulariswurzeln und -kerne eines guten
Fliegers wie Chimango mit denen eines Nichtfliegers, z. B. Rhea,
so ist die starkere Entwicklung bei ersterem zwar nicht gerade
auffallig, aber doch unverkennbar. Sie zeigt sich in der Zahl der
Wurzelbiindel, in der Entwicklung der Kemsubstanz der For mat io
fasciculata, des Deitersschen und Bechterew schen Kernes und auch
der spinalen Wurzel, jedenfaUs am wenigsten beim Triangularis-
kern. Aehnlich wie Chimango verhalt sich Athene. Hier fand sich
ein besonders breites Feld eintretender Wurzelfasern. Beim Huhn
(5 Wochen alt) konnte ich die gekreuzte Vestibulariswurzel und
den Eintritt von Wurzelfasern in den dreieckigen Kern am schonsten
beobachten.
Eine sehr schwierige Frage bleibt noch zu beantworten: wo
namlich der sog. vordere oder ventrale Akustikuskern der Vogel zu
suchen ist. Da in der Cochleariswurzel selbst unerverhaltnismaBig
wenig Ganglienzellen zu finden sind, liegt der Gedanke sehr nahe,
den Eckkern E und vielleicht (?) auch noch P mit dem vorderen
Akustikuskern zu homologisieren.
Dicht an die ventralsten Wurzelbiindel des Vestibularis legen
sich Fasern an, welche sich durch starkeres Kaliber, intensivere
Far bung und langeren Verlauf in der horizontalen Schnittebene
von jenen abheben. Es sind das die kaudalsten Wurzelfasern des
Neivus facialis. Sie tauchen seitlich von dem hinteren Langs-
biindel auf und ziehen lateralwarts durch die spinale Quintus-
wuizel hindurch (Fig. 13).
Der Abducens erreicht in dieser Hohe seine starkste Entwick¬
lung. Er bildet mehrere starke parallel laufende Wurzelbiindel,
welche aus dem Kern als ein Biischel feiner Fasern hervorgehen und
sich dann sofort zu Biindeln vereinigen. Der Kern selbst ist relativ
klein, wenig scharf begrenzt und haufig von den dorsalsten Bogen-
fasern durchsetzt. Er erscheint meistens in dorsoventrader Richtung
groBer als in transversaler und hat im allgemeinen die Gestalt eines
unregelmaBigen Ovals.
Eine ungewohnlich starke Entwicklung hat inzwischen das
hintere Langsbiindel erreicht. Es wurde schon gesagt, daB es am
Boden des Ventrikels eine sehr deutliche Vorwolbung bildet. Bei
dichterer Lagerung seiner Fasern hat sich das Biindel nach lateral¬
warts ganz erheblich verbreitert. Nach ventralwarts ist seine Aus-
dehnung etwa dieselbe geblieben. Seine Fasern sind groBten-
teils von starkem Kaliber. Man sieht auch eine Anzahl von
Riesenfasern. Fasern feineren Kalibers sind aber gleichmaBig ein-
gestreut. Das pradorsale Langsbiindel ist in dieser Hohe gleich-
falls gut ausgebildet, vom hinteren Langsbiindel aber nicht sicher
abzugrenzen. Die starkste Entwicklung des dorsalen Biindels fand
ich bei Athene, nachst dieser bei Chimango und Ardea, die
schwachste bei Cycnus. Doch sind die Differenzen nicht erheblich.
Einen Ueberblick iiber die Gesamtanordnung der Akustikus-
kerne gibt das Schema am Kopf der folgenden Seite.
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
29
N. vest.
X. cochl.
C. trap.
SchematisGhe Darstellung der Akustikuskerne.
Cochlearis liniert, Vestibularis punktiert.
Proximalwarts (vgl. Fig. 14 ff.) stellt sich jetzt rasch im Klein-
himstiel eine breite Verbindung des Hirnstamraes mit dem Klein-
him her. In den stfeilen Seitenwanden des Ventrikels erkennt man
deutlich eine Vorwolbung, die auf kaudaleren Schnitten dem klein-
z«lligen Cochleariskern, auf proximaleren dem Deitersschen Kem
exitspricht. Den Hocker, welchen der noch gut erhaltene Eckkem
friiher bildete, haben Faserziige zum Kieinhirn mehr und mehr
iiberdacht und so von der freien Oberflache verdrangt.
Es ist auBerordentlich schwer, festzustellen, ob sich unter
diesen Ziigen zum Kieinhirn solche befinden, welche aus dem klein-
zelligen Cochleariskern hervorgehen. Brandis ist geneigt, solche
Fasern anzunehmen. Er sagt (p. 103): ,,Inzwischen haben sich
ventral vom kleinzelligen Kerne dichte Ziige von Nervenfasem
angesammelt, welche fast von der ganzen Lange der Raphe ent-
springen und zum Teil direkt in den Kleinhirnschenkel einstrahlen,
zum Teil jedoch den kleinzelligen Kern erst als einzelne Fasern
passieren und vielleicht dort durch die Zellen eine Unterbrechung
erleiden. Der kleinzellige Kern erinnert so einerseits durch seine
Beziehungen zum Kieinhirn, andererseits aber auch durch seine
Struktur an die einfach gebauten unteren Oliven niederer Sauger.“
Und bei der Beschreibung des Kleinhirns sagt er (p. 792): ..In
den sich auf diese Weise bildenden Processus cerebelli ziehen nun
von innen her die Fasern des Bogenzuges hinein, welche sich um
den kleinzelligen Kern herum angesammelt hatten.“ Auch
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30 Sinn, Beitrag ziir Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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Westphal, welcher den kleinzelligen Kern richtig als eine Modi-
fikation des groBzelligen, jedenfalls also als Cochleariskems auf-
faBt, spricht von der „Kleinhirnverbindung, die doch bei dem
kleinzelligen Kern der Vogel so ausgesprochen ist“. Wenn die
Faserbiindel zum Kleinhim tatsachlich aus dem kleinzelligen
Kerne stammten, dann diirfte man erwarten, daB sie entweder zur
Zeit der starksten Entwicklung des Kernes am deutlichsten sind,
oder daB sich beim Verschwinden des Kernes ein starkes Feld von
Faserquerschnitten findet, Keines von beiden ist aber der Fall.
Die Biindel erscheinen erst, wenn der kleinzellige Kern kaum noch
erkennbar ist, und eine Anhaufung von quergeschnittenen Fasem
siebt man auch dann nicht. Es ist daher hochst wahrscheinlich, daB
diejenigen Faserbiindel zum Kleinbirn, welche nicht aus dem
Deitersachen Kern hervorgehen, sondem sich absteigend mehr
medialwarts wenden und sich sicber bis an die Dorsalseite des
kleinzelligen Kernes verfolgen lassen, entweder Bahnen aus den
zahlreichen zerstreuten, dem Deitersschen Kern zuzurechnenden
grauen Inseln sind oder aber aus dem dreieckigen Kern stammen.
Eine dritte Moglichkeit ware noch, daB wir in ihnen eine gekreuzte
Vestibulariswurzel vor uns haben, die aus der dorsalen Baphegegend
mit den Cochlearisbiindeln, die von dort zum kleinzelligen Kern
ziehen, hierher gelangt. Der Beweis, daB Fasem aus dem klein¬
zelligen Kem ins Kleinhim ziehen, ist jedenfalls nicht erbracht, und
es ergibt sich daher keine Schwierigkeit, diesen Kem als Cochlearis-
kern aufzufassen, eine Anschauung, zu der man durch den Ursprung
unzweifelhafter Trapezfasem aus ibm unwiderstehlich gedrangt ist.
Gut zu iibersehen ist in derselben Hohe der Verlauf des
Facialis. Lateral vom Abducenskem, etwa ebenso weit von ihm
entfernt wie dieser von der Raphe, biegen die vom Kem herauf-
ziehenden Facialisbiindel spitzwinklig lateralwarts um. Von dem
so gebildeten Knie ab scblieBen sie sich zu scbmalen, aber sehr
dichten Biindeln zusammen, und diese Biindel erscheinen stellen-
weise wie zu einem Seile umeinander gedreht (Fig. 15). Schon
bevor sie die Quintuswurzel passieren, fahren sie indessen wieder
etwas auseinander und verlassen den Querschnitt in Form eines
schmalen Deltas, das lateral vom Quintus in ventraler Richtung
noch einmal starker ausbiegt (Fig. 13). Die Austrittsweise ent-
spricbt also fast genau derjenigen, wie sie Ziehen fur Echidna be-
schrieben hat (4. Monographic, S. 803). Verfolgt man den Facialis
proxdmalwarts fiber das Knie hinaus, so uberblickt man in derselben
Querschnittsebene wie den austretenden Schenkel auch das Knie
und den Kernschenkel. Es ist also das Knie nicht zu einem Langs-
schenkel ausgebildet. Der Kernschenkel beginnt gleich am Knie
als ein Biischel von Fasem, das nach sehr kurzem Verlauf auf einen
gut abgrenzbaren runden Kem trifft, den dorsalen Facialiskem.
Ein Teil der Fasem findet in diesem Kem offenbar sein Ende,
ein anderer Teil aber, und zwar die Randfasem des Biischels, zieht
an diesem Kem voriiber in gerader Richtung peripheriewarts weiter,
entweder parallel zueinander oder auch etwas konvergierend. Sie
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 31
endigen dann nahe an der Peripherie in einer nicht immer scharf
begrenzten Kemmasse, dem ventralen Facialiskem. Dieser scheint
bei einigen Vogeln, z. B. Anhinga (Fig. 15), in zwei Teile zu zerfallen,
die allerdings nur sehr unvollstandig getrennt sind, einen dorso-
lateralen und einen ventromedialen. Es gelingt aber in dem
diffusen Grau dieser Gegend auBerst schwer, Kernmassen sicher
abzugrenzen. Jedenfalls sind der dorsale wie der ventrale Facialis¬
kem bei alien Vogeln dentlich ansgebildet, ersterer durchschnittlich
starker als letzterer. Das spricht iibrigens nicht zugunsten der Auf-
tassung, daB der dorsale Kem, wie man ofters angenommen hat, der
Innervation der Lippen dient.
Die auffallig stark gefarbtenFaserbiindel ventral vom ventralen
Facialiskem sind wahrscheinlich als die von Kolliker und Ziehen bei
Aplacentaliem beschriebenen ZonaWiindel aufzufassen.
Sicherer abzugrenzen als der ventrale Facialiskem ist meist
eine etwas weiter medialwarts auftauchende Kemmasse, welche
sich als kleiner, abgeschlossener, rundlicher, grauer Korper auf alien
Schnitten gut erkennen laBt. Man sieht in einem ziemlich stark
entwickelten Fasemetz graue Inselh von groBer rimdlicher Form,
dazwischen reichliche Querschnitte feiner Fasem. Rundum ver-
lauft ein dichterer Fasersaum, der an der lateralen Seite zu einem
breiteren Felde longitudinaler Fasern anwachst. Aus diesem Kem
entspringen Fasem (St.), welche dem Kemschenkel des Facialis
parallel, und zwar medial von ihm, dorsalwarts ziehen und dann,
wie allerdings erst proximalere Schnitte ergeben, medialwarts zum
Abducenskem umbiegen. Diese Fasem verlaufen also, bevor sie
sich medialwarts wenden, erst noch ein kleines Stuck cerebralwarts.
In diesen Fasem haben wir offenbar den Stiel der oberen Olive vor
uns, in der Kemmasse (01. s.) daher die obere Olive. Bestatigt wird
diese Auffassung durch die noch zu beschreibende Beziehung des
Kernes zu den Trapezfasem. Der Olivenstiel ist bei den Vogeln sehr
diirftig, ebenso die obere Olive selbst. Auf einigen Schnitten sah ich
iibrigens auch Fasem des Olivenstieles, die in ganz ungewohnlicher
Weise die austretende Abducenswurzelfasem etwa in halber Hohe
kreuzen und dann in einem flachen Bogen sich dem Abducenskem
zuwenden (s. Fig. 15, Ost.).
In demselben MaBe, in dem der kleinzellige Cochleariskem ab-
nimmt, erlischt auch der Zug der Trapezfasem, die aus ihm hervor-
gehen. Wenn man von der grauen Masse des kleinzelligen Kernes
(P) kaum noch etwas wahmimmt, sieht man an seiner Dorsalseite
Faserbundel dorsolateralwarts ziehen, um sich dem Corpus
restiforme medialwarts anzuschlieBen. Die Bedeutung dieser
Fasem ist bereits erortert worden. Fasem gleichen Verlaufs
kommen in losenZiigen aus dem machtig entwickelten Detteraschen
Kem. Diese schieben sich zwischen die erstgenannten und das
Corpus restiforme ein und iiberdachen so den Eckkern desAkustikus.
Lateralwarts wird dieser vom Corpus restiforme begrenzt. Auch er
ist in dieser Hohe schon im Abnehmen begriffen. Er zeigt jetzt eine
ziemlich homogene Struktur aus grauer Substanz und Fasemetz-
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32 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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werk und ist ringsum von starkeren Randfasern umsaumt. Das
keilformige Feld von Faserquerschnitten, welches wir als auf-
steigende Vestibular is wurzel aufgefaBt hatten (S. 27), hat seine
dichte Struktur und seine scharfe mediale Begrenzung nach und
nach verloren. Aus dem DetJersschen Kern sind graue Balkchen
und Inseln in sein Fasergefiige eingedrungen. Bald darauf tauchen
an seiner lateralen Grenze groBere Inseln grauer Substanz auf,
die sich ebenfalls an seiner Auflockerung beteiligen. Zur selben Zeit
sieht man aus dem Eckkern ventralwarts in breiter Ausdehnung
Faserbiindel sich entwickeln, welche denselben Verlauf nehmen wie
die Trapezfasern des kleinzelligen Kernes und zweifellos den Eck-
kernanteil des Corpus trapezoides darstellen. Sie durchsetzen in
mannigfacher Richtung das keilformige Faserfeld und tragen so
ihrerseits zur Verwischung seiner Struktur noch bei. Einen ahnlichen
Verlauf nehmen auch Fasern, die aus dem Deitersschen Kern
ventralwarts ziehen. Sie sind von feinerem Kaliber und lockerer
angeordnet. Sie ziehen nahezu senkrecht auf den austretenden
Facialisschenkel zu, um hier zu verschwinden. Nur eine kleine
Zahl glaubte ich iiber die Wurzel hinweg als Fibrae arcuatae
internae weiter ziehen zu sehen. Ein Teil scheint sich auch der
Gegend des Facialisknies zuzuwenden und verliert sich in dem
dortigen Fasergewirr. Von diesen Fasern lassen sich einige weiterhin
bis zur Raphe verfolgen.
Wenige Schnitte weiter cerebral warts hat die Ventrikelhohle
an Volumen schon betrachtlich zugenommen. In der Hohe des
Ventrikelgrundes ist bei Anhinga der imtere Kleinhirnstiel
jetzt 3,5 mm breit. Das hintere Langsbiindel miBt 0,7 mm in der
Breite und 0,8 mm in der Tiefe. Der dorsoventrale Durchmesser
des Hirnstammes betragt langs der Raphe 3,6 mm. Die Raphe ist,
soweit sie die Langsbiindel trennt, breit, sehr dunkel tingiert und
dicht gefasert. Wo sie zwischen den Langsbiindeln hervortritt,
reduziert sich ihre Breite ziemlich plotzlich auf fast ein Drittel.
Als diinnes Fasergeflecht zieht sie sich so bis zur ventralen Peri¬
pherie hin, indem sie sich im Bereich des Saulenkernes der Raphe,
der nur noch schwach erkennbar ist, etwas auffasert. Es fallen jetzt
die Faserbiindel stark ins Auge, welche von der Raphe lateralwarts
allenthalben in den Querschnitt einstrahlen. Untersucht man ihren
Verlauf in der Raphe genauer, so sieht man sie in nachster Nahe
derselben sich auffasern und dann teils ventralwarts, teils dorsal-
warts der Raphe anschlieBen. Seltener sieht man Fasern direkt
in die andere Querschnittshalfte hiniiber kreuzen. Die starksten
dieser Faserbiindel verlaufen im Bereiche der hinteren Langsbiindel.
Sie alle verschwinden nach kurzem Verlauf aus dem Gesichtsfelde.
Parallel zur Raphe ziehen auBerdem in ihrer unmittelbaren Nahe
zahlreiche andere feine Fasern. Die Abducenswurzel ist nicht mehr
sichtbar, wohl aber vermag man den Abducenskem an seiner alten
Stelle noch wahrzunehmen. Vom Facialis sind die Kerne, der
biischelformig heraufziehende Kernschenkel und das Knie noch
gut erkennbar, vom austretenden Schenkel dagegen nur noch das
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 33
medialste Stuck. Die austretende Wurzel senkt sich also auf
ihrem Weg zur Peripherie etwas kaudalwarts. Auf mehreren
Schnitten gewinnt man den Eindruck, daB nicht alle Fasem des
Austrittsschenkels am Knie zum Kern in den gleichseitigen Kern-
schenkel umbiegen, sondern daB einzelne Biindel zur Raphe ziehen
und diese iiberschreiten. Bekanntlich ist eine solche gekreuzte
Facialiswurzel fast bei alien Saugetieren beschrieben worden.
Die graue Substanz am Boden des Ventrikels bildet nur mehr
ein kleines, fast gleichseitiges Dreieck, dessen Grundlinie dem
Facialisknie und dessen Spitze dem Kleinhim zugekehrt ist. Das
iibrige Gebiet dorsal vom Austrittsschenkel des Facialis und dem
Querschnitt der spinalen Trigeminuswurzel und medial von den
cerebellarwarts ziehenden Faserziigen aus dem Deiters schen Kern
wird gewissermaBen durcli das wachsende Corpus restiforme von
der Seite zusammengedriickt, und seine Teile weichen dem Druck
dorsalwarts aus. Der Deiterssche Kern stellt sich so mit seinem
groBten Durchmesser nicht mehr quer wie bisher, sondern fast genau
dorsoventral ein. Die Trapezfasein aus dem Eckkern des Akustikus
lassen sich jetzt als starke parallele Biindel weithin verfolgen
(Fig. 16). Sie ziehen zunachst genau ventralwarts, biegen dann
lateralwarts stark aus, um die Quintuswurzel zu durchbrechen, und
wenden sich hierauf wieder mehr medialwarts. Im ventralenFacialis-
kem erfahren sie zum groBten Teil eine geringe Richtungsablenkung
in aszendierendem Sinn. Auf proximaleren Schnitten sieht man
sie durch den Facialiskern hindurchtreten und nun, soweit erkenn-
bar, auf die obere Olive zu ziehen. Ihre Beziehungen zur oberen
Olive sind bei der diirftigen Entwicklung der letzteren schwer
festzustellen. Moglich ist durchaus, daB ein Teil von ihnen in der
Olive endet. Ein anderer Teil zieht dagegen offenbar iiber die Olive
weg der Raphe zu, um dort in zierlichen Bogen mit den ent-
sprechenden Fasem der anderen Seite zu kreuzen. Dieser Teil ihres
Verlaufes ist auf hoheren Schnitten etwas klarer zu iibersehen.
Von diesen Faserziigen ist mit ziemlicher Sicherheit ein
anderer abzutrennen, der an der auBersten Peripherie des Quer-
schnittes aus dem Corpus restiforme als diinnes Biindel ventralwarts
zieht und ebenfalls mit dem entsprechenden Biindel der anderen
Seite eine Kreuzung eingeht.
Nach der Kreuzung breiten sich die Trapezfasem etwas aus-
einander und enden anscheinend in einem sehr pragnanten Kern,
welcher unmittelbar an der ventralen Peripherie ziemlich dicht
neben der Raphe liegt und dem Nucleus trapezoides der Sauger
entsprechen diirfte (vgl. S. 25). Lateral von letzterem liegt ein
zweiter Kem, der wahrscheinlich dem unteren Kem der lateralen
Schleife entspricht und gleichfalls Trapezfasem aufnimmt.
Mustert man die Schnitte weiter cerebralwarts, so fallt im
dorsalen Teil auf, daB derKleinhirnstiel an seiner Basis anBreite ab-
nimmt. Diese Verschmalerung wird dadurch veruisacht, daB der
auBerordentlich starke Deiterssche Kern weiter cerebellarwarts,
riickt und daB das Grau des Ventrikelbodens und der Eckkern des
Monatsschrift f. Psychiatric u. Nenrologie. Bd. XXXIII. Heft 1. 3
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34 S inn. Beit rag znr Kenntms der Medulla oblongata der Vogel.
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Cochlearis immermehr zusammenschiumpfen,wahrendsich zugleicli
die Hauptmasse der Fasern des Corpus restiforme cerebellarwarts
verschiebt. Der Deiterssche Kern erfahrt auBerdem noch eine
eigentiimliche Umwandlung. Zwischen den starken Faserbiindeln,
welche er besonders an seiner medialen Seite cerebellarwai ts
entsendet und die offenbar eine Vestibularisbahn zweiter Ordnung
darstellen, tauchen zunachst vereinzelt sehr helle graue Inseln auf.
Diese haufen sicli dann rasch und bilden dorsal vom Deitersschen
Kern inmitten der Faserbiindel eine besondere Abteilung des Kerns,
welche mit dem Bechtereuischen Kerne identisch sein diirfte. Er
zeichnet sich durch seine auffallend helle Substanz aus und liefert
auf manchen Querschnitten sternformige Bilder, da von alien
Seiten Faserbiindel in ihn eintauchen. Die Biindel sammeln sich an
seiner medialen und dorsalen Seite zu machtigen Ziigen ins Klein-
hirn. Die von der ventralen Seite an ihn herantretenden Fasern
lassen sich zum Teil anscheinend ventral- und spinalwarts durch
die Hauptmasse des Deitersschen Kernes hindurch bis in die Nahe
jener zerstreuten grauen Inseln verfolgen, welche zum Deiters schen
Kern hinzugehoren, doch ist diese Beobachtung unsicher. Be-
merkenswert ist auBerdem ein Faserbiindel, welches sich medial an
dem noch zu beschreibenden sensiblen Trigeminuskern entlang zum
Bechterewschen Kern begibt (Fig. 17, i, vgl. S. 35).
Der Deiterssche Kern sendet, wenn der Bechterewsche auftritt ,
dorsalwarts ziehende Fasern auch an seiner lateralen Seite aus,
die sich im Bogen den Ziigen des nahen Corpus restiforme zu-
gesellen. Diese Fasern kommen tiefer aus dem Keminnem heraus,
wie denn iiberhaupt das Faserwerk im Innern des Kernes jetzt
deutlicher geworden ist. Doch bleibt im iibrigen seine Struktur
immer noch ziemlich verwaschen und seine Begrenzung unbe-
stimmt.
Das Areal der spinalen Quintuswurzel erfahrt in dieser Hohe
eine nicht unbetrachtliche Vermehrung sowohl der grauen Substanz
als der Faserquerschnitte. Es riickt gleichzeitig noch mehr an die
laterale Peripherie. Von dieser her dringen die sensiblen Wurzel-
biindel in das Quintusfeld ein und durchbrechen es in breitem
dor somedial warts gerichteten Zuge. Der Haup tan teil der Wurzel-
biindel tritt zu einem groBen, gut abgegrenzten Kern, der dorsal
von der grauen Masse des Nucleus tract, spinalis trigem. liegt und
den sensiblen Hauptkem des Trigeminus bildet. Dieser Kern
ist von der Peripherie nur durch eine schmale Faserschicht
getrennt. Bei einzelnen Vogeln ist er so machtig entwickelt
(vgl. z. B. Plegadis, Fig. 18), daB er sich liber das Niveau
des Rautenbodens erhebt. Er erinnert geradezu an den Lobus
trigemini (Nucl. terminalis trig.) mancher Fische 1 ). Der Angabe
Edingers, daB der frontale sensorische Trigeminuskern bei den
Vogeln viel weniger entwickelt sei, konnen wir also nicht zustimmen.
*) Vgl. z. B. Edinger. Vorlesimgen uber den Ban der nervosen Zentral-
organe. 6. Aufl. Fig. 63 (Scyllium).
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Sinn. Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 35
Auch Brandis liebt hervor, dali er zuweilen eine bedeutende Hervor-
wolbung bildet, z. B. bei einigen Enten 1 ).
Der ventralste Anteil der Wurzelbiindel zieht an diesem Kern
vorbei dorsomedialwarts weiter und strebt in dorsalkonvexem
Bogen dem dorsalen Rapheende zu. Dieser Anteil ist die gekreuzte
Trigeminuswurzel, die auch beim Vogel zum Teil motorisch sein
diirfte. Man konnte sie bei ihrer kraftigen Entwicklung mit der
Facia]iswurzel verwechseln, doch liegt sie nicht nur weiter proximal,
sondern auch im Querschnitt im Gegensatz zum Facialis ventral
vom spinalen Quintusfeld. Der sensible Hauptkern ist bei alien
Vogeln sehr gut ausgebildet, am starksten bei Sichler und Ente.
An Umfang ubertrifft er noch die groBen Akustikuskerne. Die
schwachste Entwicklung fand ich bei Ibycter. Seine Zellen sind
klein, aber zahlreich und liegen eng beieinander. Er ist ringsum
scharf abgegrenzt, nur gegen die spinale Wurzel hin ist die Grenze
verwaschen. Bei Plegadis ist allerdings auch diese Grenze durch
die zum Kern in der Ebene des Schnittes ziehenden Wurzelbiindel
scharfer markiert. Als selbstandiges Kerngebilde imponiert er, ab-
gesehen von seiner Ausdehnung, auch dadurch, daB er entweder
ganz oder doch mit seiner Hauptmasse mehr dorsal vom Wurzelfeld
liegt, wahrend das Kerngrau der spinalen Wurzel in distaleren
Ebenen in das Wurzelfeld selbst eingelagert erscheint Oder ihm mehr
ventral anliegt. Keinen Unterschied in der Starke zeigt bei den
verschiedenen Vogeln die kraftige gekreuzte Wurzel. Verfolgt man
diese proximalwarts, so stoBt man etwa an der Stelle, an der in
kaudaleren Schnitten das Facialisknie sich findet, auf eine kleine
Gruppe von Zellen, zu der einzelne Fasern in Beziehung zu treten
scheinen. Vielleicht entspricht diese Gruppe pigmentfreier Zellen
der Substantia ferruginea, deren Zellen bekanntlich auch bei den
Saugem mit Ausnahme des Menschen Pigment nicht enthalten.
Der groBte Teil der gekreuzten Wurzel diirfte jedoch dorsal an
dieser Zellgruppe vorbei zur anderen Seite hiniiberkreuzen. Eine
weitere Anzahl sensibler Wurzelfasern erweckt den Eindruck, als
zoge sie, ohne in Kernzellen eine Unterbrechung zu erfahren,
ventral am Hauptkern vorbei dem Kleinhim zu. Diese Partie ent¬
spricht ihrem Verlauf nach der cerebello-nuklearen Quintusbahn
Edingers. Das Fehlen einer Unterbrechung in Kernzellen ist nach
Edinger nur vorgetauscht, eine Moglichkeit, die auch nach unseren
Bildem zugegeben werden muB. Die Beobachtung der Fasern
ist dadurch erschwert, daB in gleicher Richtung immer noch
unzweifelhafte Trapezfasern aus dem kapitalsten Teil des
akustischen Eckkemes herunterziehen. Die Trapezfasern storen
auch die weitere Verfolgung des oben (S. 34) bereits erwahnten
Faserbiindels i, welches von der Seitenwand des Ventrikels ventro-
lateralwarts herabzieht und dann in die Nahe dieser cerebellc-
nuklearen Quintusbahn gelangt (Fig. 17). Wahrscheinlich ist es
als die Aquaduktwurzel des Quintus aufzufassen. Moglicherweise
>) 1. c. Bd. 44. Taf. 32. Fig. 5.
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36 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
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befindet sich unter den Fasern dieser Gegend und Richtung auch
noch ein weiterer besonderer Anteil, der als Faisceau en crochet
(Thomas, Russel) beschriebene Zug aus dem Dachkem zum
Akustikuskemgebiet und zur Haube. Isolieren laBt sich dieser
Faserzug auf unseren Bildem nicht.
Gut zu iibersehen ist beim Vogel der Uebergang eines recht
erheblichen Anteils der sensiblen Wurzelbiindel des Trigeminus
in das Querschnittsfeld der spinalen Wurzel. Es sind vorwiegend
die proximalsten Biindel, die sich an der Bildung dieser Wurzel be-
teiligen.
Beachtung verdient dann noch ein bei alien untersuchten
Vogeln vorhandener Faserzug k', der aus der Gegend des
Bechtereivs chen Kerns ventromedialwarts auf das dorsale Raphe-
ende zu zieht. Diese Fasern scheinen aus dem genannten Kern
selbst hervorzugehen. Es liegt nahe, sie als eine Bahn zweiter
Ordnung aus dem Bechterewschen Kern aufzufassen. Ventral von
ihnen verlaufen andere Biindel, die ventral vom Bechteretvschen
Kern lateralwarts ziehen. Sie sind auf Fig. 17 mit k bezeichnet
und entsprechen wahrscheinlich einem in neuerer Zeit ofter be-
schriebenen Biindel aus dem Flockenstiel, das am Boden des vierten
Ventrikels medialwarts zieht (vgl. z. B. Obersteiner).
Die motorische Quintuswurzel ist beim Vogel nicht immer in
demselben Verhaltnis entwickelt wie die sensible. Ihre Fasern
liegen der sensiblen Wurzel ventromedial an, erscheinen aber in
Querschnittsbildem erst in einer Hohe, in welcher der sensible
Hauptkem schon angeschnitten ist. Die kaudaleren Biindel
entstammen einem Kern, der sich in der Gegend des dorsalen
Facialiskemes anlegt und von diesem nicht immer sicher abzu-
grenzen ist 1 ). Auf Fig. 17 ist er mit NV m I bezeichnet. Eine
zweite grofiere Gruppe motorischer Quintusfasem entstammt einem
ziemlich umfangreichen Kern NV m II, welcher sich zuerst an
der ventralen Seite der motorischen Wurzel lateral von dem erst-
genannten motorischen Kern anlegt, bald aber auch auf die dorsale
Seite der Wurzel hiniibergreift.
Im ventralen Teil des Querschnittes hat der Schleifenkem in
dieser Hohe an GroJJe den Trapezkem nahezu erreicht. Man iiber-
sieht jetzt den Verlauf der Trapezfasern zwischen den beiden oberen
Oliven, sowie die Entbiindelung der peripheren Faserbiindel auch
im Schleifenkem. Dorsolateral von der Olive sammelt sich bereits
ein Feld quergeschnittener Fasern an, das weiter cerebralwarts
pragnanter hervortritt, die laterale Schleife.
Zusammenfassung.
1. Beim Uebergang des Riickenmarks zur Medulla oblongata
grenzt sich beim Vogel vom Hinterhorn ein ventraler Teil ab,
den wir als Mittelhorn bezeichnet haben. Von den Hinterstrangs-
1 ) Ich mochte auch noch nicht mit absoluter Sioherheit ausschlie L'cn.
daB er doch vielleicht zum Facialis gehort.
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Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 37
kernen sind die Oollschen erheblich starker als die Burdach&chen.
Konstant findet sich ein medianer Gollseher Kern. Femer tritt
im Hinterstrangsgebiet weiter proximalwarts eine bogenformige
graue Masse, das Promontorium, auf.
2. Der Vogel hat eine gut ausgebildete untere Olive von ahnlich
einfachem Bau wie die niederen Sauger. Ein starker Zug ventraler
peripherer Bogenfasem muB als Oliven-Kleinhirnbahn gedeutet
warden. Nebenoliven sind nicht konstant, die Pyramidenbahn,
wenn iiberhaupt vorhanden, nur rudimentar. Sie fiihrt wahr-
seheinlich nur Fasem der Hirnnerven und kreuzt proximalwarts
von der Schleifenkreuzung.
3. Der Hypoglossus hat einen ventralen und einen starkeren
dorsalen Kern.
4. Die Vaguswurzel tritt groBtenteils dorsal vom Feld der
spinalen Quintuswurzel aus. Eine Teilung des sehr stark ent-
wickelten Vaguskerns ist nicht moglich. Man kann nur einen
groBzelligen ventralen Teil abgrenzen, der vielleicht auch Hypo-
glossusfasern abgibt (vgl. S. 15). Als sicher kann eine Faser-
verbindung mit dem Nucleus ambiguus gelten, soweit dieser auf-
findbar. Die Glossopharyngeuswurzel liegt dorsal von der des
Vagus, ihr Kern lateral vomVaguskern. DieKreuzung desFasciculus
solitarius bezw. seiner Kollateralen findet man bei alien unter-
suchten Vogeln.
5. Der Nucleus lateralis extemus ist umfangreich und konstant.
Eine Teilung in einen dorsalen und ventralen Abschnitt ist nicht
moglich. Den Nucleus lateralis intemus bildet eine diffuse An-
haufung wenig zahlreicher zerstreuter Zellen. Als selbstandiges
Gebilde laBt sich nur bei einzelnen Gattungen (Rhea) der
Nucleus ambiguus nachweisen.
6. Der Cochlearis hat 3 Kerne, den groBzelligen, den klein-
zelligen und den Eckkern. Der Eintritt von Wurzelfasern in den
kleinzelligen Kern ist nicht leicht nachzuweisen, trotzdem ist sein
Zusammenhang mit dem Cochlearis unzweifelhaft, da er dem
groBeren Teil der Trapezfasern den Ursprung gibt. Ein kleinerer,
aber nicht unbetrachtlicher Teil der Trapezfasern entstammt dem
Eckkern, der vielleicht zum Teil dem vorderen Akustikuskern der
Sauger entspricht. Der grofizellige Kern, der dem Hauptkern des
sog. Tuberculum acusticum der niederen Sauger homolog ist, ist
An der Bildung des Trapezkorpers unbeteiligt, entsendet dagegen
starke Bogenfasern zur Raphe, die wir als ein Analogon der
Heldachen Bahn und der Striae acusticae der Sauger auffassen.
Kleinzelliger und Eckkern entsenden keine oder nur sparliche
derartige Bogenfasern. Zwischen dem gro'B- und kleinzelligen
Kern scheint eine umfangreiche Faserverbindung zu bestehen.
Ziige ins Kleinhirn sind nicht nachweisbar. Der Trapezkorper
ist bei alien Vogeln sehr gut entwickelt.
7. Als Endstatten des Vestibularis kommen die Kernsubstanz
der Formatio fasciculata, der Triangularkern, der Deitert sche und
der Bechterewsche Kern in Frage. Alle diese Kernmassen sind stark
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38 Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel.
ausgebildet. Relativ sparlich ist der Eintritt vonWurzelfasern in,den
dreieckigen Kern. Sicher besteht eine gekreuzte Wurze]. Alle Kerne
haben hochstwahrscheinlich Verbindungen zum Kleinhirn; sicher
existiert eine solche Faser verbindung beim Deiters&chen und
Bechtereiv schen Kern, am starksten bei letzterem.
8. Der Facialis hat 2 Kerne, einen ventralen und einen dorsalen,
wahrscheinlich auch eine gekreuzte Wurzel. Das Facialisknie ist
nicht zu einem Sagittalschenkel ausgezogen. Die austretende
Wurzel liegt im wesentlichen lateral von der spinalen Trigeminus-
wurzel.
9. Fur den Abducens laBt sich nur ein Kern nachweisen. Seine
Verbindung mit der oberen Olive, der Olivenstiel, ist bei alien
Vogeln auffindbar, aber diirftig.
10. Der Trigeminus hat einen sehr voluminosen und zellreichen
sensiblen Hauptkern. Namentlich bei Plegadis ist er so enorm
entwickelt, daB er sich seitlich weit iiber das Niveau des Rauten-
bodens erhebt und geradezu an den Lobus nervi trigemini mancher
Fische erinnert. Die spinale Wurzel entspricht derjenigen der
Sauger. Die gekreuzte Wurzel ist stark. Eine Verbindung zum Klein-
him laBt sich mit groBer Wahrscheinlichkeit identifizieren, weniger
sicher die Substantia ferruginea. Der motorische Quintus hat
wahrscheinlich zwei Kerne, von denen der eine dem Hauptkern
der Sauger entspricht, wahrend der andere die Stelle des dorsalen
Facialiskernes in proximalen Ebenen einnimmt.
11. Von weiteren Kerngebilden findet sich beim Vogel konstant
und gut differenziert der Saulenkern der Raphe, die obere Olive,
der Trapezkern und der Kern der lateralen Schleife.
Ich beschlieBe diese Arbeit, indem ich meinem hochverehrten
Lehrer, Herrn Geheimrat Ziehen , auch an dieser Stelle fur die rege
Forderung meiner Untersuchungen aufrichtigen Dank ausspreche.
Literatur - Verzeichnis.
1. E . Bi8choff , Zur Anatomie der Hinterstrangskerne bei Saugetieren.
Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 1899. 2. F. Brandis . Untersuchungen liber das
Gehirn der Vogel. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 41. 3. Drdseke , Beitrag zur
vergleichenden Anatomie der Medulla oblongata der Wirbeltiere. speziell
mit Riicksicht auf die Medulla oblongata der Pinnipedier. Monatsschr. f.
Psych, u. Neurol Bd. VII. 4. Edinger . Vorlesungen liber den Bau der nervosen
Zentralorgane. 6. Aufl. 1900. 5. Friedlander , Untersuchungen iiber das
Riickenmark und das Kleinhirn der Vogel. Neurol. Zbl. 1898. No. 8 u. 9.
6. S . Ph. Gage , Proceed. Amer. Microsc. Soc. 1895. Bd. 17. S. 185—238.
7. v. KoUnker . Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Leipzig 1893.
8. Kre%8 . Zur Kenntnis der Medulla oblongata des Vogelgehirns. Dissert.
Zurich 1882. 9. Meizler , De medullae spinalis avium textura. Inaug.-Dissert.
Dorpat 1855. 10. Obersteiner , Anleitung beim Studium des Baues der
nervosen Zentralorgane. 1912. 11. Ramon y Cajal, Estructura de los centros
nerviosos de las aves. Revista trimestral de histologia normal y patologiea.
Madrid 1888. 12. P. Schilpbach, Beitrage zur Anatomie und Physiologie der
Ganglienzellen im Zentralnervensystem der Taube. Ztschr. f. Biologie. 1906.
13. Stieda , Studien iiber das zentrale Nervensystem der Vogel und Saugetiere.
Ztschr. f. wissenschaftl. Zoologie. Bd. 19. 14. Derselbe, Studien iiber das
zentrale Nervensystem der Wirbeltiere. Ztschr. f. wissenschaftl. Zoologie.
Bd. 20. 15. Wallenberg , Die basalen Aeste des Scheidenwandbiindels der
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
Sinn, Beitrag zur Kenntnis der Medulla oblongata der Vogel. 39
Vogel (Rami basales tractus septo-mesencephalici). Anat. Anz. Bd. XXVIII.
1906. 16. Derselbe, Neue Untersuchungen iiber den Himstamm der Taube.
Anat. Anzeiger. Bd. XXIV it. XXV. 1903—1904. 17. Derselbe, Der Ur-
spnmg des Tractus isthmo-striatus (oder bulbo-striatus) der Taube. Neurol.
Zbl. 1903. 18. Derselbe, Eine zentrifugal leitende direkte Verbindimg der
frontalen Vorderhirnbasis mit der Oblongata (und Riickenmark?) bei der
Ente. Anat. Anzeiger. Bd. XXII. 1902. 19. Derselbe, Eine Verbindung-
kaudaler Himteile der Taube mit dem Striatum (Tractus isthmo-striatus
oder bulbo-striatus ?). Neurol. Zbl. 1898. 20. K. Westphal, Ueber Akustikus-.
Mittel- itnd Zwischenhirn der Vogel. Dissert. Berlin 1898. 21. E . AT.
Williams, Arbeiten aus dem neurologischen Institut in Wien. 1908. Bd. 17.
S. 137. 22. Th. Ziehen , Makroskopische und mikroskopische Anatomic des
Ruckenmarks. Bardelebens Handb. d. Anat. d. Menschen.
Abkurzungen.
a. == faserarmes Feld an der ventrolateralen Peripherie, b. = Dekus-
sationsfasern der Raphe. B. = Bechterews cher Kern. Bo. = Bogenzug an der
ventralen Peripherie, c. = gekreuzte Vaguswurzel. C. a. = Vorderhom.
C. m. = Mittelhom. C. p. = Hinterhorn. C. tr. = Corpus trapezoides.
d. = Fasem aits dem Vaguskem in der Richtung auf die spinalo Quint us-
wurzel imd den Nucleus lateralis externus. D. = Deitersscher Kern.
0. = wahrscheinlich afferente Fasern zum Vaguskern. E. — Eckkern des
Akustikus. f. = absteigende Vestibulerbahn. F. f. — Formatio fasciculate.
F. 1. p. = Fasciculus longitudinalis posterior. F. m. a. — Fissura mid.
anterior. Fn. a. = Vorderstrang. F. s. — Fasciculus solitarius. F. S. dec.
= Kollateralenkreuzung des Fasc. solitarius. g. = Faserfeld zwisclien
Substantia Rolandi und Mittelhom. H. =* Heldsc.he Bahn. h. = Stiel-
fasem des Nucleus ambiguus. i. = wahrscheinlich Aquaduktwurzel des
Trigeminus. k. = Flockenstielfasern ? k' = sekundare Bahn aus dem
Bechtereivschen Kern ? K S B a = aufsteigende (dorsale) Kleinhirnseiten-
strangbahn (Fleehsigsches Biindel). K S B d. = Kleinhirnseitenstrang-
bahn, wahrscheinlich absteigend (vgl. S. 3). 1. = Trapezfasem + cerebello-
nukleare Trigeminusfasem 4- Faisceau en crochet. L. = Lissauersche Rand-
zone. N. a. = Nucleus ambiguus. N. B. = Burdachacher Kern. N. G. ■
Goll&cher Kern. N. G. m. = medianer (roW>cher Kern. N. 1. — Nucleus
lateralis. N. 1. e. = Nucleus lateralis externus. N. 1. i. = Nucleus lateralis
intemus. N. lm. 1. = lateraler Schleifenkern. N. R. = Saulenkem der Raphe.
N. r. t. = Nucleus reticularis tegmenti. N.tr. — Tri^ngularkem des Akustikus.
N. trap. — Trapezkem. N. V. m. = motorischer Trigeminitskern (I und II).
N. V. S. = sansibler Hauptkern des Trigeminus. N. V. sp. = Kern der spinalen
Trigeminuswurzel. N. VI. == Abducenskern. N. VII. d. = dorsalor Facialis-
kern. N. VII. V. = ventraler FacialLskern. N. IX. = Keni des GIosso-
pharyngeus. N. X. = Kern des Vagus. N. XII. d. = dorsaler Hypoglossus-
kem. N. XII. V. = ventraler Hypoglossuskem. 0. = groBzelliger Cocli-
leariskern. 01 . i. = untere Olive. 01 . i. d. — dorsales Blatt der unteren
Olive. 01 . i. V. = ventrales Blatt der unteren Olive. Co. = Nebenoliven.
Ol. S. = obere Olive. Ov st. = Stielfasem der oberen Olive, p. — Pyra-
midenfasern ? P. = kleinzelliger Cochlearlskern. Pro. = Promontorium.
Pr. r. = Processus reticularis. Py. = rudimentare Pyramiden ? r. = Faier-
biindel zwischen Form?atio fasciculata und kleinzelligem Cochleariskern.
R. = Raphe. S. f. = Substantia ferruginea ? S. R. = Substantia Rolandi.
V. = Vorwall. V. m. = motorischer Trigeminus. V. s. = sensibler Trige¬
minus. V. sp. = spinale Wurzel des Trigeminus. VI. = Nervus abducnes.
VII. = Nervus facialis. VIII. C. = Ner\ r us cochlearis. VIII. v. = Nervus
vestibularis. I X. = Nervus glossopharyngeus. X. = Nervus vagus.
XII. = Nervus hypoglossus.
Fig. 1 und 11 stollen Sclmitte von Rhea. Fig. 2 einen Schnitt von
Cycnus, Fig. 5, 6 und 9 Schnitte vom Huhn. Fig. 10 und 14 Schnitte
von lbycter. Fig. 12 und 19 Schnitte von der Ente, Fig. 18 einen Schnitt
von Plegadis, alle anderen Figuren Schnitte von Anhinga dar.
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40 S c h o e n h a 1 s , Uober einige Falle von induziertem Irresein.
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(Aus der Psychiatrischon Universitatsklinik Jena.
[Direktor: Geheimrat Professor Bin stranger.])
Ueber einige Falle von induziertem Irresein.
Von
Oberarzt Dr. SCHOENHALS,
kommandiert zur Klinik.
Der Umstand, dali eine ganze Familie, Mutter und drei Solme,
in der hiesigen Klinik zur gleichen Zeit wegen der gleichen Seelen-
storung behandelt wurde, gibt mir Veranlassung, diesen nach meh-
reren Richtungen hin interessanten Fall und einige im Laufe der
Jahre ebenfalls hier zur Beobachtung gelangte Falle von in-
duziertem Irresein zur Verbffentlichung zu bringen.
Aus einer benachbarten Stadt des GroBherzogtums wurde auf bezirks-
arztliohes Zeugnis der 27 jahrige Landwirt Gustav K. in die hiesige Klinik
eingeliefert, indem zugleich im amtsarztlichen Attest mitgeteilt wurde, daB
auch die Mutter und die beiden Briider des Eingelieferten gemeingefahrlich
geisteskrank seien und in den nachsten Tagen gleichfalls eingeliefert
werden wiirden, nachdem gegen sie der Antrag auf Entmiindigung gestellt
worden ware. Der Grund zu dieser MaBnahme war folgender, wie sich aus
dem pfarramtlichen Gutachten, welches nach einer sehr nachahmenswerten
Gewohnheit im GroBherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach den bezirks-
arztlichen Zeugnissen bei der Einlieferung beigefiigt wird, ergibt:
Eines Tages kam die Mutter des Patienten, die Witwe K.. zum Pfarrer
imd meldete ihm an, dali sie nebst ihren drei Sohnen aus der Gegend fort-
ziehen wiirden, weil sie vom ganzen Dorfe verfolgt imd gehetzt wiirden. So
sei z. B. im Hause „Gift gestreut“, das sich durch einen immerwahrenden
„Leiohengeruch“ bemerkbar mache. Der Pfairer begab sich darauf mit
Frau K. in deren Gehoft. Bei seinem Eintritt fand er die Familie ziemlich
triibselig um denTisch sitzend. Der alteste Sohn, jener zuerst eingelieferte
Gustav K., bestatigte dem Pfarrer, daB iiberall im Hause von unbekannter
Hand „Gift gestreut“ sei, und zeigte auf Verlangen demselben die Spuren
an mehreren Mehlsacken und an dem staubigen, rufligen Kiichenfenster,
fiihrte den Pfarrer dann in die Schlafstube, wo angeblich ein „deutlicher
Leichengeruch“ bemerkbar sein sollte, und sprach auch sein MiBtrauen
gegen die Mutter und die von ihr bereiteten Speisen aus.
Bis zum Abend hatten dann die Briider ein von Gustav K. auf der
Kasseler landwirtschaftlichen Ausstellung aufgelesenes Schriftchen (iiber
Peru-Guano) und einen dort gekauften Anzug im Garten vergraben . Sie
fiihlten sich darauf freier und waren im Begriff, noch weiter in der Art
„in dem Hause aufzuraumen 44 , indem sie mit Hilfe der Mutter allerlei Sachen,
Kleidungsstucke, Ackergeratschaften im Garten vergruben und in den
Brunnen warfen.
Der Pfarrer, sofort das Krankhafte dieses Gebarens erkennend, ging
mit dem Gustav K. zum Bezirksarzt, welcher die Einweisung desselben in die
hiesige Klinik und der iibrigen Familie in das Eisenacher Krankenhaus in die
Wege leitete, von wo letztere hierher iibergefiihrt wurden.
Derselbe Pfarrer gibt dann auch in dankenswerter Weise von seiner
Kenntnis der Familie K. und deren Vorfahren folgenden Bericht, der vom
Lehrer des Ortes noch durch untenstehenden Stammbaum vervollstandigt
mirde.
Gougle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
S c h o e n h a U . Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 41
Von den Vorfahren mutterlicherseits ist der GroBvater des Patienten
lange Jahre Schulze gewesen, von dem die alteren Leute noch heute mit
groBer Achtung reden, und die Familie K. wird daher heute noch allgemein
im Dorfe „Schulzens“ genannt. Von der GroBmutter mutterlicherseits ist
nichts, was auf eine geistige Abnormitat schlieBen lieBe, bekannt. Die aus
dieser Ehe entsprossenen Sohne 1—5, sowie die Tochter No. 7 waren geistig
zwar nicht hervorragend, aber gesund: stille Leute, die ihre Arbeit ver-
richteten, sich des beaten Rufes erfreuten, miiBig und niichtern, gutmiitig,
aufriclitig und ehrlich in ihrer Gesinnung. Korperlich schienen sie etwas der
Frische und Elastizitat zu entbehren (wie der Lehrer schreibt); besonders
aber hatte der Vater des Patienten, Johannes K. (No. 6) etwas Mattes in
seinem Wesen.
Eine wesentlich starkere Belastung findet sich auf miitterlicher Seite;
der GroBvater mutterlicherseits war ausgesprochener Alkoholiker, streit-
siichtig, tyrannisch und soli im Wirtshaus nach einem Streite mit seinem
Sohne plotzlich gestorben sein. Seine Frau, die GroBmutter mutterlicherseits
wurde allgemein als tiichtige, brave Hausfrau gelobt, die sehr unter der
tyrannischen Art ihres Mannes zu leiden gehabt hatte.
Die vier aus dieser Ehe entsprossenen Kinder, von denen die Mutter
imserer Patienten die zweitalteste ist, waren a lie nicht normal. Die alteste
Tochter (la) war leutescheu und geistig beschrankt, zeigte sich fast nie in der
Oeffentlichkeit. Einer der dortigen Einwohner gab an, daB er sie wahrend
seines 19 jahrigen Dortseins nur zweimal zu sehen bekommen habe. Die
Mutter unseres Patienten, Anna Katharina (2a), wird als ehrgeizige, geld-
stolze, dabei aber strebsame, fleiflige Hausfrau geschildert. die sich jedoch
scheu von den anderen Frauen des Dorfes femhielt und bei der ein sehr tnifi-
trauisches Wesen , sowie eine gewisse geistige Beschrankt heit auffiel. Der
nachfolgende Bruder (3a) war ebenfalls leutescheu, sprach fast niemals
jemand an, dankte nicht, wenn er gegriiBt wurde, hielt sein Anwesen im
groBen und ganzen gut in Ordnung, schloB aber seine Familienmitglieder von
der AuBenwelt ab. Niemand mochte ihn leiden. Dabei war er der Familie
gegeniiber aufbrausend imd herrisch. Er ist eines plotzlichen Todes ge¬
storben. Die jungste Schwester (4a) der Mutter lebt als imheilbare Geistes-
kranke in einer hiesigen Pflegeanstalt.
Ueber die Patientin selbst wird berichtet, daB sie die einklassige Volks-
schule besucht habe und dann die Fortbildungsschule. Der Aelteste besonders,
Gustav, war ein gut begabter Junge, der meist die Zensur 1 erhielt, die anderen
waren nicht gut begabt. Die ganze Familie hielt sich von den Dorfbewohnern
abgesondert, was auch darin zum Ausdruck kam, daB das Hoftor fast stets
verschlossen war.
Bei Gustav K., dem zuerst eingelieferten Familienmitglied und altesten
Sohne, scheinen schon langere Zeit Verfolgimgs- und Beziehungsideen be-
standen zu haben. Er gibt bier an, daB die Dorfbewohner der Familie schon
scets nicht wohl gesinnt seien: „Das Vieh werde behext, so daB es nicht
ziehen wolle; beim Pfliigen werde er des ofteren beschimpft.“ In ein akutes
Stadium ist aber anseheinend diese latente Geistesstorimg nach dem Be-
suche der Kasseler landwirtschaftlichen Ausstellung im Juni 1911 getreten.
Auf der Riickfahrt von dieser Ausstellung, wo der sonst sehr zuriickgezogen
lebende Menseh nun plotzlich eine Unmenge neuer, verwirrender Eindriicke
zu verarbeiten gehabt hatte, fiel ihm auf dem Boden seines Abteils im Zuge
ein Fleck auf, welcher nach seiner Meinung einen liblen Geruch ausstromte.
Damals sei, wie er angab, zuerst der Gedanke gekommen, daB man ihm nach
dem Leben trachte und dieser Fleck von einer von den Feinden hinge-
gossenen giftigen Fliissigkeit herriihre, die ihn hatte betauben sollen. Auch
an der schon angefiihrten Idee, daB seine Feinde zu Hause Gift gestreut
hatten, hielt er in der ersten Zeit mit Zahigkeit feat.
Korperlich fand sich bei dem schlanken,gesund aussehenden 27jahrigen
Menschen nichts Besonderes. Der etwas eckige, 59 cm im Umfang messende
Schadel zeigte keine auffallenden Degenerationszeichen. Die inneren
Organe waren gesimd. Am Nervensystem fanden sich beiderseits gleiche,
mittelstarke Sehnen- und Hautreflexe. Die Pupillenreaktion war ungestort.
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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 43
Wahrend er in der ersten Zeit die eingangs erwahnten Wahnideen fest-
hielt und auch gelegentlich Stimmen hdrte, oft unruhig und angstlich war
und in dieser Period© eine Unmenge hypochondrischer Ideen auflerte, zeit-
weise auBerordentlich erregt wurde, unter dem Verlangen seiner sofortigen
Entlassung eine drohende Haltung annahm, die aber bald in weinerliche
Stimmung umschiug, kam er doch allmahlich zu einer gewissen Krankheits-
einsicht, korrigierte seine Wahnideen, die sehr wechselnde Stimmung wurde
gleichmafiiger. Er bat ruhig und sachlioh um seine Entlassung, welche ihm,
da er in der letztenZeit eigentlich nur noch ein etwas verschrobenes, barockes
Wesen darbot, aber in der Anstalt unter Aufsicht tiichtig arbeitete, schlieB-
lich mit Einwilligung des Vormundes — er war in der Zwischenzeit ent-
miindigt worden — in der Form der vorlaufigen Beurlaubung gewahrt
wurde, ein Modus, der seine sofortige Wiedereinlieferung bei auftretender
Verschlimmerung ohne weitere Formalitaten ermoglicht.
Der 22 jahrige Bruder Reinhold K., welcher ebenfalls korperlich
kraftig und gut genahrt war, am Nervensystem nichts Auffalliges zeigte,
bot bei einer genaueren Intelligenzpriifung eine gewisse geistige Schwache
dar, besonders was die Urteilsfahigkeit betraf. Er auBerte bei seiner Auf-
nahme die gleiehen wahnhaften Ideen der Verfolgung und Vorgiftung wie
der altere Bruder. Auch er war fest davon uberzeugt, daB irgendwelche
Feinde im Dorfe Gift im Hause gestreut hatten, daB das Vieh verhext
worden sei; denn anders konne er es nicht erklaren, daB ein Ochse plotzlich
nicht mehr ziehen wolle und sich hinlege. Er gibt zu, mit Mutter und
Briidern Kleidungsstiicke, die „wie Leichen rochen 44 , teils vergraben, teils mit
Ackergeratschaften in den Brunnen geworfen zu haben, ,,weil sonst der-
jenige, der diese Kleidungsstucke angezogen hatte, sicher hatte langsam
absterben rniissen 44 . Die Kleidungsstucke gehorten zum groBten Teil^dem
alteren Bruder; dieser habe sie auf der Ausstellung in Kassel getragen. Er
gibt femer an, er und die ganze Familie hatten Hans und Gegend verlassen
wollen, wenn nicht ihre Internierung dazwischengekommen ware. Ja sein
Bruder habe sogar das ganze Anwesen niederbrermen wollen. Manche Nachte
hatten sie alle nicht schlafen konnen des iiblen Geruchs wegen. Sie seien
manchmal fast betaubt gewesen. Dann habe die Mutter mit den drei Sohnen
das ganze Haus von oben bis unten durchsucht, hatte aber nichts we iter ge-
funden als hier und da ein Haufchen, das wie Pulver aussah. Dieses sei auch
in das Essen gefalien und habe es vergiftet, so daB sie es oft hatten weg*
werfen rniissen. Von ihm wurde auch ein bestimmter Nachbar, der Bauer D.,
als derjenige bezeichnet, welcher die ganzen Feinde im Dorfe aufhetze, und die
Mutter habe dem jiingsten Bruder schon oft zugeredet, dessen Sohn, den
kleinen D., ,.zu erschlagen, wenn der Geruch imd die Schmahreden nicht
aufhorten 44 . Auch der Biirgermeister ist ihr Feind und ,,vom kleinen D. ( !)
aufgehetzt 44 .
Interessant war es, wie bei wiederholten Unterredimgen und Fragen des
Patienten dieser allmahlich die Wahnideen nicht mehr als eigene Wahr-
nehmungen vorbrachte, sondern die Beobachtimgen des anscheinend in der
Familie die groBte Autoritat genieBenden alteren zuerst erkrankten Bruders
zu den seinigen gemacht hatte, indem er stets, wenn einer der geheimnis-
vollen Vorgange in Zweifel gezogen wurde, antwortete: ,,Gustav hat es doch
gehort, Gustav hat es doch gerochen 44 , und schlieBlich kamen ihm doch
Zweifel, ob er selbst wohl die von ihm und seinem Bruder angegebenen
Wahrnehmungen wirklich gemacht habe, bis er endlich die Wahnideen voll-
kommen korrigierte und den alteren Bruder fur krank hielt und alle diese
Vorgange im elterlichen Hause als einen AusfluB dessen geistiger Storung
betrachtete. Auf die Frage, wie er denn zu solchen Einbildiingen gekommen
sei, antwortete er: „Wir haben das auch alles gerochen und an die Ver-
folgungen gedacht, weil Gustav es sagte, weil er doch der Alteste ist und die
Leitung hat.“
Auch Reinhold K. wurde nach Abgabe eines Gutachtens, in welchem
ausgefuhrt wurde, daB die Geiste3storung zwar abgeklungen sei, aber die an-
geborene Urteilschwache, auf deren Boden sie entstanden sei, auch noch
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44 Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein.
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weiterhin bestehen bliebe, wegen Geistesschwache im Sinne des § 6 BGB.
entmiindigt.
Der jiingste Sohn, Amo K.. 18 Jahre alfc. welcher korperlich nichts Ab-
nomies, intellektuell ebenfalls eine gewisse Urteilsachwaohe darbot, machte
im gro&en und ganzen dieselben Angaben wie sein vier Jahre alterer Bruder.
Er korrigierte noch schneller und konnte bereita nach vier Wochen wieder
entlassen werden. Es wurde die Diagnose Debilitat und psychische Infektion
gestellt.
Die Mutter schliefilich, 62 Jahre alt, ist ebenfalls etwas debil, korper-
lieh gesund, hielt sieh nicht fur krank, teilte in Bezug auf die Wahn- und
Yerfolgungsideen ganz die Anschauungen ihres altesten Sohnes, doch war sie
lange nicht so erregt, stellte ihre krankhaften Vorstellungen gar nicht in den
Vordergrund, verhielt sich hier geordnet und konnte ebenfalls bald gebeseert
entlassen werden.
Wenn man zuerst einmal den Stammbaum betrachtet, so ist es
interessant, zu sehen, wie einerseits die ganze miitterliche Familie
als Deszendenten eines Alkoholikers in der Familie alle geistig
abnorm sind, bei einigen sich diese Abnormitat bis zum ausge-
sprochenen Schwachsinn gesteigert hat.
Weiterhin sehen wir, daB hier als Eltern unserer Patienten zwei
originar verschrobene, scheue, miBtrauische Menschen zusammen-
treffen und daB durch diese konvergente Belastung eine Geistes-
krankheit resultiert, welche sich ganz in der paranoischen Ge-
dankemichtung der Eltern bewegt.
Femer ist es moglich, in diesem Falle den Mechanismus geistiger
Infektion zu studieren. Wie der zweite Bruder hier angab und schon
oben erwahnt wurde, waren ihm niemals Zweifel an der tat-
sachlichen Grundlage der von Gustav geauBerten Verfolgungs-
und Beeintrachtigungsideen gekommen, weil dieser als der Aelteste
die Leitung des Haushalts hatte, die Landwirtschaft besorgte und
eine groBe Autoritat besaB. Erwahnt ist schon worden, daB die
ganze Familie mehr oder weniger urteilschwach war und daB sie
alle in der gleichen Weise wie der zuerst erkrankte alteste Bruder
erblich belastet waren.
Wir haben also eine suggestive Beeinflussung mehrerer dis -
ponierter, geistig minderwertiger Individuen durch den — Autoritat
und Einflup geniefienden — Geisteskranken, dessen krankhafte Wahn -
ideen als solche zu erkennen ihre kritische Veranlagung nicht aus -
reichte.
Will man nun den Fall dieser Familienerkrankung klassi-
fizieren, so muB man sich nochmals klar machen, daB die Frage
der Uebertragung geistiger Erkrankungen von einer Person auf die
andere — also das induzierte Irresein — im Laufe der Zeit eine
ziemliche Wandlung erfahren hat. Auch jetzt sind noch nicht die
Akten endgiiltig darxiber geschlossen, was strenggenommen zum
induzierten Irresein gerechnet werden soil.
In der ziemlich umfangreichen Literatur sind eine Menge Falle
beschrieben, die heute nicht mehr dazu gerechnet werden wiirden.
Besonders Schonfeldt hat in diesem Sinne den Begriff einzuschranken
versucht, indem er den Satz aufstellte, daB es nicht geniige, wenn
z. B. zwei Personen gleichzeitig unter den gleichen Pradispositionen
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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 45
geistig erkrankten, sondern es miisse die Erkrankung des einen in dei-
cies anderen ihre spezifische Ursache haben.
In demselben Sinne auBert sich auch Weygandt. Noch weiter
. geht Schonfeldt aber in seiner Einschrankung, wenn er verlangt, daB
nur das strenggenommen zum induzierten Irresein zu rechnen ist,
wenn nach Trennung des zuerst erkrankten A. von dem induzierten
B. die Psychose des letzteren sich auch nach der Trennung unab-
hangig weiter entwickeln und ausgebaut werden soil.
Eine wesentlich weitere Umgrenzung des Begriffs zeigt die
franzosische Auffassung, wie sie von Regis , Marandon de Montyel
u. A. interpretiert wird. Sie unterscheiden drei Forraen:
1. Folie simultanee,
2. Folie imposee,
3. Folie communiquee.
Die erste Form wiirde dem Falle entsprechen, daB zwei Per-
sonen sich unter denselben schadigenden Ursachen dieselbe psy-
chische Erkrankung zuziehen. Es fehlt hier vollstandig die Beein-
flussung des einen durch den anderen, also der innere Zusammen-
hang beider Erkrankungen.
Bei der Folie imposee werden die Wahnideen des A., welcher
geisteskrank ist, auf B. iibertragen, der infolge einer moralischen
oder intellektuellen Schwache dieselbe annimmt, aber sobald eine
Trennung der beiden vorgenommenen wird und der EinfluB des
intellektuellen Uebergewichts aufhort, davon ablaBt.
Die dritte Form der Franzosen, die Folie communiquee, wiirde
mit dem von Schonfeldt, Wollenberg, Weygandt geforderten engeren
Begriffe sich in der Hauptsache decken: Ein Geisteskranker, A.,
iibertragt seine krankhaften Ideen auf B., der sie zu den seinigen
macht und sie auch nach Trennung von A. selbstandig in demselben
Sinne weiterentwickelt.
Diese franzosische Einteilung hat jedenfalls den Vorzug des
Praktischen, wenn auch anerkannt werden muB, daB bei der ersten
Form, der Entwicklung zweier Geisteskrankheiten imter denselben
auBeren Bedingungen, von einem induzierten Irresein eigentlich
nicht die Rede sein kann.
Um auf unsere Familie zuriickzukommen, so ware solche ein
typisches Bild fiir die sogenannte Folie imposee. Fiir letztere
wurde in der hiesigen Klinik noch ein anderer typischer Fall
beobachtet.
Es handelte sich um einen 34 jahrigen Agenten Max B., der sich iin
Jahre 1905 sechs Wochen zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand in der
hiesizen Klinik aufhielt und hier exkulpiert wurde. Das Gutaohten, das ich
der Gute des Herrn Professor Berger verdanke und in dem alles Wesentliohe
enthalten ist, mag hier folgen.
Der Agent Max B., geb. am 8. April 1871 zu Schm. ist, soweit bekannt,
erblich nicht belastet. Sein Vater, der Tischler war, starb in hohem Lebens-
alter an einem Nierenleiden; seine Mutter erlag gleichfalls hochbetagt
einem Schlaganfall.
Ueber seine Entwicklung in der friihesten Jugend ist nichts bekannt.
Als Kind hatte er etwa im 7. Lebensjahre Diphtherie und hat im gieiohen
Alter einen Sturz auf den Kopf erlitten, indem er von einer Scheune herabfiel.
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S c h o e n h a 1 s . Ueber einige Ftille von induziertem Irresein.
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Er war immer etwas schwachlich, hat sich jedoch geistig gut entwickelt und,
wie er selbst angibt, auch in der Sohule sehr gut gelernt. Nach seiner Ent-
lassung aus der Sohule beschaftigte er sich zunachst als Zigarrenmacher,
gab aber schon nach ca. sechswochiger Arbeit diesen Beruf aus gesund-
heit lichen Riicksichten auf und trat bei einem Schuhmacher in die Lehre; er
blieb bei diesem drei Jahre lang, bis er ausgelemt hatte. Auci diesen Beruf
lieB er bald wieder fallen, well er wegen seiner schwachlichen Brust das
Sitzen nicht vertragen konnte, und fand in G. in einem Manufakturwaren-
geschaft eine Stellung als Hausdiener, die er ungefahr ein Jahr innehatte.
Infolge eines Sturzes hatte er sich eine Quetschung des Brustkastens zu-
gezogen, wurde etwa * 4 Jahr lang im Krankenhause zu G. behandelt und
gebessert entlassen. Nach seiner Wiederherstellung ging er nach W. und
arbeitete dort als Schuhmacher. Doch auch hier hielt er nur kurze Zeit aus
und trieb sioh dann auf der Wanderschaft ein Jahr lang in Deutschland, der
Schweiz, Siidfrankreich, Oberitalien und Oesterreich umher, arbeitete aber
nur gelegentlich kurze Zeit. Dann arbeitete er ein halbes Jahr lang in G. in
Oberschlesien als Schuhmacher, in B. bei W. einige Wochen und kehrte im
Jahre 1894 wieder in seine Heimat nach G. zuriick. Dort nahm er zunachst
seine Tatigkeit als Schuhmacher wieder auf imd war zwei Jahre bei einem
Schuhmacher in Stellung, bis er sich im Jahre 1896 verheiratete. Er lieB sich
darauf als selbstandiger Schuhmacher in G. nieder, konnte sich jedoch nur
ein Jahr lang halten und trat dann als Arbeiter in eine Fabrik ein, in der er
bis zum Jahre 1898 tatig war. 1898 gab er auch diese Stellung wieder auf
und ubernahm Agenturen; er vermittelte Geldgeschafte u. s. w. Da er auch
hierbei ein geniigendes Auskommen nicht finden konnte, ging er im Jahre
1900 in die chemische Fabrik nach Gr. a. M., in der er bereits nach y 4 Jahre
eine schwere Anilinvergiftung sich zuzog. Nach dem Krankenjournal des
Stadtischen Krankenhauses zu H. a. M. wurde er dort am 14. November 1900
durch Vermittlung der Polizei eingeliefert, nachdem er in H. (seinem Wohn-
orte) auf dem Bahnhofe bewuBtlos zusammengebrochen war. Sein Zustand
war ein sehr bedenklicher, besserte sich jedoch so weit, daB er schon am
26. deaselben Monats auf sein Drangen hin entlassen werden konnte. Er
wollte zu seiner Familie nach G. heimreisen, obwohl noch sehr ausgepragte
Kopfschmerzen, Schwindelgefiihl und Uebelkeit bestanden. Auf dieser Reise
nach G. iiberfielen ihn noch zweimal kurze Ohnmachten, und bei seiner
Ankunft war er noch so schwach, daB er sich in seine Wohnung fahren lassen
muBte. Er lag dann langere Zeit in G. krank und wurde am 7. Mai 1901 auf
Veranlassung des behandelnden Arztes auf Kosten der Thiiringischen Ver-
sicherungsanstalt zu W. in einem Erholungsheim zu Kl. untergebracht, aus
demeram 6. Juli 1901 gebessert entlassen wurde; jedoch war, wie aus den
uns zur Verfiigung gestellten Akten der Thiiringer Versicherungsanstalt
hervorgeht, sein Zustand immer noch ein derartiger, daB ihm die Invaliden-
rento, die er jetzt noch erhalt, bewilligt werden muBte. Seit 1903 versuchte
er sich durch Agenturen einen Ncbenerwerb zu verschaffen; jedoch scheint
es, wie der Stadtratskommissar fur die Invalidenversicherung in G. am
29. Juni 1904 der Thiiringer Versicherungsanstalt mitteilt, daB sein Ver-
dienst aus diesen Geschaften nur gering gewesen sei. Er will nur wenig Al-
kohol zu sich genommen und mafiig geraucht haben.
Im November 1904 erhielt B. von dem an Verfolgungswahn (Paranoia)
leidenden und wegen dieser chronischen Geisteskrankheit entmiindigten
Dr. Hans L. in G. den Auftrag, ihm gegen ein entsprechendes Honorar
Material zu verschaffen, welches die Tatsachlichkeit der Verfolgungen des
Dr. L. von seiten seiner Umgebung nachweisen und so die Aufhebung der
Entmimdigung ermoglichen sollte. B. hat sich von diesem Zeitpunkte an,
besonders da diese Angelegenheit bei dem groBen Vermogen des Auftrag-
gebere sehr gewinnbringend zu werden versprach. eingehend mit dieser Aid-
gabe befaBt, zahlreiohe Besprechungen mit dem Kranken gehabt und auch
dfters die Nachte in dem Hause desselben zugebracht, um seine Beobachtun-
gen anstellen zu konnen. Der Kranke selbst hat ihm bei diesen Zusammen-
kiinften, ebenso wie auch seine Gattin, die an der gleichen Krankheit zu
leiden scheint und die krankhaften Vorstellungen ihres Mannes fiir Wahr-
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Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 47
heit halt, seine eigenen Beobachtungen und Erfahrungen mitgeteilt und mit
ihm ausfiihrlich durchgesprochen. Sie haben ihn femer in die pekuniaren
Verhaltnisse der Famihe genau eingeweiht nnd ihm den Verdacht, daB einer
ihrer Verwandten den Dr. L. deshalb fur geisteskrank erklart haben
wollte, um ungehindert iiber das grofle Vermogen schaiten zu konnen, be-
kannt gegeben. B. hat sich nun junausgesetzt und sehr intensiv dieser An-
gelegenheit gewidmet und glaubte naeh einiger Zeit durch eigene Beob¬
achtungen den Verdacht des Dr. L. bestiitigen und ihm geeignetes tatsachr
lichee Material fur seine Zwecke liefern zu konnen.
In dem Termin am 24. Dezember 1904 machte B. unter Eid eine ganze
Reihe von Angaben iiber Tatsachen, die er beobachtet haben wollte und
durch welche die Verfolgungen des Dr. L. f ja selbst Vergiftungsversuche
der Dr. L.schen Familie bestatigt werden sollten. Die Unrichtigkeit dieser
Angaben lieB sich sehr leicht nachweisen, imd gegen den Agenten Max B.
wurde von der Staatsanwaltschaft in G. die Anklage wegen Meineids erhoben.
In der Voruntersuchung gegen ihn hatte er am 21. Mnrz 1905 und am
31. Marz 1905 zugestanden, unter Eid einige unrichtige Angaben gemacht
zu haben, um so den von Dr. L. gewiinschton Nachweis leisten zu konnen.
Dieses teilweise Gestandnis hat er spater wieder zuriickgenommen und
gleichzeitig in zahlreichen Eingaben und Briefen, die er wiihrend seiner
TJntersuchungshaft verfaBt hat, eine ganze Anzahl von Vorstellungsver-
kniipfungen geauBert, die Zweifel an seiner Zurechnungsfahigkeit aufsteigen
lieflen. Es wurde daher zu der Schwurgerichtsitzung am 4. Juli 1905 ein
psychiatrischer Sachverstandiger hinzugezogen. der auf Grund der bei der
Vernehmung gemachten Beobachtungen nach § 81 StPO. den Antrag auf
Ueberweisimg des B. in eine offentliche Irrenanstalt zur Beobaohtung seines
Geisteszustandes stellte. B. wurde daher am 13. Juli 1905 in die hiesige
psychiatrische Klinik aufgenommen und hierselbst bis zum 23. August 1905
beobachtet.
Die hiesige objektive Untersuchung ergab folgendes:
B. ist von schwachlichem Korperbau, hat eine GroBe von 160 cm und
ein Gewicht von 50 kg. Seine Gesichtsfarbe ist blaB. Die Schleimhaute sind
sehr blaB und leicht blaulich verfarbt. Der Schadel ist leicht asymmetrisch
gebaut und zeigt einen Umfang von 57 cm. Auf der Scheitelhohe befindet
sich an der hinteren Grenze des Stimbeins, derselben parallel verlaufend,
eine ca. 10 cm lange, mit dem Schadelknochen nicht verwachsene Haut-
narbe. Der Befund an den inneren Organen ist ein normaler, jedoch besteht
eine leichte Abschwaehung des Schalles iiber den hinteren und unteren
Partieen der linken Lunge imd sind vereinzelto Rasselgerausche liber der
linken Spitze derselben zu horen.
Die Untersuchung des Nervensystems ergab eine leichte Steigerung der
Sehnenphanomene. Es besteht maBiges Zittem der Hande. Die Pupillen
sind mittehveit, gleich, rund und reagieren prompt bei Lichteinfall und bei
Konvergenz. Die Sprachartikulation ist intakt.
B. selbst klagt iiber Kopfsehmerzen, die sich gelegentlich zu ReiBen
in der linken Kopfsoite steigern, Appetitlosigkeit und eine gewisse Schwache
der linken Hand und des linken Beins — Erscheinungen, die er wohl mit
Recht auf die schwere Anilinvergiftung im Jahre 1900 zuriickfiihrt.
Auf geistigem Gebiete zeigt sich bei B. folgendes:
Er ist vollstandig ortlich und zeitlich orientiert. gibt in zusammen-
hiingender Weise seine Vorgeschichte an und antwortet prompt auf alle an
ihn gerichteten Fragen. Sinnestauschungen bestehen nicht. und es sind auch
Anzeichen, die auf solche schlieBen lieBen, wiihrend der ganzen Dauer seines
hiesigen Aufenthaltes nicht beobachtet worden. Er zeigte immer ein scheues
und gedriicktes Wesen und lehnte es haufig ab, sich mit dem Arzte iiber seine
Angelegcnheiten zu unterhalten. Zu anderen Zeiten gab er gute Auskimft
una produzierte dabei eine ganze Reihe krankhafter Vorstellungen. So
auBerte er am 21. Juli 1905: die ganze Verhandlung gegen ihn sei nur ziim
Schein gewesen. Die Gerichtschreiber und der Staateanwalt hatten sehr
gehofft, daB auch er wie Dr. L. fiir geisteskrank erklart werde, damit die von
ihm erbraohten Beweisstiicke ignorieit werden konnten. Dieselben Men-
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48 Schoonhals. Ueber einige Fiillt* von induziertem Irresein.
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schen, die Dr. L. verfolgten, wollten auch ihn auf das Eis locken. Der
Assistant von der Staatsanwaltschaft sei der Vermogermvormund von Dr. L..
nnd deshalb sei der Steatsanwalt gegen Dr. L. nnd ebenso gegen ibn ein-
genommen. Dies sei ihm im Verlaufe dtr Verhandlungen immer mehr und
mehr klar geworden. In einer anderen Unterredung. am 10. August 1905.
auBerte er auch Bedenken gegen seinen Verteidiger imd sprach die Absicht
aus, denselben beiseite zu schieben und seine Angelegenheit selbst zu fiihren;
denn auch der Rechtsanwalt sei von seinen Verfolgern gegen ihn beeinfluBt.
Er meint ganz zuversichtlich lachelnd, er habe seine Beweise und wolle es
schon machen. Zu anderen Zeiten zweifelt B. doch an der Richtigkeit seiner
Vermutungen und glaubt selbst, daB er zahlreiche Vorstellungen von Dr. L.
iibemommen habe; so z. B. am 14. August. Er gibt als Erklarung an, daB er
sich unausgesetzt mit der L.schen Angelegenheit beschaftigt und, da die
Angaben des Herrn Dr. L. von dessen Frau bestatigt wurden, dieselben mehr
und mehr fiir zutreffend gehalten und vielleicht manche Tatsache unter
dem Einflusse der ihn beherrschenden Vorstellungen falseh gedeutet habe.
Jedoch ist diese Einsicht in die Krankhaftigkeit einiger Ideenkreise von ihm
nur eine voriibergehende, imd er halt z. B. am Tage seiner Entlassung aus der
Klinik wieder an den alten Vorstellungen, daB der SStaatsanwalt beteiligt
sei u. s. w. fest, glaubt sich in den Besitz von Gegenbeweisen und schneidet
jede weitere Unterhaltung mit dem Arztc dadurch ab, daB er darauf hinweist,
daB diese Verfolgungen seiner Pei son mit der augenblicklich gegen ihn er-
hobenen Anklage nichts zu tun hatten. Mit aller Entschiedenheit erklart
er sich dagegen, daB man ihn etwa fur geisteskrank lialten konnte.
Die hier geschilderten Krankheitserscheinungen bieten das
wohlbekannte Bild des Verfolgungswahns, der Paranoia, dar, und
B. scheint daher an derselben Erkrankung zu leiden, mit welcher
sein Auftraggeber, Herr Dr. L., seit vielen Jahren behaftet ist.
Bei dieser Feststellung taucht natiirlich zunachst die Frage auf.
ob B., der die Krankheitsgeschichte des Dr. L. kennt, nicht einfach
simuliert, um so der Strafe wegen seines Meineides zu entgehen.
Gegen diese Annahme spricht 1. der Umstand, daB er die
Wahnideen des Dr. L. in konsequenter Weise weitergebildet hat,
indem er sie auf seine Personlichkeit ausdehnt und so weit geht.
daB er auch seinen Verteidiger fiir seinen Feind halt. Vor alien
Dingen spricht dagegen, daB B. selbst auf das lebhafteste dagegen
protestiert, als geisteskrank zu gelten, wahrend alle Simulanten es
sich angelegen sein lassen, in den Augen ihrer Umgebung als
geistesgestort zu erscheinen, und krankhafte Erscheinungen auf den
verschiedensten Sinnesgebieten simulieren, was bei B. nie der Fall
gewesen ist und wozu er auch nie, selbst auf suggestive Fragen von
seiten des Arztes, verleitet werden konnte. Er sieht auch in der
psychiatrischen Begutachtung eine Machenschaft der L.schen
Gegner mit dem Zwecke, ihn mundtot zu machen. Auch das
Schwankende in seinen Angaben spricht nicht, wie vielleicht unein-
geweihte Beurteiler annehmen mochten, fiir Simulation, sondern
steht in innigster Beziehung mit der anzunehmenden Entstehungs-
weise der Erkrankung des B. Er leidet zwar an derselben Krank-
heit wie Dr. L., jedoch ist die Entstehung derselben bei ihm eine
ganz andere. Wir miissen die bei ihm vorliegende geistige Erkran¬
kung als sogenanntes „induziertes Irresein “ auffassen: B. ist der
psychischen Infektion von seiten des Dr. L. erlegen und hat die
krankhaften Vorstellungen desselben ubernommen und selbstandig
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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 49
weitergebildet. Die ihm zweifellos trotz ihrer Erkrankung geistig
iiberlegene Personlichkeit des Dr. L., dessen krankhafte Vor-
stellungen durch die Frau L. eine Bestatigung erfuhren, hat be-
stimmend auf die Vorstellungskreise des B., dem der lockende
GeWinn und der Wunsch, etwas zu finden, das klare Urteil triibte,
eingewirkt. Bei seiner intensiven Beschaftigung mit dieser Ange-
gelegenheit, die ihn am Tage und zum Teil auch nachts in Anspruch
nahm, hat er sich mehr und mehr in die Gedanken- und Ideenkreise
des ihm auch an Bildung weit iiberlegenen Auftraggebers hinein-
gelebt und wohl schlieBlich selbst an die vielleieht anfangs nur mit
Vorsicht aufgenommenen Angaben desselben geglaubt. DaB Dr. Jj.
eine geeignete Personlichkeit ist, um einen derartigen EinfluB auf
seine Umgebung auszuiiben, geht daraus hervor, daB es ihm ge-
lungen zu sein scheint, seine Frau vollstandig von der Tatsachlich-
keit seiner Vorstellungen zu iiberzeugen und somit bei ihr auch eine
induzierte Paranoia hervorzurufen. Bei dem innigen Zusammen-
leben der Ehegatten miteinander ist dies sehr haufig. Auffallend ist,
•daB die kurze Zeit, in welcher B. in innigerem Kontakt mit dem
Geisteskranken stand, geniigt haben soil, bei ihm gleichfalls ein
induziertes Irresein hervorzurufen. Die Form der bei ihm gefun-
denen induzierten Paranoia ist diejenige, welche man mit dem fran-
zosischen Namen als ,,Folie imposee“ bezeichnet und welche sich
dadurch auszeichnet, daB einem geistig und moralisch schwachen
Individuum die Wahnideen von einer ihm iiberlegenen Personlich¬
keit aufgedrangt werden. Auch hier tritt dem geisteskranken B.
kein normales Individuum gegeniiber, das imstande ware, den
krankhaften Vorstellungen eine geeignete Kritik entgegenzusetzen;
B. hatte im Jahre 1900 eine schwere, mit nervosen Erscheinungen
einhergehende Intoxikation durchgemacht, die seine dauernde In¬
validity bedingte. Sein Gedachtnis imd seine sonstige geistige
Leistungsfahigkeit scheint durch diese Intoxikation nicht wesent-
lich gelitten zu haben; jedoch sinti, wie sehr haufig, die hochsten
und kompliziertesten Leistungen wie die Bildung von Begriffen
zweifellos geschadigt, imd so erklaren sich die kritiklosen Behaup-
tungen, die er im Termin am 24. Dezember 1904 ausgesprochen,
sowie die wirre Weise, wie er die Angaben des Dr. L. liber den
Vergiftungsversuch fur Tatsache halt und als solche dritten Per-
sonen weiter erzahlt. DaB bereits zur Zeit der Ableistung des Eides
am 24. Dezember 1904 die oben skizzierte psychische Erkrankung
vorgelegen hat, dafur spricht auBer den in diesem Termin ge-
machten abenteuerlichen Angaben vor allem ein Brief, den B. am
26. Dezember 1904 an die Redaktion des ,,Volksblattes“ in G. ge-
schrieben hat. In demselben spricht er von Aktenfalsehungen, Ver-
mogensunterschlagungen u. dergl. mehr.
Der Verlauf des induzierten Irreseins, namentlich aber der als
Folie impose bezeichneten Form der induzierten Paranoia, ist
meist ein derartiger, daB das psychisch infizierte Individuum,
sowie es dem verhangnisvollen Einflusse der infizierenden Person¬
lichkeit entzogen wird, allmahlich die iibernommenen Wahnideen
Monataschrlft f. Psychiatric ru Keurologie. Bd. XXXIII. Heft 1. 4
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50 Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein.
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korrigiert, deren Haltlosigkeit einsieht und sie daher fallen laBt. Ini’
vorliegenden Falle hat die den ihn ganz beherrschenden Vorstellun-
gen sich widerspruchslos angliedernde gegen ihn erhobene Anklage
wegen Meineides zweifellos fordernd auf die Bildung neuer Wahn-
ideen und begiinstigend auf den weiteren Ausbau der von Dr. L.
iibernommenen V orstellungen gewirkt. Doch auch in diesem Falle
sehen wir, wie das infizierte Individuum, durch die Uatersuchungs-
haft dem ungiinstigen personlichen Einflusse entzogen, trotz der
oben angefiihrten, die Wahnbildungen fordemden Momente sich
zeitweise zur Kritik derselben durchringt und die in den Akten ent-
haltenen Gestandnisse ablegt. Auch wahrend seines hiesigen Auf-
enthaltes sind solche Zeiten klareren Urteils vorgekommen, und es
ist zu hoffen, daB B., den Einfliissen Dr. L.s entzogen, nach Er-
ledigung der eigenen gerichtlichen Angelegenheit die Wahnideen,
mit denen er sich notgedrungen immer wieder beschaftigen muB,
vollstandig korrigiert und zu einer gesunden Kritik der ihm von
Dr. L. aufgedrangten und der zum Teil selbstandig entwickelten
krankhaften Vorstellungen gelangt.
Das von uns erforderte Gutachten fassen wir dahin zusammen:
Der Agent Max B. aus G. leidet an einer Form des induzierten
Irreseins, die man als induzierte Paranoia bezeichnet. Dieselbe
hat zur Zeit der Ableistung des Eides am 94. Dezember 1904 bereits
bestanden und muB als krankhafte Storung der Geistestatigkeit,
welche die freie Willensbestimmung ausschlieBt, im Sinne des
§ 51 StGB aufgefaBt werden.
Ein anderer Fall, welcher dem Typ der Folie communiquee
ganz entsprechen woirde, ist der Fall Sch.
Die 55 jahrige Vermieterin Louise Sch. wurde im Jahre 1899 durch
bezirksarztliches Zeugnis wegen chronischer Paranoia in die hiesige KJinik
eingewiesen. Die Patientin wollte als Kind nie erheblich krank gewesen sein;
sie litt besonders seit der Pubertatszeit anAnamie, hatte bei der Periode viel
Beschwerden iu^d schrie laut auf. Der Arzt bezeiclmete sie damals als.
..hysterisch 14 , Auch emstere Krankheiten in den spateren Jahren negiei te sie.
Nur hatte sie zeitweise iiber Kopfschmerzen und migraneartige Anfalle zu
klagen. Ihre intellektuelle Ent wick lung war nach Angabe ihrer Sch wester
Sophie eine ausgezeichnete. Patientin soil in der Schule eine der fleiBigsten
imd lebhaftesten gew’esen sein.
Die geistige Erkrankung der Luise Sch. begann im Jahre 1879. Sie
lemte in P., wo sie damals zusammen mit ihrer Sch wester ein Putzgeschaft
inne hatte, den Prediger Dr. K., einen Freimaurer, kennen, dem sie einmal
in der Zeitung ein Gedicht widmete. Dieses Gedicht soil besonders unter den
Geistlichen einen enormen Aufruhr herv-orgerufen haben. Seit diesei* Zeit
wahnte Patientin sich von den Geistlichen, vor allem von Dr. K. verfolgt und
glaubte, daC die mit Dr. K. verbiindeten Freimaurer ihr Geschaft zugrur.de
richteten. Sie verliefi mit ihrer Sch wester P. und w^anderte nach England aus..
Sie konnte aber auch dadurch der Verfolgung nicht entgehen; denn iiberall,
auf der Eisenbahn, auf dem Schiffe, in Holland zeigten sich ihre Feinde. So
soil auf der Fahrt nach England ein Englander auf sie gedeutet imd gesagt
haben: „She is pronounced the cat“, ein Doppelsinn, den sie auslegte:
sie sei die zu Dr. K. gehorende Katze. Ein Bahnbeamter habe auf der Fahrt
nach Holland im Abteil zu einem Englander gesagt: ,,Die Freimaurer ver-
treiben diese Madchen.“
Nach der Riickkehr aus England betrieb Patientin in J. ein Putzge¬
schaft mit ihrer Sch wester zusammen. Auch hier setzten die Geistlichen und
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Schoenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 51
Freimaurer ihr© Verfolgungen fort. Durch allerlei Machinationen wurde sie
vom Besuche der Kirche abgehalten : imraer sei jem^nd in der letzten
Minute mit einer dringenden Bestellung dazwischengekommen; sei es ihr
wirklich einmal gelungen, in die Kirche hineinzukommen, so habe sie sie
bald wieder verlassen miissen, urn Wasser zu lessen. Die Freimaurer
sorgten auch dafiir, daB sie in alien Geschaften iibervorteilt wurde imd alles
teurer kaufen mvisse als andere Leute. Auch benutzten sie die in jhrem.
Zimmer steher.den Glasschranke als Telephon imd belauschten dadurch ihre
Gesprache; all© Worte, die sie spreche, stiinden am nachsten Tage in der
Zeitung. Auch ihr Hauswirt stecke mit ihnen unter einer Decke, er steno¬
graphies alles nach, was sie rede. Die Studenten, die bei ihr zur Miete
wohnten, hat ten immer alle ihre Wiinsche gewuBt imd waren zu nichts
anderem dagewesen, als sie zu argem, indem sie z. B. ihre Miete nicht
bezahlten.
Seit 1891 litt die Patientin an ,,AufstoBen von Worten“, wie „der, die,.
das“, „baby“ u. s. w. Sie gab einmal verdorbenen Speisen die Schuld, ein
andermal dem Umstand, daB ihr Hauswirt in einer Irrenanstalt gewesen sei,
ein drittes Mai fiihrt sie das AufstoBen auf Gift zuriick, das ihr in die Speisen
geschiittet worden sei.
Seit 1898 hatte die Patientin Phoneme, „ein Klingen und Singen in den
Ohren“, meist hohe Tone, die sie mit „i“ bezeichnete. Diese einzelnen Tone
gingen allmahlich in ein ,,Stimmengewirr“ liber, bis deutliche Akoasmen sich.
einstellten. Sie horte einzelne Worte 20—30 mal hintereinander, so ,,um
Gottes willen, um Gottes willen!“ oder .,iiberall verflucht, uberall verflucht !“
oder ,,du bist verflucht an Leib und Seele! ‘ Wahrend eines Konzertes horte
sie bestandig den Refrain: ,,Luischen Sch., du bist verriickt!“ Sie fiihlte
sich dadurch offentlich blamiert. Einmal ist sie durch Stimmen verleitet
worden, auf den Bahnhof zu gehen, um dort ihre Stiefmutter abzuholen.
Als sie dieselbe nicht fand imd wieder nach Hause ging, horte sie einen
hinter ihr gehenden Passanten sprechen: ,,Das ist ja das arme Weibchen,
das durch die Stimmen irregeleitet werden soll.“ Seit dieser Zeit wisse sie r
daB die Stimmen sie necken und belastigen wollten. Auch sprachen die
Stimmen ihr immer vor, was sie gerade zu tun beabsichtige.
Zuweilen hat Patientin auch ,.Fratzen“ gesehen und im Halbschlaf bei
geschlossenen Augen Visionen gehabt.
Die korperliche Untersuchung hier ergab auBer Anamie und be-
ginnender Arteriosklerose nichts Besonderes. Die Reflexe waren lebhaft,
nicht ganz gleich, die Iliakalpunkte beiderseits druckschmerzhaft. Die Be-
riihrungsempfindlichkeit war nicht halbseitig gestort. Gehor imd Geschmctck
waren vollkommen intakt.
Patientin auBerte hier die oben angefiihrten Wahnideen in erregtem
Tone und gab den Geistlichen und Freimaurem die Schuld, daB sie in eine
Irrenanstalt gebracht worden sei. Sie klagte uber mangelnden Stuhlgang,
eine Erscheinung. die sie schon seit dem Jahre 1889 beobachtet haben will.,
Er sei infolge eines ,.Ekels“ ausgeblieben. Sie negierte auch hier Stuhlgang,
trotzdem derselbe in normaler Weis© vorhanden war. Von dem Opium, das
ihr verordnet wurde, glaubte sie ,.Zuckungen“ zu bekommen.
Sie wurde auf Antrag ihrer Schwester wieder entlassen.
Diese drei Jahre alter© Schwester, Sophie Sch., litt, wie aus dem
bezirksarzt lichen Zeugnisse hervorging, an den gleichen Wahnvorstellungen
wie Luise; jedoch hatte sie koine Halluzinationen. Von ihrer Einlieferung
in die Klinik hatte der Bezirksarzt abgesehen.
Die intellektuelle Entwicklung Sopliiens scheint mit der ihrer Schwester
nicht Schritt gehalten zu haben: sie lemte etwas schwer und beschaftigte
sich im Gegensatz zu Luise fast ausschliefllich mit hauslichen Arbeiten. Sie,
auBerte bei einem Besuche der Schwester Wahnideen, die sich zwar mit
denen der Luise zum groBen Teil decken, aber doch verschiedene Ab-
weichungen aufweisen, die auf einen selbstandigen weiteren Ausbau des
Wahnsystems sch lie Ben lassen.
Auch Sophie fiihrte die geschaftlichen Verluste auf die Verfolgungen
des Dr. K. zuriick. Eine Verwandte dieses Herrn, die bei ihr zur Miete
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52 Schoenhals. Ueber einige Fall© von induziertem Irresein.
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wohnte, hab© ©inmal geauBert, si© begreife nicht, daB si© (die Schwestern
Sch.) iiberhaupt noch lachen konnten. Aus diesen Worten hab© si© ge-
schlossen, daB Dr. K. etwas gegen si© im Schild© fiihr©. D©r Glaub© an ©in©
Verfolgung wurd© befestigt, da ©in Schneidenneister zu ihr sagte, jedes
Hans in P. sei ©in Freimaurerhaus und di© Freimaurer konnten in ihr Ge-
schaft hineinsehen. Das Erstaunen dieses Mannes iiber ihren EntschluB,
nach England auszuwandem, deutete sie als ,.Entsetzen, als ob si© in den
Tod gehen wollten“. Auch si© hat den Englander auf dem Schiffe die
doppeldeutigen Wort© sprechen gehort und im Sinne der Patientin ausgelegt.
Auch sie habe di© Worte: ,,Die Freimaurer vertreiben diese Madchen“ ver-
nommen und sie, da sie die einzigen Frauen im Abteil gewesen seien, auf sich
und ihr© Schwester bezogen. Sie legte diese Worte einem Englander und
nicht dem Eisenbahnbeamten in den Mund. Seit dieser Zeit wollte sie von
einer Verfolgung durch die Freimaurer nichts mehr gehort haben.
Auch Sophie hat sich gewundert, daB die Logisherren alles gewuBt
hat ten, was sie mit ihrer Schwester gesprochen habe. Si© hatten sich z. B.
einmal einen Vogel gewiinscht; am Nachmittag sei jeder der Herren mit
einem Vogel, den er fur sich gokauft habe, nach Hause gekommen. Wie die
Patientin glaubte auch sie. daB der Hauswirt alle ihre Gesprache und Ge-
danken kenne.
Die Schwester Sophie litt an ,,AufstoBen von Worten“ erst seit
1 y 2 Jahren. Sie fiihrte dies auf eine ihr nicht bekannte Substanz zruiick, die
ihr in den Wein oder ins Essen geschiittet worden sei, oder auf den schlechten
Geruch in der Wohnung. Dieselbe Erscheinung bei der Patientin erklarte sie
sich aus dem GenuB von Salizylpulver. Seit einem halben Jahre war das
,,AufstoBen von Worten“ wieder verschwunden.
Stimmen hat die Schwester nicht gehort; nur klagte auch sie iiber
..Singen in den Ohren“, wenn sie sich biicke.
Hier findet sich folgender Mechanismus: Zwei Schwestern, die
in inniger Gemeinschaft leben, erkranken beide an Paranoia. Lie
zuerst erkrankte Lnise, der geistig iiberlegene Teil, iibertragt die
Krankheit auf die zweite Schwester Sophie, die aber die Wahnideen
auch nach der Trennung noch weiter und selbstandig entwickelt.
Den ersten Fall der franzosischen Auffassung, die Folie
simultanee, d. i. das gleichzeitige Nebeneinandersichentwickeln
zweier Geisteskrankheiten ohne irgendwelche Einwirkung des A.
auf den B. wiirde folgender Fall darstellen:
Im August 1899 wurde uns die 52 jahrige Miillerstochter Karoline K.
wegen Melancholie zugefiihrt. Von einer erblichen Belastung war nichts
bekannt. Ein Bruder ist nach Amerika ausgewandert und dort verschollen;
eine Schwester hat 3 Wochen vor der Einlieferung der Patientin Suizid
begangen. Ernstere Kinderkrankheiten wollte die Patientin nicht iiber-
standen haben. Die Periode stellte sich mit dem 14. Lebensjahie ein.
Patientin war nicht verheiratet, half nach Verlassen der Schule den Eltern
in der Wirtschaft imd lebte seit dem Tode des Vaters mit der oben erwahnten
Schwester zusammen.
Nach dem pfarramt lichen Gutachten gingen die unklaren Gedenken
der Kranken weiter zuriick, soweit ersichtlich, darauf, daB sie sich f Is schul-
dig betrachtet, daB dem in Amerika weilenden Bruder des von ihm eibetene
Geld verweigert worden war. Sie rechnete sich das als Siinde an und ergab
sich einem steten Griibeln dariiber, arbeitete nicht mehr, irrle ruhelos tmixer,
war nicht mehr unter Menschen zu bringen. Eine ernstere Bespiechi r.g mit
dem Pfarrer schien gute Erfolge zu haben, der kurz darauf erfolgei.de Selbst-
mord der Schwester wirkte r.ber verschlimmerr d euf ihren Geisles zusU i d.
Wie der Bezirksarzt sich auslieB, zeigte sie acht Wochen vor ihrer Aufnsl me
Gem itsverstimm mg und LebensiiberdruB, Erscheinimgen, die sich so weit
steigerten, dafl sie die Nahnmg verweigerte. Wegen Selbstmordgefahr
erschien die beschleunigie Einlieferung in die Anstalt notwendig.
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S choenhals, Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 53
Nach eigenen Angaben war Patientin seit zwei Jahren krmk, und
zwar „nervds“. Die „traurige Stimmung" soli seit 1898 besftirden haben.
Seit dieser Zeit habe sie an Schlaflosigkeit gelitten und nur wenig Nahrung
zu sich genommen. Sie gestand wiederholte Strangulationsversuche
ein und hatte auch noch in der ersten Zeit ihres Hierseins die Absicht, sich
das Leben zu nehmen.
Bei ihrerAufnahme befand sie si eh in eincm sehr schlechtenEmahrungs-
und K^aftezustande. Die Reflexe waren lebhaft, zum Teil nicht ganz gleich.
Die Klagen iiber allgemeine Druck- und Klopfempfindlichkeit cm Korper
waren hauptsachlich hypochondrischer Natur.
Wahrend ihres Aufenthaltes in der Klinik auBerte Patientin messen-
hafte Wahnideen, hielt sich fur ,,des Teufels GroBmutter* 4 , glaubte, da alle
ihre Suizidversuche miBgluckt waren, sie sei kein Mensch und konne iiber-
haupt nicht sterben. Sie bekem haufig Angstzustande, in denen sie sehr
erregt wurde, jaramerte viel und miehte sich Vorwiirfe: sie habe eino groBe
Siinde begangen, sie sei schuld, daB der Himmel imraer grau sei. Sie sorgte
sich darum, wiesie die Aerzte fur die vielen Bemuhungen bezahlen konnte:
sie wolle die Wasche dafiir waschen oder man solle sie in den Schnee hinunter-
werfen. Haliuzination wurde bestimmt in Ah ode gestellt.
Unter dem EinfluB einer Opiumbehandlung schwanden die Angst-
anfalle allm'ihlich, Patientin zeigte Krankheitseinsicht, fing wieder an zu
arbeiten, war ruhig und geordnet nehm an Korpergewicht standig zu und
konnte nach acht Monaten als geheilt wieder entlassen werden.
Die Schwester der Patientin war im Mai 1899 ebenfalls an Melancholic
erkrankt. Ueber ihre Entwicklung in den der Erkrankung voraufgegangenen
Jahren ist nichts bekannt. Die Ursache der Gemutsverstimmung bei dieser
Schwester war die Krankheit der Patientin: sie qualte sich mit Sorgen
iiber deren Zustand, wurde traurig, konnte nicht mehr arbeiten und machte
nach wiederholten miBgliickten Suizidversuchen drei Wochen, bevor uns die
Schwester gebracht wurde, ihrem Leben durch Erhangen ein Ende.
Es mig hinzugefiigfc werden, d&B die Patientin, Karoline K., im Juli
die3es Jahres wieder in die hiesige Klinik eingeliefert. wurde, und zwar
wegen Dementia post apoplexiam. Die Zwischenanomnese ergab, dafi sie
iramer still fiir sich allein gelebt und sich nie recht beschaftigt hatte. Acht
Wochen vor ihrer Aufnahme erlitt sie einen Schlaganfall, konnte aber nach
10 Tagen bereits wieder aufstehen. Sie auOerte aOerhand verschrobene
Ideen, w'ollte durchaus in den Himmel, mochte aber nicht sterben. Es
stellten sich Angstzustande ein, und sie wurde sehr erregt. Die Sprache
wurde erschwert, Patientin aB nicht mehr allein und muBte gefiittert werden.
Nach 14 tagigem Aufenthalt in der Anstalt erlag sie einem Herzschlage.
Ein anderer Fall, der anhangsweise angefiihrt werden soli
wegen des medizinisch-juristischen Interesses, das er bietet, und den
man wohl auch, obwohl die andere Halfte, die Ehefrau, nicht ver-
nommen werden konnte, der Folie imposee zuzurechnen ist, soli
hier im Auszuge folgen:
Rudolf K., Rechtsanwalt, 69 Jahre alt, ist sowohl von vaterlicher als
auch von miitterlicher Seite her belastet. Der GroBvater vaterlicherseits
war Trinker und ist an einem Schlaganfall gestorben. Ein Onkel miitter-
licherseits ist geisteskrank, ein Vetter von dieser Seite befindet sich in der
Irrenanstalt Sch., ein Bruder Ks. ist in der gleichen Anstalt verstorben.
K. besuchte das Gymnasium, diente als Einjahrig-Freiwilliger und
studierte dann Rechtswissenschoften. Als Referendar nahm er an dem
Feldzuge 1866 teil und zog sich hier ein Magenleiden zu, zu dem spater ein
Herzleiden sich gesellte. Er ist verheiratet, hat keine Kinder. Bis zum
Jahre 1884 war er Amtsrichter in Z., dann Rechtsanwalt in B., seit 1895 in C.,
wo er bis zu seiner Aufnahme in die Irrenanstalt seine Praxis ausiibte.
Die geistige Erkrankung machte sich zuerst dadurch bemerkbar, daB
K. sich in Z. von einem Hilfsrichter zumGegenstand systematischer Angriffe
gemacht fiihlte. Dieser Hilfsrichter soil auch andere, insbesondere hohere
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» 54 Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein.
, Justizbeamte, den Landgerichts- und Oberlandesgerichtsprasidenten, gegen
K. gehetzt haben, so daB dessen Beschweiden stets abschlagig beschieden
wurden. Um den Verfolgungen in Z. zu entgehen, trat K. aus dem Justiz-
dienste aus und zog nach B., um dort eine Praxis als Rechtsanwalt aus-
zuiiben.
In B. wurden ihm sofort neue Hindernisse in den Weg gelegt. Der
Justizm inis ter verweigerte ihm die Zulassung als Rechtsanwalt, und K.
konnte dieselbe erst durch eine reichsgerichtliche Entscheidung durchsetzen.
Er muBte nun erfahren, daB seine Verfolger sich nicht mit seiner Ver-
drangung aus dem Richteramt begnugten, sondern ihm auch nach Leib und
Leben trachteten.
Einen mit ihm dasselbe Haus bewohnenden Chemiker Dr. Sch. und
dessen Familie beschuldigte er des Diebstahls, der Hehlerei und des ver-
suchten Giftmordes. Er behauptete, Sch. verfolge ihn standig Ha.it giftigen
Gasen und stifte seine (Ks.) Dienstboten und Schreiber zu gleichen Nach-
stellungen an. Seine Frau klagfce ihm, daB sie in der Kiiche wiederholt
durch aus der darunter belegenen Sch.schen Wohnung aufsteigende
Chemische Diinste inkommodiert worden sei, wovon er sich selbst iiberzeugt
habe. Ferner soil Dr. Sch. geruchloses Pulver in die Betten des K.schen
Ehepaares imd in das Essen gestreut und fliichtige Giftstoffe in den Hausflur,
in die Wohnraume und Betten Ks. gespritzt haben, die bei K. und seiner
Frau Benommenheit des Kopfes und Uebelkeit hervorgerufen hatten. Auch
soil Sch. nachts in K.’s Schlaf zimmer eingeschlichen sein, um ein Attentat
auf denselben zu veriiben. K. strengte einen ProzeB gegen diesen Verfolger
an, fing aber, da er sein venneintliches Recht bei den Gerichten nicht fand,
an, selbst AbwehrmaBregeln zu treffen. Er riistete seine Dienstmadchen mit
Revolvem aus und suchte mit dem Schleppsabel be waff net gemeinsam mit
seiner Frau bei Nacht die Wohnung nach Dieben ab. Er ging mit der Waffe
in der Hand den Weg, den Di. Sch. zu gehen gezwungen war, und verriegelte,
wieder in Gemeinschaft mit seiner Frau, die Sch.sche Wohnung, so daB dieser
die Tiir durch den Schlosser offnen lassen muBte.
In einer anderen Wohnung bezichtigte er einen unter ihm wohnenden
Drogisten des versuchten Giftmordes. Dieser Drogist soli die Zimmerdecke
durchbohrt und giftige Diinste in die K.sche Wohnung geleitet haben. Die
so entwickelten Gase hatten bei K. imd seiner Frau Schwindel und Ohn-
machten hervorgerufen.
Nachst den Mitbewohnem beschuldigte er seine Kollegen der gegen
sein Leben gerichteten Verfolgung. Er behauptete, seine Amtsrobe sei mit
Gift bespritzt worden; als er dieselbe angezogen habe, habe er in der Herz-
gegend einen furchtbaren Schmerz verspiirt. In dem Koffer, in*dem er seine
Robe aufzubewahren pflegte, fand er einen Fleck, den er als von einer giftigen
Fliissigkeit herriihrend deutete.
Durch Anzeigen bei Gericht verwickelte er sich in zahlreiche Prozesse,
die jedoch durchweg zu seinen Ungunsten entschieden wurden. Es nutzte
auch nichts, daB er die Prozesse bis in die hochsten Instanzen trieb und Be-
schwerde iiber Beschwerde einreichte. Er trat schliefilich die Flucht in die
Oeffentlichkeit an und gab unter dem Titel „Kein Rechtsschutz bei der
heutigen Justiz“ eine Broschiire heraus, in der er sich iiber die Koiruption
des Richterstandes, seine Parteilichkeit und Bestechlichkeit beklagte.
Nach seiner tlbersiedelung nach C. wurden die Verfolgungen daselbst
in der gleichen Weise wie in B. fortgesetzt. Es bildete sich ein ganzes Kon-
sortium von Leuten, die ihm nach dem Leben trachteten, um sich seine
Grundstiicke zu minderwertigen Preisen anzueignen. Der Mittelpunkt dieser
Ver8chworung soli der Justizrat Sch. gewesen sein, der sich zur Erreichung
seines Zweckes aller Personen bediente, die Gelegenheit hatten, mit K. in
nahere Beriihnmg zu kommen: der Dienstboten K.s, seiner Schreiber.
seiner Hausgenossen. Sch. selbst soil ihn mittels eines Taschenzerstaubers
mit einer giftigen Fliissigkeit bespritzt und ihn in den Gerichtsraumen
standig mit giftigen Stoffen angegiiffen haben. Die Dienstmadchen sollen
auf Veranlassung Sch.s die Hiihner K.s mit Wundwatte vergiftet und
ihm und seiner Frau Gift ins Bett und ins Essen gestreut haben. Die Folgen
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Schoenhals. Ueber einige Falle von induziertem Irresein. 55
bestanden fiir das K.sche Ehepaar gewohnlich in hochgiadiger Erregung
verbunden mit Schlaflosigkeit (woran sie sonst nie gelitten hatten) und in
:gastrischen Beschwarden. Die Gleichheit des Giftes — ein geschmackloses
NTarkotikum — imd die zweck- und kunstgemaBe Verwendung desselben
lie Ben K. auf einen Feind schlieBen, der Sachkenntnis besitze.
Da die Dienstmadchen immer zu schikanosen Handlungen gegen das
K.sche Ehepaar angestiftet wurden und oft nur zu diesem Zwecke in dessen
Diensfc traten, so war dieses gezwungen, sich mit einer Aufwartung zu be-
helfen. Als auch diese sich den feindlichen Einfliissen zuganglich zeigte, lebte
K. mit seiner Frau ganzlich isoliert, beide in standigor Angst, sie konnten
von ihren Veifolgem umgebracht werden.
Seine Schreiber, unter denen standiger Wechsel herrschte, da er sie
wegen Verdachts, sie wollten ihn vergiften, bald wieder entlieB, sollen mit
einem Nachschiussel das Bureau geoffnet und daselbst Sublimatpulver
gestreut haben.
K. sowohl wie seine Frau machten die Wahrnehmung, daB zu dem
Zeugleutnant G., der mit ihnen das Haus bewohnte, nachtlicherweile ein
Mann gekommen sei, der sie dadurch angriffe, daB er ihnen von der Wohnung
-des G. imd dessen Keller aus durch den Fuflboden und die Decke einen un-
riechbaren, aber sehr heftig wirkenden gasformigen St off — wahrscheinlich
arsenige Saure — zusandte. Nach dem Auszuge G.s sollen die Angriffe vom
Nachbarhause aus fortgesetzt worden sein.
In Eingaben imd Anzeigen, in denen er mit groBem Geschick zufallige
Vorkommnisse imd gewisses Zeugenmaterial in seinem Sinne zu verwenden
wuBte, beschwerte er sich bei dei Polizei, beim Landgericht imd Ober-
lande8gericht, jedoch ohne jeden Erfolg. Dafur, daB seine Feinde ihre Ver-
folgungen ungehindert betreiben konnten, machte er die Staatsanwaltschaft
ver ant wort lich, die er beschuldigte, dafi sie wohlhabenden \'erbrechem die
weitestgehende Schonung angedeihen lasse. Auch den katholischen Ge-
meindekirchenrat und die stadtischen Behorden von C. bezichtigte er,
seinen Verfolgem Vorschub zu leisten. Als ihm schlieBlich die Entmundigung
droht, greift er zur Notwehr; er tragt stets ein groBes, im Heft feststehendes
Messer bei sich, und sein Wahlspruch ist: .,Vim vi repellere licet!“
In der Irrenanstalt, in die er zur Beobachtung auf seinen Geisteszustand
zwecks Entmiindigung eingeliefert worden war, setzte er die maBlosen Ver-
-dachtigungen gegen die Gerichte und seine vermeintlichen Feinde fort und
fiihrte des ofteren seine Frau als Zvugin fiir die Tatsachlichkeit seiner Wahr-
nehmungen an; denn sie habe an ihrem eigenen Leibe die Folgen des Giftes
-gespurt, durch das seine Verfolger ihn zu vemichten drohten.
Der arztliche Gutachter gab sein Votum fur die Entmundigung K.s
wegen Geisteskrankheit („Verrucktheit‘-) im Sinne des § 6 BGB. ab.
Das sind die Falle, welche in der hiesigen Klinik in einem Zeit-
raum von 13% J&hren beobachtet worden sind.
Es ergibt sich, daB — auch wenn wir den Begriff des indu-
zierten Irreseins weiter fassen — diese Psychose eine relativ seltene
Erscheinung ist.
In Beziehung zu der hiesigen Aufnahmeziffer macht sie
0,028 pCt. der Falle aus.
Literatur - Verzeichnis .
Finkelnburg , Ueber den EinfluB des Nachahmungstriebes auf die
Verbreitung des sporadischen Irreseins. Ztschr. f. Psych. Bd. 18. — Mohr 9
Das modeme „Zungenreden‘*. Eine psychische Massenepidemie. Psych,
neurolog. Woch. No. 8. u. 9. — Schonfeldt , Max , Ueber das induzierte Lre-
«ein (Folie communiqu6e). Arch. f. Psych. XXVI. — Silcorski , Eine psy¬
chische Erkrankung im Kiew’schen Gouvernement im Jahre 1892. Ztschr.
f. Psych. Bd. 50. Heft III IV. — Derselbe, Epidemischer freiwilliger Tod
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56
Roper, Ziir Aetiologie der multiplen Sklerose.
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und Totschlag in den Temowskischen Gehoften von Tiraspol, vgl. Ztschr. L
Psych. Bd. 55. Heft III. — Velthusen , Darstellung und Beurteilung der
Erweckungen im Elberfelder Krankenhause. Ztschr. f. Psych. Bd. 19.
— Witkowski, L, 9 Einige Bemerkungen liber den Veitstanz des Mittelalters
und iiber psychische Infektion. Ztschr. f. Psychiatrie. Bd. 35. — Woods+
Notes of some cases of folie a deux in serveral members of the same family.
Joum. of Mens. Science. 1897. Oktob. vgl. Neurol. Zbl. 1893. S. 1055 f.—
Derselbe, Ueber die neueste psychische Epidemic. Psych.-k lin. Woch. 1907.
S. 187 u. 191. — Literatur bei Wollenberg , Ueber psvchische Infektion.
Arch. f. Psych. NX.
(Aus der psyehiatrischen Klinik zu Jena.
[Direktor: Geh. Rat Prof. O. Binswanger.])
Zur Aetiologie der multiplen Sklerose 1 ).
Von
Lr. ERICH ROPER,
Die Aetiologie der multiplen Sklerose ist zurzeit noch un-
geklart. Die meisten Autoren nehmen an, daB exogene Schadlich-
keiten das Leiden verursachen. Pierre Marie wies 1884 nachdriick-
lich auf das haufige Vorkommen von Infektionskrankheiten vor
dem Beginn der multiplen Sklerose hin; vor ihm hatten schon
Kahler und Pick den Zusammenhang zwischen Infektionskrank¬
heiten und multipler Sklerose betont. Oppenheim veroffentlichte
1896 28 Falle, bei denen er genaue Erhebungen iiber die
Entstehung des Leidens angestellt hatte; 11 der Patienten waren
fur langere Zeit in innige Beruhrung mit Giften gekommen. Die
meisten hatten mit Blei, einige mit Kupfer, Griinspan und Zink,
einer mit Anilinfarben zu tun, in einem Falle war eine Vergiftung
mit Kohlenoxyd voraufgegangen. Der Verfasser zieht aus dieser
Zusammenstellung den SchluB, daB die Intoxikation zu den
wichtigsten Ursachen der disseminierten Sklerose gehore, doch will
er damit den anderen Momenten — Infektionskrankheiten und
Trauma — ihre Bedeutung nicht absprechen.
Von einer Reihe von Autoren wird auf die atiologische Be¬
deutung des Traumas hingewiesen, zuerst von Leube 1871; hieriiber
besteht, wegen der praktischen Konsequenzen in Bezug auf die
Unfallgesetzgebung, eine besonders reiche Kasuistik. Leyden
betont eine besondere Art von Trauma, namlich die Erschiitterung
der Wirbelsaule.
In einer Dissertation veroffentlicht Focke 1888 die in der
Literatur verstreuten Angaben des psychischen Traumas.
l ) Vortrag gchalten auf der Versammlung der Vereinigung in it tel-
dealt seller Psychiater und Neurologen in Hallo. *27. Okt. 1912.
Go i igle
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Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 57
Mit Nachdruck weist von Krafft-Ebing zuerst 1895 darauf hin„
dali unter den veranlassenden Momenten Erkaltung und Durch-
nassung eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Auch Strapazen
sollen das Leiden verursachen konnen.
Manche Autoren messen auch dem Alkohol gewisse atiologische
Bedeutung bei, andere auch dem Partus. Fast ubereinstimmend
wird der Syphilis fur die Entstehung der multiplen Sklerose jede
Bedeutung abgesprochen.
Striimpell erkennt diese exogenen Faktoren iiberhaupt nicht ala
atiologische Momente der multiplen Sklerose an. Die nach akuten
Infektionskranklieiten auftretenden Krankheitsbilder, welche
klinisch als multiple Sklerose imponieren, sind seiner Ansicht
nach pathologisch-anatomisch als akute disseminierte Myelitis auf-
zufassen. Ebensowenig erkennt Strumpell den Zusammenhang der
multiplen Sklerose mit chronischen Intoxikationen an ; er gibt an^
in der Mehrzahl seiner Beobachtungen trotz genauem Nachfragen
gar keine wesentliche auBere Krankheitsursache festgestellt zu
haben. So kommt er zu dem SchluB, die Krankheit sei endogener
Natur, und zwar eine auf kongenitaler abnormer Veranlagung
beruhende multiple Gliose. Den atiologischen Faktoren, denen die
Anhanger der Amsicht, daB das Leiden exogener Natur sei, die
groBte Wichtigkeit beimessen, spricht er hochstens die Rolle ver-
anlassender Momente zu. Eine hereditare Disposition liegt nach
Striimpells Ansicht hochstens in vereinzelten Fallen vor.
Eduard Muller , Striimpells Schuler, vertritt dieselbe Ansicht
wie dieser; er hat sie in seiner Monographie ,,Die multiple Sklerose
des Gehirns und Riickenmarks 44 eingehend begriindet. Nach ihm
sind alle bekannten exogenen Momente nur imstande, bei bestehen-
der Veranlagung das Leiden als ,.Agents provocateurs 44 zu mani-
festieren und zu verschlimmern. Die nach Infektionskrankheiten
auftretende, der multiplen Sklerose ahnelnde Krankheit halt er fur
eine sekundare multiple Skleiose im Sinne von Schmaus und Ziegler ;
wenigstens in den meisten Fallen sei es so.
Jede dieser beiden divergierenden Ansichten hat eine Reihe
namhafter Vertreter; sie alle aufzuzahlen, iiberschritte den Rahmen
dieser Arbeit, in neuerer Zeit haben sich Siemerling und Raecke
entschieden gegen die Hypothese einer endogenen Entstehung
der multiplen Sklerose ausgesprochen.
Die alteren Autoren weisen auf eine hereditare Disposition hin;
so schreibt Gowers: ,,Direkte Hereditat oder das gleichzeitige Er-
kranken zweier Briider oder Schwestern ist zuweilen beobachtet
worden, ist aber selten. Haufiger stammen die Kranken aus neuro-
pathischen Familien, in welchen Epilepsie oder eine andere Form
von chronischer Lahmung vorgekommen ist, noch haufiger aber
laBt sich eine derartige Pradisposition nicht nachweisen. 44
Erb schreibt: ..Als pradisponierend zu der multiplen Sklerose
konnen in raanchen Fallen wohl hereditare Einfliisse betrachtet
werden: Duchenne sail hereditare Uebertragung der Krankheit in
einem Falle; ich habe dasselbe beobachtet. Frerichs seh zwei Ge-
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*58 K 6 p e r . Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
schwister von der Krankheit befallen, und mir ist ein gleicher Fall
vorgekommen. Allgemeine neuropathische Belastung mag hier
ebenfalls ihre bekannte Rolle spielen; Hysterie imd andere nervose
Storungen gehen manchmal, wenn auch relativ selten, der Krank¬
heit voraus. Sonst ist iiber diese Verhaltnisse nicht viel bekannt.“
Ein Fall von multipler Sklerose bei Briidern, den ich genau zu
beobachten Gelegenheit hatte, veranlaBte mich, die Literatnr auf
das familiare Vorkommen dieser Erkrankung hin durchzusehen.
In ungefahr chronologischer Folge teile ieh in nachstehendem das
Resultat meiner Bemiihungen mit.
Aus der oben zitierten Mitteilung geht hervor, daB Erb und
Duchenne hereditare Uebertrsgung in einem Falle sahen, dann sah
Frerichs einen Fall von multipler Sklerose bei Gesehwistern, das
gleiche sah Erb.
1885 teilt Pelizaeus 5 unter dem Bilde der multiplen Sklerose
vollig gleichartig verlaufende Krankheitsfalle mit, die Mitglieder
•derselben Familie betrafen, und zwar betraf die Krankheit nur die
mannlichen Individuen; die Frauen blieben verschont, doch ver-
erbten sie die Krankheit. Ich erwahne diese 5 Falle nur des Zu-
sammenhanges wegen; wie aus einer Arbeit Merzbachers hervor-
geht, handelt es sich in diesen Fallen nicht um eine multiple Sklerose,
aondern um eine eigenartige familiar-hereditare Erkrankungsform,
die er Aplasia axialis extracorticalis congenita nennt. Merzbacher
hatte eine Reihe dieser Krankheitsfalle selbstandig beobachtet
und einen histologisch genau untersucht, als er zufallig entdeckte,
daB seine Kranken aus eben derselben Familie, wie die 5 von
Pelizaeus beschriebenen, stammten.
Pelizaeus erwahnt dann noch zwei Falle von Dreschfeld, wo die
Krankheit bei Briidern in den ersten Lebensjahren auftrat.
Miljanitsch beschreibt 1889 in einem russischen Blatte einen
Fall von multipler Sklerose bei Briidern aus dem Daniel-Hospital in
Cetinje. In der Literaturiibersicht der ,,Petersburger medizinischen
Wochenschrift“ heiBt es: zwei wohlcharakterisierte Falle von
multipler Sklerose des Riickenmarkes, deren Aetiologie interessant
ist, indem der eine Pat. nach Malaria, der andere nach einem hef-
tigen Schreck erkrankte.
Totzke beschreibt in einer Dissertation iiber die multiple Herd-
sklerose des Zentralnervensystems im Kindesalter eingehend zwei
Falle dieser Krankheit bei Gesehwistern, die hier im Auszuge kurz
wiedergegeben seien:
Mutter nervos, Vater gesund, Mutteis Bruder an Phlhifee gestorben.
Grofimutter vaterJieherseits Gicht, GroCvater Apoplexie. Zwei Geschwister
klein gestorben, 3 Geschwister sind am Leben, eines davon skrofulos.
Kmilie L., erste Erscheinungen im 8. Lebensjahre, angeblich durch
zweifelhafte psychische Traumen Verschlechterung. Bei dem im 11. Lebens¬
jahre auf genommenen Status fand sich: starker Intent ions! remor beidei-
seits. Spasmen in Armen und Beinen. Spastisch-paretisch-ataktischer
Wackelgang. Pupillen ieagieren schlecht auf Lichteinfall. MaOiger Nystag¬
mus. Sprache hesitierend. Sensibilitat intakt. Sehnenreflexe gesteigeit. Es
hesteht ein gewisser Grad von Demenz.
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K 6 per . Zur Aetiologie der nmltiplen Sklerose.
o9
Martha L. Erste Krankheitserecheinungen etwa mit 10 Jahren, keine
Aetiologie bekannt. Untersuchung im 14. Leben jahre: Intentions tremor.
Bei schnellem Gehen wackelt Patientin. Sprache deutlich skandierend.
Pupillen ungleich, reagieien schJecht auf Lichteinfall. Nystagmus an-
gedeutet. Sehscharfe hochgradig herabgesetzt. Sensibilitat intakt. Mafiige
Demenz.
Er erwahnt dann noch einen Fall Ungers , in dem das Leiden
auch Geschwister befiel, ferner eine Beobachtung Liebermeisters.
Irma Klausner erwahnt in ihrer Statistik 2 Falle von multipler
Sklerose bei Geschwistern.
Im ersten Falle handelt es sich um einen bei Beginn des Leidens
32 jahrigen Baumeister, dessen Bruder jahrelang ein ahnliches
Leiden gehabt hatte. Die GroBmutter miitterlicherseits der beiden
Kranken war nervenleidend, ,,kindisch“.
Im zweiten Falle ist es ein im 39. Lebensjahre erkrankter
Zigarrenarbeiter, dessen Schwester dasselbe Leiden hatte. Ein
Bruder der beiden starb im 32. Lebensjahre an Krampfen.
if. Cesian und 6?. Guillain berichten ferner iiber die Geschwister
Leontine und Henry B., die an multipler Sklerose litten; zwei
andere Geschwister litten an Epilepsie.
Die Symptome beider Falle sind durchaus typisch. Bei Henry
kam das Leiden deutlich zum Ausbruch, als er 16 Jahre alt war;
<loch wird bemerkt, daB er nie ausdauernd hatte gehen konnen. Es
bestand bei der Untersuchung: unsicherer, spastischer Gang,
«kandierende Sprache, Nystagmus, Sehnervenabblassung, leichte
Ataxie der Arme. Leontine hatte seit ihrem 20. Lebensjahre
Sprachstorung; bei der Untersuchung war sie 32 Jahre alt; es fand
sich auBer der hesitierenden Sprache spastischer Gang, Intentions-
tremor der Arme, Nystagmus, gesteigerte Sehnenreflexe und das
Babinskische Phanomen. Der Augenhintergrund war in diesem
Falle normal.
S. Reynolds berichtet iiber zwei Familien, bei denen er mehrere
Falle von multipler Sklerose zu beobachten Gelegenheit hatte.
Die Familie X.
Der Vater erkrankte an einer Melancholie mit 66 Jahren. Ein Cousin
des Vaters starb an fortgeschrittenei multipler Sklerose. Eine Cousine des
dee Vaters hatte einen ausgesprochenen Basedow. Eine Schwester der
Mutter erkrankte 52 Jahre alt an einer Melancholie.
Aus dieser belasteten Aszendenz stammen die 6 Gesohwister, von
denen drei an multipler Sklerose erkrankt waren.
1. Madchen: litt an Melancholie.
2. Mary: die ersten Beachwerden traten mit 33 Jahren auf, bietet das
Bild der m. Ski.
3. Madchen: leidet peiiodisch an Ischias.
4. John: bemerkte mit etwa 29 Jahren, daB sein Gang unsicher wurde
und dafl er leicht beim Gehen ermiidete. Bietet jetzt ebenfalls das Bild
der multiplen Sklerose; zudem hat sich ein Kropf entwickelt.
5. Mann: gesund.
6. Edward: bemerkte mit etwa 27 Jahren beim Tennis- oder Kricket-
spielen, daB er pldtzlieh die Kontiolle uber sein linkes Bein verlor. All-
mahlich entwickelte sich auch hier eine multiple Sklerose.
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GO Roper ., Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
Reynolds sagt tiber diese Falle: .,It may possibly be thought
from my description that a diagnosis of disseminated sclerosis is not
justified in all the cases, but the symptoms are, on personal
examination, much more pronounced than can be easly described.
At least two of the cases have bed* seen also by eminent London
neurologists, who have at once confirmed the diagnosis.“
Verfasser teilt dann noch die Krankengeschichten zweier
Schwestern mit, die ebenfalls an multipler Sklerose litten.
Ueber die Eltern macht er keine Angaben; die beiden Kranken haben
noch eine Schwester, die gesund ist. Die alteste der Kranken, MiB Jane J.,
war zur Zeit der Untersuchung 25 Jahie alt. Seit 10 Jahren litt sie an Kopf-
und Augenschmerzen, vor 5 Jahren hatte sie Doppelbilder, vor 4 Jahren
fing sie an, schlecht zu gehen; dann wurde die Sprache undeutlich, die
Handschrift schlecht; es entwickelte sich ein Intentionstremor. Storungen
von seiten der Augen bestanden nicht zur Zeit des Berichtes.
Mabel J. war nach einer Influenza an multipler Skleiose erkrankt
und war zur Zeit in einem sehr voigeschrittenen Stadium der Krankheit.
R. meint, dali, wenn wir nur vertrrutcr mit den atypischen
Formen der multiplen Sklerose wiirden, das familiare Vorkommen
derselben auch haufiger wiirde. Er teilt dann am Schlusse seiner
Arbeit noch einen Fall von Basedow plus multipler Sklerose mit.
Batten beschreibt 1909 zwei Krankheitsfalle, die unter dem
Bilde der multiplen Sklerose verliefen und Geschwister betrafen.
E. S., 27 Jahre alt. B. sah sie zuerst im August 1908. Sie ist die alteste
von 6 Geschwistern, 3 Briidern und 3 Schwestern. Die beiden Schwestern
sind gesund, aber einer ihrer Briider leidet an einer ahnlichen Krankheit.
Mit 25 Jahren bemerkte sie zuerst Zittern der Hand, das stalker wurde,.
wenn sie etwas zu fassen versuchte. Allmahlich entwickelte sich ein dent-
iicher Intent ionstremor, dazu kam eine langsame, hesitierende Sprache,
Taubheit in den Beinen und unsicherer Gang, unkoordinierte Bewegungen
der rechten Hand. Leichter Tremor des Kopfes. Der Augenbefund war
normal, die Sehnenreflexe auslosbar.
T. S., 25 Jahre alt, Bruder der vorstehend eiwahnten Patient in,
zweites Kind. Vor 4 Jahren Schmerzen im Riicken, die in die Beine hinuntei-
zogen. Der Gang wurde unsicher und allmahlich schlecht er, dazu kem In-
tentionstremor beiderseits und unkoordinierte Bewegungen lechts. Die
Sprache wurde schlecht, gelegentlich trat Doppeltsehen auf. Leichter
Romberg. Keine Sensibilitatsstorungen. Sehnenreflexe auslosbar, beider¬
seits Fufiklonus.
In beiden Fallen war die Intelligenz ungeschadigt.
Batten selbst ist nicht recht geneigt, diese Falle der multiplen
Sklerose zuzurechnen, weil sie nicht alle typischen Merkmale dieses
Leidens darbieten. Er gibt jedoch das familiare Vorkommen zu
und teilt mit, er habe zurzeit zwei Mitglieder derselben Familie
in Behandlung, die an einer typischen disseminierten Sklerose
erkrankt seien.
In der Diskussion, die sich an die Demonstration dieser beiden
Falle anschlieBt, bemerkt Dr. James Collier , dafi er die Krankheit
fur eine multiple Sklerose halte; er wisse mehrere Beispiele, wo
zwei Mitglieder einer Familie an disseminierter Sklerose litten. In
einem dieser Falle habe er vor mehreren Jahren die Sektion gemacht,
und der pathologische Befund war der fur disseminierte Sklerose
typische; die sklerosierten Plaques fanden sich in der Kleinhim-
Gougle
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Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
61
Bruckenregion. (Hier ist also die von Striimpell und Oppenheim
so dringend verlangte Bestatigung durch den Sektionsbefund!)
Mir scheinen die Falle von Batten am besten erklart, wenn
man multiple Sklerose annimmt; die Art der Beschwerden spricht
doch sehr dafiir, femer das Alter beim Auftreten des Leidens. Die
Friedreichsche Ataxie ist mir viel unwahrscheinlicher; ganz aus-
geschlossen erscheint mir, daB es sich um eine Analogie der Falle
Pelizaeus-Merzbacher handelt.
Coriat bcrichtet in der New England Pediatric Society im
Januar 1909 iiber eine eigenartigc Form eines familiaren Nerven-
leidens, das Kinder betrifft und anscheinend der multiplen Sklerose
zuzuzahlen ist. 4 Falle teilt er mit, in alien Fallen betrifft es Kinder
russischer Juden. Er meint, mannigfache Symptome sprachen fur
multiple Sklerose, wahrend andere an die amaurotische familiare
Idiotie erinnerten. Von den Kranken sind zwei Gcschwister. Da
diese Falle uns besonders interessieren, seien sie in folgendem kurz
wiedergegeben.
Beide Eltem scheinen gesund zu sein, ebenso 3 Geschwister. Eine
Cousine des Vaters hatte seit dem 14. Lebensjahre einen starken Tremor
xnanuum.
Die ersfce Patientin, M. K., hatte als kleines Kind Diphtheritis, sonst war
sie inuner gesund gewesen. Mit 9 Jahren begann Unsicherheit der Hande,
auch litt sie an leichtem Schwindel. Die Beschwerden nahmen zu, es traten
dann noch Schmerzen im linken Bein auf. Bei der Untersuchung fand sich
folgendes: MaBige Ataxie der Aime und Beine, die bei AugenschluB zunahm
und in der linken Hand am deutlichsten war. Leichtes Kombergsches
Schwanken. Keine Sprach- oder Augenstor ungen, keine Storung der
Schmerz- imd Beruhrungsempfindliehkeit. Feinschlagiger Tremor dei aus-
gestreckten Hande, der bei willkiirlichen Bewegungen zunahm. Knie-
phanomene abgeschwacht, Achillessehnenphanomene fehlend. Kein FuB-
klonus. Rechts Babinski und Oppenheim. Keine Muskelatrophien. Vor-
ubergehend Spasmen im linken Bein. Intelligenz gut.
A. K., Schwester der vorigen Patientin. Mit 12 Jahren bemerkte sie
einen grobschlagigen Tremor der rechten Hand. Bei der Untersuchung
Intent ionstremor, links mehr als rechts. Knie- und Achillessehnenphanomen
schwach. Kein FuBklonus. Gehen und Stehen ohne Besonderheiten.
JBibinski und Oppenheim nicht vorharden. Keine Atrophien. Keine Sen-
sibilitatsstorungen. Kein pathologischer Augenbefund. Zurge zitterte.
Es ist wohl wahrscheinlich, daB sich aus diesen bciden Krank-
heitsbildern eine typische multiple Sklerose entwickeln wird, aus
dem oben wiedergegebenen Befunde wiirde ich noch nicht wagen,
oin'3 sichcre Diagnose zu stellen.
Einen Fall von hereditar-familiarem Auftreten der multiplen
Sklerose, der von Th . Weiflenburg beschrieben ist, erwahnt noch
Otto Marburg ; leider gelang es mir nicht, uns das Arch, of Diagnosis
1909 April zuganglich zu machen.
Ich komme jetzt zur Beschreibung der von mir beobachteten
Falle. Bemerken will ich, daB sie, auBer von mir, von Herrn
Professor H. Berger eingehend untersucht sind.
Am 26. VII. 1910 kam wegen vermeintlicher neurasthenischer Be¬
schwerden der damals 38 Jahre alte Lehrei August E. (J.-N. 8790) zur Be-
handlung in die Neivenabteilung unserer Klinik.
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R o p e r . Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
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62
Ueber seine Familie machte uns der sehr intelligent© und fiir sein.
Leiden sehr interessierte Patient folgende Angaben:
„Mein Vater war Tischlermeister; er erlitt im Jahre 1888 einen Unfall r
bei dem er ein Bein brach. Jedenfalls hatte er sich aber auch inner© Ver-
letzungen dabei zugezogen, denn er war vom Unfalltage ab bettlagerig.
Im Herbste 1889 kam ein Blutsturz dazu, der sich nach einigen Tagen
wiederholte und den Tod zur Folge hatte. In arztlicher Behandlung befand
er sich in letzter Zeit nicht mehr. Der Vater des Vaters ist an Alteisschwache
gestorben, liber die Mutter des Vaters ist nichts Naheres bekannt. Ein
Bruder des Vaters lebt, mehr ere Geschwister sind an Tuberkulose ge¬
storben. Nervenkrankheiten sind in der Femilie meines Vaters nicht vor-
gekommen. 4 '
Es scheint hiernach nicht unwahrscheinlich, daB auch der Vater
an Phthisis pulmonum zugrunde gegangen ist.
„Meine Mutter lebt noeh; sie ist jetzt — 1912 — 62 Jahre alt; soweit
bekannt, war sie immer gesiuid. Jetzt ist mir aufgefallen, daB sie nach
korperlichen Anstrengungen auffallend unsicher geht.‘‘
Es liegt mir iiber den jetzigen korperlichen Zustand ein arztlicher
Bericht vor; darin heiBt es: „Ein Befimd, der auf ein zentral gelegenes
Nervenleiden schlieBen laBt, ist nicht zu erheben gewesen. Die Knie-
sehnenphanomene waren erhalten, nicht gesteigert. KeinFuBklonus. Periost-
reflexe am Arm vorhanden, aber nicht gesteigert. Pupillen reagieren beide
auf Licht- und Accommodation gleichmaBig. Der Gang hat keinen spastischen
oder ataktischen Charakter. Auffallend ist nur die etwas vorgebeugte
Korperhaltung, dhnlich wie bei Paralysis agitans. Die Sprache ist normal
und ungestort. Intentionstremor nur eben angedeutet, Sensibilitat, Blase
und Mastdarm intakt. Intelligenz nicht beeinfluBt. 44
„Dei Vater der Mutter ist 85 Jahre alt gestorben, er war stets gesund.
Die Mutter der Mutter starb 65 Jahre alt, sie hatte einmal ,Nervenfieber‘
und war stets schwach in den Nerven, doch geistig gesund. Eine Schwester
der Mutter starb an Wassersucht, 4 weitere Geschwister leben und sollen
gesimd sein.“
Unser Patient hat nur einen Bruder, Hugo; von dem gab er 1910 an r
er habe seit mehreren Jahren einen sehr schwankenden Gang und sei leicht
erregbar. Mit diesem Bruder werden wir uns nachher noch eingehend be-
schaftigen; bemerkt mull noch werden, daB die Fama loci behauptet, die
Vater der beiden Bruder seien nicht dieselben, jedenfalls ist Hugo vor
der Ehe geboren.
Ueber seinen Lebenslauf und seine Krankengeschichte macht Pat.
1910 folgende Angaben:
„AuBer an Masern und Scharlach im Kindesalter bin ich nie krank
gewesen. In der Schule habe ich stets gut gelernt. 1892 geniigte ich meinei
Militarpflicht , 1895 imd 98 habe ich Reserveubungen gemacht. Seit 1896 bin
ich verheiratet; die Ehe ist, wohl infolge Krankheit meiner Frau, bis jetzt
kinderlos geblieben. Geschlechtskrank bin ich nie gewesen. Im GenuE von
Alkohol und Nikotin war ich stets maOig.
Schon seit meinem 20. Lebensjahre muEte ich dieBeobachtung machen,
dafi ich leicht umkippte und mir so den FuB vertrat. Ich beachtete diesen
Umstand weiter nicht. Eine leichte Herzerweiterung verlor sich infolge
Kurgebrauches von 1904—06. Im Sommer 1908, gelegentlich einer Unfcer-
suohung fur eine Lebensversicherungsgesellschaft, machte mich der Arzt
darauf aufraerksam, daB mit meinen Nerven nicht alles in Ordnung zu sein
schiene. Von diesem Zeitpunkte ab merkte ich, wie die Elastizitat aus
meinen unteren Extremitaten allmahlich wich und mein Gang nach und
nach immer schwankender wurde. Ich dokteite viel herum, 1910 kam ich
dann in Ihre KJinik.“
Zu bemerken ist noch, daB Patient ein eifriger Jager war. Fehl-
geburten hat die Frau nicht gehabt. Patient verrichtet noch jetzt seinen
Dienst.
Pat. war 1910 34 Tage lang hier zui Behandlung. Schon damals wurde
dieWahrscheinlichkeitsdiagnose gestellt, daB es sich um eine multiple Sklerose
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K oper , Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
handle. In der Folge hat Pat. sich dann noch mehimals bei uns vorgestelltp
an der Diagnose ist jetzt kein Zweifel mehr. Ich gebe den Status praesens
vom 2. IV. 1912 nachfolgend wieder:
Kraftigei, mittelgroBer Mann in gutem Ernahrungszustande. Gesichts-
farbe gebiaunt. Das Skelett zeigt keine Besonderheiten. Der harte Gaumen
ist etwas steil. Die sichtbaren Schleimhaute sind gut durchblutet. Die-
Zahne sind gut erhalten. Der Schadel zeigt nichts Besonderes.
Der Lungenbefund ist regelreeht. Das Herz liegt in normalen Grenzen,
iiber der Heizspitze ist ein deutliches systolisches Geiausch horbar. Der
zweite Pulmonalton ist etwas laut. Puls voll, regelmaBig, sehlagt 66—68 mal
in der Minute. Arterien weich, gerade. Die Bauchorgane weiden, soweit es
sich nachweisen laBt, normal. Im Urin fanden sich keine pathologischen
Bestandteile.
Der Befund am Nervensystem war folgender: Hautnachroten +»■
mechanische Muskelerregbarkeit schwach. Ankonausphanomen +, ==.
Periostradiusreflex +, =. Kniephanomen beiderseits gesteigert, doch rechts
mehr als links, ebenso das Achillessehnenphanomen. Kein Patellar- oder
Dorsalklonus. Plant arreflexe beiderseits schwach. Babinski beideiseits
angedeutet, links mehr als rechts. Bauchreflexe kaum auslosbar. Ki emaster-
reflex +. Beklopfen des Kopfes und dex Wirbelsaule wurde nicht besonders
schmerzhaft empfunden. Die Nervenaustrittsstellen und die grossen Nerven-
stamme waren nicht besonders druckempfindlieh. Beruhrungsempfindjich-
keit intakt. Lokalisation genau. Sehmerzempfind lichkeit normal. Tem-
peratursinn, ebenso das Lagegefiihl nicht gestort. Die Arm- und Bein-
bewegungen waren beiderseits frei und kraftig. Ataxie der Aime beiderseits
angedeutet. Auch best and beiderseits ein maBiger Intent ionstremor. Bei
aufgetragenen Beinbew'egungen werden auffallend umstandliche Bewegungen
gemacht. Der Gang ist unsicher und ausgesprochen spastisch. Bei ge-
sohlossenen Augen nimmt die Unsicherheit sehr zu. Das Bombergsche Pha-
nomen ist positiv. Die Augenbewegungen sind frei; bei langerer Konvergenz.
treten deutlich nystagmusartige Zucknngen auf, ebenso bei extremem Seit-
wartssehen. Die Pupillen waren gleich, mittelweit und rund, die Reaktion
auf Lichteinfall und Annaherung erfolgte prompt und ausgiebig. Korneal-
reflex beiderseits schwach, Konjunktivalreflex beiderseits fehlend. Dia
Innervation des Gesichtes war eine gleichmaBige. Der weiche Gaumen wurde
gleichmaBig gehoben, der Wiirgreflex w r ar sehi schwach. Die Zimge wurde
annahernd gerade vorgestreckt, zittert nicht. Gehor und Gernch waren in¬
takt. Die JPapillen zeigten beiderseits temporale Abblassimg, rechts aus-
geeprochener als links. Die Sprache war deutlich skandierend. Eine nennens-
werte Aenderung der Schrift bestand nicht. Die Wassermannsche Reaktion
im Blut fiel negativ aus. Die Potentia coeundi hat nach Angabe des Pa-
tienten und der Ehefrau keine Einbufle erlitten. Patient soil jetzt leichter
reizbar sein als friiher. Auffallend war, daB er fast immer eine lachelnde
Miene zur Schau trug. Die Frau gab spontan an: „auBerlich lacht er, wenn
er innerlich weint; er kann es wohl nicht anders. 44 Die Intelligenz des Pa-
tienten ist durchaus ungeschadigt.
Niemand wird bei diesem Schulfalle zweifeln, daB es sich um
eine typische multiple Sklerose handelt, auch wenn die mikro-
skopische Bestatigung nicht vorliegt! Gfegeniiber der Angabe unserea
Patienten, daB sein Bruder an demselben Leiden schon seit vielen
Jahren litte, waren wir anfangs begreiflicherweise recht skeptisch.
Doch hatten wir Gelegenheit, auch von Hugo E. eine genaue Kran-
kengeschichte aufzunehmen, die wir nachstehend ausfuhrlich
wiedergeben.
Die Entwicklung des Patienten war eine normale; er hat rechtzeitig
laufen und sprechen gelemt; besondei e Kinderkrankheiten hat er nicht
durchgemacht. In der Schule hat er sehr gut gelemt, nach Angabe seines
Bruder8 war er einer der Intelligentesten. Nach der Konfiimation lernte er
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Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
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als Porzellanmalei. Soldat i9t er nicht gewesen, nach seiner Meinung wegen
allgemeiner Korperschwache. Geschlechtskrank will er nie gewesen sein.
Alkoholabusus wird in Abrede gestellt, Pat. ist kein Rauch er.
Pat. heiratete im 26. Lebensjahre. Die Frau war 6 mal schwanger, zwei
Kinder sind am Leben und gesund, zw’ei sind klein an Diphtheiitis gestorben
und zwei tot geboren. Potentia coeundi und Libido sexualis nach Angabe
<ies Kranken noch jetzt ungestoit.
„Das jetzige Leiden begann 1892 in meinem 20. Lebensjahre nach einer
schweren Lungenentziindung. Bei meinem ersten Ausgang nach einem vier-
wochigen Kiankenlager wuide ich gewahr, dafl das Laufen nimmer so
ging wie zuvor. Bemerken will ich, da6 ich friiher ein Hotter Tanzer war.**
1905 bemerkte Pat., daO die Sprache imdeutlich und schwerfallig w’urde.
Bis zu dieser Zeit hatte er noch in der Dorfkapelle mitgespielt, jetzt muBte
er es aufgeben, da er bei den Marsclien nicht mehr mitkommen konnte. Auch
wechselte er auf den Rat seines Arztes seinen Beruf und kaufte sich eine
kleineOekonomie. ImMarz dieses Jahres trat eine plotzlicheVerschlechterung
ein; das Gehen wollte nun fast gar nicht mehr ohne Unterstiitzung gelingen.
Blasen- und Mastdai mstorimgen bestehen nicht.
Der Status praesens vora 3. VI. 1912 ist folgender:
Der Kranke ist ein mittelgroBer, maUig kraftiger Mann in genligendem
Einahrungszustande; seine Gesichtsfarbe ist gebraunt. Der Schadel bietet
keine Besonderheiten. Lungen und Herz zeigen keine krankhaften Ver-
anderungen. Der Puls schlagt 78 mal in der Minute, legelmaBig, und ist
von entsprechender Fiille und Spannung. Es besteht keine periphe re Arterio-
sklerose. Die Bauchorgane bieten nichts Besondeies. Der Uiin ist klar,
enthalt weder EiweiB noch Zucker. Driisenschwell ungen bestehen nicht.
Hautnachroten und mechanische Muskelerregbarkeit sind nicht be-
sonders lebhaft. Das Ankonausphanomen fehlt beiderseits, der Periost-
radiusreflex ist in normaler Weise auslosbar. Das Kniephanomen ist beider¬
seits schwach, rechts noch etwas schwacher als links. Das Achillessehnen-
phanomen ist beiderseits gleich lebhaft. Patellar- oder FuBklonus besteht
nicht. Der Plantarreflex ist beiderseitsauffallend gesteigert. Das Babinskiache
Phanomen ist beiderseits vorhanden. Der oV)ere Bauohreflex ist beiderseits
ganz schwach und verlangsamt. Kremasterreflex +, =. Kopfperkussion
etwas schmerzhaft. Beklopfen der Domfortsatze nicht besonders schmerzhaft.
Beriihrungsempfindlichkeit intakt. I okalisation gen an. Schmerzempfind-
lichkeit erhoht. Armbewegungen kraftig, unsicher, ausfahrend. Inten-
tionstremor beiderseits, doch links mehr als rechts. Handedruck: rechts
37 kg, links 33 kg. Beiderseits Ataxie der Arme, links mehr als rechts.
Beinbewegungen spastisch, ausfahrend, es besteht deutliche Ataxie. Das
Lagegefvihl ist in den Beincn herabgesetzt. Der Gang ist spastisch,
paretisch, ataktisch; ohne sich festzuhaiten oder unterstiitzt zu werden,
kann Pat. iiberhaupt nicht gehen. Er gibt an, friihmorgens sei es mit
dem Gang etwas besser. Romberg stark +. Augenbewegungen frei; in
den Endstellungen, besonders beim Blick nach oben nystagmusartige
Zuckungen. Lichtreaktion etw r as wenig prompt, maOig ausgiebig. Con-
vergenzreaktion prompt und ausgiebig. Mundfacialis rechts etwas weniger
ausgiebig als links. Es scheint, als wenn die ganze rechte Gesichtshalfte
etwas w'eniger entwickelt ist als die linke. Die Innervation des Augenfacialis-
gebietes gescliieht symmetrisch, ebenso das Stimrunzeln. Koineal- und
Skleralreflex fehlen beiderseits. Die Zunge wird gersde vorgestreckt,
zittert nicht auffallend. Gaumen- und Wiirgreflex sind in noimaler Weise
auslosbar. Hor- und Riechvermogen sind nicht gestort. Die Papillen sind
in toto etwas blaB, temporalwarts mehr als nasalwarts. Die temporale Ab-
blassung ist links ausgesprochener als rechts. Die Sprache ist undeutlich,
verwaschen, skandierend. Die Schrift zeigt in mafiigem Grade fiii multiple
Sklerose typische Veriinderungen.
Das Symptom des Zwangslachens bestand bei Hugo in sehr viel aus-
gesprochenerem MaOe als bei dem jiingeren Bruder.
Die Was8ermannsche Reaktion im Blute fiel einwandfrei negativ aus,
<lie Stemsche Reaktion war schwach positiv.
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Roper, Zur Aetiologie der multiple!! Sklerose.
65
Wenn ich meine bisherigen Ausfiihrungen zusammenfasse, so
ist das Resultat: Das Vorkommen der multiplen Sklerose bei
Geschwistem wurde von 13 Autoren beobachtet; diese sind
Frerichs, Erb, Dreschfeld, Miljanitsch, Totzke, Irma Klausner,
Unger, Liebermeister, Cestan und Guillain, Reynolds, Batten und
Collier ; hierzu kommt noch der von Marburg erwahnte Weifien-
6«rjrsche Pall. Krankheitsfalle bei Geschwistem, die unter dem
Bilde der multiplen Sklerose verliefen, bei denen sich aber die Be-
obachter nicht zu einer bestimmten Diagnose entschlielien konnten,
sahen: Batten, Coriat u. A. 1 ).
Das heriditare Vorkommen der multiplen Sklerose ist eben-
falls mehrfach beschrieben worden. Am bekanntesten ist die Ver-
offentlichung von Eichhorst aus dem Jahre 1896; es handelt sich
dort um einen anatomisch sichergestellten Fall, der eine 42 Jahre
alte Frau und ihren 8 Jahre alten Sohn betraf.
Vor Eichhorst haben sich schon Duchenne und Erb fur das
hereditare Vorkommen ausgesprochen, nach ihm Ella.
Da die Angaben uber die Aetiologie der multiplen Sklerose sehr
schwankende sind, habe ich die mir zur Verfiigung stehenden Kran-
kengeschichten in Bezug auf Erblichkeit und Entstehungsursachen
durchgearbeitet und zusammen mit einigen groBeren Statistiken in
eine Tabelle gebracht, um so groBere Zahlen zu gewinnen; es gelang
mir, auf diese Art 763 Falle zusammenzubringen. Ich konnte
natiirlich nur Statistiken benutzen, in denen Angaben fiber die
fiir mich wissenswerten atiologischen Momente enthalten und die
ungefahr nach gleichen Gesichtspunkten angefertigt sind. So ist es
mir, glaube ich, gelungen, einigermaBen verwertbare Prozentzahlen
zu finden. Verzichtet habe ich darauf, mein Material auch
auf die Haufigkeit der einzelnen Symptome hin durchzuarbeiten;
es liegen hieriiber von Berger, Irma Klausner u. a. ja sehr ein-
gehende Arbeiten vor. Bemerken will ich jedoch zwei Tatsachen,
die sich mir beim Durcharbeiten der Krankengeschichten auf-
drangten:
1. Die in Bezug auf die 3 Kardinalsymptome atypisch ver-
laufenden Falle, sind weit haufiger als die typischen.
2. Am konstantesten sind die Erscheinungen von seiten
der Beine.
Einen Vorzug mag mein Material vor anderem haben : da es
aus einer psychiatrischen Klinik stammt, ist, wie ich annehme, die
Frage der Hereditat eingehender und systematischer behandelt
als in den Kliniken der inneren Medizin.
Im folgenden sei in tabellariScherUebersicht das wiedergegeben,
was mir in atiologischer Hinsicht an meinem Material wichtig
erschien. Selbstverstandlich habe ich nur die Falle beriicksichtigt,
in denen es sich um eine primdre multiple Sklerose handelt. .
1 ) Wahrend des Druckes wild mir von Henn Privatdozenten
Dr. Queckenstedt mitgeteilt, daB in der Rostocker nr.edizinischen Klinik
2 einwandsfreie Falle von typischer multipier Sklerose bei Briidem be-
obaehtet sind. Leider sind diese Falle noch nicht veroffentlicht.
Monataechrift %• Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 5
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K o p e r . Zur Aetiologie der lniiltiplen Sklerose.
Manner.
66
J oumal-Nummer.
Jetziger Beruf, even-
tuell auch friihere.
Jahr der Aufnahme
Erblichkeit
Alter boim
Bemerken der
ersten Erschei-
nungen, Obel
der Aufiitthrae.
Aetiologie
1. J.-N. 1088. Schuler.
1890.
GroBmutter litt an Gicht
u. stets an starken Kopf-
schmerzen. 37 Jahre alt |.
; s
(id
i
lm 4. Lebensjahre starker Schreck.
Pat. wurde (iberfahren.
2. J.-N. 1126. Prakt.
Arzt. 1890.
29
(33)
Stets etwas eigenartiger Mensch. Mit
24 Jahren Typhus. Die ersten Be-
schwerden traten nach einer starken'
Gemiitsbewegung — plotzlicher Tod
des Kindes — auf.
3. J.-N. 1602. Lehrer.
1893.
Pater: sehr hitzig, leicht
reizbar. GroBvater: etwaa
heftig. Mutter der Mutter
an Tb. pulm. Bruder der
Mutter Phthise. 1 Bruder
hort schlecht.
20
(21)
Beginn der Beschwerden nach einer
anstrengenden militarischen Uebung.
4. J.-N. 1630. Geriehts-
asBistent. vorher 14
Jahre lang Soldat.
1893.
6 Geschwister in den ersten
Lebensjahre t» 4 leben
und sind gesund.
24
(41)
Nach einer Durchnassung.
5. J.-N. 1750. Buch-
biuder. 1894.
1 Bruder u. 1 Schwester
jung sonst keine Ge¬
schwister.
25
(36)
Im 13. Lebensjahre nachts Anfalle von
i Starrkrampf, sonst Entwicklung nor-
j mal. Keine weitere Aetiologie.
6. J.-N. 2344. Berg-
mann. 1896.
1 Schwester klein f, 3 Ge¬
schwister leben und sind
gesund. Vater jung f*
36
| (40)
i j
In der Kindheit Krampfe. Debiler
Mensch. Newh Verbriihung des linken
| Beines in heiBer Lauge allmahliche
, Entstehung des Leidens.
7. J.-N. 3727. Apothe-
ker. 1900.
—
: 32 |
| (39)
Ohne erkennbaren Grund plotzliches
Entstehen des Leidens.
8. J.-N. 4778. Lemte
ale Sattler, dann 12
Jahre Soldat, jetzt
S teuerkontrol leur.
1903.
i 38
j (40)
Mit 38 Jahren Typhus, Pat. lag 5 Mo-
nate lang krank. daran anschlieBend
! entwickelten sich die ersten Zeichen
j des jetzigen Leidens.
9. J.-N. 4805. Por-
zellanmaler. 1903.
Schwester der Mutter ..ner-
vos“ u. deshalb in einer
Irrenanstalt.
1 18
i (21)
t
Schon als Knabe eigentiimlicher Gang,
mit 18 Jahren die ersten typischen.
Beschwerden. Keine Aetiologie.
10. J.-N. 5137. Land-
wirt. 1904.
Vater ist ganz zusammen-
gewachsen, geht mit der
Nase fast auf dem Erd-
boden.
! 20
! (28)
i
i
1
Im 19. Lebensjahre heftiger Schlag
gegen das linke Stirnbein. im nachst<exx
Jahre Soldat. Furunkulose. Wegen.
multipler Sklerose vom Militar ent-
las8en.
Digitized b)
Google
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67
J oumal-N umrner,
Jetziger Beruf,
eventuell auch friihere.
Jahr der Aufnahme
Erblichkeit
Aetiologie
11. J.-N. 4714. I«and-
wirt. 1903.
12. J.-N. 5605. Ma- j
schinenschlosser.
1905. !
13. J.-N. 5880. Weber,
arbeitete friiher 27
Jahre lang in einer
Uhren - Fabrik, viel
Messingstaub.
Beide Eltem debil.
Mutter lebt, 74 Jahre alt,
hat seit Jahren Zittem in
einer Hand.
14. J.-N. 5951. Arbeiter, i; 3 Geschwister klein t*
1906 jfSonst keine Geschwister.
15. J.-N. 6113. Holz-
hauer. 1906. Nochin
der Anstalt.
16 .
J.-N. 6496.
1906.
Heizer.
17. J.-N. 7835. Schuh-
macher.
18. J.-N. 7858. Mecha-
niker, Installateur.
Hat haufig mit ver-
bleiten Rohren zu tun,
19. J.-N. 8688. Bis zum
14. Jahre mit dem
Vater auf der Land-
straBe, hernach Etui-
arbe iter und Kellner.
1910.
20. J.-N. 8987. Miihlen-
bauer. 1910.
21. J.-N. 8989.
nat. 1910.
cand.
Mutter ,,Krampfe“. 1 Ab¬
ort der Frau, 1 Kind klein
f. 2 gesunde Kinder.
Vater als Schulknabe ,,ner-|
venkrank“.
Geschwister klein
keine am Leben.
19
( 22 )
19
( 20 )
38
(44)
20
( 22 )
25
(30)
20
(27)
27
(30)
Mutter 40 Jahre alt | ! 17
Vater Asthma, 1 Abort der !■ (26)
Frau, sonst keine Kinder. I
Pater potator strenuus,
Landstreicher. Bruderdes
Vaters Suizid. Mehrere Ge¬
schwister des Vaters an
Tb. f, 1 Fehlgeburt der
Frau, eine Totgeburt.
1 Kind stottert hochgradig,
3 weitere gesund.
Mutter nervenleidend, nachj:
Mitteilung eines Nerven-
arztes beim Bruder eben-
falls beginnendes organi-
sches Nervenleiden, Natur
desselben noch fraglich.
etwa 30|
36
30
(31)
25
(26)
Mit 19 Jahren ,,sohwerer Lungen-
katarrh" (Pneumonie ? Lungenbefund
im Status o. B.), damach begann das
jetzige Leiden, das noch mit einem
ausgesprochenen zirkularen Irresein
kompliziert ist.
Mit 19 Jahren Influenza, daran an-
schlieBend Beginn der Beschwerden.
Seit dem 38. Xiebensjahre zimehmende
Insicherheit beim Gehen, jetzt ty-
pische multiple Sklerose.
Im 20 Xiebensjahre 5 Monate lang an
Unterleibsentziindung krank (Typhus ?)
Seitdem Erschwerung der Sprache usw.
Etwa mit 25 Jahren Beginn d< r Er-
krankung, keine Entstehungsursache.
Beginn des Iieidens nach einem hef-
tigen Fall auf den Hinterkopf. (Pat.
fiel 10 Stufen einer Treppe herunter.)
AnschlieBend an Gesichtsrose Beginn
des Iieidens.
Erste Ersche inungen schon etwa im
17. Lebensjahre.
Eine Enstehungsursache ist nicht an-
gegeben. Wassermann im Blut:—.
Keine Entstehungsursache. Wasser¬
mann im Blut:—.
Mit 25 Jahren bemerkte Pat. die ersten
Ersche inungen des jetzigen Leidens.
Keine unmittelbare Entstehungsur¬
sache, angegeben wird Ueberarbeitung
bei der Vorbereitung aufs Staats-
examen.
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Roper. Zur Aetiologie tier multiplen Sklerose.
Journal-Nummer.
Jetziger Beruf,
eventuell auch friihere.
Jahr der Aufnahme
Erblichkeit
22. J.-N. 9104. AlsMau-i
rer gelemt, dann Zie-
geleiarbeiter. 1911.
aim
•Sgg-fj
g~
9 « C
2 s| !
Aetiologie
3") Mehrere
(37)
leichte Traumen. Wasser-
mann im Blut: —.
23. J.-N. 9262. Spinne-
reiarbeiter, dann Fa-
sanenwarter. 1911.
24.
25.
J.-N. 9367.
macher.
Knopf -
1911.
J.-N. 9437.
arbeit-er.
Schwester der Mutter
Potatrix. Suizid.
,Vater nervos. 39 Jahre alt
an Herzschlag f. 1 Bruder
Idea Pat. 51 Jahre alt an
|i Herzschlag t, 1 Schwester.
l! 34 Jahre alt an Tb. pulm.
i| Frau Suizid in Melancholic.
1 Kind nervos u. Pavor
noctumus.
Fabrik- j. 1 Bruder in einer Lungen-
1911. 1 heilstatte.
(33)
31
(53)
(30)
Keine Entstehungsursache.
i mann im Blut:—.
Wasser-
Mit 31 Jahren Schlaganfall nach star-
I ker Erkaltung. Viele gemiitliche Er-
regtmgen.
;! Nach der Militarzeit mit 20 Jahren
J alle Jahre 1 mal Gelenkrheumatismus;
llvielleicht waren das aber schon die
jjersten Beschwerden des jetzigen Lei-
I’ dens.
26. J.-N. 9562. lnstru-|
mentenmacher. Frii-
her Tischler. 1911.
i 2 Geschwister klein t.
2 leben und sind gesund.
27. J.-N. 9903. Land- - Schwester des Vaters j
wirt. 1912. Noch in i Suizid. 3.Geschwister klein |
der Kiinik. j! t-
28.
J.-N. 8790 a.
August E.
Lehrer
1910.
29.
J.-N. 8790 b. Por-
zellanmaler Hugo E.
1912.
Mutter Paralysis agitans :
Mutter der Mutter nervos.
Vater Tb. pulm. ? Ge¬
schwister des Vaters tuber-
kulos. Bruder leidet eben-
falls an multipler Sklerose.
Wie oben.
30
(37)
(25)
20
(39)
24
(44)
Keine Entstehungsiu'sache.
Schon mit 8 Jahren klagtePat., nach
Angabe des Vaters ohne Grund: Die
Fliegen bissen ihn in die Waden; mit
15 Jahren schon ausgesprochene Krank-
heitserscheinungen. Der Vater gibt an,.
„er hat die Krankheit von Kindes-
beinen an, nur schlimmer ist es ge-
worden.“ Pat. gibt Durchnassung als
Entstehungsursache an.
IF*
s. ausfiihrlichen BeriQht. Keine aus-
losenden Moment© bekannt. Wasser-
mann im Blut: —
[Nach Pneumonie. Wassermann im
Blut: —
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Roper. Zur Aetiologie der multiplen 8klero.se.
69
Frauen .
J ournal-N ummer.
Friihere Berufe.
Jetziger Beruf.
Wann in der Anstalt.
j
| a) Erbliehkeit
1 b) Geburten
i
s^li
sm
: ^ ©
1
Aetiologische Momente
j
1. J.-N. 1730. Ledige
Fabrikantentochter.
1897.
a) Pater:Apoplexie; Mater:
nervos, 1 Bruder u. 1
Schwester Gicht.
30
(36)
—
2. J.-N. 2139. Land-!
wirtefrau.
a) —; b) 1 gesunde Toehter. |
18
(42)
Erste Beschwerden nach starker Chlo-
rose. Sehr langsamer Verlauf.
3. J.-N. 2182(867). Le¬
dige Oberstleutnants-
tochter, 1899.
i
a) Mutter Phthise, nervos. ;
Mutter der Mutter Tb. ?
1 Bruder der Mutter kleint,
1 Schwester der Mutter
somnambul. 1 Bruder
Typhus t, 1 Bruder Suizid.
2 Bruder Phthise. sehr
nervos. 1 SchwesterPhthise.
sehr nervos. ^
43
(67)
Stets sehr nervos, friiher schon wegen
hvsterischenlrreseins in der Klinik, seit
dem 43. Lebensjahre fiir multiple Skle-
rose typische Beschwerden. (Ein-
wandfreier Fall.)
4. J.-N. 2439. Giefierei-
besitzerswitwe, 1900.
a) Vater seit dem 60. Le- ‘
bensjahre gelahmte Beine.
1 Schwester des Vaters
Gicht, 1 Bruder Asthma.
Mutter mit 45 Jahren
Schlaganfall. Schwester
der Mutter Schlaganfall.
1 Bruder Neurastheniker,
1 Schwester Suizid. j
b) 2 Kinder klein ti 1 Sohn
lebt, gesund.
43
(47)
Als Kind skrofulos, stets blutarm. Mit
43 Jahren Beginn des Leidens mit
Schwache im r. Arm. Patientin hatte
13 Jahre lang Strophantus und Digi¬
talis genommen, darauf fiibrte sie ihr
Leiden zuriick.
5. J.-N. 2684. Auf-
warterin.
a) —, b) 1 Abort ? 1 Solm t,
1 Sohu lebt.
26
(30)
Sclerosis multiplex -f- Hysterie. Mit
ca. 26 Jahren Rheumatismus, darnach
Beginn der Beschwerden.
6. J.-N. 2846. Hoteliers-
frau, 1902.
a) 1 Bruder kkin t» 1 Bru¬
der an Appendicitis f»
1 Schwester sehr lebhaft,
etwaseigentiimlich. Vaters
Bruder lungenleidend. 2
Sohwestem der Mutter im
Wochenbett t; Mutters- 1
bruder Apoplexie. b) 2 j
Kinder klein ^ Kinder
gesund.
ca. 30
(36)
Wit dem 30. Lebensjahre etwa Be¬
schwerden. nach einer Graviditat
schnelie Verschlimmerung.
7. J.-N. 2961. Arbei-
terin in einer Gummi-
ware niabrik, 1902.
a) Vaters Schwester jung tJ
Mutter im Kindbett f ; 1
4 Geschwister gesund.
b >- |
21
1 (22)
i
!
1 j
20 !
(37) |
i
Verse hi immerung der bestehenden Be¬
schwerden durch Unfall.
8. J.-N. 3584. Kauf-
niamisfrau. 1904.
a) Mutter nervos. 1 Bruder)
sehr nervos; b) 1 Abort,
2 gesunde Kinder. |
1 Erste Erscheinungen mit 20 Jahren,
' nach dem zweiten Partus auffallende
V erschl immerung.
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70
Roper, Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
J oumal-Nunimer.
Friihere Berufe.
Jetziger Beruf.
Warm in der Anstalt.
9. J.-N. 3951. Fabrik-
arbeiterin in einer
Porzellanf abrik .1906.
10. J.-N. 4001. Maurers-
frau, 1906.
11. J.-N. 4766. Tochter
eines Eisenbahn-
beamten, 1908.
12. J.-N.4948. Lehrers-
frau, 1908.
13. J.-N. 5242. Bahn-
beamtenstocht.. 1909.
14. J.-N. 5300. Stiitze.
1909.
15. J.-N. 5683. Korb-
machersfrau undAuf-l
warterin, 1910. j
16. J.-N. 6018. Friiher
Kochin, jetzt Op-
tikersfrau, 1911.
17. J.-N. 6075. Kauf-
mannstochter, 1911.
18. J.-N. 3478. Lehrers-
tochter, 1904—1911.
a) Erblichkeit
b) Geburten
I L'Z 2
:
Jjf I
• i ZZ bo 5 s.
!l S SJ.§
Aetiologische Momente
a) Vater 43 Jahre alt aus 1
; 21 !
Mit 21 Jahren Influenza, darnach Be-
unbekannter Ursache f- !
‘ (24)
ginn der Beschwerden.
b )-. ,
a) 1 Bruder Suizid; 1 Bru¬
1 21
Keine auslosende Ursache bekannt.
der mit 40 Jahren Apo-
! (37)
t
i
plexie. b) 4 gesundeKinder.
i
a) Mehrere Briider des j
! 21
Beginn des Leidens nach Erkaltung-
Vaters jung t* einer an'
i (22)
galoppierender Tb., 1 Bru-|
der der Mutter verschollen. !
2 Geschwister jung t< 2 ge- i
sund. b) —. Ii
a) Vater 53 Jahre alt an
Asthma u. Wassersucht. 1
Mutter 63 Jahre alt an
Wassersucht. b) —.
31 Ehe mit 19 Jahren, 5 Wochen nach
(36) der Hochzeit plotzlich Schlaganfall,
sehr krank, dann wieder eine Reihe von
Jahren gesund. 1903 Geschwiir ini r.
Ohr. um diese Zeit Beginn des Leidens.
a) —; b) —.
12 Beginn im 12. Lebensjahre nach der
(20) | Revakzination.
a) Vater der Mutter an ■
Lungenleiden t; b) —. \
a) 8 Geschwister klein
4 leben. Einzige Tochter,,
lemt inaBig, sehr nervos;
b) 1 Fehlgeburt, 1 Tochter i
lebt.
a) V^ter leidet viel an
Kopfschmerzen, kann
schlecht gehen. Bruder des
Vaters nervenleidend. 2
Bruder der Mutter 50 Jahre j
alt plotzlich f- b) 1 Kind j
Vitiurn cordis. 1 Kind ge¬
sund.
a) —; b) —, , 22
(82)
26
(27)
35
(48)
j Nach sehr anstrengender Krankcn-
j pflege hochgradige Erschopfung, da-
*| nach Beginn des Leidens.
i
I!
Mit 35 Jahren post partiun Beginn de&
Leidens.
Keine Entstchungsursache angegeben.
Schon als Kind immer eigenartig und.
miirrisch. Mit 22 Jahren Appendicitis-
operation, seitdem Zunahme der Be-
schwerden. Hysterie + Sclerosis mul¬
tiplex.
a) Bruder Neurastheniker, 20
mehrere Geschwister klein (21)
t; b) -.
Mit 20Jahren Pertussis und Scarlatina,
danach Beginn des jetzigen Leidens.
t 28 Jahre alt. Sehr fettleibig. (Der
Fall ist durch Sektionsbefund be-
statigt.)
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Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
71
Joumal-N uramer.
Fruhere Berufe.
Jetziger Beruf.
Warm in der Anstalt.
a) Erblichkeit
b) Geburten
M
® C> - CB
t- a §'3
m
Aetiologische Moinente
19. J.-N. 4569. Flei-
schersgattin, friiher
Heimarbeiterin
(Schiefer). 1911.
a) Vater kranklich. Rheu-
matismufl. Mutters Eltem
heruntergekommen. Mut-
tersbrudersohn geistes-
krank. Schwester Suizid.
b) 3 Kinder gesund; 2 Kin¬
der klein t-
28
1 (32)
1
! Begmn des Leidens walirend einer
1 Graviditat.
1
i
20. J.-N. 4692. Lehrerin.
1909.
a) Vatersbruder sehr ner-
vos, ein Sohn desselben
Suizidversuch. b) —.
21
(22)
Beginn des Leidens akut nach an-
strengendem Tanzen.
21. J.-N. 5113. Naherin.j
dann Arbeiterin in
Kartonfabrik, 1909. |
a) Schwester Lupus; b) 1
gesundes Kind.
22
(23) |
! 1
Keine Entstehungsursache angegeben.
j (Beginn des Leidens fallt mit der Gra¬
viditat znsammen.)
22. J.-N. 2738. Tape-
zieregattin, 1901.
a) Pater Phthise. 10 Ge¬
schwister des Vaters an
Phthise t* Von den Ge-
schwistem der Pat. lebt
nur noch 1 Schwester, 11 an
Phthise t; b) —•
ca. 57 !
(61) J
Keine Entstehungsursache. Durehaus
tvpisches Krankheitsbild.
1
!
23. J.-N. 6314. Glas-
schleifersfrau, 1912.
a) —; b) 1 Friihgeburt,
2 gesund.
h
21
(27) |,
Mit 21 Jahren — wahrend der Gra-
1 viditat -— Beginn der Beschwerden.
Beim 2. u. 3. Partus jedesmal Ver-
I schlimmerung.
Unter die erblich Belasteten rechne ich die Falle 1, 3, 9, 11, 15,
16, 19, 21, 23, 24, 28, 29 und 30 bei den Mannern, und bei den
Frauen: 1, 3, 4, 6, 8, 10, 15, 16, 18, 19, 20, 22. Also 25 mal liegt
erbliche Belastung vor, d. i. etwa in der Halfte aller Falle.
Als disponiert zu einem Nervenleiden nehme ich die Patienten
an, bei denen in der Anamnese irgend etwas fiir eine bestehende
geringereWiderstandsfahigkeit des Zentralnervensystems spricht, so
z. B. eine komplizierende Geisteskrankheit oder Debilitat (Manner:
2, 5, 6, 7, 11; Frauen: 3,17); doch rechne ich hierher auch die Fade,
bei denen ausdriicklich hervorgehoben ist, dad alle Oder die meisten
Geschwister klein gestorben sind, wie es in den Fallen: 4, 5, 14,17,28
bei den Mannern, und 15 und 18 bei den Frauen der Fad ist. Ferner
auch die Fade, bei denen in der Anamnese Stoffwechselkrankheiten
bei den nachsten Blutsverwandten bemerkt sind; besonders ist
mir aufgefaden, daB sich sowohl in meinen Faden wie in Fallen
anderer Autoren haufig die Angabe lindet, die Eltem hatten
an Gicht gelitten (Manner 1; Frauen 3, 17). Da bei No. 5 M.
und No. 3 und 17 Fr. zwei disponierende Ursachen zusammen-
treffen, behalte ich 14 Fade, in denen ich Disposition annehmen
kann. In den Fallen No. 9 und 27 waren die ersten Er-
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72
Roper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
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scheinungen schon in friiher Kindheit aufgetreten, sonst fiel der Be-
ginn des Leidens meistens in das dritte Dezennium. Angeblich
sind bei der Patientin No. 22 die ersten Erscheinungen erst im
57. Lebensjahre aufgetreten; die Anamnese ist ganz eingehend und
die Krankheitserscheinungen durchaus typisch, so daB ich mich
nicht fur berechtigt hielt, diesen Pall auszuschalten, wie ich es sonst
bei zweifelhaften oder unwahrscheinlichen Fallen getan habe.
Das 43. Lebensjahr wird als Alter beim Beginn der Beschwerden
von den Patientinnen 3 und 4 angegeben, der Patient No. 13 will
ebenfalls erst gegen Ende des 4. Dezenniums erkrankt sein. Nun,
so ganz etwas AuBergewohnMches ist dieses spate Auftreten der
multiplen Sklerose nicht; in den schon erwahnten statistischen
Arbeiten sind analogs Falle erwahnt.
Die Moglichkeit, daB chronische Intoxikationen bei der Ent-
stehung des Leidens mit wirksam gewesen seien, liegt 3 mal vor;
einmal ist es jahrelanges Arbeiten in Messingstaub (M. 13), das
andere Mal 13 Jahre langer Gebrauch von Digitalis und Strophan-
thus (Fr. 4). In einem dritten Falle (M. 18) hatte Patient haufig
mit verbleiten Rohren zu tun. In alien 3 Fallen ist mir der Zu-
sammenhang zwischen dem bestehenden Leiden und der In-
toxikation nicht recht wahrscheinlich. Bemerken will ich hierbei
noch, daB ich, um der Oppenheimschen Forderung zu entsprechen,
in jedem Falle auch auf eventuelle friihere Berufe gefahndet habe.
11 mal werden Infektionskrankheiten als Entstehungsursache
angegeben; selbstverstandlich habe ich nur die Falle beriicksichtigt,
bei denen ein ganz nahes Zusammentreffen zwischen Entstehung
des Leidens und der Infektionskrankheit bestand (M. 8, 11, 12, 14,
17, 29; Ft. 5, 9, 12, 13, 18). Der Fall 25 ist mir fraglich.
Korperliche und psychische Traumen, sowie die Graviditat
und der Partus werden 14 mal als auslosende oder verschlimmemde
Momente genannt, es sind dies bei den Mannem die Falle 6, 10, 16,
22?; 1?, 2 und 24, bei den Frauen 7 (Verschlimmerung durch
Trauma), 17; 15,19, 21, 23; 6, 8, 23 (Entstehung durch den 1. Partus
und bei jeder weiteren Graviditat Verschlimmerung).
Das Moment der Erkaltung spielt 3 mal eine Rolle (M. 4, 24;
Fr. 11).
Ueberanstrengung wird 4 mal angeschuldigt, das Leiden aus-
gelost zu haben.
In 17 Fallen (M. 5, 7, 9, 15, 18, 19, 20, 23, 26, 28; Fr. 1, 3, 6,
8, 10, 16, 22) war es nicht moglich, eine Entstehungsursache zu
eruieren; das ware also etwa l / t aller Falle. Bei starkem Skeptizis-
mus wxirde man wohl sogar in 50 pCt. aller Falle annehmen miissen,
daB die das Leiden auslosenden Momente ungeklart seien.
Ich wiirde in die Fehler mancher anderer Autoren verfallen,
wenn ich jetzt auf Grund meiner 52 Falle Prozentzahlen angeben
wollte; groBe Beweiskraft wiirden derartige Zahlen nicht haben;
anders ist es, wenn ich eine Statistik von 763 Fallen zusammen-
trage, so miissen sich doch einigermaBen beachtenswerte Zahlen
gewinnen lassen.
Gck igle
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Roper. Z\ir Aetiologie der lnultipleu Sklerose.
73
Die zwolf Spalten meiner Tabelle geben manche interessantc*
Auskunft. Als erstes scheint es mir wichtig, daB eine Verhaltnis-
zahl gefunden ist fiir die Haufigkeit, in der die beiden Geschlechter
betroffen werden. Zur Gewinnung dieser Zahl habe ich die 51 Falle
von Lent ausgeschaltet, da diesem nicht alle Frauenkranken-
geschichten zur Verfiigung standen. Es bleiben hiernach 712 Falie
iibrig; von diesen betreffen 427 mannliche und 285 weibliche
Kranke, so daB wir sagen konnen, es besteht ein Verhaltnis von
10: 7.
Erblichkeit und Disposition sind meiner Ansicht nach sehr
wichtige Faktoren fiir das Entstehen der multiplen Sklerose. In
fast derHalfte aller meiner Falle gelang es mir, nachzuweisen, daB
bei den Aszendenten korperliche oder geistige Anomalien vorhan-
den waren, die den SchluB zulieBen: es besteht eine Verschlechterung
der Art. Eine verringerte VViderstandsfahigkeit des Einzelindi-
viduums gegenviber Schadigungen, die das Zentralnervensystem
betreffen, habe ich 14 mal, also in etwa 25 pCt. der Falle an-
genommen. Meine Verhaltniszahlen sind sehr viel hoher als
die anderer Autoren; ich erklare es damit, daB erstens, wie
oben ausgefuhrt, in unseren Krankengeschichten der Frage der
Hereditat groflere Aufmerksamkeit geschenkt 1st, zweitens dadurch,
daB ich nicht nur Nerven- oder Geisteskrankheiten als belastend
angenommen habe, sondern auch tuberkulose Erkrankungen und
Erkrankungen des Stoffwechsels. Es erscheint mir iiberhaupt ein
Mangel vieler Krankenberichte, wenn die Angaben iiber die Here¬
ditat damit kurz erledigt werden, daB man vermerkt: keine Nerven-
krankheiten bei den Blutsverwandten. Eine starke tuberkulose
Belastung und Erkrankungen des Stoffwechsels bei denAszendenten,
eventuell auch bei den Deszendenten — zu den Stoffwechselkrank-
heiten rechne ich: Diabetes mellitus, Gicht, Fettsucht, Psoriasis,
eventuell noch einige andere — sind meiner Ansicht nach fiir die
Frage der Hereditat durchaus ebenso zu beurteilen wie die Nerven-
krankheiten. Tuberkulose und Stoffwechselerkrankungen sind
bei der Frage der Hereditat nicht nur als keimschadigende
Momente zu betrachten, sondern zweifellos bestehen in der Ver-
erbung mannigfache Wechselbeziehimgen zwischen diesen ver-
schiedenen Erkrankungsformen, die alle nur als ein Symptom der
Artverschlechterung aufzufassen sind. Auf diese Seite der Be¬
lastung miiBte allgemein mehr Wert gelegt werden.
Brauchbare Angaben iiber Erblichkeit sind in unserer Tabelle
unter: I, II, III, VII und VIII zu finden; es kommen hier auf
435 Kranke 102 Belastete, d. s. etwa 20 pCt.
Aus I, III und VIII erhalte ich die Zahl fiir die Haufigkeit des
Bestehens einer Disposition zu einem organischen Leiden des
Zentralnervensystems: es kommen auf 286 Kranke 50 derartig
disponierte, d. s. etwa 18 pCt. Rechne ich aus demselben Material
die Hereditat aus, so kommen auf diese 286 Kranken 79 Belastete,
d. h. 27 pCt. Disposition oder Hereditat liegt also in 45 pCt. der
Falle vor. In einzelnen Fallen ist es moglich, daB Disposition und
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Roper, Zur Aetiologie der raultiplen Sklerose.
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Intoxikationen
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1. :
1
Irma Klausner 126
78
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31
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i
j
8t
2.
Arthur Berger 206
140
66
21
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12 «
3 Lues
5 Pb
4 Alkohol
6t
I
3.
v.Krafft-Ebing 100+8
58
42
22
13t
6
4 Potus
6
3
5
1
1
2 Lues
1
4.
Eduard Muller 75 i
1
35
40
i
|
(6?)
5.
J. Hoffmann 100 J
1
53
47
1
1
;
“ i
|
4
(1 Pb
| 3 Co.
1
j
5
1
6.
1
Carl Lotsch 45 j
31
i
14
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|
i
7t
!
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1
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|
i
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!
7.
Sent 5 1
37 j
i
14t
1
1
2 |
!
15
t
( 3 Lues |
7 Potus
15 Pb ,
10
8.
E. Roper 52
29 !
23
25
j
i
i 14
j
3
1
n +1 t
763 1
j 1(1
|
: 7
!
20% |
! in
9%
8%
Hereditat bei derselben Person gezahlt ist, immerhin bleibt aber die
Tatsache bestehen, daB fast in der Halfte aller Falle eine ver-
minderte Widerstandskraft des Zentralnervensystems nachweisbar
ist und nicht, wie Hoffmann annimmt, die Hereditat nicht haufiger
ist als bei anderen Krankheiten, die ihren Sitz nicht im Nerven-
system haben.
In den Rubriken I, II, III, V, VII und VIII sind Angaben
liber die Haufigkeit chronischer Intoxikationen enthalten: auf
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Koper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
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2 5
li
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1 5 (anfangs 15)
© GO
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’© o
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Beim*rkungen
14%
t Autor gibt 25 Falle an, er hat
aber dabei die letzten 10 Jahre in
Betracht gezogen. nur in 8 Fallen
nahes zeitliches Zusammentreffen
von der Infektionskrankheit und Be-
ginn der multiplen Sklerose.
t Autor gibt 40 Falle an. unseren
Bedingungen genii gen nur 6.
0 ii
41
4
2
1H++
5 11
4tft
1 ~
3
«°o H 3% 17% 5% 6%
14 0/
1 4 0
12 °{,
47° n
f Neuropathische Konstitution.
7r, %
50%
Leider sind iiber die atiologischen
Momente nur Betrachtungen an-
gestellt und keine Zahlen angegeben.
Bei den 6 Disponierten sind nur die
schwer belasteten mitgezahlt.
t Autor gibt an. Hereditat sei nicht
haufiger als bei anderen Erkran-
kungen. die ihren Sitz nicht im Ner-
vensystem haben.
tf Wahrscheinlieh 13 mal.
fff Noch auBerdem 11 mal in Kom-
bination mit anderen atiologischen
Momenten.
j| wie Autor angibt, denn in
lldem Falle No. 7, S. 287 handelt es
! sich doch wohl um Erkaltung.
j |t Autor gibt auch hier 8 Falle an.
I 2 habe ich unter 8 u. 9 rubriciert, 2
weitere (No. 3 u. 4, S. 275) unter 11.
j t Es waren dem Autor nicht
alle Frauen betreffenden Kranken-
geschichcen zuganglich.
t Enter Spalte 6 ist eine Chlorose
mit eingereiht. No. 2.
ft In einem Falle hatte ein Trauma
das schon bestehende Leiden ver-
schlimmert. No. 7.
I
(543 Falle wird die Moglichkeit dieses atiologischen Faktors 58 mal
angegeben, d. s. etwa 9 pCt. Die Infektionskrankheiten sind als
atiologisches Moment in 688 Fallen 55 mal aufgezahlt, d. s. 8 pCt.
Da von vielen Autoren den Infektionskrankheiten fast die groBte
ursachliche Bedeutung fiir die multiple Sklerose zugeschrieben
wird, hatte man hier eine viel groBere Zahl erwarten sollen; be-
merken will ich nochmals, daB ich mich bemiiht habe, meine Sta¬
tist ik von den Fallen zu saubem, in denen Jahre zwischen dem
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76 Koper. Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
Ueberstehen der Infektionskrankheit und dem Beginne des Leidens
lagen.
Korperliche und geistige Traumen, sowie Graviditat und
Partus werden unter 688 (nur Muller gibt hieriiber keine Zahlen)
Fallen 96 mal als Ursache angegeben, d. s. ca. 14pCt.; als ver-
schlimmernd noch 9 mal.
Die Prozentzahlen hierfiir sind:
Korperliche Traumen: 6 pCt.
Psychische Traumen: 3 pCt.
Graviditat und Partus: 17 pCt. (27 mal auf 159 Falle).
Ueberanstrengung finde ich in 6 pCt. der. Falle angegeben
(I, III, VII, VIII, 337 : 20).
Ueber die Haufigkeit der Erkaltung als atiologisches Moment
machen alle Autoren Angaben: bei 763 Fallen findet sich Erkaltung
als Entstehungsursache 89 mal, also etwa in 12 pCt.
Ziehen wir aus dieser Statistik den SchluB, so kommen wir
zu dem Resultate, daB in etwa 50 pCt. der Falle exogene Momente
als Entstehungsursachen des Leidens angegeben werden, wahrend
in 38 pCt. der Falle Hereditat und Disposition den Boden fur die
Krankheit darbieten.
Die in der Einleitung aufgefiihrten widersprechenden An-
sichten finden durch diese Zahlen ihre Erklarung. Die Anhanger
der Theorie, daB die Entstehung der multiplen Sklerose durch
exogene Schadigungen zu erklaren sei, fuBen auf die 50pCt., in
denen Traumen, Intoxikationen, Infektionskrankheiten, Erkal-
tungen und Ueberanstrengungen als Entstehungsursache an¬
gegeben werden; die Anhanger der endogenen Entstehungstheorie
nehmen natiirlich in erster Linie die 50pCt. fiir sich in Anspruch,
in denen alle derartigen Angaben fehlen, zum Teil auch die Tat-
sache, daB haufig Belastung, Disposition und familiares Auftreten
bestehen.
Bei griindlicher Wiirdigung aller Tatsachen, die fiir die ver-
schiedenen Theorien iiber die Entstehimg der multiplen Sklerose
zusammengetragen sind, scheint uns folgende Theorie die richtige:
Es ist durchaus unwahrscheinlich, daB allein durch die auBeren
Schadlichkeiten das Leiden entstehen kann, denn diese atiolo-
gischen Faktoren treffen doch bei allzu vielen ganz gesunden
Individuen zu, zum wenigsten miiBte die multiple Sklerose dann
ein sohr viel haufigeres Leiden sein. Die Ansicht , daft das Zu-
sammentreffm einer angeborenen oder erworbenen verringerten
Wiederstandsfdhigkeit des Zentralnervensystems und einer der an-
gegebenen Schadlichkeiten zur Entstehung der multiplen Sklerose
notwendig sei, scheint uns die grofite Wahrscheinlichkeit fiir sich
zu haben. Beide Momente sind ungefahr von derselben Wichtigkeit.
Die chronische Intoxikation mochte ich nicht wie Oppenheim
als ein auslosendes Moment ansprechen, sondern ich glaube, daB
sie erst die verringerte Widerstandsfahigkeit des Zentralnerven¬
systems verursacht, oder falls eine solche schon besteht, dieselbe
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K oper , Zur Aetiologie der multiplen Sklerose. 77
erhoht und dem Eindringen der auBeren Schadigung den Boden
ebnet.
Fraglos sind uns noch nicht alle auBeren Schadigungen bekannt,
die im Verein mit der Disposition das Leiden bewirken konnen;
hinweisen mochte ich auf die Edinger&che Aufbrauchstheorie,
deren Anwendbarkeit auf die multiple Sklerose mir durchaus
gereehtfertigt erscheint. So wiirde man z. B. das fast typische
Alter beim Auftreten der Erscheinungen gut erklaren konnen;
das wenig widerstandsfahige Zentralnervcnsystem hat etwa
2 Dezennien lang seine Schuldigkeit getan, jetzt ist seine Leistungs-
fahigkeit erschopft, die Spannkraft des funktionstragenden Ge-
webes laBt nach, dieses halt dem Gewebe der Stiitzsubstanz nicht
mehr das Gleichgewicht, es kommt zu einerWucherung des letzteren.
Zu dieser Erklarung wiirde auch gut die Tatsache passen, daB die
Erscheinungen von seiten der Beine die konstantesten sind.
Die hier entwickelte Ansicht iiber die Aetiologie der multiplen
Sklerose wird mit gestiitzt durch die Tatsache, daB das Auftreten
des Leidens bei Geschwistem nicht ganz so seiten ist, wie die
meisten Autoren annehmen; vielleicht gibt diese Arbeit Anregung
zu weiteren Nachforschungen in dieser Richtung,
LitercUur- Verzeichnis.
Batten, F. E., Two Cases of a Family Disease, the Symptoms of which
chosely resemble Disseminated Sclerosis. Proceedings of the Royal Society
2f Medicine, January 1909. Vol. II. No. 3. — Berger, A. Eine Statistik iiber
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Diskussionsbemerkung; siehe Batten. — Coriat , J. H., A peculiar form of
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Focke nach Edvard MuUer. — Frerichs nach Erb . — Gowers, W. R., Hand¬
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klin. Woch. 1895. No. 33. S. 717. — v. Krafft-Ebing, Zur Aetiologie der
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Totzke. — Leyden nach Oppenheim. — Lent, Georg, Ueber die Aetiologie der
multiplen Sklerose. Inaug.-Diss. Berlin. 1894. — Marburg, Otto, Handbuch
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Spezielle Neurologic I. — Marie, Pierre nach Oppenheim. — Merzbacher,
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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
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2 Brudem. Aus dem Daniel-Hospital in Cetinje. Original-Artikel in Medi-
zinskoje Obosrenije No. 11. Zitiert nach: St. Petersburger med. Woch. XIV.
Jahrgang. 1899. Uebersicht iiber die russische med. Lit. No. 8. — Muller ,
Eduard, Die multiple Sklerose des Qehims und Ruckenmarks. Jena. 1904.
— Oppenheim, H., Lehrbuch der Nervenkrankheiten, I. Band. Berlin. 1905.
S. 347, und Zur Lehre von der multiplen Sklerose. Berl. klin. Woch. 1896.
S. 184. — Pelizaeus, Fr mf Arch. f. Psych.u. Nervenkrankh. XVI. 1885. —
Reynolds , Ernest , Some Cases of Family Disseminated Sclerosis. Brain:
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Archiv fur Psychiatric und Nervenkrankheiten. 48. Bd. 1911. S. 824.
Siemerling , E. und Raeeke , J.: Zur pathalogischen Anatomie imd Patho-
genese der multiplen Sklerose. — StrumpeU, Adolf , Lehrbuch II. 17. Aufl.
1909. — Totzke , Alfred , Inaug.-Diss. Ueber die multiple Herdsklerose des
Zentralnervensystems im Kindesalter. Berlin. 1893.— Unger nach Totzke.
— Weifienburg nach Marburg .
(Aus der^psyehintrischen und Nervenklinik der Konigl. Chari to in Berlin.
[Geh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer .])
Ueber die Beeinflussung des Vorstellungsablaufes
durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken.
Von
Dr. ARNOLD KUTZINSKI,
Assist enl an der Nervenklinik der Charity.
Einleitung.
Eine Beeinflussung des Vorstellungsablaufes ist standig ge-
geben, jeder Sinneseindruck, jeder Vorstellungskomplex, jede
friihere Handlung muB in irgendeiner Weise bei aktuellen psy-
chischen Erlebnissen wirksam sein. Diese Wirksamkeit ist in
verschiedener Richtung moglich; bald bestimmen Gefiihle, bald
Tendenzen, bald Assoziation^skomplexe das Auftreten einer Vor-
stellungsreihe. Wahle 1 ) hat fiir diesen EinfluB das Wort Kon-
stellation gepragt. Neben der assoziativen Verwandtschaft, der
Deutlichkeit der Vorstellung und des Gefuhlstones kommt die
Konstellation als vierter Faktor im Wettbewerb der Vorstellungen
in Betracht. Wenn in zwei Rindenelementen B und C, die als
Nachfolgerin des Elementes A in Frage kommen, eine Erregung
von bestimmter GroBe besteht, so konnen sich die Erregungs-
groBen gegenseitig modifizieren. Die Modifikation kann einmal
in einer Hemmung, wie auch in einer Anregung bestehen. In
dieser Weise definiert Ziehen 2 ) seinen Konstellationsbegriff. Die
*) Wahle , Bemerkungen zur Beschreibung etc. Vierteliahrsschrift f.
Philosoph. 1885.
a ) Ziehen , Leitfaden der physiolog. Psychol. 1908. S. 192.
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des Vorstellungsablaufea durch Geschichtskomplexe etc.
79
Konstellation ist auBerordentlich wechselnd, bald folgt auf A C,
wenige Stunden spater auf dasselbe A B. Die Konstellation ist
imstande, alle anderen Faktoren zu verdrangen, dabei ist sie nicht
von BewuBtsein begleitet.
Im AnschluB an Kries und Ziehen hat Levy 1 ) den Begriff
der Konstellation in seiner Bedeutung fur den Vorstellungsablauf
klargelegt. Er erweitert den Umfang der Konstellation zu einer
sogenannten Totalkonstellation; damit soil zum Ausdruck gebracht
werden, ,,daB sich unbemerkt die fernstliegenden Einwirkungen
noch geltend machen konnen 44 . So kann ein groBer Teil der
mitbestimmenden Umstande, wie Wirkung des Milieus, des Be-
rufes, der Kindheit etc. ohne weiteres durch den Totalbegriff
umschlossen werden, mit anderen Worten, ,,es wird die Tatsache
zum Ausdruck gebracht, daB der Gesamtheit der uberhaupt voran-
gegangenen BewuBtseinsvorgange es jederzeit moglich ist, eine
Einwirkung auf den Ablauf der Vorstellungen, sei es auch in
auBert verwickeltem Kausalnexus, auszuiiben 44 . Levy fiihrt einige
Versuche an, die dem Nachweis der Konstellation dienen sollen.
In einer Gruppe von Reizworten befandpn sich ein oder mehrere
Lockworte, d. h. solche, die neben vielen anderen Beziehungen
auch die zu einem bestimmten Gregenstand besitzen. Nach einiger
Zeit (Tage oder Wochen) wurde der Zuruf des Reizwortes wieder-
holt, dabei wurde vor Beginn des Versuches die Aufmerksamkeit
der Versuchsperson unauffallig auf die Gegenstande, deren Be-
zeichnungen als Lockwort in der Reihe verteilt waren, hingelenkt.
So muBte z. B. das vorgelegte Objekt vor Beginn des Versuches
bezeichnet oder stereognostisch erkannt werden. In der
Reihe befand sich das Wort ,,Haar 44 . Vor dem Versuch muBte
die Versuchsperson einen Kamm erkennen. Die Reaktion I auf
Haar lautete ,,Kopf 44 , die Reaktion II ,,kammen“. Hier hat also
die Stereognose des Gegenstandes Kamm konstellierend gewirkt.
Als besonders geeignet zur Feststellimg der Konstellation dienen
nach Levy doppelsinnige Reizworter, wie z. B. ,,die Feder 44 . Wenn
bei dem 2. Versuch die Reaktion im Sinne des konstellierenden
Gregenstandes erfolgt und dann sogar die Fixierung der Assoziation
durch die vorangegangene neutrale Reihe durchbrochen wird, so
muB die Veranderung lediglich als unbewuBte Einwirkung der
experimented erzeugten Konstellation betrachtet werden. Levy
hat bereits selbst die Schwierigkeiten dieser Versuchsform hervor-
gehoben. Das Eingreifen anderer alter, unbekannter oder nicht
nachweisbarer Konstellationen wird oft oder sogar meist den
EinfluB des experimented wirkenden affektiv gleichgiiltigen oder
isoliert gegebenen Komplexes zuriickdrangen und unwirksam
machen. Levy hat als konstellierende Faktoren stets Objekte
angewandt, die so gelaufig sind und eine so reiche Verkniipfungs-
moglichkeit besitzen, daB selbst die angefiihrten beweisenden Bei-
! ) M. Leuy-Suhl. Ueber experimentelle Beeinflussung des VorsteJlungs-
ablaufs. 1911. S. 29.
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Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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spiele nur mifc Vorsicht zu verwerten sind. Am 17. reagierte die
Versuchspers6n ohne Konstellation auf ,,Feder“ mit ,,Gans“, am
Tage darauf unter dem EinfluB des Komplexes „Bleistift“ mit
,,Halter“. Levy hat hier die Moglichkeit, daB vielleicht die Absicht
der Versuchsperson bestand, die Reaktion zu variieren, gar nicht
in Betracht gezogen. DaB bei anderen indifferenten Reizen die
erste Reaktion wiederkehrt, spricht nicht dagegen, weil ja eben
die Vielheit der Beziehungen dieser Reize zu ihren konstanten
Reaktionen nicht bekannt ist. Wenn z. B. auf ,,Papier“ in beiden
Reihen die Reaktion ,,Buch“ erfolgte, so konnte hier jedesmal
der Sinneseindruck des Buches, in dem der Verfasser seine Auf-
zeichnungen eintrug, bestimmend gewesen sein, also es erscheint
mir zweifelhaft, daB die Resultate dieser sinnreichen Methode
einwandfrei zu verwerten sind. Ueberdies sind die mitgeteilten
Erfahrungen zu diirftig.
Jung und Riklin 1 ) haben den Begriff Konstellation zu-
sammengefaBt mit dem der Perseveration. Sie nannten die Ein-
wirkung einer Reaktion auf die unmittelbar folgende Perseveration,
die Einwirkung iiber eine unbeeinfluBte Reaktion hinweg be-
zeichneten sie als Konstellation. Die Perseverationen konnen so-
wohl durch unbekannte psychophysische Ursachen, als auch durch
besondere Gefiihlskonstellationen bedingt sein. Bekanntlich haben
ja diese Autoren den EinfluB gefiihlsbetonter Komplexe auf die
Assoziationen festzustellen versucht. Die Mangel ihrer Methoden
bestehen vor allem darin, daB sio^den Komplex aus der Versuchs¬
person erfragten. Auf ihre Merkmale eines einfluBausiibenden
Gefiihlskomplexes wird spater genauer eingegangen werden.
Hier sei nur darauf verwiesen, daB ihre Komplexmerkmale
nur fiir die Assoziationen Gebildeter Geltung haben sollen.
Schnitder 2 ) halt eine Diagnostik auf Grund dieser Symptomato-
logie fiir unmoglich. Er hat bei Versuchspersonen, denen ein
Examen, eine Operation oder eine Entbindung bevorstand, die
Jungschen Komplexsymptome nicht nachweisen konnen.
Versuche, den EinfluB eines objektiv gegebenen Komplexes
auf den Vorstellungsablauf nachzuweisen, hat vor allem ScholP)
gemacht. Seine Methode bestand darin, daB der Versuchsperson
an mehreren Versuchstagen 60 Reizworte zur freien Assoziation
zugerufen wurden. An alien Versuchstagen, auBer dem ersten
und letzten, ging der Aufnahme der Reihe die Exposition eines
Bildes voraus. Er gab seinen Versuchspersonen die Instruktion,
nach jeder Antwort zwischen je zwei Assoziationsversuchen sich
das zu Beginn des Versuchstages gezeigte Bild wieder anschaulich
zu vergegenwartigen. Scholl hat selbst betont, daB ungebildete
Geisteskranke nur zu einem kleinenTeil fiir diese Methode brauchbar
*) Jung und Riklin . Untersuchungen iiber Assoziationen Gesunder.
S. 31.
2 ) Schnitzler. Folia neiuo-biologica. 1. Bd. S. 614.
3 ) Scholl. Klinik fiir nervose und psychische Krankheiten. III. Bd.
H. 3. 1908.<
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dee Voratellungeablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
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sind. Aus dem Befund bei Gesunden verdient hervorgehoben zu
werden, dab die Perseveration eine groBe Rolle spielte. Die Bild-
reaktion ist nicht immer eine einfache Reproduktion einer dem
Bild entstammenden Vorsteliung, sondem oft das Produkt einer
Verschmelzung zwischen der aus der Zeit vor dem Einsetzen des
Reizwortes perseverierenden anschaulichen Vorsteliung und der
Reizwortvorstellung. Die Assoziationen aus dem Bildkomplex
sind schwankend. Die eine Versuchsperson hat in 180 Fallen
assoziativ dngekniipft, Versuchsperson II nur in 32 Fallen. Ob
wirklich die Unfahigkeit der Versuchsperson II, das Bild nicht
anschaulich reproduzieren zu konnen, die Ursache dieser Tat-
sache bedeutet, erscheint noch zweifelhaft. Bemerkenswert ist
weiter, daB die Reaktionszeiten an dem ersten Bildtage stark ver-
langert sind. Diese Beeinflussung der Zeit wurde bei Nervosen
und Geisteskranken von Scholl nicht beobachtet. Weiter verdient
Erwahnung, daB bei Ungebildeten die Bildreaktionen meist haufiger
sind, nur bei einem Manischen fehlte die Komplexwirkung ganz.
Der Verfasser weist selbst darauf hin, daB man die geringen Zahlen
der Bildreaktionen nicht ohne weiteres als psychopathologisch
auffassen diirfte, indem er an die individuellen Differenzen fur die
Perseveration und den sensorischen Typ erinnert.
Die von Scholl verwandte Methode zeigt bei der Verwendung
fiir ungebildete Geisteskranke eine Reihe von Mangeln. Die Auf-
fassung von Bildern ist ein von Ungebildeten selten geiibter Vor-
gang, bei dem oft fiir sie Schwierigkeiten entstehen. Die Auf-
forderung, sich das Bild anschaulich zu vergegenwartigen, wirkte
vielfach verwirrend auf die Reaktionsweise. Die Aufgabe ist dem
Fassungsvermogen der Ungebildeten nicht geniigend angepaBt.
Sie ist MiBdeutungen ausgesetzt; infolge der doppelten Aufgaben-
stellung, auf das Reizwort zu reagieren und an das gezeigte Bild
zu denken, entsteht ein Konflikt in der Erfiillung beider Aufgaben,
der zwar an sich psychologisches Interesse bietet, aber fiir die
Klarung der Frage: ,,Wie wirkt ein objektiver Komplex auf unge-
bildete Versuchspersonen ein ?“ imgunstig ist.
Versuehsanordnung.
Um den einfachen Verhaltnissen bei Geisteskranken gerecht
zu werden, wurde eine moglichst unkomplizierte Versuehsanordnung
hergestellt. Jede Versuchsreaktion bestand aus 2—3 Versuchs-
tagen. Am ersten Tage wurden 30 Reizworte exponiert. Am SchluB
der Komplexreihe wurden noch 6 Lockworte im Sinne Ziehens
und Levys hinzugefiigt, dabei wurde der Versuchsperson iiber-
lassen, nach Belieben zu reagieren, insbesondere wurde es ver-
mieden, ihnen nahezulegen, immer mit einem Wort zu assoziieren.
Es wurde darauf geachtet, daB die Versuchsperson voiles Ver-
standnis fiir die Aufgabe zeigte und moglichst ohne Zwang reagierte.
Es wurden bei den Versuchen nur drei Reaktionsbeispiele gegeben,
die bald Worte, bald Satze zum Reaktionsinhalt hatten. Die
MonatMohrift f. Psjohiatrie n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 1. 6
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82 Kutziaski, Ueber die Beeinflussung
geringe Zahl und die Mannigfaltigkeit der Beispiele schien am
besten geeignet, eine Einstellung auf eine bestimmte Reaktions-
form zu verhiiten. Die Aufgabe, moglichst schnell zu reagieren,
wurde nicht gegeben. Die Instruction fiir den Assoziationsversuch
jautete: „Ich werde Ihnen ein Wort zurufen, Sie sagen dann das,
was Ihnen einfallt.“ Die Zeitmessung wurde in einer Reihe von
fallen mit der Fiinftelsekundenuhr aufgenommen. Das Material
von Reizworten war so gewahlt, daB viele von ihnen auf den
Komplex, der am 2. Versuchstage vor Beginn der Assoziations-
reihe exponiert wurde, Bezug haben konnten. Die Moglichkeit und
die Starke dieser Beziehungen war variierend. Die Reizworte
waren weder selten, noch sehr gelaufig, so daB sprachlich-mecha-
nisohe Ankniipfungen moglichst sparlich angeregt wurden. Bei
auffalligen Reaktionen wurden unbestimmte Fragen an die Ver-
suchsperson gerichtet, wie ,,Bedeutet das irgend etwas Die
Auffordervmg an die Versuchsperson, moglichst alle Erlebnisse
mitzuteilen, wurden sparlich befolgt, da die Kranken iiber ihre
Erlebnisse kaum Mitteilung machen konnten. Es wurde daher
auf die Selbstbeobachtung der Versuchsperson von vornherein
verzichtet. Als Komplex wurde das Lesen und die Reproduktion
einer einfachen Geschichte gewahlt. Es handelt sich um die
JIaifi^chgeschiclite, die bereits an anderer Stelle von mir verwertet
wurde 1 ). Machte die Reproduktion Schwierigkeiten, so. wurde
vom Versuchsleiter das Wesentliche und Markante der Geschichte
der Versuchsperson noch einmal vergegenwartigt. Dabei wurden
nur die Resultate der Versuchspersonen, bei denen der Versuchs¬
leiter die Ueberzeugung gewann, daB die Geschichte im wesent-
lichen aufgefaBt war, verwertet. Zum SchluB der Komplexreihe
wurde noch die unbestimmte Frage an die Versuchsperson ge¬
richtet, ob sie nicht an irgend etwas gedacht habe, was sie erlebt,
gesehen, gelesen oder gehort hatte. Bei der letzten Versuchsreihe
wurde die Frage direkt formuliert: „Haben Sie nicht an die Ge¬
schichte gedacht ?“ Auf den EinfluB dieser Fragestellung wird
bei der Besprechung des Materials noch naher eingegangen
werden.
Die Dauer des Versuchs betrug an jedem Tag hochstens
Y 2 Stunde, eine langere Dauer erschien unzweckmaBig, weil die
Versuchsperson sichtlich ermiidete. Eine Variation der Aufgabe
*) Koppen und Kutzinaki, Systematisohe Beobachtungen iiber ’ die
Wiedergabe kleiner Erzahlungen etc. S. Karger. 1909.
J ) Geschichte: Von einem Haifisch verschlungen wurde im Indischen
Ozean der Sohn des Pfarrers Herbig aus Holzengel bei GreuSen. Er war
als Erster Offizier auf einem Hamburger Handelsdampfer angestellt und
wurde durch eine Sturzsee plotzlich iiber Bord gespiilt. Da eine Rettung
sioh als unmoglich erwies, wurde der tmgliickliche junge Mann vor den
Augen der entsetzten Schiffsmannsohaft von einem den Dampfer um-
kreisenden Haifisch erfaflt und zum Meeresgrtmde gezogen, einen dunkel-
roten Blutstreifen hinter sioh lassend.
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dee Vorstellungsablaaifes durch Geschiohtakomplexe etc.
83
bestand darin, daB der Komplex schon am ersten Versuchstage
exponiert wurde 1 )..
Gruppierung des Materials.
Die Schwierigkeiten bei der Verwertung der gewonnenen
Reaktionen sind von vielen Autoren geniigend gewiirdigt worden,
so daB ich mich hier auf das Notwendigste beschranken kann.
In neuerer Zeit hat besonders Levy 2 ) die Mangel der friiheren
Einteilung kritisch dargestellt. Aus seinen Erorterungen geht
deutlich hervor, daB die von Aschafjenburg gegebene uhd von
Jung und Riklin modifizierte Einteilung gewaltsam ist und an
die Stelle von psychologischen Tatsacnen logische Beziehungen
setzt. . Auch Isserlin 2 ) hat bei seinen Untersuchungen schwer-
wiegende Einwande gegen das Schema dieser Autoren erhoben.
Er hat oft peinlich empfunden, wie wenig ein solches Schema der
Fiille der Einzelheiten gerecht wird. Die Tatsache, daB bei Ver-
suchen an Geisteskranken theoretisch psychologische Interessen
zuriicktreten, laBt die Anwendung des logischen Schemas nicht
brauchbarer erscheinen. Das Schema beriicksichtigt auch gar nicht,
daB es sich um sprachlich nur sehr wenig eingeiibte Vorstelluiigen
handelt. Der Assoziationsmechanismus ist schon, wie Messer*)
sagt, an sich auf verniinftiges Denken angelegt, das zeigt sich unter
anderem auch in der Gleichformigkeit der meisten Reaktionen
meiner Versuchspersonen. Bei einer Betrachtung einer Reaktion
lassen sich keine Unterschiede angeben, die eine psychologische
Erklarung bilden konnten. Wir haben keine sicheren psycho¬
logischen trennenden Merkmale dafiir, ob es sich um eine sachlich
zusammengehorige Vorstellungs- oder um eine Verbalreaktion
handelt. Auch die Selbstbeobachtung als Unterstiitzung bei
der Einteilung der Reaktion zu benutzen, ist ein zweifelhaftes
Verfahren. Vor den Tauschungen einer zu eingehenden Selbst¬
beobachtung hat unter anderen erst jiingst G. E. Muller 8 ) ge-
niigend gewarnt. Diese Fehlerquelle wird um so bedeutsamer
Zu veranschlagen sein, wenn es sich um psychologisch ungeiibte
Versuchspersonen handelt. Es erscheint doch nicht ohne weiteres
berechtigt, eine Reaktion, wie z. B. Mutter — Kind, nur auf
Grand der Angaben der ungeschulten VersuchsperBon zu den
auBeren Assoziationen zu rechnen, wie Jung und Riklin es getan
haben. Oft fehlt die introspektive Fahigkeit, und wo sie vor-
handen ist, wird meist die kritische Sichtung vermiBt. Bei Unge-
x ) Ich bezeichne als A-Seri© diejenige, bei der die Geschiohte vor d^r
1. Versuch8reihe, als B-Serie die, bei der die Geschichte vor der 2. Versuchs-
reihe exponiert wurde.
f ) a. a. O.
*) IsserUn Pyschologische Untersuchungen an Manisch-Depressiven.
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1907. S. 302.
4 ) Messer , Empfindung und Denken. 1908.
' *) O E. Midler , Zur Analyse der Gedftchtnistatigkeit. Erganzungsh.
d. Ztschr. f. Psychol. 1911.
6 *
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84
Kutzinski, Ueber die Beeinflusming
bildeten ist eine Einteilung nach diesen Gesichtspunkten nicht
moglich, man muB sich darauf beschranken, nur bei besonders
auffallenden Beaktionen den Tatbestand des psychischen Erleb-
nisses aufklaren zu lassen. Von vomherein ist zu erwarten, daB
die Auffassung des Reizwortes Geisteskranken groBere Schwierig-
keiten bereitet als Normalen, dazu kommt noch eine gewisse
Erschwerung infolge der geringeren sprachlichen Gewandtheit.
Die „Verbluffbarkeit“, die Wehrlin 1 ) bei Versuchen an Imbezillen
beobachtet hat, ist in meinen Protokollen fur den Beginn der Ver-
suche oft verzeichnet, doch erreicht sie nicht einen so hohen Grad,
daB die Reaktion durch sie erheblich beeinfluBt wurde, hochstens
hat sie die Verlangsamung der Reaktionszeit mitverursacht. Auch
Wehrlin erkannte, daB die Einteilung der friiher genannten Autoren
gegenuber kranken Versuchspersonen versagte, eine der Wirklich-
keit angepafite Einteilung muB von anderen Gesichtspunkten
ausgehen. Jung und Riklin haben schon gezeigt, daB bei
ungebildeten Normalen hauptsachlich der Bedeutungswert wirk-
sam ist. Wehrlin erblickt in dieser Reaktionsweise eine Er-
klarungstendenz der Reizworte. Die Imbezillen und auch die
ungebildeten Normalen fassen das Reizwort als Frage auf. So
kommt es, daB sie die Satzform in der Reaktion bevorzugen. Die
Betrachtung meiner Versuche fiihrt zu einer ahnlichen Anschauuug.
Die Versuchspersonen fassen die Beziehung zwischen Reiz und
Reaktion in dem Sinne der Aufgabe auf, Zusammenhange herzu-
stellen. Die Zusammenhange konnen mm den Inhalt oder das
rein Sprachliche oder endlich personliche Beziehungen zum Gegen-
stande haben. Es wurde daher nach diesen Gesichtspunkten eine
grobere Einteilung in Objekt-, Verbal- und egozentrische Re-
aktionen vorgenommen, diese geniigte meinen Zwecken. Die Ein-
teilung hat den Vorzug, daB sie vom Individuum vollig unab-
hangig ist. Als Objektreaktionen bezeichne ich solche, welche die
Erklarungstendenz des Reizwortbegriffes zum Ausdruck bringt,
als Verbale werden nur solche betrachtet, bei denen die sprachlich
motorische Tendenz, als die Assoziation gestiftet wurde, vor-
herrschend war. Zu ihnen gehoren also einmal die Klangreaktionen
im Sinne der anderen Autoren und die Wortzusammensetzungen,
wie z. B. Kopf — tuch. Ob iibrigens eine Wortzusammensetzung
immer eine Verbalreaktion ist, wird in zweifelhaften Fallen der
Tonfall entscheiden. Auch Sprichworter und Zitate sind dieser
Gruppe zugewiesen, denn sie haben infolge ihrer rhythmischen
Fixation eine rein sprachliche Bedeutung gewonnen. Vor allem
aber war bei ihrer Einpragung die rhythmische Tendenz maB-
gebender als der Inhalt, dagegen erscheint es nicht gerechtfertigt,
gelaufige Begriffsverbindungen, wie Kummer — Sorge, Raum —
Zeit, Katze — Maus, als verbale Assoziation, wie Jung und
andere es tun, zu betrachten. Entscheidend ist, daB hier bei der
') K. Wehrlin, Ueber die Assoziation von Imbezillen etc. Diagn.
Assoziationsstud. 1906.
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dee Voratellungsablaufes durch Geechiohtakomplexe etc. 85
Stiftung der Inhalt bedeutungsvoll war. Erst allmahlich wurde
durch haufige Wiederkehr dieser Beziehungen eine sprachlich
gelaufige Reaktion geschaffen. Aus gleichem Grunde ist auch
nicht anzuerkennen, daB Kontrastreaktionen, wie dunkel — hell,
weiB — schwarz etc., als Verbalverkniipfungen aufzufassen sind,
inwiefem sie flacher sind als die inneren, doch auch haufig geiibten
Reaktionen, wie Morder — gemein oder „Fisch — schwimmen* 1 .
ist nicht ersichtlich. Beiden Beaktionsformen gemeinsam ist,
daB sie urspriinglich aus inhaltlichen Motiven heraus gestiftet
wurden. Selbst bei einer Befragung der Versuchspersonen wird
man in dieser Beziehung kaum verwertbare Angaben erhalten.
Zusammenfassend muB man also sagen, daB zwar beide Reaktions-
arten beide Komponenten, sowohl sprachliche wie inhaltliche Be-
standteile enthalten, aber das Pravalieren des einen oder anderen
hat die Einordnung der Reaktion bestimmt.
Die Objektreaktionen habe ich zum Teil im AnschluB an
Wehrlin in bestimmte Gruppen zerlegt. Bei vielen Individuen
auBerte sich die Tendenz, das Reizwort zu erklaren, darin, daB
tautologische Verdeutlichungen vorgenommen wurden. Es sind
das die bekannten Reaktionen in der Form eines „Wenn-Satzes“.
Eine andere Art Definitionstendenz zeigen die Reaktionen, welche
Merkmale des Reizes zum Gegenstand haben, bald werden nur
einzelne beschreibende Merkmale des Begriffes vorgebracht, bald
kommt es zu sogenannten Zweckdefinitionen. Die erste Reaktions-
weise kann man als Definition in dem Sinne auffassen, daB sie
nur das rein Tatsachliche kennzeichnet. Die Zweckreaktionen
lassen das Bestreben erkennen, einen tieferen, vor alien Dingen
einen praktisch wichtigeren Zusammenhang herzustellen, wieder
andere Beziehungen reprasentieren die raumlich zeitliche An-
ordnung des Reizes oder die fiir den Reizinhalt in Frage kommende
Tatigkeit. Bei dieser Abtrennung war der Gesichtspunkt mafi-
gebend, ob sich nicht vielleicht besondere Reaktionstypen heraus-
stellen wurden. Es ware doch moglich, daB eine Reihe der Ver¬
suchspersonen iiberwiegend Zweck-, eine andere Tatigkeitsreak-
tionen vorbrachte. Es wurde dabei in Betracht gezogen, ob nicht
so die sachlichen Typen feiner nuanciert werden konnten. Auf
die Resultate dieser Gruppierung soil an anderer Stelle eingegangen
werden. Gesondert betrachtet wurden die sogenannten Gefiihls-
Teaktionen. Diese sind dadurch charakterisiert, daB der Gefiihlston
des Reizwortes vorherrscht. Sie entsprechen den Reaktionen
Junga, wie Schuler — brav, Wasser — erfrischend, Sonne — schon.
Von den Gefiihlsreaktionen ist die dritte und letzte Hauptgruppe
scharf zu sondem, bei der zwischen Reiz und Reaktion person-
liche Beziehungen bestehen. In dieser Gruppe wird Jung und
Rildina einfacher Konstellations- und Komplexreaktionstyp zu-
sammengefaBt.
Die Wiederholungen, Nachwirkungen und Fehlerreaktionen
wurden getrennt verwertet tmd sollen in den Versuchsergebnissen
naher geschildert werden. Hier sei nur darauf hingewiesen, daB
^ Google
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86 Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
Synonyms als Reaktionen fast'niemals aufgetreten sind. Das
hangt wahrscheinlich damit zusammen, daB den ungebildeten
Versuchspersonen die sprachliche Gewandtheit a'bgeht. Die Zahl
der Synonyms war so gering, daB sie bei der Verwertung der
Resultate vernachlassigt werden konnte. Auch die beziehungs-
losen Ankniipfungen, die sinnlosen Reaktionen anderer Autoren,
waren so sparlich vertreten, daB sie keine irgendwie nennens-
werte Bedeutung haben, auch das ist der Ausdruck dafur,
daB sieh die Versuchspersonen vorwiegend auf den Inhalt des
Reizwortes einstellen.
Neben den Durchschnittsberechnungen des gesamten Materials
habe ich noch eine Gruppienmg der Versuchspersonen nach
klinischen Gesichtspunkten vorgenommen. Ich bin mir der
Schwierigkeiten, die die Zusammenfassung eines so heterogenen
Materials mit sich bringt, wohl bewuBt, aber die Fehler, die bei
normalen Versuchspersonen in Betracht kommen, die individuellen
dauernden und momentanen Differenzen haben andere Autoren
vor Durchschnittsberechnungen nicht zuriickschrecken lassen.
Meine Resultate erscheinen zu solchen um so mehr geeignet, als
ja durch die gleichartigen krankhaften psychischen Veranderungen
die individuellen Differenzen verwischt werden. Aus diesem
Grunde habe ich neben den allgemeinen Berechnungen die Sonder-
berechnung vorgenommen. Die Zusammenfassung geschah nicht
nach bestimmten diagnostischen Gesichtspunkten einer Schule,
sondem nach dominierenden gleichartigen Zustandsbildem. Es
versteht sich von selbst, daB nur einwandfreie Falle zur Ver¬
wertung gekommen sind. So wurden folgende Gruppen gebildet:
1. Hysterische Zustande,
2. epileptische Dammerzustande,
3. Amnesie bei Chorea,
4. epileptische Demenz,
5. paralytische Demenz,
6. senile Demenz,
7. leichte alkoholische Demenz,
8. Dementia hebephrenica,
9. Korsakoff bei Lues,
10. manische Zustande,
11. depressive Zustande,
12. paranoische Zustande,
13. angeborener Schwachsinn mittleren Grades.
Bei den Demenzen sei noch hervorgehoben, daB nur Falle
mit deutlichem Defekt benutzt wurden. NaturgemaB durfte
dieser aber nicht so hochgradig sein, daB die Aufgabe nicht auf-
gefaBt und erfiillt werden konnte.
Beschreibimg der Aufgabe und Definition der angewandten Begriffe.
Bei der Vieldeutigkeit der Begriffe Assoziation und, Repro-
duktion ist es notwendig, eine kurze Definition zu geben, in.
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
87
welchem Sinne man diese Begriffe anwenden will 1 ). Jedes psy-
chische Erlebnis hinterlaBt eine Disposition. Die Vorstellungs-
dispositionen sind latent und wirkungslos. Wird eine Disposition
in Wirksamkeit gesetzt, so nennen wir diesen Vorgang Reproduktion.
Eine solche Wirksamkeit ist aber nur moglich, wenn durch Reize
identischer oder ahrilicher Natur die Disposition durch andere
Vorstellungsdispositionen zur Reproduktion angeregt wird. Die
Art, wie andere Vorstellungsdispositionen zu einer Reproduktion
fiihren, ist die folgende: Zwischen 2 Vorstellimgen werde eine
Verknupfung gestiftet, diese Verkniipfung hinterlaBt eine Dis¬
position zur Weitererregung von der einen Vorstellung zur anderen.
Diese Disposition zur Weitererregung nennen wir Assoziation.
Die Assoziation ist also naoh unserer Terminologie nur eine Teil-
bedingung der Reproduktion. Sie ist eine besondere Art der Dis¬
position, die dadurch charakterisiert wird, daB sie wirksam ist,
wenn nur ein Vorstellungsinhalt gegeben ist. Eine andere Teil-
bedingung der Reproduktion, die fur unsere Versuche in Frage
kommt, ist die Reproduktion auf Grand der Aehnlichkeit und
die Auslosung der Reproduktion durch den Eintritt eines dem
ersten Reiz adaquaten Reizes. Dabei soil hier die Frage nach
der Berechtigung der Unterscheidung zwischen Aehnlichkeit und
Assoziationsreproduktion nicht erortert werden. MaBgebend war
fiir mich, daB diese Trennung fiir die Aufgabe am zweckmaBigsten
erschieri. Auch die anderen Bedingungen der Reproduktion werden
nur so weit berucksichtigt, als es die Versuche erfordern.
Auf Grand der eben gegebenen Terminologie laBt sich der
Versuch dahin formulieren, daB der Versuchsperson die Aufgabe
gegeben wird, auf eine Vorstellungsreihe mit dem, was ihr gerade
einfallt, zu reagieren. Wir konnen durch diese Aufgabe neue Ver-
kniipfungen, neue Assoziationen zwischen Vorstellungsdispositionen
schaffen Oder, und das ist das gewohnliche, durch das Reizwort
die Reproduktion einer alten Verbindung anregen. Durch das
Reizwort werden natiirlich die mannigfachsten Vorstellungskreise
in Bereitschaft gestellt. Diese Vorstellungskreise konnen alle
moglichen Denk- und Anschauungsformen zum Inhalt haben.
Welcher Vorstellungskreis beim Wettstreit siegt und zu einem
symbolisierenden sprachlichen Ausdruck kommt, kann im Einzel-
fall nicht angegeben werden. Das hangt von der Starke der
Disposition ab. Immerhin hat man die allgemeinen Bedingungen
einer solchen Disposition in neuerer Zeit genauer festzustellen
versucht. Ich erinnere an die Untersuchungen von Meumann,
Kulpe und vielen anderen. Zum Verstandnis der Aufgabe gehort
es, sich noch einmal diese Faktoren zu vergegenwartigen. Zu-
nachst wird die an Intensitat starkere Disposition von den durch
das Reizwort angeregten Komplexen mit mehr Wahrscheinlich-
x ) Die Definition der Begriffe folgt im wesentliehen den Anschau-
ungen von Offner ,,Das Gedachtnis“, 1911, und Lipps ..Leitfaden der
P8ycbologie“, 1909
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88
Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
keit wirksam werden, als die an Intensitat schwachere.
Auch die Dauer dee psychischen Vorganges, als er aktuell war,
ist hier von EinfluB. Endlich ist die Haufigkeit seines friiheren
Auftretens, die Art und Zahl seiner Einpragungen und friiheren
Wiederholungen wichtig fur sein Wiederauftreten. Alle diese
Momente sind ja durch die Untersuchungen von Ebbinghaus,
Miiller- Pilzecker, Miiller-Schumann u. A. festgestellt. Bei einer
so komplexen und vielgestaltigen Leistung, wie sie bei der ublichen
Assoziationsmethode zur Geltung kommt, konnen die bisher
besprochenen Faktoren nicht in ihrer Wirkung und Bedeutung
analysiert werden. Die elementaren Methoden der eben genannten
Autoren sind aber wiederum fiir unsere Zwecke bei Geisteskranken
nicht geeignet, weil sie eine diesen fast stets fehlende Konzentration
voraussetzten. Andere Bedingungen der Beproduktion sind die
Aufmerksamkeit. Wir haben den Grad ihrer Wirksamkeit bei der
Entstehung der Disposition vie auch bei ihrer durch das Reiz-
wort ausgelosten Wiederkehr zu bestimmen. Auch hier miissen
wir auf alle feineren Details verzichten. Es geniigt fiir unsere
Zwecke die Feststellung, daB die Aufmerksamkeit, liber deren
Natur hier nichts ausgesagt werden soil — wir wollen damit nur
den allgemein bekannten Tatbestand bezeichnen —, bei meinen
Versuchspersonen meist eine an Intensitat geringe war. Im iibrigen
war sie ausreichend, um der von uns gestellten Aufgabe nach-
kommen zu konnen. Auch der EinfluB der Stimmung, sei es
bei der Aufgabe an sich, sei es durch den Inhalt der Aufgabe oder
sei es der EinfluB der krankhaften Stimmung der Versuchsperson,
ist von mir nicht beriicksichtigt worden. Es geniigt, hervorzuheben,
daB in den meisten Fallen die Stimmung einen hemmenden EinfluB
bei der Erfiillung der Aufgabe ausiibte. Die Versuchspersonen
waren unlustig, weil sie iiberhaupt tatig sein sollten, oder weil sie
an sich depressiv waren, oder weil beides gemeinsam wirksam
war. In anderen Fallen war die Stimmung ohne sichtbaren EinfluB
auf den Versuch.
Den zweiten, wichtigeren Teil der Aufgabe bildete nun die
Untersuchung iiber den EinfluB eines nicht sehr alten, nicht
wesentlich gefiihlsbetonten Vorstellungskomplexes auf die zu
einer spateren Zeit durch die gleichen Reizworte ausgelosten
Beproduktionen. Diesen EinfluB festzustellen und in seiner
Wirkung zu untersuchen, war der eigentliche Zweck der Versuchs-
anordnung. Dem Komplex war eine erhohte Festigkeit dadurch
verliehen, daB er zunachst als solcher in seiner Gesamtheit repro-
duziert werden sollte. Bei der Anregung der Beproduktion durch
einen verbalen Beiz nach Wirkung des Komplexes sind nun mehrere
Momente zu beriicksichtigen. Zunachst wirken die schon vor-
handenen oder bei der ersten Versuchsreihe gestifteten Assoziationen
hemmend auf die Bildung neuer Dispositionen. Die schon vor-
handenen Dispositionen beeintrachtigen die Entstehung von neuen
Verkniipfungen. Nachteilig ist auch der gleichzeitige Ablauf
anderer psychischer Vorgange, weil dadurch eine Teilung der
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des Voratellungsablaufes durch Geachichtskomplexe etc.
89
Aufmerksamkeit bewirkt wird. Diese zwei Faktoren spielen auch
bei der Beproduktion eine wichtige Bolle. Bei meinen Versuchen
handelt es sich ja vor allem um das letztere. Eine Disposition
kann zur Wirksamkeit angeregt werden durch die Wiederkehr
eines bei der Stiftung der Assoziation identischen oder adaquaten
Beizes, d. i. zum groBen Teil bei der zweiten Versuchsreihe der
Fall. In dem Kampf der Dispositionen um das Wirksamwerden
sind auch die Starke der Dispositionen und ihre Bereitschaft von
Bedeutung. Die Bereitschaft eines Inhaltes hangt auch davon ab,
wie oft er friiher schon reproduziert wurde, wie nachhaltig seine
Wirksamkeit war und endlich, wie reiche und mannigfaltige Be-
ziehungen zu anderen Vorstellungsinhalten bestehen. Es ist klar,
daB wir nicht im Einzelfall die Wichtigkeit dieses oder jenes Faktors
geniigend herausheben konnen. Zeitmessende Untersuchungen
haben ja bekanntlich gezeigt, daB die Beproduktionszeit fiir den
Beichtum von Vorstellungs- und Assoziationsdispositionen ge-
wisse Anhaltspunkte ergibt. Ich habe bei den Versuchen aus
gesondert zu erorternden Griinden von einer Bewertung der
Beproduktionszeit Abstand genommen.
Einen Gegensatz zu den reproduktiven Hemmungen bildet
die Konstellation. Sie stellt unter sonst gleichen Bedingungen,
besonders der Starke der Disposition und der Aufmerksamkeit,
die Summe der Hilfen dar, wie Herbart es nennt, die die eine
Disposition vor der anderen zum Siege fiihrt. Die Zahl der Hilfen
begiinstigt die Beproduktion. Dabei konnen die Formen, in
denen diese Hilfen wirksam werden, nicht vernachlassigt werden.
Verschiedene Moglichkeiten hat Miinsterberg 1 ) in seinen Versuchen
klargelegt. Er lieB Beihen von Farbenbezeichnungen und solche
von Zahlen akustisch auswendig lernen, dann wurden sie nur
gezeigt, endlich sowohl visuell wie auch akustisch eingepragt.
Die Beproduktion der kombiniert erlemten Beihe ergab viel
weniger Fehler, als die der isoliert erlemten. Dieses Beispiel
stellt den einfachsten Fall der Konstellation dar. Die visuelle
bezw. die akustische Beihe bildet die Konstellation fiir das Wirk¬
samwerden der motorischen Disposition, des Aussprechens der
Bezeichnungen. Man konnte diese Art der Konstellation als die
assoziative bezeichnen.
Eine zweite Form wird durch das oft zitierte von Wahle
gehabte Erlebnis charakterisiert. Wahle hatte lange nicht an
Venedig gedacht, obwohl das Bathaus seiner Vaterstadt geeignet
gewesen ware, die Erinnerung an den Dogenpalast wachzurufen.
Eines Tages trat ihm beim Anblick dieses Bauwerkes das Er-
innerungsbild des Palastes vor Augen. Nach einigem Besinnen
fiel ihm ein, daB er vor 2 Stunden bei einer Dame eine Brosche
in der Form einer venezianischen Gondel gesehen hatte. Hier
ist der Einf luB eines neuen Komplexes auf die Beproduktion ganz
offensichtlich. Aber hier kommt zu dem Faktor der assoziativen
') Mtinsterbcrg, Beitrage zur experiment®lien Psychologic. I—IV.
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90
Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
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Hilfe, den wir eben erortert haben, das Moment der Nachwirkung
hinzu. DaB der Vorstellungsablauf beim Anblick des Bathauses
gerade diesen Weg gegangen ist, hangt hauptsachlich von der
zeitlichen Beziehung ab. DaB Wahle zwei Stunden vor dem er-
neuten Anblick des Bathauses den Eindrafck der Gondel hatte,
ist das Entscheidende. Gerade die Frische des Eindruckes infolge
der Kiirze der verflossenen Zeit gibt diesem Beispiel seinen be-
sonderen Charakter. Auf den Begriff der Nachwirkung soli hier
nicht naher eingegangen werden. Man muB aber die Tatsache zu-
geben, daB alles zusammenhangende Denken, alle Einheitlichkeit
eines Kunstwerkes oder einer Melodie nicht bestehen konnte,
wenn nicht die verflossenen Teile des Ganzen irgendwie wirkam
waren. Zweifelhaft bliebe nur bei dem TFoWeschen Beispiel, ob
sich der Einflufi des Eindrucks der venezianischen Gondel auch
noch iiber die unmittelbare Zeit der Wirksamkeit hinaus geltend
machen konnte. Ich glaube, daB man die Selbstandigkeit einer
Nachwirkung nicht wird in Abrede stellen. Wir miissen uns den
Vorgang so vor stellen, daB der Vorstellungskomplex des Dogen-
palastes mit dem des Bathauses der Vaterstadt auf Grand der
Aehnlichkeit einst verkniipft wurde. Es bestand also eine Tendenz,
bei dem Anblick des Bathauses das Erinnerungsbild des Dogen-
palastes zu reproduzieren. Diese Tendenz wurde leichter wirksam
bei Eintritt des neuen Beizes. So weit ware der Tatbestand einer
assoziativen Konstellation gegeben. Nun kommt aber als Neues
hinzu, daB wahrscheinlich das Erinnerungsbild der Brosche ver-
blaBt und ohne EinfluB geblieben ware, wenn das Zeitoptimum
seiner Wirksamkeit iiberschritten ware. Dabei muB man annehmen,
daB jede Erregung einen gewissen Hohepunkt in ihrer zeitlichen
Wirksamkeit erreicht. Dieser ZeiteinfluB wird je nach der In¬
tensity und der Wertigkeit der Erregung fur die gesamte psy-
chische Personlichkeit schwanken. Ein lebenswichtiges, affekt-
betontes Erlebnis wird eine langer dauernde Wirkung haben als
andere. So viel ist ferner sicher, daB auch relativ gleichgiiltige
Vorgange fur kiirzere oder langere Zeit nach ihrer manifeeten
Wirkung noch zur Geltung kommen; wie lange Zeit eine solche
Wirkung bestehen kann, ist zurzeit noch nicht feststellbar.
Die dritte Form der Konstellation kommt in dem EinfluB
einer Aufgabe, einer einheitlichen Zielrichtuhg zum Ausdruck.
Dabei soil auf die Frage der BewuBtheit nicht eingegangen werden.
Ist, um das Beispiel von v. Kries 1 ) zu wahlen, einer Notenfolge der
Bafischliissel vorgezeichnet, so ist meinem Vorstellungsablauf durch
den Schliissel eine bestimmte Bichtung gegeben. Hier ist also
dem Notenlesenden eine bestimmte Aufgabe gestellt. Diese er-
zwingt das Auftreten eindeutiger Noten; alle assoziativen oder
perseveratorisch wirkenden miissen unterdriickt werden. Wenn
vieldeutige Worte von uns gelesen werden, ist ja nach dem Zu-
*) v. Kries, Ueber die Natur gewisser Hirnzustande. Ztachr. f. Psych,
u. Phys. Bd. vm. ;
Gck igle
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des Yorstellungsablaufes durch Gesehichtskomplexe etc. 91
sammenh&ng des Textes bald der eine, bald der andere Sinn
wirksam. So wird das gehorte Wort „Meer“ bald als Substantiv,
bald als Adverb aufgefaBt werden konnen. Die Erklarung dieses
psychischen Vorganges kann uns nicht beschaftigen. Es muB
aber schon hier darauf hingewiesen werden, daB die Erweiterung
des Begriffes Konstellation, wie es Levy im AnschluB an die Ziehen-
sche Definition getan hat, indem er von einer Totalkonstellation
spricht, nUr die Tatsachen verschleiert. Es ist ja zweifellos richtig,
daB die gesamte psychische Personlichkeit stets jede einzelne
Reproduktion mitbestimmt, aber wir gewinnen nichts damit,
wenn wir diese allgemeine Tatsache als Totalkonstellation be-
zeichnen. Der Begriff Konstellation hat nur Wert und Bedeutung
fiir die gerade wirksamen, fiir die aktuellen Vorstellungen, wie
Ziehen es nennt. Man kann, wenn man will, den EinfluB eines
bestilnmten Planes, Zweckes auf unsere gesamte Arbeits- un4
Lebensweise als Konstellationswirkung auffassen. Wir unir
schreiben aber damit nur den Tatbestand, ohne unsere Erkenntnis
zu erweitem. Dagegen ist das ein neues Moment, daB jeder aktuelle
Vorgang, auch wenn er keine irgendwie erkennbare Beziehung
zu dem gesamten psychischen Geschehen hat, in seinem Ablauf
durch eine der Konstellationsformen mitbeeinfluBt wird. Stets
wirken die einzelnen Formen der Konstellation zusammen. Die
assoziative und perseverative Konstellation macht ihren EinfluB
vor allem auf den Inhalt, die determinierende auf die Richtung
des Vorstellungsablaufs gel tend. Auf das Wesen der Konstellation
soil spater eingegangen werden.
♦ *
♦
Wenn ich nach diesen kurzen allgemeinen Vorbemerkimgen
zu meinen Versuchen zuruckkehre, so muB ich feststellen, daB
die durch die Reizworte angeregte, vom Komplex beeinfluBte
Reproduktion im wesentlichen von 3 Faktoren abhangt: von
der Art, wie die Aufgabe gestellt wurde, vom Inhalt des Reizes
und vom Inhalt des Komplexes. Nebenfaktoren, wie z. B. der
EinfluB der vorausgegangenen Reaktionen, konnen bei der Grup-
pierung vernachlassigt werden.
Ob die Weisung, sich der Greschichte zu erinnem, nur zu
Beginn der Prufung oder beim Einwirken jedes Reizwortes gegeben
wurde, oder ob sie iiberhaupt unterblieb, das alles variiert die
Reaktion. Auch die Einwirkung des Komplexes vor der ersten
oder vor der zweiten Versuchsreihe muB eine Veranderung der
Vorstellungsfolge herbeifiihren. In zweiter Linie wird eine Reaktion
den EinfluB des Komplexes in verschiedenem MaBe zeigen, je
mehr oder je weniger reich die Beziehungen des Reizwortes zu
den einzelnen Komplexworten sind. Auch die Formen, in denen
sich der EinfluB dieser Komponenten auBert, lassen sich angeben.
Einmal kann das Reizwort zu einer Wiedererkennung der Ge-
schichte fuhren. Das dokumentiert sich dann in Reaktionen,
wie „das ist ja aus der Geschichte“ u. a. In anderen Fallen konnen
Erlebnisse und Erfahrungen, die denen der Geschichte ahnlioh
sind, geweckt werden. Das driickt sich in AeuBerungen aus, wie
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92
Kutzinaki, Ueber die Beeinflussung
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,,mein Vater hat so etwas erlebt“ oder „ich bin schon ins Wassei
gefalien und herausgezogen worden“. Endlich kann eine Assoziation,
die dem Komplex entstammt oder bei seinem Horen gestiftet wurde,
den EinfluB des Komplexes offenbaren. Das zeigen z. B. Reaktionen
wie Ueberbordspiilen“ auf das Reizwort ,,Bord“, oder „vom
Haifisch verschlungen“ auf den Reiz „verschlungen“. Letztere
Art ist die gewohnlichste Verknupfung. Zum ScbluB bleibt noch
die Moglichkeit, daB zwar eine Weckung des Geschichtskomplexes
durch einzelne Vorstellungen stattfand, daB es aber nicht zu einer
sprachlichen Formulierung aus irgendwelchen Griinden, meist
weil die alten oder die Nebenassoziationen starker waren, ge-
kommen ist. Hier gibt die anfangs unbestimmte, spater bestimm-
tere Frage „haben Sie an etwas gedacht, was Sie erlebt, gesehen,
gebort oder gelesen haben“ bezw. ,,haben Sie an die Geschichte
gedacht" Aufklarung. Oft lost diese Frage die Bemerkung aus:
„Ja, bei dem Wort habe ich daran gedacht." Bei aller Vorsicht
in der Verwertung von Aussagen Geisteskranker wird man eine
solche AeuBerung doch als dem psychischen Tatbestand ent-
sprechend betrachten miissen, denn bei anderen, fast gleich leb-
haften Reizworten wird diese Frage verneint.
Man kann die Reizworte in ibrem Verhaltnis zum Komplex
in drei Gruppen zusammenfassen. Eine Reihe von Zurufen ist
wortlich der Geschichte entlehnt. Wir wollen sie nach dem Vor-
gange Ziehens ,,Lockworte“ nennen. Unter diesen Reizen sind
auch solche, die bereits zum alten Besitz der Versuchspersonen
gehoren. Dadurch wird natiirlich ihre Beziehung zu den neuen
Vorstellungen des Komplexes in ihrer Wirkung gehemmt. Zu
dieser Gruppe, es braucht nicht erst gesagt zu werden, daB die
Trennung etwas Willkiirliches, Kiinstliches ist, rechne ich die
Reizworte ,,Sohn, Offizier, Rettung, verschlungen, Bord, spiilen,
streifen, umkreisen, Augen". Die zweite Gruppe gehort zwar zum
Vorstellungskreis der Geschichte, ohne in ihr wortlich aufzutreten.
Das sind die Reizworte „Fisch, tot, fahren, Meer, Blut, Ungliick,
Schiff, Kirche, essen, rot". Indifferente Reize bilden die Zurufe
„Gold, tanzen, Gift, Schlange, Berlin, Sonne, schon, Wald, Hoch-
zeit, Liebe, Siinde, Armut, schlecht, alt, Kaiser, Farbe, kaufen".
Bei diesen Reizen bestehen also keine erkennbaren Zusammen-
hange zwischen Komplex und Zuruf. Es ist selbstverstandlich,
daB auch hier solche hergestellt werden konnen, und zuweilen
bietet gerade diese Art der Verknupfung ein besonderes Interesse.
Die Ordnung der durch das Reizwort ausgelosten Reaktionen
findet in der eben dargelegten Weise statt. Sprachlich nicht
formulierte Beziehungen haben sich nicht sicher feststellen lassen.
Sie werden in dem Kapitel ,,BewuBtheit“ eine nahere Erorterung
finden. Auch Wiedererkennungsvorgange sind nur sparlich auf-
getreten. So lost das Reizwort ,,verschlungen“ gelegentlich die
Reaktion „ist auch aus.der Geschichte" aus. Ebenso verhalt sich
eine Versuchsperson bei den Zurufen „Rettung“ und „Schiff".
Auch eine Reaktion wie ,,der Mann auf dem Schiff ist iiber Bord
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des Vorstellungaablaufes durch Geschiohtskomplexe etc.
93
geworfen, habe ich gelesen" gehort hierher. Das Reizwort
,,Streifen“ weckt die Erinnerung an den Komplex in der Form
der Geschichte ,,Blutstreifen“. Aehnlichkeitsbeziehungen werden
noch seltener hergestellt, z. B. beim Reizwort ,,Rettung“: „ich
habe gesehen, wie sie einen aus dem Wasser gerettet haben",
Oder „wie sie ihn aus dem Wasser gezogen haben“. Ein
anderes Mai wird die Reaktion in der Ichform vorgebracht,
z. B. „ich bin selbst in die Hohe geklettert auf dem Dampfer und
ware da beinahe ins Wasser gefallen“. Bei einer anderen Versuchs-
person erfolgt auf das Reizwort ,,Bord“ die Aehnlichkeitsreaktion:
„der Bruder ist iiber Bord gefallen“. Weit haufiger sind die rein
assoziativen Ankniipfungen. Zunachst sei bemerkt, daB einzelne
Worter, die wortlich der Geschichte entlehnt sind, infolge ihrer
zahlreichen Beziehungen gar keine Ankniipfungen auslosten, z. B.
die Reize „Sohn“, „Offizier“, „Augen“. Andererseits findet man
solche, die als indifferente Reize zu betrachten sind und doch
gelegentlich durch den Komplex beeinfluBt werden, z. B.
„Schlange“; auf diesen Reiz erfolgt die Reaktion „die einen ver-
schlingen will", auf „essen‘*, „Tiere“, auf „tot“ ,,ist der Mann".
Diese Reaktionen treten nur in der Komplexreihe auf, wahrend
sie vorher und nachher durch gewohnliche Ankniipfungen ersetzt
werden, so auf „tot“ „ist gefahrlich", ,,essen‘‘,,Hunger", ,,Schlange“
„im Wald". Das Reizwort „rot" bewirkt in der 1. Versuchsreihe
Reaktionen wie „wenn einem heiB ist", oder „der Tod", oder
„Rock“, oder „ist die Sonne". Nach dem GeschichtseinfluB
stellen sich haufiger die Antworten „Blut" ein, und diese werden
in der 3. Versuchsreihe wieder durch andere Ankniipfungen
ersetzt. Aehnliches beobachten wir bei dem Reizwort ,,Blut",
auch hier assoziative Beziehungen, die in der Komplexreihe be-
sonders markant sind. Als Beispiel nenne ich die Reaktionen
..verabscheue ich" und „verliere ich" in der 1., ,,ist rot" in der
2. Reaktionsreihe. Selbst das sonst so gelaufige Reizwort „Augen“
fiihrt gelegentlich einmal zu Komplexanknupfungen, wie folgende
Beispiele zeigen: Zunachst keine Reaktion, dann ,,des Tieres",
oder „Augen sind gut", dann ,,der Hai hat groBe Augen". Seltener
wird durch das Wort „spiilen" der Komplex ausgelost. Einmal
findet man in der Komplexreihe die Antwort „Meer“, in den
anderen Reihen die Reaktion „Wasche", ein anderes Mai die
Reaktion „Flaschen“ und in der Komplexreihe die direkte An-
lehnung „die Wellen haben ihn fortgespiilt". Auch der Reiz
„Schiff" fiihrt nur selten zu Anlehnungen, einmal wird die Reaktion
„Dampfer", „Handelsdampfer“ und „Schiffsmannschaft“, ein
anderes Mai ,,geht unter" ausgelost. Diese Ankniipfungen sind
nur mit Vorsicht zu verwerten, um so mehr, als die Versuchs-
person keine Erinnerung an den Komplex bei Befragen zeigte.
Tmmerhin ist es auffallig, daB die 1. und 3. Versuchsreihe derartige
Beziehungen vermissen laBt, und daB hier gelaufige Beziehungen
wie Schiff„bruch“, ,,-Wrack" u. a. iiberwiegen. Aehnliche Be-
obachtungen ergibt die Betrachtung der Reaktionen auf das
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5)4
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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Reizwort „Bord“. Hier treten Ankniipfungen wie ,,der Steuer-
mann fiel iiber Bord", oder „iiber Bord werfen", oder „der junge
Offizier stiirzte iiber Bord“ auf. In diesem Fall zeigt die der
Komplexeinwirkung folgende 3. Versuchsreihe keine Veranderung
der Reaktionen, aber hier geht ja aus der Art der Ankniipfung
selbst der EinfluB des Komplexes geniigend hervor. Beim Reiz
,,Fisch“ erfolgt nur dreimal die so naheliegende Reaktion ,,Hai¬
fisch". Ein anderes Mai wird in einem ganzen Satz geantwortet:
„vom Haifisch, der den Seeoffizier verschlungen hat“. Unbe-
stimmtere Arten des Einflusses zeigen Antworten wie ,,im Meer“,
,,im Ozean“, die einen Gegensatz bilden zu den sonstigen Re¬
aktionen, wie ,,Teich“, „Wasser“, „gebraten“. Besonders markant
kann man den EinfluB des Komplexes nachweisen bei doppelsinnigen
Worten, wie „Meer“. In der A-Serie z. B. hat eine Reaktion im
Sinne der Geschichte etwa 6 mal stattgefunden. Oft trat nur
die Frage, ob ,,Meer“ oder „mehr“ gemeint ist, auf. Die Re¬
aktionen sind alle etwas imbestimmt und beschranken sich auf
Ausdriicke wie ,,Meeresgrund“, „unergrundlich“, ,Fisch“ „ist
ein Wasser“, „Dampfer". Selten findet man deutlichere Ge-
schichtseinfliisse, so einmal ,,das Meer hat groBe Wellen ge-
schlagen“, „der Offizier hat sich ins Wasser gestiirzt“, ,,indiseh“.
Auch das Wort ,,Streifen“ wird oft doppelsinnig aufgefaBt. Am
gelaufigsten sind den Versuchspersonen Antworten wie „Papier-
streifen“, „durch den Wald streifen“. Als Zeichen der Ankniipfung
treten Reaktionen, wie ,,Militarstreifen“, „Blutstreifen“ imd „der
Offizier hinterlieB einen Blutstreifen" auf. Bei dem Reiz ,,Um-
kreisen" hatten die meisten Versuchspersonen SchWierigkeiten;
nur sehr wenige stellten iiberhaupt Beziehungen zum Komplex
her. Diese waren meist unbestimmter Natur, wie z. B. ,,wenn
von Tieren umkreist wird“, oder ,,der Hai umkreiste das Schiff“.
Die haufigsten Ankniipfungen findet man bei den Worten ,,Ret-
tung“ und „verschlungen“. Auch diese sind oft sehr vage und
unanschaulich in ihrer Ausdrucksweise, aber sie lassen an dem
EinfluB des Komplexes nieht zweifeln, auch wenn dieser nicht
bewuBt erinnert wird. Neben Ankniipfungen wie „wenn einer
gerettet wird“, ,,dem Ertrinkenden ist Rettung notig“, „Rettungs-
ball“ oder „wenn man versimken ist“ finden wir ganz bestimmte
Reaktionen wie „Rettung ist manchmal vergebens“, ,,ist im-
moglich“, „des Kapitans“, ,,Schiff“. Einmal erfolgen Reaktionen
Wie ,,der Offizier, der Matrose wurde gerettet“,‘ das „Rettimgs-
boot“. Auch bei dem Reizwort „verschlungen", das ja wohl als
das anschaulichste zu betrachten ist, fallt die verhaltnismaBig
geringe Zahl der Ankniipfungen auf. Diese sind auch hier unbe-
holfen und eintonig. Am haufigsten kehrt die einfache Wortfolge
„von einem Haifisch verschlungen" wieder, seltener stoBen wir
auf Antworten wie „ist der Sohn des Pfarrers", ,,wurde ein Fisch
vom anderen", ,,ist das Kind vom Walfisch". Auch hier sind
Ankniipfimgen ohne begleitende Erinnerung zu verzeichnen. Zu-
sammenfassend muB ich noch einmal auf die sehr geringe Zahl
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
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der iiberhaupt erkennbaren Komplexreaktionen verweisen. Eine
prozentuelle Berechnung, das Verhaltnis der Komplexreaktionen
zu den iibrigen betreffend, ergibt nachfolgende Zahlen:
Tabelle I.
Komplexreaktionen auegedriickt in Prozenten der Oemmtreaktionen.
A-Serie
B-Serie
Versuchsreihe
Versuchsreihe
1 i
ii
Ill
I
n
III
Durehschnitt .
4,4
5,8
2,6
1
5,8
5,4
Melancholische Gruppe . . .
1,7
0
0
2,5
1,9
Paranoische Zustande • •
5,5
2,8
—
j
2,7
1.7
Manische Zustande.
8,3
9.7
5,5
4,2
1,4
Debilitat .
5,6
5,6
5.6
2,8
1,3
Dementia paralytica ....
0
11.1
8.3
i
3,4
3,4
Dementia epileptica ....
5,4
2,5
—
i
8,3
8,3
Dementia praecox
5.5
5,5
- —
6,2
4,9
Dementia senilis.
5,6
8,3
—
i
8,4
11,1
Hysterie .
6.5
8.3
4.1
i
6,7
8,3
Dammerzustande.
0
13,9
2.8
1
10,8
2,8
Amentia .
—
—
—
i
8,3
2,8
Dementia alcoholica ....
—
—
—
i
4,2
4.2
Korsakoff ..
—
—
_ 1
i
i
3,0
2.0
Auf welche Weise nun die Wirkung eines Komplexes noch
zur Geltung kommen kann, hat Jung bekanntlich fur gefiihls-
betonte Komplexe festzustellen versucht. Wenn auch Schnitzler
fiir normale gefiihlsbetonte Komplexe, wie bevorstehendes Examen,
Erwartung der Entbindung, die Resultate Jungs nicht bestatigen
konnte, so hat er sie doch nicht zweifelsfrei widerlegt. Seine
Untersuchungen lassen vor allem einen Bericht dariiber vermissen,
ob nicht eine Verdrangung des Komplexes stattgefunden hat,
und ob sich dieser nicht durch andere Symptome, ,,Impondera-
bilien“, wie „Erroten“, Ausbleiben der Reaktion etc. kundgab.
Es sollen die von Jung und Riklin hervorgehobenen Momente
bei den Versuchen zur Anwendung gebracht werden mit der
Absicht, ob irgendwelche positiven Resultate bei dem nicht ge-
fiihlsbetonten Komplex erzielt werden.
I. Reaktionszeit.
Als Hauptzeichen einer Komplexreaktion betrachten diese
Autoren die Verlangerung der Reaktionszeit. Wenn auch von
Jung selbst hervorgehoben wird, daB diese Auffassung fiir Unge-
bildete nur mit Vorsicht zu verwerten ist, so kommt er doch zu
dem Resultat, daB auch bei diesen gefiihlsstarke Reizworter die
Reaktionszeit verlangern. Wir haben es bei unseren Versuchen
nur mit Ungebildeten zu tun, meist handelt es sich ja um schwer
psychisch Erkrankte. Wir haben schon aus diesem auBeren Grunde
von einer durchgehenden Feststellung der Reaktionszeit abge-
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96
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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sehen. Dazu kommt, daft in unseren Fallen, wenn auch als Reiz-
worter absichtlich gelaufige Worte gewahlt wurden, die Versuchs-
person oft sichtliche Schwierigkeiten bei der Auffassung des
Reizes hat. Verlangert das schon an sich die Reaktionszeit, so
kommt weiter als hemmend hinzu, daft die Versuchsperson die
Aufgabe meist nur unlustig, widerstrebend, oft angstlich und er-
wartungsvoll befolgte. Endlich wirkte oft die Gefiihlslage des
Individuums an sich schon verzogernd und beeintrachtigend auf
den Vorstellungsverlauf, die Einstellung auf den Versuch war
eine sehr langsame. Es wird im Einzelfalle unmoglich sein, alle
diese Komponenten in ihrer Bedeutung richtig zu werten, auch
Durchschnittsberechnungen, wie sie Jung 1 ) und andere angestellt
haben, entwerfen kein richtiges Bild. Die Beschrankung auf eine
individuelle Betrachtungsweise, wie sie von Ziehen gefordert wird,
i8t geeignet, den Tatsachen am meisten gerecht zu werden, aber
auch diese konnte bei unseren Versuchen nicht zur Anwendung
kommen, weil unsere Versuchspersonen ja nur eine ungeniigende
Selbstbeobachtung haben.
Ich habe etwa in einem Drittel der Falle mittels der Sekunden-
uhr die mittleren Zeiten fiir die Reaktionen mit und ohne Komplex-
wirkung bestimmt. Bald gewann ich einen niedrigen Durch-
schnittswert von 1,8', bald einen hohen von 6,2', ein Einfluft
des Komplexes war zweifelhaft. Ich habe daher von einer Ver-
wertung der Resultate abgesehen, weil ich beobachtete, daft ich
den Schwankungen der Stimmungen bei den verschiedenen Ver-
suchsreihen nicht geniigend Rechnung tragen konnte, und weil
oft der sprachlichen Reaktion eine mimische voranging. Die
letztere Tatsache, auf die auch schon Isserlin hingewiesen hat,
verdient besonders betont zu werden, weil sie noch nicht geniigend
beachtet wurde.
Die Reproduktionszeit ist ja bekanntlich zunachst von der
Starke im Alter und der Haufigkeit der Vorstellungsdisposition
abhangig. Wichtiger sind die Intensitat der Aufmerksamkeit,
ihre fortgeBetzten Schwankungen, endlich bestimmt auch der
Gefuhlston, wie Mayer und Orth nachgewiesen haben, die Dauer
der Reproduktion. Sind wir von einem starken Affekt beherrscht,
so wirkt dieser storend und hemmend auf den Ablauf unserer
Vorstellungen ein. Werden wir umgekehrt durch einen aufteren
Reiz an diesen Affekt erinnert, dabei sei die Frage, ob bewuftt
Oder unbewuBt, hier ausgeschaltet, so haften wir langer bei
dem zugehorigen Vorstellungskomplex und fiihren so eine Ver-
zogerung der Reproduktion herbei. Das ist ja eine gelaufige Tat¬
sache. Unlogisch ist es aber, diese Tatsache in ihrer Wirkung
umkehren zu wollen. Daraus, daft eine Reproduktionszeit langer
als die vorhergehende und nachfolgende dauert, folgt noch nicht,
daft Gefiihle die Ursache dieser Verlangerung sind. Wenn z. B.
l ) G.O.Jung, Ueber das Verhalten der Reaktionszeit „in Diagnostisohe*'
Assoziationsstudien. 1906.
Go i igle
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des Vorstellungsablaufes durcli CJeschichtskomplexe c^tc.
97
Jung bei Reizwortern wie ,,Warter“, ,,leise“ Gefiihle als zeit-
verlangernd annimmt, so zeigt die nahere Begriindung die Hin-
falligkeit seiner Auffassung. Warum die Klangahnlichkeit ,,leise,
Lause“ bei 6 Versuchspersonen wirksam sein sollte, warum das
Wort ,,Lause“ bei einem, der selbst noch keine gehabt hat, als
Gefiihlskomplex darken m u B, bleibt unverstandlich. Wenn bei
dem Worte ,,Buch“ 7 von 11 Versuchspersonen zu lange Zeiten
haben, weil im Dialekt ,,Buch“ als ,,Buocli“ ausgesprochen wird,
und das Dialektwort ,,Buch“ ,,Bauch“ bedeutet, so erscheint es
doch naherliegend, durch die Konkurrenz dieser klangverwandten
Worte bei ihrer Wirksamkeit die Verlangerung der Reaktionen
zu erklaren. Ueberdies hat fiir viele das Reizwort ,,Bauch“
durchaus keine nennenswerte Gefiihlsbetonung. Wenn man
demgegeniiber auf den unbewuBten EinfluB des Gefuhls verweisen
will, so ist zu erwidern, daB man damit alles erklaren kann. Der
gefuhlsbetonte, vom BewuBtsein momentan abgespaltene Komplex
soli eine Wirkung ausiiben, die bestandig mit dem Ichkomplex
konkurriert. So sollen Assoziationen auftauclien, von deren Be-
deutung der Ichkomplex keine Ahnung hat. Wie zweifelhaft und
individuell verschieden das ist, zeigt ein Komplex wie der der
Graviditat. Wahrend er bei der JWgrschen Versuchsperson ver-
langerte Reaktionszeiten auslost, hat Schnitzler liberhaupt nicht
irgendvae den Nachweis des Graviditatskomplexes bei seiner
Versuchsperson fiihren komien. Wie kommt denn das BewuBt-
werden imbewuJJter Zustande zustande ? Wir reagieren auf ein
Reizwort in einer dem Versuchsleiter qualitativ oder quantitativ
auffalligen Weise. Er fordert uns auf, nach den Beziehungen der
beiden Worte zu suchen. Diese Aufforderung enthalt bereits eine
Absicht und bestimmt damit unseren Vorstellungsablauf. Bei
der Verfolgung der Absicht findet eine Auswahl statt; wir wahlen
aus unserem BewuQtseinsinhalt das, was uns am wichtigsten
erscheint, und das sind Gefiihlskomplexe. So kommen wir zu
eigentiimlichen Tauschungen bei dem InsbewuBteinheben von
Vorstellungsreihen. Beim Suchen nach Erklarungen drangen
sich gefiihlsstarke Erlebnisse vor, daraus darf man aber noch
nicht folgern, daB der Reiz an sich implicite den Gefiihlskomplex
hervorgerufen hat.
Eine zweite Quelle der Tauschung liegt in der Befragungs-
methode liberhaupt, die ja auf der systematischen Selbstbeobach-
tung beruht. Ich will die Notwendigkeit und Wichtigkeit der
Befragung einer Versuchsperson nicht bestreiten, schlieBlich ist
ja jedes Inbeziehungsetzen von einem Ich zum anderen nur mittels
Befragung und nachfolgender Deutung moglicb. Gerade Assozia-
tionsversuche, wie sie in der Pathologie so oft angewandt werden,
verlangen die Beriicksichtigung dieser Faktoren. Aber schon Wundt
und nach ihm, wie bereits erwahnt wurde, in jiingster Zeit G. E.
Muller haben auf die Gefahren hingewiesen, die eine zu weitgehende
Befragung mit sich bringt. Selbst wenn man die Befragungs-
methode nur bei in der Selbstbeobachtung geiibten Individuen
Monatasotirift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft l» 7
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9<S
K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung
anwendefc, lassen sich diese Gefahren nicht vermeiden. Die Gnter-
suchungen von Biihler haben das meines Erachtens deutlich gezeigt.
Es wiirde von unserer Aufgabe abfuhren, wollte man das im
einzelnen begrlinden. Es ist hier nur auf die in der Psychiatrie
bekannte Erfahrung hinzuweisen, daB man selbst bei sonst der
Suggestion nicht zuganglichen intelligenten Patienten nach der
Genesung nur schwer verwertbare retrospektive Angaben bekommt,
weil die Beeinflussung durch die Exploration zu groB ist.
Um die teils willkiirliche, und wie zugegeben werden soil,
oft geistvolle Kombination Jungs noch naher zu beleuchten,
seien weitere Beispiele genannt. Die Reizworter ,,Freiheit“,
„ungerecht“, ,,aufpassen“ sollen beim Wartepersonal, weil sie
gefiihlsbetont sind, zeitverlangernd wirken. Die Moglichkeit sei
zugegeben, aber konnte man nicht mit dem gleichen Recht be-
haupten, daB diese dem Wartepersonal so gelaufigen Begriffe im
allgemeinen ihren Gefiihlswert verloren haben ? Hier steht also
Vermutung gegen Vermutung. Eine Methode, welche die Moglich-
keiten entgegengesetzter Auffassung zulaBt, zeigt dadurch ge-
ntigend ihre Unzulanglichkeit und Unsicherheit. In anderen Fallen
wird wieder das Vorhandensein des Gefiihlstones zugegeben, aber
es fehlt die zeitliche Verlangerung. Auf das Reizwort ,,stechen 4i
z. B. wird mit ,,schneiden‘* reagiert, die Versuclisperson will bei
der Reaktion ein ,,angstliches Gefiihl“ gehabt haben. Das Aus-
bleiben der Zeitstorung wird mit dem leichteren Grad des auf-
getretenen Gefiihls erklart und der leichtere Grad daraus er-
schlossen , daB der Versuchsperson der Zusammenhang nicht auf-
fiel. Hier sei zunachst auf die von Jung angefiihrte, dem ,,leichteren
Grad des Gefiihls“ wider sprechende Tatsache hingewiesen, daB
das Reaktionswort ,,schneiden“ zum bedeutsamen Graviditats-
komplex gehort. Wichtiger ist aber, daB der Versuchsperson (ich
zitiere Jung) ,,der Zusammenhang nicht auffiel“. Das zeigt uns,
daB Beziehungen, die der Versuchsperson nicht als auffallig er-
scheinen, auch so hingenommen werden. Oft genug werden aber
bei den Deutungsversuchen Jungs Reaktionen, iiber deren Wichtig-
keit die Versuchsperson nichts aussagen kann, nur auf Grand der
verlangerten Reaktionszeit als affektbetonte verwertet. Es wird
also dem subjektiven Faktor eine sich nicht nach bestimmten
Grundsatzen richtende Bedeutung beigelegt, das zeigt uns, daB
der einheitliche Gesichtspunkt vermiBt wird. Auch viele andere
Beispiele dieser Autoren tragen einen deutlichen Komplexcharakter,
und trotzdem bleibt eine verwertbare Verlangerung der Reaktions¬
zeit aus. Als Beispiel dienen die auf S. 213 angefuhrten Reaktionen:
krank — arm 1,2",
gelb — viel 1.2",
spielen — Ball 1,2",
Stengel—lang 1,2".
(Das wahrscheinliche Mittel dieser Versuchsperson betrug 1,2 Sek.)
Der Einwand, daB die nachfolgende Reaktion verspatet auftrat, ist
nicht ausreichend, um den Zweifel an einer solchen Deutung
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des Vorstellungsablaufes durch (jeschiclitskomplexe etc.
99
zuriickzudrangen, denn in anderen Fallen fehlt auch diese Ver-
spatung. Wenn in anderen Reaktionen die Zeiten trotz eines
Komplexwortes kurz sind, z. B.:
lieben — 1,0",
Pflicht — treu 0,8",
Schlange — falsch 0,8",
Wechsel — falsch 0,8",
so wird das dahin interpretiert, daB die Versuchsperson fur diese
Worter eine Vorliebe hat, und sie deshalb allmahlich mit ver-
kiirzter Reaktionszeit aufzutreten scheinen. Diese Erklarung mag
zutreffen, aber folgt nicht gerade daraus ohne weiteres, daB dann
die verlangerte Reaktionszeit nicht als Zeichen einer Komplex-
wirkung betrachtet werden darf ? Konnen iibrigens nicht Re¬
aktionen, wie z. B. ,,Schlange — falsch“, die doch eine sehr ge-
laufige Verbindung darstellt, eine indifferente Bedeutung haben ?
Jetzt bediirfen noch die Assoziationen, welche die Vorliebe fiir
ein bestimmtes Reizwort dartun sollen, einer Betrachtung, z. B.:
richtig — falsch 1,0",
folgt — treu 1,4".
Die Befragung ergab, daB die Reaktion ,,falsch “ die Befiirchtung
der Abkiiklung des Gatten angeregt habe. Auch hier hat nicht
die Verlangerung der Zeit, sondern die Angabe der Versuchsperson,
daB die vorherige Reaktion noch nachwirkte, zur Erkennung der
Komplexwirkung gefiihrt. Aus der unerheblichen Zeitvermehrung
konnte diese nur vage vermutet werden. Das gleiche trifft fiir
die Reaktionen ,,Salz — salzig“ 1;4" zu, bei der auch nur mit
Hilfe der Befragung ein sicherer Nachweis der Komplexwirkung
gelang. Endlich gibt es in den Versuchsreihen Jungs wiederholt
Reaktionen, die gefiihlsbetont sind und trotzdem keine ver-
langerten Zeiten erforderten, z. B.:
lang — groB 1,2",
Schiff — groB 1,0",
Stengel — lang 1,2".
See — groB 1,2",
spielen — Ball 1,2"
[wahrscheinliches Mittel 1.2"] 1 ).
Alle diese Erwagungen und Tatsachen zeigen, daB aus der
Zeitdauer iiberhaupt nicht oder hochstens mit groBter Vorsicht
selbst bei gesunden und gebildeten Versuchspersonen eine Komplex-
wirkung erschlossen werden kann. Es ist immer eine genaue
kritische Selbstbeobachtung und irgendein qualitativ auffalliges
Moment die notwendige Voraussetzung fur die Wertung langer
dauernder Reaktionen.
Eine Verlangerung der Reaktionszeit bildet aber sicher in
einzelnen Fallen den selbstandigen Beweis fiir die Wirksamkeit
eines Gefiihlskomplexes. Reizworter, die an sich schon vor allem
einen affektiven Charakter haben, wie z. B. ,,Hoffnung“, oder zu
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100
K 11 t z i 11 s k i . Ueber die Beeinflussung
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einem dominierenden Erwartungskomplex gehoren, wie z. B.
,,Storch“ bei der graviden Versuchsperson I (S. 209) von Jung
und Riklin, rufen natiirlich Gefiihlsreaktionen hervor. Wenn es
zu einer Verlangerung der Zeiten kommt, so ist das durch die
Stauung, um in einem Bilde zu reden, der geweckten Gefiihls-
erlebnisse zu erklaren. Vielleicht hat aber auch ein Konkurrenz-
kampf der einzelnen Komplexe in ihrem Bestreben, zur Geltung
zu kommen. die Verlangerung der Reaktionszeit verursacht. Was
diese Reaktionsformen von den anderen von Jung als Komplex-
reaktion bezeichneten unterscheidet, ist ihre Unmittelbarkeit, die
Versuchsperson sucht nicht erst nach dem Zusammenhang zwischen
Reiz und Komplex, dieser Zusammenhang ist vielmehr direkt
gegeben.
Eine Beeinflussung der Reaktionszeit tritt ferner ein, wenn
eine kontinuierliche. einheitliche, depressive oder auch spannende
Gefrihlslage den Vorstellungswechsel bestimmt. Hier handelt es
sich um eine quantitative Minderleistung aller psychischen Funk-
tionen. Es eriibrigt sich, an dieser Stelle auf Einzelheiten einzu-
gehen. Schon die Alltagsbeobachtung lehrt uns, daB gedriickte
Stimmung die Gedankenentwicklung verlangsamt.
AeuBere, in der Versuchsperson liegende Schwierigkeiten und
die obigen theoretischen Betrachtungen haben mich die Zeit-
messung nur in einzelnen Fallen anwenden lassen. Uebrigens
zeigen auch Scholls Resultate erhebliche Schwankungen des Zeit-
wertes. Ebenso ist auch Messer zu keinem verwertbaren Resultat
gekommen.
Sind nun auch die quantitativen Merkmale eines Komplexes
nur sehr unsicher oder gar nicht nachzuweisen, so haben Jung
und Riklin doch eine Reihe qualitativer Faktoren angefiihrt,
denen man die Abhangigkeit von Gefiihlswerten nicht absprechen
kann. Wenn ein Ausfall der Reaktion oder ihre Sonderbarkeit,
ein Versprechen, eine Uebersetzung in eine fremde Sprache, Kraft-
ausdriicke, Zitate, auftreten, so sind diese Reaktionen als komplex-
verdachtig aufzufassgn. Oft wird die Reizvorstellung nicht in
ihrem eigentlichen und gewohnlichen, sondern in einem speziellen,
dem Komplex angepaBten Sinne aufgefaBt. Ich habe versueht,
diese qualitativen Faktoren auch fur unsere Versuche zu benutzen.
Es handelt sich zwar nicht um einen Gefiihlskomplex, es ist doch
aber, wenn Jungs Anschauungen richtig sind, a priori anzu-
nehmen, daB alles, was geeignet ist, den gewohnten Vorstellungs-
verlauf zu unterbrechen, auch analoge Reaktionssymptome herbei-
fiihren muB. Man wird natiirlich der Bedeutung des Gefiihles
nicht andere Momente gleichsetzen konnen, aber man wird auch
den EinfluB von neuen, fremdartigen und als solchen lebhaften
Eindriicken auf den Vorstellungsablauf von vornherein nicht ab-
lehnen, noch zumal, wenn man bedenkt, daB der Komplex von
einer autoritativen Person, dem Arzt, den Versuchspersonen ge¬
geben wurde. Einen Ueberblick iiber unsere Resultate in dieser
Hinsicht zeigen die nachfolgenden Tabellen. Von den Komplex-
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des Yorstellungsablaufes duroli Geschiehtskomplexe etc.
101
merkmalen wurden nur die verwertct, die in nennenswerter Zahi
bei den Versuchspersonen gefunden wurden. Die in Betracht
kommenden Komplexreaktionen wurden in Prozenten der Gesamt-
reaktionen ausgedriickt. Von den von Jung angefiihrten Zeichen
einer Komplexwirkung scheiden eine Reihe aus. weil sie fur unsere
Zwecke nicht geeignet sind: Kraftausdriicke, Uebersetzung in eine
fremde Sprache und Versprechungen. Diese Reaktionen sind in
meinen Protokollen so selten, daB sie vernachlassigt werden konnen.
Die Nachwirkung, die Wiederholung des Reaktionswortes, der
Ausfall der Reaktionen w r erden einer gesonderten Besprechung
unterzogen. Zitate sowie sonderbare Reaktionen, die man besser
beziehungslose nennen sollte, babe ich zusammengefaBt. Alle
diese Reaktionen sind selten vermerkt und sollen im Zusammen-
hang kurz besprochen werden.
I. Ausfall der Reaktionen.
Unter Ausfall der Reaktionen verstehen wir das, was Jung
und Riklin als Fehler bezeiclmet haben. Wir haben dann ein
Ausbleiben der Reaktion angenommen, wenn nach 30 Sekunden
keine Antwort erfolgte. Einen Veberblick uber die Resultate er-
gibt die folgende
Tabelle II.
I' A-Serie B-Serie
i; Versuchsreihe ' Versuchsreihe
! : i ir hi i 1 it i hi
AusfalIs-Reaktion. ( .Mi 8.3 13.4 9.7 \ 9 8 | 8.5
Komplex-Reaktion .i 4 4 5 8 2.G l j -- 5 8 1 5.4
So berechtigt Einwande gegen eine solche grobe Zusammen-
fassung von heterogenen Reaktionsweisen auch sein mogen, die
eine Tatsache zeigt die Tabelle, daB der Komplex die Zahl der
Fehler, w r enn auch nicht erheblich, so doch deutlich vermehrt hat.
DaB Hemmungen Schw ierigkeiten beim Reproduzieren, Armut der
Vorstellungen u. a. die Resultate entwerten, ist uns nicht ent-
gangen. Zunachst scheint ja. trotz dieser Einwande, die Zahl der
Fehler bei unmittelbarer Wirkung der Geschichte zu wachsen;
bei der 3. Versuchsreihe, bei der man eine Abnahme der Fehler-
reaktionen erwarten sollte, finden w r ir in der A-Serie eine Zunahme
(13,4 pCt.). Eine genauere Betrachtimg ergibt, daB ein manischer
Zustand mittlerer Starke, der auch bei der 3. Versuchsreihe viel
Geschichtsankniipfungen hot, diese Zunahme verursaclit hatte.
Es ware also denkbar, daB auch in der 3. Versuchsreihe der Komplex
sich w irksam gezeigt hat. Dem scheint aber das Zahlenergebnis fur
Versuchsreihe 2 der A- und Versuchsreihe 3 der B-Serie zu wider-
sprechen, da diese Zahlen ja niedriger als die anderen sind. Das
wird nicht verw r undern, w'enn man bedenkt. daB am SchluB der
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102
K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung
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Komplexreihe die Versuchsperson immer danach gefragt wurde, ob
sie sich des Komplexes erinnert habe. Die Frage konnte sehr wohl
eine Anregung geben, haufiger an den Komplex zu denken. Dieser
Annahme entspricht aber nicht die 3. Versuchsreihe der B-Serie.
Der geringe Prozentsatz dieser Reihe findet eine gewisse Er-
klarung darin, daB hier die Intervalle zwischen 2. und 3. Versuchs¬
reihe groBer waren, die Frage nach dem Komplex ihre Wirkung
daher nicht voll entfalten konnte. Um nun den Uebelstand einer
Zusammenfassung ohne Beriicksichtigung der sonstigen Ursachen
zu vermeiden, habe ich eine Gruppierung des Materials nach klini-
schen Gesichtspunkten vorgenommen. Es wurden also alle gleich-
artigen Zustande zusammengefaBt, so wie es in der Versuchs-
anordnung mitgeteilt worden ist.
Tabelle III.
|j A-Serie j ! B-Serie
Diagnose Versuchsreihe Versuchsreihe
° .1
i
II
III
i i
n ,
III
Debilitat.
: ii.i
5 5
i
8 7
9 2
7.2
Dementia epileptica ....
4.1
13 9
-
0
2 8
2.8
Dementia paralytica ....
•25.0
89.0
30 5
4 2
4 2
2.5
Dementia hebephrenica . . .
25 2
fT5
—
S 3
5 5 ,
2.1
Dementia senilis.
o a
4.1
0
2.4
0
Melancholische Zustande
,i <) 9
4 1
11.8
12.2
4.4
Paranoische Zustande . . .
0
(1
0
Ml
0 1
4.4
Hysterische Zustande . . . .
11.1
13 9
13.9
9.2
8 8
10.6
Manische Zustande.
! 15.3
9.7
25.0
13 3
20 8
9.7
Dammerzustande.
jl IM
11.1
-
10.0
2.8
19.3
Amentia .
.
-- '
00.0
69.0
72.2
Aus diesen Tabellen geht nicht hervor, ob die Ausfall-
reaktionen als AeuBerungen des Komplexes aufzufassen sind.
Die Schwankungen der Resultate hangen von den verschiedensten
bereits genannten Momenten ab. Sie im einzelnen festzustellen,
ist kaum moglich. Die GroBe der Schwankungen wird uns bei
dem Materialgemisch nicht wundern, um so weniger, wenn wir an
die individuellen Schwankungen der Fehler erinnern, die z. B. bei
einer Versuchsperson Isserlins zwischen 0 und 8 pCt. betrugen,
dabei war aber die Stimmung eine iiberwiegend depressive. Um
nun den EinfluB des Komplexes naher festzustellen, wird man
am besten die Prozentzahl der Komplexreaktionen mit der der
Fehler vergleichen und so etwaige Beziehungen aufzudecken ver-
suchen. Es muB dabei vorausgeschickt werden, daB die 3. Ver¬
suchsreihe meist nur zu Vergleichszwecken angestellt wurde, der
Abstand von den vorhergehenden Versuchsreihen oft erheblich
groBer war, als der zwischen der 1. und 2. Versuchsreihe, und daB
deshalb die Resultate nicht ohne weiteres zu verwerten sind. Bei
der Betrachtung der Werte ist immer von der Komplexreihe, wie
wir sie kurz nennen wollen, auszugehen.
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
103
Es lassen sich nun vier Moglichkeiten denken: 1. die Komplex-
und Fehlerreaktionen verhalten sich analog in ihrem Steigen oder
Fallen, weil beide der Ausdruck einer unmittelbaren Komplex-
wirksamkeit sind; oder 2. beide Werte verhalten sich umgekehrt,
weil die Komplexreaktionen den unmittelbaren, die Ausfall-
reaktionen den mittelbaren EinfluB des Komplexes reprasentieren.
Je nach Individualitat, pathologischem Verhalten und anderen
Umstanden wird die eine oder andere Art des Einflusses sich iiber-
wiegend geltend machen; 3. konnte die Zahl der Fehler steigen,
wahrend die Zahl der Komplexreaktionen konstant bleibt. Das
wiirde dadurch zustande kommen, daB individuelle gefiihlsbetonte
Komplexe durch frische, wenn auch objektive verdrangt werden.
Diese Verdrangung wiirde sich dann in einer Zunahme der Fehler
auBern. Endlich kann die Zahl der Komplexreaktionen konstant
bleiben, die der Fehler aber abnehmen. Es liegt nahe, hier an die
zeitlichen Verhaltnisse zu denken. Die Komplexreaktion als eine
direkte Ankniipfung kommt leichter zur f ixation, der mittelbare
EinfluB der Geschichte fur die Ausfallreaktion wird aber bei
spateren Reihen geringer werden, weil sich hier die gewohnten Be-
ziehxmgen leichter als dort vordrangen. Betrachten wir zunachst
die Werte der Dementia paralytica:
Tabelle IV.
A-Serie ' B-Serie
Vorsuchsreihe j Yersuehsreihe
I
II !
III
I
II
III
Fehlerreaktion.
. . 25.0 |
39.5
■ ■ TT
30.5 ;|
4.2
i
4.2
2.5
KompJexreaktion ....
. . 0
11.1
S.3 !|
—
1 3,4 i
3,4
Bei der A-Serie findet man eine analoge Zu- oder Abnahme.
Ein direktes zahlenmaBiges, proportional es Verhaltnis diirfen
wir nicht erwarten, weil ja noch andere mittelbare Komplex¬
reaktionen in Frage kommen. Wenn bei der Komplexreihe die
Geschichtsreaktionen 0 sind, um spater bedeutend hohere Werte
zu erreichen, so konnte das ja eine Folge der iiberhaupt verlang-
samten Reaktion der Paralytiker sein. Die B-Serie bestatigt die
Zahlen der A-Serie. Bei unmittelbarer Komplexeinwirkung wachst,
wie der Vergleich der Versuchsreihen 2 und 3 zeigt, die Zahl der
Auslassungen. Diese Uebereinstimmung beider Serien berechtigt
anzunehmen, daB nicht allein die Schwierigkeit und Hemmung
in der Auffassung, sondern auch die Einwirkung des neuen Ein-
druckes die Veranderung der Reaktionen hervorgerufen hat. Um
das Resultat noch mehr zu sichern, habe ich auch individuelle
Zahlenberechnungenangewandt. So bietenVersuchsreihen 22 und 56
folgende Werte:
Digitized b
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104
K u t z i n s k i , Ueber die Beoinflussung
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Tabelle V.
Reaktionsform
|
Versuchs¬
reihe I
Versuchs¬
reihe II
Versuchs¬
reihe III
Fall 22
i Feh lerreakt ion
25.0
39.0
i
30.5
(A-Serie)
Komplexreaktion
0
11.1
8 3
Fall 56
i
Feh lerreakt ion
13.0
0
0
(A-Serie) !
j Komplexreaktion
It
!l 13.9
| 13.9
Der Fall 22 bestatigt die allgemeinen Resultate. Versuchs-
person 56 zeigt, unter dem EinfluB des Komplexes, eine Reduktion
der Fehler auf 0, das Verhaltnis von Komplex- zu Ausfallreaktionen
bleibt konstant. Das Verhalten der Hysterie ergibt die folgende
Tabelle:
Tabelle VI.
»!
Reektionsform
Fell lerreakt ion .
Koinp lexreak t ion
A-Serie
Versuchsreihe
I II J III
11.1 13,9 13.9
6.5 8.3 4.1
B-Serie
Versuchsreihe
I J II J III
9,2 ! 8.8 10.6
6.7 8 3
Auch hier wachst die Zahl der FehJer mit der der Komplex-
reaktionen, aueh hier miissen wir Versuchsreihe 3 der A-Serie
vernachlassigen, weil hier der Zeitfehler, d. h. die GroBe des Zeit-
inter vails, in Frage kommt. Bei Zustanden von Dissoziation
(Amentia) finden wir andere, aber doch verwandte Beziehungen:
Tabelle VII.
Reaktionsforrn
! Versuchsreihe I il Versuchsreihe H Versuchsreihe III
Komplexreaktion — I 8 3
Feh lerreakt ion . . 60.0 69.0
2.8
72.2
In der 3. Versuchsreihe fallt die Zahl der Komplexreaktionen,
wahrend die der Fehler steigt, bei direkter Komplexwirkung
aber bemerken wir zugleich eine erhebliche Zunahme der Fehler.
Das ist ein Beleg dafiir, daB die Zahlen der Ausfallreaktionen
nicht rein zufallig sein konnen; denn es lage doch naher, wenn
19,1 pCt. Komplexreaktionen auftreten, daB sich dann die Fehler-
zahl verringerte. Eine weitere Stiitze gibt uns die A-Serie der
dissoziativen Zustande. Hier scheint die Geschichte iiberhaupt
keine Veranderung verursacht zu haben, denn die Zahl der Kom¬
plexreaktionen betragt stets 0 pCt., und die der Fehler bleibt
konstant (11,1 pCt.). Bei melancholischen Zustanden beobachten
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch (ieschichtskomplexe etc.
105
wir, daB die Werte der Ausfall- und Komplexreaktionen parallel
gehen. Die maximalen Fehlerreaktionen treten bei unmittelbarer
Komplexwirkung auf. Das verdeutlicht die untenstehende Tabelle:
Tabelle VIII.
!j A-Serie I B-Serie
Reaktionsform ; Versuchsreihe !; Versuchsreihe
______ ‘i_ i_n_ in !_i H m
Fehlerreaktion. 6.9 i 4.1 j 11 11.8 I 12.2 j 4.4
Komplexreaktion. 1.7 0 | 0 — 2 5 1.9
Diese Beispiele sollen geniigen, um nicht zu ermiiden. Es sei
aber festgestellt, daB bei den anderen klinischen Grnppen die
gleichen Beziehungen bestehen. Ein Vergleich der Gesamtwerte
bildet einen hinreichenden Beweis (vgl. Tabelle II).
Bei unmittelbarer Geschichtswirkung e r -
hoht sich die Zahl der Ausfallreaktionen, bei in
Wachsen der Komplexreaktionen fallt dieFehler-
zahl und umgekehrt. Als Ursachen kommen die eben
genannten Moglichkeiten in Frage, die bald isoliert, bald kom-
biniert wirken konnen. Unsicher bleibt, ob verdrangte eigene
unbewuBte Komplexe zum Ausdruck kommen. Diese Frage muB
unerortert gelassen werden, da ja eine Befragung der Versuclis-
personen nieht moglich war.
Es ist nun der sehr naheliegende Ein wand zu widerlegen,
daB ahnliche oder gleiche Zahlenverhaltnisse aueh bei indifferenten
Reaktionsformen auftreten konnen, dariiber belehren uns die
weiteren Uebersichten. Ich habe wieder zusammengehorige Zu-
stande in ihren Prozentzahlen dargestellt. Als Vergleich wurden
die Worterganzungsreaktionen gewahlt:
Tabelle IX.
i |
A-Serie
\
B-Serie
Diagnose
| Reaktionsform
! i
Versuchsreihe
Versuchsreihe
i :
i _ 1
I
II
III
I !
\ II
III
1. Hysteric
Worterganzung
i 0.9 1
0.9
6,2
1.3
1.0 i
i
1,3
Fehler
| 11.1
13.9
13.9
9,2
8,8
10.6
i Komplexreaktion
j 6.5 i
8.3
4.1
6.7
8,3
2. Dement. •
Worterganzung j
1 13.9 :
8.3
—
i
senilis j
1 Fehler
5.5
4.1
1
i
Komplexreaktion
5,5
S3
1
i
3. Melanch. 1 Worterganzung
1 i
.
1.0
0.6
0.6
Znstandel
Fehler
j i
11 8
12,2
4.4
l
Komplexreaktion
2.5
1.9
Digitized by
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106
Kutzinski, Ueber die Bee inf luss ung
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Bei der Beurteilung der Werte ist wieder an die Tatsache zu
erinnern, daB die 3. Versuchsreihe nur Vergleichszwecken dient,
sie darf selbstandig nicht beurteilt werden, da sie vom ZeitintervaU
abhangt. Diese Reaktionen \< r urden in verschieden langen Zeiten
nach Einwirkung des Komplexes aufgenommen, wahrend die
Zeitspanne zwischen 1. und 2. Versuchsreihe immer konstant blieb.
Wir ersehen, daB die Werte der Worterganzungen konstant bleiben,
wahrend die der Komplexreaktionen wachsen. Die maximalen
Zahlen finden wir bei der 3. und nicht bei der 2., der Komplexreihe.
Bei den Dementia-senilis-Fallen scheint ja zunachst bei unmittel-
barem KomplexeinfluB die Zahl der Worterganzungen zu wachsen,
auch ihrem Fallen in Versuchsreihe 2 ein Steigen der Komplex¬
reaktionen zu entsprechen, die beiden Werte sind aber gleich
(8,3 pCt.), dabei sollte man eine Erhohung oder Verringerung
des einen von beiden Werten erwarten. Bei der letzten Gruppe wird
der Mangel an Uebereinstimmung mit unseren Fehlerresultaten
noch deutlicher. Der maximale Wert tritt in der 1. Versuchsreihe
auf, die Komplexreaktionen sinken, die Worterganzungswerte
bleiben konstant.
Es wurden auch Objektreaktionen zum Vergleich herange-
zogen, z. B. die Zweckankniipfungen:
Tabelle X.
1 I
A-Serie
B-Serie
Diagnose
Reek t ions for m
i i'
Versuchsreihe
Versuchsreihe
I IT
III
I
i n
III
Dementia
1 Zweckreaktion
i
!
1.8
2.8
3,7
paralyt.
Komp lexreak t i on
3.4
3.4
Melanchol.
Zweckreaktion
1.7 U |
1 U
- i
2.5
1,9
Zustande
.i Komp lexreak tion
4,1 4.1 1
I 2.7 ,
0.3 !
1.2
0.6
Hysterie
II Zweckreaktion
2.8 | 1.9
1 0 ! ';
" !
0
0 3
II Komplexreaktion jl
6.9 | 8,3
1 4,1 ;
!
1
6,7 |
8.3
Dieser Ueberblick zeigt uns fiir die 1. Gruppe, daB bei Konstanz
der Geschichtsreaktionen die anderen Reaktionen zunehmen, daB
die Maximalzahl bei der 3. Versuchsreihe auftritt. Auch bei der
Melancliolie finden wir ganz willkiirliche Zahlen. Hier ist der Wert
der Zweckreaktionen unverandert, wahrend der der Komplex¬
reaktionen sinkt. DaB gelegentlich, wie z. B. bei der B-Serie der
Melancholie, Uebereinstimmungen mit den Resultaten der Aus-
fallreaktionen bemerkt werden, darf nicht wundernehmen. Wir
haben aber dann stets festgestellt, daB sich die Resultate der
A- und B-Versuchsserie widersprechen. So ist es auch bei der
Melancholie. Bei der A-Serie der Hysterie findet ein kontinuier-
liches Fallen der Zweckreaktionen statt, wahrend die Werte des
Komplexes zunachst steigen, um dann auch zu sinken. Mit der
A-Serie sind die Ergebnisse der B-Serie nicht in Einklang zu
Gck igle
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des Yorstellungsablaul'es durch Geschichtskomplexe etc.
107
bringen. Endlich zeigen auch die Zahlen bei Zusammenfassung
der Zweckreaktionen keine Abliangigkeitsbeziehungen:
Tabelle XI.
I A-Serie B-Serie
Reaktionsforin I Yersuchsreihe i; Yersuchsreihe
,1
I
n
JII !
j_I__
II 1
III
Zweckreaktion . . . .
1'
2.8
1.9 !
1.9
j 0.5
0.9
1.1
Komplexreaktioi\ • • .
, . . . i|
4.4
5.S
2.6
5.8
5,4
Die Maxima entsprechen nicht immer der unmittelbaren
Komplexeinwirkung und die Zweckreaktionen behalten ihre Werte,
wahrend sich die Komplexe andern. Diese Tatsachen sind nicht
mit aller Bestimmtheit aufzunehmen, sie bediirfen noch der Be-
statigung durch eingehendere Vergleiche, aber sie besitzen doch
einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Es ware seltsam,
wenn diese Uebereinstimmung der Beziehungen nur Zufall sein
sollte.
Wir lernen aus diesen Tatsachen, daB bei
geisteskranken Versuchspersonen Ausfall-
reaktionen nicht nur die Folge von ver-
drangten Gefiihlskomplexen sind, sondern
daB jeder Wettstreit zwischen gelaufigen und
frischen eindrucksvo11en Vorste11 u ngen die
Reaktion auf Reize verzogert oder hemmt.
Andererseits gibt unsere Feststellung der
Jungschen Auffassung von der Bedeutung der
Ausf allreaktionen als Zeichen eines w irk-
samen Komplexes ii b'e rhaupt eine neue Stiitze.
Wir wenden uns jetzt den anderen Zeichen einer Komplex-
wirkung zu:
II. Zitate.
Zitate sind in unseren Protokollen nur sparlich vorhanden,
weil es sich um ungebildete Versuchspersonen handelte, die die
Sprache nicht so flieBend beherrschen. Von Jung und Riklin
wird das Auftreten von Zitaten darauf zuriickgefuhrt, daB der
Komplex diese benutzt, um zu ,,markieren“. Das Lied oder Zitat
wird benutzt, um nur rudimentar vorhandene Gefiihle zu iiber-
treiben. DaB man mit demselben Recht sagen kann, das stark vor¬
handene Gefiihl fiihrt zum Zitat, bedarf keines Beweises. Immerhin
muB man Jung die Moglichkeit einer solchen Komplexwirkung
zugestehen. Es ist aber nicht recht ersichtlich, warum auch Zitate
der Ausdruck der Hemmungen oder der Konkurrenz von Vor-
stellungen sein sollten, es erscheint vielmehr naherliegend, sie als
das Zeichen einer sofortigen Reproduktion aufzufassen. Ein Zitat
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Go 'gle
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108
Kutzinski. Ueber die Beeinflussung etc.
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kehrt leichter und schneller wieder, weil es meist eine eingeiibte
und sprachlich fixierte Vorstellungsreihe darstellt. In unseren
Zahlen finden wir denn auch keine Zusammenhange zwischen Zitat
und Komplexreaktion. Einige Beispiele sollen geniigen:
Tabelle XII.
j! A -Serie B-Serie
Diagnose Reaktionsform Versuchsreihe Versuchsroihe
1
i i
II !
III
I
ii
III
Hyst er ie
!
Zitatereaktion j
3.7
4.6
2.8
j 0.8 j
0.6
0
Komplexreaktion ||
6.5
8.3
4,1
6,7
| 8.3
Dement.
Zitatereaktion !
i
—
i 3.3 ;
2,8
0
paralyt.
Komplexreaktion
1
3.4 ;
3.4
Melanehol.
Zitatereaktion
0
0
0
1,3
1,4
1.1
Zustande
Komplexreaktion
1.7
0
0
—
2,5
1.9
Manische 1
! Zitatereaktion ,
5.6
5.6
2,8
i 1 - 7
1,4
1.4
Zustande |
Komplexreaktion !
8.3
9.7
5.5
4.2
1.4
Delirante
Zitatereaktion
5,6
2.8
8 4 I
0.5 1
0.6
Zustande |
| Komplexreaktion
5,6 '
5,6
5,6 j
1.1 1
2,8 |
1.7
Algem. Zu- 1
1 Zitatereaktion
2.9
^ 2.8 1
276 j
V~Trr~
1.2 I
0.9
sammen-
i Komplexreaktion
4.4
5.8 |
2.6
5.8
5.4
fassung
l
Wir sehen aus dieser Zusammenfassung, daB hier von den bei
den Ausfallreaktionen besprochenen Beziehungsmoglichkeitcn
ganz willkiirlich bald die eine, bald die andere vorliegt, daB sich
Widerspriiche ergeben, die keine Erklarung im Sinne einer Kom-
plexwirkung zulassen. Bei der Manie z. B. bleiben die Zitatwerte
in der A-Serie konstant (5,6), wahrend die Komplexzahlen hoher
werden. In der B-Serie wieder sind die Zitatreaktionen der
3. Versuchsreihe gleich der der zweiten, die Komplexreaktionen
aber sinken. DaB die Maximalwerte bei unmittelbarer Geschichts-
wirkung auftreten, ist durchaus nicht immer der Fall, bald steigen
Zitat- und Komplexreaktionen konform, ohne daB wir eine zu-
reichende Erklarung dafiir finden konnen, bald wird z. B. bei der
Debilitat die Zahl der Komplexreaktionen 0, die der anderen Reihe
dagegen waclist liber die Zahl der Komplexreihe hinaus. Auch
die allgemeine Zusammenfassung lehrt uns, daB alle motivierten
Beziehungen fehlen.
III. Beziehungslose Reaktionen.
Bei dieser Reaktionsform konnen wir uns noch kiirzer fassen.
In der A-Versuchsreihe hat nur die Manie sinnlose Anknupfungen
geboten, die ganz unabhangig vom Komplex waren. Aus der
B-Serie stammt die folgende Tabelle:
Gck igle
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Buchanzeigen.
109
Tabelle XIII.
Diagnose
j!
1
Reaktionsform i
1
Versuclisreihe
I | II III
;i
Melanchol. Zustande i
Beziehungslose Reaktion
0.3 2,8
1.1
1
Komplexreaktion 1
i 2.5
1,9
Dementia praecox i
Beziehungslose Reaktion
0 1.1
1.4
Komp lexreak t ion
6 2
4,9
Dementia senilis 1
Beziehungslose Reaktion |
5.6 0
0
l;
1
Komplexreaktion j
— 8.4
11.1
Bei der Dementia senilis steigt die Zahl der Komplexreaktionen,
imd die der beziehungslosen sinkt. Die maximalen Werte treten
zu beliebigen Zeitpunkten auf. Aehnliches Verhalten zeigen die
anderen Gruppen. Im ganzen sind die sinnlosen Reaktionen nur
sehr sparlich vorhanden. Auch das bestatigt die Tatsache, daB
sich die kranken Versuchspersonen meist auf den Inhalt einstellen.
Aus dem Gebrauch des Artikels eine SchluBfolgerung beziiglich
der Einwirkung eines Komplexes zu ziehen, halte ich nur dann
fur zulassig, wenn bei seiner Anwendung eine besondere Nuancierung
der Aussprache beobachtet wurde, wie z. B. ,,die Person**, auch
dann wird eine Befragung unerlaBlich sein. Mir sind derartige
Anwendungen nur sparlich begegnet; da ferner keine Befragung
stattfand, habe ich von einer Verwertung des Materials in diesem
Sinne abgesehen. (SchluB folgt).
Buchanzeigen.
Bumke: Ueber nzrvose Entartung . Berlin 1912 t Julius Springer. Preis 5.60 M.
Die Arbeit bildet das ersteHeft der , .Monographien aus dem Gesamt-
gebiete der Neurologic und Psychiatric, herausgegeben von Alzheimer und
Lewando\*sky“. Verfasser bringt in ihr in einheitlicher Geschlossenheit,
aufbauend auf der breiten Basis reichen biologischen, medizinischen und
allgemeinen Wissens in knappem Rahmen eine bewundemswerte Fiille von
Tatsachen und fein durchdachtenGedanken fiber die gerade fur denPsychiater
so enorm wichtige Frage der Entartung. Bei dem Reich turn des Inhalts
muB schon der Versuch einer Wiedergabe im Referat mi B1 ingen. Bemerkt
sei nur, daB Verfasser in eingehender Begriindung die Vererbbarkeit er-
worbener Eigenschaften — vielleicht in einer etwas zu prazisen Form — ab-
lehnt, und daher die Gesetze der Vererbung ausschlieBlich fiir die Art der
Uebertragung, nicht aber fiir die Entstehung degenerativer Erscheinungen
verantwortlieh macht. Fiir die Entstehung von nervoser Entartung kommen
daher nur Keimschadigungen (Alkohol, Lues u. s. w.) und andere im streng-
sten Sinne des Wortes exogene Schadigungen als Folge unserer Lebensweise,
vor allem des gesteigerten Kampfes umsDasein, inBetracht. Eine allgemeine
nervose Entartung vmseres Volkes oder unserer Basse im Sinne einer zwangs-
maBig fortschreitenden Verschlechterung der Art aus inneren Griinden
lehnt Verfasser daher als unmoglich ab und das ganze Problem wird ihm zu
einem sozialen, das heiBt bei richtiger Erkennung in giinstiger Weise zu
losenden Problem. — Moge der Arbeit ein recht groBer Kreis sorgsamer
Leser beschieden sein; dann diirfte sie berufen sein, viele unklare und ver-
waschene Vorstellungen, die dem Fortschreiten psychiatrischer Erkenntnis
hinderlich sind, zu klaren oder zu beseitigen. Stier.
Digitized
^ Google
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110
Personalien.
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Gruhle: Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalitdt.
Studien zur Frage: Milieu oder Anlage. Berlin 1912, Springer. 454 Seiten.
Die umfangreiche Arbeit bildet das 1. Heft der ,,Abhandlungen aus
dem Gesamtgebiete der Kriminalpsychologie (Heidelberger Abhandlungen),
herausgegeben von v. Lilienthal, Nifil , Schott . WUmanns". Verfasser bringt
in ihr eingehende Beschreibung der Lebenslaufe von 105 Fiirsorgezoglingen
einer badischen Anstalt, die er alle in der Anstalt selbst untersucht hat und
deren Vorleben, Abstammung u. s. w. er durch Mithilfe der Behorden in
einer Weise klar- und sichergestellt hat, wie es eben nur in einem kleinen
Lande und auch dort nur imter Anwendung ungewohnlicher Sorgfalt mog-
lich ist. Durch die absichtliche Einschrankung der Arbeit auf das rein Tat-
sachliche wild das Studium des zahlenreichen Werkes zu einer wirklichen
Arbeit fur den Laser, aber einer Arbeit, die der Miihe lolint.
Unter der groBen Ffille der Ergebnwse, die die Arbeit, ohne daB Ver¬
fasser es eigentlich will, dem Leser durch die Sammlung und eingehende
kritische Sichtung des Materials von selbst gleichsam entgegenbringt, steht
obenan. daB das Milieu in sehr viel hoherem MaBe. als gerade von psychia-
trischer Seite meist angenoramen wird, fiir die Entstehung von Verwahr-
losung in Betracht komint, selbst z. B. bei der Trunksucht des Vaters, und
ferner, daB die erbliche Belastung, bezw. die geistig abnorme Veranlagung
nicfit zusammenfallt mit der asozialen Artung eines Menschen; die Beziehun-
gen zwischen geistiger Anomalie einerseits und Verbrechen und \'ei wahr-
losung andererseits sind vielmehr viel komplizierter, als man gewohnlich
denkt. Und gerade die Aufdeckung dieser Beziehungen in aller ilirer Kompli-
ziertheit bei 105 bis in die letzte Moglichkeit studierten Fallen bildet das
Hauptverdienst dieser wertvollen, in ihrer Methodik vorbildlichen Arbeit ,
die als feste Grundlage fur weitere Studien dauernden Wert behalten wdrd.
Stier.
C. Rieger, Wiirzburg: Ueber arztliche QiUachten im Strafrecht und Ver-
8icherung8we8en . Vierter Bericht (vom Jahre 1911) aus der psychiati ischen
Klinik der Universitat Wiirzburg. Wurzburg 1912. C. Kabitzsch.
R. bespricht in dem vierten Bericht aus seiner Klinik alleilei MiB-
stande, Irrtiimer und menschliche Schwachen, die bei der arztlichen Begut-
achtung in Straf- und Rent-enverfahren zur Greltung kommen. Er lurteilt
scharf ab iiber die Kriminalanatomie und Lombroso, er kam]>ft gegen die
Ueberschatzung der angeborenen Anlage zum Verbrechen (,.das Gerede
vom geborenen Verbrechei “ stellt er auf eine Stufe mit der Astrologie). er
bringt seine Bedenken vor gegen die Abschaffung des StrafmaBes, er riigt
die schlechten arztlichen Gutachter rmd ihre Leichtfertigkeit in der Ver-
wertung von auBeren Ursachen, spottet fiber das Juristendeutsch (imter
Beibringung einer schonen Bliitenlese von Verschrobenheicen und Entglei-
sungen aus den Akten) und iiber die Gendarmerieberichte ,,als die eigent-
liche Grundlage der ganzen Rriminaljustiz“, er plaudert fiber die Leicht-
glaubigkeit vieler Genealogen (..pater semper incertus“). so wie iiber die
Psychiater, welche sich nicht mit Psychiatric. sondern als ,,Hans Dampf
in alien Gassen“ mit Rassenliygiene u. a. m. beschiiftigen.
R. verspricht am SchluB, in einem sechsten Bericlit nochmals zuriick-
zukommen auf den Grundgedanken seiner Erortenmgen: auf die groBe,
die Rechtssicherheit gefahrdende Subjektivitat in den Begutachtungen,
welohe zur Folge hat. daB bei den wich tigs ten Fragen die Entscheidimg
wesentlich davon abhangt, welcher Arzt gerade zufallig das Gutachten
macht. Der nachste (ffinfte) Bericht soli die Beziehungen der Wiirzburger
psychiatrischen Klinik zu dem Juliusspital darstellen. P. Schroder.
Personalien.
Prof. Schroeder- Berlin ist als o. o. Professor und Direktor der
psychiatrischen Klinik nacli Greifswald berufen worden und hat den
Kuf angenomnion.
Go i igle
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Ueber die Folgen einer voriibergehenden Unterbrechung
der Blutzufuhr fiir das Zentralnervensystem des Menschen.
Von
Prof. HANS BERGER
in Jena.
Allbekannt ist die groBe Bedeutung, welche einer ausreichenden
Blutzufuhr fiir die Tatigkeit dea Gehims beim Menachen und auch
bei hoheren Wirbeltieren zukommt. Eine Kompreaaion der Karo-
tiden beim Menachen, welche zwar zu einer Verminderung dea Blut-
zufluaaea zum GroBhim, jedoch infolge der baaalen Verbindungen
der Arterien untereinander keineawega zu einer Aufhebung der
Blutveraorgung des GroBhima fiihrt, bedingt, wie ea Mosso gezeigt
hat, eine fast sofortige Triibung des BewuBtaeina und Einsetzen
leichter krampfartiger Zuckungen in den Gliedem. Aus dem Tier-
versuch iat uns bekannt, daB auch das Riickenmark aehr bald nach
Abachneiden der Blutzufuhr seine Funktion einstellt. Ich erinnere
an die bekannten Verauche einer voriibergehenden Kompreaaion
der Bauchaorta beim Kaninchen, welche zu einer Lahmung beider
Hinterbeine, einer passageren Paraplegie, fiihrt. Bei diesen Ex-
perimenten kann man zeigen, daB die sich schon anatomisch durch
atarkeren GefaBreichtum auazeichnende graue Substanz es iat,
welcher man diese Funktionastorung zuschreiben muB, da die
weiBen Strange bei der Kiirze der Unterbrechung noch keineawega
ihre Leitfahigkeit fiir durchlaufende Reizvorgange verloren haben.
Man kann durch AnalogieschluB also auch annehmen, daB die
graue Rinde dea GroBhima derjenige Teil sein muB, der zuerat unter
der ungeniigenden Blutzufuhr bei Karotidenkompression zu leiden
hat. Bekanntlich findet man nach Aortenunterbindung beim
Kaninchen auch sehr ausgepragte Degenerationsvorgange in den
Vorderhomzellen des Riickenmarka, die sich, wie schon Nissl
seinerzeit gezeigt hat, durch seine Methode der Ganglienzellfarbung
mit Leichtigkeit in ganz ausgezeichneter Weiae daratellen lassen.
Fiir die Deutung der Lebensvorgange im Nervensystem wiirde es
natiirlich von groBer Bedeutung sein, festzustellen, ob es der Ab-
schluB der notigen Sauerstoffzufuhr allein ist, welche diese raache
Aufhebung der Funktionen des Zentralnervensystems bedingt, oder
ob dabei noch andere Momente in Frage kommen. Es liegt auf der
Hand, daB man die aehr interessanten Ergebnisse Verworns und
seiner Schiiler iiber die Vorgange der Erschopfung, der Ermiidung
u8w. dea Nervengewebes der Kaltbliiter nicht so ohne weiteres
Monatsschrift L Psychiatric n. Neurologic. Bd. XXX III. Heft 2 8
Digitized b'
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112
Berger. Ueber die Folgen
Digitized by
auf das der Warmbliiter und den hochst organisierten Teil desselben.
die Hirnrinde, iibertragen darf. Verworn verdankt seine wichtigen
Aufschliisse vor allem der Verwendung einer kiinstlichen Durch-
spiilung des Zentralnervensystems mit Nahrfliissigkeiten beim
Frosch; und es lag daher auBerst nah, ahnlich beim Warmbliiter
vorzugehen. Cyan hat schon im Jahre 1874 in Pfliigers Archiv 1 ) ein
Verfahren angegeben fiir eine kiinstliche Durchblutung des Gehims
beim Hunde und kam im Jahre 1899 s ) auf dasselbe zuriick. Diese
Methode ist insofem fehlerhaft, als die Unterbindung der Karotiden
und Vertebralarterien beim Hunde keineswegs, wie Hill gezeigt
hat, zu einer Aufhebung der Blutzufuhr zum Grehim fiihrt, da noch
andere Verbindungen zwischen den spinalen und GehimgefaBen
existieren 8 ).
Muller und Ott wahlten daher im Jahre 1904 4 ) bei ahnlichen
Versuchen, die sie im Berliner physiologischen Institut anstellten,
Kaninchen als Versuchstiere, bei denen solche GefaB-Anastomosen
nicht bestehen, sondem bei denen eine Unterbindung aller vier zu-
fiihrenden GefaBe des Gehims den Tod des Tieres bedingt. Bei
ihren Durchspiilungen des Zentralnervensystems mit Ringerscher
Losung, welche die Korperwarme besaB und der ausreichende
Sauerstoffmengen zugesetzt waren, gelang es ihnen nicht, die
Rindenteile des GroBhims am Leben zu erhalten. Die elektrische
Erregbarkeit der GroBhimrinde erlosch sofort, sowie die Rin-
gerlosung aus den Venen abfloB, obwohl tiefere Teile des Gehims
noch erregbar waren. Giinstigere Erfolge hatten Guthrie, Pike und
Stewart, welche ihre Resultate 1906 6 ) veroffentlichten. Sie ver-
wendeten drei verschiedene Versuchsanordnungen. Bei Ersatz
des Blutes durch Locke sche Losung erlosch sofort die Hirntatigkeit.
Bei Durchstromung mit defibriniertem und mit Sauerstoff ange-
reichertem Blute konnten sie beim Hunde 9 Minuten lang den
Pupillar-Reflex erzielen. Die besten Resultate erhielten sie, als sie
die Karotiden und Jugularvenen eines Hundes mit den zentralen
Enden derselben GefaBe eines andem Hundes verbanden und dann
den Kopf des ersteren vollstandig abtrennten. Der in Aether-
narkose gehaltene zweite Hund versorgte dann auch das Grehim
des abgeschnittenen Kopfes, und sie konnten bei einem solchen
Versuche 27 Minuten lang den Pupillarreflex am abgeschnittenen
Kopfe auslosen, ein Beweis dafiir, daB sicherlich das Grehim des
vom Rumpfe getrennten Kopfes funktionsfahig war.
Ferner hat im physiologischen Institut zu Turin Herlitzka
erfolgreiche Versuche am kiinstlich durchbluteten Zentralnerven-
system des Hundes angestellt 6 ). Mit der Verwendung vonTde-
*) Ueber den EinfluB der Temperaturveranderungen auf die zentralen
Enden der Herznerven. Bd. 8. Seite 342.
») Pfliigers Arch. Bd. 77. S. 236.
*) Hill, the cerebral circulation, London. 1896. S. 123—125.
*) Arch. f. Physiol. 1904. Bd. 103. S. 493.
s ) Americain Journal of Physiologie.
•) Pfliigers Arch. 1911. Bd. 138. S. 185.
Gck igle
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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 113
fibriniertem Blut und einer komplizierten Purapeinrichtung hatte
er MiBerfolge, dagegen gelang es ihm, das Herz selbst durch ent-
sprechende Unterbindungen usw. fiir eine isolierte Durchstromung
des Gehims zu verwenden. Er konnte Kornealreflex und Rinden-
erregbarkeit bis zu einer Stunde und 50 Minuten unterhalten. Es
zeigte sich dabei aber die interessante Tatsache, daB defibriniertes
Blut, welches allein durch den Vorderteil des Korpers zirkuliert,
unfahig wird, die Tatigkeit des Zentralnervensystems zu unter¬
halten. Herlitzka ist auBerstande zu entscheiden, ob Stoffwechsel-
produkte des Zentralnervensystems, die normalerweise in anderen
Korperorganen vernichtet werden, oder aber der Mangel an ge-
wissen Bestandteilen, die an anderer Stelle gebildet werden und bei
der kunstlichen Durchblutung ausfallen, an dieser Unfahigkeit
Schuld sind. Jedenfalls gelang es Herlitzka mit seiner Methode,
die schon erloschene Tatigkeit des Zentralnervensystems fiir kurze
Zeit wieder zu beleben. Ich selbst habe beim Hunde im Jahre 1911
sieben Versuche mit kiinstlicher Durchblutung angestellt. Ich
verwendete dabei die Vorrichtungen, wie sie Netibauer und Grofi
zu ihren Versuchen der kunstlichen Durchblutung der Leber
gebraucht hatten 1 ).
Ein durch einen Elektromotor zusammengedriickter Klyso-
pomp stellt dabei das Herz dar. Es gelingt so in der Tat, die
mechanischen Verhaltnisse des Kreislaufes in ausgezeichneter
Weise nachzuahmen. Fiir die Durchstromungsversuche wurden
ziemlich groBe Hunde verwendet. Die Zahl der StoBe des kiinst-
lichen Herzens betrug 100—120 in der Minute und das Manometer
verzeichnete Druckhohen um 160 mm Quecksilber. Als Durch-
stromungsfliissigkeit wurde ausschlieBlich defibriniertes Hundeblut,
das kurz vorher entnommen und wahrend der Durchstromung durch
Einleiten von Sauerstoff in der von Neubauer und Grofi angegebenen
Weise ausreichend arterialisiert wurde, verwendet. Die Blutzufuhr
zum Gehim geschah durch die beiden Karotiden, als AbfluBwege
wurden die Jugularvenen verwendet. Unter sieben Versuchen
gelang es nur zweimal, eine gute Zirkulation durch das Zentral-
nervensystem mit deutlicher Pulsation des an einer umschriebenen
Trepanstelle vorliegenden Gehims zu erzielen. Der erste gelungene
Versuch wurde mit einem Schaferhunde angestellt. Bei demselben
war vorher in Narkose das Zentrum des Augen- und Mundfacialis
durch faradische Rindenreizuug bestimmt worden. Nachdem
Kaniilen in die Karotiden und Jugularvenen eingebunden waren,
wurde rasch der Hals durchgeschnitten, mid der isolierte Kopf mit
defibriniertem Blut durchstromt. Es gelang durch raches Anlegen
von Schiebem, die Vertebralarterien und die anderen blutenden
GefaBe der Halswunde zu versorgen. Das Blut trat mit einer
Temperatur von 39 0 hellrot in das Gehirn ein und stromte dunkel
gefarbt aus den Jugularvenen in das Reservoir zuriick. Es bestand
also sicherlich ein guter Hirnkreislauf. Trotzdem blieb derKorneal-
*) Ztschr. f. physiologischc Chemie. 1910. Bd. 67. S. 219, namentlich
S. 222—227.
8 *
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Go 'gle
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114
Berger. Ueber die Folgen
reflex vollstandig erloschen, und auch die Erregbarkeit der GroB-
himrinde kehrte nicht wieder. Ein zweiter Versuch, bei dem eben-
falls ein dem natiirlichen entsprechender Kreislauf im Gehim
erzielt wurde, wurde so angestellt, daB ein Hund, der nicht nar-
kotisiert war, durch einen Beilschlag gekopft und die GefaBe an die
kiinstliche Zirkulation angeschlossen wurden, wahrend man gleich-
zeitig den Muskelstumpf fest umschniirte und auch die Blutung aus
dem Knochen und dem Wirbelkanal zum Stehen brachte. Das Blut
stromte bei einem Druck von 160 mm Quecksilber und mit einer
Temperatur von 37,0° bis 37,8° in das Gehirn ein. Es fand, wie man
auch da aus dem Farbenwechsel ersehen konnte, eine ausreichende
Sauerstoffversorgung statt. Der Komealreflex kehrte nicht wieder
und die Hirnrinde blieb in der Gegend des Facialiszentrums trotz
deutlicher Pulsationen unerregbar. Beide Versuche haben also
das gleiche negative Resultat ergeben, und es scheint auch nach
den Beobachtungen anderer Untersucher hochst unwahrscheinlich,
daB eine Wiederbelebung des Zentralnervensystems eines vom
Rumpfe vollstandig getrennten Kopfes bei Durchstromung mit
defibriniertem Blute und Verwendung eines kiinstlichen Motors
moglieh ist. Am aussichtsvollsten erscheint noch die Versuchs-
anordnung, bei der das Herz selbst als Motor fur die Unterhaltung
des Kreislaufs dient. Natiirlich ist dadurch die Moglichkeit der
experimentellen Untersuchung der Ernahrungsbedingungen des
Zentralnervensystems des Warmbliiters eine sehr beschrankte.
Jedenfalls geht das eine aus all diesen Versuchen hervor, daB eine
geniigende Sauerstoffversorgung allein keineswegs ausreicht, um
das Zentralnervensystem der Warmbliiter langere Zeit iiberlebend
zu erhalten. Schon Ehrlich 1 ) hat darauf hingewiesen, daB das Gehirn
und speziell die graue Rinde desselben neben dem Herzen am
besten mit Sauerstoff versorgt wird und im Leben einen Sauerstoff-
uberschuB besitzt. Nach dem Tode setzen sehr bald, beim Kaninchen
schon oft nach zwei Minuten, Reduktionsvorgange in der Gehirn-
rinde ein.
Usui 2 ) behauptet zwar in seinen Untersuchungen, daB die
Oxydationsprozesse im Zentralnervensystem nicht empfindlicher
seien als die in anderen Zellen und findet, daB der Sauerstoffver-
brauch desselben, absolut wie relativ, ganz die gleichen Verhaltnisse
zeigt, wie bei Bakterien, Blutzellen und Leberzellen. Seine Unter¬
suchungen beziehen sich jedoch nur auf das Nervengewebe des
Frosches und gestatten keineswegs ohne weiteres eine Uebertragung
auf die Hirnrinde der Warmbliiter.
Muller und Ott haben bei ihren oben erwahnten Versuchen
beim Kaninchen auch festgestellt, daB in der wahrend des Lebens
alkalisch reagierenden Hirnrinde sehr bald nach dem Tode eine
saure Reaktion nachweisbar ist. In Einklang damit stehen die
1 ) Das Sauerstoffbediirfnis des Organismus. Berlin. 1885.
*) Pfliigers Arch. 1912. Bd. 147. S. 100.
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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 115
neuerlichen Feststellungen von Wertheimer und Duvillier 1 ), welche
beim Hunde durch Injektionen von Lycopodium kiinstliche
Anamien im Gebiete der GroBhirnrinde erzielten und durch
systematische Priifungen der faradischen Erregbarkeit feststellen
konnten, daB die Rinde und die weiBe subkortikale Substanz sofort
nach der vollstandigen Anamie unerregbar werden.
In gewissem Gegensatz zu diesen Feststellungen iiber das
rasche Erloschen der spezifischen Funktion im Zentralnervensystem
der Warmbluter stehen die Erfolge der Wiederbelebungsversuche
bei unversehrtem Korper der Versuchstiere. Boehm 2 ) hat an Katzen
experimentiert und Wiederbelebungsversuche nach Chloroform-
vergiftung, nach Vergiftung mit Kalisalzen, Erstickung und Er-
stickungen im Wasserstoffgas angestellt. Es ergab sich im wesent-
lichen, unabhangig von der Todesart, das gleiche Resultat. Die
Wiederbelebung wurde durch kiinstliche Atmung und Zusammen-
driicken des Brustkorbes erzielt. Die Herztatigkeit setzte bis zum
Beginn der Wiederbelebungsversuche 3 1 /,, 5 bis 9 Minuten aus.
Je langer die Herztatigkeit ausgesetzt hatte, um so ungiinstiger
waren die Resultate; jedoch wurde in einem Versuche, in dem erst
10 Minuten nach dem Herzstillstand mit den Wiederbelebungs-
versuchen begonnen war, und bei dem erst nach weiteren 9 Minuten
das Herz wieder normal zu schlagen begann, noch ein voller Erfolg
erzielt. Boehm teilt sehr ausfiihrlich die Folgen des Scheintodes an
den wiederbelebten TierCn mit. Nach Riickkehr der Reflexe stellt
sich eine bedeutende Steigerung der Reflexerregbarkeit iiberhaupt
ein, die so hochgradig werden kann, wie nach Strychninvergiftungen
oder im Tetanus. Sie schwindet nach mehreren Stunden; jedoch
werden die willkiirlichen Bewegungen, namentlich der Vorderbeine,
des Halses und Nackens noch oft von tonischen Krampfen der
innervierten Muskeln begleitet. Die Bewegungen selbst sind
unsicher und in den ersten Tagen ataktisch, die Beriihrungs- und
Schmerzempfindlichkeit ist in den ersten Stunden vollstandig auf-
gehoben und kehrt erst ganz allmahlich wieder. Bei einem Hunde,
an dem auch diese Wiederbelebungsversuche angestellt wurden,
war noch nach mehreren Wochen die Schmerzempfindlichkeit
herabgesetzt. Alle wiederbelebten Tiere sind zunachst vollstandig
blind bei normalem Befund am Augenhintergrund und deutlicher
aber trager Reaktion der Pupillen auf Lichteinfall. Meist schwindet
diese Blmdheit nach 2 bis 3 Tagen, kann aber auch wochenlang an-
dauem. Auch eine Taubheit laBt sich meist, wenigstens fur den
ersten Tag. nachweisen. Die Korpertemperatur ist eine subnormale
und der Urin enthalt meist Zucker. Boehm fiihrt diese Ausfalls-
erscheinungen auf einen langsamen und unvollstandigen Ausgleich
der durch den Tod bedingten Funktionsstorungen der Rinde des
GroBhims zuriick. Im Jahre 1900 hat Prus 3 ) ahnliche Wieder-
x ) Soci4>t4 de biologie. 30. III. 1912. ref. Fol. neurobiologica. Bd 6,
1912. 8. 269.
*) Arch. f. experimented© Pathol. 1878. Bd. 8. S. 68.
*) Wien. klin. Woch. 1900. S. 451.
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Berger. Ueber die Folgen
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belebungsversuche an Hunden angestellt. Er wandte neben der
kiinstlichen Atmung eine direkte Herzmassage an. Bei einem Hunde,
bei dem eine Zeit von 6 Minuten zwischen dem Aussetzen der Herz-
tatigkeit und dem Beginn der Massage verflossen war, bestand am
ersten Tage nach der Operation groBe Schlafsucht, imd zeitweise
traten klonische Zuekungen, besonders in den Vorderbeinen auf.
Auch bei diesem Tiere fand sich eine hochgradige Beeintracbtigung
des Seh- und Horvermogens, bestand femer eine Unsicherheit
und Ataxie des Ganges, und war die Korpertemperatur eine sub¬
normal. Jedoch gingen die Erscheinungen sehon am dritten Tage
zuriick. Die von Prus angegebene Methode der Herzmassage wurde
dann auch sehr bald beim Menschen angewandt. und 1909 konnte
Cachovic 1 ) bereits 46 Falle aus der Literatur zusammenstellen. Ein
Erfolg war in 37 pCt. der Falle erzielt worden. Wenn erst 10 Mi¬
nuten nach dem Herzstillstand mit der Massage begonnen worden
war, so waren die Wiederbelebungsversuche erfolglos geblieben.
Seitdem ist die Herzmassage noch oft von chirurgischer Seite
beim plotzlichen Todesfall, namentlich in der Narkose zur Ver-
wendung gekommen. Ich selbst hatte vor kurzem Gelegenheit,
in der hiesigen chirurgischen Klinik einen Kranken, der durch
Wiederbelebungsversuche zunachst dem Tode entrissen worden
war, zu untersuchen und nach seinem Tode das Zentralnerven-
system zu durchforschen 2 ).
Es handelte sich uni einen 15 jahrigen juiigen Menschen, bei dem im
Verlauf einer Nierenoperation plotzlich in der Chloroformnarkose neich einer
Dauer derselben von 20 Minuten und einem Chloroformverbrauch von
15 ccm ein Herzstillstand eingetreten war. Da sich eine indirekte Herz¬
massage unwirksain erwdes, wurde die Eroffnung des Zwerchfells vor-
genommen und eine direkte Herzmassage noch innerhalb 10 Minuten
nach Aussetzen des Herzschlags begonnen. Die Herztatigkeit setzte nach
1 Stunde und 30 Minuten wieder ein, und die kiinstliche Atmung konnte auf-
gegeben werden. 1 Stunde spater erwachte der Knabe aus der Narkose,
sprach nach einigen Stiuiden wenige Worte und reagierte auf Aufforderungen
mit entsprechenden Bewegungen. Ich sah den Patienten am nachsten
Vormittag; er lag mit geschlossenen Augen tief benommen im Bett, ree^-
gierte nicht auf Anruf, hatte allerdings auch etwa eine Stunde vor her
etwas Morphin erhalten, da er am Morgen anscheinend Schmerzen hatte.
Meine Untersuchung ergab, daB die Pupillen ziemlich eng waren und auf
Lichteinfall etwas trage reagierten, was wohl auch auf die verabreichte
Morphiumdosis bezogen werden konnte. Die gesamte Muskulatur war
schlaff, und irgendwelche tonischen Krampfe lieBen sich nicht nachweisen.
Die Gesichtsmuskulatur wurde gleichmaBig iimerviert; die Sehnenreflexe
an Armen und Beinen, namentlich die Kniephanome, waren deuthch ge-
steigert, jedoch bestanden keine Andeutungen von Klonus imd vor allem
fehlte auch das Babinski&che Phanomen vollstandig. Die Plantarreflexe
waren von mittlerer Starke.
Am Abend desselben Tages, nachdem der Patient viele Stunden
morphinfrei geblieben wen*, erhob ich den gleichen Befund. Er war voll-
st&ndig somnolent, reeigierte auf keinen Reiz, Pupillen undReflexe waren wie
1 ) Arch. f. klinische Chirurgie. 1909. Bd. 88.
*) Ich mochte auch an dieser Stelle Herrn Kollegen Wrede, der mir
die Untersuchung dieses Falles, iiber den er auch auf der Naturforscher-
versammlung in Mlinchen berichtet hat, iiberlassen hat, meinen beaten Dank
aussprechen.
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einer voriibergehenden Unterbrechung der Blutzufuhr etc. 117
am Morgen. Nachdem der Kranke noch 2 Tage in diesem Zustand verharrt
hatte, trat der Tod ein.
Gehim und Riickenmark wurde bei der wenige Stunden nach dem
Tode stattfindenden Sektion, welche eine fibrinos eitrige Pericarditis und
achwere Herzveranderungen ergeben hatte, sofort in 20 proz. Formalin-
losung eingelegt und rnir zur Untersuchung iibergeben.
Die makroskopische Durchsicht des Gehimes ergab folgendes: das
Gehim ist von normaler GroBe, die Himh&ute sind zart, in den Maschen des
Subarachnoidalgewebes findet sich nur wenig Fliissigkeit. Rinde und Mark
des GroBhimes sind deutlich voneinander geschieden, und auch die Seiten-
kammem sind ebenso wie der 3. und 4. Ventrikel nicht erweitert. Ueber der
linken Gehimhalfte findet sich in der Gegend der vorderen Zentralwindung
in der Nahe der Mantelkante neben einer Pachionischen Granulation eine
kleine, zirka 1 nun im Durclunesser haltende Blutung zwischen Pia und
Arachnoidea. Ein etwa gleichgroBerBluterguB findet sich unter dem Ependym
des linken Unterhoms und ein etwas groBerer BluterguB in der Nachbar-
schaft einer groBeren strotzend gefiillten Vene im Gewebe des Balkens, etwa
in der Hohe seines Knies. Weitere Blutherde lieBen sich auch bei genauester
Durchsicht in den iibrigen Teilen des Zentralnervensystems, die ein voll¬
standig normales Aussehen darboten, nicht nachweisen.
Die mikroskopische Untersuchung wurde an Pr¶ten, die mit
Thionin, mit Seifenmethylenblau, mit Hamatoxylineosin und nach der
Methode von Bielschowski gefarbt worden waren, durchgefiihrt. Die Unter¬
suchung der groflen Zellen eines Spinalganglions der Lendenanschwellung
ergab einen vollstandig normalen Befund. und ebenso konnte an den Vorder-
homzellen des Riickenmarks in der Lenden- und Halsanschwellung weder
an den Nisslpraparaten noch mit der schon gelungenen Fibrillenmethode eine
Abweichung vom normalen Befund festgestellt werden. Auch die GefaBe des
Riickenmarks, seine Hiillen und die weiBe Substanz erschienen normal.
Schnitte durch das verlangerte Mark in der Hohe der Vagushypoglossuskenie
und ebenso in der Hohe des Facialiskemes ergaben vollstandig normals Zell-
bilder. Auch die beiden Kerne des Vagus wiesen Zellen auf, wie sie sich
beim Normalen finden. Die groBen Zellen des Facialis- und Hypoglossus-
kemes boten prachtige Nisslbilder dar. Dagegen fanden sich in der Hohe des
Facialiskemes, medialwarts von der aufsteigenden Trigeminuswurzel ein
mikroskopisch erkennbares kleinzelliges Infiltrat und konnte in derselben
Hohe ein weiBer Thrombus in einer kleineren Arterie, die zu dem GefaB-
gebiete der Arteria basilaris gehorte, nachgewiesen werden. In der Hohe
der Vaguskeme fand sich ebenfalls auf der linken Seite lateral vom Nucleus
ambiguus ein eben erkennbares kleinzelliges Infiltrat. Die Zellen der Grofl-
himrinde, namentlich die Riesenpyramidenzellen der vorderen Zentral¬
windung und des Lobulus paracentralis zeigten ein vollstandig normales
Aussehen; dieNisslschollen waren gut entwickelt, der Kem stand ausnahms-
los zentral, und auch die intrazellularen Fibrillen, welche bei Krankheits-
prozessen doch zuerst zu schwinden pflegen, w€u*en vollstandig normal.
Auch im Occipitallappen, im Stimhim und im Schlafenlappen konnten
krankhafte Veranderungen der Rindenzellen nicht nachgewiesen werden,
und das Marklager lieB nirgends etwc^ Pathologisches erkennen. Die Ge¬
faBe der weiBen und grauen Substanz waren iiberall stark geflillt. namentlich
waren die Venen oft bis ziim Platzen ausgedehnt, jedoch konnten nirgends
Blutaustritte oder auch kleinzellige Infiltrate, wie wir sie in der Medulla
oblongata gefunden haben, festgestellt werden. Schnitte durch die kleine
Blutung iiber der vorderen Zentralwindung ergaben, daB das Blut aus einer
zerrissenen Vene stammte. Die erwahnte Blutung in der Gegend des
Balkenknies zeigte bei mikroskopischer Durchsicht der Praparate, daB
es sich da um einen groBeren Blutaustritt aus einem zerrissenen venosen
GefaB handelte. Das Blut hatte das Balkengewebe zertriiimnert und sich
in Gewebsspalten ziemlich weit verbreitet. Mehrere kleinere GefaBe ent-
hielten im Innem Thromben und waren von der Blutung umgeben. Irgend-
welche reaktive Erscheinungen von seiten des Nervengewebes waren nicht
nachweislmr. Der Befund an der kleinen Blutimgsstelle im linken Unterhorn
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118
Berger. Ueber die Folgen etc.
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war im wesentlichen der gleiche. Eine offenbar durch einen Thrombus ver-
schlossene Vene, welche in der Mitte des Blutergusses liegt, hat bei ihrer Zer-
reifiung das Blut ergossen. welches das Gewebe zertriimmert und das
Ependym abgehoben hat. Auch hier fehlen sekundare Veranderungen der
geschadigten Gewebe vollstandig. Wirfinden also mehrfache, allerdings nur
kleine Blutungen, welche durch ZerreiB ungen von. Venen, in denen eine
Thrombose eingetreten war, bedingt sind.
Aus den interessanten Untersuchungen von Thacker 1 ) kennen
wir den EinfluB einer plotzlichen Stauung auf die verschiedenen
Korperorgane. Er fand, daB das Gehirn und die Leber bei einer
experimentellen Behinderung des Abflusses nach dem rechten
Vorhof sofort deutlich an Volumen zunahmen, wahrend die Niere,
die Milz und die Extremitaten eine Volumenabnahme aufwiesen.
Er erklart den Befund durch eine starke venose Stauung, die im
Gehirn und in der Leber auftritt, wahrend in den andem Organen
eine aktive Kontraktion der Arterien erfolgt. Seine Versuchs-
anordnung entspricht dem, was wir beim Menschen bei einer akuten
Herzinsufficienz zu erwarten hatten. Wir konnen daher unbedenk-
lich diese experimentellen Ergebnisse auf unseren Fall ubertragen.
Das plotzliche Aussetzen der Herztatigkeit hat zu einer starken
venosen Stauung im Gehirn gefiihrt. Es ist auch an verschiedenen
Stellen zu Thrombenbildungen gekommen, und hochstwahrschein-
lich hat die direkte Herzmassage mit den weiteren Steigerungen
des Druckes im GefaBsystem zu diesen kleinen ZerreiBungen
gefiihrt. Im Gegensatz zu den kleinen aber doch dauemden
organischen Veranderungen des Zentralnervensystems, welche
durch diese Blutungen bedingt sind, sind die zelligen Elemente
vollstandig normal. Damit in Einklang steht auch die Beob-
achtung, daB der Patient am Morgen nach der Operation durch
Anruf geweckt werden konnte und sich zweifellos BewuBtseins-
vorgange bei ihm abspielten, da er auf Fragen, wenn auch unvoll-
kommen Antwort gab. Auch das Ergebnis meiner LTntersuchung
spricht dagegen, daB etwa durch die voriibergehende Anamie eine
unausgleichbare Schadigung der GroBhirnrinde geschaffen worden
sei. Die motorischen Zentren, speziell diejenigen Elemente, welche
den Ursprung der Pyramidenbahn darstellen, waren jedenfalls
funktionsfahig, denn sonst hatte das Babinski&che Phanomen auf-
treten miissen. Diesem klinischen Befimd entspricht auch das
Ergebnis der histologischen Untersuchung. Die Nervenzellen imd
vor allem auch die Zellen der Himrinde lassen keine Veranderungen
bei unseren Farbungen erkennen. Nun wissen wir allerdings, daB die
Neurofibrillen, und zwar auch die intrazellularen, welche am
friihesten geschadigt zu werden pflegen, bei experimentellen Ein-
griffen eine groBe Widerstandsfahigkeit zeigen, so daB es uns nicht
verwundem darf, wenn wir mit der Bielschowskifarbung keine
Veranderungen nachweisen konnten. Die Zellen konnen trotz des
normalen Fibrillenbildes schwer geschadigt sein. Wir wissen aber
femer, daB das Aequivalentbild der Zelle, wie wir es bei der
l ) Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1909. Bd. 97. S. 104.
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B o 11 e n , Pathogenese unci Therapie der genuinen Epilepsie. 119
Nissl-Farbung erhalten, sehr viel empfindlicher ist gegen die ver-
schiedensten Schadigungen und uns sehr friihzeitig krankhafte
Veranderungen zu erkennen gestattet. So hat z. B. Belilzki 1 )
schon 20 Minuten, nachdem er die Aorta mit einer Schieber-
pinzette zugeklemmt hatte, beim Kaninchen den Zerfall der
Nissikorper an den Vorderhornzellen erkennen konnen, wahrend
man das Fibrillenbild der Vorderhornzellen nach den Unter-
suchimgen von Scarpini noch normal findet, selbst wenn die
Anamie langereZeit angedauert hat, und alle Nis lschollen langst
zerfallen sind. Wir haben aber weder an den Zellen der Hirnrinde,
noch an den Zellen der Kerne der Medulla oblongata, an den Vorder-
homzellen des Riickenmarks, an den Spinalganglienzellen Ab-
weichungen des normalen Aequivalentbildes auffinden konnen,
so daB wir wohl mit Recht annehmen miissen, es kann sich im vor-
liegenden Falle nur um funktionelle, also ausgleichbare, Storungen
der zelligen Elemente des Zentralnervensystems gehandelt haben.
Bei einem Weiterleben des Patienten, der seinen schweren Herz-
veranderungen erlag, waren dauernde Schadigungen in dieser
Richtung nicht zu erwarten. Erscheinungen von tonischen
Krampfen, wie sie im Tierexperiment auftreten, und wie sie auch
gar nicht so selten bei wiederbelebten Erhangten beobachtet
wurden 2 ), traten bei diesem Patienten nicht in Erscheinung, wohl
weil die Anamie der Grollhirnrinde doch nur eine verhaltnismaBig
kurze war und schon bald durch die Herzmassage eine Kimzir-
kulation wieder hergestellt wurde.
Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
Von
Dr. G. C. BOLTEN
in Haag.
Jetzige Auffassungen.
Von den zahlreichen Ansichten iiber Wesen und Entstehen
der Epilepsie, die im vorigen Jahrhundert ein so groBes Ansehen
genossen batten, ist jetzt wenig oder nichts mehr iibrig. GroBen
EinfluB haben die Untersuchungen gehabt u. a. von Kufimaul
und Tenner, die in den BlutgefaBen und in den GefaBnerven die
Ursache suchten: ,,Es ist wahrscheinlich, daB gewisse Formen
der Fallsucht in einem Krampf der GefaBmuskeln der Gehim-
arterien beruhen,“ und: ,,die Medulla oblongata scheint als Ur-
') Ref. Neurol. Zbl. 1900. S. 854.
*) WoUenberg, Arch. f. Psych. 1898. Bd. 31. S. 241.
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120 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
sprungsstelle der Glottisverenger und der vasomotorischen Nerven
haufig der Ausgangapunkt eklamptischer und epileptischer An¬
falle darzustellen." DaB bei dem epileptischen Anfall Gefafi-
krampf auftritt, ist sehr wahrscheinlich, doch als Fblge und nicht
als Ursache der Krankheit. Von den jetzigen, mit mehr oder
weniger Autoritat bekleideten Schriftstellem halt nur noch allein
Turner an der Ansicht fest, daB die Ursache der Epilepsie in dem
BlutgefaBsystem zu suchen ist: er fand namlich bei einer groBen
Anzahl Epileptiker (41) post mortem stets dieselben Abweichungen,
und zwar eigentiimliche Stockungen in den kleinsten GefaBen
(dabei auch verschiedene Veranderungen im Gehimgewebe), und
daraufhin hat er den Stockungskoeffizienten des Blutes bestimmt
bei Epileptikem und bei Gesunden, und er fand, daB die Stockung
des Blutes der Epileptiker um so schneller eintrat, je naher die
Patienten sich einem Anfall gegeniiber befanden, und es wurde also
flugs die Theorie aufgebaut, daB Epilepsie entsteht bei Personen
mit pradestinierten Gehimen, durch Neigung zur Trombose-
bildung in den kleinsten RindengefaBen. Auch ein Jahr spater
verteidigte er diese Theorie aufs neue, wobei er nur einen kleinen
Vorbehalt machte, daB namlich bei solchen, die an selteneren An-
fallen litten, der Stockungskoeffizient allein eben vor und wahrend
des Anfalles erhoht wurde. Turners Theorie wurde iibrigens
weder klinisch, noch pathologisch-anatomisch, durch keine einzige
Tatsache oder Warhnehmung selbst nur wahrscheinlich gemacht,
das will sagen, bewiesen. Merkwiirdig ist sicherlich, daB Btsta
gerade fand, daB die Stockung des Blutes der Epileptiker ver-
mindert ist, was er der verringerten Wirkung des Fibrinferments
zuschreibt, welche auf der zu gering vorhandenen Menge von Kalk
beruht, einem der notwendigsten Elemente des Fibrinferments.
Natiirlich hat Besta unmittelbar eine Theorie bereit: ,,Epilepsie
ist eine Dyskrasie, wobei der Mangel an Kalksalzen die Ursache
der Krampfe ist!“ Ebenso steht es mit den Auffassungen von
Hallager und von 'Russell, die die Anfalle einer Gehimanamie
zuschreiben; der letztere meint wahrgenommen zu haben, daB vor
dem Anfall der Puls oft aussetzt; diese Auffassung entbehrt jeder
Begrundung. Munson hat denn auch durch ausfiihrliche Unter-
suchungen Russells Auffassungen griindlich widerlegt.
Wie wohl beinahe selbstverstandlich ist, hat die Neigung,
iiberall Mikroben zu suchen, auch ein paar Epilepsieforscher
angesteckt: Bra meint bei nicht weniger als 70 Epileptikem einen
Micrococcus im Blute gefunden zu haben; er ist in den anfalls-
freien Zeiten sehr selten im peripheren Blute, dagegen wahrend
der Anfalle sehr zahlreich; Bra vergleicht dann auch Epilepsie
mit Malaria: die Anfalle der ersteren sollten dann iibereinstimmen
mit den Fieberanfallen der letzteren. Die neue Mikrobe wird aus-
fiihrlich beschrieben und abgebildet und ,,Neurococcus" genannt;
selbst werden ihr verschiedene Eigenschaften angedichtet (leicht
zu ziichten bei 34—37° C, aerob usw.). Natiirlich sind Bras Auf¬
fassungen von alien Seiten heftig bestritten; doch noch im Jahre
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 121
1905 hielt Bra seine Meinung aufrecht und versuchte seine An-
greifer ausfiihrlich zu widerlegen.
Und noch ganz kiirzlich tat Lion, sei es auch nur beilaufig,
die Moglichkeit einer Spirillose als der Ursache der Epilepsie dar,
und solches auf Grund von angeblichen guten Resultaten, die er
mit einem Arsenikpraparat erlangt haben will. Sein Beweis ist
jedoch zu oberflachlich und so ganzlich von Argumenten und Be-
weisgriinden entbloBt, als daB er als emst gemeint beschaut
werden konnte.
AuBer diesen kurz gemeldeten und auf sich selbst stehenden
Anschauungen eines einzelnen Schriftstellers finden wir die
heutigen Auffassungen in zwei Lager verteilt; namlich in das der
Kliniker und das der pathologischen Anatomen, d. h. derjenigen
(kurz Kliniker genannt), die iiberwiegend die klinischen Wahr-
nehmungen und Erfahrungen beriicksichtigen, ohne sich viel um
die Funde der pathologischen Anatomen zu bekiimmem; sie
hangen iiberwiegend der Auffassung an, daB Epilepsie eine Auto-
intoxikation ist von bisher unbekanntem Ursprunge, wahrend dem
diametral eine groBe Gruppe von Forschem gegeniibersteht, die
von keiner Intoxikation wissen wollen und die gut verstandlichen
Ergebnisse der pathologischen Anatomie als Ausgangspunkt der
Pathogenese der Epilepsie zu nehmen wiinschen.
In der Tat sind, dank einer groBen Reihe wichtiger Unter-
suchungen wahrend der letzten 20 Jahre, die im Gehim auftretenden
Abweichungen nun sehr gut bekannt, und es hat sich dadurch
ein bestimmter Teil des Krankheitsbildes stark seiner Vollendung
genahert. Chaslin war wohl der erste, der in dieser Richtung einen
tiichtigen Schritt voraus tat: er fand bei einem groBen, aus der
Klinik von Fire herstammenden Material bei mikroskopischer
Untersuchung (und bei An- oder Abwesenheit von makroskopisch
wahmehmbaren Abweichungen) Veranderungen in den Rinden-
elementen, die in der Tat vollkommen iibereinstimmen mit einem
leichten Grade von Gliawucherung, also Vermehrung der Glia-
fasem und der Gliazellen. Das vermehrte und hypertrophische
Glianetz bildete an vielen Stellen groBe kompakte Biindel; in
den GefaBen im allgemeinen keine Veranderungen, nur hier und
da eine hyaline Degeneration der Kapillarwande. Makroskopisch
waren die Windungen meistens vferschrumpelt, klein, hart, glatt
oder gekerbt, ohne Verklebungen mit der sonst normalen Pia.
Diese Veranderungen erstreckten sich iiber einen sehr wechselnden
Teil der Gehimrinde, auffallend oft waren die Ammonshorner
und die Medulla oblongata mit affiziert, wahrend andere Teile
ganzlich frei blieben. Chaslin hielt den ProzeB fiir eine rein
ektodermale, gliose Wucherung, die er jedoch als die Folge und
nicht als die Ursache der Epilepsie ansieht; iibrigens auBert er
wiederholt als seine Meinung, daB die Hypothese iiber die Auto-
intoxikation noch ganz unbewiesen ist.
Nach Chaslin, der bereits im Jahre 1890 seine Mitteilungen
iiber die Gliawucherungen in der Gehimrinde veroffentlichte
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122 B o 11 e n , Pathogenes© und Therapie der genuinen Epilepsie.
(Annales m^dico-psychol. 1890), haben eine ganze Reihe Forscher
den durch ihn eingeschlagenen Weg weiter verfolgt und seine
Funde bestatigt und weiter ausgedehnt, so u. a. Bratz , Alzheimer ,
Weber , Pohlmann , Lubimow , Marinesco , Heboid , Hajos , Orloff ,
C7ar& und Prdut , Jolly, Worcester und viele andere. Fassen wir
ihre Untersuchungen, die alle beinahe gleiche Ergebnisse lieferten,
zusammen, so konnen wir sagen, daB bei an Epilepsie leidenden
Patienten post mortem oft gefunden sind: ausgebreitete diffuse,
degenerative Erscheinungen in der Gehimrinde, die in sehr aus-
einanderlaufenden Teilen der Rinde auftreten, und oft das Am-
monshom (an einer oder beiden Seiten) treffen und in einer deut-
lichen Wucherung der Gliaelemente bestehen (Fasern und Zellen),
femer zahlreiche Heine Blutungen in der Rinde, allesErscheinungen,
die die Vemichtung der wesentlichen Elemente (Ganglienzellen,
Assoziationsfasem, Projektionsfasem) in der Form einer komigen
Degeneration begleiten (Kleinerwerden der Zellen, Zellenkeme
stark zusammengeschrumpft oder ganz verschwunden, Chromatine
feinkomig degeneriert, die Dendridenfortsatze manchmal zer-
brockelt). 1st das Ammonshom zu gleicher Zeit angegriffen, so ist
nicht seltenEntzundung der Fascia den tata unddesEpendymsdabei,
so daB dann gleichzeitig Hydrocephalus intemus entsteht. Weiter
werden viele GefaB veranderungen (Bindegewebewucherungen,
hyaline Degeneration usw.) und auch Sklerose des Uncus unddes Cor¬
pus mammillare, und Blutungen imPons und in den Ammonshomem
— eine Folge der GefaBveranderungen und des erhohten Druckes
wahrend der Anfalle — regelmaBig gemeldet. Von den jiingsten
Untersuchungen sind noch sehr erwahnenswert die von Eisath
und von Lafora; der erste fand an erster Stelle die diffuse Glia-
wucherung (oftmals angedeutet mit dem Namen ,,Randgliose“),
weiter perivaskulare Korperchen, amoboide Zellen und Ver-
schwinden der Komer; merkwiirdig sind dabei rasenartige Wuche-
rungen der Weigert&chen und Plasmafasem, besonders im Mark:
weiter Veranderungen im kleinen Gehim, wodurch Eicath die
Zwangbewegungen der Epileptiker zu erklaren vermeint. Lafora
fand Corpora amylacea an Stellen, wo sie bis jetzt noch nicht
bekannt waren, namlich sowohl in zahlreichen Ganglienzellen
als in Gliazellen und auch frei im Gewebe liegend; bisweilen
fand er 7 Corpora amylacea in einer Zelle, die Nifils chen Komer
waren oftmals noch vorhanden und lagen rund um die Corpora
amylacea, wodurch sie offensichtlich weggedriickt wurden. Das
Auffinden der Corpora amylacea (Abfallprodukte von sehr ver-
schiedenen Elementen) bestatigt naher den Untergang der ner-
vosen Elemente der Gehimrinde.
So wichtig all diese Ergebnisse auch fur die Kenntnis der bei
der Epilepsie moglich vorhandenen Veranderungen im Gehirn
sein mogen, iiber die Pathogenese der Epilepsie lehren sie uns nichts;
da sie nicht im allergeringsten Antwort geben auf die Frage:
post oder propter. Und wenn auch Bregmann (auf Grund von
Resultaten bei operativer Behandlung), Heboid , Bratz , Worcester
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Bolten. Pathogeneee und Therapie der genuinen-Epilepsie. 123
und viele andere die hier geschilderten pathologisch-anatomischen
Abweichungen fur primar halten, so fallt es doch sehr leicht,
nachzuweisen, daB alle genannten Veranderungen sekundar,
also die Folge und nicht die Ursache der Epilepsie sind. Der
beruhmte Psychiater Esquirol sprach sich bereits im Jahre 1838
dariiber in folgenden Worten aus: „Avouons franchement que
les travaux de l’anatomie pathologique n’ont repandu jusqu’ici
aucune lumiere sur le siege immediat de l’epilepsie. Cependant
il ne faut pas se decourager: la nature ne sera pas toujours rebelle
aux efforts de ses investigateurs." Wie wenig wird Esquirol wohl
geahnt haben, daB diese Worte im Jahre 1912, also beinahe drei-
viertel Jahrhunderte spater, noch ebenso viel Wahrheit enthalten
sollten!
Gleichwohl, wie Bouche, Birmccmger imd viele andere behauptet
haben, sind alle hier beschriebenen Abweichungen alles andere
als konstant bei Epilepsie; sie kommen nur bei den sehr chronischen
Fallen vor, die in eine totale, sekundare Dementia verfallen sind,
wahrend in den Fallen, wo die Epilepsie nur seit kurzer Zeit
bestand, und die an interkurrierenden Krankheiten starben,
lange bevor Dementia auftrat, nichts von alldem zu finden ist.
Es steht damit genau so wie bei Alkoholpsychosen: Stirbt jemand
an einer akuten Alkoholvergiftung (ohne daB eine chronische vor-
hergegangen ist), so findet man in der Gehimrinde nichts; bei
chronischem Alkoholismus, soweit dieser wenigstens einige De¬
mentia verursacht hat, dagegen Abweichungen (u. a. auch Glia-
wucherung und Untergang der essentiellen Rindenelemente), die
viel Ahnlichkeit mit der Randgliose der Epilepsie haben, aber
weniger intensiv sind als bei letzterer.
Nun hat zwar Bratz die Ansicht verkiindet, daB die ausfiihrlich
von ihm beschriebenen Veranderungen in den Ammonshomem
— kurz Sklerose genannt — primar und spezifisch fur die Epilepsie
seien, weil sie bei anderen Psychosen nicht vorkommen (er wollte
sie u. a. nicht haben nachweisen konnen bei vielen an Dementia
paralytica, Hysterie, Gehimtuberkulose und Dementia senilis Leiden-
den, noch bei Normalen, wahrend sie allein bei den Paralytikem
vorhanden sein konnen, die an epileptiformen Anfallen litten),
doch viele andere Forscher entkrafteten durch ihre Fimde diese
Auffassung ganz und gar.
So fand z. B. Orloff bei Epileptikem Veranderungen in der
Gehimrinde (Randgliose), die seiner Meinung nach vollkommen
ubereinstimmen mit den Gliawucherungen bei Dementia senilis,
Dementia paralytica, chronischem Alkoholismus usw. Und bei
der sogenannten Alzheimerschen Krankheit, einem Symptomen-
komplex, wobei zwar seltsame epileptiforme Anfalle vorkommen,
die aber nichts mit echter Epilepsie zu tun haben, findet man
bestandig als Hauptkennzeichen eine sehr deutliche Randgliose.
AuBerdem, und darauf muB die Aufmerksamkeit gelenkt
werden, ist die Ammonshomsklerose bei weitem kein fest-
stehendes Ergebnis fiir echte Epilepsie; Orldff fand sie nur in einem
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124 B o 11 e n , Fathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
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von seinen vier Fallen, und merkwiirdig ist sicherlich, daB Bratz,
der dieser pathologisch-anatomischen Abweichung solch eine
wichtige Rolle zuschreibt, sie nur in ungefahr der Halfte seiner
Falle nachweisen kann. Andere Forscher finden dasselbe oder
ein noch schlechteres Verhaltnis. Pohlmann findet die Ammons-
hornsklerose nur in 46 von 113 Fallen, Worcester in 20 von 43
Fallen; Clark und Proitt geben sehr ausfiihrliche Beschreibungen
der Randgliose, sprechen aber nicht von Ammonshornsklerose;
auch Eisath fand diese Veranderung nicht.
Auch die Randgliose steht nicht sehr fest; so fand z. B. More
Alexander bei Epileptikem in der Rinde keine Abweichungen.
Vermeldet sei hier noch, dafl Marchand den Fall eines Mannes
beschrieben hat, der mit 26 Jahren zuerst Erscheinungqn der
Epilepsie zeigte und zwei Jahre spater starb; Marchand hatte
Gelegenheit, die ganze Gehimrinde eingehend zu untersuchen.
Mit der Weigerlschen Neurogliafarbung konnte er jedoch nirgends
eine nennenswerte Vermehrung des Gliagewebes feststellen. So
wie sich wohl von selbst versteht, will Marchand dann auch nichts
von einer primaren Randgliose, als Ursache der echten Epilepsie,
wissen.
Claude und Schmiergeld machen ausfiihrliche Mitteilungen
iiber 17 Falle, die sie pathologisch-anatomisch untersuchen konnten;
nur bei 7 waren in den Gehimen Abweichungen zu finden, wahrend
bei 10 jugendlichen Patienten, die alle in einem Status epilepticus
gestorben waren, sowohl Randgliose als auch Ammonshom-
sklerose fehlten.
Zieht man dann noch in Betracht, daB Pighini, Hermann u. A.
auBerdem noch deutliche (sekundare) Blutungen in den Ammons-
homern beschrieben haben, daB Creite von multipeln, kleinen
Angiomen spricht, die er in der Gehimrinde fand, und daB Steiner
bei einem 34 jahrigen Epileptiker ein umschriebenes Gliom in
der Rinde fand und eine diffuse, typische Chaslinsche Gliose (die
am starksten war in urimittelbarer Nahe des Glioms), und daB
Steiner dabei sowohl dem Gliom als auch der diffusen Gliawuche-
rung dieselbe atiologische Rolle hinsichtlich der Epilepsie zu¬
schreibt, und daB Astwazaturow Zusammenhang sucht zwischen
Epilepsie und Gliom der Ammonshomer, kombiniert mit Tumoren
des Schlafenlappens, so leuchtet uns doch wohl die auBerordentlich
groBe Verschiedenheit der pathologisch-anatomischen Befunde ein,
eine Verschiedenheit, die sowohl qualitativ wie quantitativ so groB
ist, daB dadurch die Annahme eines primaren Gehirnleidens als
Ursache der Epilepsie viel an Glaubwiirdigkeit und Wahrscheinlich-
keit verliert. Gleichwohl kann zum Schlusse kein Forscher, sei
er auch ein noch so eifriger Verfechter der rein cerebralen
Pathogenese der Epilepsie, folgende zwei Satze widerlegen oder
ihnen widersprechen: 1. Die zwei Gruppen der meist kennzeich-
nenden pathologisch-anatomischen Abweichungen in cerebro
namlich die Ammonshornsklerose und die Randgliose, werden
allein in sehr chronischen Fallen angetroffen, die wahrend des
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Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 125
Lebens eine deutliche sekundare Dementia zeigen; bei jungen
Fallen kommen sie fiberhaupt nicht vor. 2. Umgekehrt sind die
Ammonshomsklerose und die Randgliose durchaus nichts Spe-
zifisches fiir Epilepsie, da die Randgliose ohne Ausnahme bei
alien moglichen Psychosen vorkommt, wobei Dementia auftritt
(Dementia praecox, Dementia senilis, Dementia paralytica, Alkohol-
dementia, Alzheimer&che Krankheit usw.). Randgliose weist
dann auch auf das Bestehen irgendeiner nicht angeborenen Defekt-
psychose hin.
Auf Grund dieser Tatsachen muB als vollkommen feststehend
angenommen werden, daB die bei Epilepsie gefundenen Ab-
weichungen, namlich die Ammonshomsklerose und die Randgliose
die Folge und nicht die Ursache der Krankheit sind. Mit Bbuche
und vielen anderen miissen wir die Ursache denn auch ganz auBer-
halb des zentralen Nervensystems suchen; es ist denn auch kein
einziger Grund gegeben, die Epilepsie einzureihen zwischen die
Meningo-Encephalitis, die Porencephalie und die cerebrale Kinder-
lahmung.
Bouche wiederholt denn auch den soeben genannten Aus-
spruch seines beriihmten Landsmannes Esquirol in anderen
Worten: ,,La cause intime, active de la maladie, c’est k la physio¬
logic qu’il faut la demander et non a l’anatomie. Celle-ci ne fait
que l’archeologie morbide.“
Auch darauf muB hingewiesen werden, dass oft die Sache
erschwert wurde dadurch, daB manche Forscher keine Grenze zu
ziehen wuBten zwischen genuiner (essentieller) Epilepse und der
symptomatischen oder Rindenepilepsie. So meldet z. B. Marchand,
daB er regelmaBig ein Verwachsen der Pia mater mit der Gehim-
rinde antraf, und daB darauf die Krankheitserscheinungen beruhen.
Dies ist vollkommen richtig, doch er vergiBt, daB er es in diesen
Fallen mit den Folgen einer fiberstandenen Meningitis und nicht
mit genuiner Epilepsie zu tun hat.
Gibt die pathologische Anatomie uns also keine Fingerzeige
fiber Ursprung und Wesen der Epilepsie, so konnen die klinischen
Erscheinimgen uns etwas lehren durch Vergleichung mit anderen
Krankheiten, bei denen Anfalle vorkommen, und auch die Tier-
versuche konnen dazu etwas beitragen; stellen wir dann voran, daB
bei frischen Fallen von Epilepsie keine Abweichungen in cerebro
bestehen, so werden wir durch die klinischen Erfahnmgen wohl
gezwungen zu der Auffassung, daB* Epilepsie eine chronische Ver-
giftung ist. Gleichwohl, bei zahlreichen chronischen Vergiftungen
kommen epileptiforme Anfalle vor, so u. a. bei Bleivergiftung,
bei Pellagra, bei Santoninvergiftung, bei chronischem Alkoholismus,
bei Absinth- und Tabakvergiftung, bei Acetonamie bei Kindem,
bei Diabetes im letzten Stadium, bei Uramie und bei Eklampsie,
bei Vergiftung mit Tribromkampfer usw. DaB alle diese Ver¬
giftungen anders verlaufen als Epilepsie und von dieser letzteren
in klinischer Hinsicht sehr abweichen konnen, liegt daran, daB bei
den meisten der hier genannten Vergiftungen die Rede ist von einem
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126 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
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van auBen eingefiihrten Gift, wahrend bei Epilepsie nur die Rede
sein kann von dem einen oder anderen giftigen Stoffwechselprodukt,
das sich bei jedem normalen Individuum ebenso bildet, doch bei-
zeiten umgesetzt, abgebrochen oder auf andere Weise unschadlich
gemacht (eliminiert) wird, wahrend dies bei den Epileptikem
nicht der Fall ist. Bei den Epileptikem weisen der beinahe unmerk-
bare Beginn der Krankheit, die langsame Verschlimmerung, die
regelmaBig auftretenden Charakterabweichungen, die stets und
mit einer gewissen RegelmaBigkeit zuriickkehrenden Anfalle, die
doch nicht anders beschaut werden konnen als ein, sei es auch un-
angenehmes und bisweilen selbst gefahrliches, natiirliches Ab-
wehrmittel, um die toxischen Stoffe aus dem Korper zu entfemen
oder unschadlich zu machen, und die langsam auftretende und
sich verschlimmemde Dementia auf eine Vergiftung mit dem
einen oder anderen, nicht von auBen eingefiihrten toxischen
Agens. Und zum Schlusse sprechen die pathologisch-anatomischen
Veranderungen (namlich das Pehlen jeglicher Abweichung im Ge-
him bei jungen Fallen, und das Vorhandensein des anatomischen
Substrats der sekundaren Dementia — der CAowZinschen Gliose
usw. — nur in sehr veralteten Fallen) ebenso sehr stark fiir Auto-
intoxikation. Heinrich driickt das wohl sehr kraB, doch m. E. voll-
kornmen richtig aus, wenn er sagt: ,,A11 diese Theorien (Atrophie
der Ammonshomer, Erkrankungen des Pons-Ao/AraageZ-Befundes
von Alzheimer) haben sich als vollkommen unhaltbar erwiesen.
Echte oder besser gesagt essentielle Epilepsie wird verursacht
durch eine eigenartige Stoning im Stoffwechsel, eine Auto-
intoxikation."
In der Tat weisen zahllose Tatsachen und Befimde darauf,
daB bei den Epileptikem Abweichungen im Stoffwechsel vor-
kommen, doch leider sind die Funde der zahllosen Forscher noch
zu unbestimmt, zu unzusammenhangend, zu umstandlich und
zum Teil auch miteinander zu sehr im Widerspruche, als daB
auch nur annahernd der Weg angegeben werden kann, der zur
Kenntnis der Art und des Wesens des „epileptischen Giftes“ fiihrt.
Krainsky entwickelte mit vielem Talent die Theorie, daB Epilepsie
eine Vergiftung durch karbaminsaures Ammoniak sein soli; er
fand namlich einen regelmaBigen Zusammenhang zwischen den
Anfallen und dem' Urinsauregehalt des Urins: vor den Anfallen
verminderte sich der Gehalt, um naeh den Anfallen wieder zu
steigen, und Krainsky fand diese Erscheinung so regelmaBig, daB
er aus dem Sinken des Urinsauregehaltes des Urins (bis unter
0,45 g in 24 Stunden) einen sich nahemden Anfall voraussagen
konnte. Nun kann jedoch Urinsaure selbst unmoglich das ver-
giftende Agens sein, so daB Krainsky auf den Gedanken kam, daB
der Giftstoff unter den Vorprodukten gesucht werden muB, also
Stoffen, aus denen Urinsaure gebildet wird. Da nun Urinsaure
aus karbaminsaurem Ammoniak gebildet werden kann, sah
Krainsky diesen Stoff als das Gift an, um so mehr, da Versuche
mit Einspritzungen von karbaminsaurem Natrium und Kalk
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 127
diese Meinung sehr zu befestigen schienen. Diese Theorie, obwohl
bereits ungefahr 15 Jahre alt, ist noch nimmer unumstoBlich be-
festigt worden, noch auch widerlegt, und wiewohl sie viel Anlocken-
des hat, muB doch vorangestellt werden, daB sie bis jetzt rein
hypothetisch ist, und daB von einem Beweise weder Schein noch
Schatten gefunden wurde. Wohl ist zwar Karbaminsaure (in der
Form von Salzen) vorhanden im Blut, doch nur in sehr geringer
Menge (Drechsel), da, wie die Untersuchungen von Nencki und
Hahn beweisen, dieser Stoff zum groBten Teil in der Leber in
Ureum umgesetzt wird. Diese letzten zeigten an, daB karbamin-
saures Natrium, in groBen Mengen in den Magen gebracht, beim
Hunde durchaus nicht giftig wirkt, wohl dagegen, wenn sie eine
sogenannte „Ecksche Fistel“ (das Einpflanzen der Vena portae
dicht bei dem Leberhilus in die Vena cava inferior) anlegten; t s
traten dann dieselben Vergiftungserscheinungen auf wie bei
intravenoser Anwendung von karbaminsaurem Natrium und Kalk
(Somnolenz, Ataxie, Katalepsie, epileptiforme Krampfe, Te¬
tanus usw.). AuBerdem stelite sich bei Fistelhunden der Urin
viel reicher heraus an Karbamaten als bei den nicht operierten
Hunden; Karbaminsaure (oder besser gesagt seine Salze, denn
Karbaminsaure ist unbestandig) miissen wir also als ein ziemlich
giftiges, in dem Darm gebildetes EiweiBzersetzungsprodukt be-
schauen, das jedoch, bevor es in die Zirkulation kommt, durch das
Pfortaderblut nach der Leber gefiihrt und dort in unschuldiges
Ureum umgesetzt wird.
Wenn nun Krainsky ziemlich groBe Mengen von Karbamaten
intravenos einspritzt, so schaltet er also die Leberfunktion ganz
und gar aus und schafft dadurch Bedingungen, die seine Versuche
fiir die Frage nach der Epilepsiepathogenese wertlos machen,
denn der Epileptiker kann wohl seine Leber benutzen, um das
karbaminsaures Ammoniak unschadlich zu machen. AuBerdem
ist es sehr die Frage, ob karbaminsaure Salze, wofern sie nicht direkt
in die Blutbahn gebracht werden, wohl so giftig sind: Abel und
Muirhead (siehe Hammersten) konnten beim Menschen und beim
Hunde eine reichliche Menge von Karbamaten im Urin hervorrufen,
dadurch, daB sie sie groBe Mengen Kalkmilch trinken lieBen, ohne
daB dabei Vergiftungserscheinungen eintraten. Nun hat zwar
Ouidi Krainskys Theorie verteidigt auf Grand seiner Wahrnehmung,
daB der totale Reichtum des Urins an Ammoniakverbindungen
den Anfallen ganz parallel verlauft, andere fanden jedoch die
regelmaBigen Schwankungen des Ammoniakstickstoffes nicht.
Auch Kaufmann fand unmittelbar vor und nach den Anfallen
den Ammoniakstickstoffgehalt des Blutes erhoht, aber er fand
zugleich auch eine Vermehrung der fliichtigen Fettsauren. Und
daB bei diesem VergiftungsprozeB, den wir Epilepsie nennen,
Ureum oder einer seiner Mutterstoffe eine Rolle ^pielen soil,
ist gleichfalls nicht wahrscheinlich. So kommt z. B. NeUon Teeter
zu folgendem Schlusse: Bei der Epilepsie ist ziemlich regelmaBig
einerhohterUreumgehaltdesBlutes vorhanden, dochein bestimmtes,
Monatsschrift f. Psychiatrle n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 2. 9
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128 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
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standiges Verhaltnis zwischen den Anfalien und dem Ureumgehalt
im Blut und Urin ist nicht festzustellen; der erhohte Ureumgehalt
des Urins nach dem Anfall ist dann auch der erhohten Muskel-
wirkung wahrend des Anfalls zuzuschreiben (noch zu beweisen).
Auch Urinsaure spielt, wie die Untersuchungen von Hoppe ergeben,
keineRolle: ob er denEpileptikern iiberwiegendbestimmtetierische,
purinreiche EiweiBe, die viel Urinsaure liefern, oder aber das von
Pflanzen herstammende, das nur halb so viel Urinsaure liefert,
gab, hatte auf die Haufigkeit der Anfalle nicht den mindesten
EinfluB. Hoppe leitet daraus zugleich ab, daB Krainskys Theorie
unhaltbar ist, doch ist m. E. die Begriindung von Hoppes SchluB
unrichtig: Urinsaure entsteht durch Oxydation aus den Purin-
stoffen (den sogenannten Xanthinbasen, wie Guanin, Adenin,
Xanthin, Hypoxanthin usw.), wahrend Karbaminsaure durch Oxy¬
dation aus Aminosaure entsteht und wieder in Ureum umgesetzt
wird. Krainskys Theorie beruht denn auch auf einer unrichtigen
Annahme: Urinsaure wird nicht aus karbaminsauren Salzen
gebildet.
Guido hat Spater noch die Meinung ausgesprochen, daB bei
Epilepsie eine Vergiftung mit Ammoniumkarbonat eine groBe
Rolle spielen soil, da er bei Epileptikem stets durch Eingabe dieses
Mittels eine starke Zunahme der Anfalle eintreten sah, eine Er-
scheinung, die ausblieb bei an Anfallen leidenden Hysterikern.
Diese Annahme ist jedoch unhaltbar: Ammoniumkarbonat
kommt ohne Zweifel im Blut vor, doch wird ebenso wie Ammonium-
karbamat in der Leber in Ureum umgesetzt (Versuche von Schroeder ,
Nencki , Pawlow u. A. Siehe Hammereten, 1. c. S. 648) und also
unscftadlich gemacht. Ziveri , welcher Guidis Versuche nach-
machte, konnte dann auch nahezu nichts von dieser schadlichen
Wirkung feststellen (allein in einem zweifelhaften Falle einer
26 jahrigen, an vollkommener Dementia leidenden Epileptikerin
war das Ergebnis positiv).
Ernstlich beschuldigt als die Ursache der Epilepsie ist auch
Cholin, und zwar von Donath , der zugleich Ammoniak und or-
ganische Ammoniakbasen wie Creatin und Trimethylamin in den
ProzeB hineinbezieht. Doch seine Auffassung ist vollkommen
unhaltbar: Cholin, ein Zersetzungsprodukt aus Lecithin, ist nur
wenig giftig, und Creatin, wie sein Anhydrid Crcatinin, ein Zer¬
setzungsprodukt von Fleisch sowohl wie ein Stoffwechselprodukt
unserer eigenen Muskeln, ist durchaus nicht giftig und kommt
dann auch stets in einigermaBen wechselnder Menge beim Menschen
im Blut und im Urin vor. Handekmann widerspricht denn auch
den Ergebnissen Donaths hinsichtlich des Cholingehaltes der Cerebro-
spinalfliissigkeit und glaubt nicht an die toxischen Wirkungen de^
Cholins. Auch Ziveri fand im Blute und in der Cerebrospinal-
fliissigkeit der Epileptiker bei 26 Patienten nur einmal Cholin in
nachweisbarer Menge; er will darum diesem Stoffe auch nicht
den geringsten spezifischen EinfluB bei Epilepsie zuerkannt
wissen. Der Merkwiirdigkeit wegen sei noch vermeldet, daB
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Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 129
auch Cesari nichts von der Cholintheorie wissen will, und das
noch mit der allertorichtsten Begriindung, daB er bei Hunden.
denen er durch elektrische Strome ,,convulsions epileptifornies“
besorgt hatte, keine Spur Cholin in der Cerebrospinalfliissigkeit
hat nachweisen konnen. Als ob durch elektrische Reizungen her-
vorgerufene Krampfe etwas mit echter Epilepsie zu tun hatten!
Bei der Bekanntschaft mit den fast zahllosen Mitteilungen
liber die Chemopathologie der Epileptiker trifft man an erster
Stelle auf die auBergewohnliche Verschiedenheit der wirklichen
oder vermeintlichen Ergebnisse und an zweiter Stelle auf die Regel-
maBigkeit, mit der der eine den Befunden des anderen widerspricht.
Im Hinblick auf unsere noch sehr elementare Kenntnis der
physiologischen Chemie kann diese Impotentia der pathologischen
Chemie uns sicher nicht in Erstaunen setzen. So nimmt Heinrich
als feststehend an, daB der Organismus bei Epileptikern unter
dem EinfluB der Anfalle an Phosphor armer wird. In der Tat
fand Loewe den Uringehalt an organisch gebundenem Phosphor
wahrend der Anfalle und nach denselben deutlich erhoht, was
also weisen miiBte auf ein vermehrtes Abbrechen des phosphor-
enthaltenden Eiweisses (der Nukleropoteiden, worm die Nuklein-
saure der phosphorenthaltende Bestandteil ist). Doch Bornstein
und Siroman fanden gerade wahrend und unmittelbar nach den
Anfallen im Urin eine stark vermehrte Ausscheidung an Kalk
und Magnesiumsalzen, parallel mit einer nur sehr viel geringeren
Vermehrung an Phosphaten. Und de Buck fand keine einzige Ver-
anderung in der Phosphatabscheidung, weder eine Vermehrung,
noch eine Verminderung.
DaB wahrend der Anfalle im Organismus erhohter Abbruch
stattfindet, kann wohl als feststehend angesehen werden; so fanden
Stadelmann und Tintemann eine ziemlich stark erhohte Urinsaure-
ausscheidung nach den Anfallen, Florence und CUment erhohte
Ammoniakausscheidung, vor allem bei haufigen Anfallen bei
bromfreien Patienten, und Bosenoff ebenso einen erhohten Stick-
stoffgehalt des Urins nach dem Anfall. Selbst daran ist gedacht,
daB Urinsaure die Ursache der Toxikose sein soli (Haig), doch
kann da von nicht die Rede sein: Urinsaure ist nicht giftig, und
die erhohte Ausscheidung ist hochstwahrscheinlich die Folge und
nicht die Ursache des Anfalles: infolge der groBen Muskelarbeit
und des stark erhohten Blutdruckes wahrend des Anfalles, gepaart
mit sehr erhohter Herzwirkung, entsteht eine plotzliche und ge-
waltige Steigerung des Stoffwechsels. Die von Galanle gefundene
Albuminurie beruht gleichfalls auf der Erhohung des Blutdruckes,
vielleicht auch auf der Wirkung der noch unbekannten epilep-
tischen Giftstoffe auf die Nierenep'ithelien.
Auch die sehr sorgfaltigen neueren Untersuchungen von
Tintemann bringen wenig feststehende und bleibende Ergebnisse:
charakteristisch scheint eine Vermehrung der totalen Saure-
menge des Urins bei ganzen Reihen von Anfallen (diese Saure-
vermehrung beruht auf einer Vermehrung sehr verschiedener
9*
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130 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
Sauren); auch der Urinsauregehalt und die Phosphorausscheidung
waren regelmaBig erhoht bei Reihen von Anfallen; zwischen den
beiden erhohten Ausscheidungen konnte selbst ein gewisser Par¬
allelisms zu entdecken sein. Vom Stickstoff-Stoffwechsel waren
keine feststehenden Ergebnisse zu erhalten; hin und wieder schien
in den anfallsfreien Perioden eine deutliche Stickstoffverhaltung
zu sein, in anderen Fkllen fehlte diese jedoch vollkommen. Wahrend
der Anfalle gleichfalls wechselnde Stickstoffausscheidung.
Die Veranderungen in der Urinsaureabscheidung bei Epi-
leptikem, wie sie Krainsky angegeben hat (24—48 Stunden vor
dera Anfall soli stets eine wichtige Abnahme der Urinsaureab¬
scheidung eintreten, und zwar so feststehend, daB Krainsky den
sich nahemden Anfall mit Sicherheit vorhersagen konnte), sind
aueh noch keineswegs hinreichend feststehend; Caro bestatigt die
Wahrnehmungen Krainskys, doch Putnam und Pjaff wider-
sprechen ihnen direkt. Auch Mainzer kann nichts von einem
bestimmten, konstanten Zusammenhange fesstellen: hin und wieder
waren die Anfalle nicht eingeleitet durch ein Fallen, dann wieder
trat wohl ein Fallen ein, ohne daB ein Anfall folgte ( Mainzir
glaubt dann auch nicht, daB karbaminsaures Ammoniak —
Krainsky — die Ursache der epileptischen Vergiftung ist).
Selbstverstandlich ist hierbei allein die Rede von endogener
Urinsaure, wahrend die exogene, die aus der Nahrung entsteht,
ausgeschaltet wird dadurch, daB man den Patienten auf vollkom¬
men purinfreie Diat setzt. Doch auch bei den notwendigen Bedin-
gungen diirfen Schwankungen in der Urinsaureausseheidung nicht
zu hoch angeschlagen werden, da auch normalerweise einige
Schwankung vorkommt und auch iiber manche Punkte noch
keine Einstimmigkeit herrscht. So fand Stadelmann z. B. deutliche
Unterschiede in der Urinsaureausseheidung bei eifriger Muskel-
arbeit und im Ruhezustande; Hammersten meldet jedoch, daB
.Arbeit und Ruhe keinen feststehenden EinfluB auf die Urinsaure-
ausscheidung auszuiiben scheinen.
Was nun die Ergebnisse des ausgeschiedenen Ammoniak^ be-
trifft, so muB man sich vor allem hiiten, diese zu hoch anzu-
schlagen, da allerlei Einflusse sich dabei geltend machen: gleich-
wohl hat Gammeltoft festgestellt, daB, wie auch schon LoS mit-
geteilt hat, die Ammoniakausscheidung per 24 Stunden wohl
zwar einen ziemlich standfesten Wert hat, doch daB dessenunge-
achtet eine ziemlich groBe Verschiedenheit besteht in der Aus-
scheidung wahrend der verschiedenen Zeitpunkte in 24 Stunden:
2—4 Stunden nach der Mahlzeit verringert sich sowohl die absolute
als die relative Ammoniakausscheidung, darnach erfolgt in dem
Darm die Resorbtion der aus dem Magen kommenden Saure, die
an Ammoniak gebunden werden muB, und es folgt daher auf die
Periode einer verminderten Ammoniakausscheidung eine von
erhohter.
AuBerdem besteht ein gewisser Zusammenhang zwischen
Magensaftabscheidung und Ammoniakabscheidung: ist im Magen
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Bo] ten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 131
viel freie Salzsaure, dann ist also auch viel Ammoniak notig, um
diese wieder zu binden; bei Patienten mit Hypersekretion von
Magensaft wird denn auch ein relativ hoherer Ammoniakgehalt
gefunden als bei Patienten mit Achylia. Umgekehrt stellte sich
heraus, daB bei einem Patienten mit Ulcus ventriculi, der alles
ausbrach, und bei dem also wenig oder keine Salzsaure in den
Darm kam, die Ammoniakausscheidung sowohl relativ wie absolut
vermindert war; nach der Operation (Anlegen einer Gastroenteros-
tomie) stieg der Ammoniakgehalt des Urins bis auf die normale
Hohe. Aus diesen Wahrnehmungen folgt ganz deutlich, daB eine
Vermehrung des Ammoniakstickstoffes im Urin durchaus nicht
abhangig zu sein braucht von dem epileptischen ProzeB als solchem,
da die hier genannten Faktoren (Zeitpunkt der Untersuchung
hinsichtlich der Mahlzeit und das Vorhandensein im Magen von
viel, maBig oder gar keiner freien Salzsaure) ebensosehr wichtige
Schwankungen in genannter Ausscheidung verursachen konnen.
Hinzu kommt noch, daB diese Faktoren bei Epilepsie oft vor-
handen sind. So weisen z. B. Mac Caskey und verschiedene andere
Schriftsteller, u. a. Gowers , Rodiet, de Fleury darauf, daB bei
Epileptikern oft Magen-Darmstorungen vorkommen, u. a. ab-
wechselnd von sehr erhohter Salzsaureabscheidung bis zu sehr er-
niedrigter, bzw. selbst Anaciditat. Diese beiden letztgenannten
Schriftsteller erkennen diesen Sekretionsstorungen (mit daraus
hervorgehenden Abweichungen von den normalen Zersetzungs-
prozessen im Darmkanal) eine groBe Bedeutung zu fiir die Patho¬
genese der Epilepsie; hierin irren sie sich, da die genannten Sto-
rungen Folge und nicht Ursache der Epilepsie sind. Doch ab-
gesehen davon stehen die Storungen in der Magensaftabscheidung
bei Epilepsie wohl fest, und dies vermindert wieder sehr den Wert
der gefundenen Schwankungen in der Ausscheidung von Ammoniak
im Urin.
Sind also bis jetzt die AussprUche der verschiedenen Forscher,
die da meinten, einen mit Namen zu nennenden Stoff als Ursache
der Toxikose ,,Epilepsie“ angeben zu konnen, alle schon gleich-
falls anfechtbar, nicht weniger ist dies der Fall mit der Auffassung
von de Buck, welcher durch Einspritzung von Blut und Serum
von Epileptikern bei Kaninchen feststellen konnte, daB bei diesen
Tieren keinerlei toxische Wirkung festzustellen ist, wohl dagegen
beim Menschen; und er kommt zu dem Schlusse, daB Epilepsie
eine Vergiftung ist, die nicht durch das eine oder andere normale
Stoffwechselprodukt verursacht wird, sondem durch ein echtes
Gift, welches zu den Cytotoxinen gehort und, wie de Buck ,,be-
wiesen“ erachtet, aus einem thermolabilen Alexin und einem
thermostabilen sensibilisierenden Stoffe besteht. Naherer Beweis
ist jedoch sehr erwiinscht!
Es besteht dann noch eine nicht unwichtige Gruppe von
Forschem, die sich weniger fiir die chemische Zusammenstellung
des eventuellen Giftes erwarmt haben, sondem durch Versuche
haben feststellen wollen, daB wenigstens eine Vergiftung im Spiele
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132 B o 1 t v n , Pathogene.se und Therapie der geiminen Epilepsie.
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ist, und wiewohl diese Versuche gleichfalls nicht zu gleichlautenden
und ganz festst-ehenden Ergebnissen gefiihrt haben, haben sie doeli
in jedem Fall zur Feststellung der toxamischen Pathogenese der
Epilepsie etvvas beigetragen.
80 fand u. a. Ceni , dab Blutserum von Epileptikern nicht
schadlich fiir Hunde und Kaninchen war, doch wohl haben Ein-
spritzungen mit dem hypertoxischen Serum einen verschlimmernden
EinfluB (Zunahine der Anfalle) auf den Patienten selbst. Er meint,
daB die Toxinen der Epilepsie hamolytisch wirken und daB im
Blutserum der Epileptiker Prazipitinen vorkommen, die spe-
zifisch zu sein scheinen. De Buck konnnt zu iibereinstimmenden
Ergebnissen, andere Schriftsteller jedoch, u. a. Schuckmann ,
widersprechen ihnen entschieden. Bereits friiher hat Ceni die
Giftigkeit des Blutserums bei Epileptikern nachzuweisen gesucht
durch Einspritzung desselben in Huhnereier, wobei er zur Kon-
trolle eine gleiche Anzahl Eier mit derselben Menge Blutserum
von Normalen behandelte. Die Ergebnisse dieser Versuche gaben
Ceni bereits die Uberzeugung, daB Blutserum von Epileptikern
vergiftete Stoffe enthalten miiBte.
Ausgebreitete Versuche unternahm Cololian; er nahm eine
feststehende Menge Blutserum von Epileptikern bzw. von Pa¬
tienten, entnommen in der anfallsfreien Zeit, gerade vor dem
Anfall, unmittelbar nach demselben, und 2—4 Sunden nach ihm,
und spritzte es Versuchstieren ein (Mause und Kaninchen). Dabei
ergab sich, daB das Blutserum in der anfallsfreien Zeit nur wenig
giftig war (wechselnde Ergebnisse), ebenso wie das Blutserum,
das 2—4 Stunden nach dem Anfall entnommen war. Dagegen
ergab sich, daB das Blut unmittelbar vor und nach dem Anfall
sehr giftig wirkte (Krampfe, Somnolenz, Tod der Versuchstiere).
Aus seinen Kontrollversuchen zeigte sich, daB dieselbe Menge
Blutserum, das von gesunden Personen stammte, vollkommen
unwirksam war. Er konnte selbst feststellen, daB vom giftigsten
Blutserum (unmittelbar nach dem Anfall) 5 — G cm per kg Tier
stets hinreichend waren, um das Yersuchstier zu tciten. Mairet
und Ardin Delteil fanden genau dasselbe, wenn sie an Stelle von
Blutserum SchweiB von Epileptikern nahmen: der SchweiB.
wahrend und gleich nach dem Anfall gesammelt, wirkte bei Ver¬
suchstieren vergiftend (Tod, vorangegangen von Krampfen oder
auch nicht), dagegen wirkte der in anfalLsfreier Zeit gesammelte
SchweiB nicht anders, denn der von gesunden Menschen. Heboid
und Bratz wiederholten diese ^ T ersuche, doch kamen sie zu ganz
anderen Ergebnissen: Eine feststehende giftige Wirkung der
Korpersalte von Epileptikern (Blutserum, Urin, SchweiB) konnten
sie nicht feststellen, da, wenn auch bei einer ersten Einspritzung
sich wohl einmal eine vergiftende Wirkung kennbar machte, es
ihnen niemals gliickte, diese Erscheinungen bei demselben Ver-
suchtstier mehreremale herv f orzurufen. Doch man kann diesen
Forschern entgegenhalten: 1. daB sie offenbar mit viel zu niedrigen
Mengen arbeiteten, da ja kein einziges Mai das Sterben der Ver-
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 133
suchstiere erwahnt wird, sei es mit oder ohne eintretende Krampfe,
und 2. daB die Einspritzung ihrer geringen Menge epileptischen
Giftes bei den Versuchstieren gerade Immunitat gegen die
folgenden Einspritzungen hervorgerufen hat. Galdi und Tarugi
haben Versuche gemacht nach der krampferregenden Wirkung
des Urins von Epileptikem, den sie bei Cavias einspritzten in die
Vena femoralis; sie fanden dabei, daB der Urin, der unmittelbar
vor deni Anfall gelost war, am starksten krampferregend war.
Ueber die Giftigkeit des Urins der Epileptiker fanden Pfeiffer
und Albrecht etwas dergleiches: sie fallt vor dem Anfall, um damach
stark und schnell zu steigen und sich wahrend der anfallsfreien
Zeiten auf einem erhohten Niveau zu halten.
Der Erwahnung sehr wert sind noch die Untersuchungen von
Meyer; er konnte feststellen: 1. daB Blut von Epileptikem in der
anfallsfreien Zeit, bei Cavias eingespritzt (intraperitoneal) auch
bereits mehrere Erscheinungen hervorrief als Blut von Nicht-
epileptikem; 2. daB das sogenannte ,,Anfallsblut“ sich als sehr
gif tig zeigt: 9 der 10 Versuchstiere reagierten auf die Einspritzung
mit Krampfanfalien, meist in ganzen Serien mit allgemeinem
Unwohlsein und Sinken der Temperatur (und dabei ergab sich
noch die Merkwiirdigkeit, daB die Reaktion der Versuchstiere
um so starker war, je mehr das Blut herstammte von Patienten
mit vielen und schweren Anfallen), 3. das Blut,. wahrend der epi¬
leptischen Traumzustande entnommen, verursachte in einem Falle
wohl Reaktion, im anderen nicht; 4. wurden die Tiere, die nach
dem ersten Versuche nicht zugrunde gegangen waren, einem
zweiten Versuche unterworfen (10 Tage spater), dann fiel die sehr
stark verminderte Empfindlichkeit der Tiere offenbar auf (wahr-
scheinlich, weil sie sich inzwischen an das Gift gewohnt hatten,
also eine Art Immunitat) und 5. daB die giftigen Eigenschaften
iiberwiegend ans Blutserum gebunden sind: in der Mehrzahl der
Falle waren die Blutkorperchen vollkommen unwirksam, und das
Serum wirkte toxisch. Nur in einem Falle war dies umgekehrt
(was vorlaufig als vollkommen unerklarbar angesehen werden
muB).
Femer sind noch viele Wahrnehmungen und Tatsachen vor-
handen, wenn sie auch an sich selbst keinen iiberwiegenden Ein-
fluB besitzen auf das Wahrscheinlichmachen des toxamischen Ur-
spnmgs der Epilepsie, doch alle ein Glied bilden in der langen
Kette der Griinde, die alle beieinander genommen zum Schlusse
wohl die Ueberzeugung befestigen miissen, daB Epilepsie ein sehr
chronischer VergiftungsprozeB ist. So fand Bouche nicht allein.
daB man bei Katzen durch Vergiftung mit Bromkampfer Anfalle
hervorrufen konnte — das haben uberdies andere auch nachgewiesen
— doch er fand bei diesen Tieren in der Gehimrinde dieselben
Gliawucherungen, die Chaslin , Alzheimer , Bratz u. A. als das
anatomische Substrat der Epilepsie beschauen.
Und Ballet weist auf die Tatsache hin, daB bei Frauen die
Anfalle viel haufiger vorkommen eben vor und wahrend der Men-
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134 B o 11 e n . Pathogenese und Therapi© der genuinen Epilepsie.
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struationsperiode, als nach derselben: die Menstruation ist eines
der Mittel, durch welche der Organismus die Gifte ausscheidet,
nach der monatlichen Reinigung ist der Korper also arm an Toxinen,
vor und im Beginn davon sind die Toxinen jedoch im Blute ange-
hauft. Weber legt Nachdruck auf die Ergebnisse, die durch Re-
gelung der Nahrung erhalten werden konnen und schlieBt daraus,
daB Toxinen im Spiel sind, die wohl verschiedenen Ursprung
haben, doch teilweise aus Zersetzungsprodukten der Nahrungs-
stoffe bestehen. Tramonii kommt zum toxamischen Ursprung
der Epilepsie auf Grund der sehr groBen Giftigkeit des Urins
(Versuche an Kaninchen), der nach epileptischen Equivalenten
gelost war, und meint diese Giftigkeit auf Rechnung organischer
Stoffe setzen zu miissen. Ardin-Delteil nimmt an, daB giftige
Stoffe im Spiel sind, doch zugleich, daB der Epileptiker eine erhohte
Empfindlichkeit fiir diese Gifte in der Gehimrinde besitzt, da er
sonst die Hypotoxizitat des Urins in den anfallsfreien Perioden
nicht erklaren kann. Das von Ardin-Delteil neu hinzugebrachte
Moment, die erhohte Empfindlichkeit der Gehirnrinde der Epi¬
leptiker, ist von verschiedenen anderen Forschern auch angedeutet;
sosagt z. B. Binswanger , dass, wenn einmal die Gehimrinde in einen
Zustand gekommen ist, dass der erste AnfaM auftritt, damach
ein bleibender, verminderter Widerstand gegen physiologische als
auch pathologische Reize besteht. Neuere Forscher bringen uns
liber diesen Punkt wieder einen Schritt voraus: bereits ist durch
ausgebreitete Versuche von Ehrlich nachgewiesen, daB in den
Korper gebrachte Stoffe sich nicht gleichmaBig liber alle Organe
verteilen, sondem deutlich fur bestimnite Organe eine erhohte
Affinitat zu besitzen scheinen; Jacoby konnte dies flir Salizylsaure
feststellen und van den Velden fiir Jodkali. Wichtige Unter-
suchungen machten femer Guillain und Laroche , die sich im be-
sonderen mit der Affinitat des zentralen Nervensystems fiir Gifte
beschaftigten. Ihre Funde bringen uns wieder weiter in dieser
Richtung, da sie u. a. fanden, daB besonders das Tetanus- und
das Diphtheriegift sich stark aufhauften in bestimmten Teilen
des zentralen Nervensystems, was durch Tierversuche sehr deutlich
wurde. Auch fiir verschiedene Alkaloide, wie Strichnin, Morphium
und Kokain, und fiir andere Gifte, wie Chloroform und Alkohol,
besitzt das zentrale Nervensystem eine groBere Affinitat als
andere Organe. Und so wird sich vielleicht auch bald heraussteilen,
daB die Gehimrinde eine besonders groBe Affinitat fiir die Epilepsie-
toxinen besitzt. Es ist dann auch nicht notig, wie Shaw beilaufig
tut, anzunehmen, daB bei Epilepsie und bei anderen Krampf-
zustanden die Rede ist von echter Anaphylaxie: die sehr wahr-
scheinliche, groBe Affinitat der Gehimrinde fiir Epilepsietoxin,
vielleicht gepaart mit einer bereits bestehenden und stets zu-
nehmenden Empfindlichkeit der Rinde fiir dieses Toxin, ist hin-
reichend fiir die Erklarung der klinischen Erscheinungen.
Es sei noch bemerkt, daB mit dem toxamischen Ursprunge
der Epilepsie vielleicht die von Masoin gefundene Tataache in Ver-
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B o i t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 135
bindung steht, daB vor und wahrend des Auftretens des sogenannten
Status epilepticus und auch, wenn auch in geringerem MaBe, bei
einzelnen Anfallen bei Epileptikem mit sekundarer Dementia
die Diazo-Reaktion oft positiv ausfallt.
Eigene Untersuchungen.
Gegeniiber der beinahe sprichwortlichen Unbestandigkeit der
Ergebnisse der Forscher und in Anbetracht der peinigenden Regel-
maBigkeit, mit welcher der eine die Ergebnisse des andern wider-
spricht, muB gleichwohl anerkannt werden, daB es ,,une mer k
boire“ gleich ist, wenn man durch sj^stematische Untersuchungen
einen Weg finden will in den zahlreichen und sehr auseinander-
laufenden Auffassungen iiber das Entstehen und Wesen der Epi¬
lepsie. Ein groBes Material, hauptsachlich in klinischer Behand-
lung, setzte mich in die Gelegenheit, wahrend der letzten 7 Jahre
ununterbrochen Versuche anzustellen. Dabei muB vorangestellt
werden, daB auf Grund klinischer Wahrnehmungen und wegen der
Unhaltbarkeit des cerebralen Ursprungs der Epilepsie mir die
Theorie iiber den toxamischen Ursprung stets am meisten zugesagt
hat. Um moglichst systematise}! zu Werk zu gehen, wurden stets
eine Anzahl Patienten, die bereits einige Zeit in klinischer Obser¬
vation waxen und von denen also der Allgemeinzustand und
auch allerlei Besonderheiten gut bekannt waren (Haufigkeit und
Beschaffenheit der Anfalle, ,,petit mal“, Aequivalente, Kopf-
schmerzen, Stimmungs- und Charakterabweichungen), wahrend
geraumer Zeit, meistens drei Monate oder langer einem bestimmten
System unterworfen, und es wurde dabei von der Voraussetzung
ausgegangen, daB Epilepsie die Folge sein konnte von:
a) Darmfaulnis (anormale Garungsprozesse im Dannkanal
oder im Magen oder andere Verdauungsstorungen) oder Darm-
parasiten;
b) Vergiftung durch Zersetzungsprodukte des EiweiB (Albu-
mose, Purinbasen usw.);
c) Retention von Kochsalz und sekundare Kochsalzvergiftung ;
d) Hyperfunktion einer oder mehrerer Driisen mit interner
Sekretion;
e) Insuffizienz einer oder mehrerer Driisen mit interner
Sekretion.
Sub a) Wie allgemein bekannt ist, hat man lange und viel
gehammert auf dem AmboB der Darmfaulnis bei Epilepsie; es
ist bereits hingewiesen auf die Meinung von Rodiet , de Fleury ,
Mac Caskey und vielen anderen, die in anormalen Garungspro-
zessen im Darmkanal die Ursache der Epilepsie suchen; auch
Spratting hat sich sehr stark in dieser Richtung geauBert: ,,wenn
die Kochkunst ebenso eingehend ausgeiibt wihde, wie die Heil-
kunde, so wiirde nach ein paar Geschlechtem die Epilepsie aus-
gestorben sein.“ (! ?). Femer hat auch Bouman sich ausgesprochen,
daB der Verband zwischen den Anfallen und Storungen im Magen-
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136 B o 1 t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
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darmkanal ,.geniigend“ feststeht. Und de Groot fand, im AnschluB
an Mangelsdorf , bsi Epileptikern haufig einen atonischen und dila-
tierten Magen und auBerdem bei zwei Patienten Hyperchlor-
hydrie.
Unter Beriicksichtigung aller hier genannten Moglichkeiten,
wozu dann auch noch die habituelle Konstipation gerechnet werden
muB, wurde eine Reihe Patienten auf Diat gesetzt: sie be-
kamen per Tag 5 Mahlzeiten, doch ausschlieBlich von auBerst
leicht verdaulicher, salzarmer (nicht salzloser) Nahrung und in
geringeren Mengen als sonst gebrauchlich war. Dabei wurden
alle anreizenden Stoffe (Essig, Mostrich, Pfeffer und andere Ge-
wiirze) und weniger verdaubare Stoffe (Kohlsorten, roher Salat,
Gurken) und auch rohe Fnichte ihnen vorenthalten, auBerdem,
wie sich wohl von selbst versteht, jede Spur von Alkohol und Tabak.
Schien Hyperchlorhydrie zu bestehen, so wurde des Abends das
souverane Mittel dagegen, Olivenol, eingegeben. Wurde irgendwie
Darmgarung vermutet, so wurden kleine Dosen Bismut oder Ka-
lomel gegeben. Ferner wurde regelmaBig jeden Tag zweimal der
Darmkanal mit groBen Wasserspulungen reingemacht. Die Diat
war iiberwiegend lakto-vegetabil und wiirde bei Sauglingen von
einem halben Jalire sicherlich keine Magendarmstor ungen hervor-
gerufen haben. Das Ergebnis war jedoch sehr armselig. Wohl
schienen bei Patienten, die vorher an habitueller Konstipation
oder an ausgesprochenen Magendarmstorungen litten, unter dem
EinfluB der Diat sich die Anfalle einigermaBen zu verringem. sie
verschwanden jedoch keineswegs. Und das liegt auch wohl sehr auf
der Hand: Denn sollte Epilepsie die Folge von Magendarmstorungen
sein, so ware sie eine ziemlich unschuldige, leicht zu bestreitende
Krankheit, doch dann sollte man auch viel mehr Epilepsie auf-
treten sehen bei Menschen mit langwierigen Magendarmstorungen,
und das sieht man — abgesehen von der Acetonamie bei jungen
Kindern — gerade uberhaupt nicht. Umgekehrt gibt Darmfatilnis
AnlaB zur erhohten Bildung von Indol, Phenol, Skatol, Schwefel-
wasserstoff usw. im Darm und erhohtem Indicangehalt desUrins;
bei Epileptikern ohne Verdauungsstorungen findet man jedoch
niemals erhohten Indicangehalt des Urins.
Nehmen wir auBerdem in Betracht. daB Epileptiker zu SO pCt.
oder mehr aus erblich Belasteten bestehen und daB vor allem die
im Rausch erzeugten Kinder fiir Epilepsie pradisponiert sind,
so muB es doch wohl deutlich sein, daB Epilepsie ein angeborener
Zustand der Degeneration oder Minderwertigkeit ist und nichts
zu tun haben kann mit den infolge von Diatfehlern erst be -
komrnenen Magendarmstorungen. Und dann, der verschlimmernde
EinfluB der Magendarmstorungen, Konstipation einbegriffen, auf
die Haufigkeit der Anfalle ist sehr leicht zu erklaren: es handelt
sich hier um eine Anhciufoing toxischer Reize. Wie allgemein be-
kannt ist, ist der Epileptiker sehr empfindlich gegen allerlei Nar-
kotika, wie Alkohol, Aether, Chloroform, Chlorathyl usw.; selbst
ein paar Tropfchen Chloroform oder Aether konnen einen Anfall
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B o 1 t e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 137
erregen, und wean man einem Epileptiker des Abends eine nicht
allzukleine Menge Alkohol gebrauchen laBt, so wird ziemlich
sicher in der Nacht ein Anfall erfolgen (Cramer in Gottingen wagte
sogar die vorgebliche Epilepsie in einem forensischen Falle auszu-
schlieBen, weil nach einem tiichtigen Alkoholgebrauch der Anfall
ausblieb). Nun wird man doch nicht behaupten, daB Epilepsie
eine Chloroform- oder Alkoholvergiftung ist ? Ebenso ist es mit
den Magendarmstorungen: der Epileptiker kann, durch eine de-
fekte Veranlagung, seine endogenen Toxinen nicht genugend
abbrechen, umsetzen oder unschadlich machen; was man dann noch
an exogenen Giften oder schadlichen Stoffen hinzubringt, also auch
die Magendarmstorungen, verargert den Zustand. Durch eine
sorgfaltige Regulierung der Diat kann jman denn auch, vor allem
wenn die Verdauung vorher nicht ganz in Ordnung war, einige
Yerbesserung erzeugen: man sinkt mit den Erscheinungen bis zu
einem bestimmten Niveau, und das ist das Niveau der rein
epileptischen Vergiftung; doch ntedriger kommt man niemals.
Eine gleiche Meinung ist unlangst durch Moore Alexander ver-
teidigt worden und ausfiihrlich erlautert u. a. durch die Tat-
sachen, daB bei Epileptikern die Menge Indicans in dem Urin
nicht vermehrt wurde und daB die bakteriologische Untersuchung
der Fakalien der Epileptiker dieselben Ergebnisse lieferte wie
die bei Gesunden.
Sub b) Stets ist den Zersetzungsprodukten des EiweiB als
der Ursache der Epilepsie und wohl speziell den sogenannten
Purinbasen eine gioBe Rolle zugeschrieben worden. Diese, auch
wohl Alloxan- oder Xanthinbasen geheiBen, stammen von den
sogenannten Nucleoproteiden (Verbindungen von EiweiB mit
Nucleinsaure); dazu gehoren: Xanthin, Paraxanthin, Guanin,
Adenin, Karnin, Hypoxanthin usw. (auch Kaffein und Theobromin
rechnen hierher). Von alien diesen Stoffen, die eng miteinander
verwandt sind, ist Adenin noch am meisten giftig, die anderen
sind alle ziemlich unschuldig; durch Oxydation gehen sie alle
(ausgenommen Kaffein und Theobromin) in Urinsaure iiber. Die
Purinbasen kommen iiberwiegend im Tierreich vor, und zwar
beinahe ausschlieBlich in den Zellenkemen, gebunden an Nuclein¬
saure; in einigen Geweben, die arm an Kemen sind, z. B. Muskeln,
kommen sie bisweilen auch in freiem Zustande vor (Harnmarsten).
Im Blut der an Leukamie Leidenden ist durch Vermehrung der
Leukozyten der Gehalt an Purinbasen gewaltig gestiegen, und bei
dieser Krankheit kommt bisweilen Adenin im Urin vor.
Nun ist es sehr bequem, den eventuellen EinfluB der Purin¬
basen auf den epileptischen ProzeB zu verfolgen, da man dem
Patienten ungestraft und so lange man will purinfreie Nahrung
geben kann: Eier, Milch, Gemiise, Leguminosen und Pflanzenfette
sind immerhin so gut wie vollkommen purinfrei. Auch diesem Ver-
suche wurden eine Anzahl Patienten geraume Zeit unterworfen.
doch das Ergebnis war gleichfalls negativ (dergleichen Versuche
nniBten stets sehr lange fortgesetzt werden, am liebsten bei Pa-
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138 B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
tienten, die man schon lange und gut kannte, da Veranderungen
und Schwankungen in den Erscheinungen stets vorkommen).
leh unterschreibe denn auch vollkommen die Meinung von Hoppe ,
der nicht den geringsten Unterschied sah bei Ernahrung mit purin-
reichem tierischem EiweiB, die viel Urinsaure gibt (0,63 g per Tag),
und bei Ernahrung mit PflanzeneiweiB, u. a. mit sogenanntem
,,Roborat“, das wenig Urinsaure (0,32 g per Tag) und also wenig
Purinbasen liefert. In der Tat bin ich auf Grund meiner Versuche
zu dem SchluB gekommen, daB purinreiche Nahrung nicht den
mindesten verargernden EinfluB auf die Erscheinungen hat,
wofern man nur dafiir Sorge tragt, daB alle Verdauungsstorungen
vermieden werden.
AuBer den bereits genannten Purinbasen gibt es noch ver-
schiedene andere EiweiB Zersetzungsprodukte, die in Betracht
kommen konnten, so z. B. Cholin, Neurin und Albumose. Cholin,
dem Donath mit Unrecht einen so hervorragenden Platz ein-
raumt, ist ein Spaltprodukt von Lecithin und muB als nur wenig
gif tig angesehen werden; es kommt in sehr geringer Menge im nor-
malen Blut vor und ist auch in der Nebenniere und in anderen
Organen gefunden worden. Cholin scheint ein Antagonist von
Adrenalin zu sein, da es blutdruckerniedrigend wirkt (Hammersten).
Neurin ist eine viel giftigere Base, die durch Bakterienwirkung
aus Cholin entsteht und auch aus Kephalin wird entstehen konnen,
ein Stoff, der gleichfalls zur Lecithingruppe gerechnet werden muB.
Bestimmt sehr giftig ist Albumose, der Bequemlichkeit wegen als
einfacher Begriff gebraucht, denn es ist wohl sicher, daB im Darm
als Spaltprodukt aller moglichen EiweiBe auBer Aminos&ure
eine ganze Gruppe von Albumosen gebildet wird, die in dem
Dunndarminhalt reichlich vorkommen, doch im Blut noch niemals
nachgewiesen werden konnten. Hochstwahrscheinlich wird Al¬
bumose denn auch beim Passieren durch die Darmwand wieder
umgesetzt, oder richtiger gesagt synthetisch aufgebaut zu Plasma-
eiweiB. Bei dieser Synthese, wenigstens beim Ueberbringen der
Albumose durch die Darmwand, spielen hochstwahrscheinlich die
weiBen Blutkorperchen eine bedeutende Rolle (Hoffmeister). Wenn
nun dieser Aufbau von EiweiB gestort wurde und also die Albumose
als solche in die Blutbahn kam, so wiirde damit die Moglichkeit
einer ernsten chronischen Vergiftung geschaffen sein.
Da nun Albumose aus alien moglichen EiweiBen entsteht,
sowohl tierischen als pflanzlichen, und die ersten wohl vollkommen,
die zweiten jedoch nur sehr unvollkommen ferngehalten werden
konnen, so sind hieriiber keine beweiskraftigen Versuche zu machen.
Dennoch schien es moglieh. wenigstens etwas liber die Wahrschein-
lichkeit einer eventuellen Albumosevergiftung zu erfahren: Einige
Patienten wurden auf Diat gesetzt, wobei tierische EiweiBe voll¬
kommen, und die pflanzlichen so gut wie moglieh ferngehalten
wurden (viel Blattgemuse, viel saftige Friichte, Fette, Reis, Kar-
toffeln, GrieBmehl usw.: eine solche eiweiBarme Diat schien bei
bettlagerigen Patienten wahrend geraumer Zeit sehr gut moglieh,
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6 o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsia. 139
ohne daB irgendein Gewichtsverlust eintrat; aUein iiber Eintonig-
keit wurde geklagt). Doch auch hierbei war von irgendeineni
positiven Ergebnis nicht die Rede: es zeigte sich nicht die mindeste .
Verbesserung in den Erscheinungen. Diese Tatsache, namlich daII
eine eiweiBreiche Nahrung durchaus keine weiteren Erscheinungen
hervorruft als eine Ernahrung, die so arm wie moglich an Ei-
weiBen ist, laBt doch die Annahme einer Vergiftung durch Cholin
oder Neurin, als auch durch Albumose mindestens sehr unwahr-
scheinlich werden.
SchlieBlich werden auch einige Patienten auf reine Milchdiat
gesetzt; Vollmich enthalt immerhin nur 314 pCt. EiweiB (Ham-
mersten), und auBerdem hatte Wislocki besonders giinstige Ergeb-
nisse mit dieser Diat erhalten; wir kamen jedoch zu derselben
SchluBfolgerung wie Bregmann, namlich daB auch eine strong
durchgefiihrte Milchdiat keinen deutlichen EinfluB auf die epilep-
tischen Symptome ausiibt. Auch Schlo/l fand nichts bei der iiber-
wiegenden Milchnahrung (laktovegetabilische Diat); bei seinen
Untersuchungen kam es selbst vor, daB in der Periode der starkeren
Fleischemahrung weniger Anfalle vorfielen als in der Milchdiat.
Und auch bei Alt, der eine Reihe Versuche bei Kindem machte,
ergab sich, daB 3 Patienten sich bei Fleischnahrung am besten
befanden, wahrend bei anderen wieder bei Milchnahrung Ver¬
besserung eintrat. Dagegen hatten 4 Kinder mit reiner Milch¬
nahrung in dieser Periode eine erhohte Anzahl von Anfallen; nicht
mit Unrecht schreibt Alt dieses der bei diesen bestehenden hart-
nackigen Stuhlverstopfung und der dadurch verursachten Indi-
kanurie zu. Durch die sehr abweichenden Resultate sind die Ver¬
suche von Alt wertlos fur die Feststellung irgendeines Einflusses
der Diat. Man kann im Gegenteil aus seinen Versuchen lernen,
daB die Diat iiberhaupt keinen EinfluB hat, wofern man nur
dafiir sorgt, alle moglichen Magen-Darmstorungen zu vermeiden.
l T nd da gerade Kinder so leicht Darmstorungen mit Acetonamie
als Folge zeigen, so miissen diese Diatversuche vor allem nicht
bei Kindern genommen werden.
Sub c) Die salzlose (salzarme) Diat. Diese Methode, durch
Toulouse und Richet zuerst beschrieben, kommt, wie als bekannt
vorausgesetzt werden kann, darauf hinaus, daB alle Nahrung dar-
gereicht wird ohne Beigabe von Kochsalz, so daB der Organismus
also kein anderes Chlomatrium erhalt, als in jeder pflanzlichen
oder tierischen Zelle vorhanden ist (auch Milch enthalt Koch¬
salz); femer wird 3—5 g Brom gegeben. Dabei kann man dann
sowohl eine reine Milchdiat als eine laktovegetabile Diat und selbst
eine Fleischdiat anwenden. Wie Toulouse und Richet zeigen.
waren die Ergebnisse glanzend und ohne Zweifel der Salzenthalttuig
zuzuschreiben; denn wurde wieder die salzenthaltende Diat ge¬
geben, so kamen die Anfalle schnell wieder zum Vorschein. Auch
viele andere Forscher (Gordon, Roux, Bouman, Lortat, Jacob,
Balint u. A.) haben diese giinstigen Ergebnisse bekraftigen konnen,
einige andere, z. B. Helmstddt, sahen nur negative Erfolge. DaB
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140 B o 1 t e n . Pathogenese und Therapie der genninen Epilepsie.
nun jedoch diese guten Resultate. deren Vorhandensein wohl nicht
bezweifelt werden kann, der Koehsalzenthaltung als solcher
. zugeschrieben werden miissen, ist sicherJich unriehtig. Gleichwohl
hat sich aus den ausfiihrlichen Stoffwechseluntersuchungen von
Hoppe , Laudenheimer u. A. ergeben. daB sich die Halogenen im
Organismus zu einem groBen Teile gegenseitig ersetzen konnen.
Gibt man namlich einem Patienten. der bis dahin niemals Brom-
salz gebraucht hat, Brompraparate, so wird die taglich zugefiihrte
Menge nicht ganz wieder ausgeschieden, doch es bleibt ein Teil
da von im Organismus zuriick, und es bildet sich dann ein sogenann-
tes Bromdepot". Erst wenn dieses Depot seinen Maximalwert,
der sehr groBen individuellen Sehwankungen unterworfen ist,
erreicht hat, wird das eingegebene Brom wieder in derselben
Menge ausgeschieden. Nun fanden genannte Forscher, daB das
Bromdepot sich viel schneller und zu einem groBeren Maximum
bildet, wenn Kochsalz dem Korper entzogen wird (was durch
Verminderung -der Zufuhr von Kochsalz geschah; die Aus-
scheidung davon blieb dann noch einige Zeit konstant, und in-
zwischen verarmt der Organismus stark an Kochsalz). DaB in
der Tat die Halogenen einander verdrangen, wird ganz deutlich
durch die Tatsache bewiesen, daB ein Patient mit bereits gebildetem
Bromdepot, der in salzarmer Diat lebt, plotzlich eine groBe Menge
Brom ausscheidet (und darum wieder viel mehr Anfalle bekommt),
wenn man die salzarme Diat unterlaBt und wieder die gewohnliche
Menge Kochsalz (8—10g) mit dem Essen gibt. Tn alien moglichen
Korpersaften, u. a. auch im Magensaft, scheint das Brom das
Chlor verdrangen und ersetzen zu konnen.
Aus obenstehendem ergibt sich bereits sehr deutlich, daB die
Absicht der salzarmen Diat behandlung nach Toulouse und Richet
durchaus nicht ist, den Organismus an Kochsalz verarmen zu
lassen, sondern daB es nur dazu dient, die Brombehandlung
intensiver zur Wirkung zu bringen.
Um nun den EinfluB der salzlosen Diat zu erforschen (ohne
hinzugefiigtes Kochsalz), wurde eine Reihe Patienten dieser Diat
unterworfen, ohne gleichzeitig Brom zu verabreichen. Das Resultat
war vollkommen nihil, selbst als die Behandlung monatelang fort-
gesetzt wurde; wohl wurde, wie von den meisten Forschern, eine
Verbesserung gesehen bei der salzarmen Diat kombiniert mit
Brombehandlung. Da der Zweck der hier beschriebenen Versuche,
die zusammen 7 Jahre in Anspruch genommen haben, war,
zu versuchen, die Pathogenese der Epilepsie festzustellen, um
dadurch zu einer spezifischen Behandlung zu gelangen, wurde
mit diesem symptomatischen Heilmittel nicht weiter experimen-
tiert; immerhin vermindern Bromsalze die Empfindlichkeit der
Gehimrinde und konnen dadurch zur Bestreitung des Symptomes
,,Anfalle" (welcher Art und welchen Ursprunges auch) beitragen.
haben jedoch iibrigens auf den Verlauf der Krankheit ,,Epilepsie"
nicht den geringsten EinfluB. Auch van der Kolk teilte bereits
die vollkommen negativen Ergebnisse der salzarmen Diat als
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B o 1 t e n . Pathogenese unci Therapie der genuinen Epilepsie. 141
soldier (also ohne Beigabe von Bromsalzen) mit; nun konnte
man vielleicht den Einwurf machen, daB das Material van der Kolks
weniger geeignet fiir derartige Versuche war, da es ausschlieBlich
Irrenhauspatienten betraf, also chronische Epileptiker, die bereits
an einer ernsten Psychose erkrankt waren, und wo also allerlei
sekundare anatomische Abweichungen im Gehirn zu finden sein
muBten. Diese Bemerkung gilt jedoch nicht fiir meine Patienten,
da ich diese Versuche ausschlieBlich machte bei Epileptikern, die
noch keinerlei psychische Storungen zeigten.
Mit groBer Sicherheit kann denn auch festgestellt werden,
daB Epilepsie ganz entschieden nicht beruht auf einer auBer-
gewohnlichen Anhaufung von Kochsalz im Organismus, sei sie
nun gepaart mit einer (angeborenen) Intoleranz dagegen oder nicht.
Ob nun die Darreichung sehr groBer Mengen Kochsalz zu der
sehr groBen Gruppe von Faktoren, die eine Summation toxischer
Reize verursachen konnen, gehort, lasse ich hier unentschieden;
wahrscheinlich erachte ich dies in jedem Falle jedoch nicht.
Sub d). Verschiedene Wahrnehmungen und AeuBerungen
anderer Forscher lieBen vermuten, daB auf dem Gebiete der so-
genannten ..Driisen mit interner Sekretion £< funktionelle Ab¬
weichungen festgestellt werden konnten. Ohlmacher hat ja in einer
Reihe wichtiger Mitteilungen darauf hingewiesen, daB bei der
Leichensehau einer groBen Anzahl Epileptiker oft der sogenannte
,.Status Iymphaticus“ angetroffen wurde, d. h. starke Hyperplasie
des lymphoiden Gewebes und der Lymphfollikel im Darmkanal
und in der Milz, VergroBerung der Lymphdriisen an vielen Stellen,
Hyperplasie der Arterienwande und dadurch entstandene Ver-
engung des Lumens (vor allem der Aorta), persistierender Thymus
usw. das eine und das andere oft kombiniert mit rachitischen
Abweichungen. Auch Volland fand bei der Sektion von 102
Epileptikern 24 mal einen persistierenden Thymus und auch ofter
eine enge Aorta, aber nicht die Hyperplasie der iibrigen Arterien.
Laut dieser Tatsachen schien also die Moglichkeit gegeben,
daB Epilepsie eine Vergiftung sein konnte, die entstanden sei
durch Hykersekretion des (bleibenden) Thymus, um so mehr
als dieses Organ nachweisbare Mengen Adenin, der giftigsten aller
Purinbasen, enthalt. Ein vorsichtiger Versuch unter Anwendung
dieses Organs lag also auf der Hand. Um dabei nun die Wirkung
des Magensaftes auszuschlieBen, wurde stets gepreBter Saft frischer
Organe gebraucht (denn Thymus, in den Magen gebracht, wirkt
durchaus nicht giftig). Dieser frische PreBsaft wird nun erst in
sehr kleinen, dann in stets steigenden Mengen einer Anzahl Epi¬
leptiker rektal eingegeben. Dabei ergab sich nicht die allermindeste
Verschlimmerung eines oder mehrerer epileptischer Symptome;
auch auf den Puls fand nicht die geringste Einwirkung statt. Auch
von den Nebennieren mit dem blutdruckerhohenden Produkt,
dem Adrenalin, konnte vielleicht noch einiger EinfluB in der hier
gemeinten Richtung erwartet werden. Darum wurden dieselben
Versuche mit frischem PreBsaft von Nebennieren wiederholt.
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142 Bolten, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
Hierbei ergab sich allein, daB der Nebennierensaft sowohl einen
zusammenziehenden EinfluB auf die glatten Muskeln des Darmes
als auch auf die der BlutgefaBe ausiibt, so daB, wenn der PreBsaft
nur wenig verdiinnt eingegeben wurde, alle Patienten ohne Aus-
nahme sehr bald nach der Einspritzung Krampf zeigten, so daB
sie die Flussigkeit nicht bei sich behalten konnten; wurde dieselbe
Menge stark verdiinnt angewendet, so fand die Resorption unge-
stort statt. Auch bei dieser Reihe von Versuchen war von irgend-
einem EinfluB auf die Erscheinungen der Epilepsie absolut nichts
zu sehen.
Damach wurden diese Versuche noch wiederholt mit dem
PreBsaft von beinahe alien Drusen mit intemer Sekretion (Hypo-
physe, Schilddriise,Epithelk6rperchen = Nebenschilddruse,Testikel,
Ovarium 1 ) und auBerdem mit dem PreBsaft der Leber, der Milz
und der Bauchspeicheldriise). Bei all diesen Versuchen, die, in
Reihen verteilt, jeder geraume Zeit fortgesetzt wurden, um nicht
auf zufalligen oder unbestandigen Ergebnissen weiter zu bauen,
konnte niemals festgestellt werden, daB einer oder mehrere dieser
PreBsafte, selbst in groBer Menge eingegeben, irgendeine Er-
scheinung der Krankheit verschlimmerte.
Sub e). Stellte es sich also aus den vorigen Reihen von Ver¬
suchen heraus, daB bei Epilepsie von einer Hyperfunktion einer
oder mehrerer Drusen mit interner Sekretion nicht die Rede
sein konnte, so ergab sich sehr schnell, daB bei dieser Krankheit
wohl eine Insuffizienz im Spiel ist. Wahrend Einspritzungen mit
den ubrigen frischen Saften nicht den geringsten EinfluB zum
Guten hatten, schien von der Zusammenfiigung von dem PreBsaft
der Epithelkorperchen (Glandulae parathyreoideae) und Schild-
driise eine sehr heilsame Wirkung auszugehen: einige Patienten
wurden nahezu unmittelbar, also beinahe vom Beginn der Be-
handlung an, ganz frei von Symptomen, bei anderen dauerte das
langer, bei einigen selbst sehr lange (z. B. 6—8 Monate), doch
bei alien Fallen von genuiner (essentieller) Epilepsie trat eine sehr
merkbare Verbesserung ein , wenigstens wenn noch keine sekundare
Dementia bestand. Diese Verbesserung war um so auffallender,
da es fast ausschlieBlich chronische Falle betraf, die bereits jahrelang
eine mehr oder minder kraftige Menge Brom gebrauchten, und die
beim Anfang meiner Behandlung sogleich jeden Bromgebrauch
unterlieBen. Wie allgemein bekannt ist und noch unlangst von
Jodicke bewiesen, bietet es groBe Gefahr, Epileptikern, die regel-
maBig Brom gebrauchen, jedes Brom plotzlich zu enthalten, da
T;ie dann oft in den gefiirehteten „Status epilepticus“ verfallen;
auch bei meinen Patienten waren zwei, deren Familien aus Er-
fahrung sehr gut wuBten, daB totale Enthaltung des Broms schnell
ganze Reihen Anfalle zur Folge hatte; doch ich habe diese Kata-
*) Fiir die regelmafiige und sehr lange fortgesetzte Uebersendung
dieser Organe bin ich den Direktoren des Leidener und Haager Gemeinde-
Schlachthauses groBen Dank schuldig.
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13 o 1 t e n . Pathogenese and Therapie der genuinen Epilepsie. 143
strophe niemals gesehen, obgleich jedes Brom sogleich und fur
gut verbannt wurde (siehe weiter bei der Krankheitsgeschichte).
Aus den erhaltenen Resultaten, die oft sehr iiberrascliend
waren (so wurden z. B. zwei Falle, wo die Krankheit resp. 10 und
5 Jahre bestand, und die beide sehr viele Anfalle hatten, schon
nach zwei Wochen ganz frei von Erscheinungen), steht wohl un-
umstoBlich fest, daB Epilepsie beruht auf einer Funktionsstorung
des Thyreoidenorgans (Schilddruse plus Epithelkorperchen); doch
ist diese Tatsache noch nicht gut zu reimen mit anderen klinischen
Befunden, so z. B. daB bei Cachexia strumipriva so gut wie niemals
Epilepsie vorkommt, und daB umgekehrt bei Epilepsie keine
myxodematbsen Abweichungen gefunden werden; vorlaufig weiB
ich dafiir nur diese Erklarung: Die Schilddruse bildet mit den
Nebenschilddriisen ein Organ, das sehr gewichtige. aber zugleich
auch sehr verschiedene Funktionen erfiillt: es muB a) den Organis-
mus von verschiedenen in die Zirkulation gelangten Giften befreien
und b) den Stoffwechsel regeln und dafiir einen bestimmten EinfluB
auf andere Organe ausliben; bei Epilepsie ist die unter a) und bei
Myxodem die unter b genannte Funktion gestort, Funktionen,
welche vielleicht an verschiedene Zellen oder an verschiedene
lnnervationen gebunden sind.
Vom Chemismus und der physiologischen Wirkung der Schild¬
druse und der Epithelkorperchen ist bis jetzt wenig mit Sicherheit
bekannt; daB ein unzweifelhafter Verband zwischen Tetanie und
Erkrankung der Epithelkorperchen besteht, darf wohl als fest-
stehend angesehen werden; um nicht zuausfiihrlich zu werden. sei
hier verwiesen auf die Untersuchungen von Walter , Hirsch , BiedL
Jtedlich u. A. Dieser letztere beschaftigte sich besonders mit den
Untersuchung der ihm personlich und aus der Literatur bekannten
Falle (im ganzen 72), wo Epilepsie und Tetanie gleichzeitig vor-
kommen.
Bekannt ist von der Schilddruse, daB sie Jod enthalt; wie sie
dazu kommt, ist mit Sicherheit nicht zu sagen, vermutlich stammt
all ihr Jod aus der Zirkulation her, denn Schilddriisen von Neu-
geborenen enthalten kein Jodium, und die Darreichung von
Jodsalzen bewirkt, daB der Jodgehalt der Schilddruse unmittelbar
zunimmt. Das aus der Schilddruse zu bereitende Jodothyrin oder
Thyreojodin scheint in der lebenden Schilddruse nicht vorhanden
zu sein, doch ein Umsatzprodukt des durch Oswald entdeckten
,,Thyreoglobulin*das zu der Gruppe der Globulinen gehort {Oswald
fand auch zugleich in der Schilddruse ein Nukleoproteid, das
kein Jod enthalt). Vielleicht ist dies Thyreoglobulin der St off,
welcher, wenn er in ungeniigendem MaBe abgeschieden wird, die
epileptischen Erscheinungen hervorruft, da er (ware es auch nur
in der Umsetzung ,,Thyreoidin £< ) laut Untersuchungen von Frohner
und Hoppe die Ausscheidung der stickstoffhaltenden Stoffwechsel-
produkte sehr befordert. Und es sollte also moglicherweise ein
unbekanntes, giftiges N. enthaltendes Stoffwechselprodukt nicht
geniigend eliminiert werden und somit AnlaB geben zur epileptischen
Monateschrlft f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. ITeft ?• 10
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144 B o 11 e n , Patliogenese und Therapie der geiiuinen Epilepsie.
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Intoxikation. Doch viele andere Annahmen sind moglich. So fand
Frankel in der Schilddriise einen weiBen, kristallinischen, schwach
neutral reagierenden, sehr hygroskopischen Stoff, dem er die
entgiftende Wirkung der Schilddriise zuschrieb, und den er dann
sogleich auch mit dem vielsagenden Namen ,,Thyreoantitoxin“
taufte. 1st nun bei Epilepsie die Abscheidung dieses Thyreo-
antitoxins erniedrigt, und werden dadurch zu wenig Toxine
eliminiert ? Auch nach dieser Richtung wurden Versuche unter-
nommen. Prof. Pekelharing in Utrecht war so freundlich, 2% g
dieses Stoffes fiir mich herzustellen; diese Menge kommt mit 1 kg
Schilddriisen iiberein (wohl geht bei der Reinigung dieses kristal¬
linischen, nicht leicht rein zu bereitenden Stoffes etwas verloren,
so daB wohl etwas mehr als 2 1 2 g aus 1 kg Schilddriisen herzustellen
sein konnten, doch in jedem Falle enthalt die Schilddriise noch kein
halbes Prozent dieses Stoffes, so daB von dem chemisch reinen-
Produkt sicherlich eine sehr starke Wirkung ausgehen miiBte, wenn
mindestens gerade daran ein Zukurz bestand). Aus den Versuchen
mit ,,Thyreoantitoxin“ konnten keine deutlichen Folgerungen
gemacht werden, da die mir zur Verfiigung stehende Menge nicht
groB genug war, um eine lang fortgesetzte Probe in Reihen machen
zu konnen; der globale Eindruck war jedoch, daB ,,Thyreoanti-
toxin“ viel weniger wirksam war als der von mir angewendete
frische PreBsaft von Schilddriisen und Nebenschilddriisen. Frankel
meldet noch, daB er sein ,,Thyreoantitoxin“ als ,,den“ Haupt-
bestandteil der Schilddriise ansieht, weil er nach einer Darreichung
eine Pulsbeschleunigung und Abmagerung eintreten sah; dieser
Beweis ist natiirlich sehr schwach, und er sollte in jedem Falle
mehr dafiir sprechen, daB ,.Thyreoantitoxin“ der Stoff war, der
die Herztatigkeit und den Stoffwechsel regelte, als der Stoff, der
verschiedene Gifte aus der Zirkulation unschadlich machen muBte;
iiberdies liefert Frankel nicht die Spur eines Beweises fiir die wirk-
lich antitoxisehe Wirkung seines ,,Antitoxins". Spater hat Frankel
noch berichtet, daB Drechsel und Kocher in der Schilddriise zwei
Basen gefunden haben, deren eine identisch ist mit „Thyreo-
antitoxin"; auf die physiologische Wirkung geht er jedoch weiter
nicht ein. Doch auBerdem, daB die Schilddriise Stoffe abscheidet,
die die Herztatigkeit und den Stoffwechsel regeln, und wieder
andere, die entgiftend wirken, iibt sie auch noch einen wichtigen
EinfluB auf andere Organe aus, und zwar auf das chromaffine
System (Nebennieren) und die Bauchspeicheldriise. Nach Biedl
soli namlich die Schilddriise akzelerierend wirken auf das chrom¬
affine System, dagegen hemmend auf die Bauchspeicheldriise,
nach Juschtschenko befordert die Schilddriise die Bildung von
Fermenten, besonders von Nuklease und Katalase, wahrend auch
die antitryptische Wirkung des Blutes unter EinfluB der Schild-
driise zu stehen scheint. Wo also ein deutlicher Verband zwischen
Schilddriise und zahlreichen Enzymwirkungen im Gesamtkorper
zu bestehen scheint, da ist doch wohl die auBergewohnlich zu-
sammengesetzte Funktion der Schilddriise klar; ist diese gestort,
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Bolten, Pftthogeneee und Therapie der genuinen Epilepsie. 145
so ist auf dem Versuchswege festgestellt, daB EiweiB-, Fett- und
Salzstoffwechsel verzogert und gehemmt werden, doch ob dabei
von einer direkten Wirkung der Schilddriise oder wohl von einem
verminderten akzelerierenden EinfluB auf andere Organe (Leber,
Pankreas, Nebenniere) die Rede ist, liegt noch ganz und gar im
Dunkeln. Welcher der genannten Faktoren bei Epilepsie die Haupt-
rolle spielt, ist dann auch jetzt noch nicht einmal zu vermuten,
doch es darf dabei in jedem Falle nicht aus dem Auge verloren
werden, daB die Schilddriise sicherlich dafiir zu sorgen hat, daB
giftige Jodverbindungen aus der Zirkulation entfernt werden,
und daB also dadurch die Moglichkeit geschaffen ist, daB Epilepsie
auf einer Vergiftung von unzureichend eliminierten giftigen
(anorganischen) Jodverbindungen beruht.
Die Untersuchungen von Claude und Schmiergeld, obwohl sie
zu denselben Ergebnissen leiteten wie meine klinischen Versuche,
muBten doch vorlaufig angesehen werden als wenig beitragend
zur Pathogenese der Epilepsie; ihre Untersuchungen waren ja alle
von pathologisch-anatomischer Art und muBten also ebenso
getroffen werden durch das bereits angefiihrte Wort von Bouche:
,,La cause intime de la maladie, c’est a la physiologie qu’il faut
la demander, et non a l’anatomie“. In der Tat fanden Claude
und Schmiergeld bei einer Reihe von 17 Epileptikem, von denen
7 im Status epilepticus gestorben waren, zahlreiche Abweichungen
in den Driisen mit intemer Sekretion, vor allem in der Schild-
driise und in den Nebenschilddriisen, bestehend in groBeren oder
kleineren sklerotischen Herden, Abweichungen von der Colloid-
selbstandigkeit usw. („douze fois la structure de la glande etait
completement bouleversee"). Aus ihren Befunden schlieBen sie
auf eine „Hypofunktion“ der Schilddriise in vielen Fallen, doch
vorlaufig muBte man annehmen, daB die Funktion eines Organes
bis jetzt nur unzureichend aus einem mikroskopischen Praparate
herzuleiten ist. Dies gilt im besonderen von der Schilddriise, da
die colloide Selbstandigkeit wechselnd an Menge ist, was erklarbar
ist, da nach Oswald der Colloidgehalt der Schilddriise mitjihrem
Jodgehalt symmetrisch ist. Und nach Halliburton ist das Colloid
selbst das spezielle Abscheidungsprodukt der Schilddriise, so daB
auch aus diesen Griinden eine sehr wechselnde Menge davon zu
erwarten ist. Auch Levi meint denn auch. daB aus den Unter¬
suchungen von Claude und Schmiergeld keine feststehenden Fol-
gerungen zu ziehen seien, und daB aus mikroskopischen Praparaten
im besonderen nichts iiber die Funktion der lebenden Driise
hergeleitet werden kann; nach ihm bestatigen die Ergebnisse
von Claude und Schmiergeld denn auch allein die von Rothschild u. A.
beschriebene ,,instability thyr^oidienne 1 '. Doch es darf nichtjbe-
stritten werden, daB das regelmafiige Antreffen von sklerotischen
Herden, mit deutlich regressiven Veranderungen in den Epithel-
zellen einen Hinweis auf den Zustand der Driisenfunktion geben
kann. Und auBer der Bindegewebewucherung (Sklerose) fanden
Claude und Schmiergeld noch, daB die Schilddriise der Epileptiker
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146 B o 1 ten, Pathogene.se und Therapie der genuinen Epilepsie.
ill vielen Fallen kleiner als normal war. Auch kierin soil ein Hinweis
liegen konnen. Nach Wiener wurde jedoch die Schilddriise iiber-
wiegend innerviert vom Ganglion infimum sympathici aus: bei
Durchschneidung dieses Ganglions trat regelmaBig Atrophie der
Druse auf, mit gleichzeitiger Abnahme des Thyreoglobulingehalts
(das Ganglion supremum schien diesen EinfluB iiberhaupt nicht
zu besitzen). Sollte nun vielleicht die Hypofunktion der Schild-
driise und der Nebenschilddriise auf einer primaren Storung ini
Ganglion infimum sympathici beruhen ? Eine Antwort auf diese
Frage ist vorlaufig absolut nicht zu geben; das Studium der Lebens-
verrichtungen dieser wichtigen Unterteile des zentralen Nerven-
systems gehort, wenigstens beim Menschen, noch zu den totalen
Unmoglichkeiten; selbst konnte ich in der Literatur nirgends
einen Bericht liber die pathologisch-anatomischen Abweichungen
in diesem Ganglion antreffen, die bei Epilepsie oder welcher Krank-
heit auch gefimden worden sind. Sicher ist wohl, daB das Suchen
in dieser Richtung, namlich in der Schilddriise, den Epithel-
korperchen und ihren Nervenzentren, an erster Stelle durch den
Physiologen, doch auch durch den Patholog-Anatomen in nachster
Zukunft weit befriedigendere Ergebnisse liefern werden, als das
endlose Ausklauben sekundarer Veranderungen, die nach sehr
lange bestehender Intoxikation, welche zur Dementia gefiihrt hat,
in der Gehirnrinde auftreten.
Eine gleichfalls noch vollkommen offene Frage ist, was nun
eigentlich an der Funktion der Schilddriise fehlt; als sicher miissen
wir annehmen, daB die Funktionsstorung nur teilweise ist, denn
bei den vielen Tausenden Epileptikern, die bereits eingehend wahr-
genommen sind, sind nur , r eltenErscheinungen festgestellt, die in das
Kader von Myxodem passen. Ist die Abscheidung von Colloid
unzureichend ? An diese Moglichkeit ist sicherlich zu denken,
da nach Hirsch das Vorhandensein von Jod und von Colloid
vollkommen parallel laufen: nur Driisen, die Colloid bilden, ent-
halten Jodium, und mit dem Jodiumgehalt der Schilddriise steigt
gleichfalls der Colloidgehalt. Vermutlich hat die Schilddriise diese
doppelteFunktion: SienimmtdievergiftendenJodiumverbindungen
(anorganische ?) aus der Zirkulation und bindet diese an EiweiB-
stoffe (Thyreoglobulin), und dieser neugebildete Stoff hat wiederum
die Funktion, die Ausscheidung der stickstoffhaltenden Stoff-
wechselprodukte zu beforderri. Eine Storung in der Colloidbildung
wiirde also ohne Zweifel Storungen in der Haushaltung unseres
Organismus nach sich ziehen. Doch es ist noch mehr: Nach Frankel ,
Biedl y Hammersten u. A. enthalt die Schilddriise und wohl speziell
das Colloid auBer Stoffen aus der Xanthingruppe (u. a. Xanthin
und Hypoxanthin) auch Cholin und Leucin und auBerdem Thyreo¬
globulin, Thyreoproteide und Thyreoantitoxin. Welche dieser Stoffe
kommen nun zu wenig bei der Epilepsie vor ? Auf diese Fragen
miissen ebenso viele Antworten noch gegeben werden; wie bereits
gesagt, bekam ich nicht den Eindruck, daB Thyreoantitoxin
(Frankel) der Stoff ist, an dem ein Zukurz bestehen sollte; auch
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B o 1 t e n , Pathogenese and Therapie der genuinen Epilepsie. 147
bekam ich den Eindruck (doch mehr als ein Eindruck war es auch
nicht, da ein eventueller Beweis nicht zu liefern ist), daB wohl noch
von einem oder mehreren Fermenten die Rede sein konnte. Denn
ich erhielt die feste Ueberzeugung, daB die Darreichung per os
von getrockneten Schilddriisenpraparaten sowohl als von frischen,
oder von frischem PreBsaft viel weniger gute Folgen hatte als
das rektale Darreichen des frischen PreBsaftes. Moglicherweise
enthalt dies letztere nun Fermente, die beim Trocknen und auch
durch die Salzsaure des Magens vernichtet werden.
DaB bei Epilepsie die Schilddriisenfunktion gestort ist, wurde
auBer durch die Verminderung und das Verschwinden aller auf
die Epilepsie zuriickzufiihrenden Erscheinungen auBerdem wahr-
scheinlich gemacht durch folgende Wahrnehmungen: 1. Selbst
bei der Darreichung groBer Mengen frischen PreBsaftes wurden
Abmagerung und Pulsbeschleunigung niemals wahrgenommen,
wahrend beide Erscheinungen stets auftreten beim inneren Ge-
brauch getrockneter Schilddriisenpraparate und Frankel sie auch
sah nach Gebrauch seines Thyreoantitoxins. 2. Bei alien Patienten
trat eine mehr oder minder deutliche Verbesserung des Stuhlganges
ein; wie bekannt ist, gehort auch Verstopfung zu den Erscheinungen
des Hypothyreoidismus, und 3. traten in Fallen von Epilepsie
bei jungen Kindem, auBer Verminderungen der Anfalle, auch
Verbesserungen im Wachstum, im Zahnen und im Intellekt auf.
Dagegen konnte ich niemals feststellen den ReizeinfluB, der
nach Biedl von der Schilddriise auf den Sympathicus ausgeiibt
wird (nach dem Fortfall der Schilddriisenfunktion trat eine ver-
minderte Wirkung des Sympathicus ein, der sich in verminderter
Zirkulation und trophischen Storungen auBerte). Vermutlich ist
also bei Epilepsie die Hypofunktion der Schilddriise nicht groB
genug, um die akzelerierende Wirkung auf das sympathische
System gleichfalls fortfallen zu lassen.
DaB inzwischen von der Biochemie der Schilddriise noch
wenig mit Sicherheit bekannt ist, und daB auch hier noch viele
Widerspriiche und ungeloste Fragen bestehen, wird wohl durch den
Fund von TschiJcste gezeigt; er fand im Colloid der Schilddriise
ein Nukleoproteid, das (wenigstens bei einem Patienten, der an
Morbus Basedowii litt) zu Stickstoff- und Phosphorretention
AnlaB gab. Dies wiirde dann gerade das Gegenteil sein von dem,
was bis jetzt allgemein angenommen wurde, namlich, daB der
jodiumenthaltende Teil des Colloids, also das Thyreoglobulin, die
Macht hat, die Ausscheidung der stickst off enthalt enden Stoff-
wechselprodukte zu befordern. Auch Tschiksle erwahnt die Mog-
lichkeit von Fermenten.
Es scheint, daB verschiedene Stoffe und Gifte die Wirkung
der Schilddriise erhohen konnen; immerhin muB diese Moglichkeit
angenommen werden. Auf diese Weise konnte die giinstige Wirkung
zu erklaren sein, die Gelineau erzielte durch Darreichung von Brom,
dem Picrotoxin zugefiigt war. Vielleicht beruht auch die Wirkung
vonCobragift auf einer derartigenakzelerierendenWirkung: Facken -
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148 Bolten. Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
heim meldet, daB der amerikanische Arzt Self, der an Epilepsie
litt, durch den BiB einer Klapperschlange von dieser Qual ge-
nesen sein sollte, und d&BSpangler, auch ein amerikanischer Kollege,
in 11 Fallen sehr gute Resultate erzielte mit einem aus Schlangen-
gift verfertigten Pulver. Fackenheim wiederholte die Versuche
Spanglers und erzielte gleichfalls gute Ergebnisse. Es muB jedoch
bezweifelt werden. ob diese Methode sich als stichhaltig heraus-
stellen wird.
Ferner steht wohl fest, daB Tuberkulose einen giinstigen
EinfluB auf Epilepsie ausiiben kann; verschiedene Schriftsteller
( Raviar , Leuridan u. A.) melden, daB die epileptischen Erscheinun-
gen teilweise und selbst ganz unter dem Einflusse verschiedener
infektioser Prozesse, u. a. Tuberkulose. verschwinden konnen.
Ich selbst kenne drei Falle schwerer Epilepsie, die alle vor dieser
Qual unbehandelt geblieben sind, doch deren epileptische Er-
scheinungen die letzten Jahre ihres Lebens (sie starben ziemlich
jung), als sich ernste Lungentuberkulose entwickelt hatte, voll-
kommen wegblieben. Dagegen teilen einige andere Forscher mit,
daB Typhus gerade einen besonders ungiinstigen EinfluB auf den
ferneren Verlauf einer bestehenden Epilepsie hat. Vorlaufig ist
es vollkommen unmoglich, eine Erklarung fiir dieseWahrnehmungen
zu geben; wirken bestimmte Toxine (Tbc. u. a.) akzelerierend
auf die Schilddriise oder auf das Ganglion infimum sympathici ?
Typhus dagegen gibt AnlaB zur Meningitis und diese wiederum
zu epileptischen Symptomen, bzw. zur Verschlimmerung schon
bestehender Epilepsie.
Vielleicht wird der Einwurf gemacht werden, daB die Er¬
gebnisse der chirurgischen Behandlung der Epilepsie gegen deren
toxamischen Ursprung sprechen. In Wirklichkeit sprechen sie
jedoch stark dafiir, da die Ergebnisse bei der echten (essentiellen)
Epilepsie ungefahr nihil sind, dagegen oft sehr befriedigend bei
allerlei Formen der Rindenepilepsie. Ohne Zweifel muB denn
auch ein groBer Teil der Falle, von denen die Chirurgen bezeugen,
daB sie sehr gute Resultate sahen der operativen Behandlung
bei „Epilepsie“, bei der symptomatischen (Rinden-) Epilepsie
untergebracht werden. So muBten die Falle, die durch Anton
beschrieben sind. und wobei oft durch chirurgische Behandlung
bedeutende Verbesserung und selbst Heilung erzielt wurde, aus-
schlieBlich zu der sogenannten traumatischen Epilepsie (subdural
Hamatom, Knochensplitter in der Rinde, Duraverwundung usw.)
oder zu den sekundaren Rindenepilepsien nach Meningitis, bei
cerebraler Kinderlahmung, GehirnabszeB usw. gerechnet werden.
Bei der echten Epilepsie konnte durch Trepanation nur einige
Verbesserung, speziell beim Status epilepticus, erreicht werden.
Die mir bekannten Falle echter Epilepsie, die nach der Kocherschen
Methode operiert wurden, haben durch die Behandlung nicht die
mindeste oder geringste Besserung erfahren. Auch Buzzard halt die
operative Behandlung der echten Epilepsie fiir ,,immer fruchtlos“,
ohne weiteres. Doch ist dies letzte nicht ganz richtig: bei lange
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 149
bestehender Epilepsie, vor allem, wenn diese zu sekundarer De¬
mentia gefiihrt hat, findet man stets Oedem der Pia und Stauungen
der PialgefaBe, was sowohl post mortem als bei Operationen nach-
gewiesen ist (W. Alexander, Doberer und viele andere), und diese
Fliissigkeitsanhaufung gibt AnlaB zu erhohtem Druck auf die
Gehirnrinde und also leicht auch zur Verargerung der Erscheinun-
gen, mit Inbegriff der Dementia. Doberer, iiberzeugt, daB die Er-
gebnisse der JfocAerschen Operation wenig glanzend sind, schnitt
darum die Dura kreuzformig ein und bildete einen dauemden
Abfuhrkanal fiir die Cerebrospinalfliissigkeit in den DiploegefaBen;
das bleibende Ergebnis war dadurch besser, wenn sich auch heraus-
stellen wird, daB von wirklicher Heilung keine Rede sein kann.
Auch Krause, der dieses Problem in sehr ausfiihrlicher Besprechung
behandelt und alle Falle nicht-traumatischer Epilepsie zueinander-
fiigt (ist dies wohl eine erlaubte Zusammenfiigung ? Es gibt immer-
hin zahlreiche Formen der Rindenepilepsie, die nicht traumatisch
entstanden sind und doch nichts mit echter oder essentieller
Epilepsie zu tun haben), spricht von der Notwendigkeit, stets
zuerst das ,,primar krampfende Zentrum“ aufzusuchen; wohl
ein Beweis, daB die in der Tat guten Resultate, die er mitteilt,
iiberwiegend sich auf Falle von Rindenepilepsie beziehen, wahrend
die Resultate der .,Veritilbildung“ bei echter Epilepsie auf der
Verminderung der Stauung in der Arachnoidea und in dem Sub-
arachnoidealraum beruhen. - Horsley, vielleicht der meist erfahrene
Chirurg-Neurologe auf diesem Gebiete, achtet denn auch Indikation
zur Operation vorliegend in alien Fallen von Epilepsie, deren
idiopathischer Ursprung nicht unzweifelhaft feststeht. Weil geht
noch etwas weiter und nimmt m. E. den richtigen Standpunkt
ein, wenn er sagt, daB Operation kontraindiziert ist bei reiner,
echter Epilepsie.
Diese Befunde der Chirurgen sind einigermaBen ausfiihrlich
mitgeteilt, um zu zeigen, daB Bregmann und die vielen anderen,
die seine Meinung teilen, vollkommen Unrecht haben, wenn sie
sich auf die Ergebnisse der chirurgischen Behandlung berufen zur
Unterstiitzung ihrer Auffassung iiber den rein cerebralen Ursprung
der echten Epilepsie.
Behandlung und Krankheitsgeschichten.
Aus der durch Versuche mit Sicherheit festgestellten Tatsache.
daB namlich Epilepsie eine Vergiftimg mit normalen Stoffwechsel-
produkten ist, die durch Hypofunktion der Schilddriise und der
Nebenschilddriisen nicht geniigend entgiftet wurden, folgt die Be¬
handlung von selbst; man fiille bei dem Patienten das Zuwenig
an, und um dies so vollkommen wie moglich zu tun, wurde stets
frischer PreBsaft angewendet. Dabei fiel sogleich auf, daB es bis
jetzt immer unmoglich erschien, vorher eine Dosierung festzu-
stellen; hierbei ergab sich, daB sehr groBe individuelle Unterschiede
bestehen, so daB der eine mehr notig zu haben schien als der
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150 B o l t o n . Patliogenose und Therapie dor genninen Epilepsie.
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andere; merkwiirdig war hierbei, daB das offensichtliche Zuwenig
an Schilddriisensekret nicht in einem nachweisbaren Verhaltnis
steht zu der Heftigkeit und der Art der klinischen Erscheinungen.
Bei der Behandlung muBte also jeder Patient als auf sieh selbst
stehender Fall betrachtet werden, und es muBte auf dem Versuchs-
wege festgestellt werden, welche Menge des PreBsaftes fur ihn die
giinstigsten Folgen hat. Wie bereits gesagt ist, wurde das Mittel
stets rektal dargereicht, um eine eventuelle schadliche Wirkung
der Salzsaure des Magens auszuschlieBen, mit in Verband mit dem
moglichen Vorhandensein von Fermenten.
In alien Fallen, wo noch keine deutliche sekundare Dementia
eingetreten war, trat durch die Behandlung eine sehr gewichtige
Besserung resp. ein vollstandig gelungenes Verschwinden der
Erscheinungen ein. Ein zweiter Faktor, der sich vorher durchaus
nicht berechnen, ja selbst annahemd nicht einmal schatzen lieB,
ist die Zeit, die notig ist, um eine deutliche Verbesserung zu er-
reichen; in manchen Fallen, die aus verschiedenen Griinden doch
sicherlich nicht zu den leichtesten gerechnet werden konnten
(bereits mehrjahriges Bestehen der Erscheinungen, viele bezw.
schwere Anfalle), trat die Verbesserung wunderbar rasch ein —
so daB diese Besserung anfanglich mit groflem Argwohn angesehen
wurde —, da in den genannten Fallen eigentlich vom Beginn der
Behandlung an alle Erscheinungen so gut als vollkommen wegblieben.
Dagegen forderten andere Falle, die sich augenscheinlich viel
leichter ansehen lieBen, bisweilen viel mehr Zeit; so dauerte es in
einem Falle beinahe 7 Monate, ehe sich eine merkbare Besserung
einstellte; diese war aber dann auch sehr ins Auge springend und
hielt bis jetzt an. Aus dieser Tatsache, daB namlich die so ge-
wiinschten Resultate wohl einmal ziemlich lange auf sich warten
lassen, ist zu erklaren, daB in nicht so seltenen Fallen der Patient
die Kur unterbrach: es scheint nun einmal, daB des Menschen
Geduld in vielen Fallen nicht groB ist; die hier gemeinten Patienten
achteten w r enigstens — und das zumal noch bei ganz kostenloser
Behandlung — ihre Geduld bereits iiberbelastet, wenn innerhalb
6 Wochen noch keine fiihlbaren Resultate erzielt waren. Auch in
anderer Hinsicht sind Tauschungen uns nicht erspart geblieben,
und zwar, weil es in nicht seltenen Fallen unmoglich ist, mit Sicherheit
die Diagnose zu stellen , und in Wirklichkeit erst die Leichenoffnung
dariiber vollkommene Sicherheit geben konnte. Ist namlich die
differentielle Diagnose zwischen Epilepsie und Hysterie, wenn sie
auch oft weit davon entfernt ist, bequem zu sein, bei klinischen
Wahrnehmungen wohl immer mit Sicherheit zu stellen, so ist
dies nicht der Fall in dem Dilemma: echte (essentielle) Epilepsie
oder Folge einer uberstandenen Meningo-encephalitis ? Wie bereits
gesagt ist, fand Marchand bei seinen Fallen von ,,Epilepsie 4 ‘ stets
eine Verwachsung zwischen Gehirnrinde und Pia mater, wohl ein
Beweis, daB er ausschlieBlich Falle von Meningitis auf den
Seziertisch bekommen hat, denn gerade in alien Fallen der echten
Epilepsie sind die Gehirnhaute immer vollkommen unversehrt.
Gck igle
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B o 1 t e u . Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 151
In Anbetracht der auBergewohnlichen Mannigfaltigkeit an
Meningitis im jugendlichen Lebensalter folgt hieraus die gewaltig
groBe Moglichkeit, die wir haben, eine verkehrte Diagnose zn
stellen, wenn wir nicht iiber eine sehr zuverlassige und eingehende
Anamnese verfiigen (und das ist bei Patienten aus der Volksklasse
sehr oft der Fall). Ich habe denn auch sehr viele Falle gehabt,
wo auf Grund langdauernder klinischer Wahrnehmung und durch
die Art der Erseheinungen, bei vollkommenem Fehlen von Herd-
symptomen, keine andere Diagnose gestellt werden konnte als
,,echte Epilepsie 44 , und wo doch an einem oder anderem Tage durch
zuverlassige anamnestische Tatsachen plotzlich die l T eberzeugung
kam, daB wir mit den Folgen einer alten Meningitis zu tun hatten.
Diese Tatsache hat bis jetzt zu sehr viel Verwirrung AnlaB gegeben.
So sagt z. B. kein geringerer als Oppenheim , daB ,,eine in der
Kindheit uberstandene organische Hirnkrankheit den AnstoB zur
Entwickelung der Epilepsie geben kann. Einige Forscher wie
Marie , Freud u. A. gehen selbst so weit, die Epilepsie generell auf
eine derartige organische Erkrankung der Hirnrinden zuriick-
fiihren zu wollen“ usw. Dies ist naturlich eine vollkommen unrichtig
Vorstellung der Vorgange: bei Gehirnrinden- und Gehirnhaut-
entziindungen tritt spater oft eine Krankheit auf, wobei auch
Anfalle sich einstellen, doch das ist dann eerebrale Epilepsie, die
nichts mit der genuinen oder essentiellen Epilepsie zu tun hat,
wobei allein als sekundare Erscheinung Abweichungen in cerebro
vorkommen konnen, aber nicht miissen. Es wird denn auch hohe
Zeit, daB eine scharfe Grenze gezogen wird zwischen der cerebralen
(Rinden-) Epilepsie undjder echten Epilepsie, zwei Krankheiten,
die auBerlich wunderbar einander gleichen, doch atiologisch und
pathogenetisch buchstablich nichts miteinander zu tun haben.
Tilmann hat darauf hingewiesen, daB die Unterscheidung in
allgemeine und partielle Krampfe nur sehr relativen Wert hat:
partielle Krampfe konnen ohne Herdlasion auftreten, und diese
letzten konnen auch allgemeine Krampfe geben. Jelgersma sagt
denn auch vollkommen mit Recht: ,,Ob die Gehirnrinde durch
Alkohol oder durch ein anderes Gift gereizt wird, oder daB der Reiz
durch einen pathologischen Herd im Gehim entsteht, tut zum
Effekt, dem epileptischen Insult, im Prinzip nichts.“ Auch Bins-
wanger weist darauf hin, daB ein ortlicher Reiz der Rinde zur
,,Ladung t£ der ganzen Rinde AnlaB geben kann.
In erster Linie liegen also wohl diese Schwierigkeiten: ab-
gesehen von den Fallen, wo ein oder mehrere Herdsymptome als
Hinwels fiir eine zu lokalisierende Erkrankung vorhanden sind,
kommt es sehr oft vor, daB jede Herderscheinung auf einmal
fehlt, und doch eine primare, diffuse Erkrankung der Gehirnrinde
oder der Gehimhaute (gewohnlich von beiden) vorliegt. Wiewohl
ich geraume Zeit versehiedene Falle klinisch habe wahmehmen
konnen, wo die Diagnose auf Grund der klinischen Erseheinungen
auf echte Epilepsie gestellt werden muBte, und wo sich spater
(anamnestiseh) herausstellte, daB eine alte Meningitis im Spiel
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152 Bolt-en, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
war, hat es mir nicht gelingen wollen, auch nicht durch Lumbal-
punktion und zytologische Untersuchung, irgendein brauchbares.
Differentialdiagnostikum festzustellen. Immerhin, es erschien
uns, daB die negativen Ergebnisse der Untersuchung der Cerebro-
spinalfliissigkeit darum eine friiher uberstandene Meningitis nicht
per se ausschlieBen.
Unter den 40 Patienten, die ich langer als drei Monate be-
handelte (abgesehen von denjenigen, die aus Mangel an Geduld
kiirzer unter Behandlung blieben), waren acht, von denen all-
mahlich angenommen werden muBte auf Gnrnd anamnestischer
Tatsachen, daB sie in ihrer friihen Jugend eine Meningitis resp.
eine Meningoencephalitis durchgemacht hatten, wahrend dies in
drei Fallen zweifelhaft, wenn auch wahrscheinlich war. In diesen
letzten drei Fallen hatten die Patienten in ihrer friihen Jugend an
,,Krampfe“ gelitten, doch es war nicht moglich, hinreichende
Angaben tiber Art, Dauer, Heftigkeit dieser Krampfe, Fieber und
andere Besonderheiten zu sammeln, so daB nicht mit Sicherheit
Meningitis angenommen werden konnte. Dagegen waren bei den
acht ersten Fallen allmahlich die notigen Criteria zusammenzu-
bekommen (plotzlich heftiges Krankwerden mit hohem Fieber,
Erbrechen, Nackensteifheit und Krampfe, die bisweilen viele
Stunden dauerten usw.). Bei diesen elf Fallen hatte die Behandlung
nicht den mindesten Erfolg, und dies ist natiirlich sehr leicht
erklarbar mit Riicksicht auf die anfanglich verkehrt gestellte
Diagnose. ^
Bei nicht weniger als acht Fallen trat sehr schnell eine sehr
merkbare und bleibende Besserung ein, die beinahe immer tiber-
einkam mit einem volligen Verschwinden der Erscheinungen.
1. G., Mann von 45 Jahren 1 ). Litt seit vielen Jahren an „Schwindel-
anfallen“ und seit 5 Jahren an Krampfanfallen, 2—5 in 24 Stunden, haupt-
sachlich des Nachts; ZungenbeiBen und unwillkiirliches Urinlassen sind
dabei Regel.
Hereditare Belastung: sein Vater war Potator strenuus. Behandlung
begonnen Anfang 1911. Hat seit diesem Zeitpunkt so gut vrie keine Erschei¬
nungen von Epilepsie mehr gezeigt.
2. S., junger Mann von 18 Jahren. Leidet seit ungefahr 10 Jahren
an Anfallen von ,,Petit mal“ und etwas kiirzer an Krampfanfallen; diese
letzteren kamen in den letzten Jahren auBerordentlich regelmaBig 1 oder
2 mal in einer oder zwei Wochen; dabei viele Anfalle von „Petit mal“.
Anfalle iiberwiegend des Morgens friih beim Anziehen. GroBe erbliche
Belastung: der Vater der Mutter war Potator, die Mutter ist Hysterica
und eine Schwester der Mutter Epileptica. Patient ist, mit zwei Briidern
und seiner Mutter, regelmaBig unter meiner Behandlung, alle wegen Nerven-
8torungen. Behandlung begonnen am 28. XII. 1910; seit d/iesem Datum
ist Patient so gut wie vollkommen frei von alien Erscheinungen seiner Krankheit
gewesen , wobei noch hinzukommt, daB sein Intellekt merkbar aufgeklart ist.
1 ) Um nicht zu ausfiihrlich zu werden, werden diese Krankhoits-
geschichten nur sehr verkiirzt gegeben. Darum sei hier mitgeteilt, daB von
alien zu meldenden Fallen die Diagnose ,,echte Epilepsie 4 * hinreichend fest-
steht, und daB namentlich Hysterie, organische Gehirnentzundungen und
die „Affekt-Epilepsie 44 von Bratz auszuschlieBen sind.
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 153
3 . K., Mann 35 Jahre. Seit ungefahr 5 Jahren von schweren Anfallen
geplagt; er ist bereits einmal ins Haager Krankenhaus im Status epilepticus
gebracht worden; zeigte danach einen langdauernden deliranten Traum-
zustand, der seine Aufnahme in eine Anstalt notwendig machte. Ist daraus
nach ca. 3 Monaten wieder entlassen. Vererbt: Vater Potator, Bruder des
Patienten ein Hysterisch-Irrsinniger.
Ist van Beginn der Bekandlung an frei von Erscheinungen geblieben.
4 . S., Mann, 34 Jahre. Hat seit 7 Jahren an Schwindeianfallenzu ieiden,
die Ursache waren, daB er aus seinem Dienst als Landgendarm entlassen
werden rauBte; spater sind auch Anfalle hinzugetreten, wobei ZungenbeiBen
und unwillkiirliches Urinlassen vorkamen. Ueber hereditare Momente ist
nichts bekannt. 1st vom Begirm der Bekandlung frei v>on Erscheinungen
geblieben .
5. H., Mann, 32 Jahre. Anfalle von Ende 1910 an; hatte im ganzen
10 Anfalle, bevor er in Behandlung k*m. Stammt au-i neuropathischer
Familie (Mutter und Bruder des Patienten sind sehr nervo^,) Anfalle mit
ZungenbeiBen, unwillkiirliches Urinlassen und starke Gyano3e. Beliandlung
begonnen Oktober 1911; seitdern keine E rscheinungen mehr gehabt.
6. B., Madchen, 28 Jahre. Anfalle vom 17. Jahre an, anfanglich jeden
Monat, und dann 6—8 hintereinander; allmahlich wurden die Anfalle zahl-
reicher und sehwerer, dabei waren der „Cri dpileptique“, ZungenbeiBen
und unwillkiirliches Urinlassen regelmaflig vorhanden. In den letzten
Jahren selten langer als 3 Tage frei von Anfallen; meist jede Naeht, gegen
Morgen, ein Anfall, gefolgt von schweren Kopfschmerzen. Ist nun drei
Monate unter Behandlung und in dieser Zeit so gut wie gam frei von Anfallen
gewesen.
7 . S., Mann, 25 Jahre. Anfalle seit einem Jahre, meistens des Nachts
und verbunden mit ZungenbeiBen und unwillkiirlichem Urinlassen, Neuro-
pathische Familie: Mutter sehr nervos. Bruder mit groBen psychischen
Defekten behaftet. Behandlung begonnen €im 26. X. 1911; seitdem frei
von Erscheinungen.
8. G., Madchen, 18 Jahre alt. Anfalle seit Jahren, anfangs mit langen
Zwischenpausen, die jedoch allmahlich kiirzer wiirden, so daB Patient in
in den letzten Jahren durchschnittlich einen Anfall per Woche hatte. AuBer-
dem jeden Tag, vor allem des Morgens beim Aufstehen und Ankleiden,
zahlreiche (5—25) kleine inotorische Entladungen, welche die Familie
„Zuckungen“ nannte, und wobei sie eine oder einige kraftige Zusammen-
ziehungen der Kopf-, Humpf- und Armmuskeln ausfiihrte. Hereditare Be-
lastung nicht vorhanden. Patient in gebrauchte viel Brom. Die Familie
wuBte, daB sie beim Aufhoren des Bromgebrauches unmittelbar ganze
Reihen Anfalle bekam. Behandlung begann Juli 1911; alles Brom wurde,
ebenso wie in alien anderen Fallen, sogleich unterlassen, und trotzdem hat
Patientin nur noch zweimal einen sehr leichtenAnfall gehabt, und es sind auch
die „Shocks“ schnell imd sehr stark vermindert.
AuBer diesen acht Fallen, bei denen die Ergebnisse auffallend
giinstig waren und sich bereits sehr schnell zeigten, waren 18, bei
denen die gewiinschte Verbesserung langer auf sich warten lieB,
und es waren 3—6 Monate notig, bevor eine unverkennbare Ab-
nahme der Erscheinungen eintrat. Doch dann wurde auch die
beiderseitige Geduld belohnt, und es kamen regelmaBig die ge-
wiinschten Veranderungen in der Form von Verminderung der
Anfalle, Schwindelzustande, Kopfschmerzen, wahrend oft in den
ersten zwei oder drei Monaten nicht die geringste Veranderung
oder Verbesserung zu spiiren war. Aus der Dauer der Krankheit.
der Art, der Mannigfaltigkeit und der Heftigkeit der verschiedenen
Erscheinungen konnte man von vornherein durchaus nicht be-
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154 B o 11 e n . Pathogenese und Therapie der genuincn Epilepsie.
stimmen, ob die Resultato lange Zeit auf sich warten lassen wurden
oder nicht. In einem Falle (Anfalle seit 8 Jahren nicht haufig,
bisweilen hintereinander lange Zeiten abgewechselt durch Aequi-
valente in der Form von Angstanfallen mit starken vasomotorischen
Storungen) dauerte es selbst ungefahr 7 Monate, ehe eine merkbare
Yerbesserung eintrat.
Dann waren vier Patienten, Kinder unter 6 Jahren; auf Grund
des beinahe unmerkbaren Beginnes ihrer Erscheinungen (Augen-
verdrehen, Starraugen, kleine tonieche Krampfe und Zuckungen)
und des langsamen Aergerwerdens bis zu vollkommenen Anfallen
konnte in alien vier Fallen die Diagnose ,,Epilepsie“ mit Sicherheit
gestellt werden. AuBer den Anfallen zeigten sie auch andere
Erscheinungen: leichtes Zurtickbleiben des Intellektes, Storungen
im Zahnen, Enuresis noctuma usw.; bei alien vier verschwanden
die Zufalle ebenso wie das Bettnassen, wahrend der Intellekt
merkbar klarer wurde und das Zahnen beschleunigt wurde.
Nur 2 von den gut 40 Patienten, die auf diese Weise behandelt
wurden (rektale Darreichung von frischem PreBsaft der Schild-
drlise und Nebenschilddrusen, ohne Anwendung von Brom oder
eines anderen Heilmittels), wurden nicht besser, trotzdem beide
beinahe zwei Jahre regelmaBig behandelt wurden (abgesehen von
den elf Fallen von Meningoencephalitis, die auch nicht heilten).
Doch bei beiden war be re its eine deutliche sekundare Dementia
aufgetreten; es muB also wohl als ausgemacht beschaut werden,
daB, wenn die Intoxikation bereits eine deutliche Randgliose usw. in
der Gehimrinde hervorgerufen hat, der weitere Verlauf der Krank-
heit nicht mehr aufzuhalten ist; hochstens kann gesagt werden,
daB der Zustand dieser Patienten sich nicht verschlimmerte.
Einige lose Bemerkungen mogen hier noch einen Platz finden;
ob Dipsomanie eine Aeusserimg periodischer epileptischer ,,Ver-
stimmung 44 ist, wie Kraepelin u. A. behaupten, konnte ich ex-
perimentell nicht nachgehen; w r ohl konnte ich feststellen, daB
Epilepsia tarda und echte Epilepsie pathogenetisch nichts mit-
einander zu tun haben: ich habe einen Kollegen, welcher an
,,Spatepilepsie <4 litt, ein voiles Jahr ,,antiepileptisch 4t behandelt,
jedoch ohne irgendeinen Erfolg. Auch w r ar es mir vergonnt, zwei
Falle der ,,Affektepilepsie“ von Bratz w r ahrzunehmen; da deren
Anfalle beim Aufhoren der emotiven Reize von selbst aufhoren,
war bei ihnen keine antiepileptische Behandlung anzuwenden.
Was die Pathogenese betrifft, so wage ich zu behaupten, daB als
Folge der Emotionen zeitliche funktionelle Storungen (GefaB-
krampf usw.) im sympathischen System auftreten und darum
eine verminderte Funktion der Schilddriise, die unter dem EinfluB
des Ganglion infimum nervi sympathici steht. Ist diese Erklarung
richtig, so besteht also mehr Verwandtschaft zwischen echter
Epilepsie und Affektepilepsie von Bratz , als man oberflachlich
hatte vermuten konnen; die erste stellt eine permanente Insuffizienz
der Schilddriisensekretion dar, vielleicht unter dem EinfluB von
Lasionen des Nervus svmpathicus, die zweite ist die Folge derselben
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B o 11 e n , Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie. 155
Storungen, die voriibergehend unter EinfluB starker Affekte
auftreten.
Was die Behandlung betrifft, so muB noeh bemerkt werden,
daB damach gestrebt wurde, die Wirkiing der Schild- und Neben-
schilddriise zu erhohen durch Hinzufiigung anderer frischer PreB-
safte (Nebenniere, Ovaria, Leber, Pankreas usw.), doch daB diese
erhohte therapeutische Wirkung ausblieb. Zwar beschreiben
Claude und Schmiergeld auch bestandige, degenerative Yer-
anderungen in den Ovarien, doch iniissen diese hochstwahrscheinlich
als von sekundarer Art betrachtet werden; ebenso wie die Ver-
anderungen im chromaffinen System, die von Carl beschrieben
sind bei Tetanus (Verminderung der Anzahl chromaffiner Zellen
in den Nebennieren).
Es sei hier noch mitgeteilt, daB meine Zahlen fiir die erbliche
Predisposition fiir Epilepsie hoher sind, als die meisten Forscher
sie angeben: unzweifelhafte hereditare Predisposition bestand in
85pCt. der Feile, in 5pCt. war sie zweifelhaft, wehrend in nur
lOpCt. keine erblichen Momente nachweisbar waren. Bei den
erblich Belasteten war fiir gut die Heifte der Feile die Ursache
fiir Epilepsie (das will sagen die indirekte Ursache) in der Trunk-
sucht eines Teiles der Eltern oder beider zu suchen; damach
kamen Psychosen oder Neurosen bei einem Teil der Eltern oder
bei beiden.
Zusammenfassend konnen wir aus unseren Untersuchungen
folgende Schlusse ziehen:
1. Echte oder essentielle Epilepsie ist eine Toxikose, die
(vermutlich) verursacht ist sowohl durch normale Zersetzungs-
produkte unserer Nahrungsstoffe als durch normale Stoffwechsel-
produkt^e unserer eigenen Zellen; die Art dieser Toxine ist noch
nicht festzustellen.
2. Diese toxischen Stoffe werden unzureichend neutralisiert
(oder eliminiert, umgesetzt) durch unzureichende Wirkung der
Schilddriise und der Nebenschilddriisen, der Organe, die das
zentrale Nervensystem gegen Toxine schutzen miissen.
3. Die Insuffizienz der Schilddriise und der Nebenschilddriisen
ist vielleicht auch wieder sekundar, \md zwar abhangig von Storun-
gen im Ganglion infimum nervi sympathici.
4. Die bei echter Epilepsie in der Gehimrinde gefundenen
Abweichungen sind entschieden nicht die Ursache der Krankheit,
sondem sekundar: sie werden durch die chronische Intoxikation
verursacht.
5. Echte Epilepsie ist in vielen Fallen klinisch nicht zu unter-
scheiden von symptomatischer Epilepsie infolge von Meningitis
(bzw. Meningoencephalitis); diese letztere ist oft nicht durch
Symptomatologie, sondern nur durch Anamnese oder Leichen-
offnung festzustellen.
6. Auch die Epilepsia tarda, wenn sie auch in den Erscheinungen
viel mit echter Epilepsie ubereinstimmt, hat mit der letzten, was
die Pathogenese betrifft, nichts zu tun.
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156 Bolton, Pathogenese und Therapie der genuinen Epilepsie.
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7. Echte oder essentielle Epilepsie ist sehr gut heilbar (d.
w. s. man kann den Patienten vollkommen frei von Symptomen
bekommen) durch rektale Einspritzungen mit frischem PreBsaft
der Schilddrus? und der N ebensehilddriise von Rindem.
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
K u t z i n s k i , Ueber die Beeinf lussung etc.
159
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„Stoffwechselimtersuchungen an Kranken mit epileptischen und epilepti-
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leptics. 44 The joum. of ment. science. 1907. S. 766. — Derselbe, „Some
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„Obduktionsbefund beim Tod im Status epilepticus. 44 Neurol. Zentralbl.
1898. S. 1063. — Derselbe, „Neuere Anschauungen liber die Bedeutung
der Autointoxikation bei der Epilepsie. 44 Miinch. med. Woch. 1898. No. 26.
— F. K. Walter , „Ueber den Einflufi der Schilddriise auf die Regeneration
periph. Nerven/ 4 Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 38. S. 1. — S. WeiU
,,Die operative Behandlung der Epilepsie. 44 Beitr. z. klin. Chir. 1910. Bd. 70.
S. 639.— H. Wiener , „Ueber denThyreoglobulingehalt der Schilddriise nach
experimentellen Eingriffen. 44 Arch. f. experimentelle Pathologie. 1909.
Bd. 61. S. 297. — Worcester , „Sclerosis of the cornu Ammonia in epilepsy. 4 *
Joum. of nerv. and mental disease. 1897. S. 288. — A. Ziveri , ,,Sur la
presence de la choline et du potassium dans le liquide cephalo-rachidien
et dans le sang des 6pileptiques. 44 Revue neurol. 1908. S. 671 (Ref.).
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite in Berlin.
JGeh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.])
Ueber die Beeinflussung des VorsteUungsablaufes
durch Geschichtskomplexe bei Geisteskranken.
Von
Dr. ARNOLD KUTZINSKI,
Assistent an der Nervenklinik der Charite.
(Fortsetzung.)
IV. Objektreaktionen.
Jung und Riklin haben als Pradikattyp diejenigen Formen
bezeichnet, bei denen die inneren Assoziationen gegeniiber den
sprachlich-motorischen vorherrschen und bei denen die Anzahl
der Pradikate durchschnittlich um das Doppelte die der Koordi-
Monatwchrift f. Psyohiatrie u. Neuroloffie. Bd. XXXIIL Heft 2. 11
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160
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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nationen iiberwiegt. Diese Autoren haben die Koexistenz und
Identitat zu den aufieren Assoziationen gerechnet. In der Ein-
teilung der Assoziationen habe ich meine Zweifel an der Be-
rechtigung dieser Spaltung naher prazisiert. Ich erinnere an die
fiir unsere Zwecke notwendige Forderung, daB wir die Reaktion
als das Resultat einer von der Versuchsperson sich selbst gestellten
Aufgabe betrachten. Fiir uns hat die Gegeniiberstellung innerer
und auBerer Assoziationsformen, wie es von Jung, Aschajfenburg u.A.
geschehen ist, keine Bedeutung, weil wir ja von den Versuchs-
personen eine Auskunft iiber die Qualitat nicht erlangen konnten.
Ich verweise auf unsere Trennung in Objekt- und Verbalassozia-
tionen. Gesondert wurden die Gefuhlsreaktionen beurteilt. Auch
die Tautologien sind selbstandig zu verwerten.
Ich habe mir nun die Frage vorgelegt, ob nicht durch den
Komplex die eine oder andere Reaktionsform verschiedentlich
beeinfluBt ivird. Zunachst konnte man ja eine Vermehrung der
Objektreaktionen erwarten, wenn die Annahme von Jung und
Riklin auch fiir Komplexe unserer Art zutrifft. Danach sollen
beim Pradikattyp infolge der groBeren Lebhaftigkeit des inneren
Bildes mehr gefiihlsbetonte Komplexe angeregt werden, als bei
anderen Typen. Diese Tatsache ist dahin zu variieren, daB bei
vermehrten Komplexreaktionen die Zahl der inneren — in unserem
Fall der Objektreaktionen zunimmt. Zu Vergleichszwecken ver¬
weise ich darauf, daB unsere Gruppe der Objektreaktionen
den groBten Teil der inneren und auBeren von Jung
und Riklin in sich begreift. Es kommen nur einzelne unerheb-
liche andere Reaktionsweisen, namlich Sprichworter, Zitate
und Worterganzungen in Fortfall. Diese Reaktionen sind mu
sehr sparlich vorhanden mid mit 2 pCt. der Gesamtzahl nicht zu
hoch veranschlagt, sie sind unter Verbalreaktionen zu rubrizieren.
FaBt man mit Vernachlassigung dieser Fehlerquelle die Werte
von Jung imd Riklin fiir ungebildete Frauen und Manner zu-
sammen, so findet man, daB bei ihnen di? Objektassoziationen im
Durchschnitt 96 pCt. ausmachen, bei uns schwanken sie zwischen
67,7 und 78,6 pCt. Die Differenz findet nicht in den ego-
zentrischen Reaktionen ihre Erklarung, wenn diese auch in alien
Versuchsreihen um 1—4 pCt. hoher ist, als bei den zitierten
Autoren. Es ware moglich, daB die zahlreichen Fehlerreaktionen,
deren Grenzzahlen 8,3 und 13,4 pCt. betragen, diese Unter-
schiede verursachten. Wie vielgestaltig die Deutung der hohen
Fehlerzahl ist, ist bereits hervorgehoben. DaB Schwierigkeit
und Langsamkeit der Auffassung des Reizwortes nicht die
Hauptursache der Fehler bilden, zeigen Tatsachen wie das Fehlen
von Ausfallsreaktionen bei Dammerzustanden oder der Kontrast
bei melancholischen Zustanden. Bei diesen treten trotz. gleicher
Stimmungslage bei der 1. und 2. Versuchsreihe 6,9 und 4,1 pCt.
Fehler auf, und in der 3. Versuchsreihe sind sie iiberhaupt nicht
vorhanden. DaB bei der i/vsterie eine erschwerte Auffassung des
Reizwortes besteht, ist nicht w r ahrscheinlich. Trotzdem zeigt auch
Gck igle
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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 161
diese Gruppe als Hochstwert nur 80,6 pCt. Objektreaktionen.
Die Fehler konnen also nicht als alleinige Ursache der relativ ge-
ringen inneren Assoziationen betrachtet werden, wenn sie auch im
Vergleich zu den Fehlern bei anderen Autoren eine deutliche Ver-
mehrung aufweisen. Selbst wenn man von dieser Hanptquelle
verminderter Objektassoziationen absieht, fiihrt immer noch der
Vergleich mit den Verbalreaktionen zu dem beachtenswerten
Resultat, daB bei vielen Einzelgruppen und auch im Durchschnitt
die Verbalassoziationen starker als bei Jungs und Biklins Ver-
suchen vorhanden sind.
Wichtiger ist die Frage, ob der Komplex eine Ablenkung dar-
stellt, bei deren Einwirkung die inneren Assoziationen gegeniiber
den sprachlichen zuriicktreten. Das ist nicht einwandfrei nach-
zuweisen. Es besteht, wie aus Tabelle XlVa hervorgeht, sogar
eine wenn auch unbedeutende Verringerung der letzteren bei er-
hohtem KomplexeinfluB.
Tabelle XIV a.
In Prozent.
Ij A-Serie 1 B-Serie
BeaktionHform || Yersuchsreiho j Yorsuchsreiho
1
L.r_ n
i in i
II
III
Verbalreaktion.
| 3,4 ; 2,9
2 0 < 4,8
3.7
4,9
Objektreaktion.
| 75.1 | 78,6
78,1 ; 66,0
68,2
68.5
Komplexreaktion.
1 4,4 | 5,8 ,
I 2.6 I! —
5 8
5,4
Es ist also auch moglich, daB die Geschichte statt zu einer
Verflachung zu einer Verinnerlichung der Assoziationen fiihrte.
Diese Faktoren werden anschaulicher bei Betrachtung der ein-
zelnen Gruppen.
DaB von einer bestimmten RegelmaBigkeit nicht die Rede sein
kann, bedarf bei dem mannigfaltigen Material keiner nochmaligen
Betonung. Zunachst gibt es Typen, bei denen Hohe der Komplex-
reaktion und Objektreaktion parallel gchtn. Hierzu rechne ich
die Dementia epileptica und die Debilitat. Den hohen Komplex-
werten entspricht durchgangig eine hohe Zahl von inhaltlichen
Assoziationen. Diese iiberwiegen auch bei den paranoischen Zu-
standen und der Amentia. Auch hier scheint Sinken der Komplex-
reaktionen zu einer Abnahme der Objektreaktionen zu fiihren (z. B.
93,2 : 5,5 gegeniiber 85,6 :2,7). DaB die Fixierung und die
Uebung durch die 1. Versuchsreihe, ferner die verschiedenen Grade
der Komplexwirkung, je nachdem der Komplex unmittelbar oder
mittelbar, an erster oder an zweiter Stelle exponiert wird, die
Resultate beeintrachtigen, wird man dabei nicht vergessen diirfen.
Gerade die Zunahme von inneren Assoziationen bei der 2. Paranoia-
reihe der A-Serie trotz herabgesetzter Komplexzahlen beweist uns
das. In diesem Fall hat die Fixation der 1. Versuchsreihe die zu
11 *
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162
K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung
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Tabelle XIV b.
In Prozenten.
i'
A-Serie
B-Serie
Diagnose
Keaktionsform '■
Versnchsreihe
1 Versuchsreihe
!
. [
1
II
hi
Li j
ii |
III
Dem. epil.
1
Objektreaktion
i
93,1 i
83,2
_ _
80.2
i
99,4 1
99 8
Verbalreaktion
—
-—
—
6,6
2 8
0 0
Komplexreaktion j
4.0 |
2,5
i
8,3
8,3
Debilitat-
Objektreaktion
83.4
91,5
91,1
i
71.0
74.8
j Verbalreaktion 1
! 5.6
2,8
8,4 !
71,4
1,6
0.6
i
i Komplexreaktion ;
5,6
5,6
5,6
, 2.3
2.8 ,
1,3
Hysteric
Objektreaktion
i 76,2
68,1
76,4 I
1 80,6 1
80,5
68,3
1
Verbalreaktion
4 6 1
6,4
9.0 |
1 2,3
1,6
; P3
1
1 Komplexreaktion
| 6.5
8,3
1 4,1 1
!
6,7 |
8.3
Paranoisch.
| Objektreaktion
93.2 1
1 97.2
84.6 !
85.6 '
78.1
Zustande |
Verbalreaktion
| 0 1
2,8
1.6
1.2
0,7
Komplexreaktion
5,5 |
| 2.8
2,7
1.7
Hebephre-
Objektreaktion 11 66,6 '
94,0
—
1 68.7
72.8 !
| 63,8
nie
Verbalreaktion
0 l
i 0
—
| 6.6
6,7 i
! 12.5
Komplexreaktion
5,5 1
1 5,5
i —
6.2 :
1 4,9
I laminer-
! Objektreaktion 1
69,4 .
61,0 |
94,5
1 86,6
88.9 !
77,5
zustande
Verbalreaktion |
0
0 !
0
1 0
0 1
0
Komplexreaktion |!
I 0
13,9 j
2,8
—
10.8 |
2.8
Ament ia
Objektreaktion
! -
—
—
26,6
30.6
i 27.8
Verbalreaktion
j-
—
— ;
3,3
0
0
Komp lexreaktion
l
—
—
! —
8,3
; 2.8
Dem. paral.
Objektreaktion
| 64.0
63,8"
1 58.2
58.9
73.7
78,1
Verbalreaktion
0
0
0
3.3
3,7 j
0 9
Komplexreaktion
i 0
11,1
1 8.3
—
3,4
3,4
Manie
Objektreaktion
79.6
84,8
69.2 1
84,7
59,7
76.3
Verbalreaktion
5,6
5,6
2.8
3,4
1,4
3.1
Komp lexreaktion
8.3
9,7
5.5
—
4,2
1,4
Dem. senil.
1 Objektreaktion i
50,0
37,2
—
: 36.6
55,6
53 1
Verbalreaktion ;
13,9
11,1
1 49,9 !
1 36,1
38,8
1 Komplexreaktion
5,6
8.3
—
1
1 8,4
11.1
Melancholie
1 Objektreaktion
75,2
1 85,0
! 78,3
I 83,3
76,8
91,0
Verbalreaktion
0
! o
0
2.6
2,0
1,7
Komplexreaktion
1.7
0
0
2,5
1.9
Dementia
1 Objektreaktion
1
1 86.2
80.9
87,5
alcohol.
Verbalreaktion
6.6
0,8
2,8
| Komplexreaktion
n
4,2
4,2
Korsakoff
Objektreaktion |
j 10.0
16,7
19,5
Verbalreaktion j
|
1
36,6
41,7
39,4
Komplexreaktion |
1
1
3,0
2,0
erwartende Abnahme verhindert. Bei anderen Gruppen besteht
ein reziprokes Verhaltnis zwischen Komplexreaktionen und inneren
Assoziationen. Dabei werden aber diese nicht durch Verbal-
reaktionen ersetzt. So verhalt es sich z. B. bei der Melancholie.
Hier wird durch den Komplex die Zahl der Objektreaktionen
verringert, ohne daB eine entsprechende Zunahme der Verbal-
reaktionen eintritt. Das gleiche Verhalten bietet die Hysteric.
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes diirch Geschicht-skomplexo etc. 163
Ob gerade diese Gruppen nicht den normalen Typ reprasentieren,
kann ich nicht entscheiden. Ich mochte es bezweifeln, weil die
inhaltlichen Reaktionen bei ihnen relativ gering sind, aber nach
unserer Auf Jung sich stiitzenden Anschauung bei Normalen sonst
sehr hohe Werte haben. Ein Beispiel fiir groQe Schwankungen
bilden die Dimmerzustande, bei denen bald die eine, bald die
andere Kombination beobachtet wird. Auch bei ihnen sind die
inneren Assoziationen relativ niedrig. Hier findet aber diese Tat-
sache in der hohen Zahl der Fehler ihre Erklarung. Bei der Manie
wird durch den Komplex die Prozentzahl der Objektreaktionen
verringert, ohne daB eine entsprechende Zunahme der anderen
Reaktionsweise stattfindet, aber eine durchgehende Einheitlich-
keit wird auch bei der Manie vermiBt.
Zusammenfassend kann man fiir die S 16 -
rungen der Dissoziation sagen, daB dort, wo
eine Befolgung der Aufgabe zwar stattfindet,
aber nur fiir kurze Zeit, die Aufgabe eine
deutliche Steigerung der K o n z e n t r a t io n her-
vorruft. Diese Steigerung macht sich in der
Vermehrung der inneren Assoziationen b e -
m e r k b ar.
Am groBten ist der Kontrast bei der Hebephrenie, bei der
ein Zusammenhang auch mit der Zahl der Komplexreaktionen
nicht konstatiert wird. Auffallig bleibt, daB bei der Paralyse
trotz groBer Komplexwirkung die Zahl der Objektreaktionen nur
gering ist. Eine anscheinende Abhangigkeit der Verbalasso-
ziationen von der Hohe der Objektreaktionen und dem Komplex
scheint bei der Dementia senilis und dem Korsakoff
zu bestehen. Mit vermehrter Geschichtswirkung nimmt der
Prozenteatz von inhaltlichen Reaktionen ab, von verbalen zu.
Bei diesen beiden Formen tritt also eine Ve r-
flachung der Assoziationen ein, wennwir sie
vom EinfluB des Komplexes aus betrachten.
Bei unmittelbaremGeschichtseinfluB scheint
aber eine deutliche Vermehrung der inneren
Assoziationen stattzufinden.
Gegen diese Betrachtung richtet sich der Ein wand, daB wir
in unserer Gruppierung eine zu groBe Zahl von inneren Assoziationen
haben. Ich habe deshalb fur einzelne Gruppen eine Zusammen-
fassung der Reaktionen, dem Jungachen Schema entsprechend,
vorgenommen. Auch hier sind einwandfreie Ablenkungswirkungen
nicht erkennbar. Zu demselbenResultat fiihrt dieZusammenstellung
von pradikativen Reaktionen. Es soli auf sie spater bei Erorterung
der grammatikalischen Beziehungen eingegangen werden. Ueber-
blickt man ohne Beriicksichtigung des Komplexeinflusses die
Haupttabelle, so stoBt man auf eine groBe Zahl von Verbal*
assoziationen bei den Zustanden mit schwerem Merkdefekt. Auch
in den Gruppen, bei denen im Mittelpunkt die Aufmerksamkeits-
storung steht, sind Verbalassoziationen starker vertreten, be-
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164
Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
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sonders dort, wo es zu schweren Sejunktionsstorungen gekommen
ist (Dammerzustande), wahrend die Manie nur mittlere Zahlen
aufweist. Auch bei der Hysterie, bei der ja die sprachliche Ge-
wandtheit am besten entwickelt ist, tritt nur einmal ein etwas
hoherer Wert (9,0 pCt.) auf. Bemerkenswert ist, daB bei der
Melaneholie Verbalassoziationen sparlich vorhanden sind.
Der Gegensatz zu dem groBen Prozentsatz sprachlich-moto-
rischer Formen bei Jungs und Riklins ungebildeten Frauen und
Mannern wird auch nicht ausgeglichen, wenn ich nach dem Vorbild
dieser Autoren die Tautologien den Verbalwerten zufiige. DaB
iibrigens diese Zusammenkoppelung fur unsere Zwecke nicht be-
rechtigt ist, lehren die Prozentvergleiche. Es miiBte, wenn es sich
um gleichwertige Vorgange handelte, eine parallel gehende
Steigerung bei beiden Reaktionsformen stattfinden. Wir sehen
statt dessen bei verbalstarken Gruppen, wie z. B. beim Korsakoff,
nur sparliche Tautologien. Auch die Erwartung, daB der Komplex
eine Herabminderung dieser Reaktionsformen ausloste, bestatigt
sich nicht durcligehend.
Tautologieen Tabelle XV.
In Prozenten.
Diagnose
A-Serie
Versuchsreihe
I ! II ! in
B-Serie
Versuchsre
I II
sihe
_m_
Durchschnittswerte.
i-
7.2
7,04
i
5,04
10,3
8,8
7.7
Dementia paralytica ....
16,7
5.5
5,5
5,6
4,6
3.7
Manische Zustande.
2,8
2,8
0
0
0
0
Dementia praecox.
16,7
30,6
—
20,7
21,7
15,3
Dementia epileptica
11,1
8.3
—
! 6,6
0
3,1
Melancholische Zustande . .
11.1
18.0
25,0
9,7
6,7
3.7
Debilitat.
—
—
13,8
11,2
16,7
Hysterie .
i 0
0
0
6,9
6,1
4,5
Dementia senilis.
11,1
8.3
—
3,3
0
3,3
Paranoische Zustande . . .
■ 2.8
2.8
— ■
i 10,6
10.0
11,8
Epilept. Dammerzustande . .
2,8
0
0
i 0
0
0
Korsakoff.
! —
—
— !
' 0
3.1
5.6
Dementia alcoholica . . . . I
1 —
—
— j
6.6
3.1
3,1
Amentia .
—
—
— 1
i 3,i ;
o
i o
Die Durchschnittsberechnung ergibt in der A-Serie keine
Differenzen, in der B-Serie findet eine Abnahme bei unmittelbarer
Komplexwirkung statt (von 10,3 auf 8,8 pCt.). Einen Wider-
spruch scheint der Wert der 3. Versuchsreihe zu bilden (7,7). Die
Einzelbetrachtung zeigt aber, daB in den meisten Gruppen eine
Zunahme stattgefunden hat. Nur die groBen Schwankimgen bei
der Hebephrenie haben diesen Widerspruch verursacht. Bei dieser
Gruppe sind auch an sich die Zahlen der Tautologieform rehr groB.
Hier sind sie wohl als eine Folge der Bequemlichkeit und Tragheit
Gck igle
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des Vorstellungsablauf©a durch Gescliichtskomplexe etc.
165
aufzufassen. Auch bei den Hemmungszustanden und in debilen
Fallen zeigen sich diese Reaktionsweisen in verstarkter Zahl,
wahrend sie bei manischen, hysterischen und Dammerzustanden
sowie der Dementia senilis nur gering vorhanden sind.
Die Tendenz, mit Zwecken zu reagieren, ist nur wenig ent-
wickelt, am ausgesprochensten bei .den Formen, die auch viele
Tautologien vorbrachten; auszunehmen ist nur die Hebephrenie-
gruppe. Das darf nicht wundern, wenn man beriicksichtigt, daB
gerade beilndividuen mit schwerfalligem, verlangsamtem, umstand-
lichem Denken die Zwecke der Dinge als das Lebenswichtigste sich
vordrangen. Ihr Interesse ist eingeschrankt, sie haben nur geringe
Teilnahme an dem Objektiven, dem Reingegenstandlichen.
Mehr Interesse bieten die Reaktionen, welche eine Tatigkeit
zum Ausdruck bringen. Sie sind zahlreicher vertreten und lassen
oft anschaulich die gesteigerte geistige Beweglichkeit erkennen.
Diesen Reaktionen begegnet man auch bei Typen, die an der
Grenze des Normalen stehen (leichte Hysterie). Bei torpiden
und apathischen Gruppen sind sie sparlich vorhanden und
schwanken zwischen 1,6 und 5,6 pCt. Bei fast normalen, sonst
in nichts auffalligen Reaktionstypen betragt der Durchschnitt
6,12 pCt. Bei manischen erhalten wir sehr hohe Werte (20 pCt.).
In einem Fall von Melancholie wird die gleiche Hohe erreicht, es
handelte sich aber um einen Mischzustand, bei dem die depressiven
und angstlichen Phasen starker entwickelt waren. Die gleiche
Erklarung findet die Steigerung dieser Reaktionsform bei einer
Hebephrenie (33 pCt.), bei der zur Zeit der Priifung ein leicht
manischer Zustand bestand. Ein EinfluB des Komplexes ist nicht
nachweisbar.
Auch die Gefuhlsreaktionen zeigen kein einheitliches Bild.
Die Vermutung, daB die Geschichte zu einer konstanten Ver-
anderung fiihren wiirde, hat sich nicht bestatigt. Allgemein patho-
logisch ist zu erwahnen, daB die Gefiihlstone der Reizworter bei
der.Manie, der Melancholie und Paranoia am haufigsten auftraten.
Als arithmetischen Mittelwert samtlicher Reihen ergaben sich
die Zahlen 5,8, 5,7 und 7,6 pCt. Die Hysterie zeigte einen deutlich
geringeren Wert (4,6 pCt.). Beachtung verdient die geringe Quote
von Gefiihlsreaktionen bei der Hebephrenie (2,7 pCt. a. M.) und
bei der Dementia epileptica (1,3 pCt. a. M.). Die Werte der anderen
Zustande schwankten in den Einzelfalien je nach der Intensitat
des gerade herrschenden Affektes.
Bei den egozentrischen Reaktionen sollte man eine umge-
kehrte Beziehung zum Geschichtskomplex erwarten. Wenn
iiberhaupt eine Beeinflussung stattfindet, so miiBte diese dem
egozentrischen Komplex entgegenwirken. Dieser Annahme ent-
spricht die Tatsache, daB fast in alien Gruppen — ausgenommen
die A-Serie der Manie — die Komplexreihe einen geringeren
Prozentsatz an eigenbeziiglichen Arikniipfungen aufweist, als die
anderen Reihen.
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K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung
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Tabelle XVI.
In Prozenten.
J) iagno.se
A-Serie
B-Serie
Versuchsreihe Versuchsreihe
1
___ J
_I
i n
m
I
1 ±I._
LI?L.
Durchsclinitt .
4.G
' i
1 5.9
1.9 !
4.2
3,4
3.0
Hysterie .
7.6 j
! 8.2 !
5.5 |
7.8
4,0
0.8
Paranoische Zustande • ■
0
1 o j
—
1.7
1.2
6,6
Melaneholische Zustande . .
0
! 0 1
0 i
1.1
2.2
0.6
Manische Zustande.
1.85
I 1.4 ;
0 1
3 3
0
0
Dementia epileptica . . . . !
! 1.85
1.85
- 1
3 3
0
3,3
Dementia paralytica ....
1 0
0
1) !
| 16.7
15,8
15.0
Dementia senilis.
22.2
44.4
|
0 |
0
0
Debilitat.
~7f
0
11 ;
1.7 ;
0
0
Epileptische Dammerzust ande
1 1.85
8.3
0 j
1.6 ]
0
0
Dementia praecox .
i 0
0
— |
2.6
1.1
0
Dementia alcoholica ....
,
0 1
0
0
Amentia .
0
0
0
Korsakoff.
|
0
0
0
Grammatikalische Form.
Es bestehen drei Typen der Beziehung zwischen Reiz und
Reaktion: inhaltliche, sprachliche und personliche. Die inhalt-
lichen Beziehungen konnen rein objektive Tatsachen oder Gefiihls-
werte des Reizinhaltes sein. Den verschiedenen Reaktionsweisen
miiBte, wie man erwarten sollte, eine verschieden sprachliche
Ausdrucksform entsprechen. Die letztere wird aber durch die
Form des Reizes mitbestimmt.
Mit Riicksicht darauf, daB nach Jung und Riklin doppelt
so viel Substantiva als Adjektiva und Verba in der Schriftsprache
angewandt werden, habe ich die ersteren vorzugsweise benutzt.
Die Reihe besteht aus 22 bezw. 25 Substantiven, 4 bezw. 6 Verben
und 4 bezw. 5 Adjektiven. Ein Substantiv als Reizwort wird
infolge seines haufigeren Auftretens leichter als eine andere Wort-
form beantwortet, bei Verben und Adjektiven dagegen wird die
groBere Seltenheit ihrer sprachlichen Anwendung der Reaktion
mehr Schwierigkeiten bereiten; ferner scheint ein isoliert wirk-
sames Substantiv leichter als ein zusammenhangloses Adjektiv
oder Verbum Beziehungen zu wecken. Bei der Auswahl der Sub¬
stantiva wurden moglichst stereotype Reize vermieden, die ge-
eignet waren, sprachlich sehr gelaufige Assoziationen auszulosen;
daB aber andererseits die Reize dem gewohnten Sprachschatz
angehoren miissen, bedarf keiner weiteren Erorterung. Man kann
demnach den EinfluB der sprachlichen Komponente vernach-
lassigen.
Zunachst ist zu berlicksichtigen, ob das Reizwort an sich die
Tendenz enthalt, die gleiche grammatikalische Form zu reprodu-
zieren. Die Zahlen von Jung und Riklin 1 ) zeigen bei ungebildeten
1 ) n. a. O.. 1. Seite 122.
Gck igle
Original from
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
167
Frauen und Mannern 63,2 bezw. 604 pCt., im Durchschnitt 59,2
gleichartige Reaktionen. Bei meinen Versuchsreihen ergeben sich
erheblich geringere Zahlen.
A-Serie
B-Serie
Tabelle XVII.
Gleichartige Reaktionen in Prozenten.
Versuchsreihe I I Versuchsreihe II
Versuchsreihe III
22.4 13.0 10.6
16.1 19.6 19,5
Diese Werte belegen die Tatsache, daB die Versuchspersonen
sich auf den Inhalt, nicht auf das Wort als Wortklang vorwiegend
einstellen. Nach Jung und Riklin besteht bei Ungebildeten eine
groBere Uebereinstimmung in der Form des Reiz- und Reaktions-
wortes. Die Autoren deuten das dahin, daB sich der Ungebildete
mehr an die Form des Reizwortes klammert als der Gebildete.
Die obigen Werte zeigen, wie wenig berechtigt diese Erklarung
fiir meine Falle ist. DaB aber die Uebereinstimmung in der
Form bei Ablenkungsversuchen wachst, damit decken sich die
mitgeteilten Resultate. Betrachtet man fiir diesen besonderen
Zweck die Einwirkung des Komplexes zugleich als eine Ablenkung,
so findet man eine Vermehrung der gleichartigen Reaktionsformen
bei unmittelbarem GeschichtseinfluB. Die Werte steigen von
13,0 bezw. 16,1 pCt. auf 22,4 bezw. 19,6 pCt. Der Grund fiir
dieses Verhalten ist wohl darin zu suchen, daB bei der Ablenkung,
die zugleich eine Belebung, eine Anregung des Vorstellungsablaufes
darstellt, eine Verflachung der Reaktion eintritt. Auch meine
Versuchspersonen scheinen sich bei Ablenkung haufiger auf das
Klangbild, als auf den Inhalt einzustellen. Ob diese Tatsache
sich weiter rechtfertigt, kann erst beurteilt werden, wenn man
die Reaktionen auf die einzelnen Wortformen betrachtet. Um
das Verhaltnis zwischen gleichartigen und ungleichartigen Re¬
aktionen besser zu charakterisieren, wurde die folgende Berechnung
angestellt:
Tabelle XVIII 1 ).
In Prozenten .
Auf Verba reagiert mit j
Auf Adjektiva reagiert mit i
Auf Substantive reag. mit
Subst.|
Adj.
Verba 1
Satz. i
SubstJ
Adj.
| Verba
1 Satz. j|
SubstJ
Adj. |
Verba
| Satz.
A-Serie
I
F
i
' |
....
Versuchsr. I j
14.4
0
12.2
41,1
2 7
43.3
, o
37.3
! 20.8
3.4
6,7 !
38,1
» n
j 15,6
1.1
5,6
44.4
8,0
15.6
1.4
49,3
14.1
6.7
5,6
49,5
„ in
1 36.1
5,6
2,8
41.6
5.3
12.3
i 0
63,3 ’
; 3o - 7 ,
10.1
7,5
45,3
B-Serie '
1 1
t
j
Versuchsr. I ii 29,2
s 3.7
11,9
40,1 l!
19.3
9.9
5.2
50,5 1
21,1
8.5
7,6
27,9
„ ir
1 26.1 !
1 4 - 1
9,7
30 8 ii
29,5 |
15,8 i
7,9
, 2,1
36,2 i!
23,5 :
7.2
5,8
36,3
mi
' 37,6
! 2,4
14.8
22,8 |
8,6
| 2.8
42,2 ,|
32,0 I
7.4
7,5
1 31,8
l ) Die an 100 fehlenden Prozentzahlen enthalten die Fehler-
reaktionen. die bekanntlich einen grofien Raum einnehmen.
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Go i igle
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168
K u t z i n s k i, Ueber die Beeinflussung
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Die Bedeutung dieser Zahlen beruht ja nur auf ihrer gegen-
seitigen Relation. Der EinfluB des Komplexes zeigt sich darin,
daB die Satzreaktionen sinken. Da diese meist einen inhaltlichen
Charakter haben, so bildet das Resultat eine Erganzung zu den
allgemeinen Ergebnissen. Die Verflachung der Assoziationen
kommt auch darin zum Ausdruck, daB in der Komplexreihe die
gleichartigen Reaktionen an Zahl starker vertreten sind, als in
den anderen Versuchsreihen. In einzelnen Fallen beschrankt sich
der EinfluB nur auf die Verringerung der Satzreaktionen. Einmal
bleibt diese aus, doch dafiir findet eine Vermehrung der gleich¬
artigen Reaktionen statt.
Aus der Tabelle gewinnt man einen weiteren Ueberblick iiber
die Tendenz der einzelnen Wortfoimen, gleiche Reaktionen aus-
zulosen. An sich sind diese iiberhaupt nur gering entwickelt;
wahrend bei anderen Untersuchern die gleichartigen Verbal-
reaktionen zwischen 20 und 45 pCt. schwanken, fiir Adjektiva
zwischen 43 und 64 pCt., enthalt die obige Uebersicht weit ge-
ringere Werte. Den Hohepunkt erreichen die Substantiva, bei
denen ein Prozentsatz von 14—32 pCt. konstatiert wird. Bei
Jung und Riklin findet man fiir diese Wortgruppen keine ziffern-
maBigen Angaben. Bei den Verben variieren die Werte zwischen 2,8
und 14,8 pCt., bei den Adjektiven zwischen 43,3 und 7,9 pCt.
Trotz des einzelnen abweichenden hohen Wertes von 43,3 pCt.,
fiir den eine Erklarung nicht gefunden wurde, bleibt im Durch-
schnitt die Zahl der gleichartigen Reaktionen auch bei den Ad¬
jektiven als Reizwort noch um 7 pCt. hinter der der Substantiven
zuriick. Die geringe Zahl gleichartiger Reaktionen
bestatigt, wie hoch bei ungebildeten Versuchs-
personen der BedeutungseinfluB des Reizwortes
ist. Auh im allgemeinen sind die Zahlen bei ungleichartigen
Reizen sehr gering, mu* die Substantiva sind starker vor-
handen. Vergleicht man die Substantivreaktionen bei Verben
und Adjektiven als Reize, so entfallen auf Verba betracht-
lich hohere Zahlen als auf Adjektiva. Diese Tatsache entspricht
den von Jung und Riklin 1 ) angegebenen Zahlen; deren Schlufl-
folgerung, daB meist das Substantiv seiner groBeren Gelaufigkeit
wegen vorgezogen wurde, trifft mit gewisser Einschrankung auch
fiir ungebildete krankhafte Versuchspersonen zu. Die Einschran¬
kung wird durch die zahlreichen Satzreaktionen bedingt. Ohne
einen groBen Fehler zu begehen, ist man berechtigt, die Satz¬
reaktionen als innere im Sinne dieser Autoren aufzufassen, da
solche als Sprichworter und rein motorische Reaktionen niemals
aufgetreten sind. Ihnen sind die ungleichartigen Reaktionen, was
ihre Wertigkeit anbelangt, gleichzusetzen. Diese beiden Reaktions-
formen zeigen, daB alle ungebildeten Rranken den Pradikattyp
reprasentieren.
Jung und Riklin und nach ihnen Scholl verstehen darimter,
a. a. O., 1, Seite 138.
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
169
wie bereits erwahnt wurde, eine Reaktionsweise, bei der eine
hohe Anzahl yon pradikativen und egozentrischen Reaktionen
auftritt, und bei der die Reaktion auf Worte meist mit Substantiven
erfolgen soil. Bei dem Pradikattyp iiberwiegen die inneren Assozia-
tionen, die sich aus Koordinationen, pradikativen Beziehungen
und Kausalabhangigkeiten zusammensetzen. Der Pradikattyp im
Sinne der Autoren lafit bei Ablenkung keine Veranderung er-
kennen. Im Gegensatz dazu hat der Geschichtskomplex bei meinen
Versuchspersonen einen variierenden EinfluB ausgeiibt, doch nicht
in dem Sinne, daB eine Verstarkung der pradikativen Reaktionen
stattfand. Die Resultate decken sich demnach nicht mit den von
Scholl in einzelnen Fallen mitgeteilten. Scholl hat eine Zunahme
festgestellt, das mag auf der Verschiedenheit der Instruktionen
beruhen.
Ob bei den einzelnen klinischen Formen eine besondere
Reaktionsweise hervortritt, zeigt die nachfolgende Tabelle, die eine
Uebersicht iiber die Satzreaktionen gewahrt:
Tabelle XIX.
Satzreaktionen in Prozenten .
A-Serie
B-Serie
Diagnose
Versuchsreihe
Versuchsreihe
i
II
[..in
i
n _
hi
Dementia hebephrenica . . .
33,3
41,1
i
55,0
47,2
40,0
Korsakoff.
10.0
12,0
16.7
Dementia alcoholica ....
23,3
22,2
25,0
Manische Zustande.
41,6
41.6
—
18.3
27,8
23,7
Melancholische Zustande . .
| 36,1
70.8
• 69,9
32,7
36,4
22,8
Paranoische Zustande . . .
1 33,0
41.7
—
64,0
51.1
52,4
Epileptische Dammerzustande 1
! 61.1
77,7
22.2
—
—
—
Amentia .
_
j
—
40,0
36.1
—
Hysterische Zustande . . . . j
i 35,4
39,7
9.7
28,4
28,1
27.0
Dementia paralytica . . . .
, 22,2
36.1
29,0
50,0
44,4
46,0
Dementia epileptica
1 47.1
43,0
—
68.3
37.5
38,9
Dementia senilis.1
i 47.2
1 47,5
36,7 1
8.4
13,9
Debilitat.j
58.3
1 61,4
63,9
nicht berechnet
Bei der Beurteilung ist der Einwand zu erwarten, daB infolge
der groBeren Uebung die Zahl der Pradikate in der zweiten und
dritten Versuchsreihe abnimmt, so daB eine Verwertung der
Zahlen bedeutungslos ware. Die Uebersicht zeigt aber, daB das
Verhaltnis der einzelnen Versuchsreihen willkiirlich schwankt.
Mehr Bedeutung gewinnt der EinfluB des klinischen Prozesses auf
das Verhalten der Satzreaktion. Bei Hemmungszustanden treten
bis zu 69,9 pCt. Satzreaktionen auf. Die Defektprozesse bieten
bald hohe, bald niedrige Werte, jedoch wird die untere Grenze
von 33 pCt. nur einmal iiberschritten. Handelt es sich uni
redselige pseudomanische Individuen, so sinken trotz des zweifel-
losen Defektes die Zahlen erheblich unter den Durchschnitt. Bei
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170
K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung
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einem Korsakoff variieren die inneren Assoziationen zwischen 10
und 16,7 pCt., bei der Dementia senilis treten sogar nur 8,4 und
13,9 pCt. auf. Einen Gegensatz dazu bilden die Zahlen der Manie,
die niemals unter 18 pCt. fallen. Es seheint, als ob dann, wenn
affektive Vorgange eine Rolle spielen, mehr Pradikate auftreten.
So muB besonders auf die affektiven Gruppen, Hysterie und
paranoische Zustande hingewiesen werden, deren hohe Zahlen
von Satzreaktionen sicher nicht durch Schwerfalligkeit des Aus-
drucks verursacht werden.
Ein Vergleich mit den Fehlerreaktionen lehrt, daB eine
Parallele dieser zu den pradikativen Reaktionen nicht besteht.
Bei der Hysterie z. B. entsprechen 11,1, 13,9 und 13,9 pCt. Fehler¬
reaktionen 35,4, 39,7 und 11,9 Satzreaktionen. DaB das Verhalten
der Fehler einen EinfluB des Komplexes zum Ausdruck bringt,
erscheint naheliegend, die beliebigen Schwankungen der Pradikate
lassen aber derartige Beziehungen nicht erkennen. Ein analoges
Verhalten zeigen die anderen klinischen Gruppen; auch ein
Hervortreten starkerer egozentrischer Reaktionen beim Vor-
handensein zahlreicher Pradikate ist nicht nachweisbar. E s
ergibt sich demnach, daB pradikative Be¬
ziehungen im Sinne Jungs u n d Riklins, wie diese
sie bei Gebildeten gefunden haben, bei den
untersuchten Versuchspersonen nicht be¬
st e h e n.
V. Wiederholungen.
a) Wiederholungen des Reizwortes.
Jung und Riklin haben bereits darauf hingewiesen, daB viele
normale Individuen das Reizwort vor der Reaktion zu wieder-
holen pflegen. Sie bezeichnen das als eine Angewohnheit. Ich
habe es fast bei alien Versuchspersonen beobachtet und betrachte
es nicht nur als eine Angewohnheit. Es hangt die Art, die In¬
tensity, selbst die Haufigkeit — oft wurde das Reizwort auch
mehrmals ausgesprochen —, mit der das Reizwort wiederholt
wurde, von der Schwierigkeit seiner Auffassung und seinem Ge-
fiihiston ab. Dieses Verhalten zeigen nicht nur Defekt- und ange-
borene Schwachezustande, sondern auch manische. DaB eine Ab-
lenkung der Versuchspersonen durch den Geschichtskomplex die
Zahl der Reizwortwiederholungen vermehrt hat, kann ich nicht
bestatigen. Fur die Reizwortwiederholungen, die zugleich die
Reaktion reprasentieren, sind die gleichen Erwagungen zutreffend.
Auch diese tritt meist bei Schwierigkeiten, Vieldeutigkeit des
Reizwortes oder Affektbetonung auf. Sie findet in fragender
Form statt, z. B.: ,,Kaiser ?“ Gerade diese fragende Form be-
weist, daB nicht der Gefiihlston allein, wie Jung und Wreschner
glauben, die Ursache dieser Reaktionsform bildet. Im iibrigen
bietet sie iiberhaupt wegen ihrer Seltenheit kein wesentliches
Interesse. Die Zahlen fiir die beiden Serien lassen Zusammen-
hange mit dem Komplex nicht erkennen:
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
Tabelle XX.
171
Serie
A-Serie
B-Serie
Versuchsreihe I
Versuchsreihe II
Versuchsreihe III
13
3.8
o
. o
1.1% ' 0.9",
3.7 |; 2.8
b. Wiederholungen des Realdionsivortes.
Mehr Beachtung verdienen die Wiederholungen des Re-
aktionswortes. Als solche sollen nur die Assoziationen in Frage
kommen, die in derselben Form schon friiher aufgetreten sind.
Hat eine Verarbeitung oder eine grammatische Aenderung statt-
gefunden, so werden die Reaktionen an anderer Stelle bertick-
sichtigt. Wiederholungen in derselben Versuchsreihe werden nur
vereinzelt konstatiert. Hier war gewiB die Tendenz der Versuchs-
person bestimmend, immer etwas Neues, von dem Vorherigen Ab-
weichendes zu suchen; dazu kam das vorherrschende Bestreben,
einen sinnvollen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion
herzustellen.
Wichtiger sind Wiederholungen bei spateren Versuchsreihen.
Hier ist zunachst die Fixation der Reproduktion in ihrer Be-
ziehung zur Komplexwirkung festzustellen. Einen Ueberblick
iiber alle Wiederholungen dieser Art gibt die nachfolgende Tabelle:
Tabelle XXI.
Wiederholungen in Prozenten.
A-Serie I B-Serie
i 1
26,4 ! j 32.5
30.2 47.7
Nach diesen Zahlen scheint es, als ob die Beziehung auf die
Geschichte der Fixation entgegenwirke, eine Tatsache, die mit
den Resultaten Scholls iibereinstimmen wiirde. Dagegen spricht
allerdings, daB diese Zahlen ja nur einen groben Ueberblick ge-
wahren. Trotzdem ist der Unterschied in dem Verhalten der
A- und B-Serie bemerkenswert, hier eine deutliche, aber geringe
Vermehrung, dort eine Zunahme von etwa 15 pCt. DaB iiberhaupt
eine Zunahme stattfindet, war bei der zweiten Wiederholung der
Reihe zu erwarten, weil ja eine mehrfache Wiederholung zu einer
Haufung der schon dagewesenen Reaktionen fiihren muB. DaB
bei der B-Serie 6 Reizworte nur einmal wiederkehren, kann das
groBe MiBverhaltnis der Werte nicht aufklaren, wir miissen also
den EinfluB des Komplexes als Ursache dafiir betrachten, daB
bei der 2. Versuchsreihe der Vorstellungswechsel ein relativ leb-
hafterer ist, als bei der ersten. Nun ist aber weiter der EinfluB
des Zeitintervalles zu berucksichtigen Diesen zeigen die folgenden
Prozentzahlen:
2. Versuchsreihe
3. Versuchsreihe
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Go 'gle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
172
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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Tabelle XXU.
Wiederholungen in ProzerUen.
Intervall
A-Serie
1
\ ersuchs- 1 \ ersuchs- j
reihe II reihe III
B-Serie
Versuehs- 1 Versuchs¬
reihe 11 I reihe III
1 Tag .
25,0
,
31,6
77.8
2 Tage .
25.0
34.7
30,6
—
3 .
l
26,8
4,1
4.
21,7
42.6
5 .
36,1 |
52.8
61.1
6.
■
44,4
7 .
30.6 *
27.8
.
35,3
8 .
22.2
!
i 30,1
9 „ .
|
46,5
Die Intervallzeiten beziehen sich auf den Zeitraum zwischen
1. und 2., sowie 2. und 3. Versuch, die Prozente sind beziiglich
der Gesamtsumme der Reaktionen fur die einzelnen Tntervalle
berechnet. Ein Vergleich der Werte der 2. und 3. Versuchsreihe
ist, um es wieder zu betonen, nur in beschranktem MaBe zulassig,
weil ja die 3. Versuchsreihe der ungiinstigen Bedingung der zwei-
maligen Reizwortwirkung unterworfen ist Diese Beschrankung
hat aber keine erhebliche Bedeutung, wie aus den Angaben Scholls
hervorgeht. Auch bei ihm kehren ja am 2., 3., 4. und 5. Versuchs-
tage die Reizworte immer wieder. Er konstatierte meist ein lang-
sames Zunehmen der Zahl der Wiederholungen, aber am letzten
Tage trat eine erhebliche Vermehrung auf; iiberdies zeigte sich,
daB die Bildreaktionen nur einen sehr geringen prozentualen Anted
an den Wiederholungen hatten. In unserer Zusammenstellung ist
die Zunahme der Wiederholungen in der 3. Versuchsreihe nicht
durchgangig, aber iiberwiegend vorhanden, nur bei einem Intervall
von 3 Tagen stoBen wir bei der B-Serie auf eine auffallige Ab-
nahme, sonst betragt die Zunahme einen groBen Prozentsatz
samtlicher Reaktionen. Die niedrigen Werte des dreitagigen
Intervalles haben ihren Grund in den Zustanden, bei denen die
Versuche vorgenommen wurden. Es handelte sich um schwere
Dissoziationsstorungen, die naturgemaB ein sehr ungleichmaBiges
Verhalten hoten, und bei denen iiberhaupt nur wenig Wieder-
holungen auftraten, weil ja die gestifteten Beziehungen zwischen
den jeweiligen Vorstellungen nur sehr lockere oder, wie die Zahl
der Fehler zeigt, nur sehr sparliche warcn. Eine deutliche Ab-
hangigkeit von der Lange des Intervalls besteht nicht. Die hochsten
Werte finden wir bei ein- und fiinftagigen Intervallen. Eine
Steigerung der Wiederholung von 21,7 auf 42,6 pCt. ist nach
einem viertagigen Intervall eingetreten. Bei groBeren Zwischen-
raumen sinkt die Zahl der gleichen Repioduktion. Auch in Scholls
Fallen muB man dem Rechnung tragen, was von dem Autor nicht
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtakomplexe etc.
173
immer geschehen ist. Wenn oft am letzten Tage der Serie ein
starkes Anschwellen der Wiederholungen vermiBt wird, so ist
daran die GroBe des Zeitintervalles schuld. Bei Geisteskranken
kommt es iiberhaupt nioht so schnell zur Fixierung der Assozia-
tionen, ferner haben die gestifteten Verbindungen eine geringere
Nachhaltigkeit. Um ein sicheres Urteii zu bekommen, ist es
zweckmaBig, die Zahl der Komplexreaktionen bei verschiedenen
Intervallen mit der der Wiederholungen zu vergleichen. Diese
Methode ist aber bei unseren Versuchen nicht ohne Bedenken an-
wendbar, weil ja der Komplex auch bei der 3. Versuchsreihe oft genug
noch deutlich wirksam ist, weil ferner die individuellen Eigentiim-
lichkeiten, wie Haftenbleiben einmal gestifteter Assoziationen, bei
unseren Versuchsreihen nicht vernachlassigt werden konnen. DaB
trotzdem eine Reihe von Beziehungen zwischen KomplexeinfluB
und Zahl der Wiederholungen bestehen, weist die Tabelle XXIII
nach, welche von Einzelfallen eine Zusammenstellung gibt. Die
Beispiele sind nur aus der B-Serie genommen,' weil die A-Serie
zu wenig Falle iiberhaupt hat.
(Hier folgt Tabelle XXIII von S. 174.)
Zunachst ist, wenn nur sparliche (1—2 Komplexreaktionen)
oder gar keine erkennbaren Wirkungen des Komplexes bestehen,
bei kurzen Intervallen eine Zunahme, bei langeren Intervallen
dagegen eine Abnahme der Wiederholungen zu konstatieren. Als
Ursache kommt in Betracht, daB die GroBe des Intervalles das
Verhaltnis der W iederholungen reguliert. Bei reichlicheren Kom¬
plexreaktionen tritt, auch wenn die Intervalle erhebliche sind, in
der 3. Versuchsreihe keine Abnahme, sondem eine Zunahme ein.
Dieser steht eine unverhaltnismaBig geringe Zahl von Wieder¬
holungen in der 2. Reihe gegeniiber. Das berechtigt zu der An-
nahme, daB der Komplex einen groBeren Vorstellungswechsel
herbeigefiihrt hat. Eine Bestatigung geben die Zahlen der A-Serie,
die bei gleichen Intervallen einen deutlich geringeren Prozentsatz
an Wiederholungen in beiden Reihen gegeniiber der B-Serie auf-
weisen. Hier muB also der bereits bei der 1. Versuchsreihe ein-
wirkende Komplex einen lebhafteren Wechsel der Assoziationen
verursacht haben. Bei der Uebersicht ist noch zu erganzen, daB
der EinfluB des Zeitintervalles auf die Komplexreaktionen vernach¬
lassigt werden kann, da ja selbst bei neuntagigen Intervallen
zwischen 2. und 3. Reaktion die Zahl der Komplexreaktionen un-
verandert blieb.
Es muB weiter untersucht werden, ob bei einzelnen Gruppen
die Zahl der Wiederholungen sehr groB oder gering ist, ob und
in welcher Weise ferner ein EinfluB durch das Intervall stattfindet.
Nach Kraepelin kehren bei viertagigem Intervall 50 pCt. der
Reaktionen wieder. Einen Ueberblick der Resultate fiir diese Zeit
gibt Tabelle XXIV:
Digitized by
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174
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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Tabelle XXIII.
W iederholungen.
I
Diagnose
lntervall
II. Wieder-
holung
im. Wieder-
holung
| Komplex-
| reaktion
Hysterie.
1
4
13
3
1
9
3
o
1
14
7
1
8
1
1
3
1
18
1
! 5
2
8
2
4
1
12
17
5
9
,
4
5
^ 1
15
26
4
1 4
|
3
6
5
19
|
i 28
4
! 1
3
7
1
17
26
4
| 4
1
i
5
8
2
9
i 13
3
3
i
2
9
1
9
13
4
4
3
Dementia hebephrenica
4
5
17
1
10
4
i. i
i
1
11
1
18
33 1
3
4
1 1
i
12
2
; ii
19 ;
l
! ')
7
i
j
0
Dementia paralytica . .
1
i
„ j
2
13
7
10
15
0
14
3
8
i
1 i
! o
7
i
; o
15
4
2
12 :
5
7
i
f 5
Melancholic.
1
i
i 1
16
5
1 15
10 |
0
17
1
i 17
24
2
8
I
1
18
1
! 17
19
0
8
j
1
0
i
Manie .
1
5
ii i
3
19
9
1
1
20
2
13
i
12
0
n
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomploxe etc.
175
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Tabelle XXIV.
Arithmetische8 Mittel.
Diagnose
M
Versuchsreilie II
Versuchsreihe III
Hysterie .
. 9,0
15,3
Melancholische Zustande
.1! 21.0
_
Paranoische Zustande
'i
8,0
Dementia hebephrenica .
. 3,0
16,1
Dementia paralytica . .
. 1 2,0
_
Dementia epileptica . .
.' 2,0
4.0
Debilitat.
.i| —
19 0
Die Tabelle zeigt zunachst fiir die 2. Versuchsreihe, daB bei alien
klinischen Gruppen auBer der Melancholie der Prozent satz Kraepelins
nicht erreicht wird, bei der Melancholie kehren 21,0 = 58,3 pCt.
der Wiederholungen wieder. Zieht man fiir die Intervalle von
1—10 Tagen der Versuchsreihen einen Vergleich mit Wreschners
Zahlen, der bei einem Abstand von 7 Tagen 60 pCt. neuer Ant-
worten fand, so erhalt man folgende Werte im arithmetischen
Mittel:
(Hier folgt Tabelle XXV von S. 176.)
Als Fehlerquelle der Versuche ist hervorznheben, daB ja bei
der ersten Wiederholung der B-Serie durch die Vermehrung der
Reizworte der Wiederholungstendenz entgcgengewirkt wird. Diese
Fehlerquelle ist aber ohne Bedeutung, wenn man die Zahlen mit
denen der A-Serie vergleicht. Immer sind die Werte der B-Serie
hoher als die der A-Serie.
Bedeutsamer ist die Frage nach dem Verhaltnis zwischen den
Zahlen der 1. und 2. Wiederholung fiir das gleiche Interval!. Es
handelt sich ja hier um Durchschnittsberechnungen, bei denen
die zusammengehorigen Reihen auseinandergerissen wurden. Die
1. Wiederholungsreihe wird davon nicht beriihrt, wohl aber die
zweite. Man sollte erwarten, daB sich bei gleichem Intervall
zwischen 2. und 3., aber verschiedenem zwischen 1. und 2. Ver¬
suchsreihe das Resultat beziiglich der Wiederholungen verandern
wiirde. Es seien zunachst die Einzelprotokolle angefiihrt:
(Hier folgt Tabelle XXVI von S. 177 u. 178.)
Man ersieht daraus, daB die Zunahme, auch wenn das Intervall
nur 1 Tag oder 2 Tage betragt, oft nur minimal ist, z. B. nur
1 oder 2 Wiederholungen (Versuchsperson 25). In seltenen Fallen
findet sogar eine Abnahme der wiederkehrenden Reaktionen statt
(z. B. Versuchspersonen 7, 32, 17, 60), trotzdem in den Fallen 7
und 60 die Differenz der beiden Versuchsreihen nur 1 bezw f . 3 Tage
betrug. In anderen Beispielen findet man selbst bei langen Zwischen-
raumen eine deutliche Vermehrung der gleichen Assoziationen
(z. B. Versuchspersonen 26, 27, 79), in wieder anderen bleibt die
Zahl der gleichen Reaktionen auch bei langem Intervall etwa
Monatsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd.|XXXIII. Heft 2. 12
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
K u t z i n s k i . Ueber die Beeinflussung
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17b
TabeUe XXV.
I in arithmelischen Mittel.
Klinische Gruppe
Inter-
vail
1
| A-Serie
1. Wieder-1 2. Wieder-
| holimg j holung
B-S
1. Wieder-
holung
►erie
2. Wieder-
holung
Hysterie.
1
9.5
! 10,7
28.0
2
1 8.0
3
9.5
4
15.3 .
5
19
(j
16
7
10
7
8
9
5
9
1
14,3
Melancholic . • .
1
12,2
2
!
8,5
4
'
21
5
10
(i
j
1
7
i
19
8
24
Paranoia . . • . 1
1
14,5
i
2
12.3
8
4
1
9
Dem. hebephrenica
1
2
18
13
3
3 j
2
4
t
16,1
7
i
19
Dement, paralytica
1 i
10
2 |
in
20
3 1
2
6
7
11
9,5
i
8 1
15,0
Dement, epileptics
l |
8
i
4
Korsakoff ....
2
3
22 j
24
Manie.
1
0
0
5 !
2
i
18
3
7 i
5
13
—
12
9
11
Debilitat ....
r
14
10
Dementia senilis . j
2
10
Dammerzustande .
1
8
2
6
10
3
Amentia.
3 !: 1
,
i
4 1
1
konstant (z. B. Versuchsperson 49). Bei einzelnen Versuchs-
pereonen ist es auffallig, daB trotz geringer Prozentzahl der
Wiederholungen bei der 2. Versuchsreihe die 3. Versuchsreihe eine
erhebliche Vermehrung zeigt (Versuchspersonen 14 und 13).
Gca igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
177
Tabelle XXVI.
Zahl der Wiederholungen.
Diagnose
j Intervall
1 . Wieder-
holung
2 . Wieder-
holung
Melaneholischer Zustand. !
i
__
2
5
1
10
Dementia paralytica.
4
5 i
i
j 4
7
Dementia epileptica.
4
2
|
4
4
Manischer Zustand .
3
7
!
5
1
13
Hysteric.
1
4
9
13
Amentia. |
3
4
|
4 1
2
Dammerzustand.
4 1
4
1 1
2
Dementia paralytica.
1
2
10
2
20
Hysteric.
2
13
4
12
Paranoischer Zustand • * .
1
11
3
8
Melaneholischer Zustand.
1
15
5
I
10
Hysteric.
1
17
4
| |
26
Hysteric.
1
! , !
i “ i
4
1 l
5
Dementia paralytica.
4
2
7
i !
12
Manischer Zustand.
1 1
5
9
! ;
11
Hysterie.
5
19
1
1
28
Epileptischer Dammerzustand • • -
1
8
1
10 ||
i
3
Paranoischer Zustand.
1
18 1
9
i i
19
Dementia praecox.
2
1 11 1
7
i I
19
12 *
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Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
178
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung etc.
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!
Diagnose
1
1 Intervall
i »
j 1. Wieder-
j holung
| 2. Wieder-
holung
Manischer Zustand .
i
0
13
■
i 11
12
Hysterie.
1 2
1 9
i
i
1 15
15
Dementia praecox.
1
18
1
1 4
i !
33
Debilitat.
1 1
15
1 4
1,
1 26
Hysterie. (
1 1
i
11 I
6
i
16
Paranoischer Zustand.
9
7 i
, 1
1
8
Hysterie.
1
ii 12
1 9
1
i
17
Melancholic.
, 1
1
1 17
7
i
i i
24
Melancholic.
1
i
i 17
7
19
Dementia paralytica .
3
i 8
7
j
7
Dementia paralytica .j
l * !
i 10
!
8
15
Korsakoff.
2
ii
li 22
9
1
24
Hysteric.
1
18
! 7
I 1
7
Hysterie.I
1
i 14
' 8
|!
5
Hysterie.
2
9
9
ji
13
(SchluB folgt im nachsten Heft )
Go i igle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
Bericht iiber die XVIII. Versammlung etc.
179
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Berieht fiber die XVIII. Versammlung
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S.
am 26. Oktober 1912.
Referent: Dr. Hans WiUige^HsMe.
1. Herr Flechsig- Leipzig: Ueber die Flachengliederung der mensch-
llchen GroBhirnrinde unter spezieller Beriicksichtigung der neuerdings von
Brodmann versuchten Einteilung in cyto-architektonische Felder.
Es mufl auffallen, dafl die Zahl dieser Felder sich annahemd deckt
mit der Summe der vom Vortr. unterschiedenen myelogenetischen Zonen
(durchschnittlich 49). Hierzu komint, dafl Vortr. bereits Anfang 1904
(Einige Bemerkungen iiber die Untersuchungsmethoden der GroBhirnrinde,
Berichte der Konigl. S&chs. Gesellsch. d. Wissensch., Sitzung vom 11.1.1904,
S. 70) generell betont hat, dafl diese Felder nicht nur durch ihre besondere
Entwicklungszeit und durch ihre leitenden Verbindungen, sondern auoh
durch einen besonderen Ban (Form und Anordnung der GanglienzeUen) sich
unterscheiden. Beriicksichtigt man femer, daB die von Brodmann unter¬
schiedenen Felder sich zum Teil vollkommen, zum Teil in der Hauptsache
nach Lage und GroBe mit den vom Vortr. weit friiher abgebildeten decken,
so ist ohne weiteres ersichtlich, daB die Brodmannsche cyto-architektonische
Einteilung im wesentlichen nichts anderes darstellt als eine etwas veranderte
Nachahmung der myelogenetischen Felder des Vortr. Die von Brodmann
gezogenen Grenzlinien, welche sich auf den verschiedenen myelogenetischen
Skizzen des Vortr. nicht finden, erweisen sich bei Nachpriifung als hochst
unzuverlassig: toils sind sie iiberhaupt nicht aufzufinden, toils ist ihre All-
gemeingiiltigkeit durchaus unerwiesen — ganz abgesehen davon, dafl die
funktionelle Bedeutung der von Brodmann bet on ten und von ihm angeblich
zuerst aufgefundenen Strukturunterschiede g&nzlich hypothetisch ist. Da
Brodmann auflerdem wirklioh vorhandene cyto-architektonische Grenzen
vielfach ubersehen hat (z. B. in der Insel, im Hinterhauptslappen usw.), so
erweist sich seine Einteilung als weit weniger zuverlassig als die myelo-
genetische. Brodmann hat von seinen 52 cyto-architektonischen Typen
iiberhaupt nur 8 abgebildet. In seinen samtlichen Mitteilungen gibt er zwar
insgesamt 44 Abbildungen von Rindenstrukturen des Menschen. Davon
betreffen indes 18 die Rinde der Fissura calcarina (Area striata), 21 die
Zentralwindungen, je 2 Felder 18 und 7, je 1 Feld 5 und 6. Indem er iramer
und immer wieder die 2 Felder abbildet, welche (langst vor Brodmann
bekannte) scharf ausgepragte Besonderheiten der Struktur darbieten.
entsteht der Schein , als ob iiberhaupt seine Felder charakteristische Unter-
schiede darboten, was sich bei sorgfal tiger Nachpriifung als T&uschung er¬
weist. Die Beschreibung der einzelnen Felder im Text beweist nur, dafl die
angeblichen Unterschiedo, auf welche Brodmann Gewicht legt, vielfach ge-
ringer sind als die Differenzen im Bau fast aller Windungen an Scheitel.
Abhang und in der Furchentiefe. Die myelogenetischen Orenzen sind weit
scharf er und auf Hire Allgemeingiiltigkeit relativ leicht zu priifen. Die Brod-
tnannsche cyto-architektonische Skizze der Hirnoberflacho des Menschen
stellt demgemafl keineswegs eine Verbesserung. sondern im wesentlichen
nur eine urn zahlreiche Irrtiimer bereicherte Imitation der myelogenetischen
Einteilung des Vortr. dar. Der Vortr. demonstriert hierauf an Praparaten
und Skizzen die Uebereinstimmungen beider Hirnkarten, die von ihm
selbst gefundenen Strukturunterschiede von 18 myelogenetischen Feldern.
die scharfen Grenzen der letzteren (entgegen den total irrefiihrenden Be-
hauptungen 0. Vogts, daB die Grenzen verwaschen seien). Er betont, daB
in Wirklichkeit die myelogenetische und cyto-architektonische Gliederung
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
180
Bericht iiber die XVIII. Versammlung
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in alien wesentlichen Punkten iibereinstimmen; die vorlaufig bestehenden
Differenzen beruhen einesteils auf einigen Liicken in der Kenntnis der
myelogenetischen Felder nnd andererseits auf der Schwierigkeit. die cyto-
architektonischen Grenzen, insbesondere, wo wenig differente Typen in Be-
tracht kommen, allgemeingultig darzustellen. Mit der fortschreitenden
Korrektur der noeh bestehenden Fehler wird es gelingen, die w r eitgehende,
d. h. auf alle wiclitigen Punkte sich erstreckende Uebereinstimmung nach-
zuweisen. Die fragliche Gliederung der Hirnoberflache ist aber ohne Zweifel
zuerst vom Vortr. auf myelogenetischem Wege gefunden worden. Brodmanns
be8onder.s auch aus der vergleichenden Architektonik gezogenen Sehliisse auf
die Lokalisation der Hpra-che im imteren Drittel der Stirnwindung, auf die
Natur der Felder, die Abgrenzung der Horsphare usw\ bilden leicht nach-
weisbare Trugsehliisse und stehen zu gesicherten Ergebnissen der klinischen
bezw. pathologisch-anatomischen Forschung in unlosbarem Widerspruche,
w T ahrend die myelogenetischen Ergebnisse befriedigend mit letzteren uber¬
einstiinmen . (Autoreferat.)
2. Herr Abderhalden-HaWe: Ueber die Verwertbarkeit der Ergebnisse
neuerer Forschungen auf dem Gebiete des Zelistoffwechsels zur Ldsung von
Fragestellungen auf dem Gebiete der Pathologfe des Nervensystems.
Der Vortr. erortert die Mafinahmen. liber die der tierische Organismus
verfiigt, uin von der Art der aufgenommenen Nahrung in weit^n Grenzen
unabhangig zu sein. Den Nalirungsstoffen wird durch weitgehenden Abbau
ihre Eigenart genoimnen. Zur Aufnahme gelangt ein Gemiseh einfachster.
jeder sjieziellen Eigenart entbehrender Bruchstiicke. Mannigfaltige Ein-
richtungen sorgen dafiir, dafi das resorbiertc Material einer eingehenden
Kontrolle unterliegt. So ist die Leber dem grofien Blutkreislauf vorgelagert.
Die Leberzellen kontrollieren alle aufgenommenen Substanzen. Femer
spielt der Lymphapparat mit seinen Hilfsorganen in dieser Beziehung auch
eine grofle Rolle. Das Blut bleibt so vor Fremdartigem bewahrt. Auch die
Zellen selbst entlassen nichts, was niclit vorher seiner der Zelle angepafiten
Eigenart entkleidet ware.
Durch alle diese Mafinahmen bewirkt der tierische Organismus. dafi
zwar im Zellenstaate jede Zellart ihren eigenen Stoffwechsel besitzt. dafi
jedoch die Flussigkeit, die gewissermafien direkt und indirekt alien Zellen
in gleiclier Weise dienen soli, in engen Grenzen unabhangig in ihrer Zu-
sammensetzung von den einzelnen Zellen wird. Weder die Korperzellen
werden vom Bluto aus Ueberraschungen aller Art ausgesetzt. noch werden
normalerweise dem Bluto Substanzen ubermittelt, die diesem fremdartig
sind.
Vollfiihrt eine Zellart ilu*en Stoffwechsel nicht in den fiir jede Orga-
nismenart festgelegten Bahnen, entlafit sie Stoffe, die noch Ziige der Eigen¬
art der betreffenden Zelle aufweisen, dann haben wir fremdartige. unge-
wolmte Produkte in der Lymplie, und falls liier der unvollstandige Abbau
nicht vollendet resp. der unrichtige Abbau nicht korrigiert wird, solche im
Blute. Direkte Versuche haben ergeben. dafi unter solchen Umstanden der
Organismus diesen Stoffen nicht welu-los preisgegeben ist. Er wehrt sich,
indem er in die Blut balm Ferment e abgibt. die das Fremdartige zerlegep,
bis indifferente Bausteine iibrig bieiben. Bei der Schwangerschaft konnten
z. B. Fermente nachgewiesen werden, die Placentaeiw-eifi zerlegen. Diese
neue Eigenschaft des Seriuns Schwangerer hat eine neue Methode zur Fest-
stellung der Schwangerschaft ergeben.
Im Blute auftretende, sonst nicht nachweisbare oder nur in geringer
Menge vorhandene Fermente weisen auf das Vorhandensein blutfremden
Materials hin. Dieses kann vom Darin infolge ungeniigender Funktion der
Darmfermente zur Aufnahme gelangt sein. Es konnen aber auch bestimmte
Zellarten Produkte aus ihrem Leibe entlassen haben, die ungeniigend
zerlegt sind. Dies< s Produkte konnen ilirerseits Storungen aller Art in be-
stimmten Zellkomplexen hervorrufen. Es konnen aber auch erst durch
erfolgenden Abbau in der Blutbahn auf ganz bestimmte Zellarten giftig
w r irkende Vcrbindungen entstehen.
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF MICHIGAN
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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 1S1
Diese Vorstellungen regen dazu an, imBlute bei solchen Erkrankungen,
fiir die wir eine bestimmte auBere oder innere Ursache nicht kennen, nach
bestimmten, anf gewisse Organe eingestellten Fermenten zu fahnden. Sie
liefern uns das feinste Reagens, das wir zurzeit besitzen. auf blutfremde
Produkte, und gleichzeitig enthiillen sie uns Storungen des Zellstoffwechsels,
die uns bis jetzt verborgen blieben. (Autoreferat.)
Diskussion.
Herr Leivandowsky-JSertin fragt an, ob etwas iiber eventuelle fermen¬
tative Prozesse bei der Muskeldegeneration bekannt ist.
Herr Abderhalden: Bei Muskeldegeneration nach Nervendurch-
schneidung muB man in erster Linie an autolytische Prozesse denken infolge
Wegfalls bestimmter Regulationen.
3. Herr Ahrens- Jena: Zur Zirkulation des Liquor cerebrospinalis.
In dem Kongorot fand Vortr. ein Mittel, das vom Liquor und Lymph¬
strom prompter transportiert wird als die sonst iiblichen Farbstoffe. Wenn
man diesen Farbstoff subaraclmoideal an die Gehirnoberflache bringt, so
dringt er durch die intraadvent it iellen Raume in das Gehirn ein und tritt
nach einiger Zeit ira Plexus und Ependym wieder zutage. Vortr. zeigt ein
derartiges Praparat vor. Da der Farbstoff bei solchen Versuchen nicht ent-
gegen dem Lymphstrom in die Ventrikel eindrang, muB er durch die Hirn-
substanz von der Gehirnoberflache in Ventrikel und Ependym gelangt sein.
Durch den standigen Transport abnormer Stoffwechselprodukte aus dem
Gehirn in das Ependym erklaren sich die Veranderungen geradc des Ep-
endyms bei der progressiven Paralyse. Wenn Vortr. die Gehirnarterien durch
Emboli verstopfte, so horte der* Lymphstrom im intraadvent it iellen
Raum der verstopften Arterie momentan auf. Somit scheint der Blut-
strom den Liquorstrom ein Stuck dadurch zu treiben. daB die jeweilige
Blutwelle das GefaBlumen etwas ausweitet, den intraadventitiellen Raum
an fortlaufender S telle komprimiert und so den darin befindlichen Liquor
vor sich hertreibt. Der leer gewordene intraadventitielle Raiun kann dann
aus dem subarachnoidealen Raum neuen Liquor ansaugen. (Autoreferat.)
Diskussion .
Herr Anfon-Halle: Fiir die Liquorbewegung muB die Venenbewegung
imd Venenstauung gleichzeitig mit in Betracht gezogen werden. Die
Stromung des Liquor gegen den Ventrikel zu hat schon Burkhardl an-
gegeben. Dieser Autor gibt zu, daB von den Ventrikeln aus andererseits nach
alien Orten die Saftstromung erfolgen kann. Es besteht also die Moglichkeit,
von hier aus nach den anderen Teilen des Zentralnervensystems Fliissigkeit
gelangen zu lassen, natiirlich wenn die Wege nicht verlegt sind. Was nun
die Venen betrifft, so haben unsere Operationen uns ergeben, daB auch
geringe Druckentlastungen ausreichen, tun die Venenbewegung ersichtlich
abzuandern. Insbesondere ist es auffallig. daB bei Operationen das Gehirn
mit dem Auge keine Pulsation erkennen laflt, und daB nach Entfernung von
relativ wenig Fliissigkeit- diese Gehirn be wegungen deutlicli herv^ortreten.
Es scheinen also nur geringe Druckdifferenzen zu geniigen, den Venenkreis-
lauf zu behindern. Andererseits beeintrachtigt ein bellinderter Venenkreis-
lauf die Stromung des Liquor. Wahrscheinlich werden die einzelnen Teile
des GroBhirns verschieden in Mitleidenschaft gezogen. Denn die Ein-
richtungen der Falx cerebri und ihre Venenmundungen sind im Stirnhirn
anders als im Hinterhauptshirn. Zu bemerken ist auch, daB man bei Er-
offnung oder Punktion des V r entrikels sich iiberzeugen kann, daB in einzelnen
Fallen der Liquor sich mit erstaunlicher Schnelligkeit erneuert, daB also
chemische oder anatomische Prozesse die Sekretion enorm steigern konnen
(z. B. bei Cysticercosis), wodurch an und fiir sich die Saftstromung wiederum
durch einen anderen Faktor beeinfluBt wird. Zum Schlusse sei noch auf
eine Tatsache hingewiesen, welche noch wenig erortert w\u*de: Bei den
Operationen ist ersichtlich, daB bei Collaps und Herzscluvache das ganze
Gehirn auffallig einsinkt, wohl durch mangelnde Fiillung der Arterien.
Go i -gle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
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1$2 Bericht liber die XVIII. Versammlung
Andererseits ist schon durch Druif nachgewiesen, daB selbst beim Verbluten
das Himvolumen wieder zunehmen kann. Wir wissen auch, daB das Gehim
bei relativ normalen Verhaltnissen die Schadelhohle viel mehr ausfiillt als
bei Col laps wahrend der Operation. Es scheint der Liquor die Moglichkeit
zu haben, in die Gewebe einzudringen und die Gewebsfceile auszufullen.
Herr Ahrens betont, daB die Blutwelle nur so lange als treibende Kraft
fiir den Liquorstrom angesehen werden miisse, als er sich neben der Blut-
bahn im intraadventitiellen Raume bewege; fiir die Weiterbewegung kamen
auch andere Faktoren in Betracht.
4. Herr Jaegrer-Halle: Ueber Goldsolreaktion im Liquor cerebrospinalis.
Die Lange sche Goldsolreaktion (Berl. klin. Woch. No. 19. 1912)
ist vom Vortr. mit M. Goldstein zusammen in 80 Fallen bisher nachgepriift.
Die Reaktio n ©rweist sich als eine auBerordentlich feine und erstreckt sich
wahrscheinlich ®uf alle im Liquor vorhandenen EiweiBkorper.
Eine auBerordentlich starke Ausflockung trat bei den 23 F&Ilen
von Paralyse ein, ebenso wie bei Langes 18 Paralysefallen; gleich starke
Reaktion ergaben die samtlichen Falle von Lues cerebrospinalis, so wie ein
Teil der Tabesfaile, wahrend andere Tabesfalle, bei denen zum Teil
Wassermami negativ war, eine schwache Ausflockung ergaben. Nur bei
einem HirnabszeB nach SchuBverletzung trat ebenso starke Ausflockung
ein wie bei Paralyse. Schwache Reaktion gaben auBer den schon er-
wahnten Tabesfalien auch multiple Sklerose, Himarteriosklerose und andere
organische Erkrankungen, femer mehrere Neurosen und Psychosen,
wahrend ein anderer Teil dieser letzteren, so wie Hydrocephalus und
Keratitis parenchymatosa, negativ war.
Verschiebung des Ausflockungsmaximums nach oben trat bei Tumor
cerebri auf. Falle von sicherer Meningitis haben sie noch nicht aufzuweisen.
Es kann deshalb ein Urteil dariiber, ob die Verschiebung des Ausflockungs¬
maximums nach oben von differentialdiagnostischem Werte ist, noch nicht
gef&llt werden; die Moglichkeit wird aber zugegeben. Die Ausflockungs-
kurven der verschiedenen organischen, nicht luetischen Nervenkrankheiten
zeigten bisher keine cliarakteristischen Unterschiede, dagegen waren die
starken Ausflockungen fiir metaluetische Erkrankungen charakteristisch
(den 1 Fall von AbszeB ausgenommen), bei Paralyse und Lues cerebro¬
spinalis in 100 pCt.
Es ist wiinschenswert, iiber diese Reaktion ein groBes Material zu
sammeln; sie kann in jeder Klinik bequem und schnell ausgefiihrt werden;
nur die Herstellung der Losung muB imter gewissen Kautelen erfolgen und
gelingt nicht immer gut. (Autoreferat.)
Diskussion.
Herr Zaloziecki- Leipzig weist darauf hin, daB die Goldsolreaktion als
sehr feine Kolloidreaktion von EiweiBgehalt, Lymphozytose und anderen
komplexeren Faktoren abhangig sei; daher ihre klinische Deutbarkeit eine
schwierige sein miisse. Qualitative Differenzen in der Reaktion, wie sie
Lange gesehen habe, konnte Zaloziecki bisher nicht beobachten. Es sei
vorlaufig vor irgendwelchen Schliissen, wie sie sich bereits in der neuesten
Literatur vorfinden, zu wamen. Da die Reaktion bei alien mbglichen
organischen Affektionen positiv sei, konne sie die Wassermann-Reaktion
nicht ersetzen. Die Beobachtung der einzelnen EiweiBphasen (Fibrin-
gerinnung, Nonne-Apelt, GesamteiweiB usw.) fiihre diagnostisch viel weiter.
Herr Jaeger halt doch fiir moglich, daB qualitative Unterschiede in
der Eiweiflzusammensetzung zu verschiedenen Goldsolreaktionen fiihren
konnen; bisher hat sich allerdings nur die Kurve bei Paralyse und Lues cerebri
als charakteristisch erwiesen.
5. Herr Neuendorff-Bernburg : Zur Be hand lung aufgeregter Geistes-
kranker.
Ich bitte nur ganz kurz auf einige Minuten um Ihre Aufmerksamkeit.
Es kommt mir darauf an, Sie damit bekannt zu machen, wie wir in unserer
Anstalt einen Teil unserer erregten Kranken behandeln, da wir, wie ich das
Gck igle
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 183
seinerzeit bei einer Versammlung in Jena in der Diskussion gelegentlich
andeutete, die Isolierraume ganzlich aufgegeben haben.
Ich will mich durchaus nicht darauf einlassen, die einzelnen Behand-
lungsweisen zu beleuchten, ob Dauerbad, Isolierraum, Bettbehandlung,
Packung oder Schutzbett den Vorzug verdient. Deis macht jeder, wie er es
fur richtig halt, wie seine Erfahrung ihn das gelehrt hat und vor allem wie
er in der Lage ist, seine Methode auszufiihren. Jeder muft sich nach seiner
Decke strecken. Je nach den Baulichkeiten, nach dem Platz, nach der
Moglichkeit, das geniigende Personal verwenden zu konnen, nach der Menge
der frisch zugefuhrten aufgeregten Kranken wird jede dieser Maftnahmen
in verstandiger Kombination vielleicht am Platze sein. Ob das Mittel, den
aufgeregten Kranken zu beruhigen, oder ihn an unsinnigen Handlungen, die
seine Aufgeregtheit mit sich bringt, zu verhindem, schon aussieht und man
deshalb den Isolierraum dem Schutzbett vorzieht, wie das von Bailer,
Allgem. Ztschr., Bd. 6, H. 2, vorgeschlagen ist, ware fiir uns gleichgiiltig.
Wenn nur das Mittel zweckentsprechend ist und eine dauernde Kontrolle
liber den Kranken ermoglicht.
Das Letztere aber leistet nach meiner Ueberzeugung der Isolier¬
raum nicht.
Noch eher konnte man das Schutzbett vorziehen, wie es von Walter
und Wolff beschrieben ist, da man hier eine dauernde Kontrolle ausuben
kann. (Allgem. Ztschr. 66. H. 6.)
Wir ersetzen das Schutzbett durch eine Hangematte, die nicht auf-
gehangt wird, sondem den im Bett liegenden Kranken umhiillt. Urn das
unbequeme Liegen auf den Knoten des Oewebes zu verhindern, wird der
untere Teil der Hangemate durch einen Segeltucheinsatz ersetzt, so daft ein
vollstandig glattes Lager vorhanden ist. Die Hangematte, in welcher sich
der Kranke im Bett befindet, wird an den beiden Stirnseiten desselben be-
festigt. Eine Schnur wird durch die offenen Seiten der Hangematte so durch-
gezogen, daft die Hangematte nach oben geschlossen ist. Die Schnur, welche
duren einen miteingedrehten farbigen Bindfaden kemitlich ist, kann jeder-
zeit schnell wieder entfemt werden.
In die Hangematte kommt Kopfkissen und je nach Bedarf Decke oder
Plumeau.
Die Kranken konnen sich so vollkommen frei bewegen, sie liegen im
Bett. konnen sich nicht an irgendwelchem harten Gegenstand (sei es das
Gitter von Holz oder Draht) verletzen, nicht das Bett ohne Zutun des Pflege-
personals verlassen und sind Tag und Nacht unter direkter Aufsicht.
Die9© Moglichkeit der dauernden Kontrolle war fur uns das Maft-
gebende.
' Die Unterbringung in die Hangematte nennen wir kurz Netzbehand-
lung, da bei unserer Anwendung die Hangematte der Funktion des Hangens
entkleidet ist und jedes ad hoc eingerichtete Netz denselben Dienst versieht.
Gewahlt wurde die Hangematte, da solche in der Anstalt zu anderen Zwecken
vorhanden waren, um ebenso wie wohl in anderen Anstaiten beispielsweise
korperlich Leidende im Freien in ruhender Lage imterbringen zu konnen,
weil sie verhaltnismaftig billig zu erlangen waren und einer besonderen
Anfertigung nicht bedurften. Schlieftlich war ihre Anwendung vor der Hand
ein Versuch, der spater w’eiter ausgebaut wurde.
Diese Methode hat sich seit 10 Jahren — so lange ist es etwa her.
daft in Treptow die Diskussion liber die zellenlose Behandlung gefiihrt
wurde — bei uns durchaus bewahrt und bildet im Verein mit Bettbehandlung,
Dauerbad und Verabreichung von Schlafmitteln bei strengem Individuali-
sieren die Behandlung unserer erregten Kranken.
Ungliicksfalle haben wir nicht zu verzeichnen geliabt.
Daft es notwendig ist, verschieden starke Netze zu haben, ist mit Riick-
sicht auf die verschiedenen Korperkrafte, z. B. bei tobsiichtigen epileptischen
M&nnem, verstandhch.
Ich bemerkte, daft ich Ihnen mitteilen wollte, wie ein Teil unserer er¬
regten Kranken behandelt wird, und deswegen ist nicht zu verschweigen,
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Bericht Tiber die XVIII. Yersarnmlung
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dafl 68 Kranke gibt, die das Netz gar nicht vertragen und sich darin so angst-
lich gebarden wie ein eingesperrter Vogel, wahrend sie das Dauerbad aus-
gezeichnet vertragen. Ebenso gibt es umgekehrt Kranke, die im Dauerbade
einfach unmoglieh sind. wenigstens bei uns, die wir einfaehe Badewannen
ohne besondere Vorrichtnng haben, die riicksichtslos aus der Wanne streben.
mit aller Gewalt sich widersetzen, daher viel Personal verbrauchen, aber im
Xetz sich ganz still verhalten.
Wir haben diese Erfahrimg u. a. bei periodisch in die Anstalt wieder-
kehrenden Kranken gemacht.
Dieselbe Form, deren Diagnose bei der langen, sich auf Jahre er-
streckenden Dauer feststeht, muBte bei verschiedenen Personen einer ver-
schiedenen Behandlung unterworfen werden. d. h. die eine kam bei ihren
Riickfallen inimer wieder in das Netz, die andere in das Dauerbad. Von
Interesse ist es, daC eine der Kranken, die sonst in ihrer manischen Phase
immer isoliert gewesen, als sie, da Isolierraume nicht mehr vorhanden
waren, ins Netz kam, sturmisch nach dem Isolierraume verlangte, ..urn sich
austoben zu konnen'*. Es wurde mit dem Dauerbad versucht. und seitdem
hat auch diese Behandiung den gewiinschten Erfolg.
Kranke, die friiher isoliert waren, haben mir wiederholt gesagt, als
sie klar wurden, da!3 sie init der jetzigen Behandiung zufrieden sind. Der
Isolierraum, wemi er auch ausgiebiger in der Bewegung gewesen ware, habe
inmier etwas Unheiinliches fiir sie gehabt, schon deswegen, weil sie sich
so allein und abgesehlossen gefuhlt batten.
Das Netz hat auch eine gewisse suggestive Wirkung. Schon das ein-
fache Legeii in das Netz, ohne es zu schliefien, geniigte bei einigen Kranken,
um sie im Bett zu halten. Bei einer Kranken mit Vorstellungen perseku-
torischen Inhaltes machten wir die Beobachtung, dafi sie z. B. zur Be-
friedigung eines Bediirfnisses mu* so lange auBerhalb des Netzes blieb, wie
es durchaus notwendig war, und dann sofort wieder die Umhiillung be-
gehrte, scheinbar in dem Gedanken, dafi ihr im Netze nichts geschehen
konnte. Regel ist, daO, sobald es irgend geht, das Netz geoffnet oder ganz
entfernt wird.
Als Schadigungen durch das Netz konnte man anfiihren, dafi nament-
lich bei Frauen die Haare in Unordnung geraten und daher of ter gekammt
werden miissen. Bei sehr zarter Haut und grofier Unruhe kornrnt auch ein-
mal eine durchgeriebene Stelle vor. Docli haben wir nie davon iible Folgen
gesehen, auch ist das durch Aufmerksamkeit zu vermeiden und fallt im Ver-
gleich zum Vorteil der Methode nicht schwer ins Gewicht. Im ubrigen hat
auch die Badebehandlung nach dieser Richtung gewisse Schattenseiten. Ich
darf nui an die Badeekzeme erinnem.
Die Einzelbeobachtungen, die fiir die Netzbehandlung sprechen, hier
weiter auszufuhren. wiirde unsere Zeit zu sehr in Anspruch nehmen, ebenso
eine Aufzahlung der Formen der Seelenstorungen, die sich fur Netzbehand¬
lung eignen oder nicht.
Mit der Methode der Netzbehandlung im Verein mit Dauerbadern und
Schlafmitteln haben wir fiir unsere Verhaltnisse den Isolierraum aufgeben
konnen.
Das in den letzten 10 Jaliren zugewachsene Personal kennt keine
andere MaBnahme fiir unruhige Kranke.
Das Netz ist Schutz fiir den Kranken und die Umgebung des Kranken
nicht minder fiir die nahe befindliclien Sachen (Fensterscheiben usw.). Es
ist eine gewisse Erleichterung der Bettbehandlung und spart Personal.
Wir haben mit dieser Behandiung durchaus befriedigende Result ate
erzielt und mocht^n sie nicht mehr entbehren.
Da wir 10 Jahre der Erfahrimg hinter uns haben, in der wir die be-
sprochene Methode ausgebaut haben, wollte ich Ihre Aufmerksamkeit
darauf lenken.
Man kann uns nicht entgegnen. daB wir nicht so schwer Kranke haben
und deshalb den Isolierraum entbeliren konnen. Schon deswegen nicht,
weil wir alle Kategorien von (h»isteskranken in unserer Anstalt haben iniissen
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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 185
und weil wir nicht in der Lage sind, unsere Kranken in cine andere Anstalt
abschieben zu konnen. Es gibt also reeht viele erregte Kranke bei uns.
Was uns noch veranlaBt hat, die Netzbehandlung auszubauen, liegt
in unserem nicht groBen Lande, wo die Beriihrung zwischen Heilanstalt und
Publikum eine sehr innige ist, und weil wir einen verhaltnismaBig hohen
Prozentsatz, iiber 17 pCt. Kranke besserer Klassen haben.
Fiir das Publikum aber ist eine Hangematte etwas Harmloses, walirend
man das vom Isolierraum oder Einzelzimmer nicht sagen kann.
Sie werden mir glauben. dafl ich am liebsten auch ohne Netz aus-
gekommen w&re. Das aber hat sich bei uns nicht verwirkLichen lassen. Zu
der Netzbehandlung zwang uns die Not. Wir hatten 1901 eine Patientin,
die 3 Jahre bei uns war und dann genesen entlassen werden konnte. Die
letzte Nachricht stammt vom Friihjahr dieses Jahres. Sie ist bis dahin
gesund geblieben. Sie machte melirere Perioden der auBersten Unruhe
durch. Dabei stiirzte sie sich rucksichtslos aus dem Bett und suchte sich auf
alle mogliche Art zu schadigen. Es waren meist 4 Personen notig. die P.
zu halten. Bei dieser Tag und Nacht dauernden Anspannung wurde das
Personal verbraucht. Im Bade ging es nicht; mit dem Wickel hatten wir
schlechte Erfahrungen gernacht; Hypnotika konnten in so groBem UebermaB
nicht gegeben werden; der Isolierraum war bei dieser Form der Erkrankung
nicht am Platze; denn die Kranke hatte sich ohne weiteres den Sehadel ein-
gerannt. Da kam uns der Gedanke, es mit einer Hangematte zu versuchen.
die schwebend befestigt werden sollte. Wunderbarerweise war das gar nicht
notig. Die Kranke beruliigte sich, als sie mit der Hangematte ins Bett gelegt
wurde, wie ja solche verbluffenden Momento bei Katatonikern nichts
Seltenes sind. und seit der Zeit haben wir die Netzbehandlkng eingefilhrt und
ausgebaut.
Fiir die, welche mir entgegenhalten, daB Isolierraume notig sind. urn
die laut stbre'nden P^lemente aus den Wachsalen zu entfernen, mochte ich
lunzufugen, daB ich auf der Frauenabteilung 5, darunter einen kleinen
teilbaren zu 6 imd 3 Personen, und auf der Mannerseite zurzeit 4 Wachsale
eingerichtet habe und der fiinfte noch da zu gebaut werden soil.
Wir sind also in der Lage, die Krankheitsformen auseinanderzu-
halten.
Ich mochte dabei bemerken, daB ich gerade bei den seit Jahrzehnten
in die Anstalt wiederkehrenden, z. B. manischen Kranken. die friiher isoliert
wurden, nicht die Erfahrung gernacht habe. daB die Krankheit im lsolier-
rauin anders verlaufen ist als im Wachsaal. ja ich mochte fast sagen, daB bei
der jetzigen Behandlung das ,,Austoben 4 ‘ nicht so grell in die Erscheinung
tritt. Das Dauerbad ist eine gewisse Isolierung, bei der Netzbehandlung
trifft es in keiner Weise zu.
Ich habe uber die Netzbehandlung auf anderen Anstalten nichts gehort
oder gelesen. Es wiirde mich freuen, wenn ich durch meine Anregung dort,
wo die Verhaltnisse es erlaubsn. zu einem Versuch ermuntert hiitte.
(Autoreferat.)
6. Herr Lewandowxky- Berlin: Beobachtungen iiber die Reflexe naeh
Riickenmarksverletzung.
Vortr. berichtet iiber Versuche an einer Patientin, deren Riickenmark
oberhalb des 7. Dorsalsegments vollig durchschossen war (Autopsie). Die
Kranke hatte 14 Tage nach Eintritt der Paraplegie weder Haut- noch Sehnen-
reflexe. Es gelang dann durch Faradisation der unteren Extremitaten die
Keflexerregbarkeit w'ieder wachzurufen. Nach langerem Faradisieren einer
Extremitat erschienen zuerst Hautreflexe, dann der Achillessehnenreflex.
Dies© Erhohung der Erregbarkeit uberdauerte die elektrische Keizxmg
langere Zeit. Danach verschwanden zuerst die Sehnenreflexe wieder dann
verschwand die Erregbarkeit der Hautreflexe. Diese Versuche konnten
wahrend der 14 Tage. welche die Patientin noch lebte, immer wieder be¬
st atigt werden. Die Patellarreflexe konnten nicht ausgelost werden. Vortr.
erinnert an Versuche von GoUin, dem es in einigen Fallen gelungen war.
bis zum 10. Tage nach der Verletzung die Patellarreflexe durch Faradisieren
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lSt) Bericht liber die XVIII. Versammlung
wieder hervorzurufen, ohne dafi er auf die anderen Reflexe geachtet h&tte.
Die Wirksamkeit der Faradisation beruht unzweifelhaft auf der sensiblen
Reizung, die das Riickenmark reflektorisch beeinfluBt. (Ausfiihrliche Mit-
teilung in der Ztschr. f. d. ges. Neiirol. u. Psych.) (Autoreferat.)
Disku88ion .
Herr Liepmann- Berlin fragt an, ob andere sensible Reize mit derselben
Wirkung angewandt worden sind. Das wiirde sichern, daB der faradische
Strom nur als sensibler Reiz wirkte.
Herr Jacobsohn- Berlin kann in der voriibergehenden Erzielung der
Reflexe durch peripher ausgeiibte Reize noch keinen vollen Beweis dafur
sehen, dafi der Ausfall funktionell bedingt sei. Das ware nur der Fall, wenn
eine dauemde Wiederkehr oder eine linger dauernde Wiederkehr zu er-
zieien ware.
Herr Saenger- Hamburg fragt, ob in dem vorgetragenen Falle ana-
tomisch nachgewiesen worden ist, dafi das Riickenmark voUstdndig quer
durchtrennt war.
Herr Lewandowsky- Berlin: Herm Liepmann ist zu erwidem, daB die
doppelseitige Wirkung der Faradisation bei Deutung der Wirkung durch
Beeinflussung der Muskulatur unmoglich ist. Auch gelang es, wenn die Er-
regbarkeit einen gewissen Grad erreichte, durch oft wiederholtes Streichen
der FuBsohle ohne Faradisieren die Erregbarkeit zu steigern.
Herm Jacobsohn ist zu erwidern, daB die anatomische Sch&digung
doch nur aus der fehlenden Funktion gefolgert wurde. Wenn die Funktions-
fahigkeit nachgewiesen ist, ist eine nicht nachweisbare anatomische
Sch&digung nicht mehr anzunehmen.
Herm Saenger ist zu erwidern, daB an dem Vorkommen von Sehnen-
reflexen bei to taler Querdurchtrennung nach Ausweis der Literatur ( Kausch)
nicht zu zweifeln ist. In dem vom Vortr. untersuchten Falle war schon bei
der Operation zur Entfernung der Kugel aus dem Wirbelkanal die total©
Querdurchtrennung festgestellt worden.
7. Herr Anfcro-Halle: Erfolgreiche Behandlung des Status epilepticus
mit Balkenstich.
Herr Anton stellt ein 11 jahriges M&dchen vor, das an epileptischen
Krampfen litt mit schweren BewuBtseinsstorungen.
Das Kind ist mittels Zange nach langer Geburtsdauer entbunden.
Anfangs entwickelte es sich gut. Im zweiten Lebensjahr aber stellten sich
Kr&mpfe ein, nachdem schon vorher Andeutimgen sich gezeigt hatten. Es
konnte daher nur hauslicher Unterricht erteilt werden. In diesem Jahre trat
eine Steigerung der Anfalle auf, denen Dammerzustande mit Benommenheit
folgten. In der letzten Zeit lieB sie alles unter sich. verstand keine Frage
und befolgte keine Aufforderung. Trotz sorgsamster Behandlung mittels
Medikationen, Diat und Pflege war keine Besserung zu erzielen. Vielmehr
h&uften sich die Anfalle dermaBen, daB 2 mal Status epilepticus beobachtet
wurde. Das Rontgenbild ergab eine auffallige Verdiinnung des ganzen
Schadels. wobei nahe der Mittellinie stark erweiterte Venen nachgewiesen
werden konnten. In einer anfallfreien Zeit wurde sie, da die schwere Be¬
nommenheit nicht wich, der chirurgischen Klinik (Bramann) zugefuhrt,
wo der Balkenstich vorgenommen wurde. Nach der Eroffnung des Schadels
zeigte sich die Dura stark gespannt. Schon unter ihr hatte sich Liquor an-
gesammelt. Nach Einfiihrung der Kanlile floB unter erheblichem Dmcke im
Bogen auch neben der Sonde Fliissigkeit heraus. Bei der Freilegung der
Gehirnoberflache waren keine Hirnbewegungen sichtbar. Nach AbfluB des
Liquor kehrten die Gehimbewegungen in voller normaler Deutlichkeit
wieder. Die Ventrikel konnten mittels der tastenden Sonde bei der Operation
als erweitert nachgewiesen werden. Seither wurde die Patientin luzider.
Die Anfalle sistierten. Es erfolgte eine relativ rasche Kl&rung und Ordnung.
14 Tage nach der Operation schrieb der Vater: Sie ist andauernd klar,
interassiert sich fiir alles, zeigt ein gutes Ged&chtnis fiir ihre Erlebnisse; die
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Stumpfheit hat aufgehort; die Kleine ist lebhaft, spielt Klavier. Seither
sind 3 Monate vergangen. ohne da!3 ein Krampfanfali sich zeigte.
(Autoreferat.)
Disknssion .
Herr Bimwanger- Jena fragt an, ob nicht bei dem Kinde intervallare
Halbseitensymptome beobachtet worden sind. Er weist darauf hin. daC
organische Epilepsie mit Hydrocophalie nach traumatischen und infektiosen
Erkrankungen sich oft erst mehrere Jahre nach der urspriinglichen Er-
krankung einstellen kann. Falle, die irrtumlich der konstitutionellen
Epilepsie zugezahlt wurden.
Herr Anton: Anzeichen von Tumor, ebenso latente Herdsymptome
konnten nicht nachgewiesen werden.
8. Herr Roper- Jena: Zur Aetiologie der multiplen Sklerose.
Einleitend stellt Vortr. die verschiedenen Ansichten iiber die Ent-
stehung der multiplen Sklerose gegeniiber. Er teilt dann einen Fall von
multipler Sklerose bei Briidern mit. In der Literatur sind noch 13 Falle von
multipier Sklerose bei Geschwistern zerstreut; hierzu kommt ein bisher noch
nicht veroffentlichter Fall, der in der medizinischen Klinik Rostock be¬
obachtet ist. Weiterhin hat Vortr. die ihm zur Verfiigung stehenden
Krankengeschichten in bezug auf die atiologischen Momente fur die Ent-
stehung der multiplen Sklerose hin durchgearbeitet und die Resultate zu-
sammen mit einer Reihe anderer Statistiken in einer Tabelle vereinigt.
Es gelang so, 763 Falle zusammenzutragen.
Es ergab sich das Verhaltnis von Frauen zu Mannem wie 7 : 10.
Hereditat fand sich in 20 pCt. Disposition in 18 pCt. Die Moglichkeit von
Intoxikationen bestand in 9 pCt. der Falle. Die ungemeine Haufigkeit einer
voraufgegangenen Infektionskrankheit, die von vielen Autoren hervorge-
hoben wird, konnte Vortr. nicht bestatigt finden. Nur in 8 pCt. der Falle
konnte eine voraufgegangene Infektionskrankheit als atiologisches Moment
mit einiger Sicherheit angesprochen werden. Korperliche Traumen waren in
6 pCt. die wahrscheinliche Ursache fur die Entstehung des Leidens.
psychische Traumen etwa in 3 pCt. In 179 Fallen der Frauen waren die
Graviditat und das Wochenbett die Zeit fur die Entstehung des Leidens;
Verschlimmerung des schon bestehenden Leidens durch Graviditat oder
Wochenbett fand sich in 5 pCt. Ueberanstrengung war in 337 Fallen 20 mal
angegeben, d. h. etwa in 6 pCt. Bei den 763 Fallen fand sich die Erkaltung
als Entstehungsursache 89 mal, das sind etwa 12 pCt.
Vortr. kommt zu dem Resultat, dafi in etwa 50 pCt. exogene Momente
als Entstehungsursache angegeben werden, wahrend in 80 pCt. Hereditat
und Disposition den Boden fur die Krankheit darbieten. Er kommt zu
folgender Theorie iiber die Entstehung der multiplen Sklerose:
Es ist durchaus unwahrscheinlich, daO allein durch &uflere Schadlich-
keiten das Leiden entstehen kann. Denn diese atiologischen Faktoren treffen
doch bei allzu vielen ganz gesunden Individuen zu; zum wenigsten miifite dann
die multiple Sklerose ein sehr viel hiiufigeres Leiden sein. Es ist das Zusammen-
treffen einer angeborenon oder erworbenen verringerien Widerstandsfahigkeit
des Zentralnervensystems und einer der angegebenen Schddlichkeiten zur Ent¬
stehung der multiplen Sklerose notwendig. Fraglos sind noch nicht allc
diese aufleren Schadlichkeiten bekannt. (Autoreferat.)
9. Herr Kluge-Totsdnin : Wie weit ist bis jetzt die praktische Mitarbeit
des Psychiaters bei der Fiirsorgeerziehung gediehen?
Seitens des Vorstandes des Allgeineinen Fiirsorge-Erziehungstages
ist ein von dem Vortr. abgefaflter Fragebogen an samtliche Bundesstaaten
und Kommunalverbande des Deutschen Reiches versandt worden, in dem
iiber die praktische Mitarbeit des Psychiaters, wie iiber die verschiedenen
psychiatrischen Fragen iiberhaupt Feststellungen gemacht werden sollten.
Der Fragebogen ist bis April d. Js. ausgefiillt worden; es fehlen nur die Er-
gebnisse des Kommunalverbandes Berlin und Rheinprovinz. Der Vortrag
beschrankt sich auf die Antworten des preufiischen Provinzialverbande,
da diese nur eine gewisse Einheitlieheit bieten. Im einzelnen werden
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Bericht iiber die XV r III. Yersammlung
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die Fragen nach der psychiatrischen Untersuchung der Jugendlichen nocli
bei der Einleitung des Fiirsorgeerziehungsverfahrens selbst beriihrt, sodann
die der Untersuchung naeh der Ueberweisung, ferner die nach dein
Vorhandensein von Beobachtungsabteilungen, nach der Zahl der jeweilig
beobachteten Fall©, nach der etwaigen Einlieferung besonderer Fragebogen
zur Ermittlung pathologischer Elemente und nach der Schaffung von
psychiatrischen Beratungs- und Zentralstellen. Die ferneren Punkte be-
schaftigen sich mit der Festsetzung des Prozentsatzes der als abnorm zu
erachtenden Zoglinge. mit ihrer Yersorgung in Unterklassen und Hilfs-
schulen. mit ihrer Unterbringung in Idioten-. Epileptiker- und Irren-
anstalten und mit der Einrichtung besonderer Abteilungen oder Anstalten
fur die Klasse der psychopathischen Zoglinge. SchlieBlich wird noch die
Entmiindigungsfrage beziiglich der aus der Fiirsorgeerziehung aus-
sclieidenden Zoglinge beriicksichtigt und als letzter Punkt die nach der
Notwendigkeit der Unterbringung friiherer Fiirsorgezoglinge in Idioten-,
Epileptiker- und Irrenanstalten.
Von besonderer Wichtigkeit erscheinen die Fragen nach der Bereit-
stelhmg besonderer Beobachtungsabteilungen und nach der Errichtung be¬
sonderer Abteilungen oder Anstalten fiir die psychopathischen Zoglinge.
Hier wurde die Mitarbeit des Psychiaters von erhebliclier Bedeutung werden.
Der Vortrag konnte nur kurze statistic he Daten bringen; er erscheint
ausfiihrlich in der Vogt-Weygandtschen Ztschr. f. d. Erforschung und Behand-
lung des jugendlichen Schwachsinns. (Autoreferat.)
10. Herr Binsuanger- Jena: 1. Ueber Pseudomyasthenle.
Die Beobachtung betraf einen Fall, der klinisch das typische Bild der
Myasthenia gravis pseudoparalytica dargeboten hatte und bei dem die
mikroskopische Untersuchung eine groBere Zahl miliarer nekrotischer Herde
in der Medulla oblongata aufdeckte.
A. H., 34 Jahre alt, erkrankte im Fruliling 1909. Zuerst stellte sich
Flimmern vor beiden Augen ein, dann wurde die Sprache langsamer,
undeutlich; die Hand© wurde n schwach, dafi ihnen gelegentlich Gegenstande
entfielen. Feinere Bewegungen, z. B. Kleidzuknopfen, wurden allmahlich
unmoglich. Beim Haarmachen koimte sie die Arme nicht mehr in die Hohe
bringen. Es stellten sich Kau- und Schluckstorungen ein. Fliissigkeit kam
ofter wieder zur Nase heraus, feste Bissen blieben im Halse stecken. Dann
stellte sich im Laufe der Sommermonate Schwache der unteren Extremitaten
ein. Sie knickte auf der Treppe zusammen und konnte nicht mehr weit
gehen. Auch der Riicken war allmahlich an der Muskelschwache beteiligt ;
sie konnte sich im Bett nicht mehr aufrichten. Im Winter klagte sie ofter iiber
Doppeltsehen; der Umgebung fiel auf. daB sie schielte. Alle diese Symptome
der Muskelschwache waren morgens geringer und steigerten sich im Laufe
des Tages. Es wurde besonders deutlich an der Sprache, die morgens klar
und verstandlich war. gegen Abend immer undeutlicher wurde. Die rasche
Ermiidbarkeit war ihr beim Kauen selbst aufgefallen.
Aufnahme in die Klinik zu Jena am 9. VIII. 1910.
Aus dem Status sei hervorgehoben: Mittellappen der Schilddriise etwas
vergroBert. Beiderseits Ptosis. Augenzukneifen gelingt beiderseits nicht ganz.
Leichter Lagophthalmus. Hechter Abducens leicht paretisch. Beim Blick
nach unten treten Doppelbilder auf. die neben-. beim Blick nach oben iiber-
einander stehen. Corneal- und Konjunktivalreflex erhalten. Pupillenreaktion
normal. Leichte Parese des Mundfacialis. Mundspitzen und Beickenaufblcwen
unmoglich. Beide Mundwinkel hangen. Zunge nur wenig iiber die Unterlippe
vorgestreckt; lebhafte fibrillare Unruhe. Uvula nach rechts. Schwache
symmetrische Innervation des Gaumensegels. Sprachartikulation st«u*k
verwaschen; leicht naselnd. Grobe motorische Kraft der oberen Extremit&ten
stark herabgesetzt. Schulterheben noch ziemlich kraftig. Doch gelingt
Hochheben der Arme iiber den Kopf mu* unter lebhaften Zitterbewegungen.
links starker ausgepragt als rechts. Alle Arm-, Hand- und Fingerbewegungen
ausfuhrbar, aber schwach. Beinbewegungen ziemlich kraftig, doch rasche
Ermiidbarkeit. Gang ohne Besonderheiten, langsam: rasche Ermiidbarkeit.
Gck igle
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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 189
Patientin erholte sich erst w&hrend des klinischen Aufenthaltes
(leichte Massage, Fichte nnadelbader. Darreichung von Arsen); Gewichts-
zunalnne. 1m November wird bemerkt, daB die rechte Zungenhalfte leicht
atrophisch ist. Kehikopfspiegelbefund normal. Sie kann die erste Halfte
eines Butterbrotes noch gut kauen, bei der zweiten Halfte versagt sie infolge
Enniidung. Dynamometrische Untersuchungen in den Morgen- und Abend-
stunden ergaben nur geringfiigige und unregelmaBige Unterschiede. Da-
gegen ist die Ermiidbarkeit bei der Sprachartikulation offensichtlich;
morgens konnte sie bis zu 70 Zahlen zahlen, abends bis zu 27. Feinere Zungen-
bewegungen unmoglich. Die myasthenische Reaktion war nicht sicher
nachzuweisen.
Ende November stellte sich Husten, Fieber und ziehende Schmerzen
im ganzen Korper ein, Anfalle von Herzschwache und Atemnot, voriiber-
gehend Durchfalle.
Am 27. Erstickungsanfall. da sie einen Schleimklumpen nicht lieraus-
wiirgen konnte.
Am 29. plotzlicher Tod ohne dyspnoische Erscheinungen.
Die Autopsie (Prof. Bo file) ergab als Todesursache akute eitrige
diffuse Bronchitis und Kapillarbronchitis mit Bildung peribronchitischer
Herde.
Gehirngewicht 1270. Die makroskopische Untersuchung des Gehirnes
ergab nichts Besonderes. Bei der mikroskopischen Durchforschung fanden
sich in der unteren Halfte der Medulla oblongata in der Hohe des Hypo-
glossus-Trigeminuskernes mehrere miliare altere nekrotische Herde ohne
jede entzundliche Reaktion. Auf einem Frontalschnitte wurden 7 solcher
Herde gez&hlt. und zwar einer im linken Trigeminuskern. ein zweiter im
linken Hypoglossuskern. ein dritter in der Nahe des Nucleus cochlearis, ein
vierter und funfter in der linken Pyramide. In der rechten H&lfte der
Medulla fand sich im Tract us thalamoolivaris und in der Pyramide je ein
Herd.
Die mikroskopische Durchforschung der peripheren Nerven ergab
nichts Besonderes. Auffallend war bei der Untersuchung der oberen Extre-
mitat (Biceps) das Vorhandensein einer groBeren Zahl auffallend schmaler
Muskelfasern mit deutlicher Vermehrung der Sarkolemmkerne. Die Quer-
streifung war uberall gut erhalten.
2 . Trepanation bei Hirntumor; Ruckbildung desselben.
Im zweiten Falle hatte sich die iiberaus seltene Gelegenheit geboten.
einen operativ behandelten Fall von Tumor cerebri 12 Jahre post operationem
anatomisch zu untersuchen. Der operative Eingriff erstreckte sich nur auf
die Oeffnung der Schadelkapsel und Druckentlastung. Durch den operativen
Eingriff war ein groBer Teil der schweren lebensbedrohenden Krankheits-
erscheinungen geschwunden und als bleibendes Ausfallssymptom die
Hemianopsie iibriggeblieben. Es ergab sich der seltene anatomische Befund,
daB der Tumor zu einer derben, fibrosen, gliomatosen Masse geschrumpft
war.
A. T., Bahnbeamter, 58 Jahre alt. Aufgenommen 28. XII. 1897.
Der friiher gesund aussehende Mann bot zuerst in seinem 43. Lebens-
jahre die Anzeichen einer geistigen Veranderung dar. Er wurde phlegmatisch,
faul. vergeBlich, er konnte selbst geringe Mengen Alkohol nicht mehr ver-
tragen und machte schon nach 1—2 Glas Bier den Eindruck eines Be-
trunkenen.
Nach einem psychischen Shock gelegentlieh eines Eisenbahnungliicks
(ca. 1 \ 2 Jahr spater) wurde er angstlich erregt und klagte liber lahmungs-
artige Schwache der rechten Korperhalfte mit ziehenden Schmerzen daselbst.
Er konnte nur miihevoll schreiben und nicht mehr telegraphieren. Der
Arzt diagnostizierte einen Schlaganfall. T. klagte in der Folge immer iiber
,,rheumatische“ Schmerzen, besonders in der rechten Korperhalfte. Es
entwickelte sich ganz allmahlich eine Parese der rechten Korperhalfte. Die
Sprache wurde schwerfallig. Pat. klagte iiber undeutliches Sehen. Nach
Angabe der Frau konnte er besonders Gegenstande, die auf seiner rechten
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190
Bericht iiber die XVIII. Yersammlung
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Korperseite sich befanden, nieht melir sehen. Er wurde stumpfsinnig, teil-
nahmlos, vergefilich, antwortete oft ganz unklar. Zugleich stellte sich
Schwerhorigkeit ein. 3 Wochen vor der Aufnahme in die Klinik gesellte
sich taumelnder Gang hinzu und ofter unwillkiirlicher Abgang des Urins.
Bei der ersten Untersuchung fand sich rechtsseitige Parese des Augen-
und Mundfacialis, rechte Pupille > als die linke, Lichtreaktion rechts tr&ger
und weniger ausgiebig als links. Zunge deviiert spurweise nach rechts,
starke fibrillare Zuekungen, Armbewegungen beiderseits schwach. Gang
unsicher; das rechte Bein wird leicht nachgeschleppt. Bei FuBaugenschluB
f&llt Pat. nach rechts und hinteniiber. Sehnenphanomene beiderseits in
gleicher Weise gesteigert; rechts FuBclonus angedeutet. Geruch rechts>>link8.
Gehor beiderseits herabgesetzt. Die Gesichtsfelder zeigten eine ganz aus-
gepragte rechtsseitige homonyme Hemianopsie. Ophthalmoskopisch fand
sich am rechten Auge eine deutliche Papillitis n. optici. Sprachartikulation
undeutlich, leicht hesitierend.
Psychischer Status: Pat. meist teilnahmslos, schlafrig, ofter unrein;
schlechter Schlaf, nachts oft angstlich erregt. Klagt iiber nachtliche Yisionen
(schwarze Gestalten). Deutliche Merkdefekte, Erschwerung aller in-
tellektuellen Leistungen: kann z. B. die Wochentage nicht ordentlich
hintereinander aufzahlen. Vorgehaltene Gegenstande benennt er oft falsch.
Auch wenn er sie betastet, findet er nicht die richtige Bezeichnung. Einzelne
Buchstaben benennt er beim Lesen ganz richtig, vennag aber oft nicht die
einfachsten Worte zusammenhangend zu lesen. Puls klein, 76, ofters Brech-
neigung, Singultus. Ofters spontane Kopfschmerzen, die auf Stirn und
Hinterkopf lokalisiert werden.
Der weitere Yerlauf der Behandlung zeigt eine deutliche Steigerung des
rechten Kniephanomens und deutliche FuBldoni rechts. Dynamometrisch
Handedruck rechts betrachtlich < links. Somnolenz und Unreinlichkeit
nimmt zu. Keine hemianopische Pupillenreaktion. Schrift wird fast
unleserlich. Deutliche Pulsverlangsamungen. Parapraktische und para-
phasische Storungen. Mundfacialis rechts starker paretisch, fibrillare
Zuekungen im Mundfacialis. Leichte Atrophie des rechten Oberschenkels.
Keine Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit.
Im Februar 1898 deutliche Retropulsionen bei Gehversuchen. Linke
Papille verwaschen. Zunehmende Somnolenz.
26. II. 1898. Operation in der chirurgischen Klinik: AufmeiBelung des
Schadels hinter dem linken Tuber parietale. Dura prall gespannt; Gehim-
oberflache nach Inzision der Dura sehr blaB. wenig pulsierend. Windimgen
plattgedriickt; GefaBe wenig gefiillt. Bei Punktion entleert sich reichliche
Menge klarer Fliissigkeit mit Einsinken des Gehims. Es findet sich nirgends
auf der freigelegten Gehirnoberflache eine krankhafte Veranderug.
Wahrend des Heilungsverlaufes ofters geringe Temperaturerhohimgen.
Dann fortschreitende auffallige Besserung des psychischen Verhaltens. Pat.
wird klarer, reinlicher. Die Sprache bessert sich. Doch sind noch trans-
kortikale motorisch-aphasische Storungen deutlich erkennbar. Geistig rascli
ermiidbar. Die Stauungspapille ist gegen friiher entschieden zuriick-
gegangen.
5. IV. Genaue Analyse der Sprachstorung.
1. Aufforderungen werden langsam und zogernd, aber meist richtig
ausgefuhrt. Dabei tritt eine deutliche Hemmung der Auffassung zutage,
und oft fiihrt erst eine wiederliolte Aufforderung zum Ziel.
,,Reichen Sie mir die Hand!* 4 — Reicht die linke (!).
..Die rechte!“ — Zogert, dann schwerfallig die rechte.
Bei Wechsel komplizierterer Bewegungen, z. B. Oeffnen und SchlieBen
der Augen und des Mundes, tritt deutliche lntentionsataxie ein.
2. Bezeichnung optischer Eindrucke.
Pat. benennt eine Anzahl alltaglicher Gebrauchsgegenstande richtig.
andere falsch. Teils suchf er sich mit Umschreibungen und mit Ausfiiichten
zu helfen. Ermiidet rasch und findet dann gar keine Namen mehr.
Beispiele. Pat. benennt gesehene Gegenstande:
Schlusselbund — richtig.
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Bleistift — Bleifeder (zogernd, suchend).
Streichholz — ?
„Ist das nicht ein Streichholz ?“ — ,,Ja, ein Streichholz.“
Streichholzschachtel — ,,Auch ein Streichholz."
Den Gebrauch dieser Gegenstande kennt er nur mangelhaft, z. B.
sucht er lange vergebens vora Streichholz Feuer zu bekommen, er findet die
Reibfl&che nicht, nimnit das Holz falsch in die Hand, bekommt dann endlich
Feuer, weiB aber auch jetzt die Benennung nicht zu finden, trotzdem er sie
wenige Sekunden vorher gehort und ausgesprochen hat. Er kann auch
den Gebrauch nicht beschreiben: ,,Man nimmt es und legt es daneben."
3. Nachsprechen intakt.
Bei schwierigen Worten rasch Enniidung, die durch relativ kurze
ESrholungspausen sich ausgleicht. MiBerfolge erzeugen angstliche Erregung.
Er wird verlegen, greift sich an die Stirn, stammelt Entschuldigungen.
4. Perzeption vorgesprochener Worte und Laut verstandnis.
Vorgesprochene Worte werden nicht nur als solche identifiziert,
sondem auch teilweise in ihrer Bedeutung erkannt, da er Aufforderungen
noeist richtig ausfiihrt.
Das Wortverstandnis erstreckt sich aber mehr auf ganze Satze und
gebr&uchlichere Worte fur allt&gliche Gebrauchsgegenstande z. B. Loffel,
Oabel, Messer, Kamm, Biirste usw. Sie werden meist in ihrer Bedeutung
erkannt (sekundare Identifikation nach Wernicke ), weniger gebrauchliche
Worte dagegen versteht Pat. nicht. Es wird ihm eine Reihe Bezeichnungen
von vorgelegten Gegenstanden vorgesagt; er soil die Objekte heraussuchen.
Uhrschliissel — identifiziert er nicht mit dem Objekt.
Baum — nicht.
Thermometer — nicht.
Nadel — nicht.
5. Perzeption und Reproduktion visueller Wortbilder:
a) Identifiziert einzelne Buchstaben als die diesbeziiglichen Schrift-
zeichen, ebenso Ziffern.
b) Einzelne Worte identifiziert er mit den entsprechenden Objekt-
bildern, z. B. Tiir (geschrieben) — deutet darauf hin.
Messer — richtig.
Andere schriftlich bezeichnete Objekte erkennt er nicht, z. B. Buch.
c) Lektiire.
A. Einzelne Worte — stotternd, buchstabierend, mit Auslassung von
Silben und Buchstaben.
B. S&tze ohne Verstandnis, z. B. ,.Die Sonne und das Leben“ — ,.Die
Fenster und das Leben.“
6. Schrift.
a) Spontanschreiben: Personalien sehr zogernd, mu* teilweise, unter
wiederholten Ansatzen. Geburtsdatum unrichtig; Alter zwischen 40 imd 50
angegeben.
b) Diktatschreiben: einzelne Worte wie Satze vollig paragraphisch.
c) Abschreiben: Nach wiederholten Fehlversuchen richtig. ,,Die
Sonne und das Leben“ — ohne Verstandnis; schreibt zunachst ein sinnloses
Wort: ,,Vannte“. Korrigiert die Fehler nicht.
d) Schriftliches Rechnen auf Diktat: verwechselt Addition und Sub-
traktion, bekommt dann ein komplettes Fehlresultat, z. B. 39+88=117.
Ziffemschrift mangelhaft.
Aus dem Nervenstatus ist hervorzuheben: motorische Kraft der Armo
r, -< L, feiner stat. Tremor der Hande, Beinbewegungen r. < 1. Gang nach
rechts hangend, rechter FuB schleift etwas. Leichte Kontrakturen im
rechten Knie- und Elibogengelenk. Starker Romberg mit subjektivem
Schwindelgefiihl und Dberstiirzen nach rechts. Sehnenphanomene iiberall
rechts gesteigert. Hautreflexe links > rechts.
Paraphasische Storungen in der Folge auffallend schwankend. Perse-
veratorische Erscheimmgen bei sprachlicher Reproduktion.
Monataschrift f. Psyohi&trie u. Neurologies Bd. XXXIII. Heft 2. 13
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Bericht iiber die XVIII. Versammlung
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20. IV. 1898. Starkes Hervortreten des Hirns an der Operationsstelle.
Pat. klagt iiber Re i Ben in der Gegend der Nasenwnrzel, der rechten Wange
und iiber dem rechten Auge. Puls 68. Bei Punktion des Prolapses entleert
sich reichliche Menge klaren Serums.
Wiederholung der Punktion am 30. IV. mit gleichem Erfoig. Zeitlich
und ortlich desorientiert.
1. VI. Ophthalmoskopisch: linkes Auge: nasaler Rand der Papille
noch etwas verwaschen, temp. Rand scharf begrenzt. Im Zentrum ein weiB
glanzender Fleck. Rechtes Auge: ganze Papille scharf, temp. Rand vollig
frei, nasaler Rand, besonders nach oben hin noch etwas unscharf. Hemi-
anopische Defekte wie friiher.
Allmahlich zunehmende Besserung, Zuriiokgehen des Hirnprolapses.
Aphasische Storungen fast unverandert. Eigentiimliche Eifersuchtsideen
gegen seine Frau. Oefters noch vollig desorientiert.
17. XI. 1901. Entlassung aus der Klinik.
Pat. stellte sich, nach 11 Jahren (19. VI. 1912), in der poliklinischen
Sprechstunde wieder vor. Sein psychisches Verhalten war gegeniiber dem
Entlassungsbefunde auffallend gebessert. Er konnte genau angeben, wann
er aus der Anstalt entlassen war, benennt die damals behandelnden Aerzte
rich tig. Die ersten 1V 2 Jahre nach der Entlassung hatte er sich nur mit
Spazierengehen beschaftigt, nachher aber regelmaBig Gartenarbeit getrieben
imd sich wieder gesund gearbeitet. Er besorgt seinen V 2 Morgen groBen
Garten ganz ailein. Die Sprache hat er allmahlich wiedergefunden. seine
Korperkrafte waren gewachsen. Das Gehen hatte ihm keine Beschwerden
mehr geraacht. Seine 1899 stattgehabte Entmiindigung war unter groBen
Schwiergkeiten 1909 aufgehoben.
Seit 1 Y 2 Jahren fiihlt er .sich magenkrank. Alle Angaben macht er in
klarer Weise. Er ist zeitlich und ortlich vollig orientiert. Einfache Rechen-
aufgaben und Zinsrechnung lost er rasch und richtig.
Aus dem Status sei nur hervorgehoben: Die Sehnenreflexe sind rechts
noch liberal 1 gesteigert. Babinski rechts angedeutet. Armbewegungen
beiderseits kraftig. Bei passiven Bewegungen rechts geringer spastischer
Widerstand. Das rechte Bein wird beim Gehen etwas nachgezogen und
zirkumduziert. Rechter Mundfacialis leicht paretisch. Zunge weicht spur-
weise nach links ab. Ophthalmoskopisch: Papille links temp, stark abgeblaBt,
rechts in toto blaB, nasal warts stark abgeflacht. Die Gesichtsf elder zeigen,
wie friiher nachgewiesen, rechtsseitige homonyme Hemianopsie. Sprach-
artikulation: bei schwierigen Worten leicht stockend und undeutlicher, doch
immer verstandlich, keine aphasischen Storungen.
Pat. laBt sich wegen seiner Beschwerden in die Klinik aufnehmen,
genieBt nur fliissige Kost. Sobald er feste Nahrung zu nehmen versucht, tritt
Brechen ein. Beim Versuch, eine Magenspiilung vorzimehinen, findet sich
ein deutlicher Widerstand in der Gegend der Cardia. Bei Palpation des
Magens ist ein Tumor nicht erkennbar. Bei der Rontgenuntersuchung des
Pat. in der chirurgischen Klinik wird Cardia- Karzinom festgestellt. Oeso¬
phagus und Cardia wurden operativ freigelegt und es wurde festgestellt,
daB ein ausgedehntes Karzinom in der Cardia und in der ganzen kleinen
Kurvatur besteht. Von weiteren operativen Eingriffen wurde abgesehen.
Der Tod erfolgte am 11. VIII. infolge Pneumonie.
Bei der Sektion wurde ein grofles weiches Karzinom der Cardia mit
geringem Uebergreifen auf den unteren Oesophagus toil festgestellt. Kleine
Metastasen im Pankreas. Im linken Temporallappen fand sich ein haselnuB-
groBer Tumor.
Der Tumor nimmt auf einem Frontalschnitte ungefahr auf der Grenze
zwischen vorderem imd mittlerem Drittel der Schlafegegend das Marklager
der mittleren und unteren Schlafenwindung ein imd erstreckt sich median-
w&rts bis in den Linsenkem und nach oben bis in den Tractus opticus imd
in die untersten Abschnitte des Nucleus lentiformis liinein. Die inneren
zwei Drittel der Geschwulstmasse sind eine derbe, solide Masse, wahrend
das ftuBere Drittel von vielbuchtigen, mit derben B&ndem ausgekleideten
Hohlraumen durchsetzt ist.
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mifcteldeutscher Psychiater und Xeurologen in Halle a. S. 193
Mikroskopisch setzt sich der Tumor zusammen aus langen Gliafasern
mit langsovalen groBen Kernen. Die Fasern sind vielfach wellig angeordnet
und von vielfachen dicht zusannnengedrangten GefaBen durchsetzt. Die
Gef&Be selbst zeigen in der Media keine Kernvermehrung dagegen ist die
Adventitia sehr betr&chtlich verdickt und von welligem derbfaserigem
Gewebe umgeben.
Diagnose: Geschrumpftes, derbfaseriges Gliom mit deutlichen
Retraktionserscheinungen. (Autoreferat.)
Diskussion .
Herr Anton-Halle: Einen ahnlich strukturierten Tumor hat vor einigen
Tagen von Bramann operiert bei einem 5 jahrigen Madchen. Wir haben bei
ihr nur diffuse Zunahme des G esam ts c hade Is und enorme Verdiinnung der
Schadelwandungen konst at ieren konnen. Symptomatisch bestand eine
halbseitige Schwache wecliseinder Art, und keine Stauungspapille. Beim
ersten Tempo der Operation, d. i. bei der Trepanation der linken zentro-
parietalen Gegend, konnte ein harter Tumor, scharf begrenzt, getastet
werden. Die Probestiickchen, die entfernt wurden, wurden mikroskopisch
untersucht. Auffallig waren die langgestreckten, spindeligen Zellelemente.
Die Kerne waren wie Stabchen anzusehen. Allerdings fanden sich auch
spindelzellenartige strahlige Bildungen. Das Stroma war iiberall sehr
reichlich fein fibrillar, Herr Prof. Beneke, welcher die Befimde kontrollierte,
sah die Geschwulst als Glioma durum an. Der Fail Binswangers ist uns auch
daduroh lehrreich, daB wir fiir eine Geschwulst, die derzeit noch im Schadel
sitzt, nunmehr eine scharfere Abgrenzung und Ausschalbarkeit erhoffen
konnen.
Die Geschwulst wurde seither entfernt. Sie war derb und hockerig.
Das Gewicht betrug 180 g. Die Wunde ist bereits geschlossen. Die Pat.
fiihlt sich wohl und steht auf. Die Lahmung ist geringer.
Herr Saengrcr-Hamburg meint, daB Horsley von regressiv gewordenen
Tumoren Mitteilung gemacht habe nach Palliativtrepanation. Er weist auf
die fiinf von ihm in der letzten Yersammlung deutscher Nervenarzte in
Hamburg demonstrierten Falle von Palliativtrepanation hin. In diesen Fallen
war die Diagnose auf Hirntumor gestellt worden. Der eine Fall w r ar vor 13,
der andere vor 8, der dritte vor 4 Jahren operiert worden. Diese Patienten
sind wieder ganz arbeitsfahig geworden. Der an Heilung grenzende Erfolg
machte die Diagnose Hirntumor zw r eifelhaft. Es wurde daher das Vorhanden-
sein eines Hydrocephalus oder einer Hirnschwellung in Erwagung gezogen.
Der eben demonstrierte hochinteressante Fall Binswangers laBt nun die
Annahme eines ebenfalls regressiv gewordenen Hirntumors in den 5 palliativ
trepfiuiierten Fallen durchaus als moglich, ja als wahrscheinlich erscheinen.
11. Herr i?u/iZe-Uchtspringe: Experimentelle Studien iiber tumorartig
wachsende Fremdkdrper im Tiergehirn.
Die Erfahrung, dafl man in der Umgebung eines wachsenden Hirn-
turaor8 eine reaktive glioinatose Wucherung beobachtet, brachte den Vortr.
auf den Gedanken, experimented am Tiergehirn dieses Verhaltnis nachzu-
ahmen, indem er versuchte, einen sich langsam vergroBernden Fremdkorper
in das Tiergehirn einzufiihren und die Wirkung dieses sich ausdehnenden
Fremdkorpers auf das umgebende Hirngewebe zu studieren. Als das
Zweckm&Bigste erwiesen sich schlieBlich kleine Laminariastiicke, die er, um
das relativ schnelle Aufquellen wenigstens einigermaBen zu verzbgem, mit
einer Paraffinhiille iiberzog. die perforiert wurde. So wruden einigermaBen
dem natiirlichen A T organge eines w achsenden Tumors ahnliche Verhaltnisse
erzielt. Die Laminariastiicke wuirden bei Kaninchen zw'ischen Dura und Pia
eingefiihrt. Nennensw r erte klinische Symptome traten nicht auf. Die Gehime
wuklen nach einer postoperativeil Lebensdauer von Tagen bis zu 2 Jahren
untersucht. Es fanden sich in der Umgebung des gequollenen und teilweise
stark vergroBerten Laminariastiickchens deutliche Veranderungen des Him-
gewebes, bestehend inVerlagerung der Ganglienzellen, Markscheidenschwund,
starke Neurophagie, Wuchenmg der Gliazellen, wenig Gliafasern zahlreichen
Plasmazellen. Vortr. konstatiert, daB wohl reaktive Gliawucherung vorliege.
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Bericht iiber die XVIII. Versammlung
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aber keine eigentliche Gliombildung. Er demonstriert Mikrophotogramme
und Lumieremikrophotogramme.
Herr En^eZfcen-Uchtspringe macht zur technischen Herstellung der
Bilder darauf aufmerksam, daB Mikrophotogramme auf Autoehromplatten
nur notwendig sind, wenn es sich run Darstellung mikrochemischer Reak-
tionen handelt, wahrend andere histologische Praparate besser in Schwarz-
WeiB photographiert werden. Die vorgefiihrten Vergleichsaufnahmen
wurden je auf einer Platte durch Verschiebung hinter entsprechenden
Blendplatten hergestellt. Zur Aufnahme dienten Zeifl sche Apochromate und
Planate. Die Licht filter wurden entsprechend der spektroskopischen Unter-
suchung der fiir die Praparate benutzten Farbstoffe ausgewahlt und von der
Firma Voigtlander hergestellt. Als Lichtquelle diente die ZeiBsche Nernst-
lampe, die aber fiir die Autochromaufnahmen sehr lange Expositionen notig
macht und daher besser durch eine Schwachstrombogenlampe ersetzt wird.
12. Herr P/ei/er-Nietleben: Ueber experimented Studien am Zwischen-
hirn und Mittelhirn.
Vortr. berichtet iiber Reizungen und Lasionen am Zwischenhirn und
Mittelhirn von 10 Resusaffen und 35 Katzen, die in F. Horsleys Labora-
torium fiir experimented Neurologie in London teils von Horsley , teils von
ihm selbst ausgefiihrt wurden. Dabei wurde das von Horsley und Clarke
ausgearbeitete Verfahren der Einfiihrung einer unipolaren, durch Glashiillen
isolierten Elektrode mittels des stereotaxischen Instrumentes Clarkes nach
vorheriger genauer Berechnung der Reiz- bezw\ Lasionsstelle an Gefrier-
schnittsphotogrammen angewandt. An den Stellen, an denen bei faradischer
Reizung ein bemerkenswerter Reizeffekt erzielt wurde, wurde mittels gal-
vanischen Stromes von meist 8—10M.-A. Starke und 10 Minuten Dauer
eine elektrolytische Lasion gesetzt. Die Methode wird eingehend be-
schrieben und an Lichtbildern erlautert. Sodann wird eine Anzahl der
am Mittel- und Zwdschenliirn gesetzten Lasionen demonstriert und be-
sonders auf deren gut umschriebene Form und das fast ganzliche Fehlen
von Nebenverletzungen hingewiesen.
Beziiglich der beobachteten Reiz- imd Ausfallssymptome sowie der
sekundaren Degenerationen, die an liickenlosen Frontalserien nach Marchi-
behandlimg festgestellt wurden, wird auf weitere Publikation verwiesen.
Nur die an den Pupillen beobachteten Reizerscheinungen werden noch ge¬
nauer besprochen. Bei 19 Tieren rnit reinen Thalamuslasionen hatte die
Reizung 8 mal Pupillenerweiterung ergeben, and zwar 7 mal als isoliertes
Symptom, einmal mit Lidspaltenerweiterung verbunden. Die an der Reiz-
stelle gesetzte Lasion saB jedesmal im medialen Thalamuskem. Ebenso
bei zwei weiteren Fallen, bei denen der Reizeffekt in Lidspaltenerweiterung
ohne deutliche Pupillenerweiterung bestand. Hinweis auf ahnliche Resultate
v. Beekterews. In 4 weiteren Fallen wurde Pupillenverengerung festgestellt.
Als Reizstelle kommt hierfiir der kaudal-dorsale Anteil des medialen
Thalamuskernes in Betracht.
13. Herr R 7 e5er-Chemnitz: Commotio cerebri mit anatomischen
Befunden.
46 jahriger Arzt stiirzt vom Motorrad und gerat mit dem Kopf unter
einen Tafelw agen. Er iibt am Tage des Sturzes noch seine Praxis aus, hat
aber dabei Erbrechen. Am folgenden Tag angstliche Erregung; weite starre
Pupillen. Vorstehen des rechten Augapfels, Schwindel und Kopfschmerzen.
In den folgenden Tagen bis zur 2. Krankheitswoche zeitweilige Pulsverlang-
samung, Unsicherheit beim Stehen. Polyurie, angstliche Erregung und Ver-
wirrtheit abwechselnd mit psychischer Klarheit bei dauernder Verstimmung
und Schlaflosigkeit; am 14. Tage nach dem Unfall sehr langsamer Puls,
schlechte Herztatigkeit, Atemnot; mehrere Morphiuminjektionen. 14 Stunde
nach dem letzten arztlichen Besuch plotzlicher Tod.
Die Sektion ergab an den iibrigen Organen nichts Besonderes. Dura
mit dem Sch&deldach verwachsen; an der linken Seite der Sch&delbasis ein
KnochenriB ohne Dislokation bei intakter Dura. Innenfl&che der Dura
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mitteldeutscher Psychiater und Xeiirologen in Halle a. 8.
195
unverandert. Das Gehirn odematbs ohne mikroskopisch erkennbare Ver¬
anderungen.
Die mikroskopische Cntersuchung ergab: 1. akute Veranderungen:
Pralle Fiilliing vieler kleinster GefaBe und Kapillaren. erweiterte Lymph-
r&ume. manchmal mit amorphen Massen gefiillt. miliare perivaskulare
Blutungen frischer und alterer Art. perivaskulares Oedeni, Auflockerung
des perivaskularen Hirngewebes. Etat crible. An wenigen Stellen. besonders
in der Medulla oblongata, auch Lymphozyten- und Leukozyteninfiltrate
der Lymphscheiden und des perivaskularen Gewebes. Einzelne GefaBchen
sind total komprimiert und von dein ausgepreBten Blutinhalt umgeben.
2. Chronische Veranderungen: An den feineren GefaBen der Kinde binde-
gewebige Verdickungen. hyaline Entartung. Sklerose; an einzelnen GefaBen
Aufblatterung der verdickten Wande, deren Maschen mit Blut ausgefiillt
sind.
Der Fall zeigt folgendes: Es handelt sich, wie der klinische Verlauf und
der negative makroskopische Befund zeigt, unx echte Commotio ohne grobere
Zerstorung oder Quetsehung der Hirnsubstanz. Die akuten Veranderungen:
perivaskulare Blutungen und Oedenie sind nicht die direkte imd sofortige
Folge der mechanischen Gewalteinwirkung. Vorausgegangen ist vermutlich
eine Erweiterung der RindengefaBe, hervorgerufen durch reflektorische
Lahmung des Vasomotorenzentrums. Die GefaBe sind aber infolge ihrer
fibrosen, sklerotischen und hyalinen Degeneration und der dadurch ver-
minderten Elastizitiit ihrer Wandungen den starken imd plotzlichen
Zirkuiations8ch\vankungen nicht mehr gewachsen gewesen. 8o kam es zu
Oedem und Blutungen ohne direkte GefaBzerreiBung. Auch die ver-
schiedenen Entwicklungsstadieu der Blutungen (altere und frische) zeigen,
daB sie nicht auf einmal unmittelbar nach der Gewalteinwirkung entstanden
sind, sondern alhnahlich im Laufe der 14 tagigen Krankheitsdauer je nach
der Beschaffenheit der GefaBwande. Die klinisehen Erscheinungen, nament-
lich Erbrechen, Pulsverlangsainung. Protrusio bulbi, angstliche N'erwirrtheit,
werden durch das sekundare Hirnodem erklart.
Viele Falle auch schwerer Commotio verlaufen nicht todlich, weil die
Betroffenen noch intakte, den Zirkulationsschwankungen noch gewachsen©
HirngefaBe besitzen. In den Fallen, die langero Zeit, Jalxre nach der
Commotio zur Sektion und mikroskopischen Cntersuchung kamen ( Kron -
thal , Friedmann u. A.), ist es fraglich, ob die gefundenen degenerativen Ge<
faBprozesse und die mit ihnen in Zusammenhang gebrachte ,.tramnatische
Demenz“ immer die ausschlieBliche Folge der mechanischen Gewaltein¬
wirkung sind. Vielleicht haben GefaBveranderungen schon vorher auch in
geringerem, klinisch nicht bemerkbarem Grade bestanden und sind nur die
Ursache dafiir, daB das Gehirn einer volligen Regeneration nicht mehr
f&hig w T ar. Die Prozesse kbnnen durch die akute Delxnung der GefaBe ver-
starkt und in ihrer weiteren Entwicklung beschleunigt werden. Es wuirden
also die Falle von Commotio hauptsachlich todlich verlaufen oder zu einer
dauernden schw r eren Schadigung fiihren, bei denen die HirngefaBe schon
vorher, wenn auch nicht klinisch nachweisbar. verandert waren. In solchen
Fallen geniigt schon eine mitt else hwere Erschiitterung zur Herbeifiihrung
eines ungiinstigen Ausganges, wahrend intakte Gehirn© auch ein schwereres
Trauma iiberstehen konnen.
Auch dieser Fall zeigt wieder, daB vielfach letal veriaufende Hirner-
krankungen nur erklart werden konnen durch Einwirkung einer akuten —
hier mechanischen — Schadigung auf einen schon langer. wenn auch latent
bestehenden chronischen ProzeB.
Disk us,si on.
Herr Binswanger- Jena: Die Bilder erinnern sehr an die fruher von mir
beschriebenen Anfangsstadien der Arteriosclerosis cerebri, die ich als
Arteriofibrosis bezeichnet habe. Liegen hier klinische Befunde zur Annahnxe
eines solchen Prozesses vor ?
Herr Weber bejaht dies und erkl&rt, daB er dies© GefaBveranderungen
als Arteriofibrosis, weniger als Arteriosclerosis bezeichnen mochte.
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Bericht iiber die XY1II. Versammlung
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14. Herr Forster- Berlin: Demonstration des Gehirnes eines Patienten,
der apraktische Symptome im Leben dargeboten hatte.
Pat. war am 1. VIII. 1912 in die Klinik aufgenommen worden, weil er
nach Angabe der Wirtin in der Nacht vom 30. zum 31. VII. Zuckungen gehabt
und laut gestohnt hatte. Am 31. habe er verkehrt gesprochen und sei im
Bett geblieben.
Am 1. VIII. morgens habe er in Gegenwart des Arztes Krampfe be-
koinmen; es seien Zuckungen am ganzen Korper aufgetreten, rechts mehr
als links. Pat. selbst gab an, er sei aufgenommen. weil er Kr&mpfe gehabt
habe, bei denen er das BewuBtsein nicht verloren habe. Friiher sei er stets
ganz gesund gewesen.
Die korperliche Untersuchung ergab eine ganz leichte rechtsseitige
Pyramidenhemiparese mit ganz geringem Zuriickbleiben des rechten Facialis.
Die aphasische Untersuchung ergab, daB Pat. beim Spontansprechen in den
Ausdrucken ofters fehlgriff, das Reihensprechen war intakt, das Nach-
sprechen ebenfalls. mu* manchmal etwas stockend. Beim Bezeichnen von
Gegenstanden erfolgten die Antworten langsain und nach langem Besinnen.
Seltenere Gegenstande kann er manchmal nicht bezeichnen. So findet er
das Wort fur Wiirfel und Revolver nicht. Die Bezeichnung von Korper-
teilen ist richtig. Auf die Aufforderung, wie ein Soldat zu griiBen, legt er
nach langem Besinnen einen Finger an den Kopf. ..Fine lange Nase machen“
kann er nicht; als es vorgemacht w’ird. macht er es zuerst richtig, mit der
anderen Hand aber gleich wieder falsch. Auch bei anderen Handlungen aus
demGedachtnis.sowohl rechts wie links, Entgleisungen und apraktische Fehl-
reaktionen. Das Spontanschreiben und Selireiben nach Diktat war auBerst
schlecht und ungeschickt. Kopieren ging ganz gut. Die Feder wurde dabei
geschickt angefaBt. AufschlieBen mit dem Schlussel wurde richtig gemacht.
Beim Lesen best and geringe Aufmerksamkeit. Es wurde ofters fasch gelesen,
so fur Dampfschiff — Dainpfspritze.
Am 3. VIII. bekam Pat. morgens einen typischen JacJcson&chen
epileptischen Aiifall. der dann auf Beine und rechten Facialis ubergriff,
Dauer 2 Minuten. Es fanden an diesem Tage noch 13 derartige Anfalle statt.
Nach jedem Anfall blieb eine Lahmung des Amies zuriick. Pat. wurde in-
folge der Anf&lle mehr und mehr benommen. Eine Prufung war nicht mehr
moglich. Der Augenhintergrund blieb dauernd normal. Die Untersuchung
des Blutes ergab negative Wassennanrmche Reaktion. In den nachsten Tagen
15, 12 und 14 Anfalle.
Pat. wurde dann zwecks Operation nach der chirurgischen Klinik ver-
legt, wo am 6. VIII. iiber dem Stirnhirn vor dem Armzentrum ein gut nuB-
groBes Gliom entfemt wurde. Am nachsten Tage Exitus.
Die Sektion ergab einen Tumor, von dem die Randpartien an den
Praparaten noch sichtbar sind (Demonstration), am FuBe der zweiten Stim-
windung direkt vor der vorderen Zentralwindung gelegen. Der Tumor greift
nur wenig in die erste und dritte Stirnwindung iiber.
Vortr. ist sich wohl bewuBt, daB die Symptome der Apraxie auch als
Fernwirkung gedeutet werden konnen. Er halt diese Stelle jedoch nicht
fiir bedeutungslos fiir die Lokalisation der leichten apraktischen Storungen,
wie sie bei Ausfiihren der Bewegungen aus dem Gedaehtnis ziu* Beobachtung
kommen. Bemerkenswert ist, daB beide Hande beteiligt waren. Der Gyrus
supramarginalis ist sicher frei. Gegen die Ansicht, daB die Stoning doch von
der vorderen Zentralwindung ausgehe. kann immerhin angefiihrt werden,
daB die Symptome der Apraxie schon deutlich zutage traten, bevor eine
wesentliche Lahmung vorhanden %var und daB doch die ganz in der Nahe
des Tumor gelegene Brocasche Windung keine Funktionsstorung zeigte.
Es sind zwar schon vor der Untersuchung Jacksonsche Anfalle beobachtet
worden. Da jedoch die Apraxie nicht zu den regelmaBigen Begleiterschei-
nungen der JacA*sonschen Anfalle des Amies gehort, ist die Deutung, daB
die apraktischen Stomngen als Herds^mptome des Tumors in der zweiten
Stirnwindung aufzufassen sind. durchaus moglich. (Autoreferat.)
Got igle
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Diskussion.
Herr Niefil von Mayendorf: Apraxie kann nicht dort diagnostiziert
werden, wo sich Zeichen von sensorischer Aphasie bemerkbar machen und
Paresen an dem vermutlich apraktischen Glied gefunden werden. Der
Kranke muB alle Anforderungen wohl verstehen und die Absicht, die Hand-
lung auszufuhren, unzweideutig zu erkennen geben. Es muB der Nachweis
gefiihrt w r erden, daB er den bei alltaglichen Handlungen dem BewuiBtsein zu-
gefiihrten Komplex von Innervationsempfindungen vergessen hat. Das
ist bier nicht geschehen, selbst wenn dies gelungen ware, wiirden trotzdem
keine Schliisse betreffs der Lokalisation der unerregbaren Innervationsbilder
gezogen werden diirfen. Zugegeben endhch die Verwertbarkeit dieses Falles
nach dieser Richtung, wird er fiir eine hier versuchte Lokalisation dadurch
unbrauchbar, daB es sich um einen Tumor handelt.
Herr Liepmann- Berlin: Ich habe seinerzeit selbst auf Grund der
Haufigkeit dyspraktischer Storungen bei motorisch Aphasischen in Er-
wagung gezogen, ob im Stimhirn ein sogenanntes ,.Extremitatenbroca“ ge-
legen sei, hielt es aber fiir wahrscheinlicher, daB die Storungen auf Schadigung
des Zentrums der oberen Extremitat resp. der Kommissurenfaserung,
welche von diesem zur rechten Hemisphere zieht, beruht. Forsters Fall
scheint mir zwischen den beiden Moglichkeiten keine Differenzierung zu-
zulassen. Denn auch abgesehen von der Fernwirkung, die ein Tumor macht,
liegt der Herd unmittelbar dem Gyrus centralis anterior an, geht sogar, wie
erst Serienschnitte entscheiden konnen, vielleicht in ihn hinein. DaB dem
unmittelbar vor der vorderen Zentralwindung gelegenen Gebiete eine Rolle
bei der Praxie zufallt, ist iibrigens durchaus mogiich, aber sicher eine ge-
ringere als dem Scheitellappen. Von einem Praxie-Zentrum darf man iiber-
haupt nicht reden, der Scheitellappen ist nur quoad Praxie das vulnerabelste
Gebiet.
Herr Forster : Herm Liepmann schlieBt sich Vortr. vollstandig an. Er
macht nochmals darauf aufmerksam, daB die Doppelseitigkeit der Apraxie
bemerkenswert ist, und daB das Fehlen von Symptomen der JBrocaschen
Windung beweist, daB die Fernwirkung noch keine sehr groBe gewesen sein
kann, und daB man sehr wohl die zweite Stirnwindung in Beziehung zur
Apraxie bringen kann. Ob der Tumor nicht doch noch auf die Zentral¬
windung libergegriffen hat, miissen allerdings Serienschnitte erst zeigen.
Herm Niefil von Mayendorf versichert Vortr., daB die Priifung auf
Apraxie richtig ausgefiihrt wurde. Die Einwande Niefils hat er sich selbst-
verstandlich auch vorgelegt und danach gehandelt. Er hielt es jedoch fiir
iiberfliissig, der Corona, die doch weifi, wie man auf Apraxie pruift, bei der
beschr&nkten Zeit diese Einzelheiten noch vorzutragen.
15. Herr K&wrt-Erlangen: Anatomische Befunde bei Huntingtonscher
Chorea.
An dem Gehirn eines Falles von HurUingtonscher Chorea, das Med.-
Prakt. Frl. KieseJJbach und der Vortr. untersuchten — die Befunde werden
ausfiihrlich in der Dissertation von Frl. Kieselbach veroffentlicht werden —
fand sich: 1. eine hoeligradige Atrophie der Nuclei caudati beiderseits und
der Putamina beider Linsenkerne. Auf Schnitten durch diese Kerne wurden
im Gesichtsfelde 4—5 mal weniger Zellen gezahlt als an Schnitten eines
normalen Gehims. Die Glia ist in den Schwanzkernen und den Putamina
auBerordentlich vermehrt. 2. Die iibrigen Teile des Zentralnervensystems
sind ebenfalls kleiner als die entsprechenden Teile eines normalen Gehims;
besonders ist das GroBhirnmark an Masse reduziert. Es finden sich auch an
den Nervenzellen der iibrigen Teile des Zentralnervensystems gewisse atro-
phische Veranderungen. die aber nirgends auch nur entfernt den Grad und
Umfang der Atrophie der Nuclei caudati und der Putamina erreichen. Be¬
sonders fallt gegeniiber der Entartung dieser Gebilde die relative Unversehrt-
heit des Globus pallidus, des Thalamus opticus, des Nucleus ruber, des
Corpus subthalamicum und der Kleinhirnkerne auf. 3. Atheromatose Ver-
Andenmgen und Arteriofibrosis an den GehirngefaBen. Vereinzelte mikro-
skopische Erweichungsherde sowohl in den Basalganglien wie in derHirnrinde
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Bericht liber die XVIII. Versammlung
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4. Die atrophischen Veranderungen, insbesondere die Atrophie der Nuclei
caudati und der Putamina hat nicht herdartigen Charakter, ist nicht durch
die GefaBerkrankung bedingt, sondern stellt sich als ein eigenartiger Degene-
rationsprozeB dar, der auch von dem der senilen Demenz (keine Fischorschen
Drusen, keine Alzheimerschen Fibrillen veranderungen) verschieden ist. Es
handelt sich auch um keinen entziindlichen \ T organg. Keine GefaBinfiltration.
Nach Art und Lokalisation ahnliche Befunde wurden von Jelgersma ,
Alzheimer und Marie-L'hermite veroffentlicht. Die Beschrankung der
schweren Erkrankung auf den Schwanzkem, im Falle Jelgersma . bezw. auf
den Schwanzkern imd das Putamen in unserem Falle ist fiir das Yerstandnis
der choreatischen Bewegungss torung von Bedeutung. Sie bestatigt Antons
Lehre, der schon friiher die athetotisch-choreatischen Storungen eines Falles
auf die vorgefundene Degeneration der Putamina zuriickgefuhrt hatte imd
zeigt, daB choreatische Erscheinungen nicht nur die Folge von Affektionen
der Bindearmbahn ( Bonhoffer ), sondern auch von solchen der Schwanzkerne
und Putamina sein konnen. Wahrscheinlich kommt auch die Bindearm-
chorea erst dadurch zustande, daB die Affektion des Bindearmes eine
Storung im Ablauf der an das Corpus striatum gebundenen automatischen
Bewegungen nach sich zieht. (Autoreferat.)
Diskussion,
Herr Flechsig- Leipzig: Wir haben in einer ganzen Reihe schwerster
akuter Chorea mit Fieber und psychischen Storungen in Linsenkem iiber-
einstimmende Veranderungen gefunden. AuBer Schwund von markhaltigen
Fasern und Ganglienzellen treten an Hamatoxylinpraparaten nach Weigert-
Pal konzentrisch geschichtete Korper. offenbar verkalkte Abbauprodukte
hervor, welche die Ganglienzellen an Grofie vielfach ubertrafen. AuBerdem
karaen auch kleinere runde. meist in Reihen geordnete Korper vor, welche
von Hamatoxylin intensiv blau gefarbt wurden. Wir haben ahnliche Korper
ja auch in Gehimen Nichtchoreatischer gef unden, indes nie in dieser Menge
und GroBe wie bei den Fallen von Chorea gravis. Das betreffende Gebiet
des Linsenkernes ist gegeniiber den hinteren Teilen des Globus pallidus
myelogenetisch durch etwas spateres Auftreten der Markscheiden ausge-
zeichnet imd offenbar mit dem roten Kern, bezw. den Bindearmen des Klein-
hirns ausgiebig verbunden. Da die letzteren auch mit dem Thalamus
(ventraler, lateraler Kern) und hierdurch mit den Zentralwindungen zu-
sammenhangen, so wird Erkrankung des roten Kernes und seiner Faser-
systeme auf die verschiedenste Weise zu choreatischen Reizerscheinungen
fiihren konnen.
Herr Liepmann- Berlin glaubt auch, daB Herde im Linsen- und Schwanz¬
kem fiir choreatische und verwandte Bewegungen in Betracht kommen.
Er hat bei einer alten Dame eine typische Hemichorea apoplektisch auf¬
treten sehen, ohne jede L&hinungserscheinung. Der bisher nur makro-
skopische Behind zeigt nur eine Erweichung der vorderen Halfte des Putamen,
die sich durch den vorderen Schenkel der inneren Kapsel in den Schwanzkern-
kopf eratreckt; der hintere Schenkel der inneren Kapsel ist vollkommen frei.
Herr Klien- Leipzig erwahnt einen Fall, in welchem ein etwa 60 jahriger
Mann akut unter heftigsten choreatischen Bewegungen von Huntingtonschem
Typus erkrankte und innerhalb einiger Tage zum Exitus kam. Bei der
Sektion fanden sich als einzige ohne eingehende mikroskopische Unter-
suchung nachweisbare Veranderung mehrere kleine und kleinste frische Er-
weichungsherde in beiden Linsenkemen.
Herr Lewandowsky- Berlin: AuBer der Chorea Huntington sind 2 andere
Erkrankungen auf das Corpus striatum bezogen worden. namlich eine
Paralysis agitans ahnliche luetische Erkrankung von Wilson und die
Athetose double von C. Vogt und Oppenheim. Diese 3 Erkrankungen sind
aber sehr verschieden. Vielleicht haben sie ein oder mehrere Symptome ge-
meinsam. die auf das Corpus striatum bezogen werden miissen; daB alle die
Symptome auf eine Lokalisation bezogen werden konnten. diirfte aber sehr
unwahrscheinlich sein. Vielleicht gelingt es auch, neben der Chorea oder der
Athetose noch eine oder mehrere Arten von Bewegungsstorungen auszu-
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mitteldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 199
scheiden. Zur Losung dieser Frage sind nicht nur anatomische, sondern auch
kinematographische Auf zeichnungen iiber die einzelnen Falle erforderlich.
Es ist notig, daB moglichst bald eine Zentralstelle fur die Aufbewahrung
solcher kinematographischer Aufnahmen geschaffen wird. Ohne die Moglich-
keit, die Bewegungsstorungen sich zu vergegenwartigen, haben selbst die
anatomischen Untersuchungen nur beschrankten Wert.
Herr Niefil von M ay endorf-Leipzig: Die Huntin/jtonsche Chorea weist
Hirnrindenveranderungen auf die keineswegs rein atrophischer Natur sind.
sondern die Merkmale akuter und chronischer Entziindungen unzweifelhaft
besitzen. Dasselbe gilt natiirlich auch fur die subkortikalen Veranderungen,
denen fiir das Auftauchen der choreatischen Zuckung die letzte ursachliche
Bedeutung zukommt. Dazu gehoren die star ken Quellungszustande an den
Ganglienzelleixund am Kern, die Tigrolyse, das Auftreten von Vakuolen und
Pigment innerhalb der Zellen und vor alleni die enorme Wucherung der Glia-
kerne. Das zentrale Nervensystem ist auflerordentlich odematos und sinkt
bei Alkoholbehandlung kolossal zusammen. Andererseits ist zuzugeben,
daB die GefaBe im allgemeinen im Gegensatz zu entziindlichen Vorgangen
hier weniger beteiligt zu sein scheinen. Die Linsenkernhypothese halte ich
bezviglich des Zustandekommens der Chorea deshalb fur abgetan, weil es
eine Anzahl doppelseitiger Linsenkernzerstorungen gibt. welche ohne
choreatische Zuckungen verliefen ( Reichel , Raymond und d'Artaud. Liep-
mann u. A.). Die Herniathetose ist nicht, wie Lewandowsky meint, von der
Hemichorea wesentlich verschieden, sondern beruht auf demselben Gehirn-
mechanisinus und unterscheidet sich von diesem nur in funktioneller, nicht
in lokalisatorischer Beziehung. Es ist endlich inkorrekt, fur die chroe-
atischen Zuckungen den Terminus Bewegungsstorungen zuwahlen: W'elche
Bewegung ist dabei eigentlich gestort ?
16. Herr Xtirfcite-Sonnenstein: Ueber Zeichnungen Geisteskranker.
Vortr. bespricht zuerst die engan Beziehungen zwischen Schrift,
Sprache und zeichnerischem Produkt bei Geisteskranken und zeigt dann
an der Hand von Zeichnungen nach Vorlage, wie vielfache Ueberein-
stimmungen zwischen der Kopie und dem sonstigen klinischen Verhalten
bestehen. Analogien. die auch in den Spontanzeiehnungen deutlich zuin
Ausdruck kommen. Dementia-praecox-Kranke z. B. zeichnen steif, stoB-
weise, oft inkoharent; Perseveration und Stereotypie spielen eine groBe
Rolle. Manische fiigen allerlei hinzu, aber stets sinnvoll und ziisammen-
hangend, im Gegensatz zu den erregten Katatonikern. Ferner wurden in
den Zeichnungen auch unsichtbare Dinge z. B. Stellen vora Riicken, zur
Darstellung gebracht, und es fand auch eine Verwechslung von Profil und
en face statt, Beobachtungen, die Vortr. mit den gleichen Erfahrungen bei
den Bildern von Naturvolkern und Kindern in Parallele setzt. (Ausfiihrliche
Mitteilungen in der Ztschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. Bd. 13. H. 2.)
(Autoreferat.)
17. Herr Grober - Jena: Ueber Selbstheilung von Basedowscher
Krankheit.
Vortr. berichtet iiber einen Fall von ausgesprochener Basedows cher
Krankheit, der zuerst im Jahre 1906 auf der med. Klinik in Jena von ihm
beobachtet worden ist. Es fehlte keines der wesentlichen Symptome. Die
Erkrankung war in wenigen Monaten zu der damaligen Hohe angestiegen;
die Prognose war dementsprechend ungiinstig fvir den weiteren Verlauf zu
stellen. Im Jahre 1910 kam die Kranke wieder zur Beobaclitung. Vortr.
sah sie auch 1912 wieder. Schon 1910 waren die meisten Basedow-Symptome
so gut wie verschwunden. Der Halsumfang war urn 4 cm geringer und damit
normal geworden. Die Augensymptome waren und sind verschwunden. Der
SpitzenstoB, der 1906 in der vorderen Achsellinie gefunden worden war,
befindet sich jetzt 1 cm innerhalb der Brustwarzenlinie. Tremor, Schweifle
und Palpitationen sind nicht mehr vorhanden. Bei sehr genauer Unter-
suchung sind noch einzelne wenige Reste der Basedow-Symptome zu finden,
auch diese aber nur eben angedeutet. Dagegen hat sich umgekehrt parallel
der zuriickweichenden Basedows chen Krankheit eine Lungenveranderung
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200
Bericht iiber die XVIII. Versammlung
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entwickelt, die neben den deutlichen Anzeichen einer chronischen Phthise
mit den entsprechenden Ver&nderungen des rechten Herzens die Diagnose
groBerer, vielleicht bronchiektatischer Hohlr&ume wahrscheinlich macht.
Es sind auBer ,,maulvoller“ Expektoration vor allem ausgeprochene
Trommelschlagelfinger vorhanden.
Vortr. erwagt die Moglichkeit, daB der umgekehrte Parallelismus
der beiden Krankheiten einen ursachlichen Zusammenhang verrat, insofern
als etwa die toxischen Wirkungen der Basedow-Driise durch die der kranken
Lunge in den Hintergrund gedrangt oder aufgehoben wiirden. Es ist aber
auch die Moglichkeit gegeben, daB die Gifte der zweiten Erkrankung
— Tuberkuline oder resorbierte Toxine der Bronchiektasen — direkt
sch&digend auf die Struma gewirkt und ihre Verkleinerung veranlaBt haben.
Doch bedarf es zu einer Erorterung noch mehr ahnlicher Falle von Selbst-
heilung, die der Vortr. in Aussicht stellt, um die genannte Vermutung wahr-
scheinlicher zu machen. Jedenfalls ist der Fall mit seinen besonderen Ver-
haltnissen ein seltenes Vorkommnis. (Autoreferat.)
18. Herr Nifil von Mayendorf-Leipzig : Ueber die pathologischen
Komponenten des choreatischen Phanomens. (Erscheint als OriginaJartikel
in der Berl. klin. Wochenschr.)
Vortr. analysiert die Bewegungsphanomene bei der Chorea. Er kommt
zu demResultate, daB eine besondere kortiko-subkortikaleBahn angenommen
werden muB, die von der GroBhirnrinde zum roten Kern fiihrt. Eine Schadi-
gung dieser Bahn an irgendeiner Stelle ihres Verlaufes verursacht Chorea.
Vortr. demonstriert Praparate von Veranderungen der Rinde der Zentral-
windung und des roten Kernes bei Fallen von Chorea.
19. Herr Wichura-Schierke: Ueber einen Fall von Eklampsie mit
bleibenden Stbrungen des Gedachtnisses, Erkennens und Handelns.
Die 18 j&hrige Primipara hatte am Tage der Geburt 17, am folgenden
Tage noch 7 eklamptische Anfalle und war mehr als 8 Tage benommen.
Sie bot spater eine schwere retro- und anterograde Amnesie, Verlust
der r¨ichen und zeitlichen Orientierung, zum Teil im Sinne einer zeitlich
zuriickliegenden Situation zuerst Akinese und Mutazismus — beide zeitweise
unterbrochen durch Jaktationen und Schreien — dami Apraxie — auch des
Rumpfes und der Arme — und amnestische Aphasie. Der Verlust des Lesens.
Schreibens und Zeichnens. das Symptom der Balintschen optischen Ataxie,
die starke Einschrankung des Gesichtsfeldes und Herabsetzung des Sehver-
mogens ohne objektiven Befund, sowie der Mangel des optischen Vor-
stellung8venn6gens legten den Gedanken an eine besondere Sch&digung des
linken Gyrus angularis und supramarginalis sowie des angrenzenden Teiles
des Hinterhauptlappens nahe.
Der Zustand besserte sich im ersten Jahr standig, im zweiten Jahr
trotz des Unterrichts nur wenig. Jetzt, mehr als 2 Jahre post pcurtum,
steht die Kranke psychisch etwa auf der Stufe eines 7 jahrigen Kindes.
Es bestehen noch anmestische Defekte, Herabsetzung der Merkf&higkeit. das
Rechnen ist auf Addieren beschrankt. Schreiben und Lesen erfolgt fehlerhaft,
Zeichnen und Formensehen mangelhaft, es besteht ideokinetisehe Apraxie.
Pathologisch-anatomisch werden diffuse Veranderungen, vielleicht mit star-
kerer Auspragung im Gebiete des linken Hinterhauptlappens angenommen.
Das Hirnpunktat im Gebiete des linken unteren Scheitellappens ergab
degenerative Veranderung und Wucherungen der Glia.
Eine Heilung erscheint ausgeschlossen. (Autoreferat.)
20. Herr Quensel-Leipzig: Ueber einen Fall von Kohlenoxydvergiflung.
F. A., 22% jahriger italienischer Hiittenarbeiter, erlitt am 27. VI. 1912
eine Vergiftung durch Hochofengifte bei der Reparatur einer Auspuffkammer
Die Dauer der Vergiftung ist nicht ganz sicher festgestellt, sie diirfte
% Stunde betragen haben. Er kam bewuBtlos ins Krankenhaus, hatte
schwachen Puls, schwache Atmung, erholte sich erst allmahlich im Laufe des
Tages unter Exzitantien. Dann ging es ihm gut bis zum 4. Tage. Er bekam
schwachen Puls, plotzlich Kopfschmerzen, konnte nicht mehr sehen. irrte
durch die Zimmer, ohne sich zurecht zu finden. aber auch ohne anzustoBen,
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inittoldeutscher Psychiater und Neurologen in Halle a. S. 201
sah blode aus, war leicht erregt, gedachtnisschwach, zeitweise Katalepsie,
wmBte sich mit nichts zu behelfen, er aB, verlangte aber nicht nach Essen,
konnte sich nicht mehr selbst bedienen, unterhielt sich mit anderen. N|
Ins Bergmannswohl aufgenommen am 1. X. 1912. Klagt iiber Kopf-
schmerzen, Schwindel, Augenbeschwerden. Innere Organ©, Allgemein-
befinden ungestort, kein Fieber, Puls nur ganz leicht beschleunigt, etwas
kleinschlagiges Zittern der Finger, lebhafte Kniescheiben- und Fersenreflexe.
Augenhintergrund normal.
Pat. sieht, zeigt keine Hemiopie, sieht Farben. kann sie aber nicht
zueinander sortieren, nicht benennen, auf Erfordem eine bestimmte Farbe
nicht heraussortieren, sich die Farbe genannter Gegenstande nicht vor-
stellen. Formen kann er miihsam nachahmen, nicht benennen, erkennt
w^eder Zeichnungen noch Objekte, vermag den Gebrauch nicht anzugeben.
Er sieht auffallend nahe auf die Objekte, die ihm gereicht werden, starrt
sie verstandnislos an. Zu lesen vermag er weder Zahlen noch Buchstaben,
auch nicht seinen Namen.
Gehor auch fiir Fliisterstimme, Stimmgabel, Galtonpfeife usw. Tone
und Gerausche werden zum Teil erkannt z. B. benennt er sofort ,,Glocke“,
,.Pfeifen“. Nicht benannt werden nach Gehor Taschenuhr, Schliisselbund,
Geld, Stimmgabel. Wort© hort und versteht er sofort. Er vermag eine ganze
Zahl von Objekten aus einer Zahl vorgelegter auszuwahlen z. B. Uhr,
Schliissel, Bleistift, Messer, haufig sieht er andere Objekte verstandnislos an.
Beriihrungen, Nadelstiche. Temperaturunterschiede werden gefiihlt,
er tastet richtig, vermag aber Objekte durch das Tasten nicht zu erkennen
und auch nicht zu benennen.
Geruch und Geschmack scheinen erhalten, genaue Priifung unmoglich.
Einzelne Bewegungen werden ausgefiihrt, es besteht keine Lahmung,
doch sind die Bewegungen zittrig und etwas ungeschickt. Spontan zeigt Pat.
keine Initiative, sitzt und steht stumpfsinnig herum, muB zu allem an-
getrieben werden. Vorgemachte Bewegungen werden etwas ungeschickt,
aber doch im ganzen zutreffend nachgeahmt, z. B. Drohen, Lange-Nase-
machen, Winken, Handeklatschen u. dgl. Bewegungen aus der Erinnerung
werden ganz mangelhaft ausgefiihrt, meist weiB er nicht, was er machen soil.
Mit Objekten vermag er sich nicht zu behelfen, bringt ein Taschenmesser
nicht auf. Bleistiftanspitzen, Streichholz- und auch Lichtanziinden u. dgl.
unmoglich. Beim Verlassen des Zimmers hantiert er ungeschickt an der
Klinke herum. Zu schreiben vermag er iiberhaupt nicht, was er friiher konnte.
Er spricht ohne jede Stoning, spontan und auch auf Vorsprechen.
Allgemein besteht eine hochgradige Stoning der Merkf&higkeit, schon
nach w^enigen Stunden wreiB er von den markantesten Veranderungen nichts
mehr. Die Erinnenmg an friihere Daten ist dagegen gut erhalten und zwar
bis zu seinem Unfalle. Er ist raumlich und zeitlicli desorientiert, erkennt die
Personen seiner Umgebung nur in ganz vager Weise, hauptsachlich seheint
er seinen Arzt an der Stimme zu erkennen. Zeitweilig deprimiert. Er-
regungszustande sind bei uns nicht mehr vorgekommen. Tageweise ist sein
Zustand besser, an anderen Tagen erscheint er ganz dammerig.
Es handelt sich um den typischen Verlauf einer schweren Kohlen-
oxydvergiftung mit diffusen. aber offenbar regionar starker entwickelten
Veranderungen im GroBhim. Die Prognose erscheint sehr zweifelhaft. Der
Defekt w’ird voraussichtlich in der Hauptsache bestehen bleiben.
(Autoreferat.)
22. Herr Grund-HaMe: Eine Familie mit atrophischer Myotonie.
In einer neuropathisch ziemlich schwer belasteten Familie (Myotonie
in der weiteren Aszendenz nicht sicher) sind die Mutter und 2 Sohne erkrankt,
wahrend ein Sohn und eine Tochter gesund sind. Die Mutter ist am leich-
testen erkrankt, die Sohne sind schwerer betroffen, am meisten der jungste.
Gesicht, Sternocleidomastoideus und Vorderarmmuskeln sind bei alien
3 Patienten stark atrophisch. Zunge, Kaumuskeln, tiefe Halsmuskeln und
Bauchmuskeln nehmen mit zunehmender Schw'ere der Erkrankung in
starkerem Grade an der Atrophie teil, wahrend eine Peroneuslahmung
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nur beim jiingsten Bohn besteht. Daraus zieht Vortr. den BchluB, daB die
Erkrankung von Gesicht, Sternocleidomastoideus und Vorderarmmuskeln
hier das Typische sei; die anderen Muskeln erkrankten erst in zweiter Linie.
Interessant ist der Nachweis, daB in der vorgestellten Familie schon die erst-
erkrankte Generation bereits Myotonie und Atrophie in typischer Form ver-
bunden aufweist, nicht Myotonie allein. Die atrophische Myotonie scheint
eine Erkrankung sui generis zu sein. nicht aus der gewohnlichen Myotonie
hervorzugehen. (Autoreferat.)
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C. V. Monakow, Arbeiten aus dem hirnanatomischen Institut in Zurich . H. 6.
Die erste Arbeit von v. Monakow selbst iiber Hirnforschungsinstitute
und Hirnmuseen behandelt die Frage der Zentralisation der Hirnforschung
in Spezialinstituten und Hirnmuseen. v, Monakow verspricht sich von der
Entwicklung solcher Zentralinstitute eine wesentliche Forderung der
Forschung. Man wird ihm ohne Bedenken zustimmen konnen. wenn die
Griindung solcher Instiute, so wie es bis jetzt der Fall ist. im wesentlichen
nichts anderes bedeutet, als staatliche Anerkennung und staatliche Unter-
stiitzung hervorragender Hirnforscher in ihren Instituten mit der Auflage
einer gewissen Verpflichtung, ihr Material den Interessenten zuganglieh zu
machen. Das MaBgebende fur den Fortschritt warden iinmer die Personlich-
keiten bleiben, und diese werden auch femerhin aus individuell gesehenen
Beobachtungen und Erfahrungen schopfen und im wesentlichen unabhangig
sein von der mehr oder weniger groBen Vollstandigkeit ihres Museums. An
eine eigentliche Zentralisation denkt auch v. Monakow selbst nicht. Bestimmte
Gebiete werden, wie er sagt, in jedem Institut eine groBere Beriicksichtigung
finden als andere. Also kann es im wesentlichen so bleiben, wie es bisher war.
Diezweite Arbeit ist eine vergleichende anatomisch-experimentelle
Studie von Dr. Fuse iiber die innere Abteilung des Kleinhirnstieles. Sie
zeigt die den Arbeiten des Instituts eigene Griindlichkeit.
Dasselbe gilt von der anatomisch und klinisch gleich bemerkenswerten
Arbeit „IXeber einen Fall von doppelseitigen symmetrischen Erweichungs-
cysten im verlangerten Mark 44 von Dr. K. Brun.
Den Schlufi bildet eine vergleichende anatomische Arbeit von
Dr. Fuse ,,Ueber den Abducenskem der Sauger 44 . B.
Havelock Ellis, Rassenhygiene und Volksgesundheit. Deutsche Original -
ausgabe von H. Kurella. Wurzburg. Verlag C. Kabitzsch.
Das Buch behandelt in der bekannten temperamentvollen Art des
Verfassers die Probleme der sinkenden Geburtenziffer, die Frauenfrage, die
Hygiene der Liebe, der Erziehung, die soziale Bedeutung der Wohnungsfrage
— hier hat der Herausgeber eigenes eingefiigt —, die Fragen der inter¬
na tionalen Sprache, der Abschaffung des Krieges und manches andere.
Das Buch ist durch die Fiille des Materials lesenswert und anregend.
Man ist sich bei derLektiire klar, daB durch ein anderes Temperament gesehen
viele der Fragen anders aussehen. B.
Sommer, Klinik fiir psychische und nervdse Krankheiten . VII. Bd. 1. Heft.
1912.
Das Heft enthalt eine iibersichtliche Darstellung Sommers iiber die
Methoden der Intelligenzprufung. Dabei gibt Verfasser, wie stets, eine
Reihe von Anregungen, denen nachzugehen sehr verdienstvoll ware. Be-
Bonders mochte ich auf seine Erorterungen des Kausalitatsbegriffes hin-
weisen. Hier haben uns bisher alle Methoden im Stich gelassen. Wir miissen
im Gebiet der klinischen Psychiatrie mit den einfachsten Formen der Kausa-
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litatsvoistellungen anfangen und untersuchen, in welcher Weis© die Ent-
stehung eines Zustandes aus dem andern richtig aufgefafit wird. Dafi dies©
Untersuchung auch fiir das Strafrecht von grofierer Bedeutung sein wiirde,
bedarf keines naheren Beweises.
Ro88olimo setzt seine Arbeit iiber die psychologischen Profile fort.
Die SchluBfolgerungen vom Verfasser sind nur mit Vorsicht aufzunehmen.
Er will bestimmte Profiltypen fiir die einzelnen Schwa chsinnsgrade fest-
gestellt haben, aber der Wert der auf dies© Weise gefundenen Resultate er-
scheint doch nur sehr begrenzt.
A. Dannenbergsr hat die bekannte mikrocephale Familie Becker in
Biirgel einer Nachuntersuchung unterzogen. Es handelt sioh um 9 Ge-
schwister, von denen einzelne bereits von Bischoff-Virchow u. A. beschrieben
warden. Neu sind die genauen psychischen Untersuchungen an der jetzt
42 jahrigen Margaret©. Sie ist niemals zu einer geordneten Sprache ge-
kommen. Bei genauerer Analyse zeigte sich, dafi vor allem die aufiere
Sprache unvollkommen ist. Der Wortschatz umfafit nur die 3 Worte:
Papa, Mama, na. Verfasser ist es gelungen, sie zum gelegentlichen Nach-
sprechen zu bringen. Die inner© Sprache ist besser entwickelt. Fiir eine
Reihe von konkreten Gegenstanden besitzt sie das innere Wortsymbol.
Eine Abstraktionsfahigkeit ist nicht sicher nachweisbar. Die Triebe sind
nur gering entfaltet. Der Sexualtrieb fehlt iiberhaupt.
Masturbation wurde nur selten beobachtet. Ein Unterschied in ihrem
Verhalten den beiden Geschlechtem gegeniiber ist nicht beobachtet woiden.
Beziiglich der interessanten anatomischen Resultate mufi auf das
Original verwiesen werden. Verfasser erscheint es auf Grund seiner Zu-
sammen8tellung wahrscheinlich, dafi die Mikrencephalie in alien diesen
Fallen durch entziindliche Prozesse des Stiitzgewebes oder der nervosen
Gewebe hervorgerufen worden ist. Es ist nicht anzunehmen, dafi eine lokale
Erkrankung der Zeugungsorgane der Mutter die Mikrencephalie in diesem
Falle bedingt hat. Es ist moglich, dafi ein im Blut der Mutter gelostes,
vielleicht in der Heimatgegend gefundenes Gift die Krankheit hervorge¬
rufen hat. Kutzinski.
Ebbinghaus, Ahrifi der Psychologie. 4. Auflage. 1912.
Bei der immer wachsenden Erkenntnis der grofien Bedeutung der
Psychologie fiir die Psychiatiie ergreift man gem die Gelegenheit beim Er-
scheinen der 4. Auflage des Abrisses, auf die wertvolle, klare Darstellung
des Biichleins hinzuweisen. Naturgemafi beschrankt es sich auf die Haupt-
tatsachen. Dabei werden auch die Forschungen der Psychiatrie nicht ver-
nachlassigt. Der Wert des Buches scheint mir vor allem darin zu liegen,
dafi es nicht einseitig unter dem Einflufi der in medizinisch-psychiatrischen
Kreisen gelaufigen Assoziationspsychologie geschrieben ist. Die Anschau-
lichkeit der Darstellung ist geeignet, auch den Anfanger ohne Schwierig-
keiten in die Problem© der Psychologie einzufiihren. Die Sichtung und
Erganzung durch die bewahrte Hand Durrs in Bern soli nicht unerwahnt
bleiben.
Beschaftigungsbuch fiir Kranke und Rekonvaleszenten. Bearbeitet von
Anna Wiest , mit einer Vorrede von Prof. v. Romberg. Stuttgart. F. Enke,
Eine Anleitung zu verschiedenartigen Arbeiten. Die Zusammen-
stellung ist sehr mannigfaltig. Wenn man auch bei vielen der Handarbeiten
nicht gerade den Wunsch hegt, sich mit ihnen beschenkt zu sehen, so bildet
das Buch doch eine dankenswerte Bereicherung fiir die Therapie. Es ist
geeignet, den Krankenschwestem in den Rrankenhausern, in denen die
Beschaftigungstherapie sich im wesentlichen im Zimmer abzuspielen hat,
Anregung zu w’echselnder Beschaftigung ihrer Patienten zu geben. B.
Georg Flatau, Sexuelle Neurasthenie. Berlin. 1912. Fischers med. Buchhandl.
H. Komfeld.
Das vorliegende Buch ist im wesentlichen fur den praktischen Arzt
bestimmt; der Verf. geht deshalb iiber die theoretischen Fragen verhaltnis-
mafiig schnell hinweg, jedoch nicht ohne jedesmal die Anschauungen der
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Personalien.
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maBgebenden Autoren zu erwahnen und seine eigene Stellungnahme kurz
zu begriinden. In ausfiihrlicherer Weise wird dagegen die Symptomatologie
und speziell die Therapie der sexueilen Neurasthenie besprochen. Fur
den Praktiker diirfte dews Buch besonders auch deshalb von Nutzen sein.
weil es auBerdem iiber die Prophylaxe — die unter Umst&nden schon in
friiher Kindheit einsetzen muB — die erforderlichen Anweisungen gibt.
L. BorcharcU.
Georg Burgl, Die Hysteric und die strajrechUiche V erantwortlichkeit der
HysXeripchen. Stuttgart. 1912. Verlag Ferd. Enke.
Das nahezu 300 Seiten umfassende Buch besteht aus 3 Abschnitten;
der letzte bringt nur kaeuistisches Material; der zweite Teil behandelt
die strafrechtliche Verantwortlichkeit speziell und zeigt, dafl der Verf.
zu weitgehender Exkulpation der Hysteriker neigt. Der psychiatrisch ge-
schulte Arzt findet hier kaum etwas Neues; dafi stets genau untersucht und
eine eingehende Anamnese erhoben warden muB, auch scheinbar nebensach-
liche Dinge sorgfaltig zu beachten sind. daB bewuBte Simulation nicht allzu
haufig ist, diirfte jedem erfahrenen Gutachter bekannt sein. Es muBte
aber hier gesagt werden. weil sich der Autor an Aerzte ohne spezialistische
Vorbildung und auch an Juristen wendet. Aus diesem Doppelzw'eck des
Buches ergeben sich besondere Schwierigkeiten, deren der Verfasser wohl
nicht ganz Herr geworden ist. In der Absicht, eine moglichst eingehende
und vor allem gemeinverstandliche Darstellung der Hysterie zu geben,
verliert er sich vielfach in Einzelheiten, die mehr verwirren als klaren,
um so mehr, als sich grobe fundamentale Unrichtigkeiten (z. B. Mutismus
= motorische Aphasie!) eingeschlichen haben. L. Borchardt.
William Hirsch, Religion und Zivilisation votn Standpunkte des Psychiaters.
Miinchen. E. W. Bonsels <fc Co.
Hirsch hat in dem vorliegenden Band den Versuch gemacht, den Inhalt
der Bibel und der Evangelien wissenschaftlich zu erklaren, Ausspriiche
und Taten der Keligionsstifter vom Standpunkte des Psychiaters zu be-
trachten. Er iiberbriickt die Widerspriiche, die zwischen biblischen Vor-
gangen und moderner Wissenschaft bestehen, durch den apodiktischen Satz.
daB die Erz&hlungen der Testamente als Produkte geistiger Entartung
aufzufassen sind. Aus ihrem Fanatismus, aus dem Bekenntnis ihrer gott-
lichen Sendung, leitet er bei Cliristus, Moses, den Propheten die Diagnose
einer typischen halluzinatorischen Paranoia ab. Diese Pathographien
der Keligionsstifter sind mit Temperament und Leidenschaft geschrieben.
In der volligen Beseitigung der Religion, dieses ..Ueberbleibsels des Bar-
barentums 44 , erblickt H. den groBten Fortschritt der Zivilisation.
Hirsch glaubt lediglich vom intellektuellen, nicht vom emotionellen
Standpunkt aus Fragen der Religion definitiv entscheiden zu konnen.
Diese Voraussetzung ist falsch, die Polemik damit auf eine unaichere Basis
gestellt. In dem Streit um den Frieden zwischen Glauben und Wissen,
in dem Kampf gar um Kultur und Zivilisation bringt uns das recht unphilo-
sophisch gehaltene Buch nicht um ein Jota w r eiter. Kurt Singer- Berlin.
Personalien.
Prof. Dr. Ludwig WtUe in Basel ist gestorben; er war der erste In-
haber des Lehrstuhles fiir Psychiatrie an der Universitat und Erbauer der
Irrenklinik ,,Friedmatt“.
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(Aus dem Patliologischen Institut- der Konigl. Chirurg. Universitats-Klinik
in Berlin.)
Ueber asymmetrische Diastematomyelie vom Typus
der „Vorderhornabschnunmg“ bei Spina bifida.
Von
Prof. Dr. R. HENNEBERG und Prof. Dr. M. WESTENHOFER.
(Hierzu Taf. VII—X.)
Die kongenitalen MiBbildungen und Entwicklungsst or ungen des
zentralen Nervensystems haben in neuerer Zeit immer mehr an
Interesse gewonnen, seitdem sie durch exakte Untersuchungen fur
die Entwicklungsgeschichte, Anatomie, Physiologie und Patho-
genese nutzbar gemacht worden sind. Die als Diastematomyelie
bezeichnete MiBbildung des Riickenmarkes gestattet interessante
Einblicke in die Entwicklungsmechanik des Riickenmarkes. Ein
weiteres Interesse bieten die hierher gehorenden Falle durch die
Beziehungen, in denen die Ruckenmarksanomalie zu den ver-
schiedenen Formen der Spina bifida steht und schlieBlich durch die
Tatsache, daB die MiBbildung gelegentlich klinische Symptome
bedingt, deren Deutung Schwierigkeiten bieten kann.
Exakte Untersuchungen liber Diastematomyelie liegen in der
Literatur nur in Sehr geringer Anzahl vor. Die beschriebenen Falle
beziehen sich zudem fast durchweg auf Neugeborene bzw. sehr
friih gestorbene Kinder, meist zeigten sie einen hohen Grad von
Spina-bifida-Bildung. Der im nachstehenden eingehend beschrie-
bene Fall, in dem sich bisher noch nicht beschriebene Riicken-
marksformationen auffinden lieBen, diirfte somit eine wertvolle
Bereicherung der Kasuistik sein.
Krankengeschichte.
Anna F., Naherin. 17 Jahre alt. aufgenommen auf die chirurgische
Klinik (Prof. Bier) am 3. II. 1912. Mutter an Lungentuberkulose gestorben.
Vater gesund, ebenso mehrere Geschwister. MiBbildungen sind in der Familie
bisher nicht vorgekommen. Von Geburt an besteht eine Geschwulst in der
Kreuzgegend.
Seit der Kindheit vermag Pat. den Urin nicht ordentlich zu halten.
Namentlich beim Hus ten und Lachen erfolgt unwillkiirlicher Urinabgang.
Elektrische Behandlung der Blase ohne Erfolg. Ekzem in der Genitalgegend.
Befund : Pat. ist ilirem Alter nicht entsprechend entwickelt. Herz
und Lungen ohne Besonderheiten. Am Riicken in der Gegend der Lenden-
wirbel eine funfmarkstiickgroBe weiche. halbkugelige Geschwulst, die keine
Fluktuation zeigt. Ein Spalt in der Wirbelsaule ist nicht fiihlbar. Unter
der Geschwulst lassen sich jedocli Dornfortsatze nicht fiihlen.
Monataschrift f. Payohiatrie vl Neurologie. Bd. XXXIIL Heft 3. 14
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206 H enneberg-W estenhofer, Leber asymmetrische
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Linker FuB in Equinovarus-Stellung. Rohe Kraft des linken Beines
wesentlich geringer als die des rechten. Umfang des rechten Oberschenkels
(12 cm liber der Patella) 41 cm, links 41 cm. Wadenumfang (10 cm unter
der Patella) rechts 27 cm, links 25 cm. Empfindung fur warm und kalt,
spitz und stumpf am linken Unterschenkel und FuB etwas herabgesetzt.
Patellar- und Achillessehnenreflex fehlt beiderseits. Links deutlicher
Bab inski. Kein FuBklonus.
Operation 12. II. 1912 (Prof. Bier). Aethernarkose. Langsschnitt
in der Mittellinie vom 1. Lendenwirbel bis zur Mitte des Kreuzbeines, Frei-
legung der Wirbelsaule durch Abtrennung der Muskulatur. Der Dorn-
fortsatz des 4. und 5. Lendenwirbels fehlt, desgleichen der obere Teil des
Bogens des 1. Kreuzbeinwirbels. Aus dem Wirbelspalt drangt sich ein
hiihnereigroBer Tumor. Abtragung des Tumors (starke Blutung), Eroffnung
des Wirbelkanales durch Abkneifen der Wirbelbogen des 1. bis 3. Lenden¬
wirbels und der den fingerbreit klaffenden Wirbelsaulenspalt begrenzenden
seitlichen Wirbelbogenteile. Nach Eroffnung des Duralsackes laBt das
Riickenmark keine deutlichen Veranderungen erkennen. Keine Ver-
wachsungen oder Kompression. Naht der Dura. Vereinigung der Musku¬
latur durch Messingdraht. Faszien- und Hautnaht.
17. II. Wiederholtes Erbrechen, keine Nackensteifigkeit. Tempe-
ratur 40,5. Verbandwechsel. UrinabfluB wie vor der Operation unwill-
kiirlich.
18. II. Erbrechen und hohes Fieber bestehen fort.
19. II. Operationswunde per primam verheilt. Stichkanale der
Drahtnarben etwas vereitert. Nach Trennung der Weichteile in der Narben-
linie reichlicher AbfluB von klarem Liquor. Keine Nackensteifigkeit.
Schlechter Puls. Exitus.
Die mikroskopische Untersuchung der abgetragenen Geschwulst eigibt
ihre Zusammensetzung aus Muskel- und Fettgewebe.
Sektionsprotokoll. Grazil gebaute weibliche Leiche. Die Mammae gut
entwickelt. Die Beine, insbesondere die Unterschenkel, von fast kindlichem
Habitus. Geringer Pes equinovarus links.
Schddel: Die Gegend der (gut erhaltenen) Pfeilnaht mit den angrenzen-
den Randern der Scheitelbeine springt flach kuppelartig vor. EinenQuer-
finger nach links von der Pfeilnaht befindet sich eine etwa z we imark stuck-
groBe, allmahlich verschwindende, grauweiB gefarbte, flache Verdickung
des Knochens, die an der Tabula interna einen etwas deutlicheren
Vorsprung als an der Tabula externa bildet. Auf dem Durchschnitt sieht
man die ganze Diploe in entsprechender Ausdehnung verbreitert und von
einer grauweiBen, ziemlich harten, • nicht rein knochernen Geschwulst
eingenommen, von der sich die Tabula externa an der dicksten Stelle der
Geschwulst gerade noch unterscheiden l&Bt, wahrend die Tabula interna
an der dicksten Stelle etwa auf eine Strecke von 1 cm Durchmesser nicht
mehr zu unterscheiden ist. Bei genauer Betrachtung laBt sich eine feine
alveolare Struktur erkennen. Die Stirnnaht ist erhalten. Der Schadel-
knochen zeigt im Bereich des ZusammenstoBes der Pfeil-, Stim- und Kranz-
naht eine ungemein durchscheinende und diinne herzformige Stelle.
Dura mater mit dem Schadeldach langs des Langsblutleiters maBig
stark verwachsen. Die weiche Hirnhaut, besonders im Bereich des Stirn-
hirns, leicht milchig getriibt.
Auf der Schnittflache des Gehirns treten zahlreiche Blutpunkte aus,
die leicht zerflieBen und ablaufen. Am Gehirn sonst keine Verftnderungen.
Die Blutleiter der harten Hirnhaut teils mit flussigem Blut, teils mit Blut
und Speckgerinnsel gefiillt. Schadelbasis ohne Besonderheiten.
Brust - und Bauchhohle.
Bauchfell: feucht. glatt und glanzend.
Blase: Stark gefiillt, steht 3 Querfinger oberhalb der Symphyse.
Beide Lungen durch einige sparliche, ganz zarte Adh&sionen an der
seitlichen Brustwand befestigt, im iibrigen lufthaltig und ohne Ver¬
anderungen.
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Herz klein, Durchmesser der aufgeschnittenen Aorta direkt iiber den
Klappen 4,5 cm. Muskulatur triibe, Klappen ohne Ver&nderung.
Leber blutreich.
MHz 12X7,5X2,3 cm mit ziemlich reichlichen Einkerbungen, Pulpa
geschwollen.
Linke Niere bedeutend vergroflert, mit 2 Becken und 2 Ureteren. das
Nierenbecken erweitert, stark gerotet, mit etwas Eifcer gefiillt. Niere selbst
triibe, Rinde verbreitert.
Das Fettgewebe in der Umgebung der rechten Niere besonders nach
hinten zu von reichlichen schwieligen Narben durchzogen. Die Fett-
gewebskapsel selbst ist verdickt, zum Teil leicht, zum Teil mit Substanz-
verlust von der Rinde abziehbar, wobei reichlich eitrige Fliissigkeit ab-
flieBt. Das Nierengewebe an den eingerissenen Stellen von schmutzig
graugelber Farbe und mit Eiter durchsetzt. Diese eingerissenen Stellen,
sowie andere einge.schnittene Abszesse dor Rinde, aus denen der unter
starkem Druck stehende Eiter abflieBt, kommunizieren mehr oder weniger
deutlich mit den erweiterten und mit Eiter gefiillten Nierenkelchen, besonders
des oberen Pols, der ein eigenes Becken mit besonderem Ureter besitzt. Hier
ist nur noch ein sehmaler Rindensaum erhalten. Unter diesem stark
atrophischen eine halbe Niere darstellenden Abschnitt liegt eine wohl-
gebildete kleine Niere, ebenfalls mit eigenem Becken und Ureter, mit breiter,
triiber, gelber Rinde, maBig abgeflachten Papillen. und am unteren Pol
mit eitriger Infiltration und Erweichung der Rinde in der Umgebung eines
erweiterten Calix. Dieser Herd steht mit einem iiber pflaumengroBen Eiter-
herd zwischen Kapsel und Rinde in Verbindung.
Die beiden getrennten Ureteren vereinigen sich innerhalb der Blasen-
wand zu einer gemeinsamen Eimniindungsstelle in die Blase.
Die Blase ist mit tiiibem eitrigem Urin prall gefiillt. Die Blasenschleim-
haut zeigt eine schmutzige. dunkelgrau-gelbrote Farbe. Besonders an der
seitlichen und Vorderwand finden sich zahlreiche teils scharfrandige, teils
ausgefressene, teils reine, teils mit nekrotisehen halb abgestoBenen und
unterminierten Pfropfen versehene Geschwiire.
Im Blasenhals und im Trigonum vereinzelte granulare und poly pose
Wucherungen der Schleimhaut.
Uterus von normaler GroBe.
Beide Ovarien vergroBert, im linken eine pflaumengroBe, und in beiden
mehrere erbsengroBe Cysten und mehrere Ovulationsnarben.
Tuben unverandert. Am rechten Fimrbrienende 2 kurzgestielte
Blaschen (Morgagnische Hydatiden).
Darm ohne Veranderung.
Wirbelsdule: Die Korper des 3. und 4. Lendenwirbels springen in
sanften Bogen etwas nach vorn vor und sind breiter als normal. Am Riicken
findet sich iiber den Lendenwirbeln eine 12 cm lange vemahte Wunde, in
deren Tiefe die Dornfortsatze und Seitenbogen des 2. bis 5. Lendenwirbels
fehlen.
Die Dura mater spinalis ist hier in einer Ausdehnung von ungef&hr
10 cm Lknge durchtrennt und durch Nfthte vereinigt; im iibrigen ist sie
an der Innenseite ebenso wie die weiche Riicken marks haut feucht, glatt
und glknzend und ohne Verknderung.
Das Riickenmark reicht bis zum 5. Lendenwirbel herab. Cauda
equina und Filum terminale sind daher sehr kurz. Das Lendenmark ist
auf eine Strecke von 4—5 cm verdoppelt. Der Conus medullaris einheit-
lich und verbreitert.
Nach Entfemung de3 Ruckenmarks aus dem Wirbelkanal zeigt sich
der Kanal der ganzen Lendenwirbelsaule auffallend tief und breit ausgehohlt,
mit einem ziemlich scharfen Uebergang der normalen, flacheren Aushohlung
der Wirbelkorper der Brustwirbelsaule in die tiefe und weite buchtige Aus¬
hohlung der Lendenwirbelsaule. Die W&nde der Hohle sind dabei uberall
glatt und abgesehen von der durch die Operation hervorgerufenen Blut-
infiltration olrne Ver&nderung. Insbesondere bestehen keinerlei pathologische
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208 H enneberg-Wesfc enhofer, Ueber asymmetrische
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Verwachsungen zwischen dem Knoehen und der Dura mater und zwischen
dieser und den weichen Riickenmarksh&uten.
Anatomische Diagnose. Diastematomyelie des Lendenmarks, operierte
Spina bifida, schwere chronische eitrige und ulzerose Cystitis und Pyelo¬
nephritis mit rechtsseitiger Peri- und Paranephritis, Hyperplasie der Milz-
pulpa, triibe Schwellung des Herzens. Endotheliales Sarkom der Diploe des
rechten Scheitelbeines, persistierende Frontalnaht. Doppelte Nieren mit
doppelten Becken und doppelten Ureteren, zahlreiche Einkerbungen der
Milz. GroBe und kleine Cysten beider Ovarien, 2 gestielte Morgagnische
Hydatiden an der rechten Tube. Goring© Lordose und Exkavation des
Wirbelkanals der Lendenwirbelsaule. Embryonale Lage des Riickenmarks
im Wirbelkanal, kindlicher Habitus der unteren Extremitaten. Geringer
Pes equinovarus links. _
Bei eingehender Betrachtung des Riickenmarks (Taf. VII Fig. 1 u. 2) er-
scheint das gesamte Cervikal- und Dorsalmark von normaler Beschaffenheit.
In der Hohedes ersten Lumbalsegmentes erweitert sich die vordere Langsfissur.
Es hat den Anschein, als schneide die Langsfurche distalwarts iinmer tiefer
ein und fiihre auf diese Weise zu einer Langsspaltung des Ruckenmarkes. In
den unteren Ebenen des 1. Lumbalsegmentes ist die Spaltung in 2 Saulen
bereits vollendet. Beide Arme des gespaltenen Ruckenmarkes sind von
zylindrischer Gestalt. Der rechte Strang ist wesentlich, zumindest fast
doppelt so dick wie der link©. Die Dicke des linken nimmt kaudalwarts lang-
sam zu und erreicht an der Stelle der Wiedervereinigung fast den Lhnfang
des rechten Stranges. Beide Riickenmarksstrange sind lediglich durch sehr
zarte Balken und Blatter der Arachnoidea miteinander verbunden. Nirgends
findet sich ein Gewebe. das als trennendes Septum bezeichnet werden konnte.
Nur kurz oberhalb der unteren Vereinigungsstelle findet sich eine festere
bindegewebige Verbindung. Die Lange der Spaltung betragt 42 mm. Aus
dem rechten Arm entspringen 4 (Lumbalwurzel 2 bis 5) kraftig entwickelte
vordere und hintere Wurzeln.
Die vorderen entspringen in einer ziemlich geraden Langslinie, die
nicht in der Mitte der vorderen Peripherie, sondem mehr an der medialen
Seite des rechten Riickenmarkstranges verlauft. Die hinteren Wurzeln
inserieren an der hinteren und sakralen Peripherie. Einzelne abirrende
Biindelchen scheinen von der medialen Peripherie ihren Ursprung zu
nehmen. Die zu den rechten Lumbalwurzeln gehorenden Spinalganglien
liegen an der normalen Stelle auBerhalb des Duralsackes. Aus dem linken
Arm entspringen an dem Toil, der dem 2. und 3. Lumbalsegment entspricht.
nur zarte Wurzeibiindel. 5 an der Zahl, die wohl durchweg vorderen Wurzel-
fasern entsprechen. Sie entspringen nicht in einer regelmaBigen Linie.
sondern bald mehr vorn, bald mehr lateral und vereinigen sich nicht zu
einem Biindel, sondern erreichen an verschiedenen Stellen die Dura. Die
Wurzeln. die der 4. und 5. Lumbalwurzel entsprechen, sind viel kraftiger,
wenn sie auch langst nicht den Durchmesser der rechten Wurzeln erreichen.
Diesen unteren beiden vorderen Lumbalwurzeln gesellen sich wieder deut-
liche hintere Wurzeln zu. Umnittelbar liber der unteren Vereinigungsstelle
entspringt eine sehr kraftige hintere Wurzel. Sie kommt aus der Tiefe des
Spaltes (aus der rechten Saule), schlingt sich nach auBen run die hintere
Peripherie der linken Ruckenmarkssaule und begibt sich zu einem intra¬
dural lateral von der linken Saule gelegenen Spinalganglion. Unmittelbar
unterhalb der unteren Y T ereinigungss telle nimmt die Breite des Rucken¬
markes stark zu. Die vorderen Sakralwurzeln sind kraftig entwickelt.
Auf dem Querschnitt erscheint das Sakralmark viel breiter in der Frontal-
ebene als in dorsoventraler Richtung. Die vordere Flache ist zu einer
rautenfonnigen Grube vertieft. Auf den wallartigen Randern der Ver-
tiefung entspringen die vorderen Sakralw'urzeln. Sie scheinen beiderseits
vollzahlig vorhanden zu sein. wenn auch die Abgrenzung und Abzahlung
der einzelnen Wurzeln auf Schwierigkeiten stoBt infolge der Abtrennung
der Cauda bei der Sektion. Die hinteren Sakralwurzeln sind sehmachtig
und hindchtlich der Zahl der Biindel stark reduziert. Die Feststellung,
^velche Wurzeln fehlen, erweist sich als undurchfiihrbar, da der Zusammen-
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hang mit den vorderen Wurzeln und den Dnrchtrittsstellen durch die Dura
bei der He ausnahme des Riickenmarkes zerstort wurde. Els lieB sich auch
leider iiber dasVerhalten der Spinalganglien des Sakralmarkes nichts eruieren.
Mlkroskopischer Befund. Cervikalmark: Die Konfiguration des Quer-
schnittes ist normal. Im 4. Segment (Segment 1 bis 3 ging verloren) tritt
die Helwegsche Bahn sehr deutlich als diffuse Abblassung hervor. In der
Gegend dieses Biindels zeigt die Kontur des Querschnittes eine leichte Ein-
ziehung. Der linke Hinterstrang ist iim ein weniges schmaler als der rechte.
Ein Septum paramedianum fehlt hier beiderseits. Im 6 bis 8. Segment
fallt eine dent lie he Differenz in dem Volumen der (7o#schen Strange auf.
Der linke Gollsche Strang ist etwa ein Drittel kleiner als der rechte. Das
Septum paramedianum ist auf der rechten Seite deutlich ausgebildet, wahrend
es auf der linken Seite fehlt oder nur andeutungsweise vorhanden ist (Fig. 3).
Anch da, wo das Septum auf der linken Seite vollig fehlt, ist die Ausdehnung
de 3 6?oWschen Stranges an der hinteren Riickenmarksperipherie infolge einer
Einkerbung an der Grenze des Burdachschen undGoWschen Stranges deutlich
erkennbar. Eine weitere Abweichung von der Norm findet sich in alien
untersuchten Segmenten insofern, als die Kleinhirnseitenstrangbahn sich
deutlich von der Pyramidenseitenstrangbahn absetzt. Dies ist dadurch
bedingt, daB auf der Grenze beider Bahnen eine Gliaverdichtung vorliegt,
die sich auf Markscheidenpraparate als helle Zone gel tend macht. Sie ist
am breitesten und dent lichs ten am Hin ter horn bzw. in der Gegend der
Lissauerschen Zonen und verliert sich allmahlich nach vorn. Durch diese
Grenzlinie laBt sich die Ausdehnung der Kleinhirnseitenstrangbahnbeiderseits
deutlich erkennen, urn so mehr, als das Areal dunkler als das der Pyramiden-
bahnen gefarbt erscheint. Das Areal der linken Kleinhirnseitenstrangbahn
ist links etwa kleiner als rechts. Der Zentralkanal ist im ganzen Cervikal¬
mark nicht obliteriert. Im unteren Cervikalmark ist er spaltformig (frontal-v
gestellt). In der ependymaren Glia finden sich nur sparlich versprengte
Ependymzellen.
Oberes Dorsal mark. Ill der Konfiguration beider Querschnitt-
halften nehmen die Differenzen rasch zu. Vom 2. bis 4. Segment ist das
Seitenhorn links viel schwacher entwickelt wie rechts. Der Seitenstrang ist
links deutlich weniger voluminos als rechts, offenbar eine Folge der
schwacheren Entwicklung der Kleinhirnseitenstrangbahn links, wenn auch
die Bahn sich in den in Rede stehenden Segmenten nicht mehr abgrenzen
l&Bt. Die Differenz der GoUs chen Strange nimmt rasch zu. Im 4. Dorsal-
segment ist der rechte Gollsche Strang mehr als doppelt so voluminos als
der linke. Die Verkleinerung des linken Gollschen Stranges ist nicht nur
durch eine Verschmalerung bedingt-, sondern auch in der Langsrichtung ist
eine Reduktion bemerkbar. Dadurch ist es bedingt, dafi die Kuppen der
Hinterstrange stark asymmetrisch sind. Das hintere Septum weicht vorn
stark von der Mittellinie ab, und der linke Hinterstrang reicht nicht so weit
als der rechte. Das Septum paramedianum fehlt links auf vielen Schnitten.
Der Zentralkanal ist offen, klein, spaltformig bzw. unregelmaBig. EJs
besteht keine Vermehrung der zentralen Gliaanhaufung.
Mlttleres Dorsal mark. Auch im 5. bis 8. Segment bestehen keine
groberen Anomalien der Konfiguration. Die Veranderungen sind im wesent-
lichen die gleichen wie in den oberen Dorsalsegmenten. Am vorderen Seiten¬
strang, etwa da, wo eine durch die Spitze der Vorderhomer gelegte Frontal-
linie die Peripherie schneidet, findet sich eine mehr oder weniger tiefe Ein¬
kerbung. Im allgemeinen ist diese Furche auf der linken Seite starker
ausgepragt als auf der rechten. Die linke Ruckenmarkshalfte erscheint im
ganzen etwas kleiner als die rechte. Doch erstreckt sich die Reduktion nicht
auf den Vorderstrang und auf die graue Substanz. Der linke Hinterstrang
ist lira mehr als ein Drittel kleiner als der rechte. Das Septum post, erreicht
die graue Substanz stark links von der Mittellinie an der Stelle, wo die
Hinterwurzelfasern zu den Clarkeschen Saulen in das H interhorn eintreten.
Die Clarke schen Saulen stoBen im 8. Segment in der Mittellinie zusammen.
Sie zeigen keine GroBendifferenz. Der Zentralkanal ist offen, klein. ring-
bzw. spaltformig. Versprengte Ependymzellen sind nur sp&rlich (Fig. 4).
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210 H enneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische
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Unteres Dorsalm&rk. 9. bis 11. Segment. Die Verhaltnisse bleiben in
die3en Segmenten im wesentlichen die gleichen. Hervorzuheben ist, daB die
gut entwickelten Clarkeschen Saulen in der Mittellinie breit zusammen-
stoBen, so daB eine selir breite graue Kommissur re3ultiert. Mit der Verlage-
rung der Clarke schen Saulen nach der Mittellinie zu hangt es offenbar zu-
saramen, daB die laterale Kontur der grauen Substanz viel weniger gestreckt
ala in der Norm verlauft. 1m Uebergangsgebiet vom Vorder- zum H in ter horn
findet sich eine stark© Einbuchtung des lateralen Kontur. Der Zentralkanal
ist im 9. und 10. Segment rund und often, etwas weiter als in den bisher
beschriebenen Segmenten. Im 11. Segment vergroBert sich der Zentral¬
kanal rasch. Er bildet einen Spalt mit nicht deutlichem Lumen etwa von
4©r Breite des Vorderhornes (am vorderen Ende). Er ist nicht genau frontal
gestellt, sondern verlauft von links hinten nach rechts vorn.
Mit dem 12. Dorsalsegment (Taf.VIII, Fig.5)beginnt eine starke Defor¬
mation des Querschnittes. In der Gegend der Lissauerschen Zonen zeigt sich
beiderseits eine sehr starke Einziehung. Die Randglia drangt sich in Gestalt
eines breiten Septums in da3 Hinterhorn vor und zwar rechts weiter als links.
Beide Hinterhorner erscheinen in dorsoventraler Richtung zusammenge-
schoben, rechtsmehr wie links. Die Clarke schen Saulen sind sehr groB und
stoBen in der Mittellinie zusammen. Der rechte Hinterstrang ist wenigstens
doppelt so umfangreich wie der linke, er ist entschieden voluminoser als ein
normaler Hinterstrang im 12. Dorsalsegment. Das Septum post, trifft ventral
auf die Mitte der linken Clarke schen Saule deren groBter Durchmesser dorse-
ventral verlauft, wahrend der groBte Durchmesser der rechten Saule fast in
der Frontalebene liegt. Aus dem ventraien Pol der linken Clarkeschen S&ule
sieht man ein starke3 Faserbiindel in die Gegend de3 Seitenhorns ziehen. Die
Seitenhomer sind beiderseits zu langen Spitzen ausgezogen. Aus beiden
Hinterstrangen treten kraftige Faserbiindel in die Hinterhorner ein. Die
Lisaauerschen Zonen sind gut erkennbar. Die extramedullaren hinteren
Wurzelnzeigennormale Beschaffenheit. Der von einer fast kontinuierlichen
Epithelschicht ausgekleidete Zentralkanal ist stark erweitert. Sein Quer-
schnitt zeigt eine rechtwinklig dreieckige Ge 3 talt. Die groBere Kathete
verlauft ungefahr in der Frontalebene, die Hypotenuse von hinten links
nach rechts vom. Die zentrale Glia ist betrachtlich vermehrt.
Lumbalmark. In der oberen Halfte des I. Lumbalsegmentes (Fig. 6)
liegen im wesentlichen dieselben Veranderungen vor wie im 12.Dorsalsegment
Die vordere Langsspalte hat sich betrachtlich erweitert. Der Zentralkanal
ist stark erweitert und verlauft von links hinten nach rechts vorn. Sein
Lumen bildet einen unregelm&Bigen Spalt, der links wesentlich weiter ist
als rechts. Das Epithel ist fast durchweg sehr gut erhalten. Die Substantia
gelatinosa centr. ist stark vermehrt, besonders links, so daB hier ein Bild
vorliegt, wie wir es bei initialer Syringomyelic haufig sehen. Die gliose
W ucherung drangt sich zwischen die beiden Clarke schen Saulen und tritt in
Verbindung mit dem ventraien Ende des Septum post. In das linke
Hinterhorn zwischen Clarkes cher Saule und Substantia gelat. Rol. drangen
sich longitudinale Biindel des Hinterstranges.
Weiter kaudalwarts (Fig. 7) beginnt die „Abschniirung“ der linken
Riickenmarkshalfte. Die vordere Langsspalte offnet sich breit. Der Zentral¬
kanal spaltet sich in 2 kleine Kanale, die rasch auseinanderriicken. Wahrend
der linke ein spaltformiges Lumen zeigt mit regelmaBigem Epithel, findet
sich rechts nur ein unregelmaBiger Haufen von Epithelzellen ohne deutliches
Liunen,nicht weit davon nach vom und rechts liegt ein versprengter kleinerer
Haufen von Epithelzellen. Beide Zentralkanale sind nicht durch einen
< rliastreifen miteinander verbunden. Die Formation des linken Hinterhomes
wird vollig verwaschen. Samtliche Gebilde desselben einschlieBlich der Sub¬
stantia gelatinosa und der Clarkeschen Saule sind als solche nicht mehr er¬
kennbar. Man sieht an Stelle des linken Hinterhomes lediglich ein an die
graue Substanz erinnerndes Gewebe, das ohne scharfe Grenze in den Mark-
mantel (ibergeht. Hier und da sieht man einige Zellen, die als Clarke sche
Zellen anzusprechen sind. Die Vorderhomzellen sind links sparlicher als recht,
zeigen aber sonst keine Besonderheiten. Ein linker Hinterstrang l&Bt sich
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nicht abgrenzen. An der Stelle. an der man ihn erwarten sollte, finden sich
vorwiegend schrag getroffene Fasern. Hier findet sich eine starke Einziehung
<ler Peripherie, die auf eine Stelle gerichtet ist, die in der Mitte zwischen beiden
Zentralkanftlen liegt. Ein deutliches Septum post, ist nicht vorhanden.
Die rechte Riickeninarkshalfte zeigt keine grofleren Deformationen. Das
Vorderhorn ist abnorm schmal und nach der Mittellinie gebogen. Der Hals
<ies Hinterhornes ist von longitudinal verlaufenden Faserbiindeln vollig
Hurchsetzt und erscheint wie abgeschniirt. Die Schichten des Hinterhornes
sind gut entwickelt, auch die Lismuerache Zone und die eintretenden
Wurzelfasern. Der rechte Hinterstrang ist voluminos und von einem
schwachen, neugebildeten, nicht bis an die graue Substanz reichenden
Septum in 2 ungleiche Halften zerlegt.
In den unteren Ebenen des 1. Lumbalsegmentes ist die Spaltung voll-
zogen. Beide Teile haben einen besonderen und von einander unabhangigen
Pi aiiberzug.
2. Lumbalsegment (Fig. 8). Hechter Querschnitt: Vorderhorn.
Clarke sche S&ule und Hinterhorn zeigen fast normale Bildung. Der Hals
•des Hinterhornes wird dadurch sehr verschmalert, daB umfangreiche
Biindel des H in ter stranges in diese Gegend des Hinterhorns eindringen.
Die eintretenden Hinterwiuzelfasem, auch die zu den Clarkeachen Saulen
ziehenden, sind gut entwickelt. Vorder- und Seitenstrang sind normal ge-
bildet. Der voluminose Hinterstrang ist durch ein bis zur Clarke schen S&ule
reichendes zarfces Septum in zwei ungefahr gleiche Halften geteilt. Der
Zentralkanal ist oval, klein, offen, das Epithel sehr regelmaBig. Versprengte
Zellen finden sich nicht. Die zentrale Glia ist nicht gewuchert. Es findet sich
kein nach der Peripherie ziehender Gliastreif. Die graue Substanz der
Clarkeaohvn Saule ist medialwarts in einen diinnen Fortsatz ausgezogen, der
sich an der medialen Peripherie ventralwarts zieht. Die Fasern der vorderen
Kommissur sind deutlich, sie lassen sich zum Teil bis an die mediate Peri¬
pherie verfolgen, sie biegen hier aus der horizontalen Richtung ab. In der
Mitte des abgeplatteten medialen Randes — der Querschnitt ist im iibrigen
fast kreisrund — findet sich eine Einziehung, die ventral von der vorderen
Kommissur in der Richtung auf den Zentralkanal vordringt. In dieser
Einziehung liegen groBe GefaBquerschnitte und einige Wurzelbiindel.
Linker Querschnitt Die Flache des linken Querschnittes betragt
zirka ein Drittel des rechten. Seine Gestalt ist unregelmaBig rundlich, der
Rand zeigt zwei Einziehungen. Die tiefere liegt der beschriebenen Ein¬
ziehung des rechten Querschnittes gegeniiber und entspricht dieser vollig.
Sie stellt eine echte Fissur mit Piafortsatz dar, und erreicht den sehr
kleinen, spaltformigen, offenen, etw«is dorsal und medial von der Mitte
gelegenen Zentralkanal nicht, sondem biegt drosalwarts ab, um fast in der
Mitte des Querschnittes zu enden. Die zweite starke Einziehung liegt in der
Mitte der dorsalen Peripherie und ist von einer Yerdickung der Randglia
umgeben. Die Pia ist ziemlich dick. Zarte Wurzelquerschnitte finden sich
am dorsalen und am vertikalen Umfange, groBere GefaBe am medialen.
Die graue Substanz entspricht dem Vorderhorn und der Clarke schen
Saule ( ?). Das Hinterhorn fehlt. Die Konfiguration des Vorderhornes
entspricht dem der rechten Seite, doch ist sein Umfang etwas kleiner. Die
unregelmaBig halbmondformige (Konkavitat medialwarts) graue Substanz
wird von einem kontinuierlichen Markmantel umgeben. DerVorderstrang ist
links ebenso groB als rechts. Der Seitenstrang ist sehr reduziert. Der Hinter-
«trang ist nicht deutlich abgesetzt und sehr klein. Wir sind geneigt, den Teil
des Markmantels, der sich von der dorsalen Einziehung bis zu medialen er-
streckt, als Hinterstrang aufzufassen. Ein- bzw. austretende Wurzelfasern
sind sehr sp&rlich. Sie finden sich im vorderen Teile des Markmantels bzw.
Lin ten in der Gegend der dorsalen Einziehung. In den entsprechenden
Gegenden finden sich cxtramedull&re zarte Wurzelbiindelchen. Eine
Entscheidung. ob die an der hinteren Peripherie sich findenden Biindel
hintere Wurzelfasern sind, laBt sich nicht treffen, doch sind wir geneigt.
Hies anzunehmen. In der grauen Substanz sind die Vorderhornganglien-
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212 H enneberg-W e s t cnhofer , Ueber asymmeti ische
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zellen gut entwickelt. In der der Clarkeschen Saule entspreehenden Gegend
finden sich einige Zellen vom Typus der Clarkes chen Zellen.
3. Lumbalsegment (Fig. 9). Hechter Querschnitt. Der Querschnitt
ist den normalen Verhaltnissen entsprechend grower geworden. Das Vorder-
horn ist wesentlich breiter und plumper als im Bereich des 2. Lumbal-
segmentes. Eine wesentliche Abweichung von den beschriebenen Schnitten
aus dem 2. Lumbalsegment besteht insofern, als ein allerdings noch mangel-
haft entwickeltes mediates V order- und Hinterhorn aufgetreten ist. Der
linke (laterale) Vorder- und Seitenstrang und das Vorderhorn zeigen fast
uormale Verhaltnisse. Das laterale Hinterhorn ist etwas in die Lange ge-
zogen und zeigt eine hochgradige Verschmalerung des Halses. Diese ist be-
dingt durch das Hereindrangen von Fasermassen, die dem Hinterstrang an-
gehoren. Auffallend ist ferner, daB die die Substantia gelatinosa durch-
ziehenden Wurzelfasern in einigen dicken Biindeln zusammengeschlossen
verlaufen. Der Hinterstrang ist voluminos, ventral viel breiter als in der
Norm und zeigt koine Gliederung durch ein Septum. Aus seiner Kuppe lassen
sich zahlreiche Fasem in die graue Substanz hinein verfolgen. Die vordere
Langsplatte verhalt sich wie im 2. Lumbalsegment. Das mediate Vorderhorn
zeigt verwaschene Konturen und ist zirka halb so groB wie das laterale. Es
ist umgeben von einem schmalen Vorderseitenstrang. Dorsal gelit das
mediale Vorderhorn breit in ein Gebilde uber. das ungefahr den Ban eines
Hinterhorns zeigt. Die sehr umfangreiche Substantia gelatinosa desselben
wird dorsal und ventral von horizont al verlaufenden Fasern umzogen, die der
zentralen grauen Masse bzw. der Gegend der Clarke schen Saule zustreben.
Die Fasern kommen von der Peripherie und entsprechen offenbar hinteren
Wurzelfasern. Es findet sich auch eine Zone, die der Lissauerschon Zone
entspricht. Vordere Wurzelfasern lassen sich nur ganz vereinzelt naeh-
weisen. Dementsprechend finden sich nur ganz vereinzelte schlecht ent-
wickelte Ganglienzellen im inedialen Vorderhorn. Der Zentralkanal ist ein
kleiner offener ovaler Ring. Am dorsalen Ende des vorderen Septums liegt
ein unregelmaBiger Haufen von Epithelzellen. Dieser ist mit dem Zentral¬
kanal durch eine StraBe von im Gewebe liegenden Epithelzellen verbunden.
Der linke Querschnitt ist etwas kleiner als im 2. Lumbalsegment.
Diese Verkleinerung ist zum Teil beddingt durch das Schwinden einer
grauen, im 2. Lumbalsegment vorhandenen Masse, die wir als Clarke sche
S&ule angesprochen haben. Aber auch abgesehen davon erscheint die graue
Substanz sehr stark reduziert. Die Gestalt der grauen Substanz ist eine
unregelmaBig halbmondformige mit Konkavitat nach der Seite des vorderen
Langsspaltes. Dieser verhalt sich wie im 2. Lumbalsegment, doch gabelt
er sich am dorsalen Ende imd fast einen dreieckigen Teil des Markmantels
zwischen sich. Vor dem Langsspalt, der mu einen sehr zarten Binde-
gewebsfortsatz enthalt, liegen 3 Querschnitte groBerer Gef&fie. Die Pia, die
den Querschnitt kontinuierlich umzieht, ist ziemlich dick. Der Zentralkanal
besteht in einem Haufen ungeordneter Epithelzellen ohne Lumen. In der
grauen Substanz finden sich nur vereinzelte diirftige Ganglienzellen. Da-
gegen sieht man deutlich ziemlich zahlreiche Wurzelfasern die graue Substanz
verlassen. 2 Biindel treten besonders hervor, die aus der dorsalen und
ventralen Seite der grauen Substanz entspringen und nach der Peripherie
ziehen. Hier treten sie an Stellen der Peripherie aus. die durch eine Ein-
ziehung kenntlich sind. Extramedullar finden sich hier gut gebildete Wurzel-
querschnitte, und zwar dorsal solche vom Typus der hinteren Wurzeln.
Auffallend ist. daB die dorsal das Riickenmark verlassenedn Fasern zunachst
eine Strecke an der Peripherie entlang laufen, bevor sie austreten.
4. Lumbalsegment (Fig. 10). Hechter Querschnitt. Der Querschnitt
ist fast kreisformig. Die laterale (in Wirklichkeit liegt sie ventral) graue
Substanz ist fast normal gebildet. Auffallend ist nur die schon oben be-
schriebene Verschmalerung des Halses des Hinterhornes und der Umstand,
daB die Hintervvnirzelfasern in Gestalt eines geschlossenen Biindels die
Substantia gelatinosa durchziehen. Der Hinterstrang ist voluminos. keil-
formig mit abgestumpfter Spitze. Ein Septum post, fehlt, auch fehlt eine
Commissura post. An den Hinterstrang schlieBt sich medial ein dunkel
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wie der Hinterstrang gefarbtes Feld, das die Substantia gelatinosa des
medialen Hinterhornes mngibt. Es handelt sich hier mn ein Feld, das einem
medialen Hinterstrang entspricht. Dies ergibt sich aus den weiter distal
folgenden Bildern. Die mediale graue Substanz hat sich mehr den norinalen
Verhaltnissen genahert, doch ist sie wesentlich kleiner als die late rale.
Die lateralen Teile des V T orderhomes zeigen die Struktur einer Substantia
reticularis. Das Hinterhom ist selir gedrungen. Die Grenze gegen den Hinter¬
strang geradlinig. Eine Lissauer&che Zone fehlt. Die Substantia gelatinosa
Rol. wird von kraftigen in der Schnittebene verlaufenden Faserbiindeln
umzogen. Die am meisten medial, d. h. dem Hinterstrang anliegenden
Fasern kommen von der Peripherie her, von einer Stelle, die der norinalen
Wurzeleinrittsstelle ungefahr entspricht. Die iibrigen Fasern schwenken
in den Seitenstrang mn und lassen sich bis an die mittlere Peripherie ver-
folgen, wo sie eintreten. Extramedullare Wurzelquerschnitte liegen hier der
Peripherie an. Der Seitenstrang ist kleiner und etwas blasser (Markscheiden-
farbung) als der der anderen Seite. Der Vorderstrang ist fast ebenso
voluminos als der laterale. Die vordere Kommissur ist deutlich. Vorderhorn-
zellen und austretende Wurzelfasern finden sich im medialen Vorderhorn nur
sehr sp&rlich. Der Zentralkanal ist offen, klein und ziemlich regelmaBig.
Der linke Querschnitt ist wesentlich groBer als im 3. Lumbalsegment.
Er ist fast kreisrund und zeigt einen vorderen Langsspalt, der medialwarts
gerichtet ist und dem des rechten Querschnittes gegeniiberliegt. Die fast
runde graue Substanz wird von einem schinalen. iiberall fast gleich breiten,
nicht gegliederten Markmantel umgeben, der in der Gegend des vorderen
Langsspaltes durch ein kommissurartiges Gebilde geschlossen bleibt. Mit
Her grauen Substanz treten durch den medialen Teil des Markmantels
kr&ftige Biindel von vorderen Wurzelfasern, denen wohl entwickelte extra¬
medullare Wurzelbiindel von Vorderwurzeltypus entsprechen. Aber auch
an anderen Sellen ziehen vereinzelte Wurzelfasern radiar durch die weiBe
Substanz. Fasern. die als Hinterwurzelfasern angesprochenen werden
konnten, fehlen vollig. Die groBen Ganglienzelien sind ebenso zahlreich
wie in dem lateralen Vorderhorn des rechten Querschnittes, sie liegen be-
sonders in dem ventralen Abschnitt der grauen Substanz, der dem lateralen
Vorderhorn des rechten Querschnittes gegeniiberliegt. Der offene Zentral¬
kanal liegt nahe dem zentralen Ende des vorderen Langsspaltes, er ist
wesentlich groBer als der des rechten Querschnittes und mit regelmaBigem
Epithel ausgekleidet. In seiner Umgebung finden sich kleine versprengte
Epithelnester.
5. Lumbalsegment (Taf.IX Fig. 11). Rechter Querschnitt. Die Verhalt-
nisse haben sich wenig geandert. Die laterale Halfte entspricht fast der
Norm. Der Hinterstrang ist voluminos, ohne Septum und entspricht offenbar
lediglich dem rechten Hinterstrang des normal gedeuteten Riickenmarkes.
Unmittelbar am medialen Rande des medialen Hinterhornes verlauft ein
Septum, das bis zur hinteren Peripherie gelangt. Dieses Septum entspricht
dem hinteren Septum des normal gedachten Querschnittes.
Durch das Auftreten dieses Septums wird es moglich. einen medialen
Hinterstrang, der bereits im 4. Lumbalsegment erkennbar war, abzugrenzen,
er umgibt die sehr breite Substantia gelatinosa des medialen Hinterhornes
Das mediale Hinterhom ist sehr breit. faserarm und geht breit in das sehr
reduzierte mediale Vorderhorn liber. Der mediale Seiten- und Vorders trang
ist sehr klein und in einzelne Biindel zerkliiftet. Die vordere Kommissur ist
sehr faserreich. Den Zentralkanal stellt ein Haufen Epithelzellen ohne Lumen
dar. Im medialen Vorderhorn finden sich nur vereinzelte groBe Ganglien-
zellen.
Der linke Querschnitt zeigt dasselbe Bild wie im 4. Lumbalsegment.
.Lateral liegt ihm ein wohlgebildetes groBes Spinalganglion an. Die Fasern,
die aus diesem entspringen, ziehen zum medialen Hinterhom des rechten
Querschnittes. Sie treten hier ziunTeil in die Substantia gelatinosa desselben
ein, zum Teil bilden sie den medialen kleinen Hinterstrang.
In den tieferen Ebenen des 5. Lumbalsegmentes nimmt der linke
Querschnitt rasch an Umfang zu. Die graue Substanz streckt sich und
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214 H enneberg-Westenhofer. Ueber asymmetrische
niinmt eine nierenformige Gestalt an. Die Einbuchtung liegt der vorderen
Langsfissur an. Die beiden Anschwellungen nehmen imraer mehr die Form
von Vorderhornern an, so daB jetzt auch am linken Querschnitt ein later-ales
und ein mediales Vorerhorn zn unterscheiden ist. Im medialen Horn finden
sich nur vereinzelte groBe Ganglienzellen. Ans dem lateralen Horn treten
sehr kraftige vordere Wurzelfasem. Hinterhomartige Formationen fehlen zu¬
nachst noch vollig. Von dem dem linken Querschnitt anliegenden Spinal-
ganglion ziehen sehr kraftige Biindel ziun medialen Hinterhorn des rechten
Querschnitte. In die untersten Ebenen des Segmentes entwickelt sich im
linken Querschnitte zunachst ein sehr breites mediales (richtiger beiden Vorder¬
hornern zugehorendes) Hinterhorn, das allerdings zunachst sehr deformiert er-
scheint, aber eine deutliche Substantia gelatinosa erkennen laBt (Fig. 12). Auf
eine kurze Strecke bildet dieses Hinterhorn gleichsam einen Anhang an den
linken Querschnitt und springt gegen das mediate Hinterhorn des rechten
Querschnittes vor. Es entsteht hier eine schmale Faserbriicke, die beide
Substantiae gelatinosae miteinander verbindet. Es treten hier zweifellos
zahlreiche Fasern in das Riickenmark ein. Sie ziehen zum Teil in das Hinter¬
horn, zum Teil lateralwarts in den Markinantel, wo sie sich an der Peripherie
weit verfolgen lassen. Diese Fasern kommen zum Teil aus dem rechten
Querschnitt durch die Briicke. Ob ein Teil der Fasern aus dem hetero-
topischen Spinalganglion kommt, konnten wir nicht entscheiden. Bald
darauf wird das gemeinsame Hinterhorn durch das Auftreten von Faser-
massen in ein mediales und laterales Hinterhorn gespalten. Die Mark-
briicke zwischen beiden Querschnitten ist geschwunden.
Oberes Sakralmark (Fig. 13—17). DieDifferenzierungder Querschnitte
erreicht hier ihren hochsten Grad. Wir sehen eine mehrere Millimeter lange
Strecke des Riickenmarkes vollig verdoppelt. Beide Querschnitte haben
sich so weit erganzt, daB sie alle Teile des Riickenmarkes enthalten. Im
einzelnen bestehen allerdings vielfache Abweichungen von der Norm.
Die beiden vollig selbstandigen Querschnitte liegen jetzt so nebeneinander,
daB die beiden vorderen Langsfissuren sich verlangert unter einem Winkel
von ca. 45° treffen wiirden. Beide Querschnitte besitzen eine selbst&ndige
Piaiunhiillung. Ein Trennungsgewebe ist nicht vorhanden. Die Pia ist zart
und von normaler Beschaffenheit.
Rechter Querschnitt. Von den vier grauen Saulen ist die rechte laterale
am besten entwickelt. Ihre Form entspricht fast vollig der Norm. Hervor-
zuheben ist nur, daB der Hals des H inter homes eine starke Verschm&lerung
infolge von Eindringen abgesprengter Biindel des Hinterstranges zeigt. Der
laterale Hinterstrang ist groB und medial von einem sehr deutlichen hinteren
Septum begrenzt, das mit der vorderen Langsfissur einen medialwarts offenen
stiunpfen Winkel (ca. 140°) bildet. Das mediate V T orderhorn ist sehr klein und
enth< nur vereinzelte groBe Ganglienzellen. Viel besser ist das mediate
Hinterhorn entwickelt, das alle normalen Teile erkennen lafit. Zahlreiche
hintere Wurzeln treten durch die Substantia gelatinosa und durch den
medialen Hinterstrang ein. Dieser nimmt nur ca. ein Viertel des Areales
des lateralen Hinterstranges ein, er reicht nicht fiber die Substantia gelatinosa
nach vorn, so daB das Septum post, auf eine groBe Strecke hin der grauen
Sub3tanz des Hinterhornes anliegt. Eine Lismuersche Zone ist vorhanden,
doch weicht sie insofern von dem normalen Bild ab, als sie aus einzelnen
Biindeln besteht. Der Seitenstrang ist sehr klein, auch der Vorderstrang
bleibt hinter dem der lateralen Seite zuriick. Der Zentralkanal wird von
einem lang gestreckten (in der Richtung des hinteren Sep turns) Zellstreifen
gebildet.
Der linke Querschnitt ist deformiert; der dorsaie Abschnitt ist stark
medialwarts verschoben. Das laterale Vorderhom ist voluminds und enthalt
sehr zahlreiche Ganglienzellen. Die graue Kommissur ist sehr breit, so daB
die beiden Vorderhorner zusammenflieBen. Die vordere Kommissur ist
der Norm entsprechend gebildet. Der Hinterstrang zeigt nur eine Andeutung
eines Septums. Die mediate Halfte des Querschnittes ist wesentlich kleiner
als die laterale.^ In dem verkummerten Vorderhorn finden sich vereinzelte
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215
Ganglienzellen. Der offene Zentralkanal zeigt eine regelnxaBige Epithel-
anordnung. Von der medialen Lismuerschen Zone und der Substantia
gelatinosa ziehen sehr kraftige Faserbiindel durch den Hinterstrang in der
Richtung nach dem Hals de3 lateralen Hinterhornes. Sie biegen hier aus der
Schnittebene ab. Im Hals des lateralen Hinterhornes sieht man zahlreiche
quergetroffene Biindel. Er treten auch direkt in das laterale Hinterhorn
Fasern ein, allerdings nur ziemlich sparliche.
Nicht weit unterhalb der beschriebenen Schnitthohe begimit die Ver-
einigung der beiden Riickenmarkssaulen. Der ZusammenfluB beginnt in der
Gegend der medialen Seitenstrange. gleichzeitig beriihren sich die medialen
Substantiae gelatinosae. Zwischen diesen beiden Verbindungsstellen bleibt
zunachst noch ein Spalt bestehen (Fig. 14). Eine dritte schmale Briicke
formiert sich an der dorsalen Peripherie. Hier ziehen in der Schnittebene ver-
laufende Faserbiindel, die aus dem linken medialen Hinterhorn zu kommen
scheinen und nach dem rechten medialen Hinterhorn gelangen. Mediate
hintere Wurzelfasern sind, wenn iiberhaupt, nur sparlich vorhanden. Der
Zentralkanal rechts ist offen. Ein langgestreckter Haufen von Zellen ver-
bindet ihn mit dem ventralen Ende des hinteren Sep turns. Links finden sich
zwei offene Zentralkanaie, die hintereinander liegen. Zwischen beiden liegt
ein ganz kleiner Kanal mit sehr engem Lumen. In der Einsenkung zwischen
beiden medialen Vorderstrangen liegt ein Wurzelquerschnitt, der insofern
von der Norm abweicht, als er zahlreiche runde Querschnitte von Gliazapfen
enth<. Vordere Wurzelfasern an den medialen Vorderhomern sind nur
sp&rlich vorhanden.
Die Vereinigung der beiden Querschnitte schreitet fort (Fig. 15 undl6).
in dem sich zunachst eine Verb indung zwischen den beiden medialen Vorder-
hornem bildet, die jedoch bald voriibergehend wieder verschwindet, so daB
nur die schmalen Seitenstrange zusammenflieBen. In dieser Hohe sind die
beiden medialen Hinterhorner mit ihrem gelatinosen Abschnitte breit zu-
sammengeflossen. Ventral von dieser Vereinigungsstelle der Hinterhorner
zeigt sich eine sehr schmale, dorsal von derselben eine sehr breite Kommissur
von in der Schnittebene verlaufenden Fasern. Darauf flieBen die medialen
Vorderhorner wieder breit zusammen und verkleinern sich wesentlich, gleich¬
zeitig tritt eine rasch fortschreitende Vereinigung der beiden Hinterhorner
dss rechten Querschnittes ein (Fig. 16 und 17). Das gemeinsame rechte
Hinterhorn zeigt eine sehr (in der Frontalebene) breite Substantia gelatinosa;
die sich bandformig an der dorsalen Peripherie entlang zieht. Dieses
monstrose Hinterhorn nimmt rasch an Umfang ab.
Die Hinterhorner des linken Querschnittes haben sich viel rascher
verkleinert und sind in der Hohe, die das soeben beschriebene monstrose
Hinterhorn im rechten Querschnitt zeigt, schon vollig geschwunden (Taf. X
Fig. 17). Die mediale graue Substanz des linken Querschnittes hat sehr an
Volumen abgenommen. Die Zentralkanaie sind klein und offen. Am ven¬
tralen Rand d©3 Querschnittes finden sich 3 Langsspalten. Die mittlere
entspricht der Stelle, an der beide Querschnitte sich zusammenlegten.
Nachdem alle vier Hinterhorner im mittleren Sakralmark (Fig. 18)
vollig geschwunden sind, zeigt der Querschnitt eine nierenformige Gestalt.
Die Einbuchtung liegt ventral. Von ihr gehen die beiden divergierenden
L&ngsfissuren aus, die nach vom verlangert, sich unter einem Winkel von
45° schneiden wilrden. Zwischen beiden Langsspalten liegt eine kurze Spalte,
der am dorsalen Rande eine Einsenkung entspricht. Beide Gebilde deuten
die Verwachsungslinie beider Riickenmarke an. Die graue Substanz ist
plump hantelformig, die rechte Halfte ist wesentlich groBer als die linke. Im
Gnmde jeder L&ngsfissur finden sich eine vordere Kommissur und dorsal
davon ein Zentralkanal. Beide Kanale sind offen und von regelmaBigem
Epithel ausgekleidet. In den lateralen Anschwellungen der grauen Substanz,
die den lateralen Vorderhomern entsprechen, finden sich zahlreiche Ganglien¬
zellen. In dem Verbindungsstiick, das den medialen Vorderhomern ent¬
spricht, lassen sich nur vereinzelte Ganglienzellen nachweisen. Formationen,
die an ein Hinterhorn erinnern, fehlen vollig, doch treten in der Mitte der
hinteren Peripherie sparliche Wurzelfasern in den Markmantel ein. Der
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216 H e n n e b e r g - W e s t e n h 6 f e r , Feber asymmetrische
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Markmantel zeigt. abgeschen von den vorderen Langsfissuren keinerlei
Gliederung. Ein hinteres Septum fehlt vollig. Der mediale Teil des hinteren
Markrnantels ist von vielen in der Schnittebene verlaufenden und schrag ge-
troffenen Fasern durchsetzt. Zuin Teil handelt es sieh inn Fasern, die in die
graue Substanz ziehen und wohl hinteren Wurzelfasern cntsprechen. Den
vorderen Marksaiun durchsetzen zahlreiehe Vorderwurzel fasern.
In den weiter distal gelegenen Ebenen des mittleren Sakralmarkes be-
ginnt bald wiederum eine Spaltung des Riiekenmarks (Fig. 19 und 20). Zu-
nachst verdiinnt sieh das Mittelstiick der grauen Substanz und schwindet
schliefilich vollig dadureh entstehen zwei graue, vondem zusammenflieBenden
Markmantel umgebene Masson, eine kleinere runde links und eine groBere
rechts, die mehr die Form eines nonnalen Vorderhorns zeigt. Die vollige
Trennung erfolgt durch ein Piaseptum. naehdem vorher an der Trennungs-
stelle ein Biindel von dorsoventral im Querschnitt verlaufenden Fasern auf-
getreten Lst. Die beiden Querschnitte sind so orientiert. daB die beiden
vorderen Septen in der Frontalebene liegen und einander gegeniiberstehen.
In beiden grauen Massen sind zahlreiehe Ganglienzellen, namentlich in den
ventralen Abschnitten. vorhanden. die vorderen Wurzeln treten auf der
ventraien Seite aus. Hintere Wurzelfasern sind sparlich vorhanden und
treten als geschlossene Biiridel in den Markmantel. Weiter distal verkleinem
sieh beide Querschnitte allmahlieh, immer bleibt jedoeh der linke kleiner
als der reclite. Hinterhornartige Formationen treten nicht auf. Die Zentral-
kanale sind offen und von einer breiten Schicht Ependymzellen umgeben.
Von dem Befund in den untersten Ebenen des mittleren Sakralmarkes
(Fig. 21J 1 ) ist noch folgendc^s hervorzuheben: Eine Hinterhornformation felilt
vollig. Die eintretenden Hinterwurzelfasern sind diirftig. In dem Septum,
das beide Querschnitte tremit, finden sieh Inseln von glioser Substanz ein-
gesprengt. In derUmgebung der unregelmaBigen Zent-ralkanale findet sieh
viel gliose Substanz und sehr zahlreiehe versprengte Ependymzellen. Im
rechten Querschnitt findet sieh ein Spalt, der den lateralen Markmantel
von der Peripherie in dorsoventraler Richtung diuchzieht, die ventrale
Peripherie jedoeh nicht erreicht. Dieser Spalt off net sieh in den subpialen
Haum. Seine Wandung wird von verdichteter Glia gebildet (wie bei
Syringomyelie). Eine Beziehung zum Zentralkanal besteht nicht.
Im unteren Sakralmark wtichsen die beiden Querschnitte wieder zu-
sammen. Die Vereinigung beider Half ten findet so statt, daB das Septum
zunachst dorsal schwindet und hier eine rasch an Breite zunehmende Briicke
entsteht (Fig. 22).
Weiter distal bestehen noch deutlich zwei Ruckenmarksanlagen. die
fast symmetrisch gebildet sind. Der gesamte Querschnitt ist nierenformig.
Die Einziehung am ventralen Rand ist sehr tief. Die lateralen Vorderhorner
sind gut entwickelt. die rudimentaren, medialen flieBen breit zusammen. Von
den Hinterhornem sind nur die lateralen ausgebildet, aber auch diesen fehlt
eine deutliche Substantia gelatinosa Rolandi. Der gemeinsame Hinterstrang
zeigt eine Andeutung eines Septum post. Zu beiden Seiten des dorsalen Endes
des vorderen Langsspaltes liegt ein offener kleiner Zentralkanal mit vielen
versprengten Zellen in der Umgebung. Die Pia ist verdickt, ebenso das
vordere Septum.
Im untersten Sakralmark ist eine sehr starke Deformierung des Quer-
schnittes. Man sieht ventral einen halbmondformigen Markmantel zentral
und dorsal unregelm&fiige Markfelder. Das Gebiet der grauen Substanz ist
im wesentlichen von 2 vollig getrennten, groBen, unregelmaBig spalt-
formigen Zentralkanalen. die dorsoventral gestellt sind und die dorsale
Peripherie erreichen, eingenommen. Der dorsalen Peripherie liegen Binde-
gewebsmassen auf.^die GefftBe 'mit verdickten Wandungen enthalten.
Zusammenfas8ung . 17 jahriges Madchen, angeborene hiihnerei-
groBe Geschwiilst in der Kreuzbeingegend, Blasenschwache, kind-
! ) Fig. 21 und 22 sind etwas starker vergrdBert als die iibrigen. Fig. 3
bis 20 zeigen die gleiche VergroBerung.
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217
licher Habitus der unteren Extremitaten, Schwache des linken
Beines, linker FuB in Equino-varus-Stellung. Herabsetzung der
Sensibilitat am linken Unterschenkel und FuB, Fehlen der Sehnen-
reflexe an beiden Beinen.
Befund: 4.und5.LendenwirbelundobererTeildes l.Sakralwirbels
hinten nicht geschlossen, Cystitis und Pyelonephritis, Verdoppelung
der Nieren und Ureteren, embryonale Lage des Riickenmarkes.
Verkleinerung des linken Hinterstranges im Cervikal- und
Dorsalmark, Spaltung des Riickenmarkes im 1. Lumbalsegment
unter dem Bilde der Abschniirung des linken Vorderhornes, im Be-
reich des 2. bis 5. Lumbalsegmentes vervollstandigt sich die rechte
Ruckenmarkssaule allmahlich durch Auftreten eines medialen
Vorder- und Hinterhomes und eines rudimentaren medialen Hinter¬
stranges. Die linke Saule stellt ein Vorder horn mit Markmantel
dar, erst im 5. Lumbalsegment beginnt die Vervollstandigung des
Querschnittes durch Auftreten eines medialen Hinterhornes. Im
1. Sakralsegment zunachst 2 vollig getrennte vollstandige Riicken-
marksquerschnitte, dann Verschmelzung beider Querschnitte und
Schwund samtlicher 4 Hinterhorner. Im mittleren Sakralmark
emeute Trennung beider hinterhornloser Saulen. Unvollstandige
Verschmelzung beider Querschnitte im unteren Sakralmark.
undeutliche Hinterhornanlagen.
Bei der Beurteilung eines Falles von sogenannter DoppelmiB-
bildung des Riickenmarkes ist zunachst die Frage zu entscheiden,
ob es sich tatsachlich um eine angeborene MiBbildung handelt, oder
ob ein postmortales Artefakt vorhegt. Wie van Gieson 1892 in seiner
bekannten verdienstvollen Arbeit nachgewiesen hat, beziehen sich
zahlreiche der alteren Veroffentlichungen iiber DoppelmiBbildungen
des Riickenmarks auf Kunstprodukte. Als Beispiele seien die
Arbeiten von Filrstner und Zacher , Kronthal , Jacobsohn, Feist und
Brasch genannt. Aber auch nach der Veroffentlichung von van
Gieson sind noch gelegentlich Kunstprodukte als MiBbildungen be-
schrieben worden, so von Zingerle. Petren und Sibelius haben bereits
die von Zingerle sehr ausf iihrlich mitgeteilten und an der Hand von
18 Abbildungen leicht nachpriifbaren Befunde als Artefakte er-
kannt, imd wir wiirden auf den Fall nicht zuriickkommen, wenn die
Beobachtung Zingerles nicht immer wieder herangezogen (so von
Kaufmann , A . Westphal) wiirde. In dem im Erscheinen begriffenen
Handbuch der MiBbildungen von E . Schwalbe referiert Ernst den Fall
Zingerles eingehend und reproduziert eine Abbildung. ohne auch nur
auf die Moglichkeit des Vorliegens eines Kunstproduktes hinzu-
weisen. Dabei ergibt sich bereits aus der zusammenfassendenCharak-
terisierung des Falles durch Zingerle . daB ein Artefakt vorliegen
muB. Er sagt u. a.:
,,Freilich wird die Deutung der Befunde in hohem MaBe er-
schwert durch die Mannigfaltigkeit der bestehenden Formverande-
rungen, wie sie bisher noch in keinem beschriebenen Falle be-
obachtet wurde, und durch welche dieses Ruckenmark zu einem
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218 H enneberg-Westenhofer. Ueber asynimetrische
in der Literatur ganz isoliert dastehenden Falle gestempelt wird.
Dnrch das ganze Brust- und Halsmark wechseln die Bilder in
rascher Aufeinanderfolge, nicht nur segmentweise, sondem vielfach
tritt uns innerhalb eines Segmentes eine wiederholte Umformung
entgegen, die zu den verschiedensten und merkwiirdigsten G-e-
staltungen fiihrt.“ Dieser rasche Wechsel der Querschnittsbilder
ist fiir Verquetschungen des Riickenmarkes ungemein charakte-
ristisch. Bei MiBbildungen laBt sich dagegen der ganz allmahliche
Uebergang von einer Querschnittsform in die andere an Serien-
schnitten stets nachweisen. DaB Zingerle ein gesetzmaBiges Ver-
halten in den Umformungen des Querschnittes nachweisen konnte,
beweist natiirlich nichts gegen die artifizielle Natur seiner Befunde,
denn selbstverstandlich kommen auch die Artefakte auf Grund
gesetzmaBiger mechaniscber Verhaltnisse, d. h. ZerreiBlichkeit
und Verschieblichkeit der weiBen und grauen Massen zustande.
Zingerle kommt u. a. zu folgenden Ergebnissen: Fehlerhafte
Bildungen des Zentralkanales sind von bestimmendem EinfluB auf
das Wachstum der Riickenmarksanlage. Defekt oder Yerlagerung
des Epithelrohres ist von Defekten oder Verlagerungen der Hinter-
strangsareale, der Hinterhorner und Clarke schen Saulen begleitet.
Bei mehrfachen, aus der Mittellinie verschobenen Zentralkanalen
bildet sich jedem entsprechend ein Hinterstrang und nimmt die
umgebende graue Substanz den Bau von Hinterhornern an. Jedem
Zentralkanal lagert auch ein der weiBen Kommissur ahnliches
Markfaserareal an. Aus der Anlage eines Riickenmarkes konnen
auf diesem Wege Zwei- und Mehrfachteilungen desselben zustande
kommen. Es ist leicht ersichtlich, daB derartige Schliisse nur
auf Grund von Artefakten gezogen werden konnten. Der Zentral¬
kanal bildet mit den Hinterstrangen und Hinterhornern eine zu-
sammenhangende Masse, die sich leicht gegen die iibrigen Teile
des Querschnittes bei Verquetschungen verschiebt (Sibelius).
Die Hinterstrange haben mit dem Zentralkanal nichts zu tun, wir
wissen, daB sie im wesentlichen durch das Hineinwachsen der
hinteren Wurzelfasem zustande kommen. Fehlen die hinteren
Wurzeln bzw. die Spinalganglien, so unterbleibt die Entwicklung
der Hinterstrange bzw. der Hinterhorner trotz gut entwickeltem
Zentralkanal. Dies zeigt imser Fall sehr deutlich.
Wir nehmen im Gegensatz zu Sibelius, der nicht alle Ab-
weichungen in dem Falle Zingerles fiir Artefakte erachten will,
an, daB es sich um ein urspriinglich normal gebildetes, bei der
Herausnahme stark verquetschtes Riickenmark handelt. Patho-
logisch war an dem Riickenmark lediglich eine mit der HimmiB-
bildung (Zyklopie) in Zusammenhang stehende Hypoplasie der
Pyramidenbahnen und die von derselben abhangige Seitenstrangs-
furchenbildung (Anton, Schiirhoff, Paltauf) in der Gegend der
Pyramidenseitenstrange. Zu der Annahme, daB es sich um ein
normal gebildetes Riickenmark handelte, veranlaBt mis, abgesehen
von den Querschnittsbildem, die durchweg den Charakter von
Artefakten tragen, noch folgendes: Zingerle fand im Halsmark und
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219
Lendenmark (Fig. 52 und 30) eine normale Konfiguration des
Querschnittes. Unser Fall zeigt sehr deutlich, daB oberhalb und
unterhalb des miBbildeten Riickenmarksteiles Veranderungen
nicht vermiBt werden. Besondere Beachtung verdient unseres
Erachtens die in unserem Falle im Dorsal- und Cervikalmark be-
stehende Asymmetrie in den Hinterstrangen. Die aus dem Lumbo-
sakralmark stammenden Hinterwurzelfasem, die im Cervikalmark
im GoMschen Strang liegen, sind auf der linken Seite stark reduziert
infolge des Defektes der lumbosakralen Spinalganglien und hinteren
Wurzeln. Die Verkleinerung des Areals, in dem die hinteren
lumbalen und sakralen Wurzeln verlaufen, laBt sich durch das ganze
Dorsal- und Cervikalmark verfolgen. Dieser Befund bildet in un¬
serem Falle einen Beweis, daB die Veranderungen im Lumbosakral-
mark keine Artefakte sein konnen. Die Frage, ob in unserem Falle
ein Kunstprodukt vorliegen konne. bedarf keiner weiteren Er-
orterung. Wir beschranken uns darauf, auf folgende Momente hin-
zuweisen. Das Riickenmark wurde makroskopisch genau unter-
sucht, es fanden sich nirgends Anzeichen von Quetschung. Die vor-
gefundenen Querschnittsbilder stimmen bis auf einige bisher nocb
nicht beschriebene mit den Befunden in einwandfreien Diastemato-
myeliefallen iiberein. Die Querschnittsformationen entwickeln
sich ganz allmahlich, wie sich an Serienschnitten verfolgen laBt.
Nirgends macht sich ein rascher Wechsel der Bilder, wie ihn
Zingerle bei der Beschreibung der artifiziellen Verdoppelung be-
echreibt, bemerkbar. SchlieBlich sei noch auf das Verhalten der
Pia hingewiesen. In unserem Falle zeigt jede Riickenmarkssaule
einen vollstandigen und selbstandigen pialen Ueberzug, wahrend bei
artifiziellen Doppelbildungen entweder beide Querschnitte in
einer gemeinsamen Piahiille liegen oder ein Querschnitt extrapial
zu liegen scbeint.
Der beschriebene Diastematomyeliefall ist zunachst dadurch
ausgezeichnet, daB im Lumbalmark die beiden Riickenmarkssaulen
ungleich voluminos sind, und daB ihre Querschnitte stark asym-
metrische Bilder aufweisen. Die Durchsicht der Literatur ergibt,
daB derartige Falle nur in geringer Anzahl beobachtet worden sind.
Am nachsten stehen unserem Falle die Beobachtungen von Beneke,
Naegeli, Steffens und RecUich. Die Beschreibung dieser Falle ist nicht
eingehend genug, um eine Vergleichung der Befunde mit den unseren
betreffs aller Einzelheiten zu ermoglichen. Es macht sich in Sonder-
heit der Mangel an ausreichenden Abbildungen geltend. Beneke hat
fiir den Befund, der in unserem Falle im 1. bis 5. Lumbalsegment
vorliegt, dieBezeichnung: ,,Vorderhornabschnurung“ inAnwendung
gebmcht. Wenngleich diese Benennung das Wesen der Veranderung
nicht trifft tmd hinsichtlich der Genese auf einer falschen Annahme
beruht, ist sie von anderen Autoren akzeptiert worden, da der in Rede
stehende Typus der Diastematomyelie durch den Terminus in ein-
facher Weise charakterisiert wird.
In dem Falle Benekes drangte sich zwischen Hauptteil des
Riickenmarkes — so bezeichnet Beneke die voluminosere Saule im
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220 Henneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische
Gegensatz zu der rudimentaren — und der ,,abgeschniirten“ Saule
ein Septum. Es bestand aus Knorpelgewebe mit beginnender Ver-
knocherung im Zentrum, die auBeren Schichten bildeten derbes
Bindegewebe und eine von der Arachnoidea gebildete Scheide.
Einen ahnlichen Befund erhob Sulzer in einem Falle, in dem im
Bereich des 2. und 3. Lumbalsegmentes Querschnittsbilder vor-
lagen, die unseren Befunden nahe stehen. Auchv. Recklinghausen ,
Cruveilhier, Bonome und Steffens beschreiben Septumbildungen bei
Diastematomyelie. In einem Fall von Warrington und Monsarrat
zeigte sich an Stelle eines Septums eine Exostose.
Diese Platten oder Septen faBte v. Recklinghausen als versenktes
und transponiertes Duragewebe auf und lehnte die Vorstellung,
daB es sich um entziindliche Adhasionen handeln konne, ab.
Beneke nahm fiir seinen Fall nun an, daB durch Kompression
d. h. infolge von Hineinwachsen eines derartigen bindegewebigen
Septums die Abtrennung des einen Vorderhomes herbeigefiihrt
worden sei, und zwar soil sich nach dem genannten Autor der
ProzeB abgespielt haben, nachdem sich das Medullarrohr bereits
geschlossen hatte und die graue Substanz differenziert war.
Die Griinde, die gegen die Annahme Benekes sprechen, hat
Sibelius bereits eingehend erortert. Gegen ein aktives und kompri-
mierendes Vorwachsen des mesodermalen Gewebes spricht der
Umstand, daB das Septum in alien Fallen in der dorsoventralen
Mittellinie gegen das Riickenmark vordrangt. Man sollte an-
nehmen, daB die Zerlegung des Riickenmarkes oft auch an anderer
Stelle und in anderer Richtung stattfande. Durch das Hinein¬
wachsen eines Septums ist die bereits geschlossene Riickenmarks-
anlage ist nicht das regehnaBige Auftreten von medialen Verbanden
erklart, femer nicht die Tatsache, daB im Hauptteil sich nur ein
Hinterstrang findet. Das Eindringen eines Septums kann allenfalls
den Befund getrennter Riickenmarkssaulen erklaren, nicht aber
die in der Regel in Diastematomyeliefallen vorhandenen Ver-
schmelzungsbilder, d. h. Konfigurationen mit iiberzahligen Ver¬
banden ohne Septum.
Eine auf eine so lange Strecke des Riickenmarkes, wie sie in
manchen Fallen in Frage kommt, gleichmaBig einwirkende Kom-
pressionswirkung mit dem Erfolge einer Langsspaltung des Riicken-
markes ist durchaus unwahrscheinlich.
SchlieBlich spricht auch das fast regelmaBige Vorhandensein
eines selbstandigen Zentralkanales im Zentrum des ,,abgeschniirten c<
Teiles gegen die Annahme einer mechaniseh bedingtenAbschniirung.
Wollte man die Annahme machen, daB es sich dabei um eine Ab-
schniirung von dem urspriinglich einfachen Zentralkanal handele,
so miiBte man zum wenigsten erwarten, daB ein Gliastreif nach-
weisbar ware, der vom Zentralkanal bis zur Peripherie des Quer-
schnittes verliefe.
Unser Fall ist nun dadurch von besonderem Interesse, als er
zeigt, daB das Bild der Vorderhornabschnurung auch ohne Septum-
bildung und ohne Kompression von seiten einer Cyste, Exostose
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Diastematomyelie vom Typus etc.
221
oder Knorpelspange vorkommt. Auch in dem Falle Naegelis, in dem
es sich gleichfalls um eine asymmetrische Diastematomyelie
handelt, fand sich kein komprimierendes Gewebe. In unserem
Falle ist die Pia im Bereich des Lumbalmarkes durchweg zart.
Jede Riickenmarkssaule ist von einer nicht verdickten Pia um-
scheidet. Eine septumartige Bildung findet sich iiberhaupt nicht.
UnserFall beweist somit, da 13, wie bei Diastematomyelie iiberhaupt,
so auch bei der asymmetrischen Form derselben, die unser Fall
reprasentiert, eine Septumbildung nicht die Rolle spielen kann,
die ihr Beneke zuschreibt, und berechtigt zu dem SchluB, daB
in Fallen, in denen sich ein Septum, eine Knorpelspange etc. vor-
findet, diese nicht als die Ursache der Diastematomyelie auf-
gefaBt werden darf.
Die Moglichkeit einer Abschniirung durch aktive Proliferation
des mesodermalen Gewebes halt Sibelius nicht fur vollig ausge-
schlossen. Er halt sie jedoch nur in denjenigen Fallen fur wahr-
scheinlich, in denen es wie in dem Falle von Neumann zu einer mehr-
fachen Teilung der Medullarplatte gekommen ist. Wir sind der
Meinung, daB eine Zerlegung des schon fertig gebildeten Riicken-
markes, d. h. des bereits geschlossenen Neuralrohres durch ein-
wachsendes Bindegewebe wohl iiberhaupt nicht vorkommt. Da-
gegen ist es uns sehr wahrscheinlich, daB in sehr friihen embryonalen
Stadien, d. h. vor der Vereinigung der beiden Medullarplatten-
halften abnorme Wachstumsvorgange in der Umgebung des
Ruckenmarkes den normalen ZusammenschluB desselben ver-
hindern konnen, und daB dies gelegentlich durch ein Eindringen von
me8odermalem Gewebe zwischen beide Plattenhalften geschehen
kann. In solchen Fallen miiBte man Residuen dieses Gewebes
finden etwa ahnlich der von v. Recklinghausen beschriebenen ,,Ge-
webstransposition bei den Gehim- und Riickenmarkshernien“, die
freilich aus einer spateren Entwicklungsperiode stammen, da im
transponierten Gewebe auch quergestreifte Muskulatur gefunden
wurde.
v. Recklinghausen erblickte die Ursache der Diastemato¬
myelie in einer Hemmung der Riickenmarksentwicklung. Zur Vor-
aussetzung hatte diese Auffassung der Doppelbildung des Riicken-
markes die symmetrische bilaterale Anlage der Medullarplatte.
Der Ansicht v. Recklinghausens haben sich die neueren Autoren vor-
wiegend angeschlossen. Sibelius hat neuerdings die Frage an der
Hand eines sehr exakt untersuchten Falles von Diastematomyelie
bei Spina bifida erschopfend behandelt, so daB seinen Ausfiihrungen
nur wenig hinzuzufiigen sein diirfte. Sibelius kommt zu dem
Resultat, daB alle bei Diastematomyelie vorkommenden Quer-
schnittsbilder sich auf Grund der Annahme erklaren lassen, daB
die Medullarplattenhalften sich nicht in normaler Weise zu einer
Rohre geschlossen haben. sondem jede fiir sich zur SchlieBung
gelangte. Es handelt sich somit nicht um eine wahre Doppelbildung,
nicht um einen WachstumsexzeB, sondern um eine MiBbildung in-
MonatMChrift f. Psyohlatrle u. Neuroloirie. Bd. XXX III. Heft 3. 15
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222 H enneberg-W estenhofer, Veber asymmetrische
folge von Defekt. In den Fallen von asymmetrischer Diastemato-
myelie vom Typus der Vorderhornabschniirung kommt eine
mangelhafte Entwicklung der einen Medullarplattenhalfte dazu,
aus der die rudimentare Riickenmarkssaule hervorgeht. Die
sonst bei Diastematomyelie vorkommenden Konfigurationen
stellen Verschmelzungstypen dar, bei denen bald die ventrale,
bald die dorsale Naht ungeschlossen ist.
Priifen wir unseren Fall unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt
sich im einzelnen folgendes:
Wie in anderen Fallen von Diastematomyelie zeigen in unserem
Falle die je fur sich geschlossenen Medullarplatten sehr deutlich
die Tendenz, selbstandig ein moglichst vollstandiges Riickenmark
zu bilden. Nach der Spaltung (richtiger Nichtvereinigung) bilden
sich zunachst im rechten Querschnitt mediale Verbande. Wie in
ahnlichen Fallen bleibt die Ausbildung des Vorderhomes hinter
der des Hinterhornes zuriick. Die Abgrenzung des medialen Vorder-
hornes bleibt undeiitlich. Es entstehen Formationen, die an die
Substantia reticularis erinnern. Die Entwicklung von medialen
Hinterstrangen hangt natiirlich davon ab, ob hintere Wurzelfasem
in die mediale Halfte des Querschnittes eintreten. Auch die Bildung
von medialen Hinterhornem scheint von dem Eintritt hinterer
Wurzelfasern abhangig zu sein. In unserem Falle laBt sich der Ein¬
tritt von Hinterwurzelfasem in die medialen Hinterhorner im
Lumbalmark und 1. Sakralsegment konstatieren. Es handelt sich
stellenweise nur um sparliche Fasern. Ihr Auftreten ist keineswegs
ein Beweis, daB ein dem betreffenden Segment zugehoriges mediales
Spinalganglion vorhanden ist. Es kann sich um Fasern handeln,
die sich von der lateralen hinteren Wurzel abzweigen, auch konnen
sie von der linken Saule heruberkommen. Die linke Saule bleibt
vom 2. bis 5. Lumbalsegment rudimentar, holt dann aber in der
Ausbildung die rechte Saule rasch ein. Im 1. Sakralsegment ist die
Differenzierung der noch vollig getrennten Saulen so vollstandig,
wie sie bisher nur sehr selten (u. a. von Steiner) beobachtet wurde.
Man muB annehmen, daB hier die Medullarplattenhalften in nor-
maler Weise entwickelt waren, als sie sich friihzeitig und zwar jede
fur sich schlossen.
Zwei fur sich geschlossene Plattenhalften vereinigen sich in der
Regel zuerst mit den medialen Teilen, und zwar mit den medialen
Seitenstrangen, dann erfolgt der ZusammenfluB der grauen Massen.
Fiir die Annahme, daB die beiden Riickenmarkssaulen nicht
das Produkt einer sekundaren Abschniirung sind, sondem sich aus
den urspriinglich bilateral angelegten Halften der Riickenmarks-
anlage entwickelt haben, spricht von den bereits angefuhrten
Momenten besonders das Verhalten des Hinterstranges im Lumbal¬
mark. Es fehlt hier in dem Hinterstrang der rechten Riickenmarks-
saule (in dem „Hauptteil“) das hintere Septum. Bei genauer Be-
trachtung ergibt sich in einwandfreier Weise, daB der Hinterstrang
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Diastematomyelie vom Typus etc.
223
des rechten Querschnittes dem rechten Hinterstrang des normal
gedachten Riickenmarkes entspricht. Hierauf weist neben dem
Mangel eines Septums in der Mitte des Hinterstranges die volJig
geradlinig verlaufende Begrenzung des Hinterstranges (besonders
deutlich im 4. u. 5. Lumbalsegment) gegen das mediale Hinterhorn
hin. Allerdings findet sich vom 3. Lumbalsegment an (nach ab-
warts) ein kleines Areal dorsal von der Substantia gelatinosa
des rechten medialen Hinterhornes. Wie weiter unten noch aus-
gefiihrt wird, handelt es sich hier um einen rudimentaren medialen
Hinterstrang.
Die Kleinheit des Querschnittes der linken Ruckenmarkssaule
im Bereich des 2. bis 4. Lumbalsegments (Fig. 8—10) erklart sich
aus dem Defekt des Hinterhornes einschlieBlich der Gegend der
Clarke schen Saule und dem Fehlen des Hinterstranges. Wir nehmen
an, daB dieser Defekt die Folge einer Aplasie der linken Fliigelplatte
darstellt. Es ist jedoch auch ohne weiteres ersichtlich, daB wenigstens
im mittleren Lumbalmark die graue Substanz der linken Saule
wesentlich kleiner ist als ein-normales Vorderhorn in dieser Segment-
hohe, und auch der Markmantel der linken Saule ist kleiner als
das Volumen des Vorderseitenstranges der rechten Saule. Diese
Befunde weisen darauf hin, daB die Ursachen der Verkleinerung
der linken Saule nicht lediglich in einer Agenesie bzw. Hypoplasie
der betreffenden Spinalganglien erblickt werden darf. Selbst wenn
man annimmt, daB das Fehlen der Spinalganglien ein Ausbleiben
der Hinterhornentwicklung zur Folge hat, bedarf es noch einer Er-
klarung der Hypoplasie der iibrigen Querschnittsteile. Wir miissen
somit noch die weitere Annahme machen, daB auch die Grundplatte
der linken Riickenmarkshalfte wenigstens im Bereich des dritten
Lumbalsegmentes mangelhaft angelegt wurde.
Ein besonderes Interesse bietet die Querschnittsformation
im mittleren Sakralmark. Wahrend die bisher besprochenen Bilder
bereits mehrfach beschrieben wurden, scheint die in Rede stehende
Konfiguration bisher noch nicht bei Diastematomyelie beobachtet
worden zu sein. Wir sehen im 2. Sakralsegment eine nierenformige
graue Masse, die von einem schmalen Markmantel umgeben ist.
Verfolgt man die Entstehung dieses Querschnittbildes an Serien-
schnitten, so laBt sich leicht erkennen, daB die auffallende Form
der grauen Substanz durch Schwinden der vier im 1. Sakralsegment
vorhandenen Hinterhorner bedingt ist. Es laBt sich auch erkennen,
daB es sich um 2 relativ oberflachliche zusammengeflossene
selbstandige Querschnitte handelt. Hierfiir spricht das Vor-
handensein zweier vollig getrennten, nicht durch einen Streifen von
Substantia gelatinosa verbundenen Zentralkanale, die Lagerung
der groBen Ganglienzellen in den lateralen und ventralen Teilen der
grauen Substanz, die den lateralen Vorderhomem der Querschnitts-
figur im 1. Sakralsegment entsprechen, und die Tatsache, daB in der
Verschmelzungslinie im dorsalen Teil des Markmantels sich viele in
der Schnittebene verlaufende Fasem finden.
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224 Henneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische
In tieferen Ebenen der Sakralmarkes (Fig. 19 und 20) wird
durch Auseinanderriieken des grauen Massen das Zustandekommen
des Querschnittsbildes im 2. Sakralsegment ohne weiteres ver-
standlich. Wir sehen zwei voneinander vollig getrennte, selbstandig
geschlossene Riickenmarkshaiften, die einen Defekt der grauen
Substanz aufweisen, der vollig dem entspricht, der in der linken
Saule im Bereich des Lumbalmarkes vorliegt. Wir werden daher
das Zustandekommen der beiden Querschnittsbilder in derselben
Weise auffassen, wie die des linken Querschnittes im Lumbalmark.
Aus dem Fehlen der Hinterhomer und der sehr weit gehenden
Reduktion der hinteren Wurzelfasern konnen wir den SchluB ziehen,
daB die dem Sakralmark zugehorenden Spinalganglien fehlen bzw.
sehr schwach entwickelt sind. Wir miissen annehmen, daB derselbe
ProzeB, der sich im Lumbalmark nur links abspielte, sich im Sakral¬
mark beiderseits geltend machte, d. h. daB die Fliigelplatten beider-
seits schwer geschadigt wurden oder iiberhaupt ganz mangelhaft
angelegt wurden.
Das Spinalganglion, das sich auBen neben der linken Saule in
der Hohe des 5. Lumbalsegments vorfindet, gehort diesem Segment
an. Das normale Emporsteigen des Riickenmarkes, das zur Folge
hat, daB die Spinalganglien der tiefer gelegenen Segmente be-
trachtlich unterhalb der Segmente liegen, zu denen ihre Wurzel¬
fasern ziehen, ist in unserem Falle offenbar im Zusammenhang
mit der Spina-bifida-Bildung ausgeblieben 1 ). Die Folge davon ist,
daB die Spinalganglien viel naher als in der Norm ihren zugehoren¬
den Segmenten benachbart liegen. Zu der Annahme, daB das in
Rede stehende heterotopisch innerhalb des Durasackes liegende
Spinalganglion dem 5. Lumbalsegment angehort, zwingt uns die
Tatsache, daB in manchen Schnitten Fasern aus dem Spinal¬
ganglion in die rechte Riickenmarkssaule zu verfolgen sind (Fig. 11).
Damit ist es aber sehr wahrscheinlich gemacht, daB das Spinal¬
ganglion ein mediates ist, d. h. daB es sich um ein iiberzahliges
Ganglion handelt, das den iiberzahligen Formationen der grauen
Substanz analog ist.
Atypisch gelagerte Spinalganglien wurden bei Diastemato-
myelie mehrfach beobachtet ( v . Recklinghausen , Beneke , Steffens ,
Steiner , Wieting, Jacoby , Altmann). Nur selten kommen jedoch
iiberzahlige mediate Spinalganglien vor (Sibelius). Sie liegen ent-
weder im Spaltungsgewebe ( Theodor , Sulzer , Altmann) oder im
A ) Bei Spina bifida behalt das Riickenmark in der Regel die
embryonale Lage, d. li. es reicht bis in die untersten Teile des Wirbel-
kanals, ein Befund, der von den Autoren in dem Sinne gedeutet wird,
daB das Riickenmark am Wiibelspalt mehr oder weniger fixieit wird und
am Hinaufsteigen bei dem groBeren Wachstum der Wirbelsaule verhindert
wird. Unser Fall zeigt, daB auch unabhangig von jeder Verwachsung mit
der Wirbelspaltgegend das Hinaufsteigen des Riickenmarkes ausbleiben
kann.
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Diastematomyelie vom Typus etc. 225
Bereich des Riickenmarkes selbst neben der hinteren SchlieBungs-
linie (Sibelius).
W ir haben es als sehr wahrscheinlich bezeichnet, daB das heteroto-
pische Spinalganglion in unserem Falle als iiberzahliges, mediales
anzusprechen ist. Der Beweis fiir diese Annahme diirfte jedoch
nicht zu erbringen sein. Es konnte sich um ein nicht aus dem Dura-
sack ausgewandertes Spinalganglion der linken Riickenmarkshalfte
handeln, das einen abnormen AnschluB seiner Fasem an das
mediale Hinterhorn der rechten Saule gefunden hat. Das Vor-
kommen von Spinalganglien innerhalb des Durasackes ist bei
totaler und partieller Amyelie vielfach beobachtet worden und
kommt unter normalen Verhaltnissen an den kaudalsten Wurzeln
des Riickenmarkes vor. Auch die Tatsaehe, daB Fasem abnorme
Wege einschlagen, ist bei Bildungsanomalien des Nervensystems
nicht selten konstatiert worden. So sah Sibelius vordere Wurzel-
fasem durch die vordere Kommissur verlaufen. In einem Falle
von Arhinencephalie stand der Sehhiigelstabkranz in Beziehung
zur gekreuzten GroBhimhalfte ( Zingerle ). In einem Falle Naegelis
fanden sich Faserziige, die aus dem Cervikalmark in die Medulla
oblongata traten und zwar an einer Stelle, an der infolge starker
Knickung Medulla oblongata vmd Riickenmark sich in abnormer
Weise beruhrten.
Auf Grand derartiger Beobachtungen lieBe sich die Annahme
begriinden, daB es sich in unserem Falle um ein linksseitiges
Spinalganglion handelt — auch die Lage lateral von der .linken
Saule stiitzt diese Annahme —, das seine Fasem zum rechten
Hinterstrang sohickte.
Die aus dem Spinalganglion stammenden Fasem schlieBen sich
im 4. Lumbalsegment (Fig. 10) dem einfachen Hinterstrang der
rechten Saule an und auf Rechnung dieses Zuflusses von Fasem
diirfte die Volumenvermehrung des rechten Hinterstranges in
den hoheren Segmenten zu setzen sein. Wir haben bereits in der Be-
schreibung hervorgehoben, daB der Umfang des rechten Hinter¬
stranges iiber die Norm hinausgeht. Es ist dies zum wenigsten
der Fall im Bereich des unteren Dorsalmarkes (vgl. Fig. 4 und 5).
Weiter oralwarts tritt die VergroBerung nicht mehr deutlich in Er-
scheinung, offenbar, weil sehr viele Fasem, wie dies dem normalen
Verhalten entspricht, in die graue Substanz abschwenken.
DaB die gegebene Erklarung unserer Befunde viele Fragen unbe-
antwortet laflt, soli ohne weiteres eingeraumt werden. Es muB
vor allem auffallen, daB der Defekt in der linken Riickenmarks-
halfte in den betroffenen Segmenten kein gleichmaBiger ist. Im
1. Sakralsegment (Fig. 13) sehen wir eine gute Entwicklung der der
Fliigelplatte entstammenden Gebilde, d. h. des Hinterhornes,
der hinterenWurzeln und des Spinalganglions. Aus dem Vorhanden-
sein einer gut entwickelten hinteren Wurzel diirfen wir auf das
Vorhandensein eines Spinalganglions mit Sicherheit schlieBen.
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226 H enneberg-Westenhofer, Ueber asymmetrische
Bald darauf (im 2. Sakralsegment) geraten diese Teile wieder in Ver-
lust und zwar nicht nur auf der linken, sondern auch auf der rechten
Seite. Nimmt man also eine primare Entwicklungsschwache als
Ursache des Defektes an, so muB man weiter annehmen, daB auch
die rechte Halfte der Riickenmarksanlage von dieser primaren
Entwicklungsschwache im Bereich der Sakralsegmente betroffen
war.
Man konnte im Hinblick auf diese Schwierigkeiten eine
anderweitige Erklarung fur annehmbarer halten. Man konnte an¬
nehmen, daB durch einen KrankheitsprozeB die nicht zur Ent-
wicklung gelangten Teile in sehr friihem Stadium der Entwicklung
zerstort worden sind. Die eigenartige Verteilung des Defektes ware
unter der Annahme eines pathologischen Prozesses leicht ver-
standlich, insonderheit auch die Tatsache, daB im Sakralmark
die Spinalganglien beiderseits zugrunde gegangen sind. Wir wissen,
daB in einer bestimmten Phase der Entwicklung die Spinalganglien
dorsal vom Neuralrohr dicht beieinanderliegen und voriibergehend
einen einheitlichen Strang bilden. Von einem KrankheitsprozeB
konnten sie somit leicht gleichzeitig betroffen sein. Gegen diese
Annahme, die Sibelius 1 ) (personliche Mitteilung) fiir die wahrschein-
lichere halt, scheint uns die Tatsache zu sprechen, daB sich Residuen
eines destruierenden Prozesses nicht nachweisen lassen. Auch da,
wo der Defekt des Querschnittes den hochsten Grad erreicht, d. h.
im 3. Lumbalsegment (Fig. 9) — die graue Substanz in der linken
Saule betragt hier nur einen kleinen Bruchteil der normalen
Masse —, ist der histologische Bau ein durchaus normaler. Man
bemerkt ferner nirgends ein Hineinwuchern des Bindegewebes in das
Nervengewebe, ein Befund, den wir nach friihzeitig abgelaufenen
entziindlichen oder anderweitigen destruierenden Vorgangen in der
Regel konstatieren. Unter diesen Umstanden halten wir es fiir
wahrscheinlich, daB es sich in unserem Falle um einen primaren
Defekt in der Anlage der Medullarplatte handelt und nicht um
eine Zerstorung normal angelegter Teile derselben durch einen
pathologischen ProzeB.
Abnorme histologische Bildungen finden sich in unserem
Falle nicht, wenn wir von den Anhaufungen von gliosen Massen
im untersten Sakralmark absehen. Allerdings haben wir nur die
gewohnlichen Farbmethoden angewandt, so daB sich feinere Ab-
weichungen der Struktur der Beobachtung entzogen haben konnen
Die Lokalisation der groBen motorischen Vorderhomzellen ent-
spricht dem gewohnlichen Befunde bei Diastematomyelie. In den
medialen Vorderhornern sind sie nur sparlich vorhanden. Aller¬
dings gibt Steiner an, daB in seinem Falle in den iiberzahligen
Vorderhornern sich zahlreiche groBe Ganglienzellen fanden.
Es scheinen also in der Verteilung der Zellen Verschiedenheiten
*) Herr Prof. Sibelius war so freundlich, unsere Praparate durch-
zusehen und uns seine Ansioht iiber den vorliegenden Fall mitzuteilen.
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Diastematomyelie vom Typus etc.
227
vorzukommen. Vielleicht steht die Entwicklung der Ganglien-
zellen in Abhahgigkeit von der Lokalisation der Arteria spinalis
anterior (Sibelius).
In Fallen von Diastematomyelie finden sich fast regelmaBig
Veranderungen an der lumbosakralen Wirbelsaule, die der Gruppe
von MiBbildungen angehoren, die seit Tulpius unter der Bezeich-
nung Spina bifida zusammengefaBt werden. Nur in wenigen
Fallen wurde eine Veranderung an der Wirbelsaule und der be-
deckenden Haut vermiBt (Foa , v. Recklinghausen , Miura , Altmann,
Schroeder), und man kann annehmen, daB in diesen Fallen viel¬
leicht leichte Veranderungen der Wirbelsaule sich der Kon-
statierimg entzogen haben; diese Annahme scheint um so
mehr berechtigt, als es sich zum Teil um nicht erwartete Befunde
am Riickenmark handelte und eine genauere Untersuchung der
Wirbelbogen vor der Zerstorang derselben bei der Sektion wohl
kaum immer stattgefunden haben diirfte.
Es werden verschiedeneFormen der Spina bifida unterschieden,
und zwar auf Grand der Art der Beteiligung des Riickenmarkes
und der Haute desselben an der MiBbildung.
Unser Fall entspricht jedoch keiner der typischen Formen
der Spina bifida. Die Myelocele bzw. Myelomeningocele und
die Myelocystocele bzw. Myelocystomeningocele kommen fur
imseren Befund nicht in Frage, da das Riickenmark zwar eine
Veranderung zeigt, die auf Spaltung oder richtiger nicht erfolgter
Vereinigung der Medullarplatte zuriickzufiihren ist, jedoch im
Wirbelkanal lag und an der Geschwulstbildung in keiner Weise
beteiligt war.
Bei dem Fehlen eines mit Fliissigkeit gefiillten Sackes kann
man unseren Fall auch dem Begriff der Spina bifida occulta
unterordnen. Diese MiBbildung steht der Meningocele zweifellos
nahe und wird von einigen Autoren als ein Folgezustand einer
zuriickgebildeten bzw. nach friihzeitigem Platzen des Sackes
vemarbten Meningocele aufgefaBt. Bei Spina bifida occ. wurden
nicht so selten Lipome in der Kreuzbeingegend beobachtet. Eine
solche Geschwulst lag auch in unserem Falle vor. Dagegen bestand
in unserem Falle gar keine Beziehung des Riickenmarkes zu dem
Tumor. Es fand sich auch kein abnormes Gewebe in der Um-
gebung des Riickenmarkes, wie es v. Recklinghausen (Myolipo-
fibrom), Gowers und Ribbert fanden. In den Fallen v. Reckling¬
hausen und Ribbert fanden sich nur Anomalien des Riickenmarkes.
die in engster Beziehung zu dem erwahnten abnormen Gewebe
zu stehen schienen. Ob dies bei Spina bifida occulta in der Regel
der Fall ist, wissen wir nicht, da bisher nur eine geringe Anzahl
von einschlagigen Beobachtungen vorliegt. Jedenfalls ist das
Riickenmark bei Spina bifida occulta oft in Mitleidenschaft ge-
zogen; dies ergibt sich aus der Tatsache, daB spinale Ausfalls-
erscheinungen, wenn auch nur leichten Grades, bei Spina bifida
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228 H e n n e b e r g - W e s t e n li of er , Ueber asymmetr ischc
occulta haufig sind. Es ist nieht ohne Interesse, daB in unserem
Falle die schwere MiBbildung des Riickenmarkes vollig unabhangig
von einer derartigen atypischen Gewebsbildung bestand. Eine
Tatsache, die in dem Sinne verwertbar erscheint, daB die Anomalien
des Riickenmarkes in Spina-bifida-Fallen mit Geschwulstbildung
nicht von der Ausbildung des geschwulstartigen Gewebes abhangig
zu denken sind. Es handelt sich vielmehr offenbar um koordinierte
Veranderungen.
Die verschiedenen Formen der Spina bifida mit und ohne
Riickenmarksbeteiligung und Diastematomyelie mit und ohne
Wirbelspalt stellen offenbar verschiedene Stufen xmd Variationen
ein und desselben Vorganges dar.
Die Tatsache. daB Spina bifida sich sehr oft, wie auch inumerem
Fall mit anderweitigen MiBbildungen vergesellschaftet und nicht so
selten bei Geschwistern beobachtet wurde, weist darauf hin, daB die
primare Storung nicht ein im intrauterinen Leben durch eocogene
Momente bedingter lokaler ErkrankungsprozeB ist. Alle Theorien,
die einen solchen, z. B. embryonalen Hydromyelus, Verwachsung
mit den Eihauten, voraussetzen, sind daher wenig wahrscheinlich,
wenn auch durch neuere experimentelle Untersuchungen bei Tieren
festgestellt ist ; daB durch allerlei Schadigungen, die man auf das
Ei einwirken laBt, Entwicklungsstorungen, die der Spina bifida
analog erscheinen, leicht hervorgerufen werden konnen. Nach
O . Hertivig handelt es sich dabei um eine Wachstumshemmung,
die den VerschluB des Urmundes betrifft, nach Kollmann um
Storungen im Bereich des Canalis neurentericns. Es diirfte sich
dabei um den Ausdruck einer allgemeinen Schadigung des Embryos
handeln.
Nach v. Recklinghausen liegt die primare Storung in der
Knochenmuskelplatte, d. h. es bleibt die mediane Vereinigung
der bilateralen Anlage der Wirbelsaule aus und zwar infolge
einer primaren Herabsetzung der Wachstumsenergie.
Neben dem Wachstumsmangel der Knochenmuskelplatte ist
nach v . Recklinghausen bei dem Zustandekommen der Spina bifida
ein Hydrops der Meningen wirksam. Von der Lage der Fliissig-
keitsansammlung ist es abhangig, welche Unterform der Spina
bifida (Myelocele, Myelocystocele, Meningocele) zustande kommt.
Nach v . Bergmann handelt es sich allerdings nicht um einen
primaren Hydrops, sondern um eine vermehrte Transsudation
von Fliissigkeit aus den GefaBen der weichen Haute infolge des
Defektes in den Hiillen (Bockenheimer).
Da das Ruckenmark in der Regel an dem ProzeB beteiligt
ist — Meningocele ohne jede Riickenmarksanomalie diirfte sehr
selten sein — und die SchlieBung der Medullarrinne zum Medullar-
rohr schon sehr friihzeitig (beim Menschen vor dem 12. Tage der
Entwicklung) stattfindet, muB fur die Falle von Spina bifida
mit Beteiligung des Riickenmarkes im Sinne einer mehr oder
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Diastematomyelie vom Typus etc.
229
weniger entwickelten Diastematomyelie angenommen werden,
daB die primare Storung sich bereits sehr friihzeitag, d. h. bei der
SchlieBung des Medullarrohres abspielt. Die Storung in dem
VerschluB der Knochenmuskelplatte darf nicht ohne weiteres
als Folgeerscheinung der Entwicklungshemmung des Riicken-
markes aufgefaBt werden, denn sie ist nicht immer bei Diastemato-
myelie vorhanden. Die Wachstumshemmung der Riickenmarks-
anlage, der Meningen, der Knochenmuskelplatte und der Haut
sind mehr oder weniger koordinierte Vorgange, die in Abhangig-
keit von einer uns noch vollig unbekannten letzten Ursache stehen.
Man sollte nun denken, daB ein Fall wie der unsrige geeignet
ware, iiber diese letzte Ursache der Spina bifida einiges Licht zu
verbreiten. In unserem Falle feblt ja bloB eine Verdoppelung der
Wirbelkorper, um der Theorie Hertwigs beweisende Kraft zu geben,
daB die Spina bifida die Folge eines Offenbleibens der Primitiv-
rinne (oder des Urmundes) sei, vielleicht infolge zu machtiger
Entwicklung des Dotters oder sonst eines hemmenden Einflusses
in der SchlieBung des Urmundes, oder nach Kollmann des Canalis
neurentericus. Ernst meint ganz richtig, daB man in alien diesen
Fallen die Untersuchung auf das Vorhandensein einer doppelten
Chorda dorsalis in den Zwischenwirbelscheiben richten miisse, da,
wenn auch die Wirbelkorper einheitlich waren. vielleicht doch noch
in jenen die Reste einer doppelten Chorda erkannt werden konnten.
Wir haben nun auBer in diesem Fall auch noch in einem anderen
Fall von Spina bifida mit Myelocystomeningocele bei einem neu-
geborenen Kinde unser Augenmerk hierauf gerichtet, jedoch ohne
Erfolg. Und das hat ja seine gute Erklarung darin, daB, selbst
wenn die Chorda urspriinglich doppelt angelegt gewesen ware, diese
Verdopplung doch durch die spater erfolgende Verbreitervmg der
Chorda zum Nucleus gelatinosus der Bandscheibe verloren gehen,
jedenfalls nicht mit Sicherheit erkannt werden wiirde. _
Es gibt nim zwei Moglichkeiten fiir die Behinderung der Ver-
einigung der Rander der vorderen Urmundslippe, entweder besteht
ein mechanisches Hindernis durch Dazwischenlagem einer fremden
Substanz oder durch Zug an den Randern nach auBen oder aber
die Bildungsenergie der Rander ist so herabgesetzt, daB sie sich
nicht vereinigen konnen.
Was den erstenFall betrifft, so denken wir hierbei nicht etwa an
Verwachsungen des Amnions, das um diese Zeit noch gar nicht ge-
bildet ist oder doch erst in der Bildung begriffen ist, und derenFolgen
fast immer unregelmaBige Spalten zu sein pflegen, sondem etwa an
einen starkeren Zug des aufieren Keimblattes auf die Urmund-
rander. Die Ursache hierfiir konnte in einer anomalen Entwicklung
des Dotters liegen, der die ventrale Seite des Eies starker verwolbte
und dadurch einen Zug aufs auBere Keimblatt in dorsoventraler
Richtung ausubte, zumal wenn auch noch ein Teil der urspriing-
lichen Keimblasenhohle erhalten geblieben ware. In diesem Falle
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230 Henneberg-Westenhofer, I'eber asymmetrische
konnte es zu alien Begleiterscheinungen der Spina bifida kommen,
da der Zug nicht nur auf die Riickenmarksanlage, sondem auch
nachtraglich noch auf die Riickenmarkshaute sieh erstrecken wiirde,
und wir wiirden verstehen, warum bei der Area medullo-vasculosa
die Pia mater nach auBen gestiilpt ist und allmahlich in die Epi¬
dermis iibergeht, und warum, wie v. Recklinghausen ganz bestimmt
behauptet, die Dura mater im AuBenbereieh der Area fehlt, weil
namlich, ehe sie sich nach hinten herumlegt, die weiche nachgiebigere
Pia schon nach auBen umgebogen ist und ihr den weiteren Weg ver-
sperrt. Bei einem derartigen Zug des auBeren Keimblatts konnte
wie bei der Rachischisis totalis das Riickenmark fehlen oder nur in
Rudimenten vorhanden und dabei gleichzeitig verdoppelt sein.
Das wiirde dem hochsten Grad des Zuges entsprechem Bei ge-
ringeren Graden konnen alle die anderen bekannten Veranderungen
des Riickenmarks und seiner Haute eintreten, keineswegs wiirde
es aber bei derartigen Fallen eine notwendige Folge sein, daB auch
das Riickenmark oder gar die Korperachse verdoppelt wird; denn
die Veranderung wiirde ja nur die auBeren, nicht aber die inneren
Urmundsrander (nur den Anfangsteil des Canalis neurentericus)
betreffen. Allerdings kann bei der Annahme eines solchen Zugs
die Riickenmarksvereinigung so behindert werden, daB eine mehr
oder weniger gleichmaBige Verdopplung eintritt.
Nun konnte man ja dieser Hypothese denselben Einwurf
machen, den man der Hertivigschen gemacht hat, daB namlich
ein derartiger Zug die ganze Langsachse betreffen miiBte, daB er
also nur fiir die Falle von totaler Cranio- und Rachischisis gelten
konne. Demgegeniiber ist einzuwenden, daB ja nachtraglich eine
Vereinigung eintreten konne, mit Ausnahme derjenigen Stellen,
wo schon sekundare Veranderungen vor sich gegangen sind wie
z. B. Myelocystocele, — Meningocele oder eine Transposition meso-
dermalen und mesenchymalen Gewebes, wie z. B. in dem Falle
von v. Recklinghausen und wie in unserem Falle (Myolipofibrom).
Das ziehende Umwachsen des auBeren Keimblattes um den
vergroBerten Dotter wird nicht nur durch den einfachen Zug an
den Urmundsrandern und den dort sich entwickelnden Teilen
wirken, es kann auch die Ursache dafiir sein, daB der Dotter nicht
eingestiilpt, sondern im Gegenteil gew^issermaBen aus dem Urmund
in Gestalt eines groBen Dotterpfropfes (im Sinne des Amphibien-
eies) herausgepreBt wird und nun selbst zum Hindernis fiir die
Vereinigung der Rander wird. Ein und dieselbe Ursache. namlich
die DottervergroBerung konnte also in 2 Formen, die sich kombi-
nieren konnen, zur Wirkung gelangen. Ist das Keimblatt
fester und widerstandsfahig, so wird es auf den vergroBerten
Dotter einen Druck ausiiben und ihn zum Urmund hinaustreiben;
ist es aber nachgiebig, dann wird der vergroBerte Dotter an der
ventralen Seite einen Druck auf das Keimblatt so ausiiben, daB
an den Urmundrandem ein Zug ausgeiibt wird, der ihre Vereini-
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Diantetnatomyelie vom Typus etc.
231
gung verhindert. Vielleicht geschieht das ganz besonders zur
Zeit der Entwicklung des Amnions.
Diese Hypothese unterscheidet sich wesentlich von derjenigen,
die in einem Quellen desDotters und dadurch eintretendem Platzen
des Riickens die Ursache der Spina bifida sieht. Sie schlieBt sich
eng an die Hertwig&chen Beobachtimgen an, indem sie versucht,
die mangelhafte SchlieBung des Riickens mechanisch zu erklaren.
Freilich ist Hertwig durchaus abgeneigt, dem Dotter eine
wesentliche Rolle bei der Entstehimg der Spina bifida zuzu-
schreiben; er sieht in jener zweiten Moglichkeit den Hauptfaktor,
namlich in einer primaren Wachstumsstorung des Zellenmaterials
im Bereich des Urmunds, die eine Art Hemmungsbildung des
Gastrulastadiums besonders in vorgeschrittenen Fallen darstelle.
Schon seine Anfang der 90 er Jahre mit verschiedenen Koch-
salzlosungen und Temperaturgraden, als auch ganz besonders seine
vor 3 Jahren angestellten ungemein lehrreichen imd besonders
auch fur die Frage der Vererbung interessanten Versuche mit
Radiumbestrahlung von Froscheiern und -samen lieBen ihn zu
dem SchluB kommen, daB bei gestorter Gastrulation die Urmunds-
lippe an der Stelle der Keimblase stehen bleibe, wo sie zuerst ge-
bildet werde, daB sie zu einem weiten Ringe werde, und daB durch
Unterbleiben der Umwachsung und Einstiilpimg der vegetativen
Hemisphare ein riesiger Dotterpfropf entstiinde, wodurch eine
normale Riickenbildung des Embryos unterbliebe. Je nach dem
Grade der Hemmung entstehen die verschiedenen Grade der Spina
bifida. DaB in der Tat erhebliche Storungen der Zellen des
animalischen Pols bis zum volligen Tod bei Radiumbestrahlung
auftreten, hat Hertwig mikroskopisch nachgewiesen. Aber auch
der Dotter erfahrt allerhand Veranderungen, und wir halten es fur
denkbar, daB seine eventuelle Ladung mit Radiumemanation nach
Art gleichnamiger Elektrizitat oder negativen Chemotropismus
sein Umwachsen von seiten der Urmundsrander verhindere.
Wie dem auch sei, sowohl bei unserer mechanischen Hypo¬
these als auch bei den Hertwigschen Experimenten ergibt sich ein
ausgesprochenes Mifiverhdltnis zwischen Dotter und Keimanlage.
Ob es beim Menschen Krankheiten der Geschlechtszellen gibt, die
ahnlich der Radiumkrankheit der Froscheier diese Entwicklungs-
storung hervorrufen, wissen wir nicht. Durch das MiBverhaltnis
zwischen Dotter und Keimbezirk nahert sich jedenfalls das holo-
blastische Ei, zu dem ja auch das Froschei gehort, dem Typus des
meroblastischen Eies der Vogel und Reptilien. Es ist daher
wenigstens die Moglichkeit in Betracht zu ziehen, ob nicht vielleicht
diese ganze MiBbUdung der Spina bifida nichts anderes als der
Ausdruck einer Art Ruckschlages des holoblastischen Eies in das
meroblastische darstellt, von dem ja das holoblastische Saugetierei
abstammt, um so mehr, als wir wissen, daB gerade bei den mero¬
blastischen Eiem diese MiBbildung unter natiirlichen Verhaltnissen
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232 H enneberg-Westonhofcr, Ueber asymmetrische
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haufiger vorkommt als bei Saugetieren, was man, wie uns Herr
Professor Pell mitzuteilen die Giite hatte, z. B. bei jeder Forellen-
zucht ohne Schwierigkeiten feststellen kann.
In klinischer Beziehung schlieBt sich unser FaU den Befunden
an, die in leichten Fallen von Spina bifida, in Sonderheit auch
bei Spina bifida occulta nicht so selten gemacht wurden. In
solchen Fallen werden schwerere Lahmungserscheinungen und
MiBbildungen an anderen Korperteilen, wie sie in Fallen von
vollentwickelter Spina bifida insbesondere bei Myelocele haufig
sind, vermiBt. Beobachtet wurde: Verkriimmung der Wirbel-
saule (Foa), Pes varus und valgus, Genu valgum, Huftgelenk-
luxation, Verbildung der Zehen, Hypertrichosis an den Beinen
(v. Recklinghausen), malum-perforans-artige Geschwiire (v. Reck -
linghausen, Krogius, Foa, Brunner), Angiome, Pigmentanomalien,
Parese und Atrophie eines Beines, Aufhebung der Sehnenreflexe,
Herabsetzung der Sensibilitat und Blasenlahmung.
Diese spinalen Symptome bieten nicht s Charakteristisches.
Es handelt sich um Syndrome, wie sie bei Lasionen des Lumbo-
sakralmarkes bzw. der Cauda equina in Erscheinung treten.
In unserem FaU hat eine exakte neurologische Untersuchung
leider nicht stattgefunden. Von Interesse ware insonderheit die
Feststellung der oberen Grenze der Sensibilitatsstorung gewesen.
Die Tatsache, daB das linke Bein die starkeren motorischen imd
sensiblen AusfaUserscheinungen aufwies, steht in gutem Einklang
mit dem Befund. DaB es im Bereich des Innervationsgebietes
der Lumbalsegmente links nicht zu einer starken Abschwachung
der Sensibilitat gekommen war, ist vieUeicht dadurch zu erklaren,
daB — wie oben ausgefiihrt — ein Teil der sensiblen Fasem An-
schluB an die rechte Riickenmarkssaule gewann. Ein Grand fur
das Fehlen des Patellarreflexes auf der rechten Seite ist aus dem
anatomischen Befund nicht herzuleiten. Ganz im Vordergrand
der Symptome stand die Blasenschwache, die schlieBlich zu
Cystitis, Pyelonephritis fiihrte und den Exitus bedingte. DaB
der Tod erst im 17. Lebensjahre eintrat, ist beach tens wert.
Bohnstedt teilt einen Fall mit, in dem ein Mann im 20. Lebens¬
jahre an Cystitis zugrunde ging infolge einer durch Spina bifida
occulta bedingten Blasenlahmung. In diesem Falle war der Conus
von abnormen Gewebsmassen eingehiiUt und komprimiert. In
derartigen Fallen braucht man nicht anzunehmen, daB durch
Vorgange am Riickenmark eine progressive Verschlechterung des
Zustandes der Blase bedingt wurde.
Immerhin liegen Beobachtungen vor, die darauf hinweisen,
daB bei Spina bifida Verschlechterungen, die iiber die von Geburt
bestehenden AusfaUserscheinungen hinausgehen, vorkommen.
Zerrungen infolge von Verwachsungen, der Fliissigkeitsdrack,
wachsende Neoplasmen konnen zu Degenerationen imd Korn-
pressionserscheinungen fiihren. DaB in solchen Fallen durch einen
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Diastematomyelie vom Typus etc. 233
operativen Eingriff gelegentlich eine Besserung erzielt werden
kann, ist nicht von der Hand zu weisen. In unserem Falle lagen
die Verhaltnisse so, daO von einer operativen Behandlung keine
Rede sein konnte. Allerdings waren die Verhaltnisse, die die
Sektion am Ruckenmark aufdeckte, intra vitam nicht voraus-
zusehen.
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M ii 1 1 e r , Zur Kenntnis der Leitungsbahnen etc.
235
Neurologisehe Arbeiten unter der Leitung von Dr. Otto Veraguth ,
Privatdozent an der Universit&t Zurich.
Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
des psychogalvanischen Reflexphanomens.
Von
VICTOR J. MtLLER,
Assisteuzurzt a. d. Univeroifcats-Frauenklinik Zurich.
(Hierzu Taf. XI.)
I. Fragestellung.
Das psychogalvanische Phanomen ist unter den Begriff
Reflex eingereiht worden 1 ). Um diese Bezeichnung zu begriinden,
wird von Veraguth diejenige Definition des Begriffes Reflex her-
beigezogen, welche eine dreiteilige Nervenbahn fiir die Reizleitung
alg Kriterium fordert. Das anatomische Substrat des Reflex-
bogens ist jedoch in seinem zentralen und seinem zentrifugalen
Schenkel noch unbekannt. Es soli die Aufgabe meiner Arbeit
sein, die Forschung nach den Leitungsbahnen, auf welchen sich
das psychogalvanische Reflexphanomen abspielt, zu beginnen
durch Untersuchung eines ihrer Teile.
Der zentripetale Schenkel des psychogalvanischen Reflex-
phanomens ist gegeben durch die Sinnesorgane. Auch die sog.
autochthonen Reize verdanken ihre Entstehung dieser Reizleitung.
Der zentrale Schenkel wird mit groBter Wahrscheinlichkeit
irgendwo im GroBhirti liegen.
Ueber die Existenz des zentrifugalen Schenkels lassen die bis
jetzt gemachten Erfahrungstatsachen gewisse Schliisse zu. Als
das Ausdrucksorgan des reflektorischen Vorganges hat sich in
unanfechtbarer Weise nur die Haut herausgestellt. Es miissen
folglich gewisse Organe nervoser Natur vorhanden sein, welche
die Verbindung des Zentralorgans mit der Haut herstellen.
Diese Vermutung diirfen wir lokalisatorisch noch praziser fassen.
Friihere Versuche haben gezeigt, daB sich keine SteDe am ganzen
Korper so gut als Antwortsorgan eignet, wie die Palma manus.
und die Planta pedis : an diesen Stellen bekommen wir stets die
kraftigsten Galvanometerausschlage. Es ist daher die Vermutung
zulassig, daB gerade zwischen diesen Hautteilen und dem Zentral-
J ) Veraguth , Das psychogalvanische Reflexph&nomen. VI. Bericht.
8. 173. Karger. Berlin. 1909.
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236
M ii 1 1 o r , Zur Kenntnis der Leitungsbalinen
organ eine Verbindung zu suchen sei, welche die direkte Aus-
losung des Reflexes iibermittelt.
Von diesen hypothetischen Annahmen gehen unsere ana-
tomischen Untersuchungen aus. Um den zentrifugalen Schenkel
zu finden, boten sich uns zwei Wege: entweder wir begannen die
Untersuchungen vom Zentrum aus nach der Peripherie zu, oder
aber von der Haut aus nach dem Zentralorgan zu. Wir wahlten
letzteren, jedoch mit einer gewissen Einschrankung. Die Haut
selbst nahmen wir namlich nicht als Ausgangspunkt der Unter¬
suchung, sondern, die die Vola manus und Planta pedis sensibel
versorgenden Nervenaste, und zwar erst von jenem Punkt an,
wo sie zu makroskopisch sichtbaren Nervenbiindeln zusammen-
treten, bezw. bevor sie sich in mikroskopisch kleine Faserchen
zersplittern. In einem einzigen Veisuch nur such ten wir die
feinsten Nervenendigungen jener Hautpartien selbst direkt zu
beeinflussen.
Um den genannten Nerven beizukommen. standen uns wieder-
um zwei Moglichkeiten of fen: entweder konnten wir die Nerven
durch spezifisch wirkende Stoffe beeinflussen und deren Verhalten
zum psychogalvanischen Reflexphanomen vor und nach der
Beeinflussung beobachten, oder wir suchten durch Unterbindung
oder Durchtrennung derselben Ausfallserscheinungen hervor-
zurufen, welche die Beziehungen des Nerven zum Phanomen
deuten liessen.
Die anatomisch-physiologische Untersuchung am Menschen
vorzunehmen, wird nur in den wenigen Fallen moglich sein, wo
es sich um Traumen handelt, bei denen bestimmte Nervenbezirke
in gewisser, hochst seltener Kombination verletzt worden sind. Die
Schwierigkeit der Beschaffung eines solchen Materials — es muB
sich stets um frische Falle handeln — ergibt sich von selbst.
Aber durch die Feststellung der Tatsache, daB auch Tiere das
psychogalvanische Reflexphanomen aufweisen*), ist der Weg
zum experimentellen Studium der Frage eroffnet. Die Berechtigung
der Schlusse vom Tier auf den Menschen ist zum mindesten
beziiglich der peripheren Nerven eine weitgehende.
Die chemische Beeinflussung der Nerven gestattet schon eher
den Menschen selbst als Versuchsobjekt zu Experimenten heran-
zuziehen.
Der Gang der vorzunehmenden Untersuchungen sollte sich un-
gefahr an folgende Fragestellung ankniipfen:
1. Zeigt unser Versuchstier, dessen die Palma manus und
Planta pedis sensibel versorgende Nerven zur Untersuchung be-
nutzt werden sollten, iiberhaupt das psychogalvanische Reflex¬
phanomen ?
l ) Vercujuth. Das psychogalvanische Keflexphanomen. V. Berieht.
S. 150. Karger. Berlin. 1909.
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des psychogalvanischen Reflexphanomens. 237
2. Wie verhalt sich das Phanomen. wenn die Leitung der
ebengenannten Nerven durch perineurale Injektion chemischer
Substanzen, z. B. von Alkaloiden wie Kokain, unterbrochen wird,
eventuell welche Wirkung haben diese Stoffe auf das psycho-
galvanische Reflexphanomen, wenn sie in die Nerven des Menschen
injiziert werden ?
3. 1st eine Beeinflussung des Phanomens beim Versuchstier
moglich, wenn die genannten Nerven durchtrennt werden,
und zwar
a) wie verhalt es sich unmittelbar nach der Durchtrennung,
b) wie verhalt es sich nach Verlauf einiger Tage post ope-
rationem ?
II. Methoden.
1. Apparatur.
Bei alien Experimenten wurde eine ezosomatische Stromquelle
benutzt, und zwar in Form einer Batterie, bestehend aus zwei
hintereinander geschalteten Leclanche- Elementen, deren Gesamt-
di uerspannung ungefahr 2,4 Volt betrug.
1 Als Indikator fur die Stromschwankungen benutzten wir ein
lAehspulengalvanometer nach Deprez-d’Arsonval von Carpentier,
P^ris.
i Zwischen Galvanometer und Stromquelle war ein Neben-
s^hluBwiderstand, ein Shunt , eingeschaltet, der eine Verkleinerung
der Ausschlagsamplitude und eine starkere Dampfung des Galvano¬
meters gestattete.
Als Elekiroden wurden entweder Plattenelektroden aus 3 mm
dicken, glatt polierten Nickelplatten oder Fliissigkeitselektroden
benutzt. Letztere bestanden aus weithalsigen Flaschen, gefiillt
mit einer auf Korpertemperatur erwarmten physiologischen Koch-
salzlosung. Zur Stromiibertragung waren vermittels gut isolierter
Kupferdrahte ein Paar Griffelektroden in die Fliissigkeit ver-
senkt. Die Fliissigkeitselektroden, in welche die ganze Pfote des
Versuchstieres hineingesteckt werden konnte, gestatteten, daB
diese als ganzes als Antwortsorgan benutzt werden konnten.
Die Anordnung der Ver-
suche erklart sich ohne wei-
teres aus nachfolgendem
Schema:
wo G das Galvanometer,
St die exosomatische
Stromquelle,
E die Elektroden,
W denNebenschluBwider-
stand
darstellt.
Die Spiegeldrehungendes
Galvanometers wurden ver- W
Monatsschrift f. Psychiatrie u. Nenrologie. Bd. XXXIII. Heft 3 10
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238
Muller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
mittels einer elektrischen Einfadenlampe auf den Registrierapparat
von Veraguth projiziert. Ohne einer BeschreibungdesneuenApparates
durch den Autor selbst vorgreifen zu wollen, darf hier erwahnt
werden, daB der Apparat gestattet, die Spiegelschwankungen
direkt auf einer rotierenden, mit Millimeterpapier armierten
Trommel nachzuzeichnen. Die personliche Gleichung des Beob-
achters, sowie auch der Umstand, daB durch die Brechung der
Strahlen die Kurven nicht mathematisch genau mit den Spiegel-
drehungen selbst iibereinstimmen (Tangentenwerte statt Winkel-
werte, vergroBernde Ablenkung durch zweite Brechung) diirften
bei unseren Experimenten vemachlassigt werden, da fiir uns in
erster Linie das Auftreten oder Nichtauftreten des Galvanometer-
ausschlages maBgebend war. Quantitative Fragen kamen nur fur
relative Vergleichungen in Betracht.
Die auf dem Millimeterpapier aufgenommenen Kurven wurden
spater auf ein anderes Millimeterpapier iibertragen und durch
photochemisches Verfahren auf beiliegender Tabelle wiedergegeben.
2. Versuchstier.
Um bei anatomisch-physiologischen Tierexperimenten Riick-
schliisse auf den Menschen ziehen zu diirfen, ist es notig, moglichst
hochentwickelte Saugetiere zu den Experimenten zu verwenden.
Aus diesem Grunde sollten die folgenden Untersuchungen an einer
Affenart vorgenommen werden. Wir wahlten einen Vertreter der
Gattung Macacus, einen jungen, ca. 70 cm langen Macacus Cyno-
molgus. Das noch wilde, unseren Versuchen — wenig Sympathie
entgegenbringende Tier muBte jeweils in einen Sack hineingelockt
werden, der fiir den Kopf und die Extremitaten dei einen Seite
je eine Oeffnung hatte. Somit konnten wir die Vola manus und
Planta pedis je einer Seite einzeln mit den Elektroden in Kontakt
bringen und vor dem freiliegenden Gesicht die notigen Reize sich
abspielen lassen. Um das Versuchstier in moglichst ruhiger Stellung
zu bewahren, wurde es von einem Assistenten, dessen Hande zui
Verhiitung eines Nebenschlusses mit lsolierhandschuhen aus
dickem Gummi bedeckt waren, festgehalten und die Hand- und
FuBflache, wenn notig, vermittels gleichmaBigen Druckes auf den
Plattenelektroden fixiert. Trotzdem gelang es nicht immer, das
Tier in absoluter Ruhe zu erhalten, so daB, wie wir spater sehen
werden, hin und wieder Kontaktanderungen und etwa Aktions-
strome auftraten, welche den normalen Verlauf der Kurven stoiten.
Um eine genaue Durchtrennung der Nerven und eine erfolg-
reiche Injektion ins Perineurium derselben zu erzielen, war es
notig, eine anatomische Voruntersuchung an einer Tierleiche vor-
zunehmen. Mir stand ein Formaldehydpraparat eines Macacus
Rhesus zur Verfugung, an welchem ich die die Palma manus und
Planta pedis innervierenden Nerven praparando freilegte.
Es kamen in Betracht:
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des psvchogalvanischen Reflexphanomens.
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A. Ail der Vola manus:
1. Der Ramus palmaris e nervo ulnari. Dieser Nervenast liegt direkt
unter der oberflachlichen Fascie und ist nach deren Spaltung in der Hohe
des stcurk prominenten Os pisiforme leicht erreichbar. Als Injektionsstelle
merkte ioh mir eine Stelle in der Hohe de9 Os pisiforme ca. 3 mra radialwarts.
2. Der Ramus palmaris e nervo mediano , welcher als feiner Strang
ca. 5 mm oberhalb dem proximalen Rande des Lig. carpi transversum
zwischen den Sehnen des M. flexor carpi radialis und des M. palmaris longus
durch die Oberflachenfascie tritt; etwa 1 2 cm proximalw&rts liegt zwischen
den Sehnen die Abgangsstelle dieses Hautastes vom Stamm des N. medianus.
Als Injektionsstelle wurde die Mitte der Handwurzel in der Hohe des Os
pisiforme vorgemerkt. Aueh sollte an dieser Stelle die Durchtrennung des
Nerven vollzogen werden.
3. Der Ramus superficialis e nervo radiali zeigte einen ziemlich starken
palmaren Nebenast, der sich volar warts liber den ganzen Daumenballen
verzweigte. Da er offenbar sensible Fasern fiir jene Hautpartie enthalt,
muBte er auch in den Bereich unserer Untersuchung gezogen werden. Als
Injektions- und Durchtrennungsstelle wurde der ulnare Rand des Pro¬
cessus styloideus radii gewahlt.
4. An der ulnaren Seite des Processus styloideus radii verl&uft eine
Vene. welche zum Stammgebiet der V. cephalica gehort und mit ihr
ein ziemlich derber Nervenstrang, der zwei Aeste an dio volare Seite des
Thenars abgibt. Bei der Preparation ergab sich, daC es sich um eine End-
verzweigung des A T . cutaneus antibrachii e nervo musculocutaneo handelt.
Injektions- und Durchtrennungsstelle decken sich mit der des palmaren
Astes des Ramus superficialis e nervo radiali.
B. An der Planta pedis:
1. Die N. plantares medialis et lateralis. Die Praparation derselben
machte wegen der derben Aponeurosis plantaris gewisse Schwierigkeiten.
Es war vorauszusehen. da(3 eine ausgiebige Durchtrennung alter Ver-
zweigungen ohne erheblichen chirurgischen Eingriff (Oefahr der Verletzung
der Aa. plantares) kaum moglich sei. lch entschlofi mich deshalb, die beiden
Nerven noch vor ihrer Trennung als X. tibialis fiir die Injektion und Durch¬
trennung vorzumerken. Die als notige Folge auftretende Lahmung der
kleinen FuBmuskeln war fiir unsere Untersuehungen ohne Belang. Als
giinstigste Injektions- und Durchtrennungsstelle ergab sich die Mitte
zwischen medialem Achillessehnenrand und Malleolus medialis; dort liegt
der N. tibialis direkt unter der Fascie.
2. Der X. saphenus major gibt einen ziemlich starken Ast nach der
medialen Fuflkante ab, so daB seine sensible Innervation dort vielleieht
noch von Bedeutung sein konnte. Er wurde zur Injektion und Durch¬
trennung vorgemerkt, und zvvar 1 Querfinger breit iiber dem Malleolus
med ialis, in der Mitte zwischen diesem und der medialen Tibiakante.
Zur Injektion in das Perineurium benutzten wir eine 0,5 proz.
Novocain-Adrenalinlosung. Von dieser wurde bei Versuch III
1 cm 8 , bei Versuch VII 1,5 cm 3 fiir alle 5 obengenannten Injektions-
stellen (3 an der oberen und 2 an der unteren Ertremitat) verwendet.
Die Durchtrennung der Nerven wurde in Chloroformtropf-
narkose und unter Innehalten einer strengen Asepsis vollzogen:
Rasieren des Operationsfeldes, Hautdesinfektion mit Alkohol
und Tinct. Jodi. An der oberen Extremitat: Bogcnformiger Haut-
schnitt vom Os pisiforme iiber die Handwurzel zum radialen
Rand des Processus styloideus radii. Zuriickpraparieren des
x ) Fiir die Ueberlassung des Praparate.s sind wir Herrn Prof. Huge,
Direktor des anatomischen Institute der Universitat Zurich zu Dank ver-
pflichtet. V.
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Muller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
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Hautlappens, Langsinzision der Fascia superficialis diiekt iiber
den durchschimmernden Nerven, Freipraparieren derselben und
Exzision eines jeweils ca. 3—4 mm langen Stiiekes.
An der unteren Extremitat: Schrager Hautschnitt von der
Achillessehne iiber den Malleolus medialis zum medialen Tibia-
rand. Von diesem Schnitt aus lnzision der Faszie, Preparation
des N. tibialis und N. saphenus major, Exzision eines ca. 4—5 mm
langen Stiiekes. VerschluC der Hautwunde vermittels Seiden-
knopfnahten. Steriler Deckverband. Heilung per primam in-
tentionem.
Um eine Benetzung des Verbandes und somit auch der Wunde
bei den Experimenten mit Fliissigkeitselektroden zu verhiiten,
wurde iiber den Verband jeweils eine dicht anliegende, wasser-
dichte Manschette, aus einem Kondomfingerling verfertigt, iiber-
gestiilpt.
3. Versuche am Menvehen.
Um eine Leitungsunterbrechung des N. medianus und N. ul-
naris beim Menschen zu erzielen, lieB ich mir fiir Versuch XXVIII
einmal eine Injektion von je 1 cm 3 einer 0,5 proz. Novocain-
Adrenalinlosung, ein anderesmal je 1 cm 3 einer 2 proz. Losung
ins Perineurium obengenannter Nerven meiner linken Hand in-
jizieren, und zwar nach Kochers 1 ) Vorschlag: fiir den N. medianus:
Einstich oberhalb des Handgelenks von der ulnaren Seite unter
der Sehne des M. palmaris longus; fiir den N. ulnaris: Einstich
am Handgelenk von der ulnaien Seite unter der Sehne des M. ulnaris
internus.
Eine andere Beeinflussung der Sensibilitat der Vola manus
— nicht eine absolute Anasthesie! — sollte fiir Versuch XXVII
durch folgendes Verfahren erzielt werden. Die anasthesierende
Wirkung des Phenols macht sich besonders bei langandauernder
Handedesinfektion durch Kresolseifenlosung geltend. Ich ver-
suchte daher durch langeres Bearbeiten der Vola manus vermittels
Biirste und einer warmen 5 proz. Lysollosung eine Hypasthesie
des betreffenden Hautabschnittes zu erzielen.
4. Beize.
Die bei den Experimenten applizierten Reize waren sensorische,
und zwar handelte es sich
a) beim Versuchstier um:
1. im wesentlichen optische Reize.
Aufleuchten eines elektrischen Lampchens direkt vor den
Augen des Versuchstieres
Vorzeigen eines blanken Instrumentes (vernickelte Ohren-
l ) Kocher, Ohirurgische Operationslelire. Aufl. S. 34. Fischer.
Jena. 1907.
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dos psychogrtlvanisehen Kef lexphanomens.
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spritze, deren Vorzeigen einen ausgesprochenen Cnlustaffekt beim
Versuchstier hervorrief),
Vorzeigen einer Affenleiche.
Vorzeigen einer Banane.
Vorzeigen einer lebenden Fliege.
Die beiden letzten Reize diirfen jedoch nicht als rein optische
aufgefaBt werden, da ohne Zweifel bei dem einen die Geruchs-
nerven, bei dem andern (Summen dei Fliege) der Acusticus mit-
gereizt wurde. Es handelt sich somit um ,.gemischte Reize“.
2. Akustische Reize.
Pfiff vermittels einer grell tonenden Pfeife.
3. Schmerzreize.
Energischer Nadelstich in die Kopfhaut.
Zweifelsohne haben in dem einen oder anderen Fall auch
endopsychische Reize komplizierterer Art mitgespielt, indem das
Versuchstier, welches jede Manipulation der Experimentatoren
a,ufmerksam verfolgte, in einen Zustand der Erwartung .versetzt
wurde, was sich vor Applikation des Reizes durch das Auftreten
einer Erwartungskurve kundgab.
b) Bei den Versuchen am Menschen wurden namentJich Haut-
schmerzreize (Nadelstich Brennen mit heiBer Nadel, Kneifen usw.)
unter Beobachtung der bekannten Kautelen angewendet.
Der Registrierapparat von Veraguth gestattet ein Markieren
des Reizmomentes auf der Kurve seJbst. Es geschieht dies durch
ein Tambour-System, welches die Reizmarken auf die Seite der
Kurve notiert. Da die Kurven selbst auf Millimeterpapier aufge-
zeichnet werden war es ein leichtes, die Reizmarken an die richtige
Stelle der Kurven selbst zuiibertragen.
III. Resultate.
Den Ausgangspunkt fur alle vorzunehmenden Tierexperimente
muBte die Losung der Frage darstellen: Zeigt unser Versuchstier,
der Macacus Cynomolgus, iiberhaupt das psycho-gaImnische Reflex -
phdnomen ?
Versuch I (siehe Kurve No. I). Rechte Extremitaten des nor-
malen Cynomolgus. Plattenelektroden.
3 optische Reize (I, II. IIT),
1 taktiler Reiz (IV).
Wie aus der Kurve ersichtlich ist, erfolgte auf alle Reize
hin unzweideutige Galvanometerausschlage. Reiz I und II sind,
wie es den normalen Verhaltnissen entspricht, von einer Latenz-
periode gefolgt. Bei Reiz III fehlt scheinbar die Latenzperiode.
Es handelt sich hier um das Einsetzen des Reizes wahrend des
Ablaufes einer Erwartungskurve (siehe Methoden), bei welchem
Versuch der endopsychische Reiz zur Wirkung kam, bevor der
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M ii 1 I er , Zur Kenntnis tier Leitiingsbahnon
auBere Reiz (III) einsetzte. Die beiden Elevationen zwischen III a.
und Illb miissen ebenfalls als Erwartungskurven angesprochen
weiden, weil hier ein auBerer Reiz iiberhaupt nicht appbziert,
sondem nur vorbereitet worden ist. Die Marke 111 a zeigt nur den
Moment an, in welchem der Experimentator eine Handbewegung
macht, um nach dem Reizinstrument zu greifen. Derselbe Vorgang
mit demselben Resultat wiederholte sich bei III b.
Reiz IV mit nachfolgeoder Kurve entspricht wiederum
normalenVerhaltnissen. Es gelang hier, das Versuchstier von hinten
her mit einem Nadelstich zu riberraschen.
Nachdem die rechte Korperhalfte unseres Versuchstieres eine
Losung der gestellten Frage gab, sollte zur Sicherheit noch die
linke Korperhalfte zur Untersuchung benutzt werden:
Versuch II (keine Kurve). Linke Extremitaten des noimalen
Cynomolgus.
Dieselben Reize wie bei Versuch I.
Das Resultat war dasselbe. Auf jeden gesetzten Reiz hin
erfolgte nach einer Latenzperiode von einigen Sekunden ein Gal-
vanometerausschlag.
Wir diirfen somit als erwiesene Tatsache hinstellen: Macacus
Cynomolgus zeigt das psycho-galvanische Reflex phdnomen in Form
typischer Reiz- und Erwartungskurven.
Wie in der Fragestellung bereits betont wurde, muBte der
zentrifugale Schenkel des Reflexbogen$ zwischen Vola manus und
Planta pedis einerseits und dem GroBhirn anderseits gesucht
werden. Da die genannten Hautpartien sich u. a. durch ihren
Reichtum an sensiblen Nervenendigungen auszeiclinen, lag der
Gedanke nahe, daB vielleicht gerade die sensiblen Nerven jener
Hautpartien in einem gewissen Zusammenhang mit dem zentri-
fugalen Schenkel des psychogalvanischen Reflexbogens stehen
konnten. Aus dieser Annahme heraus sollte nun versucht werden,
die Leitung jener Nerven zu unterbreclien. Zuerst wurde dies auf
chemisch em We ge versucht.
"VersuclTTlI (siehe Kurve No. II)A|Linke Extremitaten des
Cvnomolgus mit anasthesierter Vola manus und Planta pedis.
(Siehe Methoden.) Plattenelektroden.
Ein Vorversuch ca. 8 Min. nach vollzogener Injektion ergab
auf Reize noch minimale Ausschlage des Galvanometers. Zu gleicher
Zeit vorgenommene Sensibilitatsprufungen ergaben eine noch nicht
vollstandige Anasthesie.
12 Minuten nach der Injektion — die Haut von FuB- und Hand-
flache war nun vollkommen anasthetisch — wurde Kurve II auf-
genommen bei Applikation von
3 optischen Reizen (I, IV, V).
1 Schmerzreiz (II),
1 gemischten Reiz (III).
Auf die diei ersten Reize folgte kein Oalvammeterausschlag.
Auf Reiz IV hin machte dasVeisuchstiex eine ausgiebige Bewegung,
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ties psychogalvanischen Reflexphanomens.
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die von einem Galvanometerausschlag begleitet war. Wir diirfen
diese Galvanometerschwankung als den Ausdruck einer Kontakt-
anderung oder eines aufgetretenen Aktionsstromes betrachten,
denn die Wiederholung desselben Reizes (Marke V). wobei sich
das Versuchstier absolut ruhig veihielt, ergab gar keinen Galvano-
meterausschlag.
Versuch IV (keine Kurve). Dieselbe Anordnung und dieselben
Reize wie im Versuch III.
1. 15 Min. nach der Injektion
2 20
.J.MlS ; y ; * jy J »
Das Versuchstier verhielt sich nach alien Reizen absolut
ruhig; ein Galvanometerausschlag konnte auch nicht andeutungs-
weise konstatiert werden.
Aus diesen Versuchen geht hervor, dad unsere Annahme
zu Recht bestand. Der zentrifugale Schenkel des psychogalva¬
nischen Reflexphanomens mud eng gebunden sein an die Nerven,
welche Vola manus und Planta pedis sensibel innervieren. Denn
auf der einen Seite vermochten wir durch Injektion eines Anasthe-
tikums die genannten Hautpartien zu anasthesieren, auf der anderen
Seite gelang uns durch dieselbe Prozedur eine Unterdriickung des
Phanomens.
Die von uns aufgestellte Frage konnte somit wie folgt be-
antwortet werden: Durch perineurale Injektion eines Andsthetikums
in die Nerven, welche Vola manus und Planta pedis sensibel inner¬
vieren, ist es moglich, beirn Cynomolgus das psychogalvanische
Reflexphanomen an der andsthetischen Stelle zu unterdriicken.
Mit einer vollstandigen Resorption des Anasthetikums ging
Hand in Hand ein Wiederauftreten der Sensibilitat einerseits und
des psycho-galvanischen Reflexphanomens anderseits.
Dies zeigte:
Versuch V (keine Kurve). Linke Extremitaten des Cynomolgus.
Plattenelektroden. 1 }/ 2 Stunde nach der Injektion.
Sensibilitatspriifungen ergaben fiir Vola manus und Planta
pedis im Vergleich zur rechten Seite — soweit dies an einem
Versuchstier festgestellt werden kann — keine Herabsetzung der
Empfindung fiir Schmerz und Druck.
4 optische und Schmerzreize hatten jeweils ausgiebige
Galvanometerausschlage zur Folge.
Die Unterdriickung des psychogalvanischen Reflexphanomens
durch perineurale Injektion eines Andsthetikums ist somit eine
temporare. Die Frage, ob die sensible und die psycho-galvanische
Lahmung in paralleler Lime verschwinden, kann am Tier nicht
deutlich entschieden werden. (Siehe unten Versuch XXVIII.)
Nach diesem Ergebnis interessierte es uns, zu erfahren, wie
sich das Dorsum manus et pedis des Cynomolgus als Antworts-
organ fiir das psycho-galvanische Reflexphanomen verhalten. Be-
kanntlich haben friihere Versuche am Menschen gezeigt, daB das
Dorsum manus sich bei der experimentellen Anordnung mit exo-
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M ii 11 e r , Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
somatischer Stroraquelle als Antwortsorgan nicht eignet. Bei
unserm Versuchstier war vorauszusehen, daB die starke Behaarung
des Hautriickens einern ausgiebigen Kontakt mit den Platten-
elektroden hinderlich war. Wir wahlten daher fiir diese Versuche
Fliissigkeitselektroden, in welche die ganze Hand und der ganze
FuB hineingesteckt werden konnte. Natiirlich muBte dabei die
Vola manus und die Plant a pedis als Antwortsorgan ausgeschaltet
werden. Wie dies moglich ist, hat uns Versuch III gelehrt: wir
anasthesieren Vola und Planta und erreichen sorait deren Aus-
schaltung als Antwortsorgan.
Bevor wir dies jedoch versuchten, wollten wir uns zuerst
davon iiberzeugen, daB das Phanomen auch vermittels Fliissig-
keitselektroden beim Cynomolgus erhaltlich sei.
Versuch VI (siehe Kurve No. III). Rechte, nicht anasthesierte
Extremitaten des Cynomolgus. Fliissigkeitselektroden.
2 Schmerzreize (I IV),
2 optische Reize (II, III).
auf welche, wie auf der Kurve ersichtlich ist. jeweils ein Galvano-
meterausschlag folgte.
Nun konnte die Versuchsanordnung mit ausgeschalteter
Vola manus und Planta pedis folgen:
Versuch VII (siehe Kurve No. IV). Rechte Extremitaten des
Cynomolgus mit perineuraler Injektion derselben Nerven, wie in
Versuch III. Fliissigkeitselektroden.
1 optischer Reiz (I).
1 akustischer Reiz (II).
1 Schmerzreiz (III).
2 gemischte Reize (IV und IV a).
15 Minuten nach vollendeter Injektion, wobei auch eine vor-
genommene Sensibilitatspriifung eine absolute Anasthesie der be-
treffenden Hautbeziike ergab, wurde Kurve No. IV aufgenommen.
Auf jeden der 4 ersten Reize trat ein Galvanometerausschlag
nicht auf. Bei Marke IV a wurde dem Versuchstier eine Fliege so
dicht vors Gesicht gehalten, daB es nach derselben schnappen und sie
verschlingen konnte. Als Ausdruck dieser Bewegung (Schnappen,
Kau- und Schluckbewegung) erhielten wir einen Galvanometer¬
ausschlag, den wir wiederum nicht als positives psychogalvanisches
Reflexphanomen, sondern als Folge des durch die Muskelaktion
entstandenen Aktionsstromes auffassen miissen. Eine Kontakt-
anderung konnte nicht vorliegen, denn es war fiir das Versuchstier
unmoglich, die Pfoten aus der Fliissigkeit herauszuziehen, und nur
Bewegungen in derselben konnten den Kontakt nicht andern, da
die Pfoten stets gleichmaBig von der Fliissigkeit umspiilt waren.
Versuch VIII (keine Kurve) bei genau derselben Anordnung
und denselben Reizen ergab wiederum keine Galvanometeraus-
schlage. Wir konnen somit aus diesen Versuchen den SchluB ziehen,
da/i bei einer Anasthesierung der Palma und Planta es unmoglich
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des psychogalvanisehen Keflexphanomens.
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ist , das psychogalvanische lieflexphanomen durch das Dorsum
manu8 ef pedis als Antwortsorgan auszuldsen.
Zwei Tage nach diesem Experiment, da von einer Nachwirkung
des Anasthetikums keine Rede mehr sein konnte (siehe Versuch* V),
wurden in Chloroformnarkose (siehe Methoden) die folgenden
Nervenaste der rechten Hand und des rechten FuBes des Cvno-
molgus durchtrennt:
1. Ramus palmaris e nervo ulnari, Ramus palmaris e nervo
mediano, Ramus palmaris rami superficial^ e nervo radiali, N. cu-
taneus antibrachii e nervo musculocutaneo.
2. N. tibialis, N. saphenus major.
Nach dem Erwachen aus der Narkose war das Versuchstier
noch stark benommen. Die Hirnrinde stand noch unter der Ein-
wirkung des Narkotikums und mit ihr wohl auch der zentrale
Schenkel des psychogalvanisehen Reflexphanomens, denn die vor-
genommenen Vorversuche auf der linken, also nicht ladierten
Seite ergaben auch keine Ausschlage.
Zirka 15 Minuten nach dem Erwachen aus der Narkose war
das Versuchstier wieder lebhaft, so daB der folgende Versuch ge-
macht werden konnte.
Versuch IX (siehe Kurve No. V). Linke, also nicht operierte
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden.
1 optischer Reiz (I),
1 Schmerzreiz (II),
1 akustischer Reiz (III),
1 gemischter Reiz (IV),
worauf jetzt jeiesmal ein deutlicher Galvanometerausschlag folgte.
Damit wird bewiesen, daB das psychogalvanische Reflexphanomen
nur so lange ausgeschaltet blieb, als das Cerebrum des Versuchs-
tiers imter der Einwirkung des Narkotikums stand.
Direkt anschlieBend an diesen Versuch folgte:
Versuch X (siehe Kurve No. VI). Rechte, also operierte
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden.
1 optischer Reiz (I),
1 akustischer Reiz (II).
1 Schmerzreiz (III),
3 gemischte Reize (IV, lVa, IVb).
Wie aus der Kurve ersichtlich ist, traten auf keinen der Reize
hin Galvanometerausschlage, auch nicht andeutungsweise, auf.
Versuch XI (ohne Kurve). Wiederum rechte, also operierte
Extremitaten des Cynomolgus mit der Aenderung, daB statt der
Flussigkeitselektroden Plattenelektroden benutzt wurden.
1 optischer Reiz,
1 Schmerzreiz,
2 akustisehe Reize,
auf welche nie ein Galvanometerausschlag folgte.
Er wurden nun zwei Ruhetage eingeschaltet, in welchen sich
das Versuchstier vomEingriff ganzlich erholen konnte. Dann folgte:
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Versuch XII (siehe Kurve No. VII). War in seiner Anordnung
eine genaue Wiederholung von Versuch X.
1 optischer Reiz (I),
1 akustischer Reiz (II),
1 Schmerzreiz (III),
1 gemischter Reiz (IV).
Auch hier traten wiederum keine Galvanometerschwankungen
a uf.
Somit ist es uns gelungen, durch Durchtrennung der Nerven,
welche Vola manus und Planta pedis sensibel innervieren, eine
Auslosung des psychogalvanischen Reflexphanomens zu unter-
driicken.
Nach dem XII. Versuche wurde wiederum eine Ruhepause
eingeschaltet, diesmal eine von 7 Tagen, um nach Ablauf derselben
uns wieder liber das Verhalten des psychogalvanischen Reflex¬
phanomens auf der operierten Seite zu informieren.
Versuch XIII (siehe Kurve No. VIII). Rechte, also operierte
Extremitaten des Cynomolgus. Vola und Planta auf Platten-
elektroden. 9 Tage post operationem.
1 optischer Reiz (I),
2 akustische Reize (II und II a),
2 Schmerzreize (III und III a),
2 gemischte Reize (IV und IVa).
Die ersten drei Reize (I, II und II a) ergaben keine Galvano-
meterausschlage, ebenfalls nicht die zwei letzten (IV und IV a).
Auf die zwei Schmerzreize (III und III a) jedoch folgte je ein
deutlicher Galvanometerausschlag. Diese Galvanometerscbwan-
kungen konnten wir diesmal nicht alsFoIge von Kontaktanderungen
oder von Aktionsstromen deuten, da bei genauer Beobachtung
des Versuchstiers eine Lageveranderung der Extremitaten nicht
konstatiert werden konnte.
Dieses plotzliche Wiederauftreten des psychogalvanischen
Reflexphanomens auf der operierten Seite sollte nun an Hand
mehrerer Experimente genau studiert werden. Upi technische
Fehler durch Anwendung der Plattenelektroden auszuschalten,
wollten wir beobachten, wie sich der Reflex verhalt, wenn die
operierten Extremitaten, analog Versuch X, in Fliissigkeits-
elektroden getaucht werden.
Versuch XIV (siehe Kurve No. IX.). Rechte, also operierte
Extremitaten des Cynomolgus. Flussigkeitselektroden. 9 Tage
post operat.
1 optischer Reiz (I),
1 akustischer Reiz (II),
2 Schmerzreize (III u. Ill a),
2 gemischte Reize (IV u. IVa).
Auf jeden dieser Reize folgte nach einer Latenzperiode ein
unzweideutiger Galvanometerausschlag.
Die Konstanz dieser ohne weiteres nicht erklarbaren Er-
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des psychogalvanischen Reflexphanornens. 247
scheinung mufite nun an einer Reihe gleicher Versuche festgelegt
werden.
Versuch XV (ohne Kurve) in genau derselben Anordnung
wie Versuch XIV, jedoch 11 Tage post operat., sowie
Versuch XVII (siehe Kurve No. X), auch in genau derselben
Anordnung wie Versuch XIV, jedoch 12 Tage post operationem,
ergaben stets dieselben Resultate: Die Extremitaten des Cyno-
molgus erwiesen sich bei Anwendung von Fliissigkeitselektroden
schon nach 9 Tagen, nachdem ihre sensiblen Nerven fur Vola
manus und Planta pedis durchtrennt worden waren, wieder als
gunstiges Aniwortsorgan fur das psychogalvanische Reflexphanomen.
Dieses Resultat steht im auffallenden Gegensatz zu dem der Ver¬
suche X und XII. Dort war unmittelbar und auch 2 Tage nach
der Nervendurchtrennung ein Galvanometerausschlag auch bei An¬
wendung von Fliissigkeitselektroden nicht zu erzielen.
Gleichzeitig mit obigen Versuchen priiften wir das Verhalten
des psychogalvanischen Reflexphanomens, indem wir wiederum
nur die Vola manus und Planta pedis der operierten Seite als
Antwortsorgan heranzogen, uns also der Plattenelektroden be-
dienten. Denn bei dieser Versuchsanordnung war ja zum ersten
Mai nach einer wochentlichen Ruhepause der Galvanometeraus¬
schlag wieder aufgetreten, nachdem seine Auslosung direkt und
2 Tage nach der Operation nicht gelungen war. (Siehe Versuch XIII,
Kurve No. VIII, Reizmarke III und III a.)
Versuch XVI (keine Kurve). Rechte (operierte) Extremitaten
des Cynomolgus. Vola und Planta auf Plattenelektroden. 11 Tage
post operationem.
Auf je einen akustischen, einen Schmerzreiz und 2 optische
Reize folgte, auch nicht andeutungsweise, ein Galvanometer¬
ausschlag.
Versuch XVIII (keine Kurve). Genau dieselbe Anordnung
wie bei Versuch XVI, jedoch 12 Tage post operationem.
Auch bei diesem Versuche konnten wir nicht die Spur eines
Galvanometerausschlages konstatieren.
Folglich diirfen wir an dem nach den Versuchen X, XI u. XII
aufgestellten Satz festhalten: Die Vola manus und die Planta pedis
bleiben , nachdem ihre sensibeln Nerven durchtrennt worden sind ,
als Aniwortsorgan fiir das psychogalvanische Reflexphanomen
unbrauchbar.
Wenn nun einerseits die Vola und Planta keine psychogalva¬
nische Antwort mehr ergaben, anderseits diese aber erschien,
wenn wir Vola und Planta zusammen mit dem Dorsum als
Antwortsorgan benutzten, so brauchten wir gleichsam nur das
arithmetische Exempel zu losen, mid unsere Aufmerksamkeit mufite
sich auf das Dorsum manus et pedis lenken.
Versuch XIX (siehe Kurve No. XI). Rechte (operierte)
Extremitaten des Cynomolgus. Dorsum manus et pedis auf Platten¬
elektroden . Um die durch die starke Behaarung bedingte Isolier-
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Miiller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
schicht moglichst zu iiberwinden, wurde das Dorsum mit gleich-
maBigem aber festem Druck auf die Plattenelektroden gedriickt.
1 akustischer Reiz (I),
1 Schmerzreiz (II),
1 gemischter Reiz (III),
1 optischer Reiz (IV).
Wie zu erwarten war, traten nach jedem dieser Reize aus-
giebige Galvanometerschwankungen auf.
DaB dieses Verhalten des Dorsums nicht der Norm entspricht,
zeigen einmal die Versuche VII, X und XII mit den Kurven IV.
VI und VII. In diesen Versuchen waren Vola und Plant a teils
durch Anasthesierung, teils durch Nervendurchtrennung aus-
geschaltet, wobei sich das Dorsum als absolut ungeeignetes Ant-
wortsorgan erwies. Der folgende Versuch beweist dies weiterhin:
Versuch XX (siehe Kurve No. XII). Linke, also nicht operierte
Extremitaten des Cynomolgus. Dorsum manus et pedis auf Platten¬
elektroden, ebenfalls durch kraftigen, gleichmaBigen Druck gut
fixiert.
1 akustischer Reiz (I).
1 gemischter Reiz (II),
1 Schmerzreiz (III),
1 optischer Reiz (IV).
Wie die Kurve zeigt, erfolgten auf diese Reize ganz minimule
Galvanometerausschlage.
Die letzten Versuche wurden in den folgenden Tagen alle noch
einmal wiederholt, deren Anordnung und Resultate ich zwecks
einer besseren Uebersicht in Form einer Tabelle wiedergebe.
Spatresultate.
Ver¬
such
No.
Intakte Seite
1
Operierte Seite
Elektroden
Galvanometer-
ausschlag
XXI
1
Vola u. Planta.
Platten-E.
typische Ausschl.
keine ,,
XXII
i
! Vola u. Planta ....
| Platten-E.
XXIII
Vola u. Planta -(- Dors. . . |
Fliissigk.-E.
Fliissigk.-E.
Platten-E.
typische ..
typische
ganz minim.
typische ,,
XXIV
Vola u. Planta+Dors.
XXV
Dorsum.!
XXVI
Dorsum.
Platten-E.
Die folgende Tabelle gibt das Verhalten des psycho-galva-
nischen Reflexphanomens unmittelbar und 2 Tage nach der
Nervendurchtrennung wieder und dient zum Vergleiche mit Ver¬
such XXII und XXIV.
Friihresultate.
XI
1
Vola u. Planta
Platten-E. |
Keine Ausschl.
X/XII
Vola u.Planta -[-Dors.
Fliissigk.-E.'
Keine Ausschl.
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des psychogalvanischen Keflexphanomens.
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Der Vergleich dieser beiden Tabellen und die Resultate unserer
friiheren Experimente haben gezeigt, dafi nach Durchtrennung
der sensiblen Nerven der Vola manus und der Planta pedis das
psychogalvanische Reflexphanomen auf keine Weise mehr aus-
losbar war. Nach Verlauf einer Woche hingegen trot es wieder auf,
jedoch nicht mehr an typischer Stelle, der Vola und Planta, son -
dern am Dorsum manus et pedis, einern Hautbezirk , der sich, nach
unsern bis anhin gemachten Erfahrungen , unter normalen Verhalt-
nissen als wenig geeignetes Antwortsorgan fur das psycho-galvanische
Reflexphanomen heransgestellt hat.
Zwei Versuchsreihen seien hier noch erwahnt, deren Zweck
es war, das psycho-galvanische Reflexphanomen am Menschen
zu studieren, nachdem die sensiblen Nerven der Vola manus der
Einwirkung von Anasthetika ausgesetzt worden waren. Ich mochte
dabei betonen, daB es sich hier nur um Zitation der gemachten
Versuche handelt, die noch nicht zu einem abschlieBenden Resultat
gefiihrt haben.
Versuch XXVII (keine Kurve). Rechte Hand der Versuchs-
person durch Lysolbehandlung hypasthesiert (siehe Methoden).
Ulnare Halfte der Vola manus auf der einen, radiale Halfte auf der
andem Plattenelektrode. Die linke, nicht hypasthesierte Vola
manus derselben Versuchsperson konnte somit zu Vergleichen
benutzt werden.
Auf alle applizierten Reize traten jeweils typische Galvano¬
meterausschlage auf, die im Vergleich mit der normalen linken
Vola keinen Unterschied zeigten.
Versuch XXVIII (keine Kurve). Linke Hand derselben
Versuchsperson. Perineurale Injektion in die Nn. medianus und
ulnaris. Plattenelektroden wie bei Versuch XXVII.
Die Schmerz- und Beriihrungsempfindung wurde nach erfolgter
Injektion in Intervallen von je 20 Minuten vermittels Nadelstichen
und Sievekingschem Aesthesiometer bestimmt. Im AnschluB
daran wurden jeweils sensorische Reize appliziert, um das Ver-
halten des psychogalvanischen Reflexphanomens zu studieren.
Die Schmerz- und Beriihrungsempfindung nahm sukzessive
ab und erreichte nach 60 Minuten ihr Minimum, ohne daB dabei
eine vollkommene Anasthesierung der Vola manus erzielt werden
konnte. Von jenem Zeitpunkte an nahm die Sensibilitat wieder
rasch zu. Die auf die Reize hin erfolgten Galvanometerausschlage
zeigten anfanglich keinen Qualitatsunterschied, sowohl gegen
die der rechten Hand als auch gegen die, welche vor der Injektion
an der linken Hand auf traten. AUmahlich wurde auch ihre Inten-
sitat schwacher; ihr Minimum jedoch erreichten sie erst nach
110 Minuten, also zu einer Zeit, wo die Schmerz- und Beruhrungs-
empfindung sich wieder normal zu verhalten begannen. Von der
110. Minute an wurden die Galvanometerausschlage wieder kraf-
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250
Miiller, Zur Kenntnis der Leitungsbahnen
tiger. DaB es sich nicht um eine Ermiidungserscheinung handeln
konnte, zeigen die Vergleichsversuche mit der rechten Hand,
welche wahrend der ganzen Dauer des Experimentes Galvano-
meterausschlage von konstanter GroBe gaben.
Die Beeinflussung der Sensibilitdt und der Leitung des psycho -
galvanischen Reflexphanomens durch perineurale Injektion eines
Anasthetikums zeigt somit einen tempordr ungleichen Ablauf.
IV. Epikrise und Zusammenfassung.
Die Resultate, welche die Losung der ersten von uns auf-
gestellten Fragen gebracht haben, benotigen einer weiteren Be-
sprechung nicht. Wir halten an der Tatsache fest, daB Macacus
Cynomolgus — und wahrscheinlich auch viele andere Vertreter
der Primaten — wertvolle Versuchstiere fur das Studium des
psychogalvanischen Reflexphanomens darstellen.
Durch die perineurale Injektion einer mit Adrenalin ver-
mischten Novocainlosung gelang es uns, die Palma manus und die
Planta pedis als Antwortsorgan zu sperren. Auffallend ist hierbei
die Art und Weise der Wirkung des Anasthetikums. Das Kokain
und die Benzoylverbindungen vermogen bekanntlich bei perine-
uraler Injektion infolge ihrer elektiven Eigenschaften eine Leitungs-
unterbrechung sensibler Nervenfasern fiir zentripetale Impulse
hervorzurufen. Zentrifugale Impulse, z. B. motorische und sekre-
torische, vermogen sie nicht zu untardriicken. Nun ist aber die
Weiterleitung des psychogalvanischen Reflexphanomens vom
Zentralorgan bis hinaus zur Palma und Planta zweifelsohne ein
zentrifugaler Vorgang. Somit wiirde sich die Wirkung des Novocains
bei einer Leitungsunterbrechung sensibler Nerven nicht nur auf
zentripetale , sondern auch auf zentrifugale Impulse beziehen .
In Bezug auf das psychogalvanische Reflexphanomen be-
rechtigt diese Tatsache uns zu der Vermutung, daB die sensiblen
Nerven der Vola manus und der Planta pedis einzelne Fasem
enthalten, welche bei ahnlicher Beschaffenheit (elektive Wirkung
des Kokains auf sensible Nerven) wie jene, die Trager des
zentrifugalen Schenkels des psychogalvanischen Reflexphanomens
darstellen.
Diese Vermutung diirfen wir allerdings nicht allein gestiitzt
auf unsere Erfahnmgen mit der Anasthesierung machen, denn
gerade diese perineurale Injektion kann in ihrer lokalisatorischen
Wirkung angezweifelt werden. Denn bei der geringen GroBe der
Injektionsbasis des kleinen Versuchstiers und der relativ groBen
Menge der verbrauchten Injektionsfliissigkeit ware es denkbar,
daB auch andere Nervenastchen, als die von uns beabsichtigten,
der Einwirkung des Anasthetikums ausgesetzt worden sind.
Eine prazise lokalisatorische Beeinflussung der Nerven konnte
allein durch die Durchtrennung derselben erzielt werden. Das
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des psychogalvanischen Reflexphanomens.
251
Resultat der Durchtrennung deckt sich mit dem der Anasthesierung.
Das psychogalvanische Reflexphanomen war nach der Operation
weder volar- noch dorsalwarts auslosbar. Die Entgegnung, daB
der Reflex durch Lahmung des Zentrums infolge der Narkose ge-
heramt worden sei, wird ohne weiteres widerlegt durch die Tat-
sache, daB Versuche an der nicht operierten Seite, welche gleich-
zeitig gemacht wurden, stets positive Resultate ergaben. Auch
war noch nach 2 Tagen post operationem das psychogalvanische
Reflexphanomen nicht auslosbar, also zu einer Zeit, wo von einer
Nachwirkung des Narkotikums nicht mehr die Rede sein konnte.
Wie aber lassen sich die beiden Galvanometerausschlage des
Versuchs XIII (Kurve VIII) erklaren ? Wir benutzten dort als
Antwortsorgan Palma und Planta der operierten Seite auf Platten-
elektroden. Von den 6 applizierten Reizen ergaben 2 ein positives
Phanomen, wahrend die 4 ubrigen ein solches nicht ergaben. Hatte
sich diese Erscheinung in den nachfolgenden Kontrollversuchen
wiederholt, so ware es moglich, hierfur eine Erklarung zu geben. Wir
konnten annehmen, daB durch die Nervendurchtrennung in der Ex¬
tremist eine Shockwirkung aufgetreten sei, welche eine Auslosung
des psychogalvanischen Reflexphanomens sperrte. Diese Shock¬
wirkung ware nur temporar gewesen, wie z.B. die bei Nervenlasionen
auf tretenden trophischenStorungen des betreffendenN ervenbezirkes.
In Versuch XIII konnte somit bereits eine Erholung eingetreten sein,
die jedoch noch nicht vollstandig war, so daB immerhin noch eine
Reihe von Reizen (I, II, II a und III) notig war, deren Summation
endlich den Galvanometerausschlag ergab. Da jedoch die nach¬
folgenden Versuche XVI und XVIII nie mehr ein positives psycho-
galvanisches Reflexphanomen erkennen lieBen, die Vola und Planta
somit als Antwortsorgan unbrauchbar blieben, muB eine andere
Erklarung fur jene beiden Galvanometerausschlage gesucht werden.
Von einer Regeneration der ladierten Nerven in einer so kurzen
Spanne Zeit kann naturlich nicht die Rede sein. Auch war durch
die Exzision eines Nervenstiickchens eine momentane Adaptierung
der beiden Stiimpfe, welche vielleicht bei ganz giinstiger Lagerung
ein Ueberspringen der Erregung gestattet hatte, unmoglich. Die
Autopsie ergab dann auch eine ausgiebige Retraktion der zen-
tralen Stiimpfe. Mir scheinen nur die beiden folgenden Erklarungen
zulassig zu sein: Entweder hat das Versuchstier leise Bewegungen
gemacht, welche von den Experimentatoren nicht beobachtet
worden sind — und somit waren die Galvanometerausschlage
infolge eines Aktionsstromes oder durch Kontaktanderung ent-
standen — oder aber es gelang dem Versuchstier, unter dem dicken
Gummihandschuh des Assistenten, welcher die Pfote auf die
Plattenelektrode driickte, eine leichte Rotation im Hand- oder
FuBgelenk zu machen. Diese Rotation miiBte derart gewesen sein,
daB die Seitenflache der einen Pfote, eventuell auch ein Teil des
Dorsums auf die Elektrode zu liegen kam. Damit ware zum ersten
Male jenes Phanomen aufgetreten, welches wir erst durch die
folgenden Versuche kennen lernten.
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252
Miiller, Zur Keimtnis der Leitungsbahnen
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Wahrend namlich das psycho-galvanische Reflexphanomen
auf der Vola und Planta nicht mehr erhaltlich war, ergaben sich
nun auf dem Dorsum auf jeden Reiz hin Galvanometerausschlage.
Ein Vergleich mit der nicht operierten Seite ergab, daB diese dort
bedeutend geringer waren, ja sogar hin und wieder gar nicht
auftraten, wahrend sie auf der operierten Seite sehr ausgiebig
ausfielen. Es war somit eine Verschiebung des Antwortsorgans
fur das psycho-galvanische Reflexphanomen von der Vola und
Planta nach dem Dorsum manus et pedis aufgetreten.
Wie laBt sich diese Verschiebung nun erklaren ?
Die Nerven, welche die Vola und das Dorsum innervieren,
stehen trotz der scheinbaren topographischen Trennung in einer
nervosen Verbindung. Neben den zahlreichen Verbindungen der
einzelnen Neuronen im Gehim, wahrend ihres Verlaufes im Riicken-
mark und im Plexus brachialis einerseits und sacralis anderseits
entstehen im peripherischen Gebiet zwischen den einzelnen Nerven-
stammen undNervenstammchenmannigfache Verbindimgenfeinster
Art. Es bilden sich die sogenannten auBeren Plexus. Dazu tritt
noch das iiber den ganzen Korper verbreitete sympathische
Nervengeflecht, welches wiederum gewiB eine Verbindung einzelner
peripherischer, cerebrospinaler Nerven ermoglicht. (Sympathische
Fasern in den cerebrospinalen Nerven selbst, sympathische GefaB-
plexus.)
Wenn wir, unter Hinweis auf die anatomische Tatsache der
feinen Ausladungen sympathiseher und cerebrospinaler Fasem,
an einer gegenseitigen tonischen Beeinflussung halten, so liegt die
Annahme nahe, daB bei Durchtrennung der einen Gruppe infolge
der genannten nervosen Verbindung die andere Gruppe auch
beeinfluBt werden muB. Es ist nicht ausgeschlossen, daB die Durch¬
trennung sowohl im Gebiete dieses, als auch im Gebiete jenes
Nerven, welcher von ihm tonisch beeinfluBt wird, eine Shock-
wirkung hervorgerufen hat, welche sich in unserem Falle durch
eine Sperrung des psycho-galvanischen Reflexphanomens auBert.
Nach einiger Zeit konnte sich der nicht ladierte Nerv von der
Shockwirkung erholen, jedoch steht er jetzt unter einem andem
tonischen EinfluB der Gegengruppe, weil dort der Nerv und mit
ihm ein Teil der Verbindungsfibrillen durchgesehnitten sind. Es ist
sehr wolil moglich, daB dieser andere tonische EinfluB ein starkerer
sein kann, als unter normalen Verhaltnissen (Reizwirkungen vom
degenerierenden Stumpf aus, Reizstauung im zentralen Stumpf).
Es waren somit fiir die Dorsalnerven neue Erregungskombinationen
geschaffen worden, welche ihn zu einer neuen, diesmal vermehrten
Tatigkeit gebracht haben, als deren Endresultat wir das Auftreten
des psycho-galvanischen Reflexphanomens auf dem Dorsum
manus et pedis konstatieren konnten. Dieser Vorgang, den wir bei
Lasionen periperer Nerven beobaehtet haben, erinnert lebhaft an
die Erscheinungen der Diaschisis, welchen Ausdruck von Monakow
geschaffen hat fur dynamische Vorgange, die sich bei Lasionen
des Gehims oder Riickenmarks an entfernter Stelle abspielen.
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des psychogalvanischen Reflexphanomens.
253
Auch hier wiirde es sich nach unserer Auffassung um dynamische
Verschiebungen in der Funktion eines unverletzten Nervengebietes
handeln zufolge einer anatomischen Lasion in einem angeschlossenen
Gebiete. Der Unterschied zwischen diesen beiden physiopatho-
logischen Vorgangen wiirde darin bestehen, daB bei der Diaschisis
von der Lasion eine hypotonisierende Femwirkung ausgehen
wiirde, in unserem Experiment aber eine hypertonisierende
Wirkung.
Zum SchluB gebe ich die Zusammenfassung unserer Resultate
in Form einer prazisen Beantwortung unserer eingangs gestellten
Fragen.
1. Unser Versuchstier, der Macacus Cynomolgus , zeigt auf sen-
sorische Beize hin, ein positives psychogalvanisches Reflexphanomen.
2. Wenn die Leitung der Nerven , welche Vola manus und Planta
pedis sensibel innervieren , durch perineurale Injektion eines An-
dstheiikums unterbrochen wird> ist es moglich , beim Versuchstier eine
Auslosung des psychogalvanischen Reflexphanomens zu unterdriicken .
Beim Menschen haben die bis anhin gemachten Versuche noch kein
endguUiges Resultat ergeben . Immerhin konnte eine Beeinflussung
des psychogalvanischen Reflexphanomens im Sinne einer Herab-
setzung konstatiert werden.
3. Durchtrennt man beim Versuchstier die oben genannten
Nerven , so
ist a) unmittelbar und auch noch 2 Tage nach der Durchtrennung
ein psychogalvanisches Reflexphanomen nicht mehr auslosbar;
bleibt b) auch nach langerer Zeit die Vola manus und Planta
pedis als Antwortsorgan fur das psychogalvanische Reflexphanomen
unbrauchbar. Das Dorsum manus et pedis jedoch , das unter normalen
Verhaltnissen kein oder nur andeutungsweise ein psychogalvanisches
Reflexphanomen zeigt , ivird im Verlauf einiger Tage — vielleicht
infolge einer Diaschisistvirkung — ein gut brauchbares Antworts¬
organ fur das psychogalvanische, Reflexphanomen .
An dieser Stelle sei es mir gestattet, Herm Privatdozent
Dr. Otto Veraguth meinen besten Dank auszusprechen fiir die
Anregung, die er mir zu der vorliegenden Arbeit gab, und fiir die
Ratschlage und Unterstiitzungen, welche er mir wahrend derselben
angedeihen lieB.
MonatRschrift f. Psychiatrie u. Neurologrie. Bd. XXXIII. Heft 3. 17
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254
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charity in Berlin#
[Geh. Rat Prof. Dr. Bonhoeffer.])
Ueber die Beeinflussung des Vorstellungsablaufes
durch Gesehichtskomplexe bei Geisteskranken.
Von
Dr. ARNOLD KUTZINSKI,
Asslatent an der Nervenklinik der Chari 1 6.
(Schlufi.)
Bei der 1. Wiederholungsreihe — hier sind auch die Zahlen
bei nur zwei angestellten Versuchsreihen verarbeitet — wurde
der Prozentsatz Kraepeltns nur 3 mal iiberschritten: bei einem
Korsakoff, bei einer Melancholie und bei einer Hysterie; fast
oder vollig erreicht wurde er in 12 Fallen. Immerhin verdient
Erwahnung, daB von 65 Fallen der 2. Versuchsreihe 38 eine Wieder-
holung von 30 pCt. und darunter, 19 sogar unter 20 pCt. aufwiesen.
Die Falle gehoren nicht etwa zur Gruppe mit schwerem Merk-
defekt oder Inkoharenz, sondern wir finden diese Werte auch
bei Melancholie, Hysterie und paranoischen Zustanden. Bei der
Hysterie beobachten wir ein ganz ungleichmaBiges Verhalten, bald .
eine starke, bald eine minimale Wiederholungszahl. Man wird
geneigt sein, diese Schwankungen durch individuelle Faktoren
zu erklaren, aber diese kommen nicht vorwiegend in Betracht.
Auch die Lange des Zeitintervalles ist kaum von erheblicher Be-
deutung, wenn ihm auch Rechnung getragen werden muB. Wir
finden nach eintagigem Interval! bald 5, bald 18 Wiederholungen
imd nach fiinftagigem Intervall wieder 19 wiederkehrende Re-
aktionen. Es bliebe noch die Moglichkeit, daB eine Abhangigkeit
vom Komplex besteht. Je intensiver dessen Wirksamkeit ist,
um so geringer konnte die Zahl der gleichen Assoziationen sein.
Betrachtet man 12 Hysteriefalle, die fiir diese Zwecke verwertet
werden konnten (die anderen schieden wegen Fehlens 2. Wieder-
holungsreihen aus), so miissen zunachst die zwei durch Debilitat
komplizierten vemachlassigt werden. Von den 10 benutzten
Fallen zeigen nur 3 eine erhebliche Zunahme der alten Reaktionen.
In 7 Fallen wurde entweder eine geringe Zahl alter Assoziationen
und viele Komplexreaktionen oder das Umgekehrte festgestellt.
Dadurch wird w a h r s c h e i n 1 ic h gemacht, daB
der Komplex der Fixation hemmend ent-
gegensteht. Warum der EinfluB der Geschichte nicht durch-
gehend wirksam ist, wird sich im einzelnen nicht nachweisen
lassen, doch mahnt diese Tatsache zur Vorsicht in den SchluB-
folgerungen. Aehnliche Befunde ergeben die anderen klinischen
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des Vorstellungsablaufes durch Geschiclitskomplexe etc.
255
Gruppen. In den meisten Depressionen und Angstzustanden
ist die Zahl der Wiederholungen eine sehr groBe, die der
Komplexreaktionen eine sehr geringe. Wo nur wenige Wieder¬
holungen (z. B. Versuchsperson 8) beobachtet werden, handelte
es sich um Versuclispersonen, bei denen viele Auslassungen auf-
getreten waren.
Im Gregensatz zur Hysteriegruppe ist bei den melancholischen
Zustanden nur einmal eine Abnahme der Wiederholungen, die
vielleicht in dem langen Intervall ihre Ursache hat, zu kon-
statieren. Grerade bei dieser Gruppe scheint das Intervall nicht
ganz bedeutungslos zu sein. So zeigfe sich bei einem sechs-
tagigen Intervall nui’ eine Wiederholung. Derartige Abhangig-
keiten bestehen bei paranoischen Zustanden nicht. Hier findet
nach dreitagigem Intervall eine Abnahme, nach neuntagigem eine
geringe Zunahme statt. Ein EinfluB durch den Komplex ist nicht
bemerkbar. Die Komplexreaktionen sind iiberhaupt hier nur
sehr gering. Auffallig ist die gelegentliche Abnahme und vor
allem die stets geringe Zunahme der Wiederholungen bei der
3. Versuchsreihe.
Bei der Dementia paralytica zeigt sich dagegen auch bei
langen Zwischenraumen (vgl. Versuchspersonen 12, 4, 30), z. B.
von 8 Tagen, bei der 2. Wiederholung eine deutliche Vermehrung
an alten Reaktionen. Wemi Versuchsperson 29 eine Ausnahme
zu bilden scheint, so ist die Ursache in den schweren Angst¬
zustanden zu suchen. An sich ist bei der Paralyse die Zahl
der Wiederholungen im Vergleich zu der der anderen Gruppen
sehr gering. Man konnte bei dem Merkdefekt der Paralyse er-
warten, daB die Zahl der Wiederholungen verringert wiirde.
Pappenheim 1 ) hat ja auch bei einem Kranken mit starker Merk-
fahigkeitsstorung bei unmittelbarer Reizwortwiederholung zahl-
reiche Neuassoziationen gefunden. Bei einem Fall von ausge-
sprochenem Korsakoff kann ich das nicht bestatigen. Hier kehrten
bei einem Intervall von 2 Tagen 22 und bei einem Intervall von
3 Tagen zwischen 2. und 3. Versuchsreihe 24 Reaktionen wieder.
Diesen Unterschied der Resultate durch die Verschiedenheit des
Zeitintervalls (in meinem Fall wurde 2 Tage spater die Reihe
wiederholt) zu erklaren, erscheint nicht angangig. Das deutet darauf
hin, daB die Beziehungen zwischen Merkdefekt und Assoziations-
stiftung doch keine vollig abhangigen sein konnen. Die letztere
bezw. die durch den Reiz angeregte Reproduktion einer friiher
geschaffenen Verbindung beruht auf dem Reichtum des Vor-
stellungsmaterials und seiner Liquiditat, der Merkdefekt ist besser
als Storung des Haftens im Sinne Heilbronners 2 ) aufzufassen.
Ist nun die Vorstellungsmasse nur sparlich vorhanden oder nur
schwer fliissig zu machen, so kommt es trotz mangelhaften Haften-
x ) A. Pappenheim , Merkfahigkeit und Assoziationsversuch. Ztschr.
f. Psych. Bd. 38. 1906.
*) Heilbronner, Das Haftenbleiben. Ergzh. d. Monatsh. f. Neurol, u.
Psychiat. 1908.
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256
K u t z i n s k i , Ue-ber die Beeinflussung
bleibens zu einer so grolien Wiederholung der Reaktionen wie im
eben zitierten Fall. Die von Pappenheim beobachtete Tatsache,
daB bei Gesunden bei unmittelbar erneuter Priifung die meisten
Assoziationen wiederkehrten, widerspricht dem nicht; denn hier
wirkten die Frische und Lebhaftigkeit der eben gestifteten Ver-
bindungen hemmend gegeniiber neuen Reaktionen. So ist wohl
auch der Reichtnm der Wiederholungen bei Paranoischen zu er-
klaren. Bei der Paralyse wird je nach der Fiille des Vorstellungs-
materials und dem Grade des Merkdefektes die Zahl der alten
Reaktionen schwanken. Als Hilfsmoment unterstiitzt aber noch
den Vorstellungsweehsel die Komplexwirkung. In den Fallen von
Dementia paralytica fand sich eine relativ hohe Zahl von Komplex-
ankniipfungen. Je groBer diese Zahl ist, um so seltener treten
Wiederholungen auf. Es eriibrigt sich hervorzuheben, daB auch
hier die Zeitintervalle keine besondere Bedeutung beanspruchen,
da bald nach 7 Tagen Intervall 11, nach 3 Tagen 8, dann wieder
nach 2 Tagen 10 Wiederholungen in der 2. Versuchsreihe festge-
stellt wurden. Auch bei der Dementia senilis sind geringe Wieder¬
holungen und ein hoher Prozentsatz an Komplexreaktionen be-
merkenswert. Die Zahlen der letzteren betragen z. B. 3 und 4
fur die 2. und 3. Versuchsreihe, denen nur 3 und 9 Wiederholungen
entsprechen. Das Material ist zu gering, um eine allgemeine Auf-
fassung zuzulassen. Aber daB analoge Verhaltnisse wie bei der
Paralyse bestehen, ist sehr wahrscheinlicli. Die Kombination
von Merkdefekt und geringer Liquiditat der Vorstellungen tritt
sehr pragnant bei der Dementia epileptica auf. Trotz eines nur
eintagigen Intervalles werden nur 8 Reaktionen wiederholt. Nach
viertagigem Intervall findet man 2 bei der 2. Versuchsreihe, 4 Re¬
aktionen bei der 3. Versuchsreihe. Einen Gegensatz dazu bilden
wiederum die Werte der Komplexassoziationen (8,3 pCt. fur die
1. und 2. Wiederholungsreihe).
DaB bei dissoziativen Zustanden die Reihe der alten Ver-
bindungen niedrig sein muB, bestatigen die Prozentzahlen. Bei
einem epileptischen Dammerzustande betragt die Zahl der Wieder¬
holungen nach einem eintagigen Intervall nur 8, bei einem hyste-
rischen Dammerzustande nur 4 Reaktionen, bei der 2. Wieder¬
holung nur 3 bezw. 2 Reaktionen. Das gleiche trifft fur die
Amentia zu. Bei einer Versuchsperson fehlt die Komplexwirkung,
weil es sich um eine nur auf religiose Dinge konzentrierte Kranke
handelte, die sich den Reizen der AuBenwelt gegeniiber vollig
ablehnend verhielt. Ein ahnliches Verhalten wie die dissoziativen
Zustande zeigte die Manie, bei der an sich nur wenige Wieder¬
holungen bemerkt wurden, bei der aber trotz langer Intervalle
(von 9 Tagen) ein Zuwachs an alten Assoziationen von 5 auf 11
stattfand. In einem anderen Falle verringerte sich sogar die Zahl
um 1 Reaktion. Auch bei diesen Storungen der Aufmerksamkeit
hat die Lange des Zeitintervalls keinen erkennbaren EinfluB aus-
geiibt. Dabei besteht auch hier eine Beziehung
zwischen Vermehrung der alten und Haufung der
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
257
Komplexreaktionen in bereits charakterisiertem
Sinne. Bei Zunakme der letzteren sinkt die Zalil
der Wiederholungen und umgekehrt.
Die Resultate der Debilitat sind sehr einfach zu deuten, da
nur eine starke Vermehrung der Wiederholungen eintritt und
Komplexreaktionen fehlen. Schwierigkeiten bereitet die Auf-
fassung der Dementia hebephrenica, bei der teils zahlreiche Wieder¬
holungen auftreten, teils iiberhaupt fehlen. So betrug einmal die
Zahl der alten Reaktionen 2 und 1, und die der Komplexreaktionen
3 bezw. 6 in den Versuchsreihen. Die Lange des Intervalles ist nicht
entecheidend, denn bald ist bei viertagigem Intervall die Wieder-
holungszahl 0, bald nur 4, bald 33. Auffallig ist die meist sehr
schnelle Zunahme der Wiederholungen bei der 3. Versuchsreihe.
Ob egozentrische oder paranoide Beziehungen dieses Verhalten
bestimmen, ist nicht festzustellen. Man miiBte sich dann denken,
daB die Eigen beziehungen sowohl geringe Wiederholungen, wie
auch sparliche Komplexreaktionen bedingen, und umgekehrt. Bei
einer Betrachtung der Einzelfalle zeigt Versuchsperson 22 18
und 33 Wiederholungen und 3 bezw. 1 Komplexreaktion, dabei
handelt es sich nicht um einen paranoid starker ausgepragten
Zustand. Ein Verstandnis dieses Verhaltens gibt uns die vorherr-
schende Stimmungslage. Sie war bei dieser Versuchsperson
apathisch und teilnahmslos. Wenn trotzdem Komplexwirkungen
stattfanden, so sind diese eine Folge der Nachwirkung. Versuchs¬
person 19 entspricht der Erfahrung, daB Komplexreaktionen und
Wiederholungen in umgekelirtem Verhaltnis zueinander stehen,
das trifft auch fur Versuchsperson 35 und 36 zu. Bei Versuchs¬
person 2 verbindet sich mit der fehlenden Komplexreaktion und
den geringen Wiederholungen der 1. Reihe eine erhohte Nach¬
wirkung. Auch hier handelt es sich wie in Fall 22 um eine apathische
Versuchsperson. Wenn man von diesen beiden Fallen absieht, so
hat man schlieBlich auch bei dieser Gruppe ein einheitliches Bild
gewonnen.
Zusammenfassend kann man sagen, daB in
alien Fallen mit ausgesprochener Wiederholungs-
tendenz eine sparliche Komplexwirkung zu kon-
statieren ist und umgekehrt, d. h. mit anderen
Worten, bei Versuchspersonen mit reichem Vor-
stellungsmaterial und der Moglichkeit, neue
Assoziationen schnell und ausreichend zu er-
werben, wird durch den EinfluB des Komplexes
ein groBerer Vorstellungswechsel herbeigefiihrt.
Nachwirkung.
Die Wiederholung ist nur ein spezieller Fall der Nachwirkung.
Bei der Wiederholung kommt in der 2. Versuchsreihe wieder zur
Wirkung, was sich bei der Darbietung des Reizwortes im BewuBt-
sein abgespielt hat. Alle angeklungenen und mit in Schwingung
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258
K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung
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versetzten Vorstellungsbeziehungen gelangen wieder zur Wirksam-
keit und bestimmen die Reproduktion. Die Starke der Wieder-
holungstendenz hangt von der Intensitat der durch das Reizwort
miterregten psychischen Vorgange, bei langeren Intervallen und
individuell variierend von der Zeit und endiich von der Nach-
haltigkeit, demHaftenbleiben der einmal entstandenenAssoziations-
bildung ab. Die letztere Komponente ist bei der Nachwirkung
in den Vordergrund geriickt. Sehr haufig zeigt sich das Beharren
auf motorischem Gebiet in der sprachliehen Form. Es wechselt
zwar der Inhalt, aber die sprachliche Formulierung wird monoton
festgehalten. Von 65 Versuchspersonen sind bei 19 wiederholt
derartige Nachwirkungen konstatiert worden. In einem Fall z. B.
wird immer das Wort ,,Mensch“ in der Reaktion angewandt.
Zuweilen taucht das Wort ,,Haupt“ auf. Ein Debiler bedient sich
standig des Ausdruckes „gibt’s auch viel“ und „ist verschieden";
ein anderer der Redensart „kami jeder" und ,,muB man“. Oftmals
findet die Einleitung des Reaktionssatzes mit einem ,,Wenn“
statt, z. B. ,,wenn ich etwas kaufen tue, wenn ich vieles habe“.
Das ist iibrigens nicht nur bei Versuchspersonen mit Intelligenz-
defekt der Fall. Wieder andere wenden sehr haufig Hilfsverben
an, z. B. ,,schon— sein“, „rot — sein“, ,,Kaiser — sein“ etc. In
einem Korsakoff-Fall wurden immer die Silben ,,nis“ oder ,,heit“
als Erganzung des Reizwortes benutzt, z. B. ,,schon — heit“;
selbst sinnlose Wortneubildungen kommen so zustande, wie
„Farbnis“. Bei einzelnen Versuchspersonen auBert sich die Nach¬
wirkung der Form darin, daB die folgende Reaktion immer mit
einem ,,ist auch“ beginnt. Bei den sprachlich monotonen Re-
aktionen ist eine erkennbare Storung des Zusammenhanges zwischen
Reiz und Antwort nur selten vorhanden. Man muB diese FaUe
von den iterativen Reaktionen Sommers und anderer trennen,
weil hier ja die Reaktion nur dann, wenn sie paBt, wiederkehrt;
daB sie wiederkehrt, driickt zwar eine sprachliche Armut aus,
aber damit wird noch nichts an sich fiber den geistigen Gesamt-
zustand der Versuchsperson ausgesagt. Das trifft erst zu, wenn
durch die formale Nachwirkung sinnlose Reaktionen zustande
kommen, wie z. B. in dem Fall von Korsakoff. Wenn eine Melan¬
cholic die Reaktion ,,Mensch“ sehr oft anwendet, aber von ihr
absieht, sobald der Sinn leidet, so zeigt das die Berechtigung dieser
Trennung.
Bei den inhaltlichen Nachwirkungen ist zunachst bemerkens-
wert, daB sie in 27 unter 65 Fallen gefunden wurden. Eine Einzel-
betrachtung zeigt sie am haufigsten bei den unmittelbar aufein-
anderfolgenden Reizworten ,,Kaiser" und ,,Sohn“. Auf ,,Sohn“
wird dann oft mit,.Kaiser Friedrich" oder ,.Wilhelm" oder „Kron-
prinz" reagiert. Aehnliches tritt bei den Reizwortern „Gift" und
,,Schlange“ auf. Das erstere lost oft die Reaktion ,,giftig“ auf
,,Schlange“ aus. Weniger oft beeinfluBt das Reizwort ,^aufen“
die Auffassung des Reizwortes ,,Meer“, das bald als Substantiv
..Wasser", bald als Adjektiv ,,mehr“ bei der Reaktion verwertet
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des Voratellungsablaufes durch Geechichtakomplexe etc.
259
wird. Es handelt sich hier um eine unmittelbare Nachwirkung,
die Vorstellungsreihen des 1. Reizwortes stehen gewissermaBen
noch in Bereitsehaft, vor allem aber ist bedeutsam, daB zwischen
den Reizw'ortem „Kaiser“ und ,,Sohn“ bezw. ,,Gift“ und
„Schlange“, „kaufen“ und „Meer“ schon an sich eine gelaufige
Beziehung besteht. Seltenere Reaktionen, die aber eine deutliche
assoziative Verkniipfung zeigen, sind solche wie:
Berlin — Stadt,
Kaiser — Kaiserstadt,
oder Berlin — Hauptstadt,
Kaiser — der Erste in der Hauptstadt.
Entlegenere Beziehungen zu dem geweckten Vorstellungskreis
weisen die folgenden Reaktionen auf:
27 Liebe,
28 Ungliick — in der Liebe;
15 fahren — der Wagen,
17 Hochzeit — der Wagen;
23 Ararat — Traurigkeit,
28 Ungliick — Traurigkeit.
Ein deutlicher, wenn aucli schon lockerer, etwas befremdender
Zusammenhang besteht bei Reaktionen wie:
11 Sonne — Himmel,
13 schon — Himmel;
11 Sonne — ein Planet,
12 Farbe — von der Sonne ?
11 Sonne — geht im Osten auf,
12 Farbe — goldgelb;
24 Schiff,
25 schlecht — wenn einem auf dem Schiff schlecht wird,
hat der die Seekrankheit.
Eine klangliche Beziehung zeigt die Assoziationsfolge:
17 Hochzeit — Mahl,
18 Offizier — Gemahlin.
Nur schwer laBt sich ein Sinn in den folgenden Reaktionen
erkennen:
30 rot —,
31 umkreisen — rot umkreisen;
11 Sonne — Untergang,
12 Farbe — Farbenuntergang.
Wahrend dem normalen Verhalten entsprechend hoheProzent-
zahlen fiir die Wiederholungen festgestellt wurden, sind nur wenige
Nachwirkungen vorhanden.
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260
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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Serie
A- Serie
B-Serie
Tabelle XXVII.
In Prozenten.
Versuchsreilie I j Versuchsreihe II ',i Versuchsreihe III
(i ' |i ..“
1.7 0,2 0,5
1.7 i| 1.9 0.8
Von 65 Fallen zeigen liberliaupt nur 27 deutliche Nach-
wirkungen. Einen Ueberblick iiber die klinischen Gruppen ge-
wahrt in Prozenten die nachfolgende Tabelle :
Tabelle XXVIII.
Diagnose ||
II
A-Serie
Versuchsreihe
I II III
B-Serie
Versuchsreihe
I II III
Melancholische Zustande
2.8
0
1.4
i
2 3 |
1.9
2.8
Paranoische Zustande . • .
0
0
2.0 1
0
0,9
Dementia epileptica . . . . J
2.8
1.4
6.7 j
2 8
2,8
Dementia praecox.]
0 j
0
0
2.5 1
5.6
2.8
Dementia paralytica ....
8,3 1
0
0
3.3 j
2,8
1,4
Hysterie .
0
0
o !
0.6
0,2
0.2
Amentia .
1
3.3
5,6
0
Korsakoff.
0 |
5,6
0
Manie.i
1.4
0
1A !
0
0
Epileptische Dammerzustande j|
0
0
0
o !
0
0
Dementia alcoholica . . . . ! ;
0
0 I
0
Dementia senilis.,
0 1
0
0
0
0
0
Am haufigsten tritt die Nachwirkung auf bei gehemmten,
angstlichen Kranken, ferner bei Defektzustanden, sei es, daB es
sich um einen erworbenen oder angeborenen Schwachsinnsgrad
handelt. DaB auch Hemmimgen die Nachwirkungen bedingen,
zeigt die stuporose Form der Amentia; aus der Literatur sei an
die Versnche Isserlins 1 ) erinnert, bei denen in der Hemmung oder
im depressiven Zustande stets ein vermehrter Prozentsatz von
Perseverationen vermerkt wurde. Besondere Erwahnung ver-
dienen die geringen Zeichen der Nachwirkung bei der Hysterie.
Die Zustande, bei denen eine groBe Fliichtigkeit der Vorstellungen
besteht (Dementia senilis, Korsakoff und Manie) lassen erheb-
lichere Beeinflussungen dureh friihere Vorstellungen vermissen.
In diesen Fallen findet man gerade einen hohen Prozentsatz von
Komplexreaktionen. Bei anderen klinischen Gruppen macht sich
die Nachwirkung meist dann geltend, wenn eine Kombination
mit Debilitat vorliegt.
Eine beziehungslose Nachwirkung kommt iiberhaupt nur
zweimal im ganzen vor. Jung und Riklin haben ja bei der
Nachwirkung nur die Einwirkung auf die unmittelbar folgende
>) a. a. O.
Gck igle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
261
Reaktion beriicksichtigt. Die Einwirkung iiber eine unbeein-
fluBte Reaktion hinweg bezeichneten sie mit dem allgemeineren
Begriff Konstellation. Ueber den Zusammenhang der beiden
Erscheinungen auBern sie sich nicht. Aus ihren Durchschnitts-
berechnnngen ergibt sich fiir die Perseveration bei Gebildeten
ein Prozentsatz von 1,5, bei Ungebildeten von 0,8, also Werte,
die den meinen annahernd gleichkommen. Hinzugerechnet aber
miissen noch 7,3 pCt. Wiederholungen bei Gebildeten und 10,9
bei Ungebildeten werden. Die naheliegende Annahme, daB die
zahlreichen Wiederholungen durch die groBe Zahl von Reaktionen
bedingt ist, daB eine gewisse Miidigkeit feintritt, wie Jung es nennt,
widerlegt die Tatsache, daB oftmals die Wiederholungen im ersten
Hundert des Versuchs starker als im zweiten Hundert auftreten.
Auch die anderen Bedingungen, die innere und auBere Ablenkung,
iiben keinen EinfluB aus. Man muB also annehmen, daB bei der
groBen Zahl der Reizworter oft die gleichen Vorstellungskreise
wiederholt angeregt werden, und daB die kurz vorher aufge-
tretenen Assoziationen bei der neuen Assoziation mitwirken.
Ferner muB beriicksichtigt werden, daB es sich urn gelaufige Ver-
bindungen handelt, wie z. B. „Wasser — Wein“, „Essig — Wein“,
„stinken — schmecken“, ,,ekeln — schmecken“. DaB nur die
Haufigkeit der Assoziation die Ursache der gleichen Reproduktion
ist, erscheint nicht zutreffend. Denn eine Assoziation wie
,,Essig — sauer“ ist doch mindestens so eingeiibt wie die ,,Essig —
Wein“. Es muB also noch ein Plus hinzukommen, eine Beein-
flussung, die am ehesten durch die vor kurzem erfolgte ahnliche
Reaktion stattfindet. Jung und Riklin haben die Wiederholungen
derselben Versuchsreihen nicht von diesem Standpunkt aus
betrachtet, wenigstens geht das aus ihren Protokollen nicht hervor.
Sie lassen die Perseveration entweder durch unbekannte, psycho-
physische Ursachen oder durch Gefuhlskonstellationen bedingt
sein, dabei fiigen sie hinzu, daB sie mit dieser Feststellung nichts
prajudizieren wollen, libersehen aber, daB „Gefiihlskonstellation“
bereits ein sehr komplizierter und ,,psychophysische Ursachen 1 '
in diesem Zusammenhange ein unklarer Begriff ist.
DaB bei meinen Versuchspersonen gefiihlsbetonte Erlebnisse
eine nennenswerte Rolle spielen, ist nicht anzunehmen. Denn die
Zahl der Nachwirkungen ist an sich schon sehr gering, und auBerdem
tritt diese bei an sich indifferenten Reizworten auf,wie z. B. ,,Farbe“,
,,Meer“ u. a. In anderen Fallen ist das Reizwort zwar gefiihls-
betont, die Nachwirkung wird aber durch das vorhergehende
indifferente Reizwort bestimmt. Auch die Art der Reaktionen zeigt,
daB Gefiihlsmomente keinen entscheidenden EinfluB gehabt haben,
sondern daB nur assoziative Tendenzen wirksam waren.
Isserlin 1 ) hat als Wiederholung nur die Reaktion bezeichnet,
welche in der Wiederkehr der unmittelbar vorhergehenden Reiz-
>) a. a. O.
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Gck igle
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262 Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
oder Reaktionsworter bestand. Die Perseveration ist nach ihm
eine Reaktion, die einen erkennenden EinfluB einer friiher dage-
wesenen Reaktion oder eines friiher dagewesenen Reizwortes
verrat. Auch diese Form der Wiederholungen ist nur ein Sonder-
fall der Nachwirkung. Wenn man die unmittelbare Nachwirkung
als etwas qualitativ vollig Verschiedenes betrachten wollte, so
ware das nicht gerechtfertigt. Man miiBte dann diese als ein dem
Erinnerungsnachbild analogen Vorgang auffassen.
Bereits Fechner 1 ) hat die Abhangigkeit des ,,Erinnerimgs-
Nachbildes“ von der Aufmerksamkeit hervorgehoben. Wir be-
merken es nur, wenn wir ihm unsere Aufmerksamkeit be-
sonders zuwenden. Es ist nicht wahrscheinlich, daB in den
Reaktionen auf die nachwirkenden Worter gerade eine besondere
Aufmerksamkeit gerichtet war, sie haben auch im allgemeinen
keinen besonders gefuhlsbetonten Charakter, sind vielmehr ge-
laufig und oft eingeiibt. Ueberdies ist es iiberhaupt fraglich, ob
isolierte Wortreize so lange, wie es in den zitierten Beispielen
der Fall ist, nachklingen konnen. Unmittelbare und spatere Wieder¬
holungen scheinen also nur durch die von der Zeitdauer abhangige
Intensitat der angeregten Vorstellungen unterschieden zu sein.
Sollte es sich doch nur um ein klangliches Nachbild handeln, so
ware zu erwarten, daB oft die Wiederholung gleichzeitig eine
Sinnlosigkeit reprasentierte. Tatsachlich sind aber siimlose Re¬
aktionen bei den meisten Versuchen iiberhaupt nicht vorhanden.
In einem Fall war die Zahl der Perseverationen so groB (32,7 pCt.),
daB dadurch siimlose Reaktionen zustande kommen muBten.
Immerhin waren nur 29,75 pCt. ohne Zusammenhang, mid davon
waren viele durch eine Nachwirkung oder Wiederholung nicht zu
erklaren. DaB die unmittelbaren Wiederholungen bei den Ver¬
suchen so sparlich auftreten, ist begreiflich, wenn man an die
bereits von Jung und Riklin hervorgehobene Tatsache erinnert
wird, daB sich Ungebildete bei ihren Reaktionen meist auf den
Sinn einstellen. Vermoge ihrer Absicht, stets Zusammenhange zu
schaffen, liberwinden sie das natiirliche Bestreben, das Jiingst-
vergangene wieder vorzubringen.
Besonders wichtig ist das Verhaltnis zwischen Nachwirkung
und Komplex. Wie bei der Wiederholung besteht auch hier ein
Wechselverhaltnis. Je starker die Komplexreaktionen, um so
seltener sind die Nachwirkungen, wie nachfolgende Beispiele
dartun:
(Hier folgt Tabelle XXIX.)
Die Durchschnittswerte der Komplexreaktionen sind erheblich
hoher als die der Nachwirkung. Bei den Gesamtwerten sind Be-
ziehungen wie in den Einzelfallen nicht moglich, weil die Summe
der Reaktionen zu gering ist. Doch tritt bei der B-Serie unter der
') Fechner, Psychophysik. Tl. 2.J- S. 493.
Gougle
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des Vorstellungsablaufes durch GeschichtBkomplexe etc. 263
Tabelle XXIX.
Versuchs-
person
Reaktionsform J
Versuchs-
reihe I
Versuchs-
reihe IE
Versuohs-
reihe HI
15
Nachwirkung
i
i
1 2
0
i
Komplex |
I “ !
1 3
i
6
57 j
Nachwirkimg
0
0
0
1
Komplex
—
i 4
5
14
Nachwirkung j
1
1
Komplex j
_ i
i
1 3
3
18
Nachwirkung |
0
0
0
Komplex
6 1
4
1
17
Nachwirkimg i
0
0
0
Komplex ,
4
5
4
13
Nachwirkung
2
4
1
Komplex j
—
1
0
22
Nachwirkung 1
3
0
0
Komplex
4
3
52
Nachwirkung
l j
0
0
Komplex
i
j
1 4
3
56
1
Nachwirkung j
l ;
i 1
0
Komplex |
_ i
5
5
58
Nachwirkung :j
0
0
0
Komplex ;
•—
3
7
i
59
*i
Nachwirkung 1
2
i
9 l
1 3
Komplex
—
o !
0
Wirkung der Geschichte eine erhebliche Abnahme der Nacb-
wirkungsreaktion ein: von 1,3 der 1. Versuchsreihe auf 0,2 der
2. Versucbereihe. Die A-Serie zeigt dagegen bei direktem Kom-
plexeinfluB die hochste Prozentzahl, um sie spater nur wenig zu
verringem. Auch dieses Moment spricht dafiir, daB ein starkerer
Vorstellungswechsel durch den Komplex hervorgerufen wird. Es
ware aber irrig, aus diesen Abhangigkeitsbeziehungen Schliisse
iiber das Verhaltnis von Konstellation zur Nachwirkung zu zieben.
Diese Frage wird davon nicht betroffen und soli erst in der Dis-
kussion der Ergebnisse zur Sprache kommen. Ein Vergleich der
egozentrischen Beaktionen mit der Zahl der Nacbwirkungen gibt
Auf schliisse iiber die Entstehung der Perseveration. Jung und
Riklin fiihren die vermehrten Perseverationen der mannlichen
Versuchspersonen auf die erhohte Beizwirkung personlicher Er-
lebnisse zuriick, weil diese eine groBere Nacbbaltigkeit besitzen.
Man vergleiche daraufhin die von mir gefundenen Zahlen:
Go i igle
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264
Kutzinski, Ueber die Beeinflussung
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Tabelle XXX.
Reaktionsform
jj A-Serie
I* Versuchsreihe j
B-Serie
Versuchsreihe
1! I 1
1 II |
III -i
I II III
Egozentrische Reaktion . . .
l!
: 4.6
5.9
1.9
4.2 3.4 3.0
Nachwirkung.
h 1-7
1.1
0,9
1.3 0.2 0.9
Eine parallele Ab- bezw. Zunahme ist nicht zu konstatieren.
Die egozentrischen Reaktionen nehmen in der 2. Reihe der A-Serie
zu, die Perseverationen ab; in der B-Serie bestehen auffallige
Schwankungen der Perseverationen, wahrend eine kontinuierliche
Abnahme der egozentrischen Zahlen eintritt. In der 8. Versuchs-
reihe der B-Serie entspricht einer Zunahme der Nach wirkungen
eine Abnahme der anderen Reaktionsform. Die Betrachtung von
Einzelfallen ergibt gleiche Resultate:
Tabelle XXXI.
Diagnose
Reaktions—
form
Versuchs¬
reihe I
Versuchs¬
reihe II
| Versuchs-
! reihe III
Melanchol. Zustand
Egozentrische
i
Reaktion
1
0
0
Nachwirkung
2
2
3
Paralyse .
1
1 Egozentrische
Reaktion
0
i
0
1
sl 0
j Nachwirkung
3
0
j
0
Paranoischer Zustand j
Egozentrische
Reaktion
0
1
0 1
(1
i
i Nachwirkung'
i ■ 2
I
1
Wie aus den obigen Zahlen hervorgeht, sind trotz relativ
zahlreicher Naohwirkungen keine egozentrischen Reaktionen vor-
handen. Auch der Vergleich mit Gefuhlsreaktionen zeigt, daB
eine Vermehrung dieser die Zunahme der Nach wirkungen nicht
entspricht:
Tabelle XXXII.
Reaktionsform
A-Serie
Versuchsreihe
B-Serie
Versuchsreihe
I
n
hi 1
| I II HI
Gefuhlsreaktiori. —
Nachwirkung.i —
—
i
: 1,2
: 1.3 |
1.3 1,4
0.2 0.9
Fur meine Versuchspersonen ist also die von
Jung und Rikl in angenommene Beziehung
zwischen egozentrischen und nachwirkenden
Gck igle
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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 265
Reaktionen nicht zutreffend. Verlangsamung
des Vorstellungsablaufs und eine Verarmung des
Inhalts werden wahrscheinlich in den meisten
Fallen Nach wirkungsr eak tionen auslosen, zu-
weilen sind sie auch als Ausdruck der Verlegen-
heit aufzufassen.
EinfluB der Aufgabe.
Die Tatsaclie, daB die Aufgabe ihrer Fojm und ihrem Inhalt
naeh die Reaktion beeinfluBt, ist nach den Untersuchungen von
Ach 1 ), Watt 2 ), Messer 8 ) u. A. allgemein anerkannt. Die Vereuche
dieser Autoren sind von diesen selbst als Willensvorgange be-
zeichnet worden. Ihre Voraussetzung bildet die Bereitwilligkeit,
auf die Anordnungen des Versuchsleiters einzugehen. Auch bei
meinen Versuchspersonen ist das die erste unerlaBliche Bedingung.
Ich habe, wie die Einleitung zeigt, im allgemeinen solche Versuchs¬
personen gewahlt, die zunachst die Aufgaben, die Geschichte zu
erzahlen und auf Reize zu reagieren, prompt erfiillten. Trotzdem
ist mir oft Teilnahmlosigkeit, Unlust oder auch Scheu begegnet.
DaB diese Momente die Art der Reaktion und die Komplexwirkung
beeintrachtigen, bedarf keines Be weises, sie wirken verzogernd,
hemmend, irritierend. Ein detaillierter Bericht iiber den Grad
dieser Einfliisse ist bei meinem Material nicht zu erlangen. Die
mangelnde Selbstbeobachtung und die Gefahr der Suggestion durch
die Befragung machen es unmoglich. Ungeachtet dieser Schwierig-
keiten wird vielleicht eine groBe Serie von Untersuchungen gleich-
artiger Zustande auch hier sichere Resultate zutage fordern. Meine
Versuchsreihen sind zu diirftig, um nach dieser Richtung verwertet
werden zu konnen. In der besonderen Gruppierung der Aufgabe
ist auch zugleich eine bestimmte Richtung fiir ihre Wirksamkeit
gegeben. In meinen Versuchen besteht eine Verkoppelung zweier
Aufgaben, zwischen denen bestimmte Beziehungen geschaffen
wurden, und es soil nun der EinfluB der einen auf die andere fest-
gestellt werden. Diese Beziehungen sind in dem Inhalt der Reiz-
worter gegeben.
Die Resultate zerfallen in 2 Hauptgruppen, je nachdem die
Geschichte vor der 1. oder 2. Versuchsreihe exponiert wurde. Die
Erwartung, daB sich 2 verschiedene Typen herausbilden wiirden,
solche, bei denen Reize aus jiingster Zeit rasch, und solche,
bei denen sie langsam oder iiberhaupt nicht wirksam werden,
hat sich nicht bestatigt. Auch die Vergleiche der einzelnen
Reaktionsformen laBt keinen EinfluB der geanderten Anordnung
erkennen. Die Schwankungen der Werte, ihre Abhangigkeit vom
J ) AcK Ueber die Willenstatigkeit und das Denken. Gottingen 1906.
*) Wait. Experimentelle Beitrage zu einer Therapie des Denkens.
Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 4.
3 ) Messer, Experimentellpsychologische Untersuchungen iiber das
Denken. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. VIII.
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266 Kutzinaki, Ueber die Beeinflussung
Geschichtskomplex, von der Fixation etc. wurde bereits friiher
erortert. Die Fixation durch die 1. Versuchsreihe der B-Serie
fiihrt bei den einzelnen Gruppen selten zu einer Abnahme, oft
findet sogar eine vermehrte Komplexwirkung statt. Die Durch-
schnittszahl der Komplexreaktionen ist dagegen, wie man erwarten
muBte, bei der A-Serie hoher, aber die Differenzen sind nur un-
bedeutend. Dagegen bewirkte die Frage am Ende der 1. Versuchs¬
reihe, ob die Versuchsperson nicht an die Geschichte gedacht habe
— eine Frage, die doch zugleich eine Umgestaltung der 2. Versuchs¬
reihe mit sich bringt —, in beiden Serien, besonders in der A-Serie,
eine Erhohung der Komplexreaktionen. Die Gruppenbetrachtung
weist keine nennenswerten Veranderungen auf, wie schon friihere
Resultate gezeigt haben.
Eine 3., nur in einzelnen Fallen (10) angewandte Aenderung
der Aufgabe bestand darin, daB samtliche Beizworter, auch die
letzten 6 auffalligen Lockworte bereits bei der 1. Versuchsreihe
benutzt wurden, um auf diese Weise eine etwaige Abnahme
der Komplexreaktionen durch Fixation festzustellen. Bei diesen
Komplexwerten ist nur eine geringe Abnahme im Vergleich
mit den friiheren Zahlen zu vermerken: 0,2 pCt. Ein EinfluB
der Intervalle auf die Zahl der Beaktionen besteht nicht. Bei
einem Intervall von 6 Tagen treten 5, bei einem von 5 Tagen
0 Komplexantworten auf. Eine Melancholie laBt nach 6 Tagen
noch einen EinfluB des Komplexes erkennen, wahrend bei
einem paranoischen Zustand iiberhaupt keine Ankniipfung an die
Geschichte stattfindet. Die Hysterie weist 13,8 pCt., ein epi-
leptischer Dammerzustand 5,6 pCt. und eine Melancholie 2,8 pCt.
Komplexreaktionen auf. Diese Besultate decken sich ihrer Qualitat
nach mit den friiheren Befunden. Der Prozentsatz der Fehler ist
gering. Auch hier nehmen die Werte bei unmittelbarer Geschichts-
exposition ab: von 7,2 auf 6,1 pCt. Das entspricht nicht vollig
den Besultaten der friiheren Methode. Der Satz, daB bei der Zu-
nahme der Komplexreaktionen die Fehler heruntergehen, bestatigt
sich; fiir den 2. Teil der obigen Ergebnisse, daB einer Vermehrung
der einen Beaktionsform eine Zunahme der anderen parallel geht,
fehlen Vergleichsversuche. Auch in den Einzelfalien ist eine Differenz
in den Fehlerzahlen der 1. und 2. Beihe wenig ausgesprochen.
Die Zahl der Wiederholungen (31,1) bleibt hinter der der all-
gemeinen Versuche nicht zuriick. Bei der Hysterie haben wir nur 2,
bei der Melancholie 15 Wiederholungen. In einem Fall von Amentia,
paranoischem Zustand und epileptischem Dammerzustand findet
man je 10 oder 12 wiederkehrende Beaktionen. Also auch in
diesen Fallen ist der Prozentsatz der Wiederholungen im Vergleich
mit den Besultaten bei Normalen zu gering.
Von den Beziehungen zwischen Nachwirkung und Komplex-
einfluB ist auszusagen, daB bei der zusammenfassenden Berechnung
die Zahlen der ersteren, wenn die Geschichte eingewirkt hat, von
5 auf 5,5 pCt. zunehmen. In den einzelnen Fallen aber zeigt sich.
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Go 'gle
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
267
daB dort, wo es iiberhaupt zu einem erheblichen KomplexeinfluB
kommt, die Prozente der Nachwirkung etwa konstant bleiben.
Das Nahere erlautert die folgende
Tabelle XXXIII.
Diagnose
j Komplexreaktion Ij Nachwirkung
■' Versuchs- \ Versuchs- Versuchs- I Versuchs-
reihe I reihe II reiho I | reihe II
Hysteria. i
Melancholische Zustande . !
Dammerzustand . . .
5
1
3
3
3
4
Bei anderen Versuchspersonen kommt es zu Nachwirkungen,
aber es wird der erkennbare GeschichtseinfluB vermiBt, bei einem
paranoischen Zustand fehlt sogar beides. Fur die Beziehungen
dieser beiden Momente haben also die bisherigen Resultate keine
zur Beurteilung ausreichenden Werte ergeben.
Anders verhalt es sich bei einer 2. Variation der Aufgabe, bei
der die Geschichte der Versuchsperson 1—7 Tage vor der Asso-
ziationsreihe gegeben wurde. Hier bestehen zahlreiche * Nach¬
wirkungen (7,3 pCt.) und wenige Komplexankniipfungen (3 pCt.).
DaB sich die Nachwirkung starker geltend machte, ist naturgemaB,
da die wiederkehrenden Reaktionsworter frischer als die Geschichts-
vorstellungen sind. Die Zahl beider Reaktionsformen war aber
doch zum Teil unabhangig von der Lange des Intervalles zwischen
Geschichtsdarbietung und Versuch. In einem Fall wird, trotz
7 tagigen Zwischenraumes 3 mal an die Geschichte angekniipft,
in anderen nach 3 tagigen Intervallen nur zweimal u. s. f. Die Ver¬
suchspersonen, welche zahlreiche Nachwirkungen bo ten, wurden
von der Geschichte nur wenig beeinfluBt. So treten bei 5 oder bei
4 Nachwirkungsreaktionen 1 bezw. kein Komplexwort auf. Um-
gekehrt sind mir bei lebhafteren Komplexbeziehungen zwei, eine
oder gar keine Nachwirkungsreaktionen begegnet. Die Zahl der
Fehler ist sehr gering. Nur in 2 Fallen wurden solche beobachtet.
Bei diesen sind auch die vielen Komplexreaktionen bemerkenswert.
Die hochste Fehlerzahl zeigte eine Dementia paralytica. Die nahe-
liegende Auffassung, die Fehler seien nur durch den Defekt, die
Vorstellungsarmut verursacht, widerlegt ein 2. Fall von Dementia
paralytica, bei dem iiberhaupt keine Ausfallreaktion beobachtet
wurde; dazu sei erganzend betont, daB der Grad der geistigen
Schwache in beiden Fallen etwa der gleiche war. Da das Zeit-
intervall bei beiden nur 1 Tag betrug, da die Nachwirkung etwa
gleich stark war und da endlich in dem 1. Fall Komplexreaktionen
bestanden und im 2. fehlten, so ist die Annahme berechtigt, daB
im Falle 1 die Fehler zum Teil auch von dem EinfluB des Komplexes
mitbestimmt wurden.
Diese Variationen der Hauptaufgabe haben keine erheblichen
Abweichungen von den friiheren Resultaten ergeben.
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26S
K u t z i n s k i , Ueber die Beeinflussung
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Die letzte wichtigste Umbildung der Aufgabe bestand darin,
daB vor der 2. Versuchsreihe eine Geschichte vorgelesen wurde mit
der Instruction, unmittelbar bevor auf das Reizwort reagiert wurde,
an die Geschichte zu denken 1 ). Die Aufforderung lautete wort-
lich: Denken Sie an die Geschichte; sie wurde vor jedem Reizwort
getan. Bei Vorversuchen beschrankte sich diese Instruction auf
den Beginn der Assoziationsreihe. Dabei stellte sich heraus, daB
eine Aenderung in der Reaktionsweise gegeniiber den eigentlichen
Versuchen nicht stattfand, und daB eine starkere Komplexwirkung
nicht einsetzte. Dazu kam, daB es ungewiB blieb, ob auch die
Versuchsperson standig die Instruktion befolgt hatte. Selbst bei
der Wiederholung, kurz vor dem Aussprechen des Reizwortes, ver-
sagte sie zuweilen in ihrer Wirkung. Eine nachherige Befragung
der Versuchsperson, ob sie auch an die Geschichte gedacht
hatte, ergab unsichere Resultate. Viele Versuchspersonen klagten
dariiber, daB sie durch die Instruktion gestort wurden. In
anderen Fallen ward die Instruktion befolgt, aber es tritt
keine Komplexreaktion auf. Eine einwandfreie Deutung dieses
Verhaltens wird sich nicht geben lassen, vielleicht ist das
Gefuhl der Stoning, der fortgesetzten Vorstellungsunterbrechung
als Ursache anzusehen. Einzelne Versuchspersonen glauben, sie
miiBten nach einem Zusammenhang zwischen Reizw r ort und Ge¬
schichte suchen. Dadurch kommt es zu Auslassungen, Verlegen-
heitsassoziationen und vor allem zur Verlangsamung der Reak-
tionszeit. Oft haben die Versuchspersonen das Gefuhl, als „ginge
es durcheinander“. DaB, auch wenn das BewuBtsein, an die (Je-
schichte gedacht zu haben, fehlte, eine erhohte Determination
durch die Instruktion gegeben war, zeigten Kontrollversuche bei
Normalen. So berichtet eine normale Versuchsperson, daB sie „nicht
immer“ an die Geschichte gedacht habe; trotzdem sind 20 pCt. ihrer
Reaktionen als Komplexwirkung anzusehen. Eine andere zeigt zwar
keine Komplexreaktion, aber in 20 pCt. will sie an die Geschichte
erinnert worden sein. Das traf nicht nur fur wortliche Reize,
sondern auch bei Reizen, die gar keine oder nur lockere Beziehungen
erkennen lassen, wie z. B. ,,Schlange“, „fahren“, zu.
Der Prozentsatz der beeinfluBten Reaktionen betragt 20 pCt.,
ist also durchschnittlich etwa 4 mal so hoch als bei den anderen
Versuchen. Besonders bevorzugt sind dabei die hysterische und
melancholische Gruppe mit 18,3 bezw. 34,1 pCt. Der hohe letztere
Wert wird dadurch mitbedingt, daB in dem einen Fall nach einem
*) Die Geschichte ist auch dem Buch von Koppen und KtUzinski
entlehnt. Ootteshavsgeschichie: Der Tischlermeister G. aus der Eisenbahn-
straBe begab sich nach Strausberg, engagierte dort einen Kutscher fiir
den ganzen Tag, fuhr mit diesem in der Umgegend herum und kehrte in
verschiedene Wirtachaften ein. Im ..Hungrigen Wolf“ erzahlte er dem Wirt,
daft es ihm in Strausberg immer sehr gut gefallen, und daB er besonders die
Marienkapelle lieb gewonnen habe. Da habe er sich schon lange vorgenommen:
,,Hier hangst du dich einmal auf.“ Der Wirt verwies ihm diese Redensarten.
G. hat aber sein Vorhaben ausgefiihrt und sich im Gotteshause das Leben
genommen.
Go i igle
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des Vorstellungsablaufes durch Gesohichtskomplexe etc. 269
Zusammenhang gesucht wurde. Uebrigens bilden diese Werte
einen bemerkenswerten Gegensatz zu den anderen Werten des
Hauptversuches. Wahrend sich im Durchschnitt der EinfluB der
variierten Aufgabe in einer vierfachen Vermehrung dokumentiert,
betragt die Vermehrung bei der Melancholiegruppe das Achtzehn-
fache. Trotz der wenigen Versuchspersonen wird man die Moglich-
keit des Zufalligen ablehnen miissen. Es diirfte sich hier vielmehr
um eine Folge der Instruktion handeln. Diese hat bei den ge-
hemmten Versuchspersonen teils zu einer schnelleren Ueberwindung
der Hemmung gefiihrt, als bei den Hauptversuchen, teils besitzt
aber auch die Instruktion infolge der Hemmung eine groBere
Nachhaltigkeit. Eine Bestatigung ergeben die Fehlerreaktionen
der melancholischen Gruppe. An sich nimmt, wie bei den Haupt¬
versuchen, die Zahl der Fehler in der Komplexreihe erheblich zu,
aber im Vergleiche zu der Fehlerzahl der Hauptversuche hat sie
sich nur um das iy 2 —3fache vermehrt (14 pCt.). Auch bei der
Hysteric lost der Komplex eine Vermehrung der Fehler aus, die
der der Komplexreaktionen entspricht (23,3 pCt.). In einem Fall
eines paranoischen Zustandes treten iiberhaupt keine Geschichts-
ankniipfungen hervor, dafur ist aber die Zahl der Fehler von 0
der 1. Versuchsreihe auf 18 in der 2. gewachsen. Das letztere ist
nicht als eine Folge der Komplexwirkung zu betrachten. In den
Hauptversuchen pflegt ja bei den paranoischen Zustanden die
Zahl der Fehler nur sparlich und, wie bemerkt, nur eine Folge der
begleitenden Debilitat zu sein. Durch die fortgesetzte Storung bei
der standig wirksamen Instruktion erklart sich dieser hohe Prozent-
satz. Auch eine Dementia paralytica laBt Beeinflussungen, abge-
sehen von einer geringen Fehlerzunahme, vermissen. Dagegen weist
die Hebephrenie vermehrte Komplexzahlen auf (13,3), ohne daB die
Fehler sich steigem.
Die Zahl der Wiederholungen ist auffallig gering (18,7 pCt.).
Im einzelnen entfallen 4,4 pCt. auf melancholische Zustande,
28,3 pCt. auf Hysterie und 18,3 pCt. auf Hebephrenie. Bei der
Dementia paralytica kehren 36,7 pCt., bei den paranoischen Zu¬
standen 16,7 pCt. der Reaktionen wieder. Am wichtigsten sind
die Nachwirkungen, bei denen auch hier keine Beziehungen zu
den Komplexreaktionen bestanden. Hire Zahl ist sehr gering:
2,7 pCt. in der 1., 2,3 pCt. in der 2. Versuchsreihe. In einem Fall
von Hysterie findet man eine gesteigerte Nachwirkung; die Be-
fragung ergibt, daB die Versuchsperson fortgesetzt durch die In¬
struktion abgelenkt wurde, ihre Komplexzahlen sind niedrig. In
einem anderen Fall von Hysterie sind die Einwirkungen durch die
Geschichte sehr groB, wahrend Nachwirkungen vermiBt werden;
auch sonst fehlen die letzteren, nur bei der Hebephrenie wurden sie
einmal konstatiert.
Vergleicht man die Resultate dieser Aufgabe mit denen der
Hauptversuche, so muB vor alien Dingen auf den Unterschied in
der Zahl der Komplexreaktionen hingewiesen werden. Dabei wirken
nicht stets die gleichen Reizworter besonders komplexanregend,
Monatasohrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 3. 18
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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
das scheint individuelle, nicht weiter nachweisbare Ursachen zu
haben. Soweit die vorgenommenen Kontroilversuche bei Nor-
malen ein Urteil gestatten, sind bei diesen noeh geringere Komplex-
einfliisse vorhanden, selbst wenn die Determination, ,,im Inter vail
an die Geschiehte zu denken“, gegeben ist. Diese hat bei 3 Nor-
malen nur 2,3 und 0 Ankniipfungen hervorgerufen. Es liegt das
nicht an der groBeren Fliichtigkeit des akustisch wirksamen Kom-
plexes, an seiner geringeren Anschaulichkeit; denn auch bei Scholls 1 )
Bildversuchen zeigt die 2. gebildete Versuchsperson nur sehr wenig
Bildassoziationen. Als Ursache ist nicht allein die Art und Energie
der Einpragung des Komplexes zu betrachten, sondem wichtiger
ist die Intensitat, mit der die Instruktion zur Geltung kommt.
Ueber das Wissen von dem EinfluB des Komplexes.
Die Untersuchungen von Ach , Messer , Watt haben gelehrt, daB
Determinationen, Aufgaben zwar nicht im BewuBtsein sein, aber doch
bei der Reproduktion wirken konnen. Wenn auch in unseren Haupt-
versuchen von der Wirkung einer Aufgabe im Sinne dieser Antworten
nicht die Rede sein kann, so haben wir doch eine deutliche Beeinflus¬
sung der Richtung des Vorstellungsablaufs in Einzelfallen festgestellt.
Aber diese Beeinflussung kommtdurchaus nicht immer den Versuchs-
personen zum BewuBtsein. Ich habe durch die unbestimmte Frage
,,Haben Sie an etwas gedacht ?“ dariiber Klarheit gewinnen wollen;
wo sie versagte, wurde die Frage am SchluB der Reihe bestimmter
formuliert : Haben Sie bei einer Hirer Antworten an die eben ge-
lesene Geschiehte gedacht ? Oft geniigte diese Anregung, um die
Erinnerung an den Komplex zu erweeken, die dann meist in den
Worten ,,jetzt fallt es mir ein“ zum Ausdruck kam. Meist war
gerade die Entscheidung dariiber, ob die Frage erst zur Reproduk¬
tion Veranlassung gab, oder ob die Versuchspersonen spontan an die
Geschiehte dachten, mit Sicherheit zu treffen. In 9 Fallen wurde
weder an den Komplex angekniipft, noch wurde er spontan oder
auf Befragen erinnert. Einmal trat spontan die Erinnerung an das
Gelesene auf, ohne daB sonst irgendwelche Beeinflussungen er-
kennbar waren, nur 3 mal wurde das letztere festgestellt. Dabei
wurde vernachlassigt, ob nicht oft der Komplex spontan auftauchte,
ohne daB die Versuchspersonen es mitteilten. Die Befragung hat
hier zu keinem eindeutigen Resultat gefuhrt, meist wurde sie ver-
neint. Haufiger, wenn auch selten genug (in 9 Fallen), wurde die
Geschiehte erinnert, ohne daB eine Ankniipfung stattfand. Mit
61 Reaktionen war zugleich ein Wissen um den Komplex verbunden.
Die Verteilung zeigt die folgende Tabelle:
Tabelle XXXIV.
In Prozenten der Gesamtreaktionen.
Serie Versuchsreihe I !! Versuchsreihe II | Versuchsreihe III
I I
A-Serie.I 1,6 j 3,3 1,8
B-Serie. ' 0 9 1,2
J ) a. a. O.
des Vorstellungsablaufes durcli Geschichtskomplexe etc.
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Die meisten Reaktionen entfalien auf die A-Serie. Das Resultat
entspricht den Werten der Komplexreaktionen. In der 2. Reihe
nach der Komplexwirkung steigt die Zahl der vom Wissen be-
gleiteten Reaktionen. Das weist darauf hin, daB die Frage am
SchluB der 1. Versuchsreihe die BewuBtheit verstarkt hat. Auf-
fallig erscheint, daB bei der A-Serie groBere Werte auftreten als
bei der B-Serie. Die Fixation, die auch bei den Komplexreaktionen
den geringeren Prozentsatz mit kervorgerufen hat, bildet nicht die
alleinige Ursache. Denn gerade solche Reize, die zugleich Lock-
worte waren, wurden erst in der 2. Reihe benutzt. Femer ware
zu erwarten, daB die Wirkung der Fixation auch in den Fallen,
wo eine Ankniipfung ohne Wissen stattfindet, erkennbar ware.
Hier verhalt es sich aber umgekelirt. Die B-Serie liefert die hoheren
Werte: 3,1 pCt. und 2,8 pCt. der B-Serie stehen 2,9 pCt., 2,4pCt.
und 1,4 pCt. der A-Serie gegeniiber. Daraus folgt, daB als Ursache
noch ein anderes Moment in Frage kommen muB.
Es liegt nahe, daB bei der sofortigen Exposition der Geschichte,
auch ohne ausdriickliches GeheiB, die Tendenz bestand, Beziehungen
zwischen Reizwort und Komplex herzustellen. Die Tendenz war
nicht in klarer BewuBtseinslage gegeben, aber sie war zweifellos wirk-
sam. Die Geschichte als Ganzes beeinfluBte den durch die Reizwdrter
angeregten Vorstellungsablauf, sie bestimmte zum Teil seine Rich-
tung mit. Man muB beachten, daB diese Art der Beeinflussung
von der durch den Inhalt, durch die Einzelvorstellungen gesetzten
zu unterscheiden ist. Das letztere ist als eine besondere Form der
Nachwirkung zu betrachten, als perseveratorische Konstellation,
wie man es auch nennen kann. Diese Art des Einflusses friiherer
Vorstellungen meint Liepmann , wenn er Nachwirkung und Kon¬
stellation identifiziert. Die Tatsache der groBeren BewuBtheit
kann aber durch die Nachwirkung eines Inhaltes nicht erklart
werden. Eine Abhangigkeit des einen Momentes vom andem
besteht nicht. Wie deutlich die Tendenz der Beziehung wirkt,
zeigen die Zahlen der unbewuBten Reaktionen; bei unmittelbarem
EinfluB der Komplexreaktionen treten die hochsten Werte auf
(2,9 bezw. 3,1 pCt.), bei mittelbarem EinfluB sinken sie (1,4 bezw.
2,8 pCt.). Bei der B-Serie ist durch die Fixation die Inbeziehung-
setzung zwischen Reizwort und Komplex erschwert, dadurch wurde
auch eine groBere BewuBtheit unmoglich gemacht. Es handelt
sich aber nicht nur um die Fixation im einzelnen, im Inhaltlichen,
sondern es findet auch in der Richtung des Vorstellungsablaufes
eine bestimmte Fixation durch den EinfluB eines einheitlichen
Komplexes statt. Der Grad dieses Einflusses ist je nach der In¬
tensity oder der Affektbetonung des Komplexes verschieden. Bei
den mitgeteilten Versuchen ist er verhaltnismaBig gering; wieweit
pathologische Prozesse daran beteiligt sind, laBt sich nicht ent-
scheiden, da ja ausreichende Normalversuche fehlen. So viel
scheint aber ersichtlich zu sein, daB bei Normalen An-
kniipfung an die Geschichte und das Wissen dar-
um meist parallel gehen. Bei meinen Versuchs-
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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
personen fa lit die g r o B e Zahl der unbewuBten
Komplexreaktionen im Vergleieh zu den bewuB-
ten auf.
Es ware denkbar, daB das Inbeziehungsetzen als ein kompli-
zierterer psychischer Akt bei krankhaften Versuchspersonen nicht
so haufig zur Anwendung kommt, wie bei anderen Versuchs¬
personen. An Stelle der Herstellung von Beziehungen treten ein-
fache Nachwirkungen auf. das bildet die Genese der zahlreichen
unbewuBten Ankniipfungen. Damit steht nicht im Widerspruch,
daB im allgemeinen das Inbeziehungsetzen zwischen Komplex
und Reaktion bei Normalen viel seltener ist, daB diese noch viel
weniger Komplexreaktionen bringen als meine Versuchspersonen.
Denn der Normale stellt nur aus inneren Griinden, oder wenn ihm
eine Aufgabe gegeben wird, Beziehungen her. Und diese werden
gleichzeitig sofort bewuBt, der Kranke schafft Beziehungen auch
aus auBeren, oberflachlicheren. wenig gefiihlsstarken Veran-
lassimgen heraus.
Die Betrachtung der einzelnen Gruppen hat keine Besonder-
heiten ergeben. Vor allem besteht keine Einheitlichkeit in dem
Verhaltnis der BewuBtheit zur Zahl der Komplexreaktionen. Bei
der Hysterie finden sich zahlreiche Ankniipfungen bald mit, bald
ohne begleitendes Wissen; seltener ist bei starker BewuBtheit eine
geringe Ankniipfung zu konstatieren. Die Defektzustande zeigen
meist eine sparliche BewuBtheit der Geschichte. Manische zeigen,
trotz minimaler Ankniipfung, eine deutliche Erinnerung, bei Dam-
merzustanden verhalt es sich meist umgekehrt.
Ergebnisse.
Es seien noch einmal die Ergebnisse zusammengestellt:
1. Die Komplexreaktionen sind nur sparlich aufgetreten und
tragen einen monotonen Charakter.
2. Die Zeitmessung ist fiir die Beurteilung der Reaktionen bei
der gegebenen Aufgabestellung ohne erhebliche Bedeutimg.
3. Es bestehen Abhangigkeitsbeziehungen zwischen Ausfall-
und Komplexreaktionen, die eine Bestatigung, zugleich
aber auch eine Erweiterung der von Jung imd Riklin ent-
wickelten Anschauungen bilden. Nicht nur Gefiihlskom-
plexe, sondern auch neue, frische Komplexe beeinflussen
die Zahl der Fehler.
4. Der EinfluB des Komplexes kann sich bald in einer Ver-
flachung, bald in einer Verinnerlichung der Objekt-Asso-
ziationen auBern. Welcher von beiden Faktoren iiberwiegt,
scheint nicht vom Individuum, sondern vom Krankheits-
typus abzuhangen.
5. Eine Zunahme der pradikativen Reaktionen im Sinne Jungs
imd Riklins bei unmittelbarer Komplexwirkung war nicht
vorhanden. Dagegen nimmt deren Zahl bei affektiven Zu-
standen zu.
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des Yorstellungsablaufes durch Geschichtskomplex© etc. 273
6. Zwischen Komplexrcaktionen und Zahl der Wiederholungen
besteht ein Wechselverhaltnis in der Weise, daB die Zunahme
der einen eine Abnahme der anderen mit sich bringt. Das
gleiche trifft fiir die Naehwirkung zu.
7. Die Methode ist geeignet, eine deutliche Anschauung von
dem EinfluB verschiedener, ahnlicher Aufgaben zu geben.
Die Instruktion, zwischen den einzelnen Reaktionen an
die Geschichte zu denken, hat meist, aber nicht durch-
gangig, zu einer Erhohung der Komplexreaktionen gefiihrt.
8. Bei Normalen pflegt Ankniipfung an die Geschichte und
das Wissen darum meist parallel zu gehen, bei den mit-
geteilten Versuchen fallt die unverhaltnismaBig groBe Zahl
unbewuBter Reaktionen auf.
DaB diese Resultate konstant sind, wird dadurch wahrschein-
lich gemacht, daB sie bei den verschiedenen klinischen Gruppen
im wesentlichen iibereinstimmend aufgetreten sind.
Von einer Verwertung in diagnostischer Beziehung wurde
abgesehen, weil die Beobachtungen fiir diesen Zweck noch nicht
ausreichend sind. Soweit diagnostische Erwagungen angebracht
waren, sind sie in die Erorterungen eingestreut worden. Bekannt-
lich hat man aus der Reaktionsform der iiblichen Assoziations-
versuche Schliisse auf den vorliegenden RrankheitsprozeB gezogen.
Meines Erachtens wird man nach den bisherigen Erfahrungen in
dieser Beziehung keine zu hohen Erwartungen haben diirfen. Die
Resultate scheinen geeignet, das klinisch gewonnene Bild anschau-
licher zu machen. Das gleiche laBt sich von unserer komplizierteren
Aufgabe sagen. Es ist moglich, daB die Methode bei detaillierterer
Anwendung geeignet ist, die Beziehungen zwischen dem eigenen
Vorstellungsbesitz und fremden, hineingetragenen Komplexen auf-
zudecken und zu einer scharferen Abgrenzung der verschiedenen
Arten der Geistesstorung zu fiihren, dabei wird man aber stets
den individuellen Differenzen Rechnung tragen miissen.
Wichtiger als differentialdiagnostische Erwagungen ist die
Frage, ob die gefundenen Tatsachen geeignet sind, das Wesen der
Konstellation zu erklaren. Liejmiann 1 ) hat als Erster den Kon-
stellationsbegriff scharf umgrenzt. Zum Verstandnis seiner grund-
legenden Darlegungen ist ein naheres Eingehen auf seine Erlaute-
rung des geschlossenen Gedankenganges erforderlich. Charakte-
ristisch fiir diesen ist, daB nicht das letzte Glied des erst entwickelten
Gedankens den Fortgang bestimmt, sondem der Gedanke als
Ganzes. Liepmann erlautert das bekanntlich an dem Beispiel des
Themas, er hebt diesen EinfluB deutlich heraus, indem er die
leitende Vorstellung als Obervorstellung bezeichnet. Die Ober-
vorstellungen sind dadurch richtunggebend, daB sie die Regel der
Verkniipfung einer ganzen Reihe einzelner Vorstellungen enthalten.
In dem geordneten Denken geht nach Liejmiann die Verkniipfung
dem Verkniipften voraus. Beim bloBen Assoziieren geraten Vor-
x ) Liepmann , Ueber Ideenfluoht. Halle 1905. Marhold.
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Kutzinski. Ueber die Beeinflussung
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stellungen beliebig zusammen, beim geordneten Denken werden
nur zusammengehorige Vorstellungen miteinander verkniipft, dabei
wird die Verkniipfung durch die herrschende Obervorstellung be-
stimmt. Diese Herrschaft fallt nach Liepmann mit dem zusammen,
was man gewohnlich Aufmerksamkeit zu nennen pflegt. Die Auf-
merksamkeit ergreift einen Vorstellungskomplex und verleiht da-
durch seinen Komponenten ein Uebergewicht iiber das nur asso-
ziativ Anklingende.
Nun erhebt sich die Frage. ob diese von Liepmann fiir das
geordnete Denken postulierte Herrschaft der Obervorstellungen
nicht eine besondere Form der Konstellation reprasenticrt.
Liepmann hat diesen Einwand bereits selbst widerlegt. Wollte
man die Gesamtheit der unbekannten Faktoren, die beim ge¬
ordneten Vorstellungsablauf wirksam sind, Konstellation nennen,
so wiirde man dadurch nur alle Unterschiede verwischen. Wir
wollen aber doch gerade die Eigentiimlichkeit der Konstellation
charakterisieren, welche das geordnete Denken vom bloBen Asso-
ziieren unterscheidet. Wahrend, um Liepmanns Worte noch ein-
mal zu wiederholen, in dem einen Fall eine und dieselbe Vorstellung
einen bestimmenden EinfluB auf eine ganze Reihe von Vor¬
stellungen ausiibt, bringt die Konstellation nur das gelegentliche
und stellenweise Nachwirken einer friiheren Vorstellung zum Aus-
druck.
So scharfsinnig auch diese Definitionen sind, so sehr sie auch
die Erkenntnis vom Wesen der Ideenflucht gefordert haben, es
scheint, als ob die Identifikation von Konstellation und Nach-
wirkimg den Tatsachen nicht gerecht wird. Gerade in dieser Be-
ziehung sind obige Resultate bedeutungsvoll. Wenn Liepmanns
Ansicht zutrifft, so sollte man erwarten, daB die Nachwirkungs-
und Komplexreaktionen einander parallel gehen. Nun zeigen aber
die Untersuchungen, daB immer, wenn die Pi*ozentzahl der einen
Reaktionsform sinkt, die der anderen steigt, und umgekehrt. Ferner
treten in vielen Fallen Konstellationsreaktionen auf, wahrend ein-
fache Nachwirkungsankniipfungen naher zu liegen scheinen. Das
sollen einige Beispiele erlautern : Das Reizwort ,,Blut“ lost in der
ersten Versuchsreihe die Reaktion ..krank sein“, das spater folgende
Reizwort ,,rot“ die Reaktion ,,der Tod u aus. In der Komplexreihe
findet auf ,,rot“ die Assoziation ,,Blut“ statt, die in der 3. Ver¬
suchsreihe wieder durch das Reaktionswort ,,Liebe <4 ersetzt wird.
Wollte man nun die Reaktion ,,Blut“ der 3. Komplexreihe durch
die Nachwirkung des kurz vorhergegangenen Reizwortes ,,Blut“
erklaren, so bliebe unverstandlich, warum dieser EinfluB sich nicht
auch schon in der 1. und dann nicht auch wieder in der 3. Versuchs¬
reihe geltend gemacht hat. Es ist auch nicht eine absichtliche
Beziehung in der Komplexreihe zwischen ,,rot“ und ,,Blut“ her-
gestellt worden. Die Versuchsperson weiB gar nichts von diesem
EinfluB. Es bleibt demnach nur iibrig, daB hier noch eine besondere
Wirkungsform stattgefunden haben muB. Noch deutlicher wird
diese Tatsache an dem folgenden Beispiel: Auf das Reizwort
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc. 275
,,kaufen“ reagiert die Versuchsperson mit ,,konnen“, auf das un-
mittelbar darauf folgende doppelsinnige Reizwort ,,Meer“ init
,,besitzen“. In der Komplexreihe wird aber dieses Reizwort im
Sinne des Komplexes aufgefabt und weckt die Beziehung ,,ist
griin“. Auch hier fehlte alles Wissen um die Ankniipfung. In
diesem Falle hat also, trotzdem die kurz vorhergehende Reaktion
,,kaufen“ der Auffassung des Wortes ,,Meer“ im Sinne des Kom¬
plexes entgegenwirkte, der Komplex sich dennoch durchgesetzt.
Die Versuchsperson zeigte sehr viele Komplexeinflusse, aber keinen
Fall von Nachwirkung. Fine Erganzung bildet das 3. Beispiel:
Hier wurden viele Ankniipfungen ausgefiihrt. Dabei hatte man den
Eindruck, als ob die Versuchsperson zwischen Reizwort und Kom¬
plex Beziehungen herzustellen versuchte. Sie zeigte auch beim
Befragen stets ein Wissen um die Ankniipfung. Auffallig ist aber,
dab das Reizwort „Offizier“ z. B. keine Ankniipfung hervorrief,
wahrend das Reizwort ,,Bord“ sofort die Reaktion ,,der Offizier
ist fiber Bord gestiirzt“ ausloste. Ich habe 3 typische Beispiele,
das Verhaltnis zwischen Konstellation und Nachwirkung betreffend,
ausgewahlt.
Man kann dagegen einwenden, dab die anderen Hilfsfaktoren
des geordneten Denkens, wie assoziative Verwandtschaft, besondere
Frische und Lebendigkeit des Reizes, oder endlich Gefiihls-
momente diese Reaktionen verursaeht haben. Eine Betrachtimg
der in Frage kommenden Reaktionen lehrt aber, dab sie sich
gegeniiber den anderen in nichts unterscheiden. Die assoziative
Verwandtschaft zwischen ,,rot“ — ,,der Tod“, ,,rot — Blut“ und
,,rot — Liebe“ erscheint nicht nennenswert different. Ueberdies
ist, wie auch von Liepmami hervorgehoben ist, der Begriff asso¬
ziative Verwandtschaft ein recht vager und unbestimmter, der
nicht geeignet ist, eine klare Abgrenzung zu gewahren. Es bliebe
auch unverstandlich, warum die Beziehung ,,rot — Blut“ eine
frischere, lebhaftere sein sollte, als die anderen Ankniipfungen. Im
Gegenteil, man konnte sogar vermuten, dab die Reaktion ,,der
Tod“ einen Gefiihlscharakter hat, so dab also hier der objektive
Komplex den Gefiihlston verdrangt hat. Im 2. Beispiel sind die
starken Einfliisse der Uebung und der Frische infolge der sehr ge-
laufigen Reaktionen der ersten Versuchsreihe noch deutlicher
vorhanden, trotzdem kommen sie nicht zur Geltung. Auch die
Nachwirkung des Wortes ,,Ozean 4<1 ) wiirde nicht zur Erklarung aus-
reichen. Es lage doch naher, dab das soeben vorangegangene und
auch in der 1. Versuchsreihe aufgetretene Reizwort ,,kaufen“
einen starker nachwirkenden Einflub ausiibte. Dab andererseits
eine Nachwirkung ausbleibt, trotzdem man sie erwartet hatte,
zeigt das 3. Beispiel. Hier treten viele Komplexankniipfungen auf,
und bei dem im anderen Zusammenhang wirksamen Reizwort
,,Offizier“ fehlt sie. Die Aktualitat und Frische des Reizwortes
,,Offizier“ ist dabei kaum schwacher entwickelt, als die der eine
x ) V. aus der Geschichte.
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K u tzi nski , Ueber die Beeinflussung
Komplexwirkung auslosenden Reize. Es bestatigt sich also auch
an diesem Beispiel, daB Nachwirkung nnd Konstellation nicht
identisch sind.
Um nun zum Verstandnis dieser Tatsache zu gelangen, mochte
ich auf Anschauungen hinweisen, wie sie von Lipps 1 ) entwickelt
wurden. Unter Aufmerksamkeit versteht man die Wirksamkeit
desjenigen, worauf die Aufmerksamkeit gerichtet ist. Wenn sie
z. B. auf eine Wahrnehmung gerichtet ist, so bedeutet das, daB
eben jetzt diese Wahrnehmung vor den anderen Vorgangen mein
psychisches Geschehen bestimmt. Das Erlebnis, dem sich die
Aufmerksamkeit zuwendet, verdrangt alle anderen. Fiir unsere
Zwecke geniigt diese Tatsache, um den Tatbestand der Aufmerk¬
samkeit zu kennzeichnen. Naher auf ihr Wesen einzugehen, ist an
diesem Ort nicht angangig. Die Aufmerksamkeit hat also nach
dieser Auffassung nichts mit dem Inhalt des psychischen Ge-
schehens zu tun. Sie ist nur ein BewuBtseinsvorgang, eine Tatig-
keit der Seele. Die Obervorstellungen bilden den Inhalt dieser
Tatigkeit, sie geben der Aufmerksamkeit die Richtung.
Aber diese Momente allein wurden nicht ausreichen, um das ge-
ordnete Denken zu erklaren. Es kommt ein drittes hinzu: Die Seele
hat die Tendenz, Einheiten nach bestimmten Gesichtspunkten zu
bilden. Diese Einheitsbeziehungen finden fortwahrend statt. Es
werde jemandem das Reizwort ,,Goethe 44 zugerufen. Dadurch wird
die Aufmerksamkeit gefesselt. Zugleich stellt sich eine Reihe einge-
iibter Vorstellungen ein, wie z. B. ,,Schiller, Frankfurt 44 etc., oder,
wenn ich mich zufallig am Vormittag mit ,,Spinoza 44 beschaftigt
habe,,,Spinoza 44 ein. Warum nun die Aufmerksamkeit gerade eine
von diesen Vorstellungen auswahlt und zur sprachlichen Fixierung
bringt, kann nicht erklart werden, wenn man nicht jene Tendenz
zu Einheitsbeziehungen annimmt. Dabei wird vorausgesetzt, daB
bei alien zugleich in Bereitschaft tretenden Vorstellungen der Ge-
fiihlston, die Intensitat und Gelaufigkeit gleich stark vorhanden ist.
DaB die Nachwirkung an sich nicht ausreicht, haben die Beispiele
gezeigt. Die Einheitsbeziehung bedient sich nur einer dieser
Reproduktionsformen, wie der Uebung, der Aehnlichkeit, der
Nachwirkung, um wirksam zu werden. Andererseits ware es falsch,
sie mit der Aufmerksamkeit zu identifizieren.
Die Tatsache des Beziehens von Objekten oder Vorstellungen
ist ein ebenso unmittelbares Erlebnis, wie der Vorgang der Auf¬
merksamkeit. Es ist gleichgiiltig dabei, ob man die Einheits¬
beziehung als ein etwas nicht weiter Zerlegbares, oder als ein
Ergebnis betrachtet, dessen Bedingungen in objektiven und sub-
jektiven Momenten gegeben sind. Die Schwierigkeit bei der Be-
urteilung liegt nur darin, daB die 3 Faktoren Obervorstellung,
Aufmerksamkeit, Einheitsbeziehungen stets gemeinschaftlich und
gleichzeitig wirken und die Tendenz zu Einheitsbeziehungen nichts
anschaulich Gegebenes ist.
’) Lipps , Leitfaden der Psychologic. 1909.
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des Vorstellungsablaufes durch Geschichtskomplexe etc.
277
Liepmann hat in seiner Arbeit gerade dieses Moment zu wenig
beriicksichtigt. Oft kommt der iiber ein bestimmtes Thema Vor-
tragende im Verlauf der Rede auf einen anderen Gedanken. Wenn
z. B. jemand, urn Liepmanns Beispiel zu wahlen, iiber die Stellung der
Frau bei den Romem spricht und dann zur Frage der Stellung der
Frau bei den Griechen iibergeht, so soil hier kein rein assoziativer
Vorgang vorliegen. Liepmann glaubt, daB sich der Redner in
diesem Fall eine neue Obervorstellung, die Stellung der Frau im
Altertum, geschaffen hat. Das Auftreten der Nebenvorstellung
„Stellung der Frau bei den Griechen 14 miiBte doch aber, auch wenn
nicht an das letzte Glied des erst entwickelten Gedankens angekniipf t
wird, als assoziativ betrachtet werden; dabei kann man zugeben,
daB die Obervorstellung gewechselt hat und allgemeiner geworden
ist. Hier wiirde es sich um das Aneinanderreihen von Vor-
stellungskomplexen handeln. Alle derartigen Uebergange wiirden
ein unvermitteltes Geprage tragen, wenn nicht zwischen den ein-
zelnen herrschenden Vorstellungen bestimmte einheitliche Be-
ziehungen geschaffen werden. Die Obervorstellungen reprasentieren
nur den Inhalt des Vorganges, aber nicht seine einheitliche Ab-
laufsform. Die Einheitsbeziehungen sagen aber ebensowenig wie
die Aufmerksamkeit iiber den Inhalt der Vorgange etwas aus. Man
ist berechtigt, in diesem Sinne die Tendenz zu Einheitsbeziehungen
als eine Bedingung der Aufmerksamkeit zu betrachten.
Die Einheitsbeziehungen werden mitbestimmt durch die Ober¬
vorstellungen. Wo eine solche fehlt oder nur undeutlich gegeben
ist, kann man nun die Einheitsbeziehungen besser studieren. Des-
halb erscheinen die obigen Versuche zu ihrem Studium besonders
geeignet. Bei der gestellten Aufgabe ist iiberhaupt keine deutliche
Obervorstellung gegeben. Die Richtungen, die hier wirksam sind,
fallen mit den Richtungen, die in der Gesamtpersonlichkeit liegen,
zusammen. Diese bestimmt also vermoge ihrer besonderen An-
lagen, ihres augenblicklichen Gesamtzustandes, ihrer momentanen
Stimmung die einzelnen Reaktionen. DaB z. B. bei dem Reizwort
„Fisch“ bald die Reaktion ,,schwimmen“, bald ,,Schuppen“ ge-
wahlt wird, wird durch die Einheitsbeziehungen, die sich im Moment
der Bildung unter dem EinfluB unbekannter augenblicklicher
Richtungen vollziehen, verursacht.
Gelegentlich, aber seltener, weil der Vorgang weniger geiibt
und fur die Einheitlichkeit des Denkens unzweckmaBiger ist, be-
nutzen solche Einheitsbeziehungen Nachwirkungen des Inhalts.
Beim Normalen tritt diese Art der Beziehung fast vollig zuriick.
So kommt es, daB bei den normalen Kontrollversuchen nur sehr
sparlich Einfliisse der Geschichte bemerkbar waren. Bei Normalen
sind die Einheitsbeziehungen auf Grund fruherer Inhalte imd alter
bestimmender Obervorstellungen starker vorhanden, als bei vielen
krankhaften Versuchspersonen. Bemerkenswert ist, daB die Zu-
stande, die die schwerste Storung im Zusammenhang des Denkens
zeigen, sei es auf Grund einer starken Dissoziation oder auf Grund
eines erheblichen Merkdefektes, am haufigsten den EinfluB der
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Kutzinski, Ueber die Beeinflussung etc.
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Geschichte erkennen lassen. Uebrigens zeigt auch die Beteiligung
der Merkstorungen, daB nicht die Nachwirkung des Inhalts, wie
Liepmann es darstellt, die Ursache der haufigeren Anknupfungen
sein kann; denn bekanntlich pflegt die Nachwirkung bei Korsakoff-
Zustanden von sehr kurzer Dauer zu sein, vor allem ist sie nicht
noch nach Tagen wirksam.
Man kann also die Konstellation am besten so definieren,
daB sie sich aus 2 Bestandteilen zusammensetzt, einem inhaltlichen
und einem formalen. Der letztere reprasentiert die Tendenz zu
Einheitsbeziehungen. Diese ist bei dem gewohnten, alltaglichen
Gedankenablauf weniger deutlich, weil es sich um fast automati-
sierte Prozesse handelt. Je nach dem Gegenstand der Einheits-
beziehung kann man, wie es auch geschehen ist, von einer asso-
ziativen, perseverativen und determinierenden Konstellation
sprechen. Man muB sich aber dabei bewuBt bleiben, daB diese
Inhalte an sich wesensverschieden sind. Was sie gemeinsam haben,
ist nur der allgemein psychische Vorgang der Beziehungsetzung,
der Vereinheitlichung.
Der Haupteinwand gegen diese Betrachtung besteht darin,
daB die Einheitsbeziehungen nur unbewuBte Obervorstellimgen
bedeuten sollen. So sagt Liepmann , daB die Obervorstellung ge-
wohnlich bewuBt ist, aber manchmal ist sie auch unter der Scliwelle
des BewuBtseins und macht sich dann nur durch ihre Wirksam-
keit gel tend. Ach und andere haben denn auch den Vorgang
Konstellation mit dem der determinierenden Tendenzen identifi-
ziert. Dagegen sprechen aber die bereits erwahnten Einwande, die
Liepmann gegen eine solche Zusammenfassung erhoben hat. Vor
allem spriclit auch dagegen, daB man in den Protokollen die
Lektiire der Geschichte vor der 2. Versuchsreihe nicht als eine
determinierende Tendenz auffassen kann. Wenn man also dort,
wo eine Konstellation besteht, die Amiahme einer reinen Nach¬
wirkung im Sinne Liepmanns ablehnt, so bleibt nichts anderes iibrig,
als einen selbstandig wirkenden aktuellen Faktor anzunehmen.
Dieser Anschauung kommt auch das Ergebnis von Versuchen ent-
gegen, bei denen der ausdriickliche Auftrag gegeben war, zwischen
2 Reaktionen an den Komplex zu denken. Es zeigte sich in diesen
Fallen, daB durchaus nicht immer eine Vermehrung der Komplex-
reaktionen stattfand, und doch gaben die Versuchspersonen an,
sie hatten die Instruktion dahin aufgefaBt, daB sie absichtlich einen
Zusammenhang zwischen Reiz und Komplex scliaffen sollten. Trotz
dieser Absicht, trotz prompter Befolgung der Aufgabe, bleiben die
Anknupfungen teilweise aus. Man muB also annehmen, daB fur
dieses Verhalten nicht nur die eingeiibten assoziativen Ver-
kniipfungen — denn diese waren ja auch bei den Reizworten, bei
denen der Komplex zur Geltung kam, wirksam —, sondern auch
die fast automatisierten Einheitsbeziehungen als Ursache in Be-
tracht zu ziehen sind. Wo die letzteren fehlen, oder aus patho-
logischen Griinden unvollkommen stattfinden, ist auch ein ge-
ordnetes, zielgerichtetes Denken nicht moglich.
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Buchanzeigen.
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Diese Betrachtungsweise stellt unter Benutzung der ge-
wonnenen Result ate und der Selbstbeobachtung den Versuch dar,
Liepmanns grundlegende Anschauungen weiter zu entwickeln.
Da bei bin ich da von ausgegangen, daB Liepmanns Identifikation
von Konstellation und Nachwirkung den Tatsachen nicht vollig
gerecht wird. Ich bin mir wohl bewuBt, daB die oben gegebene
Definition eine Umgestaltung des Begriffes Konstellation bedeutet,
aber sie war notwendig, weil Liepmanns Abgrenzung zu eng und
die der anderen Autoren zu unscharf und unbestimmt war. Die
Zusammenfassung der beiden Komponenten, des inhaltlichen und
formalen Faktors, ist ebenso berechtigt, wie wenn Liepmann den
Begriff der Obervorstellung und den der Aufmerksamkeit zu einer
Einheit verbindet. DaB diese beiden Momente identisch sind, hat
wohl auch Liepmann nicht behaupten wollen. DaB die obigen
rntersuchungen nichts Abgeschlossenes bieten, das wird bei der
Schwierigkeit der Fragestellung begreiflich erscheinen.
Buchanzeigen,
E. Redlich } Die Psyehosen bei Gehirnerkrankutujen im Handbuch der
Psychiatric. Herausgeg. von G. Aschaffenburg. Leipzig und Wien.
Die Psyehosen bei Gehirnerkrankungen. die zunachst nur durch einon
auBeren Gesichtspunkt. ihre grob organise he Drsache. zusammengehalt.cn
werden, bieten, wie Verf. in der Einleitung hervorhebt, aueh in sympto-
matologischer Hinsicht gewisse Gemeinsamkeiten. Hierdurch. sowie durch
den Umstand. daB sie Veranlassung zur Erorterung einiger Eragen von prin-
zipieller Bedeutung geben, rechtfertigt sich ihre gesonderte Behandlung.
In svmptomatologischer Beziehung stehen in erster Keihe alle diejenigen
psyehischen Erseheinungen. weiclie auf eine Allgenieinsehadigung des
Gehirns zuruckzufiihren sind und bei den organisehen Hirnerkrankungen
insbesondere aueh als Folge des gesteigerten Hirndruckes auftreten. wie
Herabsetzung des Sensoriuins init den dazu gehorigen Einzelsymptomen,
amnestische Erseheinungen. Delirien u. a.
Den breitesten Kaum ninimt das Kapitel fiber Hirntumoren ein.
Verf. bet out die Haufigkeit des Vorkonunens psyehischer Abnormitaten
bei den Gehimgeschwiilsten. Nur in einer Minderzahl handele es sich uni zu-
fallige Kmnplikationen oder um durch das organische Leiden ausgeloste
endogene Psyehosen; in der Mehrzahl der Falle lasse sich die unmittelbare
Abhangigkeit der ]>syehischen Erseheinungen vom Tumor sowohl aus dem
Svmptombild. als aueh aus dem Verlaufe, z. B. aus der Besserung nach der
Operation naehweisen.
Verf. sieht die Drucksteigerung als das wesentlichste Moment fur die
Entstehung der psyehischen Syunptome an. Gegeniiber dem Bestreben,
enge Beziehungen zwischen der Lokalisation des Tumors und der Art der
psyehischen Erseheinungen herzustellen, nimmt Verf. eiuen ziemlieh ab-
iehnenden Standpunkt ein; er betont. daB hier nur quantitative, jedoch
keine qualitativen Unterschiede bestehen. indem bei Erkrankung bestimmter
Hirnbezirke gewisse Symptome haufiger. jedoch nie ausschlieBlich auftreten.
Es ist dies ja aueh a priori zu vemniten, da die Lokalerkrankung als ur-
sachliehes Moment gegen liber der Allgenieinsehadigung zuriicktritt.
In den nachsten Kapiteln wird MirnabszeB. Sinusthrombose und Ence¬
phalitis besproehen. Eine ausfiilirliche Behandlung findet dann die Hun -
tingtonsche Chorea, die in ihrer psyehischen Symptomatologie etwas aus dem
Rahmen der anderen hier behandelten Erkrankungen herausfallt.
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In dem Kapitel iiber Meningitis ist praktisch wichtig der Hinweis
auf die psychischen Symptom©, die schon im Prodromalstadium zu einer
Zeit auftreten, wo der korperliche Befund noch kein ausgesprochenes
Krankheitsbild gibt. Die nach apoplektischen Insulten (Blutung und Er-
weichung) auftretenden Erscheinnngen bieten der Beurteilung insofern
erhebliclie Schwierigkeiten, als sie von den durch das Grundleiden (Arterio-
sklerose etc.) bedingten Ausfallen nur schwer zu treimen sind. Verf. weist
hier auf das Symptom des Nicht bewuBtwerde ns schwerer Ausfallssymptome
hin. Das SchluBkapitel bildet die Besprechung der multiplen Sklerose.
Kramer- Berlin.
Die Onanie. Vierzehn Beitrage zu einer Diskussion der ,,Wiener Psycho-
analytischen Vereinigung“. Wiesbaden. 1912. I. F. Bergmann.
Das Heft bringt 14 Referate zura Abdruck, welche in der Wiener
Psychoanalytischen Vereinigung iiber das Thema Onanie gehalten worden
sind. Die Referate sind naturgemaB im einzelnen verschiedenwertig und
nicht gleich interessant, doch lassen alle eines jedenfalls erkennen, das uns
von anderen Publikationen aus der Schule Freuds bekannt ist: das ernst-
hafte Streben. die gewissenliafte, eingehende Beschaftigung mit dem zur
Diskussion stehenden Problem; nur aus diesem Ernst heraus und aus dem
damit verkniipften festen Ueberzeugtsein von der Richtigkeit der eigenen
Meinung ist wohl beispielsweise auch die sonst fur eine wissenschaftliche
Arbeit ungewohnliche Stelle in der Einleitung zu verstehen, daB sich aus
dem Beifall ,,und vielleicht noch deutlicher aus dem Tadel der Leser“
ergeben werde. w’ie weit die von den Vortragenden verfolgte Absicht ge-
lungen sei.
Wir stoBen iiberhaupt in deraHeft auf dieselbenHarten, die demFerner-
stehenden einen Teil der Arbeiten von Sehiilern Freuds schwer genieBbar
machen; inhaitlich sind das vor allem Gedankengange imd Gedanken-
spriinge, die den nicht zu den Eingeweihten Gehorigen oft geradezu mittel-
alterlich-scholastisch anmuten, und als deren Stiitzen, wenn andere Beweise
nicht zur Hand sind, das durch die ,,Psychoanalyse 4 ‘ konstatierte ,,Un-
bewu6te“ aushelfen muB (vergl. namentlich Sadger); der durch Veran-
lagung und Beschaftigung weniger lebhaft und weniger dauernd auf sexueile
Vorstellungen eingestellte und der weniger in rein sprachlichen Symbolen
denkende Leser des Heftes wird notgedrungen gelegentlich abreagieren
durch Ausdriicke, die an Kraft die von Rieger dariiber ausgesprochenen
noch iibertreffen.
Wir sehen aus den Referaten, daB der Begriff der Masturbation von
den Diskutierenden recht verschieden weit gefaBt wird, zum Teil so weit.
daB er alles Pragnante verliert, und daB man mit ihm nach Belieben schalten
kann; zum anderen Teil wird er prazis definiert und eng gefaBt (z.B. Reislcr).
Fiir das, was man eventuell alles als Ausdruck und Folge der Masturbation
ansprechen kann, gibt namentlich Sadger erstaunliche Beispiele.
Von einem erheblichen Teil der Referenten wird die Frage nach der
Bedeutung der Onanie als ursachlichen Faktors bei der Entstehung von
Neurosen stark in den Vordergrund geriickt, — wie aus einem Satz im
SchluBwort hervorgeht gegen den urspriinglichen Willen von Freud selber.
Vieles von dem, was wir dariiber horen, ist verstandig und zweifellos gut;
im allgemeinen wird vor der Ueberschatzung der schadigenden Wirkung
der Onanie gewamt; Stekel fallt sogar gleich in das andere Extrem und
lehrt uns: die Neurose ist eine Folge der Abstinenz, wir sehen die schlimmsten
Neurosen, weim die Leute die langgeiibte Onanie aufgeben.
Stbrend wirkt fast durchgehend die wenig psychiatrische Art der Be-
handlung des Themas; man wird bei der Lektiire die Empfindung nicht los.
als gehore zur Besprechung derartiger Probleme etwas melir psychiatrische
Schulung (eine erfreuliche Ausnahme macht in dieser Hinsicht eigentlich
nur das Referat VII und auch das IX.); Folge davon ist die oft wenig prazise
Unterscheidung zwischen speziellem Vorstellungsinhait und allgemeiner
Vorstellungsrichtung, beispielsweise bei F&llen von anscheinender Melan-
cholie (S. 16, 39), ferner die einseitig symptomatologische Darstellungs-
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und Auffas.sungsweise, die Vemachlassigung der pathologischen Gesaint-
personlichkeit der Patienten gegeniiber dem gerade wichtig erscheinenden
Einzelsymptom, und damit die Ueberschatzung der Berechtigung, die offen-
bar fast ausschlieBlich an schweren Psychopathen gewonnenen Erfahrungen
ohne weiteres zu verallgemeinern.
A lies in allem: Hartes und dem Femstehenden zunachst schwer
Verstandl idles enthalten die Keferate genug; wer sich entschlieBen kann,
dariiber hinwegzusehen, wird mancherlei Ai^regendes finden. Im wesent-
lichen sind es die bekannten Ideen Freuds , welche wiederholt, modifiziert
und ausgebaut werden. P. 6V/*r6Y/er-Greifs\vald.
L. Laquer, Lie Heilbarkeit nervoser Unfallfolgen. Dauernde Rente oder ein-
malige Kapitalabjindung ? C. Marhold. Halle, a. S.
An der Hand einer groBeren Anzahl eigener Beobachtungen behandelt
der Autor die in der Ueberschrift gegebene Fragc^stellung und kommt
zu einem Ergebnis, dem wohl die Melirzahl der Xeurologen zustimmt, daB
eine allzu rasehe Gewahrung von Dauerrenten an Unfallneurotiker der
Heilung hinderlich ist, wahrend die Erfahrung zeigt, daB bei Abfindung durch
Kapitalzahlung eine rasehe Beseitigung der nervdsen Unfallfolgen eintritt.
Urn diagnostische Irrtiimer — Beispiele werden angefiihrt — zu vermeiden,
halt es der Autor fur zweckinaBig, 5 Jahre lango nicht zu kleine Teilrenten
zu bezahlen und dann endgiiltige Abfindung eintreten zu lassen.
Ft. Schultze und Dr. Stursberg, Erfahrungen iiber Neurosen nach Unfallen.
Der allgemeine Teil von F. Schultze ist besonders durch die Zusammen-
stellung der Daten iiber die relative Seltenheit der Unfallneurosen bemerkens-
wert. Der Prozentsatz der Unfallneurosen unter den gemeldeten Unfallen
schwankt nach den einzelnen statistischen Untersuchungen zwischen
0,3 pro mille und 2,06 pro mille, ist also unter alien Umstanden reclrt gering.
Die scliwarzseherischen Betrachtungen Windscheids und neuerdings des
Nationalokonomen Bernhard fiber die Rentenhysterien als einer ethischen
und sozialen Gefahr fiir das ganze Volk sind demnach nicht gereclitfertigt.
Zu dem der Untersuchung und Diagnose gewidmeten Abschnitte ist
zu sagen, daB Schultze trotz seiner berechtigten Kritik an der Bewertung
der einzelnen somatischen neurologischen Storungen docli wohl die Tatsache
etwas unterschatzt, daB auch subjektive und psychische S^unptome ihre
GesetzmaBigkeit haben, insbesondere wdrd man seinen Ausfuhrungen liber die
Depression nicht in alien Punkten beipflichten konnen. Man kann eine
Depression aus der charakteristischen psychischen Symptomgruppierung
auch ohne langere Beobachtung diagnostizieren.
In dasselbe Kapitel der unzulanglichen Bewertung subjektiver Sym-
ptome gehort es, wenn Stursberg sich den Satz Windscheids zu eigen macht,
daB die Gewahrung hoher Renten an Unfallverletzte auf Grund vorwiegend
subjektiver Beschwerden verfehlt- sei. So sehr ich die Ansicht der Autoren
teile, daB im allgemeinen hohe Renten fiir Rentenneurotiker vom Uebel
sind, so gewifi hat die Frage der Arbeitsfahigkeit nichts Wesentliches mit dem
Mehr oder Weniger an den Syrnptomen der Reflexsteigerung, der Puls-
labilitat, des Dermographismus, der Gesichtsfeldeinschrankung, der Anal-
gesien usw. zu tun, und auf der anderen Seite unterliegt es keinem Zweifel,
daB das Insuffizienzgefiihl und die subjektive Hemmung der echten
Depression den Patienten voll erwerbsunfahig machen konnen, auch bei
vollig normalem objektivem neurologischem Befunde. Es ist gewifl be-
quemer und fiir den Laien iiberzeugender, wenn man von objektiven nervosen
Verclnderungen berichten kami, aber fiir die Bewertung der Arbeitsf&higkeit
der Rentenneurotiker sind diese Symptome tats&chlich, solange sie sich
innerhalb sicher funktioneller Grenzen halten, ziemlich irrelevant.
Hinsichtlich der Kapitalabfindung haben die Autoren das Bedenken,
daB der Lockruf einer Kapitalerw'artung vielleicht noch eher dazu fiihren
werde, die Zahl der Unfallneurotiker zu vermehren, und daB die Sehnsucht
nach einem neuen Kapitel leicht aus kleinen Verletzungen Rezidive der
Xeurose erwachsen lassen werde. DaB die Befiirchtungen der Autoren nicht
lediglich akademischer Natur sind, hat mir selbst vor kurzein ein Fall gezeigt.
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Kin Neurotiker erholte sich nach einem schweren Automobilunfall von seiner
Neurose in wenigen Monaten. Ks war eine Kapitalabfindung von 20 000 Mk.
eingetreten. Einige Zeit darauf stieB er sich (vielleicht!) wahrend der Bahn-
fahrt bei einem kleinen sonst niemand schadigenden Kuck gegen das
Coup^fenster, ohne sich zu verletzen. Die Folge war eine neue, jetzt schon
Jahre dauernde Neurose mit hohen Rentenanspriichen und der Behauptung
nunmehr volliger Erwerbsunfahigkeit.
Schultze glaubt, daB es zweckmaBig sei, zunachst in der Kapital-
abfindungsfrage die weiteren Erfahrungen der Lander, die sie eingefiihrt
haben, abzuwarten.
Der zweite spezielle von Stursberg bearbeitete Teil bespricht die Frage
der Haufigkeit von Simulation und Uebertreibung und die Prognose der
Unfallneurosen. Ob die Trennung der bewuBten Uebertreibung von der
autosuggestiven BewuBtseinsfalschung wirklich so leicht durchzufiihren und
so wichtig ist, wie der Verfasser glaubt, scheint mir zweifelhaft. Fur die
praktische Boliandlung jedenfalls kommt man im einen wie im anderen Fall
auf dasselbe hinaus, denn auch fiir den Fall der Annahme einer auto-
suggostiven BewuBtseinsfalschung unter dem EinfluB des Rentenwunsch-
koinplexes wird man die Arbeitsfahigkeit hoher veranschlagen, als der
Patient, weil die Arbeitsnotigung eine kraftige therapeutisch wirksame
Gegensuggestion gibt. Eine Betrachtung, welche die letztere Moglichkeit
offen laBt, hat aber den Vorzug, daB sie nicht moralisiert, was dem Arzte im
allgemeinen besser ansteht, und zwar besonders in Dingen, die sich vielfach
einer wirklich zwingenden Beweisfiihrung entziehen. B.
BischOff, Lehrbueh der gerichtlichen Psychiatric fur Mediziner und Juristen.
Berlin und Wien 1912. Urban und Schwarzenberg. 8,00 Mk.
Das Buch ist geschrieben fiir Juristen und fiir Medziner, die Psychiatrie
nicht als Spezialfach betreiben. In einem einleitenden Kapitel wird auf die
Schwierigkeiten hingewiesen, die dem psychiatrischen Sachverstandigen
entgegentreten, und der EinfluB des Fortschrittes der Psychiatrie auf die
Ansichten in Fragen der Kriminalitat gestreift. Dann werden die wichtigsten
der fiir den psychiatrischen Sachverstandigen in Betracht kommenden
Paragraphen des osterreichischen und deutschen Strafgesetzes und Biirger-
lichen Gesetzbuches kurz besprochen. Bei § 1910 B. G. B. diirfte der letzte
Satz des Paragraphen nicht fehlen; einige Erlauterungen iiber den Begriff
der Verstandigung im Sinne des Paragraphen waren hier am Platze. Die
fiir den Sachverstandigen wichtigen Bestimmungen der StrafprozeBordnung
werden in einem spateren Kapitel kurz erwahnt. Die strafrechtlichen
Reformbestrebungen werden nach dem osterreichischen Entwurf skizziert.
Es folgen dann einige Erlauterungen und Ratschlage fiir die praktische Tatig-
keit dos Sachverstandigen.
Den weitesten Raum nimmt der Abschnitt iiber allgemeine Psycho-
pathologie ein. Der Verfasser geht dabei von dem richtigen Grundsatz aus,
daB zur Einfiihrung in das Gebiet die allgemeine Symptomatologie vor der
speziellen klinischen Psychiatrie in den Vordergrund treten muB.
Nach Ausfiihrungen iiber Hereditat, Predisposition und Ursache der
Geistesstroungen wird die allgemeine Symptomatologie der Psychosen be-
handelt, soweit sie fiir den psychiatrischen Laien von Interesse ist; es wird
darauf hingewiesen, welche forensische Bedeutung einzelne Symptome und
psychotische Zustande haben konnen. Dann werden die klinischen Krank-
heitsbilder besprochen und durch Beispiele erlautert.
Die Darstellung ist klar und wohl auch fiir den psychiatrischen Laien
zum groBten Teil verstandlich. Seelert.
Personalien.
In Cagliari wurde der a. o. Prof. Dr. C. Ceni zum ordentl. Professor
der Neurologie und Psychiatrie emannt.
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(Aiis dem stadtischen jiidischen Krankenhaus in Warschau.
[Abteilung: Dr. Bregman.])
Beitrage zur Meningitis serosa.
Von
L. E. BREGMAN und G. KRUKOWSKI.
I.
Zur pathologischen Anatomie der Meningitis serosa.
Die pathologische Anatomie der Meningitis serosa hat bisher
keine einheitlichen Befunde ergeben. Auf der einen Seite steht
eine Reihe von Fallen, in denen die anatomischen Veranderungen
sich auf die durch Vermehrung des Liquor certbrospinalis bedingten
V erdnderunegn beschrankten — Erweitenmg der Ventrikel und der
subarachnoidealen Raume, Abplattung der Gyri, Verflachung der
Sulci, Plattdriickung mancher Gehimteile und Gehirnnerven
(Falle von Anuske, Morton - Prince, Quincke, Bonhoeffer, Kupftr-
berg, Finkelnburg, Nonne). In einem Teil dieser Falle wurde keine
mikroskopische Untersuchung vorgenommen, in manchen, z. B. in
den Fallen von Nonne mid Finkelnburg, wurden auch mikroskopisch
keine Veranderungen gefunden.
Diesen Fallen steht eine Reihe anderer gegeniiber (Nonne,
Heidenhein, Bresler, Quincke, Orober, Morton-Prince, Eichhorst,
Beck, Oerhardt, Finkelnburg, Fuchs), wo das Ependym der Ventrikel,
die Tela chorioidea, die weichen Himhaute an der Konvexitat
oder an der Basis verschiedenartige entziindliche Veranderungen
darboten: Verdickmig, Triibung, Schwellung, kleinzellige Infil¬
tration, Cystenbildung.
Wir haben vor einigen Jahren J ) einen Fall beschrieben, der
nach subakutem mehrwochigem Verlauf plotzlich zum Exitus kam.
Bei der Sektion erwiesen sich die Hirnventrikel namentlich
der IV. sehr stark erweitert, Pons Varoli und Medulla oblongata
plattgedriickt; die Arachnoidea war an der Basis durch Fliissigkeits*
ansammlung stark gespannt, Dura mater hyperamisch, Pia leicht
getriibt; bei mikroskopischer Betrachtung fanden sich weder im
Ependym der Ventrikel noch in den Plexus chorioidei noch in
den weichen Himhauten irgendwelche Veranderungen. Der Fall
war aufier dem Fehlen entziindlicher Veranderungen dadurch
bemerkenswert, daB die Fliissigkeitsansammlung vorziiglich den
IV. Ventrikel betraf und hier Druckwirkungen ausiibte, die fiir
A ) Bregman und Krukowski , Medycyna i Kronika Lekarska. 1909.
S. 828.
Monataschrift I. Psyohiatri© xl Nenroloffie. Bd. Him. Heft 4. 19
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284 Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa.
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den Kranken besonders fatal wurden; wir spraehen die Ver-
mutung aus, dafi diese Lokalisation vielleicht mit der Lokalisation
des Traumas, welches zur Entwicklung des Leidens Anlafi gab
(Schlag auf’s Hinterhaupt), in Zusammenhang stand.
Heute bietet sich uns die Gelegenheit, iiber einen Fall zu be-
richten, der in einem gewissen Gegensatz zu dem vorigen steht.
Fall I. Sz. F., 12 Jahre alt (aufgenommen am 24. V. 1909). Vor 9 Mo-
naten bekam Patient einen Schlag auf den Kopf mit einem Stock. Vor den
Angreifern fliichtend, stieB er mit der Stirn gegen eine Saule der elektrischen
StraBenbahn. Das BewuBtsein blieb erhalten. Die durch das Trauma her-
vorgerufene Geschwulst am Kopf schwand nach einer Woche, der Kranke
fiihlte sich wohl und kehrte zu seiner Beschaftigung (Burstenmacher)
zurlick. Nach 4 Monaten Kopfschmerzen in der Scheitel- und Stimgegend.
Seit 2 Wochen Erbrechen. Seit 5 Tagen Schwachegefuhl in den unteren
Extremitaten, Schivanken beim Gehen, erschwerte Sprache.
Korperbau, Emahrungszustand gut. Puls 75, leicht arythmisch.
Temperatur normal. Inner© Orgaee gee und. Harn eiweifi- und zuckerfrei.
Beiderseits Stauungspapille mit starker Schwellung der Papille und
Blutergiissen. Sehscharfe auf dem rechten Auge */*> auf dem linken V 2 .
Gehor auf dem linken Ohr herabgesetzt: hort die Uhr in 10 cm Ent-
fernung, auf dem rechten Ohr in 40 cm.
Sprache undeutlich, mit hasalem Beiklang, manchmal explosiv.
Die Bewegungen der linken Extremitaten werden mit groBerer Miihe
und geringerer Kraft ausgefiihrt als die der rechtsseitigen Extremitaten
Statische und dynamische Ataxie aller Extremitaten, auf der linken Seifce
st&rker ausgesprochen. als auf der rechten. Gang ataktisch: der Kranke
schwankt nach beiden Seiten ohne Unterschied. Romberg positiv.
Nach einigen Tagen besserte sich der Zustand des Patienten erhebhch:
die Ataxie nahm ab, die Kopfschmerzen schwanden.
5. VI. Der Kranke klagt noch iiber Kopfschwindel, namentlich des
Morgens beim Aufstehen, und iiber einen dumpfen Schmerz in der Stirn.
Gang gut. Motorische Kraft der Extremitaten auf beiden Seiten gleich.
18. VI. Zustand subjektiv und objektiv gut. Ataxie der Extremitaten
geschwunden, Romberg negativ. Stauungspapille wie friiher, frische Blut-
ergiisse. Sehscharfe wie friiher. Gesichtsfeld fiirWeiB und Farben ein-
geechrankt.
22. VI. Patient verlieB das Krankenhaus und verblieb zu Hause bis
zum 22. VII. W&hrend dieser Zeit hatte er einige Male Kopfschmerzen
(gleichfalls in der Stirn) und Erbrechen.
Am 22. VII. kam er wieder auf unsere Abteilung, Puls 90, regelm&Big.
Stauungspapille sehr hochgradig. Sehscharfe auf dem rechten Auge %, auf
dem linken Neine andem Nervensymptome.
31. VII. Gestern stark© Kopfschmerzen und Erbrechen. Mehrmals
am Tage voriibergehende , einige Minuten dauemde Erblindung .
2. VIII. Starke Kopfschmerzen und Erbrechen. Beim Gehen leichtes
Schwanken.
6. VIII. Kopf leicht nach links geneigt. Die Bewegungen des Kopfes
nach riickwarts eingeschr&nkt, schmerzhaft. Perkussion der linken Schlafen-
imd Scheitelgegend schmerzhaft. Leicht© linksseitige Facialisparese. Gang,
Kehrtmachen gut. Kann nicht laufen.
10. IX. Von Zeit zu Zeit Kopfschmerzen.
16. IX. Wahrend des Friihstiicks plotzlich Exitus.
Die von uns ausgefiihrte Sektion ergab folgendes: Gyri an der Hirn-
konvexit&t abgeplattet, Sulci flach, alle Himventrikel stark erweitert
und mit durchsichtiger Fliissigkeit erfiillt. In den inneren Organen keine
V er&nderungen.
Bei mihroakopischer Betrachtung Pia verdickt, kleinzellig infiltriert.
Piagef&Be vermehrt, GefaBwandungen verdickt. Die Grenze zwischen
Pia und Hirnoberfl&che gleichsam eingedriickt. Herd© kleinzelliger In-
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Bregman-Kr ukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 285
filtration und Blufcergiisse innerhalb der Hirnsubstanz, namentlich in den
oberflachlichen Schichten (Meningoencephalitis diffusa).
Auf Nifi /praparaten keine Veranderungen der Himzellen.
Tela chorioidea im allgemeinen unverandert, nur ist an manchen
Stellen im losen Bindegewebe eine groBere Anzahl roter Blutkorperchen
angesammelt. Die Ependymzellen des III. Ventrikels stellenweise ge-
wuchert.
Kurz zusammenfassend handelte es sich um einen 12 jahrigen
Knaben, der 4 Monate nach einem doppelten Kopftrauma fiber
Kopfschmerzen zu klagen begann, spater Erbrechen, Schwache
in den unteren Extremitaten, Schwanken beim Gehen, Sprach-
storungen.
Objektiv doppelseitige Stauungspapille, nasale Sprache, Herab-
setzung des Gehors auf dem linken Ohr; cerebellare Ataxie beim
Stehen und Gehen, Romberg; statische und dynamische Ataxie
aller 4 Extremitaten. Geringe linksseitige Hemiparese. Nach
einigen Tagen Besserung, die Ataxie schwand, die Kopfschmerzen
nahmen ab; die Stauungspapille jedoch bestand weiter, es wurden
sogar neue Hamorrhagien am Augengrund gefunden. Nach
einem Monat verlieB Patient das Krankenhaus, um nach einem
weiteren Monat wiederzukehren. Abnahme des Sehvermogens.
zeitweilig kurzdauemde totale Amaurose; leichtes Schwanken beim
Gehen; linksseitige Facialisparese. Plotzlicher Exitus wahrend
des Frfihstticks.
Das Gehim zeigte bei makroskopischer Betrachtung bloB
Erweiterung der Ventrikel durch fibermaBige Liquoransammlung
mit den bekannten Folgeerscheinungen gesteigerten Hirndrucks.
Bei mikroskopischer Untersuchung Verdickung und kleinzellige
Infiltration der weichen Himhaute, Vermehrung ihrer GefaBe und
Verdickung der GefaBwande. Ependymwucherung im III. Ven¬
trikel. Blutaustritt im losen Bindegewebe der Tela chorioidea.
Die oberflachlichen Schichten des Gehims sind in Mitleidenschaft
gezogen, die Grenze zwischen Pia und Hirnoberflache verwaschen;
letztere erscheint an vielen Stellen ausgehohlt xmd infiltriert,
auch innerhalb der Hirnsubstanz fanden sich Herde kleinzelliger
Infiltration und Blutaustritte.
Der Fall bietet sowohl in klinischer als auch in anatomischer
Hinsicht groBes Interesse. Klinisch hatten wir das Bild einer
starken allgemeinen intrakraniellen Drucksteigerung (Kopfschmerz,
Erbrechen, Schwindel, Stauungspapille) und Herdsymptome,
welche auf die hintere Schadelgrube — Kleinhirn, Medulla oblongata
— hinwiesen (cerebellare Ataxie, statische und dynamische Ataxie
der Extremitaten, bulbare Sprache, Herabsetzung des Gehors
auf einem Ohr). Die Symptome entwickelten sich allmahlich,
einige Monate nach einem Trauma.
Unter diesen Umstanden lag es am n&chsten, an eine
Hirngeschvmlst im Bereich der hinteren Schadelgnibe zu denken.
Wie groB war aber imsere Ueberraschung, als nach einigen
Tagen der Zustand des Kranken sich zu bessem begann und
die Besserung sehr bald so weit vorschritt, daB von alien Sym-
19 *
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286 Bregraan-Krukowski , Beitrage zur Meningitis serosa.
ptomen eigentlich nur die Stauungspapille zuriickblieb. Angesichts
dieser so raschen und hochgradigen Besserung mufite die Annahme
einer Hirngeschwulst unwahrscheinlich erscheinen. Die Diagnose
konnte nur noch zwischen einer Meningitis serosa und einem
Pseudotumor schwanken. Es ist bekannt, daB die Meningitis
serosa chronica sehr haufig unter dem Bild einer Hirngeschwulst
verlauft und beim Vorhandensein ataktischer Storungen, hoch-
gradiger allgemeiner Druckerscheinungen und verschiedenartiger
Hirnnervensymptome eine Geschwulst der hinteren Schadel-
grube vortauschen kann. Aber auch die bisher ratselhafte Krank-
heit, die von Nonne *) zuerst beschrieben wurde — klinisch Sym-
ptome einer Hirngeschwulst, anatomisch weder Hirngeschwrdst
noch Hydrocephalus — tritt nicht selten gerade unter der Gestalt
einer Geschwulst der hinteren Schadelgrube auf. Eine Lumbal -
jmnktion wurde vielleicht auf den pathologischen ProzeB einiges
Licht werfen: vermehrter EiweiBgehalt, Zellenreichtum des Liquors
konnten event, zugunsten einer Meningitis verwertet werden.
Indes muBten wir angesichts des Verdachts auf einen patho¬
logischen ProzeB in der hinteren Schadelgrube davon Abstand
nehmen.
Die Besserung hielt leider, wde wir horten, nicht lange an:
das Sehvermogen begann abzunehmen, das Gesichtsfeld engte sich
sehr ein, das Schwanken beim Gehen stellte sich von neuem ein,
Facialisparese trat hinzu, und nach einigenWochen kam es zu einem
plotzlichen Exitus. Unsere Diagnose war auch in diesem zweiten
Krankheitsstadium unsicher: angesichts dessen, daB die Remission
von so kurzer Dauer war, war sogar die urspriingliche Diagnose
einer Hirngeschwulst nicht ganz von der Hand zu weisen 2 ). Die
anatomische Untersuchung zeigte, daB eine Hirngeschwulst nicht
vorlag, daB der Fall aber auch nicht zu den Pseudotumoren zu
rechnen ist, da sich ausgesprochene entzundliche Veranderungen
in den Meningen vorfanden. Letztere beschrankten sich iibrigens
nicht auf die weichen Himhaute, sondern erstreckten sich auch
auf die oberflachlichen Schichten des Gehims (Meningoencephalitis
serosa diffusa chronica).
Es gehort demnach dieser Fall zu der zweiten oben erwahnten
Gruppe mit positivem anatomischem Befund. Die mikroskopischen
Veranderungen entsprachen im groBen und ganzen denjenigen,
die auch in anderen Fallen gefunden woirden, nur war die kleinzellige
Infiltration der Meningen hier besonders stark ausgesprochen,
l ) Vergl. auch das Sammelreferat von Finkelnburg im Zentralbl. f.
Grenzgeb. d. Med. u. Chir. 1912. No. 9.
*) Anm. In einem Fall von Nonne (Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk.
Bd. 27. S. 205) — Tumor (Sarkom) des IV. Ventrikels mit Hydrocephalus
— waren die Tumorsymptome 3 / 4 Jahre lang geschwunden; N. meint, daB in
solchen Fallen die Geschwulst sekundar HydLrocephalus hervorruft, welcher
die schweren Himsymptome bedingt; dieser Hydrocephalus schwand (viel¬
leicht unter Wirkung des Quecksilbers), kam dann von neuem wieder und
fiihrte rasch den Exitus herbei.
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Bregnian-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 287
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wahrend die Plexus chorioidei relativ weniger verandert waren;
auBerdem war die Beteiligung der oberflachlichen Gehirnschichten
sehr bemerkenswert. Aehnliches haben Beck *) und Fuchs 1 2 * ) und
in letzterer Zeit Claude und Lejonne 8 ) beobachtet; letzte Autoren
legen auf diesen Befund ganz besonderes Gewicht und heben seine
Bedeutung fur die Gestaltung des klinischen Krankheitsbildes
hervor.
Zur Aetiologie der Meningitis serosa.
Unter den atiologischen Momenten, welche irastande sind,
eine Meningitis serosa hervorzurufen, wird das Trauma, speziell
das Kopftrauma mit Recht an erster Stelle genannt. Es folgen
in Beziehung auf Haufigkeit: Infektionskrankheiten, Insolation,
otitische Erkrankungen. Relativ selten werden in den beziiglichen
Krankengeschichten chronische psychischeErregungen— Sorgen und
Rummer—als atiologischerFaktor angefiihrt. FAnakutes psychisches
Trauma findet sich nur in einem Fall von Nonne 4 ): Ein Arbeiter
erfahrt wahrend der Arbeit, daB seine Frau von einem StraBenbahn-
wagen iiberfahren worden ist; sofort allgemeines Sehwachegefiihl,
Erbrechen; am nachsten Tage Kopfschmerz, dann schwere Gehirn-
erscheinungen — Sopor, Pulsverlangsamimg, Pupillenstarre, Coma,
Exitus. Die Sektion ergab Hydrocephalus intemus, Hyperamie
und frische Granulierung des Ependyms aller Ventrikel.
Wir haben bei der Durchsicht der uns zugangigen Literatur
keinen zweiten Fall finden konnen. in dem die Krankheit durch
akute psychische Erregung bedingt wurde; in der letzten Auflage
des Oppenheimschen Lehrbuches wird gleichfalls nur auf den
Nonne schen Fall hingewiesen. Es soli deshalb der folgende Fall,
in dem diese Aetiologie vorhanden ist, etwas ausfiihrlicher mitge-
teilt werden.
Fall II. Ch. C., 21J ahre alt (wurde am 23. V. 1911 ins Kranken-
haus aufgenommen).
Patientin erkrankte plotzlich vor 5 Jahren, wahrend der Revolutions -
tage ; sie befand sich in einer StraBenmenge, welche vom Militar gewaltsam
auseinandergetrieben wurde. Am Abend desselben Tages bekam sie starke
Kopfschmerzen; spator gesellten sich Schwindel, Uebelkeiten, Erbrechen
dazu; die Kopfschmerzen und das Erbrechen hielten ca. 8 Wochen an.
Xach einiger Zeit trat Doppelsehen auf, nach 5 Monaten .d&no&me des Seh~
vermogens , die sehr rasch fortschritt. Sie wurde damals auf die Abteilung
des Herrn Koll. E. Flatau aufgenommen, wo Atrophia n. optioorum post
neuritidem, Abducenslahmung, schwache nystagmiforme Zuckungen fest-
gestellt wurden. Sie wurde mit Quecksilbereinreibungen und Einspritzungen
sowie Lumbalpunktion behandelt. Seit jener Zeit keine weitere Zunahme
der Symptome.
Gegenw&rtig suchte sie das Krankenhaus wegen verschiedener Be-
schwerden auf: allgemeine SchwAche, dyspeptische Erscheinungen, Schmer-
zen in Rumpf und Extremit&ten.
Die objektive Untersuchung ergab folgendes: Sehschdrfe auf dem
rechten Auge: Patientin zahlt Finger auf 3 Meter Entfemung und erkennt
1 ) Beck, Jahrb. f. Kinderheilk. 1903.
*) Fuchs , Obersteiners Arbeiten. Bd. XI.
*) Claude und Lejonne , Gazette des Hopitaux. 1910. No. 35.
4 ) Nonne , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. S. 212.
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288 Bregman-Krukowski , Beitrage zirr Meningitis serosa.
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groBe Buchstaben; auf dem linken Auge zahlt sie Finger in unniittelbarer
Nahe des Auges. Erkennt WeiB, Schwarz und Blau gut; Grun, Rot, Gelb
mit Miihe. Mit der Holmgrenschen Probe wird nur Blau exakt gefunden. Dae
Oesic?Usfeld (ohne Perimetermessung) erscheint auf dem rechtenAuge normal,
auf dem linken ist das zentrale Sehen aufgehoben und nur ein kleines Seg¬
ment des peripheren Gesichtsfeldes nach links vom Fixierpunkt erhalten.
Ophthalmoskopisch: Atrophia post neuritidem auf beiden Augen.
Die rechte Papille zeigt im Vergleich mit der linken vermehrte BlutgefaBe
und starkere Fiillung derselben.
Pupillen liber mittelbreit, die rechte reagiert gut, die linke schw&cher.
Bewegungen des linken Bulbus normal; am rechten ist die Bewegung nach
aufien erheblich eingeschrankt; kein Nystagmus. Bei der Konvergenz be-
wegt sich nur das rechte Auge nach innen.
Keine weiteren Storungen weder im Nervensystem noch in den inneren
Organen.
Es hat sich demnach bei einem jungen Madchen in direktem
AnschluB an eine starke, mit Schreck verbundene psychische
Erregung ein schweres Himleiden entwickelt, welches hauptsachlich
durch allgemeine Himdruckerscheinungen — Kopfschmerz, Schwin-
del, Erbrechen, doppelseitige Neuritis optica — gekennzeichnet
war. Das Leiden entwickelte sich in svJbakuter Weise, nahm spater,
wie in einigen von Quincke beschriebenen Fallen, einen mehr cAro-
nischen Verlauf und kam nach ca. 8—9 Monaten zum Stillstand.
Es hinterlieB eine Atrophie beider Sehnerven mit ziemlich betracht-
licher Sehstorung.
Da fiir Lues nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden
waren und eine Himgeschwulst bei solchem Verlauf mit Sicher-
heit auszuschlieBen ist, auch fiir einen Pseudotumor der subakute
Beginn und die vorhandene Aetiologie nicht paBt, kann in diesem
Fall nur eine Meningitis serosa diagnostiziert werden.
Es liegt nahe, solche durch heftige psychische Erregung
direkt bedingte Falle gemaB der Ansicht Quinckes *) auf angio -
neurotische Storungen zuriickzufiihren, welche zu einer vermehrten
Ausscheidung des Liquor cerebrospinalis AnlaB geben.
Wahrend aber im Nonne schen Fall durch dieselbe Ursache
eine akute Erkrankung mit totlichemAusgang hervorgerufen wurde.
wurde hier eine Meningitis mit subakutem Beginn und weiterem
chronischem Verlauf ausgelost. Es scheint demnach, daB hier,
nachdem durch den gesetzten Reiz die vermehrte Ausscheidung
des Liquors angeregt wurde, die Krankheit weiter ihren selb-
standigen Verlauf nahm und erst nach langer Zeit das Gleich-
gewicht wieder erlangte.
Gregenwartig kam Patientin ins Krankenhaus wegen ver-
schiedener Beschwerden— allgemeines Schwachegefiihl, Schmerz,
deprimierte Stimmung—, welche uns als neurasthenische imponierten
und auf die durch die Amblyopie bedingte Erwerbsunfahigkeit
zuriickgefuhrt wurden. Es ware aber andererseits moglich, daB
auch diese Beschwerden durch latente meningitische Verdnderungen
bedingt werden. Nach den Erfahrungen Quinckes 1 2 ) bleiben solche
1 ) Quincke , Dtech. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 9. S. 165.
2 ) Quincke , Dtsch. Ztschr. fiir Nervenheilk. Bd. 40. S. 127.
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Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 289
Beachwerden, die schwer von neurasthenisehen zu unterscheiden
sind, auch nach giinstig verlaufenden Fallen zuriick, konnen lange
Zeit wegbleiben und wiederholt wiederkommen 1 ).
Zum Kapitel der Slorungen im Opticusgebiet bei Meningitis serosa.
Stauungspapille ist bekanntlich bei Meningitis serosa ein recht
haufiger, jedoch durchaus nicht konstanter Befund. Nach Quincke
findet man sie haufiger in den subakuten und chronisch verlaufen¬
den Fallen, in den akuten dagegen fehlt sie meistens oder ist nur
leicht angedeutet. In der ersten Serie der Quinckeschen Falle 2 )
wurden unter 6 akuten Fallen nur 2 mal verwaschene Papillen-
grenzen notiert, unter 4 chronischen dagegen 2 mal starke
Stauungspapille, 1 mal Papille triibe, ihre Grenzen verwaschen,
Venen geschlangelt; nur in einem Fall (rezidivierende Form der
Meningitis serosa) war die Papille normal. In der zweiten
Serie desselben Autors 8 ) wurde bei 11 akuten Fallen 3 mal
Stauungspapille, 3 mal verwaschene Papillengrenzen gefunden,
bei 4 chronischen Fallen 3 mal Stauungspapille, 1 mal keine
Angabe iiber den Augenfundus. Oppenheim meint, dafi in den
chronischen unter dem Bild einer Himgeschwulst verlaufenden
Fallen Neuritis optica einen fast konstanten Befund darstellt,
und hebt den Fall von Bresler *) (Meningitis chronica auf dem
Boden eines chronischen Alkoholismus), in welchem der Augen¬
fundus normal war, besonders hervor. Kupferberg *) halt gerade
die starksten Grade der Stauungspapille mit zahlreichen Blutungen
auf der Retina und Papille fur besonders charakteristisch fur die
chronischen Falle der Meningitis serosa, die er als idiopathischen
(chronischen) Hydrocephalus der Erwachsenen bezeichnet. Auch
in den 6 hierher gehorigen Fallen von Nonne •) wurde eine aus-
gesprochene Stauungspapille gefunden; desgleichen in den Fallen
von Muskens 7 ) und Oerhardt •).
Wir hatten vor einigen Jahren eine Serie von 7 Fallen ver-
offentlicht •) (4 akute, 2 subakute, 1 mit akutem Beginn, spater
chronischem Verlauf): der Augenbefund war in 4 Fallen normal,
in 3 keine Angabe iiber den Augenfundus. Seit jener Veroffent-
lichung hatten wir Gelegenheit, weitere 13 Falle von Meningitis
serosa auf der Abteilung zu beobachten (9 akute und 4 chronische);
von den 9 akuten Fallen war in 4 der Augenfundus normal, in 5
bestand eine doppelseitige Neuritis optica; in den 5 chronischen
*) Vergl. auch Koerlichen. Sammelreferat iiber Meningitis serosa.
Arbeiten des ersten polnischen Neurologen-Kongresses. 1910.
*) Quincke , Dtsch. Ztechr. f. Nervenheilk. Bd. 9.
*) Quincke , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 36.
4 ) Bresler y Neurol. Zentralbl. 1898.
5 ) Kupferberg , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. IX. S. 94.
•) Nonne , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. S. 204.
7 ) Muskens , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 39. St. 421.
8 ) Oerhardt , Neurol. Zentralbl. 1903. S. 697.
•) L. E. Bregman und Krukowski , 1. c.
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290 Bregroan-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa.
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Fallen wurde ausnahmslos eine Neuritis optica resp. Stauungs-
papille oder residuale postneuritische Atrophie konstatiert.
Wir konnen daher auf Grund unserer eigenen Erfahrungen
bestatigen, daB in chronischen Fallen von Meningitis serosa Stau-
ung8papille resp. Neuritis optica in der Regel vorhanden ist, in
akuten dagegen einmal sich findet f ein andermal fehlt. Ein be-
stimmtes Verhaltnis zwischen dem Vorhandensein resp. Fehlen
einer Stauungspapille in akuten Fallen einerseits und der Schwere
der Erkrankung resp. ihrer Prognose andererseits konnten wir
nicht eruieren. In Fallen mit relativ leicktem Verlauf und raschem
Ausgang in Genesung beobachteten wir ausgesprochene Papillen-
verander ungen.
Fall III. W. Z., 38 j&hriger Mann (aufgenoinmen am 31. VIII. 191 1).
Erkrankte vor 9 Tagen plotzlich, ohne bekannte Ursache. Starke Kopf-
schmerzen. Schwindeh Uebelkeiten and Erbrechen.
Bewufitsein erhaiten. Puls 76. Temperatur 37,6. Schadelperkussion
diffus schmerzhaft. Nackenstarre, Opisthotonus, Kopfbewegungen ein-
geschr&nkt. Kcmigs Symptom. Abdomen eingesunken. Nystagmus rota-
torius von groBer Amplitude bei alien Bewegungen der Bulbi. Pupillen eng*
reagieren gut. Sehvermogen vermindert. Doppelseitige Neuritis optica .
Liquor cerebrospinal is von goldgelber Farbe, triibe, enth< zahlreiche
Lymphozyten (keine Leukozyten) und Erythrozyten.
Rasche Besserung aller Symptome, auBer dem Sehvermogen. Am
19. IX. 1911 wurde Patient als gesund ausgeschrieben.
Fall IV. L. S., 36 j&hrige Frau (aufgenommen am 4. VI. 1911).
Ist vor 10 Tagen von der Hohe einer Etage herabgestiirzt. Einige
Tage lang bewuBtlos, mehrmals Erbrechen, Haemoptoe, AusfluB von
Fliissigkeit aus der Nase und aus einem Ohr. Klagt uber Kopfschmerzen
(am Scheitel), Kopfschwindel.
Temperatur normal. Puls 96, arhythmisch. Nackenstarre. Kopfbe¬
wegungen eingeechrankt, schmerzhaft. Nystagmiforme Zuckungen beim
Blick nach oben und nach beiden Seiten. Ophthalmoskopisch betderseitige
Neuritis optica . Keine andem Storungen seitens des Nervensystems. Liquor
cerebrospinalis von gelber Farbe und rascher Gerinnbarkeit, enth< ver-
mehrte Lymphozyten.
Rasche Besserung. Am 18. VI. verlieB Patientin fast vollig her-
gestellt das Krankenhaus.
In beiden hier angefiihrten Fallen batten wir ausgesprochene
Symptome einer akuten Meningitis, die wohl nicht anders als eine
Meningitis serosa zu deuten ist; in beiden trat rasche Besserung
bis zur volligen Genesung ein. In beiden bestand eine ausgesprochene
Neuritis optica , die zugleich mit den anderen Symptomen ge-
schwunden ist. Ein Gegenstuck dazu bieten folgende Falle:
Fall V. R. T. 43 jahriger Mann (aufgenommen am 3. VI. 1912).
Seit 10 Tagen starke Kopfschmerzen, Uebelkeiten, Erbrechen; seit
3 Tagen Bewufitsein getrUbt; verkennt die Umgebung, h< sinnlose Reden.
Aetiologie unbekannt.
Patient unruhig, stohnt, weint, will aus dem Bett springen; spricht
nichts, schaut starr um sich herum; aufgetragene Bewegungen werden nicht
ausgefiihrt. Puls 94. Temperatur 37,6.
Augenbefund normal; Photophobia. Pupillen etwas ungleich (rechte
weiter), reagieren gut. Nackenstarre. Rechtsseitige Hemiparese mit Be-
teiligung des Gesichts; kann nicht gehen ohne Unterstiitzung, schleift den
rechten FuB am Boden; FuBsohlenreflex auf der linken Seite normal, auf
der rechten atypisch ohne Beteiligung der groBen Zehe. Reagiert auf Stiche
auf der rechten Korperh&lfte schlechter.
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Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa. 291
# Die Lumbalpunktion ergibt Xanthochromie, erhohten Fliissigkeit*-
druck, keine Lymphozytose.
In den n&chstfolgenden Tagen besserte sich der Zustand des Kranken,
das BewuBtsein hellte sich auf, Patient vollfiihrt Bewegungen, die man
ihm auftrug, beantwortet Fragen, die Hemipareso schwand, zugleich traten
aber starkere psychische Storungen in den Vordergrund: Patient wurde
dermaOen unruhig, daB wir ernstlich seine Ueberfiihmng in die psychische
Abteilung in Erwagung zogen, er sprang aus dem Bett, bel&stigte die
anderen Kranken. W&hrend der Krankenvisite auBerte er eine groBe
Euphorie und machte unpassende Witze. Aber auch diese Symptome
schwanden sehr bald; am 20. VI. verlieB Patient gesund das Krankenhaus.
Der Fall stellt eine Meningitis serosa vor mit akutem Beginn,
sehr schweren Symptomen (auBer den gewohnlichen meningealen
Symptomen sehr starke psychische Storungen und eine voriiber-
gehende Hemiparese), jedoch rasche Besserung und Ausgang in
Genesung. Der Augenfundus war wahrend der ganzen Beobach-
tungszeit normal. Noch schwerer und langwieriger war der Verlauf
in folgendem Fall:
Fall VI. P. G., 33 jahriger Rabbiner (aufgenommen am 24. IX. 1912).
Seit 2 Wochen Kopfschmerzen. Vor einigen Tagen plotzlich bewuBtlos,
Erbrechen. Aetiologie unbekannt. Sensorium benommen. Patient l&Bt
Harn unter sich. Stbhnt, greift oft nach dem Kopf. Puls 120, arhytmisch.
Nackenstarre. Opisthotonus. Schadelperkussion diffus schmerzhaft. Bulbus-
bewegungen nach links eingeschr&nkt, der linke Bulbus iiberschreitet nur
wenig die Mittellinie. Linksseitige Hemiparese mit Bevorzugung der linken
unteren Extremit&t und Beteiligung des Gesichts. Hypalgesie der linken
Korperhalfte. Muskelspannung in den linken Extremitaten erhoht. Links-
seitiger Babinski.
In den folgenden Tagen Zustand sehr schwer. Mehrmals epileptische
Krampfe. Bei einer Lumbalpunktion war die cerebrospinale Flussigkeit
mit Blut vermischt (eine zweite Punktion wurde leider von der Familie
nicht zugelaesen).
Am 1. X. Patient sehr unruhig , beschimpft und flucht auf die
Krankenwarter, ja sogar seine eigene Mutter, fiihrt unzilchtige Reden (sagt
z. B. zu seiner Mutter, sie solle ihm ein M&dchen zufiihren). Die L&hmung
der linksseitigen Extremit&ten ist total geworden.
5. X. Puls 132, sehr schwach. Allgemeine Prostration.
7. X. Besserung. Patient ortlich und zeitlich orientiert, ruhig. Kopf
nacli hinten und links geneigt, Nackenmuskeln steif. Puls 126— 146, sehr
klein (verschwindend).
23. X. Nachts epileptische RrAmpfe. Erbrechen. Puls 136.
24. X. Starke Kopfschmerzen.
28. X. In den letzten Tagen beginnende Besserung. Kopfschmerzen
und Nackenstarre geringer. Minimale Bewegungen der Finger der linken
Hand.
1*. XI. Allgemeinzustand erheblich besser. Puls 101, von mittlerer
Spannung. Bewegungen der linken Hand ausgiebiger. Starke Schmerzen
in der linken unteren Extremit&t.
8. XI. Beginnende Bewegimgen der linken unteren Extremit&t im
Hiift- und Kniegelenk.
15. XI. Bewegungen des linken FuBes und der Zehen.
20. XII. Geht ohne Unterstiitzung und gebraucht ausgiebig seine
linke Hand.
Das Gesamtbild der Krankheit — Kopfschmerzen, Erbrechen.
Nackenstarre, BewuBtseinstriibung und spater psychische Er-
regung, Storungen der Herztatigkeit, Temperaturerhohung —
weist auch in diesem Fall auf eine meningeale Erkrankung hin.
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292 Bregman-Krukowski, Beitrage zur Meningitis serosa.
Die Hemiplegie und Hemianasthesie lassen auf eine MitbeteiliguVig
der Gehimsubstanz schlieBen (Meningoencephailtis serosa acuta).
Die allmahliche Entwicklung der Hemiplegie, die Bevorzugung
der unteren Extremitat deuten darauf hin, daB dieselbe nicht
kapsularen Ursprunges war, sondem durch ndher der Rinde gelegene
Herde im Marklager der Hemisphere bedingt wurde (vergl. oben die
Bemerkungen zur pathologischen Anatomie der Meningitis serosa).
Die benigne Natur dieser Herde wird bewiesen durch die relativ
rasche Riickbildung der Hemiplegie. Trotz des auBerordentlich
schweren Krankheitsbildes war der Augenfundus bis auf eine un-
erhebliche Erweiterung der Papillarvenen wahrend der ganzen
Krankheitsdauer normal.
Was die funktionellen Sehstorungen betrifft, boten die meisten
von uns beobachteten Falle keine Besonderheiten, in vielen Fallen
war die Sehfunktion erhalten, auch trotz mehr oder weniger
ausgepragten Veranderungen der Opticuspapillen, in einigen wurde
eine Herabsetzung des Sehvermogens auf einem oder beiden Augen
festgestellt. In dem oben beschriebenen Fall I (mit anatomischem
Befund) trat mehrmals vorvbergehende Erblindung ein, wie wir das
bei Himgeschwiilsten als Vorlaufer der endgiiltigen Erblindung
beobachten. In einem Fall stellte sich plotzlich totaler Verlust
des Sehvermogens ein.
Fall VII. Es handelt sich um einen 60 j&hrigen Mann, S. K. (der am
16. X. 1910 zu uns aus der Abteilung des Roll. O. Lewin iibertragen wurde),
der seit mehreren Monaten iiber stark© Kopfschmerzen klagte, seit einigen
Wochen fiebert. Die Kopfschmerzen hielten fast ununterbrochen an. Vor
einigen Tagen BewuBteeinsverlust von kurzer Dauer, wonach eine total©
Amaurose zuriickblieb.
In den inneren Organen keine Veranderungen, Ham frei von Eiweifl
und Zucker. M&Bige Arteriosklerose. Ophthalmoskopisch beiderseite post-
neuritische Atrophie. Keine anderen Stbmngen seitens des Nervensystems.
Ein relativ seltenes Vorkommnis ist bei Meningitis serosa
die bitemporale Hemianopsie , die durch Druck des blasig aus-
gestiilpten Bodens des III. Ventrikels auf das Mittelstiick des
Chiasma opticorum zustande kommt. Oppenheim *) hat zuerst
einen solchen Fall beobachtet und bei der Sektion fast vollkomme-
nen Schwund des Chiasma festgestellt. Wir beobachten gegen-
wartig eine junge Frau, bei der mit groBer Wahrscheinlichkeit
eine Meningitis serosa diagnostiziert werden kann und neben
hochgradiger Amblyopie eine bitemporale Hemianopsie zu kon-
statieren ist.
Fall VIII. Ch. J., 38 j&hrige Frau (aufgenommen am 21. X. 1912).
Seit 1 y 2 Jahren ohne bekannte Aetiologie Anf&lle von Kopfschmerzen ,
anfangs selten (einmal im Monat), sp&ter haufiger, alle 3—4 Tage. Die
Schmerzen sind sehr stark, ohne bestimmte Lokalisation, dauern ungef&hr
einen Tag, in letzter Zeit am SchluB des Anfalls Erbrechen. Zugleich mit
dem ere ten Auftritt der Kopfschmerzen Abnahme des Sehvermogens zuerst
auf dem linken, spater auch auf dem rechten Auge. Objektiv Allgemein-
zustand gut, inner© Organ© gesund. Auf beiden Augen Atrophia simplex
nervi optici. Lichtreaktion der Pupillen herabgesetzt. Mit dem rechten
! ) Oppenheim , Charit6-Ann. 1890. Bd. 15.
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Bregman-Krukowski , Beitrage zur Meningitis serosa. 293
Auge zahlt Patientin Finger in der Entfernung von 1 m; mit dem linken
kann sie keine Finger zahlen, erkennt jedoch groflere Gegenst&nde unmittel-
bar vor dem Auge von der nasalen Seite. Perimeteruntersuchung nicht
durchfiihrbar. Bei der Priifung mit grofien Gegenstanden zeigt sich, daB
auf dem rechten Auge die temporale und in der Mittellinie nur die obere
Gesichtsfeldh&Ifte, auf dem linken Auge die temporale und in der Mittel¬
linie nur die untere Gesichtsfeldhalfte aufgehoben ist.
Geruchssinn auf beiden Seiten aufgehoben. Keine anderen Storungen
seitens des Nervensystems. Sella turcica auf dem Rontgenogramm nicht
erweitert. Keine Hypophysissymptome. Bei der Lumbalpunktion Cerebro-
spinalfliissigkeit klar, imter hohem Druck; keine Lymphozytose.
Noch seltener als die bitemporal© Hemianopsie und schwerer
zu erklaren ist der Befund eines zentralen Skotoms. -
Fall IX. Wir beobachteten es bei einem 12 jahrigen Knaben (B. M.),
welcher am 18. IV. 1911 auf unsere Abteilung aufgenommen wurde.
Das Leiden begann vor 3 Jahren mit anfallsweise auftretenden Kopf¬
schmerzen und Erbrechen; nach dem Anfall schlief Patient ein. Die Anfalle
wiederholten sich im Anfang ziemlich seiten (jede 4—6 Wochen), seit 3 Mo-
naten wurden sie haufiger — alle 2—3 Tage. Wahrend des Anfalls klagt
Patient iiber Kopfschwindel. Seit 3 Monaten progressive Abnahme des
Sehvermdgen8. Irgendeine Ursache der Krankheit konnte nicht eruiert
werden. Wassermann negativ. Bei der objektiven Untersuchung (Dr.
L. Endelman ): Neuritis optica , besonders in temporaler Papillenh&lfte
ausgesprochen. Auf beiden Augen zentrales Skotom. Sehvermogen bedeutend
herabgesetzt (zahlt Finger dicht vor den Augen). Keine sonstigen Storungen
seitens des Nervensystems und der inneren Organe. Lumbalpunktion
ergibt ein klares Punktat, hohen Druck, keine Lymphozytose.
Patient verbheb im Krankenhaus bis zum 2. VI. 1911. 14 Queck-
silbereinreibungen a 1,0. Die Kopfschmerzen wurden seltener, das Sehver¬
mogen unver&ndert. Laut eingezogenen Erkundigungen ist Patient jetzt
gesund und als Laufbursche beschaftigt, das Sehvermogen hat sich aber
nicht gebessert.
In einem anderen Fall, der schon oben wegen seiner ungewohn-
lichen Aetiologie ausfiihrlicher beschrieben wurde (Fall II), blieb
nach einer Meningitis serosa eine fast vollstandige Amaurose zu-
riick, bei genauer Betrachtung konnte man jedoch noch auf einem
Auge einen parazentralen Rest des Gesichtsfeldes feststellen, so
daB auch hier das zentrale Sehen am starksten gelitten zu haben
scheint.
In der Literatur fanden wir nur einen Fall von Goldstein *),
in welchem gleichfalls ein zentrales Skotom beobachtet wurde.
Es handelte sich um einen 17 jahrigen Gymnasiasten. In der Kindheit
haufig Kopfschmerzen. Kopf immer unverhaltnismaBig groB. Kleiner
Korperwuchs, Fettreichtum; infantiler, femininer Habitus, geringe Be-
haarung, Atrophie der Hoden. Doppelseitige Opticusatrophie. Sehstorungen
neunentlich in Beziehung auf das Farbensehen. Konzentrische Gesichtsfeld-
einengung mit Bevorzugung der temporalen Halfte und Ausfall des zentralen
Farbensehens.
Goldstein fiihrt diesen Fall sowie 2 andere Falle als Beispiele
einer unter Hypophysissymptomen verlaufenden Meningitis serosa
an. Die Sehstorungen erklart er im AnschluB an Crzellitzer durch
Druck des Recessus des III. Ventrikels auf das Chiasma opticorum.
Wenn der Druck von oben her das Chiasma affiziert, so trifft er
Goldstein , Arch. f. Psych. Bd. 47. H. 3—4.
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294
Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische
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zuerst die sich kreuzenden Fasern des papillomakularen Biindels
und kann auf diese Weise die Entstehung kleiner parazentraler
und bitemporaler Skotome veranlassen. Wenn aber der Druck auf
das Chiasma in breiterer Ausdehnung wirkt, dann werden auch die
ungekreuzten makularen Biindel getroffen; es entsteht eine totales
zentrales Skotom x ). Wenn diese Auffassung richtig ist, sollte
man erwarten, daB zentrale Skotome im Verlauf der Meningitis
serosa viel haufiger zur Beobachtung gelangen werden, als es bis
jetzt der Fall war.
Da nach unserer Erfahrung auch die bitemporale Hemianopsie
bei Meningitis serosa kein haufiges Vorkommnis darstellt, wird
man wohl annehmen miissen, daB die Meningitis nur selten Bedin-
gungen schafft, die einen lokalen Druck auf das Chiasma durch
Erweiterung des Infundibulums zustande kommen lassen. In den
Fallen aber, wo ein solcher Druck vorhanden ist, miiBte eine genaue
Untersuchung, namentlich im Entwicklungsstadium der Krankheit,
makulare Ausfallsymptome zum Vorschein bringen.
(Aus der Irrenanstalt zu Rom. [Loiter: Prof. O. Mingavtini.})
Uber cephalalgische und hemlkranische Psychosen.
Von
l>r. A. ROMAGNA-MANOJA
Assist ent.
Viele Jahre sind vergangen, seitdem das Studium einiger
Psychopathien, die in engem ursachlichem Zusammenhang mit dem
neuralgischen Schmerz auftraten, Gegenstand interessanter Er-
orterungen von Seiten vieler Forscher geworden, und die Frage
blieb, so zu sagen, sub judice. In der Folge beschaftigten sich nur
wenige mit der Frage, obwoht von Zeit zu Zeit ein neuer Beitrag
an das Licht kam, der einen Beweis da von ablegt, daB die Auf-
merksamkeit noch immer auf die in Rede stehende Frage gelenkt ist.
1 ) Crzellitzer (Berl. klin. Woch. 1909. No. 20) gibt diese Erkl&rung
fiir einen Fall von Hypophysisgeschwulst, bei der er gleichfalls ein zentrales
Skotom beobachtete.
Auch Hen8chen (Neurol. Zentralbl. 1909. S. 1004) sah zentrales
Skotom in einem friihen Stadium der Hypophysengeschwiilste. Die Ge-
schwulst druckt zuerst auf das ventral gelegene, in der Mitte des Chiasmas
sich kreuzende Macularbiindel und bedingt eine maculare Hemianopsie
nach oben, die sich spater zu einem zentralen Skotom vervollstandigt.
Ferner berichtet Higier (Neurol. Ztbl. 1909. S. 1003) uber eine benigne
Hypophysisgeschwulst, bei der im Beginn ein zentrales Skotom, sp&ter
eine bitemporale Hemianopsie beobewjhtet wurde.
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und hemikranische Psychosen. 296
Ich werde kurz die Geschichte jener Psychosen zusammen-
fassen, die zuerst von Mingazzini und dann von Mingazzini und
Pacetti als cephalalgische resp. hemikranische Psychosen, in sensu
lato, studiert wurden.
Nach diesen Verfassern befallt der Schmerz einen Teil des
Schadels, oder die auBerhalb des Schadels verlaufenden Nerven,
daher stellten sie den Unterschied in cephalische und extraen-
cephalische Neuralgien auf. Sowohl in der ersten wie in der
zweiten Kategorie beschrankt sich die psychische Stoning auf
die Anwesenheit einer einfachen elementaren Storung (abortive
Form), oder zu dieser fiigt sich der Verlust des BewuBtseins, der
jedoch langere Zeit anhalt, und zwar von einigen Stimden bis
zu zwei Wochen (transitorische oder hyperakute Form), oder
der Schmerz und die Cephalaea bestehen einige Wochen oder
Monate fort (verlangerte Form). Die studierten Psychosen fanden
sich in Individuen, welche an:
1. Prosopalgien, 2. Cephalalgien, 3. Migranen, 4. extraence-
phalischen Neuralgien litten.
Nach Mingazzini und Pacetti sind es die Cephalalgien, welche
die zahlreichsten und verschiedenartigsten Formen von Psycno-
pathien hervorrufen: diesen folgen sofort die Hemikranien; seltener
sind die, welche auf Prosopalgien und auf extraencephalische
Schmerzen zuriickzufiihren sind. Die protrahierten psycho-
pathischenFormen, die sich nachHemicrania und nach Prosopalgien
entwickeln, sind sehr selten: haufiger werden sie durch Cephalalgie
hervorgerufen, sie fehlen hingegen bei Hemicrania. Die hallu-
zinatorischen, von einer mehr oder weniger schweren Confusion
begleiteten Psychosen herrschen in den durch Schmerz encephali-
schen Ursprungs hervorgerufenen Psychosen vor: selten sind die
paranoischen Delirien. Ein mit Depression und mit Wahnalle-
gorisierung des Deliriums vergesellschafteter Angstzustand, ist
fast das Charakteristikum der Psychosen durch Schmerz extra-
encephalischen Ursprungs.
Die Schmerzpsychosen wiirde im groBen und ganzen mehr
die Manner als die Frauen befallen; wahrend jedoch die abortiven
(postcephalalgischen) Formen ausschlieBlich bei Frauen vor-
herrschen, sind die transitorischen oder hyperakuten psycho-
pathischen Formen (sowohl infolge von Migrane wie von
Cephalalgie) bei den Mannem am haufigsten ( Mingazzini und
Pacetti).
Zahlreiche Forscher beschaftigten sich besonders mit den
Migranepsychosen (B. Fire, Bordoni, Koppen, Ziehen, Sciamanna,
Cornu, Kowalewsky, Hoeflmayer, Horstmann, Pappenheim usw.),
indem sie die Ansichten Mingazzinis und Pacettis bestatigten
(Bioglio, Ziehen, Consiglio, Havber,Forli,Flatau), oder systematise!^
wie Mobius, oder wenig iiberzeugend, wie Krafft-Ebing und Krae-
pelin, widersprachen.
Die Einwiirfe, die gegen die Entitat dieser Psychosen und
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296 Komagna-Manoja, Ueber cephalalgische
besonders der Migraneform erhoben wurden und noch erhoben
werden, konnen folgendermaBen zusammengefaBt werden:
a) Die Basis auf der die psychischen Storungen entstehen.
ist immer eine hysterische oder eine epileptische ( Mobiua ), und
da es folglich schwer ist, die Epilepsie und die Hysterie in den
cephalalgischen Formen zu unterscheiden, so fallen die psychi¬
schen Storungen unter die Delirien der Hysteriker und der Epilep-
tiker.
b) Es besteht kein Zusammenhang zwischen Ursache und
Wirkung des Schmerzes und Auftreten der psychischen Storungen,
sondern beide konnen das Produkt ein und derselben Ursache
sein. Da endlich ein besonderes einheitliches Bild der sogenannten
cephalalgischen Psychosen nicht besteht, so ist die Notwendig-
keit, eine besondere nosologische Entitat daraus zu machen
nicht einzusehen.
Nun haben diese Einwiirfe der Kritik nicht widerstehen konnen.
und die erste Frage beantworteten bereits Mingazzini und Pacetti.
Dennoch ist es zweckmaBig, hervorzuheben, daB man haufig bei
der Erklarung einer funktionellen oder organischen Storung zu
viel Gewicht auf eine latente, chronische Intoxikation oder auf eine
anomale Konstitution legt, so daB die Annahme nicht moglich
scheint, daB sich bei einem Individuum eine akute, pathologische.
von der anomalen, physiopathologischen Konstitution des Sub-
jektes unabhangige Erkrankung einstelle. Gerade deshalb emp-
fanden Mingazzini und Pacetti das Bedurfnis, die cephalalgischen
Psychosen der Aetiologie nach einzuteilen, und zwar in:
a) vollstandig reine und autonome Formen;
b) eventuell mit Hysterie oder Epilepsie verbundene Formen:
c) cephalalgische Episoden, die im Laufe anderer Geistes-
krankheiten auftraten.
Beziiglich der Darstellung der reinen oder autonomen Formen.
ist es bekannt, daB viele Argumente die These bestatigen, daB in
vielen Fallen von cephalalgiseher Psychopathie die Hysterie
oder die Epilepsie gar nicht in Betracht kommen.
Schon Mingazzini hat nachgewiesen, daB in einer groBen
Anzahl von Individuen, die wohl einige Stigmata der Hysterie
aufwiesen, das Delirium nicht das dieser Psychose charakteristische
war, und dies besonders deshalb, weil der Charakter der Hallu-
zinationen sowohl in den Psychopathien der Hysteriker wie in
anderen Krankheitszustanden ungefahr der gleiche ist und das
Verhalten des Kranken sowohl in dem Prodromalstadium wie
wahrend der psychopathischen Periode und in dem nachfolgenden
Stadium von dem der Hysteriker sehr verschieden ist. Eine
Bekraftigung dieser Behauptung besteht in der Tatsache, daB
jene Falle, in denen die Neuralgien des Trigeminus tatsachlich
eine einfache Aura des hysterischen Paroxysmus waren, nie ver-
fehlten, die Symptome dieses letzteren in ihrer ganzen Ausdehnung
aufzuweisen. (Beobachtungen Krafft-Ebinga und Schiiles.)
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und hemikranische Psychosen.
297
In den Beobachtungen Mingazzinis wurde das Vorhanden-
sein der Hysterie 12 mal von 75 Fallen festgestellt, zu denen auch
jene gerechnet waren, in denen sich die Erscheinungen auf eine
geringe Schmerzhaftigkeit in der Eieratockgegend und eine leichte
Verengung des Gesichtsfeldes beschrankte. Die Tatsache, daB man
bisweilen in den untersuchten Fallen einige unbedeutende Stigmata
antrifft, die auf Hysterie zuriickzufuhren sind, ist nicht von groBer
Wichtigkeit, denn zahlreiche Beobachtungen beweisen, daB
hysterische Stigmata sich auch haufig in einigen Formen einfacher
Cephalaea oder Migrane vorfinden, in denen sich nie psycho-
pathische Storungen gezeigt haben. Wenndas Vorhandensein dieser
Stigmata bei diesen Kranken der Index einer latenten hysterischen
Neurose ware, so wiirde man nicht verstehen, wie es moglich ware,
die Entwicklung psychischer Storungen nur in einigen seltenen
Fallen auszulosen. (Mingazzini und Pacetti.) Ueberdies, davon
abgesehen, haben die Kliniker einwandfreie Falle veroffentlicht,
in denen es nicht moglich war, bei den Kranken hysterische,
somatische und psychische Stigmata wahrzunehmen. Beweisende
Beispiele wurden in der Tat ven Bioglio und von Consiglio ver¬
offentlicht.
In der Frage der Epilepsie gehen die Meinungen ausein-
ander, besonders iin Zusammenhang mit der Frage der Be-
ziehungen zwischen Migrane und Epilepsie (Krafft-Ebing, Mobius,
Stromayer, Epstein usw.) und der Identitat, welche viele zwischen
den Migrane- und den epileptischen Psychosen annehmen. Als
Stutze ihrer Anschauung wiesen Mingazzini und Pacetti nach,
daB in den von ihnen studierten Fallen der Traum — und der
Dammerzustand, sowie der den epileptischen Paroxysmen eigene
Stupor fehlten; ebenso fehlten die aufeinanderfolgenden Anfalle,
die Aequivalente, besonders in den protrahierten Formen, in denen
die Epilepsie, falls sie besteht, sich hatte zu erkennen geben konnen.
Seither haben zahlreiche Beobachtungen die nosographischen
Kriterien dieser Autoren bestatigt.
Brackmann hat einen interessanten Fall veroffentlicht, in dem
es sich um einen Kaufmann handelt, der seit seinem 15. Lebens-
jahre an typischen Migraneanfallen litt: im Alter von 23 Jahren
entwickelte sich eine Psychose, welche 1 Vj> Jahre dauerte, mit
Gehorstauschungen und Verfolgungsideen. Wahrend der Rekon-
valeszenz wurden die Migraneanfalle, die vorher etwas abgenommen
hatten, heftiger, und gegen Abend zeigten sich wahrend dieser
Anfalle voriibergehende Geistesstorungen mit Delirium, das sich
auf den Verkehr bezog, den Pat. im Laufe des Tages mit Personen
oder Sachen gehabt hatte. Hierauf verfiel er in Schlaf, dem eine
Amnesie des Geschehenen folgte.
Das Charakteristikum der Beziehung zwischen Migrane-
episoden und dem Auftreten psychischer Storungen, ohne das
Vorhandensein der Epilepsie, fiihrten Verf. zur Annahme, daB der
Migranereiz in einem dazu veranlagten Him psychische
Storungen auslose.
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Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische
Bioglio bemerkte mehrere differentielle Charaktere, zwischen
Migrane und Epilepsie, sowohl von anthropologischer, neuro-
logischer Seite ala in den klinischen Kundgebungen. Er kam zu dem
Schlusse, daB man annehmen kann, daB nicht alle an Migrane
Leidenden Epileptiker oder Hysteriker sind: daB die verschiedenen
Neurosen sich auch untereinander ersetzen und auf den verschiede¬
nen klinischen Beobachtungsgebieten zahlreiche Beriihrungspunkte
aufweisen konnen. In einigen Fallen, vielleicht, erkennen sie ein
und dasselbe atiologische Moment an, aber der Endeffekt der-
selben ist nicht immer gleich fur alle drei und die Motive, auf
denen das unbekannte atiologische Element seine Wiifeung zum
Ausdmick bringt, sind wahrscheinlich nicht die gleichen. Beziig-
lich der Beziehungen zwischen den Schmerzkrisen der Migrane
und den epileptischen Psychosen erwahnt Bioglio, daB die Migrane-
psychosen, verschiedener Griinde halber, nicht mit den epi¬
leptischen identifiziert werden konnen. Bei den Migranekranken
fehlen oft die wahren und echten epileptischen Antezedenzien,
Krampfanfalle vor, wahrend und nach dem Auftreten des psycho-
pathischen Symptomenkomplexes: in der psychischen Sphare
findet man nicht jene Abnormitat des Vorstellungs- und des Affekt-
kreises, welche den Epileptikem eigen ist; ebenso fehlt in der lange
protrahierten Form der auf die Anfalle folgende schwere Stupor;
auch findet man keinen geistigen Defekt, selbst nach lang andauern-
den psychopathischen Anfallen; endlich treten bei diesen Kranken
die degenerativen anthropologischen Zeichen sehr selten auf.
Havber zitiert den Fall eines 21 jahrigen Mannes mit erblicher
Degeneration, der seit ungefahr dem 10. Lebensjahre alle zwei
oder drei Wochen an Kopfschmerzen litt, die jedesmal 2—3 Tage
dauerten. Im Alter von 21 Jahren wurden sie so heftig, daB Pat.
wahrend derselben oft in einen Aufregungszustand versetzt wurde,
dem eine Depressionsphase folgte. Eines Tages ging er baden, trank
zwei Glas Wein und fiel, von heftigem Kopfschmerz befallen, in den
Zustand einer Benommenheit, wahrend welcher er ziellos in der
Stadt umherirrte und zahlreiche torichte Handlungen beging, an
die er eine oberflachliche Erinnerung bewahrte; am folgenden
Morgen feuerte er einen RevolverschuB auf sich ab. Spater er-
klarte er, dies getan zu haben, weil die Kopfschmerzen unertraglich
geworden waren. In diesem, Falle sagt Verf., muB auf Grimd der
Anamnese und der objektiven Untersuchung die Hysterie und die
Epilepsie ausgeschlossen und angenommen werden, daB es sich
um einen reinen psychopathischen Migranezustand handele. Aus
der Durchsicht der Literatur schlieBt er, daB, obwohl viele als
Migranepsychosen angegebene Geistesstorungen nicht der Migrane
angehoren, sondem Ausdriicke anderer Neurosen sind (Hysterie
und Epilepsie), man doch das Bestehen wahrer Migranepsychosen
nicht leugnen kann. Diese konnen, nach ihm, durch die Heftig-
keit des Schmerzes (neuralgische Dysphrenien im Sinne von
Schiile) oder durch vasomotorische Storungen (Kontraktion oder
Erschlaffung der GefaBteile) oder durch nachfolgende Zirkulations-
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und hetnikranische Psychosen.
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storungen (Anamie oder Hyperamie des Hims) hervorgerufen
werden, ahnlich wie es bei den Congestiven und den angiospasti-
schen Dammerzustanden der Fall ist.
M. Ulrich fand in 20pCt. seiner Migranefalle psychische
Storungen im Zusammenhang mit dieser. Der groBte Teil derselben
wies wahrend des Anfalles Storungen des affektiven Lebens auf:
bei einigen steigerte sich die Reizbarkeit: in einem Falle krank-
hafte Apathie; in zwei Fallen war die Stimmung so deprimiert,
daB die Patienten an Selbstmord dachten. In sechs Fallen bestanden
wahre Angstzustande: in zwei Halluzinationen; in einem Verfol-
gungsideen und in zwei Fallen krankhafte notorische Reaktionen
in Form von Selbstmordversuchen. Einer der vom Verf. mitge-
teilten Falle ist der folgende:
Jnnger Mann von 18 Jahren. Psychopath. Mutter hysterisch. Migr&ne,
Vater nervos. Pat. leidet an ophthalmischer Migrane. Wahrend des An¬
falles bleibt er oft wie bet&ubt, konfus, apathisch. Einmal fuhrte er am
Tage nach dem Anfalle einen Selbstmordversuch aus. Bisweilen irrt er
lange Zeit in der Stadt umher; hiervon bleiben .liickenhafte Erinnerungen.
Hftufige Visionen. Wahrend eines Anfalles verschwendete er, ohne zu wissen
wie, tausend Mark, die ihm kurz zuvor anvertraut worden waren. In diesem
Falle glaubt Verf., daB es sich am wahre psychische Aequivalente der
Migrane handle.
Flatau hat kiirzdch die obenerwahnte Frage eingehend be-
handelt und nimmt, nachdem er die in der Literatur niedergeleg-
ten Fade von Migranepsychose angefiihrt und untersucht hat,
samtUche Stufen der psychischen Storungen, von den einfachen
bis zu den komplexen Psychosen, als bei den Migranikern moglich
an und behauptet, daB die Psychose haufig ohne ein deutdches
atiologisches Moment auftrete, aber nur in seltenen Fallen infolge
von ..psychischem Trauma". Der Migraneschmerz kann der
psychischen Storung vorausgehen, dieselbe begleiten, oder ihr
folgen; er kann auch fehlen (in den Zwischenperioden). Die jenem
Verf. nach haufigste Migranepsychose ist ein Dammerzustand,
in welchem die Kranken benommen, unorientiert, verwirrt er-
scheinen und oft Halluzinationen des Gesichts und des Gehors
aufweisen, die nicht selten einen schreckhaften Charakter besitzen
und beim Pat. Erregungszustande und Gewalttatigkeiten hervor-
rufen. Die psychische Storung entwickelt sich schnell, mit ver-
schiedenen Nuancen beziiglich der .Tiefe des Verwirrungszustandes,
dessen Dauer verschieden lang sein kann, von Stunden bis Monaten.
Dies vorausgeschickt, fande man nach Flatau bei den Migranikern.
die dieser Art von Psychose ausgesetzt sind, die besonderen, von
Kaerpelin, Aschafferiburg, Kramer, Binswanger, bei den Epilep-
tikem studierten Zeichen: so hatten die Depressionszustande,
die Vorlaufer der wahren Dammerungszustande, die BewuBtseins-
stonmgen selbst, eine groBe Analogic in den Migranepsychosen
und den deutlich epileptischen. Auf Grand dieser Analogic sieht
der erwahnte Verf., obwohl er die vollstandige Affinitat der
Migrane mit der Epdepsie zugibt, nicht die Notwendigkeit, beide
Neurosen in den gleichen Topf zu tverfen und sie zu verschmelzen.
Monatmohrift f. Psychiatric n. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 4. 20
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Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische
Er glaubt, daB es eher der Wahrheit entspricht, der Migrane das-
selbe Recht der Selbstandigkeit zuzuerkennen wie der psychischen
Epilepsie, indem er zweekmaBigerweise hervorhebt, wie letztere
nicht weniger haufig ist, als erstere. Noch deutlicher driickt sich
vor kurzem Pelz aus beziiglich derselben Frage. Er ist iiberzeugt,
daB die Epilepsie und die Migrane viele Beriihrungspunkte haben
und gleiche Storungen der Hirnfunktion aufweisen konnen, ohne
daB man eine Identitat zwischen den beiden Krankheiten anzu-
nehmen brauchte. Sowohl bei der einen wie bei der andera, be-
8tiinde haufig, den Verfassem nach, eine direkte Vererbung, eine
hereditare Degeneration, und beide weisen einen typischen, peri-
odischen Verlauf auf: der Anfall ware ebenfalls durch Vorlaufer
charakterisiert, die von einer Entladung in die motorische oder
sensitive Sphare gefolgt werden, hierauf tritt dann eine Er-
schopfungsperiode ein. In beiden Formen konnen sich die Anfalle
wiederholen, so daB sich ein Status epilepticus wie auch ein Status
hemicranicus bildet. Die ahnlichen Verhaltnisse sprechen jedoch
nicht fur die Identitat beider Krankheiten, und Pelz nimmt an,
daB auch die Anfalle, seien sie in der Form des grand mal oder
des petit mal, im Laufe einer Migrane in vielen Fallen direkt von
dieser und nicht von der Epilepsie abhangen. Diese Anfalle sollen
meistens auftreten, wenn die Migrane schon seit langer Zeit
erschienen ist; eine auBerliche Gelegenheitsursache konnte durch
die Schwangerschaft oder die Gemutsbewegung gesetzt werden.
Die Differentialdiagnose mit der echten Epilepsie konnte in diesen
Fallen auf Grand der direkten Hereditat, oder des Beginnes der
Krankheit im jugendlichen Alter, oder weil sie seit langer Zeit
aufgetreten ist, wegen des Mangels wirklicher epileptischer oder
epileptoider Antezedenzien und der Abwesenheit eines auf die
Anfalle folgenden geistigen Schwachezustandes durchgefiihrt wer¬
den. So nimmt Pelz auch fur die Migranepsychosen an, daB vor-
iibergehende Psychopathien der Art bestehen, wie es neur-
asthenische oder hysterische Psychosen gibt. Er nimmt an (nach der
schon von Mingazzini und dann von Krafft-Ebing ausgediiickten
Ansicht), daB eine beschrankte Stoning der Funktion der Him-
rinde (schmerzhafter Migraneanfall) sich ausdehnen oder unter
gewissen Bedingungen eine Psychopathic hervorrufen konne:
diese bilde den Hohepunkt des MigraneanfaUes. Pelz glaubt da-
her, daB die Migrane einer Grappe von Hirndegenerationen an-
gehort, deren charakteristisches Merkmal die Neigung ist, in
periodischer Form zu verlaufen. In derselben konnen motorische
Entladungen wie auch qualitative und quantitative BewuBtseins-
storangen, wie Ohnmachten, transitorische psychopathische Er-
scheinungen, Zustande von BewuBtseintriibung, auftreten.
Alle diese Verfasser sprechen im allgemeinen von Migrane¬
psychosen. Der Annahme Mingazzinis und Paeettis folgend habe
ich es fiir zweckmaBig gehalten, die cephalalgischen Psychosen
von den Migranepsychosen zu unterscheiden, und da mir sowohl
von der einen wie von der andern Art einige Falle in der Irren-
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und heinikranische Psychosen.
301
anstalt zu Rom begegnet sind, halte ich es fur nicht uberfliissig,
dieselben mitzuteilen, da es sich um eine Frage handelt, die
jetzt erst beginnt die Kliniker zu interessieren.
1. Fall: Cephalalgische Psy chose.
Ma . Angelo, 22 Jahre alt. aus Guarcino, Kapuzinerpater, von hoher
Bi Idling, katholischer Religion.
Anamnese : Vater lebt, 70 Jahre alt, friiher starker WeinmiBbrauch.
Die Mutter scheint an Krampfeanfallen gelitten zu haben, wahrend welcher
sie dens BewuBtsein verlor, Schaum vor den Mund trat und clonische
Zuckungen sich in den Extremitaten zeigten. Derartige Anfalle dauerten
ungefahr 19 Minuten und lieBen sie verwirrt. Eine Sch wester des Patienten
i8t an einer Lungenkrankheit gestorben, eine andere ist gegenwartig krank,
anamisch, abgezehrt. Andere Sch western und zwei Briider erfreuen sich
einer guten Gesundheit. Ein Onkel, Bruder der Mutter, ist in der Jrren-
anstalt gestorben.
Pat. ist im Alter von 17 Jahren in das Kloster getreten. Er erfreute
sich stets einer guten Gesundheit, jedoch hat er in der Y T ergangenheit einen
ziemlich starken MiBbrauch mit Wein getrieben. Masturbation bestand
nie; ebenso hat er nie an epileptoiden, konvulsiven oder Schwindelanf&llen
gelitten; diese Storungen verminderten sich jedoch nach und nach, infolge
einer entsprechenden Kur.
Als Rekrut wurde er reformiert. wegen Tachykardie. Nach seiner
Riickkehr ins Kloster wurde er einige Tage spater von heftigem. am Scheitel
lokalisiertem Kopfschmerz befallen. Der Schmerz wird AuBerst stark; am
folgenden Tage verliert er, auf dem Hohepunkt des Schmerzes, das Be¬
wuBtsein und hat keine Erinnerung von dem, was darauf vor sich geht.
Zwei Tage lang befand er sich in einem Zustande der Aufregung mit Ge-
sichtshalluzinationen; er sagte, er wolle nach Rom gehen zum Papste, um
zu beichten, da er sterben wolle. Er wurde in die Irrenanstalt zu Rom
iibergefiihrt.
Status: 24. VTI. 1910. Pat. war beim Eintritt in die Irrenanstalt
sich des Ortes bewuBt, doch befand er sich in einem Zustande wahrer Angst;
stierte, bestandig von Gesichts- und Gehorshalluzinationen gequalt, bald
hier-, bald dorthin; er sah Manner, die ihn zu toten versuchten. horte furcht-
bares Schreien und Heulen. Der Kopfschmerz war zuerst auBerst heftig.
nahm dann einige Stunden etwas ab, und die Halluzinationen lieBen nach.
Am folgenden Tage verschlimmerte sich der Kopfschmerz und die Hallu¬
zinationen kehrten wieder. Es bestand iiberhaupt eine deiUliche Be -
ziehung zunschen diesen und der Intensitdt des Kopfschmerzes. Nach drei
Tagen nahmen die Geistesstorungen und der Kopfschmerz allm&hlich ab.
um am 10. Tage vollstandig zu verschwinden. Pat. wurde weniger traurig
und niedergeschlagen.
In der Folge besserte sich der Zustand immer mehr, die heftigen
Kopfschmerzen der ersten Tage bestanden nicht mehr, nur einige Male er-
wachte er am Morgen mit einem Schwere- und Hitzegefiihl am Scheitel,
nach einigen Stunden jedoch verschwand alles, ohne irgendwelche Sinnes-
storungen hervorzurufen.
Nfitch ungefahr einem Monat w’ar das Verhalten des Pat. sehr korrekt,
er war bei vollem BewuBtsein, gut orientiert. Er korrigierte vollstandig
die iiberstandenen Halluzinationen. die, wie er angab. durch den steurken
Kopfschmerz verursacht worden waren. In der Gedachtnissphare bemerkt
man eine Liicke. die sich vom Beginn des Kopfschmerzes bis zum Augen-
blick des Eintrittes in die Irrenanstalt erstreckt. Er verbrachte seine Zeit
mit Lesen und Spazierengehen im Garten. Die Genugtuung der physio-
logischen Bediirfnisse ist gut erhalten. Die ethischen, affektiven, familiaren
Gefiihle normal.
Die objektive Untersuchung ergibt folgendes Resultat: Plagiocephalia
levis, combinata (frontalis s., occipitalis d.). Schadel Subdolichocephalus,
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302 Romagna -Man oja, Ueber cephalalgische
Stirn gerade, Stirnhocker ausgepragt, Gesicht symmetrisch, Prognatismus
alveolaris.
Der allgemeine Ernahrungszustand etwas herabgekommen. Herz:
Iktus am 5. Zwischenrippenraum links, etwas nach innen von der Linea
mamillaris sichtbar; 1. Ton unrein an der Spitze, deutlich rauschend an
der Basis. Pulsation sichtbar am Epigastrium und an den HalsgefaBen,
Puls von normalem Drucke; Respirationsorgane gesund. Nichts von seiten
der Unterleibsorgane. Temperatur stets normal. Harnuntersuchung auf
Zucker und EiweiB negativ.
Die neurologische Untersuchung war beziiglich der Motilitat negativ.
Beim ersten, einige Tage nach der Aufnahme vorgenommenen Examen
konnte man keine sichem Angaben beziiglich der verschiedenen Sensifcili-
tatsformen und der spezifischen Sinne erlangen.
Bei einer neuen, 14 Tage spater vorgenommenen Untersuchung zeigte
sich der Status ganz normal.
Pat. wurde als geheilt entlassen am 14. September 1910.
2. Fall: Cephalalgische Psy chose.
Croc ...» Prudenza, 31 Jahre alt, aus Tessenmarco (Rom), ver-
heiratet. Neuropsychopathische Vererbung besteht nicht. Pat. hat immer
in der Familie gelebt hat w&hrend der Entwicklung keine Anomalien
physischer- noch psychischerseits aufgewiesen; im Kindesalter hat sie an
keiner Art von nervosen Rrankheiten oder Traumen gelitten.
Sie hat nie Alkohol- noch N arkotikuminifibrauch getrieben. In der
Jugend litt sie wahrend einer unbestimmbaren Zeit an einer Lungen-
krankheit, Temperament vielmehr verschlossen, schweigsam. Sie hat nie
konvulsive Anf&lle von hysterischem oder epileptischem Typus gehabt.
Im Jahre 1908. im Alter von 29 Jahren, bleibt sie nach dem Tode des
Vaters sehr empfindlich. Sie machte eine Periode dutch , wahrend welcher
sie an heftigem , besonders auf den Scheitel lokalisiertem Kopfschmerz litt , der
in den ersten Tagen von kurzer Dauer war (3—4 Stunden). dann kontinuier -
lich wurde und einen ganzen Tag dauerte. Wahrend dieser Periode, von un-
gef&hr einem Monat, war Pat. Weinanf&llen und Gesichtshalluzinationen
ausgesetzt, stiefi unverst&ndliche Schreie aus, zeigte eine intensive motorische
Erregung. Dann lieB alles allm&hlich nach unter feist vollst&ndiger Amnesia
der krankhaften Periode.
Am 5. September 1910 heiratete sie und befand sich einen Monat
lang wohl.
Am 20. Oktober desselben Jahres begann sie von neuem fiber heftigen
Kopfschmerz zu klagen, der ihr keine Ruhe liefi; sie wurde unruhig. sagte,
man wiirde sie in die Irrenanstalt bringen, weinte bostandig, begann die
Nahrung zu verweigem. Ins Krankenhaus von Civitavecchia gebracht,
wurde die Erregung immer heftiger, und es wurde notwendig, sie am 27. Ok¬
tober 1910 in die Irrenanstalt zu Rom iiberzufiihren.
Status 28. Oktober 1910: Person von regelm&Bigem Skelettbau,
Muskelmassen gut entwickelt, Hautfarbe blaBbraun, Herz in normalen
Grenzen. Tone sein Harn normal beziiglich der Quantit&t und der Qualit&t,
Augenbewegung normal. Faciales intakt, Zunge beweglich. gut gestreckt,
ohne Abweichung und ohne besonderes Zittem. Weder dysarthrische noch
dysphasische Storungen. Die aktiven und passiven Bewegungen der oberen
und unteren Extremitaten normal, Gang normal, obere Sehnenreflexe
lebhaft, auf beiden Seiten, sehr lebhaft die Achillessehnen- und Patellar-
reflexe; weder Patellar- noch Fuftclonus. Plantarreflexe in Flexion. Be-
riihrungs-, Warme- und Schmerzgefiihl scheinen normal auf beiden Korper-
haiften. Keine wahmehmbare Storung der spezifischen Sinne. Ausgeprag-
ter Dermographismus in der angioparetischen Phase.
Bei ihrem Eintritt in die Anstalt wies Pat. einen Zustand bedeuten-
der Aufregung auf: sie schrie, war feindlich gesinnt gegen die Anstalt,
reagierte gegen die W&rter. hatte metabolische Illusionen, sie bat, aus der
Holle gerettet zu werden, horte verschiedene Stimmen. Spater wurde sie
ruhig, wies aber von Zeit zu Zeit einen leichten Angstzustand auf, w&hrend
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und hemikranische Psychosen.
303
desselben steigerte sich die motorische Aufregung. sie rief mit lauter
Stimme die Heiligen an, stand vom Bette auf, versuchte zu fliehen, indem
sie glaubte, daB man sie toten wolle, sie verweigerte die Nahrung.
Nach zwei oder drei Tagen jedoch wurde sie mit der Abnahme des
Kopfschmerzes ruhiger. Es gelang, wenn auch nur fur kurze Zeit, ihre Auf-
merksamkeit zu konzentrieren. Die Wahrnehmung der Umgebung war
gut. ebenso der an sie gerichteten Fragen. doch erfolgten die Antworten
langsam.
Was die psychischen Storungen anbetrifft, so hatte sie nur eine ober-
flachliche und liickenhafte Erinnerung. Sie erinnerte sich ihrer Ueber-
fiihrung in das Krankenhaus in Civitavecchia; sie behauptete, sich des
Zimmers zu erinnern. in weichem sie sich befand, doch konnte sie nicht
angeben, wieviel Betten darin waren, ob der Arzt sie besuchte, ob Schwestern
dort waren, usw. Sie erinnerte sich in konfuser Weise. vom Krankenhause
in Civitavecchia zum Bahnhof gegangen zu sein, gereist zu sein, und
hierher gefiihrt worden zu sein. Dann schwindet die Erinnerung bis zum
5. November 1910.
Status: Vom 5. November an beginnt die Kranke sich zu erinnern,
der Umgebung eine gewisse Teilnahme zu widmen, die Personen zu er-
kennen. Sie wuBte, daB sie sich in Rom befand. aber nicht wo, sie wuBte
weder den Tag. noch den Monat anzugeben, im Referenten erkannte sie
einen Arzt. Es besteht eine bedeutende Schwierigkeit in alien geistigen,
selbst einfachen Handlungen, besonders der Assoziation, der Abstraction. der
Erinnerung. Es fehlten krankhafte Ideen oder halluzinatorische Storungen.
Geringes Interesse fiir die Umgebung. schwache Willensstarke. Affektive
Gefiihle gut erhalten. Die Befriedigung der physiologischen Bediirfnisse
gut erhalten.
Status 16. XI. 1910; Pat. ist immer ruhig gewesen. Seit einigen Tagen
hat sie wieder liber heftigere Kopfschmerzen geklagt, vorige Nacht ist sie
vom Bette aufgestanden und zur diensttuenden W&rterin gegangen,,uin zu
fragen. ob s&mtliche Kranken Frauen seien; sodann fiigte sie hinzu: ..Wenn
sie mich toten miissen, so toten Sie mich, denn vor den Mannem habe ich
Angst. 44
Am folgenden Tage befragt. antwortet sie. daB sie sich an nichts
erinnere.
Status 23. I. 1911: Pat. beschaftigt sich seit einigen Tagen mit den
Arbeiten im Krankensaal. klagt immer iiber am Scheitel lokalisierten
Kopfschmerz. weniger heftig als vorher, doch starker am Morgen. Gestem
besuchte sie der Ehemann. Bei seinem Anblicke war sie sehr geriihit. Sie
bat ihn, sie mitzunehmen und geriet in Aufregung. als sie sah, daB dies nicht
moglich war. Sie beruhigte sich nach einer halben Stunde nach der Da-
zwischenkunft des Arztes.
27. II. 1911: Befinden ausgezeichnet. Keine Storung mehr seit
einigen Tagen. Sie ist die tatigste Pat. auf der ganzen Abteilung sie fiihrt
die ihr zugeteilten Arbeiten besser aus, sie ist geselIsohaftlicher und guter
*Laune.
Pat. als geheilt entlassen am 5. IT. 1911.
3. Fall: Psychosis hemicranica.
F . . ., Angela. 24 Jahre. Naherin. unverheiratet.
Anamnestische Bemerkung: Der Vater lebt, doch weiB man nicht,
wo er sich befindet, da er die Familie seit 19 Jahren verlassen hat. Die
Mutter lebt; sie hat einen Abort und viele Kinder durchgemacht; sechs
derselben starben sehr fruh, an nicht festgesetzten Krankheiten.
Pat. hat in der Kindheit keine nennenswerten Krankheiten dnrch-
gemacht. Nie Konvulsionen von hysterischem oder epileptischem Typus,
nie Aequivalente. Seit einigen Jahren war sie periodischen diffusen , jedoch
am Scheitel am heftigsten auftretenden Kopfschmerzen ausgesetzt; fcisweilen
gesellt sich zu dem Kopfschmerz eine Amblyopie. und wenn der Schmerz
stark war. sah sie lauter Funken vor den Augen und hatte Gerausche in
den Ohren ,.wie ein Wind“. Der Schmerz ist bisweilen von Erbrechen
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304
Romagna-Manojft, Ueber cephalalgische
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begleitet, jedoch besteht kein Unterschied in der Intensitat der Schmerzen
am Morgen und jener der Schmerzen am Abend. Der Kopfschmerz war
starker in der Menstruationsperiode. Es bestand auch Schwindel, doch
hat sie nie an Konvulsionen, noch an BewuBtseinverlust, noch an unfrei-
willigem Harnlassen gelitten.
Ungefahr drei Monate vor der Einliefenmg waren die Kopfschmerzen
intensiver und anhaltender geworden. Pat. wurde dann unruhig und be-
trachtet die AuBenwelt in feindlichem Sinne, sie sagt, alle argem sie, machen
unanstandige und spottische Bewegungen usw. Gehorshalluzinationen scheint
sie nicht gehabt zu haben. In diesem Zustande versucht sie sich zu ver-
giften, indem sie eine Vitriollosung trinkt, und wird deshalb in die Irren-
anstalt gebracht.
Objektive Untersuchung : Elliptischer Schadel mit reichlichem Haar-
wuchs, Stim vonmittlerer Weite; Glabella etwas vertieft. Jochbeine etwas
ausgepragt, kleine Nase, Mikrodontismus, besonders der oberen seitlichen
Schneidezahne; kleine. abstehende Ohren (Typus Wildermuth), mit auf
den Tragus vorspringenden Antitragus.
Skelettbau regelmaBig Muskelmassen sparlich entwickelt, die sicht-
baren Schleimh&ute sind blaB. Auf Kosten der Bmst- und Bauchorgane
ist nichts zu bemerken. Harnuntersuchung auf EiweiB und Zucker negativ.
Temperatur normal.
Leichtes Vorteten der Augapfel. Augenbewegung normal, Hypokinesis
der VII. Inferiores; vibratorisches Zittem der Finger, bei ausgestreckter
Hand. Normal sind die aktiven und passiven Bewegungen der Arme und
der^Beine. Obere Sehnenreflexe lebhaft, Patellar- und Achillesreflexe gleich
und normal auf beiden Seiten. Zehenplantar-, Bauchreflexe schwach,
Comealreflexe lebhaft; weite Pupillen. Licht- und Akkommodationsreak-
tion der Iris gut.
Leichte Verspatung des Schmerzgefiihles. sonst nichts auf Kosten
der anderen Formen der Sensibilitat und der spezifischen Sinne. Aus-
gepr>e vasomotorische Erscheinimgen.
Status: Wahrend der ersten Tage ihres Aufenthaltes in der Irren-
anstalt zeigte Pat. ein feindseliges Benehmen; sie wiinschte allein gelassen
zu werden und wollte nicht mit Fragen belastigt werden, ebensowenig
mit Ermutigungen. Sie zog vor. in einem Zustande fast vollst&ndiger
Apathie auf einer Bank zu liegen, und klagte von Zeit zu Zeit liber Kopf-
scnmerzen. heftiger als gewohnlich und am Scheitel lokalisiert. Der Ge-
sichtsausdruck ist ein trauriger, der Blick irrend. Bei dem Verhor leistet
sie wenige spontane Aufmerksamkeit; aus den Fragen ergibt sich, daB sie
topographisch und bezuglich der Personen gut, chronologisch unvollstAndig
onentiert ist. In der Unterhaltung bemerkt man eine Langsamkeit in der
Erinnerung, eine Schw ierigkeit in der Koordination der Antworten. Ge-
dftchtnis etwas unsicher, leichte Reizbarkeit und unertr&gliche Laune.
Es erweisen sich keine halluzinatorischen Storungen in €M;tu, Pat*
erinnertsich wohl, auf dem Hohepunkte des Schmerzes ,,Streifen“. „Funken‘%
.,Stemchen‘ 4 gesehen zu haben. Sie nahm in egozentrischer Weise Hand-
1 ungen wahr, die in ihrer Gegenwart ausgefuhrt wurden. so wandte sie sich
oft an die Wftrterinnen mit der Frage: ..Haben sie es mit mir?“ In der-
selben Weise wandte sie sich an den Verf.. wenn sie ihn schreiben sah. Es
bestanden keine Storungen in der Befriedigung der physiologischen Be-
diirfnisse. nur bisweilen Schlaflosigkeit oder Neigung zur Nahrungsver-
weigerung, aber nur auf kurze Zeit.
Dem soeben beschriebenen Zustande folgte eine Ruheperiode, w&hrend
welcher die Kranke nicht mehr viber Kopfschmerzen klagte, doch bleibt
sie apathisch imd gleichgiiltig. einige Monate hindurch. Dann beginnt
sie sich mit Arbeiten in der Abteilung zu beschaftigen. wirkliche krank-
hafte Ideen weist sie nicht auf, wie auch das Benehmen immer ein
korrektes war.
Nach ungefahr 1 H Jahren wird sie vollstkndig geheilt entlassen.
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und hemikranische Psychosen.
305
Wenn wir nun kurz die klinischen Eigenschaften dieser drei
Falle analysieren, so sehen wir, dad im ersten der Kopfschmerz
fast plotzlich und in akuter Weise auftrat: mit groBer Schnellig-
keit erreichte er einen paroxystischen Charakter und dann
traten Erregung, Gesichtshalluzinationen, Wahnideen depressiven
Charakters, vollstdndige Koharenz zwischen Gefuhlszustand und
Inhalt der krankhaften Ideen auf. Von Wichtigkeit ist der be-
standige Zusammenhang zwischen der Intensitat des Schmerzes
und der psychischen Storungen, in den Schwankungen, die der
ersten sehr akuten Phase folgten. Die Dauer der Form war einige
Tage. Mit dem Verschwinden des Schmerzes verschwindet auch
jede psychische Storung, die eine nimmt gleichzeitig mit dem andern
ab. Die objektive Untersuchung und die Anamnese sind negativ:
es fehlen samtliche hysterischen oder epileptischen Zeichen, hin-
gegen besteht eine neuropsychopathisehe Vererbung, die in
diesem Falle gewiB die Pradisposition des Patienten zur psycho-
pathischen Reaktion auf den Kopfschmerz gebildet.
Im zweiten Falle haben wir zwei kurz aufeinander folgende
psychopathische Perioden bei einer j ungen Frau ohne neurop-
sychopathische Belastung, ohne hysterische oder epileptische
Stigmata, ohne Anomalie in den Funktionen des vegetativen
Lebens. Die erste Periode ist kurz und lost sich infolge eines
psychischen Traumas axis; die zweite, in der Entfernung von
weniger als zwei Jahren, ohne augenscheinliche Ursache:
in beiden stellen sich, wexm der Kopfschmerz den Hohepunkt
erreicht, die psychischen Storungen ein. Diese bestehen in
psychomotorischer Erregung, die immer zunimmt, im Auftreten
von Gesichtshalluzinationen, metabolischen Illusionen, feind-
seligen Apperzeptionen, krankhaften Reaktionen, Gedachtnis-
storungen in Bezug auf die krankhafte Periode. Beide Perioden
sind allmahlich zur Heilvmg gelangt, aber auch wahrend ihres
Verlaufes treten die psychischen Storungen ausgepragter auf,
in Zusammenhang mit leichten und voriibergehenden Zunahmen
des Schmerzes.
Der dritte Fall wird von einer Migraneform bei einer j ungen
Frau geliefert, bei welcher andere Zeichen der Neurose fehlen.
Wahrend der Kopfschmerz gewohnlich ein periodischer, voriiber-
gehender war, wird er auf einmal anhaltender, so daB xmter dem
EinfluB eines fast bestandigen Schmerzes nach einigen Monaten
(protrahierte Form) die psychopathischen Storungen beginnen, die
ihren Ausdruck entweder in Anomalien des Benehmens oder in
feindseligen Apperzeptionen, illusorischen Erscheinungen, oder
in an sich gefahrlichen Reaktionen (Selbstmordversuch) finden.
Auf diese Periode folgt eine andere, eine wirkliche Depressions-
periode, wahrend welcher,’ allmahlich, mit der Verminderung
des Kopfschmerzes der psychopathische Zustand verschwindet
und vollstandige Heilung eintritt.
In all diesen drei Fallen war die Reaktion auf die Wahnideen
stets sehr leicht und nur im dritten Falle hatte man einen wahren
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306
Romagna-Manoja, Ueber cephalalgische
Selbstmordversuch ohne Folgen. Es fehlte jedoch in ihnen
irgendwelche Erscheinung, welche die hysterische oder die
epileptische Neurose anzuzeigen pflegt, und auBer dem Mangel
physischer Zeichen wie auch anthropologischer rechtfertigte
das Benehmen vor dem Eintritte in die Anstalt, und wahrend
des Aufenthaltes in ihr nicht im entferntesten den Verdacht
auf eine derartige Neurose. Man hat somit das Recht, zu behaupten,
daB man es in alien drei Fallen mit wirklichen und eigentlichen
cephalalgischen und Migranepsychosen zu tun hatte.
Mingazzini und Pacetti stellten beziiglich dieser cephal¬
algischen Psychosen die Hypothese auf, daB der Schmerz und die
psychischen Storungen im Verhaltnis von Kausalitat und
Wirkung stehen, in sofem als die psychischen Storungen haufig
mit dem Schmerze oder nachdem derselbe schon eine Zeitlang
gedauert, auftreten, und die hochste Intensitat des Schmerzes
mit der schwersten Periode der Psychose zusammenfallt. Auch
Koppen ist derselben Meinung beziiglich der Migranepsychosen:
wenn, nach diesem Verf., die psychischen Storungen plotzlich im
Laufe der Migrane auftreten, so hat das Delirium als Gegenstand
schreckhafte Ideen, die Erregung erreicht einen hohen Grad, und
es zeigt sich vollstandige und teilweise Amnesie beziiglich der
Ereignisse wahrend der aufgeregten Periode.
Sicher ist die Annahme, daB das ursachliche kausale organische
Element in vielen Individuen, wie Mingazzini und Pacetti annehmen,
durch Ausstrahlung des irritativen Reizes des Trigeminus (was
haufig die Hauptursache des Kopfschmerzes ist) bis zu den zen-
tralen Kemen und durch die Beziehungen, welche diese Zentren
besonders mit den optischen Zentren bis zur Gesichtssphare der
Rinde haben (daher die Halluzinationen), wirkt, moglich und
zufriedenstellend. Doch miissen wir freilich mit Consiglio an¬
nehmen, daB der Hauptfaktor die neuropsychische Konstitution
des Individuums sei: und dies erklart, warum die Psychopathien
unter den so zahlreichen Cephalalgischen so selten sind, und warum
bei gewissen Individuen die geringsten Ursachen Kopfschmerzen
hervorrufen und dieser Schmerz bei einigen leicht, durch eine
groBere Empfindlichkeit des Nerven, fast den Charakter einer
organischen Hyperasthesie annimmt.
In vielen Fallen muB man auBerdem auf den Gedanken
kommen, daB die Ursache, die die Neuralgie hervorruft, auch die
psychische Storung hervorrufen kann. Wenn man bedenkt, daB
eine rheumatische, toxische, vasomotorische Ursache den Kopf-
schmerz hervorruft, so lost dieselbe Ursache durch Einwirken auf
fur eine abnorme Reaktion pradisponierte Hirnzonen die ver-
schiedenen Symptome aus, die daher in ihren Erscheinungen
gleichen Schrittes mit ihrer Intensitat gehen. Besonders im Falle
der Intoxikation, sagt Consiglio, meist intestinalen oder alimen-
taren Ursprungs, ist auch eine Storung im Gleichgewicht des
Hiras anzunehmen, so daB die Nerven der Himhaute in Mitleiden-
schaft gezogen und schmerzhaft werden: daher eine Unbestandig-
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und heraikranische Psychosen.
307
keit im vasomotorischen und respiratorischen Zentrum, die leichter
Storungen erfahren, wenn auf die schmerzhafte, cephalalgische
Ursache die psychomotorische Reaktion folgt, ebenso wie in den
Hirnzellen die energetische Potentialitat unbestandiger ist.
In unseren drei obenerwahnten Fallen fehlte auBer jeglichem
hysterischen oder epileptischen Stigma irgendwelches deutliche
Zeichen einer Intoxikation in actu: und folglich ist es logisch, zu
behaupten, daB die obenerwahnten Psychosen keinen anderen Ur-
sprung haben als die Cephalalgie und die Migrane. Es ist
daher nicht auszuschlieBen, daB das Schmerzphanomen und die
psychischen Storungen auf einer identischen Ursache beruhen, die
mit unseren gegenwartigen Untersuchungsmitteln nicht auf-
gedeckt werden konnte.
Man kann also nicht sicher behaupten, daB die psychischen
Storungen in diesen Fallen als eine direkte Folge des schweren
Kopfschmerzes aufgetreten seien. Dies schwacht jedoch keines-
wegs den klinischen Wert der Beziehimgen zwischen Migrane und
Psyohose, und somit bestatigen die obenerwahnten drei Falle noch
einmal das Bestehen wahrer und eigentlicher cephalalgischer
resp. migranischer Psychosen, wie solche in unumstoBlicher Weise
in den letzten Jahrzehnt von zahlreichen Forschem selbst nach
einer eingehenden Kritik angenommen worden sind. um so mehr,
da man in der Psychiatrie auch von epileptischen Phsycosen
redet, obwohl allgemein anerkannt ist, daB es nicht der Krampf-
anfall ist, der die psychopathische Storting auslost, sondem daB
dieselbe Ursache, welche den Anfall hervorruft, auch die Geistes-
storung verursachen kann.
DaB aber in einigen Fallen der Schmerz an sich fahig ist,
einen psychopathischen Zustand auszulosen, scheint mir sehr
wahrscheinlich, besonders wenn dieser Schmerz sehr heftig und
andauemd ist (siehe die Falle Bioglios ): die psychischen Storungen
haben den Charakter einer wahren Reaktion (oft hypochondrischen
Typus) auf den Schmerz selbst. Nachstehender Fall liefert ein
deutliches Beispiel.
4. Fall: Cephalalgische Psychose.
O . . . Raffaele, 40 Jahre alt, Feldhuter.
Anamnese : Vater kein Trinker, seit vielen Jahren tot, infolge un-
bekannter Krankheit. Mutter lebt, erfreut sich einer guten Gesundheit.
Eine neuropsychopathische Belastung ist nicht vorhanden. Pat. ist nach
regelmaQiger Schwangerschaft geboren worden und hat sich sowohl physich
wie psychlsch gut entwickelt. Zuerst war er Kuhhirt, dann Feldhuter seit
12 Jahren.
Im Alter von 25 Jahren heiratete er und zeugte zwei Kinder: eines
derselben ist im Alter von 8 Monaten gestorben und das andere von
wenigen Monaten. ist ebenfalls Brandwunden erlegen. Gewohnlich trinkt
er 1 Liter Wein im Tage, bisweilen auch 2—3. Er hat nie an venerischen
Krankheiten gelitten. aber Malariafieber durchgemacht. Er ist von gutem
Charakter, gewohnlich lustig und gesellschaftlich und h&ngt sehr an der
Familie; er kommt mit Eifer seinem Berufe nach.
Tm Februar 1908 wurde er eines Abends von einem heftigen Kopf-
schmerz an der linken Temporofrontalgegend befallen. Pat. verglich den
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Romagn a-Manoja, Ueber cephalalgische
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Schmerz mit einem Nagel, der sich in den Kopf bohre. Dieser Schmerz
erstreckte sich auf den linken Augapfel, ohne jedoch von Phosphenen
oder von Erbrechen begleitet zu sein. Der Schmerz dauerte sehr heftig die
ganze Nacht hindurch und verschwand am Morgen, um in den folgenden
Naehten wiederzukehren, ohne das irgend ein Gebrauch oder MiBbrauch
von Wein stattgefunden hatte. Nach 15 Tagen verscharfte sich der dauernd
bestehendb, mehr oder weniger heftige Schmerz; die Schmerzanfalle waren
sowohl bei Tag wie bei Nacht haufig. Unter den vielen angewandten Mitteln
konnte nur das Aspirin den Schmerz lindem. Sobald die Wirkung dieses
Mittels voriiber war, begann der Schmerz von neuem. Er unterzog sich
einer supraorbitalen Neurektomie, da man eine Trigeminus neuralgic an-
genommen hatte, doch lieB der Schmerz durchaus nicht nach. ja er ver-
breitete sich hinter dem linken Ohre, in die postero-laterale Gegend des
Halses.
5 Monate, nachdem Pat. schon an diosen Schmerzanf&llen litt, ver-
fiel er in Angstzust&nde, lief im Hause hin und her, klagte, litt an Schlaf-
losigkeit. rief den Tod an, und legte den Verwandten gegeniiber ein feind-
seliges Benehmen an den Tag und auBerte bestandig Selsbtmordvors&tze.
Der behandelnde Arzt sorgte fiir die Ueberfiihrung in die Irrenanstalt
(19. XI. 1908).
Wahrend seines Aufenthaltes in der Irrenanstalt verhielt sich Pat.
ziemlich ruhig, doch war er traurig und oft schwer zuganglich. In der
Folge nahm der Kopf schmerz so ab, daB ihn Pat. nicht mehr beach tete,
und bei den verschiedenen Untersuchungen behauptete er, infolge des
heftigen Schmerzes, an dem er gelitten, gezwimgen gewesen zu sein, unge-
wohnliche Dinge zu sagen und zu tun. Er zeigte sich nur intolerant dem
Geschrei und dem Larmen der anderen Kranken gegeniiber, da diese ihn
bel&stigten.
Die objektive neurologische Untersuchung fiel negativ aus. Es er-
gab sich keine Schmerzempfindung auf Druck irgendeines peripheren
Nerven. Nach ungefahr einem Monat wird Pat. geheilt entlassen.
Dieser Fall beweist also die Moglichkeit, daB die elniachen
psychischen Storungen als krankhafte Reaktion auf andauernden
Schmerz auftreten.
Auch den vasomotorischen Storungen, als Faktoren des Gleich-
gewichtes in den geistigen Funktionen und als haufiges Element
in den Cephalalgien, wurde schon von Mingazzini und Pacetti
eine Bedeutung zugeschrieben.
Wenn nach diesen Verfassem der neuralgische Reiz seine
Wirkung in einigen Fallen auf umschriebene Rindenbezirke be-
schrankt, so verarsacht er isolierte Erscheinungen in den ver¬
schiedenen Spharen, die auBerdem bei vollstandig hellem BewuBt-
sein verlaufen. Gesellt sich zu diesen lokalisierten Symptomen
eine diffuse Kongestion der Rinde, so zeigt sich sekundar eine
schwere Triibung des BewuBtseins.
Hauber selbst schreibt den vasomotorischen Storungen eine
groBe Redeutung zu.
Neuerdings hat Zylberlast , auf Grand eines von ihm studierten
Falles, in dem das Auftreten der psychischen Storungen bei einem
unzweifelhaften Migraniker von einer serosen Meningitis be¬
gleitet war, angenommen, daB diese von einem gesteigerten
interkraniellen Dracke abhangen, und daB die Zunahme der
Zerebrospinalfliissigkeit zwei Quellen habe, namlich das serose
Transsudat, das die Migrane begleite, und das Exsudat, welches
die serose Meningitis verursache. Wenn, nach diesem Verf., die
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und hemikranische Psychosen.
309
psychischen Storungen von kurzer Dauer sind, waren sie durch
die iibertriebene interkranielle Pression hervorgernfen, die in den
meisten Fallen die pathologisch-anatomische Grundlage der Migrane
bildet. Treten auBer der Migrane andere Ursachen auf (moralische
Traumen), so bestiinde mit Recht die Vermutung, daB neben dem
gewohnlichen Transsudate der Migrane sich ein entziindliches
Exsudat der serosen Meningitis einstellt; ersteres verschwindet
erst viel spater als letzteres, indem es neue Hirnsymptome und
psychische Storungen hervorruft.
Aus der Durchsicht all des bisher Beschriebenen beziiglich
der cephalalgischen und der Migranepsy chosen, sowie aus dem
Studium meiner Falle kann man also den SchluB ziehen, daB neben
den psychopathischen Formen in enger Verbindung mit anderen
Neurosen (Epilepsie, Hysterie) zweifellos eine Anzahl psychotischer
Zustande besteht (cephalalgische, Migranepsy chosen), die nicht
sehr haufig sind und ein einformiges khnisches Bild
darbieten, die ihren Urspnmg anscheinend aus einem Schmerze
nehmen, der haufiger ein cephalalgischer Schmerz, bisweilen eine
Migrane, seltener ein prosopalgischer ist, und die extraencephalen
Nerven befallt. In vielen dieser Falle besteht eine neuropathische
Konstitution oder eine neuropsychopathische Belastung. Jedoch
fehlen samtliche physischen und psychischen Zeichen einer hysteri-
schen oder epileptischen Konstitution, und haufig auch objektive
Angaben eines toxischen Zustandes (des Magendarmtraktes, der
Nieren).
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310 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
Von
Dr. KURT MENDEL
in Berlin-
I. Forensisches.
Eine nicht geringe Anzahl von Entscheidungen der verschie-
denen Instanzen des Versicherungswesens, insbesondere des Reichs-
Versicherungsamtes, beschaftigt sich mit dem Selbstmord der
Unfallverletzten und der eventuellen Entschadigungspflicht an
die Hinterbliebenen. Aus diesen Rechtsprechungen geht als Fazit
folgendes hervor: Damit die Hinterbliebenen einen Anspruch auf
Unfallrente haben, miissen 2 Bedingungen erfullt sein: 1. es mud
der Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung aus-
schlieBenden Zustande, „ohne Vorsatz" (§8, Abs. II des GUVG.
vom 30. Juni 1906) ausgefiihrt worden und 2. es mull die krank-
hafte Storung der Geistestatigkeit, die zum Suizid fiihrte. eine —
unmittelbare oder mittelbare — Folge des in Frage stehenden
Betriebsunfalls sein.
So selbstverstandlich die zweite Forderung ist, so strittig
erscheint die Berechtigung der ersten. Das Reichs-Versicherungs-
amt selbst ist hierin nicht immer konsequent vorgegangen: es
hat zwar zumeist die Frage erwogen, ob der Selbstmorder als
,,Willenlo8er von den durch seinen korperlich-geistigen Zustand
bedingten Empfindungen und Antrieben in den Tod getrieben
wurde“ (Entscheidung vom 24. IX. 1888) oder zum mindesten
in seiner freien Willensbestimmung erheblich beeintrachtigt war
(Entscheidung vom 3. VII. 1903), und nur bei Bejahung dieser
Fragen den Entschadigungsanspruch zuerkannt; es gibt aber
andererseits Entscheidungen des Reichs-Versicherungsamtes, nach
denen der Anspruch auf Hinterbliebenenrente anerkannt wurde,
trotzdem nach Ansicht der Gerichte die freie Willensbestimmung
des Selbstmorders durchaus nicht aufgehoben war.
Diese mildere Rechtsprechung ist von psychiatrischer Seite
aus mit Freuden zu begriiHen. Abgesehen davon, daB mit Fortfall
der Forderung 1 auch der leidige Begriff der freien Willens¬
bestimmung, der weder hier noch im Strafrecht noch im Biirger-
lichen Gesetzbuche Verwendung finden sollte, wegfallen wiirde.
ist zu bedenken, daB ein sogenannter ,.physiologischer“ Selbstmord
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 311
etwas iiberaus Seltenes darstellt, vielleicht uberhaupt gar nicht
vorkommt. In diesem Punkte sind die einzelnen Psychiater, wie
Gaupp, Helenefriederike Stelzner, Hubner, Finkh, Viallon, Ph. Jolly
u. A., vollig der gleichen Meinung. Schon Esquirol erklarte alle
Selbstmorder ohne weiteres fiir geisteskrank, schon Griesinger
betonte, daB der Selbstmord in der groBen Mehrzahl der Falle
in einer psychisch abnormen Veranlagung des betreffenden Indi-
viduums wurzle. Sind es auch meist nicht offenkundige Psychosen,
— Kraepelin fand unter seinen geretteten Selbstmordern nur in
30 pCt. der Falle eine klinisch ausgepragte Geisteskrankheit,
Waseermeyer in 50 pCt. —, so handelt es sich doch um Psycho-
pathen, D6g6ner6s, Hysteriker, Epileptiker und sonstige willens-
schwache, psychisch nicht widerstandsfahige Personen, welche
gewaltsam aus dem Lehen scheiden. Von 124 Fallen, die Gaupp
sammelte, erschien nur einer geistesgesund, und hier handelte es
sich um ein im 8. Monat der Graviditat stehendes Dienstmadchen,
das von ihrem Geliebten der Untreue bezichtigt worden war. Also
auch hier ein durch die Schwangerschaft bedingter abnormer
Geisteszustand. Helenefriederike Stelzner fand, daB von 200 Selbst-
morderinnen 169 klinisch ausgepragte Psychosen aufwiesen, und
nur bei 31 weder vor noch nach der Tat eine Geisteskrankheit
nachweisbar war. Bei diesen 31 Selbstmorderinnen walteten aber
so eigenartige Hereditatsverhaltnisse, oder es bestanden so zahl-
reiche psycho- und neuropathische Ziige, daB man bei ihnen un-
moglich von einem „physiologischen“ Selbstmord sprechen kann.
Pfeiffer schreibt, daB der Selbstmord fast ausnahmslos ein
ubermaBig starker und zweckwidriger Reflex auf Reize ist, die
ihrem Wesen nach der Person selbst nur selten klar zum BewuBt-
sein kommen; fast immer sei der Selbstmord eine der Veranlagung
inaquate Affekthandlung.
Hubner fand fast stets ein MiBverhaltnis zwischen der Gering-
fiigigkeit des Motivs und der Schwere der Reaktion auf dieses
Motiv, nach ihm waren es sicher bei mehr als 90 pCt. der Selbst-
mordfalle Storungen des Gemiitslebens, und zwar entweder traurige
Verstimmung oder gesteigerte Reizbarkeit, die von wesentlicher
Bedeutung fiir das Zustandekommen des Selbstmordes waren.
Den psychiatrischen Ansichten gegeniiber halt das Reichs-
Versicherungsamt im Prinzip noch an der Annahme des Vor-
kommens eines physiologischen Selbstmordes fest, bei welchem
alsdann der ,,Mangel an gewissen, in der Charaktereigenart des
Verstorbenen gelegenen geistigen und moralischen Eigenschaften"
den Vorsatz und die AusfUhrung des Suizids nicht verhindem kann.
Eine solche mangelhafte Widerstandskraft und Willensstarke
muB aber vom psychiatrischen Standpunkte aus bereits als patho-
logisch, als Grenzzustand oder leichterer Grad derjenigen psy-
chischen Storung angesehen werden, welche — in verstarktem
Grade — die Zurechnungsfahigkeit ausschlieBt; wird ein Selbst¬
mord in einem solchen Zustande ausgefuhrt, oder basieren die
Motive, welche die Selbstmordgedanken entstehen lassen, auf
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312 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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diesem krankhaften Grunde, so miissen die Hinterbliebenen
durchaus entschadigungsberechtigt sein, sofern nur die zweite
Bedingung, daB namlich dieser Zustand eine Unfallsfolge darstellt,
erfiillt ist. Und hier hat das RVA. zumeist in fur die Hinter¬
bliebenen giinstiger Weise entschieden, indem es den Selbstmord
so erklarte, daB das Trauma und seine Folgen, wie Schmerzen,
Krankenlager, Nahrungssorgen, Untatigkeit, lange Krankenhaus-
behandlung mit Trennung von der Familie, auf die mangelhafte
Anlage des Verletzten einwirkten und so den Selbstmord hervor-
riefen. Es hat ferner oft fur genugend erachtet, wenn der Nachweis
erbracht war, daB die durch das Trauma verursachten psychischen
Symptome bei dem Entschlusse zur Tat wesentlich mitgewirkt
haben.
Beziiglich des indenReichs-Versicherungsamts-Entscheidungen
gebrauchten Ausdrucks: „freie Willensbestimmung“ fiihrt ubrigens
Koppen — mit vollem Recht — folgendes aus:
„Eine Unzurechnungsfahigkeit, durch die der freie Wille
ausgeschlossen ist, konnte popular etwa so aufgefaBt werden,
als wenn ein Zustand in Frage kommt, in dem eine Handlung
unter einem bestimmten auBeren Zwang steht und das Gefiihl,
frei gehandelt zu haben, fehlt.Jedenfalls muB betont werden,
daB die Anschauungen, welche beim Versicherungswesen gelten
miissen, nicht sich vollstandig decken konnen mit den An¬
schauungen, welche im Strafgesetzbuch den Leitstern bilden.
Man wird einen Unfallkranken anders beurteilen miissen als
einen gesunden Verbrecher. Wie weit unter solchen Verhaltnissen
der Mangel an Standhaftigkeit, Ausdauer und Selbstiiberwindung
in Ansatz zu bringen ist, wird sehr zu erortern sein.“
Wenn es fernerhin in der ersten Forderung heiBt, der Selbst¬
mord miisse „ohne Vorsatz“ ausgefiihrt worden sein, so ist psych-
iatrischerseits zu bedenken, daB diese Bedingung — im strengen
Sinne des Wortes — wohl nie erfiillt wird; die Ausfuhrung des
Suizids geschieht stets mit Vorsatz”, meist sogar nach reiflicher
langer Ueberlegung; aber die Motive zur Tat sind krankhafter
Natur, und die Hemmimgen fehlen. Andererseits ist wohl eine
Selbstentleibung „mit Vorsatz“ in dem Sinne, daB ein Verletzter
nur in der — alsdann irrtiimlichen — Erwagung Suizid begeht,
daB seine Hinterbliebenen einer Rente teilhaftig werden, also
ein „Rentensuchtsselbstmord“ (ich denke hier an Falle, die
solchen entsprechen wiirden, welche bei Lebensversicherungs-
gesellschaften vorkommen) ausgeschlossen. Dazu ist der Selbst-
erhaltungstrieb zu groB.
So kommt es denn, daB von psychiatrischer Seite, insbesondere
von Hiibner, betont wird, daB schon der Nachweis der zweiten
Forderung (die krankhafte Geistesstorung, die zum Selbstmord
fiihrte, muB Unfallfolge sein) zur Gewahrung der Hinterbliebenen-
rente geniigen wiirde. Am besten ware es — so fiihrt Hubner aus —.
von vomherein auf den Nachweis einer die freie Willensbestimmung
ausschlieBenden geistigen Storung ganz zu verzichten und das
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 313
Schwergewicht der Beweisaufnahme vielmehr lediglich auf den
Nachweis zu legen, daB der Selbstmord direkte oder indirekte
Unfallfolge ist. „Praktisch wiirde sich die Sache in jedem Falle
so gestalten, daB die Briicke zwischen Selbstmord und Unfall in
einer langere Zeit oder nur voriibergehend vorhandenen psychischen
Storung bestiinde, deren Existenz und Abhangigkeit von dem
Unfall nachgewiesen werden miiBte.“
Es ist hierbei ein selbstverstandliches Erfordemis, daB die
Verletzung ein Unfall im Sinne des Gesetzes war, d. h. durch
ein plotzlich in die Betriebstatigkeit eingreifendes Ereignis bedingt
wurde, daB es sich also z. B. nicht handelte um eine anhaltende
Berufsschadigung. Es ist ferner zu betonen, daB — wie dies ja
bei alien Unfallbegutachtungen gehandhabt wird — das Trauma
nicht ganz allein die psychische Storung herbeigefuhrt zu haben
braucht; es genttgt, wenn der Unfall als mitwirkender, auslosender
oder verschhmmernder Faktor figurierte.
Ein Beispiel dafiir, daB es auch vorkommen kann, daB die
Hinterbliebenen aus betriigerischer Absicht einen ausgefiihrten
Selbstmord als ,,Unfall“ anzeigen und somit pekuniaren Vorteil
fiir sich herauszuschlagen suchen, fiihrt Knepper an: In der Unfall-
anzeige hatte die Witwe angegeben.. ihr Mann habe auf dem
Scheunenboden nach dem Stroh sehen wollen, sei bei dieser Ge-
legenheit ausgeglitten, auf die Tenne gestiirzt und an den Folgen
dieses Unfalles kurz darauf gestorben. In Wirklichkeit lag aber,
wie durch die angestellten Ermittlungen unzweifelhaft erwiesen
werden konnte, ein Selbstmord vor; der schon seit langerer Zeit
deprimierte und suizidverdachtige Mann hatte sich in selbst-
morderischer Absicht von einem Geriist auf die Tenne herab-
gestiirzt und so den Tod gefunden.
II. Klinisches.
In der Literatur finden wir nur eine verhaltnismaBig geringe
Zahl von Fallen veroffentlicht, wo der Verletzte Selbstmord beging
und ein ursachlicher Zusammenhang zwischen letzterem und dem
Unfall angenommen werden konnte. Ich nenne hier nur die Falle
von Thiem, Viedenz, Quensel, E. Schultze, Jolly und ganz besonders
diejenigen von Hiibner , der iiber 40 Falle von Suizid nach Trauma
verfiigt.
Diesen Fallen aus der Literatur fiige ich zundchst die mir zu
Oebote stehende eigene Kasuistik, die ich ungefahr in der Form der
seinerzeit erstatteten Gutackten wiedergebe, an, um hieran unter
Wiirdigung der in der Literatur niedergelegten Anschauungen und
publizierten Falle meine epikritischen Bemerkungen und Schlufl-
folgerungen anzukniipfen.
Ich selbst verfiige iiber 7 Falle; in zwei derselben lag nur
ein SelbstmordversticA vor, in den fiinf iibrigen hatte der Versuch
den von dem Verletzten erwiinschten Erfolg gehabt.
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314 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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Gutachten I.
19 jahriger Arbeiter. Vor Unfall gesund. UnfaU : Huftquetschung .
Itn A nschlup daran hypochondrische Melancholie. Selbstmordversuch (Revolver-
schup in Herzgegend). Spdterhin Besserung des GemiUsleidens. Meldung
zum Wdrterdien8t in Irrenanstalt.
(Unfalls-Gutachten No. 1163.) O. K., Arbeiter, 19 Jahre alt. Vater
seit 15 Jahren verschollen. Mutter und 4 Geschwister gesund. Keine Nerven-
oder Gemiitskrankheiten in Familie. Ob Potus des Vaters vorlag, vermag
Pat. nicht anzugeben.
Bis Unfall stets gesund bis auf Masem im Alter von 3 oder 4 Jahren.
In der Schule einmal sitzen geblieben, sonst gut mitgekommen. Starke
Onanie wahrend der Schulzeit zugegeben. Potus und Geschlechtskrankheit
negiert.
Unfall am 11. V. 1900:
Pat. trug einen mit Stahlmagneten gefiillten Kasten die Treppe
hinab, glitt nach vom liber aus, fiel 4—5 Stufen hinab und zwar auf die
Stim, dabei fiel der Kasten in die Gegend des Riickens und der rechten
Hiifte. Keine Wunde. Keine BewuBtlosigkeit. K. konnte schlecht gehen,
hatte Schinerzen in der rechten Huftgegend, muflte die Arbeit aussetzen.
Der Arzt stellte am nachsten Tage eine Quetschung der rechten Hiifte
fest. 6—7 Tage spater begann Kopfschmerz. Dann 2 mal zwecks Beobach-
tung im Krankenhaus, daselbst gedriicktes, verschlossenes, miirrisches
Wesen festgestellt; Diagnose: Neurasthenic nach Trauma. Uebertreibung.
25 pCt. Unfallrente. Nach 3 Wochen Arbeit muBte K. seiner Beschwerden
wegen (Kopfschmerz und allgemeine Schwache) die Tatigkeit wieder aus¬
setzen. Oktober/November 1900 im Genesungsheim Heinersdorf. Da die
Beschwerden fortbestanden und er nichts verdienen konnte, wurde Pat.
in der Folgezeit sehr erregt und verzweifelt, er sorgte sich um seine Zukunft
und diejenige seiner Mutter, welcher er zur Last falien wurde , und kam so
zu dem EntschluB, sich das Leben zu nehmen. Nachdem er einen Brief
an seine Mutter geschrieben hatte, schoB er sich am 9. IV. 1901 mit einem
Revolver eine Kugel in die linke Brustseite; er fiihrte den Selbstmord¬
versuch im Humboldthain aus, fiel hin, wurde bewuBtlos ins Augusta-
Hospital gebracht, woselbst durch Rontgenaufnahme das GeschoB in dem
linken III. Zwischenrippenraum liegend erkannt wurde. Wahrend der
Krankenhausbehandlung oft trube Gedanken, Weinen, Furcht vor Geistes-
krankheit. Nach der Entlassung aus dem Augusta-Hospital wurde K. als
Krankenwarter in der Kgl. Charity angestellt; bei seiner Einstellung daselbst
verheimlichte er den Selbstmordversuch. Spater Pfleger in einer Kuranstalt.
Wahrend der von mir vorgenommenen Beobachtung imParksanatorium
zu Pankow bei Berlin (23. V./4. VI. 1902)klagte K. iiber allgemeineSchwache,
traurige Stimmung, Schmerz in der Stirngegend.
Der objektive Befund war bis auf Tatowierungen an den oberen
GliedmaBen und die von dem Suizidversuch herriihrende dreimarkstiick-
groBe Narbe unterhalb der linken Clavicula negativ. Wahrend der Be-
obachtungszeit oft st€u*ke Verstimmung, Weinen. Pat. auBert, daB er wohl
wegen Gexsteskrankheit mal nach Dalldorf rnupte , da es mit ihm gar nicht
besser werde. Nie Selbstvorwiirfe. Nach den Griinden fiir seinen Suizid¬
versuch befragt, auBerte er stets, daB es lediglich die Sorge um seine Zukunft
und die seiner Mutter gewesen sei, die ihn zu dem Entschlusse getrieben habe.
Gutachten : Der p. K. leidet an einer Gemiitskrankheit, die als hypo -
chondrische Melancholie zu bezeichnen ist. Die Sorge und die Angst um
seinen korperlichen und geistigen Zustand, insbesondere die Furcht, arbeits-
unfahig und geisteskrank zu werden, beschaftigen ihn fast dauernd. Damit
verbunden sind allerhand krankhafte Empfindungen, besonders im Kopf,
und ein allgemeines Schwachegefiihl. Diese Empfindungen sind das Produkt
der krankhaften Gemiitsstimmung und demnach als hypochondrische zu
bezeichnen.
Die Entwicklung der Krankheit ist in folgender Weise aufzufassen:
K. befand sich, als er den Unfall erlitt, in der sogenannten Entwicklungs-
periode, er hatte femer viel onaniert, und damit waren zwei Momenta
Go i igle
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 315
gegeben, welche der Entwicklung einer Krankheit dea Nervensy stems
giinstig waren. Der Unfall rief dawn auf dem disponierten Boden eine hypo-
chondrische Stimmung hervor , welche sich mit melancholischen Sorgen um
die Zukunft verband. In der nachfolgenden Zeit versuchte K. immer wieder
zu arbeiten, er muBte aber immer wieder aussetzen, weil seine durch die
hypochondrischen Vorstellungen geschwachten Krafte nicht ausreichten;
und als er schlieBlich sah, daB all die verschiedenen Versuche fehlschlugen,
griff er zum Revolver. Es ist eine nicht seltene Erfahrung, daB gerade
Menschen, welche von der Angst befallen sind, daB sie krank, speziell
geisteskrank werden wiirden, sich mit einer gewissen Vorliebe, sei es zum
arztlichen, sei es zum Warterdienst in die Irrenanstalten drangen, und
diese Erfahrung findet auch hier wieder eine Bestatigung.
Gutachten II.
48 jdhriger Arbeiter. Pot us in Familie. Pat. selbst friiher PotcUor.
UnfaU: Wadenbeinbruch und Brustquetschung. 6 Wochen nach dem UnfaU
Beginn einer hypochondrischen Melancholie. Selbstmordversuch (Strangulation
mit Hosentrdger).
(Unfalls-Gutachten No. 1524.) W. G., Arbeiter, 48 Jahre alt. Einige
seiner Briider sind starke Alkoholiker. Sonst keine Nerven- oder Geistes-
krankheiten in der Familie. G. ist 22 Jahre verheiratet und Vater von
5 Kindem. Friiher war er stark dem AlkoholgenuB ergeben, seit 3 Jahren
will er im GenuB geistiger Getranke auBerst maBig gewesen sein. Wieder-
holte innere Erkrankungen imd Verletzungen sind ohne nachbleibende
Storungen geheilt.
Unfall am 23. VI. 1905: Eine eichene Weichenschwelle fiel G. auf
das linke Bein, er selbst stiirzte mit der Brust gegen eine andere Schwelle.
Bruch des linken Wadenbeines und Quetschung der oberen Brustbein-
gegend. Der Knochenbruch war tun 19. VIII. 1905 geheilt, ortliche Folgen
der Brustquetschung waren nicht mehr nachzuweisen. Etwa 6 Wochen
nach dem Unfall hatten sich Angst- und Druckgefiihl in der Brust, Schlaf-
losigkeit und im weiteren Verlauf melancholische Ideen eingestellt. G. dufierte
einem A rzte gegeniiber, daft er sehr krank sei und nicht mehr werdegesund werden ,
nie mehr wieder werde arbeiten konnen. Als G. die Aufforderung der Berufs-
genossenschaft erhielt, sich am 23. IX. 1905 zur Aufnahme in die mediko-
mechanische Anstalt zu Posen zu melden, geriet er in einen Zustand dauemder
Unruhe, er glaubte, daB er von dort nicht mehr lebend zu den Seinigen
zuriickkehren werde. Seine Familie muBte verhungem, seine Kinder miiBten
zugrunde gehen. Er weinte sehr viel, nahm wenig Nahrung zu sich, war
schlaflos und trug sich mit Selbstmordgedanken.
In der Klinik zeigte er ein scheues, angstliches Wesen, deprimierte
Gemiitsstimmung, er bot das Bild der hypochondrischen Melancholie mit
Wahnvorstellungen und machte einen Selbstmordversuch durch Strangu-
lieren mit dem Hosentrager.
Gutachten: G. hatte ein wenig widerstandsfahiges Gehim, er war
insofern erblich belastet, als in seiner Familie Neigung zum Alkoholismus
bestand, er selbst war langere Zeit Alkoholist gewesen und — wie sich aus
den Akten ergibt — ein geistig etwas beschrankter Mensch. So konnte die
im AnschluB an den erlittenen Unfall entstandene Vorstellung, daB er nicht
wieder gesund, nicht wieder erwerbsfahig werden wiirde, leicht, ohne Wider-
stand zu finden, in seinem Seelenleben Platz fassen, und daran kniipfte
sich dann logisch, aber doch in krankhafter Begriindung, die Vorstellung,
daB er und seine Familie zugrunde gehen miissen. Auf dem Boden hypo-
chondrischer Vorstellungen entwickelte sich ein Depressionszustand mit
Wahnvorstellungen und dem Selbstmordversuch.
Das Gemiitsleiden des G. und der Suizidversuch stehen damit in
mittelbarem ursachlichem Zusammenhang mit seinem Unfall.
Gutachten IIL
48 jdhriger Arbeiter. Bis UnfaU gesund. UnfaU: Brustquetschung.
Schliisselbeinbruch. Nach UnfaU verdndertes Wesen , hypochondrische Vor-
Honatetchrift f. P&ychlatrte a. Neurolojrie. Bd. XXXIU. Heft 4. 21
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316 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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steUungen , Depression. Rentenherabsetzung , Ueberweisung an Armendirektion.
4 umniindige Kinder. Selbstmord ( Erhdngen ).
(Unfalls-Gutachten No. 394.) H. K., Arbeiter, 48 Jahre alt. 21 Jahre
verheiratet, Vater von 5 Kindera im Alter von 20, 12, 10, 5 und 4 Jahren.
Potus negiert. Bis Unfall gesund.
Unfall am 8. XII. 1893: K. wurde von 5 Sacken Kartoffelmehl
(A 2 Zentner) gegen ein eisernes Gelander gedriickt. Linksseitiger Schliissel-
beinbruch. K. sah unmittelbar nach dem Unfall sehr blafi aus und sprach
fast nichts. Der Schliisselbeinbruch heilte gut, es blieb eine leichte Atrophie
der linken Schultermuskulatur zuriick. Deshalb Behandlung (Massage
und Elektrisieren) in einem mediko-mechanischen Institut. 33 1 /* proz. Un-
fallrente, dann Besserung: 15 pCt. K. wurde vorzeitig aus dem Institute
entlassen, „weil sein Betragen derart renitent und aufsassig wurde, daB
dadurch der Fortgang der Besserung gehemmt wurde* 4 . Gegen die Herab-
setzung der Unfallrente seitens der Berufsgenossenschaft legte K. am
30. X. 1894 die Berufung ein, nahm sich jedoch bereits am 2. XI. 1894
durch Erhangen das Leben. Berufsgenossenschaft imd Schiedsgericht
lehnten die Anspriiche der Witwe ab, indem sie einen Zusammenhang
zwischen dem Selbstmord und dem erlittenen Unfall nicht anerkannten.
Die Witwe legte Rekurs beim Reichs-Versicherungsamt ein. Aussagen
von Zeugen ergaben nun des weiteren folgendes: Nach dem Unfall zeigte K.
ein verandertes Wesen, er fiihrte ofter unzusammenhangende Reden, saB
haufig hinbriitend da und sprach davon, daB er sich das Leben nehmen
miisse, weil er brank bleiben und nicht mehr sein Auskommen haben werde.
Dieser Zustand verschlimmerte sich immer mehr. Wiederholt auBerte K.:
„Der Unfall ist mein Tod. 44 Diesen Satz schrieb er auch kurz vor dem
Erhangen zum Abschiede fur seine Familie auf das Fensterbrett auf.
Gutachten : Nach den ubereinstimmenden Aussagen der Zeugen kann
es nicht zweifelhaft sein, daB nach dem Unfall eine Veranderung in dem
geistigen Befinden des K. eingetreten ist, und zwar bestand diese Ver¬
anderung in einer hypochondrischen Geistesstorung : K. war der Ansicht,
daB nicht nur die Schadigung in der Bewegungsfahigkeit des linken Armes,
sondern auch andere Storungen in seinem Zustande durch den Unfall
hervorgebracht worden waren, welche ihn in der Zukunft fiir die Arbeit
unfahig machten („der Unfall ist mein Tod 4 *). Es muB angenommen werden,
daB der Gedanke an das durch den Unfall fiir ihn geschaffene Elend ihn
unaufhorlich beschaftigte, daB er keinen Ausweg aus jenem Zustande sah
und auch von einer Fortsetzung der Behandlung im mediko-mechanischen
Institut sich keine Besserung versprach, deshalb daselbst ,,renitent und
aufsassig 44 wurde. Auf diese hypochondrische Geistesstorung muBte selbst-
verstandlich die Mitteilung, daB die Rente weiterhin gekiirzt werden solle,
den nachteiligsten EinfluB ausiiben, desgleichen die Tatsache, daB er der
Armendirektion iiberwiesen wurde und fiir vier unmiindige Kinder noch
zu sorgen hatte. So wird es erklarlich, daB beides zusammen, die hypo¬
chondrische Geistesstorung, welche ihm das Bestehen einer unheilbaren
Krankheit vortauschte, und die Tatsache, daB er aller Mittel entbloBt war,
zum Selbstmord trieb, welch letzterem kurz voranging die Niederschrift
des wesentlichen Inhalts seiner krankhaften Vorstellung: „Der Unfall ist
mein Tod. 44 Wenn unter diesen Umstanden der Selbstmord des K. sich im
wesentlichen erklart aus der hypochondrischen Geistesstorung, die nach
dem Unfall auftrat, so entsteht die weitere Frage, ob diese Geistesstorung
auch wirklich durch den Unfall bedingt ist. Diese Frage ist unbedingt zu
bejahen, zumal anzunehmen ist, daB anlaBlich des Unfalls, welcher eine
starke Erschutterung und Kreislauf storung samtlicher Korperorgane
hervorrief, eine heftige Gemiitserregung, ein psychischer Shock bei K.
eingetreten ist.
Der am 2. XI. 1894 durch Erhangen begangene Selbstmord des K.
ist demnach unter dem EinfluB einer mit dem Unfall vom 8. XII. 1893
in unmittelbarem ursachlichem Zusammenhang stehenden Geisteskrankheit
(hypochondrische Melancholie) veriibt worden.
Gck igle
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 317
Gutachten IV.
41 jahriger Arbeiter. Keine Belastung. Bis UnfaU nie erheblich krank.
Unfall: Erschiitterung der WirbelsauU durch zwei Zentner schweren, auf
ihn fallenden Sack. In der Folgezeit Brust- und Riickenschmerzen , dann
unfreiunlliger Samenabgang. Hypochondrische Verstimmuug. Selbstmord
durch Erhangen.
(Unfalls-Gutachten No. 928.) G. H., Arbeiter, 41 Jahre alt. Keine
Nerven- oder Geisteskrankheiten in Familie. Vier gesunde Kinder. Lues
negiert, ebenso Potus. Wahrend seiner Militarzeit erlitt er auBerdienstlich
eine Verstiimmelung der einen Hand. 1894 Quetschung der Zehen. 1891
und 1894 Influenza.
Unfall am 24. X. 1895: H. fiel, einen Zuckersack im Gewicht von
2 Zentnern tragend, hin, der Sack auf ihn hinauf. Er trug an demselben
Tage noch weitere Sacke, mufite aber spater leichtere Arbeit verrichten,
weil er die Sacke nicht tragen konnte. H. klagte sofort nach dem Unfall
iiber Kreuz- und Brustschmerzen. Objektive Zeichen der Verletzung
konnten 2 Tage nach dem Unfall nicht festgestellt werden. H. arbeitete
mit Unterbrechung bis zum 2. I. 1896 und nahm am 21. I. seine Entlassung
aus der Fabrik, weil er seine Arbeit nicht mehr voll verrichten konnte.
Er war dann spater mit Unterbrechungen von 1—3 Wochen bis zum 5. III.
1897 bei einem anderen Arbeitgeber als Bauarbeiter beschaftigt.
Vom 2. III. bis 25. V. 1897 war er in arztlicher Behandlung, und zwar
wegen Riickenschmerzen, Erloschens des Geschlechtstriebes, unfrei-
willigen Samenabgangs, Appetit- und Schlaflosigkeit. H. aufierte dem Arzte
gegeniiber , dafi man die Schwere seines Leidens nicht erkenne y er bitte ihn
instdndig um eine nochmalige intensive Unlersuchung. Vom 20.—26. IV. 1897
wurde er in einem Krankenhause wegen Rheumatismus behandelt. Nach
Entlassung aus dem Krankenhause begab er sich wegen obiger Beschwerden
sowie haufiger nachtlicher Pollutionen zu einem seiner Krankenkasse nicht
zugehorigen Arzte. Am 25. V. 1897 machte H. durch Erhangen seinem
Leben ein Ende. Ein hinterlassenes Sclireiben beginnt fo 1 gendermaBen:
,,Meine Stunden sind gezahlt, ich bin nicht mehr zu helfen, aus dem Kreuze
und Brust werde ich’s nicht wieder los, und die Schmerzen werden immer
mehr und nicht weniger. 44
Gutachten: Dariiber, daB H. in einer hypochondrischen Gemiits-
stimmung in den Tod gegangen ist, kann nach seinem Abschiedsbrief nicht
zweifelhaft sein; die Schmerzen, welche sich stetig steigern, zusammen
mit der sicheren Ueberzeugung, daB ihm nicht zu helfen sei, trieben ihn
zum Selbstmord. Diese hypochondrische Stimmung auBerte sich auch
in seiner Angabe dem Arzte gegeniiber, daB man die Schwere seines Leidens
nicht erkenne, sowie in dem Umstande, daB er mehrmals andere Aerzte
neben seinem Krankenkassenarzt konsultierte, welche er aus eigenen
Mitteln bezahlen muBte. Nach dem vorliegenden Aktenmaterial muB aber
angenommen werden, daB diese Hypochondrie sich entwickelt hat aus den
Schmerzen, iiber welche er besonders an Brust und Riicken klagte und
auch aus dem unfreiwilligen SamenfluB, welcher in der letzten Zeit seines
Lebens ihn ganz besonders belastigte. (Die Erfahrung lehrt, daB hypochon¬
drische Stimmungen sich ganz besonders haufig mit solchen Samenfliissen
verbinden.) Zwischen den Beschwerden des H. und seinem Unfall besteht
aber ein zeitlicher und somit mit Wahrscheinlichkeit auch ein ursachlicher
Zusammenhang: eine Last von 2 Zentnern ist H. auf den Riicken gefallen,
und diese geniigt unzweifelhaft sehr wohl, um eine Erschiitterung der
Wirbelsaule und des Riickenmarks herbeizufiihren, auch wenn auBere
Verletzungen dabei nicht nachweisbar sind. Es ist nach allem anzunehmen,
daB H. infolge der am 24. X. 1895 erlittenen Erschiitterung des Inhalts
des Wirbelkanals Riickenschmerzen und spater unfreiwilligen Samen¬
abgang bekommen hat, daB infolge dieser Leiden und infolge der dadurch
herbeigefiihrten beschrankten Arbeitsfahigkeit sich eine Hypochondrie
entwickelt und daB die durch die Hypochondrie hervorgerufene Verzweiflung
an der Zukunft ihn in den Tod getrieben hat. Es ist demnach der Selbst¬
mord als Folge des erlittenen Unfalls anzusehen.
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318 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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Gutachten V.
40 jdhriger Kaufmann. Keine erbliche Belastung. Lues zugegeben.
UnfaU: Stop gegen die Brust. lm AnschluP hieran Neurasthenie, in der
Folgezeit hypochondrische Qedanken und depressive Stimmung. Hinzu kamen
Geschaftssorgen , Krankheit der Ehefrau , lange ProzePdauer. Schlieplich
Selbstmord.
(Unfalls-Gutachten No. 1279.) K. K., Kaufmann, 40 Jahre alt.
Keine erbliche Belastung. Lues zugegeben, doch seit 1884 keinerlei Zeichen
inehr davon.
Unfall am 13. IV. 1901: Ein Passagier eines StraBenbahnwagens,
der sich mit ihm auf dem Hinterperron befand, stieB mit dem Ellbogen
gegen die Brust des K. Im AnschluB hieran entwickelte sich eine typische
Neurasthenie, welche zunachst eine Herabsetzung der Erwerbsfahigkeit
auf 33 1 / i pCt. bedingte imd sich besonders darin kundgab, daB K. beim
Biicken an der verletzten Stelle Schmerzen bekam, nicht lange aufrecht
sitzen konnte, schlecht schlief und an Kopfschmerzen litt. Am 3. V. 1903
hatte K. einen Weinkrampf von ca. 1 y 2 stundiger Dauer. Laut Zeugen-
aussage wurde dann spater K. zweimal „wimmernd und apathisch“ auf
der Chaiselongue liegend angetroffen. Femer klagte K. des ofteren dariiber,
daB ihn die verklagte StraBenbahn als Saufer hinstelle, was er geradezu
als Gemeinheit bezeichnet. Oft qualte ihn in der Folgezeit der Gedanke,
dap er fur sein Kind nicht mehr werde sorgen konnen , wie er es wiinsche ;
er wisse nicht mehr, was er beginnen solle. 10 Tage vor dem Tode des K.
muBte seine Ehefrau zweeks einer schweren Operation ins Krankenhaus
gebracht werden. K. auBerte damals wiederholt, was aus dem Kinde werden
solle, wenn seine Frau stiirbe, er selbst wurde wohl auch nicht mehr lange
leben. Er wurde dann voUig apathisch, muBte zum Essen herangeholt
werden, klagte iiber Frost, so daB er ins Bett gebracht werden muBte.
Am 5. X. 1902 beging K. Selbstmord. Es bestanden nie objektive Zeichen,
die fur ein organisches Nervenleiden sprachen, insbesondere war progressive
Paralyse auszuschlieBen.
Gutachten: K. befand sich in den letzten Wochen seines Lebens in
einer melancholisch-hypochondrischen Stimmung. Aus dieser Stimmung
heraus entwickelte sich die Idee des Selbstmordes, welche K. dann zur
Ausfiihrung brachte. Eine Reihe tatsachlicher Momente (schlechte Ge-
schaftslage, Krankheit der Ehefrau) hat unzweifelhaft eingewirkt, um K.
betriibt fur die Gegenwart und sorgenvoll fiir die Zukunft zu machen.
Dazu kam dann auch der langjahrige Proz^B, welchen er gegen die StraBen¬
bahn fiihrte, und welcher zu einem definitiven AbschluB immer noch nicht
gebracht worden war.
In ahnlichen und noch viel schlimmeren Umstanden befindet sich
eine groBe Anzahl von Menschen, ohne daB sie zum Selbstmord getrieben
werden, und es ist daher in dem Falle des Selbstmordes immer noch nach
einem besonderen Moment zu suchen, welches den Selbstmorder in seinem
Kampfe mit den ungiinstigen Bedingungen des Lebens zum Unterliegen
brachte. In vielen Fallen ist hier die erbliche Anlage, das mehrfache Vor-
kommen von Selbstmord in der Familie, das schlieBlich Entscheidende.
Im vorliegenden Falle laBt sich in der Vorgeschichte nichts finden, was
jenes auslosende Moment bilden konnte. Sicher ist es nicht die durch-
gemachte Syphilis, zumal dieselbe seit dem Jahre 1884 keinerlei Zeichen
mehr hervorgerufen hatte. Das einzige, was hier in Betracht kommt, ist
die Schwachung des Nervensystems, welche durch den Unfall vom 13. IV.
1901 hervorgebracht wurde. Die durch diesen Unfall bedingte Neurasthenie
hat ihm die Widerstandskraft genommen. SchlieBlich weiB er auch den
auBeren ungiinstigen Umstanden, welche auf ihn eindringen, keine Kraft
entgegenzusetzen, und aus dem Gefiihl heraus, dem gegeniiber ohnmachtig
zu sein, tritt der Selbstmordgedanke bei ihm auf.
Nach allem ist der Selbstmord des K. als eine Folgewirkung des
am 13. IV. 1901 erlittenen Unfalls insofem anzusehen, als die durch den
letzteren bewirkte Schwachung des Nervensystems dem K. die Wider-
Go. gle
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 319
standsfahigkeit geraubt hat, die notwendig war, nm den verschiedenen anf
ihn eindringenden depresaiven Einflussen Widerstand zu leisten.
Gutachten VI.
47 jahriger Kachelschleifer. Keine erbliche Belastung. Kranke Ehefrau.
Ein unmiindiges Kind. Unfall: Fall von der Treppe aufs Gesafi. Im Anschlufi
daran Hdmatomyelie , dann hypochondrische Melancholic. Selbstmord.
(Unfalls-Gutachten No. 1388.) K. B., Kachelschleifer, 47 Jahre alt.
Keine erbliche Belastung. Zwei Kinder von 19 bezw. 8 Jahren. Seine
Ehefrau soli krank sein und Lungenbluten haben. Er selbst war bis zum
Unfall gesund. Keine Lues, kein Potus.
Unfall am 27. V. 1904: B. stiirzte eine Treppe von 16 Stufen herab;
er fiel auf das GesaB, wo die Haut in groBerer Ausdehnung rotblau verfarbt
war. Es traten auch in der ersten Zeit Beschwerden beim Urinlassen ein,
und geringe Mengen von Blut zeigten sich im Urin. Wahrend in der Folge-
zeit einzelne Beschwerden zuriickgingen, trat eine bedeutende Abnahme
der Wadenmuskulatur und Schwache der Beine auf, und der Patellarreflex
fehlte beiderseits. Die Stiminung des B. wurde auBerst gedriickt, er ver-
zweifelte an jeder Besserung , sah seinen Ruin vor Augen und bedauerte seine
Familie , die verhungem miisse. Am 17. VIII. 1904 machte B. seinem Leben
durch Erhangen ein Ende.
Gutachten: Durch den Unfall vom 27. V. 1904 hat B. eine Blutung
in das Riickenmark (Hamatomyelie) erlitten (Storungen des Urinlassens,
Fehlen der Kniereflexe, Parese der unteren Extremitaten, Atrophie der
Wadenmuskulatur). Wenn auch die sich entwickelnde Besorgnis des B.,
daB er in Zukunft nicht wieder arbeitsfahig werden wiirde, nicht als unbe-
rechtigt erscheinen und dabei ihm das Schicksal seiner kranken Frau und
seiner unmiindigen Tochter ihn die Zukunft als bcsonders triibe erscheinen
lassen muBte, so muB man doch auf der anderen Seite sagen, daB die hoch-
gradig verzweifelte Stimmung, wie sie sich in AeuBerungen seiner Frau,
dem Arzte und seinen Arbeitskollegen gegeniiber kundgab, als eine krank-
hafte und als eine hypochondrisch-melancholische zu bezeichnen ist. Infolge
Mitschadigung der Hirnfunktionen (neben der Las ion des Ruckenmarks,
die zu krankhaften Storungen im Gehirn bekanntlich disponiert) fehlte
dem B. die Kraft der hemmenden Vorstellungen, welche eine durch den
Zustand sich entwickelnde und nahegelegte Neigung zum Selbstmord an
der Ausfiihrung zu hindem und die Umsetzung des Triebes in die Tat zu
hemmen imstande sind.
Nach Lage des Falles ist demnach mit ausreichender Wahrscheinlich-
keit anzunehmen, daB der Unfall vom 27. V. 1904 zu einer geistigen Ge-
stdrtheit des B. gefiihrt hat, und demnach der Selbstmord des B. als mitt el-
bare Folge seines Unfalles anzusehen ist.
Gutachten VII.
36 jahriger Arbeiter. Keine hereditdre Belastung. Bis UnfaU gesund.
UnfaU: Kopfverletzung mit kurzdauemder Bewufitlosigkeit. Dann typische
Neurasthenic post trauma. Auf dem Boden der neurasthenischen Beschwerden
entwickelt sich eine Hypochondrie. Angst vor dem Irrenhaus. Selbstmord.
(Unfalls-Gutachten No. 1584.) A. Sch., Arbeiter, 36 Jahre alt. Keine
Nerven- und Geisteskrankheiten in Familie. 4 Briider gesund. 1 Bruder
soli dem Trunk© ergeben sein. 2 Kinder gesund. Sch. selbst negiert Potus
und Lues. Bis Unfall gesund.
UnfaU am 23. VII. 1903: Es fiel ihm ein iy 4 m langer Balken auf
den Kopf, Sch. schlug mit der Stim auf die herausgezogene Unterform
seiner Press© auf. Wurde bewuBtlos ins Freie getragen, wo er alsbald zu
sich kam. Keine Wunde, kein Erbrechen, kein Blut aus Mund, Nase oder
Ohren. Er arbeitete nach 2 Stunden weiter und zwar noch 2 Tage. Dann
Aussetzen der Arbeit wegen Kopfschmerzen. Allmahliche Verschlimmerung.
Zu den Kopfschmerzen trat Schwindel, Erregbarkeit, Appetit- und Schlaf-
losigkeit hinzu.
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320 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
Die Beobachtung im Parksanatorium zu Pankow bei Berlin (3. bis
17. V. 1904) ergab eine typische Neurasthenie post trauma (Tremor linguae
et manuum, lebhafte Kniereflexe, Pulsbeschleunigung, Romberg). In Bezug
auf den geistigen Zustand wurden irgendwelche Abnorrnitaten wahrend der
Zeit der klinischen Beobachtung nicht festgestellt. Unfallrente von 33 1 /, pCt.
Bei spateren Untersuchungen zeigte Sell, ein etwas erregtes, miirrisches
Wesen, spater gab er an, daB er sich mit Selbstmordgedanken trage, weil
er befiirchtete , er konne ins Irrenhaus Jcommen. Am 10. XII. 1905 war Sch.
zu Bett gegangen, er erhob sich kurz darauf noch einmal mit den Worten:
„Ich muB noch einmal auf den Hof gehen, die Hoftiire offnen, damit der
fehlende Hund hineinkann.“ Von diesem Gange kehrte er nicht wieder
zuriick, und als man nach ihm suchte, fand man ihn an der AuBentiire
aufgehkngt.
Qutachten : Die Ursache des Selbstmordes des Sch. liegt zweifellos
in einer hypochondrischen Geistesstorung. Die durch die tatsachlichen
Verhaltnisse nicht begriindete Furcht vor der Unheilbarkeit seines Leidens
und die aus seinen Kopfbeschwerden entspringende Angst vor dem Irren-
liause hat ihn in den Tod getrieben. Diese hypochondrische Geistesstorung
ist nicht als eine clireJcte Folge der erlittenen Kopfverletzung zu betrachten.
Ware sie direkt durch den Unfall hervorgebracht worden, so wurden die
Zeichen derselben wahrend der Beobachtung im Parksanatorium, welche
% Jahre nach dem Unfall erfolgte, hervorgetreten sein, sie zeigten sich
aber weder hier noch bei einer 5 Monate spater erfolgten arztlichen Unter-
suchung. Sie sind jedenfalls erst im Laufe des Jahres 1905, also etwa zwei
Jahre nach dem Unfalle, aufgetreten. Es muB aber als sehr wahrsclieinlich
erachtet werden, daB ein indirelcter Zusammenhang zwischen hypochon-
drischer Geistesstorung und dem dadurch bedingten Selbstmord einerseits
und dem Unfalle andererseits besteht, und dies um so mehr, als die F.r-
mittlungen irgendeine andere Ursache fiir den Selbstmord nicht haben
finden lassen. Sch. gab sich den durch den Unfall hervorgerufenen neur-
asthenischen Beschwerden hin, ohne ihnen irgendwelchen Widerstand,
irgendwelche Ablenkung durch Arbeit entgegenzusetzen. Die Neurasthenie
bUdete den Uebergang zu dem hypochondrischen Hinbriiten liber seine
Beschwerden, das Zwischenglied zwischen Unfall und der spater auftretenden
hypochondrischen Depression des Verletzten. Die bittere Armut, welche
in seinem Hause herrschte, mag mit dazu beigetragen haben, die geistige
Storung hervorzurufen.
Somit ist der Selbstmord infolge einer hypochondrischen Geistos-
storung erfolgt, welch letztere zwar nicht direkt durch don Unfall hervor-
gerufen worden ist, sich aber auf dem Boden der durch den Unfall bedingten
neurasthenischen Beschwerden entwickelt und bei ungiinstigen auBeren
Verhaltnissen und dem Mangel an Widerstandskraft seitens des Verletzten
zum Selbstmorde gefiihrt hat. Der Selbstmord steht deinnach in ursach-
lichem Zusammenhang mit dem am 23. VII. 1903 erlittenen Unfalle.
Sehen wir das vorliegende Material beziiglich einiger Fragen,
welche auf den Selbstmord und seine Beziehungen zum Unfall
Bezug haben, durch, so ergibt sich folgendes:
A. Lebensalter der Begutachteten.
Fall I 19 Jahre
II 48 „
„ III 48
.. IV 41 .,
V 40 „
„ VI 47 ..
VII 36 „
Demnach: Durchschniltsalter: 40 Jahre.
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^ Google
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 321
Nach Hubner fallen die hochsten Selbstmordzahlen bei Unfall-
kranken in das Alter von 30—49 Jahren, was durchaus verstandlich
sei, da dieses Alter wohl auch die meisten gewerblichen Arbeiter
stellt. Im iibrigen, d. h. bei Nioht-Unfallverletzten, erfahren die
Selbstmorde mit zunehmendem Alter eine'allmahliche Steigerung
(Gaupp, Hubner) ; sie weisen ferner zur Zeit der Pubertat einen
leichten Anstieg auf.
Hier einige Zahlen:
Maximum der Selbstmorde in der Lebensepoche
nach Pilcz .von 21—30
,, Dupin . ,, 41—50
,, Prevost . % ,, 50—60
,, Heller bei Mannern 31—50, bei Frauen 21—30
„ Morselli .von 40—50
„ Tissot . „ 20—30
„ Pfeiffer .meist urn das 30. Lebensjahr.
Bei meinem Material mag das verhaltnismaBig jugendliche
Alter im ersten Falle hervorgehoben werden; hier hatten entschieden
die Entwicklimgsperiode, in welcher sich der Verletzte befand,
und starke Onanie das Terrain geebnet, auf welchem dann der
Unfall das Gemutsleiden ausloste. Sonst entsprach das Alter
demjenigen, in welchem auch sonst Unfallkranke zur Begutachtung
kommen; daB ein hoheres Lebensalter als das 49. nicht vertreten
ist, stimmt mit der Tabelle Huhners insofern iiberein, als auch
hier vom 50. Jahre ab ein deutlicher Abstieg der Selbstmorde seiner
Unfallkranken verzeichnet ist.
Um einen Beitrag zu der Frage zu liefern, in welcher Jahreszeit
bzw. in welchem Monat Selbstmorde am haufigsten vorkommen,
dazu ist mein Material zu klein, auBerdem spielen gerade bei Unfall¬
kranken andere Momente (Zeit des Unfalls. Ablehnungsbescheid,
besondere Notlage) mit, welche gewichtiger sind als der EinfluB
seitens der Jahreszeit. Bekanntlich erfahren sonst Selbstmorde im
Friihjahr einen erheblichen Anstieg, der im Laufe des Sommers
zuriickgeht; die Hochstzahlen liegen nach Hubner, Mathews,
Ferrini, Geek im Juni und Juli, nach Pilcz und Masaryk im Mai,
nach Gaupp im Mai und Juni, nach Weir im Juli/September.
nach Diez im November, nach Pfeiffer im Februar, Juni, Oktober.
DaB bei unseren Kranken die Wintermonate bevorzugt sind, mag
mit der in denselben herrschenden groBeren Notlage in Ver-
bindung stehen.
Ebenso wie fiir die Frage der Jahreszeit, in welcher der Selbst¬
mord erfolgte, ist auch betreffs des Berufes des Selbstmorders sowie
betreffs der Frage, ob verheiratet oder ledig, mein Material ohne
wesentlichen Belang.. Da fast stets die materielle Sorge um die Zu-
kunft eine Hauptrolle bei dem Vorsatz zur Tat spielt, erscheint es
nicht auffallig, daB alle Verletzten — bis auf den ersten, erst
19 jahrigen — in nicht kinderloser Ehe verheiratet sind; im Fall III
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322 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverleteten.
war entschieden das Vorhandensein von 4 noch unmiindigen Kindern
mit ausschlaggebend bei dem EntschluB zur Tat. Nach Gaupp,
welcher Selbstmorder im allgemeinen beriicksichtigt, weisen ledige,
verwitwete und geschiedene Personen sowie kinderlose Ehen mehr
Selbstmorder auf.
B. Todesart.
Fall I: RevolverschuB.
,, II: Strangulation mit Hosentrager.
,, III: Erhangen.
,, IV: Erhangen.
., V: nicht mehr sicher zu eruieren.
,, VI: Erhangen.
„ VII: Erhangen.
In der iiberwiegenden Mehrzahl der Falle war demnach das
Erhangen gewahlt worden.
Betreffs der Todesart ergibt die Tabelle Hubners bei seinen
40 unfallverletzten Selbstmordem folgendes Ergebnis:
durch Erhangen.23
„ Ertranken. 8
„ ErschieBen. 3
„ Vergiften. 2
„ Halsdurchschneiden. 2
,, Ueberfahren. 1
„ Stichverletzung. 1
Hubner fiigt diesen Zahlen die Betrachtung hinzu, daB fast stets
ZweckmaBigkeitsgriinde, Nachahmung oder lokale Umstande,
erstere aber vornehmlich, fur die Wahl der Todesart maBgebend
waren. Das Erhangen wurde anscheinend deshalb bevorzugt, weil
die dazu erforderlichen Bequisiten (Hosentrager, Handtuch, Leib-
riemen) zur Zeit des Entschlusses an dem Orte, an dem sich die
Kranken befanden, gerade vorhanden waren.
Bekanntlich sind die Todesarten der Selbstmorder sehr mannig-
facher Art, und es ist zumeist nicht moglich, aus dem Mittel, welches
der Selbstmorder zur Erreichung seines Zieles benutzt, einen
SchluB zu ziehen auf den Geisteszustand des Taters zur Zeit der Tat
bzw. auf die Art seines Gemiitsleidens. Noch weniger erlaubt ist es,
aus der Todesart bzw. aus der Art der Ausfiihrung, der Umsicht und
Ueberlegung etwa den SchluB auf geistige Gesundheit ziehen zu
wollen, wie dies von juristischer Seite zuweilen geschieht. Fiir
einzelne Krankheiten gibt es allerdings Pradilektionstodesarten:
der Hysterische sucht nicht selten „in Schonheit" zu sterben,
indem er — fast stets bleibt es bei dem Versuche — dramatisch und
erfindungsreich vorgeht, der Epileptiker wendet oft brutale Gewalt
an und bedient sich der SchuBwaffe, der typische Melancholiker
mit Selbstvorwiirfen geht zuweilen einem moglichst qualvollen
Tode entgegen; beim vorgeschritten Dementen soli die Todesart
nicht selten besonders ausgefallen und grausam sein, der Paranoiker
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unf silver lets, ten. 323
bevorzugt das Oeffnen der Pulsader. Im allgemeinen wird aber doch
der nachstliegende Weg gewahlt. An Haufigkeit steht obenan der
Tod durch Erhangen, besonders auch bei Insassen von Irren-
anstalten; dann folgt derjenige durch Ertranken; bei Frauen soli
allerdings letzteres haufiger sein als das Erhangen. Pilcz fand bei
Frauen als haufigste Todesart das Vergiften, bei Mannern das Er¬
hangen, desgleichen Heller, Rehfisch, Littlejohn, Buschan, Thomsen,
Beer. Bei Sichels 18 Selbstmordern erfolgte der Tod 12 mal durch
Erhangen, je 2 mal durch ErschieBen, Sturz aus dem Fenster und
durch Lysol. Pfeiffer fand am haufigsten Erhangen (35 pCt.) und
ErschieBen (34 pCt.), dann folgt mit je 12 pCt. Vergiften und Er¬
tranken; letzteres beides herrscht bei der Frau, ersteres beim
Manne vor. Nach der preuBischen Statistik soli am haufigsten
das ErschieCen vorkommen, dann Ertranken, viel seltener Erhangen.
Wenn in der groBen Mehrzahl meiner Falle das Erhangen
gewahlt wurde, so schreibe ich dies, in Uebereinstimmung mit
Hubner, lokalen Umstanden zu. Keinesfalls gestattete die Wahl
der Todesart irgendwelche Schliisse auf die Diagnose des Gemiits-
zustandes, der zur Tat fuhrte.
In 38 von 40 Fallen Hiibners gliickte der Selbstmord, bei
meinen 7 Fallen gliickte er 5 mal, wahrend es 2 mal beim Suizid-
versuch blieb.
C. Art des Unfalls.
Fall I: Hiiftquetschung.
II: Fall auf Brust. Unterschenkelbruch, Brustquetschung.
,, III: Brustquetschung. Schliisselbeinbruch.
,, IV: Erschiitterung der Wirbelsaule durch schweren herab-
fallenden Sack, Brust- und Riickenquetschung.
,, V: StoB gegen die Brust.
VI: Fall von der Treppe aufs GesaB.
,, VII: Schadelquetschung durch fallenden Balken.
Beziiglich der Art des Traumas schreibt Schultze mit vollem
Recht wie folgt: „Das Reichs-Versicherungsamt hat mehrfach „aus
der Art der Verletzung" den SchluB gezogen, daB „eine geistige
Umnachtung“ zur Zeit des Selbstmordes nicht vorgelegen hat. Es
ist nicht moglich, so bestimmte Beziehungen zwischen der Art
der Verletzung und der Schwere der Psychose allgemein fest-
zustellen. Die Moglichkeit kann nicht scharf genug hervorgehoben
werden, daB auch eine leichte Verletzvmg, vor allem bei einem von
Haus aus schon minderwertigen oder labilen Menschen, eine
geistige Stoning nach sich ziehen kann, die zu den lebhaftesten
Affektschwankungen fiihrt und so den Selbstmord ermoglicht.
GewiB wird eine Verletzung schlechtweg, und vor allem eine Kopf-
verletzung, um so eher eine Psychose nach sich ziehen, je schwerer
sie ist; aber man darf den Satz nicht umkehren und ihn verall-
gemeinem, besonders nicht, nachdem uns die Unfallgesetzgebung
mit psychogenen Storungen noch vertrauter gemacht hat.“
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324 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
In den iibrigen Arbeiten findet man kaum allgemeinere Be-
trachtungen fiber die Beziehungen des Selbstmordes zu der Art des
stattgehabten Unfalls. Nach Leppmann sollen, wie ich aus einem
von ihm gehaltenen Vortrage erfuhr, Beschadigungen der Augen
besonders haufig zur Hypochondrie nebst Suizid ffihren. Bei der
Durchsicht von Hubners Fallen von Selbstmord Unfallverletzter
fiel mir auf, daB verhaltnismaBig selten das Trauma eine Ver-
letzung des Kopfes darstellte; vielmehr handelte es sich zumeist um
Quetschungen der Extremitaten oder des Rumpfes. Auch die Be-
trachtung meines Materials nach dieser Richtung hin ergibt ein
ahnliches Resultat: nur in einem einzigen Falle (VII) bestand das
Trauma in einer Schadelverletzung, wahrend es sich in samtlichen
iibrigen Fallen um eine Quetschung des Rumpfes (Brust, Rticken,
GesaB) handelte. Sehr auffallig ist der Umstand, daB in alien
meinen Fallen der Unfall ein verhaltnismaBig unerheblicher war;
als „schwer“ ist er in keinem einzigen meiner Falle zu bezeichnen;
das gleiche gilt auch ffir zahlreiche — wenn auch nicht alle — Falle
aus Hiibners Kasuistik. Die Selbstmordneignug hangt also keines-
falls von der Schwere des Traumas ab; im Gegenteil: wenn fiber-
haupt ein SchluB aus den vorliegenden Beobachtungen gezogen
werden darf, so kann er nur so lauten, daB gerade die leichten Ver-
letzungen und solche, welche den Kopf nicht betreffen, die Selbst-
mordkandidaten zu liefern scheinen; demzufolge kann auch — nach
dem vorliegenden Material — die zum Selbstmord ftihrende Ge-
mtitsverfassung nicht auf eine traumatisch bedingte Hirn- oder
Hirnrindenschadigung zurtickgeftihrt werden; wenigstens war bei
meinen Fallen fiberhaupt nur 1 mal, bei Hubners Beobachtungen
in der Minderzahl der Falle der Schadel mitverletzt.
D. Zeitdauer zwischen Unfall und Selbstmord.
Fall I: 11 Monate
,, II: 31/4 Monate
,, III: 11 Monate
„ IV: 1V 2 Jahre
,, V: 1 y 2 Jahre
VI: 3 Monate
,, VII: 2*4 Jahre.
Ueber das Intervall zwischen Trauma und Selbstmord finde ich
nur bei Hiibner Aufzeichnungen, und zwar in folgender Tabelle:
Es begingen den Selbstmord:
sofort nach dem Unfall 2
1 Woche danach
3
2 Jahre nach dem Unfall 8
1 Monat danach
5
3 „
5
3
0
4 .,
1
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1 Jahr
4
11—15
„ 3
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 325
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Hiernach sowie nach meiner Kasuistik erscheinen die ersten
2 Jahre am gefahrdetsten; es ist in meiner Tabelle vom psycho-
pathologischen Standpimkte aus unschwer zu erklaren, daB nach
dem UnfaU erst Monate vergehen, ehe der Selbstmordgedanke auf-
keimt, um schlieBlich zur Tat zu reifen.
Diese Zeit zwischen Unfall und Selbstmordgedanke ist aus-
gefiillt mit neurasthenisch-hypochondrischen Storungen, die direkte
Unfallfolge sind und das Zwischenglied zwischen dem Trauma
und dem Suizid abgeben.
Der Nachweis dieser ,,Briicke“ und ihrer Abhangigkeit vom
Unfall ist von groBter Wichtigkeit fur die in positivem Sinne
erfolgende Beantwortung der Frage, ob der Selbstmord die Folge
des Unfalls darstellt, die Hinterbliebenen also entschadigungs-
berechtigt sind oder nicht.
E. Diagnose des Gemutsleidens, welches zum Selbstmord fiihrte.
Vorweg bemerkt sei, daB es sich in keinem meiner Falle um
einen sog. ,,physiologischen“ Selbstmord handelte; in jedem Falle
ging vielmehr der Tat eine mehr minder lang anhaltende krank-
hafte Gemiitsverfassung voraus, welche vom Unfall zum Suizid
iiberleitete. Rekapitulieren wir kurz unsere Falle unter dem Ge-
sichtswinkel der bei ihnen zu stellenden Diagnose, so ergibt sich
folgendes:
Fall I: Im AnschluB an Unfall Kopfschmerz, dann gedriiektes,
verschlossenes Wesen, Sorge um seine Zukunft und diejenige seiner
Mutter, der er zur Last fallen werde. Furcht vor Geisteskrankheit
(Paranoia oder Paralyse); er werde wohl noch wegen Geisteskrank¬
heit nach Dalldorf kommen miissen. Anamnestisch: starke Onanie.
Diagnose: Hypochondrie.
Fall II: 6 Wochen nach Unfall Angstgefuhl, Schlaflosigkeit,
dann Depression; Furcht, sehr krank zu sein, nie mehr gesund zu
werden, nie mehr wieder arbeiten zu konnen, sterben zu miissen;
seine Familie miisse dann verhimgem; seine Kinder zugrunde gehn.
Schlaflosigkeit. Anamnestisch: Potus zugegeben. Diagnose :
Hypochondrie.
Fall III: Nach Unfall ,,renitentes“ Wesen. verandert; Furcht,
krank zu bleiben, nicht mehr wieder arbeiten zu konnen, De¬
pression. Diagnose: Hypochondrie.
Fall IV : Nach Unfall Brust- und Kreuzschmerzen, dann
Erloschen des Geschlechtstriebes, unfreiwilliger Samenabgang,
Appetit- und Schlaflosigkeit; Furcht, schwer erkrankt zu sein, keine
Hilfe mehr finden zu konnen. Diagnose : Hypochondrie.
Fall V: Nach Unfall neurasthenische Beschwerden, dann In-
teresselosigkeit; Furcht, fur seine Familie nicht mehr sorgen zu
konnen, nicht mehr lange zu leben. Diagnose: Hypochondrie.
Fall VI: Im AnschluB an Trauma Hamatomyelie. Dann
gedriickte Stimmung, Pat. verzweifelt an jeder Besserung, sieht
seinen und seiner Familie Untergang vor Augen. Diagnose :
Hamatomyelie. Hypochondrie.
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326 Mendel, Ueber den Seibetmord bei Unfallverletzten.
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bei seinen
Fall
Falle
Fall
Falle
Fall
Fall VII: Im AnschluB an Trauma neurasthenische Be-
schwerden, dann murrisches Wesen, erregbar; Furcht, ins Irrenhaus
kommen zu miissen, unheilbar krank zu sein. Diagnose: Hypo-
chondrie.
Ehe wir auf unser Material epikritisch eingehen, wollen wir uns
in der Literatur beziiglich des in Frage stehenden Punktes um-
sehen. Hubner, dessen Arbeit die gToOte Statistik betreffs der
unfallverletzten Selbstmorder beibringt, notierte
39 Fallen die folgenden Diagnosen:
Progressive Paralyse .1
Dementia senilis.1
Arteriosklerotische Gehimerkrankung ... 1
Grobe Verletzung der Himsubstanz ... 1
Imbezillitat . 1
Epilepsie.2
Alkoholismus.
Fragliche organische Gehirnkrankheit ... 1
Melancholie .4
Hypochondrie. 14
Neurasthenie.6
Hysterie.2
Degeneration.2
Traumatische Demenz.1
Paranoider Zustand.1 ,,
Hierzu mochte ieh auf Grund der Durchsicht der Hubnerschen
Krankengeschichten bemerken, daB ich die Falle 13, 14 und 15 ent-
schieden nicht zur Melancholie rechnen, dieselben vielmehr durch-
aus der Hypochondrie hinzuzahlen wiirde; hingegen scheint mir
den Fallen 20 und 21 die Diagnose Hysterie (bei Fall 21 kombiniert
mit querulatorischen Ideen) zuzukommen. Fall 12 stellt — wie
auch Hubner anfiihrt — eine reine Melancholie dar, es handelte
sich aber bei dieser Beobachtung nicht urn ein korperliches,
sondern um ein rein psychisches Trauma.
Gegenuber der obigen Hubnerachen Tabelle, welche lediglich
unfallkranke Selbstmorder beriicksichtigt, ergibt die Durchsicht
der Diagnose bei 52 nicht unfallverletzten Selbstmordern der Bonner
Klinik folgend'e Zahlen:
Melancholie.15
Hysterie.11
Hypochondrie.7
Degeneration.3
Dementia praecox.4
Imbezillitat.4
Arteriosklerose.2
Chron. Paranoia.4
Akute Paranoia.1
Alkoholismus mit Angstzustanden 1 „ l )
1 ) Sichel schreibt ganz im allgemeinen, ohne Zahlen zu bringen, dafi
der Selbstmord selten bei angeborenem Schwachsinn und der hebephrenen
Falle
Fall
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Mendel, Ueber den Selbetmord bei Unfallverletzten.
327
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Wir ersehen aus dem Vergleich beider Tabellen, daB bei den
unfallkranken Selbstmordern die Hypochondrie sehr stark in den
Vordergrund tritt, die Melancholie aber, die sonst bei Selbstmordern
als Ursache ihrer Tat an erster Stelle steht, sowie die Hysterie weit
zuriickgedrangt und von der Hypochondrie in hohem MaBe tiber-
fliigelt werden.
Diese Tats ache — d. h. das hochgradige Ueberwiegen der
hypochondrischen Geistesstorung als Selbstmordursache bei den
unfallverletzten Selbstmordern — wird nun durch mein Material
sehr deutlich bestatigt und sogar stark unterstrichen. Hierin liegt
gerade eine gewisse klinische Besonderheit, welche den unfall¬
kranken Selbstmordern zukommt.
Statt daB — wie sonst — die Melancholiker mit ihren Selbst-
vorwiirfen und Selbstverschuldungsideen ein groBes bzw. das
groBte Kontingent zu den Selbstmordern stellen 1 ), sind es hier —
bei den Unfallverletzten — die Hypochonder, die die erste Stelle
einnehmen, ja fast ausschlieBlich in Betracht kommen.
Der Verlauf und die Entwicklung des Leidens des Unfall-
kranken bis zur Ausfiihnmg des Selbstmordes sind eigentlich in
jedem einzelnen meiner Falle durchaus die gleichen, und dies-
bezuglich gleicht eigentlich ein Fall vollstandig dem andern:
immer itn Anschluji an den — meist unerheblichen — Unfall ein
neurasthenisches Vor stadium (nur in einem Falle [VI] kombiniert
mit einer organischen Erkrankung [Hamatomyelie]), hier durch
Abnahme der Widerstandskraft gegeniiber den von auBen ein-
dringenden Schadlichkeiten und Miseren, darauf hypochondrische
Vorstellungen (Furcht, nicht wieder gesund zu werden, nicht mehr
arbeiten zu konnen, anderen zur Last zu fallen), hierdurch zu-
nehmende Depression , die dann schliefilich den Entschlu/3 zum Selbst-
mord reifen la fit. In keinem einzigen der Falle geht das hypo¬
chondrische Stadium in ein echt melancholisches iiber, denn
nirgends sehen wir zu dem Momente der hypochondrischen De¬
pression dasjenige der Selbstverschuldung hinzutreten, nirgends
Form der Dementia praecox angetroffen wird, haufiger komme er vor
bei Hysterie, Epilepsie, Alkoholismus, psychopathischen Personlichkeiten
(Schiilerselbstmorde!), Paranoia, Paralyse, Gravidit&ts-, Puerperal- und
Laktationspsychosen, Katatonie, Psychosen des Seniums, am h&ufigsten
aber beim manisch-depressiven Irresein.
1 ) Ohne selbst eine Statistik beibringen zu konnen, mochte ich aller-
dings sagen, daB ich personlich — entgegen dem in der Literatur Nieder-
gelegten — den Eindruck habe, als ob auch sonst vomehmlich Hypochonder
mit starker Depression sich unter den Selbstmordern befinden. Es mag
aber dieses Differieren meiner Erfahrung von derjenigen anderer Autoren,
die ja der Melancholie die erste Stelle vindizieren, an der Zusammensetzung
meines Materials liegen, das sich mehr auf neurologischem als auf rein
psychiatrischem Boden bewegt. Jedenfalls ist aber die Selbstmordgefahr
bei zu starken Depressionen neigenden, schweren Hypochondern nicht zu
unterschatzen, und gerade in offenen Sanatorien gehoren wohl die meisten
Suizidalen dieser Kategorie von FLranken an. Die Hysterie rangiert
■— meiner Erfahrung nach — erst weit hinter der Hypochondrie und
Melancholie ein, nicht, wie sich aus Hubners Tabelle ergibt, zwischen beiden.
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328 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
tauchen irgendwelche Selbstvorwiirfe oder gar Versiindigungsideen
auf; im Gegenteil, der Verletzte fiihlt sich eher als Opfer des Unfalls
und der G-esetzgebung, die nicht hinreichend Sorge tragt fiir sein
weiteres Fortkommen und ihn fiir die Unfallfolgen nicht in ge-
niigender Weise entschadigt. In keinem Falle bestanden Zeichen
von Hebephrenie oder Katatonie, auch wies in keinem Falle
Anamnese, Untersuchung oder Beobachtung des Krankheits-
verlaufes auf das Bestehen eines manisch-depressiven Irreseins hin.
Immer eine typische reine Hypochondrie mit starker Gemiltsdepression!
Nur im 1. und 2. Falle zeigte sich zeitweise eine gewisse Agitation
und Unruhe mit Angstgefiihl, im iibrigen gehorten samtliche Falle
der gehemmten Form der Hypochondrie an.
Anhangsweise mochte ich hier noch erwahnen, daB einUnter-
schied zwischen denjenigen Individuen, denen der Selbstmord
gliickte, und den Geretteten, bei denen es beim Selbstmordverswc/i
blieb, beziiglich ihres Leidens nicht bestand.
F. Bestanden endogene Oder exogene Faktoren, welche bei Ent-
wicklung des Gemiitsleidens mitwiiklen? Oder war das Tiauma
die alleinige Ursache?
Fall I: Vater verschollen. Starke Onanie. Trauma fiel in die
Zeit der Pubertat. Daher disponierter Boden.
Fall II: Einige der Briider starke Alkoholiker. Pat. war auch
selbst friiher dem AlkoholgenuB stark ergeben.
Fall III: Hochgradige materielle Notlage; 4 unmiindige
Kinder.
Fall IV: Nichts Wesentliches zu ermitteln.
Fall V: Schlechte geschaftliche Lage, Krankheit und Operation
der Ehefrau, langjahriges Prozessieren.
Fall VI: Lungenleiden der Frau. Beim Pat. selbst Riicken-
marksblutung als direkte Unfallfolge.
Fall VII: Hochgradige materielle Notlage.
Betreffs der endo- und exogenen Momente lesen wir bei
Hubner etwa folgendes: „Fiir die Mehrzahl aller Selbstmorde finden
wir den Satz Pelmans bestatigt, daB ein Suizid eine Gleichung
von mehreren Unbekannten ist, in der, abgesehen von dem
psychischen Zustande, auBere Umstande gleichfalls eine Rolle
spielen.Eine Kette von ungiinstigen U mstanden bereitet die
Stimmung des zweifellos psychopathisch veranlagten Individuums
vor.Unter der Last des depressiven Affektes schwindet die
Kritik mehr und mehr.Der Selbstmord stellt dann die Ent-
ladung dar.“
Insbesondere hebt Hubner als — fast stets nachweisbare
endogene Momente eine von Haus aus vorhandene gesteigerte Reiz-
barkeit und Neigung zu depressiver Lebensauffassung hervor, als
exogene Faktoren das Milieu, in welchem der Erkrankte lebt,
korperliche Krankheit (Infektionskrankheiten, Lues), Intoxi-
kationen (vorziiglich Alkoholismus) oder sonstige Schadlichkeiten
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 329
(ungeheure Uitze in den Tropen, in Maschinen- und Heizraumen
etc.). Solche exogenen Momente brauchen aber nicht vorhanden
zu sein oder sie brauchen auch nur eine untergeordnete Rolle zu
spielen. Sie konnen z. B. fehlen bei ,,Melancholikern, die entweder
aus innerer Angst oder infolge ihrer Wahnvorstellungen, mitunter
auch wegen zwangsmaBig sich aufdrangender Selbstmordgedanken
Selbstbeschadigungen begehen. Ferner gehoren die unter Sinnes-
tauschungen stehenden Kranken (angstliche Deliranten, Para-
noiker, ein Teil der im Dammerzustand befindlichen Suizidalen)
hierher. AuBerdem die verstimmten Epileptiker, die Degenerierten
mit Angstanfallen und solche mit Zwangsvorstellungen suizidalen
Inhaltes“. {Hubner S. 80).
Unter den exogenen Momenten spielt der chronische und akute
Alkoholismus eine besonders hervorragende Rolle. Wassermeyer
meint, daB unter den ,,nicht geisteskranken“ mannlichen Selbst-
mordern etwa 8 / 8 der Falle Alkoholisten sind, Pelman macht gleich-
falls auf den Alkoholismus in der Vorgeschichte der Selbstmorder
aufmerksam, und Hubner schreibt diesbeziiglich: ,,Auch unter den
Suizidalen sind die chronischen Trinker verhaltnismaBig selten, da-
gegen ist haufig — und zwar beiMannern undFrauen (vgl. Stelzner) —
nachgewiesen worden, daB sie vor der Tat reichlich Alkohol zu sich
genommen hatten. Schon bei meinem kleinen Unfallmaterial tritt
diese Tatsache evident hervor.“ Bei meinen Fallen kam nur in
Fall II friiherer AlkoholmiBbrauch sowie Alkoholismus in der
Familie in Betracht; hingegen geschah in keinem meiner Falle der
Selbstmord im direkten AnschluB an AlkoholgenuB.
Eine korperliche Krankheit, welche bei Entstehung des Ge-
miitsleidens hatte mitwirken konnen, war in keinem Falle voran-
gegangen; in Fall V hatte zwar Pat. Syphilis durchgemacht, doch
hatte letztere seit ca. 20 Jahren keinerlei Zeichen mehr gemacht;
im Fall VI war durch den Unfall zunachst eine Hamatomyelie ver-
ursacht worden.
Beziiglich der endogenen Faktoren, die bei Entwicklung der zum
Selbstmord fuhrenden psychischen Stbrung mitgewirkt haben, ist
zu erwahnen, daB eine erbliche Belastung nur in Fall I und II an-
zunehmen ist; eine gleichartige Hereditat in der Weise, daB Selbst¬
mord bereits in der Familie vorgekommen ist, lag nie vor. Ueber
eine gesteigerte Affekterregbarkeit, eine Neigung zu trauriger Ver-
stimmung oder zu depressiver Lebensauffassung vor dem Unfall war
in keinem Falle etwas zu eruieren, vielmehr schienen samtliche
Patienten bis zum Unfall psychisch vollig normal, nur Fall II war
stets geistig etwas beschrankt. Erst der Unfall und seine Folgen
losten durch Vermittlung eines neurasthenischen Vorstadiums die
hypochondrische Depression aus, welche schlieBlich zur Tat fiihrte.
Trotzdem es sich aber um anscheinend bis zum Unf all psychisch
intakte Individuen handelte, mufi man dennoch annehmen, daf$ es
prddisponierie, von Haus aus psychisch labile Personen waren, die mit
nicht genugend Energie und Widerstandskraft ausgerustet sind, um
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330 Mendel, Ueber den Selbstmord bei UnfaUverletzten.
den Kampf ums Dasein erfolgreich zu fiihren und auch in schwierigen
Lagen ihren Mann zu stehen, vielmehr friiher verzagen und erliegen,
als es in gleicher Situation der vollig normale Mensch tun wurde.
,.Es handelt sich um Menschen, die entweder als kranke Jugend-
liche dem ernstbaften Ansturm der Lebens- und Berufsaufgaben
nicht standhielten, oder um solche, die von Natur aus wohl mit
widerstandsfahigen, gesunden Sinnen begabt, allmahlich im Ver-
lauf von Dezennieo, oft zu friih fiir ihr Alter, zu miidei) Greisen ge-
worden sind“ (Pfeiffer). Wir konnen auch in keinem unserer Fdlle
den SeU>8tmord als geniigend motiviert, als ,,physiologisch“ bezeichnen ;
in jedern einzelnen Falle trubte die hypochondrische Furcht in Bezug
auf den gegenwdrtigen oder zukiinftigen Zustand des eigenen Korpers
das Urteil des Verletzten und matte ihm Oegenwart und Zukunft in
iibertrieben schwarzen Farben aus. Zu dem wohl von Haus aus
labilen oder im Laufe der Zeit labil gewordenen Nervensystem kam
die durch den Unfall bedingte Neurasthenie hinzu, um die Wider-
standskraft noch wetter zu schwachen: der Verletzte vermag den
aufieren ungiin8tigen Umstanden, dye auf ihn eindringen, nicht ge¬
niigend Kraft entgegenzusetzen, und aus dem GefiiM heraus, dem
gegenuber ohnmdchtig zu sein, tritt die Idee des Setbstmordes bei ihm
auf. Und wiederum fehlt ihm dann auch weiterhin —infolge teils an-
geborener, teils durch den Unfall erworbener Widerstandsschwache —
jene geistige Kraft, welche die Umsetzung des Selbstmordtriebes in die
Tat zu hemmen imstande ist.
Dies die psychologische Erklarung. Wir ersehen daravs, daft
das Trauma eine gewattige Rolle bei der Entwicklung der zum Selbst-
mord fuhrenden Geistesstdrung spielen kann, daft es als ein sehr
gewichtiges exogenes Momnet beim Suicidium anzvsprechen ist.
DaB es allerdings ganz allein und fiir sich den schuldigen Teil ab-
gibt, ist nicht anzunehmen; es figuriert vielmehr nur als wesent-
lich mitwirkender oder auch als einziger exogener Faktor bei
endogen zur Depression veranlagten Individuen, d. h. auf vor-
bereitetem Boden. Der Weg ware demnach folgender: angeborene
oder erworbene (Alkohol!) Disposition —Trauma —Neurasthenie
— Hypochondrie — Depression und Abnahme der Widerstands-
kraft — Selbstmordgedanke — Widerstandsschwache gegenuber
dem Selbstmordtriebe — Selbstmord. Vom Trauma aber sind
samtliche Etappen in vorwiegendem MaBe exogen, und zwar durch
das Trauma selbst (meist verbunden mit materieller Notlage) be-
dingt; damit aber der Unfall so deletar wirken kann, wie er wirkte,
ist Etappe I: d. h. das Vorhandensein einer angeborenen bezw.
erworbenen Disposition erforderlich. Das Trauma ist also die
Haupt-, doch nicht die alleinige Ursache des zum Selbstmord
fuhrenden Gemiitsleidens. Ohne den Unfall ware es wohl nie zur
Katastrophe gekommen, mit demselben kam es zur Tat, nur weil das
Trauma ein disponiertes Individuum traf. DaB somit den Hinter-
blieben die Rente zukam, war in alien meinen Fallen iiber jeden
Zweifel erhaben.
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Mendel , Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
331
III. Zusammenfassung.
Fasse ich im folgenden die Ergebnisse meiner Beobachtungen
zusammen und yergleiche ich insbesondere das fiir den Selbstmord
Unfallverletzter Geltende mit dem iiber den Selbstmord im all-
jemeinen Bekannten. so ergeben sich im wesentlichen die folgenden
P unkte:
1 . Wahrend von Unfallkranken recht haufig — oft allerdings
lediglich zwecks Unterstreichung der geklagten Beschwerden —
LebensiiberdruB und Todesverlangen geauBert werden, ist der
Selbstmord bei Unfallverletzten immerhin ein seltenes Ereignis;
unter meinen ea. 2000 Unfallgutachten figurieren nur 7, in
denen liber den Zusammenhang zwischen Selbstmord bzw. Selbst-
mordversuch und Unfa]] entschieden werden sollte. Viele Trau-
matiker drohen mit Selbstmord, aber wenige fiihren ihn aus.
2. Bei der Frage nach dem Alter der unfallverletzten Selbst-
morder fallen in Anbetracht der Art des Materials das jugendliche
und das spatere Alter fort; das beste Mannesalter liefert — als das-
jenige Alter, welches hauptsachlich vom Trauma betroffen wird —
das groBte Kontingent. Die Art des Materials bringt es fernerhin mit
sich, daB die unfallverletzten Selbstmcrder zumeist verheiratet sind.
Dabei kann d'e Vielzahl nicht versorgter Kinder— wie in unserem
Fall III — eine Rolle beim EntschluB zur Tat mitspielen.
3. Die Todesart laBt- bei den unfallverletzten Selbstmcrdern
— ebenso wie auch sonst bei Suizidalen im allgemeinen — einen
SchluB auf die Art des vorhanden gewesenen Gemiitsleidens nicht
zu. Weitaus am haufigsten wird von den unfallverletzten Selbst-
mordern der Tod durch Erhangen gewahlt.
Der TJnfall selbst braucht durchaus nieht schwer zu sein und
auch nicht den Kopf zu treffen, er ist sogar gar nicht selten — in
meinen Fallen durchweg — auffallend unerheblich und steht in gar
keinem Verhaltnis zu der Schwere der nachfolgenden nervdsen und
psychischen Storungen.
4. Das Intervall zwischen Trauma und Suizid betragt zumeist
1 —2 Jahre, dasselbe ist ausgefiillt mit neurasthenisch-hypochon-
drischen Beschwerden traumatischer Genese, welche das Zwischen-
glied zwischen dem Unfall und dem Selbstmord bilden.
5. Tn der ganz uberwiegenden Mehrzahl der Fallc sind es
hypochcndrische Depressionszustdnde , welche den EntschluB zur
Tat bei dem Unfallverletzten reifen lassen. In meinem Material
figuriert nur die Hypochondrie als Diagnose des zum Selbstmord
fiihrenden Gemiitsleidens. Die Melancholie, Hysterie und die
iibrigenPsychosen, welche bei den gewohnlichen—d. h. nicht imfall-
verletzten — Selbstmordern die erste Stel’e einnehmen. werden be-
ziiglich der unfallverletzten Suizidalen durch die Hypochondrie
stark zuriickgedrangt und treten rehr in den Hintergrund. Die
hypochondrische Furcht triibt dasUrteil des Verletzten und laBt den
Selbstmord in jedem einzelnen Falle als nicht geniigend motiviert,
als nicht-physiologisch erscheinen.
Monatsschrlft f. Pdjohiatrie u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 4. 22
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332 Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
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6 . Es ist nicht anzunehmen, daB der Unfall ganz allein und fur
sich schuld tragt an dem spateren Selbstmord; vielmehr erscheint
die Annahme berechtigt, daB ein endogener Faktor — eine gewisse
-Disposition zu depressiver Verstimmung — erforderlicb ist, damit
der Unfall in dieser deletaren Weise wirken kann: einen praparierten
Boden muB das Trauma treffen, um auf dem iiber die Neur
asthenie und Hypochondrie fiihrenden Wege eine so schwere De¬
pression und einen so starken Fortfall von Hemmungen zu ver-
ursachen, daB schlieBlich der EntschluB zum Selbstmord auftaucht
und der Selbstmord seinerseits zur Ausfiihrung gelangt. Ist aber
dieses endogene Moment vorhanden, so kann das Trauma als
einziger exogener Faktor oder wenigstens als wesentlicher Haupt-
faktor bei der Genese des Suizids in die Wagscha.'e fallen.
7. In seiner Arbeit (S. 85) fiihrt Hubner aus, daB man bei der
Frage nach dem Zusammenhange zwischen Unfall und Selbstmord
5 Moglichkeiten untersoheiden miisse:
a) Der Unfall lost unmittelbar einen Selbstmordversuch aus
(ein Psychopath begeht ihn in pathologischer Erregung aus Furcht
vor dauernder Erwerbsunfahigkeit oder vor Schmerzen, oder es
setzt sofort ein Verwirrtheitszustand ein, in dem der Pat. Suizid
begeht. Auch in einzelnen Fallen von Melancholie kann ein der-
artiger Zusammenhang bestehen).
b) Der Unfall lost eine Geistesstorung aus (direkte Gehirn-
verletzung, Melancholie, Gehirnerweichung oder Gehirnarterio-
sklerose usw.), und im Verlaufe derselben begeht der Kranke
Selbstmord.
c) Ein von ieher krankhaft veranlagter Mensch bekommt nach
Unfall eine hypochondrische Verstimmung. Es entspinnt sich ein
Rentenkampf, in dessen Verlauf der Kranke aus Arger dariiber,
daB seine Anspriiche nicht anerkannt werden, Selbstmord begeht.
d) Ein Unfallhypochonder begeht durch andere Ereignisse
veranlaBt Selbstmord.
e) Eine Psychose hat schon vorher bestanden. Im Verlaufe
derselben erleidet der Pat. einen Unfall und schlieBt daran den
Selbstmord.
In meinen Fallen kommen von diesen Moglichkeiten nur die-
jenigen sub b—d in Betracht; meine Beobachtungen — und wohl
auch sonst die meisten Unfallselbstmorder — gehoren in der Haupt-
sache dem Typus d an.
8 . In jedem Falle, wo das Trauma eine mitwirkende Rolle beim
Entstehen des Selbstmordentschlusses spielt (und nur ganz aus-
nahmsweise wird dieser Nachweis beim unfallverletzten Selbst-
morder nicht zu erbrihgen sein), steht naturgemaB den Hinter-
bliebenen die Rente zu. Wenn in den Entscheidungen der ver-
Bchiedenen Instanzen des Versicherungswesens immer betont wird,
daB zur Anerkennung der Hinterbliebenenrente 2 Bedingungen
erfiillt sein miissen: 1. der AusschluB der freien Willensbestimmung
zur Zeit der Tat und 2. der Nachweis, daB die zum Suizid fiihrende
Geistesstorung eine UnfallsfoJge darstellt, so ist vom arztlichen
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Mendel, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten. 333
Standpunkte aus die Streichung der ersten Bedingung zu empfehlen:
es ist als vollig geniigend zu erachten, wenn der Nachweis erbracht
ist, daB psychische Storungen, die unmittelbar oder mittelbar durch
das Trauma verursacht sind, bei dem Entschlusse zum Selbstmord
allein oder wesentlich mitgewirkt haben. In diesem Sinne einer
milderen Bechtsprechung ist auch tatsachlich haufig seitens des
Reichs-Versicherungsamtes die Entscheidung gefallt worden.
9. Beziiglich der Frage der Hinterbliebenenrente konnen sich
grofie Schwierigkeiten darbieten, besonders dann, wenn iiber das
psychische Verhalten des Selbstmorders wahrend oder vor der Tat
bzw. in der Zwischenzeit zwischen Unfall und Suizid Angaben
fehlen oder nur sparlich sind. Hier hat die Berufsgenossenschaft die
Pflicht, durch Vernehmung der Mitarbeiter, Anverwandten usw.
nach Moglichkeit und auch moglichst schnell Klarheit zu schaffen,
alle Angaben seitens der Umgebung aufs genaueste und wohl-
wollend zu priifen und auch bestrebt zu sein, durch eine von
sachverstandiger Seite ausgefiihrte Obduktion die genaue Todes-
ursache festzustellen. Eine Autopsie vermag auch vorkommenden
Falles die Frage aufzuklaren, ob iiberhaupt in Wahrheit ein Selbst¬
mord vorliegt oder aber ein Ungliicksfall oder ein Verbrechen.
IV. Zur Prophylaxe.
Bei Durchsicht meines Materials sowie der einschlagigen
Literatur drangte sich naturgemaB des ofteren die Frage auf, ob und
eventuell wie man bei Unfallverletzten dem Selbstmord vorbeugen
konne. DaB dies moglich ist, steht auBer Zweifel. Es handelt sich
nur um das ,/wie“.
Auch hier gilt zunachst das, was auch sonst ganz allgemein
fur — nicht unfallverletzte — Selbstmordkandidaten gilt: es ist
selbstverstandlich, daB Suizidverdachtige in einer geschlossenen
Anstalt unterzubringen sind, da nur hier eine geniigende Ueber-
wachung und Beaufsichtigung stattfinden kann. Im iibrigen wird
zur Linderung des Selbstmordtriebes eine Behandlung des diesem
Triebe zugrunde hegenden Gemiitsleidens erforderlich sein, eine
Behandlung, die vorwiegend eine psychische sein muB. Hier kann
der den Unfallkranken behandelnde Arzt durch Zuspruch und
Psychotherapie viel zur Besserung der hypochondrischen Depression
und somit zur Verhiitung des Selbstmordes beitragen. Andrerseits
sind Falle bekannt— ich selbst verfiige iiber einen solchen, hier nicht
mitgeteilten —, wo der begutachtende oder behandelnde Arzt durch
seine pessimistische Auffassung des Leidens und Mitteilung der
schlechten Prognose an den Kranken die Mitursache an der Ent-
wicklung des depressiven Gemiitszustandes und demnach an dem
spateren Unheil war. Deshalb ist Vorsicht in der Prognosestellung
dem Kranken gegeniiber durchaus anzuraten. Bei vorhandenem
AlkoholmiBbrauch ist eine Unterdriickung desselben zu erstreben.
Was nun speziell die Unfallselbstmorde und deren Verhiitung
betrifft, so wird hier — wie sich auch aus obigen Kranken-
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334 M e ii del, Ueber den Selbstmord bei Unfallverletzten.
geschichten ergibt — vor allem der Verhiitung und Linderung der
materiellen Not die Aufmerksamkeit zugewandt werden mussen;
des weiteren ist nach Moglichkeit der Entwicklung des hypo-
chondrischen Depressionszustandes entgegenzuarbeiten. Nicht
unwichtig wird es in dieser Beziehung sein, daB auch die Ehefrau
des Verletzten, welche oft in ganz unglaublicher Weise den Ver
letzten durch stetes Hervorkehren seiner ungiinstigen Lage, durch
diisteres Ausmalen der ihn erwartenden Zukunft ungiinstig beein-
fluBt und foltert und ihn riicksichtslos seinen ganzen Jammer fiihlen
laBt, arztlicherseits instruiert und zur Vernunft zuruckgefiihrt wird.
Beiden Zwecken, der Verhiitung der materiellen Not sowie der
Vermeidung der Depressionsentwicklung, dient aber amehesten eine
moglichst schnelle Bearbeitung der Unfallsache. moglichste Ab-
kiirzung des Verfahrens und friihe Rentenfestsetzung sowie ganz
besonders eine nach Moglichkeit auszudehnende Kapitalabfindung;
ferner wiirde aber das so sehr zu erstrebende Ziel: die Verschaffung
von Arbeit fur Unfallverletzte in ganz hervorragendem MaBe dazu
beitragen konnen, sowohl die materielle Not zu lindern, wie auch
zu verhindern, daB sich auf dem Boden der traumatischen Neur¬
asthenic die hypochondrische Depression entwickelt, und so der
Selbstmordneigung entgegenarbeiten.
Um aber bsizeiten das Vorhandensein einer solchen fest-
zustellen, um also die Selbstmordverdachtigen unter den Unfall-
kranken zur Zeit herauszuerkennen, wird es vor allem erforderlich
sein, daB in alien dazu auffordernden Fallen eine genaue psych -
iatrische Begutaehtung, event, klinische Beobachtung erfolgt, die
auch der Frage eventueller Simulation nachzugehen, letztere aber
nur nach ganz besonders sorgfaltiger Priifung als vorhanden an-
zunehmen hat. Nur ein psychiatrisch gut vorgebildeter Arzt soil die
Begutaehtung iibernehmen; in Fall III wurde der Verletzte seines
,,renitenten“ Wesens halber vorzeitig aus der arztlichen Behand-
lung entlassen, die Pyschose also nicht erkannt und somit die Ver-
hiitung ihrer Folgen hintangehalten. Diesbeziiglich schreibt
Hubner mit vollem Recht (S. 54): ,,Angesichts derartiger Falle muB
der Arzt sich immer wieder die Frage vorlegen, ob die Diagnose.
daB es sich um eine schwere psychische Storung handelte, nicht
rechtzeitig hatte gestellt werden konnen. Gerade diejenigen Falle,
in denen einer Unsumme von subjektiven Beschwerden ein gerxnger
objektiver Befund gegeniibersteht, sind zum mindesten immer sehr
verdaehtig auf Hypochondrie, und sie werden vielfach beziiglich
ihrer Schwere erheblich unterschatzt. . . . Ein schwer deprimierter
Hvpochonder ist mindestens ebenso selbstmordverdachtig wie ein
Melancholischer. ‘ ‘
Der Begutachter kann hierbei gerade in zweifelhaften und ver-
dachtigen Fallen von seiten der Berufsgenossenschaften, Kranken-
kassen usw. in zweckmaBiger Weise unterstutzt werden: un-
erwartete Kontrollen im Hause des Verletzten konnen iiber die Be-
schaftigung, das psychische Verhalten, die Stimmung des Er-
krankten usw. Auskunft geben und so die Erhebungen bei der arzt-
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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
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lichen Untersuchung erganzen, bzw. auf die Notwendigkeit einer
psychiatrischen Exploration hinweisen. Letztere bleibt dabei aber
immer die Hauptsache.
Benutzte Literatur.
Gaupp , Ueber den Selbstmord. Aerztl. Rundsch. Miinchen 1905.
2. Aufl., und Neurol. Zbl. 1906. S. 924. — Hubner , Ueber den Selbstmord.
G. Fischer. Jena 1910. — Jolly , Ph. y Selbstmord nach Unfall. Aerztl.
Sachv.-Ztg. 1911. No. 15. — Knepper , Zwei Falle von Selbstmord. Ztschr,
f. Versicherungsmedizin. 1913. H. 1. — Koppen y Zur Frage der Beurteilung
des Selbstmordes in Versicherungsangelegonheitcn. Charite-Annalen. 1911.
XXXV. — Pelman , Psychische Grenzzustande. F. Cohen. Bonn 1910. —
Pfeiffer , Ueber den Selbstmord. G. Fischer. Jena 1912. — PUcz , Zur
Lehre vom Selbstmord. Jahrb. f. Psych. 1905. XXVI. — Quensel, Me-
lancholische Depression durch Kohlenoxydvergiftung. Aerztl. Sachv.-Ztg.
1912. No. 15. — Schultze , Ernst , Der Kampf uni die Rente und der Selbst¬
mord in der Rechtsprechung des Reichs-Versicherungsamts. Hoches Samml.
zwanglos. Abhandl. aus dem Gebiete der Nerven- u. Geisteskrankh. 1910.
IX. H. 1. — Sichel , Zur Psychopathologie des Selbstmordes. Dtsch.
med. Woch. 1911. No. 10. — Thiem , Handb. d. Unfallerkrankungen. II.
1. Teil. F. Enke. Stuttgart 1910. — Viedenz , Ueber psychische Storungen
nach Schadelverletzungen. Arch. f. Psych. 1903. Bd. XXXVI. — Wasser-
meyer , Ueber Selbstmord. Arch. f. Psych. L. 1912. H. 1.
(Ans der Stadtischen Nervenheilanstait Chemnitz.
[Direktnr: Prof. Dr. L. W. Weber.])
Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
Von
CARL LAMPE.
Die Beziehungen zwischen Arteriosklerose, Paralyse und Unfall
sind in der Literatur des letzten Jahrzehnts vielfach besprochen
und im wesentlichen klar gestellt worden. Ohne die umfangreiche
Literatur im einzelnen hier wieder zu beachten, soil jetzt nur das
Ergebnis dieser Untersuchungen zusammengefaBt werden. Be-
treffs der Entstehung der Arteriosklerose im allgemeinen und der Ge-
him-Arteriosklerose im besonderen besteht wohl so ziemlich Ueber-
einstimmung dariiber, daB die Arteriosklerose eine Abnutzungs-
oder Aufbrauchs-Erkrankung der GefaBe ist, die wir in gewisser-
maBen physiologischem Grade uberall im Riickbildungsalter an-
treffen, daB diese Krankheit aber unter dem EinfluB besonderer
Momente z. B. einer angeborenen, verringerten Widerstandsfahig-
keit und spezieller Schadlichkeiten, wie chronische Infektion oder
Intoxikation, in friiherem Lebensalter imd in schwereren Formen
auftreten kann. Zu den besonderen Sch&digungen konnen auch
traumatische Einfliisse gezahlt werden. Gerade fiir die sklerotischen
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Lsmpo, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
Erkrankungen der HirngefaBe sei hier auf die Beobachtungen
von Sperling und Kronthal hinge wiesen, die bei verhaltnismafiig
jugendlichen Individuen kiirzere oder langere Zeit nach einem
Trauma weitgehende Gef&fisklerosen im Him und Riickenmark
fanden. Wie diese Veranderungen zustande kommen, darauf
weisen vielleicht weitere Beobachtungen von Friedmann hin,
der als Folgeerscheinungen von Gehirnerschiitterungen frischere
und altere Veranderungen in der Wand und in den Lymphscheiden
der feineren HirngefaBe, insbesondere auch hyaline Degeneration
der Hirngefafie nachwies. Ueber ahnliches berichten Arbeiten von
Yoshikawa, Koppen und Dinkier. Dabei mufi allerdings die
Moglichkeit beriicksichtigt werden, auf die Weber an der Hand
eines einschlagigen Falles hinweist, dafi diese Gef&Bsklerose —
wenn auch klinisch latent — schon vor dem Unfalle bestanden hat.
Man kann also zusammenfassend sagen, dafi bei einer im verhaltnis¬
mafiig friihen Lebensalter auftretenden Gehim-Arteriosklerose,
wenn andere schwere exogene Schadigungen nicht nachzuweisen
sind, eine vorhergegangene traumatische Einwirkung mit als
Ursache in Betracht gezogen werden kann. Zu dem gleichen
Resultate kommt auch Lamdsbergen in seiner Dissertation aus der
Cramerschen Klinik.
Klarer gestellt ist namentlich durch die Arbeiten von Ziehen,
K. Mendel, Weygandt, Weber u. A. der Zusammenhang zwischen
traumatischen Einwirkungen und paralytischen Erkrankungen.
Nachdem heute die syphilitische Grundlage der echten progressiven
Paralyse vollig aufier Zweifel gestellt ist, kann das Thema nur noch
so formuliert werden: Ist es moglich, dafi ein korperliches Trauma
die bis dahin latente Krankheitsdisposition zum friiheren Aus-
bruch bringen kann, oder vermag ein solches Trauma wenigstens
den Verlauf einer schon bestehenden Paralyse zu verschlimmem ?
Das Ergebnis der genannten Arbeiten geht dahin, dafi beide Moglich-
keiten unter Umstanden zu bejahen sind, wobei allerdings ganz
bestimmte Kriterien fiir die Annahme eines solchen ursachlichen
Zusammenhanges zwischen Unfall und Paralyse zu fordern sind.
Dahin gehort, wie Ziehen ausfiihrt, der Nachweis, dafi vor dem
Unfall keine Zeichen einer Paralyse bestanden, femer dafi der
Unfall von einer gewissen, erheblichen Intensitat war und auf den
Schadel und seinen Inhalt direkt eingewirkt hat (klinische Sym-
ptome von Gehimerschiitterung), sowie dafi eine nicht allzulange
Zeit zwischen Unfall und Ausbruch der Paralyse verstrichen ist,
wobei man allerdings von der Festlegung einer zeitlichen Grenze
Abstand nehmen mufi. Im einzelnen Falle mufi immer die Be-
deutung der drei genannten Momente gegeneinander abgewogen
werden; vielleicht kann auch noch manchmal als viertes Moment
ein besonderer atypischer, hauptsachlich durch Herdsymptome
oder durch rapiden Verfall gekennzeichneter Verlauf der Paralyse
und ein bestimmter, anatomischer Befund, z. B. ausgedehnte
Verkalkung der Media kleinerer Gehirngefafie, mit herangezogen
werden. Diese letzteren Gesichtspunkte wird man hauptsachlich
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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
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verwerten konnen zur Entscheidung der Frage, ob eine bereits be-
stehende Paralyse durch einen Unfall verschlimmert wurde.
Weygandt berichtet uber solche Falle, wahrend er mit Becht ein
Trauma als ausschlieBliche Ursache einer progressiven Paralyse
ablehnt. Eine Anzahl ahnlicher Falle aus der Cramerschen Klinik
berichtet Landsbergen in seiner Dissertation.
Ueber die Beziehungen zwischen Arteriosklerose und Paralyse
wissen wir, daB namentlich bei Paralyse im vorgeriickten Alter
haufig sklerotische Entartungen der groBen GefaBstamme des
Gehims beobachtet werden. Gelegentlich treten solche auch bei
jugendlicheren Paralysen auf, und es muB hier wohl die Syphilis
noch einmal als Ursache dieser GefaBsklerose, welche aber keinen
spezifisch syphilitischen Charakter zu tragen braucht, ange-
schuldigt werden. Alzheimer weist auch darauf hin, daB man bei
Paralyse gelegentlich auch in den kleineren GefaBen der Pia sowohl,
als der Himrinde Aufsplitterungen der elastischen Membranen,
Quellungen derselben und hyaline Entartungen der GefaBw&nde
findet, ohne daB dieser Befund fur das Wesen des paralytischen
Erkrankungsvorganges eine besondere Bedeutung beansprucht.
Alzheimer betont auch mit Becht, daB eine einwandfreie, histo-
logische Begriffsbestimmung der Arteriosklerose noch nicht
existiert, und daB unter diesem Namen mannigfache, regressive
Prozesse der GefaBw&nde zusammengefaBt werden, von denen
natiirlich einige auch bei der Paralyse vorkommen, ohne daB sie in
naheren Zusammenhang mit der Arteriosklerose zu bringen sind.
DaB die arteriosklerotische Gehimerkrankung im allgemeinen
mehr organische Herdsymptome macht als die progressive Paralyse,
und daB auch das psychische Bild der Him-Arteriosklerose andere
Typen aufweist als die progressive Paralyse, ist ebenfalls aus
Arbeiten von Binsivanger und von Alzheimer bekannt. Trotzdem
kommen, wie L. W. Weber gezeigt hat, Falle vor, bei denen ein
der Paralyse weitgehend ahnliches Krankheitsbild lediglich durch
arteriosklerotische Veranderungen bedingt wurde. Diese Falle
bereiten der klinischen Diagnose erhebliche Schwierigkeiten und
auch nach den von Weber angegebenen Gesichtspunkten wird es
nicht immer moglich sein, sie im Leben von der Paralyse abzu-
grenzen. Aber in den meisten Fallen gelingt dies wenigstens nach
dem Tode auf Grund einer eingehenden anatomischen und mikro-
skopischen Untersuchung.
DaB aber die Verh<nisse noch komplizierter gestaltet sein
konnen, so daB beide pathologischen Prozesse, der der Arterio¬
sklerose und der der Paralyse, fur die Erkl&rung der Krankheits-
erscheinungen in Frage kommen konnen, soli der folgende klinisch
und anatomisch beobachtete Fall zeigen. Er ist femer deshalb
interessant, weil es sich um eine Paralyse handelt, deren Beginn
an die oberste Grenze des fur die Paralyse in Frage kommenden
Alters f&llt, und weil auBerdem bei der Entstehung dieses para¬
lytischen Krankheitsprozesses auch traumatische Momente eine
Bolle spielen.
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Lampe. Arteriosklerose. Spatparalyse und Unfall.
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Der Fall betrifft einen 64 jahrigen Kaufmann.
Anamnese : Ueber irgendwelche erbliche Belastung ist nichts bekannt.
Er war stets solide, fleifiig; Potus negiert. Dem behandelnden Arzte ist er
seit 12 Jahren bekannt. Nach dessen Angaben hat er den Krieg 1870/71
als Offizier mitgemacht und aller Wahrseheinlichkeit nach sich damals rait
Lues infiziert. Als Kaufmann ist er immer sehr tuchtig gewesen, so daB mehr-
fach sein Rat als kaufmannischer Sachverstandiger eingeholt wnrde. Im
Verkehr ist er etwa seit den letzten 10 Jahren durch eine gewisse Redseligkeit
und Geschwatzigkeit aufgefallen; Patient ist vorzeitig gealtert und leidet
seit 4 Jahren an Diabetes mellitus, bei dem manchmal bis zu 4 pCt. Zucker
nachgewiesen wurden. Im Mai 1911 erlitt Patient beim Uebersehreiten
eines freien Platzes dadurch einen Unfall, daB er von einem Radfahrer im
Riicken angefahren wurde und dabei heftig auf den Hinterkopf aufschlug.
Patient war einige Stunden bewuBtlos und hatte eine Suggilation leichten
Grades am Hinterhaupt davongetragen. Am folgenden Tage war er wieder
vollig klar; doch war eine deutliche Amnesie fur die Ereignisse am vorher-
gehenden Tage vorhanden. Mittags hatte Patient wiederholtes Erbrechen,
und von hier an machte sich eine rechtsseitige Parese mit alien ihren
Symptomen bemerkbar, die jedoch innerhalb weniger Tage wieder ver-
schwand bis auf eine gewisse Schwache in der rechten Hand und eine ausge-
sprochene Sprachstorung von aphasischem und artikulatorischem Charakter.
Allmahlich fiel eine in Remissionen zunehmende Gedachtnisschwache auf;
dazu kamen im Dezember Halluzinationen und Verfolgungsideen, ab-
gelost durch Selbstiiberschatzung. Im Januar des Jahres 1912 erlitt Patient
einen ,,apoplektischen Insult 44 mit nachfolgenden deliranten Erregungs-
zustanden und nachtlicher Unruhe. Er wird deshalb am 19. II. 1912 in die
Nervenheilanstalt eingewiesen mit der Diagnose: Progressive Paralyse.
Korperlicher Befund: Mann von mittlerer GroBe, in leidlichem Er-
nahrungszustande. Lymphdriisen nicht zu fiihlen. Puls hart, jedoch nicht
besonders gespannt, 74. Arterien pulsieren sichtbar in der Schenkel- und
Ellenbogenbeuge.
Die Gesichtsmuskulatur gleichmaBig innerviert. Lippenbeben,
Zuckungen und Flattem der Gesichtsmuskulatur beim Sprechen.
Pupillen: mittelweit, leicht entrundet, reagieren auf grebes Licht fast
gar nicht, ebensowenig auf Akkommodation.
Zunge: wird stoBweise gerade hervorgestreckt, zittert lebhaft.
Patellarreflexe: etwas herabgesetzt, ohne Differenz.
Gang: keine Ataxie.
Sprache: deutliches Silbenstolpern, Auslassungen, verwaschen und
hesitierend.
Psychischer Status : Bei der Aufnahme ist Patient lebhaft, redselig;
erzahlt von seinen „Wolkenkratzern“ in Amerika. AeuBert auch sonst
GroBenideen. Er fiihrt weder den Satz, noch die Gedanken zu Ende. Er
gibt an, er sei soeben zum Major befordert worden. Verwickelt sich fort-
wahrend in seinen Erzahlungen. So behauptet er, am schleswig-holsteinischen
Feldzuge t<eilgenommen zu ha ben. Datum und Jahr vermag er nicht an-
zugeben, ebensowenig Geburtsjahr und Geburtstag. Sein Alter gibt er riehtig
an; behauptet, hier in einer Eisenfabrik zu sein. Er habe eben gesehen, wie
30 Mann getotet worden seien; man habe sie in eine GuBrohre hineingesteckt.
23. II. 1912. Ausgesprochene Stimmimgsschwankung; verkennt
Personen. Patient ist nicht zu fixieren; sehr miBtrauisch. Auf Fragen gibt
er keine Auskunft, sondem sagt: ,,Reden Sie keinen Unsinn! 44 Behauptet
andauemd, er sei in einem Morderhaus. Hierher habe ihn sein Prokurist
,, Judas Ischarioth 44 gebracht. Den Arzt scheint er als solchen nicht zu er-
kennen.
24. II. 1912. Verweigert die Nahrung. Auf eine Unterhaltimg
laBt er sich nicht ein; schimpft vor sich hin, ist leicht gereizt. Die korperliche
Untersuchung ergibt heute keine Abweichung von dem Befunde bei der
Aufnahme. Vorubergehend angedeuteter Babinsky links. Korperlich seit
gestem sehr hinfallig. Puls ist klein, 96. Temperatur 36,4. Er ist zeitlich
und ortlich vollig desorientiert. Bringt seine Grofienideen auch jetzt noch
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L a m p e . Arteriosklerose. Spatparalyse und UnfaU. 339
zu8ammenhang8lo8 vor. Widerspricht man ihm, daB er Hauptmann der
Reserve sei, so wird er grob und ausfallend. Er wolle jetzt wieder mit in den
Krieg gehen, werde auch noch mehrere Hauser kaufen. Er sei nicht krank,
habe viel Geld, hier wiirden Menschen ermordet.
25. II. 1912. Patient ist ruhelos, wirft sich im Bett umher. Vor-
mittags hat er noch etwas Nahrung zu sich genommen; nachmittags ist er
plotzlich vollig verfallen. Temperatur 37,9. Puls 90, leicht unregelmaBig.
4 Uhr 30 Min. stirbt Patient.
Die Sektion durch Herrn Prof. Xauwerck ergibt:
Schddelhdhle: Auf dem linken Scheitelbein eine etwa linsengroBe
Exostose. Dio Dura haftet dem Schadeldach, besonders an dem Stirn- und
hinteren Scheitelbein fester an. An der Tabula interna zahlreiche tiefe
GefaBfurchen; in der Mitte ist diese etwas hirnwindungsartig, weiBlich ver-
dickt. Die Dura ist diffus verdickt, ziemlich blutreich, etwas schlaff. Sinus
longitudinalis enthalt wenig fliissiges Blut. Im Subduralraum wasserige
Fliissigkeit; ziemlich viel Pacchionische Granulationen; hochgradige,
diffuse Leptomeningitis chronica fibrosa der Konvexitat. Hydrops menin-
geus, mittlere Venenfullung der Pia. Die Seitenventrikel sind leer. Carotis
interna stark skierotisch mit Kalkeinlagerung. Auch die Vertebralarterien
sind stark geschlangelt und sklerotisch. Hirngewicht 1370 g. Auch an der
Basis bestelit ein leiehterer Grad von fibroser Leptomeningitis an Stirn- und
Schlafenlappen. Weiter nach hinten ist die Pia zart. Die Basilararterien sind
durchgangig. Die Pia laBt sich leicht und ohne Substanzverlust als koharente,
fellartige Membran losen. Die Hirnwindungen sind zahlreich, im allgemeinen
etwas schmal, aber ohne differentes Verhalten etwa im Stirnhirn. Die Hirn-
oberflache ist nicht auffallend gerotet. Sehr zarte Ependymitis granularis
im Seitenventrikel, am ehesten noch am Septum. Gegend der Stria termi-
nalis leicht verdickt. Schnittflache des Hirnmantels feucht glanzend, etwas
weich, ziemlich zahlreiche Blutpunkte. Rinde und Mark gut abgesetzt.
Rinde blaB graurotlich. Keine Erweichungsherde im Marklager. Kleinhirn
nach Form und GroBe normal. Ganz zarte Ependymitis granularis im
4. Ventrikel, besonders im Recess us. Keine groben Arterienverkalkungen.
Im Bereich der basalen Ganglien leichte Erweiterung der perivaskularen
Lymphraume. Graue Substanz daselbst graurotlich, nicht auffallend dunkel.
Augenhintergrund und Mitteloliren usw. ohne Befund. Auf der Riickseite
des Ruckenmarkes erscheint die Pia iiber dem Dorsalmark leicht fibros ver¬
dickt. Die Arachnoi'dea enthalt ebenda einige liarte weiBliche Fleckchen.
Vordereeite des Ruckenmarkes ohne Besonderheiten auf den Durchschnitten.
Das Gehirn wurde iuis von Herrn Prof. Nauwerck zur mikroskopischen
Untersuchung iiberlassen. Dazu wurden nach vorausgegangener Formol-
hartung aus alien Hirnabschnitten Stticke entnommen und teils mit dem Ge-
frier-Mikrotom, teils in Parafin geschnitten; einzelne Stiicke wurden auch
nach weiterer Fixierung in Miillerscher Fliissigkeit in Celloidin eingebettet
geschnitten. Es kamen aus alien Abschnitten des Gehirns Stucke zur L T nter-
suchung, die mit Toluidinblau, nach van Gieson , mit der Weigertschen Glia-
methode und der Weigertschen Markscheidenfarbungsmethode gefarbt
wurden. Die Befunde waren folgende:
Die Pia ist im mikroskopischen Bilde allenthalben verbreitert und ge-
wuchert und zwar so, daB an dieser Verbreiterung nur zum Teil eine Ver-
mehrimg und Verdickung der Bindegewebssepta beteiligt ist. Dieses ist
besonders in den oberen Schichten der Pia der Fall. Die unteren Schichten
der Pia enthalten in iliren Maschenraumen zahlreiche Kerne, und zwar ab-
gestoBene Endothelien und PlasmazelJen. Auch die fixen Bindegewebskeme
sind vermehrt. Die Oberflache der Pia ist stellenweise mit Kappen von
mehrschichtig gewucherten Endothelien versehen, die an Endotheliom-
bildung erinnem. Die groBeren GefaBe der Pia, sowohl Venen als Arterien,
zeigen verdickte Wandungen; insbesondere sind die Adventitiaschichten
bindegewebig verdickt und bilden mit den Balken der Pia zusammen oft
starke Schwielen. Auch die Bindegewebskeme der auBeren und mittleren
Wande der GefaBe sind vielfach stark vermehrt. Die elastische Membran
ist haufig aufgesplittert und gespalten. Die Intima zeigt nur selten eine
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Lamp©, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
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starkere Wucherung. Die GefaBe sind meist prall gefiillt. Manchmal finden
sich Blutaustritte in den Maschen der Pia; manchmal sind die Piamaschen
auch mit abgelagertem Pigment angefiillt.
In der Hirnsubstanz selbst sollen zunachst die Gefdfie beschrieben
werden. Die RindengefaBe sind meist sehr prall gefiillt, so daB man auch
schon bei schwacher VergroBerung liberal 1 die Kapillaren sehr stark hervor-
treten sieht. Im iibrigen finden sich in den GefaBen zweierlei Veranderungen
namlich 1. chronische; das sind bindegewebige Verdickungen der kleineren
und kleinsten GefaBe, so dafi bei der van Gteson-Farbung breite, rote Flecken
und Streifen schon bei schwacher VergroBerung deutlich hervortreten. Bei
starkerer VergroBerung sieht man an solclien GefaBen das Bindegewebe ver-
dickt. die Kerne vermehrt, und zwar hauptsachlich die spindelformigen und
linearen Kerne. Man kann an einzelnen Prakapillaren sehr deutlich die Wand-
verdickung verfolgen. Dann erscheint das Lumen des GefaBes erst in
normaler Weite; von einem gewissen Punkte an wird es weiter, die Wand
breiter, oft aufgespalten, die Bindegewebskerne in diesem Abschnitte ver¬
mehrt. Nur an einzelnen GefaBen, besonders in der obersten Rindenschicht
und unter dem Ependym fehlt diese Kernvermehrung, und die verbreiterte
GefaBwand erscheint in der bekannten leuchtenden roten Farbe der hyalinen
Entartung und ist fast kernlos. Auch im Riickenmark findet man solche
stark verdickte GefaBwande, die sich oft in breiten Flecken und Streifen
durch die ganze Substanz ziehen, ohne daB zwischen grauer und weiBer
Substanz hierin ein durchgreifender Unterschied besteht. Auch an den
feineren GefaBen und an vielen Kapillaren, die wegen ihres geringen Gehaltes
an Bindegewebe sich nicht durch eine starke Rotfarbung im van Gieson -
Praparat erkennen lassen, zeigt sich bei starkerer VergroBerung vielfach eine
Vermehrung der linearen und lanzettformigen Bindegowebskerne, so daB
kleinste GefaBe (Kapillaren und Prakapillaren) auf dem Durchschnitt oft
6—8 solche Kerne, also eine unverhaltnismaBig groBe Zahl derselben er¬
kennen lassen. An einzelnen Stellen sind auch deutliche Schlangelungen
und Varicenbildungen der GefaBe, namentlich im Mark, zu erkennen, in denen
hier auf dem Querschnitt 2—3 durch Bindegewebe eng miteinander ver-
bundene GefaB lumina erscheinen.
Diese clironischen Veranderungen finden sich nicht nur in den obersten
Rindenschichten an den aus der Pia eintretenden GefaBen, sondem auch an
den langen GefaBen der Markkegel, in den tieferen Markschichten, in den
Stammganglien, im Hirnstamm und selbst im Riickenmark. Namentlich im
Riickenmark sind einzelne Stellen besonders aus der grauen Substanz sehr
charakteristisch. So sieht man im Lendenmark unmittelbar neben dem
Zentralkanal eine Vene, in einer erweiterten Lymphscheide liegend. Die
Media dieser Vene ist verdickt, noch mehr aber die Adventitia, so daB die
ganze erweiterte Lymphscheide von kemreiehen Bindegewebsfasern aus-
gefiillt wird. Aehnliche Befunde sieht man vielfach auch an den GefaBen
innerhalb der grofien Glia-septa der weiBen Substanz.
Die andere Gruppe von GefaB veranderungen kann kurz zusammen-
gefaBt als die typisch-paralytische bezeichnet werden, d. h. es finden sich
an mittleren und feinsten GefaBchen die Lymphscheiden manchmal vollig
ausgefiillt und vollgepfropft mit Exsudat- und Infiltratzellen, so daB die be¬
kannten Bilder der Kernmantel um die GefaBe zustande kommen. Manch¬
mal, namentlich bei Kapillaren und Prakapillaren, sindes auch nur einzelne
wenige Plasmazellen, welche sich in der sonst freien Lymphscheide befinden.
Oft sind diese Kernmantel 2—3 mal so groB als das von ihnen eingeschlossene
GefaB. Bei der genaueren Untersuchung mit Toluidinblau oder mit der
Paqypenheimschen Farbung findet man reichliche Plasmazellen in Haufen
oder vereinzelt in den Lymphscheiden, daneben Lymphozyten und Kerne,
die wohl den Adventitiazellen zugehoren. Gelegentlich, namentlich an den
kleineren Venen des Markes sieht man auch am auBeren Rande der Lymph¬
scheide reihenweise gestellte Gliakerne, die aber nicht in immittelbarem
Zusammenhang mit dem iiorigen Infiltrat der Lymphscheide stehen. Endlich
ist das Auftreten zahlreicher Pigraentkernchen teils hamatogenen, teils
lipoiden Ursprungs in den Lymplischeiden zu erwahnen. DaB darunter auch
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Lampe, Arteriosklerose. Spatparalyse und Unfall.
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lipoide Abbauprodukte sind, zeigt die Farbung mit Sudan III, die in den
Lymphscheiden eine Menge lebhaft rot gefarbter Massen, teils in Zellen ein-
geschlossen, teils extrazellular erkennen laBt. Weiter finden sich namentlich
in der Rinde entsehieden neu gebildete Kapillaren rait diinner Wand und
endlich, teils in Begleitung diinnwandiger Kapillaren, teils scheinbar frei
im Gewebe, zahlreiche Stabchenzellen. Bei genauerer Untersuchung erkennt
man, daB die scheinbar frei im Gewebe liegenden Stabchenzellen haufig zu-
grunde gehenden oder gegangenen Kapillaren angehoren. Denn man kann
an solchen GefaBchen eine Strecke weit gute Wandungen mit Kemen und
intaktem Blutinhalt erkennen; dann wird die Wand undeutlich, die ganze
Kapillare schattenhaft; man sieht keine Endothelkeme mehr und nur noch
die sofort durch ihre Lange auffallenden, diinnen, linearen Gebilde oder
Stabchenkerne. Die paralytischen GefaBveranderungen sind liber das ganze
Gehim verbreitet, nicht nur in der Rinde, sondern auch in den tieferen
Schichten, z. B. im Pons und im Riickenmark.
tJber das Verhaltnis beider Veranderungen zueinander ist folgendes
zu sagen:
An einer groBen Anzahl mittlerer und kleinster GefaBe kann man
neben dem starken paralytischen Infiltrat der Lymphscheide eine chronische
Veranderung der GefaBwande nicht erkennen. Bei anderen, feineren GefaB-
chen mit weniger reicher Anfiillung der Lymphscheide zeigt sich die Wand im
iibrigen vollig intakt und nur einige Plasmazellen langs der Wand oder in der
Lymphscheide vorteilt. Daneben aber findet man eine groBe Anzahl anderer
mittlerer und kleinster GefaBe, bei denen chronische Veranderungen der
oben beschriebenen Art zu erkennen sind, in Gestalt von Verdickung der
Wande und Vermehrung der Bindegewebskerne. Aber neben diesen
chronischen Veranderungen sind die paralytischen gleichfalls ausgesprochen,
so daB zwischen den Bindegewebsbiindeln der verdickten Adventitia Plasma¬
zellen und Lymphozyten eingelagert sind. Auch an feineren GefaBen der
Rinde, die bei schwacher VergroBerung mit der van Gieson-F arbung als ver-
dickte, rote Strange erscheinen, kann man bei genauer Untersuchung mit
der starkeren VergroBerung erkennen, wie neben den langlichen und lanzett-
formigen Bindegewebskernen in der Lymphscheide und an der GefaBwand
vereinzelte oder zahlreiche Plasmazellen liegen. Nicht immer sind beide Ver¬
anderungen gleichmafiig verteilt, sondern man hat den Eindruck, besonders
in der Rinde, daB einzelne mittlere GefaBe und ihre samtlichen Verzweigungen
von den arteriosklerotischen Veranderimgen, andere von den paralytischen
Veranderungen befallen sind oder frei bleiben, wahrend wieder an anderen
Gruppen beide Veranderungen vorkommen.
Die Glia ist ziemlich gewuchert, ohne daB dariiber etwas besonders
Auffalliges zu berichten ist. Besonders starke Gliawucherungen finden sich
an der Rinde unterhalb der Pia in Gestalt eines verbreiterten ziemlich
grobfaserigen Filzes, in dem bei der Weigert -Farbung zahlreiche sehr starre
Fasern und zahlreiche unechte Spinnenzellen vorkommen. Dieser Faserfilz
begleitet auch die RindengefaBe auf weite Strecken in den tieferen Schichten.
Um die starker erkrankten GefaBe findet man zahlreiche Spinnenzellen in
alien Stadien der Entwicklung. Aehnlich stark verdickt ist der subependy-
male Gliafilz. DaB die Gliakerne langs dem feineren Mark fehlen, reihenweise
vermehrt und aufgereiht sind, wurde schon oben erwahnt. In den obersten
Rindenschichten und unter dem Ependym, ferner auch in der Ammons-
homrinde findet man zahlreiche Kolloidkorperchen. Erwahnt mag an dieser
Stelle noch eins werden, dafi in einem Abschnitt des Riickenmarkes (Hals-
und oberes Brustmark) der Zentralkanal deutlich verdoppelt ist, und daB
beide Kanale von einem vollstandigem Epithelring ausgekleidet sind. Die
Markfasern sind in maBigem Grad dezimiert, doch so, daB noch Tangential-
fasern erhalten sind. Etwas Besonderes ist dariiber nicht zu sagen. Im
Riickenmark finden sich nur in der Pyramidenseitenstrangbahn einige
grobere Faserausfalle, wahrend in den Himstrangen solche nicht deutlich zu
erkennen sind. Nur sind hier die Gliasepta wohl etwas verbreitert.
Die Nervenzellen zeigen in der Rinde iiberall noch die richtige Reihen-
anordnung, wie iiberhaupt die Rindenstruktur vollig erhalten ist. Im
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Lamp©. Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
einzelnen sind Kerne und Kemkorperchen der Rindenzellen meist erhalten,
die Zellen selbst teils intakt, teils stark geschrumpft. Im Zellleib findet sich
durchweg viel Pigment, das bei der Sudan-Far bung noch starker hervortritt,
so daB oft zwei Drittel des Zellleibes davon eingenommen werden.
Zitsammenfassung: Auf korperlichem Gebiete Pupillenstarre,
herabgesetzte Patellarreflexe und Sprachstorung. Dazu kommen
im psychischen Verhalten: GroBenideen, Urteilsschwache, Merk-
fahigkeitsstorung, Gedachtnisschwache und Stimmungsschwankung.
Diese Symptome sprechen fur eine progressive Paralyse; doch ist
wegen vorgeriickten Alters, der absoluten Pupillenstarre und der
Zeichen von peripherer Arteriosklerose auch an eine ateriosklero-
tische Erkrankung des Gehims zu denken. Aehnliche Falle be-
schreibt auch L. W. Weber aus der Gottinger Anstalt, die nach
Lebensalter, psychischem wie korperlichem Befund anfangs wohl
die Diagnose Paralyse vollig rechtfertigten, bei denen man aber
spater, zum Teil aus dem weiteren klinischen Verlauf, dem Auf-
treten von herdformigen Ausfallssymptomen, zum Teil durch den
Sektionsbefund und durch die mikroskopische Untersuchung ge-
zwungen war, die Diagnose auf Arteriosklerose richtig zu stellen.
Auch Schob schildert einen ahnlichen Fall, allerdings in jugend-
licherem Alter, der auch erst nach der Sektion mikroskopisch auf-
geklart werden konnte und bei dem dann ebenfalls die intra vitam
gestellte Diagnose progressive Paralyse in arteriosklerotisch be-
dingte Erkrankung des Gehirns umgewandelt werden muBte.
Auch wir haben einen ahnlichen Fall beobachtet:
Ein Buchdruckereibesitzer war seit 2 Jahren peychisch verandert
und bot allmahlich die psychischen und korperlichen Symptome einer
progressiven Paralyse; nebenbei trat zeitweilig der amnestische Sym-
ptomenkomplex in den Vordergrund, und es fand sich beidei seitige Stauungs-
papille. Die Sektion ergab aber keine Paralyse, dagegen diffuse arterio-
sklerotische Veranderungen der kleineren GefaBe und ihrer Verzweigungen
und multiple miliare Erweichungsherde durch das ganze Gehim verstreut.
Es mag dabei offen gelassen werden, ob diese diffuse Er¬
krankung der GefaBe auf dem Boden einer Lues entstanden war,
wofiir der positive Wassermann sprach. Um eine echte Himlues
handelt es sich jedenfalls nicht. In klinischer Beziehung war der
Fall von der Paralyse insofem abweichend, als er durch den zeit¬
weilig vorhandenen Korsakoffschen Symptomkomplex kompliziert
war. Man wird bei der Differentialdiagnose zwischen Arteriosklerose
und Paralyse nicht allzu viel Gewicht auf die Unterscheidung
zwischen isolierter Lichtstarre und absoluter Starre legen diirfen;
denn daB in vielen Fallen echter Paralyse absolute Starre vorkommt,
erscheint nach der Literatur, wie nach unserer Beobachtung zweifel-
los. Fraglich ist nur. ob nicht im vorliegenden Falle (und in vielen
anderen Paralysefallen, die nicht so genau anatomisch untersucht
wurden) das Hinzutreten der Akkommodationsstarre zu der reinen
Lichtstarre lediglich eine Erscheinung des Endausganges der
Paralyse ist oder durch das Hinzutreten einer diffusen Arterio¬
sklerose zu dem paralytischen HirnprozeB bedingt ist. Man wird
aber in jedem Falle, ob rein oder kombiniert mit akkommodativen
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Lampe, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
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Storungen, den Verdacht der Paralyse hegen miissen. Von
Wichtigkeit fiir die Differentialdiagnose ist dann eine genaue Be-
obachtung dariiber, ob die Pupillenbefunde und die Formen der
Pupillen konstant oder schwankend sind. DaB Entrundung fiir
Paralyse spricht, betont auch Hoche in seiner neuesten Arbeit.
Das Schwanken aller Pupillenbefunde (Entrundung, Licht- oder
akkommodative Starre) wird im allgemeinen mehr als charakte-
ristisch fiir die Hirnlues bezeichnet; aber die Beobachtung von
Landsbergen aus der Cramerschen Klinik zeigt, daB das wechselnde
Verhalten der Pupillenbefunde auch bei Kombination von Paralyse
und Hirnlues vorkommt. Auch bei der diffusen Arteriosklerose
sind die Pupillenbefunde nicht so konstant wie bei der Paralyse.
Endlich ist darauf hinzuweisen, daB genau regelmaBig wiederholte
Beobachtungen auch bei der echten Paralyse nicht nur in den An-
fangsstadien, sondern iiber langeren Verlauf hin einen Wechsel der
Pupillensymptome ergeben. Gerade bei unserem Chemnitzer
Material wurden wiederholt Falle beobachtet, bei denen zeitweise
die Pupillen wieder auf Licht und Akkommodation reagierten, so-
wohl wahrend des Weiterfortschreitens der Erkrankung als in
Remissionen, wahrend der klinische Verlauf, der positive Wasser-
mann im Blut und in der Lumbalfliissigkeit und in einzelnen Fallen
auch spater die Sektion das Vorhandensein einer typischen Paralyse
ergaben. Nur wo dauernd die Pupillenreaktionen intakt bleiben,
wird man die Diagnose Paralyse in Zweifel ziehen miissen und
immer wieder auf eine andere Erkrankung (Tumor, Lues, Arterio¬
sklerose) fahnden miissen, auch wenn die iibrigen klinischen
Symptome fiir Paralyse sprechen. Die iibrigen, korperlichen
Symptome — Sprachstorung, herabgesetzte Patellarreflexe —
sind nicht so charakteristisch, daB wir sie zur Differentialdiagnose
heranziehen konnten.
Dagegen gibt das Alter des Kranken AnlaB zu einigen Be-
merkungen. Er stand bei Beginn der Erkrankung im 64. Lebens-
jahr. Das spricht im allgemeinen mehr fiir Arteriosklerose oder
prasenile Demenz, als fiir Paralyse, denn es ist bekannt, und alle
einschlagigen Statistiken bestatigen dies, daB das Pradilektions-
alter der Paralyse unter dem 50. Jahre liegt, daB dariiber hinaus
und namentlich jenseits des 60. Jahres die Paralyse zu den Selten-
heiten gehort. Bei unserem Kranken ist auch die lange Inkubations-
zeit auffallig. Wie wir bei Vervollstandigung unserer Anamnese
erfuhren, hat Patient seit 1874 in auBerst gliicklicher Ehe gelebt;
er ist immer sehr solid gewesen und hat sich seit seiner Ver-
heiratung wahrscheinlich nicht mit Lues infiziert, soweit bei
solchen Fragen iiberhaupt eine Feststellung moglich ist. Da ist
man berechtigt, anzunehmen, daB die Infektion wahrend des Krieges
1870/71 stattgefunden hat. Es ware dann aber zwischen ihr und
dem Ausbruch der Paralyse immerhin eine Zeit von 40 Jahren ver-
strichen. Wie wir aus den Arbeiten vieler Autoren, besonders
aus denen von Kraepelin , Junius und Arndt wissen. betragt die
Zwischenzeit zwischen Ansteckung und Paralyse gewohnlich 10 bis
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Lampe, Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
15 Jahre. Aus diesen Arbeiten, besonders bei Kraepelin, ersieht
man auch, daB die kiirzeste Zwischenzeit 3 Jahre, wahrend der
langste beobachtete Intervall 30 Jahre, nach Olivier sogar 44 Jahre
betragen kann. Es wiirde sich demnach auch bei unserem Kranken
um eine Paralyse mit auBergewohnlich langer Inkubationszeit
handeln. Doch scheinen heute schon mehrfach derartige Falle be-
obachtet zu sein, denn auch Matauschek und Pilcz haben in ihrer
Statistik iiber 4134 katamnestisch verfolgte Falle von luetischer
Infektion zwei Falle von Paralyse nach 39 jahriger Zwischenzeit.
Von den psychischen Symptomen stehen in unserem Falle im
Vordergrunde des Krankheitsbildes die GroBenideen, die ja nach
der Auffassung der meisten Autoren wenigstens fiir die expansive
Form der progressiven Paralyse etwas Charakteristisches haben.
Wir wissen, daB sie sich auszeichnen durch die Kritiklosigkeit,
mit der sie vorgebracht werden, durch einen hohen Grad von Ur-
teilsschwache und durch ihre Unbestandigkeit, sowie durch ihre
suggestive BeeinfluBbarkeit.
DaB aber auch bei der arteriosklerotischen Psychose GroBen-
ideen vorkommen, wissen wir besonders durch Weber, der fiir sie
auch die wesentlichen Unterschiedsmerkmale im Gegensatz zur
Paralyse festgesetzt hat. Er fand bei seinen Fallen von Arterio¬
sklerose, daB die GroBenideen dem Berufsleben und dem speziellen
Vorstellungskreis seiner Kranken entnommen waren, und meint,
daB sie gerade nur dann als solche angesehen werden konnen, wenn
man die ganze Sachlage, die komplizierten Verhaltnisse innerhalb
dieser Berufsstande beriicksichtigt. Ihm schlieBt sich Nonne und
in neuerer Zeit auch wieder Spielmeyer an. Er halt die GroBen¬
ideen der Arteriosklerotiker fiir wenig suggestiv zu beeinflussen
und hat gefunden, daB bei diesen Kranken auch bei hochgradigster
Erregung fast immer das PersonlichkeitsbewuBtsein, ,,der Kern
der Personlichkeit" erhalten bleibt. In unserem Falle passen die
GroBenideen weniger in das Bild einer Paralyse als in das einer
Arteriosklerose. Wenn Patient von seinen ,,Wolkenkratzern“ er-
zahlt, so muB man beriicksichtigen, daB Patient friiher in sehr
guter Vermogenslage gelebt hat, und daB er selbst Hausbesitzer
gewesen ist. Auch seine anderen Wahnideen erklaren sich vollig
aus seinem Vorstellungskreis; so hat er einmal angegeben, er sei
Major a. D. Auch diese Idee ist aus seinem Berufsstande, da er
Reserveoffizier war, sehr leicht zu erklaren.
Die Urteilsschwache haben wir schon bei Besprechung der
paralytischen GroBenideen erwahnt. Nach den meisten Autoren
ist gerade sie eine schon sehr friih sich bemerkbar machende
Storung in der Verstandnistatigkeit der Paralytiker; schon ganz
im Beginn der Krankheit, wenn noch die meisten anderen Sym-
ptome fehlen, bemerkt man Auslassungen in der Schrift, Um-
stellung von Buchstaben, Fehler, die dem Kranken durchaus nicht
auffallen. Auf dieser Grundlage bauen sich dann auch die Wahn-
vorstellungen der Paralytiker auf. Beim Arteriosklerotiker ist man
aber manchmal iiber sein gutes Urteil bei anscheinend schon hoch-
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gradiger Verblodung hochst erstaunt. Bei ihm ist die Urteils-
schwache mehr zirkumskript und auch dann nicht so hochgradig,
daB man von einer eigentHchen Kritiklosigkeit sprechen konnte.
Manchmal besteht sogar eine, wenn auch nur affektlose Krankheits-
einsicht, die doch immerhin noch auf einen gewissen Grad Urteils-
kraft hindeutet. Weber kommt daher zu dem Resultate, daB bei
der Arteriosklerose ,,in der Mehrzahl der Falle eine gewisse Krank-
heitseinsicht vorhanden ist, ohne daB bei sonst erhaltener Urteils-
fahigkeit mit dem entsprechenden Affekt darauf reagiert wird“.
Darum paBte der beschriebene Fall auch wieder mehr in das Bild
der arteriosklerotischen Seelenstorung. So hat Patient noch bis
kurze Zeit vor der Einlieferung in dieAnstalt seinenBerufsgeschaften
leidlich nachgehen konnen, wozu doch immerhin auch noch ein
gewisser Grad von Urteilskraft gehort. Er hat noch ein ausge-
sprochenes PersonlichkeitsbewuBtsein bis zum Ende der Krankheit
Die Sektion ergab neben den Anzeichen von Arteriosklerose
deutliche paralytische Veranderungen. Ich begniige mich mit einer
kurzen Aufzahlung; es fand sich: Leptomeningitis chronica,
Ependymitis granularis, leichte Arteriosklerose, Verdickung des
Schadeldaches, Verdickung der Dura, Hydrops meningeus und Him-
atrophie.
Die W assermannsche Reaktion wurde wahrend der Krankheit
des Patienten nicht mehr gemacht; aber bei der Sektion wurde zu
diesem Zwecke Blut entnommen, und die Reaktion fiel positiv aus.
Ihre Bewertung fiir die Diagnosestellung der Paralyse steht heute
wohl einwandsfrei fest. Eichelberg bemerkt allerdings, daB diese
Reaktion nicht als spezifisch fiir Syphilis zu bezeichnen sei, da sie
auch bei anderen Erkrankungen positiv ausfalle, worauf auch eine
Beobachtung von Bittorj und Schidorski hinweist.
Von verschiedenen Seiten ist auch auf den lumbalen Wasser-
mann als diagnostisches Hilfsmittel bei arteriosklerotischer,
syphilitischer und metasyphilitischer Erkrankung des Nerven-
systems hingewiesen worden. Als eine Erfahrung der Praxis aber
mochte ich die Tatsache verzeichnen, daB gerade bei Arterio-
sklerotikem, gelegentlich auch bei Senilen die Lumbalpunktion
haufig versagt insofem, als es nicht moglich ist, trotz Eindringens
der Nadel in den Vertebralkanal Fliissigkeit zu erhalten. Woran
dies liegt, weiB ich nicht. Auch die Rolle des Blut-Wassermanns
bei der uns hier interessierenden Differentialdiagnose ist nicht in
alien Fallen eine ausschlaggebende, denn wir wissen heute, daB auf
dem Boden einer syphilitischen Infektion leichter auch eine ge-
wohnliche Arteriosklerose zu Stande kommen kann, die nichts
Syphilitisches an sich hat und nicht einmal histologisch als
syphilitischer oder metasyphilitischer Natur angesprochen werden
kann. Der positive Blut-Wassermann sagt uns also in solchen
Fallen, daB der Kranke einmal Lues gehabt hat, aber nicht, ob die
jetzt bei ihm vorhandene organische Gehimerkrankung luetischer,
paralytischer oder arteriosklerotischer Natur ist.
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voo gevvnehcrtrm K’lidolhel. aid die frown- wnlil /.a>H’.st bei seiner
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Co gle
Lampe. Arteriosklerose. Sp&tparalyse und Unfall. 347
diese ganz charakteristischen Gebilde namentlich auf der Hohe
der Windungen, die oberste Sohicht der Pia wie eine Kappe be-
deckend. Fig. 1. Sie bestehen aus mehrschichtig auf einander
gelagerten Endothelien und haben das Aussehen beginnender
Endotheliome. An den GefaBen der Pia konnen wir eine pralle
Fiillung und zahlreiche Blutaustritte und deren Uberreste in Ge-
stalt von Pigment in ihrer Umgebung in den Maschen der Pia nach-
weisen. Der ganze Befund an der Pia deutet also darauf hin, daB
sich hier teils eine chronische Veranderung, teils ein akuter Ent-
ziindungsprozeB abgespielt hat.
In der Hirnsubstanz selbst haben wir drei Gruppen von Be-
funden zu unterscheiden: Einmal die an den GefaBen, sodann die
Veranderungen am Gliagewebe und schlieBlich die an den Nerven-
zellen und Fasem selbst. Die pathologischen Prozesse an den Ge¬
faBen sind deutlich paralytischer Natur; die GefaBscheiden sind
vollgepfropft mit Zellen, unter denen man Plasmazellen, Lympho-
zyten und gewucherte Adventitiazellen unterscheiden kaim. Femer
finden sich zum Teil in der Begleitung neu gebildeter, diinn-
wandiger Kapillaren, zum Teil iiber das ganze Gewebe zerstreut
zahlreiche Stabchenzellen, deren Auftreten Kraepelin fiir bedingt
halt durch den paralytischen KrankheitsprozeB und deren Ur-
sprung aus den Adventitiazellen fiir ihn sichersteht. Die Verande¬
rungen an der Glia, namlich eine grobfaserige unregelmaBige
Verdickung des subpialen und perivaskularen Faserfilzes unter
Beteiligung zahlreicher in alien Stadien der Entwicklung und Riick-
bildung befindlicher Spinnenzellen weist ebenfalls auf die Paralyse
hin, wenn auch von einem absolut charakteristischen Befunde hier-
bei nicht gesprochen werden kann. Ebenso verhalt es sich mit den
Veranderungen im eigentlichen Nervenparenchym. Wir sehen an
den Nervenzellen neben erhaltenen Elementen alle Formen und
Stadien des Unterganges, und die Markfaserung zeigt die Ausfalle
im tangentialen und supraradiaren Fasersystem, welche man friiher
fiir ausschlieBlich charakteristisch fiir die Paralyse hielt, von denen
man aber heute weiB, daB sie vielleicht graduell verschieden bei
alien chronischen Gehimerkrankungen vorkommen.
Es kann also nach dem Ergebnis dieser mikroskopischen Be¬
funde kein Zweifel sein, daB bei dem Verstorbenen eine echte Para¬
lyse vorgelegen hat, und zwar war sie, um dies gleich hier zu be-
merken, in sehr ausgedehnter Weise iiber das gesamte Gehim ver-
breitet; denn im Gegensatz zu vielen anderen Fallen fand sie sich
nicht nur in der Rinde des Stimhims, sondem in alien Teilen der
GroBhimrinde und ihres Markes und in den hinteren Abschnitten,
namentlich im Himstamm bis in die Medulla oblongata hinein.
Die Veranderungen, namentlich an den GefaBen, sind weiter sehr
intensive und weisen im allgemeinen auf einen noch in voller Blute
stehenden KrankheitsprozeB hin.
Neben diesem typisch-paralytischen Befund bestanden aber die
Zeichen einer ausgesprochenen diffusen Arteriosklerose der Himge-
gefaBe nicht nur makroskopisch, sondern auch bei mikroskopischer
Monatwohrlft f. Psychiatric jl Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 6. 23
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Arteviouklarost dttrip.lt ikr g«'ge.n»nitig<^ Anfmnanderwirken. an*
sohtuiiend nicht erffthren. \Vir linden Aart-fet Und dire Vcrzmn*
Fig. •-’. Fig. 3.
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d<5T BrndegeweV.iskerjis; van (7u-«nri- Fftrliaiiir.
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Bmd(?gpwcbf?ferhe f'Jasistaielten an d^r Uefii(iw%w4 «n<i ire tyttiph-
ranm aut'treten (Fig. 4 nud 5J, und su.dyn WtSrkvrvn (lefaLten wieht
iviiui zwi.sclw'u den derbc-ii Sindegtnvd^bfti^bbi die para!yii*eh£n; ;
Infiltrate dot Lymphoayteh urul Pla^mayellcn emgelagert i.wlor «ueh
die fixen i H- wehszeiien, narnentlieh die advent it i;ti>: ji Kk riiente
in iebhal'ter; "VVneliei uu.g bygrdfen. ps. Hchotni also die An-
vesenhed emer cluonUehen atiennsklt-iniiseheij ‘ PkvfaUwdarlung
kem Hindernis «« Hein fiir die pf Hhlieriing eu-en geflt jnwalyimhen
EokratdUingK[MX>?;eHiHS ate {iiimdbdb tlefalhvu nil:. • yUtn-ny - ’d'afi es
kidi liter urn die /on belt spitfire Fntwu-kbmg 4*?r Paralyse in dear
ehroniseh lauger von der' dd’ftjHen ArK-rVosklerov.- Wallunhn' Gr-
hivfi handed. vrscheihi naeh drtn garden Behind srn wahrstliein-
liehBten. E* fcamu aueh aulkv dieser Kfklarung nuv nueii die sane
Mbgliehkvit in Bctraeht, dali \\'it ex kit e unit eiiiyr alteren Paralyse
vnri rhumiselmro \Vrhuif ?.u tun hivhen, hei der t* v.u zqidrek-hen:
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Kaiiillaven und PridvapLunitni «u*. dor Hiodo. Ver'mhruria der Biudcj- ;
gewftbskeroe mad A uffcr©ten iwa»4itetf# Jfe^naze) fen (Pt); tsiftTke ViwgrtiBersing.
bitKlegewebigtiJr Koii&oJidk*l'bng dm: GefaBiplildei gafcfmtr?>en itM.
•Denn daft bei tier Paralyse- HeUungsvorgangb kobanMefc \eeuhn.
betdnt auch Xpidme yz-r wicder in ReftSrat anf deitn
Kieier Knrtgreli. Diese Moglichkei.t erHt-biint alter fiir .dirndl Fall
imimnehmbar, vvei! mhlmehca frfeche. |turaiyt.iBehe Ver&nderuugeu
bur au linden Hind, und wail trot* tier imugen Koto hi nation bonier
d ,, fi t 1 V-. . »- >L Ti/1 Oto > 5 .ill-. tii vilX.it 0/1 + ti 1 r- Kil rj \ t
emandvr: Aru.lt miHUeo wir tnelvr regressive I'eraaidenmgyfi nacli-
weiseiv kdtmnu at« die veryin^eltvn Bid unde iryis keti gobikinten und
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350 Lampe, Arterioskleroae, Spfttparalyse und Unfall.
wieder zugrunde gehenden Kapillaren und den sie begleitenden
Stabchenzellen. DaB die Annahme einer auf dem Boden bereits
vorhandener diffuser Arteriosklerose nachtraglich entstandenen
akuten Paralyse auch aus dem klinischen Verlauf gestiitzt werden
kann, soil nachher noch gezeigt werden. Hier sei nur auf das histo-
pathologische Interesse, das dieser Befund beanspruchen kann,
verwiesen.
Wenn somit die makroskopischen imd mikroskopischen Unter-
suchungen eine innige Mischung von alteren arteriosklerotischen
und frischeren paralytischen Veranderungen ergeben haben, so
brauchen wir ims nicht zu wundem, daB unsere differential-
diagnostischen Erw&gungen nicht hindurchfanden. Es sei aber hier
noch auf einige Fragen der Entstehung und des Verlaufes dieses
Krankheitsfalles hinge wiesen, die ebenfalls durch den anatomischen
Befund naher beleuchtet werden.
tJnser Patient war 64 Jahre alt. Er stand also immerhin in
einem Alter, in dera die Paralyse auBerst selten ist. Es sind bisher
nach den Statistiken immer nur sehr wenig mannliche Patienten,
die in dem Alter von 60—65 Jahren erkranken. Das sagen sowohl
Kraepelin wie auch Junius und Arndt, deren Zahlen in neuerer Zeit
auch wieder von Pilcz und Matauschek bestatigt werden konnten.
Nach diesen Statistiken nimmt ungefahr vom 50. Lebensjahr die
Zahl der Paralysefalle sowohl absolut ab, als auch beziiglich des
Uberwiegens des mannlichen liber das weibliche Geschlecht, so daB
z. B. nach der Statistik von Junius und Arndt vom 60. Jahre ab
nur noch 9 Paralysen vorkommen, unter denen 6 mannliche,
3 weibliche sind. Es ist also schon nach dieser Bichtung der Fall
von besonderem Interesse, weil er eins der wenigen Beispiele dafiir
ist, daB auch in so hohem Lebensalter noch das voll entwickelte
klinische und anatomische Bild der Paralyse auftreten kann.
Bemerkenswert ist dann weiter die auBerordentlich lange Zwischen-
zeit zwischen luetischer Infektion und Ausbruch der Paralyse.
Nach unserer Annahme lagen also zwischen Infektion und Aus¬
bruch der Paralyse ein Zeitraum von etwa 40 Jahren und es wiirde
sich also um eine Inkubationszeit von dieser Dauer handeln.
DaB dies moglich ist, wird auch von Kraepelin zugegeben, wenn
er auf Olivier mit seinem Fall von 44 jahriger Inkubationszeit hin-
weist, und neuerdings wird es auch wieder von Matauschek und
Pilcz best&tigt.
DaB eine luetische Grundlage auch bei unserem Patienten vor-
handen ist, beweist uns der positive Blut-Wassermann, iiber dessen
Bewertung wir ja schon gesprochen haben. Doch konnen wir sie
nicht allein verantwortlich machen; wir miissen bei der Ent¬
stehung dieser Paralyse auch den Unfall im Mai 1911 beriick-
sichtigen. DaB wie andere Sch&dlichkeiten auch traumatische
wenigstens eine Paralyse auslosen konnen, scheint sicher zu sein;
wenn man aber einen solchen Zusammenhang annehmen will, so
miissen die oben erwShnten Voraussetzungen erfiillt sein. Dazu
gehoren der Nachweis, daB vorher keine paralytischen Symptome
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L a m p e . Arteriosklerose, Spiitparalyse und Unfall. 351
vorhanden waren, eine gewisse zu Kommotionssymptomen
fiihrende Intensit&t des Unfalles, eine verh<nism&Big kurze
Zwischenzeit zwischen Unfall und Ausbruch der Psychose und in
manchen Fallen ein besonders foudroyanter Verlauf mid besondere
anatomische Befunde. Fiir den vorliegenden Fall treffen einige
dieser Voraussetzungen zu; insbesondere hat vor dem Unfall kein
klinis ches Symptom der Paralyse bestanden. Wir wissen zwar
aus der Anamnese, daB er seit etwa 12 Jahren vor dem Tode seiner
Familie und seinen Bekannten durch ein etwas ver&ndertes
psychisches Verhalten auffiel. Er war etwas redselig geworden und
neigte zu renomierenden Erz&hlungen; doch wurden keinerlei
ausgesprochene psychische Storungen beobachtet; ebensowenig
Nachlassigkeiten in gesch&ftlicher oder gesellschaftlicher Beziehung.
Es w&re gezwungen, diese schon etwa 10 Jahre dem Unfall und der
todlichen Erkrankung vorhergehenden leichten Storungen auf die
progressive Paralyse zu beziehen. Denn es ist nicht denkbar, daB
diese Paralyse, die schlieBlich so foudroyant und ohne erst einen
weitgehenden korperlichen Verfall zu machen, zum Tode fiihrte,
daB diese Erkrankung vorher 10 Jahre lang in verh<nism&Big
harmloser Form bestanden haben soil, so daB sie den Kranken
an der Besorgung seiner Gesch&fte nicht hinderte. Dann wiirde
vermutlich auch das mikroskopische Bild anders ausgesehen haben;
wir wurden eine weiter gehende Zerstorung der normalen Rinden-
architektur und nicht so viele frische Prozesse finden. Wenn der
Hausarzt und die Umgebung des Kranken geneigt waren, diese
leichte psychische Veranderung auf ein friihzeitiges Altem zuriick-
zufiihren, so wissen wir jetzt aus dem anatomischen Befund, daB
die Ursache dafiir in einer diffusen Arteriosklerose der Cerebral-
gef&Be zu suchen war. Und es mag mit besonderem Nachdruck
betont werden, daB es sich auch hier nicht ausschlieBlich um die
Sklerose der groBen Basalarterien handelt, die man ja oft findet,
ohne daB die Funktionen des betreffenden Gehirns irgendwie
beeintrachtigt waren, sondem es liegt auch hier wieder vor eine
fibrose Entartung und Elastizitatsabnahme an den feineren, be¬
sonders den kortikalen Gef&B&sten. Von dieser Ver&nderung
kann man umso eher eine Beeinflussung des psychischen Verhaltens
erwarten, als es sich ja dabei infolge der Beteiligung zahlreicher
Aste um eine diffuse Erkrankung handelt. Auf diesem durch
arteriosklerotische, aber nicht durch paralytische Ver&nderungen
vorbereiteten Boden hat also der Unfall eingewirkt. Der . Unfall
selbst war von erheblicher Intensit&t, denn er machte die
Symptome einer Gehimerschiitterung mit langer dauemder Be-
wuBtlosigkeit, Amnesie, Erbrechen und Zeichen einer herdformigen
Schadigung. Ferner erholte Patient sich nie mehr vollig von dem
Unfall, sondem bot bis zum Ausbruch der psychischen Storungen
(7 Monate nach dem Unfall) die deutlichen Zeichen einer organischen
Gehimerkrankung, von der vor dem Unfall keine Spur vorhanden
war, n&mlich eine Sprachstorung, die nach der Schilderung einen
paraphasischen oder amnestisch-aphasischen Charakter gehabt
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352
L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
haben muB. Endlich war der manifeste Verlauf der Paralyse sonst
ein entschieden abgekiirzter, denn sie fiihrte in 3 Monaten zum
totlichen Ausgang. Man wird also nicht umhin konnen, in diesem
Falle dem Unfall die Bedeutung eines auslosenden und den Verlauf
der Paralyse beschleunigenden und verschlimmemden Momentes
zuzuschreiben. wie dies auch in versicherungsrechtlicher Beziehung
anerkannt wurde. Die Annahme ist also berechtigt, daB der
Patient ohne den vorangegangenen Unfall trotz iiberstandener Lues
nicht paralytisch erkrankt ware, und daB er bei seiner nur geringen
arteriosklerotischen Erkrankung noch voraussichtlich Jahre hin-
durch seinem Beruf hatte nachgehen konnen, wenn er auch viel-
leicht etwas weniger leistungsfahig geworden ware. Auch darin
weicht unser Fall von den gewohnlichen Vorkommnissen ab, daB
hier auf dem Boden der Arteriosklerose noch eine Paralyse durch
die traumatische Einwirkung entstanden ist. Denn sonst sehen wir
bei alterer Arteriosklerose durch Gehimerschutterung wohl miliare
Himblutungcn, wie sie Friedmann , oder diffuse hyaline Entartung,
wie sie Weber beschrieben hat, entstehen. Hier aber vermochte
trotz des vorgeriickten Alters die weit zuriickliegende luetische In-
fektion noch eine ausgedehnte und stark paralytische Gewebs-
veranderung hervorzurufen.
Man kommt also auf Grund der Anamnese, des klinischen
Beobachtungsergebnisses und des Sektionsbefundes dazu, sich den
Hergang folgendermaBen zu denken: Ein 40 Jahre vor dem Tode
mit Syphilis infizierter Mensch zeigt etwa vom 53. Lebensjahre ab
leichtere psychische Veranderungen, die auf eine beginnende
Arteriosklerose bezogen werden miissen. Auf diesem Boden wirkt
im 64. Lebensjahr eine Himerschiitterung als auslosendes Moment
fiir den 6 Monate nach dem Unfall erfolgenden Ausbruch einer
Paralyse, welche nach dreimonatlichem foudroyanten Verlauf zum
Tode fiihrt.
Fassen wir die SchluBfolgerungen zusammen, die wir aus der
klinischen Beobachtung und anatomisch-mikroskopischen Unter-
suchung dieses Falles ziehen konnen, so laBt sich folgendes sagen:
Auch im vorgeriickten Alter — jenseits des 60. Lebensjahres —
kommen Paralysen vor, die den klinischen Verlauf der expansiven
Form mit GroBenideen und motorischer Erregung nehmen und bei
denen anatomisch und mikroskopisch dieselben Befunde erhoben
werden wie bei den Paralysen jugendlicheren Alters. Namentlich
zeigen die reichlichen, ausgedehnten und weitverbreiteten Lymph-
scheideninfiltrate aus den typischen Elementen, daB auch das
greisenhafte, in Riickbildung begriffene Gehim noch zu so lebhaften
produktiven und exsudativen Gewebsprozessen f&hig ist, wie sie
die paralytischen Gef&Bveranderungen darstellen. DaB auch diese
Spatparalyse syphilitischen Ursprunges ist, ist sicher; mit Wahr-
scheinlichkeit wird man sogar eine ungewohnlich lange Inkubations-
zeit fur sie in Anspruch nehmen miissen — soweit man xiberhaupt
in solchen Fallen von einer Sicherheit sprechen kann.
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L a m p e , Arteriosklerose, Spatparalyse und Unfall.
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Weiter ergibt sich, daB eine Kombination von diffuser
Arteriosklerose und Paralyse raoglich ist, nicht nur im Sinne einer
zufalligen Beimischung arteriosklerotischer Befunde zur Paralyse,
sondem so, daB die Arteriosklerose langere Zeit fiir sich allein be-
standen hat und bestimmte klinische Erscheinungen verursachte
und daB erst spater sich dazu die paralytische Erkrankung gesellte.
Dabei ist von besonderem histologischem Interesse, wie die beiden
an demselben mesodermalen Gewebe, dem BlutgefaBbindegewebs-
apparat, sich abspielenden pathologischen Prozesse nebeneinander
hergehen und sich gegenseitig beeinflussen.
Endlich zeigt auch dieser Fall wieder, daB man das Trauma
wenigstens als auslosende Ursache fiir das Auftreten einer Paralyse
nicht von der Hand weisen darf, wenn bestimmte Momente vor-
liegen: das Fehlen paralytischer Symptome vor dem Unfall, eine
besondere Intensitat des direkt auf den Schadel und seinen Inhalt
einwirkenden Traumas (in diesem Falle eine typische Him-
erschiitterung), Auftreten deutlicher Zeichen dauemd gestorter
Himfunktion unmittelbar nach dem Unfall, die in ununter-
brochener Reihe zu dem Ausbruch der paralytischen Erkrankung
selbst hinleiten und ein abgekiirzter foudroyanter Verlauf der
letzteren, der dem Leben ein Ende setzte, ehe der weitgehende
korperliche Verfall der gewohnlichen Paralyse einsetzte. Diese
Momente waren im vorhegenden Fall vorhanden; die Mehrzahl
derselben wird man fordem miissen, wenn man einen ursachlichen
Zusammenhang zwischen Unfall und Paralyse annehmen will.
Literatur- Verzeichnis .
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des Reiohsversicherungsamts. 1911. No. 10.
Ueber die Beziehung der Zwangsvorstellungen
zum Manisch-Depressiven 1 ).
Von
K. BONHOEFFER
in Berlin.
Die 51 jahrige Kranke, die ich Ihnen hier zeige, leidet unter echten
Zwangsvorstellungen. Es drangen sich ihr, wie sie sagt, immerfort Ge-
l ) Nach einer Demonstration in der Berliner psychiatr.-neurologischen
Geselischaft.
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der Zwangsvorstellungen zum Manisch-Depressiven. 355
danken auf, sie muB immerfort denken, ,,was sinnlos, was zwecklos und
nicht zu ergriibeln ist 44 . Bald sind es an sich vollig gleichgiiltige Dinge
der AuBenwelt, die sie beunrnhigen, z. B. wieviel Aepfel heute dagelegen
haben, was heute gesprochen worden ist, was gestern, bald hangen sich die
Vorstellungen an korperliche Vorgange, an den Horakt und den SSchluckakt.
Sie muB z. B. immerfort dariiber nachdenken, ob sie bemerkt hat, daB sie
geschluckt hat, oder ob es ihr entgangen ist. In ahnlicher Weise muB sie
registrieren, was ihr ins Ohr fallt. Sie spricht von ihren H dr gedanken,
von ihren Schluckgedanken. Neu auftauchende Gedanken wecken ihr
unangenehme Sensationen in den Ohren.
Sie ist sich vollig klar dariiber, daB es ihre Gedanken sind. Sie
fiirchtet, weil sie ihrer nicht Herr werden kann, daB sie verriickt werden wird.
Die Kranke halt den Zustand fur aussichtslos, die Gedanken er-
scheinen ihr „schlimmer, als wenn sie im Zuchthaus ware 44 .
Sie fiihlt sich auBerst ungliicklich, sie hat an Interesse, an Lebens-
und Arbeitslust verloren und klagt, daB sie zu keinem EntschluB kommen
kann.
Bei der Exploration der Kranken ist bemerkenswert die auBer-
ordentliche Lebhaftigkeit und Mitteilsamkeit, mit der die Patientin ihren
Zustand schildert, die Bereitwilligkeit, mit der die Patientin trotz ihrer
gesellschaftlichen Stellung, und trotzdem ich sie heute selbst ziun ersten
Male sehe, sich vorstellen laBt. Auch besteht ein Kontrast- in der Lebhaftig¬
keit der Mimik, dem Glanze der Augen zu der deprimierten Stimmung der
Kranken. Gelegentlieh tritt uns auch ein nicht ausreichend motiviertes
Laeheln entgegen. Der jetzige Zustand hat sich vor etwa 1% Jahren ent-
wickelt mit Verstimmung und schlechtem Schlaf und allmahlich ver-
schlimmert. Anfanglich hatten auch Angstgefiihle, Wiirgen im Halse und
Erbrechen bestanden.
Es scheint, daB in letzter Zeit sich eine Besserung vorbereitet; das
Korpergewicht nimmt zu. Die Stimmung ist nicht mehr dauernd ungliicklich.
Sie hat Zeiten, in denen sie Karten spielen und lachen kann. Wenn sie
sich freier fiihlt, weiB sie „vor Vergniigen nicht, was sie tim soil 44 . gH
Von Natur ist die Kranke lebhaften heiteren Temperaments, unter-
nehmend und tatkraftig. Friiher hat sie an Migrane gelitten. Seit dem
Beginn der jetzigen Erkrankung hat diese aufgehort und erst in allerletzter
Zeit sich wieder einmal eingestellt;
Die jetzt bei ihr bestehende Erkrankung ist die dritte dieser Art
wahrend ihres Lebens. Mit dem Klimakterium hangt sie nicht zusammen.
Die Menses haben schon im 43. Lebensjahr aufgehort.
Die erste gleichfalls mit Zwangsdenken eithergehende Erkrankung
hat im 22. Lebensjahr eingesetzt und % Jahre gedauert, die zweite trat
16 Jahre spater ein und dauerte ebensolange. Sie selbst hat die Empfindimg,
daB die jetzige Erkrankung die schwerste ist.
Wir sehen also ein ausgesprochen periodisches Auftreten
von Zwangsvorstellungen.
Auf diese Erscheinung der Periodizitat des Auftretens von
Zwangsvorstellungen, die auch schon anderen Beobachtem (Fried¬
mann, Aschafferiburg , Kraepelin, Sommer) aufgefalien ist, wollte
ich an diesem besonders augenfalligen Beispiele hinweisen. Seit
einer Reihe von Jahren, wahrend deren ich darauf achte, hat
sich mir bei genauerem Zusehen dieser periodische Charakter
bei einer so auBerordentlich grofien Zahl von Fallen heraus-
gestellt, daB ich darin etwas GesetzmaBiges zu sehen geneigt
bin. Die Haufigkeit der Periodizitat und eine Reihe anderer noch
zu erwahnender Punkte machen es mir in hohem MaBe wahrschein-
lich, daB das Auftreten von Zwangsvorstellungen auBerordentlich
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35b Bonhoeffer, Ueber die Beziehung
enge innere Beziehungen zur manischdepressiven Anlage hat 1 ).
Ich glaube, daB in sehr vielen, ich sage nicht in alien Fallen
der Zusammenhang so liegt, daB die Zwangsvorstellungen ledig-
lich das Symptom darstellen, das den an Depression Erkrankten
am meisten beunruhigt und deshalb in den Vordergrund gestellt
wird.
Tatsachlich laBt sich bei Patienten, die an Zwangsvorstellungen
leiden, wie es scheint, regelmaBig ein begleitender depressiver
Symptomenkomplex feststellen. Die Kranken geben meist, wenn
man sie nur ausreiehend sich aussprechen laBt, unzweideutige
Auskunft iiber Insuffizienzgefiihl, EntschluBunfahigkeit, Gefiihl der
Abstumpfung, der Interessen- und Gedachtnisabnahme, Ungliicks-
gefiihl und mehr oder weniger ausgesprochene Andeutungen von
Selbst vorwurfen.
Diesen depressiven Symptomenkomplex als etwas Sekundares,
als eine Folgeerscheinung der Zwangsvorstellungen zu betrachten,
wie es meist geschieht und wie es vielfach die Patienten selbst
auch tun, entspricht, wie ich glaube, nicht dem tatsachlichen
Kausalverhaltnis. Das ergibt sich erstens daraus, daB bei zahl-
reichen dieser Patienten bei fruheren Attacken einfache Depres-
sionen ohne Zwangsvorstellungen bestanden haben (vgl. auch
Friedmann ), und daB sich gelegentlich zeigen laBt, daB zunachst
eine einfache Depression ohne Zwangsvorstellungen die Er-
krankung einleitete, daB die Intensitat der Depression durch-
aus nicht immer der Starke der Zwangsvorstellungen parallel
gehen. DaB die Patienten selbst die Zwangsvorstellungen
als Ursache der Depression ansehen, entspricht der bei De-
pressionen auch sonst bekannten Erfahrung, daB der Kausal-
zusammenhang der Symptome verkannt wird. Ich erinnere an
die zahlreichen wegen Blutarmut, Bleichsucht, gastrischer,
intestinaler, herzneurotischer und anderer Symptome behandelten
periodischen Depressionen. Es ist ganz gewohnlich, daB hier die
somatischen Beschwerden — nicht zum wenigsten auch von den
Aerzten — in den Vordergrund gestellt werden, und erst die
darauf gerichtete psychische Untersuchung deckt den Charakter
der Storung als Teilerscheinung der Zyklothymie oder der peri¬
odischen Depression auf, wenn nicht gelegentlich ein interkurrenter
Suizidversuch die Bedeutung des depressiven Komplexes schorl
vorher ins richtige Licht setzt.
*) Anmerkung. Wahrend der Korrektur sehe ich aus einer Publikation
Heilbronners (Zwangsvorstellung und Psychose. Zeitschrift f. d. gesamte
Neurologie und Psychiatrie. 1912. Bd. IX), daB auch ihm die Haufigkeit
der Periodizitat der Zwangsvorstellungen nicht entgangen ist. Auch er
erortert die Beziehungen zum Manisch-Depressiven, und ich behalte luir
vor, auf seine Erwiderungen in dieser Frage bei der zusammenfassenden
Darstellung unseres Materials naher einzugehen. Ich pflege bei der Be-
sprechung der Zwangsvorstellungen in der Klinik seit einer Reihe von
Jahren auf diesen Zusammenhang hinzuweisen, der fur den Praktiker vor
allem auch von der prognostischen Seite aus von Wichtigkeit ist. (Vgl.
auch Zeitschr. f. Psych. Bd. 69. S. 785.) Auch diese Seite wird von
Heitbronner beriihrt.
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der Zwangsvorstellungen zum Manisch-Depressiven.
357
Bekannt ist, wie sich in manchen unzweideutigen melancholi-
schen Depressionen der depressive Vorstellungskreis der Ver-
armungsideen, der Selbstvorwiirfe stark dem Charakter der
Zwangsvorstellung nahert. Es gibt depressiv Erkrankte, die
sich liber die Torheit ihrer Verarmungsideen und Selbstvorwiirfe
durchaus klar sind, die aueh die Unfahigkeit, von diesen Gedanken
loszukommen, durchaus als krankhaften Denkzwang empfinden.
Auch das Schwanken zwischen depressiver eigentlicher Wahnidee
und Zwangsvorstellung ist zu beobachten.
Vor aflem wichtig scheint mir aber fiir die Auffassung, daB
es sich bei dem depressiven Symptomenkomplex bei den Zwangs¬
vorstellungen nicht um eine psychologische Folgeerscheinung,
sondem um eine innere klinische Beziehung handelt, die Ver-
bindung mjt manischen Elementen. In unserem Falle traten diese
in der Mitteilsamkeit, in dem auBerst lebhaften Mienenspiel,
dem gelegentlichen Lacheln, dem durchbrechenden iibermutigen
Affekt, wenn sie vor Vergniigen nicht weiB, was sie tun soli, dem
in gesunden Tagen bestehenden hypomanischen Temperament
hervor.
Auch sonst habe ich nicht selten bei Zwangsvorstellungs-
kranken manische Ziige beobachtet, vor allem die Erscheinung
der inneren Ideenflucht, die Klage, daB neben den zwangsmaBig
sich aufdrangenden Vorstellungen abgerissene Gedanken und
Erinnerungen sich jagen, daB auBerordentlich viele Gedanken
kommen, ist nicht selten festzustellen. Gelegentlich habe ich
auch die gesteigerte Ablenkbarkeit mit Zwangsvorstellungen
sich zu einem eigenartigen Bilde vereinigen sehen. Auch bei der
eben besprochenen Kranken hangt vielleiclit die Eigenart der
Zwangsvorstellungen, alle Horeindriicke und die Schluck-
bewegungen zu registrieren, mit der Wahrnehmung der ge-
steigerten Ablenkbarkeit zusammen.
Ein weiteres wichtiges Moment, was mir den inneren Zusammen-
hang von Zwangsvorstellungen und manisch-depressiver Anlage be-
statigt, sehe ich in der Haufigkeit, in der sich bei der Aszendenz
und Konsanguinitat von Zwangsvorstellungspatienten manisch-
depressive Erkrankungen und periodische Depressionen meist
leichterer Art finden.
Diese manisch-depressiven Antezedentien bei der Aszendenz
sind mir bemerkenswerter Weise auch bei solchen an Zwangs-
denken leidenden Kranken aufgefallen, bei denen der von Jugend
auf bestehende und scheinbar durch ganze Dezennien sich hin-
ziehende Krankheitsverlauf keinen periodischen Charakter mehr,
sondern einen Habitualzustand, der hochstens noch Intensitats-
schwankungen aufweist, erkennen laBt. Es besteht vielleicht
zwischen diesen Formen und den ausgesprochen periodischen
dasselbe Verhaltnis wie zwischen den konstitutionellen Depressionen
zu den periodischen. Doch bedarf das noch genauerer Unter-
suchung;
Eine Bestatigung der hier ausgesprochenen Auffassung von
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358
Buchanseige.
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der nosologischen Stellung der Zwangsvorstellungen ist vielleicht
auch darin zu erblicken, daB die therapeutischen Erfolge eine
groBe Uebereinstimmung mit denen der echten Depression zeigen.
Hier wie dort hat derjenige den Heilerfolg, der das Gluck hat,
den Patienten in der Zeit zu bekommen, in welcher die Krank-
heit nach den unbekannten Gesetzen des endogenen Prozesses
spontan ihrem Ende zuneigt. In dieser Phase pflegt dann auch
alles sich niitzlich zu zeigen. was in einer andem Phase der
Erkrankung versagt hat.
Buehanzeige.
Theodor Heller, Orundrifi der Heilpddagogik. Leipzig 1912. Wilhelm Engel-
mann. 676 S.
L. Scholz. Anomale Kinder. Berlin 1912. S. Karger. 442 S.
In dem Worte Heilpadagogik liegt bereits der Doppelkern einer neuen
Grenzwissenschaft, die sich mit der Tatigkeit des Lehrers und der des Arztes
an einer bestimmten Gruppe Jugendlicher befaBt. Vollstandig in dieses
Gebiet fallen die beiden oben erwahnten umfangreichen Arbeiten, und zwar
wendet sich der Psychiater Scholz mit seinem Buch an Eltern, Erzieher, Leiter
und Lehrer an Heilpadagogien, an Fiirsorgeinstituten, Hilfsschulen und An-
stalten fur geisteskranke Kinder, wahrend der Padagoge Heller die im Kindes-
alter vorkommenden Geistes- und Nervenkrankheiten und deren heiler-
zieherische Behandlung zu schildem versucht, „ohne die Milhilfe eines Fach-
arztes in Anspruch zu nehmen, aber bestrebt, die einschlagige medizinische
Literatur bei seiner Arbeit zu beriicksichtigen. 44
Vergleichen wir die beiden denselben Zielen zusteuemden Werke mit-
einander, so lassen sich ihre Tendenzen kurz dahin zusammenfassen: Scholz
gibt aus der Summe seiner psychiatrischen Erfahrung heraus das, was fur den
dabei interessierten medizinischen Laien, in erster Lime fur den Padagogen
Interesse hat und sucht dies auf eine einfache gemeinverstandliche Formel zu
bringen, zeigt aber dabei eine Reihe von Ausblicken, die auch den Psychiater
interessieren. Heller dagegen stellt seinen GrundriB der Heilpadagogik auf
eine fast zu breite psychiatrische Basis, die gerade in den dieser Basis ein-
geordneten Teilen dem Facharzt nichts Neues bringt, dem Erzieher aber viel¬
leicht ein verwirrendes Zuviel iibermittelt. Ein Philologe von den Qualitaten
Hellers konnte es wohl wagen ein Buch zu schreiben, das zu reichlich zwei
Drittel seines Umfanges die Atiologie und Klinik der anomalen Kinder und
vieles andere weniger der Padagogik als vielmehr der Psychiatrie Zufallende
behandelt. Was bei Heller aus einer ganz iiberragenden Kenntnis der ein-
schlagigen Literatur hervorgewachsen ist und aus fortlaufenden oft sehr
ausfiihrlichen Zitaten erganzt wird, iibermittelt dem Psychiater zwar
kein neues Wissen, einiges wird er sogar nicht unbedingt unterschreiben, aber
eine hiibsche Auffrischung alles dessen, was in alterer und jiingerer Zeit von
dem und jenem Standpunkte in der angeregfen Richtung geauBert wurde.
Da das Werk nicht den Anspruch macht, ein Lehrbuch der Psychiatrie dar-
zustellen, so laBt sich gegen An- und Einordnung der besehriebenen Er-
krankungen auch nichts sagen. Trotz einiger erwfthnenswerten Anregungen
fiir den Facharzt mochten wir doch warnen, „quod licet Jovi non licet bovi 44
und hoffen, daB sich, durch Hellers Beispiel verfiihrt, jetzt nicht andere
padagogische Anstaltsleiter darauf legen, Psychiatrie zu dozieren. Die
Deutung der von ihnen beobachteten und gesammelten Symptome wird
inuner dem Psychiater verbleiben miissen. Es konnte sonst noch an einem
anderen Platze zum Kampf um die Grenzgebiete kommen, wie ein solcher
schon einmal im Jahre 1893 wegen der Frage entbrannt war, wer soil Leiter
von Anstalten fiir Schwachsinnige sein, der PMagoge oder der Psychiater ?
Heller teilt sein Buch in folgende 2 Teile: 1. Der infantile Schwachsinn
und 2. Nervose Zustande im Kindesalter, ihre padagogische Therapie und
Prophylaxe. Das groBte Interesse beanspruchen naturgem&B die Abschnitte,
die sich mit der heilpadagogischen Erziehung beschaftigen und durch eine
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Buchanzeige.
359
Menge von Beobachtungen und Hinweisen eine entschiedene Bereicherung
der ftrztlichen Wissenschaft bedeuten. Die Abnormen im Schul- und Er-
ziehungsleben werden hier in so umfassender Weise beleuchtet, wie dies
vielleicht noch nie vorher so liickenlos geschah, und man merkt so recht,
wie Verf. hier aus dem eigenen Vollen schopft. Heilpadagogischer Unterricht
und heilpadagogischePJrziehung,die er in zwei ausfiihrlichen sehr lesenswerten
Kapiteln behandelt, dfirfen nach seiner Erfahrung bei den Schwachsinnigen
nicht in getrennte Disizplinen aufgelost, sondern iniissen in derselbe Hand
vereinigt sein, weil sonst die Gefahr besteht, daB der Erzieher seine Arbeit
vom Lehrer durchkreuzt sieht, oder daB der Lehrer mit seinen Bemfihungen
Schiffbruch leidet, da ihm die Gelegenheit fehlt, auch anBerhalb der Lehr-
stunden an gemeinsame Erlebnisse ankniipfend dem schwachsinnigen Kinde
Wissenswertes zu ubermitteln. Die Friichte feinster Beobachtung legt Verf.
in den Bemerkungen fiber Strafe und Belohnung, ferner fiber das Leben
Schwachsinniger bei den Eltern nieder „I)ie erziehliche Behandlung im
Eltemhaus ist oft nichts anderes alspsyehischeMifihandlung“und schlieBlich
iiber die Qualitat der Erzieher. Das Kapitel fiber den heilpadagogischen
Unterricht stellt sich als ein systematischer Aufbau dar, dessen einzelne
Stufen die Ausbildung zunachst der einfachsten korperlichen Verrichtungen
bedeuten: Gehen, Greifen, gymnastische Uebungen, Tumen und enrhyth-
misches Tumen, Singen und Handfertigkeiten. Das Zeichnen ffihrt fiber zu
den eigentlichen Schulfachem Lesen, Schreiben, Rechnen. Es folgt Moral-
unterricht, der kein moral is ierender sein soil, biblische Geschichte, niir unter
Anschauung groBer Bildertafeln vermittelt, Naturlehre, Heimatkunde mit
Schulwanderungen anstatt Karten, Geographie mit bildlichen Darstellungen
und personlichen Anknfipfungen, Geschichte ohne chronologische Zusammen-
h&nge nur unter Heranziehung jener Momente, welche fur die sittliche Ent-
wicklung von Bedeutung sind. Der Anschauungsunterricht muB bei
den Schwachsinnigen durchaus im Vordergrund stehen, und wo Bilder fehlen,
trete die Herbartsche Forderung ein, daB der Heilpadagoge imstande sein
soli, so zu beschreiben, 1 daB der Zogling zu sehen glaube. Den Einzelunter-
richt verwirft Heller als zu anstrengend auch dfirfe keine Lelirstiuide mehr
als 30 Minuten umfassen und keine Hausarbeiten gefordert werden. Ein um-
fassendes Kapitel fiber Geschichte und gegenwartigen Stand der Schwach-
sinnigenffirsorge beschlieBt den ersten Teil.
Der zweite Teil, der in 2 Kapiteln die nervosen und die psychopathischen
Konstitutionen behandelt, grenzt noch als ein drittes die Hysteric ab, nicht
ohne daB dabei die Frendschen Theorien mit einbezogen wiirden. Bei Auf-
z&hlung der schadigendenMoment,weelche nervoseKonstitution begfinstigen,
spricht Heller einige eindrfickliche Worte fiber den EinfluB der Familie, der
nicht nur durch die Not der unteren Klassen ein sch&digender ist, sondern
„Die AuBerachtlassung der Familienpflichten, die mangelnde
miitterliche Pflege und Aufsicht gibt gegenwartig der Erziehung der Kinder
besitzender Kreise das charakteristische Geprage. Die egoistisclien Geffihle
und Gesinnungen persistieren, die altruistischen Gemfitsbewegungen bleiben
dem Wesen des Kindes fremd. Es erscheint immer mehr als Recht des Kindes.
sich an dem Sinnen- und Genufileben des Erwachsenen zu beteiligen! —
Die Heilpadagogik hat gegenwartig vielfach die Aufgabe, begangene Er-
ziehungsfehler auszugleichen. 4 ‘
Tief hinein in das Wesen der Abnormen leuchtet der Abschnitt Ffir-
sorgeerziehung und Heilpadagogik. Verf. verlangt, daB die modeme Ffir-
sergeerziehung ihrem Wesen nach identisch mit Heilerziehung sei, daB
die Fiirsorgeerziehungsanstalten zu Heilerziehungsanstalten umgewandelt
werden. Hier ist das eigentliche bildungsfahige Material, das der heil-
padagogischen Anstaltsarbeit neue dankbare Aufgaben stellt, die Wert und
Bedeutung der Hilfspadagogik in ein klares Licht riicken wfirden. HeUer
betont, daB daraus ein dringendes Bedfirfnis nach heilpadagogischen
Seminarien, an denen auch Aerzte als Lehrer wirken, hervorgehe. Wenn
man das Buch zu Endo gelesen hat, so kann man nicht anders als in seinen
SchluBsatz einstimmen:
„Vermag die Hilfspadagogik die asozialen und antisozialen Elemente
zu verringern, so schafft sie Werte, die zahlenm&Big nicht ausgedrfickt werden
konnen. Sie erffillt aber auch eine der wichtigsten Kulturaufgaben, die darin
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3b0
Buchanzeige.
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besteht, Bildung und Gesittung denjenigen zu verleihen, deren Krafte zu
schwach sind, urn aus eigenem Antrieb der Segnungen der Menschheit teil-
haftig zu werden. “
Wenn schon der reichen Kenntnis und Anwendung der psychiatrischen
Literatur Erwahnung geschah, so darf nicht unerw&hnt bleiben, dafl die
strengeWissenschaftlichkeit Hellers ihn die Autoren aller einschlagigcn F&cher
heranziehen lieB, und es ist wohl kaum ein philosophisches, juristisches, pad-
agogisches, sozialwissenschaftliches, psyehologisches, theologisches usw.
Werk in den letzten 30 Jahren zur Sache geschrieben, das Heller nicht ein-
bezieht. Das Literaturverzeichnis umfafit allein an GOO Namen.
Scholz behandelt in seinen ,,Anomalen Kindern 44 dieselben Typen
wie Heller t nur treten naturgemafi die Erziehungsmaflnahmen mehr zuriick.
Die Form ist von seinem eigenen Wunsche dirigiert, ,,zwischen den beiden
Klippen der Ueberwissenschaftlichkeit und der Trivialitat eine leidlich
glatte Durchfahrt zu finden. 44 Und das ist ihm ganz ausgezeichnet gelungen.
Er hat es verstanden, die psychiatrische Materie so zu formen, dafi die Nicht-
arzte, fiir die er schreibt, ein klares und ansehauliches Bild bekoinmen, dem
sie ihre padagogischen MaBnahmen anpassen konnen. Das ganze Buch ist
von einem guten und verniinftigen Geist erfiillt und sein angenehm ins Ohr
fallender Stii, die manchmal etwas drastische Ausdrucksweise, die aus-
gesprochene Bereitschaft des Verf. zu Zitaten aus der schonen Literatur
rnachen es zu einem leicht lesbaren.
Wenn in temperamentvoller Verfolgung einer Zielrichtung (Anfiihrung
der den Selbstmord verherrlichenden Klassiker) Schillers Marquis Posa als
durch eigene Hand fallend angefiihrt wird, so iaBt sich dies vielleicht in
einer zweiten Auflage vermeiden.)
Die wertvolle Besonderlieit des Werkes, das ja als populares gedacht ist,
besteht darin, daB die Materie, wo irgend moglich, konkret gefaBt ist und
Fachausdriicke nach Kraften vermieden werden. Aus seinen psychiatri¬
schen Wissens schopfend, ist es Verf. gelungen, einfach zu sein, ohne
an der Oberflache zu bleiben. Gelegentlich schiirft er wohl auch mal
etwas zu tief, z. B. in Schilderung der Untersuchungsmethoden an Schwach-
sinnigen, durch die sicher mancher Laie sich befugt glauben wird, Diagnosen
zu stellen. Zu welchem Ende ? Seine Bemerkungen zur „Intelligenz der
Schwachsiimigen* 4 zeigen Scholz als feinen Beobachter der Kindesseele, wie
er stagnierendes und fliefiendes Wissen, Nachbeten imd eigenes Denken,
reproduktives und produktives Vermogen abgrenzt und in einzelnen Typen
aufbaut. Bei Besprechung des Charakters und der Lebensfiihrung der
Schwachsinnigen gibt er einige interessante neue Ausblicke, namentlich in
Bezug auf die meist als solche nicht diagnostizierten Debilen der hoheren Ge-
sellschaftsklassen. Neben dem Schwachsinn werden noch alle Formen der
kindlichen Nem*o- und l’sychopathie abgehandelt. Wie Scholz ’ gesamte
Darstellungen von einem sich manchmal bis zum Ergreifenden steigernden
Verstandnis und Mitgefiihl fur die psychi^ch abnormen Jugendlichen ge-
tragen sind, so bemuht er sich auch, die so viel gehafiten Hysterischen gegen
falsche Urteile und falsche Behandlung zu schiitzen und aufklarend zu wirken.
Was er liber „die Manischen“ sagt, konnte wohl einigerinaCen Ver-
wirrung anrichten: die in diesem Kapitel geschilderten Krankheitsbilder
zeigen doch nur hypomanische Symptome und sind durchaus nicht als echte
Manien aufzufassen. Auch diirfte es kaum chronisch hypomanische In-
dividuen ohne jeden depressiven Einschub geben.
Bei Erorterung der allgemeinen Gesichtspunkte steht Verf. natiirlich
auf dem Standpunkt, daB die Leitung von Anstalten fur schwachsinnige und
geisteskranke Kinder in die Hand der Irrenarzte gehore. Ausfiihrliche Be¬
sprechung ist der Behandlung der Abnormen sowohl in psychiatrischer als pa-
dagogischer Hinsicht und betreffs der sozialen Fiirsorge gewidmet. Besonders
wichtig in einer popularen Arbeit ist das Kapitel Vorbeugung, in welchem die
Forderung gesetzlicher Heiratsverbote oder diesen gleichkommende MaB-
nahmen fiir Kranke mit vererbbaren Leiden und fur Gewohnheitsverbrecher
gefordert, in welcher als Entartungsquellen der Alkohol und die Syphilis
beleuchtet werden.
Scholz hat seinem Buche ein ganz kurzes, in 3 Abschnitte geteiltes
Literaturverzeichnis beigelegt, d«^ sich mit der Psychologic des normalen
Kindes, mit geistigen Anomalien iiberhaupt und mit solchen beim Kinde
beschaftigt. Dr. Helene Friderike Stelzner.
Gck igle
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(Aus der deutechen psychiatrischen Universitatsklinik in Prag.
[Vorstand: Prof. A. Pick.])
Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
Von
Dr. OTTO SITTIG,
Assistant.
(Mit 7 Abbildungen im Text.)
Die Erscheinungen der Makropsie und Mikropsie haben seit
langem wegen ihrer Eigenart und Auffalligkeit bei den Psychiatem
das groBte Interesse erregt, und es wurde viele Miihe und viel
Scharfsinn darauf verwendet, eine Erklarung fiir diese merk-
wiirdige Storung zu finden. Immerhin ist die Zahl solcher Falle
eine verhaltnismaBig nicht sehr groBe. Der Zufall hat uns vier
einschlagige Falle in kurzer Zeit nacheinander zugefiihrt.
Wenn wir also glauben, diese Falle veroffentlichen zu diirfen,
so geschieht es deshalb, weil diese pathologische Erscheinung zu
den selteneren gehort und weil unsere Falle manche eigenartige
Ziige aufweisen, die alien gemeinsam sind und die vielleicht fiir
eine Erklarung einmal von Bedeutung sein konnten.
Es soli mu* die Dysmegalopsie nervosen Ureprungs beriick-
sichtigt werden, nicht aber die durch direkte Beeinflussung der
Akkommodation und Konvergenz durch kiinstliche Mittel hervor-
gerufene. Charcot beschreibt schon mehrere Falle dieser Art, und
auch nach ihm finden wir hie und da solche Falle in der Literatur
erwahnt. Veraguth (1) begniigte sich nicht mit der Beschreibung
seiner Kranken, sondern er versuchte auch eine Erklarung fiir die
Erscheinung zu finden und fiihrte sie auf eine Storung der ,,Dynam-
asthesie" zuriick. Heilbronner (2) hat einen Fall beschrieben, der
eine reine Porropsie zeigte; auch er fiihrt diese Erscheinung, die
in innerem Zusammenhang mit der Dysmegalopsie steht, auf eine
,,krankhafte Storung in den Rindengebieten, welche die Wahr-
nehmung von Zustanden der Korpermuskulatur inklusive der
Augenmuskeln vermitteln", zuriick. Er weist noch auf die nahen
Beziehungen zum Schwindel hin. Weiter sei an den Fall Pfisters (3)
erinnert. 0. Fischer (4, 5) hat dann gestiitzt auf eingehende
Beobachtungen und Versuche in unserer Klinik, eine Theorie der
Dysmegalopsie aufgestellt. Er fand bei seinen Kranken den peri-
pheren Akkommodationsapparat ganz intakt; femer veranderte
jedes Mittel, welches die Akkommodation beeinfluBte, durch ein-
Mon*t«eohrlft f. Psyohi&trie n. Nenroloffie. Bd. XXXIII. Heft 5. 24
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362
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
fache Summation die vorhandene Dysmegalopsie. Durch Atropin,
welches die Akkommodation vollkommen lahmt, verschwand die
Dysmegalopsie. Im peripheren Akkommodationsapparat kann
daher die Storung nicht liegen, denn dieser ist intakt. Auch im
Oculomotorius und seinen Zentren kann die Storung nicht liegen,
da sich keine Veranderung nachweisen lieB. Fischer stellt nim
ein Schema fur den Akkommodationsvorgang auf. Vom motori-
schen Zentrum geht der Impuls zum Muskel; bei der Kontraktion
desselben wird aber ein sensibler Reiz im Zentrum hervorgerufen,
nach dessen GroBe die Akkommodationsleistung beurteilt wird.
Dieses Zentrum konne nun im Sinne einer Hyp- oder Hyper-
asthesie erkranken. Bei Hypasthesie bekomme man bei sonst
gleicher Akkommodationstatigkeit die Empfindung, wie wenn
weniger akkommodiert wird, es kommt dann zu Makropsie. Bei
Hyperasthesie bekomme man die Empfindung, wie wenn mehr
als unter normalen Umstanden akkommodiert wird, es kommt zu
Mikropsie.
Fischer unterscheidet zwei Arten der nervosen Dysmegalopsie.
Die erste, deren Ursache er ins entsprechende Projektionszentrum
verlegt, folgt den anatomisch-physiologischen Gesetzen. Er be-
zeichnet sie als kortikale Dysmegalopsie. Die zweite, die den
anatomisch-physiologischen Gesetzen nicht folgt, deren Ursache
in psychischen, transkortikalen Storungen liegt, bezeichnet er als
transkortikale Dysmegalopsie 1 ). Diese beiden Formen unter-
scheiden sich u. a. dadurch, daB eventuell vorkommende Hallu-
zinationen bei der ersteren nicht dysmegalopisch, bei der letzteren
dagegen dysmegalopisch erscheinen.
Einen interessanten Fall beschreibt Janet (6), der mit dem
einen Fischers groBe Aehnlichkeit hat. Er erklart das einseitige
Auftreten damit, daB er eine Ausschaltung des einen Auges an-
nimmt.
Eine groBere Abhandlung iiber den in Frage stehenden Gegen-
stand hat di Gaspero (7) veroffentlicht. Er schildert zwei Falle,
bei denen Makropsie bei akuten alkoholischen Geistesstorungen
auftrat; in dem einen handelte es sich um einen transitorischen
toxischen Dammerzustand, im andern um eine akute Halluzinose.
Weiter versucht di Gaspero eine Erklarung dieser Zustande, wobei
er zu dem Ergebnis kommt, die dysmegalopischen Storungen „als
den Effekt einer Alteration der Gesichtsvorstellungen durch eine
pathologische Transformation normal gewonnener Wahrnehmungs-
bilder“ aufzufassen. Er rechnet sie zu den Orientierungsstorungen
im weitesten Sinne des Begriffes.
Ein neues interessantes Symptom, das in naher Beziehung zur
Dysmegalopsie steht, beschrieb Heveroch (8) in 2 Fallen traumati-
scher Neurose; die von ihm Stereohemidysmetrese genannte Er-
scheinung. Hier kam zu dysmegalopischen Erscheinungen noch
*) Im Sinne Wernickes .
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8 i 1 1 i g v Zur Kasuistik der Dyamegalopaie. 363
«eine Storung der GroBenschatzung durch den Tastsinn (einseitig)
hinzu.
Noch ist der interessante Fall Liebschers (9) zu erwahnen,
der neben Dysmegalopsie und Stereohemidysmetrese komplizierte
Sehstorungen (Zittern der Seh-Dinge, Abgebogensehen von ge-
raden Staben) darbot.
Ferner hat Liebscher (10) einen Fall von hysterischer Dys¬
megalopsie untersucht und beschrieben; er fand, daB die Storung
aich psychisch beeinflussen lieB, daB z. B. nicht nur Mydriatika
und Miotika, sondem auch indifferente Fliissigkeiten wie destil-
liertes Wasser das Sehen beeinfluBten, daB auch — entgegen den
bisherigen Beobachtungen — Makropsie mit Makrographie ver-
^esellschaftet war.
Was die Makro- und Mikrographie anbelangt, so hat zuerst
Pick (11) im Jahre 1903 zwei Falle von organisch bedingter Mikro¬
graphie mitgeteilt; ferner einen weiteren solchen Fall im Jahre
1906 (12). Mit motorisch bedingter Mikrographie beschaftigt
sich auch die Arbeit Lowys (13). AuBerdem hat aber auch Pick (14)
im Jahre 1905 zum erstenmal auf die hysterische Mikrographie
aufmerksam gemacht und eine Erklarung dafiir zu geben versucht.
Jetzt sollen die Krankengeschichten unserer 4 Falle ausfiihr-
lich wiedergegeben werden.
Fall I 1 ).
H. M., 26 jahriges Dienstmadchen, wurde am 6. II. 1894 zum ersten
Male auf die Klinik eingeliefert. Sie war wenige Tage zuvor an Handen
und FiiBen gefesselt, an die Tischbeine gebunden, von der Dienstfrau ge-
funden worden, der sehon einige Zeit ihre Niedergeschlagenheit aufgefallen
war. Sie gab an, daB ein unbekannter Mann sie iiberfallen und in bewuBt-
losem Zustande vergewaltigt habe. Da aber das Hymen ganz intakt war,
die Fesselung offenbar von ihr selbst herruhrte, die Wohnungsture von der
Frau versperrt gefunden wurde und nach Aussage der Hausbewohner
kein Fremder das Haus betreten hatte, wurden die Aussagen der Patientin
als wahnhaft erkannt. Sie hatte sich durch eine Bekannte schon friiher
nach Diktat Liebesbriefe schreiben lassen, wie sie auch spater selbst erzahlte.
Bei der Einbringung gedriicktes Wesen, hatte seit mehreren Tagen
nichts gegessen. Aufgefordert, erzahlte sie ausfuhrlich von dem angeb-
lichen Attentate, sowie von anderen Nachstellungen, unter denen sie seit
dem 14. Jahre leide. Sie habe hie und da Anfalle von Zittern, bleibe dann
bewuBtlos. Wird hie und da pathetisch, weint und jammert laut. Die
Dienstfrau gab an, daB sie von jeher „sentimental und melancholisch“
gewesen sei.
Pat. ist maBig hereditar belastet, Onkel und Vater abnorm.
Der Status praesens ergab normalen Befund. Sensibilitat, Reflexe
intakt. Spezifische Lungenaffektion.
Hie und da auBerte sie Selbstmordabsichten, sie sei hier im Ge-
fangnis, verlangte eine Schere, um sich die Haare abzuschneiden, verweigerte
-die Nahrung. Spater war das GesichtsfeZd konzentrisch auf ungefahr
30 Grad eingeschrankt, hochgradige Storung der Beriihrungs- und Schmerz-
empfindung in abgegrenzten Hautbezirken. Es wurden auch mehrmals
Dieser Fall wurde aus anderen Griinden von Herrn Prof. Pick
bereits im Jahre 1895 publiziert. Vergl. Jahrb. f. Psych. XIV. „Ueber
pathologische Traumerei imd ihre Beziehungen zur Hysterie“. Es ist der
-zweite der dort beschriebenen Falle.
24 %
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364
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
hysterische Krampfanfalle mit d&ran anschliefiendem tagelangem Stupor
beobachtet. Wiederholt traten traumhafte Zustande auf, wahrend welcher
si© sich bei Gericht glaubte, die Personen verkannt©, den Professor ala.
Vater ihres Kindes bat, fur dasselbe zu sorgen. Am 2. VIII. 1896 wurde-
sie auf Wunsch der Angehorigen ungebessert entlassen, kam nach wenigen
Monaten wieder, war dann mit wenigen Unterbrechungen bis zu ihrem Tode
Mai 1912 auf der Klinik. Ihr Zustand war im wesentlichen unverandertr
Bei mittlerer Intelligenz zeigte sie ein kindisches Wesen, war von wechselnder
Stimmung, beschaftigte sich mit Nahen und Hausarbeit; im AnschluB an
die hysterischen Krampfanfalle traten bald Aufregungszustande, bald
Stupor auf; sie auBerte verschiedene phantastische Wahnideen, die sie
meist selbst wieder korrigierte.
Am 27. I. 1912 machte Pat. bei der Friihvisite spontan die Angabe^
sie sehe alles so groB und dunkel, alle Leute haben dicke Kopfe und voile
Gesichter. Das Gesichtsfeld war konzentrisch auf ungefahr 40 Grad ein-
geschrankt.
Ein Bleistift erscheint ihr beim Betrachten mit dem rechten Auge
deutlich langer als beim Betrachten mit dem linken Auge; dabei auBert
sie, der Bleistift sei mit dem linken Auge gesehen normal groB, mit dem
rechten Auge gesehen vergroBert. Es wird ihr darauf ein Papierstreifen
vorgelegt, den sie mit dem rechten Auge betrachten soil (bei verdecktem
linken) und sie soil aus einer Reihe verschieden groBer Papierstreifen, die-
selben nur mit dem linken betrachtend, einen gleich langen heraussuchen*
worauf sie ganz prompt einen wesentlich langeren herausgreift und halt
diesen fur ebenso groB wie den erstgesehenen (es besteht also eine Makropsie
des rechten Auges). Die Differenz dieser GroBenschatzung ist so groB,.
daB ein 4 cm langer Streifen, der mit dem linken Auge richtig als 4 cm
geschatzt wird, mit dem rechten Auge der Kranken 5 y 2 cm lang erscheint^
Beim stereoskopischen Versuch, der so angestellt wird, daB im Bild
rechts Liegendes mit dem linken Auge gesehen wird und umgekehrt, sah
Pat. den ihr rechts erscheinenden Strich, der tatsachlich vom linken Augo
gesehen wird, groBer als den links liegenden.
Die Anordnung dieses von Fischer angegebenen Versuches ist folgende:
In dem untenstehenden Bilde (Fig. 1) sind die 4 senkrechten Linien so ge-
zeichnet, daB sich die beiden auBeren groBeren beim stereoskopischen Sehen
decken miissen; dann erscheint von den beiden inneren kiirzeren Senkrechten
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Got. .gle
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
365
<Lie tatsachlich rechtsliegende links und umgekehrt die linksliegende rechts.
Die links erscheinende kurze Linie wird also mit dem rechten Auge gesehen
und umgekehrt. Sieht nun die Rranke den im Bild rechts erscheinenden
Strich groBer und besteht Makropsie des rechten Auges, so ist dies ein Be-
T^eis dafiir, daB dieses Stoning nicht im Auge (mid seinem ganzen peripheren
und kortikalen Apparat) gelegen sein kann, da ja, wie oben angefiihrt, bei
<Lem stereoskopischen Versuch der groBer erscheinende rechte Strich tat¬
sachlich vom linken Auge gesehen wird.
Da die Kranke sonst Geldstiicke mit dem rechten Auge allein groBer
sah, mit dem linken normal groB, also Makropsie rechts bestand, so ist damit
die transkortikaie Genese der Dysmegalopsie erwiesen.
a) rechtes Auge
b) linkes Auge
Fig. 2.
Das Schreiben verhielt sich folgendermaBen: Am 28. I. schrieb Pat.
mit dem rechten Auge allein kleiner als mit dem linken Auge (Fig. 2). Am
3). II., als Pat. Mikropsie des linken Auges hatte, schrieb sie mit dem linken
a) rechtes Auge
b) linkes Auge
J/iomn^cL
c) mit beiden Augen
d) beide Augen geschlossen
Fig. 3.
Auge allein groBer als mit dem rechten und auch groBer als mit beiden ge-
dffneten Augen. Mit geschlossenen Augen wird ebenso groB geschrieben
wie mit offenen Augen (Fig. 3).
Erkennen dutch den Tastsinn.
Rechte Hand: 10 Heller halt sie fur 20 Heller.
Linke Hand: 1 Krone bezeichnet sie als gleich groB mit dem vorher
gezeigten Gelds tuck.
6
C
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366
S i 1t i g , Zur K&suistik der Dysmegalopsie.
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1 Gulden wird mit der linken Hand richtig erkannt, mit der rechten*
fiir 5 Kronen gehalten.
Wenn ihr in die rechte Hand ein 20-Heller-Stiick, in die linke 1 Krone
gelegt wird, halt sie beide fiir gleich.
20 Heller links und 10 Heller reehts halt sie fiir gleich groB.
An einem spateren Tage anderte sich der Zustand insofern, als sie
mit dem linken Auge allein die Gegenstande (Miinzen) kleiner sieht, mit
dem rechten in normaler GroBe oder manchmal auch kleiner.
Z. B. 20 Heller werden mit dem linken Auge als 1 Gulden bezeichnet,-
mit dem rechten Auge groBer als 5 Kronen, doch urteilt sie, es gebe ja keine
groBeren Miinzen.
Die Mikropsie des linken Auges bleibt in den nachsten Tagen, wahrend
am rechten Auge Makropsie besteht. Dabei verandert sich die GroBe der
Gegenstande mit der Entfernung vom Auge, und zwar nimmt die Makropsie
des rechten Auges mit wachsender Entfernung zu, mit dem linken Auge-
sieht Pat. die Gegenstande in groBer Nahe kleiner, bei zunehmender Ent—
fernung wachsen sie, um dann wieder kleiner zu werden.
Es seien einige Zahlen dazu angefuhrt:
Ein 10 cm langer Papierstreifen.
Linkes Auge. Entfernung 30 cm wird geschatzt 10 cm
Rechtes Auge.
Linkes Auge. Entfernung
Rechtes Auge.
50
»»
99
99
15
99
80
99
99
99
15
99
120
99
99
10
99
150
99
99
9 9
8
99
400
M
99
9 9
5
99
600
♦ »
99
5
99
30
99
99
9 9
10
99
50
99
99
99
15
»♦
120
99
99
99
18
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300
99
99
99
6
600 „ „
Streifen.
99
4
99
20
cm
wird geschatzt
10
cm
50
99
99
99
15
99
100
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99
12
99
150
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99
99
10
300
99
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99
7
99
600
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99
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6
99
20
99
99
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15
99
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99
99
20
99
100
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99
99
18
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150
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99
99
20
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300
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99
99
10
99
600
99
99
99
6
99
7 cm langer Streifen.
Linkes Auge. Entfernung 20 cm wird geschatzt 6
50 „ „ „ 10
100 „ „ „ 8
150 ,, ,, ,, 6
300 „ „ „ 4
600 „ „ „ 3
Rechtes Auge. 20 „ „ „ 10
50 y, ,, ,, 15
100 „ „ „ 13
150 „ „ „ 10
300 „ „ „ 7
600 „ „ „ 5
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
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Man sieht, daB Abweichungen wohl vorkommen, aber doeh eine
gewisse GesetzmaBigkeit vorhanden ist. Es werden die Zahlen fur die
geschatzten Langen zunachst immer groBer, um bei weiterer Zunahme der
Entfernung wieder abzunehmen.
Die Schatzung von Gewichten verhielt sich f ol gender maBen:
Linke Hand 60 g — rechte Hand 20 g; gleich
,, „ 20 ,, — ,, „ 80 rechts etwas schwerer
„ ,, 40 ,, — ,, „ 20 „; rechts schwerer.
Miotika und Mydriatika anderten die Dysmegalopsie im gewohn-
lichen Sinne.
Am 9. II. wird bei normaler GroBenschatzung des rechten Auges
Mikropsie des linken Auges konstatiert. Dabei werden auch mit der linken
Hand Gegenstande kleiner geschatzt, als sie wirklich sind, wahrend sie mit
der rechten Hand richtig erkannt werden.
Gewichte werden rechts schwerer als links empfunden.
Pat. war spater so heruntergekommen, daB eine weitere Unter-
suchung unmoglich wurde, und starb am 13. V.
ZusammengefaBt bot die Kranke also folgende Erscheinungen: zu¬
nachst Makropsie des rechten Auges, spater Mikropsie des linken Auges,
wahrend beidemal das andere Auge sich normal verhielt. SchlieBlich zeigte
sie Makropsie des rechten Auges bei gleichzeitiger Mikropsie des andern
Auges.
Der EinfluB der Entfernung war derartig, daB die scheinbare GroBe
zunachst wuchs, dann mit wachsender Entfernung abnahm (gleichgultig,
ob Makropsie oder Mikropsie bestand).
Die Stoning der GroBenschatzung durch den Tastsinn zeigte im all-
gemeinen folgende Beziehung zur Dysmegalopsie:
Pat. schatzte mit der rechten Hand die Dinge groBer, wahrend am
rechten Auge Makropsie bestand und das linke Auge normal sah. Spater
war Mikropsie des linken Auges mit Kleinerschatzen der linken Hand
vergesellschaftet bei normalem Verhalten des rechten Auges und der
rechten Hand.
Fall II.
J. A. war 5 mal in der Klinik gewesen; in den Jahren 1897 (2 mal),
1900, 1902, 1905; jedesmal war der Hergang ein fast ganz gleicher. Pat.,
der ein Trinker ist, beging an den Tagen vor der Einbringung einen Alkohol-
exzefi, daraufhin begann er plotzlich zu toben, schrie, raufte, knirschte mit
den Zahnen, glaubte sich manchmal verfolgt. Gewohnlich dauerte dieser
Zustand kaum einen Tag; meist war er bei der Einbringung in die Klinik
ruhig, nur zeigte er Amnesie fur das in der Erregung Getane, er wuBte nur,
daB er mehr getrunken habe als sonst, dann horte die Erinnerung auf.
Am 6. VI. 1912 wurde Pat. wieder um 12% Uhr nachts gefesselt ein-
gebracht. Er verhielt sich in der Klinik, nachdem ihm die Fesseln ab-
genommen waren, ganz ruhig, sprach gar nichts, auch auf Fragen ant-
wortete er nicht. In der Nacht schlief er wenig, doch lag er ruhig im Bette.
Am nachsten Tage friih gab er zunachst sehr unwirsch Antworten
auf Befragen iiber seine Generalien.
Beim Examen erkannte er den Professor, zeigte sich vollkommen
orientiert; er gab an, er habe tags zuvor der Fronleichnams-Feierlichkeit
zugeschaut, es sei sehr heiB gewesen, er habe deshalb etwas getrunken.
Mittags sei er nach Hause gekommen, habeMittag gegessen, dann sei er in
einen benachbarten Ort auf Bier gegangen. Er sei dann nach Hause ge¬
kommen, habe sich niedergelegt und nach einer Weile seien Polizisten
dagewesen.
Bei der darauf vorgenommenen Priifung des subjektiven Gesichts-
feldes mit dem linken Auge sagte Pat., nachdem er das rechte Auge mit
der Hand bedeckt hatte, spontan unter verwundertem Lachen: ,,Sie sind
so klein und schwarz und so weit wie ein Bild.“
Das Gesichtsfeld zeigte sich nicht wesentlich eingeschrankt.
Gck igle
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368
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
Mit beiden Augen, sowie mit dem rechten Auge allein erschien dein
Patienten der Examinator in normaler GroBe.
Mit dem linken Auge :
Bleistift wird um die Halfte verkleinert gesehen. Die Entfernung
von 25 cm wird auf 2 m geschatzt.
5-Kronen-Stuck: 1 Krone
1-Kronen- Stuck: 10 Heller
1 Gulden: 1 Krone.
Bei langerem Fixieren eines ihm gezeigten Geldstiickes sagt Pat.:
„Das wird schwarz und immer kleiner, es existiert gar kein solches Geld-
stiick.“
Eine Strecke von 10 cm schatzt er mit dem rechten Auge rich tig,
mit dem linken auf 5 cm.
Tasten: In beiden Handen werden die Gegenstande kleiner getastet.
Die Uhr des Examinators wird fiir eine Damenuhr gehalten; als sie ihm
dann bei offenen Augen gezeigt wird, sagt er: „Sie haben mir eine andere
gezeigt, die war so klein. Es macht sich alles kleiner, wenn ich die Augen
zu habe.“
Oervichtsproben:
250 g werden geschatzt links 300, rechts 500
500 „ „ „ „ 500, „ 700
750 „ „ „ „ 1000, „ 1100 bis 1150.
250 g in jeder Hand gleichzeitig wird in der linken Hand um 100 g
leichter empfunden als rechts.
125 g in jeder Hand gleichzeitig: in der rechten Hand um 10—13 dkg
schwerer als in der linken.
Am Perimeter zeigte sich das Gesichtsfeld des linken Auges fiir WeiB
in geringem MaBe eingeschrankt (ca. 10 Grad), das des rechten Auges in
den normalen Grenzen. Visus betrug links •/«> rechts Vs-
Mit + 1*5 warden die Gegenstande (Miinzen) vergroBert gesehen,
mit — 1,5 wurden die Gegenstande verkleinert gesehen.
Wurden ihm die Miinzen von der Kante, nicht von der Flache aus
gezeigt, so erkannte er die richtige GroBe.
Diese Storung dauerte nur ein paar Stunden, dann zeigte Pat. in
jeder Hinsicht normales Verhalten.
Aus der Anamnese ergab sich, daB die Angaben des Pat. richtig waren.
Er war um 9 Uhr abends nach Hause gekommen, hatte iiber Kopfschmerzen
geklagt. Er kleidete sich dann aus und legte sich ins Bett. Plotzlich be-
gann er sich in den Kopf zu schlagen, sagte, man solle ihm einen anderen
Kopf geben, zerriB das Hemd, knirschte mit den Zahnen. Es wurden
Polizisten geholt; bei ihrem Erscheinen war er aber bereits bei BewuBtsein,
nannte den Wachmann bei seinem Namen und bat, man moge ihn nicht in
die Klinik bringen, er habe jetzt viel Arbeit.
Eine schriftliche Darstellimg der Dysmegalopsie, die vom Pat. selbst
herriihrt, sei in der Uebersetzung wortlich wiedergegeben:
I. Mein erstes Sehen mit dem linken Auge verhielt sich folgendermaBen:
Kurze Zeit nach Verdecken des rechten Auges, etwa innerhalb einer Minute,
triibte sich mir das Auge, so daB der Gegenstand, auf den ich schaute,
sich standig entfernte (und zwar) in eine solche Entfernung, daB er wie ein
schwarzes Bild war. Der Gegenstand war der Herr Professor.
II. Zweitens waren Miinzen die Gegenstande: 1 Krone, 2 Kronen
(Gulden), 5 Kronen. Diese Miinzen sah ich stets kleiner, als ihr MaB ist,
so daB ich 1 Krone fiir 10 Heller, 1 Gulden fiir 1 Krone, 5 Kronen fiir 1 Gulden
schatzte. Wenn ich durch Glaser (sc. Linsen) schaute, erschien mir alles
wieder groB, aber es war verschmiert.
III. Der dritte Fall war die Uhr des Herrn Professors. Ich bekam
die Uhr in die rechte Hand, diese Uhr schien mir so klein wie eine Damenuhr,
nahm ich sie aber in die linke Hand, so war sie wieder groBer. Das wieder-
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S i 1t i g» Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
369
holte sich auch bei Geldstiicken, daC ich sie immer in der rechten Hand
kleiner schatzte.
Dies© Saehe wiederholte sich auch bei Sackchen, die mit einem schweren
Stoff angefiillt waren; in der rechten Hand schatzte ich immer das Ding
schwerer als in der linken. Auch das Schatzen der Gewichte fiel stets
falsch aus in der rechten Hand, in der linken Hand war das Schatzen der
Gewichte immer sicherer.
IV. Mit den Maften verhielt es sich gleich. Mit dem linken Auge
schatzte ich 1 dm auf 5 cm, mit dem rechten Auge rich tiger.
Fall III.
K. A., 17 Jahre alt, kam am 1. V. 1912 vom Gerichte zur Klinik. Er
war wegen Diebstahls angeklagt, doch von den Gerichtsarzten exkulpiert
worden, da anamnestisch erhoben wurde, daB Fat. seit einigen Jahren an
hysterischen Anfallen leide.
In der Klinik benahm sich Pat. vollkommen ruhig und geordnet,
war arbeitswillig, beteiligte sich unaufgefordert an Zimmerarbeiten.
Am 31. V. hatte Pat. nach einem Besuch einer Verwandten abends
einen Anfall; er kriimmte sich am Boden, schlug mit Armen und Beinen
um sich, reagierte nicht auf Anruf, auf den ersten Nadelstich reagierte er
durch leichtes Zucken, auf die folgenden nicht. Pupillen reagierten prompt.
Er schlief dann die ganze Nacht und wuBte fruh nichts aus eigener Erfahrung
iiber den Anfall.
a) mit dem rechten
Auge
b) mit dem linken
Auge
c) mit dem linken
Auge + 4 D
d) beide Augen
geschlossen
/?/£.
e) beide Augen
offen
Fig. 4.
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370
Sit tig, Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
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Am 2. VI. hatte Pat. neuerlich einen gleichen Anfall; nachher blieben
noch rhythmische Zuckungen um den linken Mundwinkel und im linken
Arm langere Zeit bestehen.
Am 11. VI. ein sehr heftiger Anfall derselben Art; Pat. fiel um, schlug
mit Armen und Beinen um sich, atmete tief; die Pupillen reagierten, auf
Anruf reagierte Pat. nicht. Allmahlich wurde Pat. ruhiger, es blieben nur
rhythmische Zuckungen im linken Mundwinkel, linken Arm mid linken
Bein zuriick, die auch noch bestanden, als Pat. bereits bei BewuBtsein war.
Bei einer gleich darauf vorgenommenen Priifung gab Pat. an, daB
er mit dem linken Auge allein die Gegenstande kleiner sah, wahrend sie
mit dem rechten Auge oder mit beiden Augen gesehen normal groB er-
schienen. Dies zeigte sich auch in der Schrift des Pat.: mit beiden Augen
oder mit dem rechten Auge allein schrieb er in seiner gewohnlichen GroBe,
wahrend mit dem linken Auge allein die Schrift groBer ausfiel (Fig. 4).
Dabei sah Pat. die Gegenstande mit dem linken Auge um so kleiner, je
entfernter sie waren.
AuBerdem erschien ihm beim Sehen mit dem linken Auge alles
dunkler.
Beispiele :
Linkes Auge in 1 m Entfernung: 1 Krone bezeichnet er als 10 Heller,
20 Heller bezeichnet er als kleiner wie
Miinzen iiberhaupt,
in y 2 m Entfernung: 1 Krone bezeichnet er als 20 Heller,
10 Heller bezeichnet er als 1 Kreuzer
(2 Heller).
Rechtes Auge, sowie beide Augen: Miinzen rich tig bezeichnet.
Schatzen von Langen:
in 20 cm Entfernung: 2 cm werden als 1 cm bezeichnet
,, 1 / m ,, 2 ,, ,, ,, l /2 ,, »»
,, 2 ,, ,, 2 ,, „ „ ein Punkt bezeichnet.
GroBenschatzung durch Tasten mit einer Hand.
Linke Hand: 1 Krone als 20 Heller
1 „ „ 10 „
1 Gulden „ 20 „
5 Kronen ,, 1 Krone
Reehte Hand: 1 Krone ,, 20 Heller
1 Gulden „ 1 Krone.
Es wurde ihm in die reehte Hand 1 Krone gegeben und er aufgefordert,
mit geschlossenen Augen mit der linken Hand ein gleich groBes Geldstiick
unter mehreren auf dem Tische liegenden Miinzen herauszusuchen; er be-
zeichnete dabei ein Fiinfkronenstiick als das gleich groBe.
Aufgefordert, bei geschlossenen Augen abwechselnd (einmal mit
dem linken, einmal mit dem rechten Arm) Kreise von bestimmtem Durch-
messer zu beschreiben, fielen diese links kleiner aus als rechts.
Bei der Aufgabe, mit geschlossenen Augen bestimmte Langen mit
beiden Handen in der Luft anzuzeigen, zeigte er kleinere Strecken an, und
es fiel dabei auf, daB fast nur die reehte Hand bewegt wurde, wahrend die
linke immer in derselben Lage blieb.
12. VI. Die Untersuchung ergab linksseitige Hemianasthesie und
Hemianalgesie des ganzen Korpers, ebenso linksseitige Anosmie, Gesichts-
feldeinschrankimg, besonders am linken Auge (Fig. 5).
GroBenschatzung mit dem linken Auge:
5 Kronen als 1 Krone.
1 Krone bezeichnet er als 1 Krone, fiigt aber hinzu, er schlieBe das aus
dem Kopfe, es sei aber kleiner als 1 Krone. Gleiche Gewichte werden links
schwerer empfunden als rechts.
Interessant waren die Angaben des Pat., wenn ihm lange Gegenstande
gezeigt wurden (Bleistift, Lineal).
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
371
Linkes Auge: Einen quer gehaltenen Bleistift sieht er rechts starker
als links.
Gleich darauf erscheint ihm der Bleistift in seiner ganzen Lange
gleichm&Big diinner als gewohnlich.
Rechtes Auge: Er sieht den quergehaltenen Bleistift rechts diinner
als links.
Bei einer Wiederholung der gleichen Priifung unmittelbar darauf
macht er die Angabe, er sehe den Bleistift sowohl mit dem linken als mit
dem rechten Auge allein an der linken Seite starker als an der rechten.
Fig. 5. Kobl. 1. Fig. 5. KobL r.
Ein quergestelltes Lineal sieht er mit beiden Augen parallel, mit dem
rechten Auge links breiter, mit dem linken Auge rechts breiter. Das langs-
gestellte Lineal sieht er mit dem linken Auge nach unten breiter werdend,
wahrend es ihm mit dem rechten Auge und mit beiden Augen gleichmaBig
breit, parallel erscheint.
Farbenpriifung: Dunkelrot bezeichnet er als Rosa, Gelb als Oliv, Blau
als Violett.
+ 4 D. vor das linke Auge gesetzt:
*20 Heller bezeichnet er als 1 Krone,
10 „ „ „ „ 20 Heller.
— 3D. vor das linke Auge gesetzt:
10 Heller bezeichnet er als 1 Kreuzer,
20 „ „ „ „ 20 Heller,
1 Krone „ „ ,, 20 Heller.
Es wurde ihm A tropin ins linke Auge getraufelt; bei entsprechender
Einstellung auf die betreffende Entfernung sieht er dann die Dinge in der
richtigen GroBe. 1 Krone, 20 Heller, 10 Heller, 2 Heller werden richtig
bezeichnet.
Die Storungen blieben noch einige Tage bestehen. Die Schrift blieb
groBer, wenn Pat. das linke Auge allein geoffnet hatte, und wurde noch
groBer, wenn er mit der linken Hand schrieb. Mit geschlossenen Augen fiel
die Schrift ebenfalls groBer aus.
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372
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
Langen schatzte er folgendermaBen:
Rechtes Auge: 15 cm als 10 cm
10 „
20 ,.
50 „
Linkes Auge: 10 ,,
10 „
„ 20 „
„ 1 m
„ 3 cm
20
,, 5—6 cm.
Es sei noch ganz kurz erwahnt, daB der Pat. mit dem rechten Auge
und mit beiden Augen horizon tale Linien ziemlich richtig halbierte; mit
-dem linken Auge allein wurde dagegen dabei so geteilt, daB der rechte Teil
bedeutend groBer ausfiel als der linke. Erwahnenswert ist noch folgender
Befund: Es wurden dem Pat. einfache geometrische Figuren ganz kurze
Zeit gezeigt und er aufgefordert, sie sofort nachzuzeichnen. Dabei machte
•er selbst bei sehr einfachen Formen Fehler. Es moge jetzt eine Selbstschilde-
rung des Pat. folgen.
,,Vor dem Anfalle habe ich manchmal einen oder auch mehrere Tage
heftiges Kopfweh und zuweilen Zerstreutheit des Geistes. Z. B.: Ich mache
irgendwelche Arbeit, und auf einmal spiire ich starkes Stechen im Kopfe,
und meine Gedanken fangen an, sich zu zerstreuen. Ich denke dann an
gar nichts mehr, und es wird mir schwarz vor den Augen, im Kopfe brummt
es mir, und ich verliere nach und nach das Gedachtnis. Dann folgt der An-
fall. Noch hinzufiigen muB ich, daB mir vor dem Anfalle alles kleiner,
dunkler, weiter und z. B. Stimmen leise vorkommen. Wie der Anfall vor
sich geht, kann ich aus eigenem Gedachtnis wegen meiner beim Anfall
dauernden BewuBtlosigkeit nicht schildern, ich weiB nur aus der Mit-
teilung meiner Umgebung, daB der Anfall folgendermaBen vor sich geht:
Ich mache z. B. eine Arbeit, falle oder bleibe auch sitzen, fange an zu zucken,
herumzuhauen, mich zu stemmen, atme tief, erweitere die Brust, reiBe die
Augen auf, manchmal atme ich einige Augenblicke nicht; am heftigsten
sollen die Zuckungen auf der linken Seite, bis in den Mund sein. Die An-
ialle sind nicht von gleicher Dauer.
Nach dem Anfalle soil ich wie dumm, nicht sprechen, nervos sein.
Nach beilaufig ein oder zwei Stunden komme ich wilder zu mir, aber nur
ouf einige Minuten, dann stellen sich starke Kopfschmerzen ein, so daB
ich keine Lust zur Arbeit und keinen Appetit zum Essen habe. Ich bin
iiberhaupt dabei ganz verdriefilich. Dann folgt starker Blutandrang zum
Kopf, so daB ich sehr nervos und ungeduldig bin und mich um meine Um¬
gebung wenig kiimmere. Dieser Blutandrang kommt auch auBer den An-
fkllen zeitweise vor.
Dieser Zustand dauert nach den Anfallen zwei, drei Tage, dann
fiihle ich mich wieder ganz normal. AuBerdem bekomme ich manchmal
Kopfschmerzen, welche 1—2 Tage andauern. Bei den Anfallen, wie mir
gesagt wurde, wie nach den Anfallen, was ich selbst weiB, habe ich Zuckungen
auf der linken Seite, und zwar im linken Beine, Arme und im Munde. Erst-
.genannte Zuckungen vergehen innerhalb 1—2 Tagen, wogegen letztere bis
zu 3—4 Tagen anhalten. Dann sehe ich auch auf dem linken Auge nach dem
Anfall© viel schlechter; wie und woher das kommt, kann ich nicht sagen.
Beide diese Veranderungen sind erst in der letzten Zeit vorgekommen.
Beim ersten Male hatte ich Angst, daB mir diese Folgen bleiben, aber wie
os verging und sich dieselben wiederholten, blieb ich schon beruhigt, weil ich
ersah, daB es nur nach dem Anfalle vorkommt.
Mitteilen kann ich nur das, dessen ich mich vor und nach den An¬
fallen gut erinnern kann, und zwar:
Wie ich schon selbst beilaufig ein Jahr bemerke, hat sich mein Seh-
vermogen ziemlich verschlechtert, wodurch, kann ich selbst nicht be-
urteilen. Und zwar spiire ich sowohl durch langere geistige oder Augen-
-anstrengung ein Stechen in den Augen, welches, wie ich bemerke, vom Gehirn
herunter auf die Augen geht. Beim Lesen oder Schreiben, Gehen oder
Stehen machen sich plotzlich Kreise verschiedener GroBe und Farbe vor mir.
Dies geschieht taglich zu unbestimmter Zeit, wobei ich heftiges Stechen,
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopaie. 37£
sowohl in den Augen als auch im Kopfe spiire; auch erscheinen mir manch-
mal verschiedene Gestalten: z. B. erscheint mir meine selige Mutter, deren
Tod mich von jeher sehr gekrankt hat, durch welchen ich alles verloren habe.
Mir erscheint die selige Mutter, wie sie mich und meine Briider belehrt und
sich von uns Geschwistern vor ihrem Tode verabschiedet hat. Meine jetzige
Mutter (Stiefmutter) hat mich und die ganze Familie vernichtet und meine
Krankheit selbst verschuldet.
Nach den Anfallen bemerke ich in der letzten Zeit, daB ich auf das
linke Auge schlechter sehe als auf das rechte, daB aber beide Augen nach
einer Dauer von 3—4-Tagen ziemlich gut sind. Und zwar geht die Ver-
schlechterung des Sehvermogens auf folgende Weise vor sich: Ich sehe
z. B. eine Schrift im Anfang gar nicht, nur groBe Gegenstande, auf welche
ich geradeau8 schaue , je nach der GroBe, viel kleiner, aber auch viel weiter
entfernt.
a) mit dem linken Auge j
t
(1
b) mit beiden Augen
c) mit dem recht. Auge
Fig. 6.
Im Gehen oder im Stehen, wenn ich unbemerkt Sachen (Gegenstande)*
sehe, so sind sie einmal groB, dann wieder klein, rund, dunkel oder licht,.
nahe oder weit. Wie z. B. bei einem Menschen sehe ich einen langen Kopf
oder runden Kopf oder kleinen Korper.
Noch muB ich hinzufiigen, daB mir in der Nacht sehr oft traumt^
daB ich aus dem Bette falle oder daB mich jemand herauswirft. Dann packt
mich manchmal eine Angst, weshalb aber weiB ich nicht.
Einen Tisch habe ich so gesehen: (Fig. 6.)
Eine Krone habe ich so gesehen: (Fig. 7.)“
Fall IV.
R. Z., 20 Jahre altes Dienstmadchen, ist bereits das drittemal in der
Klinik.
Go i igle
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m
S i t■Hf* '%M Xasruiatik ti^z
^rtiVh-d^r* Ab&^tw dr\ >I«Unr mit n 3&htm **b'r ^-m?.hrooken
siHfb KidFm Muijo fein ift *?nebJS*di*r and luibe.
ifeft; *fef ".JZTmj.’*.' ; v tel iw)i dnr Itand^, ■*« ba0 sie dabei meHfc-
aFkcfibbii uad wcbt arbtbnm ktinup.' .Siv iatbe oft nmr H^wsf* tveg korrune
dtirfttg’ ftefctaui*u £imu:k mid ste war.
a) ?Mjl d»Vt» b/lkl-U yUU.
i . .
■;' : .S
l>) uiit tlfHu rochteu 'A&tgh.
c1 tviit beiden Augeu
Fig.; 7.
lu .dgr Kiiddi . h&tte -tife >V4ihreud ihre* fasten Aufeutlralta baufig
typfeehe . b^Vbmwit^. .KrHn)pfAni’aiU>. N&cb 2 jfiUrrigw* Auf ent I i*U i« bar
i wiekinr etngebr.k:
ita'gen •• hutM nun omtgo kurxdduwvd^'-'
Oawru^rziis$t^iuh;% in d>?t»*?n ;$ie; .zi|«»xTt!0lf?MT»fitV? $n\d[ ■?»> ^io|i frUx-kttk
Am Fb I..'"1.^18 uoiiyrhv sir bei tU>r- Visitv wpontrm. mv0 sic' all.es .
grotf sebt*. : '< 7 / '; * - -7
Mit bekleix An gen sieht sie 7 vru v-in*moke}u‘n urbJ?»^r‘\.-. Ein
• ‘Fittifkronensf iiek be^eidumt, *»k> ate grclE-r Mis em Fvmffcreneustncfc.
Bmjii Tafci&xi mil de>r imk<mliaiid br</*n hi id ste » ni Pti n t krouvnst tick
/unarhst ate Gulden, da»m nehtig, in d«r nHdiitfn jiktid t&*f efc Sjte es gli-ieh
grofi.
Mit dem linkafi Auge tttlein tbeht $ie *iik\ Gvgpti&t&nti^ gr^ft^rV'.dAKbgen
nut: dem rer.hUni ullem sieht sin die i^^vgenst jutvbvklrnH>r als niit doin'linkm/
Z; B. .SL-hatzt sie mit dbm linkeii ,• Krone-.afe : .einen• :Ouidan>.'.
mit drrtj reohten Ange richti is als Ivtone.
.. Vlwichnr komiiie sie ^absnlut A $ch&t*fci»‘, vm«i man. konntn sn*
tU\hvr bur yvrglmdioft ia^ds- iiattij Jiiiuden
bp k^rn ihr dm in d^r .Bafid ^ibvvrer iw, JvEOt ®wi uin
die Grwiebtn weeb^bk so nrschomt ‘hr-' nacld^r' vieckt -da^ < trwioht in
der link< ,n Hand iwhw&r^p.'
YVWden iht 2 gkncfh grofie nfl^Ueuiander vor-
golialtnn* no striv&titixii ibr sowofd mif h^id^n irpi dw> iiiriwnri
ulleiu dbr Ifcdkc*: grdfiirr., wiibrend mitt dc^b 'r<*H 4 hl«ii.• Atfgfc. aitam
schau^nd bt?Mn gi(&iob grnG sieUt.
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’^NlVEfeftY dF
Go gle
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
375
Zwei Linien von verschiedener GroBe werden ihr in verschiedener
Weise gezeigt (Fig. 8).
L. R.
Beide Augen:
links groBer.
wird als gleich bezeichnet.
Linkes Auge:
links groBer.
links kleiner.
Rechtes Auge:
links groBer.
links kleiner.
Fig. 8.
L
R
Fig. 9.
Beim stereoskopischen Versuch (Erklarung siehe oben) sah sie den
links erscheinenden Strich groBer als den rechten, also so (Fig. 9).
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S it t i g
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Liukv* An>rev Rei Votaetzen von -j- Oder — GJ&serji -arscheint chr
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378
S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
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Sehr interessant ist aber in diesem Falle die Schrift. Pat. schrieb
namlich mit beiden Augen sehr groB, mit dem rechten allein normal, mit ge-
geschlossenen Augen sehr groB (Fig. 10).
Es bestand also bei linksseitiger Makropsie Makrographie.
Stets erklarte die Kranke auch, dafi sie neblig sehe.
Das Gesichtsfeld war am linken Auge etwas eingeengt (Fig. 11).
Spater, als die Stbrung schon geschwunden war, sagte sie, sie habe
alles dicker gesehen; dabei sei ihralle^ doppelt erschienen, und zwar hinter-
einander, das nahere Bild sei schon klar und rein gewesen, das dahinter be-
findliche dagegen unscharf und mit braunen Flecken. Auf die Frage, wieso
sie das dahinter befindliche Bild habe sehen konnen, antwortet sie, das
vordere Bild sei durchsichtig gewesen. Ferner bemerkt sie, daB das zweite
Bild sich bestandig auf- und abbewegte.
Epikrise.
Fall 1 . Bei einer jungen Hysterika fand sich eines Tages eine
Makropsie, auf die sie spontan aufmerksam machte. Eine genauere
Untersuchung ergab, daB eigentlich nur dann Makropsie bestand,
wenn die Pat. mit dem rechten Auge allein sah bei geschlossenem
linken, daB sie aber mit dem linken Auge allein die Gegenstande
in ihrer normalen GroBe erfaBte. Gleichzeitig wurden die Dinge
in der rechten Hand groBer und schwerer gesehatzt, links dagegen
richtig. Beim stereoskopischen Versuch Fischers und bei An-
wendung die Akkommodation beeinflussender Substanzen verhielt
sie sich entsprechend den von Fischer gefundenen Gesetzen wie
eine transkortikale Dysmegalopsie.
Die Schrift verhielt sich so wie in den Fallen Picks und Fischers.
Bei anfanglicher rechtsseitiger Makropsie war beim Schreiben bei
geschlossenem linken Auge Mikrographie vorhanden, wahrend bei
geschlossenem rechten Auge normal groB geschrieben wurde. Bei
offenen und geschlossenen Augen hatte die Schrift normale GroBe.
Interessant und charakteristisch fur die hysterische Genese
dieser Erscheinung war auch, daB diese Stoning spater in Mikropsie
des linken Auges umschlug, wobei auch Gegenstande in der linken
Hand kleiner und leichter gesehatzt wurden.
Endlich bestand auch einmal Makropsie des rechten Auges
neben Mikropsie des linken.
Es ist selbstverstandlich, daB in den Resultaten der Unter-
suchungen sich hie und da kleine Abweichungen finden, doch wird
dies begreiflich, wenn man bedenkt, daB das Schatzen an und fur
sich auch vom Normalen oft nicht richtig getroffen wird, ferner
daB man es mit einer somatisch schwer kranken, bettlagerigen
Person zu tun hatte und daB ja die Storungen wechselten.
Fall II. Nach einem pathologischen Rausch bemerkte ein
Alkoholiker, als er nur mit dem linken Auge allein schauen sollte,
daB er alles sehr klein und entfernt sah; mit dem rechten und mit
beiden Augen sah er normal groB. Gewichte wurden in der rechten
Hand schwerer getastet, in der linken richtig. Beim Tasten mit
beiden Handen zugleich schienen dem Kranken die Gegenstande
kleiner zu sein, als wenn er sie mit beiden Augen ansah. Die
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopaie.
379
Stoning dauerte nur ganz kurze Zeit (etwa 2 Stunden), so daB
weitere Priifungen nicht vorgenommen werden konnten.
Fall III. Ein junger Hysterikus zeigte nach einem Anfall neben
snderen linksseitigen Erscheinungen beim Sehen mit dem linken
Auge Mikropsie, wahrend er mit dem rechten imd mit beiden
Augen richtig sah. Die Gegenstande wurden in der linken Hand
bedeutend kleiner getastet. Gewichte wurden links schwerer ge-
schatzt. Die Schrift war beim Schreiben mit beiden Augen oder
geoffnetem rechten Auge normal groB, mit offenem linken Auge
vergroBert, noch groBer bei geschlossenen Augen.
Pat. machte auch die Angabe, daB er manchmal die Gegen¬
stande nur in ihrem linken Anted verkleinert sehe, und zwar manch¬
mal beim Sehen mit beiden Augen, manchmal aber auch beim Sehen
mit dem linken Auge allein. Was die Bewertung der Angaben
dieses Kranken betrilft, so hatte man oft, besonders spater nach
oftmaliger Wiederholung der Versuche, den Eindruck, daB er durch
dieselben beeinfluBt war und nicht immer die Wahrheit sagte.
Fall IV. Bei einer j ungen Hysterika trat eines Tages Makropsie
auf, auf die sie spontan aufmerksam machte. Bei der Untersuchung
zeigte sich, daB nur mit dem linken Auge und mit beiden Augen
groB gesehen wurde, wahrend mit dem rechten die Gegenstande
in normaler GroBe erschienen. Die Schrift zeigte Makrographie
mit beiden Augen, mit dem linken und mit geschlossenen Augen,
dagegen normale GroBe mit dem rechten Auge. Das Tasten war
insofern gestort, als zumeist links die Gegenstande groBer und
schwerer geschatzt wurden; doch war dieses Verhalten nicht
regelmaBig. Der stereoskopische Versuch erwies diese Makropsie
als transkortikale. Ferner waren Symptome vorhanden (Doppelt-
sehen hintereinander), die auf eine Storung der Tiefenwahmehmung
schlieBen lassen.
Es sollen jetzt die analogen Erscheinungen bei den ver-
schiedenen Fallen zusammeugefaBt und verglichen werden, damit
wir sehen, ob sich irgendwelche GesetzmaBigkeiten und Zusammen-
hange der einzelnen Symptome daraus ableiten lassen.
I.
Zunachst die Sehstorung. Diese stellt sich dar als eine Storung
des GroBenschatzens. Die Kranken sehen die Dinge entweder
groBer oder kleiner als normal. Das Auffalligste in unseren Fallen
ist, daB die Storung sich auf ein Auge oder besser auf eine Seite
beschrankte. Noch merkwurdiger aber ist, daB diese Storung fast
in jedem Falle bei genauer Untersuchung sich anders verhielt.
Einen Fall von beiderseitiger Dysmegalopsie, wie es z. B. der
^erste Fall Fischers war, haben wir nicht unter unserem Material.
Ein Fall zeigte Mikropsie eines Auges allein, aber beim Sehen mit
beiden Augen trat dies nicht zutage, sondern erst wenn das normale
26 *
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380 S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
Auge geschlossen wurde; daher wuBte der Kranke von der Storung
nichts, bevor er nicht monokular untersucht wurde (Fall II und III).
Zwei Annahmen sind fur diese Falle mdglich. Entweder bestand
die einseitige Storung nur dann, wenn der Kranke mit einem Auge
sah, oder die Storung dieser Seite war wohl vorhanden, wurde aber
durch das normale Bild des gesunden Auges gewissermaBen iiber-
deckt oder kompensiert.
Bei einer zweiten Form nahmen die Kranken die Storung
wahr und machten spontandarauf aufmerksam, und erst die Unter-
suchung deckte auf, daB die Storung nur einseitig war (Fall I
und IV). Hier pravalierte also gleichsam die kranke iiber die ge-
sunde Seite. Diesem Typus der Unterdriickung konnte man einen
zweiten Typus gegeniiberstellen, den der Versehmelzung. Allein
fiir sich gepriift sieht das eine Auge normal, das andere dys-
megalopisch. Mit beiden Augen gesehen erscheinen die Dinge
verzerrt (Fall II Fischers ). DaB es sich hier nicht um eine Storung
handelt, die an das eine Auge gebunden ist, hat Fischer durch den
stereoskopischen Versuch nachgewiesen. Einen weiteren Beweis-
fiir diese Auffassung liefert unser Fall II, bei dem zeitweise ein
Verzerrtsehen auch bei monokularer Betrachtung der Gegen-
stande auftrat.
Eine wirkliche Erklarung fiir diese Erscheinungen konnen wir
vorlaufig nicht geben. Die Theorie, die Fischer aufgestellt hat,
kann fiir die kortikale Form der Dysmegalopsie als die klarste
und brauchbarste vorlaufig bezeichnet werden, da sie mit keinen
uns bis jetzt bekannt gewordenen Tatsachen im Widerspruch steht.
Fiir die transkortikale Form hingegen nahm schon Fischer an,
daB sie nicht den physiologischen Gesetzen folgt. Zieht man noch
in Erwagung, daB es sich um halbseitige Storungen handelt — ein
Umstand, der auf den hysterischen Charakter der Storung hin-
weist —, so wird man die Schwierigkeiten eines Erklarungsversuchs
leicht begreifen konnen. Ist es auch nicht moglich, auf Grund
der vorliegenden Beobachtungen einen solchen Versuch zu machen,
so mochten wir doch auf die Richtung kurz hinweisen, in der weitere
Untersuchungen vielleicht mit Aussicht auf Erfolg unternommen
werden konnten. Die neuere Psychologie ist bestrebt, in den
Wahmehmungsvorgangen die Denkprozesse nachzuweisen und
ihren Anteil an dem Zustandekommen der Wahrnehmungen zu
bestimmen. Ich mochte nur auf die Arbeit von Jaensch iiber die
Analyse der Gesichtswahrnehmungen 1 ) hinweisen, ohne naher auf
sie einzugehen, und mochte namentlich daran erinnern, daB in
dieser Arbeit der Autor zeigt, wie es moglich ware, fiir die hysteri-
sche Gesichtsfeldeinschrankung eine Erklarung zu finden auf
Grund psychologischer Analyse der normalen Gesichtswahmeh-
mungen. So konnten vielleicht auch in der uns hier beschaftigenden.
Frage analoge Untersuchungen der GroBenschatzung zu einem
Ziele fiihren.
l ) Ztschr. f. Psych. Erganzungsbd. 4. 1909.
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S i 11 i g , Zur Kasuisfcik der Dysmegalopsie.
381
IT.
Wir kommen jetzt zu einer zweiten Storung, die in alien Fallen
von Dysmegalopsie beobachtet wurde, der Storung der Schrift.
Pick hat zuerst die Mikrographie bei Hysterie beschrieben und
oine Erklarung dafiir gegeben. Er nimmt an, daB die Mikro¬
graphie bei Makropsie direkt durch die Sehstorung bewirkt wird
und daB keine Korrektur durch die kinasthetischen Vorstellungen
eintritt. Fischer schheBt sich in seiner Arbeit dieser Anschauung
an. Die Erklarung ist eine sehr einfache: wenn der Kranke die
Gegenstande sehr klein sieht, so muB er natiirlich beim Schreiben
die Buchstaben sehr groB machen, damit sie ihm in der normalen
GroBe erscheinen, und ebenso, nur im umgekehrten Verhaltnis,
bei Makropsie. Diese Annahme stiitzt sich auf die Beobachtung,
daB bis dahin stets Makropsie mit Mikrographie und umgekehrt
Mikropsie mit Makrographie vergesellschaftet war und daB beim
Schreiben mit geschlossenen Augen normale oder doch fast normale
GroBe der geschriebenen Buchstaben da war. Wie verhalt sich
die Schrift in unseren Fallen ? Zunachst fallt auf, daB auch die
Schreibstorung ,,einseitig“ ist; wenn die Kranken mit geoffnetem
krankem Auge schreiben, ist die Schrift gestort, wahrend sie beim
Schreiben mit geoffnetem gesundem Auge normal ist. In unserem
ersten Falle war das Verhalten analog dem der Falle Picks und
Fischers , d. h. es bestand bei rechtsseitiger Makropsie rechtsseitige
Mikrographie, wahrend mit dem linken Auge allein normal groB
geschrieben wurde. Mit beiden Augen, sowie mit geschlossenen
Augen wurde fast normal groB geschrieben. Die Differenzen waren
zwar nicht groB, doch ganz deutlich merkbar, dazu muB man noch
beriicksichtigen, daB die Patientin somatisch schwer krank und
bettlagerig war, so daB schon dies die Untersuchung sehr erschwerte
und die Schrift veranderte.
Viel scharfer trat die Schreibstorung in unserem dritten Falle
hervor. Dieser Kranke schrieb namlich sowohl mit beiden Augen
als auch mit dem rechten Auge normal groB, dagegen mit dem linken
Auge makrographisch. Wahrend also hier das Verhalten das
gewohnliche war, verhielt sich die Schrift bei geschlossenen Augen
anders — sie war namlich auch vergroBert. Wir miissen hier an-
nehmen, daB entweder bei AugenschluB die Storung der kinastheti¬
schen und Tastempfindungen, von welch letzteren spater noch die
Rede sein wird, hier zutage trat oder, falls diese beim Schreiben
mit geschlossenen Augen nicht beteiligt sind, die optischen Vor¬
stellungen selbst sozusagen vergroBert sind. Fur die erstere An¬
nahme sprache der Fall Veraguths , in dem dem Kranken alle Be-
wegungen vergroBert erschienen, und ebenso der analoge Fall
Heilbronners. DaB die zweite Annahme auch ihre Berechtigung
hatte, ergibt sich aus einer kurzen Bemerkung Heverochs , der von
einem Epileptiker erzahlt, dem die Dinge nur in der Vorstellung,
nicht aber in der Wahrnehmung vergroBert erschienen. Es ware
hier noch die Frage aufzuwerfen, ob nicht dieses Verhalten der
Schrift fur die transkortikale Dysmegalopsie charakteristisch ist.
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382 S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
Der erste Fall Fischers wird vom Autor als kortikale Form auf-
gefaBt. unser Fall ist sicher als transkortikal zu bezeichnen. In
der Literatur habe ich diesbeziigliche Beobachtungen bei trans-
kortikalen Fallen nicht verzeichnet gefunden. Es ware daher
wohl moglich, daB wir darin ein weiteres Kriterium dieser Form
des Dysmegalopsie hatten, das eine wertvolle Erganzung der
anderen differentialdiagnostischen Momente bilden konnte. Zu
diesen rechnet Fischer das Verhalten der Halluzinationen und den
stereoskopischen Versuch. Eine Stutze fur unsere Annahme bildet
unser vierter Fall, indem die Kranke das gleiche Verhalten beim
Schreiben mit geschlossenen Augen zeigte wie Fall III, sie schrieb
mit geschlossenen Augen auch makrographisch. Eine besondere
Besprechung erfordert der 4. Fall hinsichtlich der Schrift, da er
sich ganz anders verhalt als die bisher besprochenen. Hier war
namlich Makropsie der linken Seite mit Makrographie verbunden.
Die Erklarungen von Pick und Fischer konnen hier keine Ver-
wendung finden, und man muB wieder auf die Erklarungsmoglich-
keit zuriickgreifen, die wir oben fur das Schreiben bei geschlossenen
Augen erwahnt haben; entweder kann man annehmen, daB ,,ver-
groBerte Vorstellungen“ entsprechend ohne Korrektur des Auges-
geschrieben werden oder daB die Storung der Bewegungsempfin-
dungen die Ursache ist. Ganz analog verhielt sich xibrigens, was*
die Schrift anbelangt, der Fall Liebschers . Jedenfalls miissen
wir aus dem verschiedenen Verhalten der Schrift bei unseren
Kranken annehmen, daB bei diesen Storungen eine verschiedene
Genese moglich ist.
III.
Ferner wurden Storungen der GroBenschatzung durch den
Tastsinn und solche der Gewichtsschatzung in alien unseren Fallen
konstatiert, und zwar auch einseitig, also vollkommen entsprechend
der Hemidysmetrese Heverochs. In unserem ersten Falle wurde
in der rechten Hand alles groBer getastet imd schwerer empfunden.
Man konnte hier an eine RegelmaBigkeit denken, indem auf der
Seite der Makropsie alles groBer und schwerer geschatzt wird,
aber in den anderen Fallen war dieses Verhalten kein so regel-
maBiges. In unserem zweiten Falle wurden namlich bei links -
seitiger Mikropsie in der rechten Hand Gegenstande schwerer
empfunden, wahrend sie in der linken richtig geschatzt wurden >
die Gegenstande wurden in beiden Handen kleiner getastet. Im
dritten Fall schatzt der Kranke bei linksseitiger Mikropsie die
Gegenstande links kleiner und schwerer. Die linksseitige Makropsie
des vierten Falles war verbunden mit GroBer- und Schwerer-
schatzung in der linken Hand. Nur der erste und der vierte Fall
zeigen also eine gewisse RegelmaBigkeit, wogegen die beideu
andern keine solche erkennen lassen.
Ganz kurz mochten wir noch darauf aufmerksam machen,
daB im vierten Falle sichtlich eine Storung der Tiefenwahrnehmung;
bestand; Pat. gab nachtraglich an, sie habe die Gegenstande
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S i 11 i g , Zur Kasuistik der Dysmegalopsie.
383
doppelt gesehen, und zwar' hintereinander. Jedenfalls ist diese
Storung etwas so Merkwiirdiges und Exzej)tionelles, daB wir dafiir
keine Erklarung zu geben versuchen und sie nur erwahnen. Aucb
wird im Fall II und III angegeben, daB die Gegenstande sehr ent-
femt erschienen.
Nach Besprechung dieser einzelnen Erscheinungen ware jetzt
noch darauf hinzuweisen, daB die Dysmegalopsie nicht eine isoliert
auftretende Krankheitserscheinung zu sein seheint, sondern daB
sie mit ahnlichen Symptomen auf anderen Sinnesgebieten ver-
gesellschaftet vorkommt, was darauf hinweist, daB eine allgemeine
Storung diesen Erscheinungen zugrunde liegt. Daneben finden
sich andere halbseitige Storungen Hemianasthesie und Hemi-
analgesie, Gesichtsfeldeinschrankung des einen Auges. Alles dieses
weist darauf hin, daB die Genese dieser Storungen eine hysterische
ist. In unserem zweiten I^alle lag den Erscheinungen ein patho-
logischer Rausch zugrunde; einen Fall gleicher Aetiologie be-
schreibt di Gaspero.
Fassen wir unsere Ergebnisse zusammen, so kommen wir zu
folgenden Resultaten:
1. Die hysterische Dysmegalopsie kann einseitig auftreten.
2. Die hysterische Dysmegalopsie ist kombiniert mit Storungen
der GroBenschatzung durch den Tastsinn.
3. Diese Kombination der Storungen auf verschiedenen
Sinnesgebieten weist darauf hin, daB ihnen eine gemeinsarfte, in
der Pathologie der Hysterie gelegene Ursache zugrunde liegt.
4. Es hat sich ergeben, daB bei der hysterischen Dysmegalopsie
sich nicht solche GesetzmaBigkeiten auffinden lassen wie bei der
kortikalen. So zeigt namentlich die Schrift kein gesetzmaBiges
Verhalten, indem Makropsie mit Makrographie vergesellschaftet
vorkommen kann.
5. Die einseitigen Storungen der GroBenschatzung mit dem
Gesichtssinn konnen durch eine Art Unterdriickung oder Kom¬
bination des veranderten und des normalen Bildes zu verschiedenen
Formen fiihren. Es kann namlich zu einer Unterdriickung des
(einseitigen) pathologischen Bildes kommen oder zu einer Unter-
driickung der normalen Seite oder zu einer Kombination beider
Seiten oder zu Kombinationserscheinungen schon bei monokularem
Sehen. Im ersten Falle wird die betreffende Person mit beiden
Augen normal sehen, und erst beim AugenschluB auf der ge-
sunden Seite wird die Storung zutage treten, im zweiten Falle
tritt die Storung auch beim Sehen mit beiden Augen auf, im
dritten Falle kommt es beim Sehen mit beiden Augen zu ver-
zerrtem Sehen, wahrend im vierten Falle dies schon bei monoku¬
larem Sehen auftritt.
6. Bei transkortikaler Dysmegalopsie seheint das Schreiben
mit geschlossenen Augen nicht in normaler, sondern in entsprechend
veranderter GroBe zu geschehen, was ein differentialdiagnostisches
Kriterium zwischen kortikaler und transkortikaler Dysmegalopsie
ware.
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384 Schuster, Anatomischer Behind
Literatur- Verzeichnis.
1. Veraguth , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 24. 1903. 2. Heil -
bronner , Dtsch. Ztschr. f. Nervenheilk. Bd. 27. 1904. 3. Pfister , Neurolog.
Centralbl. 1904. 4. 0. Fischer , Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 19.
1906. 5. Derselbe, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 21. 1907. 6. Janet ,
N6oroses et idees fixes. 7. di Qaspero , Joum. f. Psych, u. Neur. Bd. 11.
1908. 8. Heveroch , Casopis 16kaKiv Seskych. 1908. No. 29. 9. Liebscher ,
Monatsschr. f. Psych, u. Neur. Bd. 28. Erganzungsheft. 10. Derselbe,
Jahrb. f. Psych. Bd. 28. 1907. 11. Pick , Prager med. Woch. 1903.
No. 1. 12. Derselbe, Wien. klin. Woch. 1906. No. 25. 13. Lowy , Monats-
schrift f. Psych, u. Neur. 1907. No. 18. Erganzungsheft. 14. Pick ,
Wien. klin. Woch. 1905. No. 1.
Anatomischer Befund eines mit der Forsterschen Operation
behandeltenFailes von multipier Sklerose nebst Bemerkungen
zur Histologic der multiplen Sklerose.
Von
PAUL SCHUSTER
in Berlin.
(Hierzu Taf. XII—XV.)
Ein nach mehrjahriger Beobachtung im AnschluB an die Durch-
schneidung der hinteren Wurzeln znr Sektion gekommener Fall
von multipler Sklerose gab mir Veranlassung, nach mehreren
Richtungen hin Untersuchungen anzustellen. Der Fall schien mir
aussichtsvoll hinsichtlich der Feststellung eventueller sekundarer
Degenerationen in den Hinterstrangen, hinsichtlich des Eintrittes
von Zellveranderungen in den Vorderhornern und er schien mir
weiter interessant im Hinblick auf das sich aus alten und aus
aufgepfropften frischen Veranderungen zusammensetzende patho-
logisch-anatomische Bild.
SchlieBlich konnte der Fall auch Gelegenheit geben zum
Studium gewisser Einzelheiten der anatomischen Grundlage der
multiplen Sklerose.
Indem ich auf Wiedergabe der ausfiihrlichen Krankheits-
geschichte verzichte, sei betreffs des klinischen Verlaufes nur
folgendes berichtet:
Die damals 33 Jahre alte Kaufmannsfrau F. kam am 3. IV. 1909 in
meine Behandlung und klagte dariiber, dafi ihr seit 7—8 Monaten das
Heben der Fiifie schwer werde, dafi sie Brennen in den Fiifien habe und dafi
sie an Verstopfung leide. Keine weiteren Klagen. Lues negiert (Wasser-
mann negativ).
Pat. hat zweimal geboren, einmal abortiert. Das eine Kind (von mir
mitersucht) ist ausgesprochen neuropathisch.
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Fa lies etc. 385
Bei der Untersuchung der Pat. fand ich eine gutgen&hrte, nicht
leidend aussehende Frau. Die Pupillen waren gleich, reagierten gut auf
Lichteinfall undAkkommodation; keine Augenmuskelstorungen, kein Nystag¬
mus; leichtes Lidflimmern beim LidschluB. Sonst nichts Bemerkenswertes
seitens der Hirnnerven. Arme und Hande kr&ftig, keine Ataxie der Hande,
kein Intentions tremor. Dagegen bestand starker Handetremor beim Spreizen
und Vorstrecken der Hande. Ebenso wie die Arme waren auch die Beine
krftftig. Der Tricepsreflex war beiderseits lebhaft, die Patellar- und Achilles-
reflexe beiderseits deutlieh gesteigert. Sowohl rechts als auch links lieB sich
FuBclonus und ebenso Bab inski feststellen. Der Mendel-Bechterewsche
Reflex war dagegen rechts und links normal. Die Bauchdeckenreflexe fehlten
beiderseits. Die Sensibilitat, welche im Gesicht und am Oberkorper normal
war, zeigte an den Beinen leichte und unsichere Storungen: Stiche wurden
libera 11 schmerzhaft empfunden, warm und kalt wurde jedoch — besonders
auf den FuBsohlen — verwechselt. Auch an der AuBenseite des rechten
Ober- und Unterschenkels wurde anfanglich eine leichte Stoning derTempera-
turempfindung angegeben, welche alierdings nachher verschwand. Am
&uBeren FuBrand und an der Fufisohle bestand eine Unempfindlichkeit fiir
leichte Watteberiihrungen. Starker© Beriihrungen wurden hier empfunden,
aber weniger als an anderen Stellen.
Keine Ataxie der Beine, keine Lagegefiihlsstorung. Leicht spastischer
Gang.
Organbefund ohne Besonderheiten, Urin frei von EiweiB und Zucker.
Keine Driisenschwellungen. keine Narben oder dergl.
Im Oktober 1909 zeigte sich der Gang der Patientin etwas verschlech-
tert und der rechte N. opticus erschien mir etwas blaB. Der Augenarzt fand
beiderseits stark myopischen Astigmatismus mit (rechts) angeborener
Amblyopie, erklarte aber den Sehnerv fiir nicht pathologiseh abgeblaBt.
Drei Monate sp&ter fand der Augenarzt eine leichte konzentrische Gesichts-
feldeinengung, erklarte jedoch abermals, daB die leichte Opticusbl&sse rechts
innerhalb der Norm lage.
Ohne daB nun neue Krankheitserscheinungen aufgetreten waren,
verschlechterte sich der Zustand der unteren Extremitaten allmdhlich immer
mehr, besonders wurde das Gehen immer schleehter und die anfanglich nur
geringen Muskelsteifigkeiten wurden langsam immer starker. Im Februar
1910 bestand eine starke spastische Parese der Beine. Neu war eine ganz
leichte, aber bei wiederholten Untersuchungen jedesmal konstatierte taktile
Hypasthesie anscheinend segmentaren Charakters. Hinten, ungefahr
vom unteren Schulterblattwinkel ab, und vorn von der 5.— 6. Rippe ab —
beiderseits — wurde die Nadelspitze zwar noch als Spitze erkannt, aber
iiberall unterhalb der genannten Linie als „nicht so scharf“ bezeichnet als
oberhalb der betreffenden Linie. Die — spater wieder verschwundene —
Sensibilitatsstorung war trotz ihrer Geringfahigkeit so ausgesprochen, daB
zeitweise an der Diagnose der multiplen Sklerose gezweifelt und an einen
spinalen Tumor gedacht wurde.
Jede Therapie erwies sich als machtlos; auch eine intensive Schmier-
kur, welche trotz des negativenWassermann(Blut) von uns eingeleitet worden
war, hatte keinen Erfolg. Im Januar 1912 konnte die Kranke auf der
StraBe iiberhaupt nicht mehr gehen, im Zimmer konnte sie ungestiitzt nur
3—4 Schritte machen. Der Gang war maximal spastisch. In der Riicken-
lage traten sehr starke Muskelsteifigkeiten der Beine — auch der Ad-
duktoren — zutage. Die Kraft der Beine war dabei relativ gut. Neu auf¬
getreten war jetzt ein leichter horizontaler Nystagmus, besonders beim Blick
nach links. Die Sprache war nach wie vor in Ordnung. Die friiher vorhanden
gewesenen Sensibilitatsstorungen waren nicht mehr nachweisbar, vielleicht
bestand vom auf dem Rumpf von der Mitte des Brustbeins ab noch eine
minimale Hypasthesie. Keine Blasen- und Mastdarmstorungen. alierdings
dauernde Verstopfung. Keine Schmerzen. Reflex© wie friiher.
Da die Patientin andauernd vollig unfahig war, sich vom Platze
zu bewegen, so wurden die Chancen einer chirurgischen Behand-
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38(i Schuster, Anatomischer Befund
lung, auf welche die Patientin selbst dauernd drangte, mit dem
Ehegatten besprochen. Trotzdem mir bekannt war, daB die
Erfolge der Forsterschen Operation gerade bei der Sclerosis multi¬
plex die am wenigsten guten waren, — Forster 1 ) erwahnt 1911
5 operierte Falle mit 4 Todesfallen; dazu kommt noch ein gleich-
falls letal verlaufener Fall van Oehuchtens 2 ) —, wurde angesichts
der dauernd fortschreitenden Verschlimmerung der Spasmen und
angesichts der volligen Aussichtslosigkeit der internen Behandlung
auf einen gewissen Erfolg der Operation gehofft.
Am 10. I. 1912 nahm Herr Prof. Bockenheimer die Laminekto-
mie vor und durchschnitt beiderseits die 2., 3. und 5. Lumbal-
und die erste Sakralwurzel. Die Operation war bei dem ziemlich
starken Fettpolster der Pat. recht miihsam und dauerte ca. eine
Stunde. Eine nennenswerte Zerrung oder eine Verletzung der
vorderen Wurzel fand nicht statt.
Nach der Operation bestand bei der Patientin ca. 2 Tage
lang eine allmahlich sich etwas aufhellende leichte Benommenheit.
Die Temperatur stieg am Abend des Operationstages auf 38°
und schwankte von da ab zwischen 38° und 39°. Es zeigte sich
schlieBlich leichte Genicksteifigkeit. Ein Verbandwechsel ergab
keine Sekretverhaltung, nichts von Eiterung. und glatten Wund-
verlauf. Bei dem benommenen Zustand der Kranken konnten
feinere neurologisehe Feststellungen naturgemaB nicht gemacht
werden. Die Untersuchung der Hirnnerven ergab nichts Neues,
besonders nichts am Augenhintergrunde. Soweit die Sensibilitat
gepriift werden konnte, zeigte sich, daB Pat. auf der Streckseite
der beiden Oberschenkel sowie in den proximalen Partien der Un-
terschenkelstreckseite die Nadelspitze nicht als solche erkannte.
An den FiiBen wurde die Nadelspitze erkannt. Willkurliche Be-
wegungen fuhrte Patientin nicht aus: es konnte bei der Benommen¬
heit nicht entschieden werden, ob Pat. wirklich unfahig war, die
Beine zu bewegen, oder ob Pat. die Bewegungen aus Furcht vor
Schmerzen scheute.
Beiderseits bestand schwacher Babinski, der Patellarreflex
war beiderseits spurweise auslosbar. Auf die Piiifung des Achilles-
reflexes muBte verzichtet werden, da die Pat. bei Anhebung der
Beine starke Schmerzen empfand.
Der Exitus erfolgte am 17. Januar — 7 Tage nach der Ope¬
ration — unter weiterer Temperatursteigerung und den Erschei-
nungen einer Pneumonie.
Aus auBeren Griinden konnte nur eine Sektion des Riicken-
marks vorgenommen werden. Weder an den Riickenmarkshauten
noch am Riickenmark selbst — soweit dasselbe sichtbar war —
wurde bei der Herausnahme etwas Krankhaftes bemerkt. Quer-
schnitte durch das Riickenmark wurden nicht angelegt und das
Organ in toto in Formalin gebracht. Hervorgehoben zu werden
*) N&vraxe. Bd. XI. 1911.
■) Ergebnisse der Chir. u. Orthopadie. Band 2.
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eines mit der Fdrsterschen Operation behandelten Falles etc. 387
verdient, daB die Operationsstelle sowohl auBen auf der Haut
als auch weiter nach innen hin einen vollig unauffalligen Eindruck
machte, und daB nirgends eine Spur von Eiterung zu sehen war.
Bei der mikroskopischen Untersuchung kam es mir zunachst
auf etwaige Zellveranderungen in der Vorderhomern der operierten
Segmente, sowie auf Degenerationen in der weiBen Substanz an.
Ich untersuchte somit zuerst NiBl- und dann Marchi-Praparate
der betreffenden Hohen. *
Man hat bekanntlich vielfach versucht, die — wohl in erster
Reihe aus der Beobachtung der Sehnenreflexe gefolgerte, dann
durch zahlreiche klinische Erfahrungen gestiitzte und zuletzt
durch die Forsterache Operation bestatigte — Annahme eines engen
physiologischen Zusammenhanges zwischen hinterer Wurzel und
motorischer Vorderhornzelle anatomisch zu verifizieren. Hierzu hat
man sich sowohl des Tierexperimentes bedient, als auch anatomi-
sche Befunde aus der menschlichen Pathologie verwertet.
Kahler und Pick 1 ), Friedlander und Krause 2 ) und Homen
fanden in den 80 er und 90 er Jahren bei der Untersuchung des
Riickenmarkes Amputierter neben anderen spinalen Veranderungen
auch solche des Vorderhomes, welche sie — zum Teil wenigstens —
mit den Schadigungen des Systemes der hinteren Wurzeln in Ver-
bindung brachten. Nach Friedlander und Krause waren die von
den hinteren Wurzeln abhangigen Vorderhornzellen diejenigen der
hinteren seitlichen Gruppe. 1893 fand Lambert und 2 Jahre spater
Mann [zit. nach Lapinsky 3 )] Strukturveranderungen der Vorder¬
hornzellen nach elektrischer Reizung der sensiblen Nerven und
bestatigten damit anscheinend die kurz vorher (1892) von Mari -
nesco ausgesprochenen Ideen iiber die trophische Abhangigkeit
der Vorderhornzellen von den sensiblen Impulsen.
Von weiteren experimentellen Untersuchungen, welche sich
mit dem EinfluB der hinteren Wurzeln auf die motorische Sphare
beschaftigten, ist die aus dem Jahre 1895 stammende Arbeit von
Mott und Sherrington 4 ) zu erwahnen. In dieser Arbeit werden zwar
gewisse Storungen der Motilitat, aber keine trophischen Muskel-
storungen oder diesen entsprechenden histologischen Befunde mit-
geteilt 5 ). Aus der gleichfalls im Jahre 1895 erschienen Onufachen
Arbeit, die sich der damals soeben eingefiihrten March tschen und
der Nifttachen Methode bediente, laBt sich ebensowenig wie aus der
Mott-Sherringtonachen mit iiberzeugender Sicherheit eine trophi¬
sche Abhangigkeit der Vorderhornzelle von der hinteren Wurzel
ableiten. Denn in den meisten Onufachen Versuchen war neben
der hinteren auch die vordere Wurzel durchschnitten, und nur in
einem Experiment Onufs (Durchschneidung eines Astes einea
Interkostalnerven) konnten die Veranderungen in den Vorderhorn-
Arch. f. Psych. Bd. 10.
2 ) Fortschritt© d. Med. 1886.
3 ) Arch. f. Psych. Bd. 42. 1907.
4 ) Proceedings of the royal Soc. of London. 1895. Bd. 57.
5 ) Joum. of nerv. and ment. diseases. Oktober 1895.
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388
Schuster, Anatomischer Befund
zellen — und zwar der hinteren aufieren Gruppe — event, mit der
Lasion der sensiblen Sphare in Verbindung gebracht werden.
Trotzdem von nun ab die Ni/Slsche Methode und vereinzelt
auch die Fibrillendarstellung [Pesker 1 )] angewandt wurde, ergaben
die — meist experimentellen — Studien der letzten beiden Dezen-
nien kein vollige Uebereinstimmung der Befunde untereinander.
Flemming 2 ) (1897), Warrington 3 ), Braunig*) (1903), Lapinsky s )
(1907), Pesker (1907), Mingazzini und Polimanti ®) (1904) sahen
Veranderungen der Vorderhornzellen, Braunig sogar auch solche
der vorderen extraspinalen Wurzeln und bezogen dieselben auf
die Lasion der hinteren Wurzeln. Dagegen {and Kopcynsiki 1 )
(1906) in seinen an Affen angestellten Versuchen keine Vorderhorn-
erkrankung, und Knape 8 ) (1901) will die nach Nervendurchtrennung
konstatierten Veranderungen der Vorderhornzellen viel eher auf
die Schadigung des motorischen als auf diejenige des sensiblen
Anteils des durchtrennten Nerven bezogen wissen und wendet
■sich dabei bestimmt gegen die Marinescosche Auffassung.
Bemerkenswert erscheint, dafi zwar wiederholt die hintere
laterale Gruppe des Vorderhoms als die befallene bezeichnet wird,
dafi aber demgegeniiber einzelne Beobachter (Mingazzini und
Polimanti) die erkrankten Vorderhornzellen zerstreut im ganzen
Vorderhorn — und nicht auf eine einzelne Gruppe beschrankt —
gesehen haben wollen.. Auch das verdient erwahnt zu werden,
dafi bald die Vorderhornzellen der operierten, bald der gegen-
iiberliegenden Seite, bald beider Seiten affiziert gefunden wurden.
Fast alle Untersucher, welche Zellveranderungen fanden, leiten
dieselben ohne weiteres direkt von dem Ausfall der hinteren
Wurzelreize (via Reflexzollateralbahn) ab. Lediglich Pesker
bezieht die Veranderungen im Vorderhorn nicht auf den Ausfall
der hinteren Wurzelreize, sondern auf die operativ geschaffenen
Zirkulations- und ahnliche Storungen. Die Zahl der erkrankten
Vorderhornzellen wird meist als recht grofi bezeichnet. Warrington
spricht von V 5 —V 4 der Vorderhornzellen, Pesker meint, es seien,
,,viel mehr Zellen, als man erwarten sollte".
Was die Hohenlokalisation der gefundenen Zellveranderungen
gegeniiber der Hohe der gesetzten Wurzelschadigung angeht, so
wurden die Zellen einige Male (Lapinsky) nur in einem bestimmten
Abschnitt des operierten Segmentes erkrankt gefunden, ein andermal
(Braunig) wurden nicht in alien, sondern nur in einigen der operier¬
ten Segmente Zellveranderungen der Vorderhorner konstatiert.
') l’Enc6phale. 1907. Bd. II.
2 ) Edinb. Med. Journ. 1897. Bd. 43.
3 ) Joum. of Physiology. Bd. 23 u. 24.
4 ) Arch. f. Anat. u. Phys. Phys. Abt. 1903.
fi ) Arch. f. Psych. Bd. 42. 1907.
6 ) Jahresbericht liber die Leistungen und Fortschritte der Neurologie
und Psychiatrie. 1904.
7 ) Neur. Zentralbl. 1906, S. 297.
®) Zieglers Beitrage. 1901. Bd. 29.
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 389
Wie man sieht, stimmen die Resultate der einzelnen Ex-
perimentatoren auch hier noch keineswegs hinreichend mit-
einander iiberein. Vielleicht sind hierfur Differenzen in der An-
ordnung der Versuche (verschiedene Tierarten, ungleichmaBige
Ausfuhrung der Operation, verschieden lange Zeitraume zwischen
Operation und Totung), vielleicht aber auch noch andere Momente
verantwortlich zu machen.
Der EinfluB der am Menschen ausgefiihrten hinteren Radiko-
tomie auf die Vorderhornzellen ist, soweit ich aus der Literatur
ersehe, erst einmal studiert worden. Groves 1 ) (1911) untersuchte
das Riickenmark eines Tabikers, welchem wegen seiner heftigen
Magenkrisen die 7.—10. hintere Dorsalwurzel durchtrennt worden
war. Nach der am 26. August vorgenommenen Operation besserten
sich die Schmerzen, es trat jedoch sehr heftiger Durchfall auf.
Am 21. September starb Pat. plotzlich. Die Sektion ergab Degene¬
ration der Hinterstrange im Cervikalmark. ,,AuBerdem zeigten
viele Vorderhornzellen in der Dorsalregion ausgesprochene
Chromatolyse. ‘ ‘
Wie war nun das Resultat der Untersuchung meines eigenen
Falles mit Riicksicht auf die oben behandelte Frage ? Alle5 Lumbal -
segmente und das erste Sakralsegment waren nach der At^fechen
Methode untersucht worden, auBerdem waren von jedem Segment
auch Weigert-Pal Schnitte und — mit Ausnahme von L 2 — auch
Marchi-Praparate gemacht worden. Die Durchsicht der Schnitte
ergab nun in S x und in L 5 , L 4 , L 3 , L 2 in einer Anzahl motorischer
Vorderhornzellen Veranderungen, welche als frische angesehen
werden muBten. In L x waren diese frischen Zellveranderungen
nicht mit ganz der gleichen Sicherheit festzustellen. In L 2 und
S x waren sie bei weitem am starksten.
Eine bestimmte Zahl der in jedem Schnitte als krank zu
bezeichnenden Vorderhornzellen laBt sich nicht angeben; schatzungs-
weise mochte es der ca. 10. Teil aller motorischen Zellen gewesen
sein. Die erkrankten Zellen zeigten Zerfall der Granula, der nicht
selten bis zur staubformigen Umwandlung der chromatophilen
Substanz ging. Die Zelle war nie geschrumpft, eher geschwollen
und sah manchmal stark geblaht aus. Die Fortsatze waren bei
den Ganglienzellen der zuletzt geschilderten Art geschwunden,
im allgemeinen jedoch gut erkennbar. Der Zellkern lag nur selten
exzentrisch und wies meist ein gut gefarbtes Kemkorperchen auf.
In den geblahten, mit staubformig verandertem, schwer farbbarem
Protoplasma erfiillten Zellen war der Kern entweder ganz ge¬
schwunden, oder er hatte einen zerfallenen detritusahnlichen Inhalt r
welcher sich graublau tingierte. (Vergl. Taf. XIV/XV, Abb. 2.)
Neben diesen offenbar akut erkrankten Zellen war die Mehr-
zahl der Zellen in alien Hohen des Lenden- und Sakralmarkes
vollig gesund. Als sehr auffallig muB hervorgehoben werden,
daB der Pigmentgehalt samtlicher Vorderhornzellen — auch der
*) Lancet. 8. VII. 1911.
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390
Schuster, Anatomischer Behind
gesunden — ein ganz auBerordentlich groBer wax*. Diese Besonder-
heit teilten die Vorderhornzellen des Lenden- und Sakralmarkes
jedoch — wie wir noch sehen werden und wie sich iibrigens auch
aus der Betrachtung der Marchi- und Weigert-Praparate ergibt —
mit den Vorderhornzellen der Cervikal- und Dorsalsegmente.
Noch ein wichtige Tatsache ist zu berichten: die erkrankten
Zellen lagen in keinem einzigen Praparat in einer Gruppe ver-
einigt, sondern sie lagen zerstreut zwischen den iibrigen, gesunden
Zellen, bald mehr im hinteren, bald mehr im vorderen Teil des
Vorderhornes. Die hintere laterale Gruppe, welcher besonders
nahe Beziehungen zu den hinteren Wurzeln nachgesagt werden,
war in keinem einzigen Praparat besonders stark beteihgt.
Es fragt sich nun, ob wir die gefundenen frischen Verande-
rungen der Vorderhornzellen des Lenden- und Sakralmarkes mit
der operativen Wurzeldurchschneidung in Zusammenhang bringen
<liirfen. Dies wiirde ohne weiteres der Fall sein, wenn auBer der
Radikotomie kein anderes atiologisches Moment fur die Zell¬
er krankung in Betracht kame. Dem ist aber nicht so. AuBer der
7 Tage vor dem Tode vorgenommenen Abtrennung der hinteren
Wurzeln miissen bei der Deutung der konstatierten Zellveranderun-
gen noch in Betracht gezogen werden der sklerotische Grund-
prozeB sowie die finale fieberhafte, leichte leptomeningitische
Reizung des Riickenmarkes.
Angesichts der Schwierigkeiten, welche sich der Beurteilung
<ier Zellveranderungen bei dieser Vielheit der moglichen ursach-
lichen Momente entgegenstellten, konnte man nur dadurch zu einem
^ewissen Resultat zu kommen hoffen und sich nur so helfen, daB
man die Zellpraparate des Lenden- und Sakralmarks mit Zell-
praparaten aus dem Cervikalteil und Dorsalteil verghch und unter-
suchte, ob sich auch im Cervikal- und Dorsalteil Zellen erkrankt
zeigten, und ob die gleichen atiologischen Momente wie im Lumbal -
teil auch in jenen Hohen wirksam gewesen sein konnten.
Zum Vergleich wurden neben den iibrigen Segmenten be¬
sonders herangezogen das 6. Cervicalsegment und das 6. Dorsal -
segment. Von diesen Hohen waren auBer den Marchi-Weigert-
und van Gieson-Praparaten auch NiBl-Praparate gemacht worden.
Die Betrachtung der NiBl-Praparate von C 6 und D e ergab nun
als augenfalligen Unterschied gegeniiber den Zellpraparaten der
Lumbal- und Sakralgegend, daB frisch erkrankte Vorderhornzellen
vollkommen fehlten. Dagegen waren die NiBl-Praparate des Hals-
und Brustmarkes ihrerseits dadurch auffallig, daB die Mehrzahl
der Vorderhornzellen geschrumpft erschienen und in einem durch
die Retraktion entstandenen groBen pericellularen Hof lagen.
Der Kern und die Zellgranula waren durchweg gut erhalten, aUer-
dings hatte die achromatische Substanz vielfach den Farbstoff
mehr oder weniger angenommen. Die Zellfortsatze waren in der
Mehrzahl der Zellen erhalten und fehlten nur an wenigen, vollig
geschrumpft und abgerundet aussehenden Zellen. Manchmal
sahen die Zellfortsatze auch eigentiimlich spiralig aus, gleichsam
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eines mit der Forstorschen Operation behandelten Falles etc. 391
als waren sie durch eine elastische Kraft zusammengeschnurrt.
Auch in dem Cervikal- und Dorsalmark hatten alle Zellen auBerst
viel gelbes Pigment. Im ganzen hatte man die Zellveranderungen
des Cervikal- und Dorsalteiles ohne weiteres und mit Bestimmtheit
als den Ausdruck einer alten chronischen Zellerkrankung auffassen
miissen, wenn die auf NiBl-Praparaten so deutliche Schrumpfung
des Zelleibes nicht auf den Weigert-, Marchi- und Gieson-Schnitten
gefehlt hatte. Da die meisten Zellen der genannten Kontroll-
praparate nicht geschrumpft erschienen, und da auBerdem der
Kern fast durchgehends normal aussah, so ergab sich eine groBe
Wahrscheinlichkeit dafiir, daB die Schrumpfung der Zellen auf
den NiBl-Praparaten ein Artefakt war.
Absolut sichere Zellveranderungen in den Vorderhornern
der hoheren Riickenmarkssegmente sind somit in nennenswerter
Zahl nicht vorhanden, auf keinen Fall aber derartige frtsche Zell-
verdnderungen, wie wir sie im Lenden- und Sakralteil beobachtet
haben. Beziiglich der Beschaffenheit der Vorderhornzellen besteht
also eine erhebliche Differenz zwischen dem Lendenmark und den
hoheren Bezirken.
Wie verhielten sich nun diese letzteren in Bezug auf jene
beiden anderen Momente, welche eventuell fur den Eintritt der
Zellveranderungen verantwortlich gemacht werden konnten ? Der
finale, iibrigens niu* unerhebliche meningitische ProzeB fand sich
— wie wir weiter unten noch genauer sehen werden — keineswegs
auf die lumbalen Teile des Riickenmarks beschrankt, sondern
er hatte das Dorsalmark und ebenso auch das Cervicalmark in
mindest gleicher Weise wie die tieferen Teile ergriffen. Ja stellen-
weise hatte der frisch entziindliche ProzeB in den hoheren Riicken-
marksabschnitten deutlich den Riickenmarksquerschnitt in Mit-
leidenschaft gezogen. Wollte man demnach den frischen menin-
gitischen ProzeB mit den akuten Zellerkrankungen des Lumbal-
markes in Verbindung bringen, so hatte man mindestens die
gleichen Zellveranderungen wie im Lumbal- und Sakralteil auch
im Cervikal- und Dorsalteil finden miissen; denn hier hatte die
meningitische Noxe mindest ebenso stark eingewirkt wie im
Lendenmark.
Auch der sklerotische GrundprozeB konnte wohl kaum als
Ursache der akuten Zellveranderungen der Lumbalsegmente an-
gesehen werden. DaB der pathologisch-anatomische ProzeB der
multiplen Sklerose die Nervenzellen erfahrangsgemaB iiberhaupt
auffallend wenig schadigt, davon wird spater noch — ebenso wie von
den Einzelheiten des sklerotischen Prozesses und seiner Ausbreitung
im vorliegenden Fall — die Rede sein. Fs kann aber schon hier gesagt
werden, daB die pathologisch-anatomischen Veranderuugen des
Grundprozesses die graue Substanz der proximaleren Segmente
ebenso befallen hatten wie diejenige des Lendenmarkes. Ein
Unterschied hinsichtlich des anatomischen Grundprozesses be-
stand zwischen den beiden in Betracht kommendne Hohen
nur insofern, als der sklerotische ProzeB in den hoheren
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392
Schuster, Anatomischer Befund
Abschnitten offenbar weit alter war und zu viel erheblicheren
Sklerosierungen gefiihrt hatte als in den distaleren Abschnitten.
Per exclusionen kommen wie also zu der Auffassung, daB
die frischen Zellveranderungen in den Segmenten L 2 —L 6 und in
wahrscheinlich auf die Durchschneidung der hinteren Wurzeln
zuriickzufuhren sind. Dieser SchluB kann jedoch nur mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit , gewiB nicht mit Sicherheit gemacht
werden. Denn die Verhaltnisse sind im vorliegenden Fah bei der
Kompliziertheit des anatomischen Substrates und der Multi-
plizitat der Noxen nicht durchsichtig und einfach genug, als daB
man die operativ geschaffene Situation als einwandfreies Ex¬
periment bezeichnen diirfte.
An und fur sich und besonders auch im Hinblick auf die vor¬
liegenden Erfahrungen des Tierexperimentes ist der Zusammen-
hang der Vorderhornzellaffektion mit der Wurzeldurchschneidung
allerdings nicht unwahrscheinlich. Der Umstand, daB die erkrank-
ten Zellen keine fur sich abgeschlossene Gruppe bildeten, sondern
zerstreut zwischen den anderen gesunden Zellen lagen, spricht
wohl kaum gegen jenen Zusammenhang. Denn auch Brdunig
sowie Mingazzini und Polimanti und in einem Falle auch Warring¬
ton (Cervikalwurzeldurchtrennung) beobachteten Chromatolyse
und andere Zellveranderungen in den verschiedensten Bezirken
des Vorderhomes.
Es ist noch eines Umstandes Erwahnung zu tun, welcher auf
den ersten Blick gegen eine Beziehung zwischen Wurzeldurch-
trennung und Zellerkrankung sprechen konnte: namlich, daB sich
auch in dem ersten und vierten Lumbalsegment Veranderungen
fanden, wahrend die Wurzeln dieser Segmente doch nicht durch-
schnitten worden waren. Dieser Widerspruch ist aber offenbar
nur ein scheinbarer; denn wir diirfen ungezwungen annehmen,
daB von den durchschnittenen hinteren Wurzelfasern geniigend
Kollateralen zu den nachst hoher resp. tiefer gelegenen Segmenten
gehen, um auch in diesen eventuelle Veranderungen zu erzeugen.
(Der Eintritt von Zellveranderungen in den dem operierten Segment
benachbarten Segmenten wird von Knape sogar fur so selbstverstand-
lich und obligatorisch gehalten, dafi dieser Autor das Fehlen von
Zellveranderungen in den dem operierten Segment benachbarten
Hohen als Beweismittel gegen die Richtigkeit der Marinesco&chen
Auffassung anfiihrt, nach welcher die Vorderhornzelle nutritiv
von den afferenten Impulsen der hinteren Wurzel abhangig sei.)
Hangt nun die Chromatolyse und die iibrigen frischen Zell¬
veranderungen des Lenden- und oberen Sakralmarkes in unserem
Falle wirklich mit der Radikotomie zusammen — und es spricht,
wie gesagt, manches hierfiir — so wiirde unser Befund die Theorie
Marinescos u. A. unbedingt stiitzen. In unseren Praparaten finden
sich keine Blutungen, keine Oedeme usw., wie sie Pesker fur den
Eintritt der Zellveranderungen verantwortlich machen will. Auch
sind (vgl. weiter unten) in unserm Fall keine frischen Faser-
veranderungen oder -schwellungen im Bereiche der durchtrennten
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 393
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Wurzeln oder ihrer Kollateralen zu entdecken, welche nach
Lapinsky ,,wie ein Keil“ auf die Vorderhornzellen driicken und
diese infolgedessen schadigen konnten. Die Schadigung der
Vorderhomzelle miiBte somit in der Tat auf den Ausfall zentri-
petaler Reize zu beziehen sein.
Die gleiche Unreinheit, wie sie leider der vorliegenden Be-
obachtung hinsichtlich der zur Diskussion stehenden Frage an-
haftet, macht sich auch bei den iibrigen aus der mensehlichen
Pathologie stammenden Fallen storend bemerkbar. Die alteren
Berichte ( Kahler und Pick , Friedldnder und Krause , Homen u. A.)
sind, wie schon bemerkt, deshalb nicht sicher zu verwerten, weil
es sich bei ihnen nie um den reinen Ausfall der hinteren Wurzel
handelt. Es wurden von jenen Autoren vielmehr stets die durch
den gemeinsamen Ausfall der hinteren und vorderen Wurzeln er-
zeugten spinalen Veranderungen studiert.
Lediglich Groves’ Beobachtung konnte vielleicht von ausschlag-
gebender Bedeutung sein. Groves’ Mitteilung beschrankt sich jedoch
auf einige wenige Worte und wir ktwegen ihrer lapidaren Kiirze
nicht iiberzeugend.
Es ist zu hoffen, daB sich in der Folgezeit bei dem sich mehren-
den operativen Material auch einwandfreie und eindeutige Falle
fiir die Beantwortung der Frage finden werden, ob auch beim
Menschen nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln Ver¬
anderungen der Vorderhornzellen auftreten.
Eine weitere, gleichfalls mit der Wurzelduchschneidxmg zu-
sammenhangende Besonderheit unseres Falles, welche ein gewisses
allgemein anatomisches Interesse beanspruchen darf, wurde weiter
oben schon erwahnt: Es fiel sofort bei der Betrachtung der Marchi-
Praparate auf, daB weder in der Hohe der durchschnittenen hinteren
Wurzeln noch auch weiter proximal warts eine Spur von Mark-
scheidenschwarzung — weder in den Hinterstrangen noch in einem
anderen Bezirk der weiBen Substanz — zu sehen war, trotzdem die
Marchi-Praparate gut gelungen waren. Bemerkenswerterweise
zeigten auch die extramedullaren Teile der — weiter distalwarts —
durchschnittenen hinteren Wurzeln keine frischen Degenerations-
zustande. Lediglich in S x und L 6 und weiter oben in C 8 und C 5
waren an der Stelle, an welcher die hintere Wurzel in den Quer-
schnitt eintritt, einige schwarze Schollen, wie man sie oft auch
unter normalen Verhaltnissen an jener Stelle antrifft.
Da im allgemeinen angenommen wird, daB die bei der Marchi -
schen Methode zutage tretenden Markveranderungen ca. 6 Tage
nach dem Eintritt der betreffenden Lasion nachweisbar zu werden
beginnen .und ihr Maximum in der 2.—4. Woche erreichen, so
erscheint das vollige Fehlen aller Veranderungen der Markscheiden
im vorliegenden Fall sehr auffallig und schwer verstandlich, wenn
man bedenkt, daB unsere Pat. noch 7 Tage nach der Operation
lebte.
Monat«8chrift f. Psychiatric n. Neuroloprie. Bd. XXXIII. Heft 5. 26
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394
Schuster, Anatomischer Befund
Wir wollen uns jetzt den durch das Grundleiden hervorge-
rufenen anatomischen Veranderungen des Falles zuwenden. Be-
treffs der Veranderungen des frischen Praparates konnen wir nur
aussagen, daB die Hiillen des Riickenmarks fiir die makroskopische
Betrachtung nirgendswo etwas Auffalliges darboten. Von der
Anlegung eines Querschnittes war mit Riicksicht auf die Hartung
abgesehen worden. AuBer den NiBl- und Marchi-Praparaten
wurden Weigert-, Kulschitzky- und van Gieson - Praparate an-
gefertigt. Schliefllich wurde auch noch die Bielschowskysche
Fibrillen-Methode herangezogen. Im ganzen untersucht wurden:
Cg, C«, Cg, D 2 , D 9 , Li, L 2j L 3 , L 4 , Lg } 8 V
Auf Weigert-Praparaten sah man makroskopisch in alien
Hohen groBe, ziemlich scharf begrenzte, aber unregelmaBig ge-
formte, weiBe resp. ungefarbte Flecke. (Vergl. Taf. XII u. XIII.
Abbild. 1—4.) Dieselben lagen bald im Vorderseitenstrang (C«),
bald im Bereiche eines Vorderhomes und griffen nach alien
Seiten auf die angrenzende weiBe Substanz iiber, wahrend gleich-
zeitig ein zweiter Herd von der grauen Kommissur in die Hinter-
strange vordrang (D 6 ), bald lagen sie in einem Vorder- und
Vorderseitenstrang, hatten fast die ganze graue Substanz ein-
genommen und griffen von dort derart auf die weiBe Substanz
iiber, daB nur eine Randzone der letzteren erhalten blieb (D 9 ).
In L x waren fast symmetrische Herde in den beiden Seiten-
strangen gelegen,welche sich nicht an ein bestimmtesSystem hielten
und auch das eine Hinterhorn mitergriffen hatten. Aehnliche,
aber viel kleinere Herde sah man auch in L 2 und L 3 . L 4 , L 5 und
S x schienen bei makroskopischer Betrachtung hochstens einen
leichten Faserausfall in den Seiten- und Vorderstrangen zu haben.
Die grobsten und ausgebreitetsten Ausfalle zeigten die Cervikal-
segmente und Dorsalsegmente; in D 9 war fast der ganze Quer-
schnitt von den Herden eingenommen. Vom 1. Lumbalsegment
nach abwarts wurden die Ausfalle sehr viel schwacher und zeigten
nicht mehr den scharfen Kontrast zwischen gefarbter und unge-
farbter Marksubstanz. Nie nahmen die Herde in zwei aufeinander-
folgenden Segmenten die gleiche Stelle des Querschnittes ein, viel-
mehr bestand ein ganz auffalliger und willkiirlicher Wechsel in
der Lage der Herde. Zwischendurch war auch ein Segment ein-
mal fast frei, so D 2 .
Schon bei makroskopischer Betrachtung der Weigert-Schnitte
sah man weiter, daB ausgesprochene auf- oder absteigende Degene-
rationen fehlten. Nur in einzelnen Hohen zeigten sich in den Hinter-
strangen und vielleicht auch in den Seitenstrangen neben den
geschilderten Herden Ansatze zu einer sekundaren Degeneration.
Nach dem Vorstehenden wird es verstandlich, daB man schon
nach bloBer makroskopischer Betrachtung der Markscheiden-
praparate die Diagnose auf multiple Sklerose zu stellen geneigt war.
Die mikroskopische Betrachtung der Weigert-Praparate ergab,
daB die bei makroskopischer Betrachtung anscheinend vollig
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fines mit der Forstejschen Opeiation behandelten Falles etc. 395
scharfe Begrenzung der weilien Herde in Wirklichkeit weniger
scharf war.
In dem Areal der weiBen Herde waren auf Weigert-
Praparaten nur BlutgefaBe und Blut, sonst jedoch nichts Sicheres
erkennbar. Auch die Betrachtung der Marchi-Praparate ergab
nichts, was ernstlich gegen die Diagnose der Sclerosis multiplex
hatte sprechen konnen. Diejenigen Partien, welche auf den Weigert-
Praparaten vollig farblos erschienen waren, reprasentierten sich
auf den Marchi-Praparaten als Lichtungen und leichte Aufhellun-
gen in dem gelben Fond des Praparates. Frische, nach Marchi
darstellbare Fasererkrankungen zeigten sich — wie schon gesagt —
nirgendswo. Nur vereinzelt wurden einige schwarze Schollen an
dem Eintritt der hinteren Wurzeln gesehen, und nur in einer Hohe
—beiC # —fand man inden—offenbar altenHerdenentsprechenden—
Aufhellungen in der Nahe der Peripherie des Querschnittes ver-
einzelte Fettkornchenzellen.
Soweit es sich demnach nur um die Markscheiden- und Marchi-
Praparate handelte, schien nichts gegen die Diagnose der multiplen
Sklerose zu sprechen. Die Sachlage anderte sich jedoch, als die
van Gieson- und NiBl-Praparate einer Durchsicht imterzogen
wurden. Da zeigte sich als am meisten in die Augen springende
Erscheinung eineauBerst intensive Beteiligung des GefaBapparates,
starke entziindliche Erscheinungen an den extraspinalen Wurzeln
und deutliche Veranderungen an den Ruckenmarkshauten. Die
letzteren, welche stellenweise zu eiterahnlichen Zellbelagen der
Pia gefiihrt hatten, waren — wie wir noch sehen werden — so
erheblich, daB sich sehr ernste Zweifel an der Diagnose der
multiplen Sklerose erhoben, und daB mit der Moglichkeit ge-
rechnet wurde, daB es sich um eine syphilitische Erkrankung
Oder um eine besondere Form der chronischen Myelitis handeln
konne. (Vgl. Taf. XII—XIII, Abbild. 5, 7, 8.)
Im einzelnen waren die auf den van Gieson- und NiBl-
Paparaten zutage tretenden histologischen Veranderungen die
folgenden:
Die Pia ist durchweg verdickt und von Kerninfiltrationen
durchsetzt. In manchen Hohen, besonders im Cervikalmark, ist
sie in einzelne sich homogen farbende Lamellen aufgefasert. Stellen¬
weise erscheint die Pia geradezu durch die Kerninfiltration einge-
schmolzen. Die von der Peripherie in die weiBe Substanz ziehenden
Septen und GefaBe treten deutlich vor, grobere und massige Gewebs-
massen — wie man sie bei syphilitischen Veranderungen sieht —
greifen jedoch nirgendswo von der Pia her auf den Riickenmarks-
querschnitt iiber. (Taf. XII—XIII, Abbild. 7.)
Die Kerninfiltrate in der Pia sind teils solche von mono-
nuklearem, lymphoidem Charakter, teils haben die Kerne poly-
nukleares, leukocytares Aussehen. Der polynukleare Charakter der
Zellen ist besonders ausgepragt an der Dorsalseite des Riickenmarks
sowie in den auBeren Schichten der Pia. In der Hohe des oberen
und unteren Brustmarkes sowie im Lendenmark, vor alien Dingen
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Schuster, Anatomischer Befund
in der Hohe des 1. und 4. Lendenscgmentes, ist die polynukleare
Infiltration stellenweise zu einem reinen, vielschichtigen, vonFibrin-
gerinnseln durchwirkten Leukozytenbelag geworden. (Taf. XIV
bis XV, Abbild. 8 u. 10.) Dieser Belag liegt der Pia in den
genannten Hohen dorsalwarts schwartenartig auf, oft umhiillt
er auch die extramedullaren hinteren Wurzeln. Weiter kaudal-
warts in L 5 und Sj verschwindet dieser Belag wieder. In einigen
Segmenten, so in L x , wurden Haufen von Staphylokokken in dem
der Pia anhaftenden leukozytaren Zellbelag und vereinzelt auch
im Gewebe selbst gefunden. (NiOl-Praparate.)
Die extramedullaren Wurzeln zeigten samtlich eine sich aus
den gleichen Zellelementen zusammensetzende Infiltration wie die
Pia. Die Keminfiltrate drangen dabei zwischen die einzelnen
Wurzelfasem langs der Bindegewebssepten ein. Manchmal batten
die lymphozytaren Zellen im Gegensatz zu den sich bei Nifil klar
blau farbenden polynuklearen Zellen eine leichte Lilafarbung.
AuBer den soeben beschriebenen, zum groBen Teil wohl frischeren
(Fibringerinnsel!) Veranderungen zeigte die Pia, vor allem in der
Pia des Cervikalmarks, als Ausdruck eines alteren Prozesses sehr
zahlreiche spindelformige, mit einem braunen Pigment angefullte
Pigmentzellen. Es sei noch bemerkt, daB Kemanhauf ungen, wie
man sie bei Gummiknoten oder Tuberkelbildung sieht, nicht vor-
kamen, daB der Riickenmarksquerschnitt auch nie durch die ver-
dickten Haute zu einer dreieckigen Figur zusammengedriickt
erschien. Der Eindruck der akuten Erkrankung, welchen man bei
der ersten Betrachtung der van Gieson-Praparate erhielt, war in
erster Reihe zwar auf das Aussehen der Riickenmarkshaute zuriick-
zufiihren, aber auch das Verhalten des GefaBapparates war auf-
fallig. Ueberall tratendie GefaBe stark und prall gefiillt vor; am
starkstcn wohl inD 9 ,wo das von der Peripherie in die Riickenmarks-
substanz radiar einstrahlende GefaBsystem dem Bilde das bekannte
charakteristische Aussehen gab. (Vgl. auch D 4 ; Taf. XII—XIII,
Abbild. 7.)
Von den Veranderungen der GefaBwandungen traten die-
jenigen der Intima am wenigsten hervor, nur vereinzelt, in einigen
Schnitten aus D 4 und L 2 , ist in den Protokollen von Intimawuche-
nmgen die Rede. Die meisten Wand veranderungen fanden sich in
der Adventitia. Hier warenKernvermehrungen undMitosen deutlich
vorhanden; oft lieB sich allerdings nicht mit Sicherheit entscheiden,
ob die einem langsvcrlaufenden GefaB aufgelagerten Kerne und
Zellen lediglich in der perivaskularen Scheide lagen oder noch zum
Gewebe der Adventitia gehorten.
Selten waren die Wande kleiner GefaBe sklerosiert und sahen
dann vollig homogen aus; vereinzelte kleine GefaBquerschnitte
in der Pia waren vollig obliteriert.
Neu gebildete GefaBe mit korkzieherartigem Verlauf wurden
hauptsachlich im 6. Cervikalsegment gesehen. Sie zogen von der
Peripherie radiar gegen die graue Substanz. Im ganzen zeigten
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 397
die kleinen GefaBe mehr Veranderungen als die groBeren GefaB-
stammchen.
Die perivaskularen Scheiden waren im allgemeinen nicht stark
angefiillt. Von groBeren GefaBen zeigte besonders die Arterie des
vorderen Spaltes fast stets eine Zellansammlung in der peri-
vascularen Scheide. Merkwiirdigerweise lagen hier die Zellen
nicht iiberall in der ganzen Scheide der langsgetroffenen Arteria
fiss. ant. auf, sondern sie lagen wie Plaques nur an bestimmten
Stellen und immer nur auf einer Seite des GefaBes. Die GefaBe
der Pia boten in ihren Scheiden oft wahre massive Zellinfiltrate,
welche sich zwischen die einzelnen Lamellen der Pia und mehr-
reihig zu beiden Seiten des GefaBes etabliert hatten. Die kleinen
quergetroffenen GefaBe des Riickenmarksquerschnittes waren
von viel weniger massigen Zellanhaufungen umgeben. Die in den
GefaBscheiden befindlichen Zellen waren lymphoide einkemige
Zellen mit eingestreuten seltenen Plasmazellen. Letztere zeigten
bei NiBl-Farbung die bekannte Metachromasie. Mastzellen waren
nicht vorhanden. Polynukleare Zellen fanden sich nur sehr seiten
in der GefaBwand.
Die im Vorstehenden zusammenfassend dargestellten Ver¬
anderungen der Riickenmarkshaute und des GefaBapparates, welche
in vielen Punkten auf einen akuten KranklieitsprozeB hinwiesen,
waren zweifelsohne sehr dazu angetan, die auf Grund der Weigert-
Praparate gestellte Diagnose der Sclerosis multiplex zu erschiittern.
Dagegen sprach das Verhalten der Glia, wie es sich auf den van
Gieson- und NiBl-Praparaten darbot, wieder sehr zugunsten der
multiplen Sklerose.
Zunachst sah man, daB diejenigen Stellen, welche auf Weigert-
Praparaten vollig ungefarbt erschienen waren und auch auf
Marchi-Praparaten als alt erkrankt zu erkennen waren, sich auf van
Gieson-Praparaten besonders intensiv gefarbt hatten und aus sehr
stark vermehrtem und in seinen einzelnen Balken verdicktem
Gliageriist mit auBerst zahlreichen Kernen bestanden. (Taf.
XII—XIII, Abb. 5.) Es konnte kein Zweifel sein, daB die
genannten Herde aus starken Gliawucherungen bestanden.
Wahrend im Zentrum des Herdes — mochte dieser sich in
der grauen oder in der weiBen Substanz befinden — nur ein
dichtes rot gefarbtes, fast homogenes Grundgewebe ohne deut-
lich erkennbare Struktur mit sehr zahlreichen eingelagerten
Kernen zu unterscheiden war, war die Peripherie des Herdes,
vor allem, wenn sie in der weiBen Substanz lag, leichter zu
entwirren. Es zeigte sich, daB das normalerweise auBerst diinne,
zwischen den einzelnen Nervenfasern liegende Gliagitter sich ver-
breitert und verdickt hatte und dadurch die einzelnen Sonnen-
bildchen immer weiter auseinandergetrieben hatte. Je mehr es
ins Zentrum des Herdes ging, um so mehr verschwanden die
Nervenfasern, und um so dichter wurde das Gliagewebe.
In der weiBen Substanz hatten die Gliakeme, mochte es sich
um die kleinen dunklen oder die groBen hellen Kerne der normalen
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Schuster, Anatomischcr Befuiid
Glia handeln, oft einen mehr oder weniger groBen Protoplasma-
saum, welcher sich zum Teil erheblich vergroBerte und dabei das
eigentiimliche homogene Aussehen annahm, welches den Zell-
leib der Spinnenzellen auszeichnet. Spinnenzellen wurden in
groBer Anzahl in alien Hohen — besonders in der weiBen Substanz
— gefunden. Ihr Zelleib hob sich wenig von der Umgebung ab.
Der Kem war meist groB, hell, mit mehreren Kemkorperchen und
zeigte oft Abschniirungen. Die bekannten Monsterzellen mit sehr
groBem quallenartigem Leib und vielen Kemen—bis 10 und mehr —
kamen gleichfalls oft vor (Taf. XIV—XV, Abb. Ill) und zeigten
auch bier die oft erwahnten, und auch von mir mit Bielschowsky
(1897) 1 ) bei der multiplen Sklerose schon beschriebenen Be-
ziehungen zu den GefaBen. Sowohl in den Kernen der Glia als
auch in den GefaBwandungen wurden sehr zahlreiche und sehr
schone Mitosen, Spindeln usw. gesehen. (Taf. XIV—XV, Abb. 6.)
Die NiBl-Praparate lieBen diese Mitosen, welche sich oft in einem
etwas anderen Ton farbten als die Umgebung, schon bei weniger
starker VergroBerung hervortreten.
Den ersten Beginn der Bildung eines derartigen Herdes von
Gliawucherung (Taf. XIV—XV, Abb. 1) bildeten offenbar Kern-
anhaufungen mit leichter Verbreiterung der Gliabalkchen, welche
man sowohl auf NiBl- als auch besonders auf van Gieson-
Praparaten zahlreich und deutlich beobachtete. Man sah dann —
meist in der weiBen Substanz — schon bei schwacher Ver¬
groBerung ziemlich zirkumskripte kleine Kernanhaufungen sowie
eine Verdickung des Gliageriistes im Bereiche der Kernhaufen.
Der Kerne hatten oft eine leichte Protoplasmaumkleidung,
welche ohne scharfe Begrenzung in die Masse der verdickten
Gliabalkchen uberzugehen schien. Dadurch zeigten die Zellen —
abgesehen von ihrer geringeren GroBe — eine unverkennbare
Aehnlichkeit mit den Spinnenzellen. Fast konstant sah man
iibrigens auch — besonders gut auf NiBl-Praparaten — wohl
charakterisierte kleine Spinnenzellen in den kleinen Herden.
Der Kern der Zellen hatte eine tief dunkle Kemmembran und
zahlreiche scharf hervortretende Kemkorperchen. Die GroBe
der Kerne iibertraf etwas diejenige der ruhenden Gliakeme.
Bei der Beschreibung der Erscheinungen am GefaBapparat,
wie ich sie weiter oben gegeben habe, wurde nichts iiber die Be-
ziehungen der GefaBe zu den iibrigen Veranderungen des Gewebes
gesagt. Dies muB hier nachgeholt werden. Die Betrachtung jedes
einzelnen der soeben geschilderten kleinen Kernhaufen — wie sie
sich in manchen Hohen zahllos auf dem Ruckenmarksquerschnitt
vorfanden — ergab ganz in die Augen springende Beziehungen
zu einem kleineren GefaB. (Taf. XIV—XV, Abbild. Ib u. c.)
Die Kemwucherung und mit ihr die Verbreiterung der Septen
umgab das GefaB konzentrisch oder mantelformig und richtete
sich mit seiner Konfiguration nach dem Verlauf des GefaBes. Bei
*) Zeitschrift f. klinische Medizin. Bd. 34.
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 399
oberflachlicher Betrachtung hatte man glauben konnen, es handle
sich um zahlreiche kleine GefaBe, welche von ausgewanderten
Zellen umgeben waren. Das zentrale GefaB selbst war in der
Regel, wenn es sich um eine Kapillare handelte, ziemlich normal
oder zeigte nur eine leichte Kernvermehrung der Wand. War das
GefaB aber etwas groBer, so war seine Wand mit gewucherten
Kernen besetzt. Die Sonnenbildchen zwischen den Balkchen und
Kernen des entstehenden Herdes waren meist intakt, hochstens
erschien die eine oder andere Markscheide etwas geschwollen.
(Taf. XIV—XV, Abbild. Ib u. c.) In manchen Hohen reihte sich
auf dem Ruckenmarksquerschnitt ein Herdchen der geschilderten
Art an das andere: hier hatte man es offenbar mit einem spateren
Stadium der Gliaveranderung zu tun.
Eine recht eigentiimliche topographische Beziehung der Glia-
wucherungen zu dem Ruckenmarksquerschnitt ist hier noch zu er-
wahnen. Die Randpartien der weiBen Substanz waren meist gut
erhalten, und die Gliawucherung begann in der Regel nicht — wie
z. B. bei den syphilitischen Veranderungen — unmiitelbar an der
Pia, sondern sie blieb von der Riickenmarkshaut und von der
Peripherie des Ruckenmarks durch einen Giirtel normalen Ge-
webes getrennt. In die graue Substanz, besonders diejenige der
Vorderhorner, ging die Gliawucherung ohne Unterbrechung iiber.
Die beschriebenen Gliawucherungen fanden sich gleichfalls,
wenn auch natiirlich weniger stark, in fast alien denjenigen Partien,
welche auf dem Weigert- oder Marchi-Praparat normal erschienen
waren.
Es eriibrigt noch, das Verhalten der eigentlichen nervosen
Substanz zu skizzieren, wie es sich bei starker VergroBerung der
Weigert-, Gieson- und NiBl-Praparate darbot. DaB die weiBe
Substanz in einer der Pia unmittelbar anliegenden Grenzschicht
meist normal war, und daB die Gliawucherungen erst in einer von
der Pia etwas entfernteren Zone begannen, habe ich schon gesagt.
Diese Erscheinung trat auf Weigert-Schnitten besonders klar zu-
tage. Soweit sich das Verhalten der Nervenfasern in den skleroti-
schen Herden bei van Gieson beurteilen lieB, zeigte sich hier schon
eine gewisse relative Widerstandsfahigkeit des Axenzylinders
dem KrankheitsprozeB gegeniiber im Vergleich zu der Markscheide.
Besonders in den Kuppen der Hinterstrange, welche im 3. Lumbal-
segment von der Gliawucherung ziemlich verschont geblieben
waren, sah man auch auf Gieson-Praparaten erhaltene Axen-
zylinder bei fehlender Markscheide. Man sah ferner, wie der
Axenzylinder oft auBerordentlich geschwollen und verdickt war
und wie sich auf dem Querschnitt des gequollenen Axenzylinders
Kerne niedergelassen hatten. Relativ selten sah man auch — auf
Weigert-Schnitten — eine Quellung oder ofter noch ein ZerflieBen
der Markscheide, so besonders in D # , wo sich in der Gegend des
Kleinhirnseitenstranges ganz vereinzelte Fettkomchenzellen vor-
fanden. Eine Quellimg der Markscheide wurde ferner in manchen
extramedullaren Wurzeln gesehen.
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400
Schuster, Anatomischer Behind
Die Ausbildung eines sog. Luckenfeldes (Taf. XII—XIII,
Abbild. 9), wie es haufig ak Endresultat der Markscheiden-
quellung vorkommt, wurde nur andeutungsweise und nur in
wenigen Hohen (D e , S x ) beobachtet. In S x waren die Maschen
des kleinen Luckenfeldes mit einer homogenen gelben Masse
(Gieson-Praparat) angefiillt, deren Identitat (Mark ?) oder Her-
kunft sich nicht feststellen lieB.
Nirgends sah man Bilder — dies muB besondres hervorgehoben
werden —, auf welchen eine starke Beteiligung der Nervenfasern
sich neben einer beginnenden Gliawucherung gezeigt hdtte ; in der
Nachbarschaft der beginnenden Gliawucherung erschien die
nervose Substanz vielmehr fast stets intakt.
Ueber die Ganglienzellen, resp. deren leichtest zu beurteilende
Reprasentanten, die Vorderhornzellen, haben wir eingangs schon
ausfuhrlich berichtet. Erganzend soil noch gesagt werden,
daB das Gros der Zellen auch in der Nahe der Gliawuche-
rungen und selbst in diesen auffallig wenig geschadigt war. Die
Gliawucherung schien der Integritat der Nervenzelle auffallend
wenig anzuhaben. Nicht selten lag eine offenbar normale Vorder-
homzelle unmittelbar an oder inmitten eines sklerotischen Herdes.
Kernanhaufungen um die Ganglienzellen, wie man sie bei der
sog. Neuronophagie zu sehen bekommt, wurden niemals be¬
obachtet.
Die Gesamtheit der bis jetzt beschriebenen anatomischen
Bilder unterstiitzte zwar unverkennbar die zu Anfang gestellte
anatomische Diagnose der multiplen Sklerose, aber eine befriedi-
gende und vollig iiberzeugende Deutung des histologischen Beftmdes
war immer noch nicht moglich. Hier schaffte nun die ausgezeich-
nete Fibrillenmethode Bielschotvskys mit einem Schlage Klarheit.
Die Silberimpragnation 1 ) lieB erkennen, daB auch in den aller-
dichtesten Herden der Gliawucherung. in welchen man nie und
nimmer noch nervose Substanz vermutet hatte, noch zahllose
Axenzylinder erhalten waren. (Taf. XIV—XV, Abbild. 5.) Wenn
auch bekanntlich bei sehr vielen chronischen nichtentziindlichen
und besonders auch entziindlichen Prozessen des Ruckenmarks
stets eine gewisse Anzahl nackter Axenzylinder bestehen bleibt,
so ist doch ein derartiges massenhaftes und geradezu prinzipielles
Verschontbleiben der Axenzylinder, wie es die Bielschowsky-
Praparate offenbarten, unbedingt als charakteristich fiir die
multiple Sklerose zu bezeichnen.
Von Einzelheiten, welche auf den Silberpraparaten zutage
traten, erwahne ich noch folgende: Der nackte Axenzylinder ist
stellenweise verdickt, stellenweise abnorm diinn oder abgeblaBt
und zeigt in seinem Verlaufe oft eigenartige winklige Knickungen,
Knotenbildung oder auch eine eigentumliche spindelformige Auf-
splitterung, so daB anscheinend die einzelnen Fibrillen zutage
’) Einige sehr instruktive Praparate verdanke ich Herrn. Professor
M. BieUchowsky.
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treten. Die Quellung des Axenzylinders macht aich auf dem
Querschnitt in Form einer gewissen Verklumpung bemerkbar.
Auch auf den Silberpraparaten trat das wiederholt von mir
betonte verschiedenartige Verhalten der beiden Gewebskom-
ponenten in den ersten Anfangen des sklerosierenden Prozesses
zutage. Oft sah man in der Nahe kleiner GefaBe zirkumskripte
Gliawucherung mit Spinnenzellen, ohne daB die nervose Faser-
masse irgend etwas Pathologisches aufgewiesen hatte.
Nachdem wir somit wesentlich mit Hilfe der Biehchowsky-
schen Methode zu der sicheren Diagnose der multiplen Sklerose
gekommen sind, fragt es sich, wie die geschilderten auffalligen,
offenbar akuten Veranderungen in der Pia und in dem GefaB-
apparat zu deuten sind. Die Erklarung hierfiir ist jetzt leicht,
nachdem wir in den Stand gesetzt sind, den festen Kern der Haupt-
affektion mit Sicherheit a us der Gesamtheit der anatomischen
Veranderungen herauszuschalen: Es handelt sich nicht um einen
einzigen anatomischen KrankheitsprozeB, sondern um zwei ver-
schiedene Prozesse, welche sich miteinander kombiniert haben.
Auf den alten ProzeB der multiplen Sklerose — dessen Anfange
imd friiheste Stadien offenbar imCervikal- undDorsalmark liegen—
haben sich akut entziindliche, postoperative Veranderungen, be-
sonders solche der Pia und der extramedullaren Wurzeln aufge-
pfropft. Durch die Kombination der beiden Krankheitsprozesse
entstanden Bilder, weldhe voriibergehend an eine syphilitische
Meningomyelitis oder an eine andere chronische Form der Myelitis
denken lieBen. Besonders mit der Moglichkeit einer cerebrospinalen
Lues muBte trotz des klinischen Beftmdes und trotz des Mangels
gummoser Erscheinungen sowie trotz des Fehlens der fur Syphilis
so charkteristischen, von der Peripherie in den Riickenmarksquer-
schnitt vordringenden Gewebsbalken emstlich gerechnet werden.
Besonders die kleinen Infiltrate, welche sich zwischen die einzelnen
Lamellen der Pia schoben, muBten den Verdacht auf Syphilis
erwecken.
Wir wollen jetzt zusehen, ob die weiter oben beschriebenen
anatomischen Bilder uns erlauben, zu einigen Fragen der Histo¬
logic der multiplen Sklerose Stellung zu nehmen. Die Tatsache,
daB wir die deutlichen Elemente der Gliawucherung auch an
Gewebsstellen auBerhalb der makroskopisch erkennbaren Herde
fanden, steht in Uebereinstimmung mit den Befunden fruherer
Beobachter (Flatau, Koelichen).
Der wichtigste Punkt fiir die ganze Auffassung der Natur
der multiplen Sklerose, namlich die'Frage, ob die Gliawucherung
das primare oder sekundare Moment gegeniiber der Parenchym-
beteiligung darstelle, ist auch heute noch strittig. Wie in meinem
im Jahre 1897 mit Bielschowsky untersuchten Fall, so ist auch
in diesem Falle die Gliawucherung zweifellos eine primare und
nicht — wie die Wiener Schule lehrt — sekundar reparatorische.
Die weiter oben geschilderten Befunde, nach welchen sich in der
Nahe der GefaBe kleine Herde beginnender Gliawucherung
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402
Schuster, Anatomischer Befund
zeigten, ohne daB das Parenchym irgend eine Storung dargeboten
hatte, beweisen durchaus, daB es bei der Bildung sklerotischer
Herde zum mindesten auch anders zugehen kann, als Redlich ,
Adamkiewicz und neuerdings Marburg behaupten.
Die von Flatau und Koelichen zitierten Worte Voelschs , daB
die Friihzeitigkeit und Massenhaftigkeit der Gliawucherung, vor
allem aber die Tnkongruenz zwischen Zerfall des Nervengewebes
und Starke und Entwicklungsstadium der Gliahyperplasie durch¬
aus dafiir sprachen, daB die Noxe proliferationsanregend auf die
Glia wirke, passen auch fur unsern Fall vollkommen.
Es erscheint mir auf Grund der durchaus eindeutigen und
miteinander iibereinstimmenden Bilder geradezu ausgeschlossen,
im vorliegenden Fall eine primdre Erkrankung der Nervenfasem
anzunehmen. Uebrigens deutet auch der Umstand, daB nur an
einigen wenigen Stellen leichte Ansatze zur Entwicklung eines sog.
Liickenfeldes vorhanden waren, darauf hin, daB die Parenchym -
erkrankung hier vollkommen hinter den gliosen Wucherungs-
vorgangen zuriicktrat. Im allgemeinen entsprach unser Fall somit
dem zweiten der beiden von Flatau und Koelichen aufgestellten
Typen der Gliawucherung. Hiermit stimmt iibrigens auch iiber-
ein, daB die G-efaB veranderungen, soweit sie dem ProzeB der
multiplen Sklerose zur Last zu legen waren, keine hochgradigen
waren.
Die schon auBerordentlich oft betonte und immer wieder
abgeleugnete Abhangigkeit der Herde von den GefaBen trat in
diesem Fall absolut klar zutage. Die kleinsten GrefaBe, welche
das Zentrum des beginnenden sklerotischen Herdes bildeten,
erschienen meist normal. Infolgedessen wirft imser Fall auch auf
die Frage nach der primaren GtefaBerkrankung ein gewisses Licht.
Da man somit als wahrscheinlich annehmen muB, daB durch die
anfanglich normalen GefaBe ein dje Gliawucherung anregendes
Agens in das Riickenmark gelange, so ist dies ein Moment, welches
viel eher gegen als fur die Strilmpells che Auffassung von der endo-
genen Natur der Krankheit spricht.
Was die Zelleinlagerungen in den GefaBscheiden angeht, so
konnten wir die in einigen neueren Arbeiten vermerkten Befunde
der Plasmazellen auch in der Pia bestatigen (Taf. XIV—XV,
Abb. 6), Mastzellen dagegen waren nicht auffindbar.
Beziiglich der relativen Unabhangigkeit der Ganglienzellen
gegeniiber dem sklerotischen ProzeB, die schon Leyden notiert
hatte, sowie beziiglich des Ausbleibens nennenswerter sekundarer
Degenerationen bestatigt mein jetziger Fall die allgemein be-
kannten Erfahrungen.
Da ich — vgl. weiter oben — nicht annehme, daB die samt-
lichen entziindlichen Veranderungen der Pia akuter postoperativer
Natur sind, sondern da sich auch an Stellen, welche offenbar frei
von akuten Erscheinungen waren, meningeale Verdickungen,
Pigmentzellen usw. fanden, so schlieBt sich unser Fall auch be-
ziigUch des Vorhandenseins leichter meningealer Veranderungen
den Beobachtungen anderer Autoren an.
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eines mit der Forsterschen Operation behandelten Falles etc. 403
SchlieBlich noch eine Bemerkung in klinischer Hinsicht. Die
Forstersche Operation ist in den Fallen von multipler Sklerose
so oft ungiinstig ausgelaufen, und es ist so auBerordentlich oft ent-
weder direkt oder nach einem Intervall von 1—3 Wochen unter
fieberhaften (in meinem Fall meningealen) Erscheinungen der
Exitus eingetreten — soviel ich sehe, unter 7 Fallen Gmal 1 ) —.
daB man hierin kaum einen Zufall sehen kann. Man muB viel-
mehr m. A. daran denken, ob nicht vielleicht das sklerotische
Riickenmark in einer gewissen spezifischen Weise ungiinstig
durch den operativen Eingriff beeinfluBt wird. Die gewohnlichen
Zufalle, wie sie sich in der allgemeinen Gefahrenskala als Folgen
einer jeden schweren Operation darstellen, reichen wohl kaum aus
zur Erklarung der besonders groBen Mortalitat der radikotomierten
Sklerotiker.
Erklarungen der Abbildungen auf Taf. XII—XV.
Fig. 1. C. 6. Fig. 2. D 6. Fig. 3. D. 9. Fig. 4. L. 1. Markscheiden-
fiirbung.
Fig. 5. D. 9. van Gieson-Farbung. Die sklerotischen Flecke treten
stark gefarbt vor (das Praparat liegt umgekehrt wie Fig. 3).
fig. 6. van Gieson-Praparat. WeiBe Substanz des 6. Dorsalsegmentes.
Bei a beginnende Herdbildung.
Fig. 7. D. 4. van Gieson-Praparat. Starkes Vortreten der GefaBe
auf dem Querschnitt, leichte Verdickung der Pia.
Fig. 8. L. 1. van Gieson-Praparat. Bei 1 starke, schwartenartige,
leukozytare Auflagerung. Pia, besonders dorsalwarts, stark infiltriert.
Fig. 9. S. 1. van Gieson-Praparat. Vorderseitenstrang mit einem
Stuck des Vorderhorns. Bei g Vorderhornzellen, bei a leichte Liickenfeld-
bildung der weifien Substanz.
Fig. 10. L. 1. van Gieson-Praparat. Stelle aus der lcukozytaren Auf¬
lagerung bei starker VergroBerung.
Taf. XIV—XV. Fig. 1. Leitz, Okul. 3, Obj. 7, Tubus 170 mm.
van Giesonfarbung. Gliotischer Herd der weiBen Substanz in den ersten An-
fangen. Bei a zentrales GefaB. b gewucherte Gliakerne, c gequollene Mark-
scheiden, d verdickte Gliabalkchen.
Fig. 2. Leitz, Okul. 1, Obj. 3, Tubus eingeschoben. Nissl-Farbung.
Partie aus dem Vorderhorn des Lumbalmarkes; bei a vollig normale Vorder¬
hornzellen, bei b erkrankte Zellen ohne Granula und ohne Kern.
. Fig. 3. Leitz, Okul. 3, Obj. 7, Tubus 170. Nissl-Praparat. Viel-
kernige sehr stark vergroBerte Gliazellen.
Fig. 4. Leitz, Okul. 1, Obj. 7, Tubus eingeschoben. Van Gieson-
Farbung. Hauptsachlich frische entziindliche Veranderungen an der Pia
des Brustmarks; bei a leukozytare Zellansammlung, welche sich auBen auf
die verdickte Pia (b) auflagert; bei c Fibrinfaserchen mit eingelagerten
Kemen zwischen innersten Piaschichten und Riickenmarksquersclinitt.
Fig. 5. Leitz, Okul. 1, Obj. 7, Tubus eingeschoben. Bielschowsky-
farbung. Partie aus einem sklerotischen Fleck des Hinterstranges, in
welchem bei Markscheidenfarbung fast keine Nervenfasern mehr erkennbar
waren; bei A massenhafte nackte Achsenzylinder, bei M einige erhaltene
Markscheiden.
Fig. 6 . Leitz, Okul. 3, Imm. Vi,. Nissifarbung; bei M Mitose, bei P
Plasmazellen.
! ) Gelegentlich der Demonstration in der Sitzung der neurologischen
Gesellschaft berichtete Herr Geh.-Rat Bonhoeffer noch von einem weiterea
gleichfalls nach Radikotomie letal verlaufenen Fall.
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404
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
(Aus der II. medizinischen Klinik der Charite.)
Hypophysenerkrankungen.
Von
GEORG PERITZ,
Berlin.
(Hierzu Taf. XVI—XVII und 9 Abbildungen im Texte.)
Als Marie die Akromegalie in Beziehung zu den Geschwiilsten
der Hypophyse setzte und erklarte, daB es sich bei der Akromegalie
um eine Unterfunktion der Hypophyse handele, glaubte man, daB
man in der Erkenntnis iiber das Wesen des Gehirnabhanges um
ein gutes Stuck weiter gekommen ware. Trotzdem alle moglichen
Bedenken gegen den Zusammenhang zwischen Hypophysentumor
und Akromegalie erhoben warden, und verschiedentlich Falle von
Akromegalie ohne Hypophysentumor und umgekehrt Hypophysen-
geschwiilste ohne Akromegalie mitgeteilt wurden, brach sich all-
mahlich doch die Erkenntnis Bahn, daB ein enger Zusammenhang
zwischen der Hypophyse und dem W&chstum bestehe. Man er-
kannte aber, daB es sich nicht um eine Unterfunktion der Hypo¬
physe handeln konne, sondern gerade im Gegenteil um eine ver-
mehrte Funktion. Vornehmlich den Untersuchungen Bendas war
diese Erkenntnis zu danken, der nachwies, daB es sich bei der
Akromegalie um ein gutartiges Adenom der Hypophyse handelt,
daB man allerdings nicht selten bosartige Geschwiilste bei der
Autopsie antrifft, weil spater eine Veranderung des Geschwulst-
charakters aus einem gutartigen Adenom in eine bosartige Ge-
schwulst eintritt. In den letzten Jahren hat das Studium der Driisen
mit innerer Sekretion allmahlich erkennen lassen, daB diese Driisen
nicht einer Funktion dienen, sondern daB sie polyvalente Sekrete
liefem. Am klarsten ist diese Tatsache zutage getreten bei der
SchilddrUse. Hier sah man, daB neben den hauptsachlichsten
Symptomen einer Uebererregbarkeit des Sympathikus auch solche
einer starkeren Erregbarkeit des Vagus vorhanden sind. Dahin
gehoren vornehmlich die Aktionspulse und der trotz Sympathikus-
reizung normale Blutdruck. Von Asher und Flack wurde dann der
Beweis erbracht, daB von der Schilddriise aus sowohl die Neben-
niere und damit der Sympathikus erregt wurden als auch der
Depressor des Herzens. Aber auch die anderen Driisen mit innerer
Sekretion liefem verschiedene Sekrete. So scheint das Ovarium
neben seinem eigentlichen Sekret noch ein solches des Corpus
luteum zu liefem. Von der Nebenniere kennen wir bislang nur
das Adrenalin. Die groBartige Entdeckung des Adrenalins und seine
synthetische Herstellung haben bis jetzt die Forscher, die sich mit
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
405
der Nebenniere beschaftigten, abgehalten, danach zu suchen,
ob nicht auch die Nebenniere noch andere Sekrete liefert. DaB die
Hypophyse nicht allein ein Sekret produzieren, nicht allein einer
Funktion dienen wiirde, war allein schon aus dem Bau der Dr use
anzunehmen. Sie besteht, wie man ja weiB, aus 3 Teilen: demVorder-
lappen, einem driisigen Gebilde mit den bekannten chromophilen
Zellen, dem nervosen Teil, dem sogenannten Hinterlappen und dem
dazwischenliegenden Teil, der Pars intermedia, welche in ihrem
Bau dem der Schilddriise ahnelt und Colloid liefert. Als das
wesentlichste Produkt dieses Teiles wurden zuerst von Herring
die sogenannten hyalinen Korperchen angesprochen, die nach
Cushing und Goetsch sich auch im nervosen Teil der Hypophyse
finden und auch im Infundibularteil. Auch Kraus sah die von
ihm beschriebenen hyalinen Korper durch die Pars intermedia
und den nervosen Teil in den Infundibularteil wandern. Dieser
komplizierte Bau der Hypophyse lieB erwarten, daB die Hypophyse
nicht bloB mit dem Knochenwachstum, wie man es auf Grund der
Veranderungen bei der Akromegalie annehmen muBte, zu tun habe,
sondern daB noch andere Funktionen durch sie reguliert werden
wurden. Ich gehe auf die Theorien von v. Zyon nicht naher ein.
Seine elektrischen Reizungsversuche der Hypophyse, die die Grund-
lage seiner Theorie bilden, daB die Hypophyse einen Regulations-
apparat darstelle, miissen als widerlegt gelten, nachdem die ver-
schiedensten Untersucher, wie Masay , Schafer und Herring , ge-
funden haben, daB auch durch Reizung anderer Hirnteile dieselben
Erscheinungen zu erzielen sind, und auf der anderen Seite Livon
Pirrone , Lo Monaco und van Ryriberg die Unerregbarkeit der Hypo¬
physe dargetan haben. Dagegen haben die Untersuchungen der
letzten Jahre gezeigt, daB die Hypophyse verschiedene Sekrete
liefert, die verschiedentliche Wirkungen haben. Hauptsachlich
die Experiments der letzten Jahre, die sich mit der Entfernung
der Hypophyse beschaftigten, haben Resultate ergeben, welche
auch fiir die menschliche Pathologie verwertbar sind. Nachdem von
verschiedenen Seiten versucht worden war, die Hypophyse voll-
kommen zu entfernen, hat Aschner endlich mit seiner Operations*
methode Erfolge erzielt, bei denen die Tiere lange Zeit leben blieben.
Aschner konnte damit zeigen, daB die Hypophyse kein absolut
lebenswichtiges Organ sei, wahrend alle Untersucher vor ihm,
mit Ausnahme weniger, so Friedmann und Maafi , das Gegenteil
behauptet haben. Dagegen geht Aschner zu weit, wenn er Cushings
Verdienste um die Erkenntnis der Hypophysenfunktionen nicht
anerkennt. Cushing und seine Mitarbeiter haben, trotzdem sie
glaubten, daB die vollkommene Entfernung der Hypophyse in
kurzer Zeit zum Tode fiihren miisse, alles das, was Aschner bei
seinen Versuchen feststellte, schon friiher gefunden, wenn sie ge-
ringe Reste des Vorderlappens stehen lieBen.
Es scheint, daB die Hypophyse eine auBerordentliche Be-
deutung fiir die gesamten trophischen Vorgange des Organismus hat.
Cushing und seine Mitarbeiter, und neuerdings Aschner haben vor
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406
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
alien Dingen gezeigt, daB durch die Entfernung der Hypophyse
eine schwere Wachstumsstorung beim wachsenden Tiere auftritt.
Gegeniiber den Kontrolltieren bleiben diese Tiere zwerghaft und
klein. Es handelt sich dabei um eine Wachstumsstorung, die vor-
nehmlich die Knochen betrifft. Ob diese Wachstumsstorung aus-
schlieBlich als ein Produkt des Hypophysenausfalles anzusehen ist,
ist natiirlich vorlaufig nicht so ohne weiteres zu bejahen. Wir
wissen ja, daB auch bei Entfernung der Schilddriise ein Zwerg-
wachstum bei Tieren beobachtet wird, und neuerdings haben auch
Klose und Foy* nach Exstirpation der ThymusdriisegleicheResultate
erzielt. Die zweite Storung, die nach Entfernung der Hypophyse
zu beobachten ist, ist die auBerordentliche Fettsucht dieser Tiere.
Es tritt eine Adipositas auf, die ganz enorm ist und die sowohl
die inneren Organe wie das Unterhautfettgewebe betrifft. Cushing ,
Livon, Ascoli und Aschner haben diese Tatsache feststellen konnen.
Dann hat Cushing nach Entfernung der Hypophyse das Auftreten
einer Hyperglykamie beobachtet, die allerdings Aschner nicht ge-
funden hat, die aber mit den Beobachtungen am Menschen gut
iibereinstimmt. Cushing hat mit seinen Mitarbeitern zusammen die
Art und den Modus der Hyperglykamie des genaueren untersucht.
Er fand, daB vorziiglich diese Hyperglykamie gebunden sei an den
Verlust des hinteren Lappens. In solchen Fallen trat auch eine
Steigerung der Toleranz fur Zucker, der sowohl intravenos wie per
os eingefiihrt wurde, ein. Nachdem anfangs unmittelbar nach der
Operation immer eine Glykosurie zu beobachten war, die er als
Folge der Operation ansieht, hat er stets nach Entfernung des
hinteren Lappens oder auch in solchen Fallen, in denen ein Teil des
Vorderlappens mit entfernt war, eine groBere Toleranz gegen Zucker
wahrgenommen. Dagegen trat eine solche Toleranzsteigerung bei
Entfernung des Vorderlappens nicht ein. Wurde dann Hinterlappen-
extrakt oder Pituitrinum infundibulare injiziert, so war die Folge
davon die, daB jetzt die Toleranzgrenze fur den Zucker herabsank
und etwa den Grad wie vor der Operation hatte. Und zu diesen
Untersuchungen von Cushing passen auch die Versuche von Falla
und Bernstein , die beim Menschen Pituitrin injizierten und den Gas-
wechsel beobachteten. Sie spritzten einmal den Extrakt des in-
fundibularen Teiles ein und fanden, ohne daB der respiratorische
Quotient sich veranderte, einen erheblichen Anstieg des Sauerstoff-
verbrauchs, dessen Hohepunkt nach % Stunden in manchen
Versuchen noch nicht erreicht war. Verwandten sie aber einen
Extrakt vom glandularen Teil der Hypophyse, so erhielten sie ein
Absinken des Sauerstoffverbrauches, der viel rascher stattstand als
die Abnahme der Kohlensaureproduktion, so daB der respiratorische
Quotient ganz erheblich anstieg. Es weist das darauf hin, daB
hier eine Steigerung im Kohlehydratstoffwechsel vor sich geht.
Falta und Bernstein machen auch darauf aufmerksam, daB bei
der Akromegalie, einem Ueberfunktionszustand der Hypophyse,
sich bekanntlich in einem sehr groBen Teil der Falle Glykosurie
findet, wahrend umgekehrt bei der Dystrophia adiposogenitalis die
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
407
Assimilationsgrenze fur Kohlehydrate eine Erhohung erfahrt. Es
soli also bei der Akromegalie eine besondere Lebhaftigkeit, bei der
Dystrophie eine Tragheit des Kohlehydratstoffwechsels stattfinden.
Dazu wiirde die Anschauung von Cushing gut passen, welcher
glaubt, daB die Dystrophia adiposogenitalis dureh die Stauung des
Zuckers bedingt wird. Ich gehe auf diesen Punkt genauer ein, weil
ich glaube, daB gerade diese Tatsachen, die der Tierversuch uns
gelehrt hat, geeignet sind, uns die Diagnose einer Hypophysen-
erkrankung in gewissen Fallen zu erleichtern. Auch die Tatsache,
die Aschner gefunden hat, daB bei Entfernung der Hypophyse die
Adrenalin-Glykosurie auf ein Minimum reduziert wird, spricht fur
eine Einwirkung der Hypophyse auf den Zuckerstoffwechsel, wie
sie durch die Cushingschen Versuche bewiesen wird, wenn auch
Aschner diesen EinfluB bestreitet und glaubt, daB die Stoning des
Zuckerstoffwechsels durch eine Verletzung des Tuber cinereum aus-
gelost wird. Wie groB der EinfluB der Hypophyse auf den gesamten
Stoffwechsel ist, geht auch aus den Versuchen von Porges und
Aschner hervor, die zeigten, daB durch das Fehlen dieser Druse
ahnlich wie bei dem der Schilddriie eine Herabsetzung des Gas-
stoffwechsels eintritt. Von Cushing wird die Hyperglykamie als
die Ursache der Fettsucht angesehen, weil er der Meinung ist,
daB der Zucker gestaut wird, nicht verbrannt und infolgedessen
als Fett abgesetzt wird. Untersuchungen, die ich eben anstelle,
werden ergeben, ob diese Anschauung richtig ist, oder der Modus
ein anderer. Auf jeden Fall ware es auBerordentlich interessant,
wenn die hypophysare Adipositas nicht als direkte Folge der
Storung der Hypophysentatigkeit anzusehen ware, sondern erst
indirekt iiber die Storung im Zuckerhaushalt ginge.
Unter den Tatsachen, die durch die neueren Versuche iiber die
Physiologie der Hypophyse uns bekannt geworden sind, muB auf
eine besonders hingewiesen werden, weil sie fur uns Kliniker von
Interesse ist. Schafer konnte zeigen, daB Verletzungen der Hypo¬
physe bei Hunden eine Vermehrung der Harnentleerung zur Folge
hat. Ebenso sah Cushing bei seinen Hunden unmittelbar nach der
Operation eine Polyurie, und^dann hat Schafer auch gesehen, daB
Verfiitterung von kleinen Mengen Hypophyse eine Ausscheidung
groBerer Mengen von Urin zur Folge hatte, aber nur dann, wenn
Zwischenteil und Hinterlappen als Futter benutzt wurden. Es ist
diese Tatsache ja von Interesse fur die Frage, ob die Polyurie und
Polydipsie, die man bei Hypophysenerkrankungen beobachtet, zu
den Erscheinungen zu rechnen ist, welche direkt auf die Hypophyse
zu beziehen sind, oder aber ob sie indirekt als Folge eines Druckes
des Bodens des dritten Ventrikels anzusehen sind. Es ist auch
leicht moglich, daB diese Polyurie in Zusammenhang steht mit den
Erscheinungen, welche durch Injektion von Pituitrin an den
Beckenorganen hervorgerufen werden. An der Niere ruft das
Pituitrin zwei entgegengesetzte Vorgange hervor: einmal eine
Blutdrucksteigerung und zwei tens eine Hemmung der Sekretion;
in anderen Fallen aber bedingte die Injektion nach Schafer und
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408
P e r i t z , Hypophysenorkrankungen.
Magnus eine Vermehrung der Urinsekretion, und es kam vor, daB
selbst ohne Blutdrucksteigerung eine starkere Diurese sich bemerk-
bar machte, so daB Schafer annimmt, daB im Extrakt eine Sub-
stanz vorhanden ist, welche direkt reizend auf die sekretorischen
Zellen der Niere wirkt. Als eine weitere Veranderung des Organismus
durch den Ausfall der Hypophyse ist das Zugrundegehen der
Keimdriisen anzusehen. Der enge Zusammenhang, der zwischen
Keimdriise und Hypophyse besteht, ist ja schon friihzeitig erkannt
worden und hat Tandler zu dem Ausspruch gefiihrt, daB die
Keimdriisen das MaB des Wachstums bestimmen, die Hypophyse
aber das Wachstum selbst. Tandler glaubt auch, daB die Korper-
groBe der unter verschiedenen Breiten lebenden Volker abhangig
sei von der verschiedenen friihen oder spaten Reifung der Keim-
driisen. Je langer die Hypophyse ihre Alleinherrschaft ausiibt,
desto langbeiniger werden die Menschen. Volker, bei denen die
Keimdriisenreifung friih einsetzt, wie bei den siidlichen, bleiben
daher klein. Je weiter man nach Norden heraufkommt, desto spater
tritt diese Reifung ein, und um so grcBer wird der Menschenschlag.
Fur Europa scheint dies zuzutreffen, weniger fur die Lappen und
die Eskimos.
Bekanntlich hat die Klinik zuerst festgestellt, daB bei Hypo-
physenerkrankungen die Keimdiiisenfunktion abnimmt. Nun
haben die Experiment Aschners deutlich gezeigt, daB eine Ent-
fernung der Hypophyse eine Atrophie der Keimdriise zur Folge
hat, aber nur bei jungen Tieren; bei alteren, geschlechtsreifen Tieren
findet sich diese Atrophie nicht, wenigstens bestreitet Aschner
diese Tatsache, wahrend Biedl und Cushing auch bei erwachsenen
Tieren in einigen Fallen nach partieller Exstirpation der Hypophyse
eine hochgradige Atrophie des Genitales gesehen haben. Aschner
dagegen glaubt, daB in diesen Fallen eine accidentelle Himschadi-
gung vorgelegen habe. Er bestreitet auch die von Cushing beob-
achtete Tatsache, daB nach Hypophysenexstirpation eine Steige-
rung der Genitalfunktion zu beobachten sei.
Das Interesse fur die Funktion der Hypophyse ist in letzter
Zeit durch die Entdeckung von Frankl-Hochwart imd Frohlich
sehr stark geworden. Sie konnten zeigen, daB das Extrakt aus dem
hinteren Lappen der Hypophyse vornehmlich auf die sympathischen
Nerven der Beckenorgane wirkt, und daB diese Wirksamkeit noch
starker am graviden Uterus zum Ausdruck kommt. Das Pituitrin
wurde als schwacheres, aber als ein langer wirkendes dem Adrenalin
gleichzusetzendes Mittel erkannt . Die Folge dieser Entdeckung war,
daB man das Pituitrin in die Praxis als Wehenmittel einfiihrte,
und die vielen Veroffentlichungen des letzten Jahres zeigen, wie
groB der Erfolg dieses Mittels als geburtsfordemdes ist. Diese Wirk¬
samkeit des Pituitrins auf den Sympathikus und vornehmlich den
der Beckenorgane scheint aber in der Pathologie keine wesentliche
Rolle zu spielen. Weder im Tierversuch noch bei Hypophysen-
erkrankungen der Menschen hat man bislang Erscheinungen fest-
stellen konnen, die sich als Folgeerscheinung der Reizung oder des
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P e r i t z, Hypophysenerkrank ungen. 409
Wegfalls eines Reizes der sympathischen Beckennerven charakteri-
sieren lie Ben.
Es mag hier schlieBlich noch darauf hingewiesen werden, daB
auch in der Hypophyse eine Substanz vorhanden ist, welche auf
den Blutdruck erniedrigend wirkt. Da man aber in alien anderen
Driisen eine solche Substanz gefunden hat, so wird allgemein an-
genommen, daB dieses den Blutdruck herabsetzende Sekret kein
Spezifikum ist. Nach den Untersuchungen von v. Fiirth und
Schwarz wird diese Substanz als Cholin angesehen, und auch von
verschiedenen Autoren wird diese Annahme als richtig erkannt,
wahrend nur Popielski dem widerspricht und die Wirkung seinem
hypothetischen Hypotensin zuerteilt.
Will man nun auf Grund der experimentellen Studien und
unserer pathologischen Erfahrungen eine Einteilung der Funk-
tionen auf die verschiedenen Teile der Hypophyse wagen, so, glaube
ich, wird das heute in groBen Umrissen schon gelingen. Aus der
Pathologie der Akromegalie wissen wir, daB es sich stets um Ge-
schwiilste des Vorderlappens handelt, welche zu dieser Krankheit
fiihren. Dem entspricht es auch, daB man bei der Entfernung der
gesamten Hypophyse einen Zwergwuchs findet. Man wird also mit
gutem Recht annehmen konnen, daB der Vorderlappen ein Sekret
liefert, welches fur das Wachstum von EinfluB ist. Dagegen scheint
dem Hinterlappen und der Pars intermedia einHormon eigen zu sein,
das dem Adrenalin ahnlich ist. Seine Wirkung auf den Sympathikus
ist bekannt, und die Cushingschen Untersuchungen haben ergeben,
daB dieses Hormon ebenfalls mit dem Zuckerstoffwechsel, wie das
Adrenalin, etwas zu tun hat. Wenn die Annahme Cushings richtig
ist, die auBerordentlich viel Wahrscheinlichkeit hat, daB der Mangel
der Verbrennung des Zuckers zur Fettsucht fiihrt, so wiirde die
bei der Hypophyse zu beobachtende Fettsucht ebenfalls auf den
Hinterlappen zu beziehen sein. Fischer hat ja die Vermutung zuerst
ausgesprochen, daB die hypophysare Adipositas die Folge einer
Unterfunktion des Hinterlappens der Hypophyse sei, und hat das
durch pathologische Studien zu beweisen gesucht, indem er zeigte,
daB durch den Tumor des Vorderlappens der Hinterlappen durch
Druck geschadigt wiirde. Zugleich nimmt er auch an, daB das
Sekret des Hinterlappens einen EinfluB auf die Keimdriisen austibt.
Und endlich hat Schafer gezeigt, daB die Verfiitterung der Pars
intermedia und des Hinterlappens zur Polyurie fiihrt. Verteilt man
die Funktionen dergestalt auf die verschiedenen Driisenabschnitte,
so kommt man auch zu einer Einteilung der Hypophysenerkran-
kungen, wenn auch diese Einteilung vorlaufig noch sehr schematisch
sein muB. Man kann sowohl bei dem Vorderlappen wie bei dem mit
der Pars intermedia verbundenen Hinterlappen von Erkrankungen
sprechen, welche sowohl auf eine Hyperfunktion als auch auf eine
verminderte Funktion zuruckzufuhren sind. AuBerdem gibt es
Mischformen, und endlich ist auch eine Miterkrankung der Hypo¬
physe als Folge einer allgemeinen Erkrankung der endokrinen
Monataschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 5. 27
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410
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
Driisen oder nur einer derselben, vorziiglich der Keimdriise, zu
konstatieren. Es ergibt sich daraus folgendes Schema:
I. Erkrankung des Vorderlappens.
a) Unterfunktion: Zwergwuchs.
b) Hyperfunktion: Akromegalie, Gigantismus.
II. Erkrankung des Hinterlappens.
a) Verminderte Funktion: hypophysare Adipositas.
b) Hyperfunktion: Diabetes insipidus ?
III. Mischformen.
a) Gesteigerte Funktion des Vorderlappens mit ver-
minderter Funktion des Hinterlappens: Akromegalie
mit hypophysarer Adipositas.
b) Unterfunktion der gesamten Hypophyse: Zwergwuchs
mit hypophysarer Adipositas.
IV. Erkrankung der Hypophyse in Gemeinschaft mit anderen
Driisen.
a) Keimdriise und Hypophyse: Eunuchoidismus.
b) Erkrankung aller Driisen mit innerer Sekretion:
pluriglandulare Erkrankung von Claude und Qougerot,
multiple Sklerose der endokrinen Driisen von Falta,
partieller Gigantismus.
Bei der Besprechung der einzelnen Krankheitsbilder will ich
mich aber nicht in der Reihenfolge genau an dieses Schema halten,
sondern sie ihrer inneren Zusammengehorigkeit nach gruppieren.
Ich werde daher den Eunuchoidismus und die Kombination der
Akromegalie mit Adipositas der Akromegalie und dem Gigantismus,
denen er symptomatologisch nahe steht, anreihen.
Ueber den Apituitarismus des Vorderlappens wissen wir vor-
laufig noch sehr wenig. Benda hat als erster ein Sarkom der
Hypophyse beschrieben, welches zu einem Zwergwuchs fiihrte.
Es entspricht ja der experimentellen Erfahrung, daB die Unter¬
funktion des Hypophysen-Vorderlappens, wie das Aschner gezeigt
hat, den Zwergwuchs veranlaBt. Man darf aber nicht iibersehen,
daB auch verschiedene andere Driisen mit innerer Sekretion einen
ahnlichen EinfluB auf das Knochenwachstum ausiibt. Am langsten
bekannt ist jaderZwergwuchs alsFolge der Schilddriisenerkrankung,
und neuerdings haben Klose und Vogt und u. a. auch Matti gezeigt,
daB nach Thymektomie eine gleiche Wachstumsstorung erfolgt.
Beim Menschen ist der thyreogene Infantilismus seit langem be¬
kannt, der ein formaler Infantilismus ist. Dagegen ftihrt der Status
thymico-lymphaticus durchaus nicht zum Zwergwuchs. Es kommen
zwar Individuen mit einer geringen KorpergroBe vor, doch findet
sich nach Bartels eine groBere Anzahl mit iibemormaler KorpergroBe.
Ueber den menschlichen Zwergwuchs als Folge einer Unterfunktion
der Hypophyse wissen wir vorlaufig nichts. Ich habe mir vergeblich
Mtihe gegeben, Zwerge, wie sie haufig hier in Berlin ausgestellt sind,
zu untersuchen. Es ist mir aber nicht gelungen. Es sind das natiirlich
Zwerge verschiedenster pathologischer Dignitat. Auffallig ist, daB
der groBte Teil der wirklichen Zwerge bartlos ist und jene Haut
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P e> t it*, Hypopliyaeoerkranktmgen.
411
besit-it, weioUo man hei don Etmuohoiden zn sehen bekoiamt, die
sogeu'anate (beisenhaut, die von gdhlichgfauer Farbe ist, geriinzdt
und ohne eigeofchohen Turgor, fis soli aber hier gleieh uuf einen
Piinkt aufhierkfcnm gemacht worden. tier fur die gesamte
Diftgtiostik dor Hvp<>{>hyso,nerktajikungeti von Bedeut.oflg ist,
nuf den auob Weygimdi bei Vunstoljung von 2wergen mit bypo-
phys&rer . iiikehe ntrfififcrksarn getnaoht hat. Das weaent-
Hyj>ophyaengessli>vut?t. emm&t dutch Mitnrfciankung de$ Nery us
opticus in FdPiO doerhUemporslen Hymianopsie odor den Naob-
\feig viner Kf'vidtmiiig dor Sollft turcica im Kontgonbildp in Ver*.
4*. i .-1 11 ,y -mi/** 1 ' 4 -,'. .J 1 1 .'<4^ Cf^-ni , 1 Tltmni'mi'iti « «v<
hypophysaren ErkfUftMmg in fiber (^sdfwulsi dor Hypophyse zu
scheot vierrncbr k»nn der Hyper- und Pyspifcuttarimsus tin rein
fimbtionellet . «ein, m-lchec sic-b mcht dureh. die oben genannten
GWrakfebitiko. orkennrn. lafifc. UnS aolehe Stormigdu aber toil
Sidierbeit v pirktwumep, be winsen die %^Snderungen dee H'ypophyae
bet ddr Sahvvangerstdiaft und naeb der Kastration, ferner aber
Audi Hektionstogebnis^, die bui dor pi (iriglandularen Erkrankung
festgesteUi worden sind. Bidaog besifczen ;
Wir kebie strifcien Erkennungszdehen fiir die- .
verinekHe Oder vermittderle Funktion, und
ich will gerade im weiteren Verlauf dieser Ar¬
beit ausfiihren^wo dieMogiichkeit. einor solchett -
Hiagnbstik liegt.
amtologie di@tu K rnnkheit z« gebei). Bi'e
ist so yteljfadtr ; ^sf«Mfben. wnwiea uml so gut
bekannt. dull .die Bdiildernng der gesanifcen
Symptouiatolbgie nur onudtig Flatz weg-
nehnieti wiitde. Tub ml! bier nur nuf vvenige
Momeute an finer ksatn mud tern die im ganzeh
wetiiger Berueksicbtigiing gefundbn ha bed oder
bei deneur ein gewfescs MiByerstatidnfe,. wit imr
scheint... vorfieg?.. Es mag hter Kuerst noclv ein-
mal darauC hingmviesen werden, wie. das ja
aueh schon von mfidorer Seite ge&obeb'en ist,
da8 die Vergtbflemng dor distalen Trite do*
Korpers nk-ht a Hein die K nocben betrifft,
sondern aucb sieher Muskeln und Haut.
Aucb aid die tuiphiaohen Storungeo der H.vui:
ist veracbiedentHeb sehon hiiigewiesen wordcvi.
die kbtuion eine.j) erhcbliebeon Grad aumdcmen;
maudkmfd handed es sieb, wde in dem Fail,
desson Abbnduyig { {) icb bier zeige, nur um
t ine verdiekie tbiuE die sicb kiUil aniuhlt
Fig. 1.
27*
Go gle
fl gi na I ■
412
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
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und schlecht vaskularisiert ist. In einem zweiten Fall, den ich
j lings t gesehen habe, von dem ich leider keine Abbildung besitze,
waren die Hande kalt, die Haut livide verfarbt, stark verdickt und
feucht anzufiihlen. Was den eben erwahnten ersten Fall betrifft,
so handelt es sicb bei diesem Patienten um einen Menschen von
36 Jahren, bei dem sich eine Erweiterung der Sella turcica im
Rontgenbild vorfindet, ohne daB aber eine Stdrung am Opticus
nachzuweisen ist. Der einzige Befund, der sich erheben laBt, ist eine
konzentrische Einengung fur Blau. Die beigegebene Abbildung
zeigt ja zur Geniige, daB es sich um eine typische Akromegabe
handelt: Die VergroBerung der Akra, die Kyphose, der Befund im
Rontgenbild (Taf. XVI, Fig. 1). Dagegen ist es auffalbg, daB
Barthaar, Achselhaar und Schamhaar stehen geblieben sind. Der
Patient gibt zwar an, daB ihm in letzter Zeit die Haare vielfach
ausgefallen seien, aber dieser Haarausfall ist doch nicht so erheb-
lich, wie man allgemein bei der Akromegabe annimmt. Der Mann
ist seit 6 Jahren erkrankt. Er hat aber immer noch seine Potenz.
Vor 4 Jahren hat sogar seine Frau von ihm ein Kind bekommen,
und er selbst gibt an, daB er auch in diesem Jahr den Coitus mehr-
fach ausgefuhrt habe, wenn auch seine Libido in letzter Zeit er-
hebbch abgenommen habe. Hamoglobingehalt = 97 % Erythro-
cyten = 5 200 000, Leukocyten 7 200 davon 26, 28 % kleine
Lymphocyten, grosse Lymphocyten = 11,42 0 /°, Eosinophile
= 3,42 °/°, Leukoblasten = 4,0 °/ 0 , Monocyten = 4,0 %
Neutrocyphile = 50,85, Blutdruck = 120/75. EndUcb mochte
ioh bei diesem Patienten betonen, daB er keine Glykosurie hat, und
daB der Blutzuckergehalt 0,1 betragt, nach der Beicher-Steinachen
Methode bestimmt. Als normal muB man einen Blutzuckergehalt
von 0,09 bis 0,12 annehmen. Es besteht also hier keine Hyper-
glykamie. Was nun den zweiten Fall betrifft, so ist bei diesem
ebenfalls eine ausgesprochene Akromegabe vorhanden. Bemerkens-
wert an diesem Patienten ist, daB im Rontgenbild eine Erweiterung
der Sella turcica nicht festzustellen ist, und daB femer bei diesem
Patienten, der jetzt 21 Jahre alt ist und der mit dem 17. Jahre eine
VergroBerung seiner Hande beobachtete (er tragt jetzt Handschuh-
nummer 11), anfangs eine erbebbche Steigerung des Sexualtriebes
vorhanden war, wahrend jetzt nach seiner Angabe der Sexualtrieb
normal ist. Die Behaarung in der Acbselhijhle und in der Scham-
gegend ist normal. Eine Glykosurie besteht bei dem Patienten
nicht.
Falle, bei denen, wie bei unserem zweiten Fall, im Rontgenbild
eine Erweiterung der Sella turcica nicht gefunden worden ist oder
auch bei der Sektion ein Tumor der Hypophyse nicht zu konstatieren
war, sind ja bekannt. Wir wissen, daB auch Tumoren, deren
Grundlage Hypophysengewebe ist, sich in den Keilbeinhohlen
finden konnen. Im iibrigen ist es ja durchaus nicht sicher, ob sich
nicht mit der Zeit bei unserem Patienten noch eine VergroBerung
der Hypophyse einstellen wird. Der Punkt, den ich aber hier be-
sonders betonen mochte, ist das Erhaltenbleiben der Geschlecbts-
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
413
funktion, 5 Jahre nach Beginn des Leidens. Die irtiimliche all-
gemeine Meinung geht dahin, daB die Geschlechtsfunktion am
ehesten geschadigt wird; und daB es direkt als ein Zeichen der
Hypophysenerkrankung anzusehen ist, wenn eine Storung der
Geschlechtsfunktion bei sonstigen cerebralen Symptomen eintritt.
Auch Fischer glaubt, daB der Eintritt einer Funktionslosigkeit der
Keimdrusen eher eintritt, als die hypophysare Adipositas. Man kann
sich aber, wenn man die Rrankengeschichten solcher Kranken ge-
nauer durchstudiert, davon iiberzeugen, daB dies durchaus nicht
immer der Fall ist. Es kann die Geschlechtsfunktion ziemlich
lange erhalten bleiben. Und so finde ich in einer Arbeit von
Pausini aus dem Jahre 1898, daB eine Frau, die an Akromegalie
erkrankt war, nicht nur im Beginn ihres Leidens, sondern auch
zu einer Zeit, als ihr Leiden schon in voller Entwicklung war, je ein
Kind geboren hat, die beide geistig und korperlich normal heran-
wuchsen.
Die Erklarung der Beeinflussung der Keimdriisenfunktionen
durch die Hypophyse und umgekehrt macht alien Erklarem auBer-
ordentlich viel Schwierigkeit. Ich mochte zuerst die nackten Tat-
sachen einmal gegenuberstellen. Wir wissen erstens, daB das
Adenom der Hypophyse, welches mit einer Hypersekxetion des
Vorderlappens verbimden ist, aber auch, daB andere Geschwiilste
des Vorderlappens, wie der jiingst von Pick beschriebene Tumor,
der wesentlich aus den basophilen Zellen des Hypophysen-Vorder-
lappens bestand, zu einer Atrophie der Keimdriisen und zum
Sistieren ihrer Funktion fiihren konnen. Dabei meint Fischer,
daB die Schadigung der Keimdriisenfunktion eine der ersten ist
bei der Ausbildung eines Hypophysentumors. Die Falle, die ich
letzthin beobachten konnte, zeigen gerade das Gegenteil. Auf der
anderen Seite hat nun die Operation und die Entfernung des
Hypophysentumors gezeigt,daB auch nur bei teilweiser Exstirpation
des Vorderlappentumors die Keimdrusen wieder regelrecht ihre
Tatigkeit aufnehmen konnen. Hier zeigt sich also, daB eine Ver-
groBerung des Vorderlappens zu einer Storung der Keimdriisen¬
funktion fiihrt. Zweitens ist zuerst von Erdheim und Stumme fest-
gestellt worden, daB bei Schwangeren eine VergroBerung der
Hypophyse auftritt, die zuriickzufiihren ist auf eine Vermehrung
der Hauptzellen, die sich in sogenannte Schwangerschaftszellen
umbilden. Dann habeh auch Fischer, Tandler und Or oft und
Jutaka Kon gezeigt, daB nach Kastration eine VergroBerung
der Hypophyse sich bemerkbar macht, wobei sich mikroskopisch
eine Vermehrung der eosinophilen Zellen feststellen laBt. Kolde hat
neuerdings diese verschiedenen Resultate von neuem bestatigt.
Man muB also annehmen, daB durch den Ausfall der inneren
sekretorischen Tatigkeit der Keimdriise nach Kastration die Hypo¬
physe zur Hypertrophie angeregt wird, und daB diese Hyper-
trophie sich im Vorderlappen der Driise abspielt. Auch bei graviden
Frauen hat man eine VergroBerung der Hypophyse gefunden
(Comte, Launois und Mulon). Reu/S hat sogar einen Fall veroffent-
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414
P e r i t z, Hypophysenerkrankungen.
licht, bei dem efl infolge der Graviditats-Hypertrophie der Hypophyse
mit Wahrscheinlichkeit zu einer Abnahme der Sehkraft infolge
Drucks auf den Sehnerven gekommen ist. Nach der Geburt tritt ein
rascher Riickgang der Hypophysen-Hypertrophie ein. Tandler und
Grofi haben vornehmlich darauf hingewiesen, daB die Gesichts-
veranderung bei den Schwangeren ganz auffallende Aehnlichkeit
mit denen bei der Akromegalie habe; vor allem die Plumpheit der
Gesichtsweichteile und der Extremitaten am Ende der Graviditat
fiihren sie auf die Hyperfunktion der Hypophyse zuriick. Auoh
Stumme macht darauf aufmerksam, daB sich in der Schwangerschaft
oft akromegalie-ahnliche Verdickungen an Nase, Lippen und
Handen finden, die er wieder als Ausdruck einer Hypersekretion
der Hypophyse ansieht. DaB bei Kastraten und bei Eunuchen eine
VergroBerung der Hypophyse auftritt, haben Tandler und Grofl
gefunden. Ich mochte dann noch darauf hinweisen, daB auch bei
den Riesen, bei denen ein Dysgenitalismus von Anfang an besteht,
nicht nur eine Hypertrophie der Hypophyse, sondern sogar ein
Tumor festgestellt worden ist, wie in dem Fall von Launois und
Roy. Auf das Verhaltnis zwischen Gigantismus und Akromegalie
soil nachher noch eingegangen werden. Es besteht also ein enger
Zusammenhang zwischen Keimdriise und Vorderlappen der Hypo¬
physe. Als dritte Tatsache ergibt sich aus den Untersuchungen von
Biedl, Cushing und von Aschner, daB die Entfernung der Hypo¬
physe zu einer Atrophie des ganzen Genitales fiihrt. Cushing sah
diese Atrophie nicht nur bei jungen Tieren, sondern ebenso wie
Biedl bei Erwachsenen, wahrend Aschner diese Veranderung nur
bei jungen Tieren gefunden haben will. Bei Cushing handelt es sich
auch nicht um eine vollkommene Entfernung der Hypophyse,
sondern um eine partielle, bei dem der ganze Hinterlappen, die
Pars intermedia und ein Teil des Vorderlappens entfernt worden
war, wahrend der andere Teil des Vorderlappens bei der Sektion
gut erhalten vorgefunden wurde. Wenn man sich die verschiedenen
Tatsachen vor Augen halt, so lieBen sich am ehesten die Tatsachen
durch die Annahme in Einklang bringen, daB die Hypertrophie des
Vorderlappens der Hypophyse zu einem Untergang oder zu einem
Aussetzen der Keirndriisenfunktion fiihrt, und daB umgekehrt die
Entfernung der Keimdriise eine Hyperfunktion der Hypophyse
veranlaBt. Man muBte sich dann vorstellen, daB ein Antagonismus
zwischen dem Vorderlappen der Hypophyse und den Keimdriisen
besteht, derart, daB das Sekret der einen Druse das der anderen
Druse hemmt. Ware diese Annahme richtig, so muBte man er-
warten, daB nach Entfernung der Hypophyse eine Hyperfunktion
der Keimdriisen eintritt, genau so wie umgekehrt nach Ent-
fernung der Keimdriisen eine solche der Hypophyse sich bemerkbar
macht. Dem ist nun aber nicht so. Es tritt vielmehr gerade das
Gegenteil ein. Nach Entfernung der Hypophyse gehen die Keim-
driisen ebenfalls zugrunde. Man muB also annehmen, daB in der
Hypophyse neben dem hemmenden Sekret fiir die Keimdriise auch
ein fordemdes vorhanden ist, das starker wirkt als das hemmende
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
415
und im Augenblick des Fortfalls zu einem Zugrundegehen der
Keirndriisen fiihrt. Um diesen unerklarlichen Zwiespalt zu losen,
hat Fischer als erster angenommen, daB die Beeinflussung der
Keirndriisen von der Hypophyse nicht vom Vorderlappen ausgeht,
aondern vom Hinterlappen; er nimmt dann femer an, daB die
Hypertrophie des Vorderlappens mechanisch zu einer Schadigung
des Hinterlappens fiihrt, und so bei Tumoren des Vorderlappens
des Himanhanges die Genitalatrophie eintritt. Wahrend Aschner
rundweg den EinfluB des Hinterlappens auf die Keimdriise ohne
jede Begriindung bestreitet, sucht Fischer mit einem aus der
menschlichen Pathologie gesammelten Material seine Behauptung
zu bekraftigen. Er sowohl wie Slumpf behaupten nicht, daB im
Hinterlappen ein Zentrum fur die Keimdriise liegt. Diese durch
nichts bewiesene Hypothese hat erst Miinzer aufgebracht. Miinzer
will sogar in dem hinteren Lappen der Hypophyse ein psychisches
Zentrum fiir die Geschlechtsfunktion sehen. Ich komme auf diese
Behauptung spater noch zuriick. Fischer hat dagegen, und ich
glaube mit guten Griinden, gezeigt, daB im Hinterlappen ein Sekret
fiir die Funktion der Keirndriisen geliefert wird, und daB der Druck
eines Tumors oder eines hypertrophierten Vorderlappens des Ge-
hirnanhanges entweder das Infundibulum zusammendriickt oder
den Hinterlappen als Ganzes schadigt. Er fiihrt auch mit vollem
Recht die Operationsresultate an, die da gezeigt haben, daB durch
teilweise Entfernung des Hypophysentumors schon die Keim-
driisenfunktion zuriickkehrt. Vor alien Dingen macht er aber darauf
aufmerksam, daB Hildebrandt in einem Fall allein durch eine
Trepanation, durch Entlastung des Gehims eine Wiederkehr der
Genitalfunktion gesehen hat. Hier muB also das mechanische
Moment im Vordergrund stehen. Nach meiner Ansicht aber iiber-
sieht Fischer, der das mechanische Moment so vollstandig in den
Vordergrund stellt, eine Tatsache, namlich die, daB bei primarer
Keimdriisenatrophie oder bei Keimdriisenaplasie eine Vermehrung
der eosinophilen Zellen im Vorderlappen der Hypophyse gefunden
und bei Eunuchen und Skopzen eine Hypertrophie der Hypophyse
von Tandler und Grofi beschrieben worden ist, endlich, daB bei
Riesen, bei denen der primare Dysgenitalismus im Vordergrund
stand, sich allmahlich eine Akromegalie entwickelt hat. Es bildet
sich also nach einer primaren Keimdriisenschadigung dasselbe
pathologische Tumorgewebe, das bei einem primaren Hypophysen-
tumor entsteht. Bei beiden Fallen handelt es sich also um eine
Adenombildung mit Ueberwiegen der eosinophilen Zellen. Ich
mochte nun ebensowenig wie Fischer und Pick behaupten, daB wir
wissen, welches Sekret in der Hypophyse die Wachstumsanderung
bedingt. Da es durch nichts bewiesen ist, daB gerade die eosino¬
philen Zellen dieses Sekret liefem, gilt uns die Vermehrung der
eosinophilen Zellen nur als Beweis dafiir, daB der driisige Anted
des Himanhanges hypertrophiert ist und eine Hypersekretion
zeigt. Der primare Dysgenitalismus fiihrt also zu dem gleichen
pathologischen Bild wie die primare Hypophysenerkrankung, die
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungea.
ihrerseits zu einem sekundaren Dysgenitalismus hinleitet. Da muB
also ein anderes Moment noch eine Rolle spielen als die einfache
mechanische Einwirkung. Es muB sich um chemische Ein-
wirkungen handeln, sei es nun im Sinne eines Fermentes oder eines
Hormons, wie wir sie ja sonst bei den Sekreten der endokrinen
Driisen finden. Man muB also zwei auf die Keimdriise entgegen-
gesetzt wirkende Momente in der Hypophyse annehmen. Nun
spricht die Tatsache, daB der Hypophysen-Hinterlappen eine stark
erregende Wirkung auf die Beckenorgane ausiibt, sehr fur die
Theorie, daB im Hinterlappen der Hypophyse ein Sekret gebildet
wird, welches auf die Keimdriisenfunktion erregend wirkt. Will
man aber nun nicht sehr komplizierte Verhaltnisse, die iiber die
anderen Driisen mit innerer Sekretion gehen, ins Auge fassen, so
muB man nach meiner Ansicht zu folgenden Moglichkeiten
kommen: entweder liefert die Hypophyse zwei verschiedene
Sekrete fur die Keimdriise, von denen das eine fordernde im
Hinterlappen gebildet wird, und das zweite, das hemmende,
im Vorderlappen. Zugleich muB man aber auch dann an¬
nehmen, daB von der Keimdriise zwei Sekrete wiederum geliefert
werden, die genau dieselben Wirkungen auf die Hypophyse aus-
iiben, wie die Hypophyse auf die Keimdriise hat, fordernd und
hemmend. Wenigstens kann man nur so die Hypertrophie des
Vorderlappens bei der Kastration erklaren und die Adipositas, die wir
ja schon langst als Folge der Kastration kennen und die in vielem
Aehnlichkeit mit der hypophysaren Adipositas hat. Oder aber die
zweite Erklarung, die ich jetzt geben will, ist die richtige; sie scheint
es mir deswegen, weil sie bei weitem einfacher ist, und eine Anzahl
Tatsachen, die wir kennen, als Beweismaterial fiir sich hat. Ich
nehme an, daB im Hinterlappen ein Sekret entsteht, welches
fordernd auf die Funktion der Keimdriisen wirkt, und daB ein
gleiches von den Keimdriisen ausgeht mit seiner Wirkung auf den
Hinterlappen der Hypophyse. Geht eine von den beiden Driisen
zugrunde, so wird damit auch die andere geschadigt. Zugleich
scheint mir aber die Annahme berechtigt, daB ein Antagonismus
zwischen dem Vorder- und dem Hinterlappen der Hypophyse vor-
handen ist. Es sprechen dafiir die Tatsachen, die ich im physio-
logischen Teil schon erwahnt habe. Bei Injektion von Pituitrinum
infundibulare findet eine Steigerung des Gasstoffwechsels statt.
Umgekehrt aber bei Injektion des glandularen Teiles der Hypo¬
physe geschieht ein Absinken sowohl des Sauerstoffs wie des
Kohlensaureverbrauchs, wobei zuerst der Sauerstoffverbrauch ein-
geschrankt wird, infolgedessen der respiratorische Quotient an-
steigt. Diese Tatsachen sind von Bernstein und Falta experimentell
festgestellt worden. Umgekehrt sieht man bei der Akromegalie
eine leichte Steigerung des Gasstoffwechsels, und Falta und Bern¬
stein nehmen nach Analogie bei der Kastration bei der Dystrophia
adiposogenitalis eine Herabsetzung des Gasstoffwechsels an. Man
sieht, es besteht ein Antagonismus. Ganz einfach ist aber auch dieser
nicht, weil auch hier wieder die Korrelation mit anderen Driisen in
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
417
Betracht kommt. AuBerdem aber macht sich auch in Bezug auf den
Zuckerstoffwechsel ein Antagonismus zwischen beiden Halften der
Druse bemerkbar. Bei der Akromegalie findet sich sehr haufig eine
Glykosnrie. Dagegen hat Cushing zuerst festgestellt, daB bei der
Dystrophia adiposogenitalis der Zuckerspiegel im Blut erhoht
ist, dagegen keine Glykosurie besteht. Ebenso ist die Assimilations-
grenze fiir den Zucker erhoht. Erst wenn man Pituitrinum in-
fundibulare einspritzt, kehrt bei Tieren, denen der Hinterlappen
entfernt worden ist, die Assimilation fiir Zucker zu dem alten Stand
vor der Operation zuriick, allerdings nur so lange, als die Injektion
wirkt. Auf Grund dieses Antagonismus wiirden sich beide Halften
der Hypophyse in normalem Zustand das Geichgewicht halten.
Beginnt aber eine starker zu funktionieren als die andere, so wirkt
sie schadigend auf die letztere. Und umgekehrt, geht der eine Teil
zu Grunde, so wird der andere sich starker entwickeln und lebhafter
funktionieren. Geht also der nervose Teil des Hirnanhanges infolge
der Atrophie oder Aplasie der Keirndriisen zugrunde, so verliert
der Vorderlappen seinen Antagonismus und kann sich nun iiber-
maBig entwickeln, dessen Ausdruck wir in der Vermehrung der
eosinophilen Zellen des Vorderlappens haben und der Adenom-
bildung. Beginnt aber der Vorderlappen sich endogen in ein
Adenom umzubilden, so erdriickt er chemisch, nicht nur mechanisch
den Hinterlappen und wirkt so durch das Zugrundegehen des
Hinterlappens sekundar auf die Keirndriisen. die ebenfalls zu¬
grunde gehen, da ihnen das fordemde Hypophysensekret fehlt.
Die von Fischer beigebrachten Tatsachen lassen sich sowohl in dem
einen wie in dem anderen Sinn verwerten. Man kann ebensogut
annehmen, daB mechanisch der Hinterlappen vernichtet wird, als
daB durch die starkere Funktion des Vorderlappens das Hinter-
lappensekret vernichtet wird. Auch die durch die Operation er-
zielten Erfolge, bei der ein Teil des Vorderlappens weggenommen
wird, und so die Quantitat des Vorderlappensekrets vermindert,
kann in dem einen und dem anderen Sinn gedeutet werden. Die
Operation wiirde dann der entsprechen, welche man bei der
Basedow schen Krankheit vornimmt, wo durch die Entfemung eines
Teils der hypertrophierten Schilddriise die schadliche Wirkung des
zuviel produzierten Sekretes ausgeschaltet wird. Einzig und allein
scheint das von Hildebrandt erzielte Resultat gegen eine chemische
und fiir eine mechanische Erklarung zu sprechen. Ich bin auch der
Ansicht, daB sehr wohl mechanische Momente mitsprechen konnen,
und in dem Fall von Hildebrandt konnte es vielleicht so sein, daB
durch den Tumor das Infundibulum abgeknickt wird. Da nun nach
den Versuchen von Herring, von Cushing und Qoetsch und endlich
von Kraus in Prag ein Teil der Hypophysensekrete durch das In¬
fundibulum dem Liquor cerebro-spinalis zugefiihrt wird, so konnte
durch Verlegung des Infundibulums der AbfluB der Hypophysen¬
sekrete gehindert sein, und so die schadigende Wirkung des Mangels
eines Hypophysensekretes herbeigefiihrt werden. Wird nun durch
eine druckentlastende Operation das Infundibulum frei, so kann
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418
P e r i t z, Hypophysenerkrankungen.
auch wieder das Sekret abstromen und seine Funktionen fUr den
Korper erfiillen. Auch die Tatsache, daB bei der Akromegalie in
einem Teil der Falle eine sehr gesteigerte Keimdriisenfunktion
beobachtet worden ist, laBt keinen SchluB dariiber zu, ob mecha-
nische oder chemische Momente eine Rolle spielen. Eine beginnende
Hypertrophie kann zuerst eine Reizung des Hinterlappens ver-
ursachen, sowohl mechanisch wie chemisch, ebenso wie wir ja
annehmen miissen, daB der bei der Akromegalie beobachtete
Diabetes insipidus durch Reizung der Pars intermedia entsteht.
Ich ging davon aus, daB es eine irrige Ansicht ist, wenn man
annimmt, daB bei der Akromegalie stets als ein erstes Zeichen
die Keimdriisenschadigung zu konstatieren sei. Creutzfeld hat in
seiner Zusammenstellung von 118 klinischen Beobachtungen nur
43 mal, d. h. in 36,4 pCt. der Falle eine Atrophia genitalis ver-
zeichnet, 3 mal, d. h. in 2,5 pCt. der Falle eine Hyperplasia genitalis.
Es zeigt sich also, daB ein langes Erhaltenbleiben der Sexual-
funktion durchaus keine Seltenheit ist. Mit der Zeit scheint sie aber
stets zugrunde zu gehen. Auch hier kann sowohl das mechanische
Moment wie das chemische Moment schuld daran sein. Es ist ja
nicht gesagt, daB jeder Tumor des Vorderlappens in der Richtung
auf den Hinterlappen wachsen muB, ebensowenig wie jeder Fall von
Hypophysentumor Veranderungen am Augenhintergrund und
Storungen des Sehvermogens zeitigt. Ich verweise hier nur z. B.
auf den einen der von mir beschriebenen Falle, der nur eine
konzentrische Einengung fiir Blau aufweist. Chemisch kann man
es sich aber so vorstellen, daB die Quantitaten Sekret, welche von
dem hypertrophierten Yorderlappen geliefert werden, noch immer
von dem normal funktionierenden Hinterlappen neutralisiert
werden und so eine schadliche Wirkung vermieden wird. Das
quantitative Verhaltnis von Vorderlappen- und Hinterlappen-
sekret sind wir ja vorlaufig gar nicht zu schatzen imstande. Wir
schlieBen einfach aus dem mehr oder weniger groBen Tumor, den
wir feststellen konnen, auf seine groBere oder geringere Sekretion.
Dabei vergessen wir aber ganz, daB das keinen MaBstab darstellt,
da sicherlich eine normal groBe Druse auch ein Mehr an Sekret
liefem kann, wenn z. B. die paralysierenden Sekrete der anderen
Driisen nur in geringem MaBe vorhanden sind. So konnte man sich
z. B. in dem von mir beschriebenen Fall 2, falls nicht doch in den
Keilbeinhohlen sich ein Tumor entwickelt, das normale Aussehen
der Sella turcica bei voll entwickelter Akromegalie vorstellen. Ich
verweise nur auf die Analogie mit den Fallen von Basedow, bei
denen keine Struma vorhanden ist.
Ich komme nun auf eine Theorie zu sprechen, welche die Ent-
stehung der Akromegalie in die Keimdrusen verlegt. Freund hatte
zuerst darauf hingewiesen, und Slumme hat vor alien Dingen es be-
tont, daB der Untergang der Keimdrusen es sei, welcher zur
Hypertrophie der Hypophyse anregt und die Akromegalie bedingt.
Als Beweis dafiir werden von Slumme die Analogie zu den Kastraten
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Perltz, HypophystirittrkrHnkiuignn. 419
an^- aufth die akronicgalie-ahnUcljeft ^etatMierungen in der
Sebivangersehaft angefuhrt. Eodlkdi wird web, in einem Fall von
CreiUzkld, die Hypophysenhyperplaftie direkt aid die vorher durch-
gemaehkm 12 Sehwangej«<>h9ten liexogeri. Dali die K ei mdntsen-
apla-sjf ineht iit alien Fallen die primare Trsaebe darstelli, be-
wesson die FiUk\ m deuen jalu-efang eine Aktoinegidie bet er-
haltener Potent beisteht. 1'ingekeiirt aber ke often wir Ftitle von
GigantiamiSii. wit* tier von imr wihon zitkrte Fall yon Lonum;; und
Roy, bei dentui die K eieidriiaenaplakie das Primate wrti. I>a Keirn-
diuse und llypophyse iiv einem fordemden und antagbrtktkelien
Yerhabuis nm mauder steljien, odef wit' Tardier «ieh a usdnickA,
in evmm tyversiblea Vmbaltrtk, so vA dieMoglichkeit dure hap* njeht
ausge-schlosse». dad in eiuem Tail der Falle die Akronitgalie von den
Reimdriisen aiiageht, in erne :-m andereo Toil aber, und das setveint
mir der gvbLV-re m .icm, von der Hypo- ^Sj
physc selbsL ' • , ' '
■Der (Jigaiit isiptie fcoigt Am vkuit -
lichstcn seine Abbangigki it in isejner
Entstehung xt?m Teil vtrtw BysgenStivlk
ran* und zntp anderett Tidt ,vdn tinev
primams. Erkrankmig dor Hypopby-f-
Aliev ftfchen wir am h&utsgftfen FSJIe
vines, pniiuiren DysgenitaiifcTtJOs,- At> ,
derej^ite firaleo #ieh abe!r niebt wenjg.
Falte unte*. den Riesen, bet deoem -on
fangs «i be aorjna le K ei rmivi wot if unlvt.io t *
vprbanden war. F^Uber ging man von
der Anscbmmng ana,- daQ die Riesen
ihre endgultige KOrpmgiblk- bje eum
SO. -Ijobeikjatij* embebt bktten Hie
lekr.’ten jab^^tinte
babeti aber ergeten dftS dak VVaehs-
fcuny der RicftOn erKts JUWih dctn
20. Lt v ben§jahr ein&etjyt, und dali @ie
dann bis zuin dOodabr stefcig vveiter
wachsen. loll beobuehte r. B. 2 ju.nge
Manner.‘die bettie jemeits deft’20. Le-
bensjahres stebro Umi m<ch duuernd
ivaobsen. Der eiuebk irin typkeh in -
ffttltiler, obne Baythaai und mit ge -
ringetn Aehftolbaar, aber vorhandenei
Poteaz, d«?r 1.0(> m grod ist, jotzr 28
•falue silt und a«eb psyohisoh infantil
Bei iktii be?tan<l vor 0 .Jafneti koine Er-
weiterung der frVlia turcioa. Pir dls-
daleu Epipii^kkiidgeAi ^ bei ibm
gesnbloftften, watiiend die proxirtjalen
nidht ynt&rfttiobi iyarift*n,^iidta.eir i8t seiii
j^jeidiicilier:. '.^IwdAiliKbci^is;' • var alien
Go gle
420 Peritz, Hypophysenerkrankungen.
Dingen seine Aengstlichkeit so groB, daB er sich nichtwieder rontgen
lassen will. Der zweite Fall (Fig. 2) betrifft einen Epileptiker, der
20 Jahre alt ist, bei dem sich die Zeichen der Spasmophilie, wie
ich sie alsKonstitutionsanomaliebeiErwaehsenen beschrieben habe,
finden: elektrische, anodische Uebererregbarkeit, mechanische
Muskeliibererregbarkeit, CArostefesches Symptom, Hypertonie der
Arterie, kalte und livide Hande und eine leukoblastische Verande-
rung des Blutbildes. AuBerdem ist bei diesem Menschen ein Status
thymicolymphaticus vorhanden. Er ist jetzt 1,90 m groB, im
letzten Jahre ist er noch 2 1 /2 cm gewachsen. Die proximalen
Epiphysenfugen sind noch often, doch beweist das fur das Alter
gar nichts. Er zeigt einen typischen psychischen Infantilismus,
hat keinen Bartwuchs, dagegen ist die Potenz erhalten. Die Selle
turcica ist nicht erweitert. Der Blutzuckergehalt betragt bei ihm
0,09, er ist also normal. Einen echten ausgewachsenen Riesen
habe ich leider bis jetzt noch nicht untersuchen konnen, weil auch
diese Menschen ebenso wie die Zwerge schwer zuganglich sind.
Die typischen Symptome des Riesenwuchses zeigen die
beiden eben beschriebenen Falle nicht. Nur ihr psychischesVerhalten
entspricht dem der Riesen. Nun scheinen sich aber meistenteils die
krankhaften Zeichen des Gigantismus erst mit dem 30. Jahre aus-
zubilden, so daB man also bei beiden Fallen die weitere Entwicklung
abwarten muB, ehe man ein sicheres Urteil liber die Krankhaftigkeit
bei diesen beiden abnorm groBen Menschen abgeben kann. Um
diese Zeit treten die Veranderungen am Skelett ein, welche auch bei
iVkromegalen gefunden werden, vor alien Dingen das Genu valgum
und die Kyphose der Wirbelsaule, endlich auch die Hypertrophie
der Hypophyse. Es sind nicht wenig Falle von Riesenwuchs be-
kannt, bei denen sich gerade diese VergroBerung der Hypophyse
feststellen lieB, und darum haben auch die Franzosen, vor alien
Dingen Brissaud, ebenso wie Meige , Launois und Roy , die Ansicht
ausgedriickt, daB der Gigantismus und die Akromegalie in enger
Beziehung zueinander stehen. Es gibt aber femer auch eine ganze
Anzahl Falle von Riesenwuchs, bei denen nicht nur diese Gelenk-
veranderungen und Verkriimmungen vorhanden waren, sondern
auch typische akromegale Erscheinungen an den distalen Partien
des Korpers. Den Giganten auf dysgenitaler Basis entsprechen
wohl die von Tandler beschriebenen Eunuchoiden mit Hochwuchs.
Das Langenwaehstum dieser Menschen wird sicherlich, wie Brissaud
es ausdriickt, dadurch bedingt, daB die Epiphysenfugen linger
often bleiben als bei normlaen Menschen. Die Hypophysenfunktion
bringt das Langenwaehstum hervor, wahrend die Keimdriise das
MaB des Wachstums bestimmt. Bei alien diesen Formen, die ich
bis jetzt beschrieben habe, fehlt im allgemeinen die hypophysare
Adipositas. Doch kann sie bei der Akromegalie angetroffen werden.
Es sind das Falle, bei denen die Schadigung des Hinterlappens sich
nicht nur durch Atrophie der Keimdriise ausdriickt, sondern auch
durch weitere Ausfallst'rscheinungen. Ich habe es bis jetzt ge-
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,
P &? i i z, 421
.fl|ssen(J]ohaQt«!i{a»^!a;VoudorhypQ}iby^fch^^i)osiiBK'*.ztt«;pi'e'0^e>'p i .
wed ich sie erst-. in ihmv (jk'SarttheH jetst-be^pmlm tooebte,
fm al]gemetn«'«lHj>^iohjtiyt man du-m- Kr&akiki i ult BystropHia-
adiposogeniiaii*. t'oter diesem Nansen finden sieh Faile von
jpittniiSrey Ktdnulru»ena|dasie, die- yon Tnndltr mil dMi Nsmen.
eiWtlcfeokk-t iVttwuebs belegt worded Kind. Daon tnfftman ferner
n*lfi.e .Falk von hypopliysarem Feltwuehs nut oder ohne Kr-
endlieb die «?.fat)« erwaFnten
Falk von. AkboiHegalio rnit Fet twviehs, und sehlieBlieh die
Kotnbiriatipti von •Fett-woeJm und Z'.vergwuehs, Dee Vollat&udigkeh.
wegen alwr mufierwivUnl wmden, dad
dte Afiiporfta^ d<dora#ae die tktmm-
ache Kr.'mkbvjttv in Re/,iehung gei;H'ft,eht.
wird zur hyj>o{>hysai'en. Adipositfns.
IcbiBoehie zuerakdefe tmnuchoiden
FettwuchjB bnaprcehen. Weil er dem
Gsgantisftnts auf dysgenitaler Basis am
naehstert atehf A noli aufieTlicli ahnelt
or ihm Sehr dark. teh gel>< hier die
AbbiUiung (Fig-A and 4) ej|tes Knaiicboidgn, an der man deutiicb
die AelmUeiifceit mil do-ni Rjeseivwuchs erkemveu kann.
tSie /.eigr sehr ausgosproelie^ db AusbiIdling des-Oemt valgum,
Sip zf'igi dcntlieh die Bart, uud HaarJosigken jo dor rSc-bam- und
Aehstdgegeml; xeigt den /.wmnfihoiden, FWl«ruchs> and endlicb.
wo vmi Tandler niui (iroji bemudors aufmerksani gomaeM ktben,
das Vennebrtf; Mngeivw&ekst urn dev Extvemiiateri. wabrend der
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422 P e r i t z , Hypophyaenerkrankungen.
Rumpf normale GroBe behalten hat. Was beide Formen voneinander
unterscheidet, ist die KorpergroBe. Die Eunuchoiden mit Fettwuchs
haben fur gewohnlich eine normale GroBe. Die Abbildung des
Eunuchoiden zeigt einen solchen, beidem die KorpergroBe fiber das
Normale hinausgegangen ist, ohne daB man hier von Riesenwuchs
sprechen konnte. Es scheint also, wie ich schon in meiner Arbeit
iiber den Infantilismus betonte, Uebergangsformen zu geben vom
eunuchoiden Hochwuchs, zu dem auch die wirklichen Eunuchen
und die Skopzen gehoren, zum eunuchoiden Fettwuchs. AuBerdem
unterscheiden sich die eigentlichen Giganten von den Eunuchoiden
durch die Trophik ihrer Haut. Bei den Eunuchoiden hat die Haut
Ae hn lichkeit mit der der Greise, daher wird sie auch als Geroderma
bezeichnet. Sie ist schlaff, nmzelig, ohne Turgor imd von gelblich-
blasser Farbe. Bei dieser Form findet sich eine Fettentwicklung,
die ganz bestimmt lokalisiert ist. Sie ist nicht fiber den ganzen
Korper gleichmaBig verteilt, sondem bevorzugt gewisse Partien.
Die Lokalisation des Fettansatzes ist charakteristisch. Man sieht
Fettwiilste an den oberen Augenlidem, vomehmlich anden Mammae;
hier entwickelt sich der Fettansatz so stark, daB man den Eindruck
einer weiblichen Brust hat. Eine starke Fettansammlung laBt sich
bei den meisten auch an den Hiiften feststellen. Auch diese Fett-
anhaufung verstarkt noch den Eindruck des weiblichen Charakters,
ebenso wie die Fettbildung an den Nates, so daB es nicht ver-
wunderlich erscheint, wenn diese Krankheit mit dem Namen
„Feminismus“ bezeiclmet worden ist. Dazu kommt dann noch bei
alteren Individuen die hohe Stimme, das bartlose Gesicht, so daB
man wirklich derartige Manner, wenn sie in Frauenkleidung ge-
steckt sind, als alte Frauen ansehen kann. Eine weitere Fettan-
haufung ist noch in der unteren Bauchregion beobachtet. Ebenso
hat derMons Veneris durch seine starke Fettanhaufung das Aussehen
des Mons veneris beim Kinde. Neuerdings hat auch Falta eine An-
zahl Falle von Spateunuchoidismus zusammengestellt, die die
gleichen Symptome wie der kongenitale Eunuchoidismus haben; be-
sonders iiberzeugend sind die Falle, die traumatischen Ursprungs
sind, wahrend man bei den anderen Fallen, die atiologisch zum
Teil auf Lues, zum Teil auf andere Infektionen zuriickzufiihren sind,
mehr an pluriglandulare Erkrankungen denken kann. Besonders
stark tritt bei den Eunuchoiden auch der psychische Infantilismus
in den Vordergrund: ihre leichte Erregbarkeit, die Suggestibilitat,
das Fehlen von Werturteilen, das Vorherrschen von Individual-
assoziationen gegenfiber allgemeinen Assoziationen. Diese Dinge
sind sehr ausffihrlich von Anton, von Di Oaspero und von mir be-
sprochen worden. Ich komme hier im Zusammenhang mit den hypo-
physaren Erkrankungen auf diese psychischen Veranderungen der
Eunuchoiden zuriick, weil auch Frankl-Hochuurt bei den Menschen
mit Hirnanhangstumoren eine sogenannte hypophysare Stimmung
beschrieben hat: eine eigentfimliche Gleichgiiltigkeit, eine gewisse
Zufriedenheit, eine sonderbare Euphorie, die oft nicht im Einklang
zu den schweren Symptomen steht, wie Kopfschmerzen und Er-
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
423
blindung, an denen diese Menschen leiden. Aus dieser Beobachtung
Frankl-Hochwart8 hat nun Miinzer gleich auf ein psychisches
Zentrum in dem Hinterlappen der Hypophyse geschlossen. Icb
glaube nun, daB bei sehr vielen Hirnkranken eine gewisse Gleich-
giiltigkeit zu beobachten ist, ebenso wie sehr viele Schwerkranke
eine Euphorie erkennen lassen, die dem Unbeteiligten ganz unver-
standlich ist. Man denke doch dabei nur an die Phthisiker. Ich
kenne auch tabische Kranke, die eine ganz erhebliche Ataxie haben
und sich fiber die lustigen Beine der anderen Tabischen amusieren.
Selbst aber zugegeben, daB bei den Hypophysentumoren diese Er-
scheinungen im weiteren Verlauf der Erkrankung vorhanden sind,
so sind sie anfangs sicherlieh nicht zu konstatieren. Die Menschen
sind vollkommen geschaftsfahig. Ich bin der Ansicht, daB diese
Storungen vielmehr im Zusammenhang stehen mit dem Zugrunde-
gehen der Keimdriisenfunktion, und daB die psychischen Erschei-
nungen viel Aehnlichkeit haben, wenn auch in abgeblaBter Form,
mit dem Infantilismus der Eunuchoiden. Aus den Untersuchungen
von Nufibaum und vor alien Dingen von Steinach wissen wir, daB
das innere Sekret der Keimdriise auf die Psyche wirkt. Steinach
konnte zeigen, daB kastrierte mannliche Batten, denen er Ovarien
implantierte, nicht nur korperlich feminin wurden, sondern auch
psychisch. Wenn Miinzer experimentell den Nachweis bringen
wird, daB die Hypophyse irgendwelche psychischen Einfliisse
direkt und nicht auf dem Umweg iiber die Keimdriise ausiibt,
werde ich ihm zugeben, daB ein psychisches Zentrum im Hinter¬
lappen der Hypophyse liegt. Bis dahin werde ich diese Annahme
als eine vage Hypothese ansehen. Frankl-Hochivart fiihrt noch die
Veranderungen der Psyche bei den Akromegalen nach der Operation
an. Ich glaube aber, daB einmal der Wegfall des driickenden
Tumors in der Hypophyse die Ursache fiir die Veranderung abgeben
kann, und zweitens das Wiedererwachen der Keimdriisenfunktion.
Eine eigene Form der hypophysaren Adipositas habe ich bei
zwei Schwestem beobachtet, die beide die vollkommen gleiche Form
einer Adipositas zeigen, so daB man sie verwechseln konnte. Die
Abbildungen (5—7) illustrieren diese meine Behauptung.
Die eine Kranke, M., 33 Jahre alt (Fig. 5), war seit einigen Mona ten
kurz nach der Entbindung des 5. Kindes mit Kopfschmerzen, Sehstorungen
und allgemeiner Schwache und Mattigkeit erki ankt. Sie bemei kte fei ner,
daB von den Hiiften abwarts sich Fett entwickelte. Sonst will sie stets
gesund gewesen sein, und auch in ihrer Familie sollen keine Krankheiten vor-
gekommen sein. DaB ihre Schwester an einer ahnlichen Fettsucht leidet
wie sie, eiwahnt sie nicht. Syphilis wurde negieit.
Die Untersuchung ergab, daB der Obeikorper bis zu den Hiiften
vollkommen fettfrei war, daB dagegen eine Fettansammlung von den Hiiften
bis zu den Knocheln herab sich voifand, so daB man den Eindruck von
Pandurenhosen hatte. Das Fett fiihlt sich dei b und feet an, von einem Oedem
ist keine Rede. Der Druck auf das Fett ist schn.eizhaft, ebenso wie die
Patientin vielfach iiber ischiatische Schn.eizen klagt. Eine Lahn.ung der
Augenmuskelnerven ist nicht vorhanden. Dagegen besteht eine Stauungs-
papille, die im iibrigen sioh nach einiger Zeit besseite, zusammen nit den
Kopfschmerzen. Uebelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kran.pfe waien
nicht vorhanden. Die Menses waren i egeln.aBig, im Urin ist kein Zucker und
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EivrrtQ das Bint 0 ? 25 pCt Ziick<r;r/^f«c?,© 7 K©bIsehe
;}i^per.giykimfe-.
hir* perunot r/sehe l*nfc*rsuehtifA# konnt t nicht aitogeftihrt wrj&efo,
dir V-'iiituipi dnr^ii'AUfe.riicht in .stand© war, si eh sru kon/.enti taret*, Bet
derefsteTi R6n?.ge'rmme*rorbung fondwdi zu mtnnf-iii.Era ta* m*u ©in*
turejuw Ate o*h d«m< t> -pater, *1& v<m heoom eine Vsi&chlimni©-
rung, des Leiden* nipt rav. x ine fromgentinte» ftiiehun£ vortmhtn,;%e*grci' sitfh
oine devitiiclu Krwyttemnc dka S*-M& tiir-dca' imd eitt Zusarmuerihruch dor
• .KeiIboinhcihton (Taf. X.Vi Ftg.2}. Eine 1 4 Tugo .spate?* wiedervorgemmimene
Kont£6ntuwe^ dis-.'-jafe>‘fchn Bijj.
I>luhre alt ^Fig. ts uii&Ih fcdmiu m&* w.rrl
filhJtev . in id Biih^tbrUtt^tv hestehen ben thr
Su? gibt m, Jgih$ jpjbhdjdt ..mh'&t
wworden wi\u\ riftnp iidfier arhebiioher .M«v4**tecii fl&t'ho irgendwelche
An \iervn hrwiiwvufcri ihy ompitititi&u 'ty'ovd&u tel Liridei'']^
vprheirxi^t,, liar «dm i^vhmjUi»jibr* Menses
•Die Viitiwreiiobnn.il-Wgiftt dt%a gieiebo Angelica \vi© bed da &el\ wester
Itez.i i}it sinct die itimren Organ© gesund, m&n findet $onst keuin Verandorung
4m >?©rvvt^y*h:m> aur.h thxr Angeithifit«rgi*»uid i$t normal. Die grobeMu^keJ-
krrdit let lm n5lgc‘rtix?inen herabge^etzt Dor Bltdan l ekerge)itUt konftte bei der
1 Mi ion tin ;ch anUeren Ot unden bis jetzt rtichf bestimmt warden* Per I/T; in
ist fret eon /ud>>r mid EiweiiL Ibe Hontgcmuiiter^iehiuig ergibt ke)ne?-)v*
Vie..»i.iii.loniiig**n an dot IWi* crank tTuf XYMFig. 3).
i-' > i it H , liypophy^-ii>rkrs>oVita^ii- 425
iM'iWhv'ipv.in hoidc FniiiWi noranttL Sit? sind uielit ijl.orioitfliR
Aft inch Gi ilaA uftreton eisict so eigenavtig lokaiisierten
Fettsueht in faimharer Fotni.sebr itderesskfefc Anf den eystets BHck
tiaben dit-se Falle mit d<?r run* bckanoteft, hyjJtCf'Fbv'S&jfen Adipositas
nioht* genudn. Nu,r dM Voiim:«xie/tiron*. von:. AugenViorungeti,
; Kopfot4imef?.cni'und:8t'hvrimli , Ixi»ii.dcr er«it*.n Put tout in .tie d Pitied;
cf-rebraJen I’rspmng vemnfem. Cm cuMuiim*'-! *v u kh, ala ich
im Bontgenbild keine Ver&ttdenmg fitndi Ale'in Eraiaaneji war itfepr-
’ ■• noyh viyl groilcr alsfe MonateSpaPuydiv deydUcfeeErweilervmg
dei Sf-lia t nrtiica *ieh feed. Heinet .Erfedmutg; naeft. is*
t'itVe Bkobaohtimg; dafi Jirtterboilt vonIf sich
pldtzlieb. eiiVo Erwetforung SvUa turcica ausbiidefc. .obeli nioht
gemavfetwbrdtm. An.fangs:daohte k?h an emeu. Hydrocephalus, det
dutch Ef-rcitcraug- tics drititors ■Aexdcikcb das Infundibulum z\i-
sasmttt-iidrupki and. So die il>^*>phyae;s<d«Mtgt.. Utugekehrt- lie8
das Mora^fci daB'dfe ErsehGntingex) nUch dvr />. Ciebiut uich aus-
bildeten. ftp iUm EinthiB der Sc3iwft»g«*cha{t »«f die Hypophy*e
denken. Fa lag ua’hyg emc ParaUek’ ?,«
?.i«h«n zwieefeesi dirhem Fall «u<i dun von
Hm§ bW'rfpdpbrmtni tier IJryteCBefaitgl
HogtAber darti*, daU fiir gexvtilmjieh in
tlerSchwange-rsehaftakrf:tUif;gft}ic-a!tri!ichc
Erseiadnungen axtfbTefeetr. me abeSr eifee
Adiposita#, Watoehtdidiph steilt die
Sehwtttigersehaffc pur <iim mwltworide Alh-
xnent day fttr einyu jatgnten J?rb;sefi. pet
endogepp Eiintlu.8 druekt. *ieh abet damx
ta tisi’; 4k> andryc Seh^^ter da« gleiche
dliiddg'Amdtet. lpiteressoht istes, dftB man
fees: Ihr *>ine Vvrib&demng der Bella tur-
«left ins Kont^cn bride niefef finden kaiin.
i ? Axicfe AUsjp Ffttieifttin ist rttefeci'ach ger&nt-
gvfet xvx>i:den. - ’ ,. ■■
Jch mobbte nttn gleueh noefe eifeen
drittetr Fad &$»• der in' yieier
Bevdphung AfefenUcbkeit mit dels feeiddxv
amteren hat, wenn auoh bier vine sidle re
.Diagnose noeh vkd sc.hwieriger i«t.
iS.s' handelt sach ixm ekie Si jahrigt* Pit,-
tieritin (Abb 8), wulchc iniht^wlv^Xtebbrijfitthrc
die ersten guieli<>ti tdner 'fewdKSpen
zeigt iiat, «rvi bet dur itich itrtiii.L(>bei»jaht'
efrip Sattclntwe ausbildfetv. SeHdcni b&l sie-b;
bei iiijt . oitlb enGi'm* Fett.sueht ciitwriekeLt. tije
BescbWprden, welche da- Paticntin zu tnir fiihrt,
huhJ iiUseiteirie ivbep«srea}uviit'fi«% die starkt’:- i'.r-
niiidbTirkRit utui kiti ftuufrgfls t£eraklrii>fyVi. Sir
imtem i^eauadus Kind. IJieUttterenicJnuii.t ervifet
«>itu* w-hr starko Fettsurh:t, weltihe vor^ aiieti Fig,. 8.,
Monatssohrift J. Psycbtatrle o. NouroiOKle.J Bd.JXSXlIf. Heft fit 28
Disi" Go gle
426
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
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Dingen den Rumpf betrifft, aber auch Oberarme und Oberschenkel, wahrend
sie Unterschenkel, Unterarme, Hande und FiiBe frei laBt. Ebenso ist das Ge-
sicht nicht iibermaBig fettreich. Es besteht eine allgemeine Muskelschwache.
Sonst findet sich nichts Besonderes. Der Blutdruck ist normal, der Urin
ist frei von Zucker und EiweiB. Der Blutzuckergehalt ist dagegen auBer-
ordentlich erhoht, er betragt 0,3 pCt. Die Untersuchung des Schadels im
Rdntgenbild ergab nichts Abnormes. Die Wassermann sche Reaktion ist
jetzt negativ.
Man konnte hier an die Dercumsche Krankheit denken,
wenigstens gibt es Formen derselben, bei welcher die Lokalisation
des Fettes die gleiche wie hier ist. Auch die Muskelschwache ist
hier wie dort vorhanden, nur fehlt die Schmerzhaftigkeit des Fettes.
AuBerdem ist in diesem Fall eine Progredienz nicht wahrzunehmen.
Ich mochte aber nicht nur im Zusammenhang mit diesen Fallen
die Dercumsche Krankheit erwahnen, sondern iiberhaupt darauf hin-
weisen, daB die Entstehung dieser eigenartigen Krankheit in Ver-
bindung gebracht wird sowohl mit der Schilddriise wie mit der
Hypophyse, zumal man in der Halfte der Falle, die zur Sektion
kamen, Hypophysentumoren festgestellt hat. AuBerdem hat man
auch vielfach Storungen der Keimdriisenfunktion bei dieser Krank¬
heit gef unden.
Das Bild, welches die echte hypophysare Adipositas in Bezug
auf die Fettvert^ilung gibt, ist aber ebenfalls kein einheitliches.
Wir finden Falle, welche in ihrem auBeren Aspekt durchaus den
Fallen von eunuchoidem Fettwuchs gleichen. Hier wie dort ist
das Fett hauptsachlich in der Gegend der Mammae, des Bauches,
der Hiiften, Nates und Mons veneris verteilt. Die Falle hypo-
physaren Ursprunges haben aber gewohnlich nicht jene eigen-
artige Haut der Eunuchoiden, besonders nicht die jugendlichen
Kranken. Sie haben vielmehr ein rundes, vollmondartiges, fettes
Gesicht mit weicher, zarter Haut. AuBer dieser Form, die Neurath
bei den jugendlichen Kranken unter dem Namen der Fettkinder
beschrieben hat, finden sich aber Kranke mit hypophysarer Adi¬
positas, bei denen sich spater das Fett ganz allgemein iiber den
Korper verbreitet hat, ohne besondere Pradilektionsstelle, so z. B.
in dem von Pick beschriebenen Fall. Einen ahnlichen Kranken habe
ich in letzter Zeit gesehen, bei dem eine hypophysare Adipositas mit
leichten akromegalen Symptomen besteht.
Es handelt sich um einen 26 jahrigen Arbeiter, der bis vor
% Jahren gesund war. Er hat vor einem Jahr geheiratet. Seit dem
letzten Sommer bemerkt er, daB er schlechter als friiher sieht. In
letzter Zeit hat die Sehkraft erheblich abgenommen. Er bemerkt
auch, daB er seit dieser Zeit bei weitem fetter geworden ist. Wahrend
er friiher hohlwangig war, ist sein Gesicht rund und dick geworden.
Seine Libido und seine Potenz haben seit einem halben Jahr ab¬
genommen. Er fiihlt sich allgemein miide und vermag nicht mehr
ohne Anstrengung zu arbeiten. Er klagt iiber Kopfschmerzen,
aber kein Erbrechen. Er leugnet, Lues gehabt zu haben.
Patient ist ein mittelgroBer Mann mit blasser Gesichtsfarbe, zarter,
kiihler Haut, und einer allgemeinen Fettsucht, die sich in nichts von der
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
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Fettheit anderer gut genahrter Menschen unterscheidet. Es ist hochstens
auffallig, daB sich besonderB viel Fett an den Mammae findet. Patient gibt
aber an, daB er stets dort sehr fett gewesen sei. Die Nase ist sehr prominent,
der Unterkiefer massig und unformig, die Zahne stehen ziemlich weit aus-
einander, dagegen zeigen die Hande und FiiBe nichts Abnormes. Die Hoden
sind gut entwickelt. Knie- und Achillessehnenreflexe sind normal. Es be-
stehen keine Lahmungen an den Augenmuskeln. Beide Pupillen sind gleieh
weit, reagieren gut auf Lichteinfall. Es besteht eine bitemporale Hemianopsie.
Nach Angabe von Dr. May , dem ich diesen Fall verdanke, schwankt dies©
Hemianopsie an den verschiedenen Tagen. Bis vor kurzem fand sich die
Gesichtsfeldeinengung nur auf dem rechten Auge, zeitweise statt ihrer aber
ein zentrales Skotom. Auf dem rechten Auge besteht eine Sehnervenatrophie.
Die Rontgenuntersuchung ergibt eine erhebliche Erweiterung der Sella
turcica. Die Wa^ssermannsche Reaktion ist negativ. Blutdruck 120/90,
Hamoglobingehalt = 97 %, Erythrocyten = 4,900 000, Leukocyten = 7800
kleine Lymphocyten = 23.7 %, grosse Lymphocyten = 7 %, Mononuclear©
= 7 %, Neutrophile = 66,6 %, Leukoblasten = 0,7 %, Mastzellen = 0,9%.
Es handelt sich also hier um einen Fall, bei dem nur angedeutet
die Zeichen der Akromegalie in Form der VergroBerung des Unter-
kiefers und derNase sind, wahrend die Zeichen der Fettsucht und
der Genitalatrophie sehr viel starker in die Augen springen. Dazu
kommen die cerebralen Symptome, die sich sehr schnell hier ent¬
wickelt haben, im Gegensatz zu der Akromegalie des ersten von mir
beschriebenen Falles. Dort bestehen die Beschwerden seit 5 Jahren,
ohne cerebrale Zeichen hervorgerufen zu haben, hier erst seit einem
halben Jahr. Es scheint die Wachstumsrichtung des Tumors zu sein,
die dafiir maBgebend ist, ob sich friiher oder spater die cerebralen
Symptome ausbilden, vielleicht auch die Geraumigkeit der Sella
turcica. Die Hauptsache, auf die ich aufmerksam machen wollte,
ist aber die, daB die Fettverteilung bei vielen derartigen Fallen
nichts Spezifisches an sich hat.
Es soli hier noch einmal darauf hingewiesen werden, daB in
alien bis auf den letzten der von mir beschriebenen Falle die Keim-
driisenfunktion nicht gestort war, daB also auch fur die hypo-
physare Adipositas der Satz nicht unbedingt Geltung hat, daB die
Keimdrusenfunktion in jedem Fall gestort sein muB. Dann aber
mochte ich auch die Schwierigkeit betonen, die fur die Diagnostik
derartiger Formen von Fettsucht besteht, wenn sich Veranderungen
an der Basis cranii im Rontgenbild nicht finden und cerebrale
Storungen fehlen (cf. Fall 2 u. 3 hypophysomer Adipositas).
Kann man aus der verschiedenartigen Verteilung des Fettes
Riickschliisse machen ? Ich habe zuerst die Eunuchoiden beschrie-
ben, bei denen die Fettverteilung ganz bestimmt ist. Dann jene
beiden eigenartigen Falle mit ebenfalls fester Lokalisation des
Fettes. Endlich jene dritte From einer Fettverteilung, wie sie bei
der diffusen Form der Dercumschen Krankheit zu konstatieren ist,
wahrend bei der umschriebenen Form der Dercumschen Krankheit
sich das Fett vornehmlich an den Oberschenkeln und Oberarmen
keulenartig absetzt. Trotz dieser verschiedenen Lokalisation
haben sich bei all diesen Formen Hypophysenveranderungen ge-
funden. Ein Grund, warum die Lokalisationen so verschieden sind^
laBt sich vorlaufig nicht angeben. Es laBt sich daher aus der ver-
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
schiedenen Lokalisation die Diagnose, ob man es mit einer hypo-
physaren Fettsucht zu tun hat, nicht stellen. Will man eine Trennung
dieser Falle vomehmen, so kann man einmal auf das kindliche
psychische Verhalten der Eunuchoiden hinweisen, das bei den
Kranken mit hypophysarer Adipositas fehlt, und auf die Haut-
veranderungen, wahrend bei eintretendem sekundarem Dysgeni-
talismus das Schwinden der sekundaren Geschlechtscharaktere
hier wie dort wahrzunehmen ist. Die Verteilung des Fettes ist
auch, wie eben auseinandergesetzt, bei den echten Fallen hypo¬
physarer Adipositas nicht konstant, worauf auch Guggenheimer
aufmerksam macht.
Ich mochte aber auf einem anderen Weg die Entscheidung
suchen, ob diese verschiedenen Formen von Adipositas hypophysar
sind oder nicht. Ich habe im physiologischen Teil ausgefiihrt, daB
der Zuckerstoffwechsel bei ihrer Hypophyse beraubten Tieren
gestort ist, und zwar in der Weise, daB der Zuckerspiegel im Blut
erhoht ist, wahrend eine Glykosurie nicht besteht, und daB femer,
wie Cushing gezeigt hat, die Assimilationsgrenze fiir Zucker erhoht
ist. Cushing hat dann die Behauptung aufgestellt, daB die Stauung
des Zuckers die Veranlassung fiir die Fettbildung abgibt. Es be¬
steht also in solchen Fallen sicherlich eine erhohte Dichtigkeit der
Nieren gegeniiber der Zuckerausscheidung, die durch Injektion von
Pituitrin nach Cushing wieder herabgesetzt wird. AuBerdem haben
Borchard und neuerdings Claude und Baudouin gezeigt, daB eine
alimentare Glykosurie auftritt, wenn man Hinterlappenextrakt
der Hypophyse nach einer Mahlzeit einspritzt. Der Mechanismus,
wie aus Zucker Fett entsteht, ware der, daB der nicht verbrannte
Zucker durch Abgabe von Sauerstoff sich in Fett verwandelt. Es
ist das eine Tatsache, die mehrfach untersucht worden ist. Bleibtreu
hat bei Nudelgansen diesen Vorgang untersucht mid hat durch
Feststellung des respiratorischen Quotienten die Umwandlung von
Zucker in Fett sichergestellt. Wird namlich Fett allein verbrannt,
so betragt der respiratorische Quotient, das Verhaltnis von aus-
geatmeter Kohlensaure zu eingeatmetem Sauerstoff, 0,7, bei
alleiniger Verbrennung von Zucker gerade 1. Wird nun der Zucker in
Fett verwandelt, so wird der iiberschiissige Sauerstoff zu Kohlensaure
und Wasser. Die Folge davon ist, daB mehr Kohlensaure aus- als
Sauerstoff eingeatmet wird. Dadurch steigt dann der respiratorische
Quotient iiber 1, so nach Bleibtreu bei den genudelten Gansen auf
1,34. Umgekehrt kann aber der respiratorische Quotient bis auf
0,64 fallen, wenn Fett in Kohlehydrat bei vollkommen kohlehydrat-
freier Nahrung umgewandelt wird. Nun muB sich bei der Unter-
suchung von derartigen Kranken mittels des respiratorischen Gas-
stoffwechsels unter genauer Priifung des Blutzuckergehaltes fest-
stellen lassen, ob tatsachlich bei passender Ernahrung eine Steige-
rung des respiratorischen Quotienten iiber 1 stattfindet. Der hohe
Blutzuckergehalt, den ich bei 2 Patienten feststellen konnte, laBt
wohl die Annahme zu, daB die Verhaltnisse ahnlich liegen. Auch die
Muskelschwache, iiber die alle diese Patienten klagen, kann man
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
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als Sttitze fur die Richtigkeit dieser Anschauung anfiihren. Sie
ware darauf zuriickzufiihren, daB der Zucker, der fiir die Muskel-
arbeit notwendig ist, ungenutzt und unverbrannt in Fett ver-
wandelt wiirde.
Ich habe diese Auseinandersetzungen hier gemacht, nicht nur,
um neue Hypothesen aufzustellen, sondern um eine moglichst
allgemeine Priifung anzuregen, weil ich glaube, daB bei der Sparlich-
keit des Materials an verschiedenen Stellen zugleich untersucht
werden muB, um gut fundierte Resultate zu erzielen. Ich glaube
aber, daB erst diese Untersuchungen die Moglichkeit geben
werden, festzustellen, warum manche Formen der Akromegalie
sich mit Adipositas vergesellschaften, wahrend die letztere bei
anderen fehlt. Es wird sich dann zeigen, ob alle Tumoren des Vorder-
lappens in gleicher Weise den Stoffwechsel beeinflussen oder in
manchen Fallen der Gasstoffwechsel mehr im Sinne einer Dys-
funktion des Hinterlappens oder einer Hyperfunktion des Vorder-
lappens verandert ist. Denn daB ein Antagonismus zwischen diesen
beiden Teilen besteht, habe ich ja schon auseinandergesetzt. Es
wird auch ferner dann die Moglichkeit gegeben sein, festzustellen,
ob gewisse Formen der Adipositas, z. B. auch die nach der Kastration,
hypophysaren Ursprungs sind oder nicht, besonders dann, wenn
man keine Veranderung der Sella turcica im Rontgenbilde sieht
und sich zur Fettsucht noch die Muskelschwache gesellt. End-
lich habe ich aber diese Ausfiihrung hier gemacht, um zu
zeigen, wie kompliziert die Erklarung gewisser Symptome ist,
die sich bei Storungen der Driisen mit innerer Sekretion kund-
tun, und daB es darum ganz unstatthaft ist, alle moglichen
Erscheinungen auf einen EinfluB vom Nervensystem zuriickzu-
fiihren. SchlieBlich liegt vielleicht auch eine andere Moglichkeit
der Differentialdiagnose fiir die verschiedenen Formen der Hypo¬
physenerkrankungen in dem Befund von Falta und Nowaczinski,
die eine erhebliche Zunahme der Hamsaureausscheidung bei
Akromegalen feststellten.
Ich habe bis jetzt mit Ausnahmen des letzten nur Falle von
reiner hypophysarer Adipositas mitgeteilt. Im Anfang meiner
Arbeit habe ich darauf hingewiesen, daB ein Antagonismus
zwischen Vorder- und Hinterlappen besteht. Man miiBte also an-
nehmen, daB stets bei dem Dyspituitarismus des Hinterlappens
eine Steigerung der Vorderlappentatigkeit einsetzt, und die Folge
davon die Kombination einer hypophysaren Adipositas mit Akro¬
megalie ist (cf. den letzten der mitgeteilten Falle). Ferner sehen wir
beim Eunuchoidismus tatsachlich die Adipositas vergesellschaftet
mit einer Wachstumssteigerung der Extremitaten. Es fragt sich
nun, ob es Falle von hypophysarer Adipositas gibt, bei denen eine
Storung der Knochentrophik ausbleiben muB. Es wird sich, wenn
bei Erwachsenen ein Tumor im Vorderlappen die Sekretion des
Vorderlappens aufhebt und zugleich auch den Hinterlappen
mechanisch zerstort oder auBer Funktion setzt, nur eine hypo-
physare Adipositas einstellen, wie etwa in dem Fall von Pick.
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
431
Hydrocephalus zuriickgefuhrt wurde. Wahrscheinlich wird durch
diesen Hydrocephalus entweder eine Abklemmung des Infundi-
bulums bewirkt und so verhindert, daB das Sekret der Hypophyse
dem Korper zugefiihrt wird, oder aber der Druck der hydro-
cephalischen Fliissigkeit laBt es nicht dazu kommen, daB das Sekret
in die Cerebrospinalfliissigkeit iibertreten kann. Durch den Mangel
dieser Sekrete wird dann die Hypophyse vollkommen ausgeschaltet,
und wir sehen das, was wir im Experiment nach Entfernung der ge-
samten Hypophyse zu beobachten Gelegenheit haben, Zwerg-
wuchs und Adipositas. Man konnte also in diesem Fall entweder
einen Hydrocephalus annehmen, welcher auf das Infundibulum
und die Hypophyse driickt, oder aber, wie das schon Oppenheim in
einem Fall beschrieben hat, eine Lues der Hypophyse supponieren.
Die Diagnose griindet sich hier allein auf die Aehnlichkeit mit
anderen Fallen von Dystrophia adiposogenitalis, bei der ein
Hydrocephalus mit Sicherheit angenommen werden konnte, oder
der durch die Sektion bestatigt wurde. Das Fehlen des Ausfalls
.der Genitalfunktion laBt sich gegen die Diagnose einer Dystrophia
adiposo-genitalis nicht anfiihren, da Biedl gezeigt hat, daB unter
32 derartig beschriebenen Fallen nur 12 mal Genitalatrophie
vorhanden war. Weder Neurath noch Tandler und Grofi sehen die
Genitalatrophie bei der hypophysaren Adipositas als etwas Obli-
gatorisches an, sondern nur derHypophysenerkrankung koordiniert.
Es zeigt aber auch dieser Fall wieder, wie miBlich es ist, eine
Diagnose nur allein aus dem Aspekt zu stellen. Wir sind aber darauf
angewiesen, solange sich nicht cerebrale Symptome und die
sonstigen Zeichen eines Hypophysentumors in Form der Er-
weiterung der Sella turcica im Rontgenbilde vorfinden. lch ver-
weise auch hier wieder auf den Fall II der Schwestern mit hypo-
physarer Adipositas, der keine Tumorerscheinungen hat und auch
keine Veranderungen der Sella turcica aufweist. Wurde man ihn
allein zu Gesicht bekommen, ohne daB man die Schwester kennt.
so wurde auch hier die gleiche Schwierigkeit einer Diagnose vorliegen
wie in dem eben mitgeteilten Fall. Hier tritt deutlich die Wichtig-
keit einer genaueren Untersuchung des Zucker- und des Gasstoff-
wechsels vor Augen. Auch die von Guggenheimer beobachtete Zu-
nahme der Lymphocyten, die auch in 2 Fallen (Fall 1 der
Akromegalen und dem Fall von Fettsucht mit akromegalischen
Symptomen) von mir bonstatiert wurde, konnte dazu dienen,
die Diagnose auf eine Erkrankung der endokrinen Driisen zu
sichern, da ja bekanntlich auch die Erkrankungen der Schild-
driise zur Lymphocytose (Kocher , Borchardt) fiihren. Gelingt
es mit Hilfe dieser Untersuchungen, ausgesprochene Storungen
zu finden, so wird man dann nicht mehr allein auf das
Rontgenbild angewiesen sein. Es wird dann auch moglich
sein, festzustellen, ob die Fettentwicklung beim Eunuchoi-
dismus auf derselben Basis beruht wie die echte hypophysare
Adipositias; und vielleicht gelingt es auch fiir die DemmscheKrank-
heit nachzuweisen, ob ihr Ursprung von der Hypophyse ausgeht.
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432 P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
Als Folge einer gesteigerten Erregung der Pars intermedia des
Hinterlappens wird von Schafer eine Polyurie angenommen. Er be-
griindet das einmal mit seinen Fiitterungsversuchen und mit der
weiteren Tatsache, daB durch mechanische oder thermische In-
sultierung des freigelegten Gehirnanhanges eine viele Tage lang
dauemde Polyurie erreicht werden konnte. Dabei zeigte es sich,
daB der Vorderlappen intakt geblieben, wahrend die Pars inter¬
media von Blutungen durchsetzt war. Auf Grund dieser Unter-
suchungsergebnisse hat E. Frank zuerst das Tatsachenmaterial
beim Diabetes insipidus auf die Frage hin zusammengestellt,
ob nicht dabei eine Hypophysenerkrankung vorliegen konne. Be-
kannt ist ja, daB bei der Akromegalie nicht gar zu selten eine
Polyurie zu beobachten ist. Erst jiingst hat Simmonds einen Fall
von Diabetes insipidus in Verbindung mit Akromegalie beschrieben.
Seltener ist schon der Diabetes insipidus oder die Polyurie in Ver¬
bindung mit einer Dystrophia adiposogenitalis. Dagegen ist es
ferner auffallig, wie haufig die Lues cerebri, bei der sich eine
bitemporale Gesichtsfeldeinschrankung findet, verbindet mit einer.
Polyurie oder mit einem Diabetes insipidus. Bekanntlich lokalisiert
sich die basale Meningitis luetica am haufigsten in der Gegend des
Chiasma, also in jener Gegend, von der aus die Hypophyse am
leichtesten gereizt werden kann. Er ftihrt dann ferner als Beweis
jene Falle von Commotio cerebri an, bei denen sich ebenfalls wieder
eine bitemporale Hemianopsie mit dem Diabetes insipidus kombi-
niert. Endlich erwahnt Frank einen Fall von Hagenbach , bei einem
4 1 / 2 jahrigen Madchen mit Polyurie und Polydipsie, bei dem sich
bei der Sektion neben einer Meningitis tuberculosa ein Tuberkel
im Infundibulum fand, wahrend die Hypophyse makroskopisch
unverandert war. Und schlieBlich hat Frank selbst einen Fall
beobachtet, bei dem eine Kugel in die mittleren und hinteren
Partien der Sella turcica hineinragte, so daB eine dauernde
mechanische Insultierung der Hypophyse vorhanden war. Bei
diesem Fall bestand ein echter dauernder Diabetes insipidus in
Verbindung mit einem gewissen Grade von Dystrophia adiposo¬
genitalis. Frank weist endlich noch darauf hin, daB in den Fallen
von idiopathischem vererbbarem Diabetes insipidus neben diesem
Fettleibigkeit festgestellt worden ist, oder daB die betreffenden
Individuen im ganzen in der Entwicklung zuriickgeblieben waren,
oder aber daB bei ihnen nur eine Hypoplasie der Genitalien oder
Mangel der Scham- und Achselhaare bemerkt wurde. Auch Straufi
hat jiingst auf die Kombination von Diabetes insipidus undEnt-
wicklungshemmungen hingewiesen. Nach alledem kommt E. Frank
zu dem SchluB, daB die Idee einer einheitlichen hypophyso-
zentrischen Auffassung des echten Diabetes insipidus wohl moglich
ist. Im AnschluB an diese Arbeit hat Steiger dann einen Fall von
Diabetes insipidus untersucht. Auf Grund dieser Untersuchung hat
er geschlossen, daB in seinem Fall ein hypophysarer Ursprung nicht
vorhanden, aber daB eine Reizung des erweiterten Vagussystems
vorliegt. Mir ist seine Beweisfiihrung nicht recht einleuchtend,
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
43a
aber interessant an diesem Fall ist einmal, daB im Rontgenbild nach
Aussage eines erfahrenen Rontgenologen eine vergroBerte und
namentlich vertiefte Sella turcica vorhanden war. DaB in diesem
Falle eine Storung am Opticus nicht zu beobachten ist, beweist
natiirlich fiir eine Veranderung in der Hypophyse nichts. Denn
wir sehen selbst bei Akromegalie mit erheblicher VergroBerung der
Sella turcica (ich verweise auf Fall I) auch nicht immer Verande-
rungen am Opticus. Interessant dagegen ist in seinem Fall die
Priifung der Assimilationsgrenze fiir Zucker. Bei voller Fliissig-
keitszufuhr (22 Liter), 1 Milligram Adrenalin subkutan und 200 g
Traubenzucker war keine Glykosurie vorhanden. Erst bei 300 g
Traubenzucker traten reduzierende Substanzen im Urin auf. Die
gesunde Vergleichsperson schied schon bei 100 g Traubenzucker
und 1 Milligramm Adrenalin Zucker im Urin aus. Es zeigt sich also
hier eine Erhohung der Assimilationsgrenze fiir Zucker, wie wir sie
auch bei hypophysarer Adipositas finden, ebenso wie sie femer
Aschner bei seinen Adrenalinversuchen an hypophysopriven Tieren
feststellte, und endlich Cushing bei seinen des Hinterlappens
beraubten Tieren beobachtete. Diese Feststellungen sind auBer-
ordentlich interessant, sie wiirden auch als Stiitze fiir eine Er-
krankung der Hypophyse dienen konnen, wenn man sie haufiger
beim Diabetes insipidus finden wiirde.
Vorlaufig wird man sich mit der Registrierung dieser Falle
allein zu beschaftigen haben. Es werden erst die weiteren Unter-
suchungen ergeben, ob tatsachlich jede Form des Diabetes insipidus
oder ob nur gewisse Formen, besonders die, welche mit Ak¬
romegalie oder mit der Dystrophia adiposogenitalis kombiniert
sind, im Zusammenhang mit der Hypophyse stehen. Die weiteren
Forschungen werden auch zeigen, ob noch andere Symptome als
nur der Diabetes insipidus eine Folge der Uebererregbarkeit des
Mittel- und des Hinterlappens sind.
Von Claude und Oougerot sind im Jahre 1907 zuerst Falle be-
schrieben worden bei alteren Personen, welche sie als Folge einer
Erkrankung aller endokrinen Driisen feststellten und auch durch
die Sektion als solche beweisen konnten. Bei diesen Erkrankungen
ist auch die Hypophyse mit beteiligt. Doch sind wir nicht imstande,
zu sagen, welcher Anteil jeder einzelnen Druse bei dem Symptomen-
bild zukommt. Bespricht man aber die Krankheitsbilder, welche
durch die Erkrankung der Hypophyse entstehen konnen, so
gehort auch dieses Bild mit in den Rahmen. Sie sind des-
wegen auch interessant, weil bei ihnen fiir gewohnlich nicht die
Tumorbildung der Hypophyse zur Erkrankung AnlaB gibt, sondern
eine Sklerose. Man muB auch hier wieder unterscheiden, zwischen
der pluriglandularenErkrankung imKindesalterund derim spateren.
Ich habe im Jahre 1910 in der Berliner Neurologischen Gesellschaft
einen Fall vorgestellt, den ich als partiellen Gigantismus bezeich-
nete und als Folge einer pluriglandularen Erkrankung ansah, auch
so in meiner Arbeit iiber den Infantilismus des genaueren be-
sprochen.
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434
P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
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Es handelt sich urn einen Fall eines 20 jahrigen jungen Madchens, bei
dem vor alien Dingen neben einer verhaltnismaBig kleinen Statur und
grazilem Korperbau die Lange der Hande und FiiBe auffiel. Das Madchen
ist noch vollkommen unentwickelt, es besteht noch keinerlei Behaarung in
der Achselhohle und am Mons Veneris. Die auBeren Geschlechtssteile er-
scheinen wie bei einem Kinde, der Uterus ist inf an til, es bestehen noch keine
Menses. Auch die Mammae sind noch ganz schwach entwickelt und enthalten
niir Fett. Abgesehen davon ist Patientin aber mager und grazil gebaut und
nicht liber das Mittelmafi groB. Nur die Hande und FiiBe sind abnorm groB.
Die Hand ist vom Radiokarpalgelenk bis zur Kuppe des Mittelfingers 19 cm
lang. Im Rontgenbild sieht man deutlich daB es sich nur uni eine abnorme
Verlangerung der Metacarpi und Phalangen handelt, nicht aber um eine
Zunahme des Dickenwachstums und eine VergroBerung der Weichteile.
Zugleich erkennt man, daB anomale Epiphysenspalten an diesen Knochen
noch vorhanden sind; auch an den distalen Teilen der Ulna und des Radius
sieht man Epiphysenspalten. Doch ist ihr Vorkommen hier bis zum 20.
Lebensjahr nach Gegenbaur noch normal. Auch das Rontgenbild der FiiBe
laBt das gleiche erkennen. Es besteht eine ausgesprochene weiche Struma,
keine Tachykardie, kein Exophthalmus imd kein Tremor manuum. Im
iibrigen ist das Nervensystem normal, ebenso der Augenhintergrund. Im
Rontgenbilde laBt sich eine VergroBerung der Sella turcica nicht nachweisen.
Das junge Madchen ist in seinem ganzen Wesen kindlich, wie auch der Ge-
sichtsausdruck dies zeigt.
Fall II. Es handelt sich hier um einen Knaben von 10 Jahren, welcher
1 m grofl ist. Die Mutter kommt in die Poliklinik, weil der Knabe noch sehr
unentwickelt ist, in eine Hilfsschule gehen muB und schlecht spricht. Die
Mutter gibt an, daB das Kind bei der Geburt auBerordentlich dick und fett
gewesen sei. Nach einer Photographic im ersten Lebensjahr sieht man
das auch. Nach Angabe der Mutter saB der Kopf direkt auf den Schultern,
dicke FettwiAlste umgaben den Hals, auch die Beine und der Leib sollen ab¬
norm fett gewesen sein. Allmahlich hat sich das Fett verloren. Der Knabe
ist aber nicht wie andere Kinder gewachsen, hat auch das Sprechen schwer
und spat erlernt und hat bis jetzt noch immer seine Milchzahne. Nach An¬
gabe der Mutter hort der Knabe auch schwer. Er geht in eine Hilfsschule
und lernt dort sehr wenig.
Die Untersuchung ergibt, daB er ein fiir sein Alter abnorm kleiner
Junge ist, der auf alle Fragen mit rauher, monotoner, tiefer Stimme ant-
wortet. Eine abnorme Fettbildung am Korper ist nicht vorhanden. Die Haut
ist trocken und schilfert ab, die Lippen sind wulstig, aber die Zunge ist nicht
erheblich verdickt. Man sieht im Gebifl noch alle Milchzahne, und im
Rontgenbild vermag man die Zahnkeime fiir die zweiten Zahne wahrzu-
nehmen. Es ist ein leichter Strabismus convergens vorhanden. An beiden
Ohren findet sich eine Otitis media chronica, es mag das auch die Ursache fiir
die Schwerhorigkeit abgeben. Die Thyreoidea ist nicht zu fiihlen, ebenso-
wenig im Skrotum die Hoden, auch im Leistenkanal sind sie nicht vorhanden.
Der Penis ist normal entwickelt. Im Rontgenbild sieht man auBerdem eine
Eaweiterung der Sella turcia (Taf. XVII Fig. 4). Psychisch ist der Knabe
sehr zuriickgeblieben, er kann noch nicht einmal zahlen, ebenso nicht-
Jesen; auch die Farben vermag er nicht zu unterscheiden.
Der Knabe erhielt Thyreoidintabletten, und er ist infolgedessen
innerhalb 6 Monaten um 7 cm gewachsen. Nach Angabe der Mutter macht
er auch in der Schule Fortschritte, so daB der Lehrer spontan dariiber be-
richtet hat. Er kann jetzt zahlen und macht auch einen bei weitem ge-
weckteren Eindruck. Dagegen sind die Milchzahne noch nicht ausgefallen,
und auch die zweiten Zahne treten noch nicht hervor.
Im ersten Fall wird man die Diagnose einer pluriglandularen
Erkrankung damit zu begriinden haben, daB einmal eine Struma
vorhanden ist, zweitens ein vollkommen infantiler Uterus mit
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435
seinen Adnexen und auch das Fehlen des Eintritts der Menses.
Nimmt man dazu, daB die VergroBerung der Hande und FtiBe
durchaus der bei der Akromegalie ahnelt, so ist man wohl be-
rechtigt auch anzunehmen, daB hier trotz Fehlen einer VergroBerung
der Sella turcica im Rontgenbild eine Erkrankung der Hypophyse
vorliegt, und zwar im Sinne einer gesteigerten Funktion. Es ware
natiirlich auch moglich, daB bei der primaren Unterfunktion und
Aplasie der Keimdriisen die Hypophyse indirekt, wie ich das im
Anfang auseinandergesetzt habe, mitbeteiligt ist, und daB die akro-
megalen Erscheinungen also als sekundare anzusehen sind. Es ist
aber bei diesen Krankheitsbildern sehr schwer zu entscheiden,
was primar und was sekundar erkrankt ist. Darum bin ich dafur,
bei diesen Krankheitsbildern immer mehr von einer pluriglandularen
Erkrankung zu sprechen und nicht irgendeine Druse mit innerer
Sekretion in den Vordergrund zu stellen. Bei diesem Fall zeigt es
sich auch, daB der Name einer pluriglandularen Erkrankung bei
weitem besser ist als der von Falta vorgeschlagene einer multiplen
Sklerose der endokrinen Driisen. Denn hier prajudiziert die Be-
zeichnung einer Sklerose den pathologischen ProzeB, der in diesem
Fall fur die vorhandene Struma doch nicht zu verwenden ware.
Das Gemeinsame in alien diesen Fallen scheint mir aber auch in
diesem Fall hervorzutreten, namlich das Verhalten der Haut und
der ganze Ernahrungszustand: eine kiihle, blasse, trockene und
leicht abschilfernde Haut und das psychische Verhalten, das sich
vornehmlich durch Indolenz und Apathie ausdriickt. Diese beiden
Momente kann man auch im zweiten Fall konstatieren. Sonst zeigen
die beiden Falle wenig Aehnlichkeit. Hier scheint der EinfluB der
fehlenden Thyreoidea noch vorzuherrschen, wenn auch die eigent-
liche myxodematose Veranderung der Haut nicht vorhanden ist,
dagegen aber das Tatzenformige der Hande, die eigenartige mono¬
tone tiefe und rauhe Sprache und der Zwergwuchs, der natiirlich
auch von der vergroBerten Hypophyse abgeleitet werden konnte,
wenn man annehmen wollte, daB die VergroBerung der Sella turcica
die Folge eines Tumors ware, dessen Funktion gestort sei. Doch ist
natiirlich diese Annahme eine sehr eigenmachtige und durch nichts
begriindet. Man kann natiirlich auch bei diesem Fall sagen, daB
die Erkrankung der Thyreoidea das Primare sei und die Genital -
aplasie ebenso wie der Hypophysentumor das Sekundare, da man
beide Storungen beim Kretinismus schon festgestellt hat. Aus den
schon angegebenen Griinden glaube ich aber, daB es richtiger ist,
auch hier von einer pluriglandularen Erkrankung zu sprechen und
sich nicht in eine Diskussion einzulassen, welches Organ primar
erkrankt ist. DaB die Thyreoidea nicht einzig und allein das
primar erkrankte Organ ist, geht auch aus der Schilddriisen-
behandlung hervor. Denn wohl ist das Wachstum gebessert, aber
die Fortschritte der Psyche sind doch sehr minimal, ebenso wie auch
die Sprache sich wenig geandert hat. Da eben mehr als eine Driise
hier erkrankt ist, so laBt sich auch nicht erwarten, daB mit Hilfe
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436 P e r i t z , Hypophysenerkrankimgen.
eines Driisensekretes sich eine erhebliche Besserung einstellen wird.
Bei dieser Gelegenheit mochte ich darauf aufmerksam machen,
daB ich jiingst einen Fall von kongenitalem Myxodem gesehen habe,
bei dem sich eine erhebliche elektrische Uebererregbarkeit im Sinne
einer spasmophilen feststellen lieB, und daB bei dieser Patientin
auch eine mechanische Muskeliibererregbarkeit und ein Chvostek
vorhanden war. Moglicherweise finden sich nicht selten Falle von
Kretinismus, bei denen auch die Epithelkorperchen mit erkrankt
sind. Auch in diesem Fall war eine leukoblastische Veranderung
im Blutbilde zu konstatieren, ganz ahnlich wie das Essex in
seinem Fall von Myxodem gesehen hat und wie ich das bei den
Spasmophilen als regelmaBigen Befund feststellen konnte. Man
muB vorlaufig diese Tatsache nur feststellen, denn weitere Unter-
suchungen miissen ergeben, ob beim Myxodem sich ebenfalls diese
Veranderung des Blutbildes zeigt oder ob es sich in solchen Fallen
stets um eine Miterkrankung der Epithelkorperchen handelt.
Wahrend bei der pluriglandularen Erkrankimg im spateren Alter
ein viel scharfer und fester umrissenes Krankheitsbild sich ein-
stellt, ist das Bild in der Kindheit bei weitem mannigfaltiger. Es
kommt das wahrscheinlich daher, daB beim wachsenden Organis-
mus die Einwirkung der Driisen nicht gleichmaBig ist. Wir wissen
ja auch aus den Experimenten, daB die Storungen beim wachsenden
Organismus sich ganz anders darstellen als beim ausgebildeten,
wie das vor alien Dingen die Versuche von Aschner nach Ab-
tragung der Hypophyse zeigen. Vielleicht liegen die Dinge auch
hier so, daB die schwerer erkrankte Druse viel scharfer die Aus-
fallserscheinungen sehen laBt, wie die anfanglich weniger be-
troffenen.
Falla hat dann neuerdings die multiple Blutdriisensklerose
genauer beschrieben, und das Krankheitsbild, nachdem er die ver-
schiedenen Veroffentlichungen zusammengestellt hat, noch einmal
gezeichnet. Neben den Symptomen des Spat-Eunuchoidismus
findet er eine allgemeine fortschreitende Kachexie und eine aus*
gesprochene Anamie. Trotz der knabenhaften Bartlosigkeit des
Gesichts sehen die Patienten nicht jiinger aus, sondem friihzeitig
gealtert; manche haben sogar ein greisenhaftes Aussehen. Eine
hypophysare Adipositas vom Typus der Eunuchoiden fehlt bei
ihnen, und es gelingt auch nicht, sie aufzumasten. Er findet dann
auBerdem eine Gedunsenheit der Haut im Gesicht, besonders an
den Wangen und an der Haut des Hand- und des FuBriickens,
in manchen Fallen ganz ausgesprochenes Myxodem, das sich auch
durch Thyreoidinmedikation teilweise, aber nicht vollstandig
zuriickbildete. Daneben beobachtet er aber eine ausgesprochene
Atrophie der iibrigen Haut, hochgradige Trockenheit und Ab*
schilferung. Femer entwickeln sich in der Mehrzahl der Falle
Pigmentienmgen der Haut, besonders an den belichteten Stellen
oder dort, wo die Kleider driicken. Es besteht eine allgemeine
Hypotonie und daneben Asthenie, die sich zu hochgradiger
Prostration der Krafte steigert, und Apathie, femer Grefiihl von
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P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
437
Kopfdruck, Schlaflosigkeit, eventuell voriibergehende rheumatische
Schmerzen in den Gliedern. Falta bespricht auch die Einwirkung
der verschiedenenDriisen auf dasKrankheitsbild. Es interessiert uns
hier im wesentlichen die Hypophyse, und er ftihrt auf die Sklerose
der Hypophyse die allgemeine Kachexie zuriick.
Er ist der Ansicht, daB es zur Ausbildung der hypophysaren
Fettsucht infolge der Miterkrankung der anderen Driisen nicht
kommt. Er betont auch, daB bei noch nicht voll entwickelten In-
dividuen, die von dieser Krankheit befallen werden, das Ausbleiben
des eunuchoiden Hochwuchses verstandlich ware, weil durch die
Insuffizienz der Hypophyse die Einwirkung der Keimdriisen-
insuffizienz auf die Skelettentwicklung kompensiert wird. In dem
zweiten Fall, den ich beschrieben habe, ist wohl dieses Verhaltnis
anzunehmen. Dagegen scheint im ersten Fall doch eine nur teil-
weise Steigerung der Hypophysenfunktion vorzuliegen, so daB es
hier zu einem partiellen Riesenwuchs gekommen ist. Es ist aber
der Sachverhalt in diesen Fallen noch auflerordentlich ungeklart,
und es ist schwer zu verstehen, warum es bei einer allgemeinen
Driisenerkrankung, die wohl als sicher anzunehmen ist, zu einer
partiellen Wachstumshypertrophie gekommen ist. Dieser Wachs-
tumshypertrophie ware vielleicht die von Falta des ofteren be-
obachtete Polyurie bei derartigen Fallen an die Seite zu setzen,
denn auch die Polyurie muB ebenso wie das gesteigerte Wachstum
als eine Hyperfunktion angesehen werden und kann hier nur die
Folge eines Reizzustandes sein. Es ware also moglich, daB im Be-
ginn des Prozesses durch irritative Vorgange zuerst eine Reiz-
zustand erzeugt wtirde, ehe die Driise selbst ihre Funktion ein-
stellt. Wahrend die Polyurie ein voriibergehendes Symptom ist,
bleibt die Wachstumshypertrophie in Form eines partiellen Gigan-
tismus als Zeuge des Reizungszustandes der Driise erhalten.
In der Aetiologie der pluriglandularen Erkrankungen spielen
bei den Erwachsenen die Lues und Infektionskrankheiten, endlich
auch die Tuberkulose eine Rolle. Bei der kindlichen Form muB
man an einen kongenitalen Defekt denken, an aplastische Zu-
stande, wie wir sie beim kongenitalenMyxodem zu sehen bekommen.
In dem Fall I ist die Aetiologie schwer zu beantworten. Moglicher-
weise handelt es sich auch um eine kongenitale allgemeine Stoning
der Blutdriisen. In beiden Fallen waren keine sichtbaren Zeichen
von Lues vorhanden und auch die Wassermannsche Reaktion
negativ. Auch bei den spater einsetzenden Fallen vermag man
haufig ein atiologisches Moment nicht zu eruieren, so daB Claude
und Gougerod zu der Anschauung kommen, in solchen Fallen lage
eine angeborene Schwache des Blutdriisensystems vor. Falta meint,
daB in solchen Fallen auch voriibergehend eine Insuffizienz des
Blutdriisensystems vorkommen konne.
Wende ich mich zum SchluB noch der Behandlung der Hypo¬
physenerkrankungen zu, so ist es ja heute auf Grand der ver-
schiedenen Ergebnisse der Chirurgen allgemein anerkannt, daB die
Hypophysentumoren zu operieren sind. Ich glaube aber, daB wir
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438 P e r i t z , Hypophysenerkrankungen.
die Indikation zur Operation nur dann stellen konnen, wenn neben
den Erscheinungen, die durch die Hypophyse direkt erzeugt
werden, die allgemeinen cerebralen Erscheinungen infolge des
Druckes sehr stark in den Vordergrund treten. Ich habe den Ein-
druck, daB weder die Akromegalie noch die hypophysare Adipositas
die Trager dieser Leiden schwer mitnehmen. Im allgemeinen sind
es, wenn keine starken cerebralen Erscheinungen vorhanden sind,
nebensachliche Klagen. die die Patienten zum Arzt fiihren. Tritt
aber die Abnahme des Sehvermogens sehr schnell auf oder macht
sie sich iiberhaupt bemerkbar neben starken Kopfschmerzen, so
soli man unter alien Umstanden operieren. Das trifft sowohl fur die
Akromegalie wie fur die hypophysare Adipositas zu, da ja beide
Formen durch Tumoren des Vorderlappens entstehen konnen.
Pick hat dies in seiner umfassenden Arbeit sehr ausfuhrlich
besprochen. Bekannt ist, daB man nicht den ganzen Vorder-
lappen entfernen darf, sondern nur einen Teil desselben. Es ist
hier genau so wie bei der Basedo wschen Erkrankung, bei der auch
nur ein Teil der Schilddriise entfernt werden darf.
Ganz anders liegen die Verhaltnisse bei den Fallen, welche nicht
durch einen Tumor des Vorderlappens erzeugt werden. Hier muB
man stets an einen Hydrocephalus denken und zusehen, ob man
durch eine Lumbalpunktion nicht imstande ist, die Symptome zur
Riickbildung zu bringen. Dagegen ist vorlaufig unsere Therapie
in den Fallen, in welchen es zu einer Insuffizienz der Hypophyse
kommt, sei es infolge einer Sklerose oder aber ohne anatomische
Grundlage, vollkommen machtlos. Es ist moglich, daB wir imstande
sind, durch eine Behandlung mittels eines Drusenextraktes Er-
folge zu erzielen. Die Resultate, die mittels des Hinterlappen-
extraktes der Hypophyse bis jetzt erreicht worden sind, sind aber
nicht sehr ermutigend.
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(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Konigl. Charite in Berlin.
[Geheimrat Professor Dr. Bonhoeffer.])
Zur diagnostischen Bedeutung
des Ganser’schen Symptoms 1 ).
Von
Dr. GERHARD HAENISCH.
Stabsarzt, Assistent der Klinik.
Ganser hatdieerstenFalle des nach ihm benannten Symptomen-
komplexes 1897 veroffentlicht, unter Hinweis darauf, daB ahnliche
schon friiher, aber in falscher Beurteilung als Simulation bekannt
Nach einem Vortrage im psychiatrischen Verein zu Berlin.
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440
H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung
gegeben seien. Seine 3 Beobachtungen betreffen Kriminelle, davon
2 Untersuchungsgefangene: Schadigungen, wie Typhus oder Kopf-
verletzung, waren einige Zeit vorhergegangen. Die Kranken zeigten
mehr oder weniger tiefe BewuBtseinstriibung, alle aber hysterische
Stigmata, An- und Hyperalgesien, femer Sinnestauschungen.
Daneben aber vermochten sie Fragen einfachster Art nicht riehtig
zu beantworten, obwohl ihre Antwort zeigte, daB die Frage ver-
standen sei. Kenntnisse, die die Kranken ganz bestimmt besessen
hatten oder noch besaBen, fielen aus. Nach wenigen Tagen schwand
der Zustand und hinterlieB Amnesie. Ganser stellte die Diagnose
auf hysterische Dammerzustande.
An diese Veroffentlichung hat sich eine immerhin recht reich-
haltige Literatur angeschlossen, die ich aber groBtenteils iibergehen
kann, weil sie mit meinem speziellen Thema nur lose zusammen-
hangt. Hervorheben mochte ich, daB die erste Beschreibung des
Vorbeiredens von Moeli herriihrt. Nach Ganser8 Verofffentlichung
wurden einschlagige Falle von verschiedenen Seiten mitgeteilt, die
bei Kriminellen, Rentenbewerbem, aber auch in nicht foren-
sischen Fallen beobachtet waren. Nifil brachte diese Be-
obachtungen aus dem Gebiet der Kasuistik in das prinzipiell-
diagnostischer Erwagungen. In seinem 1901 vor den siidwest-
deutschen Irrenarzten gehaltenen Vortrage tiber ..Hysterische
Symptome bei einfachen Seelenstorungen" bestreitet er zwar nicht,
daB das Symptom des „Vorbeiredens“ bei Hysterie vorkommen
konne, nimmt es aber vorwiegend fiir die Katatonie, und zwar als
negativistisch, in Anspruch. Er spricht Ganser und Baecke die
Berechtigung ab, ihre Falle als hysterische Dammerzustande zu
bezeichnen. Beide Autoren haben spater an ihren Diagnosen fest-
gehalten, auf Grund weiterer katamnestischer Verfolgung ihrer
Falle. Ganser halt auch daran fest, daB sein Symptom ,,hysterisch“
sei. Komme es bei Katatonikern vor, so handle es sich um Kompli-
kation mit Hysterie.
Henneberg sondert die ,,unsinnigen und inadaquaten“ Ant-
worten der Katatoniker ab. Fiir das eigentliche Gansersche
Symptom fordert er „nahe Beziehung zur Fragestellung und zur
richtigen Antwort“. Falle, die dem von Ganser geschilderten Typus
•genau entsprechen, sind seiten, das Symptom ist nicht kenn-
zeichnend fiir eine bestimmte Form hysterischer Pay chose, sondern
abhangig von auBeren Umstanden, besonders der Art des Fragens.
Meist kommen Begehrungsvorstellungen in Betracht (Rente,
Delikt). Es empfiehlt sich, die Gewwerschen Antworten moglichst
wenig zu beachten.
1910 hat Stertz in einer Veroffentlichung aus der Breslauer
Klinik emeut auf das Symptom hingewiesen, besonders auf die ohne
BewuBtseinstriibimg auftretende ,,Pseudodemenz“. Er nennt es
eine Frage der Auffassung, ob man solche sicherlich psychogenen
Zustande als hysterisch bezeichnen wolle, mit der Kraepelinschen
Auffassung z. B. hatten sie wenig gemein. FaBt man mit Bonhoeffer
als hysterisch die unter einer bestimmten Willensrichtung und be-
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des Ganserschen Symptoms.
441
stimmten W unsch vorstellungen sich entwickelnden Storungen auf,
so liegt natiirlich keinBedenken vor, gerade diese Pseudodemenzen,
wie auch die Dammer- und Stuporzustande der Haft und des
Rentenkampfes als hysterisch zu bezeichnen.
So darf man die Ganserschen Dammerzustande und die
Pseudodemenzen in gewissem Sinne als charakteristisch und auch
als diagnostisch an sich verwertbar ansehen. Indes drangt sich eine
weitere Frage auf: geht diese diagnostische Bedeutung so weit. daB
der psychogene, hysterische ProzeB ohne weiteres aus diesem
Symptom diagnostiziert werden darf ? Ohne Zweifel ist man nicht
nur berechtigt, sondern direkt verpflichtet, bei derartigen Zu-
standen nach der psychischen Aetiologie zu suchen, xmd man wird
sie kaum je vermissen. LaBt man aber selbst die Frage der Ab-
grenzung gegeniiber Dementia praecox hiqr fort, so ist es schon
a priori nicht ausgeschlossen, daB man organische, korperliche Ver-
anderungen findet, die auch den Verdacht einer im engeren Sinne
organischen Psychose wachrufen. Ueber derartige Falle findet
man wenig in der Literatur, ich mochte daher heute drei ein-
schlagige Beobachtungen kurz mitteilen. Ich habe die Henneberg -
sche Forderung, moglichst wenig derartige Antworten zu provo-
zieren, seinerzeit befolgt, mehr vielleicht, als mir heute bei der
Veroffentlichung lieb ist. Immerhin glaube ich, daB aus den beiden
eigenen Beobachtungen die Zugehorigkeit zur Pseudodemenz sich
ergibt.
1. F. W., 59 Jahre, Bankwachter/aufgenommen 30. IV. 1913
W. war am 26. lV.wahrend einer Nachtwache bei kleineren Diebereien
ertappt worden, hatte sich zuerst vor dem Kriminalbeamten versteckt,
nachher diesem und dem Hausinspektor gegeniiber sein Vergehen ein-
gestanden. Er wurde uns vom Sohne eingeliefert mit folgenden, allerdings
erst am 5. V. gemachten Angaben: Illegitim. Teilweise stark getrunken.
1910 Kopfverletzung, stundenlang bewuBtlos. Seit Jahren teils stumpf,
teils 8innlos erregt, vor 10 Jahren Madchen auf der Strafie belastigt,
auf der Polizeiwache getobt. Seit dem Unfall Verschlimmerung. Am
„Sonnabend 24. IV.“ (tatsachlich friihestens Sonnabend 27. IV.) unruhig,
uber den Kopf geklagt, unruhig umhergelaufen, nicht gegessen. „Montag“
abend fortgegangen, „8 Tage“ ausgeblieben. Bei der Kuckkehr wirr geredet,
wollte Gift haben; hatte sich einen Strick gekauft; schlug mit dem Kopf
auf die Erde, mit der Faust gegen die Wand. Schrie im Schlafe auf; rief
,;,jetzt kommen sie 4i , wollte fliehen. — Die Akten und die spatere Verhandlung
ergaben, daB W. vor der Abfassung keineswegs auffallig gewesen war. Wir
nahmen an, daB die Familie an sich richtige Dinge iibertrieben darst^llte.
Somatisch fand sich Arteriosklerose, Extrasystolen, leicht6 Facialis-
differenz, Babinski rechts. Ferner psychogene Steigeiung der Reflexe, Be-
wegung oft schon in Erwartung des Reizes. Sprachstorung, Silbenauslassen
bei Probeworten, die sich jedoch bald ganzlich verlor. Tremor.
Psychisch vollig freies Sensorium; fand sich sofort in die Situation*
bot scheinbar unbeachtet nichts Auffalliges. Den Aeizten erzahlte er, er
sei durch Versehen des Diebstahls beschuldigt; die Kollegen seien neidisch,
weil er mehr Geld gespart habe, als sie. War 4 Tage auf Reisen, Hamburg,
Frankfurt a. O., Kiistrin. Wollte ins Wasser gehen, da kam eine Leiche ge-
schwommen. Auf weitere Fragen brachte er folgende Antworten:
Ort: Urbankrankenhaus.
Datum: Dienstag, 23. April 1914.
Wer bin ich ?: Bar bier, Sie haben mich heute schon rasiert.
Monateschrlft f. Psychlatrle u. Nenrologfe. Bd. XXXIII. Heft 5. 29
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442
H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung
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Da ran halt er auch nach der Untersuchung fest und behauptet, ieh
konne kein Arzt sein, die seien all© auf dem KongieB.
Von 5 vorgesprochenen Ziffern wiederholt er 4 unrichtig.
7 X 8=32. Von den Monaten laBt er zwei aus, behauptet, es gebe viel-
leicht ein Jahr mit 10 Monaten. Sich selbst bezeichnet er als Personalchef.
,,Sie sind doch Wachter!“ „Wachter und Personalchef". Sein Sohn ist
Rechtsanwalt in Mexiko.
Wahrend der Beobachtungszeit bestand nie Triibung des Bewufltseins.
W. beobachtete seine Umgebung sehr scharf und treffend, verhielt sich stets
angemessen. Oft klagte er iiber Kopfschmerz; Beeintrachtigung des Schlafs
konnte festgestellt werden.
Demgegeniiber produzierte er bei der Untersuchung phantastische
Verfolgungsideen, Manner kamen nachts durchs Fenster und bedi oh ten ihn;
er wird sich mit dem Hausinspektor schieBen, „mit 2 Revolvern vom Corps
Rhenania".
Am 5. VIII. 1912 entlassen, zeigte er auch in der Gerichtsverhandlung
sich geordnet, brachte aber ahnliche Verfolgungsvoistellungen zutage, die
er ziemlich geschickt verwertete, um sich als Opfer eines Racheaktes hin-
zustellen.
Wir finden bei einem 59 jahrigen Alkoholisten, einem wohl
von jeher psychopathischen, auch bereits zweimal wegen Dieb-
stahls vorbestraften Manne, Zeichen von Arteriosklerose und
wiirden uns nicht wundern, wenn wir bei ihm eine wirkliche, mehr
oder minder hochgradige geistige Abschwachung fanden. Aber
es stehen ungeheuerliche Defekte der Orientierung und in der
Kenntnis einfacher Dinge gegeniiber vollig erhaltenem BewuBtsein
und guter Beobachtung der Umgebung. Die Pseudodemenz hat
sich an einen Dammerzustand mit poriomanischen Erscheinungen
angeschlossen und ist vergesellschaftet mit persekutorischen Ideen,
vielleicht auch mit entsprechenden Sinnestauschungen; die Syste-
matisierung bleibt recht oberflachlich, eine Reaktion im gewohn-
lichen Verhalten fehlt, obwohl sie mit lebhaftestem Affekt vor-
gebracht werden. Da der Zustand sich erst im AnschluB an die
Entdeckung entwickelt hat, habe ich das Vorliegen von § 51 zur
Zeit der Tat vemeint.
2. E. F., 32 Jahre, Maurerpolier. Aus der Untersuchungshaft zur
Begutachtung eingeliefei t; 8. VI. bis 19. VII. 1912 in der Klinik.
Die Frau gab an: Guter Schuler, in der Militarzeit Lues, 6 Kuren.
1905 Heirat, 1 Abort, 1 Kind (Lues hereditaria ?). 1906 Fall 4 Stockwerke
hoch, bewuBtlos, Blutung aus Mund und Nase, schon tags darauf wieder
gearbeitet. 1909 von Streikenden iiberfallen, Messerstiche, Schlage auf
den Kopf. Seit 1908 aufgeregt, heftig, gewalttatig. Spricht Unsinn, ist
nach AlkoholgenuB vollig veiwirrt. Oft Schwindelanfalle, nachher fehlen
ihm die Worte. Inkontinenz. Potenz erloschen bei erhaltener Libido.
Jetzt wegen Diebstahls in Haft.
Nach den Akten mehrfach" wegen Diebstahls, Betruges, Korper-
verletzung voibestraft. Jetzt hat er aus einem Schaufenster einen photo-
graphischen Apparat gestohlen, diesen reparieien lassen, ist veihaftet, als
or ihn duieh einen Jungen abholen lieB.
Zalilreiche Narben. Tic impulsif des Gesichts. Fast totale Pupillen-
starre, Facialisdifferenz, Zunge nach rechts, globes Zittein. Stotteit bei
einzelnen Probeworten und liiBt Silben aus, andere Testworte fehlerlos,
keino Storung dor Spontansp aclie. Tiemor manuum rechts >> links. Beim
Finger-Nosen-Versuch g obesDanebenfahren. Funktionelle Muskelschwiiche.
Hypotonic, leichte Ataxie der Beine; Hypalgesie am ganzen Korper, iiber
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des Ganserschen Symptoms
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Lagegefuhl unsichere Angaben. Kniereflex rechts abgesehwacht, Achilles-
reflexe fehlen. Babinski rechts neutral, links 0 .
F. berichtete ebenfalls iiber die beiden Unfalle, gab an, daB er friiher
jahrelang fiir 7—8 Mk. Schnaps und Bier getrunken, taglich 20 bis
50 Zigaretten geraucht habe. Alle 2—3 Tage habe er Anfalle. Es sei, als
wenn alles auf ihn zukomme, er falle bewuBtlos um, nachher seierdosig;
habe sich dabei auf Zunge und Lippen gebissen. Ueber die Straftat erzahlt
er eine unwahrscheinliche Geschichte.
Zeigt scheinbar sehr starke Liicken der einfachsten Kenntnisse.
7X 8=48. Kann kleine Rechnungen nicht losen. Fiinfpfennigmarke braun,
Zehnpfennigmarke grim. Was hat der Ochse auf dem Kopfe?: „Ich habe
lange keinen Ochsen gesehen, ein Ochs ist eine Art Hiisch“. Kann die
Wochentage, die Monate nicht aufzahlen. Der Arzt ist ein Rechtsanwalt,
er selbst ist wegen Schwindsucht hier im Krankenhause.
Wahrend der Beobachtung zweimal hysterische Anfalle arztlich be-
obachtet, dabei Reaktion auf starkere Reize erhalten, angstlich verstorter
Gesichtsausdruck. Zeitweise Klagen iiber lanzinierende Schmerzen, die
iibertrieben anmuten; bisweilen Erbrechen (provoziert ?), Klagen iiber
Inkontinenz, einige Male Einnassen. „Schlaft“ bei den Visiten, kommt all-
mahlich zu sich.
Am 12. VI. nachts erzahlte er der Wache, er habe 470 000 Mk. im
Tegeler Walde versteckt, wolle 1000 Mk. davon dem Warter geben. Fragt
dann, wie die Klinik bewacht wird, mochte noch diese Woche fliehen.
Blut und Liquor gaben positive Reaktionen.
Gegen Ende der Beobachtung mehrten sich die korperlichen Klagen.
F. betonte mehrfach, daB er doch nicht haftfahig sei.
Man kann hier Simulation ganz gewiB nicht sicher ausschlieBen.
Das nachtliche Gesprach mit der Wache, die Verbramung der
F. wichtigen Fragen mit abenteuerlichen Schatzgrabergeschichten,
die faustdicke epileptisch-paralytische Anamnese weisen allzusehr
auf solche Elemente. Aber es wurden ausgepragte hysterische
Anfalle mit deutlicher BewuBtseinstriibung arztlich beobachtet,
imd deshalb mochte ich daran festhalten, daB wenigstens ein Teil
der funktionellen Symptome nicht simuliert war. Weit schwerer
und wichtiger aber ist die andere Frage, ob hier nicht eine organische
Psychose vorlag. Korperlich fehlte eigentlich nicht viel am Bilde
einer Paralyse, jedenfalls hatten die korperlichen Erscheinungen
eine solche Diagnose sehr unterstiitzt. Auch Blut und Liquor
wiesen den klassischen Befund syphilitischer Erkrankung des
Zentralnervensystems auf. Gegen organische Psychose, bespnders
Paralyse sprach, daB doch das Verhalten des Mannes der Situation
eigentlich dauernd angemessen war. Ich glaube, daB wir den Plan,
zuerst womoglich als geisteskrank erklart zu werden, und als er
das MiBlingen erkannte, seine Haftunfahigkeit zu beweisen,, nicht
nur in sein Verhalten hineingelesen haben. Aehnlich zielbewuBt
verfuhr er auch in Einzelheiten, er verteidigte sich in gewandtester
Weise in der Hauptverhandlung, und so lautete das Gutachteh
dahin, daB sich fiir das Vorliegen von § 51 kein ausreichender
Anhaltspunkt ergeben habe.
Der dritte Fall stammt aus der Breslauer Klinik und ist bereits
friiher veroffentlicht. Ich gebe ihn wortlich wieder (Stertz).
3. J. F., 38 Jahre, Monteur, oberschlesischer Pole, vom 9. IV. bis
19. XI. 1909 in der Klinik.
Pat. soil vor 3 Jahren (1906) einen Unfall erlitten haben, indem ihni
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H a e n i s c h , Zur diagnostischen Bedeutung
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ein Holzbalken auf den Kopf fiel. Die unmittelbaren Folgen scheinen nicht
erheblich gewesen zu sein, da die Meldung zunachst unterblieb. Erst etwa
2^4 Jabre spater trat F. an die Berufsgenossenschaft mit einer Ent-
schadigungsforderung heran. Einige Zeit vorher, am 13. V. 1908, war er nach
fast einjahriger, ununterbrochener Arbeit aus einem stadtischen Betriebe
entlassen worden. Er gab an, daB er seit dem Unfall leidend sei und
of ter die Arbeit habe aussetzen miissen. Seit April 1908 leide er an Anfallen
von BewuBtseinsstorung. Am 3. XI. 1908 stellte er anch Antrag auf In-
validisierung. Bei der Beobachtung durch die Invaliditatsversicherung
wurde ein miides, leicht benommenes Aussehen, eine Herabsetzung der
Schmerzempfindung auf der rechten Seite und eine kongenitale Einengung
des Gesichtsfeldes festgestellt, auf psychischem Gebiet intellektuelle
Schwache imd schlechtes Gedachtnis. Es wurden ferner mehrere hysteri-
forme Anfalle beobachtet. Das Leiden wurde fur eine Kombination von
Hysterie und Epilepsie gehalten und dem F. die Invalidenrente zugebilligt.
Die Berufsgenossenschaft indes lehnte seine Anspriiche ab wegen Verjahrung
der Angelegenheit. Hiergegen legte F. beim Schiedsgericht Berufung ein,
liber die zurzeit noch nicht entschieden ist. 2 Monate nach dem abweisenden
Beecheid der Berufsgenossenschaft stellte sich eine psychische Erkrankung
ein. F. benahm sich oft eigentiimlich, war sehr vergeBlich, erkannte einmal
den Sohn nicht, stand nachts auf, um die Tiir zu olen, erging sich in
theatralischer Weise in religiosen Reden und Handlungen. Die Geistee-
gestortheit trat nur periodenweise auf, und diese Perioden schlossen sich zum
mindesten teilweise an die genannten Anfalle an, die jetzt angeblich in groBe-
rer Zahl, manchmal mehrmals am Tage auftraten. Die Veranlassung zur Auf-
nahme gab ein Zustand von Geistesstdrung, in welchem F. gewaltsam in eine
fremde Wohnung eingedrungen war und die betreffenden Leute in groBen
Schrecken versetzt hatte.
Die Angaben iiber diese Storungen stammen von der Ehefrau, die sich
of ter widersprach und unklar ausdriickte. Friiher — vor dem Unfall — will
F. immer gesund gewesen sein imd fleiBig gearbeitet haben. Potus wird
negiert, F. hat zwei gesunde Kinder.
F. hatte bei der Aufnahme einen etwas dosigen Gesichtsausdruck,
seine Hautfarbe war blaB, sein Ernahrungszustand ziemlich diirftig. Seine
Haltung war schlaff und eilergielos. Die inneren Organe waren gesund.
Es bestand eine motorisch-sensible rechtsseitige Hemiparese und eine
konzentrische Gesichtsfeldeinengung. Die Sehnenreflexe waren gesteigert.
Bei der Aufnahme war er zeitlich und ortlich orientiert und in seinem
Benehmen geordnet. Bald aber stellte sich spontan, und allmahlich immer
ausgesprochener, ein Dammerzustand ein. Seine Reden und Handlungen
hatten dabei etwas gesucht Blodsinniges an sich. Er miBdeutete an der Wand
hangende Bilder in phantastischer Weise, verkannte ein Schiff als Mutter-
go ttesbild, vor dem er niederkniete, verkannte bald den Arzt, bald den
Pfleger als seinen Bruder, wollte die Witterung andern, damit keine Menschen
mehr krank wurden, konfabulierte in dieser Weise weiter allerlei unsinniges
Zeug. Dabei war er nur voriibergehend zu fixieren, klagte iiber Kopf-
schmerzen und zeigte sich ganz affektlos. Seine Antworten erinnerten an
Vorbeireden, die Reproduktion war sehr erschwert. Die ortliche Orientierung
verlor er dabei nicht. Merkwiirdigerweise loste er in dieser Zeit einige nicht
ganz leichte Rechenexempel. 3x37, 3x63, 3x21) richtig und ziemlich
schnell.
Zwischendurch lag er stumpf und indolent wie benommen im Bett,
klagte nur iiber Kopfschmerzen. Im Laufe einiger Tage traten die aktiven
Elements ganz zuriick, desgleichen hellte sich das BewuBtsein auf. Indessen
blieb wahrend der darauffolgenden mehrmonatigen Beobach tungszeit
ein etwas eingenommener Gesichtsausdruck habituell. Konstant wurde
seitdem eine khnliche Art und Weise auf psychische Anforderungen zu
reagieren festgestellt, wie bei den anderen Kranken.
Die Angabe seines Alters und Geburtstages machte ihm groBe
Schwierigkeiten; wann er ziu Schule gegangen sei, wisse er nicht mehr,
ebenso bei wem er nachher gearbeitet habe, wann er nach B. gezogen sei,
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des Ganserschen Symptoms. 445
wann er geheiratet habe, nsw. Auch wann ihm sein Unfall zugestoBen sei,
hatte er vergessen.
Charakteristisch war seine Art, auf allereinfachste Fragen zu ant-
worten.
Farbe des Himmels ? „Nun blau doch wohl nicht ? — blau, ja, — 44
besinnt sich.
Farbe des Grases ? Besinnt sich lange; „ist doch grim, nicht wahr ?“
Farbe des Kanarienvogels ? „ Ja, der ist doch grau und hell 44 .
Farbe des Blutes ? „Das sieht man doch hier, rot, es kann doch nicht
anders sein 44 (Miene tiefen Nachdenkens).
2x9? . . . „17 . . . nein ... 16 auch nicht . . . 18. 44
3X3? „1 X3=3, 2X3=6, 6+3=9. 44
Wieviel Finger hat der Mensch ? Besieht seine Hand genau — „nim,
5, zusammen 10, ja, 10“.
Das Lesen geschah langsam, etwa nach der Manier eines Kindes von
8 Jahren, langere Worte machten besondere Schwierigkeiten, ab und zu
machte er Fehler; las statt Hauslein = Hauslein, statt Riicken = Biicken,
und so fort.
Beim Schreiben dieselben Schwierigkeiten und Fehler. Ein auf Auf-
forderung verfaBter Brief lautete: ,,Liebe Frau, sei so gut unt kume zu x
mier besuchen. Mit meiner gesuntheit ist nicht am pesten. Josef F.“
Bei Zeichenversuchen zeigte er sich zur Darstellung auch der aller-
einfachsten Formen nicht imstande. 1 Jahre habe 11 oder 12 Monate, genau
wisse er es nicht, eine Woche habe 6 Tage. Der Kaiser heifle Wilhelm, der
erste sei es wohl nicht mehr; wann Kaisers Geburtstag ist, wisse er nicht, den
Namen des ersten Reichskanzlers ebensowenig. Die Monate zahlte er folgen-
dermaBen auf: . . . Januar, Februar, Mai, April, April, Mai, Juli, Juni,
Juli . . . Oktober, Dezember. Bei den Wochentagen ahnlich, desgleichen
beim Vaterunser.
Die Merkfahigkeit erschien bei der Prufung nach jeder Richtung Inn
wesentlich herabgesetzt. Ob er schon gefriihstuckt habe, war ihm entfallen.
Aus 8 Bildern 3 vorher gezeigte auszusuchen, gelang unvollkommen (2),
die Zahl 375 wurde nach in 365, nach in 265, nach 1%' in 355 um-
gewandelt.
Kombinatorische Leistungen waren kaum zu erzielen. Seine Wort-
erganzungen waren sinnlos, einfache Ratsel wurden trotz scheinbar intensiver
Anlstrengung nicht gelost, einmal aber kam bemerkenswerterweise statt der
Losung ,,Kirschbaum“ die Losung „Kirchhof“ heraus. Beim Benennen von
Bildern fiel ihm teils das Wort nicht ein, teils erkannte er nach seiner Angabe
das betreffende Bild gar nicht (z. B. GieBkanne, Schneemann), einige wurden
rich tig benannt, bei einigen der Gattungsname angegeben (Blume statt Rose,
Vogel statt Gans). Bei Wahlreaktion ergaben sich ahnliche Resultate.
Der Definition von Begriffen und Prazisierung von Unterschieden
gegeniiber benahm er sich vollig hilflos.
Auftrage fiihrte er verlangsamt und schwerfallig aus, einmal gelang
es ihm aber nicht, eine Ttir aufzuschlieBen. Er wahlte zunachst einen offen-
kundig falschen Schliissel, steckte den richtigen falsch hinein und wurde
mit dem Auftrag nicht fertig.
Das Sensorium war wahrend dieser Untersuchungen trotz des dosigen
Ausdrucks nicht eigentlich benommen.. S
Auffassung und Aufmerksamkeit waren ganz gut und sanken auch bei
langerer Inanspruchnahme nicht ab. — Trotz der scheinbaren Stumpfheit
und Indolenz waren Gefiihlsregungen doch stets zu provozieren: den Vor-
schlag, ihn in eine Provinzialanstalt oder ins Armenhaus zu verlegen, wies
er entriistet von sich, ebenso lehnte er mit Affekt den wahrend des R«nten-
verfahrens angeregten Vorschlag der Entmiindigung ab.^
F. lebte in den Tag hinein, ohne spontanen Antrieb zur Arbeit. Er
unterhielt sich wenig, las wenig, und bei Versuchen, ihn zu leichter Arbeit
anzustellen, versagte er in der Regel, weil er bald starkere Kopfschmerzen
bekam. Abgesehen von den letzteren auBerte er nur selten hypochondrische
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Haenisch, Zur diagnostischen Bedeutung
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Klagen. Innerhalb dieses Dauerzustandes traten von Zeit zu Zeit in unregel-
maBigen Zwischenraumen, teils im AnschluB an irgendwelche Affekt-
erregungen, teils auch ganz spontan Anfalle von tieferer Benommenheit auf.
F. starrte erst wie geistesabwesend vor sich hin, wobei ihm reichlich Speichel
aus dem halb geoffneten Munde floB, dann stand er auf, ging einige Schritte
und lehnte sich, unverstandlich vor sich hinmuimelnd, an die Wand, dabei
war er etwas erblaBt, und hatte einen frequenten Puls. Die Pupillen zeigten
keine Storung der Reaktion. Nach einer Minute war der Zustand voriiber,
er behauptete dann, nichts davon zu wissen. Die Anfalle waren unter-
einander nicht ganz gleich. Einige Male sank er um, ohne sich zu verletzen.
Zungenbifi, Enuresis, Konvulsionen wurden niemals beobachtet.
Manchmal schlossen sich daran, wenn man sich mit dem Patienten be-
schaftigte, Dammei zustande von ausgesprochen psychogener Farbung. Die-
selben zeichneten sich im wesentlichen dadurch aus, daB die auch gewohnlich
vorhandene Schwierigkeit der Reaktion auf alien Gebieten in noch viel
plumperer Weise zutage trat. Auf korperlichem Gebiet tiaten dabei ab und
zu Zuckungen und Tremor auf. Sich selbst iiberlassen, sprach er einige Zeit
verworren und schwer verstandlich vor sich hin, allmahlich machte dieser
Zustand wieder dem gewohnlichen Verhalten Platz.
Die Anfalle wurden allmahlich seltener, sonst trat im Laufe der mehr
als 7 monatigen Behandlung keine Aenderung ein.
Da die Ehefrau sich weigerte, ihn in Familienpflege zu nehmen, wurde
er ins Armenhaus iibergefiihrt.
Das Folgende ist der dortigen Krankengeschichte entnommen. Die
Anfalle dauerten 2—5', dabei war F. bewuBtlos, hinterher trat Schlaf, oder
Dammerzustand, Oder ein Zustand langsamer Reaktion, zweckloser Hand-
lungen ein. Die Kopfschmerzen bestanden weiter, es bildeten sich hypo-
chondrische Vorstellungen mit Erklarungswahnideen aus; in der rechten
Seite zeigten sich Parasthesien. AeuBerlich war F. geordnet, litt t a gel an g
an Verstimmungszustanden.
Am 7. IX. 1910 trat nach einem Anfall tiefer Sopor ein, Puls und
Atmung horten plotzlich auf, Exitus.
Die Sektion ergab einen Tumor im linken Parietalhirn, wahr-
scheinlich von der Pia ausgehend.
Der Zusammenhang mit dem Unfall wurde im Gutachten
abgelehnt wegen des zeitlichen Ablaufs und weil das Trauma
die rechte, gesund gebliebene Kopfhalfte getroffen hatte.
Das Symptom des Danebenredens, der unrichtigen, oder an-
scheinend iibertrieben miihsamen Beantwortung einfacher Fragen
hatte lange im Vordergrunde gestanden und zur Diagnose psycho¬
gener Pseudodemenz Veranlassung gegeben. Eine Reihe auBerer
Umstande schien ebenfalls dafiir zu sprechen. Die unsicheren An-
gaben der Ehefrau erweckten Zweifel an der Intensitat der
psychischen Veranderungen, der Rentenkampf lieB den EinfluB
von Begehrungsvorstellungen annehmen.
Freilich, uberblickt man im sicheren Besitz der autoptischen
Diagnose retrospektiv die Krankengeschichte, so finden sich
allerlei Zeichen, die auf ein organisches Leiden hindeuten. Dann
ist die sensible Hemiparese vielleieht organisch bedingt, einzelne
pseudodemente Antworten erweisen sich als paraphasisch, unge-
schickte Handlungen deuten auf apraktische Storungen. Auch bei
einzelnen Anfalien ist in der Krankengeschichte schon erwahnt,
daB sie heute „mehr epileptischen Eindruck“ machen. Zum Teil
wird sich die Hemmung und die zeitweise vorhandene Benommen¬
heit als Folge des Tumors erklaren, ein Beweis, daB es gelegentlich
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des Ganserschen Symptoms.
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Schwierigkeiten machen kann, einen hysterischen Stupor you
einem organischen zu trennen.
Derartige Falle, die sich iibrigens nach meinem Eindruck wohl
vermehren lieBen, haben zunachst ein erhebliches diagnostisches
Interesse. Es ist natiirlich fur Therapie und Begutachtung ein
himmelweiter Unterschied, ob wir eine organische oder funktionelle
Psychose diagnostizieren. Die Lehre, die man aus den beigebrachten
Fallen ziehen muB, ist die, daB man bei Feststellung der Pseudo-
demenz nicht halt machen darf. Man muB die Fehlreaktionen
kritisch analysieren. Zum andem aber schlieBt auch die wirkliche
Pseudodemenz ein organisches Leiden nicht aus, und es gilt nun,
das gegenseitige Verhaltnis beider Storungen festzustellen.
Pseudodemente Symptome sind imstande, den wirklichen
Grad der Intelligenzstorung gewissermaBen zu verdecken. Es
mag leicht sein, ihr Vorliegen festzustellen, jedenfalls erschweren
sie die Erkennung des wirklichen Geisteszustandes. Man wird hier
mehr auf indirekte Schliisse angewiesen sein. Ist vorher die In-
telligenz ausreichend gewesen, kann man die psychogene Entstehung
sicher nachweisen, weist in der Anamnese, dem Korperzustande.
und dem allgemeinen Verhalten nichts auf eine tiefgehende Er-
krankung, so wird die Entscheidung mit Wahrscheinlichkeit auf
bloBe Pseudodemenz lauten. Anders aber, wo wie in unseren Fallen
erhebliche korperliche Zeichen organischer Himerkrankung vor¬
liegen. Hier wird man guttun, seine Diagnose und sein forensisches
Urteil unter einer gewissen Reserve zu bilden.
Neben dieser praktischen Bedeutung hat die Pseudodemenz
bei organischen Himerkrankungen noch eine prinzipielle, im Sinne
der von Kraepelin-Nifil aufgeworfenen Fragen. Sind gemeinhin als
,,hysterisch“ bezeichnete Symptome oder Symptomenkomplexe
wie die geschilderte Pseudodemenz als Symptome der organischen
Psychose anzusehen, oder sind wir berechtigt, hier zwei nebenein-
ander bestehende Krankheitsprozesse anzunehmen ?
Wir haben nach und nach so oft ,,hysterische“ funktionelle
Symptome bei zweifellos organischen Krankheiten, Tumor cerebri,
Arteriosklerose, Lues cerebri kennen gelemt, oder vielmehr Sym¬
ptome, die den hysterischen gleichen, daB wir gut tun werden, dies
Nebeneinander auBerst skeptisch zu betrachten. Behandlungs-
bediirftigkeit, Labilitat der Stimmung, Verschiedenheit des Auf-
tretens gegeniiber Arzt und Mitkranken, theatralisches Wesen, alles
das, was man, was. besonders der Laie als hysterisches Wesen be-
zeichnet, konnen wir so oft bei organisch Kranken beobachten, daB
wir hier die Krankheit ,,Hysterie“ besser nicht diagnostizieren, wenn
keine Wunsche und Willensrichtungen nachweisbar sind, die fiber
ein gewisses Beachtungsbediirfnis hinausgehen.
Wir werden daran denken, daB wir ,,hysterische“ Symptome
bei sonst Nervengesunden unter dem EinfluB schwerer geistiger
Erschiitterung finden (ich erinnere mit allem Vorbehalt an den
,,heftigen Weinkrampf“ Bismarcks am 23. VII. 1866, Gedanken und
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Haenisch, Zur diagnostischen Bedeutung etc.
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Erinnerungen, Kapitel 20, IV), wahrend Psychopathen schon bei
Kleinigkeiten dazu neigen. Wir miissen damit rechnen, daB die
organische Krankheit vieles auflost oder auBer Wirkung setzt, was
eine Folge der Erziehung im weitesten Sinne ist, durch uns selbst
und andere. Selbstbeherrschung in geistiger und korperlicher
Beziehung, richtige Kritik an uns selbst und andem, eine sozusagen
objektive Betrachtung auch der eigenen Leiden, gehoren sie nicht
zu den hochsten Leistungen und Zielen des Menschen ? Sind nicht
die, denen sie mehr oder weniger fehlen, Frauen, Kinder ,Ungebildete
auch fur hysterische Erkrankungen besonders disponiert? DaB
so die hysterische Reaktion gewissermaBen praformiert, nur eben
leichter oder schwerer auslosbar ist, diese Annahme iiberhebt uns
wohl in den meisten Fallen der Notwendigkeit, „Hysterie“ neben
organischer Krankheit zu diagnostizieren.
Anders liegt es, wenn bei einer organischen Psychose, einer
Lues, einer eben beginnenden Paralyse, einer Arteriosklerose
voriibergehend Zustande auftreten, die nach Veranlassung, Verlauf,
Symptomen und dauernder Abhangigkeit von den uns bekannten
psychischen Motiven, vor allem Wunschvorstellungen, denCharakter
z. B. der Pseudodemenz tragen. Hier meine ich, hat man das Recht,
von einer hysterischen psychischen Stoning zu sprechen, die als
Komplikation der organischen Erkrankung aufzufassen ist. Ich
halte diesen Fall wohl fur moglich, ohne allerdings ein bestimmtes
Beispiel anfuhren zu konnen. Selbstverstandlich hat bei der prak-
tischen Wiirdigung die organische Psychose als die tiefergreifende
den Vorrang.
Literatur-V erzeichnis.
Es sind nur die in der Arbeit besonders angefuhrten Veroffentlichungen
aufgefiihrt, daneben zwei in neuester Zeit erschienene, die auch die Literatur
der letzten Jahre beriicksichtigen. __
Gamer, Ueber einen eigenartigen hysterischen Danunerzustand.
Arch. f.Psvch. 30. —Derselbe, Zur Lehre vomhysterischen Dammerzustand.
Ebenda. 38. — Moeli, Ueber irre Verbrecher. Berlin 1888. — Nifil,
Hysterische Symptome bei einfachen Seelenstorungen. Zbl. f. Neurol. 1902.
— Raecke, Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Dammerzustandes.
Ztschr. f. Psych. 58.— Henneberg, Ueber das Garwersche Symptom. Ebenda.
61. — Stertz, Ueber psychogene Erkrankungen usw. nach Trauma. Ztschr.
f. arztl. Fortb. 1910. — Bonhoeffer, Wie weit kommen psychogene Krank-
heitszustande vor, die nicht der Hysterie zuzurechnen sind. Ztschr. f. Psych.
68. — Stem, Beitrage zur Klinik hysterischer Situationspsychosen. Arch. f.
Psych. 50. — Flatau, Ueber den Gonserschen Symptomenkomplex. Ztschr.
f. d. ges. Psych. 15.
Gougle
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Buchanzeigen.
449
Buchanzeigen.
Die Onante. Vierzehn Beitrage zu einer Diskussion der „ Wiener Psycho-
analysischen Vereinigung“. Wiesbaden 1912. I. F. Bergmann.
Das Heft bringt 14 Referate zura Abdruck, welche in der Wiener
Psychoanalysischen Vereinigung iiber das Thema Onanie gehalten worden
sind. Die Referate sind im einzelnen verschiedenwertig und nicht gleich
interessant, doch lassen alle eines jedenfalls erkennen, das uns von anderen
Publikationen aus der Schule Freuds bekannt ist: das ernsthafte S ter ben,
die gewissenhafte, eingehende Beschaftigung mit dem zur Diskussion
stehenden Problem. Nur aus diesem Ernst heraus und aus dem damit ver-
kniipften festen Ueberzeugtsein von der Richtigkeit der eigenen Meinung
ist wohl beispielsweise auch die sonst fiir eine wissenschaftliche Arbeit unge-
wohniiche Stelle in der Einleitung zu verstehen, dai3 sich aus dem Beifall
„und vielleicht noch deutlicher aus dem Tadel der Leser“ ergeben werde,
wieweit die von den Vortragenden verfolgte Absicht gelungen sei.
Wir stolen iiberhaupt in dem Heft auf dieselben Harten, die dem
Femerstehenden einen Teil der Arbeiten von Schiilern Freuds schwer genieB-
bar machen; inhaltlich sind dew vor allem Gedankengange und Gedanken-
spr tinge, die dem nicht zu den Eingeweihten gehorigen oft geradezu mittel-
alterlich-scholastisch anmuten, und als deren Stiitzen, wenn andere Beweise
nicht zur Hand sind, mit Vorliebe dew durch die,,Psychoanalyse 4 ‘ konstatierte
„UnbewuBte“ aushelfen muB (vgl. namentlich Sadger); der durch Ver-
anlagung und Beschaftigung weniger lebhaft und weniger dauernd auf
sexuelle Vorstellungen eingestellte und der weniger in rein sprachlichen
Symbolen denkende Leser des Heftes wird notgedrungen gelegentlich ^fo¬
re agieren 44 durch Ausdriicke, die an Kraft die von Rieger dariiber ausge-
sprochenen noch iibertreffen.
Wir sehen aus den Referaten, daB der Begriff der Masturbation von
den Diskutierenden auBerordentlich verschieden weit gefaBt wird, zum Teil
so weit, daB er alles Pragnante verliert, und daB man mit ihm nach Belieben
schalten kann, zum andern Teil wird er prazis definiert und aufgefaBt (z. B.
Reisler), Fur dew, wew man alles eventuell als Ausdruck und Folge der
Mewturbation ansprechen kann, gibt namentlich Sadger erstaunliche Bei-
spiele.
Von einem erheblichen Teil der Referenten wird die Frage nach der
Bedeutung der Onanie als urs&chlichen Faktors bei der Entstehung von Neu¬
rosen stark in den Vordergrund geriickt, wie aus einem Satz im SchluBwort
hervorgeht. gegen den urspriinglichen Willen von Freud selber. Vieles
von dem, was wir dariiber horen, ist verstandig und gut; im allgemeinen
wird vor der Ueberschatzung der schadigenden Wirkung der Onanie gewamt;
Stekel f&llt sogar gleich in dew andere Extrem und lehrt uns: die Neurose ist
eine Folge der Abstinenz, wir sehen die schlimmsten Neurosen, wenn die
Leute die lang geiibte Onanie aufgeben.
Storend wirkt fewt durchgehend die wenig psychiatrische Art der Be-
handlung des Themas; man wird bei der Lektiire die Empfindung nicht los,
als gehore zur Besprechung derartiger Probleme etwas mehr psychiatrische
Schulung (eine erfreuliche Ausnahme macht in dieser Hinsicht eigentlich
nur das lieferat VII und auch das IX.); Folge davon ist die oft wenig prazise
Unterscheidung zwischen speziellem Vorstellungsinhalt und allgemeiner
Vorstellungsrichtung, beispielsweise bei Fallen von anscheinender Melan-
cholie (S. 16, 39), ferner die einseitig symptomatologische Darstellungs- und
Auffa8sungsweise, die Vernachlassigung der pathologischen Gesamtperson-
lichkeit der Patienten gegeniiber dem gerade wichtig erscheinenden Einzel-
symptom, und damit die Ueberschatzung der Berechtigung, die offenbar fast
ausschlieBlich an schweren Psychopathen gewonnenen Erfahrungen ohne
weiteres zu verallgemeinern.
Alles in allem: Hartes und dem Femerstehenden zunachst schwer Ver-
standliches enthalten die Referate genug; wersich entschlieBen kann, daruber
hinwegzusehen, wird mancherlei Anregendes finden. Im wesentlichen sind
es die bekannten Ideen Freuds , welche wiederholt, modifiziert und ausgebaut
werden. P. Schroder- Greifswald.
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450
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Max Kauffmann, Die Psychologic desVerbrech&ns. Berlin. 1912. Julius Springer.
Der Verfasser will una zunachst klarmachen, daB die bisherigen
Bearbeiter eine falsche Methodik angewandt haben. Dabei ergeht er sich
iippig in Paradoxen und k&mpft mit ritterlicher Geste gegen Windmiihlen.
,.In den Berichten der Psychiater liber die schlechten Schulleistungen der
von ihnen untersuchten Personen findet man als Endurteil Schwachsinn;
hier wird regelmaBig der Irrtum begangen, daB man die schlechten Leistungen
als Folge von geistiger Minderwertigkeit betrachtet, statt als eine Folge
der mangelnden Aufmerksamkeit." Wirklich ? Nun, es wird kunftig nicht
mehr vorkommen! Dann erz&hlt uns Herr Kauffmann , wie er mit Ver-
breohem verkehrt hat, wie er in Kneipen, in Ballsalen, in Zuh<ervereinen
und Prostituiertenbuden photographiert und gelauscht, mit Verbrechem
geplaudert und getrunken hat. Dazwischen streut der Verfasser mit frei-
giebiger Hand Apper 9 us und Erinnerungen aus seinen vielfachen, durch
vielseitiges Studium in den Gebieten der Medizin, Jurisprudenz und Philo¬
sophic erworbenen Erfahrungen; aber er kargt dabei mcht mit oberfl&ch-
lichen Behauptungen, widersinnigen Pramissen, haarstraubenden Bana-
lit&ten und sinnlosen Ausfalien gegen Psychiatrie und angebliche Lehren
und AeuBerungen von Psychiatem. Dm Buch ist geschmiickt mit Bildem
von vielen Verbrechem, unter denen ich auch manchen alten Bekannten
wiedergefunden habe, ohne daB Lebenslauf oder Krankengeschichte dieser
Personen den Bildern Bedeutung verleiht. Eingefiigte Essays von Ver-
breohem (liber das Zuhaltertum) vermogen Interesse zu erregen.
Das also ist die richtige Methodik ? Von der pathologischen Psycho-
logie des Verbrechers erfahren wir auBerst wenig. und Verfasser ist uns den
Beweis schuldig geblieben, daB seine Streifziige ins Verbrechermilieu die
Kenntnis der Psyche des Verbrechers gefordert haben. Vielleicht aber liegt
es daran, daB Verfasser zwar mit anerkennenswertem Eifer die Biertisch-
abende der Verbrecher beobachtet hat, daB er aber gar nicht systematiseh
untersuchte. Und daB letzteres uns wirklich nach der Methode des Ver-
fassers besser moglich sein sollte, als in einer Klinik oder in einem Unter
suchungszimmer, davon haben mich die groben Worte gegen die ,.Zunft-
psychiatrie“ nicht iiberzeugt. Immerhin hat Verfasser bei seinen Fahrten
manches Material gesammelt, das bei sachverst&ndiger Bearbeitung sich
als wertvoll und beachtenswert erweisen wird. Forster.
A. Schittenhelm und W. Weichardt, Der endemische Kropf , mit besonderer
Beriick8ichtigungde8Vorkommen8imKonigreich Bayern. Berlin. J. Springer.
Die Verfasser haben sich der Miihe unterzogen, durch eigene Unter-
suchungen und unter Zuhilfenahme der Angaben aller Kreisarzte das Vor¬
kommen des Rropfes im Konigreich Bayern statistisch festzustellen. Dabei
legten sie mit Recht Wert auf den Nachweis auch geringen Kropf es bei
Kindern.
Sie kommen zu demResultat, daB die geologische Bodenbeschaffenheit
nicht als Ursache der Erkrankung in Betracht kommt, daB sie aber an be-
stimmte Wasserlaufe gebunden erscheint. Sie meinen, daB ein lebender
Erreger die Ursache ist (ahnlich dem von Chagas beschriebenen endemischen
brasilianischen Kropf erreger) und daB dieser durch das Wasser iiber-
tragen wird.
Experimentelle Untersuchungen fiihrten bisher zu keinem Resultat:
Verf. fordem zu weiteren experimentellen Untersuchungen, besonders mittels
sterilen Kropfwassers, wie es ihnen im Grundwasser aus Ellgau in der Lech-
ebene zur Verfiigung stand, auf. Forster.
Personalien.
Berlin: Den Professor titel haben erhalten: Priv.-Doz. Dr. Forster.
Oberarzt der psych. Klinik der Kgl. Charite, Dr. Vogt , Vorsteher, und
Dr. Bielschowsky > Abteilungsleiter am Neurobiologischen Laboratorium.
Druckfehlerberichtigung.
In Heft 4, Seite 356, Anmerkung, Zeile 6: lies A u s f u h r unge n
statt Erwidenmgen.
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Weitere Beitrage zur Diagnose und Differentialdiagnose
des Tumor medullae spinalis.
Von
H. OPPENHEIM.
(Hierzu Tafel XX und 2 Abbildungen iin Text.)
I. Ueber den die Symptomatologie des Tumors vortauschenden
EntzundungsprozeB am untersten Ruckenmarksabschnitt.
In einer im Jahre 1911 in der Zeitschr. f. d. ges. Neurol.
(Bd. V) veroffentlichten Abhandlung bin ich an der Hand
eigener, dort mitgeteilter Beobachtungen zu folgendem Hinweis
gelangt: „Haufiger noch als am Kiickenmark kommen im Conus-
Cauda-Gebiet Krankheitszustande vor, die sich in symptomatischer
Hinsicht von den Tumoren dieses Sitzes auf Grund unserer der-
zeitigen Kenntnisse nicht scharf trennen lassen. Ihr pathologisch-
anatomischer Charakter muB noch durch kiinftige Forschungen
erschlossen werden. Am nachsten liegt die Annahme, daB es sich
um chronisch entziindliche Prozesse in der Substanz des Conus und
der Caudawurzeln handelt, die h&ufig von entsprechenden menin-
gealen Entziindungen serofibrosen Charakters begleitet werden.
Ueber den definitiven Ausgang dieses Leidens sind wir nicht unter-
richtet, doch kann es zum Stillstand, vielleicht selbst zur Aus-
heilung kommen. In der Aetiologie spielt vielleicht die Lues und
das Trauma eine Rolle“ usw.
Zur weiteren Illustration dieser Krankheitszustande soli die
folgende Beobachtung dienen.
Der 51 jahrige Kaufmann A. M. wurde mir im November 1911 mit
folgendem Briefe seines Arztes zur Behandlung iiberwiesen: „Stammt aus
nervoser Familie, war selbst immer sehr nervos, leicht aufbrausend, sehr
tatig und energisch. Er war niemals ernstlich krank, nur litt er wiederholt
an akutem Muskelrheumatismus und Gicht. Vor dem Beginne des jetzigen
Leidens (12. III. d. J.) hatte er eine stiirmische psychische Erregung, die
sehr deprimierend auf ihn wirkte. Gleich darauf hatte er iiber Kreuz-
schmerzen zu klagen. Dazu kamen Schmerzen in den Kniegelenken und in
der groBen Zehe des linken FuBes. Die Schmerzen traten intermittierend
mit groBer Heftigkeit auf. Dabei war das Nervensystem vollkommen zer-
riittet, der Wille wie gelahmt, er zeigte charaktoristische Erscheinungen
von Hysterie. ,Es konnte sehr leicht dabei eine Suggestion im Zustande des
Wachens hervorgerufen werden; es geniigte hierzu ein energisch aus-
gesprochener Befehl.* Er siedelte in eine Anstalt fur Nervenkranke iiber,
in der er 5 Monate verblieb. Die Schmerzen im Kreuz und in den Beinen
lieBen nach,aber das Gehvermogen war gestort und das Harnlassen erschwert,
Er konnte nur miihsam gehen und nur sitzend den Urin entleeren. Hinzu
Monatsschrift f. Psychiatrie n. Neurologie. Bd. XXXUI. Heft 6. 30
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452
Oppenheim , Weitere Beitrage zur Diagnose
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kamen Schmerzen in der Regio pubis, am Penis und am Scrotum ohne
lokalen Befund. Keine Konkremente, keine Geschwulst; die Prostata in
atrophischem Zustande. Da sich einige Hamorrhoidalknoten und Fissura
ani fand, wurden die Blasenerscheinungen als reflektorische, vom Anus
ausgehende, gedeutet. Sie dauerten aber nach Behandlung der lokalen
Storungen fort, steigerten sich sogar zeitweise. Sie konnten also nur als
nervose gedeutet werden, was sich dadurch bestatigte, daB es gelang, durch
Wachsuggestion die Harnentleerung giinstig zu beeinflussen. Aber e.s
stellte sich in der letzten Zeit eine Incontinentia urinae ein, die hoffentlich
durch Suggestion beseitigt werden kann.“ Was das Gehen anbetrifft, so
war, nachdem der Pat. in der Anstalt einen Monat im Bett verblieb, eine
Unsicherheit mit rasch eintretender Miidigkeit zu beobachten. Es wurde
ihm erklart, daB die Unsicherheit des Ganges durch das lange Liegen her-
vorgerufen worden sei. So wurde von ihm gefordert, da £ er sich befleiBige,
zu gehen. ,,Die objektive Untersuchung des Nervensystems erwies keine
Symptome von organischer Erkrankung.“ Es muB hier nur darauf hin-
gewiesen werden, daB die Patellarreflexe trage sind und waren. „Im Juli
und August war im Gehen eine bedeutende Besserung eingetreten; der
Kranke war imstande, Spaziergange zu machen, die 54 bis 1 Stunde
dauerten. Aber nachher trat eine Verschlimmerung ein, die hauptsachlich
darin bestand, daB ihn eine Angst befiel; er fing an zu taumeln, und
schlieBlich stiirzte er um, dabei kam es zu schwerem Atmen, Gahnen etc.
In meiner Anwesenheit, bei strengem Befehl konnte ein Anfall ver-
mieden werden, und wenn der Kranke auch versicherte, daB er nichfc
imstande sei, auf den FiiBen zu stehen, gelang es mir doch, ihn zum regel-
maBigen Gehen zu bewegen; aber gleich darauf (in meiner Abwesenheit)
konnte er nicht einen Schritt machen. Psychische Aufregungen ver-
schlimmerten den Zustand. Wenn die Aufmerksamkeit auf andere Dinge
gelenkt wurde, war der Gang ganz gut. Die Bewegungsstorungen tragen
im allgemeinen den Charakter eine Basophobie. Was den Allgemeinzustand
des Pat. betrifft, so ist er im ganzen gut, seine Emahrung hat nicht ge-
litten; der psychische Zustand ist ein viel besserer, als er im Anfang
der Krankheit war.“
So weit der Bericht des Hausarztes.
Bei der ersten von mir in der Sprechstunde am 10. XI. 1911
vorgenommenen Untersuchung machte Patient die Angabe, daB
er im Mfirz d. J. nach einer groBen Aufregung von Schmerzen im
Kreuz und in den Beinen befallen worden sei. Dazu habe sich erst
Dysurie, dann Incontinentia urinae gesellt, im weiteren sei eine
Gehstorung eingetreten, die suggestiv gebessert sei. Er habe
3 Kinder, sei niemals geschlechtskrank gewesen. Auch habe die
bisher ausgefiihrte spezifische Kur seinen Zustand nicht gebessert.
Ueber das Ergebnis der ersten Untersuchung enthalt mein
Journal nur folgende Notizen:
Stark lordotische Haltung der Lendenwirbels&ule beim Gehen,
Kniephanomen scheint rechts zu fehlen, ist links stark abge-
schwacht, Achillesphanomen fehlt in der Riickenlage beiderseits;
es besteht eine Schwache im Ileopsoas und in der Wadenmuskulatur.
Zirkumanale Hypalgesie und Thermhypasthesie, keine Ver-
anderungen am Riicken bzw. an der Wirbelsaule.
Diagnose: Affektion im Conus-Cauda-Gebiet, und zwar Menin¬
gitis serofibrosa (auf gichtischer Grundlage ?) oder Neubildung.
Daneben hysterische Abasie. Auch auf Lues weiter zu fahnden.
Empfohlen: Aufnahme ins Hansa-Sanatorium, Rontgen-
ruitersuchung und Priifung auf Wassermannsche Reaktion. Be-
handlung nach weiterer Untersuchung zu bestimmen.
Go i igle
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
453
Genauere Untersuchung im Hansa-Sanatorium am 16. XI.
Pat. klagt iiber Gehstorung infolge eines Gefiihls von Schwache und
Mattigkeit in den Beinen, iiber ein Einschniirungsgefiihl am linken Ober-
schenkel. Er betont die groBe Abhangigkeit seiner Beach werden von
psych ischen Einfliissen. Ferner klagt er iiber betrachtliche Erschwerung
des Harnlassens, besonders in den letzten Tagen; er hat z. B. eben nur mit
groBer Miihe 10 ccm Urin entleert, iiber starke Abnahme der Potenz, seltene
Erektionen, Taubheitsgefiihl am Penis und an der AuBenflache des linken
Oberschenkels. Zeitweise stellen sich Parasthesien und heftige krampfhafte
Schmerzen im linken, weniger im rechten Bein und der Sohle nach der
Wade zu ein, die auch manchmal mit Zuckungen verbunden seien. Er betont
auch Schmerzen in der rechten Schulter: Enorme Keizbarkeit besonders
bei kleinen Ursachen, MiBtrauen und sehr labile Stimmung.
Status praesens: Kniephanomen ist jetzt links ganz normal, rechts
zwar abgeschwacht, aber deutlich vorhanden. Keine sichtbare Muskei-
atrophie. Das linke FuBgelenk ist im ganzen aufgetrieben, geschwollen,
auBerdem besteht hier ein deutliches Hautodem, rechts etwas weniger aus-
gesprochen; Haut an den FiiBen kiihl und cyanotisch. Pulsation an der
Art. dorsalis pedis undeutlich zu fiihlen, rechts deutlicher; an der Art.
tibialis post, durch das (idem verdeckt. Feraenphanomen fehlt beider-
seits, auch bei Priifung in knienderStellung. Sohlenreflex nicht deutlich,
keine spastischen Reflexe.
Aktive Bewegungen des rechten Beines: Am meisten beschrankt ist
die Hiiftbeugung sowie die Dorsal- und Plantarflektion des FuBes; im
ganzen ist es aber nur eine maBige Schwache, deren Intensitat sehr wechselnd
sein soil. Das linke Bein ist im ganzen etwas schwacher als das rechte.
Sensibilitat: Pinselberiihrungen warden am linken Bein (iberall
gefiihlt. Unterscheidung von Pinsel und Druck ist unsicher, aber bei weiterer
Priifung ergibt es sich, daB diese Unterscheidung nur am FuBriicken wirklich
beeintrachtigt ist. Nadelstiche werden iiberall deutlich gefiihlt, am FuB,
besonders am rechten, besteht Hypalgesie. In der zirkumanalen Gegend
sind die Angaben bei der Sensibilitatspriifung sehr unsicher; bald empfindet
er die Beriihrung gar nicht, bald verwechselt er sie mit Nadelstich, die
psychische Erregung spielt dabei eine Rolle. Es besteht aber sicher eine
zirkumanale Hypalgesie , die sich auch auf den Damm erstreckt. Analreflex
links lebhaft, von rechts her nicht auszulosen.
Es besteht eine Lordose der Lendenwirbelsaule, die sich namentlich
beim Gehen deutlich markiert. Druck auf die Wirbel wird an keiner Stqlle
.schmerzhaft empfunden, ebensowenig die Perkussion. Rontgen negativ.
Bauch- und Kremasterreflex lassen sich zurzeit nicht auslosen (doch sind
die Bauchdecken sehr gespannt). Incontinentia urinae.
Sehnenphanomene an den Armen nicht erhoht. Handedruck kraftig.
In den Handen weder Ataxie noch Tremor.
Ophthalmoskopisch normal. Pupillenreaktion prompt; linke Pupille
•etwas weiter als rechte. Puls von gewohnlicher Frequenz. Am Herzen
nichts Abnormes.
Die elektrische Untersuchung ergibt in der linken Waden- bezw. Unter-
schenkelmuskulatur partieUe Entartungsreaktion , in der rechten quantitative
Abnahme der Erregbarkeit.
Die BltUuntersuchung auf Wassermannsche Reaktion hat ein negatives
Ergebnis; von der Liquoruntersuchung wird auf Wunsch des Pat. Abstand
genommen.
Die Diagnose muBte auf einen KrankheitsprozeB im Bereich
des Conus oder der Cauda equina gestellt werden, der aber dann
wegen der Beteiligung des Ileopsoas hoch oben im proximalen
Gebiet im Bereich des Conus seinen Sitz haben muBte.
Natiirlich war schon im Hinblick auf die Intensit&tsschwan-
kungen der Symptome in erster Linie an Lues zu denken. Aber
30*
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454
Oppenheim, Weitere Beitr&ge zur Diagnose
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Anamnese, Korperuntersuchung und Blutreaktion hatten ein
negatives Ergebnis, und die schon ausgefuhrte spezifische Kur,
iiber deren Intensitat und Dauer allerdings keine Angaben vor-
Jagen, hatte keine Besserung herbeigefiihrt. Es kam dann eine
Neubildung sowie ein einfacher EntziindungsprozeB — eine
Meningitis serofibrosa — im Conus-Cauda-Gebiet in Frage, und es
muBte im Hinblick auf die gichtisehe Diathese und die zurzeit
noch bestehende Gelenkschwellung an die Moglichkeit eines spinal-
meningitischen Entziindungsprozesses auf dieser Grundlage gedacht
werden. So wurde zunachst nebendem entsprechenden diatetischen
Regime Atophan, lokale HeiBlufttherapie und Radiogenbehandlung
in Anwendung gezogen, an deren Stelle spater, als das Leiden keine
Besserung zeigte, Jodkalium (nach dem mir vorliegenden Rezept
10,0 : 200, zeitweilig 6,0 : 200) und eine Inunlctionskur trat.
4. XII. Pat. klagt heute iiber einen Schmerz im rechten Knie- und
Fufigelenk; eine Schwellung ist nicht nachweisbar. Kondylen auf Druck
empfindlich, doch spielt dabei die psychische Hyperasthesie eine Rolle.
Schwache heute besonders in den linksseitigen Hiiftbeugern und in
den FuBbeugern.
Am 5. XII. iiberwies ich den Pat. Herrn Kollegen Weintraud in Wies¬
baden mit folgendem Brief: ,,Herr M. war immer sehr nervos und im-
pressionabel, hatte auBerdem wiederholentlich gichtisehe Affektionen.
Ueber Lues nichts bekannt, Wassermann im Blut negativ. Im Marz d. J.
groBe Aufregung, danach Schwache der Beine, Unsicherheit, Blasenstorung.
Zustand im ganzen sehr wechselnd und von psychischen Momenten so ab-
hangig, daB sein Leiden in RuBland (auch von Nervenarzten) als hysterische
Abasie gedeutet war. Das ist ein grober Irrtum, aber Hysterie ist als Begleit-
erscheinung anzuerkennen. Im iibrigen handelt es sich sicher um eine
schwere Erkrankung des Conus-Cauda-Gebietes, wahrscheinlich des letzteren.
Es findet sich: Abschwachung der Kniephanomene, Fehlen des Fersen-
phanomens beiderseits, Parese mit Muskelatrophie, besonders im linken
Bein, mit Ea R im Triceps surae, anogenitale Hypasthesie bzw. Hypalgesie,
Incontinentia urinae, Impotenz etc. In Frage kommt ein gichtischer
ProzeB (zuinal auch jetzt Schwellung der FuBgelenke besteht) oder eine
Neubildung bzw. Meningitis serosa circumscripta an der Cauda.
Ich bitte Sie, sich des Pat. bei seiner Badekur anzunehmen, auBerdem
w'are es ratsam, nach einiger Zeit eine LuTnbalpunktion (moglichst tief)
vorzunehmen: 1. um festzustellen, ob der Liquor direkt eine Rolle spielt,
2. um diesen auf spezifische Reaktionen einerseits, auf Geschwulstzellen
andererseits zu untersuchen., Tch ware Ihnen dankbar, wenn Sie mich
wegen des bemerkenswerten Falles auf dem laufenden halten wollten. 4 *
Pat. blieb bis Anfang Januar in Wiesbaden. Ueber den
dortigen Aufenthalt bzw. die arztlichen Beobachtimgen liegen nur
ein paar Notizen vor. Eine wesentliche Veranderung hat der Zu-
stand dort nicht erfahren.
Die Lahmungserscheinungen waren von wechselnder Intensitat und
besonders vom psychischen Befinden abhangig. Es bestand dauemd Blasen-
schwache, und er muBte taglich katheterisiert werden. Er hat in Wies¬
baden 20 Bader genommen und ist taglich galvanisiert worden. Riickkehr
a us Wiesbaden ins Hansa-Sanatorium am 15. I. 1912.
16. I. Er klagt jetzt iiber Brennen und Schwache in den Beinen,
sowie iiber eine Art von Fremdkorpergefiihl in der linken Sohle. Im Kreuz
und Riicken verspiirt er zeitweise Schmerzen. Er kann eine Zeitlang ohne
Stock durehs Zimmer gehen, muB sich dann ausruhen. Einige Male hatte
rr Wadenkrampfe. Es besteht kein Oedem. Das Bestreichen der Haut
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und Differentialdiagnose dee Tumor meduliae spinalis. 455
an den Unterschenkeln und FiiBen wird schmerzhaft empfunden; ebenso
der Druck auf die Wadenmuskulatur.
Kniephanomen links nur mit Jendrassik auszulosen, rechts normal.
Die Beugung des linken Unterschenkels wird mit sehr geringer Kraft
ausgefiihrt, rechts mit guter Kraft; die Streckung ist beiderseits eine voll-
kommene. Dorsalflexion des linken FuBes mit geringer Kraft, besonders die
Abduktion; Plantarflexion etwas kraftiger. Rechts ist die Dorsalflexion
des FuBes wohl etwas schwach, aber nicht so wie links, Plantarflexion ganz
kraftig. Auch die Zehenbewegungen links schwacher als rechts.
Druck auf die Lendenwirbelsaule wird nicht schmerzhaft empfunden.
Sicher besteht Hypalgesie in der rechten Zirkumanalgegend, sie
erstreckt sich ein Wenig auf die Innenseite des Obersehenkels nach dem
Damm zu. An der linken Wade und in der Gegend der Achillessehne werden
leise Beriihrungen nicht gefiihlt. Auch auf der Dorsaiflache des rechten FuBes
besteht Hypalgesie. Lagegefiihl in der linken groBen Zehe herabgesetzt.
rechts nicht. Beim Ergreifen der groBen Zehe schreit er laut auf, doch
spielt dabei das psychische Moment eine Rolle.
Die Auftreibungen an den FuBgelenken sind (dank der Wiesbadener
Kur ?) geschwunden. Pat. richtet sich aus der Riickenlage gut auf. FiiBe
immer kalt und cyanotisch. Druck auf Tuber ischii wird beiderseits etwas
schmerzhaft empfunden. Perkutorisch nichts Abnormes.
20. II. Die Motilitat im rechten Bein ist frei. Die Bewegungen
im linken Bein in alien Gelenken ausfiihrbar, nur ist die Beugung und
Streckung im FuBgelenk etwas schwacher wie rechts, doch ist die Schwache
keine erhebliche. In der rechten Genitalgegend und besonders im obersten
Viertel des Obersehenkels an der Hinterseite Hypalgesie. Das Fersen-
phanomen fehlt auch beim Knien, wahrend das Kniephanomen zu er-
zielen ist.
28. II. Keine wesentliche Aenderung.
11. III. Pat. klagt zurzeit viel liber Taubheitsgefiihl in der Leisten-
gegend. Kremasterreflex nicht auszuldsen. In der rechten Leistengegend
wird nur an einzelnen Stellen Stich nicht schmerzhaft, sondem als Be-
ruhrung empfunden. In der rechten Glutaalgegend taktile Anasthesie in
Ausdehnung von etwa Handbreite. Auch in der rechten Wadengegend
an einigen Stellen taktile Anasthesie. In der rechten Glutaalgegend
Analgesie. An der Hinterseite des rechten Obersehenkels und Wade einige
hypalgetische Stellen.
Keine Druckeinpfindlichkeit in der Kreuzbein-Lendenwirbel-Gegend.
Eine Thermanasthesie findet sich in der rechten Zirkumanalgegend
und zum Teil auch an der Hinterseite des Obersehenkels Sie erstreckt siph
auch auf das Scrotum.
Das Ergebnis der elektrischen Untersuchung entspricht dem friiheren,
nur fallt es auf, daB im Sphincter ani ext. die elektrische Erregbarkeit
erhoht ist.
In Bezug auf die Motilitat ist nur insoweit eine Verschlechterung ein-
getreten, als Pat. die Glutaalinuskeln nicht kraftig gebrauchen kann.
Nachdem sich unter dem EinfluB der antisyphilitischen
Therapie der Zustand eher verschlechtert hatte, muBte die operative
Behandlung dringender empfohlen werden. Der Pat. und seine
Angehorigen verlangten in dieser Frage noch das Urteil des Ge-
heimrat Z. zu horen, dereinenTumorimCaudagebietdiagnostizierte
und die chirurgische Behandlung energisch befiirwortete. Ich
uberwies den Pat. an Prof. Krause mit folgendem Bericht:
„Bei Herrn M., der von Haus aus ein sehr nervoser Mensch ist, hat
sich im Marz v. J. angeblich nach groBen Erregungen einerseits eine hysteri-
sche Abasie, andererseits eine Affektion desConus-Cauda-Gebietes entwickelt.
Die Hauptsymptome des mit Schmerzen einhergehenden Leidpns sind
Hamverhaltung, Fehlen des Fersenphanomens, Abschwachung des Knie-
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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
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phenomena, atrophische Parese leichten Grades in den Unterschenkel-
muskeln, besonders im Bereich des linken Tibialis post, mit partieller Ea R
sowie in den Glutaalmuskeln, Sensibilitatsstcrungen, die am ausgesprochen-
sten in der rechten Glutaalgegend und an der Hinterflache des Oberschenkels
sind, aber auch links nicht fehlen. Wirbelsymptome fehlen. Eine gewisse
Schwache besteht auch im Ileopsoas, wie sich in letzter Zeit auch die
Sensibilitatsstorung bis in die Skrotal- und Leistengegend erstreckt.
Art und Entwicklung des Leidens muBten von vomherein an einen
Tumor denken lassen, aber die Erfahrungen, die wir gerade auf diesem
Gebiet vielfach gemacht haben [Fall Engel 1 ) ist Ihnen ja auch bekannt],
sowie der sehr remittierende Verlauf zwingen doch, mit der Moglichkeit zu
rechnen, daB ein anderweitiger ProzeB (Meningitis serofibrosa oder dergl.)
im Spiele ist.
Diese Erwagung veranlaBte mich, zunachst ableitende, diaphoretische
und resorbierende Kuren in Anwendung zu ziehen. Da aber in der letzten
Zeit eine deutliche Progression zu konstatieren ist, muBte ich den wider-
strebenden Kranken zur Operation drangen. Nach der Symptomatologie
sitzt der ProzeB oben an der Cauda, so daB es ratsam ist, die Laminektomie
am II. und III. Lendenwirbel vorzunehmen. 44
Operation (I F. Krause) am 15. III. 1912. Chloroformnarkose. Wegnahme
zunachst des Bogens der III. Vertebra lumbalis und dann des II.
Der vorher markierte Proc. spin, des III. Lendenwirbels wurde in
typischer Weise freigelegt und mit der Horsleyschen Zange fortgenommen.
Beim Frasen des Bogens zeigte sich seine besondere Dicke, die den Gebrauch
der Dahlgrenschen Zange unmoglich machte. Auch die rechte und linke Halfte
des Bogens wurde mit der Horsleyschen Zange durchschnitten. Die Seiten-
teile, die den Duralsack noch bedeckten, wurden daraufhin mit der Luer -
schen Zange und der neuen HohlmeiBelzange so weit fortgenommen, daB der
groBte Teil der Zirkumferenz des Duralsacks freilag. Fur die Freilegung des
Riickenmarkes muBte der II. Lendenwirbelbogen in gleicher Weise entfemt
werden. Der Duralsack pulsierte nicht. Als er inzidiert worden war, stromte
Liquor im Strahl heraus. Die Wurzeln der Cauda equina sahen grau aus,
waren infolge von GefaBinjektion stellenweise gerotet und zeigten eine
eigentiimliche Fragmentierung. WeiBe Wurzeln waren kaum vertreten.
Die intradurale Sondierung 5 cm nach oben und nach abwarts stieB auf kein
Hinderni8. Der untere Teil des Conus war gleichfalls zwischen den Wurzeln
sichtbar. Eine Geschwulst wurde nicht gefunden. Naht der Muskeln und
der Faszien. 44
Ich selbst hatte mir im AnschluB an die Operation, bei der ich zugegen
war, notiert: ,,Dura sehr gespannt, keine Pulsation, starke Liquoransamm-
lung, Wurzeln ganz grau, diinn und Hyperamie. Conus auBerlich nicht
verandert. 44
17. III. Eine genaue Untersuchung ist natiirlich heute nicht vorzu¬
nehmen. Man beschrankt sich darauf, festzustellen, daB keine Lahmung
und keine Anasthesie besteht. Man kann sogar sagen, daB Beriihrungen
an den vorderen Partien der unteren Extremitaten libera 11 empfunden
werden. Pat. klagt iiber Schmerzen in den unteren Extremitaten beim
Husten, die aber nicht erheblich zu sein scheinen. Harndrang will er ver-
spiiren.
25. III. Kniephanomene in der Riickenlage bei unvollkommener
Untersuchung nicht zu erzielen. Die Beine konnen nicht von der Unter-
lage emporgehoben werden, doch sind in alien Gelenken Bewegungen, wenn
auch in unvollkommener Ausdehnung, erhalten und nicht am schlechtesten
in den FuBgelenken. Die Sensibilitatsprufung beschrankt sich auf die
Vorderflache der Extremitaten, an welchen an den meisten Stellen Be-
riihrungen und Stiche gefiihlt werde. Letztere werden sehr schmerzhaft
empfunden. Stuhlverstopfung und Incontinentia urinae. — Passive Be-
2 ) Siehe Oppenheim, Beitrage z. Path. d. Ruck. Zeitschr. f. d. ges.
Neurol. V. H. 5. S. 644.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 457
wegungen werden namentlich am linken Bein schmerzhaft empfunden. Dio
Cystitis macht Blasenspiilungen mit Albargin erforderlich. Stuhl durch Ein-
lauf. Medikamente: Brom innerlich und subkutane Morphiuminjektionen.
In den ersten Tagen nach der Operation Temperaturerhohung bis
39,2, dann ca. 14 Tage normale Temperatur (resp. subfebrile, einige Male
bis 38°).
Vom 4. IV. ab verachlechtert sich daa Allgemeinbefinden, es entwickeln
sich Zeichen von Herzschwaehe, Erechopf lings- und Verwirrungszustande
bei ganzlichem Versagen des Appetite. Der Puls erreicht eine Frequenz von
132 und sub finem vitae bis 150. Unter den Erscheinungen der Herzldhmung
erfolgt am 17. IV. der Exitus.
Am 9. IV. hatte die letzte Untersuchung des Nervensystems durch
Dr. Cassirer stattgefunden, liber die mir folgende Notizen vorliegen:
In der Zirkumanalgegend sicher keine Anasthesie, rechts nur eine
hypasthetische Zone. Am Scrotum scheint hinten links und rechts
Anasthesie und Hypalgesie zu bestehen, doch ist eine exakte Priifung
nicht mdglich. Kniephanomen links deutlich, rechts nicht zu erzielen.
Fersenphanomen fehlt beiderseits. Es besteht jedenfalls keine Lahmung
der Extensoren des FuOes und der Zehen und auch nicht in den Beugem
des Fufles. Am Oberschenkel werden alle Muskeln bewegt, nur zum Er-
heben der Beine ist er nicht zu bewegen.
Die Obduktion konnte nur unter schwierigen Verhaltnissen
ausgefiihrt werden, und es wurde nur die Herausnahme des unteren
Riickenmarksabschnittes erlaubt.
Ueber den makroskopischen Befund habe ich am 20. IV.
folgende Notizen gemacht:
Uebergeben wird in Formol gehartet der unterste Riickenmarks-
abschnitt bis zum oberen Ende des Lumbosakralmarkes und die Cauda
equina. An der Dura nichts Abnormes sichtbar. An der Grenze zwischen
Lumbal- und Sakralmark eine artifizielleVerletzung (von den Manipulationen
bei der Obduktion herriihrend). Die Wurzeln der Cauda sind nicht mit-
einander, auch nicht mit der Dura verwachsen, aber zum Teil grau verfarbt.
Auch die Innenseite der Dura ist frei. Die Pia zoigt keine Veranderungen,
nur einige eingelagerte Knochenplattchen.
Es wird ein Durchschnitt durch den Conus gelegt in der Hohe von S I
und S II. Die Zeichnung des Riickenmarks ist deutlich zu erkennen, aber
namentlich der hintere Abschnitt erscheint etwas bunt und verwachsen.
Dasselbe gilt fur einen Querschnitt im mittleren und oberen Lumbalmark.
Nach oben zu ist an der Hinterflache des Riickenmarks eine starke Ent-
wicklung der Venen auffallig. SchlieBlich wird noch ein Schnitt durch das
unterste Sakralmark gelegt, der nichts Besonderes ergibt.
Mikro8kopi8cke Untersuchung: Ein kleines Stiickchen aus dem Sakral¬
mark, welches nach dem ATi/Mschen Verfahren bzw. mit Kresylviolett oder
Toluidinblau behandelt wurde, ergab folgende Veranderungen (Prof.
Cassirer): „Infiltrationen teils um die Gefafie herum, teils dirfus in den
Meningen. Die Infiltrationen bestehen aus verschiedenartigen Zellen.
Zum gro&ten Teile sind es einkernige lymphozytare Elemente, vereinzelte
polynukleare Leukozyten, lang ausgestreckte Fibroblasten mit chromatin-
reichen Kemen, ganz vereinzelt geschwollene endotheliale Zellen sowie
Plasmazellen (deren Kern deutlich in Radspeichenform erscheint). —
GefaBwande selbst fibros verdickt, zum Teil auch hyalin verandert:
Ganglienzellen zum Teil gut erhalten.“
Das ganze Lumbosakralmark wurde nach Hartung in Mullcr&cher
Fliissigkeit und Farbung der Schnitte teils mit Gieson-Alaunhamatoxylin,
teils nach Weigert von mir untersucht.
Der Krankheitsprozefi erstreckt sich vom Conus bis ins untere Lumbal¬
mark, hat aber in den sakralen Gebieten seine starkste Entwicklung. Er
kennzeichnet sich als ein Entziindungsprozefi.
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Oppenheim , Weitere Beitrage zur Diagnose
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Besonders auffallend (s. die Figg. A und B) ist die GefeBneubildung
in der grauen Substanz sowie die Veranderungen in den Meningen. Die
graue Substanz des Conus und Epiconus ist von neugebildeten GefaBen
durchsetzt, deren Wandungen zum Teil vcrdickt sind. Ferner finden sich
hier frische Hamorrhagien. Die Ganglienzellen sind im Conus zum groBen
Teil zugrunde gegangen oder zeigen Veranderungen im Sinne der Degene¬
ration und Schrumpfung. Das Netzwerk der markhaltigen Fasern ist wohl
auch gelichtet, doch fst die Mehrzahl gut erhalten.
Die weiBe Substanz ist im ganzen in geringem MaBe betroffen. Die
Veranderungen finden sich hier vornehmlich am peripherischen Saum im
Bereich der Meningen und der auffallend verbreiterten gliosen Randschicht.
Es handelt sich hier um einen teils diffusen, teils herdformigen Faser-
schwund, wahrend die faserigen Element e der Glia vermehrt sind und an
einer Stelle (s. Fig. B) eine fast geschwulstartige Wucherung fibrosen Ge-
webes im Randgebiete des Markes auftritt. Hier und da besteht wohl auch
eine Vermehrung zelliger Elemente, doch handelt es sich nirgends um An-
haufungen, um groBere Infiltrate, um Granulationsbildungen. Auch
gummose bzw. nekrobiotische Prozesse finden sich an keiner Stelle.
Die Meningen sind an den meisten Stellen mehr oder weniger verdickt,
am ausgesprochensten im Bereich der vorderen Fissur, an der es im Gebiet
des Epiconus zu einer Verwachsung durch Bindegewebswucherung ge-
kommen ist. Auch die hier verlaufenden GefaBe nehmen an der Erkrankung
teil, ihre Wandungen sind verdickt, und es findet. sich auch eine Arterie
von mittlerem Kaliber, die durch einen konsolidierten Thrombus ver-
schlossen ist.
Die in den Schnitten enthaltenen Caudawurzeln sind zum Teil er¬
halten, andemteils von einer mehr oder weniger betrachtlichen Atrophie
betroffen. Nachtraglich wurien noch Schnitte durch die Cauda selbst
gelegt; in diesen zeigen sich einzelne Wurzeln vollig entartet, andere
stark degenerieit, wahrend der groBere Teil von normale: Beschaffen-
heit ist.
Man sieht wohl auch neu gebildete GefaBe und verdickte Bindegewebs-
septen von den Meningen aus in das Riickenmark hineintreten, aber an
keiner Stelle sind es granulomartige Zellenwucherungen, die zapfenformig
ins Mark einstrahlen. Hier und da besteht wohl eine Kernvermehrung
in den Meningen, aber nirgends ist es zu Rundzelleninfiltraten gekommen.
Zu8ammenfas8ung und EpiJcrise: Ein 51 j&hriger, friiher im
wesentlichen gesunder, aber sehr nervoser, zeitweise von gichtischen
Erscheimingen betroffener Mann ohne syphilitische Antezedentien
und ohne Zeichen konstitutioneller Syphilis erkrankt im Mai 1911
nach einer heftigen psychischen Erregung mit Kreuzschmerzen,
intermittierenden Schmerzen in den Kniegelenken und im linken
GroBzehengelenk. AuBerdem stellt sich groBe Reizbarkeit, hysteri-
sches Wesen und Gebaren sowie eine Dysbasie ein, die von dem
behandelnden Arzte trotz hinzutretender Dysurie und Incontinentia
urinae als hysterische Basophobie gedeutet wird wegen der Suggesti-
bilitat des Pat. und des unbestftndigen Charakters der Erschei-
nungen. Bei der ersten, am 10. XI. 1911 von mir in der Sprechstudne
vorgenommenen Untersuchung fand ich eine Abschwachung des
Kniephanomens, ein Fehlen des Fersenphanomens, Schwache im
Ileopsoas und besonders im Triceps surae, zirkumanale Hypalgesie
und Thermhyp&sthesie, auBerdem Gelenkveranderungen (wahr-
scheinlich gichtischen Charakters). Ich stellte die Diagnose:
Affektion im Conus-Cauda-Gebiet, und zwar Meningitis serofibrosa
(auf gichtischer Grundlage?) oder Neubildung. Obgleich Lues in
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und Different ialdiagiuxse des Tumor inedullae spinalis. 459
Abrede gestellt wurde und auch alle Anhaltspunkte fiir diese
Grundlage fehlten, eine erfolglose Merkurialkur auch voraus-
gegangen war, muBte man doch im Hinblick auf die Natur und
Unbest&ndigkeit des Leidens noch mit dieser Annahme rechnen.
Aber das Ergebnis der Blutuntersuchung war ein negatives.
Bei der nun folgenden Beobachtung und Behandlung des Pat.
im Sanatorium bestatigte sich die Diagnose der Conus-Cauda-
Erkrankung und einer sie begleitenden Hysterie. Wenn die Be-
schwerden und Erscheinungen auch in ihrer Intensitat wechselten
und der psychische Faktor dabei eine groBe Rolle spielte, handelte
es sich doch immer um dieselbe Gruppe von Erscheinungen:
Schmerzen und Parasthesien im Bereich der Sakralwurzein,
Schmerz in der Kreuzgegend, Schwache im Ileopsoas und in den
FuBmuskeln, besonders links, partielle Entartungsreaktion im
linken Triceps surae und Peroneusgebiet, quantitative Abnahme
der Erregbarkeit in den Unterschenkelmuskeln rechts, Fehlen
des Fersenphanomens, leichte Sensibilitatsstorungen am FuBriicken,
ausgesprochenere im Zirkumanalgebiet, besonders rechts und am
Scrotum, Dysurie und Incontinentia urinae, Impotenz, Beein-
trachtigung des Analreflexes von rechts her. Keine Veranderungen
an der Wirbelsaule; auch rontgenologisch normaler Befund.
Verlauf unter Schwankungen, Abhangigkeit der Gehfahigkeit zum
Teil von psychischen Einflussen. Zunachst antigichtisches Regime
(Atophan, Diat, HeiBluftapplikation, Radiogenkur). Befinden im
ganzen unverandert. Vom 5. XII. 1911 bis 10. I. 1912 Badekur
(und Galvanotherapie) in Wiesbaden. Der Zustand bleibt im
wesentlichen derselbe bis auf die Riickbildung der gichtischen Er¬
scheinungen. Eine von mir empfohlene Lumbalpunktion mit
Untersuchung des Liquor auf Syphilis und Geschwulstelemente
kam nicht zur Ausfiihrung, wohl infolge Widerstrebens des Pat.
Von Mitte Januar bis Mitte Marz Jodkur, von Mitte Februar bis
Mitte M&rz Merkurial-Inunktionskur. Nach voriibergehender
Besserung kommt es unter dieser Behandlung im Verlaufe des
Mftrz zu einer Ausbreitung der Parasthesien und Anasthesie auf die
Leistengegend; auch im Bereich der Wade und im zirkumanalen
Bezirk wird die Sensibilitatsstorung deutlicher, und es kommt eine
Schwache der Glutaalmuskulatur hinzu.
Nun schien mir der Zeitpunkt fiir ein operatives Einschreiten
gekommen. Von einem anderen Konsiliarius wurde noch energischer
zur Operation gedrangt. W&hrend dieser die Diagnose Neubildung
stellte, sprach ich mich so aus: ,,Art und Entwicklung des Leidens
muBten von vomherein an einen Tumor denken lassen, aber die Er-
fahrungen, die wir gerade auf diesem Gebiet vielfach gemacht
haben, sowie der sehr remittierende Verlauf zwingen doch, mit der
Moglichkeit zu rechnen, daB ein anderweitiger ProzeB (Meningitis
serofibrosa oder dergleichen) im Spiele ist.“ Bei der von F. Krause
am 15. III. 1912 ausgefiihrten Operation wurde kein Tumor ge-
funden, dagegen eine ziemlich betrftchtliche Liquorvermehrung
und grauliche Verfarbung der Caudawurzeln sowie GefaBinjektion.
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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
Der Conus erschien auBerlich nicht verandert. In der ersten Woche
ist das Befinden ein zufriedenstellendes, die Ausfallserscheinungen
erfahren sogar in einigen Beziehungen eine deutliche Besserung,
dann aber stellt sich ein Erschopfungszustand mit zunehmender
Herzschwache ein, und Pat. erliegt seinem Leiden am 17. IV. 1912.
Die Obduktion wurde verweigert; nur die Herausnahme des
Lumbosakralmarkes und der Cauda konnte erlangt werden.
Die histologische Untersuchung fiihrte zur Feststellung eines
Entziindungsprozesses, einer Meningomyelitis im Bereich des Conus,
Epiconus und unteren Lumbalmarkes mit starkster Entwicklung
des Prozesses im Epiconus. Verdickung und zellige Infiltration
der Meningen, enorme Vaskularisation bzw. GefSBneubildung
besonders in der grauen Substanz des Riickenmarks, arteriitische
Prozesse an den groBeren GefaBen, die zur Wandverdickung, an
einzelnen Stellen auch zur Obliteration gefiihrt haben, Binde-
gewebsneubildung bis zur Entstehimg einer rundlichen Anhaufung
fibrillaren Gewebes an einer Stelle des Riickenmarkssaumes in der
weiBen Substanz, diffuser und herdformiger Untergang der mark-
haltigen Fasern in der weiBen Substanz, doch nur in maBigem
Grade — das sind die Veranderungen, die sich nachweisen lieBen.
Ebenso wie das klinische Bild muBte auch der pathologisch-
anatomische ProzeB den Gedanken einer spezifischen Erkrankung
aufkommen lassen. Indes wurden doch alle typischen und sicheren
Merkmale vermiBt. An keiner Stelle fanden sich die dichtgedrangten
Rundzellenansammlungen des syphilitischen Granulationsgewebes,
ebensowenig nekrobiotische Prozesse bzw. Gummigeschwiilste.
Allerdings konnte man nach zwei Richtungen unsere Unter¬
suchung als eine liickenhafte betrachten (ganz abgesehen davon,
daB eine allgemeine Obduktion nicht bewilligt worden war).
Einmal ist der Liquor cerebrospinalis nicht untersucht worden.
Bei dem negativen Ergebnis der Blutuntersuchung, der unver-
dachtigen Anamnese und der UnbeeinfluBbarkeit des Leidens durch
die spezifische Therapie glaubten wir darauf nicht bestehen zu
sollen. Femer ist eine Untersuchung des Riickenmarks auf Spiro-
chaeta pallida nicht vorgenommen worden.
Bei strenger Kritik muB man also die Moglichkeit bestehen
lassen, daB das Leiden, obwohl es nicht den anatomischen Charakter
der Meningomyelitis syphilitica hatte und auch keine Verdachts-
momente fur diese Grundlage vorlagen, doch auf dieser Basis
entstanden ist. Jedenfalls ist es im Interesse der Klarung dieser
Zustande dringend erwiinscht, daB kiinftige Beobachter alle zu
Gebote stehenden Hilfsmittel der Untersuchung in Anwendung
ziehen, um dem Einwand, daB derartige entziir dlichen Prozesse im
Conus-Cauda-Gebiet doch syphilitischer Herkunft sind, den Boden
entziehen zu konnen. Die Leiter von Kliniken und Krankenhausern
werden da ja in viel giinstigerer Lage sein als wir, die wir in der
Privatpraxis auf viel mehr Faktoren Riicksicht nehmen miissen.
Das Zuzammentreffen des Leidens mit gichtischen Gelenk-
prozessen lieB die Vermutung aufkommen, daB die spinalen Ver-
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
461
anderungen eine gichtische Grundlage hatten; der sichere Beweis
dafiir konnte aber nicht erbracht werden.
Der Fall schlieBt sich ganz eng an die in meiner friiheren
Mitteilung 1 ) geschilderten an, nur daB wir uns dort- auf die Biopsie
beschranken muBten, wahrend hier die pathologisch-anatomische
Natur des Prozesses klargestellt werden konnte. Schon bei einer
der friiheren Beobachtungen deutete der Operationsbefund (,, Quel-
lung und Verdickung der Pia-Arachnoidea, Verwachsungsstrange,
GefaBneubildung; mikroskopisch in den verdickten Arachnoideal-
strangen Anhaufung von Rundzellen, Nekrosen rait GefaBwuche-
rung in Umgebung“ etc., ,,die Substanz des Conus selbst erscheint
verschmalert und gelblich verfarbt“) auf einen chronisch entziind-
lichen ProzeB. Es war wohl auch der Verdacht einer tuberkulosen
Erkrankung aufgetaucht, abererhatte keine geniigende Unterlage.
Mit der heute mitgeteilten Beobachtung ist nun der Beweis
gebracht worden, daB sich auf unbekannter Grundlage eine chroni-
sche Meningomyelitis im Bereich des untersten Riickenmarks-
abschnittes entwickeln kann, die sich in ihrer Symptomatologie
sehr der des Tumors in diesem Gebiete nahert. Da sich unter
radikularen Schmerzen und Parasthesien allmahlich Ausfallserschei-
nungen motorischer und sensibler Natur im Bereich der Sakral-
egmente (spater auch der lumbalen) entwickelten, ist eine sichere
Unterscheidung vom Tumor, soweit ich sehe, iiberhaupt nicht
moglich. Allenfalls hatte in dem beschriebenen Falle der unbe-
standige Charakter der Erscheinungen, die verhaltnismaBig lang-
same, zogemde Progression gegen die Annahme der Neubildung
verwertet werden konnen; aber da die Schwankungen zum groBen
Teil auf Rechnung der koinzidierenden Hysterie gebracht werden
muBten, war auch damit der Diagnose Neubildung der Boden nicht
entzogen. DaB ich trotzdem diese nur mit groBer Vorsicht stellte
und der Moglichkeit eines entziindlichen Prozesses in bestimmter
Weise das Wort redete, diese Zuriickhaltung war eine Frucht meiner
friiheren Erfahrungen.
Ich habe schon in meiner ersten Abhandlung darauf hinge-
wiesen und an der Hand der Literatur dargetan, daB auch gutartige
Krankheitsprozesse im Bereich des Conus und der Cauda vor-
kommen, die spontan oder unter nicht-chirurgischer Behandlung
zur Riickbildung gelangen. Aus der jiingsten Zeit scheint eine
Beobachtung von Nonne hierherzugehoren, iiber die bis jetzt nur
ein kurzer Bericht 2 ) vorliegt unter der Ueberschrift ,,Aus dem Ge-
biet des Pseudotumor spinalis'*. Bei einem jungen Manne hatte sich
unter heftigen und entsprechend lokalisierten Schmerzen das Bild
einer Affektion des Conus terminalis bzw. Conus terminalis und
Cauda equina entwickelt. Aetiologie nicht nachweisbar. Rontgen-
bild negativ . . . Bei der Laminektomie fand sich nichts Abnormes;
Zeitschr. f. d. ges. Neurol. Bd. V. 1911.
2 ) Verhandl. der Gesellschaft deutscher Nervenarzte Hamburg 1912,
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 4 5.
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O p p e n h e i m , Weitere Beitrage zur Diagnose
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kein vermehrter Liquordruck. Nach der Operation zunachst
Paraplegia inferior mit bis zur Hohe des Nabels aufsteigender,
giirtelformig abschneidender Anasthesie. Dann im Laufe von
4 Wochen Riickbildung des Krankheitsbildes zur Norm. Heilung
seit 10 Monaten.“
Es bedarf noch vieler Beobachtungen, um zu erkennen, ob es
sich in derartigen Fallen immer um entziindliche Vorgange handelt,
oder ob noch anderweitige, bisher nicht bekannte Krankheits-
prozesse in Frage kommen.
Wie wird man sich kiinftig angesichts derartiger Erfahrungen
in den therapeutischen Entscheidungen verhalten miissen ? Das
eine steht jedenfalls fest, daB man mit der Empfehlung der Radikal-
operation so zuriickhaltend wie moglich sein soil. Nur bei ent-
schiedener bedrohlicher Progression der Erscheinungen wiirde ich
mich (nach Ausschaltung der Lues) zu chirqrgischem Einschreiten
entschlieBen.
Ebenso konnte das Ergebnis der Lumbalpunktion, besonders
wenn das Punktat Geschwulststellen enthalt, die Indikation be-
griinden helfen. Die LiquorunterSuchung sollte in derartigen Fallen
immer herangezogen werden. Besonders auch deshalb, um nichts
unversucht zu lassen, was zur Feststellung der syphilitischen Grund-
lage fiihren kann. Mit- dieser ist bei den Affektionen des Conus-
Cauda-Gebietes immer zu rechnen, und es sind die entsprechenden
Kuren mit aller Griindlichkeit durchzufuhren. Immer aber behalte
man im Auge, daB einerseits Prozesse im Bereich des untersten
Riickenmarksabschnittes vorkommen, die spo. tar> zum Stillstand
und zur Riickbildung kommen konnen, andererseits Affektionen,
deren Natur nicht genugend erforscht ist und fiir die deshalb auch
einstweilen die Behandlungsgrundsatze nicht aufgestellt werden
konnen.
II. Ueber einen erfolgreieh operierten Tumor im Bereieh
des mittleren-oberen Cervikalmarks.
E. Sch., 12 Jahr© alt, aus N. in Ruflland.
Erste Untersuchiing in meiner Poliklinik am 3. II. 1912.
Anamnese : Seit 2 Jahren hat sich eine Schwache im rechten Arm
und dann auch im rechten Bein entwickelt, die allmahlich zugenommen hat.
Beim Aufsetzen der Spitze des rechten Fufles stellte sich zuweilen Zittem
ein. Das Sehvermdgen hat nicht abgenommen. Kopfschmerz soli sich
zuweilen in der rechten Kopfhalfte einstellen, doch scheint es sich nicht
um erhebliche Beschwerden dieser Art zu handeln.
Ueber die Ursache des Leidens ist nichts festzustellen.
Befund: Augenhintergrund normal. Keine Pulsverlangsamung.
Schadel ohne Besonderheit. Blasse Gesichtsfarbe. Beim Zahnefletschen
Mngt der rechte Mundwinkel etwas. Keine Deviation des Unterkiefers.
Zunge kommt gerade hervor. Keine Erhohung der mechanischen Erreg-
barkeit im rechten Facialis. Masseterreflex nicht erhoht. Rechte Lidspalte
etwas enger als linke, indem das rechte Augsnlid etwas mehr herabhangt.
Augenbewegungen frei.
Auch bei spaterer Untersuchung bleibt es bestehen, dafl der rechte
Mundwinkel etwas tiefer steht ah der linke , aber die Differenz ist keine
erhebliche.
Gck igle
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und Differentialdiagnose des Tumor meduJJae spinalis.
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Druck auf die rechten Querfortsatze der Cervikalwirbel schmerzhaft,
Perkussionsschall in dieser Hohe abgeschwacht. Kopfbewegungen nicht
behindert. Kein wesentlicher Volumenunterschied in der Muskulatur der
oberen Extremitaten. Geringe Hypertonie, am ausgesprochensten beim
Versuch, die pronierte Hand zu supinieren. Es besteht eine erhebliche
Schwache im ganzen rechten Arm; er bringt ihn im Schultergelenk nur
bis zur Hoiizontalen. Adduktion etwas besser. Beugung des Unterarmes
sehr schwach. Im ganzen nimmt die Schwache distalwarts zu. Keine
Ataxie in der rechten Hand. In beiden Handen werden Beriihrungen und
Nadelstiche gut wahrgenommen. Bei Priifung der Stereognostik sehr un-
genaue Angaben, aber beiderseits, an der rechten Hand sind wohl die
mangelhaften Greifbewegungen daran schuld.
Sehnenphanomene an beiden Armen nicht wesentlich gesteigert,
rechts etwas mehr als links. Hypertonie im rechten Bein, FuBclonus, alle
spastischen Reflexe typisch. Schwache im rechten Bein, nicht im linken.
Bauchreflex fehlt rechts, links spurweise erhalten. Heute werden Be¬
riihrungen und Nadelstiche an beiden Beinen gut gefiihlt.
Schadel an den verschiedensten Stellen druckempfindlich, keine
perkutorischen Unterschiede.
Fortsetzung der Untersuchung am 6. II. Die Steifigkeit des rechten
Heines ist sehr groB. Bakinski auch links deutlich. Die Beeintrachtigung
der aktiven Bewegungen ist besonders deutlich in den Full- und in den
Zehengelenken (rechts), ist aber im wesentlichen die Folge der Hyper¬
tonie. Ausgepragte Neigung zu Mitbewegungen von rechts nach links,
umgekehrt weniger. An den FliBen werden Pinselberiihrungen und
Nadelstiche deutlich wahrgenommen, auch das Lagegefiihl ist erhalten.
Am rechten Arm ist die Hypertonie kaum angedeutet, dement-
sprechend sind hier auch die Sehnenphanomene sicher nicht gesteigert.
Es besteht Schwache in der ganzen rechten Oberextremitat, aber die Be-
wegungsbehinderung ist hier geringer als im Beine wegen Fehlens der
Kontraktur. Am linken Bein sicher Anasthesie fiir kalt, an der linken
Planta pedis ist auch das Schmerzgefiihl im Vergleich zu rechts deutlich
herabgesetzt, es handelt sich also uni eine Broum-Sequardsche Lahmung.
Der rechte Mundwinkel steht etwas tiefer als der linke, doch ist die
Differenz keine • erhebliche, ebenso ist der LidschluB rechts eine Spur
schwacher als links.
Der Druck auf die rechten Querfortsatze der Halswirbelsaule ist
schmerzhaft. Perkussionsschall in dieser Hohe abgeschwacht, aber Kopf¬
bewegungen frei. Ganz leichte Beriihrungen werden heute am radiaien
und ulnaren Rande der rechten Hand nicht empfunden. Im ganzen ist
an beiden Armen und mehr noch links das Schmerzgefiihl etwas ab¬
geschwacht, ohne daB sich diese Storung genau lokalisieren laBt. Am
rechten kleinen Finger scheint das Lagegefiihl herabgesetzt zu sein. In
beiden Handen leichte Bewegungsataxie.
Keine deutliche Parese des rechten Phrenicus. Beim Erheben der
Schultern bleibt die rechte urn eine Spur zuriick.
Grobere Storungen der elektrischen Erregbarkeit in der Muskulatur
des rechten Armes nicht nachweisbar.
Die linke Schulter steht etwas tiefer als die rechte, das Schulterblatt
etwas weiter von der Wirbelsaule entfernt, insbesondere steht der innere
obere Winkel rechts hoher als links. Leichte Skoliose nach links. Die
Adduktion und Erhebung der Schulterblatter gelingt. Auswartsrotation
links gut, rechts mit verminderter Kraft. Die Stellunqsanomalie des rechten
SchulterblaUes erkldrt sich im wesentlichen aus Muskelspannung in den
Rhomboidei und im Levator anguli scapulae. Sicher erstreckt sich die Schwache
des rechten Armes auch auf die Erbschen Muskeln. Eine Beteiligung der
oberen Cervikalnerven ist nicht festzustellen. Es ist auch keine Hyper-
asthesie im Bereich derselben nachweisbar.
Diagnose: Hemiplegia spinalis dextra mit Broum-Sequard-
schen Symptomen, allmahlich entstanden, wahrscheinlich lang-
Gck igle
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464
Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
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gestreckte Neubildung im Bereich des rechten Cervikalmarkes;
ob extra- oder intramedullar, ist unsicher.
Nachtrag: Die rechte Lidspalte und rechte Pupille ist eine Spur eager
ala-die linke, die Differenz ist sicher. HeiB wird in der rechten Gesichtshalfte
etwas weniger schmerzhaft empfunden als links. Keine Gaumenlahmung.
Puls maBig beschleunigt. In Bezug auf das Schmerzgefiihl sicher kein
Unterschied zwischen den beiden Gesichtshalften.
Eine Rontgenaufnahme ist miBlungen.
7. II. Die Thermhypasthesie in der rechten Gesichtshalfte bestatigt
sich heute nicht, die Empfindung scheint ungefahr gleich zu sein. Die
motorische Schwache ist im ganzen rechten Arm deutlich und ziemlicli
gleichmaBig in alien Muskelgruppen, aber doch am ausgesprochensten in
der Hand und in den Fingern. Die Hypalgesie am linken FuB ist deutlich.
Das Lagegefiihl scheint an der rechten groBen Zehe herabgesetzt. Die
Thermanasthesie am linken Bein ist sicher. Beim Husten keine Schmerzen.
Die Storung des Schmerzgefiihls erstreckt sich in geringem Grade auch auf
die linke Rumpfseite, eine Storung des Temperatursinns ist hier aber nicht
nachzuweisen. Keine wesentlichen Urinbeschwerden. Es besteht Stuhl-
verstopfung.
10. II. 1912 Aufnahme ins Augustahospital (Geh.-R. Krause)
mit folgenden Notizen aus meiner Poliklinik:
Schadel ohne Besonderheiten. Beim Zahnefletschen hangt der rechte
Mundwinkel etwas. Rechte Lidspalte und Pupille etwas enger als die linke.
Keine Deviation des Unterkiefers. Zunge kommt gerade hervor. Auch bei
spaterer Untersuchung bleibt es bestehen, daB der rechte Mundwinkel
etwas tiefer steht als der linke, aber die Differenz ist keine erhebliche.
Druck auf die rechten Querfortsatze der Cervikalwirbel schmerzhaft.
Perkussions8chall in dieser Hohe abgeschwacht. Kopfbewegungen nicht
behindert.
Am rechten Arm Andeutung von Hypertonie, am ehesten noch bei
der Pronation. Keine Steigerung der Sehnenphanomene. Schwache in der
ganzen rechten oberen Extremitat. Bringt den Arm nur bis zur Horizontalen.
Adduktion etwas besser, Beuger sehr schwach. Die Schwache nimmt
distalwarts zu. Rechtes Bein: Sehr groBe Steifigkeit, Schwache besonders in
den FuB-Zehenmuskeln. Ausgesprochene Neigung zu Mitbewegungen. FuB-
.und Patellarclonus rechts, Babinski rechts, aber sicher auch links. Bauch-
reflex beiderseits nicht hervorzurufen. Anasthesie fur kalt am linken Bein.
Auch sichere Hypalgesie am linken FuB. Das Lagegefiihl an der rechten
groBen Zehe herabgesetzt. Am Rumpf links Herabsetzung der Schmerz-
empfindlichkeit nicht deutlich festzustellen. Im ganzen ist an beiden Armen,
mehr noch am linken, das Schmerzgefiihl herabgesetzt. Ganz leichte Be-
riihrungen werden am radialen und ulnaren Rand der rechten Hand nicht
empfunden. Am rechten kleinen Finger scheint das Lagegefiihl etwas herab¬
gesetzt. In beiden Handen etwas Bewegungsataxie. Keine groberen Sto-
rungen der elektrischen Erregbarkeit. Keine deutliche Parese der rechten
Phrenicus. Hoherstehen des rechten Schulterblattes, im wesentlichen aus
Muskelspannung zu erklaren. Reflex vom Infraspinalis rechts gesteigert.
Keine Beteiligung der oberen Cervikalaste. Im Gesicht keine sicheren
Sensibilitatsstorungen. Keine Blasenbeschwerden.
Diagnose: Hemiplegia spinalis dextra mit Brown-Sequardachen
Symptomen. Allmahlich entstanden, wahrscheinlich langgestreckte Neu¬
bildung im Bereich des Cervikalmarks, ob extra- oder intramedullar, nicht
zu unterscheiden.
Aus dem Krankenjoumal des Augustahospitals.
Pat. gibt an, daB er seit 2 Jahren krank sei. Es stellte sich eine
allmahlich zunehmende Schwache im rechten Arm und Bein ein.
Status: Schwachlich gebauter Knabe. Beim Sprechen und beim
Zahnefletschen wird der rechte Mundfacialis weniger innerviert. als der linke.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
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Obere Extremitaten: Rechte Hand steht in Dorsalflexion und radial
flektiert. Im Handgelenk kann Pat. nur geringe Bewegungen ausfiihren,
ebenso ist es passiv nicht moglich, groBere Bewegungen auszufiihren ( ? ?).
Auch ist eine Bewegung der Finger nur in beschranktem MaBe moglich.
Handedruck ist rechts bedeutend schwacher als links. Der rechte Arm im
Ellbogengelenk etwas gebeugt gehalten, doch kann Pat. ihn vollkommen
strecken. Ebenso sind die Bewegungen im Schultergelenk beschrankt.
Er kann den rechten Arm nicht vollkommen erheben. Linker Arm intakt.
Linke Hand: Fingerbewegungen, namentlich im kleinen Finger, nicht voll¬
kommen moglich. Beriihrungen mit dem Pinsel werden fast stets richtig an-
gegeben, nur an der Ulnarseite des Unterarms werden sie zum Teil nicht
gefiihlt. Spitz, stumpf, warm, kalt wird iiberall unterschieden. Reflex© nicht
gesteigert. Muskulatur zeigt geringen Spasmus.
Untere Extremitaten: Rechter FuB steht in SpitzfuBstellung, das Bein
ein wenig im Kniegelenk gebeugt und maBig nach innen rotiert. Beim Gehen
schleift die FuBspitze. Bewegungen im Kniegelenk nur in sehr geringem
MaBe moglich. Patellarreflex beiderseits gesteigert. rechts mehr als links.
Rechts Babinski links angedeutet. Lagegefiihl an der rechten groBen
Zehe herabgesetzt. Der 6. und 7. Halswirbeldom sowie der des ersten
Brustwirbels sind druckempfindlich. Keine Verkriimmung der Wirbelsaule.
Bauchdeckenreflex beiderseits nicht auslosbar.
12. II. (Oppenheim). Es fallt auf, daB Pat. in den letzten Tagen
auch mit der linken Hand schlecht zufaBt, es besteht in dieser auch eine
geringe statische Ataxie, keine Bewegungsataxie. Es hat Miihe, die End-
phalangen der Finger der linken Hand zu strecken und zu adduzieren,
besonders gilt das fur den kleinen Finger. Es scheint auch eine leichte
Hypasthesie im linken Ulnargebiot zu bestehen, ebenso eine Bathyhyp-
asthesie in der linken Hand, doch ist das zweifelhaft.
Operation (F. Krause) 20. II. 1912.
Erste Zeit. Beim Weichteilschnitt treten groBe Kniiuel bis zu Finger-
dicke erweiterter Venen in der Muskulatur zutage. Da die Unterbindung der
einzelnen Strange sich als unmoglich erweist, wird der Schnitt durch das
Periost unter Schonung der Venen gefiihrt und das Periost mit den dariiber
liegenden Weichteilen von den Dornfortsatzen und Seitenbogen abgehebelt.
Die Dornfortsatze und Bogen werden zum Teil mit der Riickenmarkszange,
zum Teil mit dem Laminektom entfernt, ohne Anlegung von Bohr-
lochem, und zwar der VI., V., IV. Cervikalwirbel.
Starke Knochenblutung wird zum Teil mit Tamponade gestillt. Die
Dura am Halsmark ist fast kuglig verdickt.
Drohender Kollaps, SchluB der Weichteilwunde nach Einlegen
mehrerer Bindentampons.
Postoperativer Verlauf: Keine Nachblutung. Temperaturanstieg
am 21. II. auf 38,5 abends, fallt im Verlauf von 7 Tagen auf 38,1 abends
und 37 morgens.
Am 28. II. Zweite Zeit. Entfernung der Situationsnahte und Tampons
und der Blutkoagula, letztere mit dem scharfen Loffel. Am Aussehen der
Dura hat sich nichts verandert. Bei Eroffnung der Dura mit dem Messer
in der Hohe des VI. Halswirbels flieBt unter starkem Druck reichlicli Liquor
von unten her. Schon jetzt zeigt sich die Dura an dem Einschnitt stark
verdickt. Der Schnitt in die Dura wird mit der Schere nach oben verlangert.
In Hohe des IV. Halswirbels quillt auch von oben reichlich Liquor hervor.
Gleichzeitig kann man an der Dura hangende feste Tumormassen erkennen.
Da diese die obere Knochenkante noch iiberragen, muB der III. Bogen
noch entfernt werden. Jetzt kann man den oberen Pol des Tumors,
welcher mit der Medulla nicht verwachsen ist, sehen. Die Geschwulst
entspricht der Hohe des III., IV. und V. Cervikalwirbels, hat eine
Hohenausdehnung von 35 mm und ist mit der Innenflache der Dura
verwachsen. Durch ovalare Exzision der Dura, die bei dem zweiten
Schnitt mehr nach links gelegt wird, laBt sich der Tumor bequem
von der Medulla und einer sich anspannenden linksseitigen hinteren
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Be it rage 2 ur Diagnose
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Fiu. t\ X'ini Ktiil- dor OpoftttiocK \ )i». mikr.oakopi&eJm'
V m . j '-Mi inniv cr-itt ♦• m FjWr^mrkom
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0o> *Wro{>sp!)u})OVMro rv$Ulx*' y*A* <■ tty.rt g*^)?ubv>? dem d&r
bnkrti Siote vSbpnmlorphHimrm'■>» b-blt l>k* .FViger d^r- mlir-eu Hand
kum'tou vnlikmrmVii <:r~u^Ui vvt : rd>u, dmh \><a>:-h\ da- VoHkonunem* Fx-
rwoltm dm /.we»t<*n .1 b'tepr * &jfil*£s* SekwHomk-m . s-w vdrd Finger
kin^Axrv bnd vi^gkackjokc Fk?vjod dMr Futg^r ziemlieh
kridt ia. Kx{ m&\<iu . ^duv^i^r . 3 be tihrk«on kk‘im*n K»wim«i*k»dn fnnktio-
im o n , die Wr t >. Ft. .-*/?#.■ neiLb^e. ■ Fn.nat »«>>» mid Supirodum i.st mrklieh.
lirwaitm* de;* FoVrenro »>t zorzrb mnm»Vb«'*li \ W no KUenbpgep flektierto
Arm v«JJit tier purer. ^el.t#iidi*^^di’k^rr»£? -Milt. dkwh kt 'iiipsF dareh
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besroiiT ♦iy|n»»a«v<ie.. Ain imkeo Arm irerde.ii Teiiiperat ntw rieht'• »m*
arbiedon. ibe Hypa.s^heHKY iur Teibp^mtiir aViOb am Btimpf
dii j HnjmI^xh- Jfih SoTi-d>.liiai ^n.rimtr an do?* rot'hteri Hand; a^t.
bohwuodrvM.
It* v ;«>!> *ior neAvkV-^^yiimwtrw ■ Wurcle ^*b»n ir^nige 7’*^;
‘;:!'-i, ^,'i- S'hmiio!) a-'^ovirlii:
do* lj ritityi mil vdller Svraf'r ^olir, bedout^d.i^die Bewe^Vn^sat^xie ljpf
dor roobtoTi liftpd< in dor ImkFn dnr onged.outet. Pinsolhijndrfip^n ab
iJ«-;• fwho n Hand und am Tntomnn a)>or nivti? lot AxfMuds^abmF;
Sobr * rjo'l>heh Fi auch, die i^vb*'- Ataxie u\ d <-r roebom Hand
Iih ri-ebten J^*it» Hypertonie and : Babinskis. Rosoolinm?
'Z^wben JLiuk^ HeHo Vfr ribmiid. ImT^rb^eri B&ib kind die akti\ en Bewga^gep
Original fror
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 467
im ganzen ausgiebig und auch kraftvoll, wenn auch nicht die voile Kraft ge-
leiatet wird. Die Dorsalflexion des FuBes ist durch Spannung der Achilles-
sehne behindert. Pinselberuhrungen werden am Bein fast iiberall gefiihlt,
Nadelstiche als schinerzhaft. An vielen Stellen des linken Heines wird
warm als kalt bezeichnet. Lagegefiihl in den Zehen erhalten. In den
Beinen keine Bewegungsataxie. Beim Gehen wird das rechte Bein in Ab-
duktions- und AuBenrotationsstellung nachgezogen, auch Haltung des Armes
ist noch eine gezwungene, ebenso die des Rumpfes.
21. IV. (Prof. 0.).
Das Gesicht ist heute ganz symmetrisch, Zunge kommt gerade heraus.
Im rechten Arm keine Steifigkeit, Supinatorphanomen fehlt rechts,
Tricepsphanomen erhalten; desgleichen links.
Er kann den rechten Arm jetzt ziemlich ausgiebig in alien Gelenken
bewegen, aber nicht mit voller Kraft. Er kann den Finger des Unter-
suchenden ziemlich fest mit seiner rechten Hand umschlieBen, aber unter
Mitbewegung der linken.
Sehr starke Bewegungsataxie im rechten Arm. Pinselberuhrungen
werden an der rechten oberen Extremitat fast immer gefiihlt, nur nicht an
der radialen Seite des Unterarmes. Nadelstiche werden an der Ulnarseite des
Unterarme8 als schinerzhaft — vielleicht sogar Hyperalgesie — empfunden.
An der Radialseite Hypalgesie. Am rechten Bein unbedeutende Hypertonie.
Kniephanomen rechts stark im Vergleich zu links; rechts maBiger
FuBclonus. Babinski-f-, kein Oppenheim. Im rechten Bein sind die Be-
wegungen in alien Gelenken, auch kraftvoll erhalten, nur die FuBbewegungen
werden mit verringerter Kraft ausgefiihrt. Die Verkiirzung der Achillessehne
beeintrachtigt die Dorsalflexion. Pinselberuhrungen werden an beiden
Beinen gefiihlt, Nadelstiche schmerzhaft empfunden, am rechten aber
besteht noch Hyperalgesie. HeiB und kalt wird jetzt an beiden Beinen
gefiihlt, nur rechts scheinbar noch etwas intensiver. Lagegefiihl an beiden
groBen Zehen erhalten.
Keine Pupillendifferenz.
Pat. in der Rekonvaleszenz entlassen.
Zusammenfa88ung: Bei einem 12j&hrigen Knaben, mit dem
die Verst&ndigung (Russe, der Jargon spricht) etwas erschwert ist,
so daB nur eine unvollkommene Anamnese zu erhalten ist, hat sich
im Laufe eines Jahres eine allmahlich zunehmende, im rechten
Arm beginnende Hemiparesis dextra entwickelt. Auf den ersten
Blick muBte diese den Eindruck einer Hemiplegia cerebralis er-
wecken, um so mehr, als der rechte Mundwinkel bei den Bewegungen
hinter dem linken zuriickblieb, auch der LidschluB rechts etwas
schwacher war und das obere Lid etwas herabhing (Schwache des
Frontalis). Die weitereUntersuchung machte es aber sofort deutlich,
daB eine Hemiplegia spinalis bestand, bei der sich allmahlich
die Brovm-Sequardschen Symptome manifestierten. Dement-
sprechend fanden sich auch okulopupillare Symptome angedeutet,
nftmlich eine Verengung der rechten Pupille und Lidspalte. Die
Schwache im rechten Arm ist eine diffuse, nur daB sie in der Hand
und den Fingem ausgesprochener ist als in den proximalen
Muskeln, sie ist weder eine spastische noch eine atrophische,
allenfalls ist Hypertonie in den Pronatoren angedeutet; die Sehnen-
phanomene sind jedenfalls nicht wesentlich gesteigert. Beachtens-
wert ist der Hochstand der rechten Scapula, der sich auf eine Kon-
traktur in den Rhomboidei und dem Levator anguli scapulae
Mon&tsschrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 6 31
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468
Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
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zuriickfiihren laBt. Im rechten Bein ist die Hypertonie sehr
ausgesprochen, von den spastischen Reflexen findet sich das
Babinskische Zeichen auch links. Die Parese beschrankt sich aber
auf das rechte Bein. Bei der ersten Untersuchung scheint die
Sensibilitat an den unteren Extremitaten intakt zu sein, bei der
nachsten findet sich aber eine Hypalgesie und Thermohypasthesie
am linken Unterschenkel und FuB, in etwas weniger best&ndiger
Weise auch in der linken Rumpfhalfte, wahrend sich am rechten
FuB Bathyhypasthesie nachweisen laBt. Der Bauchreflex fehlt
rechts, ist auch links nur spurweise vorhanden. Neben der Schwache
macht sich in den Armen, besonders im rechten, eine an Intensitat
wechselnde, jedenfalls zunachst nur leichte Ataxie bemerkbar.
Die Sensibilitat scheint an den Armen anfangs — wohl bei
fliichtiger Untersuchung — intakt zu sein, nach und nach treten
leichte Storungen, besonders am rechten Unterarm und an der
Hand, zutage, und zwar taktile Hypasthesie, Bathyhypasthesie
und Hypalgesie, letztere auch am linken Arm.
Ueber wesentliche Schmerzen hat der Pat. wahrend der
ganzen Zeit nicht zu klagen, es laBt sich auch an keiner Stelle
Hyperasthesie feststellen. Dagegen wird der Druck auf die Quer-
fortsatze der Halswirbel rechts schmerzhaft empfunden, ohne daB
sich das Gebiet scharf begrenzen laBt, auch ist der Perkussions-
schall hier abgeschwacht. Der Kopf wird frei bewegt. Keine Zeichen
einer Phrenicuslahmung, doch wurde eine rontgenologische Priifung
des Zwerchfells nicht vorgenommen.
Bei der langsamen Entstehung einer Hemiplegia spinalis
cervicalis von dem Typus der Broum-Sequardschen Lahmung muBte
die Diagnose einer Neubildung im Bereiche des rechten Cervikal-
markes gestellt werden. Bot auch das Vorhandensein der leichten
Parese des rechten Facialis der Deuturg eine gewisse Schwierigkeit
(s. w. u.), so war das Zeichen doch nicht so ausgepragt und so
beschaffen, daB daran die Diagnose scheitern konnte. Dagegen
schien uns die Frage, ob die Neubildung extra- oder intramedullos
safle, nicht mit Sicherheit zu entscheiden zu sein. Wir haben
die dafiir maBgabenden Kriterien so oft in wissenschaftlichen
Abhandlungen diskutiert, daB es nicht angebracht ist, hier
darauf zuriickzukommen. Fiir die speziellere Hohendiagnose
boten sich nur ungeniigende Anhaltspunkte. Vor allem fehlten
radikulare Symptome, jede lokalisierte Muskelatrophie. Auf der
anderen Seite war auch in keinem Gebiet des rechten Armes die
Hypertonie so ausgesprochen, daB man daraus hatte folgem
konnen: Die Krankheit muB oberhalb dieser Segmente ihren Sitz
haben. Da nun aber die Lahmungserscheinungen alle Segmente
bis mindestens hinauf zum 5. betrafen, ohne daB die Ausfalls-
erscheinungen im 6., 7. und 8. mit Hypertonie verkniipft waren,
hatte die Annahme einer langgestreckten Neubildung am Hals-
mark am meisten fiir sich. Die motorischen Reizphanomene im
Bereich des Levator ar.guli scapulae und Rhomboideus lieBen
vermuten, daB der obere Pol bis ins 4. und 3. Segment reiche.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 469
doch stand darait die Tatsache, daB der Phrenicus verschont
war, nicht recht im Einklang. Ich erteilte also den Rat, am V.
und VI. Cervikalwirbel zu beginnen und dann die Laminektomie
nach oben fortzusetzen. In der Hohe des III., IV. und V. Cervikal-
wirbels fand sich im extramedullaren Gebiet rechts der derbe
Tumor (ein Fibrosarkom), der unter Opferung einer Wurzel in
toto entfernt werden konnte. Er war mit dem Rfickenmark nicht
verwachsen, hatte es aber dellenformig eingedriickt.
Obgleich die Operation mit starker Blutung verkniipft war,
wurde sie gut fiberstanden. Und es schloB sich in gewohnter Weise
eine fortschreitende Besserung der Funktionen an, mit der Ein-
schrankung, daB die Ataxie in den Armen (besonders im rechten)
post operationem eine betrachtliche Steigerung erfuhr.
Besonders bemerkenswert war die Erscheinung, daB gleich in
den ersten Tagen post operationem die Asymmetrie des Gesichtes
sich ausglich, ebenso die okulopupill&ren Symptome.
Ob der Hochstand des rechten Schulterblattes sich ebenfalls
ausgeglichen hat, konnte in der ersten Zeit wegen des Verbandes
nicht festgestellt werden; ich erinnere mich aber, daB bei der Ent-
lassung die Stellung der Schulter eine normale war.
Beachtenswert ist es femer, daB auch nach der Herausnahme
der Geschwulst trotz der Manipulationen im Bereich des Phrenicus-
ursprungs keinerlei Storungen der Atmungsfunktion zutage traten.
Zu den friihesten Zeichen der Besserung gehorte die Wiederkehr
des Bauchreflexes, das Schwinden des Babinskischen Zeichens
am linken Bein, dann erst machte sich eine Besserung in den Funk¬
tionen der GliedmaBen bemerklich.
Ueber erfolgreich operierte Geschwiilste am Cervikalmark
ist von uns u. A. in den letzten Jahren so oft berichtet worden.
daB ich auf das, was unsere heutige Beobachtung in dieser Beziehung
lehrt, nicht nSher eingehen will. Es sind vielmehr einzelne Besonder-
heiten der Symptomatologie, die mich veranlassen, in eine Be-
sprechung einzutreten, der ich den nachsten Abschnitt widme.
III. Zur Hemiplegia spinalis.
Die Hemiplegia spinalis, die so viel seltener vorkommt als die
vulgare cerebrale Hemiplegie, ist weit mannigfaltiger in ihren
Erscheinungen und reicher an Varietaten als diese. Ihr Wesen ist
— dank der zahlreichen Erfahrungen und Abhandlungen fiber die
Broivn-Sequardsche Lahmung — in den Grundzfigen bekannt,
aber auf manche Einzelheit ist noch hinzuweisen, und in vielen
Fragen bedarf es noch der Klarung durch die kfinftige Forschung.
In einen gewissen Gegensatz steht die spinale Hemiplegie zur
cerebralen schon dadurch, daB ihre Entstehung, weim man von
der traumatischen Genese absieht, fast immer eine nicht-akute ist.
Sie entwickelt sich in der groBen Mehrzahl der Falle in subakuter
und chronischer Weise, und es fehlt naturgemaB immer der apo-
plektische Insult. Eine verhaltnismaBig akute Entstehung kommt
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470
Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
noch bei dem cervikalen Typus der multiplen Sklerose und der
Lues spinalis vor, aber auch da erstreckt sich das Stadium evo-
lutionis doch fast immer auf einige Tage oder Wochen. Hier und
da wird auch von einem verhaltnismaBig akuten Einsetzen der
Erscheinungen beim Tumor medullae spinalis berichtet, aber beim
genaueren Nachforschen erweisen sich derartige Angaben fast immer
als nicht zutreffend.
Die Frage nach der Lokalisation der Hemiplegia spinalis ist
schnell zu beantworten. Es ist ein verhaltnismaBig eng begrenztes
Gebiet, auf dessen Lasion dieser Symptomenkomplex zuriick-
zufuhren ist: das Cervikalmark. Unilaterale Erkrankungen des-
selben, die sich auch auf tiefere Abschnitte erstrecken konnen,
bilden die Grundlage der spinalen Hemiplegie. Man sollte voraus-
setzen, daB damit eine verhaltnismaBig einfache und einheitliche
Symptomatologie gegeben ware. Doch trifft das keineswegs zu.
Den einfachsten und reinsten Typus des Leidens zeigt die , Uni¬
lateral spastic paralysis “ von Mills xmdSpiUer 1 ). Aber fur sie ist auch
der rein spinale Sitz undUreprung am wenigsten sichergestellt. Wenn
ihr auch eine unilaterale Pyramidendegeneration entspricht, steht
es doch nicht fest, ob es sich da um eine primare Spinalaffektion
oder um einen kortikospinalen DfegenerationsprozeB handelt.
Allem Anschein nach hat das Leiden nahe Beziehungen zur
amyotrophischen Lateralsklerose, und damit ist auch die Berechti-
gung gegeben, es den Buckenmarkskrankheiten einzureihen; aber
es bildet doch ein Mittelding zwischen den cerebralen und spinalen
Hemiplegien.
Ihm nahe steht die unilaterale Form der amyotrophischen
LatercUsklerose; sie s.ellt den amyotrophisch-spastischen Typus
der Hemiplegia spinalis dar.
Dann folgt die rein atrophische Form der spinalen Hemiplegie
und als deren Hauptreprasentant der hemiplegische Typus der
spinalen Kinderldhmung. Es kommt nicht gerade selten vor, daB
sich die Ausfallserscheinungen der Poliomyelitis anterior acuta
auf die GliedmaBen einer Korperseite bes'jhranken. Nur einmal
habe ich es gesehen, daB auch der Facialis der gleichen Seite an der
L&hmung teilnahm, so daB bei oberflachlicher Betrachtung das
Symptombild an das der cerebralen Hemiplegie erinnerte, wahrend
die Untersuchung sofort die durchgreifenden, hier nicht zu er-
ortemden Unterscheidungsmerkmale feststellen lieB. In der Regel
findet sich ubrigens in derartigen Fallen eine lokalisierte Muskel-
schw&che, eine Hypotonie, ein Verlust des Fersenphanomens auch
auf der anderen Seite, so daB schon darin ein diagnostisches
Kriterium gegeben ist.
So sehr sich nun aber diese Form durch die Atonie imd
degenerative Atrophie von der Hemiplegia cerebralis unterscheidet,
J ) S. die entspr. Abhandlungen im Journ. of Nerv. and Ment. 1903,
Journ. of Amor. mod.Assoc. 1906,etc., sowie Cassirer und Diskuss. in Neurol.
Centralbl. 1908 und Oppenheim , Neurol. Centralbl. 1911.
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und Differentialdiagnose des Tumor medulla spinalis.
471
haben uns doch die Erfahrungen der epidemischen Kinderl&hmung
gezeigt, daI3 es Falle gibt, bei denen im Beginn eine Annaherung
an den cerebralen Typus dadurch stattfindet, dab sich mit der
schlaffen atrophischen Lahmung des Armes spastische Symptome
im Bein der gleichen Seite verbinden konnen.
DaB auch in vereinzelten Fallen ein hemiplegischer Typus
der Poliomyelitis anterior subacuta und chronica beobachtet wurde,
sei nur der Vollst&ndigkeit halber angefuhrt.
Die groBe Mannigfaltigkeit der Erscheinungen tritt aber
weniger bei diesen durch Prozesse von systematischer, elektiver
Verbreitung verursachten Formen als bei den durch unilaterale
Herderkrankungen des Cervikcdmarks bedingten zutage. Hier
wechselt die Symptomatologie zwar auch entsprechend der Natur
des Leidens, aber ganz besonders steht sie doch in Abhangigkeit
von dem Hohensitz desselben.
In den vorliegenden Erfahrungen entsprechender Art nehmen
die durch Verletzungen, namentlich Stichverletzungen des Hals-
marks bedingten den ersten Platz ein.
Die sich auf die Riickenmarksverletzungen und die Brown-
Sequardsehe Lahmung beziehende Literatur birgt eine nicht kleine
Zahl derartiger Beobachtungen. Ich will hier nur auf die Mit-
teilungen und Abhandlungen von Beck 1 ), Neumann 2 ), Hoffmann,
Enderlen 3 ), auf die besonders reiche und griindliche Kasuistik
Kochers 1 ), auf Bode 3 ), Mann 3 ), Oppenheim 7 ), Jolly 6 ), Raymond 9 ),
Rosier 10 ), Wagner-Stolper 11 ), Fabritius 12 ) und das Sammelreferat
von G. Flatau 13 ) verweisen, in denen das Gros der entsprechenden
Erfahrungen enthalten oder verwertet ist, werde mich aber in
meinen Ausfiihrungen im wesentlichen auf das stiitzen, was ich
selbst gesehen habe, und bin da in der Lage, weniger die traumati-
schen Falle als die Tumoren im Bereich des Cervikalmarks zu ver-
werten.
Bei dem Versuch der Gruppierung betrachten wir 1. die durch
Krankheitsherde im Bereich der Cervikalanschwellung bedingte
Hemiplegia spinalis. In den typischen Fallen dieser Art ist die
Lahmung am Arm eine atrophische, am Bein eine spastische, aber
das trif ft, wie die weitere Betrachtung lehrt, schon nicht durchweg zu.
■) V. A. Bd. 75 (1879).
2 ) D. Arch. f. kl. M. 1886.
3 ) Zeitschr. f. Chir. Bd. 40.
4 ) Mitt, a us d. Grenzgeb. 1896.
5 ) Berl. klin. Wochenschr. 1891.
®) Zeitschr. f. Nerv. Bd. X.
7 ) Arch. f. Anat. u. Physiol. Suppl. 1899.
8 ) Arch. f. Psych. Bd. 33.
9 ) Nouvelle Icon. 1897.
10 ) Friedrichs Blatter 1900/01.
11 ) Deutsche Chir. Bd. 40.
12 ) Monatsschr. f. Psych. XXXI.
13 ) Centralbl. f. Grenzgeb. 1905.
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472
Oppenheim, Weitere Beitrage ziir Diagnose
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Die spezielle Symptomatologie wird zunachst durch die Hohen-
lage des Krankheitsprozesses bestimmt: man kann in dieser
Hinsicht einen Typus inferior, medialis und superior unterscheiden.
a) Der Typus inferior , bei dem der Krankheitsherd dem
VIII. Cervikal- und I. Dorsalsegment entspricht, bietet bekanntlich
folgende Symptomatologie: Atrophische Lahmung der kleinen
Handmuskeln, meist auch des Triceps, Fehlen des Tricepsphano-
mens 1 ), wahrend das Supinatorphanomen bzw. das der Unterarm-
beuge und Pronatoren in der Regel erhalten bleibt und sogar ge-
steigert sein kann, okulopupillare Symptome, spastische Lahmung
des homolateralen Beines. Dazu friiher oder spater kontralaterale
Anasthesie am Bein und Rumpf, homolaterale im unteren Wurzel-
gebiet des Armes usw. Von den vasomotorischen und sekretorischen
Storungen werde ich ganz absehen. Beobachtungen entsprechender
Art enthalt die Tumor-Literatur, z. B. in einer Mitteilung von
Oppenheim-Bor char dt 2 ), Oppenheim-Krause 3 ). Auch sind Riicken-
marksverletzungen dieser Gegend mit entsprechender Sym¬
ptomatologie vielfach, so Von Kocher und Jolly , beschrieben
worden.
Es liegt in der Natur der Sache, daB die atrophische Lahmung
auch auf Muskeln iibergreifen kann, die vom nachstbenachbarten
Segment entspringen, imd daB die individuelle Innervations-
variabilitat hier zur Geltung kommt. In einem unserer Falle waren
die langen Daumenmuskeln, der Flexor dig. sublimis, die kostale
Portion des Pectoralis major beteiligt.
b) Der Typus superior . Hier betrifft die atrophische Lahmung
die Erbschen .Muskeln, der Unterarmbeugereflex fehlt (Oppenheim )
und es kann statt dessen beim Beklopfen des Proc. styloid, radii
eine Fingerbeugung eintreten [ Babinski 4 ]; ebenso ist nach meinen
Erfahrungen unter diesen Verhaltnissen das Tricepsphanomen
meist gesteigert; und die Parese der aus der unteren Cervikal-
anschwellung entspringenden Muskeln kann einen spastischen
Charakter haben.
Beispiel: Beobachtung I. R., 34 jahrigor Arbeiter. Seit 3 Monaten
Schmerzen in der rechten Schulter, seit 4 Wochen Schwache im rechten
Arm, seit einigen Tagen auch im rechten Bein. Lues vor 15 Jahren.
Wa88ermann im Blut positiv, im Liquor nicht untersucht.
Be fund : Hypotonie des rechten Oberarmes im Schulter- und Ellcn-
bogengelenk; beim Beklopfen des Proc. styloid, radii kommt es weder zur
Unterarmbeugung noch zur Pronation, dagegen zu einer Kontraktion des
Triceps und zu einer Fingerbeugimg. Tricepsphanomen erhalten. Parese
*) Nach meinen Erfahrungen kommt fur diesen Reflex besonders das
VIII. Segment in Frage, wahrend Babinski (Bullet, med. 1912) das Vll.
fiir ihn in Anspruch nimmt.
a ) Berl. klin. Wochenschr. 1906.
3 ) Mitt, aus d. Grenzgeb. Bd. XV, ferner Oppenheim , Beitrage zur
Diagnostik und Therapie dor Geschwiilste, Berlin 1907 (Beob. Ill, S. b'2),
Oppenheim-Krause , Miinch. med. Wochenschr. 1909.
4 ) D’inversion du/reflexe du radius, Bull, et mem., de la Soc. med.
des hop. 1910. S. auch Marie-Barre , Sur le reflexe cubito-flechisseur des-
doigts. Revue neurol. 1911.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
473
des rechten Armes in alien Muskelgruppan. Ganz fehlt die Abduktion des
Oberarmes, auch die Beugung des Unterarmes ist auf ein Minimum be-
beschrankt; Auswartsrollung mit germger Kraft. In den I£r&schen Muskeln
partielle Entartungsreaktion, am ausgesprochensten im M. deltoideus. In
den Streckern der Hand wohl eine geringe quantitative Abnahme der
Erregbarkeit, aber sonst nichts Abnormes.
Keine okulopupillaren Symptome.
In der rechten Schultergegend (Axillaris) taktile Hypasthesie und
Hypalgesie, sonst keine nachweisbare Sensibilitatsstorung am rechten Arm.
Im rechten Bein spastische Parese mit Babinskischem und Oppenheim-
schem Zeichen. Keine Sensibilitatsstorung an den Beinen. Keine Blasen-
schwache. Hirnnerven frei. Druck auf die Querfortsatze der mittleren Hals-
wirbel wird rechts schmerzhaft empfunden.
Diagnose: Lues spinalis, Meningomyelitis in der Hohe des V. und VI.
Cervikalsegmentes rechts. — Inunktionskur. Acht Tage spater Status idem;
aufierdem Hypalgesie und Thermhypasthesie an der linken, Hyperalgesie
an der rechten Fuflsohle. , Nach 4 Wochen erhebliche Besserung. Innerhalb
von 3 Monaten Heilung bis auf eine geringe Schwache im Deltoideus.
c) Typus medialis. Ein Beispiel, in welchem dieser rein hervor-
tritt, konnte ich in der Literatur, soweit ich sie zu revidieren ver-
mochte, nicht auffinden, auch nicht unter meinem eigenen Material,
dagegen zahlreiche Beobachtungen eines gemischten Typus,
besonders in der Kasuistik der Stichverletzungen des Halsmarks.
Ich bringe eine eigene Beobachtung.
Beob. II. J. H., 25 jahriger Landwirt. Untersuchung im Mai 1911.
Vor y 2 Jahr Messerstichverletzung in der Hohe zwischen dem V. und VI.
Cervikalwirbel. Gleich darauf Lahmung aller vier Extremitaten, Harn~
verhaltung, ausgebreitete Anasthesie. Rasch fortschreitende Besserung bis
auf den jetzigen Zustand.
Status: Linker Arm im Schultergelenk frei beweglich, auch die
Beugung im Ellenbogengelenk in voller Ausdehnung und kraftvoll, dagegen
Triceps schwach, Tricepsphanomen fehlt. Pat. halt dauernd den Unterarm
leicht gebeugt, den Oberarm abduziert.
Atrophische Lahmung der kleinen Handmuskeln, der langen Finger-
beuger, der Extensores carpi, des Extensor digit, communis mit teils starker
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit, teils partieller EaR. Linke
Pupiile und Lidspalte wesentlicli enger als rechte. Hypasthesie an der Hand
und den Fingern sowie im ulnaren Gebiet des Unterarmes bis iiber die Mittel-
linie hinaus. Am rechten Arm keine wesentliche Storung der Motilitat
und Sensibilitat. Im linken Bein spastische Parese, Babinski sches Zeichen
auch rechts angedeutet; Hyperalgesie in der linken Planta pedis, sonst keine
wesentliche Sensibilitatsstorung in den unteren Extremitaten.
Einmalige Untersuchung.
Es handelt sich hier also um eine Hemiplegia spinalis durch
Stichverletzimg der linken Riickenmarkshalfte und der ent-
sprechenden Wurzeln in der Hohe des VII., VIII. Cervikal- und
I. Dorsalsegmentes; auch das VI. oder die entsprechende Wurzel
ist wohl noch zum Teil betroffen.
Ich mache auf den schon seit Thorburn (nach welchem Hut¬
chinson die Erscheinung schon vorher beschrieben hat) bekannten
Kontrakturzustand in den von den hoheren Segmenten innervierten
Muskeln aufmerksam und die dadurch bedingte Haltimgsanomalie.
Auch bei Kocher tritt sie in mehreren Fallen hervor und wird
durch entsprechende Abbildungen illustriert. Die Erscheinung
bedarf noch der weiteren Erorterung.
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474
Oppenheim, Weit-ere Beitrage zur Diagnose
In diese Rubrik gehort eine von Oppenkeim-Krause 1 ) mit-
geteilte Beobachtung, in welcher eine extramedullare Geschwulst
am unteren Cervikalmark, deren oberer Pol bis zur Mitte des
VI. Cervikalwirbels reichte, also dem VII. Segment entsprach,
neben den kleinen Handmuskeln und dem Triceps usw. den Ext.
digit, communis und die langen Daumenmuskeln in den Zustand
atrophischer Lahmung versetzt hatte.
Langgestreckte Neubildungen oder umschriebene, aber mit
Meningitis serosa verkniipfte Gewachse sowie Pachymeningitiden
von entsprechender Ausdehnung konnen nun auch die Hals-
anschwellung einer Seite in alien ihren Teilen durch Kompression,
Wurzellasion, Verdrangung usw. in dem MaBe schadigen, daB die
Hemiplegia spinalis mit einer degenerativen Lahmung des Armes
in alien seinen Muskelgruppen und mit Verlust aller Sehnen-
phanomene einhergeht (Typus universalis). Auf die mannigfachen
Modifikationen, die die Symptomatologie nun dadurch erfahren
kann, daB bald dieses, bald jenes Segment ausgespart wird, die
kontralaterale Seite bald mehr, bald weniger in Mitleidenschaft
gezogen und — wie es besonders bei den Verletzungen vorkommt —
auBer dem Hauptherde der Erkrankung noch versprengte an ent-
legeneren Stellen bestehen, — auf alle diese Dinge soil hier nicht
naher eingegangen werden. Ein Punkt bedarf aber der Beriicksichti-
gung. Die Lehre, daB bei diesen Affektionen im Bereich der Hals-
anschwellung die Lahmung am Arm einen atrophischen, am Bein
einen spastischen Charakter habe, hat keine allgemeine Giiltigkeit.
Gerade bei den extramedullaren Geschwiilsten habe ich es in
vereinzelten Fallen beobachtet, daB der Druck, den sie auf die graue
Substanz und die Wurzeln ausuben, diese so wenig und so all-
mahlich beeintrachtigen kann, daB es nicht zu einer wesentlichen
Atrophie und besonders nicht zu Veranderungen der elektrischen
Erregbarkeit kommt, sie andererseits doch wieder so weit schadigt,
daB die Kompression der weiBen Substanz sich nicht durch die
Hypertonie dokumentieren kann, die bei einer reinen Seitenstrangs-
erkrankung des Cervikalmarkes auch am Arme zustande kommen
wiirde. Zwei Vorgange bzw. Einfliisse entgegengesetzter Art halten
sich hier im Schach. Auch die oft bestehende Kompressionslasion
der Hint erst range wirkt dem hypertonisierenden Moment entgegen.
Es entwickelt sich dann eine einfache Parese ohne markante
Atrophie und ohne deutliche Hypertonie. Damit kann sich Be-
wegungsataxie verbinden.
Es fehlt mir zwar ein typisches Beispiel dieser Art fur die
Intumescentia cervicalis, aber der vorstehend im Abschnitt II
dieser Abhandlung mitgeteilte Fall Sch. von erfolgreich exstir-
piertem Tumor am mittleren Cervikalmark in der Hohe des III.,
IV. und V. Halswirbels ist durchaus geeignet, diese Tatsache zu
illustrieren, insofem als hier 1. die Kompression des III. und
IV. Halssegmentes keine Phrenicuslahmung hervorgebracht hat,
Munch, med. Wochensehr. 1909. No. 20—22.
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und Different ialdiagnose des Tumor meduilae spinalis.
475
2. der auf den Seitenstrang in dieser Hohe ausgefibte Druck
wenigstens am Arm keine spastischen Erscheinungen produziert
hat, allem Anschein nach deshalb nicht, weil der unterhalb der
Geschwulst auf die Halsanschwellung einwirkende Liquordruck
die graue Substanz oder die vorderen Wurzeln so weit schadigte,
um der durch die Pyramidenkompression verursachten spastischen
Komponente gerade das Gegengewicht zu halten.
2. Die Hemiplegia spinalis durch Krankheitsherde oberhalb
der Cervikalanschwellung .
Riickt der KrankheitsprozeB fiber die Cervikalanschwellung
auch nur um 1 bis 2 Segmente nach oben, so nahert sich die
Symptomatologie der Hemiplegia spinalis wesentlich der der cere-
bralen dadurch, daB nicht nur am Bein, sondem auch am Arm
die Lahmung den spastischen Charakter hat. Es liegt freilich in
der Natur der Sache, daB bei dem geringen Umfang des Markes in
dieser Hohe scharf begrenzte Halbseitenlasionen selten vorkommen,
daB es sich meist von vornherein oder im weiteren Verlauf um
bilaterale Erkrankungen handelt. Immerhin fehlt es nicht an
entsprechenden Beobachtungen.
Einen charakteristischen Fall dieser Art habe ich 1 ) in meiner
Abhandlung fiber die Brown-Sequardsche Lahmung erwahnt und
abgebildet. Hier war die Kontraktur im Arm besonders stark aus-
gebildet. Femer gehorte zu den bemerkenswerten Erscheinungen
eine eigenartige Form von tonischen Muskelkrampfen, die ich unter
der Bezeichnung Spasmodynia cruciata geschildert habe.
Die motorischen Reizphanomene, die bei diesen Formen der
Hemiplegia spastica spinalis auftreten, bediirfen fiberhaupt noch
des eingehenden Studiums. In dem von Veraguth-Brun 2 ) ge-
schilderten Falle war die Hypertonie imd Steigerung aller Sehnen
phanomene im Arm sehr ausgesprochen. Dazu kam das be-
merkenswerte Symptom des ,,Rotationsclonus“. ,,Bei halber Ab-
duktion des linken Oberarmes und rechtwinkliger Flexion des
Unterarmes tritt, sobald ein leiser Druck auf die Gegend zwischen
Extensoren und Flexoren, distal vom Lacertus fibrosus, ausgefibt
wird, ein auBerst kraftiger, schnellschlagiger Rotationsclonus auf,
der sofort sistiert, sobald der auBereReiz aufhort.“
Es ist das wohl nichts anderes als eine Form des spastischen
Zittems, wie sie z. B. in einer gleich zu erwahnenden entsprechenden
eigenen Beobachtung durch aktive und passive Bewegungen als
Handclonus auszulosen war. Veraguth erwahnt ferner die Erschei-
nung, daB eine Reflexzuckung im Triceps durch sensible Reizung
an entfemten Stellen ausgfelost werden konnte.
Der spastische Charakter der Lahmung an der Oberextremitat
wurde femer bei hoch am Cervikalmark sitzenden Geschwiilsten
! ) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1899. Physiol. Abt. 8uppl.
2 ) Korresp. f. Schweiz. Aerzte 1910.
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Oppenheim, Weitere Beit rage zur Diagnose
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von Schultze 1 ) und von Henneberg 2 ) festgestellt. Mann 3 ) bezeichnet
diesen Typus als den seltensten, da er in der Literatur nur ver-
einzelt, unter seinen Beobachtungen gar nicht vertreten sei. Wie
die mitgeteilten eigenen und die angefiihrten Beobachtungen
lehren, bildet die Hemiplegia spastica spinalis aber doch keinen
so auBergewohnlichen Symptomenkomplex.
Es gehort hierher ein sehr bemerkenswerter Typus, bei welchem
die spastische Extremitaienldhmung von gleichseitiger Paralysis
diaphragmatica begleitet ist.
Derartige Beobachtungen finden sich in der alteren Literatur,
ferner bei Kocher , Hoffmann , Henneberg , Mundelius 4 ) u. A. In
meiner Arbeit iiber die BrouM-Sequardsche Lahmung aus dem
Jahre 1899 erwahne ich schon einen Fall eigener Wahrnehmung,
in welchem die spastische Extremitatenlahmung von einer gleich-
seitigen Paralyse des N. phrenicus mit starker Herabsetzung der
Erregbarkeit begleitet war. Ich kann heute weiteres Material
beibringen.
Beob. III. M. M., 28 Jahre alt. Seit \ 2 Jahr Schwache im rechten
Arm und Bein, ziemlich gleichzeitig entstanden und vorgeschritten, dabei
Schmerzen in der rechten Halsgegend, die sich besonders beim Husten und
Niesen steigerten. Keine Aetiologie. Untersuchungsbefund: Im rechten
Arm Hypertonie, lebhafte Steigerung aller Sehnenphanomene, Handclonus.
Parese in alien Muskelgruppen, am ausgesprochensten im Deltoideus sowie
in den Hand- imd Fingermuskeln. Spastische Parese auch im rechten Bein
mit Babinskischem und Oppenheimschem Zeichen. Im linken Bein Reflexe
normal, aber Fukclonus auch hier auszulosen. Bauchreflex fehlt rechts.
Pat. klagt zwar iiber Parasthesien im rechten Arm, namentlich in den
Fingern, aber es laflt sich bei oberflachlicher Untersuchung hier keine
Sensibilitatsstorung nachweisen. Im rechten Fufi- und in den Zehen-
gelenken ist das Lagegefiihl herabgesetzt. Am linken FuG besteht Therm-
hypasthesie. Bei den Inspirationsbevvegungen f iihlt man die linke Zwerchfell-
halfte deutlich herabtreten, wahrend die rechte unbev^egt bleibt; auch keine
Verschiebung der Lungengrenzen rechts bei der Einatmung. Das auf der
linken Seite deutliche Zwerchfellphanomen fehlt rechts.
Bei galvanischer Reizung des linken N. phrenicus laBt sich bei einer
Stromstarke von 5—6 MA. eine kurze inspiratorische Zuckung auslosen
(Ka S Z), die rechts auch bei 8—10 MA. ausbleibt. Eine rontgenologische
Priifung der ZwerchfellbeWegungen konnte leider nicht ausgefiihrt werden.
Kneifen einer Hautfalte wird in der rechten Fossa supraclavicularis sehr
schmerzhaft empfunden.
Der Kopf wird bei Bewegungen des Korpers auffallend steif gehalten,
aber es findct sich keine Beweglichkeitsbeschrankung in der Wirbelsaule
und keine Deformitat, auch keine auffallende Drucksclunerzhaftigkeit.
Ich stellte die Diagnose einer Neubildung am Cervikalmark mit
Kompression des Markes in der Hoho des III. und IV. Segmentes. Zu einer
operativen Behandlung lieB sich die Pat. nicht bewegen. Ich habe, da sie
von auswart.s kam, iiber ihr weiteres Schicksal nichts in Erfahrung gebracht.
Von noch groBerem Interesse ist der nachste Fall. Ich muB es
mir aber versagen, auf alle sich an ihn kniipfenden Fragen an dieser
') Zeitschr. f. Neur. Bd. XVI.
2 ) Arch. f. Psych. Bd. XXXlir.
3 ) Zeitschr. f. Neur. Bd. X.
4 ) Beitriige zur topischijn Riickenmarksdiagnostik. Inaug.-l)iss.
Greifswald 1900.
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und Differential diagnose des Tumor medullae spinalis.
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Stelle einzugehen und werde ihn nur so weit verwerten, wie er fur
die Lehre von der Hemiplegia spinalis Bedeutung hat.
Beob. IV. M. D., 27 Jahre alt. Mutter gesund, Vater an Tuberknlose
gestorben. Sie selbst war gesund bis zum 13. Jahre. Dann hatte sie liber
ein Gefiihl von Steifiykeit im Nacken zu klagen sowie liber Schmerzen in
dieser Gegend, die allmahlich starker wurden. Sobald sie sich flach hinlegte,
horten die Schmerzen auf. Zwei Jahre spater, im Marz 1900, erkrankte sie
plotzlich mit Schmerzen im Kiicken, Fieber. muBte 3 Tage liegen.
Von jener Zeit ab kehren die Schmerzen und die Steifigkeit im Genick
immer wieder. Ende April 1900 konnte sie plotzlich eines Morgens den
rechten Arm nicht ordentlieh bewegen, sie brachte ihn nur bis zu Schulterhohe.
Der linke Arm zoigte keine Funktionsstdrung. Zu der Schwache im rechten
Arm kam Gefuhllosigkeit, die sich aueh auf die rechte Klickenseite erstreckte.
Sie konsultierte Erb> der eine Skoliose fand, keine bestimmte Diagnose
stellte,aberan(rloisisdachte. Unterfaradischer Behandlunghabesichdannder
Zustand verschlimmert, so daB sie nicht mehr schreiben konnte; sie empfand
zuweilen auch Schwache in den Beinen. Das Befinden war abor ein im
ganzen sehr wechselndes. In den Sommermonaten etwas Besserung. Herbst
1900 erste Konsultation bei mir. Obgleich der rontgenologische Befund
negativ war, hielt ich doch eine Caries der oberen Halswirbel fiir wahrschein-
licli, lieB eine Extenswnsbehandlumj durchfiihren mit vollem Erfolg. Die
Schmerzen im Genick schivanden , der rechte Arm erlawjte seine voile Beweglich -
keit wieder , so dafl Pat. sich in der Malerei ausbilden lieB. Die Besserung
war nicht nur eine vorlibergehende, sondern der Zustand blieb nun jahrelang
ein giinstiger. Sie flihlte sich zwar mitunter etwas schwach, konnte zuweilen
den rechten Arm nicht hochheben, war aber im allgemeinen recht leistungs-
fahig, so daB sie sich damit abfand. So ging es viele Jahre lang. Im Friih-
jahr 1908 flihlte sie sich nach Ueberanstrengung sehr angegriffen; auch
hatte die Skoliose zugenommen. Besserung erfolgte durch eine Kur bei
Zander, so daB sie ilire Tatigkeit im Zeichnen und Malen wieder aufnehmen
konnte. Sommer 1909 Kur in Pyrmont. Im AnschluB daran stellte sich ein
Zittern im rechten Arm ein, und die Schwache nahm zu. Dazu kam Schwache
und Unsicherheit in den Beinen.
Im Jahre 1910 konsultierte sie mich wieder und lieB sich auf ineinen
Rat ins Hansa-Sanatorium aufnehmen. Dort stellte ich folgendes fest^
15. I. 1910. Keine Deformitat der Wirbelsaule; keinerlei Druck-
empfindlichkeit. Kopf frei beweglich, ohne Schmerzen, keine Krepitation.
R. CucuUaris stark atrophiert , fibrillares Zittern, Funktion dieses
Muskels stark beeintrachtigt, aber nicht aufgehoben. In den mittleren und
unteren Cucullarisblindeln quantitative Abnahme der elektrischen Erregbar-
keit, keine deutliche Entartungsreaktion. Rechte Fossa supra- und infraspinata
eingesunken. Im rechten Arm leichte Steifigkeit , lebhafte Steigerung aller
Sehnenphanornene, die man von alien moglichen Punkten auslosen kann.
Abduktion des rechten Oberarms ganz unvollkommen, unter spastischem
Zittern. Handclonus liiBt sich auch durch passive Streckung der rechten
Hand und Finger auslosen. Alle anderen BeWegungen des rechten Armes
ziemlich gelaufig und kraftvoll. Deutliche Bewegungsataxie in der rechten
Hand. Im Gebiet der rechten oberen Cervikalnerven, speziell am Hinter-
haupt, Nacken, in der Fossa supraclavicularis besteht H ypalgesie und Therm -
hypasthesie. In der rechten Hand besteht taktile Anasthesie, H>*palgesie
und Bathyanasthesie. Auch an der linken ist die Sensibilitat gestort.
Hyperidrosis und Haarausfall in der Hinterhauptsgegend.
Pupillen und Lidspalten nahezu gleich weit, Reaktion gut.
Im rechten Bein maBige Hypertonie, FuBclonus, Patellarclonus. Kein
Babinskisches Zeichen, aber Oppenheimsches und Bossolimos auszulosen.
Links besteht nur eine leichte Steigerung der Sehnenphanornene, ohne
spastische Reflexe. Im rechten Bein ziemlich erhebliche motorische
Schwache, links nur geringe.
Harnentleerung soil normal sein. Es besteht Stuhlverstopfung. Bei
Abfiihrmitteln kommt es bisweilen zu Incontinentia alvi. In den Beinen
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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
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keine Ataxie und keine groberen Sensibilitatsstorungen fiir Beriihnmgen
und Nadelstiche (Temperatursinn scheint nicht gepriift).
Soweit ich mich erinnere, habe ich damals eine von einer abgelaufenen
Spondylitis induzierte Pachymeningitis cervicalis hypertrophica am obersten
Cervikalmark diagnostiziert.
Die Behandlung bestand in Liegekur, Mastkur, Fibrolysininjektionen,
lokaler Applikation von Moorumschlagen. Eine Besserung trat nur insoweit
ein, als die Bewegungsataxie im reehten Arm geringer wurde. In der Folge-
zeit wirkte ein Aufenthalt im Siiden giinstig. Aber die Schwache breitete
sich dann auch auf den linken Arm aus, das Gehen Wurde schlechter, und der
rechte Arm wurde fast vollig gebrauchsunfahig. Besonders aber verschlech-
terte sich das Befinden nach einem Fall im Juni 1912. Sie wurde jetzt
bettlagerig, hatte iiber heftigste Genickschmerzen zu klagen, schliefllich kam
Hamverhaltnng mit Tenesmus hinzu, sie muflte taglich 2 mal katheterisiert
werden. Auf Veranlassung ihres Hausarztes (Dr. Goebel) und nach Riick-
sprache mit mir wurde die Dame im April 1913 behufs operativer Behandlung
ins Augustahospital aufgenommen. Dort habe ich sie am 14. IV. genauer
untersucht.
Status : Wird der Oberkorper der im Bett liegenden Pat. dureh fremde
Hilfe aufgerichtet, so kann sie den Kopf gut halten und bewegen, nur nach
rechts ist die Drehbewegung eine unvollkommene. Keine Deformitat der
Halswirbelsaule. Druck auf dieselbe wird nicht schmerzhaft empfimden.
Auch vom Nacken aus nichts Abnormes zu palpieren. Im Gebiet des reehten
N. occipitalis major, in der reehten Fossa supraspinata und supraclavicularis
taktile Anasthesie und Hypalgesie. Auf der linken Seite leichte Storungen
entsprechender Art. Es besteht eine betrachtliche Atrophie des reehten
CucuUariSy der nur in seinern obersten Biindel noch funktioniert, wahrend
die Adduktion des Sehulterblattes an die Wirbelsaule nicht moglich ist.
Nachdem Pat. eine Weile aufrecht gesessen hat, stellt sich Dyspnoe ein,
bei der sich hauptsachlich die Haismuskeln, nainentlich die Sternocleido-
mastoidei anspannen. Die Zwerchfellatmung ist jedenfalls eine sehr geringe
und zweifelhafte (s. w. u.). Bei der Inspiration erweitern sich nur die oberen
Thoraxpartien. Keine subjektive Atemnot.
Im reehten Schultergelenk leichte Adduktionskontraktur, im Ellen-
bogengelenk Pronations- und Beugekontraktur. Sehnenphanomene am
reehten Arm enorm gesteigert. Handclonus. Atrophie der kleinen Hand-
muskeln. Krallenstellung der Finger angedeutet.
Die aktive BeWeglichkeit ist im reehten Schultergelenk auf eine ganz
unvollkommene Abduktion beschrankt; etwas kraftiger ist die Adduktion.
Durch diese Bewegungen wird ein Zittern im reehten Arm ausgelost, das
den Charakter des spastischen (Clonus) hat. Beugung und Streckung im
Ellenbogengelenk wird noch mit ziemlich guter Kraft ausgefuhrt, aber sehr
verlangsamt und unvollkommen. Beugebewegungen der Hand und Finger
ziemlich kraftig, der Faustschlufi ist aber doeh zu iiberwinden. Die Streck-
bewegungen sind sehr schwach und unvollkommen. Die Krallenstellung der
Finger kann Pat. nicht ausgleichen; die Spreizung fehlt. Pro- und Supination
auch sehr begrenzt und schwach. Auch am linken Arm Sehnenphanomene
stark gesteigert, aber die aktive Beweglichkeit ist hier fast vollig erhalten.
Leichte Pinselberiihrungen werden an der reehten Hand und den Fingern
fast nirgends gefiihlt: auch am Ulnarrand des Unterarms werden sie an
vielen Stellen nicht empfunden. Nadelstiche werden an der Hand und den
Fingern nicht schmerzhaft gefiihlt.
An der reehten Rumpfhalfte ist das Schmerzgefiihl erhalten, an der
linken erloschen. Die Analgesic erstreckt sich auf die ganze linke Ober-
extremitat. An einzelnen Stellen der linken Hand taktile Anasthesie.
Vollkommene Bathyanasthesie beider Hande. In der reehten Hand starke,
in der linken mafiige Bewegungsataxie, keine okulopupillaren Symptome.
Schmerz- und Temperaturgeiifhl im Trigeminusgebiet beiderseits erhalten.
Im reehten Hiift- und Kniegelenk ausgesprochene Hypertonie, dagegen ist
sehr auffallend die vollkommene Erschlaffung der reehten Achillessehne.
Kniephanomen rechts zum Clonus gesteigert, wahrend das Fersenphanomen
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und Differentialdiagno8© des Tumor medullae spinalis.
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in Riickenlage nicht auszuldsen ist; links dasselbe Verhalten. Die Zehen
rechts in Beuges tel lung. Kein Babinskisches Zeichen, dagegen Oppenheim-
sches sehr ausgesprochen. Links dasselbe, aber weniger deutlich. Kein
Rossolimo, kein Bechterew-Mendel.
An der rechten Sohle Hyperasthesie. Muskulatur an den Unter-
schenkeln schlaff und welk.
Die aktive Motilitat des rechten Beines auf ein ganz geringes Mafl
beschrankt; sie kann es mit minimaler Kraft kaum einen FuB hoch von der
Unterlage erheben. Im FuBgelenk ist eine schwache Adduktion und Streckung
ausfiihrbar, auch die Plantarflexion ganz kraftlos. Zehenbewegungen sehr
begrenzt und ohne Kraft. Im linken Bein all© Bewegungen besser, aber auch
hier betrachtliche Pares©. Der Temperatursinn ist an der linken Rumpfhalfte
ganz erloschen; an der rechten sind wenigstens die entsprechenden Unlust-
gefiihle erhalten, aber Pat. vermag auch hier heiC und kalt nicht sicher zu
differenzieren. Beriihrungen werden an vielen Stellen der unteren Extremi-
taten wahrgenommen; an anderen, besonders an den FuBen, nicht. Fur
Nadelstiche besteht am rechten Bein eine Hyperasthesie, wahrend das
Schmerzgefiihl am linken erloschen ist. Am rechten Bein wird heiB und
kalt empfunden, doch gibt sie bei kalt an: ,,Ich weiB jetzt, daB das Brennen
kalt bedeutet.“ Am linken wird nur kalt empfunden. Lagegefiihl an
beiden FiiBen stark herabgesetzt.
Ophthalmoskopisch normal. Sprechen und Schlucken unbehindert.
Diagnose: Es handeU sich um einen ausgebreiteten Prozefi am
Cervikalmark , der bis in die obersten Cervikalsegmente reicht und sich
andererseits auch noch bis zur Cervikalanschwellung forisetzt , da die
Ldhmung der kleinen Handmuskeln einen atrophischen Charakter hat.
Andererseits sind doch die Spasmen am rechten Arm so ausgesprochen ,
dafi die Hauptverdnderung too hi oberhalb der Cervikalanschwellung sitzt und
die Atrophie der kleinen Handmuskeln vieUeicht als Inaktivitdtsatrophie zu
deuten ist . Das wird wohl die elektrische Untersuchung lehren. Damit stimmt
die Beteiligung des Phrenicus. Der Prozefi sitzt vorunegend an der rechten
Seite und ivahrscheinlich besonders hinten. Visles spricht da fur, dafi er extra¬
medullar entstanden ist und das Riickenmark durch Kompression geschadigt
hat. Im Hinblick auf die Entwicklung , den Verlauf und die urspriinglich
erzieUe Besserung mittels Streckverband ist es anzunehmen , dafi das Leiden
von der Wirbelsdule ausgegangen ist , dafi es sich also urspriinglich um eink
Spondylitis cervicalis gehandelt hat , an die sich dann eine Pachymeningitis^
eventuell mit Meningitis serosa angeschlossen hat. Es ist aber auch nicht auszu-
schliefien , dafi der Prozefi von vornherein ein meningealer war. Tumorbildung
im eigentlichen Sinne des Wortes ist sehr unwahrscheinlich. Ein sehr dunklet
Punkt im Krankheitsbilde ist die Atonie der Unterschenkelmuskulatur bei
dem im ubrigen spastischen Charakter der Ldhmung. Wenn nicht Liquor-
stauung in den untersten Riickenmarksabschnitten daran schuld ist , mu file
man an Komplikationen denken. Vielleicht bringt die elektrische Priifunfy
Aufschlufi. — Jedenfalls ist die Laminektomie dringend indiziert.
Die auf meinen Rat ausgefiihrte Rontgenuntersuchung (Dr. M. Cohn)
ergab eine Ldhmung des rechten ZwerchfeUs bei guter Funktion des linken;
,,das rechte steht bei der Atrnung still und macht nur am Ende des Ex^
spiriums eine kurze zuckende Bewegung.“
Befund an der Halswirbelsaule negativ. „Am IV. Halswirbel beider-
seits exostosenartige Verlangerung der Querfortsatze, denen wohl kaum
eine zum Leiden in Beziehung stehende Bedeutung zukommt. 44
Die elektrische Untersuchung, die ich durch Prof. Cassirer ausfiihren
liefl, ergab: Faradisch: Streckmuskulatur am rechten Unterschenkel gut
erregbar, Wadenmuskulatur gegen links herabgesetzt, ebenso der rechte
Quadriceps. Galvanisch : Keine EaR, auch keine wesentliche Herabsetzung.
An der rechten Hand alle Muskeln faradisch und galvanisch gut erregbar,
auch vom Nerven aus. Der obere Abschnitt des Cucullaris ist fur beide
Strome erregbar, ebenso der Supraspinatus und die Rhomboidei; der iibrige
Cucullaris ist fur beide Strome unerregbar. Keine Entartungsreaktion.
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Am as. \X $ruk Operalwit dureh £!, Km us? in mriher vmpenvvart
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LdmiDt&tomift It. Dut* ^ssp&nAf , fck£h Dbfen
vrtfbr^itAr^ kemo PuisiUicm. fifed Erdffimng flift&i m*:M Liquor- M* und t>?
ttritt emu lunugestreckt<s hkiurot -vt?farhir f^svk^US zutdttr dem Hiieke'u-
murk you himw und Inlanders von /Tveh.t* mUoidvAm- Oreuxe VrtW
: ik*^| imiM liUJiAnek^mi^ dos i V # < botvine- Onge
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oaukleierefu urkennt m*m/da$ sie In die KiA‘kvaimark^sul)^tan? erndringi,
rasp xum Tell eineu intraihodulj^rAu Sitz hftt, auAerclefp sofczt aie sk*h noeh
iwn h obmx Ids (inter don Atlas fort. Dti dvr Pui*sohr kletii und frequent And
die Atmung. gnnz insuffiMent Wird, nmti die Operation, din Triton 1 V> .Spiridon,'
vedtnmrt fiaf. tthgohroeheii wnrdeui
. ij*r KrJiu^'tTitt p^th •$-'*Si*ind&tt >« Atendahmimg urid Kollaps eijt
Die dbduktion, die $r» fof^Amfen
Take in An^erer GekeA’^vrt von prpl'
Oejstti-tnlvh t^rd/ prgibH i|»X5
die t>*>sehwu)at /vptA
\ erl^ngerten M*trk v* vmd. dem nun rAn
him eren Han-in dvr H?OniunilsvitAj>phAvn
iieW^nfrttttdit und ^ixdj tiaeh tiimy **r neb lie] \.
e^rljrmtdrt und kiioliferi/dmug verdkdd
': (’Ivfc Dp Wahrnfid tue ' bier Sieher ■ • :
nkdulikf L^t. adnr wenig^tens init ihi-ern
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itte A? btsbngenit \H\ 0}>eriUiotiggnhiet die
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A^utkes sclb«t horau^g v^ebaii ‘‘A : / . *
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wnbl fjir ^]a> Inntete wie die vprde H) lier Y : * .
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vert hr |v?. waWtnul die i^-hsrvn wiotirv
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Din H <il^uiiseiiwethiugbr)iemt iiaflen
lieb- ; iik*.ht : Vvrunden, abej- die Substvtnv
frilitt Sieb Aberal) ^- Jrj k an. .
Geradn «m CenuA iuidfe^ 'Ach eih
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Kav'hflem da* litickenmark tunige TAge.iti F^raatin ^hSttet
n ,ir s konnlc idi das Protokoll duwli fojgwid€<. Nota^en- ergiazen:
itje der HAtierfiaohe de^ biferSlOn ^Sombrma«so
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imd Different ialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
481
reicht mit ihrem obersten Fortsatze bis zum hinteren Rande des Cerebellum
und zum unteren Ende des vierten Ventrikels. Der Operationsdefekt ent-
spricht dem dritten Cervikalsegment. Die Halsanschwellung und das obere
Dorsalmark erscheint auffallend voluminos. Ein Querschnitt in der Hohe
der ersten Dorsalwurzel zeigt in der grauen Substanz eine Spaltbildung, die
anscheinend nicht kiinstlich ist, auch erinnert die Anordnung der weifien
Substanz an das Bild der Gliosis. Das mittlere Dorsalmark ist ebenfalls
noch ungevvohnlich voluminos. Von hier bis in das Sakralmark hinab tritt
in der Achse des Ruckenmarks eine braunrotlich gefarbte Masse hervor,
die wahrseheinlich eine Hamatomyelie darstellt. Im Sakralmark nimmt sie
an Umfang zu.
Die Geschwulst hat den Charakter des Glioms.
Zusammenfassung: Das im Beginn der Erkrankung 13 Jahre
(bei seinem Tode 27 Jahre) alte Madchen, Tochter ernes tuberkulosen
Vaters, verspiirte im Jahre 1898 zum ersten Male Steifigkeit und
Schmerzen im Genick, die periodisch auftraten. Zwei Jahre spater
(1900) kam es zu einem akuten fieberhaften Anfall von Schmerzen
im Nacken und Genicksteifigkeit. Dazu gesellte sich eine allmahlich
zunehmende Schwache im rechten Arm, spater auch eine Gefiihls-
storung. Im Laufe der Zeit Steigerung dieser Erscheinungen unter
Remissionen. Ich diagnostiziere bei der ersten Konsultation (1900)
eine Caries der Halswirbelsaule, empfehle Extensionsbehandlung,
unter der eine vollkommene Ruckbildung des Leidens erfolgt, so
daO jahrelang volliges Wohlbefinden herrscht und Pat. sich als
Mjalerin ausbilden kann. Erst in den Jahren 1908 und 1909 kommt
es wieder zu groOeren Beschwerden, es gesellt sich Zittern in der
rechten Hand hinzu. II. Konsultation Januar 1910. Befund: Wirbel-
saule frei. Atrophische Lahmung des rechten Cucullaris, Anasthesie
im Gebiet der rechten oberen Cervikalnerven, spastische Parese des
rechten Armes in alien Teilen mit lebhafter Steigerung aller Sehnen-
phanomene, Handclonus, Ataxie der rechten Hand, Sensibilitats-
storung in beiden Handen, spastische Parese des rechten Beines.
Damals am Phrenicus nichts Auffalliges. Diagnose: Nach ab-
gelaufener Spondylitis cervicalis superior eingetretene Pachy¬
meningitis cervicalis hypertrophica. Fibrolysininjektionen ohne
besonderen Erfolg.
In der Folgezeit Zunahme der L&hmung im rechten Arm,
Ausbreitung derselben auf die Beine; besonders erhebliche Ver-
schlechtenmg nach einem Fall im Juni 1912; heftige Genick-
schmerzen; Blasenlahmung (Entwicklung einer sehr hartnackigen
Akne im Gesicht).
III. Konsultation April 1913. Wirbelsaule nahezu frei beweglich.
Passive Riickenlage. Im Gebiet der oberen Cervikalnerven rechts
Anasthesie, links weniger, Atrophie des rechten Cucullaris in seinem
mittleren und unteren Biindel mit starker Herabsetzung der elektri-
schen Erregbarkeit, Dyspnoe, Lahmung des rechten Phrenicus,
auch rontgenologisch sichergestellt, spastische Kontraktur imd
unvollkommene Lahmung des rechten Armes, Atrophie der kleinen
Handmuskeln (rechts) ohne Veraiiderung der elektrischen Erregbar¬
keit. Am linken Arm auch erhohte Sehnenphanomene, aber keine
Lahmung. Sensibilitatsstorung in der rechten Hand, Bathy-
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() p penhei m , Weitere Beitrage ziu* Diagnose
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anasthesie und Ataxie in beiden Handen, ferner Analgesie und
Thermanasthesie in der linken Korperhalfte, Hyperasthesie am
rechten FuB. Spastische Parese des reqhten Beines (fast Paralyse),
weniger des linken, aber in beiden FuBgelenken Hypotonie und
trotz Patellarclonus fehlt Fersenph&nomen, kein Babinski, aber
Oppenheim usw. Keinerlei Bulbarsymptome usw. Diagnose:
Komprimierender ProzeB am oberen Halsmark oberhalb der Hals-
anschwellung, wahrscheinlich von hinten und rechts ausgehend.
Es ist in erster Linie an eine von einer abgelaufenen Spondylitis
tuberculosa induzierte Pachymeningitis zu denken. Tumor un-
wahrscheinlich. Vielleicht komplizierende Affektion im Sakralgebiet.
Bei der Operation findet sich ein langgestreckter Tumor, der
die vier oberen Cervikalsegmente von hinten und rechts her kom-
primiert und in der Hohe des III. und IV. Segmentes ins Mark
eindringt, resp. von diesem ausgeht. Partielle Exstirpation. Exitus.
Die Obduktion erganzt die Biopsie und zeigt, daB die Lokali-
sation des Hauptprozesses eine vollkommen richtige war, daB der
massive, zum groBen Teil extramedullar sitzende Tumor (Gliom)
den vier obersten Halssegmenten entsprach, daB sich aber ein
gliomatoser ProzeB von intramedullarem Sitz weit durch das
Biickenmark nach abwarts erstreckte und daB zu diesem an-
scheinend [durch den Fall 1 )] eine Hamatomyelie getreten war.
Ich will den bemerkenswerten Fall, obgleich die histologische
Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, hier insoweit beriick-
sichtigen, als er in Beziehung zu unserem Thema steht. Zunachst
ein Wort zur Rechtfertigung meiner Diagnose. So exakt diese
in Bezug auf die Lokalisation gewesen ist, auch bezuglich der
komplizierenden Affektion im Bereich des Sakralmarkes, so falsch
war sie bezuglich der Natur des Prozesses. Statt der von mir
urspriinglich diagnostizierten Caries und spater angenommenen
Pachymeningitis cervicalis hypertrophica (tuberculosa?) fand sich
eine Neubildung. Diese hatte ich fur unwahrscheinlich gehalten
und muBte sie fiir unwahrscheinlich halten, weil es mir in den ersten
Stadien des Leidens gelungen war, durch Extensionsbehandlung
eine Heilimg zu erzielen, die sich auf eine Reihe von Jahren er¬
streckte. Das ist eine nach unseren bisherigen Erfahrungen und
Anschauungen fiir einen Tumor unerhorte Erscheinung. Man
konnte allenfalls noch die Hypothese aufstellen, daB es sich doch
urspriinglich um einen meningealen EntziindungsprozeB gehandelt
habe und daB erst auf diesem Boden die Geschwulst entstanden sei.
*) Der Fall lelirt so recht, wie vorsichtig man in der Bewertung
therapeutischer Kesultate und in der Begriindung der Diagnose e juvantibus
sein muB. Erb liatte richtig vermutet, daB eine Gliose im Spiele sei, ich
hatte falschlich eine Caries angenommen, aber durch die unter falscher
Diagnose eingeleitete Extensionstherapie der Pat., ein sich iiber 7 bis 8 Jahre
erstreckendes Wohlbefinden verschafft. Das war der Segen der falschen
Auffassung, aber ihr Fluch war nun, dafi ich naturgemaB auf Grund des
erzielten Erfolges auch in dor ganzen Folgezeit an meinem Irrtum festhielt.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
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Diese Annahme scheint mir aber sehr gewagt. Man konnte femer
noch den Einwand erheben, daB die urspriingliche Diagnose einer
Caries schon durch das negative Ergebnis der Rontgenuntersuchung
widerlegt worden sei. Aber ganz abgesehen davon, daB auch heute
noch Falle von Spondylitis tuberculosa beobachtet werden, in
denen die Rontgenoskopie nicht zu einem eindeutigen Resultate
fiihrt, war das Verfahren im Jahre 1900 doch noch unvollkommen
ausgebildet. Als bei der spateren Untersuchung im Jahre 1910
die Wirbelsaule sich ganz frei beweglich zeigte, gelangte ich zu der
Auffassung, daB der Wirbelherd ausgeheilt sei, daB nun aber die
auf dieser Basis entstandene Pachymeningitis chronica die Grund-
lage der Erscheinungen bilde, da ich in Gemeinschaft mit F . Krause
ahnliche Falle einer scheinbar primaren tuberkulosen Form der
Pachymeningitis chronica beobachtet hatte.
In klinisch-diagnostischer Hinsicht bildet unser Fall wegen
seines Verlaufes ein Unikum; auch dadurch, daB fur die klinischen
Erscheinungen fast nur der extramedullar gelagerte Tumor zur
Geltung kam. Uns interessiert hier in erster Linie die Form der
Hemiplegia spinalis. Sie schlieBt sich als Hemiplegia diaphrag-
matico-brachiocruralis der als Beobachtung III geschilderten an,
erganzt sie aber dadurch, daB 1. die Phrenicuslahmung auch
rontgenologisch und 2. ihre Grundlage auch durch die ana-
tomische Untersuchung festgestellt worden ist. Gerade im
Ursprungsgebiet der III. und IV. Cervikalwurzel hatte der Tumor
das Mark aufs schwerste geschadigt, und gerade diese Wurzeln
hoben sich schon makroskopisch durch ihre Verfarbung und
Atrophie ab.
Der Fall leitet aber auBerdem durch die atrophische Cucullaris-
lahmung zu einem weiteren Typus iiber und bedarf deshalb noch
nachher der Beriicksichtigung.
In Bezug auf die Frage der spinalen Paralysis diaphragmatica
ist auch die von Veraguth-Brun mitgeteilte Beobachtung von
Interesse, insofern, als auch hier diese Lahmung rontgenologisch
festgestellt, die Diagnose und Lokalisation durch die Biopsie und
den Erfolg der Therapie sichergestellt worden ist.
Sehr beachtenswert ist nun aber die schon kurz angefiihrte
Tatsache, daB unter gleichen Verhaltnissen die Lahmung des
Phrenicus ausbleiben kann. AuBer dem heute mitgeteilten Fall
Sch. (Abschnitt II dieser Abhandlung) ist in dieser Hinsicht
besonders lehrreich ein von Krause und mir 1 ) beschriebener: eine
extramedullare Geschwulst, die vom II. bis IV. Halswirbel reichte
und das Ruckenmark so stark komprimierte, daB schwere
motorische und sensible Ausfallserscheinungen an alien vier
Extremitaten und am Rumpfe bestanden, hatte keinerlei Storungen
der Zwerchfellfunktion verursacht. Auch der operative Eingriff
an dieser Stelle — der zur dauemden Heilung fiihrte — hat
nicht einmal eine temporare Lahmung des Nerven verursacht.
J ) Munch, med. Woch. 1909.
Monatapchrift f. Psycblatrie u. Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 0. 32
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Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
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Dasselbe haben Auerbach-Brodnitz 1 ) in ihrem Falle konstatiert
und der Vermutung Ausdruck gegeben, daB der Phrenicuskem sich
■durch eine besondere Resistenz auszeichne. Auch eine von West-
phal 2 ) mitgeteilte Beobachtung ist fiir diese Frage lehrreich.
Es sind das freilich Erscheinungen, die uns in der Nerven-
pathologie iiberall begegnen: Zentren, Leitungsbahnen, Nerven-
keme werden in dem einen Falle schon durch einen unbedeutenden
ProzeB in ihrem Bereich, in ihrer Nachbarschaft bis zum volligen
Versagen der Funktion geschadigt, in dem anderen bieten sie
einem sie von alien Seiten bedrangenden und durchsetzenden
Krankheitsvorgang Trotz und bewahren ihre Funktion unge-
•schmalert. Bornstein 3 ) hat das auch auf experimentellem Wege fest-
gestellt. GewiB spielt da der Umstand eine Rolle, ob es sich um
eine akute oder allmahliche Entstehvmg handelt, femer ob mit dem
Vorgang der Kompression usw. Zirkulationsstorungen und Gift-
wirkungen verkniipft sind. Aber es ist auch die Annahme nicht
von der Hand zu weisen, daB bestimmte Apparate, besonders die
lebenswichtigen Zentren und Kerne, so luxurios angelegt sind,
•daB sie betrachtlich reduziert werden konnen, ohne .daB ihre
Funktion dadurch tangiert zu werden braucht. Fiir das spinale
Zentrum des Zwerchfells imd seine Leitungsbahnen glaube ich das
auf Grund der eigenen und fremden Erfahrungen annehmen zu
•diirfen. Freilich diirfen wir es nicht auBer acht lassen, daB leichte
Grade der Parese, besonders wenn nicht rontgenologisch 4 ) gepriift
wird, sich hier der Feststellung entziehen konnen, daB wir einen
so feinen Gradmesser fur die Hypoinnervation wie am Facialis,
Hypoglossus usw. nicht besitzen, und daB die Beurteilung der
elektrischen Erregbarkeit hier mit besonderen Schwierigkeiten
verkniipft ist. Namentlich ist iiber die Entartimgsreaktion am
Diaphragma nichts bekannt. Ich halte es aber nicht fiir ausge-
schlossen, daB es auch einrnal gelingen diirfte, sie bei sehr mageren
Individuen direkt oder bei Reizung unter Rontgendurchleuchtung
wahrzunehmen. Bisher gelang es mir nur, die Abnahme oder den
Verlust der Erregbarkeit am N. phrenicus festzustellen, ein Nach-
weis, der erst dadurch bedeutungsvoll wurde, daB die Reizung des
kontralateralen Nerven ein positives Ergebnis hatte oder daB —
wie in Fallen von Alkoholneuritis —mit der Wiederkehr der
Funktion auch die Erregbarkeit wiederkehrte. In dem Falle von
Mundelius ist ebenfalls festgestellt worden, daB der N. phrenicus
■elektrisch nicht erregbar war.
*) Mitt. a. d. Grenzgeb. Bd. XV.
*) Berl. klin. Wochenschr. 1911.
*) Experim. u. anatom. Untera. iiber die Kompresaion des Riicken-
marks, Vortrag gehalten auf dem II. KongreB polnischer Neurologen.
1912. Ref. Zeitschr. f. d. ges. Nbur. VI.
4 ) Vgl. zu dieaer Frage Kienbock, Levy-Dorn, Holzknecht, Moritz
(Dtsch. med. Woch. 1906), Janin und besonders Eppinger, Allgemeine u.
spez. Path. d. Zwerchfells. Nothnagela Handbuch Suppl. 1911. S. auch
JStuertz, Ueber Zwerchfellbewegung nach einseitiger Phrenicusdurchtrennung,
Dtsch. med. Woch. 1912.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis.
485
Die durch Erkrankungen des Halsmarks in der Hohe des
Phrenicuskems bedingte Hemiplegia spinalis zeigt mannigfaltige
Abarten infolge der Verschiedenartigkeit der durch die Lasion der
sensiblen Leitungsbahnen verursachten kontralateralen und homo-
lateralen Sensibilitatsstorungen. Auf diese Frage, die schon So
vielfach — von Mann , Laehr, Kocher, Oppenheim, Brissaud,
Henneberg, Petren, Jolly und vielen Anderen, zuletzt von Fabritius —
diskutiert worden ist, soli hier nicht eingegangen werden. Aber auf
einige Punkte ist noch hinzuweisen: zunachst auf die Reizzuslande,
die sich in den oberhalb des Krajikheitsherdes entspringenden
Wurzelgebieten entwickeln. Sie sind sensibler und motorischer
Natur. Es geht aus den vorliegenden Erf a hr ungen und auch aus
meinen personlichen nicht mit genugender Deutlichkeit hervor,
ob es sich um die Folgen einer Reizung der nervosen Elemente durch
den sie eben noch beriihrenden, aber nicht schwer schadigenden
KrankheitsprozeB (oberster Geschwulstpol, Liquorstauung, Oedem
usw.) handelt oder um ein Nachbarschaftssymptom, dadurch ver-
ursacht, daB die Ausschaltung mehr oder weniger des gesamten
Ruckenmarks den unversehrten obersten Riickenmarksabschnitt,
dem vom Zentrum imd zum Teil auch von der Peripherie alle
Impulse zustromen, in einen Zustand von Uebererregung versetzt.
Es sind nach unserer Erfahrung beide Vorg&nge im Spiele, und
es wrd sich aus diesen Reizphanomenen nicht bestimmt erkennen
lassen, ob die entsprechenden Ruckenmarkssegmente noch in das
oberste Niveau der Erkrankung fallen oder bereits oberhalb des-
selben gelegen sind.
Was die Erscheinungen selbst anlangt, so handelt es sich um
das Symptom der Hyperasthesie einerseits, der Kontraktur anderer*-
seits. Den Ursprung des ersteren, das auch oft dem Sitz der
Wurzelschmerzen entspricht, pflegt man nach der bei der
Brown-Sequardschen Lahmung gewonnenen Erfahrungen noch
in das oberste Niveau des Krankheitsherdes zu verlegen. Ein
typisches Beispiel dieser Art bildet der schon mehrfach an-
gefiihrte, von Oppenheim-Krause geschilderte Fall, in welchem
•die in der Hohe des II. bis IV. Halswirbels sitzende extramedullare
Geschwulst mit einer Hyperasthesie im Bereich der oberen Cervikal-
nerven (seitliche Halsgegend, Fossa supraclavicularis usw.) ein-
herging.
Sehr viel seltener ist bisher der entsprechenden motorischen
Reizphanomene Erwahnung getan worden. Ich habe schon kurz
angefuhrt, daB bei Krankheitsherden im Bereich der Halsan-
schwellung, die unterhalb der V. und VI. Cervikalwurzel sitzen,
die von diesen Wurzeln innervierten .ffr&schen Muskeln in einen
Zustand dauemder Anspannung geraten konnen, wie das schon
von Hutchinson, Thorburn, Kocher u. A. beschrieben sei. In einem
unserer Falle 1 ) entsprach diesem motorischen Erregungszustand
auch eine auffallende Steigerung der elektrischen Nervenerregbarkeit.
l ) Oppenheim-Borchardt, Berl. klin. Woch. 1896.
32*
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4W Oppenheim, Weitere Beitrage zar Diagnose
Es ist bislang, soweit ich sehe, nicht geniigend darauf geachtet
worden, ob es sich dabei nur um eine Haltungsanomalie oder urn
eine entsprechende Hypertonie resp. echte Kontraktur handelt.
Nach meiner Erfahrung kommt beides vor.
Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht unsere heute mitgeteilte
Beobachtung Sch. (Abschnitt II),in welchereine das Riickenmark in
der Hohe des III. bis V. Halssegmentes komprimierende Geschwulst
zu einer Hemiplegia spinalis gefiihrt hatte, die mit Hochstand der
Skapula durch dauemde Anspannung des Levator anguli scapulae
und der Rhomboidei einherging. Auf dieses Symptom und seine
lokalisat-orische Bedeutung muB in kiinftigen Beobachtungen
genau geachtet werden, damit wir erkennen, welches die Be-
dingungen fiir seine Entwicklung sind und ob diese Form der Kon¬
traktur von der spastischen unterschieden werden kann. Jedenfalls
gibt es einen Typus der Hemiplegia spinalis , in welchem nicht nur
die Extremitatenldhmung einen spastischen Charakter hat, sondern
auch oberhalb des Krankheitsherdes entspringende Muskeln in einen
Kontrakturzustandes geraten konnen, die nichts mit der Pyramiden-
degeneration zu tim hat.
Wir kommen damit zu dem letzten Typus (supremus) der
Hemiplegia spinalis , wie sie sich bei Affektionen des obersten Hals-
marks, der obersten zwei Cervikalsegmente entwickelt.
Man sollte zunachst erwarten, daB auch unter diesen Verhalt-
nissen das Zwerchfell an den Lahmungserscheinungen teilnehme.
Allerdings lehren die experimentellen Untersuchungen von Porter ,
Kron 1 ), daB bei halbseitiger Unterbrechung der supranuklearen
Bahnen des N. phrenicus die Impulse in der gekreuzten Rxicken-
markhalfte zu dem homolateralen Kerne fortgeleitet werden
konnen. Auch nimmt das spinale Zentrum des N. phrenicus insofern
eine Sonderstellung ein, als es sich bei seiner Tatigkeit weniger
um willkiirliche bezw. kortikofugale Impulse, als um eine reflek-
torische, automatische Funktion handelt.
Ferner ist nichts dariiber bekannt, ob sich bei Lasion der aus
der Med. obi. zum Nucleus spinalis diaphragmatis herabziehenden
Leitungsbahn dem spastischen Symptomenkomplex analoge Er-
scheinungen am Zwerchfell entwickeln konnen. Jedenfalls wissen
wir nichts von der Hypertonie dieses in der Tiefe verborgenen
Muskels, der ja auch in Bezug auf die Anordnung seines sehnigen
Teiles eigenartige Verhaltnisse bietet. Ich halte es aber nicht fiir
ausgeschlossen (nach eigenen Beobachtungen), da/3 der Singultus
auf diesem Wege zustande kommen kann . Es ist ferner denkbar,
daB sich unter entsprechenden Verhaltnissen bei der Perkussion
der unteren Rippen motorische Reizphanomene am Zwerchfell
auslosen lassen, die wenigstens auf dem Rontgenschirm erkenn-
bar sind. Meine bisherigen Versuche. auf mechanischem Wege eine
nachweisbare Zwerchfellzuckung auszulosen, scheiterten daran,
daB dabei eine Kontraktion der Bauchmuskeln eintritt, die eine
2 ) Zeitwchr. f. Nerv. J^d. XXI1.
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und Diffcrentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 4S7
Beobachtung des Zwerchfells erschwert. Nur in einem Falle
konnte ich auf diesem Wege eine inspiratorische Zuckung reap,
eine krampfhafte Inspiration auslosen.
Lassen wir die Frage nach dem Verhalten des Zwerchfells
bei den Affektionen des obersten Halsmarkes auCer acht, so erfahrt
die Hemiplegia spinalis bei dieser Lokalisation eine weitere Modi-
fikation dadurch, dab sich eine atrophische Cucullarislahmung
hinzugesellt. Mit der spastischen Lahmung des Armes und Beines,
die sich eventuell auch auf einzelne Schulterblattmuekeln erstrecken
kann, verbindet sich dann die Degeneration des M. cucullaris und
eventuell des Sternocleidomastoideus. Eine eigtne Beobachtung
dieser Art habe ich schon in meiner ersten Abhandlung liber
die Broum-Sequardsche Lahmung erwiihnt. Die Cucullarislahmung
war mit Entartungsreaktion verkniipft. Der heute mitgeteilte
Fall (Beob. IV) bietet die Besonderheit, dab 1. die Lahmung
nur die mittleren und unteren Biindel des M. cucullaris
betraf, wahrend das oberste nahezu verschont blieb; 2. die Ver-
anderung der elektrischen Erregbarkeit, die auch nur in diesem
Teil des Muskels nachweisbar war, den Charakter einer einfachen
quantitativen Abnahme der Erregbarkeit (allerdings betrachtlichen
Grades) hatte. Die Atrophie der mittleren unteren Cucullaris-
bundel wurde auch durch die anatomische Untersuchung festgestellt.
Am Sternocleidomastoideus habe ich einen Beweglichkeits-
defekt nicht nachweisen konnen, und es ist auch aus ftuberen
Griinden die elektrische Untersuchung an diesen Muskeln nicht
vorgenommen worden. Auch auf diesen Punkt wurde kiinftig
genauer zu achten sein.
Es darf femer nicht unerwahnt bleiben, dab unter scheinbar
gleichen Verhaltnissen (Beob. Th. bei Oppenheim-Krause) die
Funktion des Cucullaris bzw. N. accessorius unbeeintrachtigt
bleiben kann.
Von den in der Literatur niedergelegten Beobachtungen der
spinalen Hemiplegie, die diesem Typus angehoren, sei die von
Henneberg besonders angefiihrt. Sie zeigt eine Beteiligung des
Cucullaris und Sternocleidomastoideus mit partieller Entartungs¬
reaktion im ersteren, ohne dab ein verschiedenes Verhalten der
einzelnen Biindel hervorgehoben wird. Auch der Levator anguli
scapulae und die Rhomboidei nahmen hier an der Lahmung teil.
Naturgemab hat dieser Typus der spinalen Hemiplegie auch
ein entsprechendes sensibles Segmentsymptom, indem die Anasthesie
der homolateralen Seite sich auf das Gebiet der obersten Cervikal-
nerven erstreckt (meine Beob. IV, femer Henneberg u. A.).
Auch kann unter diesen Verhaltnissen die Empfindungslah-
mung der gekreuzten Seite sich bis in das Gebiet der obersten
Cervikalnerven erstrecken. Dm trifft natiirlich nur fiir die hochst-
lokalisierte Form der unilateralen Halsmarkerkrankung zu, und
wohl nur dann, wenn diese noch iiber das oberste Cervikalsegment
hinausreicht.
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488
Oppenheim, Weitere Beitrage zur Diagnose
Die Symptomatologie der Herderkrankungen dieses Sitzes
kann nun noch in mancherlei Weise modifiziert weidtn. Zunaehst
sollte man voraussetzen, daB mit dem Hinaufriicken des Krank-
heitsprozesses in die obersten beiden Ceivikalsegmente Reiz- und
Ausfallserscheinungen im Trigeminusgebiet auftreten.
Ueber Reizerscheinungen im Quintusgebiet ist auBerordentlich
wenig bekannt. Wir hatten sie in dem beute mitgeteilten Falle D.
(Beob. IV) erwarten miissen; Pat. hat aber nie iiber Schmerzen im
Gesicht geklagt und hat auch zu keinerZeit das Symptom der Hyper-
asthesie (im Trigeminus) geboten. In der entsprechenden Literatur
land ich nur eine Beobachtung (No. 34) von Kocher, in welcher eine
Messerstichverletzung zwischen Occiput und Atlas durch Lasion
des linken oberen Cervikalmarks eine typische Halbseitenlahmung
hervorgebrcaht hatte mit einer auch die oberen Cervikalsegmente
umfassenden dissoziierten Empfindungslahmung der rechten Seite,
wahrend links die Hyperasthesie auch das Trigeminusgebiet betraf.
Da es sich hier um eine schwere Verletzung handelte, deren Effekt
sich auf die weitere Umgebung erstreckt haben kann, darf die
Beobachtung nicht zu weitgehenden SchluBfolgerungen verwertet
werden.
Da die spinale Trigeminuswurzel bis ins zweite Halssegment
hinabreicht, sollte man bei den destruierend wirkenden Affektionen
des obersten Halsmarks Analgesie und Thermanasthesie im Gesicht
erwarten. Es liegen vereinzelte Erfahrungen dieser Art in der
Literatur vor, auf die sich Henneberg bezieht, aber es hat sich
meist um Gliomatose resp. Syringomyelie mit Syringobulbie ge-
handelt, um Falle, in denen der KrankheitsprozeB bis in die
Oblongata heraufreichte, so daB der sichere Naehweis einer duic-h
eine sich auf das oberste Halsmark beschrankende Affektion
bedingten Trigeminuserkrankung mir noch nicht erbiacht zu sein
scheint. Es ist mir wohl bekannt, daB von Ldhr, Solder, Schlesinger
Wallenberg u. A. der cervikale Anteil der Trigeminuswurzel in Be-
ziehung zu der vom ersten Aste des Neiven versorgten Hautpartie
gebracht worden ist unter Annahme eines von der peripherischen
Innervation verschiedenen Begrenzungstypus. Aber es scheint
mir durchaus erwiinscht, daB die spinale Innervation des Gesichtes
noch durch weitere einwandfreie Beobachtungen klargestellt wird.
Ich habe unter meinem reichen Material nur einen einzigen
Fall gesehen, der in unzweideutiger Weise erkennen laBt, daB eine
sich auf die obersten Cervikalsegmente beschrankende Erkrankung
eine dissoziierte Empfindungslahmung im Gesicht hervorbringen
kann. In Gemeinschaft mit Cassirer, der den Fall genau be-
schreiben wird, habe ich einen Pat. an einer Pachymeningitis
cervicalis hypertrophica syphilitica des obersten Halsmarkes be-
handelt, bei dem zu den typischen Symptomen einer derartigen
“ Spinalerkrankung die Analgesie und Thermanasthesie im Gesicht
gehorte, wahrend die Medulla oblongata nicht an der Erkrankung
teilnahm.
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und Differentialdiagnose des Tumor medullae spinalis. 48£
Wir sind damit zu der wichtigen Frage gelangt, ob, inwieweifc
und unter welchen Verhaltnissen Bulbarsympiome bei den Er-
krankungen des obersten Halsmarks auftreten konnen.
Ueberraschend war ffir mich die Anteilnahme des homolateralen
Facialis an der Hemiplegia spinalis, wie sie schon andeutungsweise
im Fall Th. (< Oppenheim-Krause ) und dann in weit deutlicherer
Ausbildung bei meinem Pat. Sch., auf den sich die Mitteilung im
II. Absehnitt der heutigen Abhandlung bezieht, beobachtet worden
ist. Wenn es sich auch nur um eine leichte Parese des Mundfacialis
— und eine weit geringere des entsprechenden Musculus frontalis
udorbicularis—handelte, war das Symptom doch ganz dazu angetan,
der Hemiplegia spinalis den auBeren Aspekt der cerebralen zu ver-
leihen. In der Literatur sind mir Erfahningen entsprechender Art
nicht begegnet, da in dem Nonne schen Falle (s. u.) die Facialisparese
eines von den vielen Zeichen einer bulbaren Lahmung bildete.
Wollte man noch daran zweifeln, daB die Erscheinung in den beiden
Fallen in Zusammenhang stand mit der Kompressicn des oberen
Cervikalmarks durch die extramedullare Geschwukt, so ist der
Be we is durch den Erfolg der Therapie erbracht worden, indem
sich — man konnte fast sagen unmittelbar — naeh ihrer Ex-
stirpation die Parese zuiiickbildete.
Wie kommt das Phanomen zustande ? Bei der Beantwortung
dieser Frage ist zun&chst daran zu erinnern, daB auch andere Bulbar-
symptome bei Affektionen des oberen Hah marks in vereinzelten
Fallen konstatiert worden sind. Dabei konnen wir wohl ganz ab-
sehen von den im AnschluB an die schweren Verletzungen der
Wirbelsaule und des Halsmarks auftretenden Erscheinungen
(Uebelkeit, Erbrechen, Pulsverlangsamung usw.), weil bei diesen
sowohl die mechanische Lasion als besonders die Erschiitterung und
Shockwirkung weit fiber das direkt getroffene Gebiet hinausgreifen
kann. Auch die Gliosis und Syringobulbie eigne t sich nicht fur diese
Betrachtung, weil die letztere, wie schon der Name sagt, Ver-
anderungen im Terrain des Bulbus hervorruft.
Dagegen liegen vereinzelte Beobachtungen vor, hi welchen
Geschwiilste im Bereich des obersten Halsmarks Bulbarsymptome
hervorgebracht hatten. Dahin gehort zunachst die Mitteilung von
H. Schlesinger 1 ), welche sich auf einen Solitartuberkel im obersten
Halsmark bezieht. Hier hatte das Leiden plotzlich mit Schling-
lahmung, Dysarthrie, Salivation, Aphonie usw. begonnen. Fur
diese Symptome gab die mikroskopische Untersuchung der Kerne
des Bulbus keine Erklarung, so daB Schlesinger sich geneigt sah,
Zirkulationsstorungen und Oedem zu beschuldigen. Dann folgte
die bemerkenswerte Beobachtung Nonnes 2 ), in welcher ein aszen-
dierendes intramedullares Sarkom, das fiber das Halsmark nicht
nach oben hinausgriff, in den letzten Lebenswochen Schling-
lahmung, Parese der Abducentes, Faciales, Masseteren usw. sowie
1 ) Zeitschr. f. klin. Med. Bd. XXXII. Suppl.
2 ) Arch. f. Fsyeh. Bd. XXXIII.
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490
Oppenhe i m , Weitere Beitrage zur Diagnose
Neuritis optica hervorgebracht hatte. Nonne bezieht die Erschei-
nungen auf Intoxikation. Ihm schlieBt sich in der Deutung Stertz 1 )
an, der in einem ahnlichen Falle, in welchem sich sub finem vitae
Dysarthrie, heftiger Singultus, Tachykardie usw. entwickelt hatten,
in den Kemen der Medulla oblongata keine Veranderung, nicht
einmal Oedem nachweisen konnte.
Die Literatur mag noch weitere Beobachtungcn entsprechender
Art enthalten. Die angefiihrten geniigen, um die Tatsache zu
demonstrieren, daB Erkrankungen im und am oberen Halsmark
jedwedes Bulbarsymptom hervorbringen kcnnen.
Ich halte auf Grund der eigenen Erfahrungen, die zum Teil
auch von Nonne herangezogen werden, die Intoxikationstheorie
fur begriindet. Aber es muB doch auf fallen, daB die Giftwirkung
sich unter den genannten Verhaltnissen nur auf die bulbaren Nerven
erstreckt und nur bei Nonne noch den Opticus in Mitleidenschaft
zieht. Es diirften also noch andere Einfliisse dabei eine Rolle spielen.
Auch die Zirkulationsstorung, das Oedem mag zu den wirksamen
Momenten gehoren. Dazu kommt die von den friiheren Autoren
noch nicht beriicksichtigte Liquorstauung oberhalb des Tumors,
auf deren klinische Bedeutung ich die Aufmerksamkeit gelenkt
habe, undes miiBte kiinftig darauf geachtet werden, ob sich bei den
das obere Halsmark betreffenden Geschwiilsten diese in besonders
starkem MaBe im Bereich der Medulla oblongata entwickelt.
DaB in den heute mitgeteilten Fallen die Facialisparese nicht
durch Giftwirkung erklart werden kann, liegt auf der Hand, da
sie sich fast unmittelbar im AnschluB an die Exstirpation der Ge-
schwulst zuriickbildete. Auch der Umstand, daB sie lange Zeit
als isoliertes Symptom bestand, macht fur sie die Annahme der
toxischen Genese hochst unwahrscheinlich.
Ich bin also der Ansicht, daB bei der Erzeugung dieser Bulbar-
symptome noch andere Beziehungen in Wirksamkeit treten. Wir
haben gesehen, daB auch bei den Affektionen der tieferen Etagen
des Halsmarks Erscheinungen auftreten, die auf den oberhalb des
Krankheitsherdes gelegenen Riickenmarksabschnitt bezogen werden
muBten. Wenn ich auch zuerst und immer wieder dafiir eingetreten
bin, daB die Liquorstauung fiir einen Teil dieser Erscheinungen ver-
antwortlich zu machen ist, habe ich doch schon in dieser Abhand-
lung Gelegenheit genommen, auf weitere Tatsachen hinzuweisen.
So glaubte ich als Erklarung fiir die Hyperasthesie der Haut
und Kontraktur in den Muskeln, die den oberhalb des Locus morbi
gelegenen nachst hoheren Segmenten entspringen, einen Zustand
erhohter Erregbarkeit in diesen supponieren zu diirfen. Eine
entsprechende Deutung habe ich fiir den Singultus herangezogen.
Damit ist der Versuch einer Erklarung der Reizerscheinungen
gemacht. Aber wie steht es mit den uns jetzt beschaftigenden
Ausfallssymptomen ?
l ) Mon. f. Psych. Bd. XX.
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und Different ialdiagnose des Tumor meduilae spinalis. 491
Ich bezweifle nicht, daB die Diaschisis im Sinne Monakows
hier eine Rolle spielt. Da das Halsmark von auf- und absteigenden
Bahnen durchzogen wird, welche Verbindungen herstellen zwischen
bulbaren und spinalen Nervenkernen, ist es durchaus denkbar,
daB eine schwere Schadigung dieser Gebilde im obersten Ceivikal-
mark eineWirkung ausiibt, die sich bis in die Kerne der Medulla
oblongata erstreekt und hier einen lahmenden EinfluB ausiibt.
Wir haben damit eine Reihe von Wegen festgestellt, auf dcnen
die Erkrankungen des obersten Halsmarks, ohne direkt auf den
Himstamm iiberzugreifen, die Kerne und Bahnen der Medulla
oblongata in Mitleidenschaft ziehen konnen. Die Kenntnis dieser
Tatsache hat eine groBe praktische Wichtigkeit. Sie wird uns
davor schiitzen, auf Grund von Bulbarsymptomen allein und
schlechthin die Diagnose der Syringomyelie und Syringobulbie
zu stellen bei Geschwiilsten am oberen Halsmark, die dem operativen
Eingriff zuganglieh sind.
Ieh will das durch ein weiteres Beispiel erlautern.
Boob. V. E. W., 13 Jahre alt. Seit ca. 5 Jahren hat sich eine ganz
allmahlich fortschreitende Schwache in der linken Korperseite entwickelt.
Zuerst Wurde die linke Hand, dann der Arm, ein halbes Jahr spater auch
das linke Bein ergriffen. Diese GliedmaBen blieben in der Entwicklung
zuriick. Keine Schmerzen, keine Parasthesien, keine Krampfe. keine
Zuckungen in der linken Korperseite. Keine Blasenbeschwerden. Normale
Geburt und in der ersten Kindheit normale Entwicklung. Intelligenz un-
beeintrachtigt. Eltem und Geschwister gesund.
Status (21. II. 1912): Schtidel nirgends klopf- oder druckempfindlich.
Pupillen gleich. Lichtreaktion prompt. Ophthalmoskopisch normal. Augen-
bewegungen frei. Kein Nystagmus. Kornealreflex links fehlend, rechts
herabgesetzt. Beim Lacheln ein geringe.s Tieferstehen des linken Mund-
facialis. Die rechte Nasolabialfalte ist beim Fletschen ausgepriigter als die
linke, LidschluB beiderseits gleich. Hypoglossus frei. Das linke Bein wird
beim Gehen nachgeschleift, beim Schwingen des Beines kommt es zu einer
Mitbewegung im Extensor halluc. longus. Das linke Bein ist etwas kiirzer
als das rechte, der linke FuB in toto deutlich kleiner als der rechte. Knie-
phanomen rechts schwach, links stark gesteigert, ebenso Fersenpha nomen;
leichter FuBclonus links; typischer Babinski und Oppenheim, ersterer auch
rechts angedeutet. Keine Rigiditat im linken Bein. Motorische Schwache
maBigen Grades in alien Muskelgruppen des linken Beines. Bauchreflex
fehlt links, ist rechts erhalten. Sehnenphanomene auch im linken Arm
gegen rechts gesteigert. Der linke Arm ist kiirzer, die linke Hand kleiner
als die rechte. Es be^teht eine Hypertonie in der linken oberen Extremitat;
besonders in den Flexoren der Hand und Finger. Linker Arm etwas cyanot isch
und die Haut kiihler als rechts. Schwache im ganzen linken Arm, besonders
in der Hand und den Fingern. Schmerz- und Temper at urgefii hi in den
linksseitigen GliedmaBen erhalten, an der linken Planta pedis Hyperalgesie,
am rechten Bein ist das Schmerzgefiihl herabgesetzt, und Warm wird als Kalt
empfunden. Lagegefiihl an den Zehen des rechten FuBes normal, links herab¬
gesetzt. An den Hiinden werden Beriihrungen und Nadelstiche beiderseits
gleichmaBig empfunden, auch Temperaturreize. Ueber der linken Clavicula
und etwas oberhalb derselben werden leichte Beriihrungen nicht gefiihlt,
auch scheint in der linken Fossa supraclavicularis eine geringe Hypalgesie
zu bestehen. Bei einer spateren Untersuchung beschrankt sich die Sensi-
bilitatsstorung hier auf ein kleineres Gebiet. Keine Hemihyperidrosis.
In den kleinen Handmuskeln der linken Seite ist die faradische Erreg-
barkeit etwas herabgesetzt, doch bietet die elektrische Priifung nichts Wesent-
1 iches. Im linken unteren Cucullaris quantitative Abnahme der Erregbarkeit,
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492
O p p e n h e i in , Weitere Beitrage zur Diagnose etc.
keine EaR. Bei Pnifung mit der faradischen Biirste bestatigt sieh die
Hypalgesie in der linken Supraklavikulargegend.
Es besteht eine Par esc des linken Gamnensegels und cine Lahmung
des linken Recurrens. Zwerchfellbewegung beiderseits gleich. Bei einer
spateren Untersuchung ist der Kornealreflex beiderseits stumpf, ohne
Unterschied zwischen links und rechts. Puls normal. Druck auf die Quer-
fortsatze der Halswirbel links schmerzhaft.
Zusammenfassung: Bei einem 13 jahrigen Madchen hat sich
seit 5 Jahren eine fortschreitende Schwache in der linken Korper-
seite entwickelt ohne Schmerzen, ohne Parasthesien. Es findet
sich eine typische Hemiparesis sinistra spinalis spastica [dabei
sind die GliedmaBen diinner und kiirzer als die der rcchtcn Seite 1 )]
mit kontralateraler dissoziierter Empfindungslahmung, die nur
am Bein deutlich ausgesprochen ist, eine homolaterale Hypasthesie
im Bereich der obersten Cervikalnerven, auBerdem eine gleichseitige
Lahmung des Stimmbandes und Parese des Gaumensegels, eine
leichte Hypo-Innervation des entsprechenden Mundfaeialis und eine
Abschwachung der Homhautreflexe, besonders des gleichseitigen.
Im linken Cucullaris — bzw. in den unteren Biindeln desselben —
ist die elektrische Erregbarkeit herabgesetzt.
DaB diesen Erscheinungen eine Neubildung im Bereich der
obersten Segmente des linken Cervikalmarks zugrunde liegt,
bedarf nicht der weiteren Begriindung. Fraglich ist es nur, ob es
sich um einen auf diese Oertlichkeit begrenzten Tumor am oder
im Halsmark oder um Gliosis mit Syringobulbie handelt. Ich
verzichte darauf, alle differentialdiagnostuchtn Momcnte hier in
Betracht zu ziehen, beschranke mich vielmehr auf die Hervor-
hebung der Tatsache, daB ich nach den friiheren Erfahrungen hier
bestimmt die Diagnose Syringomyelie und Syringobulbie gestellt
haben wiirde, w&hrend ich es nach meinen neueren, heute mit-
geteilten Beobachtungen wenigster.s fur moglich erklartn muB,
daB ein auf das linke obere Halsmark driickender Tumor vorliegt,
der nicht auf das Gebiet der Oblongata iibergegriffen zu haben
braucht. Ich halte es nicht fiir ausgeschlossen, daB die geringe
Parese des linken Mundfaeialis, die Hyporeflexie der Comeae und
auch die linksseitige Re currenslahmung auf dem voretehend nfther
bezeichneten Wege der Fernwirkung bzw. Diaschisis zustande ge-
kommen sind. Nach Rothmanns 2 ) neuesten Feststellungen ware
es sogar denkbar, daB die Recurrenslahmung ein direktes Herd-
symptom der Affektion des obersten Halsmarkes ist. Es scheint
mir aber noch nicht liber alien Zweifel sichergestellt, daB die
Heiserkeit der von Rothmann operierten Tiere ein direktes Symptom
der Lasion des Halsmarkes ist. Da sich die Erscheinung meist
rasch zuriickbildete, ist doch mit der Moglichkeit einer Diaschisis-
wirkung zu rechnen. Jedenfalls ist der von Rothmann herangezogene
Fall aus der Kasuistik von Wagner und Stolper nicht beweiskraftig,
da sich die Wirkung einer Fraktur des Epistropheus mit Eislokation
l ) Vgl. beziiglich dieser Erscheinung H. Oppenheim, Brown-Sequard-
8c*he Lahmung 1. c.
*) Neurol. Centralbl. 1912. No. 5.
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F orster, Uefcer Apraxie bei BaJkendurchtrennung.
493
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des Atlas doch sicher fiber das Terrain des obersten Halsmarkes
hinaus erstreckt, auch wenn der nachweisbare anatomische ProzeB
nicht iiber das erste Cervikalsegment hinausgeht. Man bedenke,
daB hier der Exitus schon 3 Tage nach dem Zusammenbruch eintrat
und die Aphonie sich bis da schon gebessert hatte.
Immerhin ist die Anregung, die Rothmann gegeben hat, sehr
beachtenswert und legt die Verpflichtung auf, kiinftig bei alien
Affektionen des oberen Cervikalmarkes eine cxakte laryngo-
skopische Untersuchung vorzunehmen — aber die Hauptschwierig-
keit wird es bleiben, zu entscheiden, ob die unter diesen Verhalt-
nissen eventuell nachweisbare Kehlkopflahmung ein direktes
Halsmarksymptom ist oder auf dem Wege der Diaschisis zustande
kommt.
Ich hoffe, mit diesen Beitragen gezeigt zu haben, daB die
Symptomatologie der Hemiplegia spinalis eine iiberaus reiche und
mannigfaltige, daB unser Wissen auf diesem Gebiete aber noch
ein liickenhaftes und nicht vollig abgerundetes ist, so daB es in
vielen Beziehungen noch der Vervollkommnung durch die kiinftige
Forschung bedarf. Jeder Fortschritt in der Erkenntnis wird hier
der Diagnostik zugute kommen, und da es sich ganz besonders um
die Lehre von den Riickenmarksgeschwiilsten handelt, von der
wir in dieser Abhandlung ausgegangen sind, auch die Heilkunst
fordern.
Erklarung der Abbildungen auf Tafel XX,
Fig. A. Querschnitt durch den Conus, etwa dem IV. Sakralsegment
entsprechend. Farbung Weigert. Vergr. 30 : 1.
Fig. B. Querschnitt durch den Epiconas. Farbung: van Qieson.
Bei h Bindegewebswucherung. Vergr.: 20 : 1.
(Aue der Psych, u. Nervenklinik der Kgl. Charity.
[Geh. Rat: Prof. Dr. Bonhoeffer.])
Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung.
Von
Prof. Dr. E. FORSTER,
Assistent der Klinik.
(Hierzu Taf. XVIII und XIX.)
Ein Fall von Balkentumor, der auf Grund der Ergebnisse
von Liepmanns Apraxieforschungen im Leben diagnostiziert
wurde 1 ), gibt unter Beriicksichtigung von zwei anderen Fallen
*) Das Him wurde 1908 in der Berliner Gesellschaft fur Psychiatric
und Neurologic deinonstriert.
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494
Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung.
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mit Sektionsbefund aus der Klinik die Veranlassung, auf die Be-
deutung der vorderen Hirnpartien fur das Handeln einzugehen.
Max H. Aufgenommen am 30. III. 1908. Gestorben am 17. IV.
1908, 5,35 morgens. Kaufmann, 46 Jahre alt.
Nerven-, Geistes- und Lungenleiden sind in der Familie nicht vor-
gekommen. Die Entwicklung ist normal gewesen, Krampfe sind nie auf-
getreten. Patient will die gewohnlichen Kinderkrankheiten durchgemacht
haben, sicher Masern. Patient hat nicht gedient wegen allgemeiner Korper-
schwache; er hat 4—5 Glas Bier taglich getrunken und 5—6 Zigairen
geraucht. Lues wird negiert, Gonorrhoe von 14 Jahren. Er hat einc
Narbe an der Gians penis, die er auf eine Verletzung bei der Geburt zuriick-
fuhrt. Als Kind hat Patient einmal einen Schlag mit einer Spitzhacke auf
den Hinterkopf erhalten, dabei sind Erscheinungen von Gehirnerschiitte-
rungen oder Basisfraktur nicht aufgetreten. Die Wunde heilte schnell
ohne weitere Storung ab. Ueberanstrengungen oder iibermaBige Aufregungen
hat Patient nicht durchzumachen gehabt. Er ist seit 1893 verheiratet
und hat ein Kind, das im Alter von 8 Monaten gestorben ist, zweitens hat
die Frau eine Fehlgeburt im dritten Monat durchgemacht.
Patient war von jeher leicht erregbar, gereizt und abgespannt und
hatte bisweilen anfallsweise Kopfschmerzen im Hinterkopf. Ende 1907
machte er eine unbedeutende Influenza durch, die ohne arztliche Hilfe
heilte; seitdem fuhlte er sich nicht ganz wohl, er glaubte, er habe noch
die Influenza, sie habe sich verschleppt. In den letzten Wochen fuhlte
sich Patient matt und schwach, klagte iiber erhohten Harndrang und hart-
nackige Verstopfung. Er suchte deshalb vor 14 Tagen den Arzt auf. Dieser
verordnete Mixtura nervina. Letzten Mittwoch machte Patient eine
Schwitzkur (wegen der verschleppten Influenza), bis Freitag ging er aber
noch regelmaBig in sein Geschaft. Am Sonnabend schlief er fast den ganzen
Tag und fuhlte sich sehr matt. Sonntag bemerkte er auf einem Spaziergang
die sehr schnelle Ermiidbarkeit seiner Beine; sie wollten ihn nicht mehr
tragen. Am Mon tag (8 Tage vor der Aufnahme) ging er abermals zum Arzt,
weil die Schwache in den Beinen sehr stark zugenommen hatte, so daB
Patient kaum die Treppen zu steigen vermochte. Der Arzt gab ihm Medizin
und verordnete Elektrisieren der FiiBe. Patient legte sich dann ins Bett.
Am Mittwoch zog die Frau einen Naturarzt hinzu, der Packungen ver¬
ordnete, die geholfen haben sollen; da Patient Donnerstag nicht mehr
gehen konnte, wurde Freitag ein Nervenarzt hinzugezogen, der eine Alfektion
des Riickenmarke8 annahm und zur Aufnahme in eine Klinik riet. Er konne
nun nicht mehr gehen, es seien nur mehr leichte Bewegungen moglich.
Er habe kein Fieber gehabt, keine Gefuhlsstorungen, keine lnkontinenz.
Kopfschmerzen sind auBer den obenerwahnten nicht vorgekommen.
Schwindel und Erbrechen niemals. In den ersten Tagen der Krankheit
habe er Tupfen im linken Ohr gehabt, kein eigentliches Ohrensausen. Die
Sehkraft habe seit einigen Jahren beim Lesen nachgelassen, dew Gedachtnis
soil nachgelassen haben, sonst sei die Intelligenz ungestort. Wahrend der
Anamnese bricht Patient einige Male in schluchzendes Weinen aus. Patient
macht einen ziemlieh benommenen Eindruck. Er habe in der linken Hand
mehr Kraft zum Arbeiten als in der rechten, aber geschrieben habe er
stets mit der rechten Hand.
Die korperliche Untersuehung ergibt folgendes; Es handelt sich um
einen ziemlieh groBen Mann in gutem Ernahrungszustand. An der Gians
penis befindet sich eine scharf umrandete vertiefte Narbe; Lunge und
Herz ohne krankhafte Veranderungen; doppelseitig ein geringer auBerer
Leistenbruch; der Puls betragt 4 X 21. Die BlutgefaBe sind maBig ver-
hartet, der Schadel ist nicht klopfempfindlich. Der Geruch ist fiir Asa
foetida rechts gleich links. Perubalsam wird rechts besser wie links ge-
rochen. Die Pupillen sind gleich weit und rund, die Licht- und Konvergenz-
reaktionen sind erhalten. Der Augenhintergrund ergibt eine leichte Ver-
schleierung der Pupillengrenze, ohne daB die GefaBe schlangeln oder
erweitert sind. Die Augenbewegungen sind frei; Nystagmus besteht
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Forster, Ueber Apraxie bei Baikendurchtrennung. 495
nicht. Der Cornealreflex ist intakt; weder im sensiblen noch im motorischen
Trigeminus krankhafte Veranderungen. Der Facialis wird in Ruhe sym-
rnetrisch innerviert. Augenzukneifen, Stirnrunzeln, Zahnefletschen ge-
schieht symrnetrisch, beim Zahnefletschen bleibt die linke Halfte vielleicht
etwas zuriick. Das Mundoffnen geschieht symrnetrisch, nur offnet Patient
den Mund sehr wenig weit. Das Gehor ist gut; Weber wird nicht lateralisiert,
Rinne beiderseits positiv. Der Geschmack ist nicht zu priifen, da Patient
nicht genugend aufpaBt. Das Gaurnensegel wird symrnetrisch gehoben;
der weiche Gaumenreflex und der Wiirgreflex fehlen. Kopfdrehen, Schulter-
heben geschieht symrnetrisch. Die Zunge wird nur wenig vorgestreckt,
sie weieht deutlich nach links ab. Die Sprache ist etwas verwaschen, Dampf-
schiffschleppschiffahrt kann aber riclitig nachgesagt werden. Die Kraft in
beiden Armen ist etwas herabgesetzt rechts mehr als links 35 (Patient
ist, wie erwahnt, Linkshander). Seit der Erkrankung macht Patient lebhafte
Bewegungen mitden Unterarmen und Handen, die angeblich vom Willen nur
kurze Zeit unterdriickbar sind. Es bestehen leichte SSpasmen in den Unter-
armbeugern, besonders rechts, ebenso in den Unterarmstreckem. Die
Tripsesreflexe und Radiusperiostreflexe sind symrnetrisch gesteigert. Die
Finger bewegungen geschehen ausgiebig, sie erscheinen aber eischwert, wie
gegen eine Hemmung ausgefiihrt. Die Opposition geschieht beiderseits mit
guter Kraft, aber nicht sehr ausgiebig.
Der Fingernasenversuch: Patient fiihrt den Finger langsam und
unter Ueberwindung der Spasmen bis ca. 5—10 cm von der Nasenspitze
entfernt in Gesichtshohe, dann beginnen langsame Zuckungen, und die
Nasenspitze wird nicht getroffen. Der Versuch fallt rechts schlechter aus
als links. Die Nervenstellen sind nicht druckempfindlich, das Lagegefuhl
ist vollig gestort; Patient gibt an, nicht zu wissen, weiche Finger bewegt
werden. Das Aufrichten ohne Armhilfe ist unmoglich. Die Bauchdecken-
und Kremasterreflexe fehlen beiderseits. Die Kraft in beiden Beinen ist
herabgesetzt. Aktive Bewegungen sind in alien Gelenken moglich, jedoch
sind sie auBerst erschw’ert und kraftlos. Besonders schwach sind die Knie-
beuger und Dorsalflectoren des Fufies, es bestehen ziemlich starke Spasmen
in den Beugern des Unterschenkels. Die Patellarsehnenreflexe sind beider¬
seits gesteigert, ebenso die Achillessehnenreflexe, beiderseits Fuficlonus
und beiderseits Babinski. Das Spiel der Zehenbewegung geschieht beider-
seit» auBerst langsam; bei der Priifung des Lagegefiihls werden beiderseits
viel Fehler gemacht. Der Kniehackenversuch wird nicht ausgefiihrt.
Lasegue besteht nicht, die Nervenstemmen sind nicht druckempfindlich.
Die Sensibilitat scheint iiberall intakt, nur reagiert Patient sehr wenig
auf Nadelstiche, auch laBt er liberal] gelegentlich Beriihrungen aus. Keine
sensorischen oder motorischen aphasischen Storungen.
31. III. Eine Schreibiibung ergibt folgendes Resultat: Beim Spontan-
schreiben sowohl wie beim Kopieren und Diktatsclireiben wird nur ein
unleserliches Gekritzel erzielt.
Apraxiepriifung. Lange Nase machen: Patient setzt die rechte Hand
richtig auf die Nase, hakt dann den Daumen der linken Hand um den
fiinften Finger der rechten und halt die linke Hand horizontal. Winken:
Macht zunachst mit der rechten Hand eine Faust, streckt dann nur den
Daumen aus, legt endlich die Hand fast horizontal vor die Nase. Er macht
die Bewegungen links genau wie rechts. Drohen: Er droht rechts eist mit
dem Finger, dann mit der Faust; links macht er die Bewegungen nur mit
der Faust. Klavierspielen: Patient macht die Bewegung rechts ungefahr
richtig, links streckt er nur die Hand aus. Knipsen macht er richtig. Diri-
gieren macht er richtig, nur etwas ungeschickt. Hantieren mit EBgeschirr
und Streichholz richtig.
1. IV. Beim Gehen laBt sich Patient nach hinteniiber fallen, so daB
er ge8t(itzt werden muB. Die linke Schulter hangt stark herab, der Kopf
wird nach rechts gedreht. Er macht kleine Schritte, bei denen Ataxie
nicht zu bemerken ist. Beide FuBspitzen schleifen leicht nach. Es wird
eine Lumbalpunktion vorgenommen; bei der Untersuchung findet sich
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Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung.
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eine stark© Vermehrung der Lymphozyten, auBerdem 12 Teilstriche EiweiB
im NiBlrohrchen.
2. IV. Patient inacht einen viel benomrneneren Eindruck wie fruher.
Er laBt tagsiiber keinen Urin. Keine choreiformen Bewegungen mehr.
4. IV. Apraxiepriifung: Fliegenfangen geschieht rechte ungeschickt,
links sehr ungeschickt. Korkzieher eindrehen: Rechts nur Pronations-
bewegungen, links sehr ungeschickt© fuchtelnde Bewegungen. Als er die
Hande hochheben soli, macht er rechts zunachst Perseverationen der
vorigen Bewegungen, die linke Hand hebt er dann rich tig hoch. Zunge
wird erst nach wiederholtem Auffordern herausgestreckt. Bei der Auf-
forderung, die Augen zuzukneifen, macht er die Augen nur einen Moment
zu, offnet sie dann sofort wieder. Babinski beiderseits stark positiv.
6. IV. Fliegenfangen: Er wiegt die Hand zunachst mit gestreckten
Fingern und schlieBt dann nach einer Weile die Finger zur Faust. Die
ganze Bewegung ist sehr langsam und rechts und links gleichmaBig unge¬
schickt. Korkzieher eindrehen: Patient macht die richtige Pronations-
bewegung, die Finger sind dabei gebeugt, und zwar der vierte und fiinfte
Finger starker als der zweite und dritte. Der Daumen ist dabei an die
Mittelphalanx des zweiten Fingers angelehnt; links wird eine ahnliche
pronationsahnliche Bewegung sehr ungeschickt ausgefiihrt. Der Augen-
hintergrund ergibt, daB bei beiden Papillen die Grenzen nicht ganz scharf
sind. Die Gef&Be sind nicht verandert.
7. IV. Refund der Augenklinik: Beide Papillen sind leicht verschleiert.
8. IV. Auf der rechten Hinterbacke entwickelt sich ein kleiner
Decubitus.
9. IV. Gezeigte Gegenstande werden sofort richtig benannt, ebenso
werden getastete Gegenstande sofort richtig bezeichnet. Beim Zufahren
von links bleibt der Blinzelreflex links immer aus, wahrend er beim Zu¬
fahren von rechts gelegentlich vorhanden ist. Patient macht einen immer
benomrneneren Eindruck. Er spricht fast gar nicht mehr, liegt gleich-
giiltig im Bett; es fallt auf, daB die Korpermuskulatur sich fast stets in
starker Spannung befindet. Schnelle Bewegungen hintereinander werden
nicht ausgefiihrt.
13. IV. Patient macht den Mund nicht auf, der Kiefer wird zuge-
klemmt gehalten. Bei Fragen antwortet er, jedoch offnet er den Mund
nur sehr wenig. Er hat in Armen und Beinen ii be rail starke Spasmen.
Blick immer nach rechts.
15. IV. Patient reagiert auf Anruf fast gar nicht mehr, er blickt
immer nach rechts und hat den Kopf nach rechts gewendet.
16. IV. Starke Benommenheit, die ganze Korpermuskulatur steif
gespannt. ' Keine Spontanbewegungen. Nachts Exitus.
Zuaammenfassung . Es handelt sich um einen bis dahin ge-
sunden Menschen, der sich seit einer angeblichen Influenza Ende
1907 nicht mehr recht wohl fiihlte. Mitte Marz 1908 wurde er
matt und schwach, es kam erhohte Ermudbarkeit der Beine hinzu,
schlieBlich wurde das Gehen unmoglich. Am 30. III. 1908 Auf-
nahme in die Klinik. Es bestanden leichte Spasmen im Sinne
des Pradilektionstypus an Armen und Beinen, beiderseits Babinski,
leichte Benommenheit, leichte Verschleierung der Papille und
unterdriickbare Bewegungen der Hande und Unterarme. Aphasische
Storungen bestanden nicht, dagegen deutliche dyspraktische, links
starker als rechts. Auffallend war der Mangel an Antrieb, Patient
war nur schwer zu Bewegungen zu veranlassen. Bei zunehmender
Erkrankung befand sich die ganze Korpermuskulatur stets in
starker Spannung. Vom 9. IV. an wurde Patient immer be-
nommener, er reagierte fast gar nicht mehr auf Anruf. Am 15. IV.
Exitus.
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F orster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 497
Die Diagnose raumbeengender ProzeB in der Schadelkapsel
konnte nicht zweifelhaft sein. Bei der stetigen Progression ohne
Anhaltspunkt fiir Hydrocephalus war Tumor cerebri anzunehmen.
Fur die Lokalisation kam folgendes in Betracht: Die Apraxie
ware vielleicht durch die allgemeine Benommenheit des Patienten
(der Aufforderungen immer nur unwillig ausfiihrte) zu erklaren
gewesen. Es hatten aber die dyspraktischen Symptome rechts und
links gleich sein miissen. Die Tatsache, daB die Storungen im Han-
deln links besonders anfangs starker waren als rechts, wies unbedingt
auf einen isolierten Ausfall hin. Da Patient fiir Kraftleistungen
Dinkshander war, wahrend er rechtshandig schrieb, war anzu¬
nehmen, daB er mindestens teilweise Ambidexter war, wobei die
linke Hemisphare fiir das feinere Handeln iiberwog. Bei dieser
Auffassung muBte besonderes Gewicht auf das nur geiingfiigige
Ueberwiegen der dyspraktischen Storungen links gelegt werden.
Ware Patient reiner Rechtshander gewesen, so ware die links-
seitige Dyspraxie vielleicht starker zur Geltung gekommen.
Die dyspraktischen Storungen waren dann so aufzufassen,
daB ein Teil, namlich der fiir beide Seiten identische, als eine
ideatorisch-apraktische Storung oder als die Folge einer leichten
Funktionsschadigung des ,,Eupraxiezentrums“ zu deuten ware,
wahrend der starkere Ausfall der linken Hand die Folge einer
Abtrennung vom ,,Eupraxiezentrum“, also die Folge einer
Balkendurchtrennung sein miiBte.
Nach dieser Ueberlegung muBte die Diagnose Balkentumor
gestellt werden, wobei der Tumor vielleicht durch Druck oder
Fernwirkung das „Eupraxiezentrum“ in der linken Hemisphare
noch etwas in Mitleidenschaft gezogen hatte. Die beiderseitige
spastische ' Parese mit Babinski schien bei der Annahme eines
Balkentumors leicht verstandlich, um so eher, als kurz vorher
ein Fall von (in vivo nicht diagnostiziertem) Balkentumor zur
Beobachtung gekommen war, bei dem abwechselnd rechts und
links leichte insultartige Lahmungen mit gleich darauf folgender
Erholung vorgekommen waren, die schlieBlich eine beiderseitige,
rechts uberwiegende spastische Lahmung zuriickgelassen hatten.
Es er schien demnach gerechtfertigt, die Diagnose Balkentumor
zu stellen.
Die Sektion ergab ein Gliom, das den vorderen Teil. des
Balkens einnahm und sich nach hinten bis in den mittleren Teil
des Balkens ausdehnte, bis in die Gegend der Verbindungen
zwischen den Zentralwindungen. Seitlich war die Geschwulst
beiderseits etwas in die Hemispharen hineingewuchert.
Auf Serienschnitten, die in der Berliner Gesellschaft fiir
Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1909 gezeigt wurden, zeigte
sich, wie aus den beigegebenen Abbildungen hervorgeht, daB die
Balkendurchtrennung eine vollstandige war. Wenn auch im
Gebiet vor den vorderen Zentralwindungen (siehe Schnitt 6,
Abb. I) vielleicht noch einige durchgehende Fasem erhalten
geblieben sein mochten, die iibrigens kaum fiir eine wesentliche
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F orster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung.
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Funktionsiibermittlung ausgereicht haben diirften, so zeigt der
kurz dahinter gelegene Schnitt 9 (Abb. 2), daB ein in den linken
Teil des Balkens eingelagerter Geschwulstteil die Verbindung
vollig durchbrochen hatte, so daB an den folgenden Schnitten
(Schnitt 17, Abb. 3, Schnitt 24, der durch die Fissura Rolandi
geht, Abb. 4) keine durchgehenden Fasern mehr vorhanden sind.
In diesen letzten Schnitten sieht man einen Geschwulstteil das
Gebiet des Linsenkerns ergreifen und besonders das Putamen
verdrangen und infiltrieren. Es ist dies als Ursache der im Leben
nicht geniigend beachteten unwillkurlichen, nicht unterdriick-
baren Bewegungen anzusehen, wobei bei der nicht geniigend
genauen Beschreibung in der Krankengeschichte dahingestellt
bleiben muB, ob wirklich die unwillkurlichen Bewegungen doppel-
seitig waren, und ob die Doppelseitigkeit als Mitbewegung auf-
gefaBt werden muB. In dem zuletzt wiedergegebenen Schnitt,
der durch die hintere Zentralwindung geht, sieht man den weitaus
groBten Teil der Balkenfasern wieder erhalten, obwohl eine Auf-
hellung im rechten Abschnitt des Balkens noch einen Ausfall von
Fasern (trotz vieler erhaltener, wie das Mikroskop zeigt) an diesen
Stellen anzeigte.
Die Geschwulst dringt beiderseits, wie aus den Abbildungen
ersichtlich, in das Areal der Projektiorsfasern vor. Das Cingulum
bleibt rechts und links intakt.
Betrachten wir, abgesehen von den ohne weiteres aus der
Lage des Tumors verstandlichen Symptomen, wie den beider-
seitigen Pyramidensymptomen, zunachst die zwar mit der Apraxie
zusammenhangenden, aber nicht unbedingt von ihr abhangigen
Symptome, so laBt sich der Mangel an Antrieb leicht durch daa
Hineinwuchern des Tumors in das Stirnhirn erklaren (Hartmann 1 ),
Kleist 2 ), Goldstein 3 )), und auch die abnormen Spannungszustande
der ganzen Muskulatur konnen, wie aus teils schon lange be-
kannten Fallen hervorgeht, auf die Stirnhirnerkrankung zuriick-
gefiihrt werden. Eine genauere Lokalisation laBt sich auf den
hier mitgeteilten Fall nicht begriinden.
Was die apraktischen Symptome selbst betrifft, so ist auBer
der Tatsache, daB auf die Liepmannschen Forschungen hin
die Diagnose Balkentumor sich im Leben hat begriinden lassen,
die Gegend der Balkendurchtrennung von Interesse.
Wenn wir die nicht unwahrscheinliche Annahme machen,
daB die Balkenfasern von vorn nach hinten auch die von vom
nach hinten aufeinanderfolgenden Rindengebiete hintereinander
l ) Hartmann , Der EinfluB des Stirnhirns auf den Bewegungsablauf.
Kongr. f. innere Med. Miinchen 1906. Beitrage zur Apraxielehre. Monate-
schrift f. Psych, u. Neurol. 1907.
*) Kleist , Der Gang und gegenwartige Stand der Apraxieforschung.
Erg. d. Neurol, u. Psych. I. 1911.
3 ) Goldstein , Zur Lehre von der motorischen Apraxie. Journ. f.
Psych, u. Neurol. Bd. 11. 1908. S. 169. — Der inakroskopische Hirn-
befund etc. Neurol. Zbl. 1909. S. 898.
Gougle
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Forster, Ueber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 499
verbinden, so ist es nicht uninteressant, daB die vollstandige
Durchbrechung in der Gegend der Zentralwindungen aufhort
und im Gebiete der hinteren Zentralwindung die Verbindnng
sich wieder herzustellen beginnt.
Wir miissen daraus schlieBen, daB eine Schadigung der
Leitungsiibertragung fur den in und vor den Zentralwindungen
gelegenen Teil des der Eupraxie dienenden Feldes stattge-
funden hat.
Es kame demnach dieselbe Gegend fiir den Ausfall in Frage,
die sich in dem kiirzlich von mir 1 ) in Halle demonstrierten Falle
durch Tumor geschadigt fand. Auch in diesem letzten Falle ist
eine genaue Abgrenzung, da die Serienschnitte noch ausstehen,
bisher nicht moglich. Immerhin aber finden wir, daB der Ausfall
der feineren aus dem Gedaehtnis zu reproduzierenden Be-
wegungen in beiden Fallen zusammenhangt mit einer Schadigung
der Gegend vor und eventuell in den Zentralwindungen (vielleicht
dann auch nur der vorderen), wahrend die Gegend hinter der ♦
Zentralwindung, besonders der Gyrus supramarginalis, frei war.
Wenn wir die motorische Aphasie sinngemaB als eine Apraxie
der Sprechmuskulatur auffassen, so sehen wir klar, daB Goldstein 2 )
und Kleist 3 ) selbstverstandlich recht haben mit ihrer Ansicht,
daB die Eupraxie einer Handlung nicht einfach auf der erhaltenen
Ueberleitung sinnlicher Direktiven auf die Motilitat beruht. Wie
Goldstein auf den, wie ich glaube, nicht haltbaren, aber frucht-
baren und anregenden Auffassungen Storchs fuBend, annimmt,
schaltet sich hier die raumliche Vorstellung ein, wahrend Kleist,
der auch nicht den SWcAschen Standpunkt als unbedingt
richtig annimmt, hier zweckmaBiger vom Engramm der Einzel-
handlung spricht.
Nun kommt aber das Engramm der Einzelhandlung keines-
wegs infolge einer einheitlichen Funktion zustande, und wir
konnen ebensowenig, wie wir ein einheitliches Sprachfeld aner-
kennen konnten, nunmehr etwa ein einheitliches, den Engrammen
der Handlungen dienendes Feld abgrerzen, das sich etwa von
dem vor den Zentralwindungen gelegenen Teil des Stimhirns bis
zum Gyrus supramarginalis ausdehnen wiirde.
Wir diirfen nicht vernachlassigen, daB ein Unterschied besteht
zwischen den Handlungen, die rein aus dem Gedaehtnis ohne die
Hilfe von sinnlichen Eindriicken zustande kommen, und denjenigen,
die unter direkter und dauernder Fiihrung von sinnlichen Ein¬
driicken (besonders optischen und taktilen) zustande kommen.
Als reinstes Beispiel der Handlungen nur aus dem Gedaehtnis
*) Forster , Demonstration. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1913.
S. 196.
*) Goldstein , Zur Lehre von der motorischen Apraxie. Journ. f.
Psych, u. Neurol. 1908. S. 169.
*) Kleist, Der Gang und der gegenwartige Stand der Apraxieforschung.
Ergebn. d. Neurol, u. Psych. Bd. I. 1911.
Monatwohrift f. Psychiatric xl Neurologic. Bd. XXXIII. Heft 0. 33
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500 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem.
ist die SpracAhandlung aufzufassen, die geschadigt wird durch
eine Verletzung des Gebietes vor der vorderen Zentralwindung.
Es scheint demnach kein Zufall zu sein, daB die Schadigung
der Ausdrucksbewegungen der Hand und das Nachmachen von
Bewegungen aus dem Gedachtnis auch, wie durch unsere Falle
illustriert wird, durch einen Funktionsausfall der Gegend vor den
Zentralwindungen zustande kommt, wahrend die unter der direkten
Fuhrung von sinnlichen Eindriicken zustande kommenden Be-
wegungsfolgen, wie auch mein in Halle demonstrierter Fall zeigte,
bei Schadigung dieser Gegend noch geleistet werden konnen.
Fur diese letzteren Bewegungsfolgen ist, wie aus Lkpmanns
Arbeiten und zuletzt aus Kleists zusammenfassender Darsellung
hervorgeht, der Gyrus supramarginalis von besonderer Wichtigkeit.
Wir miissen also annehmen, daB in der Gegend vor der vorderen
Zentralwindung die Erregungen zusammenlaufen, die aus den
dem Gedachtnis dienenden Hirnpartien geliefert werden und zum
Zustandekommen der Handlung erforderlich sind, wahrend die
von den Empfindungen (und den direkten Erinnerungsbildern)
stammenden und zur Handlungsfolge erforderlichen Erregungen
im Gyrus supramarginalis gesammelt werden. Wodurch sich das
Stirnh’rn wieder als ,,Assoziationszentrum“ bewahren wiirde, da
natiirlich im ,, Gedachtnis" auch wieder die Spuren der Emp¬
findungen und Erinnerungsbilder liegen, nur komplizierter und
vielfacher assoziiert.
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik zu Berlin.
[Direktor: Geh. Rat Bonhoeffer.)\
Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern.
Von
Prof. Dr. FRANZ KRAMER.
Assistent der Klinik.
(Mit 2 Abbildungen im Text.)
Die Methodik der Intelligenzpriifungen ist trotz vielfacher
auf ihre Ausbildung und Verbesserung gerichteten Bestrebungen
noch immer relativ mangelhaft und erfiillt nicht die Anforderungen,
die wir zum Zwecke der Feststellung und Abgrenzung psychischer
Defektzustande an sie stellen. Sie kann sich an Exaktheit mit
den fur die Untersuchung anderer psychischer Faktoren zur Ver-
fiigung stehenden Methoden, wie etwa den Priifungen des Gedacht-
nisses, der Aufmerksamkeit, der Auffassung usw., durchaus noch
nicht messen. Die Griinde fur die Mangel der Intelligenzpriifungs-
methoden liegen einerseits in der Schwierigkeit, den empirischen
Begriff der Intelligenz in seine elementaren Faktoren zu zerlegen,
andererseits und wohl vor allem aber darin, daB w r ir das komplexe
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Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindem. 501
Gebilde, das wir als Intelligenz zu bezeichnen pflegen, nicht aus-
reichend von anderen psychischen Vorgangen zu isolieren ver-
mogen, um es untersuchen und womoglich messen zu konnen.
Mit der Intelligenzpriifung wollen wir eine Anlage priifen; unserer
Untersuchung sind zuganglich jedoch nur Leistungen, die neben
der Anlage abhangig sind von Momenten, die sich unserer Beein-
flussung im Experimente me hr oder minder entziehen.
Man hat auf zwei verschiedenen Wegen versucht, eine exakte
Intelligenzpriifung zu schaffen. Man suchte durch psychologische
Analyse dasjenige Element in den Intelligenzleistungen heraus-
■zufinden, das diese vor alien anderen als solche charakterisiert,
und diesen Faktor in moglichst praziser Weise durch eine Priifungs-
methode zu bestimmen. In diese Kategorie fallen die Versuche,
die Begriffs- und Urteilsbildung, die Kombinationsfahigkeit usw.
als IntelligenzmaB zu benutzen.
Man kann aber auch so vorgehen, daB man zur Untersuchung
Leistungen heranzieht, die an sich, im Augenblick, wo sie verlangt
werden, keine Anforderungen an die Intelligenz stellen, aber
erfahrungsgemaB von dieser abhangig sind, so daB sie indirekt
als Indikator der intellektuellen Veranlagung zu verwerten sind.
Als Beispiel einer derartigen Methode ist besonders die Fest-
stellung des Kenntnisschatzes eines Menschen zu nennen. Die
Reproduktion von Kenntnissen ist an und fur sich eine rein
reproduktive Tatigkeit; doch lassen sich aus dem geistigen Besitz-
stand des Gepriiften bei Vorsicht und unter Beriicksichtigung
aller mitwirkenden Umstande Schliisse auf seine Intelligenz ziehen.
Die Untersuchungen haben ergeben, daB man mit einer
Priifungsmethode nicht zum Ziel gelangt. Weder hat sich bisher
ein psychisches Element aufweisen lassen, das die Intelligenz in
ihrem Wesenskern charakterisiert und als MaB fur sie dienen
kann, noch hat sich eine einheitliche psychische Leistung gefunden,
die in so eindeutiger Beziehung zu ihr steht, daB sie als Indikator
dienen kann. AuBerdem ist auch der Ausfall einer Priifungs-
methode von Zufalligkeiten und von individuellen Differenzen zu
sehr abhangig, als daB man aus ihr allein Schliisse ziehen kann.
Man ist daher immer mehr dazu iibergegangen, zur Intelligenz¬
priifung eine Vielheit von Tests anzuwenden und diese so aus-
zusuchen, daB sie uns ein moglichst prazises und umfassendes
Bild der Begabung verschaffen.
Eine der Hauptschwierigkeiten auf unserem Gebiete ist die
Abgrenzung der produktiven intellektuellen Funktionen von
den nur reproduktiven Gedachtnisleistungen. Da zu jeder In-
telligenzleistung ein gewisses MaB von Kenntnissen erforderlich
ist, so konnen wir uns von dem Wissensschatze des Priiflings nie
ganz unabhangig machen. Es besteht dann auf der einen Seite
die Gefahr, daB Menschen, die auf Grund auBerer Verhaltnisse
nicht Gelegenheit hatten, Kenntnisse in ausreichendem MaBe zu
erwerben, oder denen sie durch mangelnde Gelegenheit zur
Reproduktion abhanden gekommen sind, in ihrer Intelligenz
33 *
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502 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem.
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unterschatzt werden; auf der anderen Seite, daB solche mit groBem
Wissensbesitz zu hoch bewertet werden. Die letztere MogUchkeit
besteht besondere bei Kranken mit erworbenen Intelligenzdefekten,
z. B. bei Hebephrenen, deren Gedachtnisfunktionen ungestort
geblieben sind. Diese Bedenken gelten durchaus nicht nur dann,
wenn wir Kenntnisse als IntelligenzmaB benutzen, sondern auch
bei jeder anderen Priifung; denn jede intellektuelle Leistung kann
durch reproduktive Hilfen erleichtert werden, vor allem, wenn
der betreffende Untersuchte Uebung in der Losung ahnlicher
Aufgaben hatte, bezw. durch das Fehlen solcher erschwert werden.
Die GroBe der Intelligenzleistung ist zu einem erheblichen Teil
abhangig von dem Neuigkeitsgrade, den die Aufgabe fiir den
Priifling hat, und dieser richtet sich eben nach Vorbildung, Beruf,
Milieu U8W.
Am gunstigsten liegen in dieser Beziehung die Verhaltnisse
bei Kindem, besonders wenn man solche der gleichen Schulart
miteinander vergleichen kann. Hier ist die Art der Vorbildung,
der Kenntnisbesitz nahezu identisch, so daB die erwahnten Be¬
denken fast ganz wegfallen; auch kommen hier fast immer ange-
borene oder friih erworbene Intelligenzzustande in Betracht,
die bewirken, daB der gesamte Erwerb des geistigen Besitzstandes
bereits unter dem Einflusse der intellektuellen Minderwertigkeit
stand. Wir konnen darum hier in weit hoherem MaBe als bei
Erwachsenen die Kenntnisse als Indikator der Intelligenz heran
ziehen. Aus diesem Grunde ist auch die Methodik der Intelligenz-
priifung im Jugendalter schon erheblich ausgebildeter, als die
fiir die hoheren Altersstufen.
Wir werden von einer brauchbaren Methode verlangen miissen,
daB sie uns in klarer Weise erkennen laBt, ob eine Abweichung
von der Norm vorliegt, und daB sie uns den Grad des Defektes
in wenigstens grobem MaBstabe zu beurteilen gestattet.
Fiir die Erfiillung dieser Erfordernisse ist Voraussetzung,
daB die Methode nicht nur eine Aufgaben- und Fragesammlung
ist, sondern genaue Angaben macht, was das MindestmaB dessen
ist, was vom intellektuell Normalen verlangt werden muB. Bei
Priifungen an Kindem wird dieses NormalmaB fiir die verschiedenen
Altersstufen gesondert bestimmt werden miissen. Die Feststellung
dieser Grenzen kann niemals auf theoretischem Wege, sondern
nur an der Hand empirischer Untersuchung erfolgen. Aus dem
oben Gesagten geht her vor, daB fiir die Abgrenzung verschiedener
Intelligenzgrade niemals eine Priifungsart geniigen kann, sondern
daB sie als Gesamtresultat aus einer Mehrzahl von Einzeltests
erschlossen werden muB. Bei der Auswahl der letzteren ist nicht
nur darauf zu achten, in welcher psychologischen Beziehung sie
zur Intelligenz stehen, sondern ob sie sich zur Grenzbestimmung
praktisch eignen.
Alle diese erwahnten Gesichtspunkte finden wir beriick-
sichtigt in der Intelligenzpriifungsmethode, die von Binet und
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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 503
Simon 1 ) ausgearbeitet worden ist. Die Autoren gingen dabei
von dem Gedanken aus, fur die verschiedenen Altersstufen
der Kinder eine Reihe von Tests zusammenzustellen, die von
dem intellektuell normalen Kinde des entsprechenden Lebens-
alters erfiillt werden, vom jiingeren Kinde dagegen noch nicht
geleistet werden konnen. Man kann dann aus dem Ergebnisse der
Priifung ersehen, ob die Leistung des Kindes seinem Lebensalter
entspricht; oder wenn nur Aufgaben gelost werden, die fiir ein
jiingeres Lebensalter angesetzt sind, erhalt man einen Anhalt
fiir den Grad des intellektuellen Defektzustandes.
Die Zusammenstellung der einzelnen Aufgaben geschah auf
die Weise, daB Binet in langjahriger Arbeit die verschiedensten
Untersuchungsmethoden, die iiberhaupt fiir die Priifung in-
tellektueller Fahigkeiten in Betracht zu kommen schienen, an
einem groBen Material von Kindern anwandte und dann diejenigen
heraussuchte, bei welchen die Beziehung zwischen dem Ergebnisse
und dem Lebensalter ausreichend eng und regelmaBig erschien.
Es liegt in der Natur der Sache, daB diese Beziehung nie so eng
sein kann, daB etwa Kinder von n Jahren die Aufgabe samtlich
losen, wahrend Kinder von n—1 Jahren sie niemals erfiillen.
Die UnregelmaBigkeiten sind jedoch einmal durch die zweckmaBige
Auswahl der Tests auf ein Minimum reduziert und femer findet
vor allem dadurch, daB es immer eine Mehrheit von Aufgaben ist,
auf die sich das Resultat stiitzt, ein so weitgehender Ausgleich
statt, daB, wie die Erfahrung lehrt. ein praktisch verwertbares
Ergebnis resultiert.
Es gelang Binet und Simon , fiir die Altersstufen von 3 bis
13 Jahren (die fiir 13 Jahre angegebenen Tests wurden, weil sie
uns nicht recht verwendbar erschienen, bei unseren Untersuchungen
nicht beriicksichtigt) eine geniigende Anzahl von brauchbaren
Tests zu finden. Ihre Zahl variiert zwischen 4 und 8 fiir die ein¬
zelnen Altersstufen. Die Aufgaben sind ihrer Art nach recht ver-
schieden und setzen sich zusammen aus Priifungen von Kennt-
nissen, praktischen Fertigkeiten, Untersuchungen der Begriffs-
bildung, Kombinationsfahigkeit, Merkfahigkeit usw. Die hier
folgende Zusammenstellung gibt einen Ueberblick iiber die Art
der verschiedenen Tests. Die Beziehung zu den Lebensaltem
gilt naturgemaB nur dann, wenn die Vorschriften Binets sowohl
bei der Anstellung des einzelnen Experimentes, als auch bei der
Bewertung des Resultates bis ins kleinste Detail innegehalten
werden. Beziiglich dieser Einzelheiten sowie auch der psycho-
logischen Bewertung der verschiedenen Tests muB hier auf die
Publikation Binets selbst sowie auf die Arbeiten Bobertags 2 ), der
die Methode in zweckentsprechender Weise fiir deutsche Ver-
haltnisse eingerichtet hat, verwiesen werden. Die Untersuchung
geschieht in der Weise, daB man allmahlich aufsteigend feststellt,
*) Ann6e psychol. Bd. 14.
*) Ztschr. f. angewandte Psychologie. Bd. 3 und Bd. 5.
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504 Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindern.
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bis zu welcher Altersstufe von dem Kinde die Proben geleistet
werden. Es gilt diejenige Stufe als erreicht, in welcher zum ersten-
mal ein Fehlresultat in einem Test auftritt. Sind auUerdem
noch mindestens 5 Aufgaben aus hoheren Stufen gelost, so wird
ein Jahr hinzugerechnet, bei mindestens 10 Aufgaben 2 Jahre.
Dieser Berechnungsmodus ist natiirlich lediglich konventionell,
hat sich jedoch praktisch ausreichend bewahrt.
3 Jahre:
4 J ahre:
5 Jahre:
6 Jahre:
7 Jahre:
8 Jahre:
0 Jahre:
10 Jahre:
1. Mund, Augen, Nase zeigen.
2. Nachsprechen von 6 silbigen Satzen und
3. zwei (einstelligen) Zahlen.
4. Beschreibung eines Bildes (Auf zahlen der Teile).
5. Angabe des Familiennamens.
1. Benennen vorgezeigter Gegenstande.
2. Wiedergabe von 3 Zahlen.
3. Angabe des Geschlechts.
4. Vergleichen zweier Linien.
1. Vergleichen zweier Kastchen von veischiedenem Ge-
wicht (3 und 12 g, 6 und 15 g).
2. Wiederholen von Satzen mit 10 Silben.
3. Vier Gegenstande (Pfennige) abzahlen.
4. Zusammensetzspiel (2 Dreiecke nach Vorlage zu einem
Rech t eck zusannnensetzen).
5. Abzeichnen eines Quadrates.
1. Rechts und links unterscheiden.
2. Vor- und Nachmittag unterscheiden.
3. Angabe des Alters.
4. Ausfiihrung dreier gleichzeitiger Auftrage.
5. Wiederholung von Satzen mit 16 Silben.
6. Aesthetische Vergleiche (Unterscheiden von schonen
und haCIichen Bildern).
7. Definieren von Konkreten (Zweckangaben).
1. Beschreibung eines Bildes (Angabe der Einzelhand-
lungen).
2. Bemerken von Llicken in Zeichnungen.
3. Abschreiben geschriebener Worte.
4. Abzahlen von 13 Gegenstanden (Pfennigen).
5. Zahl der Finger angeben.
6. Abzeichnen eines Rhombus.
7. Kenntnis von 4 Geldmiinzen.
8. Wiederholen von 5 Zahlen.
1. 3mal 1 Pfennig und 3mal 2 Pfennige zusammen-
zahlen.
2. Kenntnis der 4 Hauptfarben.
3. Von 20 bis 0 riickwarts zahlen.
4. Vergleichen zweier Gegenstande aus dem Gedachtnis.
5. Angabe von Erinnerungen an Gelesenes (mindestens
zwei Erinnerungen).
1. Angabe des Datums mit Monat, Jahr und Wochentag.
2. Aufsagen der Wochentage.
3. Ordnen von 5 Kastchen nach dem Gewicht (3, 6, 9,
12, 15 g).
4. 80 Pfennige auf 1 Mark herausgeben.
5. Definieren von Konkreten (Oberbegriff u. a.).
6. Angaben von Erinnerungen an Gelesenes (mindestens
6 Erinnerungen).
1. Aufsagen der Monate.
2. Kenntnis saintlicher Miinzen.
3. Bilden von 2 Satzen mit 3 gegf benen Worten.
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Kramer, Intelligenzprufungen an abnormen Kindem.
505
4. 3 leichte Intel]igenzfragen (was mufi man tun, wenn
man den Zug verpaBt hat? u. a.).
5. 5 schwere Intelligenzfragen (was muB man tun, ehe
man etwas Wichtiges imternimmt ? usw.).
11 Jahre: 1. Kritik absurder Satze.
2. Bilden eines Satzes mit 3 Worten.
3. Finden von mindestens 60 Worten in 3 Minuten.
4. Definieren von abstrakten Begriffen.
5. Ordnen von Worten zu einem Satz.
12 Jahre: 1. Wiederholen von 7 Zahlen.
2. Wiederholen von Satzen mit 26 Silben.
3. Finden von Reimen.
4. Erganzung von liickenhaften Texten.
5. Betrachten eines Bildes mit Erklarung des Gesamt-
zusammenhan ges.
Ich beschrankte mich bei meinen Untersuchungen im wesent-
lichen auf die Prufung abnormer Kinder, da mir die Brauchbarkeit
der Methode bei normalen Kindern vor allem durch die Arbeiten
Bobertags 1 ) geniigend erwiesen zu sein schien, daB eine Nachpriifung
in dieser Beziehung als iiberfliissig angesehen werden konnte.
Das Material, das ich zu meinen Priifungen benutzte, setzt
sich zusammen aus zwei Kategorien, die ich in der statistischen
Bearbeitung voneinander getrennt habe. Den einen Teil bilden
Kinder verschiedener Altersstufen, die der Klinik durch die Bres-
lauer Zentrale fiir Jugendfiirsorge zur Untersuchung zugefiihrt
wurden. Es befinden sich hierunter keine Kinder, die sich bereits
in Fiirsorgeerziehung befinden, sondern es sind nur solche, bei
denen die Unterbringung in diese beabsichtigt ist, gegen die ein
gerichtliches Verfahren schwebt, oder solche, bei denen wegen
drohender Verwahrlosung bezw. irgendwelcher anderer Griinde
ein Eingreifen der Zentrale wiinschenswert wurde. Es wurden
uns vorwiegend diejenigen Kinder zugesandt, die bei den Organen
der Zentrale den Verdacht erweckt hatten, daB psychische
Anomalien vorliegen konnten. Man kann daher aus den Ergebnissen
der Untersuchung nicht ohne weiteres Schliisse auf die Zusammen-
setzung des Gesamtmaterials der Zentrale ziehen. Wie die von
uns untersuchten Kinder in klinisch psycho-pathologischer Hinsicht
zu beurteilen sind, dariiber hat Schroder 2 ) einige Mitteilungen
gemacht. Ich werde hier auf diese Gesichtspunkte nur insoweit
eingehen, als es zur Beurteilung des Ergebnisses der Intelligenz-
priifung erforderlich ist.
Die zweite Halfte des Materials wird von Patienten der Klinik
undPoliklinik gebildet, und zwar vorwiegend ebenfalls von Kindern;
nur in einigen wenigen Fallen wurden auch Erwachsene gepriift.
Dieses Material ist naturgemaB ziemlich mannigfaltig zusammen-
gesetzt. Ich bevorzugte Kinder mit Defektzustanden, untersuchte
aber auch eine Reihe von jugendlichen Patienten mit anderen
Affektionen des Nervensystems (Hysterie, Chorea, Hydrocephalus,
Epilepsie, Dystrophie). Die Heranziehung der letztgenannten
*) 1. c.
*) Ztsehr. f. d. ges. Psych, u. Neurol. Bd. IIT.
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506 Kramer, Intel! igenr.priif ungen an abnormen Kindern.
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Gruppen erschien wiinschenswert, einerseits, um auch einige Ver-
gleichsresultate von nicht defekten Kindern zu besitzen, anderer-
seits, um festzustellen, inwieweit etwa das Vorliegen solcher Er-
krankungen mit ihrer oft erheblichen Beeintrachtigung des Schul-
besuches einen EinfluO auf das Ergebnis der Intelligenzpriifung
ausiibt.
In Betracht kommen in beiden Hauptgruppen zunachst
KiAder, die in das MeBbereich der Btnetechen Methode fallen,
also zwischen 3 und 12 Jahren; Kinder unter 6 Jahren kamen,
besonders in der Fiirsorgegruppe, nur in einigen wenigen Fallen
zur Beobachtung. Kinder tiber 12 Jahren und Erwachsene konnten
nur dann herangezogen werden, wenn bei ihnen so erhebliche
Defekte vorlagen, daB sie in ihren Intelligenzleistungen hinter
den 12 jahrigen Kindern zuriickblieben. Erwachsene Patienten
mit erworbenen Defekten wurden nicht gepriift. Die Binetschen
Priifungen setzen sich ja zu einem groBen Teile aus Priifungen
von Kenntnissen imd Fertigkeiten zusammen, die der normale
Mensch sich wahrend seiner geistigen Entwicklung aneignet und
aus deren Nichtbesitz Schliisse auf die mangelnde intellektuele
Entwicklung sich ziehen lassen. Sind jedoch diese Fahigkeiten
einmal im jugendlichen Alter erworben worden, so bedeutet sowohl
der Besitz als auch der Verlust etwas durchaus anderes, als der
Nichterwerb. Es ist dann moglich, daB die friiher erworbenen
Kenntnisse usw. trotz schwerer Intelligenzschadigung gedachtnis-
maBig reproduziert werden. Aus diesem Grunde wurden wir
bei Untereuchungen an im erwachsenen Alter entstandenen Defekt-
zustanden Ergebnisse gewinnen, die mit den bei Kindern und bei
angeborenem Schwachsinn erhaltenen keinen Vergleich erlauben.
Bei der Berechnung der Resultate wurden die von der Zentrale
fur die Jugendfursorge (J.-F.) uns zugewiesenen Kinder und
die dem Material der Klinik und Poliklinik (Kl.) entnommenen
gesondert behandelt, in der Erwtigung, daB auf Grund der relativ
einheitlichen Zusammensetzung der ersteren Gruppe sich Besonder-
heiten herausstellen konnten.
Nicht berucksichtigt wurden die ersten etwa 15 Unter-
suchungen, bei denen ich der gleichmaBigen Durchfuhrung der
Priifung noch nicht geniigend sicher war. Nach Abzug dieser
bleiben die Resultate von 118 Untersuchungen iibrig, von denen 59
auf jede der beiden Gruppen fallen. Dem Alter nach verteilen
sich die Falle in folgender Weise (vgl. Tabelle):
Wir sehen, daB in der ersten Gruppe die Altersstufen zwischen
12 und 16 Jahren, in der zweiten die zwischen 7 und 13 Jahren
iiberwiegen. Von den alteren Stufen sind immer nur einzelne
Falle vertreten, iiber 16 Jahre ist unter dem J.-F.-Material nur
1 Fall von 20 Jahren, in dem Kl.-Material 7 Falle von denen 3 Er¬
wachsene iiber 20 Jahre betreffen; es sind dies, wie schon oben
erwahnt, samtlich Patienten mit angeborenen oder friih erworbenen
Defekten.
Gck igle
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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern. 507
i
Alter
II
Zahl
1 J-F.
Zahl
Kl.
3
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1
4
1! i
1
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1 2
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1
20
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1
27
i
1 1
38
i
! i
Sa.
59 ||
| 59
In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse der Intelligenz-
priifung zusammengestellt, und zwar nach den Differenzen, die
sich zwischen dem Intelligenzalter (I.-A.) und dem wirklichen
Alter (A) des Untersuchten ergeben. Wir erhalten daraus eine
Uebersicht dariiber, in welcher Zahl von Fallen sich Defekte nach-
weisen lassen und in welcher Weise sich die GroBe der Defekte, in
Jahresstufen ausgedriickt, auf die Falle verteilt.
Aus der Gesamtzahl bleiben hier 2 Falle unberiicksichtigt,
bei denen das Ergebnis der Intelligenzpriifung so nahe an der
oberen Grenze des Priifungsbereiches lag, daB eine bestimmte
Angabe des Intelligenzalters nicht moglich war.
Es ergibt sich zunachst aus der Tabelle, daB nur in einem
einzigen Falle das Intelligenzalter um 2 Jahre hoher als das Lebens-
alter war. Es handelte sich hier um ein lOjahriges gesundes
Madchen, das offentlich als Gedachtniskiinstlerin auftrat; sie
loste samtliche Aufgaben bis zur hochsten Stufe einwandfrei.
Es lagen hier besonders giinstige Umstande, sowohl von seiten
der Veranlagung, als auch von seiten der Erziehung und des
Unterrichtes vor. Beides hat wohl dazu beigetragen, um das
iibernormale Resultat herbeizufuhren.
Die nachsten drei Reihen, in denen das Intelligenzalter gleich
dem Alter bezw. um 1 Jahr nach oben oder unten different ist,
entsprechen nach den Untersuchungen an gesunden Kindern 1 )
*) Vergl. Binet und die Arbeiten von Bobertag.
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508 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem,
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J ugendfiirsorge
Klinik und Poliklinik
Gesamt¬
zahl
3—12
12—18
! Gesamt-
| zahl
3—12
12—18
■
I.-A. > A. = 2
0
0
i
0
1
1
0
1 .-A. > A. = 1
2
2
0
6
6
0
J.-A. = A.
6
6
0
13
13
0
I.-A. <A. = 1
7
7
0
7
7
0
r— O
10
7
3
9
6
3
= 3
13
o
11
5
o
0
— 4
8
0
8
5
2
3
— 5
4
0
4
2
0
2
6
ft
0
5
0
0
0
= 7
2
0
2
2
1
1
= 8
0
0
o !
0
0
0
= 9
0
0
o ,
3
0
3
— 10
0
0
0
0
0
0
= 11
0
1
1
0
1
(20) |
(19)
= 12
0
0
0
0
0 |
0
= 13
0 |
0
o ;
i !
0 1
1
(17) :
= 16
! 1
0
1
= 17
(-«->)
1
0
1
1 1
(27)
I
= 28
1
1
0
1
1
(38)
1
1 58
f 24
1 34
1 58
1 41 1
17
der Variationsbreite des Normalen. DaB diese nonnalen Werte,
wie die Tabelle zeigt, riur zwischen 3—12 Jahren, jedoch nicht
dariiber gefunden wurden, hat seinen Grund lediglich in dem
Umstande, daB die Methode nur Tests bis zu 12 Jahren hat, so
daB, wie erwahnt, altere Kinder nur dann gepriift werden konnten,
wenn sie erhebliche Defekte zeigten und in ihrem Intelligenzalter
unter 12 Jahre kamen. Dem Prozentsatz an Normalen in der
Gesamtzahl der Gepriiften kommt eine wesentliche Bedeutung
nicht zu, da die Zusammensetzung des Materials rein zufallig ist.
DaB unter den J.-F.-Kindem die Zahl der Imbecillen so groB ist,
darf nicht wundernehmen in Anbetracht des Umstandes, daB uns-
nur die Kinder zugeschrieben wurden, bei denen der Verdacht
einer psychischen Storung bestand. Unter den Kl.-Kindem ist
die Zahl der Schwachsinnigen ebenfalls erheblich, da sich unser
Interesse bei den Untersuchungen vor allem auf die abnormen
Kinder erstreckte und die psychisch-normalen im wesentlichen'
nur als Kontrolluntersuchungen angesehen wurden, um uns zu’
vergewissern, daB wir nicht zu hohe Anforderungen stellten.
Wenn wir die Falle ins Auge fassen, die in ihrem Intelligenz¬
alter zwei und mehr Jahre hinter ihrem Lebensalter zuriickbleiben,
die wir also als defekt betrachtrn, so fallt auf, daB die groBen
Differenzen vorwiegend bei den Kindem iiber 12 Jahren vor-
Google
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Kramer, IntelJigenzpriif ungen an abnormen Kindem.
509
kommen. Bei der J.-F.-Gruppe kamen bei den Kindern unter
12 Jahren iiberhaupt nur Differenzen bis zu 3 Jahren vor, wahrend
bei den Untersuchten iiber 12 Jahren 20 Differenzen hoheren
Grades aufwiesen. Bei der Kl.-Gruppe ist der Unterschied nicht
so gro8, jedoch auch deutlich her vor tre tend.
In den beigefiigten Kurven sind diese Verhaltnisse fiir die
J.-F.-Kinder iibersichtlich dargestellt. Wahrend auf der Abzissen-
4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
-= A. -- J. A.
Fig. 1.
= A. . = J. A. +-M-+ = J. A. der Kinder unter 12 Jahren
-- ^ J. A. der Kinder uber 12 Jahre.
Fig. 2.
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510 K r a in e r , Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern.
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achse die Lebensjahre aufgetragen sind, geben uns die Ordinaten
die Zahl der einzelnen Falle an. Die eine Kurve entspricht dem
Lebensalter, die andere dem Intelligenzalter. Wir sehen aus der
ersten Kurve, wie sich die untersuchten Falle auf die verschiedenen
Lebensalter verteilen, wahrend uns die letztere zeigt, welche
Intelligenzaltersstufen die Priifung of ter, welche seltener ergab.
Wir sehen in Fig. 1, wie sich in der Intelligenzalterskurve
alles auf die Stufen zwischen 9 und 11 Jahre zusammendrangt,
so daB hier ein hoher Gipfel entsteht, wahrend die Alterskurve
einen erheblich weniger steil ansteigenden Gipfel einige Jahre
spater zeigt.
In Fig. 2 sind dieselben Kurven fur die Altersstufen unter 12
und iiber 12 gesondert dargestellt; wir finden hier, daB der Gipfel
der Alterskurve unter 12 bei der Intelligenzalterskurve etwas
zuriickgeriickt ist, wie es den Defekten entspricht, wahrend bei
den entsprechenden Kurven iiber 12 Jahre die Zuriickriickung
groBer ist. Die Zusammendrangung der Intelligenzalterskurven
in Fig. 1 ist demnach darauf zuriickzufiihren, daB die Individuen
iiber 12 Jahre im Durchschnitt groBere Differenzen zwischen
Alter und Intelligenzalter zeigen, als die unter 12 Jahren. In der
Kl.-Gruppe liegen die Verhaltnisse ahnlich, doch sind die Unter-
schiede nicht so ausgepragt, vor allem auch wegen der relativ
kleinen Zahl der Individuen iiber 12 Jahren.
Das Ueberwiegen der groBen Differenzen bei den alteren
Kindern ist ohne weiteres dadurch erklart, daB die Priifung nur
bis zu 12 Jahren geht und daher Individuen iiber 12 Jahre nur
aufgenommen werden konnten, wenn sie Defekte zeigten, die sie
in intellektueller Hinsicht unter 12 Jahren rubrizieren lassen.
Bemerkenswert ist nur die Tatsache, daB groBe Differenzen bei
den jiingeren Kindern gar nicht bezw. recht selten gefunden
wurden. Besonders lehrreich in dieser Beziehung ist das Jugend-
fiirsorgematerial, das keine Auswahl ermoglichte und in seiner
Zusammensetzung relativ einheitlich ist. Es liegt kein Anhalt
dafiir vor, daB wir bei den hoheren Altersstufen vorwiegend schwere
Imbecille, bei den jiingeren nur solche leichten Grades zugesandt
erhielten; eher konnte man das Umgekehrte annehmen, da die
schweren Defektzustande friiher aufzufallen pflegen als die
leichteren. Wir miissen daraus schlieBen, daB die gleichen Differenz-
zahlen in niederem Alter eine schwerwiegendere Bedeutung haben
als in hoherem, daB bei einem Defektzustand gleichen Grades
mit zunehmendem Alter auch die Differenz zwischen Lebensalter
und Intelligenzalter allmahlich groBer wird. Es stimmt dies mit
einer Angabe Binets gut iiberein; nach seinen Erfahrungen an
Schwachsinnigen sollen Debile das Intelligenzalter von 9 Jahren
niemals iiberschreiten. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese
Fixierung auf ein bestimmtes Intelligenzalter mit voller Exaktheit
zutrifft. Wenn jedoch das Prinzip dieser Konstatierung richtig
ist, was wir auf Grund unserer Erfahrungen annehmen mochten,
so folgt daraus, daB Schwachsinnige allmahlich, und gegeniiber
Go i igle
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Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem. 511
der Norm verspatet, ein gewisses Inteliigenzalter erreichen, fiber
das sie auch im Laufe der weiteren Entwicklung nicht mehr hinweg-
kommen. Hieraus folgt unmittelbar die oben konstatierte Tat-
sache, daB mit zunehmendem Alter sich die Differenzzahl ver-
groBern muB. Bei einem im wesentlichen aus leichteren Defekt-
zustanden zusammengesetzten Material, wie es bei der J.-F.-
Gruppe der Fall ist, drangen sich dann die Inteliigenzalter in
denjenigen Altersstufen zusammen, fiber die die Debilen nicht
hinwegkommen, also, wie es unsere Kurve zeigt, in den Stufen
von 9—11 Jahren.
Aus diesen Beobachtungen ergibt sich demnach, daB wir
die Differenzzahl als MaB ffir den Intelligenzdefekt nur dann
benutzen konnen, wenn wir Kinder gleichen Lebensalters mit-
einander vergleichen. Die gleiche Differenzzahl bedeutet, einen
groBeren Defekt, wenn es sich um jtingere Kinder handelt und
bedeutet um so weniger, je alter das geprtifte Individuum ist.
Bei alteren Kindern und Erwachsenen ist als Anhalt ffir die GroBe
des Defektes fiberhaupt nicht mehr die Differenz zwischen Lebens-
und Inteliigenzalter, sondern die absolute Hohe des letzteren zu
benutzen.
Da die Bedeutung der Differenzzahl um so groBer ist, je jtinger
das Kind ist, so ist zu bedenken, ob die ganzjahrigen Stufen ffir
die jfingsten in Betracht gezogenen Altersklassen nicht zu groB
sind, ob wir hier in der weiteren Ausgestaltung der Methode nicht
zu kleineren Stufen werden fibergehen mtissen. Einen Anhalt in
dieser Beziehung gaben mir einige Kinder zwischen 4 und 6 Jahren,
bei denen ich nach dem sonstigen Verhalten einen wenn auch nicht
erheblichen Defektzustand veimutete, bei denen jedoch die
Prfifung ein normales oder annahemd normales Verhalten ergab.
Bei alteren Kindern habe ich derartige Diskongruenzen nicht
beobachtet. An dieser Stelle sei auch noch auf einen Punkt kurz
eingegangen, um vor einem naheliegenden MiBverstandnis bei
der Verwertung der Methode zu warnen. Man kann die Frage
aufwerfen, ob wir denn berechtigt sind, einen Schwachsinnigen
in Parallele zu setzen mit einem Normalen jfingeren Lebensalters.
Ein Imbeciller entspricht natfirlich niemals in seiner psychischen
Eigenart einem jfingeren Vollsinnigen. Es ist ein in Laienkreisen
weit verbreiteter Irrtum, daB ein schwachsinniges Kind nur ein
in der Entwicklung verlangsamtes, sonst normales Individuum ist.
Man konnte der Methode den Vorwurf mac hen, daB sie durch die
Fixierung des Intelligenzalters diese irrige Meinung stfitzt, ja
fiberhaupt auf ihr basiert. Demgegentiber sei hervorgehoben,
daB die Ansetzung des Intelligenzalters unter das Lebensalter
nicht mehr besagt, als daB das Kind bezfiglich einiger psychischer
Phanomene, deren Auswahl aus Grtinden praktischer Zweck-
maBigkeit erfolgte, die Stufe nicht erreicht hat, die gleichaltrige
normale Kinder in dem betreffenden Lebensalter erfahrungsgemaB
schon gewonnen haben, sondern sich in dieser Beziehung noch
einem jfingeren Kinde analog verhalt. Ueber alle anderen psy-
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512 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindern.
chischen Eigenschaften ist damit nichts gesagt. Ein debiles Kind
ist einera jiingeren normalen gleichen Intelligenzalters oft in vieler
Beziehung iiberlegen, es hat in alien denDingen, die seinerlntelligenz
zuganglich sind, naturgemaB eine umfangreichere Erfahrung er-
worben, als dem jiingeren normalen Kinde in seiner kiirzeren
Lebenszeit zuganglich war.
Wenn wir die Ergebnisse der Intelligenzprufung in Beziehung
zu den klinischen Diagnosen betrachten, so ergibt sich folgendes:
Unter den J.-F.-Kindern sind schwerere Krankheitsbilder sowohl
in psychischer als auch in korperlicher Beziehung, wie es nach
■der Genese des Materials auch wahrscheinlich ist, nicht zu ver-
zeichnen; es handelt sich hier vorwiegend um Schwachsinn und
psychopathische Grenzzustande, oft beides miteinander kombiniert.
Nur 2 Falle erwiesen sich als psychisch normal und zeigten
auch keinerlei intellektuellen Defekte.
In etwa der Halfte der Falle (29) lag Imbecillitat vor, die
in einer groBen Zahl mit anderen psychopathischen Ziigen (Neigung
zum Fortlaufen, Pseudologie, epileptoiden Symptomen etc.) ver-
kniipft war. Es fanden sich in diesen Fallen Differenzen zwischen
Alter und Intelligenzalter: in 6 Fallen von 2 Jahren, in 5 Fallen
von 3 Jahren, in 8 Fallen von 4, in 2 Fallen von 5, in 5 Fallen
von 6, in 2 Fallen von 7, in 1 Fall von 11 Jahren. Bei der Stellung
der Diagnose Imbecillitat wurde zum Teil das Ergebnis der
Intelligenzprufung mitverwertet. In dem groBten Teile der Falle
waren wir jedoch in der Lage, aus der Anamnese und dem Er¬
gebnisse der sonstigen psychischen Untersuchung die Diagnose
zu kontrollieren; augenfallige Widerspriiche zwischen diesen Er-
gebnissen und dem Ausfall der Intelligenzprufung haben sich
nicht herausgestellt. Auf die Beziehungen zu den Schulleistungen
wird weiter unten naher eingegangen werden.
In 5 Fallen best and ausgesprochene Epilepsie, von denen vier
intellektuelle Defekte (von 2, 3, 4 und 5 Jahren) zeigten, wahrend
der fiinfte sich als intellektuell normal erwies. 2 Falle gehorten
einer Gruppe psychopathischer Kinder an, auf die hier noch kurz
eingegangen werden soli. Es sind dies Kinder mit Defekten auf
ethischem Gebiete, Individuen, die schon von Jugend an Ab-
stumpfung des moralischen Empfindens zeigen, bei denen sich
von friih auf ein Fehlen altruistischer Neigungen bemerkbar macht.
Die Zahl dieser Kinder war naturgemaB unter dem J.-F.-Material
relativ groB. Eine ausfiihrliche Schilderung dieses Typus ist von
Schroder 1 ) gegeben worden; die Kinder, die er beschreibt, ent-
stammen demselben Material, an welchem von mir die Intelligenz-
priifungen angestellt wurden. Fiir die viel erorterte Frage, ob
diese moralischen Defektzustande nur auf der Basis des intellek¬
tuellen Schwachsinnes oder auch unabhangig von diesem vor-
kommen, ist das Ergebnis der Intelligenzprufung von wesent-
licher Bedeutung.
*) 1- c
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Kramer, Intel ligenzpriif ungen an abnormen Kindern. 513
Unter den 23 Kindern, die diesem Typus zuzurechnen sind,
fanden sich 11 intellektuell normale, wahrend 12 auch intellektuelle
Defekte aufwiesen.
Wir sehen also, daB ein erheblicher Teil bei der Intelligenz -
priifung ein normales Resultat ergab. Bei den Kindern, die gleich-
zeitig intellektuelle Defekte hatten, bestand keineswegs ein
Parallelismus zwischen diesen und den moralischen Anomalien,
so daB wir nach unseren Ergebnissen annehmen miissen, daB es
sich um voneinander unabhangige Storungen handelt. Bei der
Beschaftigung mit den Kindern dieser Art gewinnt man in einem
Teil der Falle den Eindruck, daB es sich um Individuen besonders
guter. iibernormaler Intelligenz handelt; sie gelten auch bei ihrer
Umgebung, bei Eltern, Bekannten und Lehrern, als sehr geweckt,
an Verstand und Gewandtheit ihre Altersgenossen iiberragend.
Diesen Eindruck hat jedoch die Intelligenzpriifung nicht bestatigt.
Die Leistungen sind hierbei, wenn auch haufig der Norm ent-
sprechend, doch nicht iiber diese hinausragend. Ein Teil dieser
Kinder rangierte sogar unter den oben erwahnten mit leichten
Defekten. Die besonders gute Intelligenz ist hier nur vorgetauscht
durch andere psychische Eigenschaften, die zum Teil mehr auf
psychomotorischem Gebiete liegen, als der Verstandesveranlagung
angehoren; Lebhaftigkeit, sprachliche Gewandtheit, auch Mangel
an Schuchtemheit u. a. spielen hierbei eine Rolle.
Das aus der Klinik stammende Material ist naturgemaB bunter
zusammengesetzt, als das relativ einformige Material der Jugend-
fiirsorge. Imbecillitat fanden wir hier in 19 Fallen, in der Mehr-
zahl einfache Imbecillitat, 2 mit epileptoiden, einige mit anderen
psychopathischen Ziigen. Die Defekte verteilen sich derart, daB
1 mal eine Differenz von 1 Jahr, 4 mal von 2 Jahren, 5 mal von
3 Jahren, 2 mal von 4 Jahren, 1 mal von 5 Jahren und 1 mal
von 7 Jahren gefunden wurden; 5 altere Individuen zeigten groBere
Differenzen; von ihnen erreichten 1 Patient nur das Intelligenz-
alter von 4 Jahren, wahrend 4 Debile auf 8—10 Jahre kamen.
Die Gruppe der ethisch Defekten ist hier nur mit 2 vertreten,
•die beide sich als intellektuell normal erwiesen. Ein 9 jahriger
Knabe zeigte nur ein Zuriickbleiben der Sprachentwicklung,
wahrend er bei der Priifung keine Defekte aufwies. Epilepsie bestand
in 11 Fallen; unter diesen waren 7, groBtenteils jungere Kinder,
intellektuell normal, wahrend 4 altere Kinder Defekte von 2, 4, und
7 Jahren aufwiesen. In 12 Fallen wurde die Diagnose auf Hysterie
oder psychopathische Konstitution gestellt; unter diesen wiesen 2
leichte Intelligenzdefekte auf. 13 Kinder waren wegen organischer
Nervenleiden in die Klinik gekommen. 2 Chorea, 1 Dystrophie,
1 Hydrocephalus erwiesen sich als normal, wahrend eine cerebrale
Kinderlahmung, ein Little, ein erblindeter Hydrocephalus Defekte
'zeigten. Fiinf dieser Falle waren Turmschadel mit erheblichen
fiehstbrungen, die uns aus der Augenklinik zugeschickt worden
waren. Bei vier von diesen ergaben sich erhebliche Defekte in
Uebereinstimmung mit, der auch sonst beobachteten Tatsache,
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514 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem.
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daB Turmschadel in der Verstandesentwicklung haufig zuriick-
bleiben. Ein fast vollig erblindetes, in der Blindenanstalt befind-
liches Kind von 10 Jahren erwies sich jedoch als intellektuell vollig
normal; dieser Fall zeigt uns insbesondere auch, daB in den anderen
Fallen der schlechte Ausfall der Priifung nicht etwa allein auf
die Sehstorung zuruckgefiihrt werden kann.
Als Kriterium fur den Wert der Biwetechen Intelligenz-
priifung ware es wesentlich, wenn wir die Ergebnisse mit einer
auf anderem Wege gewonnenen Beurteilung der Intelligenz der-
selben Kinder vergleichen konnten. Hierfiir kommt nur ein
Gesichtspunkt in Betracht, namlich die Gegeniiberstellung der
Schulleistungen. Diese bieten uns fiir den Vergleich den erheb-
lichen Vorteil, daB auch in den Schulen eine Gruppierung
nach Altersstufen stattfindet, indem die schlechtlernenden
Kinder zuriickbleiben und sich in einer Klasse befinden, die
normalerweise einem niedrigeren Alter entspricht. Wenn wir also
fiir jedes Kind feststellen, in welcher Klasse es sich befindet, und
das Normalalter dieser Klasse einsetzen, so erhalten wir einen
Zahlenwert, das Schulalter, den wir ohne weiteres mit dem
Intelligenzalter vergleichen konnen. Es kommen hierin natur-
gemaB nur grobe Differenzen in den Schulleistungen zum Aus-
druck, die so erheblich sind, daB sie eben ein Zuriickbleiben ver-
anlassen. Die sonstigen Unterschiede der Klassenleistungen zum
Vergleiche heranzuziehen, schien mir nicht zweckmaBig, da hier
die exakte zahlenmaBige Bestimmung Schwierigkeiten macht.
Es fragt sich, was wir fiir ein Resultat des Versuches er-
warten miissen, wenn die Intelligenzpriifung zuverlassig ist. Auf
Grund der Erwagung, daB die Schulleistungen im wesentlichen
von der Intelligenz abhangen, konnte man vermuten, daB die
Ergebnisse einer Intelligenzpriifung, falls sie Anspruch auf Brauch-
barkeit macht, jenen parallel gehen miiBte, daB wir also eine
weitgehendeUebereinstimmung des Schulalters mit dem Intelligenz¬
alter verlangen miiBten, und daB, je genauer diese Uebereinstimmung
ist, wir um so mehr Zutrauen zu der Methode haben konnten.
Bei genauem Zusehen stellt sich jedoch diese Erwagung als
unrichtig heraus. Es kann ja kein Zweifel dariiber bestehen, daB
die Schulleistungen in hohem MaBe von der Intelligenz des Kindes
abhangen; sie werden jedoch von einer Reihe anderer Faktoren
so erheblich beeinfluBt, daB von einem strengen Parallelismus
nicht die Rede sein kann, sondern daB dieser in einer gewissen
Zahl von Einzelfalien durchbrochen werden muB. Von diesen
Faktoren sind zunachst Umstande lediglich auBerer Natur zu
nennen, so z. B. haufiger Schulwechsel, besonders wenn es sich
um verschiedene Schularten, etwa Uebergang von der Dorfschule
in eine mehrklassige groBstadtische Schule handelt; sodann haus-
liche ungiinstige Verhaltnisse, die den Kindern einen regelmaBigen
Schulbesuch und hausliche Schularbeit erschweren, sie fiir die
Zwecke der Hauslichkeit und des Erwerbes stark in Anspruch
nehmen. In gleicher Weise wirken Krankheiten, die den Schul-
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Kramer, Intel ligenzpriifiungen an abnormen Kindem. 515
besuch unterbrechen, oder korperliche Gebrechen, wie Seh- und
Horstorungen, die das Kind aus dem normalen Unterricht iiber-
haupt mehr oder minder ausschalten.
AuBer diesen auBeren Momenten kommen mindestens ebenso
stark Besonderheiten der psychischen Veranlagung des Kindes
in Betracht. Die Schulleistungen sind — dies gilt vor allem fiir
die ersten Schuljahre — neben der Intelligent von anderen Be-
gabungselementen abhangig vor allem von der Merkfahigkeit.
Besonders sind bei psychopathischen Kindern nicht selten Eigen-
heiten zu beobachten, die ihr Verhalten im Schulunterricht un-
giinstig beeinflussen, so die Unfahigkeit, die Aufmerksamkeit
dauernd zu konzentrieren, iibermaBige Affekterregbarkeit, die sie
leicht einschiichtern laBt, usw. Eine erhebliche Rolle spielen
dann auch psychische Besonderheiten, die mehr in das Gebiet des
Affektlebens gehoren, mangelnder Ehrgeiz und FleiB, Neigung
zur Disziplinverletzung u. a. Alle diese Faktoren miissen bewirken,
daB eine gewisse Zahl von Kindern in der Schule schlechter fort-
kommt, als es ihrer Intelligenz entspricht. Wenn diese Zahl auch
im Vergleich zur Gesamtmenge der Schuler verhaltnismaBig gering
sein mag, so muB sie in dem von uns untersuchten Material mit
besonderer Deutlichkeit hervortreten; denn wir haben es hier
vor allem bei den Kindern, die dem Material der Klinik angehoren,
mit kranken Individuen zu tun, deren Leiden nicht selten ihren
Schulbesuch ungiinstig beeinflussen, wahrend bei den Kindern
der Zentrale fiir Jugendfiirsorge ungiinstige soziale Verhaltnisse,
psychopathische Veranlagung, Anomalien des Affektlebens und
der ethischen Vorstellungen recht haufig bestanden.
Wenn wir bei diesem Material eine durchgehende Ueberein-
stimmung der Schulleistungen mit den Ergebnissen der Intelligenz-
priifung finden wiirden, so miiBte dies ein erhebliches MiBtrauen
gegen unsere Untersuchungsmethode hervorrufen; es ware dann
wahrscheinlich, daB wir iiberhaupt nicht die Intelligenz priifen,
sondern nur auf einem Umwege die in der Schule erworbenen
Kenntnisse und Fertigkeiten. Wir konnten uns dann die Miihe
der Priifung iiberhaupt in der Mehrzahl der Falle ersparen, da
uns eine Auskunft iiber die Schulleistungen denselben AufschluB
geben wiirde. Wenn wir dagegen Differenzen zwischen dem Schul-
alter und dem Intelligenzalter finden in dem Sinne, daB das
Schulalter geringer ist als dieses, so werden wir zu priifen haben,
ob Griinde vorUegen, die das Zuriickbleiben des Kindes in der
Schule imter der seiner Intelligenz entsprechenden Stufe in aus-
reichendem MaBe erklaren.
Es fallen fiir die Zusammenstellung eine Reihe von Kindem
aus; diejenigen, die noch nicht in die Schule gehen oder die
Zoglinge der Hilfsschule sind, ferner Kinder, die eine Dorfschule
mit, geringer Klassenzahl besuchten, bei der infolgedessen das
Schulalter nicht ausreichend prazise zu bestimmen war, vier
andere Falle, bei denen die genaue Feststellung der SchulHasse
unterlassen und spater nicht mehr nachzuholen war. Bei Priiflingen
* Monatssohrift f. Psychiatric xl. Neurolofffo. B<L XXXIII. Heft 6. r 34
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516 Kramer, Intelligenzpriifungen an abnormen Kindem.
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uber 14 Jahren, die bereits die Schule verlassen haben, wurde das
Alter der Klasse, aus welcher sie abgegangen waren, dem Ver-
gleiche zugrunde gelegt.
In 9 Fallen ist das Schulalter hoher als das Intelligenzalter.
Samtliche in diese Kategorie gehorigen sind intellektuell defekt.
Sie sind jedoch in der Schule nicht so weit zuriickgeblieben, als
es nach ihrem Intelligenzniveau zu erwarten ware. Bei der Mehr-
zahl dieser Falle verschwindet bei genauerer Betrachtung das
Auffallende dieser Differenz. In 2 Fallen, bei den Kindem Hans V.
(A. = 7, I.-A. = 5, Sch.-A. = 6) und Anna S. (A. = 6, I.-A. = 5,
Sch.-A. = 6) muBte das Schulalter, da sie sich in der untersten
Schulklasse befanden, auf 6 Jahre angesetzt werden; bei beiden
wurde jedoch ubereinstimmend angegeben, daB sie in der untersten
Klasse nicht fortkommen, so daB tatsachlich die Schulleiatungen
als mit dem Intelligenzalter von 5 Jahren ubereinstimmend anzu-
sehen sind. In einem weiteren Falle handelte es sich um einen
16 jahrigen Menschen, der bei einem Intelligenzalter von 10 Jahren
aus der ersten Schulklasse abgegangen war; hier ergab die Anamnese,
daB der Knabe erst 4 Monate vor seinem Abgange aus der Dorf-
schule nach Breslau gekommen war, daB man ihn hier zunachst
in die seinem Alter entsprechende erste Klasse einschulte und
wegen der kurzen Zeit trotz seiner schlechten Leistungen von
einer Riickversetzung Abstand nahm. In 4 Fallen, in denen die
Differenz zwischen Schulalter und Intelligenzalter 1 Jahr zu-
gunsten des ersteren betrug, wurde die dem Schulalter ent¬
sprechende Intelligenzstufe nahezu erreicht; es handelte sich hier
immer nur um 1—2 Einzeltests, die dazu fehlten. Die mangelnde
Uebereinstimmung fallt hier wohl darum nicht so erheblich ins
Gewicht und ist auf die Notwendigkeit, kiinstlich scharfe Grenzen
zu ziehen, zuriickzufiihren. Bei einem dieser Kinder war das Ver-
sagen bei alien handliche Geschicklichkeit erfordemden Proben
die Ursache des Zuriickbleibens. Nach Ausscheidung dieser 7 Falle,
in denen die Differenz nur scheinbar bestand, bleiben noch zwei
Kinder iibrig, bsi denen sie als tatsachlich vorliegend angesehen
werden muB. In einem dieser Falle, Elfriede G., war es ein
15 jahriges Madchen mit dem Intelligenzalter von 9 Jahren, das aus
der zweiten Klasse (11 Jahre) abgegangen war; es bestandeine ein-
fache Imbecillitat mit Neigung zu sexueller Depravation; sie soil
in der Arbeit tiichtig und brauchbar sein. Es handelt sich wahr-
scheinlich hier um eine jener Schwachsinnigen, die fleiBig, ordent-
lich, ftigsam und willig sind und erst scheitem, wenn von ihnen
selbstandige Leistungen verlangt werden, denen sie nicht ge-
wachsen sind. Moglicherweise hat diese Charakterveranlagung
bewirkt, daB sie in den Schulleistungen besser beurteilt wurde,
als ihrer Intelligenz entsprach. Im letzten Falle handelt es sich
um eine Schwachsinnige mit epileptischen Anfallen (Gertrud M.,
15 Jahre, I.-A. = 9, Sch.-A. = 11); hier lieB sich kein be-
stimmter Grund fiir die Differenz finden; vielleicht liegt auf
Grand der Epilepsie eine progrediente Verblodung vor.
Gougle
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Kramer, Intel ligenzpriifungen an abnormdn Kindern. 517
In 39 Fallen stimmte das Schulalter mit dem Intelligenz¬
alter iiberein. In dieser Kategorie werden einige Falle mitgezahlt,
bei denen scheinbar ein Zuruckbleiben der Schulleistungen um
1 Jahr vorlag; es sind dies Kinder, die intellektuell um 1 Jahr
ihrem Alter voraus sind und sich in den ihrem Alter entsprechenden
Klassen befinden. Da ein solcher Schuler sich in der seinem
Intelligenzalter entsprechenden Klasse gar nicht befinden kann,
so rechtfertigt sich dieZuordnung zu denen,bei denenl.-A. = Sch.-A.
ist. Bemerkenswert ist. daB bei den Fiirsorgekindern sich die
Uebereinstimmung zwischen Schul- und Intelligenzalter nur bei
4 intellektuell Normalen, dagegen bei 17 Defekten fand, wohin-
gegen bei der Mehrzahl der Normalen die Schulleistungen zuriick-
blieben.
Ein niedrigeres Schulalter als Intelligenzalter zeigten im
ganzen 36 Kinder. Besonders bemerkenswert sind hier diejenigen,
bei denen die Differenz mehr als 1 Jahr betragt, worunter 1 Fall
mit 5 Jahren Unterschied ist. An der Hand dieser Falle sollen
die Griinde fiir das Zuruckbleiben in der Schule gezeigt werden.
Als solche kommen zunachst Momente auBerer Natur in
Betracht. Krankheiten, Schulwechsel u. a. kann die Kinder im
Fortkommen in der Schule, unabhangig von ihrer Intelligenz,
aufhalten.
Agnes H., 12 Jahre alt (I.-A. = 10, Sch.-A. = 8), hat wegen Diphtheric
und Lungenleiden lange im Hospital gelegen, leidet seit langerer Zeit an
einer tuberku osen Erkrankung des rechten Ellenbogengelenkes, OhrenfluB
und Schwerhorigkeit. Auflerdem bestehen recht ungiinstige hausliche
Verhaltnisse. Alle dies© Dinge erklaren ausreichend, daB bei maBiger
Debilitat das Kind 4 Jahie in der Schule zuiiickgeblieben ist.
Aehnlich liegt es bei den beiden folgenden Fallen: Anna H.
und Klara K., die an Opticusatrophie infolge Turmschadel leiden;
sie wurden durch die Sehstorung am Fortkommen gehindert.
In dem Falle Herbert K. (16 Jahre, I.-A. = 12, Sch.-A. = 10)
war mehrmaliger Schulwechsel mit Uebergang von der Dorfschule
in die Stadtschule bei maBiger Imbecillitat mit Wahrscheinlich-
keit als Ursache dafiir anzusehen, daB er nur bis in die 3. Klasse
gelangt ist
Bei der folgenden Gruppe liegen die Griinde fiir das mangel-
hafte Fortkommen in der Schule im wesentlichen in der
psychischen Eigenart der Kinder begriindet. Es sind vor allem
die schon oben erwahnten Defekte auf ethischem Gebiete, die
hier wirksam sind. Die Kinder fiigen sich meist schlecht in die
Schuldisziplin und halten sich den normalen Antrieben durch
Ehrgeiz, Scham usw. gegeniiber refraktar, schwanzen die Schule*
sind durch Strafen nicht beeinfluBbar. So bleiben sie trotz guter
Intelligenz oft erheblich in der Schule zuriick.
Klara P. (A. = 11, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9), von Jugend liignerisch;
schwindelt und stiehlt; auBert keine Furcht. Sehr friihzeitige Neigung
zu sexueller Betatigimg. Kommt in der Schule schlecht fort, schwatzhaft,
unaufmerksam, faselig. Ist statt in der zweiten, erst in der vierten Klasse.
Intellektuell bestehen keine Defekte.
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518 Kramer, Intoliigenzpriif ungen an abnormen Kinderru
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Ernst FI. (A. = 11, I.-A. = 10, Sch.-A. = 8). Verlogen, freeh„
gchwanzt andauemd die Schule, mu£ von der Polizei in die Schule geholt
werden; ungiinstige hausliche Verhaltnisse. 1st bei annahernd normaler
Intelligenz erst in der fiinften Klasse, sollte in der zweiten sein. k-.
Richard^F. (A. = 12, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9). Ausgesprochene
ethische Defekte, liigt viel, geschickt und raffiniert im Erfinden, lauft
fort, treibt sich mit anderen Jungen herum, geht vie! hinter die Schule.
Lebhaftes Wesen. Auskunft des Lehrers: FleiB mangeihaft, Auffassung
und Gedachtnis gut, Aufmerksamkeit schlecht. Verlogen, lebhaft, schwer
zu lei ten. A In der Intelligenz 1 Jahr, in der Schule 3 Jahre zuriick.
Alfred W. (A. = 12, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9) ist ofters von Hause
fortgelaufen, bleibt tagelang weg, wird meist erst mit Hilfe der Polizei
gefimden. Kommt in der Schule schlecht fort.
Wahrend die vier oben erwahnten Falle intellektuell ganz oder
annahernd normal sind, sind in den folgenden 2 Fallen intellektuelle
und moralische Defekte miteinander kombiniert. Die Kinder
sind in der Schule weiter zuriick, als es nach dem Ergebnisse der
Intelligenzpriifung der Fall sein miiBte.
Kurt Sch. (A. = 13, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9). MaBiger Schwachsinn
mit ethi8chen Defekten. Liigt, stiehlt. Verdacht auf Epilepsie.
Arthur V. (A. = 13, I.-A. = 11, Sch.-A. = 9), stumpfsinniger
Imbeciller, begreift schwer; stiehlt, schwanzt haufig die Schule, bleibt
oft tagelang fort.
In zwei weiteren Fallen handelt es sich um intellektuell
normale Kinder mit Epilepsie:
Georg W. (A. = 10, I.-A. = 10, Sch.-A. = 8) und Rudolf P. (A. = 11,
I.-A. = .12, Sch.-A. = 9), bei denen sowohl unregelmaBiger Schulbesuch und
viele Krankheit, als auch die bestehende epileptische Charakterveranlagung
als Ursachen fur das zweimalige Zuriickbleiben in Frage kommen.
Die Zahl von Fallen, in denen das Schulalter hinter dem
Intelligenzalter um 1 Jahr zuriickbleibt, ist erhebhch groBer;
unter den Fiirsorgekindern finden sich 17, unter den die Klinik
aufsuchenden Patienten 7. Sie bieten weniger Interesse, als die
eben erwahnten, da die einjahrige Differenz auch durch Zufallig-
keiten bedingt und durch die naturgemaB etwas willkiirliche,
scharfe Abgrenzung bedingt sein kann, doch lieBen sich auch
hier die ' Griinde fiir das Zuriickbleiben in der Mehrzahl mit
Deutlichkeit aufweisen. Um Wiederholungen zu vermeiden, sollen
diese Falle nur im Gesamtergebnis angefiihrt werden. Unter den
17 Kindem aus der Zentrale fiir Jugendfiirsorge waren in 2 Fallen
Krankheit und schlechte auBere Verhaltnisse als Ursache des
Zuriickbleibens zu vermuten, wahrend bei den anderen 15 durchweg
Defekte auf ethischem Gebiete, in 10 Fallen kombiniert mit
intellektuellem Schwachsinn, manchmal auch mit anderen psycho-
pathischen Besonderheiten, nachweisbar waren.
Unter den sieben hierher zu zahlenden Kindern der KHnik
sind 2 mal korperliche Krankheiten (Hydrocephalus, Turm-
schadel mit starker Sehstorung), 3 mal Epilepsie mit Erregungs-
zustanden und Poriomanie, 1 mal ethische Defekte zu verzeichnen,
wahrend in einem Falle einfacher Imbecillitat sich kein aus-
reichender Grund fiir das Zuriickbleiben nachweisen lieB.
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Klieneberger, Opticusatrophie etc.
519
Dieses Ergebnis des Vergleiches zwischen dem Resultat der
Intelligenzpriifung und den Schulleistungen der Kinder ist nach
zwei Richtungen bemerkenswert. Fiir die Bewertung der Binet-
schen Methode zeigt es uns, daB der naheliegende und gegen jedes
solche Verfahren zunachst zu erhebende Einwand, daB man nur
Schulkenntnisse priift, nicht berechtigt ist. Es ergibt sich im
Gegenteil, daB wir in erheblichem Grade unabhangig sind von
dem, was die Kinder in der Schule gelemt haben, und daB wir
im wesentlichen Leistungen verlangen, die das normale Kind
sich unbeeinfluBt von Erziehung und Unterricht in einem be-
stimmten Alter anzueignen pflegt. DaB diese Erfahrungen das
Vertrauen zu der Brauchbarkeit der Methoden erheblich starken,
bedarf keiner besonderen Erlauterung.
Wenn wir aimehmen, daB die Methode uns ein im ganzen
zutreffendes Bild der Intelligenz gibt, so zeigen uns ferner die
Ergebnisse, daB wir zur Beurteilung eines Kindes und zur Be-
antwortung der uns gestellten praktischen Fragen nicht einseitig
die Verstandesleistungen heranziehen, sondem die gesamte
psychische Personlichkeit beriicksichtigen miissen. Wir sehen,
in wie hohem Grade die Schulfahigkeit der Kinder von anderen
psychischen Faktoren beeinfluBt wird; in gleichem MaBe gilt das
das auch fiir das Fortkommen im Berufe, fiir die soziale Brauchbar¬
keit. Bei einer erheblichen Zahl der Kinder fand sich, daB das,
was das Einschreiten der Zentrale fiir Jugendfiirsorge veranlaBt
hatte, gar nicht oder nur zum Teil auf den intellektuellen Schwach-
sinn, sondern auf andersartige psychische Anomalien, vor allem
moralische Defektzustande, zuriickzufiihren war. Bei den Rat-
schlagen, die wir in Bezug auf Unterbringung in Erziehungs-
anstalten, auf Schulart und Berufswahl erteilen, werden wir
selbstverstandlich das Ergebnis der Intelligenzpriifung durchaus
beriicksichtigen, daneben jedoch immer die gerade bei diesem
Material in reichlicher und mannigfaltiger Weise zu konstatierenden
psychopathischen Besonderheiten beachten miissen.
(Ails der Universitats-Poliklinik fiir Nervenkranke, Konigsberg.
[Direktor: Prof. Dr. Ernst Meyer.])
Optikusatrophie bei Gehirnarteriosklerose.
Von
Privatdozent Dr. OTTO KLIENEBERGER.
Die differentialdiagnostischen Schwierigkeiten, die sich bei
cerebralen GefaBerkrankungen ergeben, bewegen sich nach zwei
Seiten. Es konnen einmal durch die Sklerose der GehimgefaBe
andersartige Erkrankungen vorgetauscht werden, und daun
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620
Klieneberger, Opticusatrophie
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konnen organische Gehimerkrankimgen durch arteriosklerotische
Storungen verdeckt oder besonders bei alten Leuten als solche
verkannt werden. Erst in letzter Zeit hat Bonhoeffer 1 ) wieder
auf diese differentialdiagnostischen Schwierigkeiten hingewiesen
und insonderheit dargetan, daB die Unterscheidung zwischen
cerebraler GefaBerkrankung und Himtumor nicht nur schwer,
sondem gelegentlich geradezu kaum moglich sein kann. In dera
Fall von Bonhoeffer , der dies Verhalten besonders anschaulich
zur Darstellung bringt, wurde die Fehldiagnose Hirntumor wesent-
lich durch das Auftreten einer sich langsam entwickelnden Stauungs-
papille unterstiitzt, als deren Ursaehe Bonhoeffer arteriosklerotisch
bedingte Erweichungen anspricht. Augenhintergrundsverande -
rungen bei Himarteriosklerose sind, wie auch Bonhoeffer hervor-
hebt, auBerordentlich selten. Es konnen auBer entziindlichen
Veranderungen auch einfache degenerative Prozesse im Opticus
vorkommen, die als durch cerebrale GefaBerkrankungen bedingt
zu deuten sind. Wir hatten kiirzlich Gelegenheit, zwei solche
Falle mit Opticusatrophie zu untersuchen, bei denen wir zunachst
auch an einen andersartigen organischen HirnprozeB dachten,
aber schlieBlich doch auf die, wie wir annehmen mochten, richtige
Diagnose der Himarteriosklerose zuriickkamen. In der neuro-
logischen Literatur habe ich einschlagige Beobachtungen nicht
finden konnen 2 ). Es diirfte daher die Mitteilung dieser Krankheits-
falle ein gewisses Interesse beanspruchen.
Die erste Kranke suchte am 30. XI. 1912 die hiesige Poli-
klinik auf. Dem Gesetz der Duplizitat folgend kam am 2. XII. 1912
ein zweiter entsprechender Fall in unsere Beobachtung. Ich sah
daraufhin die friiheren Jahrgange des hiesigen poliklinischen
Materials durch, konnte aber nurmehr noch einen weiteren Fall
ausfindig machen, der am 14. X. 1908 hier untersucht wurde
und wesentlich das gleiche Krankheitsbild darstellt. Ich lasse
zunachst die drei Krankengeschichten kurz folgen.
Erste Beobachtung.
Henriette M., Arbeiterfrau, 53jahrig. 14. X. 1908.
Mann an Lungenleiden gestorben.
8 Kinder, von denen mehrere klein gestorben. Keine Fehlgeburten.
Iramer sehr schwere Entbindungen, sonst nie krank.
Mit 27 Jahren (1882) Wochenbett, geschwollen, 7 Wochen blind.
Vor 7 Jahren Menopause, seitdem oft geschwollene Glieder. Seit 5 Jahren
ReiBen in rechter und linker Seite, besonders rechts, koinmt plotzlieh,
halt eine Viertelstunde lang an, Stiche, als wenn mit Messer hineingehackt.
Seit 1882 nicht mehr ordentlich geselien (vgl. oben). Seit 2—3 Jahren
weitere Verschlechterung des Sehens.
Leiclit mlide, Kopfschinerzen. Oft Schwindel, Herzklopfen und
*) Zur Differentialdiagnose zwischen cerebralen GefaBerkrankungen
und Himtumor. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. 32.
*) Auch die Studie von R. Otto (erschienen bei Springer , Berlin , 1893),
die sich mit der Untersuchung der Sehmrvenverdnderungen bei Arterio -
sklerose beschaftigt, eine fast rein pathologisch-anatomische Arbeit, hat
nur in der ophtalrnologischen Literatur Beachtung gefunden.
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bei Gehirnarteriosklerose.
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Beangstigung. Wasserlassen ohne Besonderheiten, nur beiin Heben lauft
es ab.
Pupillen gleich, eng.
Patellarreflexe + , schwach; Achillesreflexe +.
Zunge etwas naeh rechts.
Facialis ohne Besonderheiten.
Motilitat ohne Besonderheiten.
Sensibilitat: sehr empfindlich. Ueberall Druckpnnkte aller Muskeln.
Ovarie. Mastodynie.
Puls klein, nicht regelmaBig. Herz etwas vergroBert, Tone unrein.
Urin frei.
Unter8uchung in der Augenklinik.
12. IX. 1908 fortgesehrittene Sehnervenatrophie beiderseits. Die
Sehscharfe betragt rechts Fingerzahlen in 3, links in 2 m.
21. X. 1908 genuine Atrophie, fast totale Farbenblindheit.
Untersuchung in der Nasenklinik.
Rechts: Mittlere Muschel nicht wesentlich vergroBert, der laterale
Spalt ist frei, ein schmaler blasiger Sekretstreifen ist am Rande sichtbar.
Links: Derselbe Befund, die mittlere Muschel ist hier etwas voluminoser
als auf der rechten Seite. Untere Muschel mafiig hypertrophisch.
Nach Kokain keine Vermehrung der Sekretion. Die Durchleuchtung
ergibt keine wesentliche Verdimkelung.
Nach dem Befunde glaubt die Klinik eine eitrige Stimhohlenaffektion
ebenso wie einen eitrigen SiebbeinprozeB ausschlieBen zu konnen.
Zweite Beobachtung.
Rahel A., Kaufmannswitwe, 63 jahrig. 30. XI. 1912.
Auf dem rechten Auge seit 13 Jahren allmahlich eintretende Er-
blindung, seit y 2 Jahre auch links.
Kopfschmerzen und Schwindel seit langem. Manchmal ziehende
Schmerzen im rechten Arm, Spicken in den Ohren. Sonst nie krank. Neun
Kinder, von denen drei klein gestorben.
Klein, kraftig, erhebliches Fettpolster.
Schwerfallig in Auffassung, Reaktion und alien korperlichen Be-
wegungen.
Himnerven ohne Besonderheiten.
Periost- und Sehnenreflexe lebhaft, gleich.
Hautreflexe normal.
Motilitat -f~. Keine Adiadochokinesis. Keine Ataxie. Keine Sensi-
bilitatsstorung.
Leichte Pulsbeschleunigung. Geringe periphere Arteriosklerose.
Unter8uchung in der Augenklinik.
Beiderseitige Opticusatrophie. Rechts blind, links Finger in 1 m.
Gesichtsfeldaufnahme nicht moglich.
Pupillen beiderseits mittelweit; vom rechten Auge keine Reaktion
auszulosen, nur konsensuell vom linken; Reaktion links nur direkt, nicht
konsensuell.
Ophthalmoskopisch: Papille beiderseits schmutzig weiB, Grenzen
leicht verwaschen, Tiipfelchen der Lamina cribrosa nicht zu erkennen;
GefaBe, besonders Arterien diinn.
Untersuchung in der Ohrenklinik.
Beiderseits polypose Entartung der mittleren Muschel und des Sieb-
beins. Verdacht auf tiefliegende Eiterung.
Wa88ermann negativ.
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Klieneberger, Opticusatrophie
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Dritte Beobachtung.
Auguste Sch., Kaufmannsfrau, 50 jahrig. 2. XII. 1912.
Seit etwa 3 Jahren links blind, rechts seit Sommer 1912 Abnahme
des Sehvermogens.
Miidigkeit iiber den Augen. Friiher, als junge Frau, of ter Kopf-
schmerzen, meist in Stim und Augen; jetzt nur noch ab und zu, wenn
Schlaf schlecht. Herzschmerzen. Lungenkatarrh.
Seit 2 Jahren ab und zu Schwindel; jetzt manchmal rechts Ohren-
sausen.
Gedachtnis etwas nachgelassen.
Gesunde Kinder; 1 Fehlgeburt.
Himnerven ohne Besonderheiten.
Sehr lebhafte Sehnen- und Periostreflexe; linker Patellarreflex noch
lebhafter als rechts.
Keine Storungen, die auf Lasion der Pyramidenbahnen hindeuten.
Sensibilitat +• Keine Ataxie, kein Romberg.
Keine Adiadocliokinesis.
MajBige periphere Arteriosklerose.
Was8ermann mafiig stark positiv.
Untersuchung in der Augenklinik.
Genuine Opticusatrophie beiderseits, links > rechts, mit kon-
zentrischer Gesichtsfeldeinschrankung fiir Farben bis auf 5—10 Grad.
Pupillenreaktion: rechts starr, links paradox.
UrUersuchung in der Nasenklinik.
Hypertrophie der Schleimhaut. Beide unteren und beide mittleren
Muscheln sind nicht unerheblich hypertrophisch. Eiter rhinoskopisch
nicht nachweisbar, auch ergibt die Rontgenaufnahme keinen Anhalt dafiir;
jedoch konnte es sich um einen serosen Ergufi im Keilbein und Siebbein
handeln, wie es bei derartigen hypertrophischen Prozessen mit behindertem
Sekretabflufl zur Beobachtung kommt.
Da sich keine andere Ursache fiir das Augenleiden fand, wurde einige
Tage spater eine Eroffnung der Nebenhohlen vorgenommen. Diese ergab
weder in den hinteren Siebbeinzellen noch der Keilbeinhohle eine Eiterung
oder ein schleimiges Exsudat, vielmehr zeigten sie sich vollig frei und
lufthaltig.
Bei alien drei Kranken handelt es sich um im Beginn des
Seniums bezw. bereits im Senium stehende Frauen, bei denen
ohne sonstige grobere, auf organische Lasionen hinweisende
Storungen eine allmahlich und teilweise bis zur Erblindung fort-
schreitende Abnahme des Sehvermogens sich eingestellt hat.
Die Kranke M. ist angeblich bereits vor langen Jahren im Wochen-
bett voriibergehend blind gewesen, vermutlich hat sie zugleich
an einer Thrombose der Beinvenen gelitten; um was es sich aber
damals gehandelt hat, laBt sich heute nicht mehr feststellen.
Sie hat angeblich seitdem nicht mehr ordentlich gesehen; die
Sehkraft hat sich aber seit 2—3 Jahren (1905—1906) weiterhin
verschlechtert, so daB sie dessentwegen 1908 die Augenklinik
aufgesucht hat. Es besteht bei ihr eine sehr hochgradige Seh-
schwache, links noch mehr als rechts; ob sich diese nach und
nach oder beiderseits gleichzeitig entwickelt hat, ist nicht zu
entscheiden. Bei den beiden anderen Kranken hat das Sehvermogen
erst auf dem einen Auge ganz allmahlich abgenommen, nach
Jahren hat sich dann auch die Sehkraft des anderen Auges all-
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bei Gehirnarteriosklerose.
523
mahlich fortschreitend verschlechtert. Die ophthalmoskopische
Untersuchung ergibt bei alien das Bild der einfachen genuinen
Atrophie. Es fehlen bei den drei Kranken weiterhin in der
Anamnese sowohl wie im Befund Storungen, die auf eine irgendwie
ernstere organische Himerkrankung hinweisen. Von eventuell als
organisch imponierenden Symptomen besteht nur bei der Kranken
Sch. eine geringe Differenz der Patellarreflexe, bei der Kranken M.
eine geringe Deviation der Zunge; aber diese Abweichungen sind
kaum gam sicher und zudem so gering, daB ihnen eine besondere
Bedeutung nicht beigemessen werden kann. Hingegen sind den
Kranken gemeinsam vereinzelte allgemein nervose Beschwerden
leichter Art, wie wir sie in der Regel bei beginnenden Himarterio-
sklerotikem antreffen, teils mehr, teils weniger ausgepragt, wie
Schwindel, Kopfschmerz, Storungen von seiten des Herzens
(Herzklopfen, Herzschmerzen, Beangstigungen), ziehende und
reiBende Schmerzen im Korper, leichte Ermiidbarkeit und Ab-
nahme des Gedachtnisses, sowie objektive Storungen von seiten
des GefaBsystems: die Kranke Sch. zeigt eine maBige periphere
Arteriosklerose, die Kranke A. dazu noch eine leichte Puls-
beschleunigung, die Kranke M. einen kleinen nicht regelmaBigen
Puls, VergroBerung des Herzens und Unreinheit der Tone.
Bei dem Fehlen aller objektiv nachweisbaren Storungen seitens
des Zentralnervensystems, die uns den Befund der Opticusatrophie
auch nur einigermaBen erklaren konnten, imd in Anbetracht der
langsamen, allmahlich fortschreitenden Erblindung ohne andere
als allgemein nervose, vermutlich arteriosklerotische Beschwerden
leichter Art bei geringen arteriosklerotischen Storungen seitens
des GefaBsystems lag es nahe, daran zu denken, ob nicht auch
die Erblindung selbst vielleicht arteriosklerotisch bedingt sein
konnte; und zwar kame hier die Sklerose der Carotis und der
Arteria ophthalmica in Betracht, sei es, daB diese durch Druck
komprimierend auf den Nerven einwirken, sei es, daB sie ihn durch
ungeniigende Emahrung schadigen. Andere organische Erkran-
kimgen des Nervensystems konnten jedenfalls auf Gnmd der
Entwicklung, des Verlaufs und des Befundes, sowie in Hinsicht
auf das Alter der Patienten ausgeschlossen werden. Selbst bei
der Kranken Sch., bei der die serologische Untersuchung des
Blutes ein positives Ergebnis gezeigt hatte, lagen in Anbetracht
des jahrelangen schleichenden Verlaufs bei sonst normalem Befund
keine Anhalt spunkte vor, die Erblindung etwa als post- oder
metasyphilitisch aufzufassen, nur muB man hier daran denken,
daB die luetische Infektion vielleicht die Ursache fur eine relativ
friihzeitige Arteriosklerose darstellt. Auch eine Erkrankung der
Nebenhohlen lag, wie die Untersuchung bei M. und Sch. fest-
stellte, nicht vor; auch bei A. ist sie wenig wahrscheinlich, selbst
wenn sie bestande, wiirde sie den Befund kaum restlos erklaren,
um so weniger, als gerade diese Kranke eine allgemein psychische
und korperhche Schwerfalligkeit zeigt, wie sie fiir Arteriosklerose
•charakteristisch ist. Es bleibt somit die Diagnose Arteriosklerose,
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524
K lieneberger, Opticusatrophie
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und in der Tat ist das Vorkommen von Erblindung bei Him-
arteriosklerose, wenn auch nicht in der neurologischen, so doeh
in der ophthalmologischen Literatur, beschrieben. — Oppenheim 1 )
erwahnt nur ,,eine senile Form der Atrophia nervi optici“; „in
einer langlebigen Familie betraf das in hoHem Grade auftretende
Leiden mehrere Familienmitglieder“. Vielleicht sind diese Falle
hierher zu rechnen. — So schreibt Fuchs in seinem Lehrbuch
der Augenheilkunde, daB bei alten Leuten zuweilen eine nicht
entziindliche Sehnervenatrophie leichten Grades vorkommt, welche
durch die atheromatose Erkrankung der Carotis interna und der
Arteria ophthalmica verursacht wird. Die ,,starrwandig ge-
wordenen GefaBe bringen dann den Sehnerven, welchem sie in
einer gewissen Ausdehnung unmittelbar anliegen, durch Druck
zum teilweisen Schwund“. Ausfiihrliche Mitteilungen finden
sich bei Liebrecht 2 ) und bei Wilbrandt 3 ) und Sanger*). Liebrecht
faBt die bis 1902 erschienene Literatur zusammen und kommt
auf Grund dieser sowie eigener, vorwiegend anatomischer Unter-
suchungen zu dem Schlusse, daB die Arteriosklerose den Sehnerven
in einem viel haufigeren Mape und in einem viel hoheren Grade
schddigt, als bisher angenommen wurde. Von seinen weiteren SchluB-
folgerungen mochte ich zwei hier anfiihren, die mir besonders
wichtig und prinzipiell bedeutimgsvoll scheinen:
1. Die Schadigung des Sehnerven durch Arteriosklerose erfolgt
nicht, wie gewohnlich angenommen wird, im knochemen Canalis
opticus, da die A. ophthalmica hier schon in die Duralscheide
des Sehnerven eingetreten ist und keinen Druck mehr ausiiben
kann. Wohl aber kann der Druck an drei anderen Stellen erfolgen.
Am haufigsten findet die Schadigung statt in der Fortsetzung
des knochemen Kanals nach der Schadelhohle zu, in dem fibrosen
Teile des Kanals, durch das Einbohren der A. ophthalmica in den
Sehnerven der Langsrichtung nach. Eine zweite Stelle ist der
obere scharfkantige Rand des fibrosen Kanals nach der Schadel¬
hohle zu, an dem der Sehnerv durch die aufsteigende Carotis
breit abgequetscht wird, und die dritte.liegt in der Mitte zwischen
Kanal und Chiasma, dem Orte, wo sich Carotis und A. cerebri
anterior unterhalb und oberhalb des Sehnerven kreuzen.
2. Die Atrophie des Nervengewebes ist anfangs eine reine
Druckatrophie, die sich deszendierend bis zur Nervenfaserschicht
des Auges und aszendierend bis zum Chiasma fortpflanzt. Zu der
Druckatrophie gesellen sich im Verlaufe der Erkrankung sekundar
Bindegewebswucherung und GefaBneubildung.
Ueber die Schadigung der Funktion des Sehens liegen nach Lieb¬
recht noch keine sicheren Beobachtungen vor. Doch ist er geneigt,
,,auch hochgradigeHerabsetzung der Sehscharfe mit ausgesprochener
Atrophie, fiir die keinerlei Ursache auch bei genauer Untersuchung
1 ) Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 5. Aufl.
2 ) Arch. f. Augenheilk. 1907.
3 ) Wilbrandt und Saenger, Neurologic des Auges.
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bei Gehirnarteriosklerose.
525
cles Nervensystems nachzuweisen ist“ . . . „auf Einwirkung der
Arteriosklerose zu beziehen“. Auch nach Wilbrandt-Saenger kann
die Druckatrophie des Sehnerven und des Chiasmas mit dem
ophthalmoskopischen Bild der einfachen Atrophie der Papille
wie durch Tumoren an der Basis und durch Aneurysmen der
Carotis interna, so auch durch Druck arteriosklerotischer Gref a Be
auf den Nerven oder durch Abschnurung desselben durch arterio-
sklerotisch veranderte GefaBe bedingt werden, abgesehen davon,
daB die Opticusatrophie auch durch eine vollstandige oder an-
dauernd ungeniigende Ernahrung des Sehnerven bei GefaBerkran-
kungen, namentlich bei Arteriosklerose, hervorgerufen werden
kann. Wilbrandt-Saenger stellen noch einmal die schon vonLiebrecht
gebrachte und die seitdem neu hinzugekommene Literatur zu-
sammen, zu der sie einige eigene Beobachtungen hinzufiigen,
Beobachtungen, die auch zum groBen Teil anatomisch erhartet
sind. Die Hauptschadigung des Opticus erblicken Wilbrandt und
Saenger nicht in dem Druck, der durch die arteriosklerotisch ver¬
anderte Carotis ausgeubt wird, sondern weit mehr in der Er-
nahrungsstorung, welche durch die arteriosklerotisch veranderten
kleinen GefaBe bedingt wird, die von der Carotis interna aus direkt
den intrakraniellen Sehnerven ernahren. Sie stiitzen sich dabei
auf die Untersuchungen von Alzheimer 1 ), der dargetan hat, daB
es offenbar nicht zu einem volligen VerschluB des Arterienrohres,
sondern zu einer sehr hochgradigen Verengerung kommt. Am
ehesten leidet darunter nach Alzheimer das nervose Gewebe, das
offenbar die hochsten Anforderungen an die Ernahrung stellt.
Es verandert sich regressiv und verfallt schlieBlich dem Untergang,
wahrend das Stiitzgewebe noch zur Wucherung angeregt wird
(perivaskulare Gliose).
Mit den Ausfiihrungen von Liebrecht , Wilbrandt und Saenger
decken sich unsere Ueberlegungen im wesentlichen,und die Diagnose
der Hirnarteriosklerose scheint uns demnach auch in unseren
Fallen von Opticusatrophie berechtigt.
Jedenfalls kann an dem Vorkommen von einfacher Opticus¬
atrophie bei cerebraler Arteriosklerose nicht gezweifelt werden,
und ganz abgesehen von dem klinischen Interesse, das solche
Falle bieten, diirfte der Hinweis darauf auch aus therapeutischen
Gresichtspunkten geboten sein, da es doch immerhin moglich sein
kann, durch entsprechende MaBnahmen das Fortschreiten der
Sehschwache bezw. des zugrundeliegenden arteriosklerotischen
Prozesses zu verhiiten.
J ) Die Seelenstorungen auf arteriosklerotischer Grundlage. Referat
auf der Jah res versa rmnlung des Vereins der Deutschen Irrenarzte. AUg*
Ztschr. f. Psych. 1902.
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526
Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.
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(Aus der Nerven- und psychiatrischen Klinik der Universitat Kolozsvar.
[Direktor: Hofrat Prof. Dr. K. Lechner.])
Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.
An der Hand von Verwertung
der Neumann- und Hermannschen Reaktion.
Von
Dr. L. BENEDEK,
Assistant.
Die Veranderung des Blutchemismus bei Paralyse liefert im
Laufe der letzten Jahre durch die Untersuchung der Alteration
des lipoiden Stoffwechsels neue Daten. Wahrend nun einerseits
die Annahme der allgemeinen Stoffwechselstorung — als Wesen
der Krankheit — auch die lipoide Dekomposition verstandlich
machen wiirde, regt sie andrerseits gerade in Bezug auf die Blut-
ver&nderungen zur Aufsuchung neuer Exponenten an. Die Ab-
nahme der Alkalizitat des paralytischen Blutes (Lambranzi,
Bor stein), das Schwinden seiner bakteriziden Kraft (Idelsohn
1899), seine gesteigerte Toxizit&t ( dA’bundo ), das Vorhandensein
solcher Stoffe im Serum, die die Verminderung der Resistenz der
roten Blutkorperchen Blutgiften gegeniiber hervorrufen (was
Dealc und Verf. im ,,Orvosi Hetilap", 1912, No. 30, 31, 32, an Tier-
experimenten nachgewiesen hat) usw. sind als Abweichungen be-
funden worden. Hierzu kommt noch der Befund von Mott (Arch,
of Neurology, 1902, Vol. II), wonach sich das Cholin im Blute von
Paralytikem angehauft hat, was Mott aus dem Zerfallen des Nerven-
gewebes erklart. Peritz hingegen fand denLecithingehalt desBlutes
vermehrt (in 31,8 pCt.: 2,6—2,9proMille; in 40,9 pCt.: 3proMille
und dariiber, in 11,4 pCt. hat er einen niederen Wert als den nor-
malen bekommen: bis zu 1,3 pro Mille). Bei der Bestimmung des
Lecithin verfuhr er nach Glikin, dessen Methode indessen nicht
ganz zuverlassige Resultate liefert. Von seinen Resultaten aus-
gehend sieht Peritz den Grund der Paralyse gerade in dem durch
Luestoxine hervorgerufenen Lecithinverlust. Desgleichen hat er
und Borstein die Lecithinarmut des Rnochenmarkes und des
zentralen Nervensystems nachgewiesen. Privatdozent Dr. Elfer
machte mich auf die Arbeiten von J. Neumann und E. Hermann
aufmerksam, desgleichen war er so liebenswiirdig, meiue Resultate
im Anfange zu kontrollieren, wofiir ich ihm auch an dieser Stelle
danke. Diese Verfasser fanden zwischen der Tatigkeit der Ovarien
und dem Cholesterin-Ester-Inhalt des Blutes eine standigeRelation.
Aus der gesteigerten Anhaufung des letzteren bei graviden Frauen,
imd zwar nach dem 3. Monat bis zum Kindbett in immer erhohterem
MaBe, gestaltete sich die von ihnen inaugurierte Graviditats-
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Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.
527
reaktion (vergl. J. Neumann und E. Hermann, Biologische Studien
iiber die weibliphe Keimdruse. Wien. klin. Woch., 24, 411, 1911).
Bei Eklampsie ist die Reaktion besonders ausgepragt. Es ist eine
allgemein bekannte Tatsache, dab Lipoidamie noch bei Diabetes,
chronischem Alkoholismus und bei Arteriosklerose vorkommt. Die
Anfalle von Eklampsie, das diabetische Koma, Alkoholepilepsie,
senile Veranderungen fiihrt Kraepelin als Analogiebeweis daiiir
an, dab die Paralyse eine allgemeine Stoffwechselstorung sei. Und
wenn bei diesen das Vorhandensein von Cholesterin-Esteramie
beziehungsweise im allgemeinen von Lipoidamie erwiesen ist, so
ist schon von diesem Standpunkte aus das gesteigerte Interesse
begriindet, welches die Forschungen der Lipoiden des paralytischen
Blut£s verfolgt. Die Hermann und Neumannsche qualitative Reak¬
tion ist in ihrer Ganze wie folgt: Defibriniertes Blutserum schiitteln
wir im Verhaltnisse von 1 : 10 mit 95 proz. Alkohol gut durch-
einander und lassen es 24 Stunden stehen, dann zentrifugieren oder
filtrieren wir den Niederschlag und setzen dem wasserklaren alkohol-
haltigen Extrakt ein wenig destilliertes Wasser, diinnen Alkohol,
salzsauren Alkohol, konzentrierte Schwefelsaure, konzentrierte
Salzsaure zu, worauf sofort eine starke Triibung entsteht. Das
ebenso praparierte Blutextrakt der Leibesfrucht hingegen gibt
mit alkoholhaltigem Platinchlorid einen ahnlichen Niederschlag.
Wahrend die Verfasser auf das besondere Verhalten des Leibes-
fruchtblutes wegen der problematischen Emahrungsverhaltnisse
des Embryos nicht genauer eingehen, bringen sie die fiir das miitter-
liche Blut charakteristische und auch vom Standpunkte der ge-
richtlichen Medizin fiir wertvoll gehaltene Reaktion durch ein-
gehende experimentelle Untersuchungen mehrfach in Zusammen-
hang mit der inneren Sekretion der Ovarien; in Bezug auf das
Wesen der Reaktion nun gelangen sie zu dem Resultate, dab sie,
wie ich schon erwahnte, durch das Vorhandensein von Cholesterin-
Ester bedingt ist.
Den obigen Mitteilungen fiigt Fraenkel die Bemerkung hinzu,
wonach unter dem gestandenen Blute der graviden Frauen beson¬
dere Kristalle, n&mlich Cholesterin-Ester, sein konnen.
Ich habe die Reaktion in insgesamt 95 Fallen mit dem Blute
von 87 verschiedenen Individuen gemacht: in 38 Fallen mit dem
Blute von 32 verschiedenen Individuen, die an Dementia paralytica
progressiva litten, von diesen war in 2 Fallen chronischer Alkoho¬
lismus mitParalyse kombiniert, 3mal bei Paralysis incipiens, ISmal
mit Blutserum von Normalen, in 15 FaUen mit luetischem Serum
(teils primar, teils sekimdar und latent), das der Wassermann-
Reaktion gegeniiber ein starkes Hindernis bildete — and schlieb-
lich von zusammen 19 Graviden und Gebarenden — insgesamt in
6 Serien. Die luetischen Seren habe ich von den Kranken des
Priv. Doz. Vere/3, die gynakologischen Falle von hiesiger Klinik
mir verschafft, weshalb ich dem Direktor des Institute, Herm
Hofrat Prof. Dr. Dyonisius Szabo und dem Assistenten Herrn
Maluschowszky zu Danke verpflichtet bin. Die iibrigen Falle
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528
Benedek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.
lieferte unser Institut. Ich trachtete danach, daB die BJutabzapfung
tunlichst in der Friihe vor der Nahrungsaufnahme geschahe; diese
Vorsorge ist deshalb notwendig, daB die alimentare Iipoide An-
haufung die Reaktion moglichst nicht store; obgleich zwar weder
die Dauer der letzteren, noch ihr Verlauf nach der letzten Nahrungs¬
aufnahme und auch im allgemeinen die lipoiden Inhaltsschwan-
kungen im normalen und individuellen Blute (Goldschmidt) nicht
entsprechend untersucht sind, so haben unsere Anordnungen
dennoch die einzelnen Individuen in dieser Beziehung in nahezu
ahnlichen Umstanden gruppiert. Bei dem Krankenmaterial unserer
Anstalt, sowie bei dem in den meisten Fallen das normale Blut
verabreichendenPflegepersonal stieB dies auf keineSchwierigkeiten,
vielmehr habe ich bei einzelnen Kranken, bei denen die Reaktion
sehr stark ausgepragt war, den Zeitraum nach der letzten Nahrungs¬
aufnahme sogar auf 20 Stunden ausgedehnt, indem ich den Kranken
bis zur Blutabzapfung in sorgfaltigster Absonderung hielt. Aber
auch in den anderen Fallen geschah die Blutabzapfung hochstens
nach dem Friihstiick, was sich auch Peritz bei seinen Lecithin-
untersuchungen erlaubte. Zur Ausflockung habe ich alle fiinf
obigen Reagentien angewandt. In der ersten, aus 8 Gliedem be-
stehenden Versuchsreihe war das Resultat ein auffalliges; es er-
gaben namlich die Alkoholextrakte von 4 paralytischen Blutseris
drei die Reaktion gut ausgepragt, eines blieb vollkommen klar,
genau so, wie das Serumextrakt des 4. normalen Individuums.
Hiemach befleiBigte ich mich groBerer Genauigkeit und arbeitete
in den folgenden Fallen desVergleichs halber mit gleichen Gewichts-
quantitaten und mit gleichen Volumina. Wenn dies Verfahren
meine Hoffnungen auch nicht erfiillte, so lieferte es immerhin
sehr interessante Daten.
Als Extraktionsmittel habe ich auBer 95proz. Alkohol: lOproz.
Chloroformalkohol, 5 proz. Petrol&ther, lOproz. Atheralkohol ge-
braucht. AuBer dem Serum habe ich auch Extrakte gemacht mit
4—5 fach ausgewaschenen roten Blutkorperchen, ganz und gar
nur mit Blut, mit Blutkorperchen und mit Fibrin (jedesmal im
Verhaltnis von 1: 10). Zur Ausflockung benutzte ich destilliertes
Wasser, diinnen Alkohol, konzentrierte Schwefelsaure und kon-
zentrierte Salzsaure. Die Reaktion habe ich im allgemeinen so
gemacht, daB ich zu einem Kubikzentimeter Extrakt tropfenweise
0,75—1,5 ccm des Ausscheidungsmittels hinzugab, in welchem Falle
am Grunde des Probierglaschens bei ausgesprochener Reaktion
schon nach Hinzuftigung von nur 0,35 ccm eine wolkenartige
Triibung entstand, welche sich langsam nach oben und binnen
1—2 Minuten sich langsam auf den ganzen Inhalt ausbreitete.
Mit konzentrierter Schwefel- und Salzsaure bin ich auBerdem
auch so verfahren, daB ich das Extrakt schichtete, darauf
Schwefel- bezw. Salzsaure im Gehalt von 0,75—1 ccm goB, worauf
sich nach abw&rts ein scharf abgegrenzter Ring bildete, welcher sich
nach oben hin in unregelmaBigen Knauelformen nach der Ober-
flache der Fliissigkeit zu ausbreitete. Des Vergleichs halber habe
ich die Probierglaschen nach 2 Minuten durcheinandergeschiittelt.
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Gougle
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Bencdek, Lipoiden im Blutserum bei Paralyse.
529
Beziiglich der Geschwindigkeit und der Starke des Erscheinens
des Niederschlages unterschied ich 4 Grade, die ich mit dem
iiblichen + bezeichne.
Die samtlichen Resultate beziehen sich auf die Triibungen in
den ersten 3 Minuten. Die in einem ausgepragten Falle wahrend
dieser Zeit entstandene Niederschlagsquantit&t nimmt in der Regel
sowieso nicht mehr zu. (Geringer gradige werden nur nach y 2 - bis
1 stiindigem Stehen ausgepragter.) Es ist eine eigentumliche Er-
scheinung, daC in einigen Fallen der mit dem Normalserum sich
ergebende + -> + + -Niederschlag im Verhaltnis von 2:10 extrahiert
zu einer minimalen Triibung zusammengeschrumpft ist, wahrend
sie sich bei Paralyse zu + + + oder gar + + + + steigerte.
Tabelle I.
530
Benedek) Lipoiden m Blutserum bei Paralyse.
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Nach der 2. Tabelle fehlt — obzwar sie sich auch nur auf ver-
haltnismaBig wenigeFalle bezieht — jene Steigerung der Beaktions-
starke, welche nach Hermann und Neumann in Bezug auf das
miitterliche Blut mit der Geburt aufhort; wir sehen namlich, daB
wfihrend schon bei 7 monatig Graviden die Starke + + + +ig ist,
bekommen wir im 9. Monat und auch nach der Geburt noch
+ + +ige Triibungen. Das aus der Nabelschnur herausgepreBte
Blut reagiert weniger, wahrend es mit 5 proz. alkoholhaltigem
Platinchlorid sehr starke Triibungen ergibt.
Im Verhalten des Extraktes von roten Blutkorperchen habe
ich zwischen den krankhaften und normalen Fallen, sowie hinsicht-
lich der iibrigen oben aufgezahlten Extraktionsmittel innerhalb der
einzelnen Gruppen keinen standigen und wesentlichen Unterschied
gefunden. (Hier muB ich bemerken, daB ich in mehreren Fallen
Gelegenheit hatte, zu erfahren, daB die roten Blutkorperchen der
Paralytiker nach Behandlung mit absolutem Alcohol, aether, sulf.
(90 : 10) mit 10 proz. Alkohol ein reichen Niederschlag gewahrendes
Extrakt geben.)
Ich muB hervorheben, daB auBer dem erwahnten in 3 Fallen
aus der Nabelschnur herausgepreBten Blutextrakte weder das
Blutserumextrakt der Paralytiker, noch das der Normalen, noch
das von luetischen Individuen je eine Platinchloridreaktion ge-
geben hat, mit einem Wort, sie verhalten sich in dieser Hinsicht
so wie die miitterlichen Blutsera.
Die Cholesterin-Ester der hoheren Fettsauren im Blute der
Saugetiere hat zuerst Hurthle gefunden, bevor noch im Jahre 1833
isolierte Boudet die fettsauren Ester aus dem Blute unter dem
Namen Serolin (siehe Hoppe-Seyler, Handbuch d. ph. u. p. chem.
Analyse, 318—319). Im Blutserum des Hundes kommen die
Cholesterin-Ester nach Liebreich im Prozentsatze von 0,12—0,22
vor. Beziiglich der Eigenschaften der Cholesterin-Ester, ihrer
Herstellung, ihrer Verhaltnisse, unter denen sie bei krankhaften
Zustanden vorkommen, verweise ich auBer auf Hoppe-Seyler auch
auf die Werke von Bang (Chemie und Biochemie der Lipoide
20—27) und Aschoff (Beitr. z. path. Anat. u. z. allg. Path., 47.1909).
Es gelang mir sowohl aus den Extrakten der Schwangeren als
auch aus denen der Paralytiker, insofem sie eine ausgepragte
Beaktion ergaben, denen von Fraenkel beschriebenen ahnliche
Kristalle herzustellen.
Zuriickkehrend auf die Besultate, kann es nicht meine Absicht
sein, weiterzugehen als bis zur Festnagelung dessen, daB 1. die
Cholesterin-Ester im Blute einer groBen Zahl von paralytischen
Kranken im Vergleiche zu dem Normaler in gesteigerter Menge
enthalten sind; und 2. daB die Hermann-Neumannsche Graviditats-
reaktion zum Zwecke der Differenzierung nur mit Vorsicht ver-
wertet werden kann; andemteils ist sie auch in nicht so enger
Belation mit der Tatigkeit der Ovarien (hier mit der Progression
der Graviditat), wie das ihre Beschreiber behaupteten.
Got igle
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Buohanzoigm.
631
Buchanzeigen.
A. Hoehe, Dementia paralytica . Handbook der Psychiatric. Wien 1912.
Franz Deutioke.
Der geringe Umfang (73 Seiten) der Arbeit wird dadurob erklArt,
dab sich Verf. bei der Symptomatologie, Verlauf und Anatomie darauf
beschrAnkt, eine kurze Bars tell ung zu geben und im iibrigen auf die Unter-
suchungen von Kraepelin und Alzheimer verweist. In den Mittelpunkt der
Darstellung ist die Erorterung von der Ursache und dera Wesen der Paralyse
geriickt. Dabei wendet Verfasser die allergrobte kritische Vorsicht an. So
verweist er z. B. auf die groben Fehlerquellen bei den Statistiken hin, die
iiber die Paralyse bei fremden StAmmen bestehen. Verf. bekennt sioh zu
der Vorstellung, dab bei der Paralyse mit der Anwesenheit von SpirochAten
im Korper zu reohnen sei, die aus irgendwelchen Grlinden in wechselnder
Stflrke Gifte in den Kreislauf gelangen lassen und so die chronischen Gewebs-
verAnderungen hervorrufen. Die Klarheit der Frageetellung und die fliebende
Darstellung sind als besonders riihmenswert hervorzuheben.
Kutzinski.
Spielmeyer, Die Psychosen des Ruckbildungs - und Oreisenalters . Handbook
der Psychiatric. 1912.
Verfasser versuoht auf Grund der pathologischen Anatomie eine Ab-
grenzung der einzelnen klinisehen Krankheitsbilder zu geben. Die einfache
senile Demenz, die Presbyophrenic, die Alzheimereche Krankheit, die arterio-
sklerotisohen Seelenstorungen in ihren einzelnen Unterformen, femer
ungewohnliche organische Psychosen, bei denen schwere RindenverAnde-
rungen beobachtet werden, die an Sp&tkatatonie erinnemden Krankheits¬
bilder werden anatomisch eingehend besprochen, dabei mub bei unserer
liickenhaften Kenntnis der differentialen Momente die klinische Schilderung
naturgemab in den Hintergrund treten. In dem Abschnitt funktionelle
Psychosen des hoheren Lebensalters findet die Melancholic des Riickbildungs-
alters und der prAsenile BeeintrAchtigungswahn eine kurze Darstellung.
Insgesamt gibt uns die Arbeit einen klar orientierenden Ueberblick iiber
den Stand der derzeitigen strittigen Fragen. Kutzinski .
Vorkastner, Wichtige Entscheidungen auf dem Oebiete der gerichtlichen
PsychicUrie. XI. Folge. Halle a. S. 1912. Carl Marhold. 1,00 Mk
Verfasser gibt eine aus der juristisehen Literatur der Jahre 1910 und
1911 zusammengestellte Sammlung von Entscheidung des Reichsgeriohts
und der Oberlandesgerichte aus dem Gebiet des Strafgesetzbucl: as, der
Strafprozebordnung, des Milit&rstrafgesetzbuches, der Milit&r- Strafgesetz-
ordnung, des Biirgerlichen Gesetzbuches, der Zivilprozebordnung, des Haft-
pflichtgesetzes, der Gewerbeordnung, des Gesetzes betreffend die dem
Medizinalbeamten fur die Besorgung arztlicher uefw. GeschAfte zu gew&hrende
Vdrgiitung, der Gebiihrenordnung und des Versicherungsrechtes. Neben der
gerichtlichen Psychiatric sind auch Entscheidungen in Fragen von allge-
raeinem Arztlichem Interesse beriioksichtigt, u. a. Berechtigung zur Vor-
nahme einer Operation, Haftpflicht des Arztes fur Korperverletzung infolge
vonKunstfehlern,EntschAdigungspflicht nach U nf&llen, Beeidigung und Ent-
schAdigung des SachverstAndigen. Seelert .
Laquer, Die Qrofistadtarbeit und ihre Hygiene . Marhold. 1,00 Mk.
In zwangloser Form, der auch Ausblicke in die Vergangenheit und in
andere LebensverhAltnisse, wie die Tropen, nicht femliegen, wird besonders
auch die Kopfarbeit des GrobstAdters besprochen. Luftverderbnis und ihre
BekAmpfung, GartenstAdte, die Nahrung, die beste Art und Zei t der Mahl-
zeiten, wobei die englische Tischzeit empfohlen wird, friihzeitiger GeschAfts-
schlub, „Wochenende“, BekAmpfung des Alkoholismus seien als Einzelpunkte
genannt. Verfasser meint, dab die Grobstcultarbeit doch weit mehr Kultur-
werte schaffe, als sie seelische zorstore.
Mon&tMchrift f. PsjohUtrie n. Nenrolofrle. Bd. XXX IQ. Heft 6. 35
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532 Buchanzeigen.
Wilhelm, Operationsrecht des Antes und EinuHUigung des Patienten in der
Rechtspflege. Berlin. Adler-Verlag. 1,00 Mk.
Verf. bespricht kurz die Theorien, geht dann ausfiihrlicher auf die
Recht&prechung bei einigen Fallen ein, in denen die Zustimmiing des Fat.
oder semes gesetzlichen Vormundes fehlte. Er lehnt die Auffassung des ftrzt-
iichen Eingriffs als Korperverletzung ab und fordert fiir die lex ferenda eine
besondere Regelung.
M&rcinowski, Nervositdt und Weltanschauung. 2. Aufl. Berlin O. Salle. 3 Mk.
Da Nervosit&t nach des Verfassers Ansicht groflenteils durch Konflikte
infolge der Zerrissenheit unserer Weltanschauung bedingt ist, sucht er dar-
zustellen, wie er in Form eines Gesprachs die seinige einem derartig Kranken
darlegt und ihn zu beeinflussen sucht. Es bleibt der Zweifel offen, ob die
berichteten Erfolge dieser Weltanschauung an sich, oder nicht vielmehr der
eingehenden, individuellen Beschaftigung mit dem einzelnen Kranken
zuzuschreiben sind. Haenisch.
R. Stern, Ueber korperliche Kennzeichen der Disposition zur Tabes.
Der Verf. macht mit der vorliegenden Arbeit den Versuch, durch das
klinische Studium des konstitutionellen Habitus der Tabiker und Para-
lytiker den endogenetischen Faktor fiir diese Erkrankungen konkreter zu
fassen und in den Bereich des Diagnostizierbaren zu ziehen. In Ueberein-
stiimmmg mit Autoren wie Ndcke , Joffroy , Obersteiner u. A. stellt Stern den
Satz auf, dafi Lues und eine spezifische Disposition Grundbedingungen fiir
eine Erkrankung an Tabes und Paralyse sind. Zu diesen beiden Grund¬
bedingungen kommt als auslosende Ursaehe eine Pathofunktion bestimmter
Blutdriisen mit innerer Sekretion liinzu. Diese drei atiologischen Faktoren
stehen untereinander in bestimmten genetischen Beziehungen: die Dispositio
paralytieans ist von vomherein mit der Chemie der Dysfunktion bestimmter
Blutdriisen verankert.
Verf. bespricht zunachst eingehend die in der Literatur niedergelegten
Beobachtungen iiber konstitutionelle Anomalien und innersekretorische
Storungen bei metaluetischen Erkrankungen. Es ergibt sich zunachst eine
Beziehung der Metalues zu dem infantilen imd asthenischen Habitus,
die ilirerseits in Beziehung zueinander stehen. Die angefiihrten Beob¬
achtungen iiber Storungen der inneren Sekretion erstrecken sich auf die
Keimdriise, Schilddriise, Hypophyse, Epithelkorperchen und Nebennieren.
Die Funktionsstorungen sind fiir die einzelnen Driisen bei Tabes und
Paralyse teils gleiehartig, toils entgegengesetzt. Aus dem letzten Umstande
erklart sich, dafi bei demselben asthenischen Habitus, der mit einer Unter-
funktion der Keimdriise verbunden zu sein scheint, je nach dem Verhalten
der anderen Blutdriisen das eine Mai eine tabische, das andere Mai eine
paralytische Erkrankung eintritt.
In dem zweiten Toil seiner Arbeit nimmt Verf. auf Grund seiner
eigenen Beobachtungen in dem Nervenambulatorium der v. Noordenachen
Klinik zu dieser Frage Stellung. Der Versuch einer konstitutionellen Grup-
pierung der imtersuchten Tabiker imd Paralytiker hat zu manchen inter-
essanten Beobachtungen gefiihrt: das verschiedene Verhalten der Wasser-
mannschtm Reaktion bei den verschiedenen Gruppen, die Beziehungen der
einzelnen tabischen Sy nip to me zu den verschiedenen Blutdriisen, aus denen
sich vielleicht brauchbare Anregungen fiir die Therapie ergeben konnen.
So anregend imd beachtenswert die mitgeteilten Beobachtungen auch
sind, so niiissen sie docli irn einzelnen — wie dies auch der Verf. selbst
hervorhebt — mit Vorsicht bewertet werden. Insbesondere die Schliisse, die
aus der Symptomatologie der Blutdriisenerkrankungen auf die Beziehungen
zwischen diesen und den verschiedenen Formen der Tabes und Paralyse
gezogen werden, erscheinen nicht iminer zwanglos. Schwarz.
Beriehtigung.
In der Arbeit yon Peritz, Hypophysenerkrankung soil es auf Seite 432
in dem Satz: Erst jiingst hat Simmonds einen Fall von Diabetes insipidus
in Verb indung mit Akroniegalie beschrieben; statt Aki omegalie H y p o -
p h ysenerkrankung heifien.
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Bd. XXXIII.
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Broach. M. 30,—. Eleg. geb. M. 32,50.
Zeitsehr. f. d. ges. Neurol, u. Psych.:.Im einzelnen aber finden
wir uberall eine Erg&nzung und Erweitenmg der Darstellung durch neuere
personliche Erfahrungen des Verf., wie auoh durch die Hineinarbeitung
der ganzen neueren Literatur. In der sorgsamen Registrierung und Be-
sprechung auch der Einzelbeobachtungen auf einem so groBen Gebiet hat
che vorliegende Monographic in der neurologischen Literatur kaum Analoga.
Dieser Charakter und die Verarbeitung der groBen personlichen Erfahrung
des Verf. machen das vorliegende Buch zu dem unentbehrlichen Grundwerk
iiber die Klinik der vasomotorisch-trophischen Neurosen.
Soeben ist erschienen:
Hysterie
Zur Frage Uber die Entstehung hysterischer Symptome
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Leiter der Nervenabteilung des Jttdischen Hospitals in Odessa.
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