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Charles Darwin,
über die
Charles Darwin,
über die
ENTSTEHUNG DER ARTEN
im Thier- und Pflanzen-Reich
durch
natürliche Züchtung.
Charles Darwin,
über die
ENTSTEHUNG DER ARTEN
im Thier- und Pflanzen-Reich
durch
natürliche Züchtung,
oder
Erhaltung, der vervollkommneten Rassen im Kampfe
um’s Daseyn.
Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern
Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe
aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen
von
Dr. H. &. Bronn.
— IH
Stuttgart.
E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung und Druckerei,
1860,
va
Vorrede des Verfassers. Seite 1.
Einleitung. 8. 7.
Erstes Kapitel. Abänderung durch Domestizität. S. 13.
Ursachen der Veränderlichkeit. Wirkungen (er Gewohnheit. Wechselbeziehun-
gen der Bildung. Erblichkeit. Charaktere kultivirter Varietäten. Schwie-
rige Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten. Entstehung kultivirter
Varietäten von einer oder mehren Arten. Zahme Tauben, ihre Verschie-
denheiten und Entstehung. Frühere Züchtung und ihre Folgen. Plan-
mässige und unbewusste Züchtung. Unbekannter Ursprung unsrer kultivirten
Rassen. Günstige Umstände für das Züchtungs- Vermögen des Menschen.
Zweites Kapitel. Abänderung im Natur-Zustande. S$. 50.
Variabilität. Individuelle Verschiedenheiten. Zweifelhafte Arten. Weit ver-
breitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variiren am meisten. Arten
grössrer Sippen in einer Gegend beisammen variiren mehr, als die der
kleinen Sippen. ' Viele Arten der grossen Sippen gleichen den Varietäten
darin, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind und
beschränkte Verbreitungs-Bezirke haben.
Drittes Kapitel. Der Kampf um’s Daseyn. S. 65.
Stützt sich auf Natürliche Züchtung. Der Ausdruck im weitern Sinne ge-
braucht. Geometrische Zunahme. Rasche Vermehrung naturalisirter Pflan-
zen und Thiere. Natur der Hindernisse der Zunahme. Allgemeine Mit-
bewerbung. Wirkungen des Klimas. Schutz durch die Zahl der Individuen.
Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur.
Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelwesen und Varietäten einer Art,
oft auch zwischen Arten einer Sippe. Beziehung von Organismus zu
Organismus die wichtigste aller Beziehungen.
Viertes Kapitel. Natürliche Züchtung. S. 85.
Natürliche Auswahl zur Züchtung; — ihre Gewalt im Vergleich zu der des
Menschen; — ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit: —
ihre Gewalt in jedem Alter und über beide Geschlechter. — Sexuelle Zucht-
VI
wahl. — Über die Allgemeinheit der Kreutzung zwischen Individuen
der nämlichen Art. — Umstände günstig oder ungünstig für die Natür-
liche Züchtung, insbesondere Kreutzung, Isolation und Individuen-Zahl. —
Langsame Wirkung. — Erlöschung durch Natürliche Züchtung verur-
sacht. — Divergenz des Charakters, in Bezug auf die Verschiedenheit der
Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation. — Wirkung der
Natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Ältern „durch Di-
vergenz des Charakters und durch Unterdrückung. — En ie die Gruppi-
rung aller organischen Wesen.
Fünftes Kapitel. Gesetze der Abänderung. S. 142.
Wirkungen äusserer Bedingungen. — Gebrauch und Nichtgebrauch der Or-
gane in Verbindung mit Natürlicher Züchtung; — Flieg- und Seh-Organe.
— Akklimatisirung. — Wechselbeziehungen des Wachsthums. — Kompen-
sation und Okonomie der Entwickelung. — Falsche Wechselbeziehungen.
— Vielfache, rudimentäre und wenig entwickelte Organisationen sind ver-
änderlich. — In ungewöhnlicher Weise entwickelte Theile sind sehr ver-
änderlich; — spezifische mehr als Sippen-Charaktere. — 'Sekundäre Ge-
schlechts-Charaktere veränderlic. — Zu einer Sippe gehörige Arten
variiren auf analoge Weise. — Rückkehr zu längst verlornen Charakteren.
-— Summarium.
Sechstes Kapitel. Schwierigkeiten der Theorie. S. 181.
Schwierigkeiten der Theorie einer abändernden Nachkommenschaft. — Über-
gänge. — Abwesenheit oder Seltenheit der Zwischenabänderungen. —
Übergänge in der Lebensweise. — Differenzirte Gewohnheiten in einerlei
Art. — Arten mit Sitten weit abweichend von denen ihrer Verwandten.
Organe von äusserster Vollkommenheit. — Mittel der Übergänge. —
Schwierige Fälle. — Natura non facit saltum. — Organe von geringer
Wichtigkeit. — Organe nicht in allen Fällen absolut vollkommen. — Das
Gesetz von der Einheit des Typus und den Existenz-Bedingungen enthalten
in der Theorie der Natürlichen Züchtung.
Siebentes Kapitel. Instinkt. S. 217.
Instinkte vergleichbar mit Gewohnheiten, doch andern Ursprungs. — Abstu-
fungen. — Blattläuse und Ameisen. — Instinkte veränderlich. — Instinkte
gezähmter Thiere und deren Entstehung. — Natürliche Instinkte des Kuckucks,
des Strausses und der parasitischen Bienen. — Sklaven-machende Amei-
sen. — Honigbienen und ihr Zellenbau-Instinkt. — Schwierigkeiten der
Theorie Natürlicher Züchtung in Bezug auf Instinkt. — Geschlechtlose
oder unfruchtbare Insekten. — Zusammenfassung.
Achtes Kapitel. Bastard-Bildung. S. 254.
Unterschied zwischen der Unfruchtbarkeit bei der ersten Kreutzung und der
Unfruchtbarkeit der "Bastarde. — Unfruchtbarkeit der Stufe nach veränderlich
nicht allgemein; durch Inzucht vermehrt und durch Zähmung vermindert. —
Gesetze für die Unfruchtbarkeit der Bastarde. — Unfruchtbarkeit keine
vil
besondre Eigenthümlichkeit, sondern mit andern Verschiedenheiten zu-
sammenfallend. — Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und
der Bastarde. — Parallelismus zwischen den Wirkungen der veränderten
Lebens-Bedingungen und der Kreutzung. — Fruchtbarkeit miteinander ‚ge-
kreutzter Varietäten und ihrer Blendlinge nicht allgemein. — Bastarde und
Blendlinge unabhängig von ihrer Fruchtbarkeit verglichen. — Zusammen-
fassung.
Neuntes Kapitel. Unvollkommenheit der Geologischen Über-
lieferungen. S. 288.
Mangel mittler Varietären zwischen den heutigen Formen. — Natur der erlosche-
nen Mittel-Varietäten und deren Zahl. — Länge der Zeit-Perioden nach
Maasgabe der Ablagerungen und Entblössungen. — Armuth unsrer paläon-
tologischen Sammlungen. — Unterbrechung geologischer Formationen. —
Abwesenheit der Mittel-Varietäten in allen Formationen. — Plötzliche
Erscheinung von Arten-Gruppen. — Ihr plötzliches Auftreten in den älte-
sten Fossilien-führenden Schichten.
Zehntes Kapitel. Geologische Aufeinanderfolge organischer
Wesen. S. 313.
Langsame und allmähliche Erscheinung neuer Arten. — Ungleiches Maass
ihrer Veränderung. — Einmal untergegangene Arten kommen nicht wieder
zum Vorschein. — Arten-Gruppen folgen denselben allgemeinen Regeln
des Auftretens und Verschwindens, wie die einzelnen Arten. — Erlöschen
der Arten. — Gleichzeitige Veränderungen der Lebenformen auf der gan-
zen Erd-Oberfläche. — Verwandtschaft ‚erloschener Arten mit andern fos-
silen und mit lebenden Arten. — Entwickelungs-Stufe aller Formen. —
Aufeinanderfolge derselben Typen im nämlichen Länder-Gebiete. — Zu-
sammenfassung des jetzigen mit früheren Abschnitten.
Eilftes Kapitel. Geographische Verbreitung. S$. 353.
Die gegenwärtige Verbreitung der Organismen lässt sich nicht aus den na-
türlichen Lebens-Bedingungen erklären. — Wichtigkeit der Verbreitungs-
Schranken. — Verwandtschaft der Erzeugnisse eines nämlichen Kon-
tinentes. — Schöpfungs-Mittelpunkte. — Ursachen der Verbreitung sind
Wechsel des Klimas, Schwankungen der Boden-Höhe und mitunter zufäl-
lige. — Die Zerstreuung während der Eis-Periode über die ganze Erd-
Oberfläche erstreckt.
Zwölftes Kapitel. Geographische Verbreitung (Fortsetzung). $. 387.
Verbreitung der Süsswasser-Bewohner. — Die Bewohner der ozeanischen
Inseln. — Abwesenheit von Batrachiern und Land-Säugthieren. — Be-
ziehungen zwischen den Bewohnern der Inseln und der urehsen Festlän-
der. — Uber Ansiedelung aus den nächsten Quellen und nachherige Ab-
änderung. — Zusammenfassung der Folgerungen aus dem letzten und dem
gegenwärtigen Kapitel. ”
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Dreizehntes Kapitel. Wechselseitige Verwandtschaft organischer
Körper: Morphologie; Embryologie; Rudimentäre Organe. $. 415.
Klassifikation: Unterordnung der Gruppen. — Natürliches System. —
Regeln und Schwierigkeiten der Klassifikation erklärt aus der Theorie der
Fortpflanzung mit Abänderung. — Klassifikation der Varietäten. — Abstam-
mung bei der Klassifikation gebraucht. — Analoge oder Anpassungs-Cha-
raktere. — Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlen-
förmige. — Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen. — Morpholo-
gie: zwischen Gliedern einer Klasse und zwischen Theilen eines Einzel-
wesens. — Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, dass Abänderung
nicht in allen Lebens-Altern eintritt, aber in korrespondirendem Alter ver-
erbt wird. — Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt. — Zu-
sammenfassung.
Vierzehntes Kapitel. Allgemeine Wiederholung und Schluss. $. 462.
Wiederholung der Schwierigkeiten der Theorie Natürlicher Züchtung. — Wie-
derholung der allgemeinen und besondern Umstände, zu deren Gunsten. —
Ursachen des allgemeinen Glaubens an die Unveränderlichkeit der Arten.
__ Wie weit die Theorie Natürlicher Züchtung auszudehnen. — Folgen
ihrer Annahme für das Studium der Naturgeschichte. — Schluss-Bemer-
kungen.
Fünfzehntes Kapitel. Schlusswort des Übersetzers. S. 495.
Eindruck und Wesen des Buches. — Stellung des Übersetzers zu demselben.
— Zusammenfassung der Theorie des Verfassers. — Einreden des Über-
setzers. — Aussicht auf künftigen Erfolg.
Vorrede des Verfassers”.
Ich will hier versuchen, eine kurze und sehr unvollkommene
Skizze von der Entwickelung der Meinungen über die Entstehung
der Species zu geben. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher
hat geglaubt, Arten seyen unveränderliche Erzeugnisse und jede
einzelne für sich erschaffen; diese Ansicht ist von vielen
Schriftstellern mit Geschick vertheidigt worden. Nur wenige
Naturforscher und Andre, welche aus der Naturgeschichte nie
ein besonderes Studium gemacht, glauben dagegen, dass Arten
einer Veränderung unterliegen, und dass die jetzigen Lebenformen
durch wirkliche Zeugung aus andern früher vorhandenen Formen
hervorgegangen sind. Abgesehen von den Schriftstellern der
klassischen Periode, so wie von Demamıer und Burron, mit deren
Schriften ich. nicht vertraut bin, war Lamarck der erste, dessen
Meinung, dass Arten sich verändern, Aufsehen erregte. Dieser
mit Recht gefeierte Naturforscher veröffentlichte seine Zoologie
philosophique im Jahre 1809 und seine Einleitung in die Natur-
geschichte der Wirbel-losen Thiere im Jahre 1815, in welchen
Schriften er die Lehre von der Abstammung der Arten von ein-
ander aufstellt. Er scheint hauptsächlich durch die Schwierigkeit
Arten und Varietäten von einander zu unterscheiden, durch die
fast ununterbrochene Stufenreihe der Formen in manchen Gruppen
und durch die Analogie mit unsren Züchtungs - Erzeugnissen zu
dieser Annahme geführt worden zu seyn. Was die Mittel betrifft,
wodurch die Umwandlung der Arten in einander bewirkt werden,
* Ri m. 2
dnkü bi Zugabe des Verfassers zur deutschen Übersetzung, veranlasst
urch die Bemerkungen des Übersetzers bei der ersten Anzeige dieser Schrift
BURN SUATUULIPNEET Mineralogie 1860, 112. Sie ist datirt von Down, Brom-
ley, Kent, im Februar 1860.
1
2
so schreibt er Einiges auf Rechnung der äusseren Lebens-Be-
dingungen, Einiges auf die einer Kreutzung der Formen und
leitet das Meiste von dem Gebrauche und Nichtgebrauche der
Organe oder der Wirkung der Gewohnheit ab. Dieser letzten Kraft
scheint er all’ die schönen Anpassungen in der Natur zuzu-
schreiben, wie z. B. den langen Hals der Giraffe, der sie in den
Stand setzt, die Zweige grosser Bäume abzuweiden. Doch nahm
er zugleich ein Gesetz fortschreitender Entwickelung an, und da
hiernach. alle Lebenformen fortzuschreiten gestrebt, so war er,
um von dem Daseyn sehr einfacher Natur-Erzeugnisse auch in
unsren Tagen Rechenschaft zu geben, noch eine Generatio spon-
tanea zu Hülfe zu rufen genöthigt *.
GEOFFROY Saınt-Hıraıre vermuthete, wie sein Sohn in dessen
Lebens-Beschreibung berichtet, schon ums Jahr 1795, dass unsre
sogenannten Species nur Ausarlungen eines und des nämlichen
Typus seyen. Doch erst im Jahre 1828 veröffentlichte er seine
Überzeugung **, dass sich die Formen nicht in unveränderter
Weise seit dem Anfang der Dinge fortgepflanzt haben. GEOFFROY
scheint die Ursache der Veränderungen hauptsächlich in dem
»Monde ambiant« gesucht zu haben. Doch war er vorsichtig in
dieser Beziehung, und sein Sohn sagt: »C’est done un probleme
ü reserver entieremeni ad l’avenir, suppose meme, que l’avenir
doive avoir prise sur lui“.
In England erklärte der Hochwürdige W. Herserr, nach-
heriger Dechant von Manchester, in seinem Werke über die
Amaryllidaceae (1837, S. 1, 19, 339),ses seye durch Hortieultur-
Versuche unwiderlegbar dargethan, dass Pflanzen-Arten nur eine
höhere und beständigere Stufe von Varietäten seyen. ‘Er dehnt
die nämliche Ansicht auch auf die Thiere aus. Der Dechant ist
der Meinung, dass anfangs nur einzelne Arten jeder Sippe von
* Es ist sonderbar zu sehen, wie vollständig mein Grossvater Dr. Erasmus
Darwın diese irrigen Ansichten schon in seiner Zoonomia (vol. I, pg- 500
—510), welche im Jahre 1794 erschienen ist, antizipirt hatte. D. "IE,
** Bekanntlich kam er jn der Akademie mehrmals zu heftigen Auftritten
noch mit Cuvirr, welcher die Beständigkeit der Species gegen ihn vertheidigte.
D. Übers,
rät: re Br
3
einer sehr bildsamen : Beschaffenheit oeschaffen worden seyen,
und dass: diese sodann. durch Kreutzung und Abänderung alle
unsre jetzigen Arten erzeugt haben.
Im Jahre '1843 — 44 hat Professor Haıneman zu Boston : in
den Vereinten Staaten die Gründe für und gegen die Hypothese
der Entwickelung und Umgestaltung der Arten in angemessener
Weise zusammengestellt (im Journal of Natural History, vol. IV,
p. 468) und scheint sich mehr zur Ansicht für die Veränderlich-
keit zu neigen.
Die Vestiges of Creation sind zuerst 1844 erschienen. In
der letzten oder zehnten und sehr verbesserten Ausgabe (1853,
p. 155) sagt der ungenannte Verlasser: „das auf reichliche Er-
wägung gestützte Ergebniss ist, dass die verschiedenen Reihen
besselter Wesen von den einfachsten und ältesten an bis zu den
höchsten und neuesten ‘die unter Gottes Vorsehung gebildeten
Erzeugnisse sind: 1) eines den Lebenformen ertheilten Impulses, .
der sie in abgemessenen Zeiten auf dem Wege. der Generation
von einer zur anderen: Organisations-Stufe bis zu den höchsten
Dikotyledonen und Wirbelthieren erhebt, — welche Stufen nur
wenige an Zahl und gewöhnlich durch Lücken in der organischen
Reihenfolge von einander geschieden sind, die eine praktische
Schwierigkeit bei Ermittelung der Verwandischaften abgeben; —
2) eines andren Impulses, welcher mit den Lebenskrälten zu-
sammenhängt und im Laufe der Generationen die organischen
Gebilde in Übereinstimmung mit den äusseren Bedingungen, wie
Nahrung, Wohnort und ıneteorische Kräfte, abzuändern strebt; Diess
sind ‘die »Anpassungen der Natural - Theologen«. Der Verlasser
ist offenbar der Meinung, dass die Organisation sich durch plötz-
liche Sprünge vervollkommne, die Wirkungen der äusseren Lebens-
Bedingungen aber stufenweise seyen. Er folgert mit grossem
Nachdruck aus allgemeinen Gründen, dass Arten keine unverän-
derlichen Produkte seyen. Ich vermag jedoch nicht zu ersehen,
wie die unterstellten zwei »Impulse«-in einem wissenschaftlichen
Sinne Rechenschaft geben können von den zahlreichen und schönen
Anpassungen, welche wir allerwärts in der ganzen Natur er-
blicken; ich vermag nicht zu erkennen, dass wir dadurch zur
1*
Einsicht gelangen, wie z. B. die Organisation des Spechtes seiner
besondern Lebensweise angepasst worden ist. Das Buch hat sich
durch seinen glänzenden und hinreissenden Styl sofort eine’ sehr
weite Verbreitung errungen, obwohl es in seinen früheren Auflagen
ungenaue Kenntnisse und einen grossen Mangel an wissenschaft-
licher Vorsicht verrieth. Nach meiner Meinung hat es vortreffliche
Dienste dadurch geleistet, dass es in unsrem Lande die Aufmerk-
samkeit auf den Gegenstand lenkte und Vorurtheile beseitigte.
Im Jahre 1846 veröffentlichte der Veterane unter den Geo-
logen, pOmarnıus pHarLov, in einem vortrefflichen kurzen Aufsatze
(im Bulletin de !’ Academie Roy. de Bruxelles, Tome XIII, p. 581)
seine Meinung, dass es wahrscheinlicher seye, dass neue Arten
durch Descendenz mit Abänderung des alten Charakters hervor-
gebracht, als einzeln geschaffen worden seyen; er hatte diese
Ansicht zuerst im Jahre 1831 aufgestellt.
Isınorz GEOFFROY St.-Hiıramre spricht in seinen im Jahre 1850
gehaltenen Vorlesungen (von. welchen ein Auszug in Revue et
Magazin de Zoologie 1851, Jan. erschien) seine Meinung über
Arten-Charaktere kürzlich dahin aus, dass sie »für jede Art
feststehen, so lange als sich, dieselbe in Mitten der näm-
lichen Verhältnisse fortpflanze, dass sie aber abändern, sobald
die äusseren Lebens-Bedingungen wechseln«. Im Ganzen »zeigt
die Beobachtung der wilden Thiere schon die beschränkte Ver-
änderlichkeit der Arten. Die Versuche mit gezähmten wilden
Thieren und mit verwilderten Hausthieren zeigen Diess noch
deutlicher. Dieselben Versuche beweisen auch, dass die hervor-
gebrachten Verschiedenheiten vom Werthe derjenigen seyn BRITEN
durch welche wir Sippen unterscheiden«.
HERBERT Spencer hat in einem Versuche (welcher zuerst im
Leader vom März 1852 und später in Spencer s Essays 1858 er-
schien) die Theorie der Schöpfung und die der Entwickelung
organischer Wesen ‘in vorzüglich geschickter und wirksamer
Weise einander gegenübergestellt. Er folgert aus der Analogie
mit den Züchtungs-Erzeugnissen, aus den Veränderungen welchen
die Embryonen vieler Arten unterliegen, aus der Schwierigkeit
Arten’und Varietäten zu unterscheiden, so wie endlich aus dem
nz
9)
Prinzip einer. allgemeinen Stufenfolge in der Natur, dass Arten
abgeändert worden sind, und schreibt diese Abänderung dem
- Wechsel der. Umstände zu. Derselbe Verfasser hat 1855 die
Psychologie nach dem Prinzip einer nothwendig stufenweisen
Erwerbung jeder geistigen Kraft und Fähigkeit bearbeitet.
Im Jahre 1852 hat Naubin, ein ausgezeichneter Botaniker: *
(in. der Revue horticole, p. $02) ausdrücklich erklärt, dass nach
seiner Ansicht Arten in analoger Weise von der Natur, wie Varie-
täten durch die Kultur, gebildet worden seyen. Er zeigt aber nicht,
wie die Züchtung in der Natur wirkt. Ernimmt wie Dechant HERBERT
an, dass die Arten anfangs bildsamer waren als jetzt, legt Ge-
wicht auf sein sogenanntes Prinzip der Finalität, eine unbestimmte
geheimnissvolle Kraft, gleichbedeutend mit blinder Vorbestimmung
für die Einen, mit Wille der Vorsehung für die Andern, durch
deren unausgesetzten Einfluss auf. die lebenden Wesen in allen
Weltaltern die Form, der Umfang und die Dauer eines jeden
derselben je nach seiner Bestimmung in der Ordnung der Dinge,
wozu es gehört, bedingt wird. Es ist diese Kraft, welche jedes
Glied mit dem Ganzen in Harmonie bringt, indem sie dasselbe
der Verrichtung anpasst, welche es im Gesammt-Organismus der
Natur zu übernehmen hat, einer Verrichtung, welche für dasselbe
Grund des Daseyns ist.
Im Jahre 1853 hat ein berühmter Geologe , Graf KEYSERLING
(im Bulletin de la Societe geologique, tome X, p. 33%) die Mei-
nung vorgebracht, dass zu verschiedenen Zeiten eine Art Seuche
durch irgend welches Miasma veranlasst, sich über die Erde ver-
breitet und auf die Keime der bereits vorhandenen Arten che-
misch eingewirkt habe, indem sie dieselben mit irgend welchen
Molecülen von besonderer Natur umgab und hiedurch die Ent-
stehung neuer Formen veranlasste! |
Die »Philosophie der Schöpfung« ist 1855 in bewunderns-
würdiger Weise durch den Hochwürdigen Bapen-Powerı (in seinen
Essays on ihe Unity of Worlds) behandelt worden. Er zeigt
auf die trifligste Weise, dass die Einführung neuer Arten »eine
* ® is - .
Lecoo. ein andrer französischer Botaniker, hält, wie ich glaube, ähnliche
Ansichten über die Fortpflanzung und Umänderung der Arten fest, D. VW
regelmässige und nicht eine zufällige Erscheinung« oder, wie Sir
Jonn HerscHeL es ausdrückt, »eine Natur- im Gegensatze einer
Wunder-Erscheinung« ist. Ich glaube, dass das genannte Werk
nicht verfehlt haben kann einen grossen Eindruck auf jeden
philosopkischen Geist zu machen.
Aufsätze von Herrn WaıtAcE und mir selbst im dritten Theile
des Journal of the Linnean Society (August 1858) stellen zuerst,
wie in der Einleitung zu diesem Band gesagt wird, die Theorie
der Natürlichen Züchtung auf.
Im Jahre 1859 hielt Professor Huxiey einen Vortrag vor der
Royal Institution über den bleibenden Typus des Thier - Lebens.
In Bezug auf derartige Fälle bemerkt er: »Es ist schwierig die Be-
deutung solcher Thatsachen zu begreifen, wenn wir voraussetzen,
dass jede Pflanzen- und Thier-Art oder jeder grosse Organisations-
Typus nach langen Zwischenzeiten durch je einen besondren Akt
der Schöpfungs-Kraft gebildet und auf die Erd-Oberfläche versetzt
worden seye; und man muss nicht vergessen, dass eine solche
Annahme weder in der Tradition noch in der Offenbarung eine
Stütze findet, wie sie denn auch der allgemeinen Analogie in der
Natur zuwider ist. Betrachten wir anderseits die »persistenten
Typen« in Bezug auf die Hypothese, wornach die zu irgend einer Zeit
vorhandenen Wesen das Ergebniss allmählicher Abänderung schon
früherer Wesen sind — eine Hypothese‘, welche, wenn auch
unerwiesen und auf klägliche Weise von einigen ihrer Anhänger
verkümmert, doch die einzige ist, der die Physiologie einigen
Halt verleiht — so scheint das Daseyn dieser Typen zu’ zeigen,
dass der Betrag von Abänderung , welche lebende Wesen wäh-
rend der geologischen Zeit erfahren haben, sehr gering ist im
Vergleich zu der ganzen Reihe von Veränderungen, welchen sie
ausgesetzt gewesen sind.« "ii
Im November 1859 ist die erste Ausgabe dieses Werkes
erschienen. Im Dezember 1859 veröffentlichte Dr. Hooker seine
bewundernswürdige Einleitung in die Tasmanische Flora, in deren
erstem Theile er die Entstehung der Arten durch Abkommenschaft
und Umänderung von andern zugesteht und diese Lehre durch
viele schätzbare Original-Beobachtungen unterstützt.
Einleitung.
Als ich an Bord des Königlichen Schiffs »Beagle« als Natur-
forscher Südamerika erreichte, ward ich überrascht von der
Wahrnehmung gewisser Thatsachen in der Vertheilung der Be-
wohner und in den geologischen Beziehungen zwischen der
jetzigen und der früheren Bevölkerung dieses Welttheils. Diese
Thatsachen schienen mir einiges Licht über die Entstehung der
Arten zu verbreiten, diess Geheimniss der Geheimnisse, wie es
einer unsrer grössten Philosophen genannt hat. Nach meiner
Heimkehr im Jahre 1837 schien es mir, dass sich etwas über
diese Frage müsse ermitteln lassen durch ein geduldiges Sammeln
und Erwägen aller Arten von Thatsachen, welche möglicher Weise
etwas zu deren Aufklärung beitragen könnten. Nachdem ich Diess
fünf Jahre lang gethan, getraute ich mich erst eingehender über
die Sache nachzusinnen und einige kurze Bemerkungen darüber
niederzuschreiben, welche ich im Jahre 1844 weiter ausführte,
indem ich die Schlussfolgerungen hinzufügte, welche sich mir als
wahrscheinlich ergaben, und von dieser Zeit an war ich mit be-
harrlicher Verfolgung des Gegenstandes beschäftigt. Ich hoffe,
dass man die Anführung' dieser auf meine Person bezüglichen
Einzelnheiten entschuldigen wird: sie sollen zeigen, dass ich
nicht übereilt zu einem Entschlusse gelangt bin.
Mein Werk ist nun nahezu vollendet; aber ich will mir noch
zwei oder drei weitre Jahre Zeit lassen um es zu ergänzen;
und da meine Gesundheit keinesweges fest ist, so sah ich mich
zur Veröffentlichung dieses Auszugs gedrängt. Ich sah mich noch
um so mehr dazu veranlasst, als Herr Wauzace, welcher jetzt
die Naturgeschichte der Malayischen Inselwelt studirt, zu fast
genau denselben allgemeinen Schlussfolgerungen über die Arten-
u Be
8
Bildung gelangt ist. Letztes Jahr sandte er mir eine Abhandlung
darüber mit der Bitte zu, sie Herrn Cuarıes Lyeır zuzustellen,
welcher sie der Linx£ischen Gesellschaft übersandte, in deren
Journal sie nun im dritten Bande abgedruckt worden ist. Herr Lyeıı
sowohl als Dr. Hooker, welche beide meine Arbeit kennen (der
letzte hat meinen Entwurf von 1844 gelesen), beehrten mich in-
dem sie den Wunsch ausdrückten, ich möge einen kurzen
Auszug aus meinen Handschriften zugleich mit Warsace’s Ab-
handlung veröffentlichen. |
Dieser Auszug, welchen ich hiemit der Lesewelt vorlege,
muss nothwendig unvollkommen seyn. Er kann keine Belege
und Autoritäten für meine verschiedenen Feststellungen beibringen,
und ich muss den Leser ansprechen einiges Vertrauen in meine
Genauigkeit zu setzen. Zweifelsohne mögen Irrthümer mit unter-
gelaufen seyn; doch glaube ich mich überall nur auf verlässige
Autoritäten berufen zu haben. Ich kann hier überall nur die
allgemeinen Schlussfolgerungen anführen, zu welchen ich gelangt
bin, in Begleitung von nur wenigen erläuternden Thatsachen,
die aber, wie ich hoffe, in den meisten Fällen genügen werden.
Niemand kann mehr als ich selber die Nothwendigkeit fühlen,
alle Thatsachen, auf welche meine Schlussfolgerungen sich stützen,
mit ihren Einzelnheiten bekannt zu machen, und ich hoffe Diess
in einem künftigen Werke zu thun. Denn ich weiss wohl, dass
kaum ein Punkt in diesem Buche zur Sprache kommt, zu welchem
man nicht Thatsachen anführen könnte, die oft zu gerade ent-
gegengesetzten Folgerungen zu führen scheinen. Ein richtiges
Ergebniss lässt sich aber nur dadurch erlangen, dass man alle
Erscheinungen und Gründe zusammenstellt, welche für und
gegen jede einzelne Frage sprechen, und sie dann sorgfältig
gegen einander abwägt, und Diess kann nicht wohl hier geschehen.
Ich muss bedauern nicht Raum zu finden, um so vielen Natur-
forschern meine Erkenntlichkeit für die Unterstützung auszu-
drücken, die sie mir, mitunter ihnen persönlich ganz unbekannt,
in uneigennützigster Weise zu Theil werden liessen, Doch kann
ich diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne wenigstens
die grosse Verbindlichkeit anzuerkennen, welche ich Dr. Hooker’n
%
9
dafür schulde, dass er mich in den letzten fünfzehn Jahren in
jeder möglichen Weise durch seine reichen Kenntnisse und sein
ausgezeichnetes Urtheil unterstützt hat.
Wenn ein Naturforscher über die Entstehung der Arten
nachdenkt, so ist es wohl begreiflich, dass er in Erwägung der
gegenseitigen Verwandtschafts-Verhältnisse der Organismen, ihrer
embryonalen Beziehungen, ihrer geographischen Verbreitung, ihrer
geologischen Aufeinanderfolge und andrer solcher Thatsachen zu
dem Schlusse gelangen könne, dass jede Art nicht unabhängig
von andern erschaffen seye, sondern nach der Weise der Varie-
täten von andern Arten abstamme. Demungeachtet dürfte eine
solche Schlussfolgerung, selbst wenn sie richtig wäre, kein
Genüge leisten, so lange nicht nachgewiesen werden kann,
auf welche Weise die zahllosen Arten, welche jetzt unsre
Erde bewohnen, so abgeändert worden seyen, dass sie die jetzige
Vollkommenheit des Baues und der Anpassung für ihre jedes-
maligen Lebens - Verhältnisse erlangten, welche mit Recht unsre
Bewunderung erregen. Die Naturforscher verweisen beständig
auf die äusseren Bedingungen, wie Klima, Nahrung u. S. W.
als die einzig möglichen Ursachen ihrer Abänderung. In einem
sehr beschränkten Sinne kann, wie wir später sehen werden,
Diess wahr seyn. Aber es wäre verkehrt,. lediglich äusseren
Ursachen z. B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines
Fusses, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge
zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, In-
sekten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Eben so wäre
es verkehrt, bei der Mistel-Pflanze, die ihre Nahrung aus ge-
wissen Bäumen zieht, und deren Saamen von gewissen Vögeln
ausgestreut werden müssen, wie ihre Blüthen, welche getrennten
Geschlechtes sind, die Thätigkeit gewisser Insekten zur Über-
tragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüthe
voraussetzen, die organische Einrichtung dieses Parasiten mit
seinen Beziehungen zu jenen verschiedenerlei organischen Wesen
als eine Wirkung äussrer Ursachen oder der Gewohnheit oder
des Willens der Pflanze selbst anzusehen.
Es ist daher von der grössten Wichtigkeit eine klare Einsicht
“
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10
in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Umänderungen
und Anpassungen bewirkt werden. Beim Beginne meiner Be-
_ obachtungen schien es mir wahrscheinlich, dass ein sorgfältiges
Studium der Hausthiere und Kultur-Pflanzen die, beste Aussicht
auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und
ich habe mich nicht getäuscht, sondern habe in diesem wie in
allen andern verwickelten Fällen immer gefunden, dass unsre
Erfahrungen über die im gezähmten und angebauten Zustande
erfolgenden Veränderungen der Lebenwesen immer den besten
und sichersten Aufschluss gewähren. Ich stehe nicht an meine
Überzeugung von dem hohen Werthe solcher von den Natur-
forschern gewöhnlich sehr vernachlässigten Studien auszudrücken.
Aus diesem Grunde widme ich denn auch das erste Kapitel»
dieses Auszugs der Abänderung im Kultur-Zustande. Wir wer-
den daraus ersehen, dass erbliche Abänderungen in. grosser
Ausdehnung wenigstens möglich sind, und, was nicht minder
wichtig, dass das Vermögen des Menschen, geringe Abänderungen
durch deren ausschliessliche Auswahl zur Nachzucht, d. h. durch
künstliche Züchtung* zu häufen, sehr beträchtlich ist.
Ich werde dann zur Veränderlichkeit der Lebenwesen im
Natur-Zustande übergehen; doch bin ich unglücklicher Weise
genöthigt diesen Gegenstand viel zu kurz abzulhun, da er
angemessen eigentlich nur durch Mittheilung langer Listen von
Thatsachen behandelt werden kann. Wir werden ‘demungeachtet
im Stande seyn zu erörtern, was für Umstände die Abänderung
am meisten befördern. Im nächsten Abschnitte soll der Kampf
um’s Daseyn unter den organischen Wesen der ganzen Welt
abgehandelt werden, welcher unvermeidlich aus ihrem hoch geo-
metrischen Zunahme-Vermögen hervorgeht. Es ist Diess die Lehre
* Durch „Züchtung“ werde ich den stets wiederkehrenden Englischen
Ausdruck „Selection“ übertragen, welcher in gegenwärtigem Sinne auch in
England nicht gebräuchlich und desshalb dort angegriffen worden ist. Richtiger
wäre wohl „Auswahl zur Züchtung“ gewesen, zumal bei der „Züchtung“
auch noch Anderes als die Auswahl der Zucht-Thiere allein in Betracht |
kommen kann, doch ist Diess von wohl nur untergeordnetem Interesse. Zu-
weilen entspricht jedoch eine Übersetzung etwa durch das neu zu bildende
Wort „Zuchtwahl“ wirklich besser, insbesondre bei Übertragung des Aus-
drucks „Sexual selection“. | D. Ubrs.
r =
11
von Marsnus auf das ganze Thier- und Pflanzen-Reich angewendet.
Da viel mehr Einzelwesen jeder Art geboren werden, als fortleben
können, und demzufolge das Ringen um Existenz beständig wieder-
kehren muss, so folgt daraus, dass ein Wesen, welches in irgend
einer für dasselbe vortheilhaften Weise von den übrigen auch nur
etwas abweicht, unter manchfachen und oft veränderlichen Lebens-
Bedingungen mehr Aussicht auf Fortdauer hat und deimnach bei
der Natürlichen Züchtung im Vortheil ist. Eine solche zur
Nachzucht ausgewählte Varietät strebt dann nach dem strengen
Erblichkeits - Gesetze jedesmal seine neue und abgeänderte Form
fortzupflanzen.
Diese Natürliche Züchtung ist ein Hauptgegenstand, welcher im
vierten Kapitel etwas weitläufiger abgehandelt werden soll; und
wir werden dann finden, wie die Natürliche Züchtung gewöhnlich
die unvermeidliche Veranlassung zum Erlöschen minder geeigneter
Lebenformen wird und herbeiführt, was ich Divergenz des
Charakters * genannt habe. Im nächsten Abschnitte werden
die zusammengesetzten und wenig bekannten Gesetze der Ab-
änderung und der Wechselbeziehungen in der "Entwiekelung be-
sprochen. In den vier folgenden Kapiteln sollen die auffälligsten und
bedeutendsten Schwierigkeiten unsrer Theorie angegeben werden,
und zwar erstens die Schwierigkeiten der Übergänge, oder wie
es zu begreifen ist, dass ein einfaches Wesen oder Organ ver-
wandelt und in ein höher entwickeltes Wesen oder ein höher
ausgebildetes Organ umgestaltet werden kann; zweitens der In-
stinkt oder die geistigen Fähigkeiten der Thiere; drittens die
Kreutzung oder die Unfruchtbarkeit der gekreutzten Species und
die Fruchtbarkeit der gekreutzten Varietäten; und viertens die Un-
vollkommenheit der geologischen Urkunde. Im nächsten Abschnitte
werde ich die geologische Aufeinanderfolge der Organismen in
der Zeit betrachten; im eilften und zwölften deren geographische
Verbreitung im Raume; im dreizehnten ihre Klassifikation und
gegenseitigen Verwandtschaften im reifen wie im Embryo-Zustande.
Er . ® * . ze ” ” ze
RS Analog mit derjenigen Erscheinung, welche in meinen Morphologischen
” 4 « ä ..
tudien „Differenzirung der Organe“ genannt worden ist. D. Ubrs.
4 sl
12
Im letzten Abschnitte endlich werde ich eine ‘kurze Zusammen-
fassung des Inhaltes des ganzen Werkes mit einigen Schluss-
Bemerkungen geben.
Darüber, dass noch so Vieles über die Entstehung der Arten
und Varietäten unerklärt bleibe, . wird sich niemand wundern,
wenn er unsre tiefe Unwissenheit hinsichtlich der Wechsel-
beziehungen all’ der um uns her lebenden Wesen in Betracht
zieht. Wie kann man erklären, dass eine. Art in ‚grosser
Anzahl und weiter: Verbreitung vorkömmt, während ihre nächste
Verwandte selten und auf engen Raum beschränkt ist? Und doch
sind diese Beziehungen von der höchsten Wichtigkeit, insoferne
sie die gegenwärtige Wohlfahrt und, wie ich glaube das künftige
Gedeihen und die Modifikation eines jeden Bewohners der
Welt bedingen. Aber noch viel weniger Kenntniss haben wir
von den Wechselbeziehungen der unzähligen Bewohner dieser
Erde während der zahlreichen Perioden ihrer einstigen Bildungs-
Geschichte. Wenn daher auch noch Vieles dunkel ist und noch
lange dunkel bleiben wird, so zweifle ich nach den sorgfältigsten
Studien und dem unbefangensten Urtheile, deren ich fähig, bin,
doch nicht daran, dass die Meinung, welche die meisten Natur-
forscher hegen und auch ich lange gehabt habe, als wäre
nämlich jede Spezies unabhängig von den übrigen erschaffen
worden, eine irrthümliche sey. Ich bin vollkommen überzeugt,
dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer So-
genannten Sippe * zusammengehörigen Arten in einer Linie von
anderen gewöhnlich erloschenen Arten abstammen, in der näm-
lichen Weise, wie die anerkannten Varietäten einer Art Abkömm-
linge dieser Species sind. Endlich bin ich überzeugt, dass Natür-
liche Züchtung das hauptsächlichste wenn auch nicht einzige
Mittel zu Abänderung der Lebenformen gewesen ist.
* Ich wähle das Oxen’sche Wort „Sippe“ für Genus, weil das Deutsche
Wort „Geschlecht“ seiner zweifachen Bedeutung wegen hier das Verständniss
nicht selten erschweren würde. Leider besitzen wir keinen ähnlichen Aus-
weg, der Missdeutung des ebenfalls zweisinnigen Wortes , Art“ zu entgehen,
welches bald für Species und bald für das Englichs „Kind“ angewendet
werden muss. D. Übers.
Erstes Kapitel.
Abänderung durch Domestizität.
Ursachen der Veränderlichkeit.2 Wirkungen der Gewohnheit.5 Wechselbeziehun-
gen der Bildung. Erblichkeit.$4 Charaktere kultivirter Varietäten. *Schwie-
rige Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten. Entstehung kultivirter
Varietäten von einer oder mehren Arten.’ Zahme Tauben, ihre Verschie-
denheiten und Entstehung. £ Frühere Züchtung und ihre Folgen.“ Plan-
ınässige und unbewusste Züchtung.// Unbekannter Ursprung unsrer kultivirten
Rassen. // Günstige Umstände für das Züchtungs-Vermögen des Menschen.
, Wenn wir die Einzelwesen einer Varietät oder Untervarie-
tät unsrer alten Kultur-Pflanzen und -Thiere betrachten, so ist
einer der Punkte, die uns zuerst auffallen, dass sie im Allge-
meinen mehr von einander abweichen, als die Einzelwesen einer
Art oder Varietät im Natur-Zustande. Erwägen wir nun die
grosse Manchfaltigkeit der Kultur-Pflanzen und -Thiere, welche sich
zu allen Zeiten unter den verschiedensten Klimaten und Behand-
lungs-Weisen abgeändert haben, so olaube ich sind wir zum
Schlusse gedrängt, dass diese grössere Veränderlichkeit unsrer
Kultur-Erzeugnisse die Wirkung minder einförmiger und von den
natürlichen der Stamm - Ältern etwas abweichender Lebens-
Bedingungen ist. Auch hat, wie mir scheint, AnpREW KnıchT s
Meinung, dass diese Veränderlichkeit zum Theil mit überflüssiger
Nahrung zusammenhänge, einige Wahrscheinlichkeit für sich. Es
scheint ferner ganz klar zu seyn, dass die organischen Wesen
einige Generationen hindurch neuen Lebens-Bedingungen aus-
gesetzt seyn müssen, ehe ein bemerkliches Maass von Verände»
rung in ihnen hervortreten kann, und dass, wenn ihre Organi-
sation einmal abzuändern begonnen hat, diese Abänderung
gewöhnlich durch viele Generationen fortwährt. Man kennt kei-
nen Fall, dass ein veränderliches Wesen im Kultur-Zustande
aufgehört hätte veränderlich zu seyn. Unsre ältesten Kultur-
14
Pflanzen, wie der Weitzen z. B., geben oft noch neue Varietä- A
ten, und unsre ältesten Hausthiere sind noch immer rascher
Umänderung oder Veredelung fähig. |
Man hat darüber gestritten, in welchem Lebens-Alter die
Ursachen der Abänderungen, worin sie immer bestehen mögen,
wirksam zu seyn pflegen, ob in der ersten, oder in der letzten
Zeit der Entwickelung des Embryos, oder im Augenblicke der
Empfängniss. Georrkov Sr. Hırame’s Versuche ergeben, dass
eine unnatürliche Behandlung des Embryos Monstrositäten erzeuge,
und Monstrositäten können durch keinerlei scharfe Grenzlinie
von Varietäten unterschieden werden. Doch bin ich sehr zu
vermuthen geneigt, dass die häufigste Ursache zur ‚Abänderung
in Einflüssen zu suchen seye, welche das männliche oder weib-
liche reproduktive Element schon vor dem Akte der Befruchtung
erfahren hat. Ich habe verschiedene Gründe für diese Meinung;
doch liegt der Hauptgrund in den bemerkenswerthen Folgen,
welche Einsperrung oder Anbau auf die Verrichtungen des repro-
duktiven Systemes äussern, indem nämlich dieses System viel
empfänglicher für die Wirkung irgend eines Wechsels in den
Lebens-Bedingungen als jeder andere Theil der Organisa-
tion zu seyn scheint. Nichts ist leichter, als ein Thier zu zäh-
men, und wenige Dinge sind schwieriger, als es in der Gelan-
genschaft zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu veranlassen in
den zahlreichen Fällen sogar, wo man Männchen und Weibchen
bis zur Paarung bringt. Wie viele Thiere wollen sich nicht fort-
pflanzen, obwohl sie schon lange in nicht sehr enger Gelangen-
schaft in ihrer Heimath-Gegend leben! Man schreibt Diess gewöhn-
lich verdorbenen Naturtrieben zu; allein wie viele Kultur-Pflan-
zen gedeihen in der äussersten Kraft-Fülle, ohne jemals oder
fast jemals Samen anzusetzen! In einigen wenigen solchen Fällen
hat man herausgefunden, dass sehr unbedeutende Verhältnisse,
wie etwas mehr oder weniger Wasser zu einer gewissen Zeit
des Wachsthums für oder gegen die Samen-Bildung entscheidend
wird. Ich kann hier nicht eingehen in die zahlreichen Einzel-
heiten, die ich über: diese merkwürdige Frage oesammelt; um
aber zu zeigen, wie eigenthümlich die Gesetze sind, welche die
15
Fortpflanzung der Thiere in Gefangenschaft bedingen, will ich
nur anführen, dass Raubthiere selbst aus den Tropen-Gegenden
sich bei uns auch in Gefangenschaft ziemlich gerne fortpflanzen,
doch mit Ausnahme der Sohlengänger oder der Bären-Familie,
während Fleisch-fressende Vögel nur in den seltensten Fällen
oder fast niemals fruchtbare Eier legen. Viele ausländische
Pflanzen haben ganz werthlosen Pollen genau in demselben
Zustande wie die meist unfruchtbaren Bastard -Pilanzen. Wenn
wir auf der einen Seite Hausthiere und Kultur - Pflanzen oft
selbst in schwachem und krankem Zustande sich in der
Gefangenschaft ganz freiwillig fortpflanzen sehen, während auf
der andern Seite jung eingefangene Individuen, vollkommen
gezähmt, Geschlechts-reif und kräftig (wovon ich viele Beispiele
anführen kann), in ihrem Reproduktiv-Systeme durch nicht wahr-
nehmbare’Ursachen so angegriffen erscheinen, dass sie sich nicht
zu befruchten vermögen, so dürfen wir uns um so weniger dar-
über wündern, wenn dieses. System in der Gefangenschaft in
nicht ganz regelmässiger Weise wirkt und eine Nachkommen-
schaft erzeugt, welche den Ältern nicht vollkommen ähnlich oder
welche veränderlich ist.
Man hat Unfruchtbarkeit als den Untergang des Gartenbaues
bezeichnet; aber Variabilität entsteht aus derselben Ursache wie
Sterilität, und Variabilität ist die Quelle all der ausgesuchtesten
Erzeugnisse unsrer Gärten. Ich möchte hinzufügen, dass, wenn
einige Organismen (wie die in Kästen gehaltenen Kaninchen und
Frettchen) sich unter den unnatürlichsten Verhältnissen fortpflan-
zen, Diess nur beweiset, dass ihr Reproduktions-System dadurch
nicht angegriffen worden ist; und so widerstreben einige Thiere
und Pflanzen der Veränderung durch Zähmung oder Kultur und
erfahren nur sehr geringe Abänderung, vielleicht kaum eine
stärkere als im Natur-Zustande.
Man könnte eine lange Liste von Spielpflanzen (Sporting
plants) aufstellen, mit welchem Namen die Gärtner einzelne
Knospen oder Sprossen bezeichnen, welche plötzlich einen neuen
und von. der übrigen Pflanze oft sehr abweichenden Charakter
annehmen. Solche Knospen kann man durch Propfen und oft
4. Alliiiai. Si ln
16
mittelst Samen fortpflanzen. Diese Spielpflanzen sind in der
Natur ausserordentlich selten, im Kultur-Zustande aber nichts
Ungewöhnliches, und wir sehen in diesem Falle, dass die abwei-
chende Behandlung der Mutterpflanze die Knospe oder den
Sprossen, nicht aber das Eiichen oder den Pollen berührt hat.
Die meisten Physiologen sind aber der Meinung, dass zwischen
einer Knospe und einem Eichen auf ihrer ersten Bildungs-Stufe
kein wesentlicher Unterschied ist, so dass die Spielpflanzen in der
That meiner Meinung zur Stütze gereichen, dass die Veränderlich-
keit grossentheils von Einflüssen herzuleiten seye, welche die
Behandlung der Mutterpflanze auf das Eichen oder den Pollen
oder auf beide schon vor dem Befruchtungs-Akte ausgeübt hat.
Diese Fälle zeigen dann auch, dass Abänderung nicht, wie einige
Autoren angenommen, nothwendig mit dem Generations-Akte
zusammenhänge.
Sämlinge von derselben Frucht erzogen oder Junge von
einem Wurfe weichen oft weit von einander ab, obwohl die
Jungen und die Alten, wie Mürzer bemerkt, offenbar genau den-
selben Lebens-Bedingungen ausgeselzt gewesen; und es ergibt
sich daraus, wie unerheblich die unmittelbaren Wirkungen der
Lebens-Bedingungen im Vergleiche zu den Gesetzen der Repro-
duktion, der Wechselbeziehungen des Wachsthums. und der Erb-
lichkeit sind; denn wäre die Wirkung der Lebens-Bedingungen
in dem Falle, wo nur ein Junges abändert, eine unmittelbare
gewesen, so würden zweifelsohne’ alle Junge dieselben Abände-
rungen zeigen. Es ist sehr schwer zu beurtheilen, wie viel bei
einer solehen Abänderung dem unmittelbaren Einflusse der Wärme,
der Feuchtigkeit, des Lichtes und der Nahrung im Einzelnen
zuzuschreiben seye; ich halte mich aber überzeugt, dass solche
Kräfte bei Thieren nur sehr wenig unmittelbaren Erfolg haben
können, während derselbe bei Pflanzen olfenbar grösser isl, In
dieser Beziehung sind Buckman’s neüere Versuche mit Pflanzen
von grossem Werthe. Wenn alle oder fast alle Einzelnwesen,
welche den nämlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen, auch auf die-
selbe Weise abgeändert werden, so scheint diese Wirkung anfangs
jenen Einflüssen unmittelbar zugeschrieben werden zu müssen;
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17
es lässt sich aber in einigen Fällen nachweisen, dass ganz ent-
gegengesetzte Bedingungen ähnliche Veränderungen des Baues
bewirken können. Demungeachtet glaube ich, dass ein kleiner
Betrag ‚der stattfindenden Umänderung der unmittelbaren Einwir-
kung der Lebens-Bedingungen zugeschrieben werden kann, wie
in einigen Fällen die veränderte Grösse von der Nahrungs-Menge,
die Färbung von besonderen Arten der Nahrung und vom Lichte,
und vielleicht die Dichte des Pelzes vom Klima ableitbar ist.
» Auch Gewöhnung hat einen entschiedenen Einfluss, wie die
Versetzung von Pflanzen aus einem Klima ins andere deren Blüthe-
Zeit ändert. Bei Thieren ist er bemerkbarer; ich habe bei der
Haus-Ente gefunden, dass die Flügel-Knochen leichter und die
Bein:Knochen schwerer im Verhältniss zum ganzen Skelette sind
als bei der wilden Ente; und ich glaube, dass man diese Ver-
änderung ‘getrost dem Umstande zuschreiben kann, dass die
zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, als bei dieser Enten-
Art in ihrem wilden Zustande der Fall ist. Die erbliche stärkere
Entwickelung der Euter bei Kühen und Geisen in solchen Gegen-
den, wo sie regelmässig gemelkt werden, im Verhältnisse zu
andern, wo es nicht der Fall, ist ein anderer Beleg dafür.
Es gibt keine Art von Haus - Säugethieren, welche nicht in
dieser oder jener Gegend hängende Ohren hätte, und so ist
die Meinung, die irgend ein Schriftsteller geäussert, dass dieses
Hängendwerden der Ohren vom Nichtgebrauch der Ohr-Muskeln
herrühre, weil das Thier sich nicht mehr durch drohende Gefah-
ren beunruhigt fühle, ganz wahrscheinlich.
» Es gibt nun viele Gesetze, welche die Veränderungen regeln,
von welchen einige wenige sich dunkel erkennen lassen, und die
nachher noch kürzlich erwähnt werden sollen. Hier will ich nur an-
führen, was man Wechselbeziehung der Entwicklung nen-
nen kann. Eine Veränderung in Embryo oder Larve wird sicherlich
meistens auch Veränderungen im reifen Thiere nach sich ziehen.
Bei Monstrositäten sind die Wechselbeziehungen zwischen ganz
verschiedenen Theilen des Körpers sehr sonderbar, und Isınore
GEOFFROY St.-Hıraıre führt davon viele Belege in seinem grossen
Werke an, Viehzüchter glauben, dass verlängerte Beine gewöhn-
2
7
ee ar
18
lich auch von einem verlängerten Kopfe begleitet sind. : Einige
Beispiele erscheinen ganz wunderlicher Art; so, dass Katzen mit
blauen Augen allezeit taub sind, Farbe und Eigenthümlichkeiten
der Konstitution sind mit einander in Verbindung, wovon sich
viele merkwürdige Fälle bei Pflanzen und Thieren anführen lassen.
Aus den von Heusiınser gesammelten Thatsachen geht hervor, dass
weisse Schaafe und Schweine von gewissen Pflanzen-Giften ganz
anders als die dunkel-farbigen berührt werden. Unbehaarte Hunde
haben unvollkommene Zähne ; lang- und grob-haarige Thiere sollen
geneigter seyn, lange und viele Hörner zu bekommen; Tauben mit
Federfüssen haben eine Haut zwischen ihren äusseren Zehen; kurz-
schnäbelige Tauben haben kleine Füsse, und die mit langen Schnä-
beln auch lange Füsse. Wenn man daher durch Auswahl geeigneter
Individuen von Pflanzen und Thieren für die Nachzucht irgend eine
Eigenthümlichkeit derselben zu steigerkn gedenkt, so wird man ge-
wiss meistens. ohne es zu wollen, diesen geheimnissvollen Wech-
selbeziehungen der Entwickelung gemäss noch andre Theile der
Struktur mit abändern. Das Ergebniss der mancherlei entweder ganz
unbekannten oder nur dunkel sichtbaren Gesetzen der Variation ist
ausserordentlich zusammengesetzt und vielfältig. Es ist wohl
der Mühe werth die verschiedenen Abhandlungen über. unsre
alten Kultur-Pflanzen, wie Hyazinthen, Kartoffeln, Dahlien u. s. w.
sorgfältig zu studiren und von der. endlosen Menge von Ver-
schiedenheiten in Bau und Lebensäusserung Kenntniss zu nehmen,
durch welche alle diese Varietäten und Subvarietäten von einan:
der abweichen. Ihre ganze Organisation scheint bildsam gewor-
den zu seyn, um bald in dieser und bald in jener Richtung sich
etwas von dem älterlichen Typus zu entfernen.
4 Nicht-erbliche Abänderungen sind für uns ohne Bedeutung.
Aber schon die Zahl und Manchfaltigkeit der erblichen Abwei-.
chungen in dem Bau des Körpers, sey es von geringerer oder
von beträchtlicher physiologischer Wichtigkeit, ist endlos. Dr.
Prosrer Lucas’ Abhandlung in zwei starken Bänden ist das Beste
und Vollständigste, was man darüber hat. Kein Viehzüchter ist
Jarüber in Zweifel, dass die Neigung zur Vererbung sehr gross
ist: Gleiches erzeugt Gleiches ist. sein Grund-Glaube, und nur
19
theoretische Schriftsteller haben dagegen Zweifel erhoben. Wenn
irgend eine Abweichung öfters zum Vorschein kommt und wir
sie in Vater und Kind sehen, so können wir nicht sagen, ob sie
nicht etwa von 'einerlei Grundursache herrühre , die auf beide
gewirkt habe. Wenn aber unter Einzelwesen einer Art, welche
offenbar denselben Bedingungen ausgesetzt sind, irgend eine sel-
tene Abänderung in Folge eines ausserordentlichen Zusammen-
treffens von Umständen an einem Vater zum Vorschein kommt
—_ an einem unter mehren Millionen — und dann am Kinde
wieder erscheint, so nöthigt uns schon die Wahrscheinlichkeit
diese Wiederkehr aus der Erblichkeit zu erklären. Jeder-
mann hat schon von Fällen gehört, wo so seltene Erschei-
nungen, wie Albinismus, Stachelhaut, ganz behaarter Körper
u. dgl. bei mehren Gliedern einer und der nämlichen Familie vor-
gekommen sind. Wenn aber so seltene und fremdartige Abwei-
chungen der Körper-Bildung sich wirklich vererben, so werden
minder fremdartige und ungewöhnliche Abänderungen um so mehr
als erbliche zugestanden werden müssen. Ja vielleicht wäre die rich-
tigste Art die Sache anzusehen die, dass man jedweden Charak-
ter als erblich und die Nichterblichkeit als Ausnahme betrachtete.
Die Gesetze, welche die Erblichkeit regeln, sind gänzlich
unbekannt, und niemand vermag zu sagen, wie es komme, dass
dieselbe Eigenthümlichkeit in verschiedenen Individuen einer Art
und in Einzelwesen verschiedener [?] Arten zuweilen erblich ist
und zuweilen es nicht ist; wie es komme, dass das Kind zuwei-
len zu gewissen Charakteren des Grossvaters oder der Gross-
mutter oder noch früherer Vorfahren zurückkehre ; wie es komme,
dass eine Eigenthümlichkeit sich oft von einem Geschlechte auf
beide Geschlechter übertrage, oder sich auf eines und zwar das-
selbe Geschlecht beschränke. Es ist eine Thatsache von nur geringer
Wichtigkeit für uns, dass eigenthümliche Merkmale, welche an
den Männchen unsrer Hausthiere zum Vorschein kommen, aus-
schliesslich oder doch vorzugsweise wieder nur auf männliche
Nachkommen übergehen. Eine wichtigere und wie ich glaube
verlässige Erscheinung ist die, dass, in welcher Periode des
Lebens sich die abweichende Bildung zeigen möge, sie auch in
2 %*
-
20
der Nachkommenschalt immer in dem entsprechenden Alter, oder
zuweilen wohl früher, zum Vorschein kommt. In vielen Fällen
ist Diess nicht anders möglich, weil die erblichen Eigenthümlich-
keiten z. B. in den Hörnern des Rindviehs an den Nachkommen
sich erst im reifen Alter zeigen können; und eben so gibt es
bekanntlich Eigenthümlichkeiten des Seidenwurms, die nur den
Raupen- oder den Puppen-Zustand betreffen. Aber erbliche
Krankheiten u. e. a. Thatsachen veranlassen mich zu glauben,
dass die Regel eine weitere, Ausdehnung hat, und dass selbst da,
wo kein offenbarer Grund für das Erscheinen einer Abänderung
in einem bestimmten Alter vorliegt, doch das Streben vorherrscht,
auch am Nachkommen in dem gleichen Lebens-Abschnitte sich zu
zeigen, wo sie an dem Vorfahren erstmals eingetreten ist. Ich
glaube, dass diese Regel von der grössten Wichtigkeit für die
Erklärung der Gesetze der Embryologie ist. Diese Bemerkungen
beziehen sich übrigens auf das erste Sichtbarwerden der Eigen-
thünılichkeit, und nicht auf ihre erste Veranlassung, die vielleicht
schon in dem männlichen oder weiblichen Zeugungsstoff liegen
kann, in der Weise etwa, wie der aus der Kreutzung einer kurz-
hörnigen Kuh und eines langhörnigen Bullen hervorgegangene
Sprössling die grössre Länge seiner Hörner erst spät im Leben
zeigen kann, obwohl die erste Ursache dazu schon im Zeugungs- |
stoff des Vaters liegt.
Ich habe des Falles der Rückkehr zur grossälterlichen Bil-
dung erwähnt und in dieser Beziehung noch anzuführen, dass die
Naturforscher oft behaupten, unsre Hausthier-Rassen nähmen,
wenn sie verwilderten, zwar nur allmählich, aber doch gewiss,
wieder den Charakter ihrer wilden Stammältern an, woraus man
dann geschlossen hat, dass Folgerungen von zahmen Rassen
auf die Arten in ihrem Natur-Zustande nicht zulässig seyen. Ich
habe jedoch vergeblich auszumitteln gestrebt, auf was für ent-
scheidende Thatsachen sich jene so oft und so bestimmt wieder-
holte Behauptung stütze. Es möchte sehr schwer sein, ihre Rich-
tigkeit nachzuweisen; denn wir können mit Sicherheit sagen,
dass sehr viele der ausgeprägtesten zahmen Varietäten im wilden
Zustande gar nicht leben könnten. In vielen Fällen kennen wir
21
nicht einmal den Urstamm und vermögen uns daher noch weni-
ger zu vergewissern, ob eine vollständige Rückkehr eingetreten
ist oder nicht. Jedenfalls würde, um die Folgen der Kreutzung
zu. vermeiden, nöthig seyn, dass nur eine einzelne Varietät in
die Freiheit zurückversetzt werde. Ungeachtet aber unsre Varie-
täten gewiss in einzelnen Merkmalen zuweilen zu ihren Urfor-
men zurückhehren, so scheint mir doch nicht unwahrscheinlich,
dass, wenn man die verschiedenen Abarten des Kohls z. B. einige
Generationen hindurch in einem ganz armen Boden zu naturali-
siren fortführe (in welchem Falle dann allerdings ein Theil des
Erfolges der unmittelbaren Wirkung des Bodens zuzuschreiben
wäre), dieselben ganz oder fast ganz wieder ihre wilde Urform
annehmen würden. Ob der Versuch nun gelinge oder nicht, ist
für unsere Folgerungs-Reihe ohne grosse Erheblichkeit, weil durch
den Versuch selber die Lebens-Bedingungen geändert werden.
Liesse. sich beweisen, dass unsre kultivirten Rassen eine starke
Neigung zur Rückkehr, d. h. zur Ablegung der angenommenen
Merkmale an den Tag legten, wenn sie unter unveränderten
Bedingungen und in beträchtlichen Massen beisammen gehalten
würden, so dass freie Kreutzung etwaige geringe Abweichungen
der. Struktur in Folge ihrer Durcheinandermischung verhütete, —
in diesem Falle wollte ich zugeben, dass sich aus den zahmen
Varietäten nichts hinsichtlich der Arten folgern lasse. Aber es
ist nicht ein Schatten von Beweis zu Gunsten dieser Meinung
vorhanden. Die Behauptung, dass sich unsere Wagen- und Rasse-
Pferde, unsre lang- und kurz-hörnigen Rinder, unsre manchfal-
tigen Federvieh-Sorten und Nahrungs-Gewächse nicht eine fast
endlose Zahl von Generationen hindurch fortpflanzen lassen, wäre
aller Erfahrung entgegen. Ich will noch hinzufügen, dass, wenn
im -Natur-Zustande die Lebens-Bedingungen wechseln, Abän-
derungen und Rückkehr des Charakters wahrscheinlich eintreten
werden; aber die Natürliche Züchtung würde, wie nachher ge-
zeigt werden soll, bestimmen, wie weit die hieraus hervor-
gehenden neuen Charaktere erhalten bleiben.
%* Wenn wir die erblichen Varietäten. oder Rassen unsrer
Haus-Thiere und Kultur-Gewächse betrachten ‚und dieselben mit
22
einander nahe verwandten Arten vergleichen, so finden wir in
jeder zahmen Rasse, wie schon bemerkt worden, eine geringere
Übereinstimmung des Charakters, als bei ächten Arten. Auch
haben zahme Rassen von derselben Thier- Art oft einen etwas
monströsen Charakter, womit ich sagen will, dass, wenn sie sich
auch von einander und von den übrigen Arten derselben Sippe
in mehren wichtigen Punkten unterscheiden, sie doch oft im
äussersten Grade in irgend einem einzelnen Theile sowohl von
den andern Varietäten als insbesondere von den übrigen nächst-
verwandten Arten derselben Sippe zurückweichen. Diese Fälle
(und die der vollkommenen Fruchtbarkeit gekreutzter Varietäten
einer Art, wovon nachher die Rede seyn soll) ausgenommen,
weichen die. kultivirten Rassen einer und derselben Spezies in
gleicher Weise, nur gewöhnlich in geringerem Grade, von ein-
ander ab, wie die einander nächst verwandten Arten derselben
Sippe im Natur-Zustande. Ich glaube, man wird Diess zugeben,
wenn man findet, dass es kaum irgend-welche gepflegte Rassen
unter den Thieren wie unter den Pflanzen gibt, die nicht schon
von einigen urtheilsfähigen Richtern als wirkliche Varietäten und
von andern ebenfalls sachkundigen Beurtheilern als Abkömmlinge
einer ursprünglich verschiedenen Art erklärt worden wären.
Gäbe es irgend einen bestimmten Unterschied zwischen kultivir-
ten Rassen und Arten, so könnten dergleichen Zweifel nicht so
oft wiederkehren. Oft hat man versichert, dass gepflegte Rassen
nicht in Sippen-Charakteren von einander abweichen. Ich glaube
zwar, dass sich diese Behauptung als irrig erweisen lässt; doch
gehen die Meinungen der Naturforscher weit auseinander, wenn
sie sagen sollen, worin Sippen-Charaktere bestehen, da alle solche
Werthungen nur empirisch sind. Überdiess werden wir nach
der Ansicht von der Entstehung .der Sippen, die ich jetzt auf-
stellen will, kein Recht haben zur Erwartung, bei unseren Kul-
tur-Erzeugnissen oft auf Sippen-Verschiedenheiten zu stossen.
Wenn wir den Betrag der Struktur-Verschiedenheiten zwischen
den gepflegten Rassen von einer Art zu schätzen versuchen, so
werden wir bald dadurch in Zweifel versetzt, dass wir nicht
wissen, ob dieselben von einer oder von mehren älterlichen
N N S
23
Arten: abstammen. Es wäre von Interesse, wenn sich diese Frage
aufklären, wenn sich z. B. nachweisen liesse,-ob das Windspiel,
der Schweisshund, “der. Dachshund, der Jagdhund und der
Bullenbeisser, welche sich so genau in ihrer Form fortpilanzen,
Abkömmlinge von nur einer Stamm-Art seyen? Denn solche That-
sachen würden sehr. geeignet seyn unsre Zweifel zu erregen
über die Unveränderlichkeit der vielen einander sehr nahestehen-
den natürlichen Arten der Füchse 2. B., die so ganz verschie-
dene. Weltgegenden bewohnen, Ich glaube nicht, dass wir jetzt
im Stande sind zu erkennen, ob alle unsre Hunde von einer
wilden Stamm-Art herkommen , obwohl Diess bei einigen andren
Hausthier-Rassen wahrscheinlich oder sogar genau nachweisbar ist.
Es ist oft angenommen. worden, der Mensch habe sich solche
Pflanzen- und Thier-Arten zur Zähmung ausgewählt, welche
ein angeborenes ausserordentlich starkes Vermögen abzuändern
und in verschiedenen Klimaten auszudauern besässen. Ich will
nicht bestreiten, dass diese Fähigkeiten viel zum Werthe unsrer
meisten Kultur-Erzeugnisse beigetragen haben. Aber wie ver-
mochte ein. Wilder zu wissen, als er ein Thier zu zähmen
begann, ob dasselbe in folgenden Generationen zu: varliren
geneigt und in anderen Klimaten auszudauern vermögend seyn
werde? Oder hat die geringe Veränderlichkeit des Esels und des
Perlhuhns, das geringe Ausdaurungs-Vermögen des Rennthiers in
der Wärme ‘und des Kameels in 'der Kälte ihre Zähmung gehin-
dert? Ich hege keinen Zweifel, dass, wenn man andre Pflanzen-
und Thier-Arten in gleicher Anzahl wie unsre gepflegten Rassen
und aus ebenso verschiedenen Klassen und Gegenden ihrem
Natur-Zustande entnähme und eine gleich lange Reihe von Gene-
rationen hindurch im zahmen Zustande fortpflanzte, sie m glei-
chem Umfange variiren würden, wie es unsre jetzt schon kulti-
virten Arten thun.
In Bezug auf die meisten unsrer längst gepflegten Pflanzen-
und Thier-Rassen halte ich es nicht für möglich zu einem
bestimmten Ergebniss darüber zu gelangen, ob sie von einer
oder von mehren Arten abstammen. Die Anhänger der Lehre
von einem mehrfältigen Ursprung unserer Rassen berufen sich
24
hauptsächlich darauf, dass schon die "ältesten geschichtlichen
Nachrichten und insbesondere die Ägyptischen Denkmäler von
einer grossen Verschiedenheit der Rassen Zeugniss geben, und
dass einige derselben mit unseren jetzigen bereits die grösste
Ähnlichkeit haben, wenn nicht ‘gänzlich übereinstimmen. Wäre
aber diese Thatsache auch besser begründet, als sie es zu seyn
scheint, so würde sie doch nichts anderes beweisen, als dass
eine oder die andre unsrer Rassen dort vor vier bis fünf Tau-
send Jahren “entstanden ist. Doch Horner’s Untersuchungen
haben es einigermassen wahrscheinlich gemacht, dass Menschen,
schon hinreichend zivilisirt um Töpfer-Waaren zu fertigen, das
Nel-Thal seit bereits 13—14 Tausend Jahren bewohnen; und wer
möchte behaupten, dass nicht schon sehr lange vor dieser Zeit
Wilde auf der Kultur-Stufe der jetzigen Feuerländer oder Austra-
lier, die ebenfalls einen halb-gezähmten Hund besitzen, in Ägyp-
ten gelebt haben können?
Obwohl ich glaube, dass die ganze Frage unentschieden
bleiben muss, so will ich doch, ohne in Einzelnheiten einzugehen,
hier erklären, dass es mir nach geographischen und anderen
Betrachtungen sehr wahrscheinlich ist, dass unser Haushund von
mehren wilden Arten abstamme. In Bezug auf Schaf und Ziege
vermag ich mir keine Meinung zu bilden. Nach den mir von
Bryru über die Lebens-Weise, Stimme, Konstitution u. Ss. 'w. des
Indischen Höckerochsen mitgetheilten Thatsachen ‘sollte ich den-
ken, dass er von einer anderen Art als unser Europäisches
Rind herstammen müsse, welches manche sachkundige Beurtheiler
von mehrfachen Stamm-Arten ableiten wollen. Hinsichtlich des
Pferdes bin ich aus Gründen, die ich hier nicht entwickeln kann,
mit einigen Zweifeln gegen die Meinung einiger Schriftsteller
anzunehmen geneigt, dass alle seine Rassen nur von einem wil-
den Stamme herrühren. Bıyrs, dessen Meinung ich seiner rei-
chen und manchfaltigen Kenntnisse wegen in dieser Beziehung
höher als fast eines jeden Andern anschlagen muss, glaubt dass
alle unsre Hühner-Varietäten vom gemeinen Indischen Huhn
(Gallus Bankiva) herkommen. In Bezug auf Enten und Stall-
Hasen, deren Rassen in ihrem Körper-Bau beträchtlich von ein-
Qustn.
Agyn
jeden
geh,
dere
dd vol
Liegt
jr vol
W. des |
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25
ander abweichen, zweifle ich nicht, dass sie alle von der gemei-
nen Wild-Ente und dem Kaninchen stammen.
Die Lehre der Abstammung unsrer verschiedenen Hausthier-
Rassen von verschiedenen wilden Stamm-Arten ist von einigen
Schriftstellern bis zu einem abgeschmackten Extreme getrieben
worden. Sie glauben nämlich, dass jede wenn auch noch so we-
nig verschiedene Rasse, welche ihren unterscheidenden Charakter
durch Inzucht bewahrt, auch ihre wilde Stamm-Form gehabt habe.
Dann müsste es eine ganze Menge wilder Rinds-, viele Schaaf- und
einige Geisen-Arten in Europa und mehre selbst schon inner-
halb Grossbritannien ‘gegeben haben. Ein Autor meint, es hät-
ten 'ehedem eilf wilde und dem Lande eigenthümliche Schaal-
Arten dort gelebt. Wenn wir nun erwägen, dass Britannien jetzt
kaum eine ihm eigenthümliche Säugethier- Art, Frankreich nur
sehr wenige nicht auch in’ Deutschland vorkommende, und um-
gekehrt, besitze, dass es sich eben so mit Ungarn, Spanien u. S. W.
verhalte, dass aber jedes dieser Königreiche mehre ihm eigene
Rassen von Rind, Schaaf u. s. w. darbiete, so müssen wir zu-
geben, dass in Europa viele Hausthier-Stämme entstanden sind;
denn von "woher sollen alle gekommen seyn, da keines die-
ser Länder so viele eigenthümliche Arten als abweichende
Stamm-Rassen besitzt? Und so ist es auch in Ostindien. Selbst
in Bezug auf die Haushunde der ganzen Welt kann ich, obwohl
ich ihre Abstammung von mehren verschiedenen Arten ganz
wahrscheinlich’ finde, nicht in Zweifel ziehen, dass da ein uner-
messlicher Betrag vererblicher Abweichungen vorhanden gewesen
ist. Denn wer kann glauben, dass Thiere nahezu übereinstim-
mend mit dem Italienischen Windspiel, mit dem Schweisshund,
mit dem Bullenbeisser, mit dem Bilenheimer Jagdhund und
so abweichend von allen wilden Caniden, jemals frei im Natur-
Zustande gelebt hätten. Es ist oft hingeworfen worden, alle
unsre Hunde-Rassen seyen durch Kreutzung einiger weniger
Stamm-Arten miteinander entstanden: aber Kreutzung kann nur
solche Formen liefern, welche mehr oder weniger das Mittel zwi-
BEN ihren Altern halten, und gingen wir von dieser Erfahrung
bei unsern zahmen Rassen aus, so müssten wir annehmen, dass
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26
einstens die äussersten Formen des Windspiels, des Schweiss-
hundes, des Bullenbeissers u. s. w. im wilden Zustande gelebt
hätten. Überdiess ist die Möglichkeit, durch Kreutzung verschie-
dene Rassen zu bilden, sehr übertrieben worden. Wenn es auch
keinem Zweifel unterliegt, dass eine Rasse durch gelegentliche
Kreutzung mittelst sorgfältiger Auswahl der Blendlinge, welche
irgend einen bezweckten Charakter darbieten, sich. bedeutend
modifiziren lässt, so kann ich doch kaum glauben, dass man eine
nahezu das Mittel zwischen zwei weit verschiedenen Rassen oder
Arten haltende Rasse zu züchten im Stande ist. Sir J. SEBRIGHT
hat absichtliche Versuche in dieser Beziehung angestellt und kei-
nen Erfolg erlangt. Die Nachkommenschaft aus der ersten
Kreuizung zwischen zwei reinen Rassen ist erträglich ‚und zu-
weilen, wie ich bei Tauben gefunden, ausserordentlich einförmig,
und Alles scheint einfach genug. Werden aber diese Blendlinge
einige Generationen hindurch unter einander gepaart, so werden
kaum zwei ihrer Nachkommen mehr einander ähnlich ausfallen,
und dann wird die äusserste Schwierigkeit oder vielmehr gänz-
liche Hoffnungslosigkeit des Erfolges klar. Gewiss kann. eine
Mittel-Rasse zwischen zwei sehr verschiedenen reinen Rassen
nicht ohne die äusserste Sorgfalt und eine lang fortgesetzte
Wahl der Zuchtthiere gebildet werden, und ich finde nicht
einen Fall berichtet, wo dadurch eine bleibende Rasse erzielt
worden wäre.
} Züchtung der Haus-Tauben.) Von der Ansicht ‚aus-
gehend, dass es am zweckmässigsten seye, irgend eine be-
sondere Thier-Gruppe zum Gegenstande der Forschung zu ma-
chen, habe ich mir nach einiger Erwägung die Haus-Tauben da-
zu ausersehen. Ich habe alle’! Rassen gehalten, die ich mir
verschaffen konnte, und bin auf die freundlichste Weise mit
Exemplaren aus verschiedenen Welt-Gegenden bedacht worden, ins-
besondere durch den ehrenwerthen W. Eıuior aus Ostindien und
den ehrenwerthen C. Murray aus Persien. Es sind viele Ab-
bandlungen in verschiedenen Sprachen veröffentlicht worden und
einige darunter durch ihr ansehnliches Alter von besonderer
Wichtigkeit. Ich habe mich mit einigen ausgezeichneten Tauben-
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27
Liebhabern verbunden und mich in zwei Londoner Tauben-Clubs
aufnehmen lassen, Die Verschiedenheit der Rassen ist oft er-
staunlich gross. Man vergleiche z. B. die Englische Botentaube
und den kurzstirnigen Purzler und betrachte die wunderbare
Verschiedenheitin ihren Schnäbeln, welche entsprechende Ver-
schiedenheiten in ihren Schädeln bedingt. Die Englische Boten-
taube (Carrier) und insbesondere das Männchen ist noch bemer-
kenswerth durch die wundervolle Entwickelung von Fleischlap-
pen an der Kopfhaut, die mächtig verlängerten Augenlider,
sehr weite äussere Nasenlöcher und einen weitklaffenden Mund.
Der kurzstirnige Purzler hat einen Schnabel, im Porfil fast wie
beim Finken; und die gemeine Purzel-Taube hat die eigenthüm-
liche und streng erbliche Gewohnheit, sich in dichten Gruppen
zu ansehnlicher Höhe in die Luft zu erheben und dann Kopf-
über herabzupurzeln. Die Runt-Taube ist von beträchtlicher Grösse
mit langem massigem Schnabel und grossen Füssen ; einige Unter-
rassen derselben haben einen sehr langen Hals, andre sehr lange
Schwingen und Schwanz, noch andre einen ganz eigenthümlich
kurzen Schwanz. Der »Barb« ist mit der Botentaube verwandt,
hat aber, statt des sehr langen, einen sehr kurzen und breiten
Schnabel. Der Kröpfer hat Körper, Flügel und Beine sehr ver-
längert, und sein ungeheuer entwickelter Kropf, den er sich aulzu-
blähen gefällt, mag wohl Verwunderung und selbst Lachen erre-
gen. Die Möventaube (Turbit) besitzt einen sehr kurzen
kegelförmigen Schnabel, mit einer Reihe umgewendeter Federn
auf der Brust, und hat die Sitte den oberen Theil des Schlun-
des beständig etwas auszubreiten. Der Jakobiner oder die
Perückentaube hat die Nacken-Federn so aufgerichtet, dass sie
eine Perücke bilden, und verhältnissmässig lange Schwung- und
Schwanz-Federn. Der Trompeter und die Trommeltaube* rucksen,
wie ihre Namen ausdrücken, auf eine ganz andre Weise als die
andern Rassen. Die Pfauentaube hat 30-40 statt der normalen
12—14 Schwanz-Federn und trägt diese Federn in der Weise |
r
the laugher, die Lachtaube: doch scheint nach dem Zusammenhange
hier eher die Trommeltaube als die Columba risoria gemeint zu seyn. D. Übs.
2
ausgebreitet. und aufgerichtet, dass in guten Vögeln sich Kopf
und Schwanz berühren; die Ol-Drüse ist gänzlich verkümmert.
Noch blieben einige minder ausgezeichnete Rassen aufzu-
zählen übrig. |
Im Skelette der verschiedenen Rassen weicht die Entwicke-
lung der Gesichtsknochen in Länge, Breite und Krümmung aus-
serordentlich ab. Die Form sowohl als die Breite und Länge
des Unterkiefer-Astes ändern in sehr merkwürdiger Weise. Die
Zahl der Heiligenbein- und Schwanz-Wirbel und der Rippen, die
verhältnissmässige Breite und Anwesenheit ihrer Queerfortsätze
wechseln ebenfalls. Sehr veränderlich sind ferner die Grösse
und Form der Lücken im Brustbein, so wie der Öffnungs-Winkel
und die bezügliche Grösse der zwei Schenkel des Gabelbeins,
Die verglichene Weite des Mundspaltes, die verhältnissmäs-
sige Länge der Augenlider, der: äusseren. Nasenlöcher und
der Zunge, welche sich nicht immer nach der des Schnabels
richtet, die Grösse des Kropfes und des obern Theils des Schlun-
des, die Entwickelung oder Verkümmerung der Öl-Drüse, die
Zahl der ersten Schwung- und der Schwanz-Federn, die ver-
glichene Länge von Flügeln und. Schwanz gegen einander und
segen die des Körpers, die des Laufs gegen die Zehen, die Zahl
der Hornschuppen in der Zehen-Bekleidung sind Alles Abänderungs-
'fähige Punkte im Körper-Bau. Auch die Periode, ‘wo sich das
vollkommene Gefieder einstellt, ist ebenso veränderlich als. die
Beschaffenheit des Flaums, womit die Nestlinge beim ‚Ausschlü-
pfen aus dem Eie bekleidet sind. Form und Grösse der Eyer
sind der Abänderung unterworfen. Die Art des Flugs ist eben so
merkwürdig verschieden, wie es bei manchen Rassen mit Stimme
und Gemüthsart der Fall ist. Endlich weichen bei gewissen Rassen
die Männchen etwas von den Weibchen ab.
So könnte man wenigstens eine ganze Menge von Tauben-
Formen auswählen, die ein Ornithologe, wenn er überzeugt wäre,
dass es wilde Vögel, unbedenklich für wohl-bezeichnete Arten er-
klären würde. Ich glaube nicht einmal, dass irgend ein Ornitho-
loge die Englische Botentaube, den kurzstirnigen Purzler, den
Runt, den Barb, die Kropf- und‘die Pfauen-Taube in dieselbe
vr
29
Sippe zusammenstellen würde, zumal eine jede dieser Rassen
wieder mehre erbliche Unterrassen in sich enthält, die er für
Arten nehmen könnte.
Wie gross nun aber auch die Verschiedenheit zwischen den
Tauben-Rassen seyn mag, so bin ich doch überzeugt, dass die
gewöhnliche Meinung der Naturforscher, dass alle von der Fels-
taube (Columba livia) abstammen, richtig ist, wenn man unter
diesem Namen nämlich: verschiedene geographische Rassen oder
Unterarten mit begreift, welche nur in den untergeordnetesten
Merkmalen von einander abweichen. Da einige der Gründe,
welche mich zu dieser Meinung bestimmt haben, mehr und we-
niger auch auf andre Fälle anwendbar sind, so will ich sie kurz
angeben. Wären jene verschiedenen Rassen nicht Varietäten und
nicht von der Felstaube entsprossen, so müssten sie von wenig-
stens '7—8 Stammarten herrühren; denn es wäre unmöglich
alle unsre zahmen Rassen durch Kreutzung einer geringeren Ar-
ten-Zahl miteinander zu erlangen. Wie wollte man z. B. die
Kropftaube durch Paarung zweier Arten miteinander erzielen,
wovon nicht wenigstens eine den ungeheuern Kropf besässe?
Die unterstellten wilden Stammarten müssten sämmtlich Fels-
Tauben gewesen seyn, die nämlich nicht freiwillig auf Bäumen
brüten oder sich auch nur darauf setzen. Doch ausser der Ü.
livia und ihren geographischen Unterarten kennt man nur noch
2—3 Arten Fels-Tauben, welche aber nicht einen der Charak-
tere unsrer zahmen Rassen besitzen. Daher müssten dann die
angeblichen Urstämme entweder noch in den Gegenden ihrer er-
sten Zähmung vorhanden und den Ornithologen unbekannt ge-
blieben seyn, was wegen ihrer Grösse, Lebensweise und merk-
würdigen Eigenschaften sehr unwahrscheinlich ist; oder sie müss-
ten in wildem Zustande ausgestorben seyn. Aber Vögel, welche
an Fels-Abhängen nisten und gut fliegen, sind nicht leicht aus-
zurotten, und unsre gemeine Fels-Taube, welche mit unsren zah-
men Rassen gleiche Lebens-Weise besitzt, hat noch nicht einmal
auf einigen der+kleineren Britischen Inseln oder an den Küsten
des Mittelmeeres ausgerottet werden können. Daher mir die
angebliche Ausrottung so vieler Arten, die mit der Felstaube
ES “
*
30
gleiche Lebens-Weise besitzen, eine sehr übereilte Annahme zu
seyn scheint. Überdiess sind die oben genannten so abweichen-
den Rassen nach allen Weltgegenden verpflanzt worden und
müssten daher wohl einige derselben in ihre Heimath zurück-
gelangt seyn. Und doch ist nicht eine derselben verwildert, ob-
wohl die Feld-Taube, d. i. die Felstaube in ihrer am wenigsten ver-
änderten Form, in einigen Gegenden wieder wild geworden ist.
Da nun alle neueren Versuche zeigen, dass es sehr schwer ist
ein wildes Thier zur Fortpflanzung im Zustande der Zähmung zu
vermögen, so wäre ıman durch die Hypothese eines mehrfältigen
Ursprungs unsrer Haus-Tauben zur Annahme genöthigt, es seyen
schon in alten Zeiten und von halb-zivilisirten Menschen wenig-
stens 7—8 Arten so vollkommen gezähmt worden, dass sie jetzt
in der Gefangenschaft ganz wohl gedeihen.
Ein Beweisgrund, wie mir scheint, von grossem Werthe
und auch anderweitiger Anwendbarkeit ist der, dass die oben
aufgezählten Rassen, obwohl sie im Allgemeinen in organischer Thä-
tigkeit, Lebens-Weise, Stimme, Färbung und den meisten Theilen
ihres Körper-Baues mit der Felstaube übereinkommen, doch in ande-
ren Theilen dieses letzten gewiss sehr weit davon abweichen ;
und wir würden uns in der ganzen grossen Familie der Colum-
biden vergeblich nach einem Schnabel, wie ihn die Englische
Botentaube oder der kurzstirnige Purzler oder der Barb besitzen,
— oder nach umgedrehten Federn, wie sie die Perückentaube hat,
— oder nach einem Kropf wie beim Kröpfer, — oder nach einem
Schwanz, wie bei der Pfaubentaube umsehen. Man müsste daher
annehmen, dass der halb-zivilisirte Mensch nicht allein bereits
mehre Arten vollständig gezähmt, sondern auch absichtlich oder
zufällig ausserordentlich abweichende Arten dazu erkoren habe,
und dass diese Arten seitdem alle erloschen oder verschollen
seyen. Das Zusammentreffen so vieler seltsamer Zufälligkeiten
scheint mir im höchsten Grade unwahrscheinlich.
Noch möchten hier einige Thatsachen in Bezug auf die Fär-
bung des Gefieders Berüchsichtigung, verdienen. Die Felstaube
ist Schiefer-blau mit weissem (bei der Ostindischen Subspecies,
C. intermedia Sırıckr., blaulichem) Hinterrücken, hat am Schwanze
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31
eine schwarze End-Binde und an den äusseren Federn desselben
einen weissen äusseren Rand, und die Flügel haben zwei schwarze
Binden; einige halb und andere anscheinend ganz wilde Unter-
rassen. haben auch noch schwarze Flecken auf den Flügeln.
Diese verschiedenen Merkmale kommen bei keiner andern Art der
ganzen Familie vereinigt vor. Nun treffen sich aber auch bei
jeder unsrer zahmen Rassen zuweilen und selbst unter den ganz
ausgebildeten Vögeln derselben alle jene Merkmale gut entwickelt
in Verbindung miteinander, selbst bis auf die weissen Ränder der
äusseren Schwanzfedern. Ja sogar, wenn man zwei Vögel von
verschiedenen Rassen, wovon keiner blau ist noch eines der er-
wähnten Merkmale besitzt, mit einander paart, sind die dadurch
erzielten Blendlinge sehr geneigt, diese Charaktere plötzlich an-
zunehmen. So kreuzte ich z. B. einfarbig weisse Pfauentauben
mit einfarbig schwarzen Barb-Tauben und erhielt eine braun und
schwarz gefleckte Nachkommenschaft; und als ich diese durch
Inzucht vermehrte, kam ein Enkel der rein weissen Pfauen- und
der rein schwarzen Barb-Taube mit schön blauem Gefieder, weis-
sem Unterrücken, doppelter schwarzer Flügelbinde, schwarzer
Schwanzbinde und weissen Seitenrändern der Steuerfedern, Alles
wie. bei der wilden Felstaube, zum Vorschein. Man kann diese
Thatsache aus dem wohl bekannten Prinzip der Rückkehr zu
vorälterlichen Charakteren begreifen, wenn alle zahmen Rassen
von der Felstaube abstammen. Wollten wir aber Dieses läugnen,
so müssten wir eine von den zwei folgenden sehr unwahrschein-
lichen Unterstellungen machen. Entweder: dass all’ die verschie-
denenen eingebildeten Stamm-Arten wie die Felstaube gefärbt und
gezeichnet gewesen (obwohl keine andre lebende Art mehr so
gefärbt und gezeichnet ist), so dass in dessen Folge noch bei
allen Rassen eine Neigung zu dieser anfänglichen Färbung und
Zeichnung zurückzukehren vorhanden wäre. Oder: dass jede
und auch die reinste Rasse seit eiwa den letzten zwölf oder
höchstens zwanzig Generationen einmal mit der Felstaube ge-
kreutzt: worden seye; ich sage: höchstens zwanzig, denn wir
kennen keine Thatsache zur Unterstützung der Meinung, dass
ein Abkömmling nach einer noch längeren Reihe von Genera-
32
tionen sogar zu den Charakteren seiner Vorfahren zurückkehren
könne. Wenn in einer Rasse nur einmal eine Kreutzung mit
einer andern stattgefunden hat, so wird die Neigung zu einem
Charakter dieser letzten zurückzukehren natürlich um so klei-
ner und kleiner werden, je weniger Blut von derselben noch in
jeder späteren Generation übrig ist. Hat aber eine Kreutzung
mit fremder Rasse nicht stattgefunden und ist gleichwohl in bei-
den Ältern die Neigung der Rückkehr zu einem Charakter vor-
handen, der schon seit mehren Generationen verloren gegangen,
so ist trotz Allem, was man Gegentheiliges sehen mag, die An-
nahme geboten, dass sich diese Neigung in ungeschwächtem
Grade während einer unbestimmten Reihe von Generationen fort-
pflanzen könne. Diese zwei verschiedenen Fälle werden in Ab-
handlungen über Erblichkeit oft miteinander verwechselt.
Endlich sind die Bastarde oder Blendlinge, welche durch die
Kreutzung der verschiedenen Tauben-Rassen erzielt werden, alle
vollkommen fruchtbar. Ich kann Diess mittelst meiner eigenen
Versuche bestätigen, die ich absichtlich zwischen den aller-ver-
schiedensten Rassen angestellt habe. Dagegen wird aber schwer
und vielleicht unmöglich seyn, einen Fall anzuführen, wo ein Ba-
stard an zwei bestimmt verschiedenen Arten schon selber voll-
kommen fruchtbar gewesen: wäre. Einige Schriftsteller nehmen
an, ein lang-dauernder Zustand der Zähmung beseitige allmählich
diese Neigung zur Unfruchtbarkeit, und aus der Geschichte des
Hundes zu schliessen scheint mir diese Hypothese einige Wahr-
scheinlichkeit zu haben, wenn sie auf einander sehr nahe ver-
wandte Arten angewendet wird, obwohl sie noch durch keinen
einzigen Versuch bestätigt worden ist. Aber eine Ausdehnung
der Hypothese bis zu der Behauptung, dass Arten, die ursprünglich
von einander eben so verschieden gewesen, wie es Botentaube,
Purzler, Kröpfer und Pfauenschwanz jetzt sind, eine bei Inzucht
vollkommen fruchtbare Nachkommenschaft WORERN: scheint mir
äusserst voreilig zu seyn.
Diese verschiedenen Gründe und zwar: die Unwährschötiitei
keit, dass der Mensch schon in früher Zeit sieben bis acht wilde
Tauben-Arten zur Fortpflanzung in der Gefangenschaft vermocht
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33
habe, die wir weder im wilden noch 'im 'verwilderten Zustande
kennen, ihre: in manchen Beziehungen von der Bildung aller Co-
lumbiden mit Ausnahme der 'Felstaube ganz abweichenden Cha-
raktere , das'gelegentliche‘ Wiedererscheinen der ‘blauen Farbe
und charakteristischen Zeichnung in allen Rassen sowohl im Falle
der Inzucht ‘als! der Kreutzung,, die vollkommene Fruchtbarkeit
der » Blendlinge: ı alle diese Gründe zusammengenommmen ge-
statten. mirnicht zu zweifeln, dass alle unsre zahmen Tauben-
Rassen von Columba'livia 'und deren geographischen Unterarten
abstammen.
Zu: Gunsten ‘dieser ‘Ansicht will ich noch ferner anführen:
1): dass die Felstaube, C. :livia, in Europa wie in Indien zur
Zähmung geeignet‘ gefunden worden ‘ist, und dass sie in ihren
Gewohnheiten wie in’ vielen Struktur-Beziehungen mit allen un-
sern'zahmen: Rassen 'übereinkommt. 2) Obwohl eine Englische
Botentaube ‘oder ein: 'kurzstirniger Purzler sich m gewissen
Charakteren weit‘: von der’ Felstaube entfernen, so ist es doch
dadurch, ‘dass man die verschiedenen Unterformen dieser Rassen,
mit Einschluss der z. Th. aus weit entfernten Gegenden abstam-
menden‘; mit’ in Vergleich ziehet, möglich, fast ununterbrochene
Übergangs-Reihen zwischen den am weitesten auseinander-liegen-
den Bildungen derselben herzustellen. 3) Diejenigen Charaktere,
welche die verschiedenen Rassen hauptsächlich von einander un-
terscheiden,, wie die Fleischwarzen und der ilange Schnabel der
englischen Botentaube, der kurze Schnabel des Purzlers und
die zahlreichen 'Schwanzfedern der Pfauentaube sind in jeder
Rasse doch äusserst veränderlich, und die Erklärung dieser Er-
scheinung‘ wird uns erst möglich seyn, wenn von der Züchtung
die Rede seyn wird. 4) Tauben sind bei vielen Völkern beob-
achtet und mit’ äusserster Sorgfalt und Liebhaberei gepflegt wor-
den. »'Man hat sie schon vor Tausenden von Jahren in meh-
ren Weltgegenden 'gezähmt; die älteste Nachricht von ihnen
stammt aus der’ Zeit der fünften Ägyptischen Dynastie, eiwa 3000
J. v.’Chr., wie mir Professor Lersius mitgetheilt; aber Bırcn be-
nachrichtigt mich,‘ dass Tauben schon auf einem Küchenzettel der
vorangehenden ' Dynastie vorkommen, ‘Von Prinmus vernehmen
3
34
wir, dass zur Zeit der Römer ungeheures Geld für Tauben. aus-
gegeben worden ist; ja, es war, dahin: gekommen, dass man
ihnen »Stammbaum und Rasse« nachrechnete. Gegen das Jahr
1600 schätzte sie ABER Kuan in Indien so sehr, dass ihrer
nicht weniger als 20,000. zur: Hof-Haltung ‘gehörten. »Die Mo-
narchen von Iran und Turan sandten einige: sehr selteneVögel
heim :und« ,: berichtet: der Hof-Historiker ‚weiter, ‘»Ihre Majestät
hat durch ‚Kreutzung der, Rassen, welche Methode früher: nie 'an-
gewendet worden war, dieselben in. erstaunlicher ‚Weise verbes-
sert«., Um diese nämliche Zeit waren die Holländer eben: so:scht,
wie ‚früher ‚die ‚Römer, 'auf die 'Tauben verpicht.; ‚ Die.äusserste
Wichtigkeit ‚dieser Betrachtungen: für ‚die Erklärung der ausser-
ordentlichen Veränderungen, welche die ‘Tauben ‚erfahren‘ haben,
wird uns: erst bei den späteren Erörterungen über die Züchtung
deutlich. werden. ‚Wir werden dann: auch sehen woher es kommt,
dass die. Rassen so oft ein «etwas monströses Aussehen ‘haben!
Endlich ist. es ‚ein ‚sehr günstiger Umstand für die Erzeugung ver-
schiedener Rassen, dass bei den Tauben ‚ein Männchen mit einem
Weibchen leicht. lebenslänglich zusammengepaart, und dass ver-
schiedene Rassen in einem und. dem :nämlichen Vogel-Hause bei-
sammen gehalten werden können.
Ich habe die wahrscheinliche ‚Entstehungs-Art ‚der zalimen
Tauben-Rassen mit. einiger, wenn auch noch ‚ganz ungenügender
Ausführlichkeit besprochen, ; weil. ich selbst zur Zeit, wo ich
anfing Tauben zu ‚halten und ihre verschiedenen: Formen zu \be-
obachten, ‘es. für ‘ganz. eben: so schwer: hielt‘ zu ‚glauben, dass
alle ihre Rassen jemals einem: gemeinsamen ‚Stammvater ‚enl-
sprossen seyn könnten, als es einem Naturforscher, schwer: fallen
würde, an die gemeinsame Abstammung aller Finken ‚oder ir-
gend einer andern grossen Vögel-Familie im Natur-Zustande zu
glauben. Insbesondere machte mich der Umstand sehr betroffen,
dass alle Züchter von. Haus-Thieren und. Kultur-Pflanzen, mit
welchen ich. je. ‚gesprochen ‚oder: ‚deren Schriften ‚ich gelesen,
vollkommen überzeugt waren, dass. die. verschiedenen. Rassen;
welche ein Jeder von ihnen ‚erzogen, von .eben: so vielen ur-
sprünglich verschiedenen Arten. herstammten. ‚Fragt.man, wie.ich
39
gefragt: habe, irgend einen berühmten Veredler ‚der Hereford’schen
Rindvieh-Rasse ; ob! dieselbe nicht von der lang-hörnigen Rasse
abstamme, so. wird ‚er. spöttisch lächeln. Ich habe nie einen
Tauben-, Hühner-, Enten- oder Kaninchen -Liebhaber gefun-
den, ‘der. nicht vollkommen überzeugt gewesen wäre, dass jede
Haupt-Rasse von einer andern Stamm-Art herkomme. Van Mons
zeigt in seinem Werke über die Äpfel und Birnen, wie wenig
er zu glauben geneigt seye, dass die verschiedenen Sorten, wie
7. B. der Ribston-pippin, ‚der Codlin-Apfel u. a., je von Saamen
des nämlichen Baumes entsprungen seyen. Und so könnte ich
unzählige ‚andere. Beispiele anführen. Diess lässt sich, wie
ich glaube, einfach erklären. In Folge lang-jähriger Studien ha-
ben diese Leute. einen tiefen Eindruck von den Unterschieden
zwischen‘ den verschiedenen Rassen. in sich aufgenommen; und
obgleich sie wohl wissen, dass jede Rasse etwas varlire, da sie
eben durch‘. die Züchtung: ‚solcher geringen Abänderungen ihre
Preise gewinnen, so‘ gehen sie doch nicht von allgemeineren
Vernunftschlüssen: aus und rechnen nicht den ganzen Betrag zu-
sammen, der ‚sich durch. Häufung kleiner Abänderungen während
vieler aufeinander-folgender Generationen ergeben muss. Werden
nicht ‚jene ‘Naturforscher, ‚welche, obschun viel weniger als diese
Züchter mit den Erblichkeits-Gesetzen bekannt und nicht besser
als sie ‚über die Zwischenglieder in der langen Reihe der Ab-
kommenschaft: unterrichtet, doch annehmen, dass viele von un-
seren gehegten Rassen von gleichen Ältern abstammen, — werden
sie nicht eine Lektion über Behutsamkeit zu gewärtigen haben,
wenn sie über den Gedanken lachen, dass eine Art im Natur-
Zustand in gerader Linie von einer andern Art abstammen könne?
% ‚Züchtung.) Wir wollen jetzt kürzlich die Wege betrachten,
auf welchen die gehegten Rassen jede von einer oder von meh-
ren einander nahe verwandten Arten erzeugt worden sind. Ein
‘kleiner Theil der Wirkung ‚mag dabei vielleicht dem unmittelba-
ren Einflüsse äussrer Lebensbedingungen und ein kleiner der
Gewöhnung zuzuschreiben seyn; es wäre aber thöricht, solchen
Kräften die ‚Verschiedenheiten zwischen einem Karrengaul und
einem '»Rasse-Pferd , zwischen. einem Windspiele und einem
3*
36
Schweisshund, einer Boten- und einer Purzel-Taube zuschrei-
ben zu wollen. Eine der merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten,
die wir an unseren kultivirten Rassen wahrnehmen , ist ihre
Anpassung nicht an der Pflanze oder des Thieres eigenen Vor-
theill, sondern an des Menschen Nutzen und Liebhaberei.
Einige ihm nützliche Abänderungen sind zweifelsohne plötz-
lich oder auf ein Mal entstanden, wie z. B. manche 'Botani-
ker glauben , dass die Weber-Karde mit ihren Haken, welchen
keine mechanische Vorrichtung an Brauchbarkeit‘ gleichkommt,
nur eine Varietät des wilden Dipsacus seye, und diese ganze
Abänderung mag wohl plötzlich in irgend einem Sämlinge die-
ses letzten zum Vorschein gekommen seyn. So ist es wahr-
scheinlich auch mit der in England zum Drehen der Bratspiesse
gebrauchten Hunde-Rasse der Fall, und es ist bekannt, dass eben
so das Amerikanische Ancon-Schaaf entstanden ist. Wenn wir aber
das Rasse-Pferd mit dem Karrengaul, den Dromedar mit dem Kameel,
die für Kulturland tauglichen mit den für Berg-Weide passenden
Schaafe-Rassen, deren Wollen sich zu ganz verschiedenen Zwecken
eignen, wenn wir die manchfaltigen Hunde-Rassen vergleichen,
deren jede dem Menschen in einer anderen Weise dient, —
wenn wir den im Kampfe so ausdauernden Streit-Hahn mit an-
dern friedfertigen und trägen Rassen, welche »immer legen und
niemals zu brüten verlangen«, oder mit dem so kleinen und zier-
lichen Bantam-Huhne vergleichen, -- wenn wir endlich das Heer
der Acker-, Obst-, Küchen- und Zier-Pflanzenrassen in's Auge fas-
sen, welche dem Menschen jede zu anderem Zwecke und in andrer
Jahreszeit so nützlich oder für seine Augen so angenehm sind,
so müssen wir uns doch wohl weiter nach den Ursachen solcher
Veränderlichkeit umsehen. Wir können nicht annehmen, dass
alle diese Varietäten auf einmal so vollkommen und so nutzbar
entstanden seyen, wie wir sie jetzt vor uns sehen, und kennen
in der That von manchen ihre Geschichte genau genug um zu
wissen, dass Diess nicht der Fall gewesen. Der Schlüssel liegt
in des Menschen aceumulativem Wahl-Vermögen, d.h. in
seinem Vermögen, durch jedesmatige Auswahl derjenigen Indivi-
duen zur Nachzucht, welche die ihnierwünschten Eigenschaften im
37
höchsten Grade besitzen, diese Eigenschaften bei jeder Generation
um einen! wenn«auch :noch so unscheinbaren Betrag zu steigern.
Die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen ; der Mensch
befördert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem
Sinne kann‘man von ihm sagen, er schaffe sich nützliche Rassen.
Die: Macht dieses Züchtungs-Prineips ist nicht hypothetisch ;
denn es ist gewiss, dass einige unsrer ausgezeichnetsten Viehzüchter
binnen einem 'Menschen-Alter mehre Rind- und Schaaf-Rassen
in beträchtlichem Umfange modifizirt haben. Um das, was sie
geleistet haben, in seinem ganzen Umfange zu würdigen, muss
man einige von den vielen diesem Zwecke gewidmeten Schriften
lesen und ‚die Thiere selber sehen. — Züchter sprechen gewöhn-
lich‘ von eines Thieres Organisation wie von einer ganz bildsa-
men Sache, die sie meistens völlig nach ihrem Gefallen modeln könn-
ten: Wenn es der Raum gestattete, so würde ich viele Stellen
von den sachkundigsten Gewährsmännern als Belege anführen.
Youarr , der. wahrscheinlich ‘besser als fast irgend ein Anderer
mit den landwirthschaftlichen Werken bekannt und selbst ein sehr
guter Beurtheiler eines Thieres war, sagt von diesem Züchtungs-
Prinzip, es seye »was den Landwirth befähige den Charakter
seiner ‚Heerde nicht allein zu modifiziren, sondern gänzlich zu
ändern. Es ist der Zauberstab, mit dessen Hülfe er jede Form
in's Leben ruft, die ihm gefällt«. ‘Lord SomerviLe sagt in Bezug
auf. das, ‘was: die Züchter hinsichtlich der Schaaf-Rassen ge-
leistet: »Es ist, als hätten sie eine in sich vollkommene Form
an die Wand gezeichnet und dann belebt«. Der erfahrenste
Züchter, Sir‘Joun Sesrient, pflegte in Bezug auf die Tauben zu
sagen: »er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren
hervorbringen, bedürfe aber sechs Jahre, um Kopf und Schnabel
zu ‚erlangen«. ‘In Sachsen ist die Wichtigkeit jenes Prinzips
für ‚die Merino-Zucht so anerkannt, dass die Leute es gewerbs-
mässig verfolgen. Die Schaafe werden auf einen Tisch gelegt
und 'studirt, wie der Kenner ein Gemälde studirt. Diess wird
je ‚nach Monatsfrist dreimal wiederholt, und die Schaafe werden
jedesmal gezeichnet und klassifizirt, so dass nur die allerbesten
zuletzt für die Nachzucht übrig bleiben.
38
Was Englische Züchter bis jetzt schon’ geleistet haben,! geht
aus den ungeheuren Preisen hervor, ‚die man für: Thiere be-
zahlt, die einen guten Stammbaum: aufzuweisen haben, und’diese
hat man jetzt nach fast allen Weltgegenden ausgeführt: "Diese
Veredelung rührt im Allgemeinen keineswegs davon her, dass
man verschiedene Rassen miteinander gekreutzt, All’ die besten
Züchter sprechen sich streng gegen dieses Verfahren aus, ves
seye denn etwa zwischen einander nahe verwandten: Unterrassen,
Und hat eine solche Kreutzung) stattgefunden, so ist die sorgfäl-
tigste Auswahl weit nothwendiger, als selbst in gewöhnlichen
Fällen. Handelte es sich bei der Wahl nur «darum, irgend
welche sehr auffallende Abänderungen auszusondern ‚und‘ zur
Nachzucht zu verwenden, so wäre das Prinzip so handgreiflich,
dass es sich kaum der Mühe lohnte , davon zu sprechen. Aber
seine Wichtigkeit besteht in dem grossen Erfolg von Generation
zu Generation fortgesetzter Häufung von dem ungeübten Auge
ganz unkenntlichen Abänderungen in einer Richtung. hin: 'Abän-
derungen, die ich, einfach genommen, vergebens: wahrzunehmen
gestrebt habe. Nicht ein Mensch unter Tausend hat ein''hinrei-
chend scharfes Auge und Urtheil, um ein ausgezeichneter‘ Züch-
ter zu werden. Ist er ‚mit diesen Eigenschaften: versehen , stu-
dirt seinen Gegenstand Jahre lang. und widmet ihm seine "ganze
Lebenszeit mit ungeschwächter Beharrlichkeit, so wird‘er Erfolg
haben und grosse Verbesserungen bewirken. Ermangelt er aber
jener Eigenschaften, so wird er sicher nichts ausrichten. Es
haben wohl nur Wenige davon eine Vorstellung, was für’ ein Grad
von natürlicher Befähigung und wie viele Jahre Übung dazu ge-
hören, um nur ein geschickter Tauben-Züchter zu werden.
Die nämlichen Grundsätze werden beim ‚Garten-Bau befolgt,
aber die Abänderungen erfolgen oft: plötzlicher. Doch‘ glaubt -
niemand, dass unsere edelsten -Garten-Erzeugnisse durch "eine
einfache Abänderung unmittelbar aus der wilden Urform ent-
standen seyen. In einigen Fällen können wir beweisen, dass Diess
nicht geschehen ist, indem genaue Protokolle darüber geführt wor-
den sind; um aber ein sehr treffendes Beispiel anzuführen, können
wir uns auf die stetig zunehmende Grösse der Stachelbeeren be=
e-
39
ziehen. ‘Wir nehmen eme erstaunliche: Veredlung in’ manchen
Zierblumen wahr, wenn: man die heutigen Blumen mit Abbildungen
vergleicht, die vor 20-_30 Jahren ‚davon gemacht worden sind,
Wenn ’eine Pflanzen-Rasse einmal wohl ausgebildet worden: ist,
so entfernt der'Samen-Züchter nicht die besten Pflanzen, sondern
diejenigen aus den Saamen-Beeten, welche am weitesten von ihrer
eigenthünlichen Form abweichen. Bei Thieren findet diese Art von
Auswahl’ ebenfalls statt; denn kaum dürfte Jemand so sorglos
seyn, ‘seine ‚schlechtesten Thiere zur 'Nachzucht zu verwenden.
Beinden Pflanzen gibt ‘es noch ein anderes Mittel das; Maas
der Wirkungen "der ‘Zuchtwahl zu beobachten, nämlich die
Vergleichung der Verschiedenheit ‘der ‚Blüthen in (den mancherlei
Värietäten"einer Art im Blumen-Garten ; der Verschiedenheit der
Blätter, Hülsen, ' Knollen oder. was: sonst für Theile in Betracht
kommen, "im Küchen-Garten , segenüber 'den Blüthen der näm-
lichen Varietäten; und’ der Verschiedenheit der: Früchte 'bei ‚den
Varietäten! einer "Art im Obst- Garten, gegenüber den: Blät-
tern und. Blüthen derselben Yarietäten-Reihe./ Wie | verschieden
sind die Blätter der 'Kohl-Sorten 'und:''wie ähnlich einander ihre
Blüthen ! wie "unähnlich' die Blüthen des Jelängerjeliebers und wie
ähnlich: die Blätter! wie sehr weichen die Früchte der verschiedenen
Stachelbeer-Sorten in Grösse, Farbe, Gestalt und Behaarung von
einander "ab," während "an den’ Blüthen nur ganz unbedeutende
Verschiedenheiten zwbemerken sind! Nicht‘ als ob. die. Va-
rietäten, die in einer Beziehung weit auseinander‘, in’andern gar
nicht verschieden wären: 'Diess ‘ist schwerlich je und vielleicht
niemals der Fall! Die Gesetze der Wechselbeziehungen des Wachs-
Ihums, deren Wichtigkeit nie übersehen werden’ sollte, werden
iinmer einige Verschiedenheiten veranlassen; im Allgemeinen aber
- kann'ich"nicht zweifeln, dass die fortgesetzte Auswahl geringer
Abänderungen in den Blättern, in den Blüthen oder in der Frucht
solche Rassen erzeuge, welche hauptsächlich in diesen "Theilen;
von einander abweichen. |
Man: könnte ' einwenden, ‚das Prinzip der Zuchtwahl seye
erst seit kaum‘ drei’ Vierteln 'eines Jahrhunderts zu planmässiger
Anwendung‘ gebracht worden; gewiss ist es erst seit den letzten
40
Jahren mehr in Übung und sind viele'Schriften darüber erschie-
nen; die Ergebnisse sind in’ einem entsprechenden Grade im-
mer rascher und erheblicher ‘geworden. ‘Es ist aber nicht‘ ent-
fernt wahr, dass dieses Prinzip eine neue Entdeckung. ;seye,.Ich
kann mehre Beweise anführen, aus welchen sich: die‘ volle. An-
erkennung seiner Wichtigkeit schon in sehr alten: Schriften ergibt,
Selbst in den rohen und barbarischen ‘Zeiten: der ‚Englischen
Geschichte sind ausgesuchte Zucht-Thiere' oft eingeführt: und. ist
ihre Ausfuhr gesetzlich verboten ‚worden; auch war die Zerstö- °
rung der Pferde unter einer gewissen Grösse angeordnet; was
sich mit dem oben erwähnten Ausjäten ‚der Pflanzen vergleichen
lässt. Das Prinzip der Züchtung finde ‚ich auch ‚in einer ‚alten
Chinesischen Encyklopädie bestimmt angegeben. Bestimmte Regeln
darüber sind bei einigen Römischen: Klassikern’ niedergelegt. ‚Aus
einigen Stellen in der ‚Genesis erhellt, dass; man schon in ‚jener
frühen Zeit der Farbe der Hausthiere seine, Aufmerksamkeit zu-
gewendet hat. Wilde kreutzen noch jetzt zuweilen. ihre, ‚Hunde
mit wilden Hunde-Arten, um: die. Rasse | zu ‚verbessern, wie,..es
nach Prinius' Zeugniss auch vormals..geschehen: ist. Die. Wilden
in Süd-Afrika spannen ihre Zug-Ochsen‘ nach. der: Farbe zusam-
men, wie einige Esquimaux ‚ihre Zug-Hunde. Livinsstone berichtet,
wie hoch gute Hausthier-Rassen von den Negern im innern Afrika, _
welche nie mit Europäern in’Berührung gewesen, geschätzt werden.
Einige der angeführten Thatsachen | sind. zwar keine‘.Belege für
wirkliche ‘Züchtung; aber sie zeigen; dass die Zucht der. Haus-
thiere schon in ältern Zeiten ein Gegenstand der Bestrebung‘.ge-
wesen und; es bei den rohesten Wilden noch jetzt ist. Es würde
aber in der That ‘doch ‚befreinden müssen, wenn ‚sich‘ bei ‚der
Züchtung die Aufmerksamkeit: nicht. sofort auf die Erblichkeit ‚der
so ‚auffälligen. guten und schlechten. Eigenschaften gelenkt hätte,
; In jeiziger Zeit, versuchen es ausgezeichnete Züchter durch
planmässige Wahl, mit einem bestimmten. Ziel, im Auge), ‚neue
Stämme oder Unterrassen zu bilden, die ‚alles. bis jetzt bei
uns Vorhandene übertreffen sollen. Für:unseren Zweck jedoch ist
diejenige: Art von: Züchtung‘. wichtiger „: welche‘, man die unbe-
wusste nennen kann und welche.ein Jeder in Anwendung bringt,der
Er e-
41
von den'besten'Thieren 'zu.besitzen und nachzuziehen strebt. So
wird ‘Jemand, "der 'einen ‘guten Hühnerhund zu haben wünscht, zu-
erst möglich gute Hunde’ zu'erhalten suchen und hernach von den
besten‘ seiner eignen Hunde Nachzucht zu bekommen streben,
ohne die Absicht oder die Erwartung zu haben, die Rasse hie-
durch bleibend zu ändern. 'Demungeachtet zweifle ich nicht daran,
dass,'wenn er dieses Verfahren einige Jahrhunderte lang fortsetzte,
er seine Rasse‘ "ändern ‘und veredeln würde, wie 'BAKEWELL,
Corzıns u. A. durch ein:gleiches und’ nur mehr planmässiges Ver-
fahren schon während ihrer eigenen Lebens-Zeit die Formen und
Eigenschaften ihrer Rinder-Heerden wesentlich verändert haben.
Langsame und 'unmerkliche Veränderungen dieser Art lassen sich
nicht erkennen, wenn nicht wirkliche Ausmessungen oder sorg-
fältige Zeichnungen der fraglichen Rassen von Anfang her gemacht
worden sind, welche zur Vergleichung dienen können; zuweilen
känn man jedoch noch unveredelte oder wenig veränderte Indi-
viduen in solchen Gegenden auffinden, wo die Veredelung der-
selben ursprünglichen Rasse noch nicht oder nur wenig fortge-
schritten ist. So hat man Grund zu glauben, dass König Karrı's
Jagdhund-Rasse* seit der Zeit dieses Monarchen unbewusster
Weise beträchtlich verändert worden ist. Einige völlig sachkundige
Gewährsmänner 'hegen die Überzeugung, dass der Spürhund in ge-
rader Linie vom Jagdhund abstammt und wahrscheinlich durch lang-
same Veränderung aus demselben hervorgegangen ist. Es ist
bekannt, dass der Vorstehehund im letzten Jahrhundert grosse
Umänderung erfahren hat, und hier glaubt man seye die Umände-
rung hauptsächlich durch Kreutzung mit dem Fuchs-Hunde bewirkt
worden; ‘aber was uns berührt, das ist, dass diese Umänderung
.,—.i 0).
Pan
* Herr Darwın ertheilt mir über die hier genannten Englischen Hunde-
Rassen folgende Auskunft:
der Jagdhund (Spaniel) ist klein, rauhhaarig, mit hängenden Ohren und
gibt auf der Fährte des Wildes Laut;
der Spürhund (Setter) ist ebenfalls rauhhaarig, aber gross, und drückt
sich, wenn er Wind vom Wilde hat, ohne Laut zu geben lange Zeit regungs-
los auf den Boden [auf die Fährte ??];
der Vorstehehund (Pointer) endlich entspricht dem Deutschen Hühner-
hunde 'und 'ist in England 'gross und glatthaarig. D. Übs.
42
unbewusster und langsamer Weise geschehen und: dennoch «so
beträchtlich ist, dass, obwohl der alte Vorstehehund gewiss aus
Spanien gekommen, Herr Borrow mich doch versichert: hat, in
ganz Spanien keine einheimische Hunde -Rasse. gesehen‘ zu
haben, die unserem Vorstehehund gliche. eh
Durch. ein gleiches Wahl-Verfahren und sorgfältige Aufzucht
ist die ganze Masse der Englischen Rasse-Pferde dahin ‚gelangt in
Schnelligkeit und Grösse ihren Arabischen Urstamm zu übertreffen,
so dass dieser letzte bei den Bestimmungen über die Goodwood-
Rassen hinsichtlich des zu tragenden Gewichtes begünstigt werden
musste. Lord Spencer u. A. haben ‘gezeigt, dass in England.das
Rindvieh an: Schwere und früher Reife, gegen frühere Zeiten zu:
genommen. Vergleicht man die Nachrichten, welche in alten
Tauben-Büchern über die Boten- und Purzel-Tauben enthalten sind,
mit diesen Rassen, wie sie jetzt, in Britannien, Indien‘ und
Persien vorkommen, so kann man, scheint mir, deutlich die Stufen
verfolgen, welche sie allmählich zu durchlaufen hatten , um end-
lich: so weit von der Felstaube 'abzuweichen.
Yovarr gibt eine, vortreffliche Erläuterung von den Wirkungen
einer. fortdauernden Züchtung, welche man.in so ferne alsıun-
bewusste. betrachten kann, als die Züchter nie das, von ihnen
erlangte Ergebniss selbst erwartet oder gewünscht haben können,
nämlich die Erzielung zweier ganz verschiedener, Stämme, ‚Es sind
die zweierlei Leicestrer Schaaf-Heerden, welche, von Mr. Buckuey
und Mr. Burgsss seit etwas über 50 Jahren lediglich aus: dem Bake-
werı’schen Urstamme gezüchtet worden. ‚Unter Allen, ‚welche mit
der Sache bekannt sind, glaubt Niemand von Ferne daran, dass
die beiden ‘Eigner dieser Heerden‘ dem reinen, Bakewell'schen
Stamme jemals fremdes Blut beigemischt hätten, und doch ist
jetzt die Verschiedenheit zwischen deren Heerden so gross, dass
man glaubt ganz verschiedene Rassen zu sehen. |
Gäbe es Wilde so barbarisch, dass sie keine Vermuthung
von der Erblichkeit: des Charakters ihrer Hausthiere hätten, so
würden sie doch jedes ihnen zu einem besonderen Zwecke vor-
zugsweise nützliche Thier während Hungersnoth und anderen
Unglücks-Fällen sorgfältig zu erhalten bedacht seyn, und ein der-
43
artig auserwähltes Thier' würde ‘mithin mehr Nachkommenschaft
als ein’ andres'von geringerem Werthe hinterlassen ‚' so dass schon
auf diese Weise eine Auswahl zur Züchtung stattfände. Welchen
Werth selbst die Barbaren des Feuerlandes auf ihre Thiere legen,
sehen wir, wenn sie in Zeiten der Noth lieber ihre alten Weiber
als ihre Hunde verzehren, weil ihnen diese nützlicher sind als jene.
Bei den Pflanzen kann man dasselbe stufenweise Veredlungs-
Verfahren in der gelegentlichen Erhaltung der besten Individuen
wahrnehmen, mögen sie nun hinreichend oder nicht genügend
verschieden seyn, um bei ihrem ‘ersten Erscheinen schon als
eine eigene Varietät zu gelten; mögen sie aus der Kreutzung
von zwei oder mehr Rassen oder Arten hervorgegangen seyn:
Wir erkennen Diess' klar aus der ‘zunehmenden Grösse und
Schönheit der Blumen von Jelängerjelieber, Dahlien, Pelargonien,
Rosen u. a. Pflanzen im Vergleich zu den älteren Varietäten
von derselben Arten. Niemand wird erwarten eine Jelänger-
jelieber oder Dahlie erster Qualität aus dem Samen einer wil-
den Pflanze zu erhalten, oder eine Schmelzbirne erster Sorte
aus dem Samen einer wilden Birne zu erziehen, obwohl es von
einem wild-gewachsenen Sämlinge der Fall seyn könnte , welcher
von einer im Garten gebildeten Varietät entstammte. Die schon
in.der klassischen Zeit kultivirte Birne scheint nach Prinius’ Bericht
eine Frucht von sehr untergeordneter Qualität gewesen zu seyn.
Ich habe in Gartenbau-Schriften den Ausdruck grossen Erstaunens
über die wunderbare Geschicklichkeit von Gärtnern gelesen, die
aus dürftigem Material so glänzende Erfolge geärndet; aber ihre
Kunst war ohne Zweifel einfach und, wenigstens in Bezug auf Jdas
End-Ergebniss, eine unbewusste. Sie bestund nur darin, dass sie
die jederzeit beste Varietät wieder aussäeten und, wenn dann
zufällig eine neue etwas bessere Abänderung zum Vorschein kam,
nun diese zur Nachzucht wählten u. s. w. Aber die Gärtner der
klassischen Zeit, welche die beste Birne, die sie erhalten konnten,
nachzogen, dachten nie daran, was für eine herrliche Frucht wir
einst essen würden; und doch schulden wir dieses treffliche Obst
in geringem ‘Grade wenigstens dem Umstande, dass schon sie
begonnen haben, die besten Varietäten auszuwählen und zu erhalten.
44
/ö Der grosse Umfang von Veränderungen, die: sich in’ unseren
Kultur-Pflanzen langsamer und unbewusster Weise angehäuft haben,
erklärt die wohl-bekannte Thatsache, dass wir in den meisten Fällen
die wilde Mutterpflanze. nicht wieder erkennen und daher nicht
anzugeben vermögen, woher die am längsten in: unseren ‚Blumen-
und Küchen-Gärten angebauten Pflanzen abstammen. Wenn es
aber Hunderte oder Tausende von Jahren bedurft hat, um unsre
Kultur-Pflanzen bis auf deren jetzige dem Menschen so. nützliche
Stufe zu veredeln, so wird es uns auch begreiflich, warum weder
Australien, noch das Kap der guten Hoffnung oder irgend eine
andre von ‚ganz. unzivilisirien Menschen: ‘bewohnte Gegend uns
eine der Kultur werthe Pflanze geboten hat. Nicht als ob diese
an Pflanzen so reichen Gegenden in Folge eines eigenen Zufalles
gar nicht mit Urformen nützlicher Pflanzen von der Natur versehen
worden wären ; sondern ihre einheimischen Pflanzen sind nur nicht
durch unausgesetzte Züchtung bis zu einem Grade veredelt'worden,
welcher: mit dem der Pflanzen in den se hon längst kultivirten
Ländern vergleichbar wäre.
Was die Hausthiere nicht zivilisirter Völker betrifft, ‚so darf
man nicht übersehen, dass diese in der Regel, zu gewissen Jahres-
zeiten wenigstens, um ihre ‚eigene Nahrung zu kämpfen haben.
In zwei sehr verschieden beschaffenen Gegenden können Indivi-
duen von einerlei Organismen-Art aber zweierlei Bildung und
Thätigkeit der Organe oft die einen in der ersten und die an-
dern in der zweiten Gegend besser fortkommen ‚und dann. durch
eine Art natürlicher Züchtung, wie nachher weiter erklärt werden
soll, zwei Unterrassen bilden.. Diess erklärt vielleicht zum Theile,
was einige Gewährsmänner von den Thier-Rassen der Wilden be-
richten, dass dieselben mehr die Charaktere besonderer Species an
sich tragen, als die bei zivilisirten Völkern gehaltenen Abänderungen.
Nach der hier aufgestellten Ansicht ‘von. dem äusserst wich-
tigen Einflusse , den die Züchtung ‚des Menschen geübt, erklärt
es sich auch wie es’ komme, dass unsre veredelten Rassen sich in
Struktur und Lebensweise so an die Bedürfnisse und Launen des
Menschen anpassen. Es lassen sich daraus ferner, wie ich glaube,
der so oft abnorme Charakter unsrer’ veredelten Rassen und die
45
gewöhnlich äusserlich so grossen, in inneren Theilen oder -Or-
ganen aber verhältnissmässig so unbedeutenden Verschiedenheiten
derselben begreifen: ‘Denn’ der Mensch kann kaum oder nur sehr
schwer andre als äusserlich sichtbare‘ ' Abweichungen der Struktur
bei seiner Auswähl beachten , und’er bekümmert: sich in der That
nur selten um: das'Innere. Er kann durch Wahl nur auf solche
Abänderungen verfallen , welche ihm von der Natur selbst in an-
fänglich schwachem ‘Grade ‚dargeboten: werden. : So würde: nie-
mals Jemand versuchen eine Pfauentaube zu machen, wenn er
nicht zuvor schon eine Taube mit einem in’ etwas unregelmässiger
Weise entwickelten Schwanz gesehen hätte,; oder einen -Kröpfer
zu züchten, ehe er eine Taube mit einem grösseren Kropfe 'ge-
funden. Je eigenthümlicher und ‘ungewöhnlicher ein Charakter
bei dessen erster Wahrnehmung erscheint, ‘desto mehr wird der-
selbe die Aufmerksamkeit in Anspruch ‘nehmen. Doch wäre
der Ausdruck »Versuchen eine Pfauentaube zu machen« in den
meisten /Fällen äusserst unangemessen. Denn der, welcher zuerst
eine Taube mit einem etwas stärkeren Schwanz zur Nachzucht
ausgewählt, hat sich gewiss nicht träumen lassen, was aus den
Nachkommen dieser Taube durch theils unbewusste und theils
planmässige Züchtung werden könne. Vielleicht 'hat der Stamm-
vater aller Pfauentauben nur vierzehn etwas ausgebreitete Schwanz-
Federn gehabt, wie die jetzige Javanische Plauentaube oder wie
Individuen von verschiedenen ' andren Rassen, an welchen man
bis zu 17 Schwanz-Federn gezählt hat. Vielleicht hat die erste
Kropftaube ihren Kropf nicht stärker aufgeblähet, als es jetzt die
Möventaube mit dem oberen Theile des Schlundes zu thun pflegt,
eine Gewohnheit, welche bei allen Tauben-Liebhabern unbeachtet
bleibt, weil sie keinen Gesichtspunkt für ihre Züchtung abgibt.
Es lässt sich nicht annehmen, ‘dass es erst einer grossen
Abweichung in der Struktur bedürfe, um den Blick des Liebhabers
auf sich zu ziehen; er nimmt äusserst kleine Verschiedenheiten
wahr, und es’ ist in’ des Menschen Art begründet, auf eine wenn
auch geringe Neuigkeit in seinem eignen Besitze Werth zu legen.
Auch ist der anfangs auf geringe individuelle Abweichungen bei einer
Art gelegte Werth nicht mit demjenigen 'zu vergleichen, welcher
46
denselben Verschiedenheiten beigelegt wird, wenn einmal;mehre
reine Rassen dieser Art hergestellt sind. Manche geringe Abände-
rungen mögen unter solchen Tauben vorgekommen seyn und noch
vorkommen, welche als fehlerhafte Abweichungen vom vollkommenen
Typus einer jeden Rasse zurückgeworfen worden. Die gemeine Gans
hat keine auffallende Varietät geliefert, ‘daher die: Thoulouse-
und ‘die gewöhnliche Rasse, welche nur «in der Farbe als dem
biegsamsten aller Charaktere verschieden sind, bei unseren Ge-
flügel-Ausstellungen für verschiedene Arten ausgegeben wurden.
Diese Ansichten mögen ferner eine zuweilen gemachte Be-
merkung erklären, dass wir nämlich nichts über ‚die Entstehung
oder Geschichte einer unsrer veredelten Rassen wissen. Denn
man kann von einer ‚Rasse, so wie von einem: Sprach - Dialekte,
in Wirklichkeit schwerlich sagen, dass: sie einen bestimmten
Anfang gehabt habe. Es pflegt jemand und gebraucht zur Züch-
tung irgend ein Einzelwesen mit geringen Abweichungen des
Körper -Baues, oder er verwendet mehr Sorgfalt als gewöhnlich |
darauf, seine besten Thiere mit einander'zu paaren; er verbessert
dadurch seine Zucht und die verbesserten Thiere verbreiten sich
unmittelbar in der Nachbarschaft. ‚Da sie aber bis jetzt noch
schwerlich einen besonderen Namen haben und sie noch nicht
sonderlich geschätzt sind, so achtet niemand auf ihre Geschichte,
Wenn sie dann durch dasselbe langsame und stufenweise: Ver-
fahren noch weiter veredelt worden, breiten. sie sich ‘immer
weiter aus und werden jetzt als etwas: Ausgezeichnetes und
Werthvolles anerkannt und erhalten wahrscheinlich ‘nun erst
einen Provinzial-Namen. In halb-zivilisirten Gegenden mit wenig
freiem Verkehr mag die Ausbreitung und Anerkennung einer
neuen Unterrasse ein langsamer Vorgang seyn. Sobald aber die
einzelnen werthvolleren Eigenschaften der neuen Unterrasse einmal
vollständig anerkannt sind, wird das von mir sogenannte Prinzip
der unbewussten Züchtung langsam: und unaufhörlich — wenn
auch mehr zu einer als zur andern Zeit, jenachdem eine Rasse
in der Mode steigt und fällt, und vielleicht mehr in einer Gegend i
als in der andern, je nach der Zivilisations-Stufe ihrer Bewohner
— auf die Vervollkommnung der’charakteristischen Eigenschaften
y 41
der Rasse hinwirken, ' welcher ' Art sie nun ‘seyn mögen. Aber
es’ ist unendlich‘ wenig‘ Aussicht vorhanden, einen geschichtlichen
Bericht‘ von ‘solchen langsam : wechselnden und unmerklichen
Veränderungen zu erhalten.
}} Ich habe’ 'nun "einige Worte über die für die künstliche
Züchtung: günstigen oder ungünstigen Umstände zu sagen. Ein
hoher‘ Grad von Veränderlichkeit ist insoferne offenbar günstig,
als er ein reicheres Material’ zur Auswahl für die Züchtung
liefert: Doch nicht, als ‘ob bloss individuelle: Verschiedenheiten
nicht vollkommen: genügten, um mit 'äusserster Sorgfalt durch
Häufung endlich eine bedeutende Umänderung in fast jeder be-
liebigen Richtung 'zu erwirken. Da aber solche dem Menschen
offenbar: nützliche oder : gefällige Variationen nur’ zufällig vor-
kommen, so muss die Aussicht ‘auf deren Erscheinen: mit der
Anzahl der gepflegten ‚Individuen zunehmen, und so wird 'eine
Vielzahl! dieser letzten von höchster ‚Wichtigkeit für ‘den Er-
folg. : Mit: Rücksicht auf dieses Prinzip hat Marscuarı über die
Schaafe in einigen Theilen von Yorkshire gesagt, dass, weil sie
gewöhnlich nur, armen Leuten gehören und meistens ‘in kleine
Loose vertheilt ‘sind, sie nie veredelt werden können. Auf der
andern Seite haben Handelsgärtner, welche alle Pflanzen - in
grossen ‚Massen erziehen, gewöhnlich mehr Erfolg als die blossen
Liebhaber. in Bildung, neuer und werthvoller: Varietäten. Die
Haltung: einer ‚grossen Anzahl von Einzelwesen einer Art in einer
Gegend verlangt, dass man diese Species in günstige Lebens-Bedin-
gungen verseize, so. dass sie sich in dieser Gegend freiwillig
fortpflanze. , Sind nur wenige Individuen einer Art vorhanden,
so: werden sie gewöhnlich* alle, wie auch ihre Beschaffenheit
seyn mag, zur Nachzucht verwendet, und Diess hindert ihre
Auswahl. . Aber wahrscheinlich der wichtigste Punkt von allen
ist, dass das Thier oder die Pflanze für den Besitzer so nützlich
oder so hoch gewerthet sey, dass er die genaueste Aufmerk-
samkeit auf je ch. die geringste Abänderung: in: den Eigen-
schaften und d per-Baue eines jeden Individuums verwende.
Ist Diess nicht all,:so..ist auch nichts zu 'erwirken. Ich habe
es, als wesentlich hervorheben sehen, es seye ein sehr glücklicher
48
Zufall gewesen, dass die Erdbeere gerade zu, variiren begann, als.
Gärtner diese Pflanze. näher zu beobachten. anfingen... Zwei-
lässigt.: Als jedoch Gärtner später die Pflanzen mit ‚etwas grösseren,
früheren oder: besseren Früchten .heraushoben,, Sämlinge. ‚davon
erzogen und ‚dann wieder: die besten Sämlinge und deren. Ab-
kommen zur: Nachzucht ‚verwendeten, 'da lieferte diese, unter-
stützt durch die Kreutzung mit andern Arten, die vielen be=
wundernswerthen Varietäten, welche in: den letzten 30-40. Jahren
erzielt worden sind. sur
Was Thiere getrennten Geschlechtes: betrifft, so hat die
Leichtigkeit, womit ihre. Kreutzung gehindert werden kann, einen
wichtigen: Antheil: an dem Erfolge in Bildung neuer‘ Rassen, in
einer Gegend wenigstens, welche‘ bereits mit: anderen Rassen
besetzt ist. ' Dazu kann die Einschliessung (des 'Landes in Betracht
kommen. Wandernde Wilde oder‘ die'Bewohner 'offner Ebenen
besitzen selten . mehr als eine: Rasse derselben ‚Art. Man kann
zwei Tauben: lebenslänglich zusammen-paaren, und Diess ist eine
grosse ‘Bequemlichkeit für den Liebhaber, weil er viele Vollblut-
Rassen im nämlichen Vogelhause ‚beisammen erziehen kann.‘ 'Die-
ser Umstand hat: gewiss die Bildung’ und ‘Veredlung neuer Rassen
sehr befördert. Ich will'noch beifügen,’ dass man die Tauben
sehr rasch und in grosser Anzahl: vermehren und. die ‚schlechten
Vögel leicht beseitigen kann, weil sie’getödtet zur Speise dienen.
Auf der: andern Seite lassen sich Katzen ihrer nächtlichen Wan-
derungen wegen nicht zusammen-paaren, daher man auch, trotz
dem dass Frauen und Kinder‘sie gerne haben, selten 'eine' neue
Rasse aufkommen sieht; solche Rassen,‘ wenn wir dergleichen
jemals sehen, sind immer aus anderen Gegenden und zumalvaus
Inseln eingeführt. Obwohl ich nicht bezweifle, dass einige Haus-
thiere weniger als andre variiren, so» wird'doch: die Seltenheit
V
PL.
felsohne hatte die Erdbeere immer varürt, seitdem sie. angepflanzt \
worden; aber man hatte die geringen ‘Abänderungen vernach-
oder der gänzliche Mangel verschiedener Rassembei Katze, Esel;
Perlhuhn, Gans u. 's.' w. hauptsächlich daygn rühren, dass
keine Züchtung‘ bei ihnen "in Anwendung
Katzen, wegen der Schwierigkeit sie'zu paaren; bei Eseln, weil
49
sie ‚nur in geringer Anzahl von armen Leuten gehalten werden,
welche auf ihre Züchtung wenig achten; bei Perlhühnern,
weil sie nicht leicht aufzuziehen und eine grosse Zahl nicht bei-
sammen gehalten wird; bei, Gänsen, weil sie nur zu zwei Zwecken
dienen mittelst ihrer Federn und ihres Fleisches, welche noch
nicht zur Züchtung neuer Rassen gereitzt haben.
Versuchen wir das über die Entstehung unsrer Hausthier-
und Kulturpflanzen-Rassen Gesagte zusammenzufassen. Ich glaube,
dass die äusseren Lebens-Bedingungen wegen ihrer Einwirkung
auf das Reproduktiv-System von der höchsten Wichtigkeit für die
Entstehung von Abänderungen sind. Ich glaube aber nicht, dass
Veränderlichkeit als eine inhärente und nothwendige Eigenschaft
allen organischen Wesen unter allen Umständen zukomme, wie
einige Schriftsteller angenommen haben. Die Wirkungen der Ver-
änderlichkeit werden in verschiedenem Grade modifizirt durch Ver-
erblichkeit und Rückkehr. Sie wird durch viele unbekannte
Gesetze geleitet, insbesondre aber durch das der Wechselbezie-
hungen des Wachsthums. Einiges mag der direkten Einwirkung
der äusseren Lebens-Bedingungen, Manches dem Gebrauche und
Nichtgebrauche der Organe zugeschrieben werden. Dadurch wird
das End-Ergebniss ausserordentlich verwickelt. Ich bezweifle
nicht, dass in einigen Fällen die Kreutzung ursprünglich ver-
schiedener Arten einen wesentlichen Antheil an der Bildung
unserer veredelten Erzeugnisse gehabt habe. Wenn in einer
Gegend einmal mehre veredelte Rassen vorhanden gewesen sind,
so hat ihre gelegentliche Kreutzung mit Hilfe der Wahl zweifels-
ohne mächtig zur Bildung neuer Rassen mitwirken können; aber
die Wichtigkeit der Varietäten-Mischung ist, wie ich glaube, sehr
übertrieben worden sowohl in Bezug auf die Thiere wie auf die
Pflanzen, die sich aus Saamen verjüngten. Bei solchen Pflanzen
dagegen, welche zeitweise durch Stecklinge, Knospen u. s. w.
fortgepflanzt werden, ist die Wichtigkeit der Kreutzung zwischen
Arten wie Varietäten unermesslich, weil der Pflanzenzüchter
hier die ausserordentliche Veränderlichkeit sowohl der Bastarde
als der Blendlinge ganz ausser Acht lässt; doch haben die Fälle,
wo Pflanzen nicht aus Saamen fortgepflanzt werden, wenig
“
u.
0
»
Bedeutung für uns, weil ihre Dauer nur vorübergehend ist. Aber
die über alle diese Änderungs-Ursachen bei weitem vorherrschende
Kraft ist nach meiner Überzeugung die fortdauernd anhäufende 3
Züchtung, mag sie nun planmässig und schnell, oder unbewusst
und allmählicher aber wirksamer in Anwendung kommen. |
Zweites Kapitel. “
Abänderung im Natur-Zustande. u
/ Variabilität. 7 Individuelle Verschiedenheiten. 5 Zweifelhafte Arten. Weit ver-
breitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variiren am meisten, s'Arten
grössrer Sippen in einer Gegend beisammen variiren mehr, als die der
kleinen Sippen. 6 Viele Arten der grossen Sippen gleichen den Varietäten
darin, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind und
: beschränkte Verbreitungs-Bezirke haben.
/Ehe wir von den Prinzipien, zu welchen wir im vorigen
Kapitel gelangten, Anwendung auf die organischen Wesen im Natur-
Zustande machen, müssen wir kürzlich untersuchen, in wieferne
diese letzten veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand
angemessen zu behandeln, müsste ich ein langes Verzeichniss trock-
ner Thatsachen aufstellen; doch will ich diese für mein künftiges
Werk verspären. Auch will ich nicht die verschiedenen Defini-
tionen erörtern, welche man von dem Worte »Species« gegeben
hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt,
Gewöhnlich schliesst ‚die Definition ein unbekanntes Element von |
einem besondren Schöpfungs-Akte ein. Der Ausdruck »Varietät«
ist eben so schwer zu definiren; gemeinschaftliche Abstammung
ist meistens mit einbedungen, obwohl so selten erweislich. Auch
hat man von Monstrositäten gesprochen, die aber stufenweise in
die Varietäten “übergehen. Unter einer »Monstrosität« versteht
man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung
der Struktur in einem einzelnen Theile, welche der Art entweder
nachtheilig oder doch nicht nützlich is} und sich gewöhnlich nicht
vererbt. Einige Schriftsteller gebrauchen
„Variation« in einem technischen Sinne, um
die unmittelbare Einwirkung äussrer Lebens- Bedingungen zu ben;
zeichnen, und die Variationen dieser Art gelten nicht für erblich.
[9
noch den Ausdruck —
derungen durch
4.4,
ey
+
Vorl
n Malt
vielen
reis
sshrol
ünlt
Di
13
geg
frilt
en!
fl
am
r
ei
un
Doch,‘ wer''kann! behaupten, dass. die zwergarlige Beschaffenheit
der Konchylien im Brackwasser des Baltischen Meeres, oder die
verringerte Grösse der Pflanzen auf den Höhen der Alpen, oder
der 'dichtere Pelz’ eines Thieres., in höheren Breiten nicht auf
wenigstens. einige Generationen, vererblich seye? und in diesem
Falle würde man, glaube. ich, ‚die Form eine »Varietät« nennen.
2 Dagegen gibt es; manche‘ geringe Verschiedenheiten, welche
man als:individuelle ‚bezeichnen kann, da man von ihnen weiss,
dass‘ sie ‘oft: unter, den‘ Abkömmlingen. von einerlei Altern vor-
kommen‘, oder unter ‚solchen. die wenigstens dafür gelten, weil
sie’zur-nämlichen 'Art gehören und ‚auf: begrenztem Raume nahe
beisammen 'wohnen. . Niemand. unterstellt, dass alle Individuen
einer Art genau nach., demselben Model gebildet seyen. Diese
individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade sehr wichtig für
uns,‘ weil sie. der natürlichen‘ Züchtung Stoff zur Häufung liefern,
wie der. Mensch in . seinen kultivirten Rassen individuelle Ver-
schiedenheiten iin, gegebener, Richtung zusammenhäuft., Diese
individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in
den Augen des Naturforschers unw tlichen Theile; ich könnte
jedoch aus einer langen Liste von 'Thatsachen nachweisen, dass
auch Theile, die man aus dem physiologischen wie aus dem
klassifikatorischen Gesichtspunkte als wesentliche bezeichnen muss,
zuweilen bei den: Individuen von einerlei Art variiren. Ich bin
überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt seyn wür-
den über die Menge von Fällen möglicher Abänderungen sogar in
wichtigen Theilen des Körpers, die ich im Laufe. der Jahre nach
guten Gewährsmännern zusammengetragen habe. Man muss sich
aber auch dabei noch erinnern, dass Systematiker nicht erfreut
sind Veränderlichkeit in wichtigen Charakteren zu entdecken, und
dass es nicht viele Leute gibt, die,ein Vergnügen daran fänden,
innre wichtige Organe sorglältig.zu untersuchen und. in vielen
Exemplaren einer,und der nämlichen, Art mit einander zu ver-
gleichen.’ So. hätte ich nimmer. erwartet, ‚dass die Verzweigungen
des Hauptnerven. dicht am grossen. Zentralnervenknoten eines
Insektes .in, der nämlichen Species abändern könne, sondern hätte
vielmehr gedacht, Veränderungen dieser Art könnten nur langsam
= =
a a
nützlich’ noch schädlich sind und daher bei der natürlichen Züch-
erläutert werden soll.
92
und stufenweise eintreten. Und doch hat Mr. Lussock MR. |
an Coccus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Haupt- 2
nerven nachgewiesen, welcher zumeist an die unregelmässige
Verzweigung eines Baumstamms erinnert. Ebenso hat dieser
ausgezeichnete Naturforscher ganz kürzlich gezeigt, dass die ?
Muskeln in den Larven gewisser Insekten von Gleichförmigkeit ;
weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem
Zirkelschluss, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe nicht
variiren; denn dieselben Schriftsteller zählen praktisch diejenigen
Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug
sind zu gestehen), welche nicht varüiren, und unter dieser Vor-
aussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel von einem
variirenden wichtigen Organe angeführt werden; aber von einem
andern Gesichtspunkte aus lassen sich deren viele aufzählen.
; Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein andrer
Punkt in Verbindung, der mir sehr verwirrend zu seyn scheint;
ich will nämlich von den Sippen reden, die man zuweilen »Ppro-
teische« oder »polymorphe« genannt hat, weil deren Arten ein un-
geordnetes Maass von Veränderlichkeit zeigen, so dass kaum zwei
Naturforscher darüber einig werden können, welche Formen als
Arten und welche als Varietäten zu betrachten seyen. Man kann
Rubus, Rosa, Hieracium unter den Pflanzen, mehre Insekten- und
Brachiopoden-Sippen unter den Thieren als Beispiele anführen.
In den meisten dieser polymorphen Sippen haben einige Arten
feste und bestimmte Charaktere. Sippen, welche in einer Gegend
polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen
auch in andern Gegenden zu seyn und, nach den Brachiopoden
zu urtheilen, in früheren Zeiten gewesen zu SEYN. Diese That-
sachen nun scheinen in soferne geeignet Verwirrung zu bewirken,
als sie zeigen, dass diese Art von Veränderlichkeit unabhängig
von den Lebens-Bedingungen ist. Ich bin zu vermuthen geneigt, g
dass wir in diesen polymorphen Sippen Veränderlichkeit nur in. i
solchen Struktur-Verhältnissen begegnen, welche der Art eder
er
tung nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nach er
Br { i
ö
f Diejenigen Formen, welche zwar einen schon etwas mehr
entwickelten Art-Charakter besitzen, aber andren Formen so
ähnlich oder durch Mittelstufen so enge verkettet sind, dass die
Naturforscher sie nicht als besondre Arten aufführen wollen, sind
in mehren Beziehungen die wichtigsten für uns. Wir haben
allen Grund zu glauben, dass viele von diesen zweifelhaften und
und eng-verwandten Formen ihre Charaktere in ihrer Heimath-
Gegend lange Zeit beharrlich behauptet haben, lang genug um
sie für gute und ächte Species zu halten. Praktisch genommen
pflegt ein Naturforscher, welcher zwei Formen durch Zwischen-
glieder mit einander verbinden kann, die eine als eine Varietät
der anderen gewöhnlichern oder zuerst beschriebenen zu be-
handeln. Zuweilen treten aber sehr schwierige Fälle, die ich
hier nicht aufzählen will, bei Entscheidung der Frage ein, ob
eine: Form als Varietät der anderen anzusehen seye oder nicht,
sogar wenn beide durch Zwischenglieder enge miteinander ver-
kettet sind; auch die gewöhnliche Annahme, dass diese Zwischen-
glieder Bastarde seyen, will nicht immer genügen um die
Schwierigkeit zu beseitigen. In sehr vielen Fällen jedoch wird
eine Form als eine Varietät der andern erklärt, nicht weil die
Zwischenglieder wirklich gefunden worden, sondern weil Analogie
den Beobachter verleitet anzunehmen, entweder dass sie noch
irgendwo vorhanden sind, oder dass sie früher vorhanden ge-
wesen sind; und damit ist dann Zweifeln und Vermuthungen
eine weite Thüre geöffnet. |
Wenn es sich daher um die Frage handelt, ob eine Form
als Art oder als Varietät zu bestimmen seye, scheint die Meinung
der Naturforscher von gesundem Urtheil und reicher Erfahrung
der einzige Führer zu bleiben. Gleichwohl können wir in vielen
Fällen uns nur auf eine Majorität der Meinungen berufen; denn
es lassen sich nur wenige wohl- bezeichnete und wohl-bekannte
Varietäten namhaft machen, die nicht schon bei wenigstens einem
‘oder dem anderen sachkundigen Richter als Spezies gegolten hätte.
. Dass Varietäten von so zweifelhafter Natur keinesweges
selten seyen, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man ver-
gleiche die von verschiedenen Botanikern geschriebenen Floren
PA
54
von Grossbritdnnien, Frankreich oder"den’Vereinien»Staaten mit
einander und sehe, was für eine erstaunliche Anzahl von Formen
von dem einen Naturforscher als gute Arten und vonıdem andern
als blosse Varietäten angesehen werden. Herr H: C. Warsox,
welchem ich zur innigsten Erkenntlichkeit für Unterstützung aller
Art verbunden bin, hat mir 182 Britische Pflanzen ‘bezeichnet, 3
welche gewöhnlich als Varietäten eingereiht werden, aber‘ auch
schon alle ‘von Botanikern für Arten‘ erklärt‘ worden sind;
dabei hat er noch manche leichtere aber auch schou von ‚einem
oder dem anderen Botaniker als Art aufgenommene; Varietät
übergangen und einige sehr polymorphe Sippen: gänzlich ausser
Acht gelassen. Unter Sippen, welche die am meisten polymorphen
Formen enthalten, führt Basınsron 251, "Bentuam dagegen nur
112 Arten auf, ein Unterschied von 139 zweifelhaften Formen!
Unter den Thieren, welche sich zu jeder Paarung vereinigen und
sehr ortwechselnd sind, können dergleichen zweifelhalfte zwischen °
Art und Varietät schwankende Formen nicht: so leicht: in einer
Gegend beisammen vorkommen, sind aber in getrennten Gebieten
nicht selten. Wie viele dieser Nordamerikanischen und ‚Euro
päischen Insekten und Vögel sind von dem einen ‚ausgezeichneten
Naturforscher als unzweifelhafte Art und von: dem ‚anderen als
Varietät oder sogenannte ‚klimatische'Rasse bezeichnet‘ worden!
Als ich ‘vor vielen‘ Jahren die Vögel von den einzelnen, Inseln
der Galopagos-Gruppe mit einander verglich und Andre, sie
vergleichen sah, war ich ‚sehr darüber erstaunt, wie‘ gänzlich
schwankend und. willkührlich: der Unterschied zwischen: Art und
Varietät ist. Auf den Inselchen der kleinen Madeira-Gruppe
kommen viele Insekten vor, welche:in WorrAstons bewunderns-
würdigem Werke als Varietäten charakterisirt sind, die aber.ohne ”
PER
—
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allen Zweifel von: vielen Entomologen als besondre Arten-auf
gestellt werden würden. Selbst Irland: besitzt: einige, ‚wenige
jetzt allgemein als Varietäten angesehene Thiere, die vaber fi |
einigen Naturforschern für Arten erklärt: worden sind. Einige sel
erfahrene Ornithologen betrachten unser Britisches Rothhuhn. (Lago z
pus) nur als eine scharf bezeichnete Rasse der Norwegischen Art,
während die meisten solche: für ‚eine unzweifelhaft eigenthümliche
SE: En >
I0
Art Grossbritanniens erklären. Eine weite Entfernung zwischen
der Heimath zweier zweifelhaften Formen bestimmt viele Natur-
forscher dieselben für zwei Arten zu erklären; aber nun fragt
es sich, welche Entfernung dazu genüge? Wenn die zwischen
Europa und Amerika ‚gross genug ist, kann dann auch jene
zwischen erstem Kontinente und den Azoren oder Madeira oder
den Canarischen Inseln oder Irland genügen? Man muss zu-
geben, dass viele von hoch-befähigten Richtern als Varietäten
betrachtete Formen so vollkommen den Charakter von Arten be-
sitzen, dass sie von andern hoch-befähigten Beurtheilern für gute
ächte Spezies erklärt werden. Aber es ist vergebene Arbeit die
Frage zu erörtern, ob es Arten oder Varietäten seyen, so lange
noch keine Definition von dem Begriffe dieser zwei Ausdrücke
allgemein angenommen ist.
Viele dieser stark ausgeprägten Varietäten oder zweifelhaften
Arten verdienten wohl eine nähere Beachtung, weil man vielerlei
interessante Beweis-Mittel aus ihrer geographischen Verbreitung, '
analogen Variationen, Bastard-Bildungen u. 5. W. herbeigeholt hat,
um die ihnen gebührende Rangstufe festzustelien. Ich will hier
nur ein Beispiel anführen, das von den zwei Formen der Schlüs-
selblumen, Primula veris und Pr. elatior. Diese zwei Pflanzen
weichen bedeutend im Aussehen von einander ab; jede hat einen
anderen Geruch und Geschmack; sie blühen zu etwas verschie-
dener Zeit und wachsen an etwas verschiedenen Standorten; sie
gehen an Bergen bis in verschiedene Höhen hinauf und haben
eine verschiedene geographische Verbreitung; endlich lassen sie
sich nach den vielen in den letzten Jahren von einem äusserst
sorgfältigen Beobachter, GÄRTNER, angestellten Versuchen nur
sehr schwierig mit einander kreutzen. Man kann also schwerlich
bessre Beweise dafür wünschen, dass beide Formen verschiedene
Arten bilden. Auf der andern Seite aber werden sie durch
zahlreiche Zwischenglieder mit einander verkettet, und es ist
sehr. zweifelhaft, dass Solches Bastarde sind; Diess ist, wie mir
scheint, ein überwiegendes Maass von Experimental-Beweis dafür, „
dass sie von gemeinsamen Ältern abstammen und mithin nur als
Varietäten zu betrachten sind.
96
Sorgfältige Forschung wird in den meisten Fällen die Natur. ii
forscher zur Verständigung darüber bringen, wofür die zweifel-
haften Formen zu halten sind. Doch müssen wir bekennen,
dass es gerade in den aın besten bekannten Gegenden die
meisten zweifelhaften Formen gibt. Ich war über die Thatsache
erstaunt, dass von solchen Thieren und Pflanzen, welche dem
Menschen in ihrem Natur-Zustande sehr nützlich sind oder aus
irgend einer anderen Ursache seine besondre Aufmerksamkeit
erregen, fast überall Varietäten angeführt werden. Diese Varie-
täten werden jedoch oft von einem oder dem andern Autor als
Arten bezeichnet. Wie sorgfältig ist die gemeine Eiche studirt
worden! Nun macht aber ein Deutscher Autor über ein Dutzend
Arten aus den Formen, welche bis jetzt stets als Varietäten an-
gesehen wurden; und iin diesem Lande können unter den höchsten
botanischen Gewährsmännern und vorzüglichsten Praktikern welche
sowohl zu Gunsten der Meinung, dass die Trauben- und die
Stiel-Eiche gut unterschiedene Arten seyen, wie auch andre für
die gegentheilige Ansicht nachgewiesen werden.
Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte
Gruppe von Organismen zu studiren beginnt, so macht ihn an-
fangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede die Arten be-
zeichnen, und welche von ihnen nur Varietäten angehören; denn
er weiss noch nichts von der Art und der Grösse der Abän-
derungen, deren die Gruppe fähig ist; und Diess beweiset eben
wieder, wie allgemein wenigstens einige Variation ist. Wenn
er aber seine Aufmerksamkeit auf eine Klasse in einer Gegend
beschränkt, so wird er bald darüber im Klaren seyn, wofür er
diese zweifelhaften Formen anzuschlagen habe. Er wird im
Allgemeinen geneigt seyn, viele Arten zu machen, weil ihn, so
wie die vorhin erwähnten Tauben- oder Hühner-Freunde, das
Maas der Abänderung in den seither von ihm studirten Formen
betroffen macht, und weil er noch wenig allgemeine Kenntniss
von analoger Abänderung in andern Gruppen und andern Gegen-
den zur Berichtigung jener zuerst empfangenen Eindrücke besitzt.
Dehnt er nun den Kreis seiner Beobachtung weiter aus, so wird
er noch auf andre Schwierigkeiten stossen; er wird einer grossen
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ekanl
ihn at
97
Anzahl nahe verwandter Formen begegnen. ; Erweitern sich seine
Erfahrungen noch mehr, so. wird er endlich in seinem eignen
Kopfe darüber einig werden,: was Varietät und was Spezies zu
nennen seye; aber er wird zu diesem Ziele nur gelangen, indem
er viel Veränderlichkeit zugibt, und er wird die Richtigkeit seiner
Annahme von andern Naturforschern oft in Zweifel gezogen
sehen. Wenn er nun überdiess verwandte Formen aus andern
nicht unmittelbar angrenzenden Ländern zu studiren Gelegenheit
erhält, in welchem Falle.er kaum hoffen darf die Mittelglieder
zwischen diesen zweifelhaften Formen zu finden, so wird er sich
fast ganz auf Analogie verlassen müssen, und seine Schwierig-
keiten werden sich bedeutend steigern.
Eine bestimmte Grenzlinie ist bis jetzt sicherlich nicht ge-
zogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d. i. sol-
chen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher
den Rang einer Spezies nahezu aber doch nicht gänzlich erreichen,
noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch
endlich zwischen den geringeren Varietäten und individuellen
Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten greifen, in eine
Reihe geordnet, , unmerklich in einander, und die Reihe weckt
die Vorstellung von einem wirklichen Übergang.
Daher werden die individuellen Abweichungen, welche für
den Systematiker nur wenig Werth haben, für uns von grosser
Wichtigkeit, weil sie die erste Stufe zu denjenigen geringeren
Varietäten. bilden, welche man in naturgeschichtlichen Werken
der Erwähnung werth zu halten pflegt. Ich sehe ferner diejenigen
Abänderungen, welche etwas erheblicher und beständiger sind,
als die nächste Stufe an, welche uns zu den mehr auffälligen
und bleibenderen Varietäten führt, wie uns diese zu den Sub-
spezies und endlich Spezies leiten. Der Übergang von einer
dieser Stufen in die andre nächst-höhere mag in einigen Fällen
lediglich von der lang-währenden Einwirkung verschiedener natür-
licher Bedingungen in zwei verschiedenen Gegenden herrühren;
doch habe ich nicht viel Vertrauen zu dieser Ansicht und
schreibe den Übergang von einer leichten Abänderung zu einer
wesentlicher verschiedenen Varietät der Wirkung der natürlichen
98
Züchtung imittelst Anhäufung individueller Abweichungen der
Struktur in gewisser steter Richtung zu, wie nachher näher
auseinandergesetzt werden soll. Ich glaube daher, dass man
eine gut ausgeprägte Varietät mit Recht eine beginnende Spezies
nennen kann; ob sich aber dieser Glaube rechtfertigen lasse,
muss aus dem allgemeinen Gewichte der in diesem Werke bei-
gebrachten Thatsachen und Ansichten ermessen werden.
Es ist nicht nöthig zu unterstellen, dass alle Varietäten oder
beginnenden Spezies sich wirklich zum Range einer Art erheben.
Sie können in diesem Beginnungs-Zustande wieder erlöschen;
oder sie können als solche Varietäten lange Zeiträume durchlau-
fen, wie Worsasron von den Varietäten gewisser Landschnecken-
Arten auf Madeira gezeigt*. Gedeihet eine Varietät derartig,
dass sie die älterliche Species in Zahl übertrifft, so sieht man
’ sie für die Art und die Art für die Varietät an; sie kann die
älterliche Art aber allmählich auch ganz ersetzen und überleben;
oder endlich beide können wie unabhängige Arten neben einan-
der fortbestehen. Doch, wir werden nachher auf diesen Gegen-
stand zurückkommen.
Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass ich den Kunst-
ausdruck »Species« als einen nur willkürlich und der Bequem-
lichkeit halber auf eine Reihe von einander sehr ähnlichen Indi-
viduen angewendeten betrachte, und dass er von dem Kunstaus-
drucke »Varietät« nicht wesentlich, sondern. nur insofern verschie-
den ist, als dieser auf minder abweichende und noch mehr
schwankende Formen Anwendung findet. Und eben so ist die
Unterscheidung zwischen »Varietät« und „individueller Abänderung«
nur eine Sache der Willkür und Bequemlichkeit. |
Durch theoretische Betrachtungen geleitet habe ich geglaub
dass sich einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die Natur
und die Beziehungen der am meisten variirenden Arten darbie-
ten’ würden, wenn man alle Varietäten aus verschiedenen wohl-
* Arsers hat dieselbe Beobachtung auf Madeira gemacht, aber eine
andre Folgerung daraus gezogen: dass nämlich diese Formen, die während E
unermesslicher Zeiträume immer dieselben geblieben, nicht in einander über-
gehen und nicht, eine Spezies bilden. mn.
Kunst!
vers
‚ch n
on
ndenf
59
bearbeitetenFloren tabellarisch: zusammenstellte. Anfangs schien
mir: 'Diess eine ‘einfache: ‚Sache zu‘ seyn. Aber Herr H, C.
Warson, dem: ich für seine werthvollen Dienste und Hilfe in die-
ser Beziehung \ sehr "dankbar: bin, überzeugte mich bald, dass
Diess mit vielen: Schwierigkeiten verknüpft seye, was späterhin
Dr. Hooker in noch ’bestimmterer Weise bestätigte. Ich behalte
mir ‘daher für mein künftiges Werk die Erörterung: dieser Schwie-
rigkeiten und die Tabellen über die Zahlen-Verhältnisse der
variirenden Spezies vor. «Dr. :Hooser erlaubt mir noch beizu-
fügen, ‚dass; nachdem«er meine: handschriftlichen Aufzeichnungen
und Tabellen sorgfältig durchgelesen, er ‚die folgenden Feststel-
lungen ‘für vollkommen wohl begründet: halte. Der ganze Gegen-
stand aber, welcher hier nothwendig nur sehr kurz abgehandelt
werden muss, ist ziemlich verwickelt, zumal: Bezugnahmen auf
das „Ringen um Existenz«, auf die »Divergenz des Charakters«
und andre erst später. zu. erörternde. Fragen nicht vermieden
werden können. '
;: Aupmons' DeCanvoLıe u. a. Botaniker haben gezeigt, dass
solche Pflanzen, die sehr weit ausgedehnte Verbreitungs-Bezirke
besitzen, gewöhnlich auch Varietäten darbieten, wie sich ohne-
diess schon ‚erwarten lässt, weil sie ‚verschiedenen physika-
lischen ' Eintlüssen ausgesetzt sind und. mit anderen : Grup-
pen von Organismen: in Mitbewerbung kommen, was, wie sich
nachher ergeben soll, von noch viel grösserer ‚Wichtigkeit ist.
Meine Tabellen zeigen aber ferner, dass auch in einem beschränk-
ten «Gebiete die gemeinsten. d.h. die in den zahlreichsten Indi-
viduen vorkommenden Arten und jene, welche innerhalb ihrer eig-
nen Gegend am meisten verbreitet sind (was von »weiter. Ver-
breitung« und in gewisser Weise von »Gemeinseyn« wohl zu unter-
scheiden), oft zur Entstehung von hinreichend bezeichneten Varie-
täten Veranlassung geben, um sie in botanischen Werken :auf-
gezählt zu finden. Es sind mithin die am ‚üppigsten gedeihen-
den. oder, wie‘ man sie nennen kann,: dominirenden Arten,
nämlich die: am weitesten über die Erd-Oberfläche ausgedehnten,
die in ihrer eignen Gegend am allgemeist verbreiteten, es sind die
an Individuen reichsten Arten, welche am öftesten wohl ausgeprägte
60
Varietäten oder, wie man sie nennen möchte, Beginnende Species
liefern. ‘Und Diess ist vielleicht 'vorauszusehen gewesen; denn
so wie Varietäten, um einigermaassen bleibend zu werden, noth- E
wendig mit andern Bewohnern der Gegend zu kämpfen haben, |
so werden auch die bereits herrschend gewordenen Arten am
meisten geeignet seyn Nachkommen zu liefern, welche, mit eini-
gen leichten Veränderungen, diejenigen Vorzüge noch weiter zu
vererben im Stande sind, wodurch ihre Ältern über ihre Lan-
desgenossen das Übergewicht errungen haben.
+ Wenn man die eine Gegend bewohnenden und in einer
Flora derselben beschriebenen Pflanzen in zwei gleiche Haufen
theilt, wovon der eine alle Arten aus grossen, und der andre
alle aus kleinen Sippen enthält, 50 wird man eine etwas grössere
Anzahl sehr gemeiner und sehr verbreiteter oder herrschender
Arten auf Seiten der grossen Sippen finden. Auch Diess hat
vorausgesehen werden können; denn schon die einfache That-
sache, dass viele Arten einer und der nämlichen ‚Sippe eine
Gegend bewohnen, zeigt etwas in der organischen oder unorga-
nischen Beschaffenheit der Gegend -für die Sippe Günstiges an,
daher man erwarten durfte, in den grösseren oder viele Arten
‘enthaltenden Sippen auch eine verhältnissmässig grosse Anzahl
herrschender Arten zu finden. Aber es gibt so viele Ursachen,
welche dieses Ergebniss zu verhüllen streben, dass ich erstaunt
bin, in meinen Tabellen doch noch ein-kleines Übergewicht auf Sei-
ten der grossen Sippen zu finden. Ich will hier nur zwei Ur-
sachen dieser Verhüllungen anführen. Süsswasser- und Salz-
Pflanzen haben gewöhnlich weit ausgedehnte Bezirke und eine
starke Verbreitung; Diess scheint aber mit der Natur ihrer Stand-
orte zusammenzuhängen und hat wenig oder gar keine Bezie-
hung zu dem Arten-Reichthum der Sippen, wozu sie gehören.
Ebenso sind Pflanzen von unvollkommenen Organisations-Stufen
gewöhnlich viel weiter als die hoch organisirten verbreitet, und
auch hier besteht keine nahe Beziehung zur ‚Grösse der Sippen.
Die Ursache dieser letzten Erscheinung soll in unseren Kapiteln
über die geographische Verbreitung erörtert werden. u
Indem ich die Arten nur als stark ausgeprägte und wohl
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61
umschriebene Varietäten'betrachtete,' war ich im Stande voraus-
zusagen, /dass die Arten der grösseren Sippen einer Gegend
öfter, als die der kleineren, Varietäten darbieten würden; denn wo
immer sich: viele einander nahe verwandte Arten (die der grösse-
ren Sippen) gebildet haben, werden sich im Allgemeinen auch
viele Varietäten derselben oder beginnende Arten zu bilden ge-
neigt seyn, — wieda, wo viele grosse Bäume wachsen, man
viele junge Bäumchen aufkommen zu sehen erwarten darf. Wo
viele Arten einer Sippe durch Variation entstanden sind, da sind
die Umstände günstig ‘für ‘Variation gewesen und möchte man
mithin auch erwarten, sie noch jetzt günstig zu finden. Wenn
wir dagegen jede Art als einen besonderen Akt der Schöpfung
betrachten, so ist kein Grund einzusehen, weshalb verhältniss-
mässig ‘mehr Varietäten in einer Arten-reichen Gruppe als -in
einer solchen mit wenigen Arten vorkommen sollten.
Um die Richtigkeit dieser Voraussagung zu beweisen, habe
ich ‘die Pflanzen-Arten in. zwölf verschiedenen Ländern und die
Käfer-Arten in zwei verschiedenen Gebieten in je zwei einander
fast gleiche‘ Haufen getheilt, die Arten der grossen 'Sippen auf
der einen und ‘die der kleinen auf der andern Seite, und es hat
sich beharrlich überall dasselbe Ergebniss gezeigt, dass eine
verhältnissmässig grössre Anzahl von: Arten bei den grossen
Sippen Varietäten haben als bei den kleinen. Überdiess bieten
die Arten der grossen Sippen, welche überhaupt Varietäten
haben, eine verhältnissmässig grössere Varietäten-Zahl dar, als
die der kleineren. Zu diesen beiden Ergebnissen gelangt man
auch, wenn man die Eintheilung anders macht und alle Sippen
mit nur 1-4 Arten ganz aus den Tabellen ausschliesst. Diese
Thatsachen sind ‘von klarer Bedeutung für die Ansicht, dass
Arten nur streng ausgeprägte und bleibende Varietäten sind;
denn wo immer viele Arten in einerlei Sippe gebildet worden
sind oder wo, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Arten-Fabri-
kation thätig betrieben worden ist, müssen wir gewöhnlich diese
Fabrikation noch in Thätigkeit finden, zumal wir alle Ursache
haben zu glauben, dass das Fabrikations-Verfahren ein sehr lang-
sames seye. ‘Und Diess ist sicherlich der Fall, wenn Varietäten
62
als beginnende Arten zu’ betrachten; denn meine Tabellen zei.
gen deutlich ganz allgemein, dass, wo immer: viele Arten einer
Sippe gebildet worden sind, diese Arten 'eine den Durchschnitt
übersteigende Anzahl von Varietäten ‘oder ‘' beginnenden neuen
Arten enthalten. Damit soll nicht "gesagt werden,‘ dass alle
grossen Sippen jetzt sehr variiren und in Vermehrung ihrer
Arten-Zahl begriffen sind, oder ‘dass keine kleine . Sippe jetzt
Varietäten bilde” und wachse; denn .dieser Fall'wäre sehr ver-
derblich für meine Theorie, ''zumal uns die Geologie klar bewei-
set, dass kleine Sippen im Laufe ‘der Zeit oft sehr gross gewor-
den, und: dass grosse Sippen, nachdem sie ‘ihr Maximum erreicht,
wieder zurückgesunken und endlich verschwunden sind, Alles,
was!'hier' zu beweisen nöthig ist, beschränkt sich darauf, dass
da, wo viele Arten in einer Sippe gebildet worden, auch noch
jetzt durchschnittlich viele in Bildung begriffen sind; und Diess
ist nachgewiesen. |
Es gibt aber ‘noch andere beachtenswerthe "Beziehungen
zwischen den Arten grosser Sippen und den aufgeführt werden-
den Varietäten derselben. Wir haben gesehen, dass es kein
untrügliches Unterscheidungs-Merkmal zwischen Arten und stark
ausgeprägten Varietäten gibt; und in jenen Fällen, wo Mittel-
glieder zwischen zweifelhaften Formen noch nicht gefunden wor-
den, sind die Naturforscher genöthigt, ihre Bestimmungen "von
der Grösse der Verschiedenheiten zwischen zwei Formen abhängig
zu machen, indem sie nach der Analogie 'urtheilen, ob. ‚deren
Betrag genüge, um nur eine oder alle beide zum Range von
Arten zu erheben. Der Betrag der Verschiedenheit ‘ist mithin
ein sehr wichtiges Merkmal bei der Bestimmung, ‘ob zwei: For-
men für Arten oder für Varietäten gelten 'sollen.. Nun haben
Fries in Bezug auf die Pflanzen und Wesrwoon hinsichtlich der
Insekten die Bemerkung gemacht, dass in grossen Sippen der
Grad der Verschiedenheit zwischen den Arten oft ausserordent
lich klein ist; Ich ‘habe Diess in Zahlen-Durchschnitten zu prü-
fen gesucht und, so weit meine noch «unvollkommenen Ergeb-
nisse reichen, bestätigt gefunden. Ich habe’ mich desshalb auch
bei einigen genauen und erfahrenen Beobachtern befragt und
63
nach Auseinandersetzung ‚der‘ Sache. gefunden, ‘dass sie. in der-
selben ‚übereinstimmen. In dieser Hinsicht gleichen demnach die
Arten der. grossen Sippen..den Varietäten mehr, als. die Arten‘
der kleinen: . Nun kann: man. die Sache..aber auch anders aus-
drücken ‚und sagen, dass in den grösseren Sippen, ‚wo, eine den
Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnen-
den Spezies noch jeiz fabrieirt worden, viele der bereits fertigen
Arten doch bis zu einem gewissen Grade Varietäten gleichen,
insofern ‚sie durch ein&n weniger als gewöhnlich grosses Maass
von Verschiedenheit von einander getrennt werden:
Überdiess stehen die Arten grosser Sippen in ae
Beziehung, ‘wie die Varietäten einer ‚Art zn einander, Kein
Naturforscher glaubt, dass alle Arten einer Sippe in gleichem
Grade von einander verschieden sind ; sie werden daher gewöhn-
lich noch in Subgenera,; in Sektionen oder noch untergeordnetere
Gruppen getheilt. Wie Fries bemerkt, sind diese kleinen Arten-
Gruppen gewöhnlich wie ‚Satelliten um gewisse andere Arten
geschaart. Und was sind Varietäten anders als Formen-Gruppen
von ungleicher wechselseitiger Verwandtschaft um gewisse Formen
versammelt, um die Stamm-Arten nämlich? Unzweifelhaft ist ein
grössrer Unterschied zwischen Arten als zwischen Varietäten;
insbesondere ist der Betrag der Verschiedenheit der. Varietäten
von einander oder von ihren Stamm- Arten kleiner, als der
zwischen den Arten derselben Sippe. Wenn wir aber zur Er-
örterung des Prineips, wie ich es nenne, der »Divergenz des
Charakters« kommen, so werden wir sehen, wie Diess zu erklä-
ren, ünd wie die geringeren Verschiedenheiten zwischen Varietä-
ten erwachsen zu den grösseren Verschiedenheiten zwischen
den Arten.
Es gibt da noch einen andern Punkt, welcher mir der
Beachtung werth scheint. Varietäten haben gewöhnlich eine
beschränktere Verbreitung, was schon aus dem Vorigen folgt;
denn. wäre eine Varietät, weiter verbreitet, als ihre angebliche
Stamm-Art,: so müsste deren , Bezeichnung umgekehrt , werden.
Es ist aber auch Grund vorhanden zu glauben, dass diejenigen
Arten, welche sehr nahe mit anderen Arten verwandt sind und
64
insoferne Varietäten gleichen, oft engre Verbreitungs-Grenzen
haben. So hat mir z. B. Herr H. C. Warson in dem wohl-
gesichteten Londoner Pflanzen-Katalog (vierte Ausgabe) 63 Pflan-
zen bemerkt, welche als Arten darin aufgeführt sind, die er aber
für so nahe mit anderen Arten verwandt hält, dass ihr Rang
zweifelhaft wird. Diese 63 gering-werthigen Arten verbreiten
sich im Mittel über 6,, der Provinzen, in welche Warson Gross-
britannien eingetheilt hat. Nun sind im nämlichen Kataloge auch
53 anerkannte Varietäten aufgezählt, und diese erstrecken sich
über 7,, Provinzen, während die Arten, wozu diese Varietäten
gehören, sich über I4,, Provinzen ausdehnen. Daher denn die
anerkannten Varietäten eine beinahe eben so beschränkte mittle
Verbreitung besitzen, als jene nahe verwandten Formen, welche
Warson als zweifelhafte Arten bezeichnet hat, die aber von Bri-
tischen Botanikern gewöhnlich für gute und ächte Arten genom-
men werden. Endlich haben dann Varietäten auch die nämlichen
allgemeinen Charaktere, wie Species; denn sie können von Arten
nicht unterschieden werden, ausser, erstens, durch die Ent-
deckung von Mittelgliedern, und das Vorkommen solcher Glieder
kann den wirklichen Charakter der Formen, welche sie verketten,
nicht berühren, — und ausser, zweitens, durch ein gewisses
Maass von Verschiedenheit, indem zwei Formen, welche nur
sehr -wenig von einander abweichen, allgemein nur als Varietä-
ten angesehen werden, wenn auch verbindende Mittelglieder noch
nicht entdeckt worden sind; aber dieser Betrag von Verschieden-
heit, welcher zur Erhebung zweier Formen zum Arten-Rang
nöthig, ist ganz unbestimmt. In Sippen, welche mehr als die
mittle Arten-Zahl in einer Gegend haben, zeigen die Arten auch
mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In grossen Sippen lassen
sich die Arten nahe, aber in ungleichem Grade, mit einander
verbinden zu kleinen um gewisse Arten geordneten Gruppen.
Sehr nahe miteinander verwandte Arten sind von offenbar. be-
schränkter Verbreitung. In all’ diesen verschiedenen Beziehungen
zeigen die Arten grosser Sippen eine strenge Analogie mit Va-
rietäten. Und man kann diese Analogie’n klar begreifen, wenn
Arten einstens nur Varietäten gewesen und aus diesen hervor-
dem!
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‚gegangen sind; wogegen diese Analogie'n ganz unverständlich
seyn würde en, wenn jede Spezies von den andern er,
erschaffen worden wäre.
Wir haben nun gesehen, dass es die am besten gedeihende
und herrschende Spezies grösserer Sippen ist, die im Durchschnitte
genommen am meisten varüirt; und Varietäten haben, wie wir
hernach finden werden, Neigung in neue und unterschiedene
Arten überzugehen. Dadurch neigen auch die grossen Sippen
zur Vergrösserung, und in der ganzen Natur streben die Lebens-
Formen, welche jetzt herrschend sind, noch immer mehr herr-
schend zu werden durch Hinterlassung vieler abgeänderter und
herrschender Abkömmlinge., Aber durch nachher zu erläuternde
Abstufungen streben auclı die grösseren Sippen immer mehr in
kleine auseinander zu treten. Und so werden die Lebens-For-
men auf der ganzen Erde in Gruppen und Untergruppen weiter
abgetheilt.
Drittes Kapitel,
Der Kampf um’s Daseyn.
/Stützt sich auf natürliche Züchtung. 2 Der Ausdruck im weitern Sinne ge-
braucht. > Geometrische Zunahme. 7Rasche Vermehrung naturalisirter Pflan-
zen und Thiere.ö Natur der Hindernisse der Zunahme. ; Allgemeine Mit-
bewerbung. {Wirkungen des Klimas. "Schutz durch die Zahl der Individuen.
/Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur.
/‚Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelwesen und Varietäten einer Art,
oft auch zwischen Arten einer Sippe.//Beziehung von Organismus zu
Organismus die wichtigste aller Beziehungen.
‘ Ehe wir auf den Gegenstand dieses Kapitels eingehen, muss
ich einige Bemerkungen voraussenden, um zu zeigen, wie das
Ringen um das Daseyn sich auf natürliche Züchtung stütze. Es
ist im letzten Kapitel nachgewiesen worden, dass die Organismen
im Natur-Zustande eine individuelle Variabilität besitzen, und ich
wüsste in der That nicht, dass Diess je bestritten worden wäre. Es
ist für uns unwesentlich, ob eine Menge von zweifelhaften Formen
5
bb
Art, Unterart oder Varietät genannt werde; welchen Rang
z. B. die 200—300 zweifelhaften Formen Britischer Pflan-
zen einzunehmen berechtigt sind, wenn die Existenz ausgepräg-
ter Varietäten zulässig ist. Aber das blosse Daseyn einer indi-
viduellen Veränderlichkeit und einiger wohl-bezeichneter Varietäten,
wenn auch notlıwendig zur Begründnng dieses Werkes, hilft uns
nicht viel, um zu begreifen, wie Arten in der Natur entstehen.
Wie sind alle diese vortrefflichen Anpassungen von einem Theile
der Organisation an den andern und an die äusseren Lebensbedin-
gungen, und von einem organischen Wesen an ein anderes be-
wirkt worden? Wir sehen diese schöne Anpassung am klarsten
bei dem Specht und der Mistelpflanze und nur ‚wenig minder
deutlich am niedersten Parasiten, welcher sich an das Haar eines
Säugthieres oder die Federn eines Vogels anklammert; am Bau
des Käfers, welcher ins Wasser untertaucht; am befiederten
Saamen, der vom leichtesten Lüftchen getragen wird; kurz wir
sehen schöne Anpassungen überall und in jedem Theile der or-
ganischen Welt.
Dagegen kann man fragen, wie kommt es, dass die Varie-
täten, die ich beginnende Spezies genannt habe, sich zuletzt in
gute und abweichende Spezies verwandeln, welche mesftens un-
ter sich viel mehr, als die Varitäten der nämlichen Art verschie-
den sind? Wie entstehen diese Gruppen von Arten, welche als
verschiedene Genera bezeichnet werden und mehr als die Arten
dieser Genera von einander abweichen? Alle diese Wirkungen
erfolgen unvermeidlich, wie wir im nächsten Abschnitte sehen
werden, aus dem Ringen um’s Daseyn. In diesem Wettkampfe
wird jede Abänderung, wie gering und auf welche Weise immer
sie entstanden seyn mag, wenn sie nur einigermaassen vortheil-
haft für das Individuum einer Spezies ist, in dessen unendlich
verwickelten Beziehungen zu anderen Wesen und zur äusseren
Natur mehr zur Erhaltung dieses Individuums mitwirken und
sich gewöhnlich auf dessen Nachkommen übertragen. Ebenso
wird der Nachkömmling mehr Aussicht haben, die vielen anderen
Einzelwesen dieser Art, welche von Zeit zu Zeit geboren wer-
den, von denen aber nur eine kleinere Zahl am Leben bleibt,
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67
zu überdauern. Ich habe dieses Prinzip, wodurch jede solche
geringe, wenn nützliche Abänderung erhalten wird, mit dem
Namen »Natürliche Züchtung« belegt, um dessen Beziehung
zur Züchtung des Menschen zu bezeichnen. Wir haben gesehen,
dass der: Mensch "durch Auswahl zum Zwecke der Nachzucht
grosse Erfolge sicher zu erzielen und organische Wesen seinen
eignen Bedürfnissen anzupassen im Stande ist durch die Häufung
kleiner aber nützlicher Abweichungen, die ihm durch die Hand
der Natur dargeboten werden. Aber die Natürliche Auswahl ist,
wie wir nachher sehen werden, wunaufhörlich thätig und des
Menschen schwachen Bemühungen so unvergleichbar überlegen,
wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind.
; Wir‘ wollen nun den Kampf um's Daseyn etwas mehr ins
Einzelne erörtern. In meinem späteren Werke über diesen Ge-
genstand soll er, wie er es verdient, in grösserem Umfang be-
sprochen werden. Der ältere DrCanvoLze und Lyeıı haben reich-
lich und in philosophischer Weise nachgewiesen, dass alle orga-
nischen Wesen im Verhältnisse der Mitbewerbung zu einander
stehen. In Bezug auf die Pflanzen hat Niemand diesen Gegenstand
mit mehr Geist und Geschicklichkeit behandelt als W. HERBERT,
der Dechant von Manchester, offenbar in Folge seiner ausge-
zeichneten Gartenbau-Kenntnisse. Nichts ist leichter als in Wor-
ten die Wahrheit des allgemeinen Wettkampfes um's Daseyn zu-
zugestehen, und nichts schwerer, als — wie ich wenigstens ge-
funden habe — dieselbe im Sinne zu behalten. Und bevor wir
solche nicht dem Geiste tief eingeprägt, bin ich überzeugt, dass
wir den ganzen Haushalt der Natur, die Vertheilungs-Weise, die
Seltenheit und den Überfluss, das Erlöschen und Abändern in
derselben nur dunkel oder ganz unrichtig begreifen werden.
Wir sehen‘ die Natur äusserlich in Heiterkeit strahlen, wir sehen
blos Überfluss an Nahrung; aber wir sehen nicht oder verges-
sen, dass die Vögel, welche um uns her sorglos ihren Gesang
erschallen lassen, meistens von Insekten oder Saamen‘ leben
und mithin beständig Leben vertilgen; oder wir vergessen, wie
viele dieser Sänger oder ihrer Eier oder ihrer Nestlinge unauf-
hörlich von Raubvögeln u. a. Feinden zerstört werden; wir
| *
5
68
behalten nicht immer im Sinne, dass, wenn auch das Futter jetzt
im Überfluss vorhanden, Diess doch nicht zu allen Zeiten im
Umlaufe des Jahres der Fall ist. |
.. Jeh will voraussenden, dass ich den Ausdruck »Ringen um's
Daseyn« in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche,
in sich. begreifend die Abhängigkeit der Wesen von einander
und, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums,
sondern auch die Sicherung seiner 'Nachkommenschaft. . Man
kann mit Recht sagen, dass zwei Hunde: in Zeiten: des Mangels
um Nahrung und Leben miteinander kämpfen. Aber man kann
auch sagen, eine Pflanze ringe am Rande der Wüste um: ihr
Daseyn mit der Trockniss, obwohl es angemessener wäre zu
sagen, sie seye von Feuchtigkeit abhängig. Von einer, Pflanze,
welche alljährlich tausend Saamen erzeugt, unter. welchen im
Durchschnitte nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch
richtiger sagen, sie ringe ums Daseyn mit andern Pflanzen der-
selben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden.
Die Mistel ist abhängig vom Apfelbaum und einigen andern Baum-
Arten; doch kann man nur in einem weit-ausholenden Sinne sa-
gen, sie ringe mit diesen Bäumen; denn wenn zu viele dieser
Schmarotzer auf demselben Stamme wachsen, so wird er ver-
kümmern und sterben. Wachsen aber mehre Sämlinge dersel-
ben dicht auf einem Aste beisammen, so kann man in Wahrheit
sagen, sie ringen miteinander. Da die Samen der Mistel von
Vögeln ausgestreut werden, so hängt ihr Daseyn mit von dem
der Vögel ab, und man kann metaphorisch sagen, sie ringen mit
andern Beeren-tragenden Pflanzen, damit die Vögel eher ihre
Früchte verzehren und ihre Saamen ausstreuen, als die der an-
dern. In diesen mancherlei Bedeutungen, welche ineinander
übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber den Aus-
druck »um’s Daseyn ringen«.
3 Ein Kampf um’s Daseyn folgt unvermeidlich aus der Nei-
gung aller Organismen, sich in starkem Verhältnisse zu vermeh-
ren. Jedes Wesen, das während seiner natürlichen Lebenszeit
mehre Eier oder Saamen hervorbringt, muss während einer
Periode seines Lebens oder zu gewisser Jahreszeit oder in einem
ww '
zufälligen Jahre Zerstörung erfahren; sonst würde seine Zahl
in 'geometrischer 'Progression rasch zu so ausserordentlicher
Grösse anwachsen, dass keine Gegend das Erzeugniss zu ernäh-
ren im Stande wäre. ' Wenn daher mehr Individuen erzeugt
werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muss je-
denfalls ein Kampf um das Daseyn entstehen, entweder zwischen
den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener
Arten, oder zwischen ihnen und den äusseren Lebens-Bedingungen.
Es ist die Lehre von Marruus, in verstärkter Kraft übertragen
auf das gesammte Thier- und Pflanzen-Reich; denn in diesem
Falle ist keine künstliche Vermehrung der Nahrungsmittel und
keine vorsichtige Enthaltung vom Heirathen möglich. Obwohl
daher einige Arten jetzt in mehr oder weniger rascher Zunahme
begriffen seyn mögen: alle können es nicht zugleich, denn die
Welt würde sie nicht fassen. zZ
Es gibt keine Ausnahme von der Regel, dass jedes orga-
nische Wesen sich auf natürliche Weise in dem Grade vermehre,
dass, wenn es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der
Nackommenschaft eines einzigen Paares bedeckt seyn würde.
Selbst der Mensch, welcher sich doch nur langsam vermehrt,
verdoppelt seine Anzahl in fünfundzwanzig Jahren, und bei so
fortschreitender Vervielfältigung ‘würde die Welt schon nach eini-
gen Tausend Jahren keinen Raum mehr für seine Nachkommen-
schaft haben. Lins£ hat berechnet, dass, wenn eine einjährige
Pflanze nur zwei Saamen erzeugte (und es gibt keine Pflanze,
die so wenig produktiv wäre) und ihre Sämlinge gäben im näch-
sten Jahre wieder zwei u. s. w., sie in zwanzig Jahren schon
eine Million Pflanzen liefern würde. Man sieht den Elephanten
als das sich am’ langsamsten vermehrende von allen bekann-
ten Thieren an. Ich habe das wahrscheinliche Minimum seiner
natürlichen Vermehrung zu berechnen gesucht, unter der Voraus-
setzung, dass seine Fortpflanzung erst mit dreissig Jahren be-
ginne und bis zum neunzigsten Jahre währe, und dass er in dieser
Zeit nur drei Paar Junge zur Welt bringe. In diesem Falle wür-
den nach fünfhundert Jahren schon fünfzehn Millionen Elephanten
von dem ersten Paare vorhanden seyn,
70
7 Doch wir haben bessre Belege für ‘diese Sache, als
theoretische Berechnungen, “namentlich in den oft: berichteten
Fällen von erstaunlich rascher Vermehrung verschiedener Thier-
Arten im Natur-Zustande, wenn die natürlichen Bedingungen zwei
oder drei Jahre lang dafür günstig gewesen sind. Noch schla-
gender sind die von unseren in verschiedenen Weltgegenden
verwilderten Hausthier-Arten hergenommenen Beweise, so dass,
wenn die Behauptungen von der Zunahme: der sich doch nur
langsam vermehrenden Rinder und Pferde in Süd-Amerika
und neuerlich in Australien nicht sehr wohl bestätigt wären, 'sie
ganz unglaublich erscheinen müssten. Eben so ist es mit den
Pflanzen. Es lassen sich Fälle von eingeführten Pflanzen auf-
zählen, welche auf ganzen Inseln gemein geworden sind in we-
niger als zehn Jahren. Einige der Pflanzen, welche jetzt in
solcher Zahl über die weiten Ebenen von la Plata verbreitet
sind, dass sie alle anderen Pflanzen daselbst ausschliessen, sind
aus Europa eingebracht worden; und eben so gibt es, wie ich
von Dr. Farconer gehört, in Ostindien Pflanzen, welche jetzt vom
Cap Comorin bis zum Himalaya reichen und seit der Entdeck-
ung von Amerika von dorther eingeführt worden sind. In Fäl-
len dieser Art, von welchen endlose Beispiele angeführt werden
könnten, wird Niemand unterstellen, dass die Fruchtbarkeit sol-
cher Pflanzen und Thiere plötzlich und zeitweise in einem be-
merklichen Grade zugenommen habe. Die handgreifliche Erklä-
rung ist, dass die äussern Lebens-Bedingungen sehr günstig,
dass in dessen Folge die Zerstörung von Jung nnd Alt geringer
und mithin fast alle Abkömmlinge im Stande gewesen sind, sich
fortzupflanzen. In solchen Fällen genügt schon das geome-
_trische Verhältniss der Zahlen-Vermehrung, dessen Resultat nie
verfehlt Erstaunen zu erregen, um einfach das ausserordentliche
Wachsthum und die weite Verbreitung eingeführter Natur-Pro-
dukte in ihrer neuen Heimath zu erklären. Im Natur-Zustande
bringen fast alle Pflanzen jährlich Saamen hervor, und unter den
Thieren sind nur sehr wenige, die sich nicht jährlich paarten.
Wir können daher mit Sicherheit behaupten, dass alle Pflanzen
und Thiere sich in geometrischem Verhätnisse vermehren, dass
EN!
7
sie jede zu ihrer Ansiedelung geeignete Gegend sehr rasch: zu
bevölkern im Stande seyen, und dass das Streben zur geome-
trischen Vermehrung zu irgend einer Zeit ihres Lebens be-
schränkt werden muss. Unsre genaue Bekanntschaft mit den
grösseren Hausthieren könnte zwar unsre Meinung in dieser Be-
ziehung irre leiten, da 'wir keine grosse Störung unter ihnen
eintreten sehen; aber wir vergessen, dass Tausende jährlich zu
unsrer Nahrung geschlachtet werden, und dass im Natur-Zustande
wohl eben so viele irgendwie beseitigt werden würden.
Der einzige Unterschied zwischen den Organismen, welche
jährlich Tausende von Eiern oder Saamen hervorbringen, und
jenen welche deren nur sehr wenige liefern, besteht darin, dass
diese unter günstigen Verhältnissen ein paar Jahre länger als
jene zur Bevölkerung eines Bezirkes nöthig haben, seye derselbe
auch noch so gross. Der Condor legt zwei Eier und der Strauss
deren zwanzig, und doch dürfte in einer und derselben Gegend
der Condor leicht:der häufigere von beiden werden. Der Eis-Sturm-
vogel (Procellaria glacialis) legt nur ein Ei, und doch glaubt man
er seye der zahlreichste ‘Vogel in der Well. Die eine Fliege
legt hundert Eier und die andre wie z. B. Hippobosca deren
nur eines; Diess bedingt aber nicht die Menge der Individuen,
die in einem Bezirk ihren Unterhalt finden können. Eine grosse
Anzahl von Eiern ist von einiger Wichtigkeit für eine Art, deren
Futter-Vorräthe raschen Schwankungen unterworfen sind; denn
diese muss ihre Vermehrung in kurzer Frist bewirken. Aber
wesentliche Wichtigkeit erlangt eine grosse Zahl von Eiern
oder Samen der Grösse der Zerstörung gegenüber, welche zu
irgend einer Lebens-Zeit erfolgt, und diese Zeit des Lebens ist
in der grossen Mehrheit der Fälle eine sehr frühe. Kann ein
Thier in irgend einer Weise seine eignen Eier und Junge schützen,
so wird es deren eine geringere Anzahl erzeugen und diese
ganze durchschnittliche Anzahl aufbringen; werden aber viele
Eier oder Junge zerstört, so müssen deren viele erzeugt werden,
wenn die Art nicht untergehen soll. Wird eine Baum-Art durch-
schnittlich tausend Jahre alt. so würde es zur Erhaltung ihrer
vollen Anzahl genügen, wenn sie in tausend Jahren nur einen
12
Saamen hervorbrächte, vorausgesetzt dass dieser eine nie zer-
stört würde und auf einen sicheren für die Keimung geeigneten
Platz gelangen könnte. So hängt in allen Fällen die mittle An-
zahl von Individuen einer Pflanzen- oder Thier-Art nur indirekt
von der Zahl der Saamen oder Eier ab, die sie liefert.
Bei Betrachtung der Natur ist es nöthig, diese Ergebnisse
immer im Sinne zu behalten und nie zu vergessen, dass man
von jedem einzelnen Organismus unsrer Umgebung sagen kann,
er strebe nach der äussersten Vermehrung seiner Anzahl, dass
aber jeder in irgend einem. Zeit- Abschnitte seines Lebens in
einem Kampfe mit feindlichen Bedingungen begriffen seye, und dass
grosse Zerstörung unvermeidlich über Jung oder Alt ergehe in jeder
Generation oder in wiederkehrenden Perioden. Wird. irgend
ein: Hinderniss beseitigt oder die Zerstörung noch so wenig gemin-
dert, so wird in der Regel augenblicklich die Zahl der Individuen
stärker anwachsen.
5 Was für Hindernisse es sind, weiche das natürliche Streben
jeder Art nach Vermehrung ihrer Anzahl beschränken, ist mei-
stens unklar. Betrachtet man die am kräftigsten gedeihenden
Arten, so wird man finden dass, je grösser ihre Zahl wird, desto
mehr ihr Streben nach weitrer Vermehrung zunimmt. Wir wissen
nicht einmal in einem einzelnen Falle genau, welches die Hinder-
nisse der Vermehrung sind. Diess wird jedoch niemanden in
Verwunderung setzen, der sich erinnert, wie unwissend wir in
dieser Beziehung bei dem Menschen selbst . sind, . welcher
doch ohne Vergleich besser. bekannt ist als irgend eine ‚andre
Thier-Art. Doch ist dieser Gegenstand von mehren Schriftstellern
vortrefflich erörtert worden; ich ‚werde in ‚meinem späteren
Werke über mehre der Hindernisse mit einiger Ausführlichkeit
handeln und insbesondre auf die Raubihiere Südamerikas etwas
näher eingehen. Hier mögen nur einige wenige Bemerkungen
Raum finden, nur um dem Leser einige Hauptpunkte. ins ‚Ge-
dächtniss zu rufen. Eier und ganz junge Thiere scheinen am
meisten zu leiden, doch ist Diess nicht ganz ohne Ausnahme.
Den. Pflanzen wird zwar eine gewaltige Menge von Saamen zer-
stört; aber nach einigen Beobachtungen scheint es mir, als litten
13
die Sämlinge am meisten, wenn sie auf einem schon mit andern
Pflanzen dicht bestockten Boden wachsen. Auch die Sämlinge
werden noch in grosser Menge durch verschiedene Feinde ver-
nichtet. So beobachtete ich auf einer locker umgegrabenen Boden-
Fläche von 3' Länge und 2‘ Breite 357 Sämlinge unsrer ver-
schiedenen Holz-Arten, wovon nicht weniger als 295 hauptsächlich
durch Schnecken und Insekten zerstört wurden. Wenn man
einen Rasen, der lang abgemähet wurde (und der Fall wird
der nämliche bleiben, wenn er durch Säugthiere kurz abgeweidet
worden), wachsen lässt, so werden die kräftigeren Pflanzen all-
mählich die minder kräftigen wenn auch voll ausgewachsenen
tödten; und in einem solchen Falle hat man von zwanzig auf einem
nur 3‘ auf 4‘ grossen Fleck beisammen wachsenden Arten neun
zwischen den anderen nun üppiger aufwachsenden zu Grunde
gehen sehen.
; Die für eine jede Art vorhandene Nahrungs-Menge bestimmt
die äusserste Grenze, bis zu welcher sie sich vermehren kann;
aber in vielen Fällen wird die Vermehrung einer Thier-Art schon
weit unter dieser Grenze dadurch gehemmt, dass sie selbst wie-
der einer andern zur Beute wird. Es scheint daher wenig Zweifel
unterworfen zu seyn, dass der Bestand an Feld- und Hasel-
Hühnern, Hasen u. s. w.. grossentheils hauptsächlich von .der
Zerstörung der kleinen Raubthiere abhängig ist. Wenn in Eng-
land in den nächsten zwanzig Jahren kein Stück Wildpret ge-
schossen, aber auch keine solche Raubthiere zerstört würden,
so würde nach aller Wahrscheinlichkeit der Wild-Stand nachher
geringer seyn als jetzt, obwohl jetzt Hunderte und Tausende
von Stücken Wildes erlegt werden. Anderseits gibt es aber
auch einige Fälle wo, wie bei Elephant und Nashorn, eine Zer-
störung durch Raubthiere gar nicht stattfindet, und selbst der
Indische Tiger wagt es nur sehr selten einen jungen von seiner
Mutter geschützten Elephanten anzugreifen.
/ Das Klima. hat ferner einen wesentlichen Antheil an Be-
stimmung der durchschnittlichen Individuen -Zahl einer Art, und
ich glaube dass ein periodischer Eintritt von äusserst kalter oder
trockener Jahreszeit zu den wirksamsten aller Hemmnisse gehört.
4
Ich schätze, dass der Winter 1854—55 auf meinen eignen Jagd-
Gründen vier Fünftheile aller Vögel zerstört hat; und Diess ist eine
furchtbare Zerstörung, wenn wir berücksichtigen, dass bei dem
Menschen eine durch Seuchen verursachte Sterblichkeit von zehn
Prozent schon ganz ausserordentlich stark ist. Die Wirkung des
Klimas scheint beim ersten Anblick ganz unabhängig von dem
Kampfe um die Existenz zu seyn; wenn aber das Klima haupt-
sächlich die Nahrung vermindert, veranlasst es den hefligsten
Kampf zwischen den Einzelwesen seye es nur einer oder seye
es verschiedener Arten, welche von derselben Nahrung leben.
Selbst wenn ein, z. B. äusserst kaltes, Klima unmittelbar wirkt,
sind es die mindest kräftigen oder diejenigen Individuen, die
beim vorrückenden Winter am wenigsten Futter bekommen haben,
welche am meisten leiden. Wenn wir von Süden nach Norden
oder aus einer feuchten in eine trockne Gegend wandern, wer-
den wir stets einige Arten immer seltener und seltener werden
und zuletzt gänzlich verschwinden sehen; und da der Wechsel
des Klima’s zu Tage liegt, so werden wir am ehesten versucht
seyn den ganzen Erfolg seiner direkten Einwirkung zuzuschreiben.
Und doch ist Diess eine falsche Ansicht; wir vergessen dabei, dass
jede Art selbst da, wo sie am häufigsten ist, in irgend einer
Zeit ihres Lebens durch Feinde oder durch Mitbewerber um ihre
Nahrung oder ihre Wohnstelle ungeheure Zerstörung erfährt;
und wenn diese Feinde oder Mitbewerber nur im Mindesten durch
irgend einen Wechsel des Klima’s begünstigt werden, so wachsen
sie an Zahl, und da jede Fläche bereits vollständig mit Bewohnern
besetzt ist, so muss die andre Art zurückweichen. Wenn wir
auf dem Wege nach Süden eine Art in Abnahme begriffen sehen,
so fühlen wir gewiss, dass die Ursache mehr in anderen begün-
stigten Arten liegt, als in dieser einen‘ benachtheiligten. : Eben
so, wenn wir nordwärts gehen, obgleich in einem etwas ge-
ringeren Grade, weil die Zahl aller Arten und somit aller Mit-
bewerber gegen Norden hin abnimmt. Daher kömmt es, dass,
wenn wir nach Norden oder einen Berg hinauf gehen, wir weil
öfters verkümmerten Formen begegnen, welche von unmittelbar
schädlichen Einflüssen des Klima’s herrühren, als wenn wir nach
79
Süden. oder. bergab gehen. Erreichen wir endlich die arktischen
Regionen oder die, Schnee-bedeckten Berg-Spitzen oder vollkom-
mene Wüsten, so findet das Ringen ums Daseyn hauptsächlich
gegen die Elemente stait.
Dass die Wirkung des Klima’s vorzugsweise eine indirekte
und durch Begünstigung andrer Arten vermittelt seye, ergibt
sich klar aus ‘der wunderbar grossen Menge solcher Pflanzen in
unseren Gärten, welche zwar vollkommen im Stande sind unser
Klima zu ertragen, aber niemals naturalisirt werden können,
weil sie weder den Wettkampf mit ‚anderen Pflanzen aushalten
noch der Zerstörung durch unsre einheimischen Thiere wider-
stehen können.
Wenn sich eine Art durch sehr günstige Umstände auf
einem kleinen Raume zu ausserordentlicher Anzahl vermehrt,
so sind Seuchen: (so ist es wenigstens bei unseren Hausthieren
gewöhnlich der Fall) oft die Folge davon, und. hier haben wir
ein vom Ringen ums Daseyn unabhängiges Hemmniss. Doch
scheint wenigstens’ ein Theil dieser sogenannten Epidemien von
parasitischen Würmern herzurühren, welche durch irgend eine
Ursache und vielleicht durch die Leichtigkeit der Verbreitung
zwischen gekreutzten Rassen unverhältnissmässig begünstigt
worden sind, und so fände hier gewissermaassen ein Ringen
zwischen den Würmern und ihren Nährthieren statt.
Andrerseits ist in vielen Fällen wieder ein grosser Bestand
von Individuen derselben Art unumgänglich. für ihre Erhaltung
nöthig. Man kann daher leicht Getreide, Repssaat u. s. w. in
Masse auf unseren Feldern erziehen, weil hier deren Saamen
in grossem Übermaasse gegenüber den Vögeln vorhanden sind,
welche davon leben; und doch können diese Vögel, wenn sie
auch mehr als nöthig Futter in der einen Jahreszeit haben, nicht
im Verhältniss zur Menge dieses Futters zunehmen, weil die ganze
Anzahl im Winter nicht ihr Fortkommen fände. Dagegen weiss
jeder, der es versucht hat, Saamen aus Weitzen oder andern
solchen Pflanzen im Garten zu erziehen, wie mühesam Diess ist.
Ich habe .in solchen Fällen jedes Saamenkorn verloren, Diese
Anschauungsweise von der Nothwendigkeit eines grossen Be-
f
/
yeadia ee
16
standes einer Art für ihre Erhaltung erklärt, wie mir scheint,
einige eigenthümliche Fälle in der Natur, wie z. B. dass sehr
seltene Pflanzen zuweilen sehr zahlreich auf einem kleinen Fleck
beisammen vorkommen; und dass manche’ gesellige Pflanzen ge-
sellig oder in grosser Zahl beisammen selbst auf der äussersten
Grenze ihres Verbreitungs-Bezirkes gefunden werden. In solchen
Verhältnissen kann man glauben, eine Pflanzen-Art vermöge nur
da zu bestehen, wo die Lebens-Bedingungen so günstig sind, dass
ihrer viele beisammen leben und so einander vor äusserster Zerstö-
rung bewahren können. Ich möchte hinzufügen, dass die guten Fol-
gen einer häufigen Kreutzung und die schlimmen einer reinen In-
zucht wahrscheinlich in einigen dieser Fälle mit in Betracht
kommen; doch will ich mich über diesen verwickelten Gegen-
stand hier nicht weiter verbreiten.
-# Man berichtet viele Beispiele, aus denen sich ergibt, wie zu-
Sammengesetzt und wie unerwartet die gegenseitigen Beschrän-
kungen und Beziehungen zwischen organischen Wesen sind, die in
einerlei Gegend mit einander zu ringen haben. Ich will nur
ein solches Beispiel anführen, das, wenn auch einfach, mich
angesprochen hat. In Staffordshire auf einem Gute, über dessen
Verhältnisse nachzuforschen ich in günstiger Lage war, befand
sich eine grosse äusserst unfruchtbare Haide, die nie von eines
Menschen Hand berührt worden. Doch waren einige Hundert
Acker derselben von genau gleicher Beschaffenheit mit dem
Übrigen fünfundzwanzig Jahre zuvor eingezäunt und mit der
Schottischen Kiefer bepflanzt worden. Die Veränderung in der
ursprünglichen Vegetation des bepflanzten Theiles war äusserst
merkwürdig, mehr als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man
auf einen ganz verschiedenen Boden übergeht. Nicht allein er-
schienen die Zahlen - Verhältnisse zwischen den Haide - Pflanzen
gänzlich verändert, sondern es blüheten auch in der Pflanzung
noch zwölf solche Arten, Ried- u. a. Gräser ungerechnet, von
welchen auf der Haide nichts zu finden war. Die Wirkung auf
die Kerbthiere muss noch viel grösser gewesen seyn, da in der
Pflanzung sechs Spezies Insekten- fressender Vögel sehr gemein
waren, von welchen in der Haide nichts zu sehen gewesen,
77
welche dagegen von zwei bis drei: andren Arten derselben be-
sucht wurde. . Wir ‚bemerken hier, wie mächtig. die Folgen
der. Einführung. einer einzelnen Baum-Art gewesen, indem durch-
aus nichts sonst geschehen war, ausser der Abhaltung des Wildes
durch die Einfriedigung. Was für ein. wichtiges Element aber
die Einfriedigung seye, habe ich deutlich zu Farnham in Surrey
erkannt, Hier waren ausgedehnte Haiden mit ein paar:Gruppen
alter Schotitischer ‘Kiefern auf den Rücken der entfernteren Hügel;
in den letzten zehn Jahren waren ansehnliche Strecken einge-
friedigt worden, und innerhalb dieser Einfriedigungen schoss in
Folge von Selbstbesaamung eine Menge junger Kiefern auf, so
dicht beisammen, dass nicht alle fortleben können. Nachdem ich
erfahren , dass diese jungen Stämmchen nicht absichtlich gesäet
oder gepflanzt worden, war ich um so mehr erstaunt über deren
Anzahl, als ich mich. sofort nach mehren Seiten wandte um
Hunderte von Acres der nicht eingefriedigten Haide zu unter-
suchen, wo ich jedoch ausser den gepflanzten alten: Gruppen
buchstäblich genommen auch nicht eine Kiefer zu finden ver-
mochte. Da ich mich jedoch genauer zwischen den Stämmen
der freien Haide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und
kleiner Bäumehen, welche aber fortwährend von den Rinder-
Heerden abgeweidet worden waren. Auf einem eine Elle im
Quadrat messenden Fleck mehre Hundert Schritte von den alten
Baum - Gruppen entfernt zählte ich 32 solcher abgeweideten
Bäumchen , wovon eines nach der Zahl seiner Jahres-Ringe zu
schliessen 26 Jahre lang gehindert worden war sich über die
Haide- Pflanzen zu erheben und dann zu Grunde gegangen
ist... Kein Wunder also, dass, sobald das Land eingefriedigt
worden, es dicht von kräftigen jungen Kiefern überzogen wurde.
Und doch war die Haide so äusserst unfruchtbar und so ausge-
dehnt, dass niemand geglaubt hätte, dass das Rindvieh hier so
dicht und so erfolgreich .nach Futter gesucht habe.
# Wir. ‚sehen hier das Vorkommen der Schottischen Kiefer
in Abhängigkeit vom Rinde; in andern Weltgegenden ist es
von gewissen Insekten abhängig. Vielleicht bietet Para-
guay das merkwürdigste Beispiel dar; denn hier sind niemals
18
Rinder, Pferde oder Hunde verwildert, obwohl sie im Süden und
Norden davon in verwildertem Zustande umherschwärmen. ATaRa
und REnsGer haben gezeigt, dass die Ursache dieser Erscheinung
in Paraguay in dem häufigeren Vorkommen einer gewissen Fliege
zu finden seye, welche ihre Eier in den Nabel der neu-geborenen
Jungen dieser Thier-Arten legt. Die Vermehrung dieser Fliege muss
gewöhnlich durch irgend ein Gegengewicht und vermuthlich
durch Vögel gehindert werden. Wenn daher ‘gewisse Insekten-
fressende Vögel, deren Zahl wieder durch Raubvögel und Fleisch-
Fresser geregelt werden mag, in Paraguay zunähme, so würden
sich die Fliegen vermindern und Rind und Pferd verwildern,
was dann wieder (wie ich in einigen Theilen Südamerikas wirk-
lich beobachtet habe) eine bedeutende Veränderung in der
Pflanzen- Welt veranlassen würde. Diess müsste nun in hohem
Grade auf die Insekten und hiedurch, wie wir in Staffordshire
gesehen, auf die Insekten-fressenden Vögel wirken, und so fort
in immer‘ weiteren und verwickelteren Kreisen. Wir haben
diese Belege mit Insekten-fressenden Vögeln begonnen und endi-
gen damit. Doch sind in der Natur die Verhältnisse nicht immer
so einfach, wie hier. Kampf um Kampf mit veränderlichem Er-
folge muss immer wiederkehren; aber in die Länge halten die
Kräfte einander so genau das Gleichgewicht, dass die Natur auf
weite Perioden hinaus immer ein gleiches Aussehen behält, ob-
wohl gewiss oft die unbedeutendste Kleinigkeit genügen würde,
einem organischen Wesen den Sieg über das andre zu verleihen.
Demungeachtet ist unsre Unwissenheit so gross, dass wir uns
verwundern, wenn wir von dem Erlöschen eines organischen
Wesens vernehmen; und da wir die Ursache nicht sehen, so rufen
wir Umwälzungen zu Hilfe um die Welt zu verwüsten, oder er-
finden Gesetze über die Dauer der Lebenformen.
Ich bin versucht durch ein weitres Beispiel nachzuweisen,
wie solche Pflanzen und Thiere, welche auf der Stufenleiter der Na-
tur am weitesten von einander entfernt stehen, durch ein Gewebe
von verwickelten Beziehungen mit einander verkettet werden.
Ich werde nachher Gelegenheit haben zu zeigen, dass die aus-
ländische Lobelia fulgens in diesem Theile von England niemals
‚ht int
chen !
alten
Natur
hält, !
n wit
verle
air!
yon
som
oder!
N
„ae!
gar
‚et!
gef
] jr
19
von Insekten besucht wird und daher nach ihrem eigenthümlichen
Blüthen-Bau: nie eine Frucht ansetzen kann. Viele unsrer Or-
chideen-Pflanzen müssen unbedingt von. Motten besucht werden,
um ihre Pollen-Massen wegzunehmen und sie zu befruchten.
Auch habe ich Ursache zu glauben, dass Hummeln zur Befruch-
tung der. Jelängerjelieber. (Viola. tricolor) nöthig sind, indem
andre Insekten sich nie auf dieser Blume einfinden. Durch an-
gestellte Versuche habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen
zur Befruchtung von mehren unsrer Klee-Arten nothwendig seye.
So lieferten mir hundert Stöcke weissen Klee’s (Trifolium repens)
2290 Saamen, ‚während 20: andre Pflanzen dieser Art, welche
den Bienen unzugänglich gemacht waren, nicht einen Saamen
zur Entwickelung brachten. Und eben so ergaben hundert Stöcke
rothen Klee’s (Trifolium pratense) 2700 Saamen, und die gleiche
Anzahl gegen Bienen geschützter Stöcke nicht einen! Hummeln
besuchen allein diesen rothen Klee, indem andre Bienen-Arten
den Nektar dieser Blume nicht erreichen können. Daher zweifle
ich wenig daran, dass, wenn die ganze Sippe der Hummeln in
England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Jelängerje-
lieber und rother Klee selten werden oder ganz verschwinden
müssten. Die Zahl der Hummeln steht grossentheils in einem
entgegengesetzten Verhältnisse zu der der Feldmäuse in dersel-
ben Gegend, welche deren Nester und Waben aufsuchen. Herr
H. Newman, welcher die Lebens-Weise der Hummeln lange beob-
achtet, glaubt dass über zwei Drittel derselben durch ganz Eng-
land zerstört werden. : Nun findet aber, wie Jedermann weiss,
die Zahl der Mäuse ein grosses Gegengewicht in der der Katzen,
so dass Newman sagt, in der Nähe von Dörfern und Flecken
habe er die Zahl der Hummel-Nester am grössten gefunden, was
er der reichlicheren Zerstörung der Mäuse durch die Katzen zu-
schreibe. Daher ist es denn wohl glaublich. dass die reichliche
Anwesenheit eines Katzen-artigen Thieres in irgend einem Be-
zirke durch Vermittelung von Mäusen und Bienen auf die Menge
gewisser Pflanzen daselbst von Einfluss seyn kann!
Bei jeder Spezies kommen wahrscheinlich verschiedene Arten
Gegengewicht in Betracht, solche die in verschiedenen Perioden
80
des Lebens, und solche die während verschiedener Jahres-Zeiten
wirken. Eines oder einige derselben mögen mächtiger als die an-
dern seyn; aber alle zusammen bedingen die Durchschnitts-Zahl
der Individuen oder selbst die Existenz der Art. In manchen
Fällen lässt sich nachweisen, dass sehr verschiedene Gegenge-
wichte in verschiedenen Gegenden auf eine Spezies einwirken,
Wenn wir Büsche und Pflanzen betrachten, welche einen zerfal-
lenen Wail überziehen, so sind wir geneigt, ihre Arten und de-
ren Zahlen-Verhältnisse dem Zufalle zuzuschreiben, Doch wie
falsch ist diese Ansicht! Jedermann hat gehört, dass, wenn in
Amerika ein Wald niedergehauen wird, eine ganz verschiedene
Pilanzenwelt zum Vorschein kommt, und doch ist beobachtet wor-
den, dass die Bäume, welche jetzt auf den alten Indianer-Wällen
im Süden der Vereinten Staaten wachsen, deren früherer Baum-
Bestand abgetrieben worden, jetzt wieder eben dieselbe bunte
Manchfaltigkeit und dasselbe Arten-Verhältniss wie die umge-
benden jungfräulichen Haine darbieten. Welch ein Wettringen
muss hier Jahrhunderte lang zwischen den verschiedenen Baum-
Arten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen jährlich zu
Tausenden abwirft! Was für ein Kampf zwischen Insekten und
Insekten u. a. Gewürm mit Vögeln und Raubthieren, welche alle
sich zu vermehren strebten, alle sich von einander oder von den
Bäumen und ihren Saamen und Sämlingen, oder von jenen andern
Pflanzen nährten, welche anfänglich den Grund überzogen und hie-
durch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten. Wirft man eine
Hand voll Federn in die Lüfte, so müssen alle nach bestimmten
Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist dieses Problem
in Vergleich zu der Wirkung und Rückwirkung der zahllosen
Pflanzen und Thiere, die im Laufe von Jahrhunderten Arten und
Zahlen-Verhältniss der Bäume bestimmt haben, welche jetzt auf
den alten Indianischen Ruinen wachsen!
/6 Abhängigkeit eines organischen Wesens von einem andern,
wie die des Parasiten von seinem Ernährer, findet in der Regel
zwischen solchen Wesen statt, welche auf der Stufenleiter der
Natur weit auseinander sind. Diess ist oft bei solchen der Fall,
von denen man ganz richtig sagen kann, sie kämpfen mitein-
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ander "auch um ihr Daseyn, wie Gras-fressende Säugthiere und
Heuschrecken. Aber der meistens ununterbrochen-fortdauernde
Kampf wird der heftigste seyn, der zwischen den Einzelwesen einer
Art stattfindet, welche dieselben Bezirke bewohnen, dasselbe Fut-
ter verlangen und denselben Gefahren ausgesetzt sind. Bei Va-
rietäten der 'nämlichen Art wird der Kampf meistens eben so
heftig seyn, und zuweilen sehen wir den Streit schon in kurzer
Zeit entschieden. So werden z. B., wenn wir verschiedene
Weitzen-Varietäten durcheinander säen und ihren gemischten
Saamen-Ertrag wieder säen, einige Varietäten, welche dem Klima
und Boden am besten entsprechen oder von Natur die fruchtbar-
sten sind, die andern überbieten und, indem sie mehr Saamen
liefern, schon nach wenigen Jahren gänzlich ersetzen. Um einen
gemischten Stock von so äusserst nahe verwandten Varietäten
aufzubringen, wie die verschieden - farbigen Zuckererbsen sind,
muss man sie jedes Jahr gesondert ärndten und dann die Saamen
im erforderlichen Verhältnisse jedesmal auf's Neue mengen, wenn
nicht die schwächeren Sorten von Jahr zu Jahr abnehmen und
endlich ganz ausgehen sollen.
So verhält es sich auch mit den Schaaf-Rassen. Man hat ver-
sichert, dass gewisse Gebirgs-Varietäten derselben unter andern Ge-
birgs-Varietäten aussterben, so dass sie nicht durch einander ge-
halten werden können. Zu demselben Ergebnisse ist man gelangt,
als man versuchte, verschiedene Abänderungen des medizinischen
Blutegels durcheinander zu halten. Und ebenso ist zu bezwei-
feln, dass die Varietäten von irgend einer unsrer Kultur-Pflanzen
oder Hausthier-Arten so genau dieselbe Stärke, Gewohnheiten
und Konstitution besitzen, dass sich die ursprünglichen’ Zahlen-
Verhältnisse eines gemischten Bestandes derselben auch nur ein
halbes Dutzend Generationen hindurch zu erhalten vermöchten,
wenn sie wie die organischen Wesen im Natur-Zustande mit ein-
ander zu ringen veranlasst.wären und der Saamen oder die Jungen
nicht alljährlich sortirt würden.
Da die Arten einer Sippe gewöhnlich, doch keineswegs
immer, einige Ähnlichkeit mit einander in Gewohnheiten und
Konstitution und immer in der Struktur besitzen, so wird der
6
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82
Kampf zwischen Arten einer Sippe, welche in: Mitbewerbung ‚mit
einander gerathen, gewöhnlich ein härterer sein, als zwischen
Arten verschiedener Sippen. . Wir sehen Diess an der neuerlichen
Ausbreitung einer Schwalben-Art über einen Theil der Vereinten
Staaten, wo sie. die, Abnahme einer andern Art veranlasst. _ Die
Vermehrung der Misteldrossel in einigen Theilen von Schottland
hat daselbst die Abnahme der. Singdrossel zur Folge gehabt.
‘Wie oft hören wir, dass eine Ratten-Art den Platz einer andern
eingenommen, in den verschiedendsten Klimaten. In Russland
hat die kleine asiatische Schabe (Blatta) ihren grösseren [?] Sip-
pen-Genossen überall vor sich hergetrieben. ‚Eine Art Ackersenf
ist im Begriffe eine andre zu ersetzen, u. s. w. Wir vermögen
undeutlich zu erkennen, warum die Mitbewerbung zwischen den
verwandtesten Formen am heftigsten ist, welche nahezu denselben
Platz im Haushalte der Natur ausfüllen ; aber wahrscheinlich werden
wir in keinem einzigen Falle genauer anzugeben im Stande seyn,
wie. ‚es zugegangen, dass in dem. grossen Wettringen um das
Daseyn die eine den. Sieg über die andre davon getragen hat.
// Aus den vorangehenden Beinerkungen lässt, sich als ‚Folge-
satz von grösster Wichtigkeit ‚ableiten, dass die, Struktur, eines
jeden organischen Wesens auf die innigste aber oft verborgene
Weise mit der aller andern organischen Wesen zusammenhängt,
mit welchen es in Mitbewerbung um Nahrung oder Wohnung in Be-
ziehung: steht, welche es zu vermeiden hat, und von welchen es
lebt. — Diess erhellt eben’ so deutlich. im Baue der Zähne und der
Klauen des Tigers, wie in ‚der Bildung der Beine und Krallen
des Parasiten, welcher an des Tigers Haaren, ‚hängl. Zwar an
dem zierlich‘ gefiederten Saamen des Löwenzahns wie an den
abgeplatieten und gewimperten Beinen des Wasserkäfers scheint
anfänglich die Beziehung nur auf das Luft- und Wasser-Element
beschränkt. Aber der Vortheil des fiedergrannigen Löwenzahn-
Saamens steht ohne Zweifel in der, engsten Beziehung zu dem
durch andre Pflanzen bereits dicht ‘besetzten Lande, so dass ef
in. der Luft erst weit umhertreiben muss, um auf einen noch
freien Boden fallen. zu ‚können. Den Wasserkäfer dagegen
befähigt die Bildung seiner Beine vortrefflich zum Untertauchen,
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83
wodurch er in den Stand gesetzt wird, mit anderen Wasser-
Insekten in Mitbewerbung zu treten, indem er nach seiner eig-
nen Beute jagt, und anderen Thieren zu entgehen, welche ihn
zu ihrer Ernährung verfolgen.
Der ‘Vorrath von Nahrungs-Stoff, welcher in den Saamen
vieler Pflanzen niedergelegt ist, scheint anfänglich keine Art von
Beziehung zu anderen Pflanzen zu haben. Aber aus dem lebhaf-
ten Wachsthum der jungen Pflanzen, welche aus solchen Saamen
(wie Erbsen, Bohnen u. s. w.) hervorgehen, wenn sie mitten in
hohes Gras ausgestreut worden, vermuthe ich, dass jener Nah-
rungs-Vorrath hauptsächlich dazu bestimmt ist, das Wachsthum
des jungen Sämlings zu beschleunigen, welcher mit andern Pflan-
zen von kräftigem Gedeihen rund um ihn her zu kämpfen hat.
Warum verdoppelt oder vervierfacht eine Pflanze in der Mitte
ihres Verbreitungs-Bezirkes nicht ihre Zahl® Wir wissen, dass
sie recht gut etwas mehr oder weniger Hitze und Kälte,
Trockne und Feuchtigkeit aushalten kann; denn anderwärts ver-
breitet sie sich in etwas wärmere oder kältere, feuchtre oder
trockenere Bezirke. Wir sehen wohl ein, dass, wenn wir in
Gedanken wünschten, der Pflanze das Vermögen noch weiterer
Zunahme zu verleihen, wir ihr irgend einen Vortheil über die
andern mit ihr werbenden Pflanzen oder über die sich von ihr
nährenden Thiere gewähren müssten. An den Grenzen ihrer
geographischen Verbreitung würde eine Veränderung ihrer Kon-
stitution in Bezug auf das Klima offenbar von wesentlichem Vor-
theil für unsre Pflanze seyn. Wir haben jedoch Grund zu glau-
ben, dass nur wenige Pflanzen- oder 'Thier-Arten sich so weit
verbreiten, dass sie durch die Strenge des Klima’s allein zerstört
werden. Nur wo wir die äussersten Grenzen des Lebens über-
haupt erreichen, in den arktischen Regionen oder am Rande
der dürresten Wüste, da hört auch die Mitbewerbung auf. Mag
das Land noch so kalt oder trocken seyn, immer werden sich
noch einige Arten oder noch die Individuen derselben Art um
das wärmste oder feuchteste Fleckchen streiten.
Daher sehen wir auch, dass, wenn eine Pflanzen- oder eine
Thier-Art in eine neue Gegend zwischen neue Mitbewohner
6*
84
versetzt wird, die äusseren Lebens-Bedindungen meistens wesent-
lich andre sind, wenn auch das Klima genau ‘dasselbe wie in der
alten Heimath bliebe. Wünschten wir das durchschnittliche Zah-
len-Verhältniss dieser Art in ihrer neuen Heimath zu steigern,
so müssten wir ihre Natur in einer andern Weise modilfiziren,
als es hätte in ihrer alten Heimath geschehen müssen; denn sie
bedarf eines Vortheils über eine andre Reihe von Mitbewerbern
oder Feinden, als sie dort gehabt hat.
Versuchten wir in unsrer Einbildungskraft, dieser oder
jener Form einen Vortheil über eine andre zu verleihen, so
wüssten wir wahrscheinlich in keinem einzigen Falle, was zu thun
seye, um zu diesem Ziele zu gelangen. Wir würden die Über-
zeugung von unsrer Unwissenheit über die Wechselbeziehungen
zwischen allen organischen Wesen gewinnen: einer Überzeugung;
welche eben so nothwendig ist, als sie schwer zu erlangen
scheint. Alles was wir thun können, ist: stets im Sinne behal-
ten, dass jedes organische Wesen nach Zunahme in einem geo-
metrischen Verhältnisse strebt; dass jedes zu irgend einer Zeit
seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, während seiner
Fortpflanzung oder nach unregelmässigen Zwischenräumen grosse
Zerstörung zu erleiden hat. Wenn wir ‘über diesen Kampf
um’s Daseyn nachdenken, so mögen wir uns selbst trösten mit
dem vollen Glauben, dass der Krieg der Natur nicht ununterbro-
chen ist, dass keine Furcht gefühlt wird, dass der Tod im All-
gemeinen schnell ist, und dass es der Kräftigere, der Gesundere
und Geschicktere ist, welcher überlebt und sich vermehrt.
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Viertes Kapitel.
Natürliche Züchtung.
/Natürliche Auswahl zur Nachzucht; —2ihre Gewalt im Vergleich zu der des
Menscher ; — ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit; —
‚ihre Gew alt in jedem Alter und über beide Geschlechter. —Sexuelle Zucht-
wahl. —/ Über die Allgemeinheit der Kreutzung zwischen Individuen
der näümlichen Art. - — [Umstände günstig oder ungünstig für die ‘Natür-
liche Züchtung, insbesöndere4Kreutzung ‚/ Isolation und‘Individuen-Zahl. —
»Langsame Wirkung. / Erlöschung durch natürliche Züchtung verur-
sacht. — Divergenz z Charakters, in. Bezug auf die Verschiedenheit der
Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation. — Wirkung der
Natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Ältern durch Di-
vergenz des Charakters und durch Unterdrückung. — Erklärt die ‚Gruppi-
rung aller organischen Wesen.
/. Wie mag wohl der Kampf um das Daseyn, welcher im letz-
ten Kapitel allzukurz abgehandelt worden, in Bezug auf Variation
wirken? Kann das Prinzip der Auswahl für die Nachzucht, welche
in des Menschen Hand so viel leistet, in der Natur angewendet
werden ? Ich glaube, wir werden sehen, dass ihre Thätigkeit eine
äusserst wirksame ist. Erwägen wir in Gedanken, mit welch’
‚endloser Anzahl neuer Eigenthümlichkeiten die Erzeugnisse uns-
rer Züchtung und, in minderem Grade, die der Natur varüiren,
und wie stark die Neigung zur Vererbung ist. Durch Zähmung und
Kultivirung, kann man wohl sagen, wird die ganze Organisation in
gewissem Grade bildsam. Erwägen wir ferner, wie unend-
lich verwickelt und wie genau anschliessend die gegenseitigen
Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den
natürlichen Lebens-Bedingungen sind. Kann man es denn bei
Erwägung, wie viele für den Menschen nützliche Abänderungen
unzweifelhaft vorkommen, für unwahrscheinlich halten, dass dich
andre mehr und weniger einem jeden Wesen selbst in dem
grossen und zusammengesetzten Kampfe ums Leben diensame
Abänderungen im Laufe von Tausenden von Generationen zuwei-
len vorkommen werden ? Wenn solche aber vorkommen, bleibt
dann noch zu bezweifeln, dass (da offenbar viel mehr Indi-
86
viduen geboren werden, als möglicher Weise fortleben kön-
nen) diejenigen Einzelwesen, welche irgend einen wenn auch
geringen Vortheil vor andern voraus besitzen, die meiste Wahr.
scheinlichkeit haben, die andern zu überdauern und wieder ihres-
gleichen hervorzubringen? Andrerseits werden wir gewiss fühlen,
dass eine im geringsten Grade nachtheilige Abänderung in glei-
chem Verhältnisse mehr der Vertilgung ausgesetzt ist. Diese Erhal-
tung vortheilhafter und Zurücksetzung nachtheiliger Abänderungen
ist es, was ich »Natürliche Auswahl oder Züchtung« nenne*. Ab-
änderungen, welche weder vortheilhaft noch nachtheilig sind, wer-
den von der Natürlichen Auswahl nicht berührt, und bleiben ein
schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den sogenannten
polymorphen Arten sehen.
Wir werden den wahrscheinlichen Verlauf der Natürlichen
Zuchtwahl am besten verstehen, wenn wir den Fall annehmen,
eine Gegend erfahre irgend eine physikalische Veränderung z. B,
im Klima. Das Zahlen-Verhältniss seiner Bewohner wird dann
unmittelbar ein andres werden, und ein oder die andre Art wird
gänzlich erlöschen. Wir dürfen ferner aus dem innigen Abhängig-
keits-Verhältnisse der Bewohner einer Gegend von einander schlies-
sen, dass, ausser dem Klima-Wechsel an sich, die Änderung im
Zahlen-Verhältnisse eines Theiles ihrer Bewohner auch sehr
wesentlich auf die andern wirke. Hat diese Gegend offene Gren-
zen, so werden gewiss neue Formen einwandern und das Ver-
haltniss eines Theiles der alten Bewohner zu einander ernstlich
stören; denn erinnern wir uns, wie folgenreich die Ein-
führung einer einzigen Baum- oder Säugthier-Art in den früher
mitgetheilten Beispielen gewesen ist. : Handelte es sich dagegen
um eine Insel oder um ein so umschränktes Land, dass neue
und besser angepasste Formen nicht eindringen können, so wer-
deiP sich Lücken im Hausstande der Natur ergeben, welche
sicherlich besser dadurch ausgefüllt werden, dass einige der ur-
sprünglichen Bewohner eine angemessene Abänderung erfahren;
denn, wäre das Land der Einwanderung geöffnet gewesen, 50
* Vergl. die Anmerkung auf Seite 10. D. Übs. «
87
würden ‘sieh ‘wohl Eindringlinge dieser. Stellen bemächtigt haben,
In diesem‘ Falle würde daher jede geringe Abänderung, die
sich im’ Laufe der Zeit ‚entwickelt hat: und irgendwie die, Indivi-
duen einer ‘oder der andern: Species durch bessre Anpassung an
die geänderten Lebens-Bedingungen begünstigt, ihre Erhaltung zu
gewärtigen haben und die Natürliche Auswahl wird freien Spiel-
raum für ihr Verbesserungs-Werk finden.
7Wie in: dem’ ersten Kapitel gezeigt worden, ist. Grund zur
Annahme vorhanden, dass eine solche ‘Änderung-in den Lebens-
Bedingungen, welche insbesondere auf das Reproductiv-System
wirkt, Variabilität verursacht oder sie erhöhet. In dem voran-
gehenden Falle: ist eine Änderung der Lebens-Bedingungen unter-
stellt worden, und: diese wird gewiss für die Natürliche Züchtung
insofern günstig gewesen seyn, als mit ihr die. Aussicht auf das
Vorkommen nützlicher Abänderungen verbunden. war ; kommen
nützliche Abänderungen nicht vor, so kann die Natur keine Auswahl
zur Züchtung treffen. Nicht als ob dazu ein äussersles Maass von
Veränderlichkeit nöthig wäre; denn wenn der. Mensch grosse
Erfolge ‘durch Häufung bloss individueller Verschiedenheiten in
einer und derselben Rücksicht 'erzielen kann, so. vermag, es die
Natur: in noch: weit 'höherm Grade, da ihr unvergleichlich längre
Zeiträume | für ihre Plane zu. Gebot stehen. Auch glaube ich
nicht, dass eben eine grosse klimatische oder andre Veränderung
oder ein ungewöhnlicher Grad von Abschränkung gegen die
Einwanderung: nöthig ist, um neue und noch unausgefüllte Stel-
len zu schaffen, damit die Natürliche Zuchtwahl sie durch Abän-
derung und Verbesserung einiger variirender Bewohner der
Gegend ausfüllen könne. Denn ‚da alle Bewohner einer jeden
Gegend mit gegenseitig genau abgewogenen Kräften in beständi-
gem Kampfe mit 'einander liegen,:so genügen oft schon äusserst
geringe Modifikationen in der Bildung oder Lebensweise eines
Bewohners , um ihm einen Vortheil über andre. zu geben,
und weitre Abänderungen in gleicher Richtung‘ werden sein
Übergewicht ‘noch vergrössern. Es lässt ‚sich keine Gegend
bezeichnen, in welcher alle natürlichen Bewohner bereits so
vollkommen ‚an einander ‘und an'die äusseren Bedingungen des
88
Lebens angepasst wären, dass keine ‘unter ihnen ‘mehr einer
Veredelung fähig wäre; denn in allen Gegenden sind die ein-
gebornen Arten so weit von naturalisirten Erzeugnissen überwun-
den worden, dass diese Fremdlinge im Stande gewesen sind festen
Besitz vom Lande zu nehmen. Und da die Fremdlinge überall
einige der Eingeborenen aus dem Felde geschlagen haben, ‚so
darf man wohl daraus schliessen dass, wenn diese mit mehr Vor-
zügen ausgestattet gewesen wären, sie solchen Eindringlingen
mehr Widerstand geleistet haben würden.
3 Da nun der Mensch durch methodisch oder unbewusst aus-
geführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so grosse‘ Erfolge
erzielen kann und gewiss erzielt hat, was muss nicht die Natur
leisten können? Der Mensch kann absichtlich nur auf äusserliche
und sichtbare Charaktere wirken; die Natur fragt nicht nach dem
Aussehen, ausser wo es zu irgend einem Zwecke nützlich seyn
kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf den geringsten
Unterschied in der organischen Thätigkeit, auf die ganze Machi-
nerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eignen
Nutzen; die Natur nur zum Nufzen des Wesens, das sie pflegt.
Jeder von ihr ausgewählte Charakter wird daher in voller Thätig-
keit erhalten und das Wesen in günstige Lebens-Bedingungen ver-
setzt. Der Mensch dagegen hält die Eingebornen aus vielerlei Kli-
maten in derselben Gegend beisammen und entwickelt selten ir-
gend einen Charakter in einer besonderen und ihm entsprechenden
Weise fort. Er füttert eine lang- und eine kurz-schnäbelige
Taube auf dieselbe Weise; er beschäftigt einen lang-rückenigen
oder einen lang-beinigen Vierfüsser nicht in einer besondern Art;
er setzt das lang- und das kurz-wollige Schaaf demselben Klima
aus. Er veranlasst die kräftigeren Männchen nicht, ‘um ihre
Weibchen zu kämpfen. Er zerstört nicht mit Beharrlichkeit alle
unvollkommenen Thiere, sondern schützt vielmehr alle diese Er-
zeugnisse, so viel in seiner Gewalt liegt, in jeder verschiedenen
Jahreszeit. Oft beginnt er seine Auswahl mit einer halb-monströsen
Form oder mindestens mit einer schon hinreichend vorragenden
Abänderung, um sein Auge zu fesseln oder ihm offenbaren
Nutzen zu versprechen. In der Natur dagegen kann schon die
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89
geringste Abweichung in‘Bau’ und organischer Thätigkeit das bis-
herige genaue Gleichgewicht zwischen den ringenden Formen auf-
heben und hiedurch ihre Erhaltung bewirken. Wie flüchtig sind die
Wünsche und die Anstrengungen des Menschen ! wie kurz ist seine
Zeit! wie dürftig'sind mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegen-
über, welche.'die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden
anhäuft! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Natur-Produkte
einen weit: »ächteren« Charakter als die des Menschen haben,
wenn: sie: den: verwickeltesten Lebens-Bedingungen weit besser
angepasst sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft
an sich tragen?
Man kann sagen, die Natürliche Züchtung seye täglich und
stündlich durch ‘die ganze Welt beschäftigt, eine jede auch die
geringste Abänderung ausfindig zu machen, sie zurückzuwerfen
wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu verbessern wenn
sie gut ist. Stille und unmerkbar ist sie überall und allezeit,
wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung
eines jeden ‘organischen Wesens in Bezug auf dessen organische
und unorganische 'Lebens-Bedingungen beschäftigt. Wir sehen
nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis
die Hand ‘der Zeit auf eine ahgelaufene Welt-Periode hindeutet,
und dann ist unsre Einsicht in die längst verflossenen Zeiten so
unvollkommen, 'dass wir nur noch das Eine wahrnehmen, dass die
Lebensformen jetzt ganz andre sind, als sie früher gewesen.
Obwohl: die Natürliche Züchtung: nur durch und für das
Gute eines jeden Wesens wirken kann, so werden doch wohl
auch Eigenschaften und Bildungen dadurch berührt, denen wir
nur eine. untergeordnete ‘Wichtigkeit beilegen möchten. Wenn
Blätter-fressende Insekten grün, Rinden-fressende grau-gefleckt,
das: Alpen-Schneehuhn im Winter weiss, die Schottische Art
Haiden-farbig, der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erschei-
nen, 'so''haben wir zu vermuthen Grund, dass solche Farben den
genannten Vögeln und Insekten nützlich sind und sie vor Ge-
fahren schützen.: Wald- und Schnee-Hühner würden sich, wenn
sie nicht in irgend einer Zeit ihres Lebens der Zerstörung aus-
gesetzt wären, in’ endlosef Anzahl: vermehren. Man weiss, dass .
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90
sie sehr von Raubvögeln leiden, welche ihre Beute mit‘ dem
Auge entdecken; daher man in manchen Gegenden von Europa
auch nicht gerne weisse Tauben hält, weil diese der Entdeckung
und Zerstörung am meisten ausgesetzt sind. So finde ich keinen
Grund zu zweifeln, dass es hauptsächlich ‘die Natürliche Züchtung
ist, welche jeder Art von Wald- und Schnee-Hühnern die ihr
eigenthümliche Farbe verleiht und, wenn solche einmal herge-
stellt ist, dieselbe fortwährend erhält. Auch müssen wir nicht
glauben, dass die zufällige Zerstörung eines Thieres von abwei-
chender Färbung nur wenig Wirkung habe, sondern vielmehr
uns erinnern, wie wesentlich es ist aus einer weissen Schaaf-
Heerde jedes Lämmchen zu beseitigen, das die geringste Spur
von Schwarz an sich hat. Bei den Pflanzen rechnen die Bota-
niker den flaumigen Überzug der Früchte und die Farbe ihres
Fleisches mit zu den mindest wichtigen Merkmalen; und doch
vernehmen wir von einem ausgezeichneten Garten-Freunde, 'Dow-
nıne, dass in den Vereinten Staaten nackthäutige Früchte viel mehr
durch einen Rüsselkäfer leiden als die flaumigen, und dass die
Purpur-farbene Pflaumen von einer gewissen Krankheit viel mehr
leiden, als die gelben, während eine andre Krankheit die gelb-
fleischigen Pfirsiche viel mehr angreift, als die andersfarbigen.
Wenn bei aller Hilfe der‘ Kunst diese geringen Unterschiede
zwischen den Varietäten schon einen grossen Unterschied in. de-
ren Behandlung erheischen, so werden sich gewiss im Zustande
der Natur, wo die Bäume mit andern Bäumen und‘ mit einer
Menge von Feinden zu kämpfen haben, diejenigen Varietäten am
sichersten behaupten, deren Früchte, mögen sie nun nackt oder
behaart seyn, ein gelbes oder ein purpurnes Fleisch haben, am
besten gedeihen. |
Was endlich eine Menge von kleinen Verschiedenheiten zwi-
schen Spezies betrifft, welche, so weit unsre Unkenntnis zu ur-
theilen gestattet, ganz unwesentlich zu seyn scheinen, so dürfen
wir nicht vergessen, dass auch Klima, Nahrung u.’ s.'w. wohl
einigen unmittelbaren Einfluss haben mögen. Weit nöthiger ist
es aber noch im Gedächtniss zu behalten, dass es viele noch
. unbekannte Wechselbeziehungen ‘des Wachsthums gibt, welche,
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9
wenn ein Theil der Organisation durch Variation modifizirt
und wenn diese Modifikationen durch Natürliche Züchtung zum
Besten des organischen Wesens gehäuft werden, dann wie-
der andre Modifikationen oft voa der unerwartetsten Art ver-
anlassen.
4 Wie die Abänderungen, welche im Kultur-Zustande zu ir-
gend einer Zeit des Lebens hervorgetreten sind, auch beim Nach-
kömmling in der gleichen Lebens-Periode wieder zu erscheinen
geneigt sind: in den Saamen vieler Küchen- und Acker-Gewächse,
in den Raupen und Coccons der Seidenwurm-Varietäten, in den
Eiern des Hof-Geflügels und in der Färbung des Dunenkleides
seiner Jungen, in den Hörnern unsrer Schaafe und Rinder, wenn
sie fast ausgewachsen, — so ist auch die Züchtung im Natur-
Zustande fähig, in einem besondern Alter auf die organischen
Wesen zu ‚wirken, für diese Lebenszeit nützliche Abänderung zu
häufen und sie in einem entsprechenden Alter zu vererben.
Wenn es für eine Pflanze von Nutzen ist, ihre Saamen immer |
weiter und weiter mit dem Winde umherzustreuen, so ist für die
Natur die Schwierigkeit diess Vermögen durch Züchtung zu bewir-
ken nicht grösser, als sie für den Baumwollen-Pflanzer ist durch
Züchtung die Baumwolle in den Fruchtkapseln seiner Pflanzen zu
vermehren und zu verbessern. Natürliche Züchtung kann die Larve
eines Insektes modifiziren und zu zwanzigerlei Bedürfnissen ge-
eignet anpassen, welche ganz verschieden sind von jenen, die
das reife 'Thier betreffen. Diese Abänderungen in der Larve
werden zweifelsohne nach den Gesetzen der Wechselbeziehungen
auch auf die Struktur des reifen Insektes wirken, und wahr-
scheinlich ist bei solchen Insekten, welche im reifen Zustande
nur wenige Stunden zu leben und keine Nahrung zu sich zu
nehmen haben, ein grosser Theil ihres Baues nur als ein kor-
relatives Ergebniss allmählicher Veränderungen in der Struktur
ihrer Larven zu betrachten. So können aber wahrscheinlich
auch jumgekehrt gewisse Veränderungen im reifen Insekte oft
die Struktur der Larve berühren, in allen Fällen aber nur unter
der Bedingung, dass diejenige Modifikation , welche bloss die
Folge einer Modifikation auf einer anderen Lebensstufe ist,
92
durchaus nicht nachtheiliger Art seye, weil sie dann das Erlö-
schen der Spezies zur Folge haben. müsste.
Natürliche Züchtung kann auch die Struktur des Pin in
Bezug zum Alten und die des Vaters derjenigen seiner Kinder
gegenüber modifiziren. Bei Hausthieren passt sie die Struktur
eines jeden Einzelwesens den Zwecken der Gemeinde an, vor-
ausgesetzt, dass auch ein jedes Einzelne bei dem so. bewirkten
Wechsel gewinne. Was die natürliche Züchtung nicht bewirken
kann, das ist: Umänderung der Struktur einer Spezies, ohne
Ersatz, zu Gunsten einer anderen Spezies; und obwohl in natur-
historischen Werken Beispiele dafür angeführt werden, so ıst
doch keines darunter, das eine Prüfung aushielte. Selbst ein. or-
ganisches Gebilde, das nur einmal im Leben eines Thieres ge-
braucht wird, kann, wenn es ihm von grosser Wichtigkeit ist,
durch die Natürliche Zuchtwahl bis zu jedem Betrage modifi-
zirt werden, wie die grossen. Kinnladen einiger Insekten,
welche nur zum Öffnen ihrer Coccons dienen, oder das
zarte Spitzchen auf dem Ende des Schnabels junger Vögel, womit
sie beim Ausschlüpfen die Ei-Schaale aufbrechen. Man hat ver-
sichert, dass von den besten kurzschnäbeligen Purzel-Tauben
mehr im Eie zu Grunde gehen, als auszuschlüpfen im Stande
sind, was. Liebhaber mitunter veranlasst, bei Durchbrechung der
Schaale mitzuwirken. Wenn demnach die, Natur den Schnabel
einer Taube zu deren eignem Nutzen im ausgewachsenen Zustande
sehr zu verkürzen hätte, so würde dieser Prozess sehr langsam vor
sich gehen, und müsste dabei zugleich eine sehr strenge Auswahl
derjenigen jungen Vögeln im Eie stattfinden, welche den stärk-
sten und härtesten Schnabel besitzen, weil alle mit weichem
Schnabel unvermeidlich zu Grunde gehen würden; oder aber es
müsste eine Auswahl der dünnsten und zerbrechlichsten Ei-
Schaalen erfolgen, deren Dicke bekanntlich so wie jedes andre
Gebilde varüirt.
Sexuelle Zuchtwahl. Wie im Kultur-Zustande a
lichkeiten oft an einem Geschlechte zum Vorschein kommen und
sich erblich an dieses Geschlecht heften, so wird es wohl auch
im Natur-Zustande geschehen, und, wenn Diess der Fall, so muss
93
die Natürliche‘ Züchtung fähig seyn, ein Geschlecht in seinen
funktionellen Beziehungen zum andern zu modifiziren, oder ganz
verschiedene Gewohnheiten des Lebens in beiden Geschlechtern
zu bewirken, wie es bei Insekten zuweilen der Fall ist, —
und Diess veranlasst mich, einige Worte über das zu sagen, was
ich Sexuelle Zuchtwahl nennen will, ‚Sie hängt ab nicht von einem
Kampfe um’s Daseyn, sondern von einem Kampfe zwischen den
Männchen um den Besitz der Weibchen, dessen Folgen für den Be-
siegten nicht in Tod und erfolgloser Mitbewerbung, sondern in einer
spärlicheren' oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft ‚bestehen.
Diese Geschlechtliche Auswahl ist daher. minder verhängnissvoll,
als die Natürliche. Im Allgemeinen werden die kräfligsten, die ihre
Stelle in der Natur am besten ausfüllenden Männchen die meiste
Nachkommenschaft hinterlassen. In manchen Fällen jedoch wird
der Sieg nicht von der Stärke im Allgemeinen, ‘sondern von be-
sondern nur dem Männchen verliehenen Waffen abhängen. . Ein
Geweih-loser Hirsch und ein Sporn-loser Hahn haben wenig Aus-
sicht : Erben : zu hinterlassen. Eine Sexuelle Züchtung, welche
‚stets dem Sieger die Fortpflanzung ermöglichen sollte, müsste
ihm unzähmbaren Muth, lange Spornen und starke Flügel ver-
leihen, um mit dem gespornten Laufe kämpfen zu können; wie
denn‘ der Kampfhahn-Züchter seine Zucht durch sorgfältige Aus-
wahl in dieser Beziehung sehr zu veredeln versteht. Wie weit hinab
“in der Stufenleiter der Natur dergleichen Kämpfe noch vorkom-
men, weiss ich nicht. Doch hat man männliche Alligatoren be-
schrieben, wie sie um den Besitz eines Weibchens kämpfen,
brüllen und sich im Kreise drehen ; männliche Salmen hat man
Tage lang miteinander streiten sehen; männliche Hirschkäfer ha-
ben oft Wunden’ von den mächtigen Kiefern andrer. Männchen.
Doch ist der Kampf am heftigsten zwischen den Männchen poly-
gamischer Thiere, uud diese scheinen auch am gewöhnlichsten
mit besondern Waffen dazu versehen zu seyn. Die Männchen
der Raub-Säugethiere sind schon an sich wohl bewehrt; doch
pflegen ihnen u. e. a. durch sexuelle Züchtung noch. besondere
Waffen verliehen zu werden, wie dem Löwen seine Mähne, dem
Eber sein Hauzahn, dem männlichen Salmen: seine Haken-förmige
EN E ie
94
%
Kinnlade; und der Schild mag für den Sieg eben so wichtig
seyn, als das Schwert oder der Speer. Unter den Vögeln hat
der Bewerbungs-Kampf oft einen friedlicheren Charakter. Alle,
welche diesen Gegenstand behandelt haben, glauben, die eifrigste
Rivalität finde unter den Sing-Vögeln statt, wo die Männchen
durch Gesang die Weibchen anzuziehen suchen. Der Felshahn
in Gwiana (Rupicola), die Paradiesvögel u. e. a. schaaren sich
zusammen, und ein Männchen um das andere entfaltet sein präch-
tiges Gefieder, um in theatralischen Stellungen vor den Weibchen
zu paradiren, welche als Zuschauer dastehen und sich zuletzt den
liebenswürdigsten Bewerber erkiesen. Sorgfältige Beobachter der
in Gefangenschaft gehaltenen Vögel wissen sehr wohl, dass oft
individuelle Bevorzugungen und Abneigungen stattfinden ; so hat
Herr R. Heron beschrieben, wie ein scheckiger Perlhahn ausser-
ordentlich anziehend für alle seine Hennen gewesen, Es mag
kindisch aussehen, solchen anscheinend schwachen Mitteln ir-
gend eine Wirkung zuzuschreiben, und ich kann hier nicht in
Einzelnheiten eingehen, um jene Ansicht zu unterstützen; wenn
jedoch der Mensch im Stande ist seinen Bantam-Hühnern in kurzer
Zeit eine elegante Haltung und Schönheit je nach seinen Begriffen
von Schönheit zu geben, so kann ich keinen genügenden Grund
zum Zweifel finden, dass weibliche Vögel, indem sie Tausende von
Generationen hindurch den Melodie-reichsten oder schönsten
Männchen, je nach ihren Begriffen von Schönheit, bei der Wahl
den Vorzug geben, nicht ebenfalls einen merklichen Effekt be-
wirken können. Ich habe starke Vermuthung, dass einige wohl-
bekannte Gesetze in Betreff des Gefieders männlicher und’ weib-
licher Vögel dem der jungen gegenüber sich aus der Ansicht
erklären lassen, das Gefieder seye hauptsächlich durch die Ge-
schlechtliche Wahl modifizirt worden, welche im Geschlechts-
reifen Alter während der Jahres-Zeit wirkt, welche der Fort-
pflanzung gewidmet ist. Die dadurch erfolgten Abänderungen
sind dann auf entsprechende Alter und Jahres-Zeiten wieder
vererbt worden entweder durch die Männchen allein, oder durch
Männchen und Weibchen; ich habe aber hier nicht Raum weiter
auf diesen Gegenstand einzugehen.
95
Wenn daher 'Männchen. und Weibchen einer Thier-Art die
nämliche ‚allgemeine‘ Lebens-Weise haben, aber in Bau, Farbe
oder Verzierungen von einander abweichen, so sind nach meiner
Meinung diese ' Verschiedenheiten hauptsächlich durch die Ge-
schlechtliche Wahl bedingt; d. h. männliche Individuen haben in
aufeinander-folgenden Generationen einige kleine Vortheile über
andre Männchen gehabt in. Wafen, Vertheidigungs-Mitteln oder
Reitzen und haben diese Vortheile auf ihre männlichen Nachkommen
übertragen. Doch möchte ich. nicht alle solche Geschlechts-Ver-
schiedenheiten: aus dieser Quelle ableiten; denn wir schen Eigen-
thümlichkeiten entstehen und beim männlichen Geschlechte unsrer
Hausthiere erblich werden, wie die Hautlappen bei den Eng-
lischen : Boten- Tauben, die Horn-artigen Auswüchse bei den
Männchen. einiger Hühner-Vögel u. s. w., von welchen wir. nicht
annehmen können, dass sie den Männchen im Kampfe nützlich
sind ‘oder eine: Anziehungskraft auf die Weibchen ausüben *.
Analoge. Fälle sehen: wir auch in der. Natur, wo z. B. der Haar-
Büschel auf (der Brust des Puterhahns weder nützlich im Kampfe
noch eine Zierde für den Brautwerber seyn kann; — und wirk-
lich, hätte sich. dieser Büschel erst im Zustande der Zähmung ge-
bildet, wir würden ihn eine Monstrosität nennen!
{Beleuchtung der Wirkungsweise der Natürlichen
Züchtung.) In der Absicht die Art und Weise klar zu machen,
wie nach meiner Meinung die Natürliche Wahl wirke, muss ich
um: die Erlaubniss bitten, ein oder zwei erdachte Beispiele zur
Erläuterung vorzutragen. Denken wir uns zunächst einen Wolt,
der sich seine Beute an verschiedenen Thieren theils durch List,
theils durch Stärke und theils durch Schnelligkeit verschaffe, und
nehmen wir an, seine schnelleste Beute, der Hirsch z. B., hätte
sich aus irgend einer Ursache in einer Gegend sehr vervielfältigt,
oder andre zu. seiner Nahrung dienende Thiere hätten in der
Jahreszeit, wo sich der Wolf seine Beute am schwersten ver-
schaffen ‘kann, ‘sehr vermindert. Unter solchen Umständen kann
* Aber wie vermöchten wir zu ermessen, was einen Bewerber in den
Augen einer Henne oder einer Taube liebenswürdig machen könne! D. Übs.
96
ich keinen Grund zu zweifeln finden, dass die schlanksten und
schnellsten Wölfe am meisten Aussicht auf Fortkommen und so.
mit auf Erhaltung und Verwendung zur Nachzucht' hätten, immerhin
vorausgesetzt, dass sie dabei ‘Stärke genug: behielten, um sich
ihrer Beute auch zu einer andern Jahreszeit zu bemeistern, wo
sie veranlasst seyn könnten, auf andre Thiere auszugehen.‘ Ich
finde um so weniger Ursache daran zu zweifeln ‚da ja der
Mensch auch die Schnelligkeit seines Windhundes durch sorgfäl-
tige und planmässige Auswahl oder durch jene unbewusste' Wahl
zu erhöhen im Stande ist, welche schon stattfindet, wenn nur
Jedermann den besten Hund zu: haben strebt, ohne einen Gedan-
ken an Veredelung der Rasse.
» So könnte auch ohne eine Veränderung‘ in den Verhältniss.
zahlen der Thiere, die dem Wolfe zur Beute dienen, ein’ junger
Wolf zur Welt kommen mit angeborner‘ Neigung gewisse’ Arten
von Beutethieren zu verfolgen. Auch Diess' ist nicht sehr un-
wahrscheinlich ; denn wie oft nehmen wir grosse Unterschiede in
den natürlichen Neigungen unsrer Hausthiere‘ wahr! Eine Katze
z. B. ist geneigt Ratten und die andre Mäuse zu fangen. Eine
Katze bringt nach. Hrn. Sr. Joun geflügelte Beute nach Hause, die
andre Hasen und Kaninchen, und die dritte jagt auf Marschland
und meistens nächtlicher Weile nach Waldhühnern und Schnepfen.
Man weiss, dass die Neigung Ratten statt Mäuse’ zu fangen, ver-
erblich ist. Wenn nun eine angeborne schwache Veränderung
in Gewohnheit oder Körper-Bau einen einzelnen Wolf begünstigt,
so hat er am meisten Aussicht auszudauern und Nackkommen zu
hinterlassen. Einige seiner Jungen werden dann vermuthlich
dieselbe Gewohnheit oder Körper -Eigenschaft ‘erben, und so
kann durch oftmalige Wiederholung dieses Vorgangs: eine neue
Varietät ‘entstehen, welche die alte Stamm-Form des 'Wolfes
ersetzt oder zugleich mit ihr fortbesteht. Nun werden ferner
Wölfe, welche Gebirgs-Gegenden bewohnen, und solche, ‚die sich
im Tieflande aufhalten, von Natur genöthigt, auf verschiedene
Beute auszugehen, und mithin bei fortdauernder Erhaltung der
für jede der zwei Landstriche geeignetesten Individuen’allmählich
zwei Abänderungen bilden. Diese Varietäten müssen da, WO ihre
;
97
Verbreitungs -Bezirke zusammenstossen, sich vermischen und
kreutzen; doch werden wir auf die Frage von der Kreutzung
später zurückkommen. Hier will ich noch beifügen, dass nach .
PıErcE im Catskili-Gebirge in den Vereinten Staaten zwei Varie-
töten des Wolfes hausen, eine leichtere von Windspiel-Form,
welche Hirsche verfolgt, und eine andre schwerfälligere und mit
kurzen Beinen, welche häufiger die Schaaf-Heerden angreift.
Nehmen wir nun einen zusammengesetzteren Fall an. Ge-
wisse Pflanzen scheiden eine süsse Flüssigkeit aus, wie es scheint,
um irgend etwas Nachtheiliges aus ihrem Safte zu entfernen.
Diess wird bei manchen Schmetterlings-blüthigen Gewächsen
durch Drüsen am Grunde der Stipulä und beim gemeinen Lor-
beerbaum auf dem Rücken seiner Blätter bewirkt. Diese Flüssig-
keit, wenn auch nur in geringer Menge zu finden, wird von
Insekten begierig aufgesucht. Nehmen wir nun an, es werde ein
wenig solchen süssen Saftes oder Nektars an der inneren Basis
der Kronenblätter einer Blume ausgesondert. In diesem Falle
werden die Insekten, welche den Nektar aufsuchen, mit Pollen
bestäubt werden und denselben gewiss oft von einer Blume auf
das Stigna der andern übertragen. Die Blumen zweier ver-
schiedener Individuen einer Art werden dadurch gekreutzt, und
die Kreutzung liefert (wie nachher ausführlicher gezeigt werden
soll) vorzugsweise kräftige Sämlinge, welche mithin ‘die beste
Aussicht haben auszudauern und sich fortzupflanzen. Einige die-
ser Sämlinge können wohl das Nektar-Absonderungs-Vermögen
erben, und diejenigen Nektar-absondernden Blüthen, welche die
stärksten Drüsen besitzen und den meisten Nektar liefern,
werden am öftesten von Insekten besucht und am öftesten mit
andern gekreutzt werden und so mit der Länge der Zeit allmäh-
lich die Oberhand gewinnen. Ebenso werden diejenigen Blüthen,
deren Staubfäden und Staubwege so gestellt sind, dass sie je
nach Grösse und sonstigen Eigenthümlichkeiten der sie besuchen-
den Insekten einigermaassen die Übertragung ihres Samenstaubs
von Blüthe zu Blüthe erleichtern , gleicherweise begünstigt
und zur Nachzucht geeigneter seyn. Nehmen wir den Fall an,
die zu den Blumen kommenden Insekten wollten Pollen statt
7
98,
Nektar einsammeln, so wäre zwar die Entführung des Pol-
lens, der allein zur Befruchtung der Pflanze erzeugt wird, ein
Verlust für dieselbe; wenn jedoch anfangs gelegentlich und nach-
her gewöhnlich ein wenig Pollen von den ihn einsammelnden
Insekten entführt und von Blume zu Blume getragen wird, so
wird die hiedurch bewirkte Kreutzung zum grossen Vortbeil der
Pflanzen seyn, mögen ihnen auch neun Zehntel der ganzen Pollen-
Masse zerstört werden; denn diejenige Pflanze, welche mehr
und mehr Pollen erzeugt und immer grössre Antheren bekommt,
wird für die Nachzucht das Übergewicht haben.
Wenn nun unsre Pflanze, welche auf diese Weise vor an-
dern erhalten und durch Natürliche Wahl mit Blumen versehen
worden, welche die Pollen verschleppenden Insekten immer mehr
anziehen, so kann die Überführung des Pollens von einer Pflanze
zur andern endlich zur Regel werden, wie Diess in vielen Fäl-
len wirklich geschieht. Ich will nun einen nicht einmal sehr zu-
treffenden Fall als Beleg dafür anführen, welcher jedoch geeignel
ist zugleich als Beispiel eines ersten Schrittes zur Trennung der
Geschlechter zu dienen, von welcher noch weiter die Rede seyn
wird. Einige Stechpalmen-Stämme bringen nur männliche Blüthen
hervor, welche vier nur wenig Pollen erzeugende Staubgefässe
und ein verkümmertes Pistill enthalten; andre Stämme liefern
nur weibliche Blüthen, die ein vollständig entwickeltes Pistill und
vier Staubfäden mit verschrumpften Antheren einschliessen, in
welchen nicht ein Pollen-Körnchen bemerkt werden kann, Nach-
dem ich einen weiblichen Stamm genau 60 Ellen von einem männ-
lichen entfernt gefunden, nehme ich die Stigmala aus zwanzig
Blüthen von verschiedenen Zweigen unter das Mikroskop und
entdecke an allen ohne Ausnahme einige Pollen-Körner und an
einigen sogar eine übermässige Menge desselben. Da der
Wind schon einige Tage lang vom weiblichen gegen den männ-
lichen Stamm hin gewehet hatte, so kann er es nicht gewesen
seyn, der den Pollen dahin geführt. Das Wetter war schon
einige Tage lang, kalt und stürmisch und daher nicht günstig für
die Bienen gewesen, und demungeachtet war jede von mir un-
tersuchte weibliche Blüthe durch den Pollen befruchtet worden,
99
welchen die Bienen, von Blüthe zu Blüthe nach Nektar suchend,
an ihren Haaren vom männlichen Stamme mit herüber gebracht
hatten. Doch kehren wir nun zu unserem ersonnenen Falle zu-
rück. Sobald jene Pflanze in solchem Grade anziehend für die
Insekten geworden, dass sie den Pollen regelmässig von einer
Blüthe zur andern tragen, wird ein andrer Prozess beginnen.
Kein Naturforscher zweifelt an dem Vortheil der sogen. »physio-
logischen Theilung der Arbeit«; daher man glauben darf, es
seye nützlich für eine Pflanzen-Art in einer Blüthe oder an
einem ganzen Stocke nur Staubgefässe und in der andern Blüthe
oder auf dem andern Stocke nur Pistille hervorzubringen. Bei
kultivirten oder in neue Existenz-Bedingungen versetzten Pflan-
zen schlagen manchmal die männlichen und zuweilen die weib-
lichen Organe mehr oder weniger fehl. Nehmen wir aber an,
Diess geschehe auch in einem wenn noch so geringen Grade im
Natur-Zustande derselben, so würden, da der Pollen schon re-
gelmässig von einer Blume zur andern geführt wird und eine
vollständige Trennung der Geschlechter unsrer Pflanze ihr nach
dem Prinzipe der Arbeitstheilung vortheilhaft ist, Individuen mit
einer mehr und mehr entwickelten Tendenz dazu fortwährend
begünstigt und zur Nachzucht ausgewählt werden, bis endlich
die Trennung der Geschlechter vollständig wäre.
Kehren wir nun zu den von Nektar lebenden Insekten in
unserem ersonnenen Falle zurück; nehmen wir an, die Pflanze
mit durch andauernde Züchtung zunehmender Nektar-Bildung sey
eine gemeine Art, und unterstellen wir, dass gewisse Insekten
hauptsächlich auf deren Nektar als ihre Nahrung angewiesen
sind. Ich könnte durch manche Beispiele nachweisen, wie sehr
die Bienen bestrebt sind, Zeit zu ersparen. Ich will mich je-
doch nur auf ihre Gewohnheit berufen, in den Grund gewisser
Blumen Ofinungen zu machen, um durch diese den Nektar zu
saugen, welchen sie mit ein Bischen mehr Weile durch die
Mündung heraus holen könnten. Dieser Thatsachen eingedenk
halte ich es nicht für gewagt anzunehmen, dass eine zufällige
Abweichung in der Grösse und Form ihres Körpers oder in der
Länge und Krümmung ihres Rüssels, wenn auch viel zu unbe-
-
7*
100
deutend für unsre Wahrnehmung, von solchem Nutzen für eine
Biene oder ein anderes Insekt seyn könne, das sich mit deren
Hülfe sein Futter leichter verschafft, dass es mehr Wahrschein-
lichkeit der Fortdauer und der Fortpflanzung als andre Thiere
seiner Art besitzt. Seine Nachkommen werden wahrscheinlich
eine Neigung zu einer ähnlichen Abweichung des Organes er-
ben. Die Röhren def Blumen-Kronen des rothen und des In-
karnat-Klee’s (Trifolium pratense und Tr. incarnatum) scheinen
bei flüchtiger Betrachtung nicht sehr an Länge auseinander zu
weichen; demungeachtet kann die Honig- oder Korb-Biene (Apis
mellifica) den Nektar leicht aus der ersten aber nicht aus der
letzten saugen, welche daher nur von Hummeln besucht wird,
so dass ganze Felder rothen Klee’s der Korb-Biene vergebens
einen Überschuss von köstlichem Nektar darbieten. Es würde
daher für die Korb-Biene von grösstem Vortheil seyn, einen et
was längeren oder abweichend gestalteten Rüssel zu haben. Auf
der anderen Seite habe ich durch Versuche gefunden, dass die
Fruchtbarkeit. des rothen Klee’s grossentheils durch den Besuch
der Honig-suchenden Insekten bedingt ist, welche bei diesem
Geschäfte die Theile der Blumenkrone verschieben und dabei den
Pollen auf die Oberfläche der Narbe wischen. Sollten dagegen
die Hummeln in einer Gegend selten werden, so müsste eine
kürzere oder tiefer getheilte Blumenkrone von grösstem Nutzen
für den rothen Klee werden, damit die Honig-Biene seine Blü-
then besuchen könne. Auf diese Weise begreife ich, wie eine
Blüthe und eine Biene nach und nach, seye es gleichzeitig oder
eine nach der andern, abgeändert und auf die vollkommenste
Weise einander angepasst werden könnten durch fortwährende
Erhaltung von Einzelnwesen mit beiderseits nur ein wenig gün-
stigeren Abweichungen der Struktur.
Ich weiss wohl, .dass die durch die vorangehenden erson-
nenen Beispiele erläuterte Lehre von der Natürlichen Auswahl
denselben Einwendungen ausgesetzt ist, welche man anfangs
gegen Cn. Lyeıı’s grossartige Ansichten in „the Modern Changes
of ihe Earth, as illustrative of Geology« vorgebracht hat; indes-
sen hört man jetzt die Wirkung der Brandung z. B. in
101
ihrer Anwendung auf die Aushöhlung riesiger Thäler oder auf die
Bildung der längsten binnenländischen Klippen-Linien selten mehr
als eine unbedeutende und lächerliche Ursache bezeichnen. Die
Natürliche Züchtung kann nur durch Häufung unendlich kleiner
vererbter Modifikationen wirken, deren jede für Erhaltung des
Wesens, dem sie angehört, günstig ist; und wie die neuere Geo-
logie solche Ansichten, wie die Aushöhlung grosser Thäler durch
eine einzige Diluvial-Woge meistens verbannt hat, so wird auch
die Natürliche Züchtung, wenn sie ein wahres Prinzip ist, den
Glauben an eine fortgesetzte Schöpfung neuer Organismen oder
an eine grosse und plötzliche Modifikation ihrer Organisation ver-
bannen.
Über die Kreutzung der Individuen.) Ich muss hier
mit einem kleinen Absprung beginnen. Es liegt vor Augen,
dass bei Pflanzen und Thieren getrennten Geschlechtes jedesmal
zwei Individuen sich vereinigen müssen, um eine Geburt zu
Stande zu bringen. Bei Hermaphroditen aber ist Diess keines-
wegs klar. Demungeachtet bin ich stark geneigt zu glauben,
dass bei allen Hermaphroditen zwei Individuen gewöhnlich oder
ausnahmsweise zu jeder einzelnen Fortpflanzung ihrer Art zu-
sammenwirken (die sonderbaren und noch nicht recht begriffenen
Fälle von Parthenogenesis ausgenommen). Diese Ansicht hat
zuerst Anpreas Knıcur aufgestelli. Wir werden jetzt ihre Wich-
tigkeit erkennen. Zwar kann ich diese Frage nur in äusserster
Kürze abhandeln; jedoch habe ich die Materialien für eine aus-
führlichere Erörterung vorbereitet. Alle Wirbelthiere, alle In-
sekten und noch einige andre grosse Thier-Gruppen paaren sich
für jede Geburt. Neuere Untersuchungen haben die Anzahl der
früher angenommenen Hermaphroditen sehr vermindert, und von
den wirklichen Hermaphroditen paaren sich viele, d. h. zwei In-
dividuen vereinigen sich zur Reproduktion; Diess ist alles, was
uns hier angeht. Doch gibt es noch viele andre zwitterliche
Thiere, welche gewiss sich gewöhnlich nicht paaren. Auch bei
weitem die grösste Anzahl der Pflanzen sind Hermaphroditen.
Man kann: nun fragen, was ist in diesen Fällen für ein Grund
zur Annahme vorhanden, dass jedesinal zwei Individuen zur
102
Reproduktion zusammenwirken? Da es hier nicht möglich ist, in
Einzelnheiten einzugehen, so muss ich mich auf einige allgemeine
Betrachtungen beschränken.
Für's Erste habe ich eine grosse Masse von Thatsachen
gesammelt, welche übereinstimmend mit der fast allgemeinen
Überzeugung der Viehzüchter beweisen, dass bei Thieren wie
bei Pflanzen eine Kreutzung zwischen Thieren verschiedener
Varietäten, oder zwischen solchen verschiedener Stämme einer
Varietät der Nachkommenschaft Stärke und Fruchtbarkeit verleiht,
während anderseits enge Inzucht Kraft und Fruchtbarkeit vermin.
dert. Diese Thatsachen allein machen mich glauben, dass es
ein allgemeines Natur-Gesetz ist (wie unwissend wir auch über
die Bedeutung des Gesetzes seyn mögen), dass kein organisches
Wesen sich selbst für eine Ewigkeit von Generationen befruch-
ten könne, dass daher eine Kreutzung mit: einem andern Indivi-
duum von Zeit zu Zeit und vielleicht nach langen Zwischenräu-
men einmal unentbehrlich ist.
Von dem Glauben ausgehend, dass Diess ein Natur-Gesetz
seye, werden wir verschiedene grosse Klassen von Thatsachen
verstehen, welche auf andre Weise unerklärlich sind. Jeder
Blendlingsgetreide-Züchter weiss, wie nachtheilig für die Befruch-
tung einer Blüthe es ist, wenn sie während derselben der Feuch-
tigkeit ausgesetzt wird. Und doch, was für eine Menge von
Blumen haben Staubbeutel und Narben vollständig dem Wetter
ausgesetzt! Wenn aber eine Kreutzung von Zeit zu Zeit nun
doch unerlässlich, so erklärt sich jene Aussetzung aus der Noth-
wendigkeit, dass die Blumen für den Eintritt fremden Pollens
offen seyen, und zwar um so mehr, als die zusammengehörigen
Staubgefässe und Pistille einer Blume gewöhnlich so nahe bei-
sammen stehen, dass Selbstbefruchtung unvermeidlich scheint.
Andrerseits aber haben viele Blumen ihre Befruchtungs-W erkzeuge
sehr enge umschlossen, wie die Schmetterlingsblüthigen z. B.;
aber in vielen und vielleicht in allen solchen Blumen ist eine
sehr merkwürdige Anpassung zwischen dem Bau der Blume und
der Art und Weise, wie die Bienen den Nektar daraus saugen,
indem. sie alsdann entweder den eignen Pollen der Blume über
103
ihre Narbe wischen ‘oder fremden Pollen mitbringen. Zur
Befruchtung der Schmetterlingsblüthen ist der Besuch der Bienen
so nothwendig, dass, wie ich durch anderwärts veröffentlichte
Versuche gefunden, ihre Fruchtbarkeit sehr abnimmt, wenn die-
ser Besuch verhindert wird. Nun ist es aber kaum möglich,
dass Bienen von Blüthe zu Blüthe fliegen, ohne den Pollen der
einen zur andern zu bringen, wie ich überzeugt bin, zum gros-
sen Vortheil der Pflanze. Die Bienen wirken dabei wie ein
Kameelhaar-Pinsel, und es ist vollkommen zur Befruchtung genü-
gend, wenn man mit einem und demselben Bürstchen zuerst
das Staubgefäss der einen Blume und dann die Narbe der andern
berührt. Dabei ist aber nicht zu fürchten, dass die Bienen viele
Bastarde zwischen verschiedenen Arten erzeugen; denn, wenn
ınan den eignen Pollen und den einer andren Pflanzen-Art
zugleich mit demselben Pinsel auf die Narbe streicht, so hat
der erste eine so überwiegende Wirkung, dass er, wie schon
GÄRTNER gezeigt, jeden Einfluss des andern gänzlich zerstört.
Wenn die Staubgefässe einer Blume sich plötzlich gegen
das Pistill schnellen oder sich eines nach dem andern langsam
gegen dasselbe neigen, so Scheint diese Einrichtung nur auf
Sicherung der Selbstbefruchtung berechnet, und ohne Zweifel ist
sie auch dafür nützlich. Aber die Thätigkeit der Insekten ist
oft nothwendig, um die Staubfäden aufschnellen zu machen, wie
Körreurer beim Sauerdorn insbesondere gezeigt hat; und son-
derbarer Weise hat man gerade bei dieser Sippe (Berberis),
welche so vorzüglich zur Selbstbefruchtung eingerichtet zu seyn
scheint, die Beobachtung gemacht, dass, wenn man nahe ver-
wandte Formen oder Varietäten dicht neben einander pflanzi, es
in Folge der reichlichen Kreutzung kaum möglich ist noch eine
reine Rasse zu erhalten. In vielen andern Fällen aber findet
man, wie ©. C. Sprenger’s Schriften und meine eignen Erfahrun-
gen lehren, statt der Einrichtungen zu Begünstigung der Selbsi-
befruchtung vielmehr solche, welche das Stigma hindern, den
Saamenstaub- der nämlichen Blüthe aufzunehmen. So ist bei
Lobelia fulgens eine wirklich schöne und sorgfältig ausgearbeitete
Einrichtung, wodurch jedes der unendlich zahlreichen Pollen-
104
Körnchen aus den verwachsenen Antheren einer jeden Blüthe
fortgeführt wird, ehe das Stigma derselben Blüthe bereit ist: die-
selben aufzunehmen. Da nun, wenigstens in meinem Garten,
diese Blumen niemals von Insekten besucht werden, so haben
sie auch niemals Saamen angesetzt, bis ich auf künstlichem W ege den
Pollen einer Blüthe auf die Narbe der andern übertrug und mich
hiedurch auch in den Besitz zahlreicher Sämlinge ‚zu. setzen
vermochte. Eine andre daneben stehende Lobelia-Art, die von
Bienen besucht wird, bildet von freien Stücken Saamen. In sehr
vielen anderen Fällen, wo keine besondre mechanische Einrich-
tung vorhanden ist, um das Stigma einer Blume an der Auf.
hahme des eignen Saamenstaubs zu hindern, platzen entweder,
wie sowohl C. C. Sprenger als ich selbst gefunden, die Stäubr
beutel schon bevor die Narbe zur Befruchtung reif ist, oder das
Stigma ist vor dem Pollen derselben Blüthe reif, so dass diese
Pflanzen in der That getrennte Geschlechter haben und sich fort-
während kreutzen. Wie wundersam erscheinen diese That-
sachen! Wie wundersam, dass der Pollen und die Oberfläche
des Stigmas einer‘ und derselben Blüthe so nahe zusammenge-
rückt sind, als sollte dadurch die Selbstbefruchtung unvermeid-
lich werden, und dass beide gerade in so vielen dieser Fälle
völlig unnütz für einander sind. Wie einfach sind dagegen diese
Thatsachen zu erklären aus der Ansicht, dass von Zeit zu Zeit
eine Kreutzung mit einem anderen Individuum vortheilhaft oder
sogar unentbehrlich seye?
Wenn verschiedene Varietäten von Kohl, Radies’chen, Lauch
u. e, a. Pflanzen dicht nebeneinander zur Saamen-Bildung gebracht
werden, so liefern ihre Saamen, wie ich gefunden, grossentheils
Blendlinge. So z. B. erzog ich 233 Kohl-Sämlinge aus dem
Saamen einiger Stöcke von verschiedenen Varietäten, die nahe
bei einander gewachsen, und von diesen entsprachen nur 78.
der Varietät des Stocks, von dem sie eingesammelt worden, und
selbst diese nicht alle genau. Nun ist aber das Pistill einer
jeden Kohl-Blüthe nicht allein von deren eignen sechs Staubge-
fässen, sondern auch von denen aller übrigen Blüthen derselben
Pflanze nahe umgeben. Wie kommt es denn, dass sich eine sO
105
grosse Anzahl von Sämlingen als Blendlinge erwiesen? Ich muss
vermuthen, dass es davon herrührt, dass der Pollen einer frem-
den Varietät einen überwiegenden Einfluss auf das eigne Stigma
habe, und zwar eben in Folge des Natur-Gesetzes, dass die
Kreutzung zwischen verschiedenen Individuen derselben Spezies
‚für diese nützlich ist. Werden dagegen verschiedene Arten mit
einander gekreutzt, so ist der Erfolg gerade umgekehrt, indem
der Pollen einer Art einen über den der andern überwiegenden
Einfluss hat. Doch auf diesen Gegenstand werde ich in einem
späteren Kapitel zurückkommen.
Handelt es sich um mächtige mit zahllosen Blüthen bedeckte
Bäume, so kann man einwenden, dass deren Pollen nur selten
von einem Stamme auf den andern übertragen werden und mei-
stens nur von einer Blüthe auf eine andre Blüthe desselben Stammes
gelangen kann, dass aber verschiedene Blüthen eines Baumes
nur in einem beschränkten Sinne als Individuen angesehen wer-
den können. Ich halte diese Einrede für triftig; doch hat die
Natur in dieser Hinsicht vorgesorgt, indem sie den Bäumen ein
Streben zur Bildung von Blüthen getrennten Geschlechtes ver-
liehen hat. Sind die Geschlechter getrennt, wenn gleich männ-
liche und weibliche Blüthen auf einem Stamme vereinigt, so
muss der Pollen regelmässig von einer Blüthe zur andern geführt
werden, was denn auch mehr Aussicht gewährt, dass er gelegent-
lich von einem Stamm zum anderen komme. Ich finde, dass in
unsren Gegenden die Bäume aller Pflanzen-Ordnungen öfter als
Sträucher und Kräuter getrennte Geschlechter haben, und tabel-
larische Zusammenstellungen der Neuseeländischen Bäume, welche
Dr. Hooxer, und der Vereinten Staaten, welche Ası Gray mir
aul meine Bitte geliefert, haben, wie vorauszusehen, zum näm-
lichen Ergebnisse geführt. Doch andrerseits hat mich Dr. Hooker
neuerlich benachrichtigt, dass diese Regel nicht für Australien
gelte, und ich habe daher diese wenigen Bemerkungen über die
Geschlechts-Verhältnisse der Bäume nur machen wollen, um die
Aufmerksamkeit darauf zu lenken.
Was die Thiere betrifft, so gibt es unter den Landbewoh-
nern nur ‚wenige Zwitter, wie Schnecken und Regenwürmer,
106 |
und diese paaren sich alle. Ich habe noch kein Beispiel kennen
gelernt, wo ein Landthier sich selbst befruchtete. Man kann
diese merkwürdige Thatsache, welche einen so schroffen Gegen-
satz zu den Landpflanzen bildet, nach der Ansicht, dass eine
Kreutzung von Zeit zu Zeit nöthig seye, erklären, indem man
das Medium, worin die Landthiere leben, und die Beschaffenheit
des befruchtenden Elementes berücksichtigt; denn wir kennen
keinen Weg, auf welchem, wie durch Insekten und Wind bei
den Pflanzen, eine gelegentliche Kreutzung zwischen Landthieren
anders bewirkt werden könnte, als durch die unmittelbare Zusam-
menwirkung der beiderlei Individuen. Bei den Wasserthieren
dagegen gibt es viele sich selbst befruchtende Hermaphroditen;
hier liefern aber die Strömungen des Wassers ein handgreif-
liches Mittel für gelegentliche Kreutzungen. Und, wie bei den
Pflanzen, so habe ich auch bei den Thieren, sogar nach Bespre-
chung mit einer der ersien Autoritäten, mit Professor Huxıky
nämlich, vergebens gesucht, auch nur eine hermaphroditische
Thier-Art zu finden, deren Geschlechts-Organe so vollständig im
Körper eingeschlossen wären, dass dadurch der gelegentliche
Einfluss eines andern Einzelwesens physisch unmöglich gemacht
würde. Die Cirripeden schienen mir zwar langezeit einen in
dieser Beziehung sehr schwierigen Fall darzubieten; ich bin aber
durch einen glücklichen Umstand in die Lage gesetzt gewesen, |
schon anderwärts zeigen zu können, dass zwei Individuen, wenn
auch in der Regel sich selbst befruchtende Zwitter, sich doch
zuweilen kreutzen. |
Es muss den meisten Naturforschern als eine sonderbare
Ausnahme schon aufgefallen seyn, dass bei den meisten Pflanzen
und Thieren solche Arten in einer Familie und oft in einer Sippe
beisammen stehen, welche , obwohl im grösseren Theile ihrer übri-
gen Organisation unter sich nahe übereinstimmend, doch zum
Theile Zwitter und zum Theile eingeschlechtig sind. Wenn aber
auch alle Hermaphroditen sich von Zeit zu Zeit mit andern Ein-
zelwesen kreutzen, so wird der Unterschied zwischen hermaphro-
ditischen und eingeschlechtigen Arten. was ihre Geschlechts-
Funktionen betrifft, ein sehr kleiner.
107
Nach diesen mancherlei Betrachtungen und den vielen ein-
zelnen Fällen, die ich gesammelt habe, jedoch hier nicht mit-
theilen kann, bin ich sehr zur Vermuthung geneigt, dass im
Pflanzen- wie im Thier-Reiche die von Zeit zu Zeit erfolgende
Kreutzung mit einem fremden Einzelwesen ein Natur-Gesetz ist.
Ich weiss wohl, dass es in dieser Beziehung viele schwierige
Fälle gibt, unter welchen einige sind, worüher ich mit Forschun-
gen beschäftigt bin. Als Endergebniss können wir folgern, dass
in vielen organischen Wesen die Kreutzung zweier Individuen
eine offenbare Nothwendigkeit für jede Fortpflanzung ist; bei
vielen andern genügt es, wenn sie von Zeit zu Zeit wiederkehrt;
dagegen vermuthe ich, dass Selbstbefruchtung allein nirgends für
immer ausreichend seye.
Für natürliche Züchtung günstige Verhältnisse.)
Das ist ein sehr verwickelter Gegenstand. Eine grosse Summe
von erblicher Veränderlichkeit ist dafür günstig; aber ich glaube,
dass schon individuelle Verschiedenheiten genügen. Eine grosse
Anzahl von Individuen bietet mehr Aussicht auch auf das Her-
vortreten nutzbarer Abänderungen in einem gegebenen Zeitraum,
selbst bei geringerem Betrag schon vorhandener Veränderlichkeit
derselben, und ist eine äusserst wichtige Bedingung des Erfolges.
Obwohl die Natur lange Zeiträume auf die Züchtung verwendet,
so braucht sie doch keine von unendlicher Länge; denn da
alle organischen Wesen sozusagen streben eine Stelle im Haus-
halte der Natur einzunehmen, so muss eine Art, welche nicht
gleichen Schrittes mit ihren Mitbewerbern verändert und verbes-
sert wird, bald erlöschen.
Bei planmässiger Züchtung wählt der Züchter stets bestimmte
Objekte, und freie Kreutzung würde sein Werk gänzlich hemmen.
Haben aber viele Menschen, olıne die Absicht ihre Rasse zu
veredeln, eine ungefähr gleiche Ansicht über Vollkommenheit,
und sind alle bestrebt, nur die besten und vollkommensten Thiere
zur Nachzucht zu verwenden, so wird, wenn auch langsam, aus
dieser unbewussten Züchtung gewiss schon viele Umänderung
und Veredlung hervorgehen, wenn auch viele Kreutzung mit
schlechteren Thieren zwischendurchläuft. So ist es auch in der
108
Natur. Findet sich ein beschränktes Gebiet mit einer nicht ganz ange-
messen ausgefüllten Stelle in ihrer geselligen Zusammensetzung,
so wird die Natürliche Züchtung bestrebt seyn, alle Individuen
zu erhalten, die, wenn auch in verschiedenem Grade, doch in der
angemessenen Richtung so variiren, dass sie die Stelle allmäh-
lich besser auszufüllen im Stande sind. Ist jenes Gebiet aber
gross, so werden seine verschiedenen Bezirke gewiss ungleiche
Lebens-Bedingungen darbieten; und wenn dann durch den Ein-
fluss der Natürlichen Züchtung irgend eine Spezies auf eine
andre Weise in jedem Bezirke abgeändert worden, so wird an
den Grenzen dieser Bezirke eine Kreutzung zwischen den Indi-
viduen jener verschiedenen Abänderungen eintreten, und in die-
sem Falle kann die Wirkung der Kreutzung durch die der Natür-
lichen Züchtung, welche bestrebt ist alle Individuen eines jeden
Bezirks genau in derselben Weise den Lebens-Bedingungen an-
zupassen, kaum aufgewogen werden, weil in einer zusammen-
hängenden Fläche die Lebens-Bedingungen des einen in die des
anderen Bezirkes allmählich übergehen. Die Kreutzung wird
hauptsächlich diejenigen Thiere berühren, welche sich zu jeder
Fortpflanzung paaren, viel wandern und sich nicht rasch ver-
vielfältigen. Daher bei Thieren dieser Art, Vögeln z. B., die
Abänderungen gewöhnlich auf getrennte Gegenden beschränkt
seyn müssen, wie es auch der Fall zu seyn scheint. Bei Zwitter-
Organismen, welche sich nur von Zeit zu Zeit mit andern
kreutzen, sowie bei solchen Thieren, die zu jeder Verjüngung
ihrer Art sich paaren, aber wenig wandern und sich sehr rasch
vervielfältigen können, dürfte sich eine neue und verbesserte
Varietät an irgend einer Stelle rasch bilden und sich dort in
Masse zusammenhalten, so dass alle Kreutzung, wie sie auch
beschaffen seye, nur zwischen Einzelthieren derselben neuen
Varietät erfolgt. Ist eine örtliche Varietät auf solche Weise ein-
mal gebildet, so wird sie sich nachher nur langsam über andre
Bezirke verbreiten. Nach dem obigen Prinzip ziehen Pflanzschu-
len-Besitzer es immer vor, Saamen von einer grossen Pflanzen-
Masse gleicher Varietät zu ziehen, weil hiedurch die Möglichkeit
einer Kreutzung mit anderen Varietäten gemindert wird.
109
Selbst bei Thieren mit langsamer Vermehrung, die sich zu
jeder Fortpflanzung paaren, dürfen wir die Wirkungen der Kreut-
zung auf Verzögerung der Natürlichen Züchtung nicht über-
schätzen; denn ich kann eine lange Liste von Thatsachen bei-
bringen, woraus sich ergibt, dass in einem Gebiete Varietäten
der nämlichen Thier - Art lange unterschieden bleiben können,
wenn sie verschiedene Stationen innehaben, in etwas verschie-
dener Jahreszeit sich fortpflanzen, oder im Falle nur einerlei
Varietät sich unter einander paart.
4 Kreutzung spielt in der Natur insoferne eine grosse Rolle,
als sie die Individuen einer Art oder einer Varietät rein und
einförmig in ihrem Charakter erhält. Sie wird Diess offenbar
weit wirksamer zu thun vermögen bei solchen Thieren, die sich
für jede Fortpflanzung paaren; aber ich habe schon vorher zu
zeigen versucht, dass Ursache zur Vermuthung vorliegt, dass bei
allen Pflanzen und bei allen Thieren von Zeit zu Zeit Kreutzun-
gen erfolgen; — und wenn Diess auch nur nach langen Zwischen-
räumen wieder einmal erfolgt, so bin ich überzeugt, dass die
hiebei erzielten Abkömmlinge die durch lange Selbstbefruchtung
erzielte Nachkommenschaft an Stärke und Fruchtbarkeit so sehr
übertreffen, dass sie mehr Aussicht haben dieselben zu über-
leben und sich fortzupflanzen, und so wird in langen Zeiträumen
‚ der Einfluss der wenn auch nur seltenen Kreutzungen doch gross
seyn. Bei Organismen, die sich niemals kreutzen, kann eine
Gleichförmigkeit des Charakters so lange währen, als ihre äus-
seren Lebens-Bedingungen die nämlichen bleiben, theils in Folge
der Vererbung und theils in Folge der Natürlichen Züchtung,
welche jede zufällige Abweichung von dem eigenen Typus immer
wieder zerstört; wenn aber die Lebens-Bedingungen sich ändern
und jene Wesen dem entsprechende Abänderungen erleiden, so
kann ihre hienach abgeänderte Nachkommenschaft nur. dadurch
Einförmigkeit des Charakters behaupten, dass Natürliche Züch-
tung dieselbe vortheilhafte Varietät erhält.
# Abschliessung ist eine wichtige Bedingung im Prozesse der
Natürlichen Zuchtwahl. In einem umgrenzten oder vereinzelten
Gebiete werden, wenn es nicht sehr gross ist, die unorganischen
110
wie die organischen Lebens- Bedingungen gewöhnlich in hohem
Grade einförmig seyn; daher die Natürliche Zuchtwahl streben
wird, alle Individuen einer veränderlichen Art in gleicher Weise
mit Hinsicht auf die gleichen Lebens-Bedingüngen zu modifiziren,
Auch Kreutzungen mit solchen Individuen derselben Art, welche
die den Bezirk umgrenzenden und anders beschaffenen Gegenden
bewohnen mögen, kommen da nicht vor. Isolirung wirkt aber
vielleicht noch kräftiger, insoferne sie nach irgend einem phy-
sikalischen Wechsel im Klima, in der Höhe des Landes u. s. w.
die Einwanderung hindert; und so bleiben die neuen Stellen im
Natur-Haushalte der Gegend offen für die Bewerbung der alten
Bewohner, bis diese sich durch geeignete Veränderungen in or-
ganischer Bildung und Thätigkeit derselben angepasst haben.
Abschliessung wird endlich dadurch, dass sie Einwanderung und
daher Mitbewerbung hemmt, Zeit geben zur Bildung neuer Varie-
täten, und Diess kann mitunter von Wichtigkeit seyn für die
Hervorbringung neuer Arten. Wenn dagegen ein isolirtes Land-
Gebiet sehr klein ist, so wird nothwendi@ auch, entweder der
es umgebenden Schranken halber oder in Folge seiner ganz
eigenthümlichen Lebens-Bedingungen, die Gesammtzahl der darin
vorhandenen Individuen sehr klein seyn; und geringe Individuen-
Zahl verzögert sehr die Bildung neuer Arten durch Natürliche
Züchtung, weil sie die Möglichkeit des Auftretens neuer ange-
messener Abänderungen vermindert.
5 Wenden wir uns zur Bestätigung der Wahrheit dieser Be-
merkungen an die Natur und sehen uns um nach irgend einem
kleinen abgeschlossenen Gebiete, nach einer ozeanischen Insel
z. B., so werden wir finden dass, obwohl die Gesammtzahl der
es bewohnenden Arten nur klein ist, wie sich in dem Kapitel
über geographische Verbreitung ergeben wird, doch eine ver-
hältnissmässig grosse Zahl dieser Arten endemisch ist, d. h. hier
an Ort und Stelle und nirgends anderwärts erzeugt worden ist.
Auf den ersten Anblick scheint‘ es demnach, es müsse eine
ozeanische Insel sehr geeignet zur Hervorbringung neuer Arten
gewesen seyn; um jedoch thatsächlich zu ermitteln, ob ein klei-
nes abgeschlossenes Gebiet oder eine weite offene Fläche für
111
die Erzeugung neuer organischer Formen mehr geeignet gewe-
sen seye,. müssten wir auch ‚gleich - lange Zeiträume dabei
vergleichen können, und Diess sind wir nicht im Stande zu
thun.
'» Obwohl ich nun nicht zweifle, dass Isolirung bei Erzeugung
neuer Arten ein sehr wichtiger Umstand ist, so möchte ich doch
im Ganzen genommen glauben, dass grosse Ausdehnung des Ge-
bietes noch wichtiger insbesondere für die Hervorbringung sol-
cher Arten ist, die. sich ‚einer langen Dauer und weiten Ver-
breitung fähig zeigen. Auf einer grossen und offenen Fläche
wird nicht nur die Aussicht auf vortheilhafte Abänderungen we-
gen der grösseren Anzahl von Individuen einer Art günstiger,
es werden auch die Lebens - Bedingungen wegen der grossen
Anzahl schon vorhandener Arten unendlich zusammengesetzter
seyn; und wenn einige von diesen zahlreichen Arten verändert
oder verbessert werden, so müssen auch andre in entsprechen-
dem Grade verbessert werden oder untergehen. Eben so wird jede
neue Form, sobald sie sich stark verbessert hat, fähig seyn, sich
über die offene und zusammenhängende Fläche auszubreiten, und
wird hiedurch in Mitbewerbung mit vielen andern treten. Es
werden hiemit mehr neu zu besetzende Stellen entstehen, und die
Mitbewerbung um deren Ausfüllung wird viel: heftiger als auf
einem kleinen und abgeschlossenen Gebiete werden. Ausserdem
aber ınögen grosse Flächen, wenn sie jetzt auch zusammenhän-
gend sind, in Folge der Schwankungen ihrer Oberfläche, oft
noch unlängst von unterbrochener Beschaffenheit gewesen seyn,
so dass sie an den guten Wirkungen der Isolirung wenigstens
bis zu einem gewissen Grade mit theilgenommen haben. Ich
komme demnach zum Schlusse, dass, wenn kleine abgeschlossene
Gebiete auch in manchen Beziehungen wahrscheinlich sehr gün-
stig für die Erzeugung neuer Arten gewesen sind, doch aul
grossen Flächen die Abänderungen im Allgemeinen rascher er-
folgt sind und, was noch wichtiger ist, die auf den grossen
Flächen entstandenen neuen Formen, welche bereits den Sieg
über viele Mitbewerber davon getragen, solche sind, die sich
am weitesten verbreiten und die zahlreichsten neuen Varietäten
112
und Arten liefern, mithin den wesentlichsten Antheil an den ge-
schichtlichen Veränderungen der organischen Welt nehmen.
Wir können von diesen Gesichtspunkten aus vielleicht einige
Thatsachen verstehen, welche in unserm Kapitel über die geo-
graphische Verbreitung erörtert werden sollen; z. B. dass die
Erzeugnisse des kleineren Australischen Kontinentes früher vor
denen der grössern Europäisch-Asiatischen Fläche gewichen und
anscheinend noch jetzt im Weichen begriffen sind. Daher kommt
es ferner, dass festländische Erzeugnisse allenthalben so reich-
lich auf Inseln naturalisirt worden sind. Auf einer kleinen Insel
wird der Wettkampf ums Daseyn viel weniger heftig, Erlöschung
wird weniger und Abänderung geringer gewesen seyn. Daher
rührt es vielleicht auch, dass die Flora von Madeira nach Oswaın
Heer der erloschenen Tertiär-Flora Europas gleicht. Alle Süss-
wasser-Becken zusammengenommen nehmen dem Meere wie dem
trockenen Lande gegenüber nur eine kleine Fläche ein,. und
demgemäss wird die Mitbewerbung zwischen den Süsswasser-Er-
zeugnissen minder heftig gewesen seyn als anderwärts; neue
Formen sind langsamer entstanden und alte langsamer erloschen.
Im süssen Wasser finden wir sieben Sippen ganoider oder
schmelzschuppiger Fische als übrig-gebliebene Vertreter einer
einst vorherrschenden Ordnung dieser Klasse; und im süssen
Wasser finden wir auch einige der anomalsten Wesen, welche
auf der Erde bekannt sind, den Ornithorhynchus und den Lepi-
dosiren, welche gleich fossilen Formen bis zu gewissem Grade
solche Ordnungen miteinander verbinden, welche jetzt auf der
natürlichen Stufenleiter weit von einander entfernt sind. Man
kann daher diese anomalen Formen immerhin »lebende Fossile«
nennen. Sie haben ausgedauert bis auf den heutigen Tag, weil
sie eine beschränkte Fläche bewohnt haben und in dessen Folge
einer minder heftigen Mitbewerbung ausgesetzt gewesen sind.
Fassen wir die der Natürlichen Züchtung günstigen und un-
günstigen Umstände schliesslich zusammen, so weit die äusserst
verwickelte Beschaffenheit Solches gestattet. Ich gelange mit
Hinsicht auf die Zukunft zum Schlusse: dass für Land-Erzeug-
nisse eine weite Festland-Fläche, welche wahrscheinlich noch viel-
113
fältige Höhenwechsel zu erfahren hat und sich daher lange Zeit-
räume hindurch in einem unterbrochenen Zustande befinden wird,
für Hervorbringung vieler neuen zu langer Dauer und weiter
Verbreitung geeigneter Lebens-Formen die günstigsten Bedingun-
gen darbieten wird. Eine solche Fläche kann zuerst ein Fest-
land gewesen seyn, dessen Bewohner in jener Zeit zahlreich an
Arten und Individuen sehr lebhafter Mitbewerbung ausgesetzt
gewesen sind. Ist sodann der Kontinent durch Senkung in
grösse Inseln geschieden worden, so werden noch viele Indi-
viduen einer Art auf jeder Insel übrig seyn, welche sich an
den Grenzen ihrer Verbreitungs-Bezirke (der Inseln) mit einander
zu kreutzen gehindert sind. Eben so können nach irgend wel-
chen physikalischen Veränderungen keine Einwanderungen statt-
finden, daher die neu entstehenden Stellen in der gesellschaft-
lichen Verbindung jeder‘ Insel durch Abänderungen ihrer alten
Bewohner ausgefüllt werden müssen. Um die Varietäten einer
jeden zu diesem Zwecke umzugestalten und zu vervollkommnen,
wird lange Zeit nöthig seyn. Sollten durch eine neue Hebung
die Inseln wieder in ein Festland zusammenfliessen, so wird eine
heftige Mitbewerbung erfolgen. Die am meisten begünstigten
oder verbesserten Varietäten werden sich ausbreiten, viele min-
der vollkommene. Formen erlöschen und die Verhältniss - Zahlen
des erneuerten Kontinentes sich bedeutend ändern. Es wird
daher der Natürlichen Züchtung ein reiches Feld zur ferneren
Verbesserung der Bewohner und zur Hervorbringung neuer Arten
geboten seyn.
Ich gebe vollkommen zu, dass die Natürliche Züchtung zu-
weilen mit äusserster Langsamkeit wirke. Ihre Thätigkeit hängt
davon ab, ob in dem gesellschaftlichen Verbande der Natur
Stellen vorhanden sind, welche dadurch besser besetzt werden
könnten, dass einige Bewohner der Gegend irgend welche Ab-
änderung erführen. Das Vorhandenseyn solcher Stellen wird oft
von gewöhnlich langsamen physikalischen Veränderungen und
davon abhängen, ob die Einwanderung besser anpassender For-
men gehindert ist. Aber die Thätigkeit der Natürlichen Züchtung
wird wahrscheinlich noch öfter davon bedingt seyn, dass einige
R
114
der Bewohner langsame Abänderungen erleiden, indem hiedurch
die Wechselbeziehungen vieler alten Bewohner zu einander ge- |
stört werden. Nichts kann bewirkt werden, bevor nicht vortheil-
hafte Abänderungen vorkommen, und Abänderung selbst ist offen-
bar stets ein sehr langsamer Vorgang. Viele werden der Mei-
nung seyn, dass diese verschiedenen Ursachen ganz genü-
send seyen, um die Thätigkeit der Natürlichen Züchtung voll-
ständig zu hindern; ich bin jedoch nicht dieser Ansicht. Auf der
andern Seite glaube ich, dass Natürliche Züchtung immer sehr
langsam wirke, oft erst wieder nach langen Zeitzwischenräumen
und gewöhnlich nur bei sehr wenigen Bewohnern einer Gegend
zugleich. Ich glaube ferner, dass diese sehr langsame und aus-
setzende Thätigkeit der Natürlichen Züchtung ganz gut demjeni-
gen entspricht, was uns die Geologie in Bezug auf die Ordnung
und Art der Veränderung lehrt, welche die Bewohner dieser
Erde allmählich erfahren haben.
Wie langsam aber auch der Prozess der Züchtung seyn mag:
wenn der schwache Mensch in kurzer Zeit schon so viel durch
seine künstliche Züchtung thun kann, so vermag ich keine
Grenze für den Umfang der Veränderungen, für die Schön-
heit und endlose Verflechtung der Anpassungen aller orga-
nischen Wesen an einander und an ihre natürlichen Lebens-
Bedingungen zu erkennen, welche die Natürliche Züchtung im
Verlaufe unermesslicher Zeiträume zu bewirken im Stande ist.
; Erlöschen.) — Dieser Gegenstand wird in unsrem Ab-
schnitte über Geologie vollständiger abzuhandeln seyn; hier be-
rühren wir ihn nur, insoferne er mit der Züchtung zusammen-
hängt. Natürliche Züchtung wirkt nur durch Erhaltung vortheil-
hafter Abänderungen, welche die andern zu überdauern vermögen.
Wenn jedoch in Folge des geometrischen Vervielfältigungs-Ver‘
mögens aller organischen Wesen jeder Bezirk schon genügend
mit Bewohnern versorgt ist, so folgt, dass in demselben Grade,
in welchem die ausgewählte und begünstigte Form an Menge zu-
nimmt, die minder begünstigte allmählich abnehmen und seltener
werden müsse. Seltenwerden ist, wie die Geologie uns lehrt,
Anfang des Erlöschens. Man erkennt auch, dass eine nuf
115
durch wenige Individuen vertretene Form durch Schwankungen
in den Jahreszeiten oder in der Zahl ihrer Feinde grosse Gefahr
gänzlicher Vertilgung läuft. Doch können wir noch weiter gehen
und sagen: wenn neue Formen langsam aber beständig erzeugt
werden, so müssen andre unvermeidlich fortwährend erlöschen,
wenn nicht die Zahl der spezifischen Formen beständig und fast
unendlich anwachsen soll. Die Geologie zeigt uns klärlich, dass
die Zahl der Art- Formen nicht ins Unbegrenzte gewachsen ist,
und es lässt sich nicht einmal die Möglichkeit dafür einsehen,
weil die Zahl der Stellen im Natur -Haushalte nicht unendlich
gross ist, wenn wir auch in keiner Weise zu behaupten beab-
sichtigen, dass irgend welche Gegend bereits das mögliche Ma-
ximum ihrer Arten- Zahl besitze. Wahrscheinlich ist noch keine
Gegend vollständig besetzt; denn obwohl am Kap der guten
Hoffnung z. B. mehr Arten als irgendwo sonst in der Welt zu-
sammengedrängt sind, hat man doch noch einige fremde Pflanzen
eingeführt, ohne, so viel bekannt, das Erlöschen irgend welcher
eingeborenen Arten zu veranlassen.
Ferner haben diejenigen Arten, welche die zahlreichsten
Individuen zählen, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich, inner-
halb einer gegebenen Zeit vortheilhafte Abänderungen hervorzu-
bringen. Die im zweiten Kapitel mitgetheilten Thatsachen kön-
nen zum Beweise dafür dienen, indem sie zeigen, dass gerade
die gemeinsten Arten die grösste Anzahl ausgezeichneter Varietäten
oder anfangender Spezies liefern. Daher werden denn auch die
selteneren Arten in einer gegebenen Periode weniger rasch um-
geändert oder verbessert werden und demzufolge in dem Kampfe
mit den umgeänderten Abkömmlingen der gemeineren Arten
unterliegen.
Aus diesen verschiedenen Betrachtungen scheint nun unver-
meidlich zu folgen, dass in dem Masse, wie im Laufe der Zeit
neue Arten durch Natürliche Züchtung entstehen, andre seltener
und seltener werden und endlich erlöschen müssen. Diejenigen
Formen werden natürlich am meisten leiden, welche den umgeän-
derten und verbesserten am nächsten stehen. Und wir haben in
dem Abschnitte vom Ringen um’s Daseyn gesehen, dass es die
g®
116
miteinander am nächsten verwandten Formen — Varietäten der
nämlichen Art und Arten der nämlichen oder einander zunächst
verwandten Sippen sind, die, weil sie nahezu gleichen Bau, Kon-
stitution und Lebensweise haben, meistens auch in die heftigste
Mitbewerbung miteinander gerathen. Wir sehen den nämlichen
Prozess der Austilgung unter unseren Kultur-Erzeugnissen vor
sich gehen, in Folge der Züchtung verbesserter Formen durch
den Menschen. Ich könnte mit vielen merkwürdigen Belegen
zeigen, wie schnell neue ‘Rassen von Rindern, Schaafen und
andern Thieren oder neue Varietäten von Blumen die Stelle der
früheren und unvollkommeneren einnehmen. In Yorkshire ist es
geschichtlich bekannt, dass das alte schwarze Rindvieh durch die
Langhorn-Rasse verdrängt und dass diese, nach dem Ausdruck
eines landwirthschaftlichen Schriftstellers, wie durch eine mör-
derische Seuche von den Kurzhörnern weggelegt worden ist,
/? Divergenz des Charakters.) — Das Prinzip, welches
ich mit diesem Ausdrucke bezeichne, ist von hoher. Wichtigkeit
für meine Theorie und erklärt nach meiner Meinung verschiedene
wichtige Thatsachen. Erstens gibt es manche sehr ausgeprägte
_ Varietäten, die, obwohl sie etwas vom Charakter der Spezies an
sich haben, wie in vielen Fällen aus den hoffnungslosen Zwei-
feln über ihren Rang erhellet, doch gewiss viel weniger als
gute und ächte Arten von einander abweichen. Demungeachtet
sind nach meiner Anschauungsweise Varietäten eben ‚anfangende
Spezies. Auf welche Weise wächst nun jene kleinere Verschie-
denheit zur grössern spezifischen Verschiedenheit an? Dass Diess
allgemein geschehe,, müssen wir aus den fast unzähligen in der
ganzen Natur ‘vorhandenen Arten mit wohl ausgeprägten Va-
rietäten schliessen, während Varietäten, die von uns unler-
stellten Prototype und Ältern künftiger wohl unterschiedener
Arten, nur ‘geringe und schlecht-ausgeprägte Unterschiede dar-
bieten. Wenn es bloss der sogenannte Zufall wäre, der die Ab-
weichung einer Varietät von ihren Ältern in einigen Beziehungen
und dann die noch stärkere Abweichung des Nachkömmlings
dieser Varietät von jenen Ältern in gleicher Richtung veran-
lasste, so würde dieser doch nicht genügen, ein so gewöhn-
„ae
TE 4}
117
liches und grosses Maass von Verschiedenheit zu erklären, als
zwischen Varietäten einer Art und zwischen Arten einer Sippe
vorhanden ist. |
Wir wollen daher, wie ich es bis jetzt zu thun gewöhnt
war, auch diesen Gegenstand mit Hilfe unsrer Kultur-Erzeugnisse
erläutern. Wir werden dabei etwas Analoges finden. Ein Lieb-
haber wird durch eine Taube mit merklich kürzerem und ein
andrer durch eine solche mit viel längerem Schnabel erfreut,
und da »Liebhaber Mittelmässigkeiten nicht bewundern , sondern
Extreme lieben«, so machen sich beide daran (wie es mit Purzel-
tauben wirklich der Fall gewesen) zur Nachzucht Vögel mit
immer 'kürzeren und kürzeren oder immer längeren und längeren
Schnäbeln zu wählen. Ebenso können wir unterstellen, es habe
Jemand in früherer Zeit schlankere und ein andrer Jemand stär-
kere und schwerere Pferde vorgezogen. Die ersten Unterschiede
werden nur sehr gering gewesen seyn; wenn nun aber im Laufe
der Zeit einige Züchter fortwährend die schlankeren, und andre
ebenso die schwereren Pferde zur Nachzucht auswählen, so
werden die Verschiedenheiten immer grösser werden und Ver-
anlassung geben, zwei Unterrassen zu unterscheiden , und nach
Verlauf von Jahrhunderten können diese Unterrassen sich end-
lich zu zwei wohl-begründeten verschiedenen Rassen ausbilden.
Da die Verschiedenheiten langsam zunehmen, so werden die
unvollkommeneren Thiere von mittlem Charakter, die weder
sehr leicht noch sehr schwer sind, vernachlässigt werden und
zum Erlöschen neigen. Daher sehen wir dann auch in diesen
künstlichen Erzeugnissen des Menschen, dass in Folge’ des Di-
vergenz-Prinzips, wie man es nennen könnte, die anfangs kaum
bemerkbaren Verschiedenheiten immer zunehmen und die Rassen
immer weiter unter sich wie von ihren gemeinsamen Stamm-
Altern abweichen.
Aber wie, kann man fragen, lässt sich ein solches Prinzip auf
die Natur anwenden? Ich glaube, dass es schon durch den einfachen
Umstand eine erfolgreiche Anwendung findet, dass, je weiter die
Abkömmlinge einer Spezies in Bau, organischen Verrichtungen und
Lebensweise auseinandergehen, um so besser sie geeignet seyn
118
werden, viele und sehr verschiedene Stellen im Haushalte der
Natur einzunehmen und somit an Zahl zuzunehmen. |
Diess zeigt sich deutlich bei Thieren mit einfacher. Lebens- -
weise. Nehmen wir ein vierfüssiges Raubthier zum Beispiel,
dessen Zahl in einer Gegend schon längst zu dem vollen Be-
trage angestiegen ist, welches die Gegend zu ernähren vermag,
Hat das ihm innewohnende Vervielfältigungs - Vermögen freies
Spiel, so kann dieselbe Thier-Art (vorausgesetzt dass die Gegend
keine Veränderung ihrer natürlichen Verhältnisse erfahre) nur
dann noch weiter zunehmen, wenn ihre Nachkommen in der
Weise abändern, dass sie allmählich solche Stellen einnehmen
können, welche jetzt andre Thiere schon innehaben, wenn z. B,
einige derselben geschickt werden auf neue Arten von lebender
oder todter Beute auszugehen, indem sie neue Standorte. be-
wohnen, Bäume erklimmen, in's Wasser gehen oder auch einen
Theil ihrer Raubthier-Natur aufgeben. Je mehr nun diese Nach-
kommen unsres Raubthieres in Organisation und Lebensweise
auseinandergehen, desto mehr Stellen werden sie fähig seyn in
der Natur einzunehmen. Und was von einem ‚Thiere gilt, das
gilt durch alle Zeiten von allen Thieren, vorausgesetzt dass sie
variiren; denn ausserdem kann Natürliche Züchtung nichts aus-
richten. Und Dasselbe gilt von den Pflanzen. Es ist durch Ver-
suche dargethan worden, dass wenn man eine Strecke Landes
mit Gräsern verschiedener Sippen besäet, man eine grössere
Anzahl von Pflanzen erziehen und ein grösseres Gewicht von
Heu einbringen kann, als wenn man eine gleiche Strecke nur
mit einer Gras-Art ansäet. Zum nämlichen Ergebniss ist man
gelangt, indem man zuerst eine Varietät und dann verschiedene
gemischte Varietäten von Weitzen auf zwei gleich grosse Grund-
Stücke säete. Wenn daher eine Gras-Art in Varietäten ausein-
andergeht und diese Varietäten, unter sich in derselben Weise
verschieden wie die Arten und Sippen der Gräser verschieden
sind, immer wieder zur Nachzucht gewählt werden, so wird
eine grössere Anzahl einzelner Stöcke dieser Gras-Art mit Ein-
schluss ihrer Varietäten. auf gleicher Fläche wachsen können, als
zuvor. Bekanntlich streut jede Gras- Art und Varietät jährlich
119
eine fast ‚zahllose Menge von Saamen aus, SO dass man. fast
sagen ‘könnte, ihr hauptsächlichstes Streben seye Vermehrung
ihrer Anzahl. Daher zweifle ich nicht daran, dass im. Verlaufe
von vielen Tausend Generationen gerade die am weitesten aus-
einander gehenden Varietäten einer Gras-Art immer am meisten
Wahrscheinlichkeit des Erfolges durch Vermehrung ihrer Anzahl
und durch Verdrängung der geringeren Abweichungen für sich
haben; und sind diese Varietäten nun weit. von einander ver-
schieden, so nehmen sie den Charakter der Arten an.
Die Wahrheit ‘des Prinzips, dass die grösste Summe von
Leben vermittelt werden kann durch die grösste Differenzirung
der Struktur, lässt sich unter vielerlei natürlichen Verhältnissen
erkennen. Wir sehen auf ganz kleinen Räumen, zumal wenn sie
der Einwanderung offen sind und mithin das Ringen der Arten
mit einander heftig ist, stets eine grosse Manchfaltigkeit von
Bewohnern. So fand ich z. B. auf einem 3‘ langen und 4° breiten
Stück Rasen, welches viele Jahre lang genau denselben Bedin-
gungen ausgeseizt gewesen, zwanzig Arten von Pflanzen aus
achtzehn Sippen und acht Ordnungen beisammen , woraus sich
ergibt, wie verschieden von sinander eben diese Pflanzen sind.
$o ist es auch mit den Pflanzen und Insekten auf kleinen ein-
förmigen Inseln; und ebenso in kleinen Süsswasser -Behältern.
Die Landwirthe wissen, dass. sie bei einer Rotation mit Pflanzen-
Arten aus den verschiedensten Ordnungen am meisten Futter er-
ziehen können*, und die Natur bietet, was man eine simultane
Rotation nennen. könnte. Die meisten Pflanzen und Thiere,
welche rings um ein kleines Grundstück wohnen, würden auch
auf diesem Grandstücke (wenn es nicht in irgend einer Be-
ziehung von sehr abweichender Beschaffenheit ist) leben kön-
nen und streben so zu sagen in hohem Grade darnach da zu
leben; wo sie aber in nächste Mitbewerbung mit einander kom-
men, da sehen wir, dass ihre aus der Differenzirung ihrer Or-
ganisation, Lebensweise und Konstitution sich ergebenden wech-
selseitigen Vorzüge bedingen, dass die am unmittelbarsten mit
Diess dürfte jedoch der Hauptsache nach einen ganz verschiedenen
Grund haben. D.Ü
120
einander ringenden Bewohner im Allgemeinen : Sip-
pen und Ordnungen angehören.
Dasselbe Prinzip erkennt man, wo der Mensch Pflanzen in
fremdem Lande zu naturalisiren strebt. Man hätte erwarten dür-
fen, dass diejenigen Pflanzen, die mit Erfolg in einem Lande
naturalisirt werden können, im Allgemeinen nahe verwandt mit
den Eingeborenen seyen; denn diese betrachtet man gewöhnlich
als besonders für ihre Heimath geschaffen und angepasst. Eben
so hätte man vielleicht erwartet, dass die naturalisirten Pflanzen
zu einigen wenigen Gruppen gehörten, welche nur etwa gewis-
sen Stationen entsprächen. Aber die Sache verhält sich ganz
anders, und Aırnons DrÜAnpoıLe hat in seinem grossen und
vortreiflichen Werke ganz wohl gezeigt, dass die Floren
durch Naturalisirung, der Anzahl der eingeborenen Sippen und
Arten gegenüber, weit mehr an neuen Sippen als an neuen
Arten gewinnen. Um nur ein Beispiel zu geben, so sind in
Dr. Asa GraY's »Manual of the Flora of the nortihern United
states« 260 naturalisirte Pflanzen-Arten aus 162 Sippen aufge-
zählt. Wir sehen ferner, dass diese naturalisirten Pflanzen von
sehr verschiedener Natur sind, und auch von den eingebornen
in so ferne weit abweichen, als aus jenen 162 Sippen nicht
weniger als 100 ganz fremdländisch sind, daher die eingeborene
Flora verhältnissmässig mehr an Sippen als an Arten bereichert
worden ist. |
Berücksichtigt? man die Natur der Pflanzen und Thiere,
welche der Reihe nach erfolgreich mit den eingeborenen einer
Gegend gerungen haben und in dessen Folge naturalisirt worden
sind, so kann man eine rohe Vorstellung davon gewinnen, wie
etwa einige die eingeborenen hätten modifieirt werden müssen,
um einen Vortheil über die andern eingeborenen zu erlangen;
wir können, wie ich glaube, wenigstens mit Sicherheit schliessen,
dass eine Dilferenzirung ihrer Struktur bis zu einem zur Bildung
neuer Sippen genügenden Betrage für sie erspriesslich gewe-
sen wäre. ;
Der Vortheil einer Differenzirung der Eingebornen einer
Gegend ist in der That derselbe, welcher für einen individuellen
Zur Seite Al.
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Mg
Ihr
Mil
121
Organismus aus der physiologischen Theilung der Arbeit unter
seine Organe entspringt, ein von Mine Epwarns SO trefflich er-
läuterter Gegenstand. Kein Physiologe zweifelt daran, dass ein
Magen, welcher nur zur Verdauung von vegetabilischer oder von
animalischer Materie allein geeignet ist, die meiste Nahrung aus
diesen Stoffen zieht. So werden auch in dem grossen Haushalte
eines Landes um so mehr Individuen von Pflanzen und Thieren
ihren Unterhalt zu finden im Stande seyn, je mehr dieselben hin-
sichtlich ihrer Lebensweise differenzirt sind. Eine Gesellschaft
von Thieren mit nur wenig differenzirter Organisation kann
schwerlich mit einer andern von vollständiger differenzirtem
Baue werben. So wird man z.'B. bezweifeln müssen, dass die
Australischen Beutelthiere, welche nach WaAreruouse's u. A. Be-
merkung , in weniger von einander abweichende Gruppen unter-
schieden, unsre Raub-Thiere, Wiederkäuer und Nager vertreten,
im Stande seyn würden, mit diesen wohl ausgesprochenen Ord-
nungen zu werben. In den Australischen Säugethieren erblicken
wir den Prozess der Differenzirung auf einer noch frühen und
unvollkommenen Entwicklungs-Stufe. |
Nach dieser vorangehenden Erörterung, die einer grösseren
Ausdehnung bedürfte, dürfen wir wohl annehmen, dass die abge-
änderten Nachkommen einer Spezies um so mehr Erfolg haben
werden, je mehr sie in ihrer Organisation differenzirt und hiedurch
geeignet seyn werden, sich auf die bereits von andern Wesen ein-
genommenen Stellen einzudrängen. Wir wollen nun zusehen,
wie dieses nützliche von der Divergenz des Charakters abgelei-
tete Princip in Verbindung mit den Prinzipien der Natürlichen
Züchtung und der Erlöschung zusammenwirke.
Das beigefügte Bild wird uns dienen, diese sehr verwickelte
Frage besser zu begreifen. Geseizt es bezeichnen die Buchsta-
ben A bis L die Arten einer grossen Sippe in ihrer Heimath-
Gegend; diese Arten gleichen einander in verschiedenen Abstu-
fungen, wie es eben in der Natur der Fall zu seyn pflegt, und
was durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben von einan-
der ausgedrückt werden soll. Wir wählen eine grosse Sippe,
weil wir schon im zweiten Kapitel gesehen, dass verhältnissmäs-
122
sig mehr Arten grosser Sippen als kleiner variiren, und dass
dieselben eine. grössere Anzahl von Varietäten darbieten. Wir
haben ferner gesehen, dass die gemeinsten und am weitesten
verbreiteten Arten mehr als die seltenen mit kleinen Wohn-Be-
zirken abändern. Es seye nun A eine gemeine weit verbreitete
und abändernde Art einer grossen Sippe in ihrer Heimath-
Gegend; der kleine Fächer divergirender Punkt-Linien von un-
gleicher Länge, welche von A ausgehen, möge ihre variirende
Nachkonmmenschaft darstellen. Es ist ferner angenommen, deren
Abänderungen seyen ausserordentlich gering, aber von der
manchfaltigsten Beschaffenheit, nicht von gleichzeitiger, sondern
oft durch lange Zwischenzeiten getrennter Erscheinung, und end-
lich von ungleich langer Dauer. Nur jene Abänderungen, welche
in irgend einer Beziehung nützlich sind, werden erhalten und
zur Natürlichen Züchtung verwendet. Und hier ist es wichtig,
dass das Prinzip der Nützlichkeit von der Divergenz des Cha-
rakters abgeleitet ist; denn Diess wird meistens zu den am wei-
testen auseinandergehenden Abänderungen führen (welche durch
unsre punktirten Linien dargestellt sind), wie sie durch Natür-
liche Züchtung erhalten und gehäuft worden. Wenn nun in
unsrem Bilde eine der punktirten Linien eine der wagrechten
Linien erreicht‘und dort mit einem kleinen numerirten Buchsta-
ben bezeichnet erscheint, so ist angenommen, dass darin eine
Summe von Abänderung gehäuft seye, genügend zur Bildung
einer ganz wohl-bezeichneten Varietät, wie wir sie der Aufnahme
in ein systematisches Werk werth achten.
Die Zwischenräume zwischen zwei wagrechten Linien des
Bildes mögen je 1000 (besser wären 10,000) Generationen enl-
sprechen. Nach 1000 Generationen hätte die Art A zwei ganz
wohl ausgeprägte Varietäten a! und m! hervorgebracht. Diese
zwei Varietäten seyen fortwährend deuselben Bedingungen aus-
gesetzt, welche ihre Stammältern zur Abänderung veranlassten,
und das Streben nach Abänderung in ihnen erblich. Sie werden
daher nach weitrer Abänderung und gewöhnlich in derselben Art
und Richtung streben wie ihre Stammältern. "Überdies werden
diese zwei Varietäten, als nur erst. wenig modifieirte Formen,
123
streben diejenigen Vorzüge weiter zu erwerben, welche ihren
gemeinsamen Ältern A das numerische Übergewicht ‘über die
meisten andern Bewohner derselben Gegend verschafft haben;
sie werden gleicherweise theilnehmen an denjenigen Vortheilen,
welche die Sippe, wozu ihre Stammältern gehört, zur grossen
Sippe in ihrer Heimath erhoben. Und wir wissen, dass alle diese
Umstände zur Hervorbringung neuer Varietäten günstig sind.
Wenn nun diese zwei Varietäten ebenfalls veränderlich sind,
so werden die divergentesten ihrer Abänderungen gewöhnlich ,
in den nächsten 4000 Generationen fortbestehen. Nach dieser
Zeit, ist in unsrem Bilde angenommen, habe Varietät a! die
Varietät a? hervorgebracht, die nach dem Differenzirungs-Prin-
zipe weiter als a! von. A verschieden ist. Varietät m! hat zwei
andre Varietäten m? und s? ergeben, welche unter sich und noch
mehr von ihrer gemeinsamen Stamm-Forn A abweichen. So
können wir ‘den Vorgang lange Zeit von Stufe zu Stufe verfol-
sen und einige der Varietäten von je 1000 zu 1000 Generatio-
nen bald nur eine Abänderung von mehr und weniger abwei-
chender Beschaffenheit, bald auch 2—3 derselben hervorbringen
sehen, während andre keine neuen Formen darbieten. Doch
werden gewöhnlich diese Varietäten oder abgeänderten Nach-
kommen eines gemeinsamen Stamm-Vaters A im Ganzen immer
zahlreicher werden und immer weiter auseinander laufen. In
dem Bilde ist der Vorgang bis zur zehntausendsten Generation,
— und in einer mehr verdichteten und vereinfachten Weise bis
zur vierzehntausendsten Generation dargestellt.
Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung
bin, dass der Prozess jemals so regelmässig vor sich gehe, als
er im Bilde dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas
unregelmässig erscheint. Ebenso bin ich entfernt nicht der Mei-
nung, dass die am weitesten differirenden Varietäten unabänder-
lich vorherrschen und sich vervielfältigen werden. Oft mag auch
eine Mittelform von langer Dauer seyn und entweder keine oder
mehr als eine in ungleichem Grade abgeänderte Varietät hervor-
bringen; die Natürliche Züchtung wird immer thätig seyn, je nach
der Beschaffenheit der noch gar nicht oder nur unvollständig von
124
anderen Wesen eingenommenen- Stellen: und Diess wird von
unendlich verwickelten Beziehungen abhängen. Doch werden
der allgemeinen Regel zufolge die Abkömmlinge einer Art um
so mehr geeignet seyn jene Stellen einzunehmen und ihre abge-
änderte Nachkommenschaft zu vermehren, je weiter sie in ihrer
Organisation differenzirt sind. In unsrem Bilde ist die Succes-
sions-Linie in regelmässigen Zwischenräumen unterbrochen durch
kleine numerirte Buchstaben, zu Bezeichnung der succesiven
Formen, welche genügend unterschieden sind, um als Varietäten
aufgeführt zu werden. Aber diese Unterbrechungen sind nur
eingebildete und hätten anderwärts eingeschoben werden können
nach hinlänglich langen Zwischenräumen für die Häufung eines
ansehnlichen Betrags divergenter Abänderung.
Da alle diese verschiedenartigen Abkömmlinge von einer
gemeinsamen und weit verbreiteten Art einer grossen Sippe an
den gemeinsamen Verbesserungen theilzunehmen streben, welche
den Erfolg ihrer Stamm-Ältern im Leben bedingt haben, so wer-
den sie im Allgemeinen sowohl an Zahl als an Divergenz des
Charakters zunehmen, und Diess ist im Bilde durch die verschie-
denen von A ausgehenden Verzweigungen ausgedrückt. Die ab-
geänderten Nachkommen von den letzten und am meisten ver-
besserten Verzweigungen in den Nachkommenschafts-Linien wer-
den wahrscheinlich oft die Stelle der ältern und minder vervoll-
kommneten einnehmen und sie verdrängen, und Diess ist im
Bilde dadurch ausgedrückt, dass einige der untern Zweige nicht
bis zu den oberen Horizontallinien hinauf reichen. In einigen
‚Fällen zweifle ich nicht, dass der Process der Abänderung auf
eine einfache Linie der Descendenz beschränkt bleiben und
die Zahl der Nachkommen nicht vermehren wird, wenn auch
das Maass divergenter Modifikation in den aufeinanderfolgenden
Generationen zugenommen hat. Dieser Fall würde in dem Bilde
dargestellt werden, wenn alle von A ausgehenden Linien bis auf
die von a! bis a!® beseitigt würden. Auf diese Weise sind z.B.
die Englischen Rasse-Pferde und Englischen Windspiele langsam
vom Charakter ihrer Stammform abgewichen, ohne je eine neue
Abzweigung oder Nebenrasse abgegeben zu haben. |
125
Es wird der Fall gesetzt, dass die Art A nach 10,000 Gene-
rationen drei Formen a}, f!% und m! hervorgebracht habe, welche
in Folge ihrer Charakter-Divergenz in den aufeinander-folgenden
Generationen weit, doch in ungleichem Grade unter sich und von
ihren Stamm-Ältern verschieden sind. Nehmen wir nur einen
äusserst kleinen Betrag von Veränderung zwischen je zwei Hori-
zontalen unsres Bildes an, so werden unsre drei Formen nur bis
zur Stufe wohl ausgeprägter Varietäten oder etwa zweifelhalter
Unterarten gelangt seyn; wir haben aber nur nöthig, uns die Ab-
stufungen im Änderungs-Prozesse elwas grüsser Zu denken, um
diese Formen in gute Arten zu verwandeln; alsdann drückt das
Bild die Stufen aus, aul welchen die kleinen nur Varietäten cha-
rakterisirenden Verschiedenheiten in grössere schon Arten unier-
scheidende Unterschiede übergehen. Denkt man sich denselben
Prozess in einer noch grösseren Anzahl von Generationen fort-
während (wie es oben im Bilde in zusammengezogener und ver-
einfachter Weise geschehen), so erhalten wir acht von A abstam-
ende, Arten mit a!* bis m!* bezeichnet. So werden, wie ich
glaube, Arten vervielfältigt und Sippen gebildet.
In einer grossen Sippe variirt wohl mehr als eine Art.
Im Bilde habe ich angenommen, dass eine zweite Art I in ana-
logen Abstufungen nach 10,000: Generationen entweder zwei
wohlbezeichnete Varietäten w!® und x?!°, oder zwei-Arten hervor-
gebracht habe, je nachdem man sich den Betrag der Verände-
rung, welcher zwischen zwei wagrechten Linien liegt, kleiner
oder grösser denkt. Nach 14,000 Generationen werden nach
unsrer Unterstellung sechs neue durch die Buchstaben n!?—z'*
bezeichnete Arten entstanden seyn. In jeder Sippe werden die
bereits am "weitesten in ihrem Charakter aus einander gegange-
nen Arten die grösste Anzahl modifieirter Nachkommen hervor-
zubringen streben, indem diese die beste Aussicht haben, neue
und weit von einander verschiedene Stellen im Natur-Staate ein-
zunehmen; daher ich im Bilde die extreme Art A und die last
gleich extreme Art I als die am weitesten auseinander gelaufe-
nen bezeichnete, welche auch zur- Bildung neuer Varietäten und
Arten Veranlassung gegeben haben. Die andren neun mit gros-
126
sen Buchstaben (B—H, K, L) bezeichneten Arten unsrer Stamm.
Sippe mögen sich noch lange Zeit ohne Veränderung fortpflanzen,
was im Bilde durch die punktirten Linien ausgedrückt ist, welche
wegen mangelnden Raumes nicht weiter aufwärts verlängert sind,
Inzwischen dürfte in dem auf unsrem Bilde :dargestellten
Umänderungs-Prozess noch ein andres unsrer Prinzipien, der der
Erlöschung nämlich, eine wichtige Rolle gespielt haben. Da in
jeder vollständig bevölkerten Gegend Natürliche Züchtung noth-
wendig durch Auswahl der Formen wirkt, welche in dem Kample
um’s Daseyn irgend einen Vortheil vor den übrigen Formen vor-
aus haben, so wird in den verbesserten Abkömmlingen einer. Art
ein beständiges Streben vorhanden seyn, auf jeder ferneren
Stufe ihre Vorgänger und ihren Urstamm zu ersetzen und zu
vertilgen. Denn man muss sich erinnern, dass der Kampf
gewöhnlich am heftigsten zwischen solchen Formen ist, welche
einander in Organisation, Konstitution und Lebensweise am
nächsten stehen. Daher werden, alle Zwischenformen zwischen
den ‘frühesten und spätesten, das ist zwischen den unvollkommen-
sten und vollkommensten Stufen, sowie die Stamm-Art selbst
zum Erlöschen geneigt seyn. Eben so wird es sich wahr-
scheinlich mit vielen ganzen Seiten-Linien verhalten, wenn sie
durch spätere und vollkommenere Linien bekämpft werden. Wenn
dagegen die abgeänderte Nachkommenschaft einer Art in einer
besonderen Gegend aufkommt oder sich irgend einem ganz neuen
Standorte rasch anpasst, wo Vater und Kind nicht in Mitbewer-
bung gerathen, dann mögen beide fortbestehen. |
Nimmt man daher in unsrem Bilde an, dass es ein grosses
Maass von Abänderung vorstelle, so werden die Art A und alle
frühern Abänderungen derselben erloschen und durch acht neue
Arten a!-—-m!* ersetzt seyn, und an der Stelle von I werde
sich sechs neue Arten n!?—z!* befinden. : |
Doch gehen wir noch weiter. Wir haben angenommen, dass
die ursprünglichen Arten unsrer Sippe einander in ungleichem
Grade ähnlich seyen, wie Das in der Natur gewöhnlich der Fall
ist; dass die Art A näher mit B, C, D als mit den andern verwandi
seye und I mehr Beziehungen mit G, H, K, L als zu den übrigen
127
besitze; dass ferner diese zwei Arten A und I sehr gemein und
weit, verbreitet seyen, indem sie schon anfangs einige Vorzüge
vor den andern Arten derselben Sippe voraus hatten. Ihre modi-
fizirten Nachkommen, vierzehn an Zahl nach 14,000 Generalio-
nen, werden. wahrscheinlich einige derselben Vorzüge geerbt
haben ; auch sind sie auf jeder weiteren Stufe der Fortpflanzung
in einer divergenten Weise abgeändert und verbessert worden,
so dass sie sich zur Besetzung vieler passenden Stellen im
Natur-Haushalte ihrer Gegend eignen. Es scheint mir daher äus-
serst wahrscheinlich , dass sie nicht allein ihre Ältern A und I
ersetzt und vertilgt haben, sondern auch einige andre diesen zu-
nächst verwandte ursprüngliche Spezies. Es werden daher nur
sehr wenige der ursprünglichen Arten sich bis in die vierzehn-
tausendste Generation fortgepflanzt haben. Wir nehmen an, dass
nur eine von den zwei mit den übrigen neun weniger nahe
verwandten Arten, nämlich F, ihre Nachkommen bis zu dieser
späten Generation erstrecke.
Der neuen von den eilf ursprünglichen Arten unsres Bildes
abgeleiteten Spezies sind nun fünfzehn. Dem divergenten Streben
der Natürlichen Züchtung gemäss, muss der äusserste Betrag von
Charakter-Verschiedenheit zwischen den Arten al? und z'* viel grös-
ser als zwischen den unter sich verschiedensten der ursprünglichen
eilf Arten. seyn. Überdiess werden die neuen Arten in sehr
ungleichem Grade mit einander verwandt seyn. Unter den acht
Nachkommen von A mögen die drei a!*, q!* und p!* näher bei-
sammen stehen, weil sie sich erst spät von a! abgezweigt ha-
ben, wogegen b!* und f!? als alte Abzweigungen von a” etwas
mehr von jenen drei entfernt sind; und endlich mögen 0%, e!*
und m!* zwar unter sich nahe verwandt seyn, aber als Seiten-
zweige.'seit dem ersten Beginne des Abänderungs-Prozesses weit
von den andern fünf Arten abstehen und eine besondere Unter-
sippe oder sogar eine eigne Sippe bilden.
Die sechs Nachkommen von I mögen zwei Subgenera oder
selbst Genera bilden. Da aber die Stamm-Art I weit von A
entfernt, fast am andern "Ende der Arten-Reihe der ursprüng-
lichen Sippe steht, so werden diese sechs Nachkommen durch
E
128
Vererbung beträchtlich von den acht Nachkommen von A ab.
weichen, indem überdiess angenommen worden, dass diese zwei
Gruppen sich in auseinander ;weichenden Richtungen verändert
haben. Auch sind die mitteln Arten, welche A mit I verbunden
(was sehr wichtig ist zu beachten), mit Ausnahme von F erlo-
schen, ohne Nachkommenschaft zu hinterlassen. Daher die sechs
neuen von I entsprossenen und die acht von A abgeleiteten
Spezies sich zu zwei sehr verschiedenen Sippen oder sogar Un-
terfamilien erhoben haben dürften.
So kommt es, wie ich meine, dass zwei oder mehr Sippen
durch Abänderung aus zwei oder mehr Arten eines Genus ent-
springen können. Und von den zwei oder mehr Stamm-Arten
ist angenommen worden, dass sie von einer Art einer früheren
‘Sippe herrühren. In unsrem Bilde ist Diess durch die gebroche-
nen Linien unter den grossen Buchstaben A—L angedeutet,
welche abwärts gegen je einen Punkt konvergiren. Dieser Punkt
stellt eine einzelne Spezies, die unterstellte Stamm-Art aller
unsrer neuen Subgenera und Genera vor.
Es ist der Mühe werth, einen Augenblick bei dem Charakter
der neuen Art r'"* zu verweilen, von welcher angenommen wird,
dass sie ohne grosse Divergenz zu erfahren, die Form von F unver-
ändert oder mit nur geringer Abänderung ererbt habe. Ihre Ver-
wandtschaften zu den andern vierzehn neuen Arten werden ganz
sonderbar seyn. Von einer zwischen den zwei Stamm-Arten A
und I stehenden Spezies abstammend, welche aber jetzt erloschen
und unbekannt sind, wird sie einigermassen das Mittel zwischen
den zwei davon abgeleiteten Arten-Gruppen halten. Da aber
beide Gruppen in ihren Charakteren vom Typus ihrer Stamm-
Ältern auseinandergelaufen sind, so wird die neue Art r'* das
Mittel nicht unmittelbar zwischen ihnen, sondern vielmehr zwi-
schen den Typen beider Gruppen halten; und jeder Naturfor-
scher dürfte im Stande seyn, sich ein Beispiel dieser Art in's Ge-
dächtniss zu rufen.
In dem Bilde entspricht nach unsrer bisherigen Annahme
jeder Abstand zwischen zwei Horizontalen tausend Generationen;
lassen wir ihn jedoch für eine Million oder hundert Millionen
eu
129
von Generationen und zugleich einem entsprechenden Theile der
Schichtenfolge unsrer Erd-Rinde mit organischen Resten gelten!
In unserem Kapitel über Geologie werden wir wieder auf diesen
Gegenstand zurückkommen und werden dann hoffentlich finden,
dass unser Bild geeignet ist Licht über die Verwandtschaft
erloschener Wesen zu verbreiten, die, wenn auch im Allgemei-
nen zu denselben Ordnungen, Familien oder Sippen wie ein
Theil der jetzt lebenden gehörig, doch in ihrem Charakter oft in
gewissem Grade das Mittel zwischen jetzigen Gruppen halten ;
und man wird diese Thatsache begreiflich finden , da die erlo-
schenen Arten in sehr frühen Zeiten gelebt, wo die Verzweigungen
der Nachkommenschaft noch wenig auseinander gegangen waren.
Ich finde keinen Grund, den Verlauf der Abänderung, wie
er bisher auseinander gesetzt worden, blos auf die Bildung der
Sippen zu beschränken. Nehmen wir in unserem Bilde den von
jeder successiven Gruppe auseinander-strahlender Punktlinien
dargestellten Betrag von Abänderung sehr hoch an, so werden
die mit a'* bis p!*, mit b'* bis f!* und mit 0! bis m!* be-
zeichneten Formen drei sehr verschiedene Genera darstellen.
Wir werden dann zwei von I abgeleitete sehr verschiedene
Sippen haben, und da diese zwei Sippen, in Folge sowohl einer
fortdauernden Divergenz des Charakters als der Beerbung zweier
verschiedener Stammväter, sehr weit von den von A hergelei-
teten drei Sippen abweichen, so werden die zwei kleinen Sippen-
Gruppen je nach dem Maasse der vom Bilde dargestellten di-
vergenten Abänderung zwei verschiedene Familien oder selbst
Ordnungen bilden. Und diese zwei neuen Familien oder Ord-
nungen leiten sich‘von zwei Arten einer Stamm-Sippe her, die
selbst wieder einer Spezies eines viel älteren und noch unbe-
kannten Genus entsprossen seyn dürfte.
Wir haben gesehen, dass es in jeder Gegend die Arten der
grössern Sippen sind, welche am öftesten Varietäten oder neue
anfangende Arten bilden. Diess war in der That zu erwarten;
denn, wenn die Natürliche Züchtung durch eine im Rassenkampf
vor den andern bevorzugte Form wirkt, so wird sie hauptsächlich
auf diejenigen wirken, welche bereits einige Vortheile voraus
9
130
haben: und die Grösse einer Gruppe zeigt, dass ihre Arten von
einem gemeinsamen Vorgänger einige Vorzüge gemeinschaftlich
ererbt haben. Daher der Wettkampf in Erzeugung neuer und
abgeänderter Sprösslinge hauptsächlich zwischen den grösseren
Gruppen stattfinden wird, welche sich alle an Zahl zu vergrös-
sern streben. Eine grosse Gruppe wird nur langsam eine andre
grosse Gruppe überwinden, deren Zahl verringern und so deren
Aussicht auf künftige Abänderung und Verbesserung vermindern,
Innerhalb einer und derselben grossen Gruppe werden die neue-
ren und höher vervollkommneten Untergruppen immer bestrebt
seyn, durch Verzweigung und durch Besetzung von möglichst
vielen Stellen im Staate der Natur die früheren und minder ver-
vollkommneten Untergruppen allmählich zu verdrängen. Kleine
und unterbrochene Gruppen und Untergruppen neigen sich immer
mehr dem gänzlichen Verschwinden zu. . In Bezug auf die Zu-
kunft kann man vorhersagen, dass diejenigen Gruppen organi-
scher Wesen, welche jetzt gross und siegreich und am wenig-
sten durchbrochen sind, d. h. bis jetzt am wenigsten durch
Erlöschung gelitten haben, noch auf lange Zeit hinaus zunehmen
werde. Welche Gruppen aber zuletzt vorwalten werden, kann
niemand vorhersagen; denn wir wissen, dass viele Gruppen von
ehedem sehr ausgedehnter Entwickelung heutzutage erloschen
sind. Blicken wir noch weiter in- die Zukunft hinaus, so lässl
sich voraussehen, dass in Folge der fortdauernden und steten
Zunahme der grossen, Gruppen eine Menge kleiner gänzlich er-
löschen wird ohne abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und
dass demgemäss von den zu irgend einer Zeit lebenden Arten
nur äusserst wenige ihre Nachkommenschaft bis in eine ferne
Zukunft erstrecken werden. Ich will in dem Kapitel über
Klassifikation auf diesen Gegenstand zurückkommen und hier
nur noch bemerken, dass nach der Ansicht, dass nur äusserst
wenige der ältesten Spezies uns Abkömmlinge hinterlassen ha-
ben und die Abkömmlinge von einer und derselben Spe-
zies heutzutage eine Klasse bilden, uns begreiflich werden muss,
warum es in jeder Hauptabtheilung des Pflanzen- und Thier-
Reiches nur sehr wenige Klassen gebe. Obwohl indessen
131
nur äusserst wenige der ältesten Arten noch jetzt lebende
veränderte Nachkommen hinterlassen haben, so mag doch, die
Erde in den ältesten geologischen Zeit-Abschnitten eben so be-
völkert gewesen seyn mit zahlreichen Arten aus manchlalti-
sen Sippen, Familien, Ordnungen und Klassen, wie heutigen
Tages.
Ein ausgezeichneter Naturforscher hat dagegen eingewendet,
die fortwährende Thätigkeit der Züchtung, mit Divergenz des
Charakters verbunden, müsse zu einer endlosen Menge von Ar-
ten-Formen führen. Was die blos unorganischen Bedingungen be-
trifft, so würde allerdings wahrscheinlich eine genügende Anzahl
von Arten allen erheblicheren Verschiedenheiten von Wärme,
Feuchtigkeit u. s. w. angepasst werden können; ich nehme aber
an, dass die Wechselbeziehungen der organischen Wesen zu
einander bei weitem die wichtigsten sind, und wenn die Zahl der
Arten in einer Gegend in Zunahme begriffen ist, so werden die
organischen Lebens-Bedingungen immer verwickelter werden.
Anfänglich scheint es daher wohl, als gebe es keine Grenze
für den Betrag nützlicher Differenzirung der Organisation und
daher keine Grenze für die Anzahl der möglicher Weise hervor-
zubringenden Arten. Es ist uns nicht bekannt, dass selbst das
[ruchtbarste Land-Gebiet mit organischen Formen vollständig be-
setzt seye, da ja selbst am Cap der guten Hoffnung, das eine
so erstaunliche Arten-Zahl hervorbringt, noch viele Europäische
Pflanzen naturalisirt worden sind. Die Geologie lehrt uns jedoch,
dass wenigstens innerhalb der unermesslichen Tertiär-Periode die
Arten-Zahl der Konchylien und wahrscheinlich auch der Säug-
thiere bis daher nicht vergrössert worden ist. Was hemmt nun
dieses Wachsthum der Arten-Zahl in’s Unendliche? Erstens muss
der Betrag des auf einem Gebiete unterhaltenen Lebens (ich
meine damit nicht die Zahl der spezifischen Formen) eine Grenze
haben, da es ja in so reichlichem Maasse von physikalischen Be-
dingungen abhängt; wo daher viele Arten erhalten werden müs-
sen, da werden sie alle oder meistens arm an Individuen seyn:
und “eine Art mit wenigen Individuen wird in Gefahr seyn
durch zufällige Schwankungen in der Beschaffenheit der Jahres-
g*
132
Zeiten.und in der Zahl ihrer Feinde zu erlöschen. Die Austilgung
wird in solchen Fällen rasch erfolgen, während neue Arten immer
nur langsam nachkommen. Man denke sich den äussersten Fall, es
gebe in England so viele Arten als Individuen, so wird der erste
strenge Winter oder trockne Sommer Tausende und Tausende von
Arten vertilgen, und Individuen von andern Arten werden ihre Stelle
einnehmen, Zweitens vermuthe ich, dass, wenn einige Arten sehr
selten werden, es in der Regel nicht nahe Verwandte seyn werden,
welche sie zu verdrängen streben; wenigstens haben einige Au-
toren gemeint, dass Diess bei dem Rückgang des Auerochsen in
Lithauen, des Edelhirschs in Schottland und des Bären in Nor-
wegen in Betracht komme. Drittens, was die Thiere im Beson-
dern betrifft, so sind einige Arten ganz dazu gemacht, sich von
irgend einem andern Wesen zu nähren; wenn dieses aber selten
geworden, so wird es nicht zum Vortheil jener Thiere seyn,
dass sie in so enger Beziehung zu einer Nahrung gestanden,
und sie werden nicht mehr durch: Natürliche Züchtung vermehrt
werden. Viertens, wenn irgend welche Arten arm an Individuen
werden, so wird der Vorgang der Umbildung langsamer seyn, weil
die Möglichkeit vortheilhafter Abänderung verringert ist. : Wenn
wir daher eine von sehr vielen Arten bewohnte Gegend anneh-
men, so müssen alle oder die meisten Arten arm an Individuen
seyn und wird demnach der Prozess der Umänderung und Bil-
dung neuer Formen verzögert werden. Fünftens, und wie ich
glaube ist Diess der wichtigste Punkt, wird eine herrschende
Art, welche schon viele Mitbewerber in ihrer eignen Heimath
verdrängt hat, sich auszubreiten und noch viele andre zu el-
setzen streben. Aupnons DrCAnvorıe hat nachgewiesen, dass diejeni-
gen Arten, welche sich weit verbreiten, gewöhnlich streben sich
sehr weit auszubreiten; sie werden folglich mehre andre in
verschiedenen Gegenden auszutilgen streben; und Diess hemmt
die ungeordnete Zunahme von Arten-Formen auf der ganzen
Erd-Oberfläche. Hooxer hat neuerlich gezeigt, dass in der süd-
östlichen Ecke Australiens, wo es viele Einwandrer aus allerlei
Weltgegenden zu geben scheint, die eigenthümlich Australischen
Arten an Menge sehr abgenommen haben. Ich wage nicht zu
?
Dr
he
a
er,
133
bestimmen, wie viel Gewicht diesen mancherlei Ursachen beizu-
legen seye; aber ich glaube, dass sie alle zusammen genommen
in jeder Gegend das Streben nach unendlicher Vermehrung der
Arten-Formen beschränken müssen.
Natürliche Züchtung wirkt, wie wir gesehen haben, aus-
schliesslich durch Erhaltung und Zusammensparung solcher leich-
ten Abweichungen, welche dem Geschöpfe; das sie betreffen,
unter den organischen und unorganischen Bedingungen des Lebens,
von welchen es in aufeinanderfolgenden Perioden abhängig ist,
nützlich sind. Das Endergebniss wird seyn, dass jedes Geschöpf
einer immer grösseren Verbesserung den Lebens-Bedingungen
gegenüber entgegenstrebt. Diese Verbesserung dürfte unvermeid-
lich zu der stufenweisen Vervollkommnung der Organisation der
Mehrzahl der über die ganze Erd-Oberfläche verbreiteten Wesen
führen. Doch kommen wir hier auf einen sehr schwierigen
Gegenstand, indem noch kein Naturforscher eine allgemein
befriedigende Definition davon gegeben hat, was unter Vervoll-
kommnung der Organisation zu verstehen seye. Bei den Wir-
belthieren kommt deren geistige Befähigung und Annäherung an
den Körper-Bau des Menschen offenbar mit in Betracht. Man
möchte glauben, dass die Grösse der Veränderungen, welche die
verschiedenen Theile und Organe während ihrer Entwickelung
vom Embryo-Zustande an bis zum reifen Alter zu durchlaufen
haben, als ein Anhalt bei der Vergleichung dienen könne; doch
kommen Fälle vor, wie bei gewissen parasitischen Krustern, wo
mehre Theile des Körper-Baues unvollkommner und sogar mon-
strös werden, so dass man das reife Thier nicht vollkommener
als seine Larve nennen kann. Von Barr’s Maasstab scheint noch
der beste und allgemeinst anwendbare zu seyn, nämlich das
Maass ‘der Differenzirung der verschiedenen Theile (»im rei-
fen Alter« dürfte wohl beizusetzen seyn) und ihre Anpassung
zu verschiedenen Verrichtungen, oder die Vollständigkeit der
Theilung in die physiologische Arbeit, wie MıLne Enwarns sagen
würde. Wir werden aber leicht ersehen, wie schwierig die
wirkliche Anwendung jenes Kriteriums ist, wenn wir wahrneh-
men, dass bei den Fischen z. B. die Haie von einem Theile der
134
Naturforscher als die vollkommensten angesehen werden, weil
sie den Reptilien am nächsten stehen, während andre den ge-
wöhnlichen Knochen-Fischen (Teleosti) die erste Stelle anwei-
sen, weil sie die ausgebildetste Fisch-Form haben und am mei-
sten von allen andern Vertebraten abweichen*. Noch deutlicher
erkennen wir die Schwierigkeit, wenn. wir uns zu den Pflanzen
wenden, wo der von geistiger Befähigung hergenommene Maas-
stab ganz wegfällt; und hier stellen einige Botaniker. diejenigen
Pflanzen am höchsten, welche sämmtliche Organe, wie Kelch- und
Kronen-Blätter, Staubfäden und Staubwege in jeder Blüthe voll-
ständig entwickelt besitzen, während Andre wohl mit mehr Recht
jene für die vollkommensten erachten, deren verschiedenen
Organe stärker metamorphosirt und auf geringere Zahlen zurück:
geführt sind. gt
Nehmen wir die Differenzirung und Spezialisirung derein-
zelnen Organe als den besten Maasstab ‘der organischen: Voll-
kommenheit der Wesen im ausgewachsenen Zustande an (was
mithin auch die fortschreitende Entwickelung des Gehirnes für
die geistigen Zwecke mit in sich begreift), so muss die Natürliche
Züchtung offenbar zur Vervollkommnung führen ; denn alle Phy-
siologen geben zu, dass die Spezialisirung seiner Organe, inso-
ferne sie in diesem Zustande ihre Aufgaben besser erfüllen,
für jeden Organismus von Vortheil ist: ‘und daher liegt Häufung
der zur Spezialisirung führenden Abänderungen im: Zwecke der
Natürlichen Züchtung. Auf der andern Seite ist es aber auch,
unter Berücksichtigung, «ass alle organischen Wesen sich in
raschem Verhältnisse zu vervielfältigen und jeden schlecht besetz-
ten Platz im Hausstande der Natur einzunehmen streben, der
Natürlichen Züchtung wohl möglich. ein organisches Wesen sol-
chen Verhältnissen anzupassen, wo ihnen manche Organe nutzlos
und überflüssig sind, und dann findet ein Rückschritt ‘auf der
* Hier ist ein Missverständniss. Aus den zwei zuletzt genannten Grün-
den könnten die Knochen-Fische die „vollkommenstien Fische,“ aber nicht,
die „vollkommensten Fische“ seyn, d. h. den Typus der Fische aber
nicht die Vollkommenheit am besten repräsentiren. Die Knochen-Fische
sind aber vollkommnere Fische aus andern Gründen. D. Übs.
139
Stufenleiter der Organisation (eine rückschreitende Metamor-
phose) statt. Ob die Organisation im Ganzen seit den frühesten
geologischen Zeiten bis jetzt fortgeschritten sey®, wird zweck-
mässiger in unserem Kapitel über die geologische Aufeinander-
folge der Wesen zu erörtern Seyn.
Dagegen kann man einwenden, wie es denn komme, dass,
wenn alle organischen Wesen von Anfang her fortwährend be-
strebt gewesen sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen,
auf der ganzen Erd-Oberfläche noch eine Menge der unvollkom-
mensten Wesen. vorhanden sind, und dass in jeder grossen Klasse
einige Formen viel höher als die andern entwickelt sind? Und
warum haben diese viel höher ausgebildeten Formen nicht schon
überall. die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt® LAmarck,
der an eine angeborene und unumgängliche Neigung zur Ver-
vollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwie-
rigkeit so sehr gefühlt zu haben, dass er sich zur Annahme ver-
anlasst sah, einfache Formen würden überall und fortwährend
durch Generatio spontanea neu erzeugt. Ich habe kaum nölhig
zu sagen, dass die Wissenschaft auf ihrer jetzigen Stufe die
Annahme, dass lebende Geschöpfe jetzt irgendwo aus unorgani-
scher Materie erzeugt werden, keineswegs gestaltel. Nach mei-
ner Theorie dagegen bietet das gegenwärtige Vorhandenseyn
niedrig organisirter Thiere keine Schwierigkeit dar; denn die
Natürliche Züchtung schliesst denn doch kein nothwendiges und
allgemeines Gesetz fortschreitender Entwickelung ein; sie be-
nützt nur solche Abänderungen, die für jedes Wesen in sei-
nen verwickelten Lebens-Beziehungen vortheilhaft sind. Und
nun kann man {ragen, welchen Vortheil (so weit wir. urtheilen
können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein
Regenwurm davon haben könne, hoch organisirt zu seyn? Haben
sie keinen Vortheil davon, so werden sie auch durch Natürliche
Züchtung wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und
mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisations-
Stufe stehen bleiben. In der That lehrt uns die. Geologie,
dass einige der tiefsten Formen von Infusorien und Rhizopoden
schon seit unermesslichen Zetten nahezu auf ihrer jetzigen Stule
136
stehen. Demungeachtet möchte es voreilig seyn anzunehmen,
dass einige der jetzt vorhandenen niedrigen Lebenformen seit
den ersten Zeiten ihres Daseyns keinerlei Vervollkommnung er-
fahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je welche von
diesen Organismen zergliedert hat, welche jetzt als die niedrig-
sten auf der Stufenleiter der Natur gelten, muss oft über deren
wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen seyn,
Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der
grossen Verschiedenheiten zwischen den Graden der Organisations-
Höhe innerhalb fast jeder grossen Klasse mit Ausnahme jedoch
der Vögel machen; so hinsichtlich des Zusammenstehens von
Säugthieren und Fischen bei den Wirbelthieren, oder von Mensch
und Örnithorhynchus bei den Säugethieren, von Hai und Amphio-
xus bei den Fischen, indem dieser letzte Fisch in der äussersten
Einfachheit seiner Organisation den Wirbel-losen Thieren ‚ganz
nahe kommt. Aber Säugthiere und Fische gerathen kaum in Mit-
bewerbung miteinander; die hohe Stellung gewisser Säugthiere -
oder auch der ganzen Klasse auf der obersten Stufe der Orga-
nisation treibt sie nicht die Stelle der Fische einzunehmen und
diese zu unterdrücken. Die Physiologen glauben, das Gehirn müsse
mit warmem Blute gebadet werden, um seine höchste Thätigkeit
zu entfalten, und dazu ist Luft-Respiration nothwendig, so dass
warm-blütige Säugthiere, wenn sie das Wasser bewohnen, den
Fischen gegenüber sogar in gewissem Nachtheile sind. Eben so
wird in dieser Klasse die Familie der Haie wahrscheinlich nicht
geneigt seyn, den Amphioxus zu ersetzen; und dieser wird allem
Anscheine nach seinen Kampf um’s Daseyn mit Gliedern der
Wirbel-losen Thier-Klassen auszumachen haben. Die drei unter-
sten Säugthier-Ordnungen, die Beutelthiere, die Zahnlosen und
die Nager bestehen in Süd-Amerika in.einerlei Gegend beisam-
men mit zahlreichen Affen. Obwohl die Organisation im Ganzen
auf der ganzen Erde in Zunahme begriffen seyn kann, so bietet
die Stufenleiter der Vollkommenheit doch noch alle Abstufungen
dar; denn die hohe Organisations- Stufe gewisser Klassen im
Ganzen oder einzelner Glieder dieser Klassen führen in keiner
Weise nothwendig zum Erlöschen derjenigen Gruppen, mit wel-
137
chen sie nicht in nahe Bewerbung “treten. In einigen Fällen
scheinen tief organisirte Formen, wie wir hernach sehen werden,
sich bis auf den heutigen Tag erhalten zu haben, weil sie eigen-
thümliche abgesonderte Wohnorte ohne alle erhebliche Mitbewer-
bung hatten, und wo auch sie selbst keine Fortschritte in der
Organisation machten, weil ihre eigne geringe Individuen-Zahl
der Bildung neuer vortheilhafter Abänderungen keinen Vorschub
leistete.
Endlich glaube ich, dass das Vorkommen zahlreicher niedrig
organisirter Formen aus allen Thier- und Pilanzen-Klassen über
die ganze Erd-Oberfläche von verschiedenen Ursachen herrühre.
In einigen Fällen mag es an vortheilhaften Abänderungen gefehlt
haben, mit deren Hilfe die Natürliche Züchtung zu wirken und
veredeln vermocht hätte. In keinem Falle vielleicht. ist die
Zeit ausreichend gewesen, um das Höchste in möglicher Ver-
vollkommnung zu leisten. In einigen wenigen Fällen kann auch
sogenannte »rückschreitende Organisation« eingetreten seyn. Aber
die Hauptsache liegt in dem Umstande, dass unter sehr einfachen
Lebens-Bedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, son-
dern vielleicht sogar nachtheilig seyn kann, weil sie zarter,
empfindlicher und leichter zu beschädigen ist.
Eine weitere Schwierigkeit, welche der so eben besproche-
nen gerade entgegengesetzt ist, ergibt sich noch, wenn wir
auf die Morgenröthe des Lebens zurückblicken, wo alle orga-
nischen Wesen, nach unsrer Vorstellung, noch die einfachste
Struktur besassen: wie konnten da die ersten Fortschritte in
der Vervollkommnung, in der Differenzirung und Spezialisirung
der Organe beginnen ? Ich vermag darauf keine genügende Ant-
wort zu geben, sondern nur zu sagen, dass wir nicht im Be-
sitze leitender Thatsachen sind, wesshalb alle unsre Spekulatio-
nen in dieser Beziehung ohne Boden und ohne Nutzen sind.
Zusammenfassung des Kapitels.) Wenn während einer
langen Reihe von Zeit-Perioden und unter veränderten äusseren
Lebens-Bedingungen die organischen Wesen in allen Theilen ih-
rer Organisation abändern, was, wie ich glaube, nicht bestritten
werden kann; wenn ferner wegen ihres Vermögens geometrisch
138
schneller Vermehrung alle Arten in jedem Alter, zu jeder Jah-
reszeit und in jedem Jahr einen ernsten Kampf um ihr Däseyn
zu kämpfen haben, was sicher nicht zu läugnen ist: dann
meine ich im Hinblick auf die unendliche Verwickelung der Be-
ziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den
äusseren Lebens-Bedingungen, welche eine endlose Verschiedenheit
angemessener Organisationen, Konstitutionen und Lebensweisen er-
heischen, dass es ein ganz ausserordentlicher Zufall seyn würde,
wenn nicht jeweils auch eine zu eines jeden Wesens eigner Wohl-
fahrt dienende Abänderung vorkäme, wie deren so viele vorgekom-
men, die dem Menschen vortheilhaft waren. Wenn aber solche für
ein organisches Wesen nützliche Abänderungen wirklich vorkon-
men, so werden sicherlich die dadurch bezeichneten Individuen
die meiste Aussicht haben, den Kampf um’s Daseyn zu bestehen,
und nach dem mächtigen Prinzip der Erblichkeit in ähnlicher
Weise ausgezeichnete Nachkommen zu bilden streben. Diess
Prinzip der Erhaltung habe ich der Kürze wegen Natürliche
Züchtung genannt; es führt‘ zur Vervollkommnung eines jeden
Geschöpfes seinen organischen und unorganischen Lebens-Be-
dingungen gegenüber. Die Natürliche Züchtung kann nach dem
Prinzip der Vererbung einer Eigenschaft in entsprechenden Altern
eben sowohl das Ei und den Saamen oder das Junge wie das
Erwachsene abändern machen. Bei vielen Thieren unterstülzl
geschlechtliche Auswahl noch die gewöhnliche Züchtung, indem
sie den kräftigsten und geeignetesten Männchen die zahlreichste
Nachkommenschaft sichert. Geschlechtliche Auswahl vermag auch
solche Charaktere zu verleihen, welche den künftigen Männchen
allein in ihren Kämpfen mit Männchen von gewöhnlicher Be-
schaffenheit den Sieg verschaffen.
Ob nun aber die Natürliche Züchtung zur Abänderung und
Anpassung der verschiedenen Lebenformen an die mancherlei
äusseren Bedingungen und Stationen wirklich mitgewirkt habe,
muss nach Erwägung des Werthes der in den folgenden Kapiteln
zuliefernden Beweise beurtheilt werden. Doch erkennen wir bereits,
dass dieselbe auch Austilgung verursache, und die Geologie macht
uns klar, in welch‘ ausgedehntem Grade Austilgung bereits in
139
die Geschichte ‚der: organischen: Welt -eingegriffen habe. Auch
führt Natürliche Züchtung zur Divergenz des Charakters ; denn
je mehr Wesen auf einer gegebenen Fläche ihren Unterhalt finden,
desto mehr ändern sie in Organisation, organischer Thätgkeit und
Lebensweise ab, wovon man die Beweise bei Betrachtung der
Bewohner. eines kleinen Land-Flecks oder der naturalisirten Er-
zeugnisse finden kann. Je mehr daher während der Umänderung
der Nachkommen einer Art; und während des beständigen Kampfes
aller. Arten um Vermehrung ihrer Individuen jene Nachkommen
differenzirt ‚werden, desto besser ‘ist.ihre Aussicht auf Erfolg: im
Ringen um’s Daseyn. Auf‘diese Weise streben die kleinen Ver-
schiedenheiten zwischen den Varietäten ‘einer Spezies stets grüs-
ser, zu werden, bis sie den grösseren Verschiedenheiten zwischen
den Arten: einer Sippe: oder. selbst zwischen verschiedenen Sip-
pen. gleich kommen.
Wir haben gesehen, dass es die gemeinen, die weit verbrei-
teten und allerwärts zerstreuten Arten grosser Sippen sind, die
am/meisten abändern, und diese streben auf ihre abgeänderten
Nachkommen dieselbe Überlegenheit zu 'vererben, welche sie
jetzt in ihrer‘ Heimath-Gegend zur herrschenden machen. Natür-
liche Züchtung führt, wie so eben bemerkt worden, zur Diver-
genz (des Charakters und zu starker Austilgung .der.'minder voll-
kommnen und der mitteln Lebenformen. Aus diesen: Prinzipien
lassen sich nach meiner Meinung die Rang-Verschiedenheiten zahl-
loser organischer Wesen in jeder Klasse auf der ganzen Erd-
Oberfläche sowohl als die in der Natur ihrer Verwandtschaften mit
einander erklären. Es ist eine wirklich wunderbare Thatsache, ob-
wohl wir das Wunder aus Vertrautheit damit zu übersehen pflegen,
dass Thiere und Pflanzen zu allen Zeiten und überall so miteinander
verwandt sind, dass sie in Untergruppen abgetheilte Gruppen bilden,
so dass nämlich, wie wir allerwärts erkennen, Varietäten einer Art
einander am nächsten stehen, dass Arten einer Sippe weniger und
ungleiche Verwandtschaft zeigen und Untersippen‘ und Sektionen
bilden, dass Arten verschiedener Sippen 'einander noch weniger
nahe stehen, und dass Sippen mit verschiedenen Verwandtschafts-
Graden zu einander Unterfamilien, Familien, Ordnungen, Unter-
140
klassen und Klassen zusammensetzen. Die verschiedenen einer
Klasse untergeordneten Gruppen können nicht in eine Linie an-
einander gereihet werden, sondern scheinen vielmehr um ge-
wisse Punkte geschaart und diese wieder um andre Mittelpunkte
gesammelt zu seyn, und so weiter in fast endlosen Kreisen,
Aus der Ansicht, dass jede Art ünabhängig von der andern ge.
schaffen worden seye, kann ich keine Erklärung dieser wichtigen
Thatsache in der Klassifikation aller organischen Wesen entneh-
men; sie ist aber nach meiner vollkommensten Überzeugung er-
klärlich aus der Erblichkeit und aus der zusammengesetzten
Wirkungs-Weise der Natürlichen Züchtung, welche Austilgung
der Formen und Divergenz der Charaktere verursacht, wie mit
Hilfe bildlicher Darstellung (zu Seite 121) gezeigt worden ist,
Die Verwandtschaften aller Wesen einer Klasse zu einander
sind manchmal in Form eines grossen Baumes dargestellt wor-
den. Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der Wahrheit. Die
grünen und knospenden Zweige stellen die jetzigen Arten, und
die in jedem vorangehenden Jahre entstandenen die lange Auf-
‚einanderfolge erloschener Arten vor. In jeder Wachsthums-Pe-
riode haben alle wachsenden Zweige nach allen Seiten hinaus
zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwach-
sen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Arten-
Gruppen andre Arten in dem grossen Kampfe um's Daseyn zu
überwältigen suchen, Die grossen in Zweige getheilten und un-
terabgetheilten Äste waren zur Zeit, wo der Stamm noch jung,
selbst knospende Zweige gewesen; und diese Verbindung der
früheren mit den jetzigen Knospen durch unterabgetheilte Zweige
mag ganz wohl die Klassifikation aller erloschenen und lebenden
Arten in Gruppen und Untergruppen darstellen. Von den vielen
Zweigen, die sich entwickelten, als der Baum noch ein Busch ge-
wesen, leben nur noch zwei oder drei, die jetzt als mächtige
Äste alle anderen Verzweigungen abgeben; und so haben
von den Arten, welche in längst vergangenen geologischen
Zeiten gelebt, nur sehr wenige noch ‚lebende und abgeänderte
Nachkommen. Von der ersten Entwickelung eines Stammes an
ist mancher Ast und mancher Zweig. verdürrt und verschwunden,
141
und diese verlorenen Äste von verschiedener Grösse mögen
jene ganzen Ordnungen, Familien und Sippen vorstellen, welche,
uns nur im fossilen Zustande bekannt, keine lebenden Vertreter
mehr haben. Wie wir hier und da einen vereinzelten dünnen
Zweig aus einer Gabel tief unten am Stamme hervorkommen
sehen, welcher durch Zufall begünstigt an seiner Spitze noch
fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Thier, wie Ornithorhyn-
chus oder Lepidosiren, das durch seine Verwandtschaften
'gewissermaassen zwei grosse Zweige der Lebenwelt, ZWi-
schen denen es in der Mitte steht, mit einander verbindet und
vor einer verderblichen Mitwerberschaft offenbar dadurch ge-
rettet worden ist, dass es irgend eine geschützte Station be-
wohnte. Wie Knospen bei ihrer Entwicklung neue Knospen her-
vorbringen und, wie auch diese wieder, wenn sie kräftig sind, nach
allen Seiten ausragen und viele schwächre Zweige überwachsen,
so ist es, wie ich glaube, durch Generation mit dem grossen
Baume des Lebens ergangen, der mit seinen todten und herun-
tergebrochenen Ästen die Erd-Rinde erfüllt, und mit seinen
herrlichen und sich noch immer weiter theilenden Verzweigungen
ihre Oberfläche bekleidet.
Fünftes Kapitel. .
Geseize der Abänderung. -
Wirkungen: äusserer Bedingungen. —' Gebrauch und Nichtgebrauch der Or-
gane in Verbindung mit Natürlicher Züchtung; -+-..Flieg- und Seh-Organe,
— Akklimatisirung. — Wechselbeziehungen des Wachsthums. — Kompen-
sation und Ökonomie der Entwickelung. — Falsche Wechselbeziehungen,
— Vielfache, rudimentäre und wenig entwickelte Organisationen sind ver-
änderlich., — In ungewöhnlicher Weise entwickelte Theile sind sehr ver.
änderlich; — spezifische mehr als Sippen-Charaktere. — Sekundire Ge-
schlechts- Charaktere veränderlich. — Zu einer Sippe gehörige Arten
variiren auf analoge Weise. — Rückkehr zu längst verlornen Charakteren.
— Summarium.
Ich habe bisher von den Abänderungen = die so gemein
und manchfaltig im Kultur-Stande der Organismen und in et-
was minderem: Grade häufig in der freien Natur sind — zu-
weilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall veranlasst
wären. ‚Diess ist aber eine ganz unrichtige Ausdrucks-Weise,
welche nur geeignet ist unsre gänzliche Unwissenheit: über die
Ursache jeder besonderen Abweichung ‘zu beurkunden. Einige
Schriftsteller sehen es mehr als die Aufgabe des Reproduktiv-
Systemes an, individuelle Verschiedenheiten oder ganz leichte
Abweichungen des Baues hervorzubringen, als das Kind den
Ältern gleich zu machen. Aber die viel grössere Veränderlich-
keit sowohl als die viel häufigeren Monstrositäten der der Kul-
tur unterworfenen Organismen leiten mich zur Annahme, dass
Abweichungen der Struktur in irgend einer Weise von der Be-
schatfenheit der äusseren Lebens-Bedingungen, welchen die Äl-
tern und deren Vorfahren mehre Generationen lang ausgesetzt
gewesen sind, abhängen. Ich habe im ersten Kapitel die Bemerkung
gemacht — doch würde ein langes Verzeichniss von Thatsachen,
welches hier nicht gegeben werden kann, dazu nöthig seyn, die
Wahrheit dieser Bemerkung zu beweisen —, dass das Repro-
duktiv-System für Veränderungen in den äussern Lebens-Be-
dingungen äusserst empfindlich ist; daher ich dessen funktionel-
len Störungen in den Ältern hauptsächlich die veränderliche oder
bildsame Beschaffenheit ihrer Nachkommenschaft zuschreibe. Die
143
männlichen und weiblichen Elemente der Organisation scheinen
davon schon berührt zu seyn vor deren Vereinigung zur Bildung
neuer Abkömmlinge der Spezies. Was die Spielpflanzen ($. 15) an-
belangt, so wird die Knospe allein betroffen, die auf ihrer ersten
Entwickelungs-Stufe von einem Ei’chen nicht sehr wesentlich
verschieden ist. ‘Dagegen sind wir in gänzlicher Unwissenheit
darüber, wie es komme, dass durch Störung des Reproduktiv-
Systems dieser oder jener Theil mehr oder weniger als ein
andrer berührt werde. Demungeachtet gelingt es uns hier und
da einen schwachen Lichtstrahl aufzufangen, und wir halten uns
überzeugt, dass es für jede Abänderung irgend eine wenn auch
geringe Ursache geben müsse.
Wie viel unmittelbaren Einfluss Verschiedenheiten in Klima,
Nahrung u. s. w. auf irgend ein Wesen auszuüben vermögen,
ist äusserst zweifelfaft. Ich bin überzeugt, dass bei Thieren die
Wirkung äusserst gering, bei Pflanzen vielleicht etwas grösser
seye. Man kann wenigstens mit Sicherheit sagen, dass diese
Einflüsse nicht die‘ vielen trefflichen und zusammengeseizten
Anpassungen der Organisation eines Wesens ans andre hervor-
gebracht haben können, welche wir in der Natur überall erblicken.
Einige kleine Wirkungen ‘mag: man dem Klima, der Nahrung
u. s. w. zuschreiben, wie z. B. Eowarp Forses: sich mit Bestimmt-
heit darüber ausspricht, dass eine Konchylien-Art in wärmeren
Gegenden und seichtem Wasser glänzendere Farben .als' in’ ihren
kälteren Verbreitungs-Bezirken annehmen kann. Gouıp glaubt,
dass Vögel derselben‘ Art in einer stets heiteren Atmosphäre
glänzender gefärbt sind, als auf einer Insel oder. an- der Küste*.
So glaubt auch Wortaston, dass der Aufenthalt in der Nähe des
Meeres die Farben der Insekten angreife. Mogumn-Tanpon gibt
eine Liste von Pflanzen, welche ‚an der See-Küste mehr und
weniger fleischige Blätter bekommen, wenn sie auch landeinwärls
® Diese Abhängigkeit vom Klimavist denn doch in grosser Ausdehnung
nachgewiesen worden von GLocER in seiner Schrift „über das Abändern der
Vögel durch das Klima“, Breslau 1833, 3°. Von vielen anderen Abän-
derungen sind die äusseren Ursachen zusammengestellt in unserer „Geschichte
der Natur“ I, 68—116. | ‘D. Übers.
144
nicht fleischig sind. Und: so liessen sich noch manche ähnliche
Beispiele anführen. |
Die Thatsache, dass Varietäten einer Art, wenn sie in die
Verbreitungs-Zone einer andern Art hinüberreichen, in geringem
Grade etwas von deren Charakteren annehmen, stimmt mit unsrer
Ansicht überein, dass Spezies aller Art nur ausgeprägtere blei-
bende Varietäten sind. So haben die Konchylien-Arten seichter
tropischer Meeres-Gegenden gewöhnlich glänzendere Farben als
die in tiefen und kalten Gewässern wohnenden. So sind die
Vögel- Arten der Binnenländer nach Govıp lebhafter als die
der Inseln gefärbt. So sind die Insekten-Arten, welche auf die
Küsten beschränkt sind, oft Bronze-artig und trüb von Aussehen
wie jeder Sammler weiss. Pflanzen-Arten, welche nur längs dem
Meere fortkommen, sind sehr oft mit fleischigen Blättern versehen,
Wer an die besondre Erschaffung einer jeden einzelnen Spezies
glaubt, wird daher sagen müssen, dass z. B. diese Konchylien
für ein wärmeres Meer mit glänzenderen Farben geschaffen wor-
den sind, während jene andern die lebhaftere Färbung erst durch
Abänderung angenommen haben, als sie in die seichteren und
wärmeren Gewässer übersiedelten.
Wenn eine Abänderung für ein Wesen von geringstem
Nutzen ist, vermögen wir nicht zu sagen, wie viel davon von der
häufenden Thätigkeit der Natürlichen Züchtung und wie viel von
dem Einfluss äussrer Lebens-Bedingungen herzuleiten ist. $0
ist es den Pelz-Händlern wohl bekannt, dass Thiere einer Arl
um so dichtere und bessere Pelze besitzen, in je kälterem Klima
sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wie viel von
diesem Unterschied davon herrühre, dass die am wärmsien ge-
kleideten Einzelwesen durch Natürliche Züchtung viele Genera-
tionen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wie
viel von dem direkten Einflusse des strengen Klimas? Denn e8
scheint wohl, dass das Klima einige unmittelbare Wirkung auf
die Beschaffenheit des Haares unsrer Hausthiere ausübe.
Man kann Beispiele anführen, dass dieselbe Varietät unter
den aller- verschiedensten Lebens - Bedingungen entstanden isl,
während andrerseits verschiedene Varietäten einer Spezies unter
145
gleichen Bedingungen zum Vorschein kommen *. Diese Thatsachen
zeigen, wie mittelbar die Lebens-Bedingungen wirken. So sind
jedem Naturforscher auch zahllose Beispiele von sich ächt er-
haltenden Arten ohne alle Varietäten bekannt, obwohl dieselben
in den entgegengesetztesten Klimaten leben. Derartige Betrach-
tungen veranlassen mich, nur ein sehr geringes Gewicht auf den
direkten Einfluss der Lebens-Bedingungen zu legen. Indirekt
scheinen sie, wie schon gesagt worden, einen wichtigen Antheil
an der Störung des Reproduktiv-Systemes zu nehmen und hie-
durch Veränderlichkeit herbeizuführen, und Natürliche Züchtung
spart dann alle nützliche wenn auch geringe Abänderung zusammen,
bis solche vollständig entwickelt und für uns wahrnehmbar wird.
Wirkungen von Gebrauch und Nichtgebrauch.)
Die im ersten Kapitel angeführten Thatsachen lassen wenig Zweifel
bei unseren Hausthieren übrig, dass Gebrauch gewisse Theile
stärke und ausdehne und Nichtgebrauch sie schwäche, und dass
solche Abänderungen vererblich sind. In der freien Natur hat
man keinen Maassstab zur Vergleichung der Wirkungen lang
fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die
älterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere
Bildungen an sich, die sich als Folge des Nichtgebrauchs erklären
lassen. Professor R. Owen hat bemerkt, dass es eine grosse
Anomalie in der Natur ist, dass ein Vogel nicht fliegen könne,
und doch sind mehre in dieser Lage. Die Südamerikanische
Dickkopf-Ente kann nur über der Oberfläche des Wassers hin-
flattern und hat Flügel von fast der nämlichen Beschaffenheit wie
die Aylesburyer Hausenten-Rasse. Da die grossen Boden-Vögel
selten zu andren Zwecken fliegen, als um einer Gefahr zu ent-
gehen, so glaube ich, dass die fast ungeflügelte Beschaffenheit
verschiedener Vögel-Arten, welche einige Inseln des Grossen
Ozeans jetzt bewohnen oder einst bewohnt haben, wo sie keine
Verfolgung von Raubthieren zu gewärtigen haben, vom Nichtge-
brauche ihrer Flügel herrührt. Der Strauss bewohnt zwar Kon-
tinente und ist von Gefahren bedroht, denen er nicht durch Flug
So lange man die wahre Ursache dieser Entstehung nicht kennt, hat
Diess nichts Befremdendes. D. Übrs.
10
146
entgehen kann; aber er kann sich selbst durch Ausschlagen mit den
Füssen gegen seine Feinde so gul vertheidigen wie einige der klei-
neren Vierfüsser. Man kann siclı vorstellen, dass der Urvater des
Strausses eine Lebens-Weise etwa wie der Trappe gehabt, und dass
er in Folge Natürlicher Züchtung in einer langen Generationen-Reihe
immer grösser und schwerer geworden seye, seine Beine mehr
und seine Flügel weniger gebraucht habe, bis er endlich ganz
unfähig geworden sey zu fliegen.
Kırey hat bemerkt (und ich habe dieselbe Thatsache. be-
obachtet), dass die Vordertarsen vieler männlichen Kothkäfer
oft abgebrochen sind; er untersuchte siebenzehn Musterstücke
seiner Sammlung, und fand in keinem eine Spur mehr davon.
Onites Apelles hat seine Tarsen so gewöhnlich verloren, dass
man diess Insekt beschrieben, als fehlten sie ihm gänzlich. In
einigen anderen Sippen sind sie nur in verkümmertem Zustande
vorhanden. Dem Ateuchus oder heiligen Käfer der Ägyplier
fehlen sie gänzlich. Doch ist kein genügender Nachweis vor-
handen, dass Verstümmelungen immer erblich seyen, und ich
möchte den gänzlichen Mangel der Vordertarsen des Ateuchus
und ihren verkümmerten Zustand in einigen andern Sippen lieber
der lang-fortgesetzten Wirkung ihres Nichtgebrauches bei deren
Stamm-Vätern zuschreiben; denn da die Tarsen vieler Kothkäfer
meistens fehlen, so müssen sie schon früh im Leben verloren
gehen und können daher bei diesen Insekten nicht viel gebraucht
werden.
In einigen Fällen möchten wir leicht dem Nichtgebrauche
gewisse Abänderungen der Organisation zuschreiben, welche je-
doch gänzlich oder hauptsächlich von Natürlicher Züchtung her-
rühren. Worraston hat die merkwürdige Thatsache entdeckt, dass
von den 550 Käfer-Arten, welche Madeira bewohnen, 200 so
unvollkommene Flügel haben, dass sie nicht fliegen können, und
dass von den 29 der Insel ausschliesslich angehörigen Sippen
nicht weniger als 23 lauter solche Arten enthalten. Manche
Thatsachen, wie unter andern, dass in vielen Theilen der Welt
fliegende Käfer beständig ins Meer gewehet werden und zu
Grunde gehen, dass die Käfer auf Madeira nach Wor1AsToNS
147
Beobachtung meistens verborgen liegen, bis der Wind ruhet und
die Sonne scheint, dass die Zahl der Flügel-losen Käfer an den
ausgesetzten kahlen Felsklippen verhältnissmässig grösser als in
Madeira selbst ist, und zumal die ausserordentliche Thatsache,
worauf Woıraston so beharrlich fusset, dass gewisse grosse
anderwärts sehr zahlreiche Käfer-Gruppen, welche durch ihre
Lebens-Weise viel zu fliegen. genöthigt sind, auf Madeira
gänzlich fehlen, — diese mancherlei Gründe machen mich
glauben, dass die ungeflügelte Beschaffenheit so vieler Käfer
dieser Insel hauptsächlich von Natürlicher Züchtung , doch wahr-
scheinlich in Verbindung mit Nichtgebrauch herrühre. Denn
während tausend aufeinanderfolgender Generationen wird jeder
einzelne Käfer, der am wenigsten fliegt, ‚entweder weil seine
Flügel am wenigsten entwickelt sind oder weil er der indolenteste
ist, die meiste Aussicht haben alle andern zu überleben, weil er
nicht ins Meer gewehet wird; und auf der andern Seite werden
diejenigen Käfer, welche am liebsten fliegen, am öftesten in die
See getrieben und vernichtet werden. |
Diejenigen Insekten auf Madeira dagegen, welche sich nicht
am Boden aufhalten und, wie die an Blumen lebenden Käfer und
Schmetterlinge, von ihren Flügeln gewöhnlich Gebrauch machen
müssen um ihren Unterhalt zu gewinnen, haben nach WortAstons
Vermuthung keinesweges verkümmerte, sondern vielmehr stärker
entwickelte Flügel. Diess ist ganz verträglich mit der Thätigkeit
der Natürlichen Züchtung. Denn, wenn ein neues Insekt zuerst
auf die Insel kommt, wird das Streben der Natürlichen Züchtung
die Flügel zu verkleinern oder zu vergrössern davon abhängen,
ob eine grössre Anzahl von Individuen durch erfolgreiches An-
kämpfen gegen die Winde, oder dureh mehr und weniger häufi-
gen Verzicht auf diesen Versuch sich rettet. Es ist derselbe
Fall wie bei den Matrosen eines in der Nähe der Küste gesiran-
deten Schiffes; für diejenigen, welche gut schwimmen, ist es
um so besser, je besser sie schwimmen könnten um ihr Heil
im Weiterschwimmen zu versuchen, während es für die schlechten
Schwimmer am besten wäre, wenn sie gar nicht schwimmen
könnten und sich daher auf dem ‘Wrack Rettung suchten.
10*
148
Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlenden Nager
sind an Grösse verkümmert und in manchen Fallen ganz von Haut
und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der Augen rührt wahrschein-
lich von fortwährendem Nichtgebrauche her, dessen Wirkung
vielleicht durch Natürliche Züchtung unterstützt wird. Ein Süd-
Amerikanischer Nager, Cienomys, hat eine noch mehr unter-
irdische Lebensweise als der Maulwurf, und ein Spanier, welcher
oft dergleichen gefangen, versicherte mir, dass solcher oft ganz
blind seye; einer, den ich lebend bekommen, war es gewiss und
zwar. wie die Sektion ergab, in Folge einer Entzündung der
Nickhaut. Da häufige Augen-Entzündungen einem jeden Thiere
nachtheilig werden müssen, und da für unterirdische Thiere die
Augen gewiss nicht unentbehrlich sind, so wird eine Ver-
minderung ihrer Grösse, die Verwachsung des Augenlides damit
und die Überziehung derselben mit dem Felle für sie von Nutzen
seyn; und wenn Diess der Fall, so wird Natürliche Züchtung
die Wirkung des Nichtgebrauches beständig unterstützen.
Es ist wohl bekannt, dass mehre Thiere aus den verschie-
densten Klassen, welche die Höhlen in Steyermark und Kentucky
bewohnen, blind sind. In einigen Krabben ist der Augen-Stiel
noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist: das Teleskopen-
Gestell ist geblieben, obwohl das Teleskop mit seinem Glase fehlt.
Da nicht wohl anzunehmen, dass Augen, wenn auch unnütz, den
in Dunkelheit lebenden Thieren schädlich werden sollten, so
schreibe ich ihren Verlust gänzlich auf Rechnung des Nichtge-
brauchs. Bei einem der blinden Thiere insbesondre, bei der
Höhlen -Ratte, haben die Augen eine ungeheure Grösse; und
Professor Sıruıman war der Meinung, dass dasselbe, nachdem.es
einige Tage im Licht gelebt, ein schwaches Sche-Vermögen wie-
der erlange. Wie auf Madeira die Flügel einiger Insekten durch
Natürliche Züchtung, von Gebrauch und Nichtgebrauch unterstüzt,
allmählich theils vergrössert und theils verkleinert wurden, .
so scheint dieselbe Züchtung bei der Höhlen -Ratte mit dem
Mangel des Lichtes gekämpft und die Augen vergrössert ZU
haben, während bei allen anderen blinden Höhlen - Bewohnern
Nichtgebrauch allein gewirkt haben mag.
149
Es ist schwer sich ähnlichere Lebens - Bedingungen vorzu-
stellen, als tiefe Kalkstein-Höhlen in nahezu ähnlichem Klima, so
dass, wenn man von der gewöhnlichen Ansicht ausgeht, dass die
blinden Thiere für die Amerikanischen und für die Europäischen
Höhlen besonders erschaffen worden seyen, auch eine grosse Ähn-
lichkeit derselben in Organisation und Verwandtschaft zu erwarten
stünde. Diese findetaber nach Scniöpre’s u. A. Beobachtung nicht statt;
und die Höhlen-Insekten der zwei Kontinente sind nicht näher
mit einander verwandt, als sich schon nach der grossen Ähnlich-
keit zwischen den andern Bewohnern: Nord- Amerikas und Europas
erwarten lässt. Nach meiner Meinung muss man annehmen, dass
Amerikanische Thiere mit gewöhnlichem Sehe-Vermögen in nach-
einanderfolgenden Generationen immer tiefer und tiefer in die
entferntesten Schlupfwinkel der Kentucky schen Höhle eingedrungen
sind, wie es Europäische in den Höhlen von Steyermark gethan.
Und wir haben einigen Beweis für diese stufenweise Veränderung
des Aufenthalts; denn Scmöpre bemerkt: Wir betrachten dem-
nach diese unterirdischen Faunen als kleine in die Erde ein-
sedrungene Abzweigungen der geographisch - begrenzten Faunen
der nächsten Umgegenden, welche in dem Grade, als sie sich
weiter in die Dunkelheit ausbreiteten, an die sie umgebenden
Verhältnisse gewöhnt wurden; Thiere, von gewöhnlichen Formen
nicht sehr entfernt, bereiten den Übergang vom Tage zur Dunkel-
heit vor; dann folgen die fürs Zwielicht gebildeten und endlich
die fürs gänzliche Dunkel bestimmten. Während der Zeit, in
welcher ein Thier nach ‘zahllosen Generationen die hintersten
Theile der Höhle erreicht, wird hiernach Nichtgebrauch die Augen
mehr oder weniger vollständig unterdrückt und Natürliche Züch-
tung oft andre Veränderungen erwirkt haben, die, wie verlängerte
Fühler und Fressspitzen, einigermaz das Gesicht ersetzen.
Ungeachtet dieser Modifikationen werden wir erwarten, noch
Verwandtschaften der Höhlen-Thiere Amerikas mit den anderen
Bewohnern dieses Kontinents, und der Höhlen-Bewohner Europas
mit den übrigen Europäischen Thieren zu sehen. Und Diess ist
bei einigen Amerikanischen Höhlen-Thieren der Fall, wie ich von
Professor Dana höre; und einige Europäische Höhlen -Insekten
DS
150
stehen manchen in der Umgegend der Höhle wohnenden Arten
ganz nahe. Es dürfte sehr schwer seyn, eine vernünftige Er-
klärung von der Verwandtschaft der blinden Höhlen - Thiere mit
den andern Bewohnern der beiden Kontinente aus dem gewöhn-
lichen Gesichtspunkte einer unabhängigen Erschaffung zu geben,
Dass einige von den Höhlen-Bewohnern der Alten und der Neuen
Welt in naher Beziehung zu einander stehen, lässt sich aus den
wohl-bekannten Verwandtschafts-Verhältnissen ihrer meisten übri-
gen Erzeugnisse zu einander erwarten. Zwar gehören einige
der den Höhlen beider. Hemisphären gemeinsamen Insekten zu
solchen Sippen, welche bis jetzt allerdings nur in Höhlen gefunden
worden, aber früher wohl eine weite oberflächliche Verbreitung
gehabt haben mögen. Blinde Arten der Sippe Adelops wohnen
jetzt in Höhlen und werden ausser denselben an dunkeln Orten
unter Moos u. s. w. gefunden. Ferne davon mich darüber zu
. wundern, dass einige der Höhlen-Thiere von sehr anomaler Be-
schaffenheit sind, wie Asassız von dem blinden Fische Amblyopsis
in Amerika bemerkt, und wie es mit dem blinden Reptile Proteus
in Europa der Fall ist, bin ich vielmehr erstaunt, dass sich darin
nicht mehr Wracks der alten Lebenformen erhalten haben, da
solche in diesen dunkeln Abgründen wohl einer minder strengen
Mitbewerbung ausgesetzt gewesen seyn würden *. |
Akklimatisirung.) Gewohnheit ist bei Pflanzen erblich
in Bezug auf Blüthe-Zeit, nöthige Regen-Menge für den Keimungs-
Prozess, Schlaf u. s. w., und Diess veranlasst mich hier noch
Einiges über Akklimatisirung zu sagen. Es ist sehr gewöhnlich,
dass Arten von einerlei Sippe sehr heisse sowie sehr kalte
Gegenden bewohnen; und da ich glaube, dass alle Arten einer
Sippe von einem gemeinsamen Urvater abstammen, so muss, wenn
Diess richtig, Akklimatisirung während einer langen Fortpflanzung
leicht bewirkt werden können. Es ist bekannt, dass jede Art
dem Klima ihrer eignen Heimath angepasst ist; Arten einer
arktischen oder auch nur einer gemässigten Gegend können in
* Ein vollständiges Verzeichniss der Bewohner dunkler Höhlen hat
EHRENBERG zusammengetragen in den Monats Berichten der Berliner Aka-
demie 1859, 758 ff. | D. Übs.
151
einem tropischen Klima nicht ausdauern, u. u. So können auch
manche Fettpflanzen nicht in feuchtem Klima fortkommen. Doch
‘st der Grad der Anpassung der Arten an das Klima, worin sie
leben, oft überschätzt worden. Wir können Diess schon aus
unsrer oftmaligen Unfähigkeit vorauszusagen, ob eine eingeführte
Pflanze unser Klima ausdauren werde oder nicht, so wie aus der groSs-
sen Anzahl von Pflanzen und Thieren entnehmen, welche aus wär-
merem Klima zu uns verpflanzt hier ganz wohl gedeihen. Wir
haben Grund anzunehmen, dass im Natur- Stande Arten durch
die Mitbewerbung andrer organischer Wesen eben so sehr oder
noch stärker in ihrer Verbreitung beschränkt werden, als durch ihre
Anpassung an besondre Klimate. Mag aber die Anpassung im Allge-
meinen eine sehr genaue seyn oder nicht: wir haben bei einigen
wenigen Pflanzen-Arten Beweise, dass dieselben schon von der
Natur in gewissem Grade an ungleiche Temperaturen gewöhnt
oder akklimatisirt werden. So zeigen die von Dr. Hooker aus Saamen
von verschiedenen Höhen des Himalaya erzogenen Pinus- und
Rhododendron-Arten auch ein verschiedenes Vermögen der Kälte
zu widerstehen. Herr Twaıres berichtet mir, dass er ähnliche
Thatsachen auf Ceylon beobachtet habe, und Herr H. C. Warson
hat ähnliche Erfahrungen mit Pflanzen gemacht, die von den
Azoren nach England gebracht worden sind. In Bezug auf Thiere
liessen sich manche wohl beglaubigte Fälle anführen, dass Arten
derselben binnen geschichtlicher Zeit ihre Verbreitung weit aus
wärmeren nach kälteren Zonen oder umgekehrt ausgedehnt haben;
jedoch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob diese Thiere einst
ihrem heimathlichen Klima enge angepasst gewesen, obwohl wir
Diess in allen gewöhnlichen Fällen voraussetzen, — und ob dem-
zufolge sie erst einer Akklimatisirung in ihrer neuen Heimath
bedurft haben, oder nicht.
Da ich glaube, dass unsre Hausthiere ursprünglich von noch
unzivilisirten Menschen gezähmt worden sind, weil sie ihnen
nützlich und in der Gefangenschaft leicht fortzupflanzen waren,
und nicht wegen. ihrer erst später erkundeten Tauglichkeit zu
weit ausgedehnter Verpflanzung. so kann nach meiner Meinung
das gewöhnlich ausserordentliche Vermögen unsrer Hausthiere
152
die verschiedensten Klimate auszuhalten und sich darin (ein viel
gewichtigeres Zeugniss) fortzupflanzen, zur Schlussfolgerung
dienen, dass auch eine verhältnissmässig grosse Anzahl andrer
Thiere, die sich jetzt noch im Natur - Zustande befinden, leicht
dazu gebracht werden könnte, sehr verschiedene Klimate zu er-
tragen. Wir dürfen jedoch die vorangehende Folgerung nicht
zu weit treiben, weil einige unsrer Hausthiere von verschiedenen
wilden Stämmen herrühren können, wie z. B. in unsren Haus-
hund- Rassen das: Blut eines tropischen und eines arktischen
Wolfes oder wilden Hundes gemischt seyn könnte. Ratten und
Mäuse dürfen nicht als Hausthiere angesehen werden; und doch
sind sie vom Menschen in viele Theile der Welt übergeführt
worden und besitzen jetzt eine weitre Verbreitung als irgend
ein andres Nagethier, indem , sie frei unter.dem kalten Himmel
der Faröer im Norden und der Falklands-Inseln im Süden, wie
auf vielen Inseln der Tropen-Zone leben. Daher ich geneigt
bin, die Anpassung an ein besondres Klima als eine leicht auf
eine angeborene weite Biegsamkeit der Konstitution, welche den
meisten Thieren eigen ist, gepropfte Eigenschaft zu betrachten,
Dieser Ansicht zu Folge hat man die Fähigkeit des Menschen
und seiner meisten Hausthiere die verschiedensten Klimate zu
ertragen und solche Thatsachen, wie das Vorkommen einstiger
Elephanten- und Rhinozeros-Arten in einem Eis-Klima, während
deren jetzt lebenden Arten alle eine tropische oder subtropische
Heimath haben, nicht als Gesetzwidrigkeiten zu betrachten, son-
dern lediglich als Beispiele einer sehr gewöhnlichen Biegsamkeit
der Konstitution anzusehen, welche nur unter besondern Umstän-
den mehr zur Geltung gelangt ist.
Wie viel von der Akklimatisirung der Arten an ein besondres
Klima bloss Gewohnheits-Sache seye, wie viel von der Natürlichen
Züchtung von Varietäten mit verschiedenen Körper-Verlassungen
abhänge, oder wie weit beide Ursachen zusammenwirken, ist
eine sehr schwierige Frage. Dass Gewohnheit und Übung einigen
Einfluss habe, will ich sowohl nach der Analogie als nach den unun-
terbrochenen Warnungen wohl glauben, welche in unsern landwirth-
schaftlichen Werken und selbst in alten Chinesischen Eneyclo-
153
pädien enthalten sind, recht vorsichtig bei Versetzung von Thieren
aus einer Gegend in die andre zu seyn. Denn es ist nicht
wahrscheinlich, dass man durch Züchtung so viele Rassen und
Unterrassen mit eben so vielen verschiedenen Gegenden ange-
passten Konstitutionen gebildet habe; das Ergebniss rührt viel-
mehr von Gewöhnung her. Andrerseits sehe ich auch keinen
Grund zu zweifeln, dass Natürliche Züchtung beständig diejenigen
kadivilwen zu erhalten strebe, welche mit den für ihre Heimath-
Gegenden am besten geeigneten Körper - Verfassungen geboren
sind.‘ In Schriften über verschiedene Sorten kultivirter Pflanzen
heisst es von gewissen Varietäten, dass sie dieses oder jenes
Klima besser als andre vertragen. Diess ergibt sich sehr schla-
gend aus den in den Vereinien Staaten erschienenen Werken
über Obstbaum-Zucht, worin gewöhnlich diese Varietäten für die
nördlichen und jene für die südlichen Staaten empfohlen werden;
und da die meisten dieser Abarten noch neuen Ursprungs sind,
so kann man die Verschiedenheit ihrer 'Konstitutionen in dieser
Beziehung nicht der Gewöhnung zuschreiben. Man hat die
Jerusalem-Artischoke, welche sich nicht aus Saamen fortpflanzt
und daher niemals neue Varietäten geliefert hat, angeführt als
Beweis, dass es nicht möglich seye eine Akklimatisirung zu
bewirken, weil sie noch immer so empfindlich seye, wie sie
jederzeit gewesen; zu gleichem Zwecke hat man sich oft auf
die Schminkbohne, und zwar mit viel grösserem Nachdrucke berulen.
So lange aber, als nicht jemand einige Dutzend Generationen
hindurch seine Schminkbohnen so frühzeitig aussäet, dass ein
sehr grosser Theil derselben durch Frost zerstört wird, und
dann, mit der gehörigen Vorsicht zur Vermeidung von Kreutzun-
gen, seine Saamen von den wenigen überlebenden Stöcken nimmt
und von deren Sämlingen mit gleicher Vorsicht abermals seine
Saamen erzieht, so lange wird man nicht sagen können, dass der
Versuch angestellt worden seye, Auch kann man nicht unter-
stellen, dass nicht zuweilen Verschiedenheiten in der Kon-
stitution dieser verschiedenen Bohnen-Sämlinge zum Vorschein
kommen; denn es ist bereits-ein Bericht darüber erschienen, wie
viel härter ein Theil dieser Sämlinge gegenüber den andern seye.
154
Im Ganzen kann man, glaube ich, schliessen, dass Gewöh-
nung, Gebrauch und Nichtgebrouch in manchen Fällen einen
beträchtlichen Einfluss auf die Anderung der Konstitution und
den Bau verschiedener Organe ausgeübt haben; dass jedoch diese
Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs oft in ansehn-
lichem Grade vermehrt und mitunter noch überboten worden sind
durch Natürliche Züchtung mittelst angeborner Abänderungen.
WechselbeZiehungen der Bildung.) — Ich will mit
diesem Ausdrucke sagen, dass die ganze Organisation der natür-
lichen Wesen so unter sich verkettet ist, dass, wenn während
der Entwickelung und dem Wachsthum des einen Theiles eine
geringe Abänderung erfolgt und von der Natürlichen Züchtung
gehäuft wird, auch andre Theile geändert werden müssen. Diess
ist ein sehr wichtiger Punkt, aber noch wenig begriffen. Der
gewöhnlichste Fall ist der, dass Abänderungen, welche nur zum
Nutzen der Larve oder des Jungen gehäuft werden, zweilels-
ohne auch die Organisation des Erwachsenen berühren; ebenso
wie eine Missbildung, welche den frühesten Embryo betrifft,
auch die ganze Organisation des Alten ernstlich berühren wird,
Die mehrzähligen homologen und in der frühesten Embryo-Zeit
einander noch ähnlichen Theile des Körpers scheinen in ver-
wandter Weise zu variiren geneigt; daher die rechte und linke
Seite des Körpers in gleicher Weise abzuändern pflegen, die vor-
deren Gliedmaassen in gleicher Weise wie die hintern, und
sogar in gleicher Weise wie die Kinnladen, da man ja den
Unterkiefer für ein Homologon der Gliedmaassen hält. Diese
Neigungen können, wie ich nicht bezweifle, durch Natürliche
Züchtung mehr und weniger beherrscht werden; so hat es früher
eine Hirsch-Familie mit einem Augsprossen nur an einem Ge-
weihe gegeben, und wäre diese Eigenheit von irgend einem
grösseren Nutzen gewesen, SO würde sie durch Natürliche
Züchtung vermuthlich bleibend geworden seyn.
Homologe Theile streben, wie einige Autoren bemerkt
haben, zusammenzuhängen, man sieht Diess oft in monströsen
Pflanzen; und nichts ist gewöhnlicher als die Vereinigung
homologer Theile zu normalen Bildungen, wie z. B. die Vereinl-
& fi,
N
ey
+
155
gung der Kronen-Blätter zu einer Röhre”. Harte Theile scheinen
auf die Form anliegender weicher einzuwirken, ‚und einige Au-
toren sind der Meinung, dass die Verschiedenheit in der Form
des Beckens der Vögel den merkwürdigen Unterschied in der
Form ihrer Nieren verursache. Andere glauben, dass beim Men-
schen die Gestalt des Beckens der Mutter durch Druck auf die Schä-
del-Form des Kindes wirke**. ‚Bei Schlangen bedingen nach
SchtEsEL die Form des Körpers und die Art des Schlingens die
Lage einiger der wichtigsten Eingeweide. Die Beschaffenheit
des Bandes der Wechselbeziehung ist sehr oft ganz dunkel.
IsınorE GEOFFROY Saınt-Hiraıme hat auf nachdrückliche Weise her-
vorgehoben, dass gewisse Missbildungen sehr häufig und andre sehr
selten zusammen vorkommen, ohne dass wir den Grund anzu-
geben vermöchten. Was kann eigenthümlicher seyn, als die Be-
ziehung zwischen den blauen Augen und der Taubheit der Katzen,
oder die der Farbe des Panzers mit dem weiblichen Geschlechte
der Schildkröten; die Beziehung zwischen den gefiederten Füssen
und der Spannhaut zwischen den äusseren Zehen der Tauben,
oder die zwischen der Anwesenheit von mehr oder weniger
Flaum an den eben ausschlüpfenden Vögeln mit der künftigen
Farbe ihres Gefieders; oder endlich zwischen Behaarung und
Zahn-Bildung des nackten Türkischen Hundes, obschon hier wohl
Homologie mit ins Spiel kommt. Mit Bezug auf diesen letzten
Fall von Wechselbeziehung scheint es mir kaum zufällig zu seyn,
dass diejenigen zwei Säugethier-Ordnungen, welche am abnorm-
sten in ihrer Bekleidung, auch am abweichendsten in der Zahn-
Bildung sind; nämlich die Cetaceen (Wale) und die Edentaten
(Schuppenthiere, Gürtelthiere u. s. w.).
Ich kenne keinen Fall, der besser geeignet wäre, die Wesen-
* Weit gewöhnlicher ist gewiss das Streben homologer Theile sich sowie
andre mit fortschreitender Entwickelung selbstständiger zu differenziren, es
seye denn, dass jenes Streben unter sich zusammenzuhängen eine Differenzi-
rung von heterologen Theilen bewirke, wie eben in Blumen. D. Übrs.
‚ ** Dieses ist nur bei solchen weichen Theilen denkbar, welche sich nach
den ihnen anliegenden harten bilden, die ihrerseits selbst aus weichen her-
vorgehen. Der Schädel modelt nicht das werdende Gehirn, sondern dieses
den Schädel ! D. Übrs,
156
heit der Gesetze der Wechselbeziehung bei Abänderung wich- .
tiger Gebilde unabhängig von deren Nützlichkeit und somit auch
von der Natürlichen Züchtung darzuthun, als es die Verschie-
denheit der äussern und innern Blüthen im Blüthenstande
einiger Compositiflorae und Umbelliferae ist. Jedermann kennt den
Unterschied zwischen den mitteln und den Rand-Blüthen z. B,
des Gänseblümchens (Bellis), und diese Verschiedenheit ist oft
verbunden mit der Verkümmerung ein zelner Blumen-Theile. Aber
in einigen Compositifloren unterscheiden sieh auch die Früchte
der beiderlei Blüthen in Grösse und Skulptur, und selbst die
Ovarien mit einigen Nebentheilen weichen ab, wie Cassını nach-
gewiesen. Diese Unterschiede sind von einigen Botanikern dem
Druck zugeschrieben worden, und die Frucht-Formen in den
Strahlen-Blumen der Compositifloren unterstützen diese Ansicht;
keineswegs aber trifft es bei den Umbelliferen zu, dass die
Arten mit den dichtesten Umbellen die grösste Verschiedenheit
zwischen den inneren und äusseren Blüthen wahrnehmen liessen.
Man hätte denken können, dass die stärkere Entwickelung der
im Rande des Blüthenstandes befindlichen Kronenblätter die Ver-
kümmerung andrer Blüthen-Theile veranlasst habe, indem sie
ihnen Nahrung entzogen; aber bei einigen Compositifloren zeigt
sich ein Unterschied in der Grösse der Früchte der innern
und der Strahlen-Blüthen, ohne vorgängige Verschiedenheit der
Krone. Möglich, dass. diese mancherlei Unterschiede mit irgend
einem Unterschied e in dem Zufluss der Säfte zu den mittel- und
den Rand-ständigen Blüthen zusammenhängt; wir wissen wenig-
stens, dass bei unregelmässig geformten Blüthen die der Achse
zunächst stehenden am öftesten der Peloria-Bildung unterworfen
sind und regelmässig werden. Ich will als Beispiel dieses und
zugleich als treffenden Fall von Wechselbeziehung der Ent-
wickelung anführen, wie ich kürzlich in einigen Garten-Pelargo-
nien beobachtet, dass die mitteln Blüthen der Dolde oft die dunk-
leren Flecken an den zwei oberen Kronenblättern verlieren und
dass, wenn Diess der Fall, das anhängende Nectarium gänzlich
verkümmert; fehlt der Fleck nur an einem der zwei oberen
Kronenblätter, so wird das Nectarium nur stark verkürzl.
157
Hinsichtlich der Verschiedenheiten der Blumenkronen der
mitteln und randlichen Blumen einer Dolde oder eines Blüthen-
köpfehens, so halte ich C. C. Sprexser's Einfall, dass die Strah-
len-Blumen zur Anziehung der Insekten bestimmt seyen, deren
Bewegungen die Befruchtung der Pflanzen jener zwei Ord-
nungen befördere, nicht für so weit hergeholt, als er
beim ersten Blick sckeinen mag; und wenn es wirklich von
Nutzen, so kann Natürliche Züchtung mit in Betracht kommen,
Dagegen scheint es kaum möglich, dass die Verschiedenheit zwi-
schen dem Bau der äusseren und der inneren Früchte, welche
in keiner Wechselbeziehung mit irgend einer verschiedenen Bil-
dung der Blüthen steht, irgend wie den Pflanzen von Nutzen
seyn kann. Jedoch erscheinen bei den Dolden-Pflanzen die
Unterschiede von so auflallender Wichtigkeit (da in mehren
Fällen nach Tausch die Früchte der äusseren Blüthen orthosperm
und die der mittelständigen cölosperm sind), dass der ältere
DeCanporze seine Hauptabtheilungen in dieser Pflanzen-Ordnung
auf analoge Verschiedenheiten gründete. Wir sehen daher, dass
Abänderungen der Struktur von gänzlich unbekannten Gesetzen
in den Wechselbeziehungen der Entwickelung bedingt seyn kön-
nen, und zwar ohne selbst den geringsten erkennbaren Vortheil
für die Spezies darzubieten. |
Wir mögen irriger Weise den Wechselbeziehungen der Eit-
wickelung oft solche Bildungen zuschreiben, welche ganzen
Arten-Gruppen gemein sind, aber in Wahrheit ganz einfach von
Erblichkeit abhängen. Denn ein alter Stamm-Vater z. B. mag
durch Natürliche Züchtung irgend eine Eigenthümlichkeit seiner
Struktur und nach tausend Generationen irgend eine andre davon
unabhängige Abänderung erlangt haben, und wenn dann beide
Modifikationen mit einander auf eine ganze Gruppe von Nachkom-
men mit verschiedener Lebensweise übertragen worden sind, so
wird man natürlich glauben, sie stünden in einer nothwendigen
Wechselbeziehung mit einander. So zweifle ich auch nicht daran,
dass einige anscheinende Wechselbeziehungen, welche in ganzen
Ordnungen des Systemes vorkommen, lediglich nur von der mög-
lichen Wirkungs-Weise der Züchtung bedingt sind. Wenn z. B.
<q ar a ann
158
Aıruons DeCanpoıLE bemerkt, dass geflügelte 'Saamen nie in
Früchten vorkommen, die sich nicht öffnen, so möchte ich diese
Regel durch die Thatsache erklären, dass Saamen nicht durch
Natürliche Züchtung allmählich beflügelt werden können, ausser
in Früchten, die sich öffnen; so dass individuelle Pflanzen mit
Saamen, welche etwas beflügelt und daher mehr zur weiten Fort-
führung geeignet sind, vor andern schlecht.beflügelten hinsichtlich
ihrer Aussicht auf Erhaltung im Vortheil sind, und dieser Vor-
gang kann nicht wohl mit solehen Früchten vorkommen, welche
nicht aufspringen.
Der ältre Grorrroy und Görue haben ihr Gesetz von der
Compensation der Entwickelung fast ‘gleichzeitig aufgestellt, wor-
nach, wie-Görne sich ausdrückt, die Natur genöthigt ist auf der
einen Seite zu ersparen, was sie auf der andern mehr gibt,
Diess passt in gewisser Ausdehnung, wie mir scheint, ganz gul
auf unsre Kultur-Erzeugnisse: denn wenn einem Theile oder
Organe Nahrung in Überfluss zuströmt, so kann sie nicht, oder
wenigstens nicht in Überfluss, auch einem andern zu Theil wer-
den, daher man eine Kuh z. B. nicht zwingen kann, viel Milch
zu geben und zugleich fett zu werden. Ein und dieselbe Kohl-
Varietät kann nicht eine reichliche Menge nahrhafter Blätter und
zugleich einen guten Ertrag von Öl-Saamen liefern. Wenn in
unsrem Obste die Saamen verkümmern, gewinnt die Frucht selbst
an Grösse und Güte. Bei unseren Hühnern ist einer grossen
Federhaube auf dem Kopfe gewöhnlich ein kleinerer Kamm bei-
gesellt, und ist ein grosser Feder-Bart mit kleinen Bartlappen
verbunden. : Dagegen ist kaum anzunehmen, dass dieses Gesetz
auch auf Arten im Natur-Zustande allgemein anwendbar seye,
obwohl viele gute Beobachter und namentlich Botaniker an seine
Wahrheit glauben. Ich will jedoch hier keine Beispiele anführen;
denn ich kann schwer ein Mittel finden zu unterscheiden
einerseits zwischen der durch Natürliche Züchtung bewirkten au-
sehnlichen Vergrösserung eines Theiles und der durch gleiche
Ursache oder durch Nichtgebrauch veranlassten Verminderung
eines anderen nahe dabei befindlichen Organes, und anderseits
der Verkümmerung eines Organes durch Nahrungs-Einbusse iD
159
/
Folge excessiver Entwickelung eines anderen nahe dabei befind-
lichen Theiles.
Ich vermuthe auch, dass einige der Fälle, die man als Be-
weise der Compensalion vorgebracht, sich mit einigen anderen
Thatsachen unter ein allgemeineres Prinzip zusammenfassen lassen,
das Prinzip nämlich, dass Natürliche Züchtung fortwährend bestrebt
ist, in jedem Theile der Organisation zu sparen. Wenn unter
veränderten Lebens-Verhältnissen eine bisher nützliche Vorrich-
tung weniger nützlich wird, so dürfte wohl eine wenn gleich
nur unbedeutende Verminderung ihrer Grösse durch die Natür-
liche Züchtung erstrebt werden, indem es für das Individuum ja
vortheilhaft ist, wenn es seine Säfte nicht zur Ausbildung nutz-
loser Organe verschwendet. Nur auf diese Weise kann ich eine
Thatsache begreiflich finden, welche mich, als ich mit der Unter-
suchung über die Cirripeden beschäftigt war, überraschte, nämlich
dass, wenn ein Cirripede in anderen Organismen als Schmarotzer
lebt und daher geschützt ist, er mehr oder weniger seine eigene
Kalk-Schaale verliert. Diess ist mit dem Männchen von Ibla und
in ausserordentlich hohem Grade mit Proteolepas der Fall; denn
während der Panzer aller anderen Cirripeden aus den drei hoch-
wichtigen Vordersegmenten des ungeheuer entwickelten Kopfes
besteht und mit starken Nerven und Muskeln versehen ist,
erscheint an dem parasitischen und geschützten Proteolepas der
ganze Vordertheil des Kopfes als ein blosses an die Basen der
Rankenfüsse befestigtes Rudiment. Nun dürfte die Ersparung
eines grossen und zusammengesetzten Gebildes, wenn es, wie
hier durch die parasitische Lebens-Weise des Proteolepas, über-
flüssig wird, obgleich nur stufenweise voranschreitend, ein
entschiedener Vortheil für jedes spätere Individuum der Spezies
seyn, weil im Kampfe ums Daseyn, welchen das Thier zu
kämpfen hat, jeder einzelne Proteolepas um so mehr Aussicht
sich zu behaupten erlangt, je weniger Nahrstoff zur Entwickelung
eines nutzlos gewordenen ÖOrganes verloren geht.
Darnach, glaube ich, wird es der Natürlichen Züchtung in
die Länge immer gelingen, jeden Theil der Organisation zu ver-
ringern und zu ersparen, sobald er überflüssig geworden ist,
160
ohne desshalb gerade einen anderen Theil in entsprechendem i
Grade stärker auszubilden. Und eben so dürfte sie, umgekehrt, |
vollkommen im Stande sein ein Organ stärker auszubilden, ohne
die Verminderung eines anderen benachbarten Theiles als noth-
wendige Compensation zu verlangen. |
Nach Isınorz GEOFFRoOY Saınt-Hiraıres Wahrnehmung scheint
es bei Varietäten wie bei Arten Regel zu seyn, dass, wenn ein
Theil oder ein Organ oftmals im Baue eines Individuums vor-
kommt, wie der Wirbel in den Schlangen und die Staubgefässe
in den polyandrischen Blüthen, dessen Zahl veränderlich wird,
während die Zahl desselben Organes oder Theiles beständig
bleibt, falls er sich weniger oft wiederholen muss. - Derselbe
Zoologe sowie einige Botaniker haben ferner die Bemerkung ge-
macht, dass sehr vielzählige Theile auch grösseren Veränderun-
gen im inneren Bau ausgesetzt sind. Zumal nun diese vege-
tativen Wiederholungen, wie R. Owen sie nennt, ein Anzeigen nied-
riger Organisation sind, so scheint die vorangehende Bemerkung
mit der. sehr allgemeinen Ansicht der Naturforscher zusammen-
zuhängen, dass solche Wesen, welche tief auf der Stufenleiter
der Natur stehen, veränderlicher als die höheren sind. Ich ver-
stehe unter tiefer Organisation in diesem Falle eine geringe Dil- |
ferenzirung der Organe für verschiedene besondere Verrichtun-
gen; denn solange ein und dasselbe Organ verschiedene Arbeiten
zu verrichten hat, lässt sich ein Grund für seine Veränderlich-
keit vielleicht darin finden, dass Natürliche Züchtung jede kleine
Abweichung der Form weniger sorgfältig erhält oder unterdrückt,
als wenn dasselbe Organ nur zu einem besondern Zweck allein
bestimmt wäre. So mögen Messer, welche allerlei Dinge zu
schneiden bestimmt sind, im Ganzen so ziemlich von einerlei Form
seyn, während ein nur zu einerlei Gebrauch bestimmtes Werk-
zeug für jeden andern Gebrauch auch eine andere Form haben
muss. | |
a Auch unvollkommen ausgebildete, rudimentäre Organe sind
Mh der Bemerkung einiger Schriftsteller, die mir richtig Zu
seyn scheint, sehr zur Veränderlichkeit geneigt. Ich verweise
in dieser Hinsicht auf die Erörterung der rudimentären und abo
161
tiven Organe im Allgemeinen und will hier nur beifügen, dass
ihre Veränderlichkeit durch ihre Gebrauchlosigkeit bedingt zu
seyn scheint, indem in diesem Falle Natürliche Züchtung nichts
vermag, um Abweichungen ihres Baues zu verhindern. Daher
rudimentäre Theile dem freien Einfluss der verschiedenen Wachs-
thums - Gesetze, den Wirkungen lange Tfortgesetzten Nichtge-
brauchs und dem Streben zur Rückkehr preisgegeben sind.
Ein in ausserordentlicher Stärke oder Weise in
irgend einer Spezies entwickelter Theil hat, in Ver-
gleich mit demselben Theile in anderen Arten, eine
grosse Neigung zur Veränderlichkeit.) — Vor einigen
Jahren wurde ich durch eine ähnliche von WATErRHoUsE veröffent-
lichte Äusserung überrascht. Auch schliesse ich aus einer Be-
merkung des Professors R. Owen über die Länge der Arme des
Orang-Utang, dass er zur nämlichen Ansicht gelangt seye. Es
ist keine Hoffnung vorhanden, jemanden von der Wahrheit
dieser Behauptung zu überzeugen, ohne die Aufzählung der
langen Reihe von Thatsachen, die ich gesammelt, aber hier
nicht mittheilen kann. Ich vermag nur meine Überzeugung aus-
zusprechen, dass es eine sehr allgemeine Regel ist. Ich kenne
zwar mehre Ursachen, welche zu Irrthum in dieser Hinsicht Ver-
anlassung geben können, hoffe aber sie genügend berücksichtigt
zu haben. Vor Allem ist zu bemerken, dass diese Regel auf
keinen wenn auch an sich noch so ungewöhnlich entwickelten
Theil Anwendung finden soll, woferne er nicht auch ‘demselben
Theile bei nahe verwandten Arten gegenüber ungewöhnlich aus-
gebildet ist. So abnorm daher auch die Flügel-Bildung der Fleder-
mäuse in der Klasse der Säugethiere ist, so bezieht sich doch
jene Regel nicht darauf, weil diese Bildung einer ganzen Ord-
nung zukommt; sie würde nur anwendbar seyn, wenn die Flügel
einer Fledermaus - Art in merkwürdigem Verhältnisse gegen die
Flügel andrer Arten derselben Sippe vergrössert wären. Diese
Regel entspricht sehr gut den ungewöhnlich verwickelten »sekun-
dären Sexual-Charaktern«, mit welchem Ausdrucke Hunter die-
diejenigen Merkmale bezeichnete, welche nur dem Männchen
oder dem Weibchen allein zukommen, aber mit dem Fortpflan-
11
162
zungs- Akte nicht in ‚unmittelbarem Zusammenhang stehen. Die
Regel findet sowohl auf Männchen wie auf Weibchen Anwendung,
doch: mehr auf die ersten ‚'' weil: auffallende ‚Charaktere dieser
Art bei Weibchen überhaupt selten sind. Die vollkommene An-
wendbarkeit der Regel auf (diese letzten Fälle ‚dürfte mit‘'der
grossen und nicht zu bezweifelnden 'Veränderlichkeit' dieser
Charaktere überhaupt, mögen sie viel oder wenig entwickelt
seyn, zusammenhängen. ‘Dass sich aber: unsre Regel: in der
That nicht auf die sekundären Charaktere dieser Art allein beziehe,
erhellt aus’ den hermaphroditischen Cirripeden; und ich: will'hier
beifügen, dass ich bei der Untersuchung dieser Ordnung. Herrn
Warkrnouse’s Bemerkung. besondre Beachtung zugewandt‘ habe
und vollkommen von ‚der. fast 'unveränderlichen Anwendbarkeit
dieser Regel auf die Cirripeden überzeugt bin. In meinem: spä-
teren Werke werde ich eine vollständigere Liste ‚der'einzelnen
Fälle geben: ‘hier aber will ich nur einen anführen; welcher die
Regel in ihrer ausgedehntesten Anwendbarkeit erläutert: Die
Deckelklappen der sitzenden Cirripeden (Balaniden) sind in jedem
Sinne des Wortes sehr wichtige Gebilde und variiren selbst von
einer Sippe zur andern nur wenig. Nur in den verschiedenen
Arten von Pyrgoma allein bieten diese Klappen einen 'wunder-
samen Grad von Differenzirung dar.' ‚Die «homologen Klappen
sind’ in verschiedenen Arten. zuweilen ganz’ unähnlich in Form,
und der Betrag möglicher Abweichung zwischen den Individuen
einiger Arten ist.'so gross, dass man ohne Übertreibung‘ behaup-
ten darf, ihre Varietäten weichen in den Merkmalen dieser wichligen
Klappen. weiter auseinander, als sonst ‘Arten verschiedener'S$ippen,
Da: Vögel innerhalb einer und derselben Gegend ausser-
ordentlich wenig variiren,' so habe ich ‚auch sie in dieser Hin-
sicht näher geprüft und die Regel: auch‘ in dieser Klasse sehr
gut bewährt gefunden. ‚Ich kann nicht nachweisen, dass sie sich auch
beiden Pflanzen so verhalte, und mein Vertrauen auf ihre \All-
gemeinheit würde hiedurch sehr erschüttert worden seyn; wenn
nicht eben die grosse Veränderlichkeit‘ der Pflanzen überhaup!
es sehr 'schwiertig. machte, die bezüglichen Veränderlichkeil®®
‘ .
Grade beider miteinander zu vergleichen.
163
Wenn wir bei irgend einer Spezies einen Theil oder ein
Organ in merkwürdiger Höhe oder Weise entwickelt sehen, so
läge es am nächsten anzunehmen, dass dasselbe dieser Art
von grosser Wichtigkeit seyn müsse, und doch ist der Theil in
diesem Falle ausserordentlich veränderlich. Wie kommt Diess?
Aus der Ansicht, dass jede Art mit allen ihren Theilen, wie
wir sie jetzt sehen, unabhängig erschaffen worden seye, können
wir keine Erklärung schöpfen. Dagegen scheint mir die Annahme,
dass Arten-Gruppen eine gemeinsame Abstammung von andern
Arten haben und nur durch Natürliche Züchtung modifizirt wor-
den sind, einiges Licht über die Frage‘ zu verbreiten. Wenn
bei unseren Hausthieren ein einzelner Theil oder das ganze Thier
vernachlässigt und ohne Züchtung fortgepflanzt wird, so wird ein
solcher Theil (wie z. B. der Kamm bei den Dorking-Hühnern) oder
die ganze Rasse aufhören einen einförmigen Charakter zu be-
wahren. Man wird dann sagen, sie seye ausgeartet. In rudi-
mentären und solchen Organen, welche nur wenig für einen be-
sondern Zweck differenzirt worden sind, sowie in polymorphen
Gruppen, sehen wir einen fast gleichlaufenden Fall in der Natur;
denn hier kann die Natürliche Züchtung nicht oder nur wenig
zur Geltung kommen und die Organisation bleibt in einem schwan-
kenden Zustande. Was uns aber hier näher angeht, das ist,
dass eben bei unseren Hausthieren diejenigen Charaktere, welche
durch fortgesetzte Züchtung so rascher Abänderung unterliegen,
eben so rasch in hohem Grade zu variiren geneigt werden. Man
vergleiche einmal die Tauben-Rassen; was für ein wunderbar gros-
ses Maass von Veränderung zeigt sich nur in den Schnäbeln
der -Purzeltauben, in den Schnäbeln und rothen Lappen der ver-
schiedenen Botentauben (Cyprianer), in Haltung und Schwanz der
Pfauentaube, weil die Englischen Liebhaber auf diese Punkte wenig
achten. Schon die Unterrassen wie die kurzstirnigen Purzler sind
bekanntlich schwer vollkommen zu finden, und oft kommen dabei
einzelne Thiere zum Vorschein, welche weit von dem Musterbilde
abweichen. Man kann daher mit Wahrheit sagen, es finde ein
beständiger Kampf statt zwischen einerseits einem Streben zur
Rückkehr in eine minder differenzirte Beschaffenheit und einer
; 3 Dig
164
angeborenen Neigung zu weiterer Veränderung aller Art, und
anderseits dem Vermögen fortwährender Züchtung zur Rein-
erhaltung der Rasse. Bei langer Dauer gewinnt Züchtung den
Sieg, und wir fürchten nicht mehr so weit vom Ziele abzu-
weichen, dass wir von einem. guten kurzslirnigen Stamm. nur
einen ‘gemeinen Purzler erhielten. So lange aber die Züchtung
noch in raschem Fortschritt begriffen: ist, wird immer eine grosse
Unbeständigkeit in dem der Veränderung unterliegenden Gebilde
zu erwarten seyn. Es verdient ferner bemerkt zu werden, dass
diese durch künstliche Züchtung erzeugten veränderlichen Cha-
raktere aus uns ganz. unbekannten Ursachen sich zuweilen mehr
an das eine als an das andre Geschlecht. knüpfen , und. zwar
gewöhnlich an das männliche, wie die Fleischwarzen der Eng-
lischen Botentaube und der mächtige Kropf des Kröpfers.
Doch kehren wir zur Natur zurück. Ist ein Theil in irgend
einer Spezies den andern Arten derselben Sippe gegenüber auf
aussergewöhnliche "Weise vergrössert, so. können. wir. ‚anneh-
men, derselbe habe seit ihrer Abzweigung von dem gemein-
samen 'Stamme einen ungewöhnlichen Betrag von Abände-
rung erfahren. Diese Zeit der Abzweigung wird selten ausser-
ordentlich weit zurückliegen, da Arten nur selten länger als
eine geologische Periode dauern. ‘Ein ungewöhnlicher Betrag
von Verschiedenheit setzt ein ungewöhnlich langes 'und ausge-
dehntes 'Maass von Veränderlichkeit voraus, deren Produkt
durch Züchtung zum Besten der Spezies. fortwährend gehäuft
worden ist. Da’ aber die Veränderlichkeit des ausserordentlich
entwickelten Theiles oder Organes in einer nicht sehr weit zu-
rückreichenden Zeit so gross: und andauernd gewesen ist, 0
möchten wir auch jetzt noch in der Regel mehr Veränderlichkeil
in solchen als in andern Theilen der Organisation, welche schon
seit viel längrer Zeit beständig geworden sind, anzutreffen er-
warten. Und diese findet nach meiner Überzeugung stall. Dass
aber der Kampf zwischen Natürlicher Züchtung einerseits und
der Neigung zur Rückkehr und zur weiteren Abänderung ander-
seits mit der Zeit aufhören und auch die am abnormsten ge
bildeten Organe beständig werden können, ist kein Grund vol-
165
handen zu bezweifeln. Wenn daher ein Organ, wie regelwidrig
es auch seyn mag‘, in ungefähr ‘gleicher Beschaffenheit auf viele
bereits abändernde Nachkommen übertragen wird, wie Diess mit
dem Flügel der Fledermaus der Fall ist, so muss es meiner
Theorie zufolge schon eine unermessliche Zeit hindurch in dem
gleichen Zustande vorhanden gewesen und in dessen Folge jetzt
nicht mehr veränderlicher als irgend ein andres Organ seyn.
Nur in denjenigen Fällen, wo die Modifikation noch verhältniss-
mässig jung und: ausserordentlich gross ist, werden wir daher
die »generative Veränderlichkeit«, wie wir sie nennen wollen,
noch in hohem Grade fortdauernd finden. Denn in diesem Falle
wird die Veränderlichkeit nur selten schon durch ununterbrochene
Züchtung der in irgend einer beabsichtigten Weise und Stufe varii-
renden und durch fortwährende Verdrängung der zur Rückkehr
geneigten Individuen zu einem festen Ziele gelangt seyn.
Das in diesen Bemerkungen enthaltene Prinzip ist noch einer
Ausdehnung fähig. Es ist nämlich bekannt, dass die spezifischen
mehr als die Sippen- Charaktere abzuändern geneigt sind. Ich
will. mit einem einfachen Beispiele erklären, was ich meine.
Wenn in einer grossen Pflanzen-Sippe einige Arten blaue Blüthen
haben und andere haben rothe, so wird die Farbe nur ein Art-
Charakter seyn und daher auch niemand überrascht werden,
wenn eine blau-blühende Art zu Roth übergeht oder umgekehrt.
Wenn aber alle Arten blaue Blumen haben, so wird die Farbe
zum Sippen-Charaktere, und ihre Veränderung wird schon eine
ungewöhnliche Erscheinung seyn. Ich habe gerade dieses Bei-
spiel gewählt, weil eine Erklärung, welche die meisten Natur-
forscher sonst beizubringen. geneigt seyn würden, darauf nicht
anwendbar ist, dass nämlich spezifische Charaktere desshalb weni-
ger als generische veränderlich erscheinen, weil sie von Theilen
entlehnt sind. die eine mindere physiologische Wichtigkeit be-
sitzen, als diejenigen, welche gewöhnlich zur Klassifikation der
Sippen dienen. Ich glaube zwar, dass diese Erklärung theilweise,
wenn auch nur indirekt, richtig ist, kann jedoch erst in dem
Abschnitte über Klassifikation darauf’ zurückkommen. Es dürfte
ganz überflüssig seyn, Beispiele zu Unterstützung der obigen
166
Behauptung anzuführen , dass’ Arten - Charaktere veränderlicher
als: Sippen-Charaktere seyen; ich habe aber aus naturhistorischen
Werken wiederholt entnommen, dass, wenn ein Schriftsteller
durch die Wahrnehmung überrascht war, dass irgend ein wich-
tigeres Organ, welches sonst in ganzen grossen Arten- Gruppen
beständig zu seyn pflegt, in nahe verwandten Arten ansehnlich ab-
ändere, dasselbe dann auch: in den Individuen einiger der Arten
variirte. Diese Thatsache zeigt, dass ein Charakter, der gewöhn-
lich von generischem Werthe ist, wenn er zu spezifischem Werthe
herabsinkt, oft veränderlich wird, wenn auch seine physiologische
Wichtigkeit die nämliche bleibt. Etwas Ähnliches findet auch auf
Monstrositäten Anwendung; wenigstens scheint IsınorE GEOFFROY
Samnt-Hıraıre keinen Zweifel darüber zu hegen, dass ein Organ
um so mehr individuellen Anomalien unterliege,, je mehr es in
den verschiedenen Arten derselben Gruppe verschieden ist,
“Wie wäre es nach der gewöhnlichen Meinung, dass jede
Art unabhängig erschaffen worden seye, zu erklären, dass der-
jenige Theil der Organisation, welcher von. demselben Theile
in anderen unabhängig erschaffenen Arten derselben Sippe mehr
abweicht, auch veränderlicher ist, als jene Theile, welche in den
verschiedenen Arten einer Sippe nahezu übereinstimmen. Ich sehe
keine Möglichkeit ein Diess zu erklären. Wenn wir aber von
der Ansicht ausgehen, dass Arten nur wohl unterschiedene und
ständig gewordene Varietäten sind, so werden wir sicher auch er-
warten dürfen zu sehen, dass dieselben noch jetzt oft fortlahren
in denjenigen Theilen ihrer Organisation abzuändern, welche erst
in verhältnissmässig neuer Zeit in Folge ihres Variirens von der
gewöhnlicheren Bildung zurückgewichen sind. Oder, um den
Fall in einer andern Weise darzustellen: die Merkmale, worin
alle Arten einer Sippe einander gleichen, und worin dieselben
von allen Arten einer andern Sippe abweichen, heissen generische,
und diese Merkmale zusammengenommen leite ich mittelst Ver-
erbung von einem gemeinschaftlichen Stammvater ab; denn nur
selten kann es der. Zufall gewollt haben, dass Natürliche Züch-
tung verschiedene mehr oder weniger abweichenden Lebens-
weisen angepasste Arien genau auf dieselbe Weise modifizirl
167
hab? und da’ diese. 'sogenannten: generischen Charaktere schon
von sehr frühe: her) seit der Zeit nämlich "wo sie sich von ihrer
gemeinsamen Stamm-Art sabgezweigt haben, vererbt worden sind,
und sie sich später / nicht “mehr: oder nur noch. wenig verändert
haben ,: so- ist es nicht ‚wahrscheinlich , dass sie noch. heutiges
Tages abändern. Anderseits nennt man die :Punkte, wodurch
sieh‘: Arten‘ 'von andern ‘Arten. derselben. Sippe unterscheiden,
spezifische Charaktere, und’ da diese seit ‚der Zeit der Abzwei-
gung der Arten: von der gemeinsamen Stamm - Art abgeändert
haben; so: ist es wahrscheinlich ‚dass dieselben noch jetzt oft
einigermassen veränderlich sind , veränderlicher, wenigstens, als
diejenigen Theile der Organisation ‚ ‚welche während einer. sehr
langen: Zeit-Dauer sich ‚als beständig erwiesen haben.
Im. Zusammenhang. mit diesem. Gegenstande will ich noch
zwei andre Bemerkungen machen. — Ohne dass ich nöthig habe,
darüber auf Einzelheiten einzugehen, wird man mir zugeben,
dass sekundäre Sexual-Charaktere sehr veränderlich sind; man
wird mir wohl. auch ferner zugeben, dass die zu einerlei Gruppe
gehörigen Arten hinsichtlich dieser Charaktere weiter als in andern
Theilen ihrer Organisation: auseinander gehen können. Vergleicht
man. Beispiels-weise die Grösse der : Verschiedenheit zwischen
den Männchen der Hühner-artigen Vögel, bei: welchen diese Art
von Charakteren vorzugsweise stark entwickelt sind, ‚mit der
Grösse. der Verschiedenheit zwischen ihren. Weibchen, so wird
die Wahrheit jener Behauptung eingeräumt ' werden. Die Ursache
der ursprünglichen Veränderlichkeit der ‚sekundären Sexual-Cha-
vaktere: ist: nicht nachgewiesen ; doch ‚lässt sich begreifen wie, es
komme, \dass dieselben nicht ‚eben so einförmig und beständig
geworden sind als andre Theile der Organisation; ‚denn die se-
kundären Sexual-Charaktere sind durch geschlechtliche Züchtung
gehäuft: worden, welche weniger strenge in ihrer Thätigkeit als
die; gewöhnliche ist, indem sie die minder begünstigten Männ-
chen nicht zerstört, sondern bloss mit. weniger Nachkommen-
schaft‘ versieht: ‘Welches aber immer: die. ‚Ursache der Verän-
derlichkeit dieser sekundären, Sexual-Charaktere seyn mag; da
sie. nun ‚einmal: sehr; veränderlich sind, so hat die Natürliche
168
*Züchtung darin einen weiten Spielraum für ihre Thätigkeit gefun-
den und somit den Arten einer Gruppe leicht einen grösseren
Betrag von Verschiedenheit in ihren Sexual-Charakteren, als in
andern Theilen ihrer Organisation verleihen können,
Es ist eine merkwürdige Thatsache, dass die sekundären
Sexual-Verschiedenheiten zwischen beiden Geschlechtern einer
Art sich gewöhnlich genau in denselben Theilen der Organisation
entfalten, in denen auch die verschiedenen Arten einer Sippe
von einander abweichen. Um Diess zu erläutern will ich nur
zwei Beispiele anführen, welche zufällig die ersten auf meiner
Liste stehen; und da die Verschiedenbeiten in diesen Fällen von
sehr ungewöhnlicher Art sind, so kann die Beziehung kaum zu-
fällig seyn. Sehr grosse Gruppen von Käfern haben eine gleiche
Anzahl von Tarsal-Gliedern mit einander gemein; nur in der Fa-
milie der Engidae ändert nach Wesrwoons Beobachtung diese
Zahl sehr ab, sogar in den zwei Geschlechtern einer Art. Ebenso
ist bei den Grabenden Hymenopteren der Verlauf der Flügel-
Adern ein Charakter von höchster Wichtigkeit, weil er sich in
grossen Gruppen gleich bleibt; in einigen Sippen jedoch ändert
er von Art zu Art und dann gleicher Weise auch oft in den
zwei Geschlechtern der nämlichen Art ab. Diese Beziehung
hat eine klare Bedeutung in meiner Anschauungs-Weise: ich be-
trachte nämlich mit Bestimmtheit alle Arten einer Sippe als Ab-
kömmlinge von demselben Stamm-Vater, wie die zwei Geschlech-
ter in jeder Art. Folglich: was immer für ein Theil der Orga-
nisation des gemeinsamen Stamm-Vaters oder seiner ersten Nach-
kommen veränderlich geworden, so werden höchst wahrscheinlich
Abänderungen dieser Theile durch Natürliche und Geschlechtliche
Züchtung begünstigt worden seyn, um die verschiedenen Arten
verschiedenen Stellen im Haushalte der Natur anzupassen, und
ebenso um die zwei Geschlechter einer nämlichen Spezies für
einander geschickt zu machen, oder auch um Männchen und
Weibchen zu verschiedenen Lebensweisen zu eignen, oder end-
lich die Männchen in den Stand zu setzen mit anderen Männ-
chen um die Weibchen zu kämpfen.
Endlich gelange ich also zu dem Schlumie? dass die grössre
169
Veränderlichkeit der spezifischen Charaktere, wodurch sich Art
von Art unterscheidet, gegenüber den generischen Merkmalen,
welche die Arten einer Sippe gemein haben, — dass «ie oft
äusserste Veränderlichkeit des in irgend einer einzelnen Art
ganz ungewöhnlich entwickelten Theiles gegenüber der geringen
Veränderlichkeit eines wenn auch ausserordentlich entwickelten,
aber einer ganzen Gruppe von Arten gemeinsamen Theiles, —
dass die grosse Unbeständigkeit sekundärer Sexual-Charaktere
und das grosse Maass von Verschiedenheit in denselben Merk-
malen zwischen einander nahe verwandten Arten, — dass die
Entwickelung sekundärer Sexual- und gewöhnlicher Art-Charak-
tere gewöhnlich in einerlei Theilen der Organisation — Alles
eng unter-einander verkettete Prinzipien sind. Alle entspringen
hauptsächlich daher, dass die zu einer Gruppe gehörigen Arten
von einem gemeinsamen Stamm-Vater herrühren, von welchem
sie Vieles gemeinsam ererbt haben; — dass Theile, welche erst
neuerlich noch starke Umänderungen erlitten, leichter zu variiren
geneigt sind als solche, welche sich schon seit langer Zeit ohne
alle Veränderung fortgeerbt haben; — dass die sexuelle Züchtung
weniger streng als die gewöhnliche ist; — endlich, dass Abände-
rungen in einerlei Organen durch natürliche und durch sexuelle
Züchtung gehäuft und für sekundäre Sexual- und gewöhnliche
spezifische Zwecke angepasst worden sind.
Verschiedene Arten zeigen analoge Abände-
rungen; und die Varietät einer Spezies nimmt oft
einige von den Charakteren einer verwandten Spe-
zies an, oder sie kehrt zu einigen von den Merk-
malen der Stamm-Art zurück.) Diese Behauptungen ver-
steht man am leichtesten durch Betrachtung der Hausthier-Rassen.
Die verschiedensten Tauben-Rassen bieten in weit auseinander-
gelegenen ‚Gegenden Unter-Varietäten mit umgewendeten Federn
am Kopfe und mit Federn an den Füssen dar, Merkmale, welche
die ursprüngliche Felstaube nicht besitzt; Diess sind also analoge
Abänderungen in zwei oder mehren verschiedenen Rassen. Die
häufige Anwesenheit von vierzehn bis sechszehn Schwanzfedern
im Kröpfer kann man als eine die Nornal-Bildung einer andern
Bu Ze u BEWER a Ar E =
170
Abart. der Pfauentaube nämlich, vertretende‘, Abweichung, be>
trachten. Ich unterstelle, dass Niemand, daran zweifelt wird, dass
alle solche ;analoge Abänderungen ‚davon herrühren ‚dass ‚die,
verschiedenen Tauben-Rassen die gleiche Konstitution’ und daher
unter denselben unbekannten Einllussen die ‚gleiche Neigung zu
variiren. geerbt haben. : Im Pflanzen-Reiche zeigt sich ein: Fall
von analoger. Abänderung in dem verdickten Strunke (gewöhnlich
wird er die Wurzel genannt) des. Schwedischen Turnipses und
der Rutabaga, Pflanzen, welche mehre. Botaniker nur.als durch
die Kultur hervorgebrachte Varietäten, einer. Art ansehen. Wäre,
Diess aber‘ nicht richtig, so..hätten; wir einen, Fall analoger Ab-
änderung in. zwei. sogenannten Arten, und diesen kann noch der
gemeine Turnips als dritte. beigezählt werden. Nach. ‚der ge-
wöhnlichen Ansicht, dass jede Art unabhängig geschallen worden
seye, würden wir diese Ähnlichkeit der. drei ‚Pflanzen in ihrem
verdickten ‚Stengel: nicht der wahren Ursache. ihrer. gemeinsamen
Abstammung, und einer daraus folgenden Neigung in. ähnlicher
Weise zu variiren zuzuschreiben haben, sondern drei verschie-
denen aber enge unter. sich verwandten Schöpfungs-Akten. , Bei
den. Tauben haben wir noch. einen andern Fall, nämlich -das. in
allen Rassen gelegentliche Zumvorscheinkommen von ‚Schieler-
blauen Vögeln ‚mit zwei schwarzen Flügelbinden, einem ‚weissen
Steiss, einer Queerbinde. auf .dem Ende ‚des: Schwanzes, und
einem weissen äusseren Rande am Grunde der äusseren Schwanz-
Federn. . Da alle diese Merkmale: für. die Stamm-Art. bezeichnend,
sind, -so: glaube ich. wird Niemand bezweifeln ‚.; dass es, sich hier
um eine Rückkehr. zum Ur-Charakter und nicht um. eine,analoge
Abänderung in verschiedenen Rassen ‚handle... Wir werden. die-
ser Folgerung um ‚so mehr vertrauen können, als, wie, wir ‚be-
reits gesehen, diese Farben-Charaktere. sehr gerne in den Blend-,
lingen zweier ‚ganz verschieden: gefärbter. Rassen zum Vorschein
kommen; und in diesem Falle ist auch in den äusseren Lebens-Be-
dingungen nichts zu finden, was das Wiedererscheinen der Schielers
blauen Farbe: mit. den übrigen Farben-Abzeichen ‚erklären könnte,
als der Einfluss des Kreutzungs-Aktes auf die Erblichkeits-Geselze.
Es ist: in der That eine Erstaunen-erregende Thatsache,: dass
seit vielen und vielleicht Hunderten‘ von Generationen verlorene
Merkmale wieder zum Vorschein kommen. Wenn jedoch eine
Rasse nur einmal mit einer andern Rasse gekreutzt worden ist,
so zeigt der Blendling die Neigung gelegentlich zum Charakter
der fremden Rasse zurückzukehren noch einige, man sagt 12—20,
Generationen lang. Nun ist zwar nach 12 Generationen, nach
der gewöhnlichen Ausdrucks-Weise, das Blut des einen fremden
Vorfahren nur noch 1 in 2048, und doch genügt nach der all-
gemeinen Annahme dieser äusserst geringe Bruchtheil fremden
Blutes noch, um eine; Neigung zur Rückkehr in jenen Urstamm zu
unterhalten. In einer Rasse, welche nicht gekreutzt worden,
sondern worin beide Ältern einige von den Charakteren ihrer
gemeinsamen Stamm-Art 'eingebüsst, dürfte die stärkere oder
schwächere Neigung den verlornen Charakter wieder herzustellen,
wie schon früher bemerkt worden, trotz Allem was man Gegen-
theiliges sehen mag, sich noch eine Reihe von Generationen
hindurch erhalten. Wenn ein Charakter, der in einer Rasse ver-
loren gegangen, nach einer grossen Anzahl von Generationen
wiederkehrt, so ist die wahrscheinlichste Hypothese nicht die,
dass der Abkömmling jetzt erst plötzlich nach einem mehre hun-
dert Generationen älteren Vorgänger zurückstrebt, sondern die,
dass in jeder der aufeinanderfolgenden Generationen noch ein
Streben zur Wiederherstellung des fraglichen Charakters vorhan-
den gewesen, welches nun endlich unter unbekannten günstigen
Verhältnissen zum Durchbruch gelangt. So ist z. B. wahrschein-
lich, dass in jeder Generation der Barb-Taube (8. 27), welche nur
sehr selten einen blauen Vogel mit schwarzen Binden hervor-
bringt, das Streben diese Färbung anzunehmen vorhanden seye.
Diese Ansicht ist hypothetisch, kann jedoch durch einige Thatsachen
unterstützt werden; und ich kann an und für sich keine grössere
Unwahrscheinlichkeit in der Unterstellung einer Neigung sehen, ei-
nen durch eine endlose Zahl von Generationen fortgeerbt gewese-
nen Charakter wieder anzunehmen, als in der Vererbung eines
thatsächlich ganz unnützen oder rudimentären Organes. Und doch
können wir zuweilen ein solches Streben ein ererbtes Rudiment
hervorzubringen walırnehmen, wie sich z, B. in dem gemeinen
Mn a ee A ae s 0
172
Löwenmaul (Antirrhinum ) das Rudiment eines fünten Staubgefässes
so oft zeigt, dass dieser Pflanze eine Neigung es hervorzubringen
angeerbt seyn muss.
Da nach meiner Theorie alle Arten einer Sippe gemein-
samer Abstammung sind, so ist zu erwarten, dass sie zuweilen in
analoger Weise variiren, so dass eine Varietät der einen Art
in einigen ihrer Charaktere einer andern Art gleicht, welche ja
nach meiner Meinung selbst nur eine ausgebildete und bleibend
gewordene Abart ist. Doch dürften die hiedurch erlangten
Charaktere nur unwesentlicher Art seyn; denn die Anwesenheit
aller wesentlichen Charaktere wird durch Natürliche Züchtung
in Übereinstimmung mit den verschiedenen Lebensweisen der
Art geleitet und bleibt nicht der wechselseitigen Thätigkeit der
Lebens-Bedingungen und einer ähnlichen ererbten Konstitution
überlassen. Es wird ferner zu erwarten seyn, dass die Arten
einer nämlichen Sippe zuweilen eine Neigung zur Rückkehr zu
den Charakteren alter Vorfahren zeigen. Da wir jedoch nie-
mals den genauen Charakter des gemeinsamen Stamm- Vaters einer
Gruppe kennen, so vermögen wir diese zwei Fälle nicht zu un-
terscheiden. Wenn wir z. B. nicht wüssten, dass die Felstaube
nicht mit Federfüssen oder mit umge wendeten Federn versehen
ist, so hätten wir nicht sagen können, ob diese Charaktere
in unsren Haustauben-Rassen Erscheinungen der Rückkehr zur
Stamm-Form oder bloss analoge Abänderungen seyen; wohl
aber hätten wir unterstellen dürfen, dass die blaue Färbung ein
Beispiel von Rückkehr seye, wegen der Zahl der andern Zeich-
nungen, welche mit der blauen Färbung zugleich wieder zum
Vorschein kommen und wahrscheinlich doch nicht bloss in
Folge einfacher Abänderung damit zusammentreffen. Und noch
mehr würden wir darauf geschlossen haben, weil die blaue
Farbe und andren Zeichnungen so oft wiedererscheinen, wenn
verschiedene Rassen von abweichender Färbung miteinander ge-
kreutzt werden. Obwohl es daher in der freien Natur gewöhn-
lich zweifelhaft bleibt, welche Fälle als Rückkehr zu alten Stamm-
Charakteren und welche als neue analoge Abänderungen zu be-
trachten sind, so müssen wir doch nach meiner Theorie zuweilen
173
finden, dass die abändernden Nachkommen einer Art (seye es
nun durch Rückkehr oder durch analoge Variation) Charaktere
annehmen, welche schon in einigen andern ‚Gliedern derselben
Gruppe vorhanden sind. Das ist zweifelsohne in der Natur der Fall.
Ein grosser Theil der Schwierigkeit eine veränderliche Art in
unsren systematischen Werken wiederzuerkennen, rührt davon
her, dass ihre Varietäten gleichsam einige der andern Arten der
nämlichen Sippe nachahmen. Auch könnte man ein ansehnliches
Verzeichniss von Formen geben, welche das Mittel zwischen
zwei andern Formen halten, von welchen es zweifelhaft ist, ob
sie als Arten oder als Varietäten anzusehen seyen; und daraus
ergibt sich, wenn man. nicht alle diese Formen als unabhängig
erschaffene Arten ansehen will, dass die eine durch Abänderung
die Charaktere der andern so weit angenommen hat, um hie-
durch eine Mittelform zu bilden. Aber der beste Beweis bietet sich
dar, indem Theile oder Organe von wesentlicher und einförmiger
Beschaffenheit zuweilen so abändern, dass sie einigermaassen den
Charakter desselben Organes oder Theiles in einer verwandten
Art annehmen. Ich habe ein langes Verzeichniss von solchen
Fällen zusammengebracht, kann solches aber leider hier nicht
mittheilen, sondern bloss wiederholen, dass solche Fälle vor-
kommen und mir sehr merkwürdig zu seyn scheinen,
Ich will jedoch einen eigenthümlichen und zusammenge-
setzten Fall anführen, der zwar keinen wichtigen Charakter be-
trifft, aber in verschiedenen Arten einer Sippe theils im Natur-
und theils im gezähmten Zustande vorkommt. Es ist offenbar
ein Fall von Rückkehr. Der Esel hat manchmal sehr deutliche
Queerbinden auf seinen Beinen, wie das Zebra. Man hat ver-
sichert, dass diese beim Füllen am deutlichsten zu sehen sind,
und meine ‚Nachforschungen scheinen Solches zu bestätigen.
Auch hat man versichert, der Streifen an der Schulter seye zu-
weilen doppelt. Der Schulter-Streifen ist jedenfalls sehr verän-
derlich in Länge und Umriss. Man hat auch einen weissen Esel,
der kein Albino ist, ohne Rücken- und Schulter - Streifen be-
schrieben; und diese Streifen sind auch bei dunkel-farbigen Thie-
ren zuweilen sehr undeutlich oder gar nicht zu sehen. Der Kulan
174
von Paızas soll mit einem doppelten Schulter-Streifen gesehen
worden seyn. Der Hemionus hat keinen Schulter-Streifen; doch
kommen nach Bıyrws u. A. Versicherung zuweilen Spuren davon
vor, und Colonel PooLE hat mich benachrichtigt, dass die Füllen
dieser Art zuweilen an den Beinen und schwach an der Schulter
gestreift sind. ‘Das Quagga, obwohl am Körper eben so deutlich
gestreift als das Zebra, ist ohne Binden an den Beinen; doch hat
Dr. Gray ein Individuum’ mit sehr deutlichen denen des Zebras
ähnlichen Binden an den Beinen abgebildet.
Was das Pferd betrifft, so habe ich in England Fälle vom
Vorkommen des Rücken-Streifens bei den verschiedensten Rassen
und allen Farben gesammelt. Beispiele von Queerbinden auf den
Beinen sind nicht selten bei Braunen, Mäusebraunen und ein-
mal bei’ einem Kastanienbraunen vorgekommen. Auch ein schwa-
cher Schulter-Streifen tritt zuweilen bei Braunen 'auf, und eine
Spur davon habe ich an einem Beerbraunen gefunden. Mein
Sohn hat mir eine sorgfältige Untersuchung und Zeichnung von
einem braunen Belgischen Karren-Pferde mitgetheilt mit einem
doppelten Streifen auf der Schulter und mit Streifen an den
Beinen; und ein Mann, auf welchen ich vollkommen vertrauen
kann, hat für mich einen kleinen braunen Walliser Pony mit‘ drei
kurzen gleichlaufenden Streifen auf jeder Schulter untersucht.
Im nordwestlichen Theile Ostindiens ist die Kattywarer Pferde-
Rasse so allgemein ‚gestreift, dass, wie ich von Colonel Pooı£ ver-
nehme, welcher dieselbe im Auftrag der Regierung untersuchte, ein
Pferd ohne Streifen nicht für Vollblut angesehen wird. Der Rückgrat
ist immer gestreift; die Streifen auf den Beinen sind wie der Schul-
ter-Streifen, welcher zuweilen doppelt ‚und selbst dreifach isi, ge-
wöhnlich vorhanden; überdiess sind die Seiten des Gesichts zuwel-
len: gestreift. Die Streifen sind beim Füllen am deutlichsten und
verschwinden zuweilen im Alter. Poore hat ganz junge sowohl graue
als beer-braune Füllen gestreift gefunden. Auch habe ich nach Mit-
theilungen, welche ich Herrn W. W. Eowarns verdanke, Grund zu
vermuthen, dass an Englischen Rennpferden der Rücken-Streifen
häufiger an Füllen, als an alten Pferden vorkommt, Ohne hier
in Einzelnheiten noch weiter einzugehen, will ich anführen, dass
175
ich Fälle, von’ Bein-ı und ‚Schulter-Streifen' "bei ‘Pferden : von: ganz
verschiedenen Rassen: in verschiedenen: Gegenden gesammelt: habe
von’ England: bis Ost-China: und von Norwegen im Norden bis
zum -Malayischen 'Archipel im Süden. In allen Theilen der Welt
komnıen.\.diese. ‚Streifen weitaus am öftesten an » Braunen und
Mäusebraunen vor. : Unter ‚Braun schlechthin (»Dan«) begreife
ich, hier ‚Pferde! mit ‚einer langen: Reihe von Farben-Abstufungen,
von, Schwarzbraun an.bis fast zum Rahmfarbigen *.
“Ich ‚weiss, - dass Colonel Hawrron Snirm, der über diesen
Gegenstand‘ geschrieben, ‚annimmt, unsre verschiedenen Pferde-
Rassen rührten von verschiedenen Stamm-Arten: her, wovon eine,
die des Braunen, gestreift gewesen, und alle oben-beschriebenen
Streifungen: seyen, Folge. früherer Kreutzung mit dem ‘Braunen-
Stamme. Jedoch. fühle ich mich durch diese Theorie : in kei-
ner Weise „befriedigt und möchte sie nicht auf: so: verschiedene
Rassen in Anwendung bringen, wie das Belgische' Karren-Pferd;
der Walliser Pony, der Renner, die schlanke Kattywar-Rasse u. a.,
die: in den verschiedensten Theilen der :Welt zerstreut sind.
Wenden. wir uns nun zu den Folgen der Kreutzung zwischen
den verschiedenen. ‚Arten der Pferde-Sippe: Rorzın versichert,
dass. .der.. gemeine Maulesel, ‚ von Esel ‘und. Pferd , sehr oft
Queerstreifen. auf,,.den Beinen: hat, und nach Gosse kommt
Diess in’ den. Vereinten, Staaten in. zehn Fällen neunmal: vor.
Ich. ‚sah; einst, einen Maulesel mit so stark gestreiften Beinen,
dass jedermann: geneigt gewesen seyn würde ihn vom Zebra ab-
zuleiten;; und „Herr. W..C. Marrın hat in seinem: vorzüglichen
Werke, über das ‚Pferd die Abbildung von einem ähnlichen Maul-
esel ;mitgetheilt. . In \vier ‚in Farben ausgeführten Bildern von
Bastarden des Esels ‚mit. ' dem. Zebra. fand ich: die «Beine viel
deutlicher ‘gestreift als den. übrigen Körper‘, und in einem der-
selben war. ein doppelter. Schulter-Streifen vorhanden. An Lord
Morton s berühmtem ‚Bastard von einem Quagga-Hengst und einer
kastanienbraunen ‚Stute sowie an einem nachher erzielten reinen
* Wie sie nämlich als Grund-Farben der verschiedenen Equus-Arten
in der Natur vorkommen. Man könnte also etwa sagen natürliche Pferde-
Farben. D. Übrs.
176
Füllen von derselben Stute mit einem schwarzen Araber waren
die Beine viel deutlicher queer-gestreift, als selbst beim reinen
Quagga. Kürzlich, und Diess ist ein andrer sehr merkwürdiger
Fall, hat Dr. Gray (dem noch ein zweites Beispiel dieser Art
bekannt ist) einen Bastard von Esel und Hemionus abgebildet,
an welchem Bastard, obwohl der Esel selten und der Hemionus
niemals Streifen auf den Beinen und letzter nicht einmal einen
Schulter-Streifen hat, alle vier Beine queer gestreift und auch
die Schulter mit drei Streifen wie ein brauner Walliser Pony
versehen ist, und sogar einige Streifen wie beim Zebra an den
Seiten des Gesichts vorhanden sind. Diese letzte Thatsache hat
mich überzeugt, dass nicht einmal ein Farben-Streifen durch so-
genannten Zufall entsteht, daher ich allein durch diese Erscheinung
an einem Bastarde von Esel und Hemionus veranlasst wurde,
Colonel PooLe zu fragen, ob solche Gesichts-Streifen jemals bei
‚der stark gestreiften Kattywarer Pferde-Rasse vorkommen, was
er, wie wir oben gesehen, bejahete.
Was bleibt uns nun zu diesen verschiedenen Thatsachen
noch zu sagen? Wir sehen mehre wesentlich verschiedene Arten
der Pferde -Sippe durch einfache Abänderung Streifen an den
Beinen wie beim Zebra oder an der Schulter wie beim Esel er-
langen. Beim Pferde sehen wir diese Neigung stark hervor-
treten, so oft eine der natürlichen Pferde-Farben zum Vorschein -
kommt. Das Aussehen der Streifen ist von keiner Veränderung
der Form und von keinem neuen Charakter begleitet. Wir sehen
diese Neigung streifig zu werden sich am meisten bei Bastarden
zwischen mehren der von einander verschiedensten Arten ent-
wickeln. Vergleichen wir damit den vorhergehenden Fall von
den Tauben: sie rühren von einer Stamm-Art (mit 2 — 3 geo-
graphischen Varietäten oder Unterarten) her, welche blaulich von
Farbe und mit einigen bestimmten Band - Zeichnungen versehen
ist, und nehmen, wenn eine ihrer Rassen in Folge einfacher
Abänderung wieder einmal eine blaue Brut liefert, unfehlbar auch
jene Bänder der Stamm-Form wieder an, doch ohne irgend eine
andre Veränderung des Rasse-Charakters. Wenn man die ältesten
und ächtesten Rassen von verschiedener Färbung mit einander
4
177
kreutzt, so tritt in den Blendlingen eine starke Neigung hervor,
die ursprüngliche schieferblaue Farbe mit den schwarzen und
weissen Binden und Streifen wieder anzunehmen. Ich habe be-
hauptet, die wahrscheinlichste Hypothese zur Erklärung des
Wiedererscheinens sehr alter Charaktere seye die Annahme einer
„Tendenz« in den Jungen einer jeden neuen Generation den
längst verlorenen Charakter wieder hervorzuholen, welche Tendenz
in Folge unbekannter Ursachen zuweilen zum Durchbruch komme.
Dann haben wir gesehen, dass in verschiedenen Arten des
Pferde-Geschlechts die Streifen bei den Jungen deutlicher oder
gewöhnlicher als bei den Alten sind. Wollte man nun die
Tauben-Rassen, deren einige schon Jahrhunderte lang durch reine
Inzucht fortgepflanzt worden, als Spezies bezeichnen, so wäre
die Erscheinung genau dieselbe, ‚wie bei der Pferde-Sippe. Über
Tausende und Tausende von Generationen rückwärts schauend
erkenne ich mit Zuversicht ein wie ein Zebra gestreiftes, aber
sonst vielleicht sehr abweichend davon gebautes Thier als den
gemeinsamen Stamm-Vater des (rühre es nun von einem oder
von mehren wilden Stämmen her) Hauspferdes, des Esels, des
Hemionus, des Quaggas und des Zebras.
Wer an die unabhängige Erschaffung der einzelnen Pferde-
Spezies glaubt, wird vermuthlich sagen, dass einer jeden Art die
Neigung im freien wie im gezähmten Zustande auf so eigen-
thümliche Weise zu variiren anerschaffen worden seye, derzu-
folge sie oft wie andre Arten derselben Sippe gestreift erscheine;
und dass einer jeden derselben eine starke Neigung anerschaffen
seye bei einer Kreutzung mit Arten aus den entferntesten
Weltgegenden Bastarde zu liefern, welche in der Streifung
nicht ihren eignen Ältern,. sondern andern Arten derselben Sippe
gleichen*. Sich zu dieser Ansicht bekennen heisst nach meiner
# Nach der Acassız’schen Lehre von den embryonischen Charakteren würde
man diese Streifung, wie die weissen Flecken in der Hirsch-Sippe, als einen
embryonischen Charakter ansehen und sagen, dass Zebra, Quagga etc. dem
Pferde gegenüber auf tieferer Stufe zurückgeblieben seyen und embryonische
Charaktere behalten haben, wie der Damhirsch gegenüber dem Edelhirsch.
| D. Übrs.
12
178
Meinung eine thatsächliche für eine nicht, thatsächliche . oder
wenigstens ‚unbekannte Ursache auigeben. Sie macht aug den
Werken Gottes nur Täuschung und Nachäfferei; — und ich wollte
fast eben so gerne mit den alten und unwissenden Kosmognis-
ten annehmen, dass die fossilen Schaalen nie einem lebenden
Thiere angehört, sondern im Gesteine erschaffen worden seyen,
um die jetzt an der See-Küste lebenden Schaalthiere, nach-
zuahmen.
Zusammenfassung.) Wir sind in tiefer Unwissenheit
über die Gesetze, wornach Abänderungen erfolgen. Nicht in einem
von hundert Fällen dürfen wir behaupten den Grund zu kennen,
warum dieser oder jener Theil eines Organismus von dem gleichen
Theile bei seinen Ältern mehr oder weniger abweiche, Doch, wo-
immer wir die Mittel haben eine Vergleichung anzustellen, da
scheinen in Erzeugung geringerer Abweichungen zwischen Varie-
täten derselben Art wie in Hervorbringung grössrer Unterschiede
zwischen Arten einer Sippe die nämlichen Gesetze gewirkt zu ha-
ben. Die äusseren Lebens-Bedingungen, wie Klima, Nahrung u. dgl.
haben wohl nur einige geringe Abänderungen bedingt. We-
sentlichere Folgen dürften Angewöhnung auf die Körper-Kon-
stitution, Gebrauch der Organe auf ihre Verstärkung, Nicht-
gebrauch auf ihre Schwächung und Verkleinerung gehabt ha-
ben. Homologe Theile sind geneigt auf gleiche Weise abzu-
ändern und streben unter sich zusammenzuhängen. Abänderungen
in den harten und in ‘den: äusseren Theilen berühren zuweilen
weichere und innere Organe. Wenn sich ein Theil stark enl-
wickelt, strebt er vielleicht andren benachbarten Theilen Nahrung
zu entziehen; — und jeder Theil des organischen Baues, welcher
ohne Nachtheil für 'das Individuum . fortbesteben kann, wird er-
halten. Eine Veränderung der Organisation in frühem Alter be-
rührt auch die sich später entwickelnden Theile; denn gibt es
aber noch viele Wechselbeziehungen der Entwickelung, deren
Natur wir durchaus nicht im Stande sind zu begreifen. Viel-
zählige Theile sind veränderlicher in Zahl und Struktur, vielleicht
desshalb, weil dieselben durch Natürliche Züchtung für einzelne '
Verrichtungen noch nicht genug angepasst und differenzirt sind.
179
"Aus demselben ‘Grunde’ werden wahrscheinlich auch die auf tiefer
Organisations-Stufe stehenden Organismen veränderlicher seyn,
als die’ höher 'entwickelten und in allen Beziehungen mehr diffe-
renzirten.: Rudimentäre Organe bleiben ihrer Nutzlosigkeit wegen
von der Natürlichen' Züchtung unbeachtet und sind wahrscheinlich
desshalb veränderlich,. Spezifische ' Charaktere, solche nämlich,
welche erst’ seit der Abzweigung der verschiedenen Arten einer
Sippe von einem gemeinsamen Stamm-Vater auseinander-gelaufen,
sind verönderlicher als generische Merkmale , welche sich schon
lange als solche‘ vererbt haben, ohne in dieser Zeit eine
Abänderung zu‘ erleiden. Wir ‘haben hier nur auf die ein-
zelnen noch veränderlichen Theile und Organe Bezug genommen,
weil sie erst neuerlieh variirt haben und einander unähnlich ge-
worden sind; 'wir haben jedoch schon im zweiten Kapitel ge-
sehen, dass das nämliche Prinzip auch auf das ganze Thier an-
wendbar ist; denn in einem Bezirke, wo viele Arten einer Sippe
gefunden werden, d. h. wo früher viele Abänderung und Diffe-
renzirung stattgefunden und die Fabrizirung neuer Arten-Formen
lebhaft betrieben worden ist, da finden wir jetzt durchschnittlich
auch die meisten Varietäten oder anfangenden Arten. — Sekun-
däre Geschlechts-Charaktere sind sehr veränderlich, und solche
Charaktere weichen am meisten in den Arten einer nämlichen
Gruppe ab. Veränderlichkeit in denselben Theilen der Organi-
sation hat: gewöhnlich die sekundären Sexual - Verschiedenheiten
für die zwei Geschlechter einer Species wie die Arten-Verschie-
denheiten für die mancherlei Arten der nämlichen Sippe geliefert.
Ein in ausserordentlicher Grösse oder Weise entwickeltes Glied
oder Organ — nämlich vergleichungsweise mit der Entwickelung
desselben Gliedes oder Organes in den nächst-verwandten Arten
genommen — muss seit dem Auftreten der Sippe ein ausser-
ordentliches Maass von Abänderung durchlaufen haben, woraus
wir dann auch begreiflich finden, warum dasselbe noch jetzt in
höherem Grade als andre Theile Veränderungen unterliegt; denn
Abänderung ist ein langsamer und lang-währender Prozess, und
die Natürliche Züchtung wird in solchen Fällen noch nicht die
Zeit gehabt haben, das Streben nach fernerer Veränderung und
12*
180
nach der Rückkehr zu einem weniger modifizirten Zustande zu
überwinden. Wenn aber eine Art mit irgend einem ausser-
ordentlich entwickelten Organe Stamm vieler abgeänderter Nach-
kommen geworden — was nach meiner Ansicht ein sehr lang-
samer und daher viele Zeit erheischender Vorgang ist —,
dann mag auch die Natürliche Züchtung im Stande gewesen
seyn dem Organe, wie ausserordentlich es auch entwickelt seyn
mag, schon ein festes Gepräge aufzudrücken. Haben Arten
nahezu die nämliche Konstitution von einem Stamın-Vater geerbt
und sind sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen, so werden
sie natürlich auch geneigt seyn, analoge Abänderungen zu bilden
und werden zuweilen zu einigen der Charaktere ihrer frühesten
Ahnen zurückkehren. Obwohl neue und wichtige Modifikationen
aus dieser Umkehr und jenen analogen Abänderungen nicht hervor-
gehen werden, so tragen solche Modifikationen doch zur Schön-
heit und harmonischen Manchfaltigkeit der Natur bei.
Was aber auch die Ursache des ersten kleinen Unterschiedes
zwischen Ältern und Nachkommen seyn mag, und eine Ursache
muss dafür da seyn, so ist es doch nur die stete Häufung solcher
für das Individuum nützlichen Unterschiede durch die Natür-
liche Züchtung, welche alle wichligeren Abänderungen der Struktur
hervorbringt, durch welche die zahllosen Wesen unsrer Erd-
Oberfläche in den Stand gesetzt werden mit einander um das
Daseyn zu ringen, und wodurch das hiezu am besten ausgeslal-
tele die andern überlebt.
181
Sechstes Kapitel.
Schwierigkeiten der Theorie.
Schwierigkeiten der Theorie einer abändernden Nachkommenschaft. Über-
gänge. — Abwesenheit oder Seltenheit der Zwischenabänderungen. —
Übergänge in der Lebensweise. — Differenzirte Gewohnheiten in einerlei
Art. — Arten mit Sitten weit abweichend von denen ihrer Verwandten. —
Organe von äusserster Vollkommenheit. -— Mittel der Übergänge. —
Schwierige Fälle. — Natura non facit saltum. — Organe von geringer
Wichtigkeit. — Organe nicht in allen Fällen absolut vollkommen. — Das
Gesetz von der Einheit des Typus und den Existenz-Bedingungen enthalten
in der Theorie der Natürlichen Züchtung.
/ Schon lange bevor der Leser zu diesem Theile meines
Buches gelangt ist, mag sich ihm eine Menge von Schwierigkeiten
dargeboten haben. Einige derselben sind von solchem Gewichte,
dass ich nicht an sie denken kann, ohne wankend zu werden;
aber nach meinem besten Wissen sind die meisten von ihnen
nur scheinbare, und diejenigen welche in Wahrheit beruhen,
dürften meiner Theorie nicht verderblich werden.
Diese Schwierigkeiten und Einwendungen lassen sich in
folgende Rubriken zusammenfassen: Erstens: wenn Arten aus
andern Arten durch unmerkbar kleine Abstufungen entstanden
sind, waruın schen wir nicht überall unzählige Übergangs-Formen?
Warum bietet nicht die ganze Natur ein Mischmasch von Formen
statt der wohl begrenzt scheinenden Arten dar?
Zweitens: Ist es möglich, dass ein Thier z. B. mit der Or-
ganisation und Lebensweise einer Fledermaus durch Umbildung
irgend eines andren Thieres mit ganz verschiedener Lebensweise
entstanden ist? Ist es glaublich, dass Natürliche Züchtung einer-
seits Organe von so unbedeutender Wesenheit, wie z. B. den
Schwanz einer Giraffe, welcher als Fliegenwedel dient, und
anderseits Organe von so wundervoller Struktur "wie das Auge
hervorbringe, dessen, unnachahmliche Vollkommenheit wir noch
kaum ganz begreifen.
Drittens: Können Instinkte durch Natürliche Züchtung er-
langt und abgeändert werden. Was sollen wir z. B. zu einem
so wunderbaren Instinkte sagen, wie der ist, welcher die Biene
182
veranlasst Zellen zu bilden, durch welche die Entdeckungen
tielsinniger Mathematiker praktisch vornweg genommen sind.
Viertens: Wie ist, es zu begreifen, dass Spezies bei der
Kreutzung miteinander unfruchtbar sind oder unfruchtbare Nach-
kommen geben, während die Fruchtbarkeit gekreutzter Varietäten
ungeschwächt bleibt. |
Die zwei ersten ‚dieser. Hauptfragen ‚sollen. hier. ; und die
letzten, Instinkt und Bastard-Bildung nämlich, in besondren Kapi-
teln erörtert werden.
Mangel oder Seltenheit vermittelnder Varie-
täten.) Da Natürliche Züchtung nur ‚durch Erhaltung nützlicher
Abänderungen wirkt, so. wird jede. neue, Form..in \einer schon
vollständig bevölkerten Gegend streben ihre. ‚eignen. minder ver:
vollkommneten' Ältern . so. ‚wie. alle andern minder 'vervollkomm-
nete Formen, mit welchen sie in. Bewerbung kommt, zu. ersetzen
und endlich zu. vertilgen. Natürliche Züchtung. geht, ‘wie wir
gesehen, mit dieser Verrichtung Hand in Hand.. Wenn: wir‘ daher
jede Spezies als Abkömmling.'von irgendeiner ‘andern ‚unbe-
kannten Form betrachten, ‚so. werden Urstamm, und Übergangs-
Formen gewöhnlich schon durch den Bildungs- und Vervollkomm-
nungs-Prozess der neuen Form vertilgt seyn.
Wenn nun aber dieser Theorie zufolge: zahllose Übergangs-
Formen existirt haben müssen, warum. finden.‘ wir sie. nicht in
unendlicher Menge. eingebettet. in. den Schichten ‚der\-Erd-Rinde?
Es wird angemessener seyn, ‚diese Frage in ‚dem ‚Kapitel von
der Unvollständigkeit. der geologischen Urkunden zu erörtern.
Hier will ich nur anführen, . dass ich .die ‘Antwort hauptsächlich
darin zu finden‘ glaube, dass jene Urkunden unvergleichlich min-
der vollständig sind, als man ‚gewöhnlich annimmt, und: dass jene
Unvoilständigkeit der ‚geologischen Urkunden hauptsächlich ‚davon
herrührt, dass organische. Wesen keine sehr ‚grosse.‘ Tiefen des
Meeres bewohnen, daher ihre Reste nur. von. solchen ‚Sediment-
Massen umschlossen und für künftige Zeiten: erhalten werden
konnten, welche hinreichend dick und ausgedehnt gewesen, um
einem ungeheuren Maasse spätrer Zerstörung. zu entgehen. Und
solche Fossilien-führende Massen können sieh: nur da. ansammeln,
183
wo viele Niederschläge in seichten Meeren während langsamer
Senkung des Bodens abgelagert werden. Diese Zufälligkeiten
werden nur selten und nur nach ausserordentlich langen Zwischen-
zeiten zusammentreffen. Während der Meeres-Boden in Ruhe oder
in Hebung begriffen ist oder nur schwache Niederschläge slatt-
finden, bleiben die Blätter unsrer geologischen Geschichtsbücher
unbeschrieben. Die Erd-Rinde ist ein weites Museum, dessen
naturgeschichtlichen Sammlungen aber‘ nur in einzelnen Zeitab-
schnitten eingebracht worden sind, die unendlich weit auseinan-
der liegen.
Man kann zwar einwenden, dass, wenn einige nahe-ver-
wandte Arten jetzt in einerlei Gegend beisammen wohnen, man
gewiss viele Zwischenformen finden müsse. Nehmen wir einen
einfachen Fall an. Wenn man einen Kontinent von Norden nach
Süden durchreiset, so trifft man gewöhnlich von Zeit zu Zeit auf
andre einander nahe verwandte ' oder stellvertretende Arten,
welche offenbar ungefähr dieselbe Stelle in dem Natur-Haushalte
des Landes einnehmen. Diese stellvertretenden Arten grenzen
oft an einander oder greifen in ihr Gebiet gegenseitig ein, und wie
die einen seltener und seltener, so werden die andern immer
häufiger, bis sie einander ersetzen. Vergleichen wir diese Arten
da, wo sie sich mengen, ıiteinander, so sind sie in allen Thei-
len ihres Baues gewöhnlich noch eben so vollkommen von ein-
ander unterschieden, als wie die aus der Mitte des Verbreitungs-
Bezirks einer jeden entnommenen Muster. Nun sind aber nach
meiner Theorie alle diese Arten von einem gemeinsamen Stamm-
Vater ausgegangen und ist jede derselben erst durch den Modi-
fikations-Prozess den Lebens-Bedingungen ihrer Gegend angepasst
worden, hat dort ihren Urstamm sowohl als alle Mittelstufen
zwischen ihrer ersten und jetzigen Form ersetzt und verdrängt,
so dass wir jetzt nicht mehr erwarten dürfen, in jeder Gegend
noch‘ zahlreiche Übergangs-Formen zu finden, obwohl dieselben
existir haben müssen und ihre Reste wohl auch in die Erd-
Schichten aufgenommen worden seyn mögen. Aber warum fin-
den wir in den Zwischengegenden, wo doch die äusseren Lebens-
Bedingungen einen Übergang’ von denen des einen in die des
A u Pen v0D, Kin ir na
184
andren Bezirkes bilden, nicht auch nahe verwandte Übergangs-
Varietäten Diese Schwierigkeit hat mir lange Zeit viel Kopt-
zerbrechen verursacht; indessen glaube ich jetzt, sie lasse sich
grossentheils erklären.
Vor Allem sollten wir sehr vorsichtig mit der Annahme
seyn, dass eine Gegend, weil sie jetzt zusammenhängend ist,
auch schon seit langer Zeit zusammenhängend gewesen seye, Die
Geologie veranlasst uns zu glauben, dass fast jeder Kontinent
noch in der letzten Tertiär-Zeit in viele Inseln getheilt gewesen
seye; und auf solchen Inseln getrennt können sich verschiedene
Arten gebildet haben, ohne die Möglichkeit Mittelformen in den
Zwischengegenden zu liefern. In Folge der Veränderungen
der Land-Form und des Klimas mögen auch die jetzt zusammen-
hängenden Meeres-Gebiete noch in verhältnissmässig später Zeit
weniger zusammenhängend und einförmig gewesen seyn. Doch
will ich von diesem Mittel der Schwierigkeit zu entkommen ab-
sehen; denn ich glaube, dass viele vollkommen unterschiedene
Arten auf ganz zusammenhängenden Gebieten entstanden sind,
wenn ich auch nicht daran zweifle, dass die früher unterbrochene
Beschaffenheit jetzt zusammenhängender Gebiete einen wesent-
lichen Antheil an der Bildung neuer Arten zumal frei wandern-
der und sich kreutzender Thiere gehabt habe.
Hinsichtlich der jetzigen Verbreitung der Arten über weite
Flächen finden wir, dass sie gewöhnlich ziemlich zahlreich auf
einem grossen Theile derselben vorkommen, dann aber ziemlich
rasch gegen die Grenzen hin immer seltener werden und end-
lich ganz verschwinden; daher das neutrale Gebiet zwischen zwei
stellvertretenden Arten gewöhnlich nur schmal ist im Verhältniss
zu demjenigen, welches eine jede von ihnen eigenthümlich be-
wohnt. Wir machen dieselbe Bemerkung auch, wenn wir an Ge-
birgen emporsteigen, und zuweilen ist es sehr auffällig, wie plölz-
lich, nach Arpuons DECAnDoLLE’s Beobachtung, eine gemeine Art in
den Alpen verschwindet. Epw. Forses hat dieselbe Wahrneh-
mung gemacht, als er die Bewohner des See-Grundes mit dem
Schleppnetze herauf fischte. Diese Thatsache muss alle die-
jenigen in Verlegenheit setzen, welche die ‚äusseren Lebens-
185
Bedingungen, wie Klima und Höhe, als die allmächtigen Ursachen
der Verbreitung der Organismen-Formen betrachten, indem der
Wechsel von Klima ‘und Höhe oder Tiefe überall ein allmählicher
ist. Wenn wir uns aber erinnern, dass fast jede Art, mitten in
ihrer Heimath sogar, zu unermesslicher Zahl anwachsen würde,
wenn sie nicht in Mitbewerbung mit andern Arten stünde, —
lass fast alle von andern Arten leben oder ihnen zur Nahrung
dienen, — kurz dass jedes organische Wesen mittelbar oder
unmittelbar in innigster Beziehung zu andern Organismen steht,
so müssen wir erkennen, dass die Verbreitung der Bewohner
einer Gegend keinesweges allein von der unmerklichen Verän-
derung physikalischer Bedingungen, sondern grossentheils von
der Anwesenheit oder Abwesenheit andrer Arten abhängt, von
welchen sie leben, durch welche sie zerstört werden, oder mit
welchen sie in Mitbewerbung stehen; und da diese Arten bereits
eine bestimmte Begrenzung haben und nicht mehr unmerklich
in einander übergehen, so muss die Verbreitung einer Spezies,
welche von der einen oder andern abhängt, scharf umgrenzt wer-
den. Überdiess muss jede Art an den Grenzen ihres Verbrei-
tungs-Bezirkes, wo ihre Anzahl ohnediess geringer wird, durch
Schwankungen in der Menge ihrer Feinde oder ihrer Beute ‘oder
in den Jahreszeiten sehr oft einer gänzlichen Zerstörung ausge-
setzt seyn, und es mag auch hiedurch die schärfere Umschreibung
ihrer geographischen Verbreitung mit bedingt werden.
Wenn meine Meinung richtig ist, dass verwandte oder stell-
vertretende Arten, welche ein zusammenhängendes Gebiet be-
wohnen, gewöhnlich so vertheilt sind, dass jede von ihnen eine
weite Strecke einnimmt, und dass diese Strecken durch verhält-
nissmässig enge neutrale Zwischenräume getrennt werden, in
welchen jede Art rasch an Menge abnimmt, — dann wird diese
Regel, da Varietäten nicht wesentlich von Arten verschieden sind,
wohl auf die einen wie auf die andern Anwendung finden; und
wenn wir in Gedanken eine veränderliche Spezies einem sehr gros-
sen Gebiete anpassen, so werden wir zwei Varietäten jenen zwei
grossen Untergebieten und eine dritte Varietät dem schmalen
Zwischengebiete anzupassen haben. Diese Zwischen-Varietät wird,
ae ee en in rc
186
weil sie einen geringeren Raum bewohnt, ‚auch in geringerer
Anzahl vorhanden seyn; und in Wirklichkeit genommen passt
diese Regel, so viel ich ermitteln kann, ganz gut auf. Varietäten
im Natur-Zustande. Ich habe triftige Belege für diese Regel iu
Varietäten von Balanus-Arten gefunden, welche zwischen ausge-
prägteren Varietäten derselben das Mittel halten. Und ebenso
scheint es nach den Belehrungen, die ich den Herren Warson,
Asa Gray und Worrsston verdanke, dass gewöhnlich, wenn Mit-
tel-Varietäten zwischen ‚zwei andren Formen vorkommen, sie der
Zahl nach weit hinter jenen zurückstehen, die sie verbinden,
Wenn wir nun diese Thatsachen und Belege als richtig anneh-
men und daraus folgern, dass Varietäten, welche zwei andre
Varietäten mit einander verbinden, gewöhnlich in geringerer An-
zahl als diese letzten vorhanden waren, so dürfte man daraus
auch begreifen, warum. Zwischenvarietäten keine lange Dauer
haben und der allgemeinen Regel zufolge früher vertilgt werden
und verschwinden müssen, als diejenigen Formen, welche sie
ursprünglich mit einander verketten.
Denn eine in geringerer Anzahl vorhandene Form wird, wie
schon früher bemerkt worden, überhaupt mehr. als die in reich-
licher Menge verbreiteten in Gefahr seyn ausgetilgt zu werden;
und in diesem besondren Falle dürfte‘die Zwischenform vorzugs-
weise den Angriffen der zwei nahe verwandten Formen zu ihren
beiden Seiten ausgesetzt seyn. - Aber eine weit wichtigere Be-
trachtung scheint mir die zu seyn, dass: während des Prozesses
weitrer Umbildung, wodurch nach meiner Theorie zwei Varietä-
ten zu zwei ganz verschiedenen Spezies erhoben werden, diese
zwei Varietäten, soferne sie grössere. Flächen bewohnen, auch
in grösserer Anzahl vorhanden sind und daher in grossem Vor-
theile gegen die mittle Varietät stehen, welche in kleinrer An-
zahl nur einen schmalen Zwischenraum bewohnt. Denn Formen,
welche in grössrer Zahl bestehen, haben immer eine bessre Aus-
sicht, als die gering-zähligen, innerhalb ‘einer gegebenen Periode
noch andre nützliche Abänderungen zur Natürlichen Züchtung
darzubieten. Daher in dem Kampfe um’s Daseyn die gemeineren
Formen streben werden die selteneren zu verdrängen und zu
187
ersetzen, welche sich nur langsam abzuändern und zu vervollkomm-
nen’ vermögen. Es scheint mir dasselbe Prinzip zu seyn, wor-
nach, wie im zweiten Kapitel gezeigt worden, die gemeinen
Arten einer‘ ‘Gegend durchschnittlich auch eine grössre Anzahl
von Varietäten darbieten als die selteneren. Ich will nun, um
meine Meinung besser zu erläutern, einmal annehmen, es handle
sich um drei: Schaaf-Varietäten, von welchen eine für eine aus-
gedehnte Gebirgs-Gegend, die zweite nur für einen verhältniss-
mässig schmalen Hügel-Streifen und die dritte für weite Ebenen
an.deren Fusse geeignet seye; ich will ferner annehmen, die Be-
wohner: seyen alle mit gleichem Schick und Eifer bestrebt, ihre
Rassen durch’ Züchtung zu verbessern, so wird in diesem Falle
die Wahrscheinlichkeit des Erfolges ganz auf Seiten der grossen
Heerden-Besitzer im Gebirge und in der Ebene seyn, weil diese
ihre Rassen schneller als die kleinen in der schmalen hügeligen
7Zwischenzone ' veredeln, so dass die verbesserte Rasse des
Gebirges oder der Ebene bald die Stelle der minder verbesser-
ten. Hügelland-Rasse einnehmen wird; und so werden die zwei
Rassen, welche: anfänglich in grosser Anzahl existirt haben, in
unmittelbare Berührung mit einander kommen ohne fernere Ein-
schaltung der Zwischen-Rasse. |
In Summe: glaube ich, dass Arten leidlich gut umschrieben
seyn können, ohne zu irgend einer Zeit ein unentwirrtes Chaos
veränderlicher und vermittelnder Formen darzubieten: 1) weil sich
neue Varietäten nur sehr langsam bilden, indem Abänderung
ein"änsserst träger Vorgang ist und Natürliche Züchtung so lange
nichts ‘auszurichten vermag, als’ nicht günstige Abweichungen
vorkommen und nicht‘ ein Platz im Natur-Haushalte der Gegend
durch ‘Modifikation eines oder des andern ihrer Bewohner besser
ausgefüllt werden kann. Und solche neue Stellen werden von
langsamen Veränderungen des Klimas oder der zufälligen Ein-
wanderung neuer Bewohner und, in wahrscheinlich viel höherem
Grade, davon ‘abhängen, dass einige von den alten Bewohnern
langsam abgeändert werden, während jene neu hervor gebrachten
und eingewanderten Formen mit einigen alten in Wechselwir-
kung gerathen; ‘daher wir in jeder Gegend und zu jeder Zeit
a Ga a u
188
nur wenige Arten zu sehen bekommen, welche geringe einiger-
ınassen bleibende Modifikationen der Organisation darbieten. Und
Diess sehen wir auch sicherlich so.
Zweitens : viele jetzt zusammenhängende Bezirke ‘der Erd-
Oberfläche müssen noch in der jetzigen Erd-Periode in verschie-
dene Theile getrennt gewesen seyn, worin viele Formen zumal
sich paarender und wandernder Thiere ganz von einander geschie-
den sich weit genug zu differenziren vermochten, um als Spe-
zies gelten zu können. Zwischen- Varietäten zwischen diesen
Spezies und ihrer gemeinsamen Stamm-Form müssen wohl vor-
dem in jedem dieser Bruchtheile des Bezirkes gewesen seyn,
sind aber später durch Natürliche Züchtung ersetzt und ausge-
tilgt worden, so dass sie lebend nicht mehr vorhanden sind.
Drittens: Wenn zwei oder mehre Varietäten in den ver-
schiedenen Theilen eines zusammenhängenden Bezirkes gebildet
worden sind, so werden wahrscheinlich auch Zwischen-Varietäten
in den schmalen Zwischenzonen entstanden seyn, aber nicht lange
gewährt haben. Denn diese Zwischen-Varietäten werden aus
schon entwickelten Gründen (und namentlich, was wir über die
jetzige Verbreitung einander nahe-verwandter Arten und ausge-
bildeter Varietäten wissen) in den Zwischenzonen in geringrer
Anzahl, als die Haupt-Varietäten, die sie verbinden, in deren
eigenen Bezirken vorhanden seyn. Schon aus diesem Grunde
allein werden die Zwischen-Varietäten gelegentlicher Vertilgung
ausgesetzt seyn, werden aber zuverlässig während des Prozesses
weitrer Modifikation von den Formen, welche sie mit einander
verketten, meistens desshalb verdrängt und ersetzt werden, weil
diese ihrer grösseren Anzahl wegen mehr abändern und daher
leichter durch Natürliche Züchtung noch weiter verbessert und
dadurch gesichert werden können.
Letztens müssen, nicht bloss zu einer sondern zu allen _
Zeiten, wenn meine Theorie richtig ist, gewiss auch zahllose
Zwischen-Varietäten zu Verbindung der Arten einer nämlichen
Gruppe ınit einander existirt haben, aber auch gerade der Prozes$
der Natürlichen Züchtung fortwährend thätig gewesen seyn, S0-
wohl deren Stamm-Formen als die Mittelglieder selbst zu vertil-
189
gen. Daher ein Beweis ihrer früheren Existenz ‚höchstens noch
unter den Fossil-Resten der Erd-Rinde gefunden werden könnte,
welche aber diese Urkunden früherer Zeiten, wie in einem spä-
teren Abschnitte gezeigt werden soll, nur in sehr unvollkomme-
ner und unzusammenhängender Weise aufzubewahren geeig-
net ist.
Entstehung und Übergänge von Organismen mit
eigenthümlicher Lebens-Weise und Organisation.) Geg-
“ner meiner ‘Ansichten haben mir die Frage entgegengehalten,
wie denn z. B. ein Land-Raubthier in ein Wasser-Raubthier habe
verwandelt werden können, da ein Thier in einem Zwischenzu-
stande nicht wohl zu bestehen vermocht hätte? Es würde leicht
seyn zu zeigen, dass innerhalb derselben Raubthier-Gruppe Thiere
vorhanden sind, welche jede Mittelstufe zwischen einfachen Land-
und ächten Wasser-Thieren einnehmen und daher durch ihre ver-
schiedene Lebens-Weise ‘wohl geeignet sind, in dem Kampfe mit
andern um’s Daseyn ihre Stelle zu behaupten. So hat z. B. die
nordamerikanische Mustela vison eine Schwimmhaut zwischen den
Zehen und gleicht dem Fischotter in Pelz, kurzen Beinen und
Form des Schwanzes. Den Sommer hindurch taucht dieses Thier
ins Wasser und nährt sich von Fischen; während des langen
Winters aber verlässt es die gefrorenen Gewässer und lebt
gleich andern Iltissen von Mäusen und Landthieren. Hätte man
einen andern Fall gewählt und mir die Frage gestellt, auf welche
Weise ein Insekten-fressender Vierfüsser in eine fliegende Fle-
dermaus verwandelt worden seye, so wäre der Fall weit schwie-
riger und würde ich eine Antwort nicht zu geben gewusst haben.
Doch haben nach meiner Meinung solche einzelne Schwierigkei-
ten kein allzugrosses Gewicht.
Hier wie in anderen Fällen befinde ich mich in dem gros-
sen Nachtheil, aus den vielen treffenden Belegen, die ich gesam-
melt habe, nur ein oder zwei Beispiele von einem Übergang der
Lebens-Weise und Organisation zwischen nahe verwandten Arten
einer Sippe und von vorübergehend oder bleibend veränderten
. Gewohnheiten einer nämlichen Spezies anführen zu können. Und
es scheint mir selbst, dass nichts weniger als ein langes Ver-
a ae Fa ua ag -
190
zeichniss solcher Beispiele genügend seye, die Schwierigkeiten
der Erklärung eines so eigenthümlichen Falles zu beseitigen, wie
der von der Fledermaus ist.
Sehen wir uns in der Familie der Eichhörnchen um, so fin-
den wir da die erste schwache Übergangs-Stufe zu den sogen.
fliegenden Fledermäusen angedeutet in dem zweizeilig abgeplat-
teten Schwanze der einen und, nach J. Rıcnarpson’s Bemerkung,
in dem verbreiterten. Hintertheile und der volleren Haut an den
Seiten des Körpers der andern Arten; denn bei Flughörnchen
sind die Hintergliedmassen und selbst der Anfang des Schwan-
zes durch eine ansehnliche Ausbreitung der Haut mit einander
verbunden, welche als Fallschirm dient und diese Thiere befähigt,
auf erstaunliche Entfernungen von einem Baume zum andern
durch die Luft zu gleiten. Es ist kein Zweifel, dass jeder Art
von Eichhörnchen in deren Heimath jeder "Theil dieser eigen-
thümlichen Organisation nützlich ist, indem er sie in den Stand
setzt den Verfolgungen der Raubvögel oder andrer Raubthiere
zu entgehen, reichlichere Nahrung einzusammeln und zweifels-
ohne auch die Gefahr jeweiligen Fallens zu vermindern. Daraus
folgt aber noch nicht, dass die Organisation eines jeden Eich-
hörnchens auch die bestmögliche für alle natürlichen Verhältnisse
seye. Gesetzt, Klima und Vegetation verändern sich, neue Nage-
thiere treten als Mitwerber auf, und neue Raubthiere wandern
ein oder alte erfahren eine Abänderung, so müssten wir aller
Analogie nach auch vermuthen, dass wenigstens einige der Eich-
hörnchen sich an Zahl vermindern oder ganz aussterben werden,
wenn ihre Organisation nicht ebenfalls in entsprechender Weise
abgeändert und verbessert wird: Daher 'ich‘, zumal bei einem
Wechsel der äussern .Lebens-Bedingungen, keine Schwierigkeit
für die Annahme finde, dass Individuen mit immer vollerer Sei-
ten-Haut vorzugsweise dürften erhalten werden, weil dieser Cha-
rakter erblich und jede Verstärkung desselben nützlich ist, bis
durch Häufung aller einzelnen Effekte dieses Prozesses natür-
licher Züchtung aus dem Eichhörnchen endlich ein Flughörnehen
geworden ist.
Sehen wir nun den fliegenden Lemur oder den Galeopithe-
191
cus an, welcher vordem irriger Weise zu den Fledermäusen ver-
setzt worden ist. Er hat’ eine sehr breite Seitenhaut, welche
von den Hinterenden der Kinnladen bis zum Schwanze erstreckt
die Beine und verlängerten Finger einschliesst, auch mit einem
Ausbreiter-Muskel versehen ist. Obwohl jetzt keine vermitteln-
den Zwischenstufen zwischen den gewöhnlichen Lemuriden und
dem durch die Luft gleitenden Galeopithecus vorhanden sind, so
sehe ich ‘doch keine Schwierigkeiten für die Annahme, dass
solche Zwischenglieder einmal existirt und sich auf ähnliche
Art von Stufe zu Stufe entwickelt haben, wie oben die zwi-
schen den Eich- und Flug-Hörnchen, indem jeder weitre Schritt
zur Verbesserung der Organisation in dieser Richtung für den
Besitzer von Nutzen war. Auch kann ich keine. unüberwindliche
Schwierigkeit erblicken weiter zu unterstellen, dass sowohl der
Vorderarm als die durch’ die Flughaut verbundenen Finger des
Galeopithecus sich in Folge Natürlicher Züchtung allmählich ver-
längert haben, und Diess würde genügen denselben, was die
Flugwerkzeuge betrifft, in eine Fledermaus zu verwandeln. Bei
jenen Fledermäusen, deren Flughaut nur von der Schulter bis,
unter Einschluss’ der Hinterbeine, zum Schwanze geht, sehen wir
vielleicht noch die Spuren einer Vorrichtung, welche ursprünglich
mehr dazu gemacht war durch die Luft zu gleiten, als zu fliegen.
Wenn etwa ein Dutzend eigenthümlich gebildeter Vogel-
Sippen erloschen oder uns unbekannt geblieben wären, wie hät-
ten wir nur die Vermuthung wagen dürfen, dass es jemals
Vögel gegeben habe, welche gleich der Dickkopf-Ente (Micro-
pterus Evrox’s) ihre Flügel nur wie Klappen zum Flattern über
dem Wasserspiegel hin, oder gleich den Fettgänsen wie Ruder
im Meere 'und wie Vorderbeinchen auf dem Lande, : oder gleich
dem Strausse ‘wie Seegel zu Beförderung des Laufes gebrauch-
ten, oder endlich gleich dem Apteryx gar nicht benützten. Und
* doch ist die Organisation eines jeden dieser Vögel, unter den
Lebens-Bedingungen, worin er sich befindet und um sein Daseyn
kämpft, für ihn vortheilhaft, wenn auch nicht nothwendig die
beste unter allen möglichen Einrichungen. Aus diesen Bemer-
kungen soll übrigens nicht gefolgert werden, dass irgend eine
Dh a a un hen be 1
192
der eben angeführten Abstufungen der Flügel-Bildungen, die
vielleicht alle nur Folge des Nichtgebrauches sind, einer natür-
lichen Stufen-Reihe angehöre, auf welcher emporsteigend die
Vögel das vollkommene Flug-Vermögen erlangt haben; aber sie
können wenigstens zu zeigen dienen, was für mancherlei Wege
des Übergangs möglich sind. |
Wenn man sieht, dass eine kleine Anzahl Thiere aus den
Wasser-athmenden Klassen der Kruster und Mollusken zum Le-
ben auf dem Lande geschickt sind; wenn man sieht,‘ dass es
fliegende Vögel, fliegende Säugthiere, fliegende Insekten von den
verschiedenarligsten Typen gibt und vordem auch fliegende
Reptilien gegeben hat, so wird es auch begreiflich, dass fliegende
Fische, welche jetzt mit Hilfe ihrer flatternden Brustflossen sich
in schiefer Richtung über den See-Spiegel erheben und in wei-
tem Bogen durch die Luft gleiten, allmählich zu vollkommen be-
flügelten Thieren umgewandelt werden können. Und wäre Diess
einmal bewirkt, wer würde sich dann je einbilden, dass sie in
einer früheren Zeit Bewohner des offenen Meeres gewesen seyen
und ihre beginnenden Flug-Organe, wie uns jetzt bekannt,
bloss dazu gebraucht haben, dem Rachen andrer Fische zu ent-
gehen.
Wenn wir ein Organ zu irgend einem besondren Zwecke hoch
ausgebildet sehen, wie eben die Flügel des Vogels zum Fluge,
so müssen wir bedenken, dass solche Thiere auf der ersten Anfangs-
Stufe dieser Bildung stehend selten die Aussicht hatten sich bis
auf unsre Tage zu erhalten, eben weil sie durch den Vervoll-
kommnungs-Prozess der Natürlichen Züchtung immer wieder von
andren weiter fortgeschrittenen Formen ersetzt worden seyn müs-
sen. Wir werden ferner bedenken, dass Übergangs-Stufen zwischen
zu ganz verschiedenen Lebens-Weisen dienenden Bildungen in
früherer Zeit selten in grosser Anzahl und mit mancherlei unter-
geordneten Formen ausgebildet worden seyn mögen. Doch, um
zu unsrem fliegenden Fische zurückzukehren, so scheint es nicht
sehr glaublich, dass zu wirklichem Fluge belähigte Fische in vielerlei
untergeordneten Formen zur Erhaschung von mancherlei Beute auf
mancherlei Wegen, zu Wasser und Land entwickelt worden seyen,
4193
bis dieselben ein entschiedenes Übergewicht über andre Thiere im
Kampf ums Daseyn erlangten. Daher die Wahrscheinlichkeit, Arten
auf Übergangsstufen der Organisation noch im fossilen Zustande
zu entdecken immer nur gering seyn wird, weil sie in geringerer
Anzahl als die Arten mit völlig entwickelten Bildungen existirt haben.
Ich will nun zwei oder drei Beispiele abgeänderter und aus-
einander-gelaufener Lebensweisen bei Individuen einer nämlichen
Art anführen. Vorkommenden Falles wird es der Natürlichen
Züchtung leicht seyn, ein Thier durch irgend eine Abänderung
seines Baues für seine veränderte Lebensweise oder ausschliess-
lich für nur eine seiner verschiedenen Gewohnheiten geschickt
zu machen. Es ist aber schwer und für uns unwesentlich
zu sagen, ob im Allgemeinen zuerst die Gewohnheiten und
dann die Organisation sich ändere, oder ob geringe Modifi-
kationen des Baues zu einer Änderung der Gewohnheiten führen;
wahrscheinlich ändern beide gleichzeitig ab. Was Änderung der
Gewohnheiten betrifft, so würde es genügen auf die Menge
Britischer Insekten-Arten zu verweisen, welche jetzt von auslän-
dischen Pflanzen oder ganz ausschliesslich von Kunst-Erzeugnissen
leben. Vom Auseinandergehen der Gewohnheiten liessen sich
zahllose Beispiele anführen. Ich habe oft eine Südamertikanische
Würger-Art (Saurophagus sulphuratus) beobachtet, als sie wie
ein Thurmfalke über einem Fleck und dann wieder über einem
andern schwebte und ein andermal steif am Rande des Wassers
stund und dann plötzlich wie ein Eisvogel auf einen Fisch hinab-
stürzte. In unsrer eignen Gegend sieht man die Kohlmeise (Parus
major) bald fast wie. einen Baumläufer an den Zweigen herum
klimmen, bald nach Art des Würgers kleine Vögel durch Hiebe
auf den Kopf tödten; oft habe ich sie die Saamen des Eiben-
baumes auf einem Zweige aufhämmern und dann wieder sie wie
ein Nusshacker aufbrechen sehen. In Nord-Amerika schwimmt
nach Hrarne’s Beobachtung der schwarze Bär bis vier Stunden
lang mit weit geöffnetem Munde im Wasser umher, um fast nach
Art der Wale Wasser-Insekten zu fangen.
% = - * . ee -
Diess Beispiel war in der ersten Auflage angeführt um zu zeigen,
wie etwa ein Wal entstehen könne. D. Übrs.
13
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194
Da wir zuweilen Individuen Gewohnheiten befolgen sehen,
welche von denen andrer Individuen ihrer Art und andrer Arten
ihrer Sippe weit abweichen , so hätten wir. nach meiner Theorie
zu erwarten, dass solche Individuen mitunter zur Entstehung
neuer Arten mit abweichenden Sitten und einer mehr oder weniger
modifizirten Organisation Veranlassung geben. Und solche: Fälle
kommen in der Natur vor. Kann es ein treffenderes Bei-
spiel von Anpassung geben, als den Specht, welcher an Bäumen
umherklettert, um Insekten in den Rissen der Rinde aufzusuchen?
Und doch gibt es in Amerika Spechte, welche grossentheils von
Früchten leben, und andre mit verlängerten Flügeln ‚ welche In-
sekten im Fluge haschen; und auf den Ebenen von. La Plata,
wo nicht ein Baum wächst, gibt es einen Specht, welcher in
allen Theilen seiner Organisation und selbst in seiner Färbung,
seiner harten Stimme und seinem Wellen-förmigen Fluge die nahe
Blutsverwandtschaft mit unseren gewöhnlichen Arten verräth;
aber es ist ein Specht, der in diesen Ebenen nie klettern kann.
Sturmvögel sind unter allen Vögeln diejenigen, die am besten
fliegen und am meisten an das hohe Meer gebunden sind; und
doch gibt es in den ruhigen stillen Meerengen des Feuerlandes
eine Art, Puffinuria Berardi, die nach ihrer Lebensweise im Allge-
meinen, nach ihrer erstaunlichen Fähigkeit zu tauchen, nach ihrer
Art zu schwimmen und zu fliegen, wenn sie gegen ihren Wil-
len zu fliegen genöthigt wird, von Jedem für einen Alk oder
Lappentaucher (Colymbus) gehalten werden würde; sie ist aber
ihrem Wesen nach ein Sturmvogel nur mit einigen tief ein-
dringenden Änderungen der Organisation. . Auf der andern
Seite würde man «bei der genauesten Untersuchung des. Kör-
pers der Wasseramsel (Cinclus) nicht die mindeste Spur von
ihrer an’s Wasser gebundenen Lebensweise zu entdecken im
Stande seyn. Und doch verschafft sich dieses so abweichende
Glied der Drossel-Familie seinen ganzen Unterhalt nur durch
Tauchen, durch Aufscharren des Gerölles mit seinen Füssen und
durch Anwendung seiner Flügel unter Wasser.
Wer glaubt, dass jedes Wesen so geschaffen worden sey®,
wie wir es jetzt erblicken, muss schon manchmal überrascht ge-
195
wesen. seyn, ein Thier zu finden, dessen Organisation und Lebens-
weise durchaus nicht ‘miteinander in Einklang stunden. Was
kann klarer‘ seyn, als dass ‘die Füsse der Enten und Gänse mit
der grossen Haut zwischen den Zehen zum Schwimmen gemacht
sind? und doch gibt es Gänse mit solchen Schwimmfüssen, welche
selten oder nie ins Wasser gehen; — und ausser AnpuBoN hat
noch Niemand den Fregattvogel, dessen vier Zehen durch eine
Schwimmhaut verbunden sind, sich auf den Spiegel des
Meeres niederlassen sehen. Andrerseits sind Lappentaucher und
Wasserhühner ausgezeichnete Wasser-Vögel, und doch sind ihre
Zehen nur mit einer Schwimmhaut gesäumt. Was scheint klarer
zu seyn, als dass die langen Zehen der Sumpf-Vögel ihnen dazu
gegeben sind, damit sie über Sumpf-Boden und schwimmende
Wasser-Pflanzen hinwegschreiten können, und doch ist das Rohr-
huhn (Ortygometra) fast eben so sehr Wasser-Vogel als das Wasser-
huhn, und die Ralle fast eben so sehr Land-Vogel als die Wachtel
oder das Feldhuhn. ‘Man kann sagen, der Schwimmfuss seye ver-
kümmert in seiner Verrichtung, ‘aber nicht in seiner Form. Beim
Fregattvogel ‘dagegen zeigt der tiefe Ausschnitt der Schwimm-
haut‘zwischen ‘den Zehen, dass eine Veränderung der Fuss-Bil-
dung begonnen hat.
Wer an zahllose getrennte Schöpfungs-Akte glaubt, wird sa-
gen, dass es in diesen Fällen dem Schöpier gefallen hat, ein
Wesen von dem einen Typus für den Platz eines Wesens von
dem: andren Typus zu bestimmen. Diess scheint ‘mir aber
wieder dieselbe Sache, nur in einer Würde-volleren Fassung.
Wer an ‘den 'Kampf um’s Daseyn und an das Prinzip der
Natürlichen Züchtung‘ glaubt, der wird anerkennen, dass jedes
organische Wesen beständig nach Vermehrung seiner Anzahl
strebt und dass, wenn es in Organisation oder Gewohnheiten auch
noch so wenig 'variirt, aber hiedurch einen Vortheil über irgend
einen andern Bewohner der Gegend erlangt, es dessen Stelle
einnehmen kann, ‘wie verschieden dieselbe auch von seiner eig-
nen bisherigen Stelle seyn mag.‘ Er wird desshalb nicht darüber
erstaunt seyn, Gänse und Fregattvögel mit Schwimmfüssen zu
sehen, wovon die’ einen auf dem trocknen Lande leben und die
13*
ln. ii Zi ”
andern sich nur sehr selten auf's Wasser niederlassen, . oder
langzekige Rohrhühner (Crex) zu finden, welche. auf; Wiesen
statt in Sümpfen wohnen; oder dass es Spechte gibt, wo keine
Bäume sind, dass Drosseln unters Wasser tauchen und ‚Sturm-
vögel wie Alke leben. .
Organe von äusserster Vollkommenbheit und Zu-
sammengesetztheit.) Die Annahme, dass sogar das Auge
mit allen seinen der Nachahmung unerreichbaren Vorrichtungen,
um den Focus den manchlfaltigsten Entfernungen anzupassen, ver-
schiedene Licht-Mengen zuzulassen und: die sphärische und chro-
matische Abweichung zu verbessern, nur durch Natürliche Züchtung
zu dem geworden seye, was es ist, scheint, ich will es offen
gestehen, im höchsten möglichen Grade absurd zu seyn. Und doch
sagt mir die Vernunft, dass, wenn zahlreiche Abstufungen von
einem vollkommenen und zusammengesetzten bis zu einem ganz ein-
fachen und unvollkommenen Auge, alle nützlich für ihren Besitzer,
vorhanden sind, — wenn das Auge etwas zu variiren geneigt ist
und seine Abänderungen erblich sind, was sicher der Fall.ist,
_—_ wenn eine mehr und weniger beträchtliche Abänderung eines
Organes immer nützlich ist für ein Thier, dessen äusseren Le-
bens-Bedingungen sich ändern: dann scheint der Annahme, dass
ein vollkommenes und zusammengesetztes Auge durch Natürliche
Züchtung gebildet werden könne, doch keine wesentliche Schwie-
rigkeit mehr entgegenzustehen, wie schwierig auch die, Vorstel-
lung davon für unsre Einbildungskralt seyn mag. Die Frage,
wie ein Nerv für Licht empfindlich werde, beunruhigt ‚uns
schwerlich mehr, als die, wie das Leben selbst ursprünglich ent-
stehe. Jedoch will ich bemerken, dass verschiedene Thatsachen
mich zur Vermuthung bringen, dass jeder sensitive Nerv für
Licht und ebenso für jene gröberen Schwingungen der Luft em-
pfindlich gemacht werden könne, welche den Ton hervorbringen.
Was die Abstufungen betrifft, mittelst welcher ein Organ in
irgend einer Spezies vervollkommnet worden ist, so sollten
“wir dieselbe allerdings nur in gerader Linie bei ihren Vor-
gängern aufsuchen. Diess ist aber schwerlich jemals möglich,
und wir sind jedenfalls genöthigt uns unter den Arten derselben
197
Gruppe, d. h. bei den Seitenverwandten. von gieicher Abstam-
mung mit der ersten, umzusehen um zu erkennen, was für Ab-
stufungen möglich ‚sind, und ob es wahrscheinlich, dass irgend
welche Abstufungen von’ den ersten Stamm-Ältern an ohne alle
oder mit nur geringer Abänderung auf die jetzigen Nachkommen
übertragen worden seyen. Unter den jetzt lebenden Wirbel-
thieren finden wir nur eine geringe ‚Abstufung in der Bildung
des Auges (obwohl der Fisch Amphioxus ein sehr einfaches
Auge ohne Linse besitzt), und an fossilen Wesen lässt sich keine
Untersuchung mehr darüber anstellen. Wir hätten wahrscheinlich
weit vor die üntersten Fossilien - führenden Schichten zurückzu-
gehen, um die ersten Stufen der Vervollkommnung des Auges
in diesem Kreise des Thier-Reichs zu entdecken.
Im Unterreiche der Kerbthiere kann man von einem
einfach mit Pigment überzogenen Sehnerven ausgehen, der oft
eine Art Pupille bildet, aber ohne Krystall-Linse und sonstige
optische Vorrichtung ist.: Von diesem Augen-Rudimente, welches
etwa Licht von Dunkelheit, aber nichts weiter zu unterscheiden
im ‚Stande ist, schreitet die Vervollkommnung in zwei Richtungen
fort, welche J. MüLer von Grund aus verschieden glaubt; sie
führt nämlich entweder 1) zu Stemmata oder sogen. »einfachen
Augen« mit Krystall-Linse und Hornhaut versehen, oder 2) zu
»„zusammengesetzten Augen«, welche allein oder hauptsächlich’
nur dadurch wirken, dass sie alle Strahlen, welche von irgend
einem Punkte des gesehenen Gegenstandes kommen, bis auf
denjenigen Strahlen-Büschel ausschliessen, welcher senkrecht auf
die konvexe Netzhaut fällt. Diesen zusammengesetzten Augen
nun mit Verschiedenheiten ohne Ende in Form, Verhältniss, Zahl
und Stellung der durchsichtigen mit Pigment überzogenen Kegel,
welche nur durch Ausschliessung wirken, gesellt sich bald noch
eine mehr oder weniger vollkommne Konzentrirungs-Vorrichtung
bei, indem in den Augen der Meloe z. B. die Facetten der Cor-
nea aussen und innen etwas konvex, mithin Linsen - förmig
werden. Viele Kruster haben «ine doppelte Gornea, eine äussre
glatte und eine innre ‚in Facetten getheilte, in deren Substanz
nach Miwne Eowarns »renflemens lenticulaires paraissent s etre
198
developpes«, und zuweilen lassew sich diese Linsen als eine be:
sondre Schicht von der Cornea ablösen. Die durchsichtigen mit
Pigment überzogenen Kegel, von welchen MürLkr angenommen,
dass sie nur durch Ausschliessung divergenter Licht-Strahlen-
büschel wirken, hängen gewöhnlich an der Cornea an,;' sind aber
auch nicht selten davon abgesondert und zeigen eine konvexe
äussre Fläche; sie müssen nach meiner Meinung in diesem Falle
wie konvergirende Linsen wirken. Dabei ist die Struktur der
zusammengesetzten Augen so manchfaltig, dass Mürter drei
Hauptklassen derselben mit nicht weniger als sieben Unterab-
theilungen nach ihrer Struktur annimmt. Er bildet eine vierte
Hauptklasse aus den »zusammengehäuften Augen« oder Gruppen
von Stemmata, welche nach seiner Erklärung den Übergang bil-
den von den Mosaik-artig »zusammengesetzten Augen« ohne Kon-
zentrations-Vorrichtung zu den Gesichts-Organen mit einer solchen,
Wenn ich diese hier nur allzukurz und unvollständig ange-
deuteten Thatsachen , welche zeigen, dass es schon unter den
jetzt lebenden Kerbthieren viele stufenweise Verschiedenheiten
der Augen-Bildung gibt, erwäge und ferner bedenke, wie
klein die Anzahl lebender Arten im Vergleich zu den bereits
erloschenen ist, so kann ich (wenn auch mehr als in andern
Bildungen) doch keine allzugrosse Schwierigkeit für die Annahme
finden, dass der einfache Apparat eines von Pigment umgebenen
und von durchsichtiger Haut bedeckten Sehnerven durch Natürliche
Züchtung in ein so vollkommenes optisches Werkzeug umge-
wandelt worden seye, wie es bei den vollkommensten Kerbthie-
ren gefunden wird.
Wer nun weiter gehen will, wenn er beim Durchlesen dieses
Buches findet, dass sich durch die Descendenz-Theorie eine grosse
Menge von anderweitig unerklärbaren Thatsachen begreifen lasse,
braucht kein Bedenken gegen die weitre Annahme zu haben, dass
durch Natürliche Züchtung zuletzt auch ein so vollkommenes Ge-
bilde, als das Adler-Auge ist, hergestellt werden könne, wenn
ihm auch die Zwischenstufen in diesem Falle gänzlich unbekannt
sind. Sein Verstand muss seine Einbildungs-Kraft überwinden.
Doch habe ich selbst die Schwierigkeit viel zu gut gefühlt, als dass
199
ich mich 'einigermaassen darüber wundern könnte, wenn Jemand
es gewagt findet, die Theorie der Natürlichen Züchtung bis
zu einer so erstaunlichen Weite auszudehnen.
Man kann kaum vermeiden, ‘das Auge mit einem Teleskop
zu vergleichen. Wir wissen, dass dieses Werkzeug: durch lang-
fortgesetzte Anstrengungen der höchsten menschlichen Intelligenz
verbessert worden ist, und folgern natürlich daraus, dass das
Auge seine Vollkommenheit durch einen etwas äbnlichen Prozess
erlangt habe. Sollte aber diese Vorstellung nicht blos in der
Einbildung beruhen? Haben wir ein Recht anzunehmen, der
Schöpfer wirke vermöge intellektueller Kräfte ähnlich denen des
Menschen? Wollten wir das Auge einem optischen Instrumente
vergleichen, so müssten wir in Gedanken eine dieke Schicht eines
durchsichtigen Gewebes annehmen, getränkt mit ‚Flüssigkeit und
mil einem für Licht empfänglichen Nerven darunter, und dann
unterstellen, dass jeder Theil dieser Schicht langsam aber unaus-
gesetzt seine Dichte verändere, so dass verschiedene Lagen von
verschiedener Dichte übereinander und in ungleichen Entler-
nungen von einander entstehen, und dass auch die Oberflache einer
jeden Lage langsam ihre Form ändre. Wir müssten ferner un-
terstellen , ‚dass eine Kraft (die Natürliche Züchtung) vorhanden
seye, welche beständig eine jede geringe zufällige Veränderung
in den durchsichtigen Lagen genau beobachte und jede Abände-
rung sorgfältig auswähle, die unter veränderten ‚Umständen in
irgend einer Weise oder in irgend einem Grade ein deutlicheres
Bild hervorzubringen geschickt wäre. Wir müssten unterstellen,
jeder neue Zustand des Instrumentes werde mit einer Million
vervielfältigt, und jeder werde so lange erhalten, bis ein bess-
rer hervorgebracht seye, dann aber zerstört. Bei lehenden Kör-
pern bringt Variation jene geringen Verschiedenheiten hervor, Ge-
neration vervielfältigt sie in’s Unendliche und Natürliche Züchtung
findet mit nie irrendem Takte jede Verbesserung zum Zwecke
weiterer Vervollkommnung heraus. Denkt man sich nun diesen
Prozess Millionen und Millionen Jahre lang und jedes Jahr an
Millionen Individuen der manchfaltigsten Art fortgesetzt: sollte man
da nicht erwarten, dass das lebende optische Instrument endlich
200
in demselben Grade vollkommener als das gläserne werden müsse,
wie des Schöpfers Werke überhaupt vollkommner sind, als die
des Menschen?
Liesse sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen,
dessen Vollendung nicht durch zahllose kleine aufeinander-folgende
Modifikationen erfolgen könnte, so müsste meine Theorie unbe-
dingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall
aufzufinden. Zweifelsohne bestehen viele Organe. deren Ver-
vollkommnungs - Stufen wir nicht kennen, insbesondre bei sehr
vereinzelt stehenden Arten, deren verwandten Formen nach
meiner Theorie in weitem Umkreise erloschen sind. - So muss
auch, wo‘ es sich um ein allen Gliedern eines Unterreichs
gemeinsames Organ handelt, dieses Organ schon in einer
sehr frühen Vorzeit gebildet worden seyn, weil sich nachher erst
alle Glieder dieses Unterreichs entwickelt haben; und wenn wir die
[rühesten Übergangs-Stufen entdecken wollten, welche das Organ
zu durchlaufen hatte, so müssten wir uns bei den frühesten
Anlangs-Formen umsehen, welche jetzt schon längst wieder er-
loschen sind.
Wir müssen uns wohl bedenken zu behaupten, ein Organ
habe nicht durch stufenweise Veränderungen irgend einer Art
gebildet werden können. Man könnte zahlreiche Fälle an-
führen, wie bei den niederen Thieren ein und dasselbe Organ
ganz verschiedene Verrichtungen besorgt: athmet doch und ver-
daut und exzernirt der Nahrungskanal in, der Larve der Drachen-
fliege wie in dem Fische Cobitis. Wendet man die Hydra wie
einen Handschuh um, das Innere nach aussen, so verdaut die
äussre Oberfläche und die innre athmet. In solchen Fällen hätte
durch die Natürliche Züchtung ganz leicht ein Theil oder Organ,
welches bisher zweierlei Verrichtungen gehabt hat, ausschliesslich
nur für einen der beiden Zwecke ausgebildet und die ganze
Natur des Thieres allmählich umgeändert werden können, wenn
Diess für dasselbe von Anfang an nützlich gewesen wäre. Gewisse
Pflanzen, wie namentlich einige Hülsen-Gewächse, Violaceen u. 4.
bringen zwei Arten von Blüthen, die einen mit der ihrer Ordnung
zustehenden Bildung, die andern verkümmert, aber zuweilen
201
fruchtbarer als die ersten. . Unterliesse nun eine solche Pflanze
mehre Jahre lang Blüthen der ersten Art zu bringen, wie es ein
in Frankreich eingeführtes Exemplar von Aspicarpa wirklich
gethan, so würde in der That eine grosse und plötzliche Um-
wandlung in der Natur der Pflanze eintreten. Zwei verschiedene
Organe verrichten zuweilen miteinander einerlei Dienste in dem-
selben Individuum, wie es z. B. Fische gibt mit Kiemen, womit
sie die im Wasser vertheilte Luft einathmen, während sie zu
gleicher Zeit atmosphärische Luft mit ihrer. Schwimmblase zu
athmen im Stande sind, welche zu dem Ende durch einen Luft-
gang mit dem Schlunde verbunden und innerlich von sebr Geläss-
reichen Zwischenwänden durchzogen ist (Lepidosiren). In diesem
Falle kann leicht eines von beiden Organen verändert und so
vervollkommnet werden, dass es immer mehr die ganze Arbeit
allein übernimmt, während das andre entweder zu einer neuen
Bestimmung übergeht oder gänzlich verkümmert.
Diess Beispiel von der Schwimmblase der Fische ist sehr
belehrend, weil es uns die hoch-wichtige Thatsache zeigt, wie
ein ursprünglich zu einem besondren Zwecke, zum Schwimmen
nämlich, gebildetes Organ für eine ganz andre Verrichtung um-
geändert werden kann, und zwar für die Athmung. Auch ist
die Schwimmblase als ein Nebenbestandtheil für das Gehör-Organ
mancher Fische mit verarbeitet worden, oder es ist (ich weiss
nicht, welche Deutungs-Weise jetzt am allgemeinsten angenommen
wird) ein Theil des Gehör-Organes zur Ergänzung der Schwimm-
blase verwendet worden. Alle Physiologen geben zu, dass die
Schwimmblase in Lage und Struktur »homolog« oder »ideal gleich«
seye den Lungen höherer Wirbelthiere; daher die Annahme,
Natürliche Züchtung habe eine Schwimmblase in eine Lunge oder
ein ausschliessliches Athem-Organ verwandelt, keinem grossen
Bedenken zu unterliegen scheint.
Ich kann in der That kaum bezweifeln, dass alle Wirbel-
thiere mit ächten Lungen auf dem gewöhnlichen Fortpflanzungs-
Wege von einem alten unbekannten Urbilde mit einem Schwimm-
Apparat oder einer Schwimmblase herstammen. So mag man
sich, wie ich aus Professor Owen’s interessanter Beschreibung
202
dieser Theile entnehme, die sonderbare Thatsache erklären, wie
es komme, dass jedes Theilchen von Speise und Trank, die wir
zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten
muss mit einiger Gefahr in die Lungen zu fallen, der sinnreichen
Einrichtung ungeachtet, wodurch der Kehldeckel geschlossen wird,
Bei den höheren Wirbelthieren sind die Kiemen gänzlich ver-
schwunden, aber die Spalten an den Seiten des Halses und der
Schlingen-förmige Verlauf der Arterien scheinen in dem Embryo
des Menschen noch ihre frühere Stelle anzudeuten. Doch wäre
es begreiflich gewesen, wenn die jetzt gänzlich verschwundenen
Kiemen durch Natürliche Züchtung zu einem ganz anderen Zwecke
umgearbeitet worden wären; wie nach der Ansicht einiger Natur-
forscher, dass die Kiemen und Rückenschuppen gewisser Ringel-
würmer mit den Flügeln und Flügeldecken der sechsfüssigen
Insekten homolog sind, es wahrscheinlich wäre, dass Organe,
die in sehr alter Zeit zur Athmung gedient, jetzt zu Flug-Organen
umgewandelt seyen. | |
Was den Übergang der Organe zu andern Funktionen betriftt,
ist es so wichtig sich mit der Möglichkeit desselben vertraut zu
machen, dass ich noch ein weitres Beispiel anführen will. Die
gestielten Rankenlüsser (Cirripedes) haben zwei kleine Hautfalten,
von mir Eier-Zügel cenannt, welche bestimmt sind, mittelst einer
klebrigen Absonderung die Eier zurückzuhalten, so lange sie im
Eiersack ausgebrütet werden. Diese Rankenfüsser haben: keine
Kiemen, indem die ganze Oberfläche des Körpers und Sackes
mit Einschluss der kleinen Zügel zur Athmung dient. Die Bala-
niden oder sitzenden Cirripeden dagegen haben keine solche
Zügel, indem die Eier lose auf dem Grunde des Sackes in der
wohl geschlossenen Schaale liegen; aber sie haben grosse faltige
Kiemen. Nun denke ich, wird Niemand bestreiten, dass die
Eier-Zügel der einen Familie homolog mit den Kiemen der andern
sind, wie sie denn auch in der That stufenweise in einander
übergehen. Daher bezweifle ich nicht, dass kleine Hautfalten,
welche hier anfangs als Eier- Zügel gedient und in geringem
Grade schon bei der Athmung mitgewirkt, durch Natürliche
Züchtung stufenweise in Kiemen verwandelt worden sind bloss
203
durch Vermehrung ihrer Grösse bei gleichzeitiger Verkümmerung
der ihnen anhängenden Drüsen. Wären alle gestielten Cirripeden
erloschen (und sie haben bereits mehr Vertilgung erfahren als
die sitzenden): wie hätten wir uns je denken können, dass die
Athmungs-Organe der Balaniden ursprünglich den Zweck gehabt
hätten, die zu frühzeitige Ausführung der Eier aus dem Biersack
zu verhindern? |
Obwohl ich gemahnt habe vorsichtig bei der Annahme zu
seyn, dass ein Organ nicht möglicher Weise durch ganz allmäh-
liche Übergänge gebildet worden seyn könne, so gebe ich doch
gerne zu, dass sehr schwierige Fälle vorkommen mögen, deren
einige ich in meinem grösseren Werke zu erörtern gedenke.
Einen der schwierigsten bilden die Geschlecht-losen Kerb-
thiere, die oft sehr abweichend sowohl von den Männchen als
den fruchtbaren Weibchen ihrer Spezies gebildet sind, auf. wel-
chen Fall ich jedoch im nächsten Kapitel zurückkommen will.
Die elektrischen Organe der Fische bieten einen andren Fall von
eigenthümlicher Schwierigkeit dar; es ist unbegreiflich, durch
welche Abstufungen die Bildung dieser wundersamen Organe
bewirkt worden seyn mag. Doch gleicht nach R. Owens u. A.
Bemerkung ihre innerste Struktur ganz derjenigen gewöhnlicher
Muskeln, und da unlängst gezeigt worden, dass Rochen ein dem
elektrischen Apparate ganz analoges Organ besitzen, aber nach
Marteuccı s Versicherung keine Elektricität entladen, so müssen
wir gestehen, dass wir viel zu unwissend sind um behaupten
zu dürfen, dass kein Übergang irgend einer Art möglich seye.
Die elektrischen Organe bieten aber noch andre sehr ernst-
liche Schwierigkeiten dar. Wenn ein und dasselbe Organ in
verschiedenen Gliedern einer Klasse und zumal mit sehr aus-
einander-gehenden Gewohnheiten auftritt, so mag man seine An-
wesenheit in diesen Gliedern durch Erbschaft von einem gemein-
samen Stamm-Vater und seine Abwesenheit in andern durch
Verlust in Folge von Nichtgebrauch oder Natürlicher Züchtung
erklären. Hätte sich aber das elektrische Organ von einem alten
damit versehen gewesenen Vorgänger auf jene Fische vererbt,
so dürften wir erwarten, dass alle noch elektrischen Fische auch
204
sonst in näherer Weise mit einander. verwandt seyen. Nun gibt
aber die Paläontologie durchaus keine Veranlassung zu glauben,
dass vordem die meisten Fische mit elektrischen Organen ver-
sehen gewesen seyen, welche fast alle ihre Nachkommen ein-
gebüsst hätten. Die Anwesenheit leuchtender Organe in einigen
wenigen Insekten aus den manchfaltigsten Familien und Ordnungen
bietet einen damit gleichlaufenden schwierigen Fall dar. Man
könnte deren noch mehr anführen, wie denn z. B. im Pflanzen-
Reiche die ganz eigenthümliche Entwickelung einer Masse von
Pollen-Körnern auf einem Fussgestelle mit einer klebrigen Drüse
an dessen Ende bei Orchis und bei Asclepias, zweien unter den
Blüthen-Pflanzen möglich weit auseinanderstehenden Sippen, ganz
die nämliche ist. Doch kann man bemerken, dass in solchen
Fällen,‘ wo zwei sehr verschiedene Arten mit anscheinend dem-
selben anomalen Organe versehen sind, doch gewöhnlich einige
Grund-Verschiedenheiten sich daran entdecken lassen. Ich möchte
glauben, dass fast in gleicher Weise, wie zwei Menschen zu-
weilen unabhängig von einander auf genau die nämliche Ent-
deckung verfallen sind, so habe auch die Natürliche Züchtung,
zum Besten eines jeden Wesens wirkend und von allen analogen
Abänderungen Vortheil ziehend, zuweilen zwei Theile auf fast
ganz gleiche Weise in zwei organischen Wesen modifizirt, welche
ihrer Abstammung von einem nämlichen Stamm-Vater nur wenig
Gemeinsames’ in ihrer Organisation verdanken.
Obwohl es in vielen Fällen sehr schwer ist zu errathen,
durch welche Übergänge die Organe zu ihrer jetzigen Beschaffen-
heit gelangt seyen, so bin ich doch, in Betracht der sehr ge-
ringen Anzahl noch lebender und bekannter gegenüber den unter-
gegangenen und unbekannten Formen, sehr darüber erstaunt ge-
wesen zu finden, wie selten ein Organ vorkommt, zu welchem
nicht einige Übergangs - Stufen führten. "Die Wahrheit dieser
Bemerkung ist schon in der alten obwohl etwas übertriebenen
naturgeschichtlichen Regel »Natura non facit saltum« anerkannl,
Wir finden Diess in den Schriften fast aller erfahrenen Natur-
forscher angenommen; Mine Enwarps hat es mil den Worten
ausgedrückt: Die Natur ist verschwenderisch in Abänderungen,
205
aber geitzig in Neuerungen. Wie sollte es nach der Schöpfungs-
Theorie damit zugehen? woher sollte es kommen, dass alle Theile
und Organe so vieler unabhängiger Wesen, wenn jedes. der-
selben für ‘seinen eignen Platz in der Natur erschaffen worden,
doch durch ganz allmähliche Übergänge miteinander verkeitet
sind? Warum hätte die Natur nicht einen. Sprung von der einen
Organisation zur andern gemacht? Nach der Theorie Natürlicher
Züchtung dagegen können wir es klar begreifen, weil diese
sich nur ganz kleine allmähliche Abänderungen zu Nutzen macht;
sie kann nie einen Sprung machen, sondern muss mit kürzesten
und langsamsten Schritten voranschreiten,
Organe von anscheinend geringer Wichtigkeit.)
Da Natürliche Züchtung auf Leben und Tod arbeitet, indem sie
nämlich Individuen mit vortheilhaften Abänderungen erhält und
solche mit ungünstigen Abweichungen der Organisation unter-
drückt, so schien mir manchmal die Entstehung einfacher Theile
sehr schwer zu begreifen, deren Wichtigkeit nicht genügend er-
scheint, um die Erhaltung immer weiter abändernder Individuen
zu begründen. Diese Schwierigkeit, obwohl von ganz andrer
Art, schien mir manchmal eben so gross zu seyn als die hin-
sichtlich so vollkomnner und zusammengesetzter Organe, wie
die Augen.
‚Erstens aber wissen wir viel zu wenig von dem ganzen
Haushalte eines orgaßäschen Wesens, um sagen zu können,
welche: geringe Modifikationen für dasselbe wichtig seyn können,
und ich habe in einem früheren Kapitel Beispiele von sehr ge-
ringen Charaktern, wie den Flaum der Früchte und die Farbe
ihres Fleisches angeführt, welche in so ferne, als sie auf die
Angriffe der Insekten von Einfluss sind oder mit der Empfind-
lichkeit der Wesen für äussre Einflüsse in Zusammenhang stehen,
bei der Natürlichen Züchtung gewiss mit in Betracht kommen.
Der Schwanz der Giraffe sieht wie ein künstlich gemachter
Fliegenwedel aus, und es scheint anfangs unglaublich, dass der-
selbe durch kleine auleinanderlolgende Verbesserungen allmählich
zur unbedeutenden Bestimmung eines solchen Instrumentes her-
gerichtet worden seyn solle. Doch hüten wir uns gerade in
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206
diesem Falle uns allzu bestimmt auszusprechen, indeın wir ja wis-
sen, dass Daseyn und Verbreitungs-Weise des Rindes u.a. Thiere in
Süd-Amerika unbedingt von deren Vermögen abhängt den An-
griffen der Insekten zu widerstehen; daher Individuen, welche
einigermaassen mit Mitteln zur Vertheidigung gegen diese kleinen
Feinde versehen sind, geschickt wären sich mit grossem Vortheil
über neue Weide-Plätze zu verbreiten. Nicht als ob grosse
Säugthiere (einige seltene Fälle ausgenommen) jetzt durch Fliegen
vertilgt würden; aber sie werden von ihnen so unausgeseizt
ermüdet und geschwächt, dass sie Krankheiten, gelegentlichem
Futter-Mangel und den Nachstellungen der Raubthiere ‚in weil
grössrer Anzahl erliegen. |
Organe von jetzt unwesentlicher Bedeutung können den
ersten Stamm-Ältern zuweilen von hohem ‚Werthe gewesen und
nach früherer langsamer Vervollkommnung in ungefähr demselben
Zustande auf deren Nachkommen vererbt: worden seyn, obwohl
deren nunmehriger Nutzen nur noch unbedeutend ist, während
schädliche Abweichungen von dem früheren Baue durch Natür-
liche Züchtung fortdauernd gehindert werden. Wenn man be-
obachtet, was für ein wichtiges Organ des Ortswechsels der
Schwanz für die meisten Wasser-Thiere ist, so lässt sich seine
allgemeine Anwesenheit und Verwendung zu mancherlei Zwecken
bei so vielen Land-Thieren, welche durch modifizirte Schwimm-
blasen oder Lungen ihre Abstammung aus dem Wasser
verrathen, ganz wohl begreifen. Nachdem ein Wasser - Thier
einmal mit einem wohl-entwickelten Steuer-Schwanze ausgestattel
ist, kann derselbe später zu den manchfaltigsten Zwecken
umgearbeitet werden, zu einem Fliegenwedel, zu einem Greifwerk-
zeug, oder zu einem Mittel schneller Wendung des Laufes, wie
es beim Hunde der Fall ist, obwohl dieses Hilfsmittel nur: schwach
seyn mag, indem ja der Hase, fast ganz ohne Schwanz, sich
rasch genug zu wenden im Stande ist. |
Zweitens: dürften wir mitunter Charakteren eine grosse
Wichtigkeit zutrauen, die ihnen in Wahrheit nicht zukommt, und
welche von ganz sekundären Ursachen unabhängig von Natür-
licher Züchtung herrühren. Erinnern wir uns, dass Klima, Nah-
207
rung: u. s. w. wahrscheinlich einigen kleinen Einfluss auf die
Organisation haben; dass ältere Charaktere nach dem Gesetze
der Rückkehr wieder zum Vorschein kommen; dass Wechselbe-
ziehungen in der Entwickelung einen oft bedeutenden Einfluss
auf die Abänderung verschiedener Gebilde äussern, und endlich
dass sexuelle Zuchtwahl oft wesentlich auf solche äussere Cha-
raktere einer Thier-Art eingewirkt hat, welche dem mit andren
kämpfenden Männchen eine bessre Waffe oder einen besondren
Reitz in den Augen des Weibchens verliehen. Überdiess mag
eine aus den genannten Ursachen hervorgegangene Abänderung
der Struktur anfangs oft ohne Werth für die Art gewesen seyn,
‚späterhin aber bei deren unter neue Lebens-Bedingungen ver-
setzten und mit neuen Gewohnheiten versehenen Nachkommen
an Bedeutung gewonnen haben.
Ich will einige Beispiele zu Erläuterung dieser letzten Be-
merkung anführen. Wenn es nur grüne Spechte gäbe und wir
wüssten von schwarzen und bunten nichts, so würde ich mir zu
sagen erlauben, dass die grüne Farbe eine schöne Anpassung
und dazu bestimmt seye, diese an den Bäumen herumkletternden
Vögel vor den Augen ihrer Feinde zu verbergen, dass es mil-
hin ein für die Spezies wichtiger und durch Natürliche Züchtung
erlangter Charakter seye; so aber, wie sich die Sache verhält,
rührt die Färbung zweifelsohne von einer ganz andern Ursache
und wahrscheinlich von geschlechtlicher Zuchtwahl her. Eine
kletternde Bambus-Art im Malayischen Archipel steigt bis zu den
höchsten Baum-Gipfeln empor mit Hilfe ausgezeichneter Ranken,
welche Büchel-weise an den Enden der Zweige befestigt sind, und
diese Einrichtung ist zweifelsohne für die Pflanze von grösstem
Nutzen. Da wir jedoch fast ähnliche Ranken an vielen Pflanzen
sehen, welche nicht klettern, so mögen dieselben auch beim
Bambus von unbekannten Wachsthums-Gesetzen herrühren und
von der Pflanze erst später, als sie noch sonstige Abänderung
erfuhr und ein Kletterer wurde, zu ihrem Vortheile benützt und
weiter entwickelt worden seyn. Die nackte Haut am Kopfe des
Geyers wird gewöhnlich als eine unmittelbare Anbequemung des
oft in faulen Kadavern damit wühlenden Thieres betrachtet; in-
208
zwischen müssen wir vorsichtig seyn mit dieser Deutung, da ja
auch die Kopfhaut des ganz säuberlich fressenden Wälschhahns
nackt ist. Die Nähte an den Schädeln junger Säugthiere sind
als eine schöne Anpassung zur Erleichterung der Geburt darge-
stellt worden, und ohne Zweifel begünstigen sie dieselbe oder
sind sogar unentbehrlich; da aber auch solche Nähte an den
Schädeln junger Vögel und Reptilien vorkommen, welche nur
aus einem zerbrochenen Eie zu schlüpfen nöthig haben, so dür-
fen wir schliessen, dass diese Bildungs-Weise von den Wachs-
thums-Gesetzen herrühre und den höheren Wirbelthieren dann
nur gelegentlich auf jene Weise nütze.
Wir wissen ganz und gar nichts über die Ursachen, welche
die kleinen Abänderungen veranlassen, und fühlen Diess am
meisten, wenn wir über die Verschiedenheiten unsrer Hausthier-
Rassen in andern Gegenden und zumal bei minder zivilisir-
ten Völkern nachdenken, welche sich nicht mit planmässiger
Züchtung befassen. Sorgfältige Beobachter sind der Überzeu-
gung, dass ein feuchtes Klima den Haarwuchs befördre und däss
Horn mit Haar in gleicher Beziehung stehe. Gebirgs-Rassen sind
überall von Niederungs-Rassen verschieden, und Gebirgs-Gegen-
den werden wahrscheinlich auf die ‚Hinterbeine und allenfalls auf
das Becken wirken, sofern diese daselbst mehr in Anspruch
genommen werden; nach dem Gesetze homologer Variation wer-
den dann auch die vordren Gliedmaassen und wahrscheinlich der
Kopf mit betroffen werden. Auch dürfte die Form des Beckens
der Mutter durch Druck auf die Kopf-Form des Jungen in ihrem
Leibe wirken. Wahrscheinlich vermehrt auch die schwierigere
Athmung in hohen Gebirgen die Weite des Brusikastens, und
Diess nicht ohne Einfluss auf noch andre Theile. In verschiede-
nen Gegenden haben auch die von Wilden gehaltenen Hausthiere
um ihr eignes Daseyn zu kämpfen und mögen daher bis zu ge
wissem Grade noch Natürlicher Züchtung unterliegen. Daher
denn Individuen mit abweichender Konstitution in andern Klima-
ten besser fortkommen werden; nun dürften aber Konstitution
und Färbung in Wechselbeziehung mit einander stehen. Ein
guter Beobachter versichert, dass der Grad, in welchem das Rind
209
von Fliegen leidet, sowie der Gefahr seiner Vergiftung durch
gewisse Pflanzen von dessen Färbung abhänge; daher denn Fär-
bung den Einfluss Natürlicher Züchtung unterstützt. ‚Wir haben
aber viel zu wenig Erfahrung, um über die vergleichungsweise
Wichtigkeit der verschiedenen bekannten und unbekannten Ab-
änderungs-Gesetze Betrachtungen anzustellen, und ich habe hier
deren nur erwähnt um zu zeigen, dass, wenn wir nicht im
Stande sind, die charakteristischen Verschiedenheiten unsrer kul-
tivirtern Rassen zu erklären, welche doch allgemeiner Annahme
zufolge ' durch gewöhnliche Fortpflanzung entstanden sind, wir
auch unsre Unwissenheit über die genaue Ursache geringer ana-
loger Verschiedenheiten zwischen Arten nicht zu hoch anschlagen
dürfen. Ich möchte in dieser Beziehung die so scharf ausge-
prägten Unterschiede zwischen den Menschen-Rassen anführen,
über deren Entstehung sich vielleicht einiges Licht verbreiten
liesse durch die Annahme einer sexuellen Züchtung eigener Art;
doch würde es unnütz seyn dabei zu verweilen, indem ich mich
hier nicht auf die zur Erläuterung nöthigen Einzelheiten ein-
lassen kann.
Die voranstehenden Bemerkungen veranlassen mich auch
einige Worte über die neuerlich von mehren Naturforschern ein-
gelegte Verwahrung gegen die Nützlichkeits-Lehre zu sagen,
nach welcher nämlich alle Einzelnheiten der Bildung zum Vortheil
ihres Besitzers da seyn sollen. Dieselben sind der Meinung,
dass sehr viele organische Gebilde nur der Manchfaltigkeit wegen
vorhanden seyen oder um die Augen des Menschen zu ergötzen.
Wäre diese Lehre richtig, so müsste sie meiner Theorie unbe-
dingt verderblich werden. Doch gebe ich vollkommen zu, dass
manche Bildungen von keinem unmittelbaren Nutzen für deren
Besitzer sind. Die natürlichen Lebens-Bedingungen haben wahr-
scheinlich einigen geringen Einfluss auf die Organisation, möge
diese zu irgend etwas nützen oder nicht. Wechselbeziehungen
in der Entwickelung haben zweifelsohne ebenfalls einen sehr
grossen Antheil, und die nützliche Abänderung eines Organes hat
oft nutzlose Veränderungen auch in andern Theilen veranlasst.
So können auch Charaktere, welche vordem nützlich gewesen,
14
oder welche durch Wechselbeziehung in der früheren Entwicke.
lung oder durch ganz unbekannte Ursache entstanden, nach
den Gesetzen der Rückkehr wieder zum Vorschein kommen,
wenngleich sie keinen unmittelbaren Nutzen haben. Die Wir-
kungen der geschlechtlichen Züchtung, soferne sie in das Weib-
chen fesselnden Reitzen beruhen, können nur in einem mehr
gezwungenen Sinne nützlich genannt werden. Aber bei weitem
die wichtigste Erwägung ist die, dass der Haupttheil der Organi-
sation eines jeden Wesens einfach durch Erbschaft erworben ist,
daher denn auch, obschon zweifelsohne jedes Wesen für seinen
Platz im Haushalte der Natur ganz wohl gemacht seyn mag, viele
Bildungen keine unmittelbaren Beziehungen mehr zur Lebensweise
der gegenwärtigen Spezies haben. So können wir kaum glauben,
dass der Schwimmfuss des Fregattvogels oder der Landgans (Chloe-
phaga Maghellanica) diesen Vögeln von speziellem Nutzen seye;
und wir können nicht annehmen, dass die nämlichen Knochen im
Arme des Affen, im Vorderfuss des Pferdes, im Flügel der Fleder-
maus und im Ruder des Sechundes allen diesen Thieren einen
speziellen Nutzen bringe. Wir mögen diese Bildungen getrost als
Erbschaft ansehen; denn zweifelsohne sind Schwimmfüsse dem
Stammvater jener Gans und des Fregattvogels eben so nützlich
gewesen, als sie den meisten jetzt lebenden Wasservögeln sind,
So dürfen wir vermuthen, dass der Stammvater des Seehunds
nicht einen Ruderfuss, sondern einen fünfzehigen Geh- oder
Greif-Fuss besessen; wir dürfen ferner vermuthen, dass die ein-
zelnen von einem Stammvater ererbten Knochen in den Bei-
nen des Affen, des Pferdes, der Fledermaus ihrem gemeinsamen
Stammvater oder ihren Stammvätern vordem nützlicher gewesen
sind, als sie jetzt diesen in ihrer Lebensweise so weit ausein-
andergehenden Thieren sind. Wir können daher annehmen, diese
verschiedenen Knochen seyen durch Natürliche Züchtung ent-
standen, welche früher so wie jetzt den Gesetzen der Erblichkeit,
der Rückkehr, der Wechselbeziehung in der Entwickelung u. S. W.
unterlagen. Daher man von jeder Einzelnheit der Struktur in
jedem lebenden Geschöpfe (ausser einigen geringen Zugeständ-
nissen an den Einfluss der natürlichen äussren Bedingungen) an-
211
nehmen darf, sie seye einmal einem Vorfahren der Spezies von
besondrem Nutzen gewesen, oder sie seye jetzt, entweder direkt
oder durch verwickelte Wachsthumsgesetze indirekt, ein be-
sondrer Vortheil für die Abkömmlinge dieser Vorfahren.
Natürliche Züchtung kann nicht wohl irgend eine Abänderung
in einer Spezies bewirken, welche nur einer anderen Art
zum ausschliesslichen Vortheil gereichte, obwohl in der ganzen
Natur eine Spezies ohne* Unterlass von der Organisation einer
andern Nutzen- zieht. Aber Natürliche Züchtung kann auch oft
hervorbringen und bringt oft in Wirklichkeit solche Gebilde her-
vor, die einer andern Art zum unmittelbaren Nachtheil gerei-
chen, wie wir im Giftzahne der Otter und in der Legeröhre des
Ichneumon sehen, welcher mit deren Hülfe seine Eier in den
Körper andrer lebenden Insekten einführt. Liesse sich bewei-
sen, dass irgend ein Theil der Organisation einer Spezies zum
ausschliesslichen Besten einer andern Spezies gebildet worden
seye, so wäre meine Theorie vernichtet, weil eine solche Bildung
nicht durch Natürliche Züchtung bewirkt werden kann. Obwohl
in naturhistorischen Schriften vielerlei Behauptungen in dieser
Hinsicht aufgestellt werden, so kann ich doch keine darunter von
einigem Gewichte finden. 50 gesteht man zu, dass die Klapper-
schlange einen Giftzahn zu ihrer eignen Vertheidigung und
zur Tödtung ihrer Beute besitze; aber einige Autoren unter-
stellen auch, dass sie ihre Klapper zu ihrem eignen Nachtheile
erhalten habe, nämlich um ihre Beute zu warnen und zur Flucht
zu veranlassen. Man könnte jedoch eben so gut behaupten, die
Katze mache die Wellenkrümmungen mit dem Ende ihres Schwan-
zes, wenn sie im Begriffe einzuspringen ist, in der Absicht um
die bereits zum Tode verurtheilte Maus zu warnen. Doch, ich
habe hier nicht Raum auf diese und andre Fälle noch weiter
einzugehen.
Natürliche Züchtung kann in keiner Spezies irgend etwas für
dieselbe Schädliches erzeugen, indem sie ausschliesslich nur durch
und zu deren Vortheil wirkt. Kein Organ kann, wie Parey be-
merkt, ‚gebildet werden um seinem Besitzer Qual und Schaden zu
bringen. Eine genaue Abwägung zwischen dem Nutzen und
14 *
212
Schaden, welchen ein jeder Theil verursacht, wird immer zeigen,
dass er im Ganzen genommen vortheilhaft ist. Wird etwa in
spätrer Zeit bei wechselnden Lebens-Bedingungen ein Theil
schädlich, so wird er entweder verändert, oder die Art geht .zu
Grunde, wie ihrer Myriaden zu Grunde gegangen sind.
Natürliche Züchtung strebt jedes organische Wesen eben so
vollkommen oder ein wenig vollkommener als die übrigen Bewoh-
ner derselben Gegend zu machen, mit’ welchen dieselbe um sein
Daseyn zu ringen hat. Und wir sehen dass Diess der Grad von
Vollkommenheit ist, welchen die Natur erstrebt. Die Neuseeland
eigenthümlichen Natur-Erzeugnisse sind vollkommen, eines mit
den andern verglichen; aber sie weichen jetzt rasch zurück vor
den vordringenden Legionen aus Europa eingeführter Pflanzen
und Thiere. Natürliche Züchtung wird keine absolute Vollkommen-
heit herstellen; auch begegnen wir, so viel sich beurtheilen
lässt, einer so hohen Stufe nirgends in der Natur. Die Ver-
besserung für die Abweichung des Lichtes ist, wie ein ausge-
zeichneter Gewährsmann erklärt, selbst in dem vollkommensten
aller Organe, dem Auge, noch nicht vollständig. Wenn uns
unsre Vernunft zu begeisterter Bewunderung einer Menge un-
nachahmlicher Einrichtungen in der Natur auffordert, so lehrt
uns auch diese nämliche Vernunft, dass wir: leicht nach beiden
Seiten irren können, indem andre Einrichtungen weniger voll-
kommen sind. Wir können nie den Stachel der Wespe oder
Biene als vollkommen betrachten, der, wenn er einmal gegen
die Angriffe von mancherlei Thieren angewandt worden, den un-
vermeidlichen Tod seines Besitzers bewirken muss, weil er sei-
ner Widerhaken wegen nicht mehr aus der Wunde, die er
gemacht hat, zurückgezogen werden kann, ohne die Eingeweide
des Insekts nach sich zu ziehen.
Nehmen wir an, der Stachel der Biene seye bei einer sehr
frühen Stammform bereits als Bohr- und Säge-Werkzeug hestan-
den, wie es häufig bei andern Gliedern der Hymenopteren-Ord-
nung vorkommt, und seye für seine gegenwärtige Bestimmung
mit dem ursprünglich zur Hervorbringung von Gallen-Auswüch-
sen bestimmten Gifte umgeändert aber nicht zugleich verbesserl
213
worden, so können wir vielleicht begreifen, warum der Gebrauch
dieses Stachels so oft des Insektes eignen Tod veranlasst; denn
wenn das Vermögen zu stechen der ganzen Bienen-Gemeinde
nützlich ist, so mag er allen Anforderungen der Natürlichen
Züchtung entsprechen, obwohl seine Beschaffenheit den Tod der
einzelnen Individuen veranlasst, die ihn anwenden. Wenn wir über
dass wirklich wunderbar scharfe Witterungs-Vermögen erstaunen,
nit dessen Hilfe manche. Männchen ihre Weibchen ausfindig zu
machen im Stande sind, können wir dann auch die für diesen
einen Zweck bestimmte Hervorbringung von Tausenden von Dro-
nen bewundern, welche, der Gemeinde für jeden andern Zweck
gänzlich nutzlos, bestimmt sind zuletzt von ihren arbeitenden
aber unfruchtbaren Schwestern umgebracht zu werden® Es mag
schwer seyn, aber wir müssen den wilden Instinkt-mässigen Hass
der Bienenkönigin bewundern, welcher sie beständig drängt, die
jungen Königinnen, ihre Töchter, augenblichlich nach ihrer Geburt
zu tödten oder selbst in dem Kampfe zu Grunde zu gehen;
denn unzweifelhaft ist Diess zum Besten der Gemeinde, und
mütterliche Liebe oder mütterlicher Hass, obwohl dieser letzte
glücklicher Weise viel seltener ist, gilt dem unerbittlichen Prin-
zipe Natürlicher Züchtung völlig gleich. Wenn wir die verschie-
denen sinnreichen Einrichtungen vergleichen, vermöge welcher
die Blüthen der Orchideen und mancher andren Pflanzen vermit-
telst Insekten-Thätigkeit befruchtet werden, wie können wir dann
die Anordnung bei unsren Nadelhölzern als gleich vollkommne
ansehen , vermöge welcher grosse und dichte Staubwolken. von
Pollen hervorgebracht werden müssen, damit einige Körnchen
davon durch einen günstigen Lufthauch dem Eiichen zugeführt
werden mögen? |
Zusammenfassung des Kapitels. Wir haben in diesem
Kapitel gewisse Schwierigkeiten und Einwendungen erörtert,
welche sich meiner Theorie entgegenstellen. Einige derselben sind
sehr ernster Art; doch glaube ich, dass durch ihre Erörterung
einiges Licht über mehre Thatsachen verbreitet worden, welche .
dagegen nach der Theorie der unabhängigen Schöpfungs - Akte
ganz dunkel bleiben würden. Wir haben gesehen, dass Arten
214
zu irgend welcher Zeit nicht ins Endlose abändern können und
nicht durch zahllose Ubergangs-Formen unter einander zusammen-
hängen, theils weil der Prozess Natürlicher Züchtung immer sehr
langsam ist und jederzeit nur auf sehr wenige Formen wirkt,
und theils weil gerade der Prozess Natürlicher ‚Züchtung auch
meistens die fortwährende Ersetzung und Erlöschung vorhergehen-
der und mittler Abstufungen schon in sich schliesst. Nahe ver-
wandte Arten, welche jetzt auf einer zusammenhängenden Fläche
wohnen, mögen oft gebildet worden ‚seyn, als die Fläche noch
nicht zusammenhängend war und die Lebens-Bedingungen nicht
unmerkbar von einer Stelle zur andern abänderten. Wenn: zwei
Varietäten an zwei Stellen eines zusammenhängenden Gebietes sich
bildeten, so wird oft auch eine mittle Varietät für eine mittle Zone
entstanden seyn; aber aus angegebenen Gründen wird die mitte
Varietät gewöhnlich in geringerer Anzahl als die zwei durch sie
verbundenen Abänderungen vorhanden gewesen seyn, welche
mithin im Verlaufe weitrer Umbildung sich durch ihre grössre
Anzahl in entschiedenem Vortheil vor den andren befanden und
mithin gewöhnlich auch im Stande waren sie zu ersetzen und zu
vertilgen.
Wir haben in diesem Kapitel gesehen, wie vorsichtig man
seyn muss zu schliessen, dass die verschiedenartigsten Gewohn-
heiten des Lebens nicht in einander übergehen können, ‘dass eine
Fledermaus z. B. nicht etwa auf dem Wege Natürlicher Züchtung
entstanden seyn könne von einem Thiere, welches bloss durch
die Luft zu gleiten im Stande war. Br,
Wir haben gesehen, dass eine Art unter veränderten Lebens-
Bedingungen ihre Gewohnheiten ändern oder vermanchfaltigen und
manche Sitten annehmen könne, die von denen ihrer nächsten
‚ Verwandten abweichen. Daraus können wir begreifen, wenn
wir uns zugleich erinnern, dass jedes organische Wesen ge-
drängt wird zu leben wo es immer leben kann, wie es zuge-
sangen, dass es Land-Gänse mit Schwimmfüssen, an Boden le-
bende Spechte, tauchende Drosseln und Sturmvögel mit den Sit-
ten der Alke gebe.
Obwohl die Meinung, dass ein so vollkommenes Organ, als
kun Bu 23 Ze
215
das Auge ist, durch Natürliche Züchtung hervorgebracht werden
könne, mehr als genügt um jeden wankend zu machen, so ist
doch keine logische Unmöglichkeit vorhanden, dass irgend ein
Organ unter veränderlichen Lebens-Bedingungen durch eine lange
Reihe von Abstufungen in seiner Zusammensetzung, deren jede
dem Besitzer nützlich ist, endlich jeden begreiflichen Grad von
Vollkommenheit auf dem Wege Natürlicher Züchtung erlange.
In Fällen, wo wir keine Zwischenzustände kennen, müssen wir
uns wohl zu schliessen hüten, dass solche niemals bestanden ‘
hatten; denn die Homologien vieler Organe und ihre Zwischen-
stufen zeigen, dass wunderbare Veränderungen in ihren Verrich-
tungen wenigstens möglich sind. So ist z. B. eine Schwimm-
blase offenbar in eine Luft-athmende Lunge verwandelt worden.
Übergänge müssen namentlich oft in hohem Grade erleichtert
worden seyn da, wo ein und dasselbe Organ mehre sehr ver-
schiedene Verrichtungen zugleich zu besorgen hatte und dann
nur für eine von beiden Verrichtungen allein noch besser her-
gestellt zu werden brauchte, und da wo gleichzeitig zwei sehr
verschiedene Organe an derselben Funktion theilnahmen und
das eine mit Unterstützung des andern sich weiter vervollkomm-
nen konnte.
Wir sind in Bezug auf die meisten Fälle viel zu unwissend,
um behaupten zu dürfen, dass ein Theil oder Organ für das Ge-
deihen einer Art unwesentlich seye, und dass Abänderungen sei-
ner Bildung nicht durch Natürliche Züchtung mittelst langsamer
Häufung haben bewirkt werden können. Doch dürfen wir ZuVver-
sichtlich annehmen, dass viele Abänderungen gänzlich nur von
den Wachsthums-Gesetzen veranlasst und, anfänglich ohne allen
Nutzen für die Art, später zum Vortheil weiter ungeänderter
Nachkommen dieser Art verwendet. worden sind. Wir dürfen
ferner glauben, dass ein für frühere Formen hochwichtiger Theil
auch von späteren Formen (wie der Schwanz eines Wasser-
'Thieres von den davon abstammenden Land-Thieren) beibehalten
worden ist, obwohl er für dieselben so unwichtig erscheint, dass
er in seinem jetzigen Zustande nicht durch Natürliche Züchtung
erworben seyn könnte, indem diese Kraft nur auf die Erhaltung
216
solcher Abänderungen gerichtet ist, welche im Kampfe um’s Da:
seyn nützlich sind. |
Natürliche Züchtung erzeugt bei keiner Spezies etwas, das
zum ausschliesslichen Nutzen oder Schaden einer andern wäre;
obwohl sie Theile, Organe und Exkretionen herstellen kann, die,
wenn auch für andre sehr nützlich und sogar unentbehrlich oder
in hohem Grade verderblich. doch in allen Fällen zugleich nütz-
lich für den Besitzer sind. Natürliche Züchtung muss in jeder
wohl-bevölkerten Gegend in Folge hauptsächlich der Mitbewer-
bung der Bewohner unter einander nothwendig auf Verbesse-
rung oder Kräftigung für den Kampf um’s Daseyn hinwirken,
doch lediglich nach dem für diese Gegend giltigen Maassstab,
Daher die Bewohner einer, und zwar gewöhnlich der kleineren,
Gegend oft vor denen einer andern und gemeiniglich grösseren
zurückweichen müssen. Denn in der grösseren Gegend werden
mehr Individuen und mehr differenzirte Formen existirt haben,
wird die Mitbewerbung stärker gewesen und mithin das Ziel der
. Vervollkommnung höher gesteckt gewesen seyn. Natürliche Züch-
tung wird nicht nothwendig absolute Vollkommenheit ‚hervor-
bringen, und diese ist auch, so viel wir mit unsern beschränkten
Fähigkeiten zu beurtheilen vermögen, nirgends zu finden,
Nach der. Theorie der Natürlichen Züchtung lässt sich die
ganze Bedeutung des alten Glaubenssatzes in der Naturgeschichte
»Natura non facit saltum« verstehen. Dieser Satz ist, wenn
wir nur die jetzigen Bewohner der Erde berücksichtigen, nicht
ganz richtig, muss aber nach meiner Theorie vollkommen wahr
seyn, wenn wir alle Wesen vergangener Zeiten mit einschliessen.
Es ist allgemein anerkannt, dass alle organischen Wesen nach
zwei grossen Gesetzen gebildet worden sind: Einheit des Typus
und Anpassung an die Existenz-Bedingungen. Unter Einheit des
Typus begreift man die Übereinstimmung im Grundplane des Baues,
‘wie wir ihn bei den Wesen eines Unterreiches finden, und welcher
ganz unabhängig von ihrer Lebensweise ist. Nach meiner Theorie
erklärt sich die- Einheit des Typus aus der Einheit der Abstam-
mung. Die Anpassung an die Lebens-Bedingungen, so oft von dem
berühmten Cuvıer in Anwendung gebracht, ist in meinem Prin-
217
zipe der Natürlichen Züchtung vollständig mit inbegriffen. Denn
die Natürliche Züchtung wirkt nur in soferne, als sie die ver-
änderlichen Theile eines jeden Wesens seinen organischen und
unorganischen Lebens-Bedingungen entweder jetzt anpasst oder
in längst vergangenen Zeit-Perioden angepasst hat. Diese An-
passungen können in manchen Fällen durch Gebrauch und Nicht-
gebrauch unterstützt, durch direkte Einwirkung äussrer Lebens-
Bedingungen modifizirt werden und sind in allen Fällen den ver-
schiedenen Entwicklungs-Gesetzen unterworfen. Daher ist denn
auch das Gesetz der Anpassung an die Lebens-Bedingungen in
der That das höhere, indem es vermöge der Erblichkeit früherer
Anpassungen das der Einheit des Typus mit in sich begreift.
Siebentes Kapitel,
Instinkt.
Instinkte vergleichbar mit Gewohnheiten, doch andern Ursprungs. — Abstu
fungen. — Blattläuse und Ameisen. — Instinkte veränderlich. -—- Instinkte
gezähmter Thiere und deren Entstehung. — Natürliche Instinkte des Kuckucks,
des Strausses und der parasitischen Bienen. — Sklaven-machende Ameisen.
— Honigbienen und ihr Zellenbau-Instinkt. — Schwierigkeiten der Theorie
Natürlicher Züchtung in Bezug auf Instinkt. — Geschlechtlose oder un-
fruchtbare Insekten. — Zusammenfassung. |
Der Instinkt hätte woh) noch in den vorigen Kapiteln mit
abgehandelt werden sollen; doch habe. ich es für angemessener
erachtet den Gegenstand abgesondert zu behandeln, zumal ein
so wunderbarer Instinkt, wie der der Zellen-bauenden Bienen
ist, wohl manchem Leser eine genügende Schwierigkeit geschie-
nen haben mag, um meine Theorie über den Haufen zu werfen.
Ich muss vorausschicken, dass ich nichts mit dem Ursprung der
geistigen Grundkräfte noch mit dem des Lebens selbst zu schal-
fen habe. Wir haben es nur mit der Verschiedenheit des In-
stinktes und der übrigen geistigen Fähigkeiten der Thiere in
einer und der nämlichen Klasse zu thun.
Ich will keine Definition des Wortes zu geben versuchen.
218
Es würde leicht seyn zu zeigen, dass gewöhnlich ganz verschie.
dene geistige Fähigkeiten unter diesem Namen begriffen werden.
Doch weiss jeder, was damit gemeint ist, wenn ich sage, der
Instinkt veranlasse den Kuckuck zu wandern und seine Eier in
fremde Nester zu legen. ‘Wenn eine Handlung, zu deren Voll-
ziehung selbst von unserer Seite Erfahrung vorausgesetzt wird,
von Seiten eines Thieres und besonders eines sehr jungen Thie-
res noch ohne alle Erfahrung ausgeübt wird, und wenn sie auf
gleiche Weise von vielen Thieren erfolgt, ohne dass diese ihren
Zweck kennen, so wird sie gewöhnlich eine instinktive Handlung
genannt. Ich könnte jedoch zeigen, dass keiner von diesen Cha-
rakteren des Instinkts allgemein ist. Eine kleine Dosis von Ur-
theil oder Verstand, wie Pierre Huger es ausdrückt, kommt oft
mit in's Spiel, selbst bei Thieren, welche sehr tief auf der Stu-
fenleiter der Natur stehen.
Frieprıch Cuvier und verschiedene ältre Metaphysiker haben
Instinkt mit Gewohnheit verglichen. Diese Vergleichung scheint
mir eine sehr genaue Nachweisung von den Schranken des Gei- »
stes zu geben, innerhalb welcher die Handlung vollzogen wird,
aber nicht von ihrem Ursprunge. Wie unbewusst werden manche
unsrer Handlungen vollzogen, ja nicht selten in.geradem Gegen-
satz mit unsrem bewussten Willen! Doch können sie durch den
Willen oder Verstand abgeändert werden. Gewohnheiten ver-
binden sich leicht mit andern Gewohnheiten oder mit gewissen
Zeit-Abschnitten und Zuständen des Körpers. Einmal angenom-
men erhalten sie sich oft lebenslänglich. Es liessen sich noch
manche andre Ähnlichkeiten zwischen Instinkten und Gewohnhei-
ten nachweisen. Wie bei Wiederholung eines wohlbekannten
Gesanges, so folgt auch beim Instinkte eine Handlung auf die
andre durch eine Art Rhythmus. Wenn Jemand beim Gesange
oder bei Hersagung auswendig gelernter Worte unterbrochen
worden, so ist er gewöhnlich senöthigt, wieder etwas zurückzu-
gehen, um den Gedanken-Gang wieder zu finden. So sah es
P. Huser auch bei einer Raupen-Art, wenn sie beschäftigt war,
ihr sehr zusammengesetztes Gewebe zu fertigen; nahm er sie
heraus, nachdem dieselbe z. B. das letzte Sechstel vollendet
219
hatte, und setzte er sie in ein andres nur bis zum dritten Sechstel
vollendetes, so fertigte sie einfach den dritten, vierten und fünf-
ten Theil nochmals mit dem sechsten an. Nahm er sie aber aus
einem z. B. bis zum dritten Theile vollendeten Gewebe und
setzte sie in ein bis zum sechsten Theile fertiges, SO dass sie
ihre Arbeit schon größstentheils gethan fand, so war sie sehr
entfernt, diesen Vortheil zu fühlen und fing in grosser Befangen-
heit über diesen Stand der Sache die Arbeit nochmals vom drit-
ten Stadium an, da wo sie solche in ihrem eignen Gewebe ver-
lassen hatte, und suchte von da aus das schon fertige Werk zu
Ende zu führen. |
Wenn sich nun, wie ich in einigen Fällen es zu können
glaube, nachweisen liesse, dass eine durch Gewohnheit angenom-
mene Handlungs- Weise auch auf die Nachkommen vererblich
seye, so würde das, was ursprünglich Gewohnheit war, von In-
stinkt nicht mehr unterscheidbar seyn. Wenn Mozart statt in
einem Alter von drei Jahren das Pianoforte mit wundervoller
kleiner Fertigkeit zu spielen, ohne alle vorgängige Übung eine
Melodie angestimmt hätte, so könnte man mil Wahrheit sagen,
er habe Diess Instinkt-mässig gethan. Es würde aber ein sehr
ernster Irrthum seyn anzunehmen, dass die Mehrzahl der In-
stinkte durch Gewohnheit schon während einer Generation er-
worben und dann auf die nachfolgenden Generationen vererbt
worden seye. Es lässt sich genau nachweisen, dass die wunder-
barsten Instinkte, die wir kennen, wie die der Korb-Bienen und
vieler Ameisen, unmöglich in solcher Frist erworben worden
seyn können.
Man gibt allgemein zu, dass für das Gedeihen einer jeden
Spezies in ihren jetzigen Existenz-Verhältnissen Instinkte eben
so wichtig sind, als die Körper-Bildung. Ändern sich die Le-
bens-Bedingungen einer Spezies, so ist es wenigstens möglich,
dass auch geringe Änderfingen in ihrem Instinkte für sie nülz-
lich seyn würden. Wenn sich nun nachweisen lässt, dass In-
stinkte wenn auch noch so wenig variiren, .dann kann ich keine
Schwierigkeit für die Annahme sehen, dass Natürliche Züchtung
auch geringe Abänderungen des Instinktes erhalte und durch
220
beständige Häufung bis zu einem vortheilhaften Grade vermehre.
So dürften, wie ich glaube, alle und auch die zusammengesetz-
testen und wunderbarsten Instinkte entstanden seyn. Wie Ab-
ändernngen im Körper-Bau durch Gebrauch und Gewohnheit ver-
anlasst und verstärkt, dagegen durch Nichtgebrauch verringert
und ganz eingebüsst werden können, so ist es zweifelsohne auch
mit den Instinkten. Ich glaube aber, dass die Wirkungen der
Gewohnheit von ganz untergeordneter Bedeutung sind gegenüber
den Wirkungen Natürlicher Züchtung auf sogenannte zufällige
Abänderungen des Instinktes, d. h. auf Abänderungen in Folge
unbekannter Ursachen, welche geringe Abweichungen in der
Körper-Bildung veranlassen.
Kein zusammengesetzter Instinkt kann durch Natürliche Züch-
tung anders als durch langsame und stufenweise Häufung vieler
geringen und nutzbaren Abänderungen hervorgebracht werden.
Hier müssten wir, wie bei der Körpvr-Bildung,, in der Natur zwar
nicht die wirklichen Übergangs-Stu‘en, die der zusammengesetzle
Instinkt bis zu seiner jetzigen Vollkommenheit durchlaufen hat und
welche bei. jeder Art nur in ihrem Vorgänger gerader Linie zu
entdecken seyn würden, wohl aber einige Spuren solcher Ab-
stulungen in den Seitenlinien von gleicher Abstammung finden,
oder wenigstens nachweisen können, dass irgend welche Abstu-
lungen möglich sind; und dazu sind wir gewiss im Stande. Ob-
wohl indessen die Instinkte fast nur in Europa und Nord-Amerika
lebender Thiere näher beobachtet worden und die der unterge-
gangenen Thiere uns ganz unbekannt sind, so war ich doch er-
staunt zu finden, wie ganz allgemein sich Abstufungen bis zu den
Instinkten der zusammengesetztesten Art entdecken lassen. In-
stinkt-Änderungen mögen zuweilen dadurch erleichtert werden,
dass eine und dieselbe Species verschiedene Instinkte in verschie-
denen Lebens-Perioden oder Jahreszeiten besitzt, oder ‘dass sie
unter andre äussre Lebens-Bedingungen versetzt wird, in welchen
Fällen dann wohl entweder nur der eine oder nur der andre durch
Natürliche Züchtung erhalten werden wird. Beispiele von solcher
Verschiedenheit des Instinktes lassen sich in der Natur nachweisen.
Nun ist, ‘wie bei der Körper-Bildung auch meiner Theorie
221
gemäss der Instinkt einer jeden Art nützlich für diese und, so
viel wir wissen, niemals zum ausschliesslichen Nutzen andrer
Arten vorhanden. Eines der triftigsten Beispiele, die ich kenne,
von Thieren, welche anscheinend zum blossen Besten andrer
etwas thun, liefern die Blattläuse , indem sie freiwillig den Ameisen
ihre süssen Exkretionen überlassen. Dass sie Diess freiwillig thun,
geht aus folgenden Thatsachen hervor. Ich entfernte alle Ameisen
von einer Gruppe von etwa zwölf Aphiden auf einer Ampfer-Pflanze
und hinderte ihr Zusammenkommen einige Stunden lang. Nach
dieser Zeit nahm ich wahr, dass die Blattläuse das Bedürfniss der
Exkretion hatten. Ich beobachtete sie eine Zeit lang durch eine
Lupe: aber nicht eine gab eine Exeretion von sich. Darauf streichelte
und kitzelte ich sie mit einem Haare auf dieselbe Weise, wie
es die Ameisen mit ihren Fühlern machen, aber keine Excretion
erfolgte. Nun liess ich eine Ameise zu, und aus ihrem Wider-
streben sich von den Blattläusen zurücktreiben zu lassen, schien
hervorzugehen, dass sie augenblicklich erkannt hatte, welch’ ein
reicher Genuss ihrer harre. ‘Sie begann dann mit ihren Fühlern
den Hinterleib erst einer und dann einer andren Blaltlaus zu
betasten, deren jede, so wie ‚sie die Berührung des Fühlers
empfand, sofort den Hinterleib in die Höhe richtete und einen
klaren Tropfen süsser Flüssigkeit ausschied, der alsbald von der
Ameise eingesogen wurde. Selbst ganz junge Blattläuse, auf diese
Weise behandelt, zeigten, dass ihr Verhalten ein instinklives und
nicht die Folge der Erfahrung war. Da aber die Aussonderung
ausserordentlich klebrig ist, so ist es wahrscheinlich für die Aphiden
von Nuizen, dass sie entfernt werde; und so ist es denn auch
mit dieser Excretion wohl nicht auf den ausschliesslichen Vortheil
der Ameisen abgesehen. Obwohl ich nicht glaube, dass irgend
ein Thier in der Welt etwas zum ausschliesslichen Nutzen einer
andern Art thue, so sucht doch jede Art Vortheil von den In-
stinkten anderer zu ziehen und hat Vortheil von der schwächeren
Körper-Beschaffenbeit andrer. So können dann auch in einigen
wenigen Fällen gewisse Instinkte nicht als ganz vollkommen be-
trachtet werden; was ich aber bis ins Einzelne auseinanderzu-
setzen hier unterlassen muss. |
222
Es sollten wohl möglich‘ viele Beispiele angeführt werden,
um zu zeigen, wie im Natur-Zustande ein gewisser Grad von Ab-
änderung in den Instinkten und die Erblichkeit solcher Abände-
rungen zur Thätigkeit der Natürlichen Züchtung unerlässlich ist;
aber Mangel an Raum hindert mich es zu thun. Ich kann bloss
versichern , dass Instinkte gewiss variiren, wie z. B. der Wander-
Instinkt nach Ausdehnung und Richtung variiren oder auch ganz
aufhören kann. So ist es mit den Nestern der Vögel, welche
theils je nach der dafür gewählten Stelle, nach den Natur- und
Wärme-Verhältnissen der bewohnten Gegend, aber auch oft aus
ganz unbekannten Ursachen abändern. So hat Aupuson einige sehr
merkwürdige Fälle von Verschiedenheiten in den Nestern der-
selben Vogel-Arten, je nachdem sie im Norden oder im Süden
der Vereinten Staaten leben, mitgetheilt. Furcht vor irgend einem
besondren Feinde ist gewiss eine instinktive Eigenschaft, wie man
bei den noch im Neste sitzenden Vögeln zu erkennen Gelegenheit
hat, obwoh sie durch Erfahrung und durch die Wahrnehmung von
Furcht vor demselben Feinde bei anderen Thieren noch verstärkt
wird. Thiere auf abgelegenen kleinen Eilanden fürchten sich nicht
vor den Menschen und lernen, wie ich anderwärts gezeigt habe, ihn
nur langsam fürchten; und so nehmen wir auch in England selbst
wahr, dass die grossen Vögel, weil sie von Menschen mehr verfolgt
werden, sich viel mehr vor ihm fürchten, als die kleinen. Wir
können die stärkere Scheuheit grosser Vögel getrost dieser Ur-
sache zuschreiben, denn auf von Menschen unbewohnten Inseln
sind die grossen nicht scheuer als die kleinen; und die Elster,
so furchtsam in England, ist in Norwegen eben so zahm als die
Krähe (Corvus cornix) in Ägypten. !
Dass die Gemüthsart der Individuen einer Spezies im All-
gemeinen, auch wenn sie in der freien Natur geboren sind, äus-
serst manchfaltig seye, kann mit vielen Thatsachen belegt werden.
Auch liessen sich bei einigen Arten Beispiele von zufälligen und
fremdartigen Gewohnheiten anführen, die, wenn sie der Art
nützlich wären, durch Natürliche Züchtung zu ganz neuen In-
stinkten Veranlassung werden könnten. ‚Ich weiss wohl, dass
diese allgemeinen Behauptungen, ohne einzelne Thatsachen zuN
#
bi:
223
Belege, nur einen schwachen Eindruck auf den Geist des Lesers
machen werden, kann jedoch nur meine Versicherung wieder-
holen, dass ich nicht ohne gute Beweise so spreche.
Die Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit Abänderungen
des Instinktes im Natur-Zustande zu vererben wird durch Betrach-
tung einiger Fälle bei gezähmten Thieren noch stärker hervor-
treten. Wir werden dadurch auch zu sehen in den Stand gesetzt,
welchen vergleichungsweisen Einfluss Gewöhnung und die Züch-
tung sogenannter zufälliger Abweichungen auf die Abänderung der
Geistes-Fähigkeiten unsrer Hausthiere ausgeübt haben. Es lässt
sich eine Anzahl sonderbarer und verbürgter Beispiele anführen
von der Vererblichkeit aller Abschattungen der Gemüthsart, des
Geschmacks oder der Neigung zu den sonderbarsten Streichen in
Verbindung mit Zeichen von Geist oder mit gewissen periodischen
Bedingungen. Bekannte Belege dafür liefern uns die verschie-
denen Hunde-Rassen. So unterliegt es keinem Zweifel (und ich
habe selbst einen schlagenden Fall der Art gesehen), dass junge
Vorstehehunde zuweilen vor andern Hunden anziehen, wenn sie
das erstemal mit hinausgenommen werden. So ist das Aufstöbern
der Feldhühner gewiss oft erblich bei Hunden der vorzugsweise
dazu gebrauchten Rasse, wie junge Schäferhunde geneigt sind
die Heerde zu umkreisen statt nebenher zu laufen. Ich kann
nicht sehen, dass diese Handlungen wesentlich von denen des
Instinktes verschieden sind; denn die jungen Hunde handeln ohne
Erfahrung, einer fast wie der andre in derselben Rasse, und
ohne den Zweck des Handelns zu kennen. Denn der junge Vor-
stehehund weiss noch eben so wenig, dass er durch sein Stehen
den Absichten seines Herrn dient, als der Kohlschmetterling weiss,
warum er seine Eier auf ein Kohl-Blatt legt. Wenn wir eine Art
Wolf sähen, welcher noch jung und ohne Abrichtung bei Witte-
rung seiner Beute bewegungslos wie eine Bildsäule stehen bliebe
und dann mit eigenthümlicher Haltung langsam auf sie hinschliche,
oder eine andre Art Wolf, welche, statt auf einen Rudel Hirsche
zuzuspringen, dasselbe umkreiste und so nach einem entfernten
Punkte triebe, so würden wir dieses Verhalten gewiss dem In-
stinkte zuschreiben. Zahme Instinkte,, wie man sie nennen könnte,
224
sind gewiss viel weniger fest und unveränderlich als die natür-
lichen; denn sie sind durch viel minder strenge Züchtung aus-
geprägt und eine bei weitem kürzere Zeit hindurch unter minder
steten Lebens-Bedingungen vererbt worden.
Wie streng diese »zahmen Instinkte«, Gewohnheiten und
Neigungen vererbt werden und wie wundersam sie sich zuweilen
mischen, zeigt sich ganz wohl,.wenn verschiedene Hunde-Rassen
miteinander gekreutzt werden. So ist eine Kreutzung mit Bull-
beissern auf viele Generationen hinaus auf den Muth und die
Beharrlichkeit des Windhundes von Einfluss gewesen; und eine
Kreutzung mit dem Windhunde hat auf eine ganze Familie von
Schäferhunden die Neigung übertragen Hasen zu verfolgen. Diese
zahmen Instinkte, auf solche Art durch Kreutzung erprobt, glei-
chen natürlichen Instinkten, welche sich in ähnlicher Weise
sonderbar mit einander verbinden, so dass sich auf lange Zeit
hinaus Spuren ‚des Instinktes beider Ältern erhalten. So be-
schreibt Le Rov einen Hund, dessen Grossvater ein Wolf war;
dieser Hund verrieth die Spuren seiner wilden Abstammung nur,
auf eine Weise, indem er nämlich, wenn er von seinem Herrn
gerufen wurde, nie in gerader Richtung auf ihn zukam.
Zahme Instinkte werden zuweilen bezeichnet als Handlungen,
welche bloss durch eine lang-fortgesetzte und erzwungene Ge-
wohnheit erblich werden; ich glaube aber, dass Diess nicht
richtig ist. Gewiss hat niemals jemand daran gedacht oder ver-
sucht, der Purzeltaube das Purzeln zu lehren, was meines
Wissens auch schon junge Tauben thun, welche nie andere
purzeln gesehen haben. Man kann sich denken, dass einmal
eine einzelne Taube Neigung zu dieser sonderbaren Bewegungs-
Weise gezeigt habe und dass dann in Folge sorgfältiger und
lang-fortgesetzter Züchtung aus ihr die Purzler allmählich das
' geworden, was sie jetzt sind; und wie ich von Herrn BRENT
vernehme, gibt es bei Glasyow Haus-Purzler, welche nicht 18 Zolle
weit fliegen können, ohne sich einmal kopfüber zu bewegen.
Eben so ist es sehr zu bezweiflen, ob jemals irgend jemand
daran gedacht habe, einen Hund zum Vorstehen abzurichten,
hätte nicht etwa ein Individuum von selbst eine Neigung vel-
225
rathen es zu thun, und man weiss, dass Diess zuweilen vor-
kommt, wie ich selbst einmal an einem Dachshund beobachtete;
das »Stehen« ist wohl, wie Manche gedacht haben, nur eine
verstärkte Pause eines Thieres, das sich in Bereitschaft setzt,
auf seine Beute einzuspringen. Hatte sich ein erster Anfang des
Stehens einmal gezeigt, so mögen methodische Züchtung und
die .erbliche Wirkung zwangsweiser Abrichtung in jeder nach-
folgenden Generation das Werk bald vollendet haben; und unbe-
wusste Züchtung ist immer in‘ Thätigkeit, da jedermann, wenn
auch ‘ohne die Absicht eine verbesserte‘ Rasse zu bilden, sich
gerne die Hunde verschafft, welche am besten vorstehen und
jagen. Anderseits hat auch Gewohnheit in einigen Fällen genügt.
Kein Thier ist schwerer zu zähmen als das Junge des wilden
Kaninchens, und kein Thier zahmer als das Junge des zahmen
Kaninchens; und doch glaube ich nicht, dass die Haus-Kaninchen
jemals auf Zahmheit gezüchtet worden sind, sondern vermuthe viel-
mehr, dass wir die gesammte erbliche Veränderung von äusserster
Wildheit bis zur äussersten Zahmheit einzig der Gewohnheit und
lange fortgesetzten engen Gefangenschalt zuzuschreiben haben.
Natürliche Instinkte gehen in der Gefangenschaft verloren;
ein merkwürdiges Beispiel davon sieht man bei denjenigen
Geflügel-Rassen, welche selten oder nie »brütig« werden*, d.h.
nie auf ihren Eiern zu sitzen verlangen. Die tägliche Gewöhnung
daran allein verhindert uns zu sehen, in wie hohem Grade und
wie allgemein die geistigen Fähigkeiten unsrer Hausthiere durch
Zähmung verändert worden sind. Man kann kaum daran zweifeln,
dass die Liebe des Menschen als Instinkt auf den Hund über-
gegangen ist. Alle Wölfe, Füchse, Schakals und Katzen-Arten sind,
wenn man sie gezähmt hält, sehr begierig Geflügel, Schaafe und
Schweine anzugreifen, und dieselbe Neigung hat sich unheilbar auch
bei solchen Hunden gezeigt, welche man jung aus Gegenden zu uns
gebracht hat, wo wie im Feuerlande und in Australien die Wilden
jene Hausthiere nicht halten. Und wie selten ist es auf der andern
Seite nöthig, unsren zivilisirten Hunden, selbst wenn sie noch
+ ETF DER ( | .. H h; Ar 2 z z
„Brütig“ für broody; das Wort ist im Deutschen nicht üblich; _ doch
gibt es in Nord-Deutschland dafür einen Provinzialismus „heckisch“. D. Übs.
15
226
jung sind, die Angriffe auf jene Thiere abzugewöhnen. Allerdings
machen sie manchmal einen solchen Angriff und werden: dann
geschlagen und, wenn Das nicht hilft, endlich weggeschafft, —-
so dass Gewohnheit und wahrscheinlich einige Züchtung zusam-
mengewirkt haben, unsren Hunden ihre erbliche. Zivilisation. bei-
zubringen. Andrerseits haben junge Hühnchen, ganz in. Folge
von Gewöhnung, die Furcht vor Hunden und Katzen verloren,
welche sie zweifelsohne ‚nach ihrem ursprünglichen: Instinkte be-
sessen, während sich dieser Instinkt noch so offenbar bei jungen
Fasanen zeigt, selbst wenn sie von gewöhnlichen Hennen aus-
gebrütet sind. Und doch haben die Hühnchen keinesweges alle
Furcht verloren, sondern nur die Furcht vor Hunden und Katzen;
denn sobald die Henne ihnen durch Glucken eine Gefahr an-
meldet, laufen alle (zumal junge Welschhühner), um sich unter
ihren Schutz zu begeben, oder um sich im. ‚Grase und Diekicht
umher zu verbergen, Letztes offenbar in der instinktiven Ab-
sicht, wie wir bei wilden. Boden - Vögeln sehen, um ihrer
Mutter möglich zu machen davon zu fliegen. Freilich ist die-
ser bei unseren jungen Hühnchen zurückgebliebene Instinkt im
gezähmten Zustande ganz nutzlos, weil die Mutter-Henne das
Flug-Vermögen durch Nichtgebrauch gewöhnlich eingebüsst hat.
Daraus lässt sich schliessen, dass zahme Instinkte erworben
worden und wilde Instinkte verloren gegangen sind, theils durch
eigne Gewohnheit und theils durch die Einwirkung des Menschen,
welcher viele aufeinander-folgende Generationen: hindurch 'eigen-
thümliche ‚geistige Neigungen und Fähigkeiten, die uns in unsrer
Unwissenheit anfangs nur ein sogenannter Zufall geschienen,
durch Züchtung gehäuft und gesteigert hat. In einigen Fällen
hat erzwungene Gewöhnung genügt, um solche erbliche Verän-
derung geistiger Eigenschaften zu bewirken; in andern ist durch
Zwangs-Zucht nichts ausgerichtet und Alles nur durch unbewussie
oder methodische Züchtung bewirkt worden; in den meisten
Fällen aber haben beide wahrscheinlich zusammengewirkt.
Nähere Betrachtung einiger wenigen Beispiele wird vielleicht
am besten geeignet seyn es begreiflich zu machen, wie Instinkte
im Natur-Zustande durch Züchtung modifizirt worden sind. Ich
|
i
227
will aus der grossen Anzahl derjenigen, welche ich gesammelt
und in meinem späteren Werke zu erörtern haben werde, nur
drei Fälle hervorheben, nämlich den Instinkt, welcher den Kuckuck
treibt seine Eier in fremde Nester zu legen, den Instinkt der
Ameisen Sklaven zu machen, und den Zellenbau-Trieb der Honig-
Bienen; die zwei zuletzt genannten sind von den Naturforschern
wohl mit Recht als die zwei wunderbarsten aller bekannten
Instinkte bezeichnet worden. |
Man nimmt jetzt gewöhnlich an, die unmittelbare und die
Grund-Ursache für den Instinkt des Kuckucks seine Eier in
fremde Nester zu legen beruhe darin, dass dieselben der Reihe
nach nicht täglich, sondern erst jeden zweiten oder dritten Tag
zur Reife kommen, so dass, wenn der Kuckuck sein eignes Nest
zu bauen und auf seinen eignen Eiern zu sitzen hätte, die ersten
Eier entweder eine Zeitlang unbebrütet bleiben oder Eier und
junge Vögel von verschiedenem Alter im nämlichen Neste zu-
sammen kommen müssten *. Wäre Diess so der Fall, so
müssten allerdings die Prozesse des Legens und Ausschlüpfens
unangemessen lang währen, und die zuerst ausgeschlüpften
jungen Vögel wahrscheinlich vom Männchen allein aufgefüttert
werden. Allein der Amerikanische Kuckuck findet sich in
derselben Lage, und doch macht er sein eignes Nest und legt
seine Eier nach-einander hinein, und seine Jungen schlüpfen
gleichzeitig aus. Man hat zwar versichert, auch der Amerika-
nische Kuckuck lege zuweilen seine Eier in fremde Nester, aber
nach Dr. Brewers verlässiger (Gewährschaft in diesen Dingen
ist es ein Irrthum. Demungeachtet könnte ich noch mehre andre
Beispiele von Vögeln anführen, ‘die ihre Eier zuweilen in fremde
Nester legen. Nehmen wir nun an, der Stamm - Vater unsres
Europäischen Kuckucks habe die Gewohnheiten des Amerikani-
schen gehabt, doch zuweilen ein Ei in das Nest eines andren
Vogels gelegt. Wenn der alte Vogel von diesem gelegentlichen
* Diess kann kein Grund seyn; denn das Alter der Eier polygamischer
Vögel, welche 10 — 20 und mehr Eier legen und eben so viele Tage dazu
bedürfen, ist noch viel ungleicher, und doch kommen die Jungen gleichzeitig
aus. Es fallen somit auch die Folgerungen weg. D. Übs
15 *
228
Brauche Vortheil batte, oder der junge durch den fehlgreifenden
Instinkt einer fremden Mutter kräftiger wurde, als er unter der
Sorge seiner eignen Mutter geworden seyn würde, weil diese
mit der gleichzeitigen Sorge für Eier und Junge von verschiede-
nem Alter überladen gewesen wäre: so gewann entweder der Alte
oder das auf fremde Kosten gepflegte Junge dabei. Der Ana-
logie nach möchte ich dann glauben, dass als Folge der Erblich-
keit das so aufgeätzte Junge mehr geneigt seye, die zufällige und
abweichende Handlungsweise seiner Mutter nachzuahmen, auch seine
Eier in fremde Nester zu legen und so kräftigere Nachkommen
zu erlangen. Durch einen fortgesetzten Prozess dieser Art
könnte nach meiner Meinung der wunderliche Instinkt des Kuckucks
entstanden seyn. Ich will jedoch noch beifügen, dass nach
Dr. Gray u. e. a. Beobachtern der Europäische Kuckuck doch
keinesweges alle mütterliche Liebe und Sorge für seine eignen
Sprösslinge verloren hat.
Der Brauch seine Eier gelegentlich in fremde Nester von
derselben oder einer andern Spezies zu legen, ist unter den
Hühner-artigen Vögeln nicht ganz ungewöhnlich; und Diess er-
klärt vielleicht die Entstehung eines eigenthümlichen Instinktes
in der benachbarten Gruppe der Strauss-artigen Vögel. Denn
mehre Strauss-Hennen wenigstens von der Amerikanischen Art
vereinigen sich, um zuerst einige Eier in ein Nest und dann in
ein andres zu legen; und diese werden von den Männchen aus-
gebrütet. Man wird zu Erklärung dieser Gewohnheit wahrschein-
lich die Thatsache mit in Betracht ziehen, dass diese Hennen
eine grosse Anzahl von Eiern und zwar in Zwischenräumen von
zwei bis drei Tagen legen. Jedoch ist jene Gewohnheit beim
Amerikanischen Strausse noch nicht sehr entwickelt; denn es
liegt dort auch noch eine so erstaunliche Menge von Eiern über
die Ebene zerstreut, dass ich auf der Jagd an einem Tage nicht
weniger als 20 verlassener und verdorbener Eier aufzunehmen
im Stand war.
Manche Bienen schmarotzen und legen ihre Eier in Nester
andrer Bienen- Arten. Diess ist noch merkwürdiger, als beim
Kuckuck; denn diese Bienen haben nicht allein ihren Instinkt,
229
sondern auch ihren Bau in Übereinstimmung mit ihrer parasiti-
schen Lebens-Weise geändert, indem sie nämlich nicht die Vor-
richtung zur Einsammlung des Pollens besitzen, deren sie be-
dürften, wenn sie Nahrung für ihre eigne Brut vorräthig auf-
häufen müssten. Einige Insekten- Arten schmarotzen nach der
Weise der Sphegiden bei andern Arten, und Herr Fasre hat neu-
lich guten Grund nachgewiesen zu glauben, dass, obwohl Tachytes
nigra gewöhnlich ihre eigne Höhle macht und darin noch lebende
aber gelähmte Beute zur Nahrung ihrer eignen Larve im Vorrath
niederlegt, dieselbe doch, wenn sie eine schon fertige und mit
Vorräthen versehene Höhle einer andern Sphex findet, davon
Besitz ergreift und in Folge dieser Gelegenheit Parasit wird. In
diesem Falle wie in dem angenommenen Beispiele von dem
Kuckuck liegt kein Hinderniss für die Natürliche Züchtung: vor,
aus dem gelegentlichen Brauche einen beständigen zu machen,
wenn er für die Art nützlich ist, und wenn nicht in Folge dessen
die andre Insekten-Art, deren Nest und Futter-Vorräthe sie sich
verrätherischer Weise aneignet, dadurch vertilgt wird.
Instinkt Sklaven zu machen). Dieser Naturtrieb wurde
zuerst bei Formica (Poliergus) rufescens von Prrer Huser beob-
achtet, einem noch besseren Beobachter, als sein berühmter Vater
gewesen. Diese Ameise ist unbedingt von ihren Sklaven ab-
hängig, ohne deren Hülfe die Art schon in einem Jahre gänzlich
zu Grund gehen müsste. Die Männchen und fruchtbaren Weib-
chen arbeiten nicht. Die arbeitenden oder unfruchtbaren Weib-
chen dagegen, obgleich sehr muthig und thatkräftig beim Sklaven-
Fangen, thun nichts andres. Sie sind unfähig ihre eignen Nester
zu machen oder ihre eignen Jungen zu füttern. Wenn das alte
Nest unpassend befunden und eine Auswanderung nöthig wird,
entscheiden die Sklaven darüber und schleppen dann. ihre Mei-
ster zwischen den Kinnladen fort. Diese letzten sind so äus-
serst hülfelos, dass, als Huser deren dreissig ohne Sklaven
aber mit einer reichlichen Menge des besten Fuiters und zugleich
mit ihren Larven und Puppen, um sie zur Thätigkeit anzuspornen,
zusammen-sperrte, sie nicht einmal sich selbst fütterten und
grossentheils Hungers starben. Huser brachte dann einen ein-
230
zigen Sklaven (Formica fusca) dazu, der sich unverzüglich ans
Werk begab und die noch überlebenden fütterte und rettete,
einige Zellen machte, die Larven pflegte und Alles in Ord-
nung brachte. Was kann es Ausserordentlicheres geben, als
diese wohl-verbürgten Thatsachen®? Hätte man nicht noch von
einigen andern Sklaven-machenden Ameisen Kenntniss, so würde
es ein Hoffnungs-loser Versuch gewesen seyn sich eine Vor-
stellung davon zu machen, wie ein so wunderbarer Instinkt zu
solcher Vollkommenheit gedeihen könne.
Eine andre Ameisen-Art, Formica sanguinea, wurde gleich-
falls zuerst von Huser als Sklavenmacherin erkannt. Sie kömmt
im südlichen Theile von England vor, wo ihre Gewohnheiten
von H. F. Smırn vom Britischen Museum beobachtet worden sind,
dem ich für seine Mittheilungen über diesen und andre Gegen-
stände sehr verbunden bin. Wenn auch volles. Vertrauen.in.die
Versicherungen..der..zwei genannten Naturforscher. ‚setzend, ver- _
mochte, ich .doch..nieht. ohne einigen Zweifel. ‚an die Sache zu
gehen, und es mag. ‚wohl zu entschuldigen. seyn, wenn ‚jemand.
an einen so ausserordentlichen und hässlichen. ‚„Justinkt, ‚wie „der
ist Sklaven zu, „machen, „wicht unmittelb bar "glauben kann. in Ben
nn
EN a
| “daher dasjenige, was ich selbst beobachtet "habe, m mil einigen
‘ Einzelnheiten erzählen. Ich öffnete vierzehn Nest-Haufen der
Formica sanguinea und fand in allen einige Sklaven. Männchen
und fruchtbare Weibchen der Sklaven-Art (F. fusca) kommen
nur in ihrer eignen Gemeinde vor ‚und sind nie in den Hanfen
der F. sanguinea gefunden worden. Die Sklaven sind schwarz
und von nicht mehr als der halben Grösse ihrer Herrn, so dass
der Gegensatz in ihrer Erscheinung sogleich auffällt. Wird der
- Haufe nur leicht wenig gestört, so kommen die Sklaven zuweilen
heraus und zeigen sich gleich ihren Meistern sehr beunruhigt
und zur Vertheidigung bereit. Wird aber der Haufe so zerrüttet,
dass Larven und Puppen frei zu liegen kommen, so sind die
Sklaven mit ihren Meistern zugleich lebhalt bemüht, dieselben
nach einem sichern Platze zu schleppen. Daraus ist klar, dass
sich die Sklaven ganz heimisch fühlen. ‘Während der Monate
Juni und Juli habe ich in drei 'aufeinander-folgenden Jahren in
!
231
den ‚Grafschaften Surrey und Sussex mehre solcher Ameisen-
Haufen Stunden-lang beobachtet und nie einen Sklaven aus- oder
Da während dieser Monate der Sklaven nur
wenige sind, ‘so dachte ich sie würden sich anders: benehmen,
wenn sie in grössrer. Anzahl wären; aber auch Hr. Smirn theilt
mir mit, dass er die Nester zu verschiedenen Stunden während
der Monate Mai, Juni und August in Surrey wie in Hampshire.
beobachtet und, obwohl die Sklaven im August zahlreich sind,
nie einen derselben aus- oder ein-gehen gesehen hat. Er be-
trachtet sie daher lediglich als Haus - Sklaven. Dagegen sieht
an ihre Herrn beständig Nestbau-Stoffe und Futter aller Art
herbeischleppen. Im jetzigen Jahre jedoch kam ich im Juli zu
einer Gemeinde mit einem ungewöhnlich starken Sklaven-Stande
und sah einige wenige Sklaven unter ihre Meister gemengt das
Nest verlassen und mit ihnen den nämlichen Weg zu einer
Schottischen Kiefer, ‘25 Ellen entfernt, einschlagen und am
Stamme hinauflaufen, wahrscheinlich um nach. Blatt- oder Schild-
Läusen zu suchen. Nach Huser, welcher reichliche Gelegenheit
zur Beobachtung gehabt, arbeiten in der Schweitz die Sklaven
gewöhnlich mit ihren Herrn an der Aufführung des Nestes, und
sie allein öffnen und schliessen die Thore in den Morgen- und
Abend-Stunden; jedoch ist, wie Huser ausdrücklich versichert,
ihr Hauptgeschäft 'nach Blattläusen zu suchen. Dieser Unterschied
in den herrschenden Gewohnheiten von Herrn und Sklaven in
zweierlei Gegenden mag lediglich davon abhängen, dass in der
Schweitz die Sklaven zahlreicher einzufangen sind als in England.
Eines Tages bemerkte ich glücklicher Weise eine Wande-
rung der F, sanguinea von eineın Haufen zum andern, und es
war ein sehr interessanter Anblick, wie die Herrn ihre Sklaven
sorglältig zwischen ihren Kinnladen davon schleppten, anstatt
selbst von ihnen getragen zu werden, wie es bei F. rufescens
der Fall ist. Eines andern Tages wurde meine Aufmerksamkeit
von etwa zwei Dutzend Ameisen der Sklaven-machenden Art in
zum ee welche dieselbe Stelle ‚besuchten, doch
offenbar nicht des Futters wegen. Bei ihrer Annäherung wurde
sie von einer unabhängigen Kolonie der Sklaven-gebenden Pe
ein-gehen sehen.
232
F. fusea, zurückgetrieben, so dass zuweilen bis drei dieser
letzten an den Beinen einer F. sanguinea hingen. Diese letzte
tödtete ihre kleineren Gegner ohne Erbarmen und 'schleppte
deren Leichen als Nahrung in ihr 29 Ellen entferntes Nest; aber
sie wurde verhindert Puppen wegzunehmen, um sie zu Sklaven.
aufzuziehen. Ich entnahm dann aus einem andern Haufen der
F. fusca eine geringe Anzahl Puppen und legte sie, auf eine kahle
Stelle nächst dem Kampfplatze nieder. Diese wurden begierig
von den Tyrannen ergriffen und fortgetragen, die sich vielleicht
einbildeten, doch. endlich Sieger in dem letzten Kampfe gewesen .
zu seyn.
Gleichzeitig legte ich an derselben Stelle eine Parthie Puppen
der Formica flava mit einigen wenigen reifen Ameisen dieser
gelben Art nieder, welche noch an Bruchstücken ihres Nestes
hingen. Auch diese Art wird zuweilen, doch selten zu Sklaven
gemacht, wie Hr. Smisu beschrieben hat. Obwohl klein ist diese
Art sehr muthig, und ich habe sie mit wildem Ungestüm andre
Ameisen angreifen sehen. Einmal fand ich zu meinem Erstaunen
unter einem Steine eine unabhängige Kolonie der Formica flava
noch unterha]b einem Neste der Sklaven-machenden F. sanguinea;
und da ich zufällig beide Nester gestört hatte, so griff die kleine
Art ihre grosse Nachbarin mit erstaunlichem Muthe an. Ich war
nun neugierig zu erfahren, ob F. sanguinea im Stande seye, die
Puppen der F. fusca, welche sie gewöhnlich zur Sklaven-Zucht
verwendet, von denen der kleinen wüthenden F. flava zu unter-
scheiden, welche sie nur selten in Gefangenschaft führt, und es
ergab sich bald, dass sie dieses Unterscheidungs - Vermögen be-
sass; denn ich sah sie begierig und augenblicklich über die
Puppen der F. fusca herfallen, während sie sehr erschrocken
schien, wenn sie auf die Puppen oder auch nur auf die Erde
aus dem Neste der F. flava stiess, und rasch davonrannte. Aber
nach einer Viertel-Stunde etwa, kurz nachdem alle kleinen gelben
Ameisen die Stelle verlassen hatten, bekamen sie Muth und griffen
auch diese Puppen auf.
Eines Abends besuchte ich eine andre Gemeinde der F. san-
guinea und fand’'eine Anzahl derselben auf dem Heimwege und
233
beim Eingang in ihr Nest, Leichen und viele Puppen der F.
fusea mit sich schleppend, also nicht auf blosser Wanderung be-
griffen. ‘Ich verfolgte eine 40 Ellen lange Reihe mit Beute be-
ladener Ameisen bis zu einem dichten Haide-Gebüsch, wo ich
das letzte Individuum der F. sanguinea mit einer Puppe belas-
tet herauskommen sah; aber das zerstörte Nest konnte ich in
der dichten Haide nicht finden, obwohl es nicht mehr ferne
gewesen seyn kann, indem zwei oder drei Individuen der F.
fusca in der grössten Aufregung umherrannten und eines bewe-
gungslos an der Spitze eines Haide-Zweiges hing: alle mit ihren
eignen Puppen im Maul, ein Bild der Verzweiflung über ihre
zerstörte Heimath.
Diess sind die Thatsachen, welche ich, obwohl sie meiner
Bestätigung nicht erst bedurft hätten, über den wundersamen
Sklavenmacher-Instinkt berichten kann. Zuerst ist der grosse
Gegensatz zwischen den instinktiven Gewohnheiten der F. san-
guinea und der kontinentalen F. rufescens zu bemerken. Diese
letzte baut nicht selbst ihr Nest, bestimmt nicht ihre eignen
Wanderungen, sammelt nicht das Futter für sich und ihre Brut
und kann nicht einmal allein fressen; sie ist absolut abhängig
von ihren zahlreichen Sklaven. Die F. sanguinea dagegen hält
viel weniger und zumal im ersten Theile des Sommers sehr
wenige Sklaven; die Herrn bestimmen, wann und wo ein neues
Nest gebaut werden soll; und wann sie wandern, schleppen die
Herrn die Sklaven. In der Schweitz wie in England scheinen
die Sklaven ausschliesslich mit der Sorge für die Brut beauftragt
zu seyn, und die Herrn allein gehen auf den Sklaven-Fang aus.
In der Schweitz arbeiten Herrn und Sklaven miteinander um
Nestbau-Materialien herbeizuschaffen ; beide und doch vorzugs-
weise die Sklaven besuchen und melken, wie man es nennen
könnte, ihre Aphiden, und beide sammeln Nahrung für die Ge-
meinschaft ein, In England verlassen die Herrn gewöhnlich
allein das Nest, um Bau-Stoffe und Futter für sich, ihre Larven
und Sklaven einzusammeln, so dass dieselben hier von ihren
Sklaven viel weniger Dienste empfangen, als in der Schweitz.
Ich will mich nicht vermessen zu errathen, auf welchem
4
234
Wege der Instinkt der F. sanguimea sich entwickelt hat. “Da
jedoch Ameisen, welche keine Sklavenmacher sind, wie wir ge-
sehen haben, zufällig um ihr Nest zerstreute Puppen andrer
‚Arten heimschleppen, vielleicht um sie als Nahrung zu verwen-
den, so können sich solche Puppen dort auch noch zuweilen
entwickeln, und die auf solche Weise absichtslos im Haus erzog-
nen Fremdlinge mögen dann ihren eignen Instinkten folgen und
arbeiten, was sie können. Erweiset sich ihre Anwesenheit nütz-
lich für die Art, welche sie aufgenommen hat, und sagt es die-
ser letzten mehr zu Arbeiter zu fangen als zu erziehen, so
kann der ursprünglich zufällige Brauch fremde Puppen zur Nah-
rung einzusammeln durch Natürliche Züchtung verstärkt und end-
lich zu dem ganz verschiedenen Zwecke Sklaven: zu erziehen
bleibend befestigt werden. Wenn dieser Naturtrieb zur Zeit
seines Ursprungs in einem noch viel minderen Grade als bei
unsrer- F. sanguinea entwickelt war, welche noch jetzt von ihren
Sklaven weniger Hülfe in England als in der Schweitz empfängt,
so finde ich kein Bedenken anzunehmen, Natürliche Züchtung
habe dann diesen Instinkt verstärkt und, immer vorausgeselzt,
dass jede Abänderung der Spezies nützlich gewesen, allmählich
so weit abgeändert, dass endlich eine Ameisen-Art entstund in
so verächtlicher Abhängigkeit von ihren eignen Sklaven, wie «es
F. rufescens ist.
Zellen-bauender Instinkt der Korb-Bienen.)- Ich
beabsichtige nicht über diesen Gegenstand in kleine Einzelnbei-
ten einzugehen, sondern will mich beschränken, eine Skizze von
den Ergebnissen zu liefern, zu welchen ich gelangt bin. Es
müsste ein beschränkter Mensch seyn, welcher bei Untersuchung
des ausgezeichneten Baues einer Bienen-Wabe, die ihrem Zwecke
so wundersam angepasst ist, nicht in begeisterte Verwunderung
geriethe. Wir hören von Mathematikern, dass die Bienen prak-
tisch ein schwieriges Problem gelöst und ihre Zellen in derjeni-
gen Form, welche die grösst-mögliche Menge von Honig aufneh-
men kann, mit dem geringst-möglichen Aufwande des kostspieli-
gen Bau-Materiales, des Wachses nämlich, hergestellt ‘haben.
Man hat bemerkt, dass es einem geschickten Arbeiter mit passen-
235
den Maassen und Werkzeugen sehr schwer fallen würde , regel-
mässig sechseckige Wachs-Zellen zu machen, obwohl Diess eine
wimmelnde Menge von Bienen in dunklem Korbe mit grösster
Genauigkeit vollführt. Was für einen Instinkt man auch anneh-
men mag, so scheint es doch anfangs ganz unbegreiflich, wie
derselbe solle alle nöthigen Winkel und Flächen berechnen,
oder auch nur beurtheilen können, ob sie richtig gemacht sind.
Inzwischen ist doch die Schwierigkeit nicht so gross, wie sie
Anfangs scheint; denn all’ diess schöne Werk lässt sich von
einigen wenigen sehr einfachen Naturtrieben herleiten.
Ich war diesen Gegenstand zu verfolgen durch Herrn WATER-
house veranlasst worden, welcher gezeigt hat, dass die Form
der Zellen in enger Beziehung zur Anwesenheit von Nachbar-
zellen steht, und die folgende Ansicht ist vielleicht nur eine
Modifikation seiner Theorie. Wenden wir uns zu dem grossen
Abstulungs-Prinzipe und sehen wir zu, ob uns die Natur nicht
ihre Methode zu wirken enthülle. Am einen Ende der kurzen
Stulen-Reihe sehen wir die Hummel-Bienen, welche ihre alten
Coecons zur Aufnahme von Honig verwendet, indem sie ihnen
zuweilen kurze Wachs-Röhren anfügt und ebenso auch einzeln
abgesonderte und sehr unregelmässig abgerundete Zellen von
Wachs anfertigt. Am andern Ende der Reihe haben wir die
Zellen der Korbbiene, eine doppelte Schicht bildend; jede Zelle
ist bekanntlich ein sechsseitiges Prisma, deren Grundfläche durch
eine stumpl/-dreiseitige Pyramide aus drei Rautenflächen mit festen
Winkeln ersetzt ist, ‘ Dieselben drei Rautenflächen, welche die
pyramidale Basis einer Zelle in der einen Zelfen-Schicht der
Scheibe bilden, entsprechen je einer Rautenfläche in drei anein-
anderstossenden Zellen der entgegengesetzten Schicht. Als Zwi-
schenstule zwischen der aussersten Vervollkommnung im Zellen-Bau
der Korb-Biene und der äussersten Einfachheit in dem der Hum-
mel-Biene haben wir dann die Zellen der Mexikanischen Melipona
dpmeslica, welche P. Huser gleichfalls sorgfältig beschrieben und
nn era
doch der letzten _ A ne ” .
y einen fast regelmässigen wäch-
236
sernen Zellen-Kuchen mit walzigen Zellen, worin die Jungen
gepflegt werden, und überdiess mit einigen grossen Zellen zur
Aufnahme von Honig. Diese letzten sind von ihrer freien
Seite gesehen fast kreisförmig und von nahezu gleicher Grösse,
in eine unregelmässige Masse zusammengefügt; am wichtigsten
aber ist daran zu bemerken, dass sie so' nahe aneinander gerückt,
sind, dass alle kreisförmigen Wände, wenn sie auch da. wo die
Zellen aneinander stossen, ihre Kreise fortsetzten, einander
schneiden oder durchsetzen müssten; daher die Wände an den
aneinander-liegenden Stellen eben abgeplattet sind. ‚Jede dieser
im Ganzen genommen kreisrunden Zellen hat mithin doch 2—3
oder mehr vollkommen ebene Seitenflächen, je nachdem sie an
2—3 oder mehr andre Zellen seitlich angrenzt. Kommt eine
Zelle in Berührung mit drei andern Zellen, was, da alle von
fast gleicher Grösse sind, nothwendig sehr oft geschieht, so ver-
einigen sich die drei ebenen Flächen zu einer dreiseitigen Py-
ramide, welche, nach Huser's Bemerkung, offenbar der drei-
seitigen Pyramide an der Basis der Zellen unsrer Korb-Biene zu
vergleichen ist. Wie in den Zellen der Honigbiene, so nehmen
auch hier die drei ebenen Flächen einer Zelle an der Zusammen-
setzung dreier andren anstossenden Zellen Theil. Es ist offen-
bar, dass die Melipona bei dieser Bildungs-Weise Wachs erspart;
denn die Wände sind da, wo mehre solche Zellen aneinander-
grenzen, nicht doppelt und nur von der Dicke wie die kreisför-
migen Theile, und jedes flache Stück Zwischenwand nimmt an
der Zusammensetzung zweier aneinanderstossenden Zellen Antheil.
Indem ich über diesen Fall nachdachte, kam es mir vor, als
ob, wenn die Melipona ihre walzigen Zellen von gleicher Grösse
in einer gegebenen gleichen Entfernung von einander gefertigt
und symmetrisch in eine doppelte Schicht geordnet hätte, der da-
durch erzielte Bau so vollkommen als der der Korb-Biene gewor-
den seyn würde. Demzufolge schrieb ich an Professor MitLER
in Cambridge, und dieser Geometer bezeichnet die folgende sei-
ner Belehrung entnommene Darstellung als richtig. |
Wenn eine Anzahl unter sich gleicher Kreise so beschrieben
wird, dass ihre Mittelpunkte in zwei parallelen Ebenen liegen,
237
und das Centrum eines jeden Kreises um Radius xy 2 oder
Radius x 1.41421 (oder weniger) von den Mittelpunkten der sechs
umgebenden Kreise in derselben Schicht, und eben so weit von
den Centren der angrenzenden Kreise in der andren parallelen
Schicht entfernt ist*, und wenn alsdann Durchscheidungsilächen
zwischen den verschiedenen Kreisen beider Schichten gebildet
werden: — so muss sich eine doppelte Lage sechsseitiger Pris-
men ergeben, welche mit aus drei Rauten gebildeten dreiseilig-
pyramidalen Basen aufeinanderstehen,, und diese Rauten- sowie
die Seiten-Flächen der sechsseitigen Prismen werden in allen
Winkeln aufs Genaueste übereinstimmen, wie sie an den Wachs-
scheiben der Bienen nach den sorgfältigsten Messungen vorkom-
men. Wir können daher mit Verlässigkeit schliessen, dass,
wenn wir die jetzigen noch nicht sehr ausgezeichneten Instinkte
der Melipona etwas zu verbessern im Stande wären, diese
einen Bau eben so wunderbar vollkommen zu liefern ver-
möchte, als die Korb-Biene. Stellen wir uns also vor, die Meli-
pona mache ihre Zellen ganz kreisrund und gleich-gross, was
nicht zum Verwundern seyn würde, da sie es schon in gewissem
Grade thut und viele Insekten sich vollkommen walzenförmige
Zellen in Holz aushöhlen, indem sie anscheinend sich um einen
festen Punkt drehen. Stellen wir uns ferner vor, die Melipona ordne
ihre Zellen in ebnen Lagen, wie sie es bereits mit ihren Wal-
zen-Zellen thut. Nehmen wir ferner an (und Diess ist die grösste
Schwierigkeit), sie vermöge irgend-wie genau zu beurtheilen, in
% e * * ® [3 * .
Ich glaube die Aufgabe der Bienen ist eine einfachre, als dieser
mathematischen Formel zu genügen! Eine Einzelbiene macht eine zylindrische
Zelle. Stossen wir ihre Zellen möglichst dicht aneinander, so dass keine
Zwischenräume bleiben, so können die Zellen nur sechs-, vier- oder drei-
eekige seyn, indem sie sich an den Aneinanderlagerungs-Seiten abplatten
. - = * E7 ” - 2
er ao BREMMecNge am wenigsten, dreieckige Zellen am meisten von den
runden ab; jene bilden mithin die einfachst öeli
e der mög
ag ANETTE HERR öglichen Modifikationen.
ste Modilikation erheischt im Verhältniss zu ihrem Inhalte aller-
dings am ig si
- gs am wenigsten Wachs; sie beengt aber auch, da ihre verschiedenen
ge er wenigsten ungleich sind, die darin nistende Made am wenig-
sten in ihrer Entwickelung und Beweg ibt si
g wegung; endlich gi
meisten Festigkeit il die Zwi a a
gkeit, weil die Zwischenwände sich in drei und bei vierecki-
gen nur in zwei Richtungen kreutzen. D. Übrs
238
welchem Abstande von ihren gleichzeitig beschäftigten Mitarbei-
terinnen sie ihre kreisrunden Zellen beginnen müsse; wir sahen
sie ja bereits Entfernungen hinreichend bemessen, um: alle ihre
Kreise so zu beschreiben, dass sie einander stark schneiden,
und sahen sie dann die Schneidungs-Punkte durch vollkommen
ebene Wände mit einander verbinden. Unterstellen wir endlich,
was keiner Schwierigkeit unterliegt, dass, wenn die sechsseitigen
Prismen durch Schneidung in der nämlichen Schicht aneinander-
liegender Kreise gebildet sind, sie deren Sechsecke bis zu genügen-
der Ausdehnung verlängern könne, um den Honig-Vorrath auf-
zunehmen, wie die Hummel den runden Mündungen ihrer alten
Coceons noch Wachs-Zylinder ansetzt. Diess sind die nicht sehr
wunderbaren Modifikationen dieses Instinktes (wenigstens nicht
wunderbarer als jene, die den Vogel bei seinem Nestbau lei-
ten). durch welche, wie ich glaube, die Korb-Biene auf dem Wege
Natürlicher Züchtung zu ihrer unnachahmlichen architektonischen
Geschicklichkeit gelangt ist.
Doch diese Theorie lässt sich durch Versuche bewähren.
Nach Herrn Tesermeier’s Vorgange trennte ich zwei Bienen-Waben
und fügte einen langen dicken viereckigen Streifen Wachs da-
zwischen. Die Bienen begannen sogleich kleine kreisrunde
Grübchen darin auszuhöhlen, die sie immer mehr erweiterten je
tiefer sie wurden, bis flache Becken daraus entstunden, die
genau kreisrund und vom Durchmesser der gewöhnlichen Zel-
len waren. Es war sehr ansprechend für mich zu beobach-
ten, dass überall, wo mehre Bienen zugleich neben einander
solche Aushöhlungen zu machen begannen, sie genau die rich-
tigen Entfernungen einhielten, dass jene Becken mit der Zeit voll-
kommen die erwähnte Weite einer gewöhnlichen Zelle erlangten,
so dass, als sie den sechsten Theil des Durchmessers des Kreises,
wovon sie einen Theil bildeten, erreicht hatten, sie einander schnei-
den mussten. Sobald diess der Fall war, hielten die Bienen mit
der weiteren Austiefung ein und begannen auf den Schneidungs-
Linien zwischen den Becken ebene Wände von Wachs senkrecht
aufzuführen, so dass jede sechsseitige Zelle auf den unebenen
Rand eines glatten Beckens statt auf die geraden Ränder einer
239
dreiseitigen Pyramide zu stehen kam, wie bei den gewöhnlichen
Bienen-Zellen.
Ich : brachte dann ‘statt eines dicken viereckigen Stückes
Wachs einen schmalen und nur Messerrücken-dieken Wachs-Strei-
fen, mit Cochenille gefärbt, in den Korb. Die Bienen begannen
sogleich von zwei Seiten her kleine Becken nahe beieinander
darin auszuhöhlen, wie zuvor; aber der Wachs-Streifen war so
dünn, dass die Böden der Becken bei gleich-tiefer Aushöhlung
wie vorhin von zwei entgegengesetzten Seiten her hätten inein-
ander brechen müssen. Dazu liessen es aber die Bienen nicht
kommen , sondern hörten bei Zeiten mit. der Vertiefung auf, so
dass die Becken, so bald sie etwas vertieft waren, ebene Böden
bekamen; und diese ebenen Böden, aus dünnen Plättchen des
rothgefärbten Wachses bestehend, die nicht weiter ausgenagl
wurden, kamen, so weit das Auge unterscheiden konnte, genau
längs den eingebildeten Schneidungs-Ebenen zwischen den Becken
der zwei entgegengesetzten Seiten des Wachs-Streifens zu lie-
gen. Stellenweise waren kleine Anfänge, an anderen Stellen
grössre Theile rhombischer Tafeln zwischen den einander ent-
gegenstehenden Becken übrig geblieben; aber das Werk wurde
in Folge der unnatürlichen Lage der Dinge nicht zierlich ausge-
führt. Die Bienen müssen in ungefähr gleichem Verhältniss auf
beiden Seiten des rothen Wachs-Streifens gearbeitet haben, als
sie die kreisrunden Vertiefungen von beiden Seiten her ausnag-
ten, um bei Einstellung der Arbeit die ebenen Boden-Plättchen
auf der Zwischenwand übrig lassen zu können. «
Berücksichtigt man, wie biegsam dieses Wachs ist, so sehe
ich keine Schwierigkeit für die Bienen ein, es von beiden Seiten
her wahrzunehmen, wenn sie das Wachs bis zur angemessenen
Dünne weggenagt haben, um dann ihre Arbeit einzustellen. In
gewähnliahen Bienenwaben schien mir, dass es den Bienen nicht
Immer gelinge, genau gleichen Schrittes von beiden Seiten her
zu arbeiten. Denn ich habe halb-vollendete Rauten am Grunde
einer eben begonnenen Zelle bemerkt, die an einer Seite etwas
konkay waren, wo nach meiner Vermuthung die Bienen ein we-
nıg zu rasch vorgedrungen waren, und auf der anderen Seite kon-
240
vex erschienen, wo sie träger in der Arbeit gewesen. In einem
sehr ausgezeichneten Falle der Art brachte ich die Wabe in den
Korb zurück, liess die Bienen kurze Zeit daran arbeiten, und
nahm sie darauf wieder heraus, um die Zellen aufs Neue zu un-
tersuchen. Ich fand dann die Rauten-förmigen Platten ergänzt
und von beiden Seiten vollkommen eben. Es war aber bei der
ausserordentlichen Dünne der rhombischen Plättehen unmöglich
gewesen, Diess durch ein weitres Benagen von der konvexen
Seite her zu bewirken, und ich vermuthe, dass die Bienen in
solchen Fällen von den entgegengesetzten Zellen aus das bieg-
same und warme Wachs (was nach einem Versuche leicht ge-
schehen kann) in die zukömmliche mittle Ebene gedrückt und
gebogen haben, bis es flach wurde.
Aus dem Versuche mit dem roth-gefärbten Streifen ist klar
zu ersehen, dass, wenn die Bienen eine dünne Wachs-Wand zur
Bearbeitung vor sich haben, sie ihre Zellen von angemessener
Form machen können, indem sie sich in richtigen Entfernungen
von einander halten, gleichen Schritts mit der Austiefung vor-
rücken, und gleiche runde Höhlen machen, ohne jedoch deren
Zwischenwände zu durchbrechen. Nun machen die Bienen, wie
man bei Untersuchung des Randes einer in umfänglicher Zu-
nahme begriffenen Honigwabe deutlich erkennt, eine rauhe Ein-
fassung oder Wand rund um die Wabe, und nagen darin von
den entgegengesetzten Seiten her ihre Zellen aus, indem sie mit
deren Vertiefung auch den kreisrunden Umfang erweitern. Sie
machen nie die ganze dreiseitige Pyramide des Bodens einer
Zelle auf einmal, sondern nur die eine der drei rhombischen
Platten, welche dem äussersten in Zunahme begriffenen Rande
entspricht, oder auch die zwei Platten, wie es die Lage mit sich
bringt. Auch ergänzen sie nie die oberen Ränder der rhombi-
schen Platten, als bis die sechsseitige Zellenwand angefangen
wird. Einige dieser Angaben weichen von denen des mit Recht
berühmten älteren Huser ab, aber ich bin überzeugt, dass sie
richtig sind; und wenn es der Raum gestattete, so würde ich
zeigen, dass sie so mit meiner Theorie in Einklang stehen.
Huser’s Behauptung, dass die allererste Zelle in einer nicht
241
vollkommen parallel-seitigen Wachs-Wand ausgehöhlt worden, ist,
so viel ich gesehen, nicht ganz richtig: der erste Anfang ang
immer eine kleine Haube von Wachs; doch will ich in diese
Einzelnheiten hier nicht eingehen. Wir sehen, was für einen
wichtigen Antheil die Aushöhlung an der Zellen-Bildung hat;
doch wäre es ein grosser Fehler anzunehmen, die Bienen
könnten auf eine rauhe Wachs-Wand nicht in geeigneter Lage,
d. h. längs der Durchschnitts-Ebene zwischen zwei aneinander-
grenzenden Kreisen, bauen. Ich habe verschiedene Musterstücke,
welche beweisen, dass sie Diess können. Selbst in dem rohen
umfänglichen Wachs-Rande rund um eine in Zunahme begriffene
Wabe beobachtet man zuweilen Krümmungen, welche ihrer Lage
‘nach den Ebenen der rautenförmigen Grund-Platten künftiger
Zellen entsprechen. Aber in allen Fällen muss die rauhe Wachs-
Wand durch Wegnagung ansehnlicher Theile derselben von bei-
den Seiten her ausgearbeitet werden. Die Art, wie die Bienen
bauen, ist sonderbar. Sie machen immer die erste rohe Wand
zehn bis zwanzig mal dicker, als die äusserst feine Scheidewand,
die zuletzt zwischen den Zellen übrig bleiben soll. Wir werden
besser verstehen, wie sie zu Werke gehen, wenn wir uns den-
ken, Maurer häuften zuerst einen breiten Zäment- Wall auf,
begännen dann am Boden denselben von zwei Seiten her glei-
chen Schrittes, bis noch eine dünne Wand in der Mitte, wegzu-
hauen und häuften das Weggehauene mit neuem Zäment immer
wieder auf dem Rücken des Walles an. Wir haben dann eine
dünne stetig in die Höhe wachsende Wand, die aber stets noch
überragt ist von einem dicken rohen Wall. Da-alle Zellen, die
erst angelangenen sowohl als die schon fertigen, auf diese Weise
von einer starken Wachs-Masse gekrönt sind, so können sich die
Bienen auf der Wabe zusammenhäufen und herumtummeln, ohne
die zarten sechseckigen Zellen-Wände zu beschädigen, welche
nur Yon Zoll dick sind; die Platten an der Grund-Pyramide sind
doppelt so dick. Durch diese eigenthümliche Weise zu bauen
erhält die Wabe fortwährend die erforderliche Stärke mit der
grösst-möglichen Ersparung von Wachs.
Anfangs scheint die Schwierigkeit, die Anfertigungs-Weise
16
242
der Zellen zu begreifen, noch dadurch vermehrt zu werden, dass
eine Menge von Bienen gemeinsam arbeiten, indem jede, wenn
sie eine Zeit lang an einer Zelle gearbeitet hat, an eine andre
geht, so dass, wie HusEr bemerkt, ein oder zwei Dutzend Indi-
viduen sogar am Anfang der ersten Zelle sich betheiligen. Es
ist mir möglich gewesen, diese Thatsache zu bestätigen, indem
ich die Ränder der sechsseitigen Wand einer einzelnen Zelle
oder den äussersten Rand der Umfassungs-Wand einer im Wachs-
thum begriffenen Wabe mit einer äusserst dünnen Schicht flüssi-
gen roth-gefärbten Wachses überzog und dann jedesmal fand,
dass die Bienen diese Farbe auf. die zarteste Weise, wie es
kein Maler zarter mit seinem Pinsel vermocht hätte, vertheilten,
indem sie Atome des gefärbten Wachses von ihrer Stelle ent-
nahmen und ringsum in die zunehmenden Zellen-Ränder verar-
beiteten. Diese Art zu bauen kömmt mir vor, wie ein Welt-
eifer zwischen vielen Bienen einander das Gleichgewicht zu hal-
ten, indem alle Instinkt-gemäss in gleichen Entiernungen von
einander stehen, und alle gleiche Kreise um sich zu beschreiben
suchen, dann aber die Durchschnitts-Ebenen zwischen diesen Krei-
sen entweder aufzubauen oder unbenagt zu lassen. Es war in der
That eigenthümlich anzusehen, wie manchmal in schwierigen
Fällen, wenn z. B. zwei, Stücke einer Wabe unter irgend
einem Winkel aneinanderstiessen, die Bienen dieselbe Zelle
wieder niederrissen und in andrer Art herstellten, mitunter auch
zu einer Form zurückkehrten, die sie schon einmal verwor-
fen hatten.
Wenn Bienen einen Platz haben, wo sie in zur Arbeit an-
gemessener Haltung „stehen können, — 2. B. auf einem Holz-
Stückchen gerade unter der Mitte einer abwärts wachsenden
Wabe, so dass die Wabe über eine Seite des Holzes gebaul
werden muss, — so können sie den Grund zu einer Wand eines
neuen Sechsecks legen, so dass es genau am gehörigen Platze un-
ter den andern fertigen Zellen vorragt. Es genügt, dass die Bie-
nen im Stande sind in zukömmlicher Entfernung von einander
und von den Wänden der zuletzt vollendeten Zellen zu stehen,
und dann können sie, nach Maassgabe der eingebildeten Kreise,
243
eine Zwischenwand zwischen zwei benachbarten Zellen aufführen;
aber, so del ich gesehen, arbeiten 'sie niemals die Ecken einer
Zelle scharf aus, als bis 'ein grosser Theil sowohl dieser als der
anstossenden Zellen fertig ist. Dieses Vermögen der Bienen
unter gewissen Verhältnissen an angemessener Stelle zwischen
zwei soeben angefangnen Zellen eine rauhe Wand zu bilden ist
wichtig, weil es eine Thatsache erklärt, welche anfänglich die
vorangehende Theorie mil gänzlichem Umsturze bedrohete, näm-
lich dass die Zellen auf der äussersten Kante einer Bienen-Wabe
zuweilen genau sechseckig sind; inzwischen habe ich hier nicht
Raum auf diesen Gegenstand einzugehen. Dann scheint es mir
auch keine grosse Schwierigkeit mehr darzubieten, ‚dass ein ein-
zelnes Insekt (wie es bei der: Bienenkönigin z. B. der Fall ist)
sechskantige Zellen baut, wenn es nämlich abwechselnd an der
Aussen- und der Innen-Seite von zwei oder drei gleichzeitig an-
gefangenen Zellen arbeitet und dabei immer in der angemesse-
nen Entfernung von den Theilen der eben begonnenen Zellen
steht, Kreise um. sich beschreibt und in den Schneidungs-
Ebenen Zwischenwände aufführt. Auch ist es zu begreifen,
dass ein Insekt, indem es seinen Platz am Anfangs - Punkte
einer Zelle einnimmt und sich von da auswärts zuerst nach
einem und dann nach fünf andern Punkten in angemessenen Ent-
fernungen von einander und vom Mittelpunkte wendet, der Rich-
tung der Schneidungs-Ebenen folgt und so ein einzelnes Sechs-
eck zuwegebringt; doch ist mir nicht bekannt, dass ein Fall die-
ser Art beobachtet worden wäre, wie denn auch aus der Erbauung
einer einzeln-stehenden sechseckigen Zelle dem Insekt kein Vor-
theil entspränge, indem dieselbe mehr Bau-Material als ein Zylin-
der erheischen würde.
Da Natürliche Züchtung nur durch Häufung geringer Abwei-
chungen des Baues oder Instinktes wirkt, welche alle dem Indi-
viduum in seinen Lebens-Verhältnissen nützlich sind, so mag
man vernünftiger Weise fragen, welchen Nutzen eine lange und
stufenweise Reihenfolge von Abänderungen des Bau-Triebes in
der zu seiner jetzigen Vollkommenheit führenden Richtung der
Stamm-Form unsrer Honigbienen habe bringen können? Ich
16 *
244
glaube, die Antwort ist nicht schwer. Es ist bekannt, dass Bie-
nen oft in grosser Noth sind, genügenden Nektar aufzutreiben ;
und ich habe von Herrn TesErneEier erfahren, dass er durch Ver-
suche ermittelt habe, dass nicht weniger als 12 —15 Pfund
trocknen Zuckers zur Sekretion von jedem Pfund Wachs in
einem Bienen-Korbe verbraucht werden, daher eine überschwäng-
liche Menge flüssigen Honigs eingesammelt und von den Bienen
eines Stockes verzehrt werden muss, um das zur Erbauung ihrer
Waben nöthige Wachs zu erhalten. Überdiess muss eine grosse
Anzahl Bienen während des Sekretions-Prozesses viele Tage lang
unbeschäftigt bleiben. Ein grosser Honig- Vorrath ist ferner
nöthig für den Unterhalt eines starken Stockes über Winter, und
es ist bekannt, dass die Sicherheit desselben hauptsächlich gerade
von seiner Stärke abhängt. Daher Ersparniss von Wachs eine
grosse Ersparniss von Honig veranlasst und eine wesentliche Be-
dingniss des Gedeihens einer Bienen-Familie ist. Für gewöhn-
lich mag der Erfolg einer Bienen-Art von der Zahl ihrer Para-
siten und andrer Feinde oder von ganz andern Ursachen bedingt
und in soferne von der Menge des Honigs unabhängig seyn,
welche die Bienen einsammeln können. Nehmen wir aber an,
diess Letzte seye doch wirklich der Fall, wie in der That oft die
Menge der Hummel-Bienen in einer Gegend davon bedingt ist,
und nehmen wir ferner an (was in Wirklichkeit nicht so ist),
ihre Gemeinde durchlebe den Winter und verlange mithin einen
Honig-Vorrath „ so wäre es in diesem Falle für unsre Huminel-
Bienen gewiss ein Vortheil, wenn eine geringe Veränderung
ihres Instinktes sie veranlasste, ihre Wachs-Zellen etwas näher
an einander zu machen, so dass sich deren kreisrunden Wände
etwas schnitten; denn eine jede. zweien aneinander-stossenden
Zellen gemeinsam dienende Zwischenwand müsste etwas Wachs
ersparen. Es würde daher ein zunehmender Vortheil für unsre
Hummeln seyn, wenn sie ihre Zellen immer regelmässiger mach-
ten, immer näher zusammenrückten und immer mehr zu einer
Masse vereinigten, wie Melipona, weil alsdann ein grosser Theil
der eine jede Zelle begrenzenden Wand auch andern Zellen zur
Begrenzung dienen und viel Wachs erspart werden würde. Aus
245
gleichem Grunde würde es für die Melipona vortheilhaft seyn, wenn
sie ihre walzenförmigen Zellen noch näher zusammenrückte und
noch regelmässiger als jetzt machte, weil dann, wie wir gesehen
haben, die kreisförmigen Wände gänzlich verschwinden und
durch ebene Zwischen-Wände ersetzt werden müssten , wo dann
die Melipona eine so vollkommene Wabe als die Honig-Biene
liefern würde. Aber über diese Stufe hinaus kann Natürliche
Züchtung den Bau-Trieb nicht mehr vervollkommnen, weil die
Wabe der Honig-Biene, so viel wir einsehen können, hinsichtlich
der Wachs-Ersparniss unbedingt vollkommen ist.
So kann nach meiner Meinung der wunderbarste aller be-
kannten Instinkte, der der Honigbiene, durch die Annahme er-
klärt werden, Natürliche Züchtung habe allmählich eine Menge
kleiner Abänderungen einfachrer Naturtriebe benützt; sie habe
auf langsamen Stufen die Bienen geleitet, in einer doppelten
Schicht gleiche Kreise in gegebenen Entfernungen von einander
zu ziehen und das Wachs längs ihrer Durchschnitts-Ebenen aul-
zuschichten und auszuhöhlen, wenn auch die Bienen selbst von den
bestimmten Abständen ihrer Kreise von einander eben so wenig als
von den Winkeln ihrer Sechsecke und den Rautenflächen am Boden
ein Bewusstseyn haben. Die treibende Ursache des Prozesses der
Natürlichen Züchtung war Ersparniss an Wachs. Der einzelne
Schwarm, welcher am wenigsten Honig zur Sekretion von Wachs
bedurite. gedieh am besten und vererbte seinen neu-erworbenen
Ersparniss-Trieb auf spätre Schwärme, welche dann ihrerseits
wieder die meiste Wahrscheinlichkeit des Erfolges in dem Kampfe
um's Daseyn hatten.
N Ohne Zweifel liessen sich noch viele schwer erklärbare In-
stinkte meiner Theorie Natürlicher Züchtung entgegenhalten: Fälle,
wo sich die Veranlassung zur Entstehung eines Instinktes nicht ein-
sehen lässt; Fälle, wo keine Zwischenstufen bekannt sind; Fälle
von anscheinend so unwichtigen Instinkten, dass kaum abzu-
sehen, wie sich die Natürliche Züchtung an ihnen betheiligt haben
könne; Fälle von‘ fast gleichen Instinkten bei Thieren, welche
+ der Stufenleiter der Natur so weit auseinander stehen. dass
sich deren Übereinstimmung nicht durch Ererbung von RR ge-
-
246
meinsamen Stamm-Form erklären lässt. sondern voneinander
unabhängigen Züchtungs-Thätigkeiten zugeschrieben werden muss.
Ich will hier nicht auf diese mancherlei Fälle eingehen, son-
dern nur bei einer besondern Schwierigkeit stehen bleiben,
welche mir anfangs unübersteiglich und meiner ganzen Theorie
verderblich zu seyn schien. Ich will von den geschlechtlosen
Individuen oder unfruchtharen Weibehen der Insekten-Kolonien
sprechen; denn diese Geschlechtlosen weichen sowohl von den
Männchen als den fruchtbaren Weibchen in Bau und Instinkt oft
sehr weit ab und können doch, weil sie steril sind, ihre eigen-
thümliche Beschaffenheit nicht selbst durch Fortpflanzung weiter
übertragen.
Dieser Gegenstand würde sich zu einer weitläufigen Er-
örterung eignen; doch will ich hier nur einen einzelnen Fall
herausheben, die Arbeits-Ameisen. Anzugeben wie diese Arbei-
ter steril geworden sind, ist eine grosse Schwierigkeit, doch nicht
grösser als bei andren auffälligen Abänderungen in der Organisa-
tion auch. Denn es lässt sich nachweisen, dass einige Sechsfüsser
u. a. Kerbthiere im Natur-Zustande zuweilen unfruchtbar werden;
und falls Diess nun bei gesellig lebenden Arten vorgekommen
und es der Gemeinde vortheilhaft gewesen ist, dass jährlich eine
Anzahl zur Arbeit geschickter aber zur Fortpflanzung untauglicher
Individuen unter ihnen geboren werde, so dürfte keine grosse
Schwierigkeit für die Natürliche Züchtung ‘mehr stattgefunden
haben , jenen Zufall zur weitern Entwickelung dieser Anlage zu
benützen. Doch muss ich über dieses vorläufige Bedenken hin-
weggehen. Die Grösse der Schwierigkeit liegt darin, dass diese
Arbeiter sowohl von den männlichen wie von den weiblichen
Ameisen auch in ihrem übrigen Bau, in der Form des Brust-
stückes, in dem Mangel der Flügel und zuweilen der Augen, so
wie in ihren Instinkten weit abweichen. Was den Instinkt allein
betrifft, so hätte sich die wunderbare Verschiedenheit, welche in
dieser Hinsicht zwischen den Arbeiterinnen und den fruchtbaren
Weibchen ergibt, noch weit besser bei"den Honig-Bienen * nach-
* von Sırsorp hat bekanntlich im vorigen Jahre nachgewiesen, dass bei
der Honigbiene (u: a. Insekten) das Geschlecht der Eier von der Befruch-
247
weisen lassen. Wäre eine Arbeits-Ameise oder ein andres
Geschlecht-loses Insekt ein Thier in seinem gewöhnlichen Zu-
stande, so würde ich unbedenklich angenommen haben, dass alle
seine Charaktere durch Natürliche Züchtung entwickelt worden
seyen, und. dass namentlich, wenn ein Individuum mit irgend
einer kleinen Nutz-bringenden Abweichung des Baues geboren
worden wäre, sich diese Abweichung auf dessen Nachkommen ver-
erbt habe, welche dann ebenfalls variirten und bei weitrer Züch-
tung voranstunden. In der Arbeits-Ameise aber haben wir ein
von seinen - Ältern weit abweichendes Insekt, unbedingt un-
fruchtbar, welches daher zufällige Abänderungen des Baues nie
ererbt haben noch auf eine Nachkommenschaft weiter. vererben
kann. Man muss daher fragen, wie es möglich seye, diesen
Fall mit der Theorie Natürlicher Züchtung in Einklang zu bringen !
Erstens können wir mit unzähligen Beispielen sowohl unter
unsern kultivirten als unter den natürlichen Erzeugnissen bele-
gen, dass Struktur-Verschiedenheiten aller Arten mit gewissen
Altern oder mit nur einem der zwei Geschlechter in eine feste
Wechselbeziehung getreten sind. Wir haben Abänderungen, die
in solcher Wechselbeziehung nicht allein mit nur dem einen
Geschlechte, sondern sogar mit bloss. der kurzen Jahreszeit
stehen, wo das Reproduktiv-System thätig ist, wie das hochzeit-
liche Kleid vieler Vögel und der Haken-förmige Unterkiefer des
Salmen. Wir haben auch geringe Unterschiede in den Hörnern
einiger Rinds-Rassen, welche mit einem künstlich unvollkomme-
nen Zustande des männlichen Geschlechtes stehen; denn die
Ochsen haben in manchen Rassen längre Hörner als in andern,
in Vergleich zu denen ihrer Bullen oder Kühe. Ich finde da-
her keine wesentliche Schwierigkeit darin, dass ein Charakter
mit dem unfruchtbaren Zustande gewisser Mitglieder von Insekten-
Gemeinden in Correlation steht; die Schwierigkeit liegt nur darin
zu begreifen, wie solche in Wechselbeziehung stehende Aban-
derungen des Baues durch Natürliche Züchtung langsam gehäult
werden konnten.
ung abhängig ist, welche im Willen der Bienenkönigin steht und nur in
gewissen Zellen erfolgt, in andern unterbleibt. D. Übs
248
Diese anscheinend unüberwindliche Schwierigkeit wird aber
bedeutend geringer oder verschwindet, wie ich glaube, gänzlich,
wenn wir bedenken, dass - Züchtung ebensowohl bei der Fa-
milie als bei den Individuen anwendbar ist und daher zum er-
wünschten Ziele führen kann. So wird eine wohl-schmeckende
Gemüse-Sorte gekocht, und diess Individuum ist zerstört; aber
der Gärtner säet Saamen vom nämlichen Stock und erwartet mit
Zuversicht wieder nahezu dieselbe Varietät zu ärndten. Rindvieh-
Züchter wünschen das Fleisch vom Fett gut durchwachsen. Das
Thier ist geschlachtet worden, aber der Züchter wendet sich mit -
Vertrauen wieder zur nämlichen Familie. Ich habe solchen Glau-
ben an die Macht der Züchtung. dass ich nicht bezweifle, dass
eine Rinder-Rasse, welche stets Ochsen mit ausserordentlich
langen Hörnern liefert, langsam gezüchtet werden könne durch
sorgfältige Anwendung von solchen Bullen und Kühen, die, mit-
einander gepaart, Ochsen mit den längsten Hörnern geben, ob-
wohl nie ein Ochse selbst diese Eigenschaft auf Nachkommen
zu übertragen im Stande ist. So mag es wohl auch mit ge-
selligen Insekten gewesen seyn; eine kleine Abänderung im
Bau oder Instinkt. welche mit der unfruchtbaren Beschaffenheit
gewisser Mitglieder der Gemeinde in Zusammenhang steht, hat
sich für die Gemeinde nützlich erwiesen , in Folge dessen die
fruchtbaren Männchen und Weibchen derselben besser gediehen
und auf ihre fruchtbaren Nachkommen eine Neigung übertrugen
unfruchtbare Glieder mit gleicher Abänderung hervorzubringen.
Und ich glaube, dass dieser Vorgang oft genug wiederholt wor-
den ist, bis diese‘ Verschiedenheit zwischen den fruchtbaren
und unfruchtbaren Weibchen einer Spezies zu der, wunderbaren
Höhe gedieh, wie wir sie jetzt bei vielen gesellig lebenden In-
sekten wahrnehmen.
Aber die Schwierigkeit hat noch eine: höhere Stufe, die wir
noch nicht berührt haben, indem die Geschlechtlosen bei mehren
Ameisen-Arten nicht allein von den fruchtbaren Männchen und
Weibchen, sondern auch noch untereinander selbst in oft un-
glaublichem Grade abweichen und danach in 2—3 Kasten ge-
theilt werden. Diese Kasten gehen in der Regel nicht in einan-
249
der über, sondern sind vollkommen getrennt, SO verschieden von-
einander, wie es sonst zwei Arten einer Sippe oder zwei Sippen
einer Familie zu seyn pflegen. So kommen bei Eeiton arbeitende
und kämpfende Individuen mit ausserordentlich verschiedenen
-Kinnladen und Instinkten vor; bei Cryptocerus tragen die Arbei-
ter der einen Kasten allein eine wunderbare Art von Schild an
ihrem Kopfe, dessen Zweck ganz unbekannt ist. Bei den Mexi-
kanischen Myrmecocystus verlassen die Arbeiter der einen Kaste
niemals das Nest; sie werden durch die Arbeiter einer andern
Kaste gefüttert und haben ein ungeheuer entwickeltes Abdomen,
das eine Art Honig absondert, der die Stelle desjenigen vertritt,
welchen unsre Ameisen durch das Melken der Blattläuse erlan-
gen; die Mexikanischen gewinnen ihn von Individuen ihrer eig-
nen Art, die sie als »Kühe« im Hause eingestellt halten,
Man mag in der That denken, dass ich ein übermässiges
Vertrauen in das Prinzip der Natürlichen Züchtung setze, wenn
ich nicht zugebe, dass so wunderbare und wohl-begründete That-
sachen meine Theorie auf einmal gänzlich vernichten. In dem-
einfacheren Falle , wo Geschlecht-lose Ameisen nur von einer
Kaste vorkommen, die nach meiner Meinung durch Natürliche
Züchtung ganz leicht von den fruchtbaren Männchen und Weib-
chen abgetrennt worden seyn können, in diesem Falle dürfen
wir aus der Analogie mit gewöhnlichen Abänderungen zu-
versichtlich schliessen, dass jede geringe nützliche spätre Ab-
weichung nicht alsbald an allen Geschlecht-losen Individuen eines
Nestes zugleich, sondern nur an einigen wenigen zum Vorschein
kam, und dass erst in Folge lang-fortgesetzter Züchtung frucht-
barer Altern, welche die meisten Geschlechtlosen mit der nutz-
baren Abänderung erzeugen konnten, die Geschlechtlosen end-
lich alle diesen gewünschten Charakter erlangten. Nach dieser
Ansicht müsste man auch im nämlichen‘ Neste zuweilen noch
Geschlecht-lose Individuen derselben Insekten-Art finden, welche
Zwischenstufen der Körper-Bildung darstellen; und diese findet
RB in der That und zwar, wenn man berücksichtigt, wie selten
in Europa diese Geschlechtlosen näher untersucht werden, olt
genug. Herr F. Smiru hat gezeigt, wie erstaunlich dieselben bei
250
den verschiedenen Englischen Ameisen-Arten in der Grösse
und mitunter in der Form variiren, und dass selbst die äusser-
sten Formen zuweilen vollständig durch aus demselben Neste
entnommene Individuen untereinander verkettet werden können.
Ich selbst habe vollkommene Stufenreihen dieser Art miteinander
vergleichen können. Oft geschieht es," dass die grösseren oder
die kleineren Arbeiter die zahlreicheren sind, oft auch sind beide
gleich zahlreich mit einer mitteln Abstufung. Formica flava hat
grössre und kleinere Arbeiter mit einigen von miltler Grösse;
und bei dieser Art haben nach Herrn Smirws Beobachtung die
grösseren Arbeiter einfache Augen (Ocelli), welche, wenn auch
klein, doch deutlich zu beobachten sind, während die Ocellen der
kleineren nur rudimentär erscheinen. Nachdem ich verschiedene
Individuen dieser Arbeiter sorgfältig zerlegt habe, kann ich ver-
sichern, dass die Ocellen der letzten weit rudimentärer sind, als
nach ihrer Grösse allein zu erwarten gewesen wäre, und ich
glaube fest, wenn ich es auch nicht für gewiss zu behaupten
wage, dass die Arbeiter von mittler Grösse auch Öcellen von
mittlem Vollkommenheits-Grade besitzen. Es gibt daher zwei
Gruppen steriler Arbeiter in einem Neste, welche nicht allein in
der Grösse, sondern auch in den Gesichts-Organen von einander
abweichen und durch einige wenige Glieder von mittler Beschal-
fenheit miteinander verbunden werden. Ich könnte nun noch
weiter gehen und sagen, dass wenn die kleineren die nützliche-
ren für den Haushalt der Gemeinde gewesen wären und dem-
zufolge immer diejenigen Männchen und Weibchen, welche die
kleineren Arbeiter liefern, bei der Züchtung das Übergewicht
gewonnen hätten, bis alle Arbeiter einerlei Beschaffenheit erlang-
ten, wir eine Ameisen-Art haben müssten, Jeren Geschlecht-
losen fast wie bei Myrmica beschaffen wären. Denn die Arbei-
ter von Myrmica haben nicht einmal Augen-Rudimente, obwohl
deren Männchen und Weibchen wohl entwickelte Ocellen besitzen.
Ich will noch ein andres Beispiel anführen. Ich erwartete
so zuversichtlich, Abstufungen in wesentlichen Theilen des Kör-
per-Baues zwischen den verschiedenen Kasten der Geschlecht-
losen in einer‘ nämlichen ‘Art zu finden, dass ich mir gerne
251
”
Hrn, F. Smrm’s Anerbieten zahlreicher Exemplare der Treiber-
Ameise (Anomma) aus West-Afrika zu Nutz’ machte. Der Leser
wird vielleiht die Grösse des Unterschiedes zwischen deren Ar-
beitern am besten bemessen, wenn ich ihm nicht die wirklichen
Ausmessungen, sondern eine sireng genaue Vergleichung mit-
theile. Die Verschiedenheit ist eben so gross, als ob wir eine
Reihe von Arbeitsleuten ein Haus bauen sähen, von welchen
viele nur fünf Fuss vier Zoll hoch und viele andre bis sechs-
zehn Fuss gross wären (1:3); dann müssten wir aber noch un-
terstellen, dass die grösseren vier- statt drei-mal so grosse Köpfe
als die kleineren und fast fünfmal so grosse Kinnladen hätten.
Überdiess ändern die Kinnladen dieser Arbeiter wunderbar in
Form, in Grösse und in der Zahl der Zähne ab. Aber die für
uns wichtigste Thatsache ist, dass, obwohl man diese Arbeiter in
Kasten von verschiedener Grösse unterscheiden kann, sie doch
unmerklich in einander übergehen, wie es auch mit der so weit
auseinander weichenden Bildung ihrer Kinnladen der Fall ist.
Ich kann mit Zuversicht über diesen letzten Punkt sprechen;
da Hr. Lussock Zeichnungen dieser Kinnladen mit der Camera
lucida für mich angefertigt hat, welche ich von den Arbeitern
verschiedener Grösse abgelöst halte.
Mit diesen Thatsachen vor mir glaube ich, dass Natürliche
Züchtung auf die fruchtbaren Ältern wirkend Arten zu bilden im
Stande ist, welche regelmässig auch ungeschlechtliche Individuen
hervorbringen, die entweder alle eine ansehnliche Grösse und
gleich-beschaffene Kinnladen haben, oder welche alle klein und
mit Kinnladen von sehr veränderlicher Bildung versehen sind,
oder welche endlich (und Diess ist die Hauptschwierigkeit)
zwei Gruppen von verschiedener Beschaffenheit darstellen, wo-
von die eine von gleicher Grösse und Bildung und die andre
in beiderlei Hinsicht veränderlich ist, beide aus einer anfäng-
lichen Stufenreihe wie bei Anomma hervorgegangen, wovon
aber die zwei äussersten Formen, soferne sie für die Gemeinde
die nützlichsten sind, durch Natürliche Züchtung der sie erzeu-
genden Ältern immer zahlreicher überwiegend werden, bis die
Zwischenstufen gänzlich verschwinden.
252
So ist nach meiner Meinung die wunderbare Erscheinung
von zwei streng begrenzten Kasten unfruchtbarer Arbeiter in
einerlei Nest zu erklären, welche beide weit voneinander und
von ihren Altern verschieden sind. Es lässt sich annehmen, dass
ihre Hervorbringung für eine soziale Insekten-Gemeinde nach
gleichem Prinzipe, wie die Theilung der Arbeit für die zivili-
sirten Menschen, nützlich gewesen seye. Da die Ameisen mit
ererbten Instinkten und mit ererbten Organen und Werkzeu-
gen und nicht mit erworbenen Kenntnissen und fabrizirtem
Geräthe arbeiten, so liess sich eine vollständige Theilung der
Arbeit unter denselben nur mittelst steriler Arbeiter erzielen;
denn wären sie fruchtbar gewesen, so würden sie durch Kreut-
zung ihre Instinkte und Werkzeuge mit denen der andern ge-
mischt und verdorben haben. Und die Natur hat, wie ich glaube,
diese bewundernswürdige Arbeits-Theilung in den Ameisen-Ge-
meinden durch Züchtung bewirkt. Aber ich 'bin zu bekennen
genöthigt, dass ich bei allem Vertrauen in dieses Prinzip
doch, ohne die vorliegenden Thatsachen zu kennen, nie ge-
ahnt haben würde, dass Natürliche Züchtung sich in so hohem
Grade wirksam erweisen könne. Ich habe desshalb auch diesen
Gegenstand mit etwas grössrer, obwohl noch ganz ungenügender
Ausführlichkeit abgehandelt, um daran die Macht Natürlicher Züch-
tung zu zeigen und weil er in der That die ernsteste spezielle
Schwierigkeit lür meine Theorie darbietet. Auch ist der Fall
darum sehr interessant, weil er zeigt, dass sowohl bei Thieren
als bei Pflanzen jeder Betrag von Abänderung in der Struktur
durch Häufung vieler kleinen und anscheinend zufälligen Ab-
weichungen von irgend welcher Nützlichkeit, ohne alle Unter-
stützung durch Übung und Gewohnheit, bewirkt werden kann.
Denn keinerlei Grad von Übung, Gewohnheit und Willen in
den gänzlich unfruchtbaren Gliedern einer Gemeinde vermöchte
die Bildung oder Instinkte der fruchtbaren Glieder, welche allein
die Nachkommenschaft liefern, zu beeinflussen. Ich bin er-
staunt, dass noch Niemand den lehrreichen Fall der Geschlecht-
losen Insekten der wohl-bekannten Theorie Lanarcrs enigegen-
gesetzt hat.
253
Zusammenfassung.) Ich habe in diesem Kapitel ver-
sucht, kürzlich zu zeigen, dass die Geistes-Fähigkeiten unsrer
Hausthiere abändern, und dass diese Abänderungen vererblich
sind. Und in noch kürzrer Weise habe ich darzuthun gestrebt,
dass Instinkte im Natur-Zustande etwas abändern. Niemand wird
bestreiten, dass Instinkte von der höchsten Wichtigkeit für jedes
Thier sind. Ich sehe daher keine Schwierigkeit, warum unter
veränderten Lebens-Bedingungen Natürliche Züchtung nicht auch
im Stande gewesen seyn sollte, kleine Abänderungen des In-
stinktes in einer nützlichen Richtung bis zu jedem Betrag zu
häufen. In einigen Fällen haben Gewohnheit, Gebrauch und
Nichtgebrauch wahrscheinlich mitgewirkt. Ich glaube nicht
durch die in diesem Abschnitte mitgetheilten Thatsachen meine
Theorie in irgend einer Weise zu stützen; doch ist nach meiner
besten Überzeugung auch keine dieser Schwierigkeiten im Stande
sie umzustossen. Auf der andern Seite aber eignen sich die
Thatsachen, dass Instinkte nicht immer vollkommen und noch
Missdeutungen unterworfen sind, — dass kein Instinkt zum
ausschliesslichen Vortheil eines andern . Thieres vorhanden ist,
wenn auch jedes Thier von Instinkten andrer Nutzen zieht, —
dass der naturhistorische Glaubenssatz »Natura non facit sal-
tum« ebensowohl auf Instinkte als auf körperliche Bildungen
anwendbar und aus den vorgetragenen Ansichten eben so er-
klärlich als auf andre Weise unerklärbar ist: alle diese That-
sachen eignen sich die Theorie der Natürlichen Züchtung zu be-
festigen.
Diese Theorie wird noch durch einige andre Erscheinungen
hinsichtlich der Instinkte bestärkt. So durch die gemeine Beob-
achtung,, dass einander nahe verwandte aber sicherlich ver-
schiedene Spezies, wenn sie von einander entfernte Welttheile
bewohnen und unter beträchtlich verschiedenen Existenz - Be-
dingungen leben, doch oft fast dieselben Instinkte beibehalten.
So z. B. lässt sich aus dem Erblichkeits-Prinzip erklären, wie
es kommt. dass die Süd-Amerikanische Drossel ihr Nest mit
Schlamm auskleidet ganz in derselben Weise, wie es unsre Euro-
päische Drossel thut; — wie es kommt, dass die Männchen des
254
Ostindischen und des Afrikanische Nashorn-Vogels, welche zu
zwei verschiedenen Untersippen von Buceros gehören, beide die-
selben eigenthümlichen Instinkte besitzen, ihre in Baumhöhlen brü-
tenden Weibchen mit Sand so einzumauern, dass nur noch ein
kleines Loch offen bleibt, durch welches sie das Weibchen und
später auch die Jungen mit Nahrung versehen; — wie es kommt,
dass das Männchen des Amerikanischen Zaunkönigs (Troglodytes)
ein besondres Nest für sich baut, ganz wie das Männchen uns-
rer einheimischen Art: Alles Sitten, die bei andern Vögeln gar
nicht vorkommen. Endlich mag es wohl keine logisch richtige
Folgerung seyn, es entspricht aber meiner Vorstellungs-Art weit
besser, solche Instinkte wie die des jungen Kuckucks, der seine
T;; .. h T a Yo de . . .
Nährbrüder aus dem Neste stösst, — wie die der Ameisen,
welche Sklaven machen, — oder die der Ichneumoniden, welche
ihre Eier in lebende Raupen legen: nicht als eigenthümlich
anerschaffne Instinkte, sondern nur als geringe Ausflüsse eines
allgemeinen Gesetzes zu betrachten, welches allen organischen
Wesen zum Vortheil gereicht, nämlich: Vermehrung und Abände-
rung macht die stärksten siegen und die schwächsten erliegen.
Achtes Kapitel.
Bastard-Bildung.
Unterschied zwischen der Unfruchtbarkeit bei der ersten Kreutzung und der
Unfruchtbarkeit der Bastarde. —Unfruchtbarkeit der Stufe nach veränderlich;
nicht allgemein; durch Inzucht vermehrt und durch Zähmung vermindert. —
Gesetze für die Unfruchtbarkeit der Bastarde. — Unfruchtbarkeit keine
besondre Eigenthümlichkeit, sondern mit andern Verschiedenheiten zu-
sammenfallend. — Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und
der Bastarde. — Parallelismus zwischen den Wirkungen der veränderten
Lebens-Bedingungen und der Kreutzung. — Fruchtbarkeit miteinander ge-
kreutzter Varietäten und ihrer Blendlinge nicht allgemein. — Bastarde und
Blendlinge unabhängig von ihrer Fruchtbarkeit verglichen. — Zusam-
menfassung.
/ Die allgemeine Meinung der Naturforscher geht dahin, dass
‘Arten im Falle der Kreutzung von sich aus unfruchtbar sind, um
die Verschmelzung aller organischen Formen mit einander Zu
2
verhindern. Diese Meinung hat anfangs gewiss grosse Wahr-
scheinlichkeit für sich; denn in derselben Gegend beisammen-
lebende Arten würden sich, wenn freie Kreutzung möglich wäre,
kaum getrennt erhalten können. Die Wichtigkeit der Thatsache,
dass Bastarde sehr allgemein steril sind, ist nach meiner Ansicht
von einigen neueren Schriftstellern sehr unterschätzt worden.
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung ist der Fall um so
mehr von spezieller Wichtigkeit, als die Unfruchtbarkeit der
Bastarde nicht wohl vortheilhaft für sie seyn und auch desshalb
nicht durch fortgesetzte Erhaltung aufeinander-folgender nützlicher
Abstufungen der Sterilität erworben seyn kann. Ich hoffe jedoch
zeigen zu können, dass Unfruchtbarkeit nicht eine speziell erwor-
bene oder für sich angeborene Eigenschaft ist, sondern mit an-
deren erworbenen Verschiedenheiten zusammenhängt.
Bei Behandlung dieses Gegenstandes hat man zwei Klassen
von Thatsachen, welche von Grund aus weit verschieden sind,
gewöhnlich mit einander verwechselt, nämlich die Unfruchtbar-
keit zweier Arten bei ihrer ersten Kreutzung und die Unfrucht-
barkeit der von ihnen erhaltenen Bastarde.
Reine Arten haben regelmässig Fortpflanzungs-Organe von
vollkommener Beschaffenheit, liefern aber, wenn sie mit einan-
der gekreutzt werden, nur wenige oder gar keine Nachkommen.
Bastarde dagegen haben Reproduktions-Organe, welche zur
Dienstleistung unlähig sind, wie man aus dem Zustande des
männlichen Elementes bei Pflanzen und Thieren erkennt, wäh-
rend die Organe selbst ihrer Bildung nach vollkommen sind,
wie die mikroskopische Untersuchung ergibt. Im ersten Falle
sind die zweierlei geschlechtlichen Elemente, welche den Embryo
liefern sollen, vollkommen; im andern sind sie entweder gar
nicht oder nur sehr unvollständig entwickelt. Diese Unterschei-
dung ist wesentlich, wenn die Ursache der in beiden Fällen statt-
findenden Sterilität in Betracht gezogen werden soll. Der
Unterschied ist wahrscheinlich übersehen worden, weil man die
Unfruchtbarkeit in beiden Fällen als eine besondre Eigenthüm-
lichkeit betrachtet hat, deren Beurtheilung ausser dem Bereiche
unsrer Kräfte liege.
256
Die Fruchtbarkeit der Varietäten oder derjenigen Formen,
welche von gemeinsamen Altern abstammen oder doch so ange-
sehen werden, bei deren Kreutzung, und ebenso die ihrer Blend-
linge ist nach meiner Theorie von gleicher Wichtigkeit mit der
Unfruchtbarkeit der Spezies unter einander; denn es scheint
sich daraus ein klarer und weiter Unterschied zwischen Arten
und Varietäten zu ergeben.
Erstens: Die Unfruchtbarkeit miteinander gekreutzter Arten
und ihrer Bastarde. Man kann unmöglich die verschiedenen
Werke und Abhandlungen der zwei gewissenhaften und bewun-
dernswerthen Beobachter KöLrEUTER und GÄRTNER, welche fast ihr
ganzes Leben diesem Gegenstande gewidmet haben, durchlesen,
ohne einen tiefen Eindruck von der Allgemeinheit eines höheren
oder geringeren Grades der Unfruchtbarkeit gekreutzter Arten
in sich aufzunehmen. KöLrEUTFR macht es zur allgemeinen Re-
gel; aber er durchhaut den Knoten, indem er in zehn Fällen,
wo zwei fast allgemein für verschiedene Arten geltende Formen
ganz fruchtbar mit einander sind, dieselhen unbedenklich für
blosse Varietäten erklärt. Auch Gärtner macht‘ die Regel’ zur
allgemeinen und bestreitet die zehn Fälle gänzlicher Fruchtbar-
keit bei KöLreuter. Doch ist Gärtner in diesen wie in vielen
andern Fällen genöthigt, die erzielten Saamen sorgfältig zu zäh-
len um zu beweisen, dass doch einige Verminderung der Frucht-
barkeit stattfindet. Er vergleicht immer die höchste Anzahl der
von zwei gekreutzten Arten oder ihren Bastarden erzielten Saa-
men mit deren Durchschnittszahl bei den zwei reinen älterlichen
Arten in ihrem Natur-Stande. Doch scheint mir dabei noch
eine Ursache ernsten Irrthums mit unterzulaufen. Eine Pflanze,
deren Unfruchtbarkeit bewiesen werden soll, muss kastrirt und,
was oft noch wichtiger ist, eingeschlossen werden, damit ihr
kein Pollen von andren Pflanzen durch Insekten zugeführt wer-
den kann. Fast alle Pflanzen, die zu Gärrners Versuchen ge-
dient, waren in Töpfe gepflanzt und, wie es scheint, in einem
Zimmer seines Hauses untergebracht. Dass aber solches Verfah-
ren die Fruchtbarkeit der Pflanzen oft beeinträchtigt haben müsse,
lässt sich nicht in Abrede stellen. Denn Gärrner selbst führl
257
in seiner Tabelle etwa zwanzig Fälle an, wo. er die Pflanzen
kastrirte und dann mit ihrem eignen Pollen künstlich befruchtete;
aber die Leguminosen und andre solche Fälle, wo die Manipula-
tion anerkannter Maassen schwierig ist, ganz bei Seite gesetzt
zeigte die Hälfte jener zwanzig Pflanzen eine mehr und weniger
verminderte Fruchtbarkeit. Da nun überdiess GÄRTNER einige
Jahre hintereinander die Primula offieinalis und Pr. elatior,
welche wir mit gutem Grunde nur für Varietäten einer Art
halten, mit einander kreutzte und doch nur ein oder zwei-mal
fruchtbaren Saamen’ erhielt, — da er Anagallis arvensis und A,
coerulea, welche die besten Botaniker nur als Varietäten betrach-
ten, durchaus unfruchtbar mit einander fand und noch in meh-
ren analogen Fällen zu gleichem Ergebniss gelangte: so scheint
mir wohl zu zweifeln erlaubt, ob viele andre Spezies wirklich so
steril bei der Kreutzung seyen, als Gärtner behauptet.
# Einerseits ist es gewiss, dass die Unfruchtbarkeit mancher
Arten bei gegenseitiger Kreutzung so ungleich an Siärke ist
und so manchfaltige Abstufungen darbietet, — und dass ander-
seits die Fruchtbarkeit ächter Spezies so leicht durch mancherlei
Umstände berührt wird, dass es für die meisten praktischen
Zwecke schwierig ist zu sagen, wo die vollkommene Fruchtbar-
keit aufhöre und wo die Unfruchtbarkeit beginne? Ich glaube,
man kann keinen bessern Beweis dafür verlangen, als der ist,
dass die erfahrensten zwei Beobachter, die es je gegeben, nämlich
KÖLREUTER und GÄRTNER, hinsichtlich einerlei Spezies zu schnur-
stracks entgegengesetzten Ergebnissen gelangt sind. Auch ist es
sehr belehrend, die von unseren besten Botanikern vorgebrachten
Argumente über die Frage, ob diese oder jene zweifelhafte Form
als Art oder als Varietät zu betrachten sey, zu vergleichen mit
dem aus der Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit nach den Be-
richten verschiedener Bastard- Züchter oder den mehrjährigen
Versuchen der Verfasser selbst entnommenen Beweise. Es lässt
sich daraus darthun, dass weder Fruchtbarkeit noch Unfrucht-
barkeit einen klaren Unterschied zwischen Arten und Varietäten
liefert, indem der darauf gestützte Beweis stufenweise ver-
schwindet und mithin so, wie die übrigen von der organischen
17
258
Bildung und Thätigkeil hergenommenen Beweise, zweifelhaft
bleibt.
Was die Unfruchtbarkeit der Bastarde auf dem Wege der
Inzucht betrifft, so hat GÄRTNER zwar einige Versuche angestellt
und die Inzucht während 6—7 und in einem Falle sogar 10
Generationen vor aller Kreutzung mit einer der zwei Stammarten
geschützt, versichert aber ausdrücklich, dass ihre Fruchtbarkeit
nie zugenommen, sondern vielmehr stark abgenommen habe. Ich
zweifle nicht daran, dass Diess gewöhnlich der Fall ist und
die Fruchtbarkeit in den ersten Generationen oft plötzlich ab-
nimmt. Demungeachtet aber glaube ich, dass bei allen diesen
Versuchen die Fruchtbarkeit durch eine unabhängige Ursache
vermindert worden ist, nämlich durch die allzu strenge Inzucht,
Ich habe eine grosse Menge von Thatsachen gesammelt, welche
zeigen, dass eine allzu strenge Inzucht die Fruchtbarkeit vermin-
dert, während dagegen die jeweilige Kreytzung mit einem andern
Individuum oder einer andern Varietät die Fruchtbarkeit ver-
mehrt, daher ich an der Richtigkeit dieser unter den Züchtern
fast allgemein verbreiteten Meinung nicht zweifeln kann. Bastarde
werden selten in grössrer Anzahl zu Versuchen erzogen, und
da die älterlichen Arten oder andre nahe verwandte Arten ge-
wöhnlich im nämlichen Garten wachsen, so müssen die Besuche
der Insekten während der Blüthe-Zeit sorgfältig verhütet werden,
daher Bastarde für jede Generation gewöhnlich durch ihren eig-
nen Pollen befruchtet werden müssen; und ich bin überzeugt,
dass Diess ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigt, welche durch ihre
Bastard-Natur schon olmediess geschwächt ist. In dieser Über-
zeugung bestärkt mich noch eine von Gärtner mehrmals wieder-
holte Versicherung, dass nämlich die minder fruchtbaren Bastarde
sogar, wenn sie mit gleichartigem Bastard-Pollen künstlich be-
fruchtet werden, ungeachtet des oft schlechten Erfolges der Be-
handlung, doch zuweilen entschieden an Fruchtbarkeit weiter und
weiter zunehmen. Nun wird bei. künstlicher Befruchtung der
Pollen oft zufällig (wie ich aus meinen eignen Versuchen weiss)
von Antheren einer andern als der zu befruchtenden Blume ge-
nommen, so dass hiedurch eine Kreutzung zwischen zwei Blu-
259
men, doch gewöhnlich derselben Pflanze, bewirkt wird. Wenn
nun ferner ein so sorgfältiger Beobachter, als GÄRTNER ist, im
Verlaufe seiner zusammengesetzten Versuche seine Bastarde
kastrirt hätte, so würde Diess bei jeder Generation eine Kreutzung
mit dem Pollen einer andern Blume entweder von derselben oder
von einer andern Pflanze von gleicher Bastard-Beschaffenheit
nöthig‘ gemacht haben. Und so kann die befremdende Er-
scheinung, dass die Fruchtbarkeit in aufeinander folgenden Gene-
rationen von künstlich befruchteten Bastarden zugenommen
hat, wie ich glaube, dadurch erklärt werden, dass allzu enge
Inzucht vermieden worden ist.
Wenden wir uns jetzt zu den Ergebnissen, welche sich durch
die Versuche des dritten der erfahrensten Bastard-Züchter, des
Ehrenwerthen und Hochwürdigen W. Herserr, herausgestellt haben.
Er versichert ebenso ausdrücklich, dass manche Bastarde voll-
kommen fruchtbar und 'nicht minder züchtbar als jede der Stamm-
Arten für sich seyen, wie KöLREUTER und GÄRTNER einen gewissen
Grad von Sterilität bei Kreutzung verschiedener Spezies mit einan-
der für ein allgemeines Natur-Gesetz erklären. Seine Versuche be-
zogen sich auf einige derselben Arten, welche auch zu den Ex-
perimenten Gärtner’s gedient hatten. Die Verschiedenheit der
Ergebnisse, zu welchen beide gelangt sind, lässt sich, wie ich
glaube, ableiten zum Theile aus Herserr's grosser Erfahrung in
der Blumen-Zucht und zum Theile davon, dass er Warmhäuser
zu seiner Verfügung hatte. Von seinen vielen wichtigen Ergeb-
nissen will ich hier nur eines beispielsweise hervorheben, dass
nämlich „jedes mit Crinum revolutum befruchtete Eichen an
einem Stocke von Crinum capense auch eine Pflanze lieferte, was
ich (sagt er) bei natürlicher Belruchtung nie wahrgenommen
habe.c Wir haben mithin hier den Fall vollkommener und
selbst mehr als vollkommener Fruchtbarkeit bei der Kreutzung
zweier verschiedener Arten.
Dieser Fall mit Crinum führt mich zu einer ganz eigen-
thümlichen Thatsache, dass es nämlich bei einigen Arten von
Lobelia und mehren andern Sippen einzelne Pflanzen gibt, welche
viel leichter mit dem Pollen einer verschiednen andern Art als
2.”
260
ihrer eignen befruchtet werden können; und gleicherweise
scheint es sich auch mit allen Individuen fast aller Hippeastrum-
Arten zu verhalten. Denn man hat gefunden, dass diese Pflan-
zen, mit dem Pollen einer andern Spezies befruchtet, Saamen
ansetzen, aber mit ihrem eignen Pollen ganz unfruchtbar sind,
obwohl derselbe vollkommen gut und wieder andre Arten zu
befruchten im Stande ist. So können mithin gewisse einzelne
Pflanzen und alle Individuen gewisser Spezies viel leichter zur
Bastard-Zucht dienen, als durch sich selbst befruchtet werden.
Eine Zwiebel von Hippeastrum aulicum z. B. brachte vier Blu-
men; drei davon wurden mit ihrem eignen Pollen befruchtet und
die vierte hierauf mit dem Pollen eines aus drei andern ver-
schiednen Arten gezüchteten Bastards versehen, und das Resul-
tat war, dass »die Ovarien der drei ersten Blumen bald zu
wachsen aufhörten und nach einigen Tagen gänzlich verdarben,
während das Ovarium der mit dem Bastard-Pollen versehenen
Blume rasch zunahm und reifte und gute Saamen lieferte, welche
kräftig gediehen«. Im Jahr 1839 schrieb mir Hersert, dass er
den Versuch fünf Jahre lang fortgesetzt habe und jedes Jahr
mit gleichem Erfolge. Denselben Erfolg hatten auch andre
Beobachter bei Hippeastrum und, dessen Untersippen so wie bei
einigen andern Geschlechtern, närnlich Lobelia, Passiflora und
Verbascum. Obwohl diese Pflanzen bei den Versuchen ganz
gesund erschienen und sowohl Ei’chen als Saamenstaub einer und
der nämlichen Blume sich bei der Befruchtung mit andern Arten
vollkommen gut erwiesen, so waren sie doch zur gegenseitigen
Selbstbefruchtung funktionell ungenügend, und wir müssen daher
schliessen, dass sich die Pflanzen in einem unnatürlichen Zustande
befanden. Jedenfalls zeigen diese Erscheinungen, von was für ge-
ringen und geheimnissvollen Ursachen die grössre oder geringere
Fruchtbarkeit der Arten bei der Kreutzung, gegenüber der
Selbstbefruchtung, zuweilen abhänge.
Die praktischen Versuche der Gartenfreunde, wenn auch
nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit ausgeführt , verdienen
oleichfalls einige Beachtung. Es ist bekannt, in welch verwickel-
ter Weise die Arten von Pelargonium, Fuchsia, Calceolaria, Pe-
ul
wis i
=
261
tunia, Rhododendron u. a. gekreutzt worden sind, und doch setzen
viele dieser Bastarde Saamen an. So versichert HERBERT , dass
ein Bastard von Calceolaria integrifolia und C. plumbaginea, zweier
in ihrer allgemeinen Beschaffenheit sehr unähnlicher Arten, »sich
selbst so vollkommen aus Saamen verjüngte, als ob er einer
natürlichen Spezies aus den Bergen Chile’s angehört hätte«. Ich
habe mir einige Mühe gegeben, den Grund der Fruchtbarkeit
bei einigen durch mehrseitige Kreutzung erzielten Rhododendren
kennen zu lernen, und die Gewissheit erlangt, dass mehre der-
selben vollkommen fruchtbar sind. Herr €. Nosıe z. B. berich-
tet mir, dass er zur Gewinnung von Propfreisern Stöcke eines Ba-
stardes von Rhododendron Ponticum und Rh. Catawbiense erzieht,
und dass dieser Bastard „so reichlichen Saamen ansetzt, -als man
sich nur denken kann«, Nähme bei richtiger Behandlung die
Fruchtbarkeit der Bastarde in aufeinander-folgenden Generationen
in der Weise ab, wie Gärtner versichert, so müsste diese That-
sache unseren Plantage-Besitzern bekannt seyn. Garten-Freunde
erziehen grosse Beete voll der nämlichen Bastarde; und diese
allein erfreuen sich einer richtigen Behandlung; denn hier allein
können die verschiedenen Individuen einer nämlichen Bastard-
Form durch die Thätigkeit der Insekten sich untereinander
kreutzen und den schädlichen Einflüssen zu enger Inzucht ent-
gehen. Von der Wirkung der Insekten-Thätigkeit kann jeder
sich selbst überzeugen, wenn er die Blumen der sterileren Rho-
dodendron-Formen, welche keine Pollen bilden, untersucht; denn
er wird ihre Narben ganz mit Saamenstaub bedeckt finden, der
von andern Blumen hergetragen worden ist,
Was die Thiere betrifft, so sind der genauen Versuche viel
weniger mit ihnen veranstaltet worden. Wenn unsre systema-
tischen Anordnungen Vertrauen verdienen, d. h. wenn die Sip-
pen der Thiere eben so verschieden von einander als die der
Pflanzen sind, dann können wir behaupten, dass viel weiter auf
der Stufenleiter der Natur auseinander-stehende Thiere noch
oekreutzt werden können, als es bei den Pflanzen der Fall ist;
dagegen scheinen die Bastarde unfruchtbarer zu seyn. Ich be-
zweifle, ob auch nur eine Angabe von einem ganz [ruchtbaren
262
Thier-Bastard als vollkommen beglaubigt angesehen werden darf.
Man muss jedoch nicht vergessen, dass sich nur wenige Thiere
in der Gefangenschaft reichlich fortpflanzen und daher nur we-
nige richtige Versuche mit ihnen angestellt werden können. $o
hat man z. B. den Kanarienvogel mit neun andern Finken-
Arten gekreutzt, da sich aber keine dieser neun Arten in der
Gefangenschaft gut fortpflanzt, so haben wir kein Recht zu er-
warten, dass die ersten Bastarde von ihnen und dem Kanarien-
vogel vollkommen fruchtbar seyn sollen. Ebenso, was die Frucht-
barkeit der vergleichungsweise fruchtbaren Bastarde in späteren
Generationen betrifft, so kenne ich wohl kaum ein Beispiel, dass
zwei Familien gleicher Bastarde gleichzeitig von verschiedenen
Ältern erzogen worden wären, um die üblen Folgen allzustrenger
Inzucht vermeiden zu können. Im Gegentheil hat man in jeder
nachfolgenden Generation, die beständig wiederholten Mahnungen
aller Züchter nicht beachtend, gewöhnlich Brüder und Schwe-
stern miteinander gepaart. Und so ist es durchaus nicht über-
raschend, dass die vererbliche Sterilität der Bastarde mit jeder
Generation zunahm. Wenn wir in der Absicht darauf hinzu-
wirken immer Brüder und Schwestern reiner Spezies miteinander
paarten, in welchen aus irgend einer Ursache bereits eine noch
so geringe Neigung zur Unfruchtbarkeit vorhanden wäre, so
würde die Rasse gewiss nach wenigen Generationen aus-
sterben.
Obwohl ich keinen irgend wohl-beglaubigten Fall vollkommen
fruchtbarer Thier-Bastarde kenne, so habe ich doch einige Ur-
sache anzunehmen, dass die Bastarde von Cervulus vaginalis und
Ü. Reevesi, von Phasianus Colchicus und Ph. torquatus oder auch
Ph. versicolor vollkommen fruchtbar sind. Es unterliegt insbe-
sondere keinem Zweifel, dass diese drei Fasanen-Arten, nämlich
der gemeine, der ringhalsige und der Japanesische sich in den
Wäldern einiger Theile von England kreutzen und Nachkommen
liefern. Die Bastarde der gemeinen und der Schwanen-Gans
(Anser cygnoides), zweier so verschiedeher Arten, dass man sie
in zwei verschiedene Sippen zu stellen pflegt, haben hierzulande
oft Nachkommen mit einer der reinen Stamm-Arten und in einem
263
Falle sogar unter, sich. geliefert, .Diess. ist durch Hrn. Eyron be-
wirkt worden, der zwei Bastarde von gleichen Ältern aber ver-
schiednen Bruten erzog und dann von beiden zusammen nicht
weniger. als acht Nachkommen aus einem Neste erhielt. In In-
dien dagegen müssen die durch Kreutzung gewonnenen Gänse
weit ‚fruchtbarer seyn, indem zwei ausgezeichnet befähigte
Beurtheiler,. nämlich Hr. Bıyru und Capt. Hurron, mir ver-
sichert haben, dass dort in verschiedenen Landes - Gegenden
ganze Heerden dieser Bastardgans gehalten werden; und da
Diess des Nutzens wegen geschieht, wo die reinen Stamm-
Arten gar nicht existiren, so müssen sie nothwendig sehr frucht-
bar seyn.
Neuere Naturforscher haben grossentheils eine von FArLas
ausgegangene Lehre angenommen, dass nämlich die meisten uns-
rer Hausthiere von je zwei oder mehr wilden Arten abstammten,
welche sich seither durch Kreutzung vermischt hätten. Hiernach
müssten also entweder die Stamm-Arten gleich anfangs ganz
fruchtbare Bastarde geliefert haben oder die Bastarde erst in
späteren Generationen in zahmem Zustande ganz fruchtbar ge-
worden seyn.. Diese letzte Alternative scheint mir die wahr-
scheinlichere, und ich bin geneigt an deren Richtigkeit zu glau-
ben, obwohl sie auf keinem direkten Beweise beruhet. Ich nehme
z.B. an, dass unsre Hunde von mehren wilden Arten herrühren,
und doch sind vielleicht mit Ausnahme gewisser in Süd- Amerika
gehaltenen Haushunde alle vollkommen fruchtbar miteinander;
aber die Analogie erweckt grosse Zweifel in mir, dass die ver-
schiedenen Stamm-Arten derselben sich anfangs freiwillig mit-ein-
ander gepaart und sogleich ganz fruchtbare Bastarde. geliefert
haben sollen. So liegt auch Grund zur Annahme vor, dass un-
ser Europäischer und der Indische Büffel-Ochse fruchtbar mitein-
ander seyen, obwohl ich sie nach den von Bıyru mir mitgetheil-
ten Thatsachen für zwei verschiedene Arten halten muss. Bei
dieser Ansicht von der Entstehung vieler unsrer Hausthiere müs-
sen wir entweder den Glauben an die fast allgemeine Unfrucht-
barkeit einer Paarung verschiedener Thier-Arten miteinander aul-
geben oder aber die Sterilität nicht als eine unzerstörbare, SONn-
264
dern als eine durch Zähmung zu beseitigende Folge einer solchen
Kreutzung betrachten. |
Überblicken wir endlich alle über die Kreutzung von Pflan-
zen- und Thier-Arten festgestellten Thatsachen, so gelangen wir
zum Schlusse, dass ein gewisser Grad von Unfruchtbarkeit bei
der ersten Kreutzung und den daraus entspringenden Bastarden
zwar eine äusserst gewöhnliche Erscheinung ist. aber nach dem
gegenwärtigen Stand unsrer Kenntnisse. nicht als unbedingt all-
gemein betrachtet werden darf.
Gesetze, welche die Unfruchtbarkeit der ersten
Kreutzung und der Bastarde regeln.) Wir wollen nun
die Umstände und die Regeln etwas näher betrachten, welche
die vergleichungsweise Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und
der Bastarde bestimmen. Unsre Hauptaufgabe wird seyn zu er-
fahren, ob sich nach diesen Regeln Unfruchtbarkeit der Arten
miteinander als eine denselben inhärente Eigenschaft ergibt, de-
ren Bestimmung es wäre eine Kreutzung der Arten bis zur äus-
sersten Verschmelzung der Formen zu verhüten, oder ob sich
Diess nicht herausstellt. Die nachstehenden Regeln und Folge-
rungen sind hauptsächlich aus GÄrrners bewundernswerthem Werke
über die Bastard-Erzeugung bei den Pflanzen entnommen*. Ich
‚habe mir viele Mühe gegeben zu erfahren, in wie ferne diese
Regeln auch auf Thiere Anwendung finden, und obwohl unsre
Erfahrungen über Bastard-Thiere sehr dürftig sind, so war ich
doch erstaunt zu sehen, in wie ausgedehntem Grade die näm-
lichen Regeln für beide Reiche gelten.
Es ist bereits bemerkt worden, dass sich die Fruchtbarkeit
sowohl der ersten Kreutzung als der daraus entspringenden Ba-
starde von Zero an bis zur Vollkommenheit abstuft. Es ist erstaun-
lich, auf wie mancherlei eigenthümliche Weise sich diese Ab-
* C, F. v. Gärtner: Versuche und Beobachtungen über die Befruch-
tungs-Organe der vollkommenen Gewächse und über die natürliche und
künstliche Befruchtung durch ' den eigenen Pollen. Stuttgart 1844. —
Versuche und Beobachtungen über die Bastarderzeugung im Pflanzen-
reich. Mit Hinweisung auf die ähnlichen Erscheinungen im Thierreiche.
Stuttgart 1849. D. Ubs.
265
stufung darthun lässt; doch können hier nur die nacktesten
Umrisse der Thatsachen geliefert werden. Wenn Pollen einer
Pflanze von der einen Familie auf die: Narbe einer Pflanze von
andrer Familie gebracht wird, so hat er nicht mehr Wirkung,
als eben so viel unorganischer Staub.
Wenn man aber Saamenstaub von Arten einer Sippe auf das
Stigma einer Spezies derselben Sippe bringt, so wird der Erfolg
ein günstigerer, aber bei verschiedenen Arten doch wieder so
ungleich, dass sich mittelst der Anzahl der jedesmal erzeugten
Saamen alle Abstufungen von jenem Zero an bis zur vollstän-
digen Fruchtbarkeit und, wie wir gesehen haben, in einigen ab-
normen Fällen sogar über das gewöhnlich bei Selbstbefruchtung
gewöhnliche Maass hinaus ergeben. So gibt es auch unter den
Bastarden selber einige, welche sogar mit dem Pollen von einer
der zwei reinen Stamm-Arten nie auch nur einen fruchtbaren
Saamen hervorgebracht haben noch wahrscheinlich jenıals hervor-
bringen werden. Doch hat sich in einigen dieser Fälle eine erste
Spur von der Wirkung eines solchen Pollens insoferne gezeigt,
als er ein frühzeitigeres Abwelken der Blume der Bastard-Pflanze
veranlasste, worauf er gebracht worden war; und rasches Ab-
welken einer Blüthe ist bekanntlich ein Zeichen beginnender Be-
fruchtung. An diesen äussersten Grad der Unfruchtbarkeit reihen
sich dann Bastarde an, die durch Selbstbefruchtung eine immer
grössre Anzahl von Saamen bis zur vollständigen Fruchtbarkeit
hervorbringen.
Bastarde von solchen zwei Arten erzielt, welche sehr schwer
zu kreutzen sind und nur selten einen Nachkommen liefern, pfle-
gen selber sehr unfruchtbar zu seyn. Aber der Parallelismus
zwischen der Schwierigkeit eine erste Kreutzung zu Stande zu
bringen, und der einen daraus entsprungenen ‚Bastard zu be-
fruchten, — zwei sehr gewöhnlich miteinander verwechselte
Klassen von Thalsachen — ist keineswegs strenge. Denn es
gibt viele Fälle, wo zwei reine Arten mit ungewöhnlicher Leich-
tigkeit miteinander gepaart werden und zahlreiche Bastarde lie-
fern können, welche aber äusserst unfruchtbar sind. Anderseits
gibt es Arten, welche nur selten oder äusserst schwierig zu
266
kreutzen gelingt, aber ihre Bastarde, ‚wenn sie einmal: vorhanden,
sind sehr. fruchtbar. Und diese zwei so entgegengesetzten Fälle
können innerhalb der nämlichen Sippe vorkommen, wie z. B. bei
Dianthus.
Die Fruchtbarkeit sowohl der ersten Kreutzungen als der
Bastarde wird leichter als die der reinen Arten durch ungün-
stige Bedingungen gefährdet. Aber der Grad der Fruchtbarkeit
ist gleicher Weise an sich veränderlich; denn der Erfolg ist
nicht immer der nämliche, wenn man dieselben zwei Arten
unter denselben äusseren Umständen kreutzt, sondern hängt
zum Theile von der Verfassung der zwei zulällig für den Ver-
such ausgewählten Individuen ab. So ist es auch mit den
Bastarden, indem sich der Grad der Fruchtbarkeit in verschie-
denen aus Saamen einer Kapsel erzogenen und den näm-
lichen Bedingungen ausgesetzten Individuen oft ganz verschie-
den erweist.
Mit dem Ausdruck systematische Affinität soll die Ähn-
lichkeit verschiedener Arten in organischer Bildung und Thätig-
keit zumal solcher Theile bezeichnet werden, welche eine grosse
physiologische Bedeutung haben und in verwandten Arten nur
wenig von einander abweichen. Nun ist die Fruchtbarkeit der
ersten Kreutzung zweier Spezies und der daraus hervorgehenden
Bastarde in reichem Maasse abhängig von dieser „systematischen
Verwandtschaft«. Diess geht deutlich schon daraus hervor, dass
man noch niemals Bastarde von zwei Arten erzielt hat, welche
die Systematiker in verschiedene Familien stellen, während es
dagegen gewöhnlich leicht ist, nahe verwandte Arten miteinander
zu paaren. Doch ist die Beziehung zwischen systematischer
Verwandtschaft und Leichtigkeit der Kreutzung keinesweges
eine strenge. ‚Denn es liesse sich eine Menge Fälle von sehr
nahe verwandten Arten anführen, die gar nicht oder nur mit
grösster Mühe zur Paarung gebracht werden können, während
mitunter auch sehr verschiedene Arten sich mit grösster Leich-
tigkeit kreutzen lassen. In einer nämlichen Familie können zwei
Sippen beisammen stehen, wovon die eine wie Dianthus viele
solche Arten enthält, die sehr leicht zu kreutzen sind, während
267
die der andern, z. B. Silene, den beharrlichsten Versuchen eine
Kreutzung zu bewirken in dem Grade widerstehen, dass man
auch noch nicht einen Bastard zwischen den einander am näch-
sten verwandten Arten derselben zu erzielen vermochte. Ja
selbst innerhalb der Grenzen einer und der nämlichen Sippe
zeigt sich ein solcher Unterschied. So sind z. B. die zahlreichen
Nicotiana-Arten mehr unter einander gekreutzt worden, als die
der meisten übrigen Sippen, und GäÄrTNEr hat gefunden, dass
N. acuminata, die keinesweges eine besonders abweichende Art
ist, beharrlich allen Befruchtungs-Versuchen widerstand, so dass
von acht andern Nicotiana-Arten keine weder sie befruchten
noch von ihr befruchtet werden konnte. Und analoge Thatsachen
liessen sich noch viele anführen.
Noch niemand hat auszumitteln vermocht, welche Art oder
welcher Grad von Verschiedenheit in irgend einem erkennbaren
Charakter genüge, um die Kreutzung zweier Spezies zu hindern.
Es lässt sich nachweisen, dass Pflanzen, welche in Lebens-Weise
und allgemeiner Tracht am weitesten auseinandergehen, welche
in allen Theilen ihrer Blüthen sogar bis zum Pollen oder in der
Frucht oder in den Kotyledonen sehr scharfe Unterschiede zei-
gen, mit einander gekreutzt werden können. Einjährige und
ausdauernde Gewächs-Arten, winterkahle und immergrüne Bäume,
Pflanzen für die abweichendsten Standorle und die entgegenge-
setztesten Klimate gemacht, können oft leicht mit einander ge-
kreutzt werden.
Unter wechselseitiger Kreutzung zweier Arten ver-
stehe ich den Fall, wo z. B. ein Pferde-Hengst mit einer
Eselin und dann ein Esel-Hengst mit einer Pferde-Stute gepaart
wird; man kann dann sagen, diese zwei Arten seyen wechsel-
seitig,. gekreuzt worden. In der Leichtigkeit einer wechselseiti-
gen Kreutzung findet oft der möglich grösste Unterschied statt.
Solche Fälle sind höchst wichtig, weil: sie beweisen, dass die
Empfänglichkeit für die Kreutzung zwischen irgend zwei Arten
von ihrer systematischen Verwandtschaft oder von irgend welchem
kennbaren Unterschied in ihrer ganzen Organisation oft ganz
unabhängig ist. Dagegen zeigen diese Fälle auch deutlich, dass
u au
268
jene Empfänglichkeit mit Unterschieden in der Verfassung des
Körpers zusammenhängt, welche für uns nicht wahrnehmbar sind
und sich auf das Reproduktiv-System beschränken. Diese Ver-
schiedenheit der Ergebnisse aus wechselseitigen Kreutzungen zwi-
schen je zwei Arten war schon längst von Körreurer beobachtet
worden. So kann, um ein Beispiel anzuführen, Mirabilis Jalapa
leicht durch den Saamenstaub der M. longiflora befruchtet wer-
den, und die daraus entspringenden Bastarde sind genügend
fruchtbar; aber mehr als zweihundert Male versuchte es KöLkev-
TER im Verlaufe von acht Jahren vergebens die M. longiflora
nun auch mit Pollen der M. Jalapa zu befruchten. Und so
liessen sich noch einige andre Beispiele geben. Tuurer hat die-
selbe Bemerkung an einigen Seepflanzen gemacht, und GÄRTNER
noch überdiess gefunden, dass diese Erscheinung in einem
geringeren Grade ausserordentlich gemein ist. Er hat sie selbst
zwischen Formen wahrgenommen, welche viele Botaniker nur
als Varietäten einer nämlichen Art betrachten, wie Matthiolia
annua und M. glabra. Eben so ist es eine bemerkenswerthe
Thatsache, dass die beiderlei aus wechselseitiger Kreutzung her-
vorgegangenen Bastarde, wenn auch von denselben zwei Stamm-
arten herrührend, hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit gewöhnlich in
einem geringen, zuweilen aber auch in hohem Grade von ein-
ander abweichen.
Es lassen sich noch manche andre eigenthümliche Regeln
aus GÄRTNER entnehmen, wie z. B. dass manche Arten ‚sich
überhaupt 'sehr leicht zur Kreutzung mit andern verwenden las-
sen, während andren Arten derselben Sippe das Vermögen inne-
wohnt, den Bastarden eine grosse Ähnlichkeit mit ihnen -aufzu-
prägen; doch stehen beiderlei Fähigkeiten nicht in nothwendiger
Beziehung zu einander. Es gibt Bastarde, welche, statt wie
gewöhnlich das Mittel zwischen ihren zwei ältelichen Arten zu
halten, stets nur einer derselben sehr ähnlich sind; und gerade
diese äusserlich der einen Stammart so ähnlichen Bastarde sind mit
seltener Ausnahme äusserst unfruchtbar. Dagegen kommen aber
auch unter denjenigen Bastarden, welche zwischen ihren Ältern
das Mittel zu halten pflegen, zuweilen abnorme Individuen vor,
269
die einer der reinen Stammarten ausserordentlich gleichen ;
und diese Bastarde sind dann gewöhnlich auch äusserst steril,
obwohl die mit ihnen aus gleicher Frucht-Kapsel entsprungenen
Mittelformen sehr fruchtbar zu seyn pflegen. Aus diesen Er-
scheinungen geht hervor, wie ganz unabhängig die Fruchtbarkeit
der Bastarde vom Grade ihrer Ähnlichkeit mit ihren beiden
Stammältern ist.
Aus den. bis daher gegebenen Regeln über die Fruchtbar-
keit der ersten Kreutzungen und der dadurch erzielten Bastarde,
ergibt sich, dass, wenn man Formen, die als gute und verschie-
dene Arten ängesehen werden müssen, mit einander paart, ihre
Fruchtbarkeit in allen Abstufungen von Zero an bis selbst über
das unter gewöhnlichen Bedingungen stattfindende Maass voll-
kommener Fruchtbarkeit hinaus wechseln kann. Ferner ist ihre
Fruchtbarkeit nicht nur äusserst empfindlich für günstige und
ungünstige Bedingungen, sondern auch an und für sich verän-
derlich. Die Fruchtbarkeit verhält sich nicht immer an Stärke
gleich bei der ersten Kreutzung und bei den daraus erzielten
Bastarden. Die Fruchtbarkeit dieser letzten steht im keinem
Verhältniss zu deren äusserer Ähnlichkeit mit ihren beiden
Ältern. - Die Leichtigkeit einer ersten Kreutzung zwischen zwei
Arten ist nicht von deren systematischer Affinität noch von ihrer
Ähnlichkeit mit einander abhängig. Dieses letzte Ergebniss ist
hauptsächlich aus den Wechselkreutzungen zweier nämlichen
Arten erweisbar, wo die Paarung gewöhnlich etwas, mitunter
aber auch viel leichter oder schwerer erfolgt, je nachdem man
den Vater von der einen oder von der andern der zwei ge-
kreutzten Arten nimmt. Endlich sind die zweierlei durch Wech-
selkreutzung erzielten Bastarde oft in ihrer Fruchtbarkeit ver-
schieden.
Nun fragt es sich, ob aus diesen eigenthümlich verwickel-
ten Regeln hervorgehe, dass die vergleichungsweise Unfruchtbar-
keit der Arten bei deren Kreutzung den Zweck habe, ihre Ver-
mischung im Natur-Zustande zu verhüten? Ich glaube nicht.
Denn warum wäre in diesem Falle der Grad der Unfruchtbarkeit
so ausserordentlich verschieden, da wir doch annehmen müssen
270
diese Verhütung seye gleich wichtig bei allen? Warum wäre
sogar schon eine angeborene Verschiedenheit zwischen Indivi-
duen einer nämlichen Art vorhanden? Zu welchem Ende sollten
manche Arten 'so leicht zu kreutzen seyn und doch sehr sterile
Bastarde erzeugen, während andre sich nur sehr schwierig
paaren lassen und vollkommen fruchtbare Bastarde liefern? Wozu
sollte es dienen, dass die zweierlei Produkte einer Wechsel-
kreutzung zwischen den nämlichen Arten sich oft so sehr abwei-
chend verhalten? Wozu, kann man sogar fragen, soll überhaupt
die Möglichkeit Bastarde zu liefern dienen? Es scheint doch
eine wunderliche Anordnung zu seyn, dass die Arten das Ver-
mögen haben Bastarde zu bilden, deren weitre Förtpflanzung
aber durch verschiedene Grade von Sterilität gehemmt ist, welche
in keiner Beziehung zur Leichtigkeit der ersten Kreutzung
zweier Ältern verschiedener Spezies miteinander stehen.
Die voranstehenden Regeln und Thatsachen scheinen mir
dagegen deutlich zu beweisen, dass die Unfruchtbarkeit sowohl
der ersten Kreutzungen als der Bastarde von unbekannten Ver-
hältnissen hauptsächlich im Fortpflanzungs-Systeme der gekreutz-
ten Arten abhänge. Die Verschiedenheiten sind von so eigen-
thümlicher und beschränkter Natur, dass bei wechselseitigen
Kreutzungen zwischen zwei Arten olt das männliche Element
der einen von üppiger Wirkung auf das weibliche der andern
ist, während bei der Kreutzung in der andern Richtung das
Gegentheil eintritt. Es wird angemessen 'seyn durch ein Bei-
spiel etwas vollständiger auseinander zu setzen, Was ich unter
der Bemerkung verstehe, dass Sterilität mit andern Ursachen
zusammenhänge und nicht eine spezielle Eigenthümlichkeit für
sich bilde. Die Fähigkeit einer Pflanze sich auf eine andre
zweigen oder nicht zweigen und okuliren zu lassen, ist für
deren Gedeihen im Natur-Zustande so gänzlich gleichgiltig, dass
wohl niemand diese Fähigkeit für eine spezielle Anordnung der
Natur halten, sondern jedermann anzunehmen geneigt seyn wird,
sie falle mit Verschiedenheiten in den Wachsthums-Gesetzen der
zwei Pflanzen zusammen. Den Grund davon, dass eine Art auf
der andern etwa nicht anschlagen will, kann man zuweilen in
271 |
abweichender Wachsthums-Weise, Härte des Holzes, Natur des
Saftes, Zeit der Blüthe u. dgl. finden; in sehr vielen Fällen aber
lässt sich gar keine Ursache dafür ergeben. Denn selbst sehr
bedeutende Verschiedenheiten in der Grösse der zwei Pflanzen,
oder in holziger und krautartiger, immergrüner und sommergrü-
ner Beschaffenheit und selbst ihre Anpassung an ganz verschie-
dene Klimate bilden nicht immer ein Hinderniss ihrer Auf-
einanderpropfung. Wie bei der Bastard-Bildung so ist auch beim
Propfen die Fähigkeit durch systematische Affinität beschränkt;
denn es ist noch nie gelungen, Holzarten aus ganz ver-
schiedenen Familien aufeinanderzusetzen, während dagegen nahe
verwandte Arten einer Sippe und Varietäten einer Art gewöhn-
lich, aber nicht immer, leicht aufeinander gepropft werden kön-
nen. Doch ist auch dieses Vermögen eben so wenig als das
der Bastard-Bildung durch systematische Verwandtschaft in abso-
luter Weise bedingt. Denn, wenn auch viele verschiedene
Sippen einer Familie aufeinander zu propfen gelungen ist, so
nehmen doch wieder in andern Fällen sogar Arten einer näm-
lichen Sippe einander: nicht an. Der Birnbaum kann viel leich-
ter auf den Quittenbaum, den man zu einem eignen Genus er-
hoben, als auf den Apfelbaum gezweigt werden, der mit ihm zur
nämlichen Sippe gehört. Selbst verschiedene Varietäten der
Birne schlagen nicht mit gleicher Leichtigkeit auf dem Quitten-
baum an,: und eben so verhalten sich verschiedene Aprikosen-
und Pfirsich-Varietäten dem Pflaumen-Baume gegenüber.
Wie nach Gärtner zuweilen eine angeborene Verschieden-
heit im Verhalten der Individuen zweier zu kreutzenden Arten
vorhanden ist, so glaubt SacarEer auch an eine angeborene Ver-
schiedenheit im Verhalten der Individuen zweier aufeinander zu
propfender Arten. Wie bei Wechselkreutzungen die Leichtigkeit
der zweierlei Paarungen oft sehr ungleich ist, so verhält es sich
oft auch bei dem wechselseitigen Verpropfen. So kann die ge-
meine Stachelbeere z. B. auf den Johannisbeer-Strauch gezweigt
werden, dieser wird aber nur schwer auf dem Stachelbeer- °
Strauch anschlagen.
Wir haben gesehen, dass die Unfruchtbarkeit der Bastarde,
212
deren Reproduktions-Organe von unvollkommener Beschaffenheit
sind, eine ganz andere Sache ist, als die Schwierigkeit zwei
reine Arten mit vollständigen Organen mit einander zu paaren;
doch laufen beide Fälle bis zu gewissem Grade mit einander
parallel. Etwas Ahnliches kommt auch beim Propfen vor; denn
Tuovın hat gefunden, dass die drei Robinia-Arten, welche auf
eigner Wurzel reichlichen Saamen gebildet hatten und sich leicht
auf einander zweigen liessen, durch die Aufeinanderimpfung un-
fruchtbar gemacht wurden; während dagegen gewisse Sorbus-
Arten, eine auf die andre gesetzt, doppelt so viel Früchte als
auf eigner Wurzel lieferten. Diess erinnert uns an die oben-
erwähnten ausserordentlichen Fälle bei Hippeastrum, Lobelia u. dgl.,
welche viel reichlicher fruktifiziren, wenn sie mit Pollen einer
andern Art als wenn sie mit ihrem eignen Pollen versehen
werden.
Wir sehen daher, dass, wenn auch ein klarer und gründ-
licher Unterschied zwischen der blossen Adhäsion auf einander
gepropfter Stöcke und der Zusammenwirkung männlicher und
weiblicher Urstoffe zum Zwecke der Fortpflanzung stattfindet, sich
doch ein gewisser Parallelismus zwischen den Wirkungen der
Impfung und der Befruchtung verschiedener Arten mit einander
kundgibt. Wenn wir die sonderbaren und verwickelten Regeln,
welche die Leichtigkeit der Propfung bedingen, als mit unbe-
kannten Verschiedenheiten in den vegetativen Organen zusammen-
hängend betrachten, so müssen wir nach meiner Meinung auch
die viel zusammengesetzteren für die Leichtigkeit der ersten
Kreutzungen mit unbekannten Verschiedenheiten in ihrem Repro-
duktiv-Systeme im Zusammenhang stehend ansehen. Diese Ver-
schiedenheiten folgen, wie sich erwarten lässt, bis zu einem ge-
wissen Grade der systematischen Affinität, durch welche Bezeich-
nung jede Art von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen orga-
nischen Wesen ausgedrückt werden soll. Die Thatsachen schei-
nen mir in keiner Weise anzuzeigen, dass die grössre oder ge-
| ringere Schwierigkeit verschiedene Arten auf und mit einander
zu propfen und zu kreutzen eine besondre Eigenthümlichkeit
ist, obwohl dieselbe beim Kreutzen für die Dauer und Stetigkeil
273
der Art-Formen eben so wichtig als beim Propfen unwesentlich
für deren Gedeihen ist.
Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreut-
zungen und der Bastarde.) Sehen wir uns nun etwas näher
um nach den wahrscheinlichen Ursachen der Sterilität der ersten
Kreutzungen und der Bastarde. Diese zwei Fälle sind von
Grund aus verschieden, da, wie oben bemerkt worden, die
männlichen und die weiblichen Geschlechtstheile bei Paarung
zweier reiner Arten vollkommen, bei Bastarden aber unvollkom-
men sind. Selbst bei ersten Kreutzungen hängt die grössre
oder geringere Schwierigkeit, eine Paarung zu bewirken, anschei-
nend von mehren verschiedenen Ursachen ab. Oft liegt.sie in
der physischen Unmöglichkeit für das männliche Element bis
zum Eichen zu gelangen, wie es bei solchen Pflanzen der Fall,
deren Pistill so lang ist, dass die Pollen-Schläuche nicht bis ins
Ovarium hinabreichen können. So ist auch beobachtet worden,
dass wenn der Pollen einer Art auf das Stigma einer nur ent-
fernt damit verwandten Art gebracht wird, die Pollen-Schläuche
zwar hervortreten, aber nicht in die Oberfläche des Stigmas
eindringen. In andern Fällen kann das männliche Element zwar
das weibliche erreichen, aber unfähig seyn die Entwickelung des
Embryos zu bewirken, wie Das aus einigen Versuchen TuurETS
mit Seetangen hervorzugehen scheint. Wir können diese That-
sachen eben so wenig erklären, als warum gewisse Holzarten
nicht auf andre gepropft werden können. Endlich kann es auch
vorkommen, dass ein Embryo sich zwar zu entwickeln beginnt,
aber schon in der nächsten Zeit zu Grunde geht. Diese letzte
Möglichkeit ist nicht genügend aufgeklärt worden; doch glaube
ich nach den von Hrn. Hrwırr erhaltenen Mittheilungen, welcher
grosse Erfahrung in der Bastard-Züchtung der Hühner-artigen
Vögel besessen, dass der frühzeitige Tod des Embryos eine sehr
häufige Ursache des Fehlschlagens der ersten Kreutzungen ist,
Ich war anfangs sehr wenig daran zu glauben geneigt, weil
Bastarde, wenn sie einmal geboren sind, sehr kräftig und lang-
lebend zu seyn pflegen. wie Maulthier und Maulesel zeigen.
Überdiess befinden sich Bastarde vor und nach der Geburt unter
18
274
ganz verschiedenen Verhältnissen. In einer Gegend geboren
und lebend, wo auch ihre beiden Ältern leben, mögen ihnen die
Lebens-Bedingungen wohl zusagen. Aber ein Bastard hat nur
halb an der organischen Bildung und Thätigkeit seiner Mutter
Antheil und mag mithin vor der Geburt, so lange als er sich
noch im Mutterleibe oder in den von der Mutter hervorgebrach-
ten Eiern und Saamen befindet, einigermassen ungünstigeren
Bedingungen ausgesetzt und demzufolge in der ersten Zeit leich-
ter zu Grunde zu gehen geneigt seyn, zumal alle sehr jungen
Wesen gegen schädliche und unnatürliche Lebens-Verhältnisse
ausserordentlich empfindlich sind. |
Hinsichtlich der Sterilität der Bastarde, deren Sexual-Organe
unvollkommen entwickelt sind, verhält sich die Sache ganz an-
ders. Ich habe schon mehrmals angeführt, dass ich eine grosse
Menge von Thatsachen gesammelt habe, welche zeigen, dass,
wenn Pflanzen und Thiere aus ihren natürlichen Verhältnissen
gerissen werden, es vorzugsweise die Fortpflanzungs - Organe
sind, welche dabei angegriffen werden. Diess ist in der That
die grosse Schranke für die Zähmung der Thiere. Zwischen
der dadurch veranlassten Unfruchtbarkeit derselben und der der
Bastarde sind manche Ähnlichkeiten. In beiden Fällen ist die
Sterilität unabhängig von der Gesundheit im Allgemeinen und oft
begleitet von vermehrter Grösse und Üppigkeit. In beiden Fäl-
len kommt die Unfruchtbarkeit in vielerlei Abstufungen vor; in
beiden leidet das männliche Element am meisten, zuweilen aber
das Weibchen doch noch mehr als das Männchen. In beiden
geht die Fruchtbarkeit bis zu gewisser Stufe gleichen Schritts mit
der systematischen Verwandtschaft; denn ganze Gruppen von Pilan-
zen und Thieren werden durch dieselben unnatürlichen Bedin-
gungen impotent, und gleiche Gruppen von Arten neigen zur Her-
vorbringung unfruchtbarer Bastarde. Dagegen widersteht zuwei-
len eine einzelne Art in einer Gruppe grossen Veränderungen
in den äusseren Bedingungen mit ungeschwächter Fruchtbarkeit,
und gewisse Arten einer Gruppe liefern ungewöhnlich frucht-
bare Bastarde. Niemand kann, ehe er es versucht hat, voraus-
sagen, ob dieses oder jenes Thier in der Gefangenschaft und ob
3
j)
219
diese oder jene ausländische Pflanze während ihres Anbaues sich
gut fortpflanzen wird, noch ob irgend welche zwei Arten einer
Sippe mehr oder weniger sterile Bastarde mit einander hervor-
bringen werden. Endlich, wenn organische Wesen während
mehrer Generationen in für sie unnatürliche Verhältnisse versetzt
werden, so sind sie ausserordentlich zu variiren geneigt, was.
wie ich glaube, davon herrührt, dass ihre Reproduktiv-Systeme
vorzugsweise angegriffen sind, obwohl in mindrem Grade als
wenn gänzliche Unfruchtbarkeit folgt. Eben so ist es mit Bastar-
den; denn Bastarde sind in aufeinander-folgenden Generationen
sehr zu variiren geneigt, wie es jeder Züchter erfahren hat.
So sehen wir denn, dass, wenn organische Wesen in neue
und unnatürliche Verhältnisse versetzt, und wenn Bastarde durch
unnatürliche Kreutzung zweier Arten erzeugt werden, das Repro-
duktiv-System ganz unabhängig von der ‚allgemeinen Gesundheit,
in ganz eigenthümlicher Weise von Unfruchtbarkeit betroffen
wird. In dem einen Falle sind die Lebens-Bedingungen gestört
worden, obwohl oft nur in einem für uns nicht wahrnehmbaren
Grade; in dem andern, bei den Bastarden nämlich, sind jene
Verhältnisse unverändert geblieben, aber die Organisation ist
dadurch gestört worden, dass zweierlei Bau und Verfassung
des Körpers mit einander vermischt worden ist. Denn es ist
kaum möglich, dass zwei Organisationen in eine verbunden wer-
den, ohne einige Störung in der Entwickelung oder in der perio-
dischen Thätigkeit oder in den Wechselbeziehungen der ver-
schiedenen Theile und Organe zu einander oder endlich in den
Lebens-Bedingungen zu veranlassen. Wenn Bastarde fähig sind
sich unter sich fortzupflanzen, so übertragen sie von Generation
zu Generation auf ihre Abkommen dieselbe Vereinigung zweier
Organisationen, und wir dürfen daher nicht erstaunen. ihre
Unfruchtbarkeit, wenn auch einigem Schwanken unterworfen,
selten abnehmen zu sehen. |
Wir müssen jedoch bekennen, dass wir, von haltlosen Hypo-
thesen abgesehen, nicht im Stande sind, gewisse Thatsachen in
Bezug auf die Unfruchtbarkeit der Bastarde zu begreifen, wie
2. B. die ungleiche Fruchtbarkeit der zweierlei Bastarde aus der
18 %
276
Wechselkreutzung, oder die zunehmende Unfruchtbarkeit derjeni-
gen Bastarde, welche zufällig oder ausnahmsweise einem ihrer
beiden Ältern sehr ähnlich sind. Auch bilde ich mir nicht
ein, durch die vorangehenden Bemerkungen der Sache auf den
Grund zu kommen; denn wir haben keine Erklärung dafür,
warum ein Organismus unter unnatürlichen Lebens-Bedingungen
unfruchtbar wird. Alles, was ich habe zeigen wollen, ist, dass
in zwei in mancher Beziehung einander ähnlichen Fällen Un-
fruchtbarkeit das gleiche Resultat ist, in dem einen Falle, weil
die äussren Lebens-Bedingungen, und in dem andern weil durch
Verbindung zweier Bildungen in eine die Organisation selbst
gestört worden sind. | |
Es mag wunderlich scheinen, aber ich vermuthe, dass ein
gleicher Parallelismus noch in einer andern zwar verwandten,
doch an sich sehr verschiedenen Reihe von Thatsachen besteht.
Es ist ein alter und fast allgemeiner Glaube, welcher meines
Wissens auf einer Masse von Erfahrungen beruhet, dass leichte
Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen für alle
Lebenwesen wohlthätig sind. Wir sehen daher Landwirthe und
Gärtner beständig ihre Saamen, Knollen u. s. w. austauschen, sie
aus einem Boden und Klima ins andre und endlich wohl auch
wieder zurück versetzen. Während der Wiedergenesung von
Thieren sehen wir sie oft grossen Vortheil aus diesem oder
jenem Wechsel in ihrer Lebensweise ziehen. So sind auch bei
Pflanzen und Thieren reichliche Beweise vorhanden, dass eine
Kreutzung zwischen sehr verschiedenen Individnen einer Art, näm-
lich zwischen solchen von verschiedenen Stämmen oder Unter-
rassen, der Nachzucht Kraft und Fruchtbarkeit verleihe. Ich
glaube in der That, nach den im vierten Kapitel angeführten
Thatsachen, dass ein gewisses Maass von Kreutzung selbst für
Hermaphroditen unentbehrlich ist, und dass enge Inzucht zwischen
den nächsten Verwandten einige Generationen lang fortgesetzt,
zumal wenn dieselben unter gleichen Lebens-Bedingungen gehal-
ten werden, endlich schwache und unfruchtbare Sprösslinge
liefert.
So scheint es mir denn, dass einerseits geringe Wechse
977
der Lebens-Bedingungen allen organischen Wesen vortbeilhaft sind,
und dass anderseits schwache Kreutzungen, nämlich zwischen
verschiedenen Stämmen und geringen Varietäten einer Art, der
Nachkommenschaft Kraft und Stärke verleihen. Dagegen haben
wir aber auch gesehen, dass stärkere Wechsel der Verhältnisse
und zumal solche von gewisser Art die Organismen oft in ge-
wissem Grade unfruchtbar machen können, wie auch stärkere
Kreutzungen, nämlich zwischen sehr verschiedenen oder in ge-
wissen Beziehungen von einander abweichenden Männchen und
Weibchen Bastarde hervorbringen, die gewöhnlich einigermaassen
unfruchtbar sind. Ich vermag mich nicht zu überreden, dass
dieser Parallelismus auf einem .blossen Zufalle oder einer Täu-
schung beruhen solle. Beide Reihen von Thatsachen scheinen
durch ein gemeinsames aber unbekanntes Band mit einander ver-
kettet,. welches mit dem Lebens-Prinzipe wesentlich zusammen-
hängt.
Fruchtbarkeit gekreutzier Varietäten und ihrer
Blendlinge.) Man mag uns als einen sehr kräftigen Beweis-
Grund entgegenhalten, es müsse irgend ein wesentlicher Unter-
schied zwischen Arten und Varietäten seyn und sich irgend ein
Irrthum durch Alle vorangehenden Bemerkungen hindurch ziehen,
da ja Varietäten, wenn sie in ihrer äusseren Erscheinung auch
noch so sehr auseinandergehen, sich doch leicht kreutzen und
vollkommene fruchtbare Nachkommen liefern. Ich gebe vollkom-
men zu, dass Diess meistens unabänderlich so ist, dass die-
ser Fall eine grosse Schwierigkeit darbiete und hier vermuth-
lich irgend etwas unerklärt bleibe. Wenn wir aber die in der
Natur vorkommenden Varietäten betrachten, so werden wir un-
mittelbar in hoffnungslose Schwierigkeiten eingehüllt ; denn sobald
zwei: bisher als Varietäten angesehene Formen sich einigermaassen
steril mit einander zeigen, so werden sie von den meisten
Naturforschern zu Arten erhoben. So sind z. B. die rothe und
die blaue Anagallis, die hell- und die dunkel-gelbe Schlüssel-
blume, welche die meisten unsrer: besten Botaniker für blosse
Varietäten halten, nach Gärtner bei der Kreutzung nicht voll-
kommen fruchtbar und. werden desshalb von ihm als unzweifel-
273
hafte Arten bezeichnet. Wenn wir daraus im Zirkel schliessen,
so muss die Fruchtbarkeit aller natürlich entstandenen Varietäten
als erwiesen angesehen werden.
Auch wenn wir uns zu den erwiesener oder vermutheter
Maassen im Kultur-Zustande erzeugten Varietäten wenden, sehen
wir uns noch in Zweifel verwickelt. Denn wenn es z. B. fest-
steht, dass der Deutsche Spitz-Hund sich leichter als andre Hunde-
Rassen mit dem Fuchse paart, oder dass gewisse in Südamerika
einheimische Haushunde sich nicht wirklich mit Europäischen
Hunden kreutzen, so ist die Erklärung, welche jedem einfallen
wird und wahrscheinlich auch die richtige ist, die, dass diese
Hunde von verschiedenen wilden Arten abstaımmen. Dem unge-
achtet ist die vollkommene Fruchtbarkeit so vieler gepflegter
Varietäten, die in ihrem äusseren Ansehen so weit von einander
verschieden sind. wie die der Tauben und des Kohles, eine
merkwürdige Thatsache, besonders wenn wir erwägen, wie zahl-
reiche Arten -es gibt, die äusserlich einander sehr ähnlich, doch
bei der Kreutzung ganz unfruchtbar mit einander sind. Ver-
schiedene Betrachtungen jedoch lassen die Fruchtbarkeit der ge-
pilegten Varietäten weniger merkwürdig erscheinen, als es an-
fänglich der Fall ist. Denn erstens müssen wir uns erinnern,
wie wenig wir über die wahre Ursache der Unfruchtbarkeit
sowohl der ınitemander gekreuzten als der ihren natürlichen
Lebens-Bedingungen entfremdeten Arten wissen. Hinsichtlich
dieses letzten Punktes hat mir der Raum nicht gestattet, die vie-
len merkwürdigen Thatsachen aufzuzählen, die ich gesammelt
habe; was die Unfruchtbarkeit betrifft, so spiegelt sie sich in der
Verschiedenheit der beiderlei Bastarde der Wechselkreutzung
sowie in den eigenthümlichen Fällen ab, wo eine Pflanze leichter
durch fremden als durch ihren eignen Saamenstaub befruchtet
werden kann. Wenn wir über diese und andre Fälle, wie über
den nachher zu berichtenden von den verschieden gefärbten
Varietäten der Verbascum thapsus nachdenken, so müssen wir
fühlen, wie gross unsre Unwissenheit und wie klein für uns die
Wahrscheinlichkeit ist zu begreifen, woher es komme, dass bei
der Kreutzung gewisse Formen fruchtbar und andre unfruchtbar
279
sind. Es lässt sich zweitens klar nachweisen, dass die blosse
äussre Unähnlichkeit zwischen zwei Arten deren grössre oder
geringere Unfruchtbarkeit im Falle einer Kreutzung nicht bedingt;
und ‘dieselbe Regel wird auch auf die gepflegten Varietäten an-
zuwenden seyn. Drittens glauben einige ausgezeichnete Natur-
forscher, dass ein lang-dauernder Zähmungs- oder Kultur-Zustand
geeignet seye. die Unfruchtbarkeit der Bastarde. welche anfangs
nur wenig steril gewesen sind, in aufeinander-folgenden Genera-
tionen mehr und mehr zu verwischen ; und wenn Diess der Fall,
so werden wir gewiss nicht erwarten dürfen, Sterilität unter
dem Einflusse von nahezu den nämlichen Lebens-Bedingungen
erscheinen und verschwinden zu sehen. Endlich, und Diess
scheint mir ‚bei weitem die wichtigste Betrachtung zu seyn,
bringt der Mensch neue Pflanzen- und Thier-Rassen im Kultur-
Zustande durch die Kraft planmässiger oder unbewusster Züch-
tung zu eignem Nutzen und Vergnügen hervor; er will nicht
und kann nicht die kleinen Verschiedenheiten im Reproduktiv-
Systeme oder andre mit dem Reproduktiv-Sysieme in Wechsel-
beziehung stehenden Unterschiede zum Gegenstande seiner Züch-
tung machen. Die Erzeugnisse der Kultur und Zähmung sind
dem Klima und andern physischen Lebens-Bedingungen viel min-
der vollkommen als die der Natur angepasst. Der Mensch ver-
sieht diese verschiedenen Abänderungen wit der nämlichen Nah-
rung, behandelt sie fast auf dieselbe Weise und will ihre allge-
meine Lebens-Weise nicht ändern. Die Natur wirkt einförmig
und langsam während unermesslicher Zeit-Perioden aul die ge-
sammte Organisation der Geschöpfe in einer Weise, die zu deren
eignem Besten dient; und so mag sie unmittelbar oder wahr-
scheinlicher mittelbar, durch Correlation, auch das Reproduktiv-
System in den mancherlei Abkömmiingen einer nämlichen Art
abändern. Wenn man diese Verschiedenheit im Züchtungs-Ver-
fahren von Seiten des Menschen und der Natur berücksichtigt,
wird man sich nicht mehr wundern können, dass sich einiger
Unterschied auch in den Ergebnissen zeigt.
Ich habe bis jetzt so gesprochen, als seyen die Varietäten
einer nämlichen Art bei der Kreutzung alle stets fruchtbar. Es
230
scheint mir aber unmöglich. sich dem Beweise von dem Daseyn
eines gewissen Maasses von Unfruchtbarkeit in einigen wenigen
Fällen zu verschliessen, von denen ich kürzlich berichten will,
Der Beweis ist wenigstens eben so gut als derjenige, welcher
uns an die Unfruchtbarkeit einer Menge von Arten [bei der
Kreutzung?] glauben macht, und ist von gegnerischen Zeugen
entlehnt, die in allen anderen Fällen Fruchtbarkeit und Unfrucht-
barkeit als gute Art-Kriterien betrachten. Gärrner hielt einige
Jahre lang eine Sorte Zwerg-Mais mit gelbem und eine grosse
Varietät mit rothem Saamen. welche nahe beisammen in seinem
(arten wuchsen: und obwohl diese Pflanzen getrennten Geschlech-
tes sind, so kreutzen sie sich doch nie von selbst mit einander.
Er befruchtete dann dreizehn Blüthen-Ähren * des einen mit dem
Pollen des andern; aber nur ein einziger Stock gab einige
Saamen und zwar nur fünf Körner.
Die Behandlungs-Weise kann in diesem Falle nicht schädlich
gewesen seyn, indem die Pflanzen getrennte Geschlechter haben.
Noch Niemand hat meines Wissens diese zwei Mais-Sorten für
_ verschiedene Arten angesehen; und es ist wesentlich zu bemer-
ken, dass die aus ihnen erzogenen Blendlinge vollkommen frucht-
bar waren, so dass auch Gärtner selbst nicht wagte, jene Sorten
für zwei verschiedene Arten zu erklären.
GIROU DE BUZAREINGUES kreutzte drei Varietäten von Gurken
miteinander, welche wie der Mais getrennten Geschlechtes sind,
und versicherte, ihre gegenseitige Befruchtung seye um so
sehwieriger, je grösser ihre Verschiedenheit. In wie weit dieser
Versuch Vertrauen verdient, weiss ich nicht; aber die drei zu
dense!ben benützten Formen sind von SaGArET, welcher sich bei
seiner Unterscheidung der Arten hauptsächlich auf ihre Unfrucht-
barkeit stützt, als Varietäten aufgestellt worden. |
Weit merkwürdiger und anfangs fast unglaublich erscheint
| der folgende Fall; jedoch ist er das Resultat einer Menge viele
Jahre lang an neun Verbascum-Arten fortgesetzter Versuche,
welche hier noch um so höher in Anschlag zu bringen, als sie
* Flowers“ doch wohl Blüthen-Ähren ? D. Übers.
281
von: GÄrtner’x herrühren, der ein eben so vortrefflicher Beobach-
ter als entschiedener Gegner der Meinung ist, dass die gel-
ben tnd die weissen Varietäten der nämlichen Verbascum-
Arten bei der Kreutzung miteinander weniger Saamen geben,
als jede derselben liefert, wenn sie mit Pollen aus Blüthen von
ihrer eignen Farbe befruchtet worden. Er erklärt nun, dass wenn
gelbe und weisse Varietäten einer Art mit gelben und weissen Va-
rietäten einer andern Art gekreutzt werden, man mehr Saamen
erhält, indem man die gleichfarbigen als wenn man die ungleich-
farbigen Varietäten miteinander paart. Und doch. ist zwischen
diesen Varietäten von Verbascum kein andrer Unterschied als in
der Farbe ihrer Blüthen, und die eine Farbe entspringt zuwei-
len aus Saamen der andersfarbigen Varietät.
Nach Versuchen, die ich mit. gewissen Varietäten der Rosen-
Malve angestellt, möchte ich vermuthen, dass sie ähnliche Er-
scheinungen darbieten.
KÖLREUTER, dessen Genauigkeit durch sen späteren Beob-
achter bestätigt worden ist, hat die merkwürdige Thatsache be-
wiesen, dass eine Varietät des Tabaks,. wenn sie mit einer ganz
andern ihr weit entfernt stehenden Art gekreutzt wird, frucht-
barer ist als mit Varietäten der nämlichen Art. Er machte mit
fünf Formen Versuche, die allgemein für Varietäten gelten,
was er auch durch die strengste Probe, nämlich durch Wechsel-
kreutzungen bewies, welche lauter ganz fruchtbare Blendlinge
lieferten. Doch gab eine dieser fünf Varietäten, mochte sie nun
als Vater oder Mutter mit ins Spiel kommen, bei der Kreutzung
mit Nicotiana glulinosa stets minder unfruchtbare Bastarde, als
die vier andern Varietäten. Es muss daher das Reproduktiv-
System dieser einen Varietät in irgend einer Weise weniger
modifizirt worden seyn.
Bei der grossen Schwierigkeit die Unfruchtbarkeit der Va-
rietäten im Natur-Zustande zu bestätigen, weil jede bei der Kreut-
zung etwas unfruchtbare Varietät alsbald allgemein für eine Spezies
erklärt werden würde, so wie in Folge des Umstandes, dass der
Mensch bei seinen künstlichen Züchtungen nur auf die äusseren
Charaktere sieht und nicht verborgene und [unktionelle Verschie-
282
denheiten im Reproduktiv-System hervorzubringen beabsichtigt,
glaube ich mich aus der Zusammenstellung aller Thatsachen zu
folgern berechtigt, dass die Fruchtbarkeit der Varietäten unter
einander keinesweges eine allgemeine Regel und mithin auch
nicht geeignet seye, eine Grundlage zur Unterscheidung von Va-
rietäten und Arten abzugeben. Die gewöhnlich stattfindende
Fruchtbarkeit der Varietäten untereinander scheint mir nicht ge-
nügend, um meine Ansicht über die sehr allgemeine aber nicht
beständige Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzungen und der Ba-
starde umzustossen, dass dieselbe nämlich keine besondre Eigen-
schaft für sich darstelle, sondern mit andern langsam entwickel-
ten Modifikationen zumal im Reproduktiv- Systeme der mitein-
ander gekreutzten Formen zusammenhänge.
Bastarde und Blendlinge unabhängig von ihrer
Fruchtbarkeit verglichen.) Die Nachkommenschalt der
untereinander gekreutzten Arten und die der Varietäten lassen
sich unabhängig von der Frage der Fruchtbarkeit noch in meh-
ren Beziehungen miteinander vergleichen. Gärtner, dessen be-
harrlicher Wunsch es war, eine scharfe Unterscheidungs-Linie zwi-
schen Arten und Varietäten zu ziehen, konnte nur sehr wenige
und wie es scheint nur ganz unwesentliche Unterschiede zwischen
den sogenannten Bastarden der Arten und den Blendlingen der
Varietäten entdecken, wogegen sie sich in vielen andern wesenl-
lichen Beziehungen vollkommen gleichen. Hier kann ich diesen
Gegenstand nur ganz kurz erörtern. Als wichtigster Unterschied
hat sich ergeben, dass in der ersten Generation Blendlinge ver-
änderlicher als Bastarde sind: doch gibt Gärtner zu, dass Ba-
starde von bereits lange kultivirten Arten oft schon in erster Ge-
neration sehr veränderlich sind, und ich selbst habe sehr treffende
Belege für diese Thatsache. Gärtner gibt ferner zu, dass Ba-
starde zwischen sehr nahe verwandten Arten veränderlicher
sind, als die von weit auseinander-stehenden; und daraus ergibt
sich, dass der im Grade der Veränderlichkeit gesuchte Unter-
schied stufenweise abnimmt. Wenn Blendlinge oder fruchibarere
Bastarde einige Generationen lang in sich fortgepflanzt werden,
so nimmt anerkannter Maassen die Veränderlichkeit ihrer Nach-
283
kommen bis zu einem ausserordentlichen Maasse zu: dagegen lassen
sich einige wenige Fälle anführen, wo Bastarde sowöhl als Blend-
linge ihren einförmigen Charakter lange Zeit behauptet haben.
Doch ist die Veränderlichkeit in den aufeinander-folgenden Ge-
nerationen der Blendlinge vielleicht grösser als bei den Bastarden.
Diese grössre Veränderlichkeit der Blendlinge, den Bastar-
den gegenüber, scheint mir in keiner Weise überraschend. Denn
die Ältern der Blendlinge sind Varietäten und meistens zahme
und kultivirte Varietäten (da nur sehr wenige Versuche mit wil-
den Varietäten angestellt worden sind), wesshalb als Regel anzu-
nehmen, dass ihre Veränderlichkeit noch eine neue ist, daher
denn auch zu erwarten steht, dass dieselbe olt noch fortdaure
und die schon aus der Kreutzung entspringende Veränderlichkeit
verstärke. Der geringere Grad von Variabilität bei Bastarden
aus erster Krentzung oder aus erster Generation im Gegensatze
zu ihrer ausserordentlichen Veränderlichkeit in späteren Generatio-
nen ist eine eigenthümliche und Beachtung verdienende Thatsache ;
denn sie führt zu der Ansicht, die ich mir über die Ursache der ge-
wöhnlichen Variabilität gebildet, und unterstützt dieselbe, dass diese
letzte nämlich aus dem Reproduktions-Systeme herrühre, welches
für jede Veränderung in den Lebens-Bedingungen so empfindlich
ist, dass es hiedurch oft ganz unvermögend oder wenigstens für
seine eigentliche Funktion, mit der älterlichen Form übereinstim-
mende Nachkommen zu erzeugen, unfähig gemacht wird. Nun
rühren die in erster Generation gebildeten Bastarde alle von
Arten her, deren Reproduktiv-Systeme ausser bei schon lange
kultivirten Arten in keiner Weise leidend gewesen, und sind
nicht veränderlich: aber Bastarde selber haben ein ernstlich an-
gegriffenes Reproduktiv-System, und ihre Nachkommen sind sehr
veränderlich.
Doch kehren wir zur Vergleichung zwischen Blendlingen und
Bastarden zurück. Gärtner behauptet, dass Blendlinge mehr als
Bastarde geneigt seyen, wieder in eine der älterlichen Formen
zurückzuschlagen; doch ist dieser Unterschied, wenn er richtig,
gewiss nur ein stufenweiser. GÄRTNER legt ferner Nachdruck
darauf, dass. wenn zwei obgleich nahe mit einander verwandte
284
Arten mit einer dritten gekreutzt werden, deren Bastarde doch
weit auseinander weichen, während wenn zwei sehr verschiedene
Varietäten einer Art mit einer andern Art gekreutzt werden, de-
ren Blendlinge unter sich nicht sehr verschieden sind. Dieses Er-
gebniss ist jedoch, so viel ich zu ersehen im Stande bin, nur
auf einen einzigen Versuch gegründet und scheint den Erfah-
rungen geradezu entgegengesetzt zu seyn, welche Körreurer bei
mehren Versuchen gemacht hat. |
Diess sind allein die an sich unwesentlichen Verschieden-
heiten, welche GÄrrner zwischen Bastarden und Blendlingen der
Pflanzen auszumitteln im Stande gewesen ist. Aber auch die
Ähnlichkeit der Bastarde und Blendlinge, und insbesondere die
von nahe verwandten Arten entsprungenen Bastarde mit ihren
Ältern folgt nach Gärtner den nämlichen Gesetzen. Wenn zwei
Arten gekreutzt werden, so zeigt zuweilen eine derselben ein
überwiegendes Vermögen eine Ähnlichkeit mit: ihr dem Bastarde
aufzuprägen, und so ist es, wie ich glaube, auch mit Pflanzen-
Varietäten. Bei Thieren besitzt gewiss olt eine Varietät dieses
überwiegende Vermögen über eine andre. Die beiderlei Bastard-
Pflanzen aus einer Wechselkreutzung gleichen einander gewöhn-
lich sehr, und so ist es auch mit den zweierlei Blendlingen aus
Wechselkreutzungen. Bastarde sowohl als Blendlinge können
wieder in jede der zwei älterlichen Formen zurückgeführt wer-
den, wenn man sie in aufeinander-folgenden Generationen wie-
derholt mit der einen ihrer Stamm-Formen kreutzt,
Diese verschiedenen Bemerkungen ‚lassen sich offenbar auch
auf Thiere anwenden; doch wird hier der Gegenstand ausseror-
dentlich verwickelt, theils in Folge vorhandener secundärer
Sexual-Charaktere und theils insbesondere in Folge des ge-
wöhnlich bei einem von beiden Geschlechtern überwiegenden
Vermögens sein Bild dem Nachkommen aufzuprägen, eben 5%
wohl wo es sich um die Kreutzung von Arten, als dort wo es
sich um die von Varietäten unter einander handelt. So glaube
ich z. B., dass diejenigen Schriftsteller Recht haben, welche be-
haupten, der Esel besitze ein solches Übergewicht über das
Pferd, in dessen Folge sowohl Maulesel als Maulthier mehr dem
285
Esel als dem Pferde glichen; dass jedoch dieses Übergewicht
noch mehr bei dem männlichen als dem weiblichen Esel hervor-
trete, daher der Maulesel als der Bastard von Esel-Hengst und
Pferde-Stute dem Esel mehr als das Maulthier gleiche, welches
das Pferd zum Vater und eine Eselin zur Mutter hat.
Einige Schriftsteller haben viel Gewicht darauf gelegt, dass
es unter den Thieren nur bei Blendlingen vorkomme, dass solche
einem ihrer Ältern ausserordentlich ähnlich seyen; doch lässt
sich nachweisen, dass Solches auch bei Bastarden, wenn gleich
seltener als bei Blendlingen der Fall ist. Was die von mir ge-
sammelten Fälle von einer Kreutzung enisprungenen Thieren
betrifft, die einem der zwei Ältern sehr ähnlich gewesen,
so scheint sich diese Ähnlichkeit vorzugsweise auf in ihrer
Art monströse und plötzlich aufgetretene Charaktere zu be-
schränken, wie Albinismus, Melanismus , Mangel der Hörner,
Fehlen des Schwanzes und Überzahl der Finger und Zehen, daher
sie keinen Zusammenhang mit den durch Züchtung langsam ent-
wiekelten Merkmalen haben. Demzufolge werden auch Fälle
plötzlicher Rückkehr zu einem der zwei älterlichen Typen bei
Blendlingen vorkommen, welche von oft plötzlich entstandenen
und ihrem Charakter nach halb-monströsen Varietäten abstammen,
als bei Bastarden, die von langsam und auf natürliche Weise
gebildeten Arten herrühren. Im Ganzen aber bin ich der Mei-
nung von Dr. Prosper Lucas, welcher nach der Musterung einer
ungeheuren Menge von Thatsachen bei den Thieren zu dem
Schlusse gelangt, dass die Gesetze der Ähnlichkeit zwischen
Kindern und Ältern die nämlichen sind, ob beide Ältern mehr
oder ob sie weniger von einander abweichen, ob sie einer oder
ob sie verschiedenen Varietäten oder ganz verschiedenen Arten
angehören.
Von der Frage über Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit ab-
gesehen, scheint sich in allen andern Beziehungen eine grosse
Ähnlichkeit des Verhaltens zwischen Bastarden und Blendlingen
zu ergeben. Bei der Annahme, dass die Arten einzeln erschaf-
fen und die Varietäten erst durch sekundäre Gesetze entwickelt
worden seyen, müsste ein solches ähnliches Verhalten als eine
286
äusserst befremdende Thatsache erscheinen. Geht man aber von
der Ansicht aus, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Ar-
ten und Varietäten gar nicht vorhanden Seye, so steht es voll-
kommen mit derselben in Einklang.
Zusammenfassung desKapitels.) Erste Kreutzungen
sowohl zwischen genügend unterschiedenen Formen, um für. Va-
rietäten zu gelten, wie zwischen ihren Bastarden sind sehr oft, aber
nicht immer unfruchtbar. Diese Unfruchtbarkeit findet in allen
Abstufungen statt und ist oft so unbedeutend, dass die zwei er-
fahrensten Experimentisten, welche jemals gelebt, zu mitunter
schnurstracks entgegengesetzten Folgerungen gelangten, als sie
die Formen darnach ordnen wollten. Die Unfruchtbarkeit ist von
angeborener Veränderlichkeit bei Individuen einer nämlichen Art,
und für günstige und ungünstige Einflüsse ausserordentlich em-
pfänglich. Der Grad der Unfruchtbarkeit richtet sich nicht genau
nach systematischer Affinität, sondern ist von einigen eigenthüm-
lichen und verwickelten Gesetzen abhängig. Er ist gewöhnlich
ungleich und oft sehr ungleich bei Wechselkreutzung der näm-
lichen zwei Arten. Er ist nicht immer von gleicher Stärke bei
einer ersten Kreutzung und den daraus entspringenden Nach-
kommen.
In derselben Weise, wie beim Zweigen der Bäume die Fähig-
keit einer Art oder Varietät bei andern anzuschlagen mit mei-
stens ganz unbekannten Verschiedenheiten in ihren vegetativen
Systemen zusammenhängt, so ist bei Kreutzungen die grössre
oder geringre Leichtigkeit einer Art sich mit der andern zu be-
fruchten von unbekannten Verschiedenheiten in ihren Reproduk-
tions-Systemen veranlasst. Es ist daher nicht mehr Grund an-
zunehmen, dass von der Natur einer jeden Art ein verschiedener
Grad von Sterilität in der Absicht ihr gegenseitiges Durchkreutzen
und Ineinanderlaufen zu verhüten besonders eingebunden worden
seye, —- als Ursache vorhanden ist anzunehmen, dass jeder
Holzart ein verschiedener und etwas analoger Grad von Schwie-
rigkeit beim Verpropfen auf andern Arten anzuschlagen einge-
bunden worden seye um zu verhüten. dass sich nicht alle in
unsern Wäldern auleinander-propfen.
287
Die Sterilität der ersten Kreutzungen zwischen reinen Arten
mit vollkommnen Reproduktiv-Systemen scheint von verschiedenen
Ursachen abzuhängen: in einigen Fällen meistens von frühzeitigem
Verderben des Embryos. Die Unfruchtbarkeit der Bastarde mit
unvollkommenem Reproduktions-Systeme und derjenigen wo dieses
System so wie die ganze Organisation durch Verschmelzung
zweier Arten in eine gestört worden ist, scheint nahe überein-
zukommen mit derjenigen Sterilität, welche so oft auch reine
Species befällt, wenn ihre natürlichen Lebens-Bedingungen ge-
stört worden sind. Diese Betrachtungs-Weise wird noch durch
einen Parallelismus andrer Art unterstützt, indem nämlich die
Kreutzung nur wenig von einander abweichender Formen die
Kraft und Fruchtbarkeit der Nachkommenschaft befördert, wie
geringe Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen für
Gesundheit und Fruchtbarkeit aller organischen Wesen vortheil-
haft sind. Es ist nicht überraschend, dass der Grad der Schwie-
rigkeit zwei Arten mit einander zu befruchten und der Grad der
Unfruchtbarkeit ihrer Bastarde einander im Allgemeinen entsprechen,
obwohl sie von verschiedenen Ursachen herrühren; denn beide
hängen von dem Maasse irgend welcher Verschiedenheit zwischen
den gekreutzten Arten ab. Ebenso ist es nicht überraschend,
dass die Leichtigkeit eine erste Kreutzung zu bewirken, die Frucht-
barkeit der daraus entsprungenen Bastarde und die Fähigkeit
wechselseitiger Aufeinanderpropfung, obwohl diese letzte oflen-
bar von weit verschiedenen Ursachen abhängt, alle bis zu einem
gewissen Grade parallel gehen mit der systematischen Verwandt-
schaft der Formen. welche bei den Versuchen in Anwendung
gekommen; denn »systematische Affinität« bezweckt alle Sorten
von Ähnlichkeiten zwischen den Species auszudrücken,
Erste Kreutzungen zwischen Formen, die als Varietäten gelten
oder doch genügend von einander verschieden sind um dafür zu
gehen, und ihre Blendlinge sind zwar gewöhnlich, aber nicht
ohne Ausnahme fruchtbar. Doch ist diese gewöhnliche und voll-
kommene Fruchtbarkeit nicht befremdend , wenn wir uns erinnern,
wie leicht wir hinsichtlich der Varietäten im Natur-Zustande in
einen Zirkelschluss gerathen, und wenn wir uns ins Gedächtniss
288
rufen, dass die grössre Anzahl der Varietäten durch Kultur mittelst
Züchtung bloss nach äusseren Verschiedenheiten und nicht nach
solchen im Reproduktiv-Systeme hervorgebracht worden sind, In
allen andren Beziehungen, ausser der 'Fruchtbarkeit, ist eine
allgemein sehr grosse Ahnlichkeit zwischen Bastarden und Blend-
lingen. Endlich scheinen mir die in diesem Kapitel kürzlich
aufgezählten Thatsachen nicht im Widerspruch, sondern vielmehr.
im Einklang zu stehen mit der Ansicht, dass es keinen gründ-
lichen Unterschied zwischen Arten und Varietäten gibt.
Neuntes Kapitel.
Unvollkommenheit der Geologischen Überlieferungen.
"Mangel mittler Varietäten zwischen den heutigen Formen. —- Natur der erlosche-
nen Mittel-Varietäten und deren Zahl. —Länge der Zeit-Perioden nach Maas-
gabe der Ablagerungen und Entblössungen. —7Armuth unsrer paläontolo-
gischen Sammlungen. —“Unterbrechung geologischer Formationen. Abwe-
senheit der Mittel- Varietäten in allen Formationen. —yPlötzliche Erschei-
nung von Arten-Gruppen.- —3 Ihr plötzliches Auftreten in den ältesten Fos-
silien-führenden Schichten.
/, Im sechsten Kapitel habe -ich die Haupteinreden aufgezählt,
welche man gegen die in diesem Bande aufgestellten Ansichten
erheben könnte. Die meisten derselben sind jetzt bereits erörtert
worden. Darunter ist eine allerdings von handgreiflicher Schwie-
rigkeit: die der Verschiedenheit der Art-Formen ohne wesentliche
Verkettung durch zahllose Übergangs-Formen. Ich habe die Ur-
sachen nachgewiesen, warum solche Glieder heutzutage unter
den anscheinend für ihr Daseyn günstigsten Umständen, nament-
lich auf ausgedehnten und zusammenhängenden Flächen mit all-
mählich abgestuften physikalischen Bedingungen nicht gewöhnlich
zu finden sind. Ich versuchte zu zeigen, dass das Leben einer
jeden Art noch wesentlicher abhängt von der Anwesenheit
gewisser andrer organischer Formen, als vom Klima, und dass
daher die wesentlich leitenden Lebens-Bedingungen sich nicht SO
allmählich abstufen, wie Wärme und Feuchtigkeit. Ich versuchte
289
ferner zu Zeigen, dass mittle Varietäten desswegen, weil sie in
geringrer Anzahl als die von ihnen verketteten Formen vorkommen,
im Verlaufe weitrer‘ Veränderung und Vervollkommnung dieser
letzten bald verdrängt werden. Die Hauptursache jedoch, warum
nicht in der ganzen Natur jetzt noch zahllose solche Zwischenglie-
der vorkommen, liegt im Prozesse der Natürlichen Züchtung, wo-
durch neue Varietäten fortwährend die Stelle der Stamm-Formen
einnehmen und dieselben vertilgen. Aber gerade in dem Verhält-
nisse, wie dieser Prozess der Vertilgung in ungeheurem Maasse
thätig gewesen ist, so muss auch die Anzahl der Zwischenvarie-
täten, welche vordem auf der Erde vorhanden waren, eine wahr-
haft ungeheure gewesen seyn. Doch woher kömmt es dann, dass
nicht jede Formation und jede Gesteins-Schicht voll von solchen
Zwischenformen ist? Die Geologie enthüllt uns sicherlich nicht
‘eine solche fein abgestufte Organismen-Reihe; und Diess ist viel-
leicht die handgreiflichste und gewichtigste Einrede, die man
meiner Theorie entgegenhalten kann. Die Erklärung liegt aber,
wie ich glaube, in der äussersten Unvollständigkeit der geologi-
schen Überlieferungen.
2. Zuerst muss man sich erinnern, was für Zwischenformen
meiner Theorie zufolge vordem bestanden haben müssten. Ich
habe es schwierig gefunden, wenn ich irgend welche zwei Arten
betrachtete, ‚unmittelbare Zwischenformen zwischen denselben mir
in Gedanken auszumalen. Es ist Diess aber auch eine ganz falsche
Ansicht; denn man hat sich vielmehr nach Formen umzusehen,
welche zwischen jeder der zwei Spezies und einem gemeinsamen
aber unbekannten Stammvater das Mittel halten; und dieser Stamm-
vater wird gewöhnlich von allen seinen Nachkommen einiger-
maassen verschieden gewesen seyn. Ich will Diess mit einem
einfachen Beispiele erläutern. Die Pfauen-Taube und der Kröpfer
leiten beide ihren Ursprung von der Felstaube (C. livia) her:
aber eine unmittelbare Zwischen-Varietät zwischen Pfauen-Taube
und Kropf-Taube wird es nicht geben, keine z. B., die einen et-
was ausgebreiteteren Schwanz mit einem nur mässig erweiterten
Kropfe verbände. worin doch eben die bezeichnenden Merkmale
jener zwei Rassen liegen. Diese beiden Rassen sind überdiess
19
290
so sehr modifizirt worden, dass, wenn wir keinen historischen
oder indirekten Beweis über ihren Ursprung hätten, wir unmög-
lich im Stande gewesen seyn würden durch blosse Vergleichung
ihrer Struktur zu bestimmen, ob sie aus der Felstaube oder
einer andern ihr verwandten Art, wie z. B. Columba oenas, ent.
standen seyen.
So verhält es sich auch mit den natürlichen Arten. Wenn
wir uns nach sehr verschiedenen Formen umsehen, wie z. B.
Pferd und Tapir, so finden wir keinen Grund zu unterstellen,
dass es jemals unmittelbare Zwischenglieder zwischen denselben
gegeben habe, wohl aber zwischen jedem von beiden und irgend
einem unbekannten Stamm - Vater. Dieser gemeinsame Stamm-
Vater wird in seiner ganzen Organisation viele allgemeine Ähn-
lichkeit mit dem Tapir so wie mit dem Pferde besessen haben;
doch in einer und der andern Hinsicht auch von beiden beträchtlich
verschieden gewesen seyn, vielleicht in noch höherem Grade, als
beide jetzt unter sich sind. Daher wir in allen solchen Fällen
nicht im Stande seyn würden, die älterliche Form für irgend
welche zwei oder drei sich nahe-stehende Arten auszumitteln, selbst
dann nicht, wenn wir den Bau des Stamm-Vaters genau mit dem
seiner abgeänderten Nachkommen vergleichen, es-seye denn, dass
wir eine nahezu vollständige Kette von Zwischengliedern dabeihätten.
Es wäre nach meiner Theorie allerdings möglich. dass von
zwei noch lebenden Formen die eine von der andern abstammie,
wie z. B. das Pferd von Tapir, und in diesem Falle müsste es
unmittelbare Zwischenglieder zwischen denselben gegeben haben.
Ein solcher Fall würde jedoch voraussetzen, dass die eine der
zwei Arten (der Tapir) sich eine sehr lange Zeit hindurch un-
verändert erhalten habe, während ein Theil ihrer Nachkommen
sehr ansehnliche Veränderungen erfuhren. Aber das Prinzip der
Mitbewerbung zwischen Organismus und Organismus, zwischen _
Vater und Sohn, wird diesen Fall nur sehr selten aufkommen
lassen: denn in allen Fällen streben die neuen und verbesserten
Lebens-Formen die alten und unpassendern zu erseizen.
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung stehen alle leben-
Jen Arten mit einer Stamm-Art ihrer Sippe in.Verbindung dureh
291
Charaktere, deren Unterschiede nicht grösser sind, als wir sie
heutzutage zwischen Varietäten einer Art sehen; diese jetzt ge-
wöhnlich erloschenen Stamm-Arten waren ihrerseits wieder in
ähnlicher Weise mit älteren Arten verkettet; und so immer weiter
rückwärts, bis endlich alle in einem gemeinsamen. Vorgänger
einer ganzen Ordnung oder Klasse zusammentreffen. So muss
daher die Anzahl der Zwischen- und Übergangs-Glieder zwischen
allen lebenden und erloschenen Arten ganz unbegreiflich gross
gewesen seyn. Aber, wenn diese Theorie richtig ist, haben
sie. gewiss auf dieser Erde gelebt.
3Über die Zeitdauer.) Unabhängig von der aus dem
Mangel jener endlosen Anzahl: von Zwischengliedern hergenom-
menen Einrede, könnte man mir ferner entgegenhalten , dass die
Zeit nicht hingereicht habe, ein so ungeheures Maass organischer
Veränderungen durchzuführen, weil alle Abänderungen nur sehr
langsam durch Natürliche Züchtung bewirkt worden seyen. Es
würde mir kaum möglich seyn, demjenigen Leser, welcher kein
praktischer Geologe ist, alle Thatsachen vorzuführen, welche uns
einigermaassen die unermessliche Länge der verflossenen Zeit-
räume zu erfassen in den Stand setzen. Wer Sir Cnarıes LyEur's
grosses Werk „ihe Principles of Geology“, welchem spätre Histo-
riker die Anerkennung eine grosse Umwälzung in den Natur-
Wissenschalten bewirkt zu haben nicht versagen werden, lesen
kann und nicht sofort die unbegreifliche Länge der verflossenen
Erd-Perioden zugesteht, der mag dieses Buch nur schliessen.
Nicht als ob es genüge die Principles of Geology zu studiren
oder die Special-Abhandlungen verschiedner Beobachter über ein-
zelne Formationen zu lesen, deren jeder bestrebt ist einen un-
genügenden Begriff von der Entstehungs-Dauer einer jeden For-
mation oder sogar jeder einzelnen Schicht zu geben. Jeder muss
vielmehr erst Jahre lang für sich selbst diese ungeheuren Stösse
übereinander gelagerter Schichten untersuchen und die See bei
der Arbeit, wie sie, alle Gesteins-Schichten unterwühlt und zer-
trümmert und neue Ablagerungen daraus bildet, beobachtet haben,
ehe er hoffen kann, nur einigermaassen die Länge der Zeit zu
begreifen, deren Denkmäler wir um uns her erblicken.
hr
292
Es ist gut den See-Küsten entlang zu wandern, welche aus
mässig harten Fels-Schichten aufgebaut sind, und den Zerstörungs-
Prozess zu beobachten. Die Gezeiten erreichen diese Fels-Wände
gewöhnlich nur auf kurze Zeit zweimal im Tage, und die Wogen
nagen sie nur aus, wenn sie mit Sand und Geschieben beladen
sind; denn es ist leicht zu beweisen, dass reines Wasser Gesteine
jeder Art nicht oder nur wenig angreift. Zuletzt wird der Fuss
der Fels-Wände unterwaschen, mächtige Massen brechen zusammen,
und die nun fest liegen bleiben, werden, Atom um Atom zerrieben,
bis sie klein genug geworden, dass die Wellen sie zu rollen
und vollends in Geschiebe und Sand und Schlamm zu verarbeiten
vermögen. Aber wie oft sehen wir längs dem Fusse sich zurück-
ziehender Klippen gerundete Blöcke liegen, alle dick überzogen
nit Meeres-Erzeugnissen, welche beweisen, wie wenig sie durch
Abreibung leiden und wie selten sie umhergerollt werden! Über-
diess, wenn wir einige Meilen weit eine derartige Küsten-Wand
verfolgen, welche der Zerstörung unterliegt, so finden wir, dass
es nur hier und da, auf kurze Strecken oder etwa um ein Vor-
gebirge her der Fall ist, dass die Klippen jetzt leiden. Die Be-
schaffenheit ihrer Oberfläche und der auf ihnen erscheinende
Pflanzen-Wuchs beweisen, dass allenthalben Jahre verflossen sind,
seitdem die Wasser deren Fuss gewaschen haben.
Wer die Thätigkeit des Meeres an unsren Küsten näher
studirt hat, der muss einen tiefen Eindruck in sich aufgenommen
haben von der Langsamkeit ihrer Zerstörung. Die treiflichen
Beobachtungen von Husu Mirier und von Sum von Jordanhill
sind vorzugsweise geeignet diese Überzeugung zu gewähren, Von
ihr durchdrungen möge Jeder die viele Tausend Fuss mächtigen
Konglomerat-Schichten untersuchen, welche, obschon wahrschein-
lich in rascherem Verhältnisse als so viele andre Ablagerungen
gebildet, doch nun an jedem der zahllosen abgeriebenen und ge-
rundeten Geschiebe. woraus sie bestehen, den Stempel einer
langen Zeit tragen und vortrefflich zu zeigen geeignet sind, wie
langsam diese Massen zusammengehäuft worden seyn müssen.
In den Cordilleren habe ich einen Stoss solcher Konglomerat-
Schichten zu zehntausend Fuss Mächtigkeit geschätzt. Nun mag
293
sich der Beobachter der wohl begründeten Bemerkung Lyegi's
erinnern, dass die, Dicke und Ausdehnung der Sediment-Forma-
tionen Ergebniss und Maasstab der Abtragungen sind, welche die
Erd-Rinde an andern Stellen erlitten hat. Und was für ungeheure
Abtragungen werden durch die Sediment-Ablagerungen mancher
Gegenden vorausgesetzt! Professor Ramsay hat mir, meistens nach
wirklichen Messungen und geringentheils nach Schätzungen, die
Maasse der grössten unsrer Formationen aus verschiedenen Theilen
Gross-Britanniens in folgender Weise angegeben:
Tertiäre Schichten . - |
Sekundär-Schichten . . 13,190 \= 12,984
Paläolithische Schichten 57,154'\
d. i. beinahe 133/, Englische Meilen. Einige dieser Forma-
tionen, welche in England nur durch dünne Lagen vertreten
sind, haben auf dem Kontinente Tausende von Fussen Mächtig-
keit. Überdiess sollen nach der Meinung der meisten Geologen
zwischen je zwei aufeinander-folgenden Formationen immer un-
ermessliche leere Perioden fallen. Wenn somit selbst jener unge-
heure Stoss von Sediment-Schichten in Britannien nur eine un-
vollkommne Vorstellung von der Zeit gewährt, wie lang muss
diese Zeit gewesen seyn! Gute Beobachter haben die Sediment-
Ablagerungen des grossen Mississippi-Stromes nur auf 600’ Mäch-
tigkeit in 100,000 Jahren berechnet. Diese Berechnung macht
keinen Anspruch auf grosse Genauigkeit. Wenn wir: aber nun
berücksichtigen, wie ausserordentlich weit ganz feine Sedimente
von den See-Strömungen fortgetragen werden, so muss der Prozess
ihrer Anhäufung über irgend welche Erstreckung des See-Bodens
äusserst langsam seyn.
Doch scheint das Maass der Entblössung, welche die Schichten
mancher Gegenden erlitten, unabhängig von dem Verhältnisse
der Anhäufung der zertrümmerten Massen, die besten Beweise
für die Länge der Zeiten zu liefern. Ich erinnre mich, von dem
Beweise der Entblössungen in hohem Grade betroffen gewesen
zu seyn, als ich vyulkanische Inseln sah, welche rundum von den
Wellen so abgewaschen waren. dass sie in 1000—2000‘ hohen
Fels-Wänden senkrecht emporragten, während sich aus dem
Bugs ir ae is. am e
294
schwachen Fall-Winkel, mit welchem sich die Lava-Ströme einst
in ihrem flüssigen Zustand herabgesenkt, auf den ersten Blick
ermessen liess, wie weit einstens die harten Fels-Lagen in den
offnen Ozean hinausgereicht haben müssen. Dieselbe Geschichte
ergibt sich oft noch deutlicher durch die mächtigen Rücken, jene
grossen Gebirgs-Spalten, längs deren die Schichten bis zu Tau-
senden von Fussen an einer Seite eımporgestjegen oder an der
andern Seite hinabgesunken sind; denn seit dieser senkrechten
Verschiebung ist die Oberfläche des Bodens durch die Thätigkeit
des Meeres wieder so vollkommen ausgeebnet worden, dass
keine Spur von dieser ungeheuren Verwerfung mehr äusserlich
zu erkennen ist. |
So erstreckt sich der Craven-Rücken z. B. 30 Englische
Meilen weit, und auf dieser ganzen Strecke sind die von bei-
den Seiten her zusammenstossenden Schichten um 600-3000:
senkrechter Höhe verworfen. Professor Ransay hat eine Sen-
kung von 2300° in Anglesea beschrieben und benachrichtigt
nich, dass er sich überzeugt halte, dass in Merionetshire eine
von 12,000’ vorhanden seye. Und doch verräth in diesen Fällen
die Oberfläche des Bodens nichts von solchen wunderbaren Be-
wegungen, indem die ganze anfangs auf der einen Seite höher
emporragende Schichten-Reihe bis zur Abebnung der Oberfläche
weggespült worden ist. Die Betrachtung dieser Thatsachen macht
aul mich denselben Eindruck, wie das vergebliche Ringen des
Geistes um den Gedanken der Ewigkeit zu erfassen.
Ich habe diese wenigen Bemerkungen gemacht, weil es für
uns von höchster Wichtigkeit ist, eine wenn auch unvollkommene
Vorstellung von der Länge verflossener Erd-Perioden zu haben.
Und jedes Jahr während der ganzen Dauer dieser Perioden war
die Erd-Öberfläche, waren Land und Wasser von Schaaren leben-
der Formen bevölkert. Was für eine endlose, dem Geiste un-
erfassliche Anzahl von Generationen muss, seitdem die Erde be-
wohnt ist, schon aufeinander gefolgt seyn! Und sieht man nun
unsre reichsten geologischen Sammlungen an, — welche arm-
seelige Schaustellung davon!
4 Armuth paläontologischer Sammlungen.) Jedermann
295
gibt die ausserordentliche Unvollständigkeit unsrer paläontologi-
schen Sammlungen zu... Überdiess sollte man die Bemerkung des
vortrefflichen Paläontologen, des verstorbnen Epwarp Forses,
nicht vergessen, dass eine Menge unsrer lossilen Arten nur
nach einem einzigen oft zerbrochenen Exemplare oder nur
wenigen auf einem kleinen Fleck beisammen gefundenen Indivi-
Auen bekannt und benannt sind. Nur ein kleiner Theil der Erd-
Oberfläche ist geologisch untersucht und noch keiner mit er-
schöpfender Genauigkeit erforscht, wie die noch jährlich in
Europa aufeinanderfolgenden wichtigen Entdeckungen beweisen.
Kein ganz weicher Organismus ist Erhaltungs-fähig. Selbst
Schaalen und Knochen zerfallen und verschwinden auf dem
Boden des Meeres, wo ‚sich keine Sedimente anhäufen. Ich
glaube, dass wir beständig in einem grossen Irrthum begriffen
sind, wenn wir uns der stillen Ansicht überlassen, dass sich
Niederschläge fortwährend auf fast der ganzen Erstreckung. des
See-Grundes in genügendem Maasse bilden, um die zu Boden
sinkenden organischen Stoffe zu umhüllen und zu erhalten. Auf |
‚ine ungeheure Ausdehnung des Ozeans spricht die klar blaue
Farbe seines Wassers für dessen. Reinheit. Die vielen. Berichte
von mehren in gleichförmiger Lagerung aufeinander - folgenden
Formationen, deren keine auch nur Spuren aufrichtender, zerreis-
sender oder abwaschender Thätigkeit an sich trägt, scheinen nur
durch die Ansicht erklärbar zu seyn, dass der Boden des Meeres
oft eine unermessliche Zeit in völlig unveränderter Lage bleibt.
Die Reste, welche in Sand und Kies eingebettet worden, werden
gewöhnlich von Kohlensäure-haltigen Tage-Wassern ‚wieder aul-
gelöst, welche den Boden nach seiner Emporhebung . über den
Meeres-Spiegel zu durchsinken beginnen. :
Einige von den vielen Thier-Arten. welche zwischen Ebbe-
und Fluth-Stand des Meeres am Strande leben, scheinen sich
nur selten fossil zu erhalten. So z. B. überziehen in aller W elt
zahllose Chthamalinen (eine Familie der sitzenden Cirripeden)
die dort gelegenen Klippen. Alle sind im strengen Sinne litoral,
mit Ausnahme einer einzigen mittelmeerischen Art, welche dem
tiefen Wasser angehört und auch in Sicilien fossil gefunden wor-
296
den ist, während man fast noch keine tertiäre Art kennt ein ic
der Kreide-Zeit noch keine Spur davon vorliegt. Die Mollusken-
Sippe Chiton bietet ein theilweise analoges Beispiel dar *,
Hinsichtlich der Land-Bewohner, welche in der paläolithischen
und sekundären Zeit gelebt, ist es überflüssig darzuthun ‚ dass
unsre Kenntnisse höchst fragmentarisch sind. So ist z. B. nicht
eine Landschnecke aus einer dieser langen Perioden bekannt, mit
Ausnahme der von Sir Cu. Lyerı und Dr. Dawsox in den Koh-
len-Schichten Nord-Amerika’s entdeckten Art, wovon jetzt mehre
Exemplare gesammelt sind. Was die Säugthier-Reste betrifft,
so ergibt ein Blick auf die Tabelle im Supplement zu Lyeurs
Handbuch weit besser, wie zufällig und selten ihre Erhaltung
seye, als Seiten-lange Einzelnheiten, und doch kann ihre Selten-
heit keine Verwunderung erregen, wenn wir uns erinnern. was
für ein grosser Theil der tertiären Reste derselben aus Knochen-
Höhlen und Süsswasser-Ablagerungen herrühren, während nicht
"eine Knochen-Höhle und ächte Süsswasser-Schicht vom Alter uns-
rer paläolithischen und sekundären Formationen bekannt ist,
5 Aber die Unvollständigkeit der geologischen Nachrichten
rührt hauptsächlich von einer andren und weit wichtigeren Ur-
sache her, als irgend eine der vorhin angegebenen ist, dass
nämlich die verschiedenen Formationen durch lange Zeiträume
von einander getrennt sind. Wenn wir die Formationen in wissen-
schaftlichen Werken in Tabellen geordnet finden, oder wenn
wir sie in der Natur verfolgen, so können wir uns nicht wohl
der Überzeugung. verschliessen, dass sie nicht unmittelbar auf
einander gefolgt sind. So wissen -wir z. B. aus Sir R. Murem-
sons grossem Werke über Russland, dass daselbst weite Lücken
zwischen den aufeinanderliegenden Formationen bestehen; und»
so ist es auch in Nord-Amerika und vielen andern Weltgegen-
den. Und doch würde der beste Geologe, wenn er sich nur mit
einem dieser weiten Länder-Gebiete allein beschäftigt hätte, nim-
mer vermuthet haben, dass während dieser langen Perioden,
Doch kennt man über zwei Dutzend fossile Arten von der Kohlen-
Formation an bis in die obersten Tertiär-Schichten. D. Übs.
297
aus welchen in seiner eignen Gegend kein Denkmal übrig ist,
sich grosse Schichten-Stösse voll neuer und eigenthümlicher Le-
benformen anderweitig aufeinander gehäuft haben. Und wenn
man sich in jeder einzelnen Gegend kaum eine Vorstellung
von der Länge der Zwischenzeiten zu machen im Stande ist,
so wird man glauben, dass Diess nirgends möglich seye. Die
häufigen und grossen Veränderungen in der mineralogischen Zu-
sammensetzung aufeinander-folgender Formationen, welche gewöhn-
lich auch grosse Veränderungen in der geographischen Beschal-
fenheit des umgebenden Landes unterstellen lassen, aus welchem
das Material zu diesen Niederschlägen entnommen ist, stimmt mit
der Annahme langer zwischen den einzelnen Formationen ver-
flossener Zeiträume überein.
Doch kann man, wie ich glaube, leicht einsehen, warum die
geologischen Formationen jeder Gegend fast unabänderlich über-
all unterbrochen sind, d..h. sich nicht ohne Zwischenpausen ab-
gelagert haben. Kaum hat eine Thatsache bei Untersuchung
viele Hundert Meilen langer Strecken der Süd-Amerikanischen
Küsten, die in der jetzigen Periode einige Hundert Fuss hoch em-
porgehoben worden sind, einen lebhalteren Eindruck auf mich ge-
macht, als die Abwesenheit aller neueren Ablagerungen von hin-
reichender Entwickelung, um auch nur für eine kurze geologische
Periode zu gelten. Längs der ganzen West-Küste, die von einer
eigenthümlichen Meeres-Fauna bewohnt wird, sind die Tertiär-
Schichten so spärlich entwickelt, dass wahrscheinlich kein Denk-
mal von verschiedenen aufeinander-folgenden Meeres-Faunen für
spätre Zeiten erhalten bleiben wird. Ein wenig Nachdenken
erklärt es uns, warum längs der fortwährend höher steigenden
West-Küste Süd-Amerikas keine ausgedehnten Formationen mit
neuen oder mit terliären Resten irgendwo ‚zu finden sind, ob-
wohl nach den ungeheuern Abtragungen der Küsten-Wände und
den Schlamm-reichen Flüssen zu urtheilen, die sich dort in das
Meer ergiessen, die Zuführung von Sedimenten lange Perioden
hindurch ‚eine sehr grosse gewesen seyn muss. Die Erklärung
liegt ohne Zweifel darin, dass die litoralen und sublitoralen Ab-
lagerungen beständig wieder weggewaschen werden, sobald sie
298
durch die langsame oder stufenweise Hebung des Landes in den
Bereich der zerstörenden Brandung gelangen.
Wir dürfen wohl mit Sicherheit schliessen, dass Sediment
in ungeheuer dicken harten und ausgedehnten Massen angehäuft
worden seyn müsse, um während der ersten Emporhebung und
der späteren Schwankungen des Niveaus der ununterbrochnen
Thätigkeit der Wogen zu widerstehen. Solche dicke und aus-
gedehnte Sediment-Ablagerungen können auf zweierlei Weise
gebildet werden; entweder in grossen Tiefen des Meeres, in
welchem Falle wir nach den Untersuchungen von E. Forses an-
nehmen müssen, dass der See-Grund nur von sehr wenigen Thie-
ren bewohnt gewesen seye und die Massen nach ihrer Empor-
hebung folglich nur eine sehr unvollkommene Vorstellung von
den einstens dort vorhandenen Lebenformen gewähren können;
— oder die Sedimente werden über einen seichten Grund zu
einiger Dicke und Ausdehnung angehäuft, wenn er in langsamer
Senkung begriffen ist. In diesem letzten Falle bleibt das Meer
so lange seicht und dem Thier-Leben günstig, als Senkung des
Bodens und Zufuhr der Niederschläge einander nahezu das
Gleichgewicht halten; so dass auf diese Weise eine hinreichend
dicke Fossilien-reiche Formation entstehen kann, um bei ihrer
spätren Emporhebung jedem Grade von Zerstörung zu widerstehen.
Ich bin demgemäss überzeugt, dass alle unsre alten For-
mationen, welche reich an fossilen Resten sind, bei andauernder
Senkung abgelagert worden sind. Seitdem ich im Jahr 1845
meine Ansichten in dieser Beziehung bekannt gemacht, habe ich
die Fortschritte der Geologie verfolgt und mit Überraschung
wahrgenommen, wie ein Schriftsteller nach dem andern bei
Beschreibung dieser oder jener grossen Formation zum Schlusse
gelangt ist, dass sie sich während der Senkung des Bodens
gebildet habe. Ich will hinzufügen, dass die einzige alte Ter-
tiär-Formation an der West-Küste Süd- Amerikas, die mächtig
genug war um der bisherigen Zerstörung noch zu widerstehen,
aber wohl schwerlich bis zu fernen geologischen Zeiten auszu-
dauern im Stande ist, sich gewiss während der Senkung des
Bodens gebildet und so eine ansehnliche Mächtigkeit erlangt hal.
299
Alle geologischen Thatsachen zeigen uns deutlich, dass jedes
Gebiet der Erd-Oberfläche viele langsame Niveau-Schwankungen
durchzumachen hatte, und alle diese Schwankungen sind zweifels-
ohne von weiter Erstreckung gewesell. Demzufolge müssen
Fossilien-reiche und genügend entwickelte Bildungen, um späteren
Abtragungen zu widerstehen, während der Senkungs-Perioden
über weit-ausgedehnte Flächen entstanden seyn, doch nur so
lange, als die Zufuhr von Materialien stark genug war, um die
See seicht zu erhalten und die fossilen Reste schnell genug ein-
zuschichten und zu schützen, ehe sie Zeit hatten zu zerfallen.
Dagegen konnten sich mächtige Schichten auf seichtem und dem
Leben günstigem Grunde ‚solange nicht bilden, als derselbe
stet blieb. Viel weniger konnte Diess während wechselnder Pe-
rioden von Hebung und Senkung geschehen, oder, um mich ge-
nauer auszudrücken, die Schichten, welche während solcher Sen-
kungen abgelagert wurden, müssen bei nachfolgender Hebung
wieder in den Bereich der Brandung versetzt und so zerstört
worden seyn. |
So muss denn nothwendig der Geologische Schöpfungs-
Bericht überall unterbrochen erscheinen. Ich setze um so grössres
Vertrauen indie Wahrheit dieser Ansichten, als sie mit den von
Sir Cu. Lern eindringlich gelehrten Prinzipien genau überein-
stimmen, und auch Eow. Forses davon unabhängig zu einem
ähnlichen Ergebnisse gelangt ist.
Eine Bemerkung ist bier noch der Erwähnung werth. Wäh-
rend der Erhebungs-Zeiten wird die Ausdehnung des Landes
und der angrenzenden seichten Meeres-Strecken vergrössert,
und werden oft neue Arten von Wohnorten gebildet, Alles für
die Bildung neuer Arten und Varietäten, wie früher bemerkt
worden, günstige Umstände; aber gerade während diesen Pe-
riöden bleiben Lücken im geologischen Berichte. Während ‘der
Senkung dagegen nimmt die bewohnbare Fläche und die Anzahl
der Bewohner ab (die der Küsten-Bewohner etwa in dem Falle
ausgenommen, dass ein Kontinent in Insel-Gruppen zerfällt wird),
daher während der Senkung nicht nur mehr Arten erlöschen,
sondern auch wenige Varietäten und Arten entstehen; und ge-
300
rade während solcher Senkungs-Zeiten sind unsre grossen Fos-
silien-reichen Schichten-Massen abgelagert worden. Man möchte
sagen, die Natur habe die häufige Entdeckung der; Übergangs-
und verkettenden Formen erschweren wollen.
% Nach den vorangehenden Betrachtungen ist es’ nicht zu be-
zweifeln, dass der geologische Schöpfungs-Bericht im. Ganzen
genommen ausserordentlich unvollständig ist; wenn wir aber
dann unsre Aufmerksamkeit auf irgend eine einzelne Formation
beschränken, so ist es noch schwerer zu begreifen, warum
wir nicht enge aneinander-gereihete Abstufungen zwischen den-
jenigen Arten finden, welche am Anfang und am Ende ihrer
Bildung gelebt haben. Es wird zwar von einigen Fällen be-
richtet, wo eine Art in andern Varietäten in den obern. als in
den untern Theilen derselben Formation auftritt; doch mögen sie
hier übergangen werden,.da ihrer nur wenige sind, Obwohl nun
jede Formation ohne allen Zweifel eine lange Reihe von Jahren
zu ihrer Ablagerung bedurft hat, so glaube ich doch verschie-
dene Gründe zu erkennen, warum sich solche Stufen-Reihen
zwischen den zuerst und den zuleizt lebenden Arten nicht darin
vorfinden; doch kann ich kaum hoffen den folgenden Betrach-
tungen die ihnen gebührende Berücksichtigung zuzuwenden,
Obwohl jede Formation einer sehr langen Reihe von Jahren
entspricht, so ist doch jede kurz im Vergleiche mit der zur Um-.
änderung einer Art in die andre erforderlichen Zeit. Nun weiss
ich wohl, dass zwei Paläontologen, deren Meinungen wohl der
Beachtung werth sind, nämlich Bronn” und WoopwArD, zum
Schlusse gelangt sind, dass die mittle Dauer einer jeden, Forma-
tion zwei- bis drei-mal so larig, als die mittle Dauer einer Art-
Form ist. Indessen hindern uns, wie mir scheint unübersteig-
liche Schwierigkeiten in dieser Hinsicht zu. einem richligen
Schlusse zu gelangen. Wenn wir eine Art in der Mitte einer
Formation zum ersten Male auftreten sehen, so würde es äus-
serst übereilt seyn zu schliessen, dass sie nicht irgendwo anders
* Meine Meinung ist die, dass nur wenige Arten eine unsrer angenom-
menen Perioden überdauern, viele aber schon in 0,1—0,2—0,5 dieser Zeit zu
Grunde gehen Br.
301
schon länger existirt ‘haben könne. Eben so, wenn wir eine
Art schon vor den letzten ‘Schichten einer Formation verschwin-
den sehen, würde es übereilt seyn anzunehmen, dass sie schon
völlig erloschen seye. Wir vergessen, wie klein die Ausdehnung
Europa’s im Vergleich zur übrigen. Welt ist; auch sind die ver-
schiedenen Stöcke ‚der einzelnen Formationen noch nicht durch
sanz Europa mit vollkommener Genauigkeit parallelisirt worden.
Bei allen Sorten von Seethieren können wir getrost anneh-
men, dass in Folge von klimatischen u. a. Veränderungen mas-
senhafte, und ausgedehnte Wanderungen stattgefunden haben;
und wenn wir eine Art zum ersten Male in einer Formation
auftreten sehen, so liegt die Waahrscheinlichkeit vor, dass sie
eben da erst von einer andern Gegend her eingewandert seye.
So ist'es z. B. wohl bekannt, dass einige Thier-Arten in den
paläolithischen Bildungen Nord-Amerika’s etwas früher als in den
Europäischen auftreten, indem sie zweifelsohne Zeit nöthig hatten,
um die Wanderung von Amerika nach Europa zu machen. Bei
Untersuchungen der neuesten Ablagerungen in verschiedenen
Weltgegenden ist überall die Wahrnehmung gemacht worden,
dass einige wenige noch lebende Arten in diesen Ablagerungen
häufig, aber in den unmittelbar umgebenden Meeren verschwun-
den sind, öder dass umgekehrt einige jetzt in den benachbarten
Meeren häufige Arten und jener Ablagerungen noch ‚selten oder
gar nicht zu finden sind. Es ist sehr lehrreich über den erwie-
senen Umfang der Wanderungen Europäischer Thiere während
der Eis-Zeit nachzudenken, welche doch nur einen kleinen Theil
der ganzen geologischen Zeitdauer. ausmacht, so wie die grosser
Niveau-Veränderungen, die aussergewöhnlich grossen Klima-
Wechsel, die unermessliche Länge der Zeiträume in Erwägung
zu ziehen, welche alle mit dieser Eis-Periode zusammen fallen.
Dann dürfte zu bezweifeln seyn, dass sich in irgend einem
'Pheile der Welt Sediment-Ablagerungen, welche fossile
Reste enthalten, auf dem gleichen Gebiete während der gan-
zen Dauer dieser Periode abgelagert haben. So ist es 2. B.
nicht wahrscheinlich, dass während der ganzen Dauer der Eis-
Periode Sediment-Schichten an der Mündung des Mississippi in-
®
Ro .
302
nerhalb derjenigen Tiefe, worin Thiere noch reichlich leben kön-
nen, abgelagert worden seyen; denn wir wissen, was für aus-
gedehnte geographische Veränderungen während dieser Zeit in |
andern Theilen von Amerika erfolgt sind. Würden solche wäh-
rend der Eis-Periode in seichtem Wasser an der Mississippi- Mün-
dung abgelagerte Schichten einmal über den See-Spiegel gehoben
werden, so würden organische Reste wahrscheinlich in verschiede-
nen Niveaus derselben zuerst erscheinen und wieder verschwin-
den, je nach den stattgefundenen Wanderungen der Arten und
den geographischen Veränderungen des Landes. Und ‚wenn in
ferner Zukunft ein Geologe diese Schichten untersuchte, so
möchte er zu schliessen geneigt seyn, dass die mittle. Lebens-
Dauer der dort eingebetteten Organismen-Arten kürzer als die Eis-
Periode gewesen seye, obwohl sie in der: That viel länger war, in-
dem sie vor dieser begonnen und bis. in unsre Tage gewährt hat,
Um nun eine vollständige Stufen-Reihe zwischen zwei For-
men in den untern und obern Theilen einer Formation darbieten
zu können, müsste deren Ablagerung sehr lange Zeit fortge-
dauert haben, um dem langsamen Prozess der Variation Zeit zu
lassen; die Schichten-Masse müsste daher von sehr ansehnlicher
Mächtigkeit seyn; die in Abänderung begriffenen Spezies müss-
ten während der ganzen Zeit da gelebt haben. Wir haben je-
doch gesehen, dass die organische Reste enthaltenden Schichten
sich nur während einer Periode der Senkung ansammeln; damit
nun die Tiefe sich nahezu gleich bleibe und dieselben Thiere lort-
dauefnd an derselben Stelle wohnen können, wäre ferner noth-
wendig, dass die Zufuhr von Sedimenten die Senkung fortwäh-
rend wieder ausgleiche. Aber eben diese senkende Bewegung
wird oft auch die Nachbargegend mit berühren, aus welcher
jene Zufuhr erfolgt, und eben dadurch die Zufuhr selbst ver-
mindern. Eine solche nahezu genaue Ausgleichung zwischen der
Stärke der stattfindenden Senkung und dem Betrag der ‘zuge-
führten Sedimente mag in der That nur selten vorkommen; denn
mehr als ein Paläontologe hat beobachtet, dass sehr dicke Abla-
gerungen ausser an ihren oberen und unteren Grenzen gewühn-
| lich leer an Versteinerungen sind.
303
Wahrscheinlich ist die Bildung, einer jeden einzelnen For-
mation gewöhnlich ‚eben so wie die der ganzen Formationen-
Reihe einer Gegend mit Unterbrechungen vor sich gegangen.
Wenn wir, wie es oft der Fall, eine Formation aus Schich-
ten von verschiedener Mineral-Beschaffenheit zusammengeselzt
sehen, so müssen wir vernünftiger Weise vermuthen, dass der
Ablagerungs - Prozess sehr unterbrochen gewesen Seye, indem
eine Veränderung in den See-Strömungen und eine Änderung in
der Beschaffenheit der zugeführten Sedimente gewöhnlich von
geographischen Bewegungen, welche viele Zeit kosten, veranlasst
worden seyn mag. Nun wird auch die genaueste Untersuchung
einer Formation keinen Maassstab liefern, um die Länge der
Zeit zu messen, welche über. ihrer Ablagerung vergangen ist.
Man könnte viele Beispiele anführen, wo eine einzelne nur we-
nige Fuss dicke Schicht eine ganze Formation vertrilt, die in
andren Gegenden Tausende von Fussen mächtig ist und mithin
eine ungeheure Länge der Zeit zu ihrer Bildung bedurft hat;
und doch würde Niemand, der Diess nicht weiss, auch nur ge-
ahnt haben, welch’ eine unermessliche Zeit über der Entstehung
jener dünnen Schicht verflossen ist. So liessen sich auch viele
Fälle anführen, wo die untern Schichten einer Formation empor-
gehoben, entblösst, wieder versenkt und dann von den obern
Schichten der nämlichen Formation bedeckt worden sind, That-
sachen, welche beweisen, dass weite leicht zu übersehende Zwi-
schenräume während der Ablagerung vorhanden gewesen sind. In
andern Fällen liefert uns eine Anzahl grosser fossilisirter und
noch auf ihrem natürlichen Boden aufrecht stehender Bäume den
klaren Beweis von mehren langen Pausen und wiederholten Höhen-
Wechseln während des Ablagerungs- Prozesses, wie man sie
ausserdem nie hätte vermuthen können. So fanden LyELı und
Dawson in einem 1400° mächtigen Kohlen-Gebirge Neu-Schott-
lands noch alle von Baum-Wurzeln durchzogenen Boden-Schichten,
eine über der andern in nicht weniger als 63 verschiedenen
Höhen. Wenn daher die nämliche Art unten, mitten und oben
in der Formation vorkommt, so ist Wahrscheinlichkeit vorhanden,
dass sie nicht während der ganzen Ablagerungs-Zeil immer an
304
dieser Stelle gelebt hat, sondern während derselben, vielleicht
_ mehrmals, dort verschwunden und wieder erschienen ist. Wenn
daher eine solche Spezies im Verlaufe einer geologischen Pe-
riode beträchtliche Umänderungen erfahren, so würde ein Durch-
schnitt durch jene Schichten-Reihe wahrscheinlich nicht alle die
leinen Abstufungen zu Tage fördern, welche nach meiner Theo-
rie die Anfangs- mit der End-Form jener Art verkettet haben
müssen; man würde vielmehr sprungweise, wenn auch vielleicht
nur kleine, Veränderungen zu sehen bekommen.
Es ist nun äusserst wichtig sich zu erinnern, dass die Na-
turforscher keine goldene Regel haben, um mit deren Hilfe
Arten von Varietäten zu unterscheiden. Sie gestehen jeder Art
einige Veränderlichkeit zu; wenn sie aber etwas grössre Unter-
schiede zwischen zwei Formen wahrnehmen, so machen sie Ar-
ten daraus, wofern sie nicht etwa im Stande sind dieselben durch
Zwischenstufen miteinander zu verketten. Und diese dürfen wir
nach den zuletzt angegebenen Gründen selten hoffen, in einem
geologischen Durchschnitte zu finden. Nehmen wir an, B und €
seyen zwei Arten, und eine dritte A werde in einer: tiefer-
liegenden Schicht gefunden. Hielte nun A genau das Mittel
zwischen B und C, so würde man sie wohl einfach 'als eine
weitere dritte Art ansehen, wenn nicht ihre Verkettung mit einer
von beiden oder mit beiden andern durch Zwischenglieder nach-
gewiesen werden kann. Nun muss man nicht vergessen, dass,
wie vorhin erläutert worden, wenn A auch der wirkliche Stamm-
Vater von B und © ist, derselbe doch nicht in allen Punkten der
Organisation nothwendig das Mittel zwischen beiden halten muss.
So könnten wir denn sowohl die Stammart als auch die von ihr
durch Umwandlung abgeleiteten Formen aus den -untern und
obern Schichten einer Formation erhalten und doch vielleicht in
Ermangelung zahlreicher Übergangs-Stufen ihre Beziehungen zu
einander nicht erkennen, sondern alle für eigenthümliche Arten
ansehen. |
Es ist eine bekannte Sache, ‘auf was für äusserst kleine
Unterschiede manche Paläontologen ihre Arten gründen, und sie
können Diess auch um so leichter thun, wenn ihre wenig ver-
-
305
schiedenen Exemplare aus verschiedenen Stöcken einer Formation
herrühren. Einige erfahrene Paläontologen setzen jetzt viele .
von den schönen Arten n’Orsıeny's u. A. zum Rang blosser
Varietäten herunter, und darin finden wir eine Art von Beweis
für die Abänderungs-Weise, welche nach meiner Theorie statt-
finden muss. Wenn wir überdiess grössere Zeit-Unterschiede,
wie die aufeinander folgenden Stöcke einer nämlichen grossen
Formation berücksichtigen , so finden wir, dass die ihnen ange-
hörigen Fossil-Reste, wenn auch gewöhnlich allgemein als ver-
schiedene Arten betrachtet, doch immerhin näher mit einander
verwandt zu seyn pflegen, als die in weit getrennten Formationen
enthaltenen Arten; doch werde ich auf diesen Gegenstand im
folgenden Abschnitte zurückkommen.
So ist auch noch eine andre schon früher gemachte Bemer-
kung zu berücksichtigen, dass nämlich die Varietäten von Pflanzen
wie von Thieren, welche sich rasch vervielfältigen, aber ihre
Stelle nicht viel ändern können, anfangs gewöhnlich lokal seyn
werden, und dass solche örtliche Varietäten sich nicht weit ver-
breiten und ihre Stamm-Formen erst ‘ersetzen, wenn sie sich
in einem etwas grösseren Maasse verändert und vervollkommnet
haben. Nach dieser Annahme ist die Aussicht, die früheren Über-
gangs-Stufen zwischen irgend welchen zwei Arten einer Forma-
tion auf einer Stelle in übereinander-folgenden Schichten zu fin-
den’ nur klein, weil vorauszusetzen ist, dass die einzelnen Über-
gangs-Stufen als Lokalformen je eine andre örtliche Verbreitung
gehabt haben. Die meisten Seethiere besitzen eine weite Ver-
breitung; und da wir gesehen, dass diejenigen Arten unter den
Pflanzen, welche am weitesten verbreitet sind, auch am öftesten
Varietäten darbieten, so wird es sich mit Mollusken u. a. See-
Thieren wohl ähnlich verhalten, und es werden diejenigen unter
ihnen, welche sich vordem am weitesten bis über die Grenzen
Europa’s hinaus erstreckten, auch am öftesten die Bildung neuer
anfangs lokaler Varietäten und später Arten veranlasst haben.
re dadurch muss die Wahrscheinlichkeit in irgend welcher
Formation ‘die Reihenfolge der Übergangs -Stufen aufzufinden
ausserordentlich vermindert werden.
20
306
Man muss nicht vergessen. dass man heutigen Tages, selbst
wenn man vollständige Exemplare vor sich hat, selten zwei
Varietäten durch Zwischenstufen verbinden und so deren Zusam-
mengehörigkeit zu einer Art beweisen kann, bis man: viele
Exemplare von mancherlei Örtlichkeiten zusammengebracht hat:
und bei fossilen Arten ist der Paläontologe selten im Stande
Diess zu thun. Man wird vielleicht am besten begreifen, wie
wenig wir in der Lage seyn können, Arten durch zahllose feine
fossil-gefundene Zwischenglieder zu verketten, wenn wir uns
selbst fragen, ob z. B. Paläontologen spätrer Zeiten im ‚Stande
seyn würden zu beweisen, dass unsre verschiednen Rinds-,
Schaafe-, Pferde- und Hunde-Rassen von einem oder von mehren
Stämmen herkommen, — oder: ob gewisse See-Konchylien der
Nord-Amerikanischen Küsten, welche von einigen Konchyliologen
als von ihren Europäischen Vertretern abweichende Arten und
von andern Konchyliologen als blosse Varietäten angesehen wer-
den. nur wirkliche Varietäten oder sogenannte eigne Arten sind.
Diess könnte künftigen Geologen nur gelingen, wenn sie viele
fossile Zwischenstufen entdeckten, was jedoch im höchsten, Grade
unwahrscheinlich ist.
Wenn geologische Forschungen auch eine Menge von Arten
aus lebenden und erloschenen Sippen zu unsrer Kenntniss ge-
bracht und manche Lücken zwischen einigen Lebenformen kleiner
gemacht, so haben sie doch kaum etwas dazu beigetragen, Unter-
schiede zwischen den Arten durch Einschiebung zahlreicher und
fein abgestufter Zwischenglieder zu verringern: und dass sie
Diess nicht bewirkt haben, ist zweifelsohne einer der ersten
und gewichtigsten Einwände, die man gegen meine Ansichten
vorbringen mag. Daher wird es angemessen Seyn, die voran-
sehenden Bemerkungen zur Erläuterung eines ersonnenen Falles
zusammenzufassen. Der Malayische Archipel ist eiwa von der
Grösse Europas vom Nord-Kap bis zum Mittelmeere und von
Britannien bis Russland, entspricht mithin der Ausdehnung des-
jenigen Theiles der Erd-Oberfläche, auf welchem, Nord- Amerika
ausgenommen, ‚alle. geologischen Formationen am sorgfältigsten
und zusammenhängendsten untersucht worden ‚sind. Ich stimme
307
mit Hrn. Gopwın-Austen in der Meinung vollkommen überein,
dass der jetzige Zustand des Malayischen Archipels mit seinen
zahlreichen durch breite und seichte Meeres-Arme getrennten
Inseln wahrscheinlich der früheren Beschaffenheit Europas, wäh-
rend noch die meisten unsrer Formationen in Ablagerung be-
griffen waren, entspricht. Der Malayische Archipel ist eine der
an Organismen reichsten Gegenden der ganzen Erd-Oberfläche:
aber wenn man auch alle Arten sammelte, welche jemals da
gelebt haben, wie unvollständig würden sie die Naturgeschichte
der ganzen Erd-Oberfläche vertreten!
Indessen haben wir alle Ursache zu glauben, dass die Über-
reste der Landbewohner dieses Archipels nur äusserst unvoll-
ständig in die Formationen übergehen dürften, die unsrer An-
nahme gemäss sich dort noch ablagern werden. Ich vermuthe
selbst, dass nicht viele der eigentlichen Küsten -Bewohner und
der auf kahlen untermeerischen Felsen wohnenden Thiere in die
neuen Schichten eingeschlossen werden würden; und die etwa
in Kies und Sand eingeschlossenen dürften keiner späten Nach-
welt überliefert werden. Da wo sich aber keine Niederschläge
auf dem Meeres-Boden bildeten oder sich nicht in genügender
Masse anhäuften, um organische Einflüsse gegen Zerstörung zu
schützen, da würden auch gar keine organischen Überreste er-
halten werden können.
Ich glaube, dass Fossilien-führende Formationen, hinreichend
mächtig um bis zu einer eben so weit in der Zukunft entfernten
Zeit zu reichen, als die Sekundär-Formationen bereits hinter uns
liegen, nur während Perioden der Senkung in dem Archipel ent-
stehen könnten. Diese Perioden würden dann durch unermess-
liche Zwischenzeiten der Hebung oder Ruhe von einander getrennt
werden; denn während der Hebung würden alle Fossilien-führen-
den Formationen in dem Maasse, als sie entstünden, durch die
ununterbrochene Thätigkeit der Brandung wieder zerstört werden,
wie wir es jetzt an den Küsten Süd-Amerikas gesehen haben.
Während der Senkungs - Zeiten würden viele Lebenformen zu
Grunde gehen, während der Hebungs-Perioden dagegen sich die
Formen am meisten durch Abänderung entfalten, aber die geo!
20 *
308
logischen Denkmäler würden der Folgezeit wenig Nachricht davon
überliefern.
Es wäre zu bezweifeln, dass die Dauer irgend einer grossen
Periode über den ganzen Archipel sich erstreckender Senkung
und entsprechender gleichzeitiger Sediment-Ablagerung die mittle
Dauer der alsdann vorhandnen spezifischen Formen übertreffen
würde: und doch würde diese Bedingung unerlässlich nothwendig
seyn für die Erhaltung aller Übergangs-Stufen zwischen irgend
welchen zwei oder mehr von einander abstammenden Arten.
Wo diese Zwischenstufen aber nicht vollständig erhalten sind,
da werden die durch sie verkettet gewesenen Varietäten als
eben so viele verschiedene Spezies erscheinen. Es: ist jedoch
wahrscheinlich, dass während so langer Senkungs-Perioden auch
wieder Höhen -Schwankungen eintreten und kleine klimatische
Veränderungen erfolgen werden, welche die Bewohner des Ar-
chipels zu Wanderungen veranlassen, so dass kein genau zu-
sammenhängender Bericht über deren Abänderungs-Gang in einer
der dortigen Formationen niedergelegt werden kann.
Sehr viele der jetzigen Meeres-Bewohner jenes Archipels woh-
nen: gegenwärtig noch Tausende von Englischen Meilen weit über
seine Grenzen hinaus, . und die Analogie veranlasst mich zu
glauben, dass diese weit-verbreiteten Arten hauptsächlich zur
Erzeugung neuer Varietäten geeignet seyn würden. Diese Varie-
täten dürften anfangs gewöhnlich. nur eine örtliche Verbreitung
besitzen, jedoch, wenn sie als solche irgend einen Vortheil voraus
haben, oder wenn sie erst noch weiter abgeändert und ver-
bessert sind, sich llmählich ausbreiten und ihre Stamm-Ältern
ersetzen. Kehrte dann eine solche Varietät in ihre alte Heimath
zurück, so würde sie, vielleicht zwar nur wenig, aber doch ein-
förmig von ihrer früheren Beschaffenheit abweichend, nach den
Grundsätzen der meisten Paläontologen als eine neue und ver-
schiedene Art aufgeführt werden müssen.
Wenn daher diese Bemerkungen einiger Maassen begründet
sind, so sind wir nicht berechtigt zu erwarten, dass wir in
unseren geologischen Formationen eine endlose Anzahl solcher
feinen Übergangs -Formen finden werden, welche nach meiner
309
Betrachtungs-Weise sicher einmal alle früheren und jetzigen Arten
einer Gruppe zu einer langen und verzweigten Kette von Leben-
formen verbunden haben. Wir werden nur erwarten dürfen einige
wenige Zwischenglieder zu sehen, von welchen die einen
fester und die andren loser mit einander vereinigt sind; und
diese Glieder, grenzten sie auch noch so nahe an einander,
werden von den meisten Paläontologen lür verschiedene Arten
erklärt werden, sobald sie in verschiedene Stöcke einer Formation
vertheilt sind. Jedoch gestehe ich ein, dass ich nie geglaubt haben
würde, welch’ dürftige Nachricht von der Veränderung der ein-
stigen Lebenformen uns auch das beste geologische Profil ge-
währe, hätte nicht die Schwierigkeit, die zahllosen Mittelglieder
zwischen den zu Anfang und am Ende einer Formation vorban-
denen Arten aufzufinden, meine Theorie so sehr ins Gedrange
gebracht.
y Plötzliches Auftreten ganzer Gruppen ver
wändter Arten.) Das plötzliche Erscheinen ganzer Gruppen
neuer Arten in gewissen Formationen ist von mehren Paläonto-
logen, wie Acassız, Pıcrer und am eindringlichsten von SEDGWICK
zur Widerlegung des Glaubens an eine allmähliche Umgestaltung
der Arten hervorgehoben worden. Wären wirklich viele Arten
von einerlei Sippe oder Familie auf‘ einmal plötzlich ins Leben
getreten, so müsste Diess lreilich meiner Theorie einer lang-
samen Abänderung durch Natürliche Züchtung verderblich werden.
Denn die Entwickelung einer Gruppe von Formen, die alle von
einem Stamm-Vater herrühren, muss nicht nur selbst ein sehr
langsamer Prozess gewesen seyn, sondern auch die Stamm-Form
muss schon sehr lange vor ihren abgeänderten Nachkommen
existirt haben, Aber wir überschätzen fortwährend die Voll-
ständigkeit der geologischen Berichte und unterstellen: irrthümlich
dass, weil gewisse Sippen oder Familien noch nicht unterhalb
einer gewissen geologischen Gesichtsebene gefunden worden,
sie auch tiefer noch nicht existirt haben. Wir vergessen fort-
während, wie gross die Welt der kleinen Fläche gegenüber ist,
über die sich unsre genauere Untersuchung geologischer Forma-
tionen erstreckt; wir vergessen, dass Arten-Gruppen anderwarls
310
schon lange vertreten gewesen seyn und sich langsam vervielfältigt
haben können, bevor sie in die alten Archipele Europas und
der Vereinten Staaten eingedrungen. Wir bringen die Länge
der Zeiträume nicht genug in Anschlag, welche wahrscheinlich
zwischen der Ablagerung unsrer unmittelbar aufeinander-gelagerten
Formationen verflossen und vermuthlich meistens länger als die-
jenigen gewesen sind, die zur Ablagerung einer Formation er-
forderlich waren. Diese Zwischenräume waren lange genug für
die Verviellältigung der Arten von einer oder von einigen weni-
gen Stamm- Formen aus, so dass dann solche Arten in der
jedesmal nachfolgenden Formation auftreten konnten, als ob sie
erst plötzlich und gleichzeitig geschaffen worden seyen.
Ich will hier an eine schon früher gemachte Bemerkung
erinnern, dass nämlich wohl eine ganze Reihe von Welt-Perioden
dazu gehören dürfte, bis ein Organismus sich einer ganz neuen
Lebens-Weise anpasse, wie z. B. durch die Luft zu fliegen; dass
aber, wenn Diess einmal geschehen ist und nur einmal eine
geringe Anzahl hiedurch einen grossen Vortheil vor andern
Organismen erworben hat. nur noch eine verhältnissmässig kurze
Zeit dazu erforderlich ist, um viele auseinander-weichende Formen
hervorzubringen, welche dann geeignet sind sich schnell und
weit über die Erd-Oberfläche zu verbreiten.
Ich will nun einige wenige Beispiele zur Erläuterung dieser
Bemerkungen und insbesondre zum Nachweis darüber mittheilen,
wie leicht wir uns in der Meinung, dass ganze Arten-Gruppen
auf einmal geschaffen worden seyen, irren können. Ich will
zuerst an die wohl-bekannte Thatsache erinnern, dass nach den
noch vor wenigen Jahren erschienenen Lehrbüchern der Geologie
die grosse Klasse der Säugthiere ganz plötzlich am Anfange der
Tertiär- Periode aufgetreten seyn sollte. Und nun zeigt sich eine
der, im Verhältniss ihrer Dicke, reichsten Lagerstätten fossiler
Säugthier-Reste mitten in der Sekundär-Reihe, und ein ächtes
Säugthier ist in den ältesten Schichten des New red Sandstone
entdeckt worden. ÜCuvier pflegte Nachdruck darauf zu legen,
dass noch kein Affe in irgend einer Tertiär-Schicht gefunden wor-
den seye; jetzt aber kennt man fossile Arten von Vierhändern in
341
Ostindien , in Süd- Amerika und selbst in Europa, sogar schon aus
der eocänen Periode. Hätte uns nicht ein. seltener Zufall die
zahlreichen Fährten im New red Sandstone der Vereinten Staaten
aufbewahrt, wie würden wir anzunehmen gewagt haben, dass
ausser Reptilien auch schon nicht: weniger als. dreissig Vogel-
Arten von riesiger Grösse in so früher Zeit existirt hätten, zu-
mal noch nicht ein Stückchen Knochen in jenen Schichten ge-
funden worden ist. : Obwohl nun die Anzahl der Füsse, Zehen
und verschiedenen Zehen- Glieder in jenen fossilen Eindrücken
vollkommen mit denen unsrer jetzigen Vögel übereinstimmen,
so zweifeln doch noch einige Schriftsteller daran, ob jene Fährten
wirklich von Vögeln herrühren. 30 konnten also bis vor ganz
kurzer Zeit dieselben Autoren behaupten und haben einige der-
selben wirklich behauptet, dass die ganze Klasse der Vögel
plötzlich erst im Anfang der Tertiär - Periode aufgetreten seye;
doch können wir uns jetzt auf die Versicherung Professor OwENS (in
L,yeın's »Manual«) berufen, dass ein Vogel gewiss schon zur Zeit
gelebt habe, als der obre Grünsand sich ablagerte.
Ich will als ein andres Beispiel anführen, was mir in einer
Abhandlung über fossile sitzende Cirripeden. selber passirt ist.
Nachdem ich nachgewiesen, dass es eine Menge von lebenden
und von erloschenen tertiären Arten gebe, so schloss ich aus
dem ausserordentlichen Reichthume. vieler Balaniden- Arten an
Individuen, aus ihrer Verbreitung über die ganze Erde von den
arktischen Regionen an bis zum Äquator und von der obren
Eluth-Grenze an bis zu 50 Faden Tiefe hinab, aus der vollkom-
menen. Erhaltungs - Weise ihrer Reste in den ältesten Tertiär-
Schichten, aus der Leichtigkeit selbst einzelne Klappen zu er-
kennen und zu bestimmen: aus allen diesen Umständen. schloss
ich dass. wenn es in der sekundären Periode sitzende Cirripeden
gegeben hätte, solche gewiss erhalten und wieder entdeckt wor-
den seyn würden: da jedoch noch keine Schaale einer Spezies
in Schichten dieses Alters gefunden worden seye, so müsse sich
diese grosse Gruppe erst im Beginne .der Tertiär-Zeit plötzlich
entwickelt haben. Es war eine grosse Verlegenheit. für mich, selbst
noch ein. weitres Beispiel vom plötzlichen Auftreten einer grossen
312
Arten-Gruppe bestätigen zu müssen.‘ Kaum -war jedoch mein
Werk erschienen, als ein bewährter Paläontologe, Hr. Bosguer,
mir eine Zeichnung von einem vollständigen Exemplare eines
unverkennbaren Balaniden sandte, welchen er selbst aus dem
Belgischen Kreide-Gebirge entnommen hatte. Und um den Fall
so treffend als möglich zu machen, so ist der entdeckte Bala-
nide ein Chthamalus, eine sehr gemeine und überall weit-ver-
breitete Sippe, wovon sogar in tertiären Schichten bis jetzt noch
keine Spur gefunden worden war. Wir wissen daher jetzt mit
Sicherheit, dass es auch in der Sekundär-Zeit schon sitzende
Cirripeden gegeben, welche möglicher Weise die Stamm-Ältern
unsrer vielen tertiären und noch lebenden Arten gewesen seyn
können. |
Der Fall von plötzlichem Auftreten einer ganzen Arten-
Gruppe, worauf 'sich die Paläontologen am öftesten berufen, ist
die Erscheinung der ächten Knochenfische oder Teleostier erst
in den unteren Schichten der Kreide-Periode. Diese Gruppe
enthält bei weitem die grösste Anzahl der jetzigen Fische.
Inzwischen hat Professor Pıcrer neuerlich ihre erste Erscheinung
schon wieder um einen Stock tiefer nachgewiesen und glauben
andre Paläontologen, dass viele ältre Fische, deren Verwandt-
schaften bis jetzt noch nicht genau bekannt, wirkliche Teleostier
seyen. Nähme man mit Acassız an, dass deren ganze Gruppe
wirklich erst zu Anfang der Kreide-Zeit erschienen 'seye, so
wäre diese Thatsache freilich höchst merkwürdig; aber auch in
ihr vermöchte ich noch keine unübersteigliche Schwierigkeit für
meine Theorie zu erkennen, bis auch erwiesen wäre, dass
in der That die Arten dieser Gruppe auf der ganzen'Erde gleich-
zeitig in jener Frist aufgetreten seyen. Es ist fast überflüssig
zu bemerken, dass ja noch kaum ein fossiler Fisch von der Süd-
Seite des Äquators bekannt ist und nach Pıcrer’s Paläontologie
selbst in einigen Gegenden Europas erst sehr wenige Arten ge-
funden worden sind. Einige wenige Fisch- Familien haben jetzt
enge Verbreitungs-Grenzen, und so könnte es auch mit den
Teleostiern der Fall gewesen seyn, dass sie erst dann, nach-
dein sie sich in diesem oder jenem Meere sehr vervielfältigt,
313
sich weit verbreitet hätten.‘ Auch: sind wir nicht: anzunehmen
berechtigt, ' dass die 'Welt-Meere von Norden nach Süden
allezeit so offen wie jetzt gewesen seyen. Selbst heutigen Tages
könnte ‘der tropische Theil des Indischen Ozeans durch eine
Hebung des Malayischen Archipels über den Meeres- Spiegel
in ein grosses geschlossenes Becken verwandelt werden, worin
sich irgend welche grosse Seethier-Gruppen zu entwickeln
und vervielfältigen vermöchten; und da würde sie dann einge-
schlossen bleiben, bis einige der Arten für ein kühleres Klima
geeignet und in Stand gesetzt worden wären, die Süd-Caps in
Afrika und Australien zu umwandern und so in andre ferne
Meere zu gelangen.
Aus diesen und ähnlichen Betrachtungen, aber hauptsächlich
in Berücksichtigung unsrer Unkunde über die geologischen Verhält-
nisse andrer Welt-Gegenden ausserhalb Europa und Nord- Amerika,
endlich nach dem Umschwung, welchen unsre paläontologi-
schen Vorstellungen durch die Entdeckungen während des letzten
Jahrzehenten erlitten, glaube ich folgern zu dürfen, dass wir
eben so übereilt handeln würden, die bei uns bekannt gewordene
Art der Aufeinanderfolge der Organismen auf die ganze Erd-
Obertläche zu übertragen, als ein Naturforscher thäte, welcher
nach einer Landung von fünf Minuten an irgend einer armen
Küste Australiens auf die Zahl und Verbreitung seiner Organis-
men schliessen wollte. |
Plötzliches Erscheinen ganzer Gruppen ver-
wandter Arten in den untersten Fossilien-führenden
Schichten.) Grösser ist eine andre Schwierigkeit; ich meine
das plötzliche Auftreten vieler Arten einer Gruppe in den unter-
sten Fossilien-führenden Gebirgen. Die meisten der Gründe,
welche mich zur Überzeugung geführt, dass alle lebenden Arten
einer Gruppe von einem gemeinsamen Urvater herrühren, sind
mit fast gleicher Stärke auch auf die ältesten fossilen Arten an-
wendbar. So kann ich z. B. nicht daran zweifeln, dass alle
Silurischen Trilobiten von irgend einem Kruster herkommen,
welcher, von allen jetzt lebenden Krustern sehr verschieden
war. Einige der ältesten silurischen Thiere sind zwar nicht
; 34
sehr von noch jetzt lebenden Arten verschieden, wie Lingula,
Nautilus u. a., und man kann nach meiner Theorie nicht anneh-
men, dass diese alten Arten die Erzeuger aller Arten der
Ordnungen gewesen seyen, wozu sie gehören, indem sie. in
keiner Weise Mittelformen zwischen denselben darbieten. Und
wären sie deren Stamm-Ältern gewesen, ‚so würden sie jetzt
gewiss längst durch ihre vervollkommneten Nachfolger ersetzt
und ausgetilgt seyn.
Wenn meine Theorie richtig, so müssten unbestreitbar schon
vor Ablagerung der ältesten silurischen Schichten eben so lange
oder noch längere Zeiträume, wie nachher, verflossen, und
inüsste die Erd-Oberfläche während dieser ganz unbekannten Zeit-
räume von lebenden Geschöpfen bewohnt gewesen seyn.
Was nun die Frage betrifft, warum wir aus diesen weiten
Primordial-Perioden keine Denkmäler mehr finden, so kann ich
darauf keine genügende Antwort geben. Mehre der ausgezeich-
netesten Geelogen mit Sir R. Murcnison an der Spitze sind über-
zeugt, in diesen untersten Silur-Schichten die Wiege des Lebens
auf unsrem Planeten zu erblicken. Andre hoch-bewährte Beur-
theiler, wie Cu. Lyerı und der verstorbene Epw. Forses bestreiten
diese Behauptung. Und wir müssen nicht vergessen, dass nur
ein geringer Theil unsrer Erd-Oberfläche mit einiger Genauigkeit
erforscht ist. Erst unlängst hat Hr. BArRANDE dem silurischen
Systeme noch einen anderen älteren Stock angefügt, der reich
ist an’ neuen und eigenthümlichen Arten. Spuren einstigen.
Lebens sind auch noch in den Longmynd - Schichten entdeckt
worden unterhalb Barranpe s sogenannter Primordial- Zone. Die
Anwesenheit Phosphate-haltiger Nieren und bituminöser Materien
in einigen der untersten azoischen Schichten deutet wahrschein-
lich auf ein ehemaliges noch früheres Leben hin. Aber dann
ist die Schwierigkeit noch grösser, das gänzliche Fehlen der
mächtigen Stösse Fossilien-führender Schichten zu begreifen, die
meiner Theorie zufolge sich gewiss irgendwo aufgehäuft hatten.
Wären diese ältesten Schichten durch Entblössungen ganz und
gar weggewaschen oder durch Metamorphismus ganz und gar
unkenntlich gemacht worden, so würden wir wohl auch nur noch
315
ganz kleine Überreste der nächst-jüngeren Formationen entdecken,
und diese müssten sich meistens in einem metamorphischen Zu-
stande befinden. Aber die Beschreibungen, welche wir jetzt
von den silurischen Ablagerungen in den unermesslichen Länder-
Gebieten in Russland und Nord-Amerika besitzen, sind nicht
zu Gunsten der Meinung dass, je älter eine Formation, desto
mehr sie durch Entblössung und Metamorphismus gelitten haben
müsse. |
Diese Thatsache muss fürerst unerklärt bleiben und wird
mit Recht als eine wesentliche Einrede gegen die hier ent-
wickelten Ansichten hervorgehoben werden. Ich will jedoch
folgende Hypothese aufstellen, um zu zeigen, dass doch vielleicht
einige Erklärung möglich ist. Aus der Natur der in den ver-
schiedenen Formationen Europa’s und der Vereinten Staaten
vertretenen organischen Wesen, welche keine grossen Tiefen
bewohnt zu haben scheinen, und aus der ungeheuren Masse der
Meilen-dieken Niederschläge, woraus diese Formationen bestehen,
können wir zwar schliessen, dass von Anfang bis zu Ende grosse
Inseln oder Landstriche, aus welchen die Sedimente herbeigeführt
worden, in der Nähe der jetzigen Kontinente von Europa und
Nord-Amerika existirt haben müssen. Aber vom Zustande der
Dinge in den langen Perioden, welche zwischen der Bildung dieser
Formationen verflossen sind, wissen wir nichts; wir vermögen
nicht zu sagen, ob während derselben Europa und die Vereinten
Staaten als trockne Länder-Strecken oder als untermeerische
Küsten-Flächen, auf welchen inzwischen keine Ablagerungen er-
folgten, oder endlich als unergründlicher Meeres- Boden eines
offnen und unergründlichen Ozeans vorhanden waren.
Betrachten wir die jetzigen Weltmeere, welche dreimal so
viel Fläche als das trockne Land einnehmen, so finden wir sie
mit zahlreichen Inseln besäet, von welchen aber auch nicht eine
bis jetzt einen Überrest von paläolithischen und sekundären For-
mationen geliefert hat. Man kann daraus vielleicht schliessen,
dass während der paläolithischen und Sekundär-Zeit weder Kon-
tinente noch kontinentale Inseln da existirt haben, wo sich jetzt
_ der Ozean ausdehnt: denn wären solche vorhanden gewesen, SO
316
würden sich nach aller Wahrscheinlichkeit aus dem von ihnen
herbei-geführten Schutte auch paläolithische und sekundäre Schich-
ten gebildet haben , und es würden dann in Folge der Niveau-
Schwankungen, welche während dieser ungeheuer langen Zeit-
räume jedenfalls stattgefunden haben müssen, wenigstens theil-
weise Emporhebungen trocknen Landes haben erfolgen können,
Wenn wir also aus diesen Thatsachen irgend einen Schluss
ziehen wollen, so können wir sagen, dass da, wo sich jetzt
unsre Weltmeere ausdehnen, solche schon seit den ältesten
Zeiten, von denen wir Kunde besitzen, bestanden haben, und
dass da wo jetzt Kontinente sind, grosse Landstrecken existirt
haben, ‘welche von der frühesten Silur-Zeit an zweifelsohne gros-
sem Niveau-Wechsel unterworfen gewesen sind. Die kolorirte
Karte, welche meinem Werke über die Korallen-Riffe beigegeben
ist, führte mich zum Schluss, dass die grossen Weltmeere noch
jetzt hauptsächlich Senkungs-Felder, die grossen Archipele noch
jetzt schwankende Gebiete und die Kontinente noch jetzt in He-
bung begriffen seyen. Aber haben wir ein Recht anzunehmen,
dass diese Dinge sich. seit dem Beginne dieser Welt gleich ge-
blieben sind? Unsre Festländer scheinen hauptsächlich durch vor-
herrschende Hebung während vielfacher Höhen - Schwankungen
entstanden zu seyn. Aber können nicht die Felder vorwaltender
Hebungen und Senkungen ihre Rollen vor noch längrer ‚Zeit
umgetauscht haben? In einer unermesslich früheren Zeit vor
der silurischen Periode können Kontinente da existirt haben, wo
sich jetzt die Weltmeere ausbreiten, und können oflne Weltmeere
gewesen seyn , wo jetzt die Festländer emporragen. Und doch
würde man noch nicht anzunehmen berechtigt seyn, dass 2. B.
das Bette des Stillen Ozeans, wenn es jetzt in ein Festland ver-
wandelt würde, uns ältre als silurische Schichten darbieten müsse,
vorausgesetzt selbst dass sich solche einstens dort gebildet ha-
ben; denn es wäre möglich, dass Schichten, welche dem Mittel-
punkt der Erde um einige Meilen näher gerückt und von dem
ungeheuren Gewichte darüber stehender Wasser zusammenge-
drückt gewesen, stärkere metamorphische Einwirkungen erfahren
habe als jene, welche näher an der Oberfläche: verweilten. Die
317
in einigen Welt-Gegenden wie. z. B. in Süd-Amerika vorhandenen
unermesslichen Strecken blos metamorphischen Gebirges, welche
hohen Graden von Druck und Hitze ausgesetzt gewesen Seyn
müssen, haben mir einer besonderen Erklärung zu bedürfen ge-
schienen; und vielleicht darf man annehmen, dass sie uns die
zahlreichen schon lange vor der silurischen Zeit abgeseizten
Formationen in einem. völlig metamorphischen Zustande darbieten.
Die mancherlei hier erörterten Schwierigkeiten, welche na-
mentlich daraus entspringen, dass wir in der Reihe der aufein-
ander-folgenden Formationen die unzähligen Zwischenglieder zwi-
schen den vielen früheren und jetzigen Arten nicht finden, —
dass ganze Gruppen verwandter Arten in unsren Europäischen
Formationen oft plötzlich zum Vorschein kommen, — dass, so
viel bis jetzt bekannt, ältre Fossilien-führende Formationen noch
unter den silurischen Schichten gänzlich fehlen, — alle diese
Schwierigkeiten sind zweifelsohne von grösstem Gewichte. Wir
ersehen Diess am deutlichsten aus der Thatsache, dass die aus-
gezeichnetesten Paläontologen, wie Cuvier, Acassız, BARRANDE,
Faıconer, Epw. Forses und andere, sowie unsre grössten Geo-
logen, Lyeır, Murenison, Senewick etc. die Unveränderlichkeit
der Arten einstimmig und oft mit grosser Heftigkeit vertheidigt
haben. Inzwischen habe ich Grund anzunehmen, dass eine grosse
Autorität, Sir Cu. Lyeın, in Folge fernerer Erwägungen sehr
zweifelhaft in dieser Beziehung geworden ist. Ich fühle wohl,
wie bedenklich es ist, von diesen Gewährsmännern, denen wir
mit Andern alle unsre Kenntnisse verdanken, abzuweichen. Alle,
die den geologischen Schöpfungs-Bericht für einigermaassen voll-
ständig halten und nicht viel Gewicht auf andre in diesem Bande
ınitgetheilten Thatsachen und Schlussfolgerungen legen, werden
zweifelsohne meine ganze Theorie auf einmal verwerfen. Ich
für meinen Theil betrachte (um Lyeıı's bildlichen Ausdruck
durchzuführen) den Natürlichen Schöpfungs-Bericht als eine Ge-
schichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dia-
lekten geschrieben, — wovon aber nur der letzte bloss auf einige
Theile der Erd-Oberfläche sich beziehende Band bis auf uns ge-
kommen ist.. Doch auch von diesem Bande ist nun hier und
318
da ein kurzes Kapitel erhalten, und von jeder Seite sind nur da
und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechseln-
den Sprache dieser Beschreibung, mehr und weniger verschieden
in der unterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag
den anscheinend plötzlich wechselnden Lebenformen entsprechen,
welche in den unmittelbar aufeinander-liegenden Schichten unsrer
weit von einander getrennten Formationen begraben liegen.
kehntes Kapitel.
Geologische Aufeinanderfolge organischer Wesen,
/Langsame und allmähliche Erscheinung neuer Arten. —< Ungleiches Maass
ihrer Veränderung. —»Einmal untergegangene Arten kommen nicht wieder
zum Vorschein. —”Arten-Gruppen folgen denselben allgemeinen Regeln
des Auftretens,und Verschwindens, wie die einzelnen Arten. — Erlöschen 4
der Arten. —“Gleichzeitige Veränderungen der Lebenformen auf der gan-
zen Erd-Oberfläche. — „Verwandtschaft erloschener Arten mit andern fos-
silen und mit lebenden Arten. —/Entwickelungs-Stufe aller Formen. —
Aufeinanderfolge derselben Typen im nämlichen Länder-Gebiete. —/Zu-
sammenfassung des jetzigen mit früheren Abschnitten.
Sehen wir nun zu, ob die verschiedenen Thatsachen und
Regeln hinsichtlich der geologischen Aufeinanderfolge der orga-
nischen Wesen besser mit der gewöhnlichen Ansicht von der
Unabänderlichkeit der Arten, oder mit der Theorie einer lang-
samen und stufenweisen Abänderung der Nachkommenschaft
durch Natürliche Züchtung übereinstimmen.
/ Neue Arten sind im Wasser wie auf dem Lande nur sehr
langsam, eine nach der andern zum Vorschein gekommen. LykıL
hat gezeigt, dass es kaum möglich ist, sich den in den verschie-
denen Tertiär-Schichten niedergelegten Beweisen in dieser Hin-
sicht zu verschliessen, und jedes Jahr strebt die noch vorhande-
nen Lücken mehr auszufüllen und das Prozent-Verhältniss der
noch lebend vorhandenen zu den ganz ausgestorbenen Arten mehr
und mehr abzustufen. In einigen der neuesten, wenn auch, iM
Jahren ausgedrückt, gewiss sehr alten Schichten kommen nur
noch 1—2 ausgestorbene Arten vor, und nur je eine oder zwei
eu
Er
319
überhaupt oder für die Örtlichkeit neue Formen gesellen sich
den früheren bei. Wenn wir den Beobachtungen Priumers in
Sizilien vertrauen dürfen, so ist die stufenweise Ersetzung der
früheren Meeres-Bewohner bei dieser Insel durch andre Arten ein
äusserst langsamer gewesen. Die Sekundär - Formationen sind
mehr unterbrochen; aber in jeder einzelnen Formation hat, wie
Bronx bemerkt hat, weder das Auftreten noch das Verschwinden
ihrer vielen jetzt erloschenen Arten gleichzeitig stattgefunden.
Arten verschiedener Sippen und Klassen haben weder gleichen
Schrittes noch in gleichem Verhältnisse gewechselt. In den ältesten
Tertiär-Schichten liegen die wenigen lebenden Arten mitten zwischen
einer Menge erloschener Formen. FALCONER hat ein schlagendes
Beispiel der Art berichtet, nämlich von einem Krokodile noch
lebender Art, welches mit einer Menge fremder und unterge-
gangener Säugthiere und Reptilien in Schichten des Subhimalaya
beisammen lagert. Die silurischen Lingula-Arten weichen nur sehr
wenig von den lebenden Spezies dieser Sippe ab, während die
meisten der übrigen silurischen Mollusken und alle Kruster grossen
Veränderungen unterlegen sind. Die Land-Bewohner scheinen
schnelleren Schrittes als die Meeres-Bewohner zu wechseln, wovon
ein treffender Beleg kürzlich aus der Schweitz berichtet worden
ist. Es scheint einiger Grund zur Annahme vorhanden, dass solche
Organismen, welche auf höherer Organisations-Stufe stehen, rascher
als die unvollkommen entwickelten wechseln; doch gibt es Aus-
nahmen von dieser Regel. Das Maass organischer Veränderung
entspricht nach Pıerer's Bemerkung nicht genau der Aufeinander-
folge unsrer geologischen Formationen, so dass zwischen je zwei
aufeinander - folgenden Bildungen die Lebens-Formen genau in
gleichem Grade sich änderten. Wenn wir aber irgend welche,
seyen es auch nur zwei einander zunächst verwandte Forma-
tionen miteinander vergleichen, so finden wir, dass alle Arten
einige Veränderungen erfahren haben. Ist eine Art einmal von
der Erd-Oberfläche verschwunden, so haben wir einigen Grund
zu vermuthen, dass dieselbe Art nie wieder zum Vorschein kommen
werde. Die anscheinend auffallendsten Ausnahmen von dieser Regel
bilden Barranpe's sogenannte »Kolonien« von Arten, welche sich eine
320
Zeit lang mitten in ältere Formationen einschieben und dann
später wieder erscheinen; ‘doch halte ich Lyeur’s Erklärung,
sie seyen durch Wanderungen aus einer geographischen Provinz
in die andre bedingt, für vollkommen genügend.
2 Diese verschiedenen Thatsachen vertragen sich wohl mit
meiner Theorie. Ich glaube an kein festes Entwickelungs-Gesetz,
welches alle Bewohner einer Gegend veranlasste, sich plötzlich
oder gleichzeitig oder gleichmässig zu ändern. Der Abänderungs-
Prozess muss ein sehr langsamer seyn. Die Veränderlichkeit jeder
Art ist ganz unabhängig von der der andern Arten. Ob sich
die Natürliche Züchtung solche Veränderlichkeit zu Nutzen macht,
und ob die in grösserem oder geringerem Maasse gehäuften
Abänderungen stärkere oder schwächre Modifikationen in den sich
ändernden Arten veranlassen, Diess hängt von vielen verwickelten
Bedingungen ab: von der Nützlichkeit der Veränderung, von der
Wirkung der Kreutzung, von dem Maass der Züchtung, vom all-
mählichen Wechsel in der natürlichen Beschaffenheit der Gegend,
und zumal von der Beschaffenheit der übrigen Organismen , welche
mit den sich ändernden Arten in Mitbewerbung kommen; daher
es keineswegs überraschend ist, wenn eine Art ihre Form un-
verändert bewahrt, während andre sie wechseln, oder wenn sie
solche in geringerem Grade wechselt als diese. Wir beobachten
Dasselbe in der geographischen Verbreitung, z. B. auf Madeira,
wo die Landschnecken und Käfer in beträchtlichem Maasse von
ihren nächsten Verwandten in Europa abgewichen, während
Vögel und See-Mollusken die nämlichen geblieben sind. Man kann
vielleicht die anscheinend raschere Veränderung in den Land-
Bewohnern und den höher organisirten Formen gegenüber derjenigen
der meerischen und der tiefer-stehenden Arten aus den zusammen-
gesetzteren Beziehungen der vollkommenern Wesen zu ihren or-
ganischen und unorganischen Lebens-Bedingungen, wie sie in
einem früheren Abschnitte auseinander gesetzt worden sind, her-
leiten. Wenn viele von den Bewohnern einer Gegend abge-
ändert und vervollkommnet worden sind, so begreift man aus
dem Prinzip der Mitbewerbung und aus den höchst-wichtigen
Beziehungen von Organismus zu Organismus, dass eine Form,
321
welche gar keine Änderung und Vervollkommnung erfährt, der
Austilgung preisgegeben ist. Daraus ergibt sich dann, dass alle
Arten einer Gegend zuletzt, wenn wir nämlich hinreichend lange
Zeiträume dafür zugestehen , entweder abändern oder zu Grunde
gehen müssen. |
Bei Gliedern einer Klasse mag das Maass der Änderung
während langer und gleicher Zeit-Perioden im Mittel vielleicht
nahezu gleich seyn. Da jedoch die Anhäufung lange dauernder
Fossilreste-führender Formationen davon bedingt ist, ob grosse
Sediment-Massen während einer Senkungs-Periode abgesetzt wer-
den, so müssen sich unsre Formationen nothwendig meistens mit
langen und unregelmässigen Zwischenpausen gebildet haben; daher
denn auch der Grad organischer Veränderung, welchen die in den
Erd-Schichten abgelagerten organischen Reste an sich tragen, in
aufeinander-folgenden Formationen nicht gleich ist. Jede For-
mation bezeichnet nach dieser Anschauungs-Weise nicht einen
neuen und vollständigen Akt der Schöpfung, sondern nur eine
meistens ganz nach Zufall herausgerissene Szene aus einem lang-
sam vor sich gehenden Drama.
3 Man begreift leicht, dass eine einmal zu Grunde gegangene
Art nicht wieder zum Vorschein kommen kann, selbst wenn die
nämlichen unorganischen und organischen Lebens - Bedingungen
nochmals eintreten. Denn obwohl die Nachkommenschaft einer
Art so hergerichtet werden kann (und gewiss in unzähligen Fällen
hergerichtet worden ist), dass sie den Platz einer andern Art
im Haushalte der Natur genau ausfüllt und sie ersetzt, so können
doch beide Formen, die alte und die neue, nicht identisch die
nämlichen seyn, weil beide gewiss von ihren verschiedenen
Stamm-Vätern auch verschiedene Charaktere mit-geerbt haben.
So könnten z. B., wenn unsre Pfauentauben ausstürben, Tauben-
Liebhaber‘ dupolr lange Zeit fortgesetzte und auf denneibön
Punkt gerichtete Bemühungen wohl eine neue von unsrer jetzigen
Pfauentaube kaum unterscheidbare Rasse zu Stande bringen.
Wäre aber auch deren Urform, unsre Felstaube im Natur-Zu-
stande, wo die Stamm-Form gewöhnlich durch ihre vervollkomm-
nete Nachkommenschaft ersetzt und vertilgt wird, zerstört worden,
21
322
so müsste es doch ganz unglaubhaft erscheinen, dass ein Pfauen-
schwanz, mit unsrer jetzigen Rasse identisch, von irgend einer
andern Tauben-Art oder einer andern guten Varietät unsrer Haus-
Tauben gezogen werden könne, weil die neu-gebildete Pfauen-
. taube von ihrem neuen Stamm-Vater fast gewiss einige wenn
auch nur leichte Unterscheidungs-Merkmale beibehalten würde.
; Arten-Gruppen, wie Sippen und Familien sind, folgen in
ihrem Auftreten und Verschwinden denselben allgemeinen Regeln,
wie die einzelnen Arten selbst, indem sie mehr oder weniger
schnell, in grössrem oder geringerem «Grade wechseln. Eine
Gruppe erscheint nicht wieder, wenn sie einmal untergegangen
ist; ihr Daseyn ist abgeschnitten. Ich weiss wohl, dass es
einige anscheinende Ausnahmen von dieser Regel gibt; allein
es sind deren so erstaunlich wenig, dass Evw. Forses, Pıerer
und Woopwarp (obwohl dieselben alle diese von mir vertheidigten
Ansichten sonst bestreiten) deren Richtigkeit zugestehen, und
diese Regel entspricht vollkommen meiner Theorie. Denn, wenn
alle Arten einer Gruppe von nur einer Stamm-Art herkommen,
dann ist es klar, dass, so lange als noch irgend eine Art der
Gruppe in der langen Reihenfolge der geologischen Perioden zum
Vorschein kommt, so lange auch noch Glieder derselben Gruppe
in ununterbrochner Reihenfolge existirt haben müssen, um all-
mählich veränderte und neue oder noch die alten und unverän-
derten Formen hervorbringen zu können. So müssen also Arten
der Sippe Lingula seit deren Erscheinen in den untersten Schichten
bis zum heutigen Tage ununterbrochen vorhanden gewesen seyn.
Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass es zuweilen
aussieht, als seyen die Arten einer Gruppe ganz plötzlich aul-
getreten, und ich habe versucht diese Thatsache zu erklären,
welche, wenn sie sich richtig verhielte,, meiner Theorie verderb-
lich seyn würde. Aber derartige Fälle sind gewiss nur als Aus-
nahmen zu betrachten; nach der allgemeinen Regel wächst die
Arten-Zahl jeder Gruppe allmählich bis zu ihrem Maximum an und
nimmt dann früher oder später wieder langsam ab. Wenn man
die Arten-Zahl einer Sippe oder die Sippen-Zahl einer Familie.
durch eine Vertikal-Linie ausdrückt. welche die übereinander-fol-
u en a
323
genden Formationen mit einer nach Maassgabe der in jeder der-
selben enthaltenen Arten-Zahl veränderlichen Dicke durchsetzt,
so kann es manchmal scheinen, als beginne dieselbe unten breit,
statt mit scharfer Spitze; sie nimmt dann aufwärts noch weiter
an Breite zu, hält darauf zuweilen eine Zeit lang gleiche Stärke
ein und läuft dann in den obren Schichten, der Abnahme und
dem Erlöschen der Arten-entsprechend , allmählich spitz aus. Diese
allmähliche Zunahme einer Gruppe steht mit meiner Theorie voll-
kommen im Einklang, da die Arten einer Sippe und die Sippen
einer Familie nur langsam und allmählich an Zahl wachsen können,
weil der Vorgang der Umwandlung und der Entwickelung einer
Anzahl verwandter Formen nur ein Jangsamer seyn kann, da eine
Art anfänglich nur eine oder zwei Varietäten liefert, welche sich
allmählich in Arten verwandeln, die ihrerseits mit gleicher Lang-
samkeit wieder andre Arten hervorbringen und so weiter (wie ein
grosser Baum sich allmählich verzweigt), bis die Gruppe gross wird.
Erlöschen.) Wir haben bis jetzt nur gelegentlich von
dem Verschwinden der Arten und Arten-Gruppen gesprochen.
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung sind jedoch das Er-
löschen alter und die Bildung neuer verbesserter Formen auls
Innigste mit einander verbunden. Die alte Meinung, dass von
Zeit zu Zeit sämmtliche Bewohner der Erde durch grosse Um-
wälzungen von der Oberfläche weggefegt worden seyen, ist jetzi
ziemlich allgemein und selbst von solchen Geologen, wie EuıE
pE BEAaumonz, Murchison, BARRANDE u. a. aufgegeben, deren all-
gemeinere Anschauungs-Weise sie auf dieselbe hinlenken müsste.
Wir haben vielmehr nach den über die Tertiär-Formationen an-
gestellten Studien allen Grund zur Annahme, dass Arten und
Arten-Gruppen ganz allmählich eine nach der andern verschwinden,
zuerst an einer Stelle, dann an einer andern und endlich überall.
Einzelne Arten sowohl als Arten-Gruppen haben sehr ungleich lange
Zeiten gedauert, einige Gruppen, wie wir gesehen, von der ersten
Wiegen-Zeit des Lebens an bis zum heutigen Tage, während
andre nicht einmal den Schluss der paläolithischen Zeit erreicht
haben. Es scheint kein bestimmtes Gesetz zu geben, welches
die Länge der Dauer einer Art ‚oder Sippe bestimmte. Doch
21”
324
scheint Grund zur Aunahme vorhanden, dass ‚das gänzliche Er-
löschen der Arten einer Gruppe gewöhnlich ein langsamerer Vor-
gang als selbst ihre Entstehung ist. Wenn man das Erscheinen
und Verschwinden der Arten einer Gruppe ebenso wie im vorigen
Falle durch eine Vertikallinie von veränderlicher Dicke ausdrückt,
so pflegt sich dieselbe weit allmählicher an ihrem obren dem
Erlöschen entsprechenden, als am untern die Entwickelung dar-
stellenden Ende zuzuspitzen. Doch ist in einigen Fällen das Er-
löschen ganzer Gruppen von Wesen, wie das der Ammoniten am
Ende der Sekundär-Zeit, wunderbar rasch vor sich gegangen.
Die ganze Frage vom Erlöschen der Arten ist in das ge-
heimnissvollste Dunkel gehüllt gewesen. Einige Schriftsteller haben
sogar angenommen, dass Arten gerade so wie Individuen eine
regelmässige Lebensdauer haben. Durch das Verschwinden der
Arten ist wohl Niemand mehr in Verwunderung gesetzt worden.
als es mit mir der Fall gewesen. Als ich im La-Ptata-Staate
einen Pferde-Zahn: in einerlei Schicht mit Resten von Mastodon,
Megatherium, Toxodon u. a. Ungeheuern zusammenliegend fand,
welche sämmtlich noch in später geologischer Zeit mit noeh
jetzt lebenden Konchylien-Arten zusammen gelebt haben, war ich
mit Erstaunen erfüllt. Denn da die von den Spaniern in Süd-
Amerika eingeführten Pferde sich wild über das ganze Land
verbreitet und zu unermesslicher Anzahl vermehrt haben, so
musste ich mich bei jener Entdeckung selber fragen, was in
verhältnissmässig noch so neuer Zeit das frühere Pferd unter Lebens-
Bedingungen zu vertilgen vermocht, welche sich der Vervielfäl-
tigung des Spanischen Pferdes so ausserordentlich günstig er-
wiesen haben? Aber wie ganz ungegründet war mein Erstaunen!
Professor Owen erkannte bald, dass der Zahn, wenn auch denen
der lebenden Arten sehr ähnlich, doch von einer ganz anderen
nun erloschenen Art herrühre. Wäre diese Art noch jelzt, wenn
auch schon etwas selten, vorhanden, so würde sich kein Natur-
forscher im mindesten über deren Seltenheit wundern, da es viele
seltene Arten aller Klassen in allen Gegenden gibt. Fragen wir uns
selbst, warum diese oder jene Art selten ist, so antworten wir,
es müsse irgend etwas in den vorhandenen Lebens-Bedingungen
ungünstig seyn, obwohl wir dieses Etwas nicht leicht näher zu
bezeichnen wissen. Existirte das fossile Pferd noch jetzt als eine
seltene Art, so würden wir in Berücksichtigung der Analogie
mit allen andern Säugthier-Arten und selbst mit dem sich nur
langsam fortpflanzenden Elephanten und der Vermehrungs-Geschichte
des in Süd-Amerika verwilderten Hauspferdes fühlen, dass jene
fossile Art unter günstigeren Verhältnissen binnen wenigen Jahren
im Stande seyn müsse den ganzen Kontinent zu bevölkern. Aber
wir können nicht sagen, welche ungünstigen Bedingungen es
seyen, die dessen Vermehrung hindern, ob. deren nur eine oder
ob ihrer mehre seyen, und in welcher Lebens-Periode und: in
welchem Grade jede derselben ungünstig wirke. Verschlimmer-
ten sich aber jene Bedingungen allmählich, so würden wir die
Thatsache sicher nicht bemerken, obschon jene (fossile) Pferde-
Art gewiss immer seltener und seltener werden und zuletzt er-
löschen würde; denn ihr Platz ist bereits von einem andern
siegreichen Mitbewerber eingenommen.
Man hat viele Schwierigkeit sich immer zu erinnern, dass
die Zunahme eines jeden lebenden Wesens durch unbemerkbare
schädliche Agentien fortwährend aufgehalten wird, und dass die-
selben unbemerkbaren Agentien vollkommen genügen können,
um eine fortdauernde Verminderung und endliche Vertilgung zu
bewigken. Wir sehen in den neueren Tertiär-Bildungen viele
Beispiele, dass Seltenwerden dem gänzlichen Verschwinden vor-
angeht, und wir wissen. dass es derselbe Fall bei denjenigen
Thier-Arten gewesen ist, welche durch den Einfluss des Men-
schen örtlich oder überall von der Erde verschwunden sind. Ich
will hier wiederholen, was ich im Jahr 1845 drucken liess : Zu-
geben, dass Arten gewöhnlich selten werden, ehe sie erlöschen,
und sich über das Seltnerwerden einer Art nieht wundern, aber
dann doch hoch erstaunen, wenn sie endlich zu Grunde gebt, —
heisst Dasselbe, wie: Zugeben, dass bei Individuen Krankheit
dem Tode vorangeht, und sich über das Erkranken eines Indivi-
duums nicht befremdet fühlen, aber sich wundern, wenn der
kranke Mensch stirbt, und seinen Tod irgend einer unbekannten
(sewalt zuschreiben,
326
‘ Die Theorie der Natürlichen Züchtung 'beruhet auf der An:
nahme, dass jede neue Varictat und zuletzt jede neue Art dadurch
gebildet und erhalten worden Seye, dass sie irgend einen Vor-
zug vor den mitbewerbenden Arten an sich habe, in Folge
dessen die nicht bevortheilten Arten meistens unvermeidlich er-
löschen. Es verhält sich eben so mit unsren Kultur-Erzeugnis-
sen. Ist eine neue etwas vervollkommnete Varietät gebildet wor-
den, so ersetzt sie anfangs die minder vollkommenen Varietäten
in der Nachbarschaft; ist sie mehr verbessert, so breitet sie
sich in Nähe und Ferne aus, wie unsre kurz-hörnigen Rinder
gethan, und nimmt die Stelle der andern Rassen in andern
Gegenden ein. So sind die Erscheinungen neuer und das Ver-
schwinden alter Formen, natürlicher wie künstlicher, enge mit-
einander verknüpft. In manchen wohl gedeihenden Gruppen
ist die Anzahl der in einer gegebenen Zeit gebildeten neuen
Art-Formen grösser als die alten erloschenen; da wir aber
wissen, dass gleichwohl die Arten-Zahl wenigstens in den letz-
ten geologischen Perioden nicht unbeschränkt zugenommen hat,
so dürfen wir annehmen, dass eben die Hervorbringung neuer
Formen das Erlöschen einer ungefähr gleichen Anzahl alter ver-
anlasst habe. |
Die Mitbewerbung wird gewöhnlich, wie schon früher er-
klärt und durch Beispiele erläutert worden ist, zwischen degjeni-
gen Formen anı ernstesten seyn, welche sich in allen Beziehun-
gen am ähnlichsten sind. Daher die abgeänderten und verbesser-
ten Nachkommen gewöhnlich die Austilgung ihrer Stamm-Art
veranlassen werden; und wenn viele neue Formen von irgend
einer einzelnen Art entstanden sind, so werden die nächsten
Verwandten dieser Art, das heisst die mit ihr zu einer Sippe
gehörenden, der Vertilgung am meisten ausgesetzt seyn. Und so
muss, wie ich mir vorstelle, eine Anzahl neuer von einer Stamm-
Art entsprossener Spezies, d. h. eine neue Sippe, eine alte Sippe
der nämlichen Familie ersetzen. Aber es muss sich auch oft zutra-
gen, dass eine neue Art aus dieser oder jener Gruppe den Platz
einer Art aus einer andern Gruppe einnimmt und somit deren
Erlöschen veranlasst; wenn sich dann von dem siegreichen Ein-
327
dringlinge viele verwandte Formen entwickeln, so werden auch
viele diesen ihre Plätze überlassen müssen, und es werden ge-
wöhnlich verwandte Arten Sceyn, die in Folge eines gemeinschaft-
lich ererbten Nachtheils den andern gegenüber unterliegen.
Mögen jedoch die unterliegenden Arten. zu einer ‘oder zu ver-
schiedenen Klassen gehören, SO kann doch öfter einer oder der
andre von ihnen in Folge einer Befähigung zu einer etwas ab-
weichenderen Lebensweise, oder seines abgelegenen Wohnortes
wegen, eine minder strenge Mitbewerbung zu befahren haben
und sich so noch längre Zeit erhalten. So überlebt z. B. nur
noch eine einzige Trigonia in dem Australischen Meere die in
der Sekundär-Zeit zahlreich gewesenen Arten dieser Sippe, und
eine geringe Zahl von Arten der einst reichen Gruppe der Ga-
noiden-Fische kommt noch in unsren Süsswassern vor. Und so
ist dann das gänzliche Erlöschen einer Gruppe gewöhnlich ein
langsamerer Vorgang als ihre Entwicklung.
Was das anscheinend plötzliche Aussterben ganzer Familien
und Ordnungen betrifft, wie das der Trilobiten am Ende der pa-
läolithischen und der Ammoniten am Ende der mesolithischen
Zeit-Periode, so müssen wir uns zunächst dessen erinnern, Was
schon oben über die sehr langen Zwischenräume zwischen uns-
rön verschiedenen Formationen gesagt worden ist, während wel-
cher viele Formen langsam erloschen seyn können. Wenn ferner
durch plötzliche Einwanderung oder ungewöhnlich rasche Ent-
' wickelung viele Arten einer neuen Gruppe von einem neuen
Gebiete Besitz nehmen, so können sie auch in entsprechend
rascher Weise viele der alten Bewohner verdrängen; und die
Formen, welche ihnen ihre Stelle überlassen, werden gewöhnlich
mit einander verwandte Theilnehmer an irgend einem ihnen ge-
meinsamen Nachtheile der Organisation seyn.
So scheint mir die Weise, wie einzelne Arten und ganze
Arten-Gruppen erlöschen, gut mit der Theorie der Natürlichen
Züchtung übereinzustimmen. Das Erlöschen kann uns nicht
wunder-nehmen; was uns eher wundern müsste, ist vielmehr
unsre einen Augenblick lang genährte Anmassung, die vie-
len verwickelten Bedingungen zu begreifen, von welchen das
an. are ir er,
328
Daseyn jeder Spezies abhängig ist.. Wenn wir einen Augenblick
vergessen, dass jede Art auf ungeregelte Weise zuzunehmen
strebt und irgend eine wenn auch ganz selten wahrgenommene
(egenwirkung immer in Thätigkeit ist, so muss uns der ganze
Haushalt der Natur allerdings sehr dunkel erscheinen. Nur wenn
wir genau anzugeben wüssten, warum diese Art reicher an In-
dividuen als jene ist, warum diese und nicht eine andre in einer
angedeuteten Gegend naturalisirt werden kann, dann und nur
dann hätten wir Ursache uns zu wundern, warum wir uns von dem
Erlöschen dieser oder jener einzelnen Spezies oder Arten-Gruppe
keine Rechenschaft zu geben im Stande sind.
fÜber das fast gleichzeitige Wechseln der Leben-
(ormen auf der ganzen Erd-Oberfläche.) Kaum ist
irgend eine andre paläontologische Entdeckung so überraschend
als die Thatsache, dass die Lebenformen einem auf fast der
sanzen Erd-Oberfläche gleichzeitigen Wechsel unterliegen.. So
kann unsre Europäische Kreide-Formation in vielen entfernten
Weltgegenden und in den verschiedensten Klimaten wieder 'er-
kannt werden, wo nicht ein Stückchen Kreide selbst zu ent-
decken ist. So namentlich in Nord- und im. tropischen Süd-
Amerika, im Feuerlande, am Kap der guten Hoffnung und auf
der Ostindischen Halbinsel, weil an diesen entfernten Punkten
der Erd-Öberfläche die organischen Reste gewisser Schichten
eine unverkennbare Ähnlichkeit mit denen unsrer Kreide besitzen,
Nicht als ob es überall die nämlichen Arten wären; denn
manche dieser Örtlichkeiten haben nicht eine Art mit einander
gemein; —- aber sie gehören zu einerlei Familie, Sippe, Unter-
sippe und ähneln sich oft bis auf die. gleichgiltigen Skulpturen
der Oberfläche. Ferner fehlen andre Formen, welche in Europa
nicht in, sondern über oder unter der Kreide-Formation vorkom-
men, der genannten Formation auch in jenen fernen Gegenden.
In den aufeinander-folgenden paläozoischen Formationen Russlands,
West-Europas und Nord-Amerikas ist ein ähnlicher Parallelis-
mus im Auftreten der Lebenformen von mehren Autoren. wahr-
genommen worden, und eben so in dem Europäischen und
Nord-Amerikanischen Tertiär-Gebirge nach Lyeır. Selbst wenn
-
329
wir die wenigen Arten ganz aus dem Auge lassen, welche die
Alte und die Neue Welt mit einander gemein haben, so steht
der allgemeine Parallelismus der aufeinander folgenden Leben-
formen in den verschiedenen Stöcken der so weit auseinander
gelegenen paläolithischen und tertiären Gebilde so fest, dass sich
diese Formationen leicht Glied um Glied miteinander vergleichen
lassen.
Diese Beobachtungen jedoch beziehen sich nur auf die
Meeres-Bewohner der verschiedenen Weltgegenden, und wir
haben‘ nicht genügende Nachweisungen um zu beurtheilen, ob
die Erzeugnisse des Landes und der Süsswasser an SO entfern-
ten Punkten einander gleichfalls in paralleler Weise ablösen.
Man möchte daran zweifeln, ob es der Fall; denn wenn das
Megatherium, der Mylodon und Toxodon und die Macrauchenia
aus dem La-Plata-Gebiete nach Europa ‚gebracht worden wären
ohne alle Nachweisung über ihre geologische Lagerstätie, so
würde wohl niemand »vermuthet haben, dass sie mit noch jetzt
lebend vorkommenden See-Mollusken gleichzeitig existirten ; da
jedoch diese monströsen Wesen mit Mastodon und Pferd zusam-
mengelagert sind, so lässt sich daraus wenigstens schliessen,
dass sie in einem dgy letzten Stadien der Tertiär-Periode gelebt
haben müssen.
Wenn vorhin von dem gleichzeitigen Wechsel der Meeres-
Bewohner auf. der ganzen Erd-Oberfläche gesprochen worden,
so handelt es sich dabei nicht um die nämlichen tausend oder
hunderttausend Jahre oder auch nur um eine strenge Gleichzei-
tigkeit im geologischen Sinne des Wortes. Denn, wenn alle
Meeres-Thiere, welche jetzt in Europa leben, und alle, welche
in der pleistocänen Periode (eine, in Jahren ausgedrückt, unge-
heuer entiernt-liegende Periode, indem sie die Eis-Zeit mit in
sich begreift) da gelebt haben, mit den jetzt in Süd-Amerika
oder in Australien lebenden verglichen würden, so dürfte der
erfahrenste Naturforscher schwerlich zu sagen im Stande seyn,
ob die jetzt lebenden oder die pleistocänen Bewohner Europas
mit denen der südlichen Halbkugel näher übereinstimmen. Eben
so glauben mehre der sachkundigsten Beobachter, dass die
330
jetzige Lebenwelt in den Vereinten Staaten wit derjenigen Be-
völkerung näher verwandt seye, welche während einiger der
letzten Stadien der Tertiär-Zeit in Europa existirt hat, als mit
der noch jetzt da wohnenden; und wenn Diess so ist, so würde
man offenbar die Fossilien-führenden Schichten, welche jetzt an
den Nord-Amerikanischen Küsten abgelagert werden, in einer
späteren Zeit eher mit etwas älteren Europäischen Schichten
zusammenstellen. Demungeachtet kann, wie ich glaube, kaum
ein Zweifel seyn, dass man in einer sehr fernen Zukunft doch
alle neueren meerischen Bildungen, namentlich die obern
pliocänen, die pleistocänen und die jetzt-zeitigen Schichten Europas,
Nord- und Süd-Amerikas und Australiens, weil sie Reste in ge-
wissem Grade mit einander verwandter Organismen und nicht
auch diejenigen Arten, welche allein den tiefer-liegenden älteren
Ablagerungen angehören, in sich einschliessen, ganz richtig als
gleich-alt in geologischem Sinne bezeichnen würde.
Die Thatsache, dass die Lebenformen gleichzeitig miteinan-
der, in dem obigen weiten Sinne des Wortes, selbst in entfern-
ten Theilen der Welt wechseln, hat die vortrefflichen Beobachter
DE VERNEUIL und D’Archıac Sehr betroffen gemacht. Nachdem sie
1%
über ‘den Parallelismus der lithischengl,ebenformen in ver-
schiedenen Theilen von Europa berichtet, sagen sie weiter:
»„Wenden wir unsre Aufmerksamkeit nun nach Nord- Amerika,
so entdecken wir dort eine Reihe analoger Thatsachen, und
scheint es gewiss zu seyn, dass alle diese Abänderungen der
Arten, ihr Erlöschen und das Auftreten neuer nicht blossen Ver-
änderungen in den Meeres-Strömungen oder andern mehr und
weniger örtlichen und vorübergehenden Ursachen zugeschrieben
werden können, sondern von. allgemeinen Gesetzen abhängen,
welche das ganze Thier-Reich betreffen.« Auch BarrAnoE hat ähn-
liche Wahrnehmungen gemacht und nachdrücklich hervorgehoben.
Es ist in der That ganz ohne Nutzen, die Ursache dieser gros-
sen Veränderungen in den Lebenformen der ganzen Erd-Ober-
fläche und in den verschiedensten Klimaten im Wechsel der
See-Strömungen, des Klimas oder andrer natürlicher Lebens-Be-
dingungen aufsuchen zu wollen; wir müssen uns, wie schon
331
Barranoe bemerkt, nach einem besondren Gesetze dafür umsehen.
Wir werden Diess deutlicher erkennen, wenn von der gegen-
wärtigen Vertheilung der organischen Wesen die Rede seyn
wird; wir werden dann finden, wie gering die Beziehungen
zwischen den natürlichen Lebens - Bedingungen verschiedener
Länder und der Natur ihrer Bewohner ist.
Diese grosse Thatsache von der parallelen Aufeinanderfolge
der Lebenformen auf der ganzen Erde ist aus der Theorie der
Natürlichen Züchtung erklärbar. Neue Arten entstehen aus neuen
Varietäten, welche einige Vorzüge von älteren Formen an sich
tragen, und diejenigen Formen, welche bereits der Zahl nach
vorherrschen oder irgend einen Vortheil vor andern Formen
voraus-haben, werden natürlich am öftesten die Entstehung neuer
Varietäten oder beginnender Arten veranlassen; denn diese letz-
ten werden in noch höherem Grade siegreich gegen andre be-
stehen und sie überleben. Wir finden einen bestimmten Beweis
dafür in den herrschenden, d. h. in ihrer Heimath gemeinsten
uınd am weitesten verbreiteten Pflanzen-Arten, indem diese die
grösste Anzahl neuer Varietäten gebildet haben. Ebenso ist es
natürlich, dass die herrschenden veränderlichen und weit ver-
breiteten Arten, die bis zu einem gewissen Grade bereits in die
Gebiete andrer Arten eingedrungen sind, auch bessere Aussicht
als andre zu noch weitrer Ausbreitung und zur Bildung fernerer
Varietäten und Arten in den neuen Gegenden haben. Dieser
Vorgang der Verbreitung mag oft ein sehr langsamer seyn, in-
dem er von klimatischen und geographischen Veränderungen und
zufälligen Ereignissen abhängt; doch mit der Zeit wird die Ver-
breitung der herrschenden Formen gewöhnlich durchgreifen. Sie
wird bei Land-Bewohnern geschiedener Kontinente wahrschein-
lich langsamer vor sich gehen, als bei den Organismen zusam-
menhängender Meere. Wir werden daher einen minder genauen
Grad paralleler Aufeinanderfolge in den Land- als in den Meeres-
Erzeugnissen zu finden erwarten dürfen, wie es auch in der
That der Fall ist.
Wenn herrschende Arten sich von einer Gegend aus ver-
breiten, so werden sie mitunter auf noch herrschendere Arten
332
stossen, und dann wird ihr Siegeslauf und selbst ihre Existenz
aufhören. Wir wissen durchaus nicht genau, welches alle die
günstigsten Bedingungen für die Vermehrung neuer und herr-
schender Arten sind; doch Das können wir, glaube ich, klar er-
kennen, dass eine grosse Anzahl von Individuen, insoferne
sie mehr Aussicht auf die Hervorbringung vortheilhafter Abände-
rungen hat, und dass eine strenge Mitbewerbung mittelst vieler
schon bestehender Formen im höchsten Grade vortheilhaft seyn
müsse, sowie das Vermögen sich in neue Gebiete zu verbreiten,
Ein gewisser Grad von Isolirung, nach langen Zwischenzeiten zu-
weilen wiederkehrend, dürfte, wie früher erläutert worden, wohl
gleichfalls förderlich seyn. Ein Theil der Erd-Oberfläche mag
für die Hervorbringung neuer und herrschender Arten des Lan-
des und ein andrer für solche des Meeres günstiger seyn,
Wenn zwei grosse Gegenden sehr lange Zeiten hindurch zur
Hervorbringung herrschender Arten in gleichem Grade geeig-
net gewesen, so wird der Kampf ihrer Einwohner mitein-
ander-, wann immer sie zusammenireffen mögen, ein langer und
harter werden, und werden einige von der einen und einige von
der andern Geburts-Stätte aus siegreich vordringen. Aber im
Laufe der Zeit werden die im höchsten Grade herrschenden
Formen, auf welcher von beiden Seiten sie auch entstanden seyn
mögen, überall das Übergewicht erlangen. In dem Maasse, als
sie überwiegen, werden sie das Erlöschen andrer unvollkomme-
nerer Formen bedingen ; und da oft ganze unter sich verwandte
Gruppen die gleiche Unvollkommenheit gemeinsam ererbt haben,
so werden solche Gruppen sich allmählich ganz zum Erlöschen
neigen, wenn auch da und dort ein einzelnes Glied sich noch
eine Zeit lang durchbringen mag. 5
So, scheint mir, stimmt die paralleie und, in einem weiten
Sinne genommen, gleichzeitige Aufeinanderfolge der nämlichen
Lebenformen auf der ganzen Erde wohl mit dem Prinzip überein,
dass neue Arten -durch sich weit verbreitende und sehr veränder-
liche herrschende Spezies gebildet werden; die so erzeugten
neuen Arten werden in Folge von Vererbung und, weil sie bereits
einige Vortheile über ihre Ältern und über andre Arten besitzen,
selber herrschend; auch diese breiten sich nun aus, variiren
und bilden wieder neue Spezies. Diejenigen Formen, welche ver-
drängt werden und ihre Stellen den neuen siegreichen Formen
überlassen, werden gewöhnlich gruppenweise verwandt seyn,
weil sie irgend eine Unvollkommenheit gemeinsam ererbt haben:
daher in dem Maasse als sich die neuen und vollkommneren
Gruppen über die Erde verbreiten, alte Gruppen vor ihnen ver-
schwinden müssen. Diese Aufeinanderfolge der Formen auf bei-
den Wegen wird sich überall zu entsprechen geneigt seyn.
Noch bleibt eine Beierkung‘ über diesen Gegenstand zn
machen übrig. Ich habe die Gründe angeführt, weshalb ich
glaube, dass jede unsrer grossen Fossilreste-führenden Forma-
tionen in Perioden fortdauernder Senkung abgesetzt worden sind,
dass-aber diese Ablagerungen durch lange Zwischenräume getrennt
gewesen, wo der Meeres -Boden stet oder in Hebung begriffen
war, oder wo die Anschüttungen nicht rasch genug erfolgten,
um die organischen Reste einzuhüllen und gegen Zerstörung zu
bewahren. Während dieser langen leeren Zwischenzeiten nun
haben, nach meiner Annahme, die Bewohner jeder Gegend" viele
Abänderungen erfahren und viel durch Erlöschen gelitten, und
haben grosse Wanderungen von einem Theile der Erde zum
andern stattgefunden. Da nun Grund zur Annahme vorhanden ist,
dass weite Felder die gleichen Bewegungen durchgemacht haben,
so haben gewiss auch oft genau gleichzeitige Formationen über
sehr weiten Räumen einer Weltgegend abgesetzt werden kön-
nen; doch sind wir hieraus nicht zu schliessen berechtigt, dass
Diess unabänderlich der Fall gewesen, oder dass weite Felder
unabänderlich von gleichen Bewegungen betroffen worden seyen.
Sind zwei Formationen in zwei Gegenden zu beinahe, aber nicht
genau, gleicher Zeit entstanden, so werden wir in beiden aus
schon oben auseinandergesetzten Gründen im Allgemeinen die
nämliche Aufeinanderfolge. der Lebenformen erkennen; aber die
Arten werden sich nicht genau entsprechen , weil sie in der
einen Gegend etwas mehr und in der andern etwas weniger Zeit
gehabt haben abzuändern, zu wandern und zu erlöschen.
| Ich vermuthe, dass Fälle dieser Art in Europa selbst vor-
334
kommen. Prestwich ist in seiner vortrefflichen Abhandlung über
die Eocän-Schichten in England und Frankreich im Stande einen
im Allgemeinen genauen Parallelismus zwischen den aufeinander-
folgenden Stöcken beider Gegenden nachzuweisen. Obwohl sich
nun bei Vergleichung gewisser Stöcke in England mit denen
in Frankreich eine merkwürdige Übereinstimmung beider in den
zu einerlei Sippen gehörigen Arten ergibt, so weichen doch
diese Arten selber in einer bei der geringen Entfernung beider
Gebiete schwer zu erklärenden Weise von einander ab, wenn
man nicht annehmen will, dass eine Landenge zwei benachbarte
Meere getrennt habe, welche von gleichzeitig verschiedenen
Faunen bewohnt gewesen seyen. Lyvkır hat ähnliche Beobach-
tungen über einige der späteren Tertiär-Formationen gemacht, und
ebenso hat BarrAnDE gezeigt, dass zwischen den aufeinanderfol-
genden Silur-Schichten Böhmens und Skandinaviens im Allgemei-
nen ein genauer Parallelismus herrsche, demungeachtet aber eine
erstaunliche Verschiedenheit zwischen den Arten bestehe. Wären
aber nun die verschiedenen Formationen dieser Gegenden nicht
genau während der gleichen Periode abgesetzt worden, indem
etwa die Ablagerung in der einen Gegend mit einer Pause in
der andern zusammenfiele, -— und hätten in beiden Gegenden
die Arten sowohl während der Anhäufung der Schichten als
während der langen Pausen dazwischen langsame Veränderungen
erfahren: so würden die verschiedenen Formationen beider Ge-
genden auf gleiche Weise und in Übereinstimmung mit der all-
gemeinen Aufeinanderfolge der Lebenformen geordnet erscheinen,
und ihre Ordnung sogar genau parallel scheinen (ohne es zu
seyn); demungeachtet würden in den einzelnen einander anschei-
nend entsprechenden Stöcken beider Gegenden nicht alle Arten
übereinstimmen. |
Verwandtschaft erloschener Arten unter sich
und mit den lebenden Formen.) Werfen wir nun einen
Blick auf die gegenseitigen Verwandtschaften erloschener und le-
bender Formen. Alle fallen in ein grosses Natur-Sysiem, was
sich aus dem Prinzip gemeinsamer Abstammung erklärt. Je älter
eine Form, desto mehr weicht sie der allgemeinen Regel zufolge
€
Ban 0 a
„Me
>
TR
335
von den lebenden Formen ab. Doch können, wie BuckLanp schon
längst bemerkt, alle fossilen Formen in noch lebende Gruppen
eingetheilt oder zwischen sie eingeschoben werden. Es ist nicht
zu bestreiten, dass die erloschenen Formen weite Lücken zwi-
schen den jetzt noch bestehenden Sippen, Familien und Ord-
nungen ausfüllen helfen. Denn wenn wir unsre Aufmerksamkeit
entweder auf die lebenden oder auf die erloschenen Formen
allein richten, so ist die Reihe viel minder vollkommen, als wenn
wir beide in ein gemeinsames System zusammenfassen. Hin-
sichtlich der Wirbelthiere liessen sich viele Seiten mit den trefl-
lichen Erläuterungen unsres grossen Paläontologen Owen über
die Verbindung lebender Thier-Gruppen durch fossile Formen an-
füllen. Nachdem ÜCuvier die Wiederkäuer und die Pachydermen
als zwei der aller-verschiedensten Säugthier-Ordnungen betrachtet,
hat Owen so viele fossile Zwischenglieder entdeckt, dass er die
sanze Klassifikation dieser zwei Ordnungen zu ändern genöthigt
war und gewisse Pachydermen in gleiche Unterordnung mit Ru-
minanten versetzte. So z. B. füllt er die weite Lücke zwischen
Kameel und Schwein mit kleinen Zwischenstufen aus. Was die
Wirbel-losen betrifft, so versichert: BarrANDE, gewiss die erste
Autorität in dieser Beziehung, wie er jeden Tag deutlicher er-
kenne, dass die paläolithischen Thiere, wenn auch in einerlei
Ordnungen, Familien und Sippen mit den jetzt lebenden gehörig,
doch noch nicht in so bestimmte Gruppen geschieden waren, wie
diese letzten.
Einige Schriftsteller haben sich gegen die Meinung erklärt,
dass eine erloschene Art oder Arten-Gruppe zwischen lebenden
Arten oder Gruppen in der Mitte stehe. Wenn damit gesagt
werden sollte, dass die erloschene Form in allen ihren Charak-
teren genau das Mittel zwischen zwei lebenden Formen halte,
so wäre die Einwendung vermuthlich begründet. Aber ich er-
kenne, dass in einer vollkommen natürlichen Klassifikation viele
fossile Arten zwischen lebenden Arten, und manche erloschene
Sippen zwischen lebenden Sippen oder sogar zwischen Sippen
verschiedener Familien ihre Stellen einzunehmen haben. Der
gewöhnlichste Fall zumal bei sehr ausgezeichneten Gruppen, wie
336
Fische und Reptilien sind, scheint mir der zu seyn,
dass da, wo
dieselben heutigen Tages z. B. durch ein Dutzend Charaktere
von einander abweichen, die alten Glieder
Gruppen in einer etwas geringeren Anzahl von Merkmalen unter-
schieden waren, so dass beide Gruppen vordem, wenn auch
schon völlig verschieden, doch einander etwas näher stunden
als jetzt.
der nämlichen Zwei
Es ist eine gewöhnliche Meinung, dass eine Form je älter
um so mehr geeignet seye, mittelst einiger ihrer Charaktere
jetzt weit getrennte Gruppen zu verknüpfen. Diese Bemerkung
muss ohne Zweifel auf solche Gruppen beschränkt werden , die
im Verlaufe geologischer Zeiten grosse Veränderungen erfahren
haben, und es möchte schwer seyn, die Wahrheit zu beweisen;
denn hier und da wird auch noch ein lebendes Thier wie der
Lepidosiren entdeckt, das ıit sehr verschiedenen Gruppen zu-
gleich verwandt ist. Wenn wir jedoch die ältern Reptilien und
Batrachier, die alten Fische, die alten Cephalopoden und die
eocänen Säugthiere mit den neueren Gliedern derselben Klassen
vergleichen, so müssen wir einige Wahrheit in der Bemerkung
zugestehen. |
Wir wollen nun zusehen, in wie ferne diese verschiedenen
Thatsachen und Schlüsse mit der Theorie abändernder Nachkom-
menschaft übereinstimmen. Da der Gegenstand etwas verwickelt
ist, so muss ich den Leser bitten, sich nochmals nach dem Bilde
S. 121 umzusehen. Nehmen wir an, die numerirten Buchsta-
ben stellen Sippen und die von ihnen ausstrahlenden Punkt-Reihen
die dazu gehörigen Arten vor. Das Bild ist insoferne zu ein-
fach, als zu wenige Sippen und Arten darauf angenommen sind;
doch ist Das unwesentlich für uns. Die wagrechten Linien mö-
gen die aufeinander-folgenden geologischen Formationen vorstel-
len und alle Formen unter der obersten dieser Linien als er-
loschene gelten. Die drei lebenden Sippen a!*, q!*, p!# mögen
eine kleine Familie bilden; b!* und f!* eine nahe verwandte
oder eine Unter-Familie, und o!#, e!!, m'* eine dritte Familie
vertreten. Diese drei Familien mit den vielen erloschenen Sip-
Pd
pen auf den verschiedenen von der Stamm-Form A auslaufenden
337
Verzweigungs-Linien bilden eine Ordnung; denn alle werden von
ihrem alten und gemeinschaftlichen Stammvater auch etwas Ge-
meinsames ererbt haben. Nach dem Prinzip fortdauernder Diver-
genz des Charakters, zu dessen Erläuterung jenes Bild bestimmt
war, muss jede Form je neuer um so stärker von ihrem ersten
Stammvater abweichen. Daraus erklärt sich eben auch die Re-
gel, dass die ältesten fossilen am meisten von den jetzt lebenden
Formen verschieden sind. Doch dürfen wir nicht glauben, dass
Divergenz des Charakters eine nothwendige Eigenschaft ist; sie
hängt allein davon ab, ob die Nachkommen einer Art befähigt
sind, viele und verschiedenarlige Plätze im Haushalt 2 al
einzunehmen. Daher ist es auch ganz wohl möglich , wie wir
bei einigen silurischen Fossilien gesehen, dass eine Art bei nur
geringer, nur wenig veränderten Lebens - Bedingungen ent-
sprechender Modifikation fortbestehen und während langer Perioden
stets dieselben allgemeinen Charaktere beibehalten kann. Diess
wird in dem Bilde durch den Buchstaben F'!* ausgedrückt.
All’ die vielerlei von A abstammenden Formen, erloschene
wie noch lebende, bilden nach unsrer Annahme zusammen eine
Ordnung, und diese Ordnung ist in Folge fortwährenden Erlö-
schens der Formen und Divergenz der Charaktere allmählich in
Familien und Unterfamilien getheilt worden, von welchen einige
in früheren Perioden zu Grunde gegangen sind und andre bis
auf den heutigen Tag währen. |
Das Bild zeigt uns ferner, dass, wenn eine Anzahl der
schon früher erloschenen und in die aufeinander-folgenden For-
mationen eingeschlossenen Formen an verschiedenen Stellen tief
unten in der Reihe wieder entdeckt würden, die drei noch le-
benden Familien auf der obersten Linie mehr unter sich ver-
kettet scheinen müssten. Wären z. B. die Sippen a!, a°, al®,
[*, m?, m‘, m? wieder ausgegraben worden, so würden die drei
Familien so eng mit einander verkettet erscheinen, dass man sie
wahrscheinlich in eine grosse Familie vereinigen würde, etwa so
wie es mit den Wiederkäuern und Dickhäutern geschehen ist. Wer
‚nun gegen (die Bezeichnung jener die drei lebenden Familien ver-
MERUREOR Sippen als »intermediäre dem Charakter nach« Verwah-
22
338
rung einlegen wollte, würde in der That in so ferne Recht ha-
ben, als sie nicht direkt, .sondern nur auf einem durch viele sehr '
abweichende Formen hergestellten Umwege sich zwischen jene an-
dern einschieben. Wären viele erloschene Formen über einer der
mitteln: Horizontal-Linien oder Formationen, wie z. B. Nr. VI —,
aber keine unterhalb dieser Linie gefunden worden, so würde
man nur die zwei auf der linken Seite stehenden Familien —
nämlich a!* etc. und b!* etc. — in eine grosse Familie vereiih
gen, und die zwei andern a!*—f!* mit fünf und o!—m!# mit
drei Sippen würden dann davon getrennt bleiben. Doch würden
diese gwei Familien weniger voneinander verschieden erscheinen,
als vor Entdeckung der fossilen Reste. Wenn wir z. B. anneh-
men, die noch bestehenden Sippen der zwei Familien wichen in
einem Dutzend Merkmale von einander ab, so müssen dieselben
in der früheren init VI bezeichneten Periode weniger Unterschiede
gezeigt haben, weil sie auf jener Fortbildungs-Stufe von dem
gemeinsamen Stammvater der Ordnung im Charakter noch nicht
so stark wie späterhin divergirten. So geschieht es dann, dass
alte und erloschene Sippen oft einigermassen zwischen ‚ihren
abgeänderten Nachkommen oder zwischen ihren Seiten-Verwandten
das Mittel "halten.
In der Natur wird der Fall weit zusammengeselzier seyn,
als ihn unser Bild darstellt; denn die Gruppen sind viel. zahl-.
reicher, ihre Dauer ist von ausserordentlich ungleicher Länge,
und die Abänderungen haben manchfaltige Abstufungen erreicht,
Da wir nur den letzien Band des Geologischen Berichtes mit
vielfältig unterbrochnem Zusammenhange besitzen, SO haben wir,
einige sehr seltene Fälle ausgenoınmen, kein Recht, die Aus-
füllung grosser Lücken im Natur - Systeme und die Verbindung
getrennter Familien und Ordnungen zu erwarten. Alles, was
wir hoffen dürfen, ist diejenigen Gruppen, welche erst in der
bekannten geologischen Zeit grosse Veränderungen erfahren,
in den frühesten Formationen etwas näher aneinander gerückt
zu finden, so dass die älteren Glieder in einigen ihrer Charak-
tere etwas weniger weit auseinander gehen, als die jetzigen
Glieder derselben Gruppen; und Diess scheint nach dem ein-
339
‚stimmigen Zeugnisse unserer besten Paläontologen oft der Fall
zu seyn. |
So scheinen sich mir, nach der Theorie gemeinsamer Ab-
stammung mit fortschreitender Modifikation. die wichtigsten That-
sachen hinsichtlich der wechselseitigen Verwandtschaft der er-
loschenen Lebenformen zu einander und zu den noch bestehen-
den Formen in genügender Weise zu erklären. Nach jeder
andern Betrachtungs-Weise sind sie völlig unerklärbar.
Aus der nämlichen Theorie erhellt, dass die Fauna einer
grossen Periode in der Erd-Geschichte in ihrem allgemeinen
Charakter das Mittel halten müsse zwischen der zunächst voran-
gehenden und nachfolgenden. So sind die Arten, welche im
sechsten grossen Schichten- Stocke unsres Bildes vorkommen,
die abgeänderten Nachkommen derjenigen, welche schon im
fünften vorhanden gewesen, und sind die Ältern der noch weiter
abgeänderten im siebenten; sie können daher nicht wohl anders
als nahezu das Mittel zwischen beiden halten. Wir müssen je-
doch hiebei im Auge behalteır das gänzliche Erlöschen einiger
früheren Formen, die Einwanderung neuer Formen aus andern
Gegenden und die beträchtliche Umänderung der Formen während
der langen Lücke zwischen zwei aufeinander-folgenden Forma-
tionen. Diese Zugeständnisse berücksichtigt, muss die Fauna je-
der grossen geologischen Periode zweifelsohne genau das Mittel
einnehmen zwischen der vorhergehenden und der folgenden. Ich
brauche nur als Beispiel anzuführen, wie die Fossil-Reste des
Devon-Systems die Paläontologen zu dessen Aufstellung veran-
lasst haben, als sie deren mitteln Charakter zwischen denen des
darunter-liegenden Silur- und des darauf-folgenden Steinkohlen-
Systems erkannten. Aber nicht jede Fauna muss dieses Mittel
genau einhalten, weil die zwischen aufeinander-folgenden Forma-
tionen verflossenen Zeiträume ungleich lang seyn können.
Es ist kein wesentlicher Einwand gegen die Wahrheit der
Behauptung, dass die Fauna jeder Periode im Ganzen ‘genommen
ungefähr das Mittel zwischen der vorigen und der folgenden
Fauna halten müsse, darin zu finden, dass manche Sippen Aus-
nahmen von dieser Regel bilden. So stimmen z. B.. wenn man
22°
340
Mastodonten und Elephanten nach Dr. Farconer zuerst nach ihrer
gegenseitigen Verwandtschaft und dann nach ihrer geologischen
Aufeinanderfolge in zwei Reihen ordnet, beide Reihen nicht mit
einander überein. Die in ihren Charakteren am weitesten ab-
weichenden Arten sind weder die ältesten noch die jüngsten,
noch sind die von mittlem Charakter auch von.mittlem Alter.
Nehmen wir aber für einen Augenblick an, unsre Kenntniss von
den Zeitpunkten des Erscheinens und Verschwindens der Arten
seye in diesem und ähnlichen Fällen vollkommen genau, so haben
wir doch noch kein Recht zu glauben, dass die nacheinander
auftretenden Formen nothwendig auch gleich-lang bestehen müssen;
eine sehr alte Form kann zufällig eine längre Dauer als eine
irgendwo später entwickelte Form haben, was insbesondre von
solchen Landbewohnern gilt, welche in ganz getrennten Bezirken
zu Hause sind. Kleines mit Grossem vergleichend wollen wir
die Tauben als Beispiel wählen. Wenn man die lebenden und
erloschenen Haupt-Rassen unsrer Haus-Tauben so gut als möglich
nach ihren Verwandtschaften in R&ihen ordnete, so würde diese
Anordnungs-Weise nicht genau übereinstimmen weder mit der
Zeitfolge ihrer Entstehung und noch weniger mit der ihres Unter-
sangs. Denn die stammälterliche Felstaube lebt noch, und viele
Zwischenvarietäten zwischen ihr und der Botentaube sind er-
loschen, und Botentauben, welche in der Länge des Schnabels
das Äusserste bieten, sind früher entstanden, als die kurzschnä-
beligen Purzler, welche das entgegengesetzte Ende der auf die
Schnabel-Länge gegründeten Reihenfolge bilden.
Mit der Behauptung, dass die organischen Reste einer mitteln
Formation auch einen nahezu mitteln Charakter besitzen, steht
die Thatsache, worauf alle Paläontologen bestehen, in nahem
Zusammenhang, dass nämlich die fossilen aus zwei aufeinander-
folgenden Formationen viel näher als die aus entfernten mit
einander verwandt sind. Pıcrer führt als ein wohl -bekanntes
Beispiel die allgemeine Ähnlichkeit der organischen Reste aus
den verschiedenen Stöcken der Kreide-Formation an, obwohl die
Arten in allen Stöcken verschieden sind. Diese Thatsache allein
scheint ihrer Allgemeinheit wegen Professor PıcrEr in seinem
341
festen Glauben an die Unveränderlichkeit der Arten wankend
gemacht zu haben. Wohl bekannt mit der Vertheilungs - Weise
der jetzt lebenden Arten über die Erd-Oberfläche, wagt er doch
nicht eine Erklärung über die grosse Ähnlichkeit verschiedener
Spezies in nahe aufeinander-folgenden Formationen aus der An-
nahme 'herzuleiten, dass die physikalischen Bedingungen der alten
Länder-Gebiete sich fast gleich geblieben seyen. Erinnern wir
uns, dass die Lebenformen wenigstens des Meeres auf der ganzen
Erde und mithin unter den aller-verschiedensten Klimaten u. a.
Bedingungen fast gleichzeitig gewechselt haben; — und bedenken
wir, welchen unbedeutenden Einfluss die wunderbarsten klimati-
schen Veränderungen während der die ganze Eis-Zeit umschlies-
senden Pleistocän - Periode auf die spezifischen Formen der
Meeres-Bewohner, ausgeübt haben!
Nach der Theorie der gemeinsamen Abstammung ist die
volle Bedeuiung der Thatsache klar, dass fossile Reste aus un-
mittelbar aufeinander-folgenden Formationen, wenn auch als Arten
verschieden, nahe mit einander verwandt sind. Da die Ablage-
rung jeder Formation oft unterbrochen worden ist und lange
Pausen zwischen der Absetzung verschiedener Formationen stalt-
gefunden haben, so dürfen wir, wie ich im letzten Kapitel zu
zeigen versucht, nicht erwarten in irgend einer oder zwei For-
mationen alle Zwischenvarietäten zwischen den Arten zu finden,
welche am Anfang und am Ende dieser Formationen gelebt haben;
wohl aber müssten wir nach mehr oder weniger grossen Zwi-
schenräumen (sehr lang, in Jahren ausgedrückt, aber mässig lang
in geologischem Sinne) nahe verwandte Formen oder, wie manche
Schriftsteller sie genannt haben, »stellvertretende Arten« finden,
und diese finden wir in der That. Kurz wir entdecken diejenigen
Beweise einer langsamen und fast unmerkbaren Umänderung
spezifischer Formen, wie wir sie zu erwarten berechtigt sind.
Über die Entwickelungs-Stufe alter gegenüber
den noch lebenden Formen.) Wir haben im vierten
Kapitel gesehen, dass der Grad der Differenzirung und Speziali-
sirung der Theile aller organischen Wesen in ihrem reifen Alter
den besten bis jetzt versuchten Maasstab zur Bemessung der
342
Vollkommenheits- oder Höhen-Stufe derselben abgibt. Wir haben
auch gesehen, dass, insoferne Spezialisirung der Theile und Or-
gane ein Vortheil für jedes Wesen ist, die Natürliche Züchtung
beständig streben wird, die Organisation eines jeden Wesens
immer mehr zu spezialisiren und. somit, in diesem Sinne
genommen, vollkommener zu machen; was jedoch nicht aus-
schliesst, dass noch immer viele Geschöpfe, für einfachre
Lebens-Bedingungen bestimmt, auch ihre Organisation einfach
und unverbessert behalten. Auch in einem anderen und allge-
meineren Sinne ergibt sich, dass nach der Theorie der Natür-
lichen Züchtung die neueren Formen höher als ihre Vorfahren
streben; denn jede neue Art hat sich allmählich entwickelt, weil
sie im Kampfe ums Daseyn stets einen Vorzug vor andern und
älteren Formen besass. Wenn in einem nahezu ähnlichen Klima
die eocänen Bewohner einer Weltgegend zur Bewerbung mit
den jetzigen Bewohnern derselben oder einer andern Weltgegend
berufen würden, so müsste die eocäne Fauna oder Flora gewiss
unterliegen und vertilgt werden, wie eine sekundäre Fauna von
der eocänen und eine paläolithische von der sekundären über-
wunden werden würde. — Der Theorie der Natürlichen Züch-
tung gemäss müssten demnach die neuen Formen ihre höhere
Stellung den alten gegenüber nicht nur durch :ihren Sieg im
Kampfe ııms Daseyn, sondern auch durch eine weiter gediehene
Spezialisirung der Organe bewähren. Ist Diess aber wirklich
der Fall? Eine grosse Mehrzahl der Geologen würde Diess
zweifelsohne bejahen. Aber mein unvollkommenes Urtheil ver-
mag ihnen, nachdem ich die Erörterungen von Lyeır in dieser
Beziehung gelesen und Hooker’s Meinung in Bezug auf die
Pflanzen kennen gelernt habe, nur bis zu einem beschränkten
Grade beizupflichten. Demungeachtet dürfte der entscheidende
Beweis erst noch durch spätre geologische Forschungen zu lie-
fern seyn. |
Die Aufgabe ist in vieler Hinsicht ausserordentlich verwickelt.
Der geologische Schöpfungs-Bericht, schon zw allen Zeiten un-
vollständig, reicht nach meiner Meinung nicht weit genug zu-
rück, um mit unverkennbarer Klarheit zu zeigen, dass innerhalb
343
der bekannten Geschichte der Erde die Organisation grosse
Fortschritte gemacht hat. Sind doch selbst heutzutage noch die
Naturforscher oft nicht einstimmig, welche Thiere einer Klasse
die höheren sind. So: sehen Einige die Haie wegen einiger
wichtigen Beziehungen ihrer Organisation, ZU der der Reptilien
als die höchsten Fische ‚an, während andre die Knochen-
fische als solche betrachten. Die Ganoiden stehen in der Mitte
zwischen den Haien und Knochenfischen. Heutzutage sind diese
letzten an Zahl weit vorwaltend, während es vordem nur Haie
und Ganoiden gegeben hat; und in diesem Falle wird man sagen,
die Fische seyen in ihrer Organisation vorwärts geschritten oder
zurückgegangen, je nachdem man sie mit einem andern Maass-
stabe misst. Aber es ist ein hoffnungsloser Versuch die Höhe
von Gliedern ganz verschiedner Typen gegen einander abzumessen.
Wer vermöchte zu sagen, ob ein Tintenfisch (Sepia) höher als die
Biene stehe: als ‚dieses Insekt, von dem der grosse Naturforscher
v. Baer sagt, dass es in der That höher als ein Fisch organisirt
‚seye, wenn auch nach einem andern Typus. In dem verwickelten
Kampfe ums, Daseyn ist es ganz glaublich, dass solche Kruster
z. B., welche in ihrer eignen Klasse nicht sehr hoch stehen, die
Cephalopoden oder vollkommensten Weichthiere überwinden wür-
den; und diese Krusier, obwohl nicht hoch entwickelt, müssen
doch sehr hoch auf der Stufenleiter der Wirbel-losen Thiere
stehen, wenn man nach dem entscheidendsten aller Kriterien,
‚dem Gesetze des Wettkampfes ums Daseyn urtheilt.
Abgesehen von der Schwierigkeit, die es an und für sich
hat zu entscheiden, welche Formen der Organisation nach die
höchsten sind, haben wir nicht allein die höchsten Glieder einer
Klasse in zwei verschiedenen Perioden (obwohl Diess gewiss
“eines der wichtigsten oder vielleicht das wichtigste Element bei
der Abwägung ist), sondern wir haben alle Glieder, hoch und
nieder, mit einander zu vergleichen. In alter Zeit wimmelte es
von vollkommensten sowohl als unvollkommensten Weich-
thieren, von Cephalopoden und Brachiopoden nämlich; während
heutzutage diese beiden “Ordnungen sehr zurückgegangen und
die zwischen ihnen in der Mitte stehenden Klassen mächlig an-
344
gewachsen sind. Demgemäss haben einige Naturforscher ge-
schlossen, dass die Mollusken vordem höher entwickelt gewesen
sind als jetzt; während andre sich auf die gegenwärtige be-
trächtliche Verminderung der unvollkommensten Mollusken um so
mehr beriefen, als auch die noch vorhandenen Cephalopoden,
obgleich weniger an Zahl, doch höher als ihre alten Stellvertreter
organisirt seyen. Wir müssen daher die Proportional-Zahlen der
obren und der unteren Klassen der Bevölkerung der Erde in
zwei verschiedenen Perioden mit einander vergleichen. Wenn
es z. B. jetzt 50000 Arten Wirbelthiere gäbe und wir dürften
deren Anzahl in irgend einer früheren Periode nur auf 10000
schätzen, so müssten wir diese Zunahme der obersten Klassen,
welche zugleich eine grosse Verdrängung tieferer Formen aus
ihrer Stelle bedingte, als einen entschiedenen Fortschritt in der
organischen Bildung betrachten, gleichviel ob es die höheren
oder die tieferen Wirbelthiere wären, welche dabei sehr zuge-
nommen hätten“. Man ersieht hieraus, wie gering allem An-
scheine nach die Hoffnung ist. unter so äusserst verwickelten
Beziehungen jemals in vollkommen richtiger Weise die relative
Organisations-Stufe unvollkommen bekannter Faunen nach-einan-
der folgender Perioden in der Erd-Geschichte zu beurtheilen.
Von einem andern wichtigen Gesichtspunkte aus werden
wir diese Schwierigkeit um so richtiger würdigen, wenn wir
gewisse jetzt vorhandene Faunen und Floren ins Auge fassen.
Nach der ganz aussergewöhnlichen Art zu schliessen, wie sich |
in neuerer Zeit aus Europa eingeführte Erzeugnisse über Neu-
seeland verbreitet und Plätze eingenommen haben, welche doch
schon vorher besetzt gewesen, würde sich wohl, wenn man
alle Pflanzen und Thiere Grossbritaniens ‚dort frei aussetzte, eine
Menge Britischer Formen mit der Zeit vollständig daselbst natura- _
lisiren und viele der eingebornen vertilgen. Dagegen dürfte
Das, was wir jetzt in Neuseeland sich zutragen sehen, und
die Thatsache, dass noch kaum ein Bewohner der südlichen
thiere gegeben hätte, und gäbe jetzt deren nur 5000 mit 1000 Säugthier-
Arten; diess organische Leben wäre dennoch höher gestiegen! D. Übs.
345
Hemisphäre in irgend einem Theile Europa's verwildert ist, uns
zu zweifeln veranlassen, ob, wenn alle Natur-Erzeugnisse Neu-
seelands in Grossbritannien frei ausgesetzt würden, eine etwas
grössre Anzahl derselben vermögend wäre, sich jetzt von einge-
borenen Pflanzen und Thieren schon besetzte Stellen zu erobern.
Von diesem Gesichtspunkte aus kann man sagen, dass die Pro-
dukte Grossbritanniens höher als die Neuseeländischen stehen.
Und doch hätte der tüchtigste Naturforscher nach der sorglältig-
sten Untersuchung der Arten beider Gegenden dieses Resultat
nicht voraussehen können. |
Acassız hebt hervor, dass die alten Thiere in gewissen
Beziehungen den Embryonen neuer Thiere derselben Klasse
gleichen, oder dass die geologische Aufeinanderfolge erloschener
Formen gewissermaassen der embryonischen Entwickelung neuer
Formen parallel läuft. Ich muss jedoch Pıcrers und Huxıey’s
Meinung beipflichten, dass diese Lehre von Ferne nicht erwiesen
ist. Doch bin ich ganz der Erwartung, sie sich später wenigstens
hinsichtlich solcher untergeordneter Gruppen bestätigen zu sehen,
die sich erst in neuerer Zeit von einander abgezweigt haben.
Denn diese Lehre von Asassız stimmt wohl mit der Theorie der
Natürlichen Züchtung überein. In einem spätern Kapitel werde
ich zu zeigen versuchen, dass die Alten von ihren Embryonen
in Folge von Abänderungen abweichen, welche nicht in der
frühesten Jugend erfolgen und auch‘ erst auf ein entsprechendes
späteres Alter vererbt werden. Während dieser Prozess den
Embryo fast unverändert lässt, häuft er im Laufe aufeinander-
folgender Generationen immer mehr Verschiedenheit im Alten
zusammen.
So erscheint der Embryo gleichsam wie ein von der Natur
aufbewahrtes Portrait des frühern und noch nicht sehr modifizirten
Zustandes eines jeden Thieres. Diese Ansicht mag wahr seyn,
ist jedoch nie eines vollkommenen Beweises fähig. Denn fänden
wir auch, dass z. B. die ältesten bekannten Formen der Säug-
thiere, der Reptilien und der Fische zwar genau diesen Klassen
entsprächen, aber doch einander etwas näher stünden als die
jetzigen typischen Vertreter dieser Klassen, so würden wir uns
346
doch so lange vergebens nach. Thieren umsehen, welche noch
den gemeinsamen Embryo-Charakter der Vertebraten an sich
trügen, als wir nicht Fossilien-führende Schichten noch tief unter
den silurischen entdeckten, wozu in der That sehr wenig Aus-
sicht vorhanden ist.
Aufeinanderfolge derselben Typeninnerhalhb
gleicher Gebiete während der späteren Tertiär-
Perioden.) Curr hat vor vielen Jahren gezeigt, dass die
fossilen Säugthiere aus den Knochen-Höhlen Neuhollands sehr
nahe mit den noch jetzt dort lebenden Beutelthieren verwandt
gewesen sind. In Süd-Amerika hat sich eine ähnliche Beziehung
selbst für das ungeübte Auge ergeben in den Armadill-ähnlichen
Panzer-Stücken von riesiger Grösse, welche in verschiedenen
Theilen von la Plata gefunden worden sind; und Professor Owen
hat aufs Triftigste bewiesen, dass die meisten der dort so zahl-
reich fossil gefundenen Thiere Südamerikanischen Typen ange-
hören. Diese Beziehung ist noch deutlicher in den wundervollen
Sammlungen fossiler Knochen zu erkennen, welche Lunp und
Cıavusen aus den Brasilischen Höhlen mitgebracht haben. Diese
Thatsachen machten einen solchen Eindruck auf mich, dass ich
in den Jahren 1839 und 1845 dieses »Gesetz der Succession
gleicher Typen«, diese »wunderbare Beziehung zwischen dem
Todten und Lebenden in einerlei Kontinent« sehr Nachdrücklich
hervorhob. Professor Owen hat später dieselbe Verallgemeinerung
auch auf die Säugthiere der alien Welt ausgedehnt. Wir finden
dasselbe Gesetz wieder in den von ihm restaurirten Riesenvögeln
Neuseelands. Wir sehen es auch in den Vögeln der Brasilischen
Höhlen. Woopwarn hat gezeigt, dass dasselbe Gesetz auch auf
die See-Konchylien anwendbar ist, obwohl er es der weiten
Verbreitung der meisten Mollusken-Sippen wegen nicht gut eni-
wickelt hat. Es liessen sich noch andre Beispiele anführen, wie
die Beziehungen zwischen den erloschenen und lebenden Land-
Schnecken auf Madeira und zwischen den alten und jetzigen
Brackwasser-Konchylien des Aral-Kaspischen Meeres. |
Doch, was bedeutet dieses merkwürdige Gesetz der Aul-
einanderfolge gleicher Typen in gleichen Länder - Gebieten?
347
Vergleicht man das jetzige Klima Neuhollands und der unter
gleicher Breite damit gelegenen "Theile Süd- Amerika’s mit einan-
der, so würde es als ein thörichtes Unternehmen erscheinen,
einerseits aus der Unähnlichkeit der natürlichen Bedingungen die
Unähnlichkeit der Bewohner dieser zwei Kontinente und ander-
seits aus der Ähnlichkeit der Verhältnisse das Gleichbleiben der
Typen in jedem derselben während der späteren Tertiär-Perioden
erklären zu wollen. Auch lässt sich nicht behaupten, dass einem
unveränderlichen Gesetze zufolge Beutelthiere hauptsächlich oder
allein nur in Neuholland, oder ‘Edentaten u. a. der jetzigen
Amerikanischen Typen nur in Amerika hervorgebracht werten
können. Denn es ist bekannt, dass Europa in alten Zeiten von
zahlreichen Beutelthieren bevölkert war, und ich habe in .den
oben angeführten Schriften gezeigt, dass in Amerika das Ver-
breitungs- Gesetz für die Land-Säugthiere früher ein andres ge-
wesen, als es jetzt ist. Nord-Amerika betheiligte sich früher
sehr an dem jetzigen Charakter der südlichen Hälfte des Kon-
tinentes, und die südliche Hälfte war früher mehr als jetzt mit
der nördlichen verwandt. Durch Farcoxner und Caurıeys Ent-
deckungen wissen wir, dass Nord-Indien hinsichtlich seiner
Säugthiere früher in näherer Beziehung als jetzt mit Afrika stund.
Analoge Thatsachen liessen sich auch von der Verbreitnng der
See-Thiere mittheilen.
Nach der Theorie gemeinsamer Abstammung mit fortschrei-
tender Abänderung erklärt sich das grosse Gesetz langwährender
aber nicht unveränderlicher Aufeinanderfolge gleicher Typen auf
einem und demselben Felde unmittelbar. Denn die Bewohner
eines jeden Theiles der Welt werden offenbar streben in diesem
Theile während der nächsten Zeit-Periode nahe verwandte, doch
etwas abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen. Sind die Bewoh-
ner eines Kontinents früher von denen eines andern Festlandes sehr
verschieden gewesen, so werden ihre abgeänderten Nachkommen
auch jetzt noch.in fast gleicher Art und Stufe von einander ab-
weichen. Aber nach sehr langen Zeiträumen und sehr grosse
Wechselwanderungen gestattenden geographischen Veränderungen
werden die schwächeren den herrschenden Formen weichen, und
348
so ist nichts unveränderlich in Verbreitungs - Gesetzen früherer
und jetziger Zeit. u
Vielleicht fragt man mich im Spott, ob ich glaube, dass das
Megatherium und die andern ihm verwandten Ungethüme in Süd.
Amerika das Faulthier, das Armadil und die Ameisenfresser als
abgeänderte Nachkommen hinterlassen haben. Diess kann man
keinen Augenblick zugeben. Jene grossen Thiere sind völlig
erloschen, ohne eine Nachkommenschaft zu hinterlassen. Aber
in den Höhlen Brasiliens sind viele ausgestorbene Arten, in
Grösse u. a. Merkmalen nahe verwandt mit den noch’ jetzt in
Süd-Amerika lebenden Spezies, und einige der fossilen mögen
wirklich die Erzeuger noch jetzt dort lebender Arten seyn. Man
darf nicht vergessen, dass nach meiner Theorie alle Arten einer
Sippe von einer und der nämlichen Spezies abstammen, so dass,
wenn von sechs Sippen jede acht Arten in einerlei geologischer
Formation enthält und in der nächst-folgenden Formation wieder
sechs andre verwandte oder stellvertretende Sippen mit gleicher
Arten-Zahl vorkommen, wir dann schliessen dürfen, dass nur
eine Art von jeder der sechs älteren Sippen' modifizirte Nach-
kommen hinterlassen habe, welche die sechs neueren Sippen
bildeten. Die andren sieben Arten der alten Genera sind alle
ausgestorben, ohne Erben zu hinterlassen. Doch möchte es wohl
weit öfter vorkommen, dass zwei oder drei Arten von nur zwei
oder drei der alten Sippen die Ältern der sechs neuen Genera
gewesen und die andern alten Arten und sämmtliche übrigen
alten Sippen gänzlich erloschen sind. In untergehenden Ord-
nungen mit abnehmender Sippen- und Arten-Zahl, wie es offen-
bar die Edentaten Süd-Amerika’s sind, werden weniger Genera und
Spezies abgeänderte Nachkommen in gerader Linie hinterlassen.
Zusammenstellung des vorigen und jetzigen
Kapitels.) Ich habe zu zeigen gesucht, dass die geologische
Schöpfungs-Urkunde äusserst unvollkommen ist; dass erst nur
ein kleiner Theil der Erd-Oberfläche sorgfältig untersucht worden
ist; dass nur gewisse Klassen organischer Wesen zahlreich in
fossilem Zustande erhalten sind; dass die Anzahl der in unsren
Museen aufbewahrten Individuen und Arten gar nichts bedeutet
349
im Vergleiche mit der unberechenbaren Zahl von Generationen,
die nur während einer Formations-Zeit aufeinander-gefolgt seyn
müssen; dass ungeheure Zeiträume zwischen je zwei aufeinander-
folgenden Generationen verflossen seyn müssen, weil Fossilien-
führende Formationen hinreichend mächtig, um künftiger Zerstö-
rung zu widerstehen, sich nur während Senkungs-Perioden ab-
lagern können; dass mithin wahrscheinlich während der Sen-
kungs-Zeiten mehr Aussterben und während der Hebungs-Zeiten
mehr Abändern organischer Formen stattgefunden hat; dass
der Schöpfungs-Bericht aus diesen letzten Perioden am unvoll-
kommensten erhalten ist; dass jede einzelne Formation nicht in
ununterbrochnem Zusammenhang abgelagert worden; dass die
Dauer jeder Formation vielleicht kurz ist im Vergleiche zur mit-
teln Dauer der Arten-Formen ; dass Einwanderungen einen grossen
Antheil am ersten Auftreten neuer Formen in der Formation einer
Gegend gehabt haben; dass die am weitesten verbreiteten Arten
auch am meisten varürt und am öftesten Veranlassung zur Ent-
stehung Muer Arten gegeben haben; und dass Varietäten an-
fangs oft nur örtlich gewesen sind. Alle diese Ursachen zusammen-
genommen müssen die geologische Urkunde äusserst unvollständig
machen und können es grossentheils erklären, warum wir keine
endlosen Varietäten-Reihen die erloschenen und lebenden Formen
in den feinsten Abstufungen miteinander verketten sehen.
Wer diese Ansichten von der Beschatfenheit des geologi-
schen Berichtes verwerfen will, muss auch meine ganze Theorie
verwerfen. Denn vergebens wird er dann fragen, wo die zahl-
losen Übergangs-Glieder geblieben, welche die nächst verwandten
oder stellvertretenden Arten einst mit einander verketiet haben
müssen, die man in den verschiedenen Stöcken einer grossen
Formation übereinander findet Er wird nicht an die unermess-
lichen Zwischenzeiten glauben, welche zwischen unseren aufein-
ander-folgenden Formationen verflossen sind; er wird übersehen,
welchen wesentlichen Antheil die Wanderungen seit dem ersten
Erscheinen der Organismen in den Formationen einer groS-
sen Weltgegend wie Europa für sich allein betrachtet gehabt
haben; er wird sich auf das anscheinend, aber oft nur an-
350
scheinend, plötzliche Auftreten ganzer Arten- Gruppen berufen.
Wenn er a sollte, wo denn die Reste jener unendlich zahl-
reichen Organismen geblieben, welche lange vor der Bildung der
ältesten Silur-Schichten abgelagert worden seyn müssen, so kann
ich nur hypothetisch darauf antworten, dass, so viel noch z
sehen, unsre Ozeane sich schon seit unermesslichen wen,
an ihren jetzigen Stellen befunden haben, und dass da, wo unsre
Kontinente jetzt stehen, sie sicher seit der Silur-Zeit gestanden
sind; dass aber die Erd-Oberfläche lange vor dieser Periode ein
ganz andres Aussehen gehabt haben dürfte, und dass die alten
Kontinente aus Formationen noch viel älter als die silurische be-
stehend sich bereits alle in metamorphischem Zustande befinden
oder tief unter den Ozean versenkt liegen.
Doch sehen wir von diesen Schwierigkeiten ab, so Bea
mir alle andern grossen und leitenden Thatsachen in der Paläon-
tologie einfach aus der Theorie der Abstammung von gemein-
samen Urältern mit fortschreitender Abänderung durch Natürliche
Züchtung zu folgen. Es erklärt sich daraus, warum tue Arten
‚nur langsam nach einander auftreten; warum Arten verschiede-
ner Klassen nicht nothwendig in gleichem Verhältnisse oder glei-
chem Grade miteinander wechseln, sondern alle nur im Verlauf
langer Perioden Veränderungen unterliegen. Das Erlöschen alter
Formen ist die unvermeidlichste Folge vom Entstehen neuer.
Es erklärt sich warum eine Spezies, wenn einmal verschwunden,
nie wieder erscheint. Arten-Gruppen (Sippen u. s. w.) wachsen
nur langsam an Zahl und dauern ungleich lange Perioden aus;
denn der Prozess der Abänderung ist nothwendig ein langsamer
und von vielerlei verwickelten Zufällen abhängig, Die herrschen-
den Arten der grösseren herrschenden Gruppen streben viele
abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und so werden wie-
der neue Untergruppen und Gruppen gebildet. Im Verhältnisse
als diese entstehen, neigen sich die Arten minder kräftiger
Gruppen in Folge ihrer gemeinsam ererbten Unvollkommenheit
dem gemeinsamen Erlöschen zu, ohne irgendwo auf der Erd-
Oberfläche eine abgeänderte Nachkommenschaft zu hinterlassen.
Aber das gänzliche Erlöschen einer ganzen Arten-Gruppe mag
351
oft ein sehr langsamer Prozess seyn, wenn einzelne Arten in ge-
schützten oder abgeschlossenen Standorten kümmernd noch eine
Zeit lang fortleben können. Ist eine Gruppe einmal unterge-
gangen, so kann ‚sie nie wieder erscheinen, weil ein Glied aus
der Generationen-Reihe zerbrochen ist.
So ist es begreiflich, dass die Ausbreitung herrschender
Lebenformen, welche eben am öftesten variiren, mit der Länge
der Zeit die Erde mit nahe verwandten jedoch modifizirten For-
men bevölkern, denen es sodann gewöhnlich gelingt die Plätze
jener Arten-Gruppen einzunehmen, welche ihnen im Kampfe ums
Daseyn unterliegen. Daher wird es denn nach langen Zwischenzei-
ten aussehen, als hätten die Bewohner der Erd-Oberfläche überall
glefth-zeitig gewechselt. |
S® ist es ferner begreiflich, woher es kommt, dass die
alten und neuen Lebenformen ein.grosses System mit einander
bilden, da sie alle durch Zeugung* mit einander verbunden sind.
Es ist aus der fortgesetzien Neigung zur Divergenz des Charak-
ters begreiflich, warum die fossilen Formen um so mehr von den
jetzt lebenden abweichen, je älter sie sind; warum alte und er-
loschene Formen olt md zwischen lebenden auszufüllen ge-
eignet sind und zuweileı ei Gruppen mit einander vereinigen,
welche zuvor getrennt aufgestellt worden, obwohl sie solche in
der Regel nur etwas näher einander rücken. Je älter eine Form
ist, um so öfter scheint sie Charaktere zu entwickeln, welche
zwischen jetzt getrennten Gruppen mehr und weniger das Mittel
halten; denn je „älter feine Form ist, desto naher verwandt und
mithin ähnlj sie dem» gemeinsamen Stamm-Vater solcher
Gruppen N
»weit auseinander gegangen sind.
‘selten genau das Mittel zwischen le-
deren Mitte nur in Folge einer weit-
Erloschene
benden, sondem st
läufigen Verketti a viele erloschene und abweichende
Formen. Wir ersel eutlich , warum die organischen Reste
dicht aufeinander-folgend ee einander ähnlicher als
die weit von einander entferhter seyn müssen; denn jene For-
men stehen in’ näherer Bluts Verwandtschalt als diese mit ein-
ander. Wir vermögen endlich einzusehen, warum die organi-
352
schen Reste mittler Formationen auch das Mittel in ihren Cha-
rakteren halten.
Die Erd-Bewohner einer jeden späteren Periode haben die
[rüheren im Kampfe um’s Daseyn besiegt und müssen insoferne
auf einer höheren Vollkommenheits -Stufe als diese stehen, und
es mag sich aus dem unbestimmten und missdeuteten Gefühl
davon erklären, dass viele Paläontologen an einen Fortschritt der
Organisation im Ganzen glauben. Sollte sich Später ergeben,
dass alte Thier-Formen in gewissem Grade den Embryonen
neuer aus der nämlichen Klasse gleichen, so würde auch Diess
zu begreifen seyn. Die Aufeinanderfolge gleicher Organisations-
Typen auf gleichem Gebiete während der letzten geologischen
Perioden hört auf geheimnissvoll zu seyn und ist eine ginfche
Folge der Vererbung. |
Wenn daher die geologische Schöpfungs-Urkunde so unvoll-
ständig ist, als ich es glaube (und es lässt sich wenigstens
behaupten, dass das Gegentheil nicht erweisbar), so werden sich
die Haupteinwände gegen die Theorie der Natürlichen Züchtung
in hohem Grade vermindern oder gänzlich verschwinden. Dage-
gen scheinen mir die Haupt-Gesetz r Paläontologie deutlich
zu beweisen, dass die Arten durch *gewöhnliche Zeugung ent-
standen sind. Frühere Lebenformen sind durch die noch fort-
während um uns her thätigen Variations - Gesetze entstandene
_ und-durch Natürliche Züchtung erhaltene vollkommenere Formen
ersetzt worden.
353
Bilftes Kapitel.
Geographische Verbreitung.
/Die gegenwärtige Verbreitung der Organismen lässt sich nicht aus den na-
türlichen Lebens-Bedingungen erklären. — “Wichtigkeit der Verbrei-
tungs - Schranken. — Verwandtschaft der Erzeugnisse eines nämlichen
Kontinentes. — Schöpfungs-Mittelpunkte. — Ursachen der Verbreitung sind
Wechsel des Klimas, Schwankungen der Boden-Höhe und mitunter zu-
fällige. —© Die Zerstreuung während der Eis- Periode über die ganze
Erd-Oberfläche erstreckt.
/ Bei Betrachtung der Verbreitungs- Weise der organischen
Wesen über die Erd-Oberfläche besteht die erste wichtige That-
sache, welche uns in die Augen fällt, darin, dass weder die Ähn-
lichkeit noch die Unähnlichkeit der Bewohner verschiedener
Gegenden aus klimatischen u. a. physikalischen Bedingungen
erklärbar ist. Alle, welche diesen Gegenstand studirt haben, sind
endlich zu dem nämlichen Ergebniss gelangt. Das Beispiel Ame-
rikas würde schon allein genügen, Diess zu beweissen. Denn
alle Autoren stimmen darin überein, dass, mit Ausschluss des
nördlichen um den Pol her ziemlich zusammenhängenden Thei-
les, die Trennung der alten von der neuen Welt eine der
ersten Grundlagen der geographischen Vertheilung der Orga-
nismen bilde. Wenn wir aber den weiten Amerikanischen Kon-
tinent von den mitteln Theilen der Vereinten Staaten an bis zu
seinem südlichsten Punkte durchwandern, so begegnen wir den
aller-verschiedenartigsten Lebens-Bedingungen, den feuchtesten
Strichen und den trockensten Wüsten, hohen Gebirgen und gra-
sigen Ebenen, Wäldern und Marschen, Seen und Strömen mit
fast jeder Temperatur. Es gibt kaum ein Klima oder eine Be-
dingung in der alten Welt, wozu sich nicht eine Parallele in
der neuen fände, so ähnlich wenigstens, als Diess zum Fort-
kommen der nämlichen Arten erforderlich wäre; denn es ist ein
äusserst seltener Fall, irgend eine Organismen-Gruppe auf einen
kleinen Fleck mit etwas eigenthümlichen Lebens-Bedingungen
beschränkt zu finden. So z. B, gibt es in der alten Welt
wohl einige kleine Stellen, heisser als irgend welche in der
neuen, und doch haben diese keine eigenthümliche Fauna oder
23
34
Flora. Aber ungeachtet dieses Parallelismus in den Lebens-Be-
dingungen der alten und der neuen Welt, wie weit sind ihre
lebenden Bewohner verschieden!
Wenn wir in der südlichen Halbkugel grosse Landstriche
in Australien, Süd-Afrika und West-Südamerika zwischen
25°--35° S. Br. mit einander vergleichen, so werden wir manche
in allen ihren natürlichen Verhältnissen einander äusserst ähn-
liche Theile finden, und doch würde es nicht möglich seyn, drei
einander unähnlichere Faunen und Floren ausfindig zu machen.
Oder wenn wir die Natur-Produkte Süd-Amerikas im Süden vom
350 Br. und im Norden vom 25° Br. mit einander vergleichen,
die mithin ein sehr verschiedenes Klima bewohnen, so zeigen
sich dieselben einander weit näher verwandt, als die in Ausira-
lien und Afrika in fast einerlei Klima lebenden sind. Und ana-
loge Thatsachen lassen sich auch in Bezug auf die Meeres-
Thiere nachweisen.
2 Als zweite allgemeine Thatsache fällt uns aul, dass Schran-
ken verschiedener Art oder Hindernisse freier Wanderung mit
den Verschiedenheiten zwischen ‘Bevölkerungen verschiedener
Gegenden in engem und wesentlichem Zusammenhange stehen.
So die grosse Verschiedenheit fast aller Land-Bewohner der
alten und der neuen Welt mit Ausnahme der nördlichen Theile,
wo sich beide nahezu berühren und vordem bei einem nur We-
nig abweichenden Klima die Wanderungen der Bewohner der
nördlich-gemässigten Zone in ähnlicher Weise möglich gewesen
seyn dürften, wie sie noch jetzt von Seiten der arktischen Be-
völkerung stattfinden. Wir erkennen dieselbe Thatsache in der
{ grossen Verschiedenheit zwischen den Bewohnern von Australien,
Afrika und Süd-Amerika wieder; denn diese Gegenden sind fast
so vollständig von einander geschieden, als es nur immer mög-
lich ist. Auch auf jedem Festlande sehen wir die nämliche Er-
scheinung; denn auf den entgegengesetzten Seiten hoher und
zusammenhängender Gebirgs-Ketten, grosser Wüsten und mitunter
sogar nur grosser Ströme finden wir verschiedene Erzeugnisse.
Da jedoch Gebirgs-Ketten, Wüsten u. S. W. nicht ganz unüber-
schreitbar sind oder noch nicht so lange als die zwischen deu
355
Festländern gelegenen Weltmeere bestehen, so sind diese Ver-
schiedenheiten dem Grade nach viel kleiner als die in verschie-
denen Kontinenten.
Wenden wir uns nach dem Meere, so finden wir das nämliche
Gesetz. Keine andern zwei Meeres-Faunen sind so verschieden von
einander als die an den östlichen und den westlichen Küsten Säd-
und Mittel- Amerikas. Da ist fast kein Fisch, keine Schnecke, kein
Krabbe gemeinsam. Und doch sind diese grossen Faunen nur
durch die schmale Landenge von Panama von einander getrennt.
Westwärts von den Amerikanischen Gestaden erstreckt sich ein
weiter und offener Ozean mit nicht einer Insel zum Ruheplatz
für Auswanderer ; hier haben wir eine Schranke andrer Art, und
sobald diese überschritten ist, treffen wir auf den östlichen In-
seln des stillen Meeres auf eine neue und ganz verschiedene
Fauna. Es erstrecken sich also drei Meeres-Faunen nicht weit
von einander in parallelen Linien weit nach Norden und Süden in
sich entsprechenden Klimaten. Da sie aber durch unübersteigliche
Schranken von Land oder offenem Meer von einander getrennt
sind, so bleiben sie völlig von einander verschieden. Gehen wir
aber von den östlichen Inseln im tropischen Theile des stillen
Meeres noch weiter nach Westen, so finden wir keine unüber-
schreitbaren Schranken mehr; unzählige Inseln oder zusammen-
hängende Küsten bieten sich als Ruheplätze dar, bis wir nach
Umwanderung einer Hemisphäre zu den Küsten Afrikas gelangen;
aber in diese weiten Flächen theilen sich keine wohl-charakteri-
sirten verschiedenen Meeres-Fauien mehr. Obwohl kaum eine
Schnecke, ein Krabbe oder ein Fisch jenen drei Faunen an der
Ost- und der West-Küste Amerikas und im östlichen Theile des
stillen Ozeans gemeinsam ist, so reichen doch viele Fisch-Arten
vom stillen bis zum Indischen Ozean und sind viele Weichthiere
den östlichen Inseln der Südsee. und den östlichen Küsten
Afrikas unter sich fast genau entgegenstehenden Meridianen
gemein.
3 Eine dritte grosse Thatsache, schon zum Theil in den vori-
gen mitbegriffen, ist die Verwandtschaft zwischen den Erzeug-
nissen eines nämlichen Festlandes oder Weltmeeres, obwohl die
92%
IB)
356
Arten verschiedener Theile und Standorte desselben verschieden
sind. Es ist Diess ein Gesetz von der grössten Allgemeinheit,
und jeder Kontinent bietet unzählige Belege dafür. Demunge.
achtet fühlt sich der Naturforscher auf seinem Wege von Norden
nach Süden unfehlbar betroffen von. der Art und Weise wie
Gruppen von Organismen der Reihe nach einander ersetzen,
die in den Arten verschieden aber offenbar verwandt sind. Er
hört von nahe verwandten aber doch verschiedenen Vögeln ähn-
liche Gesänge, sieht ihre ähnlich gebauten Nester mit ähnlich
gefärbten Eiern. Die Ebenen der Magellans-Strasse sind von
einem Nandu (Rhea Americana) bewohnt, und im Norden der
Laplata-Ebene wohnt eine andre Art derselben Sippe, doch
kein ächter Strauss (Struthio) oder Emu (Dromaius), welche in
Afrika und beziehungsweise in Neuholland unter gleichen Brei-
ten vorkommen. In denselben Laplata-Ebenen finden wir das
„Aguti (Dasyprocta) und die Hasenmaus (Lagostomus), zwei Nage-
thiere von der Lebensweise unsrer Hasen und Kaninchen und
mit ihnen in gleiche Ordnung gehörig, aber einen rein Amerika-
nischen Organisations-Typus bildend. Steigen wir zu dem Hoch-
Gebirge der Cordilleren :hinan, so treffen wir die Berg-Hasen-
maus (Lagidium); sehen wir uns am Wasser um, so finden wir
zwei andre Südamerikanische” Typen, den Coypu (Myopotamus)
und Capybara (Hydrochoerus) statt des Bibers und der Bisam-
ratte. So liessen sich zahllose andre Beispiele anführen. Wie
sehr auch die Inseln an den Amerikanischen Küsten in ihrem
geologischen Bau abweichen mögen, ihre Bewohner sind wesent-
lich Amerikanisch, wenn auch von eigenthüinlichen Arten. Schauen
wir zurück nach nächst-früheren Zeit-Perioden, wie sie im leiz-
ten Kapitel erörtert worden, so finden wir auch da noch Ameri-
kanische Typen vorherrschend auf dem Amerikanischen Festlande
wie in Amerikanischen Meeren. Wir erkennen in diesen That-
sachen ein tief-liegendes organisches Band, in Zeit und Raum
vorherrschend über gegebene Land- und Wasser-Flächen, unab-
hängig von ihrer natürlichen Beschaffenheit. Der Naturforscher
ınüsste nicht sehr wissbegierig seyn, der sich nicht versucht
fühlte, näher nach diesem Bande zu forschen.
357
Diess Band besteht nach meiner Theorie lediglich in der
Vererbung, derjenigen Ursache, welche allein, soweit wir Siche-
res wissen, gleiche oder ähnliche Organismen, wie die Varietäten
‚sind, ‘hervorbringt. Die Unähnlichkeit der Bewohner verschie-
dener Gegenden wird der Umgestaltung durch Natürliche Züch-
tung und, in einem ganz untergeordneten Grade, dem unmittel-
baren Einflusse äussrer Lebens-Bedingungen zuzuschreiben seyn.
Der Grad der Unähnlichkeit hängt davon ab, ob die Wanderung
der herrschenderen Lebenformen aus der einen Gegend in die
andre rascher oder langsamer in spätrer oder früherer Zeit vor
sich gegangen; er hängt von der Natur und Zahl der früheren
Einwanderer, von deren Wirkung und Rückwirkung im gegen-
seitigen Kampfe. ums Daseyn ab, indem, wie ich schon oft be-
merkt habe, die Beziehung von Organismus zu Organismus die
wichtigste aller Beziehungen ist. Bei den Wanderungen kommen
die oben erwähnten Schranken wesentlich in Betracht, wie die
Zeit bei dem langsamen Prozess der Natürlichen Züchtung. Weit-
verbreitete und an Individuen reiche Arten, welche schon über
viele Mitbewerber in ihrer eignen ausgedehnten Heimath gesiegt,
werden beim Vordringen in neuen Gegenden die beste Aussicht
haben neue Plätze zu gewinnen. Unter den neuen Lebens-Be-
dingungen ihrer späteren Heimath werden sie häufig neue Abände-
rungen und Verbesserungen erfahren; sie werden den andern
noch überlegener werden und Gruppen abändernder Nachkommen
erzeugen. Aus diesem Prinzip fortschreitender Vererbung mit
Abänderung ergibt sich, wie es zugeht, dass Untersippen, Sippen
und selbst ganze Familien, wie es so gewohnter und anerkann-
ter Maassen der Fall, auf gewisse Flächen beschränkt erscheinen.
Wie schon im letzten Kapitel bemerkt worden, so glaube
ich an kein Gesetz nothwendiger Vervollkommnung; so wie die
Veränderlichkeit der Arten. eine unabhängige Eigenschaft ist und
von der Natürlichen Züchtung nur so weit ausgebeutet wird, als
es den Individuen in ihrem vielseitigen Kampfe ums Daseyn.
zum Vortheile gereicht, so besteht auch für die Modifikation der
verschiedenen Spezies kein gleiches Maass. Wenn z. B. eine
Anzahl von Arten, die miteinander in unmittelbarer Mitbewerbung
358
stehen, in Masse nach einer neuen und‘ nachher- isolirten
Gegend auswandern, so werden sie wenig Modifikation erfahren,
indem weder die Wanderung noch die Isolirung an sich elwas
dabei thun. Jene Prinzipien kommen hauptsächlich ‘nur in Be-
tracht, wenn man Organismen in neue Beziehungen unter ein-
ander, weniger wenn man sie in Berührung mit neuen Lebens-
Bedingungen bringt. Wie wir im letzten Kapitel gesehen, dass
einige Formen ihren Charakter seit ungeheuer weit zurückgele-
genen geologischen Perioden fast unverändert behauptet haben,
so sind auch manche Arten über weite Räume gewandert, ohne
grosse Veränderungen zu erleiden.
Nach diesen Ansichten liegt es auf der Hand, dass verschie-
dene Arten einer Sippe, wenn sie auch die entferntesten Theile
der Welt bewohnen, doch ursprünglich aus gleicher Quelle ent-
sprungen, vom nämlichen Stammvater entstanden seyn müssen,
Was diese Arten betrifft, welche im Verlaufe ganzer geologischer
Perioden sich nur wenig verändert haben, so hat. es keine
Schwierigkeit anzunehmen, dass sie aus einerlei Gegend her-
gewandert sind; denn während der grossen geographischen
und klimatischen Veränderungen, welche seit alten Zeiten vor
sich. gegangen, sind Wanderungen auf jede Entfernung möglich
gewesen. In vielen andern Fällen aber, wo wir ‚Grund haben
zu glauben, dass die Arten einer Sippe erst in vergleichungs-
weise neuer Zeit entstanden sind, ist die Schwierigkeit weit
grösser. Ebenso ist es einleuchtend, dass Individuen einer Arl,
wenn sie jetzt auch weit auseinander und abgesondert gelegene
Gegenden bewohnen, von einer Stelle ausgegangen seyn müssen,
wo ihre Ältern zuerst erstanden sind; denn, so wie es im letzten
Abschnitte erläutert worden, ist es unglaublich, dass spezifisch gleiche
Individuen von verschiedenen Stamm-Arten abstammen können,
; So wären wir denn bei der neuerlich oft von Naturforschern
erörterten Frage angelangt, ob Arten je an einer oder an meh-
ren Stellen der Erd-Oberfläche erzeugt worden seyen. Zweifels-
ohne mag es da sehr viele Fälle geben, wo es äusserst schwer
zu begreifen ist, wie die gleiche Art von einem Punkte aus
nach den verschiedenen entfernten und abgesonderten Gegenden
359
gewandert seyn solle, wo sie nun gelunden wird. Demungeach-
tet drängt sich die Vorstellung, dass jede Art nur von einem
ursprünglichen Geburtsorte ausgegangen seyn müsse, durch ihre
Einfachheit dem Geiste auf. Und wer sie verwirft, verwirft die
vera causa, die gewöhnliche Zeugung mit nachfolgender Wande-
rung, um zu einem Wunder seine Zuflucht zu nehmen. Es wird
allgemein zugestanden, dass die von einer Art bewohnte Gegend
in der Regel zusammenhängend ist; und wenn eine Pflanzen-
oder Thier-Art zwei von einander so weit entfernte oder durch
solche Schranken getrennte Punkte bewohnt, dass sie nicht
leicht von einem zum andern gewandert seyn kann, so betrach-
tet man Diess als etwas Merkwürdiges und Ausnahmsweises.
Die Fähigkeit über Meer zu wandern. ist bei Land-Säugthieren
vielleicht mehr als bei irgend einem andern organischen Wesen
beschränkt; und wir finden damit übereinstimmend auch keinen
unerklärbaren Fall, wo dieselbe Säugthier-Art sehr entlernie
Punkte der Erde bewohnte. - Kein Geologe findet eine Schwierig-
keit darin anzunehmen, dass Grossbritannien ehedem mil dem
Europäischen Kontinente zusammengehangen sey und mithin die
nämlichen Säugetbiere besessen habe. Wenn aber dieselbe Art
an zwei entfernten Punkten der Welt erzeugt werden kann,
warum finden wir nicht eine einzige Europa und Australien
oder Süd-Amerika gemeinsam angehörige Säugethier-Art? Die
Lebens-Bedingungen sind nahezu ‚die nämlichen, so dass eine
Menge Europäischer Pflanzen und Thiere in Amerika und Austra-
lien naturalisirt worden sind, und sogar einige der ureinheimi-
schen Pflanzen-Arten sind genau dieselben an diesen zwei SO
entfernten Punkten der nördlichen und der südlichen Hemisphäre!
Die Antwort liegt, wie ich glaube, darin, dass Säaugtbiere nicht
fähig sind die Wanderung zu machen, während einige Pflanzen mit
ihren manchfaltigen Verbreitungs-Mitteln diesen weiten und unter-
brochnen Zwischenraum zu überschreiten vermochten. Der mächtige
Einfluss, welchen geographische Schranken aller Art auf die Ver-
breitungs-Weise geübt, wird nur unter der Voraussetzung begreif-
lich, dass weitaus der grösste Theil der Spezies nur auf einer
Seite derselben erzeugt worden ist und Mittel zur Wanderung
360
nach der andern Seite nicht besessen hat. Einige wenige
Familien, viele Unterfamilien, sehr viele Sippen und eine noch
grössre Anzahl von Untersippen sind nur auf je eine einzelne
Gegend beschränkt, und mehre Naturforscher haben die Bemer-
kung gemacht, dass die meisten natürlichen Sippen, diejenigen
nämlich, deren Arten alle am nächsten mit einander verwandt
sind, örtlich oder auf eine Gegend angewiesen zu seyn pflegen.
Was für eine wunderliche Anomalie würde es-nun seyn, wenn
eine Stufe tiefer unten in der Reihe die Individuen einer Art
sich geradezu entgegengesetzt verhielten und die Arten nicht
örtlich, sondern in zwei oder mehr ganz verschiedenen Gegen-
den erzeugt worden wären!
Daher scheint mir, wie so vielen andern Naturforschern,
die Ansicht die wahrscheinlichere zu seyn, dass jede Art nur in
einer einzigen Gegend entstanden, aber nachher von da aus so
weit gewandert seye, als Mittel und Subsistenz unter früheren
und gegenwärtigen Bedingungen gestatteten. Es kommen un-
zweifelhaft auch jetzt noch viele Fälle”vor, wo sich nicht erklären
lässt, auf welche Weise diese oder jene Art von einer Stelle zur
andern gelangt ist. Aber geographische und klimatische Verände-
rungen, welche sich in den neuen geologischen Zeiten zuverlässig
ereignet, müssen den früher bestandnen Zusammenhang der Ver-
breitungs-Flächen vieler Arten unterbrochen haben. So gelangen
wir zur Erwägung, ob diese Ausnahmen von der Ununterbrochen-
heit der Verbreitungs-Bezirke so zahlreich und so gewich-
tiger Natur sind, dass wir. die durch die vorangehenden Betrach-
tungen wahrscheinlich gemachte Meinung, dass jede Art nur auf
einem Felde entstanden und von da so weit als möglich gewan-
dert seye, aufzugeben genöthigt werden? Es würde zum Verzwei-
feln langweilig seyn, alle Ausnahms-Fälle aufzuzählen und zu er-
örtern, wo eine und dieselbe Art jetzt an verschiedenen weit
von einander entfernten Orten lebt; auch will ich keinen Augen-
blick behaupten, für viele dieser Fälle eine genügende Erklärung
wirklich geben zu können. Doch möchte ich nach einigen vorläufi-
gen Bemerkungen die wichtigsten Klassen solcher "Thatsachen
erörtern, wie insbesondere das Vorkommen von einerlei Art auf
361
den Spitzen weit von einander gelegener Bergketten, oder
im arktischen und antarktischen Kreise zugleich; dann, zweitens
(im folgenden. Kapitel) die weite Verbreitung der Süsswasser-
Bewohner, und drittens, das Vorkommen von einerlei Landthier-
Arten auf Festland und Inseln, welche durch Hunderte von Mei-
len offnen Meeres von einander getrennt sind. Wenn das Vor-
kommen von einer und der nämlichen Art an entfernten und
vereinzelten Fundstätten der Erd-Oberfläche sich in vielen Fällen
durch die Voraussetzung erklären lässt, dass diese Art von ihrer
Geburts-Stätte aus dahin gewandert seye, dann scheint mir in An-
betracht unsrer gänzlichen Unbekanntschaft mit den früheren geo-
graphischen und klimatischen Veränderungen so wie mit manchen
zufälligen Transport-Mitteln die Annalıme, dass Diess die allge-
meine Regel gewesen seye, bei Weitem die richtigste zu seyn.
Bei Erörterung dieses Gegenstandes werden wir Gelegen-
heit haben noch einen andern für uns gleich-wichtigen Punkt in
Betracht zu ziehen, ob nämlich die mancherlei verschiedenen
Arten einer Sippe, welche meiner Theorie zufolge einen gemein-
samen Stammvater hatten, von der Wohnstätte ihres Stammvaters
ausgegangen seyn {und unterwegs sich etwa noch weiter ange-
messen entwickelt haben) können. Kann gezeigt werden, dass
eine Gegend, deren meisten Bewohner enge verwandt oder aus
gleichen Sippen mit den Arten einer zweiten Gegend sind, in
früherer Zeit wahrscheinlich einmal Einwanderer aus dieser letz-
ten erhalten hat, so wird Diess zur Bestätigung meiner Theorie
beitragen; denn wir begreifen dann aus dem Modifikations-Prin-
zipe deutlich, warum die _ Bewohner der einen Gegend denen
der andern verwandt sind, da sie aus ihr stammen. Eine vul-
kanische Insel z. B., welche einige Hundert Meilen von einem Konti-
nente entfent emporstiege, würde wahrscheinlich im Laufe der Zeit
einige Kolonisten erhalten, deren Nachkommen, wenn auch etwas
abändernd, doch ihre Verwandtschaft mit den Bewohnern. des
Kontinents auf ihre Nachkommen vererben würden. Fälle dieser
Art sind gewöhnlich und, wie wir nachher ersehen werden,
nach der Theorie unabhängiger Schöpfung unerklärlich. Diese
Ansicht über die Verwandtschaft der Arten einer Gegend zu
362
denen einer andern ist (wenn wir nun das Wort Varietät statt
Art anwenden) nicht sehr von der durch Hrn. Warzace aufgestell-
ten verschieden, wonach »jede Art entstanden ist in Zeit und
„Raum zusammentreffend mit einer früher vorhandenen nahe
„verwandten Art«. Ich weiss nun aus seiner Korrespondenz,
dass er dieses »Zusammentreffen« der Generation mit Abänderung
zuschreibt und dafür eine lange geologische Zeit-Periode zugesteht,
Die vorangehenden Bemerkungen über ein- oder mehr-
fältige Schöpfungs-Mittelpunkte führen nicht unmittelbar zu einer
andern verwandten Frage, ob nämlich alle Individuen einer Art
von einem einzigen Paare oder einem Hermaphroditen abstammen,
oder ob, wie einige Autoren annehmen, von vielen gleichzeitig
entstandenen Individuen einer Art? Bei solehen Organismen,
welche sich niemals kreutzen (wenn dergleichen überhaupt exi-
stiren), muss nach meiner Theorie die Art von einer Reihen-
folge vervollkommneter Varietäten herrühren, die sich nie mit
andern Individuen oder Varietäten gekreutzt, sondern einlach ein-
ander ersetzt haben, so dass auf jeder der aufeinanderfolgenden
Umänderungs- oder Verbesserungs - Stufen alle Individuen von
einerlei Varietät auch von einerlei Stammvater herrühren müssen.
In der Mehrzalıl der Fälle jedoch und namentlich bei allen Orga-
nismen, welche sich zu jeder einzelnen Fortpflanzung paaren
oder sich oft mit andern kreutzen, glaube ich, dass während des
langsamen Modifikations-Prozesses die Individuen der Spezies bei
der Kreutzung sich nahezu gleichförmig erhalten haben, so
dass viele derselben sich gleichzeitig abänderten und der ganze
Betrag der Abänderung auf jeder Stufe nicht von der Abstam-
mung von einem gemeinsamen Stammvater herrührt. Um zu
erläutern, was ich meine, will ich anführen, dass unsre Eng-
lischen Rasse-Pferde nur wenig von den Pferden jeder andern
Züchtung abweichen, aber ihre Verschiedenheit und Vollkommenheit
nicht davon haben, dass sie von einem einzigen Paare abstammen,
sondern dieselbe der während vieler Generationen angewendeten
Sorgfalt bei Auswahl und Erziehung vieler Individuen verdanken.
Ehe ich auf nähere Erörterung über diejenigen drei Klassen
von Thatsachen eingehe, welche der 'Theorie von den »einzigen
363
Schöpfungs-Mittelpunkten« die meisten Schwierigkeiten darbieten,
muss ich den Verbreitungs-Mitteln noch einige Worte widmen.
'Verbreitungs-Mittel.) Sir Can. Lyeır u. a. Autoren
haben diesen Gegenstand sehr angemessen erörtert. Ich kann
hier nur einen kurzen Auszug von den wichtigsten Thatsachen
liefern. Klima-Wechsel mag auf Wanderung der Organismen
vom grössten Einflusse gewesen seyn. Eine Gegend mit ändern-
dem Klima kann eine Hochstrasse der Auswanderung gewesen
und jetzt ungangbar ‘seyn; ich muss daher diesen Gegenstand
zunächst mit einigem Detail behandeln. Höhen-Wechsel des
Landes kommt dabei wesentlich in Betracht. Eine schmale Land-
enge trennt jetzt zwei Meeres-Faunen ; taucht sie unter oder ist
sie früher untergetaucht, so werden beide Faunen zusammen-
fliessen oder vordem untergeflossen seyn. Wo dagegen sich jetzt
die See ausbreitet, da mag vormals trocknes Land Inseln oder
selbst Kontinente mit einander verbunden und so Landbewohner
in den Stand gesetzt haben von einer Seite zur andern zu wan-
dern. Kein Geologe bestreitet, dass grosse Veränderungen der
Boden-Höhen während der Periode der jetzt lebenden Organis-
men-Arten stattgefunden haben, und Epw. Forses behauptet, alle
Insein des Atlantischen Meeres müssten noch unlängst mit Afrika
oder Europa, wie gleicherweise Europa mit Amerika zusammen-
gehangen haben. Andre Schriftsteller haben hypothetisch der
‚ Reihe nach jeden Ozean überbrückt und fast jede Insel mit dem
nächsten Festlande verbunden. Und wenn sich die Argumente
von Fores bestätigen liessen, so müsste man gestehen, dass es
kaum irgend eine Insel gebe, welche nicht noch neuerlich mit
einem Kontinente zusammenhing. Diese Ansicht zerhaut den
gordischen Knoten der Verbreitung einer Art bis zu den ent-
legensten Punkten und beseitigt eine Menge von Schwierigkeiten.
Aber nach meiner besten Überzeugung sind wir nicht berechtigt,
so ungeheure Veränderungen innerhalb der Periode der noch
jetzt lebenden Arten anzunehmen. Es scheint mir, dass wir
genug Beweise von grossen Schwankungen des Bodens in uns-
rem Kontinente besitzen, doch nicht von Bewegungen so ausge-
dehnt und in solcher Richtung, dass sich mittelst derselben eine
364
Verbindung Europas mit Amerika und den dazwischen gelege-
nen Atlantischen Inseln noch in der jetzigen Erd-Periode ergäbe,
Dagegen gestehe ich gerne die vormalige Existenz mancher jetzt
im Meere begrabener Inseln zu, welche vielen Pflanzen- und
Thier-Arten bei ihren Wanderungen als Ruhepunkte dienen konn-
ten. In den Korallen-Meeren erkennt man, nach meiner Meinung,
solche versunkene Inseln noch jetzt mittelst der aufihnen stehenden
Korallen-Ringe oder Atolls. Wenn es einmal vollständig einge-
räumt seyn wird, wie es eines Tages vermuthlich noch geschehen
wird, dass jede Art nur eine Geburts-Stätte gehabt, und wenn
wir im Laufe der Zeit etwas Bestimmteres über die Verbreilungs-
Mittel erkennen, so werden wir im Stande seyn die frühere
Ausdehnung des Landes mit einiger Sicherheit zu berechnen.
Dagegen glaube ich nicht, dass es je zu beweisen seyn
wird, dass jetzt vollständig getrennte Kontinente noch in neue-
rer Zeit wirklich oder nahezu miteinander und mit den vielen
noch vorhandenen ozeanischen inseln zusammenhingen. Manche
Thatsachen in der Vertheilung, wie die grosse Verschiedenheit
der Meeres-Faunen an den entgegengesetzten Seiten fast jedes
grossen Kontinentes und ein gewisser Grad von Beziehungen
(wovon nachher die Rede seyn wird) zwischen der Verbreitung
der Säugthiere und der Tiefe des Meeres: diese und noch manche
andere scheinen mir sich der Annahme solcher ungeheuren geo-
graphischen Umwälzungen in der neuesten Periode zu wider-
setzen, wie sie durch die von E. Forses aufgestellten und von
vielen Nachfolgern angenommenen Ansichten nöthig werden. Die
Natur und Zahlen-Verhältnisse der Bewohner ozeanischer Inseln
scheinen mir gleicherweise die Annahme eines früheren Zu-
sammenhangs mit den Festländern zu widerstreben. Eben so
wenig ist ihre meist vulkanische Zusammensetzung der Annahme
günstig, dass sie blosse Trümmer versunkener Kontinente seyen;
denn wären es ursprüngliche Spitzen von Bergketten des Fest-
landes gewesen, 'so würden doch wenigstens einige derselben
gleich andern Gebirgs-Höhen aus Graniten, metamorphischen
Schiefern, alten organische Reste führenden Schichten u. dgl.
statt immer nur aus Kegeln vulkanischer Massen bestehen.
365
Ich habe nun noch einige Worte von den sogenannten »zu-
fälligen« Verbreitungs-Mitteln zu sprechen, die man besser »ge-
legenheitliche« nennen würde. Doch will ich mich hier auf die
Pflanzen beschränken. . In botanischen Werken findet man be-
merkt, dass diese oder jene Pflanze für weite Aussaat nicht gut
geeignet ist. Aber was den Transport derselben durch das Meer
betrifft, so lässt sich behaupten, dass es bei den meisten derselben
noch ganz unbekannt ist, wie es mit der Möglichkeit desselben steht.
Bis zur Zeit, wo ich mit Hrn. Berkerev’s Hilfe einige wenige Ver-
suche darüber angestellt, war nicht einmal bekannt, in wie weit
Saamen dem schädlichen Einflusse des Salz-Wassers zu wider-
stehen vermögen. Zu meiner Verwunderung fand ich, dass von
87 Arten 64 noch keimten, nachdem sie 28 Tage lang in See-
Wasser gelegen, und einige wenige thaten es sogar nach 137
Tagen noch. Es ist beachtenswerih, dass gewisse Ordnungen
viel stärker als andre vom Salz-Wasser angegriffen werden. So
gingen von neun Leguminosen acht zu Grunde, und sieben Arten
der unter einander verwandten Ordnungen der Hydrophyllaceae
und Polemoniaceae waren nach einem Monate todt. Der Bequem-
lichkeit wegen wählte ich meistens nur kleine Saamen ohne Frucht-
hülle, und da alle schon nach wenigen Tagen untersanken, so
können sie natürlich keine weiten Räume des Meeres durchschif-
fen, mögen sie nun ihre Keim-Kraft im Salzwasser bewahren oder
nicht. Nachher wählte ich grössre Früchte mit Kapseln u. s. w.,
und von diesen blieben einige lange Zeit schwimmend. Es ist
wohl bekannt, wie verschieden die Schwimm-Fähigkeit einer Holz-
art im grünen und im trocknen Zustande ist. Ich dachte mir
daher, dass Flutlien wohl Pflanzen oder deren Zweige lortiragen
und dann ans Ufer werfen könnten, wo der Strom, wenn sie erst
ausgetrocknet wären, sie aufs Neue ergreifen und dem Meere
zuführen könnte; daher nahm ich von 94 Pflanzen-Arten trockne
Stengel und Zweige wit reifen Früchten daran und legte sie ins
Wasser. Die Mehrzahl versank sogleich; doch einige, welche
grün nur sehr kurze Zeit an der Oberfläche geblieben, hielten
sich nun länger. So sanken reife Haselnüsse unmittelbar unter,
schwammen aber, wenn sie vorher ausgetrocknet worden, 90
366
Tage lang und keimten dann noch, wenn sie gepflanzt wurden.
Eine Spargel-Pflanze mit reifen Beeren schwamm 23 Tage, nach
vorherigem Austrocknen aber 85 Tage, und ihre Saamen keimten
noch. Die reifen Früchte von Helosciadium sanken in zwei Ta-
gen, schwammen aber nach vorgängigem Trocknen 90 Tage und
keimten hierauf. Im Ganzen schwammen von den 94 getrock-
neten Pflanzen 18 Arten 28 Tage lang und einige davon sogar
noch viel länger. Es keimten also 6%,, —= 0,74 der Saamen-
Arten nach einer Eintauchung von 28 Tagen, und schwammen
18/,, = 0,19 der getrockneten Pflanzen-Arten mit reifen Saa-
men (doch z. Th. andre Arten als die vorigen) noch über 28
Tage; und würden daher, so viel man aus diesen Thatsachen
schliessen darf, die Saamen von 0,14 der Pflanzen-Arten einer
Gegend ohne Nachtheil für ihre Keim-Kraft 2%, Tage lang von
See-Strömungen fortgetragen werden können. In Jounstons
physikalischem Atlas ist die mittle Geschwindigkeit der Atlanti-
schen Ströme auf 33 See-Meilen im Tag (manche laufen 60 M.
weit) angegeben ; und somit könnten jene Saamen bei diesem
Mittel 924 See-Meilen weit fortgeführt werden und, wenn sie
dann strandeten und vom Winde sofort auf eine passende Stelle
weiter landeinwärts getrieben würden, noch keimen.
Nach mir stellte Marrıns * ähnliche Versuche, doch in bess-
rer Weise an, indem er Kistchen mit Saamen in’s wirkliche
Meer versenkte, so dass sie abwechselnd feucht und wieder der
Luft ausgesetzt wurden, wie wirklich schwimmende Pflanzen. Er
versuchte es mit 98 Saamen-Arten, meistens verschieden von
den meinigen, und darunter manche grosse Früchte und auch
Saamen von solchen Pflanzen, welche in der Nähe des Meeres
wachsen, was wohl dazu beitrug die mittle Länge der Zeit, wäh-
rend welcher sie sich schwimmend zu halten und der schädlichen
Wirkung des Salz-Wassers zu widerstehen vermochten, etwas zu
vermehren. Anderseits aber trocknete er nicht vorher die Früchte
mit den Zweigen oder Stengeln, was einige derselben befähigt
haben würde, länger zu schwimmen. Das Ergebniss war, dass
* Diese neueren Versuche von Marrıns vgl. in Bibliotheg. univers. de
Geneve, 1858, I, 89—92 > Neu. Jahrb. f. Mineral. 1858, 877—878. D.Übs.
367
18/,5 — 0,185 Saamen-Arten 42 Tage lang schwammen und
dann noch keimten. Ich bezweifle jedoch nicht, dass Pflanzen,
die mit den Wogen treiben, sich länger schwimmend erhalten
als jene, welche so wie in unseren Versuchen gegen jede Be-
wegung geschützt sind. Daher wäre es vielleicht sicherer anzu-
nehmen, dass die Saamen von etwa 0,10 Arten einer Flora nach
dem Austrocknen noch eine 900 Meilen weite Strecke des Mee-
res durchschwimmen und dann keimen können. Die Thatsache,
dass die grösseren Früchte länger als die kleinen schwimmen,
ist interessant, weil grosse Saamen oder Früchte nicht wohl an-
ders als schwimmend aus einer Gegend in die andere versetzt
werden können; daher, wie Aupu. DeCanvoııe gezeigt hat, solche
Pflanzen beschränkte Verbreitungs- -Bezirke besitzen.
Doch können Saamen gelegenheitlich auch auf andre Weise
fortgeführt werden. So gelangt Treibholz zu den meisten In-
seln in der Mitte des weitesten Ozeans; und die Eingebornen
der Korallen-Inseln des Stillen Meeres verschaffen sich härtere
Steine für ihr Geräthe fast nur von den Wurzeln der Treibholz-
Stämme; die Taxen für diese Steine bilden ein erhebliches Ein-
kommen ihrer Könige. Wenn nun unregelmässig geformte Steine
zwischen die Wurzeln der Bäume fest eingewachsen sind, so sind
auch zuweilen noch kleine Parthien Erde dahinter eingeschlossen,
mitunter so genau, dass nicht das Geringste davon während
des längsten Transportes weggewaschen werden könnte. Und
nun kenne ich einen Fall genau, wo aus einer solchen vollständig
eingeschlossenen Parthie Erde zwischen den Wurzeln einer 50jäh-
rigen Eiche drei Dikotyledonen-Saamen gekeimt haben. So kann ich
ferner nachweisen, dass’ zuweilen todte Vögel lange auf dem
Meere treiben ohne verschlungen zu werden, und dass in ihrem
Kropfe enthaltene Saamen lange ihre Keim-Kraft behalten; Erb-
sen und Wicken z. B., welche sonst schon zu Grunde gehen, wenn
sie nur wenige Tage im Wasser liegen, zeigten sich zu mei-
nem grossen Erstaunen noch keimfähig, als ich sie aus dem
Kropfe einer Taube nahm, welche schon 30 Tage lang auf künst-
lich bereitetem Salzwasser geschwommen.
‚ Lebende Vögel haben unfehlbar einen grossen Antheil am
368 &
Transport lebender Saamen. Ich könnte viele Fälle anführen um
zu beweisen, wie oft Vögel von mancherlei Art durch Stürme
weit über den Ozean verschlagen werden. Wir dürfen wohl als
gewiss annehmen, dass unter solchen Umständen ihre Schnellig-
keit oft 35 Engl. Meilen in der Stunde betragen mag, und
manche Schriftsteller haben sie viel höher angeschlagen. Ich
habe nie eine nahrhafte Saamen-Art durch die Eingeweide eines
Vogels passiren sehen, wogegen harte Saamen und Früchte un-
angegriffen selbst durch die Gedärme des Wälschhuhns gehen.
Im Laufe von zwei Monaten sammelte ich in meinem Garten aus
den Exkrementen kleiner Vögel 12 Arten Saamen, welche alle
noch gut zu seyn schienen, und einige von ihnen, die ich pro-
birte, haben wirklich gekeimt. Wichtiger ist jedoch folgende
Thatsache. Der Kropf der Vögel sondert keinen Magensaft aus
und benachtheiligt nach meinen Versuchen die Keimkraft der
Saamen nicht im mindesten. Nun sagt man, dass, wenn ein Vo-
gel eine grosse Menge Saamen gefunden und gefressen hat, die
Körner nicht vor 12—18 Stunden in den Magen gelangen. In
dieser Zeit aber kann ein Vogel leicht 500 Meilen weit fortge-
trieben werden; und wenn Falken, wie sie gerne thun, auf den
ermüdeten Vogel Jagd machen, so kann dann der Inhalt seines
Kropfes bald umhergestreut seyn. Hr. Brent benachrichtigt
mich, dass ein Freund ‚von ihm es aufgegeben hat, Botentauben
von Frankreich nach England fliegen zu lassen, weil die Falken
deren zu viele bei ihrer Ankunft an der Englischen Küste ver-
tilgten. Nun verschlingen einige Falken und Eulen ihre Beute
ganz und brechen nach 12—2ÜV Stunden Ballen unverdauter Fe-
dern wieder aus, die, wie ich aus Versuchen in den Zoological
Gardens weiss, oft noch keimfähige Saamen enthalten. Einige
Saamen von Hafer, Weitzen, Hirse, Kanariengras, Hanf, Klee und
Mangold keimten noch, nachdem sie i2—20 Stunden in den
Magen verschiedener Raubvögel verweilt hatten, und zwei Man-
gold-Saamen wuchsen sogar, nachdem sie zwei Tage und vierzehn
Stunden dort gewesen waren. Süsswasser-Fische verschlingen
Saamen verschiedener Land- und Wasser-Pflanzen ; Fische wer-
‚den oft von Vögeln verzehrt, und so können jene Saamen von
369
Ort zu Ort ausgestreut werden. Ich brachte mancherlei Saamen-
Arten in den Magen todter Fische und gab diese sodann Peli-
kanen, Störchen und Fischadlern zu fressen; diese Vögel gaben
einige Stunden später die Saamen in ihren Exkrementen wieder
von sich oder brachen sie in Gewöll-Ballen aus. Mehre dieser
Saamen besassen alsdann noch ihre Keim-Kraft; andre dagegen
verloren sie jederzeit durch diesen Prozess.
Obwohl Schnäbel und Füsse der Vögel gewöhnlich ganz rein
sind, so hängen doch oft auch Erd-Theile daran. In einem Falle
trennte ich 22 Gran thoniger Erde von dem Fusse eines Feld-
huhns, und in dieser Erde befand sich ein Steinchen so gross
wie ein Wicken-Saamen. Daher mögen auf dieselbe Art auch
Saamen zuweilen auf grosse Entfernungen fortgeführt werden,
indem sich nachweisen lässt, dass der Ackerboden überall voll
von Sämereien steckt. Erwägt man, wie viele Millionen Wach-
teln jährlich das Mittelmeer überfliegen, so wird man die Mög-
lichkeit nicht bezweifeln, dass wohl auch einmal ein paar kleine
Saamen an ihren Füssen mit herüber oder hinüber gelangen.
Doch werde ich auf diesen Gegenstand noch zurückkommen.
Bekanntlich sind Eisberge oft mit Steinen und Erde bela-
den; auch Buschholz, Knochen und selbst einmal ein Vogel-Nest
hat man darauf gefunden ; daher wohl nicht zu zweifeln ist, dass
sie mitunter auch, wie Lyeıı bereits angenommen, Saamen von
einem zum andern Theile der arktischen oder antarktischen Zone,
und in der Glacial-Zeit sogar von einem Theile der jetzigen ge-
mässigten Zonen zum andern geführt haben. Da auf den Azoren
eine im Verhältniss zu den übrigen zum Theile dem Festlande näher
gelegenen Inseln des Atlantischen Meeres grosse Anzahl Euro-
päischer Pflanzen und (wie Hr. H. C. Warson bemerkt) insbe-
sondere solcher Arten vorkommt, ‚die einen etwas nördlicheren
Charakter haben, als der Lage entspricht, so vermuthete ich,
dass ein Theil derselben mit Eisbergen in der Glacial-Zeit dahin
gelangt seye. Auf meine Bitte fragte Sir Cu. Lyerı Hrn. Har-
tung, ob er erratische Blöcke auf diesen Inseln gefunden habe,
und erhielt zur Antwort, dass grosse Blöcke von Granit u. a.
nicht auf den Inseln anstehenden Gesteinen dort vorkommen.
24
370
Wir dürfen daher getrost folgern, dass Eisberge vordem: ihre
Bürden an der Küste dieser mittel-ozeanischen Inseln abgesetzt
haben, und so ist es wenigstens möglich, dass auch einige
Saamen nordischer Pflanzen mit dahin gelangt sind.
In Berücksichtigung, dass manche der oben erwähnten und
andre wohl später zu entdeckende Transport - Mittel ganze
Jahrhunderte und Jahrtausende alljährlich in 'Thätigkeit gewesen,
würde es nach meiner Ansicht eine wunderbare Thatsache
seyn, wenn nicht auf diesen Wegen viele Pflanzen mitunter in
weite Fernen versetzt worden wären. Diese Transport-Mittel
werden zuweilen zufällige genannt, was nicht ganz richtig ist,
indem weder die See-Strömungen noch die vorwaltende Richtung
der Stürme zufällig sind. Indessen ist von diesen Mitteln wohl
_ keines im Stande, keimfähige Saamen in sehr grosse Fernen zu
versetzen, indem die Saamen weder ihre Keimfähigkeit im See-
wasser lange behalten, noch in Kropf und Eingeweiden der Vö-
gel weit transporlirt werden können. Wohl aber genügen sie,
um dieselben gelegenheitlich über einige Hundert Meilen breite
See-Striche hinwegzuführen und so von Kontinent zu Insel, oder
von Insel zu Insel, aber nicht von einem Kontinente zum andern
zu fördern. Die Floren entfernter Kontinente werden auf diese
Weise mithin nicht in hohem Grade gemengt werden, sondern
so weit getrennt bleiben, als wir sie jetzt finden. Die Ströme
würden ihrer Richtung nach niemals Saamen von Nord- Amerika
nach Britannien bringen können, wie sie deren von Westindien
aus an unsre Küsten spülen, wo sie aber, selbst wenn sie auf
diesem langen Wege noch ihre Lebenskraft bewahrt haben, nicht
das Klima zu ertragen vermögen. Fast jedes Jahr werden 1-2
Land-Vögel durch Stürme von Nord- Amerika über den ganzen
Atlantischen Ozean bis an die Irischen und Englischen Küsten
getrieben; Saamen aber könnten diese Wanderer nur auf eine
Weise mit sich bringen, nämlich in dem zufällig an ihren Füs-
sen hängenden Schmutz, was doch immer an sich schon ein 'sel-
tener Zufall ist. Und wie gering wäre selbst in diesem Falle
die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Saame .in einen günsti-
gen Boden gelange, keime und zur Reife komme. Doch wäre
371
es ein grosser Irrthum zu folgern, dass, weil eine schon wohl-bevöl-
_kerte Insel, wie Grossbritannien ist, in den paar letzten Jahrhun-
derten (was übrigens doch schwer zu beweisen steht) durch diese
gelegenheitlichen Transport-Mittel keine Einwanderer aus Europa
oder einem andern Kontinente aufgenommen, auch sparsam be-
völkerte Inseln‘ selbst in noch grössren Entfernungen vom Fest-
lande keine Kolonisten auf solchen Wegen erhalten könnten. Ich
zweifle nicht, "dass aus 20 zu einer Insel verschlagenen Saamen-
oder Thier-Arten, auch wenn sie viel weniger bevölkert wäre
als Britannien, kaum mehr als eine so für diese neue Heimath
geeignet seyn würde, um nun dort naturalisirt zu werden. Doch
ist Diess, wie mir scheint, kein bedeutender Einwand hinsichtlich
dessen, was durch solche gelegenheitliche Transport-Mittel im
langen Verlaufe der geologischen Zeiten geschehen konnte, wäh-
rend der Hebung und Bildung einer Insel und bevor sie mit An-
siedlern vollständig besetzt war. Auf einem fast noch öden Lande,
wo noch keine oder nur wenige Insekten und Vögel jedem neu
ankommden Saamen-Korne nachstellen, wird dasselbe leicht zum
Keimen und Fortleben gelangen, wenn es anders für dieses
Klima passt.
# Zerstreuung während der Eis-Zeit.) Die Überein-
stimmung so vieler Pflanzen- und Thier-Arten auf Berges-Höhen,
welche Hunderte von Meilen weit durch Tiefländer von einander
getrennt sind, wo die Alpen-Bewohner nicht fortkommen können,
ist eines der schlagendsten Beispiele des Vorkommens gleicher
Arten auf von einander entlegenen Punkten, ohne anscheinende
Möglichkeit einer Wanderung von einem derselben zum andern.
Es ist in der That merkwürdig, so viele Pflanzen-Arten in den
Schnee-Gegenden der Alpen oder Pyrenäen und wieder in den
nördlichsien Theilen Europa’s zu sehen; aber noch merkwürdi-
ger ist es, dass die Pflanzen-Arten der Weissen Berge in den
Vereinten Staaten Amerika’'s alle die nämlichen wie in Labrador
und ferner nach Asa Grayv’s Versicherung die nämlichen wie auf
den höchsten Bergen Europa’s sind. Schon vor langer Zeit, im
Jahre 1747, veranlassten ähnliche Thatsachen Gmeuis zu schlies-
sen, dass einerlei Spezies an verschiedenen Orten unabhängig
24”
372
von einander geschaffen worden seyn müssen, und wir würden
dieser Meinung vielleicht noch zugethan geblieben seyn, hätten
nicht Ascassız u. A. unsre Aufmerksamkeit auf die Eis-Zeit ge-
lenkt, die, wie wir sofort sehen werden, diese Thatsachen sehr
einfach erklärt. Wir haben Beweise fast jeder möglichen Art,
organische und unorganische, dass in einer sehr jungen geolo-
gischen Periode Zentral-Europa und Nord- Amerika unter einem
arktischen Klima litten. Die Ruinen eines abgebrannten Hauses
erzählen ihre Geschichte nicht so verständlich, wie die Schotti-
schen und Wales’schen Gebirge mit ihren geschrammten Seiten,
polirten Flächen, schwebenden Blöcken von den Eis-Strömen be-
richten, womit ihre Thäler noch in später Zeit ausgefüllt gewe-
sen. So sehr war das Klima in Europa verschieden, dass in
Nord-Italien riesige Moränen von einstigen Gletschern herrüh-
rend jetzt mit Mays und Wein bepflanzt sind. Durch einen gros-
sen Theil der Vereinten Staaten bezeugen erratische Blöcke
und von treibenden Eisbergen und Küsten-Eis geschrammte Fel-
sen mit Bestimmtheit eine frühere Periode grosser. Kälte,
Der frühere Einfluss des Eis-Klima’s auf die Vertheilung der
Bewohner Europa’s, wie ihn Epw. Forses so klar dargestellt,
ist im Wesentlichen folgender. Doch wir. werden die. Verände-
rungen rascher verfolgen können, wenn wir annehmen, eine
neue Eis-Zeit rücke langsam an und verlaufe dann und ver-
schwinde so, wie es früher geschehen ist. In dem Grade wie bei
zunehmender Kälte jede weiter südlich gelegene Zone der Reihe
nach für arktische Wesen geeigneter wird und ihren bisherigen
Bewohnern nicht mehr zusagen kann, werden arktische Ansiedler
die Stelle der bisherigen einnehmen. Zur gleichen Zeit werden
auch ihrerseits diese Bewohner der gemässigten Gegenden süd-
wärts wandern, wenn ihnen der Weg nicht versperrt ist, in
welchem Falle sie zu Grunde gehen müssten. Die Berge werden
sich mit Schnee und Eis bedecken, und die früheren Alpen-Be-
wohner werden in die Ebene herabsteigen. Erreicht mit der
Zeit die Kälte ihr Maximum, so bedeckt eine einförmige ark-
tische Flora und Fauna den mitteln Theil Europa's bis im Süden
der Alpen und Pyrenäen und bis nach Spanien hinein. Auch die
3
373
gegenwärtig gemässigten Gegenden der Vereinigten Staaten be-
völkern sich mit arktischen Pflanzen und Thieren und zwar nahezu
mit den nämlichen Arten wie Europa; denn die jetzigen Bewoh-
ner der Polar-Länder, von welchen so eben angenommen wor-
den, dass sie überall nach Süden gewandert, sind rund um den
Pol merkwürdig einförmig. Nimmt man an, dass die Eis-Zeit in
Nord-Amerika etwas früher oder später als in Europa ange-
fangen, so wird auch die Auswanderung nach Süden etwas zrüher
oder später beginnen, was jedoch im End-Ergebnisse keinen Un-
terschied macht.
Wenn nun die Wärme zurückkehrt, so ziehen sich die ark-
tischen Formen wieder nach Norden zurück und die Bewohner
der gemässigteren Gegenden rücken ihnen unmittelbar nach.
Wenn der Schnee am 'Fusse der Gebirge schmilzt, wer-
den die arktischen Formen von dem entblössten und aufge-
thauten Boden Besitz nehmen: sie werden immer höher und
höher hinansteigen, wie die Wärme zunimmt und ihre Brüder
in der Ebene den Rückzug nach Norden hin fortsetzen. Ist
daher die Wärme vollständig wieder hergestellt, so werden die
nämlichen arktischen Arten, welche bisher in Masse beisammen
in den Tiefländern der alten und der neuen Welt gelebt, nur
noch auf abgesonderten Berg-Höhen und in der arktischen Zone
beider Hemisphären übrig seyn.
Auf diese Weise begreift sich die Übereinstimmung so vieler
Pflanzen-Arten an so unermesslich 'weit von einander entlegenen
Stellen. als die Gebirge der Vereinten Staaten und Europa’s
sind. So begreift sich ferner die Thatsache, dass die Alpen-Pflan-
zen jeder Gebirgs-Kette mit den gerade oder fast gerade nördlich
von ihnen ‘lebenden Arten in nächster Beziehung stehen; die
Wanderung bei Eintritt der Kälte und die Rückwanderung bei
Wiederkehr der Wärme wird im Allgemeinen eine gerade süd-
liche und nördliche gewesen seyn. Denn die Alpen-Pflanzen
Schottland’s z. B. sind nach H. ©. Warson’s Bemerkung und die
der Pyrenäen nach Rawonp spezieller mit denen Skandinavıens
verwandt, wie die der Vereinten Staaten und die Söbirischen
mehr mit den im Norden dieser Länder lebenden Arten über-
374
einstimmen, _ Diese Ansicht, gegründet auf den zuverlässig
bestätigten Verlauf einer früheren Eis-Zeit, scheint mir in so
genügender Weise die gegenwärtige Vertheilung der alpinen und
arktischen Arten in Europa und Nord-Amerika zu erklären,
dass, wenn wir in noch andern Regionen gleiche Spezies auf
entfernten Gebirgs-Höhen zerstreut finden, wir auch ohne einen
weiteren Beweis schliessen dürfen, dass’ ein kälteres Klima ihnen
vordem durch zwischen-gelegene Tiefländer zu wandern gestat-
tet habe, welche seitdem zu warm für dieselben geworden sind,
Wenn das Klima seit der Eis-Zeit je einigermaassen wärmer
als jeizt gewesen wäre (wie einige Geologen aus der Verbrei-
tung der fossilen Gnathodon-Muscheln in den Vereinten Staaten
geschlossen), dann würden die Bewohner der gemässigten und
der kalten Zone noch in sehr später Zeit etwas nach Norden
vorgerückt seyn, um sich noch später wieder in ihre jetzige Hei-
math zurückzuziehen; doch habe ich keinen genügenden Beweis
für eine solche wärmere Periode, die nach der Eis-Zeit einge-
schaltet gewesen wäre. |
Die arktischen Formen werden während ihrer südlichen
Wanderung und Rückkehr nach Norden nahezu dem nämlichen
Klima ausgesetzt gewesen und, was gleichfalls zu bemerken, in
Masse beisammen geblieben seyn; daher sie denn auch in ihren
gegenseitigen Beziehungen nicht sonderlich gestört und mithin,
nach den in diesem Bande vertheidigten Prinzipien, nicht allzugros-
ser Umänderung ausgesetzt worden wären. Etwas anders würde
es sich jedoch mit unsern Alpen-Bewohnern verhalten, welche
bei rückkehrender Wärme sich vom Fusse der Gebirge immer
höher an deren Seiten bis zu den Gipfeln hinan geflüchtet haben.
Denn es ist nicht wahrscheinlich, dass alle dieselben arktischen
Arten auf weit getrennten Gebirgs-Ketten zurückgeblieben sind
und dort seither fortgelebt haben. Auch werden die zurückge-
bliebenen aller Wahrscheinlichkeit nach sich mit alten Alpen-
Pflanzen gemengt haben, welche schon vor der Eis-Zeit die Ge-
birge bewohnten und für die Dauer der kältesten Periode in die
Ebene herabgetrieben wurden; sie werden ferner einem. etwas
abweichenden klimatischen Einflusse ausgesetzt gewesen seyn.
375
Ihre gegenseitigen Beziehungen können hiedurch etwas gestört
und sie selbst mithin zur Abänderung geneigt geworden seyn;
und so ist es wirklich der Fall. Denn, wenn wir die gegen-
wärtigen Alpen-Pflanzen und -Thiere der verschiedenen grossen
Europäischen Gebirgs-Ketten verglichen, so finden wir zwar im
Ganzen viele identische Arten, von welchen aber manche als Va-
rietäten auftreten, andre als zweifelhafte Formen schwanken, und
einige wenige als verschiedene doch nahe verwandte oder stell-
vertretende Arten erscheinen. |
Bei Erläuterung dessen, was. nach meiner Meinung während
der Eis-Periode sich wirklich zugetragen, unterstellte ich, dass
bei deren Beginn die arktischen Organismen rund um den Pol
so einförmig wie heutigen Tages gewesen seyen. Aber die
vorangehenden Bemerkungen beziehen sich nicht allein. auf die
strenge arktischen Formen, sondern auch auf viele subarktische
und auf einige Formen der nördlich-gemässigten Zone; denn
manche von diesen Arten sind ebenfalls übereinstimmend auf den
niedrigeren Bergen und in den Ebenen Nord-Amerika's und Euro-
pa’s, und man kann mit Grund [ragen, wie ich denn die Überein-
stimmung der Formen, welche in der subarktischen und der nörd-
lich-gemässigten Zone rund um die Erde am Antange der Eis-
Periode stattgefunden haben muss,‘ erkläre? Heutzutage sind die
Formen der subarktischen und nördlich-gemässigten Gegenden der
alten und der neuen Welt von einander getrennt durch den atlantı-
schen und den nördlichsten Theil des stillen Ozeans. Als wäh-
rend der Eis-Zeit die Bewohner der alten ‚und der neuen Welt
weiter südwärts als jetzt lebten, müssen sie auch durch weitere
Räume des Ozeans vollständiger von einander geschieden gewe-
sen seyn. Ich glaube, dass die oben erwähnte Schwierigkeit zu
umgehen ist, wenn man sich nach noch früheren Klima- Wechseln
in einem entgegengesetzten Sinne umsieht. Wir haben nämlich
guten Grund zu glauben, ‘dass während der neuern Pliocän-Pe-
riode vor der Eis-Zeit, wo schon die Mehrzahl der Erd-Bewohner
mit den jetzigen von gleichen Arten gewesen, das Klima wärmer
war als jetzt. Wir dürfen daher annehmen, dass Organismen,
welche jetzt unter dem 60. Breite-Grad leben, in der Pliocän-
37h
Periode weiter nördlich am Polar-Kreise unter dem 66° 67% Br.
wohnten, und dass die eigentlich arktischen Wesen auf die un-
terbrochenen Land-Striche näher bei den Polen beschränkt waren,
Wenn wir nun einen Globus ansehen, so werden wir finden,
dass unter dem Polar Kreise meist zusammen- -hängendes Land
von West-Europa an durch Sibirien bis Ost- Amerika vorhanden
ist. Und diesem Zusammenhange des Circumpolar-Landes und
der ihm entsprechenden freien Wanderung in einem schon gün-
stigeren Klima schreibe ich den nothwendigen Grad von Ein-
förmigkeit in den Bewohnern der subarktischen und nördlich-
gemässigten Zone der alten und neuen Welt vor der Eis-Zeit zu.
Von dem Glauben ausgehend, dass, wie schon oben gesagt
unsre Kontinente langezeit in fast nahezu der nämlichen Lage gegen
einander geblieben, wenn sie auch theilweise beträchtlichen
Höhen-Schwankungen unterworlen gewesen, habe ich grosse Nei-
gung die erwähnte Ansicht noch weiter auszudehnen und zu un-
terstellen, dass in einer noch früheren und wärmeren Zeit, in der
ältern Pliocän-Zeit nämlich, eine grosse Anzahl der nämlichen Pllan-
zen- und Thier-Arten das fast zusammenhängende Circumpolar-Land
bewohnt habe, und dass diese Pflanzen und Thiere sowohl in der
alten als in der neuen Welt langsam südwärts zu wandern an-
fingen, wie das Klima kühler wurde, lange vor Anfang der Eis-
Periode. Wir sehen nun ihre Nachkommen, wie ich glaube,
meistens in einem abgeänderten Zustande die Zentral-Theile von
Europa und den Vereinten Staaten bewohnen. Von dieser An-
nahme ausgehend begreift man dann die Verwandtschaft, bei
sehr geringer Gleichheit, der Arten von Nord-Amerika und
Europa, eine Verwandtschaft, welche bei der grossen Entfernung
beider Gegenden und ihrer Trennung durch das Atlantische Meer
äusserst merkwürdig ist. Man begreift ferner die von eini-
gen Beobachtern wahrgenommene sonderbare Thatsache, dass
die Natur-Erzeugnisse Europa’s und Nord-Amerika’s während
der letzten Abschnitte der Tertiär-Zeit näher mit einander ver-
wandt sind, als sie es in der vorangehenden Zeit waren; denn
in dieser wärmeren Zeit sind die nördlichen Theile der alten
und der neuen Welt durch Zwischenländer in zusammen-hängen-
377
derer Weise mit einander verbunden gewesen, die aber seither
durch Kälte zur Auswanderung unbrauchbar gemacht worden sind.
Sobald während der langsamen Temperatur-Abnahme in der
Pliocän-Periode die gemeinsam ausgewanderten Bewohner der
alten und neuen Welt südwärts vom Polar-Kreise angelangt wa-
ren, wurden sie vollständig von einander abgeschnitten. Diese
Trennung trug sich, was die Bewohner der gemässigteren Ge-
genden betrifft, vor langen langen Zeiten zu. Und als damals
die Pflanzen- und Thier-Arten südwärts wanderten, werden sie
sich mit den Eingebornen der niedrigeren Breiten gemengt und
in der einen Gegend Amerikanische und in der andern Euro-
päische Arten zu neuen Mitbewerbern bekommen haben. Hier
ist demnach Alles zu reichlicher Abänderung der Arten ange-
than, weit mehr als es hinsichtlich der auf südlichen Alpen-
Höhen abgeschnitten zurückgelassenen Polar-Bewohner beider
Welttheile der Fall gewesen ist. Davon rührt es her, dass, wenn
wir die jetzt lebenden Erzeugnisse gemässigterer Gegenden der
alten und der neuen Welt mit einander vergleichen, wir nur
sehr wenige identische Arten finden (obwohl Asa Gray kürzlich
gezeigt, dass deren Anzahl grösser ist, als man bisher angenom-
men hatte); aber wir finden in jeder grossen Klasse viele For-
men, welche ein Theil der Naturforscher als geographische Rassen
und ein andrer als unterschiedene Arten betrachten, zusammen
mit einem Heere nahe verwandter oder stellvertretender Formen,
die Bei allen Naturforschern für eigene Arten gelten.
Wie auf dem Lande, so kann auch in der See eine lang-
same südliche Wanderung der Fauna, welche während oder etwas
vor der Pliocän-Periode längs der zusammen-hängenden Küsten
des Polar-Kreises sehr einförmig gewesen, nach der Abände-
rungs-Theorie zur Erklärung der vielen nahe verwandten Formen
dienen, welche jetzt in ganz gesonderten Gebieten leben. Mit
ihrer Hilfe lässt sich, wie ich glaube, das Daseyn einer Menge
noch lebender und tertiärer stellvertretender Arten an den öst-
lichen und westlichen Küsten des gemässigteren Theiles von
Nord-Amerika erklären, so wie die bei weitem auffallendere
Erscheinung vieler nahe verwandter Kruster (in Dana’s ausge-
378
zeichnetem Werke beschrieben), einiger Fische und andrer See-
thiere im Japanischen und im Mittelmeere zugleich, in Gegenden
mithin, welche jetzt durch ‚einen grossen Kontinent und fast
eine ganze Hemisphäre von Aquatorial-Meeren von einander ge-,
trennt sind. |
Diese Fälle von Verwandtschaft, ohne Identität, zwischen den
Bewohnern jetzt getrennter Meere wie zwischen den früheren
und jetzigen Bewohnern der gemässigten Länder Nord-Amerika’s
und Europa’s sind aus der Schöpfungs-Theorie unerklärbar. Wir
können nicht sagen, sie seyen ähnlich geschaffen zur Anpassung
an die ähnlichen Natur-Bedingungen der beiderlei Gegenden;
denn wenn wir z. B. gewisse Theile Süd-Amerika’s mit den
südlichen Kontinenten der alten Welt vergleichen, so finden wir
Striche in beiden, die sich hinsichtlich ihrer Natur-Beschaffenheit
einander genau entsprechen, aber in ihren Bewohnern sich ganz
unähnlich sind.
Wir müssen jedoch zu unsrer unmittelbaren Aufgabe zurück-
kehren, nämlich zur Eis-Zeit. Ich bin überzeugt, dass Enw,
Forses’ Theorie einer grossen Erweiterung fähig ist. In Europa
haben wir die deutlichsten Beweise einer Kälte-Periode von den
West-Küsten Britanniens ostwärts bis zur Ural-Kette und süd-
wärts bis zu den Pyrenäen. Aus den im Eise eingefrorenen
Säugthieren und der Beschaffenheit der Gebirgs-Vegetation zu
schliessen, war Sibirien auf ähnliche Weise betroffen gewesen.
Längs dem Himalaya habenGletscher an 900 Engl. Meilen von
einander entlegenen Punkten Spuren ihrer ehemaligen weiten
Erstreckung nach der Tiefe hinterlassen; und in Sikkim sah Dr.
Hooker Mays wachsen auf alten Riesen-Moränen. Im Süden des
Äquators haben wir einige unmittelbare Beweise früherer Eis-
Thätigkeit in Neuseeland, und das Wiedererscheinen derselben
Pflanzen-Arten auf weit von einander getrennten Bergen dieser
Insel spricht für die gleiche Geschichte. Wenn sich ein bereits
veröffentlichter Bericht bestätigt, so liegen direkte Beweise
solcher Thätigkeit auch in der süd-östlichen Spitze Neu-Hol-
lands vor.
Sehen wir uns in Amerika um. In der nördlichen Hälfte
379
sind von Eis transportirte Fels-Trümmer beobachtet worden an
der Ost-Seite abwärts bis zum 36° und an der Küste des stillen
Meeres, wo das Klima jetzt so verschieden ist, bis zum 46°
nördlicher Breite; auch in den Rocky Mountains sind erratische
Blöcke gesehen worden. In den Cordilleren des äquatorialen
Süd-Amerika’s haben sich Gletscher ehedem weit über ihre
jetzige Grenze herabbewegt. In Zentral-Chik war ich betroffen
von der Struktur eines Detritus-Haufwerks, welches 800° hoch
ein Andes-Thal queer durchsetzt, und Diess war, wie ich jetzt
überzeugt‘ bin, eine riesigg Moräne tief unter jedem noch jetzt
dort vorkommenden Gletscher. Weiter südwärts an beiden Sei-
ten des Kontinents, von 41° Br. bis zur südlichsten Spitze, fin-
den wir die klarsten Beweise früherer Gletscher-Thätigkeit in
mächtigen von ihrer Geburtsstätte weit entführten Blöcken.
Wir wissen nicht, ob die Eis-Zeit an allen diesen Punkten
auf ganz entgegengesetzten Seiten der Erde genau gleichzeitig
gewesen seye; doch fiel sie, in fast allen Fällen wohl erweislich,
in die letzte geologische Periode. Eben so haben wir vortreff-
liche Beweise, dass sie überall, in Jahren ausgedrückt, von un-
geheurer Dauer gewesen. Sie kann an einer Stelle der Erde
früher begonnen oder früher aufgehört haben, als an der an-
dern; da sie aber überall lange gewährt hat und wenigstens in
geologischem Sinne überall gleichzeitig war, so ist es mir wahr-
scheinlich, dass jedenfalls ein Theil der Glacial-Ereignisse an
allen diesen Orten über die ganze Erde hin der Zeit nach ge-
nau zusammenfiel. So lange wir nicht irgend einen bestimmten
Beweis für das Gegentheil haben, dürfen wir daher unterstellen,
dass die Glacial-Thätigkeit eine gleichzeitige gewesen ist an der
Ost- und West-Seite Nord-Amerika’s, in den Cordilleren des
Äquators und der wärmer-gemässigten Zone wie zu beiden Sei-
ten der südlichen Spitze dieses Welttheiles. Ist Diess anzuneh-
men erlaubt, so wird man auch annehmen müssen. dass die
Temperatur der ganzen Erde in dieser Periode gleichzeitig küh-
ler gewesen ist; doch wird es für meinen Zweck genügen, wenn
die Temperatur nur auf gewissen breiten von Norden nach
Süden ziehenden Strecken der Erde gleichzeitig niedriger war.
380
Von dieser Voraussetzung ausgehend, dass die Erde oder we-
nigstens breite Meridianal-Streifen derselben von einem Pol zum
andern gleichzeitig kälter geworden sind, lässt sich viel Licht über
die jetzige Vertheilung identischer und verwandter Arten verbreiten.
Dr. Hooxer hat gezeigt, dass in Amerika 40— 50 Blüthen-Pflanzen des
Feuerlandes, welche keinen unbeträchtlichen Theil der dortigen klei-
nen Flora bilden, trotz der ungeheuren Entfernung beider Punkte,
mit Europäischen Arten übereinstimmen ; ausserdem gibt es viele
nahe verwandte Arten. Auf den hoch-ragenden Gebirgen des
tropischen Amerika’s kommt eine enge besondrer Arten aus
Europäischen Sippen vor. Auf den höchsten Bergen Brasiliens
sind einige wenige Europäische Sippen von GARDENER gefunden
worden, welche in den weit-gedehnten warmen Zwischenländern
nicht fortkommen. An der Silla von Caraccas fand Ar. von
HumsoLor schon vor langer Zeit Sippen, welche für die Cor-
dilleren bezeichnend sind. Auf den Abyssinischen Gebirgen.
kommen verschiedene Europäische Formen und einige wenige
stellvertretende Arten der eigenthümlichen Flora des Caps der
guten Hoffnung vor. Am Cap sind einige wenige Europäische
Arten, die man nicht für eingeführt hält, und auf den Bergen
einige wenige stellvertretende Formen Europäischer Arten ge-
funden ‘worden, dergleichen man in den tropischen Ländern
Afrika’s noch nicht entdeckt hat. Am Himalaya und auf den
vereinzelten Berg-Ketten der Indischen Halbinsel, auf den Höhen
von Ceylon und den vulkanischen Kegeln Javas treten viele.
Pflanzen auf, welche entweder der Art nach mit einander über-
einstimmen, oder sich wechselseitig vertreten und zugleich für
Europäische Formen vikariiren, aber in den dazwischen gelege-
nen warmen Tiefländern nicht gefunden werden. Ein Verzeich-
niss der auf den luftigen Berg-Spitzen Javas gesammelten Sip-
pen liefert ein Bild wie von einer auf Europäischen Gebirgen
gemachten Sammlung, Noch viel schlagender ist die Thatsache,
dass die Süd-Australischen Formen offenbar durch Pflanzen re-
präsentirt werden, welche auf den Berg-Höhen von Borneo wach-
sen. Einige dieser Australischen (Neuholländischen) Formen
erstrecken sich nach Dr. Hooker längs der Höhen der Halbinsel
381
Malakka und sind dünne zerstreut einerseits über Indien und
andrerseits nordwärts bis Japan.
Auf ‘den südlichen Gebirgen Neuhollands hat Dr. F. MürLer
mehre Europäische Arten entdeckt; andre nicht von Menschen
eingeführte Spezies kommen in den Niederungen vor, und, wie
mir Dr. Hooker sagt, könnte noch eine lange Liste von Europär-
schen. Sippen aufgestellt werden, die sich in Neuholland, aber
nicht in den heissen Zwischenländern finden. In der vortrefl-
lichen Einleitung zur Flora Neuseelands liefert Dr. Hooker
noch andre analoge und schlagende Beispiele hinsichtlich der
Pflanzen dieser grossen Insel. Wir sehen daher, dass über
der ganzen Erd-Oberfläche einestheils die auf den höheren Ber-
gen wachsenden Pflanzen, wie anderntheils die in den gemässig-
ten Tiefländern der nördlichen und der südlichen Hemisphäre
verbreiteten zuweilen von gleicher Art sind; noch öfter aber
erscheinen sie spezifisch verschieden, obwohl in merkwürdiger
‚Weise mit einander verwandt.
Dieser kurze Umriss bezieht sich nur auf Pflanzen allein;
aber genau analoge Thatsachen lassen sich auch über die Ver-
theilung der Landthiere anführen. Auch bei den Seethieren kom-
men ähnliche Fälle vor. Ich will als Beleg die Bemerkung eines
der besten Gewährsmänner, nämlich des Professors Dana anführen,
»dass es gewiss eine wunderbare Thatsache ist, dass Neuseeland
hinsichtlich seiner Kruster eine grössre Verwandtschaft mit sei-
nem Antipoden Grossbritannien als mit irgend einem andern Theile
der Welt zeigt«. Eben so spricht Sir J..Rıcnarnson von dem Wie-
dererscheinen nordischer Fisch-Formen an den Küsten von Neu-
seeland, Tasmania u, s. w. Dr. Hooxer sagt mir, dass Neusee-
land 25 Algen-Arten mit Europa gemein hat, die in den tropi-
schen Zwischenmeeren noch nicht gefunden worden sind.
Es ist zu bemerken, dass die in den südlichen Theilen der
südlichen Halbkugel und auf den tropischen Hochgebirgen gelun-
denen nördlichen Arten und Formen keine arktischen sind, son-
dern dem nördlichen Theile der gemässigten Zone entsprechen.
Hr. H. C. Warson hat neulich bemerkt, »je weiter man von den
polaren gegen die tropischen Breiten voranschreitet, desto weni-
382
ger arktisch werden die alpinen oder gebirglichen Formen der
Organismen.« Viele der auf den Gebirgen wärmerer Gegenden
der Erde und in der südlichen Hemisphäre lebenden Arten
sind von so zweifelhaftem Werthe, dass sie von einigen Natur-
forschern als wesentlich verschieden und von andern als blosse
Varietäten bezeichnet werden.
Wir wollen nun zusehen, welche Aufschlüsse die vorangehen-
den Thatsachen über die durch eine Menge geologischer Beweise
unterstützte Annahme gewähren können, dass die ganze Erd-
Oberfläche oder wenigstens ein grosser Theil derselben während
der Eis-Periode gleichzeitig viel kälter als jetzt gewesen seye.,
Die Eis-Periode muss, in Jahren ausgedrückt, sehr lang gewesen
seyn; und wenn wir berücksichtigen, über welch’ weite Flächen
einige naturalisirte Pflanzen und Thiere in wenigen Jahrhunder-
ten sich ausgebreitet haben, so hat diese Periode für jede
noch so weite Wanderung ausreichen können. Da die Kälte
nur langsam zunahm, so werden alle tropischen Pflanzen und
Thiere sich von beiden Seiten her gegen den Äquator zu-
rückgezogen haben, gefolgt von den Bewohnern gemässigter
Gegenden, welchen die der Polar-Zonen nachrückten; doch haben
wir es mit den letzten in diesem Augenblicke nicht zu thun.
Viele der Tropen-Pflanzen erloschen dabei ohne Zweifel; wie
viele, kann niemand sagen. Vielleicht waren vordem die Tropen-
Gegenden eben so reich an Arten, wie jetzt das Kap der guten
Hoffnung und einige gemässigte Theile Neuhollands. Da wir
wissen, dass viele tropische Pflanzen und Thiere einen ziemlichen
Grad von Kälte aushalten können, so mögen manche derselben
der Zerstörung durch eine mässige Temperatur-Abnahme ent-
gangen seyn, zumal wenn sie in die tiefsten geschütztesten und
wärmsten Bezirke zu entkommen vermochten. Aber was man
hauptsächlich nicht vergessen darf, das ist, dass doch alle Tro-
pen-Erzeugnisse mehr oder weniger gelitten haben müssen. Die
Bewohner gemässigter Gegenden, welche näher an den Äquator
heranrücken konnten, wurden in einigermaassen neue Verhält-
nisse versetzt, litten aber weniger. Auch ist es gewiss, dass
viele Pflanzen gemässigter Gegenden, wenn sie gegen Mitbewer-
383
bung geschützt sind, ein viel wärmeres als ihr eigentliches Klima er-
tragen können. Daher scheint es mir möglich dass, da die Tro-
pen-Erzeugnisse in leidendem Zustande waren und den Eindring-
lingen keinen ernsten Widerstand zu leisten vermochten, eine
gewisse Anzahl der kräftigsten und herrschendsten Formen der
gemässigten Zone in die Reihen der Eingebornen eingedrungen
sind und den Äquator erreicht und selbst noch überschritten
haben. Der Einfall wurde in der Regel durch Hochländer
und vielleicht ein trocknes -Klima noch begünstigt; denn Dr.
Faıconer sagt mir, dass es die mit der Hitze der Tropenländer
verbundene Feuchtigkeit ist, welche den perennirenden Gewäch-
sen aus gemässigteren Gegenden so verderblich wird. Dagegen
werden die feuchtesten und wärmsten Bezirke den Eingebornen
der Tropen als Zufluchtsstätte gedient haben. Die Gebirgs-Ket-
ten im Nordwesten des Himalaya und die lange Cordilleren-
Reihe scheinen zwei grosse Invasions-Linien gebildet zu haben;
undges ist eine schlagende Thatsache, dass nach Dr. Hooker's letzter
Mittheilung die 46 Blüthen-Pflanzen, welche Feuerland mit Europa
gemein hat, alle auch in Nord-Amerika vorkommen , das auf
ihrer Marsch-Route gelegen haben muss. Doch zweifle ich nicht
daran, dass auch einige Bewohner der gemässigten Zonen sogar
in die Tiefländer der Tropen eingedrungen sind und diese über-
schritten haben, als zur Zeit der grössten Kälte arktische For-
men von ihrer Heimath aus 25 Breiten-Grade südwärts vordran-
gen und das Land am Fusse der Pyrenäen bedeckten. In dieser
Zeit der grössten Kälte dürfte dann das Klima unter dem Äqua-
tor im Niveau des Meeres-Spiegels ungefähr das nämliche gewesen
seyn, wie es jetzt dort. in 6000°—-7000' Seehöhe herrscht. In
dieser Zeit der grössten Kälte waren meiner Meinung nach weite
Räume in den tropischen Tiefländern mit einer Vegetation be-
deckt aus Formen tropischer und gemässigter Gegenden zusam-
mengesetzt und derjenigen vergleichbar, welche sich nach Hook£r $
lebendiger Beschreibung in wunderbarer Üppigkeit am Fusse des
Himalaya entfaltet.
So sind, glaube ich, während der Eis-Periode beträchtlich
viele Pflanzen, einige Landthiere und verschiedene Meeres-
384
Bewohner von beiden gemässigten Zonen aus in die Tropen-Gegen-
den eingedrungen und haben manche sogar den Äquator über-
schritten. Als die Wärme zurückkehrte, stiegen die den gemäs-
sigten Klimaten entstammten Formen natürlich an den Bergen
hinan und verschwanden aus den Tiefebenen ; diejenigen welche
den Aquator nicht erreicht hatten, kehrten nord- und süd-wärts
in ihre frühere Heimath zurück; jene hauptsächlich nordi-
schen Formen aber, welche den Äquator schon überschritten,
wanderten weiter in die gemässigten Breiten der entgegengesetz-
ten Hemisphäre. Obwohl sich aus geologischen Forschunge
ergibt, dass die ganze Masse der arktischen Konchylien auf ihrer
langen Wanderung nach Süden und ihrer Rückwanderung nach
Norden kaum irgend eine wesentliche Modifikation erfahren habe,
so ist das Verhältniss doch ein ganz andres hinsichtlich der ein-
gedrungenen Formen, welche sich auf den tropischen Gebirgen
und in der südlichen Hemisphäre festsetzten. _Von Fremdlingen
umgeben geriethen sie mit vielen neuen Lebenformen in Mjtbe-
werbung; und es ist wahrscheinlich, dass Abänderungen in Struk-
tur organischer Thätigkeit und Lebensweise davon die Folge waren
und durch Natürliche Züchtung fortgebildet wurden. So leben
nun viele von diesen Wanderern, wenn auch offenbar noch ver-
wandt mit ihren Brüdern in der andern Hemisphäre, in ihrer
neuen Heimath als ausgezeichnete Varietäten oder eigene Spe-
zies fort.
Es ist eine merkwürdige Thatsache, worauf Hooker hinsicht-
lich Amerikas und Aıruons DeCanvorıe hinsichtlich Australiens
bestehen, dass offenbar viel mehr identische und verwandte Pflan-
zen von Norden nach Süden als in umgekehrter Richtung gewan-
dert sind. Wir sehen daher nur wenige südlichen Pflanzen-For-
men auf den Bergen von Borneo und Abyssinien. Ich vermuthe,
dass diese überwiegende Wanderung von Norden nach Süden
der grösseren Ausdehnung des Landes im Norden und der zalıl-
reicheren Existenz der nordischen Formen in ihrer Heimath zu-
zuschreiben ist, in deren Folge sie durch Natürliche Züchtung
und ‚manchfaltigere Mitbewerbung bereits zu höherer Vollkommen-
heit und Herrschafts-Fähigkeit als die südlicheren Formen gelangt
385
waren. Und als nun beide während der Eis-Periode sich durch-
einander mengten, waren die nördlichen Formen besser geeig-
net die südlichen zu überwinden, — so wie wir heutzutage noch
Europäische Einwandrer den Boden von La-Plata und seit 30—40
Jahren auch von Neuholland bedecken sehen. Etwas ähnliches
muss sich auch in den tropischen Gebirgen zugetragen haben,
welche zweifelsohne schon vor der Eiszeit mit ihren eigenthüm-
lichen Alpen-Bewohnern bevölkert gewesen sind. Auf vielen Inseln
sind die eingebornen Erzeugnisse durch die naturalisirten bereits
an Menge erreicht oder überboten ; und wenn jene ersten jetzt
auch noch nicht verdrängt sind, so hat ihre Anzahl doch schon
sehr abgenommen, und Diess ist der erste Schritt zum Unter-
gang. Ein Gebirge ist eine Insel auf dem Lande, und die tropischen
Gebirge vor der Eis-Zeit müssen vollständig isolirt gewesen seyn.
Ich glaube, dass die Erzeugnisse dieser Inseln auf dem Lande
vor denen der grösseren nordischen Länder-Strecken ganz in
derselben Weise zurückgewichen sind, wie die Erzeugnisse der
Inseln im Meer zuletzt ‚überall von den durch den Menschen da-
selbst naturalisirten verdrängt wurden.
Ich bin ferne davon zu glauben, dass durch die hier aufge-
stellte Ansicht über die Ausbreitung und die Beziehungen der
verwandten Arten, welche in der nördlichen und der südlichen
gemässigten Zone und auf den Gebirgen der Tropen-Gegenden
wöhnen, bereits alle Schwierigkeiten ausgeglichen sind. Sehr
viele bleiben noch zu überwinden. Ich behaupte nicht, die Rich-
tungen und Mittel der Wanderungen oder die Ursachen genau
nachweisen zu können, warum die einen und nicht die andern
Arten gewandert sind, oder warum gewisse Spezies Abänderung
erfahren haben und zur Bildung neuer Formen-Gruppen verwen-
det worden, während andre unverändert geblieben sind. Wir
können nicht hoffen solche Verhältnisse zu erklären, so lange
wir nicht zu sagen vermögen, warum ‘eine Art und nicht die
andre durch menschliche Thätigkeit in fremden Landen naturali-
sirt werden kann, oder warum die eine zwei oder drei mal so
weit verbreitet, zwei oder drei mal so gemein als die andre. Art
in der gemeinsamen Heimath ist.
25
‚386
Ich habe gesagt, dass viele Schwierigkeiten noch zu über-
winden bleiben. Einige der merkwürdigsten hat Dr. Hooxer in
seinen botanischen Werken über die antarktischen Regionen mit
bewundernswerther Klarheit auseinandergesetzt. Diese können
hier nicht erörtert werden, Nur Das will ich bemerken, dass,
wenn es sich um das Vorkommen einer Spezies an so unge-
heuer von einander entfernten Punkten handelt, wie Kerguelen-
Land, Neuseeland und Feuerland sind, nach meiner Meinung (wie
auch Lyeıı annimmt) Eisberge gegen das Ende der Eis-Zeit
hin sich reichlich an deren Verbreitung betheiligt haben dürften.
Aber das Vorkommen einiger völlig verschiedenen Arten aus
ganz südlichen Sippen an diesem oder jenem entlegenen Punkte
der südlichen Halbkugel ist nach meiner Theorie der Fortpflan-
zung mit Abänderung ein weit merkwürdigeres schwieriges Beispiel.
Denn einige dieser Arten sind so abweichend, dass sich nicht
annehmen lässt, die Zeit von Anbeginn der Eis-Periode bis jetzt
könne zu ihrer Wanderung und nachherigen Abänderung. bis
zur erforderlichen Stufe hingereicht haben. Diese Thatsachen
scheinen mir anzuzeigen, dass sehr verschiedene eigenthümliche
Arten in !strahlenförmiger Richtung von irgend einem gemein-
samen Zentrum ausgegangen; und ich bin geneigt mich auch in
der südlichen so wie in der nördlichen Halbkugel um eine wär-
mere Periode vor der Eis-Zeit umzusehen, wo die jetzt mit Eis
bedeckten antarktischen Länder eine ganz eigenthümliche und
abgesonderte Flora besessen haben. Ich vermuthe, dass schon
vor der Vertilgung dieser Flora durch die Eis-Periode sich einige
wenige Formen derselben durch gelegentliche Transport-Mittel
bis zu verschiedenen weit entlegenen Punkten der südlichen
Halbkugel verbreitet hatten. Dabei mögen ihnen einige ent-
weder noch vorhandene oder bereits versunkene Inseln als
Ruheplätze gedient haben. Und so, glaube ich, haben die süd-
lichen Küsten von Amerika, Neuholland und Neuseeland eine
ähnliche Färbung durch gleiche eigenthümliche Formen des Pflan-
zen-Lebens erhalten. |
Sir Cu. Lyeı hat sich in einer der meinen last ähnlichen
Weise in Vermuthungen ergangen über die Einflüsse grosser
- 387
Schwankungen des Klimas auf die geographische Verbreitung der
Lebenformen. Ich glaube also, dass die Erd-Oberfläche noch un-
längst einen von diesen grossen Kreisläufen erfahren hat, und
dass durch diese Unterstellung in Verbindung mit der Annahme
der Abänderung durch Natürliche Züchtung eine Menge von That-
sachen in der gegenwärtigen Vertheilung von identischen sowohl
als verwandten Lebenformen sich erklären lässt. Man könnte
sagen, die Ströme des Lebens seyen eine kurze Zeit von Norden
und von Süden her geflossen und hätten den Äquator gekreutzt;
aber die von Norden her seyen so viel stärker gewesen, dass
sie den Süden überschwemmt hätten. Wie die Gezeiten ihren Bei-
trieb in wagrechten Linien abgesetzt am Strande zurücklassen, jedoch
an verschiedenen Küsten zu verschiedenen Höhen ansteigen, so
haben auch jene Lebens-Ströme ihr lebendiges Drift auf unsern Berg-
Höhen hinterlassen in einer von den arktischen Tiefländern bis zu
grossen Äquatorial-Höhen langsam ansteigenden Linie. Die ver-
schiedenen auf dem Strande zurückgelassenen Lebenwesen kann
man mit wilden Menschen-Rassen vergleichen, die fast allerwärts
zurückgedrängt sich noch in Bergfesten erhalten als interes-
sante Überreste der ehemaligen Bevölkerung umgebender Flach-
länder.
Z4wöfltes Kapitel.
Geographische Verbreitung.
(Fortsetzung.)
Verbreitung der Süsswasser-Bewohner. — Die Bewohner der ozeanischen
Inseln. — Abwesenheit von Batrachiern und Land-Säugthieren. — Be-
ziehungen zwischen den Bewohnern der Inseln und der nächsten Festlän-
der. — Über Ansiedelung aus den nächsten Quellen und nachherige Ab-
änderung. — Zusammenfassung der SBFTENBeR aus dem letzten und dem
gegenwärtigen Kapitel.
Da See’n und Fluss-Systeme durch Schranken von Trocken-
land von einander getrennt werden, so möchte man glauben,
dass Süsswasser-Bewohner nicht im Stande seyen sich aus einer
Gegend in weite Ferne zu verbreiten. Und doch verhält sich
25°
388
die Sache gerade entgegengesetzt. Nicht allein haben viele
Süsswasser-Bewohner aus ganz verschiedenen Klassen selbst eine
ungeheure Verbreitung, sondern einander nahe verwandte For-
men herrschen auch in auffallender Weise über die ganze Erd-
Oberfläche vor. Ich besinne mich noch wohl der Überraschung,
die ich fühlte, als ich zum ersten Male in Brasilien Süsswasser-
Erzeugnisse sammelte und die Süsswasser-Schaaler und -Kerb-
thiere mitten in einer ganz verschiedenen Bevölkerung des
-Trockenlandes den Britischen so ähnlich fand.
Doch kann dieses Vermögen weiter Verbreitung bei den
Süsswasser-Bewohnern, wie unerwartet es auch seyn mag, in
den meisten Fällen, wie ich glaube, daraus erklärt werden, dass
sie in einer für sie sehr nützlichen Weise von Sumpf zu
- Sumpf und von Strom zu Strom zu wandern fähig sind; woraus
sich denn die Neigung zu weiter Verbreitung als eine nothwen-
dige Folge ergeben dürfte. Doch können wir hier nur wenige
Fälle in Betracht ziehen. Was die Fische betrifft, so glaube ich,
. dass eine und dieselbe Spezies niemals in den Süsswassern weil
von einander entfernter Kontinente vorkommt; wohl aber ver-
breitet sie sich in einem nämlichen Festlande oft weit und in
anscheinend launischer Weise, so dass zwei Fluss-Systeme einen
Theil ihrer Fische miteinander gemein haben, während andre
Arten jedem derselben eigenthümlich sind. Einige wenige
Thatsachen scheinen ihre gelegenheitliche Versetzung aus einem
Fluss in den andern zu erläutern, wie deren in Ostindien schon
öfters von Wirbelwinden bewirkte Entführung durch die Luft,
wonach sie als Fisch-Regen wieder zur Erde gelangten, und wie
die Zählebigkeit ihrer aus dem Wasser entnommencn Eier. Doch
bin ich geneigt, die Verbreitung der Süsswasser-Fische vorzugs-
- weise geringen Höhenwechseln des Landes während der gegen-
wärtigen Periode zuzuschreiben, wodurch manche Flüsse veran-
lasst worden sind, sich in andrer Weise miteinander zu verbin-
den. Auch lassen sich Beispiele anführen, dass Diess ohne Ver-
. änderumgen in den wechselseitigen Höhen durch Fluthen bewirkt
. worden ist. Der Löss des Rheines bietet uns Belege für an-
sehnliche Veränderungen der Boden-Höhe in einer ganz neuen
389
geologischen Zeit dar, wo die Oberfläche schon mit ihren jetzi-
gen Arten von Binnenmollusken bevölkert war. Die grosse
‚Verschiedenheit zwischen den Fischen auf den entgegengeseizien
- Seiten von Gebirgs-Ketten, die schon seit früher Zeit die Was-
serscheide der Gegend gebildet und die Ineinandermündung, der
beiderseitigen Fluss-Systeme gehindert haben müssen, scheint
mir zum nämlichen Schlusse zu führen. Was das Vorkommen
verwandter Arten von Süsswasser-Fischen an sehr entfernten
Punkten der Erd-Oberfläche betrifft, so gibt es zweifelsohne viele
Fälle, welche zur Zeit nicht erklärt werden können. Inzwischen
‚stammen einige Süsswasser-Fische von sehr alten Formen ab,
welche mithin während grosser geographischer Veränderungen
Zeit und Mittel gefunden haben sich durch weite Wanderungen
zu verbreiten. Zweitens können Salzwasser-Fische bei sorgfäl-
-tigem Verfahren langsam ans Leben im Süsswasser gewöhnt
werden, und nach Varencıenses gibt es kaum eine gänzlich aufs
Süsswasser beschränkte Fisch-Gruppe. so dass wir uns vorstel-
len können, ein Meeres-Bewohner aus einer übrigens dem Süss-
wasser angehörigen Gruppe wandre der See-Küste entlang und
werde demzufolge abgeändert und endlich in Süsswassern eines
entlegenen Landes zu leben befähigt.
Einige Arten von Süsswasser-Konchylien haben eine sehr
„weite Verbreitung, und verwandte Arten, die nach meiner Theo-
rie von gemeinsamen Ältern abstammen und mithin aus einer
einzigen Quelle hervorgegangen sind, walten über die ganze
Erd-Oberfläche vor. Ihre Verbreitung setzte mich anfangs in
Verlegenheit, da ihre Eier nicht zur Fortführung durch Vögel
geeignet sind und wie die Thiere selbst durch Seewasser ge-
tödtet werden. Ich konnte daher nicht begreifen, wie es komme,
dass einige naturalisirte Art®h sich rasch durch eine ganze
Gegend verbreitet haben. Doch haben zwei von mir beobachtete
Thatsachen — und viele andre bleiben zweifelsohne noch ferne-
rer Beobachtung anheim gegeben — einiges Licht über diesen
Gegenstand verbreitet. Wenn eine Ente sich plötzlich aus
einem mit Wasserlinsen bedeckten Teiche erhebt, so bleiben oft,
wie ich zweimal gesehen habe, welche von diesen kleinen Pflan-
390
zen an ihrem Rücken hängen, und es ist mir geschehen, dass,
wenn ich einige Wasserlinsen aus einem Aquarium ins andre
versetzte, ich ganz absichtlos das letzte mit Süsswasser-Mollus-
ken des ersten bevölkerte. Doch ist ein andrer Umstand viel-
leicht noch wirksamer. In Betracht, dass Wasser-Vögel mitunter
in Sümpfen schlafen, hängte ich einen Enten-Fuss in einem
Aquarium auf, wo viele Eier von Süsswasser-Schnecken auszu-
kriechen im Begriffe waren, und fand, dass bald eine grosse
Menge der äusserst kleinen eben ausgeschlüpften Schnecken an
dem Fuss umherkrochen und sich so fest anklebten, dass sie von
dem heraus-genommenen Fusse nicht abgeschabt werden konnten,
obwohl sie in einem etwas mehr vorgeschrittenen Alter freiwil-
lig davon abliessen. Diese frisch ausgeschlüpften Weichthiere,
obschon zum Wohnen im Wasser bestimmt, lebten an dem En-
ten-Fusse in feuchter Luft wohl 12—20 Stunden lang, und wäh-
rend dieser Zeit kann eine Ente oder ein Reiher wenigstens
600—-700 Englische (140 Deutsche) Meilen weit fliegen und sich
dann wieder in einem Sumpfe oder Bache niederlassen, viel-
leicht auf einer ozeanischen Insel, wenn ein Sturm denselben
erfasst und über’s Meer hin verschlagen hatte. Auch hat mich
Sir Cm. Lyerı benachrichtigt, dass man einen Wasserkäfer (Dyti-
cus) mit einer ihm fest ansitzenden Süsswasser - Napfschnecke
(Ancylus) gefangen hat; und ein andrer Wasserkäfer aus der
Sippe Colymbetes kam einst an Bord des Beagle geflogen, als
dieser 45 Englische Meilen vom nächsten Lande entfernt war;
wie viel weiter er aber mit einem günstigen Winde noch gekom-
men seyn würde, Das vermag niemand zu sagen. dm
Was die Pflanzen betrifft, so ist es längst bekannt, was für
eine ungeheure Ausbreitung manche Süsswasser- und selbst
Sumpf-Gewächse 'auf den Festlärftern und bis zu den entfernte-
sten Inseln des Weltmeeres besitzen. Diess ist nach Aurh.
DeCanvorıe's Wahrnehmung am deutlichsten in solchen grossen
Gruppen von Landpflanzen zu ersehen, aus welchen nur einige
Glieder an Süsswassern leben ; denn diese letzten pflegen sofort
eine viel grössre Verbreitung als die übrigen zu erlangen. Ich
glaube, dass die günstigeren Verbreitungs-Mittel diese Erschei-
391
nung erklären können. Ich habe ‘vorhin der Erd - Theilchen
erwähnt, welche, wenn auch nur selten und zufällig einmal, an
Schnäbeln und Füssen der Vögel hängen bleiben. Sumpfvögel,
welche die schlammigen Ränder der Sümpfe aufsuchen, werden
meistens schmutzige Füsse haben, wenn sie plötzlich aulge-
scheucht werden. Nun lässt sich nachweisen, dass gerade Vögel
dieser Ordnung die grössten Wanderer sind und zuweilen auf
den entferntesten und ödesten Inseln des offenen Weltmeeres
angetroffen werden. Sie können sich nicht auf der Oberfläche
des Meeres niederlassen, wo der noch an ihren Füssen hängende
Schlamm abgewaschen werden könnte; und wenn sie ans Land
kommen, werden sie gewiss alsbald ihre gewöhnlichen Aufent-
halts-Orte an den Süsswassern aufsuchen. Ich glaube kaum dass
die Botaniker wissen, wie beladen der Schlamm der Sümpfe mit
Pflanzen-Sagmen ist; ich habe jedoch einige kleine ‚Beobachtun-
gen darüber gemacht, deren zutreffendsten Ergebnisse ich hier
imittheilen will. Ich: nahm im Februar drei Esslöffel voll Schlamm
von drei verschiedenen Stellen unter Wasser, am Rande eines
kleinen Sumpfes. Dieser Schlamm getrocknet wog 6°/, Unzen.
Ich bewahrte ihn sodann in meinem Arbeitszimmer bedeckt 6
Monate lang auf und zählte und riss jedes aufkeimende Pflänz-
chen aus. Diese Pflänzchen waren von mancherlei Art und 537
im Ganzen; und doch war all’ dieser zähe Schlamm in einer
einzigen Untertasse enthalten. Diesen Thatsachen gegenüber
würde es nun geradezu unerklärbar seyn, wenn es nicht mitun-
ter vorkäme, dass Wasser-Vögel die Saamen von Süsswasser-
Pflanzen in weite Fernen verschleppten und so zur immer weitern
Ausbreitung derselben beitrügen. Und derselbe Zufall mag hin-
sichtlich der Eier einiger kleiner Süsswasser-Thiere in Betracht
kommen.
Auch noch andre und mitunter unbekannte Kräfte mögen
dabei ihren Theil haben. Ich habe oben gesagt, dass Süsswas-
ser-Fische manche Arten Sämereien fressen, obwohl sie andre
Arten, nachdem sie solche verschlungen haben, wieder auswer-
fen; selbst kleine Fische verschlingen Saamen von mässiger
Grösse, wie die der gelben Wasserlilie»und des Potamogeton,
392
Hunderte und abermals Hunderte von Reihern u. a. Vögeln gehen
täglich auf den Fischfang aus; wenn sie sich erheben, suchen
sie oft andre Wasser auf oder werden auch zufällig übers Meer
getrieben; und wir haben gesehen, dass Saamen oft ihre Keim-
kraft noch besitzen, wenn sie in Gewölle, in Exkrementen u. dgl.
einige Stunden später wieder ausgeworfen werden. Als ich
die grossen Saamen der herrlichen Wasserlilie, Nelumbium, sah
und mich dessen erinnerte, was Arpuons DECANDOLLE über diese
Pflanze gesagt, so meinte ich ihre Verbreitung müsse ganz uner-
klärbar seyn. Doch Aupuson versichert, Saamen der grossen
südlichen Wasserlilie (nach Dr. Hooker wahrscheinlich das Ne-
' lumbium speeiosum) im Magen eines Reihers gefunden zu haben,
und, obwohl es mir als Thatsache nicht bekannt ist, so schliesse
ich doch aus der Analogie, dass, wenn ein Reiher in solchem
Falle nach einem andern Sumpfe flöge und dort,eing herzhafte
Fisch-Mahlzeit zu sich nähme, er wahrscheinlich aus seinem
Magen wieder einen Ballen mit noch unverdautem Nelumbium-
Saamen auswerfen würde; oder der Vogel kann diese Saamen
verlieren, wenn er seine Jungen füttert, wie er bekanntlich zu- .
weilen einen Fisch fallen lässt *.
Bei Betrachtung dieser verschiedenen Verbreitungs -Mittel
muss man sich noch erinnern, dass, wenn ein Sumpf oder Fluse
z. B. auf einer neuen Insel eben erst entsteht, er noch nicht bevöl-
kert ist und ein einzelnes Sämchen oder Eichen ‘gute Aussicht
auf Fortkommen hat. Auch wenn ein Kampf ums Daseyn zwi-
schen den Individuen der wenigen Arten, die in einem. Sumpfe
beisammen leben, bereits begonnen hat, so wird in Betracht, dass
die Zahl der Arten gegen die auf dem Lande doch geringer ist,
der Wettkampf auch wohl minder heftig als der zwischen den
Landbewohnern seye; ein neuer Eindringling, aus der Fremde
angelangt, würde mithin auch mehr Aussicht haben eine Stelle
* In diesem Falle wäre’ vielleicht wahrscheinlicher anzunehmen, der
Reiher habe einen Fisch verschlungen gehabt, welcher jene Saamen gefres-
sen hatte; und die Saamen würden keimfähig wieder zu Boden gelangt seyn,
wenn nun ein Raubvogel den Reiher zerrissen hätte. D. Übs.
393
zu. erobern, als ein neuer Kolonist auf dem trocknen Lande.
Auch dürfen wir nicht vergessen, dass einige und vielleicht viele
Süsswasser-Bewohner tief auf der Stufenleiter der Natur stehen
und wir mit’Grund annehmen können, dass solche tief organisirte
Wesen langsamer als die höher ausgebildeten abändern, demzu-
folge dann ein und die nämliche Art Wasser-bewohnender Orga-
nismen längre Zeit wandern kann, als die Arten des trocknen
Landes. Endlich müssen wir der Möglichkeit gedenken, dass
viele Süsswasser-bewohnende Spezies, nachdem sie sich über un-
geheure Flächen verbreitet, in den mitteln Gegenden derselben
wieder erloschen seyn können. Aber die weite Verbreitung der
Pflanzen und niederen Thiere des Süsswassers, mögen sie nun
ihre ursprüngliche Form unverändert bewahren oder in gewissem
Grade verändern, hängt nach meiner Meinung hauptsächlich von
der Leichtigkeit ab, womit ihre Saamen und Eier durch andere
Thiere und zumal höchst flugfertige Süsswasser - Vögel von
einem Gewässer zum ‚andern oft sehr entfernt gelegenen ver-
schleppt werden können. Die Natur hat wie ein sorgfältiger
Gärtner ihre Saamen von einem Beete von besondrer Beschaffen-
heit genommen und sie in ein andres gleichfalls angemessen zu-
bereitetes verpflanzt. |
Bewohner der ozeanischen Inseln) Wir kommen
nun zur letzten der drei Klassen von 'Thatsachen, welche ich
als diejenigen bezeichnet habe, welche die grössten Schwierig-
keiten für die Ansicht darbieten, dass, weil alle Individuen so-
wohl der nämlichen Art als auch nahe-verwandter Arten von
einem gemeinsamen Stammvater herkommen, auch alle von ge-
meinsamer Geburtsstätte aus sich über die entferntesten Theile
der Erd-Oberfläche, deren Bewohner sie jetzt sind, verbreitet
haben müssen. Ich habe bereits erklärt, dass ich nicht wohl mit
der Forses’schen Ansicht übereinstimmen kann, wonach alle In-
seln des Atlantischen Ozeans noch in der gegenwärtigen neue-
sten Periode mit einem der zwei Kontinente ganz oder fast ganz
zusammengehangen haben sollen. Diese Ansicht würde zwar
allerdings einige Schwierigkeiten beseitigen, dürfte aber keines-
wegs alle Erscheinungen hinsichtlich der Insel-Bevölkernng er-
394
klären. . In den nachfolgenden Bemerkungen werde ich mich
nicht auf die blosse Frage von der Vertheilung der Arten be-
schränken, sondern auch einige andre Thatsachen erläutern,
welche sich auf die zwei Theorien, die der selbstständigen
Schöpfung der Arten und die ihrer Abstammung von einander
mit fortwährender Abänderung beziehen.
Nur wenige Arten aller Klassen bewohnen ozeanische Inseln,
im Vergleich zu gleich grossen Flächen festen Landes, wie
Arpnons DeCAnvoLze in Bezug auf die Pflanzen und Worraston
hinsichtlich der Insekten behaupten. Betrachten wir die erheb-
liche Grösse und die manchfaltigen Standorte Neuseelands, das
über 780 Englische Meilen Breite hat, und vergleichen die Arten
seiner Blüthen-Pflanzen, nur 750 an der Zahl, mit denen einer
gleich grossen Fläche am Kap der guten Hoffnung oder in Neu-
holland, so müssen wir, glaube ich, zugestehen, dass etwas von
den physikalischen Bedingungen ganz Unabhängiges die grosse
Verschiedenheit der Arten-Zahlen veranlasst hat. Selbst die ein-
förmige Umgegend von Cambridge zählt 847 und das kleine Ei-
land Anglesea 764 Pflanzen-Arten; doch sind auch einige Farne
und einige eingeführte Arten in diesen Zahlen mitbegriffen und
ist die Vergleichung auch in einigen andern Beziehungen nicht
ganz richtig. Wir haben Beweise, dass das kahle Eiland Ascen-
sion bei seiner Entdeckung nicht ein halbes Dutzend Blüthen-
Pflanzen besass; jetzt sind viele dort naturalisirt, wie es eben
auch auf Neuseeland und auf allen andern ozeanischen Inseln
der Fall ist. Auf St. Helena nimmt man mit Grund an, dass
die naturalisirten Pflanzen und Thiere schon viele einheimische
Natur-Erzeugnisse gänzlich oder fast gänzlich vertilgt haben.
Wer also der Lehre von der selbstständigen Erschaffung aller
einzelnen Arten beipflichtet, der wird zugestehen müssen, dass
auf den ozeanischen Inseln keine hinreichende Anzahl bestens
angepasster Pflanzen und Thiere geschaffen worden seye, indem
der Mensch diese Inseln ganz absichtlos aus verschiedenen Quellen
viel besser und vollständiger als die Natur bevölkert hat.
Obwohl auf ozeanischen Inseln die Arten-Zahl der Bewohner
im Ganzen dürftig, so ist doch das Verhältniss der endemischen,
395
d. h. sonst nirgends vorkommenden Arten oft ausserordentlich
gross. Diess ergibt sich, wenn man z. B. die Anzahl der ende-
mischen Landschnecken auf Madeira, oder der endemischen
Vögel im Galapagos-Archipel mit der auf irgend einem Kontinente
gefundenen Zahl vergleicht und dann auch die beiderseitige Flä-
chen-Ausdehnung gegeneinander hält. Dieses war nach meiner
Theorie zu erwarten; denn, wie bereits erklärt worden, sind
Arten, welche nach langen Zwischenzeiten gelegenheitlich in einen
neuen und abgeschlossenen Bezirk kommen und dort mit neuen
Genossen zu kämpfen haben, in ausgezeichnetem Grade abzuän-
dern geneigt und bringen oft Gruppen modifizirter Nachkommen
hervor. Daraus folgt aber keineswegs, dass, weil auf einer In-
sel fast alle Arten einer Klasse eigenthümlich sind, auch die der
übrigen Klassen oder auch nur einer besondren Sektion dersel-
ben Klasse eigenthümlich seyn müsse; und dieser Unterschied
scheint theils davon herzurühren, dass diejenigen Arten, welche
nicht abänderten, leicht und gemeinsam eingewandert sind, so dass
ihre gegenseitigen Beziehungen nicht viel gestört wurden, theils
kann er aber, auch von der häufigen Ankunft unveränderter Ein-
wandrer aus dem Mutterlande und der nachherigen Kreutzung mit
vorigen bedingt seyn. Hinsichtlich der Wirkung einer solchen
Kreutzung ist zu bemerken, dass die aus derselben entspringen-
den Nachkommen ‘gewiss sehr kräftig werden müssen, indem
selbst eine zufällige Kreutzung wirksamer zu seyn pflegt, als
ınan voraus erwarten möchte. Ich will einige Beispiele anführen.
Auf den Galapagos-Eilanden gibt es 26 Landvögel, wovon 21
(oder vielleicht 23) endemisch sind, während von den 11 See-
vögeln ihnen nur zwei eigenthümlich angehören, und es liegt
auf der Hand, dass Seevögel leichter als Landvögel nach diesen
Eilanden gelangen können. Bermuda dagegen, welches ungefähr
eben so weit von Nord-Amerika, wie die Galapagos von Süd-
Amerika, entfernt liegt und einen eigenthümlichen Boden besitzt,
hat nicht eine endemische Art von Landvögeln, und wir wissen
aus Herrn J. M. Jones’ trefflichen Berichte über Bermuda,
dass sehr viele Nord-Amerikanische Vögel auf ihren grossen
jährlichen Zügen diese Insel theils regelmässig und theils, auch
396
einmal zufällig berühren. Madeira besitzt nicht eine eigenthüm-
liche Vogel-Spezies, und viele Europäische und Afrikanische Vö-
gel werden, wie mir Hr. E. V. Hırcourr gesagt, alljährlich dahin
verschlagen. So sind diese beiden Inseln Bermuda und Madeira
mit Vögel-Arten besetzt worden, welche schon seit langen Zeiten
in ihrer früheren Heimath mit einander gekämpft haben und ein-
ander angepasst worden sind. Nachdem sie sich nun in ihrer
neuen Heimath angesiedelt, hat jede Art den andern gegenüber
ihre alte Stelle und Lebensweise behauptet und mithin keine
neuen Modifikationen erfahren. Auch ist jede Neigung zur Ab-
änderung durch die Kreutzung mit den fortwährend aus dem
Mutterlande unverändert nachkommenden neuen Einwanderern
gehemmt worden. Madeira ist ferner von einer wundersamen
Anzahl’ eigenthümlicher Landschnecken-Arten bewohnt, während
nicht eine einzige Art von Weichthieren auf seine Küsten be-
schränkt ist. Obwohl wir nun nicht wissen, auf welche Weise die
meerischen Schaalthiere sich verbreiten, so lässt sich doch ein-
sehen, dass ihre Eier oder Larven vielleicht an Seetang und
Treibholz ansitzend oder an den Füssen der Wadvögel hängend
weit leichter als Land-Mollusken 300—400 Meilen weit über die
offne See fortgeführt werden können. Die verschiedenen Insek-
ten-Klassen auf Madeira scheinen analoge Thatsachen darzubieten.
Ozeanische Inseln sind zuweilen unvollständig in gewissen
Klassen, deren Stellen anscheinend durch andere Einwohner der-
selben eingenommen werden. So vertreten auf den Galapagos
Reptilien und auf Neuseeland Flügel-lose Riesen-Vögel die
Stelle der Säugthiere. Was die Pflanzen der Galapagos betriftt,
so hat Dr. Hooker gezeigt, dass das Zahlen-Verhältniss zwischen
den verschiedenen Ordnungen ein ganz anderes als sonst aller-
wärts ist. Solche Erscheinungen setzt man gewöhnlich auf Rech-
nung der physikalischen Bedingungen der Inseln; aber diese Er-
klärung dünkt mir etwas zweifelhaft zu seyn. Leichtigkeit der
. Einwanderung ist, wie mir scheint, wenigstens eben so wichtig
als die Natur der Lebens-Bedingungen gewesen.
Rücksichtlich der Bewohner abgelegener Inseln lassen sich
viele merkwürdige kleine Erscheinungen anführen. So haben
397
z. B. auf gewissen nicht mit Säugthieren besetzten Eilanden einige
endemische ‘Pflanzen prächtig mit Häkchen versehene Saamen;
und doch gibt es nicht viele Beziehungen, die augenfälliger wä-
ren, als die Eignung mit Haken besetzter Saamen für den Trans-
port durch die Haare und Wolle der Säugthiere. Dieser Fall bietet
nach meiner Meinung keine Schwierigkeit dar, indem Haken-reiche
Saamen leicht noch durch andere Mittel von Insel zu Insel ge-
führt werden können, wo dann die Pflanze etwas verändert, aber
ihre widerhakenigen Saamen behaltend eine endemische Form bil-
det, für welche diese Haken nun einen eben so unnützen An-
hang bilden,‘ wie es rudimentäre Organe, z. B. die runzeligen
Flügel unter den n-gewachsenen Flügeldecken mancher
insularen Käfer sind. Auch besitzen Inseln oft Bäume oder
Büsche aus Ordnungen, welche anderwärts nur Kräuter darbieten;
nun aber haben Bäume, wie Aıru. DECANDOLLE gezeigt hat, ge-
wöhnlich nur beschränkte Verbreitungs-Gebiete, was immer die
Ursache dieser Erscheinung seyn mag. Daher ergibt sich dann
ferner, dass Baum-Arten wenig geeignet sind, entlegene Orga-
nische Inseln zu erreichen; und eine Kraut-artige Pflanze, wenn
sie auch keine Aussicht auf Erfolg im Wettkampfe mit einem
schon vollständig entwickelten Baume hat, kann, wenn sie bei
ihrer ersten Ansiedelung auf einer Insel nur mit andern Kraut-
artigen Pflanzen allein in Mitbewerbung tritt, leicht durch immer
höher strebenden Wuchs ein Übergewicht über dieselben erlangen.
Ist Diess der Fall, so mag Natürliche Züchtung der Wuchs Kraut-
artiger Pflanzen, die auf einer ozeanischen Insel wachsen, aus
welcher Ordnung sie immer seyn mögen, olt etwas zu verstär-
ken und dieselben erst in Büsche und endlich in Bäume zu ver-
wandeln geneigt seyn. ”
Was die Abwesenheit ganzer Organismen-Ordnungen auf ozea-
nischen Inseln betrifft, so hat Bory pe Sr.-Viıncent schon längst
bemerkt, dass Batrachier (Frösche, Kröten und Molge) nie auf
einer der vielen Inseln gefunden worden sind, womit der grosse
Ozean besäet ist. Ich habe mich bemühet diese Behauptung zu
prüfen und habe sie genau richtig befunden. Wohl hat man mich
versichert, dass ein Frosch aul den Bergen der grossen Insel
398
Neuseeland lebe; aber ich vermuthe (wenn die Angabe richtig
ist), dass sich diese Ausnahme durch Glacial-Thätigkeit erklären
lasse. Dieser allgemeine Mangel an Fröschen, Kröten und Mol-
gen auf so vielen ozeanischen Inseln lässt sich nicht aus ihrer
natürlichen Beschaffenheit erklären, indem es vielmehr scheint,
dass dieselben recht gut für diese Thiere geeignet wären; denn
Frösche sind auf Madeira, den Azoren und auf Mauritius einge-
führt worden, um sie als Nahrungsmittel zu vervielfältigen. Da
aber bekanntlich diese Thiere so wie ihr Laich durch Seewasser
unmittelbar getödtet werden, so ist leicht zu ersehen, dass de-
ren Transport über Meer sehr schwierig seye und sie’aug diesem
Grunde auf keiner ozeanischen Insel existiren. Dagegen würde
es nach der Schöpfungs-Theorie sehr schwer seyn zu erklären,
wesshalb sie auf diesen Inseln nicht erschaffen worden seyen.
Säugthiere bieten einen andern Fall ähnlicher Art dar. Ich
habe die ältesten Reisewerke sorgfältig durchgangen und zwar
meine Arbeit noch nicht beendigt, aber bis jetzt noch kein un-
zweifelhaftes Beispiel gefunden, dass ein Land-Säugethier (von
den gezähmten Hausthieren der Eingebornen abgesehen) irgend
eine über 300 Engl. Meilen weit von einem Festlande oder
einer Kontinental-Insel entlegene Insel bewohnt habe; und viele
Inseln in viel geringeren Abständen entbehren derselben ebenfalls
gänzlich. Die Falklands-Inseln, welche von einem Woll-artigen
Fuchse bewohnt sind, scheinen zunächst eine Ausnahme zu ma-
chen, können aber nicht als ozeanisch gelten, da sie auf einer
mit dem Festlande zusammen-hängenden Bank liegen; und da
schwimmende Eisberge Fels-Blöcke an ihren westlichen Küsten
abgesetzt, so könnten dieselben auch wohl einmal Füchse mit-
gebracht haben, wie Das jetzt in den arktischen Gegenden
oft vorkommt. Doch kann man nicht behaupten, dass kleine
Inseln nicht auch kleine Säugthiere ernähren können; denn es
ist Diess in der That mit sehr kleinen Inseln der Fall, wenn sie
dicht an einem Kontinente liegen; und schwerlich lässt sich eine
Insel bezeichnen, auf der unsre kleinen Säugthiere sich nicht
naturalisirt und vermehrt hätten. Nach der gewöhnlichen An-
sicht von der Schöpfung könnte man sagen, dass nicht Zeit zur
399
‚Schöpfung von Säugthieren gewesen seye; viele vulkanische In-
seln sind zwar alt genug, wie sich theils aus der ungeheuren
Zerstörung, die sie bereits erfahren, und theils aus dem Vor-
kommen tertiärer Schichten auf ihnen ergibt; auch ist Zeit ge-
wesen zur Hervorbringung endemischer Arten aus andern Klas-
sen; und auf Kontinenten, nimmt man an, erscheinen und ver-
schwinden Säugthiere in rascherem Wechsel als die andern tiefer-
stehenden Thiere. Aber wenn auch Land-Säugethiere auf ozeani-
schen Inseln nicht vorhanden, so finden sich doch fliegende Säug-
thiere fast auf jeder Insel ein. Neuseeland besitzt zwei Fleder-
'mäuse, die sonst nirgends in der Welt vorkommen; die Norfolk-Insel,
der Viti-Archipel, die Bonins-Inseln, die Marianen- und Caro-
linen-Gruppen und Mauritius: alle besitzen ihre eigenthümlichen
Fledermaus-Arten. Warum, kann man nun fragen, hat die an-
gebliche 'Schöpfungs-Kraft auf diesen entlegenen Inseln nur Fle-
dermäuse und keine andern Säugthiere hervorgebracht? Nach
meiner Anschauungs-Weise lässt sich diese Frage leicht beant-
worten, da kein Land-Säugthier über so weite Meeres-Strecken
hinwegkommen kann, welche Fledermäuse noch zu überfliegen
im Stande sind. ‘Man hat Fledermäuse bei Tage weit über den
Atlantischen Ozean ziehen sehen und zwei Nord-Amertikanische
Arten derselben besuchen die Bermuda-Insel, 600 Engl. Mei-
len vom Festlande, regelmässig oder zufällig. Ich höre von
Mr. Tomes, welcher diese Familie näher studirt hat, dass viele
Arten derselben einzeln genommen eine ungeheure Verbreitung
besitzen und sowohl auf Kontinenten als weit entlegenen Inseln
zugleich vorkommen. Wir brauchen daher nur zu unterstellen,
dass solche wandernde Arten durch Natürliche Züchtung der Be-
dingungen ihrer neuen Heimath angemessen modifizirt worden
seyen, und wir werden das Vorkommen von Fledermäusen auf
solchen Inseln begreifen, wo sonst keine Land-Säugthiere vor-
handen sind.
Neben der Abwesenheit der Land-Säugthiere auf Inseln,
welche von Kontinenten entlegen sind, ist noch eine andre Be-
ziehung in einer bis zu gewissem Grade davon unabhängigen
Weise zu berücksichtigen, ‘die Beziehung nämlich zwischen der
400
Tiefe des eine Insel vom Festlande trennenden Meeres und dem
Vorkommen gleicher oder verwandter Säugthier-Arten auf beiden,
Hr. Winosor Earı hat einige treffende Beobachtungen in dieser
Hinsicht über den grossen Malayischen Archipel gemacht, welcher
in der Nähe von Celebes vou einem Streifen sehr tiefen Meeres
durchschnitten wird, der zwei ganz verschiedene Säugthier-Fau-
nen trennt. Auf der einen Seite desselben liegen die Inseln auf
mässig tiefen untermeerischen Bänken und sind von einander
nahe verwandten oder ganz identischen Säugthier-Arten be-
wohnt. Allerdings kommen auch in dieser Insel-Gruppe einige
wenige Anomalien vor und ist es in einigen Fällen ziemlich
schwer zu beurtheilen, in wie ferne die Verbreitung gewisser
Säugthiere durch Naturalisirung von Seiten des Menschen be-
dingt ist; inzwischen werden die eifrigen Forschungen des
Hrn. Warzace bald mehr Licht auf die Naturgeschichte dieser
Inseln werfen. Ich habe bisher nicht Zeit gefunden, diesem Ge-
genstand auch in andern Welt-Gegenden nachzuforschen; so weit
ich aber damit gekommen bin, bleiben die Beziehungen sich
gleich. Wir sehen. Britannien durch einen schmalen Kanal vom
Europäischen Festlande getrennt, und die Säugthier-Arten sind
auf beiden Seiten die nämlichen. Ähnlich verhält es sich mit
vielen nur durch schmale Meerengen von Neuholland geschie-
denen Eilanden. Die Westindischen Inseln stehen auf einer fast
1000 Faden tief untergetauchten Bank; und hier finden wir zwar
Amerikanische Formen, aber von denen des Festlandes verschie-
dene Arten und Sippen. Da das Maass der Abänderung überall
in gewissem Grade von der Zeit-Dauer abhängt und es eher an-
zunehmen ist, dass durch seichte Meerengen abgesonderte In-
seln länger als die durch tiefe Kanäle geschiedenen mit dem
Festlande in Zusammenhang geblieben sind, so vermag man den
Grund einer oftmaligen Beziehung zwischen der Tiefe des Meeres
und dem Verwandtschafts-Grad einzusehen, der zwischen der
Säugthier-Bevölkerung einer Insel und derjenigen des benachbarten
Festlandes besteht, eine Beziehung, welche bei Annahme einer
selbstständigen Schöpfung jeder Spezies ganz unerklärbar bleibt.
Alle vorangehenden Wahrnehmungen über die Bewohner
a0
ozeanischer Eilande, insbesondere die Spärlichkeit der Arten,
die Menge endemischer Formen in einzelnen Klassen oder deren
Unterabtheilungen, das Fehlen ganzer Gruppen wie der Batrachier
und der am Boden lebenden Säugthiere trotz der Anwesenheit
fliegender Fledermäuse, die eigenthümlichen Zahlen- Verhältnisse
- in manchen Pflanzen-Ordnungen, die Verwandlung Kraut- -artiger
Pflanzen - Formen in Bäume, alle scheinen sich mit der An-
sicht, dass im Verlaufe langer Zeiträume gelegenheitliche Trans-
port-Mittel viel zur Verbreitung der Organismen mitgewirkt haben,
besser als mit der Meinung zu vertragen, dass alle unsre ozea-
nischen Inseln vordem in unmittelbarem Zusammenhang mit dem
nächsten Festlande gestanden seyen; denn in diesem letzten
Falle würde die Einwanderung wohl vollständig gewesen seyn
und müssten, wenn nıan Abänderung zulassen will, alle Leben-
formen in gleicherer Weise, der äussersten Wichtigkeit der
Beziehung von Organismus zu Organismus entsprechend, modifi-
zirt worden seyn.
Ich will nicht läugnen, dass da noch viele und grosse Schwie-
rigkeiten vorliegen zu erklären, auf welche Weise manche
Bewohner vereinzelter Inseln, mögen sie nun ihre anfängliche
Form beibehalten oder seit ihrer Ankunft abgeändert haben, bis
zu ihrer gegenwärtigen Heimath gelangt seyen. Ich will nur ein
Beispiel dieser Art anführen. Fast alle und selbst die abgele-
oensten und kleinsten ozeanischen Inseln sind von Land-Schnecken
bewohnt, und zwar meistens von endemischen, doch zuweilen
auch von anderwärts vorkommenden Arten. Dr. Aus. A. GouL
hat einige interessante Fälle von Land-Schnecken auf den Inseln
des stillen Meeres mitgetheil. Nun ist es eine anerkannte,
Thatsache, dass Land-Schnecken durch Salz sehr leicht zu tödten
sind, und ihre Eier (oder wenigstens diejenigen, womit ich Ver-
suche angestellt) sinken im See-Wasser unter und verderben.
Und doch muss es meiner Meinung nach irgend ein unbekanntes
aber höchst wirksames Verbreitungs-Mittel für dieselben geben.
Sollten vielleicht die jungen eben dem Eie entschlüpften Schneckchen
an den Füssen irgend eines am Boden ausruhenden Vogels empor-
kriechen und dann von ihm weiter getragen werden? Es kam
26
402
mir vor, als ob Land-Schnecken, im Zustande des Winterschlafs
begriffen und mit einem Winterdeckel auf ihrer Schaalen-Mün-
dung versehen, in Spalten von Treibholz über ziemlich breite
See-Arme müssten geführt werden können, ohne zu leiden. Ich
fand sodann, dass verschiedene Arten in diesem Zustande ohne
Nachtheil sieben Tage lang im See-Wasser liegen bleiben können.
Eine dieser Arten war Helix pomatia, die ich nach längerer.
Winterruhe noch zwanzig Tage lang in See-Wasser legte, worauf
sie sich wieder vollständig erholte. Da diese Art einen dicken
kalkigen Deckel besitzt, so nahm ich ihn ab, und als sich hierauf
wieder ein neuer häutiger Deckel gebildet hatte, tauchte ich sie
noch vierzehn Tage in See-Wasser, worauf sie wieder vollkom-
men zu sich kam und davon kroch; indessen weitere Versuche
in dieser Beziehung fehlen noch.
Die triftigste und für uns wichtigste Thatsache hinsichtlich
der Insel-Bewohner ist ihre Verwandtschaft mit den Bewohnern
des nächsten Festlandes, ohne ınit denselben von gleichen Arten
zu seyn. Davon liessen sich zahllose Beispiele anführen. Ich
will mich jedoch auf ein einziges beschränken, auf das der Galapa-
gos-Inseln, welche 500-600 Engl. Meilen von der Küste Süd-
Amerika’s liegen. Hier trägt fast jedes Land- wie Wasser-Pro-
dukt ein unverkennbares kontinental - amerikanisches Gepräge.
Dabei befinden sich 26 Arten Land-Vögel, von welchen 21 oder
vielleicht 23 als eigenthümliche und hier geschaffene Arten an-
gesehen werden; und doch ist die nahe Verwandtschaft der ınei-
sten dieser Vögel mit Amerikanischen Arten in jedem ihrer Cha-
raktere, in Lebens-Weise, Betragen und Ton der Stimme offenbar.
So ist es auch mit andern Thieren und, wie Dr. Hooker in sei-
nem ausgezeichneten Werke über die Flora dieser Insel-Gruppe
gezeigt, mit fast allen Pflanzen. Der Naturforscher, welcher die
Bewohner dieser vulkanischen Inseln des stillen Meeres betrach-
tet, fühlt, dass er auf Amerikanischem Boden steht, obwohl er
noch einige hundert Meilen von dem Festlande entfernt ist. Wie
mag Diess kommen? Woher sollten die, angeblich nur im
Galapagos-Archipel und sonst nirgends erschaffenen Arten die-
sen so deutlichen Stempel der Verwandtschaft mit den in Ame-
I Be Be
403
rika geschaffenen haben? Es ist nichts in den Lebens - Bedin-
gungen, nichts in der geologischen Beschaffenheit, nichts in der
Höhe oder dem Klima dieser Inseln noch in dem Zahlen-Ver-
hältnisse der verschiedenen hier zusanmen-gesellten Klassen,
was den Lebens-Bedingungen auf den Süd-Amerikanischen Kü-
sten sehr ähnlich wäre; ja es ist sogar ein grosser Unterschied
in allen Beziehungen vorhanden. Anderseits aber ist eine grosse
Ähnlichkeit zwischen der vulkanischen Natur des Bodens, dem
Klima ‘und der Grösse und Höhe der Inseln :der Galapagos
einer- und der Capverdischen Gruppe ander-seits. Aber welche
unbedingte und gänzliche Verschiedenheit in ihren Bewohnern!
Die der Inseln des grünen Vorgebirges stehen zu Afrika im
nämlichen Verhältnisse, wie die der Galapagos zu Amerika. Ich
glaube, diese bedeutende Thatsache hat von der gewöhnlichen
Annahme einer unabhängigen Schöpfung der Arten keine Erklä-
rung zu erwarten, während nach der hier aufgestellten Ansicht
es offenbar ist, dass die Galapagos entweder durch gelegenheit-
liche Transport Mittel oder in Folge eines früheren unmittelbaren
Zusammenhangs mit Amerika von diesem Welttheile, wie die
Capverdischen Inseln von Afrika aus, bevölkert worden sind,
und dass, obwohl diese Kolonisten Abänderungen erfahren haben,
sie doch ihre erste Geburts-Stätte durch das Vererblichkeits-Prin-
zip verrathen. 9)
Und so liessen sich noch viele analoge Fälle anführen; denn
es ist in der That eine fast allgemeine Regel, dass die endemi-
‚schen Erzeugnisse der Inseln mit denen der nächsten Festlän-
der oder andrer benachbarter Inseln in Beziehung stehen. Aus-
nahmen sind selten und gewöhnlich leicht erklärbar. So sind die
Pflanzen von Kerguelen - Land, obwohl dieses näher bei Afrika
als bei Amerika liegt, nach Dr. Hooxer's Bericht sehr enge
mit denen der Amerikanischen Flora verwandt; doch erklärt sich
diese Abweichung durch die Annahme, dass die genannte Insel
hauptsächlich durch strandende Eisberge bevölkert worden seye,
welche den vorherrschenden See-Strömungen folgend Steine und
Erde voll Saamen mit sich geführt haben. Neuseeland ist hin-
sichtlich seiner endemischen Pflanzen mit Neuholland als dem
26°
404
nächsten Kontinente näher als mit irgend einer andern Gegend
verwandt, wie es zu erwarten ist; es hat aber auch offenbare
Verwandtschaft mit Süd-Amerika, das, wenn auch das zweit-
nächste Festland, so ungeheuer entfernt ist, dass die Thatsache
als eine Anomalie erscheint. Doch auch diese Schwierigkeit
verschwindet grösstentheils unter der Voraussetzung, dass Neu-
seeland, Süd-Amerika u. a. südliche Länder vor langen Zeiten
theilweise von einem entfernt gelegenen Mittelpunkte, nämlich
von den antarktischen Inseln aus bevölkert worden seyen, vor
dem Anfange der Eis-Periode. Die, wenn auch nur schwache,
aber nach Dr. Hooxer doch thatsächliche Verwandtschaft zwischen
den Floren der südwestlichen Spitzen Australiens und des Caps
der guten Hoffnung ist ein viel merkwürdigerer Fall und für
jetzt unerklärlich; doch ist dieselbe auf die Pflanzen beschränkt
und wird auch ihrerseits sich gewiss eines Tages noch aufklä-
ren lassen.
Das Gesetz, vermöge dessen die Bewohner eines Archipels,
wenn auch in den Arten verschieden, zumeist mit denen des
nächsten Festlandes übereinstimmen, wiederholt sich zuweilen in
kleinerem Maassstabe aber in sehr interessanter Weise innerhalb
einer und der nämlichen Insel-Gruppe. Namentlich haben ganz wun-
derbarer Weise die verschiedenen Inseln des nur kleinen Galapa-
gos-Archipels, wie schon anderwärts gezeigt worden, ihre eigen-
thümlichen Bewohner, so dass fast auf jeder derselben andre
Arten vorkommen, welche aber in unvergleichbar näherer Ver-
wandtschaft zu einander stehen, als die irgend eines andern
Theiles der Welt. Und Diess ist nach meiner Anschauungs-
Weise zu erwarten gewesen, da die Inseln so nahe beisammen
liegen, dass alle zuverlässig ihre Einwanderer entweder aus
gleicher Urquelle oder eine von der andern erhalten haben müssen.
Aber man könnte gerade die Verschiedenheit zwischen den en-
demischen Bewohnern der einzelnen Inseln als Argument gegen
meine Ansicht gebrauchen; denn män könnte fragen, wie e$
komme, dass auf diesen verschiedenen Inseln, welche einander in
Sicht liegen und die nämliche geologische Beschaffenheit , dieselbe
Höhe und das gleiche Klima besitzen, so viele Einwanderer auf
405
jeder in einer andren und doch nur wenig verschiedenen Weise mo-
difizirt worden seyen? Diess ist auch mir lange Zeit als eine
grosse Schwierigkeit erschienen, was aber hauptsächlich von dem
tief eingewurzelten Irrthum herrührt, die physischen Bedingungen
einer Gegend als das Wichtigste für deren Bewohner zu be-
trachten, während doch nicht in Abrede gestellt werden kann,
dass die Natur der übrigen Organismen, mit welchen sie selbst
zu kämpfen haben, wenigstens ebenso hoch anzuschlagen und
_ gewöhnlich eine noch wichtigere Bedingung ihres Gedeihens
seye. Wenn wir nun diejenigen Bewöhner der Galapagos, welche
als nämliche Spezies auch in andern Gegenden der Erde noch
vorkommen (wobei für einen Augenblick die endemischen Arten
ausser Betracht bleiben müssen, weil wir die seit der Ankunft
dieser Organismen auf den genannten Inseln erfolgten Umände-
rungen untersuchen wollen), so finden wir einen grossen Unter-
schied zwischen den einzelnen Inseln selbst. Diese Verschieden-
heit wäre aus der Annahme erklärlich, dass die Inseln durch ge-
legenheitliche Transport-Mittel bestockt worden seyen, so dass z. B.
der Saame einer Pflanzen-Art zu einer und der einer andern zu
einer andern Insel gelangt wäre. Wenn daher in früherer Zeit
ein Einwandrer sich auf einer oder mehren der Inseln angesiedelt
oder sich später von einer zu der andern Insel verbreitet hätte,
so würde er zweifelsohne auf den verschiedenen Inseln verschie-
denen Lebens - Bedingungen ausgesetzt gewesen Seyn; denn er
hätte auf jeder Insel mit andern Organismen zu werben gehabt.
Eine Pflanze z. B. hätte den für. sie am meisten geeigneten
Grund auf der einen Insel schon vollständiger von andern Pflanzen
eingenommen gefunden, als auf der andern, und wäre den An-
griffen etwas verschiedener Feinde ausgesetzt gewesen. Wenn
sie nun abänderte, so wird die Natürliche Züchtung wahrschein-
lich auf verschiedenen Inseln verschiedene Varietäten begünstigt
haben. Einzelne Arten jedoch werden sich über die ganze
Gruppe verbreitet und überall den nämlichen Charakter beibe-
halten haben, wie wir auch auf Festländern manche weit Vver-
breitete Spezies überall unverändert bleiben sehen, |
406
Doch die wahrhaft überraschende Thatsache auf den Ga-
lapagos wie in minderem Grade in einigen anderen Fällen be-
steht darin, dass sich die neu-gebildeten Arten nicht über die
ganze Insel- Gruppe ausgebreitet haben. Aber die einzelnen In-
seln, wenn auch in Sicht von einander gelegen, sind durch tiefe
Meeres- Arme, meistens breiter als der britische Kanal von ein-
ander geschieden, und es liegt kein Grund zur Annahme vor,
dass sie früher unmittelbar mit einander vereinigt gewesen seyen,
Die Seeströmungen sind heftig und gehen queer durch den Archi-
pel hindurch, und heftige Windstösse sind ausserordentlich selten,
so dass die Inseln thatsächlich” stärker von einander geschieden
sind, als Diess beim Ansehen einer Karte scheinen mag. Dem-
ungeachtet sind doch ziemlich viele Arten, sowohl anderwärts vor-
kommende wie dem Archipel eigenthümlich angehörende, mehren
Inseln gemeinsam, und einige Verhältnisse führen zur Vermuthung,
dass diese sich wahrscheinlich von einem der Eilande aus zu den
andern verbreitet haben. Aber wir bilden uns, wie ich glaube,
oft eine irrige Meinung über die Wahrscheinlichkeit, dass nahe
verwandte Arten bei freiem Verkehre die eine ins Gebiet der
andern vordringen werden. Es unterliegt zwar keinem Zwei-
fel, dass, wenn eine Art irgend einen Vortheil über eine an-
dere hat, sie dieselbe in kurzer Zeit mehr oder weniger er-
setzen wird; wenn aber beide gleich gut für ihre Stellen in der
Natur gemacht sind, so.werden sie wahrscheinlich ihre eigenen
Plätze behaupten und für alle Zeit behalten. Wenn wir wissen,
dass viele von Menschen einmal naturalisirte Arten sich mit er-
staunlicher Schnelligkeit über neue Gegenden verbreitet haben,
so sind wir wohl zu glauben geneigt, dass die meisten Arten
es ebenso machen würden; aber wir müssen bedenken, dass
die in neuen Gegenden naturalisirten Formen gewöhnlich keine
nahen Verwandten der Ureinwohner, sondern eigenthümliche Ar-
ten sind, welche nach Aıpn. DeCanvorıg verhältnissmässig sehr
oft auch besondern Sippen angehören. Auf den Galapagos sind
sogar viele Vögel, welche ganz wohl im Stande wären von Insel
zu Insel zu fliegen, von einander verschieden, wie z. B. drei
einander nahe-stehende Arten von Spottdrosseln jede auf ein
407
besonderes Eiland beschränkt sind. Nehmen wir nun an, die Spott-
drossel von Chatam-Island werde durch einen Sturm nach Charles-
Island verschlagen, das schon seine eigene Spottdrossel hat,
wie sollte sie dazu gelangen sich hier festzusetzen? Wir dürfen
mit Gewissheit annehmen, dass Charles-Island mit ihrer eigenen
Art wohl besetzt ist, indem jährlich mehr Eier dort gelegt
werden als auskommen können, und wir dürfen ferner anneh-
men, dass die Art von Charles- Island für diese ihre Heimath
wenigstens eben so gut geeignet ist als der neue Ankömmling.
Sir Cu. Lyeu, und Hr. Worıaston haben mir eine merkwürdige
zur Erläuterung dieser Verhältnisse dienende Thatsache mitge-
theilt, dass nämlich Madeira und das dicht dabei gelegene Porto
Santo viele einander vertretende Landschnecken besitzen, von
welchen einige in Fels-Spalten leben; und obwohl grosse Stein-
Massen jährlich von Porto Santo nach Madeira gebracht werden,
so ist doch diese letzte Insel noch nicht mit den Arten von Porto
Santo bevölkert worden; aber auf beiden Inseln haben sich
Europäische Arten angesiedelt, weil sie zweifelsohne irgend einen
Vortheil vor den eingeborenen voraus hatten. Hiernach werden
wir uns nicht mehr sehr darüber wundern dürfen, dass die en-
demischen und die stellvertretenden Arten, welche die verschie-
denen Galapagos-Inseln bewohnen, sich noch nicht von Insel zu
Insel verbreitet haben. In vielen andern Fällen, wie in den ver-
schiedenen Bezirken eines Kontinentes, mag die frühere Besitz-
ergreifung durch eine Art wesentlich dazu beigetragen haben,
die Vermischung von Arten unter gleichen Lebens - Bedingungen
zu hindern. So haben die südöstliche und südwestliche Ecke
Neuhollands eine nahezu gleiche physikalische Beschaffenheit
und sind durch zusammenhängendes Land miteinander verkettet,
aber gleichwohl durch eine grosse Anzahl verschiedener Säuge-
thier-, Vögel- und Pflanzen-Arten bewohnt.
Das Prinzip, welches den allgemeinen Charakter der Fauna
und-Flora der ozeanischen Inseln bestimmt, dass nämlich deren
Bewohner, wenn nicht genau die nämlichen Arten, doch offen-
bar mit den Bewohnern derjenigen Gegenden am nächsten ver-
wandt sind, von welchen aus die Kolonisirung am leichtesten
de
408
stattfinden konnte, und dass die Kolonisten nachher abgeändert
und für ihre neue Heimath geschickter gemacht worden sind:
dieses Prinzip ist von der weitesten Anwendbarkeit in der gan-
zen Natur. Wir sehen Diess an jedem Berg, in jedem See, in
jedem Marschlande. Denn die alpinen Arten, mit Ausnahme der
durch die Glazial-Ereignisse weithin verbreiteten Formen haupt-
sächlich von Pflanzen, sind mit denen der umgebenden Tiefländer
verwandt; und so haben wir in Süd- Amerika alpine .Kolibris,
alpine Nager, alpine Pflanzen, aber alle von streng Amerikani-
schen Formen; und es liegt nahe, dass ein Gebirge während
seiner allmählichen Emporhebung aus den benachbarten Tief-
ländern auf natürliche Weise kolonisirt worden seye. So ist es
auch mit den Bewohnern der Seen und Marschen, so weit nicht
durch grosse Leichtigkeit der Überführung aus einer Gegend
in die andre die ganze Erd-Oberfläche mit den nämlichen allge-
meinen Formen versehen worden ist. Wir sehen dasselbe Prin-
zip bei den blinden Höhlen-Thieren Europas und Amerikas, so-
wie in manchen andern Fällen. Es wird sich nach meiner Mei-
nung überall bestätigen, dass, wo immer in.zwei sehr von
einander entfernten Gegenden viele nahe-verwandte oder stellver-
tretende Arten vorkommen, auch einige identische Arten vor-
handen sind, welche in Übereinstimmung mit der vorangehenden
Ansicht zeigen, dass in irgend einer früheren Periode ein Ver-
kehr oder eine Wanderung zwischen beiden Gegenden stalige-
(funden hat. Und wo immer nahe verwandte Arten vorkommen,
da werden auch viele Formen seyn, welche einige Naturforscher
als besondre Arten und andre nur als Varietäten betrachten,
Diese zweifelhaften Formen drücken uns die Stufen in der fort-
schreitenden Abänderung aus.
Diese Beziehung zwischen Wanderungs-Vermögen und Aus-
dehnung einer Art, (seye es in jetziger Zeit oder in einer
früheren Periode ‘unter verschiedenen natürlichen Bedingungen)
und dem Vorkommen andrer verwandter Arten in entfernten
Theilen der Erde ergibt sich in einer noch allgemeinern
Weise. Hr. Govıp sagte mir vor langer Zeit, dass in denjenigen
Vogel-Sippen, welche sich über die ganze Erde erstrecken, auch
409
viele Arten eine weite Verbreitung besitzen. Ich vermag kaum
zu bezweifeln, dass diese Regel allgemein richtig ist, obwohl Diess
schwer zu beweisen seyn dürfte. Unter den Säugthieren finden
wir sie scharf bei den Fledermäusen und in schwächerem Grade
bei den Hunde- und Katzen-artigen Thieren ausgesprochen. Wir
sehen -sie in der Verbreitung der Schmetterlinge und Käfer.
Und so ist es auch bei den meisten Süsswasser - Thieren, unter
welchen so viele Sippen über die ganze Erde reichen und viele
einzelne Arten eine ungeheure Verbreitung besitzen. Es soll
nicht behauptet werden, dass in den weit-verbreiteten Sippen alle
Arten in weiter. Ausdehnung vorkommen oder auch nur eine
durchschnittlich grosse Ausbreitung besitzen, sondern nur dass
es mit einzelnen Arten der Fall ist; denn die Leichtigkeit, wo-
mit weit verbreitete Spezies variiren und zur Bildung neuer
Formen Veranlassung geben, bestimmt ihre durchschnittliche Ver-
breitung in genügender Weise. So können zwei Varietäten einer
Art die eine Europa und die andere Amerika bewohnen, und
die Art hat dann eine unermessliche Verbreitung; ist aber die
Abänderung etwas weiter gediehen, so werden die zwei Varietä-
ten als zwei verschiedene Arten gelten und die Verbreitung einer
jeden wird sehr beschränkt erscheinen. Noch weniger soll
gesagt werden, dass eine Art, welche offenbar das Vermögen
besitzt, Schranken zu überschreiten und sich weit auszubreiten,
wie mancher langschwingige Vogel, sich auch weit ausbreiten
muss; denn wir dürfen nicht vergessen, dass zur weiten Ver-
breitung nicht allein das Vermögen Schranken zu überschreiten,
sondern auch noch das bei weitem wichtigere Vermögen gehört,
in fernen Landen den Kampf ums Daseyn mit den neuen Ge-
nossen siegreich zu bestehen. Aber nach der Annahme, dass
alle Arten einer Sippe, wenn gleich jetzt über die entferntesten
Theile der Erde zerstreut, von einem gemeinsamen Stamm-Vater
abstammen, müssten (und Diess ist, glaube ich, der Fall) wenig-
stens einige Arten eine weite Verbreitung besitzen; denn es ist
nothwendig, dass der noch unveränderte Ahne sich unter fort-
währender Abänderung weit verbreite und unter verschiedenartigen
Lebens-Bedingungen eine günstige Stellung für die Umgestaltung
410
seiner Nachkommen zuerst in neue Varietäten und endlich in
neue Arten gewinne. |
Bei Betrachtung der weiten Verbreitung mancher Sippen
dürfen wir nicht vergessen , dass viele derselben ausserordent-
lich alt sind und von einem gemeinsamen Stamm - Vater in einer
sehr frühen Periode abstammen müssen; daher in solchen Fällen
genügende Zeit war sowohl für grosse klimatische und geogra-
phische Veränderungen als für die Verpflanzung-vermittelnde Zu-
fälle, folglich auch für die Wanderung der Arten nach allen
Theilen der Welt, wo sie dann in einer den neuen Verhältnissen
angemessenen Weise abgeändert worden sind. Ebenso scheint
sich aus geologischen Nachweisungen zu ergeben, dass in jeder
Hauptklasse die tief-stehenden Organismen gewöhnlich langsamer
als die höheren Formen abändern; daher die tieferen Formen
mehr in der Lage gewesen sind, ihre spezifischen Merkmale lange
zu behaupten und sich damit weit zu verbreiten. Diese Thatsache
in Verbindung mit dem Umstande, dass die Saamen und Eier
vieler tief-stehenden Formen sich durch ihre ausserordentliche
Kleinheit zur weiten Fortführung vorzugsweise eignen, erklärt
wahrscheinlich zur Genüge ein Gesetz, welches schon längst be-
kannt und erst unlängst von Aırn. DeCAnooııe in Bezug auf die
Pflanzen vortrefflich erläutert worden ist: dass nämlich jede
Gruppe von Organismen sich zu einer um so weitren Verbreitung
eigne, je tiefer sie steht.
Die soeben erörterten Beziehungen, dass nömlich unvoll-
kommene und sich langsam abändernde Organismen sich weiter
als die vollkommenen verbreiten, — dass einige Arten weit aus-
gebreiteter Sippen selbst eine grosse Verbreitung besitzen, _
dass Alpen-, Sumpf- und Marsch-Bewohner (mit den angedeuteten
Ausnahmen) ungeachtet der Verschiedenheit der Standorte mit
denen der umgebenden Tief- und Trocken-Länder verwandt sind,
— dann die sehr enge Beziehung zwischen den verschiedenen
Arten, welche die einzelnen Eilande einer Insel - Gruppe be-
wohnen, — und insbesondere die auffallende Verwandtschaft
der Bewohner einer ganzen Insel-Gruppe mit denen des nächsten
Festlandes: alle diese Verhältnisse sind nach meiner Meinung
41
nach der gewöhnlichen Annahme einer unabhängigen Schöpfung
der einzelnen Arten völlig unverständlich, dagegen leicht zu er-
klären durch die Unterstellung stattgefundener Besiedelung aus
der nächsten oder gelegensten Quelle mit nachfolgender Abände-
rung und besserer Anpassung der Ansiedeler an ihre neue
Heimath.
- Zusammenfassung des letzten und des jetzigen
Kapitels.) In diesen zwei Kapiteln habe ich nachzuweisen ge-
strebt, dass, wenn wir unsre Unwissenheit über alle Folgen der
klimatischen und Niveau - Veränderungen der Länder, welche in
der laufenden Periode gewiss vorgekommen sind, und noch
andrer Veränderungen, die in derselben Zeit stattgefunden
haben mögen, gebührend eingestehen und unsre tiefe Unkennt-
niss der manchfaltigen gelegenheitlichen Transport-Mittel (wor-
über kaum jemals angemessene Versuche veranstaltet wor-
den sind) anerkennen, und wenn wir erwägen, wie oft
eine oder die andere Art sich über ein zusammenhängen-
des weites Gebiet ausgebreitet haben mag, um sofort in den
mitteln Theilen desselben zu erlöschen, so scheinen mir die
Schwierigkeiten der Annahme, dass alle Individuen einer Spezies
wo immer deren Wiege gestanden, von gemeinsamen Ältern ab-
stammen, nicht unübersteiglich zu seyn; und so‘ leiten uns
schliesslich Betrachtungen allgemeiner Art insbesondere über die
Wichtigkeit der natürlichen Schranken und die analoge Verthei-
lung von Untersippen, Sippen und Familien zur Annahme dessen,
was viele Naturforscher als einzelne Schöpfungs-Mittelpunkte be-
zeichnet haben.
Was die verschiedenen Arten einer nämlichen Sippe betrifft,
die nach meiner Theorie von einer Geburts - Stätte ausgegangen
seyn sollen, so halte ich, wenn wir unsre Unwissenheit so wie
vorhin eingestehen und bedenken, dass manche Lebenformen
nur sehr langsam abändern und mithin ungeheuer langer Zeit-
räume für ihre Wanderungen bedurften, die Schwierigkeiten nicht
für unüberwindlich, obgleich sie in diesem Falle so wie hinsicht-
lich ‘der Individuen einer nämlichen Art oft ausserordentlich
gross sind. 2
412
Um die Wirkungen des Klima-Wechsels auf die Vertheilung
der Organismen durch Beispiele zu erläutern, habe ich die
Wichtigkeit des Einflusses der Eis- Zeit nachzuweisen gesucht,
welche nach meiner vollen Überzeugung sich gleichzeitig über
die ganze Erd- Oberfläche oder wenigstens über grosse meri-
dianale Striche derselben erstreckt hat. Und um zu zeigen, wie
manchfaltig die gelegentlichen Transport-Mittel sind, habe ich die
Ausbreitungs-Weise der Süsswasser-Bewohner etwas ausführlicher
. auseinandergesetzt.
Wenn sich die Schwierigkeiten der Annahme, dass im Ver-
laufe langer Zeiten die Einzelwesen einer Art ebenso wie die
verwandten Arten von einer gemeinsamen Quelle ausgegangen,
sich nicht unübersteiglich erweisen, dann glaube ich, dass alle
leitenden Erscheinungen der geographischen Verbreitung mittelst
der Theorie der Wanderung (hauptsächlich der herrschen-
dern Lebenformen) und darauf-folgender Abänderung und Ver-
mehrung der neuen Formen erklärbar sind. Man vermag alsdann
die grosse Bedeutung der natürlichen Schranken — Wasser oder
Land — zwischen den verschiedenen botanischen wie zoologi-
schen Provinzen zu erkennen. Man vermag dann die örtliche
Beschränkung von Untersippen, Sippen und Familien zu be-
greifen, und woher es komme, dass in verschiedenen geogra-
phischen Breiten, wie z. B. in Süd- Amerika, die Bewohner der
Ebenen und Berge, der Wälder, Marschen und Wüsten, in so
geheimnissvoller Weise durch Verwandtschaft miteinander wie mit
den erloschenen Wesen verkettet sind, welche ehedem denselben
Welttheil bewohnt haben. Indem wir erwägen, dass die gegen-
seitigen Beziehungen von Organismus zu Organismus von höchster
Wichtigkeit sind, vermögen wir einzusehen, warum zwei Gebiete
mit beinahe den gleichen physikalischen Bedingungen von ver-
schiedenen Lebenformen bewohnt sind. Denn je nach der Länge
der seit der Ankunft der neuen Bewohner in einer Gegend ver-
flossenen Zeit, — je nach der Natur des Verkehrs, welcher ge-
wissen Formen gestattete und andern wehrte sich in grösserer
oder geringerer Anzahl einzudrängen, — je nachdem diese Ein-
dringlinge in mehr oder weniger unmittelbare Bewerbung mit-
u nenn nn nn
413
einander und mit den Urbewohnern geriethen oder nicht, — und
je nachdem dieselben mehr oder weniger rasch zu variiren fähig
waren: müssen in verschiedenen Gegenden, ganz unabhängig von
ihren physikalischen Verhältnissen , unendlich vermanchfachte Le-
bens-Bedingungen entstanden seyn, — muss ein fast endloser Be-
trag von organischer Wirkung und Gegenwirkung sich entwickelt
haben, — und müssen, wie es wirklich der Fall ist, einige
Gruppen von Wesen in hohem und andere nur in gerigem Grade
abgeändert, müssen einige zu grossem Übergewicht entwickelt und
andre nur in geringer Anzahl in den verschiedenen grossen geo-
graphischen Provinzen der Erde vorhanden seyn.
Nach diesen nämlichen Prinzipien ist es, wie ich nachzuweisen
versucht, auch zu begreifen, warum ozeanische Inseln nur we-
nige, aber der Mehrzahl nach. endemische oder eigenthümliche
Bewohner haben, und warum daselbst in Übereinstimmung mit den
Wanderungs-Mitteln eine Gruppe von Wesen lauter endemische und
die andere Gruppe, sogar in der nämlichen Klasse , lauter welt-
bürgerliche Arten darbietet. Es lässt sich einsehen, warum
ganze Gruppen von Organismen, wie Batrachier und Boden-Säuge-
thiere, auf den ozeanischen Inseln fehlen, während die meisten
vereinzelt liegenden Inseln ihre eigenthümlichen Arten von Luft-
Säugethieren oder Fledermäusen besitzen. Es lässt sich die Ur-
sache einer gewissen Beziehung erkennen zwischen der Anwesen-
heit von Säugthieren von mehr oder weniger abgeänderter Be-
schaffenheit und der Tiefe der die Inseln vom Festlande trennenden
Kanäle. Es ergibt sich deutlich, warum alle Bewohner einer
Insel-Gruppe, wenn auch auf jedem der Eilande von andrer Art,
doch innig miteinander und, in minderm Grade, mit denen des
nächsten Festlandes oder des sonst wahrscheinlichen Stammlandes
verwandt sind. Wir sehen endlich ein, warum in zwei, wenn
auch weit von einander entfernten, Länder-Gebieten eine gewisse
Wechselbeziehung in der Anwesenheit von identischen Arten, von
Varietäten, von zweifelhaften Arten und von verschiedenen aber
stellvertretenden Spezies zu erkennen ist.
Wie der verstorbene Epwarn Forses oft behauptet: € be-
steht ein strenger Parallelismus in den Gesetzen des Lebens durch
414
Zeit und Raum. Die Gesetze, welche die Aufeinanderfolge der
Formen in vergangenen Zeiten geleitet, sind fast die nämlichen,
wovon in der laufenden Periode deren Unterschiede in verschiede-
nen Länder-Gebieten abhängen. Wir erkennen Diess aus vielen
Thatsachen. Die Erscheinung jeder Art und Arten - Gruppe ist
zusammenhängend in der Zeit; denn der Ausnahmen von dieser
Regel sind so wenige, dass sie wohl am richtigsten daraus er:
klärt werden, dass wir deren in den mittlen Schichten vor-
kommenden Reste nur noch nicht entdeckt haben; — sie ist zu-
sammenhängend im Raume, indem die allerdings nicht seltenen
Ausnahmen sich dadurch erklären, dass jene Arten in einer
früheren Zeit unter abweichenden Verhältnissen in regelmässiger
Weise oder mittelst gelegenheitlichen Transportes über weite
Flächen gewandert, aber dann in-den mittlen Gegenden derselben
erloschen sind. Arten und Arten-Gruppen haben ein Maximum
der Entwickelung in der Zeit wie im Raum. Arten - Gruppen,
welche in einen gewissen Zeit-Abschnitt oder in einen gewissen
Rauın - Bezirk zusammengehören, sind oft durch besondre auf-
fallende Merkmale in Skulptur oder Farbe u. s. w. charakterisirt.
Wenn wir die lange Reihe verflossener Zeit- Abschnitte mit den
mehr und weniger weit über die Erd-Oberfläche vertheilten zoo-
logischen und botanischen Provinzen vergleichen , so finden wir
hier wie dort, dass einige Organismen nur wenig. differiren,
während andre aus andern Klassen, Ordnungen oder auch nur
Familien weit abweichen. In Zeit und Raum ändern die tieferen
Glieder jeder Klasse gewöhnlich minder als die höhern ab; doch
kommen in beiden auffallende Ausnahmen von dieser Regel vor.
Nach. meiner Theorie sind diese verschiedenen Beziehungen durch
Zeit und Raum ganz begreiflich; denn sowohl die Lebenformen,
welche in aufeinander-folgenden Zeitaltern innerhalb derselben
Theile der Erd-Oberfläche gewechselt, als jene, welche erst im
Verhältnisse ihrer Wanderungen nach andern Weltgegenden sich
abgeändert, beiderlei Formen ‘sind in jeder Klasse durch das
nämliche Band der Generation miteinander verkettet; und je naher
zwei Formen in Blutverwandtschaft zu einander stehen, desto
näher werden sie sich gewöhnlich auch in Zeit und Raum stehen.
—
415
In beiden Fällen sind die Gesetze der Abänderung die nämlichen
gewesen und sind Modifikationen durch die nämliche Kraft der
Natürlichen Züchtung gehäuft worden.
Dreizehntes Kapitel.
Wechselseitige Verwandtschaft organischer Körper; Mor-
phologie: Embryologie; Rudimentäre Organe.
Klassifikation: Unterordnung der Gruppen. — Natürliches System. —
Regeln und Schwierigkeiten der Klassifikation erklärt aus der Theorie der
Fortpflanzung mit Abänderung. — Klassifikation der Varietäten. — Abstam-
mung bei der Klassifikation gebraucht. — Analoge oder Anpassungs-Charak-
tere. — Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlenför-
mige. — Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen. — Morphologie:
zwischen Gliedern einer Klasse und zwischen Theilen eines Einzelwesens.
— Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, dass Abänderung nicht
in allen Lebens-Altern eintritt, aber in korrespondirendem Alter vererbt
wird. — Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt. — Zusammen-
fassung.
Von der ersten Stufe des Lebens an gleichen alle organi-
schen Wesen einander in immer weiter abnehmendem Grade,
so: dass man sie in Gruppen und Untergruppen klassifiziren
kann. Diese Gruppirung ist offenbar nicht willkürlich , wie
die der Sterne zu Gestirnen. Das Daseyn von Gruppen würde
eine vielfache Bedeutung haben, wenn eine Gruppe ausschliess-
lich für die Land- und eine andre für die Wasser-Bewohner, eine
für die Fleisch-, eine andre für die Pflanzen - Fresser u. S. W.
bestimmt wäre: in der Natur aber verhält sich die Sache sehr
abweichend, indem es bekannt ist, wie oft sogar Glieder einer
nämlichen Untergruppe verschiedene Lebens-Weisen besitzen. Im
zweiten und vierten Kapitel, von Abänderung und Natürlicher
' Züchtung handelnd, habe ich zu zeigen versucht, dass es die
weit verbreiteten, die überall gemeinen und die herrschenden
Arten grosser Sippen sind, die am meisten variiren. Die so ge-
bildeten Varietäten oder beginnenden Arten gehen, wie ich glaube,
allmählich in neue und verschiedene Arten über, welche nach
dem Vererbungs-Prinzip geneigt sind andre neue und herrschende
m Bi u a R &
416
Arten zu erzeugen. Demzufolge streben die Gruppen, welche
jetzt gross sind und gewöhnlich viele herrschende, Arten in sich
einschliessen, ohne Ende an Umfang zuzunehmen. Ich habe
weiter nachzuweisen gesucht, dass aus dem Streben der ab-
ändernden Nachkommen einer Art so viele und verschiedene
Stellen als möglich im Haushalte der Natur einzunehmen, eine
‚beständige Neigung zur Divergenz der Charaktere entspringt.
Diese Folgerung war unterstützt worden durch die Betrachtung
der grossen Manchfaltigkeit von Lebenformen, die auf den
kleinsten Feldern in Mitbewerbung zu einander gerathen, und
durch die Wahrnehmnng gewisser Thatsachen bei der Naturali-
sirung.
Ich habe weiter darzuthun versucht, dass bei den in Zahl
und in Divergenz des Charakters zunehmenden Formen ein fort-
währendes Streben vorhanden ist, die früheren minder diver-
genten und minder verbesserten Formen zu unterdrücken und zu
ersetzen. Ich ersuche den Leser, nochmals das Bild (S. 115)
anzusehen, welches bestimmt gewesen ist, diese verschiedenen
Prinzipien zu erläutern, und er wird finden, dass die einem ge-
meinsamen Stamm-Vater entsprossenen abgeänderten Nachkommen
unvermeidlich immer weiter in unterbrochenen Gruppen und Un-
tergruppen auseinanderlaufen müssen. In dem genannten Bilde
mag jeder Buchstabe der obersten Linie eine Sippe bezeichnen,
welche mehre Arten enthält, und alle Sippen dieser Linie bilden
miteinander eine Klasse, indem alle von einem gemeinsamen alten
aber unsichtbaren Stammvater entspringen und mithin irgend
etwas Gemeinsames ererbt haben. Aber die drei Sippen auf der
linken Seite haben diesem nämlichen Prinzip zufolge mehr mitein-
ander gemein und bilden eine Unterfamilie verschieden von der-
jenigen, welche die zwei rechts zunächst-folgenden einschliesst,
die auf der fünften Abstammungs - Stufe einem ihnen und jenem
gemeinsamen Siammvater entisprungen sind. Diese fünf Genera
haben auch noch Manches, doch weniger als vorhin miteinander
gemein und bilden miteinander eine Familie, verschieden von der
die nächsten drei Sippen weiter rechts umfassenden, welche sich
in einer noch früheren Periode von den vorigen abgezweigt hat.
417
Und alle diese von A entsprungenen Sippen bilden eine von der
aus I entsprossenen verschiedene Ordnung. So haben wir hier viele
Arten von gemeinsamer Abstammung in mehre Genera vertheilt,
und diese Genera bilden , indem sie zu immer grösseren Grup-
pen zusammentreten , erst Unterfamilien und Familien und dann
Ordnungen miteinander, welche zu einer Klasse gehören. So
erklärt sich nach meiner Ansicht in der Naturgeschichte die
grosse Erscheinung der Unterabtheilung der Gruppen, die uns
freilich in Folge unsrer Gewöhnung daran nicht mehr sehr auf-
zufallen pflegt. Ä
Die Naturforscher bemühen sich die Arten, Familien und
Sippen jeder Klasse in ein sogen. natürliches System zu ordnen.
Aber was ist Diess für ein System? Einige Schriftsteller be-
trachten es nur als ein Fachwerk, worin die einander ähnlichsten
Lebenwesen zusammen-geordnet und die unähnlichsten ausein-
ander-gehalten werden, — oder als ein künstliches Mittel um
allgemeine Beschreibungen so kurz wie möglich auszudrücken, so
dass, wenn man z. B. in einem Satz (Diagnose) die allen Säug-
thieren, in einem andern die allen Raub-Säugthieren und in einem
dritten die allen Hunde-artigen Raub-Säugthieren gemeinsamen Merk-
male zusammengefasst hat, man endlich im Stande ist, schon durch
Beifügung noch eines fernern Satzes eine vollständige Beschrei-
bung jeder beliebigen Hunde-Art zu liefern. Das Sinnreiche und
Nützliche dieses Systems ist unbestreitbar; doch glauben einige
Naturforscher, ‘dass das natürliche System noch eine weitre Be-
stimmung habe, nämlich die den Plan des Schöpfers zu enthül-
len; so lange als es aber keine Ordnung weder im Raume noch in
der Zeit nachweiset, und als nicht näher bezeichnet wird, was mit
dem »Plane des Schöpfers« gemeint seye, scheint mir damit für
unsre Kenntnisse nichts gewonnen zu seyn. Solche Ausdrücke, _
wie die berühmten Linse’schen, die wir oft in mancherlei Ein-
kleidungen versteckt wieder finden, dass nämlich die Charaktere
nicht die Sippe machen, sondern die Sippe die Charaktere geben
müsse, scheinen mir zugleich andeuten zu sollen, dass unsre
Klassifikation noch 'etwas mehr als blosse Ähnlichkeit zu berück-
siehtigen habe. "Und ich glaube in der That, dass es so der Fall
-
27
418
ist, und dass die auf gememschaftlicher Abstammung beruhende
Blutsverwandtschaft die einzige bekannte Ursache der Ähnlich-
keit organischer Wesen, das durch mancherlei Modifikations-
Stufen verborgene Band ist, welches durch natürliche Klassifikation
theilweise enthüllt werden kann.
Betrachten wir nun die bei der Klassifikation befolgten Re-
geln und die dabei vorkommenden Schwierigkeiten von der An-
nahme ausgehend, als ob die Klassifikation entweder einen unbe-
kannten Schöpfungs-Plan darstellen oder auch nur ein Mittel bie-
ten solle, um das Verwändte zusammenzustellen und dadurch die
allgemeinen Beschreibungen abzukürzen. Man könnte annehmen
und es ist in älteren Zeiten angenommen worden, dass diejenigen
Theile der Organisation, welche die Lebens-Weise und im Allge-
meinen den Platz bestimmen, welchen jedes Wesen im Haushalte
der Natur einnimmt, von erster Wichtigkeit seyen. Und doch kann
nichts unrichtiger seyn. Niemand legt mehr der äussern Ähnlich-
keit der Maus mit der Spitzmaus, des Dugongs mit dem Wale,
und des Wales mit dem Fisch einige Wichtigkeit bei. Diese Ähn-
lichkeiten, wenn auch in innigstem Zusammenhange mit dem
ganzen Leben des Thieres stehend, werden als blosse »analoge
oder Anpassungs -Charaktere« bezeichnet; doch werden wir auf
die Betrachtung dieser Ähnlichkeiten später zurückkommen. Man
kann es sogar als eine allgemeine Regel ansehen, dass, je
weniger ein Theil der Organisalion für Spezial-Zwecke bestimmt
ist, desto wichtiger er für die Klassifikation seye. So z. B. sagt
R. Owen, indem er vom Dugong spricht: »Ich habe die Genera-
tions- Organe, insoferne als sie mit Lebens - und Ernährungs-
Weise der Thiere in wenigst naher Beziehung stehen, immer
als solche betrachtet, welche die klarsten Andeutungen über die
wahren [tieferen] Verwandtschaften derselben zu liefern vermögen.
Wir sind am wenigsten der Gefahr ausgesetzt, in ihren Modifi-
kationen einen bloss adaptiven für einen wesentlichen Charakter zu
nehmen.« So ist es auch mit den Pflanzen. Wie merkwürdig
ist es nicht, dass die Vegetations-Organe, von welchen ihr Leben
überhaupt abhängig ist, ausser für die ersten Hauptabtheilungen,
so wenig zu bedeuten haben, während die Reproduktions-Werk-
419
zeuge und deren Erzeugniss, der Saame, von oberster Bedeu-
tung sind. | |
Wir dürfen uns daher bei der Klassifikation nicht auf Ähn-
lichkeiten zwischen Theilen der Organisation verlassen, wie be-
deutend sie auch für das Gedeihen des Wesens in seinen Be-
ziehungen zur äusseren Welt seyn mögen. Daher rührt es viel-
leicht auch zum Theile, dass fast alle Naturforscher die grösste
Wichtigkeit auf die Ähnlichkeit solcher Organe legen, welche in
physiologischer Hinsicht von hoher Bedeutung sind. Das ist auch
wohl im Allgemeinen , aber nicht in allen Fällen richtig. Jedoch
hängt die Wichtigkeit der Organe für die Klassifikation nach.
meiner Meinung hauptsächlich von der Beständigkeit ihrer Cha-
raktere in grossen Arten-Gruppen ab, und diese Beständigkeit
findet sich gerade bei solchen Organismen, welche zur Anpassung
an äussere Lebens-Bedingungen weniger abgeändert werden. Dass
aber auch die physiologische Wichtigkeit eines Organes seine Be-
deutung für die Klassifikation nicht allein bestimme , ergibt sich
deutlich schon aus der Thatsache allein, dass der klassifikatorische
Werth eines Organes in verwandten Gruppen, wo doch eine
gleiche physiologische Bedeutung desselben unterstellt werden
darf, oft weit verschieden ist. Kein Naturforscher kann sich mit
einer Gruppe näher beschäftigt haberi, ohne dass ihm Diess auf-
gefallen wäre, was auch in den Schriften fast aller Autoren voll-
kommen anerkannt wird. Es wird genügen, wenn ich ROBERT
Brown als den höchsten Gewährsmann zitire, indem er bei Erwäh-
nung gewisser Organe bei den Proteaceen sagt: ihre generische
Wichtigkeit »ist so wie die aller ihrer Theile nicht allein in dieser,
sondern nach meiner Erfahrung in allen natürlichen Familien sehr
ungleich und scheint mir in einigen Fällen ganz verloren zu
gehen.« Ebenso sagt er in einem andern Werke: die Genera
der Connaraceae »unterscheiden sich durch die Ein- oder Mehr-
zahl ihrer Ovarien, durch Anwesenheit oder Mangel des Eiweisses
und durch die schuppige oder klappenarlige Ästivation. Ein jedes
einzelne dieser Merkmale ist oft von mehr als generischer Wich-
tigkeit; hier aber erscheinen alle zusammen genommen UNZU-
reichend, um nur die Sippe Cnestis von Connarus zu unter-
41°
420
scheiden.« Ich will noch ein Beispiel von den Insekten entleh-
nen, wo in der Klasse der Hymenopteren nach Westwoons Be-
obachtung die Fühler in einer Hauptabtheilung von sehr beständiger
Bildung sind, während sie in andern Abtheilungen sehr abändern
und die Abweichungen oft von ganz untergeordnetem Werthe für
die Klassifikation sind; und doch wird niemand behaupten wollen,
dass die Fühler in diesen zwei Gruppen von ungleichem physiologi-
schem Werthe seyen. So liessen sich noch viele Beispiele von
der veränderlichen Wichtigkeit eines wesentlichen Organes für die
Klassifikation innerhalb derselben Gruppe von Organismen anführen.
Es. wird niemand behaupten, rudimentäre oder verkün-
merte Organe seyen von hoher physiologischer ‘Wichtigkeit, und
doch gibt es ohne Zweifel Organe welche in diesem Zustande für
die Klassifikation einen grossen Werth haben. So bestreitet nie-
mand, dass die Zahn-Rudimente im Oberkiefer junger Wiederkäuer
sowie gewisse Knochen-Rudimente in den Füssen sehr nützlich
sind, um die nahe Verwandtschaft der Wiederkäuer mit den
Dickhäutern zu beweisen. Und so bestund auch Rogerr BROWN
strenge auf der hohen Bedeutung, welche verkümmerte Blumen
der Gräser für ihre Klassifikation hätten.
Dagegen lässt sich eine Menge von Fällen nachweisen, wo
Charaktere an Organen von ganz zweifelhafter physiologischer
Wichtigkeit allgemein für sehr nützlich zur Bestimmung ganzer
Gruppen gelten. So ist z. B. der offne Durchgang von den Na-
senlöchern in die Mundhöhle nach R. Owen der einzige unbe-
dingte Unterschied zwischen Reptilien und Fischen; und eben so
wichtig ist die Einbiegung des hintern Unterrandes des Unter-
kiefers bei den Beutelthieren, die verschiedene Zusammenfaltungs-
Weise der Flügel bei den Insekten, die blasse Farbe bei gewis-
sen Algen, die Behaarung gewisser Blüthen-Theile bei den Grä-
sern, das Haar- und Feder-Kleid bei den zwei obren Wirbel-
thier-Klassen. Hätte der Ornithorhynchus ein Feder- stalt ein
Haar-Gewand, so würde dieser äussre unwesentlich scheinende
Charakter vielleicht von manchen Naturforschern als ein wichti-
ses Hilfsmittel zur Bestimmung des Verwandtschafts-Grades die-
ses sonderbaren Geschöpfes den Vögeln und den Reptilien gegen-
421
über, welchen es sich in einigen wesentlicheren inneren Struk-
tur-Verhältnissen nähert, angesehen werden.
Die Wichtigkeit an sich gleichgiltiger Charaktere für die
‚Klassifikation hängt hauptsächlich von ihrer Wechselbeziehung zu
manchen anderen mehr und weniger wichtigen Merkmalen ab.
In der That ist der Werth untereinander zusammenhängender
Chararaktere in der Naturgeschichte sehr augenscheinlich. Da-
her kann sich, wie oft bemerkt worden ist, eine Art in mehren
einzelnen Charakteren von hoher physiologischer Wichtigkeit wie
von allgemeiner Verbreitung weit-von ihren Verwandten entfer-
nen und uns doch nicht in Zweifel darüber lassen, wohin sie
gehört. Daher hat sich auch oft genug eine bloss auf ein ein-
ziges Merkmal, wenn gleich von höchster Bedeutung, gegründete
Klassifikation als mangelhaft erwiesen; denn kein Theil der -Orga-
nisation ist allgemein beständig. Die Wichtigkeit einer Verkettung
von Charakteren, wenn auch keiner davon wesentlich ist, erklärt
nach meiner Meinung allein den Ausspruch Linn£s, dass die Cha-.
raktere nicht das Genus machen, sondern dieses die ‚Charaktere
gibt; denn dieser Ausspruch scheint gegründet auf eine Würdi-
gung vieler untergeordneter Ähnlichkeits -Beziehungen, welche
für die Definition zu gering sind. Gewisse zu den Malpighiaceae
gehörige Pflanzen bringen vollkommene und verkümmerte Blü-
then zugleich hervor; die letzten verlieren nach A. pe Jussieu's
Bemerkung »die Mehrzahl der Art-, Sippen-, Familien- und selbst
Klassen -Charaktere und spotten mithin unsrer Klassifikation.«
Als aber die in Frankreich eingeführte Aspicarpa mehre Jahre
lang nur verkümmerte Blüthen lieferte, welche in einer Anzahl
der wichtigsten Punkte der Organisation so wunderbar von dem
eigentlichen Typus der Ordnung abwichen, da erkannte RıcHArD
scharfsichtig genug, wie Jussıeu bemerkt, dass diese Sippe unter
den Malpighiaceen zurückbehalten werden müsse. Dieser Fall
scheint mir den Geist wohl zu ‚bezeichnen, in welchem unsre
Klassifikationen zuweilen nothwendig gegründet sind.
In der Praxis bekümmern sich die Naturforscher nicht viel
um den physiologischen Werth des Charakters, dessen sie sich
zur Definition einer Gruppe oder bei Einordnung einer Spezies
422
bedienen. Wenn sie einen nahezu einförmigen nnd einer grossen
Anzahl von Formen gemeinsamen Charakter finden, der bei andern
nicht vorkommt, so betrachten sie ihn als sehr werthvoll; kömmt
er bei einer geringern Anzahl vor, so ist er von geringerem Werthe.
Zu diesem Grundsatze haben sich einige Naturforscher offen als zu
dem einzig richtigen bekannt, und keiner entschiedener als der
vortreffliche Botaniker Ausust $1.-Hıraıre. Wenn gewisse Cha-
raktere immer in Wechselbeziehung mit einander erscheinen,
mag auch ein bedingendes Band zwischen ihnen nicht zu ent-
decken seyn, so wird ihnen besondrer Werth beigelegt. Da in
den meisten Säugthier-Gruppen wesentliche Organe, wie die zur
Bewegung des Blutes, zur Athınung, zur Fortpflanzung bestimm-
ten, nahezu von gleicher Beschaffenheit sind, so werden sie bei
deren Klassifikation hoch gewerthet; wogegen wieder in andern
Gruppen alle diese wichtigsten Lebens-Werkzeuge nur Charak-
tere von ganz untergeordnetem Werthe darbieten.
Vom Embryo entnommene Charaktere erweisen sich von
gleicher Wichtigkeit, wie die der ausgewachsenen Thiere, indem
unsre Klassifikationen die Arten in allen ihren Lebens-Altern
umfassen. Doch scheint es sich aus der gewöhnlichen Anschau-
ungs-Weise keinesweges zu rechlfertigen, dass man die Struktur
des Embryos für diesen Zweck höher in Anschlag bringe als die
des erwachsenen Thieres, welches doch nur allein vollen Antheil
am Haushalte der Natur nimmt. Nun haben die grossen Natur-
forscher Mirne-Epwarns und L. Acassız scharf hervorgehoben,
dass embryonische Charaktere von allen die wichtigsten für die
Klassifikation sind, und diese Behauptung ist fast allgemein als
richtig aufgenommen worden. Sie entspricht auch den Blüthen-
Pflanzen ganz gut, deren zwei Hauptabtheilungen nur auf embryo-
nische Charaktere gegründet sind, nämlich auf die Zahl und Stel-
lung der Blätter des Embryos oder der Kotyledonen und auf die
Entwicklungs-Weise der Plumula und Radicula. In unsren em-
bryologischen Erörterungen werden wir den Grund einsehen,
wesshalb diese Charaktere so werthvoll sind, indem nämlich die auf
dieselben gegründete Klassifikations-Weise stillschweigend die Vor-
stellung von der gemeinsamen Abstammung der Arten anerkennt.
423
Unsre Klassifikationen stehen oft offenbar unter dem Ein-
flusse verwandtschaftlicher Verkettungen. Es ist nichts leichter,
als eine Anzahl allen Vögeln gemeinsamer Charaktere zu be-
zeichnen. während Diess hinsichtlich der Kruster noch nicht
möglich gewesen ist. Es gibt Kruster an den beiden Enden der
Reihe, welche kaum einen Charakter mit einander gemein haben;
aber da die an den zwei Enden stehenden Arten offenbar mit
andern und diese wieder mit andern Krustern u. S. w. verwandt
sind, so ergibt sich ganz unzweideutig, dass sie alle zu dieser
und zu keiner andern Klasse der Kerbthiere gehören.
Auch die geographische Verbreitung ist oft, wenn gleich
vielleicht nicht logischer Weise, zur Klassifikation mit benützt
worden, zumal in sehr grossen Gruppen einander nahe verwand-
ter Formen. Temmmek besteht auf der Nützlichkeit und selbst
Nothwendigkeit dieser Übung bei ‘gewissen Vögel-Gruppen ; wie
sie denn auch von einigen Entomologen und Botanikern in An-
wendung gekommen ist.
Was endlich die verglichenen Werthe der verschiedenen
Arten-Gruppen, wie Ordnungen und Unterordnungen, Familien und
Unterfamilien, Sippen u. s. w. betriflt, so scheinen sie wenig-
stens bis jetzt ganz willkürlich zu seyn. Einige der besten
Botaniker, wie Bentuam u. A., sind beharrlich auf ihrer Meinung
von deren willkürlichem Werthe geblieben. Man könnte bei
den Pflanzen wie bei den Insekten Beispiele anführen von Arten-
Gruppen, die von geübten Naturforschern erst nur als Sippen
aufgestellt und dann allmählich zum Rang von Unterfamilien und
Familien erhoben worden sind, und zwar nicht desshalb, weil
durch spätre Forschungen neue wesentliche Unterschiede in ihrer
- Organisation ausgemittelt worden wären, sondern nur in Folge
spätrer Entdeckung vieler verwandter Arten mil nur schwach
abgestuften Unterschieden.
Alle voranstehenden Regeln, Behelfe und Schwierigkeiten
der Klassifikation erklären sich, wenn ich mich nicht sehr täusche,
durch die Annahme, dass das natürliche System auf Fortpflan-
zung unter fortwährender Abänderung beruhe, dass diejenigen
Charaktere, welche nach der Ansicht der Naturforscher eine
424
ächte Verwandtschaft zwischen zwei oder 'mehr Arten darthun,
von einen gemeinsamen Ahnen ererbt sind und in so fern alle
ächte Klassifikation eine genealogische ist; — dass gemeinsame
Abstammung das unsichtbare Band ist, wornach alle Naturforscher
unbewusster Weise gesucht haben, nicht aber ein unbekannter
Schöpfungs-Plan, oder eine bequeme Form für allgemeine Beschrei-
bung, oder eine angemessene. Methode die Natur-Gegenstände
nach den Graden' ihrer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zu sortiren,
Doch ich muss meine Ansicht: vollständiger auseinander-
setzen. Ich glaube, dass die Anordnung der Gruppen in jeder
Klasse, ihre gegenseitige Nebenordnung und Unterordnung streng
genealogisch seyn muss, wenn sie natürlich seyn soll; dass
aber das Maass der Verschiedenheit zwischen den verschiedenen
Gruppen oder Verzweigungen, obschon sie alle in gleicher Bluts-
verwandtschaft mit ihrem gemeinsamen Stammvater stehen, sehr
ungleich seyn kann, indem dieselbe von den verschiedenen Gra-
den erlittener Abänderung abhängig ist; und Diess findet seinen
Ausdruck darin, dass die Formen in verschiedene Sippen, Fami-
lien, Sektionen und Ordnungen gruppirt werden. Der Leser
wird meine Meinung am besten verstehen, wenn er sich noch-
mals nach dem Bilde 5. 115 umsehen will. ‘Nehmen wir an, die
Buchstaben A bis L stellen verwandte Sippen vor, welche in der
silurischen Zeit gelebt und selber von einer Art abstammen, die
in einer unbekannten früheren Periode existirt hat. Arten von
dreien dieser Genera (A, F und I) haben sich in abgeänderten
Nachkommen bis auf den heutigen Tag fortgepflanzt, welche
durch die fünfzehn Sippen a!* bis z!* der obersten Reihe aus-
gedrückt sind. Nun sind aber alle diese abgeänderten Nachkom-
men einer einzelnen Art in gleichem Grade blutsverwandt zu
einander ; man könnte sie bildlich als Vettern im gleichen millon-
sten Grade bezeichnen; und doch sind sie weit und in unglei-
chem ‘Grade von einander verschieden. Die von A herstammen-
den Formen, welche nun in 2-3 Familien geschieden sind, bil-
den eine andre Ordnung als die zwei von I entsprossenen. Auch
können die von A abgeleiteten jetzt lebenden Formen eben so
wenig in eine Sippe mit ihrem Ahnen A, als die von I herkom-
425 S
menden in eine mit ihrem Stammvater I zusammengestellt wer-
den. Die noch jetzt lebende Sippe r!* dagegen mag man als
nur wenig modifizirt betrachten und demnach mit deren Stamm-
Sippe F vereinigen, wie es ja in der That noch jetzt einige
Genera gibt, welche mit silurischen übereinstimmen. So kommt
es, dass das Maass oder der Werth der Verschiedenheiten zwi-
schen organischen Wesen, die alle in gleichem Grade mit. einan-
der blutsverwandt sind, doch so ausserordentlich ungleich er-
scheint. Demungeachtet aber bleibt ihre genealogische Anord-
nungs-Weise vollkommen richtig nicht allein in der jetzigen son-
dern auch in allen künftigen Perioden der Fortstammung. Alle
abgeänderten Nachkommen von A haben etwas Gemeinsames von
ihrem gemeinsamen Ahnen geerbt, wie die des I von dem ihri-
gen, und so wird es sich auch mit jedem untergeordneten Zweige
der Nachkommenschaft in jeder späteren Periode verhalten. Un-
terstellen wir dagegen, einer der Nachkommen von A oder I
seye so sehr modifizirt worden, dass er die Spuren seiner Ab-
kunft von demselben mehr oder weniger eingebüsst 'habe, so
wird er im natürlichen Systeme nur eine mehr und weniger
abgesonderte Stelle einnehmen können, wie Diess bei einigen
noch ‘lebenden Formen wirklich der Fall zu seyn scheint. Von
allen Nachkommen der Sippe F ist der ganzen Reihe nach ange-
nommen, dass sie nur wenig modifizirt worden seyen und daher
gegenwärtig nur ein einzelnes Genus bilden. Aber dieses Genus
wird, sehr vereinzelt, eine eigene Zwischenstelle einnehmen;
denn F hielt ursprünglich seinem Charakter nach das Mittel zwi-
schen A 'und I, und die verschiedenen von diesen zwei Genera
herstammenden Sippen werden jedes von seiner Stamm - Sippe
etwas Gemeinsames geerbt haben. Diese natürliche Anordnung
ist, so viel es auf dem Papiere möglich, nur in viel zu einfacher
Weise, bildlich dargestellt. Hätte ich, statt der verzweigten
Darstellung, nur -die Namen der Gruppen in eine lineare Reihe
schreiben wollen, so würde es noch viel weniger möglich ge-
worden seyn, ein Bild vonder natürlichen Anordnung zu geben,
da es anerkannter Maassen unmöglich ist, in einer Linie oder
auf einer Fläche die Verwandtschaften zwischen den verschiede-
426
nen Wesen einer Gruppe darzustellen. So ist nach meiner An-
sicht das Natur-System genealogisch in seiner Anordnung, wie ein
Stammbaum, aber die Abstufungen der Modifikationen, welche die
verschiedenen Gruppen durchlaufen haben, müssen durch Einthei-
lung derselben in verschiedene sogenannte Sippen, Unterfamilien,
Familien, Sektionen, Ordnungen und Klassen ausgedrückt werden.
Zur Erläuterung dieser meiner Ansicht von der Klassifikation
mag ein Vergleich mit den Sprachen angemessen seyn. Wenn
wir einen vollständigen Stammbaum des Menschen besässen, so
würde eine genealogische Anordnung der Menschen-Rassen die
beste Klassifikation aller jetzt auf der ganzen Erde gesproche-
nen Sprachen abgeben; und,könnte man alle erloschenen und
mitteln Sprachen und alle langsam abändernden Dialekte mit auf-
nehmen, so würde diese Anordnung, glaube ich, die einzig mög-
liche seyn. Da könnte nun der Fall eintreten, dass irgend eine
sehr alte Sprache nur wenig abgeändert und zur Bildung nur
weniger neuen Sprachen gedient hätte, während andre (in Folge
der Ausbreitung und späteren Isolirung und Zivilisations-Stufen
einiger von gemeinsamem Stamm entsprossener Rassen) sich sehr
veränderten und die Entstehung vieler neuer Sprachen und Dia-
lekte veranlassten. Die Ungleichheit der Abstulungen in der
Verschiedenheit der Sprachen eines Sprach-Stammes müsste durch
Unterordnung der Gruppen unter einander ausgedrückt werden;
aber die eigentliche oder eben allein mögliche Anordnung könnte
nur genealogisch seyn; und Diess wäre streng naturgemäss , in-
dem auf diese Weise alle lebenden wie erloschenen Sprachen
je nach- ihren Verwandtschafts-Stufen mit einander verkettet und
der Ursprung und der Eutwickelungs-Gang einer jeden einzelnen
nachgewiesen werden würde.
Wir wollen nun, zur Bestätigung dieser Ansicht, einen Blick
auf die Klassifikation der Varietäten werfen, von welchen man
annimmt oder weiss, dass sie von einer Art abstaınmen. Diese
werden unter die Arten eingereihet und selbst in Unter-Varielä-
ten’ weiter geschieden; und bei unsren Kultur-Erzeugnissen wer-
den noch manche andre Unterscheidungs-Stufen angenommen,
wie wir bei den Tauben gesehen haben. Das Verhältniss der
427
Gruppen zu den Untergruppen ist dasselbe, wie das der Arten
zu den Varietäten; es ist verwandte Abstammung mit verschie-
denen Abänderungs-Stufen. Bei Klassifikation der Varietäten
werden fast die nämlichen Regeln, wie bei den Arten befolgt.
Manche Schriftsteller sind auf der Nothwendigkeit bestanden, die
Varietäten nach einem natürlichen statt künstlichen Systeme zu
klassifiziren; wir sind z. B. so vorsichtig, nicht zwei Kiefer-
Varietäten zusammenzuordnen, weil bloss ihre Frucht, ob-
gleich der wesentlichste Theil, zufällig nahezu übereinstimmt.
Niemand stellt den Schwedischen mit dem gemeinen Turnips
oder Rübsen zusammen, obwohl deren verdickter essharer Stiel
so ähnlich ist. Der beständigste Theil, welcher es immer seyn
mag, wird zur Klassifikation der Varietäten benützt; aber der
grosse Landwirth Marsnarı sagt, die Hörner des Rindviehs seyen
für diesen Zweck sehr nützlich, weil sie weniger als die Form
oder Farbe des Körpers veränderlich seyen, während sie bei
den Schaafen ihrer Veränderlichkeit wegen viel weniger brauch-
bar seyen. Ich stelle mir vor, dass, wenn man einen wirklichen
Stammbaum hätte, eine genealogische Klassifikation der Varietäten
allgemein vorgezogen werden würde, und einige Autoren haben
in der That eine solche versucht. Denn, mag ihre Abänderung
gross oder klein seyn, so werden wir uns doch überzeugt hal-
ten, dass das Vererbungs-Prinzip diejenigen Formen zusammen-
halte, welche in den meisten Beziehungen mit einander ver-
wandt sind. So werden alle Purzel- Tauben, obschon einige
Untervarietäten in der Länge des Schnabels weit von einander
abweichen, doch durch die gemeinsame Sitte zu purzeln unter
sich zusammengehalten, aber der kurzschnäbelige Stock hat
diese Gewohnheit beinahe abgelegt. Demungeachtet hält man
diese Purzler, ohne über die Sache nachzudenken oder zu Ur-
theilen, in einer Gruppe beisammen, weil sie einander durch
Abstammung verwandt und in manchen andern Beziehungen ähn-
lich sind. Liesse sich nachweisen, dass der Hottentott vom Neger
abstammte, so würde man ihn, wie ich glaube, unter den Neger
einreihen, wie weit er auch in Farbe und andern wichtigen Be-
ziehungen davon verschieden seyn mag.
428
Was dann die Arten in ihrem Natur-Zustande betrifft, so
hat jeder Naturforscher die Abstammung hei der Klassifikation
mit in Betracht gezogen, indem er in seine unterste Gruppe,
die Spezies nämlich, beide Geschlechter aufnahm, und wie un-
geheuer diese zuweilen sogar in den wesentlichsten Charakteren
von einander abweichen, ist jedem Naturforscher bekannt; so
haben Männchen und Hermaphroditen gewisser Cirripeden im
reifen Alter kaum ein Merkmal mit einander gemein, und doch
träumt niemand davon sie zu trennen. Der Naturforscher schliesst
in eine Spezies die verschiedenen Larven-Zustände des nämlichen
Individuums ein, wie weit dieselben auch unter sich und von
dem erwachsenen Thiere verschieden seyn mögen, wie er auch
die von Sreenstrup sogenannten Wechsel-Generationen mit ein-
begreift, die man nur in einem technischen Sinne noch als zum
nämlichen Individuum gehörig betrachten kann. Er schliesst Miss-
geburten, er schliesst Varietäten mit ein, nicht allein weil sie der
älterlichen Form nahezu gleichen. sondern weil sie von dersel-
ben abstammen. Wer glaubt, dass die grosse hellgelbe Schlüs-
selblume (Primula elatior) von der gewöhnlicheren kleinen und
dunkelgelben (Pr. veris) abstamme, oder umgekehrt, stellt sie in
eine Art zusammen und gibt eine gemeinsame Definition dersel-
ben. Sobald man wahrnahm, dass drei ehedem als eben so viele
Sippen aufgeführte Orchideen-Formen (Monochanthus, Myanthus
und Catasetum) zuweilen an der nämlichen Blüthen - Ähre bei-
sammensitzen, verband man sie unmittelbar zu einer einzigen
Spezies. |
Da die Abstammung bei Klassifikation der Individuen einer
Art trotz der oft ausserordentlichen Verschiedenheit zwischen
Männchen, Weibchen und Larven, allgemein maassgebend ist,
und da dieselbe bei Klassifikation von Varietäten, welche ein
gewisses und mitunter ansehnliches Maass von Abänderung erfah-
.ren haben, in Betracht gezogen wird: mag es dann nicht auch
vorgekommen seyn, dass man das nämliche Element ganz unbe-
wusst bei Zusammenstellung der Arten in Sippen und der Sip-
pen in höhere Gruppen angewendet hat, obwohl hier die Unter-
schiede beträchtlicher sind und eine längere Zeit zu ihrer Ent-
429
wickelung bedurft haben ? Ich glaube, dass es allerdings so ge-
schehen ist; und nur so vermag ich die verschiedenen Regeln
und Vorschriften zu verstehen, welche ‘von unsern besten Syste-
matikern befolgt worden sind. Wir haben keine geschriebenen
Stammbäume, sondern ermitteln die gemeinschaftliche Abstam-
mung nur vermittelst der Ähnlichkeiten irgend welcher Art. Daher
wählen wir Charaktere aus, die, so viel wir beurtheilen können,
durch die Beziehungen zu den äusseren Lebens-Bedingungen,
welchen jede Art in der laufenden Periode ausgesetzt gewesen
ist, am wenigsten verändert worden sind. Rudimentäre Gebilde
sind in dieser Hinsicht eben so gut und zuweilen noch besser,
als andre. Mag ein Charakter noch so unwesentlich erscheinen,
seye es ein eingebogner Unterkiefer-Rand, oder die Faltungs-
Weise eines Insekten-Flügels, sey es das Haar- oder Feder-Ge-
wand des Körpers: wenn sich derselbe durch viele und verschie-
denartige Spezies erhält, durch solche zumal, welche sehr un-
oleiche Lebens-Weisen haben, so nimmt er einen hohen Werth
an; denn wir können seine Anwesenheit in so vielerlei Formen
und mit so manchfaltigen Lebens-Weisen nur durch seine Er-
erbung von einem gemeinsamen Stamm-Vater erklären. Wir
können uns dabei hinsichtlich einzelner Punkte der Organisation
irren; wenn aber verschiedene noch so unwesentliche Charaktere
durch eine ganze grosse Gruppe von Wesen mit verschiedener
Lebens-Weise gemeinschaftlich andauern, so werden wir nach der
Theorie der Abstammung fest überzeugt seyn können, dass
diese Gemeinschaft , von Charakteren von einem gemeinsamen
Vorfahren ererbt ist. Und wir wissen, dass solche in Wechsel-
beziehung zu einander vorkommende Charaktere bei der. Klassi-
fikation von grossem Werthe sind. Es wird begreiflich, warum
eine Art oder eine ganze Gruppe von Arten in einigen ihrer
wesentlichsten Charaktere von ihren Verwandten abweichen und
doch ganz wohl mit ihnen zusammen klassifizirt werden kann.
Man kann Diess getrost ihun und hat es oft gethan, so lange
als noch eine genügende Anzahl von wenn auch unbedeutenden
Charakteren das verborgene Band gemeinsamer Abstammung
verräth. Denn sogar, wenn zwei Formen nicht einen einzigen
air a
430
Charakter gemeinsam besitzen, aber diese extremen Formen noch
durch eine Reihe vermittelnder Gruppen miteinander verkettet
sind, dürfen wir noch auf eine gemeinsame Abstammung schlies-
sen und sie alle zusammen in eine Klasse stellen. Da Charak-
tere von hoher: physiologischer Wichtigkeit, solche die zur Er-
haltung, des Lebens unter den verschiedensten Existenz-Bedin-
gungen dienen, gewöhnlich am beständigsten sind, so legen wir
ihnen grossen Werth bei; wenn aber diese Organe in einer
andern Gruppe oder Gruppen - Abtheilung sehr abweichen. so
schätzen wir sie hier auch bei der Klassifikation geringer.
Wir werden hiernach, wie ich glaube, klar einsehen, warum
embryonische Merkmale eine so hohe klassifikatorische Wich-
tigkeit besitzen. Die geographische‘ Verbreitung mag bei der
Klassifikation grosser und weit-verbreiteter Sippen zuweilen mit
Nutzen angewendet werden, weil alle Arten einer solchen Sippe,
welche eine eigenthümliche und abgesonderte Gegend bewohnen,
höchst wahrscheinlich von gleichen Ältern abstammen.
Aus diesem Gesichtspunkte wird es begreiflich, wie wesenl-
lich es ist, zwischen wirklicher Verwandtschaft und analoger oder
Anpassungs-Ähnlichkeit zu unterscheiden. LAmarck hat zuerst die
Aufmerksamkeit auf diesen Unterschied gelenkt, und MacıEAY
u. A. sind ihm darin glücklich gefolgt. Die Ähnlichkeit, welche
zwischen dem Dugong, einem den Pachydermen verwandten Thiere,
und den Walen in der Form des Körpers und der Bildung der
vordern ruderförmigen Gliedmaassen, und jene, welche zwischen
diesen beiderlei Thieren und den Fischen besteht, ist Analogie.
Bei den Insekten finden sich unzählige Beispiele dieser Art;
daher Linse, durch äussern Anschein verleitet, wirklich ein homo-
pteres Insekt unter die Motten gestellt hat. Wir sehen etwas
Ähnliches auch bei unseren kultivirten Pflanzen in den verdickten
Stämmen des gemeinen und des Schwedischen Rutabaga-Turnips.
Die Ähnlichkeit zwischen dem Windhund und dem Englischen
Wettrenner ist schwerlich eine mehr eingebildete, als andre von
einigen Autoren zwischen einander sehr entfernt stehenden Thie-
ren aufgesuchte Analogie'n. Nach meiner Ansicht, dass Cha-
raktere nur in so ferne von wesentlicher Wichtigkeit für die
431
Klassifikation sind, als sie die gemeinsame Abstammung aus-
drücken, lernen wir deutlicher einsehen, warum analoge oder
Anpassungs-Charaktere, wenn auch vom höchsten Werthe für das
Gedeihen der Wesen, doch für den Systematiker fast werthlos
sind. Denn zwei Thiere von ganz verschiedener Abstammung
können wohl ganz ähnlichen Lebens-Bedingungen angepasst und
sich daher äusserlich sehr ähnlich seyn; aber solche Ähnlichkeiten
- verralhen keine Bluts-Verwandtschaft, sondern sind vielmehr ge-
eignet, die wahren verwandtschaftlichen Beziehungen in Folge
gemeinsamer Abstammung zu verbergen. Wir begreifen ferner
das anscheinende Paradoxon, dass die nämlichen Charaktere ana-
loge seyn können, wenn eine Klasse oder Ordnung mit der an-
dern verglichen wird, aber für ächte Verwandtschaft zeugen,
woferne es sich um die Vergleichung von Gliedern der nämlichen
Klasse oder Ordnung unter einander handelt. So beweisen Kör-
per-Form und Ruderlfüsse der Wale nur eine Analogie mit den
Fischen, indem solche in beiden Klassen nur eine Anpassung
des Thieres zum Schwimmen im Wasser bezwecken; aber bei-
derlei Charaktere beweisen auch die nahe Verwandtschaft zwi-
schen den: Gliedern ‘wer Wal-Familie selbst; denn diese Wale
stimmen in so vielen grossen und kleinen Charakteren miteinan-
der überein, dass wir nicht an der Ererbung ihrer allgemeinen
Körper-Form und ihrer Ruderfüsse von einem gemeinsamen Vor-
fahren zweifeln können. Und eben so ist es mit den Fischen.
Da Glieder verschiedener Klassen oft durch zahlreich auf
einander-folgende geringe Abänderungen einer Lebens-Weise un-
ter nahezu ähnlichen Verhältnissen angepasst werden, um 2. B.
auf dem Boden, in der Luft oder im Wasser zu leben, so wer-
den wir vielleicht verstehen, woher es kommt, dass man zuwei-
len einen Zahlen-Parallelismus zwischen Untergruppen verschie-
dener Klassen bemerkt hat. Ein Naturforscher kann unter dem
Eindrucke, den dieser Parallelismus in einer Klasse auf ihn
macht. demselben dadurch, dass er den Werth der Gruppen in
andern Klassen etwas höher oder tiefer setzt (und alle unsre Er-
fahrung zeigt, dass Schätzungen dieser Art noch immer sehr
willkürlich sind), leicht eine grosse Ausdehnung geben; und so
432 &
sind wohl unsre sieben-, fünf-, vier- und drei-gliedrigen Systeme
entstanden.
Da die abgeänderten Nachkommen herrschender Arten grosser
Sippen diejenigen Vorzüge, welche die Gruppen, wozu sie gehören,
gross und ihre Altern herrschend gemacht haben, zu vererben
streben, so sind sie meistens sicher sich weit auszubreiten und
mehr oder weniger Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen.
So streben die grossen und herrschenden Gruppen nach immer
weiterer Vergrösserung und ersetzen demnach viele kleinere und
schwächere Gruppen. So erklärt sich auch die Thatsache, dass
alle erloschenen wie noch lebenden Organismen einige wenige
grosse Ordnungen in noch wenigeren Klassen bilden, die alle in
einem grossen Natur-Systeme enthalten sind. Um zu zeigen,
wie wenige an Zahl die oberen Gruppen und wie weit sie in
der Welt verbreitet sind, ist die Thatsache zutreffend, dass die
Entdeckung Neu-Hollands nicht ein Insekt aus einer neuen Klasse
geliefert hat, und dass im Pflanzen-Reiche, wie ich von Dr. Hoo-
RER vernehme, nur eine oder zwei kleine Ordnungen hinzuge-
kommen sind.
Im Kapitel über die geologische Aufeinanderfolge habe ich
nach dem Prinzip, dass im Allgemeinen jede Gruppe während
des lang-dauernden Modifikations-Prozesses in ihrem Charakter
sehr auseinander ‚gelaufen ist, zu zeigen mich bemühet, woher
es kommt, dass die ältern Lebenformen oft einigermaassen mittle
Charaktere zwischen denen der jetzigen Gruppen darbieten.
Einige wenige solcher alten und mitteln Stamm-Formen, welche
sich zuweilen in nur wenig abgeänderten Nachkommen bis zum
heutigen Tage erhalten haben, geben zur Bildung unsrer soge-
nannten schwankenden oder aberranten Gruppen Veranlassung.
Je abirrender eine Form ist, desto grösser muss die Zahl ver-
kettender Glieder seyn, welche gänzlich vertilgt worden und
verloren gegangen sind. Auch dafür, dass die aberranten For-
men sehr durch Erlöschen gelitten, haben wir einige Belege;
denn sie sind gewöhnlich nur durch einige wenige Arten ver-
treten, und auch diese Arten sind gewöhnlich sehr verschieden
von einander, was gleichfalls auf Erlöschung hinweist. Die
433
Sippen Ornithorhynchus und Lepidosiren z. B. würden nicht we-
niger aberrant seyn, wenn sie jede durch ein Dutzend statt nur
eine oder zwei Arten vertreten wären; aber solcher Arten-
Reichthum ist, wie ich nach mancherlei Nachforschungen finde,
den aberranten Sippen gewöhnlich nicht zu Theil geworden. Wir
können, glaube ich, diese Erscheinung nur erklären, indem wir
die aberranten Formen als Gruppen betrachten, welche, im Kampfe
mit siegreichen Mitbewerbern unterliegend, nur noch wenige
Glieder in Folge eines ungewöhnlichen Zusammentreflens günsti-
ger Umstände bis heute erhalten haben.
Hr. Wareruouse hat bemerkt, dass, wenn ein Glied aus einer .
Thier-Gruppe Verwandtschaft mit einer sehr verschiedenen an-
dern Gruppe zeigt, diese Verwandischaft in den meisten Fällen
eine Sippen- und nicht eine Art-Verwandtschaft ist. So ist nach
WATERHOUSE von allen Nagern die Viscasche* am nächsten mit
den Beutelthieren verwandt; aber die Charaktere, worin sie sich
den Marsupialen am meisten nähert, haben eine allgemeine Be-
ziehung zu den Beutelthieren und nicht zu dieser oder jener
Art im Besondern. Da diese Verwandtschafts-Beziehungen der
Viscasche zu den Beutelthieren für wesentliche gelten und nicht
Folge blosser Anpassung sind, so rühren sie nach meiner Theorie
von gemeinschaftlicher Ererbung her. Daher wir dann auch un-
terstellen müssen, entweder dass alle Nager einschliesslich der
Viscasche von einem sehr alten Marsupialen abgezweigt sind, der
einen einigermaassen mitteln Charakter zwischen denen aller
jetzigen Beutelthiere besessen, oder dass sowohl Nager wie Beu-
tellhiere von einem gemeinsamen Stammvater herrühren und
beide Gruppen durch starke Abänderung seitdem in verschie-
denen Richtungen auseinander gegangen sind. Nach beiderlei
Ansicht müssen wir annehmen, dass die Viscasche mehr von den
erblichen Charakteren des alten Stammvaters an sich behalten
habe, als sämmtliche anderen Nager; und desshalb zeigt sie keine
besonderen Beziehungen zu diesem oder jenem noch vorhandenen
Beutler, sondern nur indirekte zu allen oder fast allen Marsu-
* Ob Lagostomus oder Lagidium oder beide gemeint seyen, ist nicht zu er-
sehen, doch kann sich das oben Gesagte auf beide beziehen. D. Ubs.
28
434
pialen überhaupt, indem sie sich einen Theil des Cherakters des
gemeinsamen Urvaters oder eines früheren Gliedes dieser Gruppe
erhalten hat. Anderseits besitzt nach Warernouse’s Bemerkung
unter allen Beutelthieren der Phascolomys am meisten Ähnlichkeit,
nicht zu einer einzelnen Art, sondern zur ganzen Ordnung der
Nager überhaupt. In diesem Falle jedoch ist sehr zu erwarten,
dass die Ähnlichkeit nur eine Analogie seye, indem der Phasco-
lomys sich einer Lebens-Weise anpasste, wie sie Nager besitzen.
Der ältere DeCanvorıe hat ziemlich ähnliche Bemerkungen hin-
sichtlich der allgemeinen Natur der Verwandtschaft zwischen den
. verschiedenen Pflanzen-Ordnungen gemacht.
Nach dem Prinzip der Vermehrung und der stufenweisen
Divergenz des Charakters der von einem gemeinsamen Ahnen ab-
stammenden Arten in Verbindung mit der erblichen Erhaltung
eines Theiles des gemeinsamen Charakters erklären sich die aus-
serordentlich verwickelten und strahlenförmig auseinander-gehen-
den Verwandtschalten, wodurch alle Glieder einer Familie oder
höheren Gruppe miteinander verkettet werden. Denn der ge-
_ meinsame Stammvater einer ganzen Familie von Arten, welche
jetzt durch Erlöschung in verschiedene Gruppen und Untergrup-
pen gespalten ist, wird einige seiner Charaktere in verschiedener
Art und Abstufung modifizirt allen gemeinsam mitgetheilt haben,
und die verschiedenen Arten werden demnach nur durch Ver-
wandtschafts-Linien von verschiedener Länge miteinander ver-
bunden seyn, welche in weit älteren Vorgängern ihren Ver-
einigungs - Punkt finden, wie es das frühere Bild S. 115 dar-
stellt. Wie es schwer ist, die Blutsverwandtschaft zwischen den
zahlreichen Angehörigen einer alten adeligen Familie sogar mit
Hilfe eines Stammbaums zu zeigen, und fast unmöglich es ohne
dieses Hilfsmittel zu thun, so begreift man auch die manchfaltigen
Schwierigkeiten, auf welche Naturforscher , ohne die Hilfe einer
bildlichen Skizze, stossen, wenn sie die verschiedenen Verwandt-
schafts-Beziehungen zwischen den vielen lebenden und erlosche-
nen Gliedern einer grossen natürlichen Klasse nachweisen wollen.
Erlöschen hat, wie wir im vierten Kapitel gesehen, einen
grossen Antheil an der Bildung und Erweiterung der Lücken
435
zwischen den verschiedenen Gruppen in jeder Klasse. Wir kön-
nen Diess eben so wie die Trennung ganzer Klassen von ein-
ander, wie z. B. die der Vögel von allen andern Wirbelthieren,
durch die Annahme erklären, dass viele alte Lebenformen ganz
ausgegangen sind, durch welche die ersten Stammältern der
Vögel vordem mit den ersten Stammältern der übrigen Wirbel-
thier-Klassen verkettet gewesen. Dagegen sind nur wenige solche
Lebenformen erloschen, welche einst die Fische mit den Batra-
chiern verbanden. In noch geringerem Grade ist Diess in einigen
andern Klassen, wie z. B. bei den Krustern der Fall gewesen,
wo die wundersamst verschiedenen Formen noch durch eine
lange aber unterbrochene Verwandtschafts-Kette zusammengehal-
ten werden. Erlöschung hat die Gruppen nur getrennt, nicht
gemacht. Denn wenn alle Formen, welche jemals auf dieser
Erde gelebt haben, plötzlich wieder erscheinen könnten, so würde
es ganz unmöglich seyn, die Gruppen durch Definitionen von
einander zu unterscheiden, weil alle durch eben so feine Ab-
stufungen, wie die zwischen den geringsten lebenden Varietäten
sind, in einander übergehen würden; demungeachtet würde eine
natürliche Klassifikation oder wenigstens eine natürliche Anord-
nung möglich seyn. Wir können Diess ersehen, indem wir un-
ser Bild (S. 115) umwenden. Nehmen wir an, die Buchstaben
A bis L stellen 11 silurische Sippen dar, wovon einige grosse
Gruppen abgeänderter Nachkommen hinterlassen. Jedes Mittel-
glied zwischen diesen 11 Sippen und deren Urvater so wie jedes
Mittelglied in allen Ästen und Zweigen ihrer Nachkommenschaft
seye noch am Leben, und diese Glieder seyen so fein, wie die
zwischen den feinsten Varietäten abgestuft. In diesem Falle würde
es ganz unmöglich seyn, die vielfachen Glieder der verschiedenen
Gruppen von ihren mehr unmittelbaren Ältern oder diese Ältern
von ihren alten unbekannten Stammvätern durch Definitionen zu
unterscheiden. Und doch würde die in dem Bilde gegebene
natürliche Anordnung ganz gui passen und würden nach dem
Vererbungs-Prinzip alle von A so wie alle von I herkommenden
Formen unter sich etwas gemein haben. An einem Baume kann
man diesen und jenen Zweig unterscheiden, obwohl sich beide
98 *
d36
in einer Gabel vereinigen nnd in einander fliessen. "Wir könn-
ten, wie gesagt, die verschiedenen Gruppen nicht definiren ; aber
wir könnten Typen oder solche Formen hervorheben, welche die
meisten Charaktere jeder Gruppe, gross oder klein, in sich ver-
einigten, und so eine allgemeine Vorstellung vom Werthe der
Verschiedenheiten zwischen denselben geben. Diess wäre, was
wir ihun müssten, wenn wir je dahin gelangten, alle Formen
einer Klasse, die in Zeit und Raum vorhanden gewesen sind,
zusammen zu bringen. Wir werden zwar gewiss nie im Stande
seyn, eine solche Sammlung zu machen, demungeachtet aber bei
gewissen Klassen in die Lage kommen, jene Methode zu ver-
suchen; und Mırne Epwarps ist noch unlängst in einer vortrell-
lichen Abhandlung auf der grossen Wichtigkeit bestanden, sich
an Typen zu halten, gleichviel ob wir im Stande sind oder nicht,
die Gruppen zu trennen und zu umschreiben, ‘zu welchen diese
Typen gehören. i
Endlich haben wir gesehen, dass Natürliche Züchtung, welche
aus dem. Kampfe um’s: Daseyn hervorgeht und mit Erlöschung
und mit Divergenz des Charakters in den vielen Nachkommen
einer herrschenden Stanım-Art fast untrennbar verbunden ist,
jene grossen und allgemeinen Züge in der Verwandtschaft aller
organischen Wesen und namentlich ihre Sonderung in Gruppen
und Untergruppen erklärt. Wir benützen das Element der Ab-
stammung bei Klassifikation der Individuen beider Geschlechter
und aller Alters-Abstufungen in einer Art, ‚wenn sie auch nur
wenige Charaktere miteinander gemein haben; wir benützen die
Abstammung bei der Einordnung anerkannter Varietäten, wie
sehr sie auch von ihrer Stamm-Art abweichen mögen; und ich
glaube, dass dieses Element der Abstammung das geheime Band
ist, welches alle Naturforscher unter dem Namen des natürlichen
Systemes gesucht haben. Da nach dieser Vorstellung das natür-
liche System, so weit es ausgeführt werden kann, genealogisch
geordnet ist und es die Verschiedenheits-Stufen zwischen den
Nachkommen gemeinsamer Ältern durch die Ausdrücke Sippen,
Familien, Ordnungen u. 8. W. bezeichnnt, so begreifen wir die
Regeln, welche wir bei unsrer Klassifikation zu befolgen veran-
437
lasst sind. Wir begreifen, warum wir manche Ähnlichkeit weit
höher als andre zu werthen haben; warum wir mitunter rudi-
mentäre oder nutzlose oder andre physiologisch unbedeutende
Organe anwenden dürfen; warum wir bei Vergleichung der einen
mit der andern Gruppe analoge oder Anpassungs-Charaktere ver-
werfen, obwohl wir dieselben innerhalb der nämlichen Gruppe
gebrauchen. Es wird uns klar, warum wir alle lebenden und
erloschenen Formen in ein grosses System zusammen ordnen
können, und warum die verschiedenen Glieder jeder Klasse in
der verwickeltesten und nach allen Richtungen verzweigten Weise
miteinander verkettet sind. Wir werden wahrscheinlich niemals
das verwickelte Verwandtschafts-Gewebe zwischen den Gliedern
einer Klasse entwirren; wenn wir jedoch einen einzelnen Ge-
genstand in's Auge fassen und nicht nach irgend einem unbe-
kannten Schöpfungs-Plane ausschauen, so dürfen wir hoffen,
sichere ‘aber langsame Fortschritte zu machen.
Morphologie.) Wir haben gesehen, dass die Glieder
einer Klasse, unabhängig von ihrer Lebens-Weise, einander im
allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Diese Überein-
stimmung wird olt mit dem Ausdrucke „Einheit des Typus« be-
zeichnet; oder man sagt, die verschiedenen Theile und Organe
der verschiedenen Spezies einer Klasse seyen einander homolog.
Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie zu-
sammen begriffen. Diess ist der interessanteste Theil der Natur-
veschichte und kann deren wahre Seele genannt werden. Was
kann es sonderbareres geben, als dass die Greifhand des Men-
schen, der Grabfuss des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die
Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus nach
demselben Model gearbeitet sind und gleiche Knochen in der näm-
lichen gegenseitigen Lage enthalten. _ Georrrov Saınt-Hıraıre hat
beharrlich an der grossen Wichtigkeit der wechselseitigen Ver-
bindung der Theile in homologen Organen festgehalten; die
Theile mögen in fast allen Abstufungen der Form und Grösse
"abändern, aber sie bleiben fest in derselben Weise miteinander
verbunden. So finden 'wir z.B. die Knochen des Ober- und des
Vorder-Arms oder des Ober- und Unter-Schenkels nie aus ihrer
438
Verbindung gerissen. Daher kann man dem homologen Knochen
in weit verschiedenen Thieren denselben Namen geben. Dasselbe
grosse Gesetz tritt in der Mund-Bildung der Insekten hervor.
Was kann verschiedener seyn, als die unermesslich lange spirale
Saugröhre eines Abend-Schmetterlings, der sonderbar zurück-
gebrochene Rüssel einer Wanze und die grossen Hörner eines
Hirschkäfers® Und doch werden alle diese zu so ungleichen
Zwecken dienenden Organe durch unendlich zahlreiche Modifika-
tionen der Oberlippe, der Kinnbacken und zweier Paare Kinnladen
gebildet. Analoge Gesetze herrschen in der Zusammensetzung
des Mundes und der Glieder der Kruster. Und eben so ist es
mit den Blüthen der Pflanzen.
Nichts hat weniger Aussicht auf Erfolg, als ein Versuch
diese Ähnlichkeit des Bau-Planes in den Gliedern einer Klasse
mit Hilfe der Nützlichkeits-Theorie oder der Lehre von den end-
lichen Ursachen zu erklären. Die Hoffnungslosigkeit eines sol-
chen Versuches ist von Owen in seinem äusserst interessanten
Werke »Nature of limbs« ausdrücklich anerkannt worden. Nach
der gewöhnlichen Ansicht von der selbstständigen Schöpfung
einer jeden Spezies lässt sich nur sagen, dass es soist, und dass
es dem Schöpfer gefallen hat jedes Thier und jede Pflanze so
zu machen.
Dagegen ist die Erklärung handgreiflich nach der Theorie
der Natürlichen Züchtung durch Häufung aufeinander-folgender
geringer Abänderungen, deren jede der abgeänderten Form eini-
germaassen nützlich ist, welche aber in Folge der Wechselbe-
ziehungen des Wachsthums oft auch andre Theile der Organi-
sation mit berühren. Bei Abänderungen dieser Art wird sich
nur wenig oder gar keine Neigung zu Änderung des ursprüng-
lichen Bau-Plans oder zu Versetzung der Theile zeigen. Die
Knochen eines Beines können in jeder Grösse verlängert oder
verkürzt, sie können stufenweise in dicke Häute eingehüllt wer-
den, um ein Ruder zu bilden; oder ein mit einer Binde-Haut
zwischen den Zehen versehener Fuss (Schwimmfuss) kann alle
seine Knochen oder gewisse Knochen bis zu irgend einem Maasse
verlängern und die Binde-Haut in gleichem Verhältniss vergrössern,
439
so dass er als Flügel zu dienen im Stande ist: und doch ist unge-
achtet aller so bedeutender Abänderungen keine Neigung zu
einer Änderung der Knochen-Bestandtheile an sich oder zu einer
andern Zusammenfügung derselben vorhanden. Wenn wir unter-
stellen, dass der alte Stammvater oder Urtypus, wie man ihn
nennen kann, aller Säugthiere seine Beine, zu welchem Zwecke
sie auch bestimmt gewesen seyn mögen, nach dem vorhandenen
allgemeinen Plane gebildet hatte, so werden wir sofort die klare
Bedeutung der homologen Bildung der Beine in der ganzen Klasse
begreifen. Wenn wir ferner hinsichtlich des Mundes der Insekten
einfach unterstellen, dass ihr gemeinsamer Stammvater eine
Oberlippe, Kinnbacken und zwei Paar Unterkiefer vielleicht von
sehr einfacher Form besessen, so wird Natürliche Züchtung auf
irgend eine ursprünglich erschaffene Form wirkend vollkommen
zur Erklärung der unendlichen Verschiedenheit in den Bildungen
und Verrichtungen des Mundes der Insekten genügen. Demun-
geachtet ist es begreiflich,, dass das ursprünglich gemeinsame
Muster eines Organes allmählich ganz verloren gehen kann, seye
es durch Atrophie und endliche vollständige Resorption gewisser
Bestandtheile, oder durch Verwachsung einiger Theile, oder durch
Verdoppelung oder Vervielfältigung andrer: Abänderungen, die
nach unsrer Erfahrung alle in den Grenzen der Möglichkeit lie-
gen. Nur in den Ruderfüssen gewisser ausgestorbner Eidechsen
(Ichthyosaurus) und in den Theilen des Saugmundes gewisser
Kruster scheint der gemeinsame Grundplan bis zu einem gewis-
sen Grade verwischt zu seyn.
Ein andrer Zweig der Morphologie beschäftigt sich mit der
Vergleichung, nicht des nämlichen Theiles in verschiedenen Glie-
dern einer Klasse, sondern der verschiedenen Theile oder Or-
gane eines nämlichen Individuums. Die meisten Physiologen
glauben, dass die Knochen des Schädels homolog* — d..h. in
Zahl und beziehungsweiser Lage übereinstimmend. — seyen mit
|
* Zu Bezeichnung der Übereinstimmung von Organen eines nämlichen
Individuums miteinander haben wir den Ausdruck „homonym“ angewendet,
indem wir Homologien nur bei Vergleichung verschiedener Thier-Arten an-
nehmen (Morphologische Studien S. 410). D. Übs,
440
den Knochen - Elementen einer gewissen Anzahl Wirbel. Die
vorderen und die hinteren Gliedmaassen eines jeden Thieres in
den Kreisen der Wirbel- und der Kerb-Thiere sind offenbar ho-
molog zu einander. Dasselbe Gesetz bewährt sich auch bei Ver-
gleichung der wunderbar 'zusammengesetzten Kinnladen mit den
Beinen der Kruster. Fast Jedermann weiss, dass in einer Blume
die gegenseitige Stellung der Kelch- und der Kronen-Blätter und
der Staubfäden und Staubwege zu einander eben so wie deren
innere Struktur aus der Annahme erklärbar werden, dass es
metamorphosirte spiralständige Blätter seyen. Bei monströsen Pflan-
zen sehen wir nicht selten den direkten Beweis von der Mög-
lichkeit der Umbildung eines dieser Organe ins andere. Auch
bei embryonischen Krustazeen u. a. Thieren erkennen wir 'so
wie bei den Blüthen, dass Organe, die im reifen Zustande äus-
serst verschieden von einander sind, auf ihren ersten Entwicke-
lungs-Stufen einander ausserordentlich. gleichen.
Wie unerklärbar sind diese Erscheinungen nach der ge-
wöhnlichen Ansicht von der Schöpfung! Warum ist doch das
Gehirn in einen aus so vielen und so aussergewöhnlich geordneten
Knochen-Stücken zusammengesetzten Kasten eingeschlossen! Wie
Owen bemerkt, kann der Vortheil, welcher aus einer der Trennung
der Theile entsprechenden Nachgiebigkeit des Schädels für den
Geburts-Akt bei den Säugthieren entspringt, keinenfalls die näm-
liche Bildungs-Weise desselben bei den Vögeln erklären. Oder
warum sind den Fledermäusen dieselben Knochen wie den übri-
gen Säugthieren zu Bildung ihrer Flügel anerschaffen worden,
da sie dieselben doch zu gänzlich verschiedenen Zwecken ge-
brauchen? Und warum haben Kruster mit einem aus zahlreiche-
ren Örganen-Paaren zusammengesetzten Munde in gleichem Ver-
hältnisse weniger Beine, oder umgekehrt die mit mehr Beinen
versehenen weniger Mund-Theile ? Endlich, warum sind die Kelch-
und Kronen-Blätter, die Staubgefässe und Staubwege einer Blüthe,
trotz ihrer Bestimmung zu so gänzlich verschiedenen Zwecken,
alle nach demselben Muster gebildet? |
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung können wir alle
diese Fragen genügend beantworten. Bei den. Wirbelthieren
441
sehen wir eine Reihe innerer Wirbel gewisse Fortsätze und An-
hänge entwickeln; bei den Kerbthieren ist der Körper in eine
Reihe Segmente mit äusseren Anhängen geschieden; und bei den
Pflanzen sehen wir die Blätter auf eine Anzahl über einander
folgender Umgänge einer Spirale regelmässig vertheilt. Eine
unbegrenzte Wiederholung desselben Theiles oder Organes ist,
wie Owen bemerkt hat, das gemeinsame Attribut aller niedrig
oder wenig modifizirten Formen*; daher wir leicht annehmen
können, der unbekannte Stammvater aller Wirbelthiere habe
viele Wirbel besessen, der aller Kerbthiere viele Körper-Seg-
mente und der der Blüthen-Pflanzen viele Blatt-Spiralen. Wir ha-
ben ferner gesehen, dass Theile, die sich oft wiederholen, sehr
geneigt sind, in Zahl und Struktur zu variiren; daher es ganz
wahrscheinlich ist, dass Natürliche Züchtung mittelst lange fort-
gesetzter Abänderung eine gewisse Anzahl der sich oft wieder-
holenden ähnlichen Bestandtheile des Skelettes ganz verschiede-
nen Bestimmungen angepasst habe. Und da das ganze Maass
der Abänderung nur in unmerklichen Abstufungen bewirkt wor-
den, so dürfen wir uns nicht wundern, in solchen Theilen oder
Organen noch einen gewissen Grad fundamentaler Ähnlichkeit
nach dem strengen Erblichkeits-Prinzip zurückbehalten zu finden.
In der grossen Klasse der Mollusken lassen sich zwar Ho-
mologie'n zwischen 'Theilen verschiedener Spezies, aber nur we-
nige Reihen -Homologie'n nachweisen, d. h. wir sind selten im
. Stande zu sagen, dass ein Theil oder Organ mit einem andern
im nämlichen Individuum homolog seye. Diess lässt sich wohl
erklären, weil wir nicht einmal bei den untersten Gliedern des
Weichthier-Kreises solche unbegrenzte Wiederholung einzelner
Theile wie in den übrigen grossen Klassen des Thier- und Pflan-
zen-Reiches finden.
Die Naturforscher stellen die Schädel oft als eine Reihe me-
tamorphosirter Wirbel, die Kinnladen der Krabben als metamor-
phosirte Beine, die Staubgefässe -und Staubwege der Blumen als
metamorphosirte Blätter dar; doch würde es, wie Prof. Huxıey
* Diese und verwandte Fragen ‚sind in unsern Morphologischen Studien
viel erschöpfender entwickelt worden, als von Owen. D. Übs.
442
bemerkt hat, wahrscheinlich richtiger seyn zu sagen, Schädel
wie Wirbel, Kinnladen wie Beine u. s. w. seyen nicht eines aus
dem andern, sondern beide aus einem gemeinsamen Elemente
entstanden. : Inzwischen gebrauchen die Naturforscher jenen Aus-
druck nur in bildlicher Weise, indem sie weit von der Meinung ent-
fernt sind, dass Primordial-Organe irgend welcher Art — Wirbel
im einen und Beine im andern Falle — während einer langen
Reihe von Generationen wirklich in Schädel und Kinnladen um-
gebildet worden seyen. Und doch ist der Anschein, dass eine
derartige Modifikation stattgefunden habe, so vollkommen, dass
dieselben Naturforscher schwer vermeiden können, eine diesem
letzten Sinne entsprechende Ausdrucks - Weise zu gebrauchen.
Nach meiner eignen Anschauungs- Weise aber sind jene Aus-
drücke in der That nur wörtlich zu nehmen, um die wunderbare
Erscheinung zu erklären, dass die Kinnladen z. B.\eines Krab-
ben zahlreiche Merkmale an sich tragen, welche dieselben wahr-
scheinlich geerbt haben müssten, soferne sie wirklich während
einer langen Generationen-Reihe durch allmähliche Metamorphose
aus Beinen oder sonstigen einfachen Anhängen entstanden wären.
Embryologie). Es ist schon gelegentlich bemerkt wor-
den, dass gewisse Organe, welche im reifen Alter der Thiere
sehr verschieden gebildet und zu ganz abweichenden Diensten
bestimmt sind, sich im Embryo ganz ähnlich sehen. Eben so
sind die Embryonen verschiedener Thiere derselben Klasse ein-
ander oft sehr ähnlich, wofür sich ein besserer Beweis nicht an-
führen lässt, als die Versicherung von Baer’ s, die Embryonen von
Säugthieren, Vögeln, Eidechsen, Schlangen und wahrscheinlich
auch Schildkröten seien sich in der ersten Zeit im Ganzen sowohl
als in der Bildung ihrer einzelnen Theile so ähnlich, dass man
sie nur an ihrer Grösse unterscheiden könne. Ich besitze
zwei Embryonen in Weingeist aufbewahrt, deren Namen ich bei-
zuschreiben vergessen habe, und nun bin ich ganz ausser Stand
zu sagen, zu welcher Klasse sie gehören. Es können Eidechsen
oder kleine Vögel oder sehr junge Säugthiere seyn, so vollstän-
dig ist die Ähnlichkeit in der Bildungs - Weise von Kopf und
Rumpf dieser Thiere, und die Extremitäten fehlen noch. Aber
443
auch wenn sie vorhanden wären, so würden sie auf ihrer er-
sten Entwickelungs-Stufe nichts beweisen; denn die Beine der
Eidechsen und Säugthiere, die Flügel und Beine der Vögel nicht
weniger als die Hände und Füsse des Menschen: alle entspringen
aus der nämlichen Grundform. —' Die Wurm-förmigen Larven
der Motten, Fliegen, Käfer u. s. w. gleichen einander viel mehr,
als die reifen Insekten. In den Larven verräth sich noch die
Einförmigkeit des Embryo’s; das reife Insekt ist den speziellen
Lebens-Bedingungen angepasst. Zuweilen geht eine Spur der
embryonischen Ähnlichkeit noch in ein spätres Alter über; so
gleichen Vögel derselben Sippe oder nahe verwandter Genera ein-
ander oft in ihrem ersten und zweiten Jugend -Kleide: alle
Drosseln z. B. in ihrem gefleckten Gefieder. In der Katzen-Fa-
milie sind die meisten Arten gestreift oder streifenweise gefleckt;
und solche Streifen sind auch noch am neu-gebornen Jungen des
Löwen vorhanden. Wir sehen zuweilen, aber selten, auch etwas
der Art bei Pflanzen. So sind die Embryonal-Blätter des Ulex
und die ersten Blätter der neuholländischen Acacien, welche
später nur noch Phyllodien hervorbringen, zusammengesetzt oder
gefiedert, wie die gewöhnlichen Leguminosen-Blätter. Diejenigen
Punkte der Organisation, worin die Embryonen ganz verschie-
dener Thiere einer und derselben Klasse sich gegenseitig glei-
chen, haben oft keine unmittelbare Beziehung zu ihren Existenz-
Bedingungen. Wir können z. B. nicht annehmen, dass in den
Embryonen der Wirbelthiere der eigenthümliche Schleifen-artige
Verlauf der Arterien nächst den Kiemen-Schlitzen des Halses mit
der Ähnlichkeit der Lebens-Bedingungen in Zusammenhang stehe
im jungen Säugthiere, das im Mutterleibe ernährt wird, wie im
Vogel, welcher dem Eie entschlüpft, und im Frosche, der sich
im Laiche unter Wasser entwickelt. Wir haben nicht mehr
Grund, an einen solchen Zusammenhang zu glauben, als anzuneh-
men, dass die Übereinstimmung der Knochen in der Hand des
Menschen, im Flügel einer Fledermaus und im Ruderfusse einer
Schildkröte mit einer Übereinstimmung der äussern Lebens-Be-
dingungen in Verbindung stehe. Niemand denkt, dass die
Streifen an dem jungen Löwen oder die Flecken an der
444
jungen Schwarzdrossel (Amsel) diesen Thieren nützen oder mit
den Lebens-Bedingungen im Zusammenhang stehen, welchen sie
ausgesetzt sind. 5
Anders verhält sich jedoch die Sache, wenn ein Thier wäh-
rend eines Theiles seiner Embryo -Laufbahn thätig ist und für
sich selbst zu sorgen hat. Die Periode dieser Thätigkeit kann
früher oder kann später im Leben kommen; doch, wann immer sie
kommen mag, die Anpassung der Larve an ihre Lebens - Bedin-
dungen ist ehen so vollkommen und schön, wie die des reifen
Thieres an die seinige. Durch derartige eigenthümliche Anpas-
sungen wird dann auch zuweilen die Ähnlichkeit der thätigen
Larven oder Embryonen einander verwandter Thiere schon sehr
verdunkelt; und es liessen sich Beispiele anführen, wo die
Larven zweier Arten und sogar Arten-Gruppen eben so sehr oder
noch mehr von einander verschieden sind, als ihre reifen Ältern.
In den meisten Fällen jedoch gehorchen auch die thätigen Larven
noch mehr und weniger dem Gesetze der embryonalen Ähnlich-
keit. Die Cirripeden liefern einen guten Beleg dafür: selbst der
berühmte Guvirr erkannte nicht, dass dieselben Kruster seyen;
aber schon ein Blick auf ihre Larven verräth Diess in unver-
kennbarer Weise. Und ebenso haben die zwei Haupt-Abtheilungen
der Cirripeden, die gestielten und die sitzenden, welche in ihrem
äusseren Ansehen so sehr von einander abweichen, Larven, die
in allen ihren Entwickelungs-Stufen kaum unterscheidbar sind.
Während des Verlaufes seiner Entwickelung steigt der Em-
bryo gewöhnlich in der Organisation: ich gebrauche diesen Aus-
druck, obwohl ich weiss, dass es kaum möglich ist, genau anzu-
geben, was unter höherer oder tieferer Organisation zu verstehen
seye. Niemand wird wohl bestreiten, dass der Schmetterling
höher organisirt seye als die Raupe. In einigen Fällen jedoch,
wie bei parasitischen Krustern, sieht man allgemein das reife
Thier für tiefer- stehend als die Larve an. Ich beziehe mich
wieder auf die Cirripeden. Auf ihrer ersten Stufe hat die Larve
drei Paar Füsse, ein sehr einfaches Auge und einen Rüssel-
förmigen Mund, womit sie reichliche Nahrung aufnimmt; denn:
sie wächst schnell an Grösse zu.‘ Auf’ der zweiten Stufe, dem
445
Raupen-Stande des Schmetterlings entsprechend, hat sie sechs
Paar schön gebauter Schwimmfüsse, ein Paar herrlich zusammen-
gesetzier Augen und äusserst zusammengesetzte Fühler, aber einen
geschlossenen Mund, der keine Nahrung aufnehmen kann; ihre
Verrichtung auf dieser Stufe ist, einen zur Befestigung und zur
letzien Metamorphose geeigneten Platz mittelst ihres wohl-entwickel-
ten Sinnes-Organes zu suchen und mit ihren mächtigen Schwimm-
"Werkzeugen zu erreichen. Wenn diese Aufgabe erfüllt ist, so
bleibt das Thier lebenslänglich an seiner Stelle befestigt; seine
Beine verwandeln sich in Greif-Organe; es bildet sich ein wohl
zusammengesetzter Mund aus; aber es hat keine Fühler, und
seine beiden Augen haben sich jetzt wieder in einen kleinen
und ganz einfachen Augenfleck verwandelt. In diesem letzten
und vollständigen Zustande kann man die Cirripeden als höher
oder als tiefer organisirt betrachten, als sie im Larven- Stande
gewesen sind. In einigen ihrer Sippen jedoch entwickeln sich
die Larven entweder zu Hermaphroditen von der gewöhnlichen
Bildung, oder zu (von mir so genannten) komplementären Männ-
chen: und in diesen letzten ist die Entwickelung gewiss zurück-
geschritten, denn sie bestehen in einem blossen Sack mit kurzer
Lebens-Frist, ohne Mund, Magen oder andres wichtiges Organ,
das der Reproduktion ausgenommen.
Wir sind so sehr gewöhnt, Struktur-Verschiedenheiten zwi-
schen Embryonen und’ erwachsenen Organismen zu sehen und
ebenso. eine grosse Ähnlichkeit zwischen den Embryonen weit
verschiedener. Thiere derselben Klasse zu finden, dass man sich
versucht fühlt, diese Erscheinungen als nothwendig in gewisser
Weise zusammentreffend mit der Entwickelung zu betrachten.
Inzwischen ist doch kein Grund einzusehen, warum der Plan
z: B. zum Flügel der Fledermaus oder zum Ruder der Seeschild-
kröte nach allen ihren Theilen in angemessener Proportion nicht
schon im Embryo entworfen worden seyn soll, sobald nur irgend
eine Struktur in demselben sichtbar wurde. Und in einigen gan-
zen Thier-Gruppen sowohl als in gewissen Gliedern andrer Grup-
pen weicht der Embryo zu keiner Zeit seines Lebens weit vom
Erwachsenen ab; — daher Owen in Bezug auf die Sepien be-
446
‚merkt hat: »da ist keine Metamorphose; der Cephalopoden - Cha-
rakter ist deutlich schon weit früher als die Theile des Embryo's
vollständig sind«, und in Bezug auf die Spinnen: »da ist nichts,
was die Benennung Metamorphose verdiente«. Die Insekten-Lar-
ven, mögen sie nun thätig und den verschiedenartigsten Dien-
sten angepasst oder unthätig von ihren Ältern gefüttert oder
mitten in die ihnen angemessene Nahrung hineingesetzi wer-
den, so haben doch alle eine ähnliche wurmtörmige Entwicke-
lungs-Stufe zu durchlaufen; nur in einigen wenigen Fällen ist,
wie bei Aphis nach den herrlichen Zeichnungen Huxıry's zu ur-
theilen, keine Spur eines wurmförmigen Zustandes zu finden*.
Wie sind aber dann diese verschiedenen Erscheinungen der
Embryologie zu erklären? — namentlich die sehr gewöhnliche
wenn auch nicht allgemeine Verschiedenheit der Organisation des
Embryo’s und des Erwachsenen? — die ausserordentlich weit
auseinanderlaufende Bildung und Verrichtung von anfangs ganz
ähnlichen Theilen eines und desselben Embryos? — die fast
allgemeine obschon nicht ausnahmslose Ähnlichkeit zwischen Em-
bryonen verschiedener Spezies einer Klasse? — ‚die besondre
Anpassung der Struktur des Embryo's an seine Existenz - Bedin-
gungen bloss in dem Falle, dass er zu irgend einer Zeit thätig
ist und für sich selbst zu sorgen hat? — die zuweilen anschei-
nend höhere Organisation des Embryo’s, als des reifen Thieres,
in welches er übergeht? Ich glaube, dass sich alle diese Er-
scheinungen auf folgende Weise aus der Annahme einer Abstam-
mung mit Abänderung erklären lassen. |
Gewöhnlich unterstellt man, vielleicht weil Monstrositäten sich
oft schon sehr früh am Embryo zu zeigen beginnen, dass geringe
Abänderungen nothwendig in einer gleichmässig frühen Periode
des Embryos zum Vorschein kommen. Doch haben wir dafür
wenig Beweise, und der Anschein spricht sogar für das Gegen-
theil; denn es ist bekannt, dass die Züchter von Rindern, Pfer-
den und verschiedenen Thieren der Liebhaberei erst eine ge-
: Ich denke, dass Diess bei allen Insecta ametabola ohne unthätigen
Zustand der Fall ist? D. Übs.
447
wisse Zeit nach der Geburt des jungen Thieres zu sagen im
Stande sind, welche Form oder Vorzüge es schliesslich zeigen
wird. Wir sehen Diess deutlich bei unsern Kindern; wir können
nicht immer sagen, ob die Kinder von schlanker oder gedrunge-
ner Figur seyn oder wie sonst genau aussehen werden. Die
Frage ist nicht: in welcher Lebens-Periode eine Abänderung ver-
ursacht, sondern in welcher sie vollkommen entwickelt seyn wird.
Die Ursache kann schon gewirkt haben und hat nach meiner Mei-
nung gewöhnlich gewirkt, ehe sich der Embryo gebildet hat; und
die Abänderung kann davon herkommen, dass das männliche oder
das weibliche Element durch die Lebens - Bedingungen berührt
worden ist, welchen die Ältern oder deren Vorgänger ausgeseizi
gewesen sind. Demungeachtet kann die so in sehr früher Zeit
und selbst vor der Bildung des Embryos veranlasste Wirkung
erst spät im Leben hervortreten , wie z. B. auch eine erbliche
Krankheit, die dem Alter angehört, von dem reproduktiven Ele-
inente eines der Ältern auf die Nachkommen übertragen , oder
die Hörner-Form eines Blendlings aus einer lang- und einer kurz-
hörnigen Rasse von den Hörnern der beiden Ältern bedingt
wird. Für das Wohl eines sehr jungen Thieres, so lange es
noch im Mutterleibe oder im Ei eingeschlossen ist oder von seinen
Ältern genährt und geschützt wird, muss es hinsichtlich der mei-
sten Charaktere ganz unwesentlich seyn, ob es dieselben etwas
früher oder später im Leben erlangt. Es würde z. B. für einen
Vogel, der sich sein Futter am besten mit einem langen Schnabel
verschaffte, gleichgültig seyn, ob er die entsprechende Schnabel-
Länge schon bekömmt, so lange er noch von seinen Ältern gefüttert
wird, oder nicht. Daher, schliesse ich, ist es ganz möglich, dass
jede der vielen nacheinander-folgenden Modifikationen, wodurch
eine Art ihre gegenwärtige Bildung erlangt hat, in einer nicht
sehr frühen Lebens- Zeit eingetreten seye; und einige direkte
Belege von unseren Hausthieren unterstützen diese Ansicht. In
anderen Fällen aber ist es ebenso möglich, dass alle oder die
meisten dieser Umbildungen in einer sehr frühem Zeit hervorge-
treten sind.
Ich habe im ersten Kapitel behauptet, dass einige Wahr-
448
scheinlichkeit vorhanden ist, dass eine Abänderung, die in irgend
welcher Lebens-Zeit der Ältern zum Vorschein gekommen, sich
auch in gleichem Alter wieder beim Jungen zeige. Gewisse Ab-
änderungen können nur in sich entsprechenden Altern wieder er-
scheinen, wie z. B. die Eigenthümlichkeiten der Raupe oder der
Puppe des Seidenschmetterlings, oder der Hörner des fast aus-
gewachsenen Rindes. Aber auch ausserdem möchten, soviel zu
ersehen, Abänderungen, welche einmal früher oder später im
Leben eingetreten sind, zum Wiedererscheinen im entsprechen-
den Alter des Nachkommen geneigt seyn. Ich bin weit ent-
fernt zu glauben, dass Diess unabänderlich der Fall ist, und
könnte selbst eine gute Anzahl von Beispielen anführen, wo Ab-
änderungen (im weitesten Sinne des Wortes genommen) im Kinde
früher als in den Ältern eingetreten sind.
Diese zwei Prinzipien, ihre Richtigkeit zugestanden, werden
alle oben aufgezählten Haupt-Erscheinungen in der Embryologie
erklären. Doch, sehen wir. uns zuerst nach einigen analogen
Fällen bei unseren Hausthier-Varietäten um. Einige Autoren, die
über den Hund geschrieben, behaupten der Windhund und der
Bullenbeisser seyen, wenn auch noch so verschieden von Aus-
sehen, in der That sehr nahe verwandte Varietäten, wahrschein-
lich vom nämlichen wilden Stamme entsprossen. Ich war daher
begierig zu erfahren, wie weit ihre neu-geworfenen Jungen von
einander abweichen. Züchter sagten mir, dass sie beinahe
eben so verschieden seyen, wie ihre Ältern; und nach dem
Augenschein war Diess auch ziemlich der Fall. Aber bei wirk-
licher Ausmessung der alten Hunde und der 6 Tage alten Jungen,
fand ich, dass diese letzten noch nicht ganz die abweichenden
Maass - Verhältnisse angenommen hatten. Eben so vernahm ich,
dass die Füllen des Karren- und des Renn Pferdes eben so sehr
wie die ausgewachsenen Thiere von einander abweichen, was
mich höchlich wunderte, da es mir wahrscheinlich gewesen, dass
die Verschiedenheit zwischen diesen zweiRassen lediglich eine Folge
der Züchtung im Zähmungs-Zutande seye. Als ich demnach sorg-
fältige Ausmessungen an der Mutter und dem drei Tage alten
Füllen eines Renners und eines Karren-Gauls vornahm, so fand
449
ich, ‘dass die Füllen noch keinesweges die ganze Verschieden-
heit in ihren Maass-Verhältnissen besassen. I
: Da es mir erwiesen scheint . dass die verschiedenen Haus-
tauben- Rassen von nur einer wilden Art herstammen,, so ver-
glich ich junge Tauben verschiedener Rassen 12 Stunden nach
dem Ausschlüpfen miteinander; ich mass die Verhältnisse (wo-
von ich die Einzelnheiten hier nicht mittheilen will) zwischen dem
Schnabel ‚„ der Weite des Mundes, der Länge der Nasenlöcher
und des Augenlides, der Läufe und Zehen sowohl beim wilden
Stamme, als bei Kröpfern, Pfauen-Tauben, Runt- und Barb-Tauben
(S. 27), Drachen- und Boten - Tauben und Purzlern. Einige von
diesen Vögeln weichen im reifen Zustande so ausserordentlich
in der Länge und Form des Schnabels von einander ab, dass
man sie, wären sie natürliche Erzeugnisse, zweifelsohne in ganz
verschiedene Genera bringen würde. Wenn man aber die Nest-
linge dieser verschiedenen Rassen in eine Reihe ordnet, so er-
scheinen die Verschiedenheiten ihrer Proportionen in den ge-
nannten Beziehungen, obwohl man die meisten derselben noch
von einander unterscheiden kann, unvergleichbar geringer, als
in den ausgewachsenen Vögeln. Einige charakteristische Differenz-
Punkte der Alten, wie z. B. die Weite des Mundspaltes, sind an
den Jungen noch kaum zu entdecken. Es- war nur eine merk-
würdige Ausnahme von dieser Regel, indem die Jungen des
kurzstirnigen Purzlers von den Jungen der wilden Felstaube und
der andren Rassen in allen Maass-Verhältnissen fast genau eben-
so verschieden waren, wie im erwachsenen Zustande *.
Die zwei oben aufgestellten Prinzipien scheinen mir diese
Thatsachen in Bezug auf die letzten Embryo - Zustände unsrer
zahmen Varietäten zu erklären. Liebhaber wählen ihre Pferde,
Hunde und Tauben zur Nachzucht aus, wann sie nahezu aus-
gewachsen sind. Es ist: ihnen gleichgültig, ob die verlangten
Bildungen und Eigenschaften früher oder später im Leben zum
Vorschein kommen, wenn nur das ausgewachsene Thier sie be-
en
.* Das ist wohl insoferne nicht wörtlich zu nehmen, als ja die Jungen
der andern Rassen noch nicht so wie im Alter verschieden waren. D. Übs.
29
450
sitzt. Und die eben mitgetheilten Beispiele insbesondre von den
Tauben scheinen zu zeigen, dass die charakteristischen Ver-
schiedenheiten ,, welche den Werth einer jeden Rasse bedingen
und durch künstliche Züchtung gehäuft worden sind, gewöhnlich
nicht in früher Lebens-Periode zum Vorschein gekommen und
somit auch erst in einem entsprechenden späteren Lebens- Alter
auf den Nachkommen übergingen. Aber der Fall mit dem kurz-
stirnigen Purzler, welcher schon in einem Alter von zwölf Stun-
den seine eigenthümlichen Maass-Verhältnisse besitzt, beweist,
dass Diess keine allgemeine Regel ist; denn hier müssen die
charakteristichen Unterschiede entweder in einer frühern Periode
als gewöhnlich erschienen seyn, oder wenn nicht, so müssen
die Unterschiede statt in dem entsprechenden in einem früheren
Alter vererbt worden seyn.
Wenden wir nun diese Erscheinungen und die zwei obigen
Prinzipien, die, wenn auch noch nicht: erwiesen, doch einiger-
maassen wahrscheinlich sind, auf die Arten im Natur- Zustande
an. Nehmen wir eine Vogel-Sippe an, die nach meiner Theorie
von irgend einer gemeinsamen Stamm-Art herkommt, und deren
verschiedenen neuen Arten durch Natürliche Züchtung in Überein-
stimmung mit ihren verschiedenen Lebens-Weisen modifizirt wor-
den sind. Dann werden in Folge der vielen successiven kleinen
Abänderungs - Stufen, welche in späterem Alter eingetreten sind
und sich in entsprechendem Alter weiter vererbt haben, die Jun-
gen aller neuen Arten unsrer unterstellten Sippe sich einander
offenbar mehr zu gleichen geneigt seyn, als es bei den Alten
der Fall, gerade so wie wir es bei den Tauben gesehen haben,
Dehnen wir diese Ansicht auf ganze Familien oder selbst Klassen
aus. Die vordern Gliedmaassen z. B., welche der Stamm-Art als
Beine gedient, mögen in Folge lang-währender Modifikation bei
einem Nachkommen zu den Diensten der Hand, bei einem andern
zu denen des Ruders und bei einem Dritten zu solchen des
Flügels angepasst worden seyn: so werden nach den zwei obi-
gen Prinzipien, dass nämlich jede der successiven Modifika-
tionen in einem späteren Alter entstand und sich auch erst in
einem entsprechenden späteren Alter vererbte, die vordern Glied-
451
maassen in den Embryonen der verschiedenen Nachkommen der
Stamm- Art einander noch sehr ähnlich seyn; denn sie sind von
den Modifikationen nicht betroffen ‚worden. Nun werden aber in
jeder unsrer neuen Arten die embryonischen Vordergliedmaassen
sehr von denen des reifen Thieres verschieden seyn, weil diese
letzten erst in spätrer Lebens -Periode grosse Abänderung er-
fahren haben und in Hände, Ruder und Flügel umgewandelt
worden sind. Was immer für einen Einfluss lange fortgesetzter
Gebrauch und Übung einerseits und Nichtgebrauch andrerseits
auf die Abänderung eines Organes haben mag, so wird ein sol-
cher Einfluss hauptsächlich das reife Thier betreffen, welches
bereits zu seiner ganzen Thatkraft gelangt ist und sein Leben
selber fristen muss; und die so entstandenen Wirkungen werden
sich im entsprechenden reifen Alter vererben. Daher rührt es,
dass das Junge durch die Folgen des Gebrauchs und Nichtge-
brauchs nicht verändert wird oder nur wenige Abänderung
erfährt. | |
In gewissen Fällen mögen die aufeinander - folgenden Ab-
änderungs - Stufen, aus uns ganz unbekannten Gründen, schon
in sehr früher Lebens-Zeit erfolgen, oder jede solche Stufe in
einer früheren Lebens-Periode vererbt werden, als worin sie Zu-
erst entstanden ist. In beiden Fällen wird das Junge oder der
Embryo (wie die Beobachtung am kurzstirnigen Purzler zeigt)
der reifen älterlichen Form vollkommen gleichen. Wir haben ge-
sehen, dass Diess die Regel ist in einigen ganzen Thier-Gruppen,
bei den Sepien und Spinnen, und in einigen wenigen Fällen auch
in der grossen Klasse der sechsfüssigen Insekten, wie nament-
lich bei den Blattläusen. Was nun die End-Ursache betrillt, war-
um das Junge in diesen Fallen keine Metamorphose durchläuft oder
seinen Ältern von der frühesten Stufe an schon gleicht, so kann
Diess etwa von den folgenden zwei Bedingungen herrühren :
erstens davon, dass das Junge im Verlaufe seiner durch viele
Generationen fortgesetzten Abänderung schon von sehr früher Ent-
wickelungs-Stufe an für seine eignen Bedürfnisse zu sorgen hatte,
und zweitens davon, dass es genau dieselbe Lebens - Weise
wie seine Ältern befolgte. Vielleicht ist jedoch noch eine Er-
29 *
452
klärung erforderlich, warum der Embryo keine Metamorphose
durchläuft? Wenn auf der andern Seite es dem Jungen vortheil-
haft ist, eine von der älterlichen etwas verschiedene Lebens-Weise
einzuhalten und demgemäss einen etwas 'abweichenden Bau zu
haben, so kann nach dem Prinzip der Vererbung in überein-
stimmenden Lebens-Zeiten die thätige Larve oder das Junge durch
Natürliche Züchtung leicht eine in merklichem Grade von der
seiner Ältern abweichende Bildung erlangen. Solche Abweichun-
gen können auch mit den aufeinander-folgenden Entwickelungs-
Stufen in Wechselbeziehung treten, so dass die Larve auf ihrer
ersten Stufe weit von der Larve auf der zweiten Stufe abweicht,
wie wir bei den Cirripeden gesehen haben. Das’ Alte kann sich
Lagen und Gewohnheiten anpassen, wo ihm Bewegungs-, Sinnes-
oder andere Organe nutzlos werden, und in diesem Falle kann
man dessen letzte Metamorphose als eine zurückschreitende be-
zeichnen.
Wenn alle organischen Wesen, welche noch leben oder je-
mals auf dieser Erde gelebt haben, zusammen klassifizirt werden
sollten, so würde, da alle durch die feinsten Abstufungen mit
einander verkettet sind, die beste oder in der That, wenn unsre
Sammlungen einigermaassen vollständig wären, die einzige MÖög-
liche Anordnung derselben die genealogische seyn. Gemeinsame
Abstammung ist nach meiner Ansicht das geheime Band, welches
die Naturforscher unter dem Namen Natürliches System gesucht
haben. Von dieser Annahme aus begreifen wir, woher es kommt,
dass in den Augen der meisten Naturforscher die Bildung des
Embryos für die’ Klassifikation noch wichtiger als die des Er-
wachsenen ist. Denn der Embryo ist das Thier in seinem weni-
ger modifizirten Zustande und enthüllet uns in so ferne die
Struktur seines Stammvaters. Zwei Thier-Gruppen mögen jetzt in
Bau und Lebens-Weise noch so verschieden von einander seyn;
wenn sie gleiche oder ähnliche Embryo - Stände durchlaufen , so
dürfen wir uns überzeugt halten, dass beide von denselben oder
von einander sehr ‘ähnlichen Ältern abstammen und desshalb in
entsprechendem Grade einander nahe verwandt sind. So verräth
Übereinstimmung in der Embryo-Bildung gemeinsame Abstammung.
453
Sie verräth diese gemeinsame Abstammung , wie sehr auch die
Organisation des Alten abgeändert und -verhüllt worden seyn
mag; denn wir haben gesehen, dass die Cirripeden z. B. an ihren
Larven sogleich ‚als zur grossen Klasse der Kruster gehörig
erkannt: werden können. Da der Embryo - Zustand einer jeden
Art und jeden Arten- Gruppe uns theilweise den Bau ihrer alten
noch wenig modifizirten Stamm-Formen überliefert, so ergibt sich
auch deutlich, warum alte und erloschene Lebenformen den Em-
bryonen ihrer Nachkommen, unsren heutigen Sippen nämlich,
gleichen. Asassız hält Diess für ein Natur-Gesetz; ich bin aber
zw bekennen genöthigt, dass ich erst später das Gesetz noch
bestätigt zu sehen hoffe. Denn es lässt sich nur in den Fällen
allein beweisen, wo der alte, angeblich in den jetzigen Embryo-
nen vertretene Zustand in dem langen Verlaufe andauernder Mo-
difikation weder‘ durch successive in einem frühen Lebens - Alter
erfolgte Abänderungen noch durch Vererbung der Abweichungen
auf ein früheres Lebens- Alter, als worin ‚sie ursprünglich auf-
getreten sind, verwischt worden ist. Auch ist zu erwägen, dass
das angebliche Gesetz der Ähnlichkeit alter Lebenformen mit
den Embryo- Ständen der neuen ganz wahr seyn und doch,
weil sich der geologische Schöpfungs - Bericht nicht weit ge-
nug rückwärts erstreckt, noch auf lange hinaus oder. für, immer
unbeweisbar bleiben kann.
-$o scheinen ‚sich mir die Haupterscheinungen in der Em-
bryologie, welche an naturgeschichtlicher Wichtigkeit keinen an-
dern nachstehen, aus dem Prinzip zu erklären: dass geringe
Modifikationen in der langen Reihe von Nachkommen eines alten
Stammvaters, wenn auch vielleicht in der frühesten Lebens - Zeit
eines jeden veranlasst, doch keinesweges in sehr frühem Alter
weiter vererbt worden sind. Die Embryologie gewinnt sehr an
Interesse, wenn wir uns den Embryo als ein mehr oder weniger
vererbliches Bild der gemeinsamen Stamm-Form einer jeden gros-
sen Thier-Klasse vorstellen.
Rudimentäre, atrophische und abortive Organe.)
Organe oder Theile, in diesem eigenthümlichen Zustande den
Stempel der Nutzlosigkeit tragend, sind in der Natur äusserst ge-
454
wöhnlich. So sind rudimentäre Zitzen sehr gewöhnlich bei männ-
lichen Säugthieren, und ich glaube, dass man den Afterflügel
der Vögel getrost als einen verkümmerten Finger ansehen darf.
In vielen Schlangen ist der eine Lungenflügel verkümmert, und
in andern Schlangen kommen Rudimente des Beckens und der
Hinterbeine vor. Einige Beispiele von solchen Organen-Rudimen-
ten sind sehr eigenthümlich, wie die Anwesenheit von Zähnen
bei Wal-Embryonen, die in erwachsenem Zustande nicht einen
Zahn im ganzen Kopfe haben; und das Daseyn von Schneide-
Zähnen am Oberkiefer unsrer Kälber vor der Geburt, welche aber
niemals das Zahnfleisch durchbrechen. Auch ist von einem guten
Gewährsmann behauptet worden, dass sich Zahn - Rudimente in
den Schnäbeln der Embryonen gewisser Vögel entdecken lassen.
Nichts kann klarer seyn, als dass die Flügel zum Fluge gemacht
sind; und doch, in wie vielen Insekten sehen wir die Flügel so
verkleinert, dass sie zum Fluge ganz unbrauchbar und überdiess
noch unter fest miteinander verwachsenen Flügeldecken verborgen
liegen. |
Die Bedeutung rudimentärer Organe ist oft unverkennbar.
So gibt es z. B. in einer Sippe (und zuweilen in einer Spezies)
beisammen Käfer, die sich in allen Beziehungen aufs Genaueste
gleichen, nur dass die einen vollständig ausgebildete Flügel und
die andern an deren Stelle nur Haut-Lappen haben; und hier ist
es unmöglich zu zweifeln, dass diese Lappen die Flügel ver-
treten. Rudimentäre Organe behalten zuweilen noch ihre Dienst-
fähigkeit, ohne ausgebildet zu seyn, wie die Milchzitzen männ-
licher Säugethiere, wo von vielen Fällen berichtet wird, dass
diese Organe in ausgewachsenen Männchen sich wohl entwickelt
und Milch abgesondert haben. So hat das weibliche Rind ge-
wöhnlich vier entwickelte und zwei rudimentäre Zitzen am Euter;
aber bei unsrer zahmen Kuh entwickeln sich gewöhnlich auch
die zwei letzten und geben Milch. Bei Pflanzen sind in einer
und der nämlichen Spezies die Kronenblätter bald nur als Rudi-
mente und bald in ganz ausgebildetem Zustande vorhanden. Bei
Pflanzen mit getrennten Geschlechtern haben die männlichen
Blüthen oft ein Rudiment von Pistill, und bei Kreutzung einer
45)
solchen männlichen Pflanze mit einer hermaphroditischen Art sah
Körrevrer in dem Bastard das Pistill- Rudiment an Grösse zu-
nehmen, woraus sich ergibt, dass das Rudiment und das voll-
kommene Pistill sich in ihrer Natur wesentlich gleichen.
Ein für zweierlei Verrichtungen dienendes Organ kann für
die eine und sogar die wichtigere derselben rudimentär werden
oder ganz fehlschlagen und in voller Wirksamkeit für die andre
bleiben. So ist die Bestimmung des Pistills, die Pollen-Schläuche
in den Stand zu setzen, die in dem Ovarium an seiner Basis
enthaltenen Eichen zu erreichen. Das Pistill besteht aus der
Narbe vom Griffel getragen; bei einigen Compositae jedoch haben
die männlichen Blüthchen, welche mithin nicht befruchtet werden
können, ein Pistill in rudimentärem Zustande, indem es keine Narbe
besitzt, und doch bleibt es sonst wohl entwickelt und wie in an-
dern Compositae mit Haaren überzogen, um den Pollen von den
umgebenden Antheren abzustreifen. So kann auch ein Organ
für seine eigene Bestimmung rudimentär werden und für einen
andern Zweck dienen, wie in gewissen Fischen die Schwimm-
blase für ihre eigne Verrichtung, den Fisch im Wasser zu er-
leichtern, beinahe rudimentär zu werden scheint, indem sie in
ein Athmungs-Organ oder Lunge überzugehen beginnt.
Nur wenig entwickelte aber doch brauchbare Organe sollten
nicht rudimentär genannt werden; man kann nicht mit Recht
sagen, sie seyen in atrophischem Zustand; sie mögen für »wer-
dende« Organe gelten und später durch Natürliche Züchtung in
irgend welchem Maasse weiter entwickelt werden. Dagegen sind
rudimentäre Organe oft wesentlich nutzlos: wie Zähne, welche
niemals das Zahnfleisch durchbrechen, in ihrem noch wenig ent-
wickelten Zustande auch nur von wenig Nutzen seyn können.
Bei ihrer jetzigen Beschaffenheit können sie nicht von Natürlicher
Züchtung herrühren, welche bloss durch Erhaltung nützlicher Ab-
änderungen wirkt; sie sind , wie wir sehen werden, nur durch
"Vererbung erhalten worden * und stehen mit der frühern Be-
* Aber wenn sie jetzt nicht von Natürlicher Züchtung herrühren können,
wie sind sie dann das erste Mal entstanden, ehe sie wieder zu schwinden
_
456
schaffenheit. ihres Besitzers in Verbindung. Es ist schwer zu er-
kennen, was »werdende« Organe sind; in Bezug "auf die Zukunft
kann man. nicht sagen, in welcher Weise sich. ein.Theil ent-
wickeln wird, und ob es jetzt ein’ »werdender« ist; in Bezug auf
die Vergangenheit, so werden Geschöpfe mit werdenden Organen
gewöhnlich durch ihre Nachfolger mit vollkommeneren und ent-
wickelteren. Organen ersetzt und ausgetilgt worden :seyn. ‚Der
Flügel-Stümmel des Pinguins ist als Ruder wirkend von grossem
Nutzen und mag daher den. beginnenden Vogel-Flügel. vorstellen;
nicht als ob. ich glaubte, dass er es wirklich. seye,: denn ‚wahr-
scheinlich ist er. ein ‚reduzirtes und für ‚eine neue Bestimmung
hergerichtetes, Organ, ‚Der. Flügel des Apteryx ist nutzlos .und
ganz rudimentär. ..Die. Milchzitzen - Drüse,, des ‚Ornithorhynchus
kann, vielleicht, einem, Kuh-Euter. gegenüber , ‚als eine. werdende
bezeichnet werden. Die Eier-Zügel gewisser Cirripeden (S.. 202),
welche nur wenig entwickelt sind und nicht mehr zur RieAHANUS
der. Eier, dienen, sind; werdende, Kiemen.,
Rudimentäre Organe in Individuen ‚einer. .nämlichen an ‚va-
riiren‘ sehr gerne: in ihrer Entwickelungs-Stufe. sowohl als in .an-
dern Beziehungen. Ausserdem ist der Grad, bis :zu. welchem das
Organ rudimentär geworden, in nahe verwandten Arten zuweilen
sehr. verschieden... Für diesen letzten Fall liefert der Zustand der
Flügel bei einigen Nacht-Schmetterlingen ein gutes Beispiel. Ru-
dimentäre Organe können ‚gänzlich: fehlschlagen oder abortiren.
und daher, rührt .es dann, dass wir in einem: Thiere oder einer
Pflanze. nicht einmal eine Spur mehr. vpn einem Organe. finden,
welches wir dort zu erwarten berechtigt sind und nur, zuweilen
noch in. monströsen ‚Individuen hervortreten sehen. So finden
wir z. B. im Löwenmaul (Antirrhinum) gewöhnlich kein Rudiment
eines fünften Staubgefässes; doch kommt Diess zuweilen zum
Vorschein. Wenn man die Homologien eines Theiles in den ver-
schiedenen Gliedern einer Klasse verfolgt, so ist nichts gewöhn-
licher oder nothwendiger, als die Entdeckung von Rudimenten.
. . [) r} . | . i
begannen ? Gewiss verdienen sie aber in diesem letzten Falle nicht den
Namen „werdende“ oder a Organe, sondern müssen „verküm-
mernde“ heissen. . D. Übs.
457
R. Owen hat Diess ganz gut in Zeichnungen ‚der Bein - Knochen
des Pferdes, des Ochsen und des Nashorns dargestellt.
- Es ist eine wichtige Erscheinung, dass rudimentäre Organe,
wie: die Zähne im Oberkiefer der Wale und ‚Wiederkäuer ,. oft
im: Embryo zu entdecken sind und nachher völlig. verschwinden.
Auch ist es, glaube ich, eine allgemeine Regel, dass ein rudi-
mentäres Organ den angrenzenden .Theilen gegenüber im Embryo
grösser als im Erwachsenen erscheint, so dass das Organ
im Embryo: minder rudimentär ist.-und oft kaum als irgendwie
rudimentär bezeichnet werden kann; oder man’ sagt oft von ihm,
es seye auf seiner embryonalen Entwickelungs-Stufe ‚auch im Er-
wachsenen stehen geblieben.
Ich habe jetzt ‚die leitenden Kikeinssgan bei rudimentären
Organen aufgeführt. ‚Bei weiterem Nachdenken darüber muss jeder
von Erstaunen betroffen werden; denn dieselbe Urtheilskraft, welche
uns: so deutlich erkennen lässt, wie vortrefflich die meisten Theile
und Organe ihren verschiedenen. Bestimmungen angepasst sind,
lehrt uns auch mit gleicher Deutlichkeit, dass diese rudimentären
oder atrophirten Organe unvollkommen und nutzlos sind. In den
naturgeschichtlichen Werken liest man. gewöhnlich, dass die ru-
dimentären Organe nur der »Symmetrie wegen« oder »um das
Schema‘ der Natur zu 'ergänzen« vorhanden sind; Diess scheint
mir aber keine Erklärung , sondern nur eine andre blosse Be-
hauptung der Thatsache zu seyn. Würde es denn genügen zu
sagen, weil Planeten in elliplischen Bahnen um die Sonne laufen,
nehmen Satelliten denselben Lauf um die Planeten nur der Sym-
metrie wegen und um das Schema der Natur zu vervollständigen?
Ein ausgezeichneter Physiologe sucht das Vorkommen rudimen-
tärer Organe durch die Annahme zu erklären, dass sie dazu
dienen, überschüssige oder dem Systeme schädliche Materie aus-
zuscheiden. Aber kann man denn annehmen, ‚dass das kleine
nur aus Zellgewebe bestehende Wärzchen, welches in männlichen
Blüthen oft die Stelle des Pistills. vertritt, Diess zu bewirken
vermöge? Kann man unterstellen, dass die Bildung rudimen-
tärer Zähne, die später wieder resorbirt werden, dem in raschem
Wachsen begriffenen Kalb -Embryo durch Ausscheidung der ihm
458
so werthvollen phosphorsauren Kalkerde von irgend welchem
Nutzen seyn könne? Wenn ein Mensch durch Amputation einen
Finger verliert, so kommt an dem Stümmel zuweilen ein unvoll-
kommener Nagel wieder zum Vorschein. Man könnte nun gerade
so güt glauben, dass dieses Rudiment eines Nagels nicht in Folge
unbekannter Wächsthums-Gesetze, sondern nur um Horn-Materie
auszuscheiden wieder erscheine, als dass die Nagel - Stümmel
an den Ruderhänden des Manatus dazu bestimmt seyen.
Nach meiner Annahme von Fortpflanzung mit Abänderung
erklärt sich die Entstehung rudimentärer Organe sehr einfach.
Wir kennen eine Menge Beispiele von rudimentären Organen bei .
unseren Kultur - Erzeugnissen, wie der Schwanz - Stümmel in
ungeschwänzten Rassen, der Ohr-Stümmel in Ohr-losen Rassen,
das Wiedererscheinen kleiner nur in der Haut hängender Hörner
bei ungehörnten Rinder-Rassen und besonders, nach Youart, bei
jungen Thieren derselben, und wie der Zustand der ganzen
Blüthe im Blumenkohl. Oft sehen wir auch Stümmel verschiedener
Art bei Missgeburten. Aber ich bezweifle, dass einer von diesen
Fällen geeignet ist, die Bildung rudimentärer Organe in der
Natur weiter zu beleuchten, als dass er uns zeigt, dass Stüm-
mel entstehen können; denn ich bezweifle eben so, dass Arten
im Natur-Zustande jemals plötzlichen Veränderungen unterliegen.
Ich glaube, dass Nichtgebrauch dabei hauptsächlich in Betracht
komme, der während einer langen Generationen - Reihe die all-
mähliche Abschwächung der Organe veranlassen kann, bis sie
endlich nur noch als Stümmel erscheinen: so bei den Augen in
dunklen Höhlen lebender Thiere, welche nie etwas sehen, und
bei den Flügeln ozeanische Inseln bewohnender Vögel, welche
selten zu fliegen nöthig haben und daher dieses Vermögen zuletzt
gänzlich einbüssen. Ebenso kann ein unter Umständen nützliches
Organ unter andern Umständen sogar nachtheilig werden, wie
die Flügel der auf kleinen und ausgesetzten Inseln lebenden In-
sekten. In diesem Falle wird Natürliche Züchtung fortwäh-
rend bestrebt seyn, das Organ langsam zu reduziren, bis es un-
schädlich und 'rudimentär wird. |
Eine Änderung in den Verrichtungen, welche in unmerk-
459
baren Abstufungen eintreten kann, liegt im Bereiche der Natür-
lichen Züchtung; daher ein Organ, welches in Folge geänderter
Lebens-Weise nutzlos oder nachtheilig für seine Bestimmung wird,
abgeändert und für andre Verrichtungen verwendet werden kann.
Oder ein Organ wird nur noch für eine von seinen früheren
_ Verrichtungen beibehalten. Ein nutzlos gewordenes Körper-Glied
ınag veränderlich seyn, weil seine Abänderungen nicht durch
Natürliche Züchtung geleitet werden können. In welchem Lebens-
Abschnitte nun ein Organ durch Nichtbenützung oder Züchtung
reduzirt werden mag (und Diess wird gewöhnlich erst der Fall
seyn, wenn das Thier zu seiner vollen Reife und Thatkraft ge-
langt ist): so wird nach dem Prinzip der Wiedervererbung in
sich entsprechenden Altern dieses Organ in reduzirtem Zustande
stets im nämlichen Alter wieder erscheinen und sich mithin nur sel-
ten im Embryo ändern oder verkleinern. So erklärt sich mithin
die verhältnissmässig beträchtlichere Grösse rudimentärer Organe
im Embryo und deren vergleichungsweise geringere Grösse im Er-
wachsenen. Wenn aber jede Abstufung im Reduktions-Prozesse
nicht in einem entsprechenden Alter, sondern in einer sehr
frühen Lebens-Periode vererbt werden sollte (was wir guten
Grund haben für möglich zu halten), so würde das rudimentäre
Organ endlich ganz zu verschwinden streben und den Fall eines
vollständigen Fehlschlagens darbieten. Auch das in einem frühe-
ren Kapitel erläuterte Prinzip der Ökonomie, wornach die zur
Bildung eines dem Besitzer nicht mehr nützlichen Theiles verwen-
deten Bildungs-Stoffe erspart werden, mag wohl oft mit ins Spiel
kommen; und Diess wird dann dazu beitragen, das gänzliche Ver-
schwinden eines schon verkümmerten Organes zu bewirken.
Da hiernach die Anwesenheit rudimentärer Organe von dem
Streben eines jeden Theiles der Organisation sich nach langer
Existenz erblich zu übertragen bedingt ist, so wird aus dem Ge-
sichtspunkte einer genealogischen Klassifikation begreiflich, wie
es komme, dass Systematiker die rudimentären Organe für ihren
Zweck zuweilen eben so nützlich befunden haben, als die Theile
von hoher physiologischer Wichtigkeit. Organe-Stümmel kann
man mit den Buchstaben eines Wortes vergleichen, welche beim
460
Buchstabiren ‚desselben noch beibehalten aber nicht mit ausge-
sprochen werden und bei Nachforschungen über dessen: Ur-
sprung als vortreflliche Führer dienen. Nach der Annahme einer
Fortpflanzung mit; Abänderung können wir schliessen, dass das
Vorkommen von Organen in einem verkümmerten, unvollkomme-
nen und nutzlosen Zustande und deren gänzliches Fehlschlagen,
statt wie bei der gewöhnlichen Theorie der Schöpfung grosse
Schwierigkeiten zu bereiten, vielmehr vorauszusehen war und aus
den Erblichkeits-Gesetzen zu erklären ist. '
Zusammenfassung.) Ich habe in diesem Kapitel zu zei-
gen gesucht, dass die Unterordnung der Organismen-Gruppen.
aller Zeiten untereinander, — ‘dass die Natur der Beziehungen,
nach welchen alle lebenden und erloschenen Wesen durch
zusammengesetzte, strahlenförmige und oft sehr mittelbar zusam-
menhängende Verwandischafts-Linien zu einem grossen Systeme
vereinigt werden, — dass die von den Naturforschern bei ihren
Klassifikationen befolgten Regeln und begegneten Schwierigkeiten,
— dass der auf die beständigen und andauernden Charaktere
gelegte Werth, gleichviel ob sie für die Lebens-Verrichtungen
von grosser oder, wie die der rudimentären Organe von gar
keiner Wichtigkeit seyen, — dass der weite Unterschied im Werthe
zwischen analogen oder Anpassungs- und wahren Verwandtschafts-
Charakteren: — dass alle diese und noch viele andre solcher regel-
mässigen Erscheinungen sich Natur-gemäss aus der Annahme einer
gemeinsamen Abstammung der bei den Naturforschern als verwandt
geltenden Formen und deren: Modifikation durch Natürliche Züch-
tung in Begleitung‘ von Erlöschung und von Divergenz des Cha-
rakters herleiten lassen. Von diesem Standpunkte aus die Klas-
sifikation beurtheilend wird man sich erinnern, dass das Element
der Abstammung in so fern’ schon längst allgemein berücksich-
tigt wird, als man: beide Geschlechter, die’ manchfaltigsten Ent-
wickelungs-Formen und die anerkannten Varietäten, wie verschie-
den von einander sie auch in ihrem Baue seyn mögen,. alle in
eine Art zusammenordnet. Wenn wir nun die Anwendung die-
ses Elementes als die einzige mit Sicherheit erkannte Ursache
von der Ähnlichkeit organischer Wesen unter einander etwas
461
weiter ausdehnen, so wird uns die Bedeutung des natürlichen
Systemes klarer werden: es ist ein Versuch genealogischer An-
ordnung, worin die Grade der Verschiedenheiten, in welche die
einzelnen Verzweigungen aus einander gelaufen sind, mit den
Kunst-Ausdrücken Abarten, Arten, Sippen, Familien, Ordnungen
und Klassen bezeichnet werden. |
Indem wir von der Annahme einer Fortpflanzung mit Abän-
derung ansgehen, werden uns manche Haupterscheinungen in der
Morphologie erklärlich: sowohl das gemeinsame Model, wornach
die homologen Organe, zu welchem Zwecke sie auch immer be-
stimmt ‚seyn mögen, bei allen Arten einer Klasse gebildet sind,
als die Modelung aller homologen Theile eines jeden Pflan-
zen- oder Thier-Individuums nach einem solchen gemeinsamen
Vorbilde.
Andre der wichtigsten Erscheinungen in der Morphologie
dagegen erklären sich aus dem Prinzip, dass allmähliche ge-
ringe Abänderungen nicht nothwendig oder allgemein schon in
einer sehr frühen Lebens-Zeit eintreten, und dass sie sich in ent-
sprechendem Alter weiter vererben. So die Ähnlichkeit der ho-
mologen Theile in einem Embryo, welche im reifen Alter in Form
und Verrichtungen weit auseinander gehen, — und die Ähnlich-
keit der homologen Theile oder Organe in verschiedenen Arten
einer Klasse, obwohl sie den erwachsenen Thieren zu den mög-
lich verschiedensten Zwecken dienen. Larven sind selbst-thätige
Embryonen, welche daher auch schon je für ihre verschiedene
Lebens-Weise nach dem Prinzip der Vererbung in gleichen
Altern 'modifizirt worden sind. Nach diesem nämlichen Prinzipe
und in Betracht dass, wenn Organe in Folge von Nichtgebrauch
oder von Züchtung an Stärke abnehmen, Diess gewöhnlich in
derjenigen Lebens-Periode geschieht, wo das Wesen für seine Be-
dürfnisse selbst zu sorgen hat, und in fernerem Betracht, wie
strenge das Walten des Erblichkeits-Prinzips ist: bietet uns das Vor-
kommen rudimentärer Organe und ihr endlich vollständiges Ver-
schwinden keine unerklärbare Schwierigkeit dar; im Gegentheil
haben wir deren Vorkommen voraus sehen können. Die Wich-
tigkeit embryonischer Charaktere und rudimentärer Organe für
462
die Klassifikation wird aus der Annahme begreiflich, dass nur
eine genealogische Anordnung natürlich seyn kann.
Endlich: die verschiedenen Klassen von Thatsachen, welche
in diesem Kapitel in Betracht gezogen worden sind, scheinen mir
so deutlich zu verkündigen, dass die zahllosen Arten, Sippen
und Familien organischer Wesen, womit diese Welt bevölkert
ist, allesammt und jedes wieder in seiner eignen Klasse oder
Gruppe insbesondere, von gemeinsamen Ältern abstammen und
im Laufe der Fortpflanzung wesentlich modifizirt worden sind,
dass ich mir diese Anschauungs-Weise ohne Zögern aneignen
würde, selbst wenn ihr keine sonstigen Thatsachen und Argu-
mente mehr zu Hilfe kämen.
Vierzehntes Kapitel.
Allgemeine Wiederholung und Schluss.
Wiederholung der Schwierigkeiten der Theorie Natürlicher Züchtung. — Wie-
. derholung der allgemeinen und besondern Umstände, zu deren Gunsten. —
Ursachen des allgemeinen Glaubens an die Unveränderlichkeit der Arten.
— Wie weit die Theorie Natürlicher Züchtung auszudehnen. — Folgen
ihrer Annahme für das Studium der Naturgeschichte. — Schluss - Bemer-
kungen.
Da dieser ganze Band eine lange Beweisführung ist, so
mag es für den Leser angenehm seyn, die leitenden Thatsachen
und Schlussfolgerungen kürzlich wiederholt zu sehen.
/ Ich läugne nicht, dass man viele und ernste Einwände gegen
die Theorie der Abstammung mit fortwährender Abänderung
durch Natürliche Züchtung vorbringen kann. Ich habe versucht,
sie in ihrer ganzen Stärke zu entwickeln. Nichts kann im ersten
Augenblick weniger glaubhaft scheinen, als dass die zusammen-
gesetztesten Organe und Instinkte ihre Vollkommenbheit erlangt
haben sollen nicht durch höhere und doch der menschlichen Ver-
nunft analoge Kräfte, sondern durch die blosse Zusammensparung
zahlloser kleiner aber jedem individuellen Besitzer vortheilhafter
Abänderungen. Diese Schwierigkeit, wie unübersteiglich gross sie
auch unsrer Einbildungs-Kraft erscheinen mag, kann gleichwohl
463
nieht für wesentlich gelten, wenn wir folgende Vordersätze zu-
lassen: dass Abstufungen in der Vollkommenheit eines Organes
oder Instinktes, welches Gegenstand unsrer Betrachtung ist, ent-
weder jetzt bestehen oder bestanden haben, die alle in ihrer
Weise gut waren; — dass alle Organe und Instinkte in, wenn
auch noch so geringem Grade, veränderlich sind ; — und endlich,
dass ein Kampf ums Daseyn bestehe, welcher zur Erhaltung
einer jeden für den Besitzer nützlichen Abweichung von den
bisherigen Bildungen oder Instinkten führt. Die Wahrheit dieser
Sätze kann nach meiner Meinung nicht bestritten werden. |
Es ist ohne Zweifel äusserst schwierig auch nur eine Ver-
muthung darüber auszusprechen, durch welche Abstufungen, zumal
in durchbrochnen und erlöschenden Gruppen organischer Wesen,
manche Bildungen vervollkommnet worden seyen; aber wir sehen
so viele befremdende Abstufungen in der Natur, dass wir äus-
serst vorsichtig seyn müssen zu sagen, dass ein Organ oder In-
stinkt oder ein ganzes Wesen nicht durch stufenweise Fortschritte
zu seiner gegenwärtigen Vollkommenheit gelanget seyn könne.
Insbesondere muss man zugeben, dass schwierige Fälle besondrer
Art der Theorie der Natürlichen Züchtung entgegentreten, und
einer der schwierigsten Fälle dieser Art zeigt sich in dem Vor-
kommen von zwei oder drei bestimmten Kasten von Arbeitern
oder unfruchtbaren Weibchen in einer und derselben Ameisen-
Gemeinde; doch habe ich zu zeigen versucht, dass auch diese
Schwierigkeit zu überwinden ist.
Was die fast allgemeine Unfruchtbarkeit der Arten bei ihrer
Kreutzung anbelangt, die einen so merkwürdigen Gegensatz zur
fast allgemeinen Fruchtbarkeit gekreutzier Abarten bildet, so
muss ich den Leser auf die am Ende des. achten Kapitels gege-
bene Zusammenfassung der Thatsachen verweisen, welche mir
entscheidend genug zu seyn scheinen um darzuthun, dass diese
Unfruchtbarkeit in nicht höherem Grade eine angeborne Eigen-
thümlichkeit bildet, als die Schwierigkeit zwei Baum - Arten
aufeinander zu propfen; sondern dass sie zusammenfalle - mit
der Verschiedenheit der Lebensthätigkeit im Reproduktiv-
Systeme der gekreutztien Arten. Wir finden die Bestätigung
464
dieser Annahme in der weiten Verschiedenheit der Ergebnisse,
wenn die nämlichen zwei Arten wechselseitig von einander be-
fruchtet werden.
Die Fruchtbarkeit gekreutzter Abarten und ihrer Blendlinge
kann nicht als allgemein betrachtet werden ; und ihre doch immer
sehr häufige Fruchtbarkeit ist nicht überraschend, wenn wir be-
denken, dass es nicht aussieht, als ob ihre Konstitutionen über-
haupt oder ihre Reproduktiv- Systeme sehr angegriffen worden
seyen. Überdiess sind die meisten zu Versuchen benützten Ab-
‚arten aus Kultur der Arten hervorgegangen, und da die Kul-
tur die Unfruchtbarkeit offenbar zu vermindern strebt, so dür-
fen wir nicht erwarten, dass sie Unfruchtbarkeit irgendwo ver-
anlasse. aaa SE
Die Unfruchtbarkeit der Bastarde ist eine von der der ersten
Kreutzung sehr verschiedene Erscheinung, da ihre Reproduktiv-
Organe mehr oder weniger unfähig zur Verrichtung sind, wäh-
rend sich bei den ersten Kreutzungen die beiderseitigen Organe
in vollkommenem Zustande befinden. Da wir Organismen aller Art
durch Störung ihrer Konstitution unter nur wenig abweichenden
Lebens-Bedingungen fortwährend mehr und weniger steril werden
sehen, so dürfen wir uns nicht wundern, dass Bastarde weniger
fruchtbar sind; denn ihre Konstitution ‘kann als durch Ver-
schmelzung zweier verschiedenen Organisationen kaum anders ge-
litten haben. Dieser Parallelismus wird noch durch eine andre
parallele aber gerade entgegengesetzte Klasse von Erscheinungen
unterstützt: dass nämlich die Kraft - Entwickelung und Fruchtbar-
keit aller Organismen durch geringen Wechsel in ihren Lebens-
Bedingungen zunimmt, und dass die Nachkommen wenig modifi-
zirter Formen oder Abarten durch die Kreutzung an Kraft und
Fruchtbarkeit gewinnen. Ebenso vermindern einerseits beträcht-
liche Veränderungen in den Lebens-Bedingungen und Kreutzungen
zwischen sehr verschiedenen Formen die Fruchtbarkeit, wie an-
derseits geringere Veränderungen dieselbe zwischen nur wenig
abgeänderten Formen vermehren.
Wenden wir uns zur geographischen Verbreitung, so er-
scheinen auch da die Schwierigkeiten für die Theorie der Fort-
465
pflanzung mit fortwährender Abänderung erheblich genug. Alle
Individuen einer Art und alle Arten einer Sippe oder selbst noch
höherer Gruppen müssen von. gemeinsamen Ältern herkommen;
wesshalb sie, wenn auch noch so weit zerstreut und isolirt in
der Welt, im Laufe aufeinander-folgender Generationen aus einer
Gegend in. die andre gewandert seyn müssen. Wir sind oft
ganz ausser Stand auch nur zu. vermuthen, auf welche Weise
Diess geschehen seyn möge. Da wir jedoch anzunehmen berech-
tigt sind, dass einige Arten die nämliche spezifische Form wäh-
rend ungeheuer langen Perioden, in Jahren gemessen, beibehal-
ten haben, so darf man kein allzu-grosses Gewicht auf die ge-
legentliche weite Verbreitung einer Spezies legen; denn während
solcher ausserordentlich langer Zeit-Perioden wird sie auch zu
weiter Verbreitung irgend welche Mittel gefunden haben. Eine
durchbrochene oder zerspaltene Gruppe lässt sich oft durch Er-
löschen der vermittelnden Arten erklären. Es ist nicht zu läug-
nen, dass wir mit den manchfaltigen klimatischen und geogra-
phischen Veränderungen, welche die Erde erst in der laufen-
den Periode erfahren, noch ganz unbekannt sind; und solche
Veränderungen ‘müssen die Wanderungen offenbar in hohem
Grade befördert haben. Beispielsweise habe ich zu zeigen ver-
sucht, wie mächtig die Eis-Zeit auf die Verbreitung sowohl der
identischen als der. stellvertretenden Formen über die Erd-Ober-
fläche gewirkt habe. Ebenso sind wir auch fast ganz unbekannt
mit den vielen gelegenheitlichen Transport-Mitteln. Was die Er-
scheinung betrifft, dass verschiedene Arten einer Sippe sehr ent-
fernt von einander abgesonderte Gegenden bewohnen, so sind,
da der Abänderungs-Prozess nothwendig sehr langsam vor
sich geht, während sehr langer Zeit-Abschnitte für alle Wande-
rungen genügende Gelegenheiten vorhanden gewesen, wodurch
sich einigermaassen die Schwierigkeit: vermindert die weite Ver-
breitung der Arten einer Sippe zu erklären.
Da nach der Theorie der Natürlichen Züchtung eine endlose
Anzahl Mittelformen alle Arten jeder Gruppe durch eben so feine
Abstufungen, als unsre jetzigen Varietäten darstellen, miteinander
verkettet haben muss, so wird man die Frage aufwerfen, warum
30
466
wir nicht diese’ vermittelnden Formen rund um uns her erblicken?
Warum fliessen nicht alle organischen Formen zu einem unent-
wirrbaren Chaos zusammen ? Aber was die noch lebenden For-
men betrifft, so‘ sind wir (mit Ausnahme einiger seltnen Fälle)
wohl nicht zur Erwartung berechtigt, direkt vermittelnde Glieder
zwischen ihnen selbst, sondern 'nur etwa zwischen ihnen und
einigen erloschenen und ersetzten Formen zu entdecken. Selbst
auf einem weiten Gebiete, das während ‘einer langen Periode
seinen Zusammenhang bewahrt hat und dessen Klima und übrigen
Lebens-Beiingungen nur allmählich von einem Bezirke zu andern
von nahe verwandten Arten bewohnten Bezirken abändern, selbst da
sind wir nicht berechtigt oft die Erscheinung vermittelnder For-
men in den Grenz-Strichen zu erwarten, da wir zur Vermuthung
Ursache haben, dass nur immer wenige. Arten in einer Periode
Abänderungen erfahren und alle Abänderungen nur langsam
vor sich gehen. Ich habe auch gezeigt, dass die vermittelnden
Formen, welche anfangs wahrscheinlich in den Zwischenstrichen
vorhanden gewesen, einer Ersetzung durch die verwandten For-
men von beiden Seiten her unterlegen sind, die vermöge ihrer
grossen Anzahl gewöhnlich schnellere Fortschritte in ihren Ab-
‘änderungen und Verbesserungen als die minder zahlreich ver-
tretenen Mittelformen machen, so dass diese. vermittelnden Ab-
arten mit der Länge der Zeit ersetzt und vertilgt werden.
Nach dieser Lehre von der Unterdrückung einer unendlichen
Menge vermittelnder Glieder zwischen den erloschenen und leben-
den Bewohnern der Erde und eben so zwischen den Arten einer
jeden der aufeinandergefolgten Perioden und den ihnen zunächst
vorangegangenen fragt es sich, warum nicht jede geologische For-
mation mit Resten solcher Glieder erfüllt ist? und warum nicht
‚jede Sammlung fossiler Reste einen klaren Beweis von solcher
Abstufung und Umänderung der Lebenformen darbietet. Dass
wir diese Belege vermissen, ist eine der handgreiflichsten und
stärksten von den vielen gegen meine Theorie vorgebrachten
Einwendungen. Und wie kommt 'es, dass ganze Gruppen ver-
wandter Arten in dem einen oder dem andern geologischen
Schichten-Systeme oft so plötzlich aufzutreten scheinen (gewiss
467
oft nur scheinen!).: Warum finden wir nicht grosse ‘Schichten-
Stösse unter dem Silur-Systeme erfüllt mit den Überbleibseln
der Stammväter der 'silurischen Organismen -Gruppen? Denn
nach meiner Theorie müssen solche Schichten-Systeme in diesen
alten und gänzlich unbekannten Abschnitten der Erd-Geschichte
gewiss irgendwo abgesetzt worden seyn.
‘Man kann auf diese Fragen und gewichtigen Einwände nur
mit der Annahme antworten, dass der geologische Schöpfungs-
Bericht bei weitem unvollständiger ist, als die meisten Geologen
glauben. Es lässt sich nicht einwenden, dass für irgend wel-
ches Maass organischer Abänderung nicht genügende Zeit ge- ,
wesen; denn die Länge der abgelaufenen Zeit ist für mensch-
liche Begriffe unfassbar. Die Menge der Exemplare in allen
unsren Museen zusammengenommen ist absolut nichts im Ver-
gleich mit den zahllosen Generationen zahlloser Arten, welche
sicherlich ‘schon existirt haben. Wir werden ausser Stand seyn
eine Art als die Stamm-Art einer oder mehrer andren Arten zu
erkennen, wenn wir nicht auch viele der vermittelnden Glieder
zwischen ihrer früheren und jetzigen Beschaffenheit besitzen;
und diese vermittelnden Glieder dürfen wir bei der Unvollstän-
diekeit der geologischen Schöpfungs-Urkunden. kaum jemals zu
entdecken erwarten. Man könnte viele jetzige zweifelhafte For-
men nennen, welche wahrscheinlich Abarten sind; aber wer
könnte behaupten, dass in künftigen Welt-Perioden noch so viele
fossile Mittelglieder werden entdeckt werden, dass Naturforscher
nach der gewöhnlichen Anschauungs-Weise: zu entscheiden im
Stande seyn werden, ob diese zweifelhaften Formen Varietäten
sind oder nicht? So lange als die meisten Zwischenglieder zwi-
schen irgend welchen zwei Arten unbekannt sind, wird man ein
einzelnes Glied oder eine einzelne Zwischenform, die entdeckt
wird, einfach als eine andre verschiedene Spezies einreihen. —
Nur ein kleiner Theil der Erd-Oberfläche ist geologisch un-
tersucht worden, und nur von gewissen Organismen -Klassen
können fossile Reste in grosser Anzahl erhalten werden.
Weit verbreitete Arten variiren am meisten, und die Abarten
sind anfänglich oft nur lokal; beide Ursachen machen die Ent-
30 *
Be 18 EEE ae a <a Sur £
468
‚deckung von Zwischengliedern wenig. wahrscheinlich. ‚Örtliche
Varietäten verbreiten sich nicht in andre und entfernte Gegen-
den, bis sie beträchtlich abgeändert und verbessert sind; — und
wenn sie nach ihrer: Verbreitung in einer geologischen Forma-
tion 'entdeckt werden, so wird es scheinen, als seyen sie erst
jetzt plötzlich erschaffen worden, und man wird sie einfach. als
neue: Arten betrachten, — Die meisten Formationen sind mit
Unterbrechungen abgelagert worden; und ihre Dauer ist, wie
ich glaube, kürzer als die mittle Dauer. der -Arten-Formen ge-
wesen. Zunächst aufeinander-folgende Formationen sind durch
ungeheure leere Zeiträume von einander getrennt; denn Fos-
sil-Reste führende Formationen, mächtig genug, um spätrer
Zerstörung zu widerstehen, können nur da gebildet werden, wo
dem in Senkung begriffenen Meeres-Grund viele. Sedimente
zugeführt werden. In den damit abwechselnden Perioden von
Hebung ‘oder Ruhe wird das Blatt in der Schöpfungs-Geschichte
weiss bleiben. Während dieser letzten Perioden wird wahr-
scheinlich mehr Veränderung in den Lebenformen, während der
Senkungs-Zeiten mehr Erlöschen derselben: stattfinden.
Was die Abwesenheit Fossilien-führender Schichten unter-
halb der untersten Silur-Gebilde betrifit, so kann ich 'nur aul
die im neunten Kapitel aufgestellte Hypothese zurückkommen.
Dass der geologische Schöpfungs-Bericht lückenhalt ist, gibt
jedermann zu; dass er es aber in dem von mir verlangten
Grade seye, werden nur wenige zugestehen wollen. Hinreichend
lange Zeiträume zugegeben, erklärt uns die Geologie offenbar
genug, dass alle Arten gewechselt haben; und sie haben in der
Weise gewechselt, wie es meine Theorie erheischt, nämlich lang-
sam und stufenweise. Wir erkennen Diess deutlich daraus,
dass die organischen Reste zunächst aufeinander-folgender For-
mationen einander allezeit näher verwandt sind, als die fossilen
Arten durch weite Zeiträume‘ von einander getrennter Gebirgs-
Bildungen. «
Diess. ist die Summe der hauptsächlichsten Einwürfe und
Schwierigkeiten, die ‚man mit Recht gegen meine Theorie vor-
bringen kann; und ich habe die darauf zu gebenden Ani-
469
worten und Erläuterungen in Kürze wiederholt. Ich habe diese
Schwierigkeiten: viele Jahre lang selbst zu sehr empfunden, als
dass ich an ihrem Gewichte zweifeln sollte. : Aber es verdient
noch insbesondere hervorgehoben zu werden. dass die wichtige-
ren Einwände sich auf Fragen beziehen, “über die wir einge-
standner Maassen in Unwissenheit sind: und wir wissen: nicht
einmal, wie unwissend wir sind. Wir kennen nicht all’ die
möglichen Übergangs-Abstufungen zwischen den einfachsten und
den vollkommensten Organen; wir können nicht behaupten,
all’. die manchfaltigen Verbreitungs-Mittel der Organismen wäh-
rend des Verlaufes so zahlloser Jahrtausende zu kennen, und
wir wissen nicht, wie unvollständig der geologische Schöpfungs-
Bericht ist. Wie bedeutend aber auch diese mancherlei Schwierig-
keiten seyn mögen, so genügen sie doch nicht, ıım meine Theorie
einer Abstammung von einigen wenigen erschalfenen
Formen mit'nachheriger Abänderung derselben umzu-
stossen.
Wenden wir uns nun nach der andern Seite unsres Gegen-
standes. Im Kultur-Zustande der Wesen nehmen wir viel Ver-
änderlichkeit derselben wahr. Diess scheint daran zu liegen,
dass das Reproduktiv-System ausserordentlich empfindlich gegen
Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen ist, so dass
dieses System, wenn. es nicht ganz unlähig wird, doch keine
der. älterlichen Form genau ähnliche Nachkommenschaft mehr lie-
fert. Die Abänderungen werden durch viele verwickelte Gesetze
geleitet, durch die Wechselbeziehungen des Wachsthums, durch
Gebrauch und Nichtgebrauch und durch die unmittelbaren Ein-
wirkungen der physikalischen Lebens-Bedingungen. Es ist sehr
schwierig. zu bestimmen, wie viel Abänderung unsre Kultur-Er-
zeugnisse erfahren haben; doch können wir. getrost annehmen,
dass deren Maass gross gewesen seye, und dass Modifikationen
auf lange Perioden hinaus vererblich sind. : So. lange als die
Lebens-Bedingungen die nämlichen bleiben, sind wir zu unterstellen
berechtigt, dass ‚eine Abweichung, welche sich ‚schon seit vielen
Generationen vererbt hat, sich auch noch ferner auf eine fast
unbegrenzte Zahl yon Generationen hinaus vererben kann, An-
470
drerseits sind wir gewiss, dass Veränderlichkeit, wenn sie ein-
mal in’s Spiel gekommen, nicht mehr: gänzlich ' aufhört; denn
unsre ältesten Kultur-Erzeugnisse bringen gelegenheitlich noch
immer neue Abarten hervor.
Der Mensch erzeugt in Wirklichkeit keine Abänderungen,
sondern er versetzt nur: unabsichtlich organische Wesen unter
neue Lebens-Bedingungen, und dann wirkt die Natur auf deren
Organisation und verursacht Veränderlichkeit. Der Mensch kann
aber die ihm von der Natur dargebotenen Abänderungen zur
Nachzucht auswählen und dieselben hiedurch in einer beliebigen
Richtung häufen; und Diess thut er wirklich. Er passt auf diese
Weise Thiere und Pflanzen seinem eignen Nutzen und Vergnü-
gen an. Er mag Diess planmässig oder mag es unbewusst thun,
indem er die ihm zur Zeit nützlichsten Individuen, ohne einen
Gedanken an die Änderung der Rasse, zurückbehält Es ist ge-
wiss, dass er einen grossen Einfluss auf den Charakter einer
Rasse dadurch ausüben kann, dass er von Generation zu .Gene-
ration individuelle Abänderungen zur Nachzucht auswählt, so ge-
ring, dass sie für das ungeübte Auge: kaum wahrnehmbar sind.
Dieses Wahl-Verfahren ist das grosse Agens in der Erzeugung
der ausgezeichnetsten und nützlichsten unsrer veredelten Thier-
und Pflanzen-Rassen gewesen. Dass nun viele der vom Menschen
gebildeten Abänderungen den Charakter natürlicher Arten schon
grossentheils besitzen, geht aus den unausgesetzten Zweifeln in
Bezug auf viele derselben hervor, ob es Arten oder Abarten sind.
Es ist kein Grund nachzuweisen , wesshalb diese Prinzipien,
welche in Bezug auf die kultivirten Organismen so erfolgreich
gewirkt, nicht auch in der Natur wirksam seyn sollten.‘ In der
Erhaltung begünstigter Individuen und Rassen während des be-
ständig wiederkehrenden Kampfs ums Daseyn sehen wir das
wirksamste und nie ruhende Mittel der Natürlichen Züchtung.
Der Kampf ‘ums Daseyn ist die unvermeidliche Folge der hoch-
potenzirten geometrischen Zunahme, welche allen organischen
Wesen gemein ist. Dieses rasche Zunahme-Verhältniss ist that-
sächlich erwiesen aus der schnellen Vermehrung vieler Pflanzen
und Thiere während einer Reihe günstiger Jahre und bei ihrer
ar
Naturalisirung in einer 'neuen Gegend. Es werden mehr Einzel-
wesen geboren, als fortzuleben im Stande. sind. Ein Gran in
der:Wage kann den. Ausschlag. geben, welches Individuum fort-
leben und welches zu Grunde gehen soll, welche: Art oder Ab-
art sich vermehren und welche abnehmen ‚und endlich. erlöschen
muss.: Da die Individuen einer nämlichen Art in allen Beziehun-
gen in die nächste Bewerbung miteinander gerathen, so wird ge-
wöhnlich auch der Kampf zwischen ihnen am heftigsten seyn; er
wird fast: eben so heftig zwischen den Abarten einer Art, und
dann zunächst zwischen den Arten einer Sippe seyn. Aber der
Kampf kann oft.auch sehr heftig zwischen Wesen seyn, welche
auf der. Stufenleiter der Natur am weitesten auseinander stehen.
Der geringste Vortheil, den ein Wesen in irgend. einem Lebens-
‚Alter ‚oder zu irgend einer Jahreszeit über seine Mitbewerber
voraus hat, oder eine wenn-auch noch so wenig bessere Anpas-
sung an die umgebenden Natur-Verhältnisse kann die Wage sin-
ken machen.
. Bei Thieren getrennten Geschlechtes wird meistens ein
Kampf der Männchen um den Besitz der Weibchen. stattfinden.
Die. kräftigsten oder. diejenigen Individuen , welche- am erfolg-
reichsten mit ihren Lebens-Bedingungen gekämpft haben, werden
gewöhnlich am meisten Nachkommenschaft hinterlassen. Aber
der Erfolg wird oft davon abhängen, dass die Männchen besondre
Waffen oder Vertheidigungs-Mittel. oder Reitze besitzen; und der
geringste Vortheil kann zum Siege führen,
Da die Geologie. uns deutlich nachweiset, ‚dass ein jedes
Land grosse physikalische Veränderungen erfahren ‚hat, so ist
anzunehmen, dass die organischen Wesen im Natur - Zustande
ebenso. wie die kultivirten unter den veränderten Lebens-Bedingun-
gen abgeändert haben. Wenn nun eine Veränderlichkeit im
Natur-Zustande vorhanden ist, so, würde es eine, unerklärliche
Erscheinung seyn, falls die Natürliche Züchtung nicht eingriffe. Es
ist oft versichert worden, aber eines Beweises nicht fähig, dass
das Maass der Abänderung in der Natur eine streng bestimmte
Quantität seye. Der Mensch, obwohl nur auf äussre Charak-
tere allein und oft, bloss nach seiner ‚Laune wirkend, ver-
4712
mag in kurzer Zeit dadurch grossen Erfolg zu erzielen, dass er
allmählich alle in einer Richtung hervortretenden individuellen Ver-
schiedenheiten zusammenhäuft; und jedermann gibt zu, dass
wenigstens individuelle Verschiedenheiten bei den Arten im Na-
tur-Zustande vorkommen. Aber von diesen abgesehen, haben
alle Naturforscher das Daseyn von Abarten oder Varietäten ein-
gestanden, welche verschieden genug seyen, um in den syste-
matischen Werken als solche mit aufgeführt zu werden. Doch
kann niemand einen bestimmten Unterschied zwischen individuellen
Abänderungen und leichten Varietäten oder zwischen verschiedenen
Abarten, Unterarten und Arten angeben. Erinnern wir uns, wie
sehr die Naturforscher in ihrer Ansicht über den Rang der vielen
stellvertretenden Formen in Europa und Amerika auseinandergehen.
Wenn es daher im Natur-Zustande ‘Variabilität und ein
mächtiges stets zur Thätigkeit und Zuchtwahl bereites Agens
gibt, wesshalb sollten wir noch bezweifeln, dass irgend welche
für. die Organismen in ihren äusserst verwickelten Lebens-Ver-
hältnissen 'einigermaassen nützliche Abänderungen erhalten, ge-
häuft und vererbt werden? Wenn der Mensch die ihm selbst
nützlichen Abänderungen geduldig zur Nachzucht auswählt: warum
sollte die Natur unterlassen, die unter veränderten Lebens-
Bedingungen für ihre Produkte nützlichsten Abänderungen auszu-
suchen? Welche Schranken kann man einer Kraft setzen, welche
von einer Welt:Periode zur andern beschäftigt ist, die ganze
organische Bildung, Thätigkeit und Lebens-Weise eines jeden
Geschöpfes unausgesetzt zu sichten, das Gute zu befördern und
das Schlechte zurückzuwerfen? Ich vermag keine Grenze zu
sehen für eine Kraft, welche jede Form den verwickeltesten
Lebens-Verhältnissen langsam anzupassen beschäftigt ist. Die
Theorie der Natürlichen Züchtung scheint mir, auch wenn wir
uns nur darauf allein beschränken, in sich selbst wahrscheinlich
zu seyn. Ich habe bereits, so ehrlich als möglich, die dagegen
erhobenen Schwierigkeiten und Einwände rekapitulirt; jetzt
wollen wir uns zu den Spezial-Erscheinungen und Folgerungen
zu Gunsten unsrer Theorie wenden. ;
Aus meiner Ansicht) dass Arten nur stark ausgebildete und
473
bleibende Varietäten (Abarten) sind und jede Art zuerst als eine
Varietät existirt hat, ergibt sich, weshalb keine Grenzlinie gezo-
gen werden kann zwischen Arten, welche man gewöhnlich als
Produkte eben so vieler besondrer Schöpfungs-Akte betrachtet,
und zwischen Varietäten, die man als Bildungen eines sekundä-
ren Gesetzes gelten lässt. Nach dieser nämlichen Ansicht ist es
ferner zu begreifen, dass in jeder Gegend, wo viele Arten einer
Sippe entstanden sind und nun gedeihen, diese Arten noch viele
Abarten darbieten; denn, wo die Arten-Fabrikation thätig betrie-
ben worden ist, da möchten wir als Regel erwarten, sie noch in
Thätigkeit zu finden; und Diess ist der 'Fall, woferne Varietäten
beginnende Arten sind. Überdiess behalten auch die Arten gros-
ser Sippen, welche die Mehrzahl der Varietäten oder beginnenden
Arten liefern, in gewissem Grade den Charakter von Varietäten
bei: denn sie unterscheiden sich in geringerem Maasse, als die
Arten kleinerer Sippen von einander. Auch haben die nahe-
verwandten Arten grosser Sippen eine beschränktere Verbreitung
und bilden vermöge ihrer Verwandtschaft zu einander kleine um
andre Arten geschaarte Gruppen, in welcher Hinsicht sie eben-
falls Varietäten gleichen. Diess sind, von dem Gesichtspunkte
aus beurtheilt, dass jede Art unabhängig geschaffen worden seye,
befremdende Erscheinungen, welche dagegen der Annahme ganz
wohl entsprechen, dass alle Arten sich aus Varietäten entwickelt
haben.
Da jede Art bestrebt ist sich in geometrischem Verhältnisse
unendlich zu vermehren, und da die abgeänderten Nachkommen
einer jeden Spezies sich um so rascher zu vervielfältigen ver-
mögen, jemehr dieselben in Lebens-Weise und Organisation aus-
einander laufen, und mithin jemehr und verschiedenartigere Stel-
len sie demnach im Haushalte der Natur einzunehmen im Stande
sind, so wird in der Natürlichen Züchtung ein beständiges Stre-
ben vorhanden seyn, die am weitesten verschiedenen Nachkom-
men einer jeden Art zu erhalten. Daher werden im langen
Verlaufe solcher allmählichen Abänderungen die geringen und
blosse Varietäten einer Art bezeichnenden Verschiedenheiten sich
zu grösseren die Spezies einer nämlichen Sippe charakterisirenden
iv
474
Verschiedenheiten. ‚steigern. _ ‚Neue und verbesserte Varietäten
werden die älteren weniger vervollkommneten ‚und die letzten
vermittelnden Abarten unvermeidlich ersetzen und austilgen, und
so entstehen grossentheils scharf umschriebene und wohl, unter-
schiedene Spezies. Herrschende Arten aus den grösseren Grup-
pen streben wieder neue und herrschende Formen zu erzeugen,
so dass jede grosse Gruppe geneigt ist noch grösser und zugleich
divergenter im Charakter zu werden. Da jedoch nicht alle, Gruppen
beständig zunehmen können,. indem zuletzt die Welt sie nicht
mehr zu fassen vermöchte, so verdrängen die herrschenderen die
minder herrschenden. Dieses Streben der grossen Gruppen an
Umfang zu wachsen und im Charakter auseinander zu laufen, in
Verbindung mit der meist unvermeidlichen Folge starken Er-
löschens andrer, erklärt die Anordnung ‚aller Lebenlormen in
mehr und mehr unterabgetheilte Gruppen innerhalb einiger we-
nigen grossen Klassen, die uns jetzt überall umgeben und alle
Zeiten überdauert haben. Diese grosse Thatsache der Gruppirung
aller organischen Wesen scheint mir nach der gewöhnlichen
Schöpfungs-Theorie ganz unerklärlich.
Da Natürliche Züchtung nur durch Häufung kleiner aufein-
ander-folgender günstiger Abänderungen wirkt, so kann sie keine
grosse und plötzliche Umgestaltungen bewirken; sie kann nur
mit sehr langsamen und kurzen Schritten vorangehen. Daher
denn auch .der Canon »Natura non facit saltum“ ,„ welcher
sich mit jeder neuen Erweiterung unsrer. Kenntnisse mehr be-
stätigt, aus dieser Theorie einfach begreiflich wird. Wir.sehen
ferner ein, warum die Natur so fruchtbar an Abänderungen und
doch so sparsam an Neuerungen ist. Wie Diess aber ein Natur-
Gesetz. seyn könnte, wenn jede Art unabhängig erschaffen wor-
den wäre, vermag niemand zu erläutern.
Aus dieser Theorie scheinen mir noch andre Thatsachen er-
klärbar. Wie befremdend wäre es, dass ein Vogel in Gestalt
eines Spechtes geschaffen worden wäre, um Insekten am Boden
aufzusuchen; dass eine Gans, welche.niemals oder selten schwimmt,
mit Schwimmfüssen, dass: eine Drossel zum Tauchen und Leben
von unter Wasser wohnenden Insekten, und dass, ein Sturmvogel
475
geschaffen worden wäre mit einer Organisation, welche der Le-
bens-Weise eines Alks oder Lappentauchers (8.194) entspricht, und
so.in zahllosen andern Fällen. Aber nach der Ansicht, dass die Ar-
ten sich beständig zu: vermehren streben, während die Natürliche
Züchtung immer bereit ist, die langsam abändernden Nachkommen
‚jeder Art einem jeden in der Natur noch nicht oder nur unvoll-
kommen besetzten Platze anzupassen, hören diese Erscheinungen
auf. befremdend zu seyn und hätten sich sogar vielleicht voraus-
‚sehen lassen. | |
Da die Natürliche Züchtung neben der Mitbewerbung wirkt,
so passt sie die Bewohner einer jeden Gegend nur im Verhält-
niss der Vollkommenheits-Stufe ‘der andern Bewerber an, daher
es uns nicht überrascht, wenn die Bewohner eines Bezirkes,
welche nach der gewöhnlichen Ansicht doch speziell für diesen
Bezirk geschaffen und angepasst seyn sollen, durch die nalura-
lisirten Erzeugnisse aus andern Ländern besiegt und ersetzt wer-
den. Noch dürfen wir uns wundern, wenn nicht alle Erfindungen
in der Natur ‚so weit wir ermessen können, ganz vollkommen
sind und 'manche derselben sogar hinter unsren Begriffen von
Angemessenheit weit zurückbleiben. Es darf, uns daher nicht
befremden, wenn der Stich der Biene ihren eignen Tod ver-
ursacht; wenn die Dronen in so ungeheurer Anzahl nur für
einen einzelnen Akt erzeugt und dann grösstentheils von ihren
unfruchtbaren Schwestern getödtet werden: wenn unsre Nadelhöl-
zer eine so unermessliche Menge 'von Pollen erzeugen; wenn die
Bienenkönigin einen instinktiven Hass gegen ihre eignen frucht-
baren Töchter empfindet; oder wenn die Ichneumoniden sich im
lebenden Körper von Raupen nähren u. s. w. Weit mehr hätte
‘man sich nach der Theorie der Natürlichen Züchtung darüber zu
wundern, dass nicht noch mehr Fälle von Mangel an unbedingter
Vollkommenheit beobachtet werden.
Die verwickelten und wenig bekannten Gesetze, welche die
Variation‘ in der Natur beherrschen, sind, so weit unsre Ein-
sicht reicht , die nämlichen, welche auch die Erzeugung soge-
nannter spezifischer Formen geleitet haben. In beiden Fällen
scheinen die natürlichen Bedingungen nur wenig Einfluss gehabt
476
zu haben; wenn aber Varietäten in eine neue Zone eindringen, so
nehmen sie etwas von den Charakteren der dieser Zone eigen-
thümlichen Spezies an. In Varietäten sowohl als Arten scheinen
Gebrauch und Nichtgebrauch einige Wirkung zu haben; denn es
ist schwer dieser Ansicht zu widerstehen, wenn man z. B. die
Dickkopf-Ente (Micropterus) mit Flügeln sieht, welche zum Fluge
eben so wenig brauchbar als die der Hausente sind, oder wenn
man den grabenden Tukutuku (Ctenomys), welcher mitunter blind
ist, und dann die Maulwurf-Arten betrachtet, die immer blind
sind und ihre Augen-Rudimente unter der Haut liegen haben,
oder endlich wenn man die blinden Thiere in den dunkeln Höh-
len Europa’s und Amerika’s ansieht. In Arten und Abarten
scheint die Wechselbeziehung der Entwickelung eine sehr wich-
tige Rolle gespielt zu haben, so dass, wenn ein Theil abgeändert
worden ist, auch andre Theile nothwendig modifizirt werden
mussten. In Arten wie in Abarten kommt Rückkehr zu längst
verlorenen Charakteren vor. Wie unerklärlich ist nach der
- Schöpfungs - Theorie die gelegentliche Erscheinung von Streifen
an Schultern und Beinen der verschiedenen Arten der Pferde-
Sippe und ihrer Bastarde; und wie einfach erklärt sich diese
Thatsache, wenn wir annehmen, dass alle diese Arten von einem
gestreiften gemeinsamen Stamm-Vater herrühren‘, in derselben .
Weise, wie unsre zahmen Tauben-Rassen von der blau-grauen
Felstaube mit schwarzen Flügelbinden.
Wie lässt es sich. nach der gewöhnlichen Ansicht, dass jede
Art unabhängig geschaffen worden seye, erklären, dass die Arten-
Charaktere, wodurch ‚sich, die verschiedenen Spezies einer Sippe
von einander unterscheiden, veränderlicher als die Sippen-Charak-
tere sind, in welchen alle übereinstimmen? Warum wäre z.B. die
Farbe einer Blume in einer Art: einer Sippe, ‚wo alle,übrigen
Arten mit andern Farben versehen sind, eher zu varliren ge-
neigt, als wenn alle Arten derselben Sippe von gleicher Farbe
sind? Wenn aber Arten nur stark ausgebildete Abarten' sind,
deren Charaktere schon in hohem Grade beständig geworden, so
begreift sich Diess; denn sie haben bereits seit ihrer Abzwei-
gung von einem ‚gemeinsamen ‚Stammvater in gewissen Merk-
477
malen variirt, durch welche sie eben von einander verschieden
geworden sind; und. desshalb werden auch die nämlichen Cha-
raktere noch fortdauernd: unbeständiger seyn, als die Sippen-
Charaktere, die sich schon seit einer unermesslichen Zeit unver-
ändert vererbt haben. Nach der Theorie der Schöpfung ist es
unerklärlich, warum ein bei der einen Art einer Sippe in ganz
ungewöhnlicher Weise entwickelter und daher vermuthlich für
dieselben sehr wichtiger Charakter vorzugsweise zu variren ge-
neigt seyn soll; während dagegen nach meiner Ansicht dieser
Theil seit der Abzweigung der verschiedenen Arten von einem
gemeinsamen Stammvater in ungewöhnlichem Grade Abände-
rungen erfahren hat und gerade desshalb seine noch fortwährende
Veränderlichkeit voraus zu erwarten stund. Dagegen kann es
auch vorkommen, dass ein in der ungewöhnlichsten Weise ent-
wickelter Theil, wie der Flügel der Fledermäuse, sich jetzt eben
so wenig veränderlich als die übrigen zeigt, wenn derselbe vie-
‚len untergeordneten Formen gemein, d, h. schon seit sehr langer
Zeit vererbt worden ist; denn in diesem Falle wird er durch
lang-fortgesetzte Natürliche Züchtung beständig geworden seyn.
Werfen wir auf die Instinkte einen Blick, von welchen
manche wunderbar sind, so bieten sie der Theorie der Natürlichen
Züchtung mittelst leichter und allmählicher nützlicher Abände-
rungen keine grössere Schwierigkeit als die körperlichen Bil-
dungen dar. Man kann daraus begreifen, warum die Natur blos
in kleinen Abstufungen die Thiere einer, nämlichen Klasse mit
ihren verschiedenen Instinkten vervollkommt. Ich habe zu zeigen
versucht, wie viel Licht das Prinzip‘ der stufenweisen Entwicke-
lung auf den Bau-Instinkt der Honigbiene wirlt. Auch Gewohn-
heit kommt bei Modifizirung der Instinkte gewiss oft in Betracht ;
aber Diess ist sicher nicht unerlässlich der Fall, wie wir bei
den geschlechtlosen Insekten sehen, die keine Nachkommen hin-
terlassen, auf welche sie die Erfolge lang-währender Gewohn-
heit übertragen könnten. Nach der Ansicht, dass alle Arten
einer Sippe von einer gemeinsamen Stamm-Art herrühren und
von dieser Vieles gemeinsam geerbt haben, vermögen wir die
Ursache zu erkennen, wesshalb verwandte Arten, auch wenn sie
4718
wesentlich verschiedenen Lebens-Bedingungen ausgesetzt sind; doch
beinahe denselben Instinkten folgen: wie z. B. die Süd- Ameri-
kanische Amsel ihr Nest inwendig eben so mit Schlamm über-
zieht, wie es unsre Europäische Art thut. In Folge der Ansicht,
dass Instinkte nur ein langsamer Erwerb unter der Leitung Na-
türlicher Züchtung sind, dürfen wir uns nicht darüber wundern,
wenn manche derselben noch unvollkommen oder nicht verständ-
lich sind, und wenn manche unter ihnen andern Thieren zum Nach-
theil gereichen.
Wenn Arten nur wohl ausgebildete und bleibende Abarten
sind, so ‘erkennen wir sogleich, warum ihre durch Kreutzung
entstandenen Nachkommen den nämlichen verwickelten Gesetzen
unterliegen: in Art und Grad der Ähnlichkeit mit den Ältern, in
der Verschmelzung durch wiederholte Kreutzung und in andern
ähnlichen Punkten, wie es bei den gekreutzten Nachkommen an-
erkannter Abarten der Fall ist; während Diess wunderbare Er-
scheinungen blieben, wenn die Arten unabhängig von einander
erschaffen und die Abarten nur durch sekundäre Kräfte entstan-
den wären.
Wenn wir zugeben, däss der geologische Schöpfungs-Bericht
im äussersten Grade unvollständig ist, dann unterstützen solche
Thatsachen , wie der Bericht sie liefert. die Theorie der Ab-
stammung mit fortwährender Abänderung. Neue Arten sind von
Zeit zu Zeit allmählich auf den Schauplatz getreten und das
Maass der Umänderung, welche sie nach gleichen Zeiträumen
erfahren, ist in den verschiedenen Gruppen weit verschieden. Das
Erlöschen von Arten und Arten-Gruppen, welcher an der Ge-
schichte der organischen Welt einen so wesentlichen Theil hat,
folgt fast unvermeidlich aus dem Prinzip der Natürlichen Züch-
tung; denn alte Formen werden durch neue und verbesserte
Formen ersetzt. Weder -einzelne Arten noch Arten-Gruppen er-
scheinen wieder, wenn die Kette ihrer regelmässigen Fortpflan-
zung einmal unterbrochen worden war. Die stufenweise Aus-
breitung herrschender Formen mit langsamer Abänderung ihrer
Nachkommen hat zur Folge, dass die Lebenformen nach langen
Zeiträumen gleichzeitig über die ganze Erd-Oberfläche zu wech-
479
seln scheinen. Die Thatsache, dass die Fossil-Reste jeder
Formation im Charakter einigermaassen das Mittel halten zwi-
schen den darunter und den darüber liegenden Resten, er-
klärt sich einfach aus ihrer mitteln Stelle in der Abstammungs-
Kette. Die grosse Thatsache, dass alle erloschenen Organismen
in ein gleiches grosses System mit den lebenden Wesen zu-
sammenfallen und mit ihnen entweder in gleiche oder in ver-
mittelnde Gruppen gehören, ist eine Folge davon, dass die
lebenden und die erloschenen Wesen die Nachkommen gemein-
samer Stamm -Ältern sind. Da die von alten Stammvätern her-
rührenden Gruppen gewöhnlich im Charakter auseinandergegangen,
so werden der Stammvater und seine nächsten Nachkommen in
ihren Charakteren oft das Mittel halten zwischen seinen späteren
Nachkommen, und so ergibt sich warum, je älter ein Fossil ist,
desto öfter es einigermassen in der Mitte steht zwischen verwandten
lebenden Gruppen. Man hält in einem ungewissen Sinn des Worts
neuere Formen im Allgemeinen für vollkommener als die alten
und erloschenen; und sie stehen auch insoferne höher als diese,
als sie in Folge fortwährender Verbesserung die älteren und
noch weniger verbesserten Formen im Kampfe ums Daseyn be-
siegt haben. Endlich wird das Gesetz langer Dauer unter sich ver-
wandter Formen in diesem oder jenem Kontinente — wie die der
Marsupialen in Neuholland, der Edentaten in Südamerika u. a.
solche Fälle — erklärlich, da in einer begrenzten Gegend die
neuen und erloschenen Formen durch Abstammung miteinander
verwandt sind. | |
Wenn man, was die geologische Verbreitung betrifft, zugibt,
dass im Verlaufe langer Erd-Perioden je nach den klimatischen
‚ nd geographischen Veränderungen und der Wirkung so vieler
gelegenheitlicher und unbekannter Veranlassungen starke Wan-
derungen von einem Welt-Theile zum andern stattgefunden haben,
so erklären sich die Haupterscheinungen der Verbreitung meistens
aus der Theorie der Abstammung mit fortdauernder Abänderung.
Man kann einsehen, warum ein so auffallender Parallelismus in
der räumlichen Vertheilung der organischen Wesen und ihrer
geologischen Aufeinanderfolge in der Zeit besteht; denn in beiden
480
Fällen sind diese Wesen durch das Band gewöhnlicher Fortpflan-
zung miteinander verkettet, und die Abänderungs-Mittel sind die
nämlichen. Wir begreifen die volle Bedeutung der wunderbaren
Erscheinung, welche jedem Reisenden aufgefallen seyn muss, dass
im nämlichen Kontinente unter den verschiedenartigsten Lebens-
Bedingungen, in Hitze und Kälte, im Gebirge und Tiefland, in
Marsch- und Sand-Strecken die meisten der Bewohner aus jeder
grossen Klasse offenbar verwandt sind; denn es sind gewöhnlich
Nachkommen von den nämlichen Stammvätern und ersten Kolo-
nisten. Nach diesem nämlichen Prinzip früherer Wanderungen
meistens in Verbindung mit entsprechender Abänderung begreift
sich mit Hilfe der Eis-Periode die Identität einiger wenigen
Pflanzen und die nahe Verwandtschaft vieler andern auf den ent-
ferntesten Gebirgen und in den verschiedensten Klimaten, und
ebenso die nahe Verwandtschaft einiger Meeres-Bewohner in der
nördlichen und in der südlichen gemässigten Zone, obwohl sie
durch das ganze Tropen-Meer getrennt sind. Und wenn andern-
theils zwei Gebiete die nämlichen natürlichen Bedingungen dar-
bieten, aber ihre Bewohner weit von einander verschieden sind,
so können wir uns darüber nicht wundern, falls dieselben wäh-
rend langer Perioden vollständig von einander getrennt gewesen
sind; denn wenn auch die Beziehung von einem Organismus zum
andern die wichtigste aller Beziehungen ist und die zwei Gebiete
‘ihre ersten Ansiedler in verschiedenen Perioden und Verhält-
nissen von einem dritten Gebiete oder wechselseitig von einander
erhalten haben können, so. wird der Verlauf der Abänderung
in beiden Gebieten unvermeidlich ein verschiedener gewesen seyn.
Nach der Annalıme stattgefundener Wanderungen mit nach-
folgender Abänderung erklärt es sich, warum ozeanische Inseln
nur von wenigen Arten bewohnt werden, von welchen jedoch viele
eigenthümlich sind. Man vermag klar einzusehen, warum diejeni-
gen Thiere, welche weite Strecken des Ozeans nicht zu überschrei-
ten im Stande sind, wie Frösche und Land - Säugethiere, keine
ozeanischen Eilande bewohnen, und wesshalb dagegen neue und
eigenthümliche Fledermaus-Arten, welche über den Ozean hinweg-
kommen können, auf oft weit vom Festlande entlegenen Inseln
481
vorkommen. Solche Erscheinungen, wie die Anwesenheit be-
‚sondrer Fledermaus- Arten und der Mangel aller andern Säuge-
thiere auf ozeanischen Inseln sind nach der Theorie selbststän-
diger Schöpfungs-Akte gänzlich unerklärbar.
Das Vorkommen nahe-verwandter oder stellvertretender Arten
in zweierlei Gebieten setzt nach der Theorie gemeinsamer Ab-
stammung mit allmählicher Abänderung voraus, dass die gleichen
Ältern vordem beide Gebiete bewohnt haben; und wir finden fast
ohne Ausnahme, dass, wo immer viele einander nahe-verwandte
Arten zwei Gebiete bewohnen, auch einige identische dazwischen
sind. Und wo immer viele verwandte aber verschiedene Arten
erscheinen, da kommen auch viele zweifelhafte Formen und Ab-
arten der nämlichen Spezies vor. Es ist eine sehr allgemeine
Regel, dass die Bewohner eines jeden Gebietes mit den Bewoh-
nern desjenigen nächsten Gebietes verwandt sind, aus welchem
sich die Einwanderung der ersten mit Wahrscheinlichkeit ableiten
lässt. Wir sehen Diess in fast allen Pflanzen und Thieren der
Galapagos-Eilande, auf Juan Fernandez und den andern Ameri-
kanischen Inseln, welche in auffallendster Weise mit denen des
benachbarten Amerikanischen Festlandes verwandt sind; und eben
so verhalten sich die des Capverdischen Archipels und andrer
Afrikanischen Inseln zum Afrikanischen Festland. Man muss 'zu-
geben, dass diese Thatsachen aus der gewöhnlichen Schöpfungs-
Theorie nicht erklärbar sind.
Wie wir gesehen, ist die Erscheinung, dass alle früheren
und jetzigen organischen Wesen nur ein grosses vielfach unter-
abgetheiltes Natürliches System bilden, worin die erloschenen
Gruppen oft zwischen die noch lebenden fallen, aus der Theorie
der Natürlichen- Züchtung mit ihrer Ergänzung durch. Erlöschen
und Divergenz des Charakters erklärbar. Aus denselben Prin-
zipien ergibt sich auch, warum die wechselseitige Verwandtschaft
von Arten und Sippen in jeder Klasse so verwickelt und mittel-
bar ist. Es ergibt sich, warum gewisse Charaktere viel’ besser
‚als andre zur Klassifikation brauchbar sind; warum Anpassungs-
Charaktere, obschon von oberster Bedeutung für das Wesen selbst,
kaum von einiger Wichtigkeit bei der Klassifikation sind; warum
31
482 in
von Stümmel-Organen abgeleitete Charaktere, obwohl diese Organe
dem Organismus zu nichts dienen, oft einen hohen Werth für
die Klassifikation besitzen; und warum embryonische Charaktere
den höchsten Werth von allen haben. Die wesentlichen Verwandt-
schaften aller Organismen rühren von gemeinschaftlicher Ererbung
oder Abstammung her. Das Natürliche System ist eine genea-
logische Anordnung, worin uns die Abstammungs -Linien durch
die beständigsten Charaktere verrathen werden, wie gering auch
deren Wichtigkeit für das Leben seyn mag.
Die Erscheinungen, dass das ‚Knochen-Gerüste das nämliche
in der Hand des Menschen, wie im Flügel der Fledermaus, im
Ruder der Seeschildkröte und im Bein des Pferdes ist, — dass
die gleiche Anzahl von Wirbeln den Hals aller Säugethiere, den
der Giraffe wie den des Elephanten bildet, und noch eine Menge
ähnlicher, erklären sich sogleich aus der Theorie der Abstammung
mit geringer und langsam aufeinander-folgender Abänderung. Die
Ähnlichkeit des Models im Flügel und im Hinterfusse der Fleder-
maus, obwohl sie zu ganz verschiedenen Diensten bestimmt sind,
in den Kinnladen und den Beinen des Krabben, in den Kelch- und
Kronen-Blättern, in den Staubgefässen und Staubwegen der Blüthen
wird gleicherweise aus der Annahme allmählich divergirender Ab-
änderung von Theilen oder Organen erklärbar, welche in dem
gemeinsamen Stammvater jeder Klasse unter sich ähnlich gewesen
sind. Nach dem Prinzip, dass allmähliche Abänderungen nicht
immer schon in frühem Alter erfolgen und sich demnach auf
ein gleiches und nicht früheres Alter vererben, ergibt sich eine
klare Ansicht, wesshalb die Embryonen von Säugthieren, Vögeln,
Reptilien und Fischen einander so ähnlich sind und in späterem
Alter so unähnlich werden. Man wird sich nicht mehr darüber
wundern, dass der Embryo eines Luft-athmenden Säugthieres oder
- Vogels Kiemen- Spalten und Schleifen - artig verlaufende Arterien
wie der Fisch besitze, welcher die im Wasser aufgelöste Luft
mit Hilfe wohl-entwickelter Kiemen zu athmen bestimmt ist,
'Nichtgebrauch, zuweilen mit Natürlicher Züchtung verbunden,
führt oft zur Verkümmerung eines Organes, wenn es bei ver-
änderter Lebens-Weise oder unter wechselnden Lebens-Bedingun-
483
gen nutzlos geworden ist, und man bekommt auf diese Weise
eine richtige Vorstellung von rudimentären Organen. Aber Nicht-
gebrauch und Natürliche Züchtung werden auf jedes Geschöpf
gewöhnlich erst wirken, wenn es zur Reife gelangt ist und selbst-
ständigen Antheil am Kampfe ums Daseyn nimmt. Sie werden
nur wenig über ein Organ in den ersten Lebens-Altern vermögen,
weshalb kein Organ in solchen frühen Altern sehr verringert oder
verkümmert werden kann. Das Kalb z. B. hat Schneidezähne,
welche aber im Oberkiefer das Zahnfleisch nie durchbrechen,
von einem frühen Stammvater mit wohl-entwickelten Zähnen ge-
erbt, und es ist anzunehmen, dass diese Zähne im reifen Thiere
während vieler aufeinander-folgender Generationen reduzirt wor-
den sind, entweder weil sie nicht gebraucht oder weil Zunge und
Gaumen zum Abweiden des Futters ohne ihre Hilfe durch Natür-
liche Züchtung besser hergerichtet worden sind; wesshalb dann im
Kalb diese Zähne unentwickelt geblieben und nach dem Prinzip der
Erblichkeit in gleichem Alter von früher Zeit an bis auf den
heutigen Tag so vererbt worden sind. Wie ganz unerklärbar
sind nach der Annahme, dass jedes organische Wesen und jedes
besondre Organ für seinen Zweck besonders erschaffen worden
seye, solche Erscheinungen, die, wie diese nie zum Durchbruch
gelangenden Schneidezähne des Kalbs oder die verschrumpften
Flügel unter den verwachsenen Flügeldecken mancher Käfer, so
auffallend das Gepräge der Nutzlosigkeit an sich tragen! Man
könnte sagen, die Natur habe Sorge getragen, durch rudimentäre
Organe und homologe Gebilde uns ihren Abänderungs-Plan zu
verrathen, welchen wir ausserdem nicht verstehen würden.
Ich ‚habe jetzt die hauptsächlichsten Erscheinungen und Be-
trachtungen wiederholt, welche mich zur innigsten Überzeugung ge-
führt, dass die Arten während langer Fortpflanzungs-Perioden durch
' Erhaltung oder Natürliche Züchtung mittelst zahlreich aufeinander-
folgender 'kleiner aber nützlicher Abweichungen von ihrem anfäng-
lichen Typus verändert worden sind. Ich kann nicht glauben, dass
eine falsche Theorie die mancherlei grossen Gruppen oben aufgezählter
31 *
484
Erscheinungen erklären würde, wie meine Theorie der Natür-
lichen Züchtung es.doch zu thun scheint. Es ist keine triftige
Einrede, dass die Wissenschaft bis jetzt noch kein Licht über
den: Ursprung des Lebens verbreite. Wer vermöchte zu erklären,
was das Wesen der Attraktion oder Gravitation seye? Obwohl
Eripnız den Newron angeklagt, dass er »verborgene Qualitäten und
Wunder in die Philosophie« eingeführt, so wird doch dieses un-
bekannte Element der Attraktion jetzt allgenıein als eine voll-
kommen begründete vera causa angenommen. .
Ich kann nicht glauben, dass die in diesem Bande aulge-
stellten Ansichten gegen irgend wessen religiöse Gefühle ver-
stossen sollten. ‘Es möge die Erinnerung genügen, dass, die
grösste Entdeckung, welche der Mensch jemals gemacht, nämlich
das Gesetz der Gravitation. von Leıexız angegriffen worden ist, weil
es die natürliche Religion untergrabe und die offenbarte verläugne.
Ein berühmter Schriftsteller und Geistlicher hat mir geschrie-
ben, »er habe allmählich einsehen gelernt, dass es
eine eben so erhabene Vorstellung von der Gottheit
seye, zu glauben, dass sie nur einige wenige der
Selbstentwickelung in andre und nothwendige For-
men fähige Urtypen geschaffen, als dass sie immer
wieder neue Schöpfungs-Akte nöthig gehabt habe, um
die Lücken auszufüllen, welche durch die Wirkung
ihrer eigenen Gesetze entstanden seyen.«
‚Aber warum, wird man fragen, haben denn fast alle aus-
gezeichneten lebenden Naturforscher und Geologen diese Ansicht
von der Veränderlichkeit der Spezies verworfen? Es kann ja doch
nicht behauptet werden, dass organische Wesen im Naturzustande
keiner Abänderung unterliegen; es kann nicht bewiesen werden,
dass das Maass der Abänderung im Verlaufe ganzer Erd-Perioden
eine beschränkte Grösse seye; ein bestimmter Unterschied zwi-
schen Arten und ausgeprägten Abarten ist noch nicht angegeben
worden. und ‘kann nicht angegeben werden. Es lässt sich nicht
behaupten, dass Arten bei der Kreutzung ohne Ausnahme un-
fruchtbar seyen, noch dass Unfruchtbarkeit eine besondre Gabe
und ein Merkmal der ‚Schöpfung seye. Die Annahme, dass Arten
485
unveränderliche Erzeugnisse seyen, war fast unvermeidlich so
lange, als man der Geschichte der Erde nur eine kurze Dauer
zuschrieb; und nun, da wir einigen Begriff von der Länge der
Zeit erlangt haben, sind wir zu verständig, um ohne Beweis
anzunehmen, der geologische Schöpfungs-Bericht seye so voll-
kommen, dass er uns einen klaren Nachweis über die Abänderung
der Arten liefern müsste, wenn sie solche Abänderungen erfah-
ren hätten.
Aber die Hauptursache, wesshalb wir von Natur nicht geneigt
sind zuzugestehen, dass eine Art eine andere verschiedene Art
erzeugt haben könne, liegt darin, dass wir stets behutsam in der
Zulassung einer grossen Veränderung sind, deren Mittelstufen
wir nicht kennen. Die Schwierigkeit ist dieselbe, welche so
viele Geologen gefühlt, als Lyrır. zuerst behauptete, dass binnen-
ländische Fels - Klippen gebildet und grosse Thäler ausgehöhlt
worden seyen durch die langsame Thätigkeit der Küsten-Wogen,
Der Begriff kann die volle Bedeutung des Ausdruckes Hundert Mil-
lionen Jahre unmöglich fassen; er kann nicht die ganze Grösse
der Wirkung zusammenrechnen und begreifen, welche durch
Häufung einer Menge kleiner Abänderungen während einer fast
unendlichen Anzahl von Generationen entsteht.
Obwohl ich von der Wahrheit der in diesem Bande auszugs-
weise mitgetheilten Ansichten vollkommen gurchdrungen bin, so
hege ich doch keinesweges die Erwartung erfahrene Naturforscher
davon zu überzeugen, deren Geist von einer Menge von That-
sachen erfüllt ist, welche. sie seit einer langen Reihe von Jah-
reu gewöhnt sind aus den meinigen ganz entgegengesetzien
Gesichtspunkten zu betrachten. Es ist so leicht unsre Unwissen-
heit unter Ausdrücken, wie »Schöpfungs-Plan«, »Einbeil des
Zwecks« u. s. w. zu verbergen und zu glauben, dass wir eine
Erklärung geben, wenn wir bloss eine Thatsache wiederholen. Wer
von Natur geneigt ist, unerklärten Schwierigkeiten mehr Werth
als der Erklärung einer Summe von Thatsachen beizulegen, der
wird gewiss meine Theorie verwerfen. Auf einige wenige Na-
turforscher von empfänglicherem Geiste und solche, die schon an
der: Unveränderlichkeit der Arten zu zweifeln begonnen haben,
486
mag Diess Buch einigen Eindruck machen; aber ich blicke mit
Vertrauen auf die Zukunit, auf junge und strebende Naturfor-
scher, welche "beide Seiten der Frage mit Unpartheilichkeit zu
beurtheilen fähig seyn werden. Wer immer sich zur Ansicht
neigt, dass Arten veränderlich sind, :wird durch gewissenhaftes
Geständniss seiner Überzeugung der Wissenschaft einen guten
Dienst leisten; denn nur so kann dieser Berg von Vorurtheilen,
unter welchen dieser Gegenstand vergraben ist, allmählich be-
seitigt werden.
Einige hervorragende Naturforscher haben noch neuerlich
ihre Ansicht veröffentlicht, dass eine Menge angeblicher Arten
in jeder Sippe keine wirklichen Arten vorstellen, wogegen andre
Arten wirkliche, d. h. selbstständig erschaffene Spezies seyen.
Diess scheint mir eine sonderbare Annahme: zu seyn. Sie geben
zu, dass eine Menge von Formen, die sie selbst bis vor Kurzem
für spezielle Schöpfungen gehalten und welche noch jetzt von
der Mehrzahl der Naturforscher als solche angesehen werden,
welche mithin das ganze äussre charakteristische Gepräge von
Arten besitzen, — sie geben zu, dass diese durch Abänderung
hervorgebracht worden seyen, weigern sich aber dieselbe Ansicht
auf andre davon nur sehr unbedeutend verschiedene Formen aus-
zudehnen. Demungeachtet beanspruchen sie nicht eine Defini-
tion oder auch nur gine Vermuthung darüber geben zu können,
welches die erschaffenen und welches die durch sekundäre Ge-
setze entstandenen Lebenformen: seyen. Sie geben Abänderung
als eine vera causa in einem Falle zu und verwerfen solche
willkürlich im andern, ohne den Grund ‘der Verschiedenheit in
beiden Fällen nachzuweisen. Der Tag wird kommen, wo man
Diess als einen ergötzlichen Beleg von der Blindheit vorgefass-
ter. Meinung anführen wird. Diese Schriftsteller scheinen mir
nicht mehr vor der Annahme eines wunderbaren Schöpfungs-
Aktes als vor der einer gewöhnlichen Geburt zurückzuschrecken.
Aber glauben sie denn wirklich, dass in unzähligen Momenten
unsrer. Erd-Geschichte jedesmal gewisse Urstoff-Atome komman-
dirt wörden seyen zu lebendigen Geweben in einander zu fahren ?
Sind sie der Meinung, dass durch jeden unterstellten Schöpfungs-
487
Akt. bloss ein einziger, oder dass viele Individuen entstanden sind?
Sind all diese zahllosen Sorten von Pflanzen und Thieren in Form
von Saamen und Eiern, oder sind sie als ausgewachsene Individuen
erschaffen worden? und die Säugthiere insbesondere, sind sie ge-
schaffen worden mit dem falschen Merkmale der Ernährung vom
Mutter-Leibe auf? Obwohl diese Naturforscher sehr angemessen
eine vollständige Aufklärung über jede Schwierigkeit von denjenigen
verlangen, welche an die Veränderlichkeit der Arten glauben, so
ignoriren sie ihrerseits die ganze Frage vom ersten Auftreten der
Arten und beobachten darüber ein ehrerbietiges Stillschweigen“.
Man kann noch die Frage aufwerfen, wie weit ich die
Lehre von der Abänderung der Spezies ausdehne ? Diese Frage
ist schwer zu beantworten, weil, je verschiedener die Formen sind,
welche wir betrachten, desto mehr die Argumente an Stärke verlie-
ren. Doch sind einige schwer-wiegende Beweisgründe sehr weit-
reichend. Alle Glieder einer ganzen Klasse können durch Verwandt-
schafts-Beziehungen mit einander verkettet und alle nach dem näm-
lichen Prinzip in unterabgetheilte Gruppen klassilizirt werden. Fos-
sile Reste sind oft geeignet grosse Lücken zwischen den lebenden
Ordnungen des Systemes auszufüllen. Verkümmerte Organe be-
weisen oft, dass der. erste Stammvater dieselben Organe in voll-
kommen entwickeltem Zustande besessen habe; daher ihr Vor-
kommen nach ihrer jetzigen Beschaffenheit ein ungeheures Maass
von Abänderung in dessen Nachkommen voraussetzt. Durch
ganze Klassen hindurch sind mancherlei Gebilde nach einem
gemeinsamen Model geformt, und im Embryo - Stande gleichen
alle Arten einander genau. Daher ich keinen Zweifel hege,
dass die Theorie der Abstammung mit allmählicher Abänderung
alle Glieder einer nämlichen Klasse mit einander verbinde. Ich
glaube, dass die Thiere von höchstens vier oder fünl** und die Pflan-
zen von eben so vielen oder noch weniger Stamm-Arten herrühren.
Die Analogie würde mich noch, einen Schritt weiter führen,
RR Vergl. S. 512 im nächsten Kapitel.
** Diese Zahl entspräche also den Unterreichen oder Kreisen des Thier-
Reichs, welche der Verf. gewöhnlich auch unter dem Namen der „grossen
Klassen“ versteht. Er sagt aber nirgends, auf welche Weise er sich das Thier-
Reich an diese 4—5 Stammarten vertheilt denke, D. Übs,
488
nämlich zu glauben, dass alle Pflanzen und Thiere nur von
einer einzigen Urform herrühren; doch könnte die Analogie
eine trügerische Führerin seyn. Demungeachtet haben alle leben-
den Wesen Vieles miteinander gemein in ihrer chemischen
Zusammensetzung, ihrer zelligen Struktur, ihren Wachsthums-
Gesetzen, ihrer Empfindlichkeit gegen schädliche Einflüsse. . Wir
sehen Diess oft in sehr zutreffender Weise, wenn dasselbe Gift
Pflanzen und Thiere in ähnlicher Art berührt, oder wenn das
von der Gallwespe ausgesonderte Gift monströse Auswüchse an der
wilden Rose wie an der Eiche verursacht. In allen organischen
Wesen scheint die gelegentliche Vereinigung männlicher und
weiblicher Elementar-Zellen zur Erzeugung eines neuen solchen
Wesens nothwendig zu seyn. In allen ist, so viel bis jetzt be-
kannt, das Keim-Bläschen dasselbe. Daher alle organischen Wesen
desselben Ursprungs sind. Und selbst was ihre Trennung in zwei
Haupt-Abtheilungen, in ein Pflanzen- und ein Thier-Reich betrifft,
so gibt es gewisse niedrige Formen, welche in ihren Charakte-
ren so sehr das Mittel zwischen beiden halten, dass sich die
‚Naturforscher noch darüber streiten, zu welchem Reiche sie
gehören. Nach dem Prinzipe der Natürlichen Züchtung mit Di-
vergenz des Charakters erscheint es auch nicht unglaublich,
dass sich einige solche Zwischenformen zwischen Pflanzen und
Thieren entwickelt haben müssen. Daher ich annelrfme, dass
wahrscheinlich alle organischen Wesen, die jemals
auf dieser Erde gelebt, von irgend einer Urform ab-
stammen, welcher das Leben zuerst vom Schöpfer ein-
gehaucht worden ist. Doch beruhet dieser Schluss hauptsäch-
lich auf Analogie, und es ist unwesentlich, ob man ihn anerkenne
oder nicht. Ein andrer Fall ist es mit den Gliedern einer jeden
grossen Klasse, wie der Wirbelthiere oder Kerbthiere; denn hier
haben wir, wie schon bemerkt worden, in den Gesetzen der
Hsmologie und Embryologie einige bestimmten Beweise: Halür,
dass alle von einem einzigen: Urvater- abstammen.
Wenn die von mir in diesem Bande und die von Hr. WAar-
LAcE im Linnean Journal aufgestellten oder sonstige analoge
Ansichten über die Entstehung der Arten zugelassen werden, so
489
lässt sich bereits dunkel voraussehen, dass der Naturgeschichte
eine grosse Umwälzung bevorsteht. Die Systematiker werden
ihre Arbeiten so wie bisher verfolgen können, aber nicht mehr
unablässig durch den gespenstischen Zweifel beängstigt werden,
ob diese oder jene Form eine wirkliche Art seye. Diess, fühle
ich ‘sicher und sage es aus Erfahrung, wird eine Erleichterung
von grossen Sorgen gewähren. Der endlose Streit, ob die fünfzig
Britischen Brombeer-Sorten wirkliche Arten sind oder nicht, wird
aufhören. Die Systematiker haben nur zu entscheiden (was
keineswegs immer leicht ist), ob eine Form beständig oder ver-
schieden genug von andern Formen ist, um eine Definition zu-
zulassen und, wenn Diess der Fall, ob die Verschiedenheiten
wichtig genug sind, um einen spezifischen Namen zu verdienen.
Dieser letzte Punkt aber wird eine weit wesentlichere Betrach-
tung als bisher erheischen, wo auch die geringlügigsten Unter-
schiede zwischen zwei Formen, wenn sie nicht durch Zwischen-
stufen miteinander verschmolzen waren, bei den meisten Natur-
forschern für genügend galten, um beide zum Range zweier
Arten zu erheben. Hiernach sind wir anzuerkennen genöthigt,
dass der einzige Unterschied zwischen Arten und ausgebildeten
Abarten nur darin besteht, dass diese letzten durch erkannte
oder vermuthete Zwischenstufen noch heutzutage miteinander
verbunden sind und die ersten es früher gewesen sind. Ohne
daher die Berücksichtigung noch jetzt vorhandener Zwischen-
glieder zwischen zwei Formen verwerfen zu wollen, werden wir
veranlasst seyn, den wirklichen Betrag der Verschiedenheit zwi-
schen denselben sorgfältiger abzuwägen und höher zu werihen.
Es ist ganz möglich, dass jetzt allgemein als blosse Varietäten
anerkannte Formen künftighin spezifischer Benennungen werth
geachtet werden, wie z. B die beiden Sorten Schlüsselblumen,
in welchem Falle dann die wissenschaltliche und die gemeine
Sprache mit einander in Übereinstimmung kämen *. Kurz wir
* In England nämlich, wo die gewöhnliche Form der Schlüsselblume
(Primula veris) als „Primrose“ oder Frühröschen, die grosse blassgelbe (Pr.
elatior) aber als „Cowslip“ oder Kuhtritt bezeichnet zu werden pflegt. In
Deutschland hat der Volks-Mund meines Wissens noch keinen stetig ver-
schiedenen Namen dafür. | D. Übs.
490
werden die Arten auf dieselbe Weise zu behandeln haben, wie
die Naturforscher jetzt die Sippen behandeln, welche annehmen,
dass die Sippen nichts weiter als willkürliche der Bequemlich-
keit halber eingeführte Gruppirungen seyen. Das mag nun keine
eben sehr heitre Aussicht seyn; aber wir werden hiedurch end-
lich das vergebliche Suchen nach dem unbekannten und unent-
deckbaren Wesen der »Species« los werden.
Die andern und allgemeineren Zweige der Naturgeschichte
werden sehr an Interesse gewinnen. Die von Naturforschern
gebrauchten Ausdrücke Verwandtschaft, Beziehung, gemeinsamer
_ Typus, älterliches Verhältniss, Morphologie, Anpassungs-Charak-
tere, verkümmerte und fehlgeschlagene Organe u. s. w. werden
statt der bisherigen bildlichen eine sachliche Bedeutung gewin-
nen. Wenn wir ein organisches Wesen -nicht länger, so wie
die Wilden ein Linienschiff, als elwas ganz ausser unsren Begril-
fen Liegendes betrachten, — wenn wir jedem organischen Natur-
Erzeugnisse eine Geschichte zugestehen; — wenn wir jedes zu-
sammengesetzte Gebilde oder jeden Instinkt als die Summe vieler
einzelner dem Besitzer nützlicher Erfindungen betrachten, wie wir
etwa ein grosses mechanisches Kunstwerk als das Produkt der ver-
einten Arbeit, Erfahrung, Beurtheilung und selbst Fehler zahlreicher
Techniker ansehen, und wenn wir jedes organische’Wesen auf diese
Weise betrachten: wie viel ansprechender (ich rede aus Erfah-
rung) wird dann das Studium der Naturgeschichte werden!
Ein grosses und fast noch unbetretenes Feld wird sich Ööff-
nen für Untersuchungen über die Wechselbeziehungen der Ent-
wickelung, über die Folgen von Gebrauch und Nichtgebrauch,
über den unmittelbaren Einfluss äussrer Lebens-Bedingungen
u. s. w. Das Studium der Kultur-Erzeugnisse wird unermess-
lich an Werth, steigen. Eine vom Menschen neu erzogene Varie-
tät wird ein für das Studium wichtigerer und anziehenderer
Gegenstand seyn, als die Vermehrung der bereits unzähligen
Arten unsrer Systeme mit einer neuen, Unsre Klassifikationen
werden, so weit es möglich, zu Genealogien werden und dann
erst den wirklichen sogen. Schöpfungs-Plan darlegen. Die Regeln
der Klassifikation werden ohne Zweifel einfacher seyn, wenn.
491
wir ein bestimmtes: Ziel im Auge haben. Wir besitzen keine
Stamm-Bäume und Wappen-Bücher und werden daher die viel-
fältig auseinander-laufenden Abstammungs-I.inien in unsren Natur-
_ Genealogien mit Hilfe von mehr oder. weniger lang vererbten Cha-
rakteren zu entdecken und zu verfolgen haben. Rudimentäre Or-
gane werden in Bezug auf längst verloren gegangene Gebilde un-
trügliches Zeugniss geben. Arten und Arten-Gruppen, welche man
abirrende genannt hat und mit einiger Einbildungs-Kraft le-
bende Fossile nennen könnte, werden uns helfen ein vollständi-
geres Bild von den alten Lebenformen zu entwerfen, und die Em-
bryologie wird uns die mehr und weniger verdunkelte Bildung der
Prototype einer jeden der Hauptklassen des Systemes enthüllen.
Wenn wir erst für gewiss annehmen, dass alle Individuen
einer Art und alle nahe verwandten Arten der meisten Sippen in
einer ‚nicht sehr fernen Vorzeit von einem gemeinsamen Va-
ter entsprungen und von ihrer Geburts-Stätte aus gewandert,
und wenn wir erst besser die mancherlei Mittel kennen wer-
den, welche ihnen bei ihren Wanderungen zu gut gekommen
sind, dann wird das Licht, welches die Geologie über die frühe-
ren Veränderungen des Klima’s und der Formen der Erd-Ober-
fläche schon verbreitet hat und noch ferner verbreiten wird, uns
gewiss in den Stand setzen, ein vollkommenes Bild von. den
früheren Wanderungen der Erd-Bewohner zu entwerfen. Sogar
jetzt schon kann die Vergleichung der Meeres-Bewohner an den
zwei entgegengesetzten Küsten eines Kontinentes und die Be-
schaffenheit der manchfaltigen Bewohner dieses Kontinentes in
Bezug auf ihre Einwanderungs-Mittel dazu dienen, die alte Geo-
graphie einigermaassen zu beleuchten.
Die erhabene Wissenschaft der Geologie verliert von ihrem
Glanze; dureh die Unvollständigkeit der Aufzeichnungen. Man kann
die Erd-Rinde mit den in ihr enthaltenen organischen Resten
nicht als ein wohl gefülltes Museum, sondern nur als eine zufäl-
lige und nur. dann und wann einmal bedachte arme Sammlung
ansehen. Die Ablagerung jeder grossen Fossilien-reichen Forma-
tion ergibt sich als die Folge eines ungewöhnlichen Zusammen-
treffens von Umständen, und die Pausen zwischen den aufeinan-
492
der-folgenden Ablagerungs-Zeiten entsprechen Perioden von un-
ermesslicher Dauer. Doch werden wir im Stande seyn, die
Länge dieser Perioden einigermaassen durch die Vergleichung der
ihnen vorhergehenden und nachfolgenden organischen Formen zu
bemessen. Wir dürfen nach den Successions-Gesetzen der orga-
nischen Wesen nur mit grosser Vorsicht versuchen, zwei in ver-
schiedenen Gegenden abgelagerte Bildungen, welche einige iden-
tische Arten enthalten, als genau gleichzeitig zu betrachten. Da
die Arten in Folge langsam wirkender und noch fortdauernder
Ursachen und nicht durch wundervolle Schöpfungs-Akte- und ge-
waltige Katastrophen entstehen und vergehen, und da die wich-
tigste aller Ursachen, welche auf organischen Wechsel hinwirken,
nämlich die Wechselbeziehung zwischen den Organismen selbst,
in deren Folge eine Verbesserung des einen die Verbesserung oder
die Vertilgung des andern bedingt, fast unabhängig von der Ver-
änderung und zumal plötzlichen Veränderung der physikalischen
Bedingungen ist: so folgt, dass der Grad der von einer For-
mation zur andern statigefundenen Abänderung der fossilen We-
sen wahrscheinlich als ein guter Maassstab für die Länge der
inzwischen abgelaufenen Zeit dienen kann. Eine Anzahl in Masse
zusammen-gehaltener Arten jedoch dürfte lange Zeit unverändert
(ortleben können, während in der gleichen Zeit einzelne Spezies
derselben, die in neue Gegenden auswandern und in Kampf
mit neuen Mitbewerbern gerathen, Abänderung erfahren wür-
den; daher wir die Genauigkeit dieses von den organischen
Veränderungen entlehnten Zeit-Maasses nicht überschätzen dürfen.
Als in frühen Zeiten der Erd-Geschichte die Lebenformen wahr-
scheinlich noch einfacher und minder zahlreich waren, mag de-
ren Wechsel auch langsamer vor sich gegangen seyn; und als
es zur Zeit der ersten Morgenröthe des organischen Lebens
wahrscheinlich nur sehr wenige Organismen von dieser einfachsten
Bildung gab, mag; deren Wechsel im äussersten Grade langsam
gewesen seyn. Die ganze Geschichte dieser organischen Welt,
so weit sie bekannt ist, wird sich hiernach als von einer uns
ganz unerfasslichen Länge herausstellen, aber von derjenigen Zeit,
welche seit der. Erschaffung des ersten Geschöpfes, des Stamm-
493°
Vaters all’ der unzähligen schon erloschenen und noch lebenden
Wesen verflossen ist, nur ein kleines Bruchstück ausmachen.
In einer fernen Zukunft sehe ich Felder für noch weit wich-
tigere Untersuchungen sich öffnen. Die Physiologie wird sich
auf eine neue Grundlage stützen, sie wird anerkennen müssen,
dass jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufen-
weise erworben werden kann.
Schriftsteller ersten Rangs scheinen vollkommen davon über-
zeugt : zu seyn, dass jede Art unabhängig erschaffen worden
seye. Nach meiner Meinung stimmt es besser mit den der Ma-
terie vom Schöpfer. eingeprägten Gesetzen überein, dass Ent-
stehen und Vergehen früherer und jetziger Bewohner der Erde,
so wie der Tod des Einzelwesens, durch sekundäre Ursachen
veranlasst werde. Wenn ich alle Wesen. nicht als besondre
Schöpfungen , sondern als lineare Nachkommen, einiger weniger
schon lange vor der Ablagerung der silurischen Schichten vorhan-
den gewesener Vorfahren betrachte, so scheinen sie mir. dadurch
veredelt zu werden. Und aus der Vergangenheit schliessend
dürfen wir getrost annehmen, dass nicht eine der jetzt lebenden
Arten ihr unverändertes Abbild auf- eine ferne Zukunft übertra-
gen wird. Überhaupt werden von den jetzt lebenden Arten
nur sehr wenige durch Nachkommenschaft irgend welcher Art
sich bis in eine sehr ferne Zukunft fortpflanzen ; denn die Art und
Weise, wie die organischen Wesen im Systeme gruppirt sind,
‘zeigt, dass die Mehrzahl der Arten einer jeden Sippe und alle Arten
vieler Sippen früherer Zeiten keine Nachkommenschalt hinterlas-
sen haben, sondern gänzlich erloschen sind. Man kann insoferne
einen prophetischen Blick in die Zukunft werfen und voraussagen,
dass es unsre gemeinstien und weit-verbreitetsten Arten sind,
welche die andern überdauern und neue herrschende Arten
liefern werden. Da alle jetzigen Organismen lineare Abkom-
men derjenigen sind, welche lange vor der silurischen Pe-
riode gelebt, so werden wir gewiss fühlen, dass die regelmäs-
sige Aufeinanderfolge der Generationen niemals unterbrochen
worden ist und eine allgemeine Fluth niemals die ganze Welt
zerstört hat. Daher können wir mit einigem Vertrauen aul eine
494°
Zukunft von gleichfalls unberechenbarer Länge blicken. Und da
die Natürliche Züchtung nur durch und für das Gute eines je-
den Wesens wirkt, so wird jede fernere körperliche und geistige
Ausstattung desselben seine Vervollkommnung fördern.
Es ist anziehend beim Anblick eines Stückes Erde be-
deckt mit blühenden Pflanzen aller Art, mit singenden Vögeln in
den Büschen, mit schaukelnden Faltern in der Luft, mit krie-
chenden Würmern im feuchten Boden sich zu denken, dass
alle diese Lebenformen so vollkommen in ihrer Art, so abweichend
unter sich und in allen Richtungen so abhängig von einander,
durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort
um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen,
heissen: Wachsthum und Fortpflanzung; Vererbung mit der Fort-
pflanzung, Abänderung in Folge der mittelbaren und unmittel-
baren Wirkungen äusserer Lebens-Bedingungen und des Gebrauchs
oder Nichtgebrauchs, rasche Vermehrung bald zum Kampfe um’s
Daseyn führend, verbunden mit Divergenz des Charakters und
Erlöschen minder vervollkommneter Formen. So geht aus dem
Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung
des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die
Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere. Es ist
wahrlich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim
alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer
einzigen Form eingehaucht habe, und ‚dass, während dieser Pla-
net den strengen Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise
schwingt, aus so einfachem Anfang sich eine endlose Reihe im-
mer schönerer und vollkommenerer Wesen entwickelt hat und noch
fort entwickelt. |
%
495 ‚
Fünfzehntes Kapitel.
Schlusswort des Überseizers.
Eindruck und Wesen des Buches. — Stellung des Übersetzers zu demselben.
_—_ Zusammenfassung der Theorie des Verfassers. — Einreden des Über-
setzers. — Aussicht auf künftigen Erfolg.
Und nun, lieber Leser, der Du mit Aufmerksamkeit dem
Gedanken-Gange dieses wunderbaren Buches bis zu Ende gefolgt
bist, dessen Übersetzung wir Dir hier vorlegen, wie sieht es in
Deinem Kopfe aus? Du besinnst Dich, was es noch . unberührt
gelassen von Deinen bisherigen Ansichten über die wichtigsten
Natur-Erscheinungen, was noch fest stehe von Deinen bisher
festgestandenen Überzeugungen? Es sind nicht etwa teleskopische
Entdeckungen, nicht neue Elementar-Stoffe, nicht die anatomischen
Enthüllungen eines '10,000fältig vergrössernden Mikroskops, die
der Verfasser gegen unsre bisherigen Vorstellungen auftreten
lässt; es sind neue Gesichtspunkte, unter welchen ein gediege-
ner Naturforscher in geistreicher und scharfsinniger Weise alte
Thatsachen betrachtet, die er seit zwanzig Jahren gesammelt und
gesichtet, über die er, seit zwanzig Jahren unablässig gesonnen
und gebrütet hat. Tief in seinen Gegenstand versenkt, von der
Wahrheit der gewonnenen Resultate unerschütterlich überzeugt,
trägt er sie mit so bewältigender Klarheit vor, beleuchtet er sie
mit so viel Geist, vertheidigt er sie mit so scharfer Logik, zieht
er so wichtige Schlüsse daraus, dass wir, was auch unsre bis-
herige Überzeugung gewesen seyn mag, uns eben so wenig
ihrem Eindrucke entziehen, als unsre Anerkennung der Aufrich-
tigkeit versagen können, womit er selbst alle Einreden, die man
ihm entgegen-halten kann, herbeisucht und nach ihrem Gewichte
anerkennt. Er gesteht zu, dass sich gegen fast alle seine
Gründe Gegengründe anführen lassen, und behält sich "die
ausführlichere Erörterung der Einzelnheiten in einem Umfang-
reicheren Werke vor, da es sich hier nur um eine Gesammt-Dar-
stellung seiner Theorie handelte.
Auf diese Weise ausgerüstet kann ein Werk nicht verfeh-
len die grösste Aufinerksamkeit zu erregen, das sich zur Aul-
496
gabe gesetzt, die dunkelsten Tiefen der Natur zu beleuchten, das
bisher unlösbar geschienene Problem, das grösste Räthsel für die Na-
turforschung zu lösen und einen Gedanken, ein Grund-Gesetz in
Werden und Seyn der ganzen Organismen-Welt nachzuweisen, das
dieselbe in Zeit und Raum eben so beherrscht, wie die Schwerkraft
in den Himmelskörpern und die Wahlverwandtschaft in aller Ma-
terie waltet, und auf welches alle andern Gesetze zurückführbar
sind, die man bisher für sie aufgestellt hat. Es ist das Entwicke-
lungs-Gesetz durch Natürliche Züchtung, das in der ganzen orga-
nischen Natur eben so wie im Systeme und im Individuum durch
Zeit und Raum herrscht. |
Die bisherigen Versuche, jenes Problem ganz oder theil-
weise zu lösen, waren Einfälle ohne alle Begründung und nicht
fähig eine Prüfung nach dem heutigen Stand der Wissenschaft
auszuhalten, ja nur zu veranlassen *. Gleichwohl hat jeder Natur-
‚forscher gefühlt, dass die Annahme einer jedesmaligen persön-
lichen Thätigkeit des Schöpfers, um die unzähligen Pflanzen- und
Thier-Arten in’s Daseyn zu rufen und ihren Existenz-Bedingungen
anzupassen, im Widerspruch ist mit allen Erscheinungen in der
unorganischen Natur, welche durch einige wenige unabänderliche
Gesetze geregelt werden**, durch Kräfte, die der Materie selbst
eingeprägt sind. Da wir es auf. Hrn. Darwıns Wunsch über-
nommen haben, sein Werk in's Deutsche zu übertragen, so
glauben wir dem Leser einige Rechenschaft von unsrer eige-
nen bisherigen Ansicht über mehre der durch. den Vri. erör-
terten Fragen im Einzelnen und über, seine Theorie im ‚Ganzen so
wie von dem Einflusse schuldig zu seyn, welchen dieselbe auf
unsre eigene Vorstellungs-Weise hinterlassen hat. Wir leisten diese
Rechenschaft um so lieber, als, was wir auch immer gegen diese
neue Theorie einzuwenden haben mögen, Diess unsre hohe Achtung
und Bewunderung für ihren Begründer, unsere Dankbarkeit für seine
zahlreichen Belehrungen und unsre zuversichtliche Hoffnung auf
glänzende Erfolge seiner Bestrebungen nicht schmälern kann***,
* Vgl. unsere Entwicklungs-Gesetze der organ. Welt S. 78.
**= Wir glauben uns keiner Irdiskretion schuldig zu machen, wenn wir
497
Wir haben an Cuvıers Definition festhaltend die Art als
Inbegriff aller Individuen von einerlei Abkunft und derjenigen,
welche ihnen eben so ähnlich als sie unter sich sind, betrachtet *.
Wir haben die Arten im Ganzen für beständig in ihren Charak-
teren, doch der Abartung in Folge äusserer oder unbekannter
Einflüsse für fähig gehalten **, die Abarten oder Varietäten aber
für fähig unter angemessenen Verhältnissen wieder zu dem älter-
lichen Typus zurückzukehren; doch werde Diess der bestehenden
Erfahrung gemäss um so schwerer halten, je länger die Abart
unter fortwährendem Einflusse derselben äusseren Bedingungen,
denen sie ihre Entstehung verdankte, schon als solche fortgepflanzi
worden seye***. Das Maass der möglichen Abänderung einer
Art wurde als ein beschränktes vorausgesetzt und nach den vor-
handenen Erfahrungen in der geschichtlichen Zeit taxirt, ohne
jedoch das mögliche Maximum dieser Grenzen zu bestimmen.
Successiv auftretende Arten-Formen nehmen wir daher als selbst-
ständig anf. Eine Generatio aequivoca der Arten haben wir nach
den bisher bestehenden Erfahrungen nicht anerkannt fr: und da-
her in Ermangelung einer. andern Arten-bildenden Natur-Kraft
(da Bastarde keine neuen Arten gründen) nöthig gefunden. uns
einstweilen noch auf eine Schöpfung zu berufen frj, jedoch mit
der ausdrücklichen Bemerkung, dass solche Annahme einer
persönlichen Thätigkeit des Schöpfers mit dem übrigen Walten in
der Natur im Widerspruch stehe*f. Wir haben die Leistungen
dieser Schöpfungs-Kraft, welcher Art sie nun seyn möge*jf, näher
der Übersetzung Einreden beifügen, da Hr. Dırwın unsre abweichende An-
sicht kannte, als er den Wunsch ausdrückte eine Übersetzung durch uns selbst
oder unter unsrer Aufsicht veranstaltet zu sehen, und da er selbst die all-
seitige Diskussion seiner Theorie ausdrücklich wünscht.
* Geschichte der Natur, 1843, II, 63: Entwickelungs-Gesetze der organ.
Welt, 1858, S. 228.
# Geschichte d. Nat. Il. 65 — 133.
#=® Geschichte d. Nat. II, 150— 196.
+ Entwickelungs-Gesetze S. 79, 232.
++ Geschichte d. Nat. II, 29—60; Entwickelungs-Gesetze 79.
+++ Entwickelungs-Ges. S. 235.
*+ Entwickelungs-Ges. 77—80.
*+4 A. a. 0. S. 80-82.
32
498
charakterisirt und darauf hingewiesen, dass sie neben den un-
vollkommenen auch immer höher vervollkommnete Organismen
hervorgebracht habe, wovon die neu auftretenden Formen immer
in festen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den untergegange-
nen und zu den jedesmaligen äusseren Lebens-Bedingungen ge-
standen, was auf ein nahes Verhältniss der schaffenden Kraft zu
der erhaltenden und zu diesen äusseren Verhältnissen hinweise.
Darwiıns Theorie lässt sich nun in folgender Weise zusam-
menfassen. Der Schöpfer hat einigen wenigen erschaffenen Pflan-
zen- und Thier-Formen, vielleicht auch nur einer einzigen, Le-
ben eingeblasen, in Folge dessen diese Organismen im Stande
waren zu wachsen und sich fortzupflanzen, aber auch bei jeder
Fortpflanzung in verschiedener Richtung um ein Minimum zu
variiren (»Fortpflanzung mit Abänderung«). Die Ursachen sol-
chen Abändern’s sind zumal in Affektionen der Generations-Organe
und nur geringentheils in unmittelbaren Einflüssen der äussern
Lebens-Bedingungen zu suchen. Solche kleine Abweichungen
vom älterlichen Typus können schädliche, gleichgültige und nütz-
liche seyn. Waren sie es in noch so geringem Grade, SO hat-
ten die Individuen mit den ersten am wenigsten und die mit den
letzten am meisten Aussicht die andern zu überleben und sich fort-
zupflanzen. Die überlebenden Individuen werden die ihnen nütz-
lich gewordene Abweichung oft wieder auf ihre Nachkommen »ver-
erbi« haben, und wenn diese nur nach 10 Generationen wieder
einmal in gleicher Richtung und Stärke variirten, so war das Maass
der Abänderung und somit ihre Aussicht die anderen Individuen zu
überleben auf's Neue vermehrt.{iDie Natur begünstigt also vOrzugs-
weise die$Fortpflanzung der mit jener nützlichen Abweichung ver-
sehenen Individuen auf Kosten der andern und häuft dieselbe bei
späteren Nachkommen zu immer höherem Beirage an, etwa wie ein
Viehzüchter bei Veredlung seiner Rassen verfährt (»Natürliche
' Züchtung«). um deren ihm selbst willkommene Eigenschaften zu
steigern. So kann nach tausend, zehntausend oder hunderttausend
Generationen in einzelnen Nachkommen der ersten Urform jene
Abweichung eine i00-, 1000-, 10,000-fach gehäufte, es kann
aus der anfänglich ganz unbemerkbaren Abänderung eine wirk-
499
liche Abart, eine eigene Art, eine andere Sippe, ja zuletzt nach
1,000,000 und mehr Generationen eine andere Ordnung oder
Klasse von Organismen entstehen; denn es liegt keine natür-
liche Ursache und kein logischer Grund vor anzunehmen, dass
das Maass der langsamen Abänderung irgendwo eine Grenze
finde. Eine Abänderung aber, die in einer Gegend, Lage, Ge-
sellschaft u. s. w. nützlich ist, kann in der andern schädlich seyn,
u. u. Es können mithin aus derselben Grundform unter ver-
schiedenen äusseren Verhältnissen Abänderungen in ganz verschie-
dener Richtung entstehen, fortdauern und mit der Zeit allmählich
ganz verschiedene Sippen, Familien und Klassen bilden (»Diver-
genz des Charakters«). Da die Nützlichkeit jeder Art von Ab-
änderung von der Beschaffenheit der äusseren Lebens-Bedin-
gungen abhängig ist, unter welchen sie nützlich erscheinen, und
da die Abänderung selbst unter andern Bedingungen eine an-
dere seyn muss, um dem Organismus zu nützen, so besteht diese
Natürliche Züchtung in einer fortwöhrenden »Anpassung der vor-
handenen Lebenformen an die äusseren Bedingungen« und An-
gewöhnung an dieselben. Diese sind Wohn-Elemente, Boden,
Klima, Licht, Nahrung, vor allem Andern aber die Wechselbe-
ziehungen, der beisammen wohnenden Organismen zu einander, ihr
Leben von einander, die Nothwendigkeit sich gegenseitig zu ver-
drängen und zu vertilgen, weil bet Weitem nicht alle, die geboren
werden, auch neben einander fortleben können; Hanet der »Kampf
ums Daseyn« bei fortdauernder verrtetraltigüng und Ausbrei-
tung der vervollkommneten Sieger und fortwährende »Erlöschüng«
der wegen minderer Vollkommenheit Besiegten. Je mehr Leben-
formen entstehen, desto manchfaltiger werden within wieder
die Lebens-Bedingungen. Daher auch eine fortwährende Verän-
derung, Vervollkommnung und Vervielfältigung eines Theiles der
Lebenformen (obwohl andere verschwinden) nicht als Zufall, son-
dern als nothwendige gesetzliche Erscheinung! Manche Organe
mögen Sich wohl auch in Folge der Art ihres »Gebrauches« wei-
ter entwickeln und vervollkommnen, wie andere durch »Nicht-
gebrauch« allmählich zurückgehen und verkümmern (»rudimentäre
Organe«), wenn sie etwa unter veränderten Lebens-Bedingungen
/ 32
500
nicht mehr nöthig und vielleicht sogar schädlich sind. Wie die
Natürliche Züchtung die ganzen Lebenformen allmählich differen-
zirt, um sie verschiedenen Lebens-Bedingungen anzupassen, SO
verfährt sie oft auch mit gleichartigen Organen, die. in grösse-
rer Anzahl an einerlei Individuen vorkommen. Wenn. jedoch
erbliche Abänderungen nur in einem gewissen Lebens - Alter
auftreten oder erworben werden, so vererben sie sich auch nur
auf dieses Lebens-Alter der Nachkommenschaft; diese bekommt
mit fortschreitendem Alter neue Formen, durchläuft vom Embryo-
Zustande an ‘eine »Metamorphose«, während es andere Leben-
formen gibt, welche lebenslänglich fast gleiche (»embryonische«)
Gestalt. beibehalten, daher die ursprüngliche Verwandtschaft der
Wesen sich gewöhnlich durch Übereinstimmung im Embryo-
Zustande am längsten verräth. Die allmähliche Entstehung so
vieler immer manchfaltigerer und z. Th. immer vollkommenerer
Lebenwesen durch Fortpflanzung mit Abänderung und unter
gleichzeitigem Aussterben anderer lässt sich daher mit der Ent-
wickelung eines Baumes vergleichen; die Urformen bilden den
Stamm, die Ordnungen, Sippen und Arten die Äste und Zweige,
und ein natürliches System kann nicht anders als in Form eines
Stammbaumes dargestellt werden. Dieser Baum erstreckt sich
gleichsam durch alle Gebirgs-Formationen aus der Tiefe herauf;
da er aber in der Silur-Zeit schon in viele Äste auseinander
gelaufen, so muss der eigentliche Stamm in noch viel älteren
und tieferen S@hichten stecken, die man noch nicht entdeckt oder
erkannt hat, entweder weil sie durch metamorphische Prozesse
verändert und sammt ihren organischen Resten unkenntlich ge-
worden sind, oder weil sie unter dem Ozean liegen. Denn es
könnte möglich seyn, dass seit der silurischen Periode das Welt-
meer im Ganzen genommen in Senkung, wie unsere jetzigen
Kontinente im Ganzen genommen fortwährend in Hebung begriffen
wären. Im Übrigen erklärt sich die geographische ‚Verbreitungs-
Weise der Organismen, von zufälligen und gelegentlichen Ver-
breitungs-Mitteln einzelner Individuen abgesehen, hauptsächlich
aus grossen klimatischen und geographischen Veränderungen (wie
die Eis-Zeit), welche der Reihe nach alle Theile der Erd-
901
_ Oberfläche betroffen, ihre Bewohner in andere Gegenden gedrängt
und ihnen die Wege bald hier und bald dort geebnet haben, so
dass manche Bewohner gemässigler Zonen sogar den Äquator
überschreiten und ihre Art in die andre Hemisphäre verpflan-
zen konnten.
Die neue Hypothese gibt Thatsachen und Urtheile, um zu
zeigen, wie sich die Erscheinungen im Allgemeinen verhalten
haben können oder noch verhalten können, und es gelingt ihr
Das oft in einem überraschenden Grade. Es sind ganze in langen
Kapiteln abgehandelte Probleme, die sich mit deren Hülfe dann
so einfach lösen, dass man fast keinen Augenblick darüber in
Zweifel geräth, ob sich die Sache nicht auch anders verhalten
könne, und man sich selbst aufrütteln muss, um sich zu erinnern,
es handle sich vorerst nur um eine in ihren Grundbedingungen der
Rechtfertigung noch durchaus bedürltigen Hypothese. Und in der
That, wenn man dann über den Rand des Buches hinaus auf irgend
ein andres Werk blickt, welches die Erscheinungen so schil-
dert, wie sie in der Natur vorliegen, so fühlt man oft, dass die
Anwendbarkeit der Darwin schen Theorie auf die Wirklichkeit
nicht so einfach und nicht so unmittelbar ist, als es geschienen,
so lange man sich, mit dem Verfasser ganz in seine Ansichten
versenkt hatte, weil (begreiflich) die Verhältnisse überall nicht
so einfach oder so geartet sind, wie er sie Beispiels-weise unter-
stellt. Wie sehr man sich daher auch von des Verfs. Theorie
angezogen fühlen mag, weil sie, ihrem Grundgedanken nach ein-
mal zugestanden, eine Menge einzelner unerklärter Erscheinun-
gen auf’ die überraschendste Weise verkettet und als nothwendige
erklärt, so muss man wohl erwägen, in wie ferne sie wirklich
annehmbar seye. In dieser Beziehung wollen wir hier zum
Schlusse noch einige erläuternde Betrachtungen mit unseren
wesentlichsten Einreden dagegen folgen lassen, weil uns Diess
angemessener und schicklicher erscheint, als die Übersetzung
selbst überall mit Einwürfen zu begleiten. Eine nicht unerhebliche
Anzahl noch andrer Gegenreden könnte leicht aus unsren frühe-
ren Schriften beigebracht werden, die wir hier übergehen, ohne
sie jedoch für entkräftet zu halten,
902
Zuerst haben wir keine weitre positive Kenntniss von den
natürlichen Grenzen der Veränderlichkeit der Arten überhaupt,
als dass Varietäten aus ihnen entstehen, die unter denselben
äusseren Bedingungen, unter welchen sie entstanden sind, auch
um so ständiger werden können, je länger sie sich unter ‚dem-
selben Einflusse gleichbleibend fortpflanzen. Darin liegt allerdings
schon ein grosses Zugeständniss, indem wir, sehr lange Zeit-
räume unterstellend, meistens nicht die Hoffnung hegen dürfen,
eine solche während 1000 Generationen ständig fortgepflanzte Varie-
tät jemals wieder auf ihren Urtypus wirklich zurückzuführen. Ja
wir dürfen uns dieser Hoffnung um so weniger bingeben, als wir
sehr oft die wahre Ursache der Entstehung einer solchen Varietät
nicht einmal kennen und sogar dann, wenn wir sie kennen, meistens
kaum im Stande seyn dürften, dasjenige Agens zu finden oder die-
jenige Reihe von Agentien zu enträthseln oder anzuwenden, welche
dem ersten direkt entgegenwirken. : Wir würden daher oft weder
den positiven Beweis der Abstammung noch auch aus der That-
sache, dass sich eine Abart nicht: mehr auf ihre Stamm-Form
zurückbringen lässt, den Gegenbeweis liefern können, dass jene
aus dieser nicht entstanden seye. Was daher auch immer für die
Möglichkeit unbegrenzter Abänderung angeführt wer-
den mag, so ist sie vorerst und wird sie wohl noch lange
eine unerweisliche, aber allerdings auch unwiderlegliche Hypo-
these bleiben, eine Hypothese, gegen deren Annahme mithin aus
diesem Gesichtspunkte logisch „nichts einzuwenden ist, .wolerne
sie sonst jhrer Bestimmung genügt.
Ganz anders aber verhält es sich mit einer andern Erscheinung,
und diese bildet unsres Bedünkens den ersten und erheblich-
sten Einwand gegen die neue Theorie, da er sie in ihren
Grundlagen berührt, wie Hr. Darwın auch ganz wohl gefühlt hat und
ihn daher gar vielfältig zu widerlegen sucht *, dessen Bedeutung
aber gerade darum um so schärfer hervortritt, weil aller auf diese
Widerlegung verwendete Fleiss und Scharisinn die beabsichtigte
Wirkung bei Weitem nicht in genügendem Grade’hervorzubringen
* Vgl. das sechste Kapitel, S. 181 u. a. m,
303
im Stande ist. Diese Erscheinung ist folgende. Da die entstehenden
Varietäten nach Darwın in der Regel sich nicht durch äussre Ein-
flüsse und nie in Folge eines eigenen innern in bestimmter Rich-
tung beharrlich abweichenden Bildungs-Triebes entwickeln, sondern
dadurch, dass von ganz zufälligen in allen möglichen Richtungen
auseinanderlaufenden unmerkbar kleinen Abänderungen diejeni-
gen, welche dem Organismus nützlich sind, am meisten Aussicht
haben, die übrigen zu überleben und sich reichlicher als sie
fortzupflanzen, — da eine jede dieser in verschiedenen Richtun-
gen auseinanderlaufenden kleinsten Abänderungen wieder in
allen Richtungen um ein Minimun: abändern kann, —. da nach
des Vfs. eigner Annahme nur in 4—8—10 Generationen wie-
der einmal eine genau in gleiche Richtung mit einer der vorigen
fällt und sie steigert oder durch Häufung verstärkt; — da unter
so unmerkbar kleinen Abänderungen noch keine ein merkbar
grosses Übergewicht über die andern im Rassen-Kample haben
kann: — so werden die Abarten nicht als solche nett und fer-
tig sich von der Stammform wie ein gestieltes Dikotyledonen-Blatt
vom Stengel, sondern etwa wie der unregelmässig krausse Lap-
pen einer Blätterflechte von der übrigen Flechten-Masse ablösen,
welcher sich auch im weitren Verlaufe nie zu einem scharf und
regelmässig contourirten Blatt entwickelt, sondern stets seine un-
sichere Gestalt beibehält, indem, wie lang er endlich auch werden
mag, er immer wieder in ähnlicher Weise wuchert. Und diese Un-
sicherheit der Begrenzung wird um so bedeutender werden, da
die neuen Abarten nicht auf einzelnen Merkmalen, sondern auf
2--3—4 von den alten abweichenden Charakteren beruhen, -deren
aber jeder für sich allein auftreten oder sich in verschiedener Weise
und in verschiedenen Graden mit jedem andern verbinden kann,
und da nach des Vfs. eigener Theorie Varietäten unter sich vor-
zugsweise fruchtbar sind und kräftige Nachkommenschaft liefern.
Es müssten Formen-Gewirre entstehen noch weit ärger, als wir sie
z. Th. in Folge anderer Ursachen in der Pflanzen-Welt wirklich in
einigen Fällen kennen, bei Rubus, Salix, Rosa, Saxilraga. So müss-
ten sie, wenn auch nicht ausnahmslos, doch vorherrschend überall
vorl n, obwohl sie jetzt im Pflanzen-Reiche selbst nur als
Ausnahmen erscheinen und im Thier-Reiche noch überhaupt kaum
bekannt sind... Wählen wir daher zu bessrer Versinnlichung
einige hypothetische Fälle aus diesen letzten aus. Wenn z. B.
aus der Haus-Ratte eine Wander- oder Kanal-Ratte werden
sollte (wir wählen diess Beispiel, weil in der That noch vor
unsern Augen diese letzte als die stärkere die erste allenthalben
verdrängt), so müssten nicht nur alle Übergänge aus der minde-
ren Grösse, aus der bläulich - grauen Farbe, aus.den längeren
Olıren und dem längeren Schwanze der’ ersten in die ansehn-
lichere Grösse, die oben braun-graue und unten weissliche Farbe, die
kürzren Ohren und den kürzren Schwanz der letzten eintreten
und, da sie sich nicht gegenseitig bedingen, wahrscheinlich alle
sieh mit allen andern Merkmalen und in-allen mit allen Abstufun-
gen (zum Theil sogar in überschüssigem Maasse) so lange ver-
binden, als nicht eine dieser Verbindungen ihrem Besitzer positiv
schädlich oder entschieden nützlich würde. Da jede dieser vier Ver-
schiedenheiten sich mit den drei andern verbinden kann, so ent-
stehen hiedurch schon zehnerlei Verbindungen ; und da jede dersel-
ben auf jeder Abstufung der Umänderung sich mit allen Abstufun-
gen der Umänderung der drei andern zusammengesellen kann, so
werden die Mittelformen zahllos seyn, und es ist in keiner Weise
abzusehen, wie statt solcher zahlloser Abänderungen, Abstufungen
und Kombinationen zuletzt gerade nur eine einzige feste und
bestimmte Form der Wander-Ratte entstehen solle, zumal, wir,
nicht wahrzunehmen vermögen, dass alle Abweichungen derselben
von der Organisation der andern Art wesentlich zu ihrer grösse-
ren Vollkommenheit beitragen, sondern mitunter für das Thier
oänz gleichgültig seyn mögen, und da beide Arten keinesweges sich
genau um dieselben Aufenthalts-Orte streiten. Geben wir aber
zu, dass (aus uns unbekannten Ursachen) gerade nur die eine
Kombination der Charaktere, wie sie in der Wander-Ratte vor-
kommt, derjenigen in der Haus-Ratte so überlegen seye, dass
erste die letzte überall zu besiegen und zu verdrängen im Stande
ist, wo sie mit ihr in Mitbewerbung tritt, so begreift man (trotz
Allem. was Hr. Darwın dafür anführt) doch nicht, warum die der
Wander-Ratte näher-stehenden schon weniger oder mehr verbes-
305
serten und jedenfalls nur in viel unbedeutenderem Nachtheil befind-
lichen Abänderungen immer und fortwährend zuerst besiegt und ver-
drängt werden sollten, die blaugraue Ratte aber, welche am weite-
sten von dem verbesserten Vorbilde entfernt ist, zuletzt? Man
begreift nicht, warum die neue Art zuerst zur vollständigen Aus-
bildung gelangen ınüsse, ehe sie die andre zu besiegen im Stande
ist, da ja die überlegenere von ihnen doch fortwährend die begün-
stigteren und schon halb verbesserten Mittelformen verdrängen
und in einer Weise vernichten soll, als ob ein Individuum das
andre unausgesetzt mit positiven Waffen angriffe. Hr. Dar-
wın wird uns in dem von den zwei Ratten-Arten entnom-
menen Beispiele etwa antworten, dass (obwohl thatsächlich
eine die andre verdrängt und besiegt) sie nicht eine aus der
andern, sondern dass beide aus einer bereits untergegangenen
dritten Art entstanden sind, oder etwa dass sie sich unter Um-
ständen aus einander entwickelt haben, die wir nicht kennen,
daher wir auch nicht zu sagen im Stande seyen, in wieferne
ihnen eine jede einzelne Eigenschaft nützlich gewesen seye oder
nicht, Dieselben Antworten etwa würde uns Darwın ertheilen,
wenn wir Haasen und Kaninchen zum Beispiele wählten; — und
wenn wir fragten, warum wir die blinden Höhlen-Thiere nicht
noch halb-blind im vordern Theile der Höhlen finden, durch welche
sie in den hintern dunkelsten Theil eingedrungen, so würde er
uns noch weiter sagen, dass diese durch spätre Mitbewerber
dort ausgetilgt seyn können. Diese und ähnliche an und für
sich unangreifbar allgemeine Antworten wird er jeder Einrede
entgegen halten, aber wenn sie auch in manchen einzelnen
Fällen begründet sind und in keinem Falle als absolut unpassend
beseitigt oder wiederlegt werden können, so fühlt doch jeder,
dass die Sache im Ganzen genommen nach der Darwın'schen
Theorie sich ganz anders gestaltet haben würde und noch gestal-
ten müsste, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Er ist dadurch im
Vortheil, dass er desshalb über gar keinen einzelnen Fall
Rechenschaft zu geben braucht, weil man nicht über jeden
einzelnen Fall Rechenschaft von ihm fordern kann!
Den Mangel der Zwischenformen der Arten in den Erd-
506
Schichten erklärt Hr. Darwın unter Anderem aus der unvollstandi-
gen Erhaltung der einst vorhanden gewesenen Organismen-For-
men im Fossil-Zustande und aus der Länge der Ruhe-Perioden
zwischen den verschiedenen Formationen. Wenn wir aber eine
Menge von Arten in identischen Formationen (wie Hr. Darwın
selbst anerkennt) überall in zahlreichen und sogar in Tausen-
den von Exemplaren wieder finden, so können die Bedingungen
‘der Erhaltung für die Zwischenformen unmöglich so ganz ungün-
stig gewesen seyn, dass gar nichts von ihnen übrig geblieben ;
Zwischenformen müssten sich um so eher finden, als im Fossil-
Zustande eine Menge von Charakteren verloren gehen, mit deren
Hülfe allein wir viele sonst ganz selbsständige lebende Arten von
einander unterscheiden. Endlich, wie lange auch, in Jahren ausge-
drückt, die Zwischenräume gewesen seyn mögen, welche‘ zwischen
der Absetzung verschiedener Formationen vergangen: geologisch
oder relativ genommen sind sie nicht so unermesslich lang, als sie
Hr. Darwın darstellt, indem nämlich die Veränderungen, welche von
einer Formation zur andern in der Organismen-Welt vor sich
gegangen, meistens gar nicht so viel grösser zu seyn pflegen
als jene, die von einem Schichten-Stock zum andern oder von
einer Schicht zur andern in derselben Formation stattfinden. So
sind wenigstens von der Silur- bis zur Kohlen-Formation, und
von der Trias- bis zur heutigen Periode selbst auf Europäischem
Gebiete keine sehr grosse Lücken mehr vorhanden, und hier und
da scheint sogar eine ununterbrochene Bildungs-Reihe von Schich-
ten zwei Formationen zu verbinden! }
Aber selbst wenn wir den einfachsten Fall annehmen, wenn
wir uns unter denjenigen Abarten umsehen, welche sich heutzutage
als solche in unsren Systemen ‚aufgeführt finden, so ist auch da
schon die Kette hinter ihnen abgeschnitten; auch da schon feh-
len fast überall die Glieder, welche sie mit der Stamm-Art ver-
binden; denn wären diese noch vorhanden, so könnte keinen
Augenblick mehr ein Streit darüber fortdauern, ob sie selbst-
ständige Arten oder nur Abarten seyen, ein Streit, auf welchen
sich Darwın so oft beruft! Und wenn Art und Abart als solche
noch reichlich ‚neben einander. bestehen, wie könnten die Zwi-
507
schenglieder durch die Abart bereits ausgetilgt seyn? Hr. Dar-
wın gibt uns auch hier eine vortreffliche Erklärung, wie Diess
in 'einigen Fällen möglich gewesen seyn könne, indem er die
Varietäten und Arten zuerst auf Inseln u. a. ringsum abgeschlos-
senen Gebieten entstehen lässt, wo alle divergirenden Stämme
einer Spezies sich immer wieder mit einander kreutzen können
und durch Vererbung eine gemeinsame Mittelform herzustellen
im Stande sind. Aber dürfte diese Erklärungs-Weise wirklich
als Regel und ihre Nichtanwendbarkeit nur als seltene Ausnahme
zu betrachten seyn?? Muss es in allen Fällen so gewesen seyn,
weil es in einzelnen Fällen so gewesen seyn kann?
Doch verweilen wir bei dieser Erklärung; denn sie würde
in der That vortrefflich seyn, wenn man annehmen dürfte, dass
sich jede Art aus Individuen einer andern entwickelt habe, die
auf beschränktem Raume gänzlich von allen ihren Art-Genossen
abgeschlossen gewesen wären, so dass alle Nachkommen dieser
Individuen unter neuen Existenz-Bedingungen sich jederzeit alle
mit einander mischen, aber nie mehr mit ihren andern Verwandten
in irgend eine Berührung kommen konnten, bis die neue Art vol-
lendet war! Das 'treffendste thatsächliche Beispiel für einen solchen
Fall liefert uns der Mensch selbst. Der Mensch war gewiss noch
lange, nachdem er sich bereits über die ganze Erd-Oberfläche ver-
breitet hatte, nicht im Stande, sich in Masse von einem Welttheile
zum andern zu bewegen. Beobachtungen in Neu-Orleans u. a. ha-
ben zur Berechnung geführt, dass schon etwa in der Diluvial-Zeit,
vor 10,000—100,000 oder noch mehr Jahren, die jetzigen Men-
schen-Rassen vorhanden und in jetziger Weise vertheilt gewesen
sind. Die Bewohner eines jeden Welttheils waren von den übrigen
fast isolirt, aber unter sich mehr und weniger verbunden ; sie erfüll-
ten die oben geforderten Bedingungen so genügend, wie man es
in keinem andern Falle zu finden und nachzuweisen erwarten darf,
und so war eine ungestörte Divergenz des Charakters der Men-
schen-Spezies während einer Zeit-Periode möglich, welche aner-
kannter Maassen zur Bildung neuer Spezies, wenn auch noch
nicht zur Umgestaltung der ganzen Flora und Fauna, genügend
war. Und was ist die Folge jener Isolirung einzelner Menschen-
908
Gruppen während eines so langen Zeitraumes gewesen? Es sind
eben so viele Rassen als getrennte Welttheile und eine Anzahl
Mischlinge entstanden, die zuletzt sehr verschieden im Aussehen
und noch verschiedener in ihrer geistigen Befähigung doch einander
so nahe verwandt geblieben und so fruchtbar miteinander sind, dass
Niemand an ihrer Art-Verwandtschaft miteinander zweifelt, obschon
der Kampf um’s Daseyn binnen der drei oder vier Jahrhunderte,
seit welchen die in verschiedenen Gegenden allmählich entwickelten
Rassen miteinander in Berührung gekommen sind, bereits genügt
hat, um einige derselben (und zwar nicht die ausgeprägtesten) dem
"Erlöschen nahe zu bringen. Wir dürfen wohl nicht boffen einen
andern thatsächlichen Beleg über das Abändern der Arten
und die Divergenz des Charakters zu finden, der sich in der er-
weislichen Länge der Zeitdauer und Vollkomnenheit der Isoli-
rung der Rassen in allen verschiedenartigsten Lebens-Bedingungen,
welche diese Erde einer nämlichen Spezies darzubieten im Stande
ist, mit diesem vergleichen liesse.
Gerne möchten wir zu Gunsten der Darwın'schen' Theorie
und zur Erklärung, warum nicht viele Arten durch Zwischenglie-
der in einander verfliessen, noch irgend ein inneres oder äusse-
res Prinzip entdecken, welches die Abänderungen jeder Art nur
in einer Richtung weiter drängte, statt sie in allen Richtungen
bloss zu gestatten. Das Problem würde dann ein einfachres wer-
den; aber immer müssten wir wieder erwarten, auch in dieser
einfachen Reihe die Kette der Zwischenglieder aufzufinden ‚. und
diese sind weder vorhanden, noch ist uns ein innres derartiges
Prinzip irgendwo bekannt.
Freilich liegen äussre solche Prinzipien vor. Es sind die
Existenz-Bedingungen, welchen sich die Organismen anpassen
müssen, und welche eine so grosse Rolle in diesem Buche spie-
len. Sie sind theils organische und theils unorganische, und die
ersten nach Hrn. Darwın weitaus die zahlreichsten und wichtig-
sten und daher auch an und für sich geeignet, die manchfaltigsten
Folgen zu veranlassen. Doch eben diese organischen Prinzipien
haben für Darwın wieder den grossen Vortheil, dass, indem er
sich auf ihre Manchfaltigkeit und auf den Kampf ums Daseyn über-
509
haupt beruft, er der Nothwendigkeit überhoben ist, Rechenschaft
von ihrer Wirkungs-Weise im Einzelnen zu geben und nachzu-
weisen, welche spezielle Folgen diese oder jene spezielle orga-
nische Bedingungen auf die Struktur und Entwickelung der
ihrem Einflnss unterliegenden Organismen überhaupt, oder auf
einzelne insbesondere ausübt. Hr. Darwın beruft sich auf je-
der Seite darauf, dass nur solche Abänderungen Aussicht auf
Erhaltung haben, welche dem Individuum und somit der künfti-
Spezies nützlich sind; und theoretisch muss man zugestehen,
dass, woferne es eine natürliche Züchtung gebe, die Sache sich
nicht anders verhalten könne. Aber wir müssen gestehen, doch
in fast allen unseren aus angeblich innern Ursachen hervorge-
gangenen Varietäten gar nicht finden zu können, worin denn der
Nutzen ihrer Abänderung bestehe; und wenn Hr. Darwin sich
auf die Erfahrung beruft, dass ein grosser Theil der Britischen
Flora der Neuseeländischen gegenüber so vervollkommnet sei,
dass er sie verdränge. so hätten wir gehofft, doch auch nur in
einzelnen Fällen nachgewiesen zu sehen, worin denn diese Über-
legenheit beruhe. Hr. Darwın entzieht sich auch hier jeder
Rechenschaft. Warum bekommt z. B. in diesem Kampfe ums Da-
seyn eine Pflanzen-Art ovale statt lanzettlicher und die andre lanzeti-
liche statt ovaler Blätter? warum die eine einen Dolden-artigen und
die andre einen Rispen-förmigen Blüthenstand? warum die eine fünf
und die andre vier Staubgefässe,die eine eine geschlossene und die
andre eine weit geöffnete Blüthe? Wozu nützt der einen Diess und
der andern das Gegentheil? Warum bewirken die organischen
Bedingungen Diess? Mit welchen Mitteln fangen sie es an? und
wie müssen sie beschaffen seyn, um es zu können? Und wie
kann die eine Art der andern dadurch überlegen werden? Wir ge-
stehen, keinen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen
zu erkennen, und Hr. Darwın würde uns antworten, dass es mög-
licher Weise so oder so zugehen könne. Wir gestehen ferner,
uns vergeblich um positive Beweise oder auch nur Belege in die-
ser Beziehung umgesehen zu haben, manche spezielle Fälle eigen-
thümlicher Art etwa ausgenommen; denn wir sind weit entfernt
davon, allen solchen Einfluss überhaupt läugnen zu wollen. Wir
10
wollen sogar ein spezielleres Beispiel anführen. Breum hat die
meisten unsrer anerkannten deutschen Vögel-Arten nach den Pro-
portionen des Kopfes, des Schnabels, der Füsse, der Flügel und zuwei-
len mit Zuhilfenahme der Färbung in je zwei bis vier Formen un-
terschieden und als wirkliche Arten bezeichnet, weil sie sich in der
Regel nur je unter sich paaren, als solche fortpflanzen, gewöhn-
lich einen abweichenden Aufenthalts-Ort, oft andres Futter, dem-
gemäss auch eine andre Lebens-Weise, zuweilen einen andern
Gesang haben; doch ist es uns noch nicht gelungen, eine feste
Beziehung bestimmter Körper-Proportionen zu bestimmten äuss-
ren Ursachen übefhaupt zu erkennen; dieselben Beziehungen
scheinen bei jeder Spezies von andrer Wirkung zu seyn. Und
in der That hätte Hr. Darwın hier vielleicht die besten Belege
für seine »beginnenden Spezies« finden können!
Dagegen lässt sich ein Einfluss unorganischer äussrer Lebens-
Bedingungen und zwar ein spezieller Einfluss spezieller Bedingun-
gen in bestimmter Richtung nachweisen, wie wir ihn bei den
organischen Bedingungen nachgewiesen zu sehen gewünscht
hätten. Hr. Darwın gibt diesen Einfluss zu; er führt einige
Beispiele davon an, erklärt aber wiederholt, dass er ein ver- _
gleichungsweise nur geringer seye. Anfangs möchte es schei-
nen, als ob Hr. Darwın diesen Einfluss unterschätze, indem sich
eine grosse Menge von Erscheinungen aus ihm nachweisen
lassen. Wir kennen Bedingungen, welche auf die Grösse
der Pflanzen, auf ihre ein- oder mehr-jährige Dauer, auf ihren
Strauch- oder Baum-Wuchs, auf ihre Blüthen-Bildung und Frucht-
barkeit, auf die Farbe ihrer Blüthen, auf ihre glatte oder be-
haarte Oberfläche, auf die häutige oder, fleischige Beschaffenheit
ihrer Blätter (wie Hr. Darwın selber anführt), zuweilen auch auf
Monöcismus und Diöcismus, auf die aromatischen u. a. Absonde-
rungen wirken; wir vermögen selbst diese Erscheinungen her-
vorzubringen. Und wir sehen, dass bei diesen Abänderungen die
Übergänge nicht mangeln, indem wir im Stande sind fortwährend
deren ganze Kette darzulegen und gerade desshalh wenig versucht
sind in diesen Abweichungen neue Arten zu erblicken! Warum
also fehlen die Übergänge bei den andern Abartungen, welche aus
511
der innern Neigung zur Variation hervorgehen ? Allerdings gibt es
auch manche ganz plötzlich auftretende Abänderungen ohne
Übergänge zumal bei den schon vielfach abgeänderten Kultur-
Pflanzen, wie z. B. die hängenden oder Trauer-Varietäten vieler
Bäume, viele unsrer Obst-Sorten, wovon manche nicht das Erzeug-
niss langsamer Züchtung, sondern eines einzelnen ohne nachweis-
baren Grund abändernden Saamen-Kornes sind, die sich aber eben
degshalb auch in der Regel nicht beständig aus Saamen fortpflanzen.
‘Auch von den Thieren wissen wir, dass Menge und Art
des Futters und Beschaffenheit des Klimas auf Grösse und Farbe
des Körpers, ja sogar (wie Hr. Darwın selbst vom Amerika-
nischen Wolf erwähnt) auf deren Gestalt und Sitten wirken
können. Auch des Einflusses des Klimas auf das Gefieder der
Vögel gedenkt er, doch ohne sich der Umfang-reichen Nach-
weisungen zu erinnern, welche GroseEr in dieser Beziehung
geliefert hat. Dass viele Säugthier-Arten in kalten Gegenden weiss
werden und andre, welche solche nie verlassen, stets weiss
bleiben, ist bekannt. Die Farbe der Schmetterlinge ändert oft
mit dem Futter und die der Käfer u. a. Insekten je nach ihrem
Aufenthalte in verschiedenen Gebirgs-Höhen ab. Die Grösse
vieler Wasser-Konchylien steht mit dem Salz-Gehalt des Wassers
in Zusammenhang; ihre Farbe mit dem Lichte, ihre glatte oder
stachelige Beschaffenheit mit der schlammigen und felsigen Natur
des See-Grundes; die Dichte des Pelzes mancher Säugthiere wech-
selt mit dem Klima und der Erhebung ihres Wohnortes über den
Meeres-Spiegel, und die Instinkte einer Art ändern ausserordentlich
unter neuen Lebens-Bedingungen ab. Es lässt sich nicht nur die
Ursache, sondern auch der Zweck und die Nützlichkeit dieser Ab-
änderung ermitteln, wir können in der Regel die Zwischenstufen
nachweisen, die oft vom Grade und der Intensität der äussern
Ursachen abhängen; wir können diese Abänderungen beliebig
hervorbringen und sie durch entgegengesetzte Existenz-Bedingun-
gen wieder in die Urform zurückführen. Aber vielleicht der
wichtigste aller Belege für den Einfluss äussrer Existenz-Be-
dingungen ist in der Beobachtung zu finden, dass Kröten an feuch-
ten und doch des stehenden Wassers ganz entbehrenden Orten
512
im Stande sind, sich aus dem Ei unmittelbar zur reifen Form
zu entwickeln, ohne dazwischen-fallende Kiemen-Bildung und also
auch nothwendig ohne denjenigen übrigen Theil der Metamor-
phose und Lebens-Weise, welcher einen Aufenthalt im Wasser
voraussetzt. Um den möglichen Übergang von den Fischen zu
den Reptilien zu erläutern, zitirt Hr. Darwın den Lepidosiren;
in diesen Kröten liegt er aber weit unmittelbarer vor in einer
Weise, dass wohl jedermann zugeben wird, dass, wenn diese Be-
dingungen sich in allen Generationen der Kröte lange Zeit wie-
derholten, das Ausfallen der Metamorphose endlich zur Regel auch
unter andern Verhältnissen werden könne.
Aber bei der Leichtigkeit und Schnelligkeit, womit alle diese
Abänderungen in Folge der äusseren Existenz-Bedingungen eintre-
ten, muss man sich allerdings fragen, ob.die aus dieser äussern
Ursache entstandenen Abweichungen jemals ganz bleibend wer-
den und sich fest vererben können? Diess ist nicht der Fall.
Denn so leicht und schnell sie sogar an ganz alten Arten aus
bekannten Ursachen entstehen, eben so leicht und sicher sind
sie, im Gegensatz zu den aus innren aber freilich unbekannten
(nach Darwın wahrscheinlich im Genital-Systeme zu suchenden) Ur-
sachen entstandenen, durch eine der ersten entgegengesetzte Be-
handlung auch wieder auf die Urform zurückzuführen, woferne nicht
etwa die Natürliche Züchtung sich ihrer bemächtigt und mit den
äusseren Ursachen in gleicher Richtung thätig ist, um eine der
Abänderungen rascher zur selbstständigen Form zu entwickeln. So
lange Diess aber nicht der Fall, wird man wohl meistens darauf
verzichten müssen, ‚durch äussre Ursachen bleibende Abände-
rungen und »beginnende Arten« entstehen zu sehen, und wer nur
die Wirkung äussrer Ursachen im Auge hat, mag allerdings mit
Recht Hrn. Darwın entgegenhalten, dass aus Abänderungen keine
festen Arten werden. Da nun überdiess die Zwischenstufen zwi-
schen den Extremen solcher Abänderungen nur Bindeglieder zwi-
schen nebeneinander bestehenden, und nicht zwischen auseinander
entstehenden Formen sind, und da jede der ersten für ihr eignes
Daseyn gewöhnlich keine andren Abstufungen voraussetzt, während
diese letzten ohne andre Abstufungen meistens nicht vorhanden seyn
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519
würden, so herrscht allerdings zwischen den durch äussre Ursachen
und den durch Züchtung entstandenen Abänderungen ein solch
wesentlicher Unterschied, dass wir uns daraus erklären zu müssen
glauben, wesshalb Hr. Darwın auf die Abänderungen dieser Art
so wenige Rücksicht nimmt, obwohl er selbst uns keine derar-
tige bestimmte Rechenschaft darüber gibt? |
Wenn uns daher zur Zeit weder die äusseren Lebens-Be-
dingungen, noch der Prozess der Natürlichen Züchtung genügend
erscheinen, um die Theorie Hrn. Darwıns, so wie sie vorliegt, zu be-
gründen, so wollen wir dagegen gerne zugestehen, dass alle bishe-
rigen Beobachtungen ohne Ausnahme von dem Gesichtspunkte Tfest-
stehender unabänderlicher Arten aus gemacht worden sind, und dass
eine unbefangene Beurtheilung seiner Theorie vielleicht erst mög-
lich seyn wird, wenn einige Menschen-Alter weiter unter fortwäh-
render Prüfung der Frage von der Abänderung der Arten aus den
zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten verflossen seyn werden.
Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien über den
Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweck-
mässigkeit, über das Zusammenstimmen aller Einzelnheiten zu
einem organischen Wesen, wovon kein Theilchen willkührlich
geändert werden kann, ohne das Ganze zu gefährden, — über
die Wiederholung derselben planmässigen Einrichtung in jedes-
maliger andrer Weise bei 250,000 bekannten Organismen-Arten
der jetzigen Schöpfung, — über die kulminirende Vollendung
des Ganzen bei den vollkommensten dieser Organismen, — über
die Entwickelung aller dieser Einrichtungen in einem Embryo
der ihrer noch nicht bedarf, zu künftigen Zwecken, beschäftigt
hat, um so schwerer wird es ihm anfangs werden, darin nichts
weiter als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Pro-
zesses zu sehen, worin jeder neue weitre Fortschritt nach des
Vfs. Theorie selbst jedesmal nur ein Zufall ist und erst durch
Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man darin
noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken.
Eine andre Erscheinung, hinsichtlich welcher uns und Andre Hrn.
Darwins Erklärungen nicht ganz befriedigt haben, bietet der Um-
stand dar, dass trotz der unausgesetzten Thätigkeit der Natür-
33
"14
lichen Züchtung und der fortdauernden Verbesserung der Orga-
nismen durch dieselben, noch immer die unvollkommensten aller
unvollkommnen Organismen in so unermesslicher Menge vorhan-
den sind. Doch hat ein daraus zu entnehmender Einwand kein
solches Gewicht, dass er für die Annahme oder Nichtannahme
der neuen Theorie entscheidend wäre, und wir würden in dessen
Folge nur etwa genöthigt seyn, eine noch fortwährende Ent-
stehung neuer Urformen anzunehmen, welche sich mit dieser
Theorie als verträglich oder sogar als nothwendige Folge dersel-
ben ergibt, obwohl Hr. Darwın die Generatio originaria nirgends
in Anspruch nimmt. Endlich würde, wenn wir alle Organismen
nur von einer Urform ableiten wollten, Diess jedenfalls von einer
sehr niedren zelligen Form als Grundlage weitrer Entwickelung
geschehen müssen, und es dürfte dann sehr schwer seyn zu
begreifen, wodurch in einer von zwei äusserlich von einander
nicht unterscheidbaren Zellen sich Empfindung und willkührliche
Bewegung ausbilde und vererbe, und in der andern nicht?
Indem Hr. Darwın alle jetzt lebenden und früher vorhan-
den gewesenen Lebenformen durch Abstammung mit fortwäh-
renden leichten Abänderungen und Divergenz des Charakters
von immer früheren und frühern Formen ableitet, glaubt er in
einer Zeit, die wenigstens eben so weit vor der silurischen, wie
diese vor der jetzigen Periode zurückliegt, nur noch acht bis
zehn Stamm-Arten zu bedürfen, welchen der Schöpfer unmittel-
bar das Leben eingehaucht hätte. Wahrscheinlich hatte sich Hr.
Darwın eine Stamm-Art zur Ableitung aller Arten eines jeden
der Unterreiche oder Kreise unsrer Systeme gedacht, und wahr-
scheinlich wird diese Stamm-Art einer der tiefsten Stufen in
jedem dieser Kreise entsprochen haben; doch drückt er sich
nicht näher darüber aus. Die Entwickelung eines jeden so viel-
verzweigten Kreises aus einer Stamm-Art wäre dann vergleich-
bar der Entwickelung eines vielästigen Baumes aus einem Stamme:
eine Annahme, welche wenigstens den Bildungs-Verhältnissen in
der ganzen organischen Natur parallel liefe. Hr. Darwın fragt
die Anhänger der alten Schöpfungs-Theorie, welche Millionen von
Pflanzen- und Thier-Spezies zum Gegenstande von Millionen ver-
515
schiedener Schöpfungs-Akte eines persönlichen Schöpfers machen,
der durch seine spätren Schöpfungen die an den frühern Formen
begangnen Fehler verbessere: welche Vorstellung sie sich denn
eigentlich von der Erschaffung der einzelnen Geschöpfe machen ?
($S. 487) — ob jede Art in einem oder in vielen Individuen, im
Ei- oder im ausgewachsenen Zustande, ob die ersten Säugthiere
mit oder ohne Nabel geschaffen worden seyen? Sie könnten Hrn.
Darwın seine Frage zurückgeben, wenn er nach seiner Theorie
auch nur 8—10 erschaffene Arten bedarf (8. 487); ja sie könn-
ten noch weiter fragen: ob der ersten Flechte, dem ersten
Farnen, der ersten Palme und dem ersten Veilchen, mit dem
ersten Infusorium, dem ersten Seeigel, der ersten Raupe und
dem ersten Frosch gleichzeitig oder nacheinander auf einem
Fleck beisammen oder auf eben so vielen Punkten der ganzen
Erd-Oberfläche zerstreut das Leben eingeblasen worden seye,
und ob sie sogleich angefangen sich — SO ferne sie sich gegen-
seitig erreichbar — in Ermanglung andrer Nahrung wechselseitig
aufzufressen, oder auf welche Weise sie bis zu ihrer Verviel-
fältigung ihr Leben gefristet haben? Offenbar muss entweder
ein ganzes Natur-System von Wesen auf einmal geschaflen wor-
den seyn, oder sie müssen sich von einem tiefen Punkte an auf-
wärts ganz allmählich aber massenhaft entwickelt haben. Hr. Dar-
wın hat es jedoch sogleich gefühlt, dass jene seine Annahme noch
misslicher als die einer gleichzeitigen Erschaffung aller Wesen ist,
die er bekämpft; daher er etwas später sich mit einer Ur-Pflanze
und einem Ur-Thiere, ja sogar mit einem einzigen Ur-Organismus
begnügen will, welchem der Schöpfer das Leben eingehaucht
habe ($. 488). Die Bedürfnisse dieses einzigen erschaffnen In-
dividuums, von welchem die ganze lebende Natur abstammt,
müssen dann freilich sehr klein gewesen seyn; — es war zwei-
felsohne nur eine Fadenalge oder etwas der Art, die sich ihre
Nahrung aus unorganischen Elementen selbst bereiten und sich
selbst befruchten musste? Aus ihr und ihren Nachkommen
konnten lange Zeit nur vegetabilische Formen entstehen, bis
genug organische Materie vorhanden war, um auch Thiere selbst
der unvollkommensten Stufe zu ernähren,
33 *
ki ira nn REN:
916
Aber immer ist noch ein persönlicher Schöpfungs-Akt für die-
ses organische Wesen nöthig. und wenn derselbe einmal erforder-
lich, so scheint es uns ganz gleichgültig, ob der erste Schöpfungs-
Akt sich nur mit einer oder mit 10 oder mit 100,000 Arten be-
fasst, und ob er Diess nur ein für allemal gethan oder von Zeit
zu Zeit wiederholt hat. Es fragt sich nicht, wie viele Organis-
men-Arten derselbe ins Leben gerufen, sondern ob es überhaupt
jemals nöthig seyn kann, dass dieser eingreife in die wunder-
vollen Getriebe der Natur und statt eines bewegenden Natur-Ge-
setzes aushelfend wirke® Wenn Hr. Darwın die organische Schöp-
fung überhaupt angreift, so muss er nach unsrer Überzeugung auch
auf die Erschaffung einer ersten Alge verzichten ! Und in dieser That-
sache, dass die neue Theorienoch die unmittelbare Erschaffung wenn
auch nur eines Dutzends, ja wenn auch nur einer einzigen Orga-
nismen-Art erheischt, erblicken wir einen zweiten wesentli-
chen Einwand gegen dieselbe, weil, Diess einmal zugestan-
den, nicht der entfernteste Grund mehr vorliegt, ihr die ungeheure
und so schwer zu erfassende Ausdehnung anzueignen,, die ihr
Hr. Darwın gibt. — Wer eine organische Zelle oder Zellen Reihe,
einen Algen-Faden u. dgl. betrachtet und damit den wunderbaren
Bau eines höheren Säugtbieres vergleicht mit allen seinen Glie-
dern, Organen und Organen-Systemen, seinen unbewussten und
willkührlichen Verrichtungen, der wird freilich anfangs zu lächeln
geneigt seyn über eine Theorie, welche aus einer Algen-Zelle wenn
auch erst nach Verlauf von (wenigstens 20*) Millionen Jahren einen
Affen durch Natürliche Züchtung hervorgehen lässt. Und doch,
erlässt man uns jenen einen Schöpfungs-Akt an der Algen-Zelle,
was wäre dann so gänzlich befremdend an der neuen Theorie? Sehen
wir dern nicht diesen Prozess tausendfältig und unausgesetzt bei
Organismen aller Art binnen wenigen Wochen durch gewöhnliche
Zeugung sich vollenden, ohne ‚eine andere Auskunft darüber
geben zu können, als dass. es durch »Vererbung« geschehe,
* Man hat die Dauer der Steinkohlen-Flora allein auf etwa 1 Million
Jahre berechnet; setzi man dieselbe nun auch nur —= 0,1 von der
aller unsrer geologischen Schichten-Bildungen und diese nach Darwı
der Dauer der vor-silurischen Schichten, so ergibt sich obiges Resultat.
517
ein ganz dunkles Prinzip, das ebenfalls erst durch die Dar-
wınsche Theorie einige nähere Begründung wenigstens hinsicht-
lich seiner spezifischen Verschiedenheiten erlangt? daher an
und für sich uns der Gedanke der Entstehung des Säugthieres _
aus einer ursprünglichen Protophyten- oder Protozoen-Zelle doch
nicht so ganz und gar abentheuerlich erscheint. Und so läge
auch für alle anderen Verheissungen dieser Theorie die Schwie-
rigkeit nur etwa in der Länge der zur Lösung der einzelnen
Aufgaben nöthigen Zeit, und daran ist wahrlich kein Mangel,
sondern Überfluss, wo es sich darum handelt die Ewigkeit aus-
zufüllen!
Noch eine Bemerkung über das, in geologischem Sinne, gleich-
zeitige Erscheinen und Verschwinden identischer Lebenformen
auf der ganzen Erd-Oberfläche. Die Darwın'sche Theorie leistet
viel in dieser Beziehung! Sie zeigt uns, wie die Lebenwesen der
gemässigten oder kalten Zone in Folge einer Eis-Zeit sogar den
Äquator zu überschreiten vermochten! Aber welchen Grund haben
wir zu glauben, dass es viele solcher Eiszeiten, dass es deren
in allen Erd-Perioden gegeben, und insbesondere dass die die
Verbreitung bewirkenden Ursachen in allen Perioden eine uni-
verselle Verbreitung der herrschenden Formen bis in den letzten
Winkel der Erde vermittelt haben, ehe wieder irgendwo neue
Formen entstanden, und dass nie ein Theil der Erde in dieser
Hinsicht auf seine unabhängige Weise rascher oder langsamer
als der andre fortgeschritten seye? Diese Erscheinung ist so
befremdend, dass sie, so lange sie nicht als eine nolhwendige
nachgewiesen ist, trotz Darwıns Erklärungs-Versuch die, ganze
Theorie bedroht.
Aussicht auf Erfolg.) Unsere innigste Überzeugung
ist, dass alle Bewegungen auch in der organischen Natur einem
grossen Gesetze unterliegen, dass dieses Gesetz, allen organi-
schen Erscheinungen entsprechend, ein Entwickelungs- und Fort-
bildungs-Gesetz seye, und dass das Gesetz, welches die heutige
Lebenwelt beherrscht, ‘auch ihr Entstehen bedingt und ihre ganze
geologische Entwickelung geleitet habe.
Wir haben bisher organische Wesen entstehen und vergehen
518
sehen: wir haben die bestehenden Arten sich erhalten und fort-
pflanzen, aber keine neuen Arten erscheinen sehen und keine
Natur-Kraft gekannt, welche neue Arten in's Daseyn rufi. Alle
- unsere Bemühungen sie zu finden, um von dem ersten Auftreten
neuer Arten mit deren Hilfe Rechenschaft zu geben, waren Vver-
geblich. !
Hilft aber die Darwınsche Theorie diesem Mangel ab? Wir
haben oben einige Einreden gegen sie vorgebracht, und unser
persönliches Vermögen sie uns so, wie sie ist, anzueignen ist noch
weit geringer, als jene Einreden vermuthen lassen. Aber sie leitet
uns auf den einzigen möglichen Weg! Es ist vielleicht das be-
fruchtete Ei, woraus sich die Wahrheit allmählich entwickeln wird;
es ist vielleicht die Puppe, aus der sich das längst gesuchte Na-
tur-Gesetz entfalten wird, nachdem es einen Theil der seinem
unvollkommenen Zustande angehörigen Anhänge abgestreift und
andere seiner Bestandtheile vollständiger ausgebildet haben wird.
Oder wir haben das gesuchte Gesetz vielleicht bereits vor Augen,
aber sehen es nur durch ein Kaleidoskop, ‚dessen Facettirung
wir erst studiren oder abschleifen müssen, um das Objekt nach
seiner wahren Beschaffenheit beurtheilen zu können?
Die Möglichkeit nach dieser Theorie alle Erscheinungen in
der ‘organischen Natur durch einen einzigen Gedanken zu ver-
binden, aus einem einzigen Gesichtspunkt zu betrachten, aus
einer einzigen Ursache abzuleiten, eine Menge bisher vereinzelt
gestandener Thatsachen den übrigen auf's innigste anzuschliessen
und als nothwendige Ergänzungen derselben darzulegen, die mei-
sten Probleme auf's Schlagendste zu erklären, ohne sie in Bezug
auf die andern als unmöglich zu erweisen, geben ihr einen Stem-
pel der Wahrheit und berechtigen zur Erwartung auch die für
diese Theorie noch vorhandenen grossen Schwierigkeiten endlich
zu überwinden. Diese glänzenden Leistungen der Theorie (ihre
Wahrheit einmal zugestanden) sind es, die uns So mächtig zu
ihr hinziehen, wie sehr wir auch des Wankens ihrer Grundlage
uns bewusst sind. Denn die grösste Schwierigkeit für die An-
erkennung dieser Theorie scheint allerdings zunächst im Grund-
gedanken selbst zu liegen, wenigstens nach seiner jetzigen Fas-
Sy ” 519
sung: in der ' Vorstellung einer fortwährenden Bildung von
Varietäten, die sich ‘von den Stamm -Arten abzweigen und
endlich ablösen, ohne durch Mittelglieder unter einander verkettet
zu bleiben, wie wir anch nach allen aus der Theorie geschöpften
Erläuterungen doch noch erwarten zu müssen glauben, wenn diese
Theorie richtig wäre. Möglich, dass fortgesetzte Forschung: und
Prüfung darüber noch Auskunft und Aufklärung gibt!
Unser zweiter Einwand ist ‚gegen die Annahme einiger oder
auch nur einer ursprünglich erschaffenen Organismen - Spezies.
Mit der Schöpfung müsste auch die eine wegfallen. So lange
wir sie aber nicht entbehren können, so lange müssen wir
daran zweifeln, in der Darwın schen Theorie bereits den wahren
Schlüssel der Erscheinungen gefunden zu haben.
Auf welche Weise auch die eine erschaffene Spezies ent-
behrlich gemacht werden könne, darüber haben wir keine Ver-
muthung. Könnte durch unorganische chemische Prozesse aus
unorganischer Materie organische werden, — kömte die orga-
nisch& Materie für.sich die Form und Textur organischer Kern-
Zellen annehmen , könnten diese Zellen sich weiter entwickeln
und zu wachsen beginnen —, doch hier stehen wir auf der letz-
ten, der alleräussersten Grenze zwischen unorganischer und or-
ganischer Welt. Organische Mischungen könnten aus unoTga-
nischen durch gewisse chemische Prozesse vielleicht entstehen;
dass organisch gebildete Zellen und gar belebte Zellen sich aus
solcher Mischung gestalten können, hat man früher geglaubt, aber
neuere Forschungen haben diese Ansicht mehr und mehr un-
möglich gemacht; doch sollen jetzt auf Veranlassung der Fran-
zösischen Akademie fernere Versuche mit die Frage verlässig
entscheidender Beweiskraft angestellt werden!
Die Darwın sche Theorie wird wohl nicht mehr ganz unter-
gehen? Aber ungeachtet der ausgezeichneten Leistungen derselben
stehen ihr noch so wesentliche Gründe entgegen, dass wir vorerst
nicht vermögen sie anzunehmen, obwohl uns eingewendet werden
kann, auch die gewöhnliche Schöpfungs-Theorie lasse Einreden
und zwar noch gewichtigere aber freilich von ganz anderer Be-
schaffenheit zu. Denn, unnatürlich an sich, braucht die Theorie
920
der Schöpfung nicht mit natürlichen Erklärungen zu antworten. Sie
kennt nur Wunder ! Daher scheint es uns wenigstens konsequenter,
auf dem alten naturwissenschaftlich haltlosen Standpunkte zu ver-
harren in der Erwartung, dass eben.in Folge des Streites der
Meinungen sich eine haltbare Theorie entwickele, kläre und reife;
— obwohl wir voraussehen, dass ein Theil unserer Naturforscher
(und eine noch grössere Anzahl Nichtnaturforscher) der Darwın-
schen Theorie, auch so. wie sie ist, alsbald zufallen werden.
Nur aus dem Widerstreite der Meinungen wird die Wahrheit
hervorgehen und der Urheber dieser Theorie selbst zweifelsohne
noch die grosse Befriedigung erleben, der Naturforschung einen
neuen Weg geöffnet zu haben.
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