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Full text of "Charles Darwin, ?ber die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch nat?rliche Z?chtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um's Daseyn. Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern Zus?tzen des Verfassers f?r diese deutsche Ausgabe aus dem Englischen *?bersetzt und mit Anmerkungen versehen / von Dr. H.G. Bronn"

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Charles Darwin, 


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ENTSTEHUNG DER ARTEN 


im Thier- und Pflanzen-Reich 
durch 


natürliche Züchtung. 


Charles Darwin, 


über die 


ENTSTEHUNG DER ARTEN 


im Thier- und Pflanzen-Reich 
durch 


natürliche Züchtung, 
oder 
Erhaltung, der vervollkommneten Rassen im Kampfe 
um’s Daseyn. 


Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und andern 
Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Ausgabe 


aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen 


von 


Dr. H. &. Bronn. 


— IH 


Stuttgart. 
E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung und Druckerei, 


1860, 


va 


Vorrede des Verfassers. Seite 1. 


Einleitung. 8. 7. 
Erstes Kapitel. Abänderung durch Domestizität. S. 13. 

Ursachen der Veränderlichkeit. Wirkungen (er Gewohnheit. Wechselbeziehun- 
gen der Bildung. Erblichkeit. Charaktere kultivirter Varietäten. Schwie- 
rige Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten. Entstehung kultivirter 
Varietäten von einer oder mehren Arten. Zahme Tauben, ihre Verschie- 
denheiten und Entstehung. Frühere Züchtung und ihre Folgen. Plan- 
mässige und unbewusste Züchtung. Unbekannter Ursprung unsrer kultivirten 
Rassen. Günstige Umstände für das Züchtungs- Vermögen des Menschen. 


Zweites Kapitel. Abänderung im Natur-Zustande. S$. 50. 
Variabilität. Individuelle Verschiedenheiten. Zweifelhafte Arten. Weit ver- 
breitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variiren am meisten. Arten 
grössrer Sippen in einer Gegend beisammen variiren mehr, als die der 
kleinen Sippen. ' Viele Arten der grossen Sippen gleichen den Varietäten 
darin, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind und 


beschränkte Verbreitungs-Bezirke haben. 


Drittes Kapitel. Der Kampf um’s Daseyn. S. 65. 

Stützt sich auf Natürliche Züchtung. Der Ausdruck im weitern Sinne ge- 
braucht. Geometrische Zunahme. Rasche Vermehrung naturalisirter Pflan- 
zen und Thiere. Natur der Hindernisse der Zunahme. Allgemeine Mit- 
bewerbung. Wirkungen des Klimas. Schutz durch die Zahl der Individuen. 
Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur. 
Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelwesen und Varietäten einer Art, 
oft auch zwischen Arten einer Sippe. Beziehung von Organismus zu 
Organismus die wichtigste aller Beziehungen. 


Viertes Kapitel. Natürliche Züchtung. S. 85. 
Natürliche Auswahl zur Züchtung; — ihre Gewalt im Vergleich zu der des 


Menschen; — ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit: — 
ihre Gewalt in jedem Alter und über beide Geschlechter. — Sexuelle Zucht- 


VI 


wahl. — Über die Allgemeinheit der Kreutzung zwischen Individuen 
der nämlichen Art. — Umstände günstig oder ungünstig für die Natür- 
liche Züchtung, insbesondere Kreutzung, Isolation und Individuen-Zahl. — 
Langsame Wirkung. — Erlöschung durch Natürliche Züchtung verur- 
sacht. — Divergenz des Charakters, in Bezug auf die Verschiedenheit der 
Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation. — Wirkung der 
Natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Ältern „durch Di- 
vergenz des Charakters und durch Unterdrückung. — En ie die Gruppi- 
rung aller organischen Wesen. 


Fünftes Kapitel. Gesetze der Abänderung. S. 142. 
Wirkungen äusserer Bedingungen. — Gebrauch und Nichtgebrauch der Or- 
gane in Verbindung mit Natürlicher Züchtung; — Flieg- und Seh-Organe. 
— Akklimatisirung. — Wechselbeziehungen des Wachsthums. — Kompen- 
sation und Okonomie der Entwickelung. — Falsche Wechselbeziehungen. 
— Vielfache, rudimentäre und wenig entwickelte Organisationen sind ver- 
änderlich. — In ungewöhnlicher Weise entwickelte Theile sind sehr ver- 
änderlich; — spezifische mehr als Sippen-Charaktere. — 'Sekundäre Ge- 
schlechts-Charaktere veränderlic. — Zu einer Sippe gehörige Arten 
variiren auf analoge Weise. — Rückkehr zu längst verlornen Charakteren. 
-— Summarium. 


Sechstes Kapitel. Schwierigkeiten der Theorie. S. 181. 

Schwierigkeiten der Theorie einer abändernden Nachkommenschaft. — Über- 
gänge. — Abwesenheit oder Seltenheit der Zwischenabänderungen. — 
Übergänge in der Lebensweise. — Differenzirte Gewohnheiten in einerlei 
Art. — Arten mit Sitten weit abweichend von denen ihrer Verwandten. 
Organe von äusserster Vollkommenheit. — Mittel der Übergänge. — 
Schwierige Fälle. — Natura non facit saltum. — Organe von geringer 
Wichtigkeit. — Organe nicht in allen Fällen absolut vollkommen. — Das 
Gesetz von der Einheit des Typus und den Existenz-Bedingungen enthalten 
in der Theorie der Natürlichen Züchtung. 


Siebentes Kapitel. Instinkt. S. 217. 

Instinkte vergleichbar mit Gewohnheiten, doch andern Ursprungs. — Abstu- 
fungen. — Blattläuse und Ameisen. — Instinkte veränderlich. — Instinkte 
gezähmter Thiere und deren Entstehung. — Natürliche Instinkte des Kuckucks, 
des Strausses und der parasitischen Bienen. — Sklaven-machende Amei- 
sen. — Honigbienen und ihr Zellenbau-Instinkt. — Schwierigkeiten der 
Theorie Natürlicher Züchtung in Bezug auf Instinkt. — Geschlechtlose 
oder unfruchtbare Insekten. — Zusammenfassung. 


Achtes Kapitel. Bastard-Bildung. S. 254. 

Unterschied zwischen der Unfruchtbarkeit bei der ersten Kreutzung und der 
Unfruchtbarkeit der "Bastarde. — Unfruchtbarkeit der Stufe nach veränderlich 
nicht allgemein; durch Inzucht vermehrt und durch Zähmung vermindert. — 
Gesetze für die Unfruchtbarkeit der Bastarde. — Unfruchtbarkeit keine 


vil 


besondre Eigenthümlichkeit, sondern mit andern Verschiedenheiten zu- 
sammenfallend. — Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und 
der Bastarde. — Parallelismus zwischen den Wirkungen der veränderten 
Lebens-Bedingungen und der Kreutzung. — Fruchtbarkeit miteinander ‚ge- 
kreutzter Varietäten und ihrer Blendlinge nicht allgemein. — Bastarde und 
Blendlinge unabhängig von ihrer Fruchtbarkeit verglichen. — Zusammen- 


fassung. 


Neuntes Kapitel. Unvollkommenheit der Geologischen Über- 
lieferungen. S. 288. 


Mangel mittler Varietären zwischen den heutigen Formen. — Natur der erlosche- 
nen Mittel-Varietäten und deren Zahl. — Länge der Zeit-Perioden nach 
Maasgabe der Ablagerungen und Entblössungen. — Armuth unsrer paläon- 
tologischen Sammlungen. — Unterbrechung geologischer Formationen. — 
Abwesenheit der Mittel-Varietäten in allen Formationen. — Plötzliche 
Erscheinung von Arten-Gruppen. — Ihr plötzliches Auftreten in den älte- 
sten Fossilien-führenden Schichten. 


Zehntes Kapitel. Geologische Aufeinanderfolge organischer 
Wesen. S. 313. 


Langsame und allmähliche Erscheinung neuer Arten. — Ungleiches Maass 
ihrer Veränderung. — Einmal untergegangene Arten kommen nicht wieder 
zum Vorschein. — Arten-Gruppen folgen denselben allgemeinen Regeln 
des Auftretens und Verschwindens, wie die einzelnen Arten. — Erlöschen 
der Arten. — Gleichzeitige Veränderungen der Lebenformen auf der gan- 
zen Erd-Oberfläche. — Verwandtschaft ‚erloschener Arten mit andern fos- 
silen und mit lebenden Arten. — Entwickelungs-Stufe aller Formen. — 
Aufeinanderfolge derselben Typen im nämlichen Länder-Gebiete. — Zu- 
sammenfassung des jetzigen mit früheren Abschnitten. 


Eilftes Kapitel. Geographische Verbreitung. S$. 353. 


Die gegenwärtige Verbreitung der Organismen lässt sich nicht aus den na- 
türlichen Lebens-Bedingungen erklären. — Wichtigkeit der Verbreitungs- 
Schranken. — Verwandtschaft der Erzeugnisse eines nämlichen Kon- 
tinentes. — Schöpfungs-Mittelpunkte. — Ursachen der Verbreitung sind 
Wechsel des Klimas, Schwankungen der Boden-Höhe und mitunter zufäl- 
lige. — Die Zerstreuung während der Eis-Periode über die ganze Erd- 
Oberfläche erstreckt. 


Zwölftes Kapitel. Geographische Verbreitung (Fortsetzung). $. 387. 


Verbreitung der Süsswasser-Bewohner. — Die Bewohner der ozeanischen 
Inseln. — Abwesenheit von Batrachiern und Land-Säugthieren. — Be- 
ziehungen zwischen den Bewohnern der Inseln und der urehsen Festlän- 
der. — Uber Ansiedelung aus den nächsten Quellen und nachherige Ab- 
änderung. — Zusammenfassung der Folgerungen aus dem letzten und dem 
gegenwärtigen Kapitel. ” 


vıI 


Dreizehntes Kapitel. Wechselseitige Verwandtschaft organischer 

Körper: Morphologie; Embryologie; Rudimentäre Organe. $. 415. 

Klassifikation: Unterordnung der Gruppen. — Natürliches System. — 
Regeln und Schwierigkeiten der Klassifikation erklärt aus der Theorie der 
Fortpflanzung mit Abänderung. — Klassifikation der Varietäten. — Abstam- 
mung bei der Klassifikation gebraucht. — Analoge oder Anpassungs-Cha- 
raktere. — Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlen- 
förmige. — Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen. — Morpholo- 
gie: zwischen Gliedern einer Klasse und zwischen Theilen eines Einzel- 
wesens. — Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, dass Abänderung 
nicht in allen Lebens-Altern eintritt, aber in korrespondirendem Alter ver- 
erbt wird. — Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt. — Zu- 
sammenfassung. 


Vierzehntes Kapitel. Allgemeine Wiederholung und Schluss. $. 462. 


Wiederholung der Schwierigkeiten der Theorie Natürlicher Züchtung. — Wie- 
derholung der allgemeinen und besondern Umstände, zu deren Gunsten. — 
Ursachen des allgemeinen Glaubens an die Unveränderlichkeit der Arten. 


__ Wie weit die Theorie Natürlicher Züchtung auszudehnen. — Folgen 
ihrer Annahme für das Studium der Naturgeschichte. — Schluss-Bemer- 
kungen. 


Fünfzehntes Kapitel. Schlusswort des Übersetzers. S. 495. 


Eindruck und Wesen des Buches. — Stellung des Übersetzers zu demselben. 
— Zusammenfassung der Theorie des Verfassers. — Einreden des Über- 
setzers. — Aussicht auf künftigen Erfolg. 


Vorrede des Verfassers”. 


Ich will hier versuchen, eine kurze und sehr unvollkommene 
Skizze von der Entwickelung der Meinungen über die Entstehung 
der Species zu geben. Die grosse Mehrzahl der Naturforscher 
hat geglaubt, Arten seyen unveränderliche Erzeugnisse und jede 
einzelne für sich erschaffen; diese Ansicht ist von vielen 
Schriftstellern mit Geschick vertheidigt worden. Nur wenige 
Naturforscher und Andre, welche aus der Naturgeschichte nie 
ein besonderes Studium gemacht, glauben dagegen, dass Arten 
einer Veränderung unterliegen, und dass die jetzigen Lebenformen 
durch wirkliche Zeugung aus andern früher vorhandenen Formen 
hervorgegangen sind. Abgesehen von den Schriftstellern der 
klassischen Periode, so wie von Demamıer und Burron, mit deren 
Schriften ich. nicht vertraut bin, war Lamarck der erste, dessen 
Meinung, dass Arten sich verändern, Aufsehen erregte. Dieser 
mit Recht gefeierte Naturforscher veröffentlichte seine Zoologie 
philosophique im Jahre 1809 und seine Einleitung in die Natur- 
geschichte der Wirbel-losen Thiere im Jahre 1815, in welchen 
Schriften er die Lehre von der Abstammung der Arten von ein- 
ander aufstellt. Er scheint hauptsächlich durch die Schwierigkeit 
Arten und Varietäten von einander zu unterscheiden, durch die 
fast ununterbrochene Stufenreihe der Formen in manchen Gruppen 
und durch die Analogie mit unsren Züchtungs - Erzeugnissen zu 
dieser Annahme geführt worden zu seyn. Was die Mittel betrifft, 
wodurch die Umwandlung der Arten in einander bewirkt werden, 


* Ri m. 2 
dnkü bi Zugabe des Verfassers zur deutschen Übersetzung, veranlasst 
urch die Bemerkungen des Übersetzers bei der ersten Anzeige dieser Schrift 


BURN SUATUULIPNEET Mineralogie 1860, 112. Sie ist datirt von Down, Brom- 
ley, Kent, im Februar 1860. 


1 


2 


so schreibt er Einiges auf Rechnung der äusseren Lebens-Be- 
dingungen, Einiges auf die einer Kreutzung der Formen und 
leitet das Meiste von dem Gebrauche und Nichtgebrauche der 
Organe oder der Wirkung der Gewohnheit ab. Dieser letzten Kraft 
scheint er all’ die schönen Anpassungen in der Natur zuzu- 
schreiben, wie z. B. den langen Hals der Giraffe, der sie in den 
Stand setzt, die Zweige grosser Bäume abzuweiden. Doch nahm 
er zugleich ein Gesetz fortschreitender Entwickelung an, und da 
hiernach. alle Lebenformen fortzuschreiten gestrebt, so war er, 
um von dem Daseyn sehr einfacher Natur-Erzeugnisse auch in 
unsren Tagen Rechenschaft zu geben, noch eine Generatio spon- 
tanea zu Hülfe zu rufen genöthigt *. 

GEOFFROY Saınt-Hıraıre vermuthete, wie sein Sohn in dessen 
Lebens-Beschreibung berichtet, schon ums Jahr 1795, dass unsre 
sogenannten Species nur Ausarlungen eines und des nämlichen 
Typus seyen. Doch erst im Jahre 1828 veröffentlichte er seine 
Überzeugung **, dass sich die Formen nicht in unveränderter 
Weise seit dem Anfang der Dinge fortgepflanzt haben. GEOFFROY 
scheint die Ursache der Veränderungen hauptsächlich in dem 
»Monde ambiant« gesucht zu haben. Doch war er vorsichtig in 
dieser Beziehung, und sein Sohn sagt: »C’est done un probleme 
ü reserver entieremeni ad l’avenir, suppose meme, que l’avenir 
doive avoir prise sur lui“. 

In England erklärte der Hochwürdige W. Herserr, nach- 
heriger Dechant von Manchester, in seinem Werke über die 
Amaryllidaceae (1837, S. 1, 19, 339),ses seye durch Hortieultur- 
Versuche unwiderlegbar dargethan, dass Pflanzen-Arten nur eine 
höhere und beständigere Stufe von Varietäten seyen. ‘Er dehnt 
die nämliche Ansicht auch auf die Thiere aus. Der Dechant ist 
der Meinung, dass anfangs nur einzelne Arten jeder Sippe von 


* Es ist sonderbar zu sehen, wie vollständig mein Grossvater Dr. Erasmus 
Darwın diese irrigen Ansichten schon in seiner Zoonomia (vol. I, pg- 500 
—510), welche im Jahre 1794 erschienen ist, antizipirt hatte. D. "IE, 

** Bekanntlich kam er jn der Akademie mehrmals zu heftigen Auftritten 
noch mit Cuvirr, welcher die Beständigkeit der Species gegen ihn vertheidigte. 


D. Übers, 


rät: re Br 


3 


einer sehr bildsamen : Beschaffenheit oeschaffen worden seyen, 
und dass: diese sodann. durch Kreutzung und Abänderung alle 
unsre jetzigen Arten erzeugt haben. 

Im Jahre '1843 — 44 hat Professor Haıneman zu Boston : in 
den Vereinten Staaten die Gründe für und gegen die Hypothese 
der Entwickelung und Umgestaltung der Arten in angemessener 
Weise zusammengestellt (im Journal of Natural History, vol. IV, 
p. 468) und scheint sich mehr zur Ansicht für die Veränderlich- 
keit zu neigen. 

Die Vestiges of Creation sind zuerst 1844 erschienen. In 
der letzten oder zehnten und sehr verbesserten Ausgabe (1853, 
p. 155) sagt der ungenannte Verlasser: „das auf reichliche Er- 
wägung gestützte Ergebniss ist, dass die verschiedenen Reihen 
besselter Wesen von den einfachsten und ältesten an bis zu den 
höchsten und neuesten ‘die unter Gottes Vorsehung gebildeten 
Erzeugnisse sind: 1) eines den Lebenformen ertheilten Impulses, . 
der sie in abgemessenen Zeiten auf dem Wege. der Generation 
von einer zur anderen: Organisations-Stufe bis zu den höchsten 
Dikotyledonen und Wirbelthieren erhebt, — welche Stufen nur 
wenige an Zahl und gewöhnlich durch Lücken in der organischen 
Reihenfolge von einander geschieden sind, die eine praktische 
Schwierigkeit bei Ermittelung der Verwandischaften abgeben; — 
2) eines andren Impulses, welcher mit den Lebenskrälten zu- 
sammenhängt und im Laufe der Generationen die organischen 
Gebilde in Übereinstimmung mit den äusseren Bedingungen, wie 
Nahrung, Wohnort und ıneteorische Kräfte, abzuändern strebt; Diess 
sind ‘die »Anpassungen der Natural - Theologen«. Der Verlasser 
ist offenbar der Meinung, dass die Organisation sich durch plötz- 
liche Sprünge vervollkommne, die Wirkungen der äusseren Lebens- 
Bedingungen aber stufenweise seyen. Er folgert mit grossem 
Nachdruck aus allgemeinen Gründen, dass Arten keine unverän- 
derlichen Produkte seyen. Ich vermag jedoch nicht zu ersehen, 
wie die unterstellten zwei »Impulse«-in einem wissenschaftlichen 
Sinne Rechenschaft geben können von den zahlreichen und schönen 
Anpassungen, welche wir allerwärts in der ganzen Natur er- 
blicken; ich vermag nicht zu erkennen, dass wir dadurch zur 

1* 


Einsicht gelangen, wie z. B. die Organisation des Spechtes seiner 
besondern Lebensweise angepasst worden ist. Das Buch hat sich 
durch seinen glänzenden und hinreissenden Styl sofort eine’ sehr 
weite Verbreitung errungen, obwohl es in seinen früheren Auflagen 
ungenaue Kenntnisse und einen grossen Mangel an wissenschaft- 
licher Vorsicht verrieth. Nach meiner Meinung hat es vortreffliche 
Dienste dadurch geleistet, dass es in unsrem Lande die Aufmerk- 
samkeit auf den Gegenstand lenkte und Vorurtheile beseitigte. 

Im Jahre 1846 veröffentlichte der Veterane unter den Geo- 
logen, pOmarnıus pHarLov, in einem vortrefflichen kurzen Aufsatze 
(im Bulletin de !’ Academie Roy. de Bruxelles, Tome XIII, p. 581) 
seine Meinung, dass es wahrscheinlicher seye, dass neue Arten 
durch Descendenz mit Abänderung des alten Charakters hervor- 
gebracht, als einzeln geschaffen worden seyen; er hatte diese 
Ansicht zuerst im Jahre 1831 aufgestellt. 

Isınorz GEOFFROY St.-Hiıramre spricht in seinen im Jahre 1850 
gehaltenen Vorlesungen (von. welchen ein Auszug in Revue et 
Magazin de Zoologie 1851, Jan. erschien) seine Meinung über 
Arten-Charaktere kürzlich dahin aus, dass sie »für jede Art 
feststehen, so lange als sich, dieselbe in Mitten der näm- 
lichen Verhältnisse fortpflanze, dass sie aber abändern, sobald 
die äusseren Lebens-Bedingungen wechseln«. Im Ganzen »zeigt 
die Beobachtung der wilden Thiere schon die beschränkte Ver- 
änderlichkeit der Arten. Die Versuche mit gezähmten wilden 
Thieren und mit verwilderten Hausthieren zeigen Diess noch 
deutlicher. Dieselben Versuche beweisen auch, dass die hervor- 
gebrachten Verschiedenheiten vom Werthe derjenigen seyn BRITEN 
durch welche wir Sippen unterscheiden«. 

HERBERT Spencer hat in einem Versuche (welcher zuerst im 
Leader vom März 1852 und später in Spencer s Essays 1858 er- 
schien) die Theorie der Schöpfung und die der Entwickelung 
organischer Wesen ‘in vorzüglich geschickter und wirksamer 
Weise einander gegenübergestellt. Er folgert aus der Analogie 
mit den Züchtungs-Erzeugnissen, aus den Veränderungen welchen 
die Embryonen vieler Arten unterliegen, aus der Schwierigkeit 
Arten’und Varietäten zu unterscheiden, so wie endlich aus dem 


nz 


9) 


Prinzip einer. allgemeinen Stufenfolge in der Natur, dass Arten 
abgeändert worden sind, und schreibt diese Abänderung dem 
- Wechsel der. Umstände zu. Derselbe Verfasser hat 1855 die 
Psychologie nach dem Prinzip einer nothwendig stufenweisen 
Erwerbung jeder geistigen Kraft und Fähigkeit bearbeitet. 

Im Jahre 1852 hat Naubin, ein ausgezeichneter Botaniker: * 
(in. der Revue horticole, p. $02) ausdrücklich erklärt, dass nach 
seiner Ansicht Arten in analoger Weise von der Natur, wie Varie- 
täten durch die Kultur, gebildet worden seyen. Er zeigt aber nicht, 
wie die Züchtung in der Natur wirkt. Ernimmt wie Dechant HERBERT 
an, dass die Arten anfangs bildsamer waren als jetzt, legt Ge- 
wicht auf sein sogenanntes Prinzip der Finalität, eine unbestimmte 
geheimnissvolle Kraft, gleichbedeutend mit blinder Vorbestimmung 
für die Einen, mit Wille der Vorsehung für die Andern, durch 
deren unausgesetzten Einfluss auf. die lebenden Wesen in allen 
Weltaltern die Form, der Umfang und die Dauer eines jeden 
derselben je nach seiner Bestimmung in der Ordnung der Dinge, 
wozu es gehört, bedingt wird. Es ist diese Kraft, welche jedes 
Glied mit dem Ganzen in Harmonie bringt, indem sie dasselbe 
der Verrichtung anpasst, welche es im Gesammt-Organismus der 
Natur zu übernehmen hat, einer Verrichtung, welche für dasselbe 
Grund des Daseyns ist. 

Im Jahre 1853 hat ein berühmter Geologe , Graf KEYSERLING 
(im Bulletin de la Societe geologique, tome X, p. 33%) die Mei- 
nung vorgebracht, dass zu verschiedenen Zeiten eine Art Seuche 
durch irgend welches Miasma veranlasst, sich über die Erde ver- 
breitet und auf die Keime der bereits vorhandenen Arten che- 
misch eingewirkt habe, indem sie dieselben mit irgend welchen 
Molecülen von besonderer Natur umgab und hiedurch die Ent- 
stehung neuer Formen veranlasste! | 

Die »Philosophie der Schöpfung« ist 1855 in bewunderns- 
würdiger Weise durch den Hochwürdigen Bapen-Powerı (in seinen 
Essays on ihe Unity of Worlds) behandelt worden. Er zeigt 
auf die trifligste Weise, dass die Einführung neuer Arten »eine 


* ® is - . 
Lecoo. ein andrer französischer Botaniker, hält, wie ich glaube, ähnliche 
Ansichten über die Fortpflanzung und Umänderung der Arten fest, D. VW 


regelmässige und nicht eine zufällige Erscheinung« oder, wie Sir 
Jonn HerscHeL es ausdrückt, »eine Natur- im Gegensatze einer 
Wunder-Erscheinung« ist. Ich glaube, dass das genannte Werk 
nicht verfehlt haben kann einen grossen Eindruck auf jeden 
philosopkischen Geist zu machen. 

Aufsätze von Herrn WaıtAcE und mir selbst im dritten Theile 
des Journal of the Linnean Society (August 1858) stellen zuerst, 
wie in der Einleitung zu diesem Band gesagt wird, die Theorie 
der Natürlichen Züchtung auf. 

Im Jahre 1859 hielt Professor Huxiey einen Vortrag vor der 
Royal Institution über den bleibenden Typus des Thier - Lebens. 
In Bezug auf derartige Fälle bemerkt er: »Es ist schwierig die Be- 
deutung solcher Thatsachen zu begreifen, wenn wir voraussetzen, 
dass jede Pflanzen- und Thier-Art oder jeder grosse Organisations- 
Typus nach langen Zwischenzeiten durch je einen besondren Akt 
der Schöpfungs-Kraft gebildet und auf die Erd-Oberfläche versetzt 
worden seye; und man muss nicht vergessen, dass eine solche 
Annahme weder in der Tradition noch in der Offenbarung eine 
Stütze findet, wie sie denn auch der allgemeinen Analogie in der 
Natur zuwider ist. Betrachten wir anderseits die »persistenten 
Typen« in Bezug auf die Hypothese, wornach die zu irgend einer Zeit 
vorhandenen Wesen das Ergebniss allmählicher Abänderung schon 
früherer Wesen sind — eine Hypothese‘, welche, wenn auch 
unerwiesen und auf klägliche Weise von einigen ihrer Anhänger 
verkümmert, doch die einzige ist, der die Physiologie einigen 
Halt verleiht — so scheint das Daseyn dieser Typen zu’ zeigen, 
dass der Betrag von Abänderung , welche lebende Wesen wäh- 
rend der geologischen Zeit erfahren haben, sehr gering ist im 
Vergleich zu der ganzen Reihe von Veränderungen, welchen sie 
ausgesetzt gewesen sind.« "ii 

Im November 1859 ist die erste Ausgabe dieses Werkes 
erschienen. Im Dezember 1859 veröffentlichte Dr. Hooker seine 
bewundernswürdige Einleitung in die Tasmanische Flora, in deren 
erstem Theile er die Entstehung der Arten durch Abkommenschaft 
und Umänderung von andern zugesteht und diese Lehre durch 
viele schätzbare Original-Beobachtungen unterstützt. 


Einleitung. 


Als ich an Bord des Königlichen Schiffs »Beagle« als Natur- 
forscher Südamerika erreichte, ward ich überrascht von der 
Wahrnehmung gewisser Thatsachen in der Vertheilung der Be- 
wohner und in den geologischen Beziehungen zwischen der 
jetzigen und der früheren Bevölkerung dieses Welttheils. Diese 
Thatsachen schienen mir einiges Licht über die Entstehung der 
Arten zu verbreiten, diess Geheimniss der Geheimnisse, wie es 
einer unsrer grössten Philosophen genannt hat. Nach meiner 
Heimkehr im Jahre 1837 schien es mir, dass sich etwas über 
diese Frage müsse ermitteln lassen durch ein geduldiges Sammeln 
und Erwägen aller Arten von Thatsachen, welche möglicher Weise 
etwas zu deren Aufklärung beitragen könnten. Nachdem ich Diess 
fünf Jahre lang gethan, getraute ich mich erst eingehender über 
die Sache nachzusinnen und einige kurze Bemerkungen darüber 
niederzuschreiben, welche ich im Jahre 1844 weiter ausführte, 
indem ich die Schlussfolgerungen hinzufügte, welche sich mir als 
wahrscheinlich ergaben, und von dieser Zeit an war ich mit be- 
harrlicher Verfolgung des Gegenstandes beschäftigt. Ich hoffe, 
dass man die Anführung' dieser auf meine Person bezüglichen 
Einzelnheiten entschuldigen wird: sie sollen zeigen, dass ich 
nicht übereilt zu einem Entschlusse gelangt bin. 

Mein Werk ist nun nahezu vollendet; aber ich will mir noch 
zwei oder drei weitre Jahre Zeit lassen um es zu ergänzen; 
und da meine Gesundheit keinesweges fest ist, so sah ich mich 
zur Veröffentlichung dieses Auszugs gedrängt. Ich sah mich noch 
um so mehr dazu veranlasst, als Herr Wauzace, welcher jetzt 
die Naturgeschichte der Malayischen Inselwelt studirt, zu fast 
genau denselben allgemeinen Schlussfolgerungen über die Arten- 


u Be 


8 


Bildung gelangt ist. Letztes Jahr sandte er mir eine Abhandlung 
darüber mit der Bitte zu, sie Herrn Cuarıes Lyeır zuzustellen, 
welcher sie der Linx£ischen Gesellschaft übersandte, in deren 
Journal sie nun im dritten Bande abgedruckt worden ist. Herr Lyeıı 
sowohl als Dr. Hooker, welche beide meine Arbeit kennen (der 
letzte hat meinen Entwurf von 1844 gelesen), beehrten mich in- 
dem sie den Wunsch ausdrückten, ich möge einen kurzen 
Auszug aus meinen Handschriften zugleich mit Warsace’s Ab- 
handlung veröffentlichen. | 

Dieser Auszug, welchen ich hiemit der Lesewelt vorlege, 
muss nothwendig unvollkommen seyn. Er kann keine Belege 


und Autoritäten für meine verschiedenen Feststellungen beibringen, 


und ich muss den Leser ansprechen einiges Vertrauen in meine 
Genauigkeit zu setzen. Zweifelsohne mögen Irrthümer mit unter- 
gelaufen seyn; doch glaube ich mich überall nur auf verlässige 
Autoritäten berufen zu haben. Ich kann hier überall nur die 
allgemeinen Schlussfolgerungen anführen, zu welchen ich gelangt 
bin, in Begleitung von nur wenigen erläuternden Thatsachen, 
die aber, wie ich hoffe, in den meisten Fällen genügen werden. 
Niemand kann mehr als ich selber die Nothwendigkeit fühlen, 
alle Thatsachen, auf welche meine Schlussfolgerungen sich stützen, 
mit ihren Einzelnheiten bekannt zu machen, und ich hoffe Diess 
in einem künftigen Werke zu thun. Denn ich weiss wohl, dass 
kaum ein Punkt in diesem Buche zur Sprache kommt, zu welchem 
man nicht Thatsachen anführen könnte, die oft zu gerade ent- 
gegengesetzten Folgerungen zu führen scheinen. Ein richtiges 
Ergebniss lässt sich aber nur dadurch erlangen, dass man alle 
Erscheinungen und Gründe zusammenstellt, welche für und 
gegen jede einzelne Frage sprechen, und sie dann sorgfältig 


gegen einander abwägt, und Diess kann nicht wohl hier geschehen. 


Ich muss bedauern nicht Raum zu finden, um so vielen Natur- 
forschern meine Erkenntlichkeit für die Unterstützung auszu- 
drücken, die sie mir, mitunter ihnen persönlich ganz unbekannt, 


in uneigennützigster Weise zu Theil werden liessen, Doch kann 


ich diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne wenigstens 
die grosse Verbindlichkeit anzuerkennen, welche ich Dr. Hooker’n 


% 


9 
dafür schulde, dass er mich in den letzten fünfzehn Jahren in 
jeder möglichen Weise durch seine reichen Kenntnisse und sein 
ausgezeichnetes Urtheil unterstützt hat. 

Wenn ein Naturforscher über die Entstehung der Arten 
nachdenkt, so ist es wohl begreiflich, dass er in Erwägung der 
gegenseitigen Verwandtschafts-Verhältnisse der Organismen, ihrer 
embryonalen Beziehungen, ihrer geographischen Verbreitung, ihrer 
geologischen Aufeinanderfolge und andrer solcher Thatsachen zu 
dem Schlusse gelangen könne, dass jede Art nicht unabhängig 
von andern erschaffen seye, sondern nach der Weise der Varie- 
täten von andern Arten abstamme. Demungeachtet dürfte eine 
solche Schlussfolgerung, selbst wenn sie richtig wäre, kein 
Genüge leisten, so lange nicht nachgewiesen werden kann, 
auf welche Weise die zahllosen Arten, welche jetzt unsre 
Erde bewohnen, so abgeändert worden seyen, dass sie die jetzige 
Vollkommenheit des Baues und der Anpassung für ihre jedes- 
maligen Lebens - Verhältnisse erlangten, welche mit Recht unsre 
Bewunderung erregen. Die Naturforscher verweisen beständig 
auf die äusseren Bedingungen, wie Klima, Nahrung u. S. W. 
als die einzig möglichen Ursachen ihrer Abänderung. In einem 
sehr beschränkten Sinne kann, wie wir später sehen werden, 
Diess wahr seyn. Aber es wäre verkehrt,. lediglich äusseren 
Ursachen z. B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines 
Fusses, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge 
zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, In- 
sekten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Eben so wäre 
es verkehrt, bei der Mistel-Pflanze, die ihre Nahrung aus ge- 
wissen Bäumen zieht, und deren Saamen von gewissen Vögeln 
ausgestreut werden müssen, wie ihre Blüthen, welche getrennten 
Geschlechtes sind, die Thätigkeit gewisser Insekten zur Über- 
tragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüthe 
voraussetzen, die organische Einrichtung dieses Parasiten mit 
seinen Beziehungen zu jenen verschiedenerlei organischen Wesen 
als eine Wirkung äussrer Ursachen oder der Gewohnheit oder 
des Willens der Pflanze selbst anzusehen. 

Es ist daher von der grössten Wichtigkeit eine klare Einsicht 


“ 
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10 


in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Umänderungen 
und Anpassungen bewirkt werden. Beim Beginne meiner Be- 
_ obachtungen schien es mir wahrscheinlich, dass ein sorgfältiges 
Studium der Hausthiere und Kultur-Pflanzen die, beste Aussicht 
auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und 
ich habe mich nicht getäuscht, sondern habe in diesem wie in 
allen andern verwickelten Fällen immer gefunden, dass unsre 
Erfahrungen über die im gezähmten und angebauten Zustande 
erfolgenden Veränderungen der Lebenwesen immer den besten 
und sichersten Aufschluss gewähren. Ich stehe nicht an meine 
Überzeugung von dem hohen Werthe solcher von den Natur- 
forschern gewöhnlich sehr vernachlässigten Studien auszudrücken. 

Aus diesem Grunde widme ich denn auch das erste Kapitel» 
dieses Auszugs der Abänderung im Kultur-Zustande. Wir wer- 
den daraus ersehen, dass erbliche Abänderungen in. grosser 
Ausdehnung wenigstens möglich sind, und, was nicht minder 
wichtig, dass das Vermögen des Menschen, geringe Abänderungen 
durch deren ausschliessliche Auswahl zur Nachzucht, d. h. durch 
künstliche Züchtung* zu häufen, sehr beträchtlich ist. 
Ich werde dann zur Veränderlichkeit der Lebenwesen im 
Natur-Zustande übergehen; doch bin ich unglücklicher Weise 
genöthigt diesen Gegenstand viel zu kurz abzulhun, da er 
angemessen eigentlich nur durch Mittheilung langer Listen von 
Thatsachen behandelt werden kann. Wir werden ‘demungeachtet 
im Stande seyn zu erörtern, was für Umstände die Abänderung 
am meisten befördern. Im nächsten Abschnitte soll der Kampf 
um’s Daseyn unter den organischen Wesen der ganzen Welt 


abgehandelt werden, welcher unvermeidlich aus ihrem hoch geo- 


metrischen Zunahme-Vermögen hervorgeht. Es ist Diess die Lehre 


* Durch „Züchtung“ werde ich den stets wiederkehrenden Englischen 
Ausdruck „Selection“ übertragen, welcher in gegenwärtigem Sinne auch in 
England nicht gebräuchlich und desshalb dort angegriffen worden ist. Richtiger 
wäre wohl „Auswahl zur Züchtung“ gewesen, zumal bei der „Züchtung“ 


auch noch Anderes als die Auswahl der Zucht-Thiere allein in Betracht | 


kommen kann, doch ist Diess von wohl nur untergeordnetem Interesse. Zu- 
weilen entspricht jedoch eine Übersetzung etwa durch das neu zu bildende 
Wort „Zuchtwahl“ wirklich besser, insbesondre bei Übertragung des Aus- 
drucks „Sexual selection“. | D. Ubrs. 


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11 


von Marsnus auf das ganze Thier- und Pflanzen-Reich angewendet. 
Da viel mehr Einzelwesen jeder Art geboren werden, als fortleben 
können, und demzufolge das Ringen um Existenz beständig wieder- 
kehren muss, so folgt daraus, dass ein Wesen, welches in irgend 
einer für dasselbe vortheilhaften Weise von den übrigen auch nur 
etwas abweicht, unter manchfachen und oft veränderlichen Lebens- 
Bedingungen mehr Aussicht auf Fortdauer hat und deimnach bei 
der Natürlichen Züchtung im Vortheil ist. Eine solche zur 
Nachzucht ausgewählte Varietät strebt dann nach dem strengen 
Erblichkeits - Gesetze jedesmal seine neue und abgeänderte Form 
fortzupflanzen. 

Diese Natürliche Züchtung ist ein Hauptgegenstand, welcher im 
vierten Kapitel etwas weitläufiger abgehandelt werden soll; und 
wir werden dann finden, wie die Natürliche Züchtung gewöhnlich 
die unvermeidliche Veranlassung zum Erlöschen minder geeigneter 
Lebenformen wird und herbeiführt, was ich Divergenz des 
Charakters * genannt habe. Im nächsten Abschnitte werden 
die zusammengesetzten und wenig bekannten Gesetze der Ab- 
änderung und der Wechselbeziehungen in der "Entwiekelung be- 
sprochen. In den vier folgenden Kapiteln sollen die auffälligsten und 
bedeutendsten Schwierigkeiten unsrer Theorie angegeben werden, 
und zwar erstens die Schwierigkeiten der Übergänge, oder wie 
es zu begreifen ist, dass ein einfaches Wesen oder Organ ver- 
wandelt und in ein höher entwickeltes Wesen oder ein höher 
ausgebildetes Organ umgestaltet werden kann; zweitens der In- 
stinkt oder die geistigen Fähigkeiten der Thiere; drittens die 
Kreutzung oder die Unfruchtbarkeit der gekreutzten Species und 
die Fruchtbarkeit der gekreutzten Varietäten; und viertens die Un- 
vollkommenheit der geologischen Urkunde. Im nächsten Abschnitte 
werde ich die geologische Aufeinanderfolge der Organismen in 
der Zeit betrachten; im eilften und zwölften deren geographische 
Verbreitung im Raume; im dreizehnten ihre Klassifikation und 
gegenseitigen Verwandtschaften im reifen wie im Embryo-Zustande. 


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RS Analog mit derjenigen Erscheinung, welche in meinen Morphologischen 
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tudien „Differenzirung der Organe“ genannt worden ist. D. Ubrs. 


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12 


Im letzten Abschnitte endlich werde ich eine ‘kurze Zusammen- 
fassung des Inhaltes des ganzen Werkes mit einigen Schluss- 
Bemerkungen geben. 

Darüber, dass noch so Vieles über die Entstehung der Arten 
und Varietäten unerklärt bleibe, . wird sich niemand wundern, 


wenn er unsre tiefe Unwissenheit hinsichtlich der Wechsel- 


beziehungen all’ der um uns her lebenden Wesen in Betracht 
zieht. Wie kann man erklären, dass eine. Art in ‚grosser 
Anzahl und weiter: Verbreitung vorkömmt, während ihre nächste 
Verwandte selten und auf engen Raum beschränkt ist? Und doch 
sind diese Beziehungen von der höchsten Wichtigkeit, insoferne 
sie die gegenwärtige Wohlfahrt und, wie ich glaube das künftige 
Gedeihen und die Modifikation eines jeden  Bewohners der 


Welt bedingen. Aber noch viel weniger Kenntniss haben wir 


von den Wechselbeziehungen der unzähligen Bewohner dieser 
Erde während der zahlreichen Perioden ihrer einstigen Bildungs- 
Geschichte. Wenn daher auch noch Vieles dunkel ist und noch 
lange dunkel bleiben wird, so zweifle ich nach den sorgfältigsten 
Studien und dem unbefangensten Urtheile, deren ich fähig, bin, 


doch nicht daran, dass die Meinung, welche die meisten Natur- 
forscher hegen und auch ich lange gehabt habe, als wäre 


nämlich jede Spezies unabhängig von den übrigen erschaffen 
worden, eine irrthümliche sey. Ich bin vollkommen überzeugt, 
dass die Arten nicht unveränderlich sind; dass die zu einer So- 
genannten Sippe * zusammengehörigen Arten in einer Linie von 
anderen gewöhnlich erloschenen Arten abstammen, in der näm- 
lichen Weise, wie die anerkannten Varietäten einer Art Abkömm- 
linge dieser Species sind. Endlich bin ich überzeugt, dass Natür- 
liche Züchtung das hauptsächlichste wenn auch nicht einzige 
Mittel zu Abänderung der Lebenformen gewesen ist. 


* Ich wähle das Oxen’sche Wort „Sippe“ für Genus, weil das Deutsche 
Wort „Geschlecht“ seiner zweifachen Bedeutung wegen hier das Verständniss 
nicht selten erschweren würde. Leider besitzen wir keinen ähnlichen Aus- 
weg, der Missdeutung des ebenfalls zweisinnigen Wortes , Art“ zu entgehen, 
welches bald für Species und bald für das Englichs „Kind“ angewendet 
werden muss. D. Übers. 


Erstes Kapitel. 
Abänderung durch Domestizität. 


Ursachen der Veränderlichkeit.2 Wirkungen der Gewohnheit.5 Wechselbeziehun- 
gen der Bildung. Erblichkeit.$4 Charaktere kultivirter Varietäten. *Schwie- 
rige Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten. Entstehung kultivirter 
Varietäten von einer oder mehren Arten.’ Zahme Tauben, ihre Verschie- 
denheiten und Entstehung. £ Frühere Züchtung und ihre Folgen.“ Plan- 
ınässige und unbewusste Züchtung.// Unbekannter Ursprung unsrer kultivirten 
Rassen. // Günstige Umstände für das Züchtungs-Vermögen des Menschen. 

, Wenn wir die Einzelwesen einer Varietät oder Untervarie- 
tät unsrer alten Kultur-Pflanzen und -Thiere betrachten, so ist 
einer der Punkte, die uns zuerst auffallen, dass sie im Allge- 
meinen mehr von einander abweichen, als die Einzelwesen einer 
Art oder Varietät im Natur-Zustande. Erwägen wir nun die 
grosse Manchfaltigkeit der Kultur-Pflanzen und -Thiere, welche sich 
zu allen Zeiten unter den verschiedensten Klimaten und Behand- 
lungs-Weisen abgeändert haben, so olaube ich sind wir zum 
Schlusse gedrängt, dass diese grössere Veränderlichkeit unsrer 
Kultur-Erzeugnisse die Wirkung minder einförmiger und von den 
natürlichen der Stamm - Ältern etwas abweichender Lebens- 
Bedingungen ist. Auch hat, wie mir scheint, AnpREW KnıchT s 
Meinung, dass diese Veränderlichkeit zum Theil mit überflüssiger 
Nahrung zusammenhänge, einige Wahrscheinlichkeit für sich. Es 
scheint ferner ganz klar zu seyn, dass die organischen Wesen 
einige Generationen hindurch neuen Lebens-Bedingungen aus- 
gesetzt seyn müssen, ehe ein bemerkliches Maass von Verände» 


rung in ihnen hervortreten kann, und dass, wenn ihre Organi- 
sation einmal abzuändern begonnen hat, diese Abänderung 
gewöhnlich durch viele Generationen fortwährt. Man kennt kei- 
nen Fall, dass ein veränderliches Wesen im Kultur-Zustande 
aufgehört hätte veränderlich zu seyn. Unsre ältesten Kultur- 


14 


Pflanzen, wie der Weitzen z. B., geben oft noch neue Varietä- A 


ten, und unsre ältesten Hausthiere sind noch immer rascher 
Umänderung oder Veredelung fähig. | 

Man hat darüber gestritten, in welchem Lebens-Alter die 
Ursachen der Abänderungen, worin sie immer bestehen mögen, 
wirksam zu seyn pflegen, ob in der ersten, oder in der letzten 
Zeit der Entwickelung des Embryos, oder im Augenblicke der 
Empfängniss. Georrkov Sr. Hırame’s Versuche ergeben, dass 
eine unnatürliche Behandlung des Embryos Monstrositäten erzeuge, 
und Monstrositäten können durch keinerlei scharfe Grenzlinie 
von Varietäten unterschieden werden. Doch bin ich sehr zu 
vermuthen geneigt, dass die häufigste Ursache zur ‚Abänderung 
in Einflüssen zu suchen seye, welche das männliche oder weib- 
liche reproduktive Element schon vor dem Akte der Befruchtung 
erfahren hat. Ich habe verschiedene Gründe für diese Meinung; 
doch liegt der Hauptgrund in den bemerkenswerthen Folgen, 
welche Einsperrung oder Anbau auf die Verrichtungen des repro- 
duktiven Systemes äussern, indem nämlich dieses System viel 
empfänglicher für die Wirkung irgend eines Wechsels in den 
Lebens-Bedingungen als jeder andere Theil der  Organisa- 
tion zu seyn scheint. Nichts ist leichter, als ein Thier zu zäh- 
men, und wenige Dinge sind schwieriger, als es in der Gelan- 
genschaft zu einer freiwilligen Fortpflanzung zu veranlassen in 
den zahlreichen Fällen sogar, wo man Männchen und Weibchen 
bis zur Paarung bringt. Wie viele Thiere wollen sich nicht fort- 
pflanzen, obwohl sie schon lange in nicht sehr enger Gelangen- 
schaft in ihrer Heimath-Gegend leben! Man schreibt Diess gewöhn- 
lich verdorbenen Naturtrieben zu; allein wie viele Kultur-Pflan- 
zen gedeihen in der äussersten Kraft-Fülle, ohne jemals oder 
fast jemals Samen anzusetzen! In einigen wenigen solchen Fällen 
hat man herausgefunden, dass sehr unbedeutende Verhältnisse, 
wie etwas mehr oder weniger Wasser zu einer gewissen Zeit 
des Wachsthums für oder gegen die Samen-Bildung entscheidend 
wird. Ich kann hier nicht eingehen in die zahlreichen Einzel- 
heiten, die ich über: diese merkwürdige Frage oesammelt; um 
aber zu zeigen, wie eigenthümlich die Gesetze sind, welche die 


15 


Fortpflanzung der Thiere in Gefangenschaft bedingen, will ich 
nur anführen, dass Raubthiere selbst aus den Tropen-Gegenden 
sich bei uns auch in Gefangenschaft ziemlich gerne fortpflanzen, 
doch mit Ausnahme der Sohlengänger oder der Bären-Familie, 
während Fleisch-fressende Vögel nur in den seltensten Fällen 
oder fast niemals fruchtbare Eier legen. Viele ausländische 
Pflanzen haben ganz werthlosen Pollen genau in demselben 
Zustande wie die meist unfruchtbaren Bastard -Pilanzen. Wenn 
wir auf der einen Seite Hausthiere und Kultur - Pflanzen oft 
selbst in schwachem und krankem Zustande sich in der 
Gefangenschaft ganz freiwillig fortpflanzen sehen, während auf 
der andern Seite jung eingefangene Individuen, vollkommen 
gezähmt, Geschlechts-reif und kräftig (wovon ich viele Beispiele 
anführen kann), in ihrem Reproduktiv-Systeme durch nicht wahr- 
nehmbare’Ursachen so angegriffen erscheinen, dass sie sich nicht 
zu befruchten vermögen, so dürfen wir uns um so weniger dar- 
über wündern, wenn dieses. System in der Gefangenschaft in 
nicht ganz regelmässiger Weise wirkt und eine Nachkommen- 
schaft erzeugt, welche den Ältern nicht vollkommen ähnlich oder 
welche veränderlich ist. 

Man hat Unfruchtbarkeit als den Untergang des Gartenbaues 
bezeichnet; aber Variabilität entsteht aus derselben Ursache wie 
Sterilität, und Variabilität ist die Quelle all der ausgesuchtesten 
Erzeugnisse unsrer Gärten. Ich möchte hinzufügen, dass, wenn 
einige Organismen (wie die in Kästen gehaltenen Kaninchen und 
Frettchen) sich unter den unnatürlichsten Verhältnissen fortpflan- 
zen, Diess nur beweiset, dass ihr Reproduktions-System dadurch 
nicht angegriffen worden ist; und so widerstreben einige Thiere 
und Pflanzen der Veränderung durch Zähmung oder Kultur und 
erfahren nur sehr geringe Abänderung, vielleicht kaum eine 
stärkere als im Natur-Zustande. 

Man könnte eine lange Liste von Spielpflanzen (Sporting 
plants) aufstellen, mit welchem Namen die Gärtner einzelne 
Knospen oder Sprossen bezeichnen, welche plötzlich einen neuen 
und von. der übrigen Pflanze oft sehr abweichenden Charakter 
annehmen. Solche Knospen kann man durch Propfen und oft 


4. Alliiiai. Si ln 


16 
mittelst Samen fortpflanzen. Diese Spielpflanzen sind in der 


Natur ausserordentlich selten, im Kultur-Zustande aber nichts 
Ungewöhnliches, und wir sehen in diesem Falle, dass die abwei- 


chende Behandlung der Mutterpflanze die Knospe oder den 


Sprossen, nicht aber das Eiichen oder den Pollen berührt hat. 
Die meisten Physiologen sind aber der Meinung, dass zwischen 
einer Knospe und einem Eichen auf ihrer ersten Bildungs-Stufe 
kein wesentlicher Unterschied ist, so dass die Spielpflanzen in der 
That meiner Meinung zur Stütze gereichen, dass die Veränderlich- 
keit grossentheils von Einflüssen herzuleiten seye, welche die 
Behandlung der Mutterpflanze auf das Eichen oder den Pollen 
oder auf beide schon vor dem Befruchtungs-Akte ausgeübt hat. 
Diese Fälle zeigen dann auch, dass Abänderung nicht, wie einige 
Autoren angenommen, nothwendig mit dem Generations-Akte 
zusammenhänge. 
Sämlinge von derselben Frucht erzogen oder Junge von 
einem Wurfe weichen oft weit von einander ab, obwohl die 
Jungen und die Alten, wie Mürzer bemerkt, offenbar genau den- 
selben Lebens-Bedingungen ausgeselzt gewesen; und es ergibt 
sich daraus, wie unerheblich die unmittelbaren Wirkungen der 
Lebens-Bedingungen im Vergleiche zu den Gesetzen der Repro- 
duktion, der Wechselbeziehungen des Wachsthums. und der Erb- 
lichkeit sind; denn wäre die Wirkung der Lebens-Bedingungen 
in dem Falle, wo nur ein Junges abändert, eine unmittelbare 
gewesen, so würden zweifelsohne’ alle Junge dieselben Abände- 
rungen zeigen. Es ist sehr schwer zu beurtheilen, wie viel bei 
einer solehen Abänderung dem unmittelbaren Einflusse der Wärme, 
der Feuchtigkeit, des Lichtes und der Nahrung im Einzelnen 
zuzuschreiben seye; ich halte mich aber überzeugt, dass solche 
Kräfte bei Thieren nur sehr wenig unmittelbaren Erfolg haben 


können, während derselbe bei Pflanzen olfenbar grösser isl, In 


dieser Beziehung sind Buckman’s neüere Versuche mit Pflanzen 
von grossem Werthe. Wenn alle oder fast alle Einzelnwesen, 
welche den nämlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen, auch auf die- 
selbe Weise abgeändert werden, so scheint diese Wirkung anfangs 
jenen Einflüssen unmittelbar zugeschrieben werden zu müssen; 


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17 


es lässt sich aber in einigen Fällen nachweisen, dass ganz ent- 
gegengesetzte Bedingungen ähnliche Veränderungen des Baues 
bewirken können.  Demungeachtet glaube ich, dass ein kleiner 
Betrag ‚der stattfindenden Umänderung der unmittelbaren Einwir- 
kung der Lebens-Bedingungen zugeschrieben werden kann, wie 
in einigen Fällen die veränderte Grösse von der Nahrungs-Menge, 
die Färbung von besonderen Arten der Nahrung und vom Lichte, 
und vielleicht die Dichte des Pelzes vom Klima ableitbar ist. 

» Auch Gewöhnung hat einen entschiedenen Einfluss, wie die 
Versetzung von Pflanzen aus einem Klima ins andere deren Blüthe- 
Zeit ändert. Bei Thieren ist er bemerkbarer; ich habe bei der 
Haus-Ente gefunden, dass die Flügel-Knochen leichter und die 
Bein:Knochen schwerer im Verhältniss zum ganzen Skelette sind 
als bei der wilden Ente; und ich glaube, dass man diese Ver- 
änderung ‘getrost dem Umstande zuschreiben kann, dass die 
zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, als bei dieser Enten- 
Art in ihrem wilden Zustande der Fall ist. Die erbliche stärkere 
Entwickelung der Euter bei Kühen und Geisen in solchen Gegen- 
den, wo sie regelmässig gemelkt werden, im Verhältnisse zu 
andern, wo es nicht der Fall, ist ein anderer Beleg dafür. 
Es gibt keine Art von Haus - Säugethieren, welche nicht in 
dieser oder jener Gegend hängende Ohren hätte, und so ist 
die Meinung, die irgend ein Schriftsteller geäussert, dass dieses 
Hängendwerden der Ohren vom Nichtgebrauch der Ohr-Muskeln 
herrühre, weil das Thier sich nicht mehr durch drohende Gefah- 
ren beunruhigt fühle, ganz wahrscheinlich. 

» Es gibt nun viele Gesetze, welche die Veränderungen regeln, 
von welchen einige wenige sich dunkel erkennen lassen, und die 
nachher noch kürzlich erwähnt werden sollen. Hier will ich nur an- 
führen, was man Wechselbeziehung der Entwicklung nen- 
nen kann. Eine Veränderung in Embryo oder Larve wird sicherlich 
meistens auch Veränderungen im reifen Thiere nach sich ziehen. 
Bei Monstrositäten sind die Wechselbeziehungen zwischen ganz 
verschiedenen Theilen des Körpers sehr sonderbar, und Isınore 
GEOFFROY St.-Hıraıre führt davon viele Belege in seinem grossen 
Werke an, Viehzüchter glauben, dass verlängerte Beine gewöhn- 


2 


7 


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18 


lich auch von einem verlängerten Kopfe begleitet sind. : Einige 
Beispiele erscheinen ganz wunderlicher Art; so, dass Katzen mit 
blauen Augen allezeit taub sind, Farbe und Eigenthümlichkeiten 
der Konstitution sind mit einander in Verbindung, wovon sich 
viele merkwürdige Fälle bei Pflanzen und Thieren anführen lassen. 
Aus den von Heusiınser gesammelten Thatsachen geht hervor, dass 
weisse Schaafe und Schweine von gewissen Pflanzen-Giften ganz 
anders als die dunkel-farbigen berührt werden. Unbehaarte Hunde 
haben unvollkommene Zähne ; lang- und grob-haarige Thiere sollen 
geneigter seyn, lange und viele Hörner zu bekommen; Tauben mit 
Federfüssen haben eine Haut zwischen ihren äusseren Zehen; kurz- 
schnäbelige Tauben haben kleine Füsse, und die mit langen Schnä- 
beln auch lange Füsse. Wenn man daher durch Auswahl geeigneter 
Individuen von Pflanzen und Thieren für die Nachzucht irgend eine 
Eigenthümlichkeit derselben zu steigerkn gedenkt, so wird man ge- 
wiss meistens. ohne es zu wollen, diesen geheimnissvollen Wech- 
selbeziehungen der Entwickelung gemäss noch andre Theile der 
Struktur mit abändern. Das Ergebniss der mancherlei entweder ganz 
unbekannten oder nur dunkel sichtbaren Gesetzen der Variation ist 
ausserordentlich zusammengesetzt und vielfältig. Es ist wohl 
der Mühe werth die verschiedenen Abhandlungen über. unsre 
alten Kultur-Pflanzen, wie Hyazinthen, Kartoffeln, Dahlien u. s. w. 
sorgfältig zu studiren und von der. endlosen Menge von Ver- 
schiedenheiten in Bau und Lebensäusserung Kenntniss zu nehmen, 
durch welche alle diese Varietäten und Subvarietäten von einan: 
der abweichen. Ihre ganze Organisation scheint bildsam gewor- 
den zu seyn, um bald in dieser und bald in jener Richtung sich 
etwas von dem älterlichen Typus zu entfernen. 

4 Nicht-erbliche Abänderungen sind für uns ohne Bedeutung. 


Aber schon die Zahl und Manchfaltigkeit der erblichen Abwei-. 


chungen in dem Bau des Körpers, sey es von geringerer oder 
von beträchtlicher physiologischer Wichtigkeit, ist endlos. Dr. 
Prosrer Lucas’ Abhandlung in zwei starken Bänden ist das Beste 
und Vollständigste, was man darüber hat. Kein Viehzüchter ist 


Jarüber in Zweifel, dass die Neigung zur Vererbung sehr gross 
ist: Gleiches erzeugt Gleiches ist. sein Grund-Glaube, und nur 


19 


theoretische Schriftsteller haben dagegen Zweifel erhoben. Wenn 
irgend eine Abweichung öfters zum Vorschein kommt und wir 
sie in Vater und Kind sehen, so können wir nicht sagen, ob sie 
nicht etwa von 'einerlei Grundursache herrühre , die auf beide 
gewirkt habe. Wenn aber unter Einzelwesen einer Art, welche 
offenbar denselben Bedingungen ausgesetzt sind, irgend eine sel- 
tene Abänderung in Folge eines ausserordentlichen Zusammen- 
treffens von Umständen an einem Vater zum Vorschein kommt 
—_ an einem unter mehren Millionen — und dann am Kinde 
wieder erscheint, so nöthigt uns schon die Wahrscheinlichkeit 
diese Wiederkehr aus der Erblichkeit zu erklären. Jeder- 
mann hat schon von Fällen gehört, wo so seltene Erschei- 
nungen, wie Albinismus, Stachelhaut, ganz behaarter Körper 
u. dgl. bei mehren Gliedern einer und der nämlichen Familie vor- 
gekommen sind. Wenn aber so seltene und fremdartige Abwei- 
chungen der Körper-Bildung sich wirklich vererben, so werden 
minder fremdartige und ungewöhnliche Abänderungen um so mehr 
als erbliche zugestanden werden müssen. Ja vielleicht wäre die rich- 
tigste Art die Sache anzusehen die, dass man jedweden Charak- 
ter als erblich und die Nichterblichkeit als Ausnahme betrachtete. 

Die Gesetze, welche die Erblichkeit regeln, sind gänzlich 
unbekannt, und niemand vermag zu sagen, wie es komme, dass 
dieselbe Eigenthümlichkeit in verschiedenen Individuen einer Art 
und in Einzelwesen verschiedener [?] Arten zuweilen erblich ist 
und zuweilen es nicht ist; wie es komme, dass das Kind zuwei- 
len zu gewissen Charakteren des Grossvaters oder der Gross- 
mutter oder noch früherer Vorfahren zurückkehre ; wie es komme, 
dass eine Eigenthümlichkeit sich oft von einem Geschlechte auf 
beide Geschlechter übertrage, oder sich auf eines und zwar das- 
selbe Geschlecht beschränke. Es ist eine Thatsache von nur geringer 
Wichtigkeit für uns, dass eigenthümliche Merkmale, welche an 
den Männchen unsrer Hausthiere zum Vorschein kommen, aus- 
schliesslich oder doch vorzugsweise wieder nur auf männliche 
Nachkommen übergehen. Eine wichtigere und wie ich glaube 
verlässige Erscheinung ist die, dass, in welcher Periode des 
Lebens sich die abweichende Bildung zeigen möge, sie auch in 


2 %* 
- 


20 


der Nachkommenschalt immer in dem entsprechenden Alter, oder 
zuweilen wohl früher, zum Vorschein kommt. In vielen Fällen 
ist Diess nicht anders möglich, weil die erblichen Eigenthümlich- 
keiten z. B. in den Hörnern des Rindviehs an den Nachkommen 
sich erst im reifen Alter zeigen können; und eben so gibt es 
bekanntlich Eigenthümlichkeiten des Seidenwurms, die nur den 
Raupen- oder den Puppen-Zustand betreffen. Aber erbliche 
Krankheiten u. e. a. Thatsachen veranlassen mich zu glauben, 
dass die Regel eine weitere, Ausdehnung hat, und dass selbst da, 
wo kein offenbarer Grund für das Erscheinen einer Abänderung 
in einem bestimmten Alter vorliegt, doch das Streben vorherrscht, 
auch am Nachkommen in dem gleichen Lebens-Abschnitte sich zu 
zeigen, wo sie an dem Vorfahren erstmals eingetreten ist. Ich 
glaube, dass diese Regel von der grössten Wichtigkeit für die 
Erklärung der Gesetze der Embryologie ist. Diese Bemerkungen 
beziehen sich übrigens auf das erste Sichtbarwerden der Eigen- 
thünılichkeit, und nicht auf ihre erste Veranlassung, die vielleicht 
schon in dem männlichen oder weiblichen Zeugungsstoff liegen 
kann, in der Weise etwa, wie der aus der Kreutzung einer kurz- 
hörnigen Kuh und eines langhörnigen Bullen hervorgegangene 
Sprössling die grössre Länge seiner Hörner erst spät im Leben 
zeigen kann, obwohl die erste Ursache dazu schon im Zeugungs- | 
stoff des Vaters liegt. 

Ich habe des Falles der Rückkehr zur grossälterlichen Bil- 
dung erwähnt und in dieser Beziehung noch anzuführen, dass die 
Naturforscher oft behaupten, unsre Hausthier-Rassen nähmen, 
wenn sie verwilderten, zwar nur allmählich, aber doch gewiss, 
wieder den Charakter ihrer wilden Stammältern an, woraus man 
dann geschlossen hat, dass Folgerungen von zahmen Rassen 
auf die Arten in ihrem Natur-Zustande nicht zulässig seyen. Ich 
habe jedoch vergeblich auszumitteln gestrebt, auf was für ent- 
scheidende Thatsachen sich jene so oft und so bestimmt wieder- 
holte Behauptung stütze. Es möchte sehr schwer sein, ihre Rich- 
tigkeit nachzuweisen; denn wir können mit Sicherheit sagen, 
dass sehr viele der ausgeprägtesten zahmen Varietäten im wilden 
Zustande gar nicht leben könnten. In vielen Fällen kennen wir 


21 


nicht einmal den Urstamm und vermögen uns daher noch weni- 
ger zu vergewissern, ob eine vollständige Rückkehr eingetreten 
ist oder nicht. Jedenfalls würde, um die Folgen der Kreutzung 
zu. vermeiden, nöthig seyn, dass nur eine einzelne Varietät in 
die Freiheit zurückversetzt werde. Ungeachtet aber unsre Varie- 
täten gewiss in einzelnen Merkmalen zuweilen zu ihren Urfor- 
men zurückhehren, so scheint mir doch nicht unwahrscheinlich, 
dass, wenn man die verschiedenen Abarten des Kohls z. B. einige 
Generationen hindurch in einem ganz armen Boden zu naturali- 
siren fortführe (in welchem Falle dann allerdings ein Theil des 
Erfolges der unmittelbaren Wirkung des Bodens zuzuschreiben 
wäre), dieselben ganz oder fast ganz wieder ihre wilde Urform 
annehmen würden. Ob der Versuch nun gelinge oder nicht, ist 
für unsere Folgerungs-Reihe ohne grosse Erheblichkeit, weil durch 
den Versuch selber die Lebens-Bedingungen geändert werden. 
Liesse. sich beweisen, dass unsre kultivirten Rassen eine starke 
Neigung zur Rückkehr, d. h. zur Ablegung der angenommenen 
Merkmale an den Tag legten, wenn sie unter unveränderten 
Bedingungen und in beträchtlichen Massen beisammen gehalten 
würden, so dass freie Kreutzung etwaige geringe Abweichungen 
der. Struktur in Folge ihrer Durcheinandermischung verhütete, — 
in diesem Falle wollte ich zugeben, dass sich aus den zahmen 
Varietäten nichts hinsichtlich der Arten folgern lasse. Aber es 
ist nicht ein Schatten von Beweis zu Gunsten dieser Meinung 
vorhanden. Die Behauptung, dass sich unsere Wagen- und Rasse- 
Pferde, unsre lang- und kurz-hörnigen Rinder, unsre manchfal- 
tigen Federvieh-Sorten und Nahrungs-Gewächse nicht eine fast 
endlose Zahl von Generationen hindurch fortpflanzen lassen, wäre 
aller Erfahrung entgegen. Ich will noch hinzufügen, dass, wenn 
im -Natur-Zustande die Lebens-Bedingungen wechseln, Abän- 
derungen und Rückkehr des Charakters wahrscheinlich eintreten 
werden; aber die Natürliche Züchtung würde, wie nachher ge- 
zeigt werden soll, bestimmen, wie weit die hieraus hervor- 
gehenden neuen Charaktere erhalten bleiben. 


%* Wenn wir die erblichen Varietäten. oder Rassen unsrer 
Haus-Thiere und Kultur-Gewächse betrachten ‚und dieselben mit 


22 


einander nahe verwandten Arten vergleichen, so finden wir in 


jeder zahmen Rasse, wie schon bemerkt worden, eine geringere 
Übereinstimmung des Charakters, als bei ächten Arten. Auch 
haben zahme Rassen von derselben Thier- Art oft einen etwas 
monströsen Charakter, womit ich sagen will, dass, wenn sie sich 
auch von einander und von den übrigen Arten derselben Sippe 
in mehren wichtigen Punkten unterscheiden, sie doch oft im 
äussersten Grade in irgend einem einzelnen Theile sowohl von 
den andern Varietäten als insbesondere von den übrigen nächst- 
verwandten Arten derselben Sippe zurückweichen. Diese Fälle 
(und die der vollkommenen Fruchtbarkeit gekreutzter Varietäten 
einer Art, wovon nachher die Rede seyn soll) ausgenommen, 
weichen die. kultivirten Rassen einer und derselben Spezies in 
gleicher Weise, nur gewöhnlich in geringerem Grade, von ein- 
ander ab, wie die einander nächst verwandten Arten derselben 
Sippe im Natur-Zustande. Ich glaube, man wird Diess zugeben, 
wenn man findet, dass es kaum irgend-welche gepflegte Rassen 
unter den Thieren wie unter den Pflanzen gibt, die nicht schon 
von einigen urtheilsfähigen Richtern als wirkliche Varietäten und 
von andern ebenfalls sachkundigen Beurtheilern als Abkömmlinge 
einer ursprünglich verschiedenen Art erklärt worden wären. 
Gäbe es irgend einen bestimmten Unterschied zwischen kultivir- 
ten Rassen und Arten, so könnten dergleichen Zweifel nicht so 
oft wiederkehren. Oft hat man versichert, dass gepflegte Rassen 
nicht in Sippen-Charakteren von einander abweichen. Ich glaube 
zwar, dass sich diese Behauptung als irrig erweisen lässt; doch 
gehen die Meinungen der Naturforscher weit auseinander, wenn 
sie sagen sollen, worin Sippen-Charaktere bestehen, da alle solche 
Werthungen nur empirisch sind. Überdiess werden wir nach 
der Ansicht von der Entstehung .der Sippen, die ich jetzt auf- 
stellen will, kein Recht haben zur Erwartung, bei unseren Kul- 
tur-Erzeugnissen oft auf Sippen-Verschiedenheiten zu stossen. 
Wenn wir den Betrag der Struktur-Verschiedenheiten zwischen 
den gepflegten Rassen von einer Art zu schätzen versuchen, so 
werden wir bald dadurch in Zweifel versetzt, dass wir nicht 
wissen, ob dieselben von einer oder von mehren älterlichen 


N N S 


23 


Arten: abstammen. Es wäre von Interesse, wenn sich diese Frage 
aufklären, wenn sich z. B. nachweisen liesse,-ob das Windspiel, 
der Schweisshund, “der. Dachshund, der Jagdhund und der 
Bullenbeisser, welche sich so genau in ihrer Form fortpilanzen, 
Abkömmlinge von nur einer Stamm-Art seyen? Denn solche That- 
sachen würden sehr. geeignet seyn unsre Zweifel zu erregen 
über die Unveränderlichkeit der vielen einander sehr nahestehen- 
den natürlichen Arten der Füchse 2. B., die so ganz verschie- 
dene. Weltgegenden bewohnen, Ich glaube nicht, dass wir jetzt 
im Stande sind zu erkennen, ob alle unsre Hunde von einer 
wilden Stamm-Art herkommen , obwohl Diess bei einigen andren 
Hausthier-Rassen wahrscheinlich oder sogar genau nachweisbar ist. 

Es ist oft angenommen. worden, der Mensch habe sich solche 
Pflanzen- und Thier-Arten zur Zähmung ausgewählt, welche 
ein angeborenes ausserordentlich starkes Vermögen abzuändern 
und in verschiedenen Klimaten auszudauern besässen. Ich will 
nicht bestreiten, dass diese Fähigkeiten viel zum Werthe unsrer 
meisten Kultur-Erzeugnisse beigetragen haben. Aber wie ver- 
mochte ein. Wilder zu wissen, als er ein Thier zu zähmen 
begann, ob dasselbe in folgenden Generationen zu: varliren 
geneigt und in anderen Klimaten auszudauern vermögend seyn 
werde? Oder hat die geringe Veränderlichkeit des Esels und des 
Perlhuhns, das geringe Ausdaurungs-Vermögen des Rennthiers in 
der Wärme ‘und des Kameels in 'der Kälte ihre Zähmung gehin- 
dert? Ich hege keinen Zweifel, dass, wenn man andre Pflanzen- 
und Thier-Arten in gleicher Anzahl wie unsre gepflegten Rassen 
und aus ebenso verschiedenen Klassen und Gegenden ihrem 
Natur-Zustande entnähme und eine gleich lange Reihe von Gene- 
rationen hindurch im zahmen Zustande fortpflanzte, sie m glei- 
chem Umfange variiren würden, wie es unsre jetzt schon kulti- 
virten Arten thun. 

In Bezug auf die meisten unsrer längst gepflegten Pflanzen- 
und Thier-Rassen halte ich es nicht für möglich zu einem 
bestimmten Ergebniss darüber zu gelangen, ob sie von einer 
oder von mehren Arten abstammen. Die Anhänger der Lehre 
von einem mehrfältigen Ursprung unserer Rassen berufen sich 


24 


hauptsächlich darauf, dass schon die "ältesten geschichtlichen 
Nachrichten und insbesondere die Ägyptischen Denkmäler von 
einer grossen Verschiedenheit der Rassen Zeugniss geben, und 
dass einige derselben mit unseren jetzigen bereits die grösste 
Ähnlichkeit haben, wenn nicht ‘gänzlich übereinstimmen. Wäre 
aber diese Thatsache auch besser begründet, als sie es zu seyn 
scheint, so würde sie doch nichts anderes beweisen, als dass 
eine oder die andre unsrer Rassen dort vor vier bis fünf Tau- 
send Jahren “entstanden ist. Doch Horner’s Untersuchungen 
haben es einigermassen wahrscheinlich gemacht, dass Menschen, 
schon hinreichend zivilisirt um Töpfer-Waaren zu fertigen, das 
Nel-Thal seit bereits 13—14 Tausend Jahren bewohnen; und wer 
möchte behaupten, dass nicht schon sehr lange vor dieser Zeit 
Wilde auf der Kultur-Stufe der jetzigen Feuerländer oder Austra- 
lier, die ebenfalls einen halb-gezähmten Hund besitzen, in Ägyp- 
ten gelebt haben können? 

Obwohl ich glaube, dass die ganze Frage unentschieden 
bleiben muss, so will ich doch, ohne in Einzelnheiten einzugehen, 
hier erklären, dass es mir nach geographischen und anderen 
Betrachtungen sehr wahrscheinlich ist, dass unser Haushund von 
mehren wilden Arten abstamme. In Bezug auf Schaf und Ziege 
vermag ich mir keine Meinung zu bilden. Nach den mir von 
Bryru über die Lebens-Weise, Stimme, Konstitution u. Ss. 'w. des 
Indischen Höckerochsen mitgetheilten Thatsachen ‘sollte ich den- 
ken, dass er von einer anderen Art als unser Europäisches 
Rind herstammen müsse, welches manche sachkundige Beurtheiler 
von mehrfachen Stamm-Arten ableiten wollen. Hinsichtlich des 
Pferdes bin ich aus Gründen, die ich hier nicht entwickeln kann, 
mit einigen Zweifeln gegen die Meinung einiger Schriftsteller 
anzunehmen geneigt, dass alle seine Rassen nur von einem wil- 
den Stamme herrühren. Bıyrs, dessen Meinung ich seiner rei- 


chen und manchfaltigen Kenntnisse wegen in dieser Beziehung 
höher als fast eines jeden Andern anschlagen muss, glaubt dass 
alle unsre Hühner-Varietäten vom gemeinen Indischen Huhn 
(Gallus Bankiva) herkommen. In Bezug auf Enten und Stall- 
Hasen, deren Rassen in ihrem Körper-Bau beträchtlich von ein- 


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25 


ander abweichen, zweifle ich nicht, dass sie alle von der gemei- 
nen Wild-Ente und dem Kaninchen stammen. 

Die Lehre der Abstammung unsrer verschiedenen Hausthier- 
Rassen von verschiedenen wilden Stamm-Arten ist von einigen 
Schriftstellern bis zu einem abgeschmackten Extreme getrieben 
worden. Sie glauben nämlich, dass jede wenn auch noch so we- 
nig verschiedene Rasse, welche ihren unterscheidenden Charakter 
durch Inzucht bewahrt, auch ihre wilde Stamm-Form gehabt habe. 
Dann müsste es eine ganze Menge wilder Rinds-, viele Schaaf- und 
einige Geisen-Arten in Europa und mehre selbst schon inner- 
halb Grossbritannien ‘gegeben haben. Ein Autor meint, es hät- 
ten 'ehedem eilf wilde und dem Lande eigenthümliche Schaal- 
Arten dort gelebt. Wenn wir nun erwägen, dass Britannien jetzt 
kaum eine ihm eigenthümliche Säugethier- Art, Frankreich nur 
sehr wenige nicht auch in’ Deutschland vorkommende, und um- 
gekehrt, besitze, dass es sich eben so mit Ungarn, Spanien u. S. W. 
verhalte, dass aber jedes dieser Königreiche mehre ihm eigene 
Rassen von Rind, Schaaf u. s. w. darbiete, so müssen wir zu- 
geben, dass in Europa viele Hausthier-Stämme entstanden sind; 
denn von "woher sollen alle gekommen seyn, da keines die- 
ser Länder so viele eigenthümliche Arten als abweichende 
Stamm-Rassen besitzt? Und so ist es auch in Ostindien. Selbst 
in Bezug auf die Haushunde der ganzen Welt kann ich, obwohl 
ich ihre Abstammung von mehren verschiedenen Arten ganz 
wahrscheinlich’ finde, nicht in Zweifel ziehen, dass da ein uner- 
messlicher Betrag vererblicher Abweichungen vorhanden gewesen 
ist. Denn wer kann glauben, dass Thiere nahezu übereinstim- 
mend mit dem Italienischen Windspiel, mit dem Schweisshund, 
mit dem Bullenbeisser, mit dem Bilenheimer Jagdhund und 
so abweichend von allen wilden Caniden, jemals frei im Natur- 
Zustande gelebt hätten. Es ist oft hingeworfen worden, alle 
unsre Hunde-Rassen seyen durch Kreutzung einiger weniger 
Stamm-Arten miteinander entstanden: aber Kreutzung kann nur 
solche Formen liefern, welche mehr oder weniger das Mittel zwi- 
BEN ihren Altern halten, und gingen wir von dieser Erfahrung 
bei unsern zahmen Rassen aus, so müssten wir annehmen, dass 


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26 


einstens die äussersten Formen des Windspiels, des Schweiss- 
hundes, des Bullenbeissers u. s. w. im wilden Zustande gelebt 
hätten. Überdiess ist die Möglichkeit, durch Kreutzung verschie- 
dene Rassen zu bilden, sehr übertrieben worden. Wenn es auch 
keinem Zweifel unterliegt, dass eine Rasse durch gelegentliche 
Kreutzung mittelst sorgfältiger Auswahl der Blendlinge, welche 
irgend einen bezweckten Charakter darbieten, sich. bedeutend 
modifiziren lässt, so kann ich doch kaum glauben, dass man eine 
nahezu das Mittel zwischen zwei weit verschiedenen Rassen oder 
Arten haltende Rasse zu züchten im Stande ist. Sir J. SEBRIGHT 
hat absichtliche Versuche in dieser Beziehung angestellt und kei- 
nen Erfolg erlangt. Die Nachkommenschaft aus der ersten 
Kreuizung zwischen zwei reinen Rassen ist erträglich ‚und zu- 
weilen, wie ich bei Tauben gefunden, ausserordentlich einförmig, 
und Alles scheint einfach genug. Werden aber diese Blendlinge 
einige Generationen hindurch unter einander gepaart, so werden 
kaum zwei ihrer Nachkommen mehr einander ähnlich ausfallen, 
und dann wird die äusserste Schwierigkeit oder vielmehr gänz- 
liche Hoffnungslosigkeit des Erfolges klar. Gewiss kann. eine 
Mittel-Rasse zwischen zwei sehr verschiedenen reinen Rassen 
nicht ohne die äusserste Sorgfalt und eine lang fortgesetzte 
Wahl der Zuchtthiere gebildet werden, und ich finde nicht 
einen Fall berichtet, wo dadurch eine bleibende Rasse erzielt 
worden wäre. 

} Züchtung der Haus-Tauben.) Von der Ansicht ‚aus- 
gehend, dass es am zweckmässigsten seye, irgend eine be- 
sondere Thier-Gruppe zum Gegenstande der Forschung zu ma- 
chen, habe ich mir nach einiger Erwägung die Haus-Tauben da- 
zu ausersehen. Ich habe alle’! Rassen gehalten, die ich mir 
verschaffen konnte, und bin auf die freundlichste Weise mit 
Exemplaren aus verschiedenen Welt-Gegenden bedacht worden, ins- 
besondere durch den ehrenwerthen W. Eıuior aus Ostindien und 
den ehrenwerthen C. Murray aus Persien. Es sind viele Ab- 
bandlungen in verschiedenen Sprachen veröffentlicht worden und 
einige darunter durch ihr ansehnliches Alter von besonderer 
Wichtigkeit. Ich habe mich mit einigen ausgezeichneten Tauben- 


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27 


Liebhabern verbunden und mich in zwei Londoner Tauben-Clubs 
aufnehmen lassen, Die Verschiedenheit der Rassen ist oft er- 
staunlich gross. Man vergleiche z. B. die Englische Botentaube 
und den kurzstirnigen Purzler und betrachte die wunderbare 
Verschiedenheitin ihren Schnäbeln, welche entsprechende Ver- 
schiedenheiten in ihren Schädeln bedingt. Die Englische Boten- 
taube (Carrier) und insbesondere das Männchen ist noch bemer- 
kenswerth durch die wundervolle Entwickelung von Fleischlap- 
pen an der Kopfhaut, die mächtig verlängerten Augenlider, 
sehr weite äussere Nasenlöcher und einen weitklaffenden Mund. 
Der kurzstirnige Purzler hat einen Schnabel, im Porfil fast wie 
beim Finken; und die gemeine Purzel-Taube hat die eigenthüm- 
liche und streng erbliche Gewohnheit, sich in dichten Gruppen 
zu ansehnlicher Höhe in die Luft zu erheben und dann Kopf- 
über herabzupurzeln. Die Runt-Taube ist von beträchtlicher Grösse 
mit langem massigem Schnabel und grossen Füssen ; einige Unter- 
rassen derselben haben einen sehr langen Hals, andre sehr lange 
Schwingen und Schwanz, noch andre einen ganz eigenthümlich 
kurzen Schwanz. Der »Barb« ist mit der Botentaube verwandt, 
hat aber, statt des sehr langen, einen sehr kurzen und breiten 
Schnabel. Der Kröpfer hat Körper, Flügel und Beine sehr ver- 
längert, und sein ungeheuer entwickelter Kropf, den er sich aulzu- 
blähen gefällt, mag wohl Verwunderung und selbst Lachen erre- 
gen. Die Möventaube (Turbit) besitzt einen sehr kurzen 
kegelförmigen Schnabel, mit einer Reihe umgewendeter Federn 
auf der Brust, und hat die Sitte den oberen Theil des Schlun- 
des beständig etwas auszubreiten. Der Jakobiner oder die 
Perückentaube hat die Nacken-Federn so aufgerichtet, dass sie 
eine Perücke bilden, und verhältnissmässig lange Schwung- und 
Schwanz-Federn. Der Trompeter und die Trommeltaube* rucksen, 
wie ihre Namen ausdrücken, auf eine ganz andre Weise als die 
andern Rassen. Die Pfauentaube hat 30-40 statt der normalen 
12—14 Schwanz-Federn und trägt diese Federn in der Weise | 


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the laugher, die Lachtaube: doch scheint nach dem Zusammenhange 
hier eher die Trommeltaube als die Columba risoria gemeint zu seyn. D. Übs. 


2 
ausgebreitet. und aufgerichtet, dass in guten Vögeln sich Kopf 
und Schwanz berühren; die Ol-Drüse ist gänzlich verkümmert. 
Noch blieben einige minder ausgezeichnete Rassen aufzu- 
zählen übrig. | 

Im Skelette der verschiedenen Rassen weicht die Entwicke- 
lung der Gesichtsknochen in Länge, Breite und Krümmung aus- 
serordentlich ab. Die Form sowohl als die Breite und Länge 
des Unterkiefer-Astes ändern in sehr merkwürdiger Weise. Die 
Zahl der Heiligenbein- und Schwanz-Wirbel und der Rippen, die 
verhältnissmässige Breite und Anwesenheit ihrer Queerfortsätze 
wechseln ebenfalls. Sehr veränderlich sind ferner die Grösse 
und Form der Lücken im Brustbein, so wie der Öffnungs-Winkel 
und die bezügliche Grösse der zwei Schenkel des Gabelbeins, 
Die verglichene Weite des Mundspaltes, die verhältnissmäs- 
sige Länge der Augenlider, der: äusseren. Nasenlöcher und 
der Zunge, welche sich nicht immer nach der des Schnabels 
richtet, die Grösse des Kropfes und des obern Theils des Schlun- 
des, die Entwickelung oder Verkümmerung der Öl-Drüse, die 
Zahl der ersten Schwung- und der Schwanz-Federn, die ver- 
glichene Länge von Flügeln und. Schwanz gegen einander und 
segen die des Körpers, die des Laufs gegen die Zehen, die Zahl 
der Hornschuppen in der Zehen-Bekleidung sind Alles Abänderungs- 
'fähige Punkte im Körper-Bau. Auch die Periode, ‘wo sich das 
vollkommene Gefieder einstellt, ist ebenso veränderlich als. die 
Beschaffenheit des Flaums, womit die Nestlinge beim ‚Ausschlü- 
pfen aus dem Eie bekleidet sind. Form und Grösse der Eyer 
sind der Abänderung unterworfen. Die Art des Flugs ist eben so 
merkwürdig verschieden, wie es bei manchen Rassen mit Stimme 
und Gemüthsart der Fall ist. Endlich weichen bei gewissen Rassen 
die Männchen etwas von den Weibchen ab. 

So könnte man wenigstens eine ganze Menge von Tauben- 
Formen auswählen, die ein Ornithologe, wenn er überzeugt wäre, 
dass es wilde Vögel, unbedenklich für wohl-bezeichnete Arten er- 
klären würde. Ich glaube nicht einmal, dass irgend ein Ornitho- 
loge die Englische Botentaube, den kurzstirnigen Purzler, den 
Runt, den Barb, die Kropf- und‘die Pfauen-Taube in dieselbe 


vr 


29 


Sippe zusammenstellen würde, zumal eine jede dieser Rassen 
wieder mehre erbliche Unterrassen in sich enthält, die er für 
Arten nehmen könnte. 

Wie gross nun aber auch die Verschiedenheit zwischen den 
Tauben-Rassen seyn mag, so bin ich doch überzeugt, dass die 
gewöhnliche Meinung der Naturforscher, dass alle von der Fels- 
taube (Columba livia) abstammen, richtig ist, wenn man unter 
diesem Namen nämlich: verschiedene geographische Rassen oder 
Unterarten mit begreift, welche nur in den untergeordnetesten 
Merkmalen von einander abweichen. Da einige der Gründe, 
welche mich zu dieser Meinung bestimmt haben, mehr und we- 
niger auch auf andre Fälle anwendbar sind, so will ich sie kurz 
angeben. Wären jene verschiedenen Rassen nicht Varietäten und 
nicht von der Felstaube entsprossen, so müssten sie von wenig- 
stens '7—8 Stammarten herrühren; denn es wäre unmöglich 
alle unsre zahmen Rassen durch Kreutzung einer geringeren Ar- 
ten-Zahl miteinander zu erlangen. Wie wollte man z. B. die 
Kropftaube durch Paarung zweier Arten miteinander erzielen, 
wovon nicht wenigstens eine den ungeheuern Kropf besässe? 
Die unterstellten wilden Stammarten müssten sämmtlich Fels- 
Tauben gewesen seyn, die nämlich nicht freiwillig auf Bäumen 
brüten oder sich auch nur darauf setzen. Doch ausser der Ü. 
livia und ihren geographischen Unterarten kennt man nur noch 
2—3 Arten Fels-Tauben, welche aber nicht einen der Charak- 
tere unsrer zahmen Rassen besitzen. Daher müssten dann die 
angeblichen Urstämme entweder noch in den Gegenden ihrer er- 
sten Zähmung vorhanden und den Ornithologen unbekannt ge- 
blieben seyn, was wegen ihrer Grösse, Lebensweise und merk- 
würdigen Eigenschaften sehr unwahrscheinlich ist; oder sie müss- 
ten in wildem Zustande ausgestorben seyn. Aber Vögel, welche 
an Fels-Abhängen nisten und gut fliegen, sind nicht leicht aus- 
zurotten, und unsre gemeine Fels-Taube, welche mit unsren zah- 
men Rassen gleiche Lebens-Weise besitzt, hat noch nicht einmal 


auf einigen der+kleineren Britischen Inseln oder an den Küsten 


des Mittelmeeres ausgerottet werden können. Daher mir die 
angebliche Ausrottung so vieler Arten, die mit der Felstaube 


ES “ 
* 


30 


gleiche Lebens-Weise besitzen, eine sehr übereilte Annahme zu 
seyn scheint. Überdiess sind die oben genannten so abweichen- 
den Rassen nach allen Weltgegenden verpflanzt worden und 
müssten daher wohl einige derselben in ihre Heimath zurück- 
gelangt seyn. Und doch ist nicht eine derselben verwildert, ob- 
wohl die Feld-Taube, d. i. die Felstaube in ihrer am wenigsten ver- 
änderten Form, in einigen Gegenden wieder wild geworden ist. 
Da nun alle neueren Versuche zeigen, dass es sehr schwer ist 
ein wildes Thier zur Fortpflanzung im Zustande der Zähmung zu 
vermögen, so wäre ıman durch die Hypothese eines mehrfältigen 
Ursprungs unsrer Haus-Tauben zur Annahme genöthigt, es seyen 
schon in alten Zeiten und von halb-zivilisirten Menschen wenig- 
stens 7—8 Arten so vollkommen gezähmt worden, dass sie jetzt 
in der Gefangenschaft ganz wohl gedeihen. 

Ein Beweisgrund, wie mir scheint, von grossem Werthe 
und auch anderweitiger Anwendbarkeit ist der, dass die oben 
aufgezählten Rassen, obwohl sie im Allgemeinen in organischer Thä- 
tigkeit, Lebens-Weise, Stimme, Färbung und den meisten Theilen 
ihres Körper-Baues mit der Felstaube übereinkommen, doch in ande- 
ren Theilen dieses letzten gewiss sehr weit davon abweichen ; 
und wir würden uns in der ganzen grossen Familie der Colum- 
biden vergeblich nach einem Schnabel, wie ihn die Englische 
Botentaube oder der kurzstirnige Purzler oder der Barb besitzen, 
— oder nach umgedrehten Federn, wie sie die Perückentaube hat, 
— oder nach einem Kropf wie beim Kröpfer, — oder nach einem 
Schwanz, wie bei der Pfaubentaube umsehen. Man müsste daher 
annehmen, dass der halb-zivilisirte Mensch nicht allein bereits 
mehre Arten vollständig gezähmt, sondern auch absichtlich oder 
zufällig ausserordentlich abweichende Arten dazu erkoren habe, 
und dass diese Arten seitdem alle erloschen oder verschollen 
seyen. Das Zusammentreffen so vieler seltsamer Zufälligkeiten 
scheint mir im höchsten Grade unwahrscheinlich. 

Noch möchten hier einige Thatsachen in Bezug auf die Fär- 
bung des Gefieders Berüchsichtigung, verdienen. Die Felstaube 
ist Schiefer-blau mit weissem (bei der Ostindischen Subspecies, 
C. intermedia Sırıckr., blaulichem) Hinterrücken, hat am Schwanze 


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31 


eine schwarze End-Binde und an den äusseren Federn desselben 
einen weissen äusseren Rand, und die Flügel haben zwei schwarze 
Binden; einige halb und andere anscheinend ganz wilde Unter- 
rassen. haben auch noch schwarze Flecken auf den Flügeln. 
Diese verschiedenen Merkmale kommen bei keiner andern Art der 
ganzen Familie vereinigt vor. Nun treffen sich aber auch bei 
jeder unsrer zahmen Rassen zuweilen und selbst unter den ganz 
ausgebildeten Vögeln derselben alle jene Merkmale gut entwickelt 
in Verbindung miteinander, selbst bis auf die weissen Ränder der 
äusseren Schwanzfedern. Ja sogar, wenn man zwei Vögel von 
verschiedenen Rassen, wovon keiner blau ist noch eines der er- 
wähnten Merkmale besitzt, mit einander paart, sind die dadurch 
erzielten Blendlinge sehr geneigt, diese Charaktere plötzlich an- 
zunehmen. So kreuzte ich z. B. einfarbig weisse Pfauentauben 
mit einfarbig schwarzen Barb-Tauben und erhielt eine braun und 
schwarz gefleckte Nachkommenschaft; und als ich diese durch 
Inzucht vermehrte, kam ein Enkel der rein weissen Pfauen- und 
der rein schwarzen Barb-Taube mit schön blauem Gefieder, weis- 
sem Unterrücken, doppelter schwarzer Flügelbinde, schwarzer 
Schwanzbinde und weissen Seitenrändern der Steuerfedern, Alles 
wie. bei der wilden Felstaube, zum Vorschein. Man kann diese 
Thatsache aus dem wohl bekannten Prinzip der Rückkehr zu 
vorälterlichen Charakteren begreifen, wenn alle zahmen Rassen 
von der Felstaube abstammen. Wollten wir aber Dieses läugnen, 
so müssten wir eine von den zwei folgenden sehr unwahrschein- 
lichen Unterstellungen machen. Entweder: dass all’ die verschie- 
denenen eingebildeten Stamm-Arten wie die Felstaube gefärbt und 
gezeichnet gewesen (obwohl keine andre lebende Art mehr so 
gefärbt und gezeichnet ist), so dass in dessen Folge noch bei 
allen Rassen eine Neigung zu dieser anfänglichen Färbung und 
Zeichnung zurückzukehren vorhanden wäre. Oder: dass jede 
und auch die reinste Rasse seit eiwa den letzten zwölf oder 
höchstens zwanzig Generationen einmal mit der Felstaube ge- 
kreutzt: worden seye; ich sage: höchstens zwanzig, denn wir 
kennen keine Thatsache zur Unterstützung der Meinung, dass 
ein Abkömmling nach einer noch längeren Reihe von Genera- 


32 


tionen sogar zu den Charakteren seiner Vorfahren zurückkehren 
könne. Wenn in einer Rasse nur einmal eine Kreutzung mit 
einer andern stattgefunden hat, so wird die Neigung zu einem 
Charakter dieser letzten zurückzukehren natürlich um so klei- 
ner und kleiner werden, je weniger Blut von derselben noch in 
jeder späteren Generation übrig ist. Hat aber eine Kreutzung 
mit fremder Rasse nicht stattgefunden und ist gleichwohl in bei- 
den Ältern die Neigung der Rückkehr zu einem Charakter vor- 
handen, der schon seit mehren Generationen verloren gegangen, 
so ist trotz Allem, was man Gegentheiliges sehen mag, die An- 
nahme geboten, dass sich diese Neigung in ungeschwächtem 
Grade während einer unbestimmten Reihe von Generationen fort- 
pflanzen könne. Diese zwei verschiedenen Fälle werden in Ab- 
handlungen über Erblichkeit oft miteinander verwechselt. 

Endlich sind die Bastarde oder Blendlinge, welche durch die 
Kreutzung der verschiedenen Tauben-Rassen erzielt werden, alle 
vollkommen fruchtbar. Ich kann Diess mittelst meiner eigenen 
Versuche bestätigen, die ich absichtlich zwischen den aller-ver- 
schiedensten Rassen angestellt habe. Dagegen wird aber schwer 
und vielleicht unmöglich seyn, einen Fall anzuführen, wo ein Ba- 
stard an zwei bestimmt verschiedenen Arten schon selber voll- 
kommen fruchtbar gewesen: wäre. Einige Schriftsteller nehmen 
an, ein lang-dauernder Zustand der Zähmung beseitige allmählich 
diese Neigung zur Unfruchtbarkeit, und aus der Geschichte des 
Hundes zu schliessen scheint mir diese Hypothese einige Wahr- 
scheinlichkeit zu haben, wenn sie auf einander sehr nahe ver- 
wandte Arten angewendet wird, obwohl sie noch durch keinen 
einzigen Versuch bestätigt worden ist. Aber eine Ausdehnung 
der Hypothese bis zu der Behauptung, dass Arten, die ursprünglich 
von einander eben so verschieden gewesen, wie es Botentaube, 
Purzler, Kröpfer und Pfauenschwanz jetzt sind, eine bei Inzucht 
vollkommen fruchtbare Nachkommenschaft WORERN: scheint mir 
äusserst voreilig zu seyn. 

Diese verschiedenen Gründe und zwar: die Unwährschötiitei 
keit, dass der Mensch schon in früher Zeit sieben bis acht wilde 
Tauben-Arten zur Fortpflanzung in der Gefangenschaft vermocht 


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33 


habe, die wir weder im wilden noch 'im 'verwilderten Zustande 
kennen, ihre: in manchen Beziehungen von der Bildung aller Co- 
lumbiden mit Ausnahme der 'Felstaube ganz abweichenden Cha- 
raktere , das'gelegentliche‘ Wiedererscheinen der ‘blauen Farbe 
und charakteristischen Zeichnung in allen Rassen sowohl im Falle 
der  Inzucht ‘als! der Kreutzung,, die vollkommene Fruchtbarkeit 
der » Blendlinge: ı alle diese Gründe zusammengenommmen ge- 
statten. mirnicht zu zweifeln, dass alle unsre zahmen Tauben- 
Rassen von Columba'livia 'und deren geographischen Unterarten 
abstammen. 

Zu: Gunsten ‘dieser ‘Ansicht will ich noch ferner anführen: 
1): dass die Felstaube, C. :livia, in Europa wie in Indien zur 
Zähmung geeignet‘ gefunden worden ‘ist, und dass sie in ihren 
Gewohnheiten wie in’ vielen Struktur-Beziehungen mit allen un- 
sern'zahmen: Rassen 'übereinkommt. 2) Obwohl eine Englische 
Botentaube ‘oder ein: 'kurzstirniger Purzler sich m gewissen 
Charakteren weit‘: von der’ Felstaube entfernen, so ist es doch 
dadurch, ‘dass man die verschiedenen Unterformen dieser Rassen, 
mit Einschluss der z. Th. aus weit entfernten Gegenden abstam- 
menden‘; mit’ in Vergleich ziehet, möglich, fast ununterbrochene 
Übergangs-Reihen zwischen den am weitesten auseinander-liegen- 
den Bildungen derselben herzustellen. 3) Diejenigen Charaktere, 
welche die verschiedenen Rassen hauptsächlich von einander un- 
terscheiden,, wie die Fleischwarzen und der ilange Schnabel der 
englischen  Botentaube, der kurze Schnabel des Purzlers und 
die zahlreichen 'Schwanzfedern der Pfauentaube sind in jeder 
Rasse doch äusserst veränderlich, und die Erklärung dieser Er- 
scheinung‘ wird uns erst möglich seyn, wenn von der Züchtung 
die Rede seyn wird. 4) Tauben sind bei vielen Völkern beob- 
achtet und mit’ äusserster Sorgfalt und Liebhaberei gepflegt wor- 
den. »'Man hat sie schon vor Tausenden von Jahren in meh- 
ren Weltgegenden 'gezähmt; die älteste Nachricht von ihnen 
stammt aus der’ Zeit der fünften Ägyptischen Dynastie, eiwa 3000 
J. v.’Chr., wie mir Professor Lersius mitgetheilt; aber Bırcn be- 
nachrichtigt mich,‘ dass Tauben schon auf einem Küchenzettel der 
vorangehenden ' Dynastie vorkommen, ‘Von Prinmus vernehmen 


3 


34 


wir, dass zur Zeit der Römer ungeheures Geld für Tauben. aus- 
gegeben worden ist; ja, es war, dahin: gekommen, dass man 
ihnen »Stammbaum und Rasse« nachrechnete. Gegen das Jahr 
1600 schätzte sie ABER Kuan in Indien so sehr, dass ihrer 
nicht weniger als 20,000. zur: Hof-Haltung ‘gehörten.  »Die Mo- 
narchen von Iran und Turan sandten einige: sehr selteneVögel 
heim :und« ,: berichtet: der Hof-Historiker ‚weiter, ‘»Ihre Majestät 
hat durch ‚Kreutzung der, Rassen, welche Methode früher: nie 'an- 
gewendet worden war, dieselben in. erstaunlicher ‚Weise verbes- 
sert«., Um diese nämliche Zeit waren die Holländer eben: so:scht, 
wie ‚früher ‚die ‚Römer, 'auf die 'Tauben verpicht.; ‚ Die.äusserste 
Wichtigkeit ‚dieser Betrachtungen: für ‚die Erklärung der ausser- 
ordentlichen Veränderungen, welche die ‘Tauben ‚erfahren‘ haben, 
wird uns: erst bei den späteren Erörterungen über die Züchtung 
deutlich. werden. ‚Wir werden dann: auch sehen woher es kommt, 
dass die. Rassen so oft ein «etwas monströses Aussehen ‘haben! 
Endlich ist. es ‚ein ‚sehr günstiger Umstand für die Erzeugung ver- 
schiedener Rassen, dass bei den Tauben ‚ein Männchen mit einem 
Weibchen leicht. lebenslänglich zusammengepaart, und dass ver- 
schiedene Rassen in einem und. dem :nämlichen Vogel-Hause bei- 
sammen gehalten werden können. 

Ich habe die wahrscheinliche ‚Entstehungs-Art ‚der zalimen 
Tauben-Rassen mit. einiger, wenn auch noch ‚ganz ungenügender 
Ausführlichkeit besprochen, ; weil. ich selbst zur Zeit, wo ich 
anfing Tauben zu ‚halten und ihre verschiedenen: Formen zu \be- 
obachten, ‘es. für ‘ganz. eben: so schwer: hielt‘ zu ‚glauben, dass 
alle ihre Rassen jemals einem: gemeinsamen ‚Stammvater ‚enl- 
sprossen seyn könnten, als es einem Naturforscher, schwer: fallen 
würde, an die gemeinsame Abstammung aller Finken ‚oder ir- 
gend einer andern grossen  Vögel-Familie im Natur-Zustande zu 
glauben. Insbesondere machte mich der Umstand sehr betroffen, 
dass alle Züchter von. Haus-Thieren und. Kultur-Pflanzen, mit 
welchen ich. je. ‚gesprochen ‚oder: ‚deren Schriften ‚ich gelesen, 
vollkommen überzeugt waren, dass. die. verschiedenen. Rassen; 


welche ein Jeder von ihnen ‚erzogen, von .eben: so vielen ur- 


sprünglich verschiedenen Arten. herstammten. ‚Fragt.man, wie.ich 


39 


gefragt: habe, irgend einen berühmten Veredler ‚der Hereford’schen 
Rindvieh-Rasse ; ob! dieselbe nicht von der lang-hörnigen Rasse 
abstamme, so. wird ‚er. spöttisch lächeln. Ich habe nie einen 
Tauben-, Hühner-,  Enten- oder Kaninchen -Liebhaber gefun- 
den, ‘der. nicht vollkommen überzeugt gewesen wäre, dass jede 
Haupt-Rasse von einer andern Stamm-Art herkomme. Van Mons 
zeigt in seinem Werke über die Äpfel und Birnen, wie wenig 
er zu glauben geneigt seye, dass die verschiedenen Sorten, wie 
7. B. der Ribston-pippin, ‚der Codlin-Apfel u. a., je von Saamen 
des nämlichen Baumes entsprungen seyen. Und so könnte ich 
unzählige ‚andere. Beispiele anführen. Diess lässt sich, wie 
ich glaube, einfach erklären. In Folge lang-jähriger Studien ha- 
ben diese Leute. einen tiefen Eindruck von den Unterschieden 
zwischen‘ den verschiedenen Rassen. in sich aufgenommen; und 
obgleich sie wohl wissen, dass jede Rasse etwas varlire, da sie 
eben durch‘. die Züchtung: ‚solcher geringen Abänderungen ihre 
Preise gewinnen, so‘ gehen sie doch nicht von allgemeineren 
Vernunftschlüssen: aus und rechnen nicht den ganzen Betrag zu- 
sammen, der ‚sich durch. Häufung kleiner Abänderungen während 
vieler aufeinander-folgender Generationen ergeben muss. Werden 
nicht ‚jene ‘Naturforscher, ‚welche, obschun viel weniger als diese 
Züchter mit den Erblichkeits-Gesetzen bekannt und nicht besser 
als sie ‚über die Zwischenglieder in der langen Reihe der Ab- 
kommenschaft: unterrichtet, doch annehmen, dass viele von un- 
seren gehegten Rassen von gleichen Ältern abstammen, — werden 
sie nicht eine Lektion über Behutsamkeit zu gewärtigen haben, 
wenn sie über den Gedanken lachen, dass eine Art im Natur- 
Zustand in gerader Linie von einer andern Art abstammen könne? 

% ‚Züchtung.) Wir wollen jetzt kürzlich die Wege betrachten, 
auf welchen die gehegten Rassen jede von einer oder von meh- 
ren einander nahe verwandten Arten erzeugt worden sind. Ein 


‘kleiner Theil der Wirkung ‚mag dabei vielleicht dem unmittelba- 


ren Einflüsse äussrer Lebensbedingungen und ein kleiner der 
Gewöhnung zuzuschreiben seyn; es wäre aber thöricht, solchen 
Kräften die ‚Verschiedenheiten zwischen einem Karrengaul und 
einem '»Rasse-Pferd , zwischen. einem Windspiele und einem 


3* 


36 


Schweisshund, einer Boten- und einer Purzel-Taube zuschrei- 
ben zu wollen. Eine der merkwürdigsten Eigenthümlichkeiten, 
die wir an unseren kultivirten Rassen wahrnehmen , ist ihre 
Anpassung nicht an der Pflanze oder des Thieres eigenen Vor- 
theill, sondern an des Menschen Nutzen und Liebhaberei. 
Einige ihm nützliche Abänderungen sind zweifelsohne plötz- 
lich oder auf ein Mal entstanden, wie z. B. manche 'Botani- 
ker glauben , dass die Weber-Karde mit ihren Haken, welchen 
keine mechanische Vorrichtung an Brauchbarkeit‘ gleichkommt, 
nur eine Varietät des wilden Dipsacus seye, und diese ganze 
Abänderung mag wohl plötzlich in irgend einem Sämlinge die- 
ses letzten zum Vorschein gekommen seyn. So ist es wahr- 
scheinlich auch mit der in England zum Drehen der Bratspiesse 
gebrauchten Hunde-Rasse der Fall, und es ist bekannt, dass eben 
so das Amerikanische Ancon-Schaaf entstanden ist. Wenn wir aber 
das Rasse-Pferd mit dem Karrengaul, den Dromedar mit dem Kameel, 
die für Kulturland tauglichen mit den für Berg-Weide passenden 
Schaafe-Rassen, deren Wollen sich zu ganz verschiedenen Zwecken 
eignen, wenn wir die manchfaltigen Hunde-Rassen vergleichen, 
deren jede dem Menschen in einer anderen Weise dient, — 
wenn wir den im Kampfe so ausdauernden Streit-Hahn mit an- 
dern friedfertigen und trägen Rassen, welche »immer legen und 
niemals zu brüten verlangen«, oder mit dem so kleinen und zier- 
lichen Bantam-Huhne vergleichen, -- wenn wir endlich das Heer 
der Acker-, Obst-, Küchen- und Zier-Pflanzenrassen in's Auge fas- 
sen, welche dem Menschen jede zu anderem Zwecke und in andrer 
Jahreszeit so nützlich oder für seine Augen so angenehm sind, 
so müssen wir uns doch wohl weiter nach den Ursachen solcher 
Veränderlichkeit umsehen. Wir können nicht annehmen, dass 
alle diese Varietäten auf einmal so vollkommen und so nutzbar 
entstanden seyen, wie wir sie jetzt vor uns sehen, und kennen 


in der That von manchen ihre Geschichte genau genug um zu 


wissen, dass Diess nicht der Fall gewesen. Der Schlüssel liegt 
in des Menschen aceumulativem Wahl-Vermögen, d.h. in 
seinem Vermögen, durch jedesmatige Auswahl derjenigen Indivi- 
duen zur Nachzucht, welche die ihnierwünschten Eigenschaften im 


37 


höchsten Grade besitzen, diese Eigenschaften bei jeder Generation 
um einen! wenn«auch :noch so unscheinbaren Betrag zu steigern. 
Die Natur liefert allmählich mancherlei Abänderungen ; der Mensch 
befördert sie in gewissen ihm nützlichen Richtungen. In diesem 
Sinne kann‘man von ihm sagen, er schaffe sich nützliche Rassen. 

Die: Macht dieses Züchtungs-Prineips ist nicht hypothetisch ; 
denn es ist gewiss, dass einige unsrer ausgezeichnetsten Viehzüchter 
binnen einem 'Menschen-Alter mehre Rind- und Schaaf-Rassen 
in beträchtlichem Umfange modifizirt haben. Um das, was sie 
geleistet haben, in seinem ganzen Umfange zu würdigen, muss 
man einige von den vielen diesem Zwecke gewidmeten Schriften 
lesen und ‚die Thiere selber sehen. — Züchter sprechen gewöhn- 
lich‘ von eines Thieres Organisation wie von einer ganz bildsa- 
men Sache, die sie meistens völlig nach ihrem Gefallen modeln könn- 
ten: Wenn es der Raum gestattete, so würde ich viele Stellen 
von den sachkundigsten Gewährsmännern als Belege anführen. 
Youarr , der. wahrscheinlich ‘besser als fast irgend ein Anderer 
mit den landwirthschaftlichen Werken bekannt und selbst ein sehr 
guter Beurtheiler eines Thieres war, sagt von diesem Züchtungs- 
Prinzip, es seye »was den Landwirth befähige den Charakter 
seiner ‚Heerde nicht allein zu modifiziren, sondern gänzlich zu 
ändern. Es ist der Zauberstab, mit dessen Hülfe er jede Form 
in's Leben ruft, die ihm gefällt«. ‘Lord SomerviLe sagt in Bezug 
auf. das, ‘was: die Züchter hinsichtlich der Schaaf-Rassen ge- 
leistet: »Es ist, als hätten sie eine in sich vollkommene Form 
an die Wand gezeichnet und dann belebt«. Der erfahrenste 
Züchter, Sir‘Joun Sesrient, pflegte in Bezug auf die Tauben zu 
sagen: »er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren 
hervorbringen, bedürfe aber sechs Jahre, um Kopf und Schnabel 
zu ‚erlangen«. ‘In Sachsen ist die Wichtigkeit jenes Prinzips 
für ‚die Merino-Zucht so anerkannt, dass die Leute es gewerbs- 
mässig verfolgen. Die Schaafe werden auf einen Tisch gelegt 
und 'studirt, wie der Kenner ein Gemälde studirt. Diess wird 
je ‚nach Monatsfrist dreimal wiederholt, und die Schaafe werden 
jedesmal gezeichnet und klassifizirt, so dass nur die allerbesten 
zuletzt für die Nachzucht übrig bleiben. 


38 


Was Englische Züchter bis jetzt schon’ geleistet haben,! geht 
aus den ungeheuren Preisen hervor, ‚die man für: Thiere be- 
zahlt, die einen guten Stammbaum: aufzuweisen haben, und’diese 
hat man jetzt nach fast allen Weltgegenden ausgeführt: "Diese 
Veredelung rührt im Allgemeinen keineswegs davon her, dass 
man verschiedene Rassen miteinander gekreutzt, All’ die besten 
Züchter sprechen sich streng gegen dieses Verfahren aus, ves 
seye denn etwa zwischen einander nahe verwandten: Unterrassen, 
Und hat eine solche Kreutzung) stattgefunden, so ist die sorgfäl- 


tigste Auswahl weit nothwendiger, als selbst in gewöhnlichen 


Fällen. Handelte es sich bei der Wahl nur «darum, irgend 
welche sehr auffallende Abänderungen auszusondern ‚und‘ zur 
Nachzucht zu verwenden, so wäre das Prinzip so handgreiflich, 
dass es sich kaum der Mühe lohnte , davon zu sprechen. Aber 
seine Wichtigkeit besteht in dem grossen Erfolg von Generation 
zu Generation fortgesetzter Häufung von dem ungeübten Auge 
ganz unkenntlichen Abänderungen in einer Richtung. hin: 'Abän- 
derungen, die ich, einfach genommen, vergebens: wahrzunehmen 
gestrebt habe. Nicht ein Mensch unter Tausend hat ein''hinrei- 
chend scharfes Auge und Urtheil, um ein ausgezeichneter‘ Züch- 
ter zu werden. Ist er ‚mit diesen Eigenschaften: versehen , stu- 
dirt seinen Gegenstand Jahre lang. und widmet ihm seine "ganze 
Lebenszeit mit ungeschwächter Beharrlichkeit, so wird‘er Erfolg 


haben und grosse Verbesserungen bewirken. Ermangelt er aber 


jener Eigenschaften, so wird er sicher nichts ausrichten. Es 
haben wohl nur Wenige davon eine Vorstellung, was für’ ein Grad 
von natürlicher Befähigung und wie viele Jahre Übung dazu ge- 
hören, um nur ein geschickter Tauben-Züchter zu werden. 

Die nämlichen Grundsätze werden beim ‚Garten-Bau befolgt, 


aber die Abänderungen erfolgen oft: plötzlicher. Doch‘ glaubt - 


niemand, dass unsere edelsten -Garten-Erzeugnisse durch "eine 
einfache Abänderung unmittelbar aus der wilden Urform ent- 
standen seyen. In einigen Fällen können wir beweisen, dass Diess 
nicht geschehen ist, indem genaue Protokolle darüber geführt wor- 
den sind; um aber ein sehr treffendes Beispiel anzuführen, können 
wir uns auf die stetig zunehmende Grösse der Stachelbeeren be= 


e- 


39 


ziehen. ‘Wir nehmen  eme erstaunliche: Veredlung in’ manchen 
Zierblumen wahr, wenn: man die heutigen Blumen mit Abbildungen 
vergleicht, die vor 20-_30 Jahren ‚davon gemacht worden sind, 
Wenn ’eine Pflanzen-Rasse einmal wohl ausgebildet worden: ist, 
so entfernt der'Samen-Züchter nicht die besten Pflanzen, sondern 
diejenigen aus den Saamen-Beeten, welche am weitesten von ihrer 
eigenthünlichen Form abweichen. Bei Thieren findet diese Art von 
Auswahl’ ebenfalls statt; denn kaum dürfte Jemand so sorglos 
seyn, ‘seine ‚schlechtesten Thiere zur 'Nachzucht zu verwenden. 

Beinden Pflanzen gibt ‘es noch ein anderes Mittel das; Maas 
der Wirkungen "der ‘Zuchtwahl zu beobachten, nämlich die 
Vergleichung der Verschiedenheit ‘der ‚Blüthen in (den mancherlei 
Värietäten"einer Art im Blumen-Garten ; der Verschiedenheit der 
Blätter, Hülsen, ' Knollen oder. was: sonst für Theile in Betracht 
kommen, "im Küchen-Garten , segenüber 'den Blüthen der näm- 
lichen Varietäten; und’ der Verschiedenheit der: Früchte 'bei ‚den 
Varietäten! einer "Art im Obst- Garten, gegenüber den: Blät- 
tern und. Blüthen derselben Yarietäten-Reihe./ Wie | verschieden 
sind die Blätter der 'Kohl-Sorten 'und:''wie ähnlich einander ihre 
Blüthen ! wie "unähnlich' die Blüthen des Jelängerjeliebers und wie 
ähnlich: die Blätter! wie sehr weichen die Früchte der verschiedenen 
Stachelbeer-Sorten in Grösse, Farbe, Gestalt und Behaarung von 
einander "ab," während "an den’ Blüthen nur ganz unbedeutende 
Verschiedenheiten zwbemerken sind! Nicht‘ als ob. die. Va- 
rietäten, die in einer Beziehung weit auseinander‘, in’andern gar 


nicht verschieden wären: 'Diess ‘ist schwerlich je und vielleicht 


niemals der Fall! Die Gesetze der Wechselbeziehungen des Wachs- 
Ihums, deren Wichtigkeit nie übersehen werden’ sollte, werden 
iinmer einige Verschiedenheiten veranlassen; im Allgemeinen aber 


- kann'ich"nicht zweifeln, dass die fortgesetzte Auswahl geringer 


Abänderungen in den Blättern, in den Blüthen oder in der Frucht 
solche Rassen erzeuge, welche hauptsächlich in diesen "Theilen; 


von einander abweichen. | 

Man: könnte ' einwenden, ‚das Prinzip der Zuchtwahl seye 
erst seit kaum‘ drei’ Vierteln 'eines Jahrhunderts zu planmässiger 
Anwendung‘ gebracht worden; gewiss ist es erst seit den letzten 


40 


Jahren mehr in Übung und sind  viele'Schriften darüber erschie- 


nen; die Ergebnisse sind in’ einem entsprechenden Grade im- 


mer rascher und erheblicher ‘geworden. ‘Es ist aber nicht‘ ent- 
fernt wahr, dass dieses Prinzip eine neue Entdeckung. ;seye,.Ich 
kann mehre Beweise anführen, aus welchen sich: die‘ volle. An- 
erkennung seiner Wichtigkeit schon in sehr alten: Schriften ergibt, 
Selbst in den rohen und barbarischen ‘Zeiten: der ‚Englischen 
Geschichte sind ausgesuchte  Zucht-Thiere' oft eingeführt: und. ist 


ihre Ausfuhr gesetzlich verboten ‚worden; auch war die Zerstö- ° 


rung der Pferde unter einer gewissen Grösse angeordnet; was 
sich mit dem oben erwähnten Ausjäten ‚der Pflanzen vergleichen 
lässt. Das Prinzip der Züchtung finde ‚ich auch ‚in einer ‚alten 
Chinesischen Encyklopädie bestimmt angegeben. Bestimmte Regeln 
darüber sind bei einigen Römischen: Klassikern’ niedergelegt. ‚Aus 
einigen Stellen in der ‚Genesis erhellt, dass; man schon in ‚jener 
frühen Zeit der Farbe der Hausthiere seine, Aufmerksamkeit zu- 
gewendet hat. Wilde kreutzen noch jetzt zuweilen. ihre, ‚Hunde 
mit wilden Hunde-Arten, um: die. Rasse | zu ‚verbessern, wie,..es 
nach Prinius' Zeugniss auch vormals..geschehen: ist. Die. Wilden 
in Süd-Afrika spannen ihre Zug-Ochsen‘ nach. der: Farbe  zusam- 
men, wie einige Esquimaux ‚ihre Zug-Hunde. Livinsstone berichtet, 


wie hoch gute Hausthier-Rassen von den Negern im innern Afrika, _ 
welche nie mit Europäern in’Berührung gewesen, geschätzt werden. 


Einige der angeführten Thatsachen | sind. zwar keine‘.Belege für 
wirkliche ‘Züchtung; aber sie zeigen; dass die Zucht der. Haus- 
thiere schon in ältern Zeiten ein Gegenstand der Bestrebung‘.ge- 
wesen und; es bei den rohesten Wilden noch jetzt ist. Es würde 
aber in der That ‘doch ‚befreinden müssen, wenn ‚sich‘ bei ‚der 
Züchtung die Aufmerksamkeit: nicht. sofort auf die Erblichkeit ‚der 


so ‚auffälligen. guten und schlechten. Eigenschaften gelenkt hätte, 


; In jeiziger Zeit, versuchen es ausgezeichnete Züchter durch 
planmässige Wahl, mit einem bestimmten. Ziel, im Auge), ‚neue 
Stämme oder Unterrassen zu bilden, die ‚alles. bis jetzt bei 
uns Vorhandene übertreffen sollen. Für:unseren Zweck jedoch ist 
diejenige: Art von: Züchtung‘. wichtiger „: welche‘, man die unbe- 
wusste nennen kann und welche.ein Jeder in Anwendung bringt,der 


Er e- 


41 


von den'besten'Thieren 'zu.besitzen und nachzuziehen strebt. So 
wird ‘Jemand, "der 'einen ‘guten Hühnerhund zu haben wünscht, zu- 
erst möglich gute Hunde’ zu'erhalten suchen und hernach von den 
besten‘ seiner eignen Hunde Nachzucht zu bekommen streben, 
ohne die Absicht oder die Erwartung zu haben, die Rasse hie- 
durch bleibend zu ändern. 'Demungeachtet zweifle ich nicht daran, 
dass,'wenn er dieses Verfahren einige Jahrhunderte lang fortsetzte, 
er seine Rasse‘ "ändern ‘und veredeln würde, wie 'BAKEWELL, 
Corzıns u. A. durch ein:gleiches und’ nur mehr planmässiges Ver- 
fahren schon während ihrer eigenen Lebens-Zeit die Formen und 
Eigenschaften ihrer Rinder-Heerden wesentlich verändert haben. 
Langsame und 'unmerkliche Veränderungen dieser Art lassen sich 
nicht erkennen, wenn nicht wirkliche Ausmessungen oder sorg- 
fältige Zeichnungen der fraglichen Rassen von Anfang her gemacht 
worden sind, welche zur Vergleichung dienen können; zuweilen 
känn man jedoch noch unveredelte oder wenig veränderte Indi- 
viduen in solchen Gegenden auffinden, wo die Veredelung der- 
selben ursprünglichen Rasse noch nicht oder nur wenig fortge- 
schritten ist. So hat man Grund zu glauben, dass König Karrı's 
Jagdhund-Rasse* seit der Zeit dieses Monarchen unbewusster 
Weise beträchtlich verändert worden ist. Einige völlig sachkundige 
Gewährsmänner 'hegen die Überzeugung, dass der Spürhund in ge- 
rader Linie vom Jagdhund abstammt und wahrscheinlich durch lang- 
same Veränderung aus demselben hervorgegangen ist. Es ist 
bekannt, dass der Vorstehehund im letzten Jahrhundert grosse 
Umänderung erfahren hat, und hier glaubt man seye die Umände- 
rung hauptsächlich durch Kreutzung mit dem Fuchs-Hunde bewirkt 
worden; ‘aber was uns berührt, das ist, dass diese Umänderung 


.,—.i 0). 


Pan 


* Herr Darwın ertheilt mir über die hier genannten Englischen Hunde- 


Rassen folgende Auskunft: 

der Jagdhund (Spaniel) ist klein, rauhhaarig, mit hängenden Ohren und 
gibt auf der Fährte des Wildes Laut; 

der Spürhund (Setter) ist ebenfalls rauhhaarig, aber gross, und drückt 
sich, wenn er Wind vom Wilde hat, ohne Laut zu geben lange Zeit regungs- 
los auf den Boden [auf die Fährte ??]; 

der Vorstehehund (Pointer) endlich entspricht dem Deutschen Hühner- 
hunde 'und 'ist in England 'gross und glatthaarig. D. Übs. 


42 


unbewusster und langsamer Weise geschehen und: dennoch «so 
beträchtlich ist, dass, obwohl der alte Vorstehehund gewiss aus 
Spanien gekommen, Herr Borrow mich doch versichert: hat, in 
ganz Spanien keine einheimische Hunde -Rasse. gesehen‘ zu 
haben, die unserem Vorstehehund gliche. eh 

Durch. ein gleiches Wahl-Verfahren und sorgfältige Aufzucht 
ist die ganze Masse der Englischen Rasse-Pferde dahin ‚gelangt in 
Schnelligkeit und Grösse ihren Arabischen Urstamm zu übertreffen, 
so dass dieser letzte bei den Bestimmungen über die Goodwood- 
Rassen hinsichtlich des zu tragenden Gewichtes begünstigt werden 
musste. Lord Spencer u. A. haben ‘gezeigt, dass in England.das 
Rindvieh an: Schwere und früher Reife, gegen frühere Zeiten zu: 
genommen. Vergleicht man die Nachrichten, welche in alten 
Tauben-Büchern über die Boten- und Purzel-Tauben enthalten sind, 
mit diesen Rassen, wie sie jetzt, in Britannien, Indien‘ und 
Persien vorkommen, so kann man, scheint mir, deutlich die Stufen 
verfolgen, welche sie allmählich zu durchlaufen hatten , um end- 
lich: so weit von der Felstaube 'abzuweichen. 

Yovarr gibt eine, vortreffliche Erläuterung von den Wirkungen 
einer. fortdauernden Züchtung, welche man.in so ferne alsıun- 
bewusste. betrachten kann, als die Züchter nie das, von ihnen 
erlangte Ergebniss selbst erwartet oder gewünscht haben können, 
nämlich die Erzielung zweier ganz verschiedener, Stämme, ‚Es sind 
die zweierlei Leicestrer Schaaf-Heerden, welche, von Mr. Buckuey 
und Mr. Burgsss seit etwas über 50 Jahren lediglich aus: dem Bake- 
werı’schen Urstamme gezüchtet worden. ‚Unter Allen, ‚welche mit 
der Sache bekannt sind, glaubt Niemand von Ferne daran, dass 
die beiden ‘Eigner dieser Heerden‘ dem reinen, Bakewell'schen 
Stamme jemals fremdes Blut beigemischt hätten, und doch ist 
jetzt die Verschiedenheit zwischen deren Heerden so gross, dass 
man glaubt ganz verschiedene Rassen zu sehen. | 

Gäbe es Wilde so barbarisch, dass sie keine Vermuthung 
von der Erblichkeit: des Charakters ihrer Hausthiere hätten, so 
würden sie doch jedes ihnen zu einem besonderen Zwecke vor- 
zugsweise nützliche Thier während Hungersnoth und anderen 
Unglücks-Fällen sorgfältig zu erhalten bedacht seyn, und ein der- 


43 


artig auserwähltes Thier' würde ‘mithin mehr Nachkommenschaft 
als ein’ andres'von geringerem Werthe hinterlassen ‚' so dass schon 
auf diese Weise eine Auswahl zur Züchtung stattfände. Welchen 
Werth selbst die Barbaren des Feuerlandes auf ihre Thiere legen, 
sehen wir, wenn sie in Zeiten der Noth lieber ihre alten Weiber 
als ihre Hunde verzehren, weil ihnen diese nützlicher sind als jene. 

Bei den Pflanzen kann man dasselbe stufenweise Veredlungs- 
Verfahren in der gelegentlichen Erhaltung der besten Individuen 
wahrnehmen, mögen sie nun hinreichend oder nicht genügend 
verschieden seyn, um bei ihrem ‘ersten Erscheinen schon als 
eine eigene Varietät zu gelten; mögen sie aus der Kreutzung 
von zwei oder mehr Rassen oder Arten hervorgegangen seyn: 
Wir erkennen Diess' klar aus der ‘zunehmenden Grösse und 
Schönheit der Blumen von Jelängerjelieber, Dahlien, Pelargonien, 
Rosen u. a. Pflanzen im Vergleich zu den älteren Varietäten 
von derselben Arten. Niemand wird erwarten eine Jelänger- 
jelieber oder Dahlie erster Qualität aus dem Samen einer wil- 
den Pflanze zu erhalten, oder eine Schmelzbirne erster Sorte 
aus dem Samen einer wilden Birne zu erziehen, obwohl es von 
einem wild-gewachsenen Sämlinge der Fall seyn könnte , welcher 
von einer im Garten gebildeten Varietät entstammte. Die schon 
in.der klassischen Zeit kultivirte Birne scheint nach Prinius’ Bericht 
eine Frucht von sehr untergeordneter Qualität gewesen zu seyn. 
Ich habe in Gartenbau-Schriften den Ausdruck grossen Erstaunens 
über die wunderbare Geschicklichkeit von Gärtnern gelesen, die 
aus dürftigem Material so glänzende Erfolge geärndet; aber ihre 
Kunst war ohne Zweifel einfach und, wenigstens in Bezug auf Jdas 
End-Ergebniss, eine unbewusste. Sie bestund nur darin, dass sie 
die jederzeit beste Varietät wieder aussäeten und, wenn dann 
zufällig eine neue etwas bessere Abänderung zum Vorschein kam, 
nun diese zur Nachzucht wählten u. s. w. Aber die Gärtner der 
klassischen Zeit, welche die beste Birne, die sie erhalten konnten, 
nachzogen, dachten nie daran, was für eine herrliche Frucht wir 
einst essen würden; und doch schulden wir dieses treffliche Obst 
in geringem ‘Grade wenigstens dem Umstande, dass schon sie 
begonnen haben, die besten Varietäten auszuwählen und zu erhalten. 


44 


/ö Der grosse Umfang von Veränderungen, die: sich in’ unseren 
Kultur-Pflanzen langsamer und unbewusster Weise angehäuft haben, 
erklärt die wohl-bekannte Thatsache, dass wir in den meisten Fällen 
die wilde Mutterpflanze. nicht wieder erkennen und daher nicht 
anzugeben vermögen, woher die am längsten in: unseren ‚Blumen- 
und Küchen-Gärten angebauten Pflanzen abstammen. Wenn es 
aber Hunderte oder Tausende von Jahren bedurft hat, um unsre 
Kultur-Pflanzen bis auf deren jetzige dem Menschen so. nützliche 
Stufe zu veredeln, so wird es uns auch begreiflich, warum weder 
Australien, noch das Kap der guten Hoffnung oder irgend eine 
andre von ‚ganz. unzivilisirien Menschen: ‘bewohnte Gegend uns 
eine der Kultur werthe Pflanze geboten hat. Nicht als ob diese 
an Pflanzen so reichen Gegenden in Folge eines eigenen Zufalles 
gar nicht mit Urformen nützlicher Pflanzen von der Natur versehen 
worden wären ; sondern ihre einheimischen Pflanzen sind nur nicht 
durch unausgesetzte Züchtung bis zu einem Grade veredelt'worden, 
welcher: mit dem der Pflanzen in den se hon längst kultivirten 
Ländern vergleichbar wäre. 

Was die Hausthiere nicht zivilisirter Völker betrifft, ‚so darf 
man nicht übersehen, dass diese in der Regel, zu gewissen Jahres- 
zeiten wenigstens, um ihre ‚eigene Nahrung zu kämpfen haben. 
In zwei sehr verschieden beschaffenen Gegenden können Indivi- 
duen von einerlei Organismen-Art aber zweierlei Bildung und 
Thätigkeit der Organe oft die einen in der ersten und die an- 
dern in der zweiten Gegend besser fortkommen ‚und dann. durch 
eine Art natürlicher Züchtung, wie nachher weiter erklärt werden 
soll, zwei Unterrassen bilden.. Diess erklärt vielleicht zum Theile, 
was einige Gewährsmänner von den Thier-Rassen der Wilden be- 
richten, dass dieselben mehr die Charaktere besonderer Species an 
sich tragen, als die bei zivilisirten Völkern gehaltenen Abänderungen. 

Nach der hier aufgestellten Ansicht ‘von. dem äusserst wich- 
tigen Einflusse , den die Züchtung ‚des Menschen geübt, erklärt 
es sich auch wie es’ komme, dass unsre veredelten Rassen sich in 


Struktur und Lebensweise so an die Bedürfnisse und Launen des 
Menschen anpassen. Es lassen sich daraus ferner, wie ich glaube, 
der so oft abnorme Charakter unsrer’ veredelten Rassen und die 


45 


gewöhnlich äusserlich so grossen, in inneren Theilen oder -Or- 
ganen aber verhältnissmässig so unbedeutenden Verschiedenheiten 
derselben begreifen: ‘Denn’ der Mensch kann kaum oder nur sehr 
schwer andre als äusserlich sichtbare‘ ' Abweichungen der Struktur 
bei seiner Auswähl beachten , und’er bekümmert: sich in der That 
nur selten um: das'Innere. Er kann durch Wahl nur auf solche 
Abänderungen verfallen , welche ihm von der Natur selbst in an- 
fänglich schwachem ‘Grade ‚dargeboten: werden. : So würde: nie- 
mals Jemand versuchen eine Pfauentaube zu machen, wenn er 
nicht zuvor schon eine Taube mit einem in’ etwas unregelmässiger 
Weise entwickelten Schwanz gesehen hätte,; oder einen -Kröpfer 
zu züchten, ehe er eine Taube mit einem grösseren Kropfe 'ge- 
funden. Je eigenthümlicher und ‘ungewöhnlicher ein Charakter 
bei dessen erster Wahrnehmung erscheint, ‘desto mehr wird der- 
selbe die Aufmerksamkeit in Anspruch ‘nehmen. Doch wäre 
der Ausdruck »Versuchen eine Pfauentaube zu machen« in den 
meisten /Fällen äusserst unangemessen. Denn der, welcher zuerst 
eine Taube mit einem etwas stärkeren Schwanz zur Nachzucht 
ausgewählt, hat sich gewiss nicht träumen lassen, was aus den 
Nachkommen dieser Taube durch theils unbewusste und theils 
planmässige Züchtung werden könne. Vielleicht 'hat der Stamm- 
vater aller Pfauentauben nur vierzehn etwas ausgebreitete Schwanz- 
Federn gehabt, wie die jetzige Javanische Plauentaube oder wie 
Individuen von verschiedenen ' andren Rassen, an welchen man 
bis zu 17 Schwanz-Federn gezählt hat. Vielleicht hat die erste 
Kropftaube ihren Kropf nicht stärker aufgeblähet, als es jetzt die 
Möventaube mit dem oberen Theile des Schlundes zu thun pflegt, 
eine Gewohnheit, welche bei allen Tauben-Liebhabern unbeachtet 
bleibt, weil sie keinen Gesichtspunkt für ihre Züchtung abgibt. 
Es lässt sich nicht annehmen, ‘dass es erst einer grossen 
Abweichung in der Struktur bedürfe, um den Blick des Liebhabers 
auf sich zu ziehen; er nimmt äusserst kleine Verschiedenheiten 
wahr, und es’ ist in’ des Menschen Art begründet, auf eine wenn 
auch geringe Neuigkeit in seinem eignen Besitze Werth zu legen. 
Auch ist der anfangs auf geringe individuelle Abweichungen bei einer 
Art gelegte Werth nicht mit demjenigen 'zu vergleichen, welcher 


46 


denselben Verschiedenheiten beigelegt wird, wenn einmal;mehre 
reine Rassen dieser Art hergestellt sind. Manche geringe Abände- 
rungen mögen unter solchen Tauben vorgekommen seyn und noch 
vorkommen, welche als fehlerhafte Abweichungen vom vollkommenen 
Typus einer jeden Rasse zurückgeworfen worden. Die gemeine Gans 
hat keine auffallende Varietät geliefert, ‘daher die: Thoulouse- 
und ‘die gewöhnliche Rasse, welche nur «in der Farbe als dem 
biegsamsten aller Charaktere verschieden sind, bei unseren Ge- 
flügel-Ausstellungen für verschiedene Arten ausgegeben wurden. 

Diese Ansichten mögen ferner eine zuweilen gemachte Be- 
merkung erklären, dass wir nämlich nichts über ‚die Entstehung 
oder Geschichte einer unsrer veredelten Rassen wissen. Denn 
man kann von einer ‚Rasse, so wie von einem: Sprach - Dialekte, 
in Wirklichkeit schwerlich sagen, dass: sie einen bestimmten 
Anfang gehabt habe. Es pflegt jemand und gebraucht zur Züch- 
tung irgend ein Einzelwesen mit geringen Abweichungen des 
Körper -Baues, oder er verwendet mehr Sorgfalt als gewöhnlich | 
darauf, seine besten Thiere mit einander'zu paaren; er verbessert 
dadurch seine Zucht und die verbesserten Thiere verbreiten sich 
unmittelbar in der Nachbarschaft. ‚Da sie aber bis jetzt noch 
schwerlich einen besonderen Namen haben und sie noch nicht 
sonderlich geschätzt sind, so achtet niemand auf ihre Geschichte, 
Wenn sie dann durch dasselbe langsame und stufenweise: Ver- 
fahren noch weiter veredelt worden, breiten. sie sich ‘immer 
weiter aus und werden jetzt als etwas: Ausgezeichnetes und 
Werthvolles anerkannt und erhalten wahrscheinlich ‘nun erst 
einen Provinzial-Namen. In halb-zivilisirten Gegenden mit wenig 
freiem Verkehr mag die Ausbreitung und Anerkennung einer 
neuen Unterrasse ein langsamer Vorgang seyn. Sobald aber die 
einzelnen werthvolleren Eigenschaften der neuen Unterrasse einmal 
vollständig anerkannt sind, wird das von mir sogenannte Prinzip 
der unbewussten Züchtung langsam: und unaufhörlich — wenn 


auch mehr zu einer als zur andern Zeit, jenachdem eine Rasse 


in der Mode steigt und fällt, und vielleicht mehr in einer Gegend i 
als in der andern, je nach der Zivilisations-Stufe ihrer Bewohner 
— auf die Vervollkommnung der’charakteristischen Eigenschaften 


y 41 


der Rasse hinwirken, ' welcher ' Art sie nun ‘seyn mögen. Aber 
es’ ist unendlich‘ wenig‘ Aussicht vorhanden, einen geschichtlichen 
Bericht‘ von ‘solchen langsam : wechselnden und unmerklichen 
Veränderungen zu erhalten. 

}} Ich habe’ 'nun "einige Worte über die für die künstliche 
Züchtung: günstigen oder ungünstigen Umstände zu sagen. Ein 
hoher‘ Grad von Veränderlichkeit ist insoferne offenbar günstig, 
als er ein reicheres Material’ zur Auswahl für die Züchtung 
liefert: Doch nicht, als ‘ob bloss individuelle: Verschiedenheiten 
nicht vollkommen: genügten, um mit 'äusserster Sorgfalt durch 
Häufung endlich eine bedeutende Umänderung in fast jeder be- 
liebigen Richtung 'zu erwirken. Da aber solche dem Menschen 
offenbar: nützliche oder : gefällige Variationen nur’ zufällig  vor- 
kommen, so muss die Aussicht ‘auf deren Erscheinen: mit der 
Anzahl der gepflegten ‚Individuen zunehmen, und so wird 'eine 
Vielzahl! dieser letzten von höchster ‚Wichtigkeit für ‘den Er- 
folg. : Mit: Rücksicht auf dieses Prinzip hat Marscuarı über die 
Schaafe in einigen Theilen von Yorkshire gesagt, dass, weil sie 
gewöhnlich nur, armen Leuten gehören und meistens ‘in kleine 
Loose vertheilt ‘sind, sie nie veredelt werden können. Auf der 
andern Seite haben Handelsgärtner, welche alle Pflanzen - in 
grossen ‚Massen erziehen, gewöhnlich mehr Erfolg als die blossen 
Liebhaber. in Bildung, neuer und werthvoller: Varietäten. Die 
Haltung: einer ‚grossen Anzahl von Einzelwesen einer Art in einer 
Gegend verlangt, dass man diese Species in günstige Lebens-Bedin- 
gungen verseize, so. dass sie sich in dieser Gegend freiwillig 
fortpflanze. , Sind nur wenige Individuen einer Art vorhanden, 
so: werden sie gewöhnlich* alle, wie auch ihre Beschaffenheit 
seyn mag, zur Nachzucht verwendet, und Diess hindert ihre 
Auswahl. . Aber wahrscheinlich der wichtigste Punkt von allen 
ist, dass das Thier oder die Pflanze für den Besitzer so nützlich 
oder so hoch gewerthet sey, dass er die genaueste Aufmerk- 
samkeit auf je ch. die geringste Abänderung: in: den Eigen- 
schaften und d per-Baue eines jeden Individuums verwende. 
Ist Diess nicht all,:so..ist auch nichts zu 'erwirken. Ich habe 
es, als wesentlich hervorheben sehen, es seye ein sehr glücklicher 


48 


Zufall gewesen, dass die Erdbeere gerade zu, variiren begann, als. 


Gärtner diese Pflanze. näher zu beobachten. anfingen... Zwei- 


lässigt.: Als jedoch Gärtner später die Pflanzen mit ‚etwas grösseren, 
früheren oder: besseren Früchten .heraushoben,, Sämlinge. ‚davon 
erzogen und ‚dann wieder: die besten Sämlinge und deren. Ab- 
kommen zur: Nachzucht ‚verwendeten, 'da lieferte diese, unter- 


stützt durch die Kreutzung mit andern Arten, die vielen be= 


wundernswerthen Varietäten, welche in: den letzten 30-40. Jahren 
erzielt worden sind. sur 

Was Thiere getrennten  Geschlechtes: betrifft, so hat die 
Leichtigkeit, womit ihre. Kreutzung gehindert werden kann, einen 
wichtigen: Antheil: an dem Erfolge in Bildung neuer‘ Rassen, in 
einer Gegend wenigstens, welche‘ bereits mit: anderen Rassen 
besetzt ist. ' Dazu kann die Einschliessung (des 'Landes in Betracht 
kommen. Wandernde Wilde oder‘ die'Bewohner  'offner Ebenen 
besitzen selten . mehr als eine: Rasse derselben ‚Art. Man kann 
zwei Tauben: lebenslänglich zusammen-paaren, und Diess ist eine 
grosse ‘Bequemlichkeit für den Liebhaber, weil er viele Vollblut- 
Rassen im nämlichen Vogelhause ‚beisammen erziehen kann.‘ 'Die- 
ser Umstand hat: gewiss die Bildung’ und ‘Veredlung neuer Rassen 
sehr befördert. Ich will'noch beifügen,’ dass man die Tauben 
sehr rasch und in grosser Anzahl: vermehren und. die ‚schlechten 
Vögel leicht beseitigen kann, weil sie’getödtet zur Speise dienen. 
Auf der: andern Seite lassen sich Katzen ihrer nächtlichen Wan- 
derungen wegen nicht zusammen-paaren, daher man auch, trotz 
dem dass Frauen und Kinder‘sie gerne haben, selten 'eine' neue 
Rasse aufkommen sieht; solche Rassen,‘ wenn wir dergleichen 
jemals sehen, sind immer aus anderen Gegenden und zumalvaus 
Inseln eingeführt. Obwohl ich nicht bezweifle, dass einige Haus- 


thiere weniger als andre variiren, so» wird'doch: die Seltenheit 


V 
PL. 


felsohne hatte die Erdbeere immer varürt, seitdem sie. angepflanzt \ 


worden; aber man hatte die geringen ‘Abänderungen vernach- 


oder der gänzliche Mangel verschiedener  Rassembei Katze, Esel; 
Perlhuhn, Gans u. 's.' w. hauptsächlich daygn rühren, dass 


keine Züchtung‘ bei ihnen "in Anwendung 


Katzen, wegen der Schwierigkeit sie'zu paaren; bei Eseln, weil 


49 


sie ‚nur in geringer Anzahl von armen Leuten gehalten werden, 
welche auf ihre Züchtung wenig achten; bei Perlhühnern, 
weil sie nicht leicht aufzuziehen und eine grosse Zahl nicht bei- 
sammen gehalten wird; bei, Gänsen, weil sie nur zu zwei Zwecken 
dienen mittelst ihrer Federn und ihres Fleisches, welche noch 
nicht zur Züchtung neuer Rassen gereitzt haben. 

Versuchen wir das über die Entstehung unsrer Hausthier- 
und Kulturpflanzen-Rassen Gesagte zusammenzufassen. Ich glaube, 
dass die äusseren Lebens-Bedingungen wegen ihrer Einwirkung 
auf das Reproduktiv-System von der höchsten Wichtigkeit für die 
Entstehung von Abänderungen sind. Ich glaube aber nicht, dass 
Veränderlichkeit als eine inhärente und nothwendige Eigenschaft 
allen organischen Wesen unter allen Umständen zukomme, wie 
einige Schriftsteller angenommen haben. Die Wirkungen der Ver- 
änderlichkeit werden in verschiedenem Grade modifizirt durch Ver- 
erblichkeit und Rückkehr. Sie wird durch viele unbekannte 
Gesetze geleitet, insbesondre aber durch das der Wechselbezie- 
hungen des Wachsthums. Einiges mag der direkten Einwirkung 
der äusseren Lebens-Bedingungen, Manches dem Gebrauche und 
Nichtgebrauche der Organe zugeschrieben werden. Dadurch wird 
das End-Ergebniss ausserordentlich verwickelt. Ich bezweifle 
nicht, dass in einigen Fällen die Kreutzung ursprünglich ver- 
schiedener Arten einen wesentlichen Antheil an der Bildung 
unserer veredelten Erzeugnisse gehabt habe. Wenn in einer 
Gegend einmal mehre veredelte Rassen vorhanden gewesen sind, 
so hat ihre gelegentliche Kreutzung mit Hilfe der Wahl zweifels- 
ohne mächtig zur Bildung neuer Rassen mitwirken können; aber 
die Wichtigkeit der Varietäten-Mischung ist, wie ich glaube, sehr 
übertrieben worden sowohl in Bezug auf die Thiere wie auf die 
Pflanzen, die sich aus Saamen verjüngten. Bei solchen Pflanzen 
dagegen, welche zeitweise durch Stecklinge, Knospen u. s. w. 
fortgepflanzt werden, ist die Wichtigkeit der Kreutzung zwischen 
Arten wie Varietäten unermesslich, weil der Pflanzenzüchter 
hier die ausserordentliche Veränderlichkeit sowohl der Bastarde 
als der Blendlinge ganz ausser Acht lässt; doch haben die Fälle, 
wo Pflanzen nicht aus Saamen fortgepflanzt werden, wenig 

“ 


u. 


0 


» 


Bedeutung für uns, weil ihre Dauer nur vorübergehend ist. Aber 


die über alle diese Änderungs-Ursachen bei weitem vorherrschende 
Kraft ist nach meiner Überzeugung die fortdauernd anhäufende 3 


Züchtung, mag sie nun planmässig und schnell, oder unbewusst 
und allmählicher aber wirksamer in Anwendung kommen. | 


Zweites Kapitel. “ 
Abänderung im Natur-Zustande. u 


/ Variabilität. 7 Individuelle Verschiedenheiten. 5 Zweifelhafte Arten. Weit ver- 


breitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variiren am meisten, s'Arten 


grössrer Sippen in einer Gegend beisammen variiren mehr, als die der 
kleinen Sippen. 6 Viele Arten der grossen Sippen gleichen den Varietäten 


darin, dass sie sehr nahe aber ungleich mit einander verwandt sind und 

: beschränkte Verbreitungs-Bezirke haben. 
/Ehe wir von den Prinzipien, zu welchen wir im vorigen 
Kapitel gelangten, Anwendung auf die organischen Wesen im Natur- 
Zustande machen, müssen wir kürzlich untersuchen, in wieferne 
diese letzten veränderlich sind oder nicht. Um diesen Gegenstand 
angemessen zu behandeln, müsste ich ein langes Verzeichniss trock- 
ner Thatsachen aufstellen; doch will ich diese für mein künftiges 
Werk verspären. Auch will ich nicht die verschiedenen Defini- 
tionen erörtern, welche man von dem Worte »Species« gegeben 
hat. Keine derselben hat bis jetzt alle Naturforscher befriedigt, 


Gewöhnlich schliesst ‚die Definition ein unbekanntes Element von | 


einem besondren Schöpfungs-Akte ein. Der Ausdruck »Varietät« 
ist eben so schwer zu definiren; gemeinschaftliche Abstammung 
ist meistens mit einbedungen, obwohl so selten erweislich. Auch 
hat man von Monstrositäten gesprochen, die aber stufenweise in 
die Varietäten “übergehen. Unter einer »Monstrosität« versteht 
man nach meiner Meinung irgend eine beträchtliche Abweichung 
der Struktur in einem einzelnen Theile, welche der Art entweder 
nachtheilig oder doch nicht nützlich is} und sich gewöhnlich nicht 
vererbt. Einige Schriftsteller gebrauchen 
„Variation« in einem technischen Sinne, um 


die unmittelbare Einwirkung äussrer Lebens- Bedingungen zu ben; 
zeichnen, und die Variationen dieser Art gelten nicht für erblich. 


[9 


noch den Ausdruck — 
derungen durch 


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Doch,‘ wer''kann! behaupten, dass. die zwergarlige Beschaffenheit 
der Konchylien im  Brackwasser des Baltischen Meeres, oder die 
verringerte Grösse der Pflanzen auf den Höhen der Alpen, oder 
der 'dichtere Pelz’ eines Thieres., in höheren Breiten nicht auf 
wenigstens. einige Generationen, vererblich seye? und in diesem 
Falle würde man, glaube. ich, ‚die Form eine »Varietät« nennen. 

2 Dagegen gibt es; manche‘ geringe Verschiedenheiten, welche 
man als:individuelle ‚bezeichnen kann, da man von ihnen weiss, 
dass‘ sie ‘oft: unter, den‘ Abkömmlingen. von einerlei Altern vor- 
kommen‘, oder unter ‚solchen. die wenigstens dafür gelten, weil 
sie’zur-nämlichen 'Art gehören und ‚auf: begrenztem Raume nahe 
beisammen 'wohnen. . Niemand. unterstellt, dass alle Individuen 
einer Art genau nach., demselben Model gebildet seyen. Diese 
individuellen Verschiedenheiten sind nun gerade sehr wichtig für 
uns,‘ weil sie. der natürlichen‘ Züchtung Stoff zur Häufung liefern, 
wie der. Mensch in . seinen kultivirten Rassen individuelle Ver- 
schiedenheiten iin, gegebener, Richtung zusammenhäuft., Diese 
individuellen Verschiedenheiten betreffen in der Regel nur die in 
den Augen des Naturforschers unw tlichen Theile; ich könnte 


jedoch aus einer langen Liste von 'Thatsachen nachweisen, dass 
auch Theile, die man aus dem physiologischen wie aus dem 
klassifikatorischen Gesichtspunkte als wesentliche bezeichnen muss, 
zuweilen bei den: Individuen von einerlei Art variiren. Ich bin 
überzeugt, dass die erfahrensten Naturforscher erstaunt seyn wür- 
den über die Menge von Fällen möglicher Abänderungen sogar in 
wichtigen Theilen des Körpers, die ich im Laufe. der Jahre nach 
guten Gewährsmännern zusammengetragen habe. Man muss sich 
aber auch dabei noch erinnern, dass Systematiker nicht erfreut 
sind  Veränderlichkeit in wichtigen Charakteren zu entdecken, und 
dass es nicht viele Leute gibt, die,ein Vergnügen daran fänden, 
innre wichtige Organe sorglältig.zu untersuchen und. in vielen 
Exemplaren einer,und der nämlichen, Art mit einander zu ver- 
gleichen.’ So. hätte ich nimmer. erwartet, ‚dass die Verzweigungen 
des Hauptnerven. dicht am grossen. Zentralnervenknoten eines 
Insektes .in, der nämlichen Species abändern könne, sondern hätte 
vielmehr gedacht, Veränderungen dieser Art könnten nur langsam 

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nützlich’ noch schädlich sind und daher bei der natürlichen Züch- 


erläutert werden soll. 


92 


und stufenweise eintreten. Und doch hat Mr. Lussock MR. | 
an Coccus einen Grad von Veränderlichkeit an diesen Haupt- 2 
nerven nachgewiesen, welcher zumeist an die unregelmässige 
Verzweigung eines Baumstamms erinnert. Ebenso hat dieser 
ausgezeichnete Naturforscher ganz kürzlich gezeigt, dass die ? 
Muskeln in den Larven gewisser Insekten von Gleichförmigkeit ; 
weit entfernt sind. Die Schriftsteller bewegen sich oft in einem 
Zirkelschluss, wenn sie behaupten, dass wichtige Organe nicht 
variiren; denn dieselben Schriftsteller zählen praktisch diejenigen 
Organe zu den wichtigen (wie einige wenige ehrlich genug 
sind zu gestehen), welche nicht varüiren, und unter dieser Vor- 
aussetzung kann dann allerdings niemals ein Beispiel von einem 
variirenden wichtigen Organe angeführt werden; aber von einem 
andern Gesichtspunkte aus lassen sich deren viele aufzählen. 

; Mit den individuellen Verschiedenheiten steht noch ein andrer 
Punkt in Verbindung, der mir sehr verwirrend zu seyn scheint; 
ich will nämlich von den Sippen reden, die man zuweilen »Ppro- 
teische« oder »polymorphe« genannt hat, weil deren Arten ein un- 
geordnetes Maass von Veränderlichkeit zeigen, so dass kaum zwei 
Naturforscher darüber einig werden können, welche Formen als 
Arten und welche als Varietäten zu betrachten seyen. Man kann 
Rubus, Rosa, Hieracium unter den Pflanzen, mehre Insekten- und 
Brachiopoden-Sippen unter den Thieren als Beispiele anführen. 
In den meisten dieser polymorphen Sippen haben einige Arten 
feste und bestimmte Charaktere. Sippen, welche in einer Gegend 
polymorph sind, scheinen es mit einigen wenigen Ausnahmen 
auch in andern Gegenden zu seyn und, nach den Brachiopoden 
zu urtheilen, in früheren Zeiten gewesen zu SEYN. Diese That- 
sachen nun scheinen in soferne geeignet Verwirrung zu bewirken, 
als sie zeigen, dass diese Art von Veränderlichkeit unabhängig 
von den Lebens-Bedingungen ist. Ich bin zu vermuthen geneigt, g 
dass wir in diesen polymorphen Sippen Veränderlichkeit nur in. i 
solchen Struktur-Verhältnissen begegnen, welche der Art eder 


er 


tung nicht berücksichtigt und befestigt worden sind, wie nach er 


Br { i 


ö 


f Diejenigen Formen, welche zwar einen schon etwas mehr 
entwickelten Art-Charakter besitzen, aber andren Formen so 
ähnlich oder durch Mittelstufen so enge verkettet sind, dass die 
Naturforscher sie nicht als besondre Arten aufführen wollen, sind 
in mehren Beziehungen die wichtigsten für uns. Wir haben 
allen Grund zu glauben, dass viele von diesen zweifelhaften und 
und eng-verwandten Formen ihre Charaktere in ihrer Heimath- 
Gegend lange Zeit beharrlich behauptet haben, lang genug um 
sie für gute und ächte Species zu halten. Praktisch genommen 
pflegt ein Naturforscher, welcher zwei Formen durch Zwischen- 
glieder mit einander verbinden kann, die eine als eine Varietät 
der anderen gewöhnlichern oder zuerst beschriebenen zu be- 
handeln. Zuweilen treten aber sehr schwierige Fälle, die ich 
hier nicht aufzählen will, bei Entscheidung der Frage ein, ob 
eine: Form als Varietät der anderen anzusehen seye oder nicht, 
sogar wenn beide durch Zwischenglieder enge miteinander ver- 
kettet sind; auch die gewöhnliche Annahme, dass diese Zwischen- 
glieder Bastarde seyen, will nicht immer genügen um die 
Schwierigkeit zu beseitigen. In sehr vielen Fällen jedoch wird 
eine Form als eine Varietät der andern erklärt, nicht weil die 
Zwischenglieder wirklich gefunden worden, sondern weil Analogie 
den Beobachter verleitet anzunehmen, entweder dass sie noch 
irgendwo vorhanden sind, oder dass sie früher vorhanden ge- 
wesen sind; und damit ist dann Zweifeln und Vermuthungen 
eine weite Thüre geöffnet. | 

Wenn es sich daher um die Frage handelt, ob eine Form 
als Art oder als Varietät zu bestimmen seye, scheint die Meinung 
der Naturforscher von gesundem Urtheil und reicher Erfahrung 
der einzige Führer zu bleiben. Gleichwohl können wir in vielen 
Fällen uns nur auf eine Majorität der Meinungen berufen; denn 
es lassen sich nur wenige wohl- bezeichnete und wohl-bekannte 
Varietäten namhaft machen, die nicht schon bei wenigstens einem 


‘oder dem anderen sachkundigen Richter als Spezies gegolten hätte. 


. Dass Varietäten von so zweifelhafter Natur keinesweges 
selten seyen, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man ver- 
gleiche die von verschiedenen Botanikern geschriebenen Floren 


PA 


54 
von Grossbritdnnien, Frankreich oder"den’Vereinien»Staaten mit 
einander und sehe, was für eine erstaunliche Anzahl von Formen 


von dem einen Naturforscher als gute Arten und vonıdem andern 


als blosse Varietäten angesehen werden. Herr H: C. Warsox, 
welchem ich zur innigsten Erkenntlichkeit für Unterstützung aller 


Art verbunden bin, hat mir 182 Britische Pflanzen ‘bezeichnet, 3 


welche gewöhnlich als Varietäten eingereiht werden, aber‘ auch 
schon alle ‘von Botanikern für Arten‘ erklärt‘ worden sind; 
dabei hat er noch manche leichtere aber auch schou von ‚einem 
oder dem anderen Botaniker als Art aufgenommene; Varietät 
übergangen und einige sehr polymorphe Sippen: gänzlich ausser 
Acht gelassen. Unter Sippen, welche die am meisten polymorphen 
Formen enthalten, führt Basınsron 251, "Bentuam dagegen nur 
112 Arten auf, ein Unterschied von 139 zweifelhaften Formen! 


Unter den Thieren, welche sich zu jeder Paarung vereinigen und 
sehr ortwechselnd sind, können dergleichen zweifelhalfte zwischen ° 


Art und Varietät schwankende Formen nicht: so leicht: in einer 
Gegend beisammen vorkommen, sind aber in getrennten Gebieten 
nicht selten. Wie viele dieser Nordamerikanischen und ‚Euro 
päischen Insekten und Vögel sind von dem einen ‚ausgezeichneten 
Naturforscher als unzweifelhafte Art und von: dem ‚anderen als 
Varietät oder sogenannte ‚klimatische'Rasse bezeichnet‘ worden! 
Als ich ‘vor vielen‘ Jahren die Vögel von den einzelnen, Inseln 
der Galopagos-Gruppe mit einander verglich und Andre, sie 
vergleichen sah, war ich ‚sehr darüber erstaunt, wie‘ gänzlich 
schwankend und. willkührlich: der Unterschied zwischen: Art und 
Varietät ist. Auf den Inselchen der kleinen Madeira-Gruppe 


kommen viele Insekten vor, welche:in WorrAstons bewunderns- 
würdigem Werke als Varietäten charakterisirt sind, die aber.ohne ” 


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— 


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allen Zweifel von: vielen Entomologen als besondre Arten-auf 


gestellt werden würden. Selbst Irland: besitzt: einige, ‚wenige 


jetzt allgemein als Varietäten angesehene Thiere, die vaber fi | 


einigen Naturforschern für Arten erklärt: worden sind. Einige sel 


erfahrene Ornithologen betrachten unser Britisches Rothhuhn. (Lago z 
pus) nur als eine scharf bezeichnete Rasse der Norwegischen Art, 
während die meisten solche: für ‚eine unzweifelhaft eigenthümliche 


SE: En > 


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Art Grossbritanniens erklären. Eine weite Entfernung zwischen 
der Heimath zweier zweifelhaften Formen bestimmt viele Natur- 
forscher dieselben für zwei Arten zu erklären; aber nun fragt 
es sich, welche Entfernung dazu genüge? Wenn die zwischen 
Europa und Amerika ‚gross genug ist, kann dann auch jene 
zwischen erstem Kontinente und den Azoren oder Madeira oder 
den Canarischen Inseln oder Irland genügen? Man muss zu- 
geben, dass viele von hoch-befähigten Richtern als Varietäten 
betrachtete Formen so vollkommen den Charakter von Arten be- 
sitzen, dass sie von andern hoch-befähigten Beurtheilern für gute 
ächte Spezies erklärt werden. Aber es ist vergebene Arbeit die 
Frage zu erörtern, ob es Arten oder Varietäten seyen, so lange 
noch keine Definition von dem Begriffe dieser zwei Ausdrücke 
allgemein angenommen ist. 

Viele dieser stark ausgeprägten Varietäten oder zweifelhaften 
Arten verdienten wohl eine nähere Beachtung, weil man vielerlei 
interessante Beweis-Mittel aus ihrer geographischen Verbreitung, ' 
analogen Variationen, Bastard-Bildungen u. 5. W. herbeigeholt hat, 
um die ihnen gebührende Rangstufe festzustelien. Ich will hier 
nur ein Beispiel anführen, das von den zwei Formen der Schlüs- 
selblumen, Primula veris und Pr. elatior. Diese zwei Pflanzen 
weichen bedeutend im Aussehen von einander ab; jede hat einen 
anderen Geruch und Geschmack; sie blühen zu etwas verschie- 
dener Zeit und wachsen an etwas verschiedenen Standorten; sie 
gehen an Bergen bis in verschiedene Höhen hinauf und haben 
eine verschiedene geographische Verbreitung; endlich lassen sie 
sich nach den vielen in den letzten Jahren von einem äusserst 
sorgfältigen Beobachter, GÄRTNER, angestellten Versuchen nur 
sehr schwierig mit einander kreutzen. Man kann also schwerlich 
bessre Beweise dafür wünschen, dass beide Formen verschiedene 
Arten bilden. Auf der andern Seite aber werden sie durch 
zahlreiche Zwischenglieder mit einander verkettet, und es ist 
sehr. zweifelhaft, dass Solches Bastarde sind; Diess ist, wie mir 
scheint, ein überwiegendes Maass von Experimental-Beweis dafür, „ 
dass sie von gemeinsamen Ältern abstammen und mithin nur als 
Varietäten zu betrachten sind. 


96 


Sorgfältige Forschung wird in den meisten Fällen die Natur. ii 


forscher zur Verständigung darüber bringen, wofür die zweifel- 
haften Formen zu halten sind. Doch müssen wir bekennen, 
dass es gerade in den aın besten bekannten Gegenden die 
meisten zweifelhaften Formen gibt. Ich war über die Thatsache 
erstaunt, dass von solchen Thieren und Pflanzen, welche dem 
Menschen in ihrem Natur-Zustande sehr nützlich sind oder aus 
irgend einer anderen Ursache seine besondre Aufmerksamkeit 
erregen, fast überall Varietäten angeführt werden. Diese Varie- 
täten werden jedoch oft von einem oder dem andern Autor als 
Arten bezeichnet. Wie sorgfältig ist die gemeine Eiche studirt 
worden! Nun macht aber ein Deutscher Autor über ein Dutzend 
Arten aus den Formen, welche bis jetzt stets als Varietäten an- 
gesehen wurden; und iin diesem Lande können unter den höchsten 
botanischen Gewährsmännern und vorzüglichsten Praktikern welche 
sowohl zu Gunsten der Meinung, dass die Trauben- und die 
Stiel-Eiche gut unterschiedene Arten seyen, wie auch andre für 
die gegentheilige Ansicht nachgewiesen werden. 

Wenn ein junger Naturforscher eine ihm ganz unbekannte 
Gruppe von Organismen zu studiren beginnt, so macht ihn an- 


fangs die Frage verwirrt, was für Unterschiede die Arten be- 


zeichnen, und welche von ihnen nur Varietäten angehören; denn 
er weiss noch nichts von der Art und der Grösse der Abän- 
derungen, deren die Gruppe fähig ist; und Diess beweiset eben 
wieder, wie allgemein wenigstens einige Variation ist. Wenn 
er aber seine Aufmerksamkeit auf eine Klasse in einer Gegend 
beschränkt, so wird er bald darüber im Klaren seyn, wofür er 
diese zweifelhaften Formen anzuschlagen habe. Er wird im 
Allgemeinen geneigt seyn, viele Arten zu machen, weil ihn, so 
wie die vorhin erwähnten Tauben- oder Hühner-Freunde, das 
Maas der Abänderung in den seither von ihm studirten Formen 
betroffen macht, und weil er noch wenig allgemeine Kenntniss 


von analoger Abänderung in andern Gruppen und andern Gegen- 
den zur Berichtigung jener zuerst empfangenen Eindrücke besitzt. 
Dehnt er nun den Kreis seiner Beobachtung weiter aus, so wird 
er noch auf andre Schwierigkeiten stossen; er wird einer grossen 


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97 


Anzahl nahe verwandter Formen begegnen. ; Erweitern sich seine 
Erfahrungen noch mehr, so. wird er endlich in seinem eignen 
Kopfe darüber einig werden,: was Varietät und was Spezies zu 
nennen seye; aber er wird zu diesem Ziele nur gelangen, indem 
er viel Veränderlichkeit zugibt, und er wird die Richtigkeit seiner 
Annahme von andern Naturforschern oft in Zweifel gezogen 
sehen. Wenn er nun überdiess verwandte Formen aus andern 
nicht unmittelbar angrenzenden Ländern zu studiren Gelegenheit 
erhält, in welchem Falle.er kaum hoffen darf die Mittelglieder 
zwischen diesen zweifelhaften Formen zu finden, so wird er sich 
fast ganz auf Analogie verlassen müssen, und seine Schwierig- 
keiten werden sich bedeutend steigern. 

Eine bestimmte Grenzlinie ist bis jetzt sicherlich nicht ge- 
zogen worden, weder zwischen Arten und Unterarten, d. i. sol- 
chen Formen, welche nach der Meinung einiger Naturforscher 
den Rang einer Spezies nahezu aber doch nicht gänzlich erreichen, 
noch zwischen Unterarten und ausgezeichneten Varietäten, noch 
endlich zwischen den geringeren Varietäten und individuellen 
Verschiedenheiten. Diese Verschiedenheiten greifen, in eine 
Reihe geordnet, , unmerklich in einander, und die Reihe weckt 
die Vorstellung von einem wirklichen Übergang. 

Daher werden die individuellen Abweichungen, welche für 
den Systematiker nur wenig Werth haben, für uns von grosser 
Wichtigkeit, weil sie die erste Stufe zu denjenigen geringeren 
Varietäten. bilden, welche man in naturgeschichtlichen Werken 
der Erwähnung werth zu halten pflegt. Ich sehe ferner diejenigen 
Abänderungen, welche etwas erheblicher und beständiger sind, 
als die nächste Stufe an, welche uns zu den mehr auffälligen 
und bleibenderen Varietäten führt, wie uns diese zu den Sub- 
spezies und endlich Spezies leiten. Der Übergang von einer 
dieser Stufen in die andre nächst-höhere mag in einigen Fällen 
lediglich von der lang-währenden Einwirkung verschiedener natür- 
licher Bedingungen in zwei verschiedenen Gegenden herrühren; 
doch habe ich nicht viel Vertrauen zu dieser Ansicht und 
schreibe den Übergang von einer leichten Abänderung zu einer 
wesentlicher verschiedenen Varietät der Wirkung der natürlichen 


98 


Züchtung imittelst Anhäufung individueller Abweichungen der 
Struktur in gewisser steter Richtung zu, wie nachher näher 
auseinandergesetzt werden soll. Ich glaube daher, dass man 
eine gut ausgeprägte Varietät mit Recht eine beginnende Spezies 
nennen kann; ob sich aber dieser Glaube rechtfertigen lasse, 
muss aus dem allgemeinen Gewichte der in diesem Werke bei- 
gebrachten Thatsachen und Ansichten ermessen werden. 

Es ist nicht nöthig zu unterstellen, dass alle Varietäten oder 
beginnenden Spezies sich wirklich zum Range einer Art erheben. 
Sie können in diesem Beginnungs-Zustande wieder erlöschen; 
oder sie können als solche Varietäten lange Zeiträume durchlau- 
fen, wie Worsasron von den Varietäten gewisser Landschnecken- 


Arten auf Madeira gezeigt*. Gedeihet eine Varietät derartig, 
dass sie die älterliche Species in Zahl übertrifft, so sieht man 
’ sie für die Art und die Art für die Varietät an; sie kann die 


älterliche Art aber allmählich auch ganz ersetzen und überleben; 
oder endlich beide können wie unabhängige Arten neben einan- 
der fortbestehen. Doch, wir werden nachher auf diesen Gegen- 
stand zurückkommen. 

Aus diesen Bemerkungen geht hervor, dass ich den Kunst- 
ausdruck »Species« als einen nur willkürlich und der Bequem- 
lichkeit halber auf eine Reihe von einander sehr ähnlichen Indi- 
viduen angewendeten betrachte, und dass er von dem Kunstaus- 
drucke »Varietät« nicht wesentlich, sondern. nur insofern verschie- 
den ist, als dieser auf minder abweichende und noch mehr 
schwankende Formen Anwendung findet. Und eben so ist die 
Unterscheidung zwischen »Varietät« und „individueller Abänderung« 
nur eine Sache der Willkür und Bequemlichkeit. | 

Durch theoretische Betrachtungen geleitet habe ich geglaub 
dass sich einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die Natur 
und die Beziehungen der am meisten variirenden Arten darbie- 
ten’ würden, wenn man alle Varietäten aus verschiedenen wohl- 


* Arsers hat dieselbe Beobachtung auf Madeira gemacht, aber eine 
andre Folgerung daraus gezogen: dass nämlich diese Formen, die während E 
unermesslicher Zeiträume immer dieselben geblieben, nicht in einander über- 
gehen und nicht, eine Spezies bilden. mn. 


Kunst! 
vers 
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on 
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59 


bearbeitetenFloren tabellarisch: zusammenstellte. Anfangs schien 
mir: 'Diess eine ‘einfache: ‚Sache zu‘ seyn. Aber Herr H, C. 
Warson, dem: ich für seine werthvollen Dienste und Hilfe in die- 
ser Beziehung \ sehr "dankbar: bin, überzeugte mich bald, dass 
Diess mit vielen: Schwierigkeiten verknüpft seye, was späterhin 
Dr. Hooker in noch ’bestimmterer Weise bestätigte. Ich behalte 
mir ‘daher für mein künftiges Werk die Erörterung: dieser Schwie- 
rigkeiten und die Tabellen über die Zahlen-Verhältnisse der 
variirenden Spezies vor. «Dr. :Hooser erlaubt mir noch beizu- 
fügen, ‚dass; nachdem«er meine: handschriftlichen Aufzeichnungen 
und Tabellen sorgfältig durchgelesen, er ‚die folgenden Feststel- 
lungen ‘für vollkommen wohl begründet: halte. Der ganze Gegen- 
stand aber, welcher hier nothwendig nur sehr kurz abgehandelt 
werden muss, ist ziemlich verwickelt, zumal: Bezugnahmen auf 
das „Ringen um Existenz«, auf die »Divergenz des Charakters« 
und andre erst später. zu. erörternde. Fragen nicht vermieden 
werden können. ' 

;: Aupmons' DeCanvoLıe u. a. Botaniker haben gezeigt, dass 
solche Pflanzen, die sehr weit ausgedehnte Verbreitungs-Bezirke 
besitzen, gewöhnlich auch Varietäten darbieten, wie sich ohne- 
diess schon ‚erwarten lässt, weil sie ‚verschiedenen physika- 
lischen ' Eintlüssen ausgesetzt sind und. mit anderen : Grup- 
pen von Organismen: in Mitbewerbung kommen, was, wie sich 
nachher ergeben soll, von noch viel grösserer ‚Wichtigkeit ist. 
Meine Tabellen zeigen aber ferner, dass auch in einem beschränk- 
ten «Gebiete die gemeinsten. d.h. die in den zahlreichsten Indi- 
viduen vorkommenden Arten und jene, welche innerhalb ihrer eig- 
nen Gegend am meisten verbreitet sind (was von »weiter. Ver- 
breitung« und in gewisser Weise von »Gemeinseyn« wohl zu unter- 
scheiden), oft zur Entstehung von hinreichend bezeichneten Varie- 
täten Veranlassung geben, um sie in botanischen Werken :auf- 
gezählt zu finden. Es sind mithin die am ‚üppigsten gedeihen- 
den. oder, wie‘ man sie nennen kann,: dominirenden Arten, 
nämlich die: am weitesten über die Erd-Oberfläche ausgedehnten, 
die in ihrer eignen Gegend am allgemeist verbreiteten, es sind die 
an Individuen reichsten Arten, welche am öftesten wohl ausgeprägte 


60 


Varietäten oder, wie man sie nennen möchte, Beginnende Species 
liefern. ‘Und Diess ist vielleicht 'vorauszusehen gewesen; denn 
so wie Varietäten, um einigermaassen bleibend zu werden, noth- E 
wendig mit andern Bewohnern der Gegend zu kämpfen haben, | 
so werden auch die bereits herrschend gewordenen Arten am 
meisten geeignet seyn Nachkommen zu liefern, welche, mit eini- 
gen leichten Veränderungen, diejenigen Vorzüge noch weiter zu 
vererben im Stande sind, wodurch ihre Ältern über ihre Lan- 
desgenossen das Übergewicht errungen haben. 

+ Wenn man die eine Gegend bewohnenden und in einer 
Flora derselben beschriebenen Pflanzen in zwei gleiche Haufen 
theilt, wovon der eine alle Arten aus grossen, und der andre 
alle aus kleinen Sippen enthält, 50 wird man eine etwas grössere 
Anzahl sehr gemeiner und sehr verbreiteter oder herrschender 
Arten auf Seiten der grossen Sippen finden. Auch Diess hat 
vorausgesehen werden können; denn schon die einfache That- 
sache, dass viele Arten einer und der nämlichen ‚Sippe eine 
Gegend bewohnen, zeigt etwas in der organischen oder unorga- 
nischen Beschaffenheit der Gegend -für die Sippe Günstiges an, 
daher man erwarten durfte, in den grösseren oder viele Arten 
‘enthaltenden Sippen auch eine verhältnissmässig grosse Anzahl 
herrschender Arten zu finden. Aber es gibt so viele Ursachen, 
welche dieses Ergebniss zu verhüllen streben, dass ich erstaunt 
bin, in meinen Tabellen doch noch ein-kleines Übergewicht auf Sei- 
ten der grossen Sippen zu finden. Ich will hier nur zwei Ur- 
sachen dieser Verhüllungen anführen. Süsswasser- und Salz- 
Pflanzen haben gewöhnlich weit ausgedehnte Bezirke und eine 
starke Verbreitung; Diess scheint aber mit der Natur ihrer Stand- 
orte zusammenzuhängen und hat wenig oder gar keine Bezie- 
hung zu dem Arten-Reichthum der Sippen, wozu sie gehören. 
Ebenso sind Pflanzen von unvollkommenen Organisations-Stufen 
gewöhnlich viel weiter als die hoch organisirten verbreitet, und 
auch hier besteht keine nahe Beziehung zur ‚Grösse der Sippen. 
Die Ursache dieser letzten Erscheinung soll in unseren Kapiteln 
über die geographische Verbreitung erörtert werden. u 

Indem ich die Arten nur als stark ausgeprägte und wohl 


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umschriebene Varietäten'betrachtete,' war ich im Stande voraus- 
zusagen, /dass die Arten der grösseren Sippen einer Gegend 
öfter, als die der kleineren, Varietäten darbieten würden; denn wo 
immer sich: viele einander nahe verwandte Arten (die der grösse- 
ren Sippen) gebildet haben, werden sich im Allgemeinen auch 
viele Varietäten derselben oder beginnende Arten zu bilden ge- 
neigt seyn, — wieda, wo viele grosse Bäume wachsen, man 
viele junge Bäumchen aufkommen zu sehen erwarten darf. Wo 
viele Arten einer Sippe durch Variation entstanden sind, da sind 
die Umstände günstig ‘für ‘Variation gewesen und möchte man 
mithin auch erwarten, sie noch jetzt günstig zu finden. Wenn 
wir dagegen jede Art als einen besonderen Akt der Schöpfung 
betrachten, so ist kein Grund einzusehen, weshalb verhältniss- 
mässig ‘mehr Varietäten in einer Arten-reichen Gruppe als -in 
einer solchen mit wenigen Arten vorkommen sollten. 

Um die Richtigkeit dieser Voraussagung zu beweisen, habe 
ich ‘die Pflanzen-Arten in. zwölf verschiedenen Ländern und die 
Käfer-Arten in zwei verschiedenen Gebieten in je zwei einander 
fast gleiche‘ Haufen getheilt, die Arten der grossen 'Sippen auf 
der einen und ‘die der kleinen auf der andern Seite, und es hat 
sich beharrlich überall dasselbe Ergebniss gezeigt, dass eine 
verhältnissmässig  grössre Anzahl von: Arten bei den grossen 
Sippen Varietäten haben als bei den kleinen.  Überdiess bieten 
die Arten der grossen Sippen, welche überhaupt Varietäten 
haben, eine verhältnissmässig grössere Varietäten-Zahl dar, als 
die der kleineren. Zu diesen beiden Ergebnissen gelangt man 
auch, wenn man die Eintheilung anders macht und alle Sippen 
mit nur 1-4 Arten ganz aus den Tabellen ausschliesst. Diese 
Thatsachen sind ‘von klarer Bedeutung für die Ansicht, dass 
Arten nur streng ausgeprägte und bleibende Varietäten sind; 
denn wo immer viele Arten in einerlei Sippe gebildet worden 
sind oder wo, wenn der Ausdruck erlaubt ist, die Arten-Fabri- 
kation thätig betrieben worden ist, müssen wir gewöhnlich diese 
Fabrikation noch in Thätigkeit finden, zumal wir alle Ursache 
haben zu glauben, dass das Fabrikations-Verfahren ein sehr lang- 
sames seye. ‘Und Diess ist sicherlich der Fall, wenn Varietäten 


62 


als beginnende Arten zu’ betrachten; denn meine Tabellen zei. 
gen deutlich ganz allgemein, dass, wo immer: viele Arten einer 
Sippe gebildet worden sind, diese Arten 'eine den Durchschnitt 
übersteigende Anzahl von Varietäten ‘oder ‘' beginnenden neuen 
Arten enthalten. Damit soll nicht "gesagt werden,‘ dass alle 
grossen Sippen jetzt sehr variiren und in Vermehrung ihrer 
Arten-Zahl begriffen sind, oder ‘dass keine kleine . Sippe jetzt 
Varietäten bilde” und wachse; denn .dieser  Fall'wäre sehr ver- 
derblich für meine Theorie, ''zumal uns die Geologie klar bewei- 
set, dass kleine Sippen im Laufe ‘der Zeit oft sehr gross gewor- 
den, und: dass grosse Sippen, nachdem sie ‘ihr Maximum erreicht, 
wieder zurückgesunken und endlich verschwunden sind, Alles, 
was!'hier' zu beweisen nöthig ist, beschränkt sich darauf, dass 
da, wo viele Arten in einer Sippe gebildet worden, auch noch 
jetzt durchschnittlich viele in Bildung begriffen sind; und Diess 
ist nachgewiesen. | 

Es gibt aber ‘noch andere beachtenswerthe "Beziehungen 
zwischen den Arten grosser Sippen und den aufgeführt werden- 
den Varietäten derselben. Wir haben gesehen, dass es kein 
untrügliches Unterscheidungs-Merkmal zwischen Arten und stark 
ausgeprägten Varietäten gibt; und in jenen Fällen, wo Mittel- 
glieder zwischen zweifelhaften Formen noch nicht gefunden wor- 
den, sind die Naturforscher genöthigt, ihre Bestimmungen "von 
der Grösse der Verschiedenheiten zwischen zwei Formen abhängig 
zu machen, indem sie nach der Analogie 'urtheilen, ob. ‚deren 


Betrag genüge, um nur eine oder alle beide zum Range von 
Arten zu erheben. Der Betrag der Verschiedenheit ‘ist mithin 
ein sehr wichtiges Merkmal bei der Bestimmung, ‘ob zwei: For- 
men für Arten oder für Varietäten gelten 'sollen.. Nun haben 
Fries in Bezug auf die Pflanzen und Wesrwoon hinsichtlich der 
Insekten die Bemerkung gemacht, dass in grossen Sippen der 
Grad der Verschiedenheit zwischen den Arten oft ausserordent 
lich klein ist; Ich ‘habe Diess in Zahlen-Durchschnitten zu prü- 
fen gesucht und, so weit meine noch «unvollkommenen Ergeb- 
nisse reichen, bestätigt gefunden. Ich habe’ mich desshalb auch 
bei einigen genauen und erfahrenen Beobachtern befragt und 


63 


nach Auseinandersetzung ‚der‘ Sache. gefunden, ‘dass sie. in der- 
selben ‚übereinstimmen. In dieser Hinsicht gleichen demnach die 
Arten der. grossen Sippen..den Varietäten mehr, als. die Arten‘ 
der kleinen: . Nun kann: man. die Sache..aber auch anders aus- 
drücken ‚und sagen, dass in den grösseren Sippen, ‚wo, eine den 
Durchschnitt übersteigende Anzahl von Varietäten oder beginnen- 
den Spezies noch jeiz fabrieirt worden, viele der bereits fertigen 
Arten doch bis zu einem gewissen Grade Varietäten gleichen, 
insofern ‚sie durch ein&n weniger als gewöhnlich grosses Maass 
von Verschiedenheit von einander getrennt werden: 

Überdiess stehen die Arten grosser Sippen in ae 
Beziehung, ‘wie die Varietäten einer ‚Art zn einander, Kein 
Naturforscher glaubt, dass alle Arten einer Sippe in gleichem 
Grade von einander verschieden sind ; sie werden daher gewöhn- 
lich noch in Subgenera,; in Sektionen oder noch untergeordnetere 
Gruppen getheilt. Wie Fries bemerkt, sind diese kleinen Arten- 
Gruppen gewöhnlich wie ‚Satelliten um gewisse andere Arten 
geschaart. Und was sind Varietäten anders als Formen-Gruppen 
von ungleicher wechselseitiger Verwandtschaft um gewisse Formen 
versammelt, um die Stamm-Arten nämlich? Unzweifelhaft ist ein 
grössrer Unterschied zwischen Arten als zwischen Varietäten; 
insbesondere ist der Betrag der Verschiedenheit der. Varietäten 
von einander oder von ihren Stamm- Arten kleiner, als der 
zwischen den Arten derselben Sippe. Wenn wir aber zur Er- 
örterung des Prineips, wie ich es nenne, der »Divergenz des 
Charakters« kommen, so werden wir sehen, wie Diess zu erklä- 
ren, ünd wie die geringeren Verschiedenheiten zwischen Varietä- 
ten erwachsen zu den grösseren Verschiedenheiten zwischen 
den Arten. 

Es gibt da noch einen andern Punkt, welcher mir der 
Beachtung werth scheint. Varietäten haben gewöhnlich eine 
beschränktere Verbreitung, was schon aus dem Vorigen folgt; 
denn. wäre eine Varietät, weiter verbreitet, als ihre angebliche 
Stamm-Art,: so müsste deren , Bezeichnung umgekehrt , werden. 
Es ist aber auch Grund vorhanden zu glauben, dass diejenigen 
Arten, welche sehr nahe mit anderen Arten verwandt sind und 


64 


insoferne Varietäten gleichen, oft engre Verbreitungs-Grenzen 
haben. So hat mir z. B. Herr H. C. Warson in dem wohl- 
gesichteten Londoner Pflanzen-Katalog (vierte Ausgabe) 63 Pflan- 
zen bemerkt, welche als Arten darin aufgeführt sind, die er aber 
für so nahe mit anderen Arten verwandt hält, dass ihr Rang 
zweifelhaft wird. Diese 63 gering-werthigen Arten verbreiten 
sich im Mittel über 6,, der Provinzen, in welche Warson Gross- 
britannien eingetheilt hat. Nun sind im nämlichen Kataloge auch 
53 anerkannte Varietäten aufgezählt, und diese erstrecken sich 
über 7,, Provinzen, während die Arten, wozu diese Varietäten 
gehören, sich über I4,, Provinzen ausdehnen. Daher denn die 
anerkannten Varietäten eine beinahe eben so beschränkte mittle 
Verbreitung besitzen, als jene nahe verwandten Formen, welche 
Warson als zweifelhafte Arten bezeichnet hat, die aber von Bri- 
tischen Botanikern gewöhnlich für gute und ächte Arten genom- 
men werden. Endlich haben dann Varietäten auch die nämlichen 
allgemeinen Charaktere, wie Species; denn sie können von Arten 
nicht unterschieden werden, ausser, erstens, durch die Ent- 
deckung von Mittelgliedern, und das Vorkommen solcher Glieder 
kann den wirklichen Charakter der Formen, welche sie verketten, 
nicht berühren, — und ausser, zweitens, durch ein gewisses 
Maass von Verschiedenheit, indem zwei Formen, welche nur 
sehr -wenig von einander abweichen, allgemein nur als Varietä- 
ten angesehen werden, wenn auch verbindende Mittelglieder noch 
nicht entdeckt worden sind; aber dieser Betrag von Verschieden- 
heit, welcher zur Erhebung zweier Formen zum Arten-Rang 
nöthig, ist ganz unbestimmt. In Sippen, welche mehr als die 
mittle Arten-Zahl in einer Gegend haben, zeigen die Arten auch 
mehr als die Mittelzahl von Varietäten. In grossen Sippen lassen 
sich die Arten nahe, aber in ungleichem Grade, mit einander 
verbinden zu kleinen um gewisse Arten geordneten Gruppen. 
Sehr nahe miteinander verwandte Arten sind von offenbar. be- 
schränkter Verbreitung. In all’ diesen verschiedenen Beziehungen 
zeigen die Arten grosser Sippen eine strenge Analogie mit Va- 
rietäten. Und man kann diese Analogie’n klar begreifen, wenn 
Arten einstens nur Varietäten gewesen und aus diesen hervor- 


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‚gegangen sind; wogegen diese Analogie'n ganz unverständlich 


seyn würde en, wenn jede Spezies von den andern er, 
erschaffen worden wäre. 

Wir haben nun gesehen, dass es die am besten gedeihende 
und herrschende Spezies grösserer Sippen ist, die im Durchschnitte 
genommen am meisten varüirt; und Varietäten haben, wie wir 
hernach finden werden, Neigung in neue und unterschiedene 
Arten überzugehen. Dadurch neigen auch die grossen Sippen 
zur Vergrösserung, und in der ganzen Natur streben die Lebens- 
Formen, welche jetzt herrschend sind, noch immer mehr herr- 
schend zu werden durch Hinterlassung vieler abgeänderter und 
herrschender Abkömmlinge., Aber durch nachher zu erläuternde 
Abstufungen streben auclı die grösseren Sippen immer mehr in 
kleine auseinander zu treten. Und so werden die Lebens-For- 
men auf der ganzen Erde in Gruppen und Untergruppen weiter 
abgetheilt. 


Drittes Kapitel, 
Der Kampf um’s Daseyn. 


/Stützt sich auf natürliche Züchtung. 2 Der Ausdruck im weitern Sinne ge- 


braucht. > Geometrische Zunahme. 7Rasche Vermehrung naturalisirter Pflan- 
zen und Thiere.ö Natur der Hindernisse der Zunahme. ; Allgemeine Mit- 
bewerbung. {Wirkungen des Klimas. "Schutz durch die Zahl der Individuen. 
/Verwickelte Beziehungen aller Thiere und Pflanzen in der ganzen Natur. 
/‚Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelwesen und Varietäten einer Art, 
oft auch zwischen Arten einer Sippe.//Beziehung von Organismus zu 
Organismus die wichtigste aller Beziehungen. 

‘ Ehe wir auf den Gegenstand dieses Kapitels eingehen, muss 
ich einige Bemerkungen voraussenden, um zu zeigen, wie das 
Ringen um das Daseyn sich auf natürliche Züchtung stütze. Es 
ist im letzten Kapitel nachgewiesen worden, dass die Organismen 
im Natur-Zustande eine individuelle Variabilität besitzen, und ich 
wüsste in der That nicht, dass Diess je bestritten worden wäre. Es 
ist für uns unwesentlich, ob eine Menge von zweifelhaften Formen 

5 


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Art, Unterart oder Varietät genannt werde; welchen Rang 


z. B. die 200—300 zweifelhaften Formen Britischer Pflan- 
zen einzunehmen berechtigt sind, wenn die Existenz ausgepräg- 
ter Varietäten zulässig ist. Aber das blosse Daseyn einer indi- 
viduellen Veränderlichkeit und einiger wohl-bezeichneter Varietäten, 
wenn auch notlıwendig zur Begründnng dieses Werkes, hilft uns 
nicht viel, um zu begreifen, wie Arten in der Natur entstehen. 
Wie sind alle diese vortrefflichen Anpassungen von einem Theile 
der Organisation an den andern und an die äusseren Lebensbedin- 
gungen, und von einem organischen Wesen an ein anderes be- 
wirkt worden? Wir sehen diese schöne Anpassung am klarsten 
bei dem Specht und der Mistelpflanze und nur ‚wenig minder 
deutlich am niedersten Parasiten, welcher sich an das Haar eines 
Säugthieres oder die Federn eines Vogels anklammert; am Bau 
des Käfers, welcher ins Wasser untertaucht; am befiederten 
Saamen, der vom leichtesten Lüftchen getragen wird; kurz wir 
sehen schöne Anpassungen überall und in jedem Theile der or- 
ganischen Welt. 

Dagegen kann man fragen, wie kommt es, dass die Varie- 
täten, die ich beginnende Spezies genannt habe, sich zuletzt in 
gute und abweichende Spezies verwandeln, welche mesftens un- 
ter sich viel mehr, als die Varitäten der nämlichen Art verschie- 
den sind? Wie entstehen diese Gruppen von Arten, welche als 
verschiedene Genera bezeichnet werden und mehr als die Arten 


dieser Genera von einander abweichen? Alle diese Wirkungen 


erfolgen unvermeidlich, wie wir im nächsten Abschnitte sehen 
werden, aus dem Ringen um’s Daseyn. In diesem Wettkampfe 
wird jede Abänderung, wie gering und auf welche Weise immer 
sie entstanden seyn mag, wenn sie nur einigermaassen vortheil- 
haft für das Individuum einer Spezies ist, in dessen unendlich 
verwickelten Beziehungen zu anderen Wesen und zur äusseren 
Natur mehr zur Erhaltung dieses Individuums mitwirken und 
sich gewöhnlich auf dessen Nachkommen übertragen. Ebenso 
wird der Nachkömmling mehr Aussicht haben, die vielen anderen 
Einzelwesen dieser Art, welche von Zeit zu Zeit geboren wer- 
den, von denen aber nur eine kleinere Zahl am Leben bleibt, 


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67 


zu überdauern. Ich habe dieses Prinzip, wodurch jede solche 
geringe, wenn nützliche Abänderung erhalten wird, mit dem 
Namen »Natürliche Züchtung« belegt, um dessen Beziehung 
zur Züchtung des Menschen zu bezeichnen. Wir haben gesehen, 
dass der: Mensch "durch Auswahl zum Zwecke der Nachzucht 
grosse Erfolge sicher zu erzielen und organische Wesen seinen 
eignen Bedürfnissen anzupassen im Stande ist durch die Häufung 
kleiner aber nützlicher Abweichungen, die ihm durch die Hand 
der Natur dargeboten werden. Aber die Natürliche Auswahl ist, 
wie wir nachher sehen werden, wunaufhörlich thätig und des 
Menschen schwachen Bemühungen so unvergleichbar überlegen, 
wie es die Werke der Natur überhaupt denen der Kunst sind. 
; Wir‘ wollen nun den Kampf um's Daseyn etwas mehr ins 
Einzelne erörtern. In meinem späteren Werke über diesen Ge- 
genstand soll er, wie er es verdient, in grösserem Umfang be- 
sprochen werden. Der ältere DrCanvoLze und Lyeıı haben reich- 
lich und in philosophischer Weise nachgewiesen, dass alle orga- 
nischen Wesen im Verhältnisse der Mitbewerbung zu einander 
stehen. In Bezug auf die Pflanzen hat Niemand diesen Gegenstand 
mit mehr Geist und Geschicklichkeit behandelt als W. HERBERT, 
der Dechant von Manchester, offenbar in Folge seiner ausge- 
zeichneten Gartenbau-Kenntnisse. Nichts ist leichter als in Wor- 
ten die Wahrheit des allgemeinen Wettkampfes um's Daseyn zu- 
zugestehen, und nichts schwerer, als — wie ich wenigstens ge- 
funden habe — dieselbe im Sinne zu behalten. Und bevor wir 
solche nicht dem Geiste tief eingeprägt, bin ich überzeugt, dass 
wir den ganzen Haushalt der Natur, die Vertheilungs-Weise, die 
Seltenheit und den Überfluss, das Erlöschen und Abändern in 
derselben nur dunkel oder ganz unrichtig begreifen werden. 
Wir sehen‘ die Natur äusserlich in Heiterkeit strahlen, wir sehen 
blos Überfluss an Nahrung; aber wir sehen nicht oder verges- 
sen, dass die Vögel, welche um uns her sorglos ihren Gesang 
erschallen lassen, meistens von Insekten oder Saamen‘ leben 
und mithin beständig Leben vertilgen; oder wir vergessen, wie 
viele dieser Sänger oder ihrer Eier oder ihrer Nestlinge unauf- 
hörlich von Raubvögeln u. a. Feinden zerstört werden; wir 
| * 


5 


68 


behalten nicht immer im Sinne, dass, wenn auch das Futter jetzt 
im Überfluss vorhanden, Diess doch nicht zu allen Zeiten im 
Umlaufe des Jahres der Fall ist. | 

..  Jeh will voraussenden, dass ich den Ausdruck »Ringen um's 
Daseyn« in einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, 
in sich. begreifend die Abhängigkeit der Wesen von einander 
und, was wichtiger ist, nicht allein das Leben des Individuums, 
sondern auch die Sicherung seiner 'Nachkommenschaft. . Man 
kann mit Recht sagen, dass zwei Hunde: in Zeiten: des Mangels 
um Nahrung und Leben miteinander kämpfen. Aber man kann 
auch sagen, eine Pflanze ringe am Rande der Wüste um: ihr 
Daseyn mit der Trockniss, obwohl es angemessener wäre zu 
sagen, sie seye von Feuchtigkeit abhängig. Von einer, Pflanze, 
welche alljährlich tausend Saamen erzeugt, unter. welchen im 
Durchschnitte nur einer zur Entwicklung kommt, kann man noch 
richtiger sagen, sie ringe ums Daseyn mit andern Pflanzen der- 
selben oder anderer Arten, welche bereits den Boden bekleiden. 
Die Mistel ist abhängig vom Apfelbaum und einigen andern Baum- 
Arten; doch kann man nur in einem weit-ausholenden Sinne sa- 
gen, sie ringe mit diesen Bäumen; denn wenn zu viele dieser 
Schmarotzer auf demselben Stamme wachsen, so wird er ver- 
kümmern und sterben. Wachsen aber mehre Sämlinge dersel- 
ben dicht auf einem Aste beisammen, so kann man in Wahrheit 
sagen, sie ringen miteinander. Da die Samen der Mistel von 
Vögeln ausgestreut werden, so hängt ihr Daseyn mit von dem 
der Vögel ab, und man kann metaphorisch sagen, sie ringen mit 
andern Beeren-tragenden Pflanzen, damit die Vögel eher ihre 
Früchte verzehren und ihre Saamen ausstreuen, als die der an- 
dern. In diesen mancherlei Bedeutungen, welche ineinander 
übergehen, gebrauche ich der Bequemlichkeit halber den Aus- 
druck »um’s Daseyn ringen«. 

3 Ein Kampf um’s Daseyn folgt unvermeidlich aus der Nei- 
gung aller Organismen, sich in starkem Verhältnisse zu vermeh- 
ren. Jedes Wesen, das während seiner natürlichen Lebenszeit 
mehre Eier oder Saamen hervorbringt, muss während einer 
Periode seines Lebens oder zu gewisser Jahreszeit oder in einem 


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zufälligen Jahre Zerstörung erfahren; sonst würde seine Zahl 
in 'geometrischer 'Progression rasch zu so ausserordentlicher 
Grösse anwachsen, dass keine Gegend das Erzeugniss zu ernäh- 
ren im Stande wäre. ' Wenn daher mehr Individuen erzeugt 
werden, als möglicher Weise fortbestehen können, so muss je- 
denfalls ein Kampf um das Daseyn entstehen, entweder zwischen 
den Individuen einer Art oder zwischen denen verschiedener 
Arten, oder zwischen ihnen und den äusseren Lebens-Bedingungen. 
Es ist die Lehre von Marruus, in verstärkter Kraft übertragen 
auf das gesammte Thier- und Pflanzen-Reich; denn in diesem 
Falle ist keine künstliche Vermehrung der Nahrungsmittel und 
keine vorsichtige Enthaltung vom Heirathen möglich. Obwohl 
daher einige Arten jetzt in mehr oder weniger rascher Zunahme 
begriffen seyn mögen: alle können es nicht zugleich, denn die 
Welt würde sie nicht fassen. zZ 

Es gibt keine Ausnahme von der Regel, dass jedes orga- 
nische Wesen sich auf natürliche Weise in dem Grade vermehre, 
dass, wenn es nicht durch Zerstörung litte, die Erde bald von der 
Nackommenschaft eines einzigen Paares bedeckt seyn würde. 
Selbst der Mensch, welcher sich doch nur langsam vermehrt, 
verdoppelt seine Anzahl in fünfundzwanzig Jahren, und bei so 
fortschreitender Vervielfältigung ‘würde die Welt schon nach eini- 
gen Tausend Jahren keinen Raum mehr für seine Nachkommen- 
schaft haben. Lins£ hat berechnet, dass, wenn eine einjährige 
Pflanze nur zwei Saamen erzeugte (und es gibt keine Pflanze, 
die so wenig produktiv wäre) und ihre Sämlinge gäben im näch- 
sten Jahre wieder zwei u. s. w., sie in zwanzig Jahren schon 
eine Million Pflanzen liefern würde. Man sieht den Elephanten 
als das sich am’ langsamsten vermehrende von allen bekann- 
ten Thieren an. Ich habe das wahrscheinliche Minimum seiner 
natürlichen Vermehrung zu berechnen gesucht, unter der Voraus- 
setzung, dass seine Fortpflanzung erst mit dreissig Jahren be- 
ginne und bis zum neunzigsten Jahre währe, und dass er in dieser 
Zeit nur drei Paar Junge zur Welt bringe. In diesem Falle wür- 
den nach fünfhundert Jahren schon fünfzehn Millionen Elephanten 
von dem ersten Paare vorhanden seyn, 


70 


7 Doch wir haben bessre Belege für ‘diese Sache, als 


theoretische Berechnungen, “namentlich in den oft: berichteten 
Fällen von erstaunlich rascher Vermehrung verschiedener Thier- 
Arten im Natur-Zustande, wenn die natürlichen Bedingungen zwei 
oder drei Jahre lang dafür günstig gewesen sind. Noch schla- 
gender sind die von unseren in verschiedenen Weltgegenden 
verwilderten Hausthier-Arten hergenommenen Beweise, so dass, 
wenn die Behauptungen von der Zunahme: der sich doch nur 
langsam vermehrenden Rinder und Pferde in Süd-Amerika 
und neuerlich in Australien nicht sehr wohl bestätigt wären, 'sie 
ganz unglaublich erscheinen müssten. Eben so ist es mit den 
Pflanzen. Es lassen sich Fälle von eingeführten Pflanzen auf- 
zählen, welche auf ganzen Inseln gemein geworden sind in we- 
niger als zehn Jahren. Einige der Pflanzen, welche jetzt in 
solcher Zahl über die weiten Ebenen von la Plata verbreitet 
sind, dass sie alle anderen Pflanzen daselbst ausschliessen, sind 
aus Europa eingebracht worden; und eben so gibt es, wie ich 
von Dr. Farconer gehört, in Ostindien Pflanzen, welche jetzt vom 
Cap Comorin bis zum Himalaya reichen und seit der Entdeck- 
ung von Amerika von dorther eingeführt worden sind. In Fäl- 
len dieser Art, von welchen endlose Beispiele angeführt werden 
könnten, wird Niemand unterstellen, dass die Fruchtbarkeit sol- 
cher Pflanzen und Thiere plötzlich und zeitweise in einem be- 
merklichen Grade zugenommen habe. Die handgreifliche Erklä- 
rung ist, dass die äussern Lebens-Bedingungen sehr günstig, 
dass in dessen Folge die Zerstörung von Jung nnd Alt geringer 
und mithin fast alle Abkömmlinge im Stande gewesen sind, sich 
fortzupflanzen. In solchen Fällen genügt schon das geome- 
_trische Verhältniss der Zahlen-Vermehrung, dessen Resultat nie 
verfehlt Erstaunen zu erregen, um einfach das ausserordentliche 
Wachsthum und die weite Verbreitung eingeführter Natur-Pro- 
dukte in ihrer neuen Heimath zu erklären. Im Natur-Zustande 
bringen fast alle Pflanzen jährlich Saamen hervor, und unter den 
Thieren sind nur sehr wenige, die sich nicht jährlich paarten. 
Wir können daher mit Sicherheit behaupten, dass alle Pflanzen 
und Thiere sich in geometrischem Verhätnisse vermehren, dass 


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7 


sie jede zu ihrer Ansiedelung geeignete Gegend sehr rasch: zu 
bevölkern im Stande seyen, und dass das Streben zur geome- 
trischen Vermehrung zu irgend einer Zeit ihres Lebens be- 
schränkt werden muss.  Unsre genaue Bekanntschaft mit den 
grösseren Hausthieren könnte zwar unsre Meinung in dieser Be- 
ziehung irre leiten, da 'wir keine grosse Störung unter ihnen 
eintreten sehen; aber wir vergessen, dass Tausende jährlich zu 
unsrer Nahrung geschlachtet werden, und dass im Natur-Zustande 
wohl eben so viele irgendwie beseitigt werden würden. 

Der einzige Unterschied zwischen den Organismen, welche 
jährlich Tausende von Eiern oder Saamen hervorbringen, und 
jenen welche deren nur sehr wenige liefern, besteht darin, dass 
diese unter günstigen Verhältnissen ein paar Jahre länger als 
jene zur Bevölkerung eines Bezirkes nöthig haben, seye derselbe 
auch noch so gross. Der Condor legt zwei Eier und der Strauss 
deren zwanzig, und doch dürfte in einer und derselben Gegend 
der Condor leicht:der häufigere von beiden werden. Der Eis-Sturm- 
vogel (Procellaria glacialis) legt nur ein Ei, und doch glaubt man 
er seye der zahlreichste ‘Vogel in der Well. Die eine Fliege 
legt hundert Eier und die andre wie z. B. Hippobosca deren 
nur eines; Diess bedingt aber nicht die Menge der Individuen, 
die in einem Bezirk ihren Unterhalt finden können. Eine grosse 
Anzahl von Eiern ist von einiger Wichtigkeit für eine Art, deren 
Futter-Vorräthe raschen Schwankungen unterworfen sind; denn 
diese muss ihre Vermehrung in kurzer Frist bewirken. Aber 
wesentliche Wichtigkeit erlangt eine grosse Zahl von Eiern 
oder Samen der Grösse der Zerstörung gegenüber, welche zu 
irgend einer Lebens-Zeit erfolgt, und diese Zeit des Lebens ist 
in der grossen Mehrheit der Fälle eine sehr frühe. Kann ein 
Thier in irgend einer Weise seine eignen Eier und Junge schützen, 
so wird es deren eine geringere Anzahl erzeugen und diese 
ganze durchschnittliche Anzahl aufbringen; werden aber viele 
Eier oder Junge zerstört, so müssen deren viele erzeugt werden, 
wenn die Art nicht untergehen soll. Wird eine Baum-Art durch- 
schnittlich tausend Jahre alt. so würde es zur Erhaltung ihrer 
vollen Anzahl genügen, wenn sie in tausend Jahren nur einen 


12 


Saamen hervorbrächte, vorausgesetzt dass dieser eine nie zer- 
stört würde und auf einen sicheren für die Keimung geeigneten 
Platz gelangen könnte. So hängt in allen Fällen die mittle An- 
zahl von Individuen einer Pflanzen- oder Thier-Art nur indirekt 
von der Zahl der Saamen oder Eier ab, die sie liefert. 

Bei Betrachtung der Natur ist es nöthig, diese Ergebnisse 
immer im Sinne zu behalten und nie zu vergessen, dass man 
von jedem einzelnen Organismus unsrer Umgebung sagen kann, 
er strebe nach der äussersten Vermehrung seiner Anzahl, dass 
aber jeder in irgend einem. Zeit- Abschnitte seines Lebens in 
einem Kampfe mit feindlichen Bedingungen begriffen seye, und dass 
grosse Zerstörung unvermeidlich über Jung oder Alt ergehe in jeder 
Generation oder in wiederkehrenden Perioden. Wird. irgend 
ein: Hinderniss beseitigt oder die Zerstörung noch so wenig gemin- 
dert, so wird in der Regel augenblicklich die Zahl der Individuen 
stärker anwachsen. 

5 Was für Hindernisse es sind, weiche das natürliche Streben 
jeder Art nach Vermehrung ihrer Anzahl beschränken, ist mei- 
stens unklar. Betrachtet man die am kräftigsten gedeihenden 
Arten, so wird man finden dass, je grösser ihre Zahl wird, desto 
mehr ihr Streben nach weitrer Vermehrung zunimmt. Wir wissen 
nicht einmal in einem einzelnen Falle genau, welches die Hinder- 
nisse der Vermehrung sind. Diess wird jedoch niemanden in 
Verwunderung setzen, der sich erinnert, wie unwissend wir in 
dieser Beziehung bei dem Menschen selbst . sind, . welcher 
doch ohne Vergleich besser. bekannt ist als irgend eine ‚andre 
Thier-Art. Doch ist dieser Gegenstand von mehren Schriftstellern 
vortrefflich erörtert worden; ich ‚werde in ‚meinem späteren 
Werke über mehre der Hindernisse mit einiger Ausführlichkeit 
handeln und insbesondre auf die Raubihiere Südamerikas etwas 


näher eingehen. Hier mögen nur einige wenige Bemerkungen 
Raum finden, nur um dem Leser einige Hauptpunkte. ins ‚Ge- 
dächtniss zu rufen. Eier und ganz junge Thiere scheinen am 
meisten zu leiden, doch ist Diess nicht ganz ohne Ausnahme. 
Den. Pflanzen wird zwar eine gewaltige Menge von Saamen zer- 
stört; aber nach einigen Beobachtungen scheint es mir, als litten 


13 


die Sämlinge am meisten, wenn sie auf einem schon mit andern 
Pflanzen dicht bestockten Boden wachsen. Auch die Sämlinge 
werden noch in grosser Menge durch verschiedene Feinde ver- 
nichtet. So beobachtete ich auf einer locker umgegrabenen Boden- 
Fläche von 3' Länge und 2‘ Breite 357 Sämlinge unsrer ver- 
schiedenen Holz-Arten, wovon nicht weniger als 295 hauptsächlich 
durch Schnecken und Insekten zerstört wurden. Wenn man 
einen Rasen, der lang abgemähet wurde (und der Fall wird 
der nämliche bleiben, wenn er durch Säugthiere kurz abgeweidet 
worden), wachsen lässt, so werden die kräftigeren Pflanzen all- 
mählich die minder kräftigen wenn auch voll ausgewachsenen 
tödten; und in einem solchen Falle hat man von zwanzig auf einem 
nur 3‘ auf 4‘ grossen Fleck beisammen wachsenden Arten neun 
zwischen den anderen nun üppiger aufwachsenden zu Grunde 
gehen sehen. 

; Die für eine jede Art vorhandene Nahrungs-Menge bestimmt 
die äusserste Grenze, bis zu welcher sie sich vermehren kann; 
aber in vielen Fällen wird die Vermehrung einer Thier-Art schon 
weit unter dieser Grenze dadurch gehemmt, dass sie selbst wie- 
der einer andern zur Beute wird. Es scheint daher wenig Zweifel 
unterworfen zu seyn, dass der Bestand an Feld- und Hasel- 
Hühnern, Hasen u. s. w.. grossentheils hauptsächlich von .der 
Zerstörung der kleinen Raubthiere abhängig ist. Wenn in Eng- 
land in den nächsten zwanzig Jahren kein Stück Wildpret ge- 
schossen, aber auch keine solche Raubthiere zerstört würden, 
so würde nach aller Wahrscheinlichkeit der Wild-Stand nachher 
geringer seyn als jetzt, obwohl jetzt Hunderte und Tausende 
von Stücken Wildes erlegt werden.  Anderseits gibt es aber 
auch einige Fälle wo, wie bei Elephant und Nashorn, eine Zer- 
störung durch Raubthiere gar nicht stattfindet, und selbst der 
Indische Tiger wagt es nur sehr selten einen jungen von seiner 
Mutter geschützten Elephanten anzugreifen. 

/ Das Klima. hat ferner einen wesentlichen Antheil an Be- 
stimmung der durchschnittlichen Individuen -Zahl einer Art, und 
ich glaube dass ein periodischer Eintritt von äusserst kalter oder 
trockener Jahreszeit zu den wirksamsten aller Hemmnisse gehört. 


4 


Ich schätze, dass der Winter 1854—55 auf meinen eignen Jagd- 
Gründen vier Fünftheile aller Vögel zerstört hat; und Diess ist eine 
furchtbare Zerstörung, wenn wir berücksichtigen, dass bei dem 
Menschen eine durch Seuchen verursachte Sterblichkeit von zehn 
Prozent schon ganz ausserordentlich stark ist. Die Wirkung des 
Klimas scheint beim ersten Anblick ganz unabhängig von dem 
Kampfe um die Existenz zu seyn; wenn aber das Klima haupt- 
sächlich die Nahrung vermindert, veranlasst es den hefligsten 
Kampf zwischen den Einzelwesen seye es nur einer oder seye 
es verschiedener Arten, welche von derselben Nahrung leben. 
Selbst wenn ein, z. B. äusserst kaltes, Klima unmittelbar wirkt, 
sind es die mindest kräftigen oder diejenigen Individuen, die 
beim vorrückenden Winter am wenigsten Futter bekommen haben, 
welche am meisten leiden. Wenn wir von Süden nach Norden 
oder aus einer feuchten in eine trockne Gegend wandern, wer- 
den wir stets einige Arten immer seltener und seltener werden 
und zuletzt gänzlich verschwinden sehen; und da der Wechsel 
des Klima’s zu Tage liegt, so werden wir am ehesten versucht 
seyn den ganzen Erfolg seiner direkten Einwirkung zuzuschreiben. 
Und doch ist Diess eine falsche Ansicht; wir vergessen dabei, dass 
jede Art selbst da, wo sie am häufigsten ist, in irgend einer 
Zeit ihres Lebens durch Feinde oder durch Mitbewerber um ihre 
Nahrung oder ihre Wohnstelle ungeheure Zerstörung erfährt; 
und wenn diese Feinde oder Mitbewerber nur im Mindesten durch 
irgend einen Wechsel des Klima’s begünstigt werden, so wachsen 
sie an Zahl, und da jede Fläche bereits vollständig mit Bewohnern 
besetzt ist, so muss die andre Art zurückweichen. Wenn wir 
auf dem Wege nach Süden eine Art in Abnahme begriffen sehen, 
so fühlen wir gewiss, dass die Ursache mehr in anderen begün- 
stigten Arten liegt, als in dieser einen‘ benachtheiligten. : Eben 
so, wenn wir nordwärts gehen, obgleich in einem etwas ge- 
ringeren Grade, weil die Zahl aller Arten und somit aller Mit- 
bewerber gegen Norden hin abnimmt. Daher kömmt es, dass, 
wenn wir nach Norden oder einen Berg hinauf gehen, wir weil 
öfters verkümmerten Formen begegnen, welche von unmittelbar 
schädlichen Einflüssen des Klima’s herrühren, als wenn wir nach 


79 


Süden. oder. bergab gehen. Erreichen wir endlich die arktischen 
Regionen oder die, Schnee-bedeckten Berg-Spitzen oder vollkom- 
mene Wüsten, so findet das Ringen ums Daseyn hauptsächlich 
gegen die Elemente stait. 

Dass die Wirkung des Klima’s vorzugsweise eine indirekte 
und durch Begünstigung  andrer Arten vermittelt seye, ergibt 
sich klar aus ‘der wunderbar grossen Menge solcher Pflanzen in 
unseren Gärten, welche zwar vollkommen im Stande sind unser 
Klima zu ertragen, aber niemals naturalisirt werden können, 
weil sie weder den Wettkampf mit ‚anderen Pflanzen aushalten 
noch der Zerstörung durch unsre einheimischen Thiere wider- 
stehen können. 

Wenn sich eine Art durch sehr günstige Umstände auf 
einem kleinen Raume zu ausserordentlicher Anzahl vermehrt, 
so sind Seuchen: (so ist es wenigstens bei unseren Hausthieren 
gewöhnlich der Fall) oft die Folge davon, und. hier haben wir 
ein vom Ringen ums Daseyn unabhängiges Hemmniss. Doch 
scheint wenigstens’ ein Theil dieser sogenannten Epidemien von 
parasitischen Würmern herzurühren, welche durch irgend eine 
Ursache und vielleicht durch die Leichtigkeit der Verbreitung 
zwischen  gekreutzten Rassen unverhältnissmässig begünstigt 
worden sind, und so fände hier gewissermaassen ein Ringen 
zwischen den Würmern und ihren Nährthieren statt. 

Andrerseits ist in vielen Fällen wieder ein grosser Bestand 
von Individuen derselben Art unumgänglich. für ihre Erhaltung 
nöthig. Man kann daher leicht Getreide, Repssaat u. s. w. in 
Masse auf unseren Feldern erziehen, weil hier deren Saamen 
in grossem Übermaasse gegenüber den Vögeln vorhanden sind, 
welche davon leben; und doch können diese Vögel, wenn sie 
auch mehr als nöthig Futter in der einen Jahreszeit haben, nicht 
im Verhältniss zur Menge dieses Futters zunehmen, weil die ganze 
Anzahl im Winter nicht ihr Fortkommen fände. Dagegen weiss 
jeder, der es versucht hat, Saamen aus Weitzen oder andern 
solchen Pflanzen im Garten zu erziehen, wie mühesam Diess ist. 
Ich habe .in solchen Fällen jedes Saamenkorn verloren, Diese 
Anschauungsweise von der Nothwendigkeit eines grossen Be- 


f 
/ 


yeadia ee 


16 


standes einer Art für ihre Erhaltung erklärt, wie mir scheint, 
einige eigenthümliche Fälle in der Natur, wie z. B. dass sehr 
seltene Pflanzen zuweilen sehr zahlreich auf einem kleinen Fleck 
beisammen vorkommen; und dass manche’ gesellige Pflanzen ge- 
sellig oder in grosser Zahl beisammen selbst auf der äussersten 
Grenze ihres Verbreitungs-Bezirkes gefunden werden. In solchen 
Verhältnissen kann man glauben, eine Pflanzen-Art vermöge nur 
da zu bestehen, wo die Lebens-Bedingungen so günstig sind, dass 
ihrer viele beisammen leben und so einander vor äusserster Zerstö- 
rung bewahren können. Ich möchte hinzufügen, dass die guten Fol- 
gen einer häufigen Kreutzung und die schlimmen einer reinen In- 


zucht wahrscheinlich in einigen dieser Fälle mit in Betracht 


kommen; doch will ich mich über diesen verwickelten Gegen- 
stand hier nicht weiter verbreiten. 

-# Man berichtet viele Beispiele, aus denen sich ergibt, wie zu- 
Sammengesetzt und wie unerwartet die gegenseitigen Beschrän- 
kungen und Beziehungen zwischen organischen Wesen sind, die in 
einerlei Gegend mit einander zu ringen haben. Ich will nur 
ein solches Beispiel anführen, das, wenn auch einfach, mich 
angesprochen hat. In Staffordshire auf einem Gute, über dessen 
Verhältnisse nachzuforschen ich in günstiger Lage war, befand 
sich eine grosse äusserst unfruchtbare Haide, die nie von eines 
Menschen Hand berührt worden. Doch waren einige Hundert 
Acker derselben von genau gleicher Beschaffenheit mit dem 
Übrigen fünfundzwanzig Jahre zuvor eingezäunt und mit der 
Schottischen Kiefer bepflanzt worden. Die Veränderung in der 
ursprünglichen Vegetation des bepflanzten Theiles war äusserst 
merkwürdig, mehr als man gewöhnlich wahrnimmt, wenn man 
auf einen ganz verschiedenen Boden übergeht. Nicht allein er- 
schienen die Zahlen - Verhältnisse zwischen den Haide - Pflanzen 
gänzlich verändert, sondern es blüheten auch in der Pflanzung 
noch zwölf solche Arten, Ried- u. a. Gräser ungerechnet, von 
welchen auf der Haide nichts zu finden war. Die Wirkung auf 
die Kerbthiere muss noch viel grösser gewesen seyn, da in der 
Pflanzung sechs Spezies Insekten- fressender Vögel sehr gemein 
waren, von welchen in der Haide nichts zu sehen gewesen, 


77 


welche dagegen von zwei bis drei: andren Arten derselben be- 
sucht wurde. . Wir ‚bemerken hier, wie mächtig. die Folgen 
der. Einführung. einer einzelnen Baum-Art gewesen, indem durch- 
aus nichts sonst geschehen war, ausser der Abhaltung des Wildes 
durch die Einfriedigung. Was für ein. wichtiges Element aber 
die Einfriedigung seye, habe ich deutlich zu Farnham in Surrey 
erkannt, Hier waren ausgedehnte Haiden mit ein paar:Gruppen 
alter Schotitischer ‘Kiefern auf den Rücken der entfernteren Hügel; 
in den letzten zehn Jahren waren ansehnliche Strecken  einge- 
friedigt worden, und innerhalb dieser Einfriedigungen schoss in 
Folge von Selbstbesaamung eine Menge junger Kiefern auf, so 
dicht beisammen, dass nicht alle fortleben können. Nachdem ich 
erfahren , dass diese jungen Stämmchen nicht absichtlich gesäet 
oder gepflanzt worden, war ich um so mehr erstaunt über deren 
Anzahl, als ich mich. sofort nach mehren Seiten wandte um 
Hunderte von Acres der nicht eingefriedigten Haide zu unter- 
suchen, wo ich jedoch ausser den gepflanzten alten: Gruppen 
buchstäblich genommen auch nicht eine Kiefer zu finden ver- 
mochte. Da ich mich jedoch genauer zwischen den Stämmen 
der freien Haide umsah, fand ich eine Menge Sämlinge und 
kleiner Bäumehen, welche aber fortwährend von den Rinder- 
Heerden abgeweidet worden waren. Auf einem eine Elle im 
Quadrat messenden Fleck mehre Hundert Schritte von den alten 
Baum - Gruppen entfernt zählte ich 32 solcher abgeweideten 
Bäumchen , wovon eines nach der Zahl seiner Jahres-Ringe zu 
schliessen 26 Jahre lang gehindert worden war sich über die 
Haide- Pflanzen zu erheben und dann zu Grunde gegangen 
ist... Kein Wunder also, dass, sobald das Land eingefriedigt 
worden, es dicht von kräftigen jungen Kiefern überzogen wurde. 
Und doch war die Haide so äusserst unfruchtbar und so ausge- 
dehnt, dass niemand geglaubt hätte, dass das Rindvieh hier so 
dicht und so erfolgreich .nach Futter gesucht habe. 

# Wir. ‚sehen hier das Vorkommen der Schottischen Kiefer 
in Abhängigkeit vom Rinde; in andern Weltgegenden ist es 
von gewissen Insekten abhängig. Vielleicht bietet Para- 
guay das merkwürdigste Beispiel dar; denn hier sind niemals 


18 


Rinder, Pferde oder Hunde verwildert, obwohl sie im Süden und 
Norden davon in verwildertem Zustande umherschwärmen. ATaRa 
und REnsGer haben gezeigt, dass die Ursache dieser Erscheinung 
in Paraguay in dem häufigeren Vorkommen einer gewissen Fliege 
zu finden seye, welche ihre Eier in den Nabel der neu-geborenen 
Jungen dieser Thier-Arten legt. Die Vermehrung dieser Fliege muss 
gewöhnlich durch irgend ein Gegengewicht und vermuthlich 
durch Vögel gehindert werden. Wenn daher ‘gewisse Insekten- 
fressende Vögel, deren Zahl wieder durch Raubvögel und Fleisch- 
Fresser geregelt werden mag, in Paraguay zunähme, so würden 
sich die Fliegen vermindern und Rind und Pferd verwildern, 
was dann wieder (wie ich in einigen Theilen Südamerikas wirk- 
lich beobachtet habe) eine bedeutende Veränderung in der 
Pflanzen- Welt veranlassen würde. Diess müsste nun in hohem 
Grade auf die Insekten und hiedurch, wie wir in Staffordshire 
gesehen, auf die Insekten-fressenden Vögel wirken, und so fort 
in immer‘ weiteren und verwickelteren Kreisen. Wir haben 
diese Belege mit Insekten-fressenden Vögeln begonnen und endi- 
gen damit. Doch sind in der Natur die Verhältnisse nicht immer 
so einfach, wie hier. Kampf um Kampf mit veränderlichem Er- 
folge muss immer wiederkehren; aber in die Länge halten die 
Kräfte einander so genau das Gleichgewicht, dass die Natur auf 
weite Perioden hinaus immer ein gleiches Aussehen behält, ob- 
wohl gewiss oft die unbedeutendste Kleinigkeit genügen würde, 
einem organischen Wesen den Sieg über das andre zu verleihen. 
Demungeachtet ist unsre Unwissenheit so gross, dass wir uns 
verwundern, wenn wir von dem Erlöschen eines organischen 
Wesens vernehmen; und da wir die Ursache nicht sehen, so rufen 
wir Umwälzungen zu Hilfe um die Welt zu verwüsten, oder er- 
finden Gesetze über die Dauer der Lebenformen. 

Ich bin versucht durch ein weitres Beispiel nachzuweisen, 
wie solche Pflanzen und Thiere, welche auf der Stufenleiter der Na- 
tur am weitesten von einander entfernt stehen, durch ein Gewebe 
von verwickelten Beziehungen mit einander verkettet werden. 
Ich werde nachher Gelegenheit haben zu zeigen, dass die aus- 
ländische Lobelia fulgens in diesem Theile von England niemals 


‚ht int 
chen ! 
alten 
Natur 
hält, ! 
n wit 


verle 


air! 
yon 
som 
oder! 
N 
„ae! 
gar 
‚et! 
gef 
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19 


von Insekten besucht wird und daher nach ihrem eigenthümlichen 
Blüthen-Bau: nie eine Frucht ansetzen kann. Viele unsrer Or- 
chideen-Pflanzen müssen unbedingt von. Motten besucht werden, 
um ihre Pollen-Massen wegzunehmen und sie zu befruchten. 
Auch habe ich Ursache zu glauben, dass Hummeln zur Befruch- 
tung der. Jelängerjelieber. (Viola. tricolor) nöthig sind, indem 
andre Insekten sich nie auf dieser Blume einfinden. Durch an- 
gestellte Versuche habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen 
zur Befruchtung von mehren unsrer Klee-Arten nothwendig seye. 
So lieferten mir hundert Stöcke weissen Klee’s (Trifolium repens) 
2290 Saamen, ‚während 20: andre Pflanzen dieser Art, welche 
den Bienen unzugänglich gemacht waren, nicht einen Saamen 
zur Entwickelung brachten. Und eben so ergaben hundert Stöcke 
rothen Klee’s (Trifolium pratense) 2700 Saamen, und die gleiche 
Anzahl gegen Bienen geschützter Stöcke nicht einen! Hummeln 
besuchen allein diesen rothen Klee, indem andre Bienen-Arten 
den Nektar dieser Blume nicht erreichen können. Daher zweifle 
ich wenig daran, dass, wenn die ganze Sippe der Hummeln in 
England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Jelängerje- 
lieber und rother Klee selten werden oder ganz verschwinden 
müssten. Die Zahl der Hummeln steht grossentheils in einem 
entgegengesetzten Verhältnisse zu der der Feldmäuse in dersel- 
ben Gegend, welche deren Nester und Waben aufsuchen. Herr 
H. Newman, welcher die Lebens-Weise der Hummeln lange beob- 
achtet, glaubt dass über zwei Drittel derselben durch ganz Eng- 
land zerstört werden. : Nun findet aber, wie Jedermann weiss, 
die Zahl der Mäuse ein grosses Gegengewicht in der der Katzen, 
so dass Newman sagt, in der Nähe von Dörfern und Flecken 
habe er die Zahl der Hummel-Nester am grössten gefunden, was 
er der reichlicheren Zerstörung der Mäuse durch die Katzen zu- 
schreibe. Daher ist es denn wohl glaublich. dass die reichliche 
Anwesenheit eines Katzen-artigen Thieres in irgend einem Be- 
zirke durch Vermittelung von Mäusen und Bienen auf die Menge 
gewisser Pflanzen daselbst von Einfluss seyn kann! 

Bei jeder Spezies kommen wahrscheinlich verschiedene Arten 
Gegengewicht in Betracht, solche die in verschiedenen Perioden 


80 


des Lebens, und solche die während verschiedener Jahres-Zeiten 
wirken. Eines oder einige derselben mögen mächtiger als die an- 
dern seyn; aber alle zusammen bedingen die Durchschnitts-Zahl 
der Individuen oder selbst die Existenz der Art. In manchen 
Fällen lässt sich nachweisen, dass sehr verschiedene Gegenge- 
wichte in verschiedenen Gegenden auf eine Spezies einwirken, 
Wenn wir Büsche und Pflanzen betrachten, welche einen zerfal- 
lenen Wail überziehen, so sind wir geneigt, ihre Arten und de- 
ren Zahlen-Verhältnisse dem Zufalle zuzuschreiben, Doch wie 
falsch ist diese Ansicht! Jedermann hat gehört, dass, wenn in 
Amerika ein Wald niedergehauen wird, eine ganz verschiedene 
Pilanzenwelt zum Vorschein kommt, und doch ist beobachtet wor- 
den, dass die Bäume, welche jetzt auf den alten Indianer-Wällen 
im Süden der Vereinten Staaten wachsen, deren früherer Baum- 
Bestand abgetrieben worden, jetzt wieder eben dieselbe bunte 
Manchfaltigkeit und dasselbe Arten-Verhältniss wie die umge- 
benden jungfräulichen Haine darbieten. Welch ein Wettringen 
muss hier Jahrhunderte lang zwischen den verschiedenen Baum- 
Arten stattgefunden haben, deren jede ihre Samen jährlich zu 
Tausenden abwirft! Was für ein Kampf zwischen Insekten und 
Insekten u. a. Gewürm mit Vögeln und Raubthieren, welche alle 
sich zu vermehren strebten, alle sich von einander oder von den 
Bäumen und ihren Saamen und Sämlingen, oder von jenen andern 
Pflanzen nährten, welche anfänglich den Grund überzogen und hie- 
durch das Aufkommen der Bäume gehindert hatten. Wirft man eine 
Hand voll Federn in die Lüfte, so müssen alle nach bestimmten 
Gesetzen zu Boden fallen; aber wie einfach ist dieses Problem 
in Vergleich zu der Wirkung und Rückwirkung der zahllosen 
Pflanzen und Thiere, die im Laufe von Jahrhunderten Arten und 
Zahlen-Verhältniss der Bäume bestimmt haben, welche jetzt auf 
den alten Indianischen Ruinen wachsen! 

/6 Abhängigkeit eines organischen Wesens von einem andern, 
wie die des Parasiten von seinem Ernährer, findet in der Regel 
zwischen solchen Wesen statt, welche auf der Stufenleiter der 
Natur weit auseinander sind. Diess ist oft bei solchen der Fall, 
von denen man ganz richtig sagen kann, sie kämpfen mitein- 


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81 


ander "auch um ihr Daseyn, wie Gras-fressende Säugthiere und 
Heuschrecken. Aber der meistens ununterbrochen-fortdauernde 
Kampf wird der heftigste seyn, der zwischen den Einzelwesen einer 
Art stattfindet, welche dieselben Bezirke bewohnen, dasselbe Fut- 
ter verlangen und denselben Gefahren ausgesetzt sind. Bei Va- 
rietäten der 'nämlichen Art wird der Kampf meistens eben so 
heftig seyn, und zuweilen sehen wir den Streit schon in kurzer 
Zeit entschieden. So werden z. B., wenn wir verschiedene 
Weitzen-Varietäten durcheinander säen und ihren gemischten 
Saamen-Ertrag wieder säen, einige Varietäten, welche dem Klima 
und Boden am besten entsprechen oder von Natur die fruchtbar- 
sten sind, die andern überbieten und, indem sie mehr Saamen 


liefern, schon nach wenigen Jahren gänzlich ersetzen. Um einen 


gemischten Stock von so äusserst nahe verwandten Varietäten 
aufzubringen, wie die verschieden - farbigen Zuckererbsen sind, 
muss man sie jedes Jahr gesondert ärndten und dann die Saamen 
im erforderlichen Verhältnisse jedesmal auf's Neue mengen, wenn 
nicht die schwächeren Sorten von Jahr zu Jahr abnehmen und 
endlich ganz ausgehen sollen. 

So verhält es sich auch mit den Schaaf-Rassen. Man hat ver- 
sichert, dass gewisse Gebirgs-Varietäten derselben unter andern Ge- 
birgs-Varietäten aussterben, so dass sie nicht durch einander ge- 
halten werden können. Zu demselben Ergebnisse ist man gelangt, 
als man versuchte, verschiedene Abänderungen des medizinischen 
Blutegels durcheinander zu halten. Und ebenso ist zu bezwei- 
feln, dass die Varietäten von irgend einer unsrer Kultur-Pflanzen 
oder Hausthier-Arten so genau dieselbe Stärke, Gewohnheiten 
und Konstitution besitzen, dass sich die ursprünglichen’ Zahlen- 
Verhältnisse eines gemischten Bestandes derselben auch nur ein 
halbes Dutzend Generationen hindurch zu erhalten vermöchten, 
wenn sie wie die organischen Wesen im Natur-Zustande mit ein- 
ander zu ringen veranlasst.wären und der Saamen oder die Jungen 
nicht alljährlich sortirt würden. 

Da die Arten einer Sippe gewöhnlich, doch keineswegs 
immer, einige Ähnlichkeit mit einander in Gewohnheiten und 
Konstitution und immer in der Struktur besitzen, so wird der 

6 


N CHR Rn 


82 


Kampf zwischen Arten einer Sippe, welche in: Mitbewerbung ‚mit 
einander gerathen, gewöhnlich ein härterer sein, als zwischen 
Arten verschiedener Sippen. . Wir sehen Diess an der neuerlichen 
Ausbreitung einer Schwalben-Art über einen Theil der Vereinten 
Staaten, wo sie. die, Abnahme einer andern Art veranlasst. _ Die 
Vermehrung der Misteldrossel in einigen Theilen von Schottland 
hat daselbst die Abnahme der. Singdrossel zur Folge gehabt. 


‘Wie oft hören wir, dass eine Ratten-Art den Platz einer andern 


eingenommen, in den verschiedendsten Klimaten. In Russland 
hat die kleine asiatische Schabe (Blatta) ihren grösseren [?] Sip- 
pen-Genossen überall vor sich hergetrieben. ‚Eine Art Ackersenf 
ist im Begriffe eine andre zu ersetzen, u. s. w. Wir vermögen 
undeutlich zu erkennen, warum die Mitbewerbung zwischen den 
verwandtesten Formen am heftigsten ist, welche nahezu denselben 
Platz im Haushalte der Natur ausfüllen ; aber wahrscheinlich werden 
wir in keinem einzigen Falle genauer anzugeben im Stande seyn, 
wie. ‚es zugegangen, dass in dem. grossen Wettringen um das 
Daseyn die eine den. Sieg über die andre davon getragen hat. 

// Aus den vorangehenden Beinerkungen lässt, sich als ‚Folge- 
satz von grösster Wichtigkeit ‚ableiten, dass die, Struktur, eines 
jeden organischen Wesens auf die innigste aber oft verborgene 
Weise mit der aller andern organischen Wesen zusammenhängt, 
mit welchen es in Mitbewerbung um Nahrung oder Wohnung in Be- 
ziehung: steht, welche es zu vermeiden hat, und von welchen es 
lebt. — Diess erhellt eben’ so deutlich. im Baue der Zähne und der 
Klauen des Tigers, wie in ‚der Bildung der Beine und Krallen 
des Parasiten, welcher an des Tigers Haaren, ‚hängl. Zwar an 
dem zierlich‘ gefiederten Saamen des Löwenzahns wie an den 
abgeplatieten und gewimperten Beinen des Wasserkäfers scheint 
anfänglich die Beziehung nur auf das Luft- und Wasser-Element 
beschränkt. Aber der Vortheil des fiedergrannigen Löwenzahn- 
Saamens steht ohne Zweifel in der, engsten Beziehung zu dem 
durch andre Pflanzen bereits dicht ‘besetzten Lande, so dass ef 
in. der Luft erst weit umhertreiben muss, um auf einen noch 
freien Boden fallen. zu ‚können. Den Wasserkäfer dagegen 
befähigt die Bildung seiner Beine vortrefflich zum Untertauchen, 


> 


gen li 
als Fit 
stur. dl 
bon 
nenlil 
ung W) 
ejchet' 


83 


wodurch er in den Stand gesetzt wird, mit anderen Wasser- 
Insekten in Mitbewerbung zu treten, indem er nach seiner eig- 
nen Beute jagt, und anderen Thieren zu entgehen, welche ihn 
zu ihrer Ernährung verfolgen. 

Der ‘Vorrath von Nahrungs-Stoff, welcher in den Saamen 
vieler Pflanzen niedergelegt ist, scheint anfänglich keine Art von 
Beziehung zu anderen Pflanzen zu haben. Aber aus dem lebhaf- 
ten Wachsthum der jungen Pflanzen, welche aus solchen Saamen 
(wie Erbsen, Bohnen u. s. w.) hervorgehen, wenn sie mitten in 
hohes Gras ausgestreut worden, vermuthe ich, dass jener Nah- 
rungs-Vorrath hauptsächlich dazu bestimmt ist, das Wachsthum 
des jungen Sämlings zu beschleunigen, welcher mit andern Pflan- 
zen von kräftigem Gedeihen rund um ihn her zu kämpfen hat. 

Warum verdoppelt oder vervierfacht eine Pflanze in der Mitte 
ihres Verbreitungs-Bezirkes nicht ihre Zahl® Wir wissen, dass 
sie recht gut etwas mehr oder weniger Hitze und Kälte, 
Trockne und Feuchtigkeit aushalten kann; denn anderwärts ver- 
breitet sie sich in etwas wärmere oder kältere, feuchtre oder 
trockenere Bezirke. Wir sehen wohl ein, dass, wenn wir in 
Gedanken wünschten, der Pflanze das Vermögen noch weiterer 
Zunahme zu verleihen, wir ihr irgend einen Vortheil über die 
andern mit ihr werbenden Pflanzen oder über die sich von ihr 
nährenden Thiere gewähren müssten. An den Grenzen ihrer 
geographischen Verbreitung würde eine Veränderung ihrer Kon- 
stitution in Bezug auf das Klima offenbar von wesentlichem Vor- 
theil für unsre Pflanze seyn. Wir haben jedoch Grund zu glau- 


ben, dass nur wenige Pflanzen- oder 'Thier-Arten sich so weit 


verbreiten, dass sie durch die Strenge des Klima’s allein zerstört 
werden. Nur wo wir die äussersten Grenzen des Lebens über- 
haupt erreichen, in den arktischen Regionen oder am Rande 
der dürresten Wüste, da hört auch die Mitbewerbung auf. Mag 
das Land noch so kalt oder trocken seyn, immer werden sich 
noch einige Arten oder noch die Individuen derselben Art um 
das wärmste oder feuchteste Fleckchen streiten. 

Daher sehen wir auch, dass, wenn eine Pflanzen- oder eine 
Thier-Art in eine neue Gegend zwischen neue Mitbewohner 

6* 


84 


versetzt wird, die äusseren Lebens-Bedindungen meistens wesent- 
lich andre sind, wenn auch das Klima genau ‘dasselbe wie in der 
alten Heimath bliebe. Wünschten wir das durchschnittliche Zah- 
len-Verhältniss dieser Art in ihrer neuen Heimath zu steigern, 
so müssten wir ihre Natur in einer andern Weise modilfiziren, 
als es hätte in ihrer alten Heimath geschehen müssen; denn sie 
bedarf eines Vortheils über eine andre Reihe von Mitbewerbern 
oder Feinden, als sie dort gehabt hat. 

Versuchten wir in unsrer Einbildungskraft, dieser oder 
jener Form einen Vortheil über eine andre zu verleihen, so 
wüssten wir wahrscheinlich in keinem einzigen Falle, was zu thun 
seye, um zu diesem Ziele zu gelangen. Wir würden die Über- 
zeugung von unsrer Unwissenheit über die Wechselbeziehungen 
zwischen allen organischen Wesen gewinnen: einer Überzeugung; 
welche eben so nothwendig ist, als sie schwer zu erlangen 
scheint. Alles was wir thun können, ist: stets im Sinne behal- 
ten, dass jedes organische Wesen nach Zunahme in einem geo- 
metrischen Verhältnisse strebt; dass jedes zu irgend einer Zeit 
seines Lebens oder zu einer gewissen Jahreszeit, während seiner 
Fortpflanzung oder nach unregelmässigen Zwischenräumen grosse 
Zerstörung zu erleiden hat. Wenn wir ‘über diesen Kampf 
um’s Daseyn nachdenken, so mögen wir uns selbst trösten mit 
dem vollen Glauben, dass der Krieg der Natur nicht ununterbro- 
chen ist, dass keine Furcht gefühlt wird, dass der Tod im All- 
gemeinen schnell ist, und dass es der Kräftigere, der Gesundere 
und Geschicktere ist, welcher überlebt und sich vermehrt. 


Ni 
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ch, 


Si, 
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Cem, 
Wer 


Viertes Kapitel. 
Natürliche Züchtung. 


/Natürliche Auswahl zur Nachzucht; —2ihre Gewalt im Vergleich zu der des 
Menscher ; — ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit; — 
‚ihre Gew alt in jedem Alter und über beide Geschlechter. —Sexuelle Zucht- 
wahl. —/ Über die Allgemeinheit der Kreutzung zwischen Individuen 
der näümlichen Art. - — [Umstände günstig oder ungünstig für die ‘Natür- 
liche Züchtung, insbesöndere4Kreutzung ‚/ Isolation und‘Individuen-Zahl. — 
»Langsame Wirkung. / Erlöschung durch natürliche Züchtung verur- 
sacht. — Divergenz z Charakters, in. Bezug auf die Verschiedenheit der 
Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation. — Wirkung der 
Natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Ältern durch Di- 
vergenz des Charakters und durch Unterdrückung. — Erklärt die ‚Gruppi- 
rung aller organischen Wesen. 

/. Wie mag wohl der Kampf um das Daseyn, welcher im letz- 
ten Kapitel allzukurz abgehandelt worden, in Bezug auf Variation 
wirken? Kann das Prinzip der Auswahl für die Nachzucht, welche 
in des Menschen Hand so viel leistet, in der Natur angewendet 
werden ? Ich glaube, wir werden sehen, dass ihre Thätigkeit eine 
äusserst wirksame ist. Erwägen wir in Gedanken, mit welch’ 
‚endloser Anzahl neuer Eigenthümlichkeiten die Erzeugnisse uns- 
rer Züchtung und, in minderem Grade, die der Natur varüiren, 
und wie stark die Neigung zur Vererbung ist. Durch Zähmung und 
Kultivirung, kann man wohl sagen, wird die ganze Organisation in 
gewissem Grade bildsam. Erwägen wir ferner, wie unend- 
lich verwickelt und wie genau anschliessend die gegenseitigen 
Beziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den 
natürlichen Lebens-Bedingungen sind. Kann man es denn bei 
Erwägung, wie viele für den Menschen nützliche Abänderungen 
unzweifelhaft vorkommen, für unwahrscheinlich halten, dass dich 
andre mehr und weniger einem jeden Wesen selbst in dem 
grossen und zusammengesetzten Kampfe ums Leben diensame 
Abänderungen im Laufe von Tausenden von Generationen zuwei- 
len vorkommen werden ? Wenn solche aber vorkommen, bleibt 
dann noch zu bezweifeln, dass (da offenbar viel mehr Indi- 


86 


viduen geboren werden, als möglicher Weise fortleben kön- 
nen) diejenigen Einzelwesen, welche irgend einen wenn auch 
geringen Vortheil vor andern voraus besitzen, die meiste Wahr. 
scheinlichkeit haben, die andern zu überdauern und wieder ihres- 
gleichen hervorzubringen? Andrerseits werden wir gewiss fühlen, 
dass eine im geringsten Grade nachtheilige Abänderung in glei- 
chem Verhältnisse mehr der Vertilgung ausgesetzt ist. Diese Erhal- 
tung vortheilhafter und Zurücksetzung nachtheiliger Abänderungen 
ist es, was ich »Natürliche Auswahl oder Züchtung« nenne*. Ab- 
änderungen, welche weder vortheilhaft noch nachtheilig sind, wer- 
den von der Natürlichen Auswahl nicht berührt, und bleiben ein 
schwankendes Element, wie wir es vielleicht in den sogenannten 
polymorphen Arten sehen. 

Wir werden den wahrscheinlichen Verlauf der Natürlichen 
Zuchtwahl am besten verstehen, wenn wir den Fall annehmen, 
eine Gegend erfahre irgend eine physikalische Veränderung z. B, 
im Klima. Das Zahlen-Verhältniss seiner Bewohner wird dann 
unmittelbar ein andres werden, und ein oder die andre Art wird 
gänzlich erlöschen. Wir dürfen ferner aus dem innigen Abhängig- 
keits-Verhältnisse der Bewohner einer Gegend von einander schlies- 
sen, dass, ausser dem Klima-Wechsel an sich, die Änderung im 
Zahlen-Verhältnisse eines Theiles ihrer Bewohner auch sehr 
wesentlich auf die andern wirke. Hat diese Gegend offene Gren- 
zen, so werden gewiss neue Formen einwandern und das Ver- 
haltniss eines Theiles der alten Bewohner zu einander ernstlich 
stören; denn erinnern wir uns, wie folgenreich die Ein- 
führung einer einzigen Baum- oder Säugthier-Art in den früher 
mitgetheilten Beispielen gewesen ist. : Handelte es sich dagegen 
um eine Insel oder um ein so umschränktes Land, dass neue 
und besser angepasste Formen nicht eindringen können, so wer- 
deiP sich Lücken im Hausstande der Natur ergeben, welche 
sicherlich besser dadurch ausgefüllt werden, dass einige der ur- 
sprünglichen Bewohner eine angemessene Abänderung erfahren; 
denn, wäre das Land der Einwanderung geöffnet gewesen, 50 


* Vergl. die Anmerkung auf Seite 10. D. Übs. « 


87 


würden ‘sieh ‘wohl Eindringlinge dieser. Stellen bemächtigt haben, 
In diesem‘ Falle würde daher jede geringe Abänderung, die 
sich im’ Laufe der Zeit ‚entwickelt hat: und irgendwie die, Indivi- 
duen einer ‘oder der andern: Species durch bessre Anpassung an 
die geänderten Lebens-Bedingungen begünstigt, ihre Erhaltung zu 
gewärtigen haben und die Natürliche Auswahl wird freien Spiel- 
raum für ihr Verbesserungs-Werk finden. 

7Wie in: dem’ ersten Kapitel gezeigt worden, ist. Grund zur 
Annahme vorhanden, dass eine solche ‘Änderung-in den Lebens- 
Bedingungen, welche insbesondere auf das Reproductiv-System 
wirkt, Variabilität verursacht oder sie erhöhet. In dem voran- 
gehenden Falle: ist eine Änderung der Lebens-Bedingungen unter- 
stellt worden, und: diese wird gewiss für die Natürliche Züchtung 
insofern günstig gewesen seyn, als mit ihr die. Aussicht auf das 
Vorkommen nützlicher Abänderungen verbunden. war ; kommen 
nützliche Abänderungen nicht vor, so kann die Natur keine Auswahl 
zur Züchtung treffen. Nicht als ob dazu ein äussersles Maass von 
Veränderlichkeit nöthig wäre; denn wenn der. Mensch grosse 
Erfolge ‘durch Häufung bloss individueller Verschiedenheiten in 
einer und derselben Rücksicht 'erzielen kann, so. vermag, es die 
Natur: in noch: weit 'höherm Grade, da ihr unvergleichlich längre 
Zeiträume | für ihre Plane zu. Gebot stehen. Auch glaube ich 
nicht, dass eben eine grosse klimatische oder andre Veränderung 
oder ein ungewöhnlicher Grad von Abschränkung gegen die 
Einwanderung: nöthig ist, um neue und noch unausgefüllte Stel- 
len zu schaffen, damit die Natürliche Zuchtwahl sie durch Abän- 
derung und Verbesserung einiger variirender Bewohner der 
Gegend ausfüllen könne. Denn ‚da alle Bewohner einer jeden 
Gegend mit gegenseitig genau abgewogenen Kräften in beständi- 
gem Kampfe mit 'einander liegen,:so genügen oft schon äusserst 
geringe Modifikationen in der Bildung oder Lebensweise eines 
Bewohners , um ihm einen Vortheil über andre. zu geben, 
und weitre Abänderungen in gleicher Richtung‘ werden sein 
Übergewicht ‘noch vergrössern. Es lässt ‚sich keine Gegend 
bezeichnen, in welcher alle natürlichen Bewohner bereits so 
vollkommen ‚an einander ‘und an'die äusseren Bedingungen des 


88 


Lebens angepasst wären, dass keine ‘unter ihnen ‘mehr einer 
Veredelung fähig wäre; denn in allen Gegenden sind die ein- 
gebornen Arten so weit von naturalisirten Erzeugnissen überwun- 
den worden, dass diese Fremdlinge im Stande gewesen sind festen 
Besitz vom Lande zu nehmen. Und da die Fremdlinge überall 
einige der Eingeborenen aus dem Felde geschlagen haben, ‚so 
darf man wohl daraus schliessen dass, wenn diese mit mehr Vor- 
zügen ausgestattet gewesen wären, sie solchen Eindringlingen 
mehr Widerstand geleistet haben würden. 

3 Da nun der Mensch durch methodisch oder unbewusst aus- 
geführte Wahl zum Zwecke der Nachzucht so grosse‘ Erfolge 
erzielen kann und gewiss erzielt hat, was muss nicht die Natur 
leisten können? Der Mensch kann absichtlich nur auf äusserliche 
und sichtbare Charaktere wirken; die Natur fragt nicht nach dem 
Aussehen, ausser wo es zu irgend einem Zwecke nützlich seyn 
kann. Sie kann auf jedes innere Organ, auf den geringsten 
Unterschied in der organischen Thätigkeit, auf die ganze Machi- 
nerie des Lebens wirken. Der Mensch wählt nur zu seinem eignen 
Nutzen; die Natur nur zum Nufzen des Wesens, das sie pflegt. 
Jeder von ihr ausgewählte Charakter wird daher in voller Thätig- 
keit erhalten und das Wesen in günstige Lebens-Bedingungen ver- 
setzt. Der Mensch dagegen hält die Eingebornen aus vielerlei Kli- 
maten in derselben Gegend beisammen und entwickelt selten ir- 
gend einen Charakter in einer besonderen und ihm entsprechenden 
Weise fort. Er füttert eine lang- und eine kurz-schnäbelige 
Taube auf dieselbe Weise; er beschäftigt einen lang-rückenigen 
oder einen lang-beinigen Vierfüsser nicht in einer besondern Art; 
er setzt das lang- und das kurz-wollige Schaaf demselben Klima 
aus. Er veranlasst die kräftigeren Männchen nicht, ‘um ihre 
Weibchen zu kämpfen. Er zerstört nicht mit Beharrlichkeit alle 
unvollkommenen Thiere, sondern schützt vielmehr alle diese Er- 
zeugnisse, so viel in seiner Gewalt liegt, in jeder verschiedenen 
Jahreszeit. Oft beginnt er seine Auswahl mit einer halb-monströsen 
Form oder mindestens mit einer schon hinreichend vorragenden 
Abänderung, um sein Auge zu fesseln oder ihm offenbaren 
Nutzen zu versprechen. In der Natur dagegen kann schon die 


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89 


geringste Abweichung in‘Bau’ und organischer Thätigkeit das bis- 
herige genaue Gleichgewicht zwischen den ringenden Formen auf- 
heben und hiedurch ihre Erhaltung bewirken. Wie flüchtig sind die 
Wünsche und die Anstrengungen des Menschen ! wie kurz ist seine 
Zeit! wie dürftig'sind mithin seine Erzeugnisse denjenigen gegen- 
über, welche.'die Natur im Verlaufe ganzer geologischer Perioden 
anhäuft! Dürfen wir uns daher wundern, wenn die Natur-Produkte 
einen weit: »ächteren« Charakter als die des Menschen haben, 
wenn: sie: den: verwickeltesten Lebens-Bedingungen weit besser 
angepasst sind und das Gepräge einer weit höheren Meisterschaft 
an sich tragen? 

Man kann sagen, die Natürliche Züchtung seye täglich und 
stündlich durch ‘die ganze Welt beschäftigt, eine jede auch die 
geringste Abänderung ausfindig zu machen, sie zurückzuwerfen 


wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu verbessern wenn 


sie gut ist. Stille und unmerkbar ist sie überall und allezeit, 
wo sich die Gelegenheit darbietet, mit der Vervollkommnung 
eines jeden ‘organischen Wesens in Bezug auf dessen organische 
und unorganische 'Lebens-Bedingungen beschäftigt. Wir sehen 
nichts von diesen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis 
die Hand ‘der Zeit auf eine ahgelaufene Welt-Periode hindeutet, 
und dann ist unsre Einsicht in die längst verflossenen Zeiten so 
unvollkommen, 'dass wir nur noch das Eine wahrnehmen, dass die 
Lebensformen jetzt ganz andre sind, als sie früher gewesen. 
Obwohl: die Natürliche Züchtung: nur durch und für das 
Gute eines jeden Wesens wirken kann, so werden doch wohl 
auch Eigenschaften und Bildungen dadurch berührt, denen wir 
nur eine. untergeordnete ‘Wichtigkeit beilegen möchten. Wenn 
Blätter-fressende Insekten grün, Rinden-fressende  grau-gefleckt, 
das: Alpen-Schneehuhn im Winter weiss, die Schottische Art 
Haiden-farbig, der Birkhahn mit der Farbe der Moorerde erschei- 
nen, 'so''haben wir zu vermuthen Grund, dass solche Farben den 
genannten Vögeln und Insekten nützlich sind und sie vor Ge- 
fahren schützen.: Wald- und Schnee-Hühner würden sich, wenn 
sie nicht in irgend einer Zeit ihres Lebens der Zerstörung aus- 


gesetzt wären, in’ endlosef Anzahl: vermehren. Man weiss, dass . 


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90 


sie sehr von Raubvögeln leiden, welche ihre Beute mit‘ dem 
Auge entdecken; daher man in manchen Gegenden von Europa 
auch nicht gerne weisse Tauben hält, weil diese der Entdeckung 
und Zerstörung am meisten ausgesetzt sind. So finde ich keinen 
Grund zu zweifeln, dass es hauptsächlich ‘die Natürliche Züchtung 
ist, welche jeder Art von Wald- und Schnee-Hühnern die ihr 
eigenthümliche Farbe verleiht und, wenn solche einmal herge- 
stellt ist, dieselbe fortwährend erhält. Auch müssen wir nicht 
glauben, dass die zufällige Zerstörung eines Thieres von abwei- 
chender Färbung nur wenig Wirkung habe, sondern vielmehr 
uns erinnern, wie wesentlich es ist aus einer weissen Schaaf- 
Heerde jedes Lämmchen zu beseitigen, das die geringste Spur 
von Schwarz an sich hat. Bei den Pflanzen rechnen die Bota- 
niker den flaumigen Überzug der Früchte und die Farbe ihres 
Fleisches mit zu den mindest wichtigen Merkmalen; und doch 
vernehmen wir von einem ausgezeichneten Garten-Freunde, 'Dow- 
nıne, dass in den Vereinten Staaten nackthäutige Früchte viel mehr 
durch einen Rüsselkäfer leiden als die flaumigen, und dass die 
Purpur-farbene Pflaumen von einer gewissen Krankheit viel mehr 
leiden, als die gelben, während eine andre Krankheit die gelb- 
fleischigen Pfirsiche viel mehr angreift, als die andersfarbigen. 
Wenn bei aller Hilfe der‘ Kunst diese geringen Unterschiede 
zwischen den Varietäten schon einen grossen Unterschied in. de- 
ren Behandlung erheischen, so werden sich gewiss im Zustande 
der Natur, wo die Bäume mit andern Bäumen und‘ mit einer 
Menge von Feinden zu kämpfen haben, diejenigen Varietäten am 
sichersten behaupten, deren Früchte, mögen sie nun nackt oder 
behaart seyn, ein gelbes oder ein purpurnes Fleisch haben, am 
besten gedeihen. | 

Was endlich eine Menge von kleinen Verschiedenheiten zwi- 
schen Spezies betrifft, welche, so weit unsre Unkenntnis zu ur- 
theilen gestattet, ganz unwesentlich zu seyn scheinen, so dürfen 
wir nicht vergessen, dass auch Klima, Nahrung u.’ s.'w. wohl 
einigen unmittelbaren Einfluss haben mögen. Weit nöthiger ist 
es aber noch im Gedächtniss zu behalten, dass es viele noch 
. unbekannte Wechselbeziehungen ‘des Wachsthums gibt, welche, 


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9 


wenn ein Theil der Organisation durch Variation modifizirt 
und wenn diese Modifikationen durch Natürliche Züchtung zum 
Besten des organischen Wesens gehäuft werden, dann wie- 
der andre Modifikationen oft voa der unerwartetsten Art ver- 
anlassen. 

4 Wie die Abänderungen, welche im Kultur-Zustande zu ir- 
gend einer Zeit des Lebens hervorgetreten sind, auch beim Nach- 
kömmling in der gleichen Lebens-Periode wieder zu erscheinen 
geneigt sind: in den Saamen vieler Küchen- und Acker-Gewächse, 
in den Raupen und Coccons der Seidenwurm-Varietäten, in den 
Eiern des Hof-Geflügels und in der Färbung des Dunenkleides 
seiner Jungen, in den Hörnern unsrer Schaafe und Rinder, wenn 
sie fast ausgewachsen, — so ist auch die Züchtung im Natur- 
Zustande fähig, in einem besondern Alter auf die organischen 
Wesen zu ‚wirken, für diese Lebenszeit nützliche Abänderung zu 
häufen und sie in einem entsprechenden Alter zu vererben. 
Wenn es für eine Pflanze von Nutzen ist, ihre Saamen immer | 
weiter und weiter mit dem Winde umherzustreuen, so ist für die 
Natur die Schwierigkeit diess Vermögen durch Züchtung zu bewir- 
ken nicht grösser, als sie für den Baumwollen-Pflanzer ist durch 
Züchtung die Baumwolle in den Fruchtkapseln seiner Pflanzen zu 
vermehren und zu verbessern. Natürliche Züchtung kann die Larve 
eines Insektes modifiziren und zu zwanzigerlei Bedürfnissen ge- 
eignet anpassen, welche ganz verschieden sind von jenen, die 
das reife 'Thier betreffen. Diese Abänderungen in der Larve 
werden zweifelsohne nach den Gesetzen der Wechselbeziehungen 
auch auf die Struktur des reifen Insektes wirken, und wahr- 
scheinlich ist bei solchen Insekten, welche im reifen Zustande 
nur wenige Stunden zu leben und keine Nahrung zu sich zu 
nehmen haben, ein grosser Theil ihres Baues nur als ein kor- 
relatives Ergebniss allmählicher Veränderungen in der Struktur 
ihrer Larven zu betrachten. So können aber wahrscheinlich 
auch jumgekehrt gewisse Veränderungen im reifen Insekte oft 
die Struktur der Larve berühren, in allen Fällen aber nur unter 
der Bedingung, dass diejenige Modifikation , welche bloss die 
Folge einer Modifikation auf einer anderen Lebensstufe ist, 


92 


durchaus nicht nachtheiliger Art seye, weil sie dann das Erlö- 
schen der Spezies zur Folge haben. müsste. 

Natürliche Züchtung kann auch die Struktur des Pin in 
Bezug zum Alten und die des Vaters derjenigen seiner Kinder 
gegenüber modifiziren. Bei Hausthieren passt sie die Struktur 
eines jeden Einzelwesens den Zwecken der Gemeinde an, vor- 
ausgesetzt, dass auch ein jedes Einzelne bei dem so. bewirkten 
Wechsel gewinne. Was die natürliche Züchtung nicht bewirken 
kann, das ist: Umänderung der Struktur einer Spezies, ohne 
Ersatz, zu Gunsten einer anderen Spezies; und obwohl in natur- 
historischen Werken Beispiele dafür angeführt werden, so ıst 
doch keines darunter, das eine Prüfung aushielte. Selbst ein. or- 
ganisches Gebilde, das nur einmal im Leben eines Thieres ge- 
braucht wird, kann, wenn es ihm von grosser Wichtigkeit ist, 
durch die Natürliche Zuchtwahl bis zu jedem Betrage modifi- 
zirt werden, wie die grossen. Kinnladen einiger Insekten, 
welche nur zum Öffnen ihrer Coccons dienen, oder das 
zarte Spitzchen auf dem Ende des Schnabels junger Vögel, womit 
sie beim Ausschlüpfen die Ei-Schaale aufbrechen. Man hat ver- 
sichert, dass von den besten kurzschnäbeligen Purzel-Tauben 
mehr im Eie zu Grunde gehen, als auszuschlüpfen im Stande 
sind, was. Liebhaber mitunter veranlasst, bei Durchbrechung der 
Schaale mitzuwirken. Wenn demnach die, Natur den Schnabel 
einer Taube zu deren eignem Nutzen im ausgewachsenen Zustande 
sehr zu verkürzen hätte, so würde dieser Prozess sehr langsam vor 
sich gehen, und müsste dabei zugleich eine sehr strenge Auswahl 
derjenigen jungen Vögeln im Eie stattfinden, welche den stärk- 
sten und härtesten Schnabel besitzen, weil alle mit weichem 
Schnabel unvermeidlich zu Grunde gehen würden; oder aber es 
müsste eine Auswahl der dünnsten und zerbrechlichsten Ei- 
Schaalen erfolgen, deren Dicke bekanntlich so wie jedes andre 


Gebilde varüirt. 

Sexuelle Zuchtwahl. Wie im Kultur-Zustande a 
lichkeiten oft an einem Geschlechte zum Vorschein kommen und 
sich erblich an dieses Geschlecht heften, so wird es wohl auch 
im Natur-Zustande geschehen, und, wenn Diess der Fall, so muss 


93 


die Natürliche‘ Züchtung fähig seyn, ein Geschlecht in seinen 
funktionellen Beziehungen zum andern zu modifiziren, oder ganz 
verschiedene Gewohnheiten des Lebens in beiden Geschlechtern 
zu bewirken, wie es bei Insekten zuweilen der Fall ist, — 
und Diess veranlasst mich, einige Worte über das zu sagen, was 
ich Sexuelle Zuchtwahl nennen will, ‚Sie hängt ab nicht von einem 
Kampfe um’s Daseyn, sondern von einem Kampfe zwischen den 
Männchen um den Besitz der Weibchen, dessen Folgen für den Be- 
siegten nicht in Tod und erfolgloser Mitbewerbung, sondern in einer 
spärlicheren' oder ganz ausfallenden Nachkommenschaft ‚bestehen. 
Diese Geschlechtliche Auswahl ist daher. minder verhängnissvoll, 
als die Natürliche. Im Allgemeinen werden die kräfligsten, die ihre 
Stelle in der Natur am besten ausfüllenden Männchen die meiste 
Nachkommenschaft hinterlassen. In manchen Fällen jedoch wird 
der Sieg nicht von der Stärke im Allgemeinen, ‘sondern von be- 
sondern nur dem Männchen verliehenen Waffen abhängen. . Ein 
Geweih-loser Hirsch und ein Sporn-loser Hahn haben wenig Aus- 
sicht : Erben : zu hinterlassen. Eine Sexuelle Züchtung, welche 
‚stets dem Sieger die Fortpflanzung ermöglichen sollte, müsste 
ihm unzähmbaren Muth, lange Spornen und starke Flügel ver- 
leihen, um mit dem gespornten Laufe kämpfen zu können; wie 
denn‘ der Kampfhahn-Züchter seine Zucht durch sorgfältige Aus- 
wahl in dieser Beziehung sehr zu veredeln versteht. Wie weit hinab 
“in der Stufenleiter der Natur dergleichen Kämpfe noch vorkom- 
men, weiss ich nicht. Doch hat man männliche Alligatoren be- 
schrieben, wie sie um den Besitz eines Weibchens kämpfen, 
brüllen und sich im Kreise drehen ; männliche Salmen hat man 
Tage lang miteinander streiten sehen; männliche Hirschkäfer ha- 
ben oft Wunden’ von den mächtigen Kiefern andrer. Männchen. 
Doch ist der Kampf am heftigsten zwischen den Männchen poly- 
gamischer Thiere, uud diese scheinen auch am gewöhnlichsten 
mit besondern Waffen dazu versehen zu seyn. Die Männchen 
der Raub-Säugethiere sind schon an sich wohl bewehrt; doch 
pflegen ihnen u. e. a. durch sexuelle Züchtung noch. besondere 
Waffen verliehen zu werden, wie dem Löwen seine Mähne, dem 
Eber sein Hauzahn, dem männlichen Salmen: seine Haken-förmige 


EN E ie 


94 


% 


Kinnlade; und der Schild mag für den Sieg eben so wichtig 
seyn, als das Schwert oder der Speer. Unter den Vögeln hat 
der Bewerbungs-Kampf oft einen friedlicheren Charakter. Alle, 
welche diesen Gegenstand behandelt haben, glauben, die eifrigste 
Rivalität finde unter den Sing-Vögeln statt, wo die Männchen 
durch Gesang die Weibchen anzuziehen suchen. Der Felshahn 
in Gwiana (Rupicola), die Paradiesvögel u. e. a. schaaren sich 
zusammen, und ein Männchen um das andere entfaltet sein präch- 
tiges Gefieder, um in theatralischen Stellungen vor den Weibchen 
zu paradiren, welche als Zuschauer dastehen und sich zuletzt den 
liebenswürdigsten Bewerber erkiesen. Sorgfältige Beobachter der 
in Gefangenschaft gehaltenen Vögel wissen sehr wohl, dass oft 
individuelle Bevorzugungen und Abneigungen stattfinden ; so hat 
Herr R. Heron beschrieben, wie ein scheckiger Perlhahn ausser- 
ordentlich anziehend für alle seine Hennen gewesen, Es mag 
kindisch aussehen, solchen anscheinend schwachen Mitteln ir- 
gend eine Wirkung zuzuschreiben, und ich kann hier nicht in 
Einzelnheiten eingehen, um jene Ansicht zu unterstützen; wenn 
jedoch der Mensch im Stande ist seinen Bantam-Hühnern in kurzer 
Zeit eine elegante Haltung und Schönheit je nach seinen Begriffen 
von Schönheit zu geben, so kann ich keinen genügenden Grund 
zum Zweifel finden, dass weibliche Vögel, indem sie Tausende von 
Generationen hindurch den Melodie-reichsten oder schönsten 
Männchen, je nach ihren Begriffen von Schönheit, bei der Wahl 
den Vorzug geben, nicht ebenfalls einen merklichen Effekt be- 
wirken können. Ich habe starke Vermuthung, dass einige wohl- 
bekannte Gesetze in Betreff des Gefieders männlicher und’ weib- 
licher Vögel dem der jungen gegenüber sich aus der Ansicht 
erklären lassen, das Gefieder seye hauptsächlich durch die Ge- 
schlechtliche Wahl modifizirt worden, welche im Geschlechts- 
reifen Alter während der Jahres-Zeit wirkt, welche der Fort- 
pflanzung gewidmet ist. Die dadurch erfolgten Abänderungen 
sind dann auf entsprechende Alter und Jahres-Zeiten wieder 
vererbt worden entweder durch die Männchen allein, oder durch 
Männchen und Weibchen; ich habe aber hier nicht Raum weiter 
auf diesen Gegenstand einzugehen. 


95 


Wenn daher 'Männchen. und Weibchen einer Thier-Art die 
nämliche ‚allgemeine‘ Lebens-Weise haben, aber in Bau, Farbe 
oder Verzierungen von einander abweichen, so sind nach meiner 
Meinung diese ' Verschiedenheiten hauptsächlich durch die Ge- 
schlechtliche Wahl bedingt; d. h. männliche Individuen haben in 
aufeinander-folgenden Generationen einige kleine Vortheile über 
andre Männchen gehabt in. Wafen, Vertheidigungs-Mitteln oder 
Reitzen und haben diese Vortheile auf ihre männlichen Nachkommen 
übertragen. Doch möchte ich. nicht alle solche Geschlechts-Ver- 
schiedenheiten: aus dieser Quelle ableiten; denn wir schen Eigen- 
thümlichkeiten entstehen und beim männlichen Geschlechte unsrer 
Hausthiere erblich werden, wie die Hautlappen bei den Eng- 
lischen : Boten- Tauben, die Horn-artigen Auswüchse bei den 
Männchen. einiger Hühner-Vögel u. s. w., von welchen wir. nicht 
annehmen können, dass sie den Männchen im Kampfe nützlich 
sind ‘oder eine: Anziehungskraft auf die Weibchen ausüben *. 
Analoge. Fälle sehen: wir auch in der. Natur, wo z. B. der Haar- 
Büschel auf (der Brust des Puterhahns weder nützlich im Kampfe 
noch eine Zierde für den Brautwerber seyn kann; — und wirk- 
lich, hätte sich. dieser Büschel erst im Zustande der Zähmung ge- 
bildet, wir würden ihn eine Monstrosität nennen! 

{Beleuchtung der Wirkungsweise der Natürlichen 
Züchtung.) In der Absicht die Art und Weise klar zu machen, 
wie nach meiner Meinung die Natürliche Wahl wirke, muss ich 
um: die Erlaubniss bitten, ein oder zwei erdachte Beispiele zur 
Erläuterung vorzutragen. Denken wir uns zunächst einen Wolt, 
der sich seine Beute an verschiedenen Thieren theils durch List, 
theils durch Stärke und theils durch Schnelligkeit verschaffe, und 
nehmen wir an, seine schnelleste Beute, der Hirsch z. B., hätte 
sich aus irgend einer Ursache in einer Gegend sehr vervielfältigt, 
oder andre zu. seiner Nahrung dienende Thiere hätten in der 
Jahreszeit, wo sich der Wolf seine Beute am schwersten ver- 
schaffen ‘kann, ‘sehr vermindert. Unter solchen Umständen kann 


* Aber wie vermöchten wir zu ermessen, was einen Bewerber in den 
Augen einer Henne oder einer Taube liebenswürdig machen könne! D. Übs. 


96 


ich keinen Grund zu zweifeln finden, dass die schlanksten und 
schnellsten Wölfe am meisten Aussicht auf Fortkommen und so. 
mit auf Erhaltung und Verwendung zur Nachzucht' hätten, immerhin 
vorausgesetzt, dass sie dabei ‘Stärke genug: behielten, um sich 
ihrer Beute auch zu einer andern Jahreszeit zu bemeistern, wo 
sie veranlasst seyn könnten, auf andre Thiere auszugehen.‘ Ich 
finde um so weniger Ursache daran zu zweifeln ‚da ja der 
Mensch auch die Schnelligkeit seines Windhundes durch sorgfäl- 
tige und planmässige Auswahl oder durch jene unbewusste' Wahl 
zu erhöhen im Stande ist, welche schon stattfindet, wenn nur 


Jedermann den besten Hund zu: haben strebt, ohne einen Gedan- 


ken an Veredelung der Rasse. 

» So könnte auch ohne eine Veränderung‘ in den Verhältniss. 
zahlen der Thiere, die dem Wolfe zur Beute dienen, ein’ junger 
Wolf zur Welt kommen mit angeborner‘ Neigung gewisse’ Arten 
von Beutethieren zu verfolgen. Auch Diess' ist nicht sehr un- 
wahrscheinlich ; denn wie oft nehmen wir grosse Unterschiede in 
den natürlichen Neigungen unsrer Hausthiere‘ wahr! Eine Katze 
z. B. ist geneigt Ratten und die andre Mäuse zu fangen. Eine 
Katze bringt nach. Hrn. Sr. Joun geflügelte Beute nach Hause, die 
andre Hasen und Kaninchen, und die dritte jagt auf Marschland 
und meistens nächtlicher Weile nach Waldhühnern und Schnepfen. 
Man weiss, dass die Neigung Ratten statt Mäuse’ zu fangen, ver- 
erblich ist. Wenn nun eine angeborne schwache Veränderung 
in Gewohnheit oder Körper-Bau einen einzelnen Wolf begünstigt, 
so hat er am meisten Aussicht auszudauern und Nackkommen zu 
hinterlassen. Einige seiner Jungen werden dann vermuthlich 
dieselbe Gewohnheit oder Körper -Eigenschaft ‘erben, und so 
kann durch oftmalige Wiederholung dieses Vorgangs: eine neue 
Varietät ‘entstehen, welche die alte Stamm-Form des 'Wolfes 
ersetzt oder zugleich mit ihr fortbesteht. Nun werden ferner 
Wölfe, welche Gebirgs-Gegenden bewohnen, und solche, ‚die sich 
im Tieflande aufhalten, von Natur genöthigt, auf verschiedene 
Beute auszugehen, und mithin bei fortdauernder Erhaltung der 
für jede der zwei Landstriche geeignetesten Individuen’allmählich 
zwei Abänderungen bilden. Diese Varietäten müssen da, WO ihre 


; 


97 


Verbreitungs -Bezirke zusammenstossen, sich vermischen und 
kreutzen; doch werden wir auf die Frage von der Kreutzung 
später zurückkommen. Hier will ich noch beifügen, dass nach . 
PıErcE im Catskili-Gebirge in den Vereinten Staaten zwei Varie- 
töten des Wolfes hausen, eine leichtere von Windspiel-Form, 
welche Hirsche verfolgt, und eine andre schwerfälligere und mit 
kurzen Beinen, welche häufiger die Schaaf-Heerden angreift. 
Nehmen wir nun einen zusammengesetzteren Fall an. Ge- 
wisse Pflanzen scheiden eine süsse Flüssigkeit aus, wie es scheint, 
um irgend etwas Nachtheiliges aus ihrem Safte zu entfernen. 
Diess wird bei manchen Schmetterlings-blüthigen Gewächsen 
durch Drüsen am Grunde der Stipulä und beim gemeinen Lor- 
beerbaum auf dem Rücken seiner Blätter bewirkt. Diese Flüssig- 
keit, wenn auch nur in geringer Menge zu finden, wird von 
Insekten begierig aufgesucht. Nehmen wir nun an, es werde ein 
wenig solchen süssen Saftes oder Nektars an der inneren Basis 
der Kronenblätter einer Blume ausgesondert. In diesem Falle 
werden die Insekten, welche den Nektar aufsuchen, mit Pollen 
bestäubt werden und denselben gewiss oft von einer Blume auf 
das Stigna der andern übertragen. Die Blumen zweier ver- 
schiedener Individuen einer Art werden dadurch gekreutzt, und 
die Kreutzung liefert (wie nachher ausführlicher gezeigt werden 
soll) vorzugsweise kräftige Sämlinge, welche mithin ‘die beste 
Aussicht haben auszudauern und sich fortzupflanzen. Einige die- 
ser Sämlinge können wohl das Nektar-Absonderungs-Vermögen 
erben, und diejenigen Nektar-absondernden Blüthen, welche die 
stärksten Drüsen besitzen und den meisten Nektar liefern, 
werden am öftesten von Insekten besucht und am öftesten mit 
andern gekreutzt werden und so mit der Länge der Zeit allmäh- 
lich die Oberhand gewinnen. Ebenso werden diejenigen Blüthen, 
deren Staubfäden und Staubwege so gestellt sind, dass sie je 
nach Grösse und sonstigen Eigenthümlichkeiten der sie besuchen- 
den Insekten einigermaassen die Übertragung ihres Samenstaubs 
von Blüthe zu Blüthe erleichtern , gleicherweise begünstigt 
und zur Nachzucht geeigneter seyn. Nehmen wir den Fall an, 
die zu den Blumen kommenden Insekten wollten Pollen statt 
7 


98, 


Nektar einsammeln, so wäre zwar die Entführung des Pol- 
lens, der allein zur Befruchtung der Pflanze erzeugt wird, ein 
Verlust für dieselbe; wenn jedoch anfangs gelegentlich und nach- 
her gewöhnlich ein wenig Pollen von den ihn einsammelnden 
Insekten entführt und von Blume zu Blume getragen wird, so 
wird die hiedurch bewirkte Kreutzung zum grossen Vortbeil der 
Pflanzen seyn, mögen ihnen auch neun Zehntel der ganzen Pollen- 
Masse zerstört werden; denn diejenige Pflanze, welche mehr 
und mehr Pollen erzeugt und immer grössre Antheren bekommt, 
wird für die Nachzucht das Übergewicht haben. 

Wenn nun unsre Pflanze, welche auf diese Weise vor an- 
dern erhalten und durch Natürliche Wahl mit Blumen versehen 
worden, welche die Pollen verschleppenden Insekten immer mehr 
anziehen, so kann die Überführung des Pollens von einer Pflanze 
zur andern endlich zur Regel werden, wie Diess in vielen Fäl- 
len wirklich geschieht. Ich will nun einen nicht einmal sehr zu- 
treffenden Fall als Beleg dafür anführen, welcher jedoch geeignel 
ist zugleich als Beispiel eines ersten Schrittes zur Trennung der 
Geschlechter zu dienen, von welcher noch weiter die Rede seyn 
wird. Einige Stechpalmen-Stämme bringen nur männliche Blüthen 
hervor, welche vier nur wenig Pollen erzeugende Staubgefässe 
und ein verkümmertes Pistill enthalten; andre Stämme liefern 
nur weibliche Blüthen, die ein vollständig entwickeltes Pistill und 
vier Staubfäden mit verschrumpften Antheren einschliessen, in 
welchen nicht ein Pollen-Körnchen bemerkt werden kann, Nach- 
dem ich einen weiblichen Stamm genau 60 Ellen von einem männ- 
lichen entfernt gefunden, nehme ich die Stigmala aus zwanzig 
Blüthen von verschiedenen Zweigen unter das Mikroskop und 
entdecke an allen ohne Ausnahme einige Pollen-Körner und an 
einigen sogar eine übermässige Menge desselben. Da der 
Wind schon einige Tage lang vom weiblichen gegen den männ- 
lichen Stamm hin gewehet hatte, so kann er es nicht gewesen 
seyn, der den Pollen dahin geführt. Das Wetter war schon 
einige Tage lang, kalt und stürmisch und daher nicht günstig für 
die Bienen gewesen, und demungeachtet war jede von mir un- 
tersuchte weibliche Blüthe durch den Pollen befruchtet worden, 


99 


welchen die Bienen, von Blüthe zu Blüthe nach Nektar suchend, 
an ihren Haaren vom männlichen Stamme mit herüber gebracht 
hatten. Doch kehren wir nun zu unserem ersonnenen Falle zu- 
rück. Sobald jene Pflanze in solchem Grade anziehend für die 
Insekten geworden, dass sie den Pollen regelmässig von einer 
Blüthe zur andern tragen, wird ein andrer Prozess beginnen. 
Kein Naturforscher zweifelt an dem Vortheil der sogen. »physio- 
logischen Theilung der Arbeit«; daher man glauben darf, es 
seye nützlich für eine Pflanzen-Art in einer Blüthe oder an 
einem ganzen Stocke nur Staubgefässe und in der andern Blüthe 
oder auf dem andern Stocke nur Pistille hervorzubringen. Bei 
kultivirten oder in neue Existenz-Bedingungen versetzten Pflan- 
zen schlagen manchmal die männlichen und zuweilen die weib- 
lichen Organe mehr oder weniger fehl. Nehmen wir aber an, 
Diess geschehe auch in einem wenn noch so geringen Grade im 
Natur-Zustande derselben, so würden, da der Pollen schon re- 
gelmässig von einer Blume zur andern geführt wird und eine 
vollständige Trennung der Geschlechter unsrer Pflanze ihr nach 
dem Prinzipe der Arbeitstheilung vortheilhaft ist, Individuen mit 
einer mehr und mehr entwickelten Tendenz dazu fortwährend 
begünstigt und zur Nachzucht ausgewählt werden, bis endlich 
die Trennung der Geschlechter vollständig wäre. 

Kehren wir nun zu den von Nektar lebenden Insekten in 
unserem ersonnenen Falle zurück; nehmen wir an, die Pflanze 
mit durch andauernde Züchtung zunehmender Nektar-Bildung sey 
eine gemeine Art, und unterstellen wir, dass gewisse Insekten 
hauptsächlich auf deren Nektar als ihre Nahrung angewiesen 
sind. Ich könnte durch manche Beispiele nachweisen, wie sehr 
die Bienen bestrebt sind, Zeit zu ersparen. Ich will mich je- 
doch nur auf ihre Gewohnheit berufen, in den Grund gewisser 
Blumen Ofinungen zu machen, um durch diese den Nektar zu 
saugen, welchen sie mit ein Bischen mehr Weile durch die 
Mündung heraus holen könnten. Dieser Thatsachen eingedenk 
halte ich es nicht für gewagt anzunehmen, dass eine zufällige 
Abweichung in der Grösse und Form ihres Körpers oder in der 
Länge und Krümmung ihres Rüssels, wenn auch viel zu unbe- 


- 


7* 


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deutend für unsre Wahrnehmung, von solchem Nutzen für eine 
Biene oder ein anderes Insekt seyn könne, das sich mit deren 
Hülfe sein Futter leichter verschafft, dass es mehr Wahrschein- 
lichkeit der Fortdauer und der Fortpflanzung als andre Thiere 
seiner Art besitzt. Seine Nachkommen werden wahrscheinlich 
eine Neigung zu einer ähnlichen Abweichung des Organes er- 
ben. Die Röhren def Blumen-Kronen des rothen und des In- 
karnat-Klee’s (Trifolium pratense und Tr. incarnatum) scheinen 
bei flüchtiger Betrachtung nicht sehr an Länge auseinander zu 
weichen; demungeachtet kann die Honig- oder Korb-Biene (Apis 
mellifica) den Nektar leicht aus der ersten aber nicht aus der 
letzten saugen, welche daher nur von Hummeln besucht wird, 
so dass ganze Felder rothen Klee’s der Korb-Biene vergebens 
einen Überschuss von köstlichem Nektar darbieten. Es würde 
daher für die Korb-Biene von grösstem Vortheil seyn, einen et 
was längeren oder abweichend gestalteten Rüssel zu haben. Auf 
der anderen Seite habe ich durch Versuche gefunden, dass die 
Fruchtbarkeit. des rothen Klee’s grossentheils durch den Besuch 
der Honig-suchenden Insekten bedingt ist, welche bei diesem 
Geschäfte die Theile der Blumenkrone verschieben und dabei den 
Pollen auf die Oberfläche der Narbe wischen. Sollten dagegen 
die Hummeln in einer Gegend selten werden, so müsste eine 
kürzere oder tiefer getheilte Blumenkrone von grösstem Nutzen 
für den rothen Klee werden, damit die Honig-Biene seine Blü- 
then besuchen könne. Auf diese Weise begreife ich, wie eine 
Blüthe und eine Biene nach und nach, seye es gleichzeitig oder 
eine nach der andern, abgeändert und auf die vollkommenste 
Weise einander angepasst werden könnten durch fortwährende 
Erhaltung von Einzelnwesen mit beiderseits nur ein wenig gün- 
stigeren Abweichungen der Struktur. 

Ich weiss wohl, .dass die durch die vorangehenden erson- 
nenen Beispiele erläuterte Lehre von der Natürlichen Auswahl 
denselben Einwendungen ausgesetzt ist, welche man anfangs 
gegen Cn. Lyeıı’s grossartige Ansichten in „the Modern Changes 
of ihe Earth, as illustrative of Geology« vorgebracht hat; indes- 
sen hört man jetzt die Wirkung der Brandung z. B. in 


101 


ihrer Anwendung auf die Aushöhlung riesiger Thäler oder auf die 
Bildung der längsten binnenländischen Klippen-Linien selten mehr 
als eine unbedeutende und lächerliche Ursache bezeichnen. Die 
Natürliche Züchtung kann nur durch Häufung unendlich kleiner 
vererbter Modifikationen wirken, deren jede für Erhaltung des 
Wesens, dem sie angehört, günstig ist; und wie die neuere Geo- 
logie solche Ansichten, wie die Aushöhlung grosser Thäler durch 
eine einzige Diluvial-Woge meistens verbannt hat, so wird auch 
die Natürliche Züchtung, wenn sie ein wahres Prinzip ist, den 
Glauben an eine fortgesetzte Schöpfung neuer Organismen oder 
an eine grosse und plötzliche Modifikation ihrer Organisation ver- 
bannen. 

Über die Kreutzung der Individuen.) Ich muss hier 
mit einem kleinen Absprung beginnen. Es liegt vor Augen, 
dass bei Pflanzen und Thieren getrennten Geschlechtes jedesmal 
zwei Individuen sich vereinigen müssen, um eine Geburt zu 
Stande zu bringen. Bei Hermaphroditen aber ist Diess keines- 
wegs klar. Demungeachtet bin ich stark geneigt zu glauben, 
dass bei allen Hermaphroditen zwei Individuen gewöhnlich oder 
ausnahmsweise zu jeder einzelnen Fortpflanzung ihrer Art zu- 
sammenwirken (die sonderbaren und noch nicht recht begriffenen 
Fälle von Parthenogenesis ausgenommen). Diese Ansicht hat 
zuerst Anpreas Knıcur aufgestelli. Wir werden jetzt ihre Wich- 
tigkeit erkennen. Zwar kann ich diese Frage nur in äusserster 
Kürze abhandeln; jedoch habe ich die Materialien für eine aus- 
führlichere Erörterung vorbereitet. Alle Wirbelthiere, alle In- 
sekten und noch einige andre grosse Thier-Gruppen paaren sich 
für jede Geburt. Neuere Untersuchungen haben die Anzahl der 
früher angenommenen Hermaphroditen sehr vermindert, und von 
den wirklichen Hermaphroditen paaren sich viele, d. h. zwei In- 
dividuen vereinigen sich zur Reproduktion; Diess ist alles, was 
uns hier angeht. Doch gibt es noch viele andre zwitterliche 
Thiere, welche gewiss sich gewöhnlich nicht paaren. Auch bei 
weitem die grösste Anzahl der Pflanzen sind Hermaphroditen. 
Man kann: nun fragen, was ist in diesen Fällen für ein Grund 
zur Annahme vorhanden, dass jedesinal zwei Individuen zur 


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Reproduktion zusammenwirken? Da es hier nicht möglich ist, in 
Einzelnheiten einzugehen, so muss ich mich auf einige allgemeine 
Betrachtungen beschränken. 

Für's Erste habe ich eine grosse Masse von Thatsachen 
gesammelt, welche übereinstimmend mit der fast allgemeinen 
Überzeugung der Viehzüchter beweisen, dass bei Thieren wie 
bei Pflanzen eine Kreutzung zwischen Thieren verschiedener 
Varietäten, oder zwischen solchen verschiedener Stämme einer 
Varietät der Nachkommenschaft Stärke und Fruchtbarkeit verleiht, 
während anderseits enge Inzucht Kraft und Fruchtbarkeit vermin. 
dert. Diese Thatsachen allein machen mich glauben, dass es 
ein allgemeines Natur-Gesetz ist (wie unwissend wir auch über 
die Bedeutung des Gesetzes seyn mögen), dass kein organisches 
Wesen sich selbst für eine Ewigkeit von Generationen befruch- 
ten könne, dass daher eine Kreutzung mit: einem andern Indivi- 
duum von Zeit zu Zeit und vielleicht nach langen Zwischenräu- 
men einmal unentbehrlich ist. 

Von dem Glauben ausgehend, dass Diess ein Natur-Gesetz 
seye, werden wir verschiedene grosse Klassen von Thatsachen 
verstehen, welche auf andre Weise unerklärlich sind. Jeder 
Blendlingsgetreide-Züchter weiss, wie nachtheilig für die Befruch- 
tung einer Blüthe es ist, wenn sie während derselben der Feuch- 
tigkeit ausgesetzt wird. Und doch, was für eine Menge von 
Blumen haben Staubbeutel und Narben vollständig dem Wetter 
ausgesetzt! Wenn aber eine Kreutzung von Zeit zu Zeit nun 
doch unerlässlich, so erklärt sich jene Aussetzung aus der Noth- 
wendigkeit, dass die Blumen für den Eintritt fremden Pollens 
offen seyen, und zwar um so mehr, als die zusammengehörigen 
Staubgefässe und Pistille einer Blume gewöhnlich so nahe bei- 
sammen stehen, dass Selbstbefruchtung unvermeidlich scheint. 
Andrerseits aber haben viele Blumen ihre Befruchtungs-W erkzeuge 
sehr enge umschlossen, wie die Schmetterlingsblüthigen z. B.; 
aber in vielen und vielleicht in allen solchen Blumen ist eine 
sehr merkwürdige Anpassung zwischen dem Bau der Blume und 
der Art und Weise, wie die Bienen den Nektar daraus saugen, 
indem. sie alsdann entweder den eignen Pollen der Blume über 


103 


ihre Narbe wischen ‘oder fremden Pollen mitbringen. Zur 
Befruchtung der Schmetterlingsblüthen ist der Besuch der Bienen 
so nothwendig, dass, wie ich durch anderwärts veröffentlichte 
Versuche gefunden, ihre Fruchtbarkeit sehr abnimmt, wenn die- 
ser Besuch verhindert wird. Nun ist es aber kaum möglich, 
dass Bienen von Blüthe zu Blüthe fliegen, ohne den Pollen der 
einen zur andern zu bringen, wie ich überzeugt bin, zum gros- 
sen Vortheil der Pflanze. Die Bienen wirken dabei wie ein 
Kameelhaar-Pinsel, und es ist vollkommen zur Befruchtung genü- 
gend, wenn man mit einem und demselben Bürstchen zuerst 
das Staubgefäss der einen Blume und dann die Narbe der andern 
berührt. Dabei ist aber nicht zu fürchten, dass die Bienen viele 
Bastarde zwischen verschiedenen Arten erzeugen; denn, wenn 
ınan den eignen Pollen und den einer andren Pflanzen-Art 
zugleich mit demselben Pinsel auf die Narbe streicht, so hat 
der erste eine so überwiegende Wirkung, dass er, wie schon 
GÄRTNER gezeigt, jeden Einfluss des andern gänzlich zerstört. 
Wenn die Staubgefässe einer Blume sich plötzlich gegen 
das Pistill schnellen oder sich eines nach dem andern langsam 
gegen dasselbe neigen, so Scheint diese Einrichtung nur auf 
Sicherung der Selbstbefruchtung berechnet, und ohne Zweifel ist 
sie auch dafür nützlich. Aber die Thätigkeit der Insekten ist 
oft nothwendig, um die Staubfäden aufschnellen zu machen, wie 
Körreurer beim Sauerdorn insbesondere gezeigt hat; und son- 
derbarer Weise hat man gerade bei dieser Sippe (Berberis), 
welche so vorzüglich zur Selbstbefruchtung eingerichtet zu seyn 
scheint, die Beobachtung gemacht, dass, wenn man nahe ver- 
wandte Formen oder Varietäten dicht neben einander pflanzi, es 
in Folge der reichlichen Kreutzung kaum möglich ist noch eine 
reine Rasse zu erhalten. In vielen andern Fällen aber findet 
man, wie ©. C. Sprenger’s Schriften und meine eignen Erfahrun- 
gen lehren, statt der Einrichtungen zu Begünstigung der Selbsi- 
befruchtung vielmehr solche, welche das Stigma hindern, den 
Saamenstaub- der nämlichen Blüthe aufzunehmen. So ist bei 
Lobelia fulgens eine wirklich schöne und sorgfältig ausgearbeitete 
Einrichtung, wodurch jedes der unendlich zahlreichen Pollen- 


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Körnchen aus den verwachsenen Antheren einer jeden Blüthe 
fortgeführt wird, ehe das Stigma derselben Blüthe bereit ist: die- 
selben aufzunehmen. Da nun, wenigstens in meinem Garten, 
diese Blumen niemals von Insekten besucht werden, so haben 
sie auch niemals Saamen angesetzt, bis ich auf künstlichem W ege den 
Pollen einer Blüthe auf die Narbe der andern übertrug und mich 
hiedurch auch in den Besitz zahlreicher Sämlinge ‚zu. setzen 
vermochte. Eine andre daneben stehende Lobelia-Art, die von 
Bienen besucht wird, bildet von freien Stücken Saamen. In sehr 
vielen anderen Fällen, wo keine besondre mechanische Einrich- 
tung vorhanden ist, um das Stigma einer Blume an der Auf. 
hahme des eignen Saamenstaubs zu hindern, platzen entweder, 
wie sowohl C. C. Sprenger als ich selbst gefunden, die Stäubr 
beutel schon bevor die Narbe zur Befruchtung reif ist, oder das 
Stigma ist vor dem Pollen derselben Blüthe reif, so dass diese 
Pflanzen in der That getrennte Geschlechter haben und sich fort- 
während kreutzen. Wie wundersam erscheinen diese That- 
sachen! Wie wundersam, dass der Pollen und die Oberfläche 
des Stigmas einer‘ und derselben Blüthe so nahe zusammenge- 
rückt sind, als sollte dadurch die Selbstbefruchtung unvermeid- 
lich werden, und dass beide gerade in so vielen dieser Fälle 
völlig unnütz für einander sind. Wie einfach sind dagegen diese 
Thatsachen zu erklären aus der Ansicht, dass von Zeit zu Zeit 
eine Kreutzung mit einem anderen Individuum vortheilhaft oder 
sogar unentbehrlich seye? 

Wenn verschiedene Varietäten von Kohl, Radies’chen, Lauch 
u. e, a. Pflanzen dicht nebeneinander zur Saamen-Bildung gebracht 
werden, so liefern ihre Saamen, wie ich gefunden, grossentheils 
Blendlinge. So z. B. erzog ich 233 Kohl-Sämlinge aus dem 
Saamen einiger Stöcke von verschiedenen Varietäten, die nahe 
bei einander gewachsen, und von diesen entsprachen nur 78. 
der Varietät des Stocks, von dem sie eingesammelt worden, und 
selbst diese nicht alle genau. Nun ist aber das Pistill einer 
jeden Kohl-Blüthe nicht allein von deren eignen sechs Staubge- 
fässen, sondern auch von denen aller übrigen Blüthen derselben 
Pflanze nahe umgeben. Wie kommt es denn, dass sich eine sO 


105 


grosse Anzahl von Sämlingen als Blendlinge erwiesen? Ich muss 
vermuthen, dass es davon herrührt, dass der Pollen einer frem- 
den Varietät einen überwiegenden Einfluss auf das eigne Stigma 
habe, und zwar eben in Folge des Natur-Gesetzes, dass die 
Kreutzung zwischen verschiedenen Individuen derselben Spezies 
‚für diese nützlich ist. Werden dagegen verschiedene Arten mit 
einander gekreutzt, so ist der Erfolg gerade umgekehrt, indem 
der Pollen einer Art einen über den der andern überwiegenden 
Einfluss hat. Doch auf diesen Gegenstand werde ich in einem 
späteren Kapitel zurückkommen. 

Handelt es sich um mächtige mit zahllosen Blüthen bedeckte 
Bäume, so kann man einwenden, dass deren Pollen nur selten 
von einem Stamme auf den andern übertragen werden und mei- 
stens nur von einer Blüthe auf eine andre Blüthe desselben Stammes 
gelangen kann, dass aber verschiedene Blüthen eines Baumes 
nur in einem beschränkten Sinne als Individuen angesehen wer- 
den können. Ich halte diese Einrede für triftig; doch hat die 
Natur in dieser Hinsicht vorgesorgt, indem sie den Bäumen ein 
Streben zur Bildung von Blüthen getrennten Geschlechtes ver- 
liehen hat. Sind die Geschlechter getrennt, wenn gleich männ- 
liche und weibliche Blüthen auf einem Stamme vereinigt, so 
muss der Pollen regelmässig von einer Blüthe zur andern geführt 
werden, was denn auch mehr Aussicht gewährt, dass er gelegent- 
lich von einem Stamm zum anderen komme. Ich finde, dass in 
unsren Gegenden die Bäume aller Pflanzen-Ordnungen öfter als 
Sträucher und Kräuter getrennte Geschlechter haben, und tabel- 
larische Zusammenstellungen der Neuseeländischen Bäume, welche 
Dr. Hooxer, und der Vereinten Staaten, welche Ası Gray mir 
aul meine Bitte geliefert, haben, wie vorauszusehen, zum näm- 
lichen Ergebnisse geführt. Doch andrerseits hat mich Dr. Hooker 
neuerlich benachrichtigt, dass diese Regel nicht für Australien 
gelte, und ich habe daher diese wenigen Bemerkungen über die 
Geschlechts-Verhältnisse der Bäume nur machen wollen, um die 
Aufmerksamkeit darauf zu lenken. 

Was die Thiere betrifft, so gibt es unter den Landbewoh- 
nern nur ‚wenige Zwitter, wie Schnecken und Regenwürmer, 


106 | 


und diese paaren sich alle. Ich habe noch kein Beispiel kennen 
gelernt, wo ein Landthier sich selbst befruchtete. Man kann 
diese merkwürdige Thatsache, welche einen so schroffen Gegen- 
satz zu den Landpflanzen bildet, nach der Ansicht, dass eine 
Kreutzung von Zeit zu Zeit nöthig seye, erklären, indem man 
das Medium, worin die Landthiere leben, und die Beschaffenheit 
des befruchtenden Elementes berücksichtigt; denn wir kennen 
keinen Weg, auf welchem, wie durch Insekten und Wind bei 
den Pflanzen, eine gelegentliche Kreutzung zwischen Landthieren 
anders bewirkt werden könnte, als durch die unmittelbare Zusam- 
menwirkung der beiderlei Individuen. Bei den Wasserthieren 
dagegen gibt es viele sich selbst befruchtende Hermaphroditen; 
hier liefern aber die Strömungen des Wassers ein handgreif- 
liches Mittel für gelegentliche Kreutzungen. Und, wie bei den 
Pflanzen, so habe ich auch bei den Thieren, sogar nach Bespre- 
chung mit einer der ersien Autoritäten, mit Professor Huxıky 
nämlich, vergebens gesucht, auch nur eine hermaphroditische 
Thier-Art zu finden, deren Geschlechts-Organe so vollständig im 
Körper eingeschlossen wären, dass dadurch der gelegentliche 
Einfluss eines andern Einzelwesens physisch unmöglich gemacht 
würde. Die Cirripeden schienen mir zwar langezeit einen in 
dieser Beziehung sehr schwierigen Fall darzubieten; ich bin aber 
durch einen glücklichen Umstand in die Lage gesetzt gewesen, | 
schon anderwärts zeigen zu können, dass zwei Individuen, wenn 
auch in der Regel sich selbst befruchtende Zwitter, sich doch 
zuweilen kreutzen. | 

Es muss den meisten Naturforschern als eine sonderbare 
Ausnahme schon aufgefallen seyn, dass bei den meisten Pflanzen 
und Thieren solche Arten in einer Familie und oft in einer Sippe 
beisammen stehen, welche , obwohl im grösseren Theile ihrer übri- 
gen Organisation unter sich nahe übereinstimmend, doch zum 
Theile Zwitter und zum Theile eingeschlechtig sind. Wenn aber 
auch alle Hermaphroditen sich von Zeit zu Zeit mit andern Ein- 
zelwesen kreutzen, so wird der Unterschied zwischen hermaphro- 
ditischen und eingeschlechtigen Arten. was ihre Geschlechts- 
Funktionen betrifft, ein sehr kleiner. 


107 


Nach diesen mancherlei Betrachtungen und den vielen ein- 
zelnen Fällen, die ich gesammelt habe, jedoch hier nicht mit- 
theilen kann, bin ich sehr zur Vermuthung geneigt, dass im 
Pflanzen- wie im Thier-Reiche die von Zeit zu Zeit erfolgende 
Kreutzung mit einem fremden Einzelwesen ein Natur-Gesetz ist. 
Ich weiss wohl, dass es in dieser Beziehung viele schwierige 
Fälle gibt, unter welchen einige sind, worüher ich mit Forschun- 
gen beschäftigt bin. Als Endergebniss können wir folgern, dass 
in vielen organischen Wesen die Kreutzung zweier Individuen 
eine offenbare Nothwendigkeit für jede Fortpflanzung ist; bei 
vielen andern genügt es, wenn sie von Zeit zu Zeit wiederkehrt; 
dagegen vermuthe ich, dass Selbstbefruchtung allein nirgends für 
immer ausreichend seye. 

Für natürliche Züchtung günstige Verhältnisse.) 
Das ist ein sehr verwickelter Gegenstand. Eine grosse Summe 
von erblicher Veränderlichkeit ist dafür günstig; aber ich glaube, 
dass schon individuelle Verschiedenheiten genügen. Eine grosse 
Anzahl von Individuen bietet mehr Aussicht auch auf das Her- 
vortreten nutzbarer Abänderungen in einem gegebenen Zeitraum, 
selbst bei geringerem Betrag schon vorhandener Veränderlichkeit 
derselben, und ist eine äusserst wichtige Bedingung des Erfolges. 
Obwohl die Natur lange Zeiträume auf die Züchtung verwendet, 
so braucht sie doch keine von unendlicher Länge; denn da 
alle organischen Wesen sozusagen streben eine Stelle im Haus- 
halte der Natur einzunehmen, so muss eine Art, welche nicht 
gleichen Schrittes mit ihren Mitbewerbern verändert und verbes- 
sert wird, bald erlöschen. 

Bei planmässiger Züchtung wählt der Züchter stets bestimmte 
Objekte, und freie Kreutzung würde sein Werk gänzlich hemmen. 
Haben aber viele Menschen, olıne die Absicht ihre Rasse zu 
veredeln, eine ungefähr gleiche Ansicht über Vollkommenheit, 
und sind alle bestrebt, nur die besten und vollkommensten Thiere 
zur Nachzucht zu verwenden, so wird, wenn auch langsam, aus 
dieser unbewussten Züchtung gewiss schon viele Umänderung 
und Veredlung hervorgehen, wenn auch viele Kreutzung mit 
schlechteren Thieren zwischendurchläuft. So ist es auch in der 


108 


Natur. Findet sich ein beschränktes Gebiet mit einer nicht ganz ange- 
messen ausgefüllten Stelle in ihrer geselligen Zusammensetzung, 
so wird die Natürliche Züchtung bestrebt seyn, alle Individuen 
zu erhalten, die, wenn auch in verschiedenem Grade, doch in der 
angemessenen Richtung so variiren, dass sie die Stelle allmäh- 
lich besser auszufüllen im Stande sind. Ist jenes Gebiet aber 
gross, so werden seine verschiedenen Bezirke gewiss ungleiche 
Lebens-Bedingungen darbieten; und wenn dann durch den Ein- 
fluss der Natürlichen Züchtung irgend eine Spezies auf eine 
andre Weise in jedem Bezirke abgeändert worden, so wird an 
den Grenzen dieser Bezirke eine Kreutzung zwischen den Indi- 
viduen jener verschiedenen Abänderungen eintreten, und in die- 
sem Falle kann die Wirkung der Kreutzung durch die der Natür- 
lichen Züchtung, welche bestrebt ist alle Individuen eines jeden 
Bezirks genau in derselben Weise den Lebens-Bedingungen an- 
zupassen, kaum aufgewogen werden, weil in einer zusammen- 
hängenden Fläche die Lebens-Bedingungen des einen in die des 
anderen Bezirkes allmählich übergehen. Die Kreutzung wird 
hauptsächlich diejenigen Thiere berühren, welche sich zu jeder 
Fortpflanzung paaren, viel wandern und sich nicht rasch ver- 
vielfältigen. Daher bei Thieren dieser Art, Vögeln z. B., die 
Abänderungen gewöhnlich auf getrennte Gegenden beschränkt 
seyn müssen, wie es auch der Fall zu seyn scheint. Bei Zwitter- 
Organismen, welche sich nur von Zeit zu Zeit mit andern 
kreutzen, sowie bei solchen Thieren, die zu jeder Verjüngung 
ihrer Art sich paaren, aber wenig wandern und sich sehr rasch 
vervielfältigen können, dürfte sich eine neue und verbesserte 
Varietät an irgend einer Stelle rasch bilden und sich dort in 
Masse zusammenhalten, so dass alle Kreutzung, wie sie auch 
beschaffen seye, nur zwischen Einzelthieren derselben neuen 
Varietät erfolgt. Ist eine örtliche Varietät auf solche Weise ein- 
mal gebildet, so wird sie sich nachher nur langsam über andre 
Bezirke verbreiten. Nach dem obigen Prinzip ziehen Pflanzschu- 
len-Besitzer es immer vor, Saamen von einer grossen Pflanzen- 
Masse gleicher Varietät zu ziehen, weil hiedurch die Möglichkeit 
einer Kreutzung mit anderen Varietäten gemindert wird. 


109 


Selbst bei Thieren mit langsamer Vermehrung, die sich zu 
jeder Fortpflanzung paaren, dürfen wir die Wirkungen der Kreut- 
zung auf Verzögerung der Natürlichen Züchtung nicht über- 
schätzen; denn ich kann eine lange Liste von Thatsachen bei- 
bringen, woraus sich ergibt, dass in einem Gebiete Varietäten 
der nämlichen Thier - Art lange unterschieden bleiben können, 
wenn sie verschiedene Stationen innehaben, in etwas verschie- 
dener Jahreszeit sich fortpflanzen, oder im Falle nur einerlei 
Varietät sich unter einander paart. 

4 Kreutzung spielt in der Natur insoferne eine grosse Rolle, 
als sie die Individuen einer Art oder einer Varietät rein und 
einförmig in ihrem Charakter erhält. Sie wird Diess offenbar 
weit wirksamer zu thun vermögen bei solchen Thieren, die sich 
für jede Fortpflanzung paaren; aber ich habe schon vorher zu 
zeigen versucht, dass Ursache zur Vermuthung vorliegt, dass bei 
allen Pflanzen und bei allen Thieren von Zeit zu Zeit Kreutzun- 
gen erfolgen; — und wenn Diess auch nur nach langen Zwischen- 
räumen wieder einmal erfolgt, so bin ich überzeugt, dass die 
hiebei erzielten Abkömmlinge die durch lange Selbstbefruchtung 
erzielte Nachkommenschaft an Stärke und Fruchtbarkeit so sehr 
übertreffen, dass sie mehr Aussicht haben dieselben zu über- 
leben und sich fortzupflanzen, und so wird in langen Zeiträumen 
‚ der Einfluss der wenn auch nur seltenen Kreutzungen doch gross 
seyn. Bei Organismen, die sich niemals kreutzen, kann eine 
Gleichförmigkeit des Charakters so lange währen, als ihre äus- 
seren Lebens-Bedingungen die nämlichen bleiben, theils in Folge 
der Vererbung und theils in Folge der Natürlichen Züchtung, 
welche jede zufällige Abweichung von dem eigenen Typus immer 
wieder zerstört; wenn aber die Lebens-Bedingungen sich ändern 
und jene Wesen dem entsprechende Abänderungen erleiden, so 
kann ihre hienach abgeänderte Nachkommenschaft nur. dadurch 
Einförmigkeit des Charakters behaupten, dass Natürliche Züch- 
tung dieselbe vortheilhafte Varietät erhält. 

# Abschliessung ist eine wichtige Bedingung im Prozesse der 
Natürlichen Zuchtwahl. In einem umgrenzten oder vereinzelten 
Gebiete werden, wenn es nicht sehr gross ist, die unorganischen 


110 


wie die organischen Lebens- Bedingungen gewöhnlich in hohem 
Grade einförmig seyn; daher die Natürliche Zuchtwahl streben 
wird, alle Individuen einer veränderlichen Art in gleicher Weise 
mit Hinsicht auf die gleichen Lebens-Bedingüngen zu modifiziren, 
Auch Kreutzungen mit solchen Individuen derselben Art, welche 
die den Bezirk umgrenzenden und anders beschaffenen Gegenden 
bewohnen mögen, kommen da nicht vor. Isolirung wirkt aber 
vielleicht noch kräftiger, insoferne sie nach irgend einem phy- 
sikalischen Wechsel im Klima, in der Höhe des Landes u. s. w. 
die Einwanderung hindert; und so bleiben die neuen Stellen im 
Natur-Haushalte der Gegend offen für die Bewerbung der alten 
Bewohner, bis diese sich durch geeignete Veränderungen in or- 
ganischer Bildung und Thätigkeit derselben angepasst haben. 
Abschliessung wird endlich dadurch, dass sie Einwanderung und 
daher Mitbewerbung hemmt, Zeit geben zur Bildung neuer Varie- 
täten, und Diess kann mitunter von Wichtigkeit seyn für die 
Hervorbringung neuer Arten. Wenn dagegen ein isolirtes Land- 
Gebiet sehr klein ist, so wird nothwendi@ auch, entweder der 
es umgebenden Schranken halber oder in Folge seiner ganz 
eigenthümlichen Lebens-Bedingungen, die Gesammtzahl der darin 
vorhandenen Individuen sehr klein seyn; und geringe Individuen- 
Zahl verzögert sehr die Bildung neuer Arten durch Natürliche 
Züchtung, weil sie die Möglichkeit des Auftretens neuer ange- 
messener Abänderungen vermindert. 

5 Wenden wir uns zur Bestätigung der Wahrheit dieser Be- 
merkungen an die Natur und sehen uns um nach irgend einem 
kleinen abgeschlossenen Gebiete, nach einer ozeanischen Insel 
z. B., so werden wir finden dass, obwohl die Gesammtzahl der 
es bewohnenden Arten nur klein ist, wie sich in dem Kapitel 
über geographische Verbreitung ergeben wird, doch eine ver- 
hältnissmässig grosse Zahl dieser Arten endemisch ist, d. h. hier 
an Ort und Stelle und nirgends anderwärts erzeugt worden ist. 
Auf den ersten Anblick scheint‘ es demnach, es müsse eine 
ozeanische Insel sehr geeignet zur Hervorbringung neuer Arten 


gewesen seyn; um jedoch thatsächlich zu ermitteln, ob ein klei- 
nes abgeschlossenes Gebiet oder eine weite offene Fläche für 


111 


die Erzeugung neuer organischer Formen mehr geeignet gewe- 
sen seye,. müssten wir auch ‚gleich - lange Zeiträume dabei 
vergleichen können, und Diess sind wir nicht im Stande zu 
thun. 

'» Obwohl ich nun nicht zweifle, dass Isolirung bei Erzeugung 
neuer Arten ein sehr wichtiger Umstand ist, so möchte ich doch 
im Ganzen genommen glauben, dass grosse Ausdehnung des Ge- 
bietes noch wichtiger insbesondere für die Hervorbringung sol- 
cher Arten ist, die. sich ‚einer langen Dauer und weiten Ver- 
breitung fähig zeigen. Auf einer grossen und offenen Fläche 
wird nicht nur die Aussicht auf vortheilhafte Abänderungen we- 
gen der grösseren Anzahl von Individuen einer Art günstiger, 
es werden auch die Lebens - Bedingungen wegen der grossen 
Anzahl schon vorhandener Arten unendlich zusammengesetzter 
seyn; und wenn einige von diesen zahlreichen Arten verändert 
oder verbessert werden, so müssen auch andre in entsprechen- 
dem Grade verbessert werden oder untergehen. Eben so wird jede 
neue Form, sobald sie sich stark verbessert hat, fähig seyn, sich 
über die offene und zusammenhängende Fläche auszubreiten, und 
wird hiedurch in Mitbewerbung mit vielen andern treten. Es 
werden hiemit mehr neu zu besetzende Stellen entstehen, und die 
Mitbewerbung um deren Ausfüllung wird viel: heftiger als auf 
einem kleinen und abgeschlossenen Gebiete werden. Ausserdem 
aber ınögen grosse Flächen, wenn sie jetzt auch zusammenhän- 
gend sind, in Folge der Schwankungen ihrer Oberfläche, oft 
noch unlängst von unterbrochener Beschaffenheit gewesen seyn, 
so dass sie an den guten Wirkungen der Isolirung wenigstens 
bis zu einem gewissen Grade mit theilgenommen haben. Ich 
komme demnach zum Schlusse, dass, wenn kleine abgeschlossene 
Gebiete auch in manchen Beziehungen wahrscheinlich sehr gün- 
stig für die Erzeugung neuer Arten gewesen sind, doch aul 
grossen Flächen die Abänderungen im Allgemeinen rascher er- 
folgt sind und, was noch wichtiger ist, die auf den grossen 
Flächen entstandenen neuen Formen, welche bereits den Sieg 
über viele Mitbewerber davon getragen, solche sind, die sich 
am weitesten verbreiten und die zahlreichsten neuen Varietäten 


112 


und Arten liefern, mithin den wesentlichsten Antheil an den ge- 
schichtlichen Veränderungen der organischen Welt nehmen. 
Wir können von diesen Gesichtspunkten aus vielleicht einige 
Thatsachen verstehen, welche in unserm Kapitel über die geo- 
graphische Verbreitung erörtert werden sollen; z. B. dass die 
Erzeugnisse des kleineren Australischen Kontinentes früher vor 
denen der grössern Europäisch-Asiatischen Fläche gewichen und 
anscheinend noch jetzt im Weichen begriffen sind. Daher kommt 
es ferner, dass festländische Erzeugnisse allenthalben so reich- 
lich auf Inseln naturalisirt worden sind. Auf einer kleinen Insel 
wird der Wettkampf ums Daseyn viel weniger heftig, Erlöschung 
wird weniger und Abänderung geringer gewesen seyn. Daher 
rührt es vielleicht auch, dass die Flora von Madeira nach Oswaın 
Heer der erloschenen Tertiär-Flora Europas gleicht. Alle Süss- 
wasser-Becken zusammengenommen nehmen dem Meere wie dem 
trockenen Lande gegenüber nur eine kleine Fläche ein,. und 
demgemäss wird die Mitbewerbung zwischen den Süsswasser-Er- 
zeugnissen minder heftig gewesen seyn als anderwärts; neue 
Formen sind langsamer entstanden und alte langsamer erloschen. 
Im süssen Wasser finden wir sieben Sippen ganoider oder 
schmelzschuppiger Fische als übrig-gebliebene Vertreter einer 
einst vorherrschenden Ordnung dieser Klasse; und im süssen 
Wasser finden wir auch einige der anomalsten Wesen, welche 
auf der Erde bekannt sind, den Ornithorhynchus und den Lepi- 
dosiren, welche gleich fossilen Formen bis zu gewissem Grade 
solche Ordnungen miteinander verbinden, welche jetzt auf der 
natürlichen Stufenleiter weit von einander entfernt sind. Man 
kann daher diese anomalen Formen immerhin »lebende Fossile« 
nennen. Sie haben ausgedauert bis auf den heutigen Tag, weil 
sie eine beschränkte Fläche bewohnt haben und in dessen Folge 
einer minder heftigen Mitbewerbung ausgesetzt gewesen sind. 


Fassen wir die der Natürlichen Züchtung günstigen und un- 
günstigen Umstände schliesslich zusammen, so weit die äusserst 
verwickelte Beschaffenheit Solches gestattet. Ich gelange mit 
Hinsicht auf die Zukunft zum Schlusse: dass für Land-Erzeug- 
nisse eine weite Festland-Fläche, welche wahrscheinlich noch viel- 


113 

fältige Höhenwechsel zu erfahren hat und sich daher lange Zeit- 
räume hindurch in einem unterbrochenen Zustande befinden wird, 
für Hervorbringung vieler neuen zu langer Dauer und weiter 
Verbreitung geeigneter Lebens-Formen die günstigsten Bedingun- 
gen darbieten wird. Eine solche Fläche kann zuerst ein Fest- 
land gewesen seyn, dessen Bewohner in jener Zeit zahlreich an 
Arten und Individuen sehr lebhafter Mitbewerbung ausgesetzt 
gewesen sind. Ist sodann der Kontinent durch Senkung in 
grösse Inseln geschieden worden, so werden noch viele Indi- 
viduen einer Art auf jeder Insel übrig seyn, welche sich an 
den Grenzen ihrer Verbreitungs-Bezirke (der Inseln) mit einander 
zu kreutzen gehindert sind. Eben so können nach irgend wel- 
chen physikalischen Veränderungen keine Einwanderungen statt- 
finden, daher die neu entstehenden Stellen in der gesellschaft- 
lichen Verbindung jeder‘ Insel durch Abänderungen ihrer alten 
Bewohner ausgefüllt werden müssen. Um die Varietäten einer 
jeden zu diesem Zwecke umzugestalten und zu vervollkommnen, 
wird lange Zeit nöthig seyn. Sollten durch eine neue Hebung 
die Inseln wieder in ein Festland zusammenfliessen, so wird eine 
heftige Mitbewerbung erfolgen. Die am meisten begünstigten 
oder verbesserten Varietäten werden sich ausbreiten, viele min- 
der vollkommene. Formen erlöschen und die Verhältniss - Zahlen 
des erneuerten Kontinentes sich bedeutend ändern. Es wird 
daher der Natürlichen Züchtung ein reiches Feld zur ferneren 
Verbesserung der Bewohner und zur Hervorbringung neuer Arten 
geboten seyn. 

Ich gebe vollkommen zu, dass die Natürliche Züchtung zu- 
weilen mit äusserster Langsamkeit wirke. Ihre Thätigkeit hängt 
davon ab, ob in dem gesellschaftlichen Verbande der Natur 
Stellen vorhanden sind, welche dadurch besser besetzt werden 
könnten, dass einige Bewohner der Gegend irgend welche Ab- 
änderung erführen. Das Vorhandenseyn solcher Stellen wird oft 
von gewöhnlich langsamen physikalischen Veränderungen und 
davon abhängen, ob die Einwanderung besser anpassender For- 
men gehindert ist. Aber die Thätigkeit der Natürlichen Züchtung 
wird wahrscheinlich noch öfter davon bedingt seyn, dass einige 


R 


114 


der Bewohner langsame Abänderungen erleiden, indem hiedurch 
die Wechselbeziehungen vieler alten Bewohner zu einander ge- | 
stört werden. Nichts kann bewirkt werden, bevor nicht vortheil- 
hafte Abänderungen vorkommen, und Abänderung selbst ist offen- 
bar stets ein sehr langsamer Vorgang. Viele werden der Mei- 
nung seyn, dass diese verschiedenen Ursachen ganz genü- 
send seyen, um die Thätigkeit der Natürlichen Züchtung voll- 
ständig zu hindern; ich bin jedoch nicht dieser Ansicht. Auf der 
andern Seite glaube ich, dass Natürliche Züchtung immer sehr 
langsam wirke, oft erst wieder nach langen Zeitzwischenräumen 
und gewöhnlich nur bei sehr wenigen Bewohnern einer Gegend 
zugleich. Ich glaube ferner, dass diese sehr langsame und aus- 
setzende Thätigkeit der Natürlichen Züchtung ganz gut demjeni- 
gen entspricht, was uns die Geologie in Bezug auf die Ordnung 
und Art der Veränderung lehrt, welche die Bewohner dieser 
Erde allmählich erfahren haben. 

Wie langsam aber auch der Prozess der Züchtung seyn mag: 
wenn der schwache Mensch in kurzer Zeit schon so viel durch 
seine künstliche Züchtung thun kann, so vermag ich keine 
Grenze für den Umfang der Veränderungen, für die Schön- 
heit und endlose Verflechtung der Anpassungen aller orga- 
nischen Wesen an einander und an ihre natürlichen Lebens- 
Bedingungen zu erkennen, welche die Natürliche Züchtung im 
Verlaufe unermesslicher Zeiträume zu bewirken im Stande ist. 

; Erlöschen.) — Dieser Gegenstand wird in unsrem Ab- 
schnitte über Geologie vollständiger abzuhandeln seyn; hier be- 
rühren wir ihn nur, insoferne er mit der Züchtung zusammen- 
hängt. Natürliche Züchtung wirkt nur durch Erhaltung vortheil- 
hafter Abänderungen, welche die andern zu überdauern vermögen. 
Wenn jedoch in Folge des geometrischen Vervielfältigungs-Ver‘ 
mögens aller organischen Wesen jeder Bezirk schon genügend 
mit Bewohnern versorgt ist, so folgt, dass in demselben Grade, 
in welchem die ausgewählte und begünstigte Form an Menge zu- 
nimmt, die minder begünstigte allmählich abnehmen und seltener 
werden müsse.  Seltenwerden ist, wie die Geologie uns lehrt, 
Anfang des Erlöschens. Man erkennt auch, dass eine nuf 


115 


durch wenige Individuen vertretene Form durch Schwankungen 
in den Jahreszeiten oder in der Zahl ihrer Feinde grosse Gefahr 
gänzlicher Vertilgung läuft. Doch können wir noch weiter gehen 
und sagen: wenn neue Formen langsam aber beständig erzeugt 
werden, so müssen andre unvermeidlich fortwährend erlöschen, 
wenn nicht die Zahl der spezifischen Formen beständig und fast 
unendlich anwachsen soll. Die Geologie zeigt uns klärlich, dass 
die Zahl der Art- Formen nicht ins Unbegrenzte gewachsen ist, 
und es lässt sich nicht einmal die Möglichkeit dafür einsehen, 
weil die Zahl der Stellen im Natur -Haushalte nicht unendlich 
gross ist, wenn wir auch in keiner Weise zu behaupten beab- 
sichtigen, dass irgend welche Gegend bereits das mögliche Ma- 
ximum ihrer Arten- Zahl besitze. Wahrscheinlich ist noch keine 
Gegend vollständig besetzt; denn obwohl am Kap der guten 
Hoffnung z. B. mehr Arten als irgendwo sonst in der Welt zu- 
sammengedrängt sind, hat man doch noch einige fremde Pflanzen 
eingeführt, ohne, so viel bekannt, das Erlöschen irgend welcher 
eingeborenen Arten zu veranlassen. 

Ferner haben diejenigen Arten, welche die zahlreichsten 
Individuen zählen, die meiste Wahrscheinlichkeit für sich, inner- 
halb einer gegebenen Zeit vortheilhafte Abänderungen hervorzu- 
bringen. Die im zweiten Kapitel mitgetheilten Thatsachen kön- 
nen zum Beweise dafür dienen, indem sie zeigen, dass gerade 
die gemeinsten Arten die grösste Anzahl ausgezeichneter Varietäten 
oder anfangender Spezies liefern. Daher werden denn auch die 
selteneren Arten in einer gegebenen Periode weniger rasch um- 
geändert oder verbessert werden und demzufolge in dem Kampfe 
mit den umgeänderten Abkömmlingen der gemeineren Arten 
unterliegen. 

Aus diesen verschiedenen Betrachtungen scheint nun unver- 
meidlich zu folgen, dass in dem Masse, wie im Laufe der Zeit 
neue Arten durch Natürliche Züchtung entstehen, andre seltener 
und seltener werden und endlich erlöschen müssen. Diejenigen 
Formen werden natürlich am meisten leiden, welche den umgeän- 
derten und verbesserten am nächsten stehen. Und wir haben in 
dem Abschnitte vom Ringen um’s Daseyn gesehen, dass es die 

g® 


116 


miteinander am nächsten verwandten Formen — Varietäten der 
nämlichen Art und Arten der nämlichen oder einander zunächst 
verwandten Sippen sind, die, weil sie nahezu gleichen Bau, Kon- 
stitution und Lebensweise haben, meistens auch in die heftigste 
Mitbewerbung miteinander gerathen. Wir sehen den nämlichen 
Prozess der Austilgung unter unseren Kultur-Erzeugnissen vor 
sich gehen, in Folge der Züchtung verbesserter Formen durch 
den Menschen. Ich könnte mit vielen merkwürdigen Belegen 
zeigen, wie schnell neue ‘Rassen von Rindern, Schaafen und 
andern Thieren oder neue Varietäten von Blumen die Stelle der 
früheren und unvollkommeneren einnehmen. In Yorkshire ist es 
geschichtlich bekannt, dass das alte schwarze Rindvieh durch die 
Langhorn-Rasse verdrängt und dass diese, nach dem Ausdruck 
eines landwirthschaftlichen Schriftstellers, wie durch eine mör- 
derische Seuche von den Kurzhörnern weggelegt worden ist, 

/? Divergenz des Charakters.) — Das Prinzip, welches 
ich mit diesem Ausdrucke bezeichne, ist von hoher. Wichtigkeit 
für meine Theorie und erklärt nach meiner Meinung verschiedene 
wichtige Thatsachen. Erstens gibt es manche sehr ausgeprägte 
_ Varietäten, die, obwohl sie etwas vom Charakter der Spezies an 
sich haben, wie in vielen Fällen aus den hoffnungslosen Zwei- 
feln über ihren Rang erhellet, doch gewiss viel weniger als 
gute und ächte Arten von einander abweichen. Demungeachtet 
sind nach meiner Anschauungsweise Varietäten eben ‚anfangende 
Spezies. Auf welche Weise wächst nun jene kleinere Verschie- 
denheit zur grössern spezifischen Verschiedenheit an? Dass Diess 
allgemein geschehe,, müssen wir aus den fast unzähligen in der 
ganzen Natur ‘vorhandenen Arten mit wohl ausgeprägten Va- 
rietäten schliessen, während Varietäten, die von uns unler- 
stellten Prototype und Ältern künftiger wohl unterschiedener 
Arten, nur ‘geringe und schlecht-ausgeprägte Unterschiede dar- 
bieten. Wenn es bloss der sogenannte Zufall wäre, der die Ab- 
weichung einer Varietät von ihren Ältern in einigen Beziehungen 
und dann die noch stärkere Abweichung des Nachkömmlings 
dieser Varietät von jenen Ältern in gleicher Richtung  veran- 
lasste, so würde dieser doch nicht genügen, ein so gewöhn- 


„ae 
TE 4} 


117 


liches und grosses Maass von Verschiedenheit zu erklären, als 
zwischen Varietäten einer Art und zwischen Arten einer Sippe 
vorhanden ist. | 

Wir wollen daher, wie ich es bis jetzt zu thun gewöhnt 
war, auch diesen Gegenstand mit Hilfe unsrer Kultur-Erzeugnisse 
erläutern. Wir werden dabei etwas Analoges finden. Ein Lieb- 
haber wird durch eine Taube mit merklich kürzerem und ein 
andrer durch eine solche mit viel längerem Schnabel erfreut, 
und da »Liebhaber Mittelmässigkeiten nicht bewundern , sondern 
Extreme lieben«, so machen sich beide daran (wie es mit Purzel- 
tauben wirklich der Fall gewesen) zur Nachzucht Vögel mit 
immer 'kürzeren und kürzeren oder immer längeren und längeren 
Schnäbeln zu wählen. Ebenso können wir unterstellen, es habe 
Jemand in früherer Zeit schlankere und ein andrer Jemand stär- 
kere und schwerere Pferde vorgezogen. Die ersten Unterschiede 
werden nur sehr gering gewesen seyn; wenn nun aber im Laufe 
der Zeit einige Züchter fortwährend die schlankeren, und andre 
ebenso die schwereren Pferde zur Nachzucht auswählen, so 
werden die Verschiedenheiten immer grösser werden und Ver- 
anlassung geben, zwei Unterrassen zu unterscheiden , und nach 
Verlauf von Jahrhunderten können diese Unterrassen sich end- 
lich zu zwei wohl-begründeten verschiedenen Rassen ausbilden. 
Da die Verschiedenheiten langsam zunehmen, so werden die 
unvollkommeneren Thiere von mittlem Charakter, die weder 
sehr leicht noch sehr schwer sind, vernachlässigt werden und 
zum Erlöschen neigen. Daher sehen wir dann auch in diesen 
künstlichen Erzeugnissen des Menschen, dass in Folge’ des Di- 
vergenz-Prinzips, wie man es nennen könnte, die anfangs kaum 
bemerkbaren Verschiedenheiten immer zunehmen und die Rassen 
immer weiter unter sich wie von ihren gemeinsamen Stamm- 
Altern abweichen. 

Aber wie, kann man fragen, lässt sich ein solches Prinzip auf 
die Natur anwenden? Ich glaube, dass es schon durch den einfachen 
Umstand eine erfolgreiche Anwendung findet, dass, je weiter die 
Abkömmlinge einer Spezies in Bau, organischen Verrichtungen und 
Lebensweise auseinandergehen, um so besser sie geeignet seyn 


118 


werden, viele und sehr verschiedene Stellen im Haushalte der 
Natur einzunehmen und somit an Zahl zuzunehmen. | 

Diess zeigt sich deutlich bei Thieren mit einfacher. Lebens- - 
weise. Nehmen wir ein vierfüssiges Raubthier zum Beispiel, 
dessen Zahl in einer Gegend schon längst zu dem vollen Be- 
trage angestiegen ist, welches die Gegend zu ernähren vermag, 
Hat das ihm innewohnende Vervielfältigungs - Vermögen freies 
Spiel, so kann dieselbe Thier-Art (vorausgesetzt dass die Gegend 
keine Veränderung ihrer natürlichen Verhältnisse erfahre) nur 
dann noch weiter zunehmen, wenn ihre Nachkommen in der 
Weise abändern, dass sie allmählich solche Stellen einnehmen 
können, welche jetzt andre Thiere schon innehaben, wenn z. B, 
einige derselben geschickt werden auf neue Arten von lebender 
oder todter Beute auszugehen, indem sie neue Standorte. be- 
wohnen, Bäume erklimmen, in's Wasser gehen oder auch einen 
Theil ihrer Raubthier-Natur aufgeben. Je mehr nun diese Nach- 
kommen unsres Raubthieres in Organisation und Lebensweise 
auseinandergehen, desto mehr Stellen werden sie fähig seyn in 
der Natur einzunehmen. Und was von einem ‚Thiere gilt, das 
gilt durch alle Zeiten von allen Thieren, vorausgesetzt dass sie 
variiren; denn ausserdem kann Natürliche Züchtung nichts aus- 
richten. Und Dasselbe gilt von den Pflanzen. Es ist durch Ver- 
suche dargethan worden, dass wenn man eine Strecke Landes 
mit Gräsern verschiedener Sippen besäet, man eine grössere 
Anzahl von Pflanzen erziehen und ein grösseres Gewicht von 
Heu einbringen kann, als wenn man eine gleiche Strecke nur 
mit einer Gras-Art ansäet. Zum nämlichen Ergebniss ist man 
gelangt, indem man zuerst eine Varietät und dann verschiedene 
gemischte Varietäten von Weitzen auf zwei gleich grosse Grund- 
Stücke säete. Wenn daher eine Gras-Art in Varietäten ausein- 
andergeht und diese Varietäten, unter sich in derselben Weise 
verschieden wie die Arten und Sippen der Gräser verschieden 
sind, immer wieder zur Nachzucht gewählt werden, so wird 
eine grössere Anzahl einzelner Stöcke dieser Gras-Art mit Ein- 
schluss ihrer Varietäten. auf gleicher Fläche wachsen können, als 
zuvor. Bekanntlich streut jede Gras- Art und Varietät jährlich 


119 


eine fast ‚zahllose Menge von Saamen aus, SO dass man. fast 
sagen ‘könnte, ihr hauptsächlichstes Streben seye Vermehrung 
ihrer Anzahl. Daher zweifle ich nicht daran, dass im. Verlaufe 
von vielen Tausend Generationen gerade die am weitesten aus- 
einander gehenden Varietäten einer Gras-Art immer am meisten 
Wahrscheinlichkeit des Erfolges durch Vermehrung ihrer Anzahl 
und durch Verdrängung der geringeren Abweichungen für sich 
haben; und sind diese Varietäten nun weit. von einander ver- 
schieden, so nehmen sie den Charakter der Arten an. 

Die Wahrheit ‘des Prinzips, dass die grösste Summe von 
Leben vermittelt werden kann durch die grösste Differenzirung 
der Struktur, lässt sich unter vielerlei natürlichen Verhältnissen 
erkennen. Wir sehen auf ganz kleinen Räumen, zumal wenn sie 
der Einwanderung offen sind und mithin das Ringen der Arten 
mit einander heftig ist, stets eine grosse Manchfaltigkeit von 
Bewohnern. So fand ich z. B. auf einem 3‘ langen und 4° breiten 
Stück Rasen, welches viele Jahre lang genau denselben Bedin- 
gungen  ausgeseizt gewesen, zwanzig Arten von Pflanzen aus 
achtzehn Sippen und acht Ordnungen beisammen , woraus sich 
ergibt, wie verschieden von sinander eben diese Pflanzen sind. 
$o ist es auch mit den Pflanzen und Insekten auf kleinen ein- 
förmigen Inseln; und ebenso in kleinen Süsswasser -Behältern. 
Die Landwirthe wissen, dass. sie bei einer Rotation mit Pflanzen- 
Arten aus den verschiedensten Ordnungen am meisten Futter er- 
ziehen können*, und die Natur bietet, was man eine simultane 
Rotation nennen. könnte. Die meisten Pflanzen und Thiere, 
welche rings um ein kleines Grundstück wohnen, würden auch 
auf diesem Grandstücke (wenn es nicht in irgend einer Be- 
ziehung von sehr abweichender Beschaffenheit ist) leben kön- 
nen und streben so zu sagen in hohem Grade darnach da zu 
leben; wo sie aber in nächste Mitbewerbung mit einander kom- 
men, da sehen wir, dass ihre aus der Differenzirung ihrer Or- 
ganisation, Lebensweise und Konstitution sich ergebenden wech- 
selseitigen Vorzüge bedingen, dass die am unmittelbarsten mit 


Diess dürfte jedoch der Hauptsache nach einen ganz verschiedenen 
Grund haben. D.Ü 


120 
einander ringenden Bewohner im Allgemeinen : Sip- 
pen und Ordnungen angehören. 

Dasselbe Prinzip erkennt man, wo der Mensch Pflanzen in 
fremdem Lande zu naturalisiren strebt. Man hätte erwarten dür- 
fen, dass diejenigen Pflanzen, die mit Erfolg in einem Lande 
naturalisirt werden können, im Allgemeinen nahe verwandt mit 
den Eingeborenen seyen; denn diese betrachtet man gewöhnlich 
als besonders für ihre Heimath geschaffen und angepasst. Eben 
so hätte man vielleicht erwartet, dass die naturalisirten Pflanzen 
zu einigen wenigen Gruppen gehörten, welche nur etwa gewis- 
sen Stationen entsprächen. Aber die Sache verhält sich ganz 
anders, und Aırnons DrÜAnpoıLe hat in seinem grossen und 
vortreiflichen Werke ganz wohl gezeigt, dass die Floren 
durch Naturalisirung, der Anzahl der eingeborenen Sippen und 
Arten gegenüber, weit mehr an neuen Sippen als an neuen 
Arten gewinnen. Um nur ein Beispiel zu geben, so sind in 
Dr. Asa GraY's »Manual of the Flora of the nortihern United 
states« 260 naturalisirte Pflanzen-Arten aus 162 Sippen aufge- 
zählt. Wir sehen ferner, dass diese naturalisirten Pflanzen von 
sehr verschiedener Natur sind, und auch von den eingebornen 
in so ferne weit abweichen, als aus jenen 162 Sippen nicht 
weniger als 100 ganz fremdländisch sind, daher die eingeborene 
Flora verhältnissmässig mehr an Sippen als an Arten bereichert 
worden ist. | 

Berücksichtigt? man die Natur der Pflanzen und Thiere, 
welche der Reihe nach erfolgreich mit den eingeborenen einer 
Gegend gerungen haben und in dessen Folge naturalisirt worden 
sind, so kann man eine rohe Vorstellung davon gewinnen, wie 
etwa einige die eingeborenen hätten modifieirt werden müssen, 
um einen Vortheil über die andern eingeborenen zu erlangen; 
wir können, wie ich glaube, wenigstens mit Sicherheit schliessen, 
dass eine Dilferenzirung ihrer Struktur bis zu einem zur Bildung 
neuer Sippen genügenden Betrage für sie erspriesslich gewe- 


sen wäre. ; 
Der Vortheil einer Differenzirung der Eingebornen einer 
Gegend ist in der That derselbe, welcher für einen individuellen 


Zur Seite Al. 


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121 


Organismus aus der physiologischen Theilung der Arbeit unter 
seine Organe entspringt, ein von Mine Epwarns SO trefflich er- 
läuterter Gegenstand. Kein Physiologe zweifelt daran, dass ein 
Magen, welcher nur zur Verdauung von vegetabilischer oder von 
animalischer Materie allein geeignet ist, die meiste Nahrung aus 
diesen Stoffen zieht. So werden auch in dem grossen Haushalte 
eines Landes um so mehr Individuen von Pflanzen und Thieren 
ihren Unterhalt zu finden im Stande seyn, je mehr dieselben hin- 
sichtlich ihrer Lebensweise differenzirt sind. Eine Gesellschaft 
von Thieren mit nur wenig differenzirter Organisation kann 
schwerlich mit einer andern von vollständiger differenzirtem 
Baue werben. So wird man z.'B. bezweifeln müssen, dass die 
Australischen Beutelthiere, welche nach WaAreruouse's u. A. Be- 
merkung , in weniger von einander abweichende Gruppen unter- 
schieden, unsre Raub-Thiere, Wiederkäuer und Nager vertreten, 
im Stande seyn würden, mit diesen wohl ausgesprochenen Ord- 
nungen zu werben. In den Australischen Säugethieren erblicken 
wir den Prozess der Differenzirung auf einer noch frühen und 
unvollkommenen Entwicklungs-Stufe. | 

Nach dieser vorangehenden Erörterung, die einer grösseren 
Ausdehnung bedürfte, dürfen wir wohl annehmen, dass die abge- 
änderten Nachkommen einer Spezies um so mehr Erfolg haben 
werden, je mehr sie in ihrer Organisation differenzirt und hiedurch 
geeignet seyn werden, sich auf die bereits von andern Wesen ein- 
genommenen Stellen einzudrängen. Wir wollen nun zusehen, 
wie dieses nützliche von der Divergenz des Charakters abgelei- 
tete Princip in Verbindung mit den Prinzipien der Natürlichen 
Züchtung und der Erlöschung zusammenwirke. 

Das beigefügte Bild wird uns dienen, diese sehr verwickelte 
Frage besser zu begreifen. Geseizt es bezeichnen die Buchsta- 
ben A bis L die Arten einer grossen Sippe in ihrer Heimath- 
Gegend; diese Arten gleichen einander in verschiedenen Abstu- 
fungen, wie es eben in der Natur der Fall zu seyn pflegt, und 
was durch verschiedene Entfernung jener Buchstaben von einan- 
der ausgedrückt werden soll. Wir wählen eine grosse Sippe, 
weil wir schon im zweiten Kapitel gesehen, dass verhältnissmäs- 


122 


sig mehr Arten grosser Sippen als kleiner variiren, und dass 
dieselben eine. grössere Anzahl von Varietäten darbieten. Wir 
haben ferner gesehen, dass die gemeinsten und am weitesten 
verbreiteten Arten mehr als die seltenen mit kleinen Wohn-Be- 
zirken abändern. Es seye nun A eine gemeine weit verbreitete 
und abändernde Art einer grossen Sippe in ihrer Heimath- 
Gegend; der kleine Fächer divergirender Punkt-Linien von un- 
gleicher Länge, welche von A ausgehen, möge ihre variirende 
Nachkonmmenschaft darstellen. Es ist ferner angenommen, deren 
Abänderungen seyen ausserordentlich gering, aber von der 
manchfaltigsten Beschaffenheit, nicht von gleichzeitiger, sondern 
oft durch lange Zwischenzeiten getrennter Erscheinung, und end- 
lich von ungleich langer Dauer. Nur jene Abänderungen, welche 
in irgend einer Beziehung nützlich sind, werden erhalten und 
zur Natürlichen Züchtung verwendet. Und hier ist es wichtig, 
dass das Prinzip der Nützlichkeit von der Divergenz des Cha- 
rakters abgeleitet ist; denn Diess wird meistens zu den am wei- 
testen auseinandergehenden Abänderungen führen (welche durch 
unsre punktirten Linien dargestellt sind), wie sie durch Natür- 
liche Züchtung erhalten und gehäuft worden. Wenn nun in 
unsrem Bilde eine der punktirten Linien eine der wagrechten 
Linien erreicht‘und dort mit einem kleinen numerirten Buchsta- 
ben bezeichnet erscheint, so ist angenommen, dass darin eine 
Summe von Abänderung gehäuft seye, genügend zur Bildung 
einer ganz wohl-bezeichneten Varietät, wie wir sie der Aufnahme 
in ein systematisches Werk werth achten. 

Die Zwischenräume zwischen zwei wagrechten Linien des 
Bildes mögen je 1000 (besser wären 10,000) Generationen enl- 
sprechen. Nach 1000 Generationen hätte die Art A zwei ganz 
wohl ausgeprägte Varietäten a! und m! hervorgebracht. Diese 
zwei Varietäten seyen fortwährend deuselben Bedingungen aus- 
gesetzt, welche ihre Stammältern zur Abänderung veranlassten, 
und das Streben nach Abänderung in ihnen erblich. Sie werden 
daher nach weitrer Abänderung und gewöhnlich in derselben Art 
und Richtung streben wie ihre Stammältern. "Überdies werden 
diese zwei Varietäten, als nur erst. wenig modifieirte Formen, 


123 


streben diejenigen Vorzüge weiter zu erwerben, welche ihren 
gemeinsamen Ältern A das numerische Übergewicht ‘über die 
meisten andern Bewohner derselben Gegend verschafft haben; 
sie werden gleicherweise theilnehmen an denjenigen Vortheilen, 
welche die Sippe, wozu ihre Stammältern gehört, zur grossen 
Sippe in ihrer Heimath erhoben. Und wir wissen, dass alle diese 
Umstände zur Hervorbringung neuer Varietäten günstig sind. 

Wenn nun diese zwei Varietäten ebenfalls veränderlich sind, 
so werden die divergentesten ihrer Abänderungen gewöhnlich , 
in den nächsten 4000 Generationen fortbestehen. Nach dieser 
Zeit, ist in unsrem Bilde angenommen, habe Varietät a! die 
Varietät a? hervorgebracht, die nach dem Differenzirungs-Prin- 
zipe weiter als a! von. A verschieden ist. Varietät m! hat zwei 
andre Varietäten m? und s? ergeben, welche unter sich und noch 
mehr von ihrer gemeinsamen Stamm-Forn A abweichen. So 
können wir ‘den Vorgang lange Zeit von Stufe zu Stufe verfol- 
sen und einige der Varietäten von je 1000 zu 1000 Generatio- 
nen bald nur eine Abänderung von mehr und weniger abwei- 
chender Beschaffenheit, bald auch 2—3 derselben hervorbringen 
sehen, während andre keine neuen Formen darbieten. Doch 
werden gewöhnlich diese Varietäten oder abgeänderten Nach- 
kommen eines gemeinsamen Stamm-Vaters A im Ganzen immer 
zahlreicher werden und immer weiter auseinander laufen. In 
dem Bilde ist der Vorgang bis zur zehntausendsten Generation, 
— und in einer mehr verdichteten und vereinfachten Weise bis 
zur vierzehntausendsten Generation dargestellt. 

Doch muss ich hier bemerken, dass ich nicht der Meinung 
bin, dass der Prozess jemals so regelmässig vor sich gehe, als 
er im Bilde dargestellt ist, obwohl er auch da schon etwas 
unregelmässig erscheint. Ebenso bin ich entfernt nicht der Mei- 
nung, dass die am weitesten differirenden Varietäten unabänder- 
lich vorherrschen und sich vervielfältigen werden. Oft mag auch 
eine Mittelform von langer Dauer seyn und entweder keine oder 
mehr als eine in ungleichem Grade abgeänderte Varietät hervor- 
bringen; die Natürliche Züchtung wird immer thätig seyn, je nach 
der Beschaffenheit der noch gar nicht oder nur unvollständig von 


124 


anderen Wesen eingenommenen- Stellen: und Diess wird von 
unendlich verwickelten Beziehungen abhängen. Doch werden 
der allgemeinen Regel zufolge die Abkömmlinge einer Art um 
so mehr geeignet seyn jene Stellen einzunehmen und ihre abge- 
änderte Nachkommenschaft zu vermehren, je weiter sie in ihrer 
Organisation differenzirt sind. In unsrem Bilde ist die Succes- 
sions-Linie in regelmässigen Zwischenräumen unterbrochen durch 
kleine numerirte Buchstaben, zu Bezeichnung der succesiven 
Formen, welche genügend unterschieden sind, um als Varietäten 
aufgeführt zu werden. Aber diese Unterbrechungen sind nur 
eingebildete und hätten anderwärts eingeschoben werden können 
nach hinlänglich langen Zwischenräumen für die Häufung eines 
ansehnlichen Betrags divergenter Abänderung. 

Da alle diese verschiedenartigen Abkömmlinge von einer 
gemeinsamen und weit verbreiteten Art einer grossen Sippe an 
den gemeinsamen Verbesserungen theilzunehmen streben, welche 
den Erfolg ihrer Stamm-Ältern im Leben bedingt haben, so wer- 
den sie im Allgemeinen sowohl an Zahl als an Divergenz des 
Charakters zunehmen, und Diess ist im Bilde durch die verschie- 
denen von A ausgehenden Verzweigungen ausgedrückt. Die ab- 
geänderten Nachkommen von den letzten und am meisten ver- 
besserten Verzweigungen in den Nachkommenschafts-Linien wer- 
den wahrscheinlich oft die Stelle der ältern und minder vervoll- 
kommneten einnehmen und sie verdrängen, und Diess ist im 
Bilde dadurch ausgedrückt, dass einige der untern Zweige nicht 
bis zu den oberen Horizontallinien hinauf reichen. In einigen 
‚Fällen zweifle ich nicht, dass der Process der Abänderung auf 
eine einfache Linie der Descendenz beschränkt bleiben und 
die Zahl der Nachkommen nicht vermehren wird, wenn auch 
das Maass divergenter Modifikation in den aufeinanderfolgenden 
Generationen zugenommen hat. Dieser Fall würde in dem Bilde 
dargestellt werden, wenn alle von A ausgehenden Linien bis auf 
die von a! bis a!® beseitigt würden. Auf diese Weise sind z.B. 
die Englischen Rasse-Pferde und Englischen Windspiele langsam 
vom Charakter ihrer Stammform abgewichen, ohne je eine neue 
Abzweigung oder Nebenrasse abgegeben zu haben. | 


125 


Es wird der Fall gesetzt, dass die Art A nach 10,000 Gene- 
rationen drei Formen a}, f!% und m! hervorgebracht habe, welche 
in Folge ihrer Charakter-Divergenz in den aufeinander-folgenden 
Generationen weit, doch in ungleichem Grade unter sich und von 
ihren Stamm-Ältern verschieden sind. Nehmen wir nur einen 
äusserst kleinen Betrag von Veränderung zwischen je zwei Hori- 
zontalen unsres Bildes an, so werden unsre drei Formen nur bis 
zur Stufe wohl ausgeprägter Varietäten oder etwa zweifelhalter 
Unterarten gelangt seyn; wir haben aber nur nöthig, uns die Ab- 
stufungen im Änderungs-Prozesse elwas grüsser Zu denken, um 
diese Formen in gute Arten zu verwandeln; alsdann drückt das 
Bild die Stufen aus, aul welchen die kleinen nur Varietäten cha- 
rakterisirenden Verschiedenheiten in grössere schon Arten unier- 
scheidende Unterschiede übergehen. Denkt man sich denselben 
Prozess in einer noch grösseren Anzahl von Generationen fort- 
während (wie es oben im Bilde in zusammengezogener und ver- 
einfachter Weise geschehen), so erhalten wir acht von A abstam- 
ende, Arten mit a!* bis m!* bezeichnet. So werden, wie ich 
glaube, Arten vervielfältigt und Sippen gebildet. 

In einer grossen Sippe variirt wohl mehr als eine Art. 
Im Bilde habe ich angenommen, dass eine zweite Art I in ana- 
logen Abstufungen nach 10,000: Generationen entweder zwei 
wohlbezeichnete Varietäten w!® und x?!°, oder zwei-Arten hervor- 
gebracht habe, je nachdem man sich den Betrag der Verände- 
rung, welcher zwischen zwei wagrechten Linien liegt, kleiner 
oder grösser denkt. Nach 14,000 Generationen werden nach 
unsrer Unterstellung sechs neue durch die Buchstaben n!?—z'* 
bezeichnete Arten entstanden seyn. In jeder Sippe werden die 
bereits am "weitesten in ihrem Charakter aus einander gegange- 
nen Arten die grösste Anzahl modifieirter Nachkommen hervor- 
zubringen streben, indem diese die beste Aussicht haben, neue 
und weit von einander verschiedene Stellen im Natur-Staate ein- 
zunehmen; daher ich im Bilde die extreme Art A und die last 
gleich extreme Art I als die am weitesten auseinander gelaufe- 
nen bezeichnete, welche auch zur- Bildung neuer Varietäten und 
Arten Veranlassung gegeben haben. Die andren neun mit gros- 


126 


sen Buchstaben (B—H, K, L) bezeichneten Arten unsrer Stamm. 
Sippe mögen sich noch lange Zeit ohne Veränderung fortpflanzen, 
was im Bilde durch die punktirten Linien ausgedrückt ist, welche 
wegen mangelnden Raumes nicht weiter aufwärts verlängert sind, 

Inzwischen dürfte in dem auf unsrem Bilde :dargestellten 
Umänderungs-Prozess noch ein andres unsrer Prinzipien, der der 
Erlöschung nämlich, eine wichtige Rolle gespielt haben. Da in 
jeder vollständig bevölkerten Gegend Natürliche Züchtung noth- 
wendig durch Auswahl der Formen wirkt, welche in dem Kample 
um’s Daseyn irgend einen Vortheil vor den übrigen Formen vor- 
aus haben, so wird in den verbesserten Abkömmlingen einer. Art 
ein beständiges Streben vorhanden seyn, auf jeder ferneren 
Stufe ihre Vorgänger und ihren Urstamm zu ersetzen und zu 
vertilgen. Denn man muss sich erinnern, dass der Kampf 
gewöhnlich am heftigsten zwischen solchen Formen ist, welche 
einander in Organisation, Konstitution und Lebensweise am 
nächsten stehen. Daher werden, alle Zwischenformen zwischen 
den ‘frühesten und spätesten, das ist zwischen den unvollkommen- 
sten und vollkommensten Stufen, sowie die Stamm-Art selbst 
zum Erlöschen geneigt seyn. Eben so wird es sich wahr- 
scheinlich mit vielen ganzen Seiten-Linien verhalten, wenn sie 


durch spätere und vollkommenere Linien bekämpft werden. Wenn 


dagegen die abgeänderte Nachkommenschaft einer Art in einer 
besonderen Gegend aufkommt oder sich irgend einem ganz neuen 
Standorte rasch anpasst, wo Vater und Kind nicht in Mitbewer- 
bung gerathen, dann mögen beide fortbestehen. | 
Nimmt man daher in unsrem Bilde an, dass es ein grosses 
Maass von Abänderung vorstelle, so werden die Art A und alle 
frühern Abänderungen derselben erloschen und durch acht neue 
Arten a!-—-m!* ersetzt seyn, und an der Stelle von I werde 
sich sechs neue Arten n!?—z!* befinden. : | 
Doch gehen wir noch weiter. Wir haben angenommen, dass 
die ursprünglichen Arten unsrer Sippe einander in ungleichem 
Grade ähnlich seyen, wie Das in der Natur gewöhnlich der Fall 
ist; dass die Art A näher mit B, C, D als mit den andern verwandi 


seye und I mehr Beziehungen mit G, H, K, L als zu den übrigen 


127 


besitze; dass ferner diese zwei Arten A und I sehr gemein und 
weit, verbreitet seyen, indem sie schon anfangs einige Vorzüge 
vor den andern Arten derselben Sippe voraus hatten. Ihre modi- 
fizirten Nachkommen, vierzehn an Zahl nach 14,000 Generalio- 
nen, werden. wahrscheinlich einige derselben Vorzüge geerbt 
haben ; auch sind sie auf jeder weiteren Stufe der Fortpflanzung 
in einer divergenten Weise abgeändert und verbessert worden, 
so dass sie sich zur Besetzung vieler passenden Stellen im 
Natur-Haushalte ihrer Gegend eignen. Es scheint mir daher äus- 
serst wahrscheinlich , dass sie nicht allein ihre Ältern A und I 
ersetzt und vertilgt haben, sondern auch einige andre diesen zu- 
nächst verwandte ursprüngliche Spezies. Es werden daher nur 
sehr wenige der ursprünglichen Arten sich bis in die vierzehn- 
tausendste Generation fortgepflanzt haben. Wir nehmen an, dass 
nur eine von den zwei mit den übrigen neun weniger nahe 
verwandten Arten, nämlich F, ihre Nachkommen bis zu dieser 
späten Generation erstrecke. 

Der neuen von den eilf ursprünglichen Arten unsres Bildes 
abgeleiteten Spezies sind nun fünfzehn. Dem divergenten Streben 
der Natürlichen Züchtung gemäss, muss der äusserste Betrag von 
Charakter-Verschiedenheit zwischen den Arten al? und z'* viel grös- 
ser als zwischen den unter sich verschiedensten der ursprünglichen 
eilf Arten. seyn. Überdiess werden die neuen Arten in sehr 
ungleichem Grade mit einander verwandt seyn. Unter den acht 
Nachkommen von A mögen die drei a!*, q!* und p!* näher bei- 
sammen stehen, weil sie sich erst spät von a! abgezweigt ha- 
ben, wogegen b!* und f!? als alte Abzweigungen von a” etwas 
mehr von jenen drei entfernt sind; und endlich mögen 0%, e!* 
und m!* zwar unter sich nahe verwandt seyn, aber als Seiten- 
zweige.'seit dem ersten Beginne des Abänderungs-Prozesses weit 
von den andern fünf Arten abstehen und eine besondere Unter- 
sippe oder sogar eine eigne Sippe bilden. 

Die sechs Nachkommen von I mögen zwei Subgenera oder 
selbst Genera bilden. Da aber die Stamm-Art I weit von A 
entfernt, fast am andern "Ende der Arten-Reihe der ursprüng- 
lichen Sippe steht, so werden diese sechs Nachkommen durch 


E 


128 


Vererbung beträchtlich von den acht Nachkommen von A ab. 
weichen, indem überdiess angenommen worden, dass diese zwei 
Gruppen sich in auseinander ;weichenden Richtungen verändert 
haben. Auch sind die mitteln Arten, welche A mit I verbunden 
(was sehr wichtig ist zu beachten), mit Ausnahme von F erlo- 
schen, ohne Nachkommenschaft zu hinterlassen. Daher die sechs 
neuen von I entsprossenen und die acht von A abgeleiteten 
Spezies sich zu zwei sehr verschiedenen Sippen oder sogar Un- 
terfamilien erhoben haben dürften. 

So kommt es, wie ich meine, dass zwei oder mehr Sippen 
durch Abänderung aus zwei oder mehr Arten eines Genus ent- 
springen können. Und von den zwei oder mehr Stamm-Arten 
ist angenommen worden, dass sie von einer Art einer früheren 
‘Sippe herrühren. In unsrem Bilde ist Diess durch die gebroche- 
nen Linien unter den grossen Buchstaben A—L angedeutet, 
welche abwärts gegen je einen Punkt konvergiren. Dieser Punkt 
stellt eine einzelne Spezies, die unterstellte Stamm-Art aller 
unsrer neuen Subgenera und Genera vor. 

Es ist der Mühe werth, einen Augenblick bei dem Charakter 
der neuen Art r'"* zu verweilen, von welcher angenommen wird, 
dass sie ohne grosse Divergenz zu erfahren, die Form von F unver- 
ändert oder mit nur geringer Abänderung ererbt habe. Ihre Ver- 
wandtschaften zu den andern vierzehn neuen Arten werden ganz 
sonderbar seyn. Von einer zwischen den zwei Stamm-Arten A 
und I stehenden Spezies abstammend, welche aber jetzt erloschen 
und unbekannt sind, wird sie einigermassen das Mittel zwischen 
den zwei davon abgeleiteten Arten-Gruppen halten. Da aber 
beide Gruppen in ihren Charakteren vom Typus ihrer Stamm- 
Ältern auseinandergelaufen sind, so wird die neue Art r'* das 
Mittel nicht unmittelbar zwischen ihnen, sondern vielmehr zwi- 
schen den Typen beider Gruppen halten; und jeder Naturfor- 
scher dürfte im Stande seyn, sich ein Beispiel dieser Art in's Ge- 
dächtniss zu rufen. 

In dem Bilde entspricht nach unsrer bisherigen Annahme 
jeder Abstand zwischen zwei Horizontalen tausend Generationen; 
lassen wir ihn jedoch für eine Million oder hundert Millionen 


eu 


129 


von Generationen und zugleich einem entsprechenden Theile der 
Schichtenfolge unsrer Erd-Rinde mit organischen Resten gelten! 
In unserem Kapitel über Geologie werden wir wieder auf diesen 
Gegenstand zurückkommen und werden dann hoffentlich finden, 
dass unser Bild geeignet ist Licht über die Verwandtschaft 
erloschener Wesen zu verbreiten, die, wenn auch im Allgemei- 
nen zu denselben Ordnungen, Familien oder Sippen wie ein 
Theil der jetzt lebenden gehörig, doch in ihrem Charakter oft in 
gewissem Grade das Mittel zwischen jetzigen Gruppen halten ; 
und man wird diese Thatsache begreiflich finden , da die erlo- 
schenen Arten in sehr frühen Zeiten gelebt, wo die Verzweigungen 
der Nachkommenschaft noch wenig auseinander gegangen waren. 

Ich finde keinen Grund, den Verlauf der Abänderung, wie 
er bisher auseinander gesetzt worden, blos auf die Bildung der 
Sippen zu beschränken. Nehmen wir in unserem Bilde den von 
jeder successiven Gruppe auseinander-strahlender Punktlinien 
dargestellten Betrag von Abänderung sehr hoch an, so werden 
die mit a'* bis p!*, mit b'* bis f!* und mit 0! bis m!* be- 
zeichneten Formen drei sehr verschiedene Genera darstellen. 
Wir werden dann zwei von I abgeleitete sehr verschiedene 
Sippen haben, und da diese zwei Sippen, in Folge sowohl einer 
fortdauernden Divergenz des Charakters als der Beerbung zweier 
verschiedener Stammväter, sehr weit von den von A hergelei- 
teten drei Sippen abweichen, so werden die zwei kleinen Sippen- 
Gruppen je nach dem Maasse der vom Bilde dargestellten di- 
vergenten Abänderung zwei verschiedene Familien oder selbst 
Ordnungen bilden. Und diese zwei neuen Familien oder Ord- 
nungen leiten sich‘von zwei Arten einer Stamm-Sippe her, die 
selbst wieder einer Spezies eines viel älteren und noch unbe- 
kannten Genus entsprossen seyn dürfte. 

Wir haben gesehen, dass es in jeder Gegend die Arten der 
grössern Sippen sind, welche am öftesten Varietäten oder neue 
anfangende Arten bilden. Diess war in der That zu erwarten; 
denn, wenn die Natürliche Züchtung durch eine im Rassenkampf 
vor den andern bevorzugte Form wirkt, so wird sie hauptsächlich 
auf diejenigen wirken, welche bereits einige Vortheile voraus 

9 


130 


haben: und die Grösse einer Gruppe zeigt, dass ihre Arten von 
einem gemeinsamen Vorgänger einige Vorzüge gemeinschaftlich 
ererbt haben. Daher der Wettkampf in Erzeugung neuer und 
abgeänderter Sprösslinge hauptsächlich zwischen den grösseren 
Gruppen stattfinden wird, welche sich alle an Zahl zu vergrös- 
sern streben. Eine grosse Gruppe wird nur langsam eine andre 
grosse Gruppe überwinden, deren Zahl verringern und so deren 
Aussicht auf künftige Abänderung und Verbesserung vermindern, 
Innerhalb einer und derselben grossen Gruppe werden die neue- 
ren und höher vervollkommneten Untergruppen immer bestrebt 
seyn, durch Verzweigung und durch Besetzung von möglichst 
vielen Stellen im Staate der Natur die früheren und minder ver- 
vollkommneten Untergruppen allmählich zu verdrängen. Kleine 
und unterbrochene Gruppen und Untergruppen neigen sich immer 
mehr dem gänzlichen Verschwinden zu. . In Bezug auf die Zu- 
kunft kann man vorhersagen, dass diejenigen Gruppen organi- 
scher Wesen, welche jetzt gross und siegreich und am wenig- 
sten durchbrochen sind, d. h. bis jetzt am wenigsten durch 
Erlöschung gelitten haben, noch auf lange Zeit hinaus zunehmen 
werde. Welche Gruppen aber zuletzt vorwalten werden, kann 
niemand vorhersagen; denn wir wissen, dass viele Gruppen von 
ehedem sehr ausgedehnter Entwickelung heutzutage erloschen 
sind. Blicken wir noch weiter in- die Zukunft hinaus, so lässl 
sich voraussehen, dass in Folge der fortdauernden und steten 
Zunahme der grossen, Gruppen eine Menge kleiner gänzlich er- 
löschen wird ohne abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und 
dass demgemäss von den zu irgend einer Zeit lebenden Arten 
nur äusserst wenige ihre Nachkommenschaft bis in eine ferne 
Zukunft erstrecken werden. Ich will in dem Kapitel über 
Klassifikation auf diesen Gegenstand zurückkommen und hier 
nur noch bemerken, dass nach der Ansicht, dass nur äusserst 
wenige der ältesten Spezies uns Abkömmlinge hinterlassen ha- 
ben und die Abkömmlinge von einer und derselben Spe- 
zies heutzutage eine Klasse bilden, uns begreiflich werden muss, 
warum es in jeder Hauptabtheilung des Pflanzen- und Thier- 
Reiches nur sehr wenige Klassen gebe. Obwohl indessen 


131 


nur äusserst wenige der ältesten Arten noch jetzt lebende 
veränderte Nachkommen hinterlassen haben, so mag doch, die 
Erde in den ältesten geologischen Zeit-Abschnitten eben so be- 
völkert gewesen seyn mit zahlreichen Arten aus manchlalti- 
sen Sippen, Familien, Ordnungen und Klassen, wie heutigen 
Tages. 

Ein ausgezeichneter Naturforscher hat dagegen eingewendet, 
die fortwährende Thätigkeit der Züchtung, mit Divergenz des 
Charakters verbunden, müsse zu einer endlosen Menge von Ar- 
ten-Formen führen. Was die blos unorganischen Bedingungen be- 
trifft, so würde allerdings wahrscheinlich eine genügende Anzahl 
von Arten allen erheblicheren Verschiedenheiten von Wärme, 
Feuchtigkeit u. s. w. angepasst werden können; ich nehme aber 
an, dass die Wechselbeziehungen der organischen Wesen zu 
einander bei weitem die wichtigsten sind, und wenn die Zahl der 
Arten in einer Gegend in Zunahme begriffen ist, so werden die 
organischen Lebens-Bedingungen immer verwickelter werden. 
Anfänglich scheint es daher wohl, als gebe es keine Grenze 
für den Betrag nützlicher Differenzirung der Organisation und 
daher keine Grenze für die Anzahl der möglicher Weise hervor- 
zubringenden Arten. Es ist uns nicht bekannt, dass selbst das 
[ruchtbarste Land-Gebiet mit organischen Formen vollständig be- 
setzt seye, da ja selbst am Cap der guten Hoffnung, das eine 
so erstaunliche Arten-Zahl hervorbringt, noch viele Europäische 
Pflanzen naturalisirt worden sind. Die Geologie lehrt uns jedoch, 
dass wenigstens innerhalb der unermesslichen Tertiär-Periode die 
Arten-Zahl der Konchylien und wahrscheinlich auch der Säug- 
thiere bis daher nicht vergrössert worden ist. Was hemmt nun 
dieses Wachsthum der Arten-Zahl in’s Unendliche? Erstens muss 
der Betrag des auf einem Gebiete unterhaltenen Lebens (ich 
meine damit nicht die Zahl der spezifischen Formen) eine Grenze 
haben, da es ja in so reichlichem Maasse von physikalischen Be- 
dingungen abhängt; wo daher viele Arten erhalten werden müs- 
sen, da werden sie alle oder meistens arm an Individuen seyn: 
und “eine Art mit wenigen Individuen wird in Gefahr seyn 
durch zufällige Schwankungen in der Beschaffenheit der Jahres- 

g* 


132 


Zeiten.und in der Zahl ihrer Feinde zu erlöschen. Die Austilgung 
wird in solchen Fällen rasch erfolgen, während neue Arten immer 
nur langsam nachkommen. Man denke sich den äussersten Fall, es 
gebe in England so viele Arten als Individuen, so wird der erste 
strenge Winter oder trockne Sommer Tausende und Tausende von 
Arten vertilgen, und Individuen von andern Arten werden ihre Stelle 
einnehmen, Zweitens vermuthe ich, dass, wenn einige Arten sehr 
selten werden, es in der Regel nicht nahe Verwandte seyn werden, 
welche sie zu verdrängen streben; wenigstens haben einige Au- 
toren gemeint, dass Diess bei dem Rückgang des Auerochsen in 
Lithauen, des Edelhirschs in Schottland und des Bären in Nor- 
wegen in Betracht komme. Drittens, was die Thiere im Beson- 
dern betrifft, so sind einige Arten ganz dazu gemacht, sich von 
irgend einem andern Wesen zu nähren; wenn dieses aber selten 
geworden, so wird es nicht zum Vortheil jener Thiere seyn, 
dass sie in so enger Beziehung zu einer Nahrung gestanden, 
und sie werden nicht mehr durch: Natürliche Züchtung vermehrt 
werden. Viertens, wenn irgend welche Arten arm an Individuen 
werden, so wird der Vorgang der Umbildung langsamer seyn, weil 
die Möglichkeit vortheilhafter Abänderung verringert ist. : Wenn 
wir daher eine von sehr vielen Arten bewohnte Gegend anneh- 
men, so müssen alle oder die meisten Arten arm an Individuen 
seyn und wird demnach der Prozess der Umänderung und Bil- 
dung neuer Formen verzögert werden. Fünftens, und wie ich 
glaube ist Diess der wichtigste Punkt, wird eine herrschende 
Art, welche schon viele Mitbewerber in ihrer eignen Heimath 
verdrängt hat, sich auszubreiten und noch viele andre zu el- 
setzen streben. Aupnons DrCAnvorıe hat nachgewiesen, dass diejeni- 
gen Arten, welche sich weit verbreiten, gewöhnlich streben sich 
sehr weit auszubreiten; sie werden folglich mehre andre in 
verschiedenen Gegenden auszutilgen streben; und Diess hemmt 
die ungeordnete Zunahme von Arten-Formen auf der ganzen 
Erd-Oberfläche. Hooxer hat neuerlich gezeigt, dass in der süd- 
östlichen Ecke Australiens, wo es viele Einwandrer aus allerlei 
Weltgegenden zu geben scheint, die eigenthümlich Australischen 
Arten an Menge sehr abgenommen haben. Ich wage nicht zu 


? 
Dr 
he 
a 


er, 


133 


bestimmen, wie viel Gewicht diesen mancherlei Ursachen beizu- 
legen seye; aber ich glaube, dass sie alle zusammen genommen 
in jeder Gegend das Streben nach unendlicher Vermehrung der 
Arten-Formen beschränken müssen. 

Natürliche Züchtung wirkt, wie wir gesehen haben, aus- 
schliesslich durch Erhaltung und Zusammensparung solcher leich- 
ten Abweichungen, welche dem Geschöpfe; das sie betreffen, 
unter den organischen und unorganischen Bedingungen des Lebens, 
von welchen es in aufeinanderfolgenden Perioden abhängig ist, 
nützlich sind. Das Endergebniss wird seyn, dass jedes Geschöpf 
einer immer grösseren Verbesserung den Lebens-Bedingungen 
gegenüber entgegenstrebt. Diese Verbesserung dürfte unvermeid- 
lich zu der stufenweisen Vervollkommnung der Organisation der 
Mehrzahl der über die ganze Erd-Oberfläche verbreiteten Wesen 
führen. Doch kommen wir hier auf einen sehr schwierigen 
Gegenstand, indem noch kein Naturforscher eine allgemein 
befriedigende Definition davon gegeben hat, was unter Vervoll- 
kommnung der Organisation zu verstehen seye. Bei den Wir- 
belthieren kommt deren geistige Befähigung und Annäherung an 
den Körper-Bau des Menschen offenbar mit in Betracht. Man 
möchte glauben, dass die Grösse der Veränderungen, welche die 
verschiedenen Theile und Organe während ihrer Entwickelung 
vom Embryo-Zustande an bis zum reifen Alter zu durchlaufen 
haben, als ein Anhalt bei der Vergleichung dienen könne; doch 
kommen Fälle vor, wie bei gewissen parasitischen Krustern, wo 
mehre Theile des Körper-Baues unvollkommner und sogar mon- 
strös werden, so dass man das reife Thier nicht vollkommener 
als seine Larve nennen kann. Von Barr’s Maasstab scheint noch 
der beste und allgemeinst anwendbare zu seyn, nämlich das 
Maass ‘der Differenzirung der verschiedenen Theile (»im rei- 
fen Alter« dürfte wohl beizusetzen seyn) und ihre Anpassung 
zu verschiedenen Verrichtungen, oder die Vollständigkeit der 
Theilung in die physiologische Arbeit, wie MıLne Enwarns sagen 
würde. Wir werden aber leicht ersehen, wie schwierig die 
wirkliche Anwendung jenes Kriteriums ist, wenn wir wahrneh- 
men, dass bei den Fischen z. B. die Haie von einem Theile der 


134 


Naturforscher als die vollkommensten angesehen werden, weil 
sie den Reptilien am nächsten stehen, während andre den ge- 
wöhnlichen Knochen-Fischen (Teleosti) die erste Stelle anwei- 
sen, weil sie die ausgebildetste Fisch-Form haben und am mei- 
sten von allen andern Vertebraten abweichen*. Noch deutlicher 
erkennen wir die Schwierigkeit, wenn. wir uns zu den Pflanzen 
wenden, wo der von geistiger Befähigung hergenommene Maas- 
stab ganz wegfällt; und hier stellen einige Botaniker. diejenigen 
Pflanzen am höchsten, welche sämmtliche Organe, wie Kelch- und 
Kronen-Blätter, Staubfäden und Staubwege in jeder Blüthe voll- 
ständig entwickelt besitzen, während Andre wohl mit mehr Recht 
jene für die vollkommensten erachten, deren verschiedenen 
Organe stärker metamorphosirt und auf geringere Zahlen zurück: 
geführt sind. gt 
Nehmen wir die Differenzirung und Spezialisirung derein- 
zelnen Organe als den besten Maasstab ‘der organischen: Voll- 
kommenheit der Wesen im ausgewachsenen Zustande an (was 
mithin auch die fortschreitende Entwickelung des Gehirnes für 
die geistigen Zwecke mit in sich begreift), so muss die Natürliche 
Züchtung offenbar zur Vervollkommnung führen ; denn alle Phy- 
siologen geben zu, dass die Spezialisirung seiner Organe, inso- 
ferne sie in diesem Zustande ihre Aufgaben besser erfüllen, 
für jeden Organismus von Vortheil ist: ‘und daher liegt Häufung 
der zur Spezialisirung führenden Abänderungen im: Zwecke der 
Natürlichen Züchtung. Auf der andern Seite ist es aber auch, 
unter Berücksichtigung, «ass alle organischen Wesen sich in 
raschem Verhältnisse zu vervielfältigen und jeden schlecht besetz- 
ten Platz im Hausstande der Natur einzunehmen streben, der 
Natürlichen Züchtung wohl möglich. ein organisches Wesen sol- 
chen Verhältnissen anzupassen, wo ihnen manche Organe nutzlos 
und überflüssig sind, und dann findet ein Rückschritt ‘auf der 


* Hier ist ein Missverständniss. Aus den zwei zuletzt genannten Grün- 
den könnten die Knochen-Fische die „vollkommenstien Fische,“ aber nicht, 
die „vollkommensten Fische“ seyn, d. h. den Typus der Fische aber 
nicht die Vollkommenheit am besten repräsentiren. Die Knochen-Fische 
sind aber vollkommnere Fische aus andern Gründen. D. Übs. 


139 


Stufenleiter der Organisation (eine rückschreitende Metamor- 
phose) statt. Ob die Organisation im Ganzen seit den frühesten 
geologischen Zeiten bis jetzt fortgeschritten sey®, wird zweck- 
mässiger in unserem Kapitel über die geologische Aufeinander- 
folge der Wesen zu erörtern Seyn. 

Dagegen kann man einwenden, wie es denn komme, dass, 
wenn alle organischen Wesen von Anfang her fortwährend be- 
strebt gewesen sind, höher auf der Stufenleiter emporzusteigen, 
auf der ganzen Erd-Oberfläche noch eine Menge der unvollkom- 
mensten Wesen. vorhanden sind, und dass in jeder grossen Klasse 
einige Formen viel höher als die andern entwickelt sind? Und 
warum haben diese viel höher ausgebildeten Formen nicht schon 
überall. die minder vollkommenen ersetzt und vertilgt® LAmarck, 
der an eine angeborene und unumgängliche Neigung zur Ver- 
vollkommnung in allen Organismen glaubte, scheint diese Schwie- 
rigkeit so sehr gefühlt zu haben, dass er sich zur Annahme ver- 
anlasst sah, einfache Formen würden überall und fortwährend 
durch Generatio spontanea neu erzeugt. Ich habe kaum nölhig 
zu sagen, dass die Wissenschaft auf ihrer jetzigen Stufe die 
Annahme, dass lebende Geschöpfe jetzt irgendwo aus unorgani- 
scher Materie erzeugt werden, keineswegs gestaltel. Nach mei- 
ner Theorie dagegen bietet das gegenwärtige Vorhandenseyn 
niedrig organisirter Thiere keine Schwierigkeit dar; denn die 
Natürliche Züchtung schliesst denn doch kein nothwendiges und 
allgemeines Gesetz fortschreitender Entwickelung ein; sie be- 
nützt nur solche Abänderungen, die für jedes Wesen in sei- 
nen verwickelten Lebens-Beziehungen vortheilhaft sind. Und 
nun kann man {ragen, welchen Vortheil (so weit wir. urtheilen 
können) ein Infusorium, ein Eingeweidewurm, oder selbst ein 
Regenwurm davon haben könne, hoch organisirt zu seyn? Haben 
sie keinen Vortheil davon, so werden sie auch durch Natürliche 
Züchtung wenig oder gar nicht vervollkommnet werden und 
mithin für unendliche Zeiten auf ihrer tiefen Organisations- 
Stufe stehen bleiben. In der That lehrt uns die. Geologie, 
dass einige der tiefsten Formen von Infusorien und Rhizopoden 
schon seit unermesslichen Zetten nahezu auf ihrer jetzigen Stule 


136 


stehen. Demungeachtet möchte es voreilig seyn anzunehmen, 
dass einige der jetzt vorhandenen niedrigen Lebenformen seit 
den ersten Zeiten ihres Daseyns keinerlei Vervollkommnung er- 
fahren hätten; denn jeder Naturforscher, der je welche von 
diesen Organismen zergliedert hat, welche jetzt als die niedrig- 
sten auf der Stufenleiter der Natur gelten, muss oft über deren 
wunderbare und herrliche Organisation erstaunt gewesen seyn, 

Nahezu dieselben Bemerkungen lassen sich hinsichtlich der 
grossen Verschiedenheiten zwischen den Graden der Organisations- 
Höhe innerhalb fast jeder grossen Klasse mit Ausnahme jedoch 
der Vögel machen; so hinsichtlich des Zusammenstehens von 
Säugthieren und Fischen bei den Wirbelthieren, oder von Mensch 
und Örnithorhynchus bei den Säugethieren, von Hai und Amphio- 
xus bei den Fischen, indem dieser letzte Fisch in der äussersten 
Einfachheit seiner Organisation den Wirbel-losen Thieren ‚ganz 
nahe kommt. Aber Säugthiere und Fische gerathen kaum in Mit- 
bewerbung miteinander; die hohe Stellung gewisser Säugthiere - 
oder auch der ganzen Klasse auf der obersten Stufe der Orga- 
nisation treibt sie nicht die Stelle der Fische einzunehmen und 
diese zu unterdrücken. Die Physiologen glauben, das Gehirn müsse 
mit warmem Blute gebadet werden, um seine höchste Thätigkeit 
zu entfalten, und dazu ist Luft-Respiration nothwendig, so dass 
warm-blütige Säugthiere, wenn sie das Wasser bewohnen, den 
Fischen gegenüber sogar in gewissem Nachtheile sind. Eben so 
wird in dieser Klasse die Familie der Haie wahrscheinlich nicht 
geneigt seyn, den Amphioxus zu ersetzen; und dieser wird allem 
Anscheine nach seinen Kampf um’s Daseyn mit Gliedern der 
Wirbel-losen Thier-Klassen auszumachen haben. Die drei unter- 
sten Säugthier-Ordnungen, die Beutelthiere, die Zahnlosen und 
die Nager bestehen in Süd-Amerika in.einerlei Gegend beisam- 
men mit zahlreichen Affen. Obwohl die Organisation im Ganzen 
auf der ganzen Erde in Zunahme begriffen seyn kann, so bietet 
die Stufenleiter der Vollkommenheit doch noch alle Abstufungen 
dar; denn die hohe Organisations- Stufe gewisser Klassen im 
Ganzen oder einzelner Glieder dieser Klassen führen in keiner 
Weise nothwendig zum Erlöschen derjenigen Gruppen, mit wel- 


137 


chen sie nicht in nahe Bewerbung “treten. In einigen Fällen 
scheinen tief organisirte Formen, wie wir hernach sehen werden, 
sich bis auf den heutigen Tag erhalten zu haben, weil sie eigen- 
thümliche abgesonderte Wohnorte ohne alle erhebliche Mitbewer- 
bung hatten, und wo auch sie selbst keine Fortschritte in der 
Organisation machten, weil ihre eigne geringe Individuen-Zahl 
der Bildung neuer vortheilhafter Abänderungen keinen Vorschub 
leistete. 

Endlich glaube ich, dass das Vorkommen zahlreicher niedrig 
organisirter Formen aus allen Thier- und Pilanzen-Klassen über 
die ganze Erd-Oberfläche von verschiedenen Ursachen herrühre. 
In einigen Fällen mag es an vortheilhaften Abänderungen gefehlt 
haben, mit deren Hilfe die Natürliche Züchtung zu wirken und 
veredeln vermocht hätte. In keinem Falle vielleicht. ist die 
Zeit ausreichend gewesen, um das Höchste in möglicher Ver- 
vollkommnung zu leisten. In einigen wenigen Fällen kann auch 
sogenannte »rückschreitende Organisation« eingetreten seyn. Aber 
die Hauptsache liegt in dem Umstande, dass unter sehr einfachen 
Lebens-Bedingungen eine hohe Organisation ohne Nutzen, son- 
dern vielleicht sogar nachtheilig seyn kann, weil sie zarter, 
empfindlicher und leichter zu beschädigen ist. 

Eine weitere Schwierigkeit, welche der so eben besproche- 
nen gerade entgegengesetzt ist, ergibt sich noch, wenn wir 
auf die Morgenröthe des Lebens zurückblicken, wo alle orga- 
nischen Wesen, nach unsrer Vorstellung, noch die einfachste 
Struktur besassen: wie konnten da die ersten Fortschritte in 
der Vervollkommnung, in der Differenzirung und Spezialisirung 
der Organe beginnen ? Ich vermag darauf keine genügende Ant- 
wort zu geben, sondern nur zu sagen, dass wir nicht im Be- 
sitze leitender Thatsachen sind, wesshalb alle unsre Spekulatio- 
nen in dieser Beziehung ohne Boden und ohne Nutzen sind. 

Zusammenfassung des Kapitels.) Wenn während einer 
langen Reihe von Zeit-Perioden und unter veränderten äusseren 
Lebens-Bedingungen die organischen Wesen in allen Theilen ih- 
rer Organisation abändern, was, wie ich glaube, nicht bestritten 
werden kann; wenn ferner wegen ihres Vermögens geometrisch 


138 


schneller Vermehrung alle Arten in jedem Alter, zu jeder Jah- 
reszeit und in jedem Jahr einen ernsten Kampf um ihr Däseyn 
zu kämpfen haben, was sicher nicht zu läugnen ist: dann 
meine ich im Hinblick auf die unendliche Verwickelung der Be- 
ziehungen aller organischen Wesen zu einander und zu den 
äusseren Lebens-Bedingungen, welche eine endlose Verschiedenheit 
angemessener Organisationen, Konstitutionen und Lebensweisen er- 
heischen, dass es ein ganz ausserordentlicher Zufall seyn würde, 
wenn nicht jeweils auch eine zu eines jeden Wesens eigner Wohl- 
fahrt dienende Abänderung vorkäme, wie deren so viele vorgekom- 
men, die dem Menschen vortheilhaft waren. Wenn aber solche für 
ein organisches Wesen nützliche Abänderungen wirklich vorkon- 
men, so werden sicherlich die dadurch bezeichneten Individuen 
die meiste Aussicht haben, den Kampf um’s Daseyn zu bestehen, 
und nach dem mächtigen Prinzip der Erblichkeit in ähnlicher 
Weise ausgezeichnete Nachkommen zu bilden streben. Diess 
Prinzip der Erhaltung habe ich der Kürze wegen Natürliche 
Züchtung genannt; es führt‘ zur Vervollkommnung eines jeden 
Geschöpfes seinen organischen und unorganischen Lebens-Be- 
dingungen gegenüber. Die Natürliche Züchtung kann nach dem 
Prinzip der Vererbung einer Eigenschaft in entsprechenden Altern 
eben sowohl das Ei und den Saamen oder das Junge wie das 
Erwachsene abändern machen. Bei vielen Thieren unterstülzl 
geschlechtliche Auswahl noch die gewöhnliche Züchtung, indem 
sie den kräftigsten und geeignetesten Männchen die zahlreichste 
Nachkommenschaft sichert. Geschlechtliche Auswahl vermag auch 
solche Charaktere zu verleihen, welche den künftigen Männchen 
allein in ihren Kämpfen mit Männchen von gewöhnlicher Be- 
schaffenheit den Sieg verschaffen. 

Ob nun aber die Natürliche Züchtung zur Abänderung und 
Anpassung der verschiedenen Lebenformen an die mancherlei 
äusseren Bedingungen und Stationen wirklich mitgewirkt habe, 
muss nach Erwägung des Werthes der in den folgenden Kapiteln 
zuliefernden Beweise beurtheilt werden. Doch erkennen wir bereits, 
dass dieselbe auch Austilgung verursache, und die Geologie macht 
uns klar, in welch‘ ausgedehntem Grade Austilgung bereits in 


139 


die Geschichte ‚der: organischen: Welt -eingegriffen habe. Auch 
führt Natürliche Züchtung zur Divergenz des Charakters ; denn 
je mehr Wesen auf einer gegebenen Fläche ihren Unterhalt finden, 
desto mehr ändern sie in Organisation, organischer Thätgkeit und 
Lebensweise ab, wovon man die Beweise bei Betrachtung der 
Bewohner. eines kleinen Land-Flecks oder der naturalisirten Er- 
zeugnisse finden kann. Je mehr daher während der Umänderung 
der Nachkommen einer Art; und während des beständigen Kampfes 
aller. Arten um Vermehrung ihrer Individuen jene Nachkommen 
differenzirt ‚werden, desto besser ‘ist.ihre Aussicht auf Erfolg: im 
Ringen um’s Daseyn. Auf‘diese Weise streben die kleinen Ver- 
schiedenheiten zwischen den Varietäten ‘einer Spezies stets grüs- 
ser, zu werden, bis sie den grösseren Verschiedenheiten zwischen 
den Arten: einer Sippe: oder. selbst zwischen verschiedenen Sip- 
pen. gleich kommen. 

Wir haben gesehen, dass es die gemeinen, die weit verbrei- 
teten und allerwärts zerstreuten Arten grosser Sippen sind, die 
am/meisten abändern, und diese streben auf ihre abgeänderten 
Nachkommen dieselbe Überlegenheit zu 'vererben, welche sie 
jetzt in ihrer‘ Heimath-Gegend zur herrschenden machen. Natür- 
liche Züchtung führt, wie so eben bemerkt worden, zur Diver- 
genz (des Charakters und zu starker Austilgung .der.'minder voll- 
kommnen und der mitteln Lebenformen. Aus diesen: Prinzipien 
lassen sich nach meiner Meinung die Rang-Verschiedenheiten zahl- 
loser organischer Wesen in jeder Klasse auf der ganzen Erd- 
Oberfläche sowohl als die in der Natur ihrer Verwandtschaften mit 
einander erklären. Es ist eine wirklich wunderbare Thatsache, ob- 
wohl wir das Wunder aus Vertrautheit damit zu übersehen pflegen, 
dass Thiere und Pflanzen zu allen Zeiten und überall so miteinander 
verwandt sind, dass sie in Untergruppen abgetheilte Gruppen bilden, 
so dass nämlich, wie wir allerwärts erkennen, Varietäten einer Art 
einander am nächsten stehen, dass Arten einer Sippe weniger und 
ungleiche Verwandtschaft zeigen und Untersippen‘ und Sektionen 
bilden, dass Arten verschiedener Sippen 'einander noch weniger 
nahe stehen, und dass Sippen mit verschiedenen Verwandtschafts- 
Graden zu einander Unterfamilien, Familien, Ordnungen, Unter- 


140 


klassen und Klassen zusammensetzen. Die verschiedenen einer 
Klasse untergeordneten Gruppen können nicht in eine Linie an- 
einander gereihet werden, sondern scheinen vielmehr um ge- 
wisse Punkte geschaart und diese wieder um andre Mittelpunkte 
gesammelt zu seyn, und so weiter in fast endlosen Kreisen, 
Aus der Ansicht, dass jede Art ünabhängig von der andern ge. 
schaffen worden seye, kann ich keine Erklärung dieser wichtigen 
Thatsache in der Klassifikation aller organischen Wesen entneh- 
men; sie ist aber nach meiner vollkommensten Überzeugung er- 
klärlich aus der Erblichkeit und aus der zusammengesetzten 
Wirkungs-Weise der Natürlichen Züchtung, welche Austilgung 
der Formen und Divergenz der Charaktere verursacht, wie mit 
Hilfe bildlicher Darstellung (zu Seite 121) gezeigt worden ist, 
Die Verwandtschaften aller Wesen einer Klasse zu einander 
sind manchmal in Form eines grossen Baumes dargestellt wor- 
den. Ich glaube, dieses Bild entspricht sehr der Wahrheit. Die 
grünen und knospenden Zweige stellen die jetzigen Arten, und 
die in jedem vorangehenden Jahre entstandenen die lange Auf- 
‚einanderfolge erloschener Arten vor. In jeder Wachsthums-Pe- 
riode haben alle wachsenden Zweige nach allen Seiten hinaus 
zu treiben und die umgebenden Zweige und Äste zu überwach- 
sen und zu unterdrücken gestrebt, ganz so wie Arten und Arten- 
Gruppen andre Arten in dem grossen Kampfe um's Daseyn zu 
überwältigen suchen, Die grossen in Zweige getheilten und un- 
terabgetheilten Äste waren zur Zeit, wo der Stamm noch jung, 
selbst knospende Zweige gewesen; und diese Verbindung der 
früheren mit den jetzigen Knospen durch unterabgetheilte Zweige 
mag ganz wohl die Klassifikation aller erloschenen und lebenden 
Arten in Gruppen und Untergruppen darstellen. Von den vielen 
Zweigen, die sich entwickelten, als der Baum noch ein Busch ge- 
wesen, leben nur noch zwei oder drei, die jetzt als mächtige 
Äste alle anderen Verzweigungen abgeben; und so haben 
von den Arten, welche in längst vergangenen geologischen 
Zeiten gelebt, nur sehr wenige noch ‚lebende und abgeänderte 
Nachkommen. Von der ersten Entwickelung eines Stammes an 
ist mancher Ast und mancher Zweig. verdürrt und verschwunden, 


141 


und diese verlorenen Äste von verschiedener Grösse mögen 
jene ganzen Ordnungen, Familien und Sippen vorstellen, welche, 
uns nur im fossilen Zustande bekannt, keine lebenden Vertreter 
mehr haben. Wie wir hier und da einen vereinzelten dünnen 
Zweig aus einer Gabel tief unten am Stamme hervorkommen 
sehen, welcher durch Zufall begünstigt an seiner Spitze noch 
fortlebt, so sehen wir zuweilen ein Thier, wie Ornithorhyn- 
chus oder Lepidosiren, das durch seine Verwandtschaften 
'gewissermaassen zwei grosse Zweige der Lebenwelt, ZWi- 
schen denen es in der Mitte steht, mit einander verbindet und 
vor einer verderblichen Mitwerberschaft offenbar dadurch ge- 
rettet worden ist, dass es irgend eine geschützte Station be- 
wohnte. Wie Knospen bei ihrer Entwicklung neue Knospen her- 
vorbringen und, wie auch diese wieder, wenn sie kräftig sind, nach 
allen Seiten ausragen und viele schwächre Zweige überwachsen, 
so ist es, wie ich glaube, durch Generation mit dem grossen 
Baume des Lebens ergangen, der mit seinen todten und herun- 
tergebrochenen Ästen die Erd-Rinde erfüllt, und mit seinen 
herrlichen und sich noch immer weiter theilenden Verzweigungen 
ihre Oberfläche bekleidet. 


Fünftes Kapitel. . 
Geseize der Abänderung. - 


Wirkungen: äusserer Bedingungen. —' Gebrauch und Nichtgebrauch der Or- 
gane in Verbindung mit Natürlicher Züchtung; -+-..Flieg- und Seh-Organe, 
— Akklimatisirung. — Wechselbeziehungen des Wachsthums. — Kompen- 
sation und Ökonomie der Entwickelung. — Falsche Wechselbeziehungen, 
— Vielfache, rudimentäre und wenig entwickelte Organisationen sind ver- 
änderlich., — In ungewöhnlicher Weise entwickelte Theile sind sehr ver. 
änderlich; — spezifische mehr als Sippen-Charaktere. — Sekundire Ge- 
schlechts- Charaktere veränderlich. — Zu einer Sippe gehörige Arten 
variiren auf analoge Weise. — Rückkehr zu längst verlornen Charakteren. 


— Summarium. 

Ich habe bisher von den Abänderungen = die so gemein 
und manchfaltig im Kultur-Stande der Organismen und in et- 
was minderem: Grade häufig in der freien Natur sind — zu- 
weilen so gesprochen, als ob dieselben vom Zufall veranlasst 
wären. ‚Diess ist aber eine ganz unrichtige Ausdrucks-Weise, 
welche nur geeignet ist unsre gänzliche Unwissenheit: über die 
Ursache jeder besonderen Abweichung ‘zu beurkunden. Einige 
Schriftsteller sehen es mehr als die Aufgabe des Reproduktiv- 
Systemes an, individuelle Verschiedenheiten oder ganz leichte 
Abweichungen des Baues hervorzubringen, als das Kind den 
Ältern gleich zu machen. Aber die viel grössere Veränderlich- 
keit sowohl als die viel häufigeren Monstrositäten der der Kul- 
tur unterworfenen Organismen leiten mich zur Annahme, dass 
Abweichungen der Struktur in irgend einer Weise von der Be- 
schatfenheit der äusseren Lebens-Bedingungen, welchen die Äl- 
tern und deren Vorfahren mehre Generationen lang ausgesetzt 
gewesen sind, abhängen. Ich habe im ersten Kapitel die Bemerkung 
gemacht — doch würde ein langes Verzeichniss von Thatsachen, 
welches hier nicht gegeben werden kann, dazu nöthig seyn, die 
Wahrheit dieser Bemerkung zu beweisen —, dass das Repro- 
duktiv-System für Veränderungen in den äussern Lebens-Be- 
dingungen äusserst empfindlich ist; daher ich dessen funktionel- 
len Störungen in den Ältern hauptsächlich die veränderliche oder 
bildsame Beschaffenheit ihrer Nachkommenschaft zuschreibe. Die 


143 


männlichen und weiblichen Elemente der Organisation scheinen 
davon schon berührt zu seyn vor deren Vereinigung zur Bildung 
neuer Abkömmlinge der Spezies. Was die Spielpflanzen ($. 15) an- 
belangt, so wird die Knospe allein betroffen, die auf ihrer ersten 
Entwickelungs-Stufe von einem Ei’chen nicht sehr wesentlich 
verschieden ist. ‘Dagegen sind wir in gänzlicher Unwissenheit 
darüber, wie es komme, dass durch Störung des Reproduktiv- 
Systems dieser oder jener Theil mehr oder weniger als ein 
andrer berührt werde. Demungeachtet gelingt es uns hier und 
da einen schwachen Lichtstrahl aufzufangen, und wir halten uns 
überzeugt, dass es für jede Abänderung irgend eine wenn auch 
geringe Ursache geben müsse. 

Wie viel unmittelbaren Einfluss Verschiedenheiten in Klima, 
Nahrung u. s. w. auf irgend ein Wesen auszuüben vermögen, 
ist äusserst zweifelfaft. Ich bin überzeugt, dass bei Thieren die 
Wirkung äusserst gering, bei Pflanzen vielleicht etwas grösser 
seye. Man kann wenigstens mit Sicherheit sagen, dass diese 
Einflüsse nicht die‘ vielen trefflichen und zusammengeseizten 
Anpassungen der Organisation eines Wesens ans andre hervor- 
gebracht haben können, welche wir in der Natur überall erblicken. 
Einige kleine Wirkungen ‘mag: man dem Klima, der Nahrung 
u. s. w. zuschreiben, wie z. B. Eowarp Forses: sich mit Bestimmt- 
heit darüber ausspricht, dass eine Konchylien-Art in wärmeren 
Gegenden und seichtem Wasser glänzendere Farben .als' in’ ihren 
kälteren Verbreitungs-Bezirken annehmen kann. Gouıp glaubt, 
dass Vögel derselben‘ Art in einer stets heiteren Atmosphäre 
glänzender gefärbt sind, als auf einer Insel oder. an- der Küste*. 
So glaubt auch Wortaston, dass der Aufenthalt in der Nähe des 
Meeres die Farben der Insekten angreife.  Mogumn-Tanpon gibt 
eine Liste von Pflanzen, welche ‚an der See-Küste mehr und 
weniger fleischige Blätter bekommen, wenn sie auch landeinwärls 


® Diese Abhängigkeit vom Klimavist denn doch in grosser Ausdehnung 


nachgewiesen worden von GLocER in seiner Schrift „über das Abändern der 
Vögel durch das Klima“, Breslau 1833, 3°. Von vielen anderen Abän- 
derungen sind die äusseren Ursachen zusammengestellt in unserer „Geschichte 
der Natur“ I, 68—116. | ‘D. Übers. 


144 


nicht fleischig sind. Und: so liessen sich noch manche ähnliche 
Beispiele anführen. | 

Die Thatsache, dass Varietäten einer Art, wenn sie in die 
Verbreitungs-Zone einer andern Art hinüberreichen, in geringem 
Grade etwas von deren Charakteren annehmen, stimmt mit unsrer 
Ansicht überein, dass Spezies aller Art nur ausgeprägtere blei- 
bende Varietäten sind. So haben die Konchylien-Arten seichter 
tropischer Meeres-Gegenden gewöhnlich glänzendere Farben als 
die in tiefen und kalten Gewässern wohnenden. So sind die 
Vögel- Arten der Binnenländer nach Govıp lebhafter als die 
der Inseln gefärbt. So sind die Insekten-Arten, welche auf die 
Küsten beschränkt sind, oft Bronze-artig und trüb von Aussehen 
wie jeder Sammler weiss. Pflanzen-Arten, welche nur längs dem 
Meere fortkommen, sind sehr oft mit fleischigen Blättern versehen, 
Wer an die besondre Erschaffung einer jeden einzelnen Spezies 
glaubt, wird daher sagen müssen, dass z. B. diese Konchylien 
für ein wärmeres Meer mit glänzenderen Farben geschaffen wor- 
den sind, während jene andern die lebhaftere Färbung erst durch 
Abänderung angenommen haben, als sie in die seichteren und 
wärmeren Gewässer übersiedelten. 

Wenn eine Abänderung für ein Wesen von geringstem 
Nutzen ist, vermögen wir nicht zu sagen, wie viel davon von der 
häufenden Thätigkeit der Natürlichen Züchtung und wie viel von 
dem Einfluss äussrer Lebens-Bedingungen herzuleiten ist. $0 
ist es den Pelz-Händlern wohl bekannt, dass Thiere einer Arl 
um so dichtere und bessere Pelze besitzen, in je kälterem Klima 
sie gelebt haben. Aber wer vermöchte zu sagen, wie viel von 
diesem Unterschied davon herrühre, dass die am wärmsien ge- 
kleideten Einzelwesen durch Natürliche Züchtung viele Genera- 
tionen hindurch begünstigt und erhalten worden sind, und wie 
viel von dem direkten Einflusse des strengen Klimas? Denn e8 
scheint wohl, dass das Klima einige unmittelbare Wirkung auf 
die Beschaffenheit des Haares unsrer Hausthiere ausübe. 

Man kann Beispiele anführen, dass dieselbe Varietät unter 
den aller- verschiedensten Lebens - Bedingungen entstanden isl, 
während andrerseits verschiedene Varietäten einer Spezies unter 


145 

gleichen Bedingungen zum Vorschein kommen *. Diese Thatsachen 
zeigen, wie mittelbar die Lebens-Bedingungen wirken. So sind 
jedem Naturforscher auch zahllose Beispiele von sich ächt er- 
haltenden Arten ohne alle Varietäten bekannt, obwohl dieselben 
in den entgegengesetztesten Klimaten leben. Derartige Betrach- 
tungen veranlassen mich, nur ein sehr geringes Gewicht auf den 
direkten Einfluss der Lebens-Bedingungen zu legen. Indirekt 
scheinen sie, wie schon gesagt worden, einen wichtigen Antheil 
an der Störung des Reproduktiv-Systemes zu nehmen und hie- 
durch Veränderlichkeit herbeizuführen, und Natürliche Züchtung 
spart dann alle nützliche wenn auch geringe Abänderung zusammen, 
bis solche vollständig entwickelt und für uns wahrnehmbar wird. 

Wirkungen von Gebrauch und Nichtgebrauch.) 
Die im ersten Kapitel angeführten Thatsachen lassen wenig Zweifel 
bei unseren Hausthieren übrig, dass Gebrauch gewisse Theile 
stärke und ausdehne und Nichtgebrauch sie schwäche, und dass 
solche Abänderungen vererblich sind. In der freien Natur hat 
man keinen Maassstab zur Vergleichung der Wirkungen lang 
fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die 
älterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere 
Bildungen an sich, die sich als Folge des Nichtgebrauchs erklären 
lassen. Professor R. Owen hat bemerkt, dass es eine grosse 
Anomalie in der Natur ist, dass ein Vogel nicht fliegen könne, 
und doch sind mehre in dieser Lage. Die Südamerikanische 
Dickkopf-Ente kann nur über der Oberfläche des Wassers hin- 
flattern und hat Flügel von fast der nämlichen Beschaffenheit wie 
die Aylesburyer Hausenten-Rasse. Da die grossen Boden-Vögel 
selten zu andren Zwecken fliegen, als um einer Gefahr zu ent- 
gehen, so glaube ich, dass die fast ungeflügelte Beschaffenheit 
verschiedener Vögel-Arten, welche einige Inseln des Grossen 
Ozeans jetzt bewohnen oder einst bewohnt haben, wo sie keine 
Verfolgung von Raubthieren zu gewärtigen haben, vom Nichtge- 
brauche ihrer Flügel herrührt. Der Strauss bewohnt zwar Kon- 
tinente und ist von Gefahren bedroht, denen er nicht durch Flug 


So lange man die wahre Ursache dieser Entstehung nicht kennt, hat 
Diess nichts Befremdendes. D. Übrs. 


10 


146 


entgehen kann; aber er kann sich selbst durch Ausschlagen mit den 
Füssen gegen seine Feinde so gul vertheidigen wie einige der klei- 
neren Vierfüsser. Man kann siclı vorstellen, dass der Urvater des 
Strausses eine Lebens-Weise etwa wie der Trappe gehabt, und dass 
er in Folge Natürlicher Züchtung in einer langen Generationen-Reihe 
immer grösser und schwerer geworden seye, seine Beine mehr 
und seine Flügel weniger gebraucht habe, bis er endlich ganz 
unfähig geworden sey zu fliegen. 

Kırey hat bemerkt (und ich habe dieselbe Thatsache. be- 
obachtet), dass die Vordertarsen vieler männlichen Kothkäfer 
oft abgebrochen sind; er untersuchte siebenzehn Musterstücke 
seiner Sammlung, und fand in keinem eine Spur mehr davon. 
Onites Apelles hat seine Tarsen so gewöhnlich verloren, dass 
man diess Insekt beschrieben, als fehlten sie ihm gänzlich. In 
einigen anderen Sippen sind sie nur in verkümmertem Zustande 
vorhanden. Dem Ateuchus oder heiligen Käfer der Ägyplier 
fehlen sie gänzlich. Doch ist kein genügender Nachweis vor- 
handen, dass Verstümmelungen immer erblich seyen, und ich 
möchte den gänzlichen Mangel der Vordertarsen des Ateuchus 
und ihren verkümmerten Zustand in einigen andern Sippen lieber 
der lang-fortgesetzten Wirkung ihres Nichtgebrauches bei deren 
Stamm-Vätern zuschreiben; denn da die Tarsen vieler Kothkäfer 
meistens fehlen, so müssen sie schon früh im Leben verloren 
gehen und können daher bei diesen Insekten nicht viel gebraucht 
werden. 

In einigen Fällen möchten wir leicht dem Nichtgebrauche 
gewisse Abänderungen der Organisation zuschreiben, welche je- 
doch gänzlich oder hauptsächlich von Natürlicher Züchtung her- 
rühren. Worraston hat die merkwürdige Thatsache entdeckt, dass 
von den 550 Käfer-Arten, welche Madeira bewohnen, 200 so 
unvollkommene Flügel haben, dass sie nicht fliegen können, und 
dass von den 29 der Insel ausschliesslich angehörigen Sippen 
nicht weniger als 23 lauter solche Arten enthalten. Manche 
Thatsachen, wie unter andern, dass in vielen Theilen der Welt 
fliegende Käfer beständig ins Meer gewehet werden und zu 
Grunde gehen, dass die Käfer auf Madeira nach Wor1AsToNS 


147 


Beobachtung meistens verborgen liegen, bis der Wind ruhet und 
die Sonne scheint, dass die Zahl der Flügel-losen Käfer an den 
ausgesetzten kahlen Felsklippen verhältnissmässig grösser als in 
Madeira selbst ist, und zumal die ausserordentliche Thatsache, 
worauf Woıraston so beharrlich fusset, dass gewisse grosse 
anderwärts sehr zahlreiche Käfer-Gruppen, welche durch ihre 
Lebens-Weise viel zu fliegen. genöthigt sind, auf Madeira 
gänzlich fehlen, — diese mancherlei Gründe machen mich 
glauben, dass die ungeflügelte Beschaffenheit so vieler Käfer 
dieser Insel hauptsächlich von Natürlicher Züchtung , doch wahr- 
scheinlich in Verbindung mit Nichtgebrauch herrühre. Denn 
während tausend aufeinanderfolgender Generationen wird jeder 
einzelne Käfer, der am wenigsten fliegt, ‚entweder weil seine 
Flügel am wenigsten entwickelt sind oder weil er der indolenteste 


ist, die meiste Aussicht haben alle andern zu überleben, weil er 


nicht ins Meer gewehet wird; und auf der andern Seite werden 
diejenigen Käfer, welche am liebsten fliegen, am öftesten in die 
See getrieben und vernichtet werden. | 

Diejenigen Insekten auf Madeira dagegen, welche sich nicht 
am Boden aufhalten und, wie die an Blumen lebenden Käfer und 
Schmetterlinge, von ihren Flügeln gewöhnlich Gebrauch machen 
müssen um ihren Unterhalt zu gewinnen, haben nach WortAstons 
Vermuthung keinesweges verkümmerte, sondern vielmehr stärker 
entwickelte Flügel. Diess ist ganz verträglich mit der Thätigkeit 
der Natürlichen Züchtung. Denn, wenn ein neues Insekt zuerst 
auf die Insel kommt, wird das Streben der Natürlichen Züchtung 
die Flügel zu verkleinern oder zu vergrössern davon abhängen, 
ob eine grössre Anzahl von Individuen durch erfolgreiches An- 
kämpfen gegen die Winde, oder dureh mehr und weniger häufi- 
gen Verzicht auf diesen Versuch sich rettet. Es ist derselbe 
Fall wie bei den Matrosen eines in der Nähe der Küste gesiran- 
deten Schiffes; für diejenigen, welche gut schwimmen, ist es 


um so besser, je besser sie schwimmen könnten um ihr Heil 


im Weiterschwimmen zu versuchen, während es für die schlechten 
Schwimmer am besten wäre, wenn sie gar nicht schwimmen 
könnten und sich daher auf dem ‘Wrack Rettung suchten. 


10* 


148 


Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlenden Nager 
sind an Grösse verkümmert und in manchen Fallen ganz von Haut 
und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der Augen rührt wahrschein- 
lich von fortwährendem Nichtgebrauche her, dessen Wirkung 
vielleicht durch Natürliche Züchtung unterstützt wird. Ein Süd- 
Amerikanischer Nager, Cienomys, hat eine noch mehr unter- 
irdische Lebensweise als der Maulwurf, und ein Spanier, welcher 
oft dergleichen gefangen, versicherte mir, dass solcher oft ganz 
blind seye; einer, den ich lebend bekommen, war es gewiss und 
zwar. wie die Sektion ergab, in Folge einer Entzündung der 
Nickhaut. Da häufige Augen-Entzündungen einem jeden Thiere 
nachtheilig werden müssen, und da für unterirdische Thiere die 
Augen gewiss nicht unentbehrlich sind, so wird eine Ver- 
minderung ihrer Grösse, die Verwachsung des Augenlides damit 
und die Überziehung derselben mit dem Felle für sie von Nutzen 
seyn; und wenn Diess der Fall, so wird Natürliche Züchtung 
die Wirkung des Nichtgebrauches beständig unterstützen. 

Es ist wohl bekannt, dass mehre Thiere aus den verschie- 
densten Klassen, welche die Höhlen in Steyermark und Kentucky 
bewohnen, blind sind. In einigen Krabben ist der Augen-Stiel 
noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist: das Teleskopen- 
Gestell ist geblieben, obwohl das Teleskop mit seinem Glase fehlt. 
Da nicht wohl anzunehmen, dass Augen, wenn auch unnütz, den 
in Dunkelheit lebenden Thieren schädlich werden sollten, so 
schreibe ich ihren Verlust gänzlich auf Rechnung des Nichtge- 
brauchs. Bei einem der blinden Thiere insbesondre, bei der 
Höhlen -Ratte, haben die Augen eine ungeheure Grösse; und 
Professor Sıruıman war der Meinung, dass dasselbe, nachdem.es 
einige Tage im Licht gelebt, ein schwaches Sche-Vermögen wie- 
der erlange. Wie auf Madeira die Flügel einiger Insekten durch 
Natürliche Züchtung, von Gebrauch und Nichtgebrauch unterstüzt, 
allmählich theils vergrössert und theils verkleinert wurden, . 
so scheint dieselbe Züchtung bei der Höhlen -Ratte mit dem 
Mangel des Lichtes gekämpft und die Augen vergrössert ZU 
haben, während bei allen anderen blinden Höhlen - Bewohnern 
Nichtgebrauch allein gewirkt haben mag. 


149 


Es ist schwer sich ähnlichere Lebens - Bedingungen vorzu- 
stellen, als tiefe Kalkstein-Höhlen in nahezu ähnlichem Klima, so 
dass, wenn man von der gewöhnlichen Ansicht ausgeht, dass die 
blinden Thiere für die Amerikanischen und für die Europäischen 
Höhlen besonders erschaffen worden seyen, auch eine grosse Ähn- 
lichkeit derselben in Organisation und Verwandtschaft zu erwarten 
stünde. Diese findetaber nach Scniöpre’s u. A. Beobachtung nicht statt; 
und die Höhlen-Insekten der zwei Kontinente sind nicht näher 
mit einander verwandt, als sich schon nach der grossen Ähnlich- 
keit zwischen den andern Bewohnern: Nord- Amerikas und Europas 
erwarten lässt. Nach meiner Meinung muss man annehmen, dass 
Amerikanische Thiere mit gewöhnlichem Sehe-Vermögen in nach- 
einanderfolgenden Generationen immer tiefer und tiefer in die 
entferntesten Schlupfwinkel der Kentucky schen Höhle eingedrungen 
sind, wie es Europäische in den Höhlen von Steyermark gethan. 
Und wir haben einigen Beweis für diese stufenweise Veränderung 
des Aufenthalts; denn Scmöpre bemerkt: Wir betrachten dem- 
nach diese unterirdischen Faunen als kleine in die Erde ein- 
sedrungene Abzweigungen der geographisch - begrenzten Faunen 
der nächsten Umgegenden, welche in dem Grade, als sie sich 
weiter in die Dunkelheit ausbreiteten, an die sie umgebenden 
Verhältnisse gewöhnt wurden; Thiere, von gewöhnlichen Formen 
nicht sehr entfernt, bereiten den Übergang vom Tage zur Dunkel- 
heit vor; dann folgen die fürs Zwielicht gebildeten und endlich 
die fürs gänzliche Dunkel bestimmten. Während der Zeit, in 
welcher ein Thier nach ‘zahllosen Generationen die hintersten 
Theile der Höhle erreicht, wird hiernach Nichtgebrauch die Augen 
mehr oder weniger vollständig unterdrückt und Natürliche Züch- 
tung oft andre Veränderungen erwirkt haben, die, wie verlängerte 
Fühler und Fressspitzen, einigermaz das Gesicht ersetzen. 
Ungeachtet dieser Modifikationen werden wir erwarten, noch 
Verwandtschaften der Höhlen-Thiere Amerikas mit den anderen 
Bewohnern dieses Kontinents, und der Höhlen-Bewohner Europas 
mit den übrigen Europäischen Thieren zu sehen. Und Diess ist 
bei einigen Amerikanischen Höhlen-Thieren der Fall, wie ich von 
Professor Dana höre; und einige Europäische Höhlen -Insekten 


DS 


150 


stehen manchen in der Umgegend der Höhle wohnenden Arten 
ganz nahe. Es dürfte sehr schwer seyn, eine vernünftige Er- 
klärung von der Verwandtschaft der blinden Höhlen - Thiere mit 
den andern Bewohnern der beiden Kontinente aus dem gewöhn- 
lichen Gesichtspunkte einer unabhängigen Erschaffung zu geben, 
Dass einige von den Höhlen-Bewohnern der Alten und der Neuen 
Welt in naher Beziehung zu einander stehen, lässt sich aus den 
wohl-bekannten Verwandtschafts-Verhältnissen ihrer meisten übri- 
gen Erzeugnisse zu einander erwarten. Zwar gehören einige 
der den Höhlen beider. Hemisphären gemeinsamen Insekten zu 
solchen Sippen, welche bis jetzt allerdings nur in Höhlen gefunden 
worden, aber früher wohl eine weite oberflächliche Verbreitung 
gehabt haben mögen. Blinde Arten der Sippe Adelops wohnen 
jetzt in Höhlen und werden ausser denselben an dunkeln Orten 
unter Moos u. s. w. gefunden. Ferne davon mich darüber zu 
. wundern, dass einige der Höhlen-Thiere von sehr anomaler Be- 
schaffenheit sind, wie Asassız von dem blinden Fische Amblyopsis 
in Amerika bemerkt, und wie es mit dem blinden Reptile Proteus 
in Europa der Fall ist, bin ich vielmehr erstaunt, dass sich darin 
nicht mehr Wracks der alten Lebenformen erhalten haben, da 
solche in diesen dunkeln Abgründen wohl einer minder strengen 
Mitbewerbung ausgesetzt gewesen seyn würden *. | 
Akklimatisirung.) Gewohnheit ist bei Pflanzen erblich 
in Bezug auf Blüthe-Zeit, nöthige Regen-Menge für den Keimungs- 
Prozess, Schlaf u. s. w., und Diess veranlasst mich hier noch 
Einiges über Akklimatisirung zu sagen. Es ist sehr gewöhnlich, 
dass Arten von einerlei Sippe sehr heisse sowie sehr kalte 
Gegenden bewohnen; und da ich glaube, dass alle Arten einer 
Sippe von einem gemeinsamen Urvater abstammen, so muss, wenn 
Diess richtig, Akklimatisirung während einer langen Fortpflanzung 
leicht bewirkt werden können. Es ist bekannt, dass jede Art 
dem Klima ihrer eignen Heimath angepasst ist; Arten einer 
arktischen oder auch nur einer gemässigten Gegend können in 


* Ein vollständiges Verzeichniss der Bewohner dunkler Höhlen hat 
EHRENBERG zusammengetragen in den Monats Berichten der Berliner Aka- 
demie 1859, 758 ff. | D. Übs. 


151 


einem tropischen Klima nicht ausdauern, u. u. So können auch 
manche Fettpflanzen nicht in feuchtem Klima fortkommen. Doch 
‘st der Grad der Anpassung der Arten an das Klima, worin sie 
leben, oft überschätzt worden. Wir können Diess schon aus 
unsrer oftmaligen Unfähigkeit vorauszusagen, ob eine eingeführte 
Pflanze unser Klima ausdauren werde oder nicht, so wie aus der groSs- 
sen Anzahl von Pflanzen und Thieren entnehmen, welche aus wär- 
merem Klima zu uns verpflanzt hier ganz wohl gedeihen. Wir 
haben Grund anzunehmen, dass im Natur- Stande Arten durch 
die Mitbewerbung andrer organischer Wesen eben so sehr oder 
noch stärker in ihrer Verbreitung beschränkt werden, als durch ihre 
Anpassung an besondre Klimate. Mag aber die Anpassung im Allge- 
meinen eine sehr genaue seyn oder nicht: wir haben bei einigen 
wenigen Pflanzen-Arten Beweise, dass dieselben schon von der 
Natur in gewissem Grade an ungleiche Temperaturen gewöhnt 
oder akklimatisirt werden. So zeigen die von Dr. Hooker aus Saamen 
von verschiedenen Höhen des Himalaya erzogenen Pinus- und 
Rhododendron-Arten auch ein verschiedenes Vermögen der Kälte 
zu widerstehen. Herr Twaıres berichtet mir, dass er ähnliche 
Thatsachen auf Ceylon beobachtet habe, und Herr H. C. Warson 
hat ähnliche Erfahrungen mit Pflanzen gemacht, die von den 
Azoren nach England gebracht worden sind. In Bezug auf Thiere 
liessen sich manche wohl beglaubigte Fälle anführen, dass Arten 
derselben binnen geschichtlicher Zeit ihre Verbreitung weit aus 
wärmeren nach kälteren Zonen oder umgekehrt ausgedehnt haben; 
jedoch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob diese Thiere einst 
ihrem heimathlichen Klima enge angepasst gewesen, obwohl wir 
Diess in allen gewöhnlichen Fällen voraussetzen, — und ob dem- 
zufolge sie erst einer Akklimatisirung in ihrer neuen Heimath 
bedurft haben, oder nicht. 

Da ich glaube, dass unsre Hausthiere ursprünglich von noch 
unzivilisirten Menschen gezähmt worden sind, weil sie ihnen 
nützlich und in der Gefangenschaft leicht fortzupflanzen waren, 
und nicht wegen. ihrer erst später erkundeten Tauglichkeit zu 
weit ausgedehnter Verpflanzung. so kann nach meiner Meinung 
das gewöhnlich ausserordentliche Vermögen unsrer Hausthiere 


152 


die verschiedensten Klimate auszuhalten und sich darin (ein viel 
gewichtigeres Zeugniss) fortzupflanzen, zur Schlussfolgerung 
dienen, dass auch eine verhältnissmässig grosse Anzahl andrer 
Thiere, die sich jetzt noch im Natur - Zustande befinden, leicht 
dazu gebracht werden könnte, sehr verschiedene Klimate zu er- 
tragen. Wir dürfen jedoch die vorangehende Folgerung nicht 
zu weit treiben, weil einige unsrer Hausthiere von verschiedenen 
wilden Stämmen herrühren können, wie z. B. in unsren Haus- 
hund- Rassen das: Blut eines tropischen und eines arktischen 
Wolfes oder wilden Hundes gemischt seyn könnte. Ratten und 
Mäuse dürfen nicht als Hausthiere angesehen werden; und doch 
sind sie vom Menschen in viele Theile der Welt übergeführt 
worden und besitzen jetzt eine weitre Verbreitung als irgend 
ein andres Nagethier, indem , sie frei unter.dem kalten Himmel 
der Faröer im Norden und der Falklands-Inseln im Süden, wie 
auf vielen Inseln der Tropen-Zone leben. Daher ich geneigt 
bin, die Anpassung an ein besondres Klima als eine leicht auf 
eine angeborene weite Biegsamkeit der Konstitution, welche den 
meisten Thieren eigen ist, gepropfte Eigenschaft zu betrachten, 
Dieser Ansicht zu Folge hat man die Fähigkeit des Menschen 
und seiner meisten Hausthiere die verschiedensten Klimate zu 
ertragen und solche Thatsachen, wie das Vorkommen einstiger 
Elephanten- und Rhinozeros-Arten in einem Eis-Klima, während 
deren jetzt lebenden Arten alle eine tropische oder subtropische 
Heimath haben, nicht als Gesetzwidrigkeiten zu betrachten, son- 
dern lediglich als Beispiele einer sehr gewöhnlichen Biegsamkeit 
der Konstitution anzusehen, welche nur unter besondern Umstän- 
den mehr zur Geltung gelangt ist. 

Wie viel von der Akklimatisirung der Arten an ein besondres 
Klima bloss Gewohnheits-Sache seye, wie viel von der Natürlichen 
Züchtung von Varietäten mit verschiedenen Körper-Verlassungen 


abhänge, oder wie weit beide Ursachen zusammenwirken, ist 
eine sehr schwierige Frage. Dass Gewohnheit und Übung einigen 
Einfluss habe, will ich sowohl nach der Analogie als nach den unun- 
terbrochenen Warnungen wohl glauben, welche in unsern landwirth- 
schaftlichen Werken und selbst in alten Chinesischen Eneyclo- 


153 


pädien enthalten sind, recht vorsichtig bei Versetzung von Thieren 
aus einer Gegend in die andre zu seyn. Denn es ist nicht 
wahrscheinlich, dass man durch Züchtung so viele Rassen und 
Unterrassen mit eben so vielen verschiedenen Gegenden ange- 
passten Konstitutionen gebildet habe; das Ergebniss rührt viel- 
mehr von Gewöhnung her. Andrerseits sehe ich auch keinen 
Grund zu zweifeln, dass Natürliche Züchtung beständig diejenigen 
kadivilwen zu erhalten strebe, welche mit den für ihre Heimath- 
Gegenden am besten geeigneten Körper - Verfassungen geboren 
sind.‘ In Schriften über verschiedene Sorten kultivirter Pflanzen 
heisst es von gewissen Varietäten, dass sie dieses oder jenes 
Klima besser als andre vertragen. Diess ergibt sich sehr schla- 
gend aus den in den Vereinien Staaten erschienenen Werken 
über Obstbaum-Zucht, worin gewöhnlich diese Varietäten für die 
nördlichen und jene für die südlichen Staaten empfohlen werden; 
und da die meisten dieser Abarten noch neuen Ursprungs sind, 
so kann man die Verschiedenheit ihrer 'Konstitutionen in dieser 
Beziehung nicht der Gewöhnung zuschreiben. Man hat die 
Jerusalem-Artischoke, welche sich nicht aus Saamen fortpflanzt 
und daher niemals neue Varietäten geliefert hat, angeführt als 
Beweis, dass es nicht möglich seye eine Akklimatisirung zu 
bewirken, weil sie noch immer so empfindlich seye, wie sie 
jederzeit gewesen; zu gleichem Zwecke hat man sich oft auf 
die Schminkbohne, und zwar mit viel grösserem Nachdrucke berulen. 
So lange aber, als nicht jemand einige Dutzend Generationen 
hindurch seine Schminkbohnen so frühzeitig aussäet, dass ein 
sehr grosser Theil derselben durch Frost zerstört wird, und 
dann, mit der gehörigen Vorsicht zur Vermeidung von Kreutzun- 
gen, seine Saamen von den wenigen überlebenden Stöcken nimmt 
und von deren Sämlingen mit gleicher Vorsicht abermals seine 
Saamen erzieht, so lange wird man nicht sagen können, dass der 
Versuch angestellt worden seye, Auch kann man nicht unter- 
stellen, dass nicht zuweilen Verschiedenheiten in der Kon- 
stitution dieser verschiedenen Bohnen-Sämlinge zum Vorschein 
kommen; denn es ist bereits-ein Bericht darüber erschienen, wie 
viel härter ein Theil dieser Sämlinge gegenüber den andern seye. 


154 


Im Ganzen kann man, glaube ich, schliessen, dass Gewöh- 
nung, Gebrauch und Nichtgebrouch in manchen Fällen einen 
beträchtlichen Einfluss auf die Anderung der Konstitution und 
den Bau verschiedener Organe ausgeübt haben; dass jedoch diese 
Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs oft in ansehn- 
lichem Grade vermehrt und mitunter noch überboten worden sind 
durch Natürliche Züchtung mittelst angeborner Abänderungen. 

WechselbeZiehungen der Bildung.) — Ich will mit 
diesem Ausdrucke sagen, dass die ganze Organisation der natür- 
lichen Wesen so unter sich verkettet ist, dass, wenn während 
der Entwickelung und dem Wachsthum des einen Theiles eine 
geringe Abänderung erfolgt und von der Natürlichen Züchtung 
gehäuft wird, auch andre Theile geändert werden müssen. Diess 
ist ein sehr wichtiger Punkt, aber noch wenig begriffen. Der 
gewöhnlichste Fall ist der, dass Abänderungen, welche nur zum 
Nutzen der Larve oder des Jungen gehäuft werden, zweilels- 
ohne auch die Organisation des Erwachsenen berühren; ebenso 
wie eine Missbildung, welche den frühesten Embryo betrifft, 
auch die ganze Organisation des Alten ernstlich berühren wird, 
Die mehrzähligen homologen und in der frühesten Embryo-Zeit 
einander noch ähnlichen Theile des Körpers scheinen in ver- 
wandter Weise zu variiren geneigt; daher die rechte und linke 
Seite des Körpers in gleicher Weise abzuändern pflegen, die vor- 
deren Gliedmaassen in gleicher Weise wie die hintern, und 
sogar in gleicher Weise wie die Kinnladen, da man ja den 
Unterkiefer für ein Homologon der Gliedmaassen hält. Diese 
Neigungen können, wie ich nicht bezweifle, durch Natürliche 
Züchtung mehr und weniger beherrscht werden; so hat es früher 
eine Hirsch-Familie mit einem Augsprossen nur an einem Ge- 
weihe gegeben, und wäre diese Eigenheit von irgend einem 
grösseren Nutzen gewesen, SO würde sie durch Natürliche 
Züchtung vermuthlich bleibend geworden seyn. 

Homologe Theile streben, wie einige Autoren bemerkt 
haben, zusammenzuhängen, man sieht Diess oft in monströsen 
Pflanzen; und nichts ist gewöhnlicher als die Vereinigung 


homologer Theile zu normalen Bildungen, wie z. B. die Vereinl- 


& fi, 


N 
ey 


+ 


155 


gung der Kronen-Blätter zu einer Röhre”. Harte Theile scheinen 
auf die Form anliegender weicher einzuwirken, ‚und einige Au- 
toren sind der Meinung, dass die Verschiedenheit in der Form 
des Beckens der Vögel den merkwürdigen Unterschied in der 
Form ihrer Nieren verursache. Andere glauben, dass beim Men- 
schen die Gestalt des Beckens der Mutter durch Druck auf die Schä- 
del-Form des Kindes wirke**. ‚Bei Schlangen bedingen nach 
SchtEsEL die Form des Körpers und die Art des Schlingens die 
Lage einiger der wichtigsten Eingeweide. Die Beschaffenheit 
des Bandes der Wechselbeziehung ist sehr oft ganz dunkel. 
IsınorE GEOFFROY Saınt-Hiraıme hat auf nachdrückliche Weise her- 
vorgehoben, dass gewisse Missbildungen sehr häufig und andre sehr 
selten zusammen vorkommen, ohne dass wir den Grund anzu- 
geben vermöchten. Was kann eigenthümlicher seyn, als die Be- 
ziehung zwischen den blauen Augen und der Taubheit der Katzen, 
oder die der Farbe des Panzers mit dem weiblichen Geschlechte 
der Schildkröten; die Beziehung zwischen den gefiederten Füssen 
und der Spannhaut zwischen den äusseren Zehen der Tauben, 
oder die zwischen der Anwesenheit von mehr oder weniger 
Flaum an den eben ausschlüpfenden Vögeln mit der künftigen 
Farbe ihres Gefieders; oder endlich zwischen Behaarung und 
Zahn-Bildung des nackten Türkischen Hundes, obschon hier wohl 
Homologie mit ins Spiel kommt. Mit Bezug auf diesen letzten 
Fall von Wechselbeziehung scheint es mir kaum zufällig zu seyn, 
dass diejenigen zwei Säugethier-Ordnungen, welche am abnorm- 
sten in ihrer Bekleidung, auch am abweichendsten in der Zahn- 
Bildung sind; nämlich die Cetaceen (Wale) und die Edentaten 
(Schuppenthiere, Gürtelthiere u. s. w.). 

Ich kenne keinen Fall, der besser geeignet wäre, die Wesen- 


* Weit gewöhnlicher ist gewiss das Streben homologer Theile sich sowie 
andre mit fortschreitender Entwickelung selbstständiger zu differenziren, es 
seye denn, dass jenes Streben unter sich zusammenzuhängen eine Differenzi- 
rung von heterologen Theilen bewirke, wie eben in Blumen. D. Übrs. 

‚ ** Dieses ist nur bei solchen weichen Theilen denkbar, welche sich nach 
den ihnen anliegenden harten bilden, die ihrerseits selbst aus weichen her- 
vorgehen. Der Schädel modelt nicht das werdende Gehirn, sondern dieses 
den Schädel ! D. Übrs, 


156 


heit der Gesetze der Wechselbeziehung bei Abänderung wich- . 
tiger Gebilde unabhängig von deren Nützlichkeit und somit auch 
von der Natürlichen Züchtung darzuthun, als es die Verschie- 
denheit der äussern und innern Blüthen im Blüthenstande 
einiger Compositiflorae und Umbelliferae ist. Jedermann kennt den 
Unterschied zwischen den mitteln und den Rand-Blüthen z. B, 
des Gänseblümchens (Bellis), und diese Verschiedenheit ist oft 
verbunden mit der Verkümmerung ein zelner Blumen-Theile. Aber 
in einigen Compositifloren unterscheiden sieh auch die Früchte 
der beiderlei Blüthen in Grösse und Skulptur, und selbst die 
Ovarien mit einigen Nebentheilen weichen ab, wie Cassını nach- 
gewiesen. Diese Unterschiede sind von einigen Botanikern dem 
Druck zugeschrieben worden, und die Frucht-Formen in den 
Strahlen-Blumen der Compositifloren unterstützen diese Ansicht; 
keineswegs aber trifft es bei den Umbelliferen zu, dass die 
Arten mit den dichtesten Umbellen die grösste Verschiedenheit 
zwischen den inneren und äusseren Blüthen wahrnehmen liessen. 
Man hätte denken können, dass die stärkere Entwickelung der 
im Rande des Blüthenstandes befindlichen Kronenblätter die Ver- 
kümmerung andrer Blüthen-Theile veranlasst habe, indem sie 
ihnen Nahrung entzogen; aber bei einigen Compositifloren zeigt 
sich ein Unterschied in der Grösse der Früchte der innern 
und der Strahlen-Blüthen, ohne vorgängige Verschiedenheit der 
Krone. Möglich, dass. diese mancherlei Unterschiede mit irgend 
einem Unterschied e in dem Zufluss der Säfte zu den mittel- und 
den Rand-ständigen Blüthen zusammenhängt; wir wissen wenig- 
stens, dass bei unregelmässig geformten Blüthen die der Achse 
zunächst stehenden am öftesten der Peloria-Bildung unterworfen 
sind und regelmässig werden. Ich will als Beispiel dieses und 
zugleich als treffenden Fall von Wechselbeziehung der Ent- 
wickelung anführen, wie ich kürzlich in einigen Garten-Pelargo- 
nien beobachtet, dass die mitteln Blüthen der Dolde oft die dunk- 
leren Flecken an den zwei oberen Kronenblättern verlieren und 
dass, wenn Diess der Fall, das anhängende Nectarium gänzlich 
verkümmert; fehlt der Fleck nur an einem der zwei oberen 
Kronenblätter, so wird das Nectarium nur stark verkürzl. 


157 


Hinsichtlich der Verschiedenheiten der Blumenkronen der 
mitteln und randlichen Blumen einer Dolde oder eines Blüthen- 
köpfehens, so halte ich C. C. Sprexser's Einfall, dass die Strah- 
len-Blumen zur Anziehung der Insekten bestimmt seyen, deren 
Bewegungen die Befruchtung der Pflanzen jener zwei Ord- 
nungen befördere, nicht für so weit hergeholt, als er 
beim ersten Blick sckeinen mag; und wenn es wirklich von 
Nutzen, so kann Natürliche Züchtung mit in Betracht kommen, 
Dagegen scheint es kaum möglich, dass die Verschiedenheit zwi- 
schen dem Bau der äusseren und der inneren Früchte, welche 
in keiner Wechselbeziehung mit irgend einer verschiedenen Bil- 
dung der Blüthen steht, irgend wie den Pflanzen von Nutzen 
seyn kann. Jedoch erscheinen bei den Dolden-Pflanzen die 
Unterschiede von so auflallender Wichtigkeit (da in mehren 
Fällen nach Tausch die Früchte der äusseren Blüthen orthosperm 


und die der mittelständigen cölosperm sind), dass der ältere 
DeCanporze seine Hauptabtheilungen in dieser Pflanzen-Ordnung 
auf analoge Verschiedenheiten gründete. Wir sehen daher, dass 
Abänderungen der Struktur von gänzlich unbekannten Gesetzen 
in den Wechselbeziehungen der Entwickelung bedingt seyn kön- 
nen, und zwar ohne selbst den geringsten erkennbaren Vortheil 
für die Spezies darzubieten. | 

Wir mögen irriger Weise den Wechselbeziehungen der Eit- 
wickelung oft solche Bildungen zuschreiben, welche ganzen 
Arten-Gruppen gemein sind, aber in Wahrheit ganz einfach von 
Erblichkeit abhängen. Denn ein alter Stamm-Vater z. B. mag 
durch Natürliche Züchtung irgend eine Eigenthümlichkeit seiner 
Struktur und nach tausend Generationen irgend eine andre davon 
unabhängige Abänderung erlangt haben, und wenn dann beide 
Modifikationen mit einander auf eine ganze Gruppe von Nachkom- 
men mit verschiedener Lebensweise übertragen worden sind, so 
wird man natürlich glauben, sie stünden in einer nothwendigen 
Wechselbeziehung mit einander. So zweifle ich auch nicht daran, 
dass einige anscheinende Wechselbeziehungen, welche in ganzen 
Ordnungen des Systemes vorkommen, lediglich nur von der mög- 
lichen Wirkungs-Weise der Züchtung bedingt sind. Wenn z. B. 


<q ar a ann 


158 


Aıruons DeCanpoıLE bemerkt, dass geflügelte 'Saamen nie in 
Früchten vorkommen, die sich nicht öffnen, so möchte ich diese 
Regel durch die Thatsache erklären, dass Saamen nicht durch 
Natürliche Züchtung allmählich beflügelt werden können, ausser 
in Früchten, die sich öffnen; so dass individuelle Pflanzen mit 
Saamen, welche etwas beflügelt und daher mehr zur weiten Fort- 
führung geeignet sind, vor andern schlecht.beflügelten hinsichtlich 
ihrer Aussicht auf Erhaltung im Vortheil sind, und dieser Vor- 
gang kann nicht wohl mit solehen Früchten vorkommen, welche 
nicht aufspringen. 

Der ältre Grorrroy und Görue haben ihr Gesetz von der 
Compensation der Entwickelung fast ‘gleichzeitig aufgestellt, wor- 


nach, wie-Görne sich ausdrückt, die Natur genöthigt ist auf der 
einen Seite zu ersparen, was sie auf der andern mehr gibt, 
Diess passt in gewisser Ausdehnung, wie mir scheint, ganz gul 
auf unsre Kultur-Erzeugnisse: denn wenn einem Theile oder 
Organe Nahrung in Überfluss zuströmt, so kann sie nicht, oder 
wenigstens nicht in Überfluss, auch einem andern zu Theil wer- 
den, daher man eine Kuh z. B. nicht zwingen kann, viel Milch 
zu geben und zugleich fett zu werden. Ein und dieselbe Kohl- 
Varietät kann nicht eine reichliche Menge nahrhafter Blätter und 
zugleich einen guten Ertrag von Öl-Saamen liefern. Wenn in 
unsrem Obste die Saamen verkümmern, gewinnt die Frucht selbst 
an Grösse und Güte. Bei unseren Hühnern ist einer grossen 
Federhaube auf dem Kopfe gewöhnlich ein kleinerer Kamm bei- 
gesellt, und ist ein grosser Feder-Bart mit kleinen Bartlappen 
verbunden. : Dagegen ist kaum anzunehmen, dass dieses Gesetz 
auch auf Arten im Natur-Zustande allgemein anwendbar seye, 
obwohl viele gute Beobachter und namentlich Botaniker an seine 
Wahrheit glauben. Ich will jedoch hier keine Beispiele anführen; 
denn ich kann schwer ein Mittel finden zu unterscheiden 
einerseits zwischen der durch Natürliche Züchtung bewirkten au- 
sehnlichen Vergrösserung eines Theiles und der durch gleiche 
Ursache oder durch Nichtgebrauch veranlassten Verminderung 
eines anderen nahe dabei befindlichen Organes, und anderseits 
der Verkümmerung eines Organes durch Nahrungs-Einbusse iD 


159 


/ 


Folge excessiver Entwickelung eines anderen nahe dabei befind- 
lichen Theiles. 

Ich vermuthe auch, dass einige der Fälle, die man als Be- 
weise der Compensalion vorgebracht, sich mit einigen anderen 
Thatsachen unter ein allgemeineres Prinzip zusammenfassen lassen, 
das Prinzip nämlich, dass Natürliche Züchtung fortwährend bestrebt 
ist, in jedem Theile der Organisation zu sparen. Wenn unter 
veränderten Lebens-Verhältnissen eine bisher nützliche Vorrich- 
tung weniger nützlich wird, so dürfte wohl eine wenn gleich 
nur unbedeutende Verminderung ihrer Grösse durch die Natür- 
liche Züchtung erstrebt werden, indem es für das Individuum ja 
vortheilhaft ist, wenn es seine Säfte nicht zur Ausbildung nutz- 
loser Organe verschwendet. Nur auf diese Weise kann ich eine 
Thatsache begreiflich finden, welche mich, als ich mit der Unter- 
suchung über die Cirripeden beschäftigt war, überraschte, nämlich 
dass, wenn ein Cirripede in anderen Organismen als Schmarotzer 
lebt und daher geschützt ist, er mehr oder weniger seine eigene 
Kalk-Schaale verliert. Diess ist mit dem Männchen von Ibla und 
in ausserordentlich hohem Grade mit Proteolepas der Fall; denn 
während der Panzer aller anderen Cirripeden aus den drei hoch- 
wichtigen Vordersegmenten des ungeheuer entwickelten Kopfes 
besteht und mit starken Nerven und Muskeln versehen ist, 
erscheint an dem parasitischen und geschützten Proteolepas der 
ganze Vordertheil des Kopfes als ein blosses an die Basen der 
Rankenfüsse befestigtes Rudiment. Nun dürfte die Ersparung 
eines grossen und zusammengesetzten Gebildes, wenn es, wie 
hier durch die parasitische Lebens-Weise des Proteolepas, über- 
flüssig wird, obgleich nur stufenweise voranschreitend, ein 
entschiedener Vortheil für jedes spätere Individuum der Spezies 
seyn, weil im Kampfe ums Daseyn, welchen das Thier zu 
kämpfen hat, jeder einzelne Proteolepas um so mehr Aussicht 
sich zu behaupten erlangt, je weniger Nahrstoff zur Entwickelung 
eines nutzlos gewordenen ÖOrganes verloren geht. 

Darnach, glaube ich, wird es der Natürlichen Züchtung in 
die Länge immer gelingen, jeden Theil der Organisation zu ver- 
ringern und zu ersparen, sobald er überflüssig geworden ist, 


160 


ohne desshalb gerade einen anderen Theil in entsprechendem i 
Grade stärker auszubilden. Und eben so dürfte sie, umgekehrt, | 
vollkommen im Stande sein ein Organ stärker auszubilden, ohne 
die Verminderung eines anderen benachbarten Theiles als noth- 
wendige Compensation zu verlangen. | 
Nach Isınorz GEOFFRoOY Saınt-Hiraıres Wahrnehmung scheint 
es bei Varietäten wie bei Arten Regel zu seyn, dass, wenn ein 
Theil oder ein Organ oftmals im Baue eines Individuums vor- 
kommt, wie der Wirbel in den Schlangen und die Staubgefässe 
in den polyandrischen Blüthen, dessen Zahl veränderlich wird, 
während die Zahl desselben Organes oder Theiles beständig 
bleibt, falls er sich weniger oft wiederholen muss. - Derselbe 
Zoologe sowie einige Botaniker haben ferner die Bemerkung ge- 
macht, dass sehr vielzählige Theile auch grösseren Veränderun- 
gen im inneren Bau ausgesetzt sind. Zumal nun diese vege- 
tativen Wiederholungen, wie R. Owen sie nennt, ein Anzeigen nied- 
riger Organisation sind, so scheint die vorangehende Bemerkung 
mit der. sehr allgemeinen Ansicht der Naturforscher zusammen- 
zuhängen, dass solche Wesen, welche tief auf der Stufenleiter 
der Natur stehen, veränderlicher als die höheren sind. Ich ver- 
stehe unter tiefer Organisation in diesem Falle eine geringe Dil- | 
ferenzirung der Organe für verschiedene besondere Verrichtun- 
gen; denn solange ein und dasselbe Organ verschiedene Arbeiten 
zu verrichten hat, lässt sich ein Grund für seine Veränderlich- 
keit vielleicht darin finden, dass Natürliche Züchtung jede kleine 
Abweichung der Form weniger sorgfältig erhält oder unterdrückt, 
als wenn dasselbe Organ nur zu einem besondern Zweck allein 
bestimmt wäre. So mögen Messer, welche allerlei Dinge zu 
schneiden bestimmt sind, im Ganzen so ziemlich von einerlei Form 
seyn, während ein nur zu einerlei Gebrauch bestimmtes Werk- 
zeug für jeden andern Gebrauch auch eine andere Form haben 
muss. | | 
a Auch unvollkommen ausgebildete, rudimentäre Organe sind 
Mh der Bemerkung einiger Schriftsteller, die mir richtig Zu 
seyn scheint, sehr zur Veränderlichkeit geneigt. Ich verweise 
in dieser Hinsicht auf die Erörterung der rudimentären und abo 


161 


tiven Organe im Allgemeinen und will hier nur beifügen, dass 
ihre Veränderlichkeit durch ihre Gebrauchlosigkeit bedingt zu 
seyn scheint, indem in diesem Falle Natürliche Züchtung nichts 
vermag, um Abweichungen ihres Baues zu verhindern. Daher 
rudimentäre Theile dem freien Einfluss der verschiedenen Wachs- 
thums - Gesetze, den Wirkungen lange Tfortgesetzten Nichtge- 
brauchs und dem Streben zur Rückkehr preisgegeben sind. 

Ein in ausserordentlicher Stärke oder Weise in 
irgend einer Spezies entwickelter Theil hat, in Ver- 
gleich mit demselben Theile in anderen Arten, eine 
grosse Neigung zur Veränderlichkeit.) — Vor einigen 
Jahren wurde ich durch eine ähnliche von WATErRHoUsE veröffent- 
lichte Äusserung überrascht. Auch schliesse ich aus einer Be- 
merkung des Professors R. Owen über die Länge der Arme des 
Orang-Utang, dass er zur nämlichen Ansicht gelangt seye. Es 
ist keine Hoffnung vorhanden, jemanden von der Wahrheit 
dieser Behauptung zu überzeugen, ohne die Aufzählung der 
langen Reihe von Thatsachen, die ich gesammelt, aber hier 
nicht mittheilen kann. Ich vermag nur meine Überzeugung aus- 
zusprechen, dass es eine sehr allgemeine Regel ist. Ich kenne 
zwar mehre Ursachen, welche zu Irrthum in dieser Hinsicht Ver- 
anlassung geben können, hoffe aber sie genügend berücksichtigt 
zu haben. Vor Allem ist zu bemerken, dass diese Regel auf 
keinen wenn auch an sich noch so ungewöhnlich entwickelten 
Theil Anwendung finden soll, woferne er nicht auch ‘demselben 
Theile bei nahe verwandten Arten gegenüber ungewöhnlich aus- 
gebildet ist. So abnorm daher auch die Flügel-Bildung der Fleder- 
mäuse in der Klasse der Säugethiere ist, so bezieht sich doch 
jene Regel nicht darauf, weil diese Bildung einer ganzen Ord- 
nung zukommt; sie würde nur anwendbar seyn, wenn die Flügel 
einer Fledermaus - Art in merkwürdigem Verhältnisse gegen die 
Flügel andrer Arten derselben Sippe vergrössert wären. Diese 
Regel entspricht sehr gut den ungewöhnlich verwickelten »sekun- 
dären Sexual-Charaktern«, mit welchem Ausdrucke Hunter die- 
diejenigen Merkmale bezeichnete, welche nur dem Männchen 
oder dem Weibchen allein zukommen, aber mit dem Fortpflan- 

11 


162 


zungs- Akte nicht in ‚unmittelbarem Zusammenhang stehen. Die 
Regel findet sowohl auf Männchen wie auf Weibchen Anwendung, 
doch: mehr auf die ersten ‚'' weil: auffallende ‚Charaktere dieser 
Art bei Weibchen überhaupt selten sind. Die vollkommene An- 
wendbarkeit der Regel auf (diese letzten Fälle ‚dürfte mit‘'der 
grossen und nicht zu bezweifelnden 'Veränderlichkeit' dieser 
Charaktere überhaupt, mögen sie viel oder wenig entwickelt 
seyn, zusammenhängen. ‘Dass sich aber: unsre Regel: in der 
That nicht auf die sekundären Charaktere dieser Art allein beziehe, 
erhellt aus’ den hermaphroditischen Cirripeden; und ich: will'hier 
beifügen, dass ich bei der Untersuchung dieser Ordnung. Herrn 
Warkrnouse’s Bemerkung. besondre Beachtung zugewandt‘ habe 
und vollkommen von ‚der. fast 'unveränderlichen Anwendbarkeit 
dieser Regel auf die Cirripeden überzeugt bin. In meinem: spä- 
teren Werke werde ich eine vollständigere Liste ‚der'einzelnen 
Fälle geben: ‘hier aber will ich nur einen anführen; welcher die 
Regel in ihrer ausgedehntesten Anwendbarkeit erläutert: Die 
Deckelklappen der sitzenden Cirripeden (Balaniden) sind in jedem 
Sinne des Wortes sehr wichtige Gebilde und variiren selbst von 
einer Sippe zur andern nur wenig. Nur in den verschiedenen 
Arten von Pyrgoma allein bieten diese Klappen einen 'wunder- 
samen Grad von Differenzirung dar.' ‚Die «homologen Klappen 
sind’ in verschiedenen Arten. zuweilen ganz’ unähnlich in Form, 


und der Betrag möglicher Abweichung zwischen den Individuen 
einiger Arten ist.'so gross, dass man ohne Übertreibung‘ behaup- 
ten darf, ihre Varietäten weichen in den Merkmalen dieser wichligen 
Klappen. weiter auseinander, als sonst ‘Arten verschiedener'S$ippen, 

Da: Vögel innerhalb einer und derselben Gegend  ausser- 
ordentlich wenig variiren,' so habe ich ‚auch sie in dieser Hin- 
sicht näher geprüft und die Regel: auch‘ in dieser Klasse sehr 
gut bewährt gefunden. ‚Ich kann nicht nachweisen, dass sie sich auch 
beiden Pflanzen so verhalte, und mein Vertrauen auf ihre \All- 
gemeinheit würde hiedurch sehr erschüttert worden seyn; wenn 
nicht eben die grosse Veränderlichkeit‘ der Pflanzen überhaup! 
es sehr 'schwiertig. machte, die bezüglichen Veränderlichkeil®® 


‘ . 


Grade beider miteinander zu vergleichen. 


163 


Wenn wir bei irgend einer Spezies einen Theil oder ein 
Organ in merkwürdiger Höhe oder Weise entwickelt sehen, so 
läge es am nächsten anzunehmen, dass dasselbe dieser Art 
von grosser Wichtigkeit seyn müsse, und doch ist der Theil in 
diesem Falle ausserordentlich veränderlich. Wie kommt Diess? 
Aus der Ansicht, dass jede Art mit allen ihren Theilen, wie 
wir sie jetzt sehen, unabhängig erschaffen worden seye, können 
wir keine Erklärung schöpfen. Dagegen scheint mir die Annahme, 
dass Arten-Gruppen eine gemeinsame Abstammung von andern 
Arten haben und nur durch Natürliche Züchtung modifizirt wor- 
den sind, einiges Licht über die Frage‘ zu verbreiten. Wenn 
bei unseren Hausthieren ein einzelner Theil oder das ganze Thier 
vernachlässigt und ohne Züchtung fortgepflanzt wird, so wird ein 
solcher Theil (wie z. B. der Kamm bei den Dorking-Hühnern) oder 
die ganze Rasse aufhören einen einförmigen Charakter zu be- 
wahren. Man wird dann sagen, sie seye ausgeartet. In rudi- 
mentären und solchen Organen, welche nur wenig für einen be- 
sondern Zweck differenzirt worden sind, sowie in polymorphen 
Gruppen, sehen wir einen fast gleichlaufenden Fall in der Natur; 
denn hier kann die Natürliche Züchtung nicht oder nur wenig 
zur Geltung kommen und die Organisation bleibt in einem schwan- 
kenden Zustande. Was uns aber hier näher angeht, das ist, 
dass eben bei unseren Hausthieren diejenigen Charaktere, welche 
durch fortgesetzte Züchtung so rascher Abänderung unterliegen, 
eben so rasch in hohem Grade zu variiren geneigt werden. Man 
vergleiche einmal die Tauben-Rassen; was für ein wunderbar gros- 
ses Maass von Veränderung zeigt sich nur in den Schnäbeln 
der -Purzeltauben, in den Schnäbeln und rothen Lappen der ver- 
schiedenen Botentauben (Cyprianer), in Haltung und Schwanz der 
Pfauentaube, weil die Englischen Liebhaber auf diese Punkte wenig 
achten. Schon die Unterrassen wie die kurzstirnigen Purzler sind 
bekanntlich schwer vollkommen zu finden, und oft kommen dabei 
einzelne Thiere zum Vorschein, welche weit von dem Musterbilde 
abweichen. Man kann daher mit Wahrheit sagen, es finde ein 
beständiger Kampf statt zwischen einerseits einem Streben zur 
Rückkehr in eine minder differenzirte Beschaffenheit und einer 

; 3 Dig 


164 


angeborenen Neigung zu weiterer Veränderung aller Art, und 
anderseits dem Vermögen fortwährender Züchtung zur Rein- 
erhaltung der Rasse. Bei langer Dauer gewinnt Züchtung den 
Sieg, und wir fürchten nicht mehr so weit vom Ziele abzu- 
weichen, dass wir von einem. guten kurzslirnigen Stamm. nur 
einen ‘gemeinen Purzler erhielten. So lange aber die Züchtung 
noch in raschem Fortschritt begriffen: ist, wird immer eine grosse 
Unbeständigkeit in dem der Veränderung unterliegenden Gebilde 
zu erwarten seyn. Es verdient ferner bemerkt zu werden, dass 
diese durch künstliche Züchtung erzeugten veränderlichen Cha- 
raktere aus uns ganz. unbekannten Ursachen sich zuweilen mehr 
an das eine als an das andre Geschlecht. knüpfen , und. zwar 
gewöhnlich an das männliche, wie die Fleischwarzen der Eng- 
lischen Botentaube und der mächtige Kropf des Kröpfers. 

Doch kehren wir zur Natur zurück. Ist ein Theil in irgend 
einer Spezies den andern Arten derselben Sippe gegenüber auf 
aussergewöhnliche "Weise vergrössert, so. können. wir. ‚anneh- 
men, derselbe habe seit ihrer Abzweigung von dem gemein- 
samen 'Stamme einen ungewöhnlichen Betrag von Abände- 
rung erfahren. Diese Zeit der Abzweigung wird selten ausser- 
ordentlich weit zurückliegen, da Arten nur selten länger als 
eine geologische Periode dauern. ‘Ein ungewöhnlicher Betrag 
von Verschiedenheit setzt ein ungewöhnlich langes 'und ausge- 
dehntes 'Maass von Veränderlichkeit voraus, deren Produkt 
durch Züchtung zum Besten der Spezies. fortwährend gehäuft 
worden ist. Da’ aber die Veränderlichkeit des ausserordentlich 
entwickelten Theiles oder Organes in einer nicht sehr weit zu- 
rückreichenden Zeit so gross: und andauernd gewesen ist, 0 
möchten wir auch jetzt noch in der Regel mehr Veränderlichkeil 
in solchen als in andern Theilen der Organisation, welche schon 
seit viel längrer Zeit beständig geworden sind, anzutreffen er- 
warten. Und diese findet nach meiner Überzeugung stall. Dass 
aber der Kampf zwischen Natürlicher Züchtung einerseits und 
der Neigung zur Rückkehr und zur weiteren Abänderung ander- 
seits mit der Zeit aufhören und auch die am abnormsten ge 
bildeten Organe beständig werden können, ist kein Grund vol- 


165 


handen zu bezweifeln. Wenn daher ein Organ, wie regelwidrig 
es auch seyn mag‘, in ungefähr ‘gleicher Beschaffenheit auf viele 
bereits abändernde Nachkommen übertragen wird, wie Diess mit 
dem Flügel der Fledermaus der Fall ist, so muss es meiner 
Theorie zufolge schon eine unermessliche Zeit hindurch in dem 
gleichen Zustande vorhanden gewesen und in dessen Folge jetzt 
nicht mehr veränderlicher als irgend ein andres Organ seyn. 
Nur in denjenigen Fällen, wo die Modifikation noch verhältniss- 
mässig jung und: ausserordentlich gross ist, werden wir daher 
die »generative Veränderlichkeit«, wie wir sie nennen wollen, 
noch in hohem Grade fortdauernd finden. Denn in diesem Falle 
wird die Veränderlichkeit nur selten schon durch ununterbrochene 
Züchtung der in irgend einer beabsichtigten Weise und Stufe varii- 
renden und durch fortwährende Verdrängung der zur Rückkehr 
geneigten Individuen zu einem festen Ziele gelangt seyn. 

Das in diesen Bemerkungen enthaltene Prinzip ist noch einer 
Ausdehnung fähig. Es ist nämlich bekannt, dass die spezifischen 
mehr als die Sippen- Charaktere abzuändern geneigt sind. Ich 
will. mit einem einfachen Beispiele erklären, was ich meine. 
Wenn in einer grossen Pflanzen-Sippe einige Arten blaue Blüthen 
haben und andere haben rothe, so wird die Farbe nur ein Art- 
Charakter seyn und daher auch niemand überrascht werden, 
wenn eine blau-blühende Art zu Roth übergeht oder umgekehrt. 
Wenn aber alle Arten blaue Blumen haben, so wird die Farbe 
zum Sippen-Charaktere, und ihre Veränderung wird schon eine 
ungewöhnliche Erscheinung seyn. Ich habe gerade dieses Bei- 
spiel gewählt, weil eine Erklärung, welche die meisten Natur- 
forscher sonst beizubringen. geneigt seyn würden, darauf nicht 
anwendbar ist, dass nämlich spezifische Charaktere desshalb weni- 
ger als generische veränderlich erscheinen, weil sie von Theilen 
entlehnt sind. die eine mindere physiologische Wichtigkeit be- 
sitzen, als diejenigen, welche gewöhnlich zur Klassifikation der 
Sippen dienen. Ich glaube zwar, dass diese Erklärung theilweise, 
wenn auch nur indirekt, richtig ist, kann jedoch erst in dem 
Abschnitte über Klassifikation darauf’ zurückkommen. Es dürfte 
ganz überflüssig seyn, Beispiele zu Unterstützung der obigen 


166 


Behauptung anzuführen , dass’ Arten - Charaktere veränderlicher 
als: Sippen-Charaktere seyen; ich habe aber aus naturhistorischen 
Werken wiederholt entnommen, dass, wenn ein Schriftsteller 
durch die Wahrnehmung überrascht war, dass irgend ein wich- 
tigeres Organ, welches sonst in ganzen grossen Arten- Gruppen 
beständig zu seyn pflegt, in nahe verwandten Arten ansehnlich ab- 
ändere, dasselbe dann auch: in den Individuen einiger der Arten 
variirte. Diese Thatsache zeigt, dass ein Charakter, der gewöhn- 
lich von generischem Werthe ist, wenn er zu spezifischem Werthe 
herabsinkt, oft veränderlich wird, wenn auch seine physiologische 
Wichtigkeit die nämliche bleibt. Etwas Ähnliches findet auch auf 
Monstrositäten Anwendung; wenigstens scheint IsınorE GEOFFROY 
Samnt-Hıraıre keinen Zweifel darüber zu hegen, dass ein Organ 
um so mehr individuellen Anomalien unterliege,, je mehr es in 
den verschiedenen Arten derselben Gruppe verschieden ist, 
“Wie wäre es nach der gewöhnlichen Meinung, dass jede 
Art unabhängig erschaffen worden seye, zu erklären, dass der- 
jenige Theil der Organisation, welcher von. demselben Theile 
in anderen unabhängig erschaffenen Arten derselben Sippe mehr 
abweicht, auch veränderlicher ist, als jene Theile, welche in den 
verschiedenen Arten einer Sippe nahezu übereinstimmen. Ich sehe 
keine Möglichkeit ein Diess zu erklären. Wenn wir aber von 
der Ansicht ausgehen, dass Arten nur wohl unterschiedene und 
ständig gewordene Varietäten sind, so werden wir sicher auch er- 
warten dürfen zu sehen, dass dieselben noch jetzt oft fortlahren 
in denjenigen Theilen ihrer Organisation abzuändern, welche erst 
in verhältnissmässig neuer Zeit in Folge ihres Variirens von der 
gewöhnlicheren Bildung zurückgewichen sind. Oder, um den 
Fall in einer andern Weise darzustellen: die Merkmale, worin 
alle Arten einer Sippe einander gleichen, und worin dieselben 
von allen Arten einer andern Sippe abweichen, heissen generische, 
und diese Merkmale zusammengenommen leite ich mittelst Ver- 


erbung von einem gemeinschaftlichen Stammvater ab; denn nur 
selten kann es der. Zufall gewollt haben, dass Natürliche Züch- 
tung verschiedene mehr oder weniger abweichenden Lebens- 
weisen angepasste Arien genau auf dieselbe Weise modifizirl 


167 


hab? und da’ diese. 'sogenannten: generischen Charaktere schon 
von sehr frühe: her) seit der Zeit nämlich "wo sie sich von ihrer 
gemeinsamen Stamm-Art sabgezweigt haben, vererbt worden sind, 
und sie sich später / nicht “mehr: oder nur noch. wenig verändert 
haben ,: so- ist es nicht ‚wahrscheinlich , dass sie noch. heutiges 
Tages abändern.  Anderseits nennt man die :Punkte, wodurch 
sieh‘: Arten‘ 'von andern ‘Arten. derselben. Sippe unterscheiden, 


spezifische Charaktere, und’ da diese seit ‚der Zeit der Abzwei- 


gung der Arten: von der gemeinsamen Stamm - Art abgeändert 
haben; so: ist es wahrscheinlich ‚dass dieselben noch jetzt oft 
einigermassen veränderlich sind , veränderlicher, wenigstens, als 
diejenigen Theile der Organisation ‚ ‚welche während einer. sehr 
langen: Zeit-Dauer sich ‚als beständig erwiesen haben. 

Im. Zusammenhang. mit diesem. Gegenstande will ich noch 
zwei andre Bemerkungen machen. — Ohne dass ich nöthig habe, 
darüber auf Einzelheiten einzugehen, wird man mir zugeben, 
dass sekundäre Sexual-Charaktere sehr veränderlich sind; man 
wird mir wohl. auch ferner zugeben, dass die zu einerlei Gruppe 
gehörigen Arten hinsichtlich dieser Charaktere weiter als in andern 
Theilen ihrer Organisation: auseinander gehen können. Vergleicht 
man. Beispiels-weise die Grösse der : Verschiedenheit zwischen 
den Männchen der Hühner-artigen Vögel, bei: welchen diese Art 
von Charakteren vorzugsweise stark entwickelt sind, ‚mit der 
Grösse. der Verschiedenheit zwischen ihren. Weibchen, so wird 
die Wahrheit jener Behauptung eingeräumt ' werden. Die Ursache 
der ursprünglichen  Veränderlichkeit der ‚sekundären Sexual-Cha- 
vaktere: ist: nicht nachgewiesen ; doch ‚lässt sich begreifen wie, es 
komme, \dass dieselben nicht ‚eben so einförmig und beständig 
geworden sind als andre Theile der Organisation; ‚denn die se- 
kundären Sexual-Charaktere sind durch geschlechtliche Züchtung 
gehäuft: worden, welche weniger strenge in ihrer Thätigkeit als 
die; gewöhnliche ist, indem sie die minder begünstigten Männ- 
chen nicht zerstört, sondern bloss mit. weniger Nachkommen- 
schaft‘ versieht: ‘Welches aber immer: die. ‚Ursache der Verän- 
derlichkeit dieser sekundären, Sexual-Charaktere seyn mag; da 
sie. nun ‚einmal: sehr; veränderlich sind, so hat die Natürliche 


168 


*Züchtung darin einen weiten Spielraum für ihre Thätigkeit gefun- 
den und somit den Arten einer Gruppe leicht einen grösseren 
Betrag von Verschiedenheit in ihren Sexual-Charakteren, als in 
andern Theilen ihrer Organisation verleihen können, 

Es ist eine merkwürdige Thatsache, dass die sekundären 
Sexual-Verschiedenheiten zwischen beiden Geschlechtern einer 
Art sich gewöhnlich genau in denselben Theilen der Organisation 
entfalten, in denen auch die verschiedenen Arten einer Sippe 
von einander abweichen. Um Diess zu erläutern will ich nur 
zwei Beispiele anführen, welche zufällig die ersten auf meiner 
Liste stehen; und da die Verschiedenbeiten in diesen Fällen von 
sehr ungewöhnlicher Art sind, so kann die Beziehung kaum zu- 
fällig seyn. Sehr grosse Gruppen von Käfern haben eine gleiche 
Anzahl von Tarsal-Gliedern mit einander gemein; nur in der Fa- 
milie der Engidae ändert nach Wesrwoons Beobachtung diese 
Zahl sehr ab, sogar in den zwei Geschlechtern einer Art. Ebenso 
ist bei den Grabenden Hymenopteren der Verlauf der Flügel- 
Adern ein Charakter von höchster Wichtigkeit, weil er sich in 
grossen Gruppen gleich bleibt; in einigen Sippen jedoch ändert 
er von Art zu Art und dann gleicher Weise auch oft in den 
zwei Geschlechtern der nämlichen Art ab. Diese Beziehung 
hat eine klare Bedeutung in meiner Anschauungs-Weise: ich be- 
trachte nämlich mit Bestimmtheit alle Arten einer Sippe als Ab- 
kömmlinge von demselben Stamm-Vater, wie die zwei Geschlech- 
ter in jeder Art. Folglich: was immer für ein Theil der Orga- 
nisation des gemeinsamen Stamm-Vaters oder seiner ersten Nach- 
kommen veränderlich geworden, so werden höchst wahrscheinlich 
Abänderungen dieser Theile durch Natürliche und Geschlechtliche 
Züchtung begünstigt worden seyn, um die verschiedenen Arten 
verschiedenen Stellen im Haushalte der Natur anzupassen, und 
ebenso um die zwei Geschlechter einer nämlichen Spezies für 
einander geschickt zu machen, oder auch um Männchen und 
Weibchen zu verschiedenen Lebensweisen zu eignen, oder end- 
lich die Männchen in den Stand zu setzen mit anderen Männ- 


chen um die Weibchen zu kämpfen. 
Endlich gelange ich also zu dem Schlumie? dass die grössre 


169 


Veränderlichkeit der spezifischen Charaktere, wodurch sich Art 
von Art unterscheidet, gegenüber den generischen Merkmalen, 
welche die Arten einer Sippe gemein haben, — dass «ie oft 
äusserste Veränderlichkeit des in irgend einer einzelnen Art 
ganz ungewöhnlich entwickelten Theiles gegenüber der geringen 
Veränderlichkeit eines wenn auch ausserordentlich entwickelten, 
aber einer ganzen Gruppe von Arten gemeinsamen Theiles, — 
dass die grosse Unbeständigkeit sekundärer Sexual-Charaktere 
und das grosse Maass von Verschiedenheit in denselben Merk- 


malen zwischen einander nahe verwandten Arten, — dass die 
Entwickelung sekundärer Sexual- und gewöhnlicher Art-Charak- 
tere gewöhnlich in einerlei Theilen der Organisation — Alles 


eng unter-einander verkettete Prinzipien sind. Alle entspringen 
hauptsächlich daher, dass die zu einer Gruppe gehörigen Arten 
von einem gemeinsamen Stamm-Vater herrühren, von welchem 
sie Vieles gemeinsam ererbt haben; — dass Theile, welche erst 
neuerlich noch starke Umänderungen erlitten, leichter zu variiren 
geneigt sind als solche, welche sich schon seit langer Zeit ohne 
alle Veränderung fortgeerbt haben; — dass die sexuelle Züchtung 
weniger streng als die gewöhnliche ist; — endlich, dass Abände- 
rungen in einerlei Organen durch natürliche und durch sexuelle 
Züchtung gehäuft und für sekundäre Sexual- und gewöhnliche 
spezifische Zwecke angepasst worden sind. 

Verschiedene Arten zeigen analoge Abände- 
rungen; und die Varietät einer Spezies nimmt oft 
einige von den Charakteren einer verwandten Spe- 
zies an, oder sie kehrt zu einigen von den Merk- 
malen der Stamm-Art zurück.) Diese Behauptungen ver- 
steht man am leichtesten durch Betrachtung der Hausthier-Rassen. 
Die verschiedensten Tauben-Rassen bieten in weit auseinander- 
gelegenen ‚Gegenden Unter-Varietäten mit umgewendeten Federn 
am Kopfe und mit Federn an den Füssen dar, Merkmale, welche 
die ursprüngliche Felstaube nicht besitzt; Diess sind also analoge 
Abänderungen in zwei oder mehren verschiedenen Rassen. Die 
häufige Anwesenheit von vierzehn bis sechszehn Schwanzfedern 
im Kröpfer kann man als eine die Nornal-Bildung einer andern 


Bu Ze u BEWER a Ar E = 


170 


Abart. der Pfauentaube nämlich, vertretende‘, Abweichung, be> 
trachten. Ich unterstelle, dass Niemand, daran zweifelt wird, dass 
alle solche ;analoge Abänderungen ‚davon herrühren ‚dass ‚die, 
verschiedenen Tauben-Rassen die gleiche Konstitution’ und daher 
unter denselben unbekannten Einllussen die ‚gleiche Neigung zu 
variiren. geerbt haben. : Im Pflanzen-Reiche zeigt sich ein: Fall 
von analoger. Abänderung in dem verdickten Strunke (gewöhnlich 
wird er die Wurzel genannt) des. Schwedischen Turnipses und 
der Rutabaga, Pflanzen, welche mehre. Botaniker nur.als durch 
die Kultur hervorgebrachte Varietäten, einer. Art ansehen. Wäre, 
Diess aber‘ nicht richtig, so..hätten; wir einen, Fall analoger Ab- 
änderung in. zwei. sogenannten Arten, und diesen kann noch der 
gemeine Turnips als dritte. beigezählt werden. Nach. ‚der ge- 
wöhnlichen Ansicht, dass jede Art unabhängig geschallen worden 
seye, würden wir diese Ähnlichkeit der. drei ‚Pflanzen in ihrem 
verdickten ‚Stengel: nicht der wahren Ursache. ihrer. gemeinsamen 
Abstammung, und einer daraus folgenden Neigung in. ähnlicher 
Weise zu variiren zuzuschreiben haben, sondern drei verschie- 
denen aber enge unter. sich verwandten Schöpfungs-Akten. , Bei 
den. Tauben haben wir noch. einen andern Fall, nämlich -das. in 
allen Rassen gelegentliche Zumvorscheinkommen von ‚Schieler- 
blauen Vögeln ‚mit zwei schwarzen Flügelbinden, einem ‚weissen 
Steiss, einer Queerbinde. auf .dem Ende ‚des: Schwanzes, und 
einem weissen äusseren Rande am Grunde der äusseren Schwanz- 
Federn. . Da alle diese Merkmale: für. die Stamm-Art. bezeichnend, 
sind, -so: glaube ich. wird Niemand bezweifeln ‚.; dass es, sich hier 
um eine Rückkehr. zum Ur-Charakter und nicht um. eine,analoge 
Abänderung in verschiedenen Rassen ‚handle... Wir werden. die- 
ser Folgerung um ‚so mehr vertrauen können, als, wie, wir ‚be- 
reits gesehen, diese Farben-Charaktere. sehr gerne in den Blend-, 
lingen zweier ‚ganz verschieden: gefärbter. Rassen zum Vorschein 
kommen; und in diesem Falle ist auch in den äusseren Lebens-Be- 
dingungen nichts zu finden, was das Wiedererscheinen der Schielers 
blauen Farbe: mit. den übrigen Farben-Abzeichen ‚erklären könnte, 
als der Einfluss des Kreutzungs-Aktes auf die Erblichkeits-Geselze. 
Es ist: in der That eine Erstaunen-erregende Thatsache,: dass 


seit vielen und vielleicht Hunderten‘ von Generationen verlorene 
Merkmale wieder zum Vorschein kommen. Wenn jedoch eine 
Rasse nur einmal mit einer andern Rasse gekreutzt worden ist, 
so zeigt der Blendling die Neigung gelegentlich zum Charakter 
der fremden Rasse zurückzukehren noch einige, man sagt 12—20, 
Generationen lang. Nun ist zwar nach 12 Generationen, nach 
der gewöhnlichen Ausdrucks-Weise, das Blut des einen fremden 
Vorfahren nur noch 1 in 2048, und doch genügt nach der all- 
gemeinen Annahme dieser äusserst geringe Bruchtheil fremden 
Blutes noch, um eine; Neigung zur Rückkehr in jenen Urstamm zu 
unterhalten. In einer Rasse, welche nicht gekreutzt worden, 
sondern worin beide Ältern einige von den Charakteren ihrer 
gemeinsamen Stamm-Art 'eingebüsst, dürfte die stärkere oder 
schwächere Neigung den verlornen Charakter wieder herzustellen, 
wie schon früher bemerkt worden, trotz Allem was man Gegen- 
theiliges sehen mag, sich noch eine Reihe von Generationen 
hindurch erhalten. Wenn ein Charakter, der in einer Rasse ver- 
loren gegangen, nach einer grossen Anzahl von Generationen 
wiederkehrt, so ist die wahrscheinlichste Hypothese nicht die, 
dass der Abkömmling jetzt erst plötzlich nach einem mehre hun- 
dert Generationen älteren Vorgänger zurückstrebt, sondern die, 
dass in jeder der aufeinanderfolgenden Generationen noch ein 
Streben zur Wiederherstellung des fraglichen Charakters vorhan- 
den gewesen, welches nun endlich unter unbekannten günstigen 
Verhältnissen zum Durchbruch gelangt. So ist z. B. wahrschein- 
lich, dass in jeder Generation der Barb-Taube (8. 27), welche nur 
sehr selten einen blauen Vogel mit schwarzen Binden hervor- 
bringt, das Streben diese Färbung anzunehmen vorhanden seye. 
Diese Ansicht ist hypothetisch, kann jedoch durch einige Thatsachen 
unterstützt werden; und ich kann an und für sich keine grössere 
Unwahrscheinlichkeit in der Unterstellung einer Neigung sehen, ei- 
nen durch eine endlose Zahl von Generationen fortgeerbt gewese- 
nen Charakter wieder anzunehmen, als in der Vererbung eines 
thatsächlich ganz unnützen oder rudimentären Organes. Und doch 
können wir zuweilen ein solches Streben ein ererbtes Rudiment 
hervorzubringen walırnehmen, wie sich z, B. in dem gemeinen 


Mn a ee A ae s 0 


172 


Löwenmaul (Antirrhinum ) das Rudiment eines fünten Staubgefässes 
so oft zeigt, dass dieser Pflanze eine Neigung es hervorzubringen 
angeerbt seyn muss. 

Da nach meiner Theorie alle Arten einer Sippe gemein- 
samer Abstammung sind, so ist zu erwarten, dass sie zuweilen in 
analoger Weise variiren, so dass eine Varietät der einen Art 
in einigen ihrer Charaktere einer andern Art gleicht, welche ja 
nach meiner Meinung selbst nur eine ausgebildete und bleibend 
gewordene Abart ist. Doch dürften die hiedurch erlangten 
Charaktere nur unwesentlicher Art seyn; denn die Anwesenheit 
aller wesentlichen Charaktere wird durch Natürliche Züchtung 
in Übereinstimmung mit den verschiedenen Lebensweisen der 
Art geleitet und bleibt nicht der wechselseitigen Thätigkeit der 
Lebens-Bedingungen und einer ähnlichen ererbten Konstitution 
überlassen. Es wird ferner zu erwarten seyn, dass die Arten 


einer nämlichen Sippe zuweilen eine Neigung zur Rückkehr zu 
den Charakteren alter Vorfahren zeigen. Da wir jedoch nie- 
mals den genauen Charakter des gemeinsamen Stamm- Vaters einer 
Gruppe kennen, so vermögen wir diese zwei Fälle nicht zu un- 
terscheiden. Wenn wir z. B. nicht wüssten, dass die Felstaube 
nicht mit Federfüssen oder mit umge wendeten Federn versehen 
ist, so hätten wir nicht sagen können, ob diese Charaktere 
in unsren Haustauben-Rassen Erscheinungen der Rückkehr zur 
Stamm-Form oder bloss analoge Abänderungen seyen; wohl 
aber hätten wir unterstellen dürfen, dass die blaue Färbung ein 
Beispiel von Rückkehr seye, wegen der Zahl der andern Zeich- 
nungen, welche mit der blauen Färbung zugleich wieder zum 
Vorschein kommen und wahrscheinlich doch nicht bloss in 
Folge einfacher Abänderung damit zusammentreffen. Und noch 
mehr würden wir darauf geschlossen haben, weil die blaue 
Farbe und andren Zeichnungen so oft wiedererscheinen, wenn 
verschiedene Rassen von abweichender Färbung miteinander ge- 
kreutzt werden. Obwohl es daher in der freien Natur gewöhn- 
lich zweifelhaft bleibt, welche Fälle als Rückkehr zu alten Stamm- 
Charakteren und welche als neue analoge Abänderungen zu be- 
trachten sind, so müssen wir doch nach meiner Theorie zuweilen 


173 


finden, dass die abändernden Nachkommen einer Art (seye es 
nun durch Rückkehr oder durch analoge Variation) Charaktere 
annehmen, welche schon in einigen andern ‚Gliedern derselben 
Gruppe vorhanden sind. Das ist zweifelsohne in der Natur der Fall. 

Ein grosser Theil der Schwierigkeit eine veränderliche Art in 
unsren systematischen Werken  wiederzuerkennen, rührt davon 
her, dass ihre Varietäten gleichsam einige der andern Arten der 
nämlichen Sippe nachahmen. Auch könnte man ein ansehnliches 
Verzeichniss von Formen geben, welche das Mittel zwischen 
zwei andern Formen halten, von welchen es zweifelhaft ist, ob 
sie als Arten oder als Varietäten anzusehen seyen; und daraus 
ergibt sich, wenn man. nicht alle diese Formen als unabhängig 
erschaffene Arten ansehen will, dass die eine durch Abänderung 
die Charaktere der andern so weit angenommen hat, um hie- 
durch eine Mittelform zu bilden. Aber der beste Beweis bietet sich 
dar, indem Theile oder Organe von wesentlicher und einförmiger 
Beschaffenheit zuweilen so abändern, dass sie einigermaassen den 
Charakter desselben Organes oder Theiles in einer verwandten 
Art annehmen. Ich habe ein langes Verzeichniss von solchen 
Fällen zusammengebracht, kann solches aber leider hier nicht 
mittheilen, sondern bloss wiederholen, dass solche Fälle vor- 
kommen und mir sehr merkwürdig zu seyn scheinen, 

Ich will jedoch einen eigenthümlichen und zusammenge- 
setzten Fall anführen, der zwar keinen wichtigen Charakter be- 
trifft, aber in verschiedenen Arten einer Sippe theils im Natur- 
und theils im gezähmten Zustande vorkommt. Es ist offenbar 
ein Fall von Rückkehr. Der Esel hat manchmal sehr deutliche 
Queerbinden auf seinen Beinen, wie das Zebra. Man hat ver- 
sichert, dass diese beim Füllen am deutlichsten zu sehen sind, 
und meine ‚Nachforschungen scheinen Solches zu bestätigen. 
Auch hat man versichert, der Streifen an der Schulter seye zu- 
weilen doppelt. Der Schulter-Streifen ist jedenfalls sehr verän- 
derlich in Länge und Umriss. Man hat auch einen weissen Esel, 
der kein Albino ist, ohne Rücken- und Schulter - Streifen be- 
schrieben; und diese Streifen sind auch bei dunkel-farbigen Thie- 
ren zuweilen sehr undeutlich oder gar nicht zu sehen. Der Kulan 


174 


von Paızas soll mit einem doppelten Schulter-Streifen gesehen 
worden seyn. Der Hemionus hat keinen Schulter-Streifen; doch 
kommen nach Bıyrws u. A. Versicherung zuweilen Spuren davon 
vor, und Colonel PooLE hat mich benachrichtigt, dass die Füllen 
dieser Art zuweilen an den Beinen und schwach an der Schulter 
gestreift sind. ‘Das Quagga, obwohl am Körper eben so deutlich 
gestreift als das Zebra, ist ohne Binden an den Beinen; doch hat 
Dr. Gray ein Individuum’ mit sehr deutlichen denen des Zebras 
ähnlichen Binden an den Beinen abgebildet. 

Was das Pferd betrifft, so habe ich in England Fälle vom 
Vorkommen des Rücken-Streifens bei den verschiedensten Rassen 
und allen Farben gesammelt. Beispiele von Queerbinden auf den 
Beinen sind nicht selten bei Braunen, Mäusebraunen und ein- 
mal bei’ einem Kastanienbraunen vorgekommen. Auch ein schwa- 
cher Schulter-Streifen tritt zuweilen bei Braunen 'auf, und eine 
Spur davon habe ich an einem Beerbraunen gefunden. Mein 
Sohn hat mir eine sorgfältige Untersuchung und Zeichnung von 
einem braunen Belgischen Karren-Pferde mitgetheilt mit einem 
doppelten Streifen auf der Schulter und mit Streifen an den 
Beinen; und ein Mann, auf welchen ich vollkommen vertrauen 
kann, hat für mich einen kleinen braunen Walliser Pony mit‘ drei 
kurzen gleichlaufenden Streifen auf jeder Schulter untersucht. 

Im nordwestlichen Theile Ostindiens ist die Kattywarer Pferde- 
Rasse so allgemein ‚gestreift, dass, wie ich von Colonel Pooı£ ver- 
nehme, welcher dieselbe im Auftrag der Regierung untersuchte, ein 
Pferd ohne Streifen nicht für Vollblut angesehen wird. Der Rückgrat 
ist immer gestreift; die Streifen auf den Beinen sind wie der Schul- 
ter-Streifen, welcher zuweilen doppelt ‚und selbst dreifach isi, ge- 
wöhnlich vorhanden; überdiess sind die Seiten des Gesichts zuwel- 
len: gestreift. Die Streifen sind beim Füllen am deutlichsten und 
verschwinden zuweilen im Alter. Poore hat ganz junge sowohl graue 


als beer-braune Füllen gestreift gefunden. Auch habe ich nach Mit- 
theilungen, welche ich Herrn W. W. Eowarns verdanke, Grund zu 
vermuthen, dass an Englischen Rennpferden der Rücken-Streifen 
häufiger an Füllen, als an alten Pferden vorkommt, Ohne hier 
in Einzelnheiten noch weiter einzugehen, will ich anführen, dass 


175 


ich Fälle, von’ Bein-ı und ‚Schulter-Streifen' "bei ‘Pferden : von: ganz 
verschiedenen Rassen: in verschiedenen: Gegenden gesammelt: habe 
von’ England: bis Ost-China: und von Norwegen im Norden bis 
zum -Malayischen 'Archipel im Süden. In allen Theilen der Welt 
komnıen.\.diese. ‚Streifen weitaus am öftesten an » Braunen und 
Mäusebraunen vor. : Unter ‚Braun schlechthin (»Dan«)  begreife 
ich, hier ‚Pferde! mit ‚einer langen: Reihe von Farben-Abstufungen, 
von, Schwarzbraun an.bis fast zum Rahmfarbigen *. 

“Ich ‚weiss, - dass Colonel Hawrron Snirm, der über diesen 
Gegenstand‘ geschrieben, ‚annimmt, unsre verschiedenen Pferde- 
Rassen rührten von verschiedenen Stamm-Arten: her, wovon eine, 
die des Braunen, gestreift gewesen, und alle oben-beschriebenen 
Streifungen: seyen, Folge. früherer Kreutzung mit dem ‘Braunen- 
Stamme. Jedoch. fühle ich mich durch diese Theorie : in kei- 
ner Weise „befriedigt und möchte sie nicht auf: so: verschiedene 
Rassen in Anwendung bringen, wie das Belgische' Karren-Pferd; 
der Walliser Pony, der Renner, die schlanke Kattywar-Rasse u. a., 
die: in den verschiedensten Theilen der :Welt zerstreut sind. 

Wenden. wir uns nun zu den Folgen der Kreutzung zwischen 
den verschiedenen. ‚Arten der Pferde-Sippe: Rorzın versichert, 
dass. .der.. gemeine Maulesel, ‚ von Esel ‘und. Pferd , sehr oft 
Queerstreifen. auf,,.den Beinen: hat, und nach Gosse kommt 
Diess in’ den. Vereinten, Staaten in. zehn Fällen neunmal: vor. 
Ich. ‚sah; einst, einen Maulesel mit so stark  gestreiften Beinen, 
dass jedermann: geneigt gewesen seyn würde ihn vom Zebra ab- 
zuleiten;; und „Herr. W..C. Marrın hat in seinem: vorzüglichen 
Werke, über das ‚Pferd die Abbildung von einem ähnlichen  Maul- 
esel ;mitgetheilt. . In \vier ‚in Farben ausgeführten Bildern von 
Bastarden des Esels ‚mit. ' dem. Zebra. fand ich: die «Beine viel 
deutlicher ‘gestreift als den. übrigen Körper‘, und in einem der- 
selben war. ein doppelter. Schulter-Streifen vorhanden. An Lord 
Morton s berühmtem ‚Bastard von einem Quagga-Hengst und einer 
kastanienbraunen ‚Stute sowie an einem nachher erzielten reinen 


* Wie sie nämlich als Grund-Farben der verschiedenen Equus-Arten 
in der Natur vorkommen. Man könnte also etwa sagen natürliche Pferde- 
Farben. D. Übrs. 


176 


Füllen von derselben Stute mit einem schwarzen Araber waren 
die Beine viel deutlicher queer-gestreift, als selbst beim reinen 
Quagga. Kürzlich, und Diess ist ein andrer sehr merkwürdiger 
Fall, hat Dr. Gray (dem noch ein zweites Beispiel dieser Art 
bekannt ist) einen Bastard von Esel und Hemionus abgebildet, 
an welchem Bastard, obwohl der Esel selten und der Hemionus 
niemals Streifen auf den Beinen und letzter nicht einmal einen 
Schulter-Streifen hat, alle vier Beine queer gestreift und auch 
die Schulter mit drei Streifen wie ein brauner Walliser Pony 
versehen ist, und sogar einige Streifen wie beim Zebra an den 
Seiten des Gesichts vorhanden sind. Diese letzte Thatsache hat 
mich überzeugt, dass nicht einmal ein Farben-Streifen durch so- 
genannten Zufall entsteht, daher ich allein durch diese Erscheinung 
an einem Bastarde von Esel und Hemionus veranlasst wurde, 
Colonel PooLe zu fragen, ob solche Gesichts-Streifen jemals bei 
‚der stark gestreiften Kattywarer Pferde-Rasse vorkommen, was 
er, wie wir oben gesehen, bejahete. 

Was bleibt uns nun zu diesen verschiedenen Thatsachen 
noch zu sagen? Wir sehen mehre wesentlich verschiedene Arten 
der Pferde -Sippe durch einfache Abänderung Streifen an den 
Beinen wie beim Zebra oder an der Schulter wie beim Esel er- 
langen. Beim Pferde sehen wir diese Neigung stark hervor- 
treten, so oft eine der natürlichen Pferde-Farben zum Vorschein - 
kommt. Das Aussehen der Streifen ist von keiner Veränderung 
der Form und von keinem neuen Charakter begleitet. Wir sehen 
diese Neigung streifig zu werden sich am meisten bei Bastarden 
zwischen mehren der von einander verschiedensten Arten ent- 
wickeln. Vergleichen wir damit den vorhergehenden Fall von 
den Tauben: sie rühren von einer Stamm-Art (mit 2 — 3 geo- 
graphischen Varietäten oder Unterarten) her, welche blaulich von 
Farbe und mit einigen bestimmten Band - Zeichnungen versehen 
ist, und nehmen, wenn eine ihrer Rassen in Folge einfacher 
Abänderung wieder einmal eine blaue Brut liefert, unfehlbar auch 
jene Bänder der Stamm-Form wieder an, doch ohne irgend eine 
andre Veränderung des Rasse-Charakters. Wenn man die ältesten 
und ächtesten Rassen von verschiedener Färbung mit einander 


4 


177 


kreutzt, so tritt in den Blendlingen eine starke Neigung hervor, 
die ursprüngliche schieferblaue Farbe mit den schwarzen und 
weissen Binden und Streifen wieder anzunehmen. Ich habe be- 
hauptet, die wahrscheinlichste Hypothese zur Erklärung des 
Wiedererscheinens sehr alter Charaktere seye die Annahme einer 
„Tendenz« in den Jungen einer jeden neuen Generation den 
längst verlorenen Charakter wieder hervorzuholen, welche Tendenz 
in Folge unbekannter Ursachen zuweilen zum Durchbruch komme. 
Dann haben wir gesehen, dass in verschiedenen Arten des 
Pferde-Geschlechts die Streifen bei den Jungen deutlicher oder 
gewöhnlicher als bei den Alten sind. Wollte man nun die 
Tauben-Rassen, deren einige schon Jahrhunderte lang durch reine 
Inzucht fortgepflanzt worden, als Spezies bezeichnen, so wäre 
die Erscheinung genau dieselbe, ‚wie bei der Pferde-Sippe. Über 
Tausende und Tausende von Generationen rückwärts schauend 
erkenne ich mit Zuversicht ein wie ein Zebra gestreiftes, aber 
sonst vielleicht sehr abweichend davon gebautes Thier als den 
gemeinsamen Stamm-Vater des (rühre es nun von einem oder 
von mehren wilden Stämmen her) Hauspferdes, des Esels, des 
Hemionus, des Quaggas und des Zebras. 

Wer an die unabhängige Erschaffung der einzelnen Pferde- 
Spezies glaubt, wird vermuthlich sagen, dass einer jeden Art die 
Neigung im freien wie im gezähmten Zustande auf so eigen- 
thümliche Weise zu variiren anerschaffen worden seye, derzu- 
folge sie oft wie andre Arten derselben Sippe gestreift erscheine; 
und dass einer jeden derselben eine starke Neigung anerschaffen 
seye bei einer Kreutzung mit Arten aus den entferntesten 
Weltgegenden Bastarde zu liefern, welche in der Streifung 
nicht ihren eignen Ältern,. sondern andern Arten derselben Sippe 
gleichen*. Sich zu dieser Ansicht bekennen heisst nach meiner 


# Nach der Acassız’schen Lehre von den embryonischen Charakteren würde 
man diese Streifung, wie die weissen Flecken in der Hirsch-Sippe, als einen 
embryonischen Charakter ansehen und sagen, dass Zebra, Quagga etc. dem 
Pferde gegenüber auf tieferer Stufe zurückgeblieben seyen und embryonische 
Charaktere behalten haben, wie der Damhirsch gegenüber dem Edelhirsch. 

| D. Übrs. 
12 


178 


Meinung eine thatsächliche für eine nicht, thatsächliche . oder 
wenigstens ‚unbekannte Ursache auigeben. Sie macht aug den 
Werken Gottes nur Täuschung und Nachäfferei; — und ich wollte 
fast eben so gerne mit den alten und unwissenden Kosmognis- 
ten annehmen, dass die fossilen Schaalen nie einem lebenden 
Thiere angehört, sondern im Gesteine erschaffen worden seyen, 
um die jetzt an der See-Küste lebenden Schaalthiere, nach- 
zuahmen. 

Zusammenfassung.) Wir sind in tiefer Unwissenheit 
über die Gesetze, wornach Abänderungen erfolgen. Nicht in einem 
von hundert Fällen dürfen wir behaupten den Grund zu kennen, 
warum dieser oder jener Theil eines Organismus von dem gleichen 
Theile bei seinen Ältern mehr oder weniger abweiche, Doch, wo- 
immer wir die Mittel haben eine Vergleichung anzustellen, da 
scheinen in Erzeugung geringerer Abweichungen zwischen Varie- 
täten derselben Art wie in Hervorbringung grössrer Unterschiede 
zwischen Arten einer Sippe die nämlichen Gesetze gewirkt zu ha- 
ben. Die äusseren Lebens-Bedingungen, wie Klima, Nahrung u. dgl. 
haben wohl nur einige geringe Abänderungen bedingt. We- 
sentlichere Folgen dürften Angewöhnung auf die Körper-Kon- 
stitution, Gebrauch der Organe auf ihre Verstärkung, Nicht- 
gebrauch auf ihre Schwächung und Verkleinerung gehabt ha- 
ben. Homologe Theile sind geneigt auf gleiche Weise abzu- 
ändern und streben unter sich zusammenzuhängen. Abänderungen 
in den harten und in ‘den: äusseren Theilen berühren zuweilen 
weichere und innere Organe. Wenn sich ein Theil stark enl- 
wickelt, strebt er vielleicht andren benachbarten Theilen Nahrung 
zu entziehen; — und jeder Theil des organischen Baues, welcher 
ohne Nachtheil für 'das Individuum . fortbesteben kann, wird er- 
halten. Eine Veränderung der Organisation in frühem Alter be- 
rührt auch die sich später entwickelnden Theile; denn gibt es 
aber noch viele Wechselbeziehungen der Entwickelung, deren 
Natur wir durchaus nicht im Stande sind zu begreifen. Viel- 
zählige Theile sind veränderlicher in Zahl und Struktur, vielleicht 
desshalb, weil dieselben durch Natürliche Züchtung für einzelne ' 
Verrichtungen noch nicht genug angepasst und differenzirt sind. 


179 


"Aus demselben ‘Grunde’ werden wahrscheinlich auch die auf tiefer 
Organisations-Stufe stehenden Organismen veränderlicher seyn, 
als die’ höher 'entwickelten und in allen Beziehungen mehr diffe- 
renzirten.: Rudimentäre Organe bleiben ihrer Nutzlosigkeit wegen 
von der Natürlichen' Züchtung unbeachtet und sind wahrscheinlich 
desshalb veränderlich,. Spezifische ' Charaktere, solche nämlich, 
welche erst’ seit der Abzweigung der verschiedenen Arten einer 
Sippe von einem gemeinsamen Stamm-Vater auseinander-gelaufen, 
sind verönderlicher als generische Merkmale , welche sich schon 
lange als solche‘ vererbt haben, ohne in dieser Zeit eine 
Abänderung zu‘ erleiden. Wir ‘haben hier nur auf die ein- 
zelnen noch veränderlichen Theile und Organe Bezug genommen, 
weil sie erst neuerlieh variirt haben und einander unähnlich ge- 
worden sind; 'wir haben jedoch schon im zweiten Kapitel ge- 
sehen, dass das nämliche Prinzip auch auf das ganze Thier an- 
wendbar ist; denn in einem Bezirke, wo viele Arten einer Sippe 
gefunden werden, d. h. wo früher viele Abänderung und Diffe- 
renzirung stattgefunden und die Fabrizirung neuer Arten-Formen 
lebhaft betrieben worden ist, da finden wir jetzt durchschnittlich 
auch die meisten Varietäten oder anfangenden Arten. — Sekun- 
däre Geschlechts-Charaktere sind sehr veränderlich, und solche 
Charaktere weichen am meisten in den Arten einer nämlichen 
Gruppe ab. Veränderlichkeit in denselben Theilen der Organi- 
sation hat: gewöhnlich die sekundären Sexual - Verschiedenheiten 
für die zwei Geschlechter einer Species wie die Arten-Verschie- 
denheiten für die mancherlei Arten der nämlichen Sippe geliefert. 
Ein in ausserordentlicher Grösse oder Weise entwickeltes Glied 


oder Organ — nämlich vergleichungsweise mit der Entwickelung 
desselben Gliedes oder Organes in den nächst-verwandten Arten 
genommen — muss seit dem Auftreten der Sippe ein ausser- 


ordentliches Maass von Abänderung durchlaufen haben, woraus 
wir dann auch begreiflich finden, warum dasselbe noch jetzt in 
höherem Grade als andre Theile Veränderungen unterliegt; denn 
Abänderung ist ein langsamer und lang-währender Prozess, und 
die Natürliche Züchtung wird in solchen Fällen noch nicht die 
Zeit gehabt haben, das Streben nach fernerer Veränderung und 


12* 


180 


nach der Rückkehr zu einem weniger modifizirten Zustande zu 
überwinden. Wenn aber eine Art mit irgend einem ausser- 
ordentlich entwickelten Organe Stamm vieler abgeänderter Nach- 
kommen geworden — was nach meiner Ansicht ein sehr lang- 
samer und daher viele Zeit erheischender Vorgang ist —, 
dann mag auch die Natürliche Züchtung im Stande gewesen 
seyn dem Organe, wie ausserordentlich es auch entwickelt seyn 
mag, schon ein festes Gepräge aufzudrücken. Haben Arten 
nahezu die nämliche Konstitution von einem Stamın-Vater geerbt 
und sind sie ähnlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen, so werden 
sie natürlich auch geneigt seyn, analoge Abänderungen zu bilden 
und werden zuweilen zu einigen der Charaktere ihrer frühesten 
Ahnen zurückkehren. Obwohl neue und wichtige Modifikationen 
aus dieser Umkehr und jenen analogen Abänderungen nicht hervor- 
gehen werden, so tragen solche Modifikationen doch zur Schön- 
heit und harmonischen Manchfaltigkeit der Natur bei. 

Was aber auch die Ursache des ersten kleinen Unterschiedes 
zwischen Ältern und Nachkommen seyn mag, und eine Ursache 
muss dafür da seyn, so ist es doch nur die stete Häufung solcher 
für das Individuum nützlichen Unterschiede durch die Natür- 
liche Züchtung, welche alle wichligeren Abänderungen der Struktur 
hervorbringt, durch welche die zahllosen Wesen unsrer Erd- 
Oberfläche in den Stand gesetzt werden mit einander um das 
Daseyn zu ringen, und wodurch das hiezu am besten ausgeslal- 


tele die andern überlebt. 


181 


Sechstes Kapitel. 
Schwierigkeiten der Theorie. 


Schwierigkeiten der Theorie einer abändernden Nachkommenschaft. Über- 
gänge. — Abwesenheit oder Seltenheit der Zwischenabänderungen. — 
Übergänge in der Lebensweise. — Differenzirte Gewohnheiten in einerlei 
Art. — Arten mit Sitten weit abweichend von denen ihrer Verwandten. — 
Organe von äusserster Vollkommenheit. -— Mittel der Übergänge. — 
Schwierige Fälle. — Natura non facit saltum. — Organe von geringer 
Wichtigkeit. — Organe nicht in allen Fällen absolut vollkommen. — Das 
Gesetz von der Einheit des Typus und den Existenz-Bedingungen enthalten 
in der Theorie der Natürlichen Züchtung. 

/ Schon lange bevor der Leser zu diesem Theile meines 
Buches gelangt ist, mag sich ihm eine Menge von Schwierigkeiten 
dargeboten haben. Einige derselben sind von solchem Gewichte, 
dass ich nicht an sie denken kann, ohne wankend zu werden; 
aber nach meinem besten Wissen sind die meisten von ihnen 
nur scheinbare, und diejenigen welche in Wahrheit beruhen, 
dürften meiner Theorie nicht verderblich werden. 

Diese Schwierigkeiten und Einwendungen lassen sich in 
folgende Rubriken zusammenfassen: Erstens: wenn Arten aus 
andern Arten durch unmerkbar kleine Abstufungen entstanden 
sind, waruın schen wir nicht überall unzählige Übergangs-Formen? 
Warum bietet nicht die ganze Natur ein Mischmasch von Formen 
statt der wohl begrenzt scheinenden Arten dar? 

Zweitens: Ist es möglich, dass ein Thier z. B. mit der Or- 
ganisation und Lebensweise einer Fledermaus durch Umbildung 
irgend eines andren Thieres mit ganz verschiedener Lebensweise 
entstanden ist? Ist es glaublich, dass Natürliche Züchtung einer- 
seits Organe von so unbedeutender Wesenheit, wie z. B. den 
Schwanz einer Giraffe, welcher als Fliegenwedel dient, und 
anderseits Organe von so wundervoller Struktur "wie das Auge 
hervorbringe, dessen, unnachahmliche Vollkommenheit wir noch 
kaum ganz begreifen. 

Drittens: Können Instinkte durch Natürliche Züchtung er- 
langt und abgeändert werden. Was sollen wir z. B. zu einem 
so wunderbaren Instinkte sagen, wie der ist, welcher die Biene 


182 


veranlasst Zellen zu bilden, durch welche die Entdeckungen 
tielsinniger Mathematiker praktisch vornweg genommen sind. 

Viertens: Wie ist, es zu begreifen, dass Spezies bei der 
Kreutzung miteinander unfruchtbar sind oder unfruchtbare Nach- 
kommen geben, während die Fruchtbarkeit gekreutzter Varietäten 
ungeschwächt bleibt. | 

Die zwei ersten ‚dieser. Hauptfragen ‚sollen. hier. ; und die 
letzten, Instinkt und Bastard-Bildung nämlich, in besondren Kapi- 
teln erörtert werden. 

Mangel oder Seltenheit vermittelnder Varie- 
täten.) Da Natürliche Züchtung nur ‚durch Erhaltung nützlicher 
Abänderungen wirkt, so. wird jede. neue, Form..in \einer schon 
vollständig bevölkerten Gegend streben ihre. ‚eignen. minder ver: 
vollkommneten' Ältern . so. ‚wie. alle andern minder 'vervollkomm- 
nete Formen, mit welchen sie in. Bewerbung kommt, zu. ersetzen 
und endlich zu. vertilgen. Natürliche Züchtung. geht, ‘wie wir 
gesehen, mit dieser Verrichtung Hand in Hand.. Wenn: wir‘ daher 
jede Spezies als Abkömmling.'von irgendeiner ‘andern ‚unbe- 
kannten Form betrachten, ‚so. werden Urstamm, und Übergangs- 
Formen gewöhnlich schon durch den Bildungs- und Vervollkomm- 
nungs-Prozess der neuen Form vertilgt seyn. 

Wenn nun aber dieser Theorie zufolge: zahllose Übergangs- 
Formen existirt haben müssen, warum. finden.‘ wir sie. nicht in 
unendlicher Menge. eingebettet. in. den Schichten ‚der\-Erd-Rinde? 
Es wird angemessener seyn, ‚diese Frage in ‚dem ‚Kapitel von 
der Unvollständigkeit. der geologischen Urkunden zu erörtern. 
Hier will ich nur anführen, . dass ich .die ‘Antwort hauptsächlich 
darin zu finden‘ glaube, dass jene Urkunden unvergleichlich min- 
der vollständig sind, als man ‚gewöhnlich annimmt, und: dass jene 
Unvoilständigkeit der ‚geologischen Urkunden hauptsächlich ‚davon 
herrührt, dass organische. Wesen keine sehr ‚grosse.‘ Tiefen des 
Meeres bewohnen, daher ihre Reste nur. von. solchen  ‚Sediment- 
Massen umschlossen und für künftige Zeiten: erhalten werden 
konnten, welche hinreichend dick und ausgedehnt gewesen, um 


einem ungeheuren Maasse spätrer Zerstörung. zu entgehen. Und 
solche Fossilien-führende Massen können sieh: nur da. ansammeln, 


183 


wo viele Niederschläge in seichten Meeren während langsamer 
Senkung des Bodens abgelagert werden. Diese Zufälligkeiten 
werden nur selten und nur nach ausserordentlich langen Zwischen- 
zeiten zusammentreffen. Während der Meeres-Boden in Ruhe oder 
in Hebung begriffen ist oder nur schwache Niederschläge slatt- 
finden, bleiben die Blätter unsrer geologischen Geschichtsbücher 
unbeschrieben. Die Erd-Rinde ist ein weites Museum, dessen 
naturgeschichtlichen Sammlungen aber‘ nur in einzelnen Zeitab- 
schnitten eingebracht worden sind, die unendlich weit auseinan- 
der liegen. 

Man kann zwar einwenden, dass, wenn einige nahe-ver- 
wandte Arten jetzt in einerlei Gegend beisammen wohnen, man 
gewiss viele Zwischenformen finden müsse. Nehmen wir einen 
einfachen Fall an. Wenn man einen Kontinent von Norden nach 
Süden durchreiset, so trifft man gewöhnlich von Zeit zu Zeit auf 
andre einander nahe verwandte ' oder stellvertretende Arten, 
welche offenbar ungefähr dieselbe Stelle in dem Natur-Haushalte 
des Landes einnehmen. Diese stellvertretenden Arten grenzen 
oft an einander oder greifen in ihr Gebiet gegenseitig ein, und wie 
die einen seltener und seltener, so werden die andern immer 
häufiger, bis sie einander ersetzen. Vergleichen wir diese Arten 
da, wo sie sich mengen, ıiteinander, so sind sie in allen Thei- 
len ihres Baues gewöhnlich noch eben so vollkommen von ein- 
ander unterschieden, als wie die aus der Mitte des Verbreitungs- 
Bezirks einer jeden entnommenen Muster. Nun sind aber nach 
meiner Theorie alle diese Arten von einem gemeinsamen Stamm- 
Vater ausgegangen und ist jede derselben erst durch den Modi- 
fikations-Prozess den Lebens-Bedingungen ihrer Gegend angepasst 
worden, hat dort ihren Urstamm sowohl als alle Mittelstufen 
zwischen ihrer ersten und jetzigen Form ersetzt und verdrängt, 
so dass wir jetzt nicht mehr erwarten dürfen, in jeder Gegend 
noch‘ zahlreiche Übergangs-Formen zu finden, obwohl dieselben 
existir haben müssen und ihre Reste wohl auch in die Erd- 
Schichten aufgenommen worden seyn mögen. Aber warum fin- 
den wir in den Zwischengegenden, wo doch die äusseren Lebens- 
Bedingungen einen Übergang’ von denen des einen in die des 


A u Pen v0D, Kin ir na 


184 


andren Bezirkes bilden, nicht auch nahe verwandte Übergangs- 
Varietäten Diese Schwierigkeit hat mir lange Zeit viel Kopt- 
zerbrechen verursacht; indessen glaube ich jetzt, sie lasse sich 
grossentheils erklären. 

Vor Allem sollten wir sehr vorsichtig mit der Annahme 
seyn, dass eine Gegend, weil sie jetzt zusammenhängend ist, 
auch schon seit langer Zeit zusammenhängend gewesen seye, Die 
Geologie veranlasst uns zu glauben, dass fast jeder Kontinent 
noch in der letzten Tertiär-Zeit in viele Inseln getheilt gewesen 
seye; und auf solchen Inseln getrennt können sich verschiedene 
Arten gebildet haben, ohne die Möglichkeit Mittelformen in den 
Zwischengegenden zu liefern. In Folge der Veränderungen 
der Land-Form und des Klimas mögen auch die jetzt zusammen- 
hängenden Meeres-Gebiete noch in verhältnissmässig später Zeit 
weniger zusammenhängend und einförmig gewesen seyn. Doch 
will ich von diesem Mittel der Schwierigkeit zu entkommen ab- 
sehen; denn ich glaube, dass viele vollkommen unterschiedene 
Arten auf ganz zusammenhängenden Gebieten entstanden sind, 
wenn ich auch nicht daran zweifle, dass die früher unterbrochene 
Beschaffenheit jetzt zusammenhängender Gebiete einen wesent- 
lichen Antheil an der Bildung neuer Arten zumal frei wandern- 
der und sich kreutzender Thiere gehabt habe. 

Hinsichtlich der jetzigen Verbreitung der Arten über weite 
Flächen finden wir, dass sie gewöhnlich ziemlich zahlreich auf 
einem grossen Theile derselben vorkommen, dann aber ziemlich 
rasch gegen die Grenzen hin immer seltener werden und end- 
lich ganz verschwinden; daher das neutrale Gebiet zwischen zwei 
stellvertretenden Arten gewöhnlich nur schmal ist im Verhältniss 
zu demjenigen, welches eine jede von ihnen eigenthümlich be- 
wohnt. Wir machen dieselbe Bemerkung auch, wenn wir an Ge- 
birgen emporsteigen, und zuweilen ist es sehr auffällig, wie plölz- 


lich, nach Arpuons DECAnDoLLE’s Beobachtung, eine gemeine Art in 
den Alpen verschwindet. Epw. Forses hat dieselbe Wahrneh- 
mung gemacht, als er die Bewohner des See-Grundes mit dem 
Schleppnetze herauf fischte. Diese Thatsache muss alle die- 
jenigen in Verlegenheit setzen, welche die ‚äusseren Lebens- 


185 


Bedingungen, wie Klima und Höhe, als die allmächtigen Ursachen 
der Verbreitung der Organismen-Formen betrachten, indem der 
Wechsel von Klima ‘und Höhe oder Tiefe überall ein allmählicher 
ist. Wenn wir uns aber erinnern, dass fast jede Art, mitten in 
ihrer Heimath sogar, zu unermesslicher Zahl anwachsen würde, 
wenn sie nicht in Mitbewerbung mit andern Arten stünde, — 
lass fast alle von andern Arten leben oder ihnen zur Nahrung 
dienen, — kurz dass jedes organische Wesen mittelbar oder 
unmittelbar in innigster Beziehung zu andern Organismen steht, 
so müssen wir erkennen, dass die Verbreitung der Bewohner 
einer Gegend keinesweges allein von der unmerklichen Verän- 
derung physikalischer Bedingungen, sondern grossentheils von 
der Anwesenheit oder Abwesenheit andrer Arten abhängt, von 
welchen sie leben, durch welche sie zerstört werden, oder mit 
welchen sie in Mitbewerbung stehen; und da diese Arten bereits 
eine bestimmte Begrenzung haben und nicht mehr unmerklich 
in einander übergehen, so muss die Verbreitung einer Spezies, 
welche von der einen oder andern abhängt, scharf umgrenzt wer- 
den. Überdiess muss jede Art an den Grenzen ihres Verbrei- 
tungs-Bezirkes, wo ihre Anzahl ohnediess geringer wird, durch 
Schwankungen in der Menge ihrer Feinde oder ihrer Beute ‘oder 
in den Jahreszeiten sehr oft einer gänzlichen Zerstörung ausge- 
setzt seyn, und es mag auch hiedurch die schärfere Umschreibung 
ihrer geographischen Verbreitung mit bedingt werden. 

Wenn meine Meinung richtig ist, dass verwandte oder stell- 
vertretende Arten, welche ein zusammenhängendes Gebiet be- 
wohnen, gewöhnlich so vertheilt sind, dass jede von ihnen eine 
weite Strecke einnimmt, und dass diese Strecken durch verhält- 
nissmässig enge neutrale Zwischenräume getrennt werden, in 
welchen jede Art rasch an Menge abnimmt, — dann wird diese 
Regel, da Varietäten nicht wesentlich von Arten verschieden sind, 
wohl auf die einen wie auf die andern Anwendung finden; und 
wenn wir in Gedanken eine veränderliche Spezies einem sehr gros- 
sen Gebiete anpassen, so werden wir zwei Varietäten jenen zwei 
grossen Untergebieten und eine dritte Varietät dem schmalen 
Zwischengebiete anzupassen haben. Diese Zwischen-Varietät wird, 


ae ee en in rc 


186 


weil sie einen geringeren Raum bewohnt, ‚auch in geringerer 
Anzahl vorhanden seyn; und in Wirklichkeit genommen passt 
diese Regel, so viel ich ermitteln kann, ganz gut auf. Varietäten 
im Natur-Zustande. Ich habe triftige Belege für diese Regel iu 
Varietäten von Balanus-Arten gefunden, welche zwischen ausge- 
prägteren Varietäten derselben das Mittel halten. Und ebenso 
scheint es nach den Belehrungen, die ich den Herren Warson, 
Asa Gray und Worrsston verdanke, dass gewöhnlich, wenn Mit- 
tel-Varietäten zwischen ‚zwei andren Formen vorkommen, sie der 
Zahl nach weit hinter jenen zurückstehen, die sie verbinden, 
Wenn wir nun diese Thatsachen und Belege als richtig anneh- 
men und daraus folgern, dass Varietäten, welche zwei andre 
Varietäten mit einander verbinden, gewöhnlich in geringerer An- 
zahl als diese letzten vorhanden waren, so dürfte man daraus 
auch begreifen, warum. Zwischenvarietäten keine lange Dauer 
haben und der allgemeinen Regel zufolge früher vertilgt werden 
und verschwinden müssen, als diejenigen Formen, welche sie 
ursprünglich mit einander verketten. 

Denn eine in geringerer Anzahl vorhandene Form wird, wie 
schon früher bemerkt worden, überhaupt mehr. als die in reich- 
licher Menge verbreiteten in Gefahr seyn ausgetilgt zu werden; 
und in diesem besondren Falle dürfte‘die Zwischenform vorzugs- 
weise den Angriffen der zwei nahe verwandten Formen zu ihren 
beiden Seiten ausgesetzt seyn. - Aber eine weit wichtigere Be- 
trachtung scheint mir die zu seyn, dass: während des Prozesses 
weitrer Umbildung, wodurch nach meiner Theorie zwei Varietä- 
ten zu zwei ganz verschiedenen Spezies erhoben werden, diese 
zwei Varietäten, soferne sie grössere. Flächen bewohnen, auch 
in grösserer Anzahl vorhanden sind und daher in grossem Vor- 
theile gegen die mittle Varietät stehen, welche in kleinrer An- 
zahl nur einen schmalen Zwischenraum bewohnt. Denn Formen, 
welche in grössrer Zahl bestehen, haben immer eine bessre Aus- 


sicht, als die gering-zähligen, innerhalb ‘einer gegebenen Periode 
noch andre nützliche Abänderungen zur Natürlichen Züchtung 
darzubieten. Daher in dem Kampfe um’s Daseyn die gemeineren 
Formen streben werden die selteneren zu verdrängen und zu 


187 


ersetzen, welche sich nur langsam abzuändern und zu vervollkomm- 
nen’ vermögen. Es scheint mir dasselbe Prinzip zu seyn, wor- 
nach, wie im zweiten Kapitel gezeigt worden, die gemeinen 
Arten einer‘ ‘Gegend durchschnittlich auch eine grössre Anzahl 
von Varietäten darbieten als die selteneren. Ich will nun, um 
meine Meinung besser zu erläutern, einmal annehmen, es handle 
sich um drei: Schaaf-Varietäten, von welchen eine für eine aus- 
gedehnte Gebirgs-Gegend, die zweite nur für einen verhältniss- 
mässig schmalen Hügel-Streifen und die dritte für weite Ebenen 
an.deren Fusse geeignet seye; ich will ferner annehmen, die Be- 
wohner: seyen alle mit gleichem Schick und Eifer bestrebt, ihre 
Rassen durch’ Züchtung zu verbessern, so wird in diesem Falle 
die Wahrscheinlichkeit des Erfolges ganz auf Seiten der grossen 
Heerden-Besitzer im Gebirge und in der Ebene seyn, weil diese 
ihre Rassen schneller als die kleinen in der schmalen hügeligen 
7Zwischenzone ' veredeln, so dass die verbesserte Rasse des 
Gebirges oder der Ebene bald die Stelle der minder verbesser- 
ten. Hügelland-Rasse einnehmen wird; und so werden die zwei 
Rassen, welche: anfänglich in grosser Anzahl existirt haben, in 
unmittelbare Berührung mit einander kommen ohne fernere Ein- 
schaltung der Zwischen-Rasse. | 
In Summe: glaube ich, dass Arten leidlich gut umschrieben 
seyn können, ohne zu irgend einer Zeit ein unentwirrtes Chaos 
veränderlicher und vermittelnder Formen darzubieten: 1) weil sich 
neue Varietäten nur sehr langsam bilden, indem Abänderung 
ein"änsserst träger Vorgang ist und Natürliche Züchtung so lange 
nichts ‘auszurichten vermag, als’ nicht günstige Abweichungen 
vorkommen und nicht‘ ein Platz im Natur-Haushalte der Gegend 
durch ‘Modifikation eines oder des andern ihrer Bewohner besser 
ausgefüllt werden kann. Und solche neue Stellen werden von 
langsamen Veränderungen des Klimas oder der zufälligen Ein- 
wanderung neuer Bewohner und, in wahrscheinlich viel höherem 
Grade, davon ‘abhängen, dass einige von den alten Bewohnern 
langsam abgeändert werden, während jene neu hervor gebrachten 
und eingewanderten Formen mit einigen alten in Wechselwir- 
kung gerathen; ‘daher wir in jeder Gegend und zu jeder Zeit 


a Ga a u 


188 


nur wenige Arten zu sehen bekommen, welche geringe einiger- 
ınassen bleibende Modifikationen der Organisation darbieten. Und 
Diess sehen wir auch sicherlich so. 

Zweitens : viele jetzt zusammenhängende Bezirke ‘der Erd- 
Oberfläche müssen noch in der jetzigen Erd-Periode in verschie- 
dene Theile getrennt gewesen seyn, worin viele Formen zumal 
sich paarender und wandernder Thiere ganz von einander geschie- 
den sich weit genug zu differenziren vermochten, um als Spe- 
zies gelten zu können. Zwischen- Varietäten zwischen diesen 
Spezies und ihrer gemeinsamen Stamm-Form müssen wohl vor- 
dem in jedem dieser Bruchtheile des Bezirkes gewesen seyn, 
sind aber später durch Natürliche Züchtung ersetzt und ausge- 
tilgt worden, so dass sie lebend nicht mehr vorhanden sind. 

Drittens: Wenn zwei oder mehre Varietäten in den ver- 
schiedenen Theilen eines zusammenhängenden Bezirkes gebildet 
worden sind, so werden wahrscheinlich auch Zwischen-Varietäten 
in den schmalen Zwischenzonen entstanden seyn, aber nicht lange 
gewährt haben. Denn diese Zwischen-Varietäten werden aus 
schon entwickelten Gründen (und namentlich, was wir über die 
jetzige Verbreitung einander nahe-verwandter Arten und ausge- 
bildeter Varietäten wissen) in den Zwischenzonen in geringrer 
Anzahl, als die Haupt-Varietäten, die sie verbinden, in deren 
eigenen Bezirken vorhanden seyn. Schon aus diesem Grunde 
allein werden die Zwischen-Varietäten gelegentlicher Vertilgung 
ausgesetzt seyn, werden aber zuverlässig während des Prozesses 
weitrer Modifikation von den Formen, welche sie mit einander 
verketten, meistens desshalb verdrängt und ersetzt werden, weil 
diese ihrer grösseren Anzahl wegen mehr abändern und daher 
leichter durch Natürliche Züchtung noch weiter verbessert und 
dadurch gesichert werden können. 

Letztens müssen, nicht bloss zu einer sondern zu allen _ 
Zeiten, wenn meine Theorie richtig ist, gewiss auch zahllose 
Zwischen-Varietäten zu Verbindung der Arten einer nämlichen 
Gruppe ınit einander existirt haben, aber auch gerade der Prozes$ 
der Natürlichen Züchtung fortwährend thätig gewesen seyn, S0- 
wohl deren Stamm-Formen als die Mittelglieder selbst zu vertil- 


189 


gen. Daher ein Beweis ihrer früheren Existenz ‚höchstens noch 
unter den Fossil-Resten der Erd-Rinde gefunden werden könnte, 
welche aber diese Urkunden früherer Zeiten, wie in einem spä- 
teren Abschnitte gezeigt werden soll, nur in sehr unvollkomme- 
ner und unzusammenhängender Weise aufzubewahren geeig- 
net ist. 

Entstehung und Übergänge von Organismen mit 
eigenthümlicher Lebens-Weise und Organisation.) Geg- 
“ner meiner ‘Ansichten haben mir die Frage entgegengehalten, 
wie denn z. B. ein Land-Raubthier in ein Wasser-Raubthier habe 
verwandelt werden können, da ein Thier in einem Zwischenzu- 
stande nicht wohl zu bestehen vermocht hätte? Es würde leicht 
seyn zu zeigen, dass innerhalb derselben Raubthier-Gruppe Thiere 
vorhanden sind, welche jede Mittelstufe zwischen einfachen Land- 
und ächten Wasser-Thieren einnehmen und daher durch ihre ver- 
schiedene Lebens-Weise ‘wohl geeignet sind, in dem Kampfe mit 
andern um’s Daseyn ihre Stelle zu behaupten. So hat z. B. die 
nordamerikanische Mustela vison eine Schwimmhaut zwischen den 
Zehen und gleicht dem Fischotter in Pelz, kurzen Beinen und 
Form des Schwanzes. Den Sommer hindurch taucht dieses Thier 
ins Wasser und nährt sich von Fischen; während des langen 
Winters aber verlässt es die gefrorenen Gewässer und lebt 
gleich andern Iltissen von Mäusen und Landthieren. Hätte man 
einen andern Fall gewählt und mir die Frage gestellt, auf welche 
Weise ein Insekten-fressender Vierfüsser in eine fliegende Fle- 
dermaus verwandelt worden seye, so wäre der Fall weit schwie- 
riger und würde ich eine Antwort nicht zu geben gewusst haben. 
Doch haben nach meiner Meinung solche einzelne Schwierigkei- 
ten kein allzugrosses Gewicht. 

Hier wie in anderen Fällen befinde ich mich in dem gros- 
sen Nachtheil, aus den vielen treffenden Belegen, die ich gesam- 
melt habe, nur ein oder zwei Beispiele von einem Übergang der 
Lebens-Weise und Organisation zwischen nahe verwandten Arten 
einer Sippe und von vorübergehend oder bleibend veränderten 
. Gewohnheiten einer nämlichen Spezies anführen zu können. Und 
es scheint mir selbst, dass nichts weniger als ein langes Ver- 


a ae Fa ua ag - 


190 


zeichniss solcher Beispiele genügend seye, die Schwierigkeiten 
der Erklärung eines so eigenthümlichen Falles zu beseitigen, wie 
der von der Fledermaus ist. 

Sehen wir uns in der Familie der Eichhörnchen um, so fin- 
den wir da die erste schwache Übergangs-Stufe zu den sogen. 
fliegenden Fledermäusen angedeutet in dem zweizeilig abgeplat- 
teten Schwanze der einen und, nach J. Rıcnarpson’s Bemerkung, 
in dem verbreiterten. Hintertheile und der volleren Haut an den 
Seiten des Körpers der andern Arten; denn bei Flughörnchen 
sind die Hintergliedmassen und selbst der Anfang des Schwan- 
zes durch eine ansehnliche Ausbreitung der Haut mit einander 
verbunden, welche als Fallschirm dient und diese Thiere befähigt, 
auf erstaunliche Entfernungen von einem Baume zum andern 
durch die Luft zu gleiten. Es ist kein Zweifel, dass jeder Art 
von Eichhörnchen in deren Heimath jeder "Theil dieser eigen- 
thümlichen Organisation nützlich ist, indem er sie in den Stand 
setzt den Verfolgungen der Raubvögel oder andrer Raubthiere 
zu entgehen, reichlichere Nahrung einzusammeln und zweifels- 
ohne auch die Gefahr jeweiligen Fallens zu vermindern. Daraus 
folgt aber noch nicht, dass die Organisation eines jeden Eich- 
hörnchens auch die bestmögliche für alle natürlichen Verhältnisse 
seye. Gesetzt, Klima und Vegetation verändern sich, neue Nage- 
thiere treten als Mitwerber auf, und neue Raubthiere wandern 
ein oder alte erfahren eine Abänderung, so müssten wir aller 
Analogie nach auch vermuthen, dass wenigstens einige der Eich- 
hörnchen sich an Zahl vermindern oder ganz aussterben werden, 
wenn ihre Organisation nicht ebenfalls in entsprechender Weise 
abgeändert und verbessert wird: Daher 'ich‘, zumal bei einem 
Wechsel der äussern .Lebens-Bedingungen, keine Schwierigkeit 
für die Annahme finde, dass Individuen mit immer vollerer Sei- 


ten-Haut vorzugsweise dürften erhalten werden, weil dieser Cha- 
rakter erblich und jede Verstärkung desselben nützlich ist, bis 
durch Häufung aller einzelnen Effekte dieses Prozesses natür- 
licher Züchtung aus dem Eichhörnchen endlich ein Flughörnehen 
geworden ist. 

Sehen wir nun den fliegenden Lemur oder den Galeopithe- 


191 


cus an, welcher vordem irriger Weise zu den Fledermäusen ver- 
setzt worden ist. Er hat’ eine sehr breite Seitenhaut, welche 
von den Hinterenden der Kinnladen bis zum Schwanze erstreckt 
die Beine und verlängerten Finger einschliesst, auch mit einem 
Ausbreiter-Muskel versehen ist. Obwohl jetzt keine vermitteln- 
den Zwischenstufen zwischen den gewöhnlichen Lemuriden und 
dem durch die Luft gleitenden Galeopithecus vorhanden sind, so 
sehe ich ‘doch keine Schwierigkeiten für die Annahme, dass 
solche Zwischenglieder einmal existirt und sich auf ähnliche 
Art von Stufe zu Stufe entwickelt haben, wie oben die zwi- 
schen den Eich- und Flug-Hörnchen, indem jeder weitre Schritt 
zur Verbesserung der Organisation in dieser Richtung für den 
Besitzer von Nutzen war. Auch kann ich keine. unüberwindliche 
Schwierigkeit erblicken weiter zu unterstellen, dass sowohl der 
Vorderarm als die durch’ die Flughaut verbundenen Finger des 
Galeopithecus sich in Folge Natürlicher Züchtung allmählich ver- 
längert haben, und Diess würde genügen denselben, was die 
Flugwerkzeuge betrifft, in eine Fledermaus zu verwandeln. Bei 
jenen Fledermäusen, deren Flughaut nur von der Schulter bis, 
unter Einschluss’ der Hinterbeine, zum Schwanze geht, sehen wir 
vielleicht noch die Spuren einer Vorrichtung, welche ursprünglich 
mehr dazu gemacht war durch die Luft zu gleiten, als zu fliegen. 
Wenn etwa ein Dutzend eigenthümlich gebildeter Vogel- 
Sippen erloschen oder uns unbekannt geblieben wären, wie hät- 
ten wir nur die Vermuthung wagen dürfen, dass es jemals 
Vögel gegeben habe, welche gleich der Dickkopf-Ente (Micro- 
pterus Evrox’s) ihre Flügel nur wie Klappen zum Flattern über 
dem Wasserspiegel hin, oder gleich den Fettgänsen wie Ruder 
im Meere 'und wie Vorderbeinchen auf dem Lande, : oder gleich 
dem Strausse ‘wie Seegel zu Beförderung des Laufes gebrauch- 
ten, oder endlich gleich dem Apteryx gar nicht benützten. Und 
* doch ist die Organisation eines jeden dieser Vögel, unter den 
Lebens-Bedingungen, worin er sich befindet und um sein Daseyn 
kämpft, für ihn vortheilhaft, wenn auch nicht nothwendig die 
beste unter allen möglichen Einrichungen. Aus diesen Bemer- 
kungen soll übrigens nicht gefolgert werden, dass irgend eine 


Dh a a un hen be 1 


192 


der eben angeführten Abstufungen der Flügel-Bildungen, die 
vielleicht alle nur Folge des Nichtgebrauches sind, einer natür- 
lichen Stufen-Reihe angehöre, auf welcher emporsteigend die 
Vögel das vollkommene Flug-Vermögen erlangt haben; aber sie 
können wenigstens zu zeigen dienen, was für mancherlei Wege 
des Übergangs möglich sind. | 

Wenn man sieht, dass eine kleine Anzahl Thiere aus den 
Wasser-athmenden Klassen der Kruster und Mollusken zum Le- 
ben auf dem Lande geschickt sind; wenn man sieht,‘ dass es 
fliegende Vögel, fliegende Säugthiere, fliegende Insekten von den 
verschiedenarligsten Typen gibt und vordem auch fliegende 
Reptilien gegeben hat, so wird es auch begreiflich, dass fliegende 
Fische, welche jetzt mit Hilfe ihrer flatternden Brustflossen sich 
in schiefer Richtung über den See-Spiegel erheben und in wei- 
tem Bogen durch die Luft gleiten, allmählich zu vollkommen be- 
flügelten Thieren umgewandelt werden können. Und wäre Diess 
einmal bewirkt, wer würde sich dann je einbilden, dass sie in 
einer früheren Zeit Bewohner des offenen Meeres gewesen seyen 
und ihre beginnenden Flug-Organe, wie uns jetzt bekannt, 
bloss dazu gebraucht haben, dem Rachen andrer Fische zu ent- 
gehen. 

Wenn wir ein Organ zu irgend einem besondren Zwecke hoch 
ausgebildet sehen, wie eben die Flügel des Vogels zum Fluge, 
so müssen wir bedenken, dass solche Thiere auf der ersten Anfangs- 
Stufe dieser Bildung stehend selten die Aussicht hatten sich bis 
auf unsre Tage zu erhalten, eben weil sie durch den Vervoll- 
kommnungs-Prozess der Natürlichen Züchtung immer wieder von 
andren weiter fortgeschrittenen Formen ersetzt worden seyn müs- 
sen. Wir werden ferner bedenken, dass Übergangs-Stufen zwischen 
zu ganz verschiedenen Lebens-Weisen dienenden Bildungen in 
früherer Zeit selten in grosser Anzahl und mit mancherlei unter- 
geordneten Formen ausgebildet worden seyn mögen. Doch, um 
zu unsrem fliegenden Fische zurückzukehren, so scheint es nicht 
sehr glaublich, dass zu wirklichem Fluge belähigte Fische in vielerlei 
untergeordneten Formen zur Erhaschung von mancherlei Beute auf 
mancherlei Wegen, zu Wasser und Land entwickelt worden seyen, 


4193 


bis dieselben ein entschiedenes Übergewicht über andre Thiere im 
Kampf ums Daseyn erlangten. Daher die Wahrscheinlichkeit, Arten 
auf Übergangsstufen der Organisation noch im fossilen Zustande 
zu entdecken immer nur gering seyn wird, weil sie in geringerer 
Anzahl als die Arten mit völlig entwickelten Bildungen existirt haben. 

Ich will nun zwei oder drei Beispiele abgeänderter und aus- 
einander-gelaufener Lebensweisen bei Individuen einer nämlichen 
Art anführen. Vorkommenden Falles wird es der Natürlichen 
Züchtung leicht seyn, ein Thier durch irgend eine Abänderung 
seines Baues für seine veränderte Lebensweise oder ausschliess- 
lich für nur eine seiner verschiedenen Gewohnheiten geschickt 
zu machen. Es ist aber schwer und für uns unwesentlich 
zu sagen, ob im Allgemeinen zuerst die Gewohnheiten und 
dann die Organisation sich ändere, oder ob geringe Modifi- 
kationen des Baues zu einer Änderung der Gewohnheiten führen; 
wahrscheinlich ändern beide gleichzeitig ab. Was Änderung der 
Gewohnheiten betrifft, so würde es genügen auf die Menge 
Britischer Insekten-Arten zu verweisen, welche jetzt von auslän- 
dischen Pflanzen oder ganz ausschliesslich von Kunst-Erzeugnissen 
leben. Vom Auseinandergehen der Gewohnheiten liessen sich 
zahllose Beispiele anführen. Ich habe oft eine Südamertikanische 
Würger-Art (Saurophagus sulphuratus) beobachtet, als sie wie 
ein Thurmfalke über einem Fleck und dann wieder über einem 
andern schwebte und ein andermal steif am Rande des Wassers 
stund und dann plötzlich wie ein Eisvogel auf einen Fisch hinab- 
stürzte. In unsrer eignen Gegend sieht man die Kohlmeise (Parus 
major) bald fast wie. einen Baumläufer an den Zweigen herum 


klimmen, bald nach Art des Würgers kleine Vögel durch Hiebe 


auf den Kopf tödten; oft habe ich sie die Saamen des Eiben- 
baumes auf einem Zweige aufhämmern und dann wieder sie wie 
ein Nusshacker aufbrechen sehen. In Nord-Amerika schwimmt 
nach Hrarne’s Beobachtung der schwarze Bär bis vier Stunden 
lang mit weit geöffnetem Munde im Wasser umher, um fast nach 
Art der Wale Wasser-Insekten zu fangen. 


% = - * . ee - 
Diess Beispiel war in der ersten Auflage angeführt um zu zeigen, 
wie etwa ein Wal entstehen könne. D. Übrs. 


13 


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Ai da r 


194 


Da wir zuweilen Individuen Gewohnheiten befolgen sehen, 
welche von denen andrer Individuen ihrer Art und andrer Arten 
ihrer Sippe weit abweichen , so hätten wir. nach meiner Theorie 
zu erwarten, dass solche Individuen mitunter zur Entstehung 
neuer Arten mit abweichenden Sitten und einer mehr oder weniger 
modifizirten Organisation Veranlassung geben. Und solche: Fälle 
kommen in der Natur vor. Kann es ein treffenderes Bei- 
spiel von Anpassung geben, als den Specht, welcher an Bäumen 
umherklettert, um Insekten in den Rissen der Rinde aufzusuchen? 
Und doch gibt es in Amerika Spechte, welche grossentheils von 
Früchten leben, und andre mit verlängerten Flügeln ‚ welche In- 
sekten im Fluge haschen; und auf den Ebenen von. La Plata, 
wo nicht ein Baum wächst, gibt es einen Specht, welcher in 
allen Theilen seiner Organisation und selbst in seiner Färbung, 
seiner harten Stimme und seinem Wellen-förmigen Fluge die nahe 
Blutsverwandtschaft mit unseren gewöhnlichen Arten  verräth; 
aber es ist ein Specht, der in diesen Ebenen nie klettern kann. 

Sturmvögel sind unter allen Vögeln diejenigen, die am besten 
fliegen und am meisten an das hohe Meer gebunden sind; und 
doch gibt es in den ruhigen stillen Meerengen des Feuerlandes 
eine Art, Puffinuria Berardi, die nach ihrer Lebensweise im Allge- 
meinen, nach ihrer erstaunlichen Fähigkeit zu tauchen, nach ihrer 
Art zu schwimmen und zu fliegen, wenn sie gegen ihren Wil- 
len zu fliegen genöthigt wird, von Jedem für einen Alk oder 
Lappentaucher (Colymbus) gehalten werden würde; sie ist aber 
ihrem Wesen nach ein Sturmvogel nur mit einigen tief ein- 
dringenden Änderungen der Organisation. . Auf der andern 
Seite würde man «bei der genauesten Untersuchung des. Kör- 
pers der Wasseramsel (Cinclus) nicht die mindeste Spur von 
ihrer an’s Wasser gebundenen Lebensweise zu entdecken im 
Stande seyn. Und doch verschafft sich dieses so abweichende 
Glied der Drossel-Familie seinen ganzen Unterhalt nur durch 
Tauchen, durch Aufscharren des Gerölles mit seinen Füssen und 
durch Anwendung seiner Flügel unter Wasser. 

Wer glaubt, dass jedes Wesen so geschaffen worden sey®, 
wie wir es jetzt erblicken, muss schon manchmal überrascht ge- 


195 


wesen. seyn, ein Thier zu finden, dessen Organisation und Lebens- 
weise durchaus nicht ‘miteinander in Einklang stunden. Was 
kann klarer‘ seyn, als dass ‘die Füsse der Enten und Gänse mit 
der grossen Haut zwischen den Zehen zum Schwimmen gemacht 
sind? und doch gibt es Gänse mit solchen Schwimmfüssen, welche 
selten oder nie ins Wasser gehen; — und ausser AnpuBoN hat 
noch Niemand den  Fregattvogel, dessen vier Zehen durch eine 
Schwimmhaut verbunden sind, sich auf den Spiegel des 
Meeres niederlassen sehen. Andrerseits sind Lappentaucher und 
Wasserhühner ausgezeichnete Wasser-Vögel, und doch sind ihre 
Zehen nur mit einer Schwimmhaut gesäumt. Was scheint klarer 
zu seyn, als dass die langen Zehen der Sumpf-Vögel ihnen dazu 
gegeben sind, damit sie über Sumpf-Boden und schwimmende 
Wasser-Pflanzen hinwegschreiten können, und doch ist das Rohr- 
huhn (Ortygometra) fast eben so sehr Wasser-Vogel als das Wasser- 
huhn, und die Ralle fast eben so sehr Land-Vogel als die Wachtel 
oder das Feldhuhn. ‘Man kann sagen, der Schwimmfuss seye ver- 
kümmert in seiner Verrichtung, ‘aber nicht in seiner Form. Beim 
Fregattvogel ‘dagegen zeigt der tiefe Ausschnitt der Schwimm- 
haut‘zwischen ‘den Zehen, dass eine Veränderung der Fuss-Bil- 
dung begonnen hat. 

Wer an zahllose getrennte Schöpfungs-Akte glaubt, wird sa- 
gen, dass es in diesen Fällen dem Schöpier gefallen hat, ein 
Wesen von dem einen Typus für den Platz eines Wesens von 
dem: andren Typus zu bestimmen.  Diess scheint ‘mir aber 
wieder dieselbe Sache, nur in einer Würde-volleren Fassung. 
Wer an ‘den 'Kampf um’s Daseyn und an das Prinzip der 
Natürlichen Züchtung‘ glaubt, der wird anerkennen, dass jedes 
organische Wesen beständig nach Vermehrung seiner Anzahl 
strebt und dass, wenn es in Organisation oder Gewohnheiten auch 
noch so wenig 'variirt, aber hiedurch einen Vortheil über irgend 
einen andern Bewohner der Gegend erlangt, es dessen Stelle 
einnehmen kann, ‘wie verschieden dieselbe auch von seiner eig- 
nen bisherigen Stelle seyn mag.‘ Er wird desshalb nicht darüber 
erstaunt seyn, Gänse und Fregattvögel mit Schwimmfüssen zu 
sehen, wovon die’ einen auf dem trocknen Lande leben und die 

13* 


ln. ii Zi ” 


andern sich nur sehr selten auf's Wasser niederlassen, . oder 
langzekige Rohrhühner (Crex) zu finden, welche. auf; Wiesen 
statt in Sümpfen wohnen; oder dass es Spechte gibt, wo keine 
Bäume sind, dass Drosseln unters Wasser tauchen und ‚Sturm- 
vögel wie Alke leben. . 
Organe von äusserster Vollkommenbheit und Zu- 
sammengesetztheit.) Die Annahme, dass sogar das Auge 
mit allen seinen der Nachahmung unerreichbaren Vorrichtungen, 
um den Focus den manchlfaltigsten Entfernungen anzupassen, ver- 
schiedene Licht-Mengen zuzulassen und: die sphärische und chro- 
matische Abweichung zu verbessern, nur durch Natürliche Züchtung 
zu dem geworden seye, was es ist, scheint, ich will es offen 
gestehen, im höchsten möglichen Grade absurd zu seyn. Und doch 
sagt mir die Vernunft, dass, wenn zahlreiche Abstufungen von 
einem vollkommenen und zusammengesetzten bis zu einem ganz ein- 
fachen und unvollkommenen Auge, alle nützlich für ihren Besitzer, 
vorhanden sind, — wenn das Auge etwas zu variiren geneigt ist 
und seine Abänderungen erblich sind, was sicher der Fall.ist, 
_—_ wenn eine mehr und weniger beträchtliche Abänderung eines 
Organes immer nützlich ist für ein Thier, dessen äusseren Le- 
bens-Bedingungen sich ändern: dann scheint der Annahme, dass 
ein vollkommenes und zusammengesetztes Auge durch Natürliche 
Züchtung gebildet werden könne, doch keine wesentliche Schwie- 
rigkeit mehr entgegenzustehen, wie schwierig auch die, Vorstel- 
lung davon für unsre Einbildungskralt seyn mag. Die Frage, 
wie ein Nerv für Licht empfindlich werde, beunruhigt ‚uns 
schwerlich mehr, als die, wie das Leben selbst ursprünglich ent- 
stehe. Jedoch will ich bemerken, dass verschiedene Thatsachen 
mich zur Vermuthung bringen, dass jeder sensitive Nerv für 
Licht und ebenso für jene gröberen Schwingungen der Luft em- 
pfindlich gemacht werden könne, welche den Ton hervorbringen. 
Was die Abstufungen betrifft, mittelst welcher ein Organ in 
irgend einer Spezies vervollkommnet worden ist, so sollten 
“wir dieselbe allerdings nur in gerader Linie bei ihren Vor- 
gängern aufsuchen. Diess ist aber schwerlich jemals möglich, 
und wir sind jedenfalls genöthigt uns unter den Arten derselben 


197 


Gruppe, d. h. bei den Seitenverwandten. von gieicher Abstam- 
mung mit der ersten, umzusehen um zu erkennen, was für Ab- 
stufungen möglich ‚sind, und ob es wahrscheinlich, dass irgend 
welche Abstufungen von’ den ersten Stamm-Ältern an ohne alle 
oder mit nur geringer Abänderung auf die jetzigen Nachkommen 
übertragen worden seyen. Unter den jetzt lebenden Wirbel- 
thieren finden wir nur eine geringe ‚Abstufung in der Bildung 
des Auges (obwohl der Fisch Amphioxus ein sehr einfaches 
Auge ohne Linse besitzt), und an fossilen Wesen lässt sich keine 
Untersuchung mehr darüber anstellen. Wir hätten wahrscheinlich 
weit vor die üntersten Fossilien - führenden Schichten zurückzu- 
gehen, um die ersten Stufen der Vervollkommnung des Auges 
in diesem Kreise des Thier-Reichs zu entdecken. 

Im Unterreiche der Kerbthiere kann man von einem 
einfach mit Pigment überzogenen Sehnerven ausgehen, der oft 
eine Art Pupille bildet, aber ohne Krystall-Linse und sonstige 
optische Vorrichtung ist.: Von diesem Augen-Rudimente, welches 
etwa Licht von Dunkelheit, aber nichts weiter zu unterscheiden 
im ‚Stande ist, schreitet die Vervollkommnung in zwei Richtungen 
fort, welche J. MüLer von Grund aus verschieden glaubt; sie 
führt nämlich entweder 1) zu Stemmata oder sogen. »einfachen 
Augen« mit Krystall-Linse und Hornhaut versehen, oder 2) zu 
»„zusammengesetzten Augen«, welche allein oder hauptsächlich’ 
nur dadurch wirken, dass sie alle Strahlen, welche von irgend 
einem Punkte des gesehenen Gegenstandes kommen, bis auf 
denjenigen Strahlen-Büschel ausschliessen, welcher senkrecht auf 
die konvexe Netzhaut fällt. Diesen zusammengesetzten Augen 
nun mit Verschiedenheiten ohne Ende in Form, Verhältniss, Zahl 
und Stellung der durchsichtigen mit Pigment überzogenen Kegel, 
welche nur durch Ausschliessung wirken, gesellt sich bald noch 
eine mehr oder weniger vollkommne Konzentrirungs-Vorrichtung 
bei, indem in den Augen der Meloe z. B. die Facetten der Cor- 
nea aussen und innen etwas konvex, mithin Linsen - förmig 
werden. Viele Kruster haben «ine doppelte Gornea, eine äussre 
glatte und eine innre ‚in Facetten getheilte, in deren Substanz 
nach Miwne  Eowarns  »renflemens lenticulaires paraissent s etre 


198 


developpes«, und zuweilen lassew sich diese Linsen als eine be: 
sondre Schicht von der Cornea ablösen. Die durchsichtigen mit 
Pigment überzogenen Kegel, von welchen MürLkr angenommen, 
dass sie nur durch Ausschliessung divergenter Licht-Strahlen- 
büschel wirken, hängen gewöhnlich an der Cornea an,;' sind aber 
auch nicht selten davon abgesondert und zeigen eine konvexe 
äussre Fläche; sie müssen nach meiner Meinung in diesem Falle 
wie konvergirende Linsen wirken. Dabei ist die Struktur der 
zusammengesetzten Augen so manchfaltig, dass Mürter drei 
Hauptklassen derselben mit nicht weniger als sieben Unterab- 
theilungen nach ihrer Struktur annimmt. Er bildet eine vierte 
Hauptklasse aus den »zusammengehäuften Augen« oder Gruppen 
von Stemmata, welche nach seiner Erklärung den Übergang bil- 
den von den Mosaik-artig »zusammengesetzten Augen« ohne Kon- 
zentrations-Vorrichtung zu den Gesichts-Organen mit einer solchen, 

Wenn ich diese hier nur allzukurz und unvollständig ange- 
deuteten Thatsachen , welche zeigen, dass es schon unter den 
jetzt lebenden Kerbthieren viele stufenweise Verschiedenheiten 
der Augen-Bildung gibt, erwäge und ferner bedenke, wie 
klein die Anzahl lebender Arten im Vergleich zu den bereits 
erloschenen ist, so kann ich (wenn auch mehr als in andern 
Bildungen) doch keine allzugrosse Schwierigkeit für die Annahme 
finden, dass der einfache Apparat eines von Pigment umgebenen 
und von durchsichtiger Haut bedeckten Sehnerven durch Natürliche 
Züchtung in ein so vollkommenes optisches Werkzeug umge- 
wandelt worden seye, wie es bei den vollkommensten Kerbthie- 
ren gefunden wird. 

Wer nun weiter gehen will, wenn er beim Durchlesen dieses 
Buches findet, dass sich durch die Descendenz-Theorie eine grosse 
Menge von anderweitig unerklärbaren Thatsachen begreifen lasse, 
braucht kein Bedenken gegen die weitre Annahme zu haben, dass 
durch Natürliche Züchtung zuletzt auch ein so vollkommenes Ge- 
bilde, als das Adler-Auge ist, hergestellt werden könne, wenn 
ihm auch die Zwischenstufen in diesem Falle gänzlich unbekannt 
sind. Sein Verstand muss seine Einbildungs-Kraft überwinden. 
Doch habe ich selbst die Schwierigkeit viel zu gut gefühlt, als dass 


199 


ich mich 'einigermaassen darüber wundern könnte, wenn Jemand 
es gewagt findet, die Theorie der Natürlichen Züchtung bis 
zu einer so erstaunlichen Weite auszudehnen. 

Man kann kaum vermeiden, ‘das Auge mit einem Teleskop 
zu vergleichen. Wir wissen, dass dieses Werkzeug: durch lang- 
fortgesetzte Anstrengungen der höchsten menschlichen Intelligenz 
verbessert worden ist, und folgern natürlich daraus, dass das 
Auge seine Vollkommenheit durch einen etwas äbnlichen Prozess 
erlangt habe. Sollte aber diese Vorstellung nicht blos in der 
Einbildung beruhen? Haben wir ein Recht anzunehmen, der 
Schöpfer wirke vermöge intellektueller Kräfte ähnlich denen des 
Menschen? Wollten wir das Auge einem optischen Instrumente 
vergleichen, so müssten wir in Gedanken eine dieke Schicht eines 
durchsichtigen Gewebes annehmen, getränkt mit ‚Flüssigkeit und 
mil einem für Licht empfänglichen Nerven darunter, und dann 
unterstellen, dass jeder Theil dieser Schicht langsam aber unaus- 
gesetzt seine Dichte verändere, so dass verschiedene Lagen von 
verschiedener Dichte übereinander und in ungleichen Entler- 
nungen von einander entstehen, und dass auch die Oberflache einer 
jeden Lage langsam ihre Form ändre. Wir müssten ferner un- 
terstellen , ‚dass eine Kraft (die Natürliche Züchtung) vorhanden 
seye, welche beständig eine jede geringe zufällige Veränderung 
in den durchsichtigen Lagen genau beobachte und jede Abände- 
rung sorgfältig auswähle, die unter veränderten ‚Umständen in 
irgend einer Weise oder in irgend einem Grade ein deutlicheres 
Bild hervorzubringen geschickt wäre. Wir müssten unterstellen, 
jeder neue Zustand des Instrumentes werde mit einer Million 
vervielfältigt, und jeder werde so lange erhalten, bis ein bess- 
rer hervorgebracht seye, dann aber zerstört. Bei lehenden Kör- 
pern bringt Variation jene geringen Verschiedenheiten hervor, Ge- 
neration vervielfältigt sie in’s Unendliche und Natürliche Züchtung 
findet mit nie irrendem Takte jede Verbesserung zum Zwecke 
weiterer Vervollkommnung heraus. Denkt man sich nun diesen 
Prozess Millionen und Millionen Jahre lang und jedes Jahr an 
Millionen Individuen der manchfaltigsten Art fortgesetzt: sollte man 
da nicht erwarten, dass das lebende optische Instrument endlich 


200 


in demselben Grade vollkommener als das gläserne werden müsse, 
wie des Schöpfers Werke überhaupt vollkommner sind, als die 
des Menschen? 

Liesse sich irgend ein zusammengesetztes Organ nachweisen, 
dessen Vollendung nicht durch zahllose kleine aufeinander-folgende 
Modifikationen erfolgen könnte, so müsste meine Theorie unbe- 
dingt zusammenbrechen. Ich vermag jedoch keinen solchen Fall 
aufzufinden. Zweifelsohne bestehen viele Organe. deren Ver- 
vollkommnungs - Stufen wir nicht kennen, insbesondre bei sehr 
vereinzelt stehenden Arten, deren verwandten Formen nach 
meiner Theorie in weitem Umkreise erloschen sind. - So muss 
auch, wo‘ es sich um ein allen Gliedern eines Unterreichs 
gemeinsames Organ handelt, dieses Organ schon in einer 
sehr frühen Vorzeit gebildet worden seyn, weil sich nachher erst 
alle Glieder dieses Unterreichs entwickelt haben; und wenn wir die 
[rühesten Übergangs-Stufen entdecken wollten, welche das Organ 
zu durchlaufen hatte, so müssten wir uns bei den frühesten 
Anlangs-Formen umsehen, welche jetzt schon längst wieder er- 
loschen sind. 

Wir müssen uns wohl bedenken zu behaupten, ein Organ 
habe nicht durch stufenweise Veränderungen irgend einer Art 
gebildet werden können. Man könnte zahlreiche Fälle an- 
führen, wie bei den niederen Thieren ein und dasselbe Organ 
ganz verschiedene Verrichtungen besorgt: athmet doch und ver- 
daut und exzernirt der Nahrungskanal in, der Larve der Drachen- 
fliege wie in dem Fische Cobitis. Wendet man die Hydra wie 
einen Handschuh um, das Innere nach aussen, so verdaut die 
äussre Oberfläche und die innre athmet. In solchen Fällen hätte 
durch die Natürliche Züchtung ganz leicht ein Theil oder Organ, 
welches bisher zweierlei Verrichtungen gehabt hat, ausschliesslich 
nur für einen der beiden Zwecke ausgebildet und die ganze 
Natur des Thieres allmählich umgeändert werden können, wenn 


Diess für dasselbe von Anfang an nützlich gewesen wäre. Gewisse 
Pflanzen, wie namentlich einige Hülsen-Gewächse, Violaceen u. 4. 
bringen zwei Arten von Blüthen, die einen mit der ihrer Ordnung 
zustehenden Bildung, die andern verkümmert, aber zuweilen 


201 


fruchtbarer als die ersten. . Unterliesse nun eine solche Pflanze 
mehre Jahre lang Blüthen der ersten Art zu bringen, wie es ein 
in Frankreich eingeführtes Exemplar von Aspicarpa wirklich 
gethan, so würde in der That eine grosse und plötzliche Um- 
wandlung in der Natur der Pflanze eintreten. Zwei verschiedene 
Organe verrichten zuweilen miteinander einerlei Dienste in dem- 
selben Individuum, wie es z. B. Fische gibt mit Kiemen, womit 
sie die im Wasser vertheilte Luft einathmen, während sie zu 
gleicher Zeit atmosphärische Luft mit ihrer. Schwimmblase zu 
athmen im Stande sind, welche zu dem Ende durch einen Luft- 
gang mit dem Schlunde verbunden und innerlich von sebr Geläss- 
reichen Zwischenwänden durchzogen ist (Lepidosiren). In diesem 
Falle kann leicht eines von beiden Organen verändert und so 
vervollkommnet werden, dass es immer mehr die ganze Arbeit 
allein übernimmt, während das andre entweder zu einer neuen 
Bestimmung übergeht oder gänzlich verkümmert. 

Diess Beispiel von der Schwimmblase der Fische ist sehr 
belehrend, weil es uns die hoch-wichtige Thatsache zeigt, wie 
ein ursprünglich zu einem besondren Zwecke, zum Schwimmen 
nämlich, gebildetes Organ für eine ganz andre Verrichtung um- 
geändert werden kann, und zwar für die Athmung. Auch ist 
die Schwimmblase als ein Nebenbestandtheil für das Gehör-Organ 
mancher Fische mit verarbeitet worden, oder es ist (ich weiss 
nicht, welche Deutungs-Weise jetzt am allgemeinsten angenommen 
wird) ein Theil des Gehör-Organes zur Ergänzung der Schwimm- 
blase verwendet worden. Alle Physiologen geben zu, dass die 
Schwimmblase in Lage und Struktur »homolog« oder »ideal gleich« 
seye den Lungen höherer Wirbelthiere; daher die Annahme, 
Natürliche Züchtung habe eine Schwimmblase in eine Lunge oder 
ein ausschliessliches Athem-Organ verwandelt, keinem grossen 
Bedenken zu unterliegen scheint. 

Ich kann in der That kaum bezweifeln, dass alle Wirbel- 
thiere mit ächten Lungen auf dem gewöhnlichen Fortpflanzungs- 
Wege von einem alten unbekannten Urbilde mit einem Schwimm- 
Apparat oder einer Schwimmblase herstammen. So mag man 
sich, wie ich aus Professor Owen’s interessanter Beschreibung 


202 


dieser Theile entnehme, die sonderbare Thatsache erklären, wie 
es komme, dass jedes Theilchen von Speise und Trank, die wir 
zu uns nehmen, über die Mündung der Luftröhre weggleiten 
muss mit einiger Gefahr in die Lungen zu fallen, der sinnreichen 
Einrichtung ungeachtet, wodurch der Kehldeckel geschlossen wird, 
Bei den höheren Wirbelthieren sind die Kiemen gänzlich ver- 
schwunden, aber die Spalten an den Seiten des Halses und der 
Schlingen-förmige Verlauf der Arterien scheinen in dem Embryo 
des Menschen noch ihre frühere Stelle anzudeuten. Doch wäre 
es begreiflich gewesen, wenn die jetzt gänzlich verschwundenen 
Kiemen durch Natürliche Züchtung zu einem ganz anderen Zwecke 
umgearbeitet worden wären; wie nach der Ansicht einiger Natur- 
forscher, dass die Kiemen und Rückenschuppen gewisser Ringel- 
würmer mit den Flügeln und Flügeldecken der sechsfüssigen 
Insekten homolog sind, es wahrscheinlich wäre, dass Organe, 
die in sehr alter Zeit zur Athmung gedient, jetzt zu Flug-Organen 
umgewandelt seyen. | | 

Was den Übergang der Organe zu andern Funktionen betriftt, 
ist es so wichtig sich mit der Möglichkeit desselben vertraut zu 
machen, dass ich noch ein weitres Beispiel anführen will. Die 
gestielten Rankenlüsser (Cirripedes) haben zwei kleine Hautfalten, 
von mir Eier-Zügel cenannt, welche bestimmt sind, mittelst einer 
klebrigen Absonderung die Eier zurückzuhalten, so lange sie im 
Eiersack ausgebrütet werden. Diese Rankenfüsser haben: keine 
Kiemen, indem die ganze Oberfläche des Körpers und Sackes 
mit Einschluss der kleinen Zügel zur Athmung dient. Die Bala- 
niden oder sitzenden Cirripeden dagegen haben keine solche 
Zügel, indem die Eier lose auf dem Grunde des Sackes in der 
wohl geschlossenen Schaale liegen; aber sie haben grosse faltige 
Kiemen. Nun denke ich, wird Niemand bestreiten, dass die 
Eier-Zügel der einen Familie homolog mit den Kiemen der andern 
sind, wie sie denn auch in der That stufenweise in einander 
übergehen. Daher bezweifle ich nicht, dass kleine Hautfalten, 
welche hier anfangs als Eier- Zügel gedient und in geringem 
Grade schon bei der Athmung mitgewirkt, durch Natürliche 
Züchtung stufenweise in Kiemen verwandelt worden sind bloss 


203 


durch Vermehrung ihrer Grösse bei gleichzeitiger Verkümmerung 
der ihnen anhängenden Drüsen. Wären alle gestielten Cirripeden 
erloschen (und sie haben bereits mehr Vertilgung erfahren als 
die sitzenden): wie hätten wir uns je denken können, dass die 
Athmungs-Organe der Balaniden ursprünglich den Zweck gehabt 
hätten, die zu frühzeitige Ausführung der Eier aus dem Biersack 
zu verhindern? | 
Obwohl ich gemahnt habe vorsichtig bei der Annahme zu 
seyn, dass ein Organ nicht möglicher Weise durch ganz allmäh- 
liche Übergänge gebildet worden seyn könne, so gebe ich doch 
gerne zu, dass sehr schwierige Fälle vorkommen mögen, deren 
einige ich in meinem grösseren Werke zu erörtern gedenke. 
Einen der schwierigsten bilden die Geschlecht-losen Kerb- 
thiere, die oft sehr abweichend sowohl von den Männchen als 
den fruchtbaren Weibchen ihrer Spezies gebildet sind, auf. wel- 
chen Fall ich jedoch im nächsten Kapitel zurückkommen will. 
Die elektrischen Organe der Fische bieten einen andren Fall von 
eigenthümlicher Schwierigkeit dar; es ist unbegreiflich, durch 
welche Abstufungen die Bildung dieser wundersamen Organe 
bewirkt worden seyn mag. Doch gleicht nach R. Owens u. A. 
Bemerkung ihre innerste Struktur ganz derjenigen gewöhnlicher 
Muskeln, und da unlängst gezeigt worden, dass Rochen ein dem 
elektrischen Apparate ganz analoges Organ besitzen, aber nach 
Marteuccı s Versicherung keine Elektricität entladen, so müssen 
wir gestehen, dass wir viel zu unwissend sind um behaupten 
zu dürfen, dass kein Übergang irgend einer Art möglich seye. 
Die elektrischen Organe bieten aber noch andre sehr ernst- 
liche Schwierigkeiten dar. Wenn ein und dasselbe Organ in 
verschiedenen Gliedern einer Klasse und zumal mit sehr aus- 
einander-gehenden Gewohnheiten auftritt, so mag man seine An- 
wesenheit in diesen Gliedern durch Erbschaft von einem gemein- 
samen Stamm-Vater und seine Abwesenheit in andern durch 
Verlust in Folge von Nichtgebrauch oder Natürlicher Züchtung 
erklären. Hätte sich aber das elektrische Organ von einem alten 
damit versehen gewesenen Vorgänger auf jene Fische vererbt, 
so dürften wir erwarten, dass alle noch elektrischen Fische auch 


204 


sonst in näherer Weise mit einander. verwandt seyen. Nun gibt 
aber die Paläontologie durchaus keine Veranlassung zu glauben, 
dass vordem die meisten Fische mit elektrischen Organen ver- 
sehen gewesen seyen, welche fast alle ihre Nachkommen ein- 
gebüsst hätten. Die Anwesenheit leuchtender Organe in einigen 
wenigen Insekten aus den manchfaltigsten Familien und Ordnungen 
bietet einen damit gleichlaufenden schwierigen Fall dar. Man 
könnte deren noch mehr anführen, wie denn z. B. im Pflanzen- 
Reiche die ganz eigenthümliche Entwickelung einer Masse von 
Pollen-Körnern auf einem Fussgestelle mit einer klebrigen Drüse 
an dessen Ende bei Orchis und bei Asclepias, zweien unter den 
Blüthen-Pflanzen möglich weit auseinanderstehenden Sippen, ganz 
die nämliche ist. Doch kann man bemerken, dass in solchen 
Fällen,‘ wo zwei sehr verschiedene Arten mit anscheinend dem- 
selben anomalen Organe versehen sind, doch gewöhnlich einige 
Grund-Verschiedenheiten sich daran entdecken lassen. Ich möchte 
glauben, dass fast in gleicher Weise, wie zwei Menschen zu- 
weilen unabhängig von einander auf genau die nämliche Ent- 
deckung verfallen sind, so habe auch die Natürliche Züchtung, 
zum Besten eines jeden Wesens wirkend und von allen analogen 
Abänderungen Vortheil ziehend, zuweilen zwei Theile auf fast 
ganz gleiche Weise in zwei organischen Wesen modifizirt, welche 
ihrer Abstammung von einem nämlichen Stamm-Vater nur wenig 
Gemeinsames’ in ihrer Organisation verdanken. 

Obwohl es in vielen Fällen sehr schwer ist zu errathen, 
durch welche Übergänge die Organe zu ihrer jetzigen Beschaffen- 
heit gelangt seyen, so bin ich doch, in Betracht der sehr ge- 
ringen Anzahl noch lebender und bekannter gegenüber den unter- 
gegangenen und unbekannten Formen, sehr darüber erstaunt ge- 
wesen zu finden, wie selten ein Organ vorkommt, zu welchem 
nicht einige Übergangs - Stufen führten. "Die Wahrheit dieser 
Bemerkung ist schon in der alten obwohl etwas übertriebenen 
naturgeschichtlichen Regel »Natura non facit saltum« anerkannl, 
Wir finden Diess in den Schriften fast aller erfahrenen Natur- 
forscher angenommen; Mine Enwarps hat es mil den Worten 
ausgedrückt: Die Natur ist verschwenderisch in Abänderungen, 


205 


aber geitzig in Neuerungen. Wie sollte es nach der Schöpfungs- 
Theorie damit zugehen? woher sollte es kommen, dass alle Theile 
und Organe so vieler unabhängiger Wesen, wenn jedes. der- 
selben für ‘seinen eignen Platz in der Natur erschaffen worden, 
doch durch ganz allmähliche Übergänge miteinander verkeitet 
sind? Warum hätte die Natur nicht einen. Sprung von der einen 
Organisation zur andern gemacht? Nach der Theorie Natürlicher 
Züchtung dagegen können wir es klar begreifen, weil diese 
sich nur ganz kleine allmähliche Abänderungen zu Nutzen macht; 
sie kann nie einen Sprung machen, sondern muss mit kürzesten 
und langsamsten Schritten voranschreiten, 

Organe von anscheinend geringer Wichtigkeit.) 
Da Natürliche Züchtung auf Leben und Tod arbeitet, indem sie 
nämlich Individuen mit vortheilhaften Abänderungen erhält und 
solche mit ungünstigen Abweichungen der Organisation unter- 
drückt, so schien mir manchmal die Entstehung einfacher Theile 
sehr schwer zu begreifen, deren Wichtigkeit nicht genügend er- 
scheint, um die Erhaltung immer weiter abändernder Individuen 
zu begründen. Diese Schwierigkeit, obwohl von ganz andrer 
Art, schien mir manchmal eben so gross zu seyn als die hin- 
sichtlich so vollkomnner und zusammengesetzter Organe, wie 
die Augen. 

‚Erstens aber wissen wir viel zu wenig von dem ganzen 
Haushalte eines orgaßäschen Wesens, um sagen zu können, 
welche: geringe Modifikationen für dasselbe wichtig seyn können, 
und ich habe in einem früheren Kapitel Beispiele von sehr ge- 
ringen Charaktern, wie den Flaum der Früchte und die Farbe 
ihres Fleisches angeführt, welche in so ferne, als sie auf die 
Angriffe der Insekten von Einfluss sind oder mit der Empfind- 
lichkeit der Wesen für äussre Einflüsse in Zusammenhang stehen, 
bei der Natürlichen Züchtung gewiss mit in Betracht kommen. 
Der Schwanz der Giraffe sieht wie ein künstlich gemachter 
Fliegenwedel aus, und es scheint anfangs unglaublich, dass der- 
selbe durch kleine auleinanderlolgende Verbesserungen allmählich 
zur unbedeutenden Bestimmung eines solchen Instrumentes her- 
gerichtet worden seyn solle. Doch hüten wir uns gerade in 


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206 


diesem Falle uns allzu bestimmt auszusprechen, indeın wir ja wis- 
sen, dass Daseyn und Verbreitungs-Weise des Rindes u.a. Thiere in 
Süd-Amerika unbedingt von deren Vermögen abhängt den An- 
griffen der Insekten zu widerstehen; daher Individuen, welche 
einigermaassen mit Mitteln zur Vertheidigung gegen diese kleinen 
Feinde versehen sind, geschickt wären sich mit grossem Vortheil 
über neue Weide-Plätze zu verbreiten. Nicht als ob grosse 
Säugthiere (einige seltene Fälle ausgenommen) jetzt durch Fliegen 
vertilgt würden; aber sie werden von ihnen so unausgeseizt 
ermüdet und geschwächt, dass sie Krankheiten, gelegentlichem 
Futter-Mangel und den Nachstellungen der Raubthiere ‚in weil 
grössrer Anzahl erliegen. | 

Organe von jetzt unwesentlicher Bedeutung können den 
ersten Stamm-Ältern zuweilen von hohem ‚Werthe gewesen und 
nach früherer langsamer Vervollkommnung in ungefähr demselben 
Zustande auf deren Nachkommen vererbt: worden seyn, obwohl 
deren nunmehriger Nutzen nur noch unbedeutend ist, während 
schädliche Abweichungen von dem früheren Baue durch Natür- 
liche Züchtung fortdauernd gehindert werden. Wenn man be- 
obachtet, was für ein wichtiges Organ des Ortswechsels der 
Schwanz für die meisten Wasser-Thiere ist, so lässt sich seine 
allgemeine Anwesenheit und Verwendung zu mancherlei Zwecken 
bei so vielen Land-Thieren, welche durch modifizirte Schwimm- 
blasen oder Lungen ihre Abstammung aus dem Wasser 
verrathen, ganz wohl begreifen. Nachdem ein Wasser - Thier 
einmal mit einem wohl-entwickelten Steuer-Schwanze ausgestattel 
ist, kann derselbe später zu den manchfaltigsten Zwecken 
umgearbeitet werden, zu einem Fliegenwedel, zu einem Greifwerk- 
zeug, oder zu einem Mittel schneller Wendung des Laufes, wie 
es beim Hunde der Fall ist, obwohl dieses Hilfsmittel nur: schwach 
seyn mag, indem ja der Hase, fast ganz ohne Schwanz, sich 
rasch genug zu wenden im Stande ist. | 

Zweitens: dürften wir mitunter Charakteren eine grosse 
Wichtigkeit zutrauen, die ihnen in Wahrheit nicht zukommt, und 
welche von ganz sekundären Ursachen unabhängig von Natür- 
licher Züchtung herrühren. Erinnern wir uns, dass Klima, Nah- 


207 


rung: u. s. w. wahrscheinlich einigen kleinen Einfluss auf die 
Organisation haben; dass ältere Charaktere nach dem Gesetze 
der Rückkehr wieder zum Vorschein kommen; dass Wechselbe- 
ziehungen in der Entwickelung einen oft bedeutenden Einfluss 
auf die Abänderung verschiedener Gebilde äussern, und endlich 
dass sexuelle Zuchtwahl oft wesentlich auf solche äussere Cha- 
raktere einer Thier-Art eingewirkt hat, welche dem mit andren 
kämpfenden Männchen eine bessre Waffe oder einen besondren 
Reitz in den Augen des Weibchens verliehen. Überdiess mag 
eine aus den genannten Ursachen hervorgegangene Abänderung 
der Struktur anfangs oft ohne Werth für die Art gewesen seyn, 
‚späterhin aber bei deren unter neue Lebens-Bedingungen ver- 
setzten und mit neuen Gewohnheiten versehenen Nachkommen 
an Bedeutung gewonnen haben. 

Ich will einige Beispiele zu Erläuterung dieser letzten Be- 
merkung anführen. Wenn es nur grüne Spechte gäbe und wir 
wüssten von schwarzen und bunten nichts, so würde ich mir zu 
sagen erlauben, dass die grüne Farbe eine schöne Anpassung 
und dazu bestimmt seye, diese an den Bäumen herumkletternden 
Vögel vor den Augen ihrer Feinde zu verbergen, dass es mil- 
hin ein für die Spezies wichtiger und durch Natürliche Züchtung 
erlangter Charakter seye; so aber, wie sich die Sache verhält, 
rührt die Färbung zweifelsohne von einer ganz andern Ursache 
und wahrscheinlich von geschlechtlicher Zuchtwahl her. Eine 
kletternde Bambus-Art im Malayischen Archipel steigt bis zu den 
höchsten Baum-Gipfeln empor mit Hilfe ausgezeichneter Ranken, 
welche Büchel-weise an den Enden der Zweige befestigt sind, und 
diese Einrichtung ist zweifelsohne für die Pflanze von grösstem 
Nutzen. Da wir jedoch fast ähnliche Ranken an vielen Pflanzen 
sehen, welche nicht klettern, so mögen dieselben auch beim 
Bambus von unbekannten Wachsthums-Gesetzen herrühren und 
von der Pflanze erst später, als sie noch sonstige Abänderung 
erfuhr und ein Kletterer wurde, zu ihrem Vortheile benützt und 
weiter entwickelt worden seyn. Die nackte Haut am Kopfe des 
Geyers wird gewöhnlich als eine unmittelbare Anbequemung des 
oft in faulen Kadavern damit wühlenden Thieres betrachtet; in- 


208 


zwischen müssen wir vorsichtig seyn mit dieser Deutung, da ja 
auch die Kopfhaut des ganz säuberlich fressenden Wälschhahns 
nackt ist. Die Nähte an den Schädeln junger Säugthiere sind 
als eine schöne Anpassung zur Erleichterung der Geburt darge- 
stellt worden, und ohne Zweifel begünstigen sie dieselbe oder 
sind sogar unentbehrlich; da aber auch solche Nähte an den 
Schädeln junger Vögel und Reptilien vorkommen, welche nur 
aus einem zerbrochenen Eie zu schlüpfen nöthig haben, so dür- 
fen wir schliessen, dass diese Bildungs-Weise von den Wachs- 
thums-Gesetzen herrühre und den höheren Wirbelthieren dann 
nur gelegentlich auf jene Weise nütze. 

Wir wissen ganz und gar nichts über die Ursachen, welche 
die kleinen Abänderungen veranlassen, und fühlen Diess am 
meisten, wenn wir über die Verschiedenheiten unsrer Hausthier- 
Rassen in andern Gegenden und zumal bei minder zivilisir- 
ten Völkern nachdenken, welche sich nicht mit planmässiger 
Züchtung befassen. Sorgfältige Beobachter sind der Überzeu- 
gung, dass ein feuchtes Klima den Haarwuchs befördre und däss 
Horn mit Haar in gleicher Beziehung stehe. Gebirgs-Rassen sind 
überall von Niederungs-Rassen verschieden, und Gebirgs-Gegen- 
den werden wahrscheinlich auf die ‚Hinterbeine und allenfalls auf 
das Becken wirken, sofern diese daselbst mehr in Anspruch 
genommen werden; nach dem Gesetze homologer Variation wer- 
den dann auch die vordren Gliedmaassen und wahrscheinlich der 
Kopf mit betroffen werden. Auch dürfte die Form des Beckens 
der Mutter durch Druck auf die Kopf-Form des Jungen in ihrem 
Leibe wirken. Wahrscheinlich vermehrt auch die schwierigere 
Athmung in hohen Gebirgen die Weite des Brusikastens, und 
Diess nicht ohne Einfluss auf noch andre Theile. In verschiede- 
nen Gegenden haben auch die von Wilden gehaltenen Hausthiere 
um ihr eignes Daseyn zu kämpfen und mögen daher bis zu ge 
wissem Grade noch Natürlicher Züchtung unterliegen. Daher 
denn Individuen mit abweichender Konstitution in andern Klima- 
ten besser fortkommen werden; nun dürften aber Konstitution 
und Färbung in Wechselbeziehung mit einander stehen. Ein 
guter Beobachter versichert, dass der Grad, in welchem das Rind 


209 


von Fliegen leidet, sowie der Gefahr seiner Vergiftung durch 
gewisse Pflanzen von dessen Färbung abhänge; daher denn Fär- 
bung den Einfluss Natürlicher Züchtung unterstützt. ‚Wir haben 
aber viel zu wenig Erfahrung, um über die vergleichungsweise 
Wichtigkeit der verschiedenen bekannten und unbekannten Ab- 
änderungs-Gesetze Betrachtungen anzustellen, und ich habe hier 
deren nur erwähnt um zu zeigen, dass, wenn wir nicht im 
Stande sind, die charakteristischen Verschiedenheiten unsrer kul- 
tivirtern Rassen zu erklären, welche doch allgemeiner Annahme 
zufolge ' durch gewöhnliche Fortpflanzung entstanden sind, wir 
auch unsre Unwissenheit über die genaue Ursache geringer ana- 
loger Verschiedenheiten zwischen Arten nicht zu hoch anschlagen 
dürfen. Ich möchte in dieser Beziehung die so scharf ausge- 
prägten Unterschiede zwischen den Menschen-Rassen anführen, 
über deren Entstehung sich vielleicht einiges Licht verbreiten 
liesse durch die Annahme einer sexuellen Züchtung eigener Art; 
doch würde es unnütz seyn dabei zu verweilen, indem ich mich 
hier nicht auf die zur Erläuterung nöthigen Einzelheiten ein- 
lassen kann. 

Die voranstehenden Bemerkungen veranlassen mich auch 
einige Worte über die neuerlich von mehren Naturforschern ein- 
gelegte Verwahrung gegen die Nützlichkeits-Lehre zu sagen, 
nach welcher nämlich alle Einzelnheiten der Bildung zum Vortheil 
ihres Besitzers da seyn sollen. Dieselben sind der Meinung, 
dass sehr viele organische Gebilde nur der Manchfaltigkeit wegen 
vorhanden seyen oder um die Augen des Menschen zu ergötzen. 
Wäre diese Lehre richtig, so müsste sie meiner Theorie unbe- 
dingt verderblich werden. Doch gebe ich vollkommen zu, dass 
manche Bildungen von keinem unmittelbaren Nutzen für deren 
Besitzer sind. Die natürlichen Lebens-Bedingungen haben wahr- 
scheinlich einigen geringen Einfluss auf die Organisation, möge 
diese zu irgend etwas nützen oder nicht. Wechselbeziehungen 
in der Entwickelung haben zweifelsohne ebenfalls einen sehr 
grossen Antheil, und die nützliche Abänderung eines Organes hat 
oft nutzlose Veränderungen auch in andern Theilen veranlasst. 
So können auch Charaktere, welche vordem nützlich gewesen, 

14 


oder welche durch Wechselbeziehung in der früheren Entwicke. 
lung oder durch ganz unbekannte Ursache entstanden, nach 
den Gesetzen der Rückkehr wieder zum Vorschein kommen, 
wenngleich sie keinen unmittelbaren Nutzen haben. Die Wir- 
kungen der geschlechtlichen Züchtung, soferne sie in das Weib- 
chen fesselnden Reitzen beruhen, können nur in einem mehr 
gezwungenen Sinne nützlich genannt werden. Aber bei weitem 
die wichtigste Erwägung ist die, dass der Haupttheil der Organi- 
sation eines jeden Wesens einfach durch Erbschaft erworben ist, 
daher denn auch, obschon zweifelsohne jedes Wesen für seinen 


Platz im Haushalte der Natur ganz wohl gemacht seyn mag, viele 
Bildungen keine unmittelbaren Beziehungen mehr zur Lebensweise 
der gegenwärtigen Spezies haben. So können wir kaum glauben, 
dass der Schwimmfuss des Fregattvogels oder der Landgans (Chloe- 
phaga Maghellanica) diesen Vögeln von speziellem Nutzen seye; 
und wir können nicht annehmen, dass die nämlichen Knochen im 
Arme des Affen, im Vorderfuss des Pferdes, im Flügel der Fleder- 
maus und im Ruder des Sechundes allen diesen Thieren einen 
speziellen Nutzen bringe. Wir mögen diese Bildungen getrost als 
Erbschaft ansehen; denn zweifelsohne sind Schwimmfüsse dem 
Stammvater jener Gans und des Fregattvogels eben so nützlich 
gewesen, als sie den meisten jetzt lebenden Wasservögeln sind, 
So dürfen wir vermuthen, dass der Stammvater des Seehunds 
nicht einen Ruderfuss, sondern einen fünfzehigen Geh- oder 
Greif-Fuss besessen; wir dürfen ferner vermuthen, dass die ein- 
zelnen von einem Stammvater ererbten Knochen in den Bei- 
nen des Affen, des Pferdes, der Fledermaus ihrem gemeinsamen 
Stammvater oder ihren Stammvätern vordem nützlicher gewesen 
sind, als sie jetzt diesen in ihrer Lebensweise so weit ausein- 
andergehenden Thieren sind. Wir können daher annehmen, diese 
verschiedenen Knochen seyen durch Natürliche Züchtung ent- 
standen, welche früher so wie jetzt den Gesetzen der Erblichkeit, 
der Rückkehr, der Wechselbeziehung in der Entwickelung u. S. W. 
unterlagen. Daher man von jeder Einzelnheit der Struktur in 
jedem lebenden Geschöpfe (ausser einigen geringen Zugeständ- 
nissen an den Einfluss der natürlichen äussren Bedingungen) an- 


211 


nehmen darf, sie seye einmal einem Vorfahren der Spezies von 
besondrem Nutzen gewesen, oder sie seye jetzt, entweder direkt 
oder durch verwickelte Wachsthumsgesetze indirekt, ein be- 
sondrer Vortheil für die Abkömmlinge dieser Vorfahren. 

Natürliche Züchtung kann nicht wohl irgend eine Abänderung 
in einer Spezies bewirken, welche nur einer anderen Art 
zum  ausschliesslichen Vortheil gereichte, obwohl in der ganzen 
Natur eine Spezies ohne* Unterlass von der Organisation einer 
andern Nutzen- zieht. Aber Natürliche Züchtung kann auch oft 
hervorbringen und bringt oft in Wirklichkeit solche Gebilde her- 
vor, die einer andern Art zum unmittelbaren Nachtheil gerei- 
chen, wie wir im Giftzahne der Otter und in der Legeröhre des 
Ichneumon sehen, welcher mit deren Hülfe seine Eier in den 
Körper andrer lebenden Insekten einführt. Liesse sich bewei- 
sen, dass irgend ein Theil der Organisation einer Spezies zum 
ausschliesslichen Besten einer andern Spezies gebildet worden 
seye, so wäre meine Theorie vernichtet, weil eine solche Bildung 
nicht durch Natürliche Züchtung bewirkt werden kann. Obwohl 
in naturhistorischen Schriften vielerlei Behauptungen in dieser 
Hinsicht aufgestellt werden, so kann ich doch keine darunter von 
einigem Gewichte finden. 50 gesteht man zu, dass die Klapper- 
schlange einen Giftzahn zu ihrer eignen Vertheidigung und 
zur Tödtung ihrer Beute besitze; aber einige Autoren unter- 
stellen auch, dass sie ihre Klapper zu ihrem eignen Nachtheile 
erhalten habe, nämlich um ihre Beute zu warnen und zur Flucht 
zu veranlassen. Man könnte jedoch eben so gut behaupten, die 
Katze mache die Wellenkrümmungen mit dem Ende ihres Schwan- 
zes, wenn sie im Begriffe einzuspringen ist, in der Absicht um 
die bereits zum Tode verurtheilte Maus zu warnen. Doch, ich 
habe hier nicht Raum auf diese und andre Fälle noch weiter 
einzugehen. 

Natürliche Züchtung kann in keiner Spezies irgend etwas für 
dieselbe Schädliches erzeugen, indem sie ausschliesslich nur durch 
und zu deren Vortheil wirkt. Kein Organ kann, wie Parey be- 
merkt, ‚gebildet werden um seinem Besitzer Qual und Schaden zu 
bringen. Eine genaue Abwägung zwischen dem Nutzen und 

14 * 


212 


Schaden, welchen ein jeder Theil verursacht, wird immer zeigen, 
dass er im Ganzen genommen vortheilhaft ist. Wird etwa in 
spätrer Zeit bei wechselnden Lebens-Bedingungen ein Theil 
schädlich, so wird er entweder verändert, oder die Art geht .zu 
Grunde, wie ihrer Myriaden zu Grunde gegangen sind. 
Natürliche Züchtung strebt jedes organische Wesen eben so 
vollkommen oder ein wenig vollkommener als die übrigen Bewoh- 
ner derselben Gegend zu machen, mit’ welchen dieselbe um sein 
Daseyn zu ringen hat. Und wir sehen dass Diess der Grad von 
Vollkommenheit ist, welchen die Natur erstrebt. Die Neuseeland 
eigenthümlichen Natur-Erzeugnisse sind vollkommen, eines mit 
den andern verglichen; aber sie weichen jetzt rasch zurück vor 
den vordringenden Legionen aus Europa eingeführter Pflanzen 
und Thiere. Natürliche Züchtung wird keine absolute Vollkommen- 
heit herstellen; auch begegnen wir, so viel sich beurtheilen 
lässt, einer so hohen Stufe nirgends in der Natur. Die Ver- 
besserung für die Abweichung des Lichtes ist, wie ein ausge- 
zeichneter Gewährsmann erklärt, selbst in dem vollkommensten 
aller Organe, dem Auge, noch nicht vollständig. Wenn uns 
unsre Vernunft zu begeisterter Bewunderung einer Menge un- 
nachahmlicher Einrichtungen in der Natur auffordert, so lehrt 
uns auch diese nämliche Vernunft, dass wir: leicht nach beiden 
Seiten irren können, indem andre Einrichtungen weniger voll- 
kommen sind. Wir können nie den Stachel der Wespe oder 
Biene als vollkommen betrachten, der, wenn er einmal gegen 
die Angriffe von mancherlei Thieren angewandt worden, den un- 
vermeidlichen Tod seines Besitzers bewirken muss, weil er sei- 
ner Widerhaken wegen nicht mehr aus der Wunde, die er 
gemacht hat, zurückgezogen werden kann, ohne die Eingeweide 


des Insekts nach sich zu ziehen. 

Nehmen wir an, der Stachel der Biene seye bei einer sehr 
frühen Stammform bereits als Bohr- und Säge-Werkzeug hestan- 
den, wie es häufig bei andern Gliedern der Hymenopteren-Ord- 
nung vorkommt, und seye für seine gegenwärtige Bestimmung 
mit dem ursprünglich zur Hervorbringung von Gallen-Auswüch- 
sen bestimmten Gifte umgeändert aber nicht zugleich verbesserl 


213 


worden, so können wir vielleicht begreifen, warum der Gebrauch 
dieses Stachels so oft des Insektes eignen Tod veranlasst; denn 
wenn das Vermögen zu stechen der ganzen Bienen-Gemeinde 
nützlich ist, so mag er allen Anforderungen der Natürlichen 
Züchtung entsprechen, obwohl seine Beschaffenheit den Tod der 
einzelnen Individuen veranlasst, die ihn anwenden. Wenn wir über 
dass wirklich wunderbar scharfe Witterungs-Vermögen erstaunen, 
nit dessen Hilfe manche. Männchen ihre Weibchen ausfindig zu 
machen im Stande sind, können wir dann auch die für diesen 
einen Zweck bestimmte Hervorbringung von Tausenden von Dro- 
nen bewundern, welche, der Gemeinde für jeden andern Zweck 
gänzlich nutzlos, bestimmt sind zuletzt von ihren arbeitenden 
aber unfruchtbaren Schwestern umgebracht zu werden® Es mag 
schwer seyn, aber wir müssen den wilden Instinkt-mässigen Hass 
der Bienenkönigin bewundern, welcher sie beständig drängt, die 
jungen Königinnen, ihre Töchter, augenblichlich nach ihrer Geburt 
zu tödten oder selbst in dem Kampfe zu Grunde zu gehen; 
denn unzweifelhaft ist Diess zum Besten der Gemeinde, und 
mütterliche Liebe oder mütterlicher Hass, obwohl dieser letzte 
glücklicher Weise viel seltener ist, gilt dem unerbittlichen Prin- 
zipe Natürlicher Züchtung völlig gleich. Wenn wir die verschie- 
denen sinnreichen Einrichtungen vergleichen, vermöge welcher 
die Blüthen der Orchideen und mancher andren Pflanzen vermit- 
telst Insekten-Thätigkeit befruchtet werden, wie können wir dann 
die Anordnung bei unsren Nadelhölzern als gleich vollkommne 
ansehen , vermöge welcher grosse und dichte Staubwolken. von 
Pollen hervorgebracht werden müssen, damit einige Körnchen 
davon durch einen günstigen Lufthauch dem Eiichen zugeführt 
werden mögen? | 
Zusammenfassung des Kapitels. Wir haben in diesem 
Kapitel gewisse Schwierigkeiten und Einwendungen erörtert, 
welche sich meiner Theorie entgegenstellen. Einige derselben sind 
sehr ernster Art; doch glaube ich, dass durch ihre Erörterung 
einiges Licht über mehre Thatsachen verbreitet worden, welche . 
dagegen nach der Theorie der unabhängigen Schöpfungs - Akte 
ganz dunkel bleiben würden. Wir haben gesehen, dass Arten 


214 


zu irgend welcher Zeit nicht ins Endlose abändern können und 
nicht durch zahllose Ubergangs-Formen unter einander zusammen- 
hängen, theils weil der Prozess Natürlicher Züchtung immer sehr 
langsam ist und jederzeit nur auf sehr wenige Formen wirkt, 
und theils weil gerade der Prozess Natürlicher ‚Züchtung auch 
meistens die fortwährende Ersetzung und Erlöschung vorhergehen- 
der und mittler Abstufungen schon in sich schliesst. Nahe ver- 
wandte Arten, welche jetzt auf einer zusammenhängenden Fläche 
wohnen, mögen oft gebildet worden ‚seyn, als die Fläche noch 
nicht zusammenhängend war und die Lebens-Bedingungen nicht 
unmerkbar von einer Stelle zur andern abänderten. Wenn: zwei 
Varietäten an zwei Stellen eines zusammenhängenden Gebietes sich 
bildeten, so wird oft auch eine mittle Varietät für eine mittle Zone 
entstanden seyn; aber aus angegebenen Gründen wird die mitte 
Varietät gewöhnlich in geringerer Anzahl als die zwei durch sie 
verbundenen Abänderungen vorhanden gewesen seyn, welche 
mithin im Verlaufe weitrer Umbildung sich durch ihre grössre 
Anzahl in entschiedenem Vortheil vor den andren befanden und 
mithin gewöhnlich auch im Stande waren sie zu ersetzen und zu 
vertilgen. 

Wir haben in diesem Kapitel gesehen, wie vorsichtig man 
seyn muss zu schliessen, dass die verschiedenartigsten Gewohn- 
heiten des Lebens nicht in einander übergehen können, ‘dass eine 
Fledermaus z. B. nicht etwa auf dem Wege Natürlicher Züchtung 
entstanden seyn könne von einem Thiere, welches bloss durch 
die Luft zu gleiten im Stande war. Br, 

Wir haben gesehen, dass eine Art unter veränderten Lebens- 
Bedingungen ihre Gewohnheiten ändern oder vermanchfaltigen und 
manche Sitten annehmen könne, die von denen ihrer nächsten 
‚ Verwandten abweichen. Daraus können wir begreifen, wenn 
wir uns zugleich erinnern, dass jedes organische Wesen ge- 
drängt wird zu leben wo es immer leben kann, wie es zuge- 


sangen, dass es Land-Gänse mit Schwimmfüssen, an Boden le- 
bende Spechte, tauchende Drosseln und Sturmvögel mit den Sit- 
ten der Alke gebe. 

Obwohl die Meinung, dass ein so vollkommenes Organ, als 


kun Bu 23 Ze 


215 


das Auge ist, durch Natürliche Züchtung hervorgebracht werden 
könne, mehr als genügt um jeden wankend zu machen, so ist 
doch keine logische Unmöglichkeit vorhanden, dass irgend ein 
Organ unter veränderlichen Lebens-Bedingungen durch eine lange 
Reihe von Abstufungen in seiner Zusammensetzung, deren jede 
dem Besitzer nützlich ist, endlich jeden begreiflichen Grad von 
Vollkommenheit auf dem Wege Natürlicher Züchtung erlange. 
In Fällen, wo wir keine Zwischenzustände kennen, müssen wir 
uns wohl zu schliessen hüten, dass solche niemals bestanden ‘ 
hatten; denn die Homologien vieler Organe und ihre Zwischen- 
stufen zeigen, dass wunderbare Veränderungen in ihren Verrich- 
tungen wenigstens möglich sind. So ist z. B. eine Schwimm- 
blase offenbar in eine Luft-athmende Lunge verwandelt worden. 
Übergänge müssen namentlich oft in hohem Grade erleichtert 
worden seyn da, wo ein und dasselbe Organ mehre sehr ver- 
schiedene Verrichtungen zugleich zu besorgen hatte und dann 
nur für eine von beiden Verrichtungen allein noch besser her- 
gestellt zu werden brauchte, und da wo gleichzeitig zwei sehr 
verschiedene Organe an derselben Funktion theilnahmen und 
das eine mit Unterstützung des andern sich weiter vervollkomm- 
nen konnte. 

Wir sind in Bezug auf die meisten Fälle viel zu unwissend, 
um behaupten zu dürfen, dass ein Theil oder Organ für das Ge- 
deihen einer Art unwesentlich seye, und dass Abänderungen sei- 
ner Bildung nicht durch Natürliche Züchtung mittelst langsamer 
Häufung haben bewirkt werden können. Doch dürfen wir ZuVver- 
sichtlich annehmen, dass viele Abänderungen gänzlich nur von 
den Wachsthums-Gesetzen veranlasst und, anfänglich ohne allen 
Nutzen für die Art, später zum Vortheil weiter ungeänderter 
Nachkommen dieser Art verwendet. worden sind. Wir dürfen 
ferner glauben, dass ein für frühere Formen hochwichtiger Theil 
auch von späteren Formen (wie der Schwanz eines Wasser- 
'Thieres von den davon abstammenden Land-Thieren) beibehalten 
worden ist, obwohl er für dieselben so unwichtig erscheint, dass 
er in seinem jetzigen Zustande nicht durch Natürliche Züchtung 
erworben seyn könnte, indem diese Kraft nur auf die Erhaltung 


216 


solcher Abänderungen gerichtet ist, welche im Kampfe um’s Da: 
seyn nützlich sind. | 
Natürliche Züchtung erzeugt bei keiner Spezies etwas, das 
zum ausschliesslichen Nutzen oder Schaden einer andern wäre; 
obwohl sie Theile, Organe und Exkretionen herstellen kann, die, 
wenn auch für andre sehr nützlich und sogar unentbehrlich oder 
in hohem Grade verderblich. doch in allen Fällen zugleich nütz- 
lich für den Besitzer sind. Natürliche Züchtung muss in jeder 
wohl-bevölkerten Gegend in Folge hauptsächlich der Mitbewer- 
bung der Bewohner unter einander nothwendig auf Verbesse- 
rung oder Kräftigung für den Kampf um’s Daseyn hinwirken, 
doch lediglich nach dem für diese Gegend giltigen Maassstab, 
Daher die Bewohner einer, und zwar gewöhnlich der kleineren, 
Gegend oft vor denen einer andern und gemeiniglich grösseren 
zurückweichen müssen. Denn in der grösseren Gegend werden 
mehr Individuen und mehr differenzirte Formen existirt haben, 
wird die Mitbewerbung stärker gewesen und mithin das Ziel der 


. Vervollkommnung höher gesteckt gewesen seyn. Natürliche Züch- 


tung wird nicht nothwendig absolute Vollkommenheit ‚hervor- 
bringen, und diese ist auch, so viel wir mit unsern beschränkten 
Fähigkeiten zu beurtheilen vermögen, nirgends zu finden, 

Nach der. Theorie der Natürlichen Züchtung lässt sich die 
ganze Bedeutung des alten Glaubenssatzes in der Naturgeschichte 
»Natura non facit saltum« verstehen. Dieser Satz ist, wenn 
wir nur die jetzigen Bewohner der Erde berücksichtigen, nicht 
ganz richtig, muss aber nach meiner Theorie vollkommen wahr 
seyn, wenn wir alle Wesen vergangener Zeiten mit einschliessen. 

Es ist allgemein anerkannt, dass alle organischen Wesen nach 
zwei grossen Gesetzen gebildet worden sind: Einheit des Typus 
und Anpassung an die Existenz-Bedingungen. Unter Einheit des 
Typus begreift man die Übereinstimmung im Grundplane des Baues, 


‘wie wir ihn bei den Wesen eines Unterreiches finden, und welcher 


ganz unabhängig von ihrer Lebensweise ist. Nach meiner Theorie 
erklärt sich die- Einheit des Typus aus der Einheit der Abstam- 
mung. Die Anpassung an die Lebens-Bedingungen, so oft von dem 
berühmten Cuvıer in Anwendung gebracht, ist in meinem Prin- 


217 


zipe der Natürlichen Züchtung vollständig mit inbegriffen. Denn 
die Natürliche Züchtung wirkt nur in soferne, als sie die ver- 
änderlichen Theile eines jeden Wesens seinen organischen und 
unorganischen Lebens-Bedingungen entweder jetzt anpasst oder 
in längst vergangenen Zeit-Perioden angepasst hat. Diese An- 
passungen können in manchen Fällen durch Gebrauch und Nicht- 
gebrauch unterstützt, durch direkte Einwirkung äussrer Lebens- 
Bedingungen modifizirt werden und sind in allen Fällen den ver- 
schiedenen Entwicklungs-Gesetzen unterworfen. Daher ist denn 
auch das Gesetz der Anpassung an die Lebens-Bedingungen in 
der That das höhere, indem es vermöge der Erblichkeit früherer 
Anpassungen das der Einheit des Typus mit in sich begreift. 


Siebentes Kapitel, 
Instinkt. 


Instinkte vergleichbar mit Gewohnheiten, doch andern Ursprungs. — Abstu 
fungen. — Blattläuse und Ameisen. — Instinkte veränderlich. -—- Instinkte 
gezähmter Thiere und deren Entstehung. — Natürliche Instinkte des Kuckucks, 
des Strausses und der parasitischen Bienen. — Sklaven-machende Ameisen. 
— Honigbienen und ihr Zellenbau-Instinkt. — Schwierigkeiten der Theorie 
Natürlicher Züchtung in Bezug auf Instinkt. — Geschlechtlose oder un- 
fruchtbare Insekten. — Zusammenfassung. | 


Der Instinkt hätte woh) noch in den vorigen Kapiteln mit 
abgehandelt werden sollen; doch habe. ich es für angemessener 
erachtet den Gegenstand abgesondert zu behandeln, zumal ein 
so wunderbarer Instinkt, wie der der Zellen-bauenden Bienen 
ist, wohl manchem Leser eine genügende Schwierigkeit geschie- 
nen haben mag, um meine Theorie über den Haufen zu werfen. 
Ich muss vorausschicken, dass ich nichts mit dem Ursprung der 
geistigen Grundkräfte noch mit dem des Lebens selbst zu schal- 
fen habe. Wir haben es nur mit der Verschiedenheit des In- 
stinktes und der übrigen geistigen Fähigkeiten der Thiere in 
einer und der nämlichen Klasse zu thun. 

Ich will keine Definition des Wortes zu geben versuchen. 


218 


Es würde leicht seyn zu zeigen, dass gewöhnlich ganz verschie. 
dene geistige Fähigkeiten unter diesem Namen begriffen werden. 
Doch weiss jeder, was damit gemeint ist, wenn ich sage, der 
Instinkt veranlasse den Kuckuck zu wandern und seine Eier in 
fremde Nester zu legen. ‘Wenn eine Handlung, zu deren Voll- 
ziehung selbst von unserer Seite Erfahrung vorausgesetzt wird, 
von Seiten eines Thieres und besonders eines sehr jungen Thie- 
res noch ohne alle Erfahrung ausgeübt wird, und wenn sie auf 
gleiche Weise von vielen Thieren erfolgt, ohne dass diese ihren 
Zweck kennen, so wird sie gewöhnlich eine instinktive Handlung 
genannt. Ich könnte jedoch zeigen, dass keiner von diesen Cha- 
rakteren des Instinkts allgemein ist. Eine kleine Dosis von Ur- 
theil oder Verstand, wie Pierre Huger es ausdrückt, kommt oft 
mit in's Spiel, selbst bei Thieren, welche sehr tief auf der Stu- 
fenleiter der Natur stehen. 

Frieprıch Cuvier und verschiedene ältre Metaphysiker haben 
Instinkt mit Gewohnheit verglichen. Diese Vergleichung scheint 
mir eine sehr genaue Nachweisung von den Schranken des Gei- » 
stes zu geben, innerhalb welcher die Handlung vollzogen wird, 
aber nicht von ihrem Ursprunge. Wie unbewusst werden manche 
unsrer Handlungen vollzogen, ja nicht selten in.geradem Gegen- 
satz mit unsrem bewussten Willen! Doch können sie durch den 
Willen oder Verstand abgeändert werden. Gewohnheiten ver- 
binden sich leicht mit andern Gewohnheiten oder mit gewissen 
Zeit-Abschnitten und Zuständen des Körpers. Einmal angenom- 
men erhalten sie sich oft lebenslänglich. Es liessen sich noch 
manche andre Ähnlichkeiten zwischen Instinkten und Gewohnhei- 
ten nachweisen. Wie bei Wiederholung eines wohlbekannten 
Gesanges, so folgt auch beim Instinkte eine Handlung auf die 
andre durch eine Art Rhythmus. Wenn Jemand beim Gesange 
oder bei Hersagung auswendig gelernter Worte unterbrochen 
worden, so ist er gewöhnlich senöthigt, wieder etwas zurückzu- 
gehen, um den Gedanken-Gang wieder zu finden. So sah es 
P. Huser auch bei einer Raupen-Art, wenn sie beschäftigt war, 
ihr sehr zusammengesetztes Gewebe zu fertigen; nahm er sie 
heraus, nachdem dieselbe z. B. das letzte Sechstel vollendet 


219 


hatte, und setzte er sie in ein andres nur bis zum dritten Sechstel 
vollendetes, so fertigte sie einfach den dritten, vierten und fünf- 
ten Theil nochmals mit dem sechsten an. Nahm er sie aber aus 
einem z. B. bis zum dritten Theile vollendeten Gewebe und 
setzte sie in ein bis zum sechsten Theile fertiges, SO dass sie 
ihre Arbeit schon größstentheils gethan fand, so war sie sehr 
entfernt, diesen Vortheil zu fühlen und fing in grosser Befangen- 
heit über diesen Stand der Sache die Arbeit nochmals vom drit- 
ten Stadium an, da wo sie solche in ihrem eignen Gewebe ver- 
lassen hatte, und suchte von da aus das schon fertige Werk zu 
Ende zu führen. | 

Wenn sich nun, wie ich in einigen Fällen es zu können 
glaube, nachweisen liesse, dass eine durch Gewohnheit angenom- 
mene Handlungs- Weise auch auf die Nachkommen vererblich 
seye, so würde das, was ursprünglich Gewohnheit war, von In- 
stinkt nicht mehr unterscheidbar seyn. Wenn Mozart statt in 
einem Alter von drei Jahren das Pianoforte mit wundervoller 
kleiner Fertigkeit zu spielen, ohne alle vorgängige Übung eine 
Melodie angestimmt hätte, so könnte man mil Wahrheit sagen, 
er habe Diess Instinkt-mässig gethan. Es würde aber ein sehr 
ernster Irrthum seyn anzunehmen, dass die Mehrzahl der In- 
stinkte durch Gewohnheit schon während einer Generation er- 
worben und dann auf die nachfolgenden Generationen vererbt 
worden seye. Es lässt sich genau nachweisen, dass die wunder- 
barsten Instinkte, die wir kennen, wie die der Korb-Bienen und 
vieler Ameisen, unmöglich in solcher Frist erworben worden 
seyn können. 

Man gibt allgemein zu, dass für das Gedeihen einer jeden 
Spezies in ihren jetzigen Existenz-Verhältnissen Instinkte eben 
so wichtig sind, als die Körper-Bildung. Ändern sich die Le- 
bens-Bedingungen einer Spezies, so ist es wenigstens möglich, 
dass auch geringe Änderfingen in ihrem Instinkte für sie nülz- 
lich seyn würden. Wenn sich nun nachweisen lässt, dass In- 
stinkte wenn auch noch so wenig variiren, .dann kann ich keine 
Schwierigkeit für die Annahme sehen, dass Natürliche Züchtung 
auch geringe Abänderungen des Instinktes erhalte und durch 


220 


beständige Häufung bis zu einem vortheilhaften Grade vermehre. 
So dürften, wie ich glaube, alle und auch die zusammengesetz- 
testen und wunderbarsten Instinkte entstanden seyn. Wie Ab- 
ändernngen im Körper-Bau durch Gebrauch und Gewohnheit ver- 
anlasst und verstärkt, dagegen durch Nichtgebrauch verringert 
und ganz eingebüsst werden können, so ist es zweifelsohne auch 
mit den Instinkten. Ich glaube aber, dass die Wirkungen der 
Gewohnheit von ganz untergeordneter Bedeutung sind gegenüber 
den Wirkungen Natürlicher Züchtung auf sogenannte zufällige 
Abänderungen des Instinktes, d. h. auf Abänderungen in Folge 
unbekannter Ursachen, welche geringe Abweichungen in der 
Körper-Bildung veranlassen. 

Kein zusammengesetzter Instinkt kann durch Natürliche Züch- 
tung anders als durch langsame und stufenweise Häufung vieler 
geringen und nutzbaren Abänderungen hervorgebracht werden. 
Hier müssten wir, wie bei der Körpvr-Bildung,, in der Natur zwar 
nicht die wirklichen Übergangs-Stu‘en, die der zusammengesetzle 
Instinkt bis zu seiner jetzigen Vollkommenheit durchlaufen hat und 
welche bei. jeder Art nur in ihrem Vorgänger gerader Linie zu 
entdecken seyn würden, wohl aber einige Spuren solcher Ab- 
stulungen in den Seitenlinien von gleicher Abstammung finden, 
oder wenigstens nachweisen können, dass irgend welche Abstu- 
lungen möglich sind; und dazu sind wir gewiss im Stande. Ob- 
wohl indessen die Instinkte fast nur in Europa und Nord-Amerika 
lebender Thiere näher beobachtet worden und die der unterge- 
gangenen Thiere uns ganz unbekannt sind, so war ich doch er- 
staunt zu finden, wie ganz allgemein sich Abstufungen bis zu den 
Instinkten der zusammengesetztesten Art entdecken lassen. In- 
stinkt-Änderungen mögen zuweilen dadurch erleichtert werden, 
dass eine und dieselbe Species verschiedene Instinkte in verschie- 
denen Lebens-Perioden oder Jahreszeiten besitzt, oder ‘dass sie 
unter andre äussre Lebens-Bedingungen versetzt wird, in welchen 
Fällen dann wohl entweder nur der eine oder nur der andre durch 
Natürliche Züchtung erhalten werden wird. Beispiele von solcher 
Verschiedenheit des Instinktes lassen sich in der Natur nachweisen. 

Nun ist, ‘wie bei der Körper-Bildung auch meiner Theorie 


221 


gemäss der Instinkt einer jeden Art nützlich für diese und, so 
viel wir wissen, niemals zum ausschliesslichen Nutzen andrer 
Arten vorhanden. Eines der triftigsten Beispiele, die ich kenne, 
von Thieren, welche anscheinend zum blossen Besten andrer 
etwas thun, liefern die Blattläuse , indem sie freiwillig den Ameisen 
ihre süssen Exkretionen überlassen. Dass sie Diess freiwillig thun, 
geht aus folgenden Thatsachen hervor. Ich entfernte alle Ameisen 
von einer Gruppe von etwa zwölf Aphiden auf einer Ampfer-Pflanze 
und hinderte ihr Zusammenkommen einige Stunden lang. Nach 
dieser Zeit nahm ich wahr, dass die Blattläuse das Bedürfniss der 
Exkretion hatten. Ich beobachtete sie eine Zeit lang durch eine 
Lupe: aber nicht eine gab eine Exeretion von sich. Darauf streichelte 
und kitzelte ich sie mit einem Haare auf dieselbe Weise, wie 
es die Ameisen mit ihren Fühlern machen, aber keine Excretion 
erfolgte. Nun liess ich eine Ameise zu, und aus ihrem Wider- 
streben sich von den Blattläusen zurücktreiben zu lassen, schien 
hervorzugehen, dass sie augenblicklich erkannt hatte, welch’ ein 
reicher Genuss ihrer harre. ‘Sie begann dann mit ihren Fühlern 
den Hinterleib erst einer und dann einer andren Blaltlaus zu 
betasten, deren jede, so wie ‚sie die Berührung des Fühlers 
empfand, sofort den Hinterleib in die Höhe richtete und einen 
klaren Tropfen süsser Flüssigkeit ausschied, der alsbald von der 
Ameise eingesogen wurde. Selbst ganz junge Blattläuse, auf diese 
Weise behandelt, zeigten, dass ihr Verhalten ein instinklives und 
nicht die Folge der Erfahrung war. Da aber die Aussonderung 
ausserordentlich klebrig ist, so ist es wahrscheinlich für die Aphiden 
von Nuizen, dass sie entfernt werde; und so ist es denn auch 
mit dieser Excretion wohl nicht auf den ausschliesslichen Vortheil 
der Ameisen abgesehen. Obwohl ich nicht glaube, dass irgend 
ein Thier in der Welt etwas zum ausschliesslichen Nutzen einer 
andern Art thue, so sucht doch jede Art Vortheil von den In- 
stinkten anderer zu ziehen und hat Vortheil von der schwächeren 
Körper-Beschaffenbeit andrer. So können dann auch in einigen 
wenigen Fällen gewisse Instinkte nicht als ganz vollkommen be- 
trachtet werden; was ich aber bis ins Einzelne auseinanderzu- 
setzen hier unterlassen muss. | 


222 


Es sollten wohl möglich‘ viele Beispiele angeführt werden, 
um zu zeigen, wie im Natur-Zustande ein gewisser Grad von Ab- 
änderung in den Instinkten und die Erblichkeit solcher Abände- 
rungen zur Thätigkeit der Natürlichen Züchtung unerlässlich ist; 
aber Mangel an Raum hindert mich es zu thun. Ich kann bloss 
versichern , dass Instinkte gewiss variiren, wie z. B. der Wander- 
Instinkt nach Ausdehnung und Richtung variiren oder auch ganz 
aufhören kann. So ist es mit den Nestern der Vögel, welche 
theils je nach der dafür gewählten Stelle, nach den Natur- und 
Wärme-Verhältnissen der bewohnten Gegend, aber auch oft aus 
ganz unbekannten Ursachen abändern. So hat Aupuson einige sehr 
merkwürdige Fälle von Verschiedenheiten in den Nestern der- 
selben Vogel-Arten, je nachdem sie im Norden oder im Süden 
der Vereinten Staaten leben, mitgetheilt. Furcht vor irgend einem 
besondren Feinde ist gewiss eine instinktive Eigenschaft, wie man 
bei den noch im Neste sitzenden Vögeln zu erkennen Gelegenheit 
hat, obwoh sie durch Erfahrung und durch die Wahrnehmung von 
Furcht vor demselben Feinde bei anderen Thieren noch verstärkt 
wird. Thiere auf abgelegenen kleinen Eilanden fürchten sich nicht 
vor den Menschen und lernen, wie ich anderwärts gezeigt habe, ihn 
nur langsam fürchten; und so nehmen wir auch in England selbst 
wahr, dass die grossen Vögel, weil sie von Menschen mehr verfolgt 


werden, sich viel mehr vor ihm fürchten, als die kleinen. Wir 


können die stärkere Scheuheit grosser Vögel getrost dieser Ur- 


sache zuschreiben, denn auf von Menschen unbewohnten Inseln 


sind die grossen nicht scheuer als die kleinen; und die Elster, 
so furchtsam in England, ist in Norwegen eben so zahm als die 
Krähe (Corvus cornix) in Ägypten. ! 

Dass die Gemüthsart der Individuen einer Spezies im All- 
gemeinen, auch wenn sie in der freien Natur geboren sind, äus- 
serst manchfaltig seye, kann mit vielen Thatsachen belegt werden. 
Auch liessen sich bei einigen Arten Beispiele von zufälligen und 
fremdartigen Gewohnheiten anführen, die, wenn sie der Art 
nützlich wären, durch Natürliche Züchtung zu ganz neuen In- 
stinkten Veranlassung werden könnten. ‚Ich weiss wohl, dass 
diese allgemeinen Behauptungen, ohne einzelne Thatsachen zuN 


# 
bi: 


223 


Belege, nur einen schwachen Eindruck auf den Geist des Lesers 
machen werden, kann jedoch nur meine Versicherung wieder- 
holen, dass ich nicht ohne gute Beweise so spreche. 

Die Möglichkeit oder sogar Wahrscheinlichkeit Abänderungen 
des Instinktes im Natur-Zustande zu vererben wird durch Betrach- 
tung einiger Fälle bei gezähmten Thieren noch stärker hervor- 
treten. Wir werden dadurch auch zu sehen in den Stand gesetzt, 
welchen vergleichungsweisen Einfluss Gewöhnung und die Züch- 
tung sogenannter zufälliger Abweichungen auf die Abänderung der 
Geistes-Fähigkeiten unsrer Hausthiere ausgeübt haben. Es lässt 
sich eine Anzahl sonderbarer und verbürgter Beispiele anführen 
von der Vererblichkeit aller Abschattungen der Gemüthsart, des 
Geschmacks oder der Neigung zu den sonderbarsten Streichen in 
Verbindung mit Zeichen von Geist oder mit gewissen periodischen 
Bedingungen. Bekannte Belege dafür liefern uns die verschie- 
denen Hunde-Rassen. So unterliegt es keinem Zweifel (und ich 
habe selbst einen schlagenden Fall der Art gesehen), dass junge 
Vorstehehunde zuweilen vor andern Hunden anziehen, wenn sie 
das erstemal mit hinausgenommen werden. So ist das Aufstöbern 
der Feldhühner gewiss oft erblich bei Hunden der vorzugsweise 
dazu gebrauchten Rasse, wie junge Schäferhunde geneigt sind 
die Heerde zu umkreisen statt nebenher zu laufen. Ich kann 
nicht sehen, dass diese Handlungen wesentlich von denen des 
Instinktes verschieden sind; denn die jungen Hunde handeln ohne 
Erfahrung, einer fast wie der andre in derselben Rasse, und 
ohne den Zweck des Handelns zu kennen. Denn der junge Vor- 
stehehund weiss noch eben so wenig, dass er durch sein Stehen 
den Absichten seines Herrn dient, als der Kohlschmetterling weiss, 
warum er seine Eier auf ein Kohl-Blatt legt. Wenn wir eine Art 
Wolf sähen, welcher noch jung und ohne Abrichtung bei Witte- 
rung seiner Beute bewegungslos wie eine Bildsäule stehen bliebe 
und dann mit eigenthümlicher Haltung langsam auf sie hinschliche, 
oder eine andre Art Wolf, welche, statt auf einen Rudel Hirsche 
zuzuspringen, dasselbe umkreiste und so nach einem entfernten 
Punkte triebe, so würden wir dieses Verhalten gewiss dem In- 
stinkte zuschreiben. Zahme Instinkte,, wie man sie nennen könnte, 


224 


sind gewiss viel weniger fest und unveränderlich als die natür- 
lichen; denn sie sind durch viel minder strenge Züchtung aus- 
geprägt und eine bei weitem kürzere Zeit hindurch unter minder 
steten Lebens-Bedingungen vererbt worden. 

Wie streng diese »zahmen Instinkte«, Gewohnheiten und 
Neigungen vererbt werden und wie wundersam sie sich zuweilen 
mischen, zeigt sich ganz wohl,.wenn verschiedene Hunde-Rassen 
miteinander gekreutzt werden. So ist eine Kreutzung mit Bull- 
beissern auf viele Generationen hinaus auf den Muth und die 
Beharrlichkeit des Windhundes von Einfluss gewesen; und eine 
Kreutzung mit dem Windhunde hat auf eine ganze Familie von 
Schäferhunden die Neigung übertragen Hasen zu verfolgen. Diese 
zahmen Instinkte, auf solche Art durch Kreutzung erprobt, glei- 
chen natürlichen Instinkten, welche sich in ähnlicher Weise 
sonderbar mit einander verbinden, so dass sich auf lange Zeit 
hinaus Spuren ‚des Instinktes beider Ältern erhalten. So be- 
schreibt Le Rov einen Hund, dessen Grossvater ein Wolf war; 
dieser Hund verrieth die Spuren seiner wilden Abstammung nur, 
auf eine Weise, indem er nämlich, wenn er von seinem Herrn 
gerufen wurde, nie in gerader Richtung auf ihn zukam. 

Zahme Instinkte werden zuweilen bezeichnet als Handlungen, 
welche bloss durch eine lang-fortgesetzte und erzwungene Ge- 
wohnheit erblich werden; ich glaube aber, dass Diess nicht 
richtig ist. Gewiss hat niemals jemand daran gedacht oder ver- 
sucht, der Purzeltaube das Purzeln zu lehren, was meines 
Wissens auch schon junge Tauben thun, welche nie andere 
purzeln gesehen haben. Man kann sich denken, dass einmal 
eine einzelne Taube Neigung zu dieser sonderbaren Bewegungs- 
Weise gezeigt habe und dass dann in Folge sorgfältiger und 
lang-fortgesetzter Züchtung aus ihr die Purzler allmählich das 
' geworden, was sie jetzt sind; und wie ich von Herrn BRENT 
vernehme, gibt es bei Glasyow Haus-Purzler, welche nicht 18 Zolle 


weit fliegen können, ohne sich einmal kopfüber zu bewegen. 
Eben so ist es sehr zu bezweiflen, ob jemals irgend jemand 
daran gedacht habe, einen Hund zum Vorstehen abzurichten, 
hätte nicht etwa ein Individuum von selbst eine Neigung vel- 


225 


rathen es zu thun, und man weiss, dass Diess zuweilen vor- 
kommt, wie ich selbst einmal an einem Dachshund beobachtete; 
das »Stehen« ist wohl, wie Manche gedacht haben, nur eine 
verstärkte Pause eines Thieres, das sich in Bereitschaft setzt, 
auf seine Beute einzuspringen. Hatte sich ein erster Anfang des 
Stehens einmal gezeigt, so mögen methodische Züchtung und 
die .erbliche Wirkung zwangsweiser Abrichtung in jeder nach- 
folgenden Generation das Werk bald vollendet haben; und unbe- 
wusste Züchtung ist immer in‘ Thätigkeit, da jedermann, wenn 
auch ‘ohne die Absicht eine verbesserte‘ Rasse zu bilden, sich 
gerne die Hunde verschafft, welche am besten vorstehen und 
jagen. Anderseits hat auch Gewohnheit in einigen Fällen genügt. 
Kein Thier ist schwerer zu zähmen als das Junge des wilden 
Kaninchens, und kein Thier zahmer als das Junge des zahmen 
Kaninchens; und doch glaube ich nicht, dass die Haus-Kaninchen 
jemals auf Zahmheit gezüchtet worden sind, sondern vermuthe viel- 
mehr, dass wir die gesammte erbliche Veränderung von äusserster 
Wildheit bis zur äussersten Zahmheit einzig der Gewohnheit und 
lange fortgesetzten engen Gefangenschalt zuzuschreiben haben. 
Natürliche Instinkte gehen in der Gefangenschaft verloren; 
ein merkwürdiges Beispiel davon sieht man bei denjenigen 
Geflügel-Rassen, welche selten oder nie »brütig« werden*, d.h. 
nie auf ihren Eiern zu sitzen verlangen. Die tägliche Gewöhnung 
daran allein verhindert uns zu sehen, in wie hohem Grade und 
wie allgemein die geistigen Fähigkeiten unsrer Hausthiere durch 
Zähmung verändert worden sind. Man kann kaum daran zweifeln, 
dass die Liebe des Menschen als Instinkt auf den Hund über- 
gegangen ist. Alle Wölfe, Füchse, Schakals und Katzen-Arten sind, 
wenn man sie gezähmt hält, sehr begierig Geflügel, Schaafe und 
Schweine anzugreifen, und dieselbe Neigung hat sich unheilbar auch 
bei solchen Hunden gezeigt, welche man jung aus Gegenden zu uns 
gebracht hat, wo wie im Feuerlande und in Australien die Wilden 
jene Hausthiere nicht halten. Und wie selten ist es auf der andern 
Seite nöthig, unsren zivilisirten Hunden, selbst wenn sie noch 


+ ETF DER ( | .. H h; Ar 2 z z 
„Brütig“ für broody; das Wort ist im Deutschen nicht üblich; _ doch 


gibt es in Nord-Deutschland dafür einen Provinzialismus „heckisch“. D. Übs. 


15 


226 


jung sind, die Angriffe auf jene Thiere abzugewöhnen. Allerdings 
machen sie manchmal einen solchen Angriff und werden: dann 
geschlagen und, wenn Das nicht hilft, endlich weggeschafft, —- 
so dass Gewohnheit und wahrscheinlich einige Züchtung zusam- 
mengewirkt haben, unsren Hunden ihre erbliche. Zivilisation. bei- 
zubringen. Andrerseits haben junge Hühnchen, ganz in. Folge 
von Gewöhnung, die Furcht vor Hunden und Katzen verloren, 
welche sie zweifelsohne ‚nach ihrem ursprünglichen: Instinkte be- 
sessen, während sich dieser Instinkt noch so offenbar bei jungen 
Fasanen zeigt, selbst wenn sie von gewöhnlichen Hennen aus- 
gebrütet sind. Und doch haben die Hühnchen keinesweges alle 
Furcht verloren, sondern nur die Furcht vor Hunden und Katzen; 
denn sobald die Henne ihnen durch Glucken eine Gefahr an- 
meldet, laufen alle (zumal junge Welschhühner), um sich unter 
ihren Schutz zu begeben, oder um sich im. ‚Grase und Diekicht 
umher zu verbergen, Letztes offenbar in der instinktiven Ab- 
sicht, wie wir bei wilden. Boden - Vögeln sehen, um ihrer 
Mutter möglich zu machen davon zu fliegen. Freilich ist die- 
ser bei unseren jungen Hühnchen zurückgebliebene Instinkt im 
gezähmten Zustande ganz nutzlos, weil die Mutter-Henne das 
Flug-Vermögen durch Nichtgebrauch gewöhnlich eingebüsst hat. 
Daraus lässt sich schliessen, dass zahme Instinkte erworben 
worden und wilde Instinkte verloren gegangen sind, theils durch 
eigne Gewohnheit und theils durch die Einwirkung des Menschen, 
welcher viele aufeinander-folgende Generationen: hindurch 'eigen- 
thümliche ‚geistige Neigungen und Fähigkeiten, die uns in unsrer 
Unwissenheit anfangs nur ein sogenannter Zufall geschienen, 
durch Züchtung gehäuft und gesteigert hat. In einigen Fällen 
hat erzwungene Gewöhnung genügt, um solche erbliche Verän- 
derung geistiger Eigenschaften zu bewirken; in andern ist durch 
Zwangs-Zucht nichts ausgerichtet und Alles nur durch unbewussie 
oder methodische Züchtung bewirkt worden; in den meisten 
Fällen aber haben beide wahrscheinlich zusammengewirkt. 
Nähere Betrachtung einiger wenigen Beispiele wird vielleicht 
am besten geeignet seyn es begreiflich zu machen, wie Instinkte 


im Natur-Zustande durch Züchtung modifizirt worden sind. Ich 


| 
i 


227 


will aus der grossen Anzahl derjenigen, welche ich gesammelt 
und in meinem späteren Werke zu erörtern haben werde, nur 
drei Fälle hervorheben, nämlich den Instinkt, welcher den Kuckuck 
treibt seine Eier in fremde Nester zu legen, den Instinkt der 
Ameisen Sklaven zu machen, und den Zellenbau-Trieb der Honig- 
Bienen; die zwei zuletzt genannten sind von den Naturforschern 
wohl mit Recht als die zwei wunderbarsten aller bekannten 
Instinkte bezeichnet worden. | 

Man nimmt jetzt gewöhnlich an, die unmittelbare und die 
Grund-Ursache für den Instinkt des Kuckucks seine Eier in 
fremde Nester zu legen beruhe darin, dass dieselben der Reihe 
nach nicht täglich, sondern erst jeden zweiten oder dritten Tag 
zur Reife kommen, so dass, wenn der Kuckuck sein eignes Nest 
zu bauen und auf seinen eignen Eiern zu sitzen hätte, die ersten 
Eier entweder eine Zeitlang unbebrütet bleiben oder Eier und 
junge Vögel von verschiedenem Alter im nämlichen Neste zu- 
sammen kommen müssten *. Wäre Diess so der Fall, so 
müssten allerdings die Prozesse des Legens und Ausschlüpfens 
unangemessen lang währen, und die zuerst ausgeschlüpften 
jungen Vögel wahrscheinlich vom Männchen allein aufgefüttert 
werden. Allein der Amerikanische Kuckuck findet sich in 
derselben Lage, und doch macht er sein eignes Nest und legt 
seine Eier nach-einander hinein, und seine Jungen schlüpfen 
gleichzeitig aus. Man hat zwar versichert, auch der Amerika- 
nische Kuckuck lege zuweilen seine Eier in fremde Nester, aber 
nach Dr. Brewers verlässiger (Gewährschaft in diesen Dingen 
ist es ein Irrthum. Demungeachtet könnte ich noch mehre andre 
Beispiele von Vögeln anführen, ‘die ihre Eier zuweilen in fremde 
Nester legen. Nehmen wir nun an, der Stamm - Vater unsres 
Europäischen Kuckucks habe die Gewohnheiten des Amerikani- 
schen gehabt, doch zuweilen ein Ei in das Nest eines andren 
Vogels gelegt. Wenn der alte Vogel von diesem gelegentlichen 


* Diess kann kein Grund seyn; denn das Alter der Eier polygamischer 


Vögel, welche 10 — 20 und mehr Eier legen und eben so viele Tage dazu 
bedürfen, ist noch viel ungleicher, und doch kommen die Jungen gleichzeitig 
aus. Es fallen somit auch die Folgerungen weg. D. Übs 


15 * 


228 


Brauche Vortheil batte, oder der junge durch den fehlgreifenden 
Instinkt einer fremden Mutter kräftiger wurde, als er unter der 
Sorge seiner eignen Mutter geworden seyn würde, weil diese 
mit der gleichzeitigen Sorge für Eier und Junge von verschiede- 
nem Alter überladen gewesen wäre: so gewann entweder der Alte 
oder das auf fremde Kosten gepflegte Junge dabei. Der Ana- 
logie nach möchte ich dann glauben, dass als Folge der Erblich- 
keit das so aufgeätzte Junge mehr geneigt seye, die zufällige und 
abweichende Handlungsweise seiner Mutter nachzuahmen, auch seine 
Eier in fremde Nester zu legen und so kräftigere Nachkommen 
zu erlangen. Durch einen fortgesetzten Prozess dieser Art 
könnte nach meiner Meinung der wunderliche Instinkt des Kuckucks 
entstanden seyn. Ich will jedoch noch beifügen, dass nach 
Dr. Gray u. e. a. Beobachtern der Europäische Kuckuck doch 
keinesweges alle mütterliche Liebe und Sorge für seine eignen 
Sprösslinge verloren hat. 

Der Brauch seine Eier gelegentlich in fremde Nester von 
derselben oder einer andern Spezies zu legen, ist unter den 
Hühner-artigen Vögeln nicht ganz ungewöhnlich; und Diess er- 
klärt vielleicht die Entstehung eines eigenthümlichen Instinktes 
in der benachbarten Gruppe der Strauss-artigen Vögel. Denn 
mehre Strauss-Hennen wenigstens von der Amerikanischen Art 
vereinigen sich, um zuerst einige Eier in ein Nest und dann in 
ein andres zu legen; und diese werden von den Männchen aus- 
gebrütet. Man wird zu Erklärung dieser Gewohnheit wahrschein- 
lich die Thatsache mit in Betracht ziehen, dass diese Hennen 
eine grosse Anzahl von Eiern und zwar in Zwischenräumen von 
zwei bis drei Tagen legen. Jedoch ist jene Gewohnheit beim 
Amerikanischen Strausse noch nicht sehr entwickelt; denn es 
liegt dort auch noch eine so erstaunliche Menge von Eiern über 
die Ebene zerstreut, dass ich auf der Jagd an einem Tage nicht 
weniger als 20 verlassener und verdorbener Eier aufzunehmen 


im Stand war. 

Manche Bienen schmarotzen und legen ihre Eier in Nester 
andrer Bienen- Arten. Diess ist noch merkwürdiger, als beim 
Kuckuck; denn diese Bienen haben nicht allein ihren Instinkt, 


229 


sondern auch ihren Bau in Übereinstimmung mit ihrer parasiti- 
schen Lebens-Weise geändert, indem sie nämlich nicht die Vor- 
richtung zur Einsammlung des Pollens besitzen, deren sie be- 
dürften, wenn sie Nahrung für ihre eigne Brut vorräthig auf- 
häufen müssten. Einige Insekten- Arten schmarotzen nach der 
Weise der Sphegiden bei andern Arten, und Herr Fasre hat neu- 
lich guten Grund nachgewiesen zu glauben, dass, obwohl Tachytes 
nigra gewöhnlich ihre eigne Höhle macht und darin noch lebende 
aber gelähmte Beute zur Nahrung ihrer eignen Larve im Vorrath 
niederlegt, dieselbe doch, wenn sie eine schon fertige und mit 
Vorräthen versehene Höhle einer andern Sphex findet, davon 
Besitz ergreift und in Folge dieser Gelegenheit Parasit wird. In 
diesem Falle wie in dem angenommenen Beispiele von dem 
Kuckuck liegt kein Hinderniss für die Natürliche Züchtung: vor, 
aus dem gelegentlichen Brauche einen beständigen zu machen, 
wenn er für die Art nützlich ist, und wenn nicht in Folge dessen 
die andre Insekten-Art, deren Nest und Futter-Vorräthe sie sich 
verrätherischer Weise aneignet, dadurch vertilgt wird. 
Instinkt Sklaven zu machen). Dieser Naturtrieb wurde 
zuerst bei Formica (Poliergus) rufescens von Prrer Huser beob- 
achtet, einem noch besseren Beobachter, als sein berühmter Vater 
gewesen. Diese Ameise ist unbedingt von ihren Sklaven ab- 
hängig, ohne deren Hülfe die Art schon in einem Jahre gänzlich 
zu Grund gehen müsste. Die Männchen und fruchtbaren Weib- 
chen arbeiten nicht. Die arbeitenden oder unfruchtbaren Weib- 
chen dagegen, obgleich sehr muthig und thatkräftig beim Sklaven- 
Fangen, thun nichts andres. Sie sind unfähig ihre eignen Nester 
zu machen oder ihre eignen Jungen zu füttern. Wenn das alte 
Nest unpassend befunden und eine Auswanderung nöthig wird, 
entscheiden die Sklaven darüber und schleppen dann. ihre Mei- 
ster zwischen den Kinnladen fort. Diese letzten sind so äus- 
serst hülfelos, dass, als Huser deren dreissig ohne Sklaven 
aber mit einer reichlichen Menge des besten Fuiters und zugleich 
mit ihren Larven und Puppen, um sie zur Thätigkeit anzuspornen, 
zusammen-sperrte, sie nicht einmal sich selbst fütterten und 
grossentheils Hungers starben. Huser brachte dann einen ein- 


230 


zigen Sklaven (Formica fusca) dazu, der sich unverzüglich ans 
Werk begab und die noch überlebenden fütterte und rettete, 
einige Zellen machte, die Larven pflegte und Alles in Ord- 
nung brachte. Was kann es Ausserordentlicheres geben, als 
diese wohl-verbürgten Thatsachen®? Hätte man nicht noch von 
einigen andern Sklaven-machenden Ameisen Kenntniss, so würde 
es ein Hoffnungs-loser Versuch gewesen seyn sich eine Vor- 
stellung davon zu machen, wie ein so wunderbarer Instinkt zu 
solcher Vollkommenheit gedeihen könne. 

Eine andre Ameisen-Art, Formica sanguinea, wurde gleich- 
falls zuerst von Huser als Sklavenmacherin erkannt. Sie kömmt 
im südlichen Theile von England vor, wo ihre Gewohnheiten 
von H. F. Smırn vom Britischen Museum beobachtet worden sind, 
dem ich für seine Mittheilungen über diesen und andre Gegen- 
stände sehr verbunden bin. Wenn auch volles. Vertrauen.in.die 


Versicherungen..der..zwei genannten Naturforscher. ‚setzend, ver- _ 


mochte, ich .doch..nieht. ohne einigen Zweifel. ‚an die Sache zu 
gehen, und es mag. ‚wohl zu entschuldigen. seyn, wenn ‚jemand. 


an einen so ausserordentlichen und hässlichen. ‚„Justinkt, ‚wie „der 


ist Sklaven zu, „machen, „wicht unmittelb bar "glauben kann. in Ben 
nn 


EN a 


| “daher dasjenige, was ich selbst beobachtet "habe, m mil einigen 
‘ Einzelnheiten erzählen. Ich öffnete vierzehn Nest-Haufen der 


Formica sanguinea und fand in allen einige Sklaven. Männchen 
und fruchtbare Weibchen der Sklaven-Art (F. fusca) kommen 
nur in ihrer eignen Gemeinde vor ‚und sind nie in den Hanfen 
der F. sanguinea gefunden worden. Die Sklaven sind schwarz 
und von nicht mehr als der halben Grösse ihrer Herrn, so dass 
der Gegensatz in ihrer Erscheinung sogleich auffällt. Wird der 


- Haufe nur leicht wenig gestört, so kommen die Sklaven zuweilen 


heraus und zeigen sich gleich ihren Meistern sehr beunruhigt 
und zur Vertheidigung bereit. Wird aber der Haufe so zerrüttet, 
dass Larven und Puppen frei zu liegen kommen, so sind die 
Sklaven mit ihren Meistern zugleich lebhalt bemüht, dieselben 
nach einem sichern Platze zu schleppen. Daraus ist klar, dass 
sich die Sklaven ganz heimisch fühlen. ‘Während der Monate 
Juni und Juli habe ich in drei 'aufeinander-folgenden Jahren in 


! 


231 


den ‚Grafschaften Surrey und Sussex mehre solcher Ameisen- 
Haufen Stunden-lang beobachtet und nie einen Sklaven aus- oder 
Da während dieser Monate der Sklaven nur 
wenige sind, ‘so dachte ich sie würden sich anders: benehmen, 
wenn sie in grössrer. Anzahl wären; aber auch Hr. Smirn theilt 
mir mit, dass er die Nester zu verschiedenen Stunden während 
der Monate Mai, Juni und August in Surrey wie in Hampshire. 
beobachtet und, obwohl die Sklaven im August zahlreich sind, 
nie einen derselben aus- oder ein-gehen gesehen hat. Er be- 
trachtet sie daher lediglich als Haus - Sklaven. Dagegen sieht 
an ihre Herrn beständig Nestbau-Stoffe und Futter aller Art 
herbeischleppen. Im jetzigen Jahre jedoch kam ich im Juli zu 
einer Gemeinde mit einem ungewöhnlich starken Sklaven-Stande 
und sah einige wenige Sklaven unter ihre Meister gemengt das 
Nest verlassen und mit ihnen den nämlichen Weg zu einer 
Schottischen Kiefer, ‘25 Ellen entfernt, einschlagen und am 
Stamme hinauflaufen, wahrscheinlich um nach. Blatt- oder Schild- 
Läusen zu suchen. Nach Huser, welcher reichliche Gelegenheit 
zur Beobachtung gehabt, arbeiten in der Schweitz die Sklaven 
gewöhnlich mit ihren Herrn an der Aufführung des Nestes, und 
sie allein öffnen und schliessen die Thore in den Morgen- und 
Abend-Stunden; jedoch ist, wie Huser ausdrücklich versichert, 
ihr Hauptgeschäft 'nach Blattläusen zu suchen. Dieser Unterschied 
in den herrschenden Gewohnheiten von Herrn und Sklaven in 
zweierlei Gegenden mag lediglich davon abhängen, dass in der 
Schweitz die Sklaven zahlreicher einzufangen sind als in England. 

Eines Tages bemerkte ich glücklicher Weise eine Wande- 
rung der F, sanguinea von eineın Haufen zum andern, und es 
war ein sehr interessanter Anblick, wie die Herrn ihre Sklaven 
sorglältig zwischen ihren Kinnladen davon schleppten, anstatt 
selbst von ihnen getragen zu werden, wie es bei F. rufescens 
der Fall ist. Eines andern Tages wurde meine Aufmerksamkeit 
von etwa zwei Dutzend Ameisen der  Sklaven-machenden Art in 
zum ee welche dieselbe Stelle ‚besuchten, doch 
offenbar nicht des Futters wegen. Bei ihrer Annäherung wurde 
sie von einer unabhängigen Kolonie der Sklaven-gebenden Pe 


ein-gehen sehen. 


232 


F. fusea, zurückgetrieben, so dass zuweilen bis drei dieser 
letzten an den Beinen einer F. sanguinea hingen. Diese letzte 
tödtete ihre kleineren Gegner ohne Erbarmen und 'schleppte 
deren Leichen als Nahrung in ihr 29 Ellen entferntes Nest; aber 
sie wurde verhindert Puppen wegzunehmen, um sie zu Sklaven. 
aufzuziehen. Ich entnahm dann aus einem andern Haufen der 
F. fusca eine geringe Anzahl Puppen und legte sie, auf eine kahle 
Stelle nächst dem Kampfplatze nieder. Diese wurden begierig 
von den Tyrannen ergriffen und fortgetragen, die sich vielleicht 
einbildeten, doch. endlich Sieger in dem letzten Kampfe gewesen . 
zu seyn. 

Gleichzeitig legte ich an derselben Stelle eine Parthie Puppen 
der Formica flava mit einigen wenigen reifen Ameisen dieser 
gelben Art nieder, welche noch an Bruchstücken ihres Nestes 
hingen. Auch diese Art wird zuweilen, doch selten zu Sklaven 
gemacht, wie Hr. Smisu beschrieben hat. Obwohl klein ist diese 
Art sehr muthig, und ich habe sie mit wildem Ungestüm andre 
Ameisen angreifen sehen. Einmal fand ich zu meinem Erstaunen 
unter einem Steine eine unabhängige Kolonie der Formica flava 
noch unterha]b einem Neste der Sklaven-machenden F. sanguinea; 
und da ich zufällig beide Nester gestört hatte, so griff die kleine 
Art ihre grosse Nachbarin mit erstaunlichem Muthe an. Ich war 
nun neugierig zu erfahren, ob F. sanguinea im Stande seye, die 
Puppen der F. fusca, welche sie gewöhnlich zur Sklaven-Zucht 
verwendet, von denen der kleinen wüthenden F. flava zu unter- 
scheiden, welche sie nur selten in Gefangenschaft führt, und es 
ergab sich bald, dass sie dieses Unterscheidungs - Vermögen be- 
sass; denn ich sah sie begierig und augenblicklich über die 
Puppen der F. fusca herfallen, während sie sehr erschrocken 
schien, wenn sie auf die Puppen oder auch nur auf die Erde 
aus dem Neste der F. flava stiess, und rasch davonrannte. Aber 
nach einer Viertel-Stunde etwa, kurz nachdem alle kleinen gelben 
Ameisen die Stelle verlassen hatten, bekamen sie Muth und griffen 
auch diese Puppen auf. 

Eines Abends besuchte ich eine andre Gemeinde der F. san- 
guinea und fand’'eine Anzahl derselben auf dem Heimwege und 


233 


beim Eingang in ihr Nest, Leichen und viele Puppen der F. 
fusea mit sich schleppend, also nicht auf blosser Wanderung be- 
griffen. ‘Ich verfolgte eine 40 Ellen lange Reihe mit Beute be- 
ladener Ameisen bis zu einem dichten Haide-Gebüsch, wo ich 
das letzte Individuum der F. sanguinea mit einer Puppe belas- 
tet herauskommen sah; aber das zerstörte Nest konnte ich in 
der dichten Haide nicht finden, obwohl es nicht mehr ferne 
gewesen seyn kann, indem zwei oder drei Individuen der F. 
fusca in der grössten Aufregung umherrannten und eines bewe- 
gungslos an der Spitze eines Haide-Zweiges hing: alle mit ihren 
eignen Puppen im Maul, ein Bild der Verzweiflung über ihre 
zerstörte Heimath. 

Diess sind die Thatsachen, welche ich, obwohl sie meiner 
Bestätigung nicht erst bedurft hätten, über den wundersamen 
Sklavenmacher-Instinkt berichten kann. Zuerst ist der grosse 
Gegensatz zwischen den instinktiven Gewohnheiten der F. san- 
guinea und der kontinentalen F. rufescens zu bemerken. Diese 
letzte baut nicht selbst ihr Nest, bestimmt nicht ihre eignen 
Wanderungen, sammelt nicht das Futter für sich und ihre Brut 
und kann nicht einmal allein fressen; sie ist absolut abhängig 
von ihren zahlreichen Sklaven. Die F. sanguinea dagegen hält 
viel weniger und zumal im ersten Theile des Sommers sehr 
wenige Sklaven; die Herrn bestimmen, wann und wo ein neues 
Nest gebaut werden soll; und wann sie wandern, schleppen die 
Herrn die Sklaven. In der Schweitz wie in England scheinen 
die Sklaven ausschliesslich mit der Sorge für die Brut beauftragt 
zu seyn, und die Herrn allein gehen auf den Sklaven-Fang aus. 
In der Schweitz arbeiten Herrn und Sklaven miteinander um 
Nestbau-Materialien herbeizuschaffen ; beide und doch vorzugs- 
weise die Sklaven besuchen und melken, wie man es nennen 
könnte, ihre Aphiden, und beide sammeln Nahrung für die Ge- 
meinschaft ein, In England verlassen die Herrn gewöhnlich 
allein das Nest, um Bau-Stoffe und Futter für sich, ihre Larven 
und Sklaven einzusammeln, so dass dieselben hier von ihren 
Sklaven viel weniger Dienste empfangen, als in der Schweitz. 

Ich will mich nicht vermessen zu errathen, auf welchem 


4 


234 


Wege der Instinkt der F. sanguimea sich entwickelt hat. “Da 
jedoch Ameisen, welche keine Sklavenmacher sind, wie wir ge- 
sehen haben, zufällig um ihr Nest zerstreute Puppen andrer 
‚Arten heimschleppen, vielleicht um sie als Nahrung zu verwen- 
den, so können sich solche Puppen dort auch noch zuweilen 
entwickeln, und die auf solche Weise absichtslos im Haus erzog- 
nen Fremdlinge mögen dann ihren eignen Instinkten folgen und 
arbeiten, was sie können. Erweiset sich ihre Anwesenheit nütz- 
lich für die Art, welche sie aufgenommen hat, und sagt es die- 
ser letzten mehr zu Arbeiter zu fangen als zu erziehen, so 
kann der ursprünglich zufällige Brauch fremde Puppen zur Nah- 
rung einzusammeln durch Natürliche Züchtung verstärkt und end- 
lich zu dem ganz verschiedenen Zwecke Sklaven: zu erziehen 
bleibend befestigt werden. Wenn dieser Naturtrieb zur Zeit 
seines Ursprungs in einem noch viel minderen Grade als bei 
unsrer- F. sanguinea entwickelt war, welche noch jetzt von ihren 
Sklaven weniger Hülfe in England als in der Schweitz empfängt, 
so finde ich kein Bedenken anzunehmen, Natürliche Züchtung 
habe dann diesen Instinkt verstärkt und, immer vorausgeselzt, 
dass jede Abänderung der Spezies nützlich gewesen, allmählich 
so weit abgeändert, dass endlich eine Ameisen-Art entstund in 
so verächtlicher Abhängigkeit von ihren eignen Sklaven, wie «es 
F. rufescens ist. 

Zellen-bauender Instinkt der Korb-Bienen.)- Ich 
beabsichtige nicht über diesen Gegenstand in kleine Einzelnbei- 
ten einzugehen, sondern will mich beschränken, eine Skizze von 
den Ergebnissen zu liefern, zu welchen ich gelangt bin. Es 
müsste ein beschränkter Mensch seyn, welcher bei Untersuchung 
des ausgezeichneten Baues einer Bienen-Wabe, die ihrem Zwecke 


so wundersam angepasst ist, nicht in begeisterte Verwunderung 
geriethe. Wir hören von Mathematikern, dass die Bienen prak- 
tisch ein schwieriges Problem gelöst und ihre Zellen in derjeni- 
gen Form, welche die grösst-mögliche Menge von Honig aufneh- 
men kann, mit dem geringst-möglichen Aufwande des kostspieli- 
gen Bau-Materiales, des Wachses nämlich, hergestellt ‘haben. 
Man hat bemerkt, dass es einem geschickten Arbeiter mit passen- 


235 


den Maassen und Werkzeugen sehr schwer fallen würde , regel- 
mässig sechseckige Wachs-Zellen zu machen, obwohl Diess eine 
wimmelnde Menge von Bienen in dunklem Korbe mit grösster 
Genauigkeit vollführt. Was für einen Instinkt man auch anneh- 
men mag, so scheint es doch anfangs ganz unbegreiflich, wie 
derselbe solle alle nöthigen Winkel und Flächen berechnen, 
oder auch nur beurtheilen können, ob sie richtig gemacht sind. 
Inzwischen ist doch die Schwierigkeit nicht so gross, wie sie 
Anfangs scheint; denn all’ diess schöne Werk lässt sich von 
einigen wenigen sehr einfachen Naturtrieben herleiten. 

Ich war diesen Gegenstand zu verfolgen durch Herrn WATER- 
house veranlasst worden, welcher gezeigt hat, dass die Form 
der Zellen in enger Beziehung zur Anwesenheit von Nachbar- 
zellen steht, und die folgende Ansicht ist vielleicht nur eine 
Modifikation seiner Theorie. Wenden wir uns zu dem grossen 
Abstulungs-Prinzipe und sehen wir zu, ob uns die Natur nicht 
ihre Methode zu wirken enthülle. Am einen Ende der kurzen 
Stulen-Reihe sehen wir die Hummel-Bienen, welche ihre alten 
Coecons zur Aufnahme von Honig verwendet, indem sie ihnen 
zuweilen kurze Wachs-Röhren anfügt und ebenso auch einzeln 
abgesonderte und sehr unregelmässig abgerundete Zellen von 
Wachs anfertigt. Am andern Ende der Reihe haben wir die 
Zellen der Korbbiene, eine doppelte Schicht bildend; jede Zelle 
ist bekanntlich ein sechsseitiges Prisma, deren Grundfläche durch 
eine stumpl/-dreiseitige Pyramide aus drei Rautenflächen mit festen 
Winkeln ersetzt ist, ‘ Dieselben drei Rautenflächen, welche die 
pyramidale Basis einer Zelle in der einen Zelfen-Schicht der 
Scheibe bilden, entsprechen je einer Rautenfläche in drei anein- 
anderstossenden Zellen der entgegengesetzten Schicht. Als Zwi- 
schenstule zwischen der aussersten Vervollkommnung im Zellen-Bau 
der Korb-Biene und der äussersten Einfachheit in dem der Hum- 
mel-Biene haben wir dann die Zellen der Mexikanischen Melipona 
dpmeslica, welche P. Huser gleichfalls sorgfältig beschrieben und 
nn era 
doch der letzten _ A ne ” . 

y einen fast regelmässigen wäch- 


236 


sernen Zellen-Kuchen mit walzigen Zellen, worin die Jungen 
gepflegt werden, und überdiess mit einigen grossen Zellen zur 
Aufnahme von Honig. Diese letzten sind von ihrer freien 
Seite gesehen fast kreisförmig und von nahezu gleicher Grösse, 
in eine unregelmässige Masse zusammengefügt; am wichtigsten 
aber ist daran zu bemerken, dass sie so' nahe aneinander gerückt, 
sind, dass alle kreisförmigen Wände, wenn sie auch da. wo die 
Zellen aneinander stossen, ihre Kreise fortsetzten, einander 
schneiden oder durchsetzen müssten; daher die Wände an den 
aneinander-liegenden Stellen eben abgeplattet sind. ‚Jede dieser 
im Ganzen genommen kreisrunden Zellen hat mithin doch 2—3 
oder mehr vollkommen ebene Seitenflächen, je nachdem sie an 
2—3 oder mehr andre Zellen seitlich angrenzt. Kommt eine 
Zelle in Berührung mit drei andern Zellen, was, da alle von 
fast gleicher Grösse sind, nothwendig sehr oft geschieht, so ver- 
einigen sich die drei ebenen Flächen zu einer dreiseitigen Py- 
ramide, welche, nach Huser's Bemerkung, offenbar der drei- 
seitigen Pyramide an der Basis der Zellen unsrer Korb-Biene zu 
vergleichen ist. Wie in den Zellen der Honigbiene, so nehmen 
auch hier die drei ebenen Flächen einer Zelle an der Zusammen- 
setzung dreier andren anstossenden Zellen Theil. Es ist offen- 
bar, dass die Melipona bei dieser Bildungs-Weise Wachs erspart; 
denn die Wände sind da, wo mehre solche Zellen aneinander- 
grenzen, nicht doppelt und nur von der Dicke wie die kreisför- 
migen Theile, und jedes flache Stück Zwischenwand nimmt an 
der Zusammensetzung zweier aneinanderstossenden Zellen Antheil. 

Indem ich über diesen Fall nachdachte, kam es mir vor, als 
ob, wenn die Melipona ihre walzigen Zellen von gleicher Grösse 
in einer gegebenen gleichen Entfernung von einander gefertigt 
und symmetrisch in eine doppelte Schicht geordnet hätte, der da- 
durch erzielte Bau so vollkommen als der der Korb-Biene gewor- 
den seyn würde. Demzufolge schrieb ich an Professor MitLER 
in Cambridge, und dieser Geometer bezeichnet die folgende sei- 
ner Belehrung entnommene Darstellung als richtig. | 

Wenn eine Anzahl unter sich gleicher Kreise so beschrieben 
wird, dass ihre Mittelpunkte in zwei parallelen Ebenen liegen, 


237 


und das Centrum eines jeden Kreises um Radius xy 2 oder 
Radius x 1.41421 (oder weniger) von den Mittelpunkten der sechs 
umgebenden Kreise in derselben Schicht, und eben so weit von 
den Centren der angrenzenden Kreise in der andren parallelen 
Schicht entfernt ist*, und wenn alsdann Durchscheidungsilächen 
zwischen den verschiedenen Kreisen beider Schichten gebildet 
werden: — so muss sich eine doppelte Lage sechsseitiger Pris- 
men ergeben, welche mit aus drei Rauten gebildeten dreiseilig- 
pyramidalen Basen aufeinanderstehen,, und diese Rauten- sowie 
die Seiten-Flächen der sechsseitigen Prismen werden in allen 
Winkeln aufs Genaueste übereinstimmen, wie sie an den Wachs- 
scheiben der Bienen nach den sorgfältigsten Messungen vorkom- 
men. Wir können daher mit Verlässigkeit schliessen, dass, 
wenn wir die jetzigen noch nicht sehr ausgezeichneten Instinkte 
der Melipona etwas zu verbessern im Stande wären, diese 
einen Bau eben so wunderbar vollkommen zu liefern ver- 
möchte, als die Korb-Biene. Stellen wir uns also vor, die Meli- 
pona mache ihre Zellen ganz kreisrund und gleich-gross, was 
nicht zum Verwundern seyn würde, da sie es schon in gewissem 
Grade thut und viele Insekten sich vollkommen walzenförmige 
Zellen in Holz aushöhlen, indem sie anscheinend sich um einen 
festen Punkt drehen. Stellen wir uns ferner vor, die Melipona ordne 
ihre Zellen in ebnen Lagen, wie sie es bereits mit ihren Wal- 
zen-Zellen thut. Nehmen wir ferner an (und Diess ist die grösste 
Schwierigkeit), sie vermöge irgend-wie genau zu beurtheilen, in 


% e * * ® [3 * . 

Ich glaube die Aufgabe der Bienen ist eine einfachre, als dieser 
mathematischen Formel zu genügen! Eine Einzelbiene macht eine zylindrische 
Zelle. Stossen wir ihre Zellen möglichst dicht aneinander, so dass keine 
Zwischenräume bleiben, so können die Zellen nur sechs-, vier- oder drei- 
eekige seyn, indem sie sich an den Aneinanderlagerungs-Seiten abplatten 

. - = * E7 ” - 2 
er ao BREMMecNge am wenigsten, dreieckige Zellen am meisten von den 
runden ab; jene bilden mithin die einfachst öeli 

e der mög 
ag ANETTE HERR öglichen Modifikationen. 
ste Modilikation erheischt im Verhältniss zu ihrem Inhalte aller- 
dings am ig si 
- gs am wenigsten Wachs; sie beengt aber auch, da ihre verschiedenen 
ge er wenigsten ungleich sind, die darin nistende Made am wenig- 
sten in ihrer Entwickelung und Beweg ibt si 
g wegung; endlich gi 
meisten Festigkeit il die Zwi a a 
gkeit, weil die Zwischenwände sich in drei und bei vierecki- 

gen nur in zwei Richtungen kreutzen. D. Übrs 


238 


welchem Abstande von ihren gleichzeitig beschäftigten Mitarbei- 
terinnen sie ihre kreisrunden Zellen beginnen müsse; wir sahen 
sie ja bereits Entfernungen hinreichend bemessen, um: alle ihre 
Kreise so zu beschreiben, dass sie einander stark schneiden, 
und sahen sie dann die Schneidungs-Punkte durch vollkommen 
ebene Wände mit einander verbinden. Unterstellen wir endlich, 
was keiner Schwierigkeit unterliegt, dass, wenn die sechsseitigen 
Prismen durch Schneidung in der nämlichen Schicht aneinander- 
liegender Kreise gebildet sind, sie deren Sechsecke bis zu genügen- 
der Ausdehnung verlängern könne, um den Honig-Vorrath auf- 
zunehmen, wie die Hummel den runden Mündungen ihrer alten 
Coceons noch Wachs-Zylinder ansetzt. Diess sind die nicht sehr 
wunderbaren Modifikationen dieses Instinktes (wenigstens nicht 
wunderbarer als jene, die den Vogel bei seinem Nestbau lei- 
ten). durch welche, wie ich glaube, die Korb-Biene auf dem Wege 
Natürlicher Züchtung zu ihrer unnachahmlichen architektonischen 
Geschicklichkeit gelangt ist. 

Doch diese Theorie lässt sich durch Versuche bewähren. 
Nach Herrn Tesermeier’s Vorgange trennte ich zwei Bienen-Waben 
und fügte einen langen dicken viereckigen Streifen Wachs da- 
zwischen. Die Bienen begannen sogleich kleine kreisrunde 
Grübchen darin auszuhöhlen, die sie immer mehr erweiterten je 
tiefer sie wurden, bis flache Becken daraus entstunden, die 
genau kreisrund und vom Durchmesser der gewöhnlichen Zel- 
len waren. Es war sehr ansprechend für mich zu beobach- 
ten, dass überall, wo mehre Bienen zugleich neben einander 
solche Aushöhlungen zu machen begannen, sie genau die rich- 
tigen Entfernungen einhielten, dass jene Becken mit der Zeit voll- 
kommen die erwähnte Weite einer gewöhnlichen Zelle erlangten, 
so dass, als sie den sechsten Theil des Durchmessers des Kreises, 
wovon sie einen Theil bildeten, erreicht hatten, sie einander schnei- 
den mussten. Sobald diess der Fall war, hielten die Bienen mit 
der weiteren Austiefung ein und begannen auf den Schneidungs- 
Linien zwischen den Becken ebene Wände von Wachs senkrecht 


aufzuführen, so dass jede sechsseitige Zelle auf den unebenen 
Rand eines glatten Beckens statt auf die geraden Ränder einer 


239 
dreiseitigen Pyramide zu stehen kam, wie bei den gewöhnlichen 
Bienen-Zellen. 

Ich : brachte dann ‘statt eines dicken viereckigen Stückes 
Wachs einen schmalen und nur Messerrücken-dieken Wachs-Strei- 
fen, mit Cochenille gefärbt, in den Korb. Die Bienen begannen 
sogleich von zwei Seiten her kleine Becken nahe beieinander 
darin auszuhöhlen, wie zuvor; aber der Wachs-Streifen war so 
dünn, dass die Böden der Becken bei gleich-tiefer Aushöhlung 
wie vorhin von zwei entgegengesetzten Seiten her hätten inein- 
ander brechen müssen. Dazu liessen es aber die Bienen nicht 
kommen , sondern hörten bei Zeiten mit. der Vertiefung auf, so 
dass die Becken, so bald sie etwas vertieft waren, ebene Böden 
bekamen; und diese ebenen Böden, aus dünnen Plättchen des 
rothgefärbten  Wachses bestehend, die nicht weiter ausgenagl 
wurden, kamen, so weit das Auge unterscheiden konnte, genau 
längs den eingebildeten Schneidungs-Ebenen zwischen den Becken 
der zwei entgegengesetzten Seiten des Wachs-Streifens zu lie- 
gen. Stellenweise waren kleine Anfänge, an anderen Stellen 
grössre Theile rhombischer Tafeln zwischen den einander ent- 
gegenstehenden Becken übrig geblieben; aber das Werk wurde 
in Folge der unnatürlichen Lage der Dinge nicht zierlich ausge- 
führt. Die Bienen müssen in ungefähr gleichem Verhältniss auf 
beiden Seiten des rothen Wachs-Streifens gearbeitet haben, als 
sie die kreisrunden Vertiefungen von beiden Seiten her ausnag- 
ten, um bei Einstellung der Arbeit die ebenen Boden-Plättchen 
auf der Zwischenwand übrig lassen zu können. « 

Berücksichtigt man, wie biegsam dieses Wachs ist, so sehe 
ich keine Schwierigkeit für die Bienen ein, es von beiden Seiten 
her wahrzunehmen, wenn sie das Wachs bis zur angemessenen 
Dünne weggenagt haben, um dann ihre Arbeit einzustellen. In 
gewähnliahen Bienenwaben schien mir, dass es den Bienen nicht 
Immer gelinge, genau gleichen Schrittes von beiden Seiten her 
zu arbeiten. Denn ich habe halb-vollendete Rauten am Grunde 
einer eben begonnenen Zelle bemerkt, die an einer Seite etwas 
konkay waren, wo nach meiner Vermuthung die Bienen ein we- 
nıg zu rasch vorgedrungen waren, und auf der anderen Seite kon- 


240 


vex erschienen, wo sie träger in der Arbeit gewesen. In einem 
sehr ausgezeichneten Falle der Art brachte ich die Wabe in den 
Korb zurück, liess die Bienen kurze Zeit daran arbeiten, und 
nahm sie darauf wieder heraus, um die Zellen aufs Neue zu un- 
tersuchen. Ich fand dann die Rauten-förmigen Platten ergänzt 
und von beiden Seiten vollkommen eben. Es war aber bei der 
ausserordentlichen Dünne der rhombischen Plättehen unmöglich 
gewesen, Diess durch ein weitres Benagen von der konvexen 
Seite her zu bewirken, und ich vermuthe, dass die Bienen in 
solchen Fällen von den entgegengesetzten Zellen aus das bieg- 
same und warme Wachs (was nach einem Versuche leicht ge- 
schehen kann) in die zukömmliche mittle Ebene gedrückt und 
gebogen haben, bis es flach wurde. 

Aus dem Versuche mit dem roth-gefärbten Streifen ist klar 
zu ersehen, dass, wenn die Bienen eine dünne Wachs-Wand zur 
Bearbeitung vor sich haben, sie ihre Zellen von angemessener 
Form machen können, indem sie sich in richtigen Entfernungen 
von einander halten, gleichen Schritts mit der Austiefung vor- 
rücken, und gleiche runde Höhlen machen, ohne jedoch deren 
Zwischenwände zu durchbrechen. Nun machen die Bienen, wie 
man bei Untersuchung des Randes einer in umfänglicher Zu- 
nahme begriffenen Honigwabe deutlich erkennt, eine rauhe Ein- 
fassung oder Wand rund um die Wabe, und nagen darin von 
den entgegengesetzten Seiten her ihre Zellen aus, indem sie mit 
deren Vertiefung auch den kreisrunden Umfang erweitern. Sie 
machen nie die ganze dreiseitige Pyramide des Bodens einer 
Zelle auf einmal, sondern nur die eine der drei rhombischen 
Platten, welche dem äussersten in Zunahme begriffenen Rande 
entspricht, oder auch die zwei Platten, wie es die Lage mit sich 
bringt. Auch ergänzen sie nie die oberen Ränder der rhombi- 
schen Platten, als bis die sechsseitige Zellenwand angefangen 
wird. Einige dieser Angaben weichen von denen des mit Recht 
berühmten älteren Huser ab, aber ich bin überzeugt, dass sie 
richtig sind; und wenn es der Raum gestattete, so würde ich 
zeigen, dass sie so mit meiner Theorie in Einklang stehen. 

Huser’s Behauptung, dass die allererste Zelle in einer nicht 


241 


vollkommen parallel-seitigen Wachs-Wand ausgehöhlt worden, ist, 
so viel ich gesehen, nicht ganz richtig: der erste Anfang ang 
immer eine kleine Haube von Wachs; doch will ich in diese 
Einzelnheiten hier nicht eingehen. Wir sehen, was für einen 
wichtigen Antheil die Aushöhlung an der Zellen-Bildung hat; 
doch wäre es ein grosser Fehler anzunehmen, die Bienen 
könnten auf eine rauhe Wachs-Wand nicht in geeigneter Lage, 
d. h. längs der Durchschnitts-Ebene zwischen zwei aneinander- 
grenzenden Kreisen, bauen. Ich habe verschiedene Musterstücke, 
welche beweisen, dass sie Diess können. Selbst in dem rohen 
umfänglichen Wachs-Rande rund um eine in Zunahme begriffene 
Wabe beobachtet man zuweilen Krümmungen, welche ihrer Lage 
‘nach den Ebenen der rautenförmigen Grund-Platten künftiger 
Zellen entsprechen. Aber in allen Fällen muss die rauhe Wachs- 
Wand durch Wegnagung ansehnlicher Theile derselben von bei- 
den Seiten her ausgearbeitet werden. Die Art, wie die Bienen 
bauen, ist sonderbar. Sie machen immer die erste rohe Wand 
zehn bis zwanzig mal dicker, als die äusserst feine Scheidewand, 
die zuletzt zwischen den Zellen übrig bleiben soll. Wir werden 
besser verstehen, wie sie zu Werke gehen, wenn wir uns den- 
ken, Maurer häuften zuerst einen breiten Zäment- Wall auf, 
begännen dann am Boden denselben von zwei Seiten her glei- 
chen Schrittes, bis noch eine dünne Wand in der Mitte, wegzu- 
hauen und häuften das Weggehauene mit neuem Zäment immer 
wieder auf dem Rücken des Walles an. Wir haben dann eine 
dünne stetig in die Höhe wachsende Wand, die aber stets noch 
überragt ist von einem dicken rohen Wall. Da-alle Zellen, die 
erst angelangenen sowohl als die schon fertigen, auf diese Weise 
von einer starken Wachs-Masse gekrönt sind, so können sich die 
Bienen auf der Wabe zusammenhäufen und herumtummeln, ohne 
die zarten sechseckigen Zellen-Wände zu beschädigen, welche 
nur Yon Zoll dick sind; die Platten an der Grund-Pyramide sind 
doppelt so dick. Durch diese eigenthümliche Weise zu bauen 
erhält die Wabe fortwährend die erforderliche Stärke mit der 
grösst-möglichen Ersparung von Wachs. 

Anfangs scheint die Schwierigkeit, die Anfertigungs-Weise 

16 


242 


der Zellen zu begreifen, noch dadurch vermehrt zu werden, dass 
eine Menge von Bienen gemeinsam arbeiten, indem jede, wenn 
sie eine Zeit lang an einer Zelle gearbeitet hat, an eine andre 
geht, so dass, wie HusEr bemerkt, ein oder zwei Dutzend Indi- 
viduen sogar am Anfang der ersten Zelle sich betheiligen. Es 
ist mir möglich gewesen, diese Thatsache zu bestätigen, indem 
ich die Ränder der sechsseitigen Wand einer einzelnen Zelle 
oder den äussersten Rand der Umfassungs-Wand einer im Wachs- 
thum begriffenen Wabe mit einer äusserst dünnen Schicht flüssi- 
gen roth-gefärbten Wachses überzog und dann jedesmal fand, 
dass die Bienen diese Farbe auf. die zarteste Weise, wie es 
kein Maler zarter mit seinem Pinsel vermocht hätte, vertheilten, 
indem sie Atome des gefärbten Wachses von ihrer Stelle ent- 
nahmen und ringsum in die zunehmenden Zellen-Ränder verar- 
beiteten. Diese Art zu bauen kömmt mir vor, wie ein Welt- 
eifer zwischen vielen Bienen einander das Gleichgewicht zu hal- 
ten, indem alle Instinkt-gemäss in gleichen Entiernungen von 
einander stehen, und alle gleiche Kreise um sich zu beschreiben 
suchen, dann aber die Durchschnitts-Ebenen zwischen diesen Krei- 
sen entweder aufzubauen oder unbenagt zu lassen. Es war in der 
That eigenthümlich anzusehen, wie manchmal in schwierigen 
Fällen, wenn z. B. zwei, Stücke einer Wabe unter irgend 
einem Winkel aneinanderstiessen, die Bienen dieselbe Zelle 
wieder niederrissen und in andrer Art herstellten, mitunter auch 
zu einer Form zurückkehrten, die sie schon einmal verwor- 
fen hatten. 

Wenn Bienen einen Platz haben, wo sie in zur Arbeit an- 
gemessener Haltung „stehen können, — 2. B. auf einem Holz- 
Stückchen gerade unter der Mitte einer abwärts wachsenden 
Wabe, so dass die Wabe über eine Seite des Holzes gebaul 
werden muss, — so können sie den Grund zu einer Wand eines 
neuen Sechsecks legen, so dass es genau am gehörigen Platze un- 
ter den andern fertigen Zellen vorragt. Es genügt, dass die Bie- 
nen im Stande sind in zukömmlicher Entfernung von einander 
und von den Wänden der zuletzt vollendeten Zellen zu stehen, 
und dann können sie, nach Maassgabe der eingebildeten Kreise, 


243 


eine Zwischenwand zwischen zwei benachbarten Zellen aufführen; 
aber, so del ich gesehen, arbeiten 'sie niemals die Ecken einer 
Zelle scharf aus, als bis 'ein grosser Theil sowohl dieser als der 
anstossenden Zellen fertig ist. Dieses Vermögen der Bienen 
unter gewissen Verhältnissen an angemessener Stelle zwischen 
zwei soeben angefangnen Zellen eine rauhe Wand zu bilden ist 
wichtig, weil es eine Thatsache erklärt, welche anfänglich die 
vorangehende Theorie mil gänzlichem Umsturze bedrohete, näm- 
lich dass die Zellen auf der äussersten Kante einer Bienen-Wabe 
zuweilen genau sechseckig sind; inzwischen habe ich hier nicht 
Raum auf diesen Gegenstand einzugehen. Dann scheint es mir 
auch keine grosse Schwierigkeit mehr darzubieten, ‚dass ein ein- 
zelnes Insekt (wie es bei der: Bienenkönigin z. B. der Fall ist) 
sechskantige Zellen baut, wenn es nämlich abwechselnd an der 
Aussen- und der Innen-Seite von zwei oder drei gleichzeitig an- 
gefangenen Zellen arbeitet und dabei immer in der angemesse- 
nen Entfernung von den Theilen der eben begonnenen Zellen 
steht, Kreise um. sich beschreibt und in den Schneidungs- 
Ebenen Zwischenwände aufführt. Auch ist es zu begreifen, 
dass ein Insekt, indem es seinen Platz am Anfangs - Punkte 
einer Zelle einnimmt und sich von da auswärts zuerst nach 
einem und dann nach fünf andern Punkten in angemessenen Ent- 
fernungen von einander und vom Mittelpunkte wendet, der Rich- 
tung der Schneidungs-Ebenen folgt und so ein einzelnes Sechs- 
eck zuwegebringt; doch ist mir nicht bekannt, dass ein Fall die- 
ser Art beobachtet worden wäre, wie denn auch aus der Erbauung 
einer einzeln-stehenden sechseckigen Zelle dem Insekt kein Vor- 
theil entspränge, indem dieselbe mehr Bau-Material als ein Zylin- 
der erheischen würde. 

Da Natürliche Züchtung nur durch Häufung geringer Abwei- 
chungen des Baues oder Instinktes wirkt, welche alle dem Indi- 
viduum in seinen Lebens-Verhältnissen nützlich sind, so mag 
man vernünftiger Weise fragen, welchen Nutzen eine lange und 
stufenweise Reihenfolge von Abänderungen des Bau-Triebes in 
der zu seiner jetzigen Vollkommenheit führenden Richtung der 
Stamm-Form unsrer Honigbienen habe bringen können? Ich 


16 * 


244 


glaube, die Antwort ist nicht schwer. Es ist bekannt, dass Bie- 
nen oft in grosser Noth sind, genügenden Nektar aufzutreiben ; 
und ich habe von Herrn TesErneEier erfahren, dass er durch Ver- 
suche ermittelt habe, dass nicht weniger als 12 —15 Pfund 
trocknen Zuckers zur Sekretion von jedem Pfund Wachs in 
einem Bienen-Korbe verbraucht werden, daher eine überschwäng- 
liche Menge flüssigen Honigs eingesammelt und von den Bienen 
eines Stockes verzehrt werden muss, um das zur Erbauung ihrer 
Waben nöthige Wachs zu erhalten. Überdiess muss eine grosse 
Anzahl Bienen während des Sekretions-Prozesses viele Tage lang 
unbeschäftigt bleiben. Ein grosser Honig- Vorrath ist ferner 
nöthig für den Unterhalt eines starken Stockes über Winter, und 
es ist bekannt, dass die Sicherheit desselben hauptsächlich gerade 
von seiner Stärke abhängt. Daher Ersparniss von Wachs eine 
grosse Ersparniss von Honig veranlasst und eine wesentliche Be- 
dingniss des Gedeihens einer Bienen-Familie ist. Für gewöhn- 
lich mag der Erfolg einer Bienen-Art von der Zahl ihrer Para- 
siten und andrer Feinde oder von ganz andern Ursachen bedingt 
und in soferne von der Menge des Honigs unabhängig seyn, 
welche die Bienen einsammeln können. Nehmen wir aber an, 
diess Letzte seye doch wirklich der Fall, wie in der That oft die 
Menge der Hummel-Bienen in einer Gegend davon bedingt ist, 
und nehmen wir ferner an (was in Wirklichkeit nicht so ist), 
ihre Gemeinde durchlebe den Winter und verlange mithin einen 
Honig-Vorrath „ so wäre es in diesem Falle für unsre Huminel- 
Bienen gewiss ein Vortheil, wenn eine geringe Veränderung 
ihres Instinktes sie veranlasste, ihre Wachs-Zellen etwas näher 
an einander zu machen, so dass sich deren kreisrunden Wände 
etwas schnitten; denn eine jede. zweien aneinander-stossenden 
Zellen gemeinsam dienende Zwischenwand müsste etwas Wachs 
ersparen. Es würde daher ein zunehmender Vortheil für unsre 
Hummeln seyn, wenn sie ihre Zellen immer regelmässiger mach- 
ten, immer näher zusammenrückten und immer mehr zu einer 


Masse vereinigten, wie Melipona, weil alsdann ein grosser Theil 
der eine jede Zelle begrenzenden Wand auch andern Zellen zur 
Begrenzung dienen und viel Wachs erspart werden würde. Aus 


245 


gleichem Grunde würde es für die Melipona vortheilhaft seyn, wenn 
sie ihre walzenförmigen Zellen noch näher zusammenrückte und 
noch regelmässiger als jetzt machte, weil dann, wie wir gesehen 
haben, die kreisförmigen Wände gänzlich verschwinden und 
durch ebene Zwischen-Wände ersetzt werden müssten , wo dann 
die Melipona eine so vollkommene Wabe als die Honig-Biene 
liefern würde. Aber über diese Stufe hinaus kann Natürliche 
Züchtung den Bau-Trieb nicht mehr vervollkommnen, weil die 
Wabe der Honig-Biene, so viel wir einsehen können, hinsichtlich 
der Wachs-Ersparniss unbedingt vollkommen ist. 

So kann nach meiner Meinung der wunderbarste aller be- 
kannten Instinkte, der der Honigbiene, durch die Annahme er- 
klärt werden, Natürliche Züchtung habe allmählich eine Menge 
kleiner Abänderungen einfachrer Naturtriebe benützt; sie habe 
auf langsamen Stufen die Bienen geleitet, in einer doppelten 
Schicht gleiche Kreise in gegebenen Entfernungen von einander 
zu ziehen und das Wachs längs ihrer Durchschnitts-Ebenen aul- 
zuschichten und auszuhöhlen, wenn auch die Bienen selbst von den 
bestimmten Abständen ihrer Kreise von einander eben so wenig als 
von den Winkeln ihrer Sechsecke und den Rautenflächen am Boden 
ein Bewusstseyn haben. Die treibende Ursache des Prozesses der 
Natürlichen Züchtung war Ersparniss an Wachs. Der einzelne 
Schwarm, welcher am wenigsten Honig zur Sekretion von Wachs 
bedurite. gedieh am besten und vererbte seinen neu-erworbenen 
Ersparniss-Trieb auf spätre Schwärme, welche dann ihrerseits 
wieder die meiste Wahrscheinlichkeit des Erfolges in dem Kampfe 
um's Daseyn hatten. 

N Ohne Zweifel liessen sich noch viele schwer erklärbare In- 
stinkte meiner Theorie Natürlicher Züchtung entgegenhalten: Fälle, 
wo sich die Veranlassung zur Entstehung eines Instinktes nicht ein- 
sehen lässt; Fälle, wo keine Zwischenstufen bekannt sind; Fälle 
von anscheinend so unwichtigen Instinkten, dass kaum abzu- 
sehen, wie sich die Natürliche Züchtung an ihnen betheiligt haben 
könne; Fälle von‘ fast gleichen Instinkten bei Thieren, welche 
+ der Stufenleiter der Natur so weit auseinander stehen. dass 
sich deren Übereinstimmung nicht durch Ererbung von RR ge- 


- 


246 


meinsamen Stamm-Form erklären lässt. sondern voneinander 
unabhängigen Züchtungs-Thätigkeiten zugeschrieben werden muss. 
Ich will hier nicht auf diese mancherlei Fälle eingehen, son- 
dern nur bei einer besondern Schwierigkeit stehen bleiben, 
welche mir anfangs unübersteiglich und meiner ganzen Theorie 
verderblich zu seyn schien. Ich will von den geschlechtlosen 
Individuen oder unfruchtharen Weibehen der Insekten-Kolonien 
sprechen; denn diese Geschlechtlosen weichen sowohl von den 
Männchen als den fruchtbaren Weibchen in Bau und Instinkt oft 
sehr weit ab und können doch, weil sie steril sind, ihre eigen- 
thümliche Beschaffenheit nicht selbst durch Fortpflanzung weiter 
übertragen. 

Dieser Gegenstand würde sich zu einer weitläufigen Er- 
örterung eignen; doch will ich hier nur einen einzelnen Fall 
herausheben, die Arbeits-Ameisen. Anzugeben wie diese Arbei- 
ter steril geworden sind, ist eine grosse Schwierigkeit, doch nicht 
grösser als bei andren auffälligen Abänderungen in der Organisa- 
tion auch. Denn es lässt sich nachweisen, dass einige Sechsfüsser 
u. a. Kerbthiere im Natur-Zustande zuweilen unfruchtbar werden; 
und falls Diess nun bei gesellig lebenden Arten vorgekommen 
und es der Gemeinde vortheilhaft gewesen ist, dass jährlich eine 
Anzahl zur Arbeit geschickter aber zur Fortpflanzung untauglicher 
Individuen unter ihnen geboren werde, so dürfte keine grosse 
Schwierigkeit für die Natürliche Züchtung ‘mehr stattgefunden 
haben , jenen Zufall zur weitern Entwickelung dieser Anlage zu 
benützen. Doch muss ich über dieses vorläufige Bedenken hin- 
weggehen. Die Grösse der Schwierigkeit liegt darin, dass diese 
Arbeiter sowohl von den männlichen wie von den weiblichen 
Ameisen auch in ihrem übrigen Bau, in der Form des Brust- 
stückes, in dem Mangel der Flügel und zuweilen der Augen, so 
wie in ihren Instinkten weit abweichen. Was den Instinkt allein 
betrifft, so hätte sich die wunderbare Verschiedenheit, welche in 
dieser Hinsicht zwischen den Arbeiterinnen und den fruchtbaren 
Weibchen ergibt, noch weit besser bei"den Honig-Bienen * nach- 


* von Sırsorp hat bekanntlich im vorigen Jahre nachgewiesen, dass bei 
der Honigbiene (u: a. Insekten) das Geschlecht der Eier von der Befruch- 


247 


weisen lassen. Wäre eine Arbeits-Ameise oder ein andres 
Geschlecht-loses Insekt ein Thier in seinem gewöhnlichen Zu- 
stande, so würde ich unbedenklich angenommen haben, dass alle 
seine Charaktere durch Natürliche Züchtung entwickelt worden 
seyen, und. dass namentlich, wenn ein Individuum mit irgend 
einer kleinen Nutz-bringenden Abweichung des Baues geboren 
worden wäre, sich diese Abweichung auf dessen Nachkommen ver- 
erbt habe, welche dann ebenfalls variirten und bei weitrer Züch- 
tung voranstunden. In der Arbeits-Ameise aber haben wir ein 
von seinen - Ältern weit abweichendes Insekt, unbedingt un- 
fruchtbar, welches daher zufällige Abänderungen des Baues nie 
ererbt haben noch auf eine Nachkommenschaft weiter. vererben 
kann. Man muss daher fragen, wie es möglich seye, diesen 
Fall mit der Theorie Natürlicher Züchtung in Einklang zu bringen ! 

Erstens können wir mit unzähligen Beispielen sowohl unter 
unsern kultivirten als unter den natürlichen Erzeugnissen bele- 
gen, dass Struktur-Verschiedenheiten aller Arten mit gewissen 
Altern oder mit nur einem der zwei Geschlechter in eine feste 
Wechselbeziehung getreten sind. Wir haben Abänderungen, die 
in solcher Wechselbeziehung nicht allein mit nur dem einen 
Geschlechte, sondern sogar mit bloss. der kurzen Jahreszeit 
stehen, wo das Reproduktiv-System thätig ist, wie das hochzeit- 
liche Kleid vieler Vögel und der Haken-förmige Unterkiefer des 
Salmen. Wir haben auch geringe Unterschiede in den Hörnern 
einiger Rinds-Rassen, welche mit einem künstlich unvollkomme- 
nen Zustande des männlichen Geschlechtes stehen; denn die 
Ochsen haben in manchen Rassen längre Hörner als in andern, 
in Vergleich zu denen ihrer Bullen oder Kühe. Ich finde da- 
her keine wesentliche Schwierigkeit darin, dass ein Charakter 
mit dem unfruchtbaren Zustande gewisser Mitglieder von Insekten- 
Gemeinden in Correlation steht; die Schwierigkeit liegt nur darin 
zu begreifen, wie solche in Wechselbeziehung stehende Aban- 
derungen des Baues durch Natürliche Züchtung langsam gehäult 
werden konnten. 


ung abhängig ist, welche im Willen der Bienenkönigin steht und nur in 
gewissen Zellen erfolgt, in andern unterbleibt. D. Übs 


248 


Diese anscheinend unüberwindliche Schwierigkeit wird aber 
bedeutend geringer oder verschwindet, wie ich glaube, gänzlich, 
wenn wir bedenken, dass - Züchtung ebensowohl bei der Fa- 
milie als bei den Individuen anwendbar ist und daher zum er- 
wünschten Ziele führen kann. So wird eine wohl-schmeckende 
Gemüse-Sorte gekocht, und diess Individuum ist zerstört; aber 
der Gärtner säet Saamen vom nämlichen Stock und erwartet mit 
Zuversicht wieder nahezu dieselbe Varietät zu ärndten. Rindvieh- 
Züchter wünschen das Fleisch vom Fett gut durchwachsen. Das 
Thier ist geschlachtet worden, aber der Züchter wendet sich mit - 
Vertrauen wieder zur nämlichen Familie. Ich habe solchen Glau- 
ben an die Macht der Züchtung. dass ich nicht bezweifle, dass 
eine Rinder-Rasse, welche stets Ochsen mit ausserordentlich 
langen Hörnern liefert, langsam gezüchtet werden könne durch 
sorgfältige Anwendung von solchen Bullen und Kühen, die, mit- 
einander gepaart, Ochsen mit den längsten Hörnern geben, ob- 
wohl nie ein Ochse selbst diese Eigenschaft auf Nachkommen 
zu übertragen im Stande ist. So mag es wohl auch mit ge- 
selligen Insekten gewesen seyn; eine kleine Abänderung im 
Bau oder Instinkt. welche mit der unfruchtbaren Beschaffenheit 
gewisser Mitglieder der Gemeinde in Zusammenhang steht, hat 
sich für die Gemeinde nützlich erwiesen , in Folge dessen die 
fruchtbaren Männchen und Weibchen derselben besser gediehen 
und auf ihre fruchtbaren Nachkommen eine Neigung übertrugen 
unfruchtbare Glieder mit gleicher Abänderung hervorzubringen. 
Und ich glaube, dass dieser Vorgang oft genug wiederholt wor- 
den ist, bis diese‘ Verschiedenheit zwischen den fruchtbaren 
und unfruchtbaren Weibchen einer Spezies zu der, wunderbaren 
Höhe gedieh, wie wir sie jetzt bei vielen gesellig lebenden In- 
sekten wahrnehmen. 


Aber die Schwierigkeit hat noch eine: höhere Stufe, die wir 
noch nicht berührt haben, indem die Geschlechtlosen bei mehren 
Ameisen-Arten nicht allein von den fruchtbaren Männchen und 
Weibchen, sondern auch noch untereinander selbst in oft un- 
glaublichem Grade abweichen und danach in 2—3 Kasten ge- 
theilt werden. Diese Kasten gehen in der Regel nicht in einan- 


249 


der über, sondern sind vollkommen getrennt, SO verschieden von- 
einander, wie es sonst zwei Arten einer Sippe oder zwei Sippen 
einer Familie zu seyn pflegen. So kommen bei Eeiton arbeitende 
und kämpfende Individuen mit ausserordentlich verschiedenen 
-Kinnladen und Instinkten vor; bei Cryptocerus tragen die Arbei- 
ter der einen Kasten allein eine wunderbare Art von Schild an 
ihrem Kopfe, dessen Zweck ganz unbekannt ist. Bei den Mexi- 
kanischen Myrmecocystus verlassen die Arbeiter der einen Kaste 
niemals das Nest; sie werden durch die Arbeiter einer andern 
Kaste gefüttert und haben ein ungeheuer entwickeltes Abdomen, 
das eine Art Honig absondert, der die Stelle desjenigen vertritt, 
welchen unsre Ameisen durch das Melken der Blattläuse erlan- 
gen; die Mexikanischen gewinnen ihn von Individuen ihrer eig- 
nen Art, die sie als »Kühe« im Hause eingestellt halten, 

Man mag in der That denken, dass ich ein übermässiges 
Vertrauen in das Prinzip der Natürlichen Züchtung setze, wenn 
ich nicht zugebe, dass so wunderbare und wohl-begründete That- 
sachen meine Theorie auf einmal gänzlich vernichten. In dem- 
einfacheren Falle , wo Geschlecht-lose Ameisen nur von einer 
Kaste vorkommen, die nach meiner Meinung durch Natürliche 
Züchtung ganz leicht von den fruchtbaren Männchen und Weib- 
chen abgetrennt worden seyn können, in diesem Falle dürfen 
wir aus der Analogie mit gewöhnlichen Abänderungen zu- 
versichtlich schliessen, dass jede geringe nützliche spätre Ab- 
weichung nicht alsbald an allen Geschlecht-losen Individuen eines 
Nestes zugleich, sondern nur an einigen wenigen zum Vorschein 
kam, und dass erst in Folge lang-fortgesetzter Züchtung frucht- 
barer Altern, welche die meisten Geschlechtlosen mit der nutz- 
baren Abänderung erzeugen konnten, die Geschlechtlosen end- 
lich alle diesen gewünschten Charakter erlangten. Nach dieser 
Ansicht müsste man auch im nämlichen‘ Neste zuweilen noch 
Geschlecht-lose Individuen derselben Insekten-Art finden, welche 
Zwischenstufen der Körper-Bildung darstellen; und diese findet 
RB in der That und zwar, wenn man berücksichtigt, wie selten 
in Europa diese Geschlechtlosen näher untersucht werden, olt 
genug. Herr F. Smiru hat gezeigt, wie erstaunlich dieselben bei 


250 


den verschiedenen Englischen Ameisen-Arten in der Grösse 
und mitunter in der Form variiren, und dass selbst die äusser- 
sten Formen zuweilen vollständig durch aus demselben Neste 
entnommene Individuen untereinander verkettet werden können. 
Ich selbst habe vollkommene Stufenreihen dieser Art miteinander 
vergleichen können. Oft geschieht es," dass die grösseren oder 
die kleineren Arbeiter die zahlreicheren sind, oft auch sind beide 
gleich zahlreich mit einer mitteln Abstufung. Formica flava hat 
grössre und kleinere Arbeiter mit einigen von miltler Grösse; 
und bei dieser Art haben nach Herrn Smirws Beobachtung die 
grösseren Arbeiter einfache Augen (Ocelli), welche, wenn auch 
klein, doch deutlich zu beobachten sind, während die Ocellen der 
kleineren nur rudimentär erscheinen. Nachdem ich verschiedene 
Individuen dieser Arbeiter sorgfältig zerlegt habe, kann ich ver- 
sichern, dass die Ocellen der letzten weit rudimentärer sind, als 
nach ihrer Grösse allein zu erwarten gewesen wäre, und ich 
glaube fest, wenn ich es auch nicht für gewiss zu behaupten 
wage, dass die Arbeiter von mittler Grösse auch Öcellen von 
mittlem Vollkommenheits-Grade besitzen. Es gibt daher zwei 
Gruppen steriler Arbeiter in einem Neste, welche nicht allein in 
der Grösse, sondern auch in den Gesichts-Organen von einander 
abweichen und durch einige wenige Glieder von mittler Beschal- 
fenheit miteinander verbunden werden. Ich könnte nun noch 
weiter gehen und sagen, dass wenn die kleineren die nützliche- 
ren für den Haushalt der Gemeinde gewesen wären und dem- 
zufolge immer diejenigen Männchen und Weibchen, welche die 
kleineren Arbeiter liefern, bei der Züchtung das Übergewicht 
gewonnen hätten, bis alle Arbeiter einerlei Beschaffenheit erlang- 
ten, wir eine Ameisen-Art haben müssten, Jeren Geschlecht- 
losen fast wie bei Myrmica beschaffen wären. Denn die Arbei- 
ter von Myrmica haben nicht einmal Augen-Rudimente, obwohl 
deren Männchen und Weibchen wohl entwickelte Ocellen besitzen. 

Ich will noch ein andres Beispiel anführen. Ich erwartete 
so zuversichtlich, Abstufungen in wesentlichen Theilen des Kör- 
per-Baues zwischen den verschiedenen Kasten der Geschlecht- 
losen in einer‘ nämlichen ‘Art zu finden, dass ich mir gerne 


251 


” 


Hrn, F. Smrm’s Anerbieten zahlreicher Exemplare der Treiber- 
Ameise (Anomma) aus West-Afrika zu Nutz’ machte. Der Leser 
wird vielleiht die Grösse des Unterschiedes zwischen deren Ar- 
beitern am besten bemessen, wenn ich ihm nicht die wirklichen 
Ausmessungen, sondern eine sireng genaue Vergleichung mit- 
theile. Die Verschiedenheit ist eben so gross, als ob wir eine 
Reihe von Arbeitsleuten ein Haus bauen sähen, von welchen 
viele nur fünf Fuss vier Zoll hoch und viele andre bis sechs- 
zehn Fuss gross wären (1:3); dann müssten wir aber noch un- 
terstellen, dass die grösseren vier- statt drei-mal so grosse Köpfe 
als die kleineren und fast fünfmal so grosse Kinnladen hätten. 
Überdiess ändern die Kinnladen dieser Arbeiter wunderbar in 
Form, in Grösse und in der Zahl der Zähne ab. Aber die für 
uns wichtigste Thatsache ist, dass, obwohl man diese Arbeiter in 
Kasten von verschiedener Grösse unterscheiden kann, sie doch 
unmerklich in einander übergehen, wie es auch mit der so weit 
auseinander weichenden Bildung ihrer Kinnladen der Fall ist. 
Ich kann mit Zuversicht über diesen letzten Punkt sprechen; 
da Hr. Lussock Zeichnungen dieser Kinnladen mit der Camera 
lucida für mich angefertigt hat, welche ich von den Arbeitern 
verschiedener Grösse abgelöst halte. 

Mit diesen Thatsachen vor mir glaube ich, dass Natürliche 
Züchtung auf die fruchtbaren Ältern wirkend Arten zu bilden im 
Stande ist, welche regelmässig auch ungeschlechtliche Individuen 
hervorbringen, die entweder alle eine ansehnliche Grösse und 
gleich-beschaffene Kinnladen haben, oder welche alle klein und 
mit Kinnladen von sehr veränderlicher Bildung versehen sind, 
oder welche endlich (und Diess ist die Hauptschwierigkeit) 
zwei Gruppen von verschiedener Beschaffenheit darstellen, wo- 
von die eine von gleicher Grösse und Bildung und die andre 
in beiderlei Hinsicht veränderlich ist, beide aus einer anfäng- 
lichen Stufenreihe wie bei Anomma hervorgegangen, wovon 
aber die zwei äussersten Formen, soferne sie für die Gemeinde 
die nützlichsten sind, durch Natürliche Züchtung der sie erzeu- 
genden Ältern immer zahlreicher überwiegend werden, bis die 
Zwischenstufen gänzlich verschwinden. 


252 


So ist nach meiner Meinung die wunderbare Erscheinung 
von zwei streng begrenzten Kasten unfruchtbarer Arbeiter in 
einerlei Nest zu erklären, welche beide weit voneinander und 
von ihren Altern verschieden sind. Es lässt sich annehmen, dass 
ihre Hervorbringung für eine soziale Insekten-Gemeinde nach 
gleichem Prinzipe, wie die Theilung der Arbeit für die zivili- 
sirten Menschen, nützlich gewesen seye. Da die Ameisen mit 
ererbten Instinkten und mit ererbten Organen und Werkzeu- 
gen und nicht mit erworbenen Kenntnissen und fabrizirtem 
Geräthe arbeiten, so liess sich eine vollständige Theilung der 
Arbeit unter denselben nur mittelst steriler Arbeiter erzielen; 
denn wären sie fruchtbar gewesen, so würden sie durch Kreut- 
zung ihre Instinkte und Werkzeuge mit denen der andern ge- 
mischt und verdorben haben. Und die Natur hat, wie ich glaube, 
diese bewundernswürdige Arbeits-Theilung in den Ameisen-Ge- 
meinden durch Züchtung bewirkt. Aber ich 'bin zu bekennen 
genöthigt, dass ich bei allem Vertrauen in dieses Prinzip 
doch, ohne die vorliegenden Thatsachen zu kennen, nie ge- 
ahnt haben würde, dass Natürliche Züchtung sich in so hohem 
Grade wirksam erweisen könne. Ich habe desshalb auch diesen 
Gegenstand mit etwas grössrer, obwohl noch ganz ungenügender 
Ausführlichkeit abgehandelt, um daran die Macht Natürlicher Züch- 
tung zu zeigen und weil er in der That die ernsteste spezielle 
Schwierigkeit lür meine Theorie darbietet. Auch ist der Fall 
darum sehr interessant, weil er zeigt, dass sowohl bei Thieren 
als bei Pflanzen jeder Betrag von Abänderung in der Struktur 
durch Häufung vieler kleinen und anscheinend zufälligen Ab- 
weichungen von irgend welcher Nützlichkeit, ohne alle Unter- 
stützung durch Übung und Gewohnheit, bewirkt werden kann. 
Denn keinerlei Grad von Übung, Gewohnheit und Willen in 
den gänzlich unfruchtbaren Gliedern einer Gemeinde vermöchte 
die Bildung oder Instinkte der fruchtbaren Glieder, welche allein 
die Nachkommenschaft liefern, zu beeinflussen. Ich bin er- 
staunt, dass noch Niemand den lehrreichen Fall der Geschlecht- 
losen Insekten der wohl-bekannten Theorie Lanarcrs enigegen- 
gesetzt hat. 


253 


Zusammenfassung.) Ich habe in diesem Kapitel ver- 
sucht, kürzlich zu zeigen, dass die Geistes-Fähigkeiten unsrer 
Hausthiere abändern, und dass diese Abänderungen vererblich 
sind. Und in noch kürzrer Weise habe ich darzuthun gestrebt, 
dass Instinkte im Natur-Zustande etwas abändern. Niemand wird 
bestreiten, dass Instinkte von der höchsten Wichtigkeit für jedes 
Thier sind. Ich sehe daher keine Schwierigkeit, warum unter 
veränderten Lebens-Bedingungen Natürliche Züchtung nicht auch 
im Stande gewesen seyn sollte, kleine Abänderungen des In- 
stinktes in einer nützlichen Richtung bis zu jedem Betrag zu 
häufen. In einigen Fällen haben Gewohnheit, Gebrauch und 
Nichtgebrauch wahrscheinlich mitgewirkt. Ich glaube nicht 
durch die in diesem Abschnitte mitgetheilten Thatsachen meine 
Theorie in irgend einer Weise zu stützen; doch ist nach meiner 
besten Überzeugung auch keine dieser Schwierigkeiten im Stande 
sie umzustossen. Auf der andern Seite aber eignen sich die 
Thatsachen, dass Instinkte nicht immer vollkommen und noch 
Missdeutungen unterworfen sind, — dass kein Instinkt zum 
ausschliesslichen Vortheil eines andern . Thieres vorhanden ist, 
wenn auch jedes Thier von Instinkten andrer Nutzen zieht, — 
dass der naturhistorische Glaubenssatz »Natura non facit sal- 
tum« ebensowohl auf Instinkte als auf körperliche Bildungen 
anwendbar und aus den vorgetragenen Ansichten eben so er- 
klärlich als auf andre Weise unerklärbar ist: alle diese That- 
sachen eignen sich die Theorie der Natürlichen Züchtung zu be- 
festigen. 

Diese Theorie wird noch durch einige andre Erscheinungen 
hinsichtlich der Instinkte bestärkt. So durch die gemeine Beob- 
achtung,, dass einander nahe verwandte aber sicherlich ver- 
schiedene Spezies, wenn sie von einander entfernte Welttheile 
bewohnen und unter beträchtlich verschiedenen Existenz - Be- 
dingungen leben, doch oft fast dieselben Instinkte beibehalten. 
So z. B. lässt sich aus dem Erblichkeits-Prinzip erklären, wie 
es kommt. dass die Süd-Amerikanische Drossel ihr Nest mit 
Schlamm auskleidet ganz in derselben Weise, wie es unsre Euro- 
päische Drossel thut; — wie es kommt, dass die Männchen des 


254 
Ostindischen und des Afrikanische Nashorn-Vogels, welche zu 
zwei verschiedenen Untersippen von Buceros gehören, beide die- 
selben eigenthümlichen Instinkte besitzen, ihre in Baumhöhlen brü- 
tenden Weibchen mit Sand so einzumauern, dass nur noch ein 
kleines Loch offen bleibt, durch welches sie das Weibchen und 
später auch die Jungen mit Nahrung versehen; — wie es kommt, 
dass das Männchen des Amerikanischen Zaunkönigs (Troglodytes) 
ein besondres Nest für sich baut, ganz wie das Männchen uns- 
rer einheimischen Art: Alles Sitten, die bei andern Vögeln gar 
nicht vorkommen. Endlich mag es wohl keine logisch richtige 
Folgerung seyn, es entspricht aber meiner Vorstellungs-Art weit 
besser, solche Instinkte wie die des jungen Kuckucks, der seine 


T;; .. h T a Yo de . . . 
Nährbrüder aus dem Neste stösst, — wie die der Ameisen, 
welche Sklaven machen, — oder die der Ichneumoniden, welche 


ihre Eier in lebende Raupen legen: nicht als eigenthümlich 
anerschaffne Instinkte, sondern nur als geringe Ausflüsse eines 
allgemeinen Gesetzes zu betrachten, welches allen organischen 
Wesen zum Vortheil gereicht, nämlich: Vermehrung und Abände- 
rung macht die stärksten siegen und die schwächsten erliegen. 


Achtes Kapitel. 
Bastard-Bildung. 


Unterschied zwischen der Unfruchtbarkeit bei der ersten Kreutzung und der 
Unfruchtbarkeit der Bastarde. —Unfruchtbarkeit der Stufe nach veränderlich; 
nicht allgemein; durch Inzucht vermehrt und durch Zähmung vermindert. — 
Gesetze für die Unfruchtbarkeit der Bastarde. — Unfruchtbarkeit keine 
besondre Eigenthümlichkeit, sondern mit andern Verschiedenheiten zu- 
sammenfallend. — Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und 
der Bastarde. — Parallelismus zwischen den Wirkungen der veränderten 
Lebens-Bedingungen und der Kreutzung. — Fruchtbarkeit miteinander ge- 
kreutzter Varietäten und ihrer Blendlinge nicht allgemein. — Bastarde und 
Blendlinge unabhängig von ihrer Fruchtbarkeit verglichen. — Zusam- 


menfassung. 

/ Die allgemeine Meinung der Naturforscher geht dahin, dass 
‘Arten im Falle der Kreutzung von sich aus unfruchtbar sind, um 
die Verschmelzung aller organischen Formen mit einander Zu 


2 
verhindern. Diese Meinung hat anfangs gewiss grosse Wahr- 
scheinlichkeit für sich; denn in derselben Gegend beisammen- 
lebende Arten würden sich, wenn freie Kreutzung möglich wäre, 
kaum getrennt erhalten können. Die Wichtigkeit der Thatsache, 
dass Bastarde sehr allgemein steril sind, ist nach meiner Ansicht 
von einigen neueren Schriftstellern sehr unterschätzt worden. 
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung ist der Fall um so 
mehr von spezieller Wichtigkeit, als die Unfruchtbarkeit der 
Bastarde nicht wohl vortheilhaft für sie seyn und auch desshalb 
nicht durch fortgesetzte Erhaltung aufeinander-folgender nützlicher 
Abstufungen der Sterilität erworben seyn kann. Ich hoffe jedoch 
zeigen zu können, dass Unfruchtbarkeit nicht eine speziell erwor- 
bene oder für sich angeborene Eigenschaft ist, sondern mit an- 
deren erworbenen Verschiedenheiten zusammenhängt. 

Bei Behandlung dieses Gegenstandes hat man zwei Klassen 
von Thatsachen, welche von Grund aus weit verschieden sind, 
gewöhnlich mit einander verwechselt, nämlich die Unfruchtbar- 
keit zweier Arten bei ihrer ersten Kreutzung und die Unfrucht- 
barkeit der von ihnen erhaltenen Bastarde. 

Reine Arten haben regelmässig Fortpflanzungs-Organe von 
vollkommener Beschaffenheit, liefern aber, wenn sie mit einan- 
der gekreutzt werden, nur wenige oder gar keine Nachkommen. 
Bastarde dagegen haben Reproduktions-Organe, welche zur 
Dienstleistung unlähig sind, wie man aus dem Zustande des 
männlichen Elementes bei Pflanzen und Thieren erkennt, wäh- 
rend die Organe selbst ihrer Bildung nach vollkommen sind, 
wie die mikroskopische Untersuchung ergibt. Im ersten Falle 
sind die zweierlei geschlechtlichen Elemente, welche den Embryo 
liefern sollen, vollkommen; im andern sind sie entweder gar 
nicht oder nur sehr unvollständig entwickelt. Diese Unterschei- 
dung ist wesentlich, wenn die Ursache der in beiden Fällen statt- 
findenden Sterilität in Betracht gezogen werden soll. Der 
Unterschied ist wahrscheinlich übersehen worden, weil man die 
Unfruchtbarkeit in beiden Fällen als eine besondre Eigenthüm- 
lichkeit betrachtet hat, deren Beurtheilung ausser dem Bereiche 
unsrer Kräfte liege. 


256 


Die Fruchtbarkeit der Varietäten oder derjenigen Formen, 
welche von gemeinsamen Altern abstammen oder doch so ange- 
sehen werden, bei deren Kreutzung, und ebenso die ihrer Blend- 
linge ist nach meiner Theorie von gleicher Wichtigkeit mit der 
Unfruchtbarkeit der Spezies unter einander; denn es scheint 
sich daraus ein klarer und weiter Unterschied zwischen Arten 
und Varietäten zu ergeben. 

Erstens: Die Unfruchtbarkeit miteinander gekreutzter Arten 
und ihrer Bastarde. Man kann unmöglich die verschiedenen 
Werke und Abhandlungen der zwei gewissenhaften und bewun- 
dernswerthen Beobachter KöLrEUTER und GÄRTNER, welche fast ihr 
ganzes Leben diesem Gegenstande gewidmet haben, durchlesen, 
ohne einen tiefen Eindruck von der Allgemeinheit eines höheren 
oder geringeren Grades der Unfruchtbarkeit gekreutzter Arten 
in sich aufzunehmen. KöLrEUTFR macht es zur allgemeinen Re- 
gel; aber er durchhaut den Knoten, indem er in zehn Fällen, 
wo zwei fast allgemein für verschiedene Arten geltende Formen 
ganz fruchtbar mit einander sind, dieselhen unbedenklich für 
blosse Varietäten erklärt. Auch Gärtner macht‘ die Regel’ zur 
allgemeinen und bestreitet die zehn Fälle gänzlicher Fruchtbar- 
keit bei KöLreuter. Doch ist Gärtner in diesen wie in vielen 
andern Fällen genöthigt, die erzielten Saamen sorgfältig zu zäh- 
len um zu beweisen, dass doch einige Verminderung der Frucht- 
barkeit stattfindet. Er vergleicht immer die höchste Anzahl der 
von zwei gekreutzten Arten oder ihren Bastarden erzielten Saa- 
men mit deren Durchschnittszahl bei den zwei reinen älterlichen 
Arten in ihrem Natur-Stande. Doch scheint mir dabei noch 
eine Ursache ernsten Irrthums mit unterzulaufen. Eine Pflanze, 
deren Unfruchtbarkeit bewiesen werden soll, muss kastrirt und, 
was oft noch wichtiger ist, eingeschlossen werden, damit ihr 
kein Pollen von andren Pflanzen durch Insekten zugeführt wer- 
den kann. Fast alle Pflanzen, die zu Gärrners Versuchen ge- 
dient, waren in Töpfe gepflanzt und, wie es scheint, in einem 
Zimmer seines Hauses untergebracht. Dass aber solches Verfah- 
ren die Fruchtbarkeit der Pflanzen oft beeinträchtigt haben müsse, 
lässt sich nicht in Abrede stellen. Denn Gärrner selbst führl 


257 


in seiner Tabelle etwa zwanzig Fälle an, wo. er die Pflanzen 
kastrirte und dann mit ihrem eignen Pollen künstlich befruchtete; 
aber die Leguminosen und andre solche Fälle, wo die Manipula- 
tion anerkannter Maassen schwierig ist, ganz bei Seite gesetzt 
zeigte die Hälfte jener zwanzig Pflanzen eine mehr und weniger 
verminderte Fruchtbarkeit. Da nun überdiess GÄRTNER einige 
Jahre hintereinander die Primula offieinalis und Pr. elatior, 
welche wir mit gutem Grunde nur für Varietäten einer Art 
halten, mit einander kreutzte und doch nur ein oder zwei-mal 
fruchtbaren Saamen’ erhielt, — da er Anagallis arvensis und A, 
coerulea, welche die besten Botaniker nur als Varietäten betrach- 
ten, durchaus unfruchtbar mit einander fand und noch in meh- 
ren analogen Fällen zu gleichem Ergebniss gelangte: so scheint 
mir wohl zu zweifeln erlaubt, ob viele andre Spezies wirklich so 
steril bei der Kreutzung seyen, als Gärtner behauptet. 

# Einerseits ist es gewiss, dass die Unfruchtbarkeit mancher 
Arten bei gegenseitiger Kreutzung so ungleich an Siärke ist 
und so manchfaltige Abstufungen darbietet, — und dass ander- 
seits die Fruchtbarkeit ächter Spezies so leicht durch mancherlei 
Umstände berührt wird, dass es für die meisten praktischen 
Zwecke schwierig ist zu sagen, wo die vollkommene Fruchtbar- 
keit aufhöre und wo die Unfruchtbarkeit beginne? Ich glaube, 
man kann keinen bessern Beweis dafür verlangen, als der ist, 
dass die erfahrensten zwei Beobachter, die es je gegeben, nämlich 
KÖLREUTER und GÄRTNER, hinsichtlich einerlei Spezies zu schnur- 
stracks entgegengesetzten Ergebnissen gelangt sind. Auch ist es 
sehr belehrend, die von unseren besten Botanikern vorgebrachten 
Argumente über die Frage, ob diese oder jene zweifelhafte Form 
als Art oder als Varietät zu betrachten sey, zu vergleichen mit 
dem aus der Fruchtbarkeit oder Unfruchtbarkeit nach den Be- 
richten verschiedener Bastard- Züchter oder den mehrjährigen 
Versuchen der Verfasser selbst entnommenen Beweise. Es lässt 
sich daraus darthun, dass weder Fruchtbarkeit noch Unfrucht- 
barkeit einen klaren Unterschied zwischen Arten und Varietäten 
liefert, indem der darauf gestützte Beweis stufenweise ver- 
schwindet und mithin so, wie die übrigen von der organischen 

17 


258 
Bildung und Thätigkeil hergenommenen Beweise, zweifelhaft 
bleibt. 

Was die Unfruchtbarkeit der Bastarde auf dem Wege der 
Inzucht betrifft, so hat GÄRTNER zwar einige Versuche angestellt 
und die Inzucht während 6—7 und in einem Falle sogar 10 
Generationen vor aller Kreutzung mit einer der zwei Stammarten 
geschützt, versichert aber ausdrücklich, dass ihre Fruchtbarkeit 
nie zugenommen, sondern vielmehr stark abgenommen habe. Ich 
zweifle nicht daran, dass Diess gewöhnlich der Fall ist und 
die Fruchtbarkeit in den ersten Generationen oft plötzlich ab- 
nimmt. Demungeachtet aber glaube ich, dass bei allen diesen 
Versuchen die Fruchtbarkeit durch eine unabhängige Ursache 
vermindert worden ist, nämlich durch die allzu strenge Inzucht, 
Ich habe eine grosse Menge von Thatsachen gesammelt, welche 
zeigen, dass eine allzu strenge Inzucht die Fruchtbarkeit vermin- 
dert, während dagegen die jeweilige Kreytzung mit einem andern 
Individuum oder einer andern Varietät die Fruchtbarkeit ver- 
mehrt, daher ich an der Richtigkeit dieser unter den Züchtern 
fast allgemein verbreiteten Meinung nicht zweifeln kann. Bastarde 
werden selten in grössrer Anzahl zu Versuchen erzogen, und 
da die älterlichen Arten oder andre nahe verwandte Arten ge- 
wöhnlich im nämlichen Garten wachsen, so müssen die Besuche 
der Insekten während der Blüthe-Zeit sorgfältig verhütet werden, 
daher Bastarde für jede Generation gewöhnlich durch ihren eig- 
nen Pollen befruchtet werden müssen; und ich bin überzeugt, 
dass Diess ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigt, welche durch ihre 
Bastard-Natur schon olmediess geschwächt ist. In dieser Über- 
zeugung bestärkt mich noch eine von Gärtner mehrmals wieder- 
holte Versicherung, dass nämlich die minder fruchtbaren Bastarde 
sogar, wenn sie mit gleichartigem Bastard-Pollen künstlich be- 
fruchtet werden, ungeachtet des oft schlechten Erfolges der Be- 
handlung, doch zuweilen entschieden an Fruchtbarkeit weiter und 
weiter zunehmen. Nun wird bei. künstlicher Befruchtung der 
Pollen oft zufällig (wie ich aus meinen eignen Versuchen weiss) 
von Antheren einer andern als der zu befruchtenden Blume ge- 
nommen, so dass hiedurch eine Kreutzung zwischen zwei Blu- 


259 

men, doch gewöhnlich derselben Pflanze, bewirkt wird. Wenn 
nun ferner ein so sorgfältiger Beobachter, als GÄRTNER ist, im 
Verlaufe seiner zusammengesetzten Versuche seine Bastarde 
kastrirt hätte, so würde Diess bei jeder Generation eine Kreutzung 
mit dem Pollen einer andern Blume entweder von derselben oder 
von einer andern Pflanze von gleicher Bastard-Beschaffenheit 
nöthig‘ gemacht haben. Und so kann die befremdende Er- 
scheinung, dass die Fruchtbarkeit in aufeinander folgenden Gene- 
rationen von künstlich befruchteten Bastarden zugenommen 
hat, wie ich glaube, dadurch erklärt werden, dass allzu enge 
Inzucht vermieden worden ist. 

Wenden wir uns jetzt zu den Ergebnissen, welche sich durch 
die Versuche des dritten der erfahrensten Bastard-Züchter, des 
Ehrenwerthen und Hochwürdigen W. Herserr, herausgestellt haben. 
Er versichert ebenso ausdrücklich, dass manche Bastarde voll- 
kommen fruchtbar und 'nicht minder züchtbar als jede der Stamm- 
Arten für sich seyen, wie KöLREUTER und GÄRTNER einen gewissen 
Grad von Sterilität bei Kreutzung verschiedener Spezies mit einan- 
der für ein allgemeines Natur-Gesetz erklären. Seine Versuche be- 
zogen sich auf einige derselben Arten, welche auch zu den Ex- 
perimenten Gärtner’s gedient hatten. Die Verschiedenheit der 
Ergebnisse, zu welchen beide gelangt sind, lässt sich, wie ich 


glaube, ableiten zum Theile aus Herserr's grosser Erfahrung in 
der Blumen-Zucht und zum Theile davon, dass er Warmhäuser 
zu seiner Verfügung hatte. Von seinen vielen wichtigen Ergeb- 
nissen will ich hier nur eines beispielsweise hervorheben, dass 
nämlich „jedes mit Crinum revolutum befruchtete Eichen an 
einem Stocke von Crinum capense auch eine Pflanze lieferte, was 
ich (sagt er) bei natürlicher Belruchtung nie wahrgenommen 
habe.c Wir haben mithin hier den Fall vollkommener und 
selbst mehr als vollkommener Fruchtbarkeit bei der Kreutzung 
zweier verschiedener Arten. 

Dieser Fall mit Crinum führt mich zu einer ganz eigen- 
thümlichen Thatsache, dass es nämlich bei einigen Arten von 
Lobelia und mehren andern Sippen einzelne Pflanzen gibt, welche 
viel leichter mit dem Pollen einer verschiednen andern Art als 

2.” 


260 


ihrer eignen befruchtet werden können; und gleicherweise 
scheint es sich auch mit allen Individuen fast aller Hippeastrum- 
Arten zu verhalten. Denn man hat gefunden, dass diese Pflan- 
zen, mit dem Pollen einer andern Spezies befruchtet, Saamen 
ansetzen, aber mit ihrem eignen Pollen ganz unfruchtbar sind, 
obwohl derselbe vollkommen gut und wieder andre Arten zu 
befruchten im Stande ist. So können mithin gewisse einzelne 
Pflanzen und alle Individuen gewisser Spezies viel leichter zur 
Bastard-Zucht dienen, als durch sich selbst befruchtet werden. 
Eine Zwiebel von Hippeastrum aulicum z. B. brachte vier Blu- 
men; drei davon wurden mit ihrem eignen Pollen befruchtet und 
die vierte hierauf mit dem Pollen eines aus drei andern ver- 
schiednen Arten gezüchteten Bastards versehen, und das Resul- 
tat war, dass »die Ovarien der drei ersten Blumen bald zu 
wachsen aufhörten und nach einigen Tagen gänzlich verdarben, 
während das Ovarium der mit dem Bastard-Pollen versehenen 
Blume rasch zunahm und reifte und gute Saamen lieferte, welche 
kräftig gediehen«. Im Jahr 1839 schrieb mir Hersert, dass er 
den Versuch fünf Jahre lang fortgesetzt habe und jedes Jahr 
mit gleichem Erfolge. Denselben Erfolg hatten auch andre 
Beobachter bei Hippeastrum und, dessen Untersippen so wie bei 
einigen andern Geschlechtern, närnlich Lobelia, Passiflora und 
Verbascum. Obwohl diese Pflanzen bei den Versuchen ganz 
gesund erschienen und sowohl Ei’chen als Saamenstaub einer und 
der nämlichen Blume sich bei der Befruchtung mit andern Arten 
vollkommen gut erwiesen, so waren sie doch zur gegenseitigen 
Selbstbefruchtung funktionell ungenügend, und wir müssen daher 
schliessen, dass sich die Pflanzen in einem unnatürlichen Zustande 
befanden. Jedenfalls zeigen diese Erscheinungen, von was für ge- 
ringen und geheimnissvollen Ursachen die grössre oder geringere 
Fruchtbarkeit der Arten bei der Kreutzung, gegenüber der 
Selbstbefruchtung, zuweilen abhänge. 

Die praktischen Versuche der Gartenfreunde, wenn auch 
nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit ausgeführt , verdienen 
oleichfalls einige Beachtung. Es ist bekannt, in welch verwickel- 
ter Weise die Arten von Pelargonium, Fuchsia, Calceolaria, Pe- 


ul 
wis i 
= 


261 


tunia, Rhododendron u. a. gekreutzt worden sind, und doch setzen 
viele dieser Bastarde Saamen an. So versichert HERBERT , dass 
ein Bastard von Calceolaria integrifolia und C. plumbaginea, zweier 
in ihrer allgemeinen Beschaffenheit sehr unähnlicher Arten, »sich 
selbst so vollkommen aus Saamen verjüngte, als ob er einer 
natürlichen Spezies aus den Bergen Chile’s angehört hätte«. Ich 
habe mir einige Mühe gegeben, den Grund der Fruchtbarkeit 
bei einigen durch mehrseitige Kreutzung erzielten Rhododendren 
kennen zu lernen, und die Gewissheit erlangt, dass mehre der- 
selben vollkommen fruchtbar sind. Herr €. Nosıe z. B. berich- 
tet mir, dass er zur Gewinnung von Propfreisern Stöcke eines Ba- 
stardes von Rhododendron Ponticum und Rh. Catawbiense erzieht, 
und dass dieser Bastard „so reichlichen Saamen ansetzt, -als man 
sich nur denken kann«, Nähme bei richtiger Behandlung die 
Fruchtbarkeit der Bastarde in aufeinander-folgenden Generationen 
in der Weise ab, wie Gärtner versichert, so müsste diese That- 
sache unseren Plantage-Besitzern bekannt seyn. Garten-Freunde 
erziehen grosse Beete voll der nämlichen Bastarde; und diese 
allein erfreuen sich einer richtigen Behandlung; denn hier allein 
können die verschiedenen Individuen einer nämlichen Bastard- 
Form durch die Thätigkeit der Insekten sich untereinander 
kreutzen und den schädlichen Einflüssen zu enger Inzucht ent- 
gehen. Von der Wirkung der Insekten-Thätigkeit kann jeder 
sich selbst überzeugen, wenn er die Blumen der sterileren Rho- 
dodendron-Formen, welche keine Pollen bilden, untersucht; denn 
er wird ihre Narben ganz mit Saamenstaub bedeckt finden, der 
von andern Blumen hergetragen worden ist, 

Was die Thiere betrifft, so sind der genauen Versuche viel 
weniger mit ihnen veranstaltet worden. Wenn unsre systema- 
tischen Anordnungen Vertrauen verdienen, d. h. wenn die Sip- 
pen der Thiere eben so verschieden von einander als die der 
Pflanzen sind, dann können wir behaupten, dass viel weiter auf 
der Stufenleiter der Natur auseinander-stehende Thiere noch 
oekreutzt werden können, als es bei den Pflanzen der Fall ist; 
dagegen scheinen die Bastarde unfruchtbarer zu seyn. Ich be- 
zweifle, ob auch nur eine Angabe von einem ganz [ruchtbaren 


262 


Thier-Bastard als vollkommen beglaubigt angesehen werden darf. 
Man muss jedoch nicht vergessen, dass sich nur wenige Thiere 
in der Gefangenschaft reichlich fortpflanzen und daher nur we- 
nige richtige Versuche mit ihnen angestellt werden können. $o 
hat man z. B. den Kanarienvogel mit neun andern Finken- 
Arten gekreutzt, da sich aber keine dieser neun Arten in der 
Gefangenschaft gut fortpflanzt, so haben wir kein Recht zu er- 
warten, dass die ersten Bastarde von ihnen und dem Kanarien- 
vogel vollkommen fruchtbar seyn sollen. Ebenso, was die Frucht- 
barkeit der vergleichungsweise fruchtbaren Bastarde in späteren 
Generationen betrifft, so kenne ich wohl kaum ein Beispiel, dass 
zwei Familien gleicher Bastarde gleichzeitig von verschiedenen 
Ältern erzogen worden wären, um die üblen Folgen allzustrenger 
Inzucht vermeiden zu können. Im Gegentheil hat man in jeder 
nachfolgenden Generation, die beständig wiederholten Mahnungen 
aller Züchter nicht beachtend, gewöhnlich Brüder und Schwe- 
stern miteinander gepaart. Und so ist es durchaus nicht über- 
raschend, dass die vererbliche Sterilität der Bastarde mit jeder 
Generation zunahm. Wenn wir in der Absicht darauf hinzu- 
wirken immer Brüder und Schwestern reiner Spezies miteinander 
paarten, in welchen aus irgend einer Ursache bereits eine noch 
so geringe Neigung zur Unfruchtbarkeit vorhanden wäre, so 
würde die Rasse gewiss nach wenigen Generationen aus- 
sterben. 

Obwohl ich keinen irgend wohl-beglaubigten Fall vollkommen 
fruchtbarer Thier-Bastarde kenne, so habe ich doch einige Ur- 
sache anzunehmen, dass die Bastarde von Cervulus vaginalis und 
Ü. Reevesi, von Phasianus Colchicus und Ph. torquatus oder auch 
Ph. versicolor vollkommen fruchtbar sind. Es unterliegt insbe- 
sondere keinem Zweifel, dass diese drei Fasanen-Arten, nämlich 


der gemeine, der ringhalsige und der Japanesische sich in den 
Wäldern einiger Theile von England kreutzen und Nachkommen 
liefern. Die Bastarde der gemeinen und der Schwanen-Gans 
(Anser cygnoides), zweier so verschiedeher Arten, dass man sie 
in zwei verschiedene Sippen zu stellen pflegt, haben hierzulande 
oft Nachkommen mit einer der reinen Stamm-Arten und in einem 


263 


Falle sogar unter, sich. geliefert, .Diess. ist durch Hrn. Eyron be- 
wirkt worden, der zwei Bastarde von gleichen Ältern aber ver- 
schiednen Bruten erzog und dann von beiden zusammen nicht 
weniger. als acht Nachkommen aus einem Neste erhielt. In In- 
dien dagegen müssen die durch Kreutzung gewonnenen Gänse 
weit ‚fruchtbarer seyn, indem zwei ausgezeichnet befähigte 
Beurtheiler,. nämlich Hr. Bıyru und Capt. Hurron, mir ver- 
sichert haben, dass dort in verschiedenen Landes - Gegenden 
ganze Heerden dieser Bastardgans gehalten werden; und da 
Diess des Nutzens wegen geschieht, wo die reinen Stamm- 
Arten gar nicht existiren, so müssen sie nothwendig sehr frucht- 
bar seyn. 

Neuere Naturforscher haben grossentheils eine von FArLas 
ausgegangene Lehre angenommen, dass nämlich die meisten uns- 
rer Hausthiere von je zwei oder mehr wilden Arten abstammten, 
welche sich seither durch Kreutzung vermischt hätten. Hiernach 
müssten also entweder die Stamm-Arten gleich anfangs ganz 
fruchtbare Bastarde geliefert haben oder die Bastarde erst in 
späteren Generationen in zahmem Zustande ganz fruchtbar ge- 
worden seyn.. Diese letzte Alternative scheint mir die wahr- 
scheinlichere, und ich bin geneigt an deren Richtigkeit zu glau- 
ben, obwohl sie auf keinem direkten Beweise beruhet. Ich nehme 
z.B. an, dass unsre Hunde von mehren wilden Arten herrühren, 
und doch sind vielleicht mit Ausnahme gewisser in Süd- Amerika 
gehaltenen Haushunde alle vollkommen fruchtbar miteinander; 
aber die Analogie erweckt grosse Zweifel in mir, dass die ver- 
schiedenen Stamm-Arten derselben sich anfangs freiwillig mit-ein- 
ander gepaart und sogleich ganz fruchtbare Bastarde. geliefert 
haben sollen. So liegt auch Grund zur Annahme vor, dass un- 
ser Europäischer und der Indische Büffel-Ochse fruchtbar mitein- 
ander seyen, obwohl ich sie nach den von Bıyru mir mitgetheil- 
ten Thatsachen für zwei verschiedene Arten halten muss. Bei 
dieser Ansicht von der Entstehung vieler unsrer Hausthiere müs- 
sen wir entweder den Glauben an die fast allgemeine Unfrucht- 
barkeit einer Paarung verschiedener Thier-Arten miteinander aul- 
geben oder aber die Sterilität nicht als eine unzerstörbare, SONn- 


264 


dern als eine durch Zähmung zu beseitigende Folge einer solchen 
Kreutzung betrachten. | 

Überblicken wir endlich alle über die Kreutzung von Pflan- 
zen- und Thier-Arten festgestellten Thatsachen, so gelangen wir 
zum Schlusse, dass ein gewisser Grad von Unfruchtbarkeit bei 
der ersten Kreutzung und den daraus entspringenden Bastarden 
zwar eine äusserst gewöhnliche Erscheinung ist. aber nach dem 
gegenwärtigen Stand unsrer Kenntnisse. nicht als unbedingt all- 
gemein betrachtet werden darf. 

Gesetze, welche die Unfruchtbarkeit der ersten 
Kreutzung und der Bastarde regeln.) Wir wollen nun 
die Umstände und die Regeln etwas näher betrachten, welche 
die vergleichungsweise Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzung und 
der Bastarde bestimmen. Unsre Hauptaufgabe wird seyn zu er- 
fahren, ob sich nach diesen Regeln Unfruchtbarkeit der Arten 
miteinander als eine denselben inhärente Eigenschaft ergibt, de- 
ren Bestimmung es wäre eine Kreutzung der Arten bis zur äus- 
sersten Verschmelzung der Formen zu verhüten, oder ob sich 
Diess nicht herausstellt. Die nachstehenden Regeln und Folge- 
rungen sind hauptsächlich aus GÄrrners bewundernswerthem Werke 
über die Bastard-Erzeugung bei den Pflanzen entnommen*. Ich 
‚habe mir viele Mühe gegeben zu erfahren, in wie ferne diese 
Regeln auch auf Thiere Anwendung finden, und obwohl unsre 
Erfahrungen über Bastard-Thiere sehr dürftig sind, so war ich 
doch erstaunt zu sehen, in wie ausgedehntem Grade die näm- 
lichen Regeln für beide Reiche gelten. 

Es ist bereits bemerkt worden, dass sich die Fruchtbarkeit 
sowohl der ersten Kreutzung als der daraus entspringenden Ba- 
starde von Zero an bis zur Vollkommenheit abstuft. Es ist erstaun- 
lich, auf wie mancherlei eigenthümliche Weise sich diese Ab- 


* C, F. v. Gärtner: Versuche und Beobachtungen über die Befruch- 
tungs-Organe der vollkommenen Gewächse und über die natürliche und 
künstliche Befruchtung durch ' den eigenen Pollen. Stuttgart 1844. — 
Versuche und Beobachtungen über die Bastarderzeugung im Pflanzen- 
reich. Mit Hinweisung auf die ähnlichen Erscheinungen im Thierreiche. 
Stuttgart 1849. D. Ubs. 


265 


stufung darthun lässt; doch können hier nur die nacktesten 
Umrisse der Thatsachen geliefert werden. Wenn Pollen einer 
Pflanze von der einen Familie auf die: Narbe einer Pflanze von 
andrer Familie gebracht wird, so hat er nicht mehr Wirkung, 
als eben so viel unorganischer Staub. 

Wenn man aber Saamenstaub von Arten einer Sippe auf das 
Stigma einer Spezies derselben Sippe bringt, so wird der Erfolg 
ein günstigerer, aber bei verschiedenen Arten doch wieder so 
ungleich, dass sich mittelst der Anzahl der jedesmal erzeugten 
Saamen alle Abstufungen von jenem Zero an bis zur vollstän- 
digen Fruchtbarkeit und, wie wir gesehen haben, in einigen ab- 
normen Fällen sogar über das gewöhnlich bei Selbstbefruchtung 
gewöhnliche Maass hinaus ergeben. So gibt es auch unter den 
Bastarden selber einige, welche sogar mit dem Pollen von einer 
der zwei reinen Stamm-Arten nie auch nur einen fruchtbaren 
Saamen hervorgebracht haben noch wahrscheinlich jenıals hervor- 
bringen werden. Doch hat sich in einigen dieser Fälle eine erste 
Spur von der Wirkung eines solchen Pollens insoferne gezeigt, 
als er ein frühzeitigeres Abwelken der Blume der Bastard-Pflanze 
veranlasste, worauf er gebracht worden war; und rasches Ab- 
welken einer Blüthe ist bekanntlich ein Zeichen beginnender Be- 
fruchtung. An diesen äussersten Grad der Unfruchtbarkeit reihen 
sich dann Bastarde an, die durch Selbstbefruchtung eine immer 
grössre Anzahl von Saamen bis zur vollständigen Fruchtbarkeit 
hervorbringen. 

Bastarde von solchen zwei Arten erzielt, welche sehr schwer 
zu kreutzen sind und nur selten einen Nachkommen liefern, pfle- 
gen selber sehr unfruchtbar zu seyn. Aber der Parallelismus 
zwischen der Schwierigkeit eine erste Kreutzung zu Stande zu 
bringen, und der einen daraus entsprungenen ‚Bastard zu be- 
fruchten, — zwei sehr gewöhnlich miteinander verwechselte 
Klassen von Thalsachen — ist keineswegs strenge. Denn es 
gibt viele Fälle, wo zwei reine Arten mit ungewöhnlicher Leich- 
tigkeit miteinander gepaart werden und zahlreiche Bastarde lie- 
fern können, welche aber äusserst unfruchtbar sind. Anderseits 
gibt es Arten, welche nur selten oder äusserst schwierig zu 


266 


kreutzen gelingt, aber ihre Bastarde, ‚wenn sie einmal: vorhanden, 
sind sehr. fruchtbar. Und diese zwei so entgegengesetzten Fälle 
können innerhalb der nämlichen Sippe vorkommen, wie z. B. bei 
Dianthus. 

Die Fruchtbarkeit sowohl der ersten Kreutzungen als der 
Bastarde wird leichter als die der reinen Arten durch ungün- 
stige Bedingungen gefährdet. Aber der Grad der Fruchtbarkeit 
ist gleicher Weise an sich veränderlich; denn der Erfolg ist 
nicht immer der nämliche, wenn man dieselben zwei Arten 
unter denselben äusseren Umständen kreutzt, sondern hängt 
zum Theile von der Verfassung der zwei zulällig für den Ver- 
such ausgewählten Individuen ab. So ist es auch mit den 
Bastarden, indem sich der Grad der Fruchtbarkeit in verschie- 
denen aus Saamen einer Kapsel erzogenen und den näm- 
lichen Bedingungen ausgesetzten Individuen oft ganz verschie- 
den erweist. 

Mit dem Ausdruck systematische Affinität soll die Ähn- 
lichkeit verschiedener Arten in organischer Bildung und Thätig- 
keit zumal solcher Theile bezeichnet werden, welche eine grosse 
physiologische Bedeutung haben und in verwandten Arten nur 
wenig von einander abweichen. Nun ist die Fruchtbarkeit der 
ersten Kreutzung zweier Spezies und der daraus hervorgehenden 
Bastarde in reichem Maasse abhängig von dieser „systematischen 
Verwandtschaft«. Diess geht deutlich schon daraus hervor, dass 
man noch niemals Bastarde von zwei Arten erzielt hat, welche 
die Systematiker in verschiedene Familien stellen, während es 
dagegen gewöhnlich leicht ist, nahe verwandte Arten miteinander 
zu paaren. Doch ist die Beziehung zwischen systematischer 
Verwandtschaft und Leichtigkeit der Kreutzung keinesweges 
eine strenge. ‚Denn es liesse sich eine Menge Fälle von sehr 
nahe verwandten Arten anführen, die gar nicht oder nur mit 
grösster Mühe zur Paarung gebracht werden können, während 
mitunter auch sehr verschiedene Arten sich mit grösster Leich- 
tigkeit kreutzen lassen. In einer nämlichen Familie können zwei 
Sippen beisammen stehen, wovon die eine wie Dianthus viele 
solche Arten enthält, die sehr leicht zu kreutzen sind, während 


267 


die der andern, z. B. Silene, den beharrlichsten Versuchen eine 
Kreutzung zu bewirken in dem Grade widerstehen, dass man 
auch noch nicht einen Bastard zwischen den einander am näch- 
sten verwandten Arten derselben zu erzielen vermochte. Ja 
selbst innerhalb der Grenzen einer und der nämlichen Sippe 
zeigt sich ein solcher Unterschied. So sind z. B. die zahlreichen 
Nicotiana-Arten mehr unter einander gekreutzt worden, als die 
der meisten übrigen Sippen, und GäÄrTNEr hat gefunden, dass 
N. acuminata, die keinesweges eine besonders abweichende Art 
ist, beharrlich allen Befruchtungs-Versuchen widerstand, so dass 
von acht andern Nicotiana-Arten keine weder sie befruchten 
noch von ihr befruchtet werden konnte. Und analoge Thatsachen 
liessen sich noch viele anführen. 

Noch niemand hat auszumitteln vermocht, welche Art oder 
welcher Grad von Verschiedenheit in irgend einem erkennbaren 
Charakter genüge, um die Kreutzung zweier Spezies zu hindern. 
Es lässt sich nachweisen, dass Pflanzen, welche in Lebens-Weise 
und allgemeiner Tracht am weitesten auseinandergehen, welche 
in allen Theilen ihrer Blüthen sogar bis zum Pollen oder in der 
Frucht oder in den Kotyledonen sehr scharfe Unterschiede zei- 
gen, mit einander gekreutzt werden können. Einjährige und 
ausdauernde Gewächs-Arten, winterkahle und immergrüne Bäume, 
Pflanzen für die abweichendsten Standorle und die entgegenge- 
setztesten Klimate gemacht, können oft leicht mit einander ge- 
kreutzt werden. 

Unter wechselseitiger Kreutzung zweier Arten ver- 
stehe ich den Fall, wo z. B. ein Pferde-Hengst mit einer 
Eselin und dann ein Esel-Hengst mit einer Pferde-Stute gepaart 
wird; man kann dann sagen, diese zwei Arten seyen wechsel- 
seitig,. gekreuzt worden. In der Leichtigkeit einer wechselseiti- 
gen Kreutzung findet oft der möglich grösste Unterschied statt. 
Solche Fälle sind höchst wichtig, weil: sie beweisen, dass die 
Empfänglichkeit für die Kreutzung zwischen irgend zwei Arten 
von ihrer systematischen Verwandtschaft oder von irgend welchem 
kennbaren Unterschied in ihrer ganzen Organisation oft ganz 
unabhängig ist. Dagegen zeigen diese Fälle auch deutlich, dass 


u au 


268 


jene Empfänglichkeit mit Unterschieden in der Verfassung des 
Körpers zusammenhängt, welche für uns nicht wahrnehmbar sind 
und sich auf das Reproduktiv-System beschränken. Diese Ver- 
schiedenheit der Ergebnisse aus wechselseitigen Kreutzungen zwi- 
schen je zwei Arten war schon längst von Körreurer beobachtet 
worden. So kann, um ein Beispiel anzuführen, Mirabilis Jalapa 
leicht durch den Saamenstaub der M. longiflora befruchtet wer- 
den, und die daraus entspringenden Bastarde sind genügend 
fruchtbar; aber mehr als zweihundert Male versuchte es KöLkev- 
TER im Verlaufe von acht Jahren vergebens die M. longiflora 
nun auch mit Pollen der M. Jalapa zu befruchten. Und so 
liessen sich noch einige andre Beispiele geben. Tuurer hat die- 
selbe Bemerkung an einigen Seepflanzen gemacht, und GÄRTNER 
noch überdiess gefunden, dass diese Erscheinung in einem 


geringeren Grade ausserordentlich gemein ist. Er hat sie selbst 
zwischen Formen wahrgenommen, welche viele Botaniker nur 
als Varietäten einer nämlichen Art betrachten, wie Matthiolia 
annua und M. glabra. Eben so ist es eine bemerkenswerthe 
Thatsache, dass die beiderlei aus wechselseitiger Kreutzung her- 
vorgegangenen Bastarde, wenn auch von denselben zwei Stamm- 
arten herrührend, hinsichtlich ihrer Fruchtbarkeit gewöhnlich in 
einem geringen, zuweilen aber auch in hohem Grade von ein- 
ander abweichen. 

Es lassen sich noch manche andre eigenthümliche Regeln 
aus GÄRTNER entnehmen, wie z. B. dass manche Arten ‚sich 
überhaupt 'sehr leicht zur Kreutzung mit andern verwenden las- 
sen, während andren Arten derselben Sippe das Vermögen inne- 
wohnt, den Bastarden eine grosse Ähnlichkeit mit ihnen -aufzu- 
prägen; doch stehen beiderlei Fähigkeiten nicht in nothwendiger 
Beziehung zu einander. Es gibt Bastarde, welche, statt wie 
gewöhnlich das Mittel zwischen ihren zwei ältelichen Arten zu 
halten, stets nur einer derselben sehr ähnlich sind; und gerade 
diese äusserlich der einen Stammart so ähnlichen Bastarde sind mit 
seltener Ausnahme äusserst unfruchtbar. Dagegen kommen aber 
auch unter denjenigen Bastarden, welche zwischen ihren Ältern 
das Mittel zu halten pflegen, zuweilen abnorme Individuen vor, 


269 


die einer der reinen Stammarten ausserordentlich gleichen ; 
und diese Bastarde sind dann gewöhnlich auch äusserst steril, 
obwohl die mit ihnen aus gleicher Frucht-Kapsel entsprungenen 
Mittelformen sehr fruchtbar zu seyn pflegen. Aus diesen Er- 
scheinungen geht hervor, wie ganz unabhängig die Fruchtbarkeit 
der Bastarde vom Grade ihrer Ähnlichkeit mit ihren beiden 
Stammältern ist. 

Aus den. bis daher gegebenen Regeln über die Fruchtbar- 
keit der ersten Kreutzungen und der dadurch erzielten Bastarde, 
ergibt sich, dass, wenn man Formen, die als gute und verschie- 
dene Arten ängesehen werden müssen, mit einander paart, ihre 
Fruchtbarkeit in allen Abstufungen von Zero an bis selbst über 
das unter gewöhnlichen Bedingungen stattfindende Maass voll- 
kommener Fruchtbarkeit hinaus wechseln kann. Ferner ist ihre 
Fruchtbarkeit nicht nur äusserst empfindlich für günstige und 
ungünstige Bedingungen, sondern auch an und für sich verän- 
derlich. Die Fruchtbarkeit verhält sich nicht immer an Stärke 
gleich bei der ersten Kreutzung und bei den daraus erzielten 
Bastarden. Die Fruchtbarkeit dieser letzten steht im keinem 
Verhältniss zu deren äusserer Ähnlichkeit mit ihren beiden 
Ältern. - Die Leichtigkeit einer ersten Kreutzung zwischen zwei 
Arten ist nicht von deren systematischer Affinität noch von ihrer 
Ähnlichkeit mit einander abhängig. Dieses letzte Ergebniss ist 
hauptsächlich aus den Wechselkreutzungen zweier nämlichen 
Arten erweisbar, wo die Paarung gewöhnlich etwas, mitunter 
aber auch viel leichter oder schwerer erfolgt, je nachdem man 
den Vater von der einen oder von der andern der zwei ge- 
kreutzten Arten nimmt. Endlich sind die zweierlei durch Wech- 
selkreutzung erzielten Bastarde oft in ihrer Fruchtbarkeit ver- 
schieden. 

Nun fragt es sich, ob aus diesen eigenthümlich verwickel- 
ten Regeln hervorgehe, dass die vergleichungsweise Unfruchtbar- 
keit der Arten bei deren Kreutzung den Zweck habe, ihre Ver- 
mischung im Natur-Zustande zu verhüten? Ich glaube nicht. 
Denn warum wäre in diesem Falle der Grad der Unfruchtbarkeit 
so ausserordentlich verschieden, da wir doch annehmen müssen 


270 


diese Verhütung seye gleich wichtig bei allen? Warum wäre 
sogar schon eine angeborene Verschiedenheit zwischen Indivi- 
duen einer nämlichen Art vorhanden? Zu welchem Ende sollten 
manche Arten 'so leicht zu kreutzen seyn und doch sehr sterile 
Bastarde erzeugen, während andre sich nur sehr schwierig 
paaren lassen und vollkommen fruchtbare Bastarde liefern? Wozu 
sollte es dienen, dass die zweierlei Produkte einer Wechsel- 
kreutzung zwischen den nämlichen Arten sich oft so sehr abwei- 
chend verhalten? Wozu, kann man sogar fragen, soll überhaupt 
die Möglichkeit Bastarde zu liefern dienen? Es scheint doch 
eine wunderliche Anordnung zu seyn, dass die Arten das Ver- 
mögen haben Bastarde zu bilden, deren weitre Förtpflanzung 
aber durch verschiedene Grade von Sterilität gehemmt ist, welche 
in keiner Beziehung zur Leichtigkeit der ersten Kreutzung 
zweier Ältern verschiedener Spezies miteinander stehen. 

Die voranstehenden Regeln und Thatsachen scheinen mir 
dagegen deutlich zu beweisen, dass die Unfruchtbarkeit sowohl 
der ersten Kreutzungen als der Bastarde von unbekannten Ver- 
hältnissen hauptsächlich im Fortpflanzungs-Systeme der gekreutz- 
ten Arten abhänge. Die Verschiedenheiten sind von so eigen- 
thümlicher und beschränkter Natur, dass bei wechselseitigen 
Kreutzungen zwischen zwei Arten olt das männliche Element 
der einen von üppiger Wirkung auf das weibliche der andern 
ist, während bei der Kreutzung in der andern Richtung das 
Gegentheil eintritt. Es wird angemessen 'seyn durch ein Bei- 
spiel etwas vollständiger auseinander zu setzen, Was ich unter 
der Bemerkung verstehe, dass Sterilität mit andern Ursachen 
zusammenhänge und nicht eine spezielle Eigenthümlichkeit für 
sich bilde. Die Fähigkeit einer Pflanze sich auf eine andre 
zweigen oder nicht zweigen und okuliren zu lassen, ist für 
deren Gedeihen im Natur-Zustande so gänzlich gleichgiltig, dass 
wohl niemand diese Fähigkeit für eine spezielle Anordnung der 


Natur halten, sondern jedermann anzunehmen geneigt seyn wird, 
sie falle mit Verschiedenheiten in den Wachsthums-Gesetzen der 
zwei Pflanzen zusammen. Den Grund davon, dass eine Art auf 
der andern etwa nicht anschlagen will, kann man zuweilen in 


271 | 


abweichender Wachsthums-Weise, Härte des Holzes, Natur des 
Saftes, Zeit der Blüthe u. dgl. finden; in sehr vielen Fällen aber 
lässt sich gar keine Ursache dafür ergeben. Denn selbst sehr 
bedeutende Verschiedenheiten in der Grösse der zwei Pflanzen, 
oder in holziger und krautartiger, immergrüner und sommergrü- 
ner Beschaffenheit und selbst ihre Anpassung an ganz verschie- 
dene Klimate bilden nicht immer ein Hinderniss ihrer Auf- 
einanderpropfung. Wie bei der Bastard-Bildung so ist auch beim 
Propfen die Fähigkeit durch systematische Affinität beschränkt; 
denn es ist noch nie gelungen, Holzarten aus ganz ver- 
schiedenen Familien aufeinanderzusetzen, während dagegen nahe 
verwandte Arten einer Sippe und Varietäten einer Art gewöhn- 
lich, aber nicht immer, leicht aufeinander gepropft werden kön- 
nen. Doch ist auch dieses Vermögen eben so wenig als das 
der Bastard-Bildung durch systematische Verwandtschaft in abso- 
luter Weise bedingt. Denn, wenn auch viele verschiedene 
Sippen einer Familie aufeinander zu propfen gelungen ist, so 
nehmen doch wieder in andern Fällen sogar Arten einer näm- 
lichen Sippe einander: nicht an. Der Birnbaum kann viel leich- 
ter auf den Quittenbaum, den man zu einem eignen Genus er- 
hoben, als auf den Apfelbaum gezweigt werden, der mit ihm zur 
nämlichen Sippe gehört. Selbst verschiedene Varietäten der 
Birne schlagen nicht mit gleicher Leichtigkeit auf dem Quitten- 
baum an,: und eben so verhalten sich verschiedene Aprikosen- 
und Pfirsich-Varietäten dem Pflaumen-Baume gegenüber. 

Wie nach Gärtner zuweilen eine angeborene Verschieden- 
heit im Verhalten der Individuen zweier zu kreutzenden Arten 
vorhanden ist, so glaubt SacarEer auch an eine angeborene Ver- 
schiedenheit im Verhalten der Individuen zweier aufeinander zu 
propfender Arten. Wie bei Wechselkreutzungen die Leichtigkeit 
der zweierlei Paarungen oft sehr ungleich ist, so verhält es sich 
oft auch bei dem wechselseitigen Verpropfen. So kann die ge- 
meine Stachelbeere z. B. auf den Johannisbeer-Strauch gezweigt 
werden, dieser wird aber nur schwer auf dem Stachelbeer- ° 
Strauch anschlagen. 

Wir haben gesehen, dass die Unfruchtbarkeit der Bastarde, 


212 


deren Reproduktions-Organe von unvollkommener Beschaffenheit 
sind, eine ganz andere Sache ist, als die Schwierigkeit zwei 
reine Arten mit vollständigen Organen mit einander zu paaren; 
doch laufen beide Fälle bis zu gewissem Grade mit einander 
parallel. Etwas Ahnliches kommt auch beim Propfen vor; denn 
Tuovın hat gefunden, dass die drei Robinia-Arten, welche auf 
eigner Wurzel reichlichen Saamen gebildet hatten und sich leicht 
auf einander zweigen liessen, durch die Aufeinanderimpfung un- 
fruchtbar gemacht wurden; während dagegen gewisse Sorbus- 
Arten, eine auf die andre gesetzt, doppelt so viel Früchte als 
auf eigner Wurzel lieferten. Diess erinnert uns an die oben- 
erwähnten ausserordentlichen Fälle bei Hippeastrum, Lobelia u. dgl., 
welche viel reichlicher fruktifiziren, wenn sie mit Pollen einer 
andern Art als wenn sie mit ihrem eignen Pollen versehen 
werden. 

Wir sehen daher, dass, wenn auch ein klarer und gründ- 
licher Unterschied zwischen der blossen Adhäsion auf einander 
gepropfter Stöcke und der Zusammenwirkung männlicher und 
weiblicher Urstoffe zum Zwecke der Fortpflanzung stattfindet, sich 
doch ein gewisser Parallelismus zwischen den Wirkungen der 
Impfung und der Befruchtung verschiedener Arten mit einander 
kundgibt. Wenn wir die sonderbaren und verwickelten Regeln, 
welche die Leichtigkeit der Propfung bedingen, als mit unbe- 
kannten Verschiedenheiten in den vegetativen Organen zusammen- 
hängend betrachten, so müssen wir nach meiner Meinung auch 
die viel zusammengesetzteren für die Leichtigkeit der ersten 
Kreutzungen mit unbekannten Verschiedenheiten in ihrem Repro- 
duktiv-Systeme im Zusammenhang stehend ansehen. Diese Ver- 
schiedenheiten folgen, wie sich erwarten lässt, bis zu einem ge- 
wissen Grade der systematischen Affinität, durch welche Bezeich- 
nung jede Art von Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen orga- 
nischen Wesen ausgedrückt werden soll. Die Thatsachen schei- 
nen mir in keiner Weise anzuzeigen, dass die grössre oder ge- 
| ringere Schwierigkeit verschiedene Arten auf und mit einander 
zu propfen und zu kreutzen eine besondre Eigenthümlichkeit 
ist, obwohl dieselbe beim Kreutzen für die Dauer und Stetigkeil 


273 


der Art-Formen eben so wichtig als beim Propfen unwesentlich 
für deren Gedeihen ist. 

Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreut- 
zungen und der Bastarde.) Sehen wir uns nun etwas näher 
um nach den wahrscheinlichen Ursachen der Sterilität der ersten 
Kreutzungen und der Bastarde. Diese zwei Fälle sind von 
Grund aus verschieden, da, wie oben bemerkt worden, die 
männlichen und die weiblichen Geschlechtstheile bei Paarung 
zweier reiner Arten vollkommen, bei Bastarden aber unvollkom- 
men sind. Selbst bei ersten Kreutzungen hängt die grössre 
oder geringere Schwierigkeit, eine Paarung zu bewirken, anschei- 
nend von mehren verschiedenen Ursachen ab. Oft liegt.sie in 
der physischen Unmöglichkeit für das männliche Element bis 
zum Eichen zu gelangen, wie es bei solchen Pflanzen der Fall, 
deren Pistill so lang ist, dass die Pollen-Schläuche nicht bis ins 
Ovarium hinabreichen können. So ist auch beobachtet worden, 
dass wenn der Pollen einer Art auf das Stigma einer nur ent- 
fernt damit verwandten Art gebracht wird, die Pollen-Schläuche 
zwar hervortreten, aber nicht in die Oberfläche des Stigmas 
eindringen. In andern Fällen kann das männliche Element zwar 
das weibliche erreichen, aber unfähig seyn die Entwickelung des 
Embryos zu bewirken, wie Das aus einigen Versuchen TuurETS 
mit Seetangen hervorzugehen scheint. Wir können diese That- 
sachen eben so wenig erklären, als warum gewisse Holzarten 
nicht auf andre gepropft werden können. Endlich kann es auch 
vorkommen, dass ein Embryo sich zwar zu entwickeln beginnt, 
aber schon in der nächsten Zeit zu Grunde geht. Diese letzte 
Möglichkeit ist nicht genügend aufgeklärt worden; doch glaube 
ich nach den von Hrn. Hrwırr erhaltenen Mittheilungen, welcher 
grosse Erfahrung in der Bastard-Züchtung der Hühner-artigen 
Vögel besessen, dass der frühzeitige Tod des Embryos eine sehr 
häufige Ursache des Fehlschlagens der ersten Kreutzungen ist, 
Ich war anfangs sehr wenig daran zu glauben geneigt, weil 
Bastarde, wenn sie einmal geboren sind, sehr kräftig und lang- 
lebend zu seyn pflegen. wie Maulthier und Maulesel zeigen. 
Überdiess befinden sich Bastarde vor und nach der Geburt unter 

18 


274 


ganz verschiedenen Verhältnissen. In einer Gegend geboren 
und lebend, wo auch ihre beiden Ältern leben, mögen ihnen die 
Lebens-Bedingungen wohl zusagen. Aber ein Bastard hat nur 
halb an der organischen Bildung und Thätigkeit seiner Mutter 
Antheil und mag mithin vor der Geburt, so lange als er sich 
noch im Mutterleibe oder in den von der Mutter hervorgebrach- 
ten Eiern und Saamen befindet, einigermassen ungünstigeren 
Bedingungen ausgesetzt und demzufolge in der ersten Zeit leich- 
ter zu Grunde zu gehen geneigt seyn, zumal alle sehr jungen 
Wesen gegen schädliche und unnatürliche Lebens-Verhältnisse 
ausserordentlich empfindlich sind. | 

Hinsichtlich der Sterilität der Bastarde, deren Sexual-Organe 
unvollkommen entwickelt sind, verhält sich die Sache ganz an- 
ders. Ich habe schon mehrmals angeführt, dass ich eine grosse 
Menge von Thatsachen gesammelt habe, welche zeigen, dass, 
wenn Pflanzen und Thiere aus ihren natürlichen Verhältnissen 
gerissen werden, es vorzugsweise die Fortpflanzungs - Organe 
sind, welche dabei angegriffen werden. Diess ist in der That 
die grosse Schranke für die Zähmung der Thiere. Zwischen 
der dadurch veranlassten Unfruchtbarkeit derselben und der der 
Bastarde sind manche Ähnlichkeiten. In beiden Fällen ist die 
Sterilität unabhängig von der Gesundheit im Allgemeinen und oft 
begleitet von vermehrter Grösse und Üppigkeit. In beiden Fäl- 
len kommt die Unfruchtbarkeit in vielerlei Abstufungen vor; in 
beiden leidet das männliche Element am meisten, zuweilen aber 
das Weibchen doch noch mehr als das Männchen. In beiden 
geht die Fruchtbarkeit bis zu gewisser Stufe gleichen Schritts mit 
der systematischen Verwandtschaft; denn ganze Gruppen von Pilan- 
zen und Thieren werden durch dieselben unnatürlichen Bedin- 
gungen impotent, und gleiche Gruppen von Arten neigen zur Her- 
vorbringung unfruchtbarer Bastarde. Dagegen widersteht zuwei- 
len eine einzelne Art in einer Gruppe grossen Veränderungen 
in den äusseren Bedingungen mit ungeschwächter Fruchtbarkeit, 


und gewisse Arten einer Gruppe liefern ungewöhnlich frucht- 
bare Bastarde. Niemand kann, ehe er es versucht hat, voraus- 
sagen, ob dieses oder jenes Thier in der Gefangenschaft und ob 


3 
j) 


219 


diese oder jene ausländische Pflanze während ihres Anbaues sich 
gut fortpflanzen wird, noch ob irgend welche zwei Arten einer 
Sippe mehr oder weniger sterile Bastarde mit einander hervor- 
bringen werden. Endlich, wenn organische Wesen während 
mehrer Generationen in für sie unnatürliche Verhältnisse versetzt 
werden, so sind sie ausserordentlich zu variiren geneigt, was. 
wie ich glaube, davon herrührt, dass ihre Reproduktiv-Systeme 
vorzugsweise angegriffen sind, obwohl in mindrem Grade als 
wenn gänzliche Unfruchtbarkeit folgt. Eben so ist es mit Bastar- 
den; denn Bastarde sind in aufeinander-folgenden Generationen 
sehr zu variiren geneigt, wie es jeder Züchter erfahren hat. 

So sehen wir denn, dass, wenn organische Wesen in neue 
und unnatürliche Verhältnisse versetzt, und wenn Bastarde durch 
unnatürliche Kreutzung zweier Arten erzeugt werden, das Repro- 
duktiv-System ganz unabhängig von der ‚allgemeinen Gesundheit, 
in ganz eigenthümlicher Weise von Unfruchtbarkeit betroffen 
wird. In dem einen Falle sind die Lebens-Bedingungen gestört 
worden, obwohl oft nur in einem für uns nicht wahrnehmbaren 
Grade; in dem andern, bei den Bastarden nämlich, sind jene 
Verhältnisse unverändert geblieben, aber die Organisation ist 
dadurch gestört worden, dass zweierlei Bau und Verfassung 
des Körpers mit einander vermischt worden ist. Denn es ist 
kaum möglich, dass zwei Organisationen in eine verbunden wer- 
den, ohne einige Störung in der Entwickelung oder in der perio- 
dischen Thätigkeit oder in den Wechselbeziehungen der ver- 
schiedenen Theile und Organe zu einander oder endlich in den 
Lebens-Bedingungen zu veranlassen. Wenn Bastarde fähig sind 
sich unter sich fortzupflanzen, so übertragen sie von Generation 
zu Generation auf ihre Abkommen dieselbe Vereinigung zweier 
Organisationen, und wir dürfen daher nicht erstaunen. ihre 
Unfruchtbarkeit, wenn auch einigem Schwanken unterworfen, 
selten abnehmen zu sehen. | 

Wir müssen jedoch bekennen, dass wir, von haltlosen Hypo- 
thesen abgesehen, nicht im Stande sind, gewisse Thatsachen in 
Bezug auf die Unfruchtbarkeit der Bastarde zu begreifen, wie 
2. B. die ungleiche Fruchtbarkeit der zweierlei Bastarde aus der 


18 % 


276 


Wechselkreutzung, oder die zunehmende Unfruchtbarkeit derjeni- 
gen Bastarde, welche zufällig oder ausnahmsweise einem ihrer 
beiden Ältern sehr ähnlich sind. Auch bilde ich mir nicht 
ein, durch die vorangehenden Bemerkungen der Sache auf den 
Grund zu kommen; denn wir haben keine Erklärung dafür, 
warum ein Organismus unter unnatürlichen Lebens-Bedingungen 
unfruchtbar wird. Alles, was ich habe zeigen wollen, ist, dass 
in zwei in mancher Beziehung einander ähnlichen Fällen Un- 
fruchtbarkeit das gleiche Resultat ist, in dem einen Falle, weil 
die äussren Lebens-Bedingungen, und in dem andern weil durch 
Verbindung zweier Bildungen in eine die Organisation selbst 
gestört worden sind. | | 

Es mag wunderlich scheinen, aber ich vermuthe, dass ein 
gleicher Parallelismus noch in einer andern zwar verwandten, 
doch an sich sehr verschiedenen Reihe von Thatsachen besteht. 
Es ist ein alter und fast allgemeiner Glaube, welcher meines 
Wissens auf einer Masse von Erfahrungen beruhet, dass leichte 
Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen für alle 
Lebenwesen wohlthätig sind. Wir sehen daher Landwirthe und 
Gärtner beständig ihre Saamen, Knollen u. s. w. austauschen, sie 
aus einem Boden und Klima ins andre und endlich wohl auch 
wieder zurück versetzen. Während der Wiedergenesung von 
Thieren sehen wir sie oft grossen Vortheil aus diesem oder 
jenem Wechsel in ihrer Lebensweise ziehen. So sind auch bei 
Pflanzen und Thieren reichliche Beweise vorhanden, dass eine 
Kreutzung zwischen sehr verschiedenen Individnen einer Art, näm- 
lich zwischen solchen von verschiedenen Stämmen oder Unter- 
rassen, der Nachzucht Kraft und Fruchtbarkeit verleihe. Ich 
glaube in der That, nach den im vierten Kapitel angeführten 
Thatsachen, dass ein gewisses Maass von Kreutzung selbst für 
Hermaphroditen unentbehrlich ist, und dass enge Inzucht zwischen 
den nächsten Verwandten einige Generationen lang fortgesetzt, 
zumal wenn dieselben unter gleichen Lebens-Bedingungen gehal- 
ten werden, endlich schwache und unfruchtbare Sprösslinge 
liefert. 


So scheint es mir denn, dass einerseits geringe Wechse 


977 


der Lebens-Bedingungen allen organischen Wesen vortbeilhaft sind, 
und dass anderseits schwache Kreutzungen, nämlich zwischen 
verschiedenen Stämmen und geringen Varietäten einer Art, der 
Nachkommenschaft Kraft und Stärke verleihen. Dagegen haben 
wir aber auch gesehen, dass stärkere Wechsel der Verhältnisse 
und zumal solche von gewisser Art die Organismen oft in ge- 
wissem Grade unfruchtbar machen können, wie auch stärkere 
Kreutzungen, nämlich zwischen sehr verschiedenen oder in ge- 
wissen Beziehungen von einander abweichenden Männchen und 
Weibchen Bastarde hervorbringen, die gewöhnlich einigermaassen 
unfruchtbar sind. Ich vermag mich nicht zu überreden, dass 
dieser Parallelismus auf einem .blossen Zufalle oder einer Täu- 
schung beruhen solle. Beide Reihen von Thatsachen scheinen 
durch ein gemeinsames aber unbekanntes Band mit einander ver- 
kettet,. welches mit dem Lebens-Prinzipe wesentlich zusammen- 
hängt. 

Fruchtbarkeit gekreutzier Varietäten und ihrer 
Blendlinge.) Man mag uns als einen sehr kräftigen Beweis- 
Grund entgegenhalten, es müsse irgend ein wesentlicher Unter- 
schied zwischen Arten und Varietäten seyn und sich irgend ein 
Irrthum durch Alle vorangehenden Bemerkungen hindurch ziehen, 
da ja Varietäten, wenn sie in ihrer äusseren Erscheinung auch 
noch so sehr auseinandergehen, sich doch leicht kreutzen und 
vollkommene fruchtbare Nachkommen liefern. Ich gebe vollkom- 
men zu, dass Diess meistens unabänderlich so ist, dass die- 
ser Fall eine grosse Schwierigkeit darbiete und hier vermuth- 
lich irgend etwas unerklärt bleibe. Wenn wir aber die in der 
Natur vorkommenden Varietäten betrachten, so werden wir un- 
mittelbar in hoffnungslose Schwierigkeiten eingehüllt ; denn sobald 
zwei: bisher als Varietäten angesehene Formen sich einigermaassen 
steril mit einander zeigen, so werden sie von den meisten 
Naturforschern zu Arten erhoben. So sind z. B. die rothe und 
die blaue Anagallis, die hell- und die dunkel-gelbe Schlüssel- 
blume, welche die meisten unsrer: besten Botaniker für blosse 
Varietäten halten, nach Gärtner bei der Kreutzung nicht voll- 
kommen fruchtbar und. werden desshalb von ihm als unzweifel- 


273 


hafte Arten bezeichnet. Wenn wir daraus im Zirkel schliessen, 
so muss die Fruchtbarkeit aller natürlich entstandenen Varietäten 
als erwiesen angesehen werden. 

Auch wenn wir uns zu den erwiesener oder vermutheter 
Maassen im Kultur-Zustande erzeugten Varietäten wenden, sehen 
wir uns noch in Zweifel verwickelt. Denn wenn es z. B. fest- 
steht, dass der Deutsche Spitz-Hund sich leichter als andre Hunde- 
Rassen mit dem Fuchse paart, oder dass gewisse in Südamerika 
einheimische Haushunde sich nicht wirklich mit Europäischen 
Hunden kreutzen, so ist die Erklärung, welche jedem einfallen 
wird und wahrscheinlich auch die richtige ist, die, dass diese 
Hunde von verschiedenen wilden Arten abstaımmen. Dem unge- 
achtet ist die vollkommene Fruchtbarkeit so vieler gepflegter 
Varietäten, die in ihrem äusseren Ansehen so weit von einander 
verschieden sind. wie die der Tauben und des Kohles, eine 
merkwürdige Thatsache, besonders wenn wir erwägen, wie zahl- 
reiche Arten -es gibt, die äusserlich einander sehr ähnlich, doch 
bei der Kreutzung ganz unfruchtbar mit einander sind. Ver- 
schiedene Betrachtungen jedoch lassen die Fruchtbarkeit der ge- 
pilegten Varietäten weniger merkwürdig erscheinen, als es an- 
fänglich der Fall ist. Denn erstens müssen wir uns erinnern, 
wie wenig wir über die wahre Ursache der Unfruchtbarkeit 
sowohl der ınitemander gekreuzten als der ihren natürlichen 
Lebens-Bedingungen entfremdeten Arten wissen. Hinsichtlich 
dieses letzten Punktes hat mir der Raum nicht gestattet, die vie- 
len merkwürdigen Thatsachen aufzuzählen, die ich gesammelt 
habe; was die Unfruchtbarkeit betrifft, so spiegelt sie sich in der 
Verschiedenheit der beiderlei Bastarde der Wechselkreutzung 
sowie in den eigenthümlichen Fällen ab, wo eine Pflanze leichter 
durch fremden als durch ihren eignen Saamenstaub befruchtet 
werden kann. Wenn wir über diese und andre Fälle, wie über 
den nachher zu berichtenden von den verschieden gefärbten 
Varietäten der Verbascum thapsus nachdenken, so müssen wir 
fühlen, wie gross unsre Unwissenheit und wie klein für uns die 
Wahrscheinlichkeit ist zu begreifen, woher es komme, dass bei 
der Kreutzung gewisse Formen fruchtbar und andre unfruchtbar 


279 


sind. Es lässt sich zweitens klar nachweisen, dass die blosse 
äussre Unähnlichkeit zwischen zwei Arten deren grössre oder 
geringere Unfruchtbarkeit im Falle einer Kreutzung nicht bedingt; 
und ‘dieselbe Regel wird auch auf die gepflegten Varietäten an- 
zuwenden seyn. Drittens glauben einige ausgezeichnete Natur- 
forscher, dass ein lang-dauernder Zähmungs- oder Kultur-Zustand 
geeignet seye. die Unfruchtbarkeit der Bastarde. welche anfangs 
nur wenig steril gewesen sind, in aufeinander-folgenden Genera- 
tionen mehr und mehr zu verwischen ; und wenn Diess der Fall, 
so werden wir gewiss nicht erwarten dürfen, Sterilität unter 
dem Einflusse von nahezu den nämlichen Lebens-Bedingungen 
erscheinen und verschwinden zu sehen. Endlich, und Diess 
scheint mir ‚bei weitem die wichtigste Betrachtung zu seyn, 
bringt der Mensch neue Pflanzen- und Thier-Rassen im Kultur- 
Zustande durch die Kraft planmässiger oder unbewusster Züch- 
tung zu eignem Nutzen und Vergnügen hervor; er will nicht 
und kann nicht die kleinen Verschiedenheiten im Reproduktiv- 
Systeme oder andre mit dem Reproduktiv-Sysieme in Wechsel- 
beziehung stehenden Unterschiede zum Gegenstande seiner Züch- 
tung machen. Die Erzeugnisse der Kultur und Zähmung sind 
dem Klima und andern physischen Lebens-Bedingungen viel min- 
der vollkommen als die der Natur angepasst. Der Mensch ver- 
sieht diese verschiedenen Abänderungen wit der nämlichen Nah- 
rung, behandelt sie fast auf dieselbe Weise und will ihre allge- 
meine Lebens-Weise nicht ändern. Die Natur wirkt einförmig 
und langsam während unermesslicher Zeit-Perioden aul die ge- 
sammte Organisation der Geschöpfe in einer Weise, die zu deren 
eignem Besten dient; und so mag sie unmittelbar oder wahr- 
scheinlicher mittelbar, durch Correlation, auch das Reproduktiv- 
System in den mancherlei Abkömmiingen einer nämlichen Art 
abändern. Wenn man diese Verschiedenheit im Züchtungs-Ver- 
fahren von Seiten des Menschen und der Natur berücksichtigt, 
wird man sich nicht mehr wundern können, dass sich einiger 
Unterschied auch in den Ergebnissen zeigt. 

Ich habe bis jetzt so gesprochen, als seyen die Varietäten 
einer nämlichen Art bei der Kreutzung alle stets fruchtbar. Es 


230 


scheint mir aber unmöglich. sich dem Beweise von dem Daseyn 
eines gewissen Maasses von Unfruchtbarkeit in einigen wenigen 
Fällen zu verschliessen, von denen ich kürzlich berichten will, 
Der Beweis ist wenigstens eben so gut als derjenige, welcher 
uns an die Unfruchtbarkeit einer Menge von Arten [bei der 
Kreutzung?] glauben macht, und ist von gegnerischen Zeugen 
entlehnt, die in allen anderen Fällen Fruchtbarkeit und Unfrucht- 
barkeit als gute Art-Kriterien betrachten. Gärrner hielt einige 
Jahre lang eine Sorte Zwerg-Mais mit gelbem und eine grosse 
Varietät mit rothem Saamen. welche nahe beisammen in seinem 
(arten wuchsen: und obwohl diese Pflanzen getrennten Geschlech- 
tes sind, so kreutzen sie sich doch nie von selbst mit einander. 
Er befruchtete dann dreizehn Blüthen-Ähren * des einen mit dem 
Pollen des andern; aber nur ein einziger Stock gab einige 
Saamen und zwar nur fünf Körner. 

Die Behandlungs-Weise kann in diesem Falle nicht schädlich 
gewesen seyn, indem die Pflanzen getrennte Geschlechter haben. 
Noch Niemand hat meines Wissens diese zwei Mais-Sorten für 
_ verschiedene Arten angesehen; und es ist wesentlich zu bemer- 

ken, dass die aus ihnen erzogenen Blendlinge vollkommen frucht- 
bar waren, so dass auch Gärtner selbst nicht wagte, jene Sorten 
für zwei verschiedene Arten zu erklären. 


GIROU DE BUZAREINGUES kreutzte drei Varietäten von Gurken 
miteinander, welche wie der Mais getrennten Geschlechtes sind, 
und versicherte, ihre gegenseitige Befruchtung seye um so 
sehwieriger, je grösser ihre Verschiedenheit. In wie weit dieser 
Versuch Vertrauen verdient, weiss ich nicht; aber die drei zu 
dense!ben benützten Formen sind von SaGArET, welcher sich bei 
seiner Unterscheidung der Arten hauptsächlich auf ihre Unfrucht- 
barkeit stützt, als Varietäten aufgestellt worden. | 
Weit merkwürdiger und anfangs fast unglaublich erscheint 
| der folgende Fall; jedoch ist er das Resultat einer Menge viele 
Jahre lang an neun Verbascum-Arten fortgesetzter Versuche, 
welche hier noch um so höher in Anschlag zu bringen, als sie 


* Flowers“ doch wohl Blüthen-Ähren ? D. Übers. 


281 


von: GÄrtner’x herrühren, der ein eben so vortrefflicher Beobach- 
ter als entschiedener Gegner der Meinung ist, dass die gel- 
ben tnd die weissen Varietäten der nämlichen Verbascum- 
Arten bei der Kreutzung miteinander weniger Saamen geben, 
als jede derselben liefert, wenn sie mit Pollen aus Blüthen von 
ihrer eignen Farbe befruchtet worden. Er erklärt nun, dass wenn 
gelbe und weisse Varietäten einer Art mit gelben und weissen Va- 
rietäten einer andern Art gekreutzt werden, man mehr Saamen 
erhält, indem man die gleichfarbigen als wenn man die ungleich- 
farbigen Varietäten miteinander paart. Und doch. ist zwischen 
diesen Varietäten von Verbascum kein andrer Unterschied als in 
der Farbe ihrer Blüthen, und die eine Farbe entspringt zuwei- 
len aus Saamen der andersfarbigen Varietät. 

Nach Versuchen, die ich mit. gewissen Varietäten der Rosen- 
Malve angestellt, möchte ich vermuthen, dass sie ähnliche Er- 
scheinungen darbieten. 

KÖLREUTER, dessen Genauigkeit durch sen späteren Beob- 
achter bestätigt worden ist, hat die merkwürdige Thatsache be- 
wiesen, dass eine Varietät des Tabaks,. wenn sie mit einer ganz 
andern ihr weit entfernt stehenden Art gekreutzt wird, frucht- 
barer ist als mit Varietäten der nämlichen Art. Er machte mit 
fünf Formen Versuche, die allgemein für Varietäten gelten, 
was er auch durch die strengste Probe, nämlich durch Wechsel- 
kreutzungen bewies, welche lauter ganz fruchtbare Blendlinge 
lieferten. Doch gab eine dieser fünf Varietäten, mochte sie nun 
als Vater oder Mutter mit ins Spiel kommen, bei der Kreutzung 
mit Nicotiana glulinosa stets minder unfruchtbare Bastarde, als 
die vier andern Varietäten. Es muss daher das Reproduktiv- 
System dieser einen Varietät in irgend einer Weise weniger 
modifizirt worden seyn. 

Bei der grossen Schwierigkeit die Unfruchtbarkeit der Va- 
rietäten im Natur-Zustande zu bestätigen, weil jede bei der Kreut- 
zung etwas unfruchtbare Varietät alsbald allgemein für eine Spezies 
erklärt werden würde, so wie in Folge des Umstandes, dass der 
Mensch bei seinen künstlichen Züchtungen nur auf die äusseren 
Charaktere sieht und nicht verborgene und [unktionelle Verschie- 


282 


denheiten im Reproduktiv-System hervorzubringen beabsichtigt, 
glaube ich mich aus der Zusammenstellung aller Thatsachen zu 
folgern berechtigt, dass die Fruchtbarkeit der Varietäten unter 
einander keinesweges eine allgemeine Regel und mithin auch 
nicht geeignet seye, eine Grundlage zur Unterscheidung von Va- 
rietäten und Arten abzugeben. Die gewöhnlich stattfindende 
Fruchtbarkeit der Varietäten untereinander scheint mir nicht ge- 
nügend, um meine Ansicht über die sehr allgemeine aber nicht 
beständige Unfruchtbarkeit der ersten Kreutzungen und der Ba- 
starde umzustossen, dass dieselbe nämlich keine besondre Eigen- 
schaft für sich darstelle, sondern mit andern langsam entwickel- 
ten Modifikationen zumal im Reproduktiv- Systeme der mitein- 
ander gekreutzten Formen zusammenhänge. 


Bastarde und Blendlinge unabhängig von ihrer 
Fruchtbarkeit verglichen.) Die Nachkommenschalt der 
untereinander gekreutzten Arten und die der Varietäten lassen 
sich unabhängig von der Frage der Fruchtbarkeit noch in meh- 
ren Beziehungen miteinander vergleichen. Gärtner, dessen be- 
harrlicher Wunsch es war, eine scharfe Unterscheidungs-Linie zwi- 
schen Arten und Varietäten zu ziehen, konnte nur sehr wenige 
und wie es scheint nur ganz unwesentliche Unterschiede zwischen 
den sogenannten Bastarden der Arten und den Blendlingen der 
Varietäten entdecken, wogegen sie sich in vielen andern wesenl- 
lichen Beziehungen vollkommen gleichen. Hier kann ich diesen 
Gegenstand nur ganz kurz erörtern. Als wichtigster Unterschied 
hat sich ergeben, dass in der ersten Generation Blendlinge ver- 
änderlicher als Bastarde sind: doch gibt Gärtner zu, dass Ba- 
starde von bereits lange kultivirten Arten oft schon in erster Ge- 
neration sehr veränderlich sind, und ich selbst habe sehr treffende 
Belege für diese Thatsache. Gärtner gibt ferner zu, dass Ba- 
starde zwischen sehr nahe verwandten Arten veränderlicher 


sind, als die von weit auseinander-stehenden; und daraus ergibt 
sich, dass der im Grade der Veränderlichkeit gesuchte Unter- 
schied stufenweise abnimmt. Wenn Blendlinge oder fruchibarere 
Bastarde einige Generationen lang in sich fortgepflanzt werden, 
so nimmt anerkannter Maassen die Veränderlichkeit ihrer Nach- 


283 


kommen bis zu einem ausserordentlichen Maasse zu: dagegen lassen 
sich einige wenige Fälle anführen, wo Bastarde sowöhl als Blend- 
linge ihren einförmigen Charakter lange Zeit behauptet haben. 
Doch ist die Veränderlichkeit in den aufeinander-folgenden Ge- 
nerationen der Blendlinge vielleicht grösser als bei den Bastarden. 

Diese grössre Veränderlichkeit der Blendlinge, den Bastar- 
den gegenüber, scheint mir in keiner Weise überraschend. Denn 
die Ältern der Blendlinge sind Varietäten und meistens zahme 
und kultivirte Varietäten (da nur sehr wenige Versuche mit wil- 
den Varietäten angestellt worden sind), wesshalb als Regel anzu- 
nehmen, dass ihre Veränderlichkeit noch eine neue ist, daher 
denn auch zu erwarten steht, dass dieselbe olt noch fortdaure 
und die schon aus der Kreutzung entspringende Veränderlichkeit 
verstärke. Der geringere Grad von Variabilität bei Bastarden 
aus erster Krentzung oder aus erster Generation im Gegensatze 
zu ihrer ausserordentlichen Veränderlichkeit in späteren Generatio- 
nen ist eine eigenthümliche und Beachtung verdienende Thatsache ; 
denn sie führt zu der Ansicht, die ich mir über die Ursache der ge- 
wöhnlichen Variabilität gebildet, und unterstützt dieselbe, dass diese 
letzte nämlich aus dem Reproduktions-Systeme herrühre, welches 
für jede Veränderung in den Lebens-Bedingungen so empfindlich 
ist, dass es hiedurch oft ganz unvermögend oder wenigstens für 
seine eigentliche Funktion, mit der älterlichen Form übereinstim- 
mende Nachkommen zu erzeugen, unfähig gemacht wird. Nun 
rühren die in erster Generation gebildeten Bastarde alle von 
Arten her, deren Reproduktiv-Systeme ausser bei schon lange 
kultivirten Arten in keiner Weise leidend gewesen, und sind 
nicht veränderlich: aber Bastarde selber haben ein ernstlich an- 
gegriffenes Reproduktiv-System, und ihre Nachkommen sind sehr 
veränderlich. 

Doch kehren wir zur Vergleichung zwischen Blendlingen und 
Bastarden zurück. Gärtner behauptet, dass Blendlinge mehr als 
Bastarde geneigt seyen, wieder in eine der älterlichen Formen 
zurückzuschlagen; doch ist dieser Unterschied, wenn er richtig, 
gewiss nur ein stufenweiser. GÄRTNER legt ferner Nachdruck 
darauf, dass. wenn zwei obgleich nahe mit einander verwandte 


284 
Arten mit einer dritten gekreutzt werden, deren Bastarde doch 
weit auseinander weichen, während wenn zwei sehr verschiedene 
Varietäten einer Art mit einer andern Art gekreutzt werden, de- 
ren Blendlinge unter sich nicht sehr verschieden sind. Dieses Er- 
gebniss ist jedoch, so viel ich zu ersehen im Stande bin, nur 
auf einen einzigen Versuch gegründet und scheint den Erfah- 
rungen geradezu entgegengesetzt zu seyn, welche Körreurer bei 
mehren Versuchen gemacht hat. | 

Diess sind allein die an sich unwesentlichen Verschieden- 
heiten, welche GÄrrner zwischen Bastarden und Blendlingen der 
Pflanzen auszumitteln im Stande gewesen ist. Aber auch die 
Ähnlichkeit der Bastarde und Blendlinge, und insbesondere die 
von nahe verwandten Arten entsprungenen Bastarde mit ihren 
Ältern folgt nach Gärtner den nämlichen Gesetzen. Wenn zwei 
Arten gekreutzt werden, so zeigt zuweilen eine derselben ein 
überwiegendes Vermögen eine Ähnlichkeit mit: ihr dem Bastarde 
aufzuprägen, und so ist es, wie ich glaube, auch mit Pflanzen- 
Varietäten. Bei Thieren besitzt gewiss olt eine Varietät dieses 
überwiegende Vermögen über eine andre. Die beiderlei Bastard- 
Pflanzen aus einer Wechselkreutzung gleichen einander gewöhn- 
lich sehr, und so ist es auch mit den zweierlei Blendlingen aus 
Wechselkreutzungen. Bastarde sowohl als Blendlinge können 
wieder in jede der zwei älterlichen Formen zurückgeführt wer- 
den, wenn man sie in aufeinander-folgenden Generationen wie- 
derholt mit der einen ihrer Stamm-Formen kreutzt, 

Diese verschiedenen Bemerkungen ‚lassen sich offenbar auch 
auf Thiere anwenden; doch wird hier der Gegenstand ausseror- 
dentlich verwickelt, theils in Folge vorhandener secundärer 
Sexual-Charaktere und theils insbesondere in Folge des ge- 
wöhnlich bei einem von beiden Geschlechtern überwiegenden 
Vermögens sein Bild dem Nachkommen aufzuprägen, eben 5% 


wohl wo es sich um die Kreutzung von Arten, als dort wo es 
sich um die von Varietäten unter einander handelt. So glaube 
ich z. B., dass diejenigen Schriftsteller Recht haben, welche be- 
haupten, der Esel besitze ein solches Übergewicht über das 
Pferd, in dessen Folge sowohl Maulesel als Maulthier mehr dem 


285 


Esel als dem Pferde glichen; dass jedoch dieses Übergewicht 
noch mehr bei dem männlichen als dem weiblichen Esel hervor- 
trete, daher der Maulesel als der Bastard von Esel-Hengst und 
Pferde-Stute dem Esel mehr als das Maulthier gleiche, welches 
das Pferd zum Vater und eine Eselin zur Mutter hat. 

Einige Schriftsteller haben viel Gewicht darauf gelegt, dass 
es unter den Thieren nur bei Blendlingen vorkomme, dass solche 
einem ihrer Ältern ausserordentlich ähnlich seyen; doch lässt 
sich nachweisen, dass Solches auch bei Bastarden, wenn gleich 
seltener als bei Blendlingen der Fall ist. Was die von mir ge- 
sammelten Fälle von einer Kreutzung enisprungenen Thieren 
betrifft, die einem der zwei Ältern sehr ähnlich gewesen, 
so scheint sich diese Ähnlichkeit vorzugsweise auf in ihrer 
Art monströse und plötzlich aufgetretene Charaktere zu be- 
schränken, wie Albinismus, Melanismus , Mangel der Hörner, 
Fehlen des Schwanzes und Überzahl der Finger und Zehen, daher 
sie keinen Zusammenhang mit den durch Züchtung langsam ent- 
wiekelten Merkmalen haben. Demzufolge werden auch Fälle 
plötzlicher Rückkehr zu einem der zwei älterlichen Typen bei 
Blendlingen vorkommen, welche von oft plötzlich entstandenen 
und ihrem Charakter nach halb-monströsen Varietäten abstammen, 
als bei Bastarden, die von langsam und auf natürliche Weise 
gebildeten Arten herrühren. Im Ganzen aber bin ich der Mei- 
nung von Dr. Prosper Lucas, welcher nach der Musterung einer 
ungeheuren Menge von Thatsachen bei den Thieren zu dem 
Schlusse gelangt, dass die Gesetze der Ähnlichkeit zwischen 
Kindern und Ältern die nämlichen sind, ob beide Ältern mehr 
oder ob sie weniger von einander abweichen, ob sie einer oder 
ob sie verschiedenen Varietäten oder ganz verschiedenen Arten 
angehören. 

Von der Frage über Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit ab- 
gesehen, scheint sich in allen andern Beziehungen eine grosse 
Ähnlichkeit des Verhaltens zwischen Bastarden und Blendlingen 
zu ergeben. Bei der Annahme, dass die Arten einzeln erschaf- 
fen und die Varietäten erst durch sekundäre Gesetze entwickelt 
worden seyen, müsste ein solches ähnliches Verhalten als eine 


286 


äusserst befremdende Thatsache erscheinen. Geht man aber von 
der Ansicht aus, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Ar- 
ten und Varietäten gar nicht vorhanden Seye, so steht es voll- 
kommen mit derselben in Einklang. 

Zusammenfassung desKapitels.) Erste Kreutzungen 
sowohl zwischen genügend unterschiedenen Formen, um für. Va- 
rietäten zu gelten, wie zwischen ihren Bastarden sind sehr oft, aber 
nicht immer unfruchtbar. Diese Unfruchtbarkeit findet in allen 
Abstufungen statt und ist oft so unbedeutend, dass die zwei er- 
fahrensten Experimentisten, welche jemals gelebt, zu mitunter 
schnurstracks entgegengesetzten Folgerungen gelangten, als sie 
die Formen darnach ordnen wollten. Die Unfruchtbarkeit ist von 
angeborener Veränderlichkeit bei Individuen einer nämlichen Art, 
und für günstige und ungünstige Einflüsse ausserordentlich em- 
pfänglich. Der Grad der Unfruchtbarkeit richtet sich nicht genau 
nach systematischer Affinität, sondern ist von einigen eigenthüm- 
lichen und verwickelten Gesetzen abhängig. Er ist gewöhnlich 
ungleich und oft sehr ungleich bei Wechselkreutzung der näm- 
lichen zwei Arten. Er ist nicht immer von gleicher Stärke bei 
einer ersten Kreutzung und den daraus entspringenden Nach- 
kommen. 

In derselben Weise, wie beim Zweigen der Bäume die Fähig- 
keit einer Art oder Varietät bei andern anzuschlagen mit mei- 
stens ganz unbekannten Verschiedenheiten in ihren vegetativen 
Systemen zusammenhängt, so ist bei Kreutzungen die grössre 
oder geringre Leichtigkeit einer Art sich mit der andern zu be- 
fruchten von unbekannten Verschiedenheiten in ihren Reproduk- 
tions-Systemen veranlasst. Es ist daher nicht mehr Grund an- 
zunehmen, dass von der Natur einer jeden Art ein verschiedener 
Grad von Sterilität in der Absicht ihr gegenseitiges Durchkreutzen 
und Ineinanderlaufen zu verhüten besonders eingebunden worden 
seye, —- als Ursache vorhanden ist anzunehmen, dass jeder 
Holzart ein verschiedener und etwas analoger Grad von Schwie- 
rigkeit beim Verpropfen auf andern Arten anzuschlagen einge- 
bunden worden seye um zu verhüten. dass sich nicht alle in 
unsern Wäldern auleinander-propfen. 


287 


Die Sterilität der ersten Kreutzungen zwischen reinen Arten 
mit vollkommnen Reproduktiv-Systemen scheint von verschiedenen 
Ursachen abzuhängen: in einigen Fällen meistens von frühzeitigem 
Verderben des Embryos. Die Unfruchtbarkeit der Bastarde mit 
unvollkommenem Reproduktions-Systeme und derjenigen wo dieses 
System so wie die ganze Organisation durch Verschmelzung 
zweier Arten in eine gestört worden ist, scheint nahe überein- 
zukommen mit derjenigen Sterilität, welche so oft auch reine 
Species befällt, wenn ihre natürlichen Lebens-Bedingungen ge- 
stört worden sind. Diese Betrachtungs-Weise wird noch durch 
einen Parallelismus andrer Art unterstützt, indem nämlich die 
Kreutzung nur wenig von einander abweichender Formen die 
Kraft und Fruchtbarkeit der Nachkommenschaft befördert, wie 
geringe Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen für 
Gesundheit und Fruchtbarkeit aller organischen Wesen vortheil- 
haft sind. Es ist nicht überraschend, dass der Grad der Schwie- 
rigkeit zwei Arten mit einander zu befruchten und der Grad der 
Unfruchtbarkeit ihrer Bastarde einander im Allgemeinen entsprechen, 
obwohl sie von verschiedenen Ursachen herrühren; denn beide 
hängen von dem Maasse irgend welcher Verschiedenheit zwischen 
den gekreutzten Arten ab. Ebenso ist es nicht überraschend, 
dass die Leichtigkeit eine erste Kreutzung zu bewirken, die Frucht- 
barkeit der daraus entsprungenen Bastarde und die Fähigkeit 
wechselseitiger Aufeinanderpropfung, obwohl diese letzte oflen- 
bar von weit verschiedenen Ursachen abhängt, alle bis zu einem 
gewissen Grade parallel gehen mit der systematischen Verwandt- 
schaft der Formen. welche bei den Versuchen in Anwendung 
gekommen; denn »systematische Affinität« bezweckt alle Sorten 
von Ähnlichkeiten zwischen den Species auszudrücken, 

Erste Kreutzungen zwischen Formen, die als Varietäten gelten 
oder doch genügend von einander verschieden sind um dafür zu 
gehen, und ihre Blendlinge sind zwar gewöhnlich, aber nicht 
ohne Ausnahme fruchtbar. Doch ist diese gewöhnliche und voll- 
kommene Fruchtbarkeit nicht befremdend , wenn wir uns erinnern, 
wie leicht wir hinsichtlich der Varietäten im Natur-Zustande in 
einen Zirkelschluss gerathen, und wenn wir uns ins Gedächtniss 


288 


rufen, dass die grössre Anzahl der Varietäten durch Kultur mittelst 
Züchtung bloss nach äusseren Verschiedenheiten und nicht nach 
solchen im Reproduktiv-Systeme hervorgebracht worden sind, In 
allen andren Beziehungen, ausser der 'Fruchtbarkeit, ist eine 
allgemein sehr grosse Ahnlichkeit zwischen Bastarden und Blend- 
lingen. Endlich scheinen mir die in diesem Kapitel kürzlich 
aufgezählten Thatsachen nicht im Widerspruch, sondern vielmehr. 
im Einklang zu stehen mit der Ansicht, dass es keinen gründ- 
lichen Unterschied zwischen Arten und Varietäten gibt. 


Neuntes Kapitel. 
Unvollkommenheit der Geologischen Überlieferungen. 


"Mangel mittler Varietäten zwischen den heutigen Formen. —- Natur der erlosche- 
nen Mittel-Varietäten und deren Zahl. —Länge der Zeit-Perioden nach Maas- 
gabe der Ablagerungen und Entblössungen. —7Armuth unsrer paläontolo- 
gischen Sammlungen. —“Unterbrechung geologischer Formationen. Abwe- 
senheit der Mittel- Varietäten in allen Formationen. —yPlötzliche Erschei- 
nung von Arten-Gruppen.- —3 Ihr plötzliches Auftreten in den ältesten Fos- 
silien-führenden Schichten. 

/, Im sechsten Kapitel habe -ich die Haupteinreden aufgezählt, 
welche man gegen die in diesem Bande aufgestellten Ansichten 
erheben könnte. Die meisten derselben sind jetzt bereits erörtert 
worden. Darunter ist eine allerdings von handgreiflicher Schwie- 
rigkeit: die der Verschiedenheit der Art-Formen ohne wesentliche 
Verkettung durch zahllose Übergangs-Formen. Ich habe die Ur- 
sachen nachgewiesen, warum solche Glieder heutzutage unter 
den anscheinend für ihr Daseyn günstigsten Umständen, nament- 
lich auf ausgedehnten und zusammenhängenden Flächen mit all- 
mählich abgestuften physikalischen Bedingungen nicht gewöhnlich 
zu finden sind. Ich versuchte zu zeigen, dass das Leben einer 
jeden Art noch wesentlicher abhängt von der Anwesenheit 
gewisser andrer organischer Formen, als vom Klima, und dass 
daher die wesentlich leitenden Lebens-Bedingungen sich nicht SO 
allmählich abstufen, wie Wärme und Feuchtigkeit. Ich versuchte 


289 


ferner zu Zeigen, dass mittle Varietäten desswegen, weil sie in 
geringrer Anzahl als die von ihnen verketteten Formen vorkommen, 
im Verlaufe weitrer‘ Veränderung und Vervollkommnung dieser 
letzten bald verdrängt werden. Die Hauptursache jedoch, warum 
nicht in der ganzen Natur jetzt noch zahllose solche Zwischenglie- 
der vorkommen, liegt im Prozesse der Natürlichen Züchtung, wo- 
durch neue Varietäten fortwährend die Stelle der Stamm-Formen 
einnehmen und dieselben vertilgen. Aber gerade in dem Verhält- 
nisse, wie dieser Prozess der Vertilgung in ungeheurem Maasse 
thätig gewesen ist, so muss auch die Anzahl der Zwischenvarie- 
täten, welche vordem auf der Erde vorhanden waren, eine wahr- 
haft ungeheure gewesen seyn. Doch woher kömmt es dann, dass 
nicht jede Formation und jede Gesteins-Schicht voll von solchen 
Zwischenformen ist? Die Geologie enthüllt uns sicherlich nicht 
‘eine solche fein abgestufte Organismen-Reihe; und Diess ist viel- 
leicht die handgreiflichste und gewichtigste Einrede, die man 
meiner Theorie entgegenhalten kann. Die Erklärung liegt aber, 
wie ich glaube, in der äussersten Unvollständigkeit der geologi- 
schen Überlieferungen. 


2. Zuerst muss man sich erinnern, was für Zwischenformen 
meiner Theorie zufolge vordem bestanden haben müssten. Ich 
habe es schwierig gefunden, wenn ich irgend welche zwei Arten 
betrachtete, ‚unmittelbare Zwischenformen zwischen denselben mir 
in Gedanken auszumalen. Es ist Diess aber auch eine ganz falsche 
Ansicht; denn man hat sich vielmehr nach Formen umzusehen, 
welche zwischen jeder der zwei Spezies und einem gemeinsamen 
aber unbekannten Stammvater das Mittel halten; und dieser Stamm- 
vater wird gewöhnlich von allen seinen Nachkommen einiger- 
maassen verschieden gewesen seyn. Ich will Diess mit einem 
einfachen Beispiele erläutern. Die Pfauen-Taube und der Kröpfer 
leiten beide ihren Ursprung von der Felstaube (C. livia) her: 
aber eine unmittelbare Zwischen-Varietät zwischen Pfauen-Taube 
und Kropf-Taube wird es nicht geben, keine z. B., die einen et- 
was ausgebreiteteren Schwanz mit einem nur mässig erweiterten 
Kropfe verbände. worin doch eben die bezeichnenden Merkmale 
jener zwei Rassen liegen. Diese beiden Rassen sind überdiess 

19 


290 


so sehr modifizirt worden, dass, wenn wir keinen historischen 
oder indirekten Beweis über ihren Ursprung hätten, wir unmög- 
lich im Stande gewesen seyn würden durch blosse Vergleichung 
ihrer Struktur zu bestimmen, ob sie aus der Felstaube oder 
einer andern ihr verwandten Art, wie z. B. Columba oenas, ent. 
standen seyen. 

So verhält es sich auch mit den natürlichen Arten. Wenn 
wir uns nach sehr verschiedenen Formen umsehen, wie z. B. 
Pferd und Tapir, so finden wir keinen Grund zu unterstellen, 
dass es jemals unmittelbare Zwischenglieder zwischen denselben 
gegeben habe, wohl aber zwischen jedem von beiden und irgend 
einem unbekannten Stamm - Vater. Dieser gemeinsame Stamm- 
Vater wird in seiner ganzen Organisation viele allgemeine Ähn- 
lichkeit mit dem Tapir so wie mit dem Pferde besessen haben; 
doch in einer und der andern Hinsicht auch von beiden beträchtlich 
verschieden gewesen seyn, vielleicht in noch höherem Grade, als 
beide jetzt unter sich sind. Daher wir in allen solchen Fällen 
nicht im Stande seyn würden, die älterliche Form für irgend 
welche zwei oder drei sich nahe-stehende Arten auszumitteln, selbst 
dann nicht, wenn wir den Bau des Stamm-Vaters genau mit dem 
seiner abgeänderten Nachkommen vergleichen, es-seye denn, dass 
wir eine nahezu vollständige Kette von Zwischengliedern dabeihätten. 

Es wäre nach meiner Theorie allerdings möglich. dass von 
zwei noch lebenden Formen die eine von der andern abstammie, 
wie z. B. das Pferd von Tapir, und in diesem Falle müsste es 
unmittelbare Zwischenglieder zwischen denselben gegeben haben. 
Ein solcher Fall würde jedoch voraussetzen, dass die eine der 
zwei Arten (der Tapir) sich eine sehr lange Zeit hindurch un- 
verändert erhalten habe, während ein Theil ihrer Nachkommen 
sehr ansehnliche Veränderungen erfuhren. Aber das Prinzip der 
Mitbewerbung zwischen Organismus und Organismus, zwischen _ 
Vater und Sohn, wird diesen Fall nur sehr selten aufkommen 
lassen: denn in allen Fällen streben die neuen und verbesserten 


Lebens-Formen die alten und unpassendern zu erseizen. 
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung stehen alle leben- 
Jen Arten mit einer Stamm-Art ihrer Sippe in.Verbindung dureh 


291 


Charaktere, deren Unterschiede nicht grösser sind, als wir sie 
heutzutage zwischen Varietäten einer Art sehen; diese jetzt ge- 
wöhnlich erloschenen Stamm-Arten waren ihrerseits wieder in 
ähnlicher Weise mit älteren Arten verkettet; und so immer weiter 
rückwärts, bis endlich alle in einem gemeinsamen. Vorgänger 
einer ganzen Ordnung oder Klasse zusammentreffen. So muss 
daher die Anzahl der Zwischen- und Übergangs-Glieder zwischen 
allen lebenden und erloschenen Arten ganz unbegreiflich gross 
gewesen seyn. Aber, wenn diese Theorie richtig ist, haben 
sie. gewiss auf dieser Erde gelebt. 

3Über die Zeitdauer.) Unabhängig von der aus dem 
Mangel jener endlosen Anzahl: von Zwischengliedern hergenom- 
menen Einrede, könnte man mir ferner entgegenhalten , dass die 
Zeit nicht hingereicht habe, ein so ungeheures Maass organischer 
Veränderungen durchzuführen, weil alle Abänderungen nur sehr 
langsam durch Natürliche Züchtung bewirkt worden seyen. Es 
würde mir kaum möglich seyn, demjenigen Leser, welcher kein 
praktischer Geologe ist, alle Thatsachen vorzuführen, welche uns 
einigermaassen die unermessliche Länge der verflossenen Zeit- 
räume zu erfassen in den Stand setzen. Wer Sir Cnarıes LyEur's 
grosses Werk „ihe Principles of Geology“, welchem spätre Histo- 
riker die Anerkennung eine grosse Umwälzung in den Natur- 
Wissenschalten bewirkt zu haben nicht versagen werden, lesen 
kann und nicht sofort die unbegreifliche Länge der verflossenen 
Erd-Perioden zugesteht, der mag dieses Buch nur schliessen. 
Nicht als ob es genüge die Principles of Geology zu studiren 
oder die Special-Abhandlungen verschiedner Beobachter über ein- 
zelne Formationen zu lesen, deren jeder bestrebt ist einen un- 
genügenden Begriff von der Entstehungs-Dauer einer jeden For- 
mation oder sogar jeder einzelnen Schicht zu geben. Jeder muss 
vielmehr erst Jahre lang für sich selbst diese ungeheuren Stösse 
übereinander gelagerter Schichten untersuchen und die See bei 
der Arbeit, wie sie, alle Gesteins-Schichten unterwühlt und zer- 
trümmert und neue Ablagerungen daraus bildet, beobachtet haben, 
ehe er hoffen kann, nur einigermaassen die Länge der Zeit zu 
begreifen, deren Denkmäler wir um uns her erblicken. 
hr 


292 


Es ist gut den See-Küsten entlang zu wandern, welche aus 
mässig harten Fels-Schichten aufgebaut sind, und den Zerstörungs- 
Prozess zu beobachten. Die Gezeiten erreichen diese Fels-Wände 
gewöhnlich nur auf kurze Zeit zweimal im Tage, und die Wogen 
nagen sie nur aus, wenn sie mit Sand und Geschieben beladen 
sind; denn es ist leicht zu beweisen, dass reines Wasser Gesteine 
jeder Art nicht oder nur wenig angreift. Zuletzt wird der Fuss 
der Fels-Wände unterwaschen, mächtige Massen brechen zusammen, 
und die nun fest liegen bleiben, werden, Atom um Atom zerrieben, 
bis sie klein genug geworden, dass die Wellen sie zu rollen 
und vollends in Geschiebe und Sand und Schlamm zu verarbeiten 
vermögen. Aber wie oft sehen wir längs dem Fusse sich zurück- 
ziehender Klippen gerundete Blöcke liegen, alle dick überzogen 
nit Meeres-Erzeugnissen, welche beweisen, wie wenig sie durch 
Abreibung leiden und wie selten sie umhergerollt werden! Über- 
diess, wenn wir einige Meilen weit eine derartige Küsten-Wand 
verfolgen, welche der Zerstörung unterliegt, so finden wir, dass 
es nur hier und da, auf kurze Strecken oder etwa um ein Vor- 
gebirge her der Fall ist, dass die Klippen jetzt leiden. Die Be- 
schaffenheit ihrer Oberfläche und der auf ihnen erscheinende 
Pflanzen-Wuchs beweisen, dass allenthalben Jahre verflossen sind, 
seitdem die Wasser deren Fuss gewaschen haben. 

Wer die Thätigkeit des Meeres an unsren Küsten näher 
studirt hat, der muss einen tiefen Eindruck in sich aufgenommen 
haben von der Langsamkeit ihrer Zerstörung. Die treiflichen 
Beobachtungen von Husu Mirier und von Sum von Jordanhill 
sind vorzugsweise geeignet diese Überzeugung zu gewähren, Von 
ihr durchdrungen möge Jeder die viele Tausend Fuss mächtigen 
Konglomerat-Schichten untersuchen, welche, obschon wahrschein- 
lich in rascherem Verhältnisse als so viele andre Ablagerungen 
gebildet, doch nun an jedem der zahllosen abgeriebenen und ge- 
rundeten Geschiebe. woraus sie bestehen, den Stempel einer 
langen Zeit tragen und vortrefflich zu zeigen geeignet sind, wie 
langsam diese Massen zusammengehäuft worden seyn müssen. 
In den Cordilleren habe ich einen Stoss solcher Konglomerat- 
Schichten zu zehntausend Fuss Mächtigkeit geschätzt. Nun mag 


293 


sich der Beobachter der wohl begründeten Bemerkung Lyegi's 
erinnern, dass die, Dicke und Ausdehnung der Sediment-Forma- 
tionen Ergebniss und Maasstab der Abtragungen sind, welche die 
Erd-Rinde an andern Stellen erlitten hat. Und was für ungeheure 
Abtragungen werden durch die Sediment-Ablagerungen mancher 
Gegenden vorausgesetzt! Professor Ramsay hat mir, meistens nach 
wirklichen Messungen und geringentheils nach Schätzungen, die 
Maasse der grössten unsrer Formationen aus verschiedenen Theilen 
Gross-Britanniens in folgender Weise angegeben: 

Tertiäre Schichten . - | 

Sekundär-Schichten . . 13,190 \= 12,984 

Paläolithische Schichten 57,154'\ 
d. i. beinahe 133/, Englische Meilen. Einige dieser Forma- 
tionen, welche in England nur durch dünne Lagen vertreten 
sind, haben auf dem Kontinente Tausende von Fussen Mächtig- 
keit. Überdiess sollen nach der Meinung der meisten Geologen 
zwischen je zwei aufeinander-folgenden Formationen immer un- 
ermessliche leere Perioden fallen. Wenn somit selbst jener unge- 
heure Stoss von Sediment-Schichten in Britannien nur eine un- 
vollkommne Vorstellung von der Zeit gewährt, wie lang muss 
diese Zeit gewesen seyn! Gute Beobachter haben die Sediment- 
Ablagerungen des grossen Mississippi-Stromes nur auf 600’ Mäch- 
tigkeit in 100,000 Jahren berechnet. Diese Berechnung macht 
keinen Anspruch auf grosse Genauigkeit. Wenn wir: aber nun 
berücksichtigen, wie ausserordentlich weit ganz feine Sedimente 
von den See-Strömungen fortgetragen werden, so muss der Prozess 
ihrer Anhäufung über irgend welche Erstreckung des See-Bodens 
äusserst langsam seyn. 

Doch scheint das Maass der Entblössung, welche die Schichten 
mancher Gegenden erlitten, unabhängig von dem Verhältnisse 
der Anhäufung der zertrümmerten Massen, die besten Beweise 
für die Länge der Zeiten zu liefern. Ich erinnre mich, von dem 
Beweise der Entblössungen in hohem Grade betroffen gewesen 
zu seyn, als ich vyulkanische Inseln sah, welche rundum von den 
Wellen so abgewaschen waren. dass sie in 1000—2000‘ hohen 
Fels-Wänden senkrecht emporragten, während sich aus dem 


Bugs ir ae is. am e 


294 


schwachen Fall-Winkel, mit welchem sich die Lava-Ströme einst 
in ihrem flüssigen Zustand herabgesenkt, auf den ersten Blick 
ermessen liess, wie weit einstens die harten Fels-Lagen in den 
offnen Ozean hinausgereicht haben müssen. Dieselbe Geschichte 
ergibt sich oft noch deutlicher durch die mächtigen Rücken, jene 
grossen Gebirgs-Spalten, längs deren die Schichten bis zu Tau- 
senden von Fussen an einer Seite eımporgestjegen oder an der 
andern Seite hinabgesunken sind; denn seit dieser senkrechten 
Verschiebung ist die Oberfläche des Bodens durch die Thätigkeit 
des Meeres wieder so vollkommen ausgeebnet worden, dass 
keine Spur von dieser ungeheuren Verwerfung mehr äusserlich 
zu erkennen ist. | 

So erstreckt sich der Craven-Rücken z. B. 30 Englische 
Meilen weit, und auf dieser ganzen Strecke sind die von bei- 
den Seiten her zusammenstossenden Schichten um 600-3000: 
senkrechter Höhe verworfen. Professor Ransay hat eine Sen- 
kung von 2300° in Anglesea beschrieben und benachrichtigt 
nich, dass er sich überzeugt halte, dass in Merionetshire eine 
von 12,000’ vorhanden seye. Und doch verräth in diesen Fällen 
die Oberfläche des Bodens nichts von solchen wunderbaren Be- 
wegungen, indem die ganze anfangs auf der einen Seite höher 
emporragende Schichten-Reihe bis zur Abebnung der Oberfläche 
weggespült worden ist. Die Betrachtung dieser Thatsachen macht 
aul mich denselben Eindruck, wie das vergebliche Ringen des 
Geistes um den Gedanken der Ewigkeit zu erfassen. 

Ich habe diese wenigen Bemerkungen gemacht, weil es für 
uns von höchster Wichtigkeit ist, eine wenn auch unvollkommene 
Vorstellung von der Länge verflossener Erd-Perioden zu haben. 
Und jedes Jahr während der ganzen Dauer dieser Perioden war 


die Erd-Öberfläche, waren Land und Wasser von Schaaren leben- 


der Formen bevölkert. Was für eine endlose, dem Geiste un- 
erfassliche Anzahl von Generationen muss, seitdem die Erde be- 
wohnt ist, schon aufeinander gefolgt seyn! Und sieht man nun 
unsre reichsten geologischen Sammlungen an, — welche arm- 
seelige Schaustellung davon! 

4 Armuth paläontologischer Sammlungen.) Jedermann 


295 


gibt die ausserordentliche Unvollständigkeit unsrer paläontologi- 
schen Sammlungen zu... Überdiess sollte man die Bemerkung des 
vortrefflichen Paläontologen, des verstorbnen Epwarp Forses, 
nicht vergessen, dass eine Menge unsrer lossilen Arten nur 
nach einem einzigen oft zerbrochenen Exemplare oder nur 
wenigen auf einem kleinen Fleck beisammen gefundenen Indivi- 
Auen bekannt und benannt sind. Nur ein kleiner Theil der Erd- 
Oberfläche ist geologisch untersucht und noch keiner mit er- 
schöpfender Genauigkeit erforscht, wie die noch jährlich in 
Europa aufeinanderfolgenden wichtigen Entdeckungen beweisen. 
Kein ganz weicher Organismus ist Erhaltungs-fähig. Selbst 
Schaalen und Knochen zerfallen und verschwinden auf dem 
Boden des Meeres, wo ‚sich keine Sedimente anhäufen. Ich 
glaube, dass wir beständig in einem grossen Irrthum begriffen 
sind, wenn wir uns der stillen Ansicht überlassen, dass sich 
Niederschläge fortwährend auf fast der ganzen Erstreckung. des 
See-Grundes in genügendem Maasse bilden, um die zu Boden 
sinkenden organischen Stoffe zu umhüllen und zu erhalten. Auf | 
‚ine ungeheure Ausdehnung des Ozeans spricht die klar blaue 
Farbe seines Wassers für dessen. Reinheit. Die vielen. Berichte 
von mehren in gleichförmiger Lagerung aufeinander - folgenden 
Formationen, deren keine auch nur Spuren aufrichtender, zerreis- 
sender oder abwaschender Thätigkeit an sich trägt, scheinen nur 
durch die Ansicht erklärbar zu seyn, dass der Boden des Meeres 
oft eine unermessliche Zeit in völlig unveränderter Lage bleibt. 
Die Reste, welche in Sand und Kies eingebettet worden, werden 
gewöhnlich von Kohlensäure-haltigen Tage-Wassern ‚wieder aul- 
gelöst, welche den Boden nach seiner Emporhebung . über den 
Meeres-Spiegel zu durchsinken beginnen. : 

Einige von den vielen Thier-Arten. welche zwischen Ebbe- 
und Fluth-Stand des Meeres am Strande leben, scheinen sich 
nur selten fossil zu erhalten. So z. B. überziehen in aller W elt 
zahllose Chthamalinen (eine Familie der sitzenden Cirripeden) 
die dort gelegenen Klippen. Alle sind im strengen Sinne litoral, 
mit Ausnahme einer einzigen mittelmeerischen Art, welche dem 
tiefen Wasser angehört und auch in Sicilien fossil gefunden wor- 


296 


den ist, während man fast noch keine tertiäre Art kennt ein ic 
der Kreide-Zeit noch keine Spur davon vorliegt. Die Mollusken- 
Sippe Chiton bietet ein theilweise analoges Beispiel dar *, 
Hinsichtlich der Land-Bewohner, welche in der paläolithischen 
und sekundären Zeit gelebt, ist es überflüssig darzuthun ‚ dass 
unsre Kenntnisse höchst fragmentarisch sind. So ist z. B. nicht 
eine Landschnecke aus einer dieser langen Perioden bekannt, mit 
Ausnahme der von Sir Cu. Lyerı und Dr. Dawsox in den Koh- 
len-Schichten Nord-Amerika’s entdeckten Art, wovon jetzt mehre 
Exemplare gesammelt sind. Was die Säugthier-Reste betrifft, 
so ergibt ein Blick auf die Tabelle im Supplement zu Lyeurs 
Handbuch weit besser, wie zufällig und selten ihre Erhaltung 
seye, als Seiten-lange Einzelnheiten, und doch kann ihre Selten- 
heit keine Verwunderung erregen, wenn wir uns erinnern. was 
für ein grosser Theil der tertiären Reste derselben aus Knochen- 

Höhlen und Süsswasser-Ablagerungen herrühren, während nicht 
"eine Knochen-Höhle und ächte Süsswasser-Schicht vom Alter uns- 
rer paläolithischen und sekundären Formationen bekannt ist, 

5 Aber die Unvollständigkeit der geologischen Nachrichten 
rührt hauptsächlich von einer andren und weit wichtigeren Ur- 
sache her, als irgend eine der vorhin angegebenen ist, dass 
nämlich die verschiedenen Formationen durch lange Zeiträume 
von einander getrennt sind. Wenn wir die Formationen in wissen- 
schaftlichen Werken in Tabellen geordnet finden, oder wenn 
wir sie in der Natur verfolgen, so können wir uns nicht wohl 
der Überzeugung. verschliessen, dass sie nicht unmittelbar auf 
einander gefolgt sind. So wissen -wir z. B. aus Sir R. Murem- 
sons grossem Werke über Russland, dass daselbst weite Lücken 
zwischen den aufeinanderliegenden Formationen bestehen; und» 
so ist es auch in Nord-Amerika und vielen andern Weltgegen- 
den. Und doch würde der beste Geologe, wenn er sich nur mit 
einem dieser weiten Länder-Gebiete allein beschäftigt hätte, nim- 
mer vermuthet haben, dass während dieser langen Perioden, 


Doch kennt man über zwei Dutzend fossile Arten von der Kohlen- 
Formation an bis in die obersten Tertiär-Schichten. D. Übs. 


297 


aus welchen in seiner eignen Gegend kein Denkmal übrig ist, 
sich grosse Schichten-Stösse voll neuer und eigenthümlicher Le- 
benformen anderweitig aufeinander gehäuft haben. Und wenn 
man sich in jeder einzelnen Gegend kaum eine Vorstellung 
von der Länge der Zwischenzeiten zu machen im Stande ist, 
so wird man glauben, dass Diess nirgends möglich seye. Die 
häufigen und grossen Veränderungen in der mineralogischen Zu- 
sammensetzung aufeinander-folgender Formationen, welche gewöhn- 
lich auch grosse Veränderungen in der geographischen Beschal- 
fenheit des umgebenden Landes unterstellen lassen, aus welchem 
das Material zu diesen Niederschlägen entnommen ist, stimmt mit 
der Annahme langer zwischen den einzelnen Formationen ver- 
flossener Zeiträume überein. 

Doch kann man, wie ich glaube, leicht einsehen, warum die 
geologischen Formationen jeder Gegend fast unabänderlich über- 
all unterbrochen sind, d..h. sich nicht ohne Zwischenpausen ab- 
gelagert haben. Kaum hat eine Thatsache bei Untersuchung 
viele Hundert Meilen langer Strecken der Süd-Amerikanischen 
Küsten, die in der jetzigen Periode einige Hundert Fuss hoch em- 
porgehoben worden sind, einen lebhalteren Eindruck auf mich ge- 
macht, als die Abwesenheit aller neueren Ablagerungen von hin- 
reichender Entwickelung, um auch nur für eine kurze geologische 
Periode zu gelten. Längs der ganzen West-Küste, die von einer 
eigenthümlichen Meeres-Fauna bewohnt wird, sind die Tertiär- 
Schichten so spärlich entwickelt, dass wahrscheinlich kein Denk- 
mal von verschiedenen aufeinander-folgenden Meeres-Faunen für 
spätre Zeiten erhalten bleiben wird. Ein wenig Nachdenken 
erklärt es uns, warum längs der fortwährend höher steigenden 
West-Küste Süd-Amerikas keine ausgedehnten Formationen mit 
neuen oder mit terliären Resten irgendwo ‚zu finden sind, ob- 
wohl nach den ungeheuern Abtragungen der Küsten-Wände und 
den Schlamm-reichen Flüssen zu urtheilen, die sich dort in das 
Meer ergiessen, die Zuführung von Sedimenten lange Perioden 
hindurch ‚eine sehr grosse gewesen seyn muss. Die Erklärung 
liegt ohne Zweifel darin, dass die litoralen und sublitoralen Ab- 
lagerungen beständig wieder weggewaschen werden, sobald sie 


298 


durch die langsame oder stufenweise Hebung des Landes in den 
Bereich der zerstörenden Brandung gelangen. 

Wir dürfen wohl mit Sicherheit schliessen, dass Sediment 
in ungeheuer dicken harten und ausgedehnten Massen angehäuft 
worden seyn müsse, um während der ersten Emporhebung und 
der späteren Schwankungen des Niveaus der ununterbrochnen 
Thätigkeit der Wogen zu widerstehen. Solche dicke und aus- 
gedehnte Sediment-Ablagerungen können auf zweierlei Weise 
gebildet werden; entweder in grossen Tiefen des Meeres, in 
welchem Falle wir nach den Untersuchungen von E. Forses an- 
nehmen müssen, dass der See-Grund nur von sehr wenigen Thie- 
ren bewohnt gewesen seye und die Massen nach ihrer Empor- 
hebung folglich nur eine sehr unvollkommene Vorstellung von 
den einstens dort vorhandenen Lebenformen gewähren können; 
— oder die Sedimente werden über einen seichten Grund zu 
einiger Dicke und Ausdehnung angehäuft, wenn er in langsamer 
Senkung begriffen ist. In diesem letzten Falle bleibt das Meer 
so lange seicht und dem Thier-Leben günstig, als Senkung des 
Bodens und Zufuhr der Niederschläge einander nahezu das 
Gleichgewicht halten; so dass auf diese Weise eine hinreichend 
dicke Fossilien-reiche Formation entstehen kann, um bei ihrer 
spätren Emporhebung jedem Grade von Zerstörung zu widerstehen. 

Ich bin demgemäss überzeugt, dass alle unsre alten For- 
mationen, welche reich an fossilen Resten sind, bei andauernder 
Senkung abgelagert worden sind. Seitdem ich im Jahr 1845 
meine Ansichten in dieser Beziehung bekannt gemacht, habe ich 
die Fortschritte der Geologie verfolgt und mit Überraschung 
wahrgenommen, wie ein Schriftsteller nach dem andern bei 
Beschreibung dieser oder jener grossen Formation zum Schlusse 
gelangt ist, dass sie sich während der Senkung des Bodens 
gebildet habe. Ich will hinzufügen, dass die einzige alte Ter- 
tiär-Formation an der West-Küste Süd- Amerikas, die mächtig 
genug war um der bisherigen Zerstörung noch zu widerstehen, 


aber wohl schwerlich bis zu fernen geologischen Zeiten auszu- 
dauern im Stande ist, sich gewiss während der Senkung des 
Bodens gebildet und so eine ansehnliche Mächtigkeit erlangt hal. 


299 


Alle geologischen Thatsachen zeigen uns deutlich, dass jedes 
Gebiet der Erd-Oberfläche viele langsame Niveau-Schwankungen 
durchzumachen hatte, und alle diese Schwankungen sind zweifels- 
ohne von weiter Erstreckung gewesell. Demzufolge müssen 
Fossilien-reiche und genügend entwickelte Bildungen, um späteren 
Abtragungen zu widerstehen, während der Senkungs-Perioden 
über weit-ausgedehnte Flächen entstanden seyn, doch nur so 
lange, als die Zufuhr von Materialien stark genug war, um die 
See seicht zu erhalten und die fossilen Reste schnell genug ein- 
zuschichten und zu schützen, ehe sie Zeit hatten zu zerfallen. 
Dagegen konnten sich mächtige Schichten auf seichtem und dem 
Leben günstigem Grunde ‚solange nicht bilden, als derselbe 
stet blieb. Viel weniger konnte Diess während wechselnder Pe- 
rioden von Hebung und Senkung geschehen, oder, um mich ge- 
nauer auszudrücken, die Schichten, welche während solcher Sen- 
kungen abgelagert wurden, müssen bei nachfolgender Hebung 
wieder in den Bereich der Brandung versetzt und so zerstört 
worden seyn. | 

So muss denn nothwendig der Geologische Schöpfungs- 
Bericht überall unterbrochen erscheinen. Ich setze um so grössres 
Vertrauen indie Wahrheit dieser Ansichten, als sie mit den von 
Sir Cu. Lern eindringlich gelehrten Prinzipien genau überein- 
stimmen, und auch Eow. Forses davon unabhängig zu einem 
ähnlichen Ergebnisse gelangt ist. 

Eine Bemerkung ist bier noch der Erwähnung werth. Wäh- 
rend der Erhebungs-Zeiten wird die Ausdehnung des Landes 
und der angrenzenden seichten Meeres-Strecken vergrössert, 
und werden oft neue Arten von Wohnorten gebildet, Alles für 
die Bildung neuer Arten und Varietäten, wie früher bemerkt 
worden, günstige Umstände; aber gerade während diesen Pe- 
riöden bleiben Lücken im geologischen Berichte. Während ‘der 
Senkung dagegen nimmt die bewohnbare Fläche und die Anzahl 
der Bewohner ab (die der Küsten-Bewohner etwa in dem Falle 
ausgenommen, dass ein Kontinent in Insel-Gruppen zerfällt wird), 
daher während der Senkung nicht nur mehr Arten erlöschen, 
sondern auch wenige Varietäten und Arten entstehen; und ge- 


300 


rade während solcher Senkungs-Zeiten sind unsre grossen Fos- 
silien-reichen Schichten-Massen abgelagert worden. Man möchte 
sagen, die Natur habe die häufige Entdeckung der; Übergangs- 
und verkettenden Formen erschweren wollen. 

% Nach den vorangehenden Betrachtungen ist es’ nicht zu be- 
zweifeln, dass der geologische Schöpfungs-Bericht im. Ganzen 
genommen ausserordentlich unvollständig ist; wenn wir aber 
dann unsre Aufmerksamkeit auf irgend eine einzelne Formation 
beschränken, so ist es noch schwerer zu begreifen, warum 
wir nicht enge aneinander-gereihete Abstufungen zwischen den- 
jenigen Arten finden, welche am Anfang und am Ende ihrer 
Bildung gelebt haben. Es wird zwar von einigen Fällen be- 
richtet, wo eine Art in andern Varietäten in den obern. als in 
den untern Theilen derselben Formation auftritt; doch mögen sie 
hier übergangen werden,.da ihrer nur wenige sind, Obwohl nun 
jede Formation ohne allen Zweifel eine lange Reihe von Jahren 
zu ihrer Ablagerung bedurft hat, so glaube ich doch verschie- 
dene Gründe zu erkennen, warum sich solche Stufen-Reihen 
zwischen den zuerst und den zuleizt lebenden Arten nicht darin 
vorfinden; doch kann ich kaum hoffen den folgenden Betrach- 
tungen die ihnen gebührende Berücksichtigung zuzuwenden, 

Obwohl jede Formation einer sehr langen Reihe von Jahren 
entspricht, so ist doch jede kurz im Vergleiche mit der zur Um-. 
änderung einer Art in die andre erforderlichen Zeit. Nun weiss 
ich wohl, dass zwei Paläontologen, deren Meinungen wohl der 
Beachtung werth sind, nämlich Bronn” und WoopwArD, zum 
Schlusse gelangt sind, dass die mittle Dauer einer jeden, Forma- 
tion zwei- bis drei-mal so larig, als die mittle Dauer einer Art- 
Form ist. Indessen hindern uns, wie mir scheint unübersteig- 
liche Schwierigkeiten in dieser Hinsicht zu. einem richligen 
Schlusse zu gelangen. Wenn wir eine Art in der Mitte einer 
Formation zum ersten Male auftreten sehen, so würde es äus- 
serst übereilt seyn zu schliessen, dass sie nicht irgendwo anders 


* Meine Meinung ist die, dass nur wenige Arten eine unsrer angenom- 
menen Perioden überdauern, viele aber schon in 0,1—0,2—0,5 dieser Zeit zu 
Grunde gehen Br. 


301 


schon länger existirt ‘haben könne. Eben so, wenn wir eine 
Art schon vor den letzten ‘Schichten einer Formation verschwin- 
den sehen, würde es übereilt seyn anzunehmen, dass sie schon 
völlig erloschen seye. Wir vergessen, wie klein die Ausdehnung 
Europa’s im Vergleich zur übrigen. Welt ist; auch sind die ver- 
schiedenen Stöcke ‚der einzelnen Formationen noch nicht durch 
sanz Europa mit vollkommener Genauigkeit parallelisirt worden. 

Bei allen Sorten von Seethieren können wir getrost anneh- 
men, dass in Folge von klimatischen u. a. Veränderungen mas- 
senhafte, und ausgedehnte Wanderungen stattgefunden haben; 
und wenn wir eine Art zum ersten Male in einer Formation 
auftreten sehen, so liegt die Waahrscheinlichkeit vor, dass sie 
eben da erst von einer andern Gegend her eingewandert seye. 
So ist'es z. B. wohl bekannt, dass einige Thier-Arten in den 
paläolithischen Bildungen Nord-Amerika’s etwas früher als in den 
Europäischen auftreten, indem sie zweifelsohne Zeit nöthig hatten, 
um die Wanderung von Amerika nach Europa zu machen. Bei 
Untersuchungen der neuesten Ablagerungen in verschiedenen 
Weltgegenden ist überall die Wahrnehmung gemacht worden, 
dass einige wenige noch lebende Arten in diesen Ablagerungen 
häufig, aber in den unmittelbar umgebenden Meeren verschwun- 
den sind, öder dass umgekehrt einige jetzt in den benachbarten 
Meeren häufige Arten und jener Ablagerungen noch ‚selten oder 
gar nicht zu finden sind. Es ist sehr lehrreich über den erwie- 
senen Umfang der Wanderungen Europäischer Thiere während 
der Eis-Zeit nachzudenken, welche doch nur einen kleinen Theil 
der ganzen geologischen Zeitdauer. ausmacht, so wie die grosser 
Niveau-Veränderungen, die aussergewöhnlich grossen Klima- 
Wechsel, die unermessliche Länge der Zeiträume in Erwägung 
zu ziehen, welche alle mit dieser Eis-Periode zusammen fallen. 
Dann dürfte zu bezweifeln seyn, dass sich in irgend einem 
'Pheile der Welt Sediment-Ablagerungen, welche fossile 
Reste enthalten, auf dem gleichen Gebiete während der gan- 
zen Dauer dieser Periode abgelagert haben. So ist es 2. B. 
nicht wahrscheinlich, dass während der ganzen Dauer der Eis- 
Periode Sediment-Schichten an der Mündung des Mississippi in- 


® 
Ro . 


302 


nerhalb derjenigen Tiefe, worin Thiere noch reichlich leben kön- 
nen, abgelagert worden seyen; denn wir wissen, was für aus- 
gedehnte geographische Veränderungen während dieser Zeit in | 
andern Theilen von Amerika erfolgt sind. Würden solche wäh- 
rend der Eis-Periode in seichtem Wasser an der Mississippi- Mün- 
dung abgelagerte Schichten einmal über den See-Spiegel gehoben 
werden, so würden organische Reste wahrscheinlich in verschiede- 
nen Niveaus derselben zuerst erscheinen und wieder verschwin- 
den, je nach den stattgefundenen Wanderungen der Arten und 
den geographischen Veränderungen des Landes. Und ‚wenn in 
ferner Zukunft ein Geologe diese Schichten untersuchte, so 
möchte er zu schliessen geneigt seyn, dass die mittle. Lebens- 
Dauer der dort eingebetteten Organismen-Arten kürzer als die Eis- 
Periode gewesen seye, obwohl sie in der: That viel länger war, in- 
dem sie vor dieser begonnen und bis. in unsre Tage gewährt hat, 
Um nun eine vollständige Stufen-Reihe zwischen zwei For- 
men in den untern und obern Theilen einer Formation darbieten 
zu können, müsste deren Ablagerung sehr lange Zeit fortge- 
dauert haben, um dem langsamen Prozess der Variation Zeit zu 
lassen; die Schichten-Masse müsste daher von sehr ansehnlicher 
Mächtigkeit seyn; die in Abänderung begriffenen Spezies müss- 
ten während der ganzen Zeit da gelebt haben. Wir haben je- 
doch gesehen, dass die organische Reste enthaltenden Schichten 
sich nur während einer Periode der Senkung ansammeln; damit 
nun die Tiefe sich nahezu gleich bleibe und dieselben Thiere lort- 
dauefnd an derselben Stelle wohnen können, wäre ferner noth- 
wendig, dass die Zufuhr von Sedimenten die Senkung fortwäh- 
rend wieder ausgleiche. Aber eben diese senkende Bewegung 
wird oft auch die Nachbargegend mit berühren, aus welcher 
jene Zufuhr erfolgt, und eben dadurch die Zufuhr selbst ver- 
mindern. Eine solche nahezu genaue Ausgleichung zwischen der 
Stärke der stattfindenden Senkung und dem Betrag der ‘zuge- 
führten Sedimente mag in der That nur selten vorkommen; denn 
mehr als ein Paläontologe hat beobachtet, dass sehr dicke Abla- 


gerungen ausser an ihren oberen und unteren Grenzen gewühn- 
| lich leer an Versteinerungen sind. 


303 


Wahrscheinlich ist die Bildung, einer jeden einzelnen For- 
mation gewöhnlich ‚eben so wie die der ganzen Formationen- 
Reihe einer Gegend mit Unterbrechungen vor sich gegangen. 
Wenn wir, wie es oft der Fall, eine Formation aus Schich- 
ten von verschiedener Mineral-Beschaffenheit zusammengeselzt 
sehen, so müssen wir vernünftiger Weise vermuthen, dass der 
Ablagerungs - Prozess sehr unterbrochen gewesen Seye, indem 
eine Veränderung in den See-Strömungen und eine Änderung in 
der Beschaffenheit der zugeführten Sedimente gewöhnlich von 
geographischen Bewegungen, welche viele Zeit kosten, veranlasst 
worden seyn mag. Nun wird auch die genaueste Untersuchung 
einer Formation keinen Maassstab liefern, um die Länge der 
Zeit zu messen, welche über. ihrer Ablagerung vergangen ist. 
Man könnte viele Beispiele anführen, wo eine einzelne nur we- 
nige Fuss dicke Schicht eine ganze Formation vertrilt, die in 
andren Gegenden Tausende von Fussen mächtig ist und mithin 
eine ungeheure Länge der Zeit zu ihrer Bildung bedurft hat; 
und doch würde Niemand, der Diess nicht weiss, auch nur ge- 
ahnt haben, welch’ eine unermessliche Zeit über der Entstehung 
jener dünnen Schicht verflossen ist. So liessen sich auch viele 
Fälle anführen, wo die untern Schichten einer Formation empor- 
gehoben, entblösst, wieder versenkt und dann von den obern 
Schichten der nämlichen Formation bedeckt worden sind, That- 
sachen, welche beweisen, dass weite leicht zu übersehende Zwi- 
schenräume während der Ablagerung vorhanden gewesen sind. In 
andern Fällen liefert uns eine Anzahl grosser fossilisirter und 
noch auf ihrem natürlichen Boden aufrecht stehender Bäume den 
klaren Beweis von mehren langen Pausen und wiederholten Höhen- 
Wechseln während des Ablagerungs- Prozesses, wie man sie 
ausserdem nie hätte vermuthen können. So fanden LyELı und 
Dawson in einem 1400° mächtigen Kohlen-Gebirge Neu-Schott- 
lands noch alle von Baum-Wurzeln durchzogenen Boden-Schichten, 
eine über der andern in nicht weniger als 63 verschiedenen 
Höhen. Wenn daher die nämliche Art unten, mitten und oben 
in der Formation vorkommt, so ist Wahrscheinlichkeit vorhanden, 
dass sie nicht während der ganzen Ablagerungs-Zeil immer an 


304 


dieser Stelle gelebt hat, sondern während derselben, vielleicht 
_ mehrmals, dort verschwunden und wieder erschienen ist. Wenn 
daher eine solche Spezies im Verlaufe einer geologischen Pe- 
riode beträchtliche Umänderungen erfahren, so würde ein Durch- 
schnitt durch jene Schichten-Reihe wahrscheinlich nicht alle die 
leinen Abstufungen zu Tage fördern, welche nach meiner Theo- 
rie die Anfangs- mit der End-Form jener Art verkettet haben 
müssen; man würde vielmehr sprungweise, wenn auch vielleicht 
nur kleine, Veränderungen zu sehen bekommen. 

Es ist nun äusserst wichtig sich zu erinnern, dass die Na- 
turforscher keine goldene Regel haben, um mit deren Hilfe 
Arten von Varietäten zu unterscheiden. Sie gestehen jeder Art 
einige Veränderlichkeit zu; wenn sie aber etwas grössre Unter- 
schiede zwischen zwei Formen wahrnehmen, so machen sie Ar- 
ten daraus, wofern sie nicht etwa im Stande sind dieselben durch 
Zwischenstufen miteinander zu verketten. Und diese dürfen wir 
nach den zuletzt angegebenen Gründen selten hoffen, in einem 
geologischen Durchschnitte zu finden. Nehmen wir an, B und € 
seyen zwei Arten, und eine dritte A werde in einer: tiefer- 
liegenden Schicht gefunden. Hielte nun A genau das Mittel 
zwischen B und C, so würde man sie wohl einfach 'als eine 
weitere dritte Art ansehen, wenn nicht ihre Verkettung mit einer 
von beiden oder mit beiden andern durch Zwischenglieder nach- 
gewiesen werden kann. Nun muss man nicht vergessen, dass, 
wie vorhin erläutert worden, wenn A auch der wirkliche Stamm- 
Vater von B und © ist, derselbe doch nicht in allen Punkten der 
Organisation nothwendig das Mittel zwischen beiden halten muss. 
So könnten wir denn sowohl die Stammart als auch die von ihr 
durch Umwandlung abgeleiteten Formen aus den -untern und 
obern Schichten einer Formation erhalten und doch vielleicht in 
Ermangelung zahlreicher Übergangs-Stufen ihre Beziehungen zu 
einander nicht erkennen, sondern alle für eigenthümliche Arten 
ansehen. | 

Es ist eine bekannte Sache, ‘auf was für äusserst kleine 
Unterschiede manche Paläontologen ihre Arten gründen, und sie 
können Diess auch um so leichter thun, wenn ihre wenig ver- 


- 


305 


schiedenen Exemplare aus verschiedenen Stöcken einer Formation 
herrühren. Einige erfahrene Paläontologen setzen jetzt viele . 
von den schönen Arten n’Orsıeny's u. A. zum Rang blosser 
Varietäten herunter, und darin finden wir eine Art von Beweis 
für die Abänderungs-Weise, welche nach meiner Theorie statt- 
finden muss. Wenn wir überdiess grössere Zeit-Unterschiede, 
wie die aufeinander folgenden Stöcke einer nämlichen grossen 
Formation berücksichtigen , so finden wir, dass die ihnen ange- 
hörigen Fossil-Reste, wenn auch gewöhnlich allgemein als ver- 
schiedene Arten betrachtet, doch immerhin näher mit einander 
verwandt zu seyn pflegen, als die in weit getrennten Formationen 
enthaltenen Arten; doch werde ich auf diesen Gegenstand im 
folgenden Abschnitte zurückkommen. 

So ist auch noch eine andre schon früher gemachte Bemer- 
kung zu berücksichtigen, dass nämlich die Varietäten von Pflanzen 
wie von Thieren, welche sich rasch vervielfältigen, aber ihre 
Stelle nicht viel ändern können, anfangs gewöhnlich lokal seyn 
werden, und dass solche örtliche Varietäten sich nicht weit ver- 
breiten und ihre Stamm-Formen erst ‘ersetzen, wenn sie sich 
in einem etwas grösseren Maasse verändert und vervollkommnet 
haben. Nach dieser Annahme ist die Aussicht, die früheren Über- 
gangs-Stufen zwischen irgend welchen zwei Arten einer Forma- 
tion auf einer Stelle in übereinander-folgenden Schichten zu fin- 
den’ nur klein, weil vorauszusetzen ist, dass die einzelnen Über- 
gangs-Stufen als Lokalformen je eine andre örtliche Verbreitung 
gehabt haben. Die meisten Seethiere besitzen eine weite Ver- 
breitung; und da wir gesehen, dass diejenigen Arten unter den 
Pflanzen, welche am weitesten verbreitet sind, auch am öftesten 
Varietäten darbieten, so wird es sich mit Mollusken u. a. See- 
Thieren wohl ähnlich verhalten, und es werden diejenigen unter 
ihnen, welche sich vordem am weitesten bis über die Grenzen 
Europa’s hinaus erstreckten, auch am öftesten die Bildung neuer 
anfangs lokaler Varietäten und später Arten veranlasst haben. 
re dadurch muss die Wahrscheinlichkeit in irgend welcher 
Formation ‘die Reihenfolge der Übergangs -Stufen aufzufinden 
ausserordentlich vermindert werden. 

20 


306 


Man muss nicht vergessen. dass man heutigen Tages, selbst 
wenn man vollständige Exemplare vor sich hat, selten zwei 
Varietäten durch Zwischenstufen verbinden und so deren Zusam- 
mengehörigkeit zu einer Art beweisen kann, bis man: viele 
Exemplare von mancherlei Örtlichkeiten zusammengebracht hat: 
und bei fossilen Arten ist der Paläontologe selten im Stande 
Diess zu thun. Man wird vielleicht am besten begreifen, wie 
wenig wir in der Lage seyn können, Arten durch zahllose feine 
fossil-gefundene Zwischenglieder zu verketten, wenn wir uns 
selbst fragen, ob z. B. Paläontologen spätrer Zeiten im ‚Stande 
seyn würden zu beweisen, dass unsre verschiednen Rinds-, 
Schaafe-, Pferde- und Hunde-Rassen von einem oder von mehren 
Stämmen herkommen, — oder: ob gewisse See-Konchylien der 
Nord-Amerikanischen Küsten, welche von einigen Konchyliologen 
als von ihren Europäischen Vertretern abweichende Arten und 
von andern Konchyliologen als blosse Varietäten angesehen wer- 
den. nur wirkliche Varietäten oder sogenannte eigne Arten sind. 
Diess könnte künftigen Geologen nur gelingen, wenn sie viele 
fossile Zwischenstufen entdeckten, was jedoch im höchsten, Grade 
unwahrscheinlich ist. 

Wenn geologische Forschungen auch eine Menge von Arten 
aus lebenden und erloschenen Sippen zu unsrer Kenntniss ge- 
bracht und manche Lücken zwischen einigen Lebenformen kleiner 
gemacht, so haben sie doch kaum etwas dazu beigetragen, Unter- 
schiede zwischen den Arten durch Einschiebung zahlreicher und 
fein abgestufter Zwischenglieder zu verringern: und dass sie 
Diess nicht bewirkt haben, ist zweifelsohne einer der ersten 
und gewichtigsten Einwände, die man gegen meine Ansichten 
vorbringen mag. Daher wird es angemessen Seyn, die voran- 
sehenden Bemerkungen zur Erläuterung eines ersonnenen Falles 
zusammenzufassen. Der Malayische Archipel ist eiwa von der 


Grösse Europas vom Nord-Kap bis zum Mittelmeere und von 
Britannien bis Russland, entspricht mithin der Ausdehnung des- 
jenigen Theiles der Erd-Oberfläche, auf welchem, Nord- Amerika 
ausgenommen, ‚alle. geologischen Formationen am sorgfältigsten 
und zusammenhängendsten untersucht worden ‚sind. Ich stimme 


307 


mit Hrn. Gopwın-Austen in der Meinung vollkommen überein, 
dass der jetzige Zustand des Malayischen Archipels mit seinen 
zahlreichen durch breite und seichte Meeres-Arme getrennten 
Inseln wahrscheinlich der früheren Beschaffenheit Europas, wäh- 
rend noch die meisten unsrer Formationen in Ablagerung be- 
griffen waren, entspricht. Der Malayische Archipel ist eine der 
an Organismen reichsten Gegenden der ganzen Erd-Oberfläche: 
aber wenn man auch alle Arten sammelte, welche jemals da 
gelebt haben, wie unvollständig würden sie die Naturgeschichte 
der ganzen Erd-Oberfläche vertreten! 

Indessen haben wir alle Ursache zu glauben, dass die Über- 
reste der Landbewohner dieses Archipels nur äusserst unvoll- 
ständig in die Formationen übergehen dürften, die unsrer An- 
nahme gemäss sich dort noch ablagern werden. Ich vermuthe 
selbst, dass nicht viele der eigentlichen Küsten -Bewohner und 
der auf kahlen untermeerischen Felsen wohnenden Thiere in die 
neuen Schichten eingeschlossen werden würden; und die etwa 
in Kies und Sand eingeschlossenen dürften keiner späten Nach- 
welt überliefert werden. Da wo sich aber keine Niederschläge 
auf dem Meeres-Boden bildeten oder sich nicht in genügender 
Masse anhäuften, um organische Einflüsse gegen Zerstörung zu 
schützen, da würden auch gar keine organischen Überreste er- 
halten werden können. 

Ich glaube, dass Fossilien-führende Formationen, hinreichend 
mächtig um bis zu einer eben so weit in der Zukunft entfernten 
Zeit zu reichen, als die Sekundär-Formationen bereits hinter uns 
liegen, nur während Perioden der Senkung in dem Archipel ent- 
stehen könnten. Diese Perioden würden dann durch unermess- 
liche Zwischenzeiten der Hebung oder Ruhe von einander getrennt 
werden; denn während der Hebung würden alle Fossilien-führen- 
den Formationen in dem Maasse, als sie entstünden, durch die 
ununterbrochene Thätigkeit der Brandung wieder zerstört werden, 
wie wir es jetzt an den Küsten Süd-Amerikas gesehen haben. 
Während der Senkungs - Zeiten würden viele Lebenformen zu 
Grunde gehen, während der Hebungs-Perioden dagegen sich die 
Formen am meisten durch Abänderung entfalten, aber die geo! 


20 * 


308 


logischen Denkmäler würden der Folgezeit wenig Nachricht davon 
überliefern. 

Es wäre zu bezweifeln, dass die Dauer irgend einer grossen 
Periode über den ganzen Archipel sich erstreckender Senkung 
und entsprechender gleichzeitiger Sediment-Ablagerung die mittle 
Dauer der alsdann vorhandnen spezifischen Formen übertreffen 
würde: und doch würde diese Bedingung unerlässlich nothwendig 
seyn für die Erhaltung aller Übergangs-Stufen zwischen irgend 
welchen zwei oder mehr von einander abstammenden Arten. 


Wo diese Zwischenstufen aber nicht vollständig erhalten sind, 
da werden die durch sie verkettet gewesenen Varietäten als 
eben so viele verschiedene Spezies erscheinen. Es: ist jedoch 
wahrscheinlich, dass während so langer Senkungs-Perioden auch 
wieder Höhen -Schwankungen eintreten und kleine klimatische 
Veränderungen erfolgen werden, welche die Bewohner des Ar- 
chipels zu Wanderungen veranlassen, so dass kein genau zu- 
sammenhängender Bericht über deren Abänderungs-Gang in einer 
der dortigen Formationen niedergelegt werden kann. 

Sehr viele der jetzigen Meeres-Bewohner jenes Archipels woh- 
nen: gegenwärtig noch Tausende von Englischen Meilen weit über 
seine Grenzen hinaus, . und die Analogie veranlasst mich zu 
glauben, dass diese weit-verbreiteten Arten hauptsächlich zur 
Erzeugung neuer Varietäten geeignet seyn würden. Diese Varie- 
täten dürften anfangs gewöhnlich. nur eine örtliche Verbreitung 
besitzen, jedoch, wenn sie als solche irgend einen Vortheil voraus 
haben, oder wenn sie erst noch weiter abgeändert und ver- 
bessert sind, sich llmählich ausbreiten und ihre Stamm-Ältern 
ersetzen. Kehrte dann eine solche Varietät in ihre alte Heimath 
zurück, so würde sie, vielleicht zwar nur wenig, aber doch ein- 
förmig von ihrer früheren Beschaffenheit abweichend, nach den 
Grundsätzen der meisten Paläontologen als eine neue und ver- 
schiedene Art aufgeführt werden müssen. 

Wenn daher diese Bemerkungen einiger Maassen begründet 
sind, so sind wir nicht berechtigt zu erwarten, dass wir in 
unseren geologischen Formationen eine endlose Anzahl solcher 
feinen Übergangs -Formen finden werden, welche nach meiner 


309 


Betrachtungs-Weise sicher einmal alle früheren und jetzigen Arten 
einer Gruppe zu einer langen und verzweigten Kette von Leben- 
formen verbunden haben. Wir werden nur erwarten dürfen einige 
wenige Zwischenglieder zu sehen, von welchen die einen 
fester und die andren loser mit einander vereinigt sind; und 
diese Glieder, grenzten sie auch noch so nahe an einander, 
werden von den meisten Paläontologen lür verschiedene Arten 
erklärt werden, sobald sie in verschiedene Stöcke einer Formation 
vertheilt sind. Jedoch gestehe ich ein, dass ich nie geglaubt haben 
würde, welch’ dürftige Nachricht von der Veränderung der ein- 
stigen Lebenformen uns auch das beste geologische Profil ge- 
währe, hätte nicht die Schwierigkeit, die zahllosen Mittelglieder 
zwischen den zu Anfang und am Ende einer Formation vorban- 
denen Arten aufzufinden, meine Theorie so sehr ins Gedrange 
gebracht. 

y Plötzliches Auftreten ganzer Gruppen ver 
wändter Arten.) Das plötzliche Erscheinen ganzer Gruppen 
neuer Arten in gewissen Formationen ist von mehren Paläonto- 
logen, wie Acassız, Pıcrer und am eindringlichsten von SEDGWICK 
zur Widerlegung des Glaubens an eine allmähliche Umgestaltung 
der Arten hervorgehoben worden. Wären wirklich viele Arten 
von einerlei Sippe oder Familie auf‘ einmal plötzlich ins Leben 
getreten, so müsste Diess lreilich meiner Theorie einer lang- 
samen Abänderung durch Natürliche Züchtung verderblich werden. 
Denn die Entwickelung einer Gruppe von Formen, die alle von 
einem Stamm-Vater herrühren, muss nicht nur selbst ein sehr 
langsamer Prozess gewesen seyn, sondern auch die Stamm-Form 
muss schon sehr lange vor ihren abgeänderten Nachkommen 
existirt haben, Aber wir überschätzen fortwährend die Voll- 
ständigkeit der geologischen Berichte und unterstellen: irrthümlich 
dass, weil gewisse Sippen oder Familien noch nicht unterhalb 
einer gewissen geologischen Gesichtsebene gefunden worden, 
sie auch tiefer noch nicht existirt haben. Wir vergessen fort- 
während, wie gross die Welt der kleinen Fläche gegenüber ist, 
über die sich unsre genauere Untersuchung geologischer Forma- 
tionen erstreckt; wir vergessen, dass Arten-Gruppen anderwarls 


310 


schon lange vertreten gewesen seyn und sich langsam vervielfältigt 
haben können, bevor sie in die alten Archipele Europas und 
der Vereinten Staaten eingedrungen. Wir bringen die Länge 
der Zeiträume nicht genug in Anschlag, welche wahrscheinlich 
zwischen der Ablagerung unsrer unmittelbar aufeinander-gelagerten 
Formationen verflossen und vermuthlich meistens länger als die- 
jenigen gewesen sind, die zur Ablagerung einer Formation er- 
forderlich waren. Diese Zwischenräume waren lange genug für 
die Verviellältigung der Arten von einer oder von einigen weni- 
gen Stamm- Formen aus, so dass dann solche Arten in der 
jedesmal nachfolgenden Formation auftreten konnten, als ob sie 
erst plötzlich und gleichzeitig geschaffen worden seyen. 

Ich will hier an eine schon früher gemachte Bemerkung 
erinnern, dass nämlich wohl eine ganze Reihe von Welt-Perioden 
dazu gehören dürfte, bis ein Organismus sich einer ganz neuen 
Lebens-Weise anpasse, wie z. B. durch die Luft zu fliegen; dass 
aber, wenn Diess einmal geschehen ist und nur einmal eine 
geringe Anzahl hiedurch einen grossen Vortheil vor andern 
Organismen erworben hat. nur noch eine verhältnissmässig kurze 
Zeit dazu erforderlich ist, um viele auseinander-weichende Formen 
hervorzubringen, welche dann geeignet sind sich schnell und 
weit über die Erd-Oberfläche zu verbreiten. 

Ich will nun einige wenige Beispiele zur Erläuterung dieser 
Bemerkungen und insbesondre zum Nachweis darüber mittheilen, 
wie leicht wir uns in der Meinung, dass ganze Arten-Gruppen 
auf einmal geschaffen worden seyen, irren können. Ich will 
zuerst an die wohl-bekannte Thatsache erinnern, dass nach den 
noch vor wenigen Jahren erschienenen Lehrbüchern der Geologie 
die grosse Klasse der Säugthiere ganz plötzlich am Anfange der 
Tertiär- Periode aufgetreten seyn sollte. Und nun zeigt sich eine 
der, im Verhältniss ihrer Dicke, reichsten Lagerstätten fossiler 
Säugthier-Reste mitten in der Sekundär-Reihe, und ein ächtes 
Säugthier ist in den ältesten Schichten des New red Sandstone 
entdeckt worden. ÜCuvier pflegte Nachdruck darauf zu legen, 
dass noch kein Affe in irgend einer Tertiär-Schicht gefunden wor- 
den seye; jetzt aber kennt man fossile Arten von Vierhändern in 


341 


Ostindien , in Süd- Amerika und selbst in Europa, sogar schon aus 
der eocänen Periode. Hätte uns nicht ein. seltener Zufall die 
zahlreichen Fährten im New red Sandstone der Vereinten Staaten 
aufbewahrt, wie würden wir anzunehmen gewagt haben, dass 
ausser Reptilien auch schon nicht: weniger als. dreissig Vogel- 
Arten von riesiger Grösse in so früher Zeit existirt hätten, zu- 
mal noch nicht ein Stückchen Knochen in jenen Schichten ge- 
funden worden ist. : Obwohl nun die Anzahl der Füsse, Zehen 
und verschiedenen Zehen- Glieder in jenen fossilen Eindrücken 
vollkommen mit denen unsrer jetzigen Vögel übereinstimmen, 
so zweifeln doch noch einige Schriftsteller daran, ob jene Fährten 
wirklich von Vögeln herrühren. 30 konnten also bis vor ganz 
kurzer Zeit dieselben Autoren behaupten und haben einige der- 
selben wirklich behauptet, dass die ganze Klasse der Vögel 
plötzlich erst im Anfang der Tertiär - Periode aufgetreten seye; 
doch können wir uns jetzt auf die Versicherung Professor OwENS (in 
L,yeın's »Manual«) berufen, dass ein Vogel gewiss schon zur Zeit 
gelebt habe, als der obre Grünsand sich ablagerte. 

Ich will als ein andres Beispiel anführen, was mir in einer 
Abhandlung über fossile sitzende Cirripeden. selber passirt ist. 
Nachdem ich nachgewiesen, dass es eine Menge von lebenden 
und von erloschenen tertiären Arten gebe, so schloss ich aus 
dem ausserordentlichen Reichthume. vieler Balaniden- Arten an 
Individuen, aus ihrer Verbreitung über die ganze Erde von den 
arktischen Regionen an bis zum Äquator und von der obren 
Eluth-Grenze an bis zu 50 Faden Tiefe hinab, aus der vollkom- 
menen. Erhaltungs - Weise ihrer Reste in den ältesten Tertiär- 
Schichten, aus der Leichtigkeit selbst einzelne Klappen zu er- 
kennen und zu bestimmen: aus allen diesen Umständen. schloss 
ich dass. wenn es in der sekundären Periode sitzende Cirripeden 
gegeben hätte, solche gewiss erhalten und wieder entdeckt wor- 
den seyn würden: da jedoch noch keine Schaale einer Spezies 
in Schichten dieses Alters gefunden worden seye, so müsse sich 
diese grosse Gruppe erst im Beginne .der Tertiär-Zeit plötzlich 
entwickelt haben. Es war eine grosse Verlegenheit. für mich, selbst 
noch ein. weitres Beispiel vom plötzlichen Auftreten einer grossen 


312 


Arten-Gruppe bestätigen zu müssen.‘ Kaum -war jedoch mein 
Werk erschienen, als ein bewährter Paläontologe, Hr. Bosguer, 
mir eine Zeichnung von einem vollständigen Exemplare eines 
unverkennbaren Balaniden sandte, welchen er selbst aus dem 
Belgischen Kreide-Gebirge entnommen hatte. Und um den Fall 
so treffend als möglich zu machen, so ist der entdeckte Bala- 
nide ein Chthamalus, eine sehr gemeine und überall weit-ver- 
breitete Sippe, wovon sogar in tertiären Schichten bis jetzt noch 
keine Spur gefunden worden war. Wir wissen daher jetzt mit 
Sicherheit, dass es auch in der Sekundär-Zeit schon sitzende 
Cirripeden gegeben, welche möglicher Weise die Stamm-Ältern 
unsrer vielen tertiären und noch lebenden Arten gewesen seyn 
können. | 

Der Fall von plötzlichem Auftreten einer ganzen Arten- 
Gruppe, worauf 'sich die Paläontologen am öftesten berufen, ist 
die Erscheinung der ächten Knochenfische oder Teleostier erst 
in den unteren Schichten der Kreide-Periode. Diese Gruppe 
enthält bei weitem die grösste Anzahl der jetzigen Fische. 
Inzwischen hat Professor Pıcrer neuerlich ihre erste Erscheinung 
schon wieder um einen Stock tiefer nachgewiesen und glauben 
andre Paläontologen, dass viele ältre Fische, deren Verwandt- 
schaften bis jetzt noch nicht genau bekannt, wirkliche Teleostier 
seyen. Nähme man mit Acassız an, dass deren ganze Gruppe 
wirklich erst zu Anfang der Kreide-Zeit erschienen 'seye, so 
wäre diese Thatsache freilich höchst merkwürdig; aber auch in 
ihr vermöchte ich noch keine unübersteigliche Schwierigkeit für 
meine Theorie zu erkennen, bis auch erwiesen wäre, dass 
in der That die Arten dieser Gruppe auf der ganzen'Erde gleich- 
zeitig in jener Frist aufgetreten seyen. Es ist fast überflüssig 
zu bemerken, dass ja noch kaum ein fossiler Fisch von der Süd- 
Seite des Äquators bekannt ist und nach Pıcrer’s Paläontologie 
selbst in einigen Gegenden Europas erst sehr wenige Arten ge- 
funden worden sind. Einige wenige Fisch- Familien haben jetzt 
enge Verbreitungs-Grenzen, und so könnte es auch mit den 
Teleostiern der Fall gewesen seyn, dass sie erst dann, nach- 
dein sie sich in diesem oder jenem Meere sehr vervielfältigt, 


313 


sich weit verbreitet hätten.‘ Auch: sind wir nicht: anzunehmen 
berechtigt, ' dass die 'Welt-Meere von Norden nach Süden 
allezeit so offen wie jetzt gewesen seyen. Selbst heutigen Tages 
könnte ‘der tropische Theil des Indischen Ozeans durch eine 
Hebung des Malayischen Archipels über den Meeres- Spiegel 
in ein grosses geschlossenes Becken verwandelt werden, worin 
sich irgend welche grosse Seethier-Gruppen zu entwickeln 
und vervielfältigen vermöchten; und da würde sie dann einge- 
schlossen bleiben, bis einige der Arten für ein kühleres Klima 
geeignet und in Stand gesetzt worden wären, die Süd-Caps in 
Afrika und Australien zu umwandern und so in andre ferne 
Meere zu gelangen. 

Aus diesen und ähnlichen Betrachtungen, aber hauptsächlich 
in Berücksichtigung unsrer Unkunde über die geologischen Verhält- 
nisse andrer Welt-Gegenden ausserhalb Europa und Nord- Amerika, 
endlich nach dem Umschwung, welchen unsre paläontologi- 
schen Vorstellungen durch die Entdeckungen während des letzten 
Jahrzehenten erlitten, glaube ich folgern zu dürfen, dass wir 
eben so übereilt handeln würden, die bei uns bekannt gewordene 
Art der Aufeinanderfolge der Organismen auf die ganze Erd- 
Obertläche zu übertragen, als ein Naturforscher thäte, welcher 
nach einer Landung von fünf Minuten an irgend einer armen 
Küste Australiens auf die Zahl und Verbreitung seiner Organis- 
men schliessen wollte. | 

Plötzliches Erscheinen ganzer Gruppen ver- 
wandter Arten in den untersten Fossilien-führenden 
Schichten.) Grösser ist eine andre Schwierigkeit; ich meine 
das plötzliche Auftreten vieler Arten einer Gruppe in den unter- 
sten Fossilien-führenden Gebirgen. Die meisten der Gründe, 
welche mich zur Überzeugung geführt, dass alle lebenden Arten 
einer Gruppe von einem gemeinsamen Urvater herrühren, sind 
mit fast gleicher Stärke auch auf die ältesten fossilen Arten an- 
wendbar. So kann ich z. B. nicht daran zweifeln, dass alle 
Silurischen Trilobiten von irgend einem Kruster herkommen, 
welcher, von allen jetzt lebenden Krustern sehr verschieden 
war. Einige der ältesten silurischen Thiere sind zwar nicht 


; 34 
sehr von noch jetzt lebenden Arten verschieden, wie Lingula, 
Nautilus u. a., und man kann nach meiner Theorie nicht anneh- 
men, dass diese alten Arten die Erzeuger aller Arten der 
Ordnungen gewesen seyen, wozu sie gehören, indem sie. in 
keiner Weise Mittelformen zwischen denselben darbieten. Und 
wären sie deren Stamm-Ältern gewesen, ‚so würden sie jetzt 
gewiss längst durch ihre vervollkommneten Nachfolger ersetzt 
und ausgetilgt seyn. 

Wenn meine Theorie richtig, so müssten unbestreitbar schon 
vor Ablagerung der ältesten silurischen Schichten eben so lange 
oder noch längere Zeiträume, wie nachher, verflossen, und 
inüsste die Erd-Oberfläche während dieser ganz unbekannten Zeit- 
räume von lebenden Geschöpfen bewohnt gewesen seyn. 

Was nun die Frage betrifft, warum wir aus diesen weiten 
Primordial-Perioden keine Denkmäler mehr finden, so kann ich 
darauf keine genügende Antwort geben. Mehre der ausgezeich- 
netesten Geelogen mit Sir R. Murcnison an der Spitze sind über- 
zeugt, in diesen untersten Silur-Schichten die Wiege des Lebens 
auf unsrem Planeten zu erblicken. Andre hoch-bewährte Beur- 
theiler, wie Cu. Lyerı und der verstorbene Epw. Forses bestreiten 
diese Behauptung. Und wir müssen nicht vergessen, dass nur 
ein geringer Theil unsrer Erd-Oberfläche mit einiger Genauigkeit 
erforscht ist. Erst unlängst hat Hr. BArRANDE dem silurischen 
Systeme noch einen anderen älteren Stock angefügt, der reich 
ist an’ neuen und eigenthümlichen Arten. Spuren einstigen. 
Lebens sind auch noch in den Longmynd - Schichten entdeckt 
worden unterhalb Barranpe s sogenannter Primordial- Zone. Die 
Anwesenheit Phosphate-haltiger Nieren und bituminöser Materien 
in einigen der untersten azoischen Schichten deutet wahrschein- 
lich auf ein ehemaliges noch früheres Leben hin. Aber dann 
ist die Schwierigkeit noch grösser, das gänzliche Fehlen der 
mächtigen Stösse Fossilien-führender Schichten zu begreifen, die 
meiner Theorie zufolge sich gewiss irgendwo aufgehäuft hatten. 
Wären diese ältesten Schichten durch  Entblössungen ganz und 
gar weggewaschen oder durch Metamorphismus ganz und gar 
unkenntlich gemacht worden, so würden wir wohl auch nur noch 


315 


ganz kleine Überreste der nächst-jüngeren Formationen entdecken, 
und diese müssten sich meistens in einem metamorphischen Zu- 
stande befinden. Aber die Beschreibungen, welche wir jetzt 
von den silurischen Ablagerungen in den unermesslichen Länder- 
Gebieten in Russland und Nord-Amerika besitzen, sind nicht 
zu Gunsten der Meinung dass, je älter eine Formation, desto 
mehr sie durch Entblössung und Metamorphismus gelitten haben 
müsse. | 

Diese Thatsache muss fürerst unerklärt bleiben und wird 
mit Recht als eine wesentliche Einrede gegen die hier ent- 
wickelten Ansichten hervorgehoben werden. Ich will jedoch 
folgende Hypothese aufstellen, um zu zeigen, dass doch vielleicht 
einige Erklärung möglich ist. Aus der Natur der in den ver- 
schiedenen Formationen Europa’s und der Vereinten Staaten 
vertretenen organischen Wesen, welche keine grossen Tiefen 
bewohnt zu haben scheinen, und aus der ungeheuren Masse der 
Meilen-dieken Niederschläge, woraus diese Formationen bestehen, 
können wir zwar schliessen, dass von Anfang bis zu Ende grosse 
Inseln oder Landstriche, aus welchen die Sedimente herbeigeführt 
worden, in der Nähe der jetzigen Kontinente von Europa und 
Nord-Amerika existirt haben müssen. Aber vom Zustande der 
Dinge in den langen Perioden, welche zwischen der Bildung dieser 
Formationen verflossen sind, wissen wir nichts; wir vermögen 
nicht zu sagen, ob während derselben Europa und die Vereinten 
Staaten als trockne Länder-Strecken oder als untermeerische 
Küsten-Flächen, auf welchen inzwischen keine Ablagerungen er- 
folgten, oder endlich als unergründlicher Meeres- Boden eines 
offnen und unergründlichen Ozeans vorhanden waren. 

Betrachten wir die jetzigen Weltmeere, welche dreimal so 
viel Fläche als das trockne Land einnehmen, so finden wir sie 
mit zahlreichen Inseln besäet, von welchen aber auch nicht eine 
bis jetzt einen Überrest von paläolithischen und sekundären For- 
mationen geliefert hat. Man kann daraus vielleicht schliessen, 
dass während der paläolithischen und Sekundär-Zeit weder Kon- 
tinente noch kontinentale Inseln da existirt haben, wo sich jetzt 
_ der Ozean ausdehnt: denn wären solche vorhanden gewesen, SO 


316 


würden sich nach aller Wahrscheinlichkeit aus dem von ihnen 
herbei-geführten Schutte auch paläolithische und sekundäre Schich- 
ten gebildet haben , und es würden dann in Folge der Niveau- 
Schwankungen, welche während dieser ungeheuer langen Zeit- 
räume jedenfalls stattgefunden haben müssen, wenigstens theil- 
weise Emporhebungen trocknen Landes haben erfolgen können, 
Wenn wir also aus diesen Thatsachen irgend einen Schluss 
ziehen wollen, so können wir sagen, dass da, wo sich jetzt 
unsre Weltmeere ausdehnen, solche schon seit den ältesten 
Zeiten, von denen wir Kunde besitzen, bestanden haben, und 
dass da wo jetzt Kontinente sind, grosse Landstrecken existirt 
haben, ‘welche von der frühesten Silur-Zeit an zweifelsohne gros- 
sem Niveau-Wechsel unterworfen gewesen sind. Die kolorirte 
Karte, welche meinem Werke über die Korallen-Riffe beigegeben 
ist, führte mich zum Schluss, dass die grossen Weltmeere noch 
jetzt hauptsächlich Senkungs-Felder, die grossen Archipele noch 
jetzt schwankende Gebiete und die Kontinente noch jetzt in He- 
bung begriffen seyen. Aber haben wir ein Recht anzunehmen, 
dass diese Dinge sich. seit dem Beginne dieser Welt gleich ge- 
blieben sind? Unsre Festländer scheinen hauptsächlich durch vor- 
herrschende Hebung während vielfacher Höhen - Schwankungen 
entstanden zu seyn. Aber können nicht die Felder vorwaltender 
Hebungen und Senkungen ihre Rollen vor noch längrer ‚Zeit 
umgetauscht haben? In einer unermesslich früheren Zeit vor 
der silurischen Periode können Kontinente da existirt haben, wo 
sich jetzt die Weltmeere ausbreiten, und können oflne Weltmeere 
gewesen seyn , wo jetzt die Festländer emporragen. Und doch 
würde man noch nicht anzunehmen berechtigt seyn, dass 2. B. 
das Bette des Stillen Ozeans, wenn es jetzt in ein Festland ver- 
wandelt würde, uns ältre als silurische Schichten darbieten müsse, 
vorausgesetzt selbst dass sich solche einstens dort gebildet ha- 
ben; denn es wäre möglich, dass Schichten, welche dem Mittel- 
punkt der Erde um einige Meilen näher gerückt und von dem 
ungeheuren Gewichte darüber stehender Wasser zusammenge- 
drückt gewesen, stärkere metamorphische Einwirkungen erfahren 
habe als jene, welche näher an der Oberfläche: verweilten. Die 


317 


in einigen Welt-Gegenden wie. z. B. in Süd-Amerika vorhandenen 
unermesslichen Strecken blos metamorphischen Gebirges, welche 
hohen Graden von Druck und Hitze ausgesetzt gewesen Seyn 
müssen, haben mir einer besonderen Erklärung zu bedürfen ge- 
schienen; und vielleicht darf man annehmen, dass sie uns die 
zahlreichen schon lange vor der silurischen Zeit abgeseizten 
Formationen in einem. völlig metamorphischen Zustande darbieten. 

Die mancherlei hier erörterten Schwierigkeiten, welche na- 
mentlich daraus entspringen, dass wir in der Reihe der aufein- 
ander-folgenden Formationen die unzähligen Zwischenglieder zwi- 
schen den vielen früheren und jetzigen Arten nicht finden, — 
dass ganze Gruppen verwandter Arten in unsren Europäischen 


Formationen oft plötzlich zum Vorschein kommen, — dass, so 
viel bis jetzt bekannt, ältre Fossilien-führende Formationen noch 
unter den silurischen Schichten gänzlich fehlen, — alle diese 


Schwierigkeiten sind zweifelsohne von grösstem Gewichte. Wir 
ersehen Diess am deutlichsten aus der Thatsache, dass die aus- 
gezeichnetesten Paläontologen, wie Cuvier, Acassız, BARRANDE, 
Faıconer, Epw. Forses und andere, sowie unsre grössten Geo- 
logen, Lyeır, Murenison, Senewick etc. die Unveränderlichkeit 
der Arten einstimmig und oft mit grosser Heftigkeit vertheidigt 
haben. Inzwischen habe ich Grund anzunehmen, dass eine grosse 
Autorität, Sir Cu. Lyeın, in Folge fernerer Erwägungen sehr 
zweifelhaft in dieser Beziehung geworden ist. Ich fühle wohl, 
wie bedenklich es ist, von diesen Gewährsmännern, denen wir 
mit Andern alle unsre Kenntnisse verdanken, abzuweichen. Alle, 
die den geologischen Schöpfungs-Bericht für einigermaassen voll- 
ständig halten und nicht viel Gewicht auf andre in diesem Bande 
ınitgetheilten Thatsachen und Schlussfolgerungen legen, werden 
zweifelsohne meine ganze Theorie auf einmal verwerfen. Ich 
für meinen Theil betrachte (um Lyeıı's bildlichen Ausdruck 
durchzuführen) den Natürlichen Schöpfungs-Bericht als eine Ge- 
schichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dia- 
lekten geschrieben, — wovon aber nur der letzte bloss auf einige 
Theile der Erd-Oberfläche sich beziehende Band bis auf uns ge- 
kommen ist.. Doch auch von diesem Bande ist nun hier und 


318 


da ein kurzes Kapitel erhalten, und von jeder Seite sind nur da 
und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechseln- 
den Sprache dieser Beschreibung, mehr und weniger verschieden 
in der unterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag 
den anscheinend plötzlich wechselnden Lebenformen entsprechen, 
welche in den unmittelbar aufeinander-liegenden Schichten unsrer 
weit von einander getrennten Formationen begraben liegen. 


kehntes Kapitel. 
Geologische Aufeinanderfolge organischer Wesen, 


/Langsame und allmähliche Erscheinung neuer Arten. —< Ungleiches Maass 
ihrer Veränderung. —»Einmal untergegangene Arten kommen nicht wieder 
zum Vorschein. —”Arten-Gruppen folgen denselben allgemeinen Regeln 
des Auftretens,und Verschwindens, wie die einzelnen Arten. — Erlöschen 4 
der Arten. —“Gleichzeitige Veränderungen der Lebenformen auf der gan- 
zen Erd-Oberfläche. — „Verwandtschaft erloschener Arten mit andern fos- 
silen und mit lebenden Arten. —/Entwickelungs-Stufe aller Formen. — 
Aufeinanderfolge derselben Typen im nämlichen Länder-Gebiete. —/Zu- 
sammenfassung des jetzigen mit früheren Abschnitten. 

Sehen wir nun zu, ob die verschiedenen Thatsachen und 
Regeln hinsichtlich der geologischen Aufeinanderfolge der orga- 
nischen Wesen besser mit der gewöhnlichen Ansicht von der 
Unabänderlichkeit der Arten, oder mit der Theorie einer lang- 
samen und stufenweisen Abänderung der Nachkommenschaft 
durch Natürliche Züchtung übereinstimmen. 

/ Neue Arten sind im Wasser wie auf dem Lande nur sehr 
langsam, eine nach der andern zum Vorschein gekommen. LykıL 
hat gezeigt, dass es kaum möglich ist, sich den in den verschie- 


denen Tertiär-Schichten niedergelegten Beweisen in dieser Hin- 
sicht zu verschliessen, und jedes Jahr strebt die noch vorhande- 
nen Lücken mehr auszufüllen und das Prozent-Verhältniss der 
noch lebend vorhandenen zu den ganz ausgestorbenen Arten mehr 
und mehr abzustufen. In einigen der neuesten, wenn auch, iM 
Jahren ausgedrückt, gewiss sehr alten Schichten kommen nur 
noch 1—2 ausgestorbene Arten vor, und nur je eine oder zwei 


eu 


Er 


319 


überhaupt oder für die Örtlichkeit neue Formen gesellen sich 
den früheren bei. Wenn wir den Beobachtungen Priumers in 
Sizilien vertrauen dürfen, so ist die stufenweise Ersetzung der 
früheren Meeres-Bewohner bei dieser Insel durch andre Arten ein 
äusserst langsamer gewesen. Die Sekundär - Formationen sind 
mehr unterbrochen; aber in jeder einzelnen Formation hat, wie 
Bronx bemerkt hat, weder das Auftreten noch das Verschwinden 
ihrer vielen jetzt erloschenen Arten gleichzeitig stattgefunden. 
Arten verschiedener Sippen und Klassen haben weder gleichen 
Schrittes noch in gleichem Verhältnisse gewechselt. In den ältesten 
Tertiär-Schichten liegen die wenigen lebenden Arten mitten zwischen 
einer Menge erloschener Formen. FALCONER hat ein schlagendes 
Beispiel der Art berichtet, nämlich von einem Krokodile noch 
lebender Art, welches mit einer Menge fremder und unterge- 
gangener Säugthiere und Reptilien in Schichten des Subhimalaya 
beisammen lagert. Die silurischen Lingula-Arten weichen nur sehr 
wenig von den lebenden Spezies dieser Sippe ab, während die 
meisten der übrigen silurischen Mollusken und alle Kruster grossen 
Veränderungen unterlegen sind. Die Land-Bewohner scheinen 
schnelleren Schrittes als die Meeres-Bewohner zu wechseln, wovon 
ein treffender Beleg kürzlich aus der Schweitz berichtet worden 
ist. Es scheint einiger Grund zur Annahme vorhanden, dass solche 
Organismen, welche auf höherer Organisations-Stufe stehen, rascher 
als die unvollkommen entwickelten wechseln; doch gibt es Aus- 
nahmen von dieser Regel. Das Maass organischer Veränderung 
entspricht nach Pıerer's Bemerkung nicht genau der Aufeinander- 
folge unsrer geologischen Formationen, so dass zwischen je zwei 
aufeinander - folgenden Bildungen die Lebens-Formen genau in 
gleichem Grade sich änderten. Wenn wir aber irgend welche, 
seyen es auch nur zwei einander zunächst verwandte Forma- 
tionen miteinander vergleichen, so finden wir, dass alle Arten 
einige Veränderungen erfahren haben. Ist eine Art einmal von 
der Erd-Oberfläche verschwunden, so haben wir einigen Grund 
zu vermuthen, dass dieselbe Art nie wieder zum Vorschein kommen 
werde. Die anscheinend auffallendsten Ausnahmen von dieser Regel 
bilden Barranpe's sogenannte »Kolonien« von Arten, welche sich eine 


320 


Zeit lang mitten in ältere Formationen einschieben und dann 
später wieder erscheinen; ‘doch halte ich Lyeur’s Erklärung, 
sie seyen durch Wanderungen aus einer geographischen Provinz 
in die andre bedingt, für vollkommen genügend. 

2 Diese verschiedenen Thatsachen vertragen sich wohl mit 
meiner Theorie. Ich glaube an kein festes Entwickelungs-Gesetz, 
welches alle Bewohner einer Gegend veranlasste, sich plötzlich 
oder gleichzeitig oder gleichmässig zu ändern. Der Abänderungs- 
Prozess muss ein sehr langsamer seyn. Die Veränderlichkeit jeder 
Art ist ganz unabhängig von der der andern Arten. Ob sich 
die Natürliche Züchtung solche Veränderlichkeit zu Nutzen macht, 
und ob die in grösserem oder geringerem Maasse gehäuften 
Abänderungen stärkere oder schwächre Modifikationen in den sich 
ändernden Arten veranlassen, Diess hängt von vielen verwickelten 
Bedingungen ab: von der Nützlichkeit der Veränderung, von der 
Wirkung der Kreutzung, von dem Maass der Züchtung, vom all- 
mählichen Wechsel in der natürlichen Beschaffenheit der Gegend, 
und zumal von der Beschaffenheit der übrigen Organismen , welche 
mit den sich ändernden Arten in Mitbewerbung kommen; daher 
es keineswegs überraschend ist, wenn eine Art ihre Form un- 
verändert bewahrt, während andre sie wechseln, oder wenn sie 
solche in geringerem Grade wechselt als diese. Wir beobachten 
Dasselbe in der geographischen Verbreitung, z. B. auf Madeira, 
wo die Landschnecken und Käfer in beträchtlichem Maasse von 
ihren nächsten Verwandten in Europa abgewichen, während 
Vögel und See-Mollusken die nämlichen geblieben sind. Man kann 
vielleicht die anscheinend raschere Veränderung in den Land- 
Bewohnern und den höher organisirten Formen gegenüber derjenigen 
der meerischen und der tiefer-stehenden Arten aus den zusammen- 
gesetzteren Beziehungen der vollkommenern Wesen zu ihren or- 
ganischen und unorganischen Lebens-Bedingungen, wie sie in 
einem früheren Abschnitte auseinander gesetzt worden sind, her- 
leiten. Wenn viele von den Bewohnern einer Gegend abge- 
ändert und vervollkommnet worden sind, so begreift man aus 
dem Prinzip der Mitbewerbung und aus den höchst-wichtigen 
Beziehungen von Organismus zu Organismus, dass eine Form, 


321 


welche gar keine Änderung und Vervollkommnung erfährt, der 
Austilgung preisgegeben ist. Daraus ergibt sich dann, dass alle 
Arten einer Gegend zuletzt, wenn wir nämlich hinreichend lange 
Zeiträume dafür zugestehen , entweder abändern oder zu Grunde 
gehen müssen. | 

Bei Gliedern einer Klasse mag das Maass der Änderung 
während langer und gleicher Zeit-Perioden im Mittel vielleicht 
nahezu gleich seyn. Da jedoch die Anhäufung lange dauernder 
Fossilreste-führender Formationen davon bedingt ist, ob grosse 
Sediment-Massen während einer Senkungs-Periode abgesetzt wer- 
den, so müssen sich unsre Formationen nothwendig meistens mit 
langen und unregelmässigen Zwischenpausen gebildet haben; daher 
denn auch der Grad organischer Veränderung, welchen die in den 
Erd-Schichten abgelagerten organischen Reste an sich tragen, in 
aufeinander-folgenden Formationen nicht gleich ist. Jede For- 
mation bezeichnet nach dieser Anschauungs-Weise nicht einen 
neuen und vollständigen Akt der Schöpfung, sondern nur eine 
meistens ganz nach Zufall herausgerissene Szene aus einem lang- 
sam vor sich gehenden Drama. 

3 Man begreift leicht, dass eine einmal zu Grunde gegangene 
Art nicht wieder zum Vorschein kommen kann, selbst wenn die 
nämlichen unorganischen und organischen Lebens - Bedingungen 
nochmals eintreten. Denn obwohl die Nachkommenschaft einer 
Art so hergerichtet werden kann (und gewiss in unzähligen Fällen 
hergerichtet worden ist), dass sie den Platz einer andern Art 
im Haushalte der Natur genau ausfüllt und sie ersetzt, so können 
doch beide Formen, die alte und die neue, nicht identisch die 
nämlichen seyn, weil beide gewiss von ihren verschiedenen 
Stamm-Vätern auch verschiedene Charaktere mit-geerbt haben. 
So könnten z. B., wenn unsre Pfauentauben ausstürben, Tauben- 
Liebhaber‘ dupolr lange Zeit fortgesetzte und auf denneibön 
Punkt gerichtete Bemühungen wohl eine neue von unsrer jetzigen 
Pfauentaube kaum unterscheidbare Rasse zu Stande bringen. 
Wäre aber auch deren Urform, unsre Felstaube im Natur-Zu- 
stande, wo die Stamm-Form gewöhnlich durch ihre vervollkomm- 
nete Nachkommenschaft ersetzt und vertilgt wird, zerstört worden, 


21 


322 


so müsste es doch ganz unglaubhaft erscheinen, dass ein Pfauen- 
schwanz, mit unsrer jetzigen Rasse identisch, von irgend einer 
andern Tauben-Art oder einer andern guten Varietät unsrer Haus- 
Tauben gezogen werden könne, weil die neu-gebildete Pfauen- 
. taube von ihrem neuen Stamm-Vater fast gewiss einige wenn 
auch nur leichte Unterscheidungs-Merkmale beibehalten würde. 
; Arten-Gruppen, wie Sippen und Familien sind, folgen in 
ihrem Auftreten und Verschwinden denselben allgemeinen Regeln, 
wie die einzelnen Arten selbst, indem sie mehr oder weniger 
schnell, in grössrem oder geringerem «Grade wechseln. Eine 
Gruppe erscheint nicht wieder, wenn sie einmal untergegangen 
ist; ihr Daseyn ist abgeschnitten. Ich weiss wohl, dass es 
einige anscheinende Ausnahmen von dieser Regel gibt; allein 
es sind deren so erstaunlich wenig, dass Evw. Forses, Pıerer 
und Woopwarp (obwohl dieselben alle diese von mir vertheidigten 
Ansichten sonst bestreiten) deren Richtigkeit zugestehen, und 
diese Regel entspricht vollkommen meiner Theorie. Denn, wenn 
alle Arten einer Gruppe von nur einer Stamm-Art herkommen, 
dann ist es klar, dass, so lange als noch irgend eine Art der 
Gruppe in der langen Reihenfolge der geologischen Perioden zum 
Vorschein kommt, so lange auch noch Glieder derselben Gruppe 
in ununterbrochner Reihenfolge existirt haben müssen, um all- 
mählich veränderte und neue oder noch die alten und unverän- 
derten Formen hervorbringen zu können. So müssen also Arten 
der Sippe Lingula seit deren Erscheinen in den untersten Schichten 
bis zum heutigen Tage ununterbrochen vorhanden gewesen seyn. 
Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass es zuweilen 
aussieht, als seyen die Arten einer Gruppe ganz plötzlich aul- 
getreten, und ich habe versucht diese Thatsache zu erklären, 
welche, wenn sie sich richtig verhielte,, meiner Theorie verderb- 
lich seyn würde. Aber derartige Fälle sind gewiss nur als Aus- 
nahmen zu betrachten; nach der allgemeinen Regel wächst die 
Arten-Zahl jeder Gruppe allmählich bis zu ihrem Maximum an und 
nimmt dann früher oder später wieder langsam ab. Wenn man 
die Arten-Zahl einer Sippe oder die Sippen-Zahl einer Familie. 
durch eine Vertikal-Linie ausdrückt. welche die übereinander-fol- 


u en a 


323 


genden Formationen mit einer nach Maassgabe der in jeder der- 
selben enthaltenen Arten-Zahl veränderlichen Dicke durchsetzt, 
so kann es manchmal scheinen, als beginne dieselbe unten breit, 
statt mit scharfer Spitze; sie nimmt dann aufwärts noch weiter 
an Breite zu, hält darauf zuweilen eine Zeit lang gleiche Stärke 
ein und läuft dann in den obren Schichten, der Abnahme und 
dem Erlöschen der Arten-entsprechend , allmählich spitz aus. Diese 
allmähliche Zunahme einer Gruppe steht mit meiner Theorie voll- 
kommen im Einklang, da die Arten einer Sippe und die Sippen 
einer Familie nur langsam und allmählich an Zahl wachsen können, 
weil der Vorgang der Umwandlung und der Entwickelung einer 
Anzahl verwandter Formen nur ein Jangsamer seyn kann, da eine 
Art anfänglich nur eine oder zwei Varietäten liefert, welche sich 
allmählich in Arten verwandeln, die ihrerseits mit gleicher Lang- 
samkeit wieder andre Arten hervorbringen und so weiter (wie ein 
grosser Baum sich allmählich verzweigt), bis die Gruppe gross wird. 

Erlöschen.) Wir haben bis jetzt nur gelegentlich von 
dem Verschwinden der Arten und Arten-Gruppen gesprochen. 
Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung sind jedoch das Er- 
löschen alter und die Bildung neuer verbesserter Formen auls 
Innigste mit einander verbunden. Die alte Meinung, dass von 
Zeit zu Zeit sämmtliche Bewohner der Erde durch grosse Um- 
wälzungen von der Oberfläche weggefegt worden seyen, ist jetzi 
ziemlich allgemein und selbst von solchen Geologen, wie EuıE 
pE BEAaumonz, Murchison, BARRANDE u. a. aufgegeben, deren all- 
gemeinere Anschauungs-Weise sie auf dieselbe hinlenken müsste. 
Wir haben vielmehr nach den über die Tertiär-Formationen an- 
gestellten Studien allen Grund zur Annahme, dass Arten und 
Arten-Gruppen ganz allmählich eine nach der andern verschwinden, 
zuerst an einer Stelle, dann an einer andern und endlich überall. 
Einzelne Arten sowohl als Arten-Gruppen haben sehr ungleich lange 
Zeiten gedauert, einige Gruppen, wie wir gesehen, von der ersten 
Wiegen-Zeit des Lebens an bis zum heutigen Tage, während 
andre nicht einmal den Schluss der paläolithischen Zeit erreicht 
haben. Es scheint kein bestimmtes Gesetz zu geben, welches 
die Länge der Dauer einer Art ‚oder Sippe bestimmte. Doch 


21” 


324 


scheint Grund zur Aunahme vorhanden, dass ‚das gänzliche Er- 
löschen der Arten einer Gruppe gewöhnlich ein langsamerer Vor- 
gang als selbst ihre Entstehung ist. Wenn man das Erscheinen 
und Verschwinden der Arten einer Gruppe ebenso wie im vorigen 
Falle durch eine Vertikallinie von veränderlicher Dicke ausdrückt, 
so pflegt sich dieselbe weit allmählicher an ihrem obren dem 
Erlöschen entsprechenden, als am untern die Entwickelung dar- 
stellenden Ende zuzuspitzen. Doch ist in einigen Fällen das Er- 
löschen ganzer Gruppen von Wesen, wie das der Ammoniten am 
Ende der Sekundär-Zeit, wunderbar rasch vor sich gegangen. 
Die ganze Frage vom Erlöschen der Arten ist in das ge- 
heimnissvollste Dunkel gehüllt gewesen. Einige Schriftsteller haben 
sogar angenommen, dass Arten gerade so wie Individuen eine 
regelmässige Lebensdauer haben. Durch das Verschwinden der 
Arten ist wohl Niemand mehr in Verwunderung gesetzt worden. 
als es mit mir der Fall gewesen. Als ich im La-Ptata-Staate 
einen Pferde-Zahn: in einerlei Schicht mit Resten von Mastodon, 
Megatherium, Toxodon u. a. Ungeheuern zusammenliegend fand, 
welche sämmtlich noch in später geologischer Zeit mit noeh 
jetzt lebenden Konchylien-Arten zusammen gelebt haben, war ich 
mit Erstaunen erfüllt. Denn da die von den Spaniern in Süd- 
Amerika eingeführten Pferde sich wild über das ganze Land 
verbreitet und zu unermesslicher Anzahl vermehrt haben, so 
musste ich mich bei jener Entdeckung selber fragen, was in 
verhältnissmässig noch so neuer Zeit das frühere Pferd unter Lebens- 
Bedingungen zu vertilgen vermocht, welche sich der Vervielfäl- 
tigung des Spanischen Pferdes so ausserordentlich günstig er- 
wiesen haben? Aber wie ganz ungegründet war mein Erstaunen! 
Professor Owen erkannte bald, dass der Zahn, wenn auch denen 
der lebenden Arten sehr ähnlich, doch von einer ganz anderen 
nun erloschenen Art herrühre. Wäre diese Art noch jelzt, wenn 
auch schon etwas selten, vorhanden, so würde sich kein Natur- 
forscher im mindesten über deren Seltenheit wundern, da es viele 
seltene Arten aller Klassen in allen Gegenden gibt. Fragen wir uns 
selbst, warum diese oder jene Art selten ist, so antworten wir, 
es müsse irgend etwas in den vorhandenen Lebens-Bedingungen 


ungünstig seyn, obwohl wir dieses Etwas nicht leicht näher zu 
bezeichnen wissen.  Existirte das fossile Pferd noch jetzt als eine 
seltene Art, so würden wir in Berücksichtigung der Analogie 
mit allen andern Säugthier-Arten und selbst mit dem sich nur 
langsam fortpflanzenden Elephanten und der Vermehrungs-Geschichte 
des in Süd-Amerika verwilderten Hauspferdes fühlen, dass jene 
fossile Art unter günstigeren Verhältnissen binnen wenigen Jahren 
im Stande seyn müsse den ganzen Kontinent zu bevölkern. Aber 
wir können nicht sagen, welche ungünstigen Bedingungen es 
seyen, die dessen Vermehrung hindern, ob. deren nur eine oder 
ob ihrer mehre seyen, und in welcher Lebens-Periode und: in 
welchem Grade jede derselben ungünstig wirke. Verschlimmer- 
ten sich aber jene Bedingungen allmählich, so würden wir die 
Thatsache sicher nicht bemerken, obschon jene (fossile) Pferde- 
Art gewiss immer seltener und seltener werden und zuletzt er- 
löschen würde; denn ihr Platz ist bereits von einem andern 
siegreichen Mitbewerber eingenommen. 

Man hat viele Schwierigkeit sich immer zu erinnern, dass 
die Zunahme eines jeden lebenden Wesens durch unbemerkbare 
schädliche Agentien fortwährend aufgehalten wird, und dass die- 
selben unbemerkbaren Agentien vollkommen genügen können, 
um eine fortdauernde Verminderung und endliche Vertilgung zu 
bewigken. Wir sehen in den neueren Tertiär-Bildungen viele 
Beispiele, dass Seltenwerden dem gänzlichen Verschwinden vor- 
angeht, und wir wissen. dass es derselbe Fall bei denjenigen 
Thier-Arten gewesen ist, welche durch den Einfluss des Men- 
schen örtlich oder überall von der Erde verschwunden sind. Ich 
will hier wiederholen, was ich im Jahr 1845 drucken liess : Zu- 
geben, dass Arten gewöhnlich selten werden, ehe sie erlöschen, 
und sich über das Seltnerwerden einer Art nieht wundern, aber 
dann doch hoch erstaunen, wenn sie endlich zu Grunde gebt, — 
heisst Dasselbe, wie: Zugeben, dass bei Individuen Krankheit 
dem Tode vorangeht, und sich über das Erkranken eines Indivi- 
duums nicht befremdet fühlen, aber sich wundern, wenn der 
kranke Mensch stirbt, und seinen Tod irgend einer unbekannten 
(sewalt zuschreiben, 


326 


‘ Die Theorie der Natürlichen Züchtung 'beruhet auf der An: 
nahme, dass jede neue Varictat und zuletzt jede neue Art dadurch 
gebildet und erhalten worden Seye, dass sie irgend einen Vor- 
zug vor den mitbewerbenden Arten an sich habe, in Folge 
dessen die nicht bevortheilten Arten meistens unvermeidlich er- 
löschen. Es verhält sich eben so mit unsren Kultur-Erzeugnis- 
sen. Ist eine neue etwas vervollkommnete Varietät gebildet wor- 
den, so ersetzt sie anfangs die minder vollkommenen Varietäten 
in der Nachbarschaft; ist sie mehr verbessert, so breitet sie 
sich in Nähe und Ferne aus, wie unsre kurz-hörnigen Rinder 
gethan, und nimmt die Stelle der andern Rassen in andern 
Gegenden ein. So sind die Erscheinungen neuer und das Ver- 
schwinden alter Formen, natürlicher wie künstlicher, enge mit- 
einander verknüpft. In manchen wohl gedeihenden Gruppen 
ist die Anzahl der in einer gegebenen Zeit gebildeten neuen 
Art-Formen grösser als die alten erloschenen; da wir aber 
wissen, dass gleichwohl die Arten-Zahl wenigstens in den letz- 
ten geologischen Perioden nicht unbeschränkt zugenommen hat, 
so dürfen wir annehmen, dass eben die Hervorbringung neuer 
Formen das Erlöschen einer ungefähr gleichen Anzahl alter ver- 
anlasst habe. | 

Die Mitbewerbung wird gewöhnlich, wie schon früher er- 
klärt und durch Beispiele erläutert worden ist, zwischen degjeni- 
gen Formen anı ernstesten seyn, welche sich in allen Beziehun- 
gen am ähnlichsten sind. Daher die abgeänderten und verbesser- 
ten Nachkommen gewöhnlich die Austilgung ihrer Stamm-Art 
veranlassen werden; und wenn viele neue Formen von irgend 
einer einzelnen Art entstanden sind, so werden die nächsten 
Verwandten dieser Art, das heisst die mit ihr zu einer Sippe 
gehörenden, der Vertilgung am meisten ausgesetzt seyn. Und so 
muss, wie ich mir vorstelle, eine Anzahl neuer von einer Stamm- 
Art entsprossener Spezies, d. h. eine neue Sippe, eine alte Sippe 
der nämlichen Familie ersetzen. Aber es muss sich auch oft zutra- 
gen, dass eine neue Art aus dieser oder jener Gruppe den Platz 
einer Art aus einer andern Gruppe einnimmt und somit deren 
Erlöschen veranlasst; wenn sich dann von dem siegreichen Ein- 


327 


dringlinge viele verwandte Formen entwickeln, so werden auch 
viele diesen ihre Plätze überlassen müssen, und es werden ge- 
wöhnlich verwandte Arten Sceyn, die in Folge eines gemeinschaft- 
lich ererbten Nachtheils den andern gegenüber unterliegen. 
Mögen jedoch die unterliegenden Arten. zu einer ‘oder zu ver- 
schiedenen Klassen gehören, SO kann doch öfter einer oder der 
andre von ihnen in Folge einer Befähigung zu einer etwas ab- 
weichenderen Lebensweise, oder seines abgelegenen Wohnortes 
wegen, eine minder strenge Mitbewerbung zu befahren haben 
und sich so noch längre Zeit erhalten. So überlebt z. B. nur 
noch eine einzige Trigonia in dem Australischen Meere die in 
der Sekundär-Zeit zahlreich gewesenen Arten dieser Sippe, und 
eine geringe Zahl von Arten der einst reichen Gruppe der Ga- 
noiden-Fische kommt noch in unsren Süsswassern vor. Und so 
ist dann das gänzliche Erlöschen einer Gruppe gewöhnlich ein 
langsamerer Vorgang als ihre Entwicklung. 

Was das anscheinend plötzliche Aussterben ganzer Familien 
und Ordnungen betrifft, wie das der Trilobiten am Ende der pa- 
läolithischen und der Ammoniten am Ende der mesolithischen 
Zeit-Periode, so müssen wir uns zunächst dessen erinnern, Was 
schon oben über die sehr langen Zwischenräume zwischen uns- 
rön verschiedenen Formationen gesagt worden ist, während wel- 
cher viele Formen langsam erloschen seyn können. Wenn ferner 
durch plötzliche Einwanderung oder ungewöhnlich rasche Ent- 
' wickelung viele Arten einer neuen Gruppe von einem neuen 
Gebiete Besitz nehmen, so können sie auch in entsprechend 
rascher Weise viele der alten Bewohner verdrängen; und die 
Formen, welche ihnen ihre Stelle überlassen, werden gewöhnlich 
mit einander verwandte Theilnehmer an irgend einem ihnen ge- 
meinsamen Nachtheile der Organisation seyn. 

So scheint mir die Weise, wie einzelne Arten und ganze 
Arten-Gruppen erlöschen, gut mit der Theorie der Natürlichen 
Züchtung übereinzustimmen. Das Erlöschen kann uns nicht 
wunder-nehmen; was uns eher wundern müsste, ist vielmehr 
unsre einen Augenblick lang genährte Anmassung, die vie- 
len verwickelten Bedingungen zu begreifen, von welchen das 


an. are ir er, 


328 


Daseyn jeder Spezies abhängig ist.. Wenn wir einen Augenblick 
vergessen, dass jede Art auf ungeregelte Weise zuzunehmen 
strebt und irgend eine wenn auch ganz selten wahrgenommene 
(egenwirkung immer in Thätigkeit ist, so muss uns der ganze 
Haushalt der Natur allerdings sehr dunkel erscheinen. Nur wenn 
wir genau anzugeben wüssten, warum diese Art reicher an In- 
dividuen als jene ist, warum diese und nicht eine andre in einer 
angedeuteten Gegend naturalisirt werden kann, dann und nur 
dann hätten wir Ursache uns zu wundern, warum wir uns von dem 
Erlöschen dieser oder jener einzelnen Spezies oder Arten-Gruppe 
keine Rechenschaft zu geben im Stande sind. 

fÜber das fast gleichzeitige Wechseln der Leben- 
(ormen auf der ganzen Erd-Oberfläche.) Kaum ist 
irgend eine andre paläontologische Entdeckung so überraschend 
als die Thatsache, dass die Lebenformen einem auf fast der 
sanzen Erd-Oberfläche gleichzeitigen Wechsel unterliegen.. So 
kann unsre Europäische Kreide-Formation in vielen entfernten 
Weltgegenden und in den verschiedensten Klimaten wieder 'er- 
kannt werden, wo nicht ein Stückchen Kreide selbst zu ent- 
decken ist. So namentlich in Nord- und im. tropischen Süd- 
Amerika, im Feuerlande, am Kap der guten Hoffnung und auf 
der Ostindischen Halbinsel, weil an diesen entfernten Punkten 
der Erd-Öberfläche die organischen Reste gewisser Schichten 
eine unverkennbare Ähnlichkeit mit denen unsrer Kreide besitzen, 
Nicht als ob es überall die nämlichen Arten wären; denn 
manche dieser Örtlichkeiten haben nicht eine Art mit einander 
gemein; —- aber sie gehören zu einerlei Familie, Sippe, Unter- 
sippe und ähneln sich oft bis auf die. gleichgiltigen Skulpturen 
der Oberfläche. Ferner fehlen andre Formen, welche in Europa 
nicht in, sondern über oder unter der Kreide-Formation vorkom- 
men, der genannten Formation auch in jenen fernen Gegenden. 
In den aufeinander-folgenden paläozoischen Formationen Russlands, 
West-Europas und Nord-Amerikas ist ein ähnlicher Parallelis- 
mus im Auftreten der Lebenformen von mehren Autoren. wahr- 


genommen worden, und eben so in dem Europäischen und 
Nord-Amerikanischen Tertiär-Gebirge nach Lyeır. Selbst wenn 


- 


329 


wir die wenigen Arten ganz aus dem Auge lassen, welche die 
Alte und die Neue Welt mit einander gemein haben, so steht 
der allgemeine Parallelismus der aufeinander folgenden Leben- 
formen in den verschiedenen Stöcken der so weit auseinander 
gelegenen paläolithischen und tertiären Gebilde so fest, dass sich 
diese Formationen leicht Glied um Glied miteinander vergleichen 
lassen. 

Diese Beobachtungen jedoch beziehen sich nur auf die 
Meeres-Bewohner der verschiedenen Weltgegenden, und wir 
haben‘ nicht genügende Nachweisungen um zu beurtheilen, ob 
die Erzeugnisse des Landes und der Süsswasser an SO entfern- 
ten Punkten einander gleichfalls in paralleler Weise ablösen. 
Man möchte daran zweifeln, ob es der Fall; denn wenn das 
Megatherium, der Mylodon und Toxodon und die Macrauchenia 
aus dem La-Plata-Gebiete nach Europa ‚gebracht worden wären 
ohne alle Nachweisung über ihre geologische Lagerstätie, so 
würde wohl niemand »vermuthet haben, dass sie mit noch jetzt 
lebend vorkommenden See-Mollusken gleichzeitig existirten ; da 
jedoch diese monströsen Wesen mit Mastodon und Pferd zusam- 
mengelagert sind, so lässt sich daraus wenigstens schliessen, 
dass sie in einem dgy letzten Stadien der Tertiär-Periode gelebt 
haben müssen. 

Wenn vorhin von dem gleichzeitigen Wechsel der Meeres- 
Bewohner auf. der ganzen Erd-Oberfläche gesprochen worden, 
so handelt es sich dabei nicht um die nämlichen tausend oder 
hunderttausend Jahre oder auch nur um eine strenge Gleichzei- 
tigkeit im geologischen Sinne des Wortes. Denn, wenn alle 
Meeres-Thiere, welche jetzt in Europa leben, und alle, welche 
in der pleistocänen Periode (eine, in Jahren ausgedrückt, unge- 
heuer entiernt-liegende Periode, indem sie die Eis-Zeit mit in 
sich begreift) da gelebt haben, mit den jetzt in Süd-Amerika 
oder in Australien lebenden verglichen würden, so dürfte der 
erfahrenste Naturforscher schwerlich zu sagen im Stande seyn, 
ob die jetzt lebenden oder die pleistocänen Bewohner Europas 
mit denen der südlichen Halbkugel näher übereinstimmen. Eben 
so glauben mehre der sachkundigsten Beobachter, dass die 


330 


jetzige Lebenwelt in den Vereinten Staaten wit derjenigen Be- 
völkerung näher verwandt seye, welche während einiger der 
letzten Stadien der Tertiär-Zeit in Europa existirt hat, als mit 
der noch jetzt da wohnenden; und wenn Diess so ist, so würde 
man offenbar die Fossilien-führenden Schichten, welche jetzt an 
den Nord-Amerikanischen Küsten abgelagert werden, in einer 
späteren Zeit eher mit etwas älteren Europäischen Schichten 
zusammenstellen. Demungeachtet kann, wie ich glaube, kaum 
ein Zweifel seyn, dass man in einer sehr fernen Zukunft doch 
alle neueren meerischen Bildungen, namentlich die obern 
pliocänen, die pleistocänen und die jetzt-zeitigen Schichten Europas, 
Nord- und Süd-Amerikas und Australiens, weil sie Reste in ge- 
wissem Grade mit einander verwandter Organismen und nicht 
auch diejenigen Arten, welche allein den tiefer-liegenden älteren 
Ablagerungen angehören, in sich einschliessen, ganz richtig als 
gleich-alt in geologischem Sinne bezeichnen würde. 

Die Thatsache, dass die Lebenformen gleichzeitig miteinan- 
der, in dem obigen weiten Sinne des Wortes, selbst in entfern- 
ten Theilen der Welt wechseln, hat die vortrefflichen Beobachter 
DE VERNEUIL und D’Archıac Sehr betroffen gemacht. Nachdem sie 


1% 


über ‘den Parallelismus der lithischengl,ebenformen in ver- 


schiedenen Theilen von Europa berichtet, sagen sie weiter: 
»„Wenden wir unsre Aufmerksamkeit nun nach Nord- Amerika, 
so entdecken wir dort eine Reihe analoger Thatsachen, und 
scheint es gewiss zu seyn, dass alle diese Abänderungen der 
Arten, ihr Erlöschen und das Auftreten neuer nicht blossen Ver- 
änderungen in den Meeres-Strömungen oder andern mehr und 
weniger örtlichen und vorübergehenden Ursachen zugeschrieben 
werden können, sondern von. allgemeinen Gesetzen abhängen, 
welche das ganze Thier-Reich betreffen.« Auch BarrAnoE hat ähn- 
liche Wahrnehmungen gemacht und nachdrücklich hervorgehoben. 
Es ist in der That ganz ohne Nutzen, die Ursache dieser gros- 
sen Veränderungen in den Lebenformen der ganzen Erd-Ober- 
fläche und in den verschiedensten Klimaten im Wechsel der 
See-Strömungen, des Klimas oder andrer natürlicher Lebens-Be- 
dingungen aufsuchen zu wollen; wir müssen uns, wie schon 


331 


Barranoe bemerkt, nach einem besondren Gesetze dafür umsehen. 
Wir werden Diess deutlicher erkennen, wenn von der gegen- 
wärtigen Vertheilung der organischen Wesen die Rede seyn 
wird; wir werden dann finden, wie gering die Beziehungen 
zwischen den natürlichen Lebens - Bedingungen verschiedener 
Länder und der Natur ihrer Bewohner ist. 

Diese grosse Thatsache von der parallelen Aufeinanderfolge 
der Lebenformen auf der ganzen Erde ist aus der Theorie der 
Natürlichen Züchtung erklärbar. Neue Arten entstehen aus neuen 
Varietäten, welche einige Vorzüge von älteren Formen an sich 
tragen, und diejenigen Formen, welche bereits der Zahl nach 
vorherrschen oder irgend einen Vortheil vor andern Formen 
voraus-haben, werden natürlich am öftesten die Entstehung neuer 
Varietäten oder beginnender Arten veranlassen; denn diese letz- 
ten werden in noch höherem Grade siegreich gegen andre be- 
stehen und sie überleben. Wir finden einen bestimmten Beweis 
dafür in den herrschenden, d. h. in ihrer Heimath gemeinsten 
uınd am weitesten verbreiteten Pflanzen-Arten, indem diese die 
grösste Anzahl neuer Varietäten gebildet haben. Ebenso ist es 
natürlich, dass die herrschenden veränderlichen und weit ver- 
breiteten Arten, die bis zu einem gewissen Grade bereits in die 
Gebiete andrer Arten eingedrungen sind, auch bessere Aussicht 
als andre zu noch weitrer Ausbreitung und zur Bildung fernerer 
Varietäten und Arten in den neuen Gegenden haben. Dieser 
Vorgang der Verbreitung mag oft ein sehr langsamer seyn, in- 
dem er von klimatischen und geographischen Veränderungen und 
zufälligen Ereignissen abhängt; doch mit der Zeit wird die Ver- 
breitung der herrschenden Formen gewöhnlich durchgreifen. Sie 
wird bei Land-Bewohnern geschiedener Kontinente wahrschein- 
lich langsamer vor sich gehen, als bei den Organismen zusam- 
menhängender Meere. Wir werden daher einen minder genauen 
Grad paralleler Aufeinanderfolge in den Land- als in den Meeres- 
Erzeugnissen zu finden erwarten dürfen, wie es auch in der 
That der Fall ist. 

Wenn herrschende Arten sich von einer Gegend aus ver- 
breiten, so werden sie mitunter auf noch herrschendere Arten 


332 


stossen, und dann wird ihr Siegeslauf und selbst ihre Existenz 
aufhören. Wir wissen durchaus nicht genau, welches alle die 
günstigsten Bedingungen für die Vermehrung neuer und herr- 
schender Arten sind; doch Das können wir, glaube ich, klar er- 
kennen, dass eine grosse Anzahl von Individuen, insoferne 
sie mehr Aussicht auf die Hervorbringung vortheilhafter Abände- 
rungen hat, und dass eine strenge Mitbewerbung mittelst vieler 
schon bestehender Formen im höchsten Grade vortheilhaft seyn 
müsse, sowie das Vermögen sich in neue Gebiete zu verbreiten, 
Ein gewisser Grad von Isolirung, nach langen Zwischenzeiten zu- 
weilen wiederkehrend, dürfte, wie früher erläutert worden, wohl 
gleichfalls förderlich seyn. Ein Theil der Erd-Oberfläche mag 
für die Hervorbringung neuer und herrschender Arten des Lan- 
des und ein andrer für solche des Meeres günstiger seyn, 
Wenn zwei grosse Gegenden sehr lange Zeiten hindurch zur 
Hervorbringung herrschender Arten in gleichem Grade geeig- 
net gewesen, so wird der Kampf ihrer Einwohner mitein- 


ander-, wann immer sie zusammenireffen mögen, ein langer und 


harter werden, und werden einige von der einen und einige von 
der andern Geburts-Stätte aus siegreich vordringen. Aber im 
Laufe der Zeit werden die im höchsten Grade herrschenden 
Formen, auf welcher von beiden Seiten sie auch entstanden seyn 
mögen, überall das Übergewicht erlangen. In dem Maasse, als 
sie überwiegen, werden sie das Erlöschen andrer unvollkomme- 
nerer Formen bedingen ; und da oft ganze unter sich verwandte 
Gruppen die gleiche Unvollkommenheit gemeinsam ererbt haben, 
so werden solche Gruppen sich allmählich ganz zum Erlöschen 
neigen, wenn auch da und dort ein einzelnes Glied sich noch 
eine Zeit lang durchbringen mag. 5 

So, scheint mir, stimmt die paralleie und, in einem weiten 
Sinne genommen, gleichzeitige Aufeinanderfolge der nämlichen 
Lebenformen auf der ganzen Erde wohl mit dem Prinzip überein, 
dass neue Arten -durch sich weit verbreitende und sehr veränder- 
liche herrschende Spezies gebildet werden; die so erzeugten 


neuen Arten werden in Folge von Vererbung und, weil sie bereits 


einige Vortheile über ihre Ältern und über andre Arten besitzen, 


selber herrschend; auch diese breiten sich nun aus, variiren 
und bilden wieder neue Spezies. Diejenigen Formen, welche ver- 
drängt werden und ihre Stellen den neuen siegreichen Formen 
überlassen, werden gewöhnlich gruppenweise verwandt seyn, 
weil sie irgend eine Unvollkommenheit gemeinsam ererbt haben: 
daher in dem Maasse als sich die neuen und vollkommneren 
Gruppen über die Erde verbreiten, alte Gruppen vor ihnen ver- 
schwinden müssen. Diese Aufeinanderfolge der Formen auf bei- 
den Wegen wird sich überall zu entsprechen geneigt seyn. 
Noch bleibt eine Beierkung‘ über diesen Gegenstand zn 
machen übrig. Ich habe die Gründe angeführt, weshalb ich 
glaube, dass jede unsrer grossen Fossilreste-führenden Forma- 
tionen in Perioden fortdauernder Senkung abgesetzt worden sind, 
dass-aber diese Ablagerungen durch lange Zwischenräume getrennt 
gewesen, wo der Meeres -Boden stet oder in Hebung begriffen 
war, oder wo die Anschüttungen nicht rasch genug erfolgten, 
um die organischen Reste einzuhüllen und gegen Zerstörung zu 
bewahren. Während dieser langen leeren Zwischenzeiten nun 
haben, nach meiner Annahme, die Bewohner jeder Gegend" viele 
Abänderungen erfahren und viel durch Erlöschen gelitten, und 
haben grosse Wanderungen von einem Theile der Erde zum 
andern stattgefunden. Da nun Grund zur Annahme vorhanden ist, 
dass weite Felder die gleichen Bewegungen durchgemacht haben, 
so haben gewiss auch oft genau gleichzeitige Formationen über 
sehr weiten Räumen einer Weltgegend abgesetzt werden kön- 
nen; doch sind wir hieraus nicht zu schliessen berechtigt, dass 
Diess unabänderlich der Fall gewesen, oder dass weite Felder 
unabänderlich von gleichen Bewegungen betroffen worden seyen. 
Sind zwei Formationen in zwei Gegenden zu beinahe, aber nicht 
genau, gleicher Zeit entstanden, so werden wir in beiden aus 
schon oben auseinandergesetzten Gründen im Allgemeinen die 
nämliche Aufeinanderfolge. der Lebenformen erkennen; aber die 
Arten werden sich nicht genau entsprechen , weil sie in der 
einen Gegend etwas mehr und in der andern etwas weniger Zeit 
gehabt haben abzuändern, zu wandern und zu erlöschen. 
| Ich vermuthe, dass Fälle dieser Art in Europa selbst vor- 


334 


kommen. Prestwich ist in seiner vortrefflichen Abhandlung über 
die Eocän-Schichten in England und Frankreich im Stande einen 
im Allgemeinen genauen Parallelismus zwischen den aufeinander- 
folgenden Stöcken beider Gegenden nachzuweisen. Obwohl sich 
nun bei Vergleichung gewisser Stöcke in England mit denen 
in Frankreich eine merkwürdige Übereinstimmung beider in den 
zu einerlei Sippen gehörigen Arten ergibt, so weichen doch 
diese Arten selber in einer bei der geringen Entfernung beider 
Gebiete schwer zu erklärenden Weise von einander ab, wenn 
man nicht annehmen will, dass eine Landenge zwei benachbarte 
Meere getrennt habe, welche von gleichzeitig verschiedenen 
Faunen bewohnt gewesen seyen. Lyvkır hat ähnliche Beobach- 
tungen über einige der späteren Tertiär-Formationen gemacht, und 
ebenso hat BarrAnDE gezeigt, dass zwischen den aufeinanderfol- 
genden Silur-Schichten Böhmens und Skandinaviens im Allgemei- 
nen ein genauer Parallelismus herrsche, demungeachtet aber eine 
erstaunliche Verschiedenheit zwischen den Arten bestehe. Wären 
aber nun die verschiedenen Formationen dieser Gegenden nicht 
genau während der gleichen Periode abgesetzt worden, indem 
etwa die Ablagerung in der einen Gegend mit einer Pause in 
der andern zusammenfiele, -— und hätten in beiden Gegenden 
die Arten sowohl während der Anhäufung der Schichten als 
während der langen Pausen dazwischen langsame Veränderungen 
erfahren: so würden die verschiedenen Formationen beider Ge- 
genden auf gleiche Weise und in Übereinstimmung mit der all- 
gemeinen Aufeinanderfolge der Lebenformen geordnet erscheinen, 
und ihre Ordnung sogar genau parallel scheinen (ohne es zu 
seyn); demungeachtet würden in den einzelnen einander anschei- 
nend entsprechenden Stöcken beider Gegenden nicht alle Arten 
übereinstimmen. | 

Verwandtschaft erloschener Arten unter sich 
und mit den lebenden Formen.) Werfen wir nun einen 
Blick auf die gegenseitigen Verwandtschaften erloschener und le- 
bender Formen. Alle fallen in ein grosses Natur-Sysiem, was 
sich aus dem Prinzip gemeinsamer Abstammung erklärt. Je älter 


eine Form, desto mehr weicht sie der allgemeinen Regel zufolge 


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Ban 0 a 


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TR 


335 


von den lebenden Formen ab. Doch können, wie BuckLanp schon 
längst bemerkt, alle fossilen Formen in noch lebende Gruppen 
eingetheilt oder zwischen sie eingeschoben werden. Es ist nicht 
zu bestreiten, dass die erloschenen Formen weite Lücken zwi- 
schen den jetzt noch bestehenden Sippen, Familien und Ord- 
nungen ausfüllen helfen. Denn wenn wir unsre Aufmerksamkeit 
entweder auf die lebenden oder auf die erloschenen Formen 
allein richten, so ist die Reihe viel minder vollkommen, als wenn 
wir beide in ein gemeinsames System zusammenfassen. Hin- 
sichtlich der Wirbelthiere liessen sich viele Seiten mit den trefl- 
lichen Erläuterungen unsres grossen Paläontologen Owen über 
die Verbindung lebender Thier-Gruppen durch fossile Formen an- 
füllen. Nachdem ÜCuvier die Wiederkäuer und die Pachydermen 
als zwei der aller-verschiedensten Säugthier-Ordnungen betrachtet, 
hat Owen so viele fossile Zwischenglieder entdeckt, dass er die 
sanze Klassifikation dieser zwei Ordnungen zu ändern genöthigt 
war und gewisse Pachydermen in gleiche Unterordnung mit Ru- 
minanten versetzte. So z. B. füllt er die weite Lücke zwischen 
Kameel und Schwein mit kleinen Zwischenstufen aus. Was die 
Wirbel-losen betrifft, so versichert: BarrANDE, gewiss die erste 
Autorität in dieser Beziehung, wie er jeden Tag deutlicher er- 
kenne, dass die paläolithischen Thiere, wenn auch in einerlei 
Ordnungen, Familien und Sippen mit den jetzt lebenden gehörig, 
doch noch nicht in so bestimmte Gruppen geschieden waren, wie 
diese letzten. 

Einige Schriftsteller haben sich gegen die Meinung erklärt, 
dass eine erloschene Art oder Arten-Gruppe zwischen lebenden 
Arten oder Gruppen in der Mitte stehe. Wenn damit gesagt 
werden sollte, dass die erloschene Form in allen ihren Charak- 
teren genau das Mittel zwischen zwei lebenden Formen halte, 
so wäre die Einwendung vermuthlich begründet. Aber ich er- 
kenne, dass in einer vollkommen natürlichen Klassifikation viele 
fossile Arten zwischen lebenden Arten, und manche erloschene 
Sippen zwischen lebenden Sippen oder sogar zwischen Sippen 


verschiedener Familien ihre Stellen einzunehmen haben. Der 
 gewöhnlichste Fall zumal bei sehr ausgezeichneten Gruppen, wie 


336 


Fische und Reptilien sind, scheint mir der zu seyn, 


dass da, wo 
dieselben heutigen Tages z. B. durch ein Dutzend Charaktere 
von einander abweichen, die alten Glieder 
Gruppen in einer etwas geringeren Anzahl von Merkmalen unter- 
schieden waren, so dass beide Gruppen vordem, wenn auch 
schon völlig verschieden, doch einander etwas näher stunden 
als jetzt. 


der nämlichen Zwei 


Es ist eine gewöhnliche Meinung, dass eine Form je älter 
um so mehr geeignet seye, mittelst einiger ihrer Charaktere 
jetzt weit getrennte Gruppen zu verknüpfen. Diese Bemerkung 
muss ohne Zweifel auf solche Gruppen beschränkt werden , die 
im Verlaufe geologischer Zeiten grosse Veränderungen erfahren 
haben, und es möchte schwer seyn, die Wahrheit zu beweisen; 
denn hier und da wird auch noch ein lebendes Thier wie der 
Lepidosiren entdeckt, das ıit sehr verschiedenen Gruppen zu- 
gleich verwandt ist. Wenn wir jedoch die ältern Reptilien und 
Batrachier, die alten Fische, die alten Cephalopoden und die 
eocänen Säugthiere mit den neueren Gliedern derselben Klassen 
vergleichen, so müssen wir einige Wahrheit in der Bemerkung 
zugestehen. | 

Wir wollen nun zusehen, in wie ferne diese verschiedenen 
Thatsachen und Schlüsse mit der Theorie abändernder Nachkom- 
menschaft übereinstimmen. Da der Gegenstand etwas verwickelt 
ist, so muss ich den Leser bitten, sich nochmals nach dem Bilde 
S. 121 umzusehen. Nehmen wir an, die numerirten Buchsta- 
ben stellen Sippen und die von ihnen ausstrahlenden Punkt-Reihen 
die dazu gehörigen Arten vor. Das Bild ist insoferne zu ein- 
fach, als zu wenige Sippen und Arten darauf angenommen sind; 
doch ist Das unwesentlich für uns. Die wagrechten Linien mö- 
gen die aufeinander-folgenden geologischen Formationen vorstel- 
len und alle Formen unter der obersten dieser Linien als er- 
loschene gelten. Die drei lebenden Sippen a!*, q!*, p!# mögen 
eine kleine Familie bilden; b!* und f!* eine nahe verwandte 
oder eine Unter-Familie, und o!#, e!!, m'* eine dritte Familie 
vertreten. Diese drei Familien mit den vielen erloschenen Sip- 


Pd 
pen auf den verschiedenen von der Stamm-Form A auslaufenden 


337 


Verzweigungs-Linien bilden eine Ordnung; denn alle werden von 
ihrem alten und gemeinschaftlichen Stammvater auch etwas Ge- 
meinsames ererbt haben. Nach dem Prinzip fortdauernder Diver- 
genz des Charakters, zu dessen Erläuterung jenes Bild bestimmt 
war, muss jede Form je neuer um so stärker von ihrem ersten 
Stammvater abweichen. Daraus erklärt sich eben auch die Re- 
gel, dass die ältesten fossilen am meisten von den jetzt lebenden 
Formen verschieden sind. Doch dürfen wir nicht glauben, dass 
Divergenz des Charakters eine nothwendige Eigenschaft ist; sie 
hängt allein davon ab, ob die Nachkommen einer Art befähigt 
sind, viele und verschiedenarlige Plätze im Haushalt 2 al 
einzunehmen. Daher ist es auch ganz wohl möglich , wie wir 
bei einigen silurischen Fossilien gesehen, dass eine Art bei nur 
geringer, nur wenig veränderten Lebens - Bedingungen  ent- 
sprechender Modifikation fortbestehen und während langer Perioden 
stets dieselben allgemeinen Charaktere beibehalten kann. Diess 
wird in dem Bilde durch den Buchstaben F'!* ausgedrückt. 

All’ die vielerlei von A abstammenden Formen, erloschene 
wie noch lebende, bilden nach unsrer Annahme zusammen eine 
Ordnung, und diese Ordnung ist in Folge fortwährenden Erlö- 
schens der Formen und Divergenz der Charaktere allmählich in 
Familien und Unterfamilien getheilt worden, von welchen einige 
in früheren Perioden zu Grunde gegangen sind und andre bis 
auf den heutigen Tag währen. | 

Das Bild zeigt uns ferner, dass, wenn eine Anzahl der 
schon früher erloschenen und in die aufeinander-folgenden For- 
mationen eingeschlossenen Formen an verschiedenen Stellen tief 
unten in der Reihe wieder entdeckt würden, die drei noch le- 
benden Familien auf der obersten Linie mehr unter sich ver- 
kettet scheinen müssten. Wären z. B. die Sippen a!, a°, al®, 
[*, m?, m‘, m? wieder ausgegraben worden, so würden die drei 
Familien so eng mit einander verkettet erscheinen, dass man sie 
wahrscheinlich in eine grosse Familie vereinigen würde, etwa so 
wie es mit den Wiederkäuern und Dickhäutern geschehen ist. Wer 
‚nun gegen (die Bezeichnung jener die drei lebenden Familien ver- 
MERUREOR Sippen als »intermediäre dem Charakter nach« Verwah- 


22 


338 


rung einlegen wollte, würde in der That in so ferne Recht ha- 
ben, als sie nicht direkt, .sondern nur auf einem durch viele sehr ' 
abweichende Formen hergestellten Umwege sich zwischen jene an- 
dern einschieben. Wären viele erloschene Formen über einer der 
mitteln: Horizontal-Linien oder Formationen, wie z. B. Nr. VI —, 
aber keine unterhalb dieser Linie gefunden worden, so würde 
man nur die zwei auf der linken Seite stehenden Familien — 
nämlich a!* etc. und b!* etc. — in eine grosse Familie vereiih 
gen, und die zwei andern a!*—f!* mit fünf und o!—m!# mit 
drei Sippen würden dann davon getrennt bleiben. Doch würden 
diese gwei Familien weniger voneinander verschieden erscheinen, 
als vor Entdeckung der fossilen Reste. Wenn wir z. B. anneh- 
men, die noch bestehenden Sippen der zwei Familien wichen in 
einem Dutzend Merkmale von einander ab, so müssen dieselben 
in der früheren init VI bezeichneten Periode weniger Unterschiede 
gezeigt haben, weil sie auf jener Fortbildungs-Stufe von dem 
gemeinsamen Stammvater der Ordnung im Charakter noch nicht 
so stark wie späterhin divergirten. So geschieht es dann, dass 
alte und erloschene Sippen oft einigermassen zwischen ‚ihren 
abgeänderten Nachkommen oder zwischen ihren Seiten-Verwandten 
das Mittel "halten. 

In der Natur wird der Fall weit zusammengeselzier seyn, 
als ihn unser Bild darstellt; denn die Gruppen sind viel. zahl-. 
reicher, ihre Dauer ist von ausserordentlich ungleicher Länge, 
und die Abänderungen haben manchfaltige Abstufungen erreicht, 
Da wir nur den letzien Band des Geologischen Berichtes mit 
vielfältig unterbrochnem Zusammenhange besitzen, SO haben wir, 
einige sehr seltene Fälle ausgenoınmen, kein Recht, die Aus- 
füllung grosser Lücken im Natur - Systeme und die Verbindung 
getrennter Familien und Ordnungen zu erwarten. Alles, was 
wir hoffen dürfen, ist diejenigen Gruppen, welche erst in der 
bekannten geologischen Zeit grosse Veränderungen erfahren, 


in den frühesten Formationen etwas näher aneinander gerückt 
zu finden, so dass die älteren Glieder in einigen ihrer Charak- 
tere etwas weniger weit auseinander gehen, als die jetzigen 
Glieder derselben Gruppen; und Diess scheint nach dem ein- 


339 
‚stimmigen Zeugnisse unserer besten Paläontologen oft der Fall 
zu seyn. | 

So scheinen sich mir, nach der Theorie gemeinsamer Ab- 
stammung mit fortschreitender Modifikation. die wichtigsten That- 
sachen hinsichtlich der wechselseitigen Verwandtschaft der er- 
loschenen Lebenformen zu einander und zu den noch bestehen- 
den Formen in genügender Weise zu erklären. Nach jeder 
andern Betrachtungs-Weise sind sie völlig unerklärbar. 

Aus der nämlichen Theorie erhellt, dass die Fauna einer 
grossen Periode in der Erd-Geschichte in ihrem allgemeinen 
Charakter das Mittel halten müsse zwischen der zunächst voran- 
gehenden und nachfolgenden. So sind die Arten, welche im 
sechsten grossen Schichten- Stocke unsres Bildes vorkommen, 
die abgeänderten Nachkommen derjenigen, welche schon im 
fünften vorhanden gewesen, und sind die Ältern der noch weiter 
abgeänderten im siebenten; sie können daher nicht wohl anders 
als nahezu das Mittel zwischen beiden halten. Wir müssen je- 
doch hiebei im Auge behalteır das gänzliche Erlöschen einiger 
früheren Formen, die Einwanderung neuer Formen aus andern 
Gegenden und die beträchtliche Umänderung der Formen während 
der langen Lücke zwischen zwei aufeinander-folgenden Forma- 
tionen. Diese Zugeständnisse berücksichtigt, muss die Fauna je- 
der grossen geologischen Periode zweifelsohne genau das Mittel 
einnehmen zwischen der vorhergehenden und der folgenden. Ich 
brauche nur als Beispiel anzuführen, wie die Fossil-Reste des 
Devon-Systems die Paläontologen zu dessen Aufstellung veran- 
lasst haben, als sie deren mitteln Charakter zwischen denen des 
darunter-liegenden Silur- und des darauf-folgenden Steinkohlen- 
Systems erkannten. Aber nicht jede Fauna muss dieses Mittel 
genau einhalten, weil die zwischen aufeinander-folgenden Forma- 
tionen verflossenen Zeiträume ungleich lang seyn können. 

Es ist kein wesentlicher Einwand gegen die Wahrheit der 
Behauptung, dass die Fauna jeder Periode im Ganzen ‘genommen 
ungefähr das Mittel zwischen der vorigen und der folgenden 
Fauna halten müsse, darin zu finden, dass manche Sippen Aus- 
nahmen von dieser Regel bilden. So stimmen z. B.. wenn man 


22° 


340 


Mastodonten und Elephanten nach Dr. Farconer zuerst nach ihrer 
gegenseitigen Verwandtschaft und dann nach ihrer geologischen 
Aufeinanderfolge in zwei Reihen ordnet, beide Reihen nicht mit 
einander überein. Die in ihren Charakteren am weitesten ab- 
weichenden Arten sind weder die ältesten noch die jüngsten, 
noch sind die von mittlem Charakter auch von.mittlem Alter. 
Nehmen wir aber für einen Augenblick an, unsre Kenntniss von 
den Zeitpunkten des Erscheinens und Verschwindens der Arten 
seye in diesem und ähnlichen Fällen vollkommen genau, so haben 
wir doch noch kein Recht zu glauben, dass die nacheinander 
auftretenden Formen nothwendig auch gleich-lang bestehen müssen; 
eine sehr alte Form kann zufällig eine längre Dauer als eine 
irgendwo später entwickelte Form haben, was insbesondre von 
solchen Landbewohnern gilt, welche in ganz getrennten Bezirken 
zu Hause sind. Kleines mit Grossem vergleichend wollen wir 
die Tauben als Beispiel wählen. Wenn man die lebenden und 
erloschenen Haupt-Rassen unsrer Haus-Tauben so gut als möglich 
nach ihren Verwandtschaften in R&ihen ordnete, so würde diese 
Anordnungs-Weise nicht genau übereinstimmen weder mit der 
Zeitfolge ihrer Entstehung und noch weniger mit der ihres Unter- 
sangs. Denn die stammälterliche Felstaube lebt noch, und viele 
Zwischenvarietäten zwischen ihr und der Botentaube sind er- 
loschen, und Botentauben, welche in der Länge des Schnabels 
das Äusserste bieten, sind früher entstanden, als die kurzschnä- 
beligen Purzler, welche das entgegengesetzte Ende der auf die 
Schnabel-Länge gegründeten Reihenfolge bilden. 

Mit der Behauptung, dass die organischen Reste einer mitteln 
Formation auch einen nahezu mitteln Charakter besitzen, steht 
die Thatsache, worauf alle Paläontologen bestehen, in nahem 
Zusammenhang, dass nämlich die fossilen aus zwei aufeinander- 
folgenden Formationen viel näher als die aus entfernten mit 
einander verwandt sind. Pıcrer führt als ein wohl -bekanntes 
Beispiel die allgemeine Ähnlichkeit der organischen Reste aus 
den verschiedenen Stöcken der Kreide-Formation an, obwohl die 
Arten in allen Stöcken verschieden sind. Diese Thatsache allein 
scheint ihrer Allgemeinheit wegen Professor PıcrEr in seinem 


341 


festen Glauben an die Unveränderlichkeit der Arten wankend 
gemacht zu haben. Wohl bekannt mit der Vertheilungs - Weise 
der jetzt lebenden Arten über die Erd-Oberfläche, wagt er doch 
nicht eine Erklärung über die grosse Ähnlichkeit verschiedener 
Spezies in nahe aufeinander-folgenden Formationen aus der An- 
nahme 'herzuleiten, dass die physikalischen Bedingungen der alten 
Länder-Gebiete sich fast gleich geblieben seyen. Erinnern wir 
uns, dass die Lebenformen wenigstens des Meeres auf der ganzen 
Erde und mithin unter den aller-verschiedensten Klimaten u. a. 
Bedingungen fast gleichzeitig gewechselt haben; — und bedenken 
wir, welchen unbedeutenden Einfluss die wunderbarsten klimati- 
schen Veränderungen während der die ganze Eis-Zeit umschlies- 
senden Pleistocän - Periode auf die spezifischen Formen der 
Meeres-Bewohner, ausgeübt haben! 

Nach der Theorie der gemeinsamen Abstammung ist die 
volle Bedeuiung der Thatsache klar, dass fossile Reste aus un- 
mittelbar aufeinander-folgenden Formationen, wenn auch als Arten 
verschieden, nahe mit einander verwandt sind. Da die Ablage- 
rung jeder Formation oft unterbrochen worden ist und lange 
Pausen zwischen der Absetzung verschiedener Formationen stalt- 
gefunden haben, so dürfen wir, wie ich im letzten Kapitel zu 
zeigen versucht, nicht erwarten in irgend einer oder zwei For- 
mationen alle Zwischenvarietäten zwischen den Arten zu finden, 
welche am Anfang und am Ende dieser Formationen gelebt haben; 
wohl aber müssten wir nach mehr oder weniger grossen Zwi- 
schenräumen (sehr lang, in Jahren ausgedrückt, aber mässig lang 
in geologischem Sinne) nahe verwandte Formen oder, wie manche 
Schriftsteller sie genannt haben, »stellvertretende Arten« finden, 
und diese finden wir in der That. Kurz wir entdecken diejenigen 
Beweise einer langsamen und fast unmerkbaren Umänderung 
spezifischer Formen, wie wir sie zu erwarten berechtigt sind. 

Über die Entwickelungs-Stufe alter gegenüber 
den noch lebenden Formen.) Wir haben im vierten 
Kapitel gesehen, dass der Grad der Differenzirung und Speziali- 
sirung der Theile aller organischen Wesen in ihrem reifen Alter 
den besten bis jetzt versuchten Maasstab zur Bemessung der 


342 


Vollkommenheits- oder Höhen-Stufe derselben abgibt. Wir haben 
auch gesehen, dass, insoferne Spezialisirung der Theile und Or- 
gane ein Vortheil für jedes Wesen ist, die Natürliche Züchtung 
beständig streben wird, die Organisation eines jeden Wesens 
immer mehr zu spezialisiren und. somit, in diesem Sinne 
genommen, vollkommener zu machen; was jedoch nicht aus- 
schliesst, dass noch immer viele Geschöpfe, für einfachre 
Lebens-Bedingungen bestimmt, auch ihre Organisation einfach 
und unverbessert behalten. Auch in einem anderen und allge- 
meineren Sinne ergibt sich, dass nach der Theorie der Natür- 
lichen Züchtung die neueren Formen höher als ihre Vorfahren 
streben; denn jede neue Art hat sich allmählich entwickelt, weil 
sie im Kampfe ums Daseyn stets einen Vorzug vor andern und 
älteren Formen besass. Wenn in einem nahezu ähnlichen Klima 
die eocänen Bewohner einer Weltgegend zur Bewerbung mit 
den jetzigen Bewohnern derselben oder einer andern Weltgegend 
berufen würden, so müsste die eocäne Fauna oder Flora gewiss 
unterliegen und vertilgt werden, wie eine sekundäre Fauna von 
der eocänen und eine paläolithische von der sekundären über- 
wunden werden würde. — Der Theorie der Natürlichen Züch- 
tung gemäss müssten demnach die neuen Formen ihre höhere 
Stellung den alten gegenüber nicht nur durch :ihren Sieg im 
Kampfe ııms Daseyn, sondern auch durch eine weiter gediehene 
Spezialisirung der Organe bewähren. Ist Diess aber wirklich 
der Fall? Eine grosse Mehrzahl der Geologen würde Diess 
zweifelsohne bejahen. Aber mein unvollkommenes Urtheil ver- 
mag ihnen, nachdem ich die Erörterungen von Lyeır in dieser 
Beziehung gelesen und Hooker’s Meinung in Bezug auf die 
Pflanzen kennen gelernt habe, nur bis zu einem beschränkten 
Grade beizupflichten. Demungeachtet dürfte der entscheidende 
Beweis erst noch durch spätre geologische Forschungen zu lie- 
fern seyn. | 

Die Aufgabe ist in vieler Hinsicht ausserordentlich verwickelt. 
Der geologische Schöpfungs-Bericht, schon zw allen Zeiten un- 
vollständig, reicht nach meiner Meinung nicht weit genug zu- 
rück, um mit unverkennbarer Klarheit zu zeigen, dass innerhalb 


343 


der bekannten Geschichte der Erde die Organisation grosse 
Fortschritte gemacht hat. Sind doch selbst heutzutage noch die 
Naturforscher oft nicht einstimmig, welche Thiere einer Klasse 
die höheren sind. So: sehen Einige die Haie wegen einiger 
wichtigen Beziehungen ihrer Organisation, ZU der der Reptilien 
als die höchsten Fische ‚an, während andre die Knochen- 
fische als solche betrachten. Die Ganoiden stehen in der Mitte 
zwischen den Haien und Knochenfischen. Heutzutage sind diese 
letzten an Zahl weit vorwaltend, während es vordem nur Haie 
und Ganoiden gegeben hat; und in diesem Falle wird man sagen, 
die Fische seyen in ihrer Organisation vorwärts geschritten oder 
zurückgegangen, je nachdem man sie mit einem andern Maass- 
stabe misst. Aber es ist ein hoffnungsloser Versuch die Höhe 
von Gliedern ganz verschiedner Typen gegen einander abzumessen. 
Wer vermöchte zu sagen, ob ein Tintenfisch (Sepia) höher als die 
Biene stehe: als ‚dieses Insekt, von dem der grosse Naturforscher 
v. Baer sagt, dass es in der That höher als ein Fisch organisirt 
‚seye, wenn auch nach einem andern Typus. In dem verwickelten 
Kampfe ums, Daseyn ist es ganz glaublich, dass solche Kruster 
z. B., welche in ihrer eignen Klasse nicht sehr hoch stehen, die 
Cephalopoden oder vollkommensten Weichthiere überwinden wür- 
den; und diese Krusier, obwohl nicht hoch entwickelt, müssen 
doch sehr hoch auf der Stufenleiter der Wirbel-losen Thiere 
stehen, wenn man nach dem entscheidendsten aller Kriterien, 
‚dem Gesetze des Wettkampfes ums Daseyn urtheilt. 

Abgesehen von der Schwierigkeit, die es an und für sich 
hat zu entscheiden, welche Formen der Organisation nach die 
höchsten sind, haben wir nicht allein die höchsten Glieder einer 
Klasse in zwei verschiedenen Perioden (obwohl Diess gewiss 
“eines der wichtigsten oder vielleicht das wichtigste Element bei 
der Abwägung ist), sondern wir haben alle Glieder, hoch und 
nieder, mit einander zu vergleichen. In alter Zeit wimmelte es 
von  vollkommensten sowohl als unvollkommensten Weich- 
thieren, von Cephalopoden und Brachiopoden nämlich; während 
heutzutage diese beiden “Ordnungen sehr zurückgegangen und 
die zwischen ihnen in der Mitte stehenden Klassen mächlig an- 


344 


gewachsen sind. Demgemäss haben einige Naturforscher ge- 
schlossen, dass die Mollusken vordem höher entwickelt gewesen 
sind als jetzt; während andre sich auf die gegenwärtige be- 
trächtliche Verminderung der unvollkommensten Mollusken um so 
mehr beriefen, als auch die noch vorhandenen Cephalopoden, 
obgleich weniger an Zahl, doch höher als ihre alten Stellvertreter 
organisirt seyen. Wir müssen daher die Proportional-Zahlen der 
obren und der unteren Klassen der Bevölkerung der Erde in 
zwei verschiedenen Perioden mit einander vergleichen. Wenn 
es z. B. jetzt 50000 Arten Wirbelthiere gäbe und wir dürften 
deren Anzahl in irgend einer früheren Periode nur auf 10000 
schätzen, so müssten wir diese Zunahme der obersten Klassen, 
welche zugleich eine grosse Verdrängung tieferer Formen aus 
ihrer Stelle bedingte, als einen entschiedenen Fortschritt in der 
organischen Bildung betrachten, gleichviel ob es die höheren 
oder die tieferen Wirbelthiere wären, welche dabei sehr zuge- 
nommen hätten“. Man ersieht hieraus, wie gering allem An- 
scheine nach die Hoffnung ist. unter so äusserst verwickelten 
Beziehungen jemals in vollkommen richtiger Weise die relative 
Organisations-Stufe unvollkommen bekannter Faunen nach-einan- 
der folgender Perioden in der Erd-Geschichte zu beurtheilen. 
Von einem andern wichtigen Gesichtspunkte aus werden 
wir diese Schwierigkeit um so richtiger würdigen, wenn wir 
gewisse jetzt vorhandene Faunen und Floren ins Auge fassen. 
Nach der ganz aussergewöhnlichen Art zu schliessen, wie sich | 
in neuerer Zeit aus Europa eingeführte Erzeugnisse über Neu- 
seeland verbreitet und Plätze eingenommen haben, welche doch 
schon vorher besetzt gewesen, würde sich wohl, wenn man 
alle Pflanzen und Thiere Grossbritaniens ‚dort frei aussetzte, eine 
Menge Britischer Formen mit der Zeit vollständig daselbst natura- _ 
lisiren und viele der eingebornen vertilgen. Dagegen dürfte 
Das, was wir jetzt in Neuseeland sich zutragen sehen, und 
die Thatsache, dass noch kaum ein Bewohner der südlichen 


thiere gegeben hätte, und gäbe jetzt deren nur 5000 mit 1000 Säugthier- 
Arten; diess organische Leben wäre dennoch höher gestiegen! D. Übs. 


345 


Hemisphäre in irgend einem Theile Europa's verwildert ist, uns 
zu zweifeln veranlassen, ob, wenn alle Natur-Erzeugnisse Neu- 
seelands in Grossbritannien frei ausgesetzt würden, eine etwas 
grössre Anzahl derselben vermögend wäre, sich jetzt von einge- 
borenen Pflanzen und Thieren schon besetzte Stellen zu erobern. 
Von diesem Gesichtspunkte aus kann man sagen, dass die Pro- 
dukte Grossbritanniens höher als die Neuseeländischen stehen. 
Und doch hätte der tüchtigste Naturforscher nach der sorglältig- 
sten Untersuchung der Arten beider Gegenden dieses Resultat 
nicht voraussehen können. | 

Acassız hebt hervor, dass die alten Thiere in gewissen 
Beziehungen den Embryonen neuer Thiere derselben Klasse 
gleichen, oder dass die geologische Aufeinanderfolge erloschener 
Formen gewissermaassen der embryonischen Entwickelung neuer 
Formen parallel läuft. Ich muss jedoch Pıcrers und Huxıey’s 
Meinung beipflichten, dass diese Lehre von Ferne nicht erwiesen 
ist. Doch bin ich ganz der Erwartung, sie sich später wenigstens 
hinsichtlich solcher untergeordneter Gruppen bestätigen zu sehen, 
die sich erst in neuerer Zeit von einander abgezweigt haben. 
Denn diese Lehre von Asassız stimmt wohl mit der Theorie der 
Natürlichen Züchtung überein. In einem spätern Kapitel werde 
ich zu zeigen versuchen, dass die Alten von ihren Embryonen 
in Folge von Abänderungen abweichen, welche nicht in der 
frühesten Jugend erfolgen und auch‘ erst auf ein entsprechendes 
späteres Alter vererbt werden. Während dieser Prozess den 
Embryo fast unverändert lässt, häuft er im Laufe aufeinander- 
folgender Generationen immer mehr Verschiedenheit im Alten 
zusammen. 

So erscheint der Embryo gleichsam wie ein von der Natur 
aufbewahrtes Portrait des frühern und noch nicht sehr modifizirten 
Zustandes eines jeden Thieres. Diese Ansicht mag wahr seyn, 
ist jedoch nie eines vollkommenen Beweises fähig. Denn fänden 
wir auch, dass z. B. die ältesten bekannten Formen der Säug- 
thiere, der Reptilien und der Fische zwar genau diesen Klassen 
entsprächen, aber doch einander etwas näher stünden als die 
jetzigen typischen Vertreter dieser Klassen, so würden wir uns 


346 


doch so lange vergebens nach. Thieren umsehen, welche noch 
den gemeinsamen Embryo-Charakter der Vertebraten an sich 
trügen, als wir nicht Fossilien-führende Schichten noch tief unter 
den silurischen entdeckten, wozu in der That sehr wenig Aus- 
sicht vorhanden ist. 

Aufeinanderfolge derselben Typeninnerhalhb 
gleicher Gebiete während der späteren Tertiär- 
Perioden.) Curr hat vor vielen Jahren gezeigt, dass die 
fossilen Säugthiere aus den Knochen-Höhlen Neuhollands sehr 
nahe mit den noch jetzt dort lebenden Beutelthieren verwandt 
gewesen sind. In Süd-Amerika hat sich eine ähnliche Beziehung 
selbst für das ungeübte Auge ergeben in den Armadill-ähnlichen 
Panzer-Stücken von riesiger Grösse, welche in verschiedenen 
Theilen von la Plata gefunden worden sind; und Professor Owen 
hat aufs Triftigste bewiesen, dass die meisten der dort so zahl- 
reich fossil gefundenen Thiere Südamerikanischen Typen ange- 
hören. Diese Beziehung ist noch deutlicher in den wundervollen 
Sammlungen fossiler Knochen zu erkennen, welche Lunp und 
Cıavusen aus den Brasilischen Höhlen mitgebracht haben. Diese 
Thatsachen machten einen solchen Eindruck auf mich, dass ich 
in den Jahren 1839 und 1845 dieses »Gesetz der Succession 
gleicher Typen«, diese »wunderbare Beziehung zwischen dem 
Todten und Lebenden in einerlei Kontinent« sehr Nachdrücklich 
hervorhob. Professor Owen hat später dieselbe Verallgemeinerung 
auch auf die Säugthiere der alien Welt ausgedehnt. Wir finden 
dasselbe Gesetz wieder in den von ihm restaurirten Riesenvögeln 
Neuseelands. Wir sehen es auch in den Vögeln der Brasilischen 
Höhlen. Woopwarn hat gezeigt, dass dasselbe Gesetz auch auf 
die See-Konchylien anwendbar ist, obwohl er es der weiten 
Verbreitung der meisten Mollusken-Sippen wegen nicht gut eni- 
wickelt hat. Es liessen sich noch andre Beispiele anführen, wie 
die Beziehungen zwischen den erloschenen und lebenden Land- 
Schnecken auf Madeira und zwischen den alten und jetzigen 
Brackwasser-Konchylien des Aral-Kaspischen Meeres. | 

Doch, was bedeutet dieses merkwürdige Gesetz der Aul- 
einanderfolge gleicher Typen in gleichen Länder - Gebieten? 


347 


Vergleicht man das jetzige Klima Neuhollands und der unter 
gleicher Breite damit gelegenen "Theile Süd- Amerika’s mit einan- 
der, so würde es als ein thörichtes Unternehmen erscheinen, 
einerseits aus der Unähnlichkeit der natürlichen Bedingungen die 
Unähnlichkeit der Bewohner dieser zwei Kontinente und ander- 
seits aus der Ähnlichkeit der Verhältnisse das Gleichbleiben der 
Typen in jedem derselben während der späteren Tertiär-Perioden 
erklären zu wollen. Auch lässt sich nicht behaupten, dass einem 
unveränderlichen Gesetze zufolge Beutelthiere hauptsächlich oder 
allein nur in Neuholland, oder ‘Edentaten u. a. der jetzigen 
Amerikanischen Typen nur in Amerika hervorgebracht werten 
können. Denn es ist bekannt, dass Europa in alten Zeiten von 
zahlreichen Beutelthieren bevölkert war, und ich habe in .den 
oben angeführten Schriften gezeigt, dass in Amerika das Ver- 
breitungs- Gesetz für die Land-Säugthiere früher ein andres ge- 
wesen, als es jetzt ist. Nord-Amerika betheiligte sich früher 
sehr an dem jetzigen Charakter der südlichen Hälfte des Kon- 
tinentes, und die südliche Hälfte war früher mehr als jetzt mit 
der nördlichen verwandt. Durch Farcoxner und Caurıeys Ent- 
deckungen wissen wir, dass Nord-Indien hinsichtlich seiner 
Säugthiere früher in näherer Beziehung als jetzt mit Afrika stund. 
Analoge Thatsachen liessen sich auch von der Verbreitnng der 
See-Thiere mittheilen. 

Nach der Theorie gemeinsamer Abstammung mit fortschrei- 
tender Abänderung erklärt sich das grosse Gesetz langwährender 
aber nicht unveränderlicher Aufeinanderfolge gleicher Typen auf 
einem und demselben Felde unmittelbar. Denn die Bewohner 
eines jeden Theiles der Welt werden offenbar streben in diesem 
Theile während der nächsten Zeit-Periode nahe verwandte, doch 
etwas abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen. Sind die Bewoh- 
ner eines Kontinents früher von denen eines andern Festlandes sehr 
verschieden gewesen, so werden ihre abgeänderten Nachkommen 
auch jetzt noch.in fast gleicher Art und Stufe von einander ab- 
weichen. Aber nach sehr langen Zeiträumen und sehr grosse 
Wechselwanderungen gestattenden geographischen Veränderungen 
werden die schwächeren den herrschenden Formen weichen, und 


348 


so ist nichts unveränderlich in Verbreitungs - Gesetzen früherer 
und jetziger Zeit. u 
Vielleicht fragt man mich im Spott, ob ich glaube, dass das 
Megatherium und die andern ihm verwandten Ungethüme in Süd. 
Amerika das Faulthier, das Armadil und die Ameisenfresser als 
abgeänderte Nachkommen hinterlassen haben. Diess kann man 
keinen Augenblick zugeben. Jene grossen Thiere sind völlig 
erloschen, ohne eine Nachkommenschaft zu hinterlassen. Aber 
in den Höhlen Brasiliens sind viele ausgestorbene Arten, in 
Grösse u. a. Merkmalen nahe verwandt mit den noch’ jetzt in 
Süd-Amerika lebenden Spezies, und einige der fossilen mögen 
wirklich die Erzeuger noch jetzt dort lebender Arten seyn. Man 
darf nicht vergessen, dass nach meiner Theorie alle Arten einer 
Sippe von einer und der nämlichen Spezies abstammen, so dass, 
wenn von sechs Sippen jede acht Arten in einerlei geologischer 
Formation enthält und in der nächst-folgenden Formation wieder 
sechs andre verwandte oder stellvertretende Sippen mit gleicher 
Arten-Zahl vorkommen, wir dann schliessen dürfen, dass nur 
eine Art von jeder der sechs älteren Sippen' modifizirte Nach- 
kommen hinterlassen habe, welche die sechs neueren Sippen 
bildeten. Die andren sieben Arten der alten Genera sind alle 
ausgestorben, ohne Erben zu hinterlassen. Doch möchte es wohl 
weit öfter vorkommen, dass zwei oder drei Arten von nur zwei 
oder drei der alten Sippen die Ältern der sechs neuen Genera 
gewesen und die andern alten Arten und sämmtliche übrigen 
alten Sippen gänzlich erloschen sind. In untergehenden Ord- 
nungen mit abnehmender Sippen- und Arten-Zahl, wie es offen- 
bar die Edentaten Süd-Amerika’s sind, werden weniger Genera und 
Spezies abgeänderte Nachkommen in gerader Linie hinterlassen. 
Zusammenstellung des vorigen und jetzigen 
Kapitels.) Ich habe zu zeigen gesucht, dass die geologische 
Schöpfungs-Urkunde äusserst unvollkommen ist; dass erst nur 
ein kleiner Theil der Erd-Oberfläche sorgfältig untersucht worden 
ist; dass nur gewisse Klassen organischer Wesen zahlreich in 
fossilem Zustande erhalten sind; dass die Anzahl der in unsren 
Museen aufbewahrten Individuen und Arten gar nichts bedeutet 


349 


im Vergleiche mit der unberechenbaren Zahl von Generationen, 
die nur während einer Formations-Zeit aufeinander-gefolgt seyn 
müssen; dass ungeheure Zeiträume zwischen je zwei aufeinander- 
folgenden Generationen verflossen seyn müssen, weil Fossilien- 
führende Formationen hinreichend mächtig, um künftiger Zerstö- 
rung zu widerstehen, sich nur während Senkungs-Perioden ab- 
lagern können; dass mithin wahrscheinlich während der Sen- 
kungs-Zeiten mehr Aussterben und während der Hebungs-Zeiten 
mehr Abändern organischer Formen stattgefunden hat; dass 
der Schöpfungs-Bericht aus diesen letzten Perioden am unvoll- 
kommensten erhalten ist; dass jede einzelne Formation nicht in 
ununterbrochnem Zusammenhang abgelagert worden; dass die 
Dauer jeder Formation vielleicht kurz ist im Vergleiche zur mit- 
teln Dauer der Arten-Formen ; dass Einwanderungen einen grossen 
Antheil am ersten Auftreten neuer Formen in der Formation einer 
Gegend gehabt haben; dass die am weitesten verbreiteten Arten 
auch am meisten varürt und am öftesten Veranlassung zur Ent- 
stehung Muer Arten gegeben haben; und dass Varietäten an- 
fangs oft nur örtlich gewesen sind. Alle diese Ursachen zusammen- 
genommen müssen die geologische Urkunde äusserst unvollständig 
machen und können es grossentheils erklären, warum wir keine 
endlosen Varietäten-Reihen die erloschenen und lebenden Formen 
in den feinsten Abstufungen miteinander verketten sehen. 

Wer diese Ansichten von der Beschatfenheit des geologi- 
schen Berichtes verwerfen will, muss auch meine ganze Theorie 
verwerfen. Denn vergebens wird er dann fragen, wo die zahl- 
losen Übergangs-Glieder geblieben, welche die nächst verwandten 
oder stellvertretenden Arten einst mit einander verketiet haben 
müssen, die man in den verschiedenen Stöcken einer grossen 
Formation übereinander findet Er wird nicht an die unermess- 
lichen Zwischenzeiten glauben, welche zwischen unseren aufein- 
ander-folgenden Formationen verflossen sind; er wird übersehen, 
welchen wesentlichen Antheil die Wanderungen seit dem ersten 
Erscheinen der Organismen in den Formationen einer groS- 
sen Weltgegend wie Europa für sich allein betrachtet gehabt 
haben; er wird sich auf das anscheinend, aber oft nur an- 


350 


scheinend, plötzliche Auftreten ganzer Arten- Gruppen berufen. 
Wenn er a sollte, wo denn die Reste jener unendlich zahl- 
reichen Organismen geblieben, welche lange vor der Bildung der 
ältesten Silur-Schichten abgelagert worden seyn müssen, so kann 
ich nur hypothetisch darauf antworten, dass, so viel noch z 
sehen, unsre Ozeane sich schon seit unermesslichen wen, 
an ihren jetzigen Stellen befunden haben, und dass da, wo unsre 
Kontinente jetzt stehen, sie sicher seit der Silur-Zeit gestanden 
sind; dass aber die Erd-Oberfläche lange vor dieser Periode ein 
ganz andres Aussehen gehabt haben dürfte, und dass die alten 
Kontinente aus Formationen noch viel älter als die silurische be- 
stehend sich bereits alle in metamorphischem Zustande befinden 
oder tief unter den Ozean versenkt liegen. 

Doch sehen wir von diesen Schwierigkeiten ab, so Bea 
mir alle andern grossen und leitenden Thatsachen in der Paläon- 
tologie einfach aus der Theorie der Abstammung von gemein- 
samen Urältern mit fortschreitender Abänderung durch Natürliche 
Züchtung zu folgen. Es erklärt sich daraus, warum tue Arten 
‚nur langsam nach einander auftreten; warum Arten verschiede- 
ner Klassen nicht nothwendig in gleichem Verhältnisse oder glei- 
chem Grade miteinander wechseln, sondern alle nur im Verlauf 
langer Perioden Veränderungen unterliegen. Das Erlöschen alter 
Formen ist die unvermeidlichste Folge vom Entstehen neuer. 
Es erklärt sich warum eine Spezies, wenn einmal verschwunden, 
nie wieder erscheint. Arten-Gruppen (Sippen u. s. w.) wachsen 
nur langsam an Zahl und dauern ungleich lange Perioden aus; 
denn der Prozess der Abänderung ist nothwendig ein langsamer 
und von vielerlei verwickelten Zufällen abhängig, Die herrschen- 


den Arten der grösseren herrschenden Gruppen streben viele 


abgeänderte Nachkommen zu hinterlassen, und so werden wie- 
der neue Untergruppen und Gruppen gebildet. Im Verhältnisse 
als diese entstehen, neigen sich die Arten minder kräftiger 
Gruppen in Folge ihrer gemeinsam ererbten Unvollkommenheit 
dem gemeinsamen Erlöschen zu, ohne irgendwo auf der Erd- 
Oberfläche eine abgeänderte Nachkommenschaft zu hinterlassen. 
Aber das gänzliche Erlöschen einer ganzen Arten-Gruppe mag 


351 


oft ein sehr langsamer Prozess seyn, wenn einzelne Arten in ge- 
schützten oder abgeschlossenen Standorten kümmernd noch eine 
Zeit lang fortleben können. Ist eine Gruppe einmal unterge- 
gangen, so kann ‚sie nie wieder erscheinen, weil ein Glied aus 
der Generationen-Reihe zerbrochen ist. 

So ist es begreiflich, dass die Ausbreitung herrschender 
Lebenformen, welche eben am öftesten variiren, mit der Länge 
der Zeit die Erde mit nahe verwandten jedoch modifizirten For- 
men bevölkern, denen es sodann gewöhnlich gelingt die Plätze 
jener Arten-Gruppen einzunehmen, welche ihnen im Kampfe ums 
Daseyn unterliegen. Daher wird es denn nach langen Zwischenzei- 
ten aussehen, als hätten die Bewohner der Erd-Oberfläche überall 
glefth-zeitig gewechselt. | 

S® ist es ferner begreiflich, woher es kommt, dass die 
alten und neuen Lebenformen ein.grosses System mit einander 
bilden, da sie alle durch Zeugung* mit einander verbunden sind. 
Es ist aus der fortgesetzien Neigung zur Divergenz des Charak- 
ters begreiflich, warum die fossilen Formen um so mehr von den 
jetzt lebenden abweichen, je älter sie sind; warum alte und er- 
loschene Formen olt md zwischen lebenden auszufüllen ge- 
eignet sind und zuweileı ei Gruppen mit einander vereinigen, 
welche zuvor getrennt aufgestellt worden, obwohl sie solche in 
der Regel nur etwas näher einander rücken. Je älter eine Form 
ist, um so öfter scheint sie Charaktere zu entwickeln, welche 
zwischen jetzt getrennten Gruppen mehr und weniger das Mittel 
halten; denn je „älter feine Form ist, desto naher verwandt und 
mithin ähnlj sie dem» gemeinsamen Stamm-Vater solcher 
Gruppen N 


»weit auseinander gegangen sind. 
‘selten genau das Mittel zwischen le- 
deren Mitte nur in Folge einer weit- 


Erloschene 
benden, sondem st 
läufigen Verketti a viele erloschene und abweichende 
Formen. Wir ersel eutlich , warum die organischen Reste 
dicht aufeinander-folgend ee einander ähnlicher als 
die weit von einander entferhter seyn müssen; denn jene For- 
men stehen in’ näherer Bluts Verwandtschalt als diese mit ein- 


ander. Wir vermögen endlich einzusehen, warum die organi- 


352 
schen Reste mittler Formationen auch das Mittel in ihren Cha- 
rakteren halten. 

Die Erd-Bewohner einer jeden späteren Periode haben die 
[rüheren im Kampfe um’s Daseyn besiegt und müssen insoferne 
auf einer höheren Vollkommenheits -Stufe als diese stehen, und 
es mag sich aus dem unbestimmten und missdeuteten Gefühl 
davon erklären, dass viele Paläontologen an einen Fortschritt der 
Organisation im Ganzen glauben. Sollte sich Später ergeben, 
dass alte Thier-Formen in gewissem Grade den Embryonen 
neuer aus der nämlichen Klasse gleichen, so würde auch Diess 
zu begreifen seyn. Die Aufeinanderfolge gleicher Organisations- 
Typen auf gleichem Gebiete während der letzten geologischen 
Perioden hört auf geheimnissvoll zu seyn und ist eine ginfche 
Folge der Vererbung. | 

Wenn daher die geologische Schöpfungs-Urkunde so unvoll- 
ständig ist, als ich es glaube (und es lässt sich wenigstens 
behaupten, dass das Gegentheil nicht erweisbar), so werden sich 
die Haupteinwände gegen die Theorie der Natürlichen Züchtung 
in hohem Grade vermindern oder gänzlich verschwinden. Dage- 
gen scheinen mir die Haupt-Gesetz r Paläontologie deutlich 
zu beweisen, dass die Arten durch *gewöhnliche Zeugung ent- 
standen sind. Frühere Lebenformen sind durch die noch fort- 
während um uns her thätigen Variations - Gesetze entstandene 
_ und-durch Natürliche Züchtung erhaltene vollkommenere Formen 
ersetzt worden. 


353 


Bilftes Kapitel. 
Geographische Verbreitung. 


/Die gegenwärtige Verbreitung der Organismen lässt sich nicht aus den na- 
türlichen Lebens-Bedingungen erklären. — “Wichtigkeit der Verbrei- 
tungs - Schranken. — Verwandtschaft der Erzeugnisse eines nämlichen 
Kontinentes. — Schöpfungs-Mittelpunkte. — Ursachen der Verbreitung sind 
Wechsel des Klimas, Schwankungen der Boden-Höhe und mitunter zu- 
fällige. —© Die Zerstreuung während der Eis- Periode über die ganze 
Erd-Oberfläche erstreckt. 


/ Bei Betrachtung der Verbreitungs- Weise der organischen 
Wesen über die Erd-Oberfläche besteht die erste wichtige That- 
sache, welche uns in die Augen fällt, darin, dass weder die Ähn- 
lichkeit noch die Unähnlichkeit der Bewohner verschiedener 
Gegenden aus klimatischen u. a. physikalischen Bedingungen 
erklärbar ist. Alle, welche diesen Gegenstand studirt haben, sind 
endlich zu dem nämlichen Ergebniss gelangt. Das Beispiel Ame- 
rikas würde schon allein genügen, Diess zu beweissen. Denn 
alle Autoren stimmen darin überein, dass, mit Ausschluss des 
nördlichen um den Pol her ziemlich zusammenhängenden Thei- 
les, die Trennung der alten von der neuen Welt eine der 
ersten Grundlagen der geographischen Vertheilung der Orga- 
nismen bilde. Wenn wir aber den weiten Amerikanischen Kon- 
tinent von den mitteln Theilen der Vereinten Staaten an bis zu 
seinem südlichsten Punkte durchwandern, so begegnen wir den 
aller-verschiedenartigsten Lebens-Bedingungen, den feuchtesten 
Strichen und den trockensten Wüsten, hohen Gebirgen und gra- 
sigen Ebenen, Wäldern und Marschen, Seen und Strömen mit 
fast jeder Temperatur. Es gibt kaum ein Klima oder eine Be- 
dingung in der alten Welt, wozu sich nicht eine Parallele in 
der neuen fände, so ähnlich wenigstens, als Diess zum Fort- 
kommen der nämlichen Arten erforderlich wäre; denn es ist ein 
äusserst seltener Fall, irgend eine Organismen-Gruppe auf einen 
kleinen Fleck mit etwas eigenthümlichen Lebens-Bedingungen 
beschränkt zu finden. So z. B, gibt es in der alten Welt 
wohl einige kleine Stellen, heisser als irgend welche in der 
neuen, und doch haben diese keine eigenthümliche Fauna oder 

23 


34 
Flora. Aber ungeachtet dieses Parallelismus in den Lebens-Be- 
dingungen der alten und der neuen Welt, wie weit sind ihre 
lebenden Bewohner verschieden! 

Wenn wir in der südlichen Halbkugel grosse Landstriche 
in Australien, Süd-Afrika und West-Südamerika zwischen 
25°--35° S. Br. mit einander vergleichen, so werden wir manche 
in allen ihren natürlichen Verhältnissen einander äusserst ähn- 
liche Theile finden, und doch würde es nicht möglich seyn, drei 
einander unähnlichere Faunen und Floren ausfindig zu machen. 
Oder wenn wir die Natur-Produkte Süd-Amerikas im Süden vom 
350 Br. und im Norden vom 25° Br. mit einander vergleichen, 
die mithin ein sehr verschiedenes Klima bewohnen, so zeigen 
sich dieselben einander weit näher verwandt, als die in Ausira- 
lien und Afrika in fast einerlei Klima lebenden sind. Und ana- 
loge Thatsachen lassen sich auch in Bezug auf die Meeres- 
Thiere nachweisen. 

2 Als zweite allgemeine Thatsache fällt uns aul, dass Schran- 
ken verschiedener Art oder Hindernisse freier Wanderung mit 
den Verschiedenheiten zwischen ‘Bevölkerungen verschiedener 
Gegenden in engem und wesentlichem Zusammenhange stehen. 
So die grosse Verschiedenheit fast aller Land-Bewohner der 
alten und der neuen Welt mit Ausnahme der nördlichen Theile, 
wo sich beide nahezu berühren und vordem bei einem nur We- 
nig abweichenden Klima die Wanderungen der Bewohner der 
nördlich-gemässigten Zone in ähnlicher Weise möglich gewesen 
seyn dürften, wie sie noch jetzt von Seiten der arktischen Be- 
völkerung stattfinden. Wir erkennen dieselbe Thatsache in der 


{ grossen Verschiedenheit zwischen den Bewohnern von Australien, 


Afrika und Süd-Amerika wieder; denn diese Gegenden sind fast 
so vollständig von einander geschieden, als es nur immer mög- 
lich ist. Auch auf jedem Festlande sehen wir die nämliche Er- 
scheinung; denn auf den entgegengesetzten Seiten hoher und 
zusammenhängender Gebirgs-Ketten, grosser Wüsten und mitunter 
sogar nur grosser Ströme finden wir verschiedene Erzeugnisse. 
Da jedoch Gebirgs-Ketten, Wüsten u. S. W. nicht ganz unüber- 
schreitbar sind oder noch nicht so lange als die zwischen deu 


355 


Festländern gelegenen Weltmeere bestehen, so sind diese Ver- 
schiedenheiten dem Grade nach viel kleiner als die in verschie- 
denen Kontinenten. 

Wenden wir uns nach dem Meere, so finden wir das nämliche 
Gesetz. Keine andern zwei Meeres-Faunen sind so verschieden von 
einander als die an den östlichen und den westlichen Küsten Säd- 
und Mittel- Amerikas. Da ist fast kein Fisch, keine Schnecke, kein 
Krabbe gemeinsam. Und doch sind diese grossen Faunen nur 
durch die schmale Landenge von Panama von einander getrennt. 
Westwärts von den Amerikanischen Gestaden erstreckt sich ein 
weiter und offener Ozean mit nicht einer Insel zum Ruheplatz 
für Auswanderer ; hier haben wir eine Schranke andrer Art, und 
sobald diese überschritten ist, treffen wir auf den östlichen In- 
seln des stillen Meeres auf eine neue und ganz verschiedene 
Fauna. Es erstrecken sich also drei Meeres-Faunen nicht weit 
von einander in parallelen Linien weit nach Norden und Süden in 
sich entsprechenden Klimaten. Da sie aber durch unübersteigliche 
Schranken von Land oder offenem Meer von einander getrennt 
sind, so bleiben sie völlig von einander verschieden. Gehen wir 
aber von den östlichen Inseln im tropischen Theile des stillen 
Meeres noch weiter nach Westen, so finden wir keine unüber- 
schreitbaren Schranken mehr; unzählige Inseln oder zusammen- 
hängende Küsten bieten sich als Ruheplätze dar, bis wir nach 
Umwanderung einer Hemisphäre zu den Küsten Afrikas gelangen; 
aber in diese weiten Flächen theilen sich keine wohl-charakteri- 
sirten verschiedenen Meeres-Fauien mehr. Obwohl kaum eine 
Schnecke, ein Krabbe oder ein Fisch jenen drei Faunen an der 
Ost- und der West-Küste Amerikas und im östlichen Theile des 
stillen Ozeans gemeinsam ist, so reichen doch viele Fisch-Arten 
vom stillen bis zum Indischen Ozean und sind viele Weichthiere 
den östlichen Inseln der Südsee. und den östlichen Küsten 
Afrikas unter sich fast genau entgegenstehenden Meridianen 
gemein. 

3 Eine dritte grosse Thatsache, schon zum Theil in den vori- 
gen mitbegriffen, ist die Verwandtschaft zwischen den Erzeug- 
nissen eines nämlichen Festlandes oder Weltmeeres, obwohl die 


92% 
IB) 


356 


Arten verschiedener Theile und Standorte desselben verschieden 
sind. Es ist Diess ein Gesetz von der grössten Allgemeinheit, 
und jeder Kontinent bietet unzählige Belege dafür. Demunge. 
achtet fühlt sich der Naturforscher auf seinem Wege von Norden 
nach Süden unfehlbar betroffen von. der Art und Weise wie 
Gruppen von Organismen der Reihe nach einander ersetzen, 
die in den Arten verschieden aber offenbar verwandt sind. Er 
hört von nahe verwandten aber doch verschiedenen Vögeln ähn- 
liche Gesänge, sieht ihre ähnlich gebauten Nester mit ähnlich 
gefärbten Eiern. Die Ebenen der Magellans-Strasse sind von 
einem Nandu (Rhea Americana) bewohnt, und im Norden der 
Laplata-Ebene wohnt eine andre Art derselben Sippe, doch 
kein ächter Strauss (Struthio) oder Emu (Dromaius), welche in 
Afrika und beziehungsweise in Neuholland unter gleichen Brei- 
ten vorkommen. In denselben Laplata-Ebenen finden wir das 
„Aguti (Dasyprocta) und die Hasenmaus (Lagostomus), zwei Nage- 
thiere von der Lebensweise unsrer Hasen und Kaninchen und 
mit ihnen in gleiche Ordnung gehörig, aber einen rein Amerika- 
nischen Organisations-Typus bildend. Steigen wir zu dem Hoch- 
Gebirge der Cordilleren :hinan, so treffen wir die Berg-Hasen- 
maus (Lagidium); sehen wir uns am Wasser um, so finden wir 
zwei andre Südamerikanische” Typen, den Coypu (Myopotamus) 
und Capybara (Hydrochoerus) statt des Bibers und der Bisam- 
ratte. So liessen sich zahllose andre Beispiele anführen. Wie 
sehr auch die Inseln an den Amerikanischen Küsten in ihrem 
geologischen Bau abweichen mögen, ihre Bewohner sind wesent- 
lich Amerikanisch, wenn auch von eigenthüinlichen Arten. Schauen 
wir zurück nach nächst-früheren Zeit-Perioden, wie sie im leiz- 
ten Kapitel erörtert worden, so finden wir auch da noch Ameri- 
kanische Typen vorherrschend auf dem Amerikanischen Festlande 
wie in Amerikanischen Meeren. Wir erkennen in diesen That- 
sachen ein tief-liegendes organisches Band, in Zeit und Raum 
vorherrschend über gegebene Land- und Wasser-Flächen, unab- 
hängig von ihrer natürlichen Beschaffenheit. Der Naturforscher 
ınüsste nicht sehr wissbegierig seyn, der sich nicht versucht 
fühlte, näher nach diesem Bande zu forschen. 


357 


Diess Band besteht nach meiner Theorie lediglich in der 
Vererbung, derjenigen Ursache, welche allein, soweit wir Siche- 
res wissen, gleiche oder ähnliche Organismen, wie die Varietäten 
‚sind, ‘hervorbringt. Die Unähnlichkeit der Bewohner verschie- 
dener Gegenden wird der Umgestaltung durch Natürliche Züch- 
tung und, in einem ganz untergeordneten Grade, dem unmittel- 
baren Einflusse äussrer Lebens-Bedingungen zuzuschreiben seyn. 
Der Grad der Unähnlichkeit hängt davon ab, ob die Wanderung 
der herrschenderen Lebenformen aus der einen Gegend in die 
andre rascher oder langsamer in spätrer oder früherer Zeit vor 
sich gegangen; er hängt von der Natur und Zahl der früheren 


Einwanderer, von deren Wirkung und Rückwirkung im gegen- 
seitigen Kampfe. ums Daseyn ab, indem, wie ich schon oft be- 
merkt habe, die Beziehung von Organismus zu Organismus die 
wichtigste aller Beziehungen ist. Bei den Wanderungen kommen 
die oben erwähnten Schranken wesentlich in Betracht, wie die 
Zeit bei dem langsamen Prozess der Natürlichen Züchtung. Weit- 
verbreitete und an Individuen reiche Arten, welche schon über 
viele Mitbewerber in ihrer eignen ausgedehnten Heimath gesiegt, 
werden beim Vordringen in neuen Gegenden die beste Aussicht 
haben neue Plätze zu gewinnen. Unter den neuen Lebens-Be- 
dingungen ihrer späteren Heimath werden sie häufig neue Abände- 
rungen und Verbesserungen erfahren; sie werden den andern 
noch überlegener werden und Gruppen abändernder Nachkommen 
erzeugen. Aus diesem Prinzip fortschreitender Vererbung mit 
Abänderung ergibt sich, wie es zugeht, dass Untersippen, Sippen 
und selbst ganze Familien, wie es so gewohnter und anerkann- 
ter Maassen der Fall, auf gewisse Flächen beschränkt erscheinen. 

Wie schon im letzten Kapitel bemerkt worden, so glaube 
ich an kein Gesetz nothwendiger Vervollkommnung; so wie die 
Veränderlichkeit der Arten. eine unabhängige Eigenschaft ist und 
von der Natürlichen Züchtung nur so weit ausgebeutet wird, als 
es den Individuen in ihrem vielseitigen Kampfe ums Daseyn. 
zum Vortheile gereicht, so besteht auch für die Modifikation der 
verschiedenen Spezies kein gleiches Maass. Wenn z. B. eine 
Anzahl von Arten, die miteinander in unmittelbarer Mitbewerbung 


358 


stehen, in Masse nach einer neuen und‘ nachher- isolirten 
Gegend auswandern, so werden sie wenig Modifikation erfahren, 
indem weder die Wanderung noch die Isolirung an sich elwas 
dabei thun. Jene Prinzipien kommen hauptsächlich ‘nur in Be- 
tracht, wenn man Organismen in neue Beziehungen unter ein- 
ander, weniger wenn man sie in Berührung mit neuen Lebens- 
Bedingungen bringt. Wie wir im letzten Kapitel gesehen, dass 
einige Formen ihren Charakter seit ungeheuer weit zurückgele- 
genen geologischen Perioden fast unverändert behauptet haben, 
so sind auch manche Arten über weite Räume gewandert, ohne 
grosse Veränderungen zu erleiden. 

Nach diesen Ansichten liegt es auf der Hand, dass verschie- 
dene Arten einer Sippe, wenn sie auch die entferntesten Theile 
der Welt bewohnen, doch ursprünglich aus gleicher Quelle ent- 
sprungen, vom nämlichen Stammvater entstanden seyn müssen, 
Was diese Arten betrifft, welche im Verlaufe ganzer geologischer 
Perioden sich nur wenig verändert haben, so hat. es keine 
Schwierigkeit anzunehmen, dass sie aus einerlei Gegend her- 
gewandert sind; denn während der grossen geographischen 
und klimatischen Veränderungen, welche seit alten Zeiten vor 
sich. gegangen, sind Wanderungen auf jede Entfernung möglich 
gewesen. In vielen andern Fällen aber, wo wir ‚Grund haben 
zu glauben, dass die Arten einer Sippe erst in vergleichungs- 
weise neuer Zeit entstanden sind, ist die Schwierigkeit weit 
grösser. Ebenso ist es einleuchtend, dass Individuen einer Arl, 
wenn sie jetzt auch weit auseinander und abgesondert gelegene 
Gegenden bewohnen, von einer Stelle ausgegangen seyn müssen, 


wo ihre Ältern zuerst erstanden sind; denn, so wie es im letzten 


Abschnitte erläutert worden, ist es unglaublich, dass spezifisch gleiche 
Individuen von verschiedenen Stamm-Arten abstammen können, 

; So wären wir denn bei der neuerlich oft von Naturforschern 
erörterten Frage angelangt, ob Arten je an einer oder an meh- 
ren Stellen der Erd-Oberfläche erzeugt worden seyen. Zweifels- 


ohne mag es da sehr viele Fälle geben, wo es äusserst schwer 
zu begreifen ist, wie die gleiche Art von einem Punkte aus 
nach den verschiedenen entfernten und abgesonderten Gegenden 


359 


gewandert seyn solle, wo sie nun gelunden wird. Demungeach- 
tet drängt sich die Vorstellung, dass jede Art nur von einem 
ursprünglichen Geburtsorte ausgegangen seyn müsse, durch ihre 
Einfachheit dem Geiste auf. Und wer sie verwirft, verwirft die 
vera causa, die gewöhnliche Zeugung mit nachfolgender Wande- 
rung, um zu einem Wunder seine Zuflucht zu nehmen. Es wird 
allgemein zugestanden, dass die von einer Art bewohnte Gegend 
in der Regel zusammenhängend ist; und wenn eine Pflanzen- 
oder Thier-Art zwei von einander so weit entfernte oder durch 
solche Schranken getrennte Punkte bewohnt, dass sie nicht 
leicht von einem zum andern gewandert seyn kann, so betrach- 
tet man Diess als etwas Merkwürdiges und Ausnahmsweises. 
Die Fähigkeit über Meer zu wandern. ist bei Land-Säugthieren 
vielleicht mehr als bei irgend einem andern organischen Wesen 
beschränkt; und wir finden damit übereinstimmend auch keinen 
unerklärbaren Fall, wo dieselbe Säugthier-Art sehr entlernie 
Punkte der Erde bewohnte. - Kein Geologe findet eine Schwierig- 
keit darin anzunehmen, dass Grossbritannien ehedem mil dem 
Europäischen Kontinente zusammengehangen sey und mithin die 
nämlichen Säugetbiere besessen habe. Wenn aber dieselbe Art 
an zwei entfernten Punkten der Welt erzeugt werden kann, 
warum finden wir nicht eine einzige Europa und Australien 
oder Süd-Amerika gemeinsam angehörige Säugethier-Art? Die 
Lebens-Bedingungen sind nahezu ‚die nämlichen, so dass eine 
Menge Europäischer Pflanzen und Thiere in Amerika und Austra- 
lien naturalisirt worden sind, und sogar einige der ureinheimi- 
schen Pflanzen-Arten sind genau dieselben an diesen zwei SO 
entfernten Punkten der nördlichen und der südlichen Hemisphäre! 
Die Antwort liegt, wie ich glaube, darin, dass Säaugtbiere nicht 
fähig sind die Wanderung zu machen, während einige Pflanzen mit 
ihren manchfaltigen Verbreitungs-Mitteln diesen weiten und unter- 
brochnen Zwischenraum zu überschreiten vermochten. Der mächtige 
Einfluss, welchen geographische Schranken aller Art auf die Ver- 
breitungs-Weise geübt, wird nur unter der Voraussetzung begreif- 
lich, dass weitaus der grösste Theil der Spezies nur auf einer 
Seite derselben erzeugt worden ist und Mittel zur Wanderung 


360 


nach der andern Seite nicht besessen hat. Einige wenige 
Familien, viele Unterfamilien, sehr viele Sippen und eine noch 
grössre Anzahl von Untersippen sind nur auf je eine einzelne 
Gegend beschränkt, und mehre Naturforscher haben die Bemer- 
kung gemacht, dass die meisten natürlichen Sippen, diejenigen 
nämlich, deren Arten alle am nächsten mit einander verwandt 
sind, örtlich oder auf eine Gegend angewiesen zu seyn pflegen. 
Was für eine wunderliche Anomalie würde es-nun seyn, wenn 
eine Stufe tiefer unten in der Reihe die Individuen einer Art 
sich geradezu entgegengesetzt verhielten und die Arten nicht 
örtlich, sondern in zwei oder mehr ganz verschiedenen Gegen- 
den erzeugt worden wären! 

Daher scheint mir, wie so vielen andern Naturforschern, 
die Ansicht die wahrscheinlichere zu seyn, dass jede Art nur in 
einer einzigen Gegend entstanden, aber nachher von da aus so 
weit gewandert seye, als Mittel und Subsistenz unter früheren 
und gegenwärtigen Bedingungen gestatteten. Es kommen un- 
zweifelhaft auch jetzt noch viele Fälle”vor, wo sich nicht erklären 
lässt, auf welche Weise diese oder jene Art von einer Stelle zur 
andern gelangt ist. Aber geographische und klimatische Verände- 
rungen, welche sich in den neuen geologischen Zeiten zuverlässig 
ereignet, müssen den früher bestandnen Zusammenhang der Ver- 
breitungs-Flächen vieler Arten unterbrochen haben. So gelangen 
wir zur Erwägung, ob diese Ausnahmen von der Ununterbrochen- 
heit der Verbreitungs-Bezirke so zahlreich und so gewich- 
tiger Natur sind, dass wir. die durch die vorangehenden Betrach- 
tungen wahrscheinlich gemachte Meinung, dass jede Art nur auf 
einem Felde entstanden und von da so weit als möglich gewan- 
dert seye, aufzugeben genöthigt werden? Es würde zum Verzwei- 
feln langweilig seyn, alle Ausnahms-Fälle aufzuzählen und zu er- 
örtern, wo eine und dieselbe Art jetzt an verschiedenen weit 
von einander entfernten Orten lebt; auch will ich keinen Augen- 
blick behaupten, für viele dieser Fälle eine genügende Erklärung 
wirklich geben zu können. Doch möchte ich nach einigen vorläufi- 
gen Bemerkungen die wichtigsten Klassen solcher "Thatsachen 
erörtern, wie insbesondere das Vorkommen von einerlei Art auf 


361 


den Spitzen weit von einander gelegener Bergketten, oder 
im arktischen und antarktischen Kreise zugleich; dann, zweitens 
(im folgenden. Kapitel) die weite Verbreitung der Süsswasser- 
Bewohner, und drittens, das Vorkommen von einerlei Landthier- 
Arten auf Festland und Inseln, welche durch Hunderte von Mei- 
len offnen Meeres von einander getrennt sind. Wenn das Vor- 
kommen von einer und der nämlichen Art an entfernten und 
vereinzelten Fundstätten der Erd-Oberfläche sich in vielen Fällen 
durch die Voraussetzung erklären lässt, dass diese Art von ihrer 
Geburts-Stätte aus dahin gewandert seye, dann scheint mir in An- 
betracht unsrer gänzlichen Unbekanntschaft mit den früheren geo- 
graphischen und klimatischen Veränderungen so wie mit manchen 
zufälligen Transport-Mitteln die Annalıme, dass Diess die allge- 
meine Regel gewesen seye, bei Weitem die richtigste zu seyn. 

Bei Erörterung dieses Gegenstandes werden wir Gelegen- 
heit haben noch einen andern für uns gleich-wichtigen Punkt in 
Betracht zu ziehen, ob nämlich die mancherlei verschiedenen 
Arten einer Sippe, welche meiner Theorie zufolge einen gemein- 
samen Stammvater hatten, von der Wohnstätte ihres Stammvaters 
ausgegangen seyn {und unterwegs sich etwa noch weiter ange- 
messen entwickelt haben) können. Kann gezeigt werden, dass 
eine Gegend, deren meisten Bewohner enge verwandt oder aus 
gleichen Sippen mit den Arten einer zweiten Gegend sind, in 
früherer Zeit wahrscheinlich einmal Einwanderer aus dieser letz- 
ten erhalten hat, so wird Diess zur Bestätigung meiner Theorie 
beitragen; denn wir begreifen dann aus dem Modifikations-Prin- 
zipe deutlich, warum die _ Bewohner der einen Gegend denen 
der andern verwandt sind, da sie aus ihr stammen. Eine vul- 
kanische Insel z. B., welche einige Hundert Meilen von einem Konti- 
nente entfent emporstiege, würde wahrscheinlich im Laufe der Zeit 
einige Kolonisten erhalten, deren Nachkommen, wenn auch etwas 
abändernd, doch ihre Verwandtschaft mit den Bewohnern. des 
Kontinents auf ihre Nachkommen vererben würden. Fälle dieser 
Art sind gewöhnlich und, wie wir nachher ersehen werden, 
nach der Theorie unabhängiger Schöpfung unerklärlich. Diese 
Ansicht über die Verwandtschaft der Arten einer Gegend zu 


362 


denen einer andern ist (wenn wir nun das Wort Varietät statt 
Art anwenden) nicht sehr von der durch Hrn. Warzace aufgestell- 
ten verschieden, wonach »jede Art entstanden ist in Zeit und 
„Raum zusammentreffend mit einer früher vorhandenen nahe 
„verwandten Art«. Ich weiss nun aus seiner Korrespondenz, 
dass er dieses »Zusammentreffen« der Generation mit Abänderung 
zuschreibt und dafür eine lange geologische Zeit-Periode zugesteht, 

Die vorangehenden Bemerkungen über ein- oder mehr- 
fältige Schöpfungs-Mittelpunkte führen nicht unmittelbar zu einer 
andern verwandten Frage, ob nämlich alle Individuen einer Art 
von einem einzigen Paare oder einem Hermaphroditen abstammen, 
oder ob, wie einige Autoren annehmen, von vielen gleichzeitig 
entstandenen Individuen einer Art? Bei solehen Organismen, 
welche sich niemals kreutzen (wenn dergleichen überhaupt exi- 
stiren), muss nach meiner Theorie die Art von einer Reihen- 
folge vervollkommneter Varietäten herrühren, die sich nie mit 
andern Individuen oder Varietäten gekreutzt, sondern einlach ein- 
ander ersetzt haben, so dass auf jeder der aufeinanderfolgenden 
Umänderungs- oder Verbesserungs - Stufen alle Individuen von 
einerlei Varietät auch von einerlei Stammvater herrühren müssen. 
In der Mehrzalıl der Fälle jedoch und namentlich bei allen Orga- 
nismen, welche sich zu jeder einzelnen Fortpflanzung paaren 
oder sich oft mit andern kreutzen, glaube ich, dass während des 
langsamen Modifikations-Prozesses die Individuen der Spezies bei 
der Kreutzung sich nahezu gleichförmig erhalten haben, so 
dass viele derselben sich gleichzeitig abänderten und der ganze 
Betrag der Abänderung auf jeder Stufe nicht von der Abstam- 
mung von einem gemeinsamen Stammvater herrührt. Um zu 
erläutern, was ich meine, will ich anführen, dass unsre Eng- 
lischen Rasse-Pferde nur wenig von den Pferden jeder andern 
Züchtung abweichen, aber ihre Verschiedenheit und Vollkommenheit 
nicht davon haben, dass sie von einem einzigen Paare abstammen, 
sondern dieselbe der während vieler Generationen angewendeten 
Sorgfalt bei Auswahl und Erziehung vieler Individuen verdanken. 

Ehe ich auf nähere Erörterung über diejenigen drei Klassen 
von Thatsachen eingehe, welche der 'Theorie von den »einzigen 


363 


Schöpfungs-Mittelpunkten« die meisten Schwierigkeiten darbieten, 
muss ich den Verbreitungs-Mitteln noch einige Worte widmen. 
'Verbreitungs-Mittel.) Sir Can. Lyeır u. a. Autoren 
haben diesen Gegenstand sehr angemessen erörtert. Ich kann 
hier nur einen kurzen Auszug von den wichtigsten Thatsachen 
liefern. Klima-Wechsel mag auf Wanderung der Organismen 
vom grössten Einflusse gewesen seyn. Eine Gegend mit ändern- 
dem Klima kann eine Hochstrasse der Auswanderung gewesen 
und jetzt ungangbar ‘seyn; ich muss daher diesen Gegenstand 
zunächst mit einigem Detail behandeln. Höhen-Wechsel des 
Landes kommt dabei wesentlich in Betracht. Eine schmale Land- 
enge trennt jetzt zwei Meeres-Faunen ; taucht sie unter oder ist 
sie früher untergetaucht, so werden beide Faunen zusammen- 
fliessen oder vordem untergeflossen seyn. Wo dagegen sich jetzt 
die See ausbreitet, da mag vormals trocknes Land Inseln oder 
selbst Kontinente mit einander verbunden und so Landbewohner 
in den Stand gesetzt haben von einer Seite zur andern zu wan- 
dern. Kein Geologe bestreitet, dass grosse Veränderungen der 
Boden-Höhen während der Periode der jetzt lebenden Organis- 
men-Arten stattgefunden haben, und Epw. Forses behauptet, alle 
Insein des Atlantischen Meeres müssten noch unlängst mit Afrika 
oder Europa, wie gleicherweise Europa mit Amerika zusammen- 
gehangen haben. Andre Schriftsteller haben hypothetisch der 
‚ Reihe nach jeden Ozean überbrückt und fast jede Insel mit dem 
nächsten Festlande verbunden. Und wenn sich die Argumente 
von Fores bestätigen liessen, so müsste man gestehen, dass es 
kaum irgend eine Insel gebe, welche nicht noch neuerlich mit 
einem Kontinente zusammenhing. Diese Ansicht zerhaut den 
gordischen Knoten der Verbreitung einer Art bis zu den ent- 
legensten Punkten und beseitigt eine Menge von Schwierigkeiten. 
Aber nach meiner besten Überzeugung sind wir nicht berechtigt, 
so ungeheure Veränderungen innerhalb der Periode der noch 
jetzt lebenden Arten anzunehmen. Es scheint mir, dass wir 
genug Beweise von grossen Schwankungen des Bodens in uns- 
rem Kontinente besitzen, doch nicht von Bewegungen so ausge- 
dehnt und in solcher Richtung, dass sich mittelst derselben eine 


364 


Verbindung Europas mit Amerika und den dazwischen gelege- 
nen Atlantischen Inseln noch in der jetzigen Erd-Periode ergäbe, 
Dagegen gestehe ich gerne die vormalige Existenz mancher jetzt 
im Meere begrabener Inseln zu, welche vielen Pflanzen- und 
Thier-Arten bei ihren Wanderungen als Ruhepunkte dienen konn- 
ten. In den Korallen-Meeren erkennt man, nach meiner Meinung, 
solche versunkene Inseln noch jetzt mittelst der aufihnen stehenden 
Korallen-Ringe oder Atolls. Wenn es einmal vollständig einge- 
räumt seyn wird, wie es eines Tages vermuthlich noch geschehen 
wird, dass jede Art nur eine Geburts-Stätte gehabt, und wenn 
wir im Laufe der Zeit etwas Bestimmteres über die Verbreilungs- 
Mittel erkennen, so werden wir im Stande seyn die frühere 
Ausdehnung des Landes mit einiger Sicherheit zu berechnen. 
Dagegen glaube ich nicht, dass es je zu beweisen seyn 
wird, dass jetzt vollständig getrennte Kontinente noch in neue- 
rer Zeit wirklich oder nahezu miteinander und mit den vielen 
noch vorhandenen ozeanischen inseln zusammenhingen. Manche 
Thatsachen in der Vertheilung, wie die grosse Verschiedenheit 
der Meeres-Faunen an den entgegengesetzten Seiten fast jedes 
grossen Kontinentes und ein gewisser Grad von Beziehungen 
(wovon nachher die Rede seyn wird) zwischen der Verbreitung 
der Säugthiere und der Tiefe des Meeres: diese und noch manche 
andere scheinen mir sich der Annahme solcher ungeheuren geo- 
graphischen Umwälzungen in der neuesten Periode zu wider- 
setzen, wie sie durch die von E. Forses aufgestellten und von 
vielen Nachfolgern angenommenen Ansichten nöthig werden. Die 
Natur und Zahlen-Verhältnisse der Bewohner ozeanischer Inseln 
scheinen mir gleicherweise die Annahme eines früheren Zu- 
sammenhangs mit den Festländern zu widerstreben. Eben so 
wenig ist ihre meist vulkanische Zusammensetzung der Annahme 
günstig, dass sie blosse Trümmer versunkener Kontinente seyen; 
denn wären es ursprüngliche Spitzen von Bergketten des Fest- 


landes gewesen, 'so würden doch wenigstens einige derselben 
gleich andern Gebirgs-Höhen aus Graniten, metamorphischen 
Schiefern, alten organische Reste führenden Schichten u. dgl. 
statt immer nur aus Kegeln vulkanischer Massen bestehen. 


365 


Ich habe nun noch einige Worte von den sogenannten »zu- 
fälligen« Verbreitungs-Mitteln zu sprechen, die man besser »ge- 
legenheitliche« nennen würde. Doch will ich mich hier auf die 
Pflanzen beschränken. . In botanischen Werken findet man be- 
merkt, dass diese oder jene Pflanze für weite Aussaat nicht gut 
geeignet ist. Aber was den Transport derselben durch das Meer 
betrifft, so lässt sich behaupten, dass es bei den meisten derselben 
noch ganz unbekannt ist, wie es mit der Möglichkeit desselben steht. 
Bis zur Zeit, wo ich mit Hrn. Berkerev’s Hilfe einige wenige Ver- 
suche darüber angestellt, war nicht einmal bekannt, in wie weit 
Saamen dem schädlichen Einflusse des Salz-Wassers zu wider- 
stehen vermögen. Zu meiner Verwunderung fand ich, dass von 
87 Arten 64 noch keimten, nachdem sie 28 Tage lang in See- 
Wasser gelegen, und einige wenige thaten es sogar nach 137 
Tagen noch. Es ist beachtenswerih, dass gewisse Ordnungen 
viel stärker als andre vom Salz-Wasser angegriffen werden. So 
gingen von neun Leguminosen acht zu Grunde, und sieben Arten 
der unter einander verwandten Ordnungen der Hydrophyllaceae 
und Polemoniaceae waren nach einem Monate todt. Der Bequem- 
lichkeit wegen wählte ich meistens nur kleine Saamen ohne Frucht- 
hülle, und da alle schon nach wenigen Tagen untersanken, so 
können sie natürlich keine weiten Räume des Meeres durchschif- 
fen, mögen sie nun ihre Keim-Kraft im Salzwasser bewahren oder 
nicht. Nachher wählte ich grössre Früchte mit Kapseln u. s. w., 
und von diesen blieben einige lange Zeit schwimmend. Es ist 
wohl bekannt, wie verschieden die Schwimm-Fähigkeit einer Holz- 
art im grünen und im trocknen Zustande ist. Ich dachte mir 
daher, dass Flutlien wohl Pflanzen oder deren Zweige lortiragen 
und dann ans Ufer werfen könnten, wo der Strom, wenn sie erst 
ausgetrocknet wären, sie aufs Neue ergreifen und dem Meere 
zuführen könnte; daher nahm ich von 94 Pflanzen-Arten trockne 
Stengel und Zweige wit reifen Früchten daran und legte sie ins 
Wasser. Die Mehrzahl versank sogleich; doch einige, welche 
grün nur sehr kurze Zeit an der Oberfläche geblieben, hielten 
sich nun länger. So sanken reife Haselnüsse unmittelbar unter, 
schwammen aber, wenn sie vorher ausgetrocknet worden, 90 


366 


Tage lang und keimten dann noch, wenn sie gepflanzt wurden. 
Eine Spargel-Pflanze mit reifen Beeren schwamm 23 Tage, nach 
vorherigem Austrocknen aber 85 Tage, und ihre Saamen keimten 
noch. Die reifen Früchte von Helosciadium sanken in zwei Ta- 
gen, schwammen aber nach vorgängigem Trocknen 90 Tage und 
keimten hierauf. Im Ganzen schwammen von den 94 getrock- 
neten Pflanzen 18 Arten 28 Tage lang und einige davon sogar 


noch viel länger. Es keimten also 6%,, —= 0,74 der Saamen- 
Arten nach einer Eintauchung von 28 Tagen, und schwammen 
18/,, = 0,19 der getrockneten Pflanzen-Arten mit reifen Saa- 


men (doch z. Th. andre Arten als die vorigen) noch über 28 
Tage; und würden daher, so viel man aus diesen Thatsachen 
schliessen darf, die Saamen von 0,14 der Pflanzen-Arten einer 
Gegend ohne Nachtheil für ihre Keim-Kraft 2%, Tage lang von 
See-Strömungen fortgetragen werden können. In Jounstons 
physikalischem Atlas ist die mittle Geschwindigkeit der Atlanti- 
schen Ströme auf 33 See-Meilen im Tag (manche laufen 60 M. 
weit) angegeben ; und somit könnten jene Saamen bei diesem 
Mittel 924 See-Meilen weit fortgeführt werden und, wenn sie 
dann strandeten und vom Winde sofort auf eine passende Stelle 
weiter landeinwärts getrieben würden, noch keimen. 

Nach mir stellte Marrıns * ähnliche Versuche, doch in bess- 
rer Weise an, indem er Kistchen mit Saamen in’s wirkliche 
Meer versenkte, so dass sie abwechselnd feucht und wieder der 
Luft ausgesetzt wurden, wie wirklich schwimmende Pflanzen. Er 
versuchte es mit 98 Saamen-Arten, meistens verschieden von 
den meinigen, und darunter manche grosse Früchte und auch 
Saamen von solchen Pflanzen, welche in der Nähe des Meeres 
wachsen, was wohl dazu beitrug die mittle Länge der Zeit, wäh- 
rend welcher sie sich schwimmend zu halten und der schädlichen 
Wirkung des Salz-Wassers zu widerstehen vermochten, etwas zu 
vermehren. Anderseits aber trocknete er nicht vorher die Früchte 
mit den Zweigen oder Stengeln, was einige derselben befähigt 
haben würde, länger zu schwimmen. Das Ergebniss war, dass 


* Diese neueren Versuche von Marrıns vgl. in Bibliotheg. univers. de 
Geneve, 1858, I, 89—92 > Neu. Jahrb. f. Mineral. 1858, 877—878. D.Übs. 


367 


18/,5 — 0,185 Saamen-Arten 42 Tage lang schwammen und 
dann noch keimten. Ich bezweifle jedoch nicht, dass Pflanzen, 
die mit den Wogen treiben, sich länger schwimmend erhalten 
als jene, welche so wie in unseren Versuchen gegen jede Be- 
wegung geschützt sind. Daher wäre es vielleicht sicherer anzu- 
nehmen, dass die Saamen von etwa 0,10 Arten einer Flora nach 
dem Austrocknen noch eine 900 Meilen weite Strecke des Mee- 
res durchschwimmen und dann keimen können. Die Thatsache, 
dass die grösseren Früchte länger als die kleinen schwimmen, 
ist interessant, weil grosse Saamen oder Früchte nicht wohl an- 
ders als schwimmend aus einer Gegend in die andere versetzt 
werden können; daher, wie Aupu. DeCanvoııe gezeigt hat, solche 
Pflanzen beschränkte Verbreitungs- -Bezirke besitzen. 

Doch können Saamen gelegenheitlich auch auf andre Weise 
fortgeführt werden. So gelangt Treibholz zu den meisten In- 
seln in der Mitte des weitesten Ozeans; und die Eingebornen 
der Korallen-Inseln des Stillen Meeres verschaffen sich härtere 
Steine für ihr Geräthe fast nur von den Wurzeln der Treibholz- 
Stämme; die Taxen für diese Steine bilden ein erhebliches Ein- 
kommen ihrer Könige. Wenn nun unregelmässig geformte Steine 
zwischen die Wurzeln der Bäume fest eingewachsen sind, so sind 
auch zuweilen noch kleine Parthien Erde dahinter eingeschlossen, 
mitunter so genau, dass nicht das Geringste davon während 
des längsten Transportes weggewaschen werden könnte. Und 
nun kenne ich einen Fall genau, wo aus einer solchen vollständig 
eingeschlossenen Parthie Erde zwischen den Wurzeln einer 50jäh- 
rigen Eiche drei Dikotyledonen-Saamen gekeimt haben. So kann ich 
ferner nachweisen, dass’ zuweilen todte Vögel lange auf dem 
Meere treiben ohne verschlungen zu werden, und dass in ihrem 
Kropfe enthaltene Saamen lange ihre Keim-Kraft behalten; Erb- 
sen und Wicken z. B., welche sonst schon zu Grunde gehen, wenn 
sie nur wenige Tage im Wasser liegen, zeigten sich zu mei- 
nem grossen Erstaunen noch keimfähig, als ich sie aus dem 
Kropfe einer Taube nahm, welche schon 30 Tage lang auf künst- 
lich bereitetem Salzwasser geschwommen. 

‚ Lebende Vögel haben unfehlbar einen grossen Antheil am 


368 & 


Transport lebender Saamen. Ich könnte viele Fälle anführen um 
zu beweisen, wie oft Vögel von mancherlei Art durch Stürme 
weit über den Ozean verschlagen werden. Wir dürfen wohl als 
gewiss annehmen, dass unter solchen Umständen ihre Schnellig- 
keit oft 35 Engl. Meilen in der Stunde betragen mag, und 
manche Schriftsteller haben sie viel höher angeschlagen. Ich 
habe nie eine nahrhafte Saamen-Art durch die Eingeweide eines 
Vogels passiren sehen, wogegen harte Saamen und Früchte un- 
angegriffen selbst durch die Gedärme des Wälschhuhns gehen. 
Im Laufe von zwei Monaten sammelte ich in meinem Garten aus 
den Exkrementen kleiner Vögel 12 Arten Saamen, welche alle 
noch gut zu seyn schienen, und einige von ihnen, die ich pro- 
birte, haben wirklich gekeimt. Wichtiger ist jedoch folgende 
Thatsache. Der Kropf der Vögel sondert keinen Magensaft aus 
und benachtheiligt nach meinen Versuchen die Keimkraft der 
Saamen nicht im mindesten. Nun sagt man, dass, wenn ein Vo- 
gel eine grosse Menge Saamen gefunden und gefressen hat, die 
Körner nicht vor 12—18 Stunden in den Magen gelangen. In 
dieser Zeit aber kann ein Vogel leicht 500 Meilen weit fortge- 
trieben werden; und wenn Falken, wie sie gerne thun, auf den 
ermüdeten Vogel Jagd machen, so kann dann der Inhalt seines 
Kropfes bald umhergestreut seyn. Hr. Brent benachrichtigt 
mich, dass ein Freund ‚von ihm es aufgegeben hat, Botentauben 
von Frankreich nach England fliegen zu lassen, weil die Falken 
deren zu viele bei ihrer Ankunft an der Englischen Küste ver- 
tilgten. Nun verschlingen einige Falken und Eulen ihre Beute 
ganz und brechen nach 12—2ÜV Stunden Ballen unverdauter Fe- 
dern wieder aus, die, wie ich aus Versuchen in den Zoological 
Gardens weiss, oft noch keimfähige Saamen enthalten. Einige 
Saamen von Hafer, Weitzen, Hirse, Kanariengras, Hanf, Klee und 
Mangold keimten noch, nachdem sie i2—20 Stunden in den 
Magen verschiedener Raubvögel verweilt hatten, und zwei Man- 
gold-Saamen wuchsen sogar, nachdem sie zwei Tage und vierzehn 
Stunden dort gewesen waren. Süsswasser-Fische verschlingen 
Saamen verschiedener Land- und Wasser-Pflanzen ; Fische wer- 
‚den oft von Vögeln verzehrt, und so können jene Saamen von 


369 


Ort zu Ort ausgestreut werden. Ich brachte mancherlei Saamen- 
Arten in den Magen todter Fische und gab diese sodann Peli- 
kanen, Störchen und Fischadlern zu fressen; diese Vögel gaben 
einige Stunden später die Saamen in ihren Exkrementen wieder 
von sich oder brachen sie in Gewöll-Ballen aus. Mehre dieser 
Saamen besassen alsdann noch ihre Keim-Kraft; andre dagegen 
verloren sie jederzeit durch diesen Prozess. 

Obwohl Schnäbel und Füsse der Vögel gewöhnlich ganz rein 
sind, so hängen doch oft auch Erd-Theile daran. In einem Falle 
trennte ich 22 Gran thoniger Erde von dem Fusse eines Feld- 
huhns, und in dieser Erde befand sich ein Steinchen so gross 
wie ein Wicken-Saamen. Daher mögen auf dieselbe Art auch 
Saamen zuweilen auf grosse Entfernungen fortgeführt werden, 
indem sich nachweisen lässt, dass der Ackerboden überall voll 
von Sämereien steckt. Erwägt man, wie viele Millionen Wach- 
teln jährlich das Mittelmeer überfliegen, so wird man die Mög- 
lichkeit nicht bezweifeln, dass wohl auch einmal ein paar kleine 
Saamen an ihren Füssen mit herüber oder hinüber gelangen. 
Doch werde ich auf diesen Gegenstand noch zurückkommen. 

Bekanntlich sind Eisberge oft mit Steinen und Erde bela- 
den; auch Buschholz, Knochen und selbst einmal ein Vogel-Nest 
hat man darauf gefunden ; daher wohl nicht zu zweifeln ist, dass 
sie mitunter auch, wie Lyeıı bereits angenommen, Saamen von 
einem zum andern Theile der arktischen oder antarktischen Zone, 
und in der Glacial-Zeit sogar von einem Theile der jetzigen ge- 
mässigten Zonen zum andern geführt haben. Da auf den Azoren 
eine im Verhältniss zu den übrigen zum Theile dem Festlande näher 
gelegenen Inseln des Atlantischen Meeres grosse Anzahl Euro- 
päischer Pflanzen und (wie Hr. H. C. Warson bemerkt) insbe- 
sondere solcher Arten vorkommt, ‚die einen etwas nördlicheren 
Charakter haben, als der Lage entspricht, so vermuthete ich, 
dass ein Theil derselben mit Eisbergen in der Glacial-Zeit dahin 
gelangt seye. Auf meine Bitte fragte Sir Cu. Lyerı Hrn. Har- 
tung, ob er erratische Blöcke auf diesen Inseln gefunden habe, 
und erhielt zur Antwort, dass grosse Blöcke von Granit u. a. 
nicht auf den Inseln anstehenden Gesteinen dort vorkommen. 

24 


370 


Wir dürfen daher getrost folgern, dass Eisberge vordem: ihre 
Bürden an der Küste dieser mittel-ozeanischen Inseln abgesetzt 
haben, und so ist es wenigstens möglich, dass auch einige 
Saamen nordischer Pflanzen mit dahin gelangt sind. 

In Berücksichtigung, dass manche der oben erwähnten und 
andre wohl später zu entdeckende Transport - Mittel ganze 
Jahrhunderte und Jahrtausende alljährlich in 'Thätigkeit gewesen, 
würde es nach meiner Ansicht eine wunderbare Thatsache 
seyn, wenn nicht auf diesen Wegen viele Pflanzen mitunter in 
weite Fernen versetzt worden wären. Diese Transport-Mittel 
werden zuweilen zufällige genannt, was nicht ganz richtig ist, 
indem weder die See-Strömungen noch die vorwaltende Richtung 
der Stürme zufällig sind. Indessen ist von diesen Mitteln wohl 
_ keines im Stande, keimfähige Saamen in sehr grosse Fernen zu 
versetzen, indem die Saamen weder ihre Keimfähigkeit im See- 
wasser lange behalten, noch in Kropf und Eingeweiden der Vö- 
gel weit transporlirt werden können. Wohl aber genügen sie, 
um dieselben gelegenheitlich über einige Hundert Meilen breite 
See-Striche hinwegzuführen und so von Kontinent zu Insel, oder 
von Insel zu Insel, aber nicht von einem Kontinente zum andern 
zu fördern. Die Floren entfernter Kontinente werden auf diese 
Weise mithin nicht in hohem Grade gemengt werden, sondern 
so weit getrennt bleiben, als wir sie jetzt finden. Die Ströme 
würden ihrer Richtung nach niemals Saamen von Nord- Amerika 
nach Britannien bringen können, wie sie deren von Westindien 
aus an unsre Küsten spülen, wo sie aber, selbst wenn sie auf 
diesem langen Wege noch ihre Lebenskraft bewahrt haben, nicht 
das Klima zu ertragen vermögen. Fast jedes Jahr werden 1-2 
Land-Vögel durch Stürme von Nord- Amerika über den ganzen 
Atlantischen Ozean bis an die Irischen und Englischen Küsten 
getrieben; Saamen aber könnten diese Wanderer nur auf eine 
Weise mit sich bringen, nämlich in dem zufällig an ihren Füs- 
sen hängenden Schmutz, was doch immer an sich schon ein 'sel- 
tener Zufall ist. Und wie gering wäre selbst in diesem Falle 
die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Saame .in einen günsti- 
gen Boden gelange, keime und zur Reife komme. Doch wäre 


371 


es ein grosser Irrthum zu folgern, dass, weil eine schon wohl-bevöl- 
_kerte Insel, wie Grossbritannien ist, in den paar letzten Jahrhun- 
derten (was übrigens doch schwer zu beweisen steht) durch diese 
gelegenheitlichen Transport-Mittel keine Einwanderer aus Europa 
oder einem andern Kontinente aufgenommen, auch sparsam be- 
völkerte Inseln‘ selbst in noch grössren Entfernungen vom Fest- 
lande keine Kolonisten auf solchen Wegen erhalten könnten. Ich 
zweifle nicht, "dass aus 20 zu einer Insel verschlagenen Saamen- 
oder Thier-Arten, auch wenn sie viel weniger bevölkert wäre 
als Britannien, kaum mehr als eine so für diese neue Heimath 
geeignet seyn würde, um nun dort naturalisirt zu werden. Doch 
ist Diess, wie mir scheint, kein bedeutender Einwand hinsichtlich 
dessen, was durch solche gelegenheitliche Transport-Mittel im 
langen Verlaufe der geologischen Zeiten geschehen konnte, wäh- 
rend der Hebung und Bildung einer Insel und bevor sie mit An- 
siedlern vollständig besetzt war. Auf einem fast noch öden Lande, 
wo noch keine oder nur wenige Insekten und Vögel jedem neu 
ankommden Saamen-Korne nachstellen, wird dasselbe leicht zum 
Keimen und Fortleben gelangen, wenn es anders für dieses 
Klima passt. 

# Zerstreuung während der Eis-Zeit.) Die Überein- 
stimmung so vieler Pflanzen- und Thier-Arten auf Berges-Höhen, 
welche Hunderte von Meilen weit durch Tiefländer von einander 
getrennt sind, wo die Alpen-Bewohner nicht fortkommen können, 
ist eines der schlagendsten Beispiele des Vorkommens gleicher 
Arten auf von einander entlegenen Punkten, ohne anscheinende 
Möglichkeit einer Wanderung von einem derselben zum andern. 
Es ist in der That merkwürdig, so viele Pflanzen-Arten in den 
Schnee-Gegenden der Alpen oder Pyrenäen und wieder in den 
nördlichsien Theilen Europa’s zu sehen; aber noch merkwürdi- 
ger ist es, dass die Pflanzen-Arten der Weissen Berge in den 
Vereinten Staaten Amerika’'s alle die nämlichen wie in Labrador 
und ferner nach Asa Grayv’s Versicherung die nämlichen wie auf 
den höchsten Bergen Europa’s sind. Schon vor langer Zeit, im 
Jahre 1747, veranlassten ähnliche Thatsachen Gmeuis zu schlies- 
sen, dass einerlei Spezies an verschiedenen Orten unabhängig 

24” 


372 


von einander geschaffen worden seyn müssen, und wir würden 
dieser Meinung vielleicht noch zugethan geblieben seyn, hätten 
nicht Ascassız u. A. unsre Aufmerksamkeit auf die Eis-Zeit ge- 
lenkt, die, wie wir sofort sehen werden, diese Thatsachen sehr 
einfach erklärt. Wir haben Beweise fast jeder möglichen Art, 
organische und unorganische, dass in einer sehr jungen geolo- 
gischen Periode Zentral-Europa und Nord- Amerika unter einem 
arktischen Klima litten. Die Ruinen eines abgebrannten Hauses 
erzählen ihre Geschichte nicht so verständlich, wie die Schotti- 
schen und Wales’schen Gebirge mit ihren geschrammten Seiten, 
polirten Flächen, schwebenden Blöcken von den Eis-Strömen be- 
richten, womit ihre Thäler noch in später Zeit ausgefüllt gewe- 
sen. So sehr war das Klima in Europa verschieden, dass in 
Nord-Italien riesige Moränen von einstigen Gletschern herrüh- 
rend jetzt mit Mays und Wein bepflanzt sind. Durch einen gros- 
sen Theil der Vereinten Staaten bezeugen erratische Blöcke 
und von treibenden Eisbergen und Küsten-Eis geschrammte Fel- 
sen mit Bestimmtheit eine frühere Periode grosser. Kälte, 

Der frühere Einfluss des Eis-Klima’s auf die Vertheilung der 
Bewohner Europa’s, wie ihn Epw. Forses so klar dargestellt, 
ist im Wesentlichen folgender. Doch wir. werden die. Verände- 
rungen rascher verfolgen können, wenn wir annehmen, eine 
neue Eis-Zeit rücke langsam an und verlaufe dann und ver- 
schwinde so, wie es früher geschehen ist. In dem Grade wie bei 
zunehmender Kälte jede weiter südlich gelegene Zone der Reihe 
nach für arktische Wesen geeigneter wird und ihren bisherigen 
Bewohnern nicht mehr zusagen kann, werden arktische Ansiedler 
die Stelle der bisherigen einnehmen. Zur gleichen Zeit werden 
auch ihrerseits diese Bewohner der gemässigten Gegenden süd- 
wärts wandern, wenn ihnen der Weg nicht versperrt ist, in 
welchem Falle sie zu Grunde gehen müssten. Die Berge werden 
sich mit Schnee und Eis bedecken, und die früheren Alpen-Be- 
wohner werden in die Ebene herabsteigen. Erreicht mit der 
Zeit die Kälte ihr Maximum, so bedeckt eine einförmige ark- 
tische Flora und Fauna den mitteln Theil Europa's bis im Süden 
der Alpen und Pyrenäen und bis nach Spanien hinein. Auch die 


3 


373 


gegenwärtig gemässigten Gegenden der Vereinigten Staaten be- 
völkern sich mit arktischen Pflanzen und Thieren und zwar nahezu 
mit den nämlichen Arten wie Europa; denn die jetzigen Bewoh- 
ner der Polar-Länder, von welchen so eben angenommen wor- 
den, dass sie überall nach Süden gewandert, sind rund um den 
Pol merkwürdig einförmig. Nimmt man an, dass die Eis-Zeit in 
Nord-Amerika etwas früher oder später als in Europa ange- 
fangen, so wird auch die Auswanderung nach Süden etwas zrüher 
oder später beginnen, was jedoch im End-Ergebnisse keinen Un- 
terschied macht. 

Wenn nun die Wärme zurückkehrt, so ziehen sich die ark- 
tischen Formen wieder nach Norden zurück und die Bewohner 
der gemässigteren Gegenden rücken ihnen unmittelbar nach. 
Wenn der Schnee am 'Fusse der Gebirge schmilzt, wer- 
den die arktischen Formen von dem entblössten und aufge- 
thauten Boden Besitz nehmen: sie werden immer höher und 
höher hinansteigen, wie die Wärme zunimmt und ihre Brüder 
in der Ebene den Rückzug nach Norden hin fortsetzen. Ist 
daher die Wärme vollständig wieder hergestellt, so werden die 
nämlichen arktischen Arten, welche bisher in Masse beisammen 
in den Tiefländern der alten und der neuen Welt gelebt, nur 
noch auf abgesonderten Berg-Höhen und in der arktischen Zone 
beider Hemisphären übrig seyn. 

Auf diese Weise begreift sich die Übereinstimmung so vieler 
Pflanzen-Arten an so unermesslich 'weit von einander entlegenen 
Stellen. als die Gebirge der Vereinten Staaten und Europa’s 
sind. So begreift sich ferner die Thatsache, dass die Alpen-Pflan- 
zen jeder Gebirgs-Kette mit den gerade oder fast gerade nördlich 
von ihnen ‘lebenden Arten in nächster Beziehung stehen; die 
Wanderung bei Eintritt der Kälte und die Rückwanderung bei 
Wiederkehr der Wärme wird im Allgemeinen eine gerade süd- 
liche und nördliche gewesen seyn. Denn die Alpen-Pflanzen 
Schottland’s z. B. sind nach H. ©. Warson’s Bemerkung und die 
der Pyrenäen nach Rawonp spezieller mit denen Skandinavıens 
verwandt, wie die der Vereinten Staaten und die Söbirischen 
mehr mit den im Norden dieser Länder lebenden Arten über- 


374 


einstimmen, _ Diese Ansicht, gegründet auf den zuverlässig 
bestätigten Verlauf einer früheren Eis-Zeit, scheint mir in so 
genügender Weise die gegenwärtige Vertheilung der alpinen und 
arktischen Arten in Europa und Nord-Amerika zu erklären, 
dass, wenn wir in noch andern Regionen gleiche Spezies auf 
entfernten Gebirgs-Höhen zerstreut finden, wir auch ohne einen 
weiteren Beweis schliessen dürfen, dass’ ein kälteres Klima ihnen 
vordem durch zwischen-gelegene Tiefländer zu wandern gestat- 
tet habe, welche seitdem zu warm für dieselben geworden sind, 

Wenn das Klima seit der Eis-Zeit je einigermaassen wärmer 
als jeizt gewesen wäre (wie einige Geologen aus der Verbrei- 
tung der fossilen Gnathodon-Muscheln in den Vereinten Staaten 
geschlossen), dann würden die Bewohner der gemässigten und 
der kalten Zone noch in sehr später Zeit etwas nach Norden 
vorgerückt seyn, um sich noch später wieder in ihre jetzige Hei- 
math zurückzuziehen; doch habe ich keinen genügenden Beweis 
für eine solche wärmere Periode, die nach der Eis-Zeit einge- 
schaltet gewesen wäre. | 

Die arktischen Formen werden während ihrer südlichen 
Wanderung und Rückkehr nach Norden nahezu dem nämlichen 
Klima ausgesetzt gewesen und, was gleichfalls zu bemerken, in 
Masse beisammen geblieben seyn; daher sie denn auch in ihren 
gegenseitigen Beziehungen nicht sonderlich gestört und mithin, 
nach den in diesem Bande vertheidigten Prinzipien, nicht allzugros- 
ser Umänderung ausgesetzt worden wären. Etwas anders würde 
es sich jedoch mit unsern Alpen-Bewohnern verhalten, welche 
bei rückkehrender Wärme sich vom Fusse der Gebirge immer 
höher an deren Seiten bis zu den Gipfeln hinan geflüchtet haben. 
Denn es ist nicht wahrscheinlich, dass alle dieselben arktischen 
Arten auf weit getrennten Gebirgs-Ketten zurückgeblieben sind 
und dort seither fortgelebt haben. Auch werden die zurückge- 
bliebenen aller Wahrscheinlichkeit nach sich mit alten Alpen- 
Pflanzen gemengt haben, welche schon vor der Eis-Zeit die Ge- 
birge bewohnten und für die Dauer der kältesten Periode in die 
Ebene herabgetrieben wurden; sie werden ferner einem. etwas 
abweichenden klimatischen Einflusse ausgesetzt gewesen seyn. 


375 


Ihre gegenseitigen Beziehungen können hiedurch etwas gestört 
und sie selbst mithin zur Abänderung geneigt geworden seyn; 
und so ist es wirklich der Fall. Denn, wenn wir die gegen- 
wärtigen Alpen-Pflanzen und -Thiere der verschiedenen grossen 
Europäischen Gebirgs-Ketten verglichen, so finden wir zwar im 
Ganzen viele identische Arten, von welchen aber manche als Va- 
rietäten auftreten, andre als zweifelhafte Formen schwanken, und 
einige wenige als verschiedene doch nahe verwandte oder stell- 
vertretende Arten erscheinen. | 
Bei Erläuterung dessen, was. nach meiner Meinung während 
der Eis-Periode sich wirklich zugetragen, unterstellte ich, dass 
bei deren Beginn die arktischen Organismen rund um den Pol 
so einförmig wie heutigen Tages gewesen seyen. Aber die 
vorangehenden Bemerkungen beziehen sich nicht allein. auf die 
strenge arktischen Formen, sondern auch auf viele subarktische 
und auf einige Formen der nördlich-gemässigten Zone; denn 
manche von diesen Arten sind ebenfalls übereinstimmend auf den 
niedrigeren Bergen und in den Ebenen Nord-Amerika's und Euro- 
pa’s, und man kann mit Grund [ragen, wie ich denn die Überein- 
stimmung der Formen, welche in der subarktischen und der nörd- 
lich-gemässigten Zone rund um die Erde am Antange der Eis- 
Periode stattgefunden haben muss,‘ erkläre? Heutzutage sind die 
Formen der subarktischen und nördlich-gemässigten Gegenden der 
alten und der neuen Welt von einander getrennt durch den atlantı- 
schen und den nördlichsten Theil des stillen Ozeans. Als wäh- 
rend der Eis-Zeit die Bewohner der alten ‚und der neuen Welt 
weiter südwärts als jetzt lebten, müssen sie auch durch weitere 
Räume des Ozeans vollständiger von einander geschieden gewe- 
sen seyn. Ich glaube, dass die oben erwähnte Schwierigkeit zu 
umgehen ist, wenn man sich nach noch früheren Klima- Wechseln 
in einem entgegengesetzten Sinne umsieht. Wir haben nämlich 
guten Grund zu glauben, ‘dass während der neuern Pliocän-Pe- 
riode vor der Eis-Zeit, wo schon die Mehrzahl der Erd-Bewohner 
mit den jetzigen von gleichen Arten gewesen, das Klima wärmer 
war als jetzt. Wir dürfen daher annehmen, dass Organismen, 
welche jetzt unter dem 60. Breite-Grad leben, in der Pliocän- 


37h 


Periode weiter nördlich am Polar-Kreise unter dem 66° 67% Br. 
wohnten, und dass die eigentlich arktischen Wesen auf die un- 
terbrochenen Land-Striche näher bei den Polen beschränkt waren, 
Wenn wir nun einen Globus ansehen, so werden wir finden, 
dass unter dem Polar Kreise meist zusammen- -hängendes Land 
von West-Europa an durch Sibirien bis Ost- Amerika vorhanden 
ist. Und diesem Zusammenhange des Circumpolar-Landes und 
der ihm entsprechenden freien Wanderung in einem schon gün- 
stigeren Klima schreibe ich den nothwendigen Grad von Ein- 
förmigkeit in den Bewohnern der subarktischen und nördlich- 
gemässigten Zone der alten und neuen Welt vor der Eis-Zeit zu. 

Von dem Glauben ausgehend, dass, wie schon oben gesagt 
unsre Kontinente langezeit in fast nahezu der nämlichen Lage gegen 
einander geblieben, wenn sie auch theilweise beträchtlichen 
Höhen-Schwankungen unterworlen gewesen, habe ich grosse Nei- 
gung die erwähnte Ansicht noch weiter auszudehnen und zu un- 
terstellen, dass in einer noch früheren und wärmeren Zeit, in der 
ältern Pliocän-Zeit nämlich, eine grosse Anzahl der nämlichen Pllan- 
zen- und Thier-Arten das fast zusammenhängende Circumpolar-Land 
bewohnt habe, und dass diese Pflanzen und Thiere sowohl in der 
alten als in der neuen Welt langsam südwärts zu wandern an- 
fingen, wie das Klima kühler wurde, lange vor Anfang der Eis- 
Periode. Wir sehen nun ihre Nachkommen, wie ich glaube, 
meistens in einem abgeänderten Zustande die Zentral-Theile von 
Europa und den Vereinten Staaten bewohnen. Von dieser An- 
nahme ausgehend begreift man dann die Verwandtschaft, bei 
sehr geringer Gleichheit, der Arten von Nord-Amerika und 
Europa, eine Verwandtschaft, welche bei der grossen Entfernung 
beider Gegenden und ihrer Trennung durch das Atlantische Meer 
äusserst merkwürdig ist. Man begreift ferner die von eini- 
gen Beobachtern wahrgenommene sonderbare Thatsache, dass 
die Natur-Erzeugnisse Europa’s und Nord-Amerika’s während 
der letzten Abschnitte der Tertiär-Zeit näher mit einander ver- 


wandt sind, als sie es in der vorangehenden Zeit waren; denn 
in dieser wärmeren Zeit sind die nördlichen Theile der alten 
und der neuen Welt durch Zwischenländer in zusammen-hängen- 


377 


derer Weise mit einander verbunden gewesen, die aber seither 
durch Kälte zur Auswanderung unbrauchbar gemacht worden sind. 

Sobald während der langsamen Temperatur-Abnahme in der 
Pliocän-Periode die gemeinsam ausgewanderten Bewohner der 
alten und neuen Welt südwärts vom Polar-Kreise angelangt wa- 
ren, wurden sie vollständig von einander abgeschnitten. Diese 
Trennung trug sich, was die Bewohner der gemässigteren Ge- 
genden betrifft, vor langen langen Zeiten zu. Und als damals 
die Pflanzen- und Thier-Arten südwärts wanderten, werden sie 
sich mit den Eingebornen der niedrigeren Breiten gemengt und 
in der einen Gegend Amerikanische und in der andern Euro- 
päische Arten zu neuen Mitbewerbern bekommen haben. Hier 
ist demnach Alles zu reichlicher Abänderung der Arten ange- 
than, weit mehr als es hinsichtlich der auf südlichen Alpen- 
Höhen abgeschnitten zurückgelassenen Polar-Bewohner beider 
Welttheile der Fall gewesen ist. Davon rührt es her, dass, wenn 
wir die jetzt lebenden Erzeugnisse gemässigterer Gegenden der 
alten und der neuen Welt mit einander vergleichen, wir nur 
sehr wenige identische Arten finden (obwohl Asa Gray kürzlich 
gezeigt, dass deren Anzahl grösser ist, als man bisher angenom- 
men hatte); aber wir finden in jeder grossen Klasse viele For- 
men, welche ein Theil der Naturforscher als geographische Rassen 
und ein andrer als unterschiedene Arten betrachten, zusammen 
mit einem Heere nahe verwandter oder stellvertretender Formen, 
die Bei allen Naturforschern für eigene Arten gelten. 

Wie auf dem Lande, so kann auch in der See eine lang- 
same südliche Wanderung der Fauna, welche während oder etwas 
vor der Pliocän-Periode längs der zusammen-hängenden Küsten 
des Polar-Kreises sehr einförmig gewesen, nach der Abände- 
rungs-Theorie zur Erklärung der vielen nahe verwandten Formen 
dienen, welche jetzt in ganz gesonderten Gebieten leben. Mit 
ihrer Hilfe lässt sich, wie ich glaube, das Daseyn einer Menge 
noch lebender und tertiärer stellvertretender Arten an den öst- 
lichen und westlichen Küsten des gemässigteren Theiles von 
Nord-Amerika erklären, so wie die bei weitem auffallendere 
Erscheinung vieler nahe verwandter Kruster (in Dana’s ausge- 


378 


zeichnetem Werke beschrieben), einiger Fische und andrer See- 
thiere im Japanischen und im Mittelmeere zugleich, in Gegenden 
mithin, welche jetzt durch ‚einen grossen Kontinent und fast 
eine ganze Hemisphäre von Aquatorial-Meeren von einander ge-, 
trennt sind. | 

Diese Fälle von Verwandtschaft, ohne Identität, zwischen den 
Bewohnern jetzt getrennter Meere wie zwischen den früheren 
und jetzigen Bewohnern der gemässigten Länder Nord-Amerika’s 
und Europa’s sind aus der Schöpfungs-Theorie unerklärbar. Wir 
können nicht sagen, sie seyen ähnlich geschaffen zur Anpassung 
an die ähnlichen Natur-Bedingungen der beiderlei Gegenden; 
denn wenn wir z. B. gewisse Theile Süd-Amerika’s mit den 
südlichen Kontinenten der alten Welt vergleichen, so finden wir 
Striche in beiden, die sich hinsichtlich ihrer Natur-Beschaffenheit 
einander genau entsprechen, aber in ihren Bewohnern sich ganz 
unähnlich sind. 

Wir müssen jedoch zu unsrer unmittelbaren Aufgabe zurück- 
kehren, nämlich zur Eis-Zeit. Ich bin überzeugt, dass Enw, 
Forses’ Theorie einer grossen Erweiterung fähig ist. In Europa 
haben wir die deutlichsten Beweise einer Kälte-Periode von den 
West-Küsten Britanniens ostwärts bis zur Ural-Kette und süd- 
wärts bis zu den Pyrenäen. Aus den im Eise eingefrorenen 
Säugthieren und der Beschaffenheit der Gebirgs-Vegetation zu 
schliessen, war Sibirien auf ähnliche Weise betroffen gewesen. 
Längs dem Himalaya habenGletscher an 900 Engl. Meilen von 
einander entlegenen Punkten Spuren ihrer ehemaligen weiten 
Erstreckung nach der Tiefe hinterlassen; und in Sikkim sah Dr. 
Hooker Mays wachsen auf alten Riesen-Moränen. Im Süden des 
Äquators haben wir einige unmittelbare Beweise früherer Eis- 
Thätigkeit in Neuseeland, und das Wiedererscheinen derselben 
Pflanzen-Arten auf weit von einander getrennten Bergen dieser 
Insel spricht für die gleiche Geschichte. Wenn sich ein bereits 
veröffentlichter Bericht bestätigt, so liegen direkte Beweise 
solcher Thätigkeit auch in der süd-östlichen Spitze Neu-Hol- 
lands vor. 

Sehen wir uns in Amerika um. In der nördlichen Hälfte 


379 


sind von Eis transportirte Fels-Trümmer beobachtet worden an 
der Ost-Seite abwärts bis zum 36° und an der Küste des stillen 
Meeres, wo das Klima jetzt so verschieden ist, bis zum 46° 
nördlicher Breite; auch in den Rocky Mountains sind erratische 
Blöcke gesehen worden. In den Cordilleren des äquatorialen 
Süd-Amerika’s haben sich Gletscher ehedem weit über ihre 
jetzige Grenze herabbewegt. In Zentral-Chik war ich betroffen 
von der Struktur eines Detritus-Haufwerks, welches 800° hoch 
ein Andes-Thal queer durchsetzt, und Diess war, wie ich jetzt 
überzeugt‘ bin, eine riesigg Moräne tief unter jedem noch jetzt 
dort vorkommenden Gletscher. Weiter südwärts an beiden Sei- 
ten des Kontinents, von 41° Br. bis zur südlichsten Spitze, fin- 
den wir die klarsten Beweise früherer Gletscher-Thätigkeit in 
mächtigen von ihrer Geburtsstätte weit entführten Blöcken. 

Wir wissen nicht, ob die Eis-Zeit an allen diesen Punkten 
auf ganz entgegengesetzten Seiten der Erde genau gleichzeitig 
gewesen seye; doch fiel sie, in fast allen Fällen wohl erweislich, 
in die letzte geologische Periode. Eben so haben wir vortreff- 
liche Beweise, dass sie überall, in Jahren ausgedrückt, von un- 
geheurer Dauer gewesen. Sie kann an einer Stelle der Erde 
früher begonnen oder früher aufgehört haben, als an der an- 
dern; da sie aber überall lange gewährt hat und wenigstens in 
geologischem Sinne überall gleichzeitig war, so ist es mir wahr- 
scheinlich, dass jedenfalls ein Theil der Glacial-Ereignisse an 
allen diesen Orten über die ganze Erde hin der Zeit nach ge- 
nau zusammenfiel. So lange wir nicht irgend einen bestimmten 
Beweis für das Gegentheil haben, dürfen wir daher unterstellen, 
dass die Glacial-Thätigkeit eine gleichzeitige gewesen ist an der 
Ost- und West-Seite Nord-Amerika’s, in den Cordilleren des 
Äquators und der wärmer-gemässigten Zone wie zu beiden Sei- 
ten der südlichen Spitze dieses Welttheiles. Ist Diess anzuneh- 
men erlaubt, so wird man auch annehmen müssen. dass die 
Temperatur der ganzen Erde in dieser Periode gleichzeitig küh- 
ler gewesen ist; doch wird es für meinen Zweck genügen, wenn 
die Temperatur nur auf gewissen breiten von Norden nach 
Süden ziehenden Strecken der Erde gleichzeitig niedriger war. 


380 


Von dieser Voraussetzung ausgehend, dass die Erde oder we- 
nigstens breite Meridianal-Streifen derselben von einem Pol zum 
andern gleichzeitig kälter geworden sind, lässt sich viel Licht über 
die jetzige Vertheilung identischer und verwandter Arten verbreiten. 
Dr. Hooxer hat gezeigt, dass in Amerika 40— 50 Blüthen-Pflanzen des 
Feuerlandes, welche keinen unbeträchtlichen Theil der dortigen klei- 
nen Flora bilden, trotz der ungeheuren Entfernung beider Punkte, 
mit Europäischen Arten übereinstimmen ; ausserdem gibt es viele 
nahe verwandte Arten. Auf den hoch-ragenden Gebirgen des 
tropischen Amerika’s kommt eine enge besondrer Arten aus 
Europäischen Sippen vor. Auf den höchsten Bergen Brasiliens 
sind einige wenige Europäische Sippen von GARDENER gefunden 
worden, welche in den weit-gedehnten warmen Zwischenländern 
nicht fortkommen. An der Silla von Caraccas fand Ar. von 
HumsoLor schon vor langer Zeit Sippen, welche für die Cor- 
dilleren bezeichnend sind. Auf den Abyssinischen Gebirgen. 
kommen verschiedene Europäische Formen und einige wenige 
stellvertretende Arten der eigenthümlichen Flora des Caps der 
guten Hoffnung vor. Am Cap sind einige wenige Europäische 
Arten, die man nicht für eingeführt hält, und auf den Bergen 
einige wenige stellvertretende Formen Europäischer Arten ge- 
funden ‘worden, dergleichen man in den tropischen Ländern 
Afrika’s noch nicht entdeckt hat. Am Himalaya und auf den 
vereinzelten Berg-Ketten der Indischen Halbinsel, auf den Höhen 
von Ceylon und den vulkanischen Kegeln Javas treten viele. 
Pflanzen auf, welche entweder der Art nach mit einander über- 
einstimmen, oder sich wechselseitig vertreten und zugleich für 
Europäische Formen vikariiren, aber in den dazwischen gelege- 
nen warmen Tiefländern nicht gefunden werden. Ein Verzeich- 
niss der auf den luftigen Berg-Spitzen Javas gesammelten Sip- 
pen liefert ein Bild wie von einer auf Europäischen Gebirgen 
gemachten Sammlung, Noch viel schlagender ist die Thatsache, 
dass die Süd-Australischen Formen offenbar durch Pflanzen re- 
präsentirt werden, welche auf den Berg-Höhen von Borneo wach- 
sen. Einige dieser Australischen (Neuholländischen) Formen 
erstrecken sich nach Dr. Hooker längs der Höhen der Halbinsel 


381 


Malakka und sind dünne zerstreut einerseits über Indien und 
andrerseits nordwärts bis Japan. 

Auf ‘den südlichen Gebirgen Neuhollands hat Dr. F. MürLer 
mehre Europäische Arten entdeckt; andre nicht von Menschen 
eingeführte Spezies kommen in den Niederungen vor, und, wie 
mir Dr. Hooker sagt, könnte noch eine lange Liste von Europär- 
schen. Sippen aufgestellt werden, die sich in Neuholland, aber 
nicht in den heissen Zwischenländern finden. In der vortrefl- 
lichen Einleitung zur Flora Neuseelands liefert Dr. Hooker 
noch andre analoge und schlagende Beispiele hinsichtlich der 
Pflanzen dieser grossen Insel. Wir sehen daher, dass über 
der ganzen Erd-Oberfläche einestheils die auf den höheren Ber- 
gen wachsenden Pflanzen, wie anderntheils die in den gemässig- 
ten Tiefländern der nördlichen und der südlichen Hemisphäre 
verbreiteten zuweilen von gleicher Art sind; noch öfter aber 
erscheinen sie spezifisch verschieden, obwohl in merkwürdiger 
‚Weise mit einander verwandt. 

Dieser kurze Umriss bezieht sich nur auf Pflanzen allein; 
aber genau analoge Thatsachen lassen sich auch über die Ver- 
theilung der Landthiere anführen. Auch bei den Seethieren kom- 
men ähnliche Fälle vor. Ich will als Beleg die Bemerkung eines 
der besten Gewährsmänner, nämlich des Professors Dana anführen, 
»dass es gewiss eine wunderbare Thatsache ist, dass Neuseeland 
hinsichtlich seiner Kruster eine grössre Verwandtschaft mit sei- 
nem Antipoden Grossbritannien als mit irgend einem andern Theile 
der Welt zeigt«. Eben so spricht Sir J..Rıcnarnson von dem Wie- 
dererscheinen nordischer Fisch-Formen an den Küsten von Neu- 
seeland, Tasmania u, s. w. Dr. Hooxer sagt mir, dass Neusee- 
land 25 Algen-Arten mit Europa gemein hat, die in den tropi- 
schen Zwischenmeeren noch nicht gefunden worden sind. 

Es ist zu bemerken, dass die in den südlichen Theilen der 
südlichen Halbkugel und auf den tropischen Hochgebirgen gelun- 
denen nördlichen Arten und Formen keine arktischen sind, son- 
dern dem nördlichen Theile der gemässigten Zone entsprechen. 
Hr. H. C. Warson hat neulich bemerkt, »je weiter man von den 
polaren gegen die tropischen Breiten voranschreitet, desto weni- 


382 


ger arktisch werden die alpinen oder gebirglichen Formen der 
Organismen.« Viele der auf den Gebirgen wärmerer Gegenden 
der Erde und in der südlichen Hemisphäre lebenden Arten 
sind von so zweifelhaftem Werthe, dass sie von einigen Natur- 
forschern als wesentlich verschieden und von andern als blosse 
Varietäten bezeichnet werden. 

Wir wollen nun zusehen, welche Aufschlüsse die vorangehen- 
den Thatsachen über die durch eine Menge geologischer Beweise 
unterstützte Annahme gewähren können, dass die ganze Erd- 
Oberfläche oder wenigstens ein grosser Theil derselben während 
der Eis-Periode gleichzeitig viel kälter als jetzt gewesen seye., 
Die Eis-Periode muss, in Jahren ausgedrückt, sehr lang gewesen 
seyn; und wenn wir berücksichtigen, über welch’ weite Flächen 
einige naturalisirte Pflanzen und Thiere in wenigen Jahrhunder- 
ten sich ausgebreitet haben, so hat diese Periode für jede 
noch so weite Wanderung ausreichen können. Da die Kälte 
nur langsam zunahm, so werden alle tropischen Pflanzen und 
Thiere sich von beiden Seiten her gegen den Äquator zu- 
rückgezogen haben, gefolgt von den Bewohnern gemässigter 
Gegenden, welchen die der Polar-Zonen nachrückten; doch haben 
wir es mit den letzten in diesem Augenblicke nicht zu thun. 
Viele der Tropen-Pflanzen erloschen dabei ohne Zweifel; wie 
viele, kann niemand sagen. Vielleicht waren vordem die Tropen- 
Gegenden eben so reich an Arten, wie jetzt das Kap der guten 
Hoffnung und einige gemässigte Theile Neuhollands. Da wir 
wissen, dass viele tropische Pflanzen und Thiere einen ziemlichen 
Grad von Kälte aushalten können, so mögen manche derselben 
der Zerstörung durch eine mässige Temperatur-Abnahme ent- 
gangen seyn, zumal wenn sie in die tiefsten geschütztesten und 
wärmsten Bezirke zu entkommen vermochten. Aber was man 
hauptsächlich nicht vergessen darf, das ist, dass doch alle Tro- 
pen-Erzeugnisse mehr oder weniger gelitten haben müssen. Die 
Bewohner gemässigter Gegenden, welche näher an den Äquator 
heranrücken konnten, wurden in einigermaassen neue Verhält- 
nisse versetzt, litten aber weniger. Auch ist es gewiss, dass 
viele Pflanzen gemässigter Gegenden, wenn sie gegen Mitbewer- 


383 


bung geschützt sind, ein viel wärmeres als ihr eigentliches Klima er- 
tragen können. Daher scheint es mir möglich dass, da die Tro- 
pen-Erzeugnisse in leidendem Zustande waren und den Eindring- 
lingen keinen ernsten Widerstand zu leisten vermochten, eine 
gewisse Anzahl der kräftigsten und herrschendsten Formen der 
 gemässigten Zone in die Reihen der Eingebornen eingedrungen 
sind und den Äquator erreicht und selbst noch überschritten 
haben. Der Einfall wurde in der Regel durch Hochländer 
und vielleicht ein trocknes -Klima noch begünstigt; denn Dr. 
Faıconer sagt mir, dass es die mit der Hitze der Tropenländer 
verbundene Feuchtigkeit ist, welche den perennirenden Gewäch- 
sen aus gemässigteren Gegenden so verderblich wird. Dagegen 
werden die feuchtesten und wärmsten Bezirke den Eingebornen 
der Tropen als Zufluchtsstätte gedient haben. Die Gebirgs-Ket- 
ten im Nordwesten des Himalaya und die lange Cordilleren- 
Reihe scheinen zwei grosse Invasions-Linien gebildet zu haben; 
undges ist eine schlagende Thatsache, dass nach Dr. Hooker's letzter 
Mittheilung die 46 Blüthen-Pflanzen, welche Feuerland mit Europa 
gemein hat, alle auch in Nord-Amerika vorkommen , das auf 
ihrer Marsch-Route gelegen haben muss. Doch zweifle ich nicht 
daran, dass auch einige Bewohner der gemässigten Zonen sogar 
in die Tiefländer der Tropen eingedrungen sind und diese über- 
schritten haben, als zur Zeit der grössten Kälte arktische For- 
men von ihrer Heimath aus 25 Breiten-Grade südwärts vordran- 
gen und das Land am Fusse der Pyrenäen bedeckten. In dieser 
Zeit der grössten Kälte dürfte dann das Klima unter dem Äqua- 
tor im Niveau des Meeres-Spiegels ungefähr das nämliche gewesen 
seyn, wie es jetzt dort. in 6000°—-7000' Seehöhe herrscht. In 
dieser Zeit der grössten Kälte waren meiner Meinung nach weite 
Räume in den tropischen Tiefländern mit einer Vegetation be- 
deckt aus Formen tropischer und gemässigter Gegenden zusam- 
mengesetzt und derjenigen vergleichbar, welche sich nach Hook£r $ 
lebendiger Beschreibung in wunderbarer Üppigkeit am Fusse des 
Himalaya entfaltet. 

So sind, glaube ich, während der Eis-Periode beträchtlich 
viele Pflanzen, einige Landthiere und verschiedene Meeres- 


384 


Bewohner von beiden gemässigten Zonen aus in die Tropen-Gegen- 
den eingedrungen und haben manche sogar den Äquator über- 
schritten. Als die Wärme zurückkehrte, stiegen die den gemäs- 
sigten Klimaten entstammten Formen natürlich an den Bergen 
hinan und verschwanden aus den Tiefebenen ; diejenigen welche 
den Aquator nicht erreicht hatten, kehrten nord- und süd-wärts 
in ihre frühere Heimath zurück; jene hauptsächlich nordi- 
schen Formen aber, welche den Äquator schon überschritten, 
wanderten weiter in die gemässigten Breiten der entgegengesetz- 
ten Hemisphäre. Obwohl sich aus geologischen Forschunge 

ergibt, dass die ganze Masse der arktischen Konchylien auf ihrer 
langen Wanderung nach Süden und ihrer Rückwanderung nach 
Norden kaum irgend eine wesentliche Modifikation erfahren habe, 
so ist das Verhältniss doch ein ganz andres hinsichtlich der ein- 
gedrungenen Formen, welche sich auf den tropischen Gebirgen 
und in der südlichen Hemisphäre festsetzten. _Von Fremdlingen 
umgeben geriethen sie mit vielen neuen Lebenformen in Mjtbe- 
werbung; und es ist wahrscheinlich, dass Abänderungen in Struk- 
tur organischer Thätigkeit und Lebensweise davon die Folge waren 
und durch Natürliche Züchtung fortgebildet wurden. So leben 
nun viele von diesen Wanderern, wenn auch offenbar noch ver- 
wandt mit ihren Brüdern in der andern Hemisphäre, in ihrer 
neuen Heimath als ausgezeichnete Varietäten oder eigene Spe- 
zies fort. 

Es ist eine merkwürdige Thatsache, worauf Hooker hinsicht- 
lich Amerikas und Aıruons DeCanvorıe hinsichtlich Australiens 
bestehen, dass offenbar viel mehr identische und verwandte Pflan- 
zen von Norden nach Süden als in umgekehrter Richtung gewan- 
dert sind. Wir sehen daher nur wenige südlichen Pflanzen-For- 
men auf den Bergen von Borneo und Abyssinien. Ich vermuthe, 
dass diese überwiegende Wanderung von Norden nach Süden 
der grösseren Ausdehnung des Landes im Norden und der zalıl- 
reicheren Existenz der nordischen Formen in ihrer Heimath zu- 
zuschreiben ist, in deren Folge sie durch Natürliche Züchtung 
und ‚manchfaltigere Mitbewerbung bereits zu höherer Vollkommen- 
heit und Herrschafts-Fähigkeit als die südlicheren Formen gelangt 


385 


waren. Und als nun beide während der Eis-Periode sich durch- 
einander mengten, waren die nördlichen Formen besser geeig- 
net die südlichen zu überwinden, — so wie wir heutzutage noch 
Europäische Einwandrer den Boden von La-Plata und seit 30—40 
Jahren auch von Neuholland bedecken sehen. Etwas ähnliches 
muss sich auch in den tropischen Gebirgen zugetragen haben, 
welche zweifelsohne schon vor der Eiszeit mit ihren eigenthüm- 
lichen Alpen-Bewohnern bevölkert gewesen sind. Auf vielen Inseln 
sind die eingebornen Erzeugnisse durch die naturalisirten bereits 
an Menge erreicht oder überboten ; und wenn jene ersten jetzt 
auch noch nicht verdrängt sind, so hat ihre Anzahl doch schon 
sehr abgenommen, und Diess ist der erste Schritt zum Unter- 
gang. Ein Gebirge ist eine Insel auf dem Lande, und die tropischen 
Gebirge vor der Eis-Zeit müssen vollständig isolirt gewesen seyn. 
Ich glaube, dass die Erzeugnisse dieser Inseln auf dem Lande 
vor denen der grösseren nordischen Länder-Strecken ganz in 
derselben Weise zurückgewichen sind, wie die Erzeugnisse der 
Inseln im Meer zuletzt ‚überall von den durch den Menschen da- 
selbst naturalisirten verdrängt wurden. 

Ich bin ferne davon zu glauben, dass durch die hier aufge- 
stellte Ansicht über die Ausbreitung und die Beziehungen der 
verwandten Arten, welche in der nördlichen und der südlichen 
gemässigten Zone und auf den Gebirgen der Tropen-Gegenden 
wöhnen, bereits alle Schwierigkeiten ausgeglichen sind. Sehr 
viele bleiben noch zu überwinden. Ich behaupte nicht, die Rich- 
tungen und Mittel der Wanderungen oder die Ursachen genau 
nachweisen zu können, warum die einen und nicht die andern 
Arten gewandert sind, oder warum gewisse Spezies Abänderung 
erfahren haben und zur Bildung neuer Formen-Gruppen verwen- 
det worden, während andre unverändert geblieben sind. Wir 
können nicht hoffen solche Verhältnisse zu erklären, so lange 
wir nicht zu sagen vermögen, warum ‘eine Art und nicht die 
andre durch menschliche Thätigkeit in fremden Landen naturali- 
sirt werden kann, oder warum die eine zwei oder drei mal so 
weit verbreitet, zwei oder drei mal so gemein als die andre. Art 
in der gemeinsamen Heimath ist. 

25 


‚386 


Ich habe gesagt, dass viele Schwierigkeiten noch zu über- 
winden bleiben. Einige der merkwürdigsten hat Dr. Hooxer in 
seinen botanischen Werken über die antarktischen Regionen mit 
bewundernswerther Klarheit auseinandergesetzt. Diese können 
hier nicht erörtert werden, Nur Das will ich bemerken, dass, 
wenn es sich um das Vorkommen einer Spezies an so unge- 
heuer von einander entfernten Punkten handelt, wie Kerguelen- 
Land, Neuseeland und Feuerland sind, nach meiner Meinung (wie 
auch Lyeıı annimmt) Eisberge gegen das Ende der Eis-Zeit 
hin sich reichlich an deren Verbreitung betheiligt haben dürften. 
Aber das Vorkommen einiger völlig verschiedenen Arten aus 
ganz südlichen Sippen an diesem oder jenem entlegenen Punkte 
der südlichen Halbkugel ist nach meiner Theorie der Fortpflan- 
zung mit Abänderung ein weit merkwürdigeres schwieriges Beispiel. 
Denn einige dieser Arten sind so abweichend, dass sich nicht 
annehmen lässt, die Zeit von Anbeginn der Eis-Periode bis jetzt 
könne zu ihrer Wanderung und nachherigen Abänderung. bis 
zur erforderlichen Stufe hingereicht haben. Diese Thatsachen 
scheinen mir anzuzeigen, dass sehr verschiedene eigenthümliche 
Arten in !strahlenförmiger Richtung von irgend einem gemein- 
samen Zentrum ausgegangen; und ich bin geneigt mich auch in 
der südlichen so wie in der nördlichen Halbkugel um eine wär- 
mere Periode vor der Eis-Zeit umzusehen, wo die jetzt mit Eis 
bedeckten antarktischen Länder eine ganz eigenthümliche und 
abgesonderte Flora besessen haben. Ich vermuthe, dass schon 
vor der Vertilgung dieser Flora durch die Eis-Periode sich einige 
wenige Formen derselben durch gelegentliche Transport-Mittel 
bis zu verschiedenen weit entlegenen Punkten der südlichen 
Halbkugel verbreitet hatten. Dabei mögen ihnen einige ent- 
weder noch vorhandene oder bereits versunkene Inseln als 
Ruheplätze gedient haben. Und so, glaube ich, haben die süd- 
lichen Küsten von Amerika, Neuholland und Neuseeland eine 
ähnliche Färbung durch gleiche eigenthümliche Formen des Pflan- 
zen-Lebens erhalten. | 

Sir Cu. Lyeı hat sich in einer der meinen last ähnlichen 
Weise in Vermuthungen ergangen über die Einflüsse grosser 


- 387 


Schwankungen des Klimas auf die geographische Verbreitung der 
Lebenformen. Ich glaube also, dass die Erd-Oberfläche noch un- 
längst einen von diesen grossen Kreisläufen erfahren hat, und 
dass durch diese Unterstellung in Verbindung mit der Annahme 
der Abänderung durch Natürliche Züchtung eine Menge von That- 
sachen in der gegenwärtigen Vertheilung von identischen sowohl 
als verwandten Lebenformen sich erklären lässt. Man könnte 
sagen, die Ströme des Lebens seyen eine kurze Zeit von Norden 
und von Süden her geflossen und hätten den Äquator gekreutzt; 
aber die von Norden her seyen so viel stärker gewesen, dass 
sie den Süden überschwemmt hätten. Wie die Gezeiten ihren Bei- 
trieb in wagrechten Linien abgesetzt am Strande zurücklassen, jedoch 
an verschiedenen Küsten zu verschiedenen Höhen ansteigen, so 
haben auch jene Lebens-Ströme ihr lebendiges Drift auf unsern Berg- 
Höhen hinterlassen in einer von den arktischen Tiefländern bis zu 
grossen Äquatorial-Höhen langsam ansteigenden Linie. Die ver- 
schiedenen auf dem Strande zurückgelassenen Lebenwesen kann 
man mit wilden Menschen-Rassen vergleichen, die fast allerwärts 
zurückgedrängt sich noch in Bergfesten erhalten als interes- 
sante Überreste der ehemaligen Bevölkerung umgebender Flach- 
länder. 


Z4wöfltes Kapitel. 
Geographische Verbreitung. 


(Fortsetzung.) 


Verbreitung der Süsswasser-Bewohner. — Die Bewohner der ozeanischen 
Inseln. — Abwesenheit von Batrachiern und Land-Säugthieren. — Be- 
ziehungen zwischen den Bewohnern der Inseln und der nächsten Festlän- 
der. — Über Ansiedelung aus den nächsten Quellen und nachherige Ab- 
änderung. — Zusammenfassung der SBFTENBeR aus dem letzten und dem 
gegenwärtigen Kapitel. 

Da See’n und Fluss-Systeme durch Schranken von Trocken- 
land von einander getrennt werden, so möchte man glauben, 
dass Süsswasser-Bewohner nicht im Stande seyen sich aus einer 


Gegend in weite Ferne zu verbreiten. Und doch verhält sich 
25° 


388 

die Sache gerade entgegengesetzt. Nicht allein haben viele 
Süsswasser-Bewohner aus ganz verschiedenen Klassen selbst eine 
ungeheure Verbreitung, sondern einander nahe verwandte For- 
men herrschen auch in auffallender Weise über die ganze Erd- 
Oberfläche vor. Ich besinne mich noch wohl der Überraschung, 
die ich fühlte, als ich zum ersten Male in Brasilien Süsswasser- 
Erzeugnisse sammelte und die Süsswasser-Schaaler und -Kerb- 
thiere mitten in einer ganz verschiedenen Bevölkerung des 
-Trockenlandes den Britischen so ähnlich fand. 

Doch kann dieses Vermögen weiter Verbreitung bei den 
Süsswasser-Bewohnern, wie unerwartet es auch seyn mag, in 
den meisten Fällen, wie ich glaube, daraus erklärt werden, dass 
sie in einer für sie sehr nützlichen Weise von Sumpf zu 
- Sumpf und von Strom zu Strom zu wandern fähig sind; woraus 
sich denn die Neigung zu weiter Verbreitung als eine nothwen- 
dige Folge ergeben dürfte. Doch können wir hier nur wenige 
Fälle in Betracht ziehen. Was die Fische betrifft, so glaube ich, 
. dass eine und dieselbe Spezies niemals in den Süsswassern weil 
von einander entfernter Kontinente vorkommt; wohl aber ver- 
breitet sie sich in einem nämlichen Festlande oft weit und in 
anscheinend launischer Weise, so dass zwei Fluss-Systeme einen 
Theil ihrer Fische miteinander gemein haben, während andre 
Arten jedem derselben eigenthümlich sind. Einige wenige 
Thatsachen scheinen ihre gelegenheitliche Versetzung aus einem 
Fluss in den andern zu erläutern, wie deren in Ostindien schon 
öfters von Wirbelwinden bewirkte Entführung durch die Luft, 
wonach sie als Fisch-Regen wieder zur Erde gelangten, und wie 
die Zählebigkeit ihrer aus dem Wasser entnommencn Eier. Doch 
bin ich geneigt, die Verbreitung der Süsswasser-Fische vorzugs- 
- weise geringen Höhenwechseln des Landes während der gegen- 
wärtigen Periode zuzuschreiben, wodurch manche Flüsse veran- 
lasst worden sind, sich in andrer Weise miteinander zu verbin- 
den. Auch lassen sich Beispiele anführen, dass Diess ohne Ver- 
. änderumgen in den wechselseitigen Höhen durch Fluthen bewirkt 
. worden ist. Der Löss des Rheines bietet uns Belege für an- 
sehnliche Veränderungen der Boden-Höhe in einer ganz neuen 


389 


geologischen Zeit dar, wo die Oberfläche schon mit ihren jetzi- 
gen Arten von Binnenmollusken bevölkert war. Die grosse 
‚Verschiedenheit zwischen den Fischen auf den entgegengeseizien 
- Seiten von Gebirgs-Ketten, die schon seit früher Zeit die Was- 
serscheide der Gegend gebildet und die Ineinandermündung, der 
beiderseitigen Fluss-Systeme gehindert haben müssen, scheint 
mir zum nämlichen Schlusse zu führen. Was das Vorkommen 
verwandter Arten von Süsswasser-Fischen an sehr entfernten 
Punkten der Erd-Oberfläche betrifft, so gibt es zweifelsohne viele 
Fälle, welche zur Zeit nicht erklärt werden können. Inzwischen 
‚stammen einige Süsswasser-Fische von sehr alten Formen ab, 
welche mithin während grosser geographischer Veränderungen 
Zeit und Mittel gefunden haben sich durch weite Wanderungen 
zu verbreiten. Zweitens können Salzwasser-Fische bei sorgfäl- 
-tigem Verfahren langsam ans Leben im Süsswasser gewöhnt 
werden, und nach Varencıenses gibt es kaum eine gänzlich aufs 
Süsswasser beschränkte Fisch-Gruppe. so dass wir uns vorstel- 
len können, ein Meeres-Bewohner aus einer übrigens dem Süss- 
wasser angehörigen Gruppe wandre der See-Küste entlang und 
werde demzufolge abgeändert und endlich in Süsswassern eines 
entlegenen Landes zu leben befähigt. 

Einige Arten von Süsswasser-Konchylien haben eine sehr 
„weite Verbreitung, und verwandte Arten, die nach meiner Theo- 
rie von gemeinsamen Ältern abstammen und mithin aus einer 
einzigen Quelle hervorgegangen sind, walten über die ganze 
Erd-Oberfläche vor. Ihre Verbreitung setzte mich anfangs in 
Verlegenheit, da ihre Eier nicht zur Fortführung durch Vögel 
geeignet sind und wie die Thiere selbst durch Seewasser ge- 
tödtet werden. Ich konnte daher nicht begreifen, wie es komme, 
dass einige naturalisirte Art®h sich rasch durch eine ganze 
Gegend verbreitet haben. Doch haben zwei von mir beobachtete 
Thatsachen — und viele andre bleiben zweifelsohne noch ferne- 
rer Beobachtung anheim gegeben — einiges Licht über diesen 
Gegenstand verbreitet. Wenn eine Ente sich plötzlich aus 
einem mit Wasserlinsen bedeckten Teiche erhebt, so bleiben oft, 
wie ich zweimal gesehen habe, welche von diesen kleinen Pflan- 


390 


zen an ihrem Rücken hängen, und es ist mir geschehen, dass, 
wenn ich einige Wasserlinsen aus einem Aquarium ins andre 
versetzte, ich ganz absichtlos das letzte mit Süsswasser-Mollus- 
ken des ersten bevölkerte. Doch ist ein andrer Umstand viel- 
leicht noch wirksamer. In Betracht, dass Wasser-Vögel mitunter 
in Sümpfen schlafen, hängte ich einen Enten-Fuss in einem 
Aquarium auf, wo viele Eier von Süsswasser-Schnecken auszu- 
kriechen im Begriffe waren, und fand, dass bald eine grosse 
Menge der äusserst kleinen eben ausgeschlüpften Schnecken an 
dem Fuss umherkrochen und sich so fest anklebten, dass sie von 
dem heraus-genommenen Fusse nicht abgeschabt werden konnten, 
obwohl sie in einem etwas mehr vorgeschrittenen Alter freiwil- 
lig davon abliessen. Diese frisch ausgeschlüpften Weichthiere, 
obschon zum Wohnen im Wasser bestimmt, lebten an dem En- 
ten-Fusse in feuchter Luft wohl 12—20 Stunden lang, und wäh- 
rend dieser Zeit kann eine Ente oder ein Reiher wenigstens 
600—-700 Englische (140 Deutsche) Meilen weit fliegen und sich 
dann wieder in einem Sumpfe oder Bache niederlassen, viel- 
leicht auf einer ozeanischen Insel, wenn ein Sturm denselben 
erfasst und über’s Meer hin verschlagen hatte. Auch hat mich 
Sir Cm. Lyerı benachrichtigt, dass man einen Wasserkäfer (Dyti- 
cus) mit einer ihm fest ansitzenden Süsswasser - Napfschnecke 
(Ancylus) gefangen hat; und ein andrer Wasserkäfer aus der 
Sippe Colymbetes kam einst an Bord des Beagle geflogen, als 
dieser 45 Englische Meilen vom nächsten Lande entfernt war; 
wie viel weiter er aber mit einem günstigen Winde noch gekom- 
men seyn würde, Das vermag niemand zu sagen. dm 

Was die Pflanzen betrifft, so ist es längst bekannt, was für 
eine ungeheure Ausbreitung manche Süsswasser- und selbst 
Sumpf-Gewächse 'auf den Festlärftern und bis zu den entfernte- 
sten Inseln des Weltmeeres besitzen. Diess ist nach Aurh. 
DeCanvorıe's Wahrnehmung am deutlichsten in solchen grossen 
Gruppen von Landpflanzen zu ersehen, aus welchen nur einige 
Glieder an Süsswassern leben ; denn diese letzten pflegen sofort 
eine viel grössre Verbreitung als die übrigen zu erlangen. Ich 
glaube, dass die günstigeren Verbreitungs-Mittel diese Erschei- 


391 


nung erklären können. Ich habe ‘vorhin der Erd - Theilchen 
erwähnt, welche, wenn auch nur selten und zufällig einmal, an 
Schnäbeln und Füssen der Vögel hängen bleiben. Sumpfvögel, 
welche die schlammigen Ränder der Sümpfe aufsuchen, werden 
meistens schmutzige Füsse haben, wenn sie plötzlich aulge- 
scheucht werden. Nun lässt sich nachweisen, dass gerade Vögel 
dieser Ordnung die grössten Wanderer sind und zuweilen auf 
den entferntesten und ödesten Inseln des offenen Weltmeeres 
angetroffen werden. Sie können sich nicht auf der Oberfläche 
des Meeres niederlassen, wo der noch an ihren Füssen hängende 
Schlamm abgewaschen werden könnte; und wenn sie ans Land 
kommen, werden sie gewiss alsbald ihre gewöhnlichen Aufent- 
halts-Orte an den Süsswassern aufsuchen. Ich glaube kaum dass 
die Botaniker wissen, wie beladen der Schlamm der Sümpfe mit 
Pflanzen-Sagmen ist; ich habe jedoch einige kleine ‚Beobachtun- 
gen darüber gemacht, deren zutreffendsten Ergebnisse ich hier 
imittheilen will. Ich: nahm im Februar drei Esslöffel voll Schlamm 
von drei verschiedenen Stellen unter Wasser, am Rande eines 
kleinen Sumpfes. Dieser Schlamm getrocknet wog 6°/, Unzen. 
Ich bewahrte ihn sodann in meinem Arbeitszimmer bedeckt 6 
Monate lang auf und zählte und riss jedes aufkeimende Pflänz- 
chen aus. Diese Pflänzchen waren von mancherlei Art und 537 
im Ganzen; und doch war all’ dieser zähe Schlamm in einer 
einzigen Untertasse enthalten. Diesen Thatsachen gegenüber 
würde es nun geradezu unerklärbar seyn, wenn es nicht mitun- 
ter vorkäme, dass Wasser-Vögel die Saamen von Süsswasser- 
Pflanzen in weite Fernen verschleppten und so zur immer weitern 
Ausbreitung derselben beitrügen. Und derselbe Zufall mag hin- 
sichtlich der Eier einiger kleiner Süsswasser-Thiere in Betracht 
kommen. 

Auch noch andre und mitunter unbekannte Kräfte mögen 
dabei ihren Theil haben. Ich habe oben gesagt, dass Süsswas- 
ser-Fische manche Arten Sämereien fressen, obwohl sie andre 
Arten, nachdem sie solche verschlungen haben, wieder auswer- 
fen; selbst kleine Fische verschlingen Saamen von mässiger 
Grösse, wie die der gelben Wasserlilie»und des Potamogeton, 


392 


Hunderte und abermals Hunderte von Reihern u. a. Vögeln gehen 
täglich auf den Fischfang aus; wenn sie sich erheben, suchen 
sie oft andre Wasser auf oder werden auch zufällig übers Meer 
getrieben; und wir haben gesehen, dass Saamen oft ihre Keim- 
kraft noch besitzen, wenn sie in Gewölle, in Exkrementen u. dgl. 
einige Stunden später wieder ausgeworfen werden. Als ich 
die grossen Saamen der herrlichen Wasserlilie, Nelumbium, sah 
und mich dessen erinnerte, was Arpuons DECANDOLLE über diese 
Pflanze gesagt, so meinte ich ihre Verbreitung müsse ganz uner- 
klärbar seyn. Doch Aupuson versichert, Saamen der grossen 
südlichen Wasserlilie (nach Dr. Hooker wahrscheinlich das Ne- 
' lumbium speeiosum) im Magen eines Reihers gefunden zu haben, 
und, obwohl es mir als Thatsache nicht bekannt ist, so schliesse 
ich doch aus der Analogie, dass, wenn ein Reiher in solchem 
Falle nach einem andern Sumpfe flöge und dort,eing herzhafte 
Fisch-Mahlzeit zu sich nähme, er wahrscheinlich aus seinem 
Magen wieder einen Ballen mit noch unverdautem Nelumbium- 
Saamen auswerfen würde; oder der Vogel kann diese Saamen 
verlieren, wenn er seine Jungen füttert, wie er bekanntlich zu- . 
weilen einen Fisch fallen lässt *. 

Bei Betrachtung dieser verschiedenen Verbreitungs -Mittel 
muss man sich noch erinnern, dass, wenn ein Sumpf oder Fluse 
z. B. auf einer neuen Insel eben erst entsteht, er noch nicht bevöl- 
kert ist und ein einzelnes Sämchen oder Eichen ‘gute Aussicht 
auf Fortkommen hat. Auch wenn ein Kampf ums Daseyn zwi- 
schen den Individuen der wenigen Arten, die in einem. Sumpfe 
beisammen leben, bereits begonnen hat, so wird in Betracht, dass 
die Zahl der Arten gegen die auf dem Lande doch geringer ist, 
der Wettkampf auch wohl minder heftig als der zwischen den 
Landbewohnern seye; ein neuer Eindringling, aus der Fremde 
angelangt, würde mithin auch mehr Aussicht haben eine Stelle 


* In diesem Falle wäre’ vielleicht wahrscheinlicher anzunehmen, der 
Reiher habe einen Fisch verschlungen gehabt, welcher jene Saamen gefres- 
sen hatte; und die Saamen würden keimfähig wieder zu Boden gelangt seyn, 
wenn nun ein Raubvogel den Reiher zerrissen hätte. D. Übs. 


393 


zu. erobern, als ein neuer Kolonist auf dem trocknen Lande. 
Auch dürfen wir nicht vergessen, dass einige und vielleicht viele 
Süsswasser-Bewohner tief auf der Stufenleiter der Natur stehen 
und wir mit’Grund annehmen können, dass solche tief organisirte 
Wesen langsamer als die höher ausgebildeten abändern, demzu- 
folge dann ein und die nämliche Art Wasser-bewohnender Orga- 
nismen längre Zeit wandern kann, als die Arten des trocknen 
Landes. Endlich müssen wir der Möglichkeit gedenken, dass 
viele Süsswasser-bewohnende Spezies, nachdem sie sich über un- 
geheure Flächen verbreitet, in den mitteln Gegenden derselben 
wieder erloschen seyn können. Aber die weite Verbreitung der 
Pflanzen und niederen Thiere des Süsswassers, mögen sie nun 
ihre ursprüngliche Form unverändert bewahren oder in gewissem 
Grade verändern, hängt nach meiner Meinung hauptsächlich von 
der Leichtigkeit ab, womit ihre Saamen und Eier durch andere 
Thiere und zumal höchst flugfertige Süsswasser - Vögel von 
einem Gewässer zum ‚andern oft sehr entfernt gelegenen ver- 
schleppt werden können. Die Natur hat wie ein sorgfältiger 
Gärtner ihre Saamen von einem Beete von besondrer Beschaffen- 
heit genommen und sie in ein andres gleichfalls angemessen zu- 
bereitetes verpflanzt. | 

Bewohner der ozeanischen Inseln) Wir kommen 
nun zur letzten der drei Klassen von 'Thatsachen, welche ich 
als diejenigen bezeichnet habe, welche die grössten Schwierig- 
keiten für die Ansicht darbieten, dass, weil alle Individuen so- 
wohl der nämlichen Art als auch nahe-verwandter Arten von 
einem gemeinsamen Stammvater herkommen, auch alle von ge- 
meinsamer Geburtsstätte aus sich über die entferntesten Theile 
der Erd-Oberfläche, deren Bewohner sie jetzt sind, verbreitet 
haben müssen. Ich habe bereits erklärt, dass ich nicht wohl mit 
der Forses’schen Ansicht übereinstimmen kann, wonach alle In- 
seln des Atlantischen Ozeans noch in der gegenwärtigen neue- 
sten Periode mit einem der zwei Kontinente ganz oder fast ganz 
zusammengehangen haben sollen. Diese Ansicht würde zwar 
allerdings einige Schwierigkeiten beseitigen, dürfte aber keines- 
wegs alle Erscheinungen hinsichtlich der Insel-Bevölkernng er- 


394 

klären. . In den nachfolgenden Bemerkungen werde ich mich 
nicht auf die blosse Frage von der Vertheilung der Arten be- 
schränken, sondern auch einige andre Thatsachen erläutern, 
welche sich auf die zwei Theorien, die der selbstständigen 
Schöpfung der Arten und die ihrer Abstammung von einander 
mit fortwährender Abänderung beziehen. 

Nur wenige Arten aller Klassen bewohnen ozeanische Inseln, 
im Vergleich zu gleich grossen Flächen festen Landes, wie 
Arpnons DeCAnvoLze in Bezug auf die Pflanzen und Worraston 
hinsichtlich der Insekten behaupten. Betrachten wir die erheb- 
liche Grösse und die manchfaltigen Standorte Neuseelands, das 
über 780 Englische Meilen Breite hat, und vergleichen die Arten 
seiner Blüthen-Pflanzen, nur 750 an der Zahl, mit denen einer 
gleich grossen Fläche am Kap der guten Hoffnung oder in Neu- 
holland, so müssen wir, glaube ich, zugestehen, dass etwas von 
den physikalischen Bedingungen ganz Unabhängiges die grosse 
Verschiedenheit der Arten-Zahlen veranlasst hat. Selbst die ein- 
förmige Umgegend von Cambridge zählt 847 und das kleine Ei- 
land Anglesea 764 Pflanzen-Arten; doch sind auch einige Farne 
und einige eingeführte Arten in diesen Zahlen mitbegriffen und 
ist die Vergleichung auch in einigen andern Beziehungen nicht 
ganz richtig. Wir haben Beweise, dass das kahle Eiland Ascen- 
sion bei seiner Entdeckung nicht ein halbes Dutzend Blüthen- 
Pflanzen besass; jetzt sind viele dort naturalisirt, wie es eben 
auch auf Neuseeland und auf allen andern ozeanischen Inseln 
der Fall ist. Auf St. Helena nimmt man mit Grund an, dass 
die naturalisirten Pflanzen und Thiere schon viele einheimische 
Natur-Erzeugnisse gänzlich oder fast gänzlich vertilgt haben. 
Wer also der Lehre von der selbstständigen Erschaffung aller 
einzelnen Arten beipflichtet, der wird zugestehen müssen, dass 
auf den ozeanischen Inseln keine hinreichende Anzahl bestens 
angepasster Pflanzen und Thiere geschaffen worden seye, indem 
der Mensch diese Inseln ganz absichtlos aus verschiedenen Quellen 
viel besser und vollständiger als die Natur bevölkert hat. 

Obwohl auf ozeanischen Inseln die Arten-Zahl der Bewohner 
im Ganzen dürftig, so ist doch das Verhältniss der endemischen, 


395 


d. h. sonst nirgends vorkommenden Arten oft ausserordentlich 
gross. Diess ergibt sich, wenn man z. B. die Anzahl der ende- 
mischen Landschnecken auf Madeira, oder der endemischen 
Vögel im Galapagos-Archipel mit der auf irgend einem Kontinente 
gefundenen Zahl vergleicht und dann auch die beiderseitige Flä- 
chen-Ausdehnung gegeneinander hält. Dieses war nach meiner 
Theorie zu erwarten; denn, wie bereits erklärt worden, sind 
Arten, welche nach langen Zwischenzeiten gelegenheitlich in einen 
neuen und abgeschlossenen Bezirk kommen und dort mit neuen 
Genossen zu kämpfen haben, in ausgezeichnetem Grade abzuän- 
dern geneigt und bringen oft Gruppen modifizirter Nachkommen 
hervor. Daraus folgt aber keineswegs, dass, weil auf einer In- 
sel fast alle Arten einer Klasse eigenthümlich sind, auch die der 
übrigen Klassen oder auch nur einer besondren Sektion dersel- 
ben Klasse eigenthümlich seyn müsse; und dieser Unterschied 
scheint theils davon herzurühren, dass diejenigen Arten, welche 
nicht abänderten, leicht und gemeinsam eingewandert sind, so dass 
ihre gegenseitigen Beziehungen nicht viel gestört wurden, theils 
kann er aber, auch von der häufigen Ankunft unveränderter Ein- 
wandrer aus dem Mutterlande und der nachherigen Kreutzung mit 
vorigen bedingt seyn. Hinsichtlich der Wirkung einer solchen 
Kreutzung ist zu bemerken, dass die aus derselben entspringen- 
den Nachkommen ‘gewiss sehr kräftig werden müssen, indem 
selbst eine zufällige Kreutzung wirksamer zu seyn pflegt, als 
ınan voraus erwarten möchte. Ich will einige Beispiele anführen. 
Auf den Galapagos-Eilanden gibt es 26 Landvögel, wovon 21 
(oder vielleicht 23) endemisch sind, während von den 11 See- 
vögeln ihnen nur zwei eigenthümlich angehören, und es liegt 
auf der Hand, dass Seevögel leichter als Landvögel nach diesen 
Eilanden gelangen können. Bermuda dagegen, welches ungefähr 
eben so weit von Nord-Amerika, wie die Galapagos von Süd- 
Amerika, entfernt liegt und einen eigenthümlichen Boden besitzt, 
hat nicht eine endemische Art von Landvögeln, und wir wissen 
aus Herrn J. M. Jones’ trefflichen Berichte über Bermuda, 
dass sehr viele Nord-Amerikanische Vögel auf ihren grossen 
jährlichen Zügen diese Insel theils regelmässig und theils, auch 


396 


einmal zufällig berühren. Madeira besitzt nicht eine eigenthüm- 
liche Vogel-Spezies, und viele Europäische und Afrikanische Vö- 
gel werden, wie mir Hr. E. V. Hırcourr gesagt, alljährlich dahin 
verschlagen. So sind diese beiden Inseln Bermuda und Madeira 
mit Vögel-Arten besetzt worden, welche schon seit langen Zeiten 
in ihrer früheren Heimath mit einander gekämpft haben und ein- 
ander angepasst worden sind. Nachdem sie sich nun in ihrer 
neuen Heimath angesiedelt, hat jede Art den andern gegenüber 
ihre alte Stelle und Lebensweise behauptet und mithin keine 
neuen Modifikationen erfahren. Auch ist jede Neigung zur Ab- 
änderung durch die Kreutzung mit den fortwährend aus dem 
Mutterlande unverändert nachkommenden neuen Einwanderern 
gehemmt worden. Madeira ist ferner von einer wundersamen 
Anzahl’ eigenthümlicher Landschnecken-Arten bewohnt, während 
nicht eine einzige Art von Weichthieren auf seine Küsten be- 
schränkt ist. Obwohl wir nun nicht wissen, auf welche Weise die 
meerischen Schaalthiere sich verbreiten, so lässt sich doch ein- 
sehen, dass ihre Eier oder Larven vielleicht an Seetang und 
Treibholz ansitzend oder an den Füssen der Wadvögel hängend 
weit leichter als Land-Mollusken 300—400 Meilen weit über die 
offne See fortgeführt werden können. Die verschiedenen Insek- 
ten-Klassen auf Madeira scheinen analoge Thatsachen darzubieten. 

Ozeanische Inseln sind zuweilen unvollständig in gewissen 
Klassen, deren Stellen anscheinend durch andere Einwohner der- 
selben eingenommen werden. So vertreten auf den Galapagos 
Reptilien und auf Neuseeland Flügel-lose Riesen-Vögel die 
Stelle der Säugthiere. Was die Pflanzen der Galapagos betriftt, 
so hat Dr. Hooker gezeigt, dass das Zahlen-Verhältniss zwischen 
den verschiedenen Ordnungen ein ganz anderes als sonst aller- 
wärts ist. Solche Erscheinungen setzt man gewöhnlich auf Rech- 
nung der physikalischen Bedingungen der Inseln; aber diese Er- 
klärung dünkt mir etwas zweifelhaft zu seyn. Leichtigkeit der 
. Einwanderung ist, wie mir scheint, wenigstens eben so wichtig 
als die Natur der Lebens-Bedingungen gewesen. 

Rücksichtlich der Bewohner abgelegener Inseln lassen sich 
viele merkwürdige kleine Erscheinungen anführen. So haben 


397 


z. B. auf gewissen nicht mit Säugthieren besetzten Eilanden einige 
endemische ‘Pflanzen prächtig mit Häkchen versehene Saamen; 
und doch gibt es nicht viele Beziehungen, die augenfälliger wä- 
ren, als die Eignung mit Haken besetzter Saamen für den Trans- 
port durch die Haare und Wolle der Säugthiere. Dieser Fall bietet 
nach meiner Meinung keine Schwierigkeit dar, indem Haken-reiche 
Saamen leicht noch durch andere Mittel von Insel zu Insel ge- 
führt werden können, wo dann die Pflanze etwas verändert, aber 
ihre widerhakenigen Saamen behaltend eine endemische Form bil- 
det, für welche diese Haken nun einen eben so unnützen An- 
hang bilden,‘ wie es rudimentäre Organe, z. B. die runzeligen 
Flügel unter den n-gewachsenen Flügeldecken mancher 
insularen Käfer sind. Auch besitzen Inseln oft Bäume oder 
Büsche aus Ordnungen, welche anderwärts nur Kräuter darbieten; 
nun aber haben Bäume, wie Aıru. DECANDOLLE gezeigt hat, ge- 
wöhnlich nur beschränkte Verbreitungs-Gebiete, was immer die 
Ursache dieser Erscheinung seyn mag. Daher ergibt sich dann 
ferner, dass Baum-Arten wenig geeignet sind, entlegene Orga- 
nische Inseln zu erreichen; und eine Kraut-artige Pflanze, wenn 
sie auch keine Aussicht auf Erfolg im Wettkampfe mit einem 
schon vollständig entwickelten Baume hat, kann, wenn sie bei 
ihrer ersten Ansiedelung auf einer Insel nur mit andern Kraut- 
artigen Pflanzen allein in Mitbewerbung tritt, leicht durch immer 
höher strebenden Wuchs ein Übergewicht über dieselben erlangen. 
Ist Diess der Fall, so mag Natürliche Züchtung der Wuchs Kraut- 
artiger Pflanzen, die auf einer ozeanischen Insel wachsen, aus 
welcher Ordnung sie immer seyn mögen, olt etwas zu verstär- 
ken und dieselben erst in Büsche und endlich in Bäume zu ver- 
wandeln geneigt seyn. ” 

Was die Abwesenheit ganzer Organismen-Ordnungen auf ozea- 
nischen Inseln betrifft, so hat Bory pe Sr.-Viıncent schon längst 
bemerkt, dass Batrachier (Frösche, Kröten und Molge) nie auf 
einer der vielen Inseln gefunden worden sind, womit der grosse 
Ozean besäet ist. Ich habe mich bemühet diese Behauptung zu 
prüfen und habe sie genau richtig befunden. Wohl hat man mich 
versichert, dass ein Frosch aul den Bergen der grossen Insel 


398 

Neuseeland lebe; aber ich vermuthe (wenn die Angabe richtig 
ist), dass sich diese Ausnahme durch Glacial-Thätigkeit erklären 
lasse. Dieser allgemeine Mangel an Fröschen, Kröten und Mol- 
gen auf so vielen ozeanischen Inseln lässt sich nicht aus ihrer 
natürlichen Beschaffenheit erklären, indem es vielmehr scheint, 
dass dieselben recht gut für diese Thiere geeignet wären; denn 
Frösche sind auf Madeira, den Azoren und auf Mauritius einge- 
führt worden, um sie als Nahrungsmittel zu vervielfältigen. Da 
aber bekanntlich diese Thiere so wie ihr Laich durch Seewasser 
unmittelbar getödtet werden, so ist leicht zu ersehen, dass de- 
ren Transport über Meer sehr schwierig seye und sie’aug diesem 
Grunde auf keiner ozeanischen Insel existiren. Dagegen würde 
es nach der Schöpfungs-Theorie sehr schwer seyn zu erklären, 
wesshalb sie auf diesen Inseln nicht erschaffen worden seyen. 

Säugthiere bieten einen andern Fall ähnlicher Art dar. Ich 
habe die ältesten Reisewerke sorgfältig durchgangen und zwar 
meine Arbeit noch nicht beendigt, aber bis jetzt noch kein un- 
zweifelhaftes Beispiel gefunden, dass ein Land-Säugethier (von 
den gezähmten Hausthieren der Eingebornen abgesehen) irgend 
eine über 300 Engl. Meilen weit von einem Festlande oder 
einer Kontinental-Insel entlegene Insel bewohnt habe; und viele 
Inseln in viel geringeren Abständen entbehren derselben ebenfalls 
gänzlich. Die Falklands-Inseln, welche von einem Woll-artigen 
Fuchse bewohnt sind, scheinen zunächst eine Ausnahme zu ma- 
chen, können aber nicht als ozeanisch gelten, da sie auf einer 
mit dem Festlande zusammen-hängenden Bank liegen; und da 
schwimmende Eisberge Fels-Blöcke an ihren westlichen Küsten 
abgesetzt, so könnten dieselben auch wohl einmal Füchse mit- 
gebracht haben, wie Das jetzt in den arktischen Gegenden 
oft vorkommt. Doch kann man nicht behaupten, dass kleine 
Inseln nicht auch kleine Säugthiere ernähren können; denn es 
ist Diess in der That mit sehr kleinen Inseln der Fall, wenn sie 
dicht an einem Kontinente liegen; und schwerlich lässt sich eine 
Insel bezeichnen, auf der unsre kleinen Säugthiere sich nicht 
naturalisirt und vermehrt hätten. Nach der gewöhnlichen An- 
sicht von der Schöpfung könnte man sagen, dass nicht Zeit zur 


399 


‚Schöpfung von Säugthieren gewesen seye; viele vulkanische In- 
seln sind zwar alt genug, wie sich theils aus der ungeheuren 
Zerstörung, die sie bereits erfahren, und theils aus dem Vor- 
kommen tertiärer Schichten auf ihnen ergibt; auch ist Zeit ge- 
wesen zur Hervorbringung endemischer Arten aus andern Klas- 
sen; und auf Kontinenten, nimmt man an, erscheinen und ver- 
schwinden Säugthiere in rascherem Wechsel als die andern tiefer- 
stehenden Thiere. Aber wenn auch Land-Säugethiere auf ozeani- 
schen Inseln nicht vorhanden, so finden sich doch fliegende Säug- 
thiere fast auf jeder Insel ein. Neuseeland besitzt zwei Fleder- 
'mäuse, die sonst nirgends in der Welt vorkommen; die Norfolk-Insel, 
der Viti-Archipel, die Bonins-Inseln, die Marianen- und Caro- 
linen-Gruppen und Mauritius: alle besitzen ihre eigenthümlichen 
Fledermaus-Arten. Warum, kann man nun fragen, hat die an- 
gebliche 'Schöpfungs-Kraft auf diesen entlegenen Inseln nur Fle- 
dermäuse und keine andern Säugthiere hervorgebracht? Nach 
meiner Anschauungs-Weise lässt sich diese Frage leicht beant- 
worten, da kein Land-Säugthier über so weite Meeres-Strecken 
hinwegkommen kann, welche Fledermäuse noch zu überfliegen 
im Stande sind. ‘Man hat Fledermäuse bei Tage weit über den 
Atlantischen Ozean ziehen sehen und zwei Nord-Amertikanische 
Arten derselben besuchen die Bermuda-Insel, 600 Engl. Mei- 
len vom Festlande, regelmässig oder zufällig. Ich höre von 
Mr. Tomes, welcher diese Familie näher studirt hat, dass viele 
Arten derselben einzeln genommen eine ungeheure Verbreitung 
besitzen und sowohl auf Kontinenten als weit entlegenen Inseln 
zugleich vorkommen. Wir brauchen daher nur zu unterstellen, 
dass solche wandernde Arten durch Natürliche Züchtung der Be- 
dingungen ihrer neuen Heimath angemessen modifizirt worden 
seyen, und wir werden das Vorkommen von Fledermäusen auf 
solchen Inseln begreifen, wo sonst keine Land-Säugthiere vor- 
handen sind. 

Neben der Abwesenheit der Land-Säugthiere auf Inseln, 
welche von Kontinenten entlegen sind, ist noch eine andre Be- 
ziehung in einer bis zu gewissem Grade davon unabhängigen 
Weise zu berücksichtigen, ‘die Beziehung nämlich zwischen der 


400 


Tiefe des eine Insel vom Festlande trennenden Meeres und dem 
Vorkommen gleicher oder verwandter Säugthier-Arten auf beiden, 
Hr. Winosor Earı hat einige treffende Beobachtungen in dieser 
Hinsicht über den grossen Malayischen Archipel gemacht, welcher 
in der Nähe von Celebes vou einem Streifen sehr tiefen Meeres 
durchschnitten wird, der zwei ganz verschiedene Säugthier-Fau- 
nen trennt. Auf der einen Seite desselben liegen die Inseln auf 
mässig tiefen untermeerischen Bänken und sind von einander 
nahe verwandten oder ganz identischen Säugthier-Arten be- 
wohnt. Allerdings kommen auch in dieser Insel-Gruppe einige 
wenige Anomalien vor und ist es in einigen Fällen ziemlich 
schwer zu beurtheilen, in wie ferne die Verbreitung gewisser 
Säugthiere durch Naturalisirung von Seiten des Menschen be- 
dingt ist; inzwischen werden die eifrigen Forschungen des 
Hrn. Warzace bald mehr Licht auf die Naturgeschichte dieser 
Inseln werfen. Ich habe bisher nicht Zeit gefunden, diesem Ge- 
genstand auch in andern Welt-Gegenden nachzuforschen; so weit 
ich aber damit gekommen bin, bleiben die Beziehungen sich 
gleich. Wir sehen. Britannien durch einen schmalen Kanal vom 
Europäischen Festlande getrennt, und die Säugthier-Arten sind 
auf beiden Seiten die nämlichen. Ähnlich verhält es sich mit 
vielen nur durch schmale Meerengen von Neuholland geschie- 
denen Eilanden. Die Westindischen Inseln stehen auf einer fast 
1000 Faden tief untergetauchten Bank; und hier finden wir zwar 
Amerikanische Formen, aber von denen des Festlandes verschie- 
dene Arten und Sippen. Da das Maass der Abänderung überall 
in gewissem Grade von der Zeit-Dauer abhängt und es eher an- 
zunehmen ist, dass durch seichte Meerengen abgesonderte In- 
seln länger als die durch tiefe Kanäle geschiedenen mit dem 
Festlande in Zusammenhang geblieben sind, so vermag man den 
Grund einer oftmaligen Beziehung zwischen der Tiefe des Meeres 
und dem Verwandtschafts-Grad einzusehen, der zwischen der 
Säugthier-Bevölkerung einer Insel und derjenigen des benachbarten 
Festlandes besteht, eine Beziehung, welche bei Annahme einer 
selbstständigen Schöpfung jeder Spezies ganz unerklärbar bleibt. 

Alle vorangehenden Wahrnehmungen über die Bewohner 


a0 


ozeanischer Eilande, insbesondere die Spärlichkeit der Arten, 
die Menge endemischer Formen in einzelnen Klassen oder deren 
Unterabtheilungen, das Fehlen ganzer Gruppen wie der Batrachier 
und der am Boden lebenden Säugthiere trotz der Anwesenheit 
fliegender Fledermäuse, die eigenthümlichen Zahlen- Verhältnisse 
- in manchen Pflanzen-Ordnungen, die Verwandlung Kraut- -artiger 
Pflanzen - Formen in Bäume, alle scheinen sich mit der An- 
sicht, dass im Verlaufe langer Zeiträume gelegenheitliche Trans- 
port-Mittel viel zur Verbreitung der Organismen mitgewirkt haben, 
besser als mit der Meinung zu vertragen, dass alle unsre ozea- 
nischen Inseln vordem in unmittelbarem Zusammenhang mit dem 
nächsten Festlande gestanden seyen; denn in diesem letzten 
Falle würde die Einwanderung wohl vollständig gewesen seyn 
und müssten, wenn nıan Abänderung zulassen will, alle Leben- 
formen in gleicherer Weise, der äussersten Wichtigkeit der 
Beziehung von Organismus zu Organismus entsprechend, modifi- 
zirt worden seyn. 

Ich will nicht läugnen, dass da noch viele und grosse Schwie- 
rigkeiten vorliegen zu erklären, auf welche Weise manche 
Bewohner vereinzelter Inseln, mögen sie nun ihre anfängliche 
Form beibehalten oder seit ihrer Ankunft abgeändert haben, bis 
zu ihrer gegenwärtigen Heimath gelangt seyen. Ich will nur ein 
Beispiel dieser Art anführen. Fast alle und selbst die abgele- 
oensten und kleinsten ozeanischen Inseln sind von Land-Schnecken 
bewohnt, und zwar meistens von endemischen, doch zuweilen 
auch von anderwärts vorkommenden Arten. Dr. Aus. A. GouL 
hat einige interessante Fälle von Land-Schnecken auf den Inseln 
des stillen Meeres mitgetheil. Nun ist es eine anerkannte, 
Thatsache, dass Land-Schnecken durch Salz sehr leicht zu tödten 
sind, und ihre Eier (oder wenigstens diejenigen, womit ich Ver- 
suche angestellt) sinken im See-Wasser unter und verderben. 
Und doch muss es meiner Meinung nach irgend ein unbekanntes 
aber höchst wirksames Verbreitungs-Mittel für dieselben geben. 
Sollten vielleicht die jungen eben dem Eie entschlüpften Schneckchen 
an den Füssen irgend eines am Boden ausruhenden Vogels empor- 
kriechen und dann von ihm weiter getragen werden? Es kam 

26 


402 


mir vor, als ob Land-Schnecken, im Zustande des Winterschlafs 
begriffen und mit einem Winterdeckel auf ihrer Schaalen-Mün- 
dung versehen, in Spalten von Treibholz über ziemlich breite 
See-Arme müssten geführt werden können, ohne zu leiden. Ich 
fand sodann, dass verschiedene Arten in diesem Zustande ohne 
Nachtheil sieben Tage lang im See-Wasser liegen bleiben können. 
Eine dieser Arten war Helix pomatia, die ich nach längerer. 
Winterruhe noch zwanzig Tage lang in See-Wasser legte, worauf 
sie sich wieder vollständig erholte. Da diese Art einen dicken 
kalkigen Deckel besitzt, so nahm ich ihn ab, und als sich hierauf 
wieder ein neuer häutiger Deckel gebildet hatte, tauchte ich sie 
noch vierzehn Tage in See-Wasser, worauf sie wieder vollkom- 
men zu sich kam und davon kroch; indessen weitere Versuche 
in dieser Beziehung fehlen noch. 

Die triftigste und für uns wichtigste Thatsache hinsichtlich 
der Insel-Bewohner ist ihre Verwandtschaft mit den Bewohnern 
des nächsten Festlandes, ohne ınit denselben von gleichen Arten 
zu seyn. Davon liessen sich zahllose Beispiele anführen. Ich 
will mich jedoch auf ein einziges beschränken, auf das der Galapa- 
gos-Inseln, welche 500-600 Engl. Meilen von der Küste Süd- 
Amerika’s liegen. Hier trägt fast jedes Land- wie Wasser-Pro- 
dukt ein unverkennbares kontinental - amerikanisches Gepräge. 
Dabei befinden sich 26 Arten Land-Vögel, von welchen 21 oder 
vielleicht 23 als eigenthümliche und hier geschaffene Arten an- 
gesehen werden; und doch ist die nahe Verwandtschaft der ınei- 
sten dieser Vögel mit Amerikanischen Arten in jedem ihrer Cha- 
raktere, in Lebens-Weise, Betragen und Ton der Stimme offenbar. 
So ist es auch mit andern Thieren und, wie Dr. Hooker in sei- 
nem ausgezeichneten Werke über die Flora dieser Insel-Gruppe 
gezeigt, mit fast allen Pflanzen. Der Naturforscher, welcher die 


Bewohner dieser vulkanischen Inseln des stillen Meeres betrach- 
tet, fühlt, dass er auf Amerikanischem Boden steht, obwohl er 
noch einige hundert Meilen von dem Festlande entfernt ist. Wie 
mag Diess kommen? Woher sollten die, angeblich nur im 
Galapagos-Archipel und sonst nirgends erschaffenen Arten die- 
sen so deutlichen Stempel der Verwandtschaft mit den in Ame- 


I Be Be 


403 


rika geschaffenen haben? Es ist nichts in den Lebens - Bedin- 
gungen, nichts in der geologischen Beschaffenheit, nichts in der 
Höhe oder dem Klima dieser Inseln noch in dem Zahlen-Ver- 
hältnisse der verschiedenen hier zusanmen-gesellten Klassen, 
was den Lebens-Bedingungen auf den Süd-Amerikanischen Kü- 


sten sehr ähnlich wäre; ja es ist sogar ein grosser Unterschied 


in allen Beziehungen vorhanden. Anderseits aber ist eine grosse 
Ähnlichkeit zwischen der vulkanischen Natur des Bodens, dem 
Klima ‘und der Grösse und Höhe der Inseln :der Galapagos 
einer- und der Capverdischen Gruppe ander-seits. Aber welche 
unbedingte und gänzliche Verschiedenheit in ihren Bewohnern! 
Die der Inseln des grünen Vorgebirges stehen zu Afrika im 
nämlichen Verhältnisse, wie die der Galapagos zu Amerika. Ich 
glaube, diese bedeutende Thatsache hat von der gewöhnlichen 
Annahme einer unabhängigen Schöpfung der Arten keine Erklä- 
rung zu erwarten, während nach der hier aufgestellten Ansicht 
es offenbar ist, dass die Galapagos entweder durch gelegenheit- 
liche Transport Mittel oder in Folge eines früheren unmittelbaren 
Zusammenhangs mit Amerika von diesem Welttheile, wie die 
Capverdischen Inseln von Afrika aus, bevölkert worden sind, 
und dass, obwohl diese Kolonisten Abänderungen erfahren haben, 
sie doch ihre erste Geburts-Stätte durch das Vererblichkeits-Prin- 
zip verrathen. 9) 

Und so liessen sich noch viele analoge Fälle anführen; denn 
es ist in der That eine fast allgemeine Regel, dass die endemi- 


‚schen Erzeugnisse der Inseln mit denen der nächsten Festlän- 


der oder andrer benachbarter Inseln in Beziehung stehen. Aus- 
nahmen sind selten und gewöhnlich leicht erklärbar. So sind die 
Pflanzen von Kerguelen - Land, obwohl dieses näher bei Afrika 
als bei Amerika liegt, nach Dr. Hooxer's Bericht sehr enge 
mit denen der Amerikanischen Flora verwandt; doch erklärt sich 
diese Abweichung durch die Annahme, dass die genannte Insel 
hauptsächlich durch strandende Eisberge bevölkert worden seye, 
welche den vorherrschenden See-Strömungen folgend Steine und 
Erde voll Saamen mit sich geführt haben. Neuseeland ist hin- 
sichtlich seiner endemischen Pflanzen mit Neuholland als dem 


26° 


404 

nächsten Kontinente näher als mit irgend einer andern Gegend 
verwandt, wie es zu erwarten ist; es hat aber auch offenbare 
Verwandtschaft mit Süd-Amerika, das, wenn auch das zweit- 
nächste Festland, so ungeheuer entfernt ist, dass die Thatsache 
als eine Anomalie erscheint. Doch auch diese Schwierigkeit 
verschwindet grösstentheils unter der Voraussetzung, dass Neu- 
seeland, Süd-Amerika u. a. südliche Länder vor langen Zeiten 
theilweise von einem entfernt gelegenen Mittelpunkte, nämlich 
von den antarktischen Inseln aus bevölkert worden seyen, vor 
dem Anfange der Eis-Periode. Die, wenn auch nur schwache, 
aber nach Dr. Hooxer doch thatsächliche Verwandtschaft zwischen 
den Floren der südwestlichen Spitzen Australiens und des Caps 
der guten Hoffnung ist ein viel merkwürdigerer Fall und für 
jetzt unerklärlich; doch ist dieselbe auf die Pflanzen beschränkt 
und wird auch ihrerseits sich gewiss eines Tages noch aufklä- 
ren lassen. 

Das Gesetz, vermöge dessen die Bewohner eines Archipels, 
wenn auch in den Arten verschieden, zumeist mit denen des 
nächsten Festlandes übereinstimmen, wiederholt sich zuweilen in 
kleinerem Maassstabe aber in sehr interessanter Weise innerhalb 
einer und der nämlichen Insel-Gruppe. Namentlich haben ganz wun- 
derbarer Weise die verschiedenen Inseln des nur kleinen Galapa- 
gos-Archipels, wie schon anderwärts gezeigt worden, ihre eigen- 
thümlichen Bewohner, so dass fast auf jeder derselben andre 
Arten vorkommen, welche aber in unvergleichbar näherer Ver- 
wandtschaft zu einander stehen, als die irgend eines andern 
Theiles der Welt. Und Diess ist nach meiner Anschauungs- 
Weise zu erwarten gewesen, da die Inseln so nahe beisammen 
liegen, dass alle zuverlässig ihre Einwanderer entweder aus 
gleicher Urquelle oder eine von der andern erhalten haben müssen. 
Aber man könnte gerade die Verschiedenheit zwischen den en- 
demischen Bewohnern der einzelnen Inseln als Argument gegen 
meine Ansicht gebrauchen; denn män könnte fragen, wie e$ 
komme, dass auf diesen verschiedenen Inseln, welche einander in 
Sicht liegen und die nämliche geologische Beschaffenheit , dieselbe 
Höhe und das gleiche Klima besitzen, so viele Einwanderer auf 


405 


jeder in einer andren und doch nur wenig verschiedenen Weise mo- 
difizirt worden seyen? Diess ist auch mir lange Zeit als eine 
grosse Schwierigkeit erschienen, was aber hauptsächlich von dem 
tief eingewurzelten Irrthum herrührt, die physischen Bedingungen 
einer Gegend als das Wichtigste für deren Bewohner zu be- 
trachten, während doch nicht in Abrede gestellt werden kann, 
dass die Natur der übrigen Organismen, mit welchen sie selbst 
zu kämpfen haben, wenigstens ebenso hoch anzuschlagen und 
_ gewöhnlich eine noch wichtigere Bedingung ihres Gedeihens 
seye. Wenn wir nun diejenigen Bewöhner der Galapagos, welche 
als nämliche Spezies auch in andern Gegenden der Erde noch 
vorkommen (wobei für einen Augenblick die endemischen Arten 
ausser Betracht bleiben müssen, weil wir die seit der Ankunft 
dieser Organismen auf den genannten Inseln erfolgten Umände- 
rungen untersuchen wollen), so finden wir einen grossen Unter- 
schied zwischen den einzelnen Inseln selbst. Diese Verschieden- 
heit wäre aus der Annahme erklärlich, dass die Inseln durch ge- 
legenheitliche Transport-Mittel bestockt worden seyen, so dass z. B. 
der Saame einer Pflanzen-Art zu einer und der einer andern zu 
einer andern Insel gelangt wäre. Wenn daher in früherer Zeit 
ein Einwandrer sich auf einer oder mehren der Inseln angesiedelt 
oder sich später von einer zu der andern Insel verbreitet hätte, 
so würde er zweifelsohne auf den verschiedenen Inseln verschie- 
denen Lebens - Bedingungen ausgesetzt gewesen Seyn; denn er 
hätte auf jeder Insel mit andern Organismen zu werben gehabt. 
Eine Pflanze z. B. hätte den für. sie am meisten geeigneten 
Grund auf der einen Insel schon vollständiger von andern Pflanzen 
eingenommen gefunden, als auf der andern, und wäre den An- 
griffen etwas verschiedener Feinde ausgesetzt gewesen. Wenn 
sie nun abänderte, so wird die Natürliche Züchtung wahrschein- 
lich auf verschiedenen Inseln verschiedene Varietäten begünstigt 
haben. Einzelne Arten jedoch werden sich über die ganze 
Gruppe verbreitet und überall den nämlichen Charakter beibe- 
halten haben, wie wir auch auf Festländern manche weit Vver- 
breitete Spezies überall unverändert bleiben sehen, | 


406 


Doch die wahrhaft überraschende Thatsache auf den Ga- 
lapagos wie in minderem Grade in einigen anderen Fällen be- 
steht darin, dass sich die neu-gebildeten Arten nicht über die 
ganze Insel- Gruppe ausgebreitet haben. Aber die einzelnen In- 
seln, wenn auch in Sicht von einander gelegen, sind durch tiefe 
Meeres- Arme, meistens breiter als der britische Kanal von ein- 
ander geschieden, und es liegt kein Grund zur Annahme vor, 
dass sie früher unmittelbar mit einander vereinigt gewesen seyen, 
Die Seeströmungen sind heftig und gehen queer durch den Archi- 
pel hindurch, und heftige Windstösse sind ausserordentlich selten, 
so dass die Inseln thatsächlich” stärker von einander geschieden 
sind, als Diess beim Ansehen einer Karte scheinen mag. Dem- 
ungeachtet sind doch ziemlich viele Arten, sowohl anderwärts vor- 
kommende wie dem Archipel eigenthümlich angehörende, mehren 
Inseln gemeinsam, und einige Verhältnisse führen zur Vermuthung, 
dass diese sich wahrscheinlich von einem der Eilande aus zu den 
andern verbreitet haben. Aber wir bilden uns, wie ich glaube, 
oft eine irrige Meinung über die Wahrscheinlichkeit, dass nahe 
verwandte Arten bei freiem Verkehre die eine ins Gebiet der 
andern vordringen werden. Es unterliegt zwar keinem Zwei- 
fel, dass, wenn eine Art irgend einen Vortheil über eine an- 
dere hat, sie dieselbe in kurzer Zeit mehr oder weniger er- 
setzen wird; wenn aber beide gleich gut für ihre Stellen in der 
Natur gemacht sind, so.werden sie wahrscheinlich ihre eigenen 
Plätze behaupten und für alle Zeit behalten. Wenn wir wissen, 
dass viele von Menschen einmal naturalisirte Arten sich mit er- 
staunlicher Schnelligkeit über neue Gegenden verbreitet haben, 
so sind wir wohl zu glauben geneigt, dass die meisten Arten 
es ebenso machen würden; aber wir müssen bedenken, dass 
die in neuen Gegenden naturalisirten Formen gewöhnlich keine 
nahen Verwandten der Ureinwohner, sondern eigenthümliche Ar- 
ten sind, welche nach Aıpn. DeCanvorıg verhältnissmässig sehr 
oft auch besondern Sippen angehören. Auf den Galapagos sind 
sogar viele Vögel, welche ganz wohl im Stande wären von Insel 
zu Insel zu fliegen, von einander verschieden, wie z. B. drei 
einander nahe-stehende Arten von Spottdrosseln jede auf ein 


407 


besonderes Eiland beschränkt sind. Nehmen wir nun an, die Spott- 
drossel von Chatam-Island werde durch einen Sturm nach Charles- 
Island verschlagen, das schon seine eigene Spottdrossel hat, 
wie sollte sie dazu gelangen sich hier festzusetzen? Wir dürfen 
mit Gewissheit annehmen, dass Charles-Island mit ihrer eigenen 
Art wohl besetzt ist, indem jährlich mehr Eier dort gelegt 
werden als auskommen können, und wir dürfen ferner anneh- 
men, dass die Art von Charles- Island für diese ihre Heimath 
wenigstens eben so gut geeignet ist als der neue Ankömmling. 
Sir Cu. Lyeu, und Hr. Worıaston haben mir eine merkwürdige 
zur Erläuterung dieser Verhältnisse dienende Thatsache mitge- 
theilt, dass nämlich Madeira und das dicht dabei gelegene Porto 
Santo viele einander vertretende Landschnecken besitzen, von 
welchen einige in Fels-Spalten leben; und obwohl grosse Stein- 
Massen jährlich von Porto Santo nach Madeira gebracht werden, 
so ist doch diese letzte Insel noch nicht mit den Arten von Porto 
Santo bevölkert worden; aber auf beiden Inseln haben sich 
Europäische Arten angesiedelt, weil sie zweifelsohne irgend einen 
Vortheil vor den eingeborenen voraus hatten. Hiernach werden 
wir uns nicht mehr sehr darüber wundern dürfen, dass die en- 
demischen und die stellvertretenden Arten, welche die verschie- 
denen Galapagos-Inseln bewohnen, sich noch nicht von Insel zu 
Insel verbreitet haben. In vielen andern Fällen, wie in den ver- 
schiedenen Bezirken eines Kontinentes, mag die frühere Besitz- 
ergreifung durch eine Art wesentlich dazu beigetragen haben, 
die Vermischung von Arten unter gleichen Lebens - Bedingungen 
zu hindern. So haben die südöstliche und südwestliche Ecke 
Neuhollands eine nahezu gleiche physikalische Beschaffenheit 
und sind durch zusammenhängendes Land miteinander verkettet, 
aber gleichwohl durch eine grosse Anzahl verschiedener Säuge- 
thier-, Vögel- und Pflanzen-Arten bewohnt. 

Das Prinzip, welches den allgemeinen Charakter der Fauna 
und-Flora der ozeanischen Inseln bestimmt, dass nämlich deren 
Bewohner, wenn nicht genau die nämlichen Arten, doch offen- 
bar mit den Bewohnern derjenigen Gegenden am nächsten ver- 
wandt sind, von welchen aus die Kolonisirung am leichtesten 


de 


408 


stattfinden konnte, und dass die Kolonisten nachher abgeändert 
und für ihre neue Heimath geschickter gemacht worden sind: 
dieses Prinzip ist von der weitesten Anwendbarkeit in der gan- 
zen Natur. Wir sehen Diess an jedem Berg, in jedem See, in 
jedem Marschlande. Denn die alpinen Arten, mit Ausnahme der 
durch die Glazial-Ereignisse weithin verbreiteten Formen haupt- 
sächlich von Pflanzen, sind mit denen der umgebenden Tiefländer 
verwandt; und so haben wir in Süd- Amerika alpine .Kolibris, 
alpine Nager, alpine Pflanzen, aber alle von streng Amerikani- 
schen Formen; und es liegt nahe, dass ein Gebirge während 
seiner allmählichen Emporhebung aus den benachbarten Tief- 
ländern auf natürliche Weise kolonisirt worden seye. So ist es 
auch mit den Bewohnern der Seen und Marschen, so weit nicht 
durch grosse Leichtigkeit der Überführung aus einer Gegend 
in die andre die ganze Erd-Oberfläche mit den nämlichen allge- 
meinen Formen versehen worden ist. Wir sehen dasselbe Prin- 
zip bei den blinden Höhlen-Thieren Europas und Amerikas, so- 
wie in manchen andern Fällen. Es wird sich nach meiner Mei- 
nung überall bestätigen, dass, wo immer in.zwei sehr von 
einander entfernten Gegenden viele nahe-verwandte oder stellver- 
tretende Arten vorkommen, auch einige identische Arten vor- 
handen sind, welche in Übereinstimmung mit der vorangehenden 
Ansicht zeigen, dass in irgend einer früheren Periode ein Ver- 
kehr oder eine Wanderung zwischen beiden Gegenden stalige- 
(funden hat. Und wo immer nahe verwandte Arten vorkommen, 
da werden auch viele Formen seyn, welche einige Naturforscher 
als besondre Arten und andre nur als Varietäten betrachten, 
Diese zweifelhaften Formen drücken uns die Stufen in der fort- 
schreitenden Abänderung aus. 

Diese Beziehung zwischen Wanderungs-Vermögen und Aus- 
dehnung einer Art, (seye es in jetziger Zeit oder in einer 
früheren Periode ‘unter verschiedenen natürlichen Bedingungen) 
und dem Vorkommen andrer verwandter Arten in entfernten 
Theilen der Erde ergibt sich in einer noch allgemeinern 
Weise. Hr. Govıp sagte mir vor langer Zeit, dass in denjenigen 
Vogel-Sippen, welche sich über die ganze Erde erstrecken, auch 


409 


viele Arten eine weite Verbreitung besitzen. Ich vermag kaum 
zu bezweifeln, dass diese Regel allgemein richtig ist, obwohl Diess 
schwer zu beweisen seyn dürfte. Unter den Säugthieren finden 


wir sie scharf bei den Fledermäusen und in schwächerem Grade 


bei den Hunde- und Katzen-artigen Thieren ausgesprochen. Wir 
sehen -sie in der Verbreitung der Schmetterlinge und Käfer. 
Und so ist es auch bei den meisten Süsswasser - Thieren, unter 
welchen so viele Sippen über die ganze Erde reichen und viele 
einzelne Arten eine ungeheure Verbreitung besitzen. Es soll 
nicht behauptet werden, dass in den weit-verbreiteten Sippen alle 
Arten in weiter. Ausdehnung vorkommen oder auch nur eine 
durchschnittlich grosse Ausbreitung besitzen, sondern nur dass 
es mit einzelnen Arten der Fall ist; denn die Leichtigkeit, wo- 
mit weit verbreitete Spezies variiren und zur Bildung neuer 
Formen Veranlassung geben, bestimmt ihre durchschnittliche Ver- 
breitung in genügender Weise. So können zwei Varietäten einer 
Art die eine Europa und die andere Amerika bewohnen, und 
die Art hat dann eine unermessliche Verbreitung; ist aber die 
Abänderung etwas weiter gediehen, so werden die zwei Varietä- 
ten als zwei verschiedene Arten gelten und die Verbreitung einer 
jeden wird sehr beschränkt erscheinen. Noch weniger soll 
gesagt werden, dass eine Art, welche offenbar das Vermögen 


besitzt, Schranken zu überschreiten und sich weit auszubreiten, 


wie mancher langschwingige Vogel, sich auch weit ausbreiten 
muss; denn wir dürfen nicht vergessen, dass zur weiten Ver- 
breitung nicht allein das Vermögen Schranken zu überschreiten, 
sondern auch noch das bei weitem wichtigere Vermögen gehört, 
in fernen Landen den Kampf ums Daseyn mit den neuen Ge- 
nossen siegreich zu bestehen. Aber nach der Annahme, dass 
alle Arten einer Sippe, wenn gleich jetzt über die entferntesten 
Theile der Erde zerstreut, von einem gemeinsamen Stamm-Vater 
abstammen, müssten (und Diess ist, glaube ich, der Fall) wenig- 
stens einige Arten eine weite Verbreitung besitzen; denn es ist 
nothwendig, dass der noch unveränderte Ahne sich unter fort- 
währender Abänderung weit verbreite und unter verschiedenartigen 
Lebens-Bedingungen eine günstige Stellung für die Umgestaltung 


410 


seiner Nachkommen zuerst in neue Varietäten und endlich in 
neue Arten gewinne. | 

Bei Betrachtung der weiten Verbreitung mancher Sippen 
dürfen wir nicht vergessen , dass viele derselben ausserordent- 
lich alt sind und von einem gemeinsamen Stamm - Vater in einer 
sehr frühen Periode abstammen müssen; daher in solchen Fällen 
genügende Zeit war sowohl für grosse klimatische und geogra- 
phische Veränderungen als für die Verpflanzung-vermittelnde Zu- 
fälle, folglich auch für die Wanderung der Arten nach allen 
Theilen der Welt, wo sie dann in einer den neuen Verhältnissen 
angemessenen Weise abgeändert worden sind. Ebenso scheint 
sich aus geologischen Nachweisungen zu ergeben, dass in jeder 
Hauptklasse die tief-stehenden Organismen gewöhnlich langsamer 
als die höheren Formen abändern; daher die tieferen Formen 
mehr in der Lage gewesen sind, ihre spezifischen Merkmale lange 
zu behaupten und sich damit weit zu verbreiten. Diese Thatsache 
in Verbindung mit dem Umstande, dass die Saamen und Eier 
vieler tief-stehenden Formen sich durch ihre ausserordentliche 
Kleinheit zur weiten Fortführung vorzugsweise eignen, erklärt 
wahrscheinlich zur Genüge ein Gesetz, welches schon längst be- 
kannt und erst unlängst von Aırn. DeCAnooııe in Bezug auf die 
Pflanzen vortrefflich erläutert worden ist: dass nämlich jede 
Gruppe von Organismen sich zu einer um so weitren Verbreitung 
eigne, je tiefer sie steht. 

Die soeben erörterten Beziehungen, dass nömlich unvoll- 
kommene und sich langsam abändernde Organismen sich weiter 
als die vollkommenen verbreiten, — dass einige Arten weit aus- 
gebreiteter Sippen selbst eine grosse Verbreitung besitzen, _ 
dass Alpen-, Sumpf- und Marsch-Bewohner (mit den angedeuteten 
Ausnahmen) ungeachtet der Verschiedenheit der Standorte mit 
denen der umgebenden Tief- und Trocken-Länder verwandt sind, 
— dann die sehr enge Beziehung zwischen den verschiedenen 
Arten, welche die einzelnen Eilande einer Insel - Gruppe be- 
wohnen, — und insbesondere die auffallende Verwandtschaft 
der Bewohner einer ganzen Insel-Gruppe mit denen des nächsten 
Festlandes: alle diese Verhältnisse sind nach meiner Meinung 


41 


nach der gewöhnlichen Annahme einer unabhängigen Schöpfung 
der einzelnen Arten völlig unverständlich, dagegen leicht zu er- 
klären durch die Unterstellung stattgefundener Besiedelung aus 
der nächsten oder gelegensten Quelle mit nachfolgender Abände- 
rung und besserer Anpassung der Ansiedeler an ihre neue 
Heimath. 

- Zusammenfassung des letzten und des jetzigen 
Kapitels.) In diesen zwei Kapiteln habe ich nachzuweisen ge- 
strebt, dass, wenn wir unsre Unwissenheit über alle Folgen der 
klimatischen und Niveau - Veränderungen der Länder, welche in 
der laufenden Periode gewiss vorgekommen sind, und noch 
andrer Veränderungen, die in derselben Zeit stattgefunden 
haben mögen, gebührend eingestehen und unsre tiefe Unkennt- 
niss der manchfaltigen gelegenheitlichen Transport-Mittel (wor- 
über kaum jemals angemessene Versuche veranstaltet wor- 
den sind) anerkennen, und wenn wir erwägen, wie oft 
eine oder die andere Art sich über ein zusammenhängen- 
des weites Gebiet ausgebreitet haben mag, um sofort in den 
mitteln Theilen desselben zu erlöschen, so scheinen mir die 
Schwierigkeiten der Annahme, dass alle Individuen einer Spezies 
wo immer deren Wiege gestanden, von gemeinsamen Ältern ab- 
stammen, nicht unübersteiglich zu seyn; und so‘ leiten uns 
schliesslich Betrachtungen allgemeiner Art insbesondere über die 
Wichtigkeit der natürlichen Schranken und die analoge Verthei- 
lung von Untersippen, Sippen und Familien zur Annahme dessen, 
was viele Naturforscher als einzelne Schöpfungs-Mittelpunkte be- 
zeichnet haben. 

Was die verschiedenen Arten einer nämlichen Sippe betrifft, 
die nach meiner Theorie von einer Geburts - Stätte ausgegangen 
seyn sollen, so halte ich, wenn wir unsre Unwissenheit so wie 
vorhin eingestehen und bedenken, dass manche Lebenformen 
nur sehr langsam abändern und mithin ungeheuer langer Zeit- 
räume für ihre Wanderungen bedurften, die Schwierigkeiten nicht 
für unüberwindlich, obgleich sie in diesem Falle so wie hinsicht- 
lich ‘der Individuen einer nämlichen Art oft ausserordentlich 
gross sind. 2 


412 


Um die Wirkungen des Klima-Wechsels auf die Vertheilung 
der Organismen durch Beispiele zu erläutern, habe ich die 
Wichtigkeit des Einflusses der Eis- Zeit nachzuweisen gesucht, 
welche nach meiner vollen Überzeugung sich gleichzeitig über 
die ganze Erd- Oberfläche oder wenigstens über grosse meri- 
dianale Striche derselben erstreckt hat. Und um zu zeigen, wie 
manchfaltig die gelegentlichen Transport-Mittel sind, habe ich die 
Ausbreitungs-Weise der Süsswasser-Bewohner etwas ausführlicher 
. auseinandergesetzt. 

Wenn sich die Schwierigkeiten der Annahme, dass im Ver- 
laufe langer Zeiten die Einzelwesen einer Art ebenso wie die 
verwandten Arten von einer gemeinsamen Quelle ausgegangen, 
sich nicht unübersteiglich erweisen, dann glaube ich, dass alle 
leitenden Erscheinungen der geographischen Verbreitung mittelst 
der Theorie der Wanderung (hauptsächlich der herrschen- 
dern Lebenformen) und darauf-folgender Abänderung und Ver- 
mehrung der neuen Formen erklärbar sind. Man vermag alsdann 
die grosse Bedeutung der natürlichen Schranken — Wasser oder 


Land — zwischen den verschiedenen botanischen wie zoologi- 


schen Provinzen zu erkennen. Man vermag dann die örtliche 
Beschränkung von Untersippen, Sippen und Familien zu be- 
greifen, und woher es komme, dass in verschiedenen geogra- 
phischen Breiten, wie z. B. in Süd- Amerika, die Bewohner der 
Ebenen und Berge, der Wälder, Marschen und Wüsten, in so 
geheimnissvoller Weise durch Verwandtschaft miteinander wie mit 
den erloschenen Wesen verkettet sind, welche ehedem denselben 
Welttheil bewohnt haben. Indem wir erwägen, dass die gegen- 
seitigen Beziehungen von Organismus zu Organismus von höchster 
Wichtigkeit sind, vermögen wir einzusehen, warum zwei Gebiete 
mit beinahe den gleichen physikalischen Bedingungen von ver- 
schiedenen Lebenformen bewohnt sind. Denn je nach der Länge 
der seit der Ankunft der neuen Bewohner in einer Gegend ver- 
flossenen Zeit, — je nach der Natur des Verkehrs, welcher ge- 
wissen Formen gestattete und andern wehrte sich in grösserer 
oder geringerer Anzahl einzudrängen, — je nachdem diese Ein- 
dringlinge in mehr oder weniger unmittelbare Bewerbung mit- 


u nenn nn nn 


413 


einander und mit den Urbewohnern geriethen oder nicht, — und 
je nachdem dieselben mehr oder weniger rasch zu variiren fähig 
waren: müssen in verschiedenen Gegenden, ganz unabhängig von 
ihren physikalischen Verhältnissen , unendlich vermanchfachte Le- 
bens-Bedingungen entstanden seyn, — muss ein fast endloser Be- 
trag von organischer Wirkung und Gegenwirkung sich entwickelt 
haben, — und müssen, wie es wirklich der Fall ist, einige 
Gruppen von Wesen in hohem und andere nur in gerigem Grade 
abgeändert, müssen einige zu grossem Übergewicht entwickelt und 
andre nur in geringer Anzahl in den verschiedenen grossen geo- 
graphischen Provinzen der Erde vorhanden seyn. 


Nach diesen nämlichen Prinzipien ist es, wie ich nachzuweisen 
versucht, auch zu begreifen, warum ozeanische Inseln nur we- 
nige, aber der Mehrzahl nach. endemische oder eigenthümliche 
Bewohner haben, und warum daselbst in Übereinstimmung mit den 
Wanderungs-Mitteln eine Gruppe von Wesen lauter endemische und 
die andere Gruppe, sogar in der nämlichen Klasse , lauter welt- 
bürgerliche Arten darbietet. Es lässt sich einsehen, warum 
ganze Gruppen von Organismen, wie Batrachier und Boden-Säuge- 
thiere, auf den ozeanischen Inseln fehlen, während die meisten 
vereinzelt liegenden Inseln ihre eigenthümlichen Arten von Luft- 
Säugethieren oder Fledermäusen besitzen. Es lässt sich die Ur- 
sache einer gewissen Beziehung erkennen zwischen der Anwesen- 
heit von Säugthieren von mehr oder weniger abgeänderter Be- 
schaffenheit und der Tiefe der die Inseln vom Festlande trennenden 
Kanäle. Es ergibt sich deutlich, warum alle Bewohner einer 
Insel-Gruppe, wenn auch auf jedem der Eilande von andrer Art, 
doch innig miteinander und, in minderm Grade, mit denen des 
nächsten Festlandes oder des sonst wahrscheinlichen Stammlandes 
verwandt sind. Wir sehen endlich ein, warum in zwei, wenn 
auch weit von einander entfernten, Länder-Gebieten eine gewisse 
Wechselbeziehung in der Anwesenheit von identischen Arten, von 
Varietäten, von zweifelhaften Arten und von verschiedenen aber 
stellvertretenden Spezies zu erkennen ist. 

Wie der verstorbene Epwarn Forses oft behauptet: € be- 
steht ein strenger Parallelismus in den Gesetzen des Lebens durch 


414 


Zeit und Raum. Die Gesetze, welche die Aufeinanderfolge der 
Formen in vergangenen Zeiten geleitet, sind fast die nämlichen, 
wovon in der laufenden Periode deren Unterschiede in verschiede- 
nen Länder-Gebieten abhängen. Wir erkennen Diess aus vielen 
Thatsachen. Die Erscheinung jeder Art und Arten - Gruppe ist 
zusammenhängend in der Zeit; denn der Ausnahmen von dieser 
Regel sind so wenige, dass sie wohl am richtigsten daraus er: 
klärt werden, dass wir deren in den mittlen Schichten vor- 
kommenden Reste nur noch nicht entdeckt haben; — sie ist zu- 
sammenhängend im Raume, indem die allerdings nicht seltenen 
Ausnahmen sich dadurch erklären, dass jene Arten in einer 
früheren Zeit unter abweichenden Verhältnissen in regelmässiger 
Weise oder mittelst gelegenheitlichen Transportes über weite 
Flächen gewandert, aber dann in-den mittlen Gegenden derselben 
erloschen sind. Arten und Arten-Gruppen haben ein Maximum 
der Entwickelung in der Zeit wie im Raum. Arten - Gruppen, 
welche in einen gewissen Zeit-Abschnitt oder in einen gewissen 
Rauın - Bezirk zusammengehören, sind oft durch besondre auf- 
fallende Merkmale in Skulptur oder Farbe u. s. w. charakterisirt. 
Wenn wir die lange Reihe verflossener Zeit- Abschnitte mit den 
mehr und weniger weit über die Erd-Oberfläche vertheilten zoo- 
logischen und botanischen Provinzen vergleichen , so finden wir 
hier wie dort, dass einige Organismen nur wenig. differiren, 
während andre aus andern Klassen, Ordnungen oder auch nur 
Familien weit abweichen. In Zeit und Raum ändern die tieferen 
Glieder jeder Klasse gewöhnlich minder als die höhern ab; doch 
kommen in beiden auffallende Ausnahmen von dieser Regel vor. 
Nach. meiner Theorie sind diese verschiedenen Beziehungen durch 
Zeit und Raum ganz begreiflich; denn sowohl die Lebenformen, 
welche in aufeinander-folgenden Zeitaltern innerhalb derselben 
Theile der Erd-Oberfläche gewechselt, als jene, welche erst im 
Verhältnisse ihrer Wanderungen nach andern Weltgegenden sich 
abgeändert, beiderlei Formen ‘sind in jeder Klasse durch das 
nämliche Band der Generation miteinander verkettet; und je naher 
zwei Formen in Blutverwandtschaft zu einander stehen, desto 
näher werden sie sich gewöhnlich auch in Zeit und Raum stehen. 


 — 


415 


In beiden Fällen sind die Gesetze der Abänderung die nämlichen 
gewesen und sind Modifikationen durch die nämliche Kraft der 
Natürlichen Züchtung gehäuft worden. 


Dreizehntes Kapitel. 


Wechselseitige Verwandtschaft organischer Körper; Mor- 
phologie: Embryologie; Rudimentäre Organe. 
Klassifikation: Unterordnung der Gruppen. — Natürliches System. — 
Regeln und Schwierigkeiten der Klassifikation erklärt aus der Theorie der 
Fortpflanzung mit Abänderung. — Klassifikation der Varietäten. — Abstam- 
mung bei der Klassifikation gebraucht. — Analoge oder Anpassungs-Charak- 
tere. — Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlenför- 
mige. — Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen. — Morphologie: 
zwischen Gliedern einer Klasse und zwischen Theilen eines Einzelwesens. 
— Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, dass Abänderung nicht 
in allen Lebens-Altern eintritt, aber in korrespondirendem Alter vererbt 
wird. — Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt. — Zusammen- 

fassung. 

Von der ersten Stufe des Lebens an gleichen alle organi- 
schen Wesen einander in immer weiter abnehmendem Grade, 
so: dass man sie in Gruppen und Untergruppen klassifiziren 
kann. Diese Gruppirung ist offenbar nicht willkürlich , wie 
die der Sterne zu Gestirnen. Das Daseyn von Gruppen würde 
eine vielfache Bedeutung haben, wenn eine Gruppe ausschliess- 
lich für die Land- und eine andre für die Wasser-Bewohner, eine 
für die Fleisch-, eine andre für die Pflanzen - Fresser u. S. W. 
bestimmt wäre: in der Natur aber verhält sich die Sache sehr 
abweichend, indem es bekannt ist, wie oft sogar Glieder einer 
nämlichen Untergruppe verschiedene Lebens-Weisen besitzen. Im 
zweiten und vierten Kapitel, von Abänderung und Natürlicher 
' Züchtung handelnd, habe ich zu zeigen versucht, dass es die 
weit verbreiteten, die überall gemeinen und die herrschenden 
Arten grosser Sippen sind, die am meisten variiren. Die so ge- 
bildeten Varietäten oder beginnenden Arten gehen, wie ich glaube, 
allmählich in neue und verschiedene Arten über, welche nach 
dem Vererbungs-Prinzip geneigt sind andre neue und herrschende 


m Bi u a R & 


416 


Arten zu erzeugen. Demzufolge streben die Gruppen, welche 
jetzt gross sind und gewöhnlich viele herrschende, Arten in sich 
einschliessen, ohne Ende an Umfang zuzunehmen. Ich habe 
weiter nachzuweisen gesucht, dass aus dem Streben der ab- 
ändernden Nachkommen einer Art so viele und verschiedene 
Stellen als möglich im Haushalte der Natur einzunehmen, eine 
‚beständige Neigung zur Divergenz der Charaktere entspringt. 
Diese Folgerung war unterstützt worden durch die Betrachtung 
der grossen Manchfaltigkeit von Lebenformen, die auf den 
kleinsten Feldern in Mitbewerbung zu einander gerathen, und 
durch die Wahrnehmnng gewisser Thatsachen bei der Naturali- 
sirung. 

Ich habe weiter darzuthun versucht, dass bei den in Zahl 
und in Divergenz des Charakters zunehmenden Formen ein fort- 
währendes Streben vorhanden ist, die früheren minder diver- 
genten und minder verbesserten Formen zu unterdrücken und zu 
ersetzen. Ich ersuche den Leser, nochmals das Bild (S. 115) 
anzusehen, welches bestimmt gewesen ist, diese verschiedenen 
Prinzipien zu erläutern, und er wird finden, dass die einem ge- 
meinsamen Stamm-Vater entsprossenen abgeänderten Nachkommen 
unvermeidlich immer weiter in unterbrochenen Gruppen und Un- 
tergruppen auseinanderlaufen müssen. In dem genannten Bilde 
mag jeder Buchstabe der obersten Linie eine Sippe bezeichnen, 
welche mehre Arten enthält, und alle Sippen dieser Linie bilden 
miteinander eine Klasse, indem alle von einem gemeinsamen alten 
aber unsichtbaren Stammvater entspringen und mithin irgend 
etwas Gemeinsames ererbt haben. Aber die drei Sippen auf der 
linken Seite haben diesem nämlichen Prinzip zufolge mehr mitein- 
ander gemein und bilden eine Unterfamilie verschieden von der- 
jenigen, welche die zwei rechts zunächst-folgenden einschliesst, 
die auf der fünften Abstammungs - Stufe einem ihnen und jenem 
gemeinsamen Siammvater entisprungen sind. Diese fünf Genera 
haben auch noch Manches, doch weniger als vorhin miteinander 
gemein und bilden miteinander eine Familie, verschieden von der 
die nächsten drei Sippen weiter rechts umfassenden, welche sich 


in einer noch früheren Periode von den vorigen abgezweigt hat. 


417 


Und alle diese von A entsprungenen Sippen bilden eine von der 
aus I entsprossenen verschiedene Ordnung. So haben wir hier viele 
Arten von gemeinsamer Abstammung in mehre Genera vertheilt, 
und diese Genera bilden , indem sie zu immer grösseren Grup- 
pen zusammentreten , erst Unterfamilien und Familien und dann 
Ordnungen miteinander, welche zu einer Klasse gehören. So 
erklärt sich nach meiner Ansicht in der Naturgeschichte die 
grosse Erscheinung der Unterabtheilung der Gruppen, die uns 
freilich in Folge unsrer Gewöhnung daran nicht mehr sehr auf- 
zufallen pflegt. Ä 

Die Naturforscher bemühen sich die Arten, Familien und 
Sippen jeder Klasse in ein sogen. natürliches System zu ordnen. 
Aber was ist Diess für ein System? Einige Schriftsteller be- 
trachten es nur als ein Fachwerk, worin die einander ähnlichsten 
Lebenwesen zusammen-geordnet und die unähnlichsten ausein- 
ander-gehalten werden, — oder als ein künstliches Mittel um 
allgemeine Beschreibungen so kurz wie möglich auszudrücken, so 
dass, wenn man z. B. in einem Satz (Diagnose) die allen Säug- 
thieren, in einem andern die allen Raub-Säugthieren und in einem 
dritten die allen Hunde-artigen Raub-Säugthieren gemeinsamen Merk- 
male zusammengefasst hat, man endlich im Stande ist, schon durch 
Beifügung noch eines fernern Satzes eine vollständige Beschrei- 
bung jeder beliebigen Hunde-Art zu liefern. Das Sinnreiche und 
Nützliche dieses Systems ist unbestreitbar; doch glauben einige 
Naturforscher, ‘dass das natürliche System noch eine weitre Be- 
stimmung habe, nämlich die den Plan des Schöpfers zu enthül- 
len; so lange als es aber keine Ordnung weder im Raume noch in 
der Zeit nachweiset, und als nicht näher bezeichnet wird, was mit 
dem »Plane des Schöpfers« gemeint seye, scheint mir damit für 
unsre Kenntnisse nichts gewonnen zu seyn. Solche Ausdrücke, _ 
wie die berühmten Linse’schen, die wir oft in mancherlei Ein- 
kleidungen versteckt wieder finden, dass nämlich die Charaktere 
nicht die Sippe machen, sondern die Sippe die Charaktere geben 
müsse, scheinen mir zugleich andeuten zu sollen, dass unsre 
Klassifikation noch 'etwas mehr als blosse Ähnlichkeit zu berück- 
siehtigen habe. "Und ich glaube in der That, dass es so der Fall 


- 


27 


418 


ist, und dass die auf gememschaftlicher Abstammung beruhende 
Blutsverwandtschaft die einzige bekannte Ursache der Ähnlich- 
keit organischer Wesen, das durch mancherlei Modifikations- 
Stufen verborgene Band ist, welches durch natürliche Klassifikation 
theilweise enthüllt werden kann. 

Betrachten wir nun die bei der Klassifikation befolgten Re- 
geln und die dabei vorkommenden Schwierigkeiten von der An- 
nahme ausgehend, als ob die Klassifikation entweder einen unbe- 
kannten Schöpfungs-Plan darstellen oder auch nur ein Mittel bie- 
ten solle, um das Verwändte zusammenzustellen und dadurch die 
allgemeinen Beschreibungen abzukürzen. Man könnte annehmen 
und es ist in älteren Zeiten angenommen worden, dass diejenigen 
Theile der Organisation, welche die Lebens-Weise und im Allge- 
meinen den Platz bestimmen, welchen jedes Wesen im Haushalte 
der Natur einnimmt, von erster Wichtigkeit seyen. Und doch kann 
nichts unrichtiger seyn. Niemand legt mehr der äussern Ähnlich- 
keit der Maus mit der Spitzmaus, des Dugongs mit dem Wale, 
und des Wales mit dem Fisch einige Wichtigkeit bei. Diese Ähn- 
lichkeiten, wenn auch in innigstem Zusammenhange mit dem 
ganzen Leben des Thieres stehend, werden als blosse »analoge 
oder Anpassungs -Charaktere« bezeichnet; doch werden wir auf 
die Betrachtung dieser Ähnlichkeiten später zurückkommen. Man 
kann es sogar als eine allgemeine Regel ansehen, dass, je 
weniger ein Theil der Organisalion für Spezial-Zwecke bestimmt 
ist, desto wichtiger er für die Klassifikation seye. So z. B. sagt 
R. Owen, indem er vom Dugong spricht: »Ich habe die Genera- 
tions- Organe, insoferne als sie mit Lebens - und Ernährungs- 
Weise der Thiere in wenigst naher Beziehung stehen, immer 
als solche betrachtet, welche die klarsten Andeutungen über die 
wahren [tieferen] Verwandtschaften derselben zu liefern vermögen. 
Wir sind am wenigsten der Gefahr ausgesetzt, in ihren Modifi- 
kationen einen bloss adaptiven für einen wesentlichen Charakter zu 
nehmen.« So ist es auch mit den Pflanzen. Wie merkwürdig 
ist es nicht, dass die Vegetations-Organe, von welchen ihr Leben 
überhaupt abhängig ist, ausser für die ersten Hauptabtheilungen, 
so wenig zu bedeuten haben, während die Reproduktions-Werk- 


419 


zeuge und deren Erzeugniss, der Saame, von oberster Bedeu- 
tung sind. | | 

Wir dürfen uns daher bei der Klassifikation nicht auf Ähn- 
lichkeiten zwischen Theilen der Organisation verlassen, wie be- 
deutend sie auch für das Gedeihen des Wesens in seinen Be- 
ziehungen zur äusseren Welt seyn mögen. Daher rührt es viel- 
leicht auch zum Theile, dass fast alle Naturforscher die grösste 
Wichtigkeit auf die Ähnlichkeit solcher Organe legen, welche in 
physiologischer Hinsicht von hoher Bedeutung sind. Das ist auch 
wohl im Allgemeinen , aber nicht in allen Fällen richtig. Jedoch 
hängt die Wichtigkeit der Organe für die Klassifikation nach. 
meiner Meinung hauptsächlich von der Beständigkeit ihrer Cha- 
raktere in grossen Arten-Gruppen ab, und diese Beständigkeit 
findet sich gerade bei solchen Organismen, welche zur Anpassung 
an äussere Lebens-Bedingungen weniger abgeändert werden. Dass 
aber auch die physiologische Wichtigkeit eines Organes seine Be- 
deutung für die Klassifikation nicht allein bestimme , ergibt sich 
deutlich schon aus der Thatsache allein, dass der klassifikatorische 
Werth eines Organes in verwandten Gruppen, wo doch eine 
gleiche physiologische Bedeutung desselben unterstellt werden 
darf, oft weit verschieden ist. Kein Naturforscher kann sich mit 
einer Gruppe näher beschäftigt haberi, ohne dass ihm Diess auf- 
gefallen wäre, was auch in den Schriften fast aller Autoren voll- 
kommen anerkannt wird. Es wird genügen, wenn ich ROBERT 
Brown als den höchsten Gewährsmann zitire, indem er bei Erwäh- 
nung gewisser Organe bei den Proteaceen sagt: ihre generische 
Wichtigkeit »ist so wie die aller ihrer Theile nicht allein in dieser, 
sondern nach meiner Erfahrung in allen natürlichen Familien sehr 
ungleich und scheint mir in einigen Fällen ganz verloren zu 
gehen.« Ebenso sagt er in einem andern Werke: die Genera 
der Connaraceae »unterscheiden sich durch die Ein- oder Mehr- 
zahl ihrer Ovarien, durch Anwesenheit oder Mangel des Eiweisses 
und durch die schuppige oder klappenarlige Ästivation. Ein jedes 
einzelne dieser Merkmale ist oft von mehr als generischer Wich- 
tigkeit; hier aber erscheinen alle zusammen genommen UNZU- 
reichend, um nur die Sippe Cnestis von Connarus zu unter- 

41° 


420 


scheiden.« Ich will noch ein Beispiel von den Insekten entleh- 
nen, wo in der Klasse der Hymenopteren nach Westwoons Be- 
obachtung die Fühler in einer Hauptabtheilung von sehr beständiger 
Bildung sind, während sie in andern Abtheilungen sehr abändern 
und die Abweichungen oft von ganz untergeordnetem Werthe für 
die Klassifikation sind; und doch wird niemand behaupten wollen, 
dass die Fühler in diesen zwei Gruppen von ungleichem physiologi- 
schem Werthe seyen. So liessen sich noch viele Beispiele von 
der veränderlichen Wichtigkeit eines wesentlichen Organes für die 
Klassifikation innerhalb derselben Gruppe von Organismen anführen. 

Es. wird niemand behaupten, rudimentäre oder verkün- 
merte Organe seyen von hoher physiologischer ‘Wichtigkeit, und 
doch gibt es ohne Zweifel Organe welche in diesem Zustande für 
die Klassifikation einen grossen Werth haben. So bestreitet nie- 
mand, dass die Zahn-Rudimente im Oberkiefer junger Wiederkäuer 
sowie gewisse Knochen-Rudimente in den Füssen sehr nützlich 
sind, um die nahe Verwandtschaft der Wiederkäuer mit den 
Dickhäutern zu beweisen. Und so bestund auch Rogerr BROWN 
strenge auf der hohen Bedeutung, welche verkümmerte Blumen 
der Gräser für ihre Klassifikation hätten. 

Dagegen lässt sich eine Menge von Fällen nachweisen, wo 
Charaktere an Organen von ganz zweifelhafter physiologischer 
Wichtigkeit allgemein für sehr nützlich zur Bestimmung ganzer 
Gruppen gelten. So ist z. B. der offne Durchgang von den Na- 
senlöchern in die Mundhöhle nach R. Owen der einzige unbe- 
dingte Unterschied zwischen Reptilien und Fischen; und eben so 
wichtig ist die Einbiegung des hintern Unterrandes des Unter- 
kiefers bei den Beutelthieren, die verschiedene Zusammenfaltungs- 
Weise der Flügel bei den Insekten, die blasse Farbe bei gewis- 
sen Algen, die Behaarung gewisser Blüthen-Theile bei den Grä- 
sern, das Haar- und Feder-Kleid bei den zwei obren Wirbel- 
thier-Klassen. Hätte der Ornithorhynchus ein Feder- stalt ein 
Haar-Gewand, so würde dieser äussre unwesentlich scheinende 
Charakter vielleicht von manchen Naturforschern als ein wichti- 
ses Hilfsmittel zur Bestimmung des Verwandtschafts-Grades die- 
ses sonderbaren Geschöpfes den Vögeln und den Reptilien gegen- 


421 


über, welchen es sich in einigen wesentlicheren inneren Struk- 
tur-Verhältnissen nähert, angesehen werden. 

Die Wichtigkeit an sich gleichgiltiger Charaktere für die 
‚Klassifikation hängt hauptsächlich von ihrer Wechselbeziehung zu 
manchen anderen mehr und weniger wichtigen Merkmalen ab. 
In der That ist der Werth untereinander zusammenhängender 
Chararaktere in der Naturgeschichte sehr augenscheinlich. Da- 
her kann sich, wie oft bemerkt worden ist, eine Art in mehren 
einzelnen Charakteren von hoher physiologischer Wichtigkeit wie 
von allgemeiner Verbreitung weit-von ihren Verwandten entfer- 
nen und uns doch nicht in Zweifel darüber lassen, wohin sie 
gehört. Daher hat sich auch oft genug eine bloss auf ein ein- 
ziges Merkmal, wenn gleich von höchster Bedeutung, gegründete 
Klassifikation als mangelhaft erwiesen; denn kein Theil der -Orga- 
nisation ist allgemein beständig. Die Wichtigkeit einer Verkettung 
von Charakteren, wenn auch keiner davon wesentlich ist, erklärt 
nach meiner Meinung allein den Ausspruch Linn£s, dass die Cha-. 
raktere nicht das Genus machen, sondern dieses die ‚Charaktere 
gibt; denn dieser Ausspruch scheint gegründet auf eine Würdi- 
gung vieler untergeordneter Ähnlichkeits -Beziehungen, welche 
für die Definition zu gering sind. Gewisse zu den Malpighiaceae 
gehörige Pflanzen bringen vollkommene und verkümmerte Blü- 
then zugleich hervor; die letzten verlieren nach A. pe Jussieu's 
Bemerkung »die Mehrzahl der Art-, Sippen-, Familien- und selbst 
Klassen -Charaktere und spotten mithin unsrer Klassifikation.« 
Als aber die in Frankreich eingeführte Aspicarpa mehre Jahre 
lang nur verkümmerte Blüthen lieferte, welche in einer Anzahl 
der wichtigsten Punkte der Organisation so wunderbar von dem 
eigentlichen Typus der Ordnung abwichen, da erkannte RıcHArD 
scharfsichtig genug, wie Jussıeu bemerkt, dass diese Sippe unter 
den Malpighiaceen zurückbehalten werden müsse. Dieser Fall 
scheint mir den Geist wohl zu ‚bezeichnen, in welchem unsre 
Klassifikationen zuweilen nothwendig gegründet sind. 

In der Praxis bekümmern sich die Naturforscher nicht viel 
um den physiologischen Werth des Charakters, dessen sie sich 
zur Definition einer Gruppe oder bei Einordnung einer Spezies 


422 


bedienen. Wenn sie einen nahezu einförmigen nnd einer grossen 
Anzahl von Formen gemeinsamen Charakter finden, der bei andern 
nicht vorkommt, so betrachten sie ihn als sehr werthvoll; kömmt 
er bei einer geringern Anzahl vor, so ist er von geringerem Werthe. 
Zu diesem Grundsatze haben sich einige Naturforscher offen als zu 
dem einzig richtigen bekannt, und keiner entschiedener als der 
vortreffliche Botaniker Ausust $1.-Hıraıre. Wenn gewisse Cha- 
raktere immer in Wechselbeziehung mit einander erscheinen, 
mag auch ein bedingendes Band zwischen ihnen nicht zu ent- 
decken seyn, so wird ihnen besondrer Werth beigelegt. Da in 
den meisten Säugthier-Gruppen wesentliche Organe, wie die zur 
Bewegung des Blutes, zur Athınung, zur Fortpflanzung bestimm- 
ten, nahezu von gleicher Beschaffenheit sind, so werden sie bei 
deren Klassifikation hoch gewerthet; wogegen wieder in andern 
Gruppen alle diese wichtigsten Lebens-Werkzeuge nur Charak- 
tere von ganz untergeordnetem Werthe darbieten. 

Vom Embryo entnommene Charaktere erweisen sich von 
gleicher Wichtigkeit, wie die der ausgewachsenen Thiere, indem 
unsre Klassifikationen die Arten in allen ihren Lebens-Altern 
umfassen. Doch scheint es sich aus der gewöhnlichen Anschau- 
ungs-Weise keinesweges zu rechlfertigen, dass man die Struktur 
des Embryos für diesen Zweck höher in Anschlag bringe als die 
des erwachsenen Thieres, welches doch nur allein vollen Antheil 
am Haushalte der Natur nimmt. Nun haben die grossen Natur- 
forscher Mirne-Epwarns und L. Acassız scharf hervorgehoben, 
dass embryonische Charaktere von allen die wichtigsten für die 
Klassifikation sind, und diese Behauptung ist fast allgemein als 
richtig aufgenommen worden. Sie entspricht auch den Blüthen- 
Pflanzen ganz gut, deren zwei Hauptabtheilungen nur auf embryo- 
nische Charaktere gegründet sind, nämlich auf die Zahl und Stel- 
lung der Blätter des Embryos oder der Kotyledonen und auf die 
Entwicklungs-Weise der Plumula und Radicula. In unsren em- 
bryologischen Erörterungen werden wir den Grund einsehen, 
wesshalb diese Charaktere so werthvoll sind, indem nämlich die auf 
dieselben gegründete Klassifikations-Weise stillschweigend die Vor- 
stellung von der gemeinsamen Abstammung der Arten anerkennt. 


423 


Unsre Klassifikationen stehen oft offenbar unter dem Ein- 
flusse verwandtschaftlicher Verkettungen. Es ist nichts leichter, 
als eine Anzahl allen Vögeln gemeinsamer Charaktere zu be- 
zeichnen. während Diess hinsichtlich der Kruster noch nicht 
möglich gewesen ist. Es gibt Kruster an den beiden Enden der 
Reihe, welche kaum einen Charakter mit einander gemein haben; 
aber da die an den zwei Enden stehenden Arten offenbar mit 
andern und diese wieder mit andern Krustern u. S. w. verwandt 
sind, so ergibt sich ganz unzweideutig, dass sie alle zu dieser 
und zu keiner andern Klasse der Kerbthiere gehören. 

Auch die geographische Verbreitung ist oft, wenn gleich 
vielleicht nicht logischer Weise, zur Klassifikation mit benützt 
worden, zumal in sehr grossen Gruppen einander nahe verwand- 
ter Formen. Temmmek besteht auf der Nützlichkeit und selbst 
Nothwendigkeit dieser Übung bei ‘gewissen Vögel-Gruppen ; wie 
sie denn auch von einigen Entomologen und Botanikern in An- 
wendung gekommen ist. 

Was endlich die verglichenen Werthe der verschiedenen 
Arten-Gruppen, wie Ordnungen und Unterordnungen, Familien und 
Unterfamilien, Sippen u. s. w. betriflt, so scheinen sie wenig- 
stens bis jetzt ganz willkürlich zu seyn. Einige der besten 
Botaniker, wie Bentuam u. A., sind beharrlich auf ihrer Meinung 
von deren willkürlichem Werthe geblieben. Man könnte bei 
den Pflanzen wie bei den Insekten Beispiele anführen von Arten- 
Gruppen, die von geübten Naturforschern erst nur als Sippen 
aufgestellt und dann allmählich zum Rang von Unterfamilien und 
Familien erhoben worden sind, und zwar nicht desshalb, weil 
durch spätre Forschungen neue wesentliche Unterschiede in ihrer 
- Organisation ausgemittelt worden wären, sondern nur in Folge 
spätrer Entdeckung vieler verwandter Arten mil nur schwach 
abgestuften Unterschieden. 

Alle voranstehenden Regeln, Behelfe und Schwierigkeiten 
der Klassifikation erklären sich, wenn ich mich nicht sehr täusche, 
durch die Annahme, dass das natürliche System auf Fortpflan- 
zung unter fortwährender Abänderung beruhe, dass diejenigen 
Charaktere, welche nach der Ansicht der Naturforscher eine 


424 


ächte Verwandtschaft zwischen zwei oder 'mehr Arten darthun, 
von einen gemeinsamen Ahnen ererbt sind und in so fern alle 
ächte Klassifikation eine genealogische ist; — dass gemeinsame 
Abstammung das unsichtbare Band ist, wornach alle Naturforscher 
unbewusster Weise gesucht haben, nicht aber ein unbekannter 
Schöpfungs-Plan, oder eine bequeme Form für allgemeine Beschrei- 
bung, oder eine angemessene. Methode die Natur-Gegenstände 
nach den Graden' ihrer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zu sortiren, 

Doch ich muss meine Ansicht: vollständiger auseinander- 
setzen. Ich glaube, dass die Anordnung der Gruppen in jeder 
Klasse, ihre gegenseitige Nebenordnung und Unterordnung streng 
genealogisch seyn muss, wenn sie natürlich seyn soll; dass 
aber das Maass der Verschiedenheit zwischen den verschiedenen 
Gruppen oder Verzweigungen, obschon sie alle in gleicher Bluts- 
verwandtschaft mit ihrem gemeinsamen Stammvater stehen, sehr 
ungleich seyn kann, indem dieselbe von den verschiedenen Gra- 
den erlittener Abänderung abhängig ist; und Diess findet seinen 
Ausdruck darin, dass die Formen in verschiedene Sippen, Fami- 
lien, Sektionen und Ordnungen gruppirt werden. Der Leser 
wird meine Meinung am besten verstehen, wenn er sich noch- 
mals nach dem Bilde 5. 115 umsehen will. ‘Nehmen wir an, die 
Buchstaben A bis L stellen verwandte Sippen vor, welche in der 
silurischen Zeit gelebt und selber von einer Art abstammen, die 
in einer unbekannten früheren Periode existirt hat. Arten von 
dreien dieser Genera (A, F und I) haben sich in abgeänderten 
Nachkommen bis auf den heutigen Tag fortgepflanzt, welche 
durch die fünfzehn Sippen a!* bis z!* der obersten Reihe aus- 
gedrückt sind. Nun sind aber alle diese abgeänderten Nachkom- 
men einer einzelnen Art in gleichem Grade blutsverwandt zu 
einander ; man könnte sie bildlich als Vettern im gleichen millon- 
sten Grade bezeichnen; und doch sind sie weit und in unglei- 
chem ‘Grade von einander verschieden. Die von A herstammen- 
den Formen, welche nun in 2-3 Familien geschieden sind, bil- 
den eine andre Ordnung als die zwei von I entsprossenen. Auch 
können die von A abgeleiteten jetzt lebenden Formen eben so 
wenig in eine Sippe mit ihrem Ahnen A, als die von I herkom- 


425 S 


menden in eine mit ihrem Stammvater I zusammengestellt wer- 
den. Die noch jetzt lebende Sippe r!* dagegen mag man als 
nur wenig modifizirt betrachten und demnach mit deren Stamm- 
Sippe F vereinigen, wie es ja in der That noch jetzt einige 
Genera gibt, welche mit silurischen übereinstimmen. So kommt 
es, dass das Maass oder der Werth der Verschiedenheiten zwi- 
schen organischen Wesen, die alle in gleichem Grade mit. einan- 
der blutsverwandt sind, doch so ausserordentlich ungleich er- 
scheint. Demungeachtet aber bleibt ihre genealogische Anord- 
nungs-Weise vollkommen richtig nicht allein in der jetzigen son- 
dern auch in allen künftigen Perioden der Fortstammung. Alle 
abgeänderten Nachkommen von A haben etwas Gemeinsames von 
ihrem gemeinsamen Ahnen geerbt, wie die des I von dem ihri- 
gen, und so wird es sich auch mit jedem untergeordneten Zweige 
der Nachkommenschaft in jeder späteren Periode verhalten. Un- 
terstellen wir dagegen, einer der Nachkommen von A oder I 
seye so sehr modifizirt worden, dass er die Spuren seiner Ab- 
kunft von demselben mehr oder weniger eingebüsst 'habe, so 
wird er im natürlichen Systeme nur eine mehr und weniger 
abgesonderte Stelle einnehmen können, wie Diess bei einigen 
noch ‘lebenden Formen wirklich der Fall zu seyn scheint. Von 
allen Nachkommen der Sippe F ist der ganzen Reihe nach ange- 
nommen, dass sie nur wenig modifizirt worden seyen und daher 


gegenwärtig nur ein einzelnes Genus bilden. Aber dieses Genus 
wird, sehr vereinzelt, eine eigene Zwischenstelle einnehmen; 
denn F hielt ursprünglich seinem Charakter nach das Mittel zwi- 
schen A 'und I, und die verschiedenen von diesen zwei Genera 
herstammenden Sippen werden jedes von seiner Stamm - Sippe 
etwas Gemeinsames geerbt haben. Diese natürliche Anordnung 
ist, so viel es auf dem Papiere möglich, nur in viel zu einfacher 
Weise, bildlich dargestellt. Hätte ich, statt der verzweigten 
Darstellung, nur -die Namen der Gruppen in eine lineare Reihe 
schreiben wollen, so würde es noch viel weniger möglich ge- 
worden seyn, ein Bild vonder natürlichen Anordnung zu geben, 
da es anerkannter Maassen unmöglich ist, in einer Linie oder 
auf einer Fläche die Verwandtschaften zwischen den verschiede- 


426 


nen Wesen einer Gruppe darzustellen. So ist nach meiner An- 
sicht das Natur-System genealogisch in seiner Anordnung, wie ein 
Stammbaum, aber die Abstufungen der Modifikationen, welche die 
verschiedenen Gruppen durchlaufen haben, müssen durch Einthei- 
lung derselben in verschiedene sogenannte Sippen, Unterfamilien, 
Familien, Sektionen, Ordnungen und Klassen ausgedrückt werden. 

Zur Erläuterung dieser meiner Ansicht von der Klassifikation 
mag ein Vergleich mit den Sprachen angemessen seyn. Wenn 
wir einen vollständigen Stammbaum des Menschen besässen, so 
würde eine genealogische Anordnung der Menschen-Rassen die 
beste Klassifikation aller jetzt auf der ganzen Erde gesproche- 
nen Sprachen abgeben; und,könnte man alle erloschenen und 
mitteln Sprachen und alle langsam abändernden Dialekte mit auf- 
nehmen, so würde diese Anordnung, glaube ich, die einzig mög- 
liche seyn. Da könnte nun der Fall eintreten, dass irgend eine 
sehr alte Sprache nur wenig abgeändert und zur Bildung nur 
weniger neuen Sprachen gedient hätte, während andre (in Folge 
der Ausbreitung und späteren Isolirung und Zivilisations-Stufen 
einiger von gemeinsamem Stamm entsprossener Rassen) sich sehr 
veränderten und die Entstehung vieler neuer Sprachen und Dia- 
lekte veranlassten. Die Ungleichheit der Abstulungen in der 
Verschiedenheit der Sprachen eines Sprach-Stammes müsste durch 
Unterordnung der Gruppen unter einander ausgedrückt werden; 
aber die eigentliche oder eben allein mögliche Anordnung könnte 
nur genealogisch seyn; und Diess wäre streng naturgemäss , in- 
dem auf diese Weise alle lebenden wie erloschenen Sprachen 
je nach- ihren Verwandtschafts-Stufen mit einander verkettet und 
der Ursprung und der Eutwickelungs-Gang einer jeden einzelnen 
nachgewiesen werden würde. 

Wir wollen nun, zur Bestätigung dieser Ansicht, einen Blick 
auf die Klassifikation der Varietäten werfen, von welchen man 
annimmt oder weiss, dass sie von einer Art abstaınmen. Diese 
werden unter die Arten eingereihet und selbst in Unter-Varielä- 
ten’ weiter geschieden; und bei unsren Kultur-Erzeugnissen wer- 
den noch manche andre Unterscheidungs-Stufen angenommen, 
wie wir bei den Tauben gesehen haben. Das Verhältniss der 


427 


Gruppen zu den Untergruppen ist dasselbe, wie das der Arten 
zu den Varietäten; es ist verwandte Abstammung mit verschie- 
denen Abänderungs-Stufen. Bei Klassifikation der Varietäten 
werden fast die nämlichen Regeln, wie bei den Arten befolgt. 
Manche Schriftsteller sind auf der Nothwendigkeit bestanden, die 
Varietäten nach einem natürlichen statt künstlichen Systeme zu 
klassifiziren; wir sind z. B. so vorsichtig, nicht zwei Kiefer- 
Varietäten zusammenzuordnen, weil bloss ihre Frucht, ob- 
gleich der wesentlichste Theil, zufällig nahezu übereinstimmt. 
Niemand stellt den Schwedischen mit dem gemeinen Turnips 
oder Rübsen zusammen, obwohl deren verdickter essharer Stiel 
so ähnlich ist. Der beständigste Theil, welcher es immer seyn 
mag, wird zur Klassifikation der Varietäten benützt; aber der 
grosse Landwirth Marsnarı sagt, die Hörner des Rindviehs seyen 
für diesen Zweck sehr nützlich, weil sie weniger als die Form 
oder Farbe des Körpers veränderlich seyen, während sie bei 
den Schaafen ihrer Veränderlichkeit wegen viel weniger brauch- 
bar seyen. Ich stelle mir vor, dass, wenn man einen wirklichen 
Stammbaum hätte, eine genealogische Klassifikation der Varietäten 
allgemein vorgezogen werden würde, und einige Autoren haben 
in der That eine solche versucht. Denn, mag ihre Abänderung 
gross oder klein seyn, so werden wir uns doch überzeugt hal- 
ten, dass das Vererbungs-Prinzip diejenigen Formen zusammen- 
halte, welche in den meisten Beziehungen mit einander ver- 
wandt sind. So werden alle Purzel- Tauben, obschon einige 
Untervarietäten in der Länge des Schnabels weit von einander 
abweichen, doch durch die gemeinsame Sitte zu purzeln unter 
sich zusammengehalten, aber der kurzschnäbelige Stock hat 
diese Gewohnheit beinahe abgelegt. Demungeachtet hält man 
diese Purzler, ohne über die Sache nachzudenken oder zu Ur- 
theilen, in einer Gruppe beisammen, weil sie einander durch 
Abstammung verwandt und in manchen andern Beziehungen ähn- 
lich sind. Liesse sich nachweisen, dass der Hottentott vom Neger 
abstammte, so würde man ihn, wie ich glaube, unter den Neger 
einreihen, wie weit er auch in Farbe und andern wichtigen Be- 
ziehungen davon verschieden seyn mag. 


428 


Was dann die Arten in ihrem Natur-Zustande betrifft, so 
hat jeder Naturforscher die Abstammung hei der Klassifikation 
mit in Betracht gezogen, indem er in seine unterste Gruppe, 
die Spezies nämlich, beide Geschlechter aufnahm, und wie un- 
geheuer diese zuweilen sogar in den wesentlichsten Charakteren 
von einander abweichen, ist jedem Naturforscher bekannt; so 
haben Männchen und Hermaphroditen gewisser Cirripeden im 
reifen Alter kaum ein Merkmal mit einander gemein, und doch 
träumt niemand davon sie zu trennen. Der Naturforscher schliesst 
in eine Spezies die verschiedenen Larven-Zustände des nämlichen 
Individuums ein, wie weit dieselben auch unter sich und von 
dem erwachsenen Thiere verschieden seyn mögen, wie er auch 
die von Sreenstrup sogenannten Wechsel-Generationen mit ein- 
begreift, die man nur in einem technischen Sinne noch als zum 
nämlichen Individuum gehörig betrachten kann. Er schliesst Miss- 
geburten, er schliesst Varietäten mit ein, nicht allein weil sie der 
älterlichen Form nahezu gleichen. sondern weil sie von dersel- 
ben abstammen. Wer glaubt, dass die grosse hellgelbe Schlüs- 
selblume (Primula elatior) von der gewöhnlicheren kleinen und 
dunkelgelben (Pr. veris) abstamme, oder umgekehrt, stellt sie in 
eine Art zusammen und gibt eine gemeinsame Definition dersel- 
ben. Sobald man wahrnahm, dass drei ehedem als eben so viele 
Sippen aufgeführte Orchideen-Formen (Monochanthus, Myanthus 
und Catasetum) zuweilen an der nämlichen Blüthen - Ähre bei- 
sammensitzen, verband man sie unmittelbar zu einer einzigen 
Spezies. | 

Da die Abstammung bei Klassifikation der Individuen einer 
Art trotz der oft ausserordentlichen Verschiedenheit zwischen 
Männchen, Weibchen und Larven, allgemein maassgebend ist, 
und da dieselbe bei Klassifikation von Varietäten, welche ein 
gewisses und mitunter ansehnliches Maass von Abänderung erfah- 
.ren haben, in Betracht gezogen wird: mag es dann nicht auch 
vorgekommen seyn, dass man das nämliche Element ganz unbe- 


wusst bei Zusammenstellung der Arten in Sippen und der Sip- 
pen in höhere Gruppen angewendet hat, obwohl hier die Unter- 
schiede beträchtlicher sind und eine längere Zeit zu ihrer Ent- 


429 


wickelung bedurft haben ? Ich glaube, dass es allerdings so ge- 
schehen ist; und nur so vermag ich die verschiedenen Regeln 
und Vorschriften zu verstehen, welche ‘von unsern besten Syste- 
matikern befolgt worden sind. Wir haben keine geschriebenen 
Stammbäume, sondern ermitteln die gemeinschaftliche Abstam- 
mung nur vermittelst der Ähnlichkeiten irgend welcher Art. Daher 
wählen wir Charaktere aus, die, so viel wir beurtheilen können, 
durch die Beziehungen zu den äusseren Lebens-Bedingungen, 
welchen jede Art in der laufenden Periode ausgesetzt gewesen 
ist, am wenigsten verändert worden sind. Rudimentäre Gebilde 
sind in dieser Hinsicht eben so gut und zuweilen noch besser, 
als andre. Mag ein Charakter noch so unwesentlich erscheinen, 
seye es ein eingebogner Unterkiefer-Rand, oder die Faltungs- 
Weise eines Insekten-Flügels, sey es das Haar- oder Feder-Ge- 
wand des Körpers: wenn sich derselbe durch viele und verschie- 
denartige Spezies erhält, durch solche zumal, welche sehr un- 
oleiche Lebens-Weisen haben, so nimmt er einen hohen Werth 
an; denn wir können seine Anwesenheit in so vielerlei Formen 
und mit so manchfaltigen Lebens-Weisen nur durch seine Er- 
erbung von einem gemeinsamen Stamm-Vater erklären. Wir 
können uns dabei hinsichtlich einzelner Punkte der Organisation 
irren; wenn aber verschiedene noch so unwesentliche Charaktere 
durch eine ganze grosse Gruppe von Wesen mit verschiedener 
Lebens-Weise gemeinschaftlich andauern, so werden wir nach der 
Theorie der Abstammung fest überzeugt seyn können, dass 
diese Gemeinschaft , von Charakteren von einem gemeinsamen 
Vorfahren ererbt ist. Und wir wissen, dass solche in Wechsel- 
beziehung zu einander vorkommende Charaktere bei der. Klassi- 
fikation von grossem Werthe sind. Es wird begreiflich, warum 
eine Art oder eine ganze Gruppe von Arten in einigen ihrer 
wesentlichsten Charaktere von ihren Verwandten abweichen und 
doch ganz wohl mit ihnen zusammen klassifizirt werden kann. 
Man kann Diess getrost ihun und hat es oft gethan, so lange 
als noch eine genügende Anzahl von wenn auch unbedeutenden 
Charakteren das verborgene Band gemeinsamer Abstammung 
verräth. Denn sogar, wenn zwei Formen nicht einen einzigen 


air a 


430 


Charakter gemeinsam besitzen, aber diese extremen Formen noch 
durch eine Reihe vermittelnder Gruppen miteinander verkettet 
sind, dürfen wir noch auf eine gemeinsame Abstammung schlies- 
sen und sie alle zusammen in eine Klasse stellen. Da Charak- 
tere von hoher: physiologischer Wichtigkeit, solche die zur Er- 
haltung, des Lebens unter den verschiedensten Existenz-Bedin- 
gungen dienen, gewöhnlich am beständigsten sind, so legen wir 
ihnen grossen Werth bei; wenn aber diese Organe in einer 
andern Gruppe oder Gruppen - Abtheilung sehr abweichen. so 
schätzen wir sie hier auch bei der Klassifikation geringer. 
Wir werden hiernach, wie ich glaube, klar einsehen, warum 
embryonische Merkmale eine so hohe klassifikatorische  Wich- 
tigkeit besitzen. Die geographische‘ Verbreitung mag bei der 
Klassifikation grosser und weit-verbreiteter Sippen zuweilen mit 
Nutzen angewendet werden, weil alle Arten einer solchen Sippe, 
welche eine eigenthümliche und abgesonderte Gegend bewohnen, 
höchst wahrscheinlich von gleichen Ältern abstammen. 

Aus diesem Gesichtspunkte wird es begreiflich, wie wesenl- 
lich es ist, zwischen wirklicher Verwandtschaft und analoger oder 
Anpassungs-Ähnlichkeit zu unterscheiden. LAmarck hat zuerst die 
Aufmerksamkeit auf diesen Unterschied gelenkt, und MacıEAY 
u. A. sind ihm darin glücklich gefolgt. Die Ähnlichkeit, welche 
zwischen dem Dugong, einem den Pachydermen verwandten Thiere, 
und den Walen in der Form des Körpers und der Bildung der 
vordern ruderförmigen Gliedmaassen, und jene, welche zwischen 
diesen beiderlei Thieren und den Fischen besteht, ist Analogie. 
Bei den Insekten finden sich unzählige Beispiele dieser Art; 
daher Linse, durch äussern Anschein verleitet, wirklich ein homo- 
pteres Insekt unter die Motten gestellt hat. Wir sehen etwas 
Ähnliches auch bei unseren kultivirten Pflanzen in den verdickten 


Stämmen des gemeinen und des Schwedischen Rutabaga-Turnips. 
Die Ähnlichkeit zwischen dem Windhund und dem Englischen 
Wettrenner ist schwerlich eine mehr eingebildete, als andre von 
einigen Autoren zwischen einander sehr entfernt stehenden Thie- 
ren aufgesuchte Analogie'n. Nach meiner Ansicht, dass Cha- 
raktere nur in so ferne von wesentlicher Wichtigkeit für die 


431 


Klassifikation sind, als sie die gemeinsame Abstammung aus- 
drücken, lernen wir deutlicher einsehen, warum analoge oder 
Anpassungs-Charaktere, wenn auch vom höchsten Werthe für das 
Gedeihen der Wesen, doch für den Systematiker fast werthlos 
sind. Denn zwei Thiere von ganz verschiedener Abstammung 
können wohl ganz ähnlichen Lebens-Bedingungen angepasst und 
sich daher äusserlich sehr ähnlich seyn; aber solche Ähnlichkeiten 
- verralhen keine Bluts-Verwandtschaft, sondern sind vielmehr ge- 
eignet, die wahren verwandtschaftlichen Beziehungen in Folge 
gemeinsamer Abstammung zu verbergen. Wir begreifen ferner 
das anscheinende Paradoxon, dass die nämlichen Charaktere ana- 
loge seyn können, wenn eine Klasse oder Ordnung mit der an- 
dern verglichen wird, aber für ächte Verwandtschaft zeugen, 
woferne es sich um die Vergleichung von Gliedern der nämlichen 
Klasse oder Ordnung unter einander handelt. So beweisen Kör- 
per-Form und Ruderlfüsse der Wale nur eine Analogie mit den 
Fischen, indem solche in beiden Klassen nur eine Anpassung 
des Thieres zum Schwimmen im Wasser bezwecken; aber bei- 
derlei Charaktere beweisen auch die nahe Verwandtschaft zwi- 
schen den: Gliedern ‘wer Wal-Familie selbst; denn diese Wale 
stimmen in so vielen grossen und kleinen Charakteren miteinan- 
der überein, dass wir nicht an der Ererbung ihrer allgemeinen 
Körper-Form und ihrer Ruderfüsse von einem gemeinsamen Vor- 
fahren zweifeln können. Und eben so ist es mit den Fischen. 
Da Glieder verschiedener Klassen oft durch zahlreich auf 
einander-folgende geringe Abänderungen einer Lebens-Weise un- 
ter nahezu ähnlichen Verhältnissen angepasst werden, um 2. B. 
auf dem Boden, in der Luft oder im Wasser zu leben, so wer- 
den wir vielleicht verstehen, woher es kommt, dass man zuwei- 
len einen Zahlen-Parallelismus zwischen Untergruppen verschie- 
dener Klassen bemerkt hat. Ein Naturforscher kann unter dem 
Eindrucke, den dieser Parallelismus in einer Klasse auf ihn 
macht. demselben dadurch, dass er den Werth der Gruppen in 
andern Klassen etwas höher oder tiefer setzt (und alle unsre Er- 
fahrung zeigt, dass Schätzungen dieser Art noch immer sehr 
willkürlich sind), leicht eine grosse Ausdehnung geben; und so 


432 & 


sind wohl unsre sieben-, fünf-, vier- und drei-gliedrigen Systeme 
entstanden. 

Da die abgeänderten Nachkommen herrschender Arten grosser 
Sippen diejenigen Vorzüge, welche die Gruppen, wozu sie gehören, 
gross und ihre Altern herrschend gemacht haben, zu vererben 
streben, so sind sie meistens sicher sich weit auszubreiten und 
mehr oder weniger Stellen im Haushalte der Natur einzunehmen. 
So streben die grossen und herrschenden Gruppen nach immer 
weiterer Vergrösserung und ersetzen demnach viele kleinere und 
schwächere Gruppen. So erklärt sich auch die Thatsache, dass 
alle erloschenen wie noch lebenden Organismen einige wenige 
grosse Ordnungen in noch wenigeren Klassen bilden, die alle in 
einem grossen Natur-Systeme enthalten sind. Um zu zeigen, 
wie wenige an Zahl die oberen Gruppen und wie weit sie in 
der Welt verbreitet sind, ist die Thatsache zutreffend, dass die 
Entdeckung Neu-Hollands nicht ein Insekt aus einer neuen Klasse 
geliefert hat, und dass im Pflanzen-Reiche, wie ich von Dr. Hoo- 
RER vernehme, nur eine oder zwei kleine Ordnungen hinzuge- 
kommen sind. 

Im Kapitel über die geologische Aufeinanderfolge habe ich 
nach dem Prinzip, dass im Allgemeinen jede Gruppe während 
des lang-dauernden Modifikations-Prozesses in ihrem Charakter 
sehr auseinander ‚gelaufen ist, zu zeigen mich bemühet, woher 
es kommt, dass die ältern Lebenformen oft einigermaassen mittle 
Charaktere zwischen denen der jetzigen Gruppen darbieten. 
Einige wenige solcher alten und mitteln Stamm-Formen, welche 
sich zuweilen in nur wenig abgeänderten Nachkommen bis zum 
heutigen Tage erhalten haben, geben zur Bildung unsrer soge- 
nannten schwankenden oder aberranten Gruppen Veranlassung. 
Je abirrender eine Form ist, desto grösser muss die Zahl ver- 
kettender Glieder seyn, welche gänzlich vertilgt worden und 
verloren gegangen sind. Auch dafür, dass die aberranten For- 
men sehr durch Erlöschen gelitten, haben wir einige Belege; 
denn sie sind gewöhnlich nur durch einige wenige Arten ver- 
treten, und auch diese Arten sind gewöhnlich sehr verschieden 


von einander, was gleichfalls auf Erlöschung hinweist. Die 


433 


Sippen Ornithorhynchus und Lepidosiren z. B. würden nicht we- 
niger aberrant seyn, wenn sie jede durch ein Dutzend statt nur 
eine oder zwei Arten vertreten wären; aber solcher Arten- 
Reichthum ist, wie ich nach mancherlei Nachforschungen finde, 
den aberranten Sippen gewöhnlich nicht zu Theil geworden. Wir 
können, glaube ich, diese Erscheinung nur erklären, indem wir 
die aberranten Formen als Gruppen betrachten, welche, im Kampfe 
mit siegreichen Mitbewerbern unterliegend, nur noch wenige 
Glieder in Folge eines ungewöhnlichen Zusammentreflens günsti- 
ger Umstände bis heute erhalten haben. 

Hr. Wareruouse hat bemerkt, dass, wenn ein Glied aus einer . 
Thier-Gruppe Verwandtschaft mit einer sehr verschiedenen an- 
dern Gruppe zeigt, diese Verwandischaft in den meisten Fällen 
eine Sippen- und nicht eine Art-Verwandtschaft ist. So ist nach 
WATERHOUSE von allen Nagern die Viscasche* am nächsten mit 
den Beutelthieren verwandt; aber die Charaktere, worin sie sich 
den Marsupialen am meisten nähert, haben eine allgemeine Be- 
ziehung zu den Beutelthieren und nicht zu dieser oder jener 
Art im Besondern. Da diese Verwandtschafts-Beziehungen der 
Viscasche zu den Beutelthieren für wesentliche gelten und nicht 
Folge blosser Anpassung sind, so rühren sie nach meiner Theorie 
von gemeinschaftlicher Ererbung her. Daher wir dann auch un- 
terstellen müssen, entweder dass alle Nager einschliesslich der 
Viscasche von einem sehr alten Marsupialen abgezweigt sind, der 
einen einigermaassen mitteln Charakter zwischen denen aller 
jetzigen Beutelthiere besessen, oder dass sowohl Nager wie Beu- 
tellhiere von einem gemeinsamen Stammvater herrühren und 
beide Gruppen durch starke Abänderung seitdem in verschie- 
denen Richtungen auseinander gegangen sind. Nach beiderlei 
Ansicht müssen wir annehmen, dass die Viscasche mehr von den 
erblichen Charakteren des alten Stammvaters an sich behalten 
habe, als sämmtliche anderen Nager; und desshalb zeigt sie keine 
besonderen Beziehungen zu diesem oder jenem noch vorhandenen 
Beutler, sondern nur indirekte zu allen oder fast allen Marsu- 


* Ob Lagostomus oder Lagidium oder beide gemeint seyen, ist nicht zu er- 
sehen, doch kann sich das oben Gesagte auf beide beziehen. D. Ubs. 
28 


434 


pialen überhaupt, indem sie sich einen Theil des Cherakters des 
gemeinsamen Urvaters oder eines früheren Gliedes dieser Gruppe 
erhalten hat. Anderseits besitzt nach Warernouse’s Bemerkung 
unter allen Beutelthieren der Phascolomys am meisten Ähnlichkeit, 
nicht zu einer einzelnen Art, sondern zur ganzen Ordnung der 
Nager überhaupt. In diesem Falle jedoch ist sehr zu erwarten, 
dass die Ähnlichkeit nur eine Analogie seye, indem der Phasco- 
lomys sich einer Lebens-Weise anpasste, wie sie Nager besitzen. 
Der ältere DeCanvorıe hat ziemlich ähnliche Bemerkungen hin- 
sichtlich der allgemeinen Natur der Verwandtschaft zwischen den 
. verschiedenen Pflanzen-Ordnungen gemacht. 

Nach dem Prinzip der Vermehrung und der stufenweisen 
Divergenz des Charakters der von einem gemeinsamen Ahnen ab- 
stammenden Arten in Verbindung mit der erblichen Erhaltung 
eines Theiles des gemeinsamen Charakters erklären sich die aus- 
serordentlich verwickelten und strahlenförmig auseinander-gehen- 
den Verwandtschalten, wodurch alle Glieder einer Familie oder 
höheren Gruppe miteinander verkettet werden. Denn der ge- 
_ meinsame Stammvater einer ganzen Familie von Arten, welche 
jetzt durch Erlöschung in verschiedene Gruppen und Untergrup- 
pen gespalten ist, wird einige seiner Charaktere in verschiedener 
Art und Abstufung modifizirt allen gemeinsam mitgetheilt haben, 
und die verschiedenen Arten werden demnach nur durch Ver- 
wandtschafts-Linien von verschiedener Länge miteinander ver- 
bunden seyn, welche in weit älteren Vorgängern ihren Ver- 
einigungs - Punkt finden, wie es das frühere Bild S. 115 dar- 
stellt. Wie es schwer ist, die Blutsverwandtschaft zwischen den 
zahlreichen Angehörigen einer alten adeligen Familie sogar mit 
Hilfe eines Stammbaums zu zeigen, und fast unmöglich es ohne 
dieses Hilfsmittel zu thun, so begreift man auch die manchfaltigen 
Schwierigkeiten, auf welche Naturforscher , ohne die Hilfe einer 
bildlichen Skizze, stossen, wenn sie die verschiedenen Verwandt- 
schafts-Beziehungen zwischen den vielen lebenden und erlosche- 
nen Gliedern einer grossen natürlichen Klasse nachweisen wollen. 

Erlöschen hat, wie wir im vierten Kapitel gesehen, einen 
grossen Antheil an der Bildung und Erweiterung der Lücken 


435 


zwischen den verschiedenen Gruppen in jeder Klasse. Wir kön- 
nen Diess eben so wie die Trennung ganzer Klassen von ein- 
ander, wie z. B. die der Vögel von allen andern Wirbelthieren, 
durch die Annahme erklären, dass viele alte Lebenformen ganz 
ausgegangen sind, durch welche die ersten Stammältern der 
Vögel vordem mit den ersten Stammältern der übrigen Wirbel- 
thier-Klassen verkettet gewesen. Dagegen sind nur wenige solche 
Lebenformen erloschen, welche einst die Fische mit den Batra- 
chiern verbanden. In noch geringerem Grade ist Diess in einigen 
andern Klassen, wie z. B. bei den Krustern der Fall gewesen, 
wo die wundersamst verschiedenen Formen noch durch eine 
lange aber unterbrochene Verwandtschafts-Kette zusammengehal- 
ten werden. Erlöschung hat die Gruppen nur getrennt, nicht 
gemacht. Denn wenn alle Formen, welche jemals auf dieser 
Erde gelebt haben, plötzlich wieder erscheinen könnten, so würde 
es ganz unmöglich seyn, die Gruppen durch Definitionen von 
einander zu unterscheiden, weil alle durch eben so feine Ab- 
stufungen, wie die zwischen den geringsten lebenden Varietäten 
sind, in einander übergehen würden; demungeachtet würde eine 
natürliche Klassifikation oder wenigstens eine natürliche Anord- 
nung möglich seyn. Wir können Diess ersehen, indem wir un- 
ser Bild (S. 115) umwenden. Nehmen wir an, die Buchstaben 
A bis L stellen 11 silurische Sippen dar, wovon einige grosse 
Gruppen abgeänderter Nachkommen hinterlassen. Jedes Mittel- 
glied zwischen diesen 11 Sippen und deren Urvater so wie jedes 
Mittelglied in allen Ästen und Zweigen ihrer Nachkommenschaft 
seye noch am Leben, und diese Glieder seyen so fein, wie die 
zwischen den feinsten Varietäten abgestuft. In diesem Falle würde 
es ganz unmöglich seyn, die vielfachen Glieder der verschiedenen 
Gruppen von ihren mehr unmittelbaren Ältern oder diese Ältern 
von ihren alten unbekannten Stammvätern durch Definitionen zu 
unterscheiden. Und doch würde die in dem Bilde gegebene 
natürliche Anordnung ganz gui passen und würden nach dem 
Vererbungs-Prinzip alle von A so wie alle von I herkommenden 
Formen unter sich etwas gemein haben. An einem Baume kann 
man diesen und jenen Zweig unterscheiden, obwohl sich beide 
98 * 


d36 


in einer Gabel vereinigen nnd in einander fliessen. "Wir könn- 
ten, wie gesagt, die verschiedenen Gruppen nicht definiren ; aber 
wir könnten Typen oder solche Formen hervorheben, welche die 
meisten Charaktere jeder Gruppe, gross oder klein, in sich ver- 
einigten, und so eine allgemeine Vorstellung vom Werthe der 
Verschiedenheiten zwischen denselben geben. Diess wäre, was 
wir ihun müssten, wenn wir je dahin gelangten, alle Formen 
einer Klasse, die in Zeit und Raum vorhanden gewesen sind, 
zusammen zu bringen. Wir werden zwar gewiss nie im Stande 
seyn, eine solche Sammlung zu machen, demungeachtet aber bei 
gewissen Klassen in die Lage kommen, jene Methode zu ver- 
suchen; und Mırne Epwarps ist noch unlängst in einer vortrell- 
lichen Abhandlung auf der grossen Wichtigkeit bestanden, sich 
an Typen zu halten, gleichviel ob wir im Stande sind oder nicht, 
die Gruppen zu trennen und zu umschreiben, ‘zu welchen diese 
Typen gehören. i 
Endlich haben wir gesehen, dass Natürliche Züchtung, welche 
aus dem. Kampfe um’s: Daseyn hervorgeht und mit Erlöschung 
und mit Divergenz des Charakters in den vielen Nachkommen 
einer herrschenden Stanım-Art fast untrennbar verbunden ist, 
jene grossen und allgemeinen Züge in der Verwandtschaft aller 
organischen Wesen und namentlich ihre Sonderung in Gruppen 
und Untergruppen erklärt. Wir benützen das Element der Ab- 
stammung bei Klassifikation der Individuen beider Geschlechter 
und aller Alters-Abstufungen in einer Art, ‚wenn sie auch nur 
wenige Charaktere miteinander gemein haben; wir benützen die 
Abstammung bei der Einordnung anerkannter Varietäten, wie 
sehr sie auch von ihrer Stamm-Art abweichen mögen; und ich 
glaube, dass dieses Element der Abstammung das geheime Band 
ist, welches alle Naturforscher unter dem Namen des natürlichen 
Systemes gesucht haben. Da nach dieser Vorstellung das natür- 
liche System, so weit es ausgeführt werden kann, genealogisch 
geordnet ist und es die Verschiedenheits-Stufen zwischen den 
Nachkommen gemeinsamer Ältern durch die Ausdrücke Sippen, 
Familien, Ordnungen u. 8. W. bezeichnnt, so begreifen wir die 
Regeln, welche wir bei unsrer Klassifikation zu befolgen veran- 


437 


lasst sind. Wir begreifen, warum wir manche Ähnlichkeit weit 
höher als andre zu werthen haben; warum wir mitunter rudi- 
mentäre oder nutzlose oder andre physiologisch unbedeutende 
Organe anwenden dürfen; warum wir bei Vergleichung der einen 
mit der andern Gruppe analoge oder Anpassungs-Charaktere ver- 
werfen, obwohl wir dieselben innerhalb der nämlichen Gruppe 
gebrauchen. Es wird uns klar, warum wir alle lebenden und 
erloschenen Formen in ein grosses System zusammen ordnen 
können, und warum die verschiedenen Glieder jeder Klasse in 
der verwickeltesten und nach allen Richtungen verzweigten Weise 
miteinander verkettet sind. Wir werden wahrscheinlich niemals 
das verwickelte Verwandtschafts-Gewebe zwischen den Gliedern 
einer Klasse entwirren; wenn wir jedoch einen einzelnen Ge- 
genstand in's Auge fassen und nicht nach irgend einem unbe- 
kannten Schöpfungs-Plane ausschauen, so dürfen wir hoffen, 
sichere ‘aber langsame Fortschritte zu machen. 

Morphologie.) Wir haben gesehen, dass die Glieder 
einer Klasse, unabhängig von ihrer Lebens-Weise, einander im 
allgemeinen Plane ihrer Organisation gleichen. Diese Überein- 
stimmung wird olt mit dem Ausdrucke „Einheit des Typus« be- 
zeichnet; oder man sagt, die verschiedenen Theile und Organe 
der verschiedenen Spezies einer Klasse seyen einander homolog. 
Der ganze Gegenstand wird unter dem Namen Morphologie zu- 
sammen begriffen. Diess ist der interessanteste Theil der Natur- 
veschichte und kann deren wahre Seele genannt werden. Was 
kann es sonderbareres geben, als dass die Greifhand des Men- 
schen, der Grabfuss des Maulwurfs, das Rennbein des Pferdes, die 
Ruderflosse der Seeschildkröte und der Flügel der Fledermaus nach 
demselben Model gearbeitet sind und gleiche Knochen in der näm- 
lichen gegenseitigen Lage enthalten. _ Georrrov Saınt-Hıraıre hat 
beharrlich an der grossen Wichtigkeit der wechselseitigen Ver- 
bindung der Theile in homologen Organen festgehalten; die 
Theile mögen in fast allen Abstufungen der Form und Grösse 
"abändern, aber sie bleiben fest in derselben Weise miteinander 
verbunden. So finden 'wir z.B. die Knochen des Ober- und des 
Vorder-Arms oder des Ober- und Unter-Schenkels nie aus ihrer 


438 


Verbindung gerissen. Daher kann man dem homologen Knochen 
in weit verschiedenen Thieren denselben Namen geben. Dasselbe 
grosse Gesetz tritt in der Mund-Bildung der Insekten hervor. 
Was kann verschiedener seyn, als die unermesslich lange spirale 
Saugröhre eines Abend-Schmetterlings, der sonderbar zurück- 
gebrochene Rüssel einer Wanze und die grossen Hörner eines 
Hirschkäfers® Und doch werden alle diese zu so ungleichen 
Zwecken dienenden Organe durch unendlich zahlreiche Modifika- 
tionen der Oberlippe, der Kinnbacken und zweier Paare Kinnladen 
gebildet. Analoge Gesetze herrschen in der Zusammensetzung 
des Mundes und der Glieder der Kruster. Und eben so ist es 
mit den Blüthen der Pflanzen. 

Nichts hat weniger Aussicht auf Erfolg, als ein Versuch 
diese Ähnlichkeit des Bau-Planes in den Gliedern einer Klasse 
mit Hilfe der Nützlichkeits-Theorie oder der Lehre von den end- 
lichen Ursachen zu erklären. Die Hoffnungslosigkeit eines sol- 
chen Versuches ist von Owen in seinem äusserst interessanten 
Werke »Nature of limbs« ausdrücklich anerkannt worden. Nach 
der gewöhnlichen Ansicht von der selbstständigen Schöpfung 
einer jeden Spezies lässt sich nur sagen, dass es soist, und dass 
es dem Schöpfer gefallen hat jedes Thier und jede Pflanze so 
zu machen. 

Dagegen ist die Erklärung handgreiflich nach der Theorie 
der Natürlichen Züchtung durch Häufung aufeinander-folgender 
geringer Abänderungen, deren jede der abgeänderten Form eini- 
germaassen nützlich ist, welche aber in Folge der Wechselbe- 
ziehungen des Wachsthums oft auch andre Theile der Organi- 
sation mit berühren. Bei Abänderungen dieser Art wird sich 
nur wenig oder gar keine Neigung zu Änderung des ursprüng- 
lichen Bau-Plans oder zu Versetzung der Theile zeigen. Die 
Knochen eines Beines können in jeder Grösse verlängert oder 
verkürzt, sie können stufenweise in dicke Häute eingehüllt wer- 
den, um ein Ruder zu bilden; oder ein mit einer Binde-Haut 
zwischen den Zehen versehener Fuss (Schwimmfuss) kann alle 
seine Knochen oder gewisse Knochen bis zu irgend einem Maasse 
verlängern und die Binde-Haut in gleichem Verhältniss vergrössern, 


439 


so dass er als Flügel zu dienen im Stande ist: und doch ist unge- 
achtet aller so bedeutender Abänderungen keine Neigung zu 
einer Änderung der Knochen-Bestandtheile an sich oder zu einer 
andern Zusammenfügung derselben vorhanden. Wenn wir unter- 
stellen, dass der alte Stammvater oder Urtypus, wie man ihn 
nennen kann, aller Säugthiere seine Beine, zu welchem Zwecke 
sie auch bestimmt gewesen seyn mögen, nach dem vorhandenen 
allgemeinen Plane gebildet hatte, so werden wir sofort die klare 
Bedeutung der homologen Bildung der Beine in der ganzen Klasse 
begreifen. Wenn wir ferner hinsichtlich des Mundes der Insekten 
einfach unterstellen, dass ihr gemeinsamer Stammvater eine 
Oberlippe, Kinnbacken und zwei Paar Unterkiefer vielleicht von 
sehr einfacher Form besessen, so wird Natürliche Züchtung auf 
irgend eine ursprünglich erschaffene Form wirkend vollkommen 
zur Erklärung der unendlichen Verschiedenheit in den Bildungen 
und Verrichtungen des Mundes der Insekten genügen. Demun- 
geachtet ist es begreiflich,, dass das ursprünglich gemeinsame 
Muster eines Organes allmählich ganz verloren gehen kann, seye 
es durch Atrophie und endliche vollständige Resorption gewisser 
Bestandtheile, oder durch Verwachsung einiger Theile, oder durch 
Verdoppelung oder Vervielfältigung andrer: Abänderungen, die 
nach unsrer Erfahrung alle in den Grenzen der Möglichkeit lie- 
gen. Nur in den Ruderfüssen gewisser ausgestorbner Eidechsen 
(Ichthyosaurus) und in den Theilen des Saugmundes gewisser 
Kruster scheint der gemeinsame Grundplan bis zu einem gewis- 
sen Grade verwischt zu seyn. 

Ein andrer Zweig der Morphologie beschäftigt sich mit der 
Vergleichung, nicht des nämlichen Theiles in verschiedenen Glie- 
dern einer Klasse, sondern der verschiedenen Theile oder Or- 
gane eines nämlichen Individuums. Die meisten Physiologen 
glauben, dass die Knochen des Schädels homolog* — d..h. in 
Zahl und beziehungsweiser Lage übereinstimmend. — seyen mit 


| 


* Zu Bezeichnung der Übereinstimmung von Organen eines nämlichen 
Individuums miteinander haben wir den Ausdruck „homonym“ angewendet, 
indem wir Homologien nur bei Vergleichung verschiedener Thier-Arten an- 
nehmen (Morphologische Studien S. 410). D. Übs, 


440 


den Knochen - Elementen einer gewissen Anzahl Wirbel. Die 
vorderen und die hinteren Gliedmaassen eines jeden Thieres in 
den Kreisen der Wirbel- und der Kerb-Thiere sind offenbar ho- 
molog zu einander. Dasselbe Gesetz bewährt sich auch bei Ver- 
gleichung der wunderbar 'zusammengesetzten Kinnladen mit den 
Beinen der Kruster. Fast Jedermann weiss, dass in einer Blume 
die gegenseitige Stellung der Kelch- und der Kronen-Blätter und 
der Staubfäden und Staubwege zu einander eben so wie deren 
innere Struktur aus der Annahme erklärbar werden, dass es 
metamorphosirte spiralständige Blätter seyen. Bei monströsen Pflan- 
zen sehen wir nicht selten den direkten Beweis von der Mög- 
lichkeit der Umbildung eines dieser Organe ins andere. Auch 
bei embryonischen Krustazeen u. a. Thieren erkennen wir 'so 
wie bei den Blüthen, dass Organe, die im reifen Zustande äus- 
serst verschieden von einander sind, auf ihren ersten Entwicke- 
lungs-Stufen einander ausserordentlich. gleichen. 

Wie unerklärbar sind diese Erscheinungen nach der ge- 
wöhnlichen Ansicht von der Schöpfung! Warum ist doch das 
Gehirn in einen aus so vielen und so aussergewöhnlich geordneten 
Knochen-Stücken zusammengesetzten Kasten eingeschlossen! Wie 
Owen bemerkt, kann der Vortheil, welcher aus einer der Trennung 
der Theile entsprechenden Nachgiebigkeit des Schädels für den 
Geburts-Akt bei den Säugthieren entspringt, keinenfalls die näm- 
liche Bildungs-Weise desselben bei den Vögeln erklären. Oder 
warum sind den Fledermäusen dieselben Knochen wie den übri- 
gen Säugthieren zu Bildung ihrer Flügel anerschaffen worden, 
da sie dieselben doch zu gänzlich verschiedenen Zwecken ge- 
brauchen? Und warum haben Kruster mit einem aus zahlreiche- 
ren Örganen-Paaren zusammengesetzten Munde in gleichem Ver- 
hältnisse weniger Beine, oder umgekehrt die mit mehr Beinen 
versehenen weniger Mund-Theile ? Endlich, warum sind die Kelch- 
und Kronen-Blätter, die Staubgefässe und Staubwege einer Blüthe, 
trotz ihrer Bestimmung zu so gänzlich verschiedenen Zwecken, 
alle nach demselben Muster gebildet? | 

Nach der Theorie der Natürlichen Züchtung können wir alle 
diese Fragen genügend beantworten. Bei den. Wirbelthieren 


441 


sehen wir eine Reihe innerer Wirbel gewisse Fortsätze und An- 
hänge entwickeln; bei den Kerbthieren ist der Körper in eine 
Reihe Segmente mit äusseren Anhängen geschieden; und bei den 
Pflanzen sehen wir die Blätter auf eine Anzahl über einander 
folgender Umgänge einer Spirale regelmässig vertheilt. Eine 
unbegrenzte Wiederholung desselben Theiles oder Organes ist, 
wie Owen bemerkt hat, das gemeinsame Attribut aller niedrig 
oder wenig modifizirten Formen*; daher wir leicht annehmen 
können, der unbekannte Stammvater aller Wirbelthiere habe 
viele Wirbel besessen, der aller Kerbthiere viele Körper-Seg- 
mente und der der Blüthen-Pflanzen viele Blatt-Spiralen. Wir ha- 
ben ferner gesehen, dass Theile, die sich oft wiederholen, sehr 
geneigt sind, in Zahl und Struktur zu variiren; daher es ganz 
wahrscheinlich ist, dass Natürliche Züchtung mittelst lange fort- 
gesetzter Abänderung eine gewisse Anzahl der sich oft wieder- 
holenden ähnlichen Bestandtheile des Skelettes ganz verschiede- 
nen Bestimmungen angepasst habe. Und da das ganze Maass 
der Abänderung nur in unmerklichen Abstufungen bewirkt wor- 
den, so dürfen wir uns nicht wundern, in solchen Theilen oder 
Organen noch einen gewissen Grad fundamentaler Ähnlichkeit 
nach dem strengen Erblichkeits-Prinzip zurückbehalten zu finden. 

In der grossen Klasse der Mollusken lassen sich zwar Ho- 
mologie'n zwischen 'Theilen verschiedener Spezies, aber nur we- 
nige Reihen -Homologie'n nachweisen, d. h. wir sind selten im 


. Stande zu sagen, dass ein Theil oder Organ mit einem andern 


im nämlichen Individuum homolog seye. Diess lässt sich wohl 
erklären, weil wir nicht einmal bei den untersten Gliedern des 
Weichthier-Kreises solche unbegrenzte Wiederholung einzelner 
Theile wie in den übrigen grossen Klassen des Thier- und Pflan- 
zen-Reiches finden. 

Die Naturforscher stellen die Schädel oft als eine Reihe me- 
tamorphosirter Wirbel, die Kinnladen der Krabben als metamor- 
phosirte Beine, die Staubgefässe -und Staubwege der Blumen als 
metamorphosirte Blätter dar; doch würde es, wie Prof. Huxıey 


* Diese und verwandte Fragen ‚sind in unsern Morphologischen Studien 
viel erschöpfender entwickelt worden, als von Owen. D. Übs. 


442 


bemerkt hat, wahrscheinlich richtiger seyn zu sagen, Schädel 
wie Wirbel, Kinnladen wie Beine u. s. w. seyen nicht eines aus 
dem andern, sondern beide aus einem gemeinsamen Elemente 
entstanden. : Inzwischen gebrauchen die Naturforscher jenen Aus- 
druck nur in bildlicher Weise, indem sie weit von der Meinung ent- 
fernt sind, dass Primordial-Organe irgend welcher Art — Wirbel 
im einen und Beine im andern Falle — während einer langen 
Reihe von Generationen wirklich in Schädel und Kinnladen um- 
gebildet worden seyen. Und doch ist der Anschein, dass eine 
derartige Modifikation stattgefunden habe, so vollkommen, dass 
dieselben Naturforscher schwer vermeiden können, eine diesem 
letzten Sinne entsprechende Ausdrucks - Weise zu gebrauchen. 
Nach meiner eignen Anschauungs- Weise aber sind jene Aus- 
drücke in der That nur wörtlich zu nehmen, um die wunderbare 
Erscheinung zu erklären, dass die Kinnladen z. B.\eines Krab- 
ben zahlreiche Merkmale an sich tragen, welche dieselben wahr- 
scheinlich geerbt haben müssten, soferne sie wirklich während 
einer langen Generationen-Reihe durch allmähliche Metamorphose 
aus Beinen oder sonstigen einfachen Anhängen entstanden wären. 

Embryologie). Es ist schon gelegentlich bemerkt wor- 
den, dass gewisse Organe, welche im reifen Alter der Thiere 
sehr verschieden gebildet und zu ganz abweichenden Diensten 
bestimmt sind, sich im Embryo ganz ähnlich sehen. Eben so 
sind die Embryonen verschiedener Thiere derselben Klasse ein- 
ander oft sehr ähnlich, wofür sich ein besserer Beweis nicht an- 
führen lässt, als die Versicherung von Baer’ s, die Embryonen von 
Säugthieren, Vögeln, Eidechsen, Schlangen und wahrscheinlich 
auch Schildkröten seien sich in der ersten Zeit im Ganzen sowohl 
als in der Bildung ihrer einzelnen Theile so ähnlich, dass man 
sie nur an ihrer Grösse unterscheiden könne. Ich besitze 
zwei Embryonen in Weingeist aufbewahrt, deren Namen ich bei- 
zuschreiben vergessen habe, und nun bin ich ganz ausser Stand 
zu sagen, zu welcher Klasse sie gehören. Es können Eidechsen 
oder kleine Vögel oder sehr junge Säugthiere seyn, so vollstän- 
dig ist die Ähnlichkeit in der Bildungs - Weise von Kopf und 
Rumpf dieser Thiere, und die Extremitäten fehlen noch. Aber 


443 


auch wenn sie vorhanden wären, so würden sie auf ihrer er- 
sten Entwickelungs-Stufe nichts beweisen; denn die Beine der 
Eidechsen und Säugthiere, die Flügel und Beine der Vögel nicht 
weniger als die Hände und Füsse des Menschen: alle entspringen 
aus der nämlichen Grundform. —' Die Wurm-förmigen Larven 
der Motten, Fliegen, Käfer u. s. w. gleichen einander viel mehr, 
als die reifen Insekten. In den Larven verräth sich noch die 
Einförmigkeit des Embryo’s; das reife Insekt ist den speziellen 
Lebens-Bedingungen angepasst. Zuweilen geht eine Spur der 
embryonischen Ähnlichkeit noch in ein spätres Alter über; so 
gleichen Vögel derselben Sippe oder nahe verwandter Genera ein- 
ander oft in ihrem ersten und zweiten Jugend -Kleide: alle 
Drosseln z. B. in ihrem gefleckten Gefieder. In der Katzen-Fa- 
milie sind die meisten Arten gestreift oder streifenweise gefleckt; 
und solche Streifen sind auch noch am neu-gebornen Jungen des 
Löwen vorhanden. Wir sehen zuweilen, aber selten, auch etwas 
der Art bei Pflanzen. So sind die Embryonal-Blätter des Ulex 
und die ersten Blätter der neuholländischen Acacien, welche 
später nur noch Phyllodien hervorbringen, zusammengesetzt oder 
gefiedert, wie die gewöhnlichen Leguminosen-Blätter. Diejenigen 
Punkte der Organisation, worin die Embryonen ganz verschie- 
dener Thiere einer und derselben Klasse sich gegenseitig glei- 
chen, haben oft keine unmittelbare Beziehung zu ihren Existenz- 
Bedingungen. Wir können z. B. nicht annehmen, dass in den 
Embryonen der Wirbelthiere der eigenthümliche Schleifen-artige 
Verlauf der Arterien nächst den Kiemen-Schlitzen des Halses mit 
der Ähnlichkeit der Lebens-Bedingungen in Zusammenhang stehe 
im jungen Säugthiere, das im Mutterleibe ernährt wird, wie im 
Vogel, welcher dem Eie entschlüpft, und im Frosche, der sich 
im Laiche unter Wasser entwickelt. Wir haben nicht mehr 
Grund, an einen solchen Zusammenhang zu glauben, als anzuneh- 
men, dass die Übereinstimmung der Knochen in der Hand des 
Menschen, im Flügel einer Fledermaus und im Ruderfusse einer 
Schildkröte mit einer Übereinstimmung der äussern Lebens-Be- 
dingungen in Verbindung stehe. Niemand denkt, dass die 
Streifen an dem jungen Löwen oder die Flecken an der 


444 


jungen Schwarzdrossel (Amsel) diesen Thieren nützen oder mit 
den Lebens-Bedingungen im Zusammenhang stehen, welchen sie 
ausgesetzt sind. 5 
Anders verhält sich jedoch die Sache, wenn ein Thier wäh- 
rend eines Theiles seiner Embryo -Laufbahn thätig ist und für 
sich selbst zu sorgen hat. Die Periode dieser Thätigkeit kann 
früher oder kann später im Leben kommen; doch, wann immer sie 
kommen mag, die Anpassung der Larve an ihre Lebens - Bedin- 
dungen ist ehen so vollkommen und schön, wie die des reifen 
Thieres an die seinige. Durch derartige eigenthümliche Anpas- 
sungen wird dann auch zuweilen die Ähnlichkeit der thätigen 
Larven oder Embryonen einander verwandter Thiere schon sehr 
verdunkelt; und es liessen sich Beispiele anführen, wo die 
Larven zweier Arten und sogar Arten-Gruppen eben so sehr oder 
noch mehr von einander verschieden sind, als ihre reifen Ältern. 
In den meisten Fällen jedoch gehorchen auch die thätigen Larven 
noch mehr und weniger dem Gesetze der embryonalen Ähnlich- 
keit. Die Cirripeden liefern einen guten Beleg dafür: selbst der 
berühmte Guvirr erkannte nicht, dass dieselben Kruster seyen; 
aber schon ein Blick auf ihre Larven verräth Diess in unver- 
kennbarer Weise. Und ebenso haben die zwei Haupt-Abtheilungen 
der Cirripeden, die gestielten und die sitzenden, welche in ihrem 
äusseren Ansehen so sehr von einander abweichen, Larven, die 
in allen ihren Entwickelungs-Stufen kaum unterscheidbar sind. 
Während des Verlaufes seiner Entwickelung steigt der Em- 
bryo gewöhnlich in der Organisation: ich gebrauche diesen Aus- 
druck, obwohl ich weiss, dass es kaum möglich ist, genau anzu- 
geben, was unter höherer oder tieferer Organisation zu verstehen 
seye. Niemand wird wohl bestreiten, dass der Schmetterling 
höher organisirt seye als die Raupe. In einigen Fällen jedoch, 


wie bei parasitischen Krustern, sieht man allgemein das reife 
Thier für tiefer- stehend als die Larve an. Ich beziehe mich 
wieder auf die Cirripeden. Auf ihrer ersten Stufe hat die Larve 
drei Paar Füsse, ein sehr einfaches Auge und einen Rüssel- 
förmigen Mund, womit sie reichliche Nahrung aufnimmt; denn: 
sie wächst schnell an Grösse zu.‘ Auf’ der zweiten Stufe, dem 


445 


Raupen-Stande des Schmetterlings entsprechend, hat sie sechs 
Paar schön gebauter Schwimmfüsse, ein Paar herrlich zusammen- 
gesetzier Augen und äusserst zusammengesetzte Fühler, aber einen 
geschlossenen Mund, der keine Nahrung aufnehmen kann; ihre 
Verrichtung auf dieser Stufe ist, einen zur Befestigung und zur 
letzien Metamorphose geeigneten Platz mittelst ihres wohl-entwickel- 
ten Sinnes-Organes zu suchen und mit ihren mächtigen Schwimm- 
"Werkzeugen zu erreichen. Wenn diese Aufgabe erfüllt ist, so 
bleibt das Thier lebenslänglich an seiner Stelle befestigt; seine 
Beine verwandeln sich in Greif-Organe; es bildet sich ein wohl 
zusammengesetzter Mund aus; aber es hat keine Fühler, und 
seine beiden Augen haben sich jetzt wieder in einen kleinen 
und ganz einfachen Augenfleck verwandelt. In diesem letzten 
und vollständigen Zustande kann man die Cirripeden als höher 
oder als tiefer organisirt betrachten, als sie im Larven- Stande 
gewesen sind. In einigen ihrer Sippen jedoch entwickeln sich 
die Larven entweder zu Hermaphroditen von der gewöhnlichen 
Bildung, oder zu (von mir so genannten) komplementären Männ- 
chen: und in diesen letzten ist die Entwickelung gewiss zurück- 
geschritten, denn sie bestehen in einem blossen Sack mit kurzer 
Lebens-Frist, ohne Mund, Magen oder andres wichtiges Organ, 
das der Reproduktion ausgenommen. 

Wir sind so sehr gewöhnt, Struktur-Verschiedenheiten zwi- 
schen Embryonen und’ erwachsenen Organismen zu sehen und 
ebenso. eine grosse Ähnlichkeit zwischen den Embryonen weit 
verschiedener. Thiere derselben Klasse zu finden, dass man sich 
versucht fühlt, diese Erscheinungen als nothwendig in gewisser 
Weise zusammentreffend mit der Entwickelung zu betrachten. 
Inzwischen ist doch kein Grund einzusehen, warum der Plan 
z: B. zum Flügel der Fledermaus oder zum Ruder der Seeschild- 
kröte nach allen ihren Theilen in angemessener Proportion nicht 
schon im Embryo entworfen worden seyn soll, sobald nur irgend 
eine Struktur in demselben sichtbar wurde. Und in einigen gan- 
zen Thier-Gruppen sowohl als in gewissen Gliedern andrer Grup- 
pen weicht der Embryo zu keiner Zeit seines Lebens weit vom 
Erwachsenen ab; — daher Owen in Bezug auf die Sepien be- 


446 


‚merkt hat: »da ist keine Metamorphose; der Cephalopoden - Cha- 
rakter ist deutlich schon weit früher als die Theile des Embryo's 
vollständig sind«, und in Bezug auf die Spinnen: »da ist nichts, 
was die Benennung Metamorphose verdiente«. Die Insekten-Lar- 
ven, mögen sie nun thätig und den verschiedenartigsten Dien- 
sten angepasst oder unthätig von ihren Ältern gefüttert oder 
mitten in die ihnen angemessene Nahrung hineingesetzi wer- 
den, so haben doch alle eine ähnliche wurmtörmige Entwicke- 
lungs-Stufe zu durchlaufen; nur in einigen wenigen Fällen ist, 
wie bei Aphis nach den herrlichen Zeichnungen Huxıry's zu ur- 
theilen, keine Spur eines wurmförmigen Zustandes zu finden*. 
Wie sind aber dann diese verschiedenen Erscheinungen der 
Embryologie zu erklären? — namentlich die sehr gewöhnliche 
wenn auch nicht allgemeine Verschiedenheit der Organisation des 
Embryo’s und des Erwachsenen? — die ausserordentlich weit 
auseinanderlaufende Bildung und Verrichtung von anfangs ganz 
ähnlichen Theilen eines und desselben Embryos? — die fast 
allgemeine obschon nicht ausnahmslose Ähnlichkeit zwischen Em- 
bryonen verschiedener Spezies einer Klasse? — ‚die besondre 
Anpassung der Struktur des Embryo's an seine Existenz - Bedin- 
gungen bloss in dem Falle, dass er zu irgend einer Zeit thätig 
ist und für sich selbst zu sorgen hat? — die zuweilen anschei- 
nend höhere Organisation des Embryo’s, als des reifen Thieres, 
in welches er übergeht? Ich glaube, dass sich alle diese Er- 
scheinungen auf folgende Weise aus der Annahme einer Abstam- 
mung mit Abänderung erklären lassen. | 
Gewöhnlich unterstellt man, vielleicht weil Monstrositäten sich 
oft schon sehr früh am Embryo zu zeigen beginnen, dass geringe 
Abänderungen nothwendig in einer gleichmässig frühen Periode 
des Embryos zum Vorschein kommen. Doch haben wir dafür 
wenig Beweise, und der Anschein spricht sogar für das Gegen- 
theil; denn es ist bekannt, dass die Züchter von Rindern, Pfer- 
den und verschiedenen Thieren der Liebhaberei erst eine ge- 


: Ich denke, dass Diess bei allen Insecta ametabola ohne unthätigen 
Zustand der Fall ist? D. Übs. 


447 


wisse Zeit nach der Geburt des jungen Thieres zu sagen im 
Stande sind, welche Form oder Vorzüge es schliesslich zeigen 
wird. Wir sehen Diess deutlich bei unsern Kindern; wir können 
nicht immer sagen, ob die Kinder von schlanker oder gedrunge- 
ner Figur seyn oder wie sonst genau aussehen werden. Die 
Frage ist nicht: in welcher Lebens-Periode eine Abänderung ver- 
ursacht, sondern in welcher sie vollkommen entwickelt seyn wird. 
Die Ursache kann schon gewirkt haben und hat nach meiner Mei- 
nung gewöhnlich gewirkt, ehe sich der Embryo gebildet hat; und 
die Abänderung kann davon herkommen, dass das männliche oder 
das weibliche Element durch die Lebens - Bedingungen berührt 
worden ist, welchen die Ältern oder deren Vorgänger ausgeseizi 
gewesen sind. Demungeachtet kann die so in sehr früher Zeit 
und selbst vor der Bildung des Embryos veranlasste Wirkung 
erst spät im Leben hervortreten , wie z. B. auch eine erbliche 
Krankheit, die dem Alter angehört, von dem reproduktiven Ele- 
inente eines der Ältern auf die Nachkommen übertragen , oder 
die Hörner-Form eines Blendlings aus einer lang- und einer kurz- 
hörnigen Rasse von den Hörnern der beiden Ältern bedingt 
wird. Für das Wohl eines sehr jungen Thieres, so lange es 
noch im Mutterleibe oder im Ei eingeschlossen ist oder von seinen 
Ältern genährt und geschützt wird, muss es hinsichtlich der mei- 
sten Charaktere ganz unwesentlich seyn, ob es dieselben etwas 
früher oder später im Leben erlangt. Es würde z. B. für einen 
Vogel, der sich sein Futter am besten mit einem langen Schnabel 
verschaffte, gleichgültig seyn, ob er die entsprechende Schnabel- 
Länge schon bekömmt, so lange er noch von seinen Ältern gefüttert 
wird, oder nicht. Daher, schliesse ich, ist es ganz möglich, dass 
jede der vielen nacheinander-folgenden Modifikationen, wodurch 
eine Art ihre gegenwärtige Bildung erlangt hat, in einer nicht 
sehr frühen Lebens- Zeit eingetreten seye; und einige direkte 
Belege von unseren Hausthieren unterstützen diese Ansicht. In 
anderen Fällen aber ist es ebenso möglich, dass alle oder die 
meisten dieser Umbildungen in einer sehr frühem Zeit hervorge- 
treten sind. 

Ich habe im ersten Kapitel behauptet, dass einige Wahr- 


448 


scheinlichkeit vorhanden ist, dass eine Abänderung, die in irgend 
welcher Lebens-Zeit der Ältern zum Vorschein gekommen, sich 
auch in gleichem Alter wieder beim Jungen zeige. Gewisse Ab- 
änderungen können nur in sich entsprechenden Altern wieder er- 
scheinen, wie z. B. die Eigenthümlichkeiten der Raupe oder der 
Puppe des Seidenschmetterlings, oder der Hörner des fast aus- 
gewachsenen Rindes. Aber auch ausserdem möchten, soviel zu 
ersehen, Abänderungen, welche einmal früher oder später im 
Leben eingetreten sind, zum Wiedererscheinen im entsprechen- 
den Alter des Nachkommen geneigt seyn. Ich bin weit ent- 
fernt zu glauben, dass Diess unabänderlich der Fall ist, und 
könnte selbst eine gute Anzahl von Beispielen anführen, wo Ab- 
änderungen (im weitesten Sinne des Wortes genommen) im Kinde 
früher als in den Ältern eingetreten sind. 

Diese zwei Prinzipien, ihre Richtigkeit zugestanden, werden 
alle oben aufgezählten Haupt-Erscheinungen in der Embryologie 
erklären. Doch, sehen wir. uns zuerst nach einigen analogen 
Fällen bei unseren Hausthier-Varietäten um. Einige Autoren, die 
über den Hund geschrieben, behaupten der Windhund und der 
Bullenbeisser seyen, wenn auch noch so verschieden von Aus- 
sehen, in der That sehr nahe verwandte Varietäten, wahrschein- 
lich vom nämlichen wilden Stamme entsprossen. Ich war daher 
begierig zu erfahren, wie weit ihre neu-geworfenen Jungen von 
einander abweichen. Züchter sagten mir, dass sie beinahe 
eben so verschieden seyen, wie ihre Ältern; und nach dem 
Augenschein war Diess auch ziemlich der Fall. Aber bei wirk- 
licher Ausmessung der alten Hunde und der 6 Tage alten Jungen, 
fand ich, dass diese letzten noch nicht ganz die abweichenden 
Maass - Verhältnisse angenommen hatten. Eben so vernahm ich, 
dass die Füllen des Karren- und des Renn Pferdes eben so sehr 
wie die ausgewachsenen Thiere von einander abweichen, was 
mich höchlich wunderte, da es mir wahrscheinlich gewesen, dass 
die Verschiedenheit zwischen diesen zweiRassen lediglich eine Folge 
der Züchtung im Zähmungs-Zutande seye. Als ich demnach sorg- 
fältige Ausmessungen an der Mutter und dem drei Tage alten 
Füllen eines Renners und eines Karren-Gauls vornahm, so fand 


449 

ich, ‘dass die Füllen noch keinesweges die ganze Verschieden- 
heit in ihren Maass-Verhältnissen besassen. I 

: Da es mir erwiesen scheint . dass die verschiedenen Haus- 
tauben- Rassen von nur einer wilden Art herstammen,, so ver- 
glich ich junge Tauben verschiedener Rassen 12 Stunden nach 
dem Ausschlüpfen miteinander; ich mass die Verhältnisse (wo- 
von ich die Einzelnheiten hier nicht mittheilen will) zwischen dem 
Schnabel ‚„ der Weite des Mundes, der Länge der Nasenlöcher 
und des Augenlides, der Läufe und Zehen sowohl beim wilden 
Stamme, als bei Kröpfern, Pfauen-Tauben, Runt- und Barb-Tauben 
(S. 27), Drachen- und Boten - Tauben und Purzlern. Einige von 
diesen Vögeln weichen im reifen Zustande so ausserordentlich 
in der Länge und Form des Schnabels von einander ab, dass 
man sie, wären sie natürliche Erzeugnisse, zweifelsohne in ganz 
verschiedene Genera bringen würde. Wenn man aber die Nest- 
linge dieser verschiedenen Rassen in eine Reihe ordnet, so er- 
scheinen die Verschiedenheiten ihrer Proportionen in den ge- 
nannten Beziehungen, obwohl man die meisten derselben noch 
von einander unterscheiden kann, unvergleichbar geringer, als 
in den ausgewachsenen Vögeln. Einige charakteristische Differenz- 
Punkte der Alten, wie z. B. die Weite des Mundspaltes, sind an 
den Jungen noch kaum zu entdecken. Es- war nur eine merk- 
würdige Ausnahme von dieser Regel, indem die Jungen des 
kurzstirnigen Purzlers von den Jungen der wilden Felstaube und 
der andren Rassen in allen Maass-Verhältnissen fast genau eben- 
so verschieden waren, wie im erwachsenen Zustande *. 

Die zwei oben aufgestellten Prinzipien scheinen mir diese 
Thatsachen in Bezug auf die letzten Embryo - Zustände unsrer 
zahmen Varietäten zu erklären. Liebhaber wählen ihre Pferde, 
Hunde und Tauben zur Nachzucht aus, wann sie nahezu aus- 
gewachsen sind. Es ist: ihnen gleichgültig, ob die verlangten 
Bildungen und Eigenschaften früher oder später im Leben zum 
Vorschein kommen, wenn nur das ausgewachsene Thier sie be- 


en 


.* Das ist wohl insoferne nicht wörtlich zu nehmen, als ja die Jungen 
der andern Rassen noch nicht so wie im Alter verschieden waren. D. Übs. 
29 


450 


sitzt. Und die eben mitgetheilten Beispiele insbesondre von den 
Tauben scheinen zu zeigen, dass die charakteristischen Ver- 
schiedenheiten ,, welche den Werth einer jeden Rasse bedingen 
und durch künstliche Züchtung gehäuft worden sind, gewöhnlich 
nicht in früher Lebens-Periode zum Vorschein gekommen und 
somit auch erst in einem entsprechenden späteren Lebens- Alter 
auf den Nachkommen übergingen. Aber der Fall mit dem kurz- 
stirnigen Purzler, welcher schon in einem Alter von zwölf Stun- 
den seine eigenthümlichen Maass-Verhältnisse besitzt, beweist, 
dass Diess keine allgemeine Regel ist; denn hier müssen die 
charakteristichen Unterschiede entweder in einer frühern Periode 
als gewöhnlich erschienen seyn, oder wenn nicht, so müssen 
die Unterschiede statt in dem entsprechenden in einem früheren 
Alter vererbt worden seyn. 

Wenden wir nun diese Erscheinungen und die zwei obigen 
Prinzipien, die, wenn auch noch nicht: erwiesen, doch einiger- 
maassen wahrscheinlich sind, auf die Arten im Natur- Zustande 
an. Nehmen wir eine Vogel-Sippe an, die nach meiner Theorie 
von irgend einer gemeinsamen Stamm-Art herkommt, und deren 
verschiedenen neuen Arten durch Natürliche Züchtung in Überein- 
stimmung mit ihren verschiedenen Lebens-Weisen modifizirt wor- 
den sind. Dann werden in Folge der vielen successiven kleinen 
Abänderungs - Stufen, welche in späterem Alter eingetreten sind 
und sich in entsprechendem Alter weiter vererbt haben, die Jun- 
gen aller neuen Arten unsrer unterstellten Sippe sich einander 
offenbar mehr zu gleichen geneigt seyn, als es bei den Alten 
der Fall, gerade so wie wir es bei den Tauben gesehen haben, 
Dehnen wir diese Ansicht auf ganze Familien oder selbst Klassen 
aus. Die vordern Gliedmaassen z. B., welche der Stamm-Art als 
Beine gedient, mögen in Folge lang-währender Modifikation bei 
einem Nachkommen zu den Diensten der Hand, bei einem andern 


zu denen des Ruders und bei einem Dritten zu solchen des 
Flügels angepasst worden seyn: so werden nach den zwei obi- 
gen Prinzipien, dass nämlich jede der successiven Modifika- 
tionen in einem späteren Alter entstand und sich auch erst in 
einem entsprechenden späteren Alter vererbte, die vordern Glied- 


451 


maassen in den Embryonen der verschiedenen Nachkommen der 
Stamm- Art einander noch sehr ähnlich seyn; denn sie sind von 
den Modifikationen nicht betroffen ‚worden. Nun werden aber in 
jeder unsrer neuen Arten die embryonischen Vordergliedmaassen 
sehr von denen des reifen Thieres verschieden seyn, weil diese 
letzten erst in spätrer Lebens -Periode grosse Abänderung er- 
fahren haben und in Hände, Ruder und Flügel umgewandelt 
worden sind. Was immer für einen Einfluss lange fortgesetzter 
Gebrauch und Übung einerseits und Nichtgebrauch andrerseits 
auf die Abänderung eines Organes haben mag, so wird ein sol- 
cher Einfluss hauptsächlich das reife Thier betreffen, welches 
bereits zu seiner ganzen Thatkraft gelangt ist und sein Leben 
selber fristen muss; und die so entstandenen Wirkungen werden 
sich im entsprechenden reifen Alter vererben. Daher rührt es, 
dass das Junge durch die Folgen des Gebrauchs und Nichtge- 
brauchs nicht verändert wird oder nur wenige Abänderung 
erfährt. | | 

In gewissen Fällen mögen die aufeinander - folgenden Ab- 
änderungs - Stufen, aus uns ganz unbekannten Gründen, schon 
in sehr früher Lebens-Zeit erfolgen, oder jede solche Stufe in 
einer früheren Lebens-Periode vererbt werden, als worin sie Zu- 
erst entstanden ist. In beiden Fällen wird das Junge oder der 
Embryo (wie die Beobachtung am kurzstirnigen Purzler zeigt) 
der reifen älterlichen Form vollkommen gleichen. Wir haben ge- 
sehen, dass Diess die Regel ist in einigen ganzen Thier-Gruppen, 
bei den Sepien und Spinnen, und in einigen wenigen Fällen auch 
in der grossen Klasse der sechsfüssigen Insekten, wie nament- 
lich bei den Blattläusen. Was nun die End-Ursache betrillt, war- 
um das Junge in diesen Fallen keine Metamorphose durchläuft oder 
seinen Ältern von der frühesten Stufe an schon gleicht, so kann 
Diess etwa von den folgenden zwei Bedingungen herrühren : 
erstens davon, dass das Junge im Verlaufe seiner durch viele 
Generationen fortgesetzten Abänderung schon von sehr früher Ent- 
wickelungs-Stufe an für seine eignen Bedürfnisse zu sorgen hatte, 
und zweitens davon, dass es genau dieselbe Lebens - Weise 
wie seine Ältern befolgte. Vielleicht ist jedoch noch eine Er- 

29 * 


452 


klärung erforderlich, warum der Embryo keine Metamorphose 
durchläuft? Wenn auf der andern Seite es dem Jungen vortheil- 
haft ist, eine von der älterlichen etwas verschiedene Lebens-Weise 
einzuhalten und demgemäss einen etwas 'abweichenden Bau zu 
haben, so kann nach dem Prinzip der Vererbung in überein- 
stimmenden Lebens-Zeiten die thätige Larve oder das Junge durch 
Natürliche Züchtung leicht eine in merklichem Grade von der 
seiner Ältern abweichende Bildung erlangen. Solche Abweichun- 
gen können auch mit den aufeinander-folgenden Entwickelungs- 
Stufen in Wechselbeziehung treten, so dass die Larve auf ihrer 
ersten Stufe weit von der Larve auf der zweiten Stufe abweicht, 
wie wir bei den Cirripeden gesehen haben. Das’ Alte kann sich 
Lagen und Gewohnheiten anpassen, wo ihm Bewegungs-, Sinnes- 
oder andere Organe nutzlos werden, und in diesem Falle kann 
man dessen letzte Metamorphose als eine zurückschreitende be- 
zeichnen. 

Wenn alle organischen Wesen, welche noch leben oder je- 
mals auf dieser Erde gelebt haben, zusammen klassifizirt werden 
sollten, so würde, da alle durch die feinsten Abstufungen mit 
einander verkettet sind, die beste oder in der That, wenn unsre 
Sammlungen einigermaassen vollständig wären, die einzige MÖög- 
liche Anordnung derselben die genealogische seyn. Gemeinsame 
Abstammung ist nach meiner Ansicht das geheime Band, welches 
die Naturforscher unter dem Namen Natürliches System gesucht 
haben. Von dieser Annahme aus begreifen wir, woher es kommt, 
dass in den Augen der meisten Naturforscher die Bildung des 
Embryos für die’ Klassifikation noch wichtiger als die des Er- 
wachsenen ist. Denn der Embryo ist das Thier in seinem weni- 
ger modifizirten Zustande und enthüllet uns in so ferne die 
Struktur seines Stammvaters. Zwei Thier-Gruppen mögen jetzt in 
Bau und Lebens-Weise noch so verschieden von einander seyn; 
wenn sie gleiche oder ähnliche Embryo - Stände durchlaufen , so 
dürfen wir uns überzeugt halten, dass beide von denselben oder 
von einander sehr ‘ähnlichen Ältern abstammen und desshalb in 
entsprechendem Grade einander nahe verwandt sind. So verräth 
Übereinstimmung in der Embryo-Bildung gemeinsame Abstammung. 


453 


Sie verräth diese gemeinsame Abstammung , wie sehr auch die 
Organisation des Alten abgeändert und -verhüllt worden seyn 
mag; denn wir haben gesehen, dass die Cirripeden z. B. an ihren 
Larven sogleich ‚als zur grossen Klasse der Kruster gehörig 
erkannt: werden können. Da der Embryo - Zustand einer jeden 
Art und jeden Arten- Gruppe uns theilweise den Bau ihrer alten 
noch wenig modifizirten Stamm-Formen überliefert, so ergibt sich 
auch deutlich, warum alte und erloschene Lebenformen den Em- 
bryonen ihrer Nachkommen, unsren heutigen Sippen nämlich, 
gleichen. Asassız hält Diess für ein Natur-Gesetz; ich bin aber 
zw bekennen genöthigt, dass ich erst später das Gesetz noch 
bestätigt zu sehen hoffe. Denn es lässt sich nur in den Fällen 
allein beweisen, wo der alte, angeblich in den jetzigen Embryo- 
nen vertretene Zustand in dem langen Verlaufe andauernder Mo- 
difikation weder‘ durch successive in einem frühen Lebens - Alter 
erfolgte Abänderungen noch durch Vererbung der Abweichungen 
auf ein früheres Lebens- Alter, als worin ‚sie ursprünglich auf- 
getreten sind, verwischt worden ist. Auch ist zu erwägen, dass 
das angebliche Gesetz der Ähnlichkeit alter Lebenformen mit 
den Embryo- Ständen der neuen ganz wahr seyn und doch, 
weil sich der geologische Schöpfungs - Bericht nicht weit ge- 
nug rückwärts erstreckt, noch auf lange hinaus oder. für, immer 
unbeweisbar bleiben kann. 

-$o scheinen ‚sich mir die Haupterscheinungen in der Em- 
bryologie, welche an naturgeschichtlicher Wichtigkeit keinen an- 
dern nachstehen, aus dem Prinzip zu erklären: dass geringe 
Modifikationen in der langen Reihe von Nachkommen eines alten 
Stammvaters, wenn auch vielleicht in der frühesten Lebens - Zeit 
eines jeden veranlasst, doch keinesweges in sehr frühem Alter 
weiter vererbt worden sind. Die Embryologie gewinnt sehr an 
Interesse, wenn wir uns den Embryo als ein mehr oder weniger 
vererbliches Bild der gemeinsamen Stamm-Form einer jeden gros- 
sen Thier-Klasse vorstellen. 

Rudimentäre, atrophische und abortive Organe.) 
Organe oder Theile, in diesem eigenthümlichen Zustande den 
Stempel der Nutzlosigkeit tragend, sind in der Natur äusserst ge- 


454 


wöhnlich. So sind rudimentäre Zitzen sehr gewöhnlich bei männ- 
lichen Säugthieren, und ich glaube, dass man den Afterflügel 
der Vögel getrost als einen verkümmerten Finger ansehen darf. 
In vielen Schlangen ist der eine Lungenflügel verkümmert, und 
in andern Schlangen kommen Rudimente des Beckens und der 
Hinterbeine vor. Einige Beispiele von solchen Organen-Rudimen- 
ten sind sehr eigenthümlich, wie die Anwesenheit von Zähnen 
bei Wal-Embryonen, die in erwachsenem Zustande nicht einen 
Zahn im ganzen Kopfe haben; und das Daseyn von Schneide- 
Zähnen am Oberkiefer unsrer Kälber vor der Geburt, welche aber 
niemals das Zahnfleisch durchbrechen. Auch ist von einem guten 
Gewährsmann behauptet worden, dass sich Zahn - Rudimente in 
den Schnäbeln der Embryonen gewisser Vögel entdecken lassen. 
Nichts kann klarer seyn, als dass die Flügel zum Fluge gemacht 
sind; und doch, in wie vielen Insekten sehen wir die Flügel so 
verkleinert, dass sie zum Fluge ganz unbrauchbar und überdiess 
noch unter fest miteinander verwachsenen Flügeldecken verborgen 
liegen. | 

Die Bedeutung rudimentärer Organe ist oft unverkennbar. 
So gibt es z. B. in einer Sippe (und zuweilen in einer Spezies) 
beisammen Käfer, die sich in allen Beziehungen aufs Genaueste 
gleichen, nur dass die einen vollständig ausgebildete Flügel und 
die andern an deren Stelle nur Haut-Lappen haben; und hier ist 
es unmöglich zu zweifeln, dass diese Lappen die Flügel ver- 
treten. Rudimentäre Organe behalten zuweilen noch ihre Dienst- 
fähigkeit, ohne ausgebildet zu seyn, wie die Milchzitzen männ- 
licher Säugethiere, wo von vielen Fällen berichtet wird, dass 
diese Organe in ausgewachsenen Männchen sich wohl entwickelt 
und Milch abgesondert haben. So hat das weibliche Rind ge- 
wöhnlich vier entwickelte und zwei rudimentäre Zitzen am Euter; 
aber bei unsrer zahmen Kuh entwickeln sich gewöhnlich auch 
die zwei letzten und geben Milch. Bei Pflanzen sind in einer 
und der nämlichen Spezies die Kronenblätter bald nur als Rudi- 
mente und bald in ganz ausgebildetem Zustande vorhanden. Bei 
Pflanzen mit getrennten Geschlechtern haben die männlichen 
Blüthen oft ein Rudiment von Pistill, und bei Kreutzung einer 


45) 


solchen männlichen Pflanze mit einer hermaphroditischen Art sah 
Körrevrer in dem Bastard das Pistill- Rudiment an Grösse zu- 
nehmen, woraus sich ergibt, dass das Rudiment und das voll- 
kommene Pistill sich in ihrer Natur wesentlich gleichen. 

Ein für zweierlei Verrichtungen dienendes Organ kann für 
die eine und sogar die wichtigere derselben rudimentär werden 
oder ganz fehlschlagen und in voller Wirksamkeit für die andre 
bleiben. So ist die Bestimmung des Pistills, die Pollen-Schläuche 
in den Stand zu setzen, die in dem Ovarium an seiner Basis 
enthaltenen Eichen zu erreichen. Das Pistill besteht aus der 
Narbe vom Griffel getragen; bei einigen Compositae jedoch haben 
die männlichen Blüthchen, welche mithin nicht befruchtet werden 
können, ein Pistill in rudimentärem Zustande, indem es keine Narbe 
besitzt, und doch bleibt es sonst wohl entwickelt und wie in an- 
dern Compositae mit Haaren überzogen, um den Pollen von den 
umgebenden Antheren abzustreifen. So kann auch ein Organ 
für seine eigene Bestimmung rudimentär werden und für einen 
andern Zweck dienen, wie in gewissen Fischen die Schwimm- 
blase für ihre eigne Verrichtung, den Fisch im Wasser zu er- 
leichtern, beinahe rudimentär zu werden scheint, indem sie in 
ein Athmungs-Organ oder Lunge überzugehen beginnt. 

Nur wenig entwickelte aber doch brauchbare Organe sollten 
nicht rudimentär genannt werden; man kann nicht mit Recht 
sagen, sie seyen in atrophischem Zustand; sie mögen für »wer- 
dende« Organe gelten und später durch Natürliche Züchtung in 
irgend welchem Maasse weiter entwickelt werden. Dagegen sind 
rudimentäre Organe oft wesentlich nutzlos: wie Zähne, welche 
niemals das Zahnfleisch durchbrechen, in ihrem noch wenig ent- 
wickelten Zustande auch nur von wenig Nutzen seyn können. 
Bei ihrer jetzigen Beschaffenheit können sie nicht von Natürlicher 
Züchtung herrühren, welche bloss durch Erhaltung nützlicher Ab- 
änderungen wirkt; sie sind , wie wir sehen werden, nur durch 
"Vererbung erhalten worden * und stehen mit der frühern Be- 


* Aber wenn sie jetzt nicht von Natürlicher Züchtung herrühren können, 
wie sind sie dann das erste Mal entstanden, ehe sie wieder zu schwinden 


_ 


456 


schaffenheit. ihres Besitzers in Verbindung. Es ist schwer zu er- 
kennen, was »werdende« Organe sind; in Bezug "auf die Zukunft 
kann man. nicht sagen, in welcher Weise sich. ein.Theil ent- 
wickeln wird, und ob es jetzt ein’ »werdender« ist; in Bezug auf 
die Vergangenheit, so werden Geschöpfe mit werdenden Organen 
gewöhnlich durch ihre Nachfolger mit vollkommeneren und ent- 
wickelteren. Organen ersetzt und ausgetilgt worden :seyn. ‚Der 
Flügel-Stümmel des Pinguins ist als Ruder wirkend von grossem 
Nutzen und mag daher den. beginnenden Vogel-Flügel. vorstellen; 
nicht als ob. ich glaubte, dass er es wirklich. seye,: denn ‚wahr- 
scheinlich ist er. ein ‚reduzirtes und für ‚eine neue Bestimmung 
hergerichtetes, Organ, ‚Der. Flügel des Apteryx ist nutzlos .und 
ganz rudimentär. ..Die. Milchzitzen - Drüse,, des ‚Ornithorhynchus 
kann, vielleicht, einem, Kuh-Euter. gegenüber , ‚als eine. werdende 
bezeichnet werden. Die Eier-Zügel gewisser Cirripeden (S.. 202), 
welche nur wenig entwickelt sind und nicht mehr zur RieAHANUS 
der. Eier, dienen, sind; werdende, Kiemen., 

Rudimentäre Organe in Individuen ‚einer. .nämlichen an ‚va- 
riiren‘ sehr gerne: in ihrer Entwickelungs-Stufe. sowohl als in .an- 
dern Beziehungen. Ausserdem ist der Grad, bis :zu. welchem das 
Organ rudimentär geworden, in nahe verwandten Arten zuweilen 
sehr. verschieden... Für diesen letzten Fall liefert der Zustand der 
Flügel bei einigen Nacht-Schmetterlingen ein gutes Beispiel. Ru- 
dimentäre Organe können ‚gänzlich: fehlschlagen oder abortiren. 
und daher, rührt .es dann, dass wir in einem: Thiere oder einer 
Pflanze. nicht einmal eine Spur mehr. vpn einem Organe. finden, 
welches wir dort zu erwarten berechtigt sind und nur, zuweilen 
noch in. monströsen ‚Individuen hervortreten sehen. So finden 
wir z. B. im Löwenmaul (Antirrhinum) gewöhnlich kein Rudiment 
eines fünften Staubgefässes; doch kommt Diess zuweilen zum 
Vorschein. Wenn man die Homologien eines Theiles in den ver- 
schiedenen Gliedern einer Klasse verfolgt, so ist nichts gewöhn- 
licher oder nothwendiger, als die Entdeckung von Rudimenten. 


. . [) r} . | . i 
begannen ? Gewiss verdienen sie aber in diesem letzten Falle nicht den 
Namen „werdende“ oder a Organe, sondern müssen „verküm- 
mernde“ heissen. . D. Übs. 


457 


R. Owen hat Diess ganz gut in Zeichnungen ‚der Bein - Knochen 
des Pferdes, des Ochsen und des Nashorns dargestellt. 

- Es ist eine wichtige Erscheinung, dass rudimentäre Organe, 
wie: die Zähne im Oberkiefer der Wale und ‚Wiederkäuer ,. oft 
im: Embryo zu entdecken sind und nachher völlig. verschwinden. 
Auch ist es, glaube ich, eine allgemeine Regel, dass ein rudi- 
mentäres Organ den angrenzenden .Theilen gegenüber im Embryo 
grösser als im Erwachsenen erscheint, so dass das Organ 
im Embryo: minder rudimentär ist.-und oft kaum als irgendwie 
rudimentär bezeichnet werden kann; oder man’ sagt oft von ihm, 
es seye auf seiner embryonalen Entwickelungs-Stufe ‚auch im Er- 
wachsenen stehen geblieben. 

Ich habe jetzt ‚die leitenden Kikeinssgan bei rudimentären 
Organen aufgeführt. ‚Bei weiterem Nachdenken darüber muss jeder 
von Erstaunen betroffen werden; denn dieselbe Urtheilskraft, welche 
uns: so deutlich erkennen lässt, wie vortrefflich die meisten Theile 
und Organe ihren verschiedenen. Bestimmungen angepasst sind, 
lehrt uns auch mit gleicher Deutlichkeit, dass diese rudimentären 
oder atrophirten Organe unvollkommen und nutzlos sind. In den 
naturgeschichtlichen Werken liest man. gewöhnlich, dass die ru- 
dimentären Organe nur der »Symmetrie wegen« oder »um das 
Schema‘ der Natur zu 'ergänzen« vorhanden sind; Diess scheint 
mir aber keine Erklärung , sondern nur eine andre blosse Be- 
hauptung der Thatsache zu seyn. Würde es denn genügen zu 
sagen, weil Planeten in elliplischen Bahnen um die Sonne laufen, 
nehmen Satelliten denselben Lauf um die Planeten nur der Sym- 
metrie wegen und um das Schema der Natur zu vervollständigen? 
Ein ausgezeichneter Physiologe sucht das Vorkommen rudimen- 
tärer Organe durch die Annahme zu erklären, dass sie dazu 
dienen, überschüssige oder dem Systeme schädliche Materie aus- 
zuscheiden. Aber kann man denn annehmen, ‚dass das kleine 
nur aus Zellgewebe bestehende Wärzchen, welches in männlichen 
Blüthen oft die Stelle des Pistills. vertritt, Diess zu bewirken 
vermöge? Kann man unterstellen, dass die Bildung rudimen- 
tärer Zähne, die später wieder resorbirt werden, dem in raschem 
Wachsen begriffenen Kalb -Embryo durch Ausscheidung der ihm 


458 


so werthvollen phosphorsauren Kalkerde von irgend welchem 
Nutzen seyn könne? Wenn ein Mensch durch Amputation einen 
Finger verliert, so kommt an dem Stümmel zuweilen ein unvoll- 
kommener Nagel wieder zum Vorschein. Man könnte nun gerade 
so güt glauben, dass dieses Rudiment eines Nagels nicht in Folge 
unbekannter Wächsthums-Gesetze, sondern nur um Horn-Materie 
auszuscheiden wieder erscheine, als dass die Nagel - Stümmel 
an den Ruderhänden des Manatus dazu bestimmt seyen. 

Nach meiner Annahme von Fortpflanzung mit Abänderung 
erklärt sich die Entstehung rudimentärer Organe sehr einfach. 
Wir kennen eine Menge Beispiele von rudimentären Organen bei . 
unseren Kultur - Erzeugnissen, wie der Schwanz - Stümmel in 
ungeschwänzten Rassen, der Ohr-Stümmel in Ohr-losen Rassen, 
das Wiedererscheinen kleiner nur in der Haut hängender Hörner 
bei ungehörnten Rinder-Rassen und besonders, nach Youart, bei 
jungen Thieren derselben, und wie der Zustand der ganzen 
Blüthe im Blumenkohl. Oft sehen wir auch Stümmel verschiedener 
Art bei Missgeburten. Aber ich bezweifle, dass einer von diesen 
Fällen geeignet ist, die Bildung rudimentärer Organe in der 
Natur weiter zu beleuchten, als dass er uns zeigt, dass Stüm- 
mel entstehen können; denn ich bezweifle eben so, dass Arten 
im Natur-Zustande jemals plötzlichen Veränderungen unterliegen. 
Ich glaube, dass Nichtgebrauch dabei hauptsächlich in Betracht 
komme, der während einer langen Generationen - Reihe die all- 
mähliche Abschwächung der Organe veranlassen kann, bis sie 
endlich nur noch als Stümmel erscheinen: so bei den Augen in 
dunklen Höhlen lebender Thiere, welche nie etwas sehen, und 
bei den Flügeln ozeanische Inseln bewohnender Vögel, welche 
selten zu fliegen nöthig haben und daher dieses Vermögen zuletzt 
gänzlich einbüssen. Ebenso kann ein unter Umständen nützliches 
Organ unter andern Umständen sogar nachtheilig werden, wie 
die Flügel der auf kleinen und ausgesetzten Inseln lebenden In- 
sekten. In diesem Falle wird Natürliche Züchtung fortwäh- 
rend bestrebt seyn, das Organ langsam zu reduziren, bis es un- 
schädlich und 'rudimentär wird. | 

Eine Änderung in den Verrichtungen, welche in unmerk- 


459 


baren Abstufungen eintreten kann, liegt im Bereiche der Natür- 
lichen Züchtung; daher ein Organ, welches in Folge geänderter 
Lebens-Weise nutzlos oder nachtheilig für seine Bestimmung wird, 
abgeändert und für andre Verrichtungen verwendet werden kann. 
Oder ein Organ wird nur noch für eine von seinen früheren 
_ Verrichtungen beibehalten. Ein nutzlos gewordenes Körper-Glied 
ınag veränderlich seyn, weil seine Abänderungen nicht durch 
Natürliche Züchtung geleitet werden können. In welchem Lebens- 
Abschnitte nun ein Organ durch Nichtbenützung oder Züchtung 
reduzirt werden mag (und Diess wird gewöhnlich erst der Fall 
seyn, wenn das Thier zu seiner vollen Reife und Thatkraft ge- 
langt ist): so wird nach dem Prinzip der Wiedervererbung in 
sich entsprechenden Altern dieses Organ in reduzirtem Zustande 
stets im nämlichen Alter wieder erscheinen und sich mithin nur sel- 
ten im Embryo ändern oder verkleinern. So erklärt sich mithin 
die verhältnissmässig beträchtlichere Grösse rudimentärer Organe 
im Embryo und deren vergleichungsweise geringere Grösse im Er- 
wachsenen. Wenn aber jede Abstufung im Reduktions-Prozesse 
nicht in einem entsprechenden Alter, sondern in einer sehr 
frühen Lebens-Periode vererbt werden sollte (was wir guten 
Grund haben für möglich zu halten), so würde das rudimentäre 
Organ endlich ganz zu verschwinden streben und den Fall eines 
vollständigen Fehlschlagens darbieten. Auch das in einem frühe- 
ren Kapitel erläuterte Prinzip der Ökonomie, wornach die zur 
Bildung eines dem Besitzer nicht mehr nützlichen Theiles verwen- 
deten Bildungs-Stoffe erspart werden, mag wohl oft mit ins Spiel 
kommen; und Diess wird dann dazu beitragen, das gänzliche Ver- 
schwinden eines schon verkümmerten Organes zu bewirken. 

Da hiernach die Anwesenheit rudimentärer Organe von dem 
Streben eines jeden Theiles der Organisation sich nach langer 
Existenz erblich zu übertragen bedingt ist, so wird aus dem Ge- 
sichtspunkte einer genealogischen Klassifikation begreiflich, wie 
es komme, dass Systematiker die rudimentären Organe für ihren 
Zweck zuweilen eben so nützlich befunden haben, als die Theile 
von hoher physiologischer Wichtigkeit. Organe-Stümmel kann 
man mit den Buchstaben eines Wortes vergleichen, welche beim 


460 


Buchstabiren ‚desselben noch beibehalten aber nicht mit ausge- 
sprochen werden und bei Nachforschungen über dessen: Ur- 
sprung als vortreflliche Führer dienen. Nach der Annahme einer 
Fortpflanzung mit; Abänderung können wir schliessen, dass das 
Vorkommen von Organen in einem verkümmerten, unvollkomme- 
nen und nutzlosen Zustande und deren gänzliches Fehlschlagen, 
statt wie bei der gewöhnlichen Theorie der Schöpfung grosse 
Schwierigkeiten zu bereiten, vielmehr vorauszusehen war und aus 
den Erblichkeits-Gesetzen zu erklären ist. ' 
Zusammenfassung.) Ich habe in diesem Kapitel zu zei- 
gen gesucht, dass die Unterordnung der Organismen-Gruppen. 
aller Zeiten untereinander, — ‘dass die Natur der Beziehungen, 
nach welchen alle lebenden und erloschenen Wesen durch 
zusammengesetzte, strahlenförmige und oft sehr mittelbar zusam- 
menhängende Verwandischafts-Linien zu einem grossen Systeme 
vereinigt werden, — dass die von den Naturforschern bei ihren 
Klassifikationen befolgten Regeln und begegneten Schwierigkeiten, 
— dass der auf die beständigen und andauernden Charaktere 
gelegte Werth, gleichviel ob sie für die Lebens-Verrichtungen 
von grosser oder, wie die der rudimentären Organe von gar 
keiner Wichtigkeit seyen, — dass der weite Unterschied im Werthe 
zwischen analogen oder Anpassungs- und wahren Verwandtschafts- 
Charakteren: — dass alle diese und noch viele andre solcher regel- 
mässigen Erscheinungen sich Natur-gemäss aus der Annahme einer 
gemeinsamen Abstammung der bei den Naturforschern als verwandt 
geltenden Formen und deren: Modifikation durch Natürliche Züch- 
tung in Begleitung‘ von Erlöschung und von Divergenz des Cha- 
rakters herleiten lassen. Von diesem Standpunkte aus die Klas- 
sifikation beurtheilend wird man sich erinnern, dass das Element 
der Abstammung in so fern’ schon längst allgemein berücksich- 
tigt wird, als man: beide Geschlechter, die’ manchfaltigsten Ent- 
wickelungs-Formen und die anerkannten Varietäten, wie verschie- 
den von einander sie auch in ihrem Baue seyn mögen,. alle in 
eine Art zusammenordnet. Wenn wir nun die Anwendung die- 
ses Elementes als die einzige mit Sicherheit erkannte Ursache 
von der Ähnlichkeit organischer Wesen unter einander etwas 


461 


weiter ausdehnen, so wird uns die Bedeutung des natürlichen 
Systemes klarer werden: es ist ein Versuch genealogischer An- 
ordnung, worin die Grade der Verschiedenheiten, in welche die 
einzelnen Verzweigungen aus einander gelaufen sind, mit den 
Kunst-Ausdrücken Abarten, Arten, Sippen, Familien, Ordnungen 
und Klassen bezeichnet werden. | 

Indem wir von der Annahme einer Fortpflanzung mit Abän- 
derung ansgehen, werden uns manche Haupterscheinungen in der 
Morphologie erklärlich: sowohl das gemeinsame Model, wornach 
die homologen Organe, zu welchem Zwecke sie auch immer be- 
stimmt ‚seyn mögen, bei allen Arten einer Klasse gebildet sind, 
als die Modelung aller homologen Theile eines jeden Pflan- 
zen- oder Thier-Individuums nach einem solchen gemeinsamen 
Vorbilde. 

Andre der wichtigsten Erscheinungen in der Morphologie 
dagegen erklären sich aus dem Prinzip, dass allmähliche ge- 
ringe Abänderungen nicht nothwendig oder allgemein schon in 
einer sehr frühen Lebens-Zeit eintreten, und dass sie sich in ent- 
sprechendem Alter weiter vererben. So die Ähnlichkeit der ho- 
mologen Theile in einem Embryo, welche im reifen Alter in Form 
und Verrichtungen weit auseinander gehen, — und die Ähnlich- 
keit der homologen Theile oder Organe in verschiedenen Arten 
einer Klasse, obwohl sie den erwachsenen Thieren zu den mög- 
lich verschiedensten Zwecken dienen. Larven sind selbst-thätige 
Embryonen, welche daher auch schon je für ihre verschiedene 
Lebens-Weise nach dem Prinzip der Vererbung in gleichen 
Altern 'modifizirt worden sind. Nach diesem nämlichen Prinzipe 
und in Betracht dass, wenn Organe in Folge von Nichtgebrauch 
oder von Züchtung an Stärke abnehmen, Diess gewöhnlich in 
derjenigen Lebens-Periode geschieht, wo das Wesen für seine Be- 
dürfnisse selbst zu sorgen hat, und in fernerem Betracht, wie 
strenge das Walten des Erblichkeits-Prinzips ist: bietet uns das Vor- 
kommen rudimentärer Organe und ihr endlich vollständiges Ver- 
schwinden keine unerklärbare Schwierigkeit dar; im Gegentheil 
haben wir deren Vorkommen voraus sehen können. Die Wich- 
tigkeit embryonischer Charaktere und rudimentärer Organe für 


462 


die Klassifikation wird aus der Annahme begreiflich, dass nur 
eine genealogische Anordnung natürlich seyn kann. 

Endlich: die verschiedenen Klassen von Thatsachen, welche 
in diesem Kapitel in Betracht gezogen worden sind, scheinen mir 
so deutlich zu verkündigen, dass die zahllosen Arten, Sippen 
und Familien organischer Wesen, womit diese Welt bevölkert 
ist, allesammt und jedes wieder in seiner eignen Klasse oder 
Gruppe insbesondere, von gemeinsamen Ältern abstammen und 
im Laufe der Fortpflanzung wesentlich modifizirt worden sind, 
dass ich mir diese Anschauungs-Weise ohne Zögern aneignen 
würde, selbst wenn ihr keine sonstigen Thatsachen und Argu- 
mente mehr zu Hilfe kämen. 


Vierzehntes Kapitel. 
Allgemeine Wiederholung und Schluss. 


Wiederholung der Schwierigkeiten der Theorie Natürlicher Züchtung. — Wie- 
. derholung der allgemeinen und besondern Umstände, zu deren Gunsten. — 
Ursachen des allgemeinen Glaubens an die Unveränderlichkeit der Arten. 


— Wie weit die Theorie Natürlicher Züchtung auszudehnen. — Folgen 
ihrer Annahme für das Studium der Naturgeschichte. — Schluss - Bemer- 
kungen. 


Da dieser ganze Band eine lange Beweisführung ist, so 
mag es für den Leser angenehm seyn, die leitenden Thatsachen 
und Schlussfolgerungen kürzlich wiederholt zu sehen. 

/ Ich läugne nicht, dass man viele und ernste Einwände gegen 
die Theorie der Abstammung mit fortwährender Abänderung 
durch Natürliche Züchtung vorbringen kann. Ich habe versucht, 
sie in ihrer ganzen Stärke zu entwickeln. Nichts kann im ersten 
Augenblick weniger glaubhaft scheinen, als dass die zusammen- 
gesetztesten Organe und Instinkte ihre Vollkommenbheit erlangt 
haben sollen nicht durch höhere und doch der menschlichen Ver- 
nunft analoge Kräfte, sondern durch die blosse Zusammensparung 
zahlloser kleiner aber jedem individuellen Besitzer vortheilhafter 
Abänderungen. Diese Schwierigkeit, wie unübersteiglich gross sie 
auch unsrer Einbildungs-Kraft erscheinen mag, kann gleichwohl 


463 


nieht für wesentlich gelten, wenn wir folgende Vordersätze zu- 
lassen: dass Abstufungen in der Vollkommenheit eines Organes 
oder Instinktes, welches Gegenstand unsrer Betrachtung ist, ent- 
weder jetzt bestehen oder bestanden haben, die alle in ihrer 
Weise gut waren; — dass alle Organe und Instinkte in, wenn 
auch noch so geringem Grade, veränderlich sind ; — und endlich, 
dass ein Kampf ums Daseyn bestehe, welcher zur Erhaltung 
einer jeden für den Besitzer nützlichen Abweichung von den 
bisherigen Bildungen oder Instinkten führt. Die Wahrheit dieser 
Sätze kann nach meiner Meinung nicht bestritten werden. | 

Es ist ohne Zweifel äusserst schwierig auch nur eine Ver- 
muthung darüber auszusprechen, durch welche Abstufungen, zumal 
in durchbrochnen und erlöschenden Gruppen organischer Wesen, 
manche Bildungen vervollkommnet worden seyen; aber wir sehen 
so viele befremdende Abstufungen in der Natur, dass wir äus- 
serst vorsichtig seyn müssen zu sagen, dass ein Organ oder In- 
stinkt oder ein ganzes Wesen nicht durch stufenweise Fortschritte 
zu seiner gegenwärtigen Vollkommenheit gelanget seyn könne. 
Insbesondere muss man zugeben, dass schwierige Fälle besondrer 
Art der Theorie der Natürlichen Züchtung entgegentreten, und 
einer der schwierigsten Fälle dieser Art zeigt sich in dem Vor- 
kommen von zwei oder drei bestimmten Kasten von Arbeitern 
oder unfruchtbaren Weibchen in einer und derselben Ameisen- 
Gemeinde; doch habe ich zu zeigen versucht, dass auch diese 
Schwierigkeit zu überwinden ist. 

Was die fast allgemeine Unfruchtbarkeit der Arten bei ihrer 
Kreutzung anbelangt, die einen so merkwürdigen Gegensatz zur 
fast allgemeinen Fruchtbarkeit gekreutzier Abarten bildet, so 
muss ich den Leser auf die am Ende des. achten Kapitels gege- 
bene Zusammenfassung der Thatsachen verweisen, welche mir 
entscheidend genug zu seyn scheinen um darzuthun, dass diese 
Unfruchtbarkeit in nicht höherem Grade eine angeborne Eigen- 
thümlichkeit bildet, als die Schwierigkeit zwei Baum - Arten 
aufeinander zu propfen; sondern dass sie zusammenfalle - mit 
der Verschiedenheit der Lebensthätigkeit im Reproduktiv- 
Systeme der gekreutztien Arten. Wir finden die Bestätigung 


464 


dieser Annahme in der weiten Verschiedenheit der Ergebnisse, 
wenn die nämlichen zwei Arten wechselseitig von einander be- 
fruchtet werden. 

Die Fruchtbarkeit gekreutzter Abarten und ihrer Blendlinge 
kann nicht als allgemein betrachtet werden ; und ihre doch immer 
sehr häufige Fruchtbarkeit ist nicht überraschend, wenn wir be- 
denken, dass es nicht aussieht, als ob ihre Konstitutionen über- 
haupt oder ihre Reproduktiv- Systeme sehr angegriffen worden 
seyen. Überdiess sind die meisten zu Versuchen benützten Ab- 
‚arten aus Kultur der Arten hervorgegangen, und da die Kul- 
tur die Unfruchtbarkeit offenbar zu vermindern strebt, so dür- 
fen wir nicht erwarten, dass sie Unfruchtbarkeit irgendwo ver- 
anlasse. aaa SE 

Die Unfruchtbarkeit der Bastarde ist eine von der der ersten 
Kreutzung sehr verschiedene Erscheinung, da ihre Reproduktiv- 
Organe mehr oder weniger unfähig zur Verrichtung sind, wäh- 
rend sich bei den ersten Kreutzungen die beiderseitigen Organe 
in vollkommenem Zustande befinden. Da wir Organismen aller Art 
durch Störung ihrer Konstitution unter nur wenig abweichenden 
Lebens-Bedingungen fortwährend mehr und weniger steril werden 
sehen, so dürfen wir uns nicht wundern, dass Bastarde weniger 
fruchtbar sind; denn ihre Konstitution ‘kann als durch Ver- 
schmelzung zweier verschiedenen Organisationen kaum anders ge- 
litten haben. Dieser Parallelismus wird noch durch eine andre 
parallele aber gerade entgegengesetzte Klasse von Erscheinungen 
unterstützt: dass nämlich die Kraft - Entwickelung und Fruchtbar- 
keit aller Organismen durch geringen Wechsel in ihren Lebens- 
Bedingungen zunimmt, und dass die Nachkommen wenig modifi- 
zirter Formen oder Abarten durch die Kreutzung an Kraft und 
Fruchtbarkeit gewinnen. Ebenso vermindern einerseits beträcht- 
liche Veränderungen in den Lebens-Bedingungen und Kreutzungen 
zwischen sehr verschiedenen Formen die Fruchtbarkeit, wie an- 
derseits geringere Veränderungen dieselbe zwischen nur wenig 


abgeänderten Formen vermehren. 
Wenden wir uns zur geographischen Verbreitung, so er- 
scheinen auch da die Schwierigkeiten für die Theorie der Fort- 


465 


pflanzung mit fortwährender Abänderung erheblich genug. Alle 
Individuen einer Art und alle Arten einer Sippe oder selbst noch 
höherer Gruppen müssen von. gemeinsamen Ältern herkommen; 
wesshalb sie, wenn auch noch so weit zerstreut und isolirt in 
der Welt, im Laufe aufeinander-folgender Generationen aus einer 
Gegend in. die andre gewandert seyn müssen. Wir sind oft 
ganz ausser Stand auch nur zu. vermuthen, auf welche Weise 
Diess geschehen seyn möge. Da wir jedoch anzunehmen berech- 
tigt sind, dass einige Arten die nämliche spezifische Form wäh- 
rend ungeheuer langen Perioden, in Jahren gemessen, beibehal- 
ten haben, so darf man kein allzu-grosses Gewicht auf die ge- 
legentliche weite Verbreitung einer Spezies legen; denn während 
solcher ausserordentlich langer Zeit-Perioden wird sie auch zu 
weiter Verbreitung irgend welche Mittel gefunden haben. Eine 
durchbrochene oder zerspaltene Gruppe lässt sich oft durch Er- 
löschen der vermittelnden Arten erklären. Es ist nicht zu läug- 
nen, dass wir mit den manchfaltigen klimatischen und geogra- 
phischen Veränderungen, welche die Erde erst in der laufen- 
den Periode erfahren, noch ganz unbekannt sind; und solche 
Veränderungen ‘müssen die Wanderungen offenbar in hohem 
Grade befördert haben. Beispielsweise habe ich zu zeigen ver- 
sucht, wie mächtig die Eis-Zeit auf die Verbreitung sowohl der 
identischen als der. stellvertretenden Formen über die Erd-Ober- 
fläche gewirkt habe. Ebenso sind wir auch fast ganz unbekannt 
mit den vielen gelegenheitlichen Transport-Mitteln. Was die Er- 
scheinung betrifft, dass verschiedene Arten einer Sippe sehr ent- 
fernt von einander abgesonderte Gegenden bewohnen, so sind, 
da der Abänderungs-Prozess nothwendig sehr langsam vor 
sich geht, während sehr langer Zeit-Abschnitte für alle Wande- 
rungen genügende Gelegenheiten vorhanden gewesen, wodurch 
sich einigermaassen die Schwierigkeit: vermindert die weite Ver- 
breitung der Arten einer Sippe zu erklären. 

Da nach der Theorie der Natürlichen Züchtung eine endlose 
Anzahl Mittelformen alle Arten jeder Gruppe durch eben so feine 
Abstufungen, als unsre jetzigen Varietäten darstellen, miteinander 
verkettet haben muss, so wird man die Frage aufwerfen, warum 

30 


466 


wir nicht diese’ vermittelnden Formen rund um uns her erblicken? 
Warum fliessen nicht alle organischen Formen zu einem unent- 
wirrbaren Chaos zusammen ? Aber was die noch lebenden For- 
men betrifft, so‘ sind wir (mit Ausnahme einiger seltnen Fälle) 
wohl nicht zur Erwartung berechtigt, direkt vermittelnde Glieder 
zwischen ihnen selbst, sondern 'nur etwa zwischen ihnen und 
einigen erloschenen und ersetzten Formen zu entdecken. Selbst 
auf einem weiten Gebiete, das während ‘einer langen Periode 
seinen Zusammenhang bewahrt hat und dessen Klima und übrigen 
Lebens-Beiingungen nur allmählich von einem Bezirke zu andern 
von nahe verwandten Arten bewohnten Bezirken abändern, selbst da 
sind wir nicht berechtigt oft die Erscheinung vermittelnder For- 
men in den Grenz-Strichen zu erwarten, da wir zur Vermuthung 
Ursache haben, dass nur immer wenige. Arten in einer Periode 
Abänderungen erfahren und alle Abänderungen nur langsam 
vor sich gehen. Ich habe auch gezeigt, dass die vermittelnden 
Formen, welche anfangs wahrscheinlich in den Zwischenstrichen 
vorhanden gewesen, einer Ersetzung durch die verwandten For- 
men von beiden Seiten her unterlegen sind, die vermöge ihrer 
grossen Anzahl gewöhnlich schnellere Fortschritte in ihren Ab- 
‘änderungen und Verbesserungen als die minder zahlreich ver- 
tretenen Mittelformen machen, so dass diese. vermittelnden Ab- 
arten mit der Länge der Zeit ersetzt und vertilgt werden. 

Nach dieser Lehre von der Unterdrückung einer unendlichen 
Menge vermittelnder Glieder zwischen den erloschenen und leben- 
den Bewohnern der Erde und eben so zwischen den Arten einer 
jeden der aufeinandergefolgten Perioden und den ihnen zunächst 
vorangegangenen fragt es sich, warum nicht jede geologische For- 
mation mit Resten solcher Glieder erfüllt ist? und warum nicht 
‚jede Sammlung fossiler Reste einen klaren Beweis von solcher 
Abstufung und Umänderung der Lebenformen darbietet. Dass 
wir diese Belege vermissen, ist eine der handgreiflichsten und 
stärksten von den vielen gegen meine Theorie vorgebrachten 


Einwendungen. Und wie kommt 'es, dass ganze Gruppen ver- 
wandter Arten in dem einen oder dem andern geologischen 
Schichten-Systeme oft so plötzlich aufzutreten scheinen (gewiss 


467 


oft nur scheinen!).: Warum finden wir nicht grosse ‘Schichten- 
Stösse unter dem Silur-Systeme erfüllt mit den Überbleibseln 
der Stammväter der 'silurischen Organismen -Gruppen? Denn 
nach meiner Theorie müssen solche Schichten-Systeme in diesen 
alten und gänzlich unbekannten Abschnitten der Erd-Geschichte 
gewiss irgendwo abgesetzt worden seyn. 

‘Man kann auf diese Fragen und gewichtigen Einwände nur 
mit der Annahme antworten, dass der geologische Schöpfungs- 
Bericht bei weitem unvollständiger ist, als die meisten Geologen 
glauben. Es lässt sich nicht einwenden, dass für irgend wel- 
ches Maass organischer Abänderung nicht genügende Zeit ge- , 
wesen; denn die Länge der abgelaufenen Zeit ist für mensch- 
liche Begriffe unfassbar. Die Menge der Exemplare in allen 
unsren Museen zusammengenommen ist absolut nichts im Ver- 
gleich mit den zahllosen Generationen zahlloser Arten, welche 
sicherlich ‘schon existirt haben. Wir werden ausser Stand seyn 
eine Art als die Stamm-Art einer oder mehrer andren Arten zu 
erkennen, wenn wir nicht auch viele der vermittelnden Glieder 
zwischen ihrer früheren und jetzigen Beschaffenheit besitzen; 
und diese vermittelnden Glieder dürfen wir bei der Unvollstän- 
diekeit der geologischen Schöpfungs-Urkunden. kaum jemals zu 
entdecken erwarten. Man könnte viele jetzige zweifelhafte For- 
men nennen, welche wahrscheinlich Abarten sind; aber wer 
könnte behaupten, dass in künftigen Welt-Perioden noch so viele 
fossile Mittelglieder werden entdeckt werden, dass Naturforscher 
nach der gewöhnlichen Anschauungs-Weise: zu entscheiden im 
Stande seyn werden, ob diese zweifelhaften Formen Varietäten 
sind oder nicht? So lange als die meisten Zwischenglieder zwi- 
schen irgend welchen zwei Arten unbekannt sind, wird man ein 
einzelnes Glied oder eine einzelne Zwischenform, die entdeckt 
wird, einfach als eine andre verschiedene Spezies einreihen. — 
Nur ein kleiner Theil der Erd-Oberfläche ist geologisch un- 
tersucht worden, und nur von gewissen Organismen -Klassen 
können fossile Reste in grosser Anzahl erhalten werden. 
Weit verbreitete Arten variiren am meisten, und die Abarten 


sind anfänglich oft nur lokal; beide Ursachen machen die Ent- 
30 * 


Be 18 EEE ae a <a Sur £ 


468 


‚deckung von Zwischengliedern wenig. wahrscheinlich. ‚Örtliche 
Varietäten verbreiten sich nicht in andre und entfernte Gegen- 
den, bis sie beträchtlich abgeändert und verbessert sind; — und 
wenn sie nach ihrer: Verbreitung in einer geologischen Forma- 
tion 'entdeckt werden, so wird es scheinen, als seyen sie erst 
jetzt plötzlich erschaffen worden, und man wird sie einfach. als 
neue: Arten betrachten, — Die meisten Formationen sind mit 
Unterbrechungen abgelagert worden; und ihre Dauer ist, wie 
ich glaube, kürzer als die mittle Dauer. der -Arten-Formen ge- 
wesen. Zunächst aufeinander-folgende Formationen sind durch 
ungeheure leere Zeiträume von einander getrennt; denn Fos- 
sil-Reste führende Formationen, mächtig genug, um spätrer 
Zerstörung zu widerstehen, können nur da gebildet werden, wo 
dem in Senkung begriffenen Meeres-Grund viele. Sedimente 
zugeführt werden. In den damit abwechselnden Perioden von 
Hebung ‘oder Ruhe wird das Blatt in der Schöpfungs-Geschichte 
weiss bleiben. Während dieser letzten Perioden wird wahr- 
scheinlich mehr Veränderung in den Lebenformen, während der 
Senkungs-Zeiten mehr Erlöschen derselben: stattfinden. 

Was die Abwesenheit Fossilien-führender Schichten unter- 
halb der untersten Silur-Gebilde betrifit, so kann ich 'nur aul 
die im neunten Kapitel aufgestellte Hypothese zurückkommen. 
Dass der geologische Schöpfungs-Bericht lückenhalt ist, gibt 
jedermann zu; dass er es aber in dem von mir verlangten 
Grade seye, werden nur wenige zugestehen wollen. Hinreichend 
lange Zeiträume zugegeben, erklärt uns die Geologie offenbar 
genug, dass alle Arten gewechselt haben; und sie haben in der 
Weise gewechselt, wie es meine Theorie erheischt, nämlich lang- 
sam und stufenweise. Wir erkennen Diess deutlich daraus, 
dass die organischen Reste zunächst aufeinander-folgender For- 
mationen einander allezeit näher verwandt sind, als die fossilen 
Arten durch weite Zeiträume‘ von einander getrennter Gebirgs- 
Bildungen. « 

Diess. ist die Summe der hauptsächlichsten Einwürfe und 
Schwierigkeiten, die ‚man mit Recht gegen meine Theorie vor- 
bringen kann; und ich habe die darauf zu gebenden Ani- 


469 


worten und Erläuterungen in Kürze wiederholt. Ich habe diese 
Schwierigkeiten: viele Jahre lang selbst zu sehr empfunden, als 
dass ich an ihrem Gewichte zweifeln sollte. : Aber es verdient 
noch insbesondere hervorgehoben zu werden. dass die wichtige- 
ren Einwände sich auf Fragen beziehen, “über die wir einge- 
standner Maassen in Unwissenheit sind: und wir wissen: nicht 
einmal, wie unwissend wir sind. Wir kennen nicht all’ die 
möglichen Übergangs-Abstufungen zwischen den einfachsten und 
den vollkommensten Organen; wir können nicht behaupten, 
all’. die manchfaltigen Verbreitungs-Mittel der Organismen wäh- 
rend des Verlaufes so zahlloser Jahrtausende zu kennen, und 
wir wissen nicht, wie unvollständig der geologische Schöpfungs- 
Bericht ist. Wie bedeutend aber auch diese mancherlei Schwierig- 
keiten seyn mögen, so genügen sie doch nicht, ıım meine Theorie 
einer Abstammung von einigen wenigen erschalfenen 
Formen mit'nachheriger Abänderung derselben umzu- 
stossen. 

Wenden wir uns nun nach der andern Seite unsres Gegen- 
standes. Im Kultur-Zustande der Wesen nehmen wir viel Ver- 
änderlichkeit derselben wahr. Diess scheint daran zu liegen, 
dass das Reproduktiv-System ausserordentlich empfindlich gegen 
Veränderungen in den äusseren Lebens-Bedingungen ist, so dass 
dieses System, wenn. es nicht ganz unlähig wird, doch keine 
der. älterlichen Form genau ähnliche Nachkommenschaft mehr lie- 
fert. Die Abänderungen werden durch viele verwickelte Gesetze 
geleitet, durch die Wechselbeziehungen des Wachsthums, durch 
Gebrauch und Nichtgebrauch und durch die unmittelbaren Ein- 
wirkungen der physikalischen Lebens-Bedingungen. Es ist sehr 
schwierig. zu bestimmen, wie viel Abänderung unsre Kultur-Er- 
zeugnisse erfahren haben; doch können wir. getrost annehmen, 
dass deren Maass gross gewesen seye, und dass Modifikationen 
auf lange Perioden hinaus vererblich sind. : So. lange als die 
Lebens-Bedingungen die nämlichen bleiben, sind wir zu unterstellen 
berechtigt, dass ‚eine Abweichung, welche sich ‚schon seit vielen 
Generationen vererbt hat, sich auch noch ferner auf eine fast 
unbegrenzte Zahl yon Generationen hinaus vererben kann, An- 


470 


drerseits sind wir gewiss, dass Veränderlichkeit, wenn sie ein- 
mal in’s Spiel gekommen, nicht mehr: gänzlich ' aufhört; denn 
unsre ältesten Kultur-Erzeugnisse bringen gelegenheitlich noch 
immer neue Abarten hervor. 

Der Mensch erzeugt in Wirklichkeit keine Abänderungen, 
sondern er versetzt nur: unabsichtlich organische Wesen unter 
neue Lebens-Bedingungen, und dann wirkt die Natur auf deren 
Organisation und verursacht Veränderlichkeit. Der Mensch kann 
aber die ihm von der Natur dargebotenen Abänderungen zur 
Nachzucht auswählen und dieselben hiedurch in einer beliebigen 
Richtung häufen; und Diess thut er wirklich. Er passt auf diese 
Weise Thiere und Pflanzen seinem eignen Nutzen und Vergnü- 
gen an. Er mag Diess planmässig oder mag es unbewusst thun, 
indem er die ihm zur Zeit nützlichsten Individuen, ohne einen 
Gedanken an die Änderung der Rasse, zurückbehält Es ist ge- 
wiss, dass er einen grossen Einfluss auf den Charakter einer 
Rasse dadurch ausüben kann, dass er von Generation zu .Gene- 
ration individuelle Abänderungen zur Nachzucht auswählt, so ge- 
ring, dass sie für das ungeübte Auge: kaum wahrnehmbar sind. 
Dieses Wahl-Verfahren ist das grosse Agens in der Erzeugung 
der ausgezeichnetsten und nützlichsten unsrer veredelten Thier- 
und Pflanzen-Rassen gewesen. Dass nun viele der vom Menschen 
gebildeten Abänderungen den Charakter natürlicher Arten schon 
grossentheils besitzen, geht aus den unausgesetzten Zweifeln in 
Bezug auf viele derselben hervor, ob es Arten oder Abarten sind. 

Es ist kein Grund nachzuweisen , wesshalb diese Prinzipien, 
welche in Bezug auf die kultivirten Organismen so erfolgreich 
gewirkt, nicht auch in der Natur wirksam seyn sollten.‘ In der 
Erhaltung begünstigter Individuen und Rassen während des be- 
ständig wiederkehrenden Kampfs ums Daseyn sehen wir das 
wirksamste und nie ruhende Mittel der Natürlichen Züchtung. 
Der Kampf ‘ums Daseyn ist die unvermeidliche Folge der hoch- 
potenzirten geometrischen Zunahme, welche allen organischen 
Wesen gemein ist. Dieses rasche Zunahme-Verhältniss ist that- 
sächlich erwiesen aus der schnellen Vermehrung vieler Pflanzen 
und Thiere während einer Reihe günstiger Jahre und bei ihrer 


ar 


Naturalisirung in einer 'neuen Gegend. Es werden mehr Einzel- 
wesen geboren, als fortzuleben im Stande. sind. Ein Gran in 
der:Wage kann den. Ausschlag. geben, welches Individuum fort- 
leben und welches zu Grunde gehen soll, welche: Art oder Ab- 
art sich vermehren und welche abnehmen ‚und endlich. erlöschen 
muss.: Da die Individuen einer nämlichen Art in allen Beziehun- 
gen in die nächste Bewerbung miteinander gerathen, so wird ge- 
wöhnlich auch der Kampf zwischen ihnen am heftigsten seyn; er 
wird fast: eben so heftig zwischen den Abarten einer Art, und 
dann zunächst zwischen den Arten einer Sippe seyn. Aber der 
Kampf kann oft.auch sehr heftig zwischen Wesen seyn, welche 
auf der. Stufenleiter der Natur am weitesten auseinander stehen. 
Der geringste Vortheil, den ein Wesen in irgend. einem Lebens- 
‚Alter ‚oder zu irgend einer Jahreszeit über seine Mitbewerber 
voraus hat, oder eine wenn-auch noch so wenig bessere Anpas- 
sung an die umgebenden Natur-Verhältnisse kann die Wage sin- 
ken machen. 

. Bei Thieren getrennten Geschlechtes wird meistens ein 
Kampf der Männchen um den Besitz der Weibchen. stattfinden. 
Die. kräftigsten oder. diejenigen Individuen , welche- am erfolg- 
reichsten mit ihren Lebens-Bedingungen gekämpft haben, werden 
gewöhnlich am meisten Nachkommenschaft hinterlassen. Aber 
der Erfolg wird oft davon abhängen, dass die Männchen besondre 
Waffen oder Vertheidigungs-Mittel. oder Reitze besitzen; und der 
geringste Vortheil kann zum Siege führen, 

Da die Geologie. uns deutlich nachweiset, ‚dass ein jedes 
Land grosse physikalische Veränderungen erfahren ‚hat, so ist 
anzunehmen, dass die organischen Wesen im Natur - Zustande 
ebenso. wie die kultivirten unter den veränderten Lebens-Bedingun- 
gen abgeändert haben. Wenn nun eine Veränderlichkeit im 
Natur-Zustande vorhanden ist, so, würde es eine, unerklärliche 
Erscheinung seyn, falls die Natürliche Züchtung nicht eingriffe. Es 
ist oft versichert worden, aber eines Beweises nicht fähig, dass 
das Maass der Abänderung in der Natur eine streng bestimmte 
Quantität seye. Der Mensch, obwohl nur auf äussre Charak- 
tere allein und oft, bloss nach seiner ‚Laune wirkend, ver- 


4712 


mag in kurzer Zeit dadurch grossen Erfolg zu erzielen, dass er 
allmählich alle in einer Richtung hervortretenden individuellen Ver- 
schiedenheiten zusammenhäuft; und jedermann gibt zu, dass 
wenigstens individuelle Verschiedenheiten bei den Arten im Na- 
tur-Zustande vorkommen. Aber von diesen abgesehen, haben 
alle Naturforscher das Daseyn von Abarten oder Varietäten ein- 
gestanden, welche verschieden genug seyen, um in den syste- 
matischen Werken als solche mit aufgeführt zu werden. Doch 
kann niemand einen bestimmten Unterschied zwischen individuellen 
Abänderungen und leichten Varietäten oder zwischen verschiedenen 
Abarten, Unterarten und Arten angeben. Erinnern wir uns, wie 
sehr die Naturforscher in ihrer Ansicht über den Rang der vielen 
stellvertretenden Formen in Europa und Amerika auseinandergehen. 

Wenn es daher im Natur-Zustande ‘Variabilität und ein 
mächtiges stets zur Thätigkeit und Zuchtwahl bereites Agens 
gibt, wesshalb sollten wir noch bezweifeln, dass irgend welche 
für. die Organismen in ihren äusserst verwickelten Lebens-Ver- 
hältnissen 'einigermaassen nützliche Abänderungen erhalten, ge- 
häuft und vererbt werden? Wenn der Mensch die ihm selbst 
nützlichen Abänderungen geduldig zur Nachzucht auswählt: warum 
sollte die Natur unterlassen, die unter veränderten Lebens- 
Bedingungen für ihre Produkte nützlichsten Abänderungen auszu- 
suchen? Welche Schranken kann man einer Kraft setzen, welche 
von einer Welt:Periode zur andern beschäftigt ist, die ganze 
organische Bildung, Thätigkeit und Lebens-Weise eines jeden 
Geschöpfes unausgesetzt zu sichten, das Gute zu befördern und 
das Schlechte zurückzuwerfen? Ich vermag keine Grenze zu 
sehen für eine Kraft, welche jede Form den verwickeltesten 
Lebens-Verhältnissen langsam anzupassen beschäftigt ist. Die 
Theorie der Natürlichen Züchtung scheint mir, auch wenn wir 
uns nur darauf allein beschränken, in sich selbst wahrscheinlich 
zu seyn. Ich habe bereits, so ehrlich als möglich, die dagegen 
erhobenen Schwierigkeiten und Einwände rekapitulirt; jetzt 
wollen wir uns zu den Spezial-Erscheinungen und Folgerungen 
zu Gunsten unsrer Theorie wenden. ; 

Aus meiner Ansicht) dass Arten nur stark ausgebildete und 


473 


bleibende Varietäten (Abarten) sind und jede Art zuerst als eine 
Varietät existirt hat, ergibt sich, weshalb keine Grenzlinie gezo- 
gen werden kann zwischen Arten, welche man gewöhnlich als 
Produkte eben so vieler besondrer Schöpfungs-Akte betrachtet, 
und zwischen Varietäten, die man als Bildungen eines sekundä- 
ren Gesetzes gelten lässt. Nach dieser nämlichen Ansicht ist es 
ferner zu begreifen, dass in jeder Gegend, wo viele Arten einer 
Sippe entstanden sind und nun gedeihen, diese Arten noch viele 
Abarten darbieten; denn, wo die Arten-Fabrikation thätig betrie- 
ben worden ist, da möchten wir als Regel erwarten, sie noch in 
Thätigkeit zu finden; und Diess ist der 'Fall, woferne Varietäten 
beginnende Arten sind. Überdiess behalten auch die Arten gros- 
ser Sippen, welche die Mehrzahl der Varietäten oder beginnenden 
Arten liefern, in gewissem Grade den Charakter von Varietäten 
bei: denn sie unterscheiden sich in geringerem Maasse, als die 
Arten kleinerer Sippen von einander. Auch haben die nahe- 
verwandten Arten grosser Sippen eine beschränktere Verbreitung 
und bilden vermöge ihrer Verwandtschaft zu einander kleine um 
andre Arten geschaarte Gruppen, in welcher Hinsicht sie eben- 
falls Varietäten gleichen. Diess sind, von dem Gesichtspunkte 
aus beurtheilt, dass jede Art unabhängig geschaffen worden seye, 
befremdende Erscheinungen, welche dagegen der Annahme ganz 
wohl entsprechen, dass alle Arten sich aus Varietäten entwickelt 
haben. 

Da jede Art bestrebt ist sich in geometrischem Verhältnisse 
unendlich zu vermehren, und da die abgeänderten Nachkommen 
einer jeden Spezies sich um so rascher zu vervielfältigen ver- 
mögen, jemehr dieselben in Lebens-Weise und Organisation aus- 
einander laufen, und mithin jemehr und verschiedenartigere Stel- 
len sie demnach im Haushalte der Natur einzunehmen im Stande 
sind, so wird in der Natürlichen Züchtung ein beständiges Stre- 
ben vorhanden seyn, die am weitesten verschiedenen Nachkom- 
men einer jeden Art zu erhalten. Daher werden im langen 
Verlaufe solcher allmählichen Abänderungen die geringen und 
blosse Varietäten einer Art bezeichnenden Verschiedenheiten sich 
zu grösseren die Spezies einer nämlichen Sippe charakterisirenden 


iv 


474 


Verschiedenheiten. ‚steigern. _ ‚Neue und verbesserte Varietäten 
werden die älteren weniger vervollkommneten ‚und die letzten 
vermittelnden Abarten unvermeidlich ersetzen und austilgen, und 
so entstehen grossentheils scharf umschriebene und wohl, unter- 
schiedene Spezies. Herrschende Arten aus den grösseren Grup- 
pen streben wieder neue und herrschende Formen zu erzeugen, 
so dass jede grosse Gruppe geneigt ist noch grösser und zugleich 
divergenter im Charakter zu werden. Da jedoch nicht alle, Gruppen 
beständig zunehmen können,. indem zuletzt die Welt sie nicht 
mehr zu fassen vermöchte, so verdrängen die herrschenderen die 
minder herrschenden. Dieses Streben der grossen Gruppen an 
Umfang zu wachsen und im Charakter auseinander zu laufen, in 
Verbindung mit der meist unvermeidlichen Folge starken Er- 
löschens andrer, erklärt die Anordnung ‚aller Lebenlormen in 
mehr und mehr unterabgetheilte Gruppen innerhalb einiger we- 
nigen grossen Klassen, die uns jetzt überall umgeben und alle 
Zeiten überdauert haben. Diese grosse Thatsache der Gruppirung 
aller organischen Wesen scheint mir nach der gewöhnlichen 
Schöpfungs-Theorie ganz unerklärlich. 

Da Natürliche Züchtung nur durch Häufung kleiner aufein- 
ander-folgender günstiger Abänderungen wirkt, so kann sie keine 
grosse und plötzliche Umgestaltungen bewirken; sie kann nur 
mit sehr langsamen und kurzen Schritten vorangehen. Daher 
denn auch .der Canon »Natura non facit saltum“ ,„ welcher 
sich mit jeder neuen Erweiterung unsrer. Kenntnisse mehr be- 
stätigt, aus dieser Theorie einfach begreiflich wird. Wir.sehen 
ferner ein, warum die Natur so fruchtbar an Abänderungen und 
doch so sparsam an Neuerungen ist. Wie Diess aber ein Natur- 
Gesetz. seyn könnte, wenn jede Art unabhängig erschaffen wor- 


den wäre, vermag niemand zu erläutern. 

Aus dieser Theorie scheinen mir noch andre Thatsachen er- 
klärbar. Wie befremdend wäre es, dass ein Vogel in Gestalt 
eines Spechtes geschaffen worden wäre, um Insekten am Boden 
aufzusuchen; dass eine Gans, welche.niemals oder selten schwimmt, 
mit Schwimmfüssen, dass: eine Drossel zum Tauchen und Leben 
von unter Wasser wohnenden Insekten, und dass, ein Sturmvogel 


475 


geschaffen worden wäre mit einer Organisation, welche der Le- 
bens-Weise eines Alks oder Lappentauchers (8.194) entspricht, und 
so.in zahllosen andern Fällen. Aber nach der Ansicht, dass die Ar- 
ten sich beständig zu: vermehren streben, während die Natürliche 
Züchtung immer bereit ist, die langsam abändernden Nachkommen 
‚jeder Art einem jeden in der Natur noch nicht oder nur unvoll- 
kommen besetzten Platze anzupassen, hören diese Erscheinungen 
auf. befremdend zu seyn und hätten sich sogar vielleicht voraus- 
‚sehen lassen. | | 

Da die Natürliche Züchtung neben der Mitbewerbung wirkt, 
so passt sie die Bewohner einer jeden Gegend nur im Verhält- 
niss der Vollkommenheits-Stufe ‘der andern Bewerber an, daher 
es uns nicht überrascht, wenn die Bewohner eines Bezirkes, 
welche nach der gewöhnlichen Ansicht doch speziell für diesen 
Bezirk geschaffen und angepasst seyn sollen, durch die nalura- 
lisirten Erzeugnisse aus andern Ländern besiegt und ersetzt wer- 
den. Noch dürfen wir uns wundern, wenn nicht alle Erfindungen 
in der Natur ‚so weit wir ermessen können, ganz vollkommen 
sind und 'manche derselben sogar hinter unsren Begriffen von 
Angemessenheit weit zurückbleiben. Es darf, uns daher nicht 
befremden, wenn der Stich der Biene ihren eignen Tod ver- 
ursacht; wenn die Dronen in so ungeheurer Anzahl nur für 
einen einzelnen Akt erzeugt und dann grösstentheils von ihren 
unfruchtbaren Schwestern getödtet werden: wenn unsre Nadelhöl- 
zer eine so unermessliche Menge 'von Pollen erzeugen; wenn die 
Bienenkönigin einen instinktiven Hass gegen ihre eignen frucht- 
baren Töchter empfindet; oder wenn die Ichneumoniden sich im 
lebenden Körper von Raupen nähren u. s. w. Weit mehr hätte 
‘man sich nach der Theorie der Natürlichen Züchtung darüber zu 
wundern, dass nicht noch mehr Fälle von Mangel an unbedingter 
Vollkommenheit beobachtet werden. 

Die verwickelten und wenig bekannten Gesetze, welche die 
Variation‘ in der Natur beherrschen, sind, so weit unsre Ein- 
sicht reicht , die nämlichen, welche auch die Erzeugung soge- 
nannter spezifischer Formen geleitet haben. In beiden Fällen 
scheinen die natürlichen Bedingungen nur wenig Einfluss gehabt 


476 


zu haben; wenn aber Varietäten in eine neue Zone eindringen, so 
nehmen sie etwas von den Charakteren der dieser Zone eigen- 
thümlichen Spezies an. In Varietäten sowohl als Arten scheinen 
Gebrauch und Nichtgebrauch einige Wirkung zu haben; denn es 
ist schwer dieser Ansicht zu widerstehen, wenn man z. B. die 
Dickkopf-Ente (Micropterus) mit Flügeln sieht, welche zum Fluge 
eben so wenig brauchbar als die der Hausente sind, oder wenn 
man den grabenden Tukutuku (Ctenomys), welcher mitunter blind 
ist, und dann die Maulwurf-Arten betrachtet, die immer blind 
sind und ihre Augen-Rudimente unter der Haut liegen haben, 
oder endlich wenn man die blinden Thiere in den dunkeln Höh- 
len Europa’s und Amerika’s ansieht. In Arten und Abarten 
scheint die Wechselbeziehung der Entwickelung eine sehr wich- 
tige Rolle gespielt zu haben, so dass, wenn ein Theil abgeändert 
worden ist, auch andre Theile nothwendig modifizirt werden 
mussten. In Arten wie in Abarten kommt Rückkehr zu längst 
verlorenen Charakteren vor. Wie unerklärlich ist nach der 
- Schöpfungs - Theorie die gelegentliche Erscheinung von Streifen 
an Schultern und Beinen der verschiedenen Arten der Pferde- 
Sippe und ihrer Bastarde; und wie einfach erklärt sich diese 
Thatsache, wenn wir annehmen, dass alle diese Arten von einem 
gestreiften gemeinsamen Stamm-Vater herrühren‘, in derselben . 
Weise, wie unsre zahmen Tauben-Rassen von der blau-grauen 
Felstaube mit schwarzen Flügelbinden. 

Wie lässt es sich. nach der gewöhnlichen Ansicht, dass jede 
Art unabhängig geschaffen worden seye, erklären, dass die Arten- 
Charaktere, wodurch ‚sich, die verschiedenen Spezies einer Sippe 
von einander unterscheiden, veränderlicher als die Sippen-Charak- 
tere sind, in welchen alle übereinstimmen? Warum wäre z.B. die 
Farbe einer Blume in einer Art: einer Sippe, ‚wo alle,übrigen 
Arten mit andern Farben versehen sind, eher zu varliren ge- 
neigt, als wenn alle Arten derselben Sippe von gleicher Farbe 
sind? Wenn aber Arten nur stark ausgebildete Abarten' sind, 
deren Charaktere schon in hohem Grade beständig geworden, so 
begreift sich Diess; denn sie haben bereits seit ihrer Abzwei- 
gung von einem ‚gemeinsamen ‚Stammvater in gewissen Merk- 


477 


malen variirt, durch welche sie eben von einander verschieden 
geworden sind; und. desshalb werden auch die nämlichen Cha- 
raktere noch fortdauernd: unbeständiger seyn, als die Sippen- 
Charaktere, die sich schon seit einer unermesslichen Zeit unver- 
ändert vererbt haben. Nach der Theorie der Schöpfung ist es 
unerklärlich, warum ein bei der einen Art einer Sippe in ganz 
ungewöhnlicher Weise entwickelter und daher vermuthlich für 
dieselben sehr wichtiger Charakter vorzugsweise zu variren ge- 
neigt seyn soll; während dagegen nach meiner Ansicht dieser 
Theil seit der Abzweigung der verschiedenen Arten von einem 
gemeinsamen Stammvater in ungewöhnlichem Grade Abände- 
rungen erfahren hat und gerade desshalb seine noch fortwährende 
Veränderlichkeit voraus zu erwarten stund. Dagegen kann es 
auch vorkommen, dass ein in der ungewöhnlichsten Weise ent- 
wickelter Theil, wie der Flügel der Fledermäuse, sich jetzt eben 
so wenig veränderlich als die übrigen zeigt, wenn derselbe vie- 
‚len untergeordneten Formen gemein, d, h. schon seit sehr langer 
Zeit vererbt worden ist; denn in diesem Falle wird er durch 
lang-fortgesetzte Natürliche Züchtung beständig geworden seyn. 

Werfen wir auf die Instinkte einen Blick, von welchen 
manche wunderbar sind, so bieten sie der Theorie der Natürlichen 
Züchtung mittelst leichter und allmählicher nützlicher Abände- 
rungen keine grössere Schwierigkeit als die körperlichen Bil- 
dungen dar. Man kann daraus begreifen, warum die Natur blos 
in kleinen Abstufungen die Thiere einer, nämlichen Klasse mit 
ihren verschiedenen Instinkten vervollkommt. Ich habe zu zeigen 
versucht, wie viel Licht das Prinzip‘ der stufenweisen Entwicke- 
lung auf den Bau-Instinkt der Honigbiene wirlt. Auch Gewohn- 
heit kommt bei Modifizirung der Instinkte gewiss oft in Betracht ; 
aber Diess ist sicher nicht unerlässlich der Fall, wie wir bei 
den geschlechtlosen Insekten sehen, die keine Nachkommen hin- 
terlassen, auf welche sie die Erfolge lang-währender Gewohn- 
heit übertragen könnten. Nach der Ansicht, dass alle Arten 
einer Sippe von einer gemeinsamen Stamm-Art herrühren und 
von dieser Vieles gemeinsam geerbt haben, vermögen wir die 
Ursache zu erkennen, wesshalb verwandte Arten, auch wenn sie 


4718 


wesentlich verschiedenen Lebens-Bedingungen ausgesetzt sind; doch 
beinahe denselben Instinkten folgen: wie z. B. die Süd- Ameri- 
kanische Amsel ihr Nest inwendig eben so mit Schlamm über- 
zieht, wie es unsre Europäische Art thut. In Folge der Ansicht, 
dass Instinkte nur ein langsamer Erwerb unter der Leitung Na- 
türlicher Züchtung sind, dürfen wir uns nicht darüber wundern, 
wenn manche derselben noch unvollkommen oder nicht verständ- 
lich sind, und wenn manche unter ihnen andern Thieren zum Nach- 
theil gereichen. 

Wenn Arten nur wohl ausgebildete und bleibende Abarten 
sind, so ‘erkennen wir sogleich, warum ihre durch Kreutzung 
entstandenen Nachkommen den nämlichen verwickelten Gesetzen 
unterliegen: in Art und Grad der Ähnlichkeit mit den Ältern, in 
der Verschmelzung durch wiederholte Kreutzung und in andern 
ähnlichen Punkten, wie es bei den gekreutzten Nachkommen an- 
erkannter Abarten der Fall ist; während Diess wunderbare Er- 
scheinungen blieben, wenn die Arten unabhängig von einander 
erschaffen und die Abarten nur durch sekundäre Kräfte entstan- 
den wären. 

Wenn wir zugeben, däss der geologische Schöpfungs-Bericht 
im äussersten Grade unvollständig ist, dann unterstützen solche 
Thatsachen , wie der Bericht sie liefert. die Theorie der Ab- 
stammung mit fortwährender Abänderung. Neue Arten sind von 
Zeit zu Zeit allmählich auf den Schauplatz getreten und das 
Maass der Umänderung, welche sie nach gleichen Zeiträumen 
erfahren, ist in den verschiedenen Gruppen weit verschieden. Das 
Erlöschen von Arten und Arten-Gruppen, welcher an der Ge- 
schichte der organischen Welt einen so wesentlichen Theil hat, 
folgt fast unvermeidlich aus dem Prinzip der Natürlichen Züch- 
tung; denn alte Formen werden durch neue und verbesserte 
Formen ersetzt. Weder -einzelne Arten noch Arten-Gruppen er- 
scheinen wieder, wenn die Kette ihrer regelmässigen Fortpflan- 
zung einmal unterbrochen worden war. Die stufenweise Aus- 
breitung herrschender Formen mit langsamer Abänderung ihrer 
Nachkommen hat zur Folge, dass die Lebenformen nach langen 
Zeiträumen gleichzeitig über die ganze Erd-Oberfläche zu wech- 


479 


seln scheinen. Die Thatsache, dass die Fossil-Reste jeder 
Formation im Charakter einigermaassen das Mittel halten zwi- 
schen den darunter und den darüber liegenden Resten, er- 
klärt sich einfach aus ihrer mitteln Stelle in der Abstammungs- 
Kette. Die grosse Thatsache, dass alle erloschenen Organismen 
in ein gleiches grosses System mit den lebenden Wesen zu- 
sammenfallen und mit ihnen entweder in gleiche oder in ver- 
mittelnde Gruppen gehören, ist eine Folge davon, dass die 
lebenden und die erloschenen Wesen die Nachkommen gemein- 
samer Stamm -Ältern sind. Da die von alten Stammvätern her- 
rührenden Gruppen gewöhnlich im Charakter auseinandergegangen, 
so werden der Stammvater und seine nächsten Nachkommen in 
ihren Charakteren oft das Mittel halten zwischen seinen späteren 
Nachkommen, und so ergibt sich warum, je älter ein Fossil ist, 
desto öfter es einigermassen in der Mitte steht zwischen verwandten 
lebenden Gruppen. Man hält in einem ungewissen Sinn des Worts 
neuere Formen im Allgemeinen für vollkommener als die alten 
und erloschenen; und sie stehen auch insoferne höher als diese, 
als sie in Folge fortwährender Verbesserung die älteren und 
noch weniger verbesserten Formen im Kampfe ums Daseyn be- 
siegt haben. Endlich wird das Gesetz langer Dauer unter sich ver- 
wandter Formen in diesem oder jenem Kontinente — wie die der 
Marsupialen in Neuholland, der Edentaten in Südamerika u. a. 
solche Fälle — erklärlich, da in einer begrenzten Gegend die 
neuen und erloschenen Formen durch Abstammung miteinander 
verwandt sind. | | 

Wenn man, was die geologische Verbreitung betrifft, zugibt, 
dass im Verlaufe langer Erd-Perioden je nach den klimatischen 
‚ nd geographischen Veränderungen und der Wirkung so vieler 
gelegenheitlicher und unbekannter Veranlassungen starke Wan- 
derungen von einem Welt-Theile zum andern stattgefunden haben, 
so erklären sich die Haupterscheinungen der Verbreitung meistens 
aus der Theorie der Abstammung mit fortdauernder Abänderung. 
Man kann einsehen, warum ein so auffallender Parallelismus in 
der räumlichen Vertheilung der organischen Wesen und ihrer 
geologischen Aufeinanderfolge in der Zeit besteht; denn in beiden 


480 


Fällen sind diese Wesen durch das Band gewöhnlicher Fortpflan- 
zung miteinander verkettet, und die Abänderungs-Mittel sind die 
nämlichen. Wir begreifen die volle Bedeutung der wunderbaren 
Erscheinung, welche jedem Reisenden aufgefallen seyn muss, dass 
im nämlichen Kontinente unter den verschiedenartigsten Lebens- 
Bedingungen, in Hitze und Kälte, im Gebirge und Tiefland, in 
Marsch- und Sand-Strecken die meisten der Bewohner aus jeder 
grossen Klasse offenbar verwandt sind; denn es sind gewöhnlich 
Nachkommen von den nämlichen Stammvätern und ersten Kolo- 
nisten. Nach diesem nämlichen Prinzip früherer Wanderungen 
meistens in Verbindung mit entsprechender Abänderung begreift 
sich mit Hilfe der Eis-Periode die Identität einiger wenigen 
Pflanzen und die nahe Verwandtschaft vieler andern auf den ent- 
ferntesten Gebirgen und in den verschiedensten Klimaten, und 
ebenso die nahe Verwandtschaft einiger Meeres-Bewohner in der 
nördlichen und in der südlichen gemässigten Zone, obwohl sie 
durch das ganze Tropen-Meer getrennt sind. Und wenn andern- 
theils zwei Gebiete die nämlichen natürlichen Bedingungen dar- 
bieten, aber ihre Bewohner weit von einander verschieden sind, 
so können wir uns darüber nicht wundern, falls dieselben wäh- 
rend langer Perioden vollständig von einander getrennt gewesen 
sind; denn wenn auch die Beziehung von einem Organismus zum 
andern die wichtigste aller Beziehungen ist und die zwei Gebiete 
‘ihre ersten Ansiedler in verschiedenen Perioden und Verhält- 
nissen von einem dritten Gebiete oder wechselseitig von einander 
erhalten haben können, so. wird der Verlauf der Abänderung 
in beiden Gebieten unvermeidlich ein verschiedener gewesen seyn. 

Nach der Annalıme stattgefundener Wanderungen mit nach- 
folgender Abänderung erklärt es sich, warum ozeanische Inseln 
nur von wenigen Arten bewohnt werden, von welchen jedoch viele 
eigenthümlich sind. Man vermag klar einzusehen, warum diejeni- 
gen Thiere, welche weite Strecken des Ozeans nicht zu überschrei- 
ten im Stande sind, wie Frösche und Land - Säugethiere, keine 
ozeanischen Eilande bewohnen, und wesshalb dagegen neue und 
eigenthümliche Fledermaus-Arten, welche über den Ozean hinweg- 
kommen können, auf oft weit vom Festlande entlegenen Inseln 


481 


vorkommen. Solche Erscheinungen, wie die Anwesenheit be- 
‚sondrer Fledermaus- Arten und der Mangel aller andern Säuge- 
thiere auf ozeanischen Inseln sind nach der Theorie selbststän- 
diger Schöpfungs-Akte gänzlich unerklärbar. 

Das Vorkommen nahe-verwandter oder stellvertretender Arten 
in zweierlei Gebieten setzt nach der Theorie gemeinsamer Ab- 
stammung mit allmählicher Abänderung voraus, dass die gleichen 
Ältern vordem beide Gebiete bewohnt haben; und wir finden fast 
ohne Ausnahme, dass, wo immer viele einander nahe-verwandte 
Arten zwei Gebiete bewohnen, auch einige identische dazwischen 
sind. Und wo immer viele verwandte aber verschiedene Arten 
erscheinen, da kommen auch viele zweifelhafte Formen und Ab- 
arten der nämlichen Spezies vor. Es ist eine sehr allgemeine 
Regel, dass die Bewohner eines jeden Gebietes mit den Bewoh- 
nern desjenigen nächsten Gebietes verwandt sind, aus welchem 
sich die Einwanderung der ersten mit Wahrscheinlichkeit ableiten 
lässt. Wir sehen Diess in fast allen Pflanzen und Thieren der 
Galapagos-Eilande, auf Juan Fernandez und den andern Ameri- 
kanischen Inseln, welche in auffallendster Weise mit denen des 
benachbarten Amerikanischen Festlandes verwandt sind; und eben 
so verhalten sich die des Capverdischen Archipels und andrer 
Afrikanischen Inseln zum Afrikanischen Festland. Man muss 'zu- 
geben, dass diese Thatsachen aus der gewöhnlichen Schöpfungs- 
Theorie nicht erklärbar sind. 

Wie wir gesehen, ist die Erscheinung, dass alle früheren 
und jetzigen organischen Wesen nur ein grosses vielfach unter- 
abgetheiltes Natürliches System bilden, worin die erloschenen 
Gruppen oft zwischen die noch lebenden fallen, aus der Theorie 
der Natürlichen- Züchtung mit ihrer Ergänzung durch. Erlöschen 
und Divergenz des Charakters erklärbar. Aus denselben Prin- 
zipien ergibt sich auch, warum die wechselseitige Verwandtschaft 
von Arten und Sippen in jeder Klasse so verwickelt und mittel- 
bar ist. Es ergibt sich, warum gewisse Charaktere viel’ besser 
‚als andre zur Klassifikation brauchbar sind; warum Anpassungs- 
Charaktere, obschon von oberster Bedeutung für das Wesen selbst, 
kaum von einiger Wichtigkeit bei der Klassifikation sind; warum 

31 


482 in 


von Stümmel-Organen abgeleitete Charaktere, obwohl diese Organe 
dem Organismus zu nichts dienen, oft einen hohen Werth für 
die Klassifikation besitzen; und warum embryonische Charaktere 
den höchsten Werth von allen haben. Die wesentlichen Verwandt- 
schaften aller Organismen rühren von gemeinschaftlicher Ererbung 
oder Abstammung her. Das Natürliche System ist eine genea- 
logische Anordnung, worin uns die Abstammungs -Linien durch 
die beständigsten Charaktere verrathen werden, wie gering auch 
deren Wichtigkeit für das Leben seyn mag. 

Die Erscheinungen, dass das ‚Knochen-Gerüste das nämliche 
in der Hand des Menschen, wie im Flügel der Fledermaus, im 
Ruder der Seeschildkröte und im Bein des Pferdes ist, — dass 
die gleiche Anzahl von Wirbeln den Hals aller Säugethiere, den 
der Giraffe wie den des Elephanten bildet, und noch eine Menge 
ähnlicher, erklären sich sogleich aus der Theorie der Abstammung 
mit geringer und langsam aufeinander-folgender Abänderung. Die 
Ähnlichkeit des Models im Flügel und im Hinterfusse der Fleder- 
maus, obwohl sie zu ganz verschiedenen Diensten bestimmt sind, 
in den Kinnladen und den Beinen des Krabben, in den Kelch- und 
Kronen-Blättern, in den Staubgefässen und Staubwegen der Blüthen 
wird gleicherweise aus der Annahme allmählich divergirender Ab- 
änderung von Theilen oder Organen erklärbar, welche in dem 
gemeinsamen Stammvater jeder Klasse unter sich ähnlich gewesen 
sind. Nach dem Prinzip, dass allmähliche Abänderungen nicht 
immer schon in frühem Alter erfolgen und sich demnach auf 
ein gleiches und nicht früheres Alter vererben, ergibt sich eine 
klare Ansicht, wesshalb die Embryonen von Säugthieren, Vögeln, 
Reptilien und Fischen einander so ähnlich sind und in späterem 
Alter so unähnlich werden. Man wird sich nicht mehr darüber 
wundern, dass der Embryo eines Luft-athmenden Säugthieres oder 
- Vogels Kiemen- Spalten und Schleifen - artig verlaufende Arterien 
wie der Fisch besitze, welcher die im Wasser aufgelöste Luft 
mit Hilfe wohl-entwickelter Kiemen zu athmen bestimmt ist, 

'Nichtgebrauch, zuweilen mit Natürlicher Züchtung verbunden, 
führt oft zur Verkümmerung eines Organes, wenn es bei ver- 
änderter Lebens-Weise oder unter wechselnden Lebens-Bedingun- 


483 


gen nutzlos geworden ist, und man bekommt auf diese Weise 
eine richtige Vorstellung von rudimentären Organen. Aber Nicht- 
gebrauch und Natürliche Züchtung werden auf jedes Geschöpf 
gewöhnlich erst wirken, wenn es zur Reife gelangt ist und selbst- 
ständigen Antheil am Kampfe ums Daseyn nimmt. Sie werden 
nur wenig über ein Organ in den ersten Lebens-Altern vermögen, 
weshalb kein Organ in solchen frühen Altern sehr verringert oder 
verkümmert werden kann. Das Kalb z. B. hat Schneidezähne, 
welche aber im Oberkiefer das Zahnfleisch nie durchbrechen, 
von einem frühen Stammvater mit wohl-entwickelten Zähnen ge- 
erbt, und es ist anzunehmen, dass diese Zähne im reifen Thiere 
während vieler aufeinander-folgender Generationen reduzirt wor- 
den sind, entweder weil sie nicht gebraucht oder weil Zunge und 
Gaumen zum Abweiden des Futters ohne ihre Hilfe durch Natür- 
liche Züchtung besser hergerichtet worden sind; wesshalb dann im 
Kalb diese Zähne unentwickelt geblieben und nach dem Prinzip der 
Erblichkeit in gleichem Alter von früher Zeit an bis auf den 
heutigen Tag so vererbt worden sind. Wie ganz unerklärbar 
sind nach der Annahme, dass jedes organische Wesen und jedes 
besondre Organ für seinen Zweck besonders erschaffen worden 
seye, solche Erscheinungen, die, wie diese nie zum Durchbruch 
gelangenden Schneidezähne des Kalbs oder die verschrumpften 
Flügel unter den verwachsenen Flügeldecken mancher Käfer, so 
auffallend das Gepräge der Nutzlosigkeit an sich tragen! Man 
könnte sagen, die Natur habe Sorge getragen, durch rudimentäre 
Organe und homologe Gebilde uns ihren Abänderungs-Plan zu 
verrathen, welchen wir ausserdem nicht verstehen würden. 


Ich ‚habe jetzt die hauptsächlichsten Erscheinungen und Be- 
trachtungen wiederholt, welche mich zur innigsten Überzeugung ge- 
führt, dass die Arten während langer Fortpflanzungs-Perioden durch 


' Erhaltung oder Natürliche Züchtung mittelst zahlreich aufeinander- 


folgender 'kleiner aber nützlicher Abweichungen von ihrem anfäng- 

lichen Typus verändert worden sind. Ich kann nicht glauben, dass 

eine falsche Theorie die mancherlei grossen Gruppen oben aufgezählter 
31 * 


484 


Erscheinungen erklären würde, wie meine Theorie der Natür- 
lichen Züchtung es.doch zu thun scheint. Es ist keine triftige 
Einrede, dass die Wissenschaft bis jetzt noch kein Licht über 
den: Ursprung des Lebens verbreite. Wer vermöchte zu erklären, 
was das Wesen der Attraktion oder Gravitation seye? Obwohl 
Eripnız den Newron angeklagt, dass er »verborgene Qualitäten und 
Wunder in die Philosophie« eingeführt, so wird doch dieses un- 
bekannte Element der Attraktion jetzt allgenıein als eine voll- 
kommen begründete vera causa angenommen. . 

Ich kann nicht glauben, dass die in diesem Bande aulge- 
stellten Ansichten gegen irgend wessen religiöse Gefühle ver- 
stossen sollten. ‘Es möge die Erinnerung genügen, dass, die 
grösste Entdeckung, welche der Mensch jemals gemacht, nämlich 
das Gesetz der Gravitation. von Leıexız angegriffen worden ist, weil 
es die natürliche Religion untergrabe und die offenbarte verläugne. 

Ein berühmter Schriftsteller und Geistlicher hat mir geschrie- 
ben, »er habe allmählich einsehen gelernt, dass es 
eine eben so erhabene Vorstellung von der Gottheit 
seye, zu glauben, dass sie nur einige wenige der 
Selbstentwickelung in andre und nothwendige For- 
men fähige Urtypen geschaffen, als dass sie immer 
wieder neue Schöpfungs-Akte nöthig gehabt habe, um 
die Lücken auszufüllen, welche durch die Wirkung 
ihrer eigenen Gesetze entstanden seyen.« 

‚Aber warum, wird man fragen, haben denn fast alle aus- 
gezeichneten lebenden Naturforscher und Geologen diese Ansicht 
von der Veränderlichkeit der Spezies verworfen? Es kann ja doch 
nicht behauptet werden, dass organische Wesen im Naturzustande 
keiner Abänderung unterliegen; es kann nicht bewiesen werden, 
dass das Maass der Abänderung im Verlaufe ganzer Erd-Perioden 
eine beschränkte Grösse seye; ein bestimmter Unterschied zwi- 
schen Arten und ausgeprägten Abarten ist noch nicht angegeben 
worden. und ‘kann nicht angegeben werden. Es lässt sich nicht 
behaupten, dass Arten bei der Kreutzung ohne Ausnahme un- 
fruchtbar seyen, noch dass Unfruchtbarkeit eine besondre Gabe 
und ein Merkmal der ‚Schöpfung seye. Die Annahme, dass Arten 


485 


unveränderliche Erzeugnisse seyen, war fast unvermeidlich so 
lange, als man der Geschichte der Erde nur eine kurze Dauer 
zuschrieb; und nun, da wir einigen Begriff von der Länge der 
Zeit erlangt haben, sind wir zu verständig, um ohne Beweis 
anzunehmen, der geologische Schöpfungs-Bericht seye so voll- 
kommen, dass er uns einen klaren Nachweis über die Abänderung 
der Arten liefern müsste, wenn sie solche Abänderungen erfah- 
ren hätten. 

Aber die Hauptursache, wesshalb wir von Natur nicht geneigt 
sind zuzugestehen, dass eine Art eine andere verschiedene Art 
erzeugt haben könne, liegt darin, dass wir stets behutsam in der 
Zulassung einer grossen Veränderung sind, deren Mittelstufen 
wir nicht kennen. Die Schwierigkeit ist dieselbe, welche so 
viele Geologen gefühlt, als Lyrır. zuerst behauptete, dass binnen- 
ländische Fels - Klippen gebildet und grosse Thäler ausgehöhlt 
worden seyen durch die langsame Thätigkeit der Küsten-Wogen, 
Der Begriff kann die volle Bedeutung des Ausdruckes Hundert Mil- 
lionen Jahre unmöglich fassen; er kann nicht die ganze Grösse 
der Wirkung zusammenrechnen und begreifen, welche durch 
Häufung einer Menge kleiner Abänderungen während einer fast 
unendlichen Anzahl von Generationen entsteht. 

Obwohl ich von der Wahrheit der in diesem Bande auszugs- 
weise mitgetheilten Ansichten vollkommen gurchdrungen bin, so 
hege ich doch keinesweges die Erwartung erfahrene Naturforscher 
davon zu überzeugen, deren Geist von einer Menge von That- 
sachen erfüllt ist, welche. sie seit einer langen Reihe von Jah- 
reu gewöhnt sind aus den meinigen ganz entgegengesetzien 
Gesichtspunkten zu betrachten. Es ist so leicht unsre Unwissen- 
heit unter Ausdrücken, wie »Schöpfungs-Plan«, »Einbeil des 
Zwecks« u. s. w. zu verbergen und zu glauben, dass wir eine 
Erklärung geben, wenn wir bloss eine Thatsache wiederholen. Wer 
von Natur geneigt ist, unerklärten Schwierigkeiten mehr Werth 
als der Erklärung einer Summe von Thatsachen beizulegen, der 
wird gewiss meine Theorie verwerfen. Auf einige wenige Na- 
turforscher von empfänglicherem Geiste und solche, die schon an 
der: Unveränderlichkeit der Arten zu zweifeln begonnen haben, 


486 


mag Diess Buch einigen Eindruck machen; aber ich blicke mit 
Vertrauen auf die Zukunit, auf junge und strebende Naturfor- 
scher, welche "beide Seiten der Frage mit Unpartheilichkeit zu 
beurtheilen fähig seyn werden. Wer immer sich zur Ansicht 
neigt, dass Arten veränderlich sind, :wird durch gewissenhaftes 
Geständniss seiner Überzeugung der Wissenschaft einen guten 
Dienst leisten; denn nur so kann dieser Berg von Vorurtheilen, 
unter welchen dieser Gegenstand vergraben ist, allmählich be- 
seitigt werden. 

Einige hervorragende Naturforscher haben noch neuerlich 
ihre Ansicht veröffentlicht, dass eine Menge angeblicher Arten 
in jeder Sippe keine wirklichen Arten vorstellen, wogegen andre 
Arten wirkliche, d. h. selbstständig erschaffene Spezies seyen. 
Diess scheint mir eine sonderbare Annahme: zu seyn. Sie geben 
zu, dass eine Menge von Formen, die sie selbst bis vor Kurzem 
für spezielle Schöpfungen gehalten und welche noch jetzt von 
der Mehrzahl der Naturforscher als solche angesehen werden, 
welche mithin das ganze äussre charakteristische Gepräge von 
Arten besitzen, — sie geben zu, dass diese durch Abänderung 
hervorgebracht worden seyen, weigern sich aber dieselbe Ansicht 
auf andre davon nur sehr unbedeutend verschiedene Formen aus- 
zudehnen. Demungeachtet beanspruchen sie nicht eine Defini- 
tion oder auch nur gine Vermuthung darüber geben zu können, 
welches die erschaffenen und welches die durch sekundäre Ge- 
setze entstandenen Lebenformen: seyen. Sie geben Abänderung 
als eine vera causa in einem Falle zu und verwerfen solche 
willkürlich im andern, ohne den Grund ‘der Verschiedenheit in 
beiden Fällen nachzuweisen. Der Tag wird kommen, wo man 
Diess als einen ergötzlichen Beleg von der Blindheit vorgefass- 
ter. Meinung anführen wird. Diese Schriftsteller scheinen mir 
nicht mehr vor der Annahme eines wunderbaren Schöpfungs- 
Aktes als vor der einer gewöhnlichen Geburt zurückzuschrecken. 
Aber glauben sie denn wirklich, dass in unzähligen Momenten 
unsrer. Erd-Geschichte jedesmal gewisse Urstoff-Atome komman- 
dirt wörden seyen zu lebendigen Geweben in einander zu fahren ? 
Sind sie der Meinung, dass durch jeden unterstellten Schöpfungs- 


487 


Akt. bloss ein einziger, oder dass viele Individuen entstanden sind? 
Sind all diese zahllosen Sorten von Pflanzen und Thieren in Form 
von Saamen und Eiern, oder sind sie als ausgewachsene Individuen 
erschaffen worden? und die Säugthiere insbesondere, sind sie ge- 
schaffen worden mit dem falschen Merkmale der Ernährung vom 
Mutter-Leibe auf? Obwohl diese Naturforscher sehr angemessen 
eine vollständige Aufklärung über jede Schwierigkeit von denjenigen 
verlangen, welche an die Veränderlichkeit der Arten glauben, so 
ignoriren sie ihrerseits die ganze Frage vom ersten Auftreten der 
Arten und beobachten darüber ein ehrerbietiges Stillschweigen“. 
Man kann noch die Frage aufwerfen, wie weit ich die 
Lehre von der Abänderung der Spezies ausdehne ? Diese Frage 
ist schwer zu beantworten, weil, je verschiedener die Formen sind, 
welche wir betrachten, desto mehr die Argumente an Stärke verlie- 
ren. Doch sind einige schwer-wiegende Beweisgründe sehr weit- 
reichend. Alle Glieder einer ganzen Klasse können durch Verwandt- 
schafts-Beziehungen mit einander verkettet und alle nach dem näm- 
lichen Prinzip in unterabgetheilte Gruppen klassilizirt werden. Fos- 
sile Reste sind oft geeignet grosse Lücken zwischen den lebenden 
Ordnungen des Systemes auszufüllen. Verkümmerte Organe be- 
weisen oft, dass der. erste Stammvater dieselben Organe in voll- 
kommen entwickeltem Zustande besessen habe; daher ihr Vor- 
kommen nach ihrer jetzigen Beschaffenheit ein ungeheures Maass 
von Abänderung in dessen Nachkommen voraussetzt. Durch 
ganze Klassen hindurch sind mancherlei Gebilde nach einem 
gemeinsamen Model geformt, und im Embryo - Stande gleichen 
alle Arten einander genau. Daher ich keinen Zweifel hege, 
dass die Theorie der Abstammung mit allmählicher Abänderung 
alle Glieder einer nämlichen Klasse mit einander verbinde. Ich 
glaube, dass die Thiere von höchstens vier oder fünl** und die Pflan- 
zen von eben so vielen oder noch weniger Stamm-Arten herrühren. 
Die Analogie würde mich noch, einen Schritt weiter führen, 
RR Vergl. S. 512 im nächsten Kapitel. 
** Diese Zahl entspräche also den Unterreichen oder Kreisen des Thier- 
Reichs, welche der Verf. gewöhnlich auch unter dem Namen der „grossen 


Klassen“ versteht. Er sagt aber nirgends, auf welche Weise er sich das Thier- 
Reich an diese 4—5 Stammarten vertheilt denke, D. Übs, 


488 


nämlich zu glauben, dass alle Pflanzen und Thiere nur von 
einer einzigen Urform herrühren; doch könnte die Analogie 
eine trügerische Führerin seyn. Demungeachtet haben alle leben- 
den Wesen Vieles miteinander gemein in ihrer chemischen 
Zusammensetzung, ihrer zelligen Struktur, ihren Wachsthums- 
Gesetzen, ihrer Empfindlichkeit gegen schädliche Einflüsse. . Wir 
sehen Diess oft in sehr zutreffender Weise, wenn dasselbe Gift 
Pflanzen und Thiere in ähnlicher Art berührt, oder wenn das 
von der Gallwespe ausgesonderte Gift monströse Auswüchse an der 
wilden Rose wie an der Eiche verursacht. In allen organischen 
Wesen scheint die gelegentliche Vereinigung männlicher und 
weiblicher Elementar-Zellen zur Erzeugung eines neuen solchen 
Wesens nothwendig zu seyn. In allen ist, so viel bis jetzt be- 
kannt, das Keim-Bläschen dasselbe. Daher alle organischen Wesen 
desselben Ursprungs sind. Und selbst was ihre Trennung in zwei 
Haupt-Abtheilungen, in ein Pflanzen- und ein Thier-Reich betrifft, 
so gibt es gewisse niedrige Formen, welche in ihren Charakte- 
ren so sehr das Mittel zwischen beiden halten, dass sich die 
‚Naturforscher noch darüber streiten, zu welchem Reiche sie 
gehören. Nach dem Prinzipe der Natürlichen Züchtung mit Di- 
vergenz des Charakters erscheint es auch nicht unglaublich, 
dass sich einige solche Zwischenformen zwischen Pflanzen und 
Thieren entwickelt haben müssen. Daher ich annelrfme, dass 
wahrscheinlich alle organischen Wesen, die jemals 
auf dieser Erde gelebt, von irgend einer Urform ab- 
stammen, welcher das Leben zuerst vom Schöpfer ein- 
gehaucht worden ist. Doch beruhet dieser Schluss hauptsäch- 
lich auf Analogie, und es ist unwesentlich, ob man ihn anerkenne 
oder nicht. Ein andrer Fall ist es mit den Gliedern einer jeden 
grossen Klasse, wie der Wirbelthiere oder Kerbthiere; denn hier 
haben wir, wie schon bemerkt worden, in den Gesetzen der 
Hsmologie und Embryologie einige bestimmten Beweise: Halür, 
dass alle von einem einzigen: Urvater- abstammen. 

Wenn die von mir in diesem Bande und die von Hr. WAar- 


LAcE im Linnean Journal aufgestellten oder sonstige analoge 
Ansichten über die Entstehung der Arten zugelassen werden, so 


489 


lässt sich bereits dunkel voraussehen, dass der Naturgeschichte 
eine grosse Umwälzung bevorsteht. Die Systematiker werden 
ihre Arbeiten so wie bisher verfolgen können, aber nicht mehr 
unablässig durch den gespenstischen Zweifel beängstigt werden, 
ob diese oder jene Form eine wirkliche Art seye. Diess, fühle 
ich ‘sicher und sage es aus Erfahrung, wird eine Erleichterung 
von grossen Sorgen gewähren. Der endlose Streit, ob die fünfzig 
Britischen Brombeer-Sorten wirkliche Arten sind oder nicht, wird 
aufhören. Die Systematiker haben nur zu entscheiden (was 
keineswegs immer leicht ist), ob eine Form beständig oder ver- 
schieden genug von andern Formen ist, um eine Definition zu- 
zulassen und, wenn Diess der Fall, ob die Verschiedenheiten 
wichtig genug sind, um einen spezifischen Namen zu verdienen. 
Dieser letzte Punkt aber wird eine weit wesentlichere Betrach- 
tung als bisher erheischen, wo auch die geringlügigsten Unter- 
schiede zwischen zwei Formen, wenn sie nicht durch Zwischen- 
stufen miteinander verschmolzen waren, bei den meisten Natur- 
forschern für genügend galten, um beide zum Range zweier 
Arten zu erheben. Hiernach sind wir anzuerkennen genöthigt, 
dass der einzige Unterschied zwischen Arten und ausgebildeten 
Abarten nur darin besteht, dass diese letzten durch erkannte 
oder vermuthete Zwischenstufen noch heutzutage miteinander 
verbunden sind und die ersten es früher gewesen sind. Ohne 
daher die Berücksichtigung noch jetzt vorhandener Zwischen- 
glieder zwischen zwei Formen verwerfen zu wollen, werden wir 
veranlasst seyn, den wirklichen Betrag der Verschiedenheit zwi- 
schen denselben sorgfältiger abzuwägen und höher zu werihen. 
Es ist ganz möglich, dass jetzt allgemein als blosse Varietäten 
anerkannte Formen künftighin spezifischer Benennungen werth 
geachtet werden, wie z. B die beiden Sorten Schlüsselblumen, 
in welchem Falle dann die wissenschaltliche und die gemeine 
Sprache mit einander in Übereinstimmung kämen *. Kurz wir 


* In England nämlich, wo die gewöhnliche Form der Schlüsselblume 
(Primula veris) als „Primrose“ oder Frühröschen, die grosse blassgelbe (Pr. 
elatior) aber als „Cowslip“ oder Kuhtritt bezeichnet zu werden pflegt. In 
Deutschland hat der Volks-Mund meines Wissens noch keinen stetig ver- 
schiedenen Namen dafür. | D. Übs. 


490 


werden die Arten auf dieselbe Weise zu behandeln haben, wie 
die Naturforscher jetzt die Sippen behandeln, welche annehmen, 
dass die Sippen nichts weiter als willkürliche der Bequemlich- 
keit halber eingeführte Gruppirungen seyen. Das mag nun keine 
eben sehr heitre Aussicht seyn; aber wir werden hiedurch end- 
lich das vergebliche Suchen nach dem unbekannten und unent- 
deckbaren Wesen der »Species« los werden. 

Die andern und allgemeineren Zweige der Naturgeschichte 
werden sehr an Interesse gewinnen. Die von Naturforschern 
gebrauchten Ausdrücke Verwandtschaft, Beziehung, gemeinsamer 
_ Typus, älterliches Verhältniss, Morphologie, Anpassungs-Charak- 
tere, verkümmerte und fehlgeschlagene Organe u. s. w. werden 
statt der bisherigen bildlichen eine sachliche Bedeutung gewin- 
nen. Wenn wir ein organisches Wesen -nicht länger, so wie 
die Wilden ein Linienschiff, als elwas ganz ausser unsren Begril- 
fen Liegendes betrachten, — wenn wir jedem organischen Natur- 
Erzeugnisse eine Geschichte zugestehen; — wenn wir jedes zu- 
sammengesetzte Gebilde oder jeden Instinkt als die Summe vieler 
einzelner dem Besitzer nützlicher Erfindungen betrachten, wie wir 
etwa ein grosses mechanisches Kunstwerk als das Produkt der ver- 
einten Arbeit, Erfahrung, Beurtheilung und selbst Fehler zahlreicher 
Techniker ansehen, und wenn wir jedes organische’Wesen auf diese 
Weise betrachten: wie viel ansprechender (ich rede aus Erfah- 
rung) wird dann das Studium der Naturgeschichte werden! 

Ein grosses und fast noch unbetretenes Feld wird sich Ööff- 
nen für Untersuchungen über die Wechselbeziehungen der Ent- 
wickelung, über die Folgen von Gebrauch und Nichtgebrauch, 
über den unmittelbaren Einfluss äussrer Lebens-Bedingungen 
u. s. w. Das Studium der Kultur-Erzeugnisse wird unermess- 
lich an Werth, steigen. Eine vom Menschen neu erzogene Varie- 
tät wird ein für das Studium wichtigerer und anziehenderer 
Gegenstand seyn, als die Vermehrung der bereits unzähligen 


Arten unsrer Systeme mit einer neuen, Unsre Klassifikationen 
werden, so weit es möglich, zu Genealogien werden und dann 
erst den wirklichen sogen. Schöpfungs-Plan darlegen. Die Regeln 
der Klassifikation werden ohne Zweifel einfacher seyn, wenn. 


491 


wir ein bestimmtes: Ziel im Auge haben. Wir besitzen keine 
Stamm-Bäume und Wappen-Bücher und werden daher die viel- 
fältig auseinander-laufenden Abstammungs-I.inien in unsren Natur- 
_ Genealogien mit Hilfe von mehr oder. weniger lang vererbten Cha- 
rakteren zu entdecken und zu verfolgen haben. Rudimentäre Or- 
gane werden in Bezug auf längst verloren gegangene Gebilde un- 
trügliches Zeugniss geben. Arten und Arten-Gruppen, welche man 
abirrende genannt hat und mit einiger Einbildungs-Kraft le- 
bende Fossile nennen könnte, werden uns helfen ein vollständi- 
geres Bild von den alten Lebenformen zu entwerfen, und die Em- 
bryologie wird uns die mehr und weniger verdunkelte Bildung der 
Prototype einer jeden der Hauptklassen des Systemes enthüllen. 

Wenn wir erst für gewiss annehmen, dass alle Individuen 
einer Art und alle nahe verwandten Arten der meisten Sippen in 
einer ‚nicht sehr fernen Vorzeit von einem gemeinsamen Va- 
ter entsprungen und von ihrer Geburts-Stätte aus gewandert, 
und wenn wir erst besser die mancherlei Mittel kennen wer- 
den, welche ihnen bei ihren Wanderungen zu gut gekommen 
sind, dann wird das Licht, welches die Geologie über die frühe- 
ren Veränderungen des Klima’s und der Formen der Erd-Ober- 
fläche schon verbreitet hat und noch ferner verbreiten wird, uns 
gewiss in den Stand setzen, ein vollkommenes Bild von. den 
früheren Wanderungen der Erd-Bewohner zu entwerfen. Sogar 
jetzt schon kann die Vergleichung der Meeres-Bewohner an den 
zwei entgegengesetzten Küsten eines Kontinentes und die Be- 
schaffenheit der manchfaltigen Bewohner dieses Kontinentes in 
Bezug auf ihre Einwanderungs-Mittel dazu dienen, die alte Geo- 
graphie einigermaassen zu beleuchten. 

Die erhabene Wissenschaft der Geologie verliert von ihrem 
Glanze; dureh die Unvollständigkeit der Aufzeichnungen. Man kann 
die Erd-Rinde mit den in ihr enthaltenen organischen Resten 
nicht als ein wohl gefülltes Museum, sondern nur als eine zufäl- 
lige und nur. dann und wann einmal bedachte arme Sammlung 
ansehen. Die Ablagerung jeder grossen Fossilien-reichen Forma- 
tion ergibt sich als die Folge eines ungewöhnlichen Zusammen- 
treffens von Umständen, und die Pausen zwischen den aufeinan- 


492 


der-folgenden Ablagerungs-Zeiten entsprechen Perioden von un- 
ermesslicher Dauer. Doch werden wir im Stande seyn, die 
Länge dieser Perioden einigermaassen durch die Vergleichung der 
ihnen vorhergehenden und nachfolgenden organischen Formen zu 
bemessen. Wir dürfen nach den Successions-Gesetzen der orga- 
nischen Wesen nur mit grosser Vorsicht versuchen, zwei in ver- 
schiedenen Gegenden abgelagerte Bildungen, welche einige iden- 
tische Arten enthalten, als genau gleichzeitig zu betrachten. Da 
die Arten in Folge langsam wirkender und noch fortdauernder 
Ursachen und nicht durch wundervolle Schöpfungs-Akte- und ge- 
waltige Katastrophen entstehen und vergehen, und da die wich- 
tigste aller Ursachen, welche auf organischen Wechsel hinwirken, 
nämlich die Wechselbeziehung zwischen den Organismen selbst, 
in deren Folge eine Verbesserung des einen die Verbesserung oder 
die Vertilgung des andern bedingt, fast unabhängig von der Ver- 
änderung und zumal plötzlichen Veränderung der physikalischen 
Bedingungen ist: so folgt, dass der Grad der von einer For- 
mation zur andern statigefundenen Abänderung der fossilen We- 
sen wahrscheinlich als ein guter Maassstab für die Länge der 
inzwischen abgelaufenen Zeit dienen kann. Eine Anzahl in Masse 
zusammen-gehaltener Arten jedoch dürfte lange Zeit unverändert 
(ortleben können, während in der gleichen Zeit einzelne Spezies 
derselben, die in neue Gegenden auswandern und in Kampf 
mit neuen Mitbewerbern gerathen, Abänderung erfahren wür- 
den; daher wir die Genauigkeit dieses von den organischen 
Veränderungen entlehnten Zeit-Maasses nicht überschätzen dürfen. 
Als in frühen Zeiten der Erd-Geschichte die Lebenformen wahr- 
scheinlich noch einfacher und minder zahlreich waren, mag de- 
ren Wechsel auch langsamer vor sich gegangen seyn; und als 
es zur Zeit der ersten Morgenröthe des organischen Lebens 
wahrscheinlich nur sehr wenige Organismen von dieser einfachsten 
Bildung gab, mag; deren Wechsel im äussersten Grade langsam 
gewesen seyn. Die ganze Geschichte dieser organischen Welt, 
so weit sie bekannt ist, wird sich hiernach als von einer uns 
ganz unerfasslichen Länge herausstellen, aber von derjenigen Zeit, 
welche seit der. Erschaffung des ersten Geschöpfes, des Stamm- 


493° 


Vaters all’ der unzähligen schon erloschenen und noch lebenden 
Wesen verflossen ist, nur ein kleines Bruchstück ausmachen. 

In einer fernen Zukunft sehe ich Felder für noch weit wich- 
tigere Untersuchungen sich öffnen. Die Physiologie wird sich 
auf eine neue Grundlage stützen, sie wird anerkennen müssen, 
dass jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufen- 
weise erworben werden kann. 

Schriftsteller ersten Rangs scheinen vollkommen davon über- 
zeugt : zu seyn, dass jede Art unabhängig erschaffen worden 
seye. Nach meiner Meinung stimmt es besser mit den der Ma- 
terie vom Schöpfer. eingeprägten Gesetzen überein, dass Ent- 
stehen und Vergehen früherer und jetziger Bewohner der Erde, 
so wie der Tod des Einzelwesens, durch sekundäre Ursachen 
veranlasst werde. Wenn ich alle Wesen. nicht als besondre 
Schöpfungen , sondern als lineare Nachkommen, einiger weniger 
schon lange vor der Ablagerung der silurischen Schichten vorhan- 
den gewesener Vorfahren betrachte, so scheinen sie mir. dadurch 
veredelt zu werden. Und aus der Vergangenheit schliessend 
dürfen wir getrost annehmen, dass nicht eine der jetzt lebenden 
Arten ihr unverändertes Abbild auf- eine ferne Zukunft übertra- 
gen wird. Überhaupt werden von den jetzt lebenden Arten 
nur sehr wenige durch Nachkommenschaft irgend welcher Art 
sich bis in eine sehr ferne Zukunft fortpflanzen ; denn die Art und 
Weise, wie die organischen Wesen im Systeme gruppirt sind, 
‘zeigt, dass die Mehrzahl der Arten einer jeden Sippe und alle Arten 
vieler Sippen früherer Zeiten keine Nachkommenschalt hinterlas- 
sen haben, sondern gänzlich erloschen sind. Man kann insoferne 
einen prophetischen Blick in die Zukunft werfen und voraussagen, 
dass es unsre gemeinstien und weit-verbreitetsten Arten sind, 
welche die andern überdauern und neue herrschende Arten 
liefern werden. Da alle jetzigen Organismen lineare Abkom- 
men derjenigen sind, welche lange vor der silurischen Pe- 
riode gelebt, so werden wir gewiss fühlen, dass die regelmäs- 
sige Aufeinanderfolge der Generationen niemals unterbrochen 
worden ist und eine allgemeine Fluth niemals die ganze Welt 
zerstört hat. Daher können wir mit einigem Vertrauen aul eine 


494° 


Zukunft von gleichfalls unberechenbarer Länge blicken. Und da 
die Natürliche Züchtung nur durch und für das Gute eines je- 
den Wesens wirkt, so wird jede fernere körperliche und geistige 
Ausstattung desselben seine Vervollkommnung fördern. 

Es ist anziehend beim Anblick eines Stückes Erde be- 
deckt mit blühenden Pflanzen aller Art, mit singenden Vögeln in 
den Büschen, mit schaukelnden Faltern in der Luft, mit krie- 
chenden Würmern im feuchten Boden sich zu denken, dass 
alle diese Lebenformen so vollkommen in ihrer Art, so abweichend 
unter sich und in allen Richtungen so abhängig von einander, 
durch Gesetze hervorgebracht sind, welche noch fort und fort 
um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, 
heissen: Wachsthum und Fortpflanzung; Vererbung mit der Fort- 
pflanzung, Abänderung in Folge der mittelbaren und unmittel- 
baren Wirkungen äusserer Lebens-Bedingungen und des Gebrauchs 
oder Nichtgebrauchs, rasche Vermehrung bald zum Kampfe um’s 
Daseyn führend, verbunden mit Divergenz des Charakters und 
Erlöschen minder vervollkommneter Formen. So geht aus dem 
Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung 
des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die 
Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Thiere. Es ist 
wahrlich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim 
alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer 
einzigen Form eingehaucht habe, und ‚dass, während dieser Pla- 
net den strengen Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise 
schwingt, aus so einfachem Anfang sich eine endlose Reihe im- 
mer schönerer und vollkommenerer Wesen entwickelt hat und noch 
fort entwickelt. | 


% 


495 ‚ 


Fünfzehntes Kapitel. 
Schlusswort des Überseizers. 


Eindruck und Wesen des Buches. — Stellung des Übersetzers zu demselben. 
_—_ Zusammenfassung der Theorie des Verfassers. — Einreden des Über- 
setzers. — Aussicht auf künftigen Erfolg. 


Und nun, lieber Leser, der Du mit Aufmerksamkeit dem 
Gedanken-Gange dieses wunderbaren Buches bis zu Ende gefolgt 
bist, dessen Übersetzung wir Dir hier vorlegen, wie sieht es in 
Deinem Kopfe aus? Du besinnst Dich, was es noch . unberührt 
gelassen von Deinen bisherigen Ansichten über die wichtigsten 
Natur-Erscheinungen, was noch fest stehe von Deinen bisher 
festgestandenen Überzeugungen? Es sind nicht etwa teleskopische 
Entdeckungen, nicht neue Elementar-Stoffe, nicht die anatomischen 
Enthüllungen eines '10,000fältig vergrössernden Mikroskops, die 
der Verfasser gegen unsre bisherigen Vorstellungen auftreten 
lässt; es sind neue Gesichtspunkte, unter welchen ein gediege- 
ner Naturforscher in geistreicher und scharfsinniger Weise alte 
Thatsachen betrachtet, die er seit zwanzig Jahren gesammelt und 
gesichtet, über die er, seit zwanzig Jahren unablässig gesonnen 
und gebrütet hat. Tief in seinen Gegenstand versenkt, von der 
Wahrheit der gewonnenen Resultate unerschütterlich überzeugt, 
trägt er sie mit so bewältigender Klarheit vor, beleuchtet er sie 
mit so viel Geist, vertheidigt er sie mit so scharfer Logik, zieht 
er so wichtige Schlüsse daraus, dass wir, was auch unsre bis- 
herige Überzeugung gewesen seyn mag, uns eben so wenig 
ihrem Eindrucke entziehen, als unsre Anerkennung der Aufrich- 
tigkeit versagen können, womit er selbst alle Einreden, die man 
ihm entgegen-halten kann, herbeisucht und nach ihrem Gewichte 
anerkennt. Er gesteht zu, dass sich gegen fast alle seine 
Gründe Gegengründe anführen lassen, und behält sich "die 
ausführlichere Erörterung der Einzelnheiten in einem Umfang- 
reicheren Werke vor, da es sich hier nur um eine Gesammt-Dar- 
stellung seiner Theorie handelte. 

Auf diese Weise ausgerüstet kann ein Werk nicht verfeh- 
len die grösste Aufinerksamkeit zu erregen, das sich zur Aul- 


496 


gabe gesetzt, die dunkelsten Tiefen der Natur zu beleuchten, das 
bisher unlösbar geschienene Problem, das grösste Räthsel für die Na- 
turforschung zu lösen und einen Gedanken, ein Grund-Gesetz in 
Werden und Seyn der ganzen Organismen-Welt nachzuweisen, das 
dieselbe in Zeit und Raum eben so beherrscht, wie die Schwerkraft 
in den Himmelskörpern und die Wahlverwandtschaft in aller Ma- 
terie waltet, und auf welches alle andern Gesetze zurückführbar 
sind, die man bisher für sie aufgestellt hat. Es ist das Entwicke- 
lungs-Gesetz durch Natürliche Züchtung, das in der ganzen orga- 
nischen Natur eben so wie im Systeme und im Individuum durch 
Zeit und Raum herrscht. | 
Die bisherigen Versuche, jenes Problem ganz oder theil- 
weise zu lösen, waren Einfälle ohne alle Begründung und nicht 
fähig eine Prüfung nach dem heutigen Stand der Wissenschaft 
auszuhalten, ja nur zu veranlassen *. Gleichwohl hat jeder Natur- 
‚forscher gefühlt, dass die Annahme einer jedesmaligen persön- 
lichen Thätigkeit des Schöpfers, um die unzähligen Pflanzen- und 
Thier-Arten in’s Daseyn zu rufen und ihren Existenz-Bedingungen 
anzupassen, im Widerspruch ist mit allen Erscheinungen in der 
unorganischen Natur, welche durch einige wenige unabänderliche 
Gesetze geregelt werden**, durch Kräfte, die der Materie selbst 
eingeprägt sind. Da wir es auf. Hrn. Darwıns Wunsch über- 
nommen haben, sein Werk in's Deutsche zu übertragen, so 
glauben wir dem Leser einige Rechenschaft von unsrer eige- 
nen bisherigen Ansicht über mehre der durch. den Vri. erör- 
terten Fragen im Einzelnen und über, seine Theorie im ‚Ganzen so 
wie von dem Einflusse schuldig zu seyn, welchen dieselbe auf 
unsre eigene Vorstellungs-Weise hinterlassen hat. Wir leisten diese 
Rechenschaft um so lieber, als, was wir auch immer gegen diese 
neue Theorie einzuwenden haben mögen, Diess unsre hohe Achtung 
und Bewunderung für ihren Begründer, unsere Dankbarkeit für seine 
zahlreichen Belehrungen und unsre zuversichtliche Hoffnung auf 
glänzende Erfolge seiner Bestrebungen nicht schmälern kann***, 


* Vgl. unsere Entwicklungs-Gesetze der organ. Welt S. 78. 


**= Wir glauben uns keiner Irdiskretion schuldig zu machen, wenn wir 


497 


Wir haben an Cuvıers Definition festhaltend die Art als 
Inbegriff aller Individuen von einerlei Abkunft und derjenigen, 
welche ihnen eben so ähnlich als sie unter sich sind, betrachtet *. 
Wir haben die Arten im Ganzen für beständig in ihren Charak- 
teren, doch der Abartung in Folge äusserer oder unbekannter 
Einflüsse für fähig gehalten **, die Abarten oder Varietäten aber 
für fähig unter angemessenen Verhältnissen wieder zu dem älter- 
lichen Typus zurückzukehren; doch werde Diess der bestehenden 
Erfahrung gemäss um so schwerer halten, je länger die Abart 
unter fortwährendem Einflusse derselben äusseren Bedingungen, 
denen sie ihre Entstehung verdankte, schon als solche fortgepflanzi 
worden seye***. Das Maass der möglichen Abänderung einer 
Art wurde als ein beschränktes vorausgesetzt und nach den vor- 
handenen Erfahrungen in der geschichtlichen Zeit taxirt, ohne 
jedoch das mögliche Maximum dieser Grenzen zu bestimmen. 
Successiv auftretende Arten-Formen nehmen wir daher als selbst- 
ständig anf. Eine Generatio aequivoca der Arten haben wir nach 
den bisher bestehenden Erfahrungen nicht anerkannt fr: und da- 
her in Ermangelung einer. andern Arten-bildenden Natur-Kraft 
(da Bastarde keine neuen Arten gründen) nöthig gefunden. uns 
einstweilen noch auf eine Schöpfung zu berufen frj, jedoch mit 
der ausdrücklichen Bemerkung, dass solche Annahme einer 
persönlichen Thätigkeit des Schöpfers mit dem übrigen Walten in 
der Natur im Widerspruch stehe*f. Wir haben die Leistungen 
dieser Schöpfungs-Kraft, welcher Art sie nun seyn möge*jf, näher 


der Übersetzung Einreden beifügen, da Hr. Dırwın unsre abweichende An- 
sicht kannte, als er den Wunsch ausdrückte eine Übersetzung durch uns selbst 
oder unter unsrer Aufsicht veranstaltet zu sehen, und da er selbst die all- 
seitige Diskussion seiner Theorie ausdrücklich wünscht. 
* Geschichte der Natur, 1843, II, 63: Entwickelungs-Gesetze der organ. 
Welt, 1858, S. 228. 
# Geschichte d. Nat. Il. 65 — 133. 
#=® Geschichte d. Nat. II, 150— 196. 
+ Entwickelungs-Gesetze S. 79, 232. 
++ Geschichte d. Nat. II, 29—60; Entwickelungs-Gesetze 79. 
+++ Entwickelungs-Ges. S. 235. 
*+ Entwickelungs-Ges. 77—80. 
*+4 A. a. 0. S. 80-82. 
32 


498 


charakterisirt und darauf hingewiesen, dass sie neben den un- 
vollkommenen auch immer höher vervollkommnete Organismen 
hervorgebracht habe, wovon die neu auftretenden Formen immer 
in festen verwandtschaftlichen Beziehungen zu den untergegange- 
nen und zu den jedesmaligen äusseren Lebens-Bedingungen ge- 
standen, was auf ein nahes Verhältniss der schaffenden Kraft zu 
der erhaltenden und zu diesen äusseren Verhältnissen hinweise. 

Darwiıns Theorie lässt sich nun in folgender Weise zusam- 
menfassen. Der Schöpfer hat einigen wenigen erschaffenen Pflan- 
zen- und Thier-Formen, vielleicht auch nur einer einzigen, Le- 
ben eingeblasen, in Folge dessen diese Organismen im Stande 
waren zu wachsen und sich fortzupflanzen, aber auch bei jeder 
Fortpflanzung in verschiedener Richtung um ein Minimum zu 
 variiren (»Fortpflanzung mit Abänderung«). Die Ursachen sol- 
chen Abändern’s sind zumal in Affektionen der Generations-Organe 
und nur geringentheils in unmittelbaren Einflüssen der äussern 
Lebens-Bedingungen zu suchen. Solche kleine Abweichungen 
vom älterlichen Typus können schädliche, gleichgültige und nütz- 
liche seyn. Waren sie es in noch so geringem Grade, SO hat- 
ten die Individuen mit den ersten am wenigsten und die mit den 
letzten am meisten Aussicht die andern zu überleben und sich fort- 
zupflanzen. Die überlebenden Individuen werden die ihnen nütz- 
lich gewordene Abweichung oft wieder auf ihre Nachkommen »ver- 
erbi« haben, und wenn diese nur nach 10 Generationen wieder 
einmal in gleicher Richtung und Stärke variirten, so war das Maass 
der Abänderung und somit ihre Aussicht die anderen Individuen zu 
überleben auf's Neue vermehrt.{iDie Natur begünstigt also vOrzugs- 
weise die$Fortpflanzung der mit jener nützlichen Abweichung ver- 
sehenen Individuen auf Kosten der andern und häuft dieselbe bei 
späteren Nachkommen zu immer höherem Beirage an, etwa wie ein 
Viehzüchter bei Veredlung seiner Rassen verfährt (»Natürliche 
' Züchtung«). um deren ihm selbst willkommene Eigenschaften zu 
steigern. So kann nach tausend, zehntausend oder hunderttausend 
Generationen in einzelnen Nachkommen der ersten Urform jene 
Abweichung eine i00-, 1000-, 10,000-fach gehäufte, es kann 
aus der anfänglich ganz unbemerkbaren Abänderung eine wirk- 


499 


liche Abart, eine eigene Art, eine andere Sippe, ja zuletzt nach 
1,000,000 und mehr Generationen eine andere Ordnung oder 
Klasse von Organismen entstehen; denn es liegt keine natür- 
liche Ursache und kein logischer Grund vor anzunehmen, dass 
das Maass der langsamen Abänderung irgendwo eine Grenze 
finde. Eine Abänderung aber, die in einer Gegend, Lage, Ge- 
sellschaft u. s. w. nützlich ist, kann in der andern schädlich seyn, 
u. u. Es können mithin aus derselben Grundform unter ver- 
schiedenen äusseren Verhältnissen Abänderungen in ganz verschie- 
dener Richtung entstehen, fortdauern und mit der Zeit allmählich 
ganz verschiedene Sippen, Familien und Klassen bilden (»Diver- 
 genz des Charakters«). Da die Nützlichkeit jeder Art von Ab- 
änderung von der Beschaffenheit der äusseren Lebens-Bedin- 
gungen abhängig ist, unter welchen sie nützlich erscheinen, und 
da die Abänderung selbst unter andern Bedingungen eine an- 
dere seyn muss, um dem Organismus zu nützen, so besteht diese 
Natürliche Züchtung in einer fortwöhrenden »Anpassung der vor- 
handenen Lebenformen an die äusseren Bedingungen« und An- 
gewöhnung an dieselben. Diese sind Wohn-Elemente, Boden, 
Klima, Licht, Nahrung, vor allem Andern aber die Wechselbe- 
ziehungen, der beisammen wohnenden Organismen zu einander, ihr 
Leben von einander, die Nothwendigkeit sich gegenseitig zu ver- 
drängen und zu vertilgen, weil bet Weitem nicht alle, die geboren 
werden, auch neben einander fortleben können; Hanet der »Kampf 
ums Daseyn« bei fortdauernder verrtetraltigüng und Ausbrei- 
tung der vervollkommneten Sieger und fortwährende »Erlöschüng« 
der wegen minderer Vollkommenheit Besiegten. Je mehr Leben- 
formen entstehen, desto manchfaltiger werden within wieder 
die Lebens-Bedingungen. Daher auch eine fortwährende Verän- 
derung, Vervollkommnung und Vervielfältigung eines Theiles der 
Lebenformen (obwohl andere verschwinden) nicht als Zufall, son- 
dern als nothwendige gesetzliche Erscheinung! Manche Organe 
mögen Sich wohl auch in Folge der Art ihres »Gebrauches« wei- 
ter entwickeln und vervollkommnen, wie andere durch »Nicht- 
gebrauch« allmählich zurückgehen und verkümmern (»rudimentäre 
Organe«), wenn sie etwa unter veränderten Lebens-Bedingungen 
/ 32 


500 


nicht mehr nöthig und vielleicht sogar schädlich sind. Wie die 
Natürliche Züchtung die ganzen Lebenformen allmählich differen- 
zirt, um sie verschiedenen Lebens-Bedingungen anzupassen, SO 
verfährt sie oft auch mit gleichartigen Organen, die. in grösse- 
rer Anzahl an einerlei Individuen vorkommen. Wenn. jedoch 
erbliche Abänderungen nur in einem gewissen Lebens - Alter 
auftreten oder erworben werden, so vererben sie sich auch nur 
auf dieses Lebens-Alter der Nachkommenschaft; diese bekommt 
mit fortschreitendem Alter neue Formen, durchläuft vom Embryo- 
Zustande an ‘eine »Metamorphose«, während es andere Leben- 
formen gibt, welche lebenslänglich fast gleiche (»embryonische«) 
Gestalt. beibehalten, daher die ursprüngliche Verwandtschaft der 
Wesen sich gewöhnlich durch Übereinstimmung im Embryo- 
Zustande am längsten verräth. Die allmähliche Entstehung so 
vieler immer manchfaltigerer und z. Th. immer vollkommenerer 
Lebenwesen durch Fortpflanzung mit Abänderung und unter 
gleichzeitigem Aussterben anderer lässt sich daher mit der Ent- 
wickelung eines Baumes vergleichen; die Urformen bilden den 
Stamm, die Ordnungen, Sippen und Arten die Äste und Zweige, 
und ein natürliches System kann nicht anders als in Form eines 
Stammbaumes dargestellt werden. Dieser Baum erstreckt sich 
gleichsam durch alle Gebirgs-Formationen aus der Tiefe herauf; 
da er aber in der Silur-Zeit schon in viele Äste auseinander 
gelaufen, so muss der eigentliche Stamm in noch viel älteren 
und tieferen S@hichten stecken, die man noch nicht entdeckt oder 
erkannt hat, entweder weil sie durch metamorphische Prozesse 
verändert und sammt ihren organischen Resten unkenntlich ge- 
worden sind, oder weil sie unter dem Ozean liegen. Denn es 
könnte möglich seyn, dass seit der silurischen Periode das Welt- 
meer im Ganzen genommen in Senkung, wie unsere jetzigen 
Kontinente im Ganzen genommen fortwährend in Hebung begriffen 
wären. Im Übrigen erklärt sich die geographische ‚Verbreitungs- 
Weise der Organismen, von zufälligen und gelegentlichen Ver- 
breitungs-Mitteln einzelner Individuen abgesehen, hauptsächlich 
aus grossen klimatischen und geographischen Veränderungen (wie 
die Eis-Zeit), welche der Reihe nach alle Theile der Erd- 


901 


_ Oberfläche betroffen, ihre Bewohner in andere Gegenden gedrängt 
und ihnen die Wege bald hier und bald dort geebnet haben, so 
dass manche Bewohner gemässigler Zonen sogar den Äquator 
überschreiten und ihre Art in die andre Hemisphäre verpflan- 
zen konnten. 

Die neue Hypothese gibt Thatsachen und Urtheile, um zu 
zeigen, wie sich die Erscheinungen im Allgemeinen verhalten 
haben können oder noch verhalten können, und es gelingt ihr 
Das oft in einem überraschenden Grade. Es sind ganze in langen 
Kapiteln abgehandelte Probleme, die sich mit deren Hülfe dann 
so einfach lösen, dass man fast keinen Augenblick darüber in 
Zweifel geräth, ob sich die Sache nicht auch anders verhalten 
könne, und man sich selbst aufrütteln muss, um sich zu erinnern, 
es handle sich vorerst nur um eine in ihren Grundbedingungen der 
Rechtfertigung noch durchaus bedürltigen Hypothese. Und in der 
That, wenn man dann über den Rand des Buches hinaus auf irgend 
ein andres Werk blickt, welches die Erscheinungen so schil- 
dert, wie sie in der Natur vorliegen, so fühlt man oft, dass die 
Anwendbarkeit der Darwin schen Theorie auf die Wirklichkeit 
nicht so einfach und nicht so unmittelbar ist, als es geschienen, 
so lange man sich, mit dem Verfasser ganz in seine Ansichten 
versenkt hatte, weil (begreiflich) die Verhältnisse überall nicht 
so einfach oder so geartet sind, wie er sie Beispiels-weise unter- 
stellt. Wie sehr man sich daher auch von des Verfs. Theorie 
angezogen fühlen mag, weil sie, ihrem Grundgedanken nach ein- 
mal zugestanden, eine Menge einzelner unerklärter Erscheinun- 
gen auf’ die überraschendste Weise verkettet und als nothwendige 
erklärt, so muss man wohl erwägen, in wie ferne sie wirklich 
annehmbar seye. In dieser Beziehung wollen wir hier zum 
Schlusse noch einige erläuternde Betrachtungen mit unseren 
wesentlichsten Einreden dagegen folgen lassen, weil uns Diess 
angemessener und schicklicher erscheint, als die Übersetzung 
selbst überall mit Einwürfen zu begleiten. Eine nicht unerhebliche 
Anzahl noch andrer Gegenreden könnte leicht aus unsren frühe- 
ren Schriften beigebracht werden, die wir hier übergehen, ohne 
sie jedoch für entkräftet zu halten, 


902 


Zuerst haben wir keine weitre positive Kenntniss von den 
natürlichen Grenzen der Veränderlichkeit der Arten überhaupt, 
als dass Varietäten aus ihnen entstehen, die unter denselben 
äusseren Bedingungen, unter welchen sie entstanden sind, auch 
um so ständiger werden können, je länger sie sich unter ‚dem- 
selben Einflusse gleichbleibend fortpflanzen. Darin liegt allerdings 
schon ein grosses Zugeständniss, indem wir, sehr lange Zeit- 
räume unterstellend, meistens nicht die Hoffnung hegen dürfen, 
eine solche während 1000 Generationen ständig fortgepflanzte Varie- 
tät jemals wieder auf ihren Urtypus wirklich zurückzuführen. Ja 
wir dürfen uns dieser Hoffnung um so weniger bingeben, als wir 
sehr oft die wahre Ursache der Entstehung einer solchen Varietät 
nicht einmal kennen und sogar dann, wenn wir sie kennen, meistens 
kaum im Stande seyn dürften, dasjenige Agens zu finden oder die- 
jenige Reihe von Agentien zu enträthseln oder anzuwenden, welche 
dem ersten direkt entgegenwirken. : Wir würden daher oft weder 
den positiven Beweis der Abstammung noch auch aus der That- 
sache, dass sich eine Abart nicht: mehr auf ihre Stamm-Form 
zurückbringen lässt, den Gegenbeweis liefern können, dass jene 
aus dieser nicht entstanden seye. Was daher auch immer für die 
Möglichkeit unbegrenzter Abänderung angeführt wer- 
den mag, so ist sie vorerst und wird sie wohl noch lange 
eine unerweisliche, aber allerdings auch unwiderlegliche Hypo- 
these bleiben, eine Hypothese, gegen deren Annahme mithin aus 
diesem Gesichtspunkte logisch „nichts einzuwenden ist, .wolerne 
sie sonst jhrer Bestimmung genügt. 

Ganz anders aber verhält es sich mit einer andern Erscheinung, 
und diese bildet unsres Bedünkens den ersten und erheblich- 
sten Einwand gegen die neue Theorie, da er sie in ihren 
Grundlagen berührt, wie Hr. Darwın auch ganz wohl gefühlt hat und 
ihn daher gar vielfältig zu widerlegen sucht *, dessen Bedeutung 
aber gerade darum um so schärfer hervortritt, weil aller auf diese 
Widerlegung verwendete Fleiss und Scharisinn die beabsichtigte 
Wirkung bei Weitem nicht in genügendem Grade’hervorzubringen 


* Vgl. das sechste Kapitel, S. 181 u. a. m, 


303 


im Stande ist. Diese Erscheinung ist folgende. Da die entstehenden 
Varietäten nach Darwın in der Regel sich nicht durch äussre Ein- 
flüsse und nie in Folge eines eigenen innern in bestimmter Rich- 
tung beharrlich abweichenden Bildungs-Triebes entwickeln, sondern 
dadurch, dass von ganz zufälligen in allen möglichen Richtungen 
auseinanderlaufenden unmerkbar kleinen Abänderungen diejeni- 
gen, welche dem Organismus nützlich sind, am meisten Aussicht 
haben, die übrigen zu überleben und sich reichlicher als sie 


fortzupflanzen, — da eine jede dieser in verschiedenen Richtun- 
gen auseinanderlaufenden kleinsten Abänderungen wieder in 
allen Richtungen um ein Minimun: abändern kann, —. da nach 


des Vfs. eigner Annahme nur in 4—8—10 Generationen wie- 
der einmal eine genau in gleiche Richtung mit einer der vorigen 
fällt und sie steigert oder durch Häufung verstärkt; — da unter 
so unmerkbar kleinen Abänderungen noch keine ein merkbar 
grosses Übergewicht über die andern im Rassen-Kample haben 
kann: — so werden die Abarten nicht als solche nett und fer- 
tig sich von der Stammform wie ein gestieltes Dikotyledonen-Blatt 
vom Stengel, sondern etwa wie der unregelmässig krausse Lap- 
pen einer Blätterflechte von der übrigen Flechten-Masse ablösen, 
welcher sich auch im weitren Verlaufe nie zu einem scharf und 
regelmässig contourirten Blatt entwickelt, sondern stets seine un- 
sichere Gestalt beibehält, indem, wie lang er endlich auch werden 
mag, er immer wieder in ähnlicher Weise wuchert. Und diese Un- 
sicherheit der Begrenzung wird um so bedeutender werden, da 
die neuen Abarten nicht auf einzelnen Merkmalen, sondern auf 
2--3—4 von den alten abweichenden Charakteren beruhen, -deren 
aber jeder für sich allein auftreten oder sich in verschiedener Weise 
und in verschiedenen Graden mit jedem andern verbinden kann, 
und da nach des Vfs. eigener Theorie Varietäten unter sich vor- 
zugsweise fruchtbar sind und kräftige Nachkommenschaft liefern. 
Es müssten Formen-Gewirre entstehen noch weit ärger, als wir sie 
z. Th. in Folge anderer Ursachen in der Pflanzen-Welt wirklich in 
einigen Fällen kennen, bei Rubus, Salix, Rosa, Saxilraga. So müss- 
ten sie, wenn auch nicht ausnahmslos, doch vorherrschend überall 
vorl n, obwohl sie jetzt im Pflanzen-Reiche selbst nur als 


Ausnahmen erscheinen und im Thier-Reiche noch überhaupt kaum 
bekannt sind... Wählen wir daher zu bessrer Versinnlichung 
einige hypothetische Fälle aus diesen letzten aus. Wenn z. B. 
aus der Haus-Ratte eine Wander- oder Kanal-Ratte werden 
sollte (wir wählen diess Beispiel, weil in der That noch vor 
unsern Augen diese letzte als die stärkere die erste allenthalben 
verdrängt), so müssten nicht nur alle Übergänge aus der minde- 
ren Grösse, aus der bläulich - grauen Farbe, aus.den längeren 
Olıren und dem längeren Schwanze der’ ersten in die ansehn- 
lichere Grösse, die oben braun-graue und unten weissliche Farbe, die 
kürzren Ohren und den kürzren Schwanz der letzten eintreten 
und, da sie sich nicht gegenseitig bedingen, wahrscheinlich alle 
sieh mit allen andern Merkmalen und in-allen mit allen Abstufun- 
gen (zum Theil sogar in überschüssigem Maasse) so lange ver- 
binden, als nicht eine dieser Verbindungen ihrem Besitzer positiv 
schädlich oder entschieden nützlich würde. Da jede dieser vier Ver- 
schiedenheiten sich mit den drei andern verbinden kann, so ent- 
stehen hiedurch schon zehnerlei Verbindungen ; und da jede dersel- 
ben auf jeder Abstufung der Umänderung sich mit allen Abstufun- 
gen der Umänderung der drei andern zusammengesellen kann, so 
werden die Mittelformen zahllos seyn, und es ist in keiner Weise 
abzusehen, wie statt solcher zahlloser Abänderungen, Abstufungen 
und Kombinationen zuletzt gerade nur eine einzige feste und 
bestimmte Form der Wander-Ratte entstehen solle, zumal, wir, 
nicht wahrzunehmen vermögen, dass alle Abweichungen derselben 
von der Organisation der andern Art wesentlich zu ihrer grösse- 
ren Vollkommenheit beitragen, sondern mitunter für das Thier 
oänz gleichgültig seyn mögen, und da beide Arten keinesweges sich 
genau um dieselben Aufenthalts-Orte streiten. Geben wir aber 
zu, dass (aus uns unbekannten Ursachen) gerade nur die eine 
Kombination der Charaktere, wie sie in der Wander-Ratte vor- 
kommt, derjenigen in der Haus-Ratte so überlegen seye, dass 
erste die letzte überall zu besiegen und zu verdrängen im Stande 
ist, wo sie mit ihr in Mitbewerbung tritt, so begreift man (trotz 
Allem. was Hr. Darwın dafür anführt) doch nicht, warum die der 
Wander-Ratte näher-stehenden schon weniger oder mehr verbes- 


305 


serten und jedenfalls nur in viel unbedeutenderem Nachtheil befind- 
lichen Abänderungen immer und fortwährend zuerst besiegt und ver- 
drängt werden sollten, die blaugraue Ratte aber, welche am weite- 
sten von dem verbesserten Vorbilde entfernt ist, zuletzt? Man 
begreift nicht, warum die neue Art zuerst zur vollständigen Aus- 
bildung gelangen ınüsse, ehe sie die andre zu besiegen im Stande 
ist, da ja die überlegenere von ihnen doch fortwährend die begün- 
stigteren und schon halb verbesserten Mittelformen verdrängen 
und in einer Weise vernichten soll, als ob ein Individuum das 
andre unausgesetzt mit positiven Waffen angriffe. Hr. Dar- 
wın wird uns in dem von den zwei Ratten-Arten entnom- 
menen Beispiele etwa antworten, dass (obwohl thatsächlich 
eine die andre verdrängt und besiegt) sie nicht eine aus der 
andern, sondern dass beide aus einer bereits untergegangenen 
dritten Art entstanden sind, oder etwa dass sie sich unter Um- 
ständen aus einander entwickelt haben, die wir nicht kennen, 
daher wir auch nicht zu sagen im Stande seyen, in wieferne 
ihnen eine jede einzelne Eigenschaft nützlich gewesen seye oder 
nicht, Dieselben Antworten etwa würde uns Darwın ertheilen, 
wenn wir Haasen und Kaninchen zum Beispiele wählten; — und 
wenn wir fragten, warum wir die blinden Höhlen-Thiere nicht 
noch halb-blind im vordern Theile der Höhlen finden, durch welche 
sie in den hintern dunkelsten Theil eingedrungen, so würde er 
uns noch weiter sagen, dass diese durch spätre Mitbewerber 
dort ausgetilgt seyn können. Diese und ähnliche an und für 
sich unangreifbar allgemeine Antworten wird er jeder Einrede 
entgegen halten, aber wenn sie auch in manchen einzelnen 
Fällen begründet sind und in keinem Falle als absolut unpassend 
beseitigt oder wiederlegt werden können, so fühlt doch jeder, 
dass die Sache im Ganzen genommen nach der Darwın'schen 
Theorie sich ganz anders gestaltet haben würde und noch gestal- 
ten müsste, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Er ist dadurch im 
Vortheil, dass er desshalb über gar keinen einzelnen Fall 
Rechenschaft zu geben braucht, weil man nicht über jeden 
einzelnen Fall Rechenschaft von ihm fordern kann! 

Den Mangel der Zwischenformen der Arten in den Erd- 


506 


Schichten erklärt Hr. Darwın unter Anderem aus der unvollstandi- 
gen Erhaltung der einst vorhanden gewesenen Organismen-For- 
men im Fossil-Zustande und aus der Länge der Ruhe-Perioden 
zwischen den verschiedenen Formationen. Wenn wir aber eine 
Menge von Arten in identischen Formationen (wie Hr. Darwın 
selbst anerkennt) überall in zahlreichen und sogar in Tausen- 
den von Exemplaren wieder finden, so können die Bedingungen 
‘der Erhaltung für die Zwischenformen unmöglich so ganz ungün- 
stig gewesen seyn, dass gar nichts von ihnen übrig geblieben ; 
Zwischenformen müssten sich um so eher finden, als im Fossil- 
Zustande eine Menge von Charakteren verloren gehen, mit deren 
Hülfe allein wir viele sonst ganz selbsständige lebende Arten von 
einander unterscheiden. Endlich, wie lange auch, in Jahren ausge- 
drückt, die Zwischenräume gewesen seyn mögen, welche‘ zwischen 
der Absetzung verschiedener Formationen vergangen: geologisch 
oder relativ genommen sind sie nicht so unermesslich lang, als sie 
Hr. Darwın darstellt, indem nämlich die Veränderungen, welche von 
einer Formation zur andern in der Organismen-Welt vor sich 
gegangen, meistens gar nicht so viel grösser zu seyn pflegen 
als jene, die von einem Schichten-Stock zum andern oder von 
einer Schicht zur andern in derselben Formation stattfinden. So 
sind wenigstens von der Silur- bis zur Kohlen-Formation, und 
von der Trias- bis zur heutigen Periode selbst auf Europäischem 
Gebiete keine sehr grosse Lücken mehr vorhanden, und hier und 
da scheint sogar eine ununterbrochene Bildungs-Reihe von Schich- 
ten zwei Formationen zu verbinden! } 

Aber selbst wenn wir den einfachsten Fall annehmen, wenn 
wir uns unter denjenigen Abarten umsehen, welche sich heutzutage 
als solche in unsren Systemen ‚aufgeführt finden, so ist auch da 
schon die Kette hinter ihnen abgeschnitten; auch da schon feh- 
len fast überall die Glieder, welche sie mit der Stamm-Art ver- 
binden; denn wären diese noch vorhanden, so könnte keinen 
Augenblick mehr ein Streit darüber fortdauern, ob sie selbst- 
ständige Arten oder nur Abarten seyen, ein Streit, auf welchen 
sich Darwın so oft beruft! Und wenn Art und Abart als solche 
noch reichlich ‚neben einander. bestehen, wie könnten die Zwi- 


507 


schenglieder durch die Abart bereits ausgetilgt seyn? Hr. Dar- 
wın gibt uns auch hier eine vortreffliche Erklärung, wie Diess 
in 'einigen Fällen möglich gewesen seyn könne, indem er die 
Varietäten und Arten zuerst auf Inseln u. a. ringsum abgeschlos- 


 senen Gebieten entstehen lässt, wo alle divergirenden Stämme 


einer Spezies sich immer wieder mit einander kreutzen können 
und durch Vererbung eine gemeinsame Mittelform herzustellen 
im Stande sind. Aber dürfte diese Erklärungs-Weise wirklich 
als Regel und ihre Nichtanwendbarkeit nur als seltene Ausnahme 
zu betrachten seyn?? Muss es in allen Fällen so gewesen seyn, 
weil es in einzelnen Fällen so gewesen seyn kann? 

Doch verweilen wir bei dieser Erklärung; denn sie würde 
in der That vortrefflich seyn, wenn man annehmen dürfte, dass 
sich jede Art aus Individuen einer andern entwickelt habe, die 
auf beschränktem Raume gänzlich von allen ihren Art-Genossen 
abgeschlossen gewesen wären, so dass alle Nachkommen dieser 
Individuen unter neuen Existenz-Bedingungen sich jederzeit alle 
mit einander mischen, aber nie mehr mit ihren andern Verwandten 
in irgend eine Berührung kommen konnten, bis die neue Art vol- 
lendet war! Das 'treffendste thatsächliche Beispiel für einen solchen 
Fall liefert uns der Mensch selbst. Der Mensch war gewiss noch 
lange, nachdem er sich bereits über die ganze Erd-Oberfläche ver- 
breitet hatte, nicht im Stande, sich in Masse von einem Welttheile 
zum andern zu bewegen. Beobachtungen in Neu-Orleans u. a. ha- 
ben zur Berechnung geführt, dass schon etwa in der Diluvial-Zeit, 
vor 10,000—100,000 oder noch mehr Jahren, die jetzigen Men- 
schen-Rassen vorhanden und in jetziger Weise vertheilt gewesen 
sind. Die Bewohner eines jeden Welttheils waren von den übrigen 
fast isolirt, aber unter sich mehr und weniger verbunden ; sie erfüll- 
ten die oben geforderten Bedingungen so genügend, wie man es 
in keinem andern Falle zu finden und nachzuweisen erwarten darf, 


und so war eine ungestörte Divergenz des Charakters der Men- 


schen-Spezies während einer Zeit-Periode möglich, welche aner- 
kannter Maassen zur Bildung neuer Spezies, wenn auch noch 
nicht zur Umgestaltung der ganzen Flora und Fauna, genügend 
war. Und was ist die Folge jener Isolirung einzelner Menschen- 


908 


Gruppen während eines so langen Zeitraumes gewesen? Es sind 
eben so viele Rassen als getrennte Welttheile und eine Anzahl 
Mischlinge entstanden, die zuletzt sehr verschieden im Aussehen 
und noch verschiedener in ihrer geistigen Befähigung doch einander 
so nahe verwandt geblieben und so fruchtbar miteinander sind, dass 
Niemand an ihrer Art-Verwandtschaft miteinander zweifelt, obschon 
der Kampf um’s Daseyn binnen der drei oder vier Jahrhunderte, 
seit welchen die in verschiedenen Gegenden allmählich entwickelten 
Rassen miteinander in Berührung gekommen sind, bereits genügt 
hat, um einige derselben (und zwar nicht die ausgeprägtesten) dem 
"Erlöschen nahe zu bringen. Wir dürfen wohl nicht boffen einen 
andern thatsächlichen Beleg über das Abändern der Arten 
und die Divergenz des Charakters zu finden, der sich in der er- 
weislichen Länge der Zeitdauer und Vollkomnenheit der Isoli- 
rung der Rassen in allen verschiedenartigsten Lebens-Bedingungen, 
welche diese Erde einer nämlichen Spezies darzubieten im Stande 
ist, mit diesem vergleichen liesse. 

Gerne möchten wir zu Gunsten der Darwın'schen' Theorie 
und zur Erklärung, warum nicht viele Arten durch Zwischenglie- 
der in einander verfliessen, noch irgend ein inneres oder äusse- 
res Prinzip entdecken, welches die Abänderungen jeder Art nur 
in einer Richtung weiter drängte, statt sie in allen Richtungen 
bloss zu gestatten. Das Problem würde dann ein einfachres wer- 
den; aber immer müssten wir wieder erwarten, auch in dieser 
einfachen Reihe die Kette der Zwischenglieder aufzufinden ‚. und 
diese sind weder vorhanden, noch ist uns ein innres derartiges 
Prinzip irgendwo bekannt. 

Freilich liegen äussre solche Prinzipien vor. Es sind die 
Existenz-Bedingungen, welchen sich die Organismen anpassen 
müssen, und welche eine so grosse Rolle in diesem Buche spie- 
len. Sie sind theils organische und theils unorganische, und die 
ersten nach Hrn. Darwın weitaus die zahlreichsten und wichtig- 
sten und daher auch an und für sich geeignet, die manchfaltigsten 
Folgen zu veranlassen. Doch eben diese organischen Prinzipien 
haben für Darwın wieder den grossen Vortheil, dass, indem er 
sich auf ihre Manchfaltigkeit und auf den Kampf ums Daseyn über- 


509 


haupt beruft, er der Nothwendigkeit überhoben ist, Rechenschaft 
von ihrer Wirkungs-Weise im Einzelnen zu geben und nachzu- 
weisen, welche spezielle Folgen diese oder jene spezielle orga- 
nische Bedingungen auf die Struktur und Entwickelung der 
ihrem Einflnss unterliegenden Organismen überhaupt, oder auf 
einzelne insbesondere ausübt. Hr. Darwın beruft sich auf je- 
der Seite darauf, dass nur solche Abänderungen Aussicht auf 
Erhaltung haben, welche dem Individuum und somit der künfti- 
Spezies nützlich sind; und theoretisch muss man zugestehen, 
dass, woferne es eine natürliche Züchtung gebe, die Sache sich 
nicht anders verhalten könne. Aber wir müssen gestehen, doch 
in fast allen unseren aus angeblich innern Ursachen hervorge- 
gangenen Varietäten gar nicht finden zu können, worin denn der 
Nutzen ihrer Abänderung bestehe; und wenn Hr. Darwin sich 
auf die Erfahrung beruft, dass ein grosser Theil der Britischen 


Flora der Neuseeländischen gegenüber so vervollkommnet sei, 


dass er sie verdränge. so hätten wir gehofft, doch auch nur in 
einzelnen Fällen nachgewiesen zu sehen, worin denn diese Über- 
legenheit beruhe. Hr. Darwın entzieht sich auch hier jeder 
Rechenschaft. Warum bekommt z. B. in diesem Kampfe ums Da- 
seyn eine Pflanzen-Art ovale statt lanzettlicher und die andre lanzeti- 
liche statt ovaler Blätter? warum die eine einen Dolden-artigen und 
die andre einen Rispen-förmigen Blüthenstand? warum die eine fünf 
und die andre vier Staubgefässe,die eine eine geschlossene und die 
andre eine weit geöffnete Blüthe? Wozu nützt der einen Diess und 
der andern das Gegentheil? Warum bewirken die organischen 
Bedingungen Diess? Mit welchen Mitteln fangen sie es an? und 
wie müssen sie beschaffen seyn, um es zu können? Und wie 
kann die eine Art der andern dadurch überlegen werden? Wir ge- 
stehen, keinen Zusammenhang zwischen diesen Erscheinungen 
zu erkennen, und Hr. Darwın würde uns antworten, dass es mög- 
licher Weise so oder so zugehen könne. Wir gestehen ferner, 
uns vergeblich um positive Beweise oder auch nur Belege in die- 
ser Beziehung umgesehen zu haben, manche spezielle Fälle eigen- 
thümlicher Art etwa ausgenommen; denn wir sind weit entfernt 
davon, allen solchen Einfluss überhaupt läugnen zu wollen. Wir 


10 


wollen sogar ein spezielleres Beispiel anführen. Breum hat die 
meisten unsrer anerkannten deutschen Vögel-Arten nach den Pro- 
portionen des Kopfes, des Schnabels, der Füsse, der Flügel und zuwei- 
len mit Zuhilfenahme der Färbung in je zwei bis vier Formen un- 
terschieden und als wirkliche Arten bezeichnet, weil sie sich in der 
Regel nur je unter sich paaren, als solche fortpflanzen, gewöhn- 
lich einen abweichenden Aufenthalts-Ort, oft andres Futter, dem- 
gemäss auch eine andre Lebens-Weise, zuweilen einen andern 
Gesang haben; doch ist es uns noch nicht gelungen, eine feste 
Beziehung bestimmter Körper-Proportionen zu bestimmten äuss- 
ren Ursachen übefhaupt zu erkennen; dieselben Beziehungen 
scheinen bei jeder Spezies von andrer Wirkung zu seyn. Und 
in der That hätte Hr. Darwın hier vielleicht die besten Belege 
für seine »beginnenden Spezies« finden können! 

Dagegen lässt sich ein Einfluss unorganischer äussrer Lebens- 
Bedingungen und zwar ein spezieller Einfluss spezieller Bedingun- 
gen in bestimmter Richtung nachweisen, wie wir ihn bei den 
organischen Bedingungen nachgewiesen zu sehen gewünscht 
hätten. Hr. Darwın gibt diesen Einfluss zu; er führt einige 
Beispiele davon an, erklärt aber wiederholt, dass er ein ver- _ 
gleichungsweise nur geringer seye. Anfangs möchte es schei- 
nen, als ob Hr. Darwın diesen Einfluss unterschätze, indem sich 
eine grosse Menge von Erscheinungen aus ihm nachweisen 
lassen. Wir kennen Bedingungen, welche auf die Grösse 
der Pflanzen, auf ihre ein- oder mehr-jährige Dauer, auf ihren 
Strauch- oder Baum-Wuchs, auf ihre Blüthen-Bildung und Frucht- 
barkeit, auf die Farbe ihrer Blüthen, auf ihre glatte oder be- 
haarte Oberfläche, auf die häutige oder, fleischige Beschaffenheit 
ihrer Blätter (wie Hr. Darwın selber anführt), zuweilen auch auf 
Monöcismus und Diöcismus, auf die aromatischen u. a. Absonde- 
rungen wirken; wir vermögen selbst diese Erscheinungen her- 
vorzubringen. Und wir sehen, dass bei diesen Abänderungen die 
Übergänge nicht mangeln, indem wir im Stande sind fortwährend 
deren ganze Kette darzulegen und gerade desshalh wenig versucht 


sind in diesen Abweichungen neue Arten zu erblicken! Warum 
also fehlen die Übergänge bei den andern Abartungen, welche aus 


511 


der innern Neigung zur Variation hervorgehen ? Allerdings gibt es 
auch manche ganz plötzlich auftretende Abänderungen ohne 
Übergänge zumal bei den schon vielfach abgeänderten Kultur- 
Pflanzen, wie z. B. die hängenden oder Trauer-Varietäten vieler 
Bäume, viele unsrer Obst-Sorten, wovon manche nicht das Erzeug- 
niss langsamer Züchtung, sondern eines einzelnen ohne nachweis- 
baren Grund abändernden Saamen-Kornes sind, die sich aber eben 
degshalb auch in der Regel nicht beständig aus Saamen fortpflanzen. 

‘Auch von den Thieren wissen wir, dass Menge und Art 
des Futters und Beschaffenheit des Klimas auf Grösse und Farbe 
des Körpers, ja sogar (wie Hr. Darwın selbst vom Amerika- 
nischen Wolf erwähnt) auf deren Gestalt und Sitten wirken 
können. Auch des Einflusses des Klimas auf das Gefieder der 
Vögel gedenkt er, doch ohne sich der Umfang-reichen Nach- 
weisungen zu erinnern, welche GroseEr in dieser Beziehung 
geliefert hat. Dass viele Säugthier-Arten in kalten Gegenden weiss 
werden und andre, welche solche nie verlassen, stets weiss 
bleiben, ist bekannt. Die Farbe der Schmetterlinge ändert oft 
mit dem Futter und die der Käfer u. a. Insekten je nach ihrem 
Aufenthalte in verschiedenen Gebirgs-Höhen ab. Die Grösse 
vieler Wasser-Konchylien steht mit dem Salz-Gehalt des Wassers 
in Zusammenhang; ihre Farbe mit dem Lichte, ihre glatte oder 
stachelige Beschaffenheit mit der schlammigen und felsigen Natur 
des See-Grundes; die Dichte des Pelzes mancher Säugthiere wech- 
selt mit dem Klima und der Erhebung ihres Wohnortes über den 
Meeres-Spiegel, und die Instinkte einer Art ändern ausserordentlich 
unter neuen Lebens-Bedingungen ab. Es lässt sich nicht nur die 
Ursache, sondern auch der Zweck und die Nützlichkeit dieser Ab- 
änderung ermitteln, wir können in der Regel die Zwischenstufen 
nachweisen, die oft vom Grade und der Intensität der äussern 
Ursachen abhängen; wir können diese Abänderungen beliebig 
hervorbringen und sie durch entgegengesetzte Existenz-Bedingun- 
gen wieder in die Urform zurückführen. Aber vielleicht der 
wichtigste aller Belege für den Einfluss äussrer Existenz-Be- 
dingungen ist in der Beobachtung zu finden, dass Kröten an feuch- 
ten und doch des stehenden Wassers ganz entbehrenden Orten 


512 


im Stande sind, sich aus dem Ei unmittelbar zur reifen Form 
zu entwickeln, ohne dazwischen-fallende Kiemen-Bildung und also 
auch nothwendig ohne denjenigen übrigen Theil der Metamor- 
phose und Lebens-Weise, welcher einen Aufenthalt im Wasser 
voraussetzt. Um den möglichen Übergang von den Fischen zu 
den Reptilien zu erläutern, zitirt Hr. Darwın den Lepidosiren; 
in diesen Kröten liegt er aber weit unmittelbarer vor in einer 
Weise, dass wohl jedermann zugeben wird, dass, wenn diese Be- 
dingungen sich in allen Generationen der Kröte lange Zeit wie- 
derholten, das Ausfallen der Metamorphose endlich zur Regel auch 
unter andern Verhältnissen werden könne. 

Aber bei der Leichtigkeit und Schnelligkeit, womit alle diese 
Abänderungen in Folge der äusseren Existenz-Bedingungen eintre- 
ten, muss man sich allerdings fragen, ob.die aus dieser äussern 
Ursache entstandenen Abweichungen jemals ganz bleibend wer- 
den und sich fest vererben können? Diess ist nicht der Fall. 
Denn so leicht und schnell sie sogar an ganz alten Arten aus 
bekannten Ursachen entstehen, eben so leicht und sicher sind 
sie, im Gegensatz zu den aus innren aber freilich unbekannten 
(nach Darwın wahrscheinlich im Genital-Systeme zu suchenden) Ur- 
sachen entstandenen, durch eine der ersten entgegengesetzte Be- 
handlung auch wieder auf die Urform zurückzuführen, woferne nicht 
etwa die Natürliche Züchtung sich ihrer bemächtigt und mit den 
äusseren Ursachen in gleicher Richtung thätig ist, um eine der 
Abänderungen rascher zur selbstständigen Form zu entwickeln. So 
lange Diess aber nicht der Fall, wird man wohl meistens darauf 
verzichten müssen, ‚durch äussre Ursachen bleibende Abände- 
rungen und »beginnende Arten« entstehen zu sehen, und wer nur 
die Wirkung äussrer Ursachen im Auge hat, mag allerdings mit 
Recht Hrn. Darwın entgegenhalten, dass aus Abänderungen keine 
festen Arten werden. Da nun überdiess die Zwischenstufen zwi- 
schen den Extremen solcher Abänderungen nur Bindeglieder zwi- 
schen nebeneinander bestehenden, und nicht zwischen auseinander 
entstehenden Formen sind, und da jede der ersten für ihr eignes 
Daseyn gewöhnlich keine andren Abstufungen voraussetzt, während 
diese letzten ohne andre Abstufungen meistens nicht vorhanden seyn 


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519 


würden, so herrscht allerdings zwischen den durch äussre Ursachen 
und den durch Züchtung entstandenen Abänderungen ein solch 
wesentlicher Unterschied, dass wir uns daraus erklären zu müssen 
glauben, wesshalb Hr. Darwın auf die Abänderungen dieser Art 
so wenige Rücksicht nimmt, obwohl er selbst uns keine derar- 
tige bestimmte Rechenschaft darüber gibt? | 
Wenn uns daher zur Zeit weder die äusseren Lebens-Be- 
dingungen, noch der Prozess der Natürlichen Züchtung genügend 
erscheinen, um die Theorie Hrn. Darwıns, so wie sie vorliegt, zu be- 
gründen, so wollen wir dagegen gerne zugestehen, dass alle bishe- 
rigen Beobachtungen ohne Ausnahme von dem Gesichtspunkte Tfest- 
stehender unabänderlicher Arten aus gemacht worden sind, und dass 
eine unbefangene Beurtheilung seiner Theorie vielleicht erst mög- 
lich seyn wird, wenn einige Menschen-Alter weiter unter fortwäh- 
render Prüfung der Frage von der Abänderung der Arten aus den 
zwei entgegengesetzten Gesichtspunkten verflossen seyn werden. 
Je mehr ein Naturforscher sich mit Detail-Studien über den 
Bau der natürlichen Wesen und über dessen wunderbare Zweck- 
mässigkeit, über das Zusammenstimmen aller Einzelnheiten zu 
einem organischen Wesen, wovon kein Theilchen willkührlich 
geändert werden kann, ohne das Ganze zu gefährden, — über 
die Wiederholung derselben planmässigen Einrichtung in jedes- 
maliger andrer Weise bei 250,000 bekannten Organismen-Arten 
der jetzigen Schöpfung, — über die kulminirende Vollendung 
des Ganzen bei den vollkommensten dieser Organismen, — über 
die Entwickelung aller dieser Einrichtungen in einem Embryo 
der ihrer noch nicht bedarf, zu künftigen Zwecken, beschäftigt 
hat, um so schwerer wird es ihm anfangs werden, darin nichts 
weiter als die Folgen eines fortschreitenden Verbesserungs-Pro- 
zesses zu sehen, worin jeder neue weitre Fortschritt nach des 
Vfs. Theorie selbst jedesmal nur ein Zufall ist und erst durch 
Vererbung festgehalten werden kann. Doch darf man darin 
noch kein unbedingtes Hinderniss für diese Theorie erblicken. 
Eine andre Erscheinung, hinsichtlich welcher uns und Andre Hrn. 
Darwins Erklärungen nicht ganz befriedigt haben, bietet der Um- 
stand dar, dass trotz der unausgesetzten Thätigkeit der Natür- 
33 


"14 


lichen Züchtung und der fortdauernden Verbesserung der Orga- 
nismen durch dieselben, noch immer die unvollkommensten aller 
unvollkommnen Organismen in so unermesslicher Menge vorhan- 
den sind. Doch hat ein daraus zu entnehmender Einwand kein 
solches Gewicht, dass er für die Annahme oder Nichtannahme 
der neuen Theorie entscheidend wäre, und wir würden in dessen 
Folge nur etwa genöthigt seyn, eine noch fortwährende Ent- 
stehung neuer Urformen anzunehmen, welche sich mit dieser 
Theorie als verträglich oder sogar als nothwendige Folge dersel- 
ben ergibt, obwohl Hr. Darwın die Generatio originaria nirgends 
in Anspruch nimmt. Endlich würde, wenn wir alle Organismen 
nur von einer Urform ableiten wollten, Diess jedenfalls von einer 
sehr niedren zelligen Form als Grundlage weitrer Entwickelung 
geschehen müssen, und es dürfte dann sehr schwer seyn zu 
begreifen, wodurch in einer von zwei äusserlich von einander 


nicht unterscheidbaren Zellen sich Empfindung und willkührliche 


Bewegung ausbilde und vererbe, und in der andern nicht? 
Indem Hr. Darwın alle jetzt lebenden und früher vorhan- 
den gewesenen Lebenformen durch Abstammung mit fortwäh- 
renden leichten Abänderungen und Divergenz des Charakters 
von immer früheren und frühern Formen ableitet, glaubt er in 
einer Zeit, die wenigstens eben so weit vor der silurischen, wie 
diese vor der jetzigen Periode zurückliegt, nur noch acht bis 
zehn Stamm-Arten zu bedürfen, welchen der Schöpfer unmittel- 
bar das Leben eingehaucht hätte. Wahrscheinlich hatte sich Hr. 
Darwın eine Stamm-Art zur Ableitung aller Arten eines jeden 
der Unterreiche oder Kreise unsrer Systeme gedacht, und wahr- 
scheinlich wird diese Stamm-Art einer der tiefsten Stufen in 
jedem dieser Kreise entsprochen haben; doch drückt er sich 
nicht näher darüber aus. Die Entwickelung eines jeden so viel- 
verzweigten Kreises aus einer Stamm-Art wäre dann vergleich- 
bar der Entwickelung eines vielästigen Baumes aus einem Stamme: 
eine Annahme, welche wenigstens den Bildungs-Verhältnissen in 
der ganzen organischen Natur parallel liefe. Hr. Darwın fragt 
die Anhänger der alten Schöpfungs-Theorie, welche Millionen von 
Pflanzen- und Thier-Spezies zum Gegenstande von Millionen ver- 


515 


schiedener Schöpfungs-Akte eines persönlichen Schöpfers machen, 
der durch seine spätren Schöpfungen die an den frühern Formen 
begangnen Fehler verbessere: welche Vorstellung sie sich denn 
eigentlich von der Erschaffung der einzelnen Geschöpfe machen ? 
($S. 487) — ob jede Art in einem oder in vielen Individuen, im 
Ei- oder im ausgewachsenen Zustande, ob die ersten Säugthiere 
mit oder ohne Nabel geschaffen worden seyen? Sie könnten Hrn. 
Darwın seine Frage zurückgeben, wenn er nach seiner Theorie 
auch nur 8—10 erschaffene Arten bedarf (8. 487); ja sie könn- 
ten noch weiter fragen: ob der ersten Flechte, dem ersten 
Farnen, der ersten Palme und dem ersten Veilchen, mit dem 
ersten Infusorium, dem ersten Seeigel, der ersten Raupe und 
dem ersten Frosch gleichzeitig oder nacheinander auf einem 
Fleck beisammen oder auf eben so vielen Punkten der ganzen 
Erd-Oberfläche zerstreut das Leben eingeblasen worden seye, 
und ob sie sogleich angefangen sich — SO ferne sie sich gegen- 
seitig erreichbar — in Ermanglung andrer Nahrung wechselseitig 
aufzufressen, oder auf welche Weise sie bis zu ihrer Verviel- 
fältigung ihr Leben gefristet haben? Offenbar muss entweder 
ein ganzes Natur-System von Wesen auf einmal geschaflen wor- 
den seyn, oder sie müssen sich von einem tiefen Punkte an auf- 
wärts ganz allmählich aber massenhaft entwickelt haben. Hr. Dar- 
wın hat es jedoch sogleich gefühlt, dass jene seine Annahme noch 
misslicher als die einer gleichzeitigen Erschaffung aller Wesen ist, 


die er bekämpft; daher er etwas später sich mit einer Ur-Pflanze 
und einem Ur-Thiere, ja sogar mit einem einzigen Ur-Organismus 
begnügen will, welchem der Schöpfer das Leben eingehaucht 
habe ($. 488). Die Bedürfnisse dieses einzigen erschaffnen In- 
dividuums, von welchem die ganze lebende Natur abstammt, 
müssen dann freilich sehr klein gewesen seyn; — es war zwei- 
felsohne nur eine Fadenalge oder etwas der Art, die sich ihre 
Nahrung aus unorganischen Elementen selbst bereiten und sich 
selbst befruchten musste? Aus ihr und ihren Nachkommen 
konnten lange Zeit nur vegetabilische Formen entstehen, bis 
genug organische Materie vorhanden war, um auch Thiere selbst 
der unvollkommensten Stufe zu ernähren, 
33 * 


ki ira nn REN: 


916 


Aber immer ist noch ein persönlicher Schöpfungs-Akt für die- 
ses organische Wesen nöthig. und wenn derselbe einmal erforder- 
lich, so scheint es uns ganz gleichgültig, ob der erste Schöpfungs- 
Akt sich nur mit einer oder mit 10 oder mit 100,000 Arten be- 
fasst, und ob er Diess nur ein für allemal gethan oder von Zeit 
zu Zeit wiederholt hat. Es fragt sich nicht, wie viele Organis- 
men-Arten derselbe ins Leben gerufen, sondern ob es überhaupt 
jemals nöthig seyn kann, dass dieser eingreife in die wunder- 
vollen Getriebe der Natur und statt eines bewegenden Natur-Ge- 
setzes aushelfend wirke® Wenn Hr. Darwın die organische Schöp- 
fung überhaupt angreift, so muss er nach unsrer Überzeugung auch 
auf die Erschaffung einer ersten Alge verzichten ! Und in dieser That- 
sache, dass die neue Theorienoch die unmittelbare Erschaffung wenn 
auch nur eines Dutzends, ja wenn auch nur einer einzigen Orga- 
nismen-Art erheischt, erblicken wir einen zweiten wesentli- 
chen Einwand gegen dieselbe, weil, Diess einmal zugestan- 
den, nicht der entfernteste Grund mehr vorliegt, ihr die ungeheure 
und so schwer zu erfassende Ausdehnung anzueignen,, die ihr 
Hr. Darwın gibt. — Wer eine organische Zelle oder Zellen Reihe, 
einen Algen-Faden u. dgl. betrachtet und damit den wunderbaren 
Bau eines höheren Säugtbieres vergleicht mit allen seinen Glie- 
dern, Organen und Organen-Systemen, seinen unbewussten und 
willkührlichen Verrichtungen, der wird freilich anfangs zu lächeln 
geneigt seyn über eine Theorie, welche aus einer Algen-Zelle wenn 
auch erst nach Verlauf von (wenigstens 20*) Millionen Jahren einen 
Affen durch Natürliche Züchtung hervorgehen lässt. Und doch, 
erlässt man uns jenen einen Schöpfungs-Akt an der Algen-Zelle, 
was wäre dann so gänzlich befremdend an der neuen Theorie? Sehen 
wir dern nicht diesen Prozess tausendfältig und unausgesetzt bei 
Organismen aller Art binnen wenigen Wochen durch gewöhnliche 
Zeugung sich vollenden, ohne ‚eine andere Auskunft darüber 
geben zu können, als dass. es durch »Vererbung« geschehe, 


* Man hat die Dauer der Steinkohlen-Flora allein auf etwa 1 Million 
Jahre berechnet; setzi man dieselbe nun auch nur —= 0,1 von der 


aller unsrer geologischen Schichten-Bildungen und diese nach Darwı 
der Dauer der vor-silurischen Schichten, so ergibt sich obiges Resultat. 


517 


ein ganz dunkles Prinzip, das ebenfalls erst durch die Dar- 
wınsche Theorie einige nähere Begründung wenigstens hinsicht- 
lich seiner spezifischen Verschiedenheiten erlangt? daher an 
und für sich uns der Gedanke der Entstehung des Säugthieres _ 
aus einer ursprünglichen Protophyten- oder Protozoen-Zelle doch 
nicht so ganz und gar abentheuerlich erscheint. Und so läge 
auch für alle anderen Verheissungen dieser Theorie die Schwie- 
rigkeit nur etwa in der Länge der zur Lösung der einzelnen 
Aufgaben nöthigen Zeit, und daran ist wahrlich kein Mangel, 
sondern Überfluss, wo es sich darum handelt die Ewigkeit aus- 
zufüllen! 

Noch eine Bemerkung über das, in geologischem Sinne, gleich- 
zeitige Erscheinen und Verschwinden identischer Lebenformen 
auf der ganzen Erd-Oberfläche. Die Darwın'sche Theorie leistet 
viel in dieser Beziehung! Sie zeigt uns, wie die Lebenwesen der 
gemässigten oder kalten Zone in Folge einer Eis-Zeit sogar den 
Äquator zu überschreiten vermochten! Aber welchen Grund haben 
wir zu glauben, dass es viele solcher Eiszeiten, dass es deren 
in allen Erd-Perioden gegeben, und insbesondere dass die die 
Verbreitung bewirkenden Ursachen in allen Perioden eine uni- 
verselle Verbreitung der herrschenden Formen bis in den letzten 
Winkel der Erde vermittelt haben, ehe wieder irgendwo neue 
Formen entstanden, und dass nie ein Theil der Erde in dieser 
Hinsicht auf seine unabhängige Weise rascher oder langsamer 
als der andre fortgeschritten seye? Diese Erscheinung ist so 
befremdend, dass sie, so lange sie nicht als eine nolhwendige 
nachgewiesen ist, trotz Darwıns Erklärungs-Versuch die, ganze 
Theorie bedroht. 

Aussicht auf Erfolg.) Unsere innigste Überzeugung 
ist, dass alle Bewegungen auch in der organischen Natur einem 
grossen Gesetze unterliegen, dass dieses Gesetz, allen organi- 
schen Erscheinungen entsprechend, ein Entwickelungs- und Fort- 
bildungs-Gesetz seye, und dass das Gesetz, welches die heutige 
Lebenwelt beherrscht, ‘auch ihr Entstehen bedingt und ihre ganze 
geologische Entwickelung geleitet habe. 

Wir haben bisher organische Wesen entstehen und vergehen 


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sehen: wir haben die bestehenden Arten sich erhalten und fort- 
pflanzen, aber keine neuen Arten erscheinen sehen und keine 
Natur-Kraft gekannt, welche neue Arten in's Daseyn rufi. Alle 
- unsere Bemühungen sie zu finden, um von dem ersten Auftreten 
neuer Arten mit deren Hilfe Rechenschaft zu geben, waren Vver- 
geblich. ! 

Hilft aber die Darwınsche Theorie diesem Mangel ab? Wir 
haben oben einige Einreden gegen sie vorgebracht, und unser 
persönliches Vermögen sie uns so, wie sie ist, anzueignen ist noch 
weit geringer, als jene Einreden vermuthen lassen. Aber sie leitet 
uns auf den einzigen möglichen Weg! Es ist vielleicht das be- 
fruchtete Ei, woraus sich die Wahrheit allmählich entwickeln wird; 
es ist vielleicht die Puppe, aus der sich das längst gesuchte Na- 
tur-Gesetz entfalten wird, nachdem es einen Theil der seinem 
unvollkommenen Zustande angehörigen Anhänge abgestreift und 
andere seiner Bestandtheile vollständiger ausgebildet haben wird. 
Oder wir haben das gesuchte Gesetz vielleicht bereits vor Augen, 
aber sehen es nur durch ein Kaleidoskop, ‚dessen Facettirung 
wir erst studiren oder abschleifen müssen, um das Objekt nach 
seiner wahren Beschaffenheit beurtheilen zu können? 

Die Möglichkeit nach dieser Theorie alle Erscheinungen in 
der ‘organischen Natur durch einen einzigen Gedanken zu ver- 
binden, aus einem einzigen Gesichtspunkt zu betrachten, aus 
einer einzigen Ursache abzuleiten, eine Menge bisher vereinzelt 
gestandener Thatsachen den übrigen auf's innigste anzuschliessen 
und als nothwendige Ergänzungen derselben darzulegen, die mei- 
sten Probleme auf's Schlagendste zu erklären, ohne sie in Bezug 
auf die andern als unmöglich zu erweisen, geben ihr einen Stem- 
pel der Wahrheit und berechtigen zur Erwartung auch die für 
diese Theorie noch vorhandenen grossen Schwierigkeiten endlich 
zu überwinden. Diese glänzenden Leistungen der Theorie (ihre 
Wahrheit einmal zugestanden) sind es, die uns So mächtig zu 
ihr hinziehen, wie sehr wir auch des Wankens ihrer Grundlage 
uns bewusst sind. Denn die grösste Schwierigkeit für die An- 
erkennung dieser Theorie scheint allerdings zunächst im Grund- 
gedanken selbst zu liegen, wenigstens nach seiner jetzigen Fas- 


Sy ” 519 


sung: in der ' Vorstellung einer fortwährenden Bildung von 
Varietäten, die sich ‘von den Stamm -Arten abzweigen und 
endlich ablösen, ohne durch Mittelglieder unter einander verkettet 
zu bleiben, wie wir anch nach allen aus der Theorie geschöpften 
Erläuterungen doch noch erwarten zu müssen glauben, wenn diese 
Theorie richtig wäre. Möglich, dass fortgesetzte Forschung: und 
Prüfung darüber noch Auskunft und Aufklärung gibt! 

Unser zweiter Einwand ist ‚gegen die Annahme einiger oder 
auch nur einer ursprünglich erschaffenen Organismen - Spezies. 
Mit der Schöpfung müsste auch die eine wegfallen. So lange 
wir sie aber nicht entbehren können, so lange müssen wir 
daran zweifeln, in der Darwın schen Theorie bereits den wahren 
Schlüssel der Erscheinungen gefunden zu haben. 

Auf welche Weise auch die eine erschaffene Spezies ent- 
behrlich gemacht werden könne, darüber haben wir keine Ver- 
muthung. Könnte durch unorganische chemische Prozesse aus 
unorganischer Materie organische werden, — kömte die orga- 
nisch& Materie für.sich die Form und Textur organischer Kern- 
Zellen annehmen , könnten diese Zellen sich weiter entwickeln 
und zu wachsen beginnen —, doch hier stehen wir auf der letz- 
ten, der alleräussersten Grenze zwischen unorganischer und or- 
ganischer Welt. Organische Mischungen könnten aus unoTga- 
nischen durch gewisse chemische Prozesse vielleicht entstehen; 
dass organisch gebildete Zellen und gar belebte Zellen sich aus 
solcher Mischung gestalten können, hat man früher geglaubt, aber 
neuere Forschungen haben diese Ansicht mehr und mehr un- 
möglich gemacht; doch sollen jetzt auf Veranlassung der Fran- 
zösischen Akademie fernere Versuche mit die Frage verlässig 
entscheidender Beweiskraft angestellt werden! 

Die Darwın sche Theorie wird wohl nicht mehr ganz unter- 
gehen? Aber ungeachtet der ausgezeichneten Leistungen derselben 
stehen ihr noch so wesentliche Gründe entgegen, dass wir vorerst 
nicht vermögen sie anzunehmen, obwohl uns eingewendet werden 
kann, auch die gewöhnliche Schöpfungs-Theorie lasse Einreden 
und zwar noch gewichtigere aber freilich von ganz anderer Be- 
schaffenheit zu. Denn, unnatürlich an sich, braucht die Theorie 


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der Schöpfung nicht mit natürlichen Erklärungen zu antworten. Sie 
kennt nur Wunder ! Daher scheint es uns wenigstens konsequenter, 
auf dem alten naturwissenschaftlich haltlosen Standpunkte zu ver- 
harren in der Erwartung, dass eben.in Folge des Streites der 
Meinungen sich eine haltbare Theorie entwickele, kläre und reife; 
— obwohl wir voraussehen, dass ein Theil unserer Naturforscher 
(und eine noch grössere Anzahl Nichtnaturforscher) der Darwın- 
schen Theorie, auch so. wie sie ist, alsbald zufallen werden. 
Nur aus dem Widerstreite der Meinungen wird die Wahrheit 
hervorgehen und der Urheber dieser Theorie selbst zweifelsohne 
noch die grosse Befriedigung erleben, der Naturforschung einen 
neuen Weg geöffnet zu haben. 


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