Die Bedeutung der
Psychoanalyse
fur die
Geisteswissenschaften.
Von
Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs
in Wien.
Wiesbaden.
Verlag von J. F Bergmann.
1913.
Yerlag vmi J. F. BEEGMASE iu \Vi*sTi:i.l-n.
Jua 11J* Jiihrpni- - Tsrli-iin :
Zentralblatt
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Psyelioaiial} T se und Psychotherapist
HetliEiniscne MonatsBehrift fur SeelenJcrnicte.
Sr!infiMt<'r: Dr. Wilheln^ Stekel, Wieu T rionjiatjagassf* 2U
TaiirnLMii II t-ntliidt ri. :i. iu-|n:n dun reichltaltigen Aiitoiloo^oi : 3IiltviImi£oH
— Rfcferate and Kritikm — Tiiria — IJtoratin' folgendo Origin akrt)
Ahrabtim: AhshT/o zur j^yoltoaazilyliM-hoii KrforscLiitigr n«d Beliniidliiiiir
iliui TuaiiisHi-do]m\*siv>ii trrseins.
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liiiitn«r: Bine |isy *■ liiitiuti I y 1 isi-Iii-* studio :m oiiiom. Stott^rer*
Fori'iicz i : i"lM*r piMftftgelft KyuipliunlifldiiJigrMt will) rem! iter Analyse*
FrrMtd: Hie Jlttntl liuRiiintr dor Traiuudt'iitiuigr in iler Psychoanalyse*
Zur Bymimik iter Dtertrngimg*
„ I'hi'r iLi-iirotisfhr ErkritiikiiiLgslyfion,
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Drvi Itumauo hi Zallioil.
M .i r i I- li -mi Beauchftnti Jhiiiiosextiuliliil mill l.'arauoia.
NelkiMi: I'mof sHiTzoitlirt'tw Wort verl^rru aire ti.
Oppenheiin: Zur Trugit dor Gtouese des EifersiieLtswaluies*
Rank : Yilikorpsyrholoiriselie Paralteloii zn don iufuiililo.n Kexualtlioorioii.
hvitl.-r: Kino, infantile SexiuillJioiirit' mid Hire Berfebuug zur SollKstiiiord-
syinliolik*
Sad£$r: Die eexuatevmboltselic Yerwertumr d«s Kapfscbuierz^
E i 'h rotter: Exneriiuoutidlf Tritium*.
Si;lbei , €r; Hnntilc mid Psydiommlysis
Tun dm Iuite?rorioTi dor Symljolik.
Eokunoiuuiilist-lt" Wrsuche.
Do- Rexiejinng^n drs Tun milkers zur ^Zcit*.
3fasken div Hemosexualiliit*
flier i-i n Zero nu mi ell tor deni ScHlufenyreHon-
Beiirago zur Infant Hon Sexiialitut.
frko-l.i
Wolff;
Jiihrlicli orselieineii 12 Hefto im Gesamt-Umfang von 36 hh
40 Drudcbogeu zum Preise von Mk. is.—.
Die Bedeutung der
Psychoanalyse
fur die
Geisteswissenschaften.
Von
Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs
in Wien.
M Car tous les hommes desirent d'etre heureux;
cela est sans exception. Quelques difierents moyens
qu'ils y emploient, ils tendent tous a ce but. Ce
qui fait que Tun va a la guerre, et que l'autre n'y
va pas, c'est ce meme de*sir qui est dans tous les
deux aecompagne de differentes vues. La volonte*
ne fait jamais la moindre d-marche que vers cet
objet. C'est le motif de toutes les action, de tous les
hommes, jusqu'a ceux qui se tuent et qui se pendent/
* Pascal: Pensees sur L'Homme,
Wiesbaden.
Verlag von J. F. Bergmann.
1913.
Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
Herausgegeben
VOD
Hofrat Dr. L. Loewenfeld in Miinchen.
Heft 93.
Nachdruck verboten.
Das Eecht der Dberseiztmg in alle Sprachen, iwsbesondere audi ins Uvgarische
und ins Bussische vorbehalten.
Vorwort.
Auf den folgenden Blattern, die die Anwendbarkeit und Bedeutung
der Psychoanalyse fur die Geisteswissensehaften dartun sollen,
konnte diese selbst nur in knappster Form abgehandelt werden: weder
die Darstellung ihres Werdeganges, noeh das ausgebreitete Tatsachen-
material, auf dem ihre Beweiskraft rulit, durfte Beriicksichtigung
linden. Aber aueh das A.usmafi, in dem die einzelnen Geistes-
wissensehaften von mas behandelt wurden, steht keineswegs im
Verhaltnis zu ihrer kulturellen Bedeutung, sondern nur zu der Grosse
ihrer bisher feststellbaren Beriihrungsnache mit der Psychoanalyse.
Diese ist einerseits durch den Anteil bestimmt, den das Unbewusste
an den Geistesprodukten der Menschheit hat, anderseits mit Rucksicht
auf das jugendliche Alter unserer Wissenschaft auch von ausseren
und zufalligen Einflussen abhangig gewesen.
So war unsere Aufmerksamkeit wesentlich auf die Ausftichten
der Zukuni't gerichtefc, wobei uns die Frage der Methode, die in
der Problemstellung und -Losung anzuwenden sein wird, am wichtigsten
schien. In der Bemtihung um dieses prinzipielle Thema such ten
wir die Erganzung unserer Beschaftigung mit den Einzelproblemen,
deren Bearbeitung wir in der von Professor Freud herausgegebenen
und von uns redigierten Zeitschrift «Imago» zu fordern bestrebt sind.
Statt einzelner den Text unterbrechenden Zitate und Literatur-
angaben verweisen wir hier ein- fur allemal auf die grundlegenden
Schriften von Freud (10 Bande, erschienen bei F. Deuticke in Wien
und S. Karger in Berlin) sowie die von ihm herausgegebenen Sammel-
werke und periodischen Organe, in denen sich zu unserem Thema
gehorige Arbeiten und die weitere psychoanalytische Literatur finden.
Wien, patern 1913.
Die Verfasser.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Inhalt.
Seite
I. Das Unbewusste und seine Ausdrucksformen 1
II. Mythen- und Marchenforschung . 23
III. Religionswissenschaft 58
IV. Ethnologie und Linguistik 69
V. Asthetik und Ktinstlerpsychologie 81
VI. Philosophie, Ethik und Recht , . . . . 94
VII. Padagogik und Charakterologie 105
I.
Das Unbewnsste and seine Ansdrucksformen.
Das Fundament, auf dem die ganze Psychoanalyse ruht, ist die
Lehre vom Unbewussten. Darunter ist aber nicht ein aus abstrakten
Denkfolgen abgeleiteter Begriff zu verstehen oder gar eine fur die
Zwecke eines philosophischen Systems geschaffene Hypothese; mit der
Bedeutung, welche z. B. Eduard vonllartmann dem Worte gegeben
hat, besitzt die Psychoanalyse gar keinen Zusammeuhang. Die in der
Bezeichnung hervortretende negative Eigenschaft des Phanomens —
namlich die fehlende Bewusstseinsqualitat — ist zwar die wesentlichste
und charakteristischeste, aber durchaus nicht die einzige. Wir kennen
bereits eine ganze Reihe von positiven Merkmalen, welche das unbe-
wusste psychische Material von dem iibrigen, dem bewussten und vor-
bewussten, unterscheiden.
Eine Vorstellung, die in einem gegebenen Moment dem Bewusst-
seinsinhalt eines Individuums angehort, kann im nachsten daraus ver-
schwunden sein; andere, neu auftauchende sind an ihre Stelle getreten.
Sie erhalt trotzdem auch eine dauernde Relation zum bewussten Seelen-
leben, denn sie kann durch irgendeine mir ihr verknupfte Assoziations-
kette wieder zuriickgeholt werden, ohne dass es eines neuen Sinnesein-
druckes bedarf; in der Zwischenzeit war sie also dem bewussten
Seelenleben entruckt, aber doch dem Psychischen erreichbar geblieben.
Solche Vorstellungen , ■ denen die Bewusstseinsqualitat zwar fehlt, die
sie aber jederzeit wieder erlan gen konnen, nennen wir vorbewusst
und unterscheiden sie streng von den eigentlich unbewussten.
Diese sind namlich nicht wie die vorbewussten voriibergehend
dem bewussten Seelenleben eiitfremdet, sondern davon dauernd ausge-
schlossen; die Fahigkeit, in das Bewusstsein oder genauer gesagt in das
normale Wachbewusstsein des Subjekts einzutreten, mangelt ihnen vollig.
Andert sich der Bewusstseinszustand, so andern sich auch seine Auf-
nahmsbedingungen. Nach solchen Umwalzungen, wie sie z. B. die den
Neurologen bekannte Condition seconde mit sich bringt, ferner die
Hypnose und in gewissem Urnfange auch der Schlaf, wird d^m Sub-
Grenzfra^en des Nerven- und Seelenlebens. (Heft XOIIT.) 1
2 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
jekte eine Tulle von psychischem Material — Phantasien, Erinnerungen,
Wiinsche usw. — zuganglich, das ihin bisher unbekannt war. Dass
diese Dinge erst durch die Anderung des Bewusstseins entstanden
sein sollten, ist bei einigen, z. B. den Erinnerungen, von vorneherein
ausgeschlossen. Bei anderen lasst es sich aus ihren Wirkungen schliessen,
dass sie bereits vorher unbewusst vorhanden gewesen sein mtissen.
An allem, was bei solchen Gelegenheiten aus dem Unbewussten
zum Vorschein kommt, hat die Erfahrung die konstante Wiederkehr
gewisser gemeinsamer Ziige gezeigt. Zu diesen gehort in erster Linie
ein Affektreichtum ungew5hnlich hohen Grades und weiters ein
andauerndes Bestreben in das bewusste Seelenleben uberzugreifen, das
sich durch die naturliche Tendenz jedes Affektes und der von ihm
besetzten Vorstellung, ein moglichst grosses Stiick des Seelenlebens in
Anspruch zu nehmen, als eine Konsequenz jener Affektstarke erklaren
lasst. Wenn jedem Bewusstsein szustand eine bestimmte Bedingung fur
die Zulassung oder Nichtzulassung der Vorstellungen entspricht, so kann
diese Bedingung durch nichts anderes aufgestellt und durchgesetzt
werden, als durch eine im Psychischen wirkende Energie, welche die ihr
missliebigen Vorstellungen vom Bewusstsein ausschliesst oder die darin
vorhandenen daraus verdrangt. Die Wirkung einer Kraft wird nur
durch eine andere, ebenso starke oder iiberlegene, die ihr entgegenwirkt,
aufgehoben; die psychischen Vorgange, die wir beobachten konnen,
sind also das Resultat dynamischer Verhaltnisse, welche aus
ihnen zu erschliessen sind. Wir haben das Bild eines gestrengen Tor-
wartes vor uns, der ungeladenen Gasten die Tiire vor der Nase zuschlagt.
Da ein vorhandener Affekt nicht eine eininalige, sondern eine Dauer-
wirkung verursacht, ist es auch mit einer einmaligen Abweisung nicht
getan. Es muss vielmehr eine standige Grenzwache etabliert werden,
d. h. mit anderen Worten, ein dauerndes Gegeneinanderwirken der Krafte
und als Folge davon eine gewisse psychische Spannung sind von
unserem Seelenleben unzertrennlich. Jene Energie, deren Eunktion es
ist, das Bewusstsein vor der Invasion aus dem Unbewussten zu beschutzen,
nennen wir, je nachdem sie aggressiv oder defensiv in Erscheinung tritt,
Verdrangung oder Widerstand.
Wir sind zu Zeugen eines Kampfes zwischen zwei psychischen
Machten geworden und miissen uns jetzt fragen, woher die Feind-
seligkeit zwischen ihnen stamme. Welchen Eigenschaften verdanken
es die unbewussten Vorstellungen, dass ihnen mit solcher Hartnackigkeit
die Bewusstseinsqualitat vorenthalten wird? Worin besteht ihre Unver-
traglichkeit mit den anderen psychischen lnstanzen?
Es ware zunachst fraglich, ob es uberhaupt solche Charakteristika
gibt. Die Abschliessung vom bewussten Seelenleben hangt, wie wir
gesehen haben, von der "jedesmaligen Bewusstseinseinstellung ab und,
I. Das Unbewusste und seine Ausdrucksformen. 3
da diese variiert, mtisste ebenso audi das Unbewusste abwechseln,
ganz abgesehen Ton der durch die Verschiedenheit der Erlebnisse
bedingten individuellen Verschiedenheit des Vorstellungsinhaltes, Dagegen
ist darauf zu verweisen, dass die dem bewussten Seelenleben angehorigen
Grundtendenzen im ganzen konstant sind und sich nur langsam und
unmerkbar von Epoche zu Epoche ver'andern. Die Mitglieder einer
Kulturgemeinschaft haben in ihrer Auffassung der Aussenwelt das
Wesentliche gemeinsam, gleichviel, ob diese Auffassung schliesslich in
einer religiosen, moralischen oder philosophischen Weltanschauung gipfelt.
Trotz aller Fortschritte in der Naturbeherrschung hat das Menschen-
geschlecht sich in psychisclier Hinsicht seit Jahrtausenden so wenig
weiterentwickelt, dass wir zunachst die gesamte Kulturmenschheit, auch
jene der An tike inbegriffen, als erne grosse Einheit ansehen diirfen.
Die bedeutsamen Wandlungen werden wir bei den Einzeluntersuchungen
kennen lernen, im Gesamtbild treten sie zurtick, besonders wenn wil-
es mit Jenen, die ausserhalb der Kulturgemeinschaft stehen, vergleichen.
Die Stellung des primitiven Menschen, des sogenannten „Wilden u zur
Aussenwelt ist vom Grund aus verschieden von der unserigen und auch
in dem Verhaltnis zwischen Bewusstem und Unbewusstem, das in seinem
Seelenleben obwaltet, lassen sich wichtige Abweichungen vermuten.
Das Unbewusste ist also bei aller individuellen Mannigfaltigkeit
nicht willkiirlich und regellos, sondern gesetzmafiig mit bestimmten,
stets wiederkehrenden Eigenschaften ausgestattet, die wir, soweit sie
bereits erforscht sind, kennen lernen miissen,
Unsere erste Frage wird natiirlich der Herkunft des Unbewussten
gelten. Da es der bewussten Personlichkeit vollig fremd und unbekannt
gegeniibersteht, so ware es naheliegend, den Zusammenhang mit dieser
uberhaupt in Abrede zu stellen. So hat der Volksglaube auch von
jeher gehandelt. Die Stiicke des Unbewussten, die in abnormen Geistes-
zustanden sichtbar wurden, galten als Beweis der „Besessenheit", das
heisst, sie wurden als Ausserungen eines fremden Individuums, eines
Damons, der von dem Kranken Besitz genommen habe, aufgefasst.
Wir, die mit solchen iibernatiirlichen Einwirkungen nicht mehr rechnen
diirfen, miissen den Tatbestand psychologisch zu erklaren suchen. Der
Hypothese, dass eine urspriingliche Zweiteilung des psychischen Lebens
von Geburt an bestehe, widerspricht die Erfahrung des fortwahrenden
Kampfes der beiden Instanzen, da bei einer von Anfang an vorhandenen
Aufteilung die Gefahr einer Grenzverschiebung nicht gegeben ware.
Die einzig mogliche Annahme, welche denn auch durch die Erfahrung
bestatigt wird, bleibt die, dass jene Scheidung nicht von vorneherein
vorhanden sei, sondern sich erst im Laufe. der Zeit herstelle. Dieses
Herausbilden der Grenzlinie muss ein Prozess sein, der sich vor der
volligen Erreichung des normalen Kulturniveaus abwickelt, der also in
4 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
der friihesten Kindheit beginnt und etwa urn die Zeit der Pubertat
einen erst en Abschluss gefunden hat. Das I T nbewusste stammt
aus der Kindheit des Menschen und dieser Umstand liefert die
Erklarung fur die meisten seiner Eigenttimlichkeiten.
Wir sehen in der Kindheit eine Vorstufe fur das vernunftfahige
Alter und das ist sie ja auch in vieler Beziehung. Neben dem aber,
was wir aus der Kindheit in das spatere Leben hiniibernehmen, bleibt
noch ein anderer Bestandteil, das eigentlich Kindliche, mit dem wir
nachher nichts mehr anzufangen wissen und das wir deshalb auch ver-
<ressen. Nur so erklaren sich die grossen Gedachtnisliicken, die die
eigene Kindheit fur jeden Menschen aufweist, und zwar aus einer Zeit,
wo er die Ereignisse ganz gut aufzufassen und zu werten wusste. Fast
Jedermann erinnert sich aus seinen ersten Kinderjahren nur abgerissener
Details gleichgliltiger Szenen, wahrend er jene Vorfalle, die ihm damals
die wichtigsten waren, ganz vergessen hat. Die rein infantilen Seelen-
krafte, die in das Bewusstsein des Erwachsenen nicht aufgenommen
wurden, konnen aber nicht verloren gegangen sein. Im Psychischen
gilt das Gesetz der Erhaltung d&r Energie wie in der Korperwelt; das
Infantile, das aus dem bewussten Seelenleben verdrangt wurde, ver-
schwand nicht, sondern bildete den Kern, urn den sich das unbewusste
Seelenleben kristallisierte.
In welchem Punkt unterscheidet sich der Erwachsene aber so
fundamental vom Kinde, dass die Seelenzustande jener Entwicklungs-
epoche fur ihn ganz unbrauchbar geworden sind? Dass dieser Punkt
die Sexualitat sei, wird wohl allgemeinen Widerspruch erwecken, denn
gerade die Sexualitat beginnt, wie uns versichert wird, normalerweise
mit der Pubertat und kann also keine typisch infantilen psychischen
Phanomene schaffen.
Die Tatsache der normalen kindlichen Sexualitat, von deren
Betatigungsformen hier nur die Sauglingsonanie erwahnt sei, ist von
jedem, der mit Kindern in engere Beriibrung kommt, von Arzten,
Warterinnen und Eltern so leicht konstatierbar, dass ihre hartnackige
Verleugnung nicht als objektives TJrteil gewertet werden kann, sondern
nur als Ausfluss eben jenes Verdrangungsvorganges, der die fur die
eigene Entwicklung erst wertlos, dann hinderlich gewordenen Bestand-
teile des Ich nicht wieder vor das Bewusstsein gebracht haben will
Es ware sehr verwunderlich, wenn eine so wichtige Affektquelle, wie
es die dem Bereiche der Sexualitat angehorigen Triebe sind, die wir
unter dem Gesamtnamen Libido zusammenfassen, erst bei Erreichung
eines bestimmten Alters plotzlich hinzukame. In Wahrheit ist sie von
allem Anfang an dagewesen, nur verlaufen vor der Pubertat die ihr
angehorigen Triebphanomene weder in der Form der Sexualausserung
des Erwachsenen noch in einer einheitlichen Richtung, vielmehr strebt
I. Das Unbewusste und seine Ausdrucksformen. 5
jedes, unabhangig Ton dem anderen, seinem Ziele zu, das mit dem
spateren Sexualziele, dem Gesehlechtsakt, keine Ahnlichkeit haben muss.
Auch innerhalb der Kindheit unterscheiden wir verschiedene
Entwicklungsphasen, Ton denen nur die wichtigsten erwahnt werden
sollen. Die erste umfasst jene Zeit, wo das Kind in der Erkenntnis
der Aussenwelt noch nicht bis zur Annahme einer fremden Personlich-
keit gelangt ist. In dieser Zeit sucht es sexuelle Lust am eigenen
Korper zu gewinnen (Autoerotismus). Neben dem Genitale kommen
noch alle moglichen Korperstellen in Betracht, so vor allem die Lippen-
zone, die durch das „Wonnesaugen tf , und die Analzone, die durch
Zuruckhaltung der Stuhlmassen gereizt werden kann.
Den entscheidenden Durchgangspunkt bildet ein Stadium, das sich
normaler Weise zwischen die autoerotiscbe Betatigung und die Objekt-
liebe einschiebt und das wir mit Rucksicht auf spater zu beobachtende
pathologische Fixierungen dieses Zustandes als Narzissmus bezeichnen.
Es ist dadurch charakterisiert, dass die Libido, die ja — im Gegensatz
zu den Ichtrieben — Ton Anfang an sich an Terschiedenen Korperstellen
autoerotisch befriedigte, nunmehr bereits zu einer Einheit zusammen-
gefasst, ihr Objekt zunacbst am eigenen Icli, als Ganzes betrachtet,
gefunden hat. In gewissem Mafie bleibt der Mensch narzisstisch, auch
wenn er aussere Objekte fur seine Libido gefunden hat, und der Grad
dieser Einstellung ist fur die Entwicklung des Charakters und der
Personlichkeit Ton hervorragender Bedeutung.
Die nachste Phase kennt dann schon die Objektliebe, die aber
unter eigentiimlichen Bedingungen Terlauft. Dem Genitale fallt erst
durch die spatere, mit der Pubertat abschliessende Umbildung die
Bedeutung eines ausschliesslichen Sexualorganes zu. Das mit diesem
Terkniipfte, fiir den geschlechtsreifen Normalen ausschliessliche Sexual-
ziel, der Begattungsakt, kommt noch nicht in Betracht, an seine Stelle
treten je nach der Triebanlage Terschiedene Formen der Befriedigung :
sexuelle Neugierde und Entblossungslust, das Zufiigen oder Erdulden
Ton Schmerzen usw. Was also durch seinen unTeranderfcen Fortbestand
beim Erwachsenen eine PerTersion (Exhibitionismus, Voyeurtum, Sadismus,
Masochismus) konstituieren wtirde, bildet eine Ausserung der normalen
Sexualitat des Kindesalters.
Sehr wesentlich unterscheiden sich auch die in dieser zweiten
Phase der Infantilitat hinzutretenden Sexualobjekte Ton jenen des
Erwachsenen. Die Terhaltnismafiig geringe Bedeutung des Genitals fur
die auf andere Personen gerichtete Sexualbeziehung und die Unkenntnis
der Verschiedenheiten im Baue und der Funktion des mannlichen und
weiblichen Sexualapparates machen es dem Kinde unmoglich, bei der
Ankniipfung seiner erotischen Beziehungen auf den Geschlechtsunter-
schied Bedacht zu nehmen. Auch abgesehen daTon gilt die Liebe des
6 Br. 0, Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Kindes am haufigsten solchen Personen, die fur den reifen Kultur-
menschen nicht in Betracht kommen diirfen, namlich den Mitgliedern der
eigenen Familie, vor allem den Eltern, weiters dem Pflegepersonal als
Elternsurrogat.
Wer an der Feststellung, dass die ersten Neigungen des Menschen
regelmafiig inzestuos eingestellt sind, Anstoss nimmt, sei daran erinnert,
dass die kindliche Erotik, wenn sie auch noch so aflektstark ist, sich
nur nrit gehemmtem Ziel in der harmlosen Form der Zartlichkeit zu
aussern pflegt. Fur das im Schosse der Familie heranwachsende Kind
sind andere Beziehungen von gleicher Innigkeit undenkbar und auch fur
die Eltern gilt es seit altersher als das schonste Vorrecht, dass ihnen
die erste Zartlichkeit ihrer Kinder zugewendet wird. Bald beginnt dann
das Kind den einen Elternteil vorzuziehen, und zwar meistens, da sich die
Anziehung der Geschlechter auch im Verhaltnis zwischen Eltern und
Kindern geltend macht, jenen des entgegengesetzten Geschlechtes, von dem
es selbst mit besonderer Zartlichkeit bedacht wird. Mit dem anderen
Teile, oft auch mit den Geschwistern gerat es leicht in ein Rivalitats-
verhaltnis, da es mit niemandem teilen will ; neben die Liebe tritt dann
Feindseligkeit und der heftige Wun sch nach Beseitigung des
Nebenbuhlers.
In der Pubertat erlangt dann die Genitalzone ihr Primat, die
einzelnen Triebe verlieren ihre Selbstandigkeit und ordnen sich dem
Zwecke der Erreichung des normalen Sexualzieles unter. Einzelne, wie
der Bewaltigungstrieb des Mannes, finden im Sexualakt selbst ihre
Befriedigung, andere, z. B. der Schautrieb, dienen dazu, durch Gewahrung
von Vorlust die Spannung zu schaffen, durch welche der Sexualakt
vorbereitet und die Endlust herbeigefuhrt wird. So wie auf die ab-
gesonderte Befriedigung dieser Partialtriebe muss auch auf die erotische
Neigung gegen die Familienmitglieder verzichtet werden; die gegen ein
neues Ziel eingestellte Sexualitat ist gezwungen, auch ein anderes
ausserhalb der Familie liegendes, vollwertiges Objekt zu finden, was
ihr normalerweise nach einigem tastenden Suchen auch gelingt.
Die Sexualitat ist also demjenigen, der die Pubertat hinter sich
hat, nicht nur nichts Neues, er muss sogar auf einige bis dahin gewohnte
Arten der Befriedigung seiner Libido verzichten, so vor allem auf den
Sexualgenuss am eigenen Korper und auf die inzestu5se Fixierung an
die nachsten Verwandten. Wenn einer der Partialtriebe besonders stark
ausgebildet war, so wird er unter dem neuen Regime nicht mehr hin-
reichend auf seine Rechnung kommen.
So wenig die Libido in das Seelenleben neu hineintritt, so wenig
kann sie daraus wieder verschwinden. Jedes auf Erreichung von Lust
gerichtete Streben ist unzerstorbar. Es kann unter dem Einfluss innerer
oder ausserer Gewalten seine Gestalt andern, aber der Trieb wird stets
I. Das Unbewusste und seine Ausdruck&formcn. 7
noch aus seiner alten Quelle gespeist. Muss bei einer solchen Um-
anderung ein Lustgewinn ganz oder teilweise geopfert werden, well der
Trieb in der umgewandelten Form keine hinreichende Moglichkeit der
Befriedigung mehr findet, so bleibt er trotzdem weiter bestehen und ist
mit seinem ungestuinen Heischen nach der alten Lust ein gefahrlicher
Feind der neuen Ordnung der Dinge.
Die Folge dieses Verhaltnisses ware ein nie enden wollender Kampf:
das Bewusstsein, das im Dienste der Realitatsbeherrschung den von
der Aussenwelt kommenden Eindriicken zugewandt sein soil, ware durch
die endopsychische Wahrnehmung dieses JKampfes vollkommen mit Be-
schlag belegt und die psychische Okonomie dauernd gestort. Nur die
Verdrangung der uberwundenen Formen der Triebbefriedigung aus dem
Gesichtsfelde des Bewusstseins niaclit es dennoch moglich, dieses fiir die
Sinneswahrnehmungen often und die Psyche im Gleichgewiclit zu halten.
Mit welchen Meclianismen diese Aufgabe ins Werk gesetzt wird, werden
wir bald sehen.
Was wir bis jetzt kennen gelernt haben, bildet nur den Kern des
Unbewussten, nicht etwa seinen ganzen Umfang. Zwar wird auf keinem
Gebiete dem Menschen im Wege seiner Entwicklung so viel Yerzicht
zugemutet wie auf dem der Sexualitat und kaum irgendwo ist dieser
Verzicht scbwerer durchsetzbar , doch. bilden mit und neben ihr
noch andere dauernd unerfullt gelassene Wixnsche, auch wenn sie den
reinen „Ichtrieben" entstammen, den Inhalt des Unbewussten. Noch
oft tritt die Forderung auf, eine unliebsame Realitat, in der unsere
Wunscherfiillung keinen Platz findet, anzuerkennen und uns mit ihr
abzufinden. Das ist nun eine Leistung, die der Normalmensch regel-
mai3ig in seinem Bewusstsein zu erledigen vermag. Doch kann bei
Auftauchen des Bedlirfnisses, einern besonders peinlichen Konflikt zu
entfliehen, die Anziehungskraft jenes ersten Verdrangungsvorganges so
verlockend wirken, dass audi diese rezente Versagung auf dieselbe Weise,
durch Verdrangung, ihre Erledigung findet. Mit Ausnahme jener Falle,
wo schon der urspriingliche Verdrangungsvorgang nicht glatt verlaufen
war, gelingt auch dies. Als Folge des Missgliickens tritt die N euro se
in Erscheinung. Aber auch bei Gesunden finden unter der begiinstigenden
Einwirkung des Schlafzustandes die unerfullten Wunsche der Gegenwart
den Zusammenhang mit jenen der Kindheit und aus dieser Verbindung
■entsteht das Gebilde des Traumes. Da nun jeder Mensch nicht nur
Traumer, sondern auch in irgend einem Stlick dem Neurotiker an-
genahert ist - - sei es im Hinblick auf Angstafiekte, denen er unter-
liegt, sei es auch nur durch Produktion " der kleinen Fehlleistungen des
taglichen Lebens, — so lasst sich die Annahme rechtfertigen, dass auch
der Normale einen Teil seiner seelischen Konflikte, die durch ihre
Ahnlichkeit mit den infantilen dazu einladen, durch Verdrangung beseitigt.
8 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Wir wenden uns jetzt jener Gruppe von Kraften zu, durch welche
die Verdr angung zustande gebracht wird. Eine von ihnen haben
wir schon kennen gelernt, namlich die aus den organischen Ver-
anderungen vor und in der Pubertat stammende, durch welche das der
korperlichen Entwicklung entsprechende psychische Primat der Genitalien
und der auf ihre Betatigung gerichteten Triebanteile erforderlich wurde.
Der wichtigste Faktor aber sind die Anforderungen, welche das kulturelle
Milieu an den Heranwachsenden stellt, dem er sich ohne Abwendung
von seinen infantilen Wunschzielen nicht einordnen kann.' Die Ver-
drangung bezeichnet das Mafi des Opfers, das die kulturelle Entwicklung
einer Gemeinschaft ihren Mitgliedern auferlegt. Die Mittel, durch welche
sich die kulturellen Anforderungen dem Heranwachsenden bemerklich
rnachen, sind mannigfaltig. Weitaus das wichtigste ist die Beeinflussung
durch die Objekte der infantilen Liebeswahl — die Erziehung durch
die Eltern oder deren Ersatzpersonen.
Hier mtissen einige Triebmechanismen erwahnt werden, durch
welche das Gelingen der Aufteilung zwischen Bewusstem und TTn-
bewusstem erst ermoglicht wird. Wo Liebe und Hass, beide dem-
selben Objekt geltend, sich entgegenstehen, muss der schwachere Teil
ins Unbewusste weichen. Dieses ambivalente Verhalten lasst
sich auch bei einigen Trieben nachweisen, die aus einem Gegensatzpaar
zusammengesetzt sind (z. B. Sadismus und Masochismus). Da die beiden
Gegentriebe nicht nebeneinander existieren konnen, ubernimmt der
starkere die Fiihrung und verweist den schwacheren ins Unbewusste.
In alien Fallen bewirkt die Ambivalenz, dass der siegreiche Teil,
um seine Behauptung zu sichern, im bewussten Seelenleben eine unge-
wohnliche Intensitat zeigt (Reaktionsbildung), zu der auch der
unterlegene einen Energiebeitrag liefert, da ihm durch die Verdrangung
die Moglichkeit direkter Ausserung genommen wurde. Fiir die kulturelle
Einordnung noch wichtiger ist die Fahigkeit mancher Triebe, ihre Be-
friedigungsweise zu andern, indem sie statt des bisherigen ein anderes
Ziel der Lustgewinnung akzeptieren, wenn die Befriedigungsweise ahnlich
und zwischen dem alten und neuen Ziel ein assoziativer Zusammenhang
moglich ist. So gelingt es, wenigstens einen Teil der grobsexuellen
Triebe des Kindes auf hohere, kulturelle Ziele hinzulenken (Subli-
m i e r u n g). Der nicht verwandelbare Teil verf allt, soweit er nicht
direkt befriedigt werden darf, der Verdrangung.
Daraus, dass ein Wunsch unbewusst und von der direkten Affekt-
ausserung abgeschnitten ist, folgt also noch nicht, dass er gar keine
Wirkung mehr entf alten kann ; er iibt im Gegenteil auf die wichtigsten
Vorgiinge des Seelenlebens bestimmenden Einfluss, soweit dies unter
Wahrung der Bedingung des Ausschlusses vom Bewusstsein moglich ist.
An diesem Sachverhalt sind zwei Punkte einer naheren Aufklarung
I. Das Unbewusste und seine Ausdrucksformcn. 9
bediirftig: Erstens durch welche Mechanismen gelingt es dem Unbewussten
wirksam zu werden, ohne doch gegen die von der Verdrangung aufgestellte
Bedingung zu verstossen? Zweitens bei welchen psychischen Produkten
sind unbewusste oder vom Unbewussten her gelenkte Vorgiinge besonders
stark beteiligt?
Was die Mechanismen betrifft, durch die es den verdrangten Trieb-
regungen und unbewussten Wunschen gelingt, sich durchzusetzen und
das Tun und Denken des real eingestellten Kulturmenschen zu beeinflussen,
so dienen sie, wie es ja in der Natur des Konfliktes mit dem Bewusstsein
liegt, samtlich der Entstellung des Unbewussten und seinem Kompro-
miss mit dem Bewusstsein. Diese Entstellung wird je nach dem Ver-
drangungsstadium und dem psychischen Zustand des Individuums und
je nach der Kulturhohe der Basse, kurz entsprechend der herrschenden
Relation des Bewusstseins zum Unbewussten, verschieden stark ausfallen
und in sozialer Hinsicht jeweils verschied en wertvolle Kompromissleistungen
ergeben. Wie die Psychoanalyse uberhaupt das Vorstellungsleben als
Widerspiel des Trieblebens auffassen lehrt, so entsprechen auch die
einzelnen psychischen Mechanismen der Entstellung und Kompromiss-
bildung den yerschiedenen Moglichkeiten der Triebschicksale, von denen
wir ausser der Verdrangung noch andere, insbesondere Triebver-
wandlungen (darunter die Verkehrung ins Gegenteil) kennen. Fiir
uns kommen hier vor allem jene Vorgiinge in Betracht, welche nicht
wie die Verdrangung mit der Verweisung ins Unbewusste einen Ab-
schluss finden, sondern Ersatzbildungen ins Bewusstsein schicken,
die aus den ursprunglichen Affektquellen erhalten werden. Diese
Schicksale vollziehen sich an dem betreffenden Triebe selbst so gut wie
an seinen sublimierten Anteilen, So kennen wir auf psychischem Gebiete
den Mechanismus der tendenziosen Projektion, durch den eine innere
unvertriigliche Wahrnehmung nach aussen geworfen wird, und den
Mechanismus der Auseinanderlegung (Spaltung), der die fiir ge-
wohnlich im Unbewussten anstandslos vereinigten Elemente, besonders
Widerspruche (der Ambivalenz, des Gegensinnes etc.), in ihre Bestandteile
zerlegt, gewissermafien Gegensatze konstituiert, urn dem Bewusstsein
die gesonderte Annahme der mit einander unvertraglich gewordenen
Kegungen zu ermoglichen. Auf der anderen Seite haben wir die
sozusagen verinnerlichenden Mechanismen der eigentlichen Verdrangung
und der Verdi chtung (Kontamination), welche die fiir das Bewusstsein
unvertriiglichen Eleiuente, besonders Gegensatze, zu verschmelzen oder
aufzuheben suchen. Der Trieb verkehrung endlich entspricht die
Ersetzung durch das Gegenteil, wobei meist ein anstossiges
unbewusstes Element durch seinen im Bewusstsein ubermaJ&ig betonten
Widerpart vertreten ist. Andere Mechanismen wirken entstellend und
kompromissbildend durch die Affektverkehrung, ferner die Ver-
10 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeviling der Psychoanalyse etc.
schiebung des Affektes vom Bedeutsamen auf Unwesentliches, sowie
endlich durch Verlegung korperlicher Sensationen oder deren Vor-
stellung von anstossigen auf harmlose Stellen (Verlegung von unten
nach oben).
Arbeiten die genannten Mechanismen, wenn audi unter dera
tendenzios entstellenden Zwang der bevnissten Zensur, doch nach
eigenen, dem Unbewussten infolge seiner nahen Beziehung zum
Triebleben inharenten Gesetzen, so gibt es andere von den logisch en und
formalen Anspriichen des Bewusstsein s ausgehende Beeinflussungen,
die dem unbewussten Material weitere Modifikationen aufnotigen. Hierher
gehort vor allem die beim Traum sogenannte sekundiiro B e -
arbeitung, welche den in gewissen Partien zu stark, in anderen zu
wenig entstellten und daher zunachst unverstandlichen, Luck enhai ten
oder zu anstossigen unbewussten Anteil den Forderungen der voll-
bewussten psychischen Instanz anzupassen sucbt. Bei dieser Uberarbeitung
und Umordnung werden dem angestrebten Zusammenhang zuliebe einzelne
nicht mehr verstandene Elemente des Unbewussten nunmehr nach-
traglich logisch motiviert — im Laufe der Entwicklung oft sogar
mehrmals — und erhalten so einen neuen, sozusagen systemisierfcen Sinn,
Diese Art der sekundaren Bearbeitung, nanilich der Mechanismus der
vom Bewusstsein ausgehenden Rational is ierung oder Systera-
bildung, der fur das Zustandekommen und das psychoanalytisehe
Verstandnis insbesondere der grossen Kulturleistungen von weittragender
Bedeutung ist, stellt eine zweckmafiige Erganzung der Mechanismen des
Unbewussten dar, indem er die tendenzios entstellten unbewussten Beitrage
der Phantasie- und Geistestatigkeit zu neuen, sinnvollen Zusammen-
hiingen umordnet und xiberarbeitet. Die Kenntnis dieses Vorgangs
und die Moglichkeit seiner Reduktion auf die treibenden Krafte des Un-
bewussten gestatten der Psychoanalyse amPrinzip derUberdeter-
miniertheit alles psychischen Geschehens soweit das Un-
bewusste daran teilhat - audi dort festzuhalten, wo ein logisch
befriedigender Sinn und ein voiles bewusstes Verstandnis jede weitere
Erkliirung eines Phanomens iiberilussig zu machen und auszuschliessen
scheint. So wenig aber die Kenntnis des bewussten Anteiles fur sich *
allein das voile Verstandnis einer seelischen Leistung vermittelt, so
wenig vermag die Beriicksichtigung der unbewussten Motivierungen fiir
sich allein ihre voile Bedeutung zu erschopfen ; doch machen erst sie
die Genese des psychischen Produktes verstancllich und auch den Prozess
der Rationalisierung selbst in seiner Beziehung zur Ableugnung des
Verdrangten,
Ein weiterer, formaler Faktor, dem das Unbewusste bei seineni
jeweiligen Eintritt ins Bewusstsein Geniige leisten muss, ist die Rxick-
sicht auf Darstellbarkeit, die in den kulturell wertvollen, ins-
L Das Unbewusste und seine Ansdrucksformeii. H
besondere den kiinstlerischen Leistungen nicht minder eklatant wie im
Traumleben hervortritt. Es ist ohne weiteres verstandlich, dass das
Material, in welchem eine unbewusste Regung sich manifestiert, nicht nur
die Form bestimmt, sondern auch den Inhalt in gewissem Sinne beein-
flussen muss, dass also beispielsweise der Dichter dieselbe Empfindung
anders zum Ausdruck bringen muss als der Maler, der Philosoph den-
selben Gedanken anders als der Mythenbildner. Aber auch der jeweilige
' Zustand der Psyche wird sich in der Darstellung geltend machen, so
dass etwa der religi5s Inspirierte den gleichen Gefuhlen anderen Aus-
druck verleihen wird als der nuchterne Auf klarer und der Irre dieselben
Impulse anders darstellt als der Triiumer.
Ein letztes, wegen seiner besonderen Eignung zur Verhiillung des g 2 5D^
Unbewussten und zu seiner Anpassung (Kompromissbildung) an neue
Bewusstseinsinhalte uberall mit Vorliebe verwendete Ausdrucksmittel
des Verdrangten ist das Symbol. Wir verstehen darunter eine be-
sondere Art der indirekten Darstellung, die durch gewisse Eigen-
tiimlichkeiten von den ihr nahestehenden des Gleichnisses, der Metapher,
der Allegorie, der Anspielung und anderen Formen der bildlichen Dar-
stellung von Gedankenmaterial (nach Art des Rebus) ausgezeichnot ist.
Das Symbol stellt gewissermaiaen eine ideale Vereinigung all dieser
Ausdrucksmittel dar: es ist ein stellvertretender anschaulieher Ersatz-
ausdruck fur etwas Verborgenes, mit dem es sinnfallige Merkmale gemein-
sam hat oder durch innere Zusammenhange assoziativ verbunden ist.
Sein Wesen liegt in der Zwei- oder Mehrdeutigkeit, wie es ja selbst
auch durch eine Art Verdichtung, ein Zusammenwerfen (avjufidAAeiv)
einzelner eharakteristischer Elemente entstanclen ist. Seine Tendenz vom
Begrifflichen nach dem Ansehaulichen stellt es in die Nahe des primi-
tiven Denkens; durch diese Verwandtschaft gehort die Symbolisierung
wesentlich dem Unbewusten an, entbehrt aber als Kompromissleistung
keineswegs der bewussten Determinanten. die in verschieden starkem
Anteil die Symbolbildung und das Symbolverstandnis bedingen.
Will man die mannigfach abgestufte Schichten- und Reihenbildung
der Symbolbedeutungen und der Symbolerkenntnis verstehen, so muss
man sich einer genetischen Betrachtung zuwenden. Man erfahrt dabei,
dass die Symbolbildung nicht, wie es ihrer Mannigfaltigkeit nach zu
erwarten ware, willkurlich und nach individuellen Verschiedenheiten
vor sich geht, sondern dass sie bestimmten Gesetzen folgt und zu
typischen iiber Zeit, Ort, Geschlechts- und Rassenunterschiede, ja iiber
die grossen Sprachgemeinschaften hinwegreichenden allgemein mensch-
lichen Bildungen fuhrt. Uber die typische, allgemein menschliche
Bedeutung sagt der Asthetiker Dilthey: „Versteht man unter einem
naturlichen Symbol das Bildliche, das in fester gesetzlicher Beziehung
zu einem inneren Zustande steht, so zeigt die vergleichende Betrachtung,
12 Dr. 0, Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
dass auf Grund unseres psychophysischen Wesens ein Kreis natiirlicher
Symbole fur Traum und Wahnsinn, wie ftir Sprache und Dichtung
besteht". „Da die wichtigsten Verhaltnisse der Wirklichkeit uberall
verwandt sind, und das Herz des Menschen uberall dasselbe, gehen
Grundmythen durch die Menschheit. Solche Symbole sind: das Ver-
haltnis des Vaters zu seinen Kindern, die Beziehung der Geschlechter,
Kampf, Raub und Sieg."
Die Erforschung der typischen Symbolformen und die Herstellung *
ihres untergegangenen Verstandnisses durch das Zusammenarbeiten
verschiedener Hilfswissenschaften (wie Kulturgeschichte, Linguistik,
Ethnographie, Mythenforschung u. a.) ist allerdings kaum noch in Angriff
genommen. Psychoanalytisch am besten studiert und auch kultur-
geschichtlich am ehesten zu belegen ist jene grosse und hochbedeutsame
Gruppe von Symbolen, die der Darstellung sexuellen Materials und
erotischer Beziehungen dienen, der Sexualsymbole, wie wir kurz
zu sagen pflegen. Das Pravalieren der sexuellen Symbolbedeutungen
erklart sich aber nicht nur aus der individuellen Erfahrung, dass kein
Trieb in dem Mafie der kulturellen Unterdrlickung unterworfen und der
direkten Befriedigung entzogen ist wie der aus den verschiedensten
„perversen (t KomponentenzusammengesetzteSexualtrieb ; dessenpsjchischer
Bereich, das Erotische, daher in weitem Umfang der indirekten Darstellung
fahig und bediirftig ist. Eine weit grossere Bedeutung fur die Genese
der Symbolik hat die Tatsache, dass den Geschlechtsorganen und
-Funktionen in primitiven Kulturen eine fiir unsere Begriffe ganz
ungeheure Wichtigkeit beigelegt war, von der wir uns durch die
Ergebnisse der ethnographischen Forschung und die in Kult und Mythus
erhaltenen Heste eine annahernde Vorstellung machen konnen 1 ). Dieser
Sexualoiberschatzung des primitiven Menschen und ihrer eintnal not-
wendig gewordeuen Einschrankung verdanken wir die Grundlagen der
Kultur so gut wie wir den weiteren Ausbau der fortgesetzten
Sublimierung einzelner unbefriedigbar gewordener und verdrangter Trieb-
komponenten schulden, Wenn wir beispielsweise heute das P flu gen
oder das Feuererzeugen als das ein em Traumer vollkommen un-
bewusste Symbol des Geschlechtsaktes verwendet finden, so lehrt das
Studium der Kulturgeschichte, dass diese Verrichtungen ursprtinglich
tatsachlich den Sexualakt vertreten haben, d. h. mit den gleichen
libidinosen Energien, eventuell auch mit den zugehorigen Vorstellungen
besetzt waren wie dieser. Ein geradezu klassisches Beispiel dafiir bietet
die Feuererzeugung in Indien, die dort unter dem Bilde der Begattung
vorgestellt wird. Im Rigveda (III 29, 1) heisst es:
i) Vergl. R. Payne Knight: „Le culte du Priape". Bruxelles 1883 und
Dulaure: „Die Zeugung in Glauben, Sittenund Brauchen der Vblker\ Verdeutscht
und erganzb von Krauss, Reiskel und Ihm.
I. Das Unbewusste und seino Ausdrucksformen. 13
„Dies ist das Quirlholz; das Zeugende (das mannliche Reibholz)
ist zubereitet! Bring die Stammesherrin (das weibliche Reibholz) herbei;
den Agni wollen wir quirln nach alter Art. In den beiden Reibholzern
ruht der Wesenkenner (Agni) gleich der Leibesfrucht, die schon hinein-
gesetzt ist in die schwangeren Frauen ... In sie, die die Beine aus-
gespreitzt hat, fahrt als ein Kundiger ein (das mannliche- Holz). B (Nach
L. v. Schr5ders Ubers. in „Mysterium und Miraus im Rigveda 8 ,
S. 260). Wenn der Inder Feuer entziindet, dann spricht er ein heiliges
Gebet, welches auf eine Mythe bezug nimmt. Er ergreift ein Stuck
Holz mit den Worten 1 ): „Du bist des Feuers Geburtsort", legt darauf
zwei Grashalme. „Ihr seid die beiden Hoden tf , darauf ergreift er das
unten liegende Holz: „Du bist Urvaci". Darauf salbt er das Holz mit
Butter und sagtdabei: „Du bist Kraft K , stellt es dann auf das liegende
Holz und sagt dazu: „Du bist Pururavas" usw. Er fasst also das
liegende Holz mit seiner kleinen Hohlung als die Representation der
empfangenden Gottin und das stehende Holz als das Geschlechtsglied
des begattenden Gottes auf. Uber die Verbreitung dieser Vorstellung
sagt der bekannte Ethnologe Leo Frobenius: „Das Feuerquirlen, wie
es bei den meisten Volkern zu finden ist, reprasentiert also bei den alten
' Indern den Geschlechtsakt. Es sei mir erlaubt, gleich darauf hinzuweisen,
dass die alten Inder mit dieser Auffassung nicht allein dastehen. Die
Siidafrikaner haben namlich dieselbe Anschauung. Das liegende Holz
heisst bei ihnen „ weibliche Scham", das stehende „das Mannliche" 2 ).
S chin z hat dies seinerzeit fur einige Stamme erklart und seitdem ist
die weite Verbreitung dieser Anschauung in Siidafrika u. z. bes. bei den
im Osten wohnenden Stammen aufgefunden worden." („Das Zeitalter
des Sonnengottes. 8 Berlin 1904, S. 338 f.)
Zwischen den beiden extremen Stadien, der realen Identifizierung
(im Gebrauch) und der unbewussten Symbolyerwendung (im Traum)
liegen andere mehr oder weniger bewusste Symbolbedeutungen, welche
in dem Mafie, in dem sie unkenntlich wurden, in der Sprache Nieder-
schlag gefunden haben. Noch deutliche Hinweise auf die sexual-
symbolische Bedeutung des Feuerziindens finden wir im Feuerraubmythus
des PrometTieus, dessen sexualsymbolische Grundlage der Mythologe
Kuhn (1859) erkannt hat. Wie die Prometheussage bringen auch
andere tJberlieferungen die Zeugung mit dem himmlischen Feuer, dem
Blitz, in Zusammenhang. So aussert 0. Gruppe a ) iiber die Sage
!) Nach Schroder fiihren schon die altesten Ritualtexte, die Jajurweden
diese Formel an.
2) Im Hebraischen bedeuten die Ausdriicke fiir ^mannlich" und n weiblich tt
geradezu: der Bohrer und die Gehohlte.
3) Griech. Mythol. u. Relig. Gesch. Bd. II (Miinchen 1906), S. 1415 ff.
14 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
von Semele, aus deren brennendem Leib Dionysos geboren wird, sie
sei „wahrscheinlich einer der in Griechenland sehr sparlichen Keste des
alten Legendentypus, der sich auf die Entflammung des Opferfeuers
bezog", nnd ihr Name habe B vielleieht urspriinglich die .Tafel' oder
den ,Tisch k . das untere Reibholz (vergl. Hesych. aejuefa] TQaxe^a)
bezeichnet .... In dem weichen Holz des letzteren entziindet sich
der Funke, bei dessen Geburt die , Mutter' verbrennt*. — Noch in der
mythisch ausgeschmiickten Geburtsgeschichte des Grossen Alexander
heisst es. dass seine Mutter Olympias in der Nacht vor der Hochzeit
traumte, es umtose sie cin machtiges Gewitter und der Blitz fahre
flammend in ihren Sehoss, daraus dann ein wildes Feuer hervor-
breclie und in weit und weiter zetoenden Flammen verschwinde *)
(D r o y s e n : Geseh. Alex. d. Gr., S. Q9). Hierher gehort ferner die beruhmte
Fabel vom Zauberer Virgil, der sich an einer sproden Sehonen dadurch
racht, dass er alle Feuer der Stadt verloschen und die Burger ihr neues
Feuer nur am Genitale der nackt zur Schau gestellten Frau entziinden
lasst; diesem Gebot der Feuerzundung stehen andere Uberlieferungen
im Sinne der Prometheussage als Verbot derselben gegeniiber, wie das
Marchen von Amor und Psyche, das der neugierigen Gattin verbietet,
den nachtlichen Liebhaber durch Lichtanzunden zu verscheuchen, oder'
die Erzahlung von Periander, den seine Mutter unter der gleichen
Bedingung allnachtlich als unerkannte Geliebte besuchte. Aber auch
unsere heutige Sprache hat noch vieles von dieser Synibolik bewahrt:
wir sprechen vom „Lebenslicht", vom „Ergluhen" in Liebe, vom „Feuer-
fangen" im Sinne von Verlieben und bezeichnen die Geliebte als „Flanime".
Entsprechend dem unteren Reibholz gilt dann jede Feuerstatte,
Altar, Herd, Ofen, Lampe etc., als weibliches Symbol. So diente
beispielsweise bei der Satansmesse als Altar das Genitale eines ent-
blosst daliegenden Weibes. Dem griechischen Periander wird nach
Herod ot (V, 92) von seiner verstorbenen Gattin Melissa eine Weis-
sagung zuteil mit der Bekraftigung, er habe „das Brob in einen kalten
Ofen geschoben", was ihm ein sicheres Wahrzeichen war, „da er den
Leichnam der Melissa beschlafen". Das Brot ist hier dem Phallus gleich-
gesetzt; nach den interessanten Arbeiten vonHofler, namentlich iiber
B Gebildbrote K , ahmen noch unsere heutigen Wecken- und Striitzelgebacke
den Phallus nach (vergl. bes. Zentralblatt f. AnthropoL etc. 1905, S. 78).
Aber das im Backofen Erzeugte, das Brot, wird auch mit dem im
Mutterleib Erzeugten, dem Kind, verglichen, wie noch der Name „Leib K
(erst spater in „Laib" unterschieden) und die Form (mit dem Nabel in
der Mitte) erkennen lassen. Andererseits umschreibt man die Geburt
i) Ahnlieh tr&umt die mit Paris sclrwangere Hekuba, sie bringe ein brennendes
Scheit zur Welt, das die ganze Stadt in Brand setze. (Vergl. dazu den Brand des
Tempels von Ephesus in der Geburtsnacht Alexanders).
I. Das Unbewusste imd seine Ausdrucksformen. 15
noch heute in Tirol mit clem Ausdruck: der Ofen ist eingefallen, wie
auch Franz Moor in S ch i 1 1 or $ „Rauber tf die einzige briiderliche
Beziehung zu Karl darin erblickt, dass sie 9 aus dem gleichen Ofen
geschossen 8 seien. Aber die sexuelle Bedeutung greift auf alles iiber, was
mit dem urspriinglichen Symbol in Beziehung tritt. Die Esse, durch die
der Storch das Kind fallen lasst, wird zum weiblichen, der Schornstein-
feger zum phallischen Symbol, wie man noch an seiner jetzigen Glucks-
bedeutung erkennt; denn die meisten unserer Gluckssymbole waren
urspriinglich Fruchtbarkeitssymbole, wie das Hufeisen (Rosstrappe), das
Kleeblatt. die Alraune u. a. m., und so erscheint das Sexualleben wieder
innig mit der Vegetation und dem Ackerbau verbunden.
Fur die urspriinglich sexuelle Betonung des Pfiiigens war, ausser der
phallischen Bedeutung fast aller Werkzeuge *), die Auffassung der Erde
als Ur-Mutter mafigebend (vgl. das schone Buch von D i e t e r i c h
„Mutter Erde e , 2. Auflage, 1913). Dem Altertum war diese Vorstellung
so gelaufig, dass sogar Traume , wie beispielsweise der ^von Julius
Ciisar und Hippias berichtete, vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter
auf die Mutter-Erde und deren Besitzergreifung gedeutet wurden. Auch
im Sophokleischen ^Odipus" spricht der Held wiederholt von der
„Mutterflur, von wo erselbst entkeimet war." Und noch Shakespeare
lasst im „ Pericles" den Boult, der die widerspenstige Marina en tjungfern
soil, das Symbol yom Ackern gebrauchen (IV, 5): „An if she were a
thornier piece of ground than she is, she shall be ploughed." Zu bekannt,
urn hier genannt zu werden, sind die Benennungen menschlicher Zeugungs-
vorgange aus dem Bereiche des Ackerbaues (Samen, Befruchtung etc.).
Die diesen sprachlichen Beziehungen zugrunde liegende Identifizierung
der menschlichen und vegetativen Befruchtung ist offen erkennbar in
dem his in spate Zeit erhaltenen Befruchtungszauber, der darin
besteht, dass ein nacktes Paar auf dem Acker den Geschlechtsakt ausiibt,
gleichsam um den Boden zur Nachahmung aufzumuntern. Bemerkenswert
ist in diesem Zusammenhang, dass sowohlim Griechischen und Lateinischen
wie in den orientalischen Sprachen „pflugen" fur gewohnlich im Sinne
von Koitieren gebraucht -wird (Kleinpaul, Ratsel d. Sprache S. 136)
*) Messer, Hammer, Nagel etc. Der Hammer Thors, mit dem insbesondere der
Ehebund geweiht wurde, ist von Cox (Myth, of the Aryan Nations 1870, vol. H
p. 115), Meyer (Germ. Myth. 1891. S. 212) u. a. in seiner phallischen Bedeutung
anerkannt und der entsprechende Donnerkeil Indras ist sein Phallos (Sehlesinger:
Geseh. d. Symbols, 1912, S, 438). ttber den Nagel fiihrt Hugo Winckler aus :
„Der Nagel ist das Werkzeug der Fruchtbarkeit, der penis; daher dessen Gestalt in den
altbabylonischen , cones' noch zu erkennen ist, welche den eingeschlagenen clavis der
Romer vertreten; vergl. arabisch na'al = koitieren (^Arabisch-Semitisch-Orientalisches 14 ,
Mitt. d. Vorderasiat. Ges. 1901, 4/5). Noch im heutigen Volksleben der Bayern,
Schwaben und Schweizer soil der eiserne Nagel als Symbol des Phallus und der
Fruchtbarkeit eine Rolle spielen (Arch. f. Kriminalanthrop., Bd. 20, p. 122).
16 T>t. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
unci dass nach Winckelmann (Alte Denkmaler der Kunst) die Aus-
driicke „ Garten", „Wiese ff , .Feld tt ini Griechischen scherzhaft den
weiblichen Geschlechtsteil bezeichneten, der im Hohenlied Salomonis der
s Weinberg" heisst. Das neurotische Gegenstuck zu dieser symboli-
sierenden Vermenschlichung der Erde findet sich bei den Indianern
Nordamerikas , deren Widerstand gegen die Pflugkultur sich nach
Ehrenreich daraus erklart, dass sie sich scheuen, die Haut der Erden-
mutter zu verletzen; hier ist die Identifizierung sozusagen zu gut ge-
lungen.
Andere Symbole von scheinbar individueller Bedeutung lassen ihre
typische Form und Geltung aus entwicklungsgeschichtlichen Zusammen-
hangen erkennen, wie beispielsweise die Symbolisierung des Vaters
als Kaiser oder einer anderen machtigen Autoritatsperson. Auch hier
zeigt die Kulturhistorie die urspriinglich reale Bedeutung der spater nur
noch im Symbol fortlebenden Beziehung darin, dass der Vater in primi-
tiven Verhaltnissen seiner „Familie tt gegenuber wirklich mit den hochsten
Machtvollkommenheiten ausgestattet war und uber Leib und Leben der
„Untertanen a verfugen konnte. Uber den Ursprung des Konigtums aus
dem Patriarchat in der Familie aussert sich der Sprachforscher Max
Muller in folgender Weise: B Als die Familie im Staate aufzugehen
begann, da wurde der Konig inmitten seines Volkes das, was der Ge-
mahl und Vater im Hause gewesen war: der Herr, der starke Schutzer *).
Unter den mannigfachen Bezeichnungen fur Konig und Konigin im
Sanskrit ist eine einfach: Vater und Mutter. Ganaka im Sanskrit be-
deutet Vater yon GAN zeugen; es kommt auch als Name eines wohl-
bekannten Konigs im Veda vor. Dies ist das altdeutsche chuning,
englisch king. Mutter im Sanskrit ist gani oder gani, das griechisehe
yvvrj, gotisch quino, slawisch zena, englisch queen. Konigin also be-
deutet urspriinglich Mutter oder Herrin und wir sehen wiederum, wie
die Sprache des Familienlebens allmahlich zur politischen Sprache des
altesten arischen Staates erwuchs, wie die Briiderschaft der Familie die
(pQOXQta des Staates wurde. u . — Auch heute noch ist diese Auffassung
des koniglichen Herrschers und der gottlichen und geistlichen Ober-
hoheit als Vater im Sprachgebrauch lebendig. Kleinere Staaten, in
denen die Beziehungen des Fiirsten zu seinen Untertanen noch engere
sind, nennen ihren Herrscher „Landes vater" ; selbst fur die Volker
des machtigen Russenreiches ist ihr Kaiser das B Vaterchen", wie
seinerzeit fiir das gewaltige Hunnenvolk ihr Attila (Diminutiv von got.
atta = Vater). Das herrschende Oberhaupt der katholischen Kirche
l ) Vater ist von einer Wurzel PA ahgeleitet, welche niekt zeugen. sondern
beschutzen, unterhalten, ernahren bedeutet. Der Yater als Erzeuger hiess im
Sanskrit ganitar (genitor). Max M tiller; Essays, II. Bd., Leipzig 1869, deutsche
Ausg., S. 2).
1. Das Unbewusste und seine Ausdruckst'onneti. 17
wird als Vertreter Gott-Vaters auf Erden von den Glaubigen „heiliger
Vater" genannt und fuhrt im Lateinischen den Namen g Papa a (Papst),
mit dem auch unsere Kinder noch den Vater bezeichnen.
Diese wenigen Beispiele mogen gemigen, nm das hohe Alter, den
reichen Inbalt, den weiten und typischen Geltungsbereich, die kultur-
geschichtliche wie individuelle Bedeutung der Symbolik zu kennzeichnen
und auf das Fortleben der symbolbildenden Krafte im Seelenleben des
beutigen Kulturmenschen hinzuweisen.
Psychologisch betrachtet bleibt die Symbolbildung ein Regressiv-
phanomen, ein Herabsinken auf eine bestimmte Stufe bildlichen Denkens,
das sicli beim vollwertigen Kulturmenschen in deutlicbster Auspragung
in jenen Ausnahmszustanden findet, in denen die bewusste Realanpassung
entweder teilweise eingeschrankt ist ? wie in der religiosen und kiinst-
lerischen Ekstase, oder ganzlich aufgehoben erscheint, wie im Traum
und den Geistesstorungen. Dieser psychologischen Auffassung ent-
spricht die kulturhistorisch nachweisbare urspriingliche Funktion der der
Symbolisierung zugrunde liegenden Identifizierung als
eines Mittels zur Realanpassung, das uberfliissig wird und zur blossen
Bedeutung eines Symbols herabsinkt, sobald diese Anpassungsleistung
gegliickt ist. So erscheint die Symbolik als der unbewusste Nieder-
schlag iiberfliissig und unbrauclibar gewordener primitiver Anpassungs-
mittel an die Realitat, gleichsam als eine Rumpelkammer der Kultur,
in die der erwacbsene Mensch in Zustiinden herabgesetzter oder
mangelnder Anpassungsfahigkeit gerne fliichtet, um seine alten, langst
vergessenen Enderspielzeuge wieder hervorzuholen. Was spatere Gene-
rationen nur noch als Symbol kennen und auffassen, das batte auf
fruheren Stufen geistigen Lebens vollen realen Sinn und Wert. Im
Laufe der Entwicklung verblasst die urspriingliche Bedeutung immer
mehr oder wandelt sich sogar, wobei allerdings Sprache, Folklore,
Witz u. a. oft Reste des ursprunglichen Zusammenhangs in mehr oder
weniger deutlicher Bewusstheit bewahrt haben.
Die weitaus umfassendste und bedeutsamste Gruppe primitiver, dem
bewussten Denken ziemlich ferngeriickter Symbole bilden diejenigen,
welche Erscheinungen und Vorgange der Aussenwelt urspriinglieh im
Dienste der Anpassung sexualisierten, um in spateren Stadien die diesem
ursprunglichen Sinn wieder entfremdeten Anthropomorphismen als
„ Symbole* des Sexuellen zu verwenden. Ausser diesen scheint es noch
andere Fornien und Mechanisrnen der Symbolbildung zu geben, welche
umgekehrt den menschlichen Kfirper, seine organischen Vorgange und
psychischen Zustande durch harmlose oder anschaulich leicht darstellbare
Dinge der Aussenwelt symbolisieren. Hierher gehort die Kategorie der
somatischen Symbole, am besten bekannt aus den Traumforschungen
Schemers, welche Korperteile oder ihre Funktionen bUdlich dar-
Gronzfragpn ties Xerven- und Seelenlehens. (Heft XCIII.) 2
18 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedentung der Psychoanalyse etc.
stellen (z. B. Zahnreihen als Hauserreihen, Urindrang als tlber-
schwemnning etc.), und die Kategorie der (von H. Si lb e re r) sog.
funktionalen Symbole, welche endopsyehisch wahrgenommene
Zustande und Vorgange des eigenen Seelenlebens (das jeweilige Funktio-
nieren der Psyche) plastisch darstellen (etvva die triibe Gemutsstimmung
durch das Bild einer diisteren Landschaft, das Einarbeiten in schwierige
Gedankengange durch das muhselige Aufsteigen auf einem sich immer mehr
verengenden Pfad u. A.). Diese beiden Arten „introjizierender K Symbol-
bildung, welche der erstgeschilderten aprojizierenden* der mater ialen
Kategorie, die das psychisch Inhaltliche versinnbildlicht, scheinbar
gegeniiberstehen , sollten vielleicht besser nicht als besondere Arten
der Symbolbildung angesehen werden, sondern als bildliche Dar-
stellungs arten korperlicher und psychischer Vorgange , die bei
der eigentlichen Symbolbildung in gewissem Ausmafie regelmaJJig mit
unterlaufen. So wird z. B. im phallischen Symbol der Schlange neben
der Form, Fahigkeit sich aufzurichten, Glatte, Geschmeidigkeit des Phallus
besonders dessen Gefahrlichkeit und Unheimlichkeit dargestellt, also
nicht wesentliche Bestandteile desselben, sondern bestimmte psychische
Einstellungen dazu (Angst, Abscheu), von denen andere auch tatsachlich
zu anderen Symbolisierungen des mannlichen Gliedes fuhren (z. B. als
Vogel etc.), wahrend in manchen wieder gewisse somatische Eigen-
tumlichkeiten und Zustande (Stock = Erektion, Spritze = Ejakulation,
leere Ballonhiille Schlaffheit) Darstellung finden.
Zusammenfassend lassen sich fur das eigentliche Symbol im psycho-
analytischen Sinne, wie wir es am besten aus der Sprache des Traumes
kennen, aber auch in einer Reihe anderer seelischer Produktionen wieder-
finden, folgende Charakteristika aufstellen:
Die Stellvertretung fur Unbewusstes, die konstante
Bedeutung, die Unabhangigkeit von individuellen Be-
dingungen, die entwicklungsgeschichtliche Grundlage,
die sprachlichen Beziehunge n r die phylogenetischen
Parallelen (in Mythus, Kult, Religion etc.). Das Zutreffen dieser
Bedingungen, unter denen wir von einem Symbol sprechen und von
denen bald diese, bald jene einwandfrei nachweisbar sind, bietet uns
zugleich die Moglichkeit, die aus dem individuellen Seelenleben erkannten
Symbolbedeutungen zu verifizieren und eine auf diesem vagen und viel-
deutigen Gebiet besonders schatzenswerte Sicherheit. Weitere Unter-
stutzung bei der Symbolerforschung gewahrt das reiche im Folklore
und Witz niedergelegte Material, das haufig genug auf anderen Ge-
bieten nur unbewusst verwendete, besonders sexuelle Symbole so ver-
wendet, als mtissten sie jedem gelaufig sein l ) t Eine sehr merkwurdige
*) Die gewissen Formen des Witzes nahestehenden absz&ncn Riitsel sind
in ihrer tlberwiegenden Menge nach Scluiltz (Ratsel aus dem helleniselien Kultur-
I. Das Unbewusste und seine Ausdrucksformen. 19
Bestatigung und teihveise Bereicherung erfahrt unsere Symbolkenntnis
ferner durch das psychoanalytische Studium gewisser Geisteskranker,
yon denen ein Typus, die sog. Schizo- oder Paraphreniker, die Eigen-
tumlichkeit hat, uns die geheimen Symbolbedeutungen offen zu verraten.
Endlich haben wir in allerjiingster Zeit sogar ein experimentelles
Verfahren gewonnen, das die Yerifizierung bekannter und die
Auffindung neuer, zunachst individueller Symbole in einwanclfreier
Weise gestattet und jeden Zweifel an der Existenz einer sexuellen
Traumsymbolik zerstreut 1 ). AIs solche gleichsam von der Natur an-
gestellte Experimente durfen auch gewisse Traume betrachtet werden,
in denen "ein korperliches Bedurfnis sexueller oder anderer JSTatur sich
in bestimmten typischen Synibolen zu befriedigen sucht, ehe der Reiz
zum Erwachen und damit zur Feststellung der Symbolbedeutungen
fuhrt (Wecktraum). - AIs ein nicht zu unterschatzendes, wenn auch
nur heuristisches Prinzip der Symbolforschung ist schliesslich der Erfolg
derselben anzusehen, der uns gestattet, unverstandlichen Ausserungen
des Seelenlebens einen guten Sinn und tiefe Bedeutung abzugewinnen,
Was diese Art des wissenschaftlichen Beweises auf dem Gebiet der
Symboldeutung betrifft, teilen wir voll und ganz die Auffassung des
My then- und Sprachforschers Wilhelm Miiller, die er vor mehr als
eineni halben Jahrhundert gegen seine Fachgenossen vertreten hat:
„Wie wir die Bedeutung unbekannter Worte dadurch ermitteln, dass
wir dieselbe zunachst aus dem Zusammenhange einer Stelle erraten und
sie fur richtig halten, wenn sie an alien Stellen, wo das Wort wieder-
kehrt, passt, so ist die Erklarung eines Symbols, abgesehen von anderen
Stutzpunkten, dann fiir richtig zu halten, wenn dasselbe allenthalben,
wo es erscheint, oder doch in einer grossen Anzahl von Fallen, dieselbe
Erklarung zulasst und diese in den Zusammenhang des Mythus passt. fc
Die Kenntnis des eigentlichen unbewussten Sinnes und das Ver-
standnis ist weder bei alien Symbolen gleich, noch bleibt es im Laufe
kreise 1912, II. Teil) fl ursprunglieh keine Riitsel, sondern symbolische, zum Teil
sogar dialogisch gestaltete Schilderungen der rituellen Vorgange der Feuererzeugung
und Rauschtrankgewinnung gewesen", die im Verein mit geschlechtlicher Zeugung „im
Mittelpunkte altes arisches Ritual es standen." — „Wenn sie bei der betreffenden
Handlung gesungen wurden, konnte iiber den Sinn solcher Verse kein Zuhorer im
Zweifel sein. K „Erst spiiter, als mit der religiOsen Obung auch dieses Verstiindnis
verblasste, wurden sie zu ,R&tseln ( und mussten sieh an verschiedene uberlieferte
Losungen anpassen lassen." (S. 117 f,)
!) Der Versuchsperson wird der hypnotische Auftrag erteilt, etwas Bestimmtes,
etwa eine sexuelle Situation zu traumen. Sie traumt dieselbe aber nicht in direkter
Darstellung. wie dies bei harmlosen Auftragen der Fall ist, sondern in symbolischer
Verkleidung, die vollauf der im gewohnlichen Traumleben durch Psychoanalyse
aufgedeckten entspricht. Vergl. Dr. Karl Schrottet: „ Experimented Traume 1 *
(Zentralbl. f. Psa., II, 1912).
2*
20 Dr. 0. Hank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
der Entwicklung und des Bedeutungswandels desselben Symbols konstant.
Audi ist innerhalb eines durch den ungefahr gleichen Bewusstseins-
inhalt zusammengefassten Kulturkreises das Symbolverstandnis je nach
den Oebieten der Anwendung, der Volksschicbte, in der es auftritt,
und dem psycbischen Zustand des Auffassenden versehiedeh. Es zeigt
sich, dass die Bedingungen des Symbolverstandnisses zu den Tendenzen
der Symbolbildung in einer gegensatzlichen Korrelation stehen. Indem
die symbolische Darstellung in den Dienst unbewusster Strebungen
tritt, urn das anstossig Gewordene in verkleideter Form ins Bewusstsein
zu schmuggeln, muss ibr eine gewisse Unbestimmtheit anhaften, die
von der leicht zu durcbscliauenden Zweideutigkeit (in der Zote und im
Witz) bis zur volligen IJn vers tan dlichkeit (in Traum und Neurose) ab-
gestuft sein kann. Zwischen diesen beiden extremen Einstellungs-
moglicbkeiten des Bewusstseins zum Symbol und seinem Verstandnis
liegt eine Reihe sozusagen vollwertiger Symbolisierungen , wie sie
Religion, Mythus und Kunst aufweisen, die einerseits eine verstandes-
mafiige Darstellung und Auffassung ermoglichen, anderseits aber doch
nicht des tiefen unbewussten Sinnes entbehren.
Damit sind wir bei der zweiten der oben aufgeworfenen Fragen
angelangt, namlich bei welchen psychiscben Produkten unbewusste oder
Yom Unbewussten her gelenkte Vorgange sich mittels der geschilderten
Mechanismen besonders deutlich geltend machen.
Wir haben schon einiger Bildungen Erwahnung getan, welche
eine Storung der normalen Geistestatigkeit bedeuten und ihre enge Be-
ziehung zum Unbewussten nicht verleugnen konnen. Es sind dies jene
Falle, wo der unbefriedigende Ausgang des Konflikts zwischen Un-
bewusstem und Verdrangung, unterstiitzt von anderen Umstanden, eine
Erkrankung verschuldet; solche Krankheiten infolge misslungener oder
wieder nickgangig gemachter Verdrangung zahlen wir zu den Psychosen,
wenn sie dauernd das normale Verhaltnis zur Realitat aufheben;
Psychoneurosen nennen wir sie, wenn trotz der teilweisen Ruck-
kehr zur infantilen Einstellung die wesentlichen Zuge der kulturellen
Personlichkeit intakt geblieben sind. Ein verwandter Fall ist die
Hypnose und Suggestion, denen auch Normale und Gesunde unterliegen.
Ein zeitweiliger Verlust der Realitiitsfunktion tritt im Schlafe ein
und die an ihn gekniipffce Seelentatigkeit, die als Traum vor das Be-
wusstsein tritt, wird hauptsiichlich vom Unbewussten beherrscht, Schliess-
lich gehoren in diese Reihe die Fehlhandlung en, wie Versprechen,
Verschreiben, Namen-Vergessen, Vergreifen und dergleichen, die deut-
lich auf die Einwirkung einer der bewussten Einstellung entgegen-
wirkenden psycbischen Instanz hinweisen.
Alle diese Phanomene haben das Gemeinsame, dass sie die Be-
ziehungen zu den Mitmenschen abzureissen und zu schwachen suchen.
L Das Unbewusste und seine Ausdrucksformen. 21
Der isolierende und den Menschen aus Beruf und Familie heraushebende
Charakter der Neurosen und Psychosen ist allgemein bekannt. In der
Hypnose wird der Hypnotisierte dem Einfluss eines einzigen Menschen
unterstellt, so dass er von alien ubrigen abgeschnitten erscheint, Im
Schlafe ist diese Abschneidung in der denkbar vollstandigsten Weise,
ohne Ausnahme fiir irgend eine Person, durchgefiihrt. Die Fehlhand-
lungen des Vergessens und ahnliche haben meist das Resultat, dass sie
die .Mitteilungsfahigkeit, wenn auch in geringfiigiger Weise, beein-
trachtigen, andere, wie z. B. das Vergreifen, fuhren oft dazu, die Um-
gebung zu schadigen.
Es ware begreiflich, wenn das Unbewusste, das ja im wesentlichen
aus der vorsozialen Zeit des Menschen stamrat, sich auch vornehmlich
in asozialen oder antisozialen Phanomenen, wie es die bisher aufgezahlten
sind, ausserte. Tatsachlich ist aber das Unbewusste im Seelenleben
von solcher Bedeutung, dass ein erheblicher kultureller Fortschritt sich
gegen sein Widerstreben kaum hatte durchsetzen lassen. Es war im
Gegenteil notwendig, die ausserordentlich intensiven Triebkrafte aus
dieser Quelle zur Teilnahme an der sozialen und kulturellen Arbeit zu
gewinnen, da ohne die von ihnen gelieferten Energiemengen kein Erfolg
erzielbar gewesen ware.
Die nutzlichen, zur Verlangerung des Lebens und Erhohung der
Lebenshaltung dienenden Tatigkeiten waren meist unbequem und
muhselig. Liess es sich aber so einrichten, dass dabei die verdrangten
Wiinsche eine, wenn auch nur symbolische, Befriedigung fanden, dann
wurden diese wichtigen Handlungen lustvoll und damit war fiir ihre
Auslibung ein wesentlicher Anreiz gegeben. Zu solcher Lustgewinnung
in symbolischer Betatigung, bei der die Phantasie das Beste tun musste,
eignen sich unter den versagten Wiinschen die sexuellen am besten,
da sich bei ihnen das Ziel von der Realitat auf die halluzinatorische
Befriedigung eher verschieben lasst als bei den „Ichtrieben ff , deren reale
Befriedigung fur die Erhaltung des Individuums notwendig ist und die,
wie z. B. der Hunger, keine andere Form derselben dulden konnen.
Wir haben gesehen, dass das Unbewusste derjenige Teil des Seelen-
lebens ist, der auf unmittelbare Lustgewinnung eingestellt, sich der
Realitatsanpassung nicht fugen will. Soweit also die menschliche
Geistestatigkeit sich ausschliesslich der Realitat und ihrer Beherrsehung
zuwenden musste, konnte mit dem Unbewussten nichts angefangen
werden. Aber auf alien jenen Gebieten, wo dem Geiste eine Abwendung
von der Wirklichkeit gestattet war, wo die Phantasie ihre Fliigel regen
durfte, war ihm sein Anwendungsgebiet gesichert. Wenn wir deshalb
auf alteren Kulturstufen Tatigkeiten, die fiir uns mit der Phantasie
nichts mehr zu tun haben, wie z. B. den Ackerbau oder die Rechtsprechung,
mit symbolisch-phantastischen Handlungen durchsetzt finden, so erklart
22 Dr. (», Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
sich dies daraus, dass in primitiveren Verhaltnissen die Anspruche des
Unbewussten noch starker ausgepragt waren als bei uns.
Andere Kulturprodukte, bei denen die Phantasietatigkeit eine
wesentliche Rolle spielte, haben ihren Charakter rein zu bewahren gewusst
oder sogar die ihnen ehemals zukommende Realitatsfunktion aufgegeben ;
in diese Gruppe gehoren Religion und Kunst, mit alien ihren Vorlaufern
und Nebenerscheinungen.
Vor uns stent also eine doppelte Reihe: auf der einen Seite die
asozialen, auf das Individuum beschrankten und berechneten Ausserungs-
formen des Unbewussten, vor allem Traurn und Neurose, die uns hier
nicht weiter beschaftigen, auf der anderen die fiir Entstehung und Ent-
wicklung des Kulturlebens bedeutsamsten Phiinomene, Mythos und
Religion, Kunst und Philosophie, Ethik und Recht. Der psychologische
Anteil, den die diesen Gebilden zugewandten Geisteswissenschaften not-
wendig haben miissen, kann daher niemals vollig befriedigend ausfallen,
wenn er nicht die Psychologie des Unbewussten miteinschliesst.
II.
Mythen- und Marchenforschung.
Die Berechtigung, Methodik und Ergebnisse der Psychoanalyse
fur das Verstandnis der Entstehung, Wandlung und Bedeutung mythischer
tJberlieferungen fruchtbar zu machen, lasst sich durch den Hinweis be-
griinden, dass mit derartigen Untersuchungen die Grenzen der eigentlich
psycho anal ytisch en Domane nicht im mindesten uberschritten werden.
Abgesehen davon, dass der Mythus seit jeher als deutungsbediirftig gait,
ist wohl kaum zu verkennen, dass wir es in den mythischen und
marchenhaften Erzahlungen der Natur- wie der Kulturvolker, gleich-
giltig welchen Sinn und Inhalt sie haben mogen, mit reinen Phantasie-
produkten zu tun haben, und diese Feststellung bietet uns die Ge-
wahr fur den berechtigten und notwendigen Anteil psychologischer
Betrachtung an der Mythenforschung. Gerade in der Durchleuchtung
des menschlichen Phantasielebens und seiner Produktionen hat die
Psychoanalyse ihre Hauptleistung vollbracht: namlich in der Auf-
deckung der machtigen unbewussten Triebkrafte, die zur
Phantasiebild ung drangen, in der Klarlegung der psychischen
Mechanism en, die an ihrer Entstehung beteiligt sind, und im Ver-
standnis der vorwiegend syinbolischen Ausdrucksformen, die
dabei zur Verwendung gelangen.
Die erste Anregung fiir psychoanalytische Bemiihungen urn das
Verstandnis der Mythenbildung und Mythenbedeutuug giug von der
Einsicht in die Entstehung und den Sinn der Traume aus, die wir
Freud yerdanken. Aller dings ist man nicht erst durch die Psychoanalyse
auf die Beziehungen zwischen Traum und Mythus aufmerksarn geworden;
die ausserordentliche Bedeutung des Traumlebens fiir Dichtung und
Mythus war, wie P. Ehrenreich 1 ) betont, zu alien Zeiten anerkannt.
Nicht nur sollen bei vielen Volkern, nach ihrer eigenen Angabe, Traume
die einzige Quelle der Mythenbildung sein, auch namhafte Mythologen
*) „Die allgemeineMythologieundilireetlinologisc]ienGrundlagen ,( . Leipzig 1910,
S. 149 (Mythol. Bibl. IV, 1).
24 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sacl^: Die Bodeutung der Psycho analyse etc.
wie Laistner, Mannhardt, Roscher und neuestens auch Wundt
baben die Bedeutung des Traumlebens, naraentlich des Angsttraumes,
fiir das Verstandnis einzelner Mythen- oder wenigstens Motiv-Gruppen
eingehend gewurdigt. Und wenn diese Anschauungsweise auch in
jungster Zeit durch die in den Vordergrund geriickte nNaturdeutung"
einigermaften in Misskredit geraten ist, so bleibt sie darnm doch in
den Augen einsichtiger Forscher, wie beispielsweise Ehrenreichs,
als wertTolle Erkenntnis unbestritten. Man begreift aber die scbroffe
Gegenuberstellung der rein innerlichen, psych ologischen Betrachtungs-
weise, die vom Traurnleben ausgeht, und der Auffassung, welche aus-
schliesslicli die reale Umwelt (Naturvorgange) zur Grundlage nimmt,
wenn man den engen Gelfcungsbereich einer Erklarungsweise ermisst,
welche so ziemlich auf den Typus des Angsttraums beschriinkt blieb und
auch hiebei an dem unverstandenen Traumerlebnis und -Inhalt haftete.
War aber die Parallelisierung von Traum und Mythus und damit
dessen psychologische Betrachtungsweise einmal in ihrer prinzipiellen
Berechtigung anerkannt, so musste notwendig einem tieferen Verstandnis
des Traumlebens auch ein Fortschritt auf dem Gebiet der Mythen-
forschung entsprechen. Den ersten,- zugleich wichtigsten und in viel-
facher Hinsicht denkwiirdigen Schritt in dieser Richtung erblicken wir
in Freuds Deutung der antiken Odipus-Mythe, die er auf Grund
typischer Traume mannlicher Individuen vom Tode des Vaters und dem
geschlechtlichen Verkehr mit der Mutter als allgemein menschlichen
Ausdruck dieser primitiven, in der Vorzeit aktuell gewesenen, seither
aber intensiv verdrangten Wunschregungen aufklaren konnte. Die Be-
deutsamkeit dieser Entdeckung verdient naher gewurdigt und vor Miss-
verstandnissen bewahrt zu werden; eine Auseinandersetzung dariiber
vermag uns ein Stuck weit in die Methodik der psychoanalytischen
Mythendeutung einzufiihren.
Wie man sieht, fiihrt dieser Fortschritt weit iiber die vorherige
bloss ausserliche Parallelisierung hinaus zu den gemeinsamen unbewussten
Quellen, aus denen nicht nur die Traumproduktion in gleicher Weise
wie die Mythenbildung, sondern alle Phantasieprodukte uberhaupt ge-
speist werden. Die Psychoanalyse hat also nicht nur eine bestimnite
Deutung vorzuschlagen, sondern sie begriindet zugleich damit die Not-
wendigkeit der Mythendeutung tiberhaupt aus dem Anteil, den das
Unbewusste an der Mythenbildung hat. Ferner setzt sie an Stelle der
flachenhaften Vergleichung eine genetische Betrachtungsweise, welche
gestattet, die Mythen als die entstellten tjberreste von Wunsch-
phantasien ganzer Nationen, sozusagen als die Sakulartraume der
jungen Menschheit aufzufassen. Wie der Traum in individueller Hin-
sicht so reprasentiert der Mythus im phylogenetischen Sinne ein Stuck
des untergegangenen Kinderseelenlebens und es ist die glanzendste
II. My then- und MSrchenforschung. 25
Bestatigung der psychoanalytischen Betrachtungsweise, dass sie die aus
der Individualpsychologie gesehopfte Erfahrung des unbewussten Seelen-
lebens in den mythischen Uberlieferungen der Vorzeit vollinhaltlich
wiederfindet. Insbesondere der tragende Konflikt des kindlichen Seelen-
lebens, das ambivalente Verhaltnis zu den Eltern und zur Familie mit
all seinen vielseitigen Beziehungen (sexuelle Wissbegierde etc.), hat sich
als Hauptmotiv der Mythenbildung und als wesentlicher Inhalt der
mythischen Uberlieferungen erwiesen. Ja es liesse sich zeigen, dass die
Entwicklung der mythischen Vorstellungen in ihrem weiteren Umfang
geradezu die kulturelle Einordnung des einzelnen in die Familie und
dieser in die Stammesgemeinschaft widerspiegelt.
Es empfieblt die Freudsche Deutung der Odipussage ganz be-
sonders, dass sie nichts in das Material hineintragt und zu seinem
Verstandnis keiner Hilfsannahmen bedarf, sondern dass sie direkt in
den gegebenen Elementen den Sinn der Mythe nachweist. Die einzige
Voraussetzung ist das Stuck unerschrockenen Forschermutes — wie es
Iibrigens Odipus selbst reprasentiert l ) — , das den an der Einsicht
in das Traumleben geschulten Psychoanalytiker in den Stand setzt, an
die psychische Realitat des Erzahlten zu glauben. Wir haben
damit den wichtigsten Grundsatz der psychoanalytischen Mythenauf-
fassung festgestellt 2 ), wenngleich wir uns daniber klar sind, dass die
unverhiillte Naivitat der griechischen Odipusfabel, die seine Anwendung
ohne weiteres zulasst, nur einen besonders deutlichen Ausnahmefall
darstellt; tibrigens weichen auch die zu ihrem Yerstandnis herangezogenen
Traumbilder in ihrer Durchsichtigkeit vom regularen Typus der Trauni-
bildung auffallig genug ab. Es ist hier nicht n6tig, die von Freud
erorterten Grtinde hierfiir zu wiederholen; fur uns steht fest, dass die
Mehrzahl der My then, wie auch die Mehrzahl unserer nachtlichen
Traume, erst nach einer mehr oder weniger komplizierten Deutungs-
arbeit ihren tieferen Sinn verraten.
Auch dieser Gesichtspunkt ist, wie die Parallelisierung mit dem
Traum, keineswegs erst durch die Psychoanalyse nahegelegt worden
Die Anschauung, dass die Mythen ausser ihrem manifesten Sinn — der
iibrigens nicht immer ohne weiteres verstandlich ist — noch eine
x ) Man vergl. in Schopenhauers Schreiben an Goethe (v. 11. Nov. 1815)
die Stelle: „Der Muth keine Frage auf dem Herzen zu behalten ist es der den
Philosophen maclit. Dieser muss dem Odipus des Sophokles gleichen, der Auf-
klarung iiber sein eignes schreckliches Schicksal suchend, rastlos weiter forscht,
selbst wenn er schon ahndet, dass sich aus den Antworten das Entsetzlichste fur
ihn ergeben wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich, welche den
Odipus urn aller Gutter willen bittet, nicht weiter zu forschen : und sie geben ihr
nach tf (Ferenczi, Jmago" L S. 276 ff.).
2) Es ist dies zugleich ein Fundamentalsatz der psychoanalytischen Be-
trachtungswebc uberhaupt.
^6 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
andere, geheime Bedeutung haben miissten. dass sie also erst zu deuten
seien, ist uralt; vielleicht so alt wie die Mythen selbst, die schon bei
iltrem Auftreten, ahnlich wie die Traume, ein befremdendes Unverstandnis
erweckt haben mochten, sodass man sich entschloss, dem von ihnen
Erzahlten objektive Realitat zuzusprechen, also an sie zu glauben. Es
ist nun nach verschiedenen psychoanalytischen Erfahrungen sehr wahr-
scheinlich, wenn auch nicht unbedingt beweisbar, dass der Prozess, (len
man auf einer friihen Stufe reicher Entfaltung als Mythenbildung
bezeichnet und der sich spater in kultische, religiose, kiinstlerische,
philosophische Bestrebungen sondert, seinen Anfang nahm zu einer
Zeit, wo der Mensch den naiven Glauben an die psychische Realitat
seiner Wtinsche und Begierden sich nicht mehr offen einzugestehen
wagte, zu einem Zeitpunkt also, den wir in der individuellen Ent-
wicklung als den Beginn der Verdrangungsperiode kennen.
Mit dieser Einsicht ist ein zweites wichtiges Prinzip psychoanalytischer
Mythenforschung gegeben. Ist der Mythus, wie wir es vom Traum und
anderen psychischen Leistungen wissen, ein Produkt niaehtiger nach
Ausdruck ringender seelischer Strebungen und gleichzeitig auch der
Gegenregungen, die sie an der vollstandigen Durchsetzung hindern, so
muss sich in seinem Inhalt die Wirkung dieser Tendenz aussern, und
eine psychologische Deutung wird in der Riickgangigmachung dieser
Entstellungen ihre Aufgabe zu sehen haben. Allerdings muss ihr dabei
immer Ziel und Absicht ihrer Forschung bewusst bleiben: durch Auf-
zeigung der ursprunglich an der Mythenbildung beteiligten unbewussten
Triebkrafte den geheimen psych ologischen Sinn des Mythus zu ergriinden,
womit keineswegs auch die alteste Form der mythischen Erzahlung oder
die urspriingliche bewusste Bedeutung derselben rekonstruiert ist, deren
flerstellung die Mythologie als ihre Aufgabe betrachtet. Wenngleich
nun nicht zu leugnen ist, dass in manchen Fallen die urspriinglichere
Uberlieferung dem unbewussten Sinn naher steht, da mit dem Fort-
schreiten der Verdrangung immer weiter gehende Entstellungen verbunden
sind, so darf doch nicht an das Prinzip von der allmahliehen Wieder-
'kehrdes ursprunglich Verdrangten vergessen werden, das uns gestattet,
oft noch in hochkomplizierten und spaten Gestaltungen, wie beispielsweise
in den Marchen, weniger verhiillte Stucke des unbewussten Sinnes zu ent-
decken. So weit wird auch die Psychoanalyse der vergleichenden Mythen-
und Marchenforschung nicht entraten konnen; allerdings nicht zu dem
Endzweck die urspriingliche Gestaltung des Mythus zu eruieren, vielmehr
in der Absicht den unbewussten Sinn zu erschliessen, der vermutlich
auch in der urspriinglichsten Form nicht voll kenntlich gewesen sein
wird. Denn das Bedurfhis nach Gestaltung und Erzahlung von Mythen
kann erst mit dem Verzicht auf gewisse reale Lustquellen und der
Notigung zu ihrem kompensatorischen Ersatz in der Phantasiebefriedigung
II. My then- und Miirclienforschung. 27
eingesetzt haben. Dieser reale Verzicht scheint das phylogenetische
Gegenstuck unserer psycliischen Verdriingung zu sein und n5tigt die
Wunschphantasie zu ahnlichen, wenn auch nocli nicht so raffinierten
Entsteliungen wie diese. Natiirlich besteht auch bei der psychologischen
Reduktion der entstellten mythischen Uberlieferung auf die unbewussten
Triebkriifte der zuerst aufgezeigte Grundsatz zu Recht, denn es wird
hier die gleiche Anerkennung der erschlossenen Deutung als einer
psycliischen Realitat erfordert, die bei den der Odipus-Sage nahestehenden
Formen bloss den oflenkundigen Inhalt als eigentlichen Sinn zu sanktionieren
hatte. Die Psychoanalyse rekonstruiert also die ehemals
bewusst geduldete, dann verbotene und nur inGestaltdes
Myth us wieder entstellt zum Bewusstsein zugelassene
Wunschdurchsetzung, deren Aufgeben den Anstoss zur
Mythenbildung hot. Sie ist sich dabei klar, letzten Grundes nichts
anderes zu treiben als Psychologie, Analyse des Phantasielebens, das sich
ebensowohl in anderen Formen manifestiert. Aber die dem Mythus
eigentUmliche, vielleicht fiir ihn charakteristische Beziehung psychischer
Inhalte und Vorgiinge auf Naturphanomene gehort selbst zum Teil schon
vormythischen Perioden der „aniniistischen Weltanschauung" an, deren
Berucksichtigung this wieder nur zu einem psychologischen Ausgangs-
punkt der Mythenbildung und Mythenforschung zuruckfuhrt, Mag es
die Mythologie heutigen Tages immerhin als ihre Aufgabe betrachten,
die zunachst in rein menschlicher Einkleidung iiberlieferten mythischen
Erzahlungen (und der „Mythos" ist nichts anderes als „Erzahlung") auf
die Darstellung von Naturvorgiingen ^zuriickzufuhren", wie man etwa
das prachtig sinnliche Hohelied Salomonis als Gespriich zwischen Ghristus
und der Kirche „gedeutet a hat, Aufgabe des Psychologen wird gerade
das Umgekehrte bleiben: die nienschlich eingekleidetenPhantasieprodukte,
auch dort wo sie direkt auf andere Vorgiinge ubertragen scheinen, aus
ihren psychologischen Quellen abzuleiten und zu verstehen. Dies geschieht
vermoge Kenntnis der Verdrangungs- und Ersatzbildungsvorgange und
der dabei verwendeten psycliischen Mechanism en, wie sie uns aus dem
psychoanalytischen Studium des menschlichen Phantasielebens bekannt
geworden sind.
Entschliesst man sich in der angedeuteten Weise, diese dynamischen
Faktoren als wesentlich fiir die Mythenbildung zu beriicksichtigen,
so versteht man nicht nur das fruhzeitig au.ftretende Bedxirfnis nach
einer Deutung des entstellten und unverstandlichen mythischen Produkts,
sondern auch die Wege, auf denen man diese zunachst suchen musste.
Wird der Mythus konstituiert als Ersetzung abgeleugneter psychischer
Realitaten und ihre rechtfertigende Projektion auf ubermenschliche Gotter
und Heroen, denen das dem Menschen anstossig Gewordene noch erlaubt
sein darf, so wird das Deutungsbedurfnis, das quasi noch zum Mythus
28 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
dazugehort, notwendiger Weise diese Abwehr zu unterstiitzen und zu
verstarken suchen. Die Deutung wird sich also nicht den zugrunde
liegenden psychischen Realitaten, sondern im Gegenteil den Phanomenen
der Aussenwelt zuwenden, die eine Beziehung auf das nur teilweise
verstandene und vom Bewusstsein abgelehnte Phantasieprodukt gestatten.
Dass sich besonders uberragende Helden und aussergewohnlicheMenschen
dazu eignen, die der allgemeinen Verdrangung unterliegenden Regungen
gewisserrnafien kollektivisch auf sich zu nehmen und als iibermenschliche
Heroentaten durcbzusetzen, ist ja naheliegend und wird durch die Trager
der mythischen Erzahlungen sowie die ihnen zugesehriebenen Taten
hinlanglich bewiesen. Minder einleuchtend scheint die Beziehung mensch-
lich gefasster Mythen und Marchen zu den Naturvorgangen und Hirnmels-
korpern, wie sie die naturmythologische Deutungsweise behauptet.
Doch braucht man sich als psychologische Berechtigung fur diese
Auffassung nur gegenwartig zu halten, dass der phantasiebegabte Mensch
der Vorzeit auch den unbeseelten Naturerscheinungen, denen er mit
bewunderndem Unverstandnis gegenuberstand, je nach ihrer Eignung
gewisse eigene Affekte beilegte und sie so mit seinem psychischen Leben
verwob. Der Naturvorgang an sich wurde ihm allerdings nicht zum Motiv,
sondern bot ihm nur Material fur die Phantasiebildung, ahnlich wie der
Trimmer aussere Reize oft geschickt in sein Traumbild verwebt Man
darf die Bedeutung der Naturphanomene fur die Mythenbildung vielleicht
ahnlich einschatzen wie die Psychoanalyse das aktuelle Tagesmaterial fiir
die aus unbewussten Motiven erfolgende Traumbildung wertet. Es ist
wahrscheinlich, dass dem mythenbildenden Menschen die Projektion der
versagten Befriedigungen auf vergotthchte Heroen und vermenschlichte
Gotter nicht geniigte, sondern dass er auch in anthropomorpher Weise
die den gottlichen Willen reprasentierenden Naturvorgange in die Mythen-
bildung einbezog. Der Umstand, dass die fertigen Mythen diesen Anteil
bis zu einem gewissen verschieden deutlichen Grade erkennen lassen,
scheint dafur zu sprechen, dass schon bei ihrer Gestaltung die ver-
menschlichte Auffassung der Naturvorgange mitbestimmend war. An-
scheinend in der Weise, dass die bereits friiher im Dienste der Selbst-
erhaltung (Furcht) und auf dem Wege der Selbstdarstellung (Projektion
des Ich auf die Umwelt) personifizierten Phanomene zur Zeit, da der
Mensch nach ausseren Darstellungsobjekten fiir s£me verdrangtenRegungen
suchte, als ein Material zur Mythenbildung verwendet wurden, wahrend
die Triebkraft fur beide Prozesse aus dem unbewussten Affektleben
stamrnt. Dieser Auffassung entspricht die Tatsache, dass die in ihrer
Berechtigung - - namentlich fur die festen mythischen Kalenderzahlen —
nicht zu bestreitende naturmythologische Deutung immer nur rein
deskriptiv zu zeigen vermag, welche Naturvorgange bestimmten mythischen
Motiven entsprechen konnen, aber nicht zum dynamischen Verstandnis
IT. Mythen- und Marchenforschung. 29
der psychischen Prozesse leitet, die zur anthropomorphischen Apperzeption
ausserer Vorgange iiberhaupt und weiterhin zu ihrer Ausgestaltung in
Form menschlicher Erzahlungen fiihren. Wenn dem gegenliber extreme
Vertreter der Naturdeutungsmethode in starrer Weise daran festhalten,
dass mit der Aufzeigung atmospharischer, lunarer, astraler und iihnlicher
Elemente des Mythus, die mitunter nur auf dem Wege gekiinstelter und
allegorischer Spielereien herausgelesen werden konnen, dessen „Deutung"
voll gegeben sei, so erwacht jenseits dieser Feststellungen fur den
Psychologen ein erneutes Interesse. Er gewinnt den Eindruck, als
befanden sich die Forscher, welche sich einer ausschliesslich natur-
mythologischen Deutungsweise — gleichviel in welchem Sinne — be-
dienen, bei ihrem Beiniihen, den Sinn der mythischen Erzahlungen zu
ergriinden, in einer den primitiven Mythenschopfern ahnlichen Ein-
stellung, indem sie sich bestrebten, gewisse anstossige Motive durch
Beziehung auf die KTatur, durch Projektion in die Aussenwelt ihrer
Anstossigkeit zu entkleiden und so die der Mythenbildung zugrunde
liegende psychische Realitat durch Unterlegung einer objektiven Realitat
zu verleugnen. Diese Abwehrtendenz ist wahrscheinlich eines der Haupt-
motive fur die mythische Projektion anstossiger Gedanken auf kosmische
Vorgange gewesen und ihre Reaktivierungsmoglichkeit im Dienste der
Mythenerklarung wird von den Begriindern der naturmythologischen
Deutungsweise ganz naiv als besondererVorteil ihres Verfahrens geschatzt.
So gesteht Max Muller 1 ), dass „ durch dieses Verfahren nicht bloss
bedeutungslose Sagen eine eigene Bedeutung und Schonheit erhielten,
sondern dass man dadurch einige der emporendstenZuge der
klassischen Mythologie beseitige und ihren wahren Sinn aus-
findig mache. 8 - Diesem naiven Eingestandnis gegenliber erinnert man
sich gerne der scharfen Worte des Arnobius, der allerdings als
Anhanger des Fruhchristentunis ein personliches Interesse daran hatte, die
heidnischen Gotter so roh als moglich erscheinen zu lassen, und der
darum die allegorisierenden Mythendeutungen seiner Zeitgenossen fetwa
300 n. Chr.) mit folgenden Worten zuriickweist: „Inwiefern seid ihr
denn wohl sicher, dass ihr in der Erklarung und Auslegung denselben
Sinn wahrnehmt und darlegt, den jene Historiker selbst in ihren ver-
borgenen Gedanken batten, den sie aber nicht mit dem eigentlichen
Ausdrucke, sondern in anderen Worten dargestellt haben? Es kann
doch ein zweiter eine andere scharfsinnigere . und wahrscheinlichere
Auslegung ersinnen .... Da dem so ist, wie konnt ihr etwas Gewisses
von vieldeutigen Dingen herleiten und eine bestimmte Erklarung dem
Worte geben, das ihr durch zahllose Arten der Auslegung durchgefuhrt
iindet? . , . . wie wollt ihr denn wissen, welcher Teil der Erzahlung
i) Essays (Bd. II. d. deutsch. TJbersetzung, Leipzig 1869, S. 143). Ahnlich
Cox: Mythology of the Aryan Nations, vol. I.
30 Dr. 0. Rank 11. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
in gewohnlicher Darstellung abgefasst, was dagegen in ihr durch zvvei-
deutige und fremdartige Ausdriicke verhiillt ist. wo die Sache selbst
kein Merkrnal enthalt, welches die Unterscheidung an die Hand gibt?
Entweder muss alles in allegorischer Weise abgefasst sein, und von uns
so erklart werden oder nichts Vordem war es ublich,
allegorisclien Reden den elirbarsten Sinn zu geben, schmutzige und
hasslich lautende Dinge mit dem Schmuck anstandiger
Benennung zu verhiillen: jetzt sollen sittsame Dinge
zotig und garstig eingebiillt werden!" - Diese Tor yielen
Jahrhunderten niedergeschriebenen Worte gelten unverandert gewissen
Ausschreitungen modemer Naturmythologen, die — wie beispielsweise
Si e eke das mythisehe Motiv der Kastration als Darstellung der
Mondabnahme, das des Inzests als erne bestimmte Konstellation des
Mondes zur Sonne erklaren. Der Psychoanalytiker, der die tlber-*
determinierung aller seelischen Erscheinungen kennt, ist sich von vorn-
herein klar iiber den Anteil, den eine Reihe bewusster Faktoren des
Seelenlebens an der Mythenbildung notwendigerweise haben muss, und
leugnet durchaus nicbt die Bedeutung naiver Naturauffassung fur die
Gestaltung # der Mythen. Wie wenig die Berucksichtigung der un-
bewussten Triebkrafte eine Beachtung der Naturelemente ausschliesst,
zeigt am besten die Tatsache, dass die rnodernen Mythologen, die sicb
der vergleiclienden Forschung bedienen, in den wesentlichen Punkten
der Mythenauffassung mit den Ergebnissen der psychoanalytischen
Forschung iibereinstimmen. So gesteht Gold zi her 1 ), wenngleich in
naturmythologisch befangener Naivitat, dass „Elternmorde oder Kindes-
totungen, Brudermorde und Geschwisterkampfe, geschlechtliche Liebe
und Vereinigung zwischen Kindern und Eltern, zwischen dem Bruder
und der Schwester die Hauptmotive des Mythos ausmachen"; und
Stucken, Jeremias u. a, bezeiehnen direktlnzest undKastration
als „ Motiv der Urzeit", das sich allenthalben in der Mythologie finde.
Wahrend aber die Psychoanalyse diese Regungen, deren Bedeutung sie aus
dem infantilen xlktualleben wie aus dem unbewussten Seelenleben des
Erwachsenen wiirdigen gelernt hat, als psychische Realitat anzuerkennen
vermag, bleibt die Naturdeutung bei der ablehnenden Projektion dieser
Regungen an den Himmel stehen. Dem gegen iiber haben einsichtige
Forscher die sekundare Rolle der Naturbedeutung 2 ) betont, und ein
x ) „Der Mythos bei den Hebraern". Leipzig 1876, S, 107.
*) In diesem Sinne sagt Stucken (Mose S. 432): „Der von den Vorfahren
tiberkommene Mythus wurde auf Naturvorgange Ubertragen und naturalistisch ge-
deutet, nicbt umgekehrt." — „Die Naturdeutung selbst ist ein Motiv 11 (S. 633 Anrnkg.).
Abnlich aussert sich Meyer (Gescli. d. Altert, V. Bd., S. 48): „In zahlreichen
Fallen ist die in den Mythen geauchte Natursymbolik nur scbeinbar vorbanden oder
sekundar in sie hineingetragen, wie sehr vielfach in den vedischen und in den
agyptischen Mytben, sie ist ein primitiver Deutungsversuch so gut wie die bei den
Griecben seit dem 5. Jahrbundert aufkominenden Mythendeutungen\
IT. Mytken- und Marclienforschung. 31
psychologiscli orientierter Mythologe wie Wundt lehnt den von manchen
Mythologen festgehaltenen Standpunkt eines himrnlischen Ursprungs der
Mythen als eine psychologisch unvollzielibare Vorstellung ab x ), indem er
den Helden als Projektion menschlicher Wiinsehe und Hoffnnngen auffasst.
Aufgabe der psychoanalytischen Mythenforschung ist es, den
durch Beziehung auf Naturvorgange und anderweitige Entstellungen
unkenntlich gewordenen unbewussten Sinn der deni Mythus zugrunde
liegenden Phantasien aufzudecken. Das geschieht vermoge unserer Einsicht
in den Inhalt und die Mechanismen des unbewussten Seelenlebens, das
wir am Traum besonders deutlich studieren, aber audi in andern
Ausserungen (wie Religion, Kunstwerk, Witz etc.) nachweisen konnen.
Wir treten damit ausdriicklieh dem Missverstandnis entgegen, welches
uns die Auffassung der alteren ,Traumtheorie" zuschreibt, die gewisse
mythische Motive direkt aus dem Traumerlebnis hervorgehen liess. Wir
baben vielmehr Traum und Mythus als parallele Produktionen der
gleichen seelischen Krafte erkannt, welche auch andere SclxSpfungen
der Phantasie hervorbringen. Gleichzeitig sei betont, dass Traum und
Mythus fiir uns keineswegs identisch sind. Schon der Umstand, dass
der Traum von vorneherein nicht fiir das Verstandnis bestimmt ist,
wahrend der Mythus zur Allgemeinheit spricht, schliesst eine derartige
Identifizierung aus. Aber gerade die Bedingung der Verstandlichkeit
legt es nahe, den Unterschied zwischen dem poetischen Aufbau eines
Marchens und der anscheinenden Absurditat eines Traumbildes aus dem
besonders intensiven Anteil jener seelischen Krafte zu verstehen, denen
Freud die „sekundare Bearbeitung" des Trauminhalts durch die bewusste
psychische Instanz zuschreibt. Damit riicken die Mythen, ohne sich allzu
sehr vom innern Aufbau des Traumes zu entfernen, in die Nahe besser
bekannter psychischer Bildungen, die gleichsam - wie schon ihr Name
andeutet — eine Mittelstellung zwischen dem Traum und jener Bewusst-
seinsinstanz einnehmen: namlich in die Nahe der Tagtraume. Die
ehrgeizigen und erotischen Phantasien der Knaben- und Pubertiitsjahre
kehren in der Mythenbildung als Inhalt einer Reihe gleichlautender,
vielfach voneinander unabhangiger Erzahlungen wieder. So ist uns
beispielsweise die Mythe von der Aussetzung des neugeborenen Helden
im KSrbchen und Wasser, seine Errettung und Pflege durch arme Leute
und sein endlicher Sieg uber die Verfolger (meist den Vater) als ehrgeizige,
von erotischen Wiinschen unterfutterte Phantasie der Knabenzeit bekannt,
die dann im „Familieuroman u der Neurotiker wiederkehrt und sich in
mancher Beziehung mit den pathologischen Verfolgungs- und Grossen-
ideen gewisser Geisteskranker deckt. Wenn wir dabei die Aussetzung
in Korbchen und Wasser auf Grund unserer Symbolkenntnis als Dar-
stellung der Geburt deuten konnen, so gibt uns das dadurch ermoglichte
*) s Yolkerpsychologie". II. Bd. 3. Teib 1939, S. 232.
32 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: DieBedeutung der Psychoanalyse etc.
Verstandnis der Sage zugleich den Schliissel zur ErofFnung ihrer gelieimen
Triebkraft und Tendenz in die Hand. Dabei zeigt sich, dass die
Symbolisierung im allgemeinen dazu dient, die unter dem Drnck
der Verdrangung stehenden Wunschregungen in verhullter Darstellung
durchzusetzen, die dem Bewusstsein nicbt mehr anstossig sein kann und
doch den atis dem Unbewussten zur Ausserung drangenden Aflfekten
eine fast gleichwertige Ersatzbefriedigung gewahrt. Dies ist iibrigens
die allgemeinste Formulierung, unter die sich die Mechanismen der
unbewussten Phantasiebildung, also auch die der Mythenschopfung ein-
ordnen lassen. Sie dienen, allgemein gesprochen, der Fesfchaltung und
entstellten Durchsetzung des psychisch Lustvollen, das zum Yerzicht
bestimmt ist, anderseits der wunschgemafi eingekleideten Anerkennung,
d. h. eigentlich der Ableugnung des Unlustvollen, Peinlichen, das dem
Menschen von der Realitat aufgezwungen wird. Der Erfolg dieser
beiden Bestrebungen, die ja Grundtendenzen der Psyche reprasentieren,
lasst sich unter den Gesichtspunkt der Wun seller fullung zusammen-
fassen, die sich zur Kompensation der versagten Befriedigung oder zur
[Jmgehung eines aufgenotigten Verzichts in immer neuen raffinierteren
Verkleidungen dieser Mechanismen bedient, die wir im einzelnen kurz
darstellen wollen,
Der auch aus dem Trauraleben bekannte Mechanismus der
Spaltung einer Personlichkeit in mehrere, ihre Eigenschaften repriisen-
tierende Gestalten kehrt z. B. in der Form des Heldenmythus wieder,
wo der aufruhrerische Sohn die dem Vater ge]tenden feindseligen
Regungen etwa an einem Tyrannen befriedigt, der die gehasste Seite
der j,Vaterimago" reprasentiert, wahrend den kulturellen Anforderungen
der Pietat durch gesonderte Anerkennung einer geliebten, verehrten, ja
sogar verteidigten oder gerachten Vaterimago Rechnung getragen wird.
Dieser Spaltung der mythischen Gestalten entsprechen offenbar im Helden
selbst, von dessen Standpunkt der Mythus gebildet scheint, ahnliche
^ambivalente* Einstellungen den betreffenden Personen gegeniiber, so
dass sich in letzter psychologischer Auflosung dieser Mechanismus auf
eine, wie wir sagen konnten, „paranoide a Auseinanderlegung des
im Psychischen Verbundenen und seine Pro jekti on auf die mythischen
Gestalten reduziert. Eine ganze Reihe komplizierter und mat einem
reichlichen Personenaufgebot ausgestatteter Mythen lasst sich so auf
das Familiendreieck von Eltern und Kind zuruckfiihren und in letzter
Linie als eine in rechtfertigender Weise verhiillte Darstellung der ego-
zentrischen kindlichen Einstellung selbst erkennen.
Von der Spaltung, die ein, wie es scheint, unmittelbar im Wesen
der myth enbilden den Phantasietatigkeit begriindetes Darstellungsmittel
ist, empfiehlt es sich, den ahnlichen Mechanismus der Doublettierung
ganzer mythischer Gestalten (nicht bloss einzelner von ihnen abgespaltener
II. My then- und Marchenforsehung. 33
Regungen) zu unterscheiden, der einzelnen moderneu Mythologen
(Winckler, Stucken, Hiising u. a.) bereits bekannt ist und sich
durch die ganze Mythen- und Marchengeschichte verfolgen lasst. Auch
hier gewahrt uns erst die psychoanalytische Vertiefung in das Sagen-
gefuge Einblick in die Tendenz dieses Mechanismus als eines Mittels
zur Wunschdurchsetzung und Triebbefriedigung, die auch in der Realitat
niemals am urspriinglichen Wunschobjekt stattfinden kann, sondern erst
nach entsprechenden Ersetzungen im Sinne einer Reihenbildung. Wie
nianche Traume in einer Reihe aufeinanderfolgender Situationen immer
das gleiche Wunscbmotiv in verschiedener Einkleidung und Entstellung
moglichst adaquat zu erfullen suchen, so wiederholt auch der Mythus
* ein- und dieselbe psychische Konstellation solange, bis sie gewissermafien
in alien ihren Wunschtendenzen erschopft ist. Der Fall der Doublet-
tierung liegt beispielsweise vor in einer Reihe von Uberlieferungen,
welche den verponten Tnzest mit Mutter, Tochter oder Schwester durch
Doublettierung des mannlichen oder weiblichen Partners annehmbar zu
machen wissen. Beispiele fur Doublettierung des mannlichen Partners
bieten die zahlreichen Marchen und Sagen, in denen ein Konig
zunachst im vollen Bewusstsein seiner Sunde die eigene Tochter heiraten
will, die sich ihm aber durch die Fluent entzieht und nach mannig-
fachen Abenteuern einen Konig beiratet, in dem man leicht eine Doublette
tff*k- AeS urs P r ™# licl:i abgewiesenen Vaters wiedererkennt. Ein klassisches
aXm8 Beispiel von Doublettierung des weiblichen Partners zum Zwecke der
Ahmh Inzestdurchsetzung stellt die Lohengrinsage dar, in deren erstem Teil
der Sohn die geliebte Mutter aus der Gewalt des grausamen Vaters er-
rettet, die anschliessende Heirat mit der Geretteten aber erst in einem
zweiten Teil vollzogen wird, nachdem die ganze Rettungsepisode sich
nochmals mit einer fremden Dame, einer Mutterdoublette, abgespielt hat.
Diese und viele ahnliche Beispiele zeigen, dass die Doublettierung,
manchmal auch Vervielfaltigung einzelner mythischer Figuren in der
Regel mit der Yerdoppelung oder Vervielfachung ganzer Sagen-Episoden
einhergeht, die man erst wieder zur Deckung, man mochte sagen zur
Verdi chtung zu bringen hat, die ihnen im unbewussten Phantasieleben
ursprUnglich zukam. Mit der Spaltung, Doublettierung, symbolischen
Einkleidung und Projektion dieser psychischen Elemente ist also der
anstossige, etwa inzestuose Inhalt der Erzahlung im Sinne der. Ver-
drangungstendenz vervvischt, zugleich aber wird in der verhiillten Form
die urspriingliche Befriedigungstendenz festgehalten.
Bei diesen im Laufe des Verdrangungsfortschritts immer mehr
komplizierten Prozessen tritt auch eine allmahliche Verse hi ebung
des atfektiven Akzents vom ursprUnglich Bedeutsamen auf Nebensach-
liches, bis zur volligen Umkehrung des Affekts oder Vor-
stellungsinhalts, wie wir sie von der Traumbildung kennen, ein.
Orenzfragcu ries Xerven- uml Seplenlnbens. (Heft XCIH.) g
34 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedentung der Psychoanalyse etc.
Dies ist eine notwendige Folge der an den Verdrangungsfortschritt
gekniipften Unverstandlichkeit der Mythen, denen doch immer noch
irgend eine bewusste, wenn aucb missverstandliche, Bedeutung unter-
gelegt werden musste.
Die angefuhrten psychischen Entstellungsmotive und -Mechanismen
geben dem Mytbologen wie dem Forscher, der sich auf mythologisches
Material zu stiitzen gewohnt ist, beherzigenswerte Winke, dass beiVer-
wertung dieses Materials nocb mehr Vorsicht geboten ist, als die ver-
gleichende Mytbenforscbung bereits mit Recbt fordert, und dass noch
andere, einflussreichere und scbwerer zu durcbscbauende Faktoren Beruck-
sichtigung Yerlangen, als die historiscbe Grundlage und die ausseren
Schicksale der mythischen Uberlieferung. Wie der gewissenhafte Forscber
heute kein mythiscbes Gut mebr verwertet, ohne den Gesichtspunkten
der vergleichenden Forschung Recbnung zu tragen, so wird es zu einer
Forderung der wissenschaftlichen Sicberheit geboren, keinen Mythus,
der nicbt aucb psychologisch als gedeutet gelten kann, zum Zwecke
einer einwandfreien Beweisfubrung zu verwenden.
Die Mytben sind aber nicbt nur durcb Auflosung der Yerbullenden
Synibolik und der Gegensatzdarstellung, durcb Aufbebung der Spaltung
und Doublettierung, durcb Zuriickftibrung der Auseinanderlegung und
Projektion auf die egozentriscbe und dem Bewusstsein anstossige
Einstellung des Unbevvussten psychologiscb zu verstehen. Es ist
dabei nocb ein anderer Faktor zu berucksichtigen, der — abgesehen
von der besprocbenen Auseinanderzerrung der Mytben in der Langen-
und Breiten dimension — aucb eine Scbichtung in der Tiefendimension
bewirkt, die dem Mythus in nocb viel boberem Grade als beispielsweise
dem Traum zu eigen ist. Der Mytbus ist ja kein individuelles Produkt wie
der Traum, aber aucb kein sozusagen feststehendes wie das Kunstwerk.
Vielmebr ist die Mytbenbildung stets im Fluss, niemals vollendet, und
wird von den aufeinanderfolgenden Generationen ihren religiosen,
kulturellen, ethiscben Anspruehen, das heisst aber psycbologisch ge-
sprochen dem jeweiligen Verdrangungsstadium, angepasst. Diese Gene-
rationsschicbtung liisst sicb in weitgebendem Mafie nocb in ge-
wissen formalen Eigentiimlichkeiten der Mythenbildung erkennen, indem
besonders anstossige Greuel, die ursprunglich dem Tr'ager der mythischen
Begebenheiten allein zugescbrieben waren, allmahlich in verscbieden
abgescbwachter Form innerbalb derselben Erzablung auf seine Vor-
und Nachfahren verteilt oder in gesonderten Versionen des Mythus
dargestellt werden.
Als Urheber, Fortpflanzer und Ausschmucker der sogenannten
Volksproduktionen mussen wir uns begabte Einzelindividuen denken,
an denen sicb der Verdrangungsfortschritt besonders deutlich und wobl
aucb fruber manifestiert. Die Erzahlung gebt dabei im Laufe ihrer Aus-
II. Mythen- und M&rchenforscliung. 35
gestaltung anscheinend durch eine Reihe ahnlich eingestellter Individual-
psychen hindurch, von denen jede in der gleichen Richtung an der
Hervorhebung der allgemein menschlichen Motive und der Abschleifung
manches storenden Beiwerks oft generationenlang arbeitet. Auf diesem
Wege kann es in langen Zeitraumen und unter geanderten Kultur-
bedingungen moglich werden, dass spate und in ihrer ganzen Anlage
der Kulturhohe angepasste Fassungen doch in einzelnen Punkten dem
unbewussten Sinn der Erzahlung naherkommen. Wie anderseits die
ursprunglich mit realer Glaubwiirdigkeit ausgestatteten religiosen Mythen
in aufgeklarten Zeitaltern den AnsprucH auf ernste Beachtung allmahlich
einbiissen und schliesslich ganz verlieren, zeigt ja die Geschichte der
griechischen, vedischen und eddischen Uberlieferungen deutlich genug.
Mit der realen Entwertung des Mythus muss aber, da seine psychische
Realitat auf hoherer Kulturstufe noch weniger anerkannt werden kann,
auch eine psychologische Entwertung einhergeben: er wird aus dem
Gebiet der sozial wertvollen Funktion in das Reich der Fabel verwiesen,
und da sich, wie bereits angedeutet wurde, auch der Anteil des un-
bewussten Phantasielebens allmahlich wieder deutlicher durchsetzt, so
kann der Mythus, der sich ebensowenig aus der Welt schaffen lasst
wie die mythenbildenden Faktoren aus dem Seelenleben, auf einer
gewissen Kulturstufe als March en wiedererscheinen und wird von hQrcheut flyiU
besonders entwickelten Kulturvolkern mit herablassender tJberlegenheit in
die Kinderstube verwiesen, wohin es ja auch in einem tieferen Sinne, als
ein Ruckschlagsprodukt, gehoi't und wo es eigentlich nur noch richtig
verstanden werden kann. Es verhalt sich damit ahnlich wie mit den
primitiven Waffen, z. B. Bogen und Pfeilen, die, vom Kulturmenschen
durch zweckentsprecbendere ersetzt, in der Kinderstube als Spielzeug $\jtf^)W*
fortleben. Ebensowenig wie diese Waffen ist aber das Marchen, wie
die wissenschaftliche Forschung langst fest gestellt hat, fur Kinder
geschaffen, denen es iibrigens bei einer Reihe von Volkern bis zum
heutigen Tage vorenthalten wird ; es dtirfte vielmehr eine „herabge$unkene a
Form des Mythus darstellen, wie die vergleichende Foi'schung vermuten
lasst. Psychologisch betrachtet ist es die letzte Form, in der das mythische
Produkt dem Bewusstsein des erwachsenen Kulturmenschen noch ertraglich
ist. Dem phantasiebegabten und von primitiven Affekten erftillten Kinde
tritt aber auch das Marchen als objektive Realitat entgegen, weil es
der Zeit noch nahesteht, in der & an die psychische Realitat seiner
ahnlichen eigenen Regungen glauben musste. Die Erwachsenen dagegen
wissen schon, dass es „nur ein Marchen" ist, das heisst, ein Phantasie-
produkt. Fiihrt uns so das Marchen selbst zu einem psychologischen
Ausgangspunkt der Mythenforschung zuriick, so verrat es uns zugleich
den menschlichen Ausgangspunkt der Mythenbildung, indem es die G5tter
und Heroen auf irdisches Mafi reduziert und ihre vermenschlichten
36 Dr. <*• Kank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Schicksale im Rahmen der Familie sich abspielen lasst, Mit dieser
vollen Ausgestaltung der bereits dem Mythus zu Grunde liegenden rein
menschlichen Ziige hat das Marchen der psychologischen Auffassung
und Deutung selbst vorgearbeitet und wird daher bei der Analyse des
Mythus als wertvolles Hilfsmittel willkommen sein, welches nicht nur
das mythische Material erganzt. sondern oft eine Bestatigung der daraus
gezogenen Schlttsse gestattet. Der einfache Mythus liefert das Material
in noch relativ rohem Zustand, weil er es auf libermenschliche Verhiilt-
nisse beziehen kann; das komplizierte Marchen reduziert es aufmensch-
liche Dimensionen, aber in vielfach verhiillter, zum Teil ethisch ge-
milderter Weise. Beide Formen erganzend zusammengehalten ergeben
ein voiles Verstandnis im. Sinne der psychoanalytischen Auffassung, die
das fur unser Empfinden anstossige Motiv als allgemein menschliche
Regung beim Primitiven und im unbewussten Seelenleben des erwachsenen
Kulturmenschen aufzeigt und in seiner psychischen Realitat anerkennt.
i S Byiic/ez- Urn die Anwendung der methodisch dargelegten Grundsatze zu
irchea erlautern, greifen wir als Beispiel eine weitverbreitete Gruppe von Uber-
lieferungen heraus, innerhalb der sich die Resultate der psychoanaly-
tischen Deutungsarbeit durch die Ergebnisse der vergleichenden Marchen-
forschung vom mythologischen Standpunkt erharten lassen, Es handelt
sich urn den Roman der zweiBruder, der bei verschiedenen Vslkern
alter und neuer Zeit in mannigfacher Gestaltung erscheint und aus
dessen hochkomplizierter Fassung im Grimm'schen Marchen (Nr. 60)
wir den Kern der Erzahlung herausschalen wollen, urn ihn auf die
zugrunde liegenden psychologischen Triebwurzeln zuriiekzufuhren. Dabei
werden sich uns durch Vergleichung mit minder entstellten oder anders
eingekleideten Fassungen der Geschichte unmittelbare Einblicke in die
dargelegten Mechanismen der Mythenbildung eroffnen.
Das Grimm'sche Marchen lautet in gekiirzter Fassung: Von zwei
Briidern, einem reichen bosen und einem armen redlichen, hat dieser
zwei Kinder, „das waren Zwillingsbruder und sich so ahnlich wie
ein Tropfen Wass'er dem andern". Ihr Vater hat einst das Gliick, auf
einen Goldvogel zu stossen, dessen Federn und Eier der reiche Bruder
gut bezahlt und durch den Genuss von dessen Herz und Leber er die
Eigenschaft des M Goldlegens K erlangen wilL Die kostbaren Bissen
werden aber nichtsahnend Von den beiden hungrigen Zwillingsbriidern
verspeist, von denen nun jeder morgens ein Goldstuek unter dem Kopf-
kissen Jfindet. Auf Anstiften des neidischen Oheims werden darum die
Knaben von ihrem Vater im Walde ausgesetzt.
II. Mythen- und Mftrchenforschung. 37
Dort findet sie ein Jager, der sie aufzieht, sie im Waidvverk unter-
richtet und, als sie herangewachsen sind, reichlich ausgestattet in die
Welt schiekt. Er begleitet sie ein Stuck Weges, gibt ihnen beim
Abschied noch ein blankes Messer und spriclit: „Wann ihr euch
einmal trennt, so stosst dies Messer am Scheideweg in einen Baum,
daran kann einer, wenn er zuriickkommt, sehen wie es seinem abwesenden
Bruder ergangen ist, denn die Seite, nach welcher dieser ausgezogen
ist, rostet, wann er stirbt; so lange er aber lebt. bleibt sie blank." --
Die Bruder kominen in einen grossen Wald, wo sie, vom Hunger zur
Jagd genotigt, sich durch Schonung des mitleidheischenden Wildes einige
Paare hilfreicher Tiere erwerben, — Schliesslich mussen sie sich
aber trennen, „versprachen sich briiderliche Liebe bis in den Tod und
stiessen das Messer, das ihnen ihr Pflegevater mitgegeben, in einen Baum;
worauf der eine nach Osten, der andere nach Westen zog. u
„Der jungste l ) aber kam mit seinen Tieren in eine Stadt, die war
ganz mit schwarzem Flor iiberzogen." Als Grund erfahrt er von einem
Wirt, dass alljahrlich einera vor der Stadt hausenden Drachen eine reine
Jungfrau geopfert werden miisse und es sei niemand mehr xibrig als die
Konigstochter, die am nachsten Tage dern schmahlichen Schicksal ent-
. gegengehe. Viele Bitter hatten schon versucht, dem Drachen beizu-
kommen, aber alle hatten ihr Leben eingebusst und der Konig habe
dem, der den Drachen besiege, seine Tochter zur Frau und das Reich
als Erbe versprochen. Am andern Morgen besteigt der Jungling den
Drachenberg, findet dort in einer Kapelle den kraftigen Trank, der ihn
befahigt, das an der Schwelle vergrabene machtige Schwert zu schwingen,
und erwartet so die Ankunft des*Untiers. Da kommt die Jungfrau mit
grossem Gefolge. „Sie sah von weitem den Jager oben auf dem Drachen-
berg und meinte der Drache stande da und erwartete sie, und wollte
nicht hinaufgehen." Endlich aber muss sie den schweren Gang an-
treten. Der Konig und die Hofleute kehren heim und nur der
Marschall soil von Feme alles mit ansehen. Der Jager empftingt sie
freundlich, trostet sie, verspricht sie zu retten und verschliesst sie in der
Kirche. Bald darauf kommt der siebenkopfige Drache daher gefahren
und stellt den Jager zur Rede. . Es entspinnt sich ein Kampf, in dem
der , Jungling dem feuerspeienden Ungeheuer mit zwei Hieben sechs
Kopfe abschlagt (Hydren-Motiv). „Das Untier ward matt und sank
nieder, und wollte doch wieder auf den Jager los, aber er schlug ihm
mit der letzten Kraft den Schweif ab, und weil er nicht mehr kampfen
konnte, rief er seine Tiere herbei, die zerrissen es in Stiicke. Als der
Kampf zu Ende war, schloss der Jager die Kirche auf, und fand die
Konigstochter auf der Erde liegen, weil ihr die Sinne vor Angst und
*) Wortlich, trotzdem es sieh urn Zwillingsbriider handelt.
38 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc
Schrecken wahrend des Streites vergangen waren. B (T o d e s s c h 1 a f). Als
sie zu sich kam, sagte er ihr. dass sie nun erlost ware. Sie freute sich
und sprach: „Nun wirst du mein liebster Gremahl werden." Ihr Korallen-
halsband verteilte sie zur Belohnung unter die Tiere, „ihr Taschentuch
aber, in dem ihr Name stand, schenkte sie dem Jager, der ging hin
und schnitt aus den sieben Drachenkopfen die Zungen- aus, wickelte sie
in das Tuch und verwahrte sie wohl."
Der vom Kampf ermattete Bitter legte sich nun mit der Jungfrau
zur Ruhe; aber auch die Tiere schliefen bald alle ein, nachdem eines
dem anderen den Wachedienst iibertragen hatte. Als der Marschall,
nachdem er eine zeitlang gewartet hatte, nachsehen kam und alle in
tiefem Schlaf fand, hieb er dem Jager das Haupt ab, trug die Jungfrau
auf seinen Armen den Berg hinab und zwang ihr das Versprechen ab,
ihn als den Drachentoter auszugeben. Sie bedang sich aber yon ihrem
Vater die Gunst aus, dass erst tiber Jahr und Tag die Hochzeit gefeiert
werde; „denn sie dachte in der Zeit etwas yon ihrem lieben Jager zu
horen." Auf dem Drachenberg waren inzwischen die Tiere erwacht,
sahen, dass die Jungfrau fort und ihr Herr tot war, und schoben ein-
ander die Scliuld zu, die endlich am Hasen haften blieb. Dieser entzog
sich der Strafe, indem er binnen 24 Stunden eine Wurzel herbeischaffte,
die den Herrn wieder lebendig machte. Doch wurde ihm in der Eile
der Kopf verkehrt aufgesetzt, „er aber merkte es nicht bei seinen
traurigen Gedanken an die Konigstochter ; erst zu Mittag, als er etwas
essen wollte, da sah er, dass ihm der Kopf nach dem Riicken zu stand,
konnte es nicht begreifen und fragte die Tiere, was ihm im Schlafe wider-
fahren ware?" — Sie miissen nun alles gestehen, der Kopf wird wieder
richtig aufgesetzt, und der Jager zieht mit seinen Tieren traurig in die
Welt.
Nach Ablauf eines Jahres kommt er in dieselbe Stadt, die aber
diesmal, zur Hochzeitsfeier der Konigstochter, mit rotem Scharlach aus-
gehangt war. Der Jager lasst der Braut durch seine Tiere Botschaft
sagen, woriiber verwundert der Konig deren Besitzer selbst holen lasst.
Er tritt gerade ein, als die sieben Drachenkopfe zur Schau gestellt
werden, und bringt den angeblichen Drachentoter mit der Frage nach
den fehlenden Zungen in Verlegenheit; auf dessen Ausfliichte erweist
er sich selbst durch Vorweisung dieser Siegestrophaen sowie des Taschen-
tuchs und des Korallenhalsbands als Anwarter auf die Hand der
Prinzessin. Der ungetreue Marschall wird gevierteilt, die Konigstochter
aber dem Jager zur Frau gegeben und dieser zum Statthalter des Beiches
ernannt. „Der junge Konig liess seinen Vater und Pflegevater holen
und iiberhaufte sie mit Schatzen. Den Wirt vergass er auch nicht." 1 )
! ) Auffalliger Weise aber den Bruder g^nzlich.
II. Myth en- und Mftrchenforsclmng. 39
Der junge Konig lebt mit seiner Gemahlin vergniigt und zieht oft
in Begleitung seiner Tiere auf die Jagd. Einst jagt er in einem nahen
Zauberwald einer weissen Hirschkuh nach, verliert seine Begleitung,
schliesslich auch das Wild und den Weg und muss im Walde iiber-
nachten. Es naht ihm eine Hexe, die unter dem Vorwand, sich vor
seinen Tieren zu fiirchten, ihm eine Rute zuwirft, durch deren Beriihrung
die Tiere und dann auch der Konig selbst in Stein verwandelt werden
(Todesschlaf).
Zu dieser Zeit kommt zufallig der andere Bruder, der bis dahin rait
seinen Tieren ohne Dienst umhergezogen war, in das Konigreich, sieht
nach dem Messer im Baumstamm und erkennt daran, dass seinem
Bruder ein grosses Ungluck widerfahren, er aber doch noch zu retten sei.
In der Stadt wird er wegen der grossen Ahnlichkeit fur den vermissten
Konig gehalten und von der besorgten Konigin freudig als der ver-
misste Gemahl empfangen. Er spielt die Rolle in der Hoffnung, den
Bruder dadurch am ehesten retten zu konnen ; nur abends, als er in das
konigliche Bett gebracht wird, legt er ein zweischneidiges Schwert
zwischen sich und die junge Konigin, die sich nicht getraut, nach der
Bedeutung dieser ungewohnten Zermonie zu fragen (Enthaltungs-
motiv).
Nach einigen Tagen macht er sich in den Zauberwald auf, es
begegnet ihm alles wie dem Bruder, nur weiss er der Alten richtig zu
begegnen und zwingt sie, den Bruder samt seinen Tieren wieder zu
beleben (Wiederbelebung). Die Zwillingsbriider verbrennen hierauf die
Hexe, umarmen einander freudig und erzahlen ihre Schicksale. Als aber
der eine erfahi't, dass der Bruder an der Seite der Konigin geschlafen
habe, schlagt er ihm in einer eifersuchtigen Regung den Kopf ab,
bedauert aber sogleich, seinen Retter so belohnt zu haben. Wieder
bringt der Hase die Lebenswurzel, mit deven Hilfe der Tote belebt und
die Wunde geheilt wird.
Hierauf trennen sich die Bruder neuerdings, beschliessen aber zur
selben Zeit von verschiedenen Seiten in die Stadt einzuziehen. Der
alte Konig fragt seine Tochter nach dem richtigen Gemahl, aber sie
vermag ihn zunachst nicht zu erkennen; erst das Korallenhalsband, das
sie seinen Tieren gegeben hatte, bringt sie auf die richtige Spur.
Abends, als der junge Konig zu Bett geht, fragt ihn seine Frau,
warum er in den vorigen Nachten immer ein zweischneidiges Schwert ins
Bett gelegt habe. „Da erkannte er wie treu sein Bruder gewesen war."
Wird an den naiven Horer die Frage nach dem Sinn dieses
Marchens gestellt, so wird er ohne viel Bedenken die Darstellung der
edeln, aufopferungsvollen Bruderliebe als Tendenz der Erzahlung erkennen.
Es kann ihm aber nicht entgehen. dass dieser Hauptinhalt mit einer
40 Dr. 0. Rank u, Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Reihe von Abenteuern verkniipft ist, die in mehr oder weniger losem
Zusamrnenhang damit stehen, dass ferner die simple Moral der Geschichte
mit einem unverhaltnismateig komplizierten Apparat in Szene gesetzt
ist und dass endlich die ziemlich dick aufgetragene moralische Schichte
selbst an mehr als einer Stelle Ton einer ethischen Skrupellosigkeit
durchbrochen wird, wie sie auch sonst das Marchen als urzeitlich-infantiles
Produkt charakterisiert. Mag man nun auch einige dieser Eigentiim-
lichkeiten, wie die Ausschmuckung mit wunderlichen Ziigen, die mehr-
malige Wiederholung einzelner Details, die Verquickung verschiedener
Motive u. a. als bedeutungsloses Ergebnis jener tagtraumerischen Lust
zum Fabulieren ansehen wollen, die an der Weiterbildung der Marchen-
stoffe gewiss Anteil hat, so bleibt doch immer eine Reihe typischer
Grundmotive, die nachweislich aus mythischer Zeit stammen, wo die
Erzahlung oft genug einen ganz anderen Sinn und eine uns befremd-
iche Tendenz hatte. Das Marchen ist in seiner heutigen Gestalt nichts
Urspriingliches, aber auch nichts Einheitliches, weshalb es auch niemals
in seiner Ganze gedeutet, gleichsam Satz fur Satz auf den unbewussten
Sinn zuriickgefuhrt werden kann; es ist vielmehr notwendiger * Weise
so geworden, wie es uns vorliegt, und die Riickverfolgung seines Ent-
wicklungsganges wird uns am ehesten auch Aufschluss iiber seine
eigentliche Bedeutung und den Grund des Bedeutungswandels liefern, dem
es im Laufe der Zeiten untervvorfen war. Wegen dieser vielfachen
Kompliziertheit der uns uberlieferten mythischen Gebilde konnen wir
immer nur eine Deutung nach einzelnen Motiven unternehmen
und miissen daher das vorliegende Produkt, ahnlich wie einen zur
Deutung bestimmten Traum, in einzelne, zunachst selbstandig zu be-
handelnde Elemente zerlegen, zu denen uns die vergleichende Forschung
quasi die Einfalle liefert, welche die mythenbildende Gesamtheit zu den
einzelnen Themen im Laufe ihre Ausgestaltung beigesteuert hat.
An dem vorliegenden Marchen unterscheidet man leicht eine in
den Mittelpunkt geruckte Erzahlung: die Befreiung und Heirat einer
zum Opfer fur ein Ungetiim bestimmten Jungfrau durch einen kuhnen
Jungling (Rettungsmotiv) von einer Vorgeschichte und einem mit ihr
in Zusammenhang stehenden Abschluss, welche beiden Rahmenteile das
eigentliche Brudermotiv enthalten.
Die Vorgeschichte der beiden vonihrem Vater ausgesetzten Zwillings-
bruder (Aussetzungsmoti v) hat selbst wieder eine Einleitung in einem
Bericht von zwei durchaus verschiedenen Brudern d^r vorigen Generation,
in denen man zunachst die einer ausschmiickenden Tendenz zuliebe ein-
gefuhrten Doublettierungen der eigentlichen Zwillingshelden sehen darf.
Tiefere Analyse erkennt aber in ihnen, nach dem bekannten Schema
des Mythus von der Geburt des Helden, Abspaltungen der Vaterimago,
von denen der „bose Vater" fur die Aussetzung verantwortlich gemacht
11. Mythcn- und Marchen forschung. 41
wird, wahrend der „gute Vater" sie, wenn aucb ungern, zulasst 1 ) und
im Verlauf der Erzahlung als hilfreicher Jager wieder erscheint, der
die Knaben liebevoll aufzieht, sie aber dann gleichfalls in die Welt
hinausschickt (Aussetzungsmotiv). Der Eingang des Marchens wiirde
also in direkter und unverliiillter Darstellung besagen, dass ein Vater
seine Kinder, nachdem er sie liebevoll aufgezogen und fur die Welt
vorbereitet hatte, im erwacbsenen Alter aus dem Vaterhause stosst 2 ).
Mit dieser aktuellen Aussetzung -) der Sohne in die rauhe Wirk-
lichkeit des Lebens beginnt die eigentliche Vorgeschichte des Helden-
abenteuers : namlich die notwendige Trennung der Briider (Trennungs-
motiv) und das gegenseitige Treuegeliibde am Zeichen des blanken
Messers, welche Motive erst spater in ihrer Bedeutung klar werden
konnen.
Es folgt nun eine besondere Ausgestaltung des ganz selbstandigen
Motivs vom Drachenkampf und der Befreiung einer Jungfrau,
das wir als typisehen Bestandteil in den Mythologien verschiedener
Volker kennen.- Wir diirfen daher die Bettungsepisode zunachst ohne
Rucksicht auf das Brlidermotiv betrachten — um so eher, als der Bruder
darin gar nicbt vorkommt — , um uns daran iiber einige Eigentumlich-
keiten der Marchenbildung Kechenschaft zu geben. Liest man die aus-
fiihrliche Schilderung des jungfraulichen Opfers im Marchen mit einer
*) Mit dem zur Begrundung der Aussetzung ans einem f rem den Zusammen-
hang eingefuhrten Motiv des ^Goldlegens" liaben wir uns hier nicht welter zu
beschaftigen. In einem gewissen naheliegenden Sinne reprasentiert der geldspendende
Vogel auoh den Vater und die Eigenschaft des Goldlegens bei den Sohnen ihre
materielle Selbstimdigkeit.
2 ) Im Anfang des Marchens hat dieses urzeitliehe Motiv in der Aussetzung
der Kinder durcli ihren Vater noeh direkte Darstellung gefunden; im Verh<nis zu
ihrem giitigen Pflegevater erscheint es bereits ins Gegenteil verkehrt, da die heiden
Briider selbst die Annahme von Speise und Trank verweigern, bis ihnen der Jager
den Auszug in die Welt gestattet: Da sprach der Alte mit Freuden ,,was ihr begehrt,
ist mein eigner Wunsch gewesen".
3 ) Den geheimen Sinn der Aussetzung konnen wir hier, wo die Gehurts-
geschichte des Heiden nicht weiter verfolgt werden soil, ausseracht lassen, ver-
weisen aber darauf, dass audere Fassungen dieses weit verbreiteten Marchens die
typische Aussetzung der durch den Trank aus einer Wunderquelle empfangenen
Knaben in Kastchen und Wasser enthalten, sowie darauf, dass auch die hilf-
reichen Tiere des Heldenmythus in unserem Marchen wiederkehren und hier wie
dort hedeutsame Reprasentanten fiir die hilfreichen Eitern-Imagines darstellen, die
vom Kind in pietatvoller "Weise geschont werden, nachdem sie je zwei Junge
(Zwillingsmotiv) den Heiden zur Verfligung gestellt haben. Auf die ^Wassergehurt^
weisen die Namen der Knaben hin, die bald Wasserpeter und Wasserpaul, Johannes
und Kaspar Wassersprung , Wattuman und Wattusin, hald Brunnenstark und
Brunnenhold heissen. Als Naehklang davon ist in unserem Marchen der Hinweis
anzusehen, dass die bei den namenlosen Knaben ein an der glichen ^wie ein Tropfen
Wasser dem auderen".
42 Or. 0. Rank u. Dr, H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
gewissen Geneigtheit zum psychologischen Verstiindnis, so ist es schwer,
den rein menschlichen Inhalt zu verkennen. Die Ausschmiickung der
Stadt, der feierliche Zug, der die reine Jungfrau zur Kapelle begleitet
nnd sie dort ihrem unvermeidlichen Schicksal iiberliissfc, all das mutet so
an, als bezoge es sich im Geheimen auf die Hochzeit der Prinzessin, die
sich in jungfraulicher Scheu vor ihrem kiinftigen Gatten ikigstigt und
in ihm, in Erwartung der bevorstehenden geheimnisvollen Ereignisse,
nur ein Untier sieht, das es auf ihre Vernichtung abgesehen hat. Dass
diese Auffassung dem Marchen selbst noch nicht ganz fremd geworden
ist, verrat die Stelle, wo die Prinzessin, als sie .von weitem den Jager
oben auf dera Drachenberg sah, meinte, der Drache stande da und envartete
sie, und sie wollte nicht hinaufgehen". Sie identifiziert also direkt den
Draehen mit ihrem spateren Brautigam und Gemahl, allerdings nur in
fltichtiger und irrtiimlicher Weise, aus der wir aber den leisen Nach-
klang einer tieferen psychologischen Bedeutung des Motivs vernehmen.
Wir konnen diese Auffassung aber auch direkt aus parallelen IJber-
lieferungen belegen, die dasselbe Motiv im Sinne unserer Deutung ver-
werten. In dem alten und volkstiimlichen milesischen Marchen, das
uns der romische Dichter Apulejus unter dem Titel „Amor uud
Psyche* uberliefert hat, befiehlt das Orakel dem koniglichen Vater der
Psyche seine Tochter mit vollem Hochzeitsschmuck und in feier-
lichem Zug auf die Spitze des Berges zu fuhren und dort dem „aus
Drachengeschlecht entsprossenen Eidam tf zu iiberlassen ; so „ wohnt
Psyche unter Triinen nicht ihrer Hochzeit, sondern ihrem Leichen-
begangnisse bei B (auch in unserem Marchen ist die Stadt zuerst schwarz
ausgeschlagen) l ). Aber auch hier fallt die Jungfrau nicht dem erwarteten
schrecklichen Draehen anheim, der sich gar nicht zeigt, sondern wird
die Gemahlin Amors, des Liebesgottes selbst, der sie jede Nacht als
unsichtbarer Gatte besucht, bis die neugierige und von ihren Schwestern
aufgestachelte Psyche sich eines Nachts gegen das Gebot des Geliebten
davon liberzeugt, dass statt des vermeintlichen Scheusals ein herrlicher
eJiingling an ihrer Seite ruht, der sich ihr nun zur Strafe entzieht.
Dieses Marchen zeigt mit aller erwunschten Deutlichkeit, dass es sich
bei der Auslieferung der unberuhrten Jungfrau an den abscheulichen
Draehen zunachst urn eine Hochzeit handelt, die von der angstlichen
Jungfrau in unverkennbar neurotischer Weise als gefurchtete "Ober-
waltigung durch ein abstossendes Untier halluziniert wird. Bepriisen-
tiert also der Drache in einer Schichte der Deutung die gefurchtete und
verabscheute tierische Seite des kiinftigen Gatten, so kann kein Zweifel
daran aufkommen, dass es die geschlechtliche Seite des Mannes ist,
*) Das hier angeschlagene Todesmotiv hat natiiiiich auch seine eigene
Bedeutung, die jedoch in diesem Ztisammenhang tibergangen werdeu muss. Teilweise
Erklarung findet es in dem spater zu besprechenden Motiv derWiederbelebung.
II. My then- und Marchenibrsehung. 43
welche im Drachensymbol zunachst Ausdruck gefunden hat. Dass diesem
Drachen, hier wie in anderen Mythen, im Laufe der Zeit alle reinen
Jungfrauen des Landes geopferfc werden mtissen, macht uns an seiner
phallischen Bedeutung gerade nicht irre; dass er daneben noch andere
Bedeutungen hat, ja haben muss, da diese eine nur ein Stuck weit den
Sinn des Marchens enthiillt, werden wir in anderen Schichten der
Deutung zu zeigen haben, heben jedoeh schon hier hervor. dass diese
verschiedenen Bedeutungen einander (und auch andere Bedeutungen)
nicht im geringsten ausschliessen, ja vielmehr bis zu einem gewissen
Grade nach einem Punkte konvergieren. Dass aber die virginale Angst
vor dem Vollzug des Sexualverkehrs die Drachenepisode in dieser
Deutungsebene beherrscht, zeigt auch der Abschluss der Szene, die nicht,
wie man erwarten sollte, mit der wirklichen Hochzeit endigt, sondern
mit einer einjahrigen Abstinenz, die sich die Braut ausbedingt, oder die der
Held in manchen tJberlieferungen freiwillig auf sich nimmt (Motiv der
Enthaltung). Erst nach Ablauf dieser Zeit erfolgt die Hochzeit, die
logischerweise, wie im Marchen von Amor und Psyche, unmittelbar folgen
sollte, so dass es den Anschein gewinnt, als waren die lust- und unlust-
betonten Einstellungen dem Sexualakt gegemiber hier miteinander so
unvertraglich, dass sie in zwei auch zeitlich gesonderte Szenen ausein-
ander gelegt werden miissten, die sonst verbunden erscheinen. Die tiefere
Bedeutung dieses Zuges, sowie der ganzen zu seiner Begriindung em-
gefiihrten Episode vom ungetreuen Marschall, kann erst Terstandlich
werden, wenn wir das eigentliche Brudermotiv, dessen Analyse wir
uns nunmehr zuwenden wollen, auf seine unbewussten Grundlagen
zuruckgefuhrt haben werden.
Der letzte, besonders widerspruchsvolle Teil des Marchens mit dem
der Tendenz der Erzahlung so krass oppoirierenden Brudermord bedarf
am meisten der Aufklarung, verspricht aber auch am tiefsten in das
zugrunde liegende seelische Gefuge einzufuhren. Ehe wir daran gehen,
dies durch Vergleichung mit weniger entstellten Fassungen desselben
Motivs zu erweisen, wollen wir versuchen, inwieweit die Anwendung
unserer Grundsatze auf das vorliegende Material selbst uns dem Sinn
der Erzahlung naher bringt. In der ehelichen Stellvertretung des einen
Bruders durch den andern sowie in der darauf folgenden eiferstichtigen
Ermordung des briiderlichen Nebenbuhlers erkennen wir, trotz der senti-
mentalen Abschwachung, die diese Motive hier erfahren haben, primitive
Zuge urzeitlichen Liebes- und Seelenlebens, deren Krassheit durch das
„gute Ende" der Geschichte ktinstlich verdeckt wird. Der tible Lohn, der
dem Better fiir die Erlosung des Bruders zu teil wird, lasst vermuten,
dass es sich urspriinglich urn ein durchaus feindseliges Verhaltnis der
beiden Briider und urn eine begrtindetere Eifersucht gehandelt haben
muss. Seheuen wir aber nicht davor zuriick, diese machtigen Affekte
44 Dr. 0. Rank \u Dr. H. Sachs: Die Bedcutung dor Psychoanalyse- etc.
des eifersiichtigen Bruderhasses und den notwendigen Verzicht auf ihre
Erledigung in der Realitat als eine der Triebkrafte fur die Marchen-
bildung anzuerkennen, so wircl mit einem Male sowohl der Drachen-
karapf wie auch die anschliessende Episode vom ungetreuen Marschall
als noch weiter etitstellte Douhlettierung derselben Urmotive klar, die
in der Schlussepisode in sentimentaler Abschwachung zum Durchbruch
gelangen. In alien drei Szenen handelt es sich ja urn die Beseitigung
eines Gegners, der den siegreichen Bruder des Lebens und der Braut zu
berauben sucht, urn dann dessen Stelle im Ehebett einnehmen zu konnen.-
Stellt aber der bose Drache wie auch der bose Marschall eine Personification
der gehaasten Bruder-Imago dar, welche die sexuelle Eifersucht erregt, so
verstehen wir auch, warum sich die geliebte Bruder-Imago vor dem
Drachenkampf vom bruderlichen Gefahrten trennt (Trennungsmotiv) und
in den beiden folgenden Episoden nicht vorkommt: sie ist namlich
durch die beiden Ersatzfiguren des Drachen und Marschalls vertreten,
mit deren Totung ja auch der Bruder beseitigt ist. Deswegen lasst
der junge Konig in seinem neuen Gliick alle seine Verwandten, sogar
den Wirt kommen und belohnt sie, wahrend der getotete „ Bruder" folge-
richtig nicht erwahnt wird. Doss der ungetreue Marschall die gehasste
Seite des „getreuen" Bruders personifiziert, ist auch dark angedeutet,
dass beide Personen dem erfolgreiehen Bruder gegenuber in dieselben
Situationen gebracht vverden, wie z. B. in der doublettierten Erkennungs-
szene, wo sich der Held als Besitzer des Halsbandes soAvohl dem
Marschall wie auch dem Bruder gegenuber als der richtige Gatte
erweist. Dass auch der Drache den zu bekanrpferiden Bruder vertreten
soil, hat nichts sonderbares. Wir kennen ein ahnliches Verhaltnis bei-
spielsweise aus der Siegfriedsage, wo der Held auf Anstiften seines
Ziehvaters Regin dessen Bruder, der in Drachengestalt den Hort
bewacht, totet und im weiteren Verlaufe gleichfalls die Jungfrau fur
sich gewinnt. Andere Beziehungen der Siegfriedsage zu unserem Marchen
sollen spater erwahnt werden, — Auffallig ist nur die dreimalige Wieder-
holung ein- und derselben Grundsituation, die — wie in manchenTraumen —
in immer deutlicherer Darstellung des Gegners (Drache, Marschall, Bruder)
das Motiv der itivalitat mit dem Bruder urn den Besitz derselben Prau
und die Beseitigung des Nebenbuhlers variiert.
Wie sehr dieses Motiv .ursprunglich im Mittelpunkt der Erzahlung
stand, zeigt deutlich eine andere, in manchen Punkten weniger
entstellte Fassung desselben Marchens, die uns auch das Verstandnis
fur einige bisher ungedeutete Motive eroffnen wird. Es ist dies das
sogenannte alteste Marchen der Weltliteratur, die vor etwa 2000 Jahren
literarisch fixierte agyptische Geschichte der Bruder Anup
und Bat a, „Anup nun besass ein Haus und hatte eine Prau, wahrend .
sein j lingerer Bruder bei ihm wie ein Sohn lebte." Eines Tages
IT. My then- und Marchenforschung. 45
versucht die Frau des Silteren, den jungen Schwager zu verflihren. Dieser
aber weist sie entriistet zunick, ohne seinem Bruder davon zu sagen.
Sie verleumdet nun Bata, dass er ihr Gewalt getan habe. „Da wurde
der altere Bruder wiitend, wieein Panther, erschliffsein Messer
und nahm es in die Hand", urn den jiingeren Bruder nieuchlings zu
toten, wenn er abends nach Hause kame. Dieser aber wird von den
Tieren seiner Herde gewarnt (Motiv der hilfreiehen Tie re) 1 )
und flieht. „Sein alterer Bruder lief hinter ihm her rait dem Messer
in der Hand." Der jiingere Bruder ruft Re an; der Gott erhort ihn
und lasst ein grosses Wasser zwischen den beiden entstehen, an dessen
Ufern sie getrennt die Nacht verbringen. Als die Sonne aufgeht, ver-
teidigt sicli Bata vor ihrem Angesicht, erzahlt Anup die niedertrachtigen
Antrage seiner Frau, beschwort seine Unschuld und entmannt sich
zum Zeichen seiner Reinheit. „Er zog hierauf ein scharfes Messer
hervor, schnitt seinen Phallus ab und schleuderte ihn in den Fluss, wo
er von einera Fisch verschlungen ward.* Als Anup nun reuevoll zu
weinen anfangt, bittet Bata urn eine Gunst. „Ich werde mein Herz
nehmen und es auf die Blume der Zeder legen und wenn man dir einen
Krug Bier geben wird und er schaumt, das geht dieh an, dann komm
und suche mein Herz! a (Motiv des Treuegeliibdes.) Anup geht
heim, totet sein Weib und wirft ihre Leiche den Hunden vor; dann
sitzt er, Staub auf dem Haupt, und trauert urn seinen Bruder.
Dieser lebt inzwischen im Zederntal. Die Gotter loben seine
Keusehheit und gewahren ihm einen Wunsch. Er bittet um ein Madchen,
und sie schaffen gemeinsam eins fur ihn. Er lebt mit ihr und vertraut
ihr sein Geheimnis von dem Herzen in der Zedernbltite an. Aber ihr
leichter Sinn, ihre Neugier und Liisternheit lassen sie dem einzigen
Verbot ihres Mannes zuwiderhandeln: sie kommt dem Meer zu nahe,
die Wogen entreissen ihr eine Locke, die zu den Waschern des Konigs
von Agypten treibt. Der Konig lasst die Besitzerin suchen, macht sie
schliesslich zu seinem Weib und lasst, um sie Batas Rache zu entziehen,
auf ihren Wunsch die Zeder fallen,
Bata fallt tot nieder (Todesschlaf). Sein Bruder merkt das
Ungliick, wie ihm vorausgesagt war, am Schiiumen seines Bieres und
eilt ins Zederntal. Drei Jahre sucht er das Herz; im vierten findet er
es endlich und gibt es dem toten Bata zu trinken. Da erwacht dieser
und umarmt seinen Bruder (Wiederbelebung).
Dann verwandelt sich Bata in einen Apisstier und lasst sich von
seinem Bruder an den Hof des Kfinigs von Agypten treiben. Der Stier
gibt sich der Konigin als Bata zu erkennen. Die Konigin erschrickt
*) Die Kuh, die ihn zuorst wanit, vertritt die reuige Frau selbst, wie iiber-
haupt die moisten Tiere des Marchens, in der Gestalt hilfreicher oder verderldicher
Wesen, nahestehende Mcnschon vertreten.
46 Br, 0. Hank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
und erreicht in einer Liebesstunde, dass der Konig den Stier toten
la-sst. Zwei Blutstropfen fallen am Tor des Palastes zur Erde; zwei
riesige Sykomoren schiessen in einer Nacht auf (Hydren-Motiv). Wieder
gibt sich in ihnen Bata zu erkennen, wieder bewirkt die Konigin, dass
die Baume gefallt werden. Dabei fliegt ihr ein Splitter in den Mund,
sie wird scliwanger und gebiert Bata als iliren Sohn (Wieder-
geburts-Motiv), Der Konig stirbt, Bata wird sein Erbe und lasst die
Konigin hinrichten, Nach dreissigjahriger Herrschaft hinterlasst er
sterbend seinem Bruder Anup die Krone.
Ehe wir die einzelnen Motive auf ihre Verwandtschaft mit dem
deutschen Briidermarchen untersuchen, wollen wir zunachst den ganzen
Inhalt und Auf bau dieser inerkwurdigen Geschichte zu verstehen suchen,
von der H. Schneider 1 ) sagt: „Sieht man ganz von einem historischen
oder mythologischen Kern ab und betrachtet die Geschichte ganz isoliert
und fiir sich allein, so kann man zunachst versucht sein, nichts als
eine ausserliche Verbindung heterogener Elemente, ein ideenfiticlitiges
Phantasiespiel in ihr zu sehen. Jede Einheit und Logik scheint zu
fehlen .... Die Gestalten wechseln wie im Traum , ... der Schau-
platz ist ebenso unklar .... Trotzdem werde ich der Dichtung gegen-
iiber nirgends die Empfindung vollkommenster innerer Einheitlichkeit,
vollkommenster kunstlerischer Beherrschung, vollkommenster logischer
Entwicklung los. Nur liegen Einheit und Notwendigkeit nicht im
bunten Bilderreigen an sich. sondern dahinter." Versuchen wir mit
den Mitteln unserer psychoanalytischen Grundauffassung diesen ver-
borgenen Sinn der Erzahlung herzustellen, so erkennen wir zunachst
in den verschiedenen Episoden der agyptischen Erzahlung gleichfalls
Doubletten der einen Grundsituation, deren minder verhtillte Darstellung
hier, zum Unterschied vom deutschen Marchen, vorangeht, wahrend die
entstellten Variationen im zweiten Teil folgen, um in immer erneuten
Versuchen endlich die ersehnte Befriedigung des verponten Wunsches
doch durchzusetzen. So erweist sich der Konig des zweiten Teiles als
sozial erhohte Doublette des alteren Bruders und die bose Konigin ist
eine so deutliche Doublette der bosen Prau Anups, dass Schneider
zu dem Schluss kommt: „Diese beiden Prauen sind geradezu eine
Person." (S. 260). Und wie im deutschen Marchen der gehasste Bruder
in immer neuer Gestalt, als Drache, Marsehall und schliesslich in seiner
wirklichen Eolle auftritt, so erscheint auch Bata als Stier, Baum und
schliesslich in menschlicher Gestalt als Wiedergeburt seiner selbst, indem
er sich aus der Mutter als sein eigener Sohn erzeugt. Sein nomineller
Vater ware dann der Konig, in dem wir eine Doublette des alteren
Bruders erkannt haben, der ja nach dem Wortlaut des Marchens wirklich
i) „Kultur und Denken der alten Agypter", 2. Ausg., Leipzig 1909, S. 257.
II. Mythen- und Marchenforschung. 47
an ihm Vaterstelle vertritt. Bata strebte also von Anfang an danach, die
„Mutter" zu verfiibren, die er ja im zweiten Teil in symbolischer Ein-
kleidung immerfort verfolgt, was deutlich yerrat, dass die Verleumdung
durch sie am Anfang der Erzahlung nur als eine Projektion seines
Inzestwunsches aufzufassen ist. Enthiillt uns so der agyptische Bericht
den Grund der erbitterten Rivalitat der Briider als Neigung zu dem
einzigen unersetzlichen Inzestobjekt 1 ), so kennt er auch noch die ent-
sprechende Strafe fur die verbotene Realisierung dieser Neigung: die
Entmannung. Dass diese urspriinglich durch den eifersiichtigen
Nebenbuhler (Bruder, Vater) — und nicht in einer Art Gestandnis des
verbotenen Wunsches durch eigene Hand — erfolgte, zeigt uns nicht
nur die vergleichende Mythengeschichte, sondern das agyptische Marchen
selbst, wenn auch nur in verhullter und gemilderter Form. Dem in
einen Apisstier, dem Symbol der mannlichen Kraft, verwandelten Bata
wird auf Befehl des Konigs der Kopf abgeschlagen und die aus den
Blutstropfen aufspriessenden , mit wunderbarem Wachstum begabten
Sykomoren, deren Splitter die Fahigkeit menschlicher Befruchtung haben,
werden gleichfalls unerbittlich gefallt. In beiden Motiven miissen wir
auf Grund zahlreicher individualpsychologischer Erfahrungen und mytho-
logischer Parallelen symbolische Darstellungen der bereits im ersten
Teil vorgenommenen Kastration erblicken, welche die urspriingliche
Rache des eifersiichtigen Nebenbuhlers ist. Insbesondere das Abschlagen
des Kopfes, das uns hier zunachst interessiert, ist schon an einem
ausserlichen Detail als Ersatz fur die "Kastration kenntlich, namlich
an den fruchtbaren Blutstropfen, die sonst folgerichtig dem ab-
geschnittenen Phallus entspringen 2 ). Ist aber das Kopfen des Apis-
stieres durch den Konig ein symbolischer (verkleideter) Ausdruck der
am Nebenbuhler vorgenommenen Kastration, so durfen wir diese Be-
*) In einem albanesischen Marchen, das die Befreiung der einem Ungehener
(Lubia) geopferten Konigstochter (entsprechend dem Draclienkampf des deutschen
Marchens) behandelt, stellfc sieli heraus, dass der Held seine eigene Mutter
gerettet (Rettungsphantasie) und zum Weibe genommen hat, wahrend er den
Konig, ihren Yater (= Ungeheuer) zufallig totet und dessen Erbe antritt (Hahn,
(xriech. u. alb. Marchen, Leipzig 1864, Nr. 98). — Hier sei darauf hingewiesen, dass
die Heroen der griechischen Sage: Perseus, Apollo, Bellerophon u. a. immer
ein Ungeheuer (Gorgon, Minotaurus etc.) toten, wie der Sphynxtoter Odipus seinen
Vater.
2 ) Bei der Entmannung des Uranos entsteht so Aphrodite — almlich wie
Batas B kunstliches B Gottermadchen. Deutliehere Anklange an das agyptische
Marchen zeigt die Erzahlung yon dem Zwitterwesen Agdistis, bei dessen Entmannung
aus dem Blut ein Granatbaum (= neuer Phallus) entsteht; die Eruchte desselben
steckt Nana in ihren Busen, wovon sie schwanger wird und den Attis gebiert, der
sich spater, von seiner eifersiichtigen Mutter in Wahnsinn versetzt, unter einer
Fichte selbst entmannt (wie Bata). Aus dem Blut entsprossen Veilchen. — An
den Ertihlingsfesten der Gbttermutter wurde als Symbol der Kastration eine machtige
48 Dr. 0, Rank n. Dr. H. Saclis: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
deutung auch in das deutsche Marchen eintragen und finden es nun
entsprechend, dass der junge Konig dem Bruder den ^opf" abschlagt,
als er von dessen Stellvertretung in seinem Ehebett Kenntnis erhalt.
Die Wiederbelebung im deutsclien Marchen entspricht der Wiedergeburt
im agyptischen. Aber auch die vorhergehende Kopfung des Bruders
durch den Marschall werden wir im gleichen Sinne als Kastration des
unerwiinschten Nebenbuhlers fassen, wie anderseits das Abschlagen der
Drachenkopfe x ), und noch deutlicher das Ausschneiden der Drachen-
zungen, auf die Revanche hinweist. In diesem Zusammenhange glauben
wir auch das Motiv des Treuegelobnisses bei dem in den Baum ge-
stossenen Messer als letzten, bereits ethisch umgewerteten Rest des alten
Kastrationsmotivs zu erkennen. Das Messer entspricht denrjenigen, mit
dem Anup seinen Bruder verfolgt, aber auch dem zweischneidigen
Schwert, das der Eindringling spiiter zwischen sich und die Frau seines
Bruders legt. Das Hineinstossen in den Starnm erscheint so als letzter
Nachklang der Baumfallung (Kastration) und es wird begreiflich, wieso
jeder der beiden an diesem Instrument wunschgemafi erkennen kann,
dass der Bruder gestorben ist.
Wie im agyptischen Marchen, so unterschieden wir auch im
deutschen eine Reihe von aufeinanderfolgenden Szenen, die immer
wieder in verschieden deutlicher Einkleidung die Rivalitat mit dem
Bruder um das gemeinsame inzestuose Liebesobjekt und die Kastration
des gehassten Nebenbuhlers darstellen.
In wie aufdringlicher Weise diese Urmotive den Marchenstoff
urspriinglich beherrschen, zeigt in manchen Punkten noch deutlicher
als das iigyptische Marchen die diesem zugrunde liegende Mythe von
Isis und Osiris, an deren Hauptziigen wir uns orientieren wollen,
ohne im einzelnen auf die ihr selbst anhaftenden Entstellungen und
Komplikationen Rucksicht zu nehmen.
Fichte gefallt, wie im agyptischen Marchen die bus dem Blut entsprossenen Syko-
moren. — Agdistis selbst entsteht dadurch, dass des Zeus Same von der sich
gegen die Gewalt str&ubenden Kybele zur Erde floss; ebenso entsteht Erichthonios
und andere Wesen aus verspritztem Samen, dem andere Male das Blut entspricht,
Dass auch die FrQchte dieses Phallusbaumes, die Nana in ihren Busen steckt, rein
sexuell zu deuten sind, zeigt die Mythe von Zagreus, der unter dem Vorwand, sich
zu entmannen, die Hoden eines Widders in den Busen der geschwangerten Deo warf,
!) Psyche, von der es eharakteristisch heisst: „in demselben Wesen hasst sie
das Untier und liebt sie den Gemahl", wird von den Sch western eroffnet. „dass ein
schrecklichei\ in vielen Knoten sich windender Drache mit giftgeschwollenem. blut-
runstigen Halse und scheusslichem Kropfe heimlich des Nachts bei dir ruht. u Die
Schwestern raten ihr, nachts, wenn er schlafe, an sein Lager zu schleichen: „hebe
klihn die Rechte empor und mit aller Kraft durchschneide mit jener zweischneidigen
Waffe dem Drachen den Knoten, der Hals und Kopf verbindet*
II. Myth en- und Mftrclienforschung. 49
Der Erdgott Keb und die Himmelsgottin Nut haben vier Kinder:
zwei Sonne, Osiris und Set, und zwei Tochter, Isis und Nephthys. Isis
ward das Weib ihres Bruders Osiris, Nephthys das des Set; Osiris aber
beherrschte die Erde als Konig und wurde von seinem Bruder Set
todlich gehasst, der ihn durch List in erne Kiste lockte und diese in
den Nil warf. Plutarchs Bericht begriindet diese Feindschaft des Set
gegen Osiris damit, dass dieser der Gattin des Set, seiner eigenen Schwester
Nephthys also, unwissentlich beigewohnt hatte. Isis macht sich auf
die Suche nach dem Leichnam des Gatten, findet ihn endlich und ver-
birgt ihn im Walde. Set entdeckt das Versteck und zerstuckelt den
Leichnam des Bruders. Isis sammelt die verstreuten Teile und setzt
sie wieder zusammen; nur der Phallus fehlte, er war ins Meer getragen
und von einem Fisch verschlungen worden (wie bei Bata). Sie ersetzt
dieses fehlende Glied des Toten durch ein nachgebildetes aus dem Holz
des Sykomorus (Baumphallus) und stiftet zum Andenken das Phallusidol.
Mit Hilfe ihres Sohnes Horus, der nach spaterer Uberlieferung erst
nach Osiris Tode von diesem erzeugt worden war, racht Isis die Er-
mordung ihres Gatten und Bruders. Zwischen Horus und Set, die
urspriinglich selbst Briider waren, entspinnt sich ein erbitterter Kampf,
wobei die Gegner einander gewisse Teile als kraftspendende Amulette
entreissen; Set schlagt dem Gegner ein Auge aus und verschlingt es,
verliert aber dabei die eigenen Genital iezi (Kastration), die — nach
einer Bemerkung Schneiders - urspriinglich gewiss auch von Horus
verschlungen worden waren. Schliesslich wird Set gezwungen, das
Auge wieder von sich zu geben, das Horus dem toten Osiris eingibt
und ihn damit belebt, so dass er als Herrscher ins Totenreich eingehen
kann.
Der Osirismythus, auf dessen Deutung wir hier nicht eingehen
konnen, zeigt deutlich, dass der Nebenbuhler den Platz im Ehe-
bett des Bruders urspriinglich wirklich ausgefiillt hat und dass seine
Kastration durch den eifersiichtigen Bruder erfolgt. Ferner bestatigt
sich hier die phallische Bedeutung der Sykomoren sowie die Auffassung
ihrer Fallung als Entmannung, denn Isis lassfc an Stelle des fehlenden
Gliedes, welches wie das des Bata von einem Fisch verschlungen worden
war, ein nachgebildetes aus Sykomorenholz anfertigen. Aber auch in
symbolischer Einkleidung findet sich dieses Motiv in der Osiris-Sage.
An der Stelle, wo die sterblichen Reste des Osiris ruhen, spriesst (nach
Plutarch c. 15 squ.) eine Tamariske empor, die der Konig zu fallen
befiehlt, um eine Saule daraus anfertigen zu lassen. Isis, die am Hofe
dient, fordert die Saule und belebt den zerstiickelten Leichnam des
Osiris mit ihren Kiissen, so dass er wieder Zeugungskraft erhalt; sie
wird Mutter eines Kindes mit schiefen und kraftlosen Beinen (Symbol
der Kastration), einer Neuinkarnation des Osiris. Wir finden also auch
(ironzfragen des Xervuii- und Soolonloln'iis, (Ifoft XCIII.) 4
50 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
hier die inzestuose Wiedergeburt aus der eigenen Mutter, wie Lei Bata,
Attis und vielen anderen, als wichtiges Motiv und verstehen auf Grund
dessen auch das Motiv der Wiederbelebung ira Marchen. 1st das
Kopfabschlagen ein Symbol der „nach oben verlegten" Kastration, so
bedeutet das Wiederaufsetzen desselben den Ersatz des Phallus, wie in
der Osiris-Sage; erfolgt die Wiederbelebung im deutschen Marchen durcli
Essen einer Wurzel, im agyptischen durch Eingeben des auf dem
Zedernbaum liegenden Herzens und in der Osirissage durch Verschliu gen
des ausgerissenen Auges, so verriit uns ein Rest des ursprunglichen
Motivs im Horus-Set-Kampf, dass es sich eigentlich um die Einverleibung,
das Wiedererlangen der verlorenen Genitalien handelt, welche die Wieder-
geburt aus der eigenen Mutter und damit die Uberwindung des
Todes ermoglichen. So erklart es sich, dass der Held nicht nur den
toten Bruder (als seinen Sohn, d. i. aber als sich selbst) wiederbelebt,
sondern auch die Prinzessin dem Reich der Unterwelt (das der Drache
auch reprasentiert) entreisst. Nun wissen wir aber aus analytischer
Erfahrung und mythischen Belegen, dass die Rettungsphantasie regel-
mal3ig die Mutter betrifft und dtirfen daher auch die darauf folgende
erste Wiederbelebung des Helden als inzestuose Wiedergeburt auffassen.
Dies ist um so eher gestattet, als sowohl die Osiris-Mythe wie auch
das Marchen von Bata die inzestuose Bedeutung des umworbenen Sexual-
objekts deutlich bezeugen. Setzen wir diese Deutung ins deutsche
Marchen ein, so verstehen wir, dass von der Mutter der Bruder gar
nicht die Rede sein kann, da sie hinter den anderen weiblichen Personen
der Erzahlung verborgen ist; wir begreifen aber auch die freiwillige
Entsagung (Motiv der Enthaltung) vom Greschlechtsverkehr, wie sie in
der einjahrigen Abstinenz und im Motiv des Schwertlegens (symbolum
castitatis) *) zum Ausdruck kommt, einerseits als Inzestablehnung,
andererseits als ambivalente Busseinstellung nach erfolgter Totung
des Nebenbuhlers (Vater, Bruder). Aber nicht nur in der freundlichen
Gestalt der Lebenspenderin und des ersehnten Sexualobjekts erscheint
I
!) Die allgemein ublicke Zuriickflihrung des Motivs der Schwerttrennung auf
den historischen Brauch des Brautwerbers und der niit diesem symbolisch voll-
zogenen Ehezeremonie erklart vor allem nicht die dabei verwendete spezielle
Symbolik und scheint darum vielfach einer mythischen Auffassung weichen zu
mitssen, deren GrundlageF. v. Reitz en stein (Zeitschr. f. Ethnol. 1909, S. 64A-C83)
in den Hochzeitsbraueken von Naturvolkern nachgewiesen hat. Darnach dient das
in den angefiihrten tlberlieferungen als symbolum castitatis verwendete Schwert
ursprttnglich der Befruchtung in Form eines Holzes oder Stahes, den der Gatte in
den ersten drei Nachten, deren er sich des Beischlaf's enthalt, zwischen sich und
sein junges Weib legt. Aus IJnkenntnis des Kausalzusammenhanges von Ge-
schlechtsverkehr und Empfangnis ttberlasst er in den ersten Nachten gewisser-
mafien ein em Gotte das jus primae noctis zur wunderbaren Befruchtung, nach deren
vermeintlichem Eintritt er sich erst dem Geschlecktsgenuss hingeben darf.
II. Mytlien- und Marchenforsehung. 51
die Mutter im Marchen, sondern auch in Gestalt der fuvchtbaren Todes-
gottin, die einen wieder in den ewigen Schlaf (todesahnlicher Zustand
des Drachenbesiegers; Versteinerung) versetzen will, und die der Held
iibenvinden muss wie die anderen bosen Machte. Darum lasst Bata
seine Mutter und Gemahlin, nachdem sie ihn wiedergeboren hat, hin-
richten und im deutschen Marchen wird die Hexe verbrannt, nachdem
sie den versteinerten Bruder wiederbelebt hat.
Wir brechen hier die Deutung ab, die sich im einzelnen noch
weiter verfolgen liesse 1 ), urn einen allgemeineren Gesichtspunkt fur die
Psychologie der Mythenbildung zu gewinnen. Zu diesem Zwecke brauchen
wir nur in der Reduktion der mythischen Personen auf die egozentrale
Gestalt des Mythenbildners fortzufahren. Es muss uns auffallen, dass die
beiden Bruder Zwillinge sind, die einander nicht nur korperlich „wie ein
Tropfen Wasser dem andern" gleichen, sondern audi in ihren Eigen-
schaften und Attributen sie haben dieselben Tiere, gleiche Kleidung etc.),
und auch nicht durch Namen unterscliieden sind, sodass die Konigin
ihren Gemahl nur an einem kiinstlichen Zeichen erkennt. Wenn auf
irgend etwas der Begriff der Doublette passt, so ist es auf die beiden
Bruder, von denen der eine ein genauer Abklatsch des andern ist. Mit
dieser Reduktion der beiden Bruder auf eine Person 2 ) ginge aber der
Hauptsinn der Erzahlung, die Rivalitat der Bruder urn das gemeinsame
Liebesobjekt verloren, wenn wir uns nicht erinnerten, dass urspriinglich
der eine Bruder ein alterer gewesen ist und am jiingeren Vaterstelle vertrat,
wie im Marchen von Bata noch deutlich gesagt ist. (Als Rest dieser
alteren Fassung spricht das deutsche Marchen an einer Stelle noch vom
„jtingeren K Bruder, obwohl es Zwillinge voraussetzt). Aber auch im
deutschen Marchen reprasentiert der Drache, der Ansprucbe auf die
Prinzessin erhebt, und der alte Konig, der sie nicht hergeben will, den
Vater, wie ja die umworbene Prau nach unserer Deutung die Mutter
vertritt. Beide Annahmen werden vollauf bestatigt durch Varianten
1 ) Abgesehen von weiteren psychologisehen Deutungen verzichten wir auch
auf jede naturmythologische Interpretation^ die etwa mdglich ware. So ist nicht
auszusehliessen, dass die im Zeitabstand eines Jahres bald schwarz bald rot
ausgeschlagene Stadt auf eine bestimmte Sonnen-Konstellation (oder Mondphanomen?j
Bezug hat, ebenso wie es auffallig bleibt, dass die Herbeischaffung des Krautes zur
Wiederbelebung des Sonnenhelden genau 24 Stun den in Anspruch nimmt. Bertick-
sichtigt man noch das verkehrte Aufsitzen des Kopfes beim Erwachen und seine
Umkehrung am Mittag (wo die Sonne sich zum Abstieg wendet), so wird die Gestaltung
einzelner Motive durch Anlehnung an Naturvorgange wahrseheinlich. Doch schliessen
diese Bedeutungen den psychologisehen Sinn der Erzahlung keineswegs aus, erfordern
ihn viehnehr zum Verstandnis der menschlich eingekleideten Erzahlung und der
mythenbildenden Triebkrafte, die sich kaum in der Schilderung von Naturvorgangen
erschOpfen konnen.
2 ) In einzelnen Marchen dieser Gruppe tritt tatsachlich nur ein „ Bruder a auf.
Vgl. z. B. in „Schwedische Volkssagen" ubers. v. Oberleitner 8. 58 ff.
4*
52 Dr. 0. Rank u. Dr. H, Sachs: Die Betleutung dor Psychoanalyse etc.
des Briiderniarchens, die damit beginnen, dass ein eifersiichtiger Konig
seine Tochter you der Welt abschliesst, diese aber doch auf wunderbare
Weise (Inzest-Befruchtung) empfangt und Mutter der Zwillings-
b riider wird, die sie aussetzt; einer der Bruder heiratet dann, wie im
niitgeteilten Marchen von der Lubia (S. 47, Amnerkg. 1), in der Kcinigs-
tochter seine Mutter und erbt nach dem Tode des alten Konigs (des
Vaters) das Reicb. Es handelt sich also in diesen Marchen um eine
Verschiebung der ursprunglich dem Vater geltenden feindseligen und
eifersiichtigen Regungen auf den alteren, bevorzugten Bruder (und auf
die Schwester, statt der Mutter), welche Ersetzung sich im Osirismythus
xnit seiner aneinander gereihten Familiengeneration noch verfolgen
lasst 1 ). Diese mythische Verschiebung spiegelt ein Stuck primitivster
Kulturleistung wider, die mit der Nivellienmg der friiher so ungleichen
Gegner zu Zwillings-Doubletten einen ethisch befriedigenden Abschluss
in den pietatvollen Briidermarchen gefunden hat.
Aber die auf der fortschreitenden Verdrangung dieser primitiven
Regungen beruhende Entwicldung macht bei dieser Form der Milderung
nicht halt, sondern schafft weiter verhullte Ausdrucksformen, die uns auf
Grund der psychologischen Deutung des Brudermotivs verstandlich werden.
Auf die innigen Beziehungen der Siegf riedsage zu unserem Marchen
haben bereits die Bruder Grimm in ihren Anmerkungen hinge wiesen 2 ).
Hier sei nur hervorgehoben, dass Siegfried die vom Drachen erloste
Jungfrau 3 ) verlasst, wie der Held des Marchens, dass er aber dann wie
dieser versucht, die Stelle im Ehebett des Nebenbuhlers einznnehmen, ja
schliesslich von Gunther direkt aufgefordert wird, ihm die libermachtige
Magd zu bezwingen. Auch Siegfried legt ein zweischneidiges Schwert
zwischen sich und das Weib, aber der schmahliche Tod, den er erleidet,
spricht noch deutlich dafur, dass er ursprunglich wirklich der begunstigte
*) Der Osirismythus zeigt auch noch hei Verfolgung seiner Entwicklung wie •
aus dem ursprUnglfchen Mbrder des Bruders sein Racher wird. Ursprunglich ist
Thout, nehen Bet, der Morder des Osiris; spater tritt er im Kampfe des Horus gegen
Set als Arzt und Schiedsrichter auf, der aber schon zu Gunsten des Horus ent-
scheidet. Schliesslich ist er direkt zum Parteigaager des Osiris geworden und
kampft fur ihn gegen Set (vgl. Schneider 1. c. S. 445 if.)
2 ) W. Mannhardt (Germ. Mythen & 2U ff ) hat die Ubereinstimmung unserer
Marchengruppe mit der im Mahabharata erzahlten indischen Sage aufgezeigt, die er-
zahlt, fl dass Indra nach des Drachen Ahi Tode (nach Vritras Ermordung) sich in
die Verhannung begibt, ein anderer nimmt seinen Platz ein und will sich mit des
Gottes Gattin vermahlen, da kommt Indra zurUok und totet den Eindringling".
Mannhardt meint, dass „der andere auf eine dem Indra so nahe verwandte und
verbriiderte Gestalt wie Agni zurtiekgehen * werde. Agni heisst Indras Z w i 1 1 i n g s -
bruder und ein „Enkel der Fluten" (apam nap£t). Ferner macht Mannhardt
auf ahnliehe Zuge in den Mythen von Freyr, Thor und Odhin aufmerksam (S. 221—223).
^) Ihr todesahnlicher Schlaf entspricht dem Motiv der Versteinerung im Marchen
und weist auf ihre mlitterliche Rolle gegen aber dem Held en hin, die auch aus
anderen Anzeichen ersichtlich ist
IT. My then- und MSrchenforschnng. 53
Nebenbuhler sein musste. Nur ist hier das Verhaltnis der Rivalen zur
Blutsbriiderschaft abgeschwiicht *). Noch weiter geht die Milderung
des anstossigen Verhaltnisses in einer Gruppe deutseher Sagen, die utis
nur in spaten Handschriften uberliefert sind: den Or t nit- Wolf-
dietrich-Epen. Ortnit gewinnt mit Hilfe seines Vaters, des Zwerg-
konigs Alberich, die keinem Freier zugangliche Tochter des Heiden-
konigs Machorel nnd entfiihrt sie in seine Heimat (Gardasee). Der alte
Heidenkonig sendet, Versohnung heuchelnd, reiche Geschenke, darunter
zwei junge Lindwiirmer (Zwillingsmotiv), die herangewachsen das Land
verwiisten. Ortnit will die Ungeheuer, trotz Abratens seiner Gattin
bestehen und heisst sie, wenn er fallen solle, sein em Racher die
Hand reichen. Ohne Gefolge reitet er in den Wald versinkt aber
in so tiefen Schlaf ("Versteinerung), dass ihn weder das Nahen des
Ungeheuers noch das Bellen und Scharren seines Hundes (hilfreiches
Tier) weckt. Er findet durch den Lindwurm den Tod.
Ihn racht in der uns uberlieferten Sagenverkniipfung der junge
Held Wolfdietrich, in dessen Kindheitsgeschichte die Motive des Vaters,
der seine Tochter absehliesst, die Verleurudung der Frau durch den ab-
gewiesenen Freier, die Aussetzung u. a. in bekannter Bedeutung hinein-
spielen. Im Kampf mit seinen B ruder n urn das Erbe flieht Wolf-
dietrich zu Ortnit urn Hilfe. Als er dessen Tod erfahrt, zogert er nicht,
ihn zu rachen. Wie der zweite Bruder im Marchen verfallt er fast dem
gleichen Schicksal, Termag sich aber im entscheidenden Moment durch
das Schwert Ortnits zu retten. Er besiegt den Drachen, wie auch die
aufruhrerischen Yasallen und erhalt zum Lohne dafiir die Hand "von
Ortnits Witwe, mit deren Unterstiitzung er die Bruder besiegt und sein
Reich erobert. — Wir erkennen leicht die bekannten Ziige unseres
Marchens wieder und mussten daraus schliessen, dass Wolfdietrich den
Tod seines Bruders racht und dessen Witwe heiratet. Das ist nun
allerdings, wenn auch nicht in der oberflachlichen historischen, so doch
In diese Gruppe gehort nach Grimms Anmerkungen auch die Sage von den
Blutsbrtidern, von denen der eine die Stelle bci der Frau des andern einnimmt,
aber ein Schwert dazwisehen legt, und schliesslieh vom Aussatz befallen wird (nach
Grimm — Versteinerung), wovon ihn der treue Freund durch das Blut der eigenen
Kinder befreit. Diese werden dann vom Geretteten durch ein Wunder wiederbelebt.
Ebenso gehort hierher das Marchen vom „treuen Johannes 1 * (Nr. 6), zu dessen
Rettung aus der Versteinerung (Wiederbelebung durch Blut) der KGnig seinen eigenen
Sdhnen den Kopf abschlitgt, den ihnen der treue Johannes wieder aufsetzt. In
einer Version ist dieser selbst des Konigs Ziehbruder. — Auch das Marchen
vom „Lebenswasser K (Nr. 97) und manches andere wiirde auf Grand unserer Deutung
in vielen Punkten verstandlich. — Der Einreihung all dieser (Jberlieferungen in die
Gruppe der Briidermarchen entsprechend nhnmt Wundt (Volkerpsych. II. Bd. 3, Teft\
Leipzig 1909, S. 27l ff) den „Begriff des Zwillingsmarchens in einem weiteren Sinne",
in dem er darunter „alle die Marchen- und Mythenstoffe zusammenfasst, in denen
zwei Persbnlichkeiten, die der gleichen Generationsstufe angehoren, durch ihre
Handlungen in ein freundliches oder feindliches Verhaltnis treten . , ."
54 T>\\ 0. Rank u. Dr. H, Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
in der zugrunde liegenden inythischen Schichte der Erzahlung nach-
weisbar und den Forschern langst bekannt. Wenn wir Jiriczeks zu-
sammenfassender Darstellung der .Deutschen Heldensage" folgen (Sammlg.
Goschen Nr. 32) x ), so erfahren wir, dass in der uns vorliegenden Uber-
lieferung zwei Sagen verschiedenen Ursprungs, die miteinander nichts
zu tun hatten, verbunden seien: eine mythische von Ortnit und die
historische von Wolfdietrich, wobei dieser an Stelle einer der Ortnitsage
angehorigen mythischen Figur getreten sei. Eine reinere Fassung der
Ortnitsage ware bruchstiickweise in der Thidreksage erhalten, wo Konig
Hertnit im Kampf mit einem Drachen erliegt, ein Held (Thidrek von
Bern) den Drachen besiegt und die Witwe heiratet. „Aus Andeutungen
und Sagentrummern skandinavischer Uberlieferung lasst sich eine altere
Grestalt der Sage erschliessen, wonach der Bruder des Grefallenen
die Racherrolle ubernimmt. Dieses mythische Briiderpaar heisst
im Nordischen ^Haddingjar', deutsch lautgerecht „Hartungen-, vgl. den
Namen Hartnit (Hertnit), woraus das mhd. Ortnit entstellt ist. Von
diesen Namen geleitet, hat Miillenhoff in scharfsinniger Weise den
Zusammenhang der Hartungensage mit einem ostgermanischen Dioskuren-
mythus erschlossen" (Jiriczek S. 146 f.) 2 ). 1st hier das ursprtinglich
briiderliche Verhaltnis der beiden Helden dureh vergleichende Mythen-
forschung festgestellt, so erkennen wir auf Grund unserer Deutung
hinter dem pietatvollen Racheramt das eigentlich rivalisierende Ver-
haltnis und wissen, dass im tieferen Sinne einer psychologischen Deutung
der benachteiligte Bruder den begiinstigten Nebenbuhler in Drachengestalt
erschlagt, um dessen Witwe zu besitzen, ganz wie der Odipus der
griechischen Mythe. Die Ersetzung des Bruders durch ein Ungeheuer-
stellt dabei eine besondere Form des Zweikampfes mit dem unkenntlichen
Vater dar, der in zahlreichen Uberlieferungen — auch von Ortnit und
seinem libermachtigem Vater Alberich — berichtet wird 8 ). Dieser un-
erkannte Zweikampf selbst ist das Gegenstuck zum unerkannten (in-
zestuosen) Geschlechtsverkehr, der in unserer Marchengruppe durch das
Motiv des Gattentausches (abgeschwacht durch das symbolum
castitatis) vertreten ist.
*) Man vgl. auch die jiingste Spezialarbeit von H. Schneider: fl Die Gedichte
und die Sage von Wolfdietrich". Mimchen 1913.
2 ) Auch das Dioskuren-Motiv selbst, die Rachung der geraubten und ge-
schandeten Sclnvester durch ein Briiderpaar, das sich bei verschiedenen Yttlkern
n'ndet, hat ursprtinglich den Kampf zweier (Zwillings-) Bruder um die gemeinsam
geliebte Schwester (resp. Mutter) zum Inhalt, der mit der Kastration des Gegners
geendet haben mag, wovon ein Nachklang im Sinne der scharfsinnigen Yermutung des
Naturmythologen Schwartz noch im Namen des griechischen Dioskuros Kastor
(von castrare) enthalten sein soil.
») Dies zeigt hubsch ein (v. R. Kehler, Kl. Schr. I, 21 ff mitgeteiltes) galisches
Marchen (Variante zum Grimmsehen Marchen Nr. 21), wo zwei Bruder um eine
Ritterstochter freien und unerkannt miteinander kampfen.
11. Mythen- unci Miirchenforsclmng. 55
So fiihrt also das Marchen in letzter Linie auf den primitiven
Familienkonflikt mit dein iibermachtigen Vater zuriick und stellt fur
den benachteiligten Sohn oder Jiingsten in verhiillter Einkleidung eine
Wunschkorrektur der unlustvollen Realitatsanpassung dar. Wenn wir
darum bemerkt haben, dass die Mythenbildung mit der fortschreitenden
Milderung urzeitlicher Greuel zu pietatvoller Menschenachtung und
Nachstenliebe ein Sttick der ethischen Kulturentwicklung widerspiegle,
so darf nicbt unerwahnt bleiben, dass daneben unbedenklicb alte Reste
primitiven Affektlebens im Marchen fortleben. Es zeigt so allerdings
die Entwicklung etbiscben Empfindens, aber nicht in der Form, wie sie
sich wirklich vollzogen bat, namlich mit Verzicbt auf ehemalige Lust-
quellen und endlicher Anpassung an die harten Forderungen der Realitat,
sondern immer noch mit Festhaltung an den alten primitiven Befriedigungs-
arten, die in der Form verhiillter Wunschphantasien unter der moraliscben
Oberflachenschichte symbolisch Erfiillung finden.
Ein fiir das Marcben typiscbes Beispiel hierfiir, das zugleich den
primitiv-menschlichen Kern der mytbischen Einkleidung entbtillt, hat
uns die Aufzeigungdes Stammbaums der Briidermarchen geliefert.
Es lebt darin, wie letzten Endes in fast alien mythischen Gebilden, die
alte unumschrankte Macht des Pater familias fort, gegen die sich der Sohn
in einer urspriinglichen Schichte der Phantasiebildung erfolgreicb auflehnt.
Stand dem Vater, wie es die primitiven Verhaltnisse voraussetzen, un-
umschranktes Recht liber das Leben der mannlichen Familienmitglieder
(einsehliesslich der Sobne) und iiber den Leib der weiblichen (ein-
schliesslich der Tochter) zu, so ist es begreiflich, dass das Streben des
Sohnes dahin ging, diese Vorrechte des „Vaters u fiir sich in Anspruch
zu nehmen, und zwar zunachst durch entsprechende Handlungen, welche
jedoch die vaterliche Machtentfaltung noch starker herausforderten.
Der Yater kann von dem Recht, die ihm unbequemen erwachsenen
Sohne als Nebenbuhler urn die Macht aus dem Verband auszustossen
oder als sexuelle Rivalen zu kastrieren, ausgiebigen Gebrauch gemacht
und auf diese Weise die entsprechenden Revanchegedanken des Sohnes
zu intensiven Rachegeliisten gesteigert haben. Dieses Stadium der
Kulturentwicklung spiegeln nach einem Gedanken Freuds die zahl-
reichen Marchen wieder, in denen die herangewachsenen Sohne, wie in
unserer Gruppe, vom Vater (oder alteren Bruder) ausgetrieben werden
(Aussetzung), urn sich in fremden Reichen Ruhm und Weib zu er-
ringen. Wahrend aber in friiher Kulturentwicklung die Wirklichkeit
tatsachlich diese Opfer und Anstrengungen vom Sohn gefordert hat,
sucht er sich in der Phantasiebildung gleichsam dafiir zu entschadigen,
indem er die nexxe Heimat nach dem Bilde der alten verlorenen, den
fremden Konig, in dessen Dienste er tritt, mit den Ziigen des eigenen
Vaters (Familienroman), die begehrten und eroberten Liebesobjekte
56 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
nach dem Typus der vergebens ersehnten inzestuosen bildet. So wird
der Held des agyptischen Briid erniarchens, der die Mutter verfuhren
will, vom bevorzugten Rivalen (Vater, Bruder) ausgetrieben iVerfoIgung
mit geziicktem Messer), oder entmannt (Selbstkastration), oder getotet
(Aufenthalt im Zederntal). Das Bild der Mutter folgt ihm aber iiberall
bin; er lebt mit dem Gotterweib, bis sie ihm durcb den Konig ent-
zogen wird, in dem wir eine Vaterimago erkannten. Der Held folgt
ihr an den Hof, was nichts anderes darstellt als die wunschgemafce
Wiederkehr in das (unkenntlich gemachte) Elternhaus, wo der Sohn
nunmehr am Deckbild fremder Personen die unerlaubten und vori der
Realitat versagten Wunschbefriedigungen durchsetzen kann. Das gleiche
Schema von der riicksichtslosen Durchsetzung des am meisten benach-
teiligten jungsten Sohnes zeigt eine Reihe von Marchen, sowie die
Mehrzahl der Mythen in einer urspriinglichen Schichte, die jedoch im
Verlauf des Kulturfortschritts und der damit verbundenen Ein- und'
Unterordnung des Menschen unter die obrigkeitlichen Gewalten von
den ambivalenten Gegenregungen der Reue und Pietat im Sinne der
vaterlichen Einstellung Uberlagert wird 1 ). Auf dieser Stufe der Mythen-
bildung treten dann die ethisch hochwertigen, psychologisch sekundaren
Motive der Vaterrache, der Bruderliebe, der Verteidigung der Mutter
oder Schwester gegen lastige Angreifer in den Vordergrund. So lange
die nicksichtslos sexuellen und egoistischen Urmotive das bewusste
Handeln und Denken des Menschen beherrschen diirfen, hat er weder die
Notigung, noch die Fahigkeit zur Mythenbildung. Erst dem allmahlichen
Verzicht auf reale Durchsetzung dieser Regungen geht die Ersatz-
befriedigung in der Phantasiebildung parallel, deren jeweilige Kompen-
sationen es gewissermafien dem Menschen ermoglichen, einzelne Regungen
fortschreitend und erfolgreich zu unterdriicken. Die mythische Erzahlung,
wie sie ins Bewusstsein- eintritt, ist jedenfalls kein unentstellter Ausdruck
der primitiven Regungen, da sie sonst nicht bewusstseinsfahig werden
konnte, andererseits wird sie aus demselben Grunde nicht von der
menschlichen Familie erzahlt, was noch immer zu anstossig ware, sondern
*) Gewiss gibt es, wenn auch in beschrankterem Mafie, ursprttnglich von
gehemmten Wunschregungen des Vaters ausgehende Phantasiebildungen. Besonders
scheinen hierlter die zahlreiehen Mythen und Marchen zu gehoren, welche die sexuelle
Verfolgung der Tochter durch den Vater zum Inhalt haben und deren oft hoch-
komplizierte Wunschmechanismen Zeugnis davon ablegen, wie schwer diese primitiven
Verzichte dem Menschen fallen. Das Schema ist in ahnlicher Weise wie beim
Sohnesmythus die Ersetzung der Familie: Ein Konig verfolgt seine Tochter mit
Liebesantragen, sie flieht und gelangt nach mancherlei Abenteuern zu einem Konig,
der sie heiratet, in dem man aber eine mehr oder weniger deutliche Doublette des
Vaters erkennt. — Auch in Wirklichkeit wird die Tochter, die sich der sexuellen
Gewalt des Vaters durch die Fluent entzogen hat, dem Manne gegenuber, der sie
aufnimmt und schutzt, in ein kindliches Abhangigkeitsverhaltnis geraten.
II. My then- mid Marchenforschung 57
auf iiberirdische Wesen bezogen, seien es nun die ratselhaften, machtigen
Himinelskorper, oder die dahinter waltend gedachten Gutter oder die zu
solchen erhohten Heroen. So erklart sich vielleicht der Widerspruch,
dass die My then bewussterweise naive Naturerkenntnis darstellen und
vermitteln konnten, wahrend die Form der mythischen Erzahlung rein
menschliche Elemente bilden, deren hesondere affektive Stauung die
eigentliche Triebkraft fur die Mythenbildung abgibt.
Unter diesem Gesichtspunkt ware die Mythen- und Marchenbildung
eher als ein Negativ der Kulturen twicklung zu hetrachten,
gewisserma&en als Ablagerungsstelle der in der Realitat unverwendbar
gewordenen Wunschregungen und unerreichbaren Befriedigungen, auf
die das heutige Kind zugunsten der Kultui* ebenso, wenn auch schwer
und ungern, verzichten lernen muss, wie seinerzeit der primitive Mensch.
Diese Funktion der Aufnahme und symbolisch eingekleideten Befriedigung
sozial unverwendbarer Triebregungen teilt aber der Mythus mit der
Religion, mit der er lange eine untrennbare Einheit gebildet hat, Nur haben
es die wenigen grossen Religionssysteme der Menschheit in der TJm-
wandlungs- und Sublimierungsfahigkeit dieser Triebe, in dem Grade der
Verhiillung ihrer Befriedigung und in der dadurch ermoglichten ethischen
Hohe der Gesinnung zu einer Vollkommenheit gebracht, die sie weit
liber den primitiven Mythus und*das naive Marchen, mit denen sie doch
die wesentlichen Triebkrafte und Elemente gemeinsam haben, hinaushebt.
III.
Keligionswissenschaft.
Die Religion ist nicht von jeher die unzertrennliche Begleiterin
der Menschheit gewesen, vielmehr hat in der Entwicklungsgeschichte
ein prareligioses Stadium einen breiten Raum eingenommen und
mit diesem mlissen wir uns zunachst beschaftigen, urn einen Einblick
in die psychische Genese der Religion zu erlangen.
Die den Menschen beherrschende Einstellung war in dieser Epoche
die animistische, d. h. die Prirnitiven bevolkerten die Welt mit
Wesen, denen sie Leben und Beseeltheit, wie sich selbst zuschrieben;
die Erkenntnis unbelebter Objekte der Aussenwelt ging ihnen noch ab.
Urn zu dieser Auffassung zu gelangen, musste sich der Mensch erst
die Pahigkeit erwerben, zwischen den Vorgangen der Aussemvelt und
den endopsychischen Wahrnehmungen scharf zu unterscheiden. Solange
die Zweiteilung in Innen- und Aussenwelt, Ich und Nicht-Ich nicht
vollstandig ausgebildet war, konnte sich die Erkenntnis nicht befestigen,
dass die auf halluzinatorischem Wege herstellbare psychische Realitat
von der mit den Sinnen wahrgenommenen objektiven verschieden ist.
Erst schrittweise erzwingt sich die Realitat nicht nur praktisch, sondern
auch theoretisch die Anerkennung ihrer selbstandigen Existenz, so dass
der Notwendigkeit, sie mit den ihr angemessenen realen Mitteln zu
beherrschen, nicht bios reflektorisch Folge geleistet wird. Mit fort-
schreitender Realanpassung musste auf das bisherige, durch die Ver-
tauschung der objektiven mit der psychischen Realitat begrundete
Allmachtsgefuhl zum grossen Teile verzichtet werden und dasselbe
rettete sich nun auf das Gebiet der endopsychischen Befriedigung, ins
Phantasieleben.
Hier ist also der Ausgangspunkt aller jener Bildungen zu suchen,
welche darauf abzielen, dem Menschen die Lustbefriedigungen, die er
dem Kulturfortschritt opfern musste, auf einem der Realitat entzogenen,
psychisch autonomen Gebiet zu gewiihrleisten. Die Phantasiebefriedigung
hat zunachst wohl noch keine differenzierten Formen, erst allmahlich
gewinnt sie fest umrissene Gestalt.
III. Religionswissenscliaft. 59
Als unmittelbare Vorstufen der Religion gelten der Tot em is mus
und die Tabuvorschriften. Fur beide ist charakteristisch, dass
ihnen die Voraiissetzung der Existenz hoherer Wesen nicht innewohnt,
sondern dass ihre Gebote tmd Verbote als selbstverstandlich und in sich
begrundet auftreten. Wenn wir die in ihnen enthaltenen Einschran-
kungen und Verbote in ihren wesentlichen Formen betrachten, so finden
wir, dass sie dazu dienen, der Realisierang bestimmter Wunsche die
Gelegenheit zu entziehen. Die Aufstellung dieser Regeln lasst also einer-
seits erkennen, dass man das allgemeine Vorhandensein dieser Wunsche
annahm, andererseits, dass man jede Versuchung nach Kraften vermeiden
wollte. Sie sollen einen mit grosser Muhe und Energieaufwand zustande
gebrachten, fiir das Wohl der Gesamtheit auch sehr wichtigen Verzicht
sichern. Wenn die Auffassung der Psychoanalyse richtig ist, dass die
wesentliche Voraussetzung der Kultur in der Verdrangung intensiv lust-
betonter, aber jeder sozialen Entwicklung entgegenwirkender Strebungen
besteht, so muss das durch die primitiven Verbote Betroffene als tiefste
Schichte des Unbewussten wiederkehren. Tatsachlich stellt sich als
eine der wichtigsten Funktionen des Totemismus die Verhinderung des
Inzestes dar und der bedeutsamste Fall des Tabu, das Tabu der Herrscher,
ist deutlich darauf berechnet, die Gewaltanwendung gegen das Oberhaupt,
das ja urspriinglich mit dem Familienoberhaupt zusammenfiel, unmoglich
zu machen.
Als Folge dieser Verbote und der stets aufs neue andrangenden
Auflehnung dagegen stellte sich eine psychische Spannung her, die
yon dem Individuum als Angst empfunden wurde. Als Mittel zur
psychischen Ausgleichung dieser Spannung bot sich der Mechanismus
der Projektion in die Aussen welt dar, wodurch der Konflikt erledigt
und die bisher unbestimmte Angst auf imaginare Ohjekte geworfen
werden konnte. Dies war um so leichter moghch als die animistische
Anschauung den Projektionsmechanismus vorgebildet hatte, so dass die
auf Grund dieser Anschauung entstandenen, die Aussenwelt bevolkernden
beseelten Wesen dadurch zu Damonen wurden, dass man ihnen den
Willen und die Macht zu schaden zuschrieb. Mit dem Damonenglauben
ist die erste religiose Stufe erreicht. Hand in Hand mit ihm geht die
Ausgestaltung der Magie und Zauberei als Techniken, welche die
Beeinflussung der Damonen erzielen sollen. teils in der Absicht sie zu
verscheuchen, teils um sie unterwerfen oder gnadig stimmen zu konnen.
Der Damonenglaube erhielt dadurch eine neue Richtung, dass die
Geister zu eindrucksvollen Naturvorgangen und den Himmelskorpern in
Beziehungen gesetzt wurden; damit begann der Aufbau der Mytho-
logie, wahrend die Magie ihre Fortsetzung in Kult und Ritus
findet. Uberall aber lassen sich noch bis in die feinsten Auslaufer die
urspriinglichen Totem- und Tabuanschauungen erkennen.
60 Dr. 0. Rank n. Dr. H. Sat- lis: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Die Bediirfnisse, einerseits die Vorgange der Natur sich durcli
Vermenschlichung naher zu bringen und andererseits die eigenen mensch-
lichen Gefuhlskonflikte durch das Hinausverlegen in die Natur zu er-
ledigen, trafen in der Tendenz zur Mythenbildung zusammen. Die bisher
unbestimmt vorgestellten Damonen nebmen die charakteristischen Ziige
der einzelnen Naturphanomene an und werden in Beziebungen zu einander
gebracht, die den menschlichen nachgebildet sind und gleichzeitig die
gegenseitige Ein wirkung jener Naturvorgange aufeinander darstellen
sollen. Dadurch werden die Damonen nach und nach zuGottern er-
boben. Da die versagten und spater verdrangten Wlinsche die Phantasie
itnmer aufs neue anspornen, werden, solange der mythenbildende Prozess
iiberhaupt noch im Flusse ist, denselben Naturvorgangen stets neue
Gestalten und Geschichten unterlegt und daraus erklart sich die Viel-
gestalt im Pantheon aller antiken Religionen.
Die soziale Funktion der Mythologie ist es also, die schadlichen
verdrangten Triebe soweit es geht auf den Weg der Phantasie-
befriedigung zu leiten und ihre Hinausweisung aus der Realitat zu be-
fordern. Da aber auch ein Stuck der ursprunglichen tatsachliehen Be-
friedigung gebieterisch ihr Recht fordert, werden dazu nach dem Prinzip
der Wiederkehr des Verdrangten aus dem Verdrangenden
gerade jene Einrichtungen benutzt, welche zur Verhutung der Durch-
setzung geschaifen worden waren. So wurden die Strebungen, denen
die mythenbildende Phantasie einen Ausweg eroffnet hatte, der die Ge-
samtheit ~ Horde, Stamm, Volk, Staat - "vor ihrer Verwirklichung
schutzen sollte, durch die andere Halfte der Religion, namlich durch
Kult und Ritus erst recht wieder zuruekgefuhrt. Die Religion ist eben,
wie jedes Produkt des Konfliktes zwischen Unbewusstem und Ver-
drangung, eine Kompromissbildung. Der Zwiespalt, der darin liegt, dass
sie den Weg zur Gesittung frei macht und doch das Kulturfeindlichste
unter gewissen Bedingungen gestattet, begleitet sie auf ihrem ganzen
Entwicklungsgange. Zuzeiten kann der Kompromiss auch vollig
missglucken und der religiose Eanatismus, der dann zur Herrschaft
gelangt, ist ein Werkzeug der Vernichtung fur alles, was die Existenz
der menschlichen Gesellschaft ermoglicht.
Aber schon auf der allerersten Stufe begegnen wir diesem inneren
Zwiespali Noch ehe es religiose Mythen oder Ritual gab, wurde das
Tabu der Herrscher nicht nur dazu benutzt, um ihre Person zu schutzen,
sondern auch um sie durch das strenge Zeremoniell auf das grundlichste
zu qualen. Die Totung des Totemtieres, die gewohnlich streng ver-
boten ist, wird an gewissen Festtagen nicht nur gestattet, sondern
geradezu als religiose Pflicht gefordert. Aus diesem Brauch entwickelt
sich dasOpfer, wobei als Motivierung hinzutritt, dass der Mensch das,
was er sich versagen musste, dem Gotte abtrat, um es spater zu feier-
III. Religionswissenschaft. 61
lichen Anlassen sich selbst als Diener und Stellvertreter des Gottes zu
gestatten 1 ). Das Opfer geht daher auf die Voraussetzung der Identi-
fizierung mit der Gottheit zuriick; ganz in diesem Sinne sagt auch
S. Reinach (Orpheus p. 63): „Si les legendes humanisent les dieux,
les rites tendent a diviniser les hommes.- So konnte bei den zu gott-
licher Ehrung gefeierten Festen auch der streng verponte Inzest als
heilige Orgie wieder aufleben.
Diese Wiederkehr des Verbotenen ist kein einfacher RiickfalL der
das Antisoziale wieder aufleben lasst, sondern zu ihrer Ennoglichung
ist der Umweg iiber Phantasievnrstellungen Bedingung; und wenn sie
auch den Bereich des rein Psychischen verlassend schliesslich in Hand-
lungen auslaufen, so sind diese doch ganz mit phantastisch-symbolischen
Elementen durchsetzt. Zur Erleichfcerung dieses Kompromisses zwischen
Phantasie und Wirklichkeit wird die kultische Handlung in Hinsicht
auf Zeit und Ort aus dem Alltag herausgehoben und iiber ihn erhoht.
Dadurch wird das tJbergreifen in die gewohnlichen sozialen Beziehungen
gehindert, so dass trotz Durchsetzung des Unerlaubten keine Friktion
mit den kulturellen Anforderungen droht.
Alle diese religiosen tJbungen haben als Kompromissprodukte ein
Doppelantlitz : Ihre VVirkung besteht in der Ermoglichung
des Verzichtes auf gesellschaftsfeindliche Triebbefrie-
digung, ihr Wesen liegt in deren Grestattung, teils bloss
in der mythenschaff enden Phantasie, teils durch kultische
und rituelle Ausiibung der in dieser Phantasie dar-
gestellten verbotenen Akte.
Mit den steigenden Anspruchen der Verdningung wird auch die
eingeschriinkte festliche Art der Begehung als anstossig empfunden und
nicht mehr in unverhtillter Form gestattet. An ihre Stelle treten eine
Reihe ritueller Akte, welche in mannigfacher Variation die urspriing-
lichen Handlungen in symbolischer Umschreibung wiederholen. Ahnlich
erfahrt das religiose Zeremoniell bei seiner Entwicklung aus den primi-
tiven Vorschriften immer. weiter gehende Entstellungen, die nicht selten
die Tollstandige Ablosung vom urspriinglichen Sinn erreichen konnen.
Unter diesen Zeremonien heben wir eine besonders interessante Gruppe her-
vor, die wir uberall, von den primitivsten bis zu den hochst entwickelten
Verhaltnissen antreffen. Es sind dies die verschiedenen Reinigungs-
Siihne- undBusshandlungen, welche das unterirdisch alle Religionen
durchziehende Schuldgef iihl verraten. Dieses vollkonnnen regelmafiige
Vorhandensein des Schuldgefiihls beweist uns, dass das ganze Gebaude
der Religion auf der Grundlage der Triebverdrangung eirichtet ist.
i) „Was der Menscli nicht ist, aber zu sein wilnscht, das stellt er sich in den
Gottern als seiend vor." (Feuerbach.)
62 Dr. 0, Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Eine andere Ausgestaltung der religiosen Akte kniipft an die
bereits erwahnte Magie an. Die magische Beeinfiussung besteht darin,
dass ein gewiinschter Effekt durch Handlungen oder Reden (Formeln)
herbeigefiihrt werden soil, welche irgend einen assoziativen Zusammen-
hang mit ihm haben. aber keineswegs ausreichend sind, urn ihn nach
den Naturgesetzen zu erzeugen ; z. B. die Schadigung eines Feindes
durch Verletzung seines Abbildes Dieses Hinwegsetzen uber die Natur-
gesetze ist der Rest des Allmachtsgefiihles , das seine Quelle in der
Uberschatzung der psychischen Realitat hatte und auf das der Mensch,
soweit die Realitatsanpassung ihn dazu zwang, verzichten musste. Die
Magie hat zur Voraussetzung den Glauben, dass die Kraft der Wiinsche
allem ausreiche, urn schwienge, oft unmogliche Veranderungen in der
Aussenwelt zu erwirken. Der Glaube an die Allmacht der Gedanken
gipfelt in der Uberzeugung an die Macht des Wortes, die so tief wurzelte,
dass man es fur genugend hielt, den Namen einer Person auszusprechen,
urn auf sie im gewiinschten Sinne einzuwirken. Diese Vorstellung von
der Zauberwirkung des Wortes ist die Grundlage des Gebetes; denn mit
Aufgeben der Vorstellung einer direkten Beeinfiussung durch das Wort
tritt an deren Stelle die an ein personlich gedachtes, ubernaturliches
Wesen gerichtete Bitte, welche sich auf zweifache Weise als direkte
Fortsetzung des Glaubens an die Allmacht der Wtinsche verrat. Einer-
seits erwartet der Betende, dass das feierliche Aussprechen seiner Wimsche
hinreiche, um den Gott zu deren Vollziehung zu veranlassen, anderer-
seits hat er sich damit das Allmachtsgefuhl, auf das er verzichten musste,
indirekt durch Abtretung an die Gottheit bewahrt, mit der er sich
unbewusst identifiziert. Der letzte Schritt in der religiosen Durch-
dringung des Gebetes driickt dann die Bedeutung des Wortes herab
und verinnerlicht das Verhaltnis zum Gott, indem es den Glauben in
den Mittelpunkt stellt und von ihm den Erfolg des Gebetes abhangig
macht.
Der primitiven Menschheit erschien es selbstverstandlich, dass alles
dasjenige, was ihr verboten war, der Gottheit oder dem Menschen im
Dienste der Gottheit erlaubt sein sollte. Diese ausnahmsweise Freiheit
gait sogar als ein wesentliches Attribut des Gottes und seiner aus-
erwahlten Diener, der^Konige und Priester. Dadurch wurden dieselben
mit der Glorie des Ubermenschentums umgeben, insbesondere, wenn
ihnen die inzestuose Ehe erlaubfc oder sogar geboten war, wie z. B. den
persischen Priestern und den agyptischen Herrschern.
Mit dem Aufstieg vom Damon zur Gottheit geht ein Umschwung
in der Einstellung einher, die auf der Ambivalenz der an alien religiosen
Bildungen beteiligten Triebkrafte beruht. Wahrend urspriinglich nur
die Feindseligkeit gegen den Yater und die Rivalifeat mit seiner Uber-
macht, sowie der daraus entspringende Wunsch ihn zu beseitigen zum
III. Religionswissenschaft. 63
Ausdruck kam, zeigen hohere Entwicklungsstufen immer deutlicher die
Einwirkung Ton Liebe und Yerebrung, die der Sohn dem Yater gegen-
uber empflndet. Deshalb sind die Gutter nicht wie die Damonen nur
feindliche Gestalten, die zurnen und strafen, sondern auch huldvolle,
die beschutzen und belohnen konnen. Insbesondere waren, seitdem sich
zwischen Mutter und Sohn die Inzestschranke gefestigt hatte, aus iiber-
triebener Scheu vor deren tJberschreitung nicht bloss die rein libidinosen
Begehrungen, sondern auch die damit untrennbar verbundenen zartlichen
Regungen unerlaubt geworden, wie die zahireichen Tabuverbote beweisen,
die den Verkehr zwischen Mutter und Sohn oft aufs ausserste beschranken.
Auch diese im Liebesleben nicht voll verwertbare Zartlichkeit sucht
jetzt in der religiosen Phantasiewelt Befriedigung und erschafft die
Figur der mutterlichen Gottheit — Istar, Isis, Rhea, Maria , mildert
aber zugleich die strengen Ziige des Yatergottes. Diesen geliebten und
verehrten Gestalten konnte man nunmehr alle jene dem Bewusstsein
als Greuel erscheinende Eigenschaften und Handlungen nicht mehr zu-
>schreiben. In diesem Sinne setzt eine sekundare Bearbeitung ein, welche
die einzelnen Legenden in einem dem ethischen und rationalen Niveau
der Epoche angepassten Religionssystem zusamnienfasst. Mit einem
vollstandigen Gelingen kann aber dieses Bemuhen, wenn es auch mit dem
grossten Eifer durch Jahrhunderte fortgesetzt wird, nie gekront seiu,
da die dabei wirksamen Triebkomponenten die Tendenz haben, immer
wieder auf die krasse Urmythologie zuriickzugreifen, wie noch bei
einzelnen christlichen Sekten unserer Tage erkennbar ist.
Derselben Systembildung unterliegen mit der Zeit auch Kult und
Zeremoniell, die ihrem Ursprung dadurch so entfremdet werden konnen,
dass oft kaum eine Spur ihrer eigentlichen Bedeutung mehr zu erkennen
ist. Eine Reihe der fiir die Systemisierung nicht tauglichen Gebote
und Yerbote fallen dann aus dem Rahmen der Religion ganz hinaus
und verschwinden entweder oder leben, ihres religiosen Gehalts ent-
kleidet, als hygienische Vorschrift, Sitte oder Gesetz fort.
Die in niythischer und kultischer Hinsicht sehr weit getriebene
Ausgestaltung eines Religionssystenis nimmt keine Riicksicht mehr auf
Geschlecht, Alter und individuelle Einstellung der Einzelnen, sondern
zwingt jedem Bekenner seinen gesamten Inhalt auf, obgleich der jeweils
besonders ausgepragte Triebanteil nur an einem bestimmten Stuck
desselben Befriedigung finden kann. Infolgedessen hat der Einzelne,
wenn er auch das Religionssystem in seiner Ganze akzeptiert, doch
immer nur zu bestimmten Teilen, die seiner individuell ausgepragten
Triebrichtung entgegenkommen, ein besonders inniges Yerhaltnis. So
wird derjenige, in dessen eigenem Seelenleben die Lust am Zufugen
oder Erdulden von Schmerz eine besondere Rolle spielt, die Passion
mit viel e-rosserer Inbrunst aufnehmen und glaubig verehren als irgend
64 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
ein anderes Stiick der christliclien Glaubenslehre. Wer die sexuelle
Rivalitat mit dem Vater intensiv empfunden hat, dem wird die Gestalfc
der jungfraulichen Mutter als Ebenbild der Erfiillung seiner eigenen
kindlichen Wxinsche besondere Verehrung abgewinnen. So zeigt sich,
dass hinter der scheinbaren Einformigkeit, welche die grossen Religions-
systeme iiber ihre Bekenner ausbreiten, eine personliche Verschiedenheifc
Platz hat, die in der mehr oder weniger bewussten Privatreligion
des einzelnen ihren Ausdruck findet.
In den eben erwahnten Fallen dienen die religiosen Phantasien
der Darstellung nicht nur verbotener, sondern audi verdrangter, dem
Individuum fremd gewordener Wunschregungen. Diese konnen nur in
entstellter und verhiillter Einkleidung vor das Bewusstsein treten und
die Religion liefert .die sozial anerkannten Formen, durch die dem
Glaubigen das religiSse Zeremoniell erlautert wird. Wo aber individuelle
Momente sich so stark in den Vordergrund drangen, dass sie sich weder
der normalen Verdrangung, noch der durch die Religion ermoglichten
sozialen Einordnung gefugt haben, dort setzt eine intensivere Form der
Abwehr ein, welche nicht nur die Wiinsche, sondern auch die entstellten
Phantasien verdrangt und nur das dazu gehorige Zeremoniell unabhangig
davon bestehen lasst. Das ist der Fall der Zwangsneurose, bei
welcher der unmotivierte lmpuls zur fortwiihrenden Wiederholung
gewisser Zeremonien auftritt. Der Mechanismus des zwangsneurotischen
Zeremoniells ist dem des religiosen auffallig parallel, nur dass die Zwangs-
handlungen dem Kranken, und noch viel mehr seiner Umgebung, voll-
kommen sinnlos erscheinen, wiihrend bei den Akten des religiosen
Zeremoniells die allgemeine Anerkennung den fehlenden realen Zweck
und Sinn erganzt.
Die ausserste Konsequenz der von der sekundaren Bearbeitung
ausgehenden Systembildung ist die Dogm ati k. Dieser rationalisierende
Faktor schiebt sich durch sein "Qberwuchern trennend zwischen das
Gefuhlsleben des einzelnen und die fur dasselbe geschaffenen religiosen
Bildungen; Die Folge davon ist, dass von Zeit zu Zeit religios
besonders tief veranlagte Naturen diesen Zwiespalt fuhlen, den erkaltenden
Umweg iiber das Dogma scheuen und aufs neue einen personlichen
Weg direkter Entladung suchen. Darnit stellen sie zunachst fur sich selbst
ein Stuck des alten verloren gegangenen Religionsinhalts wieder her.
Haben solche Inspirierte dann noch die Fahigkeit auf ihre Mitwelt
suggestiv zuwirken, so entsteht der Typus des Religionsgrunders
oder Erneuerers, dem ein stark mystischer Einschlag niemals fehlt,
wie die Gestalten Ohristus 1 , Mohammeds, Luthers bezeugen.
Auch wo es nicht zur Grundung einer neuen Sekte kommt, wird
ein mystischer Gefiihlsstrom unablassig in die Religion einmiinden.
Der Grundgedanke der Mystik ist das Wiederaufleben der uralten, schon
Til. Religionswissenschaft g5
in der Idee des Opfers verwirklichten Vorstellung der Identifizierung
mit der Gottheit, und zwar in der hochsten und innerlichsten Form,
als unmittelbare Vereinigung der Seele mit ihrem Schopfer. Aber auch
in dieser spaten und hochsubliraierten Gestalt machen sich noch die
Anspniche des urspriinglich Verdrangten geltend, indem diese Identi-
fizierung leicht die Ziige einer sexuellen Vereinigung mit der Gottheit
annimmt; dies ist bei vielen Mystikern durch die analytische Erforschung
ihrer Bekenntnisse bis in die feinsten intellektuellen Auslaufer nach-
zuweisen und bei einzelnen, besonders bei ekstatischen Frauen, selbst bis
zur bewussten Phantasie (Christus als Seelenbrautigam) fortgeschritten.
In Erkenntnis der weiblichen und passiven Einstellung des Mystikers
sagt Ludwig Feuerbach (in den No ten zum „Wesen des Christen-
tums", Kroners Volksausgabe, S. 181) uber ihn: „Sein Kopf ist stets
umnebelt yon den Dampfen, die aus der ungeloschten Brunst seines
begehrlichen Gemiits aufsteigen." — „Er setzt sich einen Gott, mit dem
er in der Befriedigung seines Erkenntnistriebes unmittelbar zugleich
seinen Geschlechtstrieb, d. h. den Trieb nach einem personlichen Wesen
befriedigt.^ — Die mystische Verzticktheit kann sich bis zu jenen
Formen der Exaltation steigern, von denen uns die Keligionsgeschichte
zahlreiche Beispiele berichtei.
So wie ehemals der Animismus in der Magie, so besitzen auch die
zur Regression ins Primitive neigenden Formen der Mystik gewisse
Techniken zur Beherrschung der aus der Projektion des Unbewussten
erschaffenen ubernaturlichen Welt im Spiritismus, Okkultismus und
Ahnlichem.
In der bisherigen Darstellang haben wir die psychoanalytische
Stellungnahme zum Entwicklungsgang des religiosen Geftihls in den
grobsten Ziigen skizzierfc. Es eriibrigt uns noch ein wichtiges Problem,
das in unseren Ausfuhrungen keinen Platz gefunden hat, naehzutragen.
Wie erwahnt, stellen die primitiven Kulte einen teilweisen Durch-
bruch der verbotenen Wunschbefriedigungen in ein fiber den Alltag
hinausgehobenes Stuck der Realitat dar. Es stimmt mit den psycho-
analytischen Grundsatzen gut zusammen, dass uns als eine der bedeut-
samsten und haufigsten kultischen IJberlieferungen die inzestuose Ver-
bindung zwischen der Muttergottin und ihrem Gatten-Sohne entgegen-
tritt, wie in Babylonien Istar und Tammuz, denen Astarte und Adonis
entsprechen, ferner in JLgypten Isis und Osiris, resp. Horus, dann
Griechisch Kybele und Attis, Indiseh Maja und Agni, Tanit und Mithra,
endlich Japanisch Izanami und Izanagi u. t. a. Auch noch in der
Apokalypse Johannis heisst die Himmelskonigin die Mutter des Siegers
(12, 1), wahrend sie an anderer Stelle als dessen Braut gefeiert wird
(21, 9fg). Robertson (Evang. Myth., S. 36) spricht direkt die
Vermutung aus, dass die Beziehung Christi zu den Marien wahrschein-
Grenzfragen des Neryen- und Seelenlebens. (Heft XCTII.) 5
66 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
lich auf einen alten Mythus hinweise, fl wo ein palastinensischer Gott,
vielleicht des Namens Joschua, in den wechselnden Beziehungen von
Geliebter und Sohn gegeniiber einer mythischen Maria auftritt." — Die
teils unverhiillte, teils symbolisch unter gewissen Voraussetzungen
gestattete Veriibung des Inzests scbeint diesen Kulten vielfach den
geheimnisvollen Nimbus verliehen zu haben, wie wir es beispielsweise
vom Attiskult durch eine Notiz bei Clemens Alexandrinus (Protr. 2)
iiberliefert haben. „Der Sohn wird zum Geliebten, was der Inhalt der
Mysterien des Attis und der Kybele gewesen zu sein scheint." (Roschers
Lexikon d. griech. u. rom. Myth.)
Dieses zeitweilige Aufleben des Inzests in feierlicher und mystisch-
symbolischer Weise erfuhr mit der Abschwachung und Ausgestaltung
der Phantasiebildungen im Laufe der Entwicklung mannigfache Schick-
sale, von denen wir eines, das fiir die Religionsbildung besondere
Wichtigkeit gewonnen hat, hier kurz verfolgen wollen.
Die Verdrangungsneigung gegen den Inzest macht sich in den
angefiihrten Mythen und Kulten insofern geltend als der jugendliche,
gewohnlich schon mit Eintritt der miinnlichen Reife in geschlechtliche
Beziehung zur Mutter-Gattin gebrachte Sohn unmittelbar nach diesem
Hohepunkt der Befruchtung in der Bltite seiner Jahre einem friihen
Tode verfallt. Dieses traurige Schicksal erweist sich deutlich in den
Uberlieferungen als Strafe fiir den verponten Inzest, wo der Gatten-
sohn, sei es von sexuellen Rivalen, sei es durch eigene Hand das
Schicksal der Kastration erleidet, wie in den Berichten von Uranos, der
mit seiner Mutter Gaa die Kinder der Welt zeugte, Attis, Adonis,
Osiris u. a. m.
Dieses tragische Hinscheiden des jugendlich kraftigen Gottes
wurde an die entsprechenden eindrucksvollen und bedeutsanien Natur-
vorgange, wie Sonnenuntergang und Schwinden der Vegetation an-
gekniipft, und damit zunachst das psychische Bedurfnis nach regel-
mafiiger Wiederholung dieser der Triebbefriedigung dienenden kultischen
Akte mit Berufung auf die Naturgesetze motiviert. Bei dieser Ver-
gleichung des individuellen Schicksals mit den kosmischen Vorgangen
kam aber noch eine andere, alien Menschen tief innewohnende und fiir die
Religion- und Mythenbildung sehr bedeutsame Wunschregung auf ihre
Rechnung: namlich die Tendenz, die harte Notwendigkeit des Todes vor
dem eigenen Bewusstsein abzuleugnen und ihre Anerkennung zu um-
gehen. Indem dieses Bediirfniss sich an die Kehrseite der fiir den
Menschen traurigen Naturvorgange anheftete, also an Sonnenaufgang,
an die Wiederkehr der fruchtbaren Jahreszeiten etc., war fiir den im
Dienste der Befruchtung geopferten Gott die Moglichkeit seiner Auf-
erstehung gegeben, die tatsachlich in all den angefiihrten "Uber-
lieferungen ein wesentliches Element bildet. Hier setzt nun eine
III. Religionswissenschaft. (J7
weitere Phantasie ein. welcher die Svmbolik der Erde als Mutter aller
Lebewesen zu Grunde liegfc, und die damit der individuellen Inzestphantasie
eine breitere Grundkge und einen neuen Sinn verleiht. Aus dem ab-
geschnittenert Zeugungsglied des Gattensohnes, das die Muttergattin
sorgfaltig bewahrt (Isis, Kybele, Astarte etc), spriesst die neue Vegetation
und so erhebt sich auch aus der Mutter-Erde, in die der geopferte Gott
oder sein wesentlichstes Attribute der Phallus, eingesenkt wird, der
wiedererstandene Gott zu neuem Leben 1 ). Diese Auferstehung wird an
den Inzestwunsch angeknlipft mit Hilfe der alt en und typischen Phantasie,
welche das Sterben als eine Riickkehr in den Mutterleib, den Tod als
eine Fortsetzung des Zustandes vor der Geburt auffasst. Darum halten
sich die geopferten Gottheilande vor ihrer Auferstehung in einer, oft von
Wasser umspiilteu, Hohle auf, die den Mutterleib symbolisiert und
bereits in der Geburtsgeschichte dieser Gottmenschen im gleichen Sinne
verwendet ist. Auf diese Weise erschafft die religiose Phantasie durch
immer weitere Ausgestaltung der der Mutterlibido angehorigen Symbolik
die typische Gestalt des geopferten und wiedererstandenen Gottheilands,
dem die Phantasie der inzestuosen Wiedergeburt a\is der eigenen
Mutter zugrunde liegt (Jung).
Durch das allmahliche Zuriicktreten dieser inzestuosen Bedeutung
der Muttergottheit und das starker e Vordringen des den einzelnen mit
zunehmender Erkenntnis der Notwendigkeit des Todes immer mehr
beherrschenden Unsterblichkeitswunsches kommt es zur Aus-
gestaltung der schon fruhzeitig auftauchenden Jenseitsvorstellungen *),
zu grossartigen Phantasien, die den Aufenthalt der Verstorbenen in
einer der realen Welt mehr oder weniger angenaherten Unter- oder
Uberwelt zum Inhalt haben und dem Menschen nach Ablauf einer
gewissen Zeit ein neues Leben auf Erden oder ein Fortleben im Jenseits
verheissen. Damit wird der Trust, der urspriinglich dem einzelnen nur
auf dem Umweg der unbewussten Identification mit dem Gottheros
moglich war, offen und ausdriicklich gewahrt.
Der Unsterblichkeits- und Auferstehungsglaube, in dem die meisten
philosophisch gelauterten Religionssysteme gipfeln, zeigt, wenn man ihn
auf die inzestuose Wiedergeburt zuruckverfolgt, die denkbar vollstandigste
Ablehnung des Vaters, an dessen Stelle sich ja der Sohn versetzt. Diese
Ablehnung ist, — was sich in dem aus jeder Religion herausfuhlbaren
Schuldgefuhl zeigt — , eine Folge der infantilen Rivalitat und der Feind-
seligkeit, die sich im Unbewussten erhalten und von dort aus im religiosen
!) Feste, bei denen die verschiedensten Yolker den Phallus verehrten, wurden
in spaterer Zeit auf die Wiedergeburt im Jenseits bezogen. (Nach Liebrecht
Zur Volkskunde, 1879).
2 ) Vergl. Edm, Spiess: „Entwicklungsgeschichte der Vorstellungen vom
Zustande nach dem Tode auf Grund vergl. Religionsforschung dargestellt." Jena 1877.
5*
68 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Saclis: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Leben durcbsetzen. Der spatere Dualismus vieler Eeligionen, in
denen neben den Schopfer der Zerstorer tritt, die urspninglicb in einer
Gestalt vereinigt waren, ist eine Folge der Gefublsspaltung, welche die
Gegensatze in der unbewussten Einstellung zum Vater, wenn sie auf-
boren vertraglicb zu sein, durcb gesonderte Darstellung (Zerlegung) in
zwei oder mebrere Figuren erledigt (Ormuzd-Arbiman, Gott-Teufel).
Der extremste Ausdruck der Uberwindung des Vaters ist der A t h e i s m u s ,
bei dem sicb das Individuum rein auf sicb selbst stellt und keinen
Scbopfer und Herrn anerkennt.
Daneben versiegt aber niemals die ambivalente Gefiiblsstromung,
welcbe an der Gestalt des Vaters festhalt und Verehrung wie Dankbarkeit
gegen inn als die erste religiose Pflicbt empfindet. Fur den einzelnen
bleibt das Verhaltnis, das er in der Kindbeit zum Vater eingenommen
bat, vorbildlicb fur die Stellung, die er spater zum Weltenschopfer und
Vater im Himmel einnimmt. Aucb wenn er sicb, wie es zur Vollendung
des Entwicklungsganges notwendig ist, Tom Vater emanzipiert oder
gegen seine Autoritat auflebnt, kann er die in seiner infantilen Ein-
stellung vereinigten Empfindungen der Liebe und Abhangigkeit vom
Vater unbewusst beibebalten und in der Religion zum Ausdruck bringen.
Damit ist der Kreis geschlossen, da die Eeligion, die vom Verbalt-
nis des Kindes zu den Eltern ausgegangen ist, in einem grossartigen Kom-
promissprodukt der darin entbaltenen ambivalenten Gefiiblsregungen gipfelt.
IV.
Ethnologie und Linguistik.
Die fur die ethnologische Betrachtung bedeutsamen Tatsachen
konnen sowohl durch physische wie durcli psychische Einwirkung be-
stimmter Faktoren, wie Abstammung, Religion, okonomische Verhalt-
nisse, Kliraa u. dergl. auf eine Volksgruppe hervorgebracht werden;
die Mehrzahl dieser Determinanten maehen ibren Einfluss gleicbzeitio-
auf beiden Wegen geltend. Dadurch wird eine scharfe Sonderung zwar
erschwert, docb darf trotzdem die Untersuchungsmethode nicht unter-
schiedslos dieselbe sein, da die physischen Konsequenzen jeder Beein-
flussung durcb die Biologie, die psychischen durch die Psychologie
aufgeklart werden miissen. Umgekehrt ist wieder jedes ethnologisch
interessante Phanomen der Durchforschung nacb beiden Ricbtungen
bin bedurffcig, da eine einseitige Auffassung keine vollstandige Problem-
losung liefern kann.
Die Psychoanalyse kommt selbstverstandlicb nur fiir den psycho-
logischen Teil in Betracht, fur diesen aber kann sie hervorragende Be-
deutung gewinnen. Wir wissen, dass sehr Vieles in den Anschauungen
und Grewohnheiten einer Volksgesamtheit, sei es auf dein Gebiete von
Brauch und Sitte, sei es auf jenem von Religion und Sittlichkeit. sich
nicht auf Vorgange in dem bewussten Seelenleben ihrer Mitglieder
zuriickfiihren lasst. Wenn wir dem mystischen Begriff einer nicht durch
Summation der Einzelpsychen entstandenen, uber ihnen schwebenden
„Volksseele 8 fernbleiben wollen, werden wir zu der Annahme gedrangt,
dass es sich urn unbewusste Regungen handle. Diese miissen sich
dann bei fast alien Individuen einer Kulturgemeinschaft in typischer
Form wiederholen, weil sonst die Bereitwilligkeit der Gesamtheit, sich
den von ihnen ausgehenden Beeinflussungen zu unterwerfen, unerklarlich
ware. Das grosste Verdienst der Psychoanalyse ist es eben, uns zur
Bekanntschaft mit diesem typischen, unbewussten Seeleninhalt verholfen
zu haben. Vor ethnologisches Material gestellt, werden wir uns geradeso
wie bei einer individualpsychologischen Untersuchung fragen, welches
70 Dr. 0, Hank u. Dr. H. Sachs; Die Bedeutnng der Psychoanalyse etc.
Stuck des Unbewussten darin verkorpert sei und durch welche Mechanismen
es seinen Ausdruck gefunden habe, wobei wir iiatiirlicli nie vergessen
werden, dass nach Abschluss dieser Untersuchung noch weitere von
anderen Seiten her notwendig sein werden.
Die Forderung der Ethnologie durch die Psychoanalyse gehort
zum grossten Teile noch der Zuknnft an; bisher wurde die Tatsache,
dass eine Reihe Ton Gesamtheitsprodukten dem unbewussten Seelen-
leben nahestehen, mehr in umgekehrter Richtung ausgeniitzt, das heisst
die Psychoanalyse gewann dadurch eine wertvolle Untersttitzung, dass
sie ihre Satze auf einem ganz anderen Wissensgebiet anwendbar und
durch den Erfolg der Anwendung bestatigt fand. In den Sitten und
Gebrauchen der verschiedensten Volker wiederholt sich vollig getreu
die Symbolik, die bei der Traumdeutung festgestellt worden war. So
sind z. B. die mannigfaltigen Zeremonien, die Aussaat und Ernte
begleiten, ebenso wie die Hochzeitsfeierlichkeiten fast ausnahmslos
nur eine Haufung jener Symbolik, durch welche im Traum die Akte
oder Organe der Fruchtbarkeit und Zeugung dargestellt werden. In
dieser Hinsicht erwies sich die jiingere Schwesterwissenschaft der
Ethnologie, dieFolkloristik, besonders wertvoll, umsomehr als sie sich
intensiv mit der Sexualitat beschaftigte, an der die Ethnologie bisher
oft achtlos Torbeigegangen war. Das folkloristische Material zeigt uns
nicht nur den Aberglauben und die sonderbaren Vorschriften, die an
die erotische Betatigung so haufig gekntipft waren, sondern dariiber
hinaus auch den Einfluss, den das mehr oder minder gehemmte Ge-
schlechtsleben eines Volkes auf seine sonstige Sittlichkeit iiben kann,
und erganzt damit die psychoanalytische Kenntnis von der Wirkung
der Sexualverdriingung auf das Seelenleben des Einzelnen.
Wenn die Symbolik der Volkssitte und des von den Vdrfahren
liberlieferten Brauches mit jener, in die sich das Unbewusste im Traum
und verwandten Ausserungsformen kleidet, in vielen Fallen iiberein-
stimmt^ so mussen wir darin wohl mehr als ein blosses Spiel des Zu-
falls sehen. Das im I. Kapitel iiber die wesentlichen Ztige und die
Entstehung der Symbolik Gesagte gentigt, um uns den Weg zur Er-
kenntnis der Gesetzmafiigkeit dieser Erscheinung anzudeuten. Die
Symbolik ist der Rest einer einstigen Identitat zwischen dem Symbol
und dem Dargestellten, die im primitiven psychischen Leben bestanden
hat; diese kommt deshalb dort wieder zum Vorschein, wo einfachere
Seelenvorgange sich abspielen, die dem ersten Prinzip des psychischen
Geschehens, der Lustgewinnung, unterstellt sind und dem Zwang der
Realitatsanpassung nur wenig oder gar nicht Rechnung tragen. Die
Symbole des Volksbrauches waren also wie jene der Traumsprache als
Residuen einer untergegangenen Vorzeit anzusehen. Beini Traum hat
die Analyse * diese Annahme vollkommen verifiziert, denn als seine
IV. Ethnologie and Linguistik. 71
Wurzel erwies sich das Zuriickstreben ins Infantile, das sick durch die
Wiederbelebung von Kindheitserinnerungen, aber auch durch die An-
wendung infantiler Denkformen auf rezente Eindrlicke (Tagesreste)
durchsetzt. Die Vorzeit, auf welche das ethnologische Material
hinweist, kann nicht dem Einzelnen angehoren, sondern nur dem Volk
in seiner Gesamtheit, in letzter Linie, da die Grenzen zwischen Volk
und Volk in der fernsten Vergangenheit verschwimmen, der Menschheit.
Diese Gleichsetzung zwischen individueller und Volks- Vergangenheit ist
zwar bei der Symbolik am meisten in die Augen fallend, aber keines-
wegs auf sie beschriinkt. Eine eingehende Untersuchung ergab hin-
reichende Anhaltspunkte, um die Vermutung zu rechtfertigen, dass die
samtlichen primitiven Formen des Seelenlebens, wie sie dem Kinde
eignen und im Unbewussten des Erwachsenen aufbewahrt bleiben, unter
gewissen Einschrankungen mit den Vorgangen im Seelenleben der
Wilden, soweit diese als Abbild der Urmenschheit gelten diirfen, identisch
sind; ebenso, dass der weitere Entwicklungsgang, den das Kind durch-
macht, um das Niveau des Kulturmenschen zu erreichem als eine aufs
ausserste verkiirzte Wiedergabe des Weges aufgefasst werden kann,
den die ganze Menschheifc bis zur kulturellen Gegenwart durch-
schritten hat.
Wir haben gleich anfanglich die Verdrangung als das Ilesultat
der auf das Individuum einwirkenden Gesamtkultur gekennzeichnet.
Nunmehr sehen wir, dass auch ihr Gegenpart, das Unbewusste, liber die
Grenzen des Individuums hinausreicht und die Wiederkehr der Uranfange
unserer Gattung darstellt, bei denen jeder als Kind frisch beginnen muss,
und die bei fortschreitender kultureller Anpassung dem Bewusstsein ent-
zogen, aber niemals vernichtet oder wirkungslos geinacht werden. Vom
Uberbau des hoheren Seelenlebens verdeckt, bleibt das Unbewusste
dennoch lebendig und reprasentiert, da es gleichzeitig die Vergangenheit
des Individuums wie die der Gattung in sich fasst, das Allgemein-
Menschliche der Personlichkeit, die Verbindung, die den Hochst-
entwickelten wie den Zuriickgebliebenen mit der Gesamtheit verknupft.
Diese durch die Psychoanalyse ermoglichte Hypothese ist nichts
anderes als eine "Ubertragung des von Hack el aufgestellten, sogen.
biogenetischen Grundgesetzes, demzufolge die Entwicklung
des Individuums die Artentwicklung wiederholt, auf das psychische
Leben. Die Frage liegt nahe, warum die Psychoanalyse als Voraus-
setzung einer solchen Hypothese unentbehrlich sein sollte, da doch die
gnindliche Beobachtung des Kinderseelenlebens dazu auszureichen
scheint. Darauf ist zu erwidern, dass die in dieser Hinsicht be-
deutungsvollsten Stadien bereits durchlaufen sind, wenn das Kind einer
deutlichen Ausserung fahig und dadurch ein taugliches Studienobjekt
geworden ist, Weitaus das Wichtigste kann man nur durch Er-
72 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
schliessung tfer im Unbewussten erhalten gebliebenen Reste aus jener
Vorzeit, d. h. durch Psychoanalyse erfahren und gegebenen Falles mit
den Mitteln einer durch diese Erfahrung gescharften Beobachtung beim
Kinde bestatigt finden. IJbrigens ist das Kinderseelenleben auch noch
auf spateren Stufen keineswegs grundlich gekannt wie das allgemeine
Fehlurteil in der Frage der Kindersexualitat beweist. Mit der Psycho-
analyse hat die vorurteilsfreie Beobachtung des Kindes erst begonnen,
da der uber die eigene Verdrangung nicht aufgeklarte Forscher kaum
lmstande ist, den ganz oder teilweise verdrangungsfreien Geistes-
zustand des Kindes im wahren Lichte zu erblicken.
Eine wichtige Stlitze fur die hier entwickelte phylogenetische
Hypothese liegt in der Tatsache, dass der Parallelismus sich in ge-
wissen Fallen nicht bloss auf das Innenleben beschrankt, sondern
auch nach aussen hin in Erscheinung tritt. Wir zielen damit auf
einzelne typische Symptome der Neurotiker, insbesondere der Zwangs-
kranken, welche die aberglaubischen Gebrauche der primitiven Volker
genau wiederholen. Sowohl die fur das Verhalten der Wilden geltenden
Vorschriften wie die den Symptomen zugrunde liegenden Impulse waren
vollig unverstandlich und zwar den Personen, die unter ihrer Einwirkung
handeln, ganz ebenso wie dem sie untersuchenden Forscher. Die Psycho-
analyse fuhrt beide Phanomene auf denselben Ursprung zuriick, der
diese Seltsamkeit erklart, namlich auf das Unbewusste, unter dessen
Herrschaft der Neurotiker und der Primitive in weit hoherem Grade
stehen, als der normale Kulturmensch.
So entspricht z. B. der oft zu beobachtenden neurotischen Scheu vor
offenen Klingen, spitzen Gegenstanden u. dergl. eine Tabu-Vorschrift, die
verbietet, die Waffen an bewohnter Statte aufzubewahren ; die Zwangs-
Torstellung, dass der Tod eines Menschen durch die eigenen bosen Wiinscbe
verursacht werden konne, wird durch den Glauben an die Moglichkeit
der Schadigung des Feindes durch magische Formeln wiederholt; die der
Lebensfreude absagende Trauer der Neurotiker urn geliebte Personen
findet in der Angst der Wilden vor ihrer Wiederkehr als feindliche
Damonen Ausdruck 1 ); wie die Beziehungen des Neurotikers zu den fur
ihn bedeutungsvollen Personen zwischen mafiloser Liebe und Hass ab-
wechseln, ist auch der Wilde gegen einige fur ihn besonders wichtige
Personen, vor allem gegen seinen Herrscher und die Stammesfremden
ambivalent eingestellt, so zwar, dass ihnen bald hingebungsvollste Ver-
ehrung, bald erbarmungslose Feindseligkeit entgegengebracht wird; vor .
allem aber lassen die zahllosen strengen Vorschriften, die ein ungestortes
Beisammensein von verschiedengeschlechtlichen Familienmitgliedern —
*) „Jeder Tote ist ein Vampyr, die ungeliehten ausgenommen\ Friedrich
Hebbel, Tagebuch vom 31. Januar 1831. A
IV. Ethnologie und Linguistik. 73
Mutter und Sohn, Schwiegermutter und Schwiegersohn, Bruder und
Schwester — verhindern sollen, erkennen, dass beim Wilden die fur die
Atiologie der Neurose mafigebende tiberstarke Inzestangst besteht, die
nur aus einer hochst intensiven Inzestversuchung zu erklaren ist.
Die Komplexe, die das Familienleben des Neurotikers storen, spielen
also auch in der primitiven Familie eine kulturhistorisch bedeutsame Rolle.
Die Parallele zwischen psychischer Onto- und Phylogenese ist
inehr als ein interessantes Aper§u; in zalilreichen Fallen kann gezeigt
werden, dass das, was die Psychoanalyse als bedeutungsvollen Faktor
der Individual - Entwicklung erwiesen hat, auch fur die kulturelle
Bntwicklung von besonderer Wichtigkeit gewesen ist und deshalb in
sinngemafier Anwendung zur Losung der schwierigsten ethnologischen
Probleme beitragen kann, Freilich muss dabei behutsam vorgegangen
und der Verschiedenheit des Materials ausreichend Rechnung getragen
werden. Zwar ist der grosste Teil der Entwicklung der Menschheit
von innen heraus, durch die aus psychischen Quellen gewonnenen
Energiemengen bewirkt worden, wie etwa die Aufrichtung der Tabu-
Verbote mit ihren ethischen, religiosen und asthetischen Nachfolgern samt
den Bildungen, die zur Kompensation des durch diese Verbote auferlegten
Verzichtes geschaffen wurden. Aber diese Entwicklung ist durch aussere
Einwirkungen ausserordentlich stark beeinflusst, bald beschleunigt, bald
verlangsamt, manchmal sogar in ganz andere Bahnen gelenkt worden.
Die fur die Einwirkungsweise der Aussenwelt mafigebenden Momente
sind nun bei der Einzel- und Art-Entwicklung sehr oft fundamental
verschieden. So ist z. B, die Feuererzeugung ein nicht nur fur die
physischen, sondern mittelbar auch fur die psychischen Existenz-
bedingungen hochst bedeutungsvoller Akt gewesen, Wir diirfen an-
nehmen — und die in der Ethnologie aufbewahrten Erinnerungsspuren
beweisen es auch — , dass diese fur den Urmenschen eminent wichtige
Tatigkeit bei ihm grosse Affektquantitaten auszulosen imstande war und
entsprechende Verschiebungen in seiner Libido-Besetzung der Aussen-
welt zur Folge hatte. Die psychische Okonomie konnte, nachdem
diese neue Art der Affektabfuhr sich auf Grrund des damit verbundenen
grossen praktischen Vorteils fest etabliert hatte, auf eine neue Basis
gestellt werden. Ebenso hat die Einfiihrung des Ackerbaues iiberall
einen psychischen Umschwung mit sich gebracht.* Das Recht, die
Mutter Erde aufzuwuhlen und zu befruchten, brachte zahllose das Leben
beengende Tabu-Verbote in Wegfall, ein Beweis, dass mit und durch
diesen Fortschritt in der ausseren Kultur sich die Menschheit auch ein
Stuck innerer Freiheit, das ihr bisher noch entzogen war, zu erobern
wusste. Die Bekanntschaft mit der Feuererzeugung und dem Ackerbau
kann aber auf die psychische Entwicklung unserer Kinder kaum einen
ahnlich umwalzenden Einfluss ausiiben und beide haben fur unser Un-
74 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
bewusstes nur durch ihre Sexual-Symbolik Bedeutung, die allerdings
einen letzten Rest ihres ehistigen phylogenetischen Wertes darstellen mag.
Diese den Parallelismus storenden Einwirkungen sind bei der
Anwendung der psychoanalytischen Methode und ihrer Resultate auf die
Ethnologie genau in Erwagung zu ziehen; wer, ohne sie gebiihrend zu
benicksichtigen, eine glatte Ubertragung von der einen Problemreihe
auf die andere versuchen will, dem kann die Rechnung unmoglich
stimmen. Sehr ungerecht ware es, der Psychoanalyse die Schuld daran
zu geben, oder etwa gar, den Spiess umdrehend, zu behaupten, dass der
oder jener Grundsatz der Psychoanalyse unrichtig sei, weil er sich nicht
ohne weiteres auf die Crgeschichte der Menschheit anwenden lasse. Fur
die Psychoanalyse sind die auf diesem Gebiet begonnenen Untersuchungen
von ausserordentlichem Wert als Probe auf ihr Exempel, als Unter*
stutzung der durch sie aufgestellten, viel umstrittenen Thesen. Ihre
eigentliche Beweiskraft beruht nach wie vor . auf dem individual-
psychologischen Material, init dem sie sich niemals in Widerspruch
setzen darf. Wird dadurch ihre Anwendbarkeit auf andere Wissen-
schaften erschwert, so ist dies als notwendige Konsequenz der anders-
artigen Zusammensetzung des Materials zu betrachten, das eine eigene
Methodik erfordert. Ein „Sesam, tu dich auf", mitdem ohne Sorge und
Miihe alle Tiiren geoffnet werden, ist die Psychoanalyse nicht.
Mit den obigen Ausfiihrungen im engen Zusammenhang steht die
Frage, ob man sich den phylogenetischen Parallelismus so vorzustellen
habe, dass infolge eines uns noch unbekannten Gesetzes die samtlichen
psychischen Entwicklungsstufen der Art im Individuum von Anfang an
als Dispositionen enthalten seien und dann mit dem Fortschreiten der
organischen Entwicklung, sozusagen automatisch, in Erscheinung treten,
oder ob nur deswegen, weil auf das Kind der Reihe nach die gleichen
Ursachen einwirken wie auf die primitive Menschheit — Ubergang vom
Lust- zum Realitatsprinzip, animistische Weltauffassung, Inzestschranke
usw. — die gleichen Folgen hervorgebracht werden. Es lasst sich ein-
sehen, dass man die Beantwortung dieser Frage, die erst, wenn die
Erforschung des ganzen Problems recht weit gediehen ist, mit einiger
Sicherheit gegeben werden kann, nicht bei Beginn der Untersuchung
fordern darf. Jedenfalls muss die erste Moglichkeit, die viel weiter
ausgreift und eine Reihe anderer Probleme in sich schliesst, als Arbeits-
hypothese einstweilen zuriickgestellt werden.
Die Spuren friiheren psychischen Lebens werden uns noch in einer
anderen Bildung aufbewahrt, die sich in ununterbrochenem Flusse von der
Urzeit her bis in unsere Gegenwart fortsetzt und fur das Geistesleben
der Menschheit von hochstem, ja entscheidendem Wert ist, namlich durch
die Sprache. tlber die Sprachentwicklung des Kindes ist bisher vom
IV. Ethnologie und Linguistik. 75
Standpunkt der Psychoanalyse aus noch kerne Untersucbung angestellt
worden, Dagegen hat hinsichtlich des grossen Problems der Entstehung
der menschlichen Sprache der Philologe Dr. Hans Sperber l ) erne
Hypothese aufgestellt, die, ohne von psychoanalytischen Pramissen aus-
zugehen, sich mit den Resultaten psychoanalytischer Denkweise voll-
kommen deckt. Nach Sperber ist es zur Entdeckung des Ursprungs der
Sprache notwendig, diejenige typische Situation aufzufinden, welche es
am ehesten einem Menschen nahelegte, durch beabsichtigte Laute einen
anderen Menschen im Sinne seiner Wlinsche zu beeinflussen. Solcher
Situationen gibt es nur zwei : das Kind, dem die Nahrungszufuhr fehlt,
und der sexuell erregte Mensch werden die Wahrnehmung rnachen, dass
die bei ihnen zunachst rein reflektorisch ausgestossenen Schreie einen
Anderen, dessen Gegenwart sie wiinschen, herbeirufen und werden daraus
lernen, diese Schreie absichtlich zu wiederholen, wenn sie den Betreffenden
in ihrer Nahe haben wollen. Vom Ealle des Kindes, das seine Mutter
ruft, fiihrt kein Weg zur Sprachbildung, wohl aber vom sexuellen Lockruf.
Die ersten Tatigkeiten des Urmenschen sind namlich fur ihn Surrogate
des Geschlechtsaktes, er wird dabei, z. B. beim Feueranzunden, denselben
Lockruf ausstossen und, wenn er dessen Wirkung einmal kennen gelernt
hat, durch ihn auch zur Teilnahme an dieser Tatigkeit auffordern.
Spater wird dann dieselbe Lautfolge iiberhaupt nur im abgeleiteten
Sinne benutzt, da die jungere Generation sie gebrauchen lernt, ehe der
Begattungstrieb in ihr erwacht. ' Kam dann nach jahrhundertelanger
Pause die Erfindung einer neuen Tatigkeit, etwa Graben oder Hammern
hinzu, so hatte sich inzwischen ein anderer sexueller Lockruf fixiert,
der nun auf die neue Entdeckung liberging. So lasst sich die Ent-
stehung mehrerer primitiver Yerbal-Wurzeln erklaren, mit denen dann
der Anfang der Sprache gegeben ist. Hinsichtlich der Substantia soil
nur kurz darauf verwiesen werden, dass die wichtigste Einteilung, die
wir heute noch rnachen, namlich nach dem Geschlecht, darauf deutet,
wie sehr an alien Dingen ihre Beziehungen zu den Sexualeharakteren
beachtet wurde 2 ).
Zu der Hypothese Sperbers stimmt es ausgezeichnet, dass in
den meisten Sprachen die Wurzeln der Bezeichnungen fur die primitiven
Tatigkeitsformen : Feueranzunden, Graben, Ackern usw. die Neben-
bedeutung coire haben. Diese Wurzeln sind allerdings nicht mehr mit
den alten Lockrufen identisch, aber die durch diesen Umstand in die
*) Imago, 5. Heft, Jahrgang 1912 „t)ber den Einfluss sexueller Momente auf
Entstehung und Entwicklung der Sprache".
2) Erstaunlich nennt Erich Schmidt den im Geschlechtsunterschied aus-
gesprochenen Trieb der Naturkinder, der ttber Mensch und Tier hinaus mit sinnlicher
Personifikation auf alle Ersckeinungen erstreckt wird. (Schlesinger, Geschichte
des Symbols, S. 417).
76 -Dr. 0. Eank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Beweisftihrung gerissene Liicke lasst sich durch eine andere, von Sperber
mit reichem etyrnologischen Material belegte Beobachtung ausfiillen.
Es besitzen namlich gerade Worte, die zur Bezeichnung sexueller Gegen-
stande oder Tatigkeiten dienen, die Eignung, dass sich fur alle nur
erdenkbaren Bedeutungsgebiete Ableitungen und Umformungen ihres
eigentlichen Sinnes anwenden lassen. Als Ursprung fur grosse und
weitverzweigte Sprachfamilien findet sicli daher ausserordentlich haufig
ein Ausdruck der Sexual-Sphare. Da die Sprachbildung nur so gedacht
werden kann, dass einige wenige Urformen (Wurzeln) eine Reihe von
Bedeutungen annehmen und im Laufe der Zeit durch Hinzutreten von
Bildungsformen variiert werden, kann es als erwiesen gelten, dass die-
jenigen Wurzeln, welche dem Bedeutungswandel am besten entgegen-
kamen, zur Sprachbildung am tauglichsten waren und dies sind, wie
wir gesehen haben, unzweifelhaffc die sexuellen. Wurzeln mit ursprunglich
nicht sexueller Bedeutung, die in spateren Stadien auftreten, werden
eine grosse Ausbreitungsfakigkeit dadurch gewinnen, dass sie die sexuelle
Vorstellungssphare passiert haben.
Von einem Stammwort mit der Bedeutung vulva finden wir z. B.
Abkommlinge, die zur Bezeichnung von so wenig verwandten Vorstellungen
wie Geback, zottiges Kleidungsstuck, Gefass und anderen dienen. So
heisst mittelhochdeutsch „kotze« vulva, ferner Hure und endlich grobes
Wollenzeug, kotze „Ruckenkorb«. Dazu gehoren elsassisch „Kutt«
podex, bayrisch „Kutz B Eingeweide, thuringisch „Kuttel K Sack (wovon
„Kutte" sackformiges Kleidungsstuck), englisch „cod a Kissen (altdanisch
kodde) und das in mehreren deutschen Dialekten belegte B Kutt a Grube.
Damit sind die Ableitungen durchaus noch nicht erschopft: schweizerisch
„chutz« Eule, dann „Kotz" Bliitenbuschel, schwedisch ^otte" der
rundliche Bliitenstand der JSTadelbaume, althochdeutsch „chutti tt agmen,
niederlandisch s kudde tt grex. Ausserdem hat eine grosse Anzahl dieser
Worte daneben noch den alten Sinn „vulva" aufbewahrt.
Wenn die Wichtigkeit eines Vorstellungsgebietes fur die Sprach-
bildung davon abhangt, dass von den daraus entnommenen Ausdrucken
Ableitungen auf moglichst zahlreiche und moglichst weit auseinander-
liegende andere Gebiete leicht zustande kommen konnen, so lasst es sich
auch theoretisch rechtfertigen, dass dies Gebiet die Sexualitat ist. Die
allgemeine Tendenz, bei jeder aufs praktische gerichteten Tatigkeit
einen Lustnebengewinn zu erzielen, kann vorausgesetzt werden. Diese
wurde jedenfalls am besten verwirklicht, wenn es gelang, fur eine solche
Beschaftigung eine Ahnlichkeit mit einer nicht auf praktische Zwecke, .
sondern nur auf Lustbefriedigung gerichteten Tatigkeit zu finden; war
dieser Erfolg erzielt, so wurde er dadurch festgehalten und stets aufs
neue betont, dass man der praktischen unlustvollen Tatigkeit die Be-
zeichnung jener anderen lustvollen anheftete und so die Einsetzung der
IV. Ethnologie unci Linguistik. 77
einen fiir die andere durcli den Namen sanktionierte. Derartig lust-
betonte Betatigungen gibt es fur den primitiven Mensclien nur zwei,
namlich die Stillung des Nahrungs- und des Sexualtriebes ; wahrend
aber die Stillung des Nahrungstriebes ein Akt ist, der auf hochst einfache
und stereotype Weise vollzogen wird und kaum den Anbaltspunkt fiir
zahlreicbe Analogien bietet, dem iibrigens auch der soziale Cbarakter
anfanglich vollkommen fehlt, liegt der Fall beim Geschlechtstrieb weit
giinstiger. Ein anderer, sebr erbeblicber Umstand ist es, dass der
Nahrungstrieb, dem nur mit sofortiger realer Befriedigung gedient ist,
der Phantasietatigkeit ungleicb ferner stebt als der Sexualtrieb. Der
tiefere Grund der Bevorzugung dieses letzteren endlich liegt in der Ver-
drangung, welche ibn in erster Linie trifft und ein dynamiscbes Moment
hinzufiigt, das dem Nahrungstrieb vollkommen feblt. Da der Menscb
infolge der Aufricbtung der Inzestschranke und anderer kultureller
Anforderungen auf einen grossen Teil der vorher gewobnten sexuellen
Befriedigung verzicbten musste, wurde bei ibm eine betracbtbcbe Libido-
Quantitat disponibel, fiir die er keine Verwendung mebr fand. Das aus
dieser Libido-Stauung entstebende Unlustgefuhl veranlasste ibn, jede
Gelegenbeit zu ihrer Ablagerung zu beniitzen, d. b. er sexualisierte seine
Umwelt und insbesondere seine eigenen Tatigkeiten. Wahrend also die
Herstellung einer Analogie mit der Stillung des Nahrungstriebes,
abgesehen von der grosseren Schwierigkeifc, bloss eine positive Lustpramie
gewabrte, konnte die Sexualisierung nocb ausserdem durch Milderung der
Spannungs-Unlust wobltuend wirken.
Das vollkommene Gegenstlick zu dieser urspriinglichen Art der
Entwicklung lasst sich auf boheren Kulturstufen und bei intensiverer
Verdrangung beobacbten. Wenn die unverbliimte Bezeichnung des
Sexuellen schamverletzend und desbalb unlustvoll zu wirken beginnt,
wird statt seiner eine Stellvertretung eingesetzt z. B, statt des Wortes
fiir Vagina eines fiir den Mund oder eine andeie harmlose Korperoffinung
oder fiir den Begattungsakt irgend eine Arbeitsleistung. Diese gleicbnis-
weise Bezeicbnung erhalt oft durch standige Verwendung zum gleicben
Zwecke mit der Zeit selbst die sexuelle Bedeutung. Es werden also
durch diesen Prozess urspninglich harmlose Worte in sexuelle verwandelt,
wahrend die primitive Entwicklung darin besteht, dass ein fiir das
Sexuelle gebrauchter Ausdruck sich durch Bedeutungswandel zur Be-
nennung einer kulturell wichtigen Beschaftigung oder eines Werkzeugs
ausbildet. Durch die wechselnde Anziehungs- und Abstossungskraft
der Sexualitat wird ein Teil der Sprachentwicklung in bestandigem
Flusse erhalten.
Auch abgesehen von den Beziehungen zur Sexualitat ist die
Kenntnis des Unbewussten fur das Verstandnis des Ursprunges und der
fruhesten Entwicklung der Sprache von hohem Wert, weil darin jene
78 Dr. 0. Rank u. Br. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
primitiven Denkformen aufbewahrt sind, welche bei den ersten Ansatzen
zur Sprachbildung mitwirkten. Bei dem innigen Zusammenhang, der
zwischen Denken und Sprache besteht, lasst sich iiber ihr Werden
kaum eine Hypothese aufstellen, wenn man sich von der Denkweise des
Urmenschen, die jedenfalls von der gegenwartigen sehr verschieden
war, keine bestimmte Vorstellung gebildet hat.
Der Einfluss einiger dem Unbewussten angehoriger psychischer
Mechanismen lasst sich schon heute behaupten, obgleich wir erst am
Anfang der einschlagigen Untersuchungen stehen. So gehort es zu den
bereits erwahnten Eigentiimlichkeiten des Unbewussten, das ihm das
Gefiihl fur dieUnvertraglichkeit der Gegensiitze abgeht, ja dass
es sie, auch wenn sie ganz diametral gegenttberstehen, mit Vorliebe
miteinander verlotet. Genau dasselbe hat schon vor mehreren Dezennien
ein hervorragender Philologe v ) als durchgangige Eigenart der altesten
Sprachen festgestellt ; diese bezeichnen haufig Gegensatzpaare mit dem-
selben Ausdruck, der sich erst spater inzwei verschiedeneWorte mit entgegen-
gesetzter Bedeutung teilt. So heisst das von uns mehrfach herangezogene
Wort „tabu" und das gleichbedeutende hebraische „kodausch", wie das
lateinische ^sacer* gleichzeitig „heilig" und „unheimlich, verflucht".
Die Fiihigkeit zu abstrahieren und begrifflich zu denken hat sich
erst langsam herausgebildet und war in den ersten Stadien der Sprach-
entwicklung gewiss nur rudimentar vorhanden. Auf die Frage, mit
welchen Denkformen die primitiven Menschen dort, wo ihnen die
Begriffe mangelten, am ehesten operiert haben mogen, gibt uns die
Analogie mit dem Unbewussten ebenfalls Aufschluss. Auch dieses
kennt die Begriffsbildung nicht, dafiir bedient es sich in weitem Ausmafie
eines anderen, der Anschauung niiherstehenden Hilfsmittels, um der
Eigenart und dem Zusammenhang der Dinge wenigstens einigermafien
psychisch gerecht zu werden, namlich der Symbolik. Es konnen also
zwei in unserem Denken weit auseinanderliegende Vorstellungen im
unbewussten Geistesleben und ebenso in dem der Primitiven dadurch
sehr enge verknupft sein, dass sie beide als Symbole fur dasselbe Dar-
stellungsobjekt benutzt wurden oder dass sogar die eine der beiden dem
darzustellenden Gegenstand selbst entsprach, die andere dem darstellenden
Symbol 2 ). Auf diese M5glichkeit sollte die Etymologie bei Erforschung
der altesten Ableitungen stets Bedacht nehmen. Zahlreiche Symbole
sind durch ihre Verwendung im Folklore und im Kunstwerk allgemein
bekannt. Von ihnen macht auch die Etymologie bereits Gebrauch und
die Psychoanalyse braucht nur auf ihre besondere Bedeutung im un-
x ) Karl Abel: „tJber den Gegensinn der Urworte\ Leipzig 1884.
*) Nach Gerber (Die Sprache der Knnst, 1885) wurden die Wurzeln auf der
Stufe der unbewussten Syinbolik geschaffen.
IV. Ethnologie und Linguistik. 79
bewussten Seelenleben als einen bisher unbekannten Faktor hinzuweisen.
Andere Symbole, und gerade diejenigen, die fur das primitive Seelen-
leben am meisten eharakteristisch sind. verloren ihre Beziehungen zum
bewussten Verstandnis und verscliwanden fast vollstandig aus jenen
Formen der Symbolanwendung, die auf die Aufnahme durch einen anderen
berechnet sind. Sie zogen sich auf diejenigen Ausserungsarten des
Unbewussten zurttck, die auf Verstandnis gern verzichten, wie es vor
allem beim Traum der Fall ist. Die Symbole dieser Gruppe lassen
sich iiberhaupt erst durch grundliche Erforschung des Unbewussten
kennen lernen und fiir ihre etymologische Verwertung ist deshalb die
Kenntnis der Psychoanalyse unumgangliche Bedingung.
Wir mlissen noch einen fliichtigen Blick auf das Material der Sprache,
die Lautbildung werfen. Fur das Kind sind die Zusammenfiigungen
artikulierter Laute, die es nach und nach beherrschen lernt, etwas Selb-
standiges, das sich yon den Dingen, die es bezeichnet, dadurch vorteil-
haft unterscheidet, dass es viel leichter dem eigenen Willen unterworfen
werden kann, als jene. Das Kind ist deshalb geneigt, den Zusammen-
hang zwischen der Sache und ihrer Bezeichnung, den es intellektuell
ohnehin nicht ganz fassen kann, dahin misszuverstehen, dass es den
Namen fur die Sache nimmt, ihn als einen Ersatz der Sache selbst ansieht.
Ahnliches finden wir bei den primitiven Menschen, die der Meinung
sind, dass man eine gewisse Gewalt iiber eine Sache liabe, wenn man
deren Nam en wisse. Daher riihrt die Neigung zum Euphemismus,
namentlich bei Personen- und Ortsnamen; zahlreiche Reste dieses
Glaubens finden sich in Mythen und Marchen.
Eine Folge dieses Irrtums ist es, dass im kindlichen und auch
sonst im primitiven Denken die Annahme vorwaltet, der Ahnlichkeit
der Bezeichnung miisse ein sachlicher Zusammenhang entsprechen.
Die lautliche Assoziation tritt auf dieser Stufe der Geistestatigkeit leicht
an die Stelle der faktischen Relation; auch im Unbewussten ist dasselbe
der Fall, was besonders an der Traumarbeit sehr deutlich wird, die sich
mit Vorliebe y.ur Herstellung von Zusammenhangen der Klang- Assoziation
mit Hinwegsetzung iiber die inhaltliche Verknupfung bedieni Ftir die
Entstehung der Sprache ist die im Traume hervortretende Tendenz,
die Ahnlichkeit der Sache mit der Lautahnlichkeit der Bezeichnung
in Zusammenhang zu bringen, von hervorragender Bedeutung 1 ).
Eine Analogic zu diesem Mechanismus bietet uns die Entstehung
der Schrift. Von den agyptischen Hieroglyphen wenigstens wissen wir
!) „ Zwischen das Wort und seinen Gegenstand tritt das Bild und deutet zufallig
gleichlautendeGegenstande, zwischen denen keinanderer Zusammenhang alsphonetische
und Lautsymbolik besteht. Wo an sich versehiedene Wiirter im Laut zusammen-
treffen, tliuschen sie das Volk, so dass es eine gleiche Beziehung annimmt. Dieser
Glaube an die Verwandtschaft der Laute und ihre Doppelbedeutung hat Anteil an
der Gestaltung der griechischwi Religion". Welcker (Griech. Gotterlehre, 1857)
80 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
bestimmt, dass ihre allmahliche Umwandlung aus einer Aneinander-
reihung von Bildern zu einer Lautschrift daher ihren Ausgang nahm,
dass man bestimmte Zeichen nicht nur fur den Gegenstand, den sie
darstellten, verwendete, sondern audi fur andere Objekte, mit denen
sie gar keine innere oder aussere Gemeiusamkeit besassen, deren Namen
aber denselben oder einen ahnlichen Wortlaut hatten. Man benutzte
also ebenfalls nicht die Basis der sachlichen, sondern die der klanglichen
Assoziation. So bezeichnete man den Sohn mit dem Bilde der Gans,
weil beide Worte etwa gleich lauteten, den Riehter schrieb man als
Wolf, weil beide den Namen „seb a fuhrten 1 ). Die Deutung des Hora-
pollo, der urn jeden Preis inhaltliche Beziehungen als die zugrunde-
liegenden darzustellen versuchte, fiihrte zu demselben Unsinn, wie ihn
eine Traumdeutung, die sich dieser Technik bedienen wollte, zu Tage
forderu wiirde.
Selbstverstandlich kommt die Psychoanalyse nur fur den Ursprung
der Sprache und die Etymologie in Betracht. Darin liegt nicht ein
Ubersehen der Wichtigkeit der hoheren Ausgestaltung und noch weniger
eine Unterschatzung der ihrem Studium gewidmeten Philologie. Fiir
den Standpunkt unserer Betrachtung jedoch kommen diese Stufen nur
als sekundare Bearbeitung des primitiven psychischen Materials
in Betracht, denn unsere Aufgabe beschrankte sich darauf, den Einfluss
desTJnbewussten auf die Sprachbildung in den Grundzugen darzulegen
und darauf hinzuweisen, wieviel durch die Erreichung einer besseren
Einsicht in dieses Problem fur die Sprachwissenschaft zu gewinnen isi
x ) „Die Hieroglyphen" von Prof. Dr. A. Ermann, Sammlung Gtischen, Nr. 608.
Nach Conrady war diese Bezeichnung mittels „Lautrebus" auch hei an deren ver-
wandten Bilderschriften wie der chinesischen und sumerischen die Regel (Ver-
ofFentlichungen des stiidt. Museums fiir Yolkerkunde in Leipzig, 1907, H. 1, Einl.).
V.
Asthetik und Kiiiistler-Psychologie.
Die Moglichkeit eines psychologischen Verstandnisses ist bei der
Poesie jedenfalls leichter als auf jedem anderen Kunstgebiete. Wir
wollen deshalb auch bei unseren asthetischen Betrachtungen diese vor-
ziiglich ins Auge fassen und die anderen Kunstgattungen nur gelegentlich
streifen.
Stellen wir nun zwei asthetische Grundfragen, namlich welcher
Art der Genuss ist, den ein Werk der Dichtkunst bereitet, und auf
welche Weise es ihn hervorzurufen vermag, so zeigt schon die erste
Uberlegung Widerspruche, die sich kaum losen lassen, solange die
Betracbtung nur auf die Vorgange im Bewusstsein beschrankt bleibt.
Denn auf die erste Frage mussen wir antworten, dass der Inhalt der
Dichtungen zum grossen Teile danacb angetan ist, in uns peinliche
Affekte zu erregen : Unheil und Trauer, das Leiden und der Untergang
edler Menschen sind fiir die Tragodie das einzige, fur das Epos, den
Roman, die Novelle das haufigste Thema; auch dort, wo Heiterkeit
erweckt werden soil, ist das nur moglicb, wenn Missverstandnisse oder
Zufallstticke die Personen fur eine Weile in schwierige und unerquickliche
Situationen bringen. Aber den Gipfel des Kunstgenusses finden wir
darin, wenn uns ein Werk vor Spannung fast den Atem raubt, Tor
Schreck die Haare straubt, um uns zuletzt Tranen des tiefsten Leidens
und Mitleidens abzufordern. Alles dies sind Empfindungen, die wir im
Leben flieben und in der Kunst sonderbarerweise aufsucben. Die
Wirkungen dieser Affekte sind offenbar, wenn sie vom Kunstwerk aus-
geben, ganz anderer Art als sonst, obgleich sie vom Bewusstsein
ebenso aufgenommen werden und diese asthetische Abanderung
der Affektwirkung, vom Peinlichen zum Lustvollen, ist
daher ein Problem, bei dem wir von der Kenntnis des unbewussten
Seelenlebens Forderung erwarten diirfen.
Diese veranderte Einstellung zu unseren Affekten kann keineswegs
allein dadurch erklart werden, dass der Zuschauer oder Horer weiss,
nicht die Wirklichkeit, sondern nur ihr Widerschein stehe vor ihm.
Grenzfragen des Nerveu- und Seelenlebens. (Heft XCIII.) 6
82 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Dadurch lasst sich zwar verstehen, warum Tatsachen, die uns peinlich
bertihren wtirden, wenn sie wahr waren, in dieser Scheinwelt vorfallend
uns zur Heiterkeit stimmen, wie es eben fiir das Lustspiel und Verwandtes
erwahnt wurde; in den wesentlichsten Fallen handelt es sich aber urn
etwas ganz anderes. Die normale Wirkung dieser Tatsachen auf unser
Empfinden wird durch die fehlende Realitat nicht aufgehoben, vielmehr
erregen sie genau dieselben Affekte wie Furcht, Entsetzen, Abscheu,
Mitleid etc., werden also, wenigstens im Hinblick auf ihre Wirkung,
vollig ernst genommen, den realen gleichgestellt. Die AfFekte selbst
sind es, die sich von den durch die Wirklichkeit erregten unterscheiden,
und zwar nicht in ihrer Entstehungsursache und nicht in ihrer
Ausserungsform, wohl aber durch das in sein Gegenteil verkehrte, dem
Inhalt inadequate Lustvorzeichen.
Damit hangt die Beantwortung der zweiten Frage zusammen. Das
Hauptmittel, durch das die Dichtkunst ihre Wirkung ubt, ist die eigen-
tumliche Lage, in welche der Zuhorer versetzt wird. Wie durch Sug-
gestion wird er gezwungen, Dinge, die ihm von einem anderen vor-
erzahlt werden, zu erleben, d. h. in subjektive Wirklichkeit umzusetzen,
wobei ihm doch die Kenntnis des richtigen Sachverhaltes nie vollig ver-
loren geht. Der Grad der Tauschung, der erzielt werden soil, ist in
jeder Kunstgattung verschieden und danach richten sich die Sug-
gestivmittel, deren sie sich bedient. Diese sind teils von innen her
durch den Stoff bedingt, teils sind es technische Hilfsmittel, die sich
mit der Zeit zu typischen Formen entwickelt haben und das Erbe
friiherer Generationen darstellen, das fiir den schaffenden Klinstler bereit
liegt. Dagegen gehoren jene Veranstaltungen, bei welch en die Illusion
durch direkte Nachbildung der Wirklichkeit erreicht werden soil, wie
etwa die auf der modernen Biihne gebrauchlichen, nicht hierher, weil
sie mit dem Wesen der Dichtkunst nichts zu tun haben. Von den
beiden anderen wird noch spater zu handeln sein.
Wir verweilen zunachst bei der sonderbaren Mittelstellung, in
die jeder versetzt wird, auf den ein Werk der Dichtkunst die voile und
richtige Wirkung ausubt. Er wird die Wahrheit dieses Werkes fiihlen,
seine Un wahrheit wissen, ohne dass ihn dieser fortwahrende Zwiespalt
zwischen Schein und Sein, der doch die peinlichste Unentschiedenheit
hervorrufen musste, im Mindesten anficht. Wenn wir den Vergleich
mit anderen Phantasieprodukten ziehen, insbesondere mit dem oft
zur Poesie in Parallele gestellten Traum, so finden wir, dass bei diesem
die Tauschung vollkommen ist. Von einem besonders begriindeten Aus-
nahmsfall abgesehen (das Gefuhl des Traumes im Traum), glaubt der
Traumer bis zum Schluss an die Realitat der Vorgange. Dass der
Geisteskranke seine Wahnbildungen an die Stelle der Wirklichkeit setzt,
ist bekannt. Aber auch wenn wir die unmittelbaren Vorlaufer der
V. Asthetik und Kiinstler-Psychologie. 83
Poesie, die My then, ins Auge fassen, finden wir dasselbe Phanomen.
Der Mensch der mythenbildenden Zeitalter, die auf unserer Erde noch
keineswegs ganz voriiber sind, glaubt an seine Phantasiebilder und ver-
mag sie gelegentlich als Objekte der Aussenwelt wahrzunehmen.
Dass die Dichtkunst fiir uns dasselbe nicht mehr voll zu leisten vermag,
bedeutet ein Absinken ihrer Funktion, dem ihre mindere Geltung
innerhalb unseres sozialen Zustandes entspricht; dass sie dazu doch noch
teilweise irostande ist, macht sie zur letzten und starksten Trosterin der
Menschheit, der der Zugang zu den alten, verschiitteten Lustquellen
immer schwieriger wird.
Die Phantasiebildung , der das poetische Werk in dieser so wie
mancher anderen Hinsicht am nachsten stent, ist der sogenannte „Tag-
traum*, dem sich ziemlich alle Menschen gelegentlich hingeben; ins-
besondere vor und in der Pubertal nimmt er ini Innenleben grossen Platz
und einschneidende Bedeutung in Anspruch. Der Tagtraumer kann aus
diesen Phantasien einen erheblichen Lustbetrag gewinnen, ohne doch je
an die reale Existenz der getraumten Situationen zu glauben. Andere
Merkmale trennen diese Produkte .allerdings scharf vom Kunstwerk : Der
Tagtraum ist form- und regellos, er kennt die Hilfsmittel nicht, deren sich,
wie wir gesehen haben, das Kunstwerk zur Erreichung seiner suggestiven
Wirkung bedient und kann sie auch leicht entbehren, da er nicht fiir
die Wirkung auf andere berechnet, sondern rein egozentrisch ist. Dafiir
konnen wir bei ihm die Umkehrung der Affektwirkung wiederfinden,
die uns beim Kunstwerk so ratselhaft schien, allerdings nicht in dem-
selben Ausmafie. Meist bilden dem Traumer genehme, seine bewussten
Wiinsche erfullende Situationen den Inhalt des Tagfcraums; besonders
die Befriedigung des Ehrgeizes durch ungeheuere Erfolge als Heerfiihrer,
Staatsmann oder Kiinstler, dann die Erringung des Gegenstandes seiner
Liebe, die Sattigung der Rache fiir die ihm von einem Machtigeren zu-
gefiigte Unbill malt sich der Tagtraumer in aller Breite aus. Dazwischen
kommen auch, wenngleich seltener, Situationen vor, die in Wirklichkeit
hochst peinlich waren, die aber der Tagtraumer mit demselben Behagen
ausfiihrt und wiederholt. Der haufigste Typus ist die Phantasie vom
eigenen Sterben, aber auch andere Leiden und Ungliicksfalle : Verarmung,
Krankheit, Einkerkerung und Schande sind nicht selten vertreten ; nicht
minder auch die Vorstellung von der Begehung eines ehrlosen Yer-
brechens und dessen Entdeckung.
Wir werden uns nicht wundern zu finden, dass der Durchschnitts-
mensch als Tagtraumer bei der Produktion solcher Phantasien den
gleichen Genuss findet wie als Zuhorer einer Dichtung bei ihrer Auf-
nahme. Beide Funktionen sind ja in wesentlicher Hinsicht identisch,
insoferne als die Aufnahme einer Phantasie nur darin besteht, dass sie
nacherlebt wird. Voraussetzung fiir die Moglichkeit dazu ist allerdings, dass
84 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
bei dem Aufnehmenden die Tendenzen ebenfalls vorhanden sind, zu
deren Befriedigung die Phantasie geschaffen wurde. Die erste Forderung
an das Kunstwerk, das uber zeitliche und raumliche Beschrankung hin-
aus zu wirken bestinimt sein soil, ist daher seine allgemein mensch-
liche Grundlage. Nun wird bei der grundsatzlich gleichartigen Trieb-.
anlage der Menschheit auch der Tagtraum einer solchen Basis kaum
vollig entbehren; der Unterschied liegt darin, dass die gemein-mensch-
lichen Ztige, bei denen ein Miterleben anderer moglioh ist, in der Phan-
tasie des Kiinstlers ohne sein Zutun hervortreten und die Fiihrung iiber-
nehmen, wahrend sie beim Tagtraumer von seinen hochstpersonk'chen
Anspriichen an das Leben yerdeckt werden. So sehen wir, um ein
Beispiel zu geben, im Tagtraum des Ehrgeizigen einen Mann auftreten,
dessen ungebeure Erfolge uns kein Interesse abnotigen, da sich der
Traum an der Tatsache geniigen lasst und jede innerliche Motivierung
verschmaht, durch die der Fall an das allgemein Psycbische angeschlossen
witrde. In ^Macbeth." seben wir zwar auch einen Ehrgeizigen und seine
Erfolge, aber die psychologiscben Pramissen sind bis zu den Wurzeln
jedes Ehrgeizes verfolgt, so dass jeder, der ehrgeizige Wiinsche gehegt
hat, unwiderstehlich hingerissen die ganzen Schrecken der Mordnacht mit-
empfinden muss.
Hiermit ist uns ein Fingerzeig zum Verstandnis der suggestiven
Kraft des Kunstwerkes gegeben, aber dem Problem der Umkehrung der
Affektwirkung sind wir noch nicht naher geriickt. Dazu konnen wir
erst gelangen, wenn wir die Affekttheorie der Psychoanalyse zu. Hilfe
nehmen. Diese lehrt namlich, dass sehr grosse Mengen von AfTekt
unbewusst bleiben konnen, ja in gewissen Fallen unbewusst bleiben
miissen, ohne dass die Lust- oder Unlustwirkung dieser Affekte, die
notwendigerweise dem Bewusstsein angehort, verloren ginge. Die so
ins Bewusstsein gelangende Lust und Unlust wird dann an andere Affekte,
resp. an die zu denselben gehorigen Vorstellungen gelotet; manchmal
gelingt diese Verlotung so Tollkommen,; dass niehts Auffalliges iibrig
bleibt, sehr oft ist aber diese Lust oder Unlust dem Affektkomplex, aus
dem sie zu stammen scheint, inadaquat oder, wie in unserem Falle, ent-
gegengesetzt. Die patbologischen Beispiele ungeheuer starker Freude-
oder Schmerzausserungen bei anscheinend nichtigen Anlassen sind be-
kannt. Die Lage der Dinge ist nun allerdings komplizierter als sie
bisher dargestellt wurde. Es ist namlich nicht ohne weiteres richtig,
dass die von den unbewussten Affekten abgeloste Lust beliebigen Stell-
vertretern angehangt wird. Dies wiirde der strengen Determination im
Psychischen widersprechen und liesse die irrige Voraussetzung auf-
kommen, als ob ein vom Bewusstsein ausgeschlossener Affekt auf seine
Durchsetzung verzichten wiirde. Vielmehr sind jene bewusstseinsfahigen
Vorstellungen und Affekte, die jetzt mit so starkem Lust- und Unlust-
V. Asthetik und Kunstler-Psychologie. g5
gewinn arbeiten, nichts anderes als die Auslaufer und Ersatzbildungen
der urspriinglichen, nun verdrangten Affekte. Zwischen beiden muss
ein enger assoziativer Zusammenhang nachweisbar sein und auf der
durch diese Assoziation hergestellten Bahnung verschiebt sich die Lust
und die mit ihr zusammenhangende Energiebesetzung.
1st diese Theorie richtig, so muss ihre Anwendung ad unser
Problem moglich sein und hatte dann ungefahr so zu lauten: Durch
das Kunstwerk werden neben den bewussten Affekten auch unbewusste
von viel grosserer Intensitat und oft entgegengesetzfcem Lustvorzeichen
erregt. Die Vorstellungen, mit deren Hilfe dies geschieht, mussen so
gewahlt sein, dass sie nebst den vor dem priifenden Bewusstsein be-
stehenden Zusammenhangen auch ausreichende Assoziationen zu den
typischen unbewussten Affektkonstellationen besitzen. Die Fahigkeit,
dieser komplizierten Aufgabe gerecht zu werden, gewinnt das Werk
daher, dass es bei seiner Entstehung fur das Seelenleben des Kunstlers
das zu leisten hatte, was es bei seiner Eeproduktion fur die Zuhorer
leistet, namlich die Abfuhr und Phantasiebefriedigung der ihnen gemein-
samen, unbewussten Wtinsche.
Hier muss daran erinnert werden, was im ersten Kapitel iiber
Widerstand und Zensur und die damit zusammenhangende Notwendig-
keit der Verhxillung (Entstellung) gesagt wurde. Die unverhullte Dar-
stellung des Unbewussten wiirde die ganze Abwehr der sozialen, mora-
lischen und asthetischen Personlichkeit hervorrufen, also nicht Lust,
sondern Angst, Ekel und Abscheu erregen. Die Poesie macht deshalb
von alien jenen Masken und Darstellungsmitteln — Umstellung der
Motive, Verkehrung ins Gegenteil, Abschwachung des Zusammenhanges,
Zerlegung einer Gestalt in mehrere, Doublierung der Vorgange, Ver-
dichtung des Materials, insbesondere aber von der Symbolik — den
allerreichlichsten Gebrauch. So entsteht aus den verdrangten Wunsch-
phantasien, die als typisch notwendigerweise auf eine geringe Anzahl
beschrankt bleiben und daher des ofteren wiederholt recht gleichformig
wirken rmissen, die unendliche, nie zu erschopfende Mannigfaltigkeit
der Kunstwerke. Fiir diese sorgt nebst der individuellen Yerschiedenheit
auch die variierende Intensitat der Verdrangung, die mit dem Wechsel
der Kulturepochen ihren starksten Widerstand bald gegen das eine,
bald gegen das andere Stiick des Unbewussten richtet.
Der Konfiikt zwischen Verdrangung und Unbewusstem findet im
Kunstwerk als in einer Kompromissbildung eine zeitweilige Bei-
legung. Das Unbewusste gelangt zum Durchbruch, ohne dass ein direkter
Ansturm gegen die Schranken der Zensur notwendig ware, die vielmehr
auf geschickte Weise umgangen werden. Aus der Welt geschafft wird
der Konflikt damit freilich nicht, das beweist eben das haufig verkehrte
Lustvorzeichen, mit dem die Phantasien vor das Bewusstsein treten.
86 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Selbst in ibrer Verhiillung haffcet den ersehnten Situationen noch ein
peinlicher Charakter an, der siealsaus demOrkus des Unbewussten empor-
gestiegene Gespenster kennzeichnet. Dieser Zug, der geeignet ware, den
Kunstgenuss aufzuheben, wird nun in das Kunstwerk eingearbeitet, indem
der bewussteZusammenhang so gefiigt wird, dass die Hauptsituationen gern
den Charakter des Traurigen, Furchtbaren, Verbotswidrigen annehmen;
insbesondere in der Tragodie ist dies regelmafiig der Fall und in ihr
wird auch die Reinigung des Gemutes der Zuborer am vollstandigsten
erreicht. Dass die meisten Werke der Dichtkunst in unserem Be-
wusstsein unerfreuliche Affekte wecken, ist also kein Widerspruch
gegen ihre lustvolle Funktion, wie wir anfangs glauben mussten, sondern
eine Unterstutzung dabei; denn einerseits werden dadurcb die Unlust-
affekte im Bewusstsein verarbeitet und in den Dienst der kiinstleriscben
Form gestellt, anderseits wird die aus unbewussten Quellen gespeiste
yerbotene Lust ohne Verstoss gegen die Zensur unter der Maske des
fremden Affektes genossen 1 ).
Die Fahigkeit, aus peinlichen Affekten Lust zu schopfen, und das
auf diese Weise ermoglichte Verweilen der Poesie bei den dazu gehorigen
Vorstellungen muss aber noch eine zweite Wurzel haben, denn der
Tagtraum, der das Unbewusste nicht in den Dienst der kunstlerischen
Spannung zu stellen vermag, verwertet sie ebenfalls, wenn auch seltener
wie das Kunstwerk. Tatsachlich lasst sich aus diesen Leidens-Phantasien
auch primar ein Lustgewinn ableiten. Wir wissen bereits, dass zu den
infantilen Triebanlagen, die in die Sexualbetatigung des Erwachsenen
nicht ganz aufgenommen werden konnen, auch die sexuelle Lust am
Zufugen und Erdulden von Schmerzen (Sadismus-Masochismus) gehSrt.
Im Tagtraum, wo ihre Befriedigung weder mit physischem Schmerz,
noch mit iibeln sozialen Folgen verkniipft ist, finden sie auch nach
vollzogener Verdrangung ihre Pflegestatte und von dort aus wandern
sie ins Kunstwerk tiber, wo sie aufgenommen und fur seine sekundaren
Tendenzen ausgeniitzt werden.
Ein wichtiges Moment ist auch, dass sich der asthetische Genuss vollig
abseits von dem in die Realitat gestellten, handelnden und wirkenden
Ich abspielt. Dadurch wird es dem Zuborer ermoglicht, sich mit jedem
Empfinden, mit jeder Gestalt ohne Zaudern zu identifizieren und diese
Einverleibung immer wieder mtihelos aufzugeben. In diesem Sinne hat
das Gebot B L'art pour Part" seine voile Berechtigung, da das tendenziose
Kunstwerk, bei dem sich der Autor und sein Publikum von vornherein
fur gewisse Gesinnungen und Figuren einsetzen, so dass fur die Gegen-
! ) „Ich habe es oft gesagt und -werde nie davon abweichen: die Darstellung
todtet das Darzustellende, zunachst im Darsteller selbst, der das, was ihm bis dahin
zu scbaffen machte, durch sie unter die Ftisse bringt, dann aber auch fur den, der
sie geniesst* (Friedrich Hebbel).
V. Asthetik und Kunstler-l J sychologie. 87
spieler nur Ablehnung tibrig bleibt, nicht ebenso alle Seiten des Seelen-
lebens ins Spiel zu Ziehen vermag. In solchen Fallen besteht ein Rest
der Realitatseinstellung fort, der die Schwingen der Phantasie lahmt.
Nur wer sich an ein Kunstwerk vollkommen verliert, kann seine tiefste
Wirkung fiihlen und dazu ist die vollstandige Abwendung von den
Gegenwartszielen notwendig.
Es enibrigt uns noch die Betrachtung derMittel der asthetischen
Wirkung, die wir oben in innere und individuelle einerseits, in aussere
und technische andererseits eingeteilt. haben. Fur die erste Kategorie
gilt vor allem der Grundsatz der Okonomie der Affektverteilung. Urn
mit dem Kunstwerk einen starkeren Eindruck hervorzurufen, als es mit
einem tatsachlichen Ereignis oder rait einem Tagtraum der Fall ware,
ist ein Aufbau notwendig, der den Affekt nicht sogleich unnutz ver-
flackern lasst, sondern ihn langsam und gesetzmafiig von einer Stufe
zur anderen steigert, bis der hochste Grad erreicht und der Affekt dann
raoglichst restlos abreagiert wird. Die r innere Kunstform", die den
Kiinstler zwingt, fur jeden Stoff eine andere Art der Behandlung zu
wahlen, ist nichts anderes als die unbewusste Einsicht, wie das Maximum
der durch den Gegenstand erzeugbaren Affektmenge durch die richtige
Abwechslung zwischen Fortschreiten und Retardation zu erreichen ware.
Je nach dieser Einsicht wird der Kiinstler dann den Stoff als Tragodie
oder Epos, Novelle oder Ballade behandeln und auch innerhalb der
Gattung die Mittel genau nach dem Ziele bemessen. Die Affektokonomie
ist geradezu das Kennzeichen des Genies, das mit ihrer Hilfe die stiirksten
Wirkungen erzielt, wahrend gegen ihre Gesetze die schonste Deklamation
und die schauerlichste Handlung keinen tieferen Eindruck hervorbringen.
Neben der Affektokonomie steht an zweiter Stelle die Denk-
okonomie, der zu Liebe im Kunstwerk alles Geschehen streng gesetz-
mafiig und liickenlos motiviert sein muss, wahrend doch das wirkliche
Leben mit seinem bunten und tumultarischen Treiben uns kaum hie
und da den abgerissenen Fetzen einer Motivation in der Hand lasst.
In der Dichtung kann der Faden der Handlung nie unvermittelt abreissen,
der Ablauf der Tatsachen innerhalb des Werkes ist .vollkommen uber-
sehbar und nach dem Satze vom zureichenden Grunde ohne weiteres zu
verstehen, d. h, unsere Denkgesetze mussen sich nicht miihselig gegen
die Aussenwelt behaupten, sondern sie finden eine Welt vor, die nach
ihren Regeln harmonisch gebaut ist. Die Folge davon ist, dass die
Zusammenhange des Kunstwerkes miihelos verstanden werden, ohne dass
die Gedankenbahnen und die Tatsachen sich liberkreuzen; die Denk-
okonomie ist die Ursache, dass bei der Aufnahme des Kunstwerkes be-
deutend weniger Kraftaufwand notwendig ist als bei der Aufnahme
eines gleich umfangreichen Stiickes der Aussenwelt, und das Resultat
dieser Kraftersparnis ist ein Lustgewinn. Durch Hilfsmittel, welche die
88 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Denkokonomie noch weiter fordern, z. B. mittels Durchfiihrung eines
konsequenten Parallelismus oder das Nebeneinandersetzen scharfer
Kontraste in den Motiyen, Vorgangen und Gestalten kann dieser Lust-
gewinn noch gesteigert werden.
Es ist ohne weiteres einzusehen, dass an dieser Stelle die engeren
asthetischen Probleme einsetzen, die zum grossen Teil durch die
Anwendung dieser Grundsatze auf bestiraxnte Gruppen und Gattungen
der Losung naher gebracht werden konnen. Wir diirfen darauf nicht
eingehen und wenden uns den ausserlichen Kunstmitteln zu; diese be-
stehen, da das Medium der Poesie die Sprache ist, in Klangwirkungen,
die wir in zwei Gruppen teilen konnen: Rhythmus und Gleichklang.
Der Gleichklang hat in verschiedenen Formen, als Stabreim,
Anfangsreim, Innenreim und so weiter, existiert, bis er sich fur unseren
Kulturkreis alsEndreim fixiert hat. Die Grundlagen der Lustwirkung
sind iiberall gemeinsam: Die Wiederkehr derselben Lautfolge verursacht
eine Aufmerksamkeitsersparnis u. z. besonders dann, wenn das Reim-
port beidemale fur den Sinn wesentlich und kein blosses Flickwort ist;
die Kraftanstrengung, auf die man gefasst sein musste und die plotzlich
iiberflussig wird, setzt sich beim Wiedererkennen des Gleichen in Lust
um 1 ). Andererseits ist das Spiel mit Worten, wobei dem Klang die
eigentliche Wichtigkeit zugeteilt und auf ihm die assoziative Verbindung
aufgebaut ward, eine Quelle der Kinderlust, die also durch den
Reim fur den Bereich der Kunstubung wieder erweckt wird.
Der Rhythmus wird schon auf primitiven Kulturstufen als Mittel
der Arbeitserleichterung erkannt und verwendet ; diese Funktion ist ihm
erhalten geblieben und sie dient dort, wo die Uberwindung • realer
Widerstande ausser Betracht bleibt, neben unserem Fall z. B. auch
beim Tanz und Kinderspiel, zur direkten Lustgewinnung oder Lust-
erhohung. Doch ist hinzuzufugen, dass die wichtigsten Formen der
Sexualbetatigung, insbesondere des ,Wonnesaugen a des Kindes, dann
aber auch der Sexualakt selbst, aus physiologischen Grunden rhythmisch
sind. Durch die Einfiihrung des Rhythmus bei einer bestimmten Tatigkeit
wird dieselbe also den Sexual vorgangen ahnlich gemacht, sexualisiert.
Die Lust am Rhythmus hat demnach wahrscheinlich ausser dem Motiv
der Arbeitsokonomie noch eine gleich bedeutsame sexuelle Wurzel.
Was hier vom Kunstwerk gesagt wurde, stiitzt sich auf die
Untersuchung, die Freud fiber das Problem des Witzes angestellt hat.
Auch der Witz dient der straflosen Befriedigung unbewusster Tendenzen.
Auch er kann sich, um fur seinen Inhalt die Gunst der Horer zu ge-
winnen, der Kinderlust am Wortgleichklang bedienen, der sich bei ihm
gelegentlich bis zum — scheinbaren — Wortunsinn steigert. Alle
derartigen Hilfsmittel, also bei der Poesie die durch Affekt- und Denk-
i) Ahnliches hat Dr. Karl Weiss (Wien) in einem Vortrag vertreten.
V. Asthetik und Kunstler-PsychoJogie. 89
Okonomie geforderte Kunstform, dann Reim und Rhythmus, dienen als
Vorlust. Das heisst sie reichen dem Horer eine leicht zu erlangende
Lustpramie dar und locken ihm so das erste Interesse ab. Mittels einer
Kette soleher Lustpramien wird eine psyehische Spannung hergestellt
und stufenweise gesteigert, die ihn veranlasst, die Anstrengungen,
welche die Aufnahme des Werkes von seiner Einbildungskraft fordert,
zu leisten, die Widerstande zu iiberwinden, bis die Endlust und mit ihr
die Abfultr der Affekte und die Erledigung der Spannung erreicht
wird. Fur den oberflachlichen Beobachter scheint der ganze Lustbetrag,
den eiu Kunstwerk erweckt, durcb die Mittel erzeugt zu werden, welcbe
zur Herstellung der Vorlust dienen; aber in Wirklichkeit bilden sie nur
die Fassade, hinter der die eigentliche, aus dem Unbewussten stanimende
Lust versteckt ist.
Der Mechanismus der „ Vorlust" ist nicbt auf diese beiden Falle
beschrankt. Wir haben ihn schon bei der Verfolgung des Entwicklungs-
ganges der Sexualitat kennen gelernt; dort sahen wir die fruher selb-
standigen Partialtriebe die Vorlust liefern, welche zur Erreichung der
Endlust (im Sexual-Akt) anstachelt. Fernerhin mag sich noch auf
anderen Gebieten eine ahnliche Einrichtung nachweisen lassen.
Die Verwandtschaft mit der Sexualitat ist nicht nur auf Ausser-
lichkeiten beschrankt; es gilt ja als Binsenwahrheit, dass die Frage
„ob Hans seine Grete kriegt?" das Hauptthema der Poesie sei, das
in unzahligen Varianten stets aufs neue vorgetragen wird, ohne die
Dichter und ihr Publikum je zu ermiiden. Dass nicht nur der Stoff,
sondern auch die schopferische Kraft in der Kunst tiberwiegend sexuell
sei, ist schon mehr als einmal in intuitiver Erkenntnis ausgesprochen
worden. Die Psychoanalyse muss diese Anschauung insoferne ein-
schranken, als sie statt der schlechthin sexuellen die Triebkrafte des
Unbewussten einsetzt. Wenn im Unbewussten auch der Sexualitat die
weitaus grosste Bedeutung zukommt, so fiillt sie dasselbe doch nicht
restlos aus ; auf der anderen Seite darf nie ausser Acht gelassen werden,
dass die sexuellen Triebfedern, welche die Psychoanalyse anerkennt,
einen ganz besonderen Charakter, namlich den des Unbewussten
haben miissen. Das bewusste Begehren lasst sich mit der Phantasie
nicht lange gentigen, es zerst5rt den Schein und strebt nach Befriedigung
in der Realitat; durch sein Auftreten wird sowohl die Schaffenslust
des Kiinstlers wie der asthetische Genuss des Zuschauers aufgehoben und
zu nichte gemacht. Das unbewusste Begehren unterscheidet
nicht zwischen Phantasie und Realitat, es wertet die Gescheh-
nisse nicht danach, ob sie objektive Tatsachen oder nur subjektive
Vorstellungen sind und dieser Eigenschaft verdankt es seine Fahigkeit,
die psychologische Basis fur den Aufbau der Kunst zu bilden. Ins-
besondere ist es der Odipus-Komplex, aus dessen sublimierter Triebkraft
die Meisterwerke aller Zeiten und Volker geschopft haben; die Spuren
90 Dr. 0. Rank u. Dr. H Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
davon Widen die mehr oder minder verhiillten Darstellungen der Odipus-
Situation, die der Analytiker immer wieder auf den Urtypus zurtick-
fiihren kann. Bald wird, wie im Odipus selbst, die Tat in aller
Krassheit begangen, aber durch die subjektive Unkenntnis des Taters
gemildert; bald wieder umgekehrt das Verbotene bewusst angestrebt,
aber dadurch entsiihnt, dass die Verwandtschaft sich als irrig heraus-
stellt (Familienroman) ; am haufigsten wird die Situation abgeschwacht,
indem statt der Mutter die Stiefmutter, die Frau des Herrschers oder
eine andere Figur, die sich nur in den feineren Details als Mutter-
Imago verrat, eintritt und die Figur des feindlichen Vatera einer ahnlichen
Entstellung unterliegt.
Wenn wir unsere Beobachtungen auf die bildende Kunst aus-
dehnen, finden wir unschwer einzelne verwandte Ziige. Als eine Wurzel
der Anlage zum Maler lasst sich z. B. die Sublimierung des im Trieb-
leben eines Individuums besonders stark entwickelten Schautriebes
annehmen. Die Schaulust ist in ihrer primitivsten Form, beim Kinde,
an die ersten Lustobjekte gekniipft, unter denen die sexuellen — im
weiteren Sinne der Psychoanalyse — den ersten Platz einnehmen. Es
ist bekannt, dass die Darstellung des Menschen, insbesondere des nackten
menschlichen Korpers, lange Zeit hindurch als die einzige Aufgabe des
Malers und Bildhauers gait. Die von keiner Figur belebte Landschaft
trat erst in neuerer Zeit hinzu, nachdem ein weiterer Verdrangungs-
scbub die Anforderung der Zensur auf Ablenkung vom ursprunglichen
Ziel verscharft hatte. Doch gilt noch heute der Menschenleib als das
eigentlicbe und edelste Thema, das kein Kunstler vollig vernachlassigen
darf. Das zugrundeliegende ursprungliche, beim Kulturmenschen ver-
drangte Interesse lasst sich auch noch in der sublimierten Form
deutlich erkennen.
Die Stelle der Denkokonomie nimmt bei der bildenden Kunst die
Okonomie der Anschauung ein. Das ideale Ziel ist, jedes Phanomen
frei von den verwirrenden Zufallseigenschaften in seiner fur die kunst-
lerische Wirkung wesentlichen und cbarakteristischen Form, wie sie sich
dem Geiste des Kunstlers darbietet, dem Beschauer zu zeigen und ihm
dadurch die Miihe zu ersparen, selbst das fiir den Eindruck Wichtige
vom Nebensachlichen zu sondern.
Noch deutlicher als bei den allgemeinen Grundlagen des kiinst-
lerischen Schaffens ist der Zusammenhang mit dem Unbewussten bei
der Produktion des Einzelwerkes. Die Tatsache, dass die Konzeption
eines Kunstwerkes und der damit verbundene Zustand geistiger Er-
hohung nicht vom Bewusstsein ausgehe, ist ausnahmslos von alien, die
imstande waren, in diesem Punkte Erfahrungen zu machen, bezeugt
wordeu. Die Inspiration ist ein plotzliches Erfassen von Gestalten und
Zusammenhangen, die dem Kunstler selbst bis zu diesem Momente
V Asthetik und Kunstler-Psychologie. 91
entweder ganz unbekannt waren, oder doch nur in neblig unbestimmter
Form vor seinem Geiste wogten und sich jetzt mit einem Schlag in
leibhafter Deutlichkeit vor ihn hinstellen. Das Ratselhafte dieses Vor-
ganges hat zunachst zu der Annahme gefiihrt, dass der Kunstler einer
gottlichen Eingebung das verdanke, was er nicht aus seinem Bewusst-
sein geschopft haben kann. Die Psyehologie hat schon seit langem die
Vorstellung eines Un- oder Unterbewussten zur Erklarung nicht ent-
behren konnen, ohne sich jedoch bisher mit der Natur dieser bewusst-
seinsfernen Instanz zu befassen und sich die Frage vorzulegen, ob die
Produkte der Inspiration nicht von dieser Instanz her deter mi niert
sein miissen, so dass man aus der Untersuchung ihrer gemeinsamen
Charaktere etwas uber die ohne Bewusstsein ablaufenden psychischen
Akte erfahren konnte.
Die Frage, woher der Kunstler das ihm bisher unbekannte
psychische Material nehme, ist fur die Psychoanalyse nicht schwer zu
beantworten. Anders steht es allerdings mit dem Problem der Veran-
lassung, durch welche der Ubergang vom Bewussten zum Unbewussten
ins Werk gesetzt und des Mechanismus, durch den dieser Ubergang
ermoglicht wird. Die Tatsache, dass es sich urn eine Flucht aus der
Realitat und um die Regression auf infantile Lustquellen handelt, ist das
einzig feststehende. Wie sich die Art der Beniitzung dieses Weges
von jener, die der Neurotiker vornimmt, unterscheidet, ftir denja genau
dieselbe Formel gilt, ist noch wenig erforscht. Die Frage ist umso
interessanter, weil sich die Zuge beider Typen sehr oft mischen, da
derselbe Mensch Kunstler und Neurotiker zugleich sein kann, also
einen Teil seiner regressiven Lustgewinnung durch das Medium der
kunstlerischen Inspiration und einen anderen Teil mittels neurotischer
Symptome besorgt. Nach welchen Grundsatzen die Auswahl vor-
genommen wird, ob etwa einzelne Triebe der Verbindung mit gewissen
anderen bediirfen, um fur die eine oder andere Methode geeignet zu
werden, dartiber miissen uns erst spatere Untersuchungen belehren.
Eine fundamentale Unterscheidung wurde bereits im I. Kapitel
angedeutet. Die Neurose macht es der Umgebung des Kranken nicht
moglich, ihr einen Sinn beizulegen. Die Symptome rufen den Eindruck
des Willkiirlichen und Unsinnigen hervor und sind uberdies gewiss
nicht darnach angetan, um von den Angehorigen des Kranken als
Annehmlichkeit empfunden zu werden oder Fernerstehende an ihn zu
fesseln. Die Krankheit triibt und hindert die sozialen Beziehungen des
Neurotikers. Beim Kunstler ist die Sachlage wesentlich verschieden.
Zwar erschwert auch die Hingabe an die Kunst die Anpassung an das
soziale Milieu; die Beispiele dafur, dass Kunstler als Gatte, Vater,
Freund oder Staatsbiirger nicht fur vollwertig galten, brauchen nicht
erst aufgezahlt zu werden. Zum Loos des Ktinstlers geh6rt es, dass er
92 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
dort, wo er unmittelbar durch seine Person lichkeit wirken soil, meist
erfolglos oder unverstanden bleibt; doch seinen Werken weiss er erne
Gestalt zu geben, die nicht nur Verstandnis findet, sondern tiefe, lust-
voile Wirkung hervorruft. Der Neurotiker verliert also dadurch, dass
er sich auf seine infantile Einstellung zuruckzieht, wenn auch gegen
seinen Willen, den sozialen Anschluss, wahrend der Kiinstler das, was
er aus demselben Grunde aufgeben musste, auf einem neuen, nur fur
ihn gangbaren Weg wiederzugewinnen weiss. Er wirbt una Liebe und
Bewunderung nicht auf die gewohnliche Weise, sondern auf eine
kompliziertere und mehr geistige Art, er erobert die Anderen auf dem
Umweg durch die Tiefen der eigenen Personlichkeit.
Immerhin bleibt noch genug Geineinsames bestehen, urn die oft
beobachtete Ahnlichkeit zwischen den Kiinstlern auf der einen und den
Nerven- und Geisteskranken auf der anderen Seite - Genie und Irrsinn
— psychologisch zu begrfinden.
Die Neigung zu plotzlichen Stimmungsumschlagen, die Mafilosig-
keit in Liebe und Hass und die Unfahigkeit zur stetigen Yerfolgung
praktischer Ziele lassen sich durch die verstarkte Einwirkung des Unbe-
wussten auf die bewusste und gewollte Lebensfuhrung erklaren. Das
stets erneute Empordringen der primitiven Seelenkrafte, die zur Herr-
schaft gelangt alle von der Kultur geschlungenen Bande zerreissen und
entweihen wiirden, erzeugt ein tiefes andauerndes Schuldgefuhl, das sich
durch „Rationalisierung" in moralische Uberfeinerung umsetzt, die ge-
legentlich wieder mit dem tJberspringen ethischer Schranken abwechselt.
Uberhaupt werden unausgeglichene psychische Gegensatze im Bewusst-
sein besser vertragen als von den Durchschnittsmenschen, worin eben-
falls eine Assimilierung an das unbewusste Seelenleben zu erblicken
ist, welches die Gegensatzpaare nicht einander aufheben, sondern neben-
einander bestehen lasst.
Beiden Typen gemeinsam ist die hohe Reizbarkeit oder Reiz-
empfindlichkeit; das heisst, sie reagieren oft auf wenig betrachtliche
aussere Anlasse mit unangemessenen und unverstandlich scheinenden
Affektmengen. Die Ursache dieses Charakterzuges liegt darin, dass die
Moglichkeit einer Reaktion aus unbewussten Affektquellen als Polge
einer zufalligen Bertihrung dorthin fiihrender Assoziationsketten bei
ihnen leicht gegeben ist.
Das Verhaltnis des Kunstlers zur Aussenwelt ist schon darum
durchaus eigentumlich, weil sie fur ihn nicht so sehr als Tummelplatz
seiner Leidenschaften wie als Antrieb fur seine schopferische Phantasie
in Betracht kommt. Dazu geniigt schon eine sehr geringe Menge
ausseren Erlebens. Sehr oft ist die Arbeitsweise des Genies bewundert
worden, das in seinen Werken die genaueste Kenntnis des Menschen-
geistes in seiner ganzen Fiille und Tiefe zeigt, ehe es seine Beobach-
V. Astlxetik und Kunstler-Psychologie. 93
tungen iiber den kleinsten Kreis hinaus ausdelmen konnte. Die Er-
klarung liegt darin, dass die Menschenseele unendlich weiter ist als der
Bezirk, der sich dem Bewusstsein darbietet. Im Unbewussten liegt die
ganze Vergangenheit unseres Geschlechtes begraben; es gleicht einer
Nabelschnur, die den Einzelnen an die Gesamtheit anschliesst. Je grosser
das verwertbare Stuck des Unbewussten ist, desto mehr Moglichkeiten
bestehen fiir den genialen Menschen sein bewusstes Ich abstreifend sich
in fremde Personlichkeiten zu verwandeln. Wenn Shakespeare den
Seelen der Weisen und Narren, der Heiligen und Verbrecher bis auf
den Grund sah, so war er nicht nur unbewusst alle diese - ~ das gilt
vielleicht fiir jedermann — sondern er besass auch die uns anderen
fehlende Gabe, fiir sich selbst sein Unbewusstes sichtbar zu machen,
indem er scheinbar selbstandige Gestalten von seiner Phantasie er-
schaffen liess. Diese Gestalten sind alle nur das eigene Unbewusste des
Dichters, das er, umsichdavonzubefreien, hinausgestellt n projiziert B hat.
Der Kiinstler kann an sehr kleinlichen Ereignissen mehr erleben
als der Durchschnittsmensch in den buntesten Abenteuern, weil sie fiir
ihn nur der Anlass dazu sind, seinen inneren Keichtum kennen zu lernen.
Seine Reizbarkeit ist nur die Kehrseite dieses Phanomens und muss
auffcreten, soweit er diese Uberfiille nicht fiir sein Werk yerwertet,
sondern den Alltagsweg wiihlt, seine Affekte in der Realitat ablaufen
zu lassen.
Versuchen wir schliesslich, aus den bisherigen Betrachtungen einen
Standpunkt fiir die Erkenntnis der Bedeutung der Kunst in der
kulturellen Entwicklung zu gewinnen, so kommen wir zu dem Schlusse,
dass die Kiinstler zu den Anfuhrern der Menschheit im Kampfe
um die Bandigung und Veredlung kulturfeindlicher Triebe gehoren.
Wenn eine der gewohnten Ausserungsformen veraltet, das heisst unter
dem Kulturniveau zuriickbleibt und mit ihrer allzu verraterischen Gestalt
dem Aufstieg im Wege stent, dann sind es die mit kiinstlerischer
Schopferkraffc begabten Indiyiduen, die es ihren Mitmenschen moglich
machen, sich yon der Schadlichkeit zu befreien, ohne auf die Lust ver-
zichten zu miissen, indem sie den alten Trieb in eine neue, unanstossige,
edlere Form giessen und diese an die Stelle der alten setzen. Wird
umgekehrt die Verdrangung an einer Stelle in ihrer bisherigen Inten-
sity iiberfliissig, so fiihlen sie zuerst die Milderung des Druckes,
der auf ihrem Geist am schwersten lastete und, das neugewonnene Stuck
Freiheit fiir die Kunst ausnutzend, bevor es sich noch im Leben durch-
gesetzt hat, weisen sie der Mitwelt den Weg,
VI.
Philosophies Ethik nnd Becht.
Wie die Philosophie zu den ubrigen Wissenschaften ein ganz
eigenartiges Verhaltnis hat, so nimmt auch die psychoanalytisclie
Betrachtungsweise ihr gegeniiber eine besondere Stellung ein. Die hig-
her behandelten Disziplinen gestatten dem Analytiker das Zurttck-
greifen auf ihr Objekt und eroffnen ihm in dem mehr oder weniger
phantastischen, den unbewussten Anteil kaum verleugnenden Wunsch-
material den Zugang zum besseren Verstandnis der Phanomene und
damit zur Bereicherung der betreffenden Wissensgebiete. Die philo-
sophischen Systeme dagegen treten uns selbst in Gestalt von Erkenntnis-
material mit dem Anspruch entgegen, als rein -wissenschaftliche und
letzte Erklarungen der Stellung des Menschen zur Aussenwelt und zum
Universum gewertet zu werden.
Scheint diese Sonderstellung der Philosophie zunachst jeden psycho-
analytischen Zugang auszuschliessen, so bieten doch zwei andere bei
Betrachtung der philosophischen Systeme und ihrer Schopfer hervor-
tretende Eigentiimlichkeiten uns einen Anlass, dem Problem der Philo-
sophie und des Philosophen naher zu treten. Zunachst muss auffallen,
dass in der Philosophie die Personlichkeit ihres Schopfers in einem
Mafie hervortritt, wie es einer Wissenschaft eigentlich nicht ansteht
und auch auf keinem andern Erkenntnisgebiet, wohl aber in der Kunst,
anzutreffen ist. Dieser Umstand mahnt uns daran, die eigenartige
psychologische Struktur des Philosophen, die ihn iiber den
reinen Wissenschaftler erhebt und dem Typus des Kunstlers nahert, doch
aber von diesem selbst wieder scharf differenziert, vom Standpunkt
der Psychoanalyse zu durchleuchten. Damit ist uns auch das Ver-
standnis fur einen wesentlichen Teil der Systembildung gegeben, die
anerkanntermafien durch individuelle Besonderheiten der Personlichkeit
beeinflusst, ja oft von rein subjektiven Momenten bestimmt ist. Die Ver-
folgung dieser individuellen Bedingtheit des Systems bis in das Trieb-
leben und die Schicksale der Libido einerseits, die Aufzeigung seiner
VI. Philosophic, Efchik und Recht. 95
innigen Beziehungen zu Charakter, Personlichkeit und Lebenseinflussen
anderseits, bildet die Aufgabe einer psychographischen Unter-
suchung, wie sie sich aus der Anwendung psychoanalytischer Grund-
satze und Gesichtspunkte auf Leben und Werk genialer Geister zu ent-
wickeln beginnt.
Diese Forschungsmethode eroffnet uns sozusagen einen inneren
Zugang aus den Tiefen der Personlichkeit in das dem System zugrunde
liegende Wunschmaterial ; eine Keihe philosophischer Lehrgebaude
bietet zudem der psychoanalytischen Forschung eine breite Angriffsflache
in ihren Systemen selbst, in denen das Unbewusste ihres Schopfers,
das ihnen viel von ihrer allgemeinen Geltung verleiht, entweder als
metaphysische Projektion in eine ubersinnliche Welt oder als
mystischer Ausdruck endopsychischer Wahrnehmung oder endlich
direkt, in sozusagen metapsychologischerErkenntnis, als Objekt
der philosophischen Betrachtung erscheint.
Wir wollen nun diese verschiedenen Moglichkeiten einer Anwendung
psychoanalytischer Gesichtspunkte auf das Gebiet der Philosophie
methodisch kurz erortern und beginnen mit der psychographischen
Betrachtung der philosophischen PersSnlichkeit, von der wir, die extremen
Ausgestaltungen herausgreifend, drei Haupttypen unterscheiden mochten:
1. den Typus des intuitiven Schauers, des eigentlich kiinstlerischen
Metaphysikers, wie ihn am reinsten Plato reprasentiert und wie
er sich bei den Mystikern und den ihnen nahestehenden speku-
lativen Naturphilosophen deutlich ausgepragt findet;
2. den Typus des synthetischen Porschers, wie ihn die posi-
tivistischen Systeme Comte's, Spencer's, und bis zu einem gewissen
Grade auch die empiristischen Lehren eines Locke voraussetzen ;
3. endlich den Typus des analytischen Denkers, wie ihn in
seiner scharfsten Ausbildung Kant und Spinoza darstellen, wie er
aber auch bei Descartes, Hume u. a. deutlich tiberwiegt.
Diese Typen sind natiirlich, wie schon unsere z. T. artifizielle Unter-
ordnung der Systeme unter sie zeigt, im einzelnen Palle selten rein
anzutreffen, behalten aber ihren heuristischen Wert auch in den weitaus
haufigen Mischformen dieser beiin einzelnen Philosophen verschieden
ausgepragten Ztige.
Der Typus des analytischen Denkers, der vorwiegend auf
erkenntnistheoretische Sicherheit ausgeht, welehe die Grundlagen und
Grenzen des bewussten menschlichen Erkenntnisvermogens zu eruieren
sucht, wird in seinen Lehren kaum ein psychoanalytisch.es Forschungs-
objekt darbieten. Die Einmengung unbewusster Wunschelemente ist in
weitgehendem Mafie ausgeschaltet, das Bewusstseiu arbeitet an der Selbst-
erkenntnis seiner eigenen Fahigkeiten. Bei diesem Typus wird sich
96 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
wiser Interesse auf die eigenartige Charakterbildung und Personlichkeit
konzentrieren, die darin zum Ausdruck kommt, dass sich der Philosoph,
wie vielfach bezeugt, vorn praktischen und Liebesleben so gut wie aus-
zuschliessen, von der tauschenden Einmengung der Eealitat in die Denk-
vorgange so gut es geht freizuhalten sucht, urn in weitgehender Weise
die Denkrealitat zur Geltung zu bringen.
Das psychoanalytische Studium der Zwangsneurotiker hat ein
erstes Verstandnis dieser pbilosophiscben Neigungen, sowie der aus
ihnen folgenden Einstellung zu Welt und Menschen,^ zu Tun und
Denken, d. h. zur Einschrankung des Tuns und zur Uberwucherung
des Denkens, eroffnet. Diese Kranken stehen nicbt nur durch ihre
uberscharfe Intelligenz, ihr Interesse fiir iibersinnliche Dinge und ihre
ethischen Skrupel dem Typus des Philosophen nahe, sondern verraten
uns auch die narzisstische Natur der Selbstbespiegelung des eigenen
Denkens und dessen intensive Sexualisierung, die hnmer weiter weg
vom ursprunglich sinnlichen Inhalt der \ r orstellungen zur Lustbetonung
der Denkoperationen selbst tendiert. Dem neurotischen Griibelzwang,
der pathologischen Erklarungssucht, dem die Tatkraft lahmenden Zweifel
der Zwangskranken entspricht die philosophische ^Verwunderung" iiber
sonst unbeachtetes Geschehen, die logisch motivierte, pedantische
Gedankenordnung nach demPrinzip der Symmetrie, das strenge Kausalitats-
bediirfnis, das sich mit Vorliebe an die unerforschbaren, von ewigen
Zweifeln umwogten tiefsten Probleme des individuellen und kosmischen
Daseins heftet. Alle diese Ztige erweisen sich der psychoanalytischen
Forschung als Resultat verschiedener Schicksale bestimmter infantiler
Triebanlagen undNeigungen, unter denen die von libidinosenKomponenten
getragene Schaulust und Wissbegierde, sowie der mit grausamen Regungen
verkniipfte Bemachtigungstrieb die Hauptrolle spielen. Insbesondere
macht sich die fruhzeitige und energische Verdrangung, welche die
intensive Sexualforschung des Kindes durch aussere und innere Momente
erfahrt, in entsprechend mannigfacher Weise geltend. Entweder es wird
mit dem verbotenen Objekt der Forschung die Wissbegierde selbst so
gut verdrangt, dass sie von da an gehemmt bleibt ; oder die Verdrangung
der sexuellen Neugierde missgliickt und sie kehrt als neurotischer
Griibelzwang aus dem Unbewussten wieder, wobei nunmehr das Denken
und Forschen selbst die ursprunglich dem Ziel desselben geltende Lust
annimmt; endlich ist noch der ideale Fall moglich, dass die zur Wiss-
begierde sublimierte Libido den Forschungstrieb unterstutzt und anspornt,
so dass es ihm moglich ist, im Dienste der intellektuellen Interessen zu
arbeiten.
Wir erkennen leicht, dass der Typus des analytischen Denkers der
zweiten Ausgangsmoglichkeit der Verdrangung des infantilen Forschungs-
triebes am nachsten steht, indem er, auf rein intellektuellem Gebiet
VI. Pliilosophie, Ethik und Reclit.
97
rerbleibend, die Denkvorgange selbst — vermoge einer weitgehenden
Introversion der Libido - - mit Lust besetzt und der Realitat die Gesetze
des eigenen Denkens aufzwingt, wie es der subjektive Idealismus eines
Kant'), Schopenhauers*) u. a., aber auch der in den Solipsismus
ausmiindende extreme Phanomenalismus tut. Diese egozentrische Ein-
stellung zur Aussenwelt erweist sich als Folge einer narzisstischen
Uberschatzung des eigenen Ich 3 ) und der Denkrealitiit, welche in die
Aussenwelt projiziert wird.
Dem gegentiber stent der Typus des positivistischen
Forschers, der sein sublimiertes Erkenntnis- und Kausalitatsbediirfnis
in zweckentsprechender Weise der objektiven Realitat zuwendet und
damit dem Lustprinzip am meisten entsagt hat. Wie ersichtlich, stellt
er die dritte der angefiihrten Ausgangsmoglichkeiten infantiler Trieb-
verdranguug dar und wird der psychoanalytischen Untersuchung in
seiner Personlichkeit und seinem Werk am wenigsten Material darbieten,
da bei ihm libidinSse Triebkrafte, im Sinne Nietzsches, nur als Motor
des Denkens fungieren 4 ).
Weitaus unser grosstes Interesse beansprucht der erste Typus
des eigentlich nietaphysischen Philosophen, der nicht nur in
seiner kunstlerischenPersonlichkeit psychoanalytisch am ehesten zuganglich
ist, sondern auch im Inhalt seines Werkes das phantastische Wunsch-
material oft so deutlich verrat, dass schon dem Aristo teles die Ver-
wandtschaft dieser Art des Philosophierens mit dem Erdichten von
Mythen auffiel. Wahrend also die beiden ersten Typen fiir uns vor-
wiegend charakterologisches Interesse haben, indem die unbewussten
Triebregungen und libidinosen Energien nur auf dem Umweg der
Charakterbildung als Motor des Denkens und Forschens dienen, ist bei
diesem dritten Typus auch der Inhalt des Systems deutlich vom
Unbewussten determiniert und beeinflusst, worauf uns schon die wenigen
typischen, im Laufe der philosophischen Entwicklung immer wieder- 1
kehrenden Grundanschauungen und Systeme aufmerksam machen konnten,
deren vielfach iiberraschende tfbereinstinmiung in Aufbau und Inhalt'
mit den verungltickten Systembildungen gewisser Geisteskranker die
Psychoanalyse aufgedeckt hat.
!) Kant: v Bisher nalim man an, alle unsere Erkenntnis mtisse sich nach
den Gegenstanden richten; .... Man versucke es daher einroal, ob wir nicht in
den Aufgaben der Metapliysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die
Gegenstande mtissen sich nach imserer Erkenntnis richten."
2 ) Schopenhauer: „Die Welt ist meine Vorstellung."
9 ) Bekanntlich stellt am deutlichsten Fichte das Icb und seine Betrachtung
in den Mittelpunkt der Philosophie und Weltauffassung und leitet alles tibrige daraus
ab. — Der metaphysische Unterschied zwischen reinem und empirischem Ich kommt
fttr unsere psychologische Betrachtung nicht in Frage.
4 j Audi Plato bezeichnet das Denken als ,snblimi'ertcii Geschlechtstrieb."
(Jrenzfrngeii iU»a Xerven- mul SpeleiilolH'iis. (Heft XOIII.) 7
98 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
Steht diese Art des Philosophierens dem kiinstlerischen Schaffen
nahe, so ist doch nicht zu ubersehen, dass diese beiden Typen geistiger
Produktivitat eine scharfe Differenzierung, ja in gewisser Hinsicht eine
psychoanalytisch interessante Gegensatzlichkeit aufweisen. Schon ausser-
lich ist der Kiinstler ohne ein starkes Attadiemenfc und Werbungs-
bedurfnis der Um- und Mitwelt gegeniiber kaum denkbar, wahrend den
Philosophen eine starke Introversion seiner Libido und ein „autistisches
Denken" (Bleuler) charakterisieren. Die banale Auffassung von der
erotischen Freiheit des Kiinstlers und der sexuellen Gebundenheit
(Keuschheit) des Philosophen kennzeichnet diese Gegensatzlichkeit, wenn
auch grob, so doch nicht unzutreffend. x ) Der Kiinstler knupft seine
allgemein menschlichen Gestaltungen immer an den Einzelfall an, der
Philosoph strebt zum Allgemeinen ; der Kiinstler will gefallen und
verwendet demnach suggestive Mittel, der Philosoph will tiberzeugen
und bedient sich .logischer Mittel. Einen iiber die Deskription hinaus-
gehenden Unterschied hat Schopenhauer in dem Ausspruch festge-
stellt: „Ein Dichter ist man nicht ohne einen gewissen Hang zur
Verstellung und Falschheit; hingegen ein Philosoph nicht ohne einen
gerade entgegengesetzten Hang". Die tieferen Differenzen lassen sich
letzten Endes zuriickfuhren auf eine Verschiedenheit der sexuellen
Konstitution, die beim Kiinstler eine Hypererotik, beim Philosophen eine
Anerotik zeitigt, auf verschieden ausgepragte Partialtriebe und die
mannigfachen Schicksale derselben, besonders aber auf eine beim
Philosophen viel weiter getriebene Abwendung vom Sexuellen ins Geistige,
Ubersinnliche, Unreale.
Dementsprechend aussert sich auch das Unbewusste in diesen
Systembildungen auf andere Weise als in der kiinstlerischen Produktion.
Wir. unterscheiden zweckentsprechend zwei Ausdrucksformen desselben
beim Philosophen, die als metaphysische gekennzeichnet sind, da
sie durch keine objektive Erkenntnis begriindet erscheinen: namlich
die religiftse und die mythologische Systembildung. Die
erste, von der es verschiedene Ausgestaltungen gibt, postuliert einen
Schopfer, der die Welt aus sich selbst oder aus dem Nichts hervor-
gebracht haben soil (Heraklit, Stoiker, Neuplatoniker, Mystiker). Wie
in der Religionsbildung erkennt die Psychoanalyse auch hierin die un-
bewusste Universalprojektion einer im infantilen Leben machtig
geweseneir- Vater-Imago und kann feststellen, dass das beim „Denker ft
vorherrschende Gefiihl der Allmacht hier auf dem Wege der Projektion
dem Vater-Gott iiberlassen scheint. In anderen Systemen wird das
Weltall in animistischer Weise belebt und der Dualismus der toten
*) Sowohl Schopenhauer wie Nietzsche hehen die typische Eliolosigkeit
des Philosophen, die sie selbst demonstrieren, am Beispiel des Carte si ns, Leibniz.
Malebranche, Spinoza, Kant u. a, hervor.
VI. tMosophie, Ethik und Recht. 00
Korperwelt und des sie durchdringenden Geistes wird unter dem Bilde der
geschlechtlichen Befruchtung angeschaut; die reiche Ausgestaltung dieser
sexuellen Symbolik bei einzelnen Mystikern verrat diese Systeme deutlich
als Projektioneu innerer Libidovorgiinge. In bewusster Erkenntnis
dieser Sexualisierung nicht nur der Denkfunktionen, sondern auch der
Denkinhalte hat LudwigFeuerbach einmal die philosophische Gegen-
iiberstellung und spekuiative Ausbeutung des Verhaltnisses von Subjekt
und Objekt auf das geschlechtliche Verhaltnis von Mann und Frau
zuruckgefiihrt.
Die mythischen Systembildungen sind charakterisiert durch die
Annahme einer iibersinnlichen Welt, die, wie der subjektive Idealismus,
als Entwertung, Ablehnung oder Verneinung der peinlich empfundenen
Realitat und als Flucht zu den aus dem Unbewussten hinaus projizierten
infantilen Wunschsituationen gelten kann. Hierher gehort auch der
Glaube an die Praexistenz, die Seelenwanderung und die Wiederkehr des
Gleichen, der in letzter Linie, wie die entsprechenden religiosen Glaubens-
lehren, von unbewussten Mutterleibs- und Wiedergeburts-Phantasien
ausgeht.
Diese metaphysischen Vorstellungen sind in ihrem Absehen von
jeder Realitatspriifung der psychoanalytischen Zergliederung als Phantasie-
produkte am leichtesten zuganglich und erweisen sich dann als
Projektionsphanomene des unbewussten Seelenlebens in eine izber-
naturliche Welt, die natiirlich den Wunschen des betreffenden Individuums
und denen vieler anderer in hohem Mafie entgegenkommt , da sie
psychologisch betrachtet nur eine narzisstische Selbstspiegelung des
Individuums im Kosmos darstellt. Diese metaphysische Projektion
bildet gewissermafien die primitivste und haufigste Form, in der das
Unbewusste in die Systemhildung einstromt. Den ersten Schritt in der
Richtung zur Erkenntnis des Unbewussten bilden dann die ratio nalistischen
und mystischen Lehrgebaude, die, so gegensatzlich sie auch erscheinen
mogen, doch das gemeinsam haben, dass sie das tiefste Wesen der
Welt und die letzte Erkenntnis der Dinge im eigenen menschlicuen
Seelenleben zu finden erwarten; trotz dieser Tendenz konnen sie in die
Gebiete des Unbewussten nicht direkt Einblick gewinnen, sondern
sie nur in endopsychischer Wahrnehmung erfassen und in
Symbolen darstellen. In diesem Stadium der Erkenntnis tritt uns das
Unbewusste in den philosophischen Lehren als etwas Mystisches, Un-
greifbares und Unerkennbares entgegen. Im Laufe der weiteren Ent-
wicklung ist es endlich zur scharfen begrifflichen Erfassung des
Unbewussten gekommen, von dem einzelne Philosophen, wie beispiels-
weise Hartmann, wenn auch in anderem Sinne als die Psychoanalyse,
sprechen, wahrend andere es in seiner Bedeutuug und Wirksamkeit
erkannt und dargestellt haben, wie Schopenhauer in der Willens-
7*
100 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutimg dor Psychoanalyse etc.
lehre oder Nietzsche, an dessen psychoanalytische Zuriiekfiihrung der
metaphysischen und ethischen Bediirfnisse auf primitive Triebregungen
hier nur erinnert zu werden braucht.
Um Missverstandnissen vorzubeugen heben wir, obwohl ja in diesem
Zusammenhang die ausschliessliche Betonung psychoanalytischer Ge-
sichtspnnkte keiner Entschuldigung bedtirfte, doch ausdrlicklich hervor,
dass wir mit diesen skizzenhaften Bemerkungen weder das Wesen der
Philosophie erschopft noch Hire Entwicklungsgeschiclite iiberblickt, noch
die Personlichkeit des Plulosophen voll verstandlich gemacht zu haben
glauben. Es konnte sich nur darum handeln, fluchtig anzudeuten, von
welchen Punkten aus die psychoanalytische Betrachtungsweise imstande
sein wird. an diese Probleme heranzutreten. Erst eingehende Detail-
untersuchungen werden zu zeigen haben, inwieweit solche Versuche zum
psychologischen Verstandnis der Philosophie fruchtbar sein konrten *).
Zur kritischen Wurdiguug eines Systems werden sie natiirlich niemals
ausreichen und pratendieren dies auch gar nicht; sie konnen nur be-
stimmte Winke und Andeutungen iiber die personliche und subjektive
Bedingtheit philosophischen Denkens und Schauens geben, wodurch aber
die objektive Wertung der philosophischen Ergebnisse nicht im geringsten
tangiert werden muss.
Ahnliche Gesichtspunkte und Einschrankungen wie fur unser
Studium der Metaphysik gelteu auch fiir die psychoanalytische Durch-
leuchtung der Ethik, so weit sie als philosophische Disziplin in den
Systemen abgehandelt wird. Es geschieht dies meist mit dem Anspruch,
dass die Philosophie auf Grund ihrer Einsichten in das Weltgeschehen
und Menschenleben auch am ehesten zur Aufstellung ethischer Normen
fur das Verhalten des Individuums in seiner Beziehung zur Sozietat be-
rufen sei. Wir haben hier von dieser Tendenz, welche ubrigens auf
die rationalistische Auffassung des Sok rates von der Lehrbarkeit der
Tugend zuriickgeht, vollkommen abzusehen und die ethischen Lehren
der einzelnen Philosophen zunachst als den Ausdruck individueller Be-
diirfnisse und Forderungen psychologisch zu betrachten. Ein solches
Studium lehrt, dass die Geschichte der ethischen Entwicklung innerhalb
der Philosophie ein Spiegelbild der Verdrangung der krass
egoistischen, g ewalttatigen und grausamen Regungen
desMenschen darstellt, und dass sich der Kampf gegen diese asozialen
Regungen auf dem Gebiet der Ethik abspielt, wie der Kampf gegen die
libidinosen Regungen im Bereiche der Metaphysik. Fiir die spezielle
Ausgestaltung der Ethik werden also die Schicksale der infantil vor-
herrschenden Triebregungen der Grausamkeit und Bemachtigungslust
*) Vgl. die Arbeiten von Dr. phil. Alir. Frh. v. Winters tein und Dr. Eduard
Hitschmann in ^Tmago 1 ', II. Jahrgang 1913, H. 2 ? April.
VI. Philosophic, Ethik und Reeht. 1()1
mafcgebend sein, die von ihrer Vermengung mit libidinosen Komponenten
(Sadismus) abhangen. Zur Aufstelluug ethischer Normen kommt es
durch Verdrangung dieser Regungen mittels Reaktionsbildung, woraus
die Forderungen des Mitleids, der Menschenliebe und Gleichachtung des
Nebenmenschen resultieren. Dass diesen ethisclien Postulaten urspriinglich
die entgegengesetzten asozialen Regungen zugrunde liegen, zeigt sich
deutlich in den von Zeit zu Zeit hervortretenden ethischen Revolutionaren,
welche die verweichlichende Mitleidsmoral verspotten und die skrupellose
Hingabe au den krassen Egoismus, den Willen zur Macht, als Heilmittel
preisen, wie Stirner und Nietzsche. Aber auch ein so tiefer Ethiker
wie Schopenhauer kann sich nicht genug tun in der detaillierten
Schilderung der boshaften, grausamen und eigensiichtigen Triebregungen,
von Spinoza wird sogar berichtet, dass er — angeblich zu wissen-
schaftlichen Zwecken — Insekten aufs Grausamste gequalt habe, und
der wohl anspruchsvollste Ethiker unter den Philosopher Kant, begann
seine philosophische Laufbahn mit einer Abhandlung: „tJber das radikale
Bose in der rnenschlichen Natur.*
So zeigt die Geschichte der Ethik den unaufhorlichen Wechsel
zwischen dem Vordringen der Reaktionsbildungen gegen die egoistischen
Triebe und der Tendenz, sie rucksichtslos durchzusetzen ; beide Arten der
Einstellung sind von der individuellen Triebanlage des einzelnen und der
rnehr oder minder gelungenen Verdrangung bestimmter Triebgruppen
bedingt. Ahnlich verhalt es sich auch rait der in vielen ethischen Systemen
aufgestellten Forderung des ganzen oder teihveisen Verzichts auf den
Geschlechtsverkehr und den mannigfachen Einschrankungen des Sexual-
genusses (Sexualethik). x ) Die Tugend ist also nichts weniger als lehrbar,
jeder ist vielmehr notwendig so weit „ethisch tt als seine Verdrangung
zur Schaffung und Erhaltung Ton Reaktionsbildungen ausreicht und die
Forderungen der einzelnen Philosophen konnen zunachst nur fur sie
selbst und eine Anzahl ahnlich eingestellter Individuen Bedeutung und
Geltung beanspruchen. Dass. unter solchen Umstanden audi das eminent
wichtige Problem der scheinbaren Willensfreiheit im Sinne der psychoana-
lytischen Weltanschauung einer Revision bediirftig ist, mag hier nur
erwahnt sein.
Wenn wir es versuehen wollen, von unserem Gesichtspunkte aus
eine Einsicht in die Genese der Ethik zu gewinnen, so mussen wir
davon ausgehen, dass ihr Wesen im Verzicht auf eine Lustbefriedigung
besteht, den sich das Individuum freiwillig auferlegt. Insofern sind
die alten Tabu-Verbote die direkten Vorlaufer der ethischen Normen.
Freilich ist die Motivierung in beiden Fallen ganz verschieden. Denn
*) Vgl. Christian v. Ehrenfels: „Sexualethik" (Grenzfragen Nr. 56). Wies-
baden 1908.
102 Br. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc
die Einschrankungen durch das Tabu gehen, soweit sich eine bewusste
Motivierung fur sie gebildet hat, auf einen durchaus egoistischen Grund,
die Angst vor einem dem Ubertreter drohenden tJhel, zuriick. Die
unbewussten Griinde sind hingegen die sozialen Riicksichten auf jene
Einrichtungen , insbesondere auf die primitive Familie, deren Bestand
durch die Versuchung, welche das Tabu hindern soil, bedroht wiirde.
Die Versuchung selbst wurde verdrangt und mit ihr zugleich musste
auch die richtige mit ihr verbundene Motivierung bewusstseinsunfahig
werden. Da das Wohlergehen des Einzelnen enge mit dem des Stammes zu-
sammenhangt, gehen die sozialen Griinde zum grossen Teil wieder auf
egoistische zuriick. Zum andern Teil aber wirken libidinose Strebungen mit,
die dem Verzicht im Seelenleben erst Haltbarkeit verleihen, indem sie
ihn wenigstens auf indirektem Wege lustvoll machen. Solche von der
Libido ausgehende, meist wohl sekundare Motivierungen sind z. B. die
Erfahrung des grosseren Lustgewinnes durch Aufschiebung der Be-
friedigung oder die Liebe zu einer Person, deren Anspriiche und Ge-
fiihle durch den Verzicht geschont werden sollen.
Im Gegensatz hierzu darf bei der ethischen Einstellung der Egoismus
als Motiv, etwa als Angst vor Strafe, gar keine Rolle mehr spielen. Er
wird unterdriickt, im weitestgehenden Palle des „Heiligen tt sogar aus
dem Bewusstsein verdrangt, wie die asozialen Wiinsehe beim Tabu. Die
soziale Motivierung hingegen, die heute, wo die Familie nicht mehr mit
Staat und Menschheit zusammenfallt, farblos und unanstossig geworden
ist, wird nun in den Vordergrund gestellt und fur die einzige und aus-
reichende ausgegeben. Uber die Quellen dieser sozialen Pflicht haben
sich in der Wissenschaft zwei Hauptmeinungen herausgebildet, von denen
die eine, durch Rousseau vertretene, eine voluntaristische Determinierung
in der „ursprunglichen Giite der Menschennatur" sucht, wahrend die
andere, intellektualistische, im kategorischen Imperativ Kants gipfelt. Auf
die unbewusste Motivierung der Ethik als Reaktionsbildung gegen ver-
drangte Triebe wurde bereits hingewiesen. Die Haupttendenz der Tabu-
schranke war es, das Verbotene physisch unmoglich zu machen, in-
dem es jede Gelegenheit dazu abschnitt, wahrend die Wirkungsweise
der Ethik darin besteht, dass psychische Energien den Willen aut
ihre Seite zu ziehen suchen.
Am weitesten entfernt von der direkten Einflussphare des Unbe-
wussten scheint das Recht zu stehen, da es der Lustbefriedigung
den mindesten Spielraum gonnt und am starksten die sachliche und
logische Zweckmafiigkeit, also die Realanpassung vertritt. Das Recht
in seiner reinen Form verzichtet ganz darauf, die Bundesgenossenschaft
des Gefuhls anzurufen, seine Form el ist nicht das „Du sollst* der Ethik,
sondern das Niichterne „Wenn du dieses tust und jenes nicht
lasst, wird dir von der Gemeinschaffc ein bestimmtes Ubel angetan, oder
VI. Philosophie, Ethik und Recht. 103
ein bestirumter Vorteil vorenthalten" , wobei es der praktischen Er-
wagung des Einzelnen uberlassen bleibt, wofur er sich entscbeiden will.
Damit stehen die Rechtssatze dem Tabu naher als die Ethik, nur dass
das Tabu ein unbestimmtes Ubel von unbestimmter Seite her androht.
Blieb dieses aus, so wurde wohl die Bestrafung von der Gerueinschaft
verhangt und so der "Ubergang vom Tabu-Verbot zum Gesetz geschaffen.
Wir lassen das Privatrecht vollig bei Seite und wollen nur dem
Strafrecht eine kurze Betrachtung widmen, das infolge seiner Durch-
dringung mit ethischen und religiosen Anschauungen dem unbewussten
Seelenleben naher steht. Diese Verwandtschaft tritt auch ausserlich
in Erscheinung durch die vielgestaltige Symbolik, mit welcher Rechts-
sprechung und Strafvollzug bei alien Volkern ausgestattet waren 1 ). Selbst
in unserer Zeit, die sonst die fiir den praktischen Zweck unbrauchbare
Symbolik beseitigt, hat sich ein Stiick davon im Strafprozess erhalten.
Die Bedeutung dieser Symbolik hat J. Storfer 2 ) in einem Fall, bei der
Bestrafung des parricidium im alten Rom, mit Grluck erforschi Es
gelang ihm nachzuweisen, dass die Symbolik der Ausdruck der allgemeinen
unbewussten Annahme gewesen sei, das Motiv fiir den Vatermorder
(der Grundfall des parricida) sei immer das Streben nach dem Allein-
besitz der Mutter. Von einer solchen hypothetischen Form der Beteiligung
des Unbewussten bei der Bestrafung lasst sich naturlich nur im
iibertragenen Sinne sprechen. In Wahrheit muss es sich darum handeln,
dass jeder Einzelne sich unbewusst in die seelische Situation des Ver-
brechers versetzt, sich mit ihm identifiziert. Das Verbrechen, das
die Gemeinschaft bestraft, wurde also unbewusst von jedem einzelnen
ihrer Mitglieder mitbegangen. Die Bestrafung gibt ihr dann willkommene
Gelegenheit das sonst Verbotene Grausame unter einer sozialen Sanktion
ihrerseits zu tun. Die Vorliebe, mit der bei solcher Gelegenheit dem
Verbrecher das Gleiche angetan wurde, was er getan und das Unbewusste
der anderen gewunscht hatte (ius talionis), ist als schliessliche reale
Durchfuhrung des durch das Verbrechen geweckten Wunsches anzusehen.
Der Verbrecher, der diejenigen Handlungen begeht, auf welche
die Anderen bereits verzichtet haben, stellt also eine niedrigere Stufe
der Triebbeherrschung dar, vom Standpunkt der gegenwartigen Kultur
gesehen ein Riickschlagsphanomen in primitivere Epochen. Die von
Lombroso betonte anthropologische llinlichkeit des Verbrechers mit
dem Wilden hat eine psychologische Parallele, welche aber auch auf
den Neurotiker Bezug nimmt, der, wenn auch auf andere Weise, durch
missgliickte Triebverdrangung an der sozialen Einordnung scheitert.
i) Max Schlesinger: ,Die Geschichte des Symbols". Berlin 1912, HLBuch,
Kap. 2, sowie die hier verzeichnete Literatur (S. 267 ff).
2) J. Storfer: B Zur Sonderstellung des Vatermordes". Wien u. Leipzig 1911.
104 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bodeutnng der Psychoanalyse etc.
Die Kriminalpsychologie hat von den Einsichten der Psychoanalyse
bisher nocb wenig Gebrauch gemacht 1 ). Ein Weg, der einenZusammen-
hang mit dem Unbewussten erkennen lasst, wurde durch das Asso-
ziations-Experiment angebahnt. Die dabei gewahlte Form ist die
von der Schweizer Schule der Psychoanalyse (Jung u. a.) ausgebildete,
wobei die Erfahrung gemacht worden war, dass die Geftihle und Erleb-
msse der Versuchsperson durch die Reaktionen auf eine Reihe ausge-
wahlter Reizworte haufig ans Licht gebracht werden konnten. Da fur
den Verhrecher seine Tat zu den stark gefiihlsbetonten Komplexen
gehort, so ergab sich die Aussicht, den Tatbestand festzustellen und
den mutmafilichen Verhrecher zu iiberftthren 2 ).
Wir haben vorhin vom Verbrechen als einem Riiekschlagsphanomen
gesprochen und miissen uns nun auch die Frage vorlegen, unter welchen
Bedingungen eine Tat zuerst so gewertet werden konnte. Auch in
dieser Hinsicht gibt die hereits erwahnte Arbeit Storfers wertvollen
Aufschluss. Im Friihstadium der sozialen Entwicklung, in der Epoche
der Vaterrechtsfamilie, war der Vatermord mit Hochverrat gleichbedeutend ;
da die sonst iihliche primitive Art der Siihnung, die Blutrache, in
diesem Falle nicht moglich war — innerhalb der Familie nicht, weil
derSohn durch das Gelingen seiner Tat Geschlechtsoberhaupt geworden
war und nicht von Sippe zu Sippe, weil keine Wletzung eines fremden
Geschlechtsgenossen vorlag • . wurde das Bestreben, das Leben des
wichtigsten GHedes der Gemeinschaft zu schiitzen, zum ersten Anlass
der Statuierung der Strafbarkeit einer Handlung vom Gesichtspunkte
des offenthchen Rechts. Der Vatermord ist daher als Archityp
des Verbrechens anzusehen.
In primitiven Verhaltnissen ist das Motiv einer solchen Tat in der
wirtschaftlichen Rivalitat zwischen Vater und Sohn zu suchen. Tat-
sachlich findet sich hei vielen Volkern die Institution der Beseitigung
des Vaters durch den zu Kraften gelangten Sohn. Unter den wirt-
schaftlichen Giitern steht das Weib in erster Reihe und das ausschliess-
liche Recht des Vaters auf alle Frauen der Familie hat in dem jus primae
noctis der patriarchalisch gebliehenen Gemeinwesen seine Spuren hinter-
lassen. Die Parallele mit dem, was die Psychoanalyse im unbewussten
Seelenleben des einzelnen gefunden hat, lasst sich also auch in der
Entstehung und Entwicklung des Strafrechtes nachweisen.
!) Hinweise vergl. hei Erich Wulff en: „Der Sexualverbrecher". Berlin 1909.
2 ) C. <J. Jung: .Die psycholog. Diagnose des Tatbestandes". Juristisch-
psychiatrische Grenzfragen IV, 2. Marhold, Halle 1906.
A. Stehr: „Psychologie der Aussage". „Das Recht". Sammlung v. Abhand-
lungen f. Juristen und Laien, Bd. IX/X. Berlin 1912.
VII.
Fadagogik und Charakterologie.
Die Psychoanalyse ist nicht nur eiae Wissenschaft, welche erne
wesentliche Bereicherung unserer Kenntnis des menschlichen Geistes-
lebens darstellt; vielmehr wurde sie zunaehst als praktische Behandlungs-
methode zur Beeinflussung seelischer Storungen ausgebildet.
Das We sen dieser therapeutischen Technik besteht darin, den
Kranken von der zwanghaften Herrschaft gewisser mit seinem Ich
unvertraglicher, aber unzureichend verdrangter Triebregungen, die aus
dem Unbewussten ihre iibermachtige Wirkung entfalten, zu befreien,
indem der unzweckmaJige Prozess der vom Lust-Unlustprinzip automatisch
ausgehenden Verdrangung in der Analyse ruckgangig gemacht und
durch die der Kealanpassung entsprecbende bewusste Beherrschung
dieser Regungen ersetzt wird.
Die Mitt el dieser Beeinflussung sind, der Natur des Leidens ent-
sprechend, weniger intellektueller als affektiver Art und werden vom
Heilungswunsch des Patienten, sowie seinem intellektuellen Interesse an
der Analyse gefordert. Durcb die Einfalle des Patienten, seine Traume,
Symptomhandlungen, Fehlleistungen und andere Ausserungen werden
Zugange zu seinem Unbewussten geschaffen und schrittweise erweitert,
wobei dem Arzt die Intensitat der urspriinglichen Verdrangung als
Widerstand gegen die Aufdeckung des Unbewussten entgegentritt.
Die Beseitigung dieser Widerstande ist die Hauptaufgabe der Kur.
Sie gelingt nur mit flilfe eines dynamischen Faktors, Ton dessen
richtigem Eingreifen die Moglichkeit und der Erfolg der Bebandlung
abhangen. Es ist dies der Einfluss des Arztes, der auf Grund einer
bestimmten affektiven Einstellung des Patienten moglicb wird, die wir
Ubertragung heissen, weil sie einer auf die Person des Arztes
transponierten Affektlage der Zu- und Abneigung entspricht, welche
ehemals bedeutsamen und autoritativen Personen der Kindbeit gegolten
hatte (Eltern, Verwandte, - Pflegepersonen, Lehrer, Priester). In der
Verwendung des suggestiven Faktors unterscheidet .sich die Psycho-
analyse von alien anderen psychotherapeutischen Methoden darin, dass
sie sich der eigentumlichen Art seiner Wirksamkeit fortwahrend bewusst
bleibt und die gefiigige Glaubigkeit des Patienten dazu benutzt, urn
106 Dr. 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc,
dauernde Veranderungen in seinem Seelenleben herbeizufiihren, die ihm
auch nach der notwendigen Auflosung des Ubertragungsverhaltnisses
seine psychische Leistungsfahigkeit und Selbstandigkeit gewjihrleisten.
DieWirkung dor psychoanalytischen Beeinflussung setzt sich aus
zwei Faktoren zusammen : die Befreiung der verdrangten Triebregungen
aus der falschen symptombildenden Einstellung und ihre neuerliche zweck-
mafiige Anpassung an reale Befriedigungsmoglichkeiten, d. h. Hinlenkung
in sozial wertvolle Betatigungsbahnen (Sublimierung), welche Unter-
ordnungen in einem friiheren Stadium der Entwicklung missgliickt
waren. Die psych oanalytische Therapie ist so einer „Nacherziehung
zur Uber win dung von Kindheitsresten" (Freud) gleich-
zustellen und hafe als solche ein Anrecht auf padagogische Wertung.
Allerdings ist die fur den erwachsenen und gemiitskranken
Menschen ausgebildete Therapie nicht ohne weiteres geeignet, in
direkter Anwendung auf das gesunde heranwachsende Kind iibertragen
zu werden. Die Natur der psychoanalytischen Aufgabe und ihrer
Losung brachte es rait sich, dass sie zunachst nur auf eine sozusagen
negative Seite der Erziehungsaufgabe Licht wirft, indera sie uns
lehrt, welche Einfltisse vom Kinde fernzuhalten sind, um es vor dem
spateren Verfall in Neurose, dem Zusammenbruch aller Erziehungs-
erfolge, zu bewahren.
Die Grundlage zur Durchfuhrung der positive*! padagogischen Auf-
gaben muss eine verstandnisvolle sexuelleErziehung, einschliesslich
sexueller Aufklarung sein. Diese sollte nicht, wie so haufig noch,
durch grobe Verfiihrung, briiske Einweihung oder zufallige Belauschung
sexueller Akte (bes. der Eltern) erfolgen. Vielmehr sind alle diese
schadigenden Einfltisse fern zu halten, anderseits aber jedes Aufdrangen
auch von gesundem Sexualwissen, insbesondere aber jede Art von
Geheimnistuerei in sexuellen Dingen zu vermeiden. So weit es geht
soil man das Kind, bei moglichster Fernhaltung direkt schadigender
Einwirkungen, fur sich gewahren lassen und es so wenig als moglich
in seiner nattirlichen Entwicklung hemmen. Das Kind nimmt die
sexuellen Dinge, von denen es durch Vorgange am eigenen Korper
und seine scharfsichtige Beobachtung des ihn umgebenden Stiickes
Natur Kenntnis erhalt, zunachst wie andere Erfahrungstatsachen bin
und so muss sie auch der Erwachsene wieder nehmen lernen, wenn er
dem Kinde ein hilfreicher Berater sein will. Eine eigentliche Auf-
klarung hatte erst zu erfolgen, sobald das Kind selbst durch spontane
Fragen ein intensiveres Interesse fur die Bedeutung der sexuellen Vor-
gange verrat, die ihm infolge seiner geringen Erfahrung nur teilweise
oder garnicht verstandlich sein konnen.
Der heranwachsende Mensch, der sich dafur interessiert, woher
die Kinder kommen, hat ein Recht, wenn auch nicht auf vollstandige,
VII. Padagogik und Charakterologie. 107
so doch auf unentstellte Auskunft, deren Vorenthaltung oder Ver-
falschung sich spater schwer rachen kann. Aber auch eine unmittelbar
verhangnisvolle Folge kann sich bei dem in der Kegel schon vor dem
Fragen einigermafien informierten Kind einstellen, wenn es sich von
den Eltern belogen und hintergangen fiihlt. Es verliert nicht selten
alle Achtung und jedes Vertrauen den Erwachsenen gegeniiber und
wird der Beeinflussung durch den Erzieher schwer zuganglich.
Denn schon beim Kind stellt sich jenes bedeutungsvolle Uber-
tragungsverhaltnis libidinoser Regungen auf die Personen
der nachsten Umgebung her, das wie in der psychoanalytischen Kur
so auch in der normalen Erziehung als wichtigster Hebel der sugge-
stiven Beeinflussung erkannt wurde. Wie das Kind den Eltern,
insbesondere dem Vater gegeniiber eingestellt war, so wird es sich den
diese Autorit'aten spater vertretenden Respektspersonen (Lehrer, Priester,
Vorgesetzter, Chef etc.) gegeniiberstellen, und darum bleibt die wiehtigste
Bedingung aller spateren Erziehungsarbeit die Herstellung und Er-
haltung guter Beziehungen in der Familie, die leider gegenwartig nur
die Ausnahme, nicht die Regel sind. Andererseits diirfen diese Be-
ziehungen aber auch nicht zu innig werden, da sonst die Ubertragungs-,
Sublimierungs- und Ablosungsfahigkeit der Elternlibido erschwert und
bis zur neurotischen Fixierung eingeschrankt werden kann. Die glatte
Ablosung von der Autoritat der Eltern und der sie vertretenden Person-
lichkeiten ist eine der wichtigsten, aber auch schwierigsten Leistungen,
welche dem Kinde beim Abschluss der Erziehungsarbeit obliegen, wenn
es zu psychischer und sozialer Selbstandigkeit gelangen soil. Hier hat
die Padagogik aus dem Ubertragungsverhaltnis und seiner schrittweisen
Losung in der psychoanalytischen Kur noch viel zu lernen.
Die Psychoanalyse gestattet aber nicht nur die Aufzeigung und
Vermeidung von bisher begangenen Erziehungsfehlern, sondern vermag
auch inpositiver Weisezur Erzielung besserer Resultate anzuleiten.
Das psychoanalytische Studium der Neurosen hat das Problem der
Charakterbildung und -Entwicklung von der dynamischen Seite
beleuchtet, die bisher fast vollig im Dunkel geblieben war. Zwar kann
sie iiber die den Charakter des Menschen beeinflussende Anlage nichts
aussagen, was tiber die sparlichen und unsicheren Ergebnisse der Ver-
erbungslehre hinausginge, weiss aber um so mehr von dem Prozess
ihrer Ausgestaltung, der durch iiussere und innere Vorgange des
individuellen Lebens entscheidend bestimmt wird. Der Charakter kann
wohl als eine besonders ausgepragte, in typischer Art erfolgende Reaktions-
weise des Individuums aufgefasst werden ; die analytische Forschung hat
nun ergeben, dass bei seiner Ausbildung den intellektuellen Momenten ein
weit geringerer Anteil zukomme, als man bisher anzunehmen geneigt war.
Vielmehr beruht die Charakterbildung auf einer fur das Individuum
108 Dr. 0. Rank u. Dr. II. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
zweckmafiigen Okonomie des psychischen Kriiftespiels, welche
•jevveils eine ganz bestinnnte Verteilung von Affektmengen, ein gewisses
Mafi Ton Triebbefriedigung, -Unterdriickung und -Subliniierung er-
fordert. Die bleibenden Charakterziige eines Menscheu sind entweder
unveranderte Fortsetzungen der ursprUnglichen Triebregungen, Ab-
lenkungen derselben auf hohere Ziele oder Reaktionsbildungen gegen
dieselben. So kann etwa ein ursprunglich grausames Kind, das s°ich
an Tierquiilereien sadistisch befriedigte, spater ein Metzger oder ein
passionieiter Jiiger werden, und damit die alte Triebbetiitigung und
-Befriedigung in wenig modifizierter, wenn auch sozial ntttzlicher Weise
fortsetzen; es kann aber auch einen Beruf wahlen, der ibm dies im
Dienste hoherer, intellektueller und wissenschaftlicher Interessen
gesiattet, und etwa als Naturforscber die Vivisektion mit besonderem
Interesse betreiben, oder als Chirurg der Wissenscbaffe und seinen Mit-
raenschen wert voile Dienste leisten; in einem dritten Falle kann die
allzu machtige Triebregung intensiver Verdrangung verfallen und
auf dem Wegc der Eeaktionsbildung in bumanitaren und e this c hen
Betatigungen Befriedigung suchen, die dem ursprUnglichen Triebziele
entgegengesetzt sind, indem das grausam-sadistische Kind im spateren
Leben ausserst mitleidig wird und sich mit besonderer Vorliebe etwa
dein Tierschutz widmet. Schliesslich sind bei Verstarkung der urspriing-
lichen Triebanlage im Laufe der Beifung und mangelnder Ausbildung
von Hemmungen die antisozialen Ausgilnge in Perversion (Sadisnius) und
Verbrechen (Messerheld) moglich, wie andererseits eine allzu intensive
ferdrangung zum missgluckten Ausgang in die asoziale (Zwangs-)
Neurose fuhren kann.
Andere Charaktereigenschaften zeigen weniger einfache Beziehungen
zu den ibnen zugrunde liegenden Triebkomponenten oder den aus
diesenzusammengesetztenStrebungen; manche sind in ihrer Entstehung
nicht eindeutig bestimmt, da einzelne Triebanteile verschiedene Schick-
sale • erfahren kiJnnen, andererseits mehrere Teiltriebe zur endgultigen
Konstituierung eines Charakterzuges zusamniengewirkt haben, einander
verstarkend, • paraJysierend, verscbrankend. Doch hat die psycho-
analytische Triebanalyse iibereinstimmend ergeben, dass unsere besten
Tugenden, viele unserer wertvollsten geistigen Leistungen und sozialen
Institutionen der Umwandlung ursprunglich boser, niedriger und
asozialer Triebe Hire Entstehung verdanken.
Auch fur die spatere Beruf svvahl des Kindes und die Ver-
meidung der oft so verhangnisvollen Irrtumer dabei gibt die psycho-
analytische Betrachtungsweise dem Erzieher gewisse Anhaltspunkte, die
der Beachtung wert sind, wenn auch im einzelnen Falle haufig genug
aussere, der Beeinflussung widerstrebende Faktoren unerbittlich ihr Becht
fordern. Im allgemeinen wird das Individuum dem Erziehungsideal :
VII. Padagogik und Ckarakterologie, 109
subjektiv am gliicklichsten zu sein und zugleich seinen Beruf im Dienste
der Sozietat am vollkommensten auszufullen, am nachsten kommen, wo
ihm gestattet wird, die infantilen Lustquellen der Triebbetatigung in einer
sublimierten und fiir die Gesellschaft nutzlichen Form zu verwerten,
wie das etwa fur das angefuhrte Beispiel vom Chirurgen zutrifft.
Neben der dynamischen Auffassung beruht ein weiteres Stuck des
psychoanalytischen Verstandnisses der Charakterbildung auf der Einsicht,
dass insbesondere die im normalen Sozial- und Liebesleben unbrauch-
baren Partialtriebe derSexualitat soldier Verwandlungen und
Veredlungen am ehesten fahig sind, dass es daher Aufgabe der Erziehung
ist, die Ausserungen dieser asozialen und jperversen* Triebe beim Kinde
nicht zum Anlass ihrer scharfsten gewaltsamen Unterdriickung zu nehmen,
sondern als Anzeicben tlafur, zu weleber Zeit und an welchen Stellen
eine giinstige Beeinflussung der Triebrichtung erforderlich ist. Besonders
sind es die in friiher Kindheit mit den Exkretionsfunktionen verkniipften
Lustgefiible (Anal- und Urethral-Erotik), welche beim heutigen Kultur-
menschen der intensiysten Verdrangung unterliegen und vorwiegend
durcb Reaktionsbildungen gegen diese „animalischen a Interessen wesent-
licbe Beitriige zur Konstitution des Charakters liefern. Das Verhalten
des Menschen gegen seine animalischen Funktionen (zu denen ubrigens
auch die Sexualitat gerech.net wird) und die Art seiner psychiscben
Reaktionsbildungen darauf sind nicht nur fur den einzelnen iiberaus
charakteristisch, sondern scheinen auch wesentliche Rassenunterschiede
und -Abneigungen zu begriinden.
Fiir den Erzieher ergibt sich aus den psychoanalytischen Erfahrungen
die Forderung, neben den intellektuellen Komponenten der Charakter-
bildung insbesondere die affektiven Momente der Ubertragung,- ferner
die dynamischen des sexuellen Triebanteils und seines Schicksals scharfer
ins Auge zu fassen und durch zielbewusste Leitung nutzbar zu machen.
In diesem Sinne muss die Psychoanalyse zunachst eine Erziehungsmethode
fiir die erwachsenen Gesunden werden, wie sie es fiir die erwachsenen
Kranken bereits ist, mit denen die Gesunden das Stuck Amnesie fiir
die bedeutungsvollsten Vorgange der Kindheit gemeinsaui haben, welches
ihnen das Verstandnis fiir das - Seelenleben des Kindes erschwert und
verwehrt. Aufgabe einer psychoanalyitschen Propaganda wird es sein,
die Erzieher zur Selbsterkenntnis, zur psychischen Freiheit und Offenheit
zu erziehen, die zum intimen Verkehr mit Kindern und zu ihrer giinstigen
Beeinflussung erforderlich sind.
Im Ganzen warnt die Psychoanalyse davor, an das Kind zu strenge
Verdrangungsanforderungen zu stellen, legt vielmehr starkere Beriick-
sichtigung der individuellen Leistungsfahigkeit nahe, die allerdings auf
ein gewisses gemeinsames Kulturniveau gehoben werden soil. Aufgabe
der Erziehung kann es im allgemeinen nicht so sehr sein, Verdrangungen
110 Dr 0. Rank u. Dr. H. Sachs: Die Bedeutung der Psychoanalyse etc.
auf gewaltsame Weise neu zu schaifen, als vielmehr die auf Grund innerer
Vorgange und der allgemeinen Einwirkung des Kulturmilieus bei einzelnen
Regungen bereits spontan einsetzende Verdrangungsneigung bei ihrem
Auftreten und Fortschreiten sorgsam zu beobachten und in zweckent-
sprechender Weise zu unterstutzen ; insbesondere darauf zu achten, dass
sie nicht ubermafiig intensiv beansprucht werde und den Trieb in falsche
und schadliche Bahnen lenke. Sie empfiehlt Triebbeherrschung an Stelle
von Triebunterdriickung anzustreben , dem Kinde den Verzicht auf
momentane Lustbefriedigung zuguiisten einer spateren, holier wertigen,
der Realforderung angepassten, zu erleichtern durcb gewisse Lustpramien,
die aber nicht in herkomrnlicher Weise in materiellen (Spielsachen,
Zuckerwerk, Geld etc.), sondern in ideellen Werten zu bestehen batten.
Das Kind ist nur durcb Liebe zu erziehen und wird sich unter
dieser Bedingung auch durcb die zeitweilige Entziehung derselben
geniigend gestraft fiihlen. Nur einer geliebten Person zuliebe gibt es
unerwiinschte Betatigungen und Ziele auf, nimmt es nacbahmend auf
dem Wege der Identifizierung mit den Erwachsenen an, was die Kultur
in Gestalt dieser Liebesobjekte von ihm fordern darf.
Ausser den negativen und positiven Winken und Anregungen,
welche die Erziehungslehre aus den Resultaten der psychoanalytischen
Erforschung des Seelenlebens erwacbsener, in der Erziehung verungliickter
Menschen gewinnen und sich zu Nutze rnachen kann, bietet die
padagogische Praxis nicht selten Gelegenheit, die psychoanalytischen
Gesichtspunkte und technischen Hilfsmittel in direkte Anwendung
zu bringen, wo es sich namlich darum handelt, Bander und Jugendliche,
die sich bereits auf falscher Bahn befinden, gunstig zu beeinflussen und
vor weiteren, vielleicht schweren Schadigungen zu bewahren, noch ehe
sie Gelegenheit haben, verheerend ins soziale Leben uberzugreifen. Aus-
zuschliessen von der padagogischen Beeinflussung in diesem Sinne sind
schwachsinnige, moralisch schwer defekte oder degenerierte Individuen,
ebenso wie ausgesprochene Neurotiker, deren Behandlung dem analytisch
geschulten Arzte tiberlassen bleiben soil. Trotz dieser Einschrankungen
erofFnet sich fiir den Piidagogen und, wie vielversprechende Arbeiten
des Ztiricher Pastors Dr. Oskar Pfister zeigen, auch fiir den Seel-
sorger ein reiches und fruchtbares Arbeitsfeld, das jetzt so gut wie
brach liegt. Eine Menge von kindlichen Eigenheiten, die entweder gar
nicht oder *nur falsch verstanden und durch die iiblichen padagogischen
Mafinahmen meist nur verschlimmert werden, enthullen sich dem psycho-
analytisch geschulten Erzieher auf den ersten Blick als vom Unbewussten
determinierte neurotischeZiige, die, im Stadium ihres Auftretens
und im jugendlichen Alter erkannt, leicht unschadlich gemacht werden
konnen; zugleich wird das neurotisch disponierte Individuum durch
solches Eingreifen befahigt, den spateren Kampf zur Beherrschung seines
VII. P&dagogik und Charakterologie. Ill
Trieblebens besser geriistet anzutreten. Jeder, der nur in ein paar
Fallen die Genugtuung erlebt bat, kiridliche Fehler, die als Bosheit,
Eigensinn, Verschlossenbeit, als Lxigenhaftigkeit, Stehltrieb, Arbeitscheu,
jeder padagogischen Beeinflussung hartnackig widerstanden hatten, durch
psychoanalytische Zuriickfiibrung auf neurotiscbe Einstellung zu den
Eltern oder falsche Triebverschiebung schwinden, ja nicht selten den
gegenteiligen Tugenden weichen zu sehen, musste der Uberzeugung Aus-
druck geben, dass die Psychoanalyse der Erziehungslehre unschatzbare
Dienste zu leisten bestimmt ist. Aber auch einzelne klinisch schwerer
wiegende Symptome, wie Angstzustande bestimmter Art (Tierpbobien,
Pavor nocturnus u, a.), Idiosynkrasien fgegen Speisen, Personen, Gegen-
stande), Verschrobenheiten und leichte nervose Symptome korperlicher
Natur (Stottern, nervoses Husten, Rauspern), erweisen sicb durch ihren
neurotischen Charakter und die unter Umstanden von Seiten des Erziehers
leichter erzielbare Beeinflussung als padagogiscb zugangliche Objekte
der Psychoanalyse; zumindest aber sind sie dem analytisch geschulten
Erzieher in statu nascendi erkennbar und konnen, wo es notig ist,
friihzeitig der iirztlichen Behandlung zugefuhrfc werden.
Im allgemeinen darf man sagen, dass die Psychoanalyse, wie sie
bereits weit uber ihre ursprunglich rein therapeutische Bedeutung hinaus
zu einer Wissenschaft, ja zu einer geistigen Bewegung geworden ist,
auch ihre padagogische Verwendung liber das Gebiet der individuellen
Prophylaxe hinaus als positive Erziehungslehre soziale Bedeutung gewinnt.
Und wenn auch ihre Forschungsrichtung sie notwendiger Weise immer
wieder vom unbewussten Seelenleben ausgehen heisst, so ist doch nicht
zu ubersehen, dass sie in letzter Linie die bessere Beherrschung dieses
Unbewussten durch standige Erweiterung des bewussten
Gesichtskreises anstrebt. Damit ist freilich dem Menschen, der mit
Beginn der Zivilisation auf direkte Ausniitzung gewisser Lustquellen, mit
fortschreitender Kultur allmahlich auch auf die in den vorhergehenden
Kapiteln erorterten Wunschkompensationen derselben verzichten lernen
muss, eine weitere Versagung auferlegt, die durch den intellektuellen
Faktor lustbetonter Erkenntnis und bewusster Beherrschung des eigenen
Ich wie der Aussenwelt allerdings bis zu einem gewissen Grade wett-
gemacht wird. In diesem der Menschheit aufgezwungenen Verzicht
des Lustprinzips zu Gunsten der Realitatsanpassung ist die Erziehung
unser wertvollstes Hilfsmittel, da sie das junge und heranwachsende
Menschenkind rechtzeitig darauf vorbereiten, ihm zweckmafiige Wege
der Ersatzbefriedigung weisen und so ftir das kulturelle Leben tauglich
macheu kann, indem sie ihm die Flucht in die alten, als unzweckmafiig
verlassenen Einstellungsweisen erspart und verwehrt.
Buchdruckerei Carl Ritter, G. m. b. H., Wiesbaden.
Verlag von J F. BERG MANN in Wiesbaden.
Ober den Selbstmord
insbesondere den
Schiiler-Selbstmord.
Dr. Alfred Adler, Prof. Dr. S. Freud, Dr. J. K. Friedjung, Dr. Karl Molitor
Dr. R. Reitler, Dr. J. Badger, Dr. W. Stekei, Unus multorum.
Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins.
Preis Mk. 1.35.
Die aufsehenerregenden Forschungen Freuds uud seiner Schiller stehen
jetzt im Mittelpnnkte des offentlichen Interesses. Diese kleine Sehrift ist nicht nur
fur Arzte hochinteressant. Jeder Piidagoge sollte sie lesen, um die wirklichen
Zusammenhange zwischen dem Liebesleben der Menschen und ilirem Selbstver-
nichtungstrieb kennen zu lernen. Auch Gebildete jeden Standes, besonders Juristen,
Seelsorger, Richter usw. werden gewiss grossen Nutzen und neue Erkenntnis
Ziehen. Die Form der Diskussionen verleiht dem kleinen Bandchen einen frischen.
vonvartsdrangenden Zug, der gewiss viel zu seiner Verbreitung beitragen wird.
Die Onanie.
Vierzehn Beitrage zu einer Diskussion der
Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
Von
Dr. B. Dattner. Dr. Paul Federn. Dr. S. Ferenczi, Professor Dr. Freud.
Dr. Josef K. Friedjung. Dr. E. Hitschmann. Dr. Otto Rank. Dr. Rud.
Reitler. Gaston Rosenstein. Dr. Hanns Sachs. Dr. J. Sadgei*. Dr.
Maximilian Steiner. Dr. W. Stekei. Dr. Viktor Tausk.
Mk. 4.—.
Somnambulismus und Spiritismus.
Von Hofrat Dr. L. Loewenfeld in Miinchen.
Zweite rermehrte Auflage, — Preis Mk. 2.—
Als eine sehr erfreuliche Tatsache begrusst Referent die Neuauflage der vor
trefflichen Sehrift, weil in unserer fur niystisehe Erscheinungen leicht empfiinglichen
Zeitepoche nur die Verbreitung grundlicher Belehrung, wie sie in der Loewen-
feldschen Arbeit mit seltener Klarheit geboten wird, geeignet ist, die phantastisehen
Auswuchse spiritischer WundergUiubiger zu bekampfen. Wenn zu diesem wiinschens-
werten Erfolge auch die Arzte beitragen sollen, so kann Referent nur weitgeliende
Verbreitung der Sehrift in Arztekreisen wiinschen, denn leider sind die Besriffe
^Somnambulismus" und ,Spiriti sinus" auch in diesen Kreisen reeht wenig bekannt.
. . Wenn Mher fur unmoglich gelialtene Dinge als wahr sich herausstellen, so
werden wir nicht aberglkubige Auffassungen aus LangSt vergangenen Zeiten nur Er-
klarung heran Ziehen, sondern bemliht sein, den Schleier des Mythischen von diesen
Tatsachen zu entfernen. In weJcher Weise das g»schehen muss und gesehehen kann,
entwickelt Verfasser uberzeugend, und bleibt nur zu wunschen, dass eine so kritische
Sachdarstellung weite Verbreitung findet. Berliner kiln. Wochenschrift,
Verlag von J. F. BKKGHANN in Wiesbaden.
Die Intellektuellen mid die Gesellschaft.
Ein Beitrag zur Naturgeschichte begabter Families
Von
Dr. H. Kurella in Bonn.
Preis Mk. 3.60.
Der dnrch seine seit 20 Jahren verOifentlichten Studien tiber die Anlage zum
Irresein und zur Kriminalitat bekannt gewordene Verfasser veroffentlichfc in der
vorliegenden Scbrift in fiir jeden Gebildeten verstSndlicher und hochst fesselnder
Darstellung die Ergebnisse seiner Untersuchungen tiber die produktive Veranlagung.
Eingehend wird die Einteilung der bei Menschen iiberbaupt vorkommenden
Begabungs- Arten klargelegt, es werden wirtschaftliche, technische und
ideologischc Begabung unterschieden.
Es wird als Mutterboden der geistigen Kultur Nordeuropas seit dem 15. Jabr-
hundert die evangelischo Kirche, der Handwerker- und Bauernstand nachgewiesen ;
es wird die Mobilisierung, Entwurzelung und Bureaukratisierung dieser Bevolkerungs-
schichten durch das moderne Wirtsehaftsleben von dem ungemein scharfen und
geistvollen Standpunkt des Autors gekennzeichnet, und es wird dieser Zersetzungs-
Vorgang in einem lebhaft gehaltenen Kapitel : K fi u s 1 1 e r u n d P u b 1 i k u m , besonders
frappant und anschaulich charakterisiert.
Bewusstsein und psychisches Geschehen.
Die Phanomene des Unterbewusstseins und ihre Rolle in
unserem Geistesleben.
Von
Mofrat Dr. L. Loewenfeld, Munchen.
Preis Mk. 2.80.
Dass unser Seelenleben nieht lediglicb Vorgftnge umfasst, die im Lickte des
Bewusstseins sicb ahspielen, sondern neben diesen auch andere, welche, wenn auch
sozusagen in Dunkel gehtillt, doch aus ihren Wirkungen deutlich erkennbar sind,
diese Anscbauung bat seit Leibniz zahlreiche Vertreter, aber auch entschiedene
Gegner gefunden. Bis zur jtingsten Zeit haben sicb diese Meinungsverschiedenheiten
erbalten, obwohl in den letzten Dezennien durch die Forschungen einer Reihe von
Autoren unsere Kenntnisse iiber die dunkle Seite unsores Seelenlebens bedeutend
erweitert wurden.
Der Verfasser hat in der vorliegenden Scbrift den Versuch unternommen,
cine Beendiguug des durch Jahrhunderte sich hinziehenden Streites anzubahnen,
indem er jene Anscbauung, welche auch der dunklen Seite unseres Seelenlebens ein
gewisses Bewusstsein zuerkennt — die Unterbewusstseinstheorie — in eingehender
Weise begrtindete und nachwies, dass sie den derzeit bekannten Tatsachen am
besten entspricht.
Daran anschliessend hat er eine gedrangte, aber alles Wichtige umfassende
Oborsicht tiber die unter der Sclnvelle unseres Bewusstseins verlaufendeu geistigen
Tatigkeiten und deren so bedeutungsvollen Anteil an unserem Geistesleben gegeben.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Ober den
nervdsen Charakter.
Grundziige
einer vergleichenden Individ u a 1 -
Psychologie und Psychotherapie.
Von
Dr. Alfred Adler,
Wien.
Preis Mk. 6.50, gebunden Mk. 7.70.
Aus Besprechungen.
Grundziige einer vergleichenden Tndividualpsychologie und Psychotherapie
nennt Verf. selbst sein Buch. Dasselbe stellt sich als organischer Weiterbau
dar auf Basis jener Anschauungen, welche er in der Studie iiber Minderwertigkeit
von Organen seinerzeit niedergelegt. In einem aus drei Kapiteln bestebenden
tbeoretischen Teil gibt Verf. seine ftberzeugung wieder: „Am Anfang der Ent-
wicklung zur Neurose stelit drobend das Gefuhl der Unsicberheit und Minder-
wertigkeit und verlangt mit Macbt eine leitende, sicbernde, berubigende Zweck-
setzung, um das Leben ertriiglich zu macben. Was wir das Wesen der Neurose
nennen, bestebt aus dem vennehrten Aufwand der verftigbaren psychischen
Mittel, Unter diesen ragen besonders bervor: Hilfskonstruktionen und Fiktionen
im Denken, Handeln und Wollen . . . Wie die tastende Geste, wie die ruckwarts
gewandte Pose, wie die kOrperlicbe Haltung bei der Aggression, wie die Mimik
als Ausdrucksformen und Mittel der Motilitat, so dienen die Charakterziige,
insbesondere die neurotiscben, als psychische Mittel und Ausdrucksformen dazu,
die Recbnung des Lebens einzuleiten, Stellung zu nebmen, im Scbwanken des
Seins einen fixen Punkt zu gewinnen, um das sicbernde Endziel, das Gefubl der
tiberwertigkeit, zu erreichen".
Die Durcharbeitung der Gedankengange des Verf im einzelnen, ist in
einem kurzen Referate nicht zu erfassen; das Bucb verkilrpert eine Welt-
anscliauung mit Deutungen und Symbolisierungen, welche Verf. in die Natur
bineinlegt. Aucb im zweiten praktisch genannten Teil des Buches stebt Verf.
auf holier, philosopbischer Warte, er leitet Charakterziige, wie wir sie bei NervOsen,
richtiger Minderwertigen finden, von der fiktiven Idee ab und schliesst: „Minder-
wertige Organe und neurotiscbe Phiinomene sind Symbole von gestaltenden
Kraften, die einen selbstgesetzten Lebensplan mit erbohten Anstrengungen
und Kunstgriffen zu erfullen tracbten",
W/'ener KUniache Wochenschrift.
Verlag von J. F. BERG MANN in Wiesbaden.
Die Sprache des Traumes.
Erne Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes
in ihren Beziehungeii zur kranken mid gesunden Seele
fiir
Arzte und Psychologen
von
Dr. CTilhelm Stekel,
Spezialarzt fiir Psyehotherapie und Nervenleiden in Wien.
Preis M. 12.60, geb. M. 14.—.
Aus Besprechungen:
Das Werk ist in der Literatur der Traume einzig in seiner Art. Der
bekannte Wiener Verfasser bringfc in diesem Buch aus seiner Erfahrun^, die
das Studium von nicht weniger als zehntausend Traumen umfasst, die Analyse
von fUnfhundertvicrundneunzig Traumen. Allein vom Standpunkt der Empirie
betrachtet, kann ein Werk, das tiber das klassifizierte Material einer solchen
Anzahl Traume verfugt, nur nutzlich sein Ein anderer Vorzug des
Buches ist die grosse Zahl von Beweismaterial, das aus vielseitigen Quellen
zuSflwnmengetragen und reich mit Anmerkungen versehen ist. Ein anderes
anregendes und charakteristisches Merkmal des Buches sind die Verallgemeine-
rungen, zu denen der Verfasser von seinem Material ausgehen d gelangt. Es
ist wohltuend zu sehen, wie diese Verallgemmneruugen linmer das Resultat
des eigenen Denkens des Verfassers sind und nicht sklavische Wiederholungen
der Ansichten des Meisters, welche, so wahr sie aueh sein mogen, Material
iu die Hande der Kritiker gegeben haben, Zum Schluss empfiehlt der Referent
das Werk als einen ausserst wertvollen Beitrag zur modernen Psyehopatho-
logie. Der Traum wird in seiner Bedeutung ins rechte Licht geruckt. Man
erkennt seine Bedeutuug als Quelle unschatzbaren Materials. Dieses ermog-
licht uns das Versfcftndnis der geistigen Verfassung unserer Kranken ja
es ermoglicht uns sogar die Anwendung einer rationellen Psychotherapie.
Journal of Nervous and Mental Diseases.
In seinem Buche „Die Sprache des Traumes" bringt Stekel ausfuhrlich
alles Bemerkenswerte tiber das Wesen und die Deutung des Traumes. Ihm
kommt es im wesentlichen darauf an, die Symbolik des Traumas zu ergriinden
und zu zeigen, dass das primitive Denken ursprunglich symbolisch ge wesen
sei. Im Traume spielen haupts&chJich zwei Faktoreu eine iiberwiegende Rolle :
das Erotische und das Kriminelle, so dass man nahezu sagen kann: der
geheime Verbrecher in uns tobt sich im Traum aus, doch es stent das
Kriminelle fast stets im Dienste des Sexuellen. Die Analyse des Traumes
muss von der Deutung der einzelnen Traumelemente ausgehen. Avobei es nach
Freud zweifelhaft ist. ob das Traumelement: a) im positiven oder negativen
Sinne gewonnen werden soil (Gegensatzrelation*; b) hist-orisch zu deuten ist
(als Reminiszenz); c) symbolisch oder ob d) seine Verwertung vom Wortlaut
ausgehen soil. An der Hand von 594 Traumen, die eingehend analysiert und
in ein bestimmtes System eingegliederfc werden. fuhrt uns Stekel in dies
Uebiet ein. Er zeigt die Bedeutung der Traum en tstellung, der Reden im
Traume, der AfFekte im Traume, er erklart besonders ausfuhrlich die Be-
deutung der Todessymbolik. Zum Schlnsse beschreibt er die Technik der
Traumdeutung, indem er den Gang einer Psychoanalyse vorfiihrt.
Zentralblatt fiir Physiologies
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Robespierre.
Eine bistoriscb« pathologist Studic.
Von
Hans Freimark.
Prels Mk. 1.50. «
Der durch seine kritischen Arbeiten auf dem Gebicte des Okkultismus
bekannte Verfasser sucht in dieser Studie fiber Robespierre der Gegenwart das
\\ esen dieses ftevolutionsmannes verstandlich zu maehen Robespierre ist, wie
Freimark nachweist, ein lebensfremder Trimmer, der seinen Ideen und Idealen zuliebe
die er ftir die Ideale des uaturlichen Menschen ansieht. vor Opfern nicht zuriiek-
scheut, der aber auch sich selber opfert in dem Augenblick, da er nur wider seine
Ueberzeugung leben konnte. Auf Grund umfangreicheL* Qnellenstudien wird das
Leben Robespierres dargestellt, wie es sich abrollt vom ersten Werden bis zu dem
letzten Emporungsschrei im Konvent. Dabei fallen erhellende Streiflichter auf die
Zert, auf die politische Lage, die ubrigen fuhrenden Persbnlichkeiten des Frankreich
der Revolution. So wird diese Studie iiber eine der markantesten Figuren der
gewaltigen Epoche zu einem eindrucksvollen Gemalde dieser Umwalzungen selbst.
V. n V das Wcrtvollste darin sind die psychologischen Lichter, die der Verfasser iiber
die Verworrenheiten der Vielen und die Verscblossenbeit und die Unzugangliehkeit
des Linen verstehend zu verbreiten weiss. Es ist Freimark durch Hingabe und
Vertmfung gclungen, die Gestalt Robespierres plastisch erstelien zu lnssen. Diese
fctudie berichtet nicht nur iiber den Advokaten von Arras, sie lasst ihn erleben.
Und dieses Erleben bringt die schreckliche und doch wiederum erstaunlicbe Er-
schemung dieses Mannes menschlich niiher und lasst sie uns endlich sehen, wie sie
gesehen werden muss.
Das Pathologisehe bei Otto Ludwig.
Von
Dr. Ernst Jentsch.
Mit der Totenmaske Otto Ludwigs.
Preis Mk. 2A0.
Man muss es dem Verfasser der Otto-Ludwig-Pathographie Dank wissen, dass
er selbst bei aller Zusammenfassung der pathologischen Beobachtungen an' Otto
Ludwig eigentlich nicht zu dem Schlusse kommt, dass irgendeine geistige Anomalie
vorhanden war. Was wir aus einem iiberaus lesenswerten und liebevoll geschriebenen
Buche erfahren, ist, dass Otto Ludwig mtfglicherweise erblich belastet war, jedenfalls
aber selbst ein ungemein sensibler Mensch gewesen ist, ein Menseh von sehr weicher
Veranlagung, nicht gestahlt zum harten Kampf im Leben, recht unpraktisch und
vielleicht weltfremd, wie schon erwahnt von vielen Leiden gequalt, claher zur Selbst-
beobachtung und Hypochondrie geneigt, von einer qualenden Selbstkritik erfullt, die
ihn zur Vernichtung zahlreicher Arbeiten veranlasste und sohliesslich seine produktive
Schopferkraft als Didhter lahmte und seinen Genius auf das Gebiet theoretischer
Spekulationen (iber das Drama fuhrt Im ganzen grossen aber ist der sympathische
Emdruck, den das Buch hinterlasst, dass sich das deutsche Volk freuen darf, dass
ein vielfach korperlich leidender Mensch so urges unde kunstlerische Schopfungen,
wie es die Otto Ludwigs sind, hervorbringen konnte, trotz seiner schwankenden
Gesundheit. Am Menschen Otto Ludwig war vielleicht vieles pathologist, an seinen
Sc!i;»pf:mgen ist alios gesund. Neites Wiener Journal.
Verlag von J.F.BERGMANN in Wiesbade
Uber
Symptomatologie, Wesen und Therapie
der
Hetniplegischen Lahmung.
Mit besonderer Berucksichtigung der Entwickelung und
Funktion der Bewegungszentren in der Wirbeltierreihe.
Von
Professor Dr. med. Nic. Gierlich
Nervenarzt in Wiesbaden.
Mit 18 Abbildungen im Text.
Preis Mk. 4.00,
Die klinische Untersuchung
Nervenkranker.
Ein Leitfaden
der
allgemeinen und der topischen und eine synoptische
Zusammenstellung der speziellen Diagnostik der Kerven-
krankheiten
fiir Studierende und praktisehe Arzte
nach Vorlesungen von
Dr. Otto Veraguth,
Nervenarzt, Privatdozent dei* Xourologie an der Uinveraitiit Ziiiich.
Mit 102 teils farb. Textabbildungen und 44 Scbematen und Tabellen.
Preis gebunden Mfo IQMo.
Veraguth streift die Probleme der Anatomic und Physiologie des Nerven-
sy stems nicht oberfiachlich, sondern dringt tief in das Wesen der Fragen ein.
.... Um so mehr wird der praktisehe Arzt und auch der Neurologe Freude
an dem Buche haben una* Vorteile aus ihm ziehen. Denn der Verfasser sagt nicht
nur, dass dies und jenes ist oder sein muss, sondern er entAvickelt auch, warum es
so sein muss und nicht anders sein kann. Man verliert so den Eindruck eines
schematischen FUhrers und wird vielmehr auf die Hohe der klinischen Betrachtungs-
weise, der individuellen Erfassung des Krankheitsbildes gefuhrt.
Uberall ist die Selbststiindigkeit der Arbeit und der Auffassung von Wesen
und Bild der Krankheiten zu loben. Medizinische KUnik.
Verlag von J. F. BERGMANN in Wiesbaden.
Die Halluzination,
ihrc Entstchung, ihre Ursachen und ihrc
Realitat.
Von
Privatdozent Dr. Kurt Goldstein in Konigsberg.
Preis Mk. 2. ~ ,
Yerf besprieht die Halluzinationen, Wahrnehmungen, die sich von den ge-
wnlinlichcn dadurch unterscheiden, dass ihnen keine wirklichen Dingo entsprechen.
Die Bedeutung des Studrams dor Sinnest&uschungen fur die normale Psychologies
ist klar; die Halluzinationen und die aus ihnen mitstehenden Folgen filr die Psyche
zcieen die fundamental Bedeutung der scharfen Unterscheidung zwischen „subjektiv
und obiektiv* beim Gcsunden, wek-he in der voriiegenden Studie auseinandergesetzt
• j " J Deutsche Medizinalzeitung.
Das Problem des Schlafes.
Biologisch und psyctiophysiologisch betrachtet.
Von Dr. Ernst Tromner in Hamburg.
Mit 13 Figuren im Text.
Preis Mk. 2.80.
DieHefte der Loewenfeldschen Sammlung .Grenzfragen usw." sind dureh-
gehends vorztiglich, und dies trifft auch fur die vorliegende, auch weiteren Kreisen
verstandliche Abhandlung zu. Der Laie mag vielleieht kaum glanben, wieviel
Interessantes liber den Schlaf zu sagen ist. Der Autor hat es veretanden, das Problem
in kurzer und anre^euder Darstellung vollstandig und abgerundet zu behandeln.
In dem Hauptabschnitt uber den Mensehenschlaf werden die sekretorischen Junk-
tionen, die Motilitat und die Statik behandelt. Bei letzterer hndet das Emschlafen
im Gehen Erwahnung und das Sehnarchen Erkl&rung. Einleuchtend sind auch die
kurzen Ausfuhrungen uber das Verhaltnis zwischen Hypnose und Schlaf.
Frankfurter Zetttwff.
Ober die Psyohologie der Eifersucht.
Von
Dr. M. Friedmaini, Nervenarzt in Mannheim.
Preis Mk. 3.—.
Das vorliegende Buchlein ist wohl der erste Versuch einer zusammenfassenden
Darstellung der Eifersucht, wobei als Gr'undlage der Untersuchung nicht nur die
erotische Eifersucht - was wir im allgemeinen immer unter dem Begriffe der
Eifersucht verstehen genommen wurde, sondern auch ein gleichartiger Affekt,
der unter ahnlichen Umstanden auf alien iibrigeu Gebieten menschlicher Betatigung:
wie in Amt, Beruf, in Familie und Kunst, in Wissenschaft nnd im Offentlichen
Leben entsteht, und dem F. den Kamen ^Strebungseifersucht* beilegt.
Prager Medizin. Wochenschnju
Verlag von J. F. BERG M A N N in Wiesbade
Uber Gewohnung
auf normalem und pathologischem Gebiete.
Von
Prof. Dr. K. Heilbroiuier, Utrecht.
Preis Mk% 1.60.
I n h ft 1 1 :
Bcgriff und Umfang dor Gewohnung. - GiftgewBhimng niederer Organism^ -
Anderweitige (Tewohnung niederer Organismen. - Akklimatisation hoherer Orga-
msmen. - Baktenelle Gewohmmgen. - Giftgewohnung hoherer Organismen. -
Meranz und chron.sche Vergiftimg. Nikotin. - Arsen. Narkotika. - Abstinenz-
erscheinungen und Entziehung - Alkohol. - Pawlows Versuche an Hunden
UW T^ de 5 Vi Resnltllte aufdenMenschen. - Bedingnngsreize boim Menscben .-
AVert der Oewohnung, - Gewohnung an pathologist Akte. - Tiks und Vcr-
Avandtes - Hysteric - Sexuelle Gewohnung. - Gewohnheitsmassiges Entweichen -
Sexualitat und Dichtung.
Ein weiterer Beitrag zur Psycliologie des Dichters.
Von
Dr. med. Otto Rinrichsen, Privatdozent in Basel.
Preis Mk. 2.60.
Tp;j 1 i„?i„ ,lr i Cl, ^ e - n i. i er0rt 5 rt I,ie - r d J? Bedeut « n g der aus dem gesehlechtlichen
IreMcben des Dichters fur seine Produktion sta.nmei.den Impulse; und .war
cZlhf 1 C^U an em £ W |?hr nngleichartiger dichterischer Individualitaten :
O-oethe, Gnllparzer Stendahl, Holtei, E. T. A. Hoffmann. Kleist Hebell, Nissel
uaw. , wobe. H.nr.chsen auf die Phantasieliebe des Dichters in. allgemeinen
„L*,,fT la Bed ,T ltu "? des sexuellen Erlebnisses fttr dichterischesVhaffen
^«n if a sexuelle Eige.mrt der genannten Dichterpersonlichkeiten nilher
e.ngeht und auch mriirfach Gelegenheit nimmt, sich mit den Amdi-M~n
Preuds und : semer Schiller .Stekel, Sadger) sowie mit Fliess undNietzscte
knti hC h anseinanderzusotzen. Medizinlsche Kliuik.
Sadismus und Masochismus
von Dr. A. Euleirburg-,
Geh Med -Rat, Professor in Berlin.
Zweite znm Teil nmgearbeitete Auflag e,
Preis Mk. 2.80.
WM .fti*l« V Eul f 1 . l p ur |, Sehort zu den wenigen Automn, die uber diese Kunst
ve ugen. Er versteht es, diese Fragen aus dem Gebiete der sexueHen Psychopath ologia
vom wissonsehaftlichen Standpunkte des Arztes und Psycholngen aus, dabei in
Cnntt 7 1Je r n i e f ter T d ***&** Gebildeten verstandlicher Form zu behandeln
Daium ist die Lekturo des vorhegenden Essays recht interessant. ... Im Mittel-
punkt der ganzen Darstellung stehen die biographischen Charakters child erungen des
Marquis de Sade und des Schrifts tellers Leopold v. Sacher-Masoch.
Allgem, Medizinische Central-Zeitung.
Verlag von J. T\ BERG MANN irPWiesbaden.
Uber die sexuelle Konstitution
und andere Sexualprobleme.
Von
Hofrat Dr. L. Loewenfeld, Nervenarzt in Mimchen.
Mb. 6. — , gebunden Mk. 7.—.
Auszug aus dem Inhaltsverzeichnis:
A. Uber die sexuelle Constitution.
Einleitung.
1. Beginn und Dauer der sexuellen Funktionen.
II. Die Quellen der sexuellen Erregungen.
III. Die Starke des Sexualtriebs.
IV. Die sexuelle Leistungs- und Widerstandsf ahigkeit :
a) beim Manne, b) beim Weibe.
V. Spermasekretion und -exkretion.
VI. Schlussfolgerungen. Die versehiedenen Sexualkonstitutionen.
Hygienische Winke.
B. Erotik und Sinnlienkeit,
C. Die Libido als Triebkraft im geistigen Leben.
Die Sublimierungsfrage. Zusatzo.
Aus Besprechungen:
Ein trefFIiches Work, dessen aktueller Inbalt in reizvoller Weise belehrt
anregt und unterhalt. Fur seinen wissenschaftlichen Gebalt btirgt der Name
des bekannten Nervenarztes. Er erweitert die Freudsche Definition des im
Titel genannten Begriffs ganz wesentlich durcb eingehende Wurdigung des
Beginns und der Dauer der sexuellen Funktionen, der somatischen, chemischen,
olfraktoriscben und psychischen) Quellen der sexuellen Erregung, der Starke
des Geschlechtstriebes, der sexuellen Leistungs- und Widerstandsfahigkeit (bei
beiden Geschlecbtern) sowie der Spermasekretion und -exkretion. In den
Schlussfolgerungen werden verschiedene Sexualkonstitutionen aufgestellt und
beherzigenswerte hygienische Winke gegeben. Auf Scbritt und Tritt begegnet
uns der erfahrene Spezialist, der eine seltene Fulle von Literatur kritisch ver-
arbeitet und mit der Einstreuung eigener Beobachtungen nicht kargt Weiter
wird in zwei besonderen Abscbnitten die Erotik und Sinnlicbkeit sowie die
Libido als Triebkraft im geistigen Leben behandelt, wobei die Sublimierungs-
frage eine eigene Erbrterung findet. Auf den konkreten Inhalt kSnnen vrir
nicht naher eingehen. Belangvoll ist die aus der eigenen Erfahrung gezogene
Folgerung, dass die Masturbation in mindestens 75% die Hauptursache der
Impotenz bildet, und die t)T)erzeugung, dass unter den schadigenden Momenten
die Abstinenz nur eine recht untergeordnete Rolle spielt. Welcher Gegensatz
zu sonst und jetzt geausserten Anschauungen anderer Autoren ! Den Einfluss
der Sexualitat und damit auch der Liebe auf das kiinstlerische Schaffen hat
man nach Loewenfelds Meinung Iiberschatzt.
Deutsche med, Wockensehrift.
Grenzfragen
des
Herven- und Seelenlebens.
Im Yereine mit hervorragenden Fachmannern des In- und Auslandes
herausgegeben Ton
Hofrat Dr. L. Loewenfeld in Miinchen.
70. Heinrich you Kleist. Eine pathograyhisch-psychologische Studie. Von
Dr. J. Sadger. Nervenarzt in Wien, M. 1.60
71 Sludien iiber die Genealogie und Psychologic der Musiker. Von
Dr. Oswald FeU, Arzt in Frankfurt a. M. M. 2.40
72. Die jugendlichen Verbrccher im gegenyvartigen mid zuMinftisren
Strafrecht. Von Prof. Dr. Ernst Schultze in Greifswald. M. 2.—
73. Cesnre Lonibroso als Mensch und Forscher. Von Dr. Hans Kurella
in Kudowa. M - ' 2 -40
74. Abstinenz oder Mafsigkeit? Von Dr. A. Forel in Zurich. M. —.65
75. Bertihmte Homosexuclle. Von Dr. Alb. Moll in Berlin. M. 2.40
76. Yom deutsclien Plutareh. Eia Beitrag zur Entwickelungsgeochichte des
deutschen Klassizismus. Von Dr. L. Sadee in KQnigsberg. M. 2.60
77. Erblichkeit xind Erziehung in ihrer individuellen Bedeutung. Von
Dr. Julius Bayerthal in Worms. M. 2. —
78. Musik und Nerve*. II. Das musikalische Gefiihl. Von Dr. Ernst
Jentsch in Breslau. M - 2 -^°
70. Die krankhafte vYillensschwache und ihrc Erscheinungsfonnen. Eine
psychopathologisehe Studie von Dr. Karl Birnbaum in Berlin-Bach. M. 2.—
80. Zur Psychologic und Psychopathologic des Dicliters- Von Dr.
O. Hinrichsen, Piivatdozent in Basel. M. 2.80
81. Hector Berlioz. Eine pathographische Studie. Von Dr. Oswald Pfcis
in Frankfurt a. M. r „ . , M * l \
82. Ueber die Psychologic der Eifersucht. Von Dr. M. I nedmann in
Mannheim. M. *■"
83. PsYchiatrisch-genealogisckc Untersu chung der Abstannnung Kbnig
Ludmgs II. und Ottos I. von Bayern. Von Prof. Dr. W. S t r o h -
mayer in Jena. ™* l*^
84. Das Problem des Schlafes, Von Dr. Ernst Tromner in Hamburg.
M. 2.80
85. Sexualltat und Dichtung. Von Dr. O. Hinrichsen, Pmatdozent in
Basel, M - 2 - 60
80. Die Halluzination, Hire Entstehung, ihre Ursachen nnd ihre Realitiit.
Von Privatdozent Dr. Kurt Goldstein in Konigsberg. M. 2.—
87. Ueber Oewohnung auf norraalem und pathologischen Gebiete. Von
Professor Dr. K. Heilbronner in Utrecht. M. 1.60
88. Die Intektuellen und die Gesellschaft. Ein Beitrag zur Naturgeschichte
begabter Familien. Von Dr. H. Kurella in Bonn. M, 3 60
89. Bewusstsein und psychisches Geschelien. Die Phanomene des TJnter-
bewusstseins und ihre Rolle in unserem Geistesleben. Von Hofrat Prof.
Dr. L. Loewenfeld in Miinchen. M. 2.80
90. Das Pathologist e bei Otto Ludwig. Von Dr. Ernst Jentsch in Breslau.
Mit der Totenma^ke Otto Ludwigs. M. 2.40
91. Robespierre. Eine historisch-psychologische Studie. Von Hans Frei-
niarlc in Berlin-Friedenau. M, 1.8Q
92. Der Lebensprozess der > T ervenclemente # Von Dr. V. Franz. Ab-
teilungsvorsteher des neurol. Institutes Frankfurt a. M. M. 2.40
~ Pruck ron ^C a~r 1 BU t e r , Q.'m. T). H., Wiesbaden.
Totbg vera -T, F. BEIi»:MANN in \Vj,-.si. f id<'ii.
Die Traume der Dichter.
Eine vergleichende Untersuchung der unbewussten TriebkrMte
bet Dichtern, Neurotikern und Verbrechern.
Bausrvine %m K<vc]iuL>v/ii/ JeS tilln.stlers und jfes Kunstwevkes
von Dr. Wilhelm Stekel in Wion.
A u^ 1'..^ |. !<♦•<■ binitr.Mi:
Man biMiidit k«in PftrtCtgHngei' der m-m-ii iiifriiztiifcrlieii r.syrbolo^io van dor
Biclitiiiiig EVoudfl ym gfeni, mui die&ea mit r^pe^.tabjeni $iejss gestd*u|Feji<i limb
Dr. Steke& mit uiifricbtigor Wnniu* m begrflS6ett< . . . Dies ve^iisgesc&kt, kann
m;m uiii mn so mehr Am rkoinmn^ von dem aurcgemlon Material Sprocto^ diis
Str-kf/l nfer vereboigt bak Dass das Trunin lob on sine gar bcdoutsanm EoUe mi
Sebuften ilr-r Dscrliter ^nlelt, Lst ja i-tin* alio Wjilnheil, und ebenso, tiass die Often Ken
K\viflctlDri ili -i i warlien JYitumeii and d^u Si-libifrxumneit der Piebb-r piituttter reclit
[H&wer zu sioben sLad, Die dioavsisebe Begeisterung des Dkbtera beim S^bauVu
i>i ein Tninee/usiund, der ilia der \Virklirlikoit onn -Eiekt ; er siliiiiVt. nbne si Hi dcasen
so Idar in-wnsst zti SfJn wis der Matbenmtiker, der seine Recbntrffgeo in it hi^iaiuenmi
KruriUungeiL Srhrili far Schrkr besorgfc, and dm Wnmhr seiner Kunni bcisteht
iktriii. dais sriu Werk einen inni-reii lu^isrhi-u, ur^nnisr-heii ZllsainmenlltPig nnfweist.
■ dine iLirfri or sicb im ein^olneu sagen kiiunle, wie dieeer eutfiiaiiden fet, „ , . Stekej
bat nun im eine gtehr grpsse Altaian ileufcechei! Dkbter eine Ruudfrtige geriehtet, in
iter or aie hiu Betmtwortting founder Fmgeu nmieliU j : B l. ilahen Sio typische
[Bum wiedorbd b>j Trimmey L J . Koaaim £ie mir einen Traum miUoJIen, der Ilunn
«unen grossen Eimlruck geroacht hat? 8, Haluii Sie TagfarSnme? i. Eaben Ibit'
iiiiurar krimiuellru Binschkg? 5. Siad llire TrUtune niiehhrn (iter jdiimteHsi-ii V
'-. Venvirteu Si© iBrfe Trfimno /.in' ilJciht^mclien l t rndukthin? ,: Diese Fra^en wnrd^u
viclfach selar intcEre^ajuii bcwitwortet F.s -seien nar japenanni ili*.- fiiditer; Timm
lugger. &mtm Fn-i^^n. Viktor Biftthgeii, Emil lliif, Anton v. Olna-n. Dora
v. Stoekert-Meyaerts KaNicck. Utto Eitj^I, (iinzkev, I/vnkr-u^l*n|»|ior, WokogiBn,
SchriFlenip todwig Ffnrkh, V;ui\ [i>)Uw Willi. Im UjiIM, JiiHttS Rodopborg iisw!
Stekel ltat dazti uorh in den Werkeri der Sllterffn i>irlH-r, bei itoHbe, Gottfried
Ki -Ili-'i'* Elebbel nsw., nnob T'niuiu'T^iililunp'u geforsofet itrnl nlso rin ansscirordentHcb
jiEixitdjuudos MateritJ El&aiirimeilgetogea Hleiln-nder Wort ist eeinciii Uuebi'
jrdenl'all^ ge^icbcJrt. AWfl Wimer Tagtittiii
Uber den Traum.
Yon
Trof. l>r, Signi. Fit ml in Wieu.
Z w -■ i j ■■ A ii fin -*f\ — [Vis Mk, WO.
hi* 1 kleiue inbuli.srou fir Arl>*'ii isi jetd; in sweifcer, rnoderii «*rtrjitiz*»*r Anf ,]
f-r?ii;hi*'neri. Si«' biet&t uine aurb dem NicbtpsycJielegeB leiclit fessdlehe DArstcdluug
der (jiundproMeuLe der wissensr ti a ft I ieli«<n TriiLiiiid'/nhni^. die vun Fr-. nit
tiuiu^uriiri wunh'. erortcrt sie an tiufatleui Ii»>isjiioI*>u aiol gewlilud Ausbticke auf
die Bedeutnmr dir Wi^e^scbeftexi vein Traume fur Nonrt<riul*.^ie, l'sylii:t(ri^
MJytn>legie itnd Psyeliolagle.
Jedex Oobfldete sollfce <l"0 Widersrfcand tttoerwriutloii, der ibn niiliuli, d;
fl^r Bc^btung and Untersnchuti^ m ivnrdt|.^n und die$e >'-hrIfi lefwn, . .
6BENZFRAGEN DESNERVEN- UNO SEELENLEBENS.
QEBILBETE AXLEH STANCE,
Dtt, L. LOEWEJfFELD usa 0b. U. EURELLJL.
lit VE&mfc* MIT HKIlVOin KAi .'IlilANNEKS Qf3 IK- UNN AtfSLAV;
flEKJU,*ti0£ar.£H 70S
Hofrat Dr. L LOEW^NFELD
= xciii. =
Die Bedeutung der
Psychoanalyse
ftk dk
Geisteswissensdiaften.
Von
Dr. Otto Rank und Di\ Hanns Sachs
in Wien.
Wiesbaden,
Verlag von J. F, Bergniana,