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Full text of "(11.01.2019) Polizisten: Was wissen wird über die unsere Ordnungshüter?"

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17. Mai 

Es war Nacht geworden. Flea saß im Arbeitszimmer und 
starrte auf den Bildschirm. Sie machte keine Anstalten, das 
Licht einzuschalten oder das Fenster zu schließen. Stunden 
vergingen, während die elektronische Diskussion sich fort- 
setzte; immer wieder piepte der Computer, wenn eine neue 
Message kam. Pearl versuchte zu beschreiben, wie es sich an- 
fühlte, als er den ersten Airstopp an der Sicherungsleine er- 
reichte und dem Rettungstaucher, der kein Unterwasserkom- 
munikationsgerät hatte, panisch die Botschaft hinkritzelte, 
dass Crabbick tot sei, worauf der Mann den Kopf schüttelte 
und mit der behandschuhten Hand nach oben deutete. Nein, 
Crabbick lag nicht auf dem Grund des Sinklochs. Er lebte 
und hing ein paar Meter über ihnen im Dunkeln an der Siche- 
rungsleine. 

Er hatte die Narkose überwunden. Irgendwie - und kei- 
ner wusste genau, welche Alchemie da im Spiel gewesen 
war - hatte er den Grund erreicht und ein paar Sekunden dort 
verbracht und war dann wieder aufgestiegen. Ja, es ging ihm 
schlecht, und als sie ihn zehn Stunden später schließlich oben 
hatten, mussten die Hilfstaucher ihn aus dem Wasser ziehen. 
Er war bleich und hatte geplatzte Adern in den Augäpfeln 
und an den Nasenlöchern, sagte Andy Pearl, und er atmete, 
als wollte er eine alte Luftmatratze aufblasen, mühsam und 
langsam, aber er war bei Bewusstsein. Konnte sogar ein paar 
Sekunden sprechen, bevor die Sanitäter ihn ins Krankenhaus 
brachten. Und was er da gesagt hatte, war der Grund gewe- 
sen, weshalb Fleas Hand sich um die Maus gekrampft hatte. 
Auf der Trage hatte Crabbick sich zu seinem Tauchkameraden 
umgedreht, die Hand ausgestreckt und mit erstickter Stimme 


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hervorstoßen: »Die Marleys. Ich hab die Marleys gesehen, auf 
einem Sims über dem Grund.« 

Sie kratzte sich am Kopf und versuchte sich vorzustellen, 
was Crabbick da gesehen hatte. Sie hörte das Geräusch der 
Atemgeräte, sah den einsamen Lichtstrahl der Lampe und eine 
skelettierte Hand, die dort unten aus dem wirbelnden Sand 
auftauchte. Mum und Dad, auf den Flanken von Bushman’s 
Hole. Irgendwo, das erkannte sie jetzt, hatte in ihr ein kleines 
Licht der Hoffnung gebrannt, dass sie diesem Unfall entkom- 
men seien, dass Thom, die Rettungstaucher und das Ibogain 
sich geirrt und sie einen Weg aus Bushman’s Hole hinausge- 
funden und sich irgendwo in Sicherheit gebracht hätten. 

Sie wollte etwas schreiben, sie wollte Fragen stellen: Ist 
Crabbick sicher, dass es die Marleys waren ? Hat er ein Foto ge- 
macht? Hast du irgendeine Ahnung, welches ihre Koordinaten 
sind? Und das Wichtigste: Wie weit ist es von dem Sims bis zum 
Grund? Fünf Meter? Zehn Meter? 

Aber Pearl würde darauf nicht antworten können. Das sah 
sie an seinen Reaktionen auf die anderen Fragen. Crabbick lag 
noch im Krankenhaus und konnte nicht sprechen. Wir sollten 
den Jungen in Ruhe lassen, schrieb er, als jemand im Forum 
um weitere Informationen bat. Gebt ihm Zeit, sich zu erholen, 
zumindest bis er seinen Arsch aus dem Krankenhaus bewegen 
kann. Dann können wir ihn fragen. 

Sie sah die einzelnen Postings durch und versuchte heraus- 
zufinden, wann das alles passiert war. Der erste verworrene Be- 
richt darüber, dass man sie gefunden hatte, war zwei Tage alt. 
Seit zwei Tagen stand es für jedermann zugänglich im Netz, und 
sie hatte es nicht gewusst, aber irgendwie geträumt, dass Mum 
sie davor gewarnt hatte. Diesmal werden sie uns finden. 

Sie rieb sich die Arme; plötzlich fror sie. Es war nicht mög- 
lich, oder? Erinnerungen auf decken, Gedanken, die sie nie- 
mals ausgesprochen hatte - ja. Aber tatsächlich mit den Toten 
zu sprechen? War es da nicht wahrscheinlicher, dass sie irgend- 


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wann in den letzten zwei Tagen dieses Forum besucht und es 
dann wegen des Ibogains vergessen hatte? Sie zwang sich, in 
ihren Erinnerungen zurückzugehen: Kaiser hatte den Compu- 
ter benutzt; sie erinnerte sich, dass er auf der Tastatur geklap- 
pert hatte. Hatte er irgendwann das Haus verlassen, und war 
sie, einem Instinkt folgend, aufgestanden und auf die DiveNet- 
Website gegangen? Kaiser, dachte sie, als der Mond über der 
Zypressenreihe aufstieg, Kaiser, was würdest du sagen? Wenn 
ich dir erzählte, ich habe mit den Toten gesprochen, was wür- 
dest du dann sagen? 

Sie nahm ihr Handy und wählte seine Nummer. Abends um 
diese Zeit war er meist noch mit seinen Anbauten beschäftigt 
und hämmerte Nägel ein, und oft hörte er das Telefon nicht. 
Also ließ sie es dreißigmal klingeln und zählte im Geiste mit, 
aber er meldete sich nicht. Sie legte auf und holte Thoms Auto- 
schlüssel, um mit seinem Wagen hinzufahren. Während sie 
sich die Jacke anzog, fiel ihr ein Satz ein: Sie glauben, sie reden 
mit den Toten, weil sie sich irgendwelchen Scheiß in den Arm 
spritzen . , . 

Tig, dachte sie. Wie ist es mit dir? Was würdest du denken? 
Sie wählte seine Nummer. Er meldete sich nach dem sechsten 
Klingeln und klang atemlos. 

»Ja«, sagte er und schluckte, um seinen Atem zu beruhigen. 
»Ja, was?« 

»Tig.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Mir ist 
was Unheimliches passiert.« 

Einen Moment lang war es still; dann schniefte er. »Bin froh, 
dass du anrufst«, sagte er knapp. »Bin froh, weil du gesagt hast, 
du würdest es tun. Ist immer schön zu sehen, wenn du tust, 
was du gesagt hast.« 

Sie zögerte verdattert. Hatte sie versprochen, ihn anzuru- 
fen? Dann erinnerte sie sich: Das Letzte, was er nach dem Be- 
such bei Mabuza gesagt hatte, war: »Bitte ruf an.« Und sie 
hatte gesagt: »Ich versprech’s.« 


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»Ich hab schon gewartet.« Sie hörte, wie Tig am anderen 
Ende hin und her ging und mit irgendetwas klapperte, als wäre 
er in der Küche. »Und jetzt rufst du an. Das ist gut, will ich 
nur sagen. Respektvoll.« 

Ratlos ließ sie den Reißverschluss los. »Es tut mir leid.« 

»Wie geht ’s deinem Bullenfreund? Gestiefelt und gespornt, 
auf der Suche nach ein bisschen Action?« 

»Was?« 

Tig lachte. »Er mag seine Mädels gern gefügig, wenn du 
weißt, was ich meine.« 

»Nein, ich weiß nicht, was du meinst.« 

»Frag ihn doch mal, ob er sich gut eingelebt hat. Frag ihn, 
ob er vielleicht einen Fremdenführer braucht, der ihm die City 
Road zeigt.« 

»Tig, bitte. Ich hab dich angerufen, weil ich dich brauche - 
weil ich dich wirklich brauche. Es tut mir leid, dass ich nicht 
schon früher angerufen habe, aber bitte sprich mit mir wie ein 
Mensch. Nicht in irgendeinem Code. Oder lass uns aufhören 
zu reden, und wir versuchen es ein andermal. Ich bin auf dem 
Sprung.« 

Einen Moment herrschte Schweigen, dann schnaubte er. 
»Okay«, meinte er leichthin. »Wir reden ein andermal.« Und 
bevor sie etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt. 

Sie starrte auf das Handydisplay und konnte es nicht fassen: 
Er hatte aufgelegt. Fuck, fuck, fuck. Sie rief seine Nummer 
auf und schrieb auf ihre umständliche Art eine SMS. Sie war 
halb fertig, als das Festnetztelefon auf dem Tisch klingelte. 
Sie fuhr zusammen, steckte den Schlüssel ein und nahm den 
Hörer ab. 

»Kaiser?« 

»Nein. Mandy. Was ist los?« 

»Mandy.« 

»Ja, Mandy. Hör mal, Flea, ich hab den ganzen Abend ver- 
sucht, ihn anzurufen. Entweder hat er sein Telefon abgeschal- 


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I 


tet, oder er nimmt meine Anrufe nicht an. Ich muss mit ihm 
sprechen.« 

Flea kratzte sich energisch am Kopf und dachte nach. »Mo- 
ment mal.« Sie legte den Hörer auf den Tisch und ging in die 
Diele. Es war stockdunkel. Sie hatte nicht gemerkt, dass es schon 
so spät geworden war. »Thom?«, rief sie in die Dunkelheit. 
»Thom? Wo bist du?« Sie wartete und zählte im Kopf bis fünf- 
zig. Dann ging sie zum Telefon zurück. »Mandy, er meldet sich 
nicht, muss im Schuppen sein oder so was. Ich sage ihm . . .« 

»Im Schuppen? Es ist kurz vor elf; da draußen ist es stock- 
dunkel. Warum belügt er mich?« 

»Er lügt nicht.« 

»Bist du da sicher? Denn wenn er mich belügt, bringe 
ich ihn um.« Flea holte Luft, um zu antworten, aber Mandy 
sprach weiter. »Das meine ich ernst«, sagte sie. »Ich bringe ihn 
um, wenn er mich belügt.« 

Flea richtete sich auf und schaute hinaus in die Dunkelheit, 
in den Garten, in dem sie und Thom als Kinder gespielt hatten. 
Irgendetwas zerriss in ihrem Kopf. »Weißt du was, Mandy?«, 
sagte sie eisig. »Verpiss dich, und lass ihn in Ruhe. Er wird 
dich anrufen, wenn er Lust dazu hat.« 

Sie legte auf. Ihre Hände zitterten, und ihre Gedanken über- 
schlugen sich. Sie wühlte die Schlüssel wieder aus der Tasche 
und war auf dem Weg zur Tür, als Autoscheinwerfer das 
Wohnzimmer mit ihrem Licht erfüllten. Sie ging ins Neben- 
zimmer und zog den Vorhang beiseite: Der Focus kam die Zu- 
fahrt herauf und fuhr um das Haus herum nach hinten. Thom. 
Endlich. 

Jetzt fühlte sie sich schwach. Sie ging zur Hintertür und 
schloss sie auf. Sie hatte ihm so viel zu sagen, dass sie nicht 
wusste, wo sie anfangen sollte. 


Es fiel ihr nicht gleich auf, dass etwas nicht stimmte, obwohl 
sie sah, wie schnell der Wagen die Zufahrt entlangfuhr. Selbst 


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als sie beobachtete, wie er den Kies beim Wenden aufsprit- 
zen ließ, den Rückwärtsgang einlegte und hastig unter einen 
ausladenden Wacholderbusch zurücksetzte, kam sie nicht auf 
den Gedanken, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Sie 
dachte nur an das, was sie im Netz gesehen hatte. Erst als er 
an ihr vorbei ins Haus stürmte, sich die Jacke herunterriss und 
auf die Toilette lief, begriff sie, dass er weinte. 

Sie blieb in der Tür stehen und verfolgte, wie er den Was- 
serhahn aufdrehte, sein Gesicht darunterhielt und nach Luft 
schnappte. Er zitterte am ganzen Körper. Hinter sich hörte 
sie ein zweites Auto, und ein zweites Paar Scheinwerfer 
schwenkte um das Haus herum. 

»Das ist die Polizei.« Er richtete sich auf, nahm ein Hand- 
tuch vom Regal und rieb sich die Augen damit. »Die Polizei.« 
Er schniefte. »F-folgen mir seit der A 36.« 

Flea sah am Scheinwerferlicht, dass der Wagen vor der Hin- 
tertür angehalten hatte. »Die Polizei?«, murmelte sie, als hätte 
sie dieses Wort noch nie gehört. Es klang so unwirklich. »Was 
wollen die denn?« 

»Scheiße!« Thom knüllte das Handtuch zusammen und 
presste es fest an die Augen. 

»Thom?« Langsam kehrte ihr Denkvermögen zurück. 
»Thom, was war...?« Sie packte das Handtuch und riss es 
herunter. Sein Gesicht war rot verquollen, seine Augen waren 
blutunterlaufen, und sein Atem roch sauer. »Mein Gott, Thom.« 
Er wollte sich beschämt abwenden, aber sie hielt ihn am Hand- 
gelenk fest, und er musste sie ansehen. »Thom, wie viel hast du 
getrunken? Du stinkst danach. Bist du bescheuert?« 

»Es tut mir leid. Es tut mir leid.« Verzweifelt drehte er den 
Kopf hin und her. »Es ist einfach schiefgegangen - alles ver- 
dammt schiefgegangen . . . « 

In der Diele hinter ihnen klingelte es an der Tür. Man er- 
kannte eine dunkle Gestalt, unscharf und verzerrt vor der 
Buntglasscheibe. Flea starrte sie ausdruckslos an. 


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»Bitte sprich mit ihm«, erklärte Thom aufgeregt. »Bitte, 
bitte, Flea, mach, dass er weggeht. Ich werde dich nie wieder 
um einen Gefallen bitten, das verspreche ich dir.« Er packte sie 
am Arm. »Bitte«, zischte er voller Angst. »Mach, dass er uns in 
Ruhe lässt. Schnell.« 

Im Arbeitszimmer klingelte erneut das Telefon Wahr- 
scheinlich Mandy. Der Polizist draußen klopfte und klingelte 
ein zweites Mal. Flea schloss die Augen und zählte bis zwan- 
zig, um so etwas wie Ruhe in ihren Kopf zu bringen. Dann at- 
mete sie tief durch und strich sich das Haar hinter die Ohren. 

»Es ist okay«, sagte sie. »Geh nach oben.« 

»Es tut mir so leid.« Jetzt weinte er wieder. »Es tut mir 
wirklich leid.« 

Sie schob ihn zur Treppe; das ging mühelos, denn sie war 
immer schon viel stärker gewesen als er. »Geh ins hintere Zim- 
mer. Tu, als ob du schlafen würdest.« 

Es klingelte wieder, und der Polizist legte eine gewölbte 
Hand an die Scheibe, um hereinzuspähen. Sie wartete, wäh- 
rend Thom mit hangendem Kopf die Treppe hinaufstieg. Die 
Sohlen seiner billigen Schuhe waren lehmig und abgetreten. 
Dann ging sie mit klopfendem Herzen zur Tür und öffnete. 

Es war einer der Jungs von der Verkehrspolizei aus ihrem 
Gebäude in Almondsbury. Sie erkannte ihn sofort; manchmal 
plauderten sie am Süßigkeitenautomaten, wo er sich Mars-Rie- 
gel zog. Er wirkte gedrungen und hatte schütteres Haar; Ge- 
heimratsecken malten ein dunkles V auf seinen Schädel. Prody 
hieß er - oder so ähnlich -, aber alle nannten ihn nur den Au- 
tobahnaffen, denn am liebsten legte er sich mit den jugend- 
lichen Rasern auf der M5 an. 

»Hören Sie«, sagte er, und an der Art, wie er atmete, er- 
kannte sie, dass er versuchte, sich zu beruhigen. Zwischen 
den einzelnen Worten musste er innehalten. »Ich würde das ja 
nicht machen, aber als ich die Halteranfrage schließlich durch- 
gekriegt hatte und wusste, dass Sie das sind, war ich so aufge- 


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dreht, dass ich einfach an Ihnen dranbleiben musste, und...« 
Er brach ab und starrte sie ungläubig an. »Sie haben nicht an- 
gehalten. Warum haben Sie nicht angehalten?« 

Flea stand ganz still da und versuchte, den Sinn des Ganzen 
zu erfassen. Hinter ihm sah sie den silbernen Ford Focus, has- 
tig mit dem Heck im Gebüsch geparkt; das Verandalicht spie- 
gelte sich in der Frontscheibe. Der Streifenwagen stand mit 
der Nase dicht vor dem Wohnzimmerfenster; die Fahrertür 
war weit offen. Sie fragte sich, wie viel er von ihr und Thom 
gesehen haben mochte. 

»Ich war . . . ich hatte es eilig.« 

»Eilig?« 

»Ja, ich meine, Sie wissen schon, die alte Ausrede...« Sie 
deutete auf die offene Toilettentür. Dahinter brannte Licht. 
»Ich musste wirklich dringend ... Sie wissen schon. Das ist 
keine Entschuldigung, aber...« 

»Dann sind Sie gefahren? Das waren Sie?« Er wischte sich 
über die Stirn. »Ich konnte Sie von hinten nicht sehen, aber ich 
hatte das Gefühl, da sitzt jemand anders - so, wie Sie um die 
Kurven gebrettert sind. Haben Sie mich denn nicht bemerkt? 
Wir hätten uns beide umbringen können.« 

Eine Weile herrschte Stille. Er musterte sie, wirkte nervös, 
und sie wusste, dass er wütend war. Sie versuchte, ihren Ge- 
sichtsausdruck zu neutralisieren, stellte sich vor, wie sich hin- 
ter ihren Augen ein Schleier herabsenkte und die Lügnerin 
dort verbarg. Sie konzentrierte sich auf das V über seiner Stirn 
und sah in Gedanken, wie sie mit ihren Augen ein Loch hi- 
neinbohrte. 

»Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich muss jetzt nach Vor- 
schrift verfahren.« 

»Nach Vorschrift? Aber ich bin . . .« 

»Es gibt jetzt einen Vorgang, wissen Sie? In der Zentrale. 
Die haben Ihre Daten, die wissen, dass Sie wegen rücksichts- 
losen Fahrens aufgefallen sind, und jetzt sind sie auf Standby. 


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Wenn ich jetzt hingehe und das alles wieder abblase nach dem, 
was ich gemeldet habe, sieht das ziemlich komisch aus.« 

Seufzend schaute sie hinauf zu den Sternen und dachte, es 
hört einfach nicht auf. »Scheiße.« Sie trat zurück, hielt die Tür 
auf und öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke. »Okay. Dann 
kommen Sie rein.« 


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17. Mai 

Flea stand in der vollgestopften kleinen Küche, umgeben von 
lauter vertrauten Dingen, und versuchte sich zu beruhigen. So 
viele Gedanken gingn ihr durch den Kopf. Wieso stellte Kaiser 
sich nur so dämlich mit seinem Telefon an? Kaiser, dachte sie, 
ich muss mit dir sprechen. 

Das Wasser kochte. Sie goss es in die Teekanne und fragte 
sich, wie weit es Thom gelungen war, Prody in Rage zu brin- 
gen. Er war ein Cop, der nicht wusste, wo man aufhörte, wenn 
er einmal beschlossen hatte, »nach Vorschrift« zu handeln. 
Wenn er wirklich richtig sauer war, würde er vielleicht sogar 
einen Alkoholtest machen wollen. Und da war noch das Ibo- 
gain. Das verdammte Ibogain. Vielleicht würde es ihr einen 
Streich spielen, und der Test fiele positiv aus. »Blöd«, zischte 
sie. Mit dem Atemtest konnte man nur Alkohol nachweisen, 
aber sie kannte die wissenschaftlichen Grundlagen nicht, und 
was wäre, wenn - wenn das Ibogain etwas auslöste, irgendeine 
chemische Reaktion? 

Rasch füllte sie die Kanne. Dann ging sie in der Küche um- 
her, suchte Teller, Tassen, Teelöffel und Tupperdosen mit Kek- 
sen und versuchte, sich normal zu benehmen. Doch als der Tee 


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fertig war und sie ein paar Ingwerkekse auf einen der Cream- 
ware-Teller ihrer Mutter gelegt hatte, zitterten ihre Hände. Die 
Kekse rutschten auf dem Teller herum, als sie sie ins Wohn- 
zimmer trug. 

»Sie haben mich wirklich nicht gesehen?« Prody im Wohn- 
zimmer hatte sich ein bisschen beruhigt. Er atmete langsamer, 
und sein Gesicht wirkte im Licht der Tischlampe normal. »Es 
ist bloß so, wissen Sie - ich bin von der Ampel in Freshford 
an mit Blaulicht gefahren. Und Sie haben mich trotzdem nicht 
gesehen?« 

Sie stellte die Kekse und den Tee ab, setzte sich in den Ses- 
sel und legte die Finger über die Augen. Eine Zeitlang hörte 
man nichts als das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Als 
ihr Herz wieder langsamer schlug, ließ sie die Hände sinken 
und zwang sich, leise und ruhig zu sprechen: »Wissen Sie, ich 
glaube, ich werde meine halbjährliche psychologische Bera- 
tung vorverlegen lassen. Ich meine, es wird allmählich ver- 
rückt.« Sie sah ihn an. »Sie haben keine psychologische Be- 
treuung bei der Verkehrspolizei, oder?« 

»Nein, aber ich weiß, was Ihre Truppe macht. Ich hab ge- 
hört, wie es in Thailand war - all die Leichen und die vielen 
Leute, die Sie nie finden würden. Wundert mich nicht, dass 
Sie da mit jemandem reden müssen.« Er aß einen Keks und 
beugte sich vor, um noch einen zu nehmen. Seine Leuchtweste 
knarrte. »Das Schlimmste sind wohl immer die Kinder, ver- 
mute ich. Man fragt sich, wie die Eltern damit fertig werden.« 

»Ja. Stimmt.« 

»Waren viele Kinder dabei in Thailand, oder? Viele kleine.« 

»Ziemlich viele.« 

»Die Verletzungen an den Kindern, ich wette, die waren 
furchtbar. Ein schrecklicher Anblick für die Eltern.« 

»Ja, das ist wahr.« Sie schwieg kurz und fragte dann: »Sie 
wissen, dass wir kürzlich ein Paar Hände aus dem Hafen ge- 
fischt haben, oder?« 


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»Hände? Nein. Zu uns sickert nicht mehr viel durch.« 

»Na, aber es war so. Zwei Hände waren unter einem der 
Restaurants dort vergraben. Und aus irgendeinem Grund ist 
mir das an die Nieren gegangen. Man sollte meinen, bei all 
dem, was ich gesehen habe, in Thailand und anderswo, die 
Kinder und das alles ...« 

»Ja, die Kinder...« 

»Man sollte meinen, es ist leichter, einen Körperteil herauf- 
zuholen als eine ganze Leiche. Oder?« 

»Das würde ich denken, ja.« 

»Deshalb frage ich mich, wieso haut mich ausgerechnet das 
jetzt um? Diese Hände?« Sie drehte den Kopf hin und her und 
tat, als wäre ihr Nacken verspannt. »Vielleicht hat sich da auch 
nur alles aufgestaut und kommt jetzt heraus. Möglicherweise 
hat es auch gar nichts mit den Händen, sondern mit den letz- 
ten paar Jahren zu tun. Ich weiß nur...« Sie legte eine Hand 
auf ihren Kopf. »Ich spüre hier so einen Druck. Und wenn der 
kommt, kann ich manchmal nicht mal mein Gesicht im Spie- 
gel sehen.« Sie schaute ihm in die Augen und fragte sich, ob er 
schon weich wurde. Sie hatte den Eindruck, dass sich etwas in 
seinem Gesicht entspannte. »Ehrlich gesagt, Sie sollten mich 
festnehmen. Buchten Sie mich über Nacht ein. Das wird mir 
guttun.« 

»Das Gefühl kenne ich, Sarge. Einfach mal die Chance ha- 
ben, für einen oder zwei Tage auszusteigen - das würde uns 
allen guttun.« Er lächelte, und sie lächelte zurück und spürte, 
wie ihr ein kleiner Stein vom Herzen fiel. Sie hatte ihn ge- 
knackt. Gerade wollte sie sich hinüberbeugen und ihm noch 
einen Keks anbieten, als er auf dem Sofa zur Seite rutschte und 
einen Notizblock und das Alkotestgerät aus der Tasche zog. 
Sie erstarrte in ihrer Bewegung und fixierte das Gerät. 

»Ich sag Ihnen, was wir machen.« Er klopfte sich mit sei- 
nem Stift an die Schläfe und dachte nach. »Ich habe keine Ge- 
schwindigkeitsübertretung gemeldet, aber die Zentrale weiß, 


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dass ich Sie für besoffen gehalten habe. Okay.« Er räusperte 
sich und warf einen Blick auf die Karaffen auf dem Sideboard, 
die im Licht funkelten wie Christbaumschmuck. »Wir nehmen 
das hier, und die Sache ist aus der Welt. Ich meine, Sie beneh- 
men sich nicht, als wären Sie besoffen, und Sie riechen auch 
nicht so.« 

»Weil ich es nicht bin.« 

»Es ist bloß ...« Er sah verlegen aus, als er das Testgerät ein- 
schaltete, darauf wartete, dass es seinen Selbsttest absolvierte, 
und dann das Mundstück aufsteckte. »Ich muss es einfach aus- 
schließen.« 

»Sie wollen mich da reinblasen lassen?« 

»Jemand muss es tun.« 

»Aber wir sind hier nicht im Gewahrsamstrakt. Hier gibt’s 
keine Kameras.« 

Er lächelte wieder, als hätte er sie nicht verstanden. »Brin- 
gen wir’s hinter uns. Ich hab in zehn Minuten dienstfrei.« 

Sie starrte ihn mit klopfendem Herzen an. »Es würde viel- 
leicht blöd aussehen, wenn Sie Ihre Meldung zurückziehen, 
aber Sie könnten genauso gut in dieses Ding blasen, und nie- 
mand würde etwas merken.« 

Prody tat, als hätte er sie nicht gehört. »Ich muss Sie auf- 
fordern, mir eine Atemprobe für einen Alkoholschnelltest zu 
überlassen. Dazu bin ich bevollmächtigt nach ...« 

»Schon okay«, sagte sie und riss ihm das Gerät aus der 
Hand. »Ich kenne die verdammte Übung.« 

Er wollte protestieren, aber sie baute sich vor ihm auf und 
blies gleichmäßig in das Röhrchen, ohne ihn aus den Augen 
zu lassen; sie zählte im Kopf bis fünf, und dann klickte das 
Gerät und piepte zweimal. Sie nahm das Röhrchen aus dem 
Mund und schaute auf das Display. »ANALYSE LÄUFT«, 
stand da. 

»Bitte«, sagte sie gepresst, reichte ihm das Gerät und setzte 
sich auf das Sofa. Sie beobachtete, wie er das Display studierte, 


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und sie hasste ihn. Ein paar Sekunden vergingen, und das Ge- 
at piepte wieder Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht 
Er beugte sich über den Tisch und zeigte ihr die Anzeige. 

»ZERO«, stand da. 

s ie rang sich ein Lächeln ab. Gern hätte sie etwas gesagt 
zum Beispiel: »Geschieht dir recht, du Arsch mit Ohren«’ 
Aber das behielt sie für sich. Besser, man verdarb es sich nicht 
mit den Verkehrspolizisten, den Autobahnaffen. Wirklich, das 
war besser. Also wartete sie, bis er seine Sachen wieder ver- 
staut hatte. Dann stand sie auf, hielt ihm die Tür auf und wies 
ihm mit höflich ausgestreckter Hand den Weg hinaus. 


Mo Hayder 

Ritualmord 

Psychothriller 


Deutsch von Rainer Schmidt 


Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Ritual« bei Bantam Press, 
a division of Transworld Publishers, London 


Für Adam 


Umwelthinweis: 

Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. 

Die Einschrumpffolie - zum Schutz vor Verschmutzung - ist aus umwelL 
verträglichem und recyclingfähigem PE-Material. 


Ungekürzte Lizenzausgabe 
der RM Buch und Medien Vertrieb GmbH 
und der angeschlossenen Buchgemeinschaften 
Copyright © der Originalausgabe 2008 by Mo Hayder 
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008 
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, 
in der Verlagsgruppe Random House GmbH 
Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin 
Einbandfotos: Thinkstock/iStockphoto (Rose), 
Thinkstock/Hemera (Hintergrund) 

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck 
Printed in Germany 201 1 
Buch-Nr. 121640 (1) 



Irgendwo mitten in der Abgelegenheit der Kalahariwüste in 
Südafrika, versteckt im trockenen, ockergelben Veld, liegt ein 
kleiner, schilfbedeckter Teich am Grunde eines Kraters. Von 
seiner Stille abgesehen ist er unauffällig - ein beiläufiger Be- 
trachter würde ihn nicht weiter beachten und keinen weiteren 
Gedanken an ihn verschwenden. Es sei denn, er wollte darin 
schwimmen. Oder wenigstens einen Zeh hineintauchen. Dann 
würde er feststellen, dass da etwas nicht stimmt. Dass etwas 
anders ist. 

Als Erstes würde er feststellen, dass das Wasser kalt ist. Eis- 
kalt, genau gesagt. Von einer Kälte, die nicht auf diesen Pla- 
neten gehört. Von einer Kälte, die aus Plünderten und Aber- 
hunderten von Jahren der Stille kommt, aus den ältesten Tiefen 
des Universums. Und zweitens würde er feststellen, dass er 
fast ohne jedes Leben ist; nur ein paar farblose kleine Fische 
schwimmen darin. Und zuletzt, wenn er wirklich dumm ge- 
nug wäre, darin zu schwimmen, würde er das tödliche Ge- 
heimnis entdecken: Dieser Teich hat keine Uferböschung und 
keinen Grund - er führt in einer senkrechten, kalten Linie ins 
Herz der Erde. Vielleicht würde er es dann hören, das unauf- 
hörliche Raunen in den uralten Ahnensprachen der Kalaha- 
rivölker: Dies ist der Weg zur Hölle. 

Dies ist Bushman’s Hole. Dies ist Boesmansgat.