INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
BAND XII
POPULÄRE VORTRÄGE
ÜBER
PSYCHOANALYSE
VON
DR. S. FERENCZI
NERVENARZT IN BUDAPEST
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG ; WIEN / ZÜRICH
1922
WERKEVON EROFSIGM. FREUD
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse,
Fehlleistungen, Traum, Allgemeine Neurosenlehre. Drei Teile in einem Band.
Großoktavausgabe, 3. Auflage. 1920.
Taschenausgabe, 1922. (Auf dünnem Papier, in biegsamem Ganzleinen- oder
Ganzlederband.)
Die Traumdeutun 9. 6. vermehrte Auflage, mit Beiträgen von Dr. Otto
Rank. 1921.
Über den Traum. 3. Auflage 1921.
Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen,
Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum. 8. Auflage. 1922.
Totem und Tabu. Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden
und Neurotiker. 2. durchgesehene Auflage. 1920.
Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten.
3. Auflage. 1921.
Über Ps ychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20. jähr. Gründungs-
feier der Clark University in Worcester, Mass. 6. Aufl. 1922.
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. 5. Auflage. 1922.
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre.
Erste Folge. 3. unveränderte Auflage. 1920.
Zweite Folge. 3. unveränderte Auflage. 1921.
Dritte Folge. 2. Unveränderte Auflage. 1921.
Vierte Folge. 1918. |
Fünfte Folge. 1922. | |
Studien über Hysterie (mit Dr. Josef Breuer). 3. Auflage. 1916.
Der Wahn und die Träume in W. Jensens „Gradiva“.
(Schriften zur angewandten Seelenkunde, 1. Heft.) 2. Aufl. 1912.
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.
| (Schriften zur angewandten Seelenkunde, 7. Heft.) 3. Aufl. 1922.
Jenseits des Lustprinzips. (Il. Beiheft der Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse.) 2. durchgesehene Auflage. 1921.
Massenpsychologie und Ich-Analyse. 1921.
/IMAGO, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Redigiert von Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs.
Viermal jährlich im Gesamtumfange von mindestens 32 Druckbogen Großquart.
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHOANALYSE.
‚Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud. Unter Mitwirkung
von Dr. K. Abraham (Berlin), Dr. J. van Emden (Haag),
Dr. S. Ferenczi (Budapest), Dr. E.E Hitschmann (Wien),
Dr. E. Jones (London) und Dr. E. Oberholzer (Zürich),
redigiert von Dr. Otto Rank. |
Viermal jährlich im Gesamtumfange von mindestens 32 Druckbogen Großoktav.
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
| "LEIPZIG = WIEN — ZÜRICH,
Dr. S. Ferenczi
Populäre Vorträge
über
Psychoanalyse
Internationaler
Psychoanalytischer Verlag
Br ER
INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
BAND XII
POPULÄRE VORTRÄGE
ÜBER
PSYCHOANALYSE
VON
DRS. TERENCZI
NERVENARZT IN BUDAPEST
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH
1922
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
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Copyright 1922
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.“, Wien 1.
Gedruckt bei K. Liebel, Wien.
Vorwort
Dieser Band enthält eine Reihe von Vorträgen über psychoanalytische
Themen für ärztliche und nichtärztliche Laien. Sie wurden zu einer Zeit
gehalten (manche noch im Jahre 1907/38), wo die Literatur der Psycho-
analyse in jeder Hinsicht einfacher und übersichtlicher war, so daß ihre
populäre Darstellung eher gelingen konnte; sie dürften sich als erste
Anregung auch heute bewähren. Für jene, die sich für die hier nur an-
gedeuteten Gedankengänge näher interessieren wollen, empfiehlt sich die
Lektüre von Freud’s „Fünf Vorlesungen“, seiner „Vorlesungen zux,
Einführung in die Psychoanalyse“ (3 Teile), sowie der Arbeit von
Rank und Sachs über „Anwendung der Psychoanalyse auf die
Geisteswissenschaften“.
Nebst den populären Vorträgen enthält dieser Band auch einige
Aufsätze aus späterer Zeit, deren Verständnis kein besonderes Fachwissen
erfordert. Die rein medizinisch-fachlichen Arbeiten des Verfassers sollen
als besonderer Band dieser Bibliothek erscheinen.
Ein Teil dieser Aufsätze und Vorträge erschien in meinen von
E. Jones ins Englische übersetzten „Contributions to Psychoanalysis“
und fast alle auch ungarisch.
Budapest, im Mai 1921.
S. Ferenczi.
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Über Aktual- und Psychoneurosen im
Lichte der Freudschen Forschungen und
über die Psychoanalyse“
Aus Anlaß des Ill. Ungarischen Psychiatrischen Kongresses in
Budapest hielt ich vor mehrerer Jahren einen Vortrag über „Neur-
asthenie“, in dem ich die richtige nosologische Einordnung dieses
viel zu bunten Krankheitsbildes, des Deckmantels so vieler falscher
oder fehlender Diagnosen, verlangte. Und obzwar ich im Rechte
war, als ich mich dafür aussprach, daß die eigentliche Erschöpfungs-
neurasthenie von allen anderen nervösen Zuständen, unter anderen
von den nur psychiatrisch erklärbaren, scharf zu sondern ist, be-
ging ich doch einen schwer gutzumachenden Fehler, indem ich die
Neurosenforschungen des Wiener Universitätslehrers Prof. Freud
außeracht ließ. Dieses Versäumnis muß mir um so eher angerechnet
werden, als ich von den Arbeiten Freuds Kenntnis hatte. Schon
im Jahre 1893 las ich seinen gemeinschaftlich mit Breuer verfaßten
Artikel über den psychischen Mechanismus der hysterischen Sym-
ptome, später eine andere selbständige Arbeit, in welcher er infan-
tile sexuelle Traumen als die Ursachen oder Ausgangspunkte der
Psychoneurosen anspricht. Heute, wo’ ich mich in so vielen Fällen
von der Richtigkeit der Freudschen Lehren überzeugt habe, muß
ich mich wohl fragen, warum ich sie damals so rasch verworfen
habe, warum sie mir von vorneherein unwahrscheinlich und gekünstelt
erschienen und besonders: weshalb die Annahme einer rein sexu-
ellen Pathogenese der Neurosen in mir einen solch’ starken Wider-
* Vortrag gehalten in der „Budapester Kgl. Gesellschaft der Ärzte“ 1908.
ÄAbgedruckt in der „Wiener Klinischen Rundschau“ Nr. 48—51, 1908.
1
Ferenczi, Elemente.
2 Über Aktual- und Psychoneurosen
willen hervorrief, daß ich sie nicht einmal einer näheren Prüfung
würdigte. Zu meiner Entschuldigung muß ich allerdings anführen,
daß die übergroße Mehrzahl der Fachmänner, unter ihnen so be-
deutende wie Kraepelin und Aschaffenburg, noch heute Freud
gegenüber einen gänzlich abweisenden Standpunkt einnehmen. Die
wenigen aber, die es später doch versuchten, die eigentümlichen
Probleme der Neurosenkasuistik mittelst der mühsamen Methode
Freuds zu lösen, wurden enthusiastische Anhänger der bis dahin
gänzlich unbeachteten Richtung.
Wie verlockend es auch wäre, kann ich es doch nicht unter-
nehmen, die Entwicklungsgeschichte des Freudschen Ideenganges
vorzutragen und zu erzählen, wie Breuer und Freud in den Eigen-
heiten eines Hysteriefalles, die einfach für Zufälligkeiten hätten ange-
sehen werden können, allgemein giltige und für die zukünftige Entwick-
lung der normalen und pathologischen Psychologie zu ungeahnt
großer Rolle berufene seelische Erscheinungen entdeckt haben. Ich
muß es mir auch hier versagen, den nunmehr allein schreitenden
Freud auf dem mühsamen Wege, auf dem er zu seinem heutigem
"Standpunkte anlangte, weiter zu begleiten. Ich beschränke mich da-
rauf, insoweit es in einem Vortrage möglich ist, die hauptsächlichsten
Knotenpunkte seiner Theorie zu beleuchten und deren Bedeutung
mit Beispielen aus dem Leben zu illustrieren.
Eines der Grundprinzipien der neuen Lehre ist, daß der Sexuali-
tät eine spezifische Rolle bei den Neurosen zukommt, daß die
meisten Neurosen im Grunde nichts anderes sind, als Decksymp-
tome einer abnormen vita sexualis, und daß nur die Entlarvung dieser
Abnormitäten die Krankheitsäußerungen der Neurosen verständlich
und auf Grund des Verständnisses der Heilung zuführbar macht.
Als erste Gruppe der Neurosen unterscheidet Freud jene
nervösen Zustände, bei denen irgend eine aktuelle Regelwidrigkeit
in der Physiologie der Sexualfunktion, ohne Mitwirkung psycho-
logischer Faktoren als Krankheitsursache wirkt. Zu dieser Gruppe
gehören zwei Krankheitszustände, die Freud mit dem Namen
„Aktualneurosen“ benennt, die wir aber im Gegensatz zu den
Psychoneurosen auch Physioneurosen nennen könnten. Es sind
dies: die Neurasthenie im engeren Sinne, und eine scharf um-
schriebene Symptomgruppe mit der Benennung Angstneurose.
Über Aktual- und Psychoneurosen 3
Wenn wir von den bisher als Neurasthenie bezeichneten Krank-
heitsfällen alles ausscheiden, was anderen, natürlicheren, nosologischen
Verbänden zugeteilt werden müßte, so bleibt eine gut charakte-
risierte Gruppe zurück, bei der Kopfdruck, Spinalirritation, Obsti-
pation, Parästhesien, verminderte Potenz und unter der Wirkung
dieser Zustände eine Gemütsdepression vorherrschen. Als ur-
sächlichen Faktor der 'neurasthenischen Neurose in diesem engen
Sinne fand Freud die exzessive Masturbation. Um dem nahe-
liegenden Einwande der Banalität entgegenzutreten, betone ich,
daß es sich hier um einen exzessiven und meist lange nach er-
reichter Pubertät fortgesetzten Onanismus handelt, also nicht nur
um die gewöhnliche Onanie im Kindesalter. Diese letztere ist meiner
Erfahrung nach so allgemein verbreitet, daß ich eher beim voll-
kommenen Mangel autoerotischer Antezedentien die Normalität eines
Menschen in Zweifel zu ziehen geneigt bin.
Die ätiologische Würdigung der Onanie ist in ständiger Fluk-
tuation begriffen; den Wellenberg bezeichnete die Annahme, daß
sie die Ursache der Tabes sei, das Wellental die Meinung von ihrer
vollkommenen Unschädlichkeit. Ich schließe mich jenen an, die die
Bedeutung der Onanie weder zu hoch noch zu gering anschlagen
und kann auf Grund eigener Beobachtungen bestätigen, daß bei der
Neurasthenie im Sinne Freuds die übertriebene Selbstbefriedigung
niemals fehlt und die Krankheitserscheinungen zureichend erklärt.
Ich bemerke gleich hier, daß diese unmittelbare neurasthenie-
erzeugende Wirkung der Masturbation nicht so schwerwiegend ist
wie die Zerrüttung des Gemütes, die sie zur Folge hat. Die Men-
schen leiden unsäglich unter dem Bewußtsein der vermeintlichen
Schädlichkeit und Unsittlichkeit ihrer onanistischen Handlungen. Meist
trachten sie, diese Leidenschaft zu unterdrücken; aber indem sie
der Charybdis der Neurasthenie ausweichen, können sie an der
Scylla der Angstneurose oder einer Psychoneurose Schiffbruch leiden.
Die Masturbation wirkt dadurch krankmachend, daß sie den
Organismus mittels wertloser Surrogate sexuell entspannen will,
oder wie Freud sagt: durch inadäquate Entlastung. Eine solche
Art der Befriedigung erschöpft, wenn sie übertrieben wird, die neuro-
psychischen Energiequellen. Die normale Begattung ist nämlich ein
komplizierter aber doch reflektorischer Vorgang, deren Reflexbögen
2*
“ Über Aktual- und Psychoneurosen
hauptsächlich nur das Rückenmark und subkortikale Zentren durch-
ziehen, allerdings unter Mitbeteiligung auch höherer psychischer
Sphären. Bei der Masturbation hingegen, wo die äußeren Reize so
armselig sind, entnimmt das Erektions- und Ejakulationszentrum
hauptsächlich der Phantasie, also einer psychischen Energiequelle,
jenen. Grad von Spannung, der den reflektorischen Mechanismus in
Gang bringen kann. Es ist verständlich, daß eine solche gewollte
Befriedigung mehr Energieaufwand erfordert, als der fast un-
bewußte Begattungsakt.
Bei der zweiten Form der Aktualneurosen, der Freudschen
Angstneurose finden wir folgenden Symptomkomplex: allgemeine
Reizbarkeit, die sich meist auch in Schlaflosigkeit und Gehörshyper-
ästhesie manifestiert; eine eigentümliche chronisch-ängstliche Erwar-
tung, z. B. fortwährende Angst vor der eigenen Erkrankung oder
Verunglückung, sowie vor der der Angehörigen; Angstanfälle mit
Herz- und Athembeschwerden, mit vasomotorischen und sekreto-
rischen Störungen, die im Patienten die Furcht vor Herzlähmung
und Schlaganfall erwecken. Die Angstanfälle können rudimentär
erscheinen, als Schwitzanfall, Herzklopfen, plötzliches Hungergefühl
oder Diarrhoe. Manchmal äußern sie sich nur in Ängstträumen und
nächtlichem Aufschrecken. Schwindelanfälle spielen oft eine große
Rolle bei der Angstneurose; sie können so hochgradig sein, daß
sie die Freizügigkeit des Kranken mehr oder minder beeinträchtigen.
Ein großer Teil der Agoraphobien ist eigentlich die entfernte Folge
solcher Schwindelanfälle; der Kranke hat Furcht herumzugehen, das
heißt: er fürchtet, von einem Angstanfall auf offener Straße über-
rascht zu werden. Die Phobie ist gleichsam eine: Schutzmaßregel
gegen die Angst, die Angst selbst aber eine psychologisch nicht
weiter analysierbare, rein physiologisch zu erklärende Erscheinung.
Alle diese ÄAngstsymptome und Symptomkomplexe könnte
man ohne Mühe mit den so viel mißbrauchten Namen Hysterie
oder Neurasthenie benennen, wäre es Freud nicht gelungen, ihre
ätiologische Einheit nachzuweisen. Die Angstneurose entsteht näm-
lich immer dann, wenn die geschlechtliche Libido auf irgend eine
Art vom Psychischen abgelenkt wird. Es ist eine der bedeutendsten
Entdeckung Freuds, daß dieses Fernhalten der Psyche von der
Libido subjektiv sich als Angst geltend macht, daß also die vom
Über Aktual- und Psychoneurosen 5
Orgasmus abgehaltene Sexualerregung physiologische Wirkungen
hervorruft, deren psychologisches Korrelat die Angst ist. Die Angst-
neurose steht in dieser Hinsicht in diametralem Gegensatz zur Mastur-
bationsneurasthenie, wo es sich um eine übermäßige Inanspruch-
nahme der psychischen Besetzung bei einem natürlicherweise auto-
matisch sich abwickelnden Vorgange handelt. Mit einem der Physik
entlehnten Vergleiche könnte man die neurotische Angstentbindung,
die Umwandlung der Lust in Angst bei Absperrung vom Psychi-
schen, mit der Umwandlung der Elektrizität in Wärme bei Engerwerden
der Leitung in Analogie bringen. Allerdings pflichtet Freud nicht einer
physikalischen sondern einer chemischen Erklärung der Aktualneurosen
bei, betrachtet sie als chronische Intoxikation durch Sexualsubstanzen.
Zu den bekanntesten der von Freud beschriebenen Formen
der Angstneurose gehört die virginale Angst. Sie entsteht dadurch,
daß die unvorbereitete Psyche sich bei den ersten sexuellen Erleb-
nissen an der Libido nicht beteiligen kann. Sehr häufig .ist die
Ängstneurose eine Folge frustraner Erregungen, wie sie beson-
ders bei Verlobten vorkommen. Schwerere Formen der Angstneu-
rose verursacht bei Männern der coitus interruptus und bei Frauen
das Ausbleiben des Orgasmus infolge der Ejaculatio praecox beim
Manne, die ihrerseits meist die Folge der Masturbation ist. Bei
der enormen Verbreitung des voreiligen Samenergußes kann es
nicht Wunder nehmen, daß die Kombination: neurasthenischer Gatte,
nervös-ängstliche Frau so außerordentlich häufig ist. Nebst der immer
vorhandenen Koinzidenz einer dieser Schädlichkeiten mit der Angst-
neurose spricht auch der therapeutische Erfolg dafür, daß Freud
Recht hatte, als er die Ablenkung der Libido vom Psychischen für die
spezifische Ursache der Angstneurose erklärte. Werden nämlich die
besagten schädlichen Umstände oder Störungen beseitigt, so schwin-
den auch die Symptome der Angstneurose. Das Heilmittel der virgi-
nalen Angst ist die Gewöhnung, die der anderer Ängstneurosen die
Enthaltung vor unzweckmäßigen Arten der Befriedigung; sehr oft
schwindet die Angst der Gattin, wenn die Potenz des Mannes gehoben
wird. Auch die schwersten Fälle dieser Neurose, bei denen alle be-
kannten Beruhigungsmittel im Stiche ließen, heilen, wenn die sexuellen
Schädlichkeiten beseitigt werden. Diese Entdeckung Freuds er-
weitert also nicht nur unsere Einsicht in die Genese vieler nervösen
6 Über Aktual- und Psychoneurosen
Zustände, sie setzt uns auch in den Stand, auf diese Einsicht eine
rationelle und wirksame Therapie zu gründen.
Das zweite, schwierigere Kapitel der Freudschen Lehren,
seine Auffassung der Psychoneurosen, verläßt die mechanistisch-
chemische und anatomisch-physiologische Grundlage vollkommen;
Freud kann sie nur psychologisch erklären.
Zwei Krankheitszustände rechnet er zu dieser Gruppe: die
Hysterie und die Zwangsneurose.
Die Zwangsneurosen werden heutzutage meist unter den „Neur-
asthenien“ untergebracht; von der Hysterie hingegen ist schon
längst bekannt, daß sie eine psychogene Neurose ist, deren Sym-
ptome von psychologischen Automatismen verursacht werden. Doch
vermochten es die Autoren nicht, so sehr sie mit den diesbezüg-
lichen Beobachtungen und Experimenten die neurologische Erkennt-
nis bereicherten, die variablen Krankheitsbilder der Hysterie von
einem einheitlichen Gesichtspunkte zu übersehen. Sie konnten auch
nicht verständlich machen, was bei diesem Kranken diese, bei jenem
jene Gruppe oder Reihe von hysterischen Symptomen determiniert.
So lange dies aber nicht gelang, stellte jeder Hysteriefall, wie die
Sphinx, nur Fragen, auf die man nicht antworten konnte. Während
aber die Sphinx mit starrer Ruhe ins Unendliche blickt, wird die
Hysterie nicht müde, ihr Angesicht — als wollte sie unsere Un-
wissenheit verhöhnen — zu merkwürdigen und stets unerwarteten
Grimassen zu verzerren. Die Krankheit wird endlich eine Plage
nicht nur für den Leidenden, sondern auch für den Arzt und die
Umgebung. Der Arzt wird bald müde, die Medikamente und Bäder-
kuren zu variieren und kombinieren, verzichtet auf die flüchtigen
Erfolge der Suggestion und erwartet sehnsüchtig den Sommer, wo
die Hysterischen aufs Land — je weiter, umso besser — geschickt
werden können. Kehren sie aber auch gebessert zurück: bei der
ersten ernsteren seelischen Erregung stellt sich mit unzweifelhafter
Gewißheit die Rezidive ein. So geht das Jahre, Jahrzehnte hin-
durch, so daß kein praktischer Arzt mehr an die in den Lehr-
büchern gepriesene Benignität der Hysterie glauben will. Unter
solchen Umständen verkündet das Evangelium Freuds von der
Endeckung des wahren Schlüssels der Hysterie eine förmliche Er-
lösung für Ärzte und Patienten.
Über Aktual- und Psychoneurosen 7
Breuer war der erste, dem es gelang, die Krankheitserschei-
nungen einer Hysterischen auf Psychotraumen zurückzuführen, auf
seelische Erschütterungen, an die sich die Patientin gar nicht er-
innerte, deren Erinnerungsbild aber samt dem entsprechenden Affekt
im Unbewußten lauerte und, einem in die Seele eingeschlossenen
Fremdkörper gleich, dauernde oder sich wiederholende Erregungs-
zustände im neuropsychischen Apparat hervorrief. Es gelang Breuer
und Freud in vielen Hysteriefällen mit Hilfe der hypnotischen Hyper-
mnesie nachzuweisen, daß die Krankheitserscheinungen eigentlich die
Symbole solcher latenter Erinnerungen waren. Wurde dann der Patient
‘im Wachen an die so entdeckten Äntezedentien bewußt erinnert, so
war ein starker Affektausbruch die nächste Folge, nach dessen Ab-
klingen aber die Symptome verschwunden waren. Nach der ursprüng-
lichen Auffassung Breuer’s und Freud’s war die Einklemmung der
Affekte dadurch verursacht, daß das Individuum im Momente der
seelischen Erschütterung verhindert war, auf den Reiz mit adäquater
motorischer Entladung, mit Rede, Geste, Mimik, Weinen, Lachen
oder den Ausdrucksbewegungen des Ärgers, des Hasses zu reagieren,
oder aber diese Gefühle auf dem Wege der Ideenassoziation zu zer-
teilen. Die in der Psyche unerledigt gebliebenen, zur unbewußten
Erinnerung gehörenden Gefühle konnten dann auf das Körperliche
ausstrahlen, sich in hysterische Symptome „konvertieren“. Die Be-
handlung — von den Autoren „Katharsis“ benannt — verschaffte
dann dem Patienten die Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen, die
unerledigten Gefühle „abzureagieren“, worauf die pathogenen Wir-
kungen der bewußt und affektfrei gewordenen Erinnerung aufhörten.
Aus diesem Samen sproß die Freud’sche Seelenuntersuchungs-
methode, die Psychoanalyse hervor. Dieses Verfahren verzichtet
auf die Hypnose, es wird im wachen Zustande des Patienten zur
Anwendung gebracht. Dies macht es für eine größere Zahl von
Patienten zugänglich, und beseitigt zugleich den Einwand, daß die
bei der Analyse ermittelten Tatsachen auf Suggestion beruhen.
Um den Sinn dieses Verfahrens zu erklären, kann man von
Freud’s Ansicht über das Vergessen ausgehen.
Freud machte die merkwürdige Entdeckung, daß nicht alles
Vergessen auf dem naturgemäßen Erblassen der Erinnerungsspuren
mit der Zeit beruht, sondern daß wir uns vieler Eindrücke nur darum
8 Über Aktual- und Psychoneurosen
nicht entsinnen können, weil eine kritische Instanz der Seele, die
Zensur, es zustande bringt, die für das Bewußtsein lästigen oder
unerträglichen Gedanken unter die Schwelle des Bewußtseins zu
drücken. Diesen Abwehrvorgang nennt Freud Verdrängung und
führt den Nachweis, daß viele normale und krankhafte Seelenvor-
gänge nur bei Annahme dieses Mechanismus verständlich werden.
Doch die Verdrängung sowie das dauernde Unterdrückthalten un-
liebsamer Erinnerungen gelingt fast niemals vollständig; der Kampf
zwischen dem verdrängten, nach Reproduktion ringenden Gedanken-
komplex und der ihn zurückdrängenden Zensur endet zumeist mit
einem Kompromiß; der Komplex als solcher bleibt vergessen (un-
bewußt), wird aber im Bewußtsein durch irgend eine oberflächliche
Assoziation vertreten. Als solche Komplexvertreter oder Komplex-
symbole qualifizierte Freud die freien Einfälle, d. h. Gedanken,
die die logische Gedankenreihe durchbrechend, scheinbar ohne jeden
Zusammenhang plötzlich im Bewußtsein auftauchen. Die Erlebnisse
der Kindheit z. B. sind meist ganz vergessen. Will man sich ihrer
entsinnen, so fallem einem lächerlich kleinliche, bedeutungs- und
harmlöse Dinge ein. Wir wüßten nicht, warum sich unser Gedächt-
nis mit ihnen beschwert hat, wäre es Freud nicht gelungen nach-
zuweisen, daß diese Einfälle „Deckerinnerungen“ bedeutsamer und
meist gar nicht harmloser Kindheitseindrücke sind. Versteckte Kom-
plexe lassen sich nebst den Deckerinnerungen auch hinter den schein-
bar unwesentlichen Störungen der Rede und der Motilität vermuten
(Versprechen, Vergreifen, Verlegen), sowie hinter gewissen stereo-
typen, spielerischen, sinnlosen Bewegungen (den „Symptomhand-
lungen“ Freuds).
Jung hat dann experimentell nachgewiesen, daß bei der so-
genannten freien Assoziation auf Reizworte alle „gestörten“ Reak-
tionen (Verlängerung der Reaktionszeit, „mittelbare“ oder sonst auf-
fallende Reaktionsworte, Vergessen des Reaktionswortes beim Re-
produktionsversuch usw.) bei näherer Analyse sich als durch einen
„Komplex“ konstelliert erweisen. Bei den gleichzeitig mit den Reak-
tionen beobachteten Intensitätsschwankungen eines durch den Körper
geleiteten schwachen galvanischen Stromes, fand Jung jedesmal einen
Anstieg der Kurve bei den „Komplexreaktionen“, der als Zeichen
einer durch die Affektentbindung verursachten Schwankung des
Über Aktual- und Psychoneurosen 9
elektrischen Leitungswiderstandes gedeutet werden mußte. Jung
geht nun bei seinen Analysen von den Reizworten der so gefundenen
Komplexreaktionen aus und führt den Nachweis, daß die an solche
sich knüpfenden Einfälle leicht und rasch zu pathogenen Gedanken-
gruppen führen.
Eine schwierige Aufgabe ist es, die eigentliche Technik des
Freud’schen Verfahrens bekannt zu machen. Im engen Rahmen dieses
Vortrages muß ich mich auf skizzenhafte Andeutungen beschränken.
Der zu analysierende Patient wird belehrt, daß er ohne jede
Kritik, gleichsam seine Gedanken objektiv beobachtend, alles was
ihm einfällt, mag es noch so sinnlos, lächerlich, mag es für ihn an-
genehm oder unangenehm sein, hersagen soll. Die dabei betätigte
Arbeitsweise des Intellekts ist gleichsam der Gegensatz der ge-
wohnten Denkarbeit, die ja alle der gerade herrschenden Zielvorstellung
nicht unterzuordnenden Einfälle als für sie „wertlos“, „störend“, ein-
fach verwirft und nicht weiter verfolgt. Die Analyse aber verlegt den
Schwerpunkt gerade auf das, was das Bewußtsein abzuwehren geneigt
ist. Darum fordert man den Patienten auf, alles mitzuteilen, was ihm
beim Hinlenken der Aufmerksamkeit gerade auf diese Einfälle in den
Sinn kommt.. Die Ideenverknüpfung bewegt sich anfangs meist auf
der Oberfläche, beschäftigt sich mit den Ereignissen und Eindrücken
des Tages. Bald jedoch steigen an der Hand der Einfälle ältere
Erinnerungsspuren — Deckerinnerungen — empor, deren weitere
Analyse zum Erstaunen des Patienten selbst, alte und für ihn sehr
bedeutsame, nichtsdestoweniger bis nun ganz „vergessen“ gewesene
Erlebnisse ans Tageslicht bringt, die vielleicht aktuell vorhandene,
bislang unerklärlithe Seelenvorgänge verständlich machen. Eines der
Grundprinzipien Freuds ist es eben, daß es im Seelenleben eben-
sowenig einen Zufall gibt wie in der physischen Welt. Auch in der
Psyche ist alles determiniert, nur sind die meisten Determinanten in
einer vor der Kenntnis der Psychoanalyse unerreichbar gewesenen,
tieferen Schichte der Psyche, im Unbewußten, versteckt. Unsere Haupt-
aufgabe bei der Analyse ist es, dem Patienten seine Gedanken und
Gefühlsregungen, auch die unangenehmen und daher abgewehrten,
bewußt zu machen und ihn dazu zu bringen, daß er sich die meist
unbewußt gewesenen Motive seiner Handlungen eingesteht. Die Ana-
lyse, eine Art wissenschaftliche Beichte, erfordert vom Ärzte viel
10 Über Aktual- und Psychoneurosen
Takt und psychologischen Sinn; sie kann nur durch lange Übung
erlernt werden. Auch wird man mit dem Lernen nie fertig; jeder
Fall erfordert gleichsam eine individuelle Technik, die auf den Bil-
‚dungsgrad, den Intellekt und die psychische Empfindlichkeit ‚des
Patienten Rücksicht nimmt. Man arbeitet immer tastend vorwärts,
verläßt eventuell eine Fährte, die einen irregeführt hat, sucht dafür
neue Andeutungen in den Einfällen und adaptiert die Art und das
Tempo der Analyse an die aktuelle Disposition der zu behandelnden
Person. Dabei darf man sich niemals auf den moralisierenden Stand-
punkt stellen, sondern, dem Grundsatze des ethischen Determinis-
mus entsprechend, alles verstehen und verzeihen.
Ein ausgezeichneter Weg zur Entlarvung unbewußter Gedanken
und Erinnerungen geht von den Träumen aus. Freuds bedeutend-
stes Werk ist eben die Begründung einer wissenschaftlichen Traum-
deutung, deren Hauptsatz folgendermaßen lautet: „Der Traum ist
stets die mehr-minder verkleidete Erfüllung eines unterdrückten
Wunsches“. Die Traumdeutung besteht in der Analyse des Traum-
inhaltes; sie ist eine schwierige Aufgabe, die eigens erlernt und
geübt werden muß; ohne sie ist aber keine Psychoanalyse denk-
bar. Der Traum enthüllt immer ein größeres Stück des Unbewußten
als die Einfälle im Wachen, weil die sich vordrängenden Wünsche
und zur Reproduktion strebenden latenten Gedanken während des
Schlafes von den unterdrückenden Mächten des Seelenlebens viel
weniger scharf überwacht werden, als bei Tage. |
Während der Analyse muß man — wie gesagt — auch alle
„Zufalls“-handlungen, Fehlerinnerungen, Fehlgriffe des Patienten, jede
unmotivierte mimische Ausdrucksbewegung und’ Geste geradeso
der Analyse unterziehen, wie die „freisteigenden“ Einfälle. Zur
Ergänzung und Kontrolle der Analyse kann man etwa auch von
Zeit zu Zeit das Jungsche Assoziationsexperiment machen, even-
tuell die Analyse von dessen ‚Reiz- und Reaktionsworten aus fort-
setzen.“
Wird die Analyse auf die angedeutete Art bei einer an
Hysterie leidenden Person in Anwendung gebracht, und längere
Zeit, mehrere Monate lang, fortgesetzt, so kommen nach und nach
* Dieser technische Kunstgriff erwies sich aber vielfach als störend, so daß
man auf ihn lieber verzichtet. (Anm. bei der Korrektur.)
Über Aktual- und Psychoneurosen ER | 11
auch solche verdrängt gewesene Gedanken und Erinnerungen zum
Bewußtsein, die mit den Symptomen zusammenhängen. Und ist
einmal die Analyse beendet und die gesamte psychische Entwicklung
des Patienten zu übersehen, dann wird uns klar, daß auch die
hysterischen Symptome nichts anderes als Komplexsymbole waren,
die an und für sich keinen Sinn hatten, aber verständlich wurden,
nachdem es gelang, die versteckten Vorstellungskomplexe, mit denen
sie oft nur mittels eines dünnen Ässoziationsfadens zusammenhängen,
aus der Verdrängung zu befreien und bewußt zu machen. Die
merkwürdige und erfreuliche Folge einer vollständigen Analyse aller
Symptome ist aber auch die oft erst nach neuerlichem Wiederauf-
flackern der Krankheit eintretende aber endgiltige Heilung der
hysterischen Krankheitszeichen.
Um zu diesen unerwarteten Einblicken in die pathologischen
Seelenvorgänge zu gelangen, mußte Freud, abgesehen von der
analytischen Beobachtung Nervenkranker, auch ein ganzes Stück
der normalen Psychologie selbst bearbeiten. In erster Linie muß
seine „Iraumdeutung“ hervorgehoben werden, ein Werk, dem
es zum erstenmal gelang, den Sinn jener verworrenen, für bedeutungs-
los gehaltenen nächtlichen Halluzinationen, die man Träume nennt,
zu entziffern. Dann schuf er die „Psychopathologie des All-
tagslebens“, in der alle kleinen, bislang fast unbeachtet geblie-
benen Fehlleistungen des normalen Menschen auf Grund des Ver-
drängungsmechanismus ihre Erklärung finden. Freud machte auch
den ersten gelungen Versuch, eine Art der ästhetischen Produktion
und des ästhetischen Genusses, den Witz und das Komische, als
die Leistungen unbewußter und vorbewußter Tendenzen und Arbeits-
weisen darzustellen, dieselben mit der Traumarbeit in Parallele zu
bringen und hiedurch dem Verständnis näher zu rücken. Endlich
gab er uns auch den Plan einer zukünftigen Normalpsychologie
und Psychogenese, die allen diesen neu gewonnenen Kenntnissen
gerecht wird und zweifellos eine glückliche Wendung in der Ent-
wicklung dieser vielfach auf Abwege geratenen Disziplin bedeutet.
Ich muß es mir leider versagen, auf all dies näher einzugehen, und
muß mich hier auf die Mitteilung von Tatsachen, die sich unmittel-
bar auf die Pathologie und Therapie der Neurosen beziehen, be-
schränken, betone aber, daß das Studium dieser Werke Freuds
12 Über Aktual- und Psychoneurosen
die unerläßliche Vorbedingung jeder erfolgreichen psychöanalytischen
Arbeit ist.
Die Seelenanalyse von Psychoneurotikern führte Freud zur
bedeutungsvollen und seltsamen Erkenntnis, daß die den Symp-
tomen zugrundeliegenden verdrängten Komplexe stets sexueller Natur
sind, oder genauer gesprochen, daß unbewußte sexuelle Faktoren
in keinem Falle von Psychoneurose fehlen, ja zumeist die Haupt-
rolle spielen. Der Schein der Seltsamkeit dieser Tatsache schwindet
aber, wenn man erwägt, daß der Sexualtrieb einer der stärksten
Instinkte der Lebewesen ist und imperativ zur Betätigung drängt,
anderseits beim Menschen alle Kulturmächte von der frühesten
Kindheit angefangen an der Unterdrückung dieses Instinktes arbeiten.
Die durch Beispiel in der Erziehung gewonnenen ethischen Begriffe:
Gewissen, Anstand, Ehre, Rücksicht auf die Angehörigen und die
Gesellschaft, dann die Befehle, Drohungen und Strafen der kirch-
lichen und staatlichen Autorität, also innerer und äußerer Zwang,
errichten in der Seele eine mächtige Zensur gegen die freie Be-
tätigung sexueller Triebe, ja sogar gegen die innerliche Bejahung
derselben. Der Konflikt ist also unvermeidlich, und kann entweder
mit dem Siege der schrankenlosen Sexualität, („Perversität“) oder mit
der totalen Unterdrückung derselben enden; das häufigste aber
ist eine Kompromißbildung, die es ermöglicht, die sexuellen Wünsche
gleichzeitig bewußt zu verneinen und unbewußt zu bejahen. Die
Hysterie ist eine Form der mißlungenen Verdrängung. Es gelingt
hier dem Bewußtsein, den „unlauteren“ Gedankenkomplex von sich
fernzuhalten, aber die affektive Energie des Verdrängten findet
doch Mittel und Wege zur Betätigung, sie strahlt ins Körperliche
aus, wird in hysterische Symptome konvertiert. Welche individuellen
Momente die Lokalisation der Symptome an dieses oder jenes Organ
bestimmen, das wird nach der Analyse aus dem assoziativen (ge-
danklichen) Zusammenhang des betreffenden Organs oder dessen
Funktion mit dem Komplex erklärlich; wahrscheinlich spielt aber
dabei auch das „körperliche Entgegenkommen“ (Freud), das heißt eine
spezielle Eignung oder Neigung des betreffenden Organs zur Bindung
der vom Verdrängten losgelösten Erregungssumme, eine Rolle.
Ich kann es auf Grund zahlreicher Psychoanalysen Hysterischer
bestätigen, daß Freud in jedem Punkte Recht hat, und daß seine
Über Aktual- und Psychoneurosen 13
Methode die einzige von den bis nun bekannten ist, die dieses
problematisch gewesene Leiden zureichend erklärt. Einige Beispiele
will ich hier kurz anführen. |
Ein 17jähriger Jüngling sucht meine Ordination mit der Klage
auf, er leide an Speichelfluß und müsse immer wieder spucken. Ich
konnte mich überzeugen, daß er die Wahrheit spricht; sein Mund
war stets voller Speichel und er entleerte davon unglaubliche Men-
gen. Weder die Anamnese, noch die Organuntersuchung vermochte
diesen Zustand zu erklären, und ich mußte in Anbetracht der zahl-
reichen hysterischen „Stigmen“ annehmen, daß das Symptom funktio-
neller Natur, hysterisch sei. Anstatt aber mich mit dieser diagnosti-
schen Feststellung und der Anwendung suggestiver Maßnahmen zu
begnügen, schlug ich die Psychoanalyse vor. Das erste überraschende
Resultat derselben war die Konstatierung, daß die Speichelsekretion
in Gegenwart von Frauen bedeutend stärker als sonst war. Auf die
Frage, warum er das früher nicht erzählte, kam die Antwort, er
hätte diesen Umstand für bedeutungslos gehalten. Das Absprechen
jeglicher Bedeutung ist ein beliebtes und oft auch erfolgreiches
Mittel der Ablenkung der Aufmerksamkeit von unliebsamen Ge-
danken. Später erinnerte sich der Patient, daß er schon früher
einmal den Speichelfluß bemerkte; das war in einem populären
anatomischen Museum, wo er die Wachsmoulagen weiblicher Geni-
talien mit und ohne Geschlechtskrankheiten besichtigte. Er habe
sich damals auch unwohl gefühlt, mußte nach Hause eilen und sich
die Hände waschen. (Kombination der Hysterie mit einer Zwangs-
handlung). Warum er das tat, könne er nicht sagen. Später ent-
sann er sich aber, daß in ihm im Museum die Erinnerung an seinen
ersten und einzigen Koitus und an die bei diesem Ereignis durch-
lebten Unlust- und Ekelgefühle aufstieg. Die Erklärung dieses über-
triebenen Ekels vor weiblichen Genitalien kam aber erst gegen das
Ende der Behandlung, wo es sich herausstellte, daß er als fünf-
jähriger Knabe mit mehreren ungefähr gleich alten Mädchen, darunter
mit der eigenen Schwester Cunnilingus getrieben hatte; die gedank-
liche Assoziation Genitale—Cunnilingus—Mund machte den hyste-
rischen Ptyalismus verständlich. Von dem Momente an, wo er einsah,
daß das in seinem Unbewußten fortlebende Kind nach wie vor die
Wiederholung dieser von seinem Bewußtsein energisch zurückge-
14 Über Aktual- und Psychoneurosen
wiesenen unzüchtigen Handlung wünsche, wo ihm also sein „Kom-
plex“ bewußt wurde, hörte das Symptom auf und kam nicht wieder.
Abgesehen vom therapeutischen Erfolg verdankte ich dieser Analyse
einen viel tieferen Einblick in die Genese dieses Krankheitsfalles,
als ich es früher für möglich gehalten hätte.
Ein 19jährıiges Mädchen, das sich vor Männern immer außer-
ordentlich schämte und sie mied, wo sie nur konnte, verlor ihre
hysterischen Parästhesien parallel mit der sukzessiven Auffrischung
der Erinnerung an passive sexuelle Erlebnisse der Kindheit, die sich
auf die mit den abnormen Sensationen behafteten Körperstellen
bezogen, sowie mit der Kenntnisnahme der aktuellen unbewußten
Phantasietätigkeit, die an diese versteckten Erinnerungen anknüpften.
Eine besondere Erklärung ihrer Rückenschmerzen brachte ein in
sexueller Hinsicht scheinbar ganz harmloser Traum. Ihr träumte, sie
sei in einen kleinen Fluß hineingefallen. Auf Befragen erzählte sie,
der Fluß hätte ganz so ausgeschaut, wie ein ihr bekanntes Flüßchen
in Oberungarn, Ondova genannt. Doch die Ähnlichkeit dieses
Eigennamen mit dem ungarischen Ausdruck für Sperma, „ondö“,
ist so auffällig, daß ich mich genötigt fand, ihre diesbezüglichen
Kenntnisse auszuforschen. Da stellte sich allerdings heraus, daß die
Patientin im Besitze laienhafter Kenntnisse über Samenfluß sei.
Da sie aber, wie es sich bei dieser Gelegenheit herausstellte, an
weißem Fluß litt, den sie mit dem Samenfluß identifizierte, und
der auf ihre früheren onanistischen Praktiken zurückgeführt werden
konnte, da sie ferner der weit verbreiteten Ansicht, daß Sperma-
torrhoe und Onanie Rückenmarksleiden erzeugen können, Glauben
schenkte, so mußte sie nebst der Lust zur Onanie auch den Ge-
danken, daß sie an Tabes leidet, verdrängen. Die Rückenschmerzen
waren nur die Konversionssymbole dieser Verdrängung. Wer mit
der von Freud entlarvten Technik der Traumarbeit und ihrer Ver-
wandtschaft mit der Witzarbeit einigermaßen vertraut ist, dem wird
diese Deutung nicht allzu witzig oder gezwungen erscheinen.
Hinter den Symptomen einer anderen jungen Hysterischen
(singultus, globus, tremor) konnte ich die verdrängten Erinnerungen
an einem angeblich im Kindesalter gesehenen Exhibitionisten und
an zwei sexuelle Ereignisse der Pubertätszeit, so wie die sich an
diese anknüpfenden, gleichfalls verdrängten Phantasien nachweisen.
Über Aktual- und Psychoneurosen | 15
Sie werden mich fragen, wie ich mit jungen Mädchen über:
„solche Sachen“ sprechen konnte. Die Antwort hat aber schon
Freud selbst gegeben in der Gegenfrage, wie sich die Ärzte er-
lauben, die Sexualorgane, von denen der ÄAnalytiker nur spricht,
wenn nötig, direkt zu inspizieren und zu betasten? Sie geben wohl
. alle zu, daß es unsinnig wäre, auf die notwendig erscheinende
oynäkologische Untersuchung bei jungen Mädchen mit Rücksicht
auf ihr Schamgefühl zu verzichten. Ein nicht geringerer Fehler wäre
es aber, die Untersuchung und die Behandlung psychosexueller
Leiden aus dem gleichem Grunde abzulehnen. Daß’man die Ana-
lyse taktvoll und schonend durchführen muß, versteht sich von selbst;
dies ist ja ein Erfordernis bei allen ärztlichen Eingriffen ohne Aus-
nahme. Auch ist es nicht die Spezialität gerade der Psychoanalyse,
daß Unwissenheit und böser Wille durch sie auch Schaden stiften
kann; diese Möglichkeit ist auch in der operativen Gynäkologie
gegeben. Dem Ärzte, der sich Genitaluntersuchungen gestattet, die
Psychoanalyse aber als unsittlich verurteilt, zitieren wir nach Freud
das Goethesche Wort: „Du darfst es nicht vor keuschen Ohren
nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können.“
Ich könnte die Beispiele ad libitum häufen. Eine 40jährige
Hysterika, die zeitweise einen unerträglich bitteren Geschmack im
Munde verspürt, erinnert sich im Laufe der Analyse, daß sie den-
selben bitteren Geschmack empfand, als sie ihrem totkranken Bruder
das Chinin nicht wie gewöhnlich selbst verabreichte, sondern durch
eine Pflegeperson geben ließ, infolge deren Ungeschicklichkeit die
Oblate im Munde zerging und dem Kranken einen sehr bitteren
Geschmack verursachte. (Hysterische Identifizierung, Freud). Weiters
brachte ich dann heraus, daß die Patientin als Kind von ihrem Vater
merkwürdig intensiv geherzt und überzärtlich geküßt wurde; der
bittere Geschmack symbolisiert auch den bitteren Geschmack dieser
Küsse, der Vater war nämlich ein sehr starker Raucher. Wenn wir
‚noch hinzunehmen, daß die Kranke von diesem nun beinahe 90jäh-
rigen aber furchtbar strengen Vater viel „Bitternise“ erdulden
muß, so haben wir in diesem Fall ein charakteristisches Beispiel
für die Überdeterminierung eines neurotischen Symptoms:
eine Krankheitserscheinung repräsentiert hier mehrere verdrängte
Komplexe.
16 Über Aktual- und Psychoneurosen
Bei dieser Kranken bereitete mir die Übertragung große
Schwierigkeiten. Auf dem Wege von den Krankheitssymbolen zu
dem Verdrängten, den die Kranken bei der Analyse durchzu-
machen haben, machen sie meist einen letzten Versuch, der Einsicht
ins eigene Unbewußte auszuweichen. Sie tun das, indem sie alle
ihre vom Unbewußten her verstärkten Affekte (Haß, Liebe) auf den
behandelnden Arzt übertragen. Doch vermag die taktvolle und ein-
sichtige Fortsetzung der Analyse die Übertragung zu lösen, dieselbe
sogar der Analyse dienstbar zu machen.
Die hysterischen ÄAttaquen, Krampf- und Obihrachtsänfälle
kommen, wie es die Analysen beweisen, zustande, wenn ein äußerer
Reiz sich so intensiv mit dem Verdrängten assoziiert, daß das Be-
wußtsein vor dessen Reproduktion nicht anders flüchten kann, als
indem es sich dem Unbewußten ganz überläßt. Wird also die Seele
an ihren hysterogenen Punkten stark berührt, so kann Bewußtseins-
verlust die Folge sein. Das ist die „Überwältigung durch das Un-
bewußte“ (Freud);die im Anfall produzierten Zuckungen, Ausdrucks-
bewegungen, sind Symbole und Begleiterscheinungen unbewußter
Phantasien. Hier ein Beispiel:
Ein 15jähriger Schlosserlehrling leidet seit 3 Wochen an Attaquen
von Bewußtseinsverlust mit tonisch-klonischen Krämpfen; die Anfälle
enden damit, daß der Patient drei-viermal die Zunge ausstreckt. Der
erste Anfall trat auf, nachdem ihn die Gehilfen „in den Bock ge-
spannt“ haben; es ist dies eine rohe aber an manchen Orten beliebte
Unterhaltung; sie besteht darin, daß man jemanden, der diesen Spaß
noch nicht kennt, die gefaltenen Hände unter den gebeugten Knieen
bindet, dann durch die Lücke zwischen den Knieen und den Ellen-
bögen eine Stange einführt, und 'den auf diese Art ganz wehrlos ge-
machten um die Stange herumdreht. Bei dem großen Schreck, den
man als Opfer dieses Schmerzes empfindet (ich habe es als Kind
einmal durchgemacht) hätte ich die Krankheit früher einfach für
traumatische Hysterie erklärt. Seit Freud weiß ich aber, daß auch
bei Neurosen nach Erschütterungen meist eine in der Vorgeschichte
begründete Disposition nachzuweisen ist. Ich versuchte also die Ana-
lyse. Bald stellte es sich heraus, daß der Junge vor ungefähr
3 Monaten in einen Tümpel mit stinkendem schmutzigem Wasser hinein-
sefallen war, wobei ihm etwas von der ekelhaften Flüssigkeit in den
Über Aktual- und Psychoneurosen 17
Mund drang. Er fühlte sich damals unwohl und die Reproduktion
dieses Erlebnisses löst auch in der Analyse einen starken Anfall
aus. Ein noch stärkerer Anfall ging der Erinnerung an folgendes
Erlebnis aus dem 13. Lebensjahre voraus: Er spielte mit seinen
barfüßigen Kameraden auf der Wiese; man spielte den „blinden
Jäger“, es wurden ihm die Augen verbunden, und die andern
durften ihn mit einem Stock hänseln. Da hatte einer der Spielge-
nossen den gräulichen Einfall, den Stock, den man ihm entgegenhielt,
mit Exkrementen zu beschmieren. Er griff zu: die unerwartete Em-
pfindung der Feuchtigkeit und das Lachen der Anderen veranlaßte
ihn, die Binde sofort von den Augen zu entfernen, dabei war es
aber unglücklicherweise nicht zu vermeiden, daß er den Geruch und
Geschmack der schmutzigen Materie zu spüren bekam. Voll erklärt
wurde der Fall erst, als es die Analyse herausbrachte, daß er als
ganz junges Kind, nebst anderen sexuellen Handlungen, auch die
gegenseitige Koprophagie mit seinen kleinen Freunden versuchte,
und daß er, wenn ihn die Mutter küßte, mit dem Gedanken kämpfen
mußte, daß man das auch mit ihr versuchen könnte. Der Umstand
nun, daß der letzte große Schreck (beim Scherz der Schlosserge-
hilfen) auch unwillkürlichen Harn- und Kotabgang zur Folge hatte,
erweckte wahrscheinlich alle diese, für den Jungen längst unerträg-
lichen, daher verdrängten Wünsche und Erinnerungen, vor deren
Reproduktion er ins Unbewußte flüchten mußte, nicht ohne den In-
halt der bewußtseinsunfähigen Phantasien durch die Zungenbewe-
gungen anzudeuten. Eine Zeitlang konnte ich prompt einen Anfall
auslösen, wenn ich auf eines der beiden exkrementellen Bedürf-
nisse zu sprechen kam. Erst nach längerer pädagogischer Be-
mühung brachte ich ihn dazu einzusehen, daß Schlechtes denken,
und Schlechtes tun nicht dasselbe ist, und daß er diese kindischen
Phantasien ohne Gewissensangst zu Ende denken dürfe. Zum
Schluß machte ich bei dem Jungen einen mit der Änalerotik asso-
ziierten ausgesprochen masochistischen Partialtrieb bewußt; darauf-
hin hörten die Anfälle ein für allemal auf. Solche Fälle stützen
die Annahme Jungs, der die Analyse für eine Energiekur an-
sieht, die die Patienten gewöhnt, sich die eigenen für das Bewußt-
sein unangenehmen Vorstellungen und Wünsche freimütig ein-
zugestehen.
2
erenczi, Elemente,
18 Über Aktual- und Psychoneurosen
Ist eine gründliche Analyse möglich, so kann man bei jedem ein-
zelnen Hysteriefalle „perverse“ Kindheitserinnerungen und eben
solche unbewußte Phantasien ermitteln. Die manifest meist sehr
prekäre Sexualität der Hysterischen lebt sich in den verdrängten
perversen Gedanken und deren Konversionssymptomen aus; die Be-
handlung hat nicht nur das Aufhören der Bildung und der Erhal-
tung von Symptomen zur Folge, sondern auch die Fähigkeit zum
normalen Sexualleben. Wem das letztere durch äußere Umstände
verwehrt ist, der muß eben nach Beendigung der Analyse seine
Libido „sublimieren“, d. h. bewußt auf asexuelle Ziele ablenken.
Die Zwangsneurose (Zwangsvorstellungen, Zwangshand-
‘ lungen) ist die zweite große Gruppe der Psychoneurosen nach
Freud. Beim Zwangsmenschen drängen sich gewisse mit dem son-
stigen Gedankenkreise scheinbar gar nicht zusammenhängende Vor-
stellungsgruppen unmotiviert ins Bewußtsein. Der Kranke hat volle
Einsicht in das Unlogische, Krankhafte seines Monoideismus, versucht
aber vergeblich ihn los zu werden. Oder er muß eine koordinierte,
aber, wie er es ganz gut weiß, absolut zweck- und sinnlose Bewe-
gung fortwährend wiederholen und kann sie mit der größten An-
strengung nicht unterdrücken. In solchen Fällen versagten früher
alle unsere Erklärungs- und Heilversuche. Die letzte mir zugängliche
Auflage des Oppenheimschen Lehrbuches bespricht die Zwangs-
neurose noch als ein Leiden, dessen Prognose eine „ernste, oder
wenigstens eine zweifelhafte“ ist. Nach meiner heutigen Erfahrung
war es auch von vorneherein ausgeschlossen, ohne die Freudsche
Psychoanalyse, also ohne die Genese und Bedeutung dieser Sym-
ptome zu erkennen, dauernde Heilerfolge zu erzielen. Erst die „Seelen-
zerlegung“ hat die bizarren Äußerungen dieses Leidens verständlich
gemacht. Es stellte sich heraus, daß die Zwangsvorstellung nur schein-
bar so ganz unsinnig ist, sich aber als sinnvoll erweist, wenn die
Analyse ihre allerdings recht oberflächliche assoziative Verknüpfung
mit verdrängten psychischen Gebilden nachweist. Der Unterschied
zwischen Hysterie und Zwangsneurose ist der, daß beim Hysterischen
die affektive Energie verdrängter Vorstellungskomplexe in körper-
liche Symptome konvertiert wird, der Zwangsneurotiker hingegen
sich vom Bewußtsein peinlicher Vorstellungen auf die Art befreit,
daß er ihnen den ÄAffekt entzieht und diesen auf andere mit den
Über Aktual- und Psychoneurosen 19
Ursprünglichen assoziativ verknüpfte, aber harmlose Gedanken ver-
schiebt. Diesen eigentümlichen Vorgang der Affektverschiebung nennt
Freud Substitution (Verschiebung). Wir erfahren, daß der sich
unausgesetzt vordrängende lästige Gedanke ein unschuldiger Prügel-
knabe ist, während die wirklich „schuldigen“ Vorstellungen von ihrem
Affekte befreit ungestört im Unbewußten ruhen. Das psychische Gleich-
gewicht bleibt solange verschoben, bis es nicht gelingt, den versteckten
Gedankenkomplex ausfindig zu machen und den verschobenen Affekt
zu seiner Quelle zurückzuführen. Der Weg hiezu ist die Psycho-
analyse. Nach Beendigung der Kur hat der Patient volle Einsicht
in die moralischen und ästhetischen Schattenseiten seines Seelen-
lebens, von der Zwangsvorstellung ist er aber befreit.
Woran es liegt, daß der Eine seine versteckten Komplexe
durch ein körperliches, der Ändere durch ein seelisches Symbol
andeutet, ist noch nicht entschieden. Nach Analogie des körper-
lichen Entgegenkommens bei der Hysterie kann man vielleicht ein
psychisches Entgegenkommen, d. h. psychisch-konstitutionelle
Momente zur Erklärung der Zwangsgedanken heranziehen. Über
diese Frage wird vielleicht die „Familienanalyse“ d. h. die Seelen-
zerlegung bei mehreren nervösen Mitgliedern derselben Familie
entscheiden.
Mittelst der Analyse gelang es Freud nachzuweisen, daß die
wirkliche Quelle der besonders bei Frauen so häufigen Versuchungs-
gedanken (sie fürchten ihre Kinder töten, beim Fenster hinaus-
‘springen zu müssen etc.) zumeist die Unzufriedenheit mit der Ehe
und die Furcht vor sexuellen Versuchungsgedanken ist.
Eine junge Patientin Freuds, die fortwährend von der Angst
gequält war, in Gesellschaft den Harn nicht halten zu können und
deshalb in voller Zurückgezogenheit leben mußte, erfuhr bei der
Analyse, daß sie eigentlich vor den eigenen sexuellen Wunschvor-
stellungen Angst hatte, in denen der Erinnerung an einen Vorfall,
wo sie zugleich Orgasmus und Harndrang verspürte, eine große
Rolle zukam.
Einer meiner Patienten, ein hochbegabter junger Mann, mußte
stets über Leben und Tod, über die Rätsel des menschlichen Orga-
nismus grübeln und verlor hierüber alle Lebens- und Arbeitslust.
Die Analyse stellte fest, daß er als kleines Kind sexuelle Neugierde
2*
20 Über Aktual- und Psychoneurosen
für die Genitalien seiner Mutter bekundete und den Tod des ge-
strengen Vaters zu wünschen sich vermaß („Ödipuskomplex“, Freud).
Daher die gänzliche Abwendung von allem Sinnlichen und die
philosophische Grübelsucht.
Eine merkwürdige Abneigung, Bücher zu lesen oder auch nur
zu berühren, war die Klage eines älteren Mädchens (Arbeiterin),
die obzwar schön, vielbegehrt und arm, nicht heiraten wollte. Der
Erfolg der Analyse war die Feststellung folgender Tatsachen: Im
Alter von 8 Jahren hatte ein 13jähriger Junge mit ihr regelrecht
den Coitus ausgeübt, das hat sie aber in der „Periode der ge-
lungenen Abwehr“ vollkommen vergessen gehabt, bis sie sich ein-
mal im 16. Lebensjahre nach der Lektüre eines Buches über „Jack
den Bauchaufschlitzer“ im Traume (?) an die Kindergeschichte er-
innerte und eine Zeitlang fortwährend von dem Gedanken geplagt
wurde, ihr zukünftiger Ehegemahl werde in der Brautnacht ihre Schande
entdecken und sie töten. Trotz ihrer Angst befaßte sie sich auch
mit Selbstmordgedanken, allerdings ungewöhnlicher Art: Sie nahm
sich vor, zu heiraten, damit der Mann ihren Fehltritt entdecke und
sie töte. Sie konnte sich also diesen Wunsch eingestehen, indem
sie den Affekt auf das Sterben und nicht auf die Sexualität ver-
legte. Die Verlegung der Phobie von dem Schauerroman auf
alles Gedruckte, bedeutete eine weitere Station der Verschiebung,
und mag im Sinne Freuds als eine Schutzmaßregel gegen das
bewußte Auftauchen des angstentbindenden Wunsches und seiner
unmittelbaren Derivate aufgefaßt werden. |
Die Idiosynkrasie eines meiner Patienten gegen das fette
Fleisch und alles Gesalzene entpuppte sich als Symbol seiner ver-
drängten homosexuellen Neigungen. Er wurde, noch ein Kind, von
einem älteren korpulenten Jungen gezwungen, den Coitus per os
zu dulden (fettes Fleisch — Penis, salziger Geschmack = Sperma).
Die von Fliess entdeckte dauernde Bisexualität aller Menschen
konnte ich nach Freud bei allen Neurotikern in ungewöhnlichem
Maße nachweisen. Wie viel davon auf die Konstitution und wie viel
auf infantile Erlebnisse und Entwicklungsstörungen zurückzuführen
ist, bleibt einstweilen unentschieden.“
* Einen Teil der hier als Zwangsneurose benannten Fälle müßten wir ae
im Kapitel „Angsthysterie“ behandeln. (Anm. bei der Korrektur).
Über Aktual- und Psychoneurosen 21
Die Zwangsbewegungen und Zwangshandlungen sind, wie
Freud richtig ermittelte, Schutzmaßregeln gegen die Reproduktion
von Zwangsvorstellungen und entstellte Äußerungen der Onanie-
neigung. Der Verschiebungsarbeit, die, wie wir in einem unserer
Fälle sahen, auch im Bereiche der bewußten Gedanken tätig ist,
gelingt es endlich, den Affekt von der psychischen Sphäre in das
körperliche zu drängen, also auf großen Umwegen dasselbe zu
erreichen, was die hysterische Konversion ohne solche Mühe ver-
mag. Wir müssen uns also merken, daß hinter jeder Zwangs-
handlung eine Zwangsvorstellung versteckt ist, die ihrerseits eine
inkompatible Idee des Unbewußten repräsentiert. Der Waschzwang
z. B. ist ein recht unlogisches, aber wirksames Mittel zur Milderung
peinlicher Zwangsgedanken, deren Komplexe für die eigene mora-
lische „Unreinlichkeit“ zeugen. Auch andere Handlungen vom Zwangs-
charakter (Zählen, Lesen von Straßentafeln, Einhalten gewisser Ryth-
men beim Gehen etc.) dienen dazu, die Aufmerksamkeit von pein-
lichen (überwertigen) Gedanken abzulenken. Eine Patientin Freuds
mußte jedes Stückchen Papier von der Erde auflesen und in die
Tasche stecken: dieser Zwang entwickelte sich sekundär aus Zwangs-
gedanken, die auf die Gefahren eines geheimen Liebesbriefwechsels
Bezug hatten. — Äbergläubische Furcht zwang einen von mir ana-
lysierten, sonst sehr aufgeklärten jungen Mann, bei allen möglichen
®
Anlässen Geld in die Sammelbüchse eines Tempels zu werfen. Der
im übrigen sparsam veranlagte Patient sühnte mit diesen Opfer-
gaben unbewußte schlechte Gedanken wider die Eltern, zugleich
aber den längst vergessenen Streich, in ähnliche Büchsen einstmal
statt Geld Steine geworfen zu haben. — Einen merkwürdigen Fall
bewußter Verschiebung des Zwangsgedankens entdeckte ich bei
einer Patientin, die von der elterlichen Autorität widerwillig zur
Ehe gezwungen, fortwährend über ihr Unglück nachsinnen mußte.
Eine Freundin riet ihr dann, sie soll’eher an etwas anderes, harm-
loses denken, z. B. an Worte und Buchstaben. Von diesem Momente
an grübelte sie immerzu über das Wunder, daß Laute und Worte
sinnvoll sind und Gedanken vermitteln können.
Freud folgerte anfangs aus der außerordentlichen Häufigkeit
infantiler psychosexueller Traumen bei seinen Patienten, daß die
Psychoneurosen nur nach solchen abnormen Kindheitserlebnissen
22 Über Aktual- und Psychoneurosen
auftreten. Doch mußte er später zugeben, daß die Analyse gesunder
Menschen oft schwere Psychotraumen des Kindesalters entdeckt,
denen nichtsdestoweniger gar keine pathogene Nachwirkung fölgte.
Andererseits fand er so manche neurotische Erkrankung. von ganz ge-
ringfügigen, scheinbar harmlosen sexuellen Eindrücken determiniert.
Nebst der symptombildenden Kraft infantiler Erlebnisse mußte also
Freud auch das konstitutionelle Moment zu seinem Recht verhelfen,
nur setzte er an Stelle der viel zu allgemeinen, daher nichtssagenden
Begriffe der „Disposition“, „Degeneration“, den einer abnormen,
zu Verdrängungsmechanismen neigenden Sexualkonstitution. Freud
scheute auch vor der schwierigen Aufgabe nicht zurück, die ganze
« Entwicklungsgeschichte der Sexualität zu revidieren. Dies tat er
in seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Er wies
hier nach, daß eine im weiteren Sinne genommene sexuelle Lust
überhaupt untrennbar vom Leben ist, und den Menschen vom Mo-
mente der Konzeption bis zum Tode begleitet. Bei Säuglingen und
ganz jungen Kindern z.B. spielen libidinöse Tendenzen eine viel
größere Rolle, als wir es bisher zu glauben liebten; ja gerade dieses
Alter, die Periode der infantilen Perversion, in der die deutlich bi-
sexuelle Libido noch nicht an die Betätigung eines Organs ge-
bunden ist, wo noch keine Scham, keine Inzestschranke die Aus-
wahl der Sexualziele und Sexualobjekte eindämmt, eignet sich vor-
züglich zum Empfangen von Eindrücken und zur Fixierung von
Tendenzen, die die Erziehung eine Zeitlang sublimieren kann, die
sich aber bei dem neuerlichen organischen Schub der Pubertät
'_ energisch vordrängen und eine so starke Verdrängung erfordern,
daß eine minder robuste Konstitution sie nicht ohne neurotische Er-
krankung verträgt. Es ist klar, daß eine Sexualpädagogik, die diese
Tatsachen nicht in Betracht zieht, als wertlos bezeichnet werden muß.
Neurasthenie, Anxietät, Hysterie und Zwangsneurose treten
fast niemals gesondert in Erscheinung, das Leben bietet meist ein
Gemisch ihrer Symptome. Wo aber die Krankheitszeichen vermischt
sind, können wir mit Sicherheit auf die entsprechende „ätiologische
Mischung“ (Freud) folgern. Wer lange masturbiert hat und plötzlich
abstinent wird, bei dem wird man neurasthenische Parästhesien und
Angstzustände nebeneinander antreffen. Wenn eine Frau mit ab-
normer Sexualentwicklung „unerlaubte“ Sexualregungen zu verspüren
Über Aktual- und Psychoneurosen 23
beginnt, so wird sie diese verdrängen und zu gleicher Zeit ängst-
lich und hysterisch werden. Auch die psychosexuelle Impotenz des
Mannes ist ein Gemisch von Aktual- und Psychoneurosen. Es ver-
steht sich von selbst, daß die Analyse in solchen Fällen nur die
psychogenen Symptome löst, während die physiologisch bedingten
als unlösbarer Rest zurückbleiben und nur durch entsprechende
sexualhygienische Maßnahmen zu beeinflussen sind.
Ich will es nicht verhehlen, daß mir Analysen auch mißlungen
sind. Doch geschah dies nur in Fällen, wo ich die von Freud an-
gegebenen Bedingungen einer aussichtsvollen Analyse nicht beachtete,
oder wo es mir oder dem Patienten an der zur Analyse unentbehrlichen
Geduld mangelte. Einigemale unterbrach ich die Behandlung, weil ich
einsah, daß es unter den gegebenen Umständen für den Patienten
besser sei, an Verdrängungen zu leiden, als klare Einsicht in die
Wirklichkeit zu gewinnen. Für solche eignen sich eher die Kuren von
Ibsens Dr. Relling, der bei unglücklichen Menschen „die Lebens-
lüge aufrecht zu erhalten“ trachtet.
Nur streifen kann ich hier die erfreuliche Tatsache, daß die
wissenschaftliche Anwendung der Psychoanalyse sich auch in der
Psychiatrie als fruchtbar erwies. Freud gelang der Nachweis, daß
die Wahnideen der Paranoischen nur in die Außenwelt projizierte,
unbewußte Gedankenkomplexe sind; Jungs ausgezeichnete Mono-
graphie macht die ganze Symptomatologie der Dementia praecox
mittelst der Komplexpsychologie verständlich, und Otto Groß räumt
dem Freudschen Idiogenitätsmoment auch bei dem manisch-depres-
siven Irresein eine große Bedeutung ein.
Noch ein paar Worte über die Ätiologie der Neurosen. Es
ist zum Schlagwort geworden, daß Freud die Neurosen ausschließ-
lich von sexualtraumatischen Ursachen ableitet. Das ist nicht richtig.
Wie oben angedeutet, mißt er ja konstitutionellen Faktoren die ge-
bührende Bedeutung bei. Hinzufügen muß ich noch, daß nach ihm
auch nichtsexuelle seelische Erschütterungen (Unfall, Schreck, trau-
rige Erlebnisse) mit ihrer traumatischen Kraft zur Neurose beitragen
oder gar eine solche auslösen können. Allerdings betrachtet Freud
die sexuellen Faktoren als „spezifische“ Ursachen der Neurosen,
nicht nur weil diese in allen Fällen nachzuweisen sind, sehr oft
ohine Mithilfe anderer Ursachen, sondern hauptsächlich, weil sie die
24 Über Aktual- und Psychoneurosen
Symptome des Leidens qualitativ determinieren. Und — last,
not least — weist er auf die Erfolge der analytischen Therapie
hin, die das neurotische Symptom heilt, indem sie die patho-
genen sexuellen Faktoren ausfindig macht, und durch deren Be-
seitigung das Gleichgewicht des Sexuallebens und sexuellen Fühlens
herstellt. |
Ich bin darauf gefaßt, daß die Freudsche Sexualtheorie deı
Neurosen auch bei Ihnen auf den größten Widerstand stoßen wird.
Ich müßte ja an der Richtigkeit der Freudschen Lehren zweifeln,
wenn die Zensur gegen das Sexuelle nur bei Nervenkranken nach-
zuweisen und bei gesunden Menschen, z. B. bei gesunden Ärzten,
keine Spur einer solchen Abwehr zu entdecken wäre. Wir alle be-
herbergen in unserem Unbewußten eine Menge verdrängter sexuelier
Vorstellungen und Tendenzen, und die Aversion gegen die offene
Besprechung von Sexualproblemen ist eine Reaktionsbildung, die
deren Bewußtwerden verhindern soll. Auch mich lehrte die Selbst-
analyse, daß ich mich früher aus dem gleichen Grunde so hartnäckig
gegen die Nachuntersuchung der Freudschen Entdeckungen gewehrt
hatte. Ich kann aber versichern, daß die Belehrung, die ich der voraus-
setzungslosen Erforschung auch der sexuellen Seelenvorgänge ver-
danke, reichlich die Anstrengung aufwiegt, die mich das Über-
winden der Antipathie gegen diese Dinge gekostet hat. Leider ent-
schädigt mich diese Einsicht nicht für die Jahre in denen ich gegen
die Probleme der funktionellen Nervenkrankheiten nur mit den
alten, stumpfen Waffen der Neurosenpathologie ins Feld zog.
Es sprach aus mir der praktische Nervenarzt, als ich hier die
pathologische Bedeutung der neuen Lehre so sehr hervorkehrte.
Von einem höheren, allgemeineren Standpunkte betrachtet, müssen
wir es als einen viel größeren Gewinn betrachten, daß wir mit
Hilfe der Freudschen Lehren tiefer in die Funktion des psychi-
schen Mechanismus und in die Ökonomie der ihn bewegenden
Kräfte einblicken konnten.
Ich zweifle nicht daran, daß die Entdeckungen, die wir Freud
verdanken, sowohl für die Individual- und Volkspsychologie, als
auch für die diese anwendenden Wissenszweige (Pädagogik,
Soziologie, Kulturgeschichte, Ästhetik) einen wesentlichen Fortschritt
bedeuten.
Zur analytischen Auffassung
der Psychoneurosen*
Dem mir vom Äerzteverein erteilten ehrenvollen Auftrag,
über die Fortschritte der Neurosenlehre einen referierenden Vor-
trag zu halten, könnte ich auf mehrere Arten nachkommen.
Ich könnte sämtliche funktionelle Neurosen der Reihe nach vor-
nehmen und über die Neuheiten berichten, die sich bei den
einzelnen Neurosen-Arten im Laufe der letzten Jahre ergeben
haben. Nach einiger Überlegung nahm ich von diesem Plan
Abstand, denn, wollte ich Ihnen auch nur die Namen all der
Krankheitserscheinungen nennen, die man heute mit dem Sammel-
wort „funktionelle Neurosen“ bezeichnet, so entstünde daraus ein
solches Chaos von griechisch-lateinischen Wortneubildungen, daß
ich damit die Verwirrung, die heutzutage bezüglich der Neurosen
herrscht, nur noch steigern würde. Darum versuche ich, mich meiner
Aufgabe auf eine andere Art zu entledigen. Anstatt in Einzelheiten
einzugehen, will ich die Dinge einheitlich überblicken und den Ge-
samteindruck wiedergeben, den der Nervenarzt von dem heutigen
Stand dieses seines Fachgebietes empfangen kann.
Einer der geistreichsten deutschen Schriftsteller Georg Christian
Lichtenberg warf einmal die paradoxe Frage auf, warum es
den Forschern nie einfällt, daß man Entdeckungen nicht nur mit
Hilfe des Vergrößerungsglases, sondern vielleicht auch mit einer
Verkleinerungslinse machen könnte. Er meinte offenbar, daß das
unausgesetzte Forschen nach den Einzelheiten, in das sich die
* Aus einem 1909 im Budapester Aerzteverein gehaltenen Vortragszyklus.
26 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
Wissenschaft verbohrt und wobei sie die Uebersicht über das
Ganze vergißt, zeitweilig aufzugeben wäre, um die’ bereits erzielten
Ergebnisse aus einer gewissen Distanz einheitlich zu überblicken.
Er will daher ungefähr dasselbe, was Herbert Spencer als die
notwendige Phase jeder natürlichen Entwicklung bezeichnet, nämlich:
die Differenzierung soll zeitweise von der zusammenfassenden,
integrierenden Arbeit abgelöst werden.
Wenn ich nun sämtliche Neurosen durch ein solches Ver-
kleinerungsglas betrachte, so reduziert sich deren Vielfältigkeit
ganz von selbst zu einer Zweiteilung, die sich nicht weiter
integrieren läßt.
Die eine Art der Neurosen, wenn sie auch das Seelenleben
nicht unberührt läßt (es gibt ja überhaupt keine Krankheit ohne
Beteiligung der Psyche), spielt sich doch wesentlich auf somatischem
Gebiete ab. Eine andere große Gruppe der Neurosen dagegen
äußert sich, wenn es auch bei ihnen nicht ganz ohne körperliche
Begleiterscheinungen abgeht, hauptsächlich in seelischen Ver-
änderungen, ja sie verdankt auch ihre Entstehung ausschließlich
seelischen Erschütterungen.
Sie werden vielleicht erstaunt sein, daß heutzutage, im Zeit-
alter des Monismus, eine solche dualistische Einteilung von Krank-
heiten möglich ist. Ich beeile mich auch hier hinzuzufügen, daß
dieser nosologische Dualismus sich ganz gut mit dem agnostischen
Monismus der Philosophen verträgt, da letzterer — wie sein Name
besagt — nur die einheitliche Gesetzmäßigkeit im Naturganzen
postuliert, dabei aber aufrichtig genug ist, zuzugeben, daß wir
über das Wesen dieser Einheitlichkeit nichts aussagen können.
Die monistische Auffassung ist nach meiner Anschauung vorläufig
nur ein philosophisches Glaubensbekenntnis oder ein Ideal, dem
man sich nähern möchte, das aber noch so weit von den
Grenzen unseres heutigen Wissens entfernt ist, daß wir praktischen
Nutzen von seinen Lehren zur Zeit nicht ziehen können. Denn
umsonst will man die Sache beschönigen, die Dinge stehen heute
so, daß wir einen Teil der Erscheinungen nur physikalisch, eine
andere Reihe nur psychologisch analysieren können. Auch der
psychophysiologische Parallelismus ist ein, gewiß mögliches, aber
eigentlich. recht unwahrscheinliches philosophisches Theorem, durch
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 27.
das wir uns in unseren Beobachtungen nicht beirren zu lassen
brauchen. Mit einem Worte, wir erklären es für eine Unaufrichtig-
keit, wenn man — wie es heutzutage üblich ist — das seelische
Geschehen mit anatomischen und physiologischen Begriffen be-
stimmt; denn die Wahrheit ist die, daß wir von der physiologischen
Seite des Seelenlebens, wie auch vom anatomischen Substrat seiner
Mechanismen nicht das Geringste wissen. Was wir diesbezüglich
von der Naturwissenschaft lernten, ist höchstens die Tatsache der
zerebralen Lokalisation der Sinnesfunktionen und die Kenntnis
einzelner koordinatorischer Zentren für die Bewegungen. Flechsig
versuchte zwar, eine moderne Phrenologie auf Grund der chrono-
logischen Entwicklungsfolge im Gewebe des embryonalen Gehirns
zu.konstruieren, aber das ganze komplizierte System der von
ihm angenommenen drei bis vier Dutzend psychischen Zentren, ihrer
Projektions- und Assoziationsfasern ist doch nur ein, wenn auch
geistreiches, aber äußerst schwankendes theoretisches Gebäude, um
das sich der Kliniker nicht viel zu kümmern braucht.
Ganz unfruchtbar blieb bisher auch alles Forschen nach den die
Geisteskrankheiten begleitenden anatomischen Gehirnveränderungen
wie auch der Versuch, den pathologisch-anatomischen Befund mit
den in vivo konstatierten seelischen Symptomen in Beziehung zu
bringen, um daraus auf die psychische Funktion der einzelnen
Gehirnpartien einen Schluß zu ziehen. Weder bei der Manie oder
Melancholie, noch bei der Paranoia, Hysterie und Zwangsneurose
fand man irgendwelche Veränderungen bei der mikroskopischen
Untersuchung des Gehirns; bei anderen Krankheiten, wie bei
Paralyse, Alkoholismus, Dementia senilis, fand man zwar solche
Veränderungen, man konnte aber den Zusammenhang der Gehirn-
laesion mit dem psychischen Symptombilde nicht angeben, so daß
wir getrost sagen können, daß wir heute von einer pathologischen
Anatomie der Psychosen und Psychoneurosen gerade so wenig
reden können, wie vom materiellen Korrelat der Seelenfunktion
überhaupt.
Unsere Gelehrten aber, wenn sie sich auch darein finden, den
funktionellen Mechanismus der „denkenden Materie“ noch nicht zu
kennen, sträuben sich merkwürdigerweise, dieses Nichtwissen auch
bezüglich der Pathologie dieser Materie einzugestehen. Wenn es
28 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
aber ein Falsum ist, statt einfach vom Fühlen, Denken und Wollen
von „Molekularbewegungen“ der Gehirnzellen zu sprechen, so ist
es eine nicht geringere Unaufrichtigkeit, bei der Beschreibung der
sogenannten funktionellen Psychosen und Neurosen mit anatomischen
physiologischen, physikalischen und chemischen Ausdrücken um sich
zu werfen. Unsere Gelehrten scheinen aber der Änsicht zu sein,
daß die docta ignorantia erträglicher als die indocta
ignorantia ist, daß also das naive Bekenntnis unserer Unwissen-
heit beschämender ist als ein Nichtwissen, das sich in wissen-
schaftliche Worte kleidet.
Setzen wir aber den Fall, daß der Mensch es einmal so weit
brächte, die 'den 'eigenen Empfindungen Pparallellaufenden Gehirn-
veränderungen unmittelbar an sich selbst beobachten zu können:
die Zweiteilung der Erscheinungsreihen, die Sonderung des von
außen Beobachteten und des innerlich Geschauten, bliebe nichts-
destoweniger bestehen. Selbst die genaueste Beschreibung der Be-
wegungen der Gehirnmoleküle würde die introspektive Psychologie
nicht überflüssig machen.
Für das Verständnis der gesunden und kranken Seele bleibt
also die Analyse der unmittelbaren inneren Wahrnehmung die
Hauptquelle der psychologischen Erkenntnis; sie hat sogar mehr
Aussicht auf Bestand, als die rein materialistische Betrachtungsweise.
Haben wir doch erlebt, daß einige unerwartete Entdeckungen die
Physik in ihren Grundfesten erschüttern konnten, während die
Elemente der Introspektion immer die gleichen bleiben.
Ich konnte Ihnen diese philosophische Exkursion nicht ersparen,
obzwar ich dabei immerfort an ein anderes Witzwort des eben
genannten Lichtenberg gemahnt werde, daß man sich mit der
Philosophie, wie mit einem scharfen Rasiermesser allzuleicht schneiden
kann, wenn man damit nicht sehr vorsichtig umgeht. Ich gebe also
diese gefährliche Waffe aus der Hand und beschränke mich darauf,
nochmals zu wiederholen, daß die dualistische Einteilung der
Neurosen beim heutigen Stande unseres Wissens eine vollauf
berechtigte ist.
Zu den organischen Neurosen oder, wie ich sie benennen
möchte, den Physioneurosen rechnen wir z. B. die Chorea, das
Myxoedem, die Basedow’sche Krankheit, die Neurasthenie und die
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 29
Angstneurose im Sinne Freuds, und andere, bei denen die Ursache
der Krankheit in Störungen des Stoffwechsels u. dgl. gesucht oder
schon gefunden wird. In meinem heutigen Vortrage möchte ich aber
Ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich auf die andere große Gruppe
der Neurosen, auf die Psycho-Neurosen lenken, auf jene Neu-
rosen also, deren Verursachung, pathologisches Wesen und Symptoma-
tologie derzeit nur einer introspektiv psychischen Untersuchung
zugänglich ist, insbesondere auf die Hysterie und die Zwangsneurose.
Ich bemerke gleich hier, daß die Psychoneurosen weder von den
„normalen“ seelischen Funktionsweisen, noch von den funktionellen
Psychosen scharf zu sondern sind; es sind hauptsächlich praktische
Gesichtspunkte, die den Arzt zwingen, Normalität, Psychoneurose und
Psychose als besondere Kapitel der Seelenkunde zu behandeln. Vom
wissenschaftlichen Standpunkte ist kein fundamentaler Unterschied
zwischen den Leidenschaftsausbrüchen des „normalen“ Menschen, den
Anfällen des Hysterikers und der Raserei des Geisteskranken.
Die „psychogenetische“ Betrachtungsweise der Psychosen und
Neurosen ist uralt.
Erst das Überhandnehmen der materialistischen und mechani-
stischen Anschauung im XIX. Jahrhundert verführte die Psychologen
und Psychopathologen dazu, auf die naive, aber ehrliche intro-
spektive Psychologie zu verzichten und die in den exakten Natur-
wissenschaften so erfolgreichen Experimentalmethoden nachzuahmen.
Schließlich kam es so weit, daß Ärzte und Naturforscher die kleinen
und großen seelischen Probleme des Menschen, als wären sie
ihrer Betrachtung nicht würdig, den Belletristen überließen und
sich immer mehr auf sinnesphysiologische Registrierarbeit be-
schränkten. Seit Fechner und Wundt hat kaum jemand das tote
Material der Experimentalpsychologie mit einer irgendwie orientie-
renden Idee belebt. Erst Freuds Anstrengungen gelang es in
jüngster Zeit, die abgerissenen Fäden zwischen der wissenschaftlichen
Psychologie und dem täglichen Leben wieder anzuknüpfen und
einen lange brachgelegenen wissenschaftlichen Boden von neuem
urbar zu machen.
Ich hatte schon ein anderesmal Gelegenheit, Ihnen, geehrte
Kollegen, über den Entwicklungsweg der Lehren und der Methode
Freuds, über die Psychoanalyse, zu erzählen. Diesmal will ich nur
30 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
auf die Fortschritte hinweisen, die die Erforschung der Psycho-
neurosen der Psychoanalyse zu verdanken hat.
Diese neue Psychologie geht von einer Trieblehre aus. Der
Hauptregulator all unseres Handelns und Denkens ist das „Lust-
prinzip“, das Bestreben, unangenehmen Situationen möglichst aus-
zuweichen, der Wunsch sich mit der allerkleinsten Anstrengung die
größtmöglichste Befriedigung zu verschaffen.
Nun kann aber kein Mensch für sich allein bestehen, sondern
muß sich in ein kompliziertes, fast unabänderliches Milieu fügen.
Schon in früher Kindheit muß er es lernen, einem großen Teil
seiner natürlichen Wunschregungen zu entsagen; ist er erwachsen,
so verlangt die Kultur von ihm, daß er sogar die Selbstaufopferung
für die Gemeinschaft für etwas schönes, gutes, erstrebenswertes
ansehe. Die größten Opfer für die Gesellschaftsordnung muß aber
der Mensch in Bezug auf seine sexuellen Wünsche bringen. Alle
Erziehungsfaktoren wirken auf die Unterdrückung dieser Begierden
hin und die meisten Menschen schicken sich ohne besonderen
Schaden in diese Forderung.
Die Psychoanalyse zeigte nun, daß diese Anpassung mit Hilfe
eines besonderen seelischen Mechanismus geschieht, dessen Wesen
darin besteht, daß man die unerfüllbaren Wünsche und die dazu
gehörenden Vorstellungen, Erinnerungen und Denkvorgänge ins
Unbewußte versenkt. Um es einfacher auszudrücken: man „vergißt“
diese Wünsche und alles, was damit in gedanklichem Zusammen-
hang steht. Dieses Vergessen bedeutet aber nicht die vollständige
Vernichtung jener Tendenzen und Ideengruppen; die vergessenen
Komplexe leben unter der Schwelle des Bewußtseins fort, sie be-
halten ihre potentielle Kraft und können unter geeigneten Verhält-
nissen wieder zum Vorschein kommen. Der gesunde Mensch schützt
sich mit Erfolg gegen die Wiederkehr dieser Wünsche und das
Auftauchen der Wunschobjekte, indem er moralische Schutzwälle
um diese „verdrängten Komplexe“ baut. Schamgefühl und Ekel
verhüllen ihm zeitlebens die Einsicht, daß er jene verachteten,
ekelhaften, beschämenden Dinge eigentlich immer noch als Wunsch-
vorstellungen beherbergt. Das geht aber nur beim Gesunden so
zu; wo aber infolge besonderer Disposition oder durch übergroße Be-
lastung jener Schutzwälle der seelische Mechanismus der Verdrän-
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 31
gung versagt, dort kommt es zur „Wiederkehr des Verdrängten“
und damit zur Bildung von Krankheitssymptomen.
. Man stellt oft die Frage, warum die Psychoanalyse gerade
der sexuellen Verdrängung eine so große Rolle in der Ätiologie
der Psychoneurosen zuschreibt. Doch, die so fragen, vergessen, daß
seit jeher „Hunger und Liebe“ die Welt regieren, daß das Streben
nach Selbst- und Arterhaltung gleich ‚mächtige Instinkte jedes Lebe-
wesens sind. Gäbe es eine Gesellschaft, in der die Nahrungsauf-
nahme eine so beschämende Lebensäußerung wäre wie bei uns die
Begattung, also etwas, was man zwar tun muß, wovon man aber
nicht reden, woran man kaum denken darf, und wäre dort die
Art und Weise des Essens so strengen Beschränkungen unter-
worfen wie bei uns die sexuelle Befriedigung, so würde dort viel-
leicht die Verdrängung der Selbsterhaltungstriebe in der Ätio-
logie der Psychoneurosen die Hauptrolle spielen. Die Dominanz
der Sexualität bei der Entstehung der seelischen Erkrankungen ist
also zu einem großen Teil auf soziale Ursachen zurückzuführen.
Dies sind allerdings vollständig neuartige Anschauungen, die
in denkbar schärfstem Gegensatz zu allem stehen, was die mit
anatomischen und psychologischen Begriffen arbeitende Neurologie
bisher gelehrt hat. Doch schon Claude Bernard sagte es klar her-
aus, daß, wenn neue Tatsachen mit alten Theorien in Widerspruch
stehen, die Theorien es sind, die man aufgeben muß. Es ist ja
möglich, daß diese neue Libido-Theorie der Neurosen auch
nicht das allerletzte Wort ist, das über die Neurosen gesagt
werden kann; ein solches „letztes Wort“ kennt ja die Wissenschaft
nicht. Es ist aber meine Überzeugung, daß es zur Zeit keine Theorie
gibt, welche den Tatsachen und ihren Zusammenhängen besser ge-
recht würde als die psychoanalytische.
Wie klassifiziert nun die Psychoanalyse die Psychoneurosen ?
Was ist die Grundlage, auf die sie ihre Nosologie aufbaut? Die
Antwort ist einfach: sie unterscheidet die Krankheitsgruppen nach
der speziellen Art, in der die abgewehrten und aus der Verdrän-
gung zurückgekehrten „Komplexe“ sich als Krankheitssymptome
Geltung verschaffen. Der an Zwangsneurose Leidende versteht
es, den affektiven Wert der Komplexvorstellungen auf andere ähn-
liche, aber harmlosere Gedanken zu verschieben. So kommt es
32 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
zur Bildung von Zwangsideen, die sich, anscheinend ganz sinnlos,
fortwährend vordrängen.
Der Hysterische geht noch weiter; er duldet unter seinen
Gedanken nicht einmal diese harmlosen Vertreter der verdrängten
Triebregungen und schafft für sie in seiner Körperlichkeit ein Symbol.
Er stellt also sowohl die bewußtseinsunfähigen Begierden als auch
den gegen sie geführten Abwehrkampf mittels motorischer und
sensitiv-sensorieller Symptome dar. Die hysterischen Anästhesien,
Schmerzen, Lähmungen und Krämpfe sind nichts als Symbole ver-
drängter Gedanken.
Es gibt aber auch andere Arten der Abwehr unangenehmer
Vorstellungskomplexe. In der Paranoia löst z. B. der Kranke die
ihm unerträglich gewordenen Vorstellungen einfach von seinem „Ich“
los und projiziert Sie auf andere Personen.
Die Grenze zwischen „Ich“ und Außenwelt ist verschiebbar;
wir merken oft auch bei Gesunden die Tendenz, unliebsame Vor-
stellungen anderen in die Schuhe zu schieben. Dasselbe tut auch
der Paranoiker, allerdings viel ausgiebiger. Anstatt sich gewisse
Arten des Liebens und Hassens einzugestehen, läßt er diese mit
seiner Selbstachtung unerträglichen Gefühle und Gedanken durch
unsichtbare Geister in sein Ohr flüstern oder er liest sie aus den
Gesichtszügen oder Bewegungen seiner Mitmenschen ab.
Eine vierte Form der Selbstverteidigung gegen die erwähnten
Komplexe finden wir bei der Dementia praecox. Seit Jungs
und Abrahams grundlegenden Arbeiten wissen wir, daß Menschen,
die an diesem Übel leiden, nicht in dem Sinne verblöden, als wären
sie unfähig, logische Gedanken zu bilden, sondern, daß sie ihre
Libido der Außenwelt so vollkommen entziehen, daß diese
für sie sozusagen zu existieren aufhört. |
Der Demente überträgt das ganze Interesse und die Affekt-
besetzung, die er der Außenwelt entzieht, auf das eigene Ich; da-
her seine kindischen Größenwahnideen, seine infantilen Gewohn-
heiten, das Wiederaufleben der autoerotischen Befriedigungsarten,
die Rücksichtslosigkeit gegen die Anforderungen der Kultur, über-
haupt die vollständige Nichtachtung, Vernachlässigung der Außenwelt.
Alle genannten Arten der Flucht vor unangenehmen Vorstel-
lungen finden sich auch innerhalb des „Normalen“. Die körperlichen
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 3
Äußerungen der „normalen“ Gefühlsausbrüche haben viel mit der
Hysterie gemein; ein Verliebter vermag seinen Liebesaffekt auf
jeden Gegenstand, jede Person zu übertragen, die mit dem eigent-
lichen Gegenstand seiner Gefühle in assoziativem Zusammenhange
stehen, und das hat nicht mehr Sinn als eine zwangsneurotische Affekt-
verschiebung; der Mißtrauische, der Eifersüchtige: wie oft projizieren
sie nur die Ahnung der eigenen Nichtsnutzigkeit oder Lieblosig-
keit auf andere; und wenn sich jemand in den Menschen getäuscht
hat: wird er nicht ein Egoist, ein in sich gekehrter Mensch, der
teilnahmslos das Schaffen und Walten der anderen beobachtet und
dessen ganzes Interesse seinem eigenen Wohlergehen, seiner körper-
lichen und seelischen Befriedigung gilt?
Der berühmte Spruch des Physiologen Brücke „Krankheit
ist nur Leben unter veränderten Bedingungen“, gilt also auch für
die Psychoneurosen. Funktionale Psychosen und Psychoneurosen
unterscheiden sich vom normalen Seelenleben nur graduell.
Nun noch einige Worte von der Ätiologie dieser Neurosen.
Die Schriftsteller, die das Leben naiv, aber mit scharfen Augen be-
obachten, konnte keine Gehirnanatomie von der Auffassung ab-
bringen, daß seelische Erregungen für sich allein im Stande sind,
eine Erkrankung der Seele zu verursachen. Während wir Ärzte das
leere Stroh physiologischer Schlagwörter druschen, machte Ibsen
in seiner „Frau vom Meere“ eine fast tadellose Psychoanalyse, durch
die er die Ursache einer Zwangsvorstellung in einem psychischen
Konflikt aufdeckte. „Die Frau Agnes“ von Johann Arany*, die ihr
weißes Leintuch immerfort im Bache wäscht, leidet an Dementia
praecox, deren Stereotypie in der Tragik der Ballade dieselbe Er-
klärung findet, die man für .die stereotypen Handlungen vieler
Geisteskranker an der Züricher Klinik gegeben hat. Der Waschzwang
der Lady Macbeth ist uns viel plausibler geworden, seitdem wir
uns überzeugt haben, daß auch unsere Neurotiker mit derselben
Zwangshandlung die moralischen Flecken ihres Gewissens wegwischen
möchten. Der Mann der Wissenschaft machte sich früher oft über
die Naivität des Romandichter lustig, der, wenn er um eine Lösung
verlegen war, seinen Helden einfach verrückt werden ließ; und nun
müssen wir uns zu unserer Beschämung eingestehen, daß nicht die
* Hervorragender ungarischer Epiker und Balladendichter
3
34 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
Gelehrten, sondern die naiven Dichter im Rechte waren. Die Psycho-
analyse zeigte uns, daß der Mensch, wenn er keinen Ausweg aus
seinen Seelenkonflikten findet, sich in die Neurose oder die Psy-
chose flüchtet. Angesichts der Kurzsichtigkeit der Fachgelehrten,
die das übersehen konnten, ist man versucht, wieder jenem Lich-
tenberg recht zu geben, der da behauptete: „die Leute vom Fach
wissen oft das beste nicht“.
Vor der Psychoanalyse hielt man die Frage der Ätiologie der
funktionalen Seelenkrankheiten mit dem Schlagworte „erbliche Be-
lastung“ für erledigt. Aber gleichwie es voreilig und unfruchtbar
war, die Lösung -des Neurosenproblems mit Hilfe von Anatomie,
Physik und Chemie des Gehirns zu forcieren, so war es auch sehr
übereilt, zur Erklärung der Neurosenätiologie die erbliche Disposi-
tion heranzuziehen, ehe man die Möglichkeiten der zur Erkrankung
führenden Einflüsse nach der Geburt erschöpft hatte. Es ist ja
unzweifelhaft, daß der Erblichkeit eine bedeutende Rolle bei der
Entstehung der Seelenkrankheiten zukommt. Aber über die Natur
dieser dispositionellen Faktoren, wissen wir noch gar nichts*, so daß
die Zurückführung der Neurosen auf „Degeneration“ gleichbedeutend
ist mit dem Bekenntnis der vollen Unwissenheit in pathologischer
und der Machtlosigkeit in therapeutischer Hinsicht. Nach der psycho-
analytischen Auffassung istniemand vollständig immun gegen zu starke
oder zu lange dauernde Belastung oder Erschütterungen des Gemütes,
die Disposition hat nur die Bedeutung, daß dem schon von Geburt
aus stark Belasteten kleinere, dem robuster Konstituierten größere
Erschütterungen Schaden bringen. Natürlich erkennt die Psychoana-
lyse auch die Möglichkeit an, daß erbliche Faktoren auch auf die
spezielle Art der Neurose Einfluß nehmen können. — Freud vergleicht
die Erblichkeit der Neurosen mit der Erblichkeit der Tuberkulose.
Gleichwie es sich bei der ererbten Tuberkulose bei gründlicher
Untersuchung oft herausstellt, daß es sich um eine von der Kranken-
umgebung im Kindesalter akquirierte Infektion handelt, nicht nur
um mitgebrachte Schwäche des Organismus: so müssen wir bei
den Kindern neurotischer Eltern nebst der Erblichkeit auch den ab-
normen seelischen Eindrücken eine große Bedeutung beimessen, denen
* Dieser Satz gilt heute,
dank d ch tischen F )
mehr. (Anm. bei der Korrektur.) en psychoanalytıschen Forschungen, nicht
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 33
sie seit ihrer frühesten Kindheit ausgesetzt waren. Jeder Knabe und
jedes Mädchen hat z. B. den sehnlichen Wunsch, Vater beziehungs-
weise Mutter zu werden, und wir können uns nicht wundern, wenn die
Kinder nicht nur die wirklichen oder vermeinten Vorzüge der Eltern,
sondern auch ihre Eigentümlichkeiten und neurotischen Symptome
sich aneignen. |
Daß die Psychoneurose unter den Angehörigen des weiblichen
Geschlechtes häufiger ist, wird verständlich, wenn wir an den Grad-
unterschied des kulturellen Druckes denken, der auf der Sexualität
der beiden Geschlechter lastet. Den Männern ist schon in der Jugend
vieles erlaubt, was der Frau nicht nur in Wirklichkeit, sondern auch
in der Phantasie verwehrt ist. Auch die Ehe kennt zweierlei Moral,
deren eine für den Ehemann, deren andere für die Frau Giltigkeit
hat. Die Gesellschaft ahndet sexuelle Verfehlungen der Frau viel
strenger als die des Mannes. Die periodischen Schübe in der weib-
lichen Sexualität, die Pubertät, die Menses, die Schwangerschaften
und Geburten, das Klimakterium, erfordern von der Frau eine viel stär-
kere Verdrängung, als sie beim Manne notwendig ist. All das vermehrt
bei ihnen die Anzahl der Psychoneurosen. Besonders unter den
Hysterischen sind die Frauen in überwiegender Mehrzahl, während
die Männer sich eher in die Zwangsneurose retten. Bezüglich der
Paranoia und der Demenz hat man keine verläßlichen Daten über
die Verteilung nach Geschlechtern; mein persönlicher Eindruck
geht dahin, daß die Paranoia mehr unter Männern, die Demenz
eher unter Frauen ihre Opfer sucht.
Im Gesagten habe ich Ihnen eine — allerdings sehr rohe und
primitive — Skizze der psychoanalytischen Neurosenlehre gegeben.
Ich weiß aber, daß Sie als Praktiker von mir auch eine Stellung-
nahme zu den bisher üblichen therapeutischen Verfahren und wenig-
stens Andeutungen über die analytische Therapie erwarten.
Das versteht sich eigentlich nicht so von selbst. „Warum ver-
langt man nicht“ — fragt Dietl — „vom Astronomen, daß er Tag
in Nacht, vom Meteorologen, daß er kalten Winter in heißen Sommer,
vom Chemiker, daß er Wasser in Wein verwandelt“ und mit welchem
Recht verlangt man gerade vom Arzt, daß er sich in die Ver-
kettung der Ursachen des verwickelten Lebensprozesses einmengt
und den Krankheitszustand des kompliziertesten Naturgeschöpfes,
3*
36 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
des Menschen, in Gesundheit verwandelt? Zum Glück begann man
über diese Frage erst zu einer Zeit wissenschaftlich zu grübeln, als
die ärztliche Heilkunde schon seit Jahrtausenden an der Arbeit war
und auch recht bedeutende Erfolge aufweisen konnte. Ist doch „das
Heilen das älteste Handwerk und die jüngste Wissenschaft“. (Nuß-
baum). Wäre es anders und müßten wir unsere Heilversuche nicht
auf rohe Empirik, sondern auf logische Deduktion gründen, so wären
wir noch heute nicht so kühn, die schwere Aufgabe des Heilens auch
nur zu versuchen. Auch in der Therapie der Psychoneurosen eilte
das Handeln dem Denken weit voraus. Nach dem soeben Vorge-
tragenen sind wir erst am Änfange des Weges, auf dem wir über
das Wesen der Neurosen einen bestimmteren Begriff zu gewinnen
hoffen, und doch füllen bereits die Bücher, die sich mit der Therapie
der Neurosen beschäftigen, eine ganze Bibliothek. Wie steht nun der
auch in der Psychoanalyse bewanderte Nervenarzt den Fragen der
Therapie gegenüber? — Biegansky’s Buch über die „Logik in der
Heilkunde“, der sich natürlich jedes medizinische Spezialfach unter-
werien muß, stellt in der Therapie das nicht ganz neue, aber ohne
Zweifel richtige Prinzip als Wegweiser auf, daß ein Heilverfahren
nur so weit richtig ist, als es die schädlichen Symptome verfolgt
und die nützlichen fördert. Diese Auffassung ist die der pathologi-
schen Teleologie; sie steht auf der Grundlage einer Zwecklehre,
nach der nur ein Teil der Symptome schädlich zu nennen ist, während
in einem andern Teil sich eine automatisch reparierende und kom-
pensierende Tendenz äußert. Es ist also nicht vernünftig, die Sym-
ptome der Krankheit blindlings „heilen“ zu wollen. Wir werden unserer
Aufgabe erst gerecht, wenn wir darnach trachten, die Selbstheilungs-
versuche des kranken Organismus, soweit es in unserer Macht steht,
zu fördern.
Es ist anzunehmen, daß die bisherige rein empirische Neurosen-
therapie in jenen Fällen Erfolge erzielte, in denen es dem Arzte,
wenn auch nicht klar bewußt, gelang, die automatisch heilenden Ten-
denzen der Natur nachzuahmen. Auch die Symptome der Psycho-
neurosen sind nämlich vielfach „teleologisch“ verständlich. Der Kranke,
der die unangenehmen Vorstellungen verschiebt, in körperliche Sym-
ptome konvertiert, in die Außenwelt projiziert oder sich vor ihnen auf
sein „Ich“ zurückzieht, strebt damit einen Zustand seelischer Ruhe
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 97
und Reizlosigkeit an. Bei der Paranoia und der Dementia gelingt
die Flucht vor den Uhnlustreizen so vollkommen, daß diese zwei
Leiden nach unseren heutigen Erfahrungen für die Therapie voll-
kommen unzugänglich sind. Das Mißtrauen des Wahnsinnigen, die
Interesselosigkeit des Dementen machten jede seelische Beeinflussung
unmöglich. Bei der Hysterie und Zwangsneurose hatte aber auch die vor-
analytische Therapie manchen, wenn auch meist nicht dauernden Er-
folg aufzuweisen. Viele Kranke wurden gesund, wenn sie aus ihrer
Umgebung fort, in ein anderes Milieu versetzt wurden, doch meist
‚war die Rezidive wieder da, wenn sie wieder in die alte Umgebung
zurückkehren mußten. Bei vielen gelang es, mehr-weniger anhaltende
Erfolge durch die Verbesserung der Ernährung, Stärkung der Körper-
kräfte zu erreichen. Aber auch bei diesen war stets zu befürchten,
“ daß, wenn die organische Widerstandsfähigkeit später aus irgend
einem Grunde wieder abnehmen sollte, die im Keime nicht erstickte
Seelenkrankheit von neuem ausbrechen würde. Auch die meist passa-
geren Erfolge des Milieuwechsels verstehen wir eigentlich erst, seit-
dem die Psychoanalyse feststellen konnte, daß die verdrängten patho-
genen Vorstellungen der Neurotiker sich meist auf die Personen der
nächsten Umgebung beziehen und der Arzt nur die instinktive Kom-
plexscheu des Kranken nachahmt, wenn er ihn aus seinem Heim,
in dem die pathogenen Vorstellungsgruppen nicht zur Ruhe
kommen können, entfernt.
Unter den Mitteln der Psychotherapie ist das schlechteste Ver-
fahren das sogenannte „ermutigende“ und „erklärende“. Ver-
gebens sagen wir dem Kranken, sein Leiden sei kein „organisches“,
daß er nicht krank sei, sondern nur so fühle, als ob er es wäre; ver-
geblich erklären wir, er müsse nur wollen; durch all das bringen wir
den Patienten nur noch mehr zur Verzweiflung. Wenn wir Münch-
hausen belächeln, der uns da vorlügt, daß er sich selbst samt
seinem Pferde bei den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen habe,
dann darf man auch vom Neurotiker nicht verlangen, daß er „sich
zusammennehmen“ soll. Dieselbe Kritik verdient das Moralisierver-
fahren von Dubois. — Nur kurz will ich hier die Fragen der Hyp-
nose und Suggestion berühren und bemerke sogleich, daß auf die-
sem Wege gewisse Erfolge zu erzielen sind. Schon Charcot er-
klärte, die Hypnose sei eine Art künstlicher Hysterie, und die Psycho-
38 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
analyse bekräftigt dies, indem sie konstatiert, daß die Suggestion,
ob in der Hypnose oder im Wachzustande angewendet, die Sym-
ptome nur unterdrückt, also dasselbe Mittel verwendet, das bei den
Selbstheilungswünschen des Hysterikers versagte. Im Unbewußten
des Neurotikers, bei dem wir die Krankheitssymptome durch Hypnose
erstickten, blieb die krankmachende Vorstellungsgruppe durch diese
Kur unangetastet. Sie wird sogar im gewissen Sinne noch vergrößert,
das heißt, zu den bisherigen Symptomen gesellt sich nun ein neues
hinzu, das allerdings die Äußerung der früher vorhandenen Sym-
ptome zeitweilig hindern kann. Wenn die Kraft des suggestiven Ver-
botes sich abschwächt (und dazu genügt, daß der Kranke sich aus
der Umgebung des Arztes entferne), so können sich die Symptome
sofort wieder manifestieren. Ich halte die Hypnose und Suggestion
für eine meist ungefährliche, unschädliche, aber wenig Erfolg ver-
sprechende Heilmethode, deren Anwendung übrigens schon dadurch
sehr beschränkt wird, daß nur ein ganz kleiner Bruchteil der Men-
schen wirklich hypnotisierbar ist.
Die Sanatoriumbehandlung vereinigt die Vorzüge des Milieu-
wechsels mit denen der Suggestion. Das Hauptheilmittel des Sana-
toriums ist die angenehme, imponierende Erscheinung, die Liebens-
würdigkeit oder Strenge des Arztes. Besonders Frauen hängen oft
mit exaltierter Schwärmerei an der Person des Sanatoriumarztes
und können ihm zuliebe sogar ihre hysterischen Launen unterdrücken.
Sind sie aber zuhause angelangt, verfliegt der Zauber bald. Die Ge-
wohnheit, in Sanatorien zu leben, kann selbst zu einer Art Krankheit
werden, die man „Sanatoriumskrankheit“ nennen könnte; viele
werden durch sie ihrem Heim und ihrer Beschäftigung vollständig
entfremdet.
Die Beschäftigungstherapie, die körperliche und seelische
Arbeit, ist eine sehr bewährte Heilmethode der Psychoneurosen,
auch sie unterstützt die Flucht vor den quälenden Seelenkonflikten.
Leider ist in schwereren Fällen der Kranke meist unfähig, die
Energie, die er auf Symptome verschwendet, nützlicheren Zielen
zuzuwenden.
Elektrizität, Massage, Bäder usw. sind nur Vehikel der Sug-
gestion und verdienen nur als solche bei der Therapie der Psycho-
' neurosen Erwähnung.
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen 39
Die antineurotischen Medikamente zerfallen in zwei Gruppen.
Die narkotischen Mittel (Brom, Opium etc.) betäuben den Kranken
zeitweilig und verringern mit der seelischen Wachsamkeit auch die
Kraft der Symptomäußerungen für eine Zeit. Gewöhnt sich der
Kranke an sie oder setzt man sie aus, so erneuern sich die Symptome
wieder. Man kann also im Prinzip kein Freund der Medizinverab-
reichung sein, wenn man auch manchmal genötigt ist, auch zu diesen
Mitteln zu greifen. Die sogenannten spezifischen Heilmittel der Neu-
rosen sind meist vollständig wirkungslose oder höchstens suggestiv
wirkende Arzneien.
Überblicken wir die bis jetzt besprochenen Heilverfahren und
Mittel, so sehen wir tatsächlich, daß diejenigen von einiger Wirkung
sind, denen es gelingt, die Selbstheilungstendenz, die Verdrängung,
zu verstärken. Diese Wirkung kann aber nicht von Dauer sein,
weil der krankheitserregende Konflikt weiter unerledigt im Un-
bewuößten verborgen bleibt und, so bald sich die äußeren Umstände
ungünstiger gestalten, seine Wirkung wieder fühlbar macht.
Die Psychoanalyse dagegen ist ein Verfahren, das die
neurotischen Konflikte nicht mit neuerlicher Verschiebung, zeitweiliger
Verdrängung, sondern radikal erledigen will. Sie sucht die Wunden
der Seele nicht zu verbinden, sondern sie aufzudecken, bewußt-zu
machen. Natürlich nicht, ohne daß sie den Kranken „nacherzieht“
und ihn daran gewöhnt, die unlustvollen Vorstellungen zu ertragen,
anstatt sich vor ihnen in die Krankheit zu flüchten. Dieses psychische
Heilverfahren hat in vielen Fällen Erfolg. Allerdings dauert es meist
viele Monate, bis es dazu kommt, selbst wenn sich der Arzt täglich eine
Stunde lang mit dem Kranken beschäftigt. Die Deutung der in der
„freien Assoziation“ auftauchenden Ideen, die Analyse der Träume
und der Symptome selbst, macht den Kranken allmählich mit dem
bisher unbewußten Anteil seines Vorstellungslebens, sozusagen mit
seinem zweiten „Ich“ vertraut, das, so lange es der bändigenden
Macht des Bewußtseins nicht unterlag, die Seelenfunktionen stören
konnte.
Das auf dem Wege der Analyse gewonnene, möglichst voll-
ständige Erkennen seiner selbst schafft erst die Möglichkeit, die
krankheitserregenden Komplexe unschädlich zu machen, das heißt,
sie der Herrschaft der. Vernunft zu unterwerfen.
40 Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen
Das Bloßlegen der verschütteten Schichten der Seele vermehrte
nicht nur das Verständnis für das pathologische Wesen der Psycho-
neurosen, es eröffnete nicht nur neue gangbare Wege zur Heilung,
sondern gestaltet auch die Prophylaxe dieser Leiden hoffnungsvoller.
Was man bisher von der Prophylaxe der Neurosen faselte, konnte
bei Unkenntnis der wirklichen Pathogenese des Leidens nicht mehr
Sinn haben, als die Verordnung des Dorfschulzen, daß die Fässer
drei Tage vor jeder Feuersbrunst mit Wasser zu füllen sind. Die
wirkliche Prophylaxe der Psychoneurosen ist nur von einer Ände-
rung der Erziehungsmethoden und der sozialen Einrichtungen zu
erhoffen, die die Verdrängung auf das unvermeidliche Minimum be-
schränkt.
All die Tatsachen und Theorien, mit denen ich Sie im heutigen
Vortrage bekannt mache, sind noch Gegenstand starker Kontro-
versen unter den Gelehrten, doch eigentlich nur die theoretischen
Konklusionen, denn die Gegner der Psychologie Freuds beschränken
sich meist darauf, die Unwahrscheinlichkeit seiner Behauptungen zu
verkünden, meist unterziehen sie sich aber der mühevollen Aufgabe
nicht, sie auf ihre Tatsächlichkeit zu untersuchen.
Die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der Ausgrabung der
in der Seelentiefe verborgenen archaischen Denkmäler, sie entziffert
aus ihnen die Hieroglyphen der Neurosen. Das Recht, über diese
Forschungen zu urteilen, haben nur die, die diese hieroglyphischen
Zeichen lesen lernen, keinesfalls aber die, die ihre Ansicht auf vor-
gefaßte Meinungen oder moralische Werturteile gründen.
Die Psychoanalyse der Träume*
Es ist keine seltene Erscheinung in der Entwicklung der Wissen-
schaften, daß die berufsmäßigen Arbeiter der Gelehrsamkeit mit
allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln, mit dem ganzen Rüstzeug
ihres Wissens und Könnens irgendeinen Grundsatz der Volksweis-
heit bekämpfen, der aber vom Volke mit der gleichen Zähigkeit
verteidigt wird, und daß am Ende die Wissenschaft bekennen muß,
im wesentlichen sei nicht sie, sondern die volkstümliche Auffassung
im Rechte. Es wäre besonderer Untersuchungen wert, zu ergründen,
warum das Wissen anstatt auf einer allmählich ansteigenden Bahn,
auf solch unregelmäßiger Zickzacklinie fortschreitet, die sich eine
Weile der naiven Weltanschauung des Volkes nähert, um sich dann
ganz von ihr abzuwenden.
Ich erwähne diese eigentümliche Erscheinung, weil die neuesten
psychologischen Forschungen über die Träume, diese merkwürdigen
und bizarren Kundgebungen des Seelenlebens, Tatsachen ermittelt
haben, die uns zwingen, unsere bisherigen Anschauungen von der
Natur des Traumes fallen zu lassen und mit gewissen Einschrän-
kungen zur volkstümlichen Auffassung zurückzukehren.
Das Volk hat nie aufgehört, an die Bedeutsamkeit der Träume
zu glauben. Die ältesten uns erhaltenen schriftlichen Aufzeichnungen,
die zum Lobe der altbabylonischen Könige in Stein gehauen wurden,
die Mythologie und Geschichte der Inder, Chinesen, Azteken, Griechen,
Römer, Juden und Christen stehen, wie der heute lebende Mann
* Vortrag gehalten in der Kgl. Gesellschaft der Ärzte zu Budapest, Okt.
1909, abgedruckt im American Journal of Psychology, April 1910 und in der
„Psychiatr. Neurolog. Wochenschrift“, Nr. 11—13, 1910.
42 - Die Psychoanalyse der Träume
aus dem Volke, auf dem Standpunkte, daß der Traum sinn- und
bedeutungsvoll ist, daß man Träume deuten kann. Die Traumdeutung
war Jahrtausende lang eine eigene Wissenschaft, ein besonderer
Kult, dessen Priester und Priesterinnen nicht selten über die Schick-
sale von Ländern entschieden und weltgeschichtliche Umwälzungen
hervorriefen.
Diese nunmehr veraltete Wissenschaft fußte auf dem .-uner-
schütterlichen Glauben, daß der Traum, wenn auch verhüllt und in
dunklen Anspielungen, aber für den Eingeweihten wohl verständlich,
die Zukunft bedeutet, und daß die höheren Mächte mittels dieser
nächtlichen Erscheinungen die Sterblichen auf bevorstehende wichtige
Begebenheiten vorbereiten wollen. In den breiten Schichten der Be-
völkerung erfreut sich das „Traumbuch“, dieses merkwürdige Über-
bleibsel altbabylonischer Sterndeutung, noch heute großer Beliebtheit
und kann, obwohl seine Einzelheiten in den verschiedenen Ländern
wesentlich voneinander abweichen, als Produkt des allgemeinen Volks-
geistes betrachtet werden.
Demgegenüber finden wir bei der überwiegenden Mehrzahl
der neueren Seelenforscher eine fast vollkommene Geringschätzung
des Traumes als psychischer Leistung und demgemäß auch das
Leugnen von jeglicher Bedeutsamkeit des Trauminhalts.
Manche dieser Forscher betrachten den Traum als sinnlosen
Halluzinationskomplex, der im Gehirn des schlafenden Menschen
regellos aufleuchtet. Nach der Ansicht anderer ist der Traum nichts
als die psychische Reaktion auf jene äußeren (objektiven) oder inneren
(subjektiven) Reize, die die sensiblen Endorgane des Körpers während
des Schlafes aufnehmen und zum Zentrum leiten.
Es fanden sich nur wenige, die sich auf den theoretischen
Standpunkt stellten, daß die schlafende Psyche eine verwickelte,
nicht wertlose Tätigkeit entfalten könne, oder daß dem Traum irgend-
eine symbolische Bedeutung zukomme. Doch auch den letzteren
gelang es nicht, die Absonderlichkeiten der Träume verständlich zu
machen; ihre Traumerklärungen zwangen den Traum in das Pro-
krustesbett eines gekünstelten Spiels mit Allegorien.
Seit Jahrhunderten stand also das Heer der abergläubischen
Traumdeuter dem der Ungläubigen gegenüber, bis vor ungefähr
zehn Jahren der Wiener Neurologe Prof. Freud Tatsachen ent-
Die Psychoanalyse der Träume 43
deckte, die eine Vermittlung zwischen beiden einander feindlichen
Auffassungen ermöglichten, und die zur Entdeckung des wahren
Kerns im Jahrtausende alten Äberglauben verhalfen, dabei auch
dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach der Kenntnis des Zusammen-
hanges zwischen Ursache und Wirkung vollkommen genügen.
Ich bemerke gleich hier, daß Freuds Theorie des Traumes
und seine Art der Traumdeutung sich nur insofern der volkstüm-
lichen Auffassung nähert, als sie den Träumen Sinn und Bedeutung
zuschreibt. Keineswegs aber stützen die neuentdeckten Tatsachen
den Glauben jener, die den Traum auf das Eingreifen höherer Mächte
zurückführen und in ihnen Prophezeiungen sehen möchten. Auch die
Freudsche Theorie betrachtet also den Traum als ein durch das endo-
psychische Geschehen bedingtes Geistesprodukt, und ist nicht geeignet,
den Glauben jener zu stärken, die den Traum als Äußerung über-
natürlicher Kräfte oder des Hellsehens des Schläfers einschätzen.
Die Psychoanalyse, ein neues Verfahren der Untersuchung
und Behandlung von Psychoneurosen, setzte Freud in den Stand,
die wahre Bedeutung der Träume zu erkennen. Dieses Verfahren
geht von der Grundtatsache aus, daß die Kennzeichen dieser Krank-
heiten nur die Sinnbilder gewisser, für das Bewußtsein lästiger,
darum verdrängter, vergessener, doch im Unbewußten fortlebender,
gefühlsschwangerer Gedankengruppen sind, und daß die Ersatz-
bildungen für das Verdrängte verschwinden, sobald es gelingt, die
unbewußten Gedanken mit Hilfe der freien Assoziation aufzudecken
und bewußt zu machen. Im Laufe dieser analytischen Arbeit kamen
auch die Träume der Patienten zur Sprache und Freud machte auch
deren Inhalt zum Gegenstande psychoanalytischer Forschung. Zu seiner
Überraschung fand er in der Traumanalyse nicht nur eine mächtige
Stütze der Behandlung von Nervenkrankheiten, sondern er gewann,
gleichsam als Nebenprodukt, eine neue und mehr als alle bisherigen
einleuchtende Erklärung des Traumes als psychischer Leistung.
In manchen chemischen Gewerben erweisen sich Materialien,
die man bei der Herstellung gewisser Chemikalien nebenbei gewann
und vielleicht lange Zeit als unbrauchbar weggeworfen hatte, mit
der Zeit oft als wertvolle Stoffe, die sogar das frühere „Haupt-
produkt“ der Fabrikation an Wert übertreffen. So ungefähr dürfte
es der von Freud nebenbei gefundenen Traumerklärung ergehen;
44 Die Psychoanalyse der Träume
sie eröffnet solche Aussichten für die Erkenntnis der gesunden und
kranken Seele, daß daneben der eigentliche Ausgangspunkt, die
Behandlung gewisser nervöser Krankheitserscheinungen, als wissen-
schaftliche Frage zweiten Ranges erscheint.
In der mir zu Gebote stehenden kürzen Zeit kann ich Freuds
Traumtheorie nicht ausführlich wiedergeben. Ich muß mich vielmehr
darauf beschränken, die grundlegenden Erklärungen und die wich-
tigsten Tatsachen der neuen Lehre vorzutragen und durch Beispiele
zu belegen. Ich bilde mir auch nicht ein, daß dieser Vortrag die
Hörer überzeugen wird. Nach meiner bisherigen Erfahrung kann
man sich in Sachen der Psychoanalyse eine Überzeugung nur selber
holen. Ich‘ werde also nicht mit den wenigen und recht oberfläch-
lichen Kritikern Freuds polemisieren, sondern nur die wichtigsten
Punkte der Lehre selbst kurz beleuchten. |
Vor allem einige Worte von der Methodik. Wollen wir einen
Traum analysieren, so gehen wir gerade so vor, wie bei der psy-
chologischen Erforschung psychoneurotischer Symptome. Hinter jedem
scheinbar noch so unlogischen Zwangsgedanken sind sinnvolle aber
unbewußte Gedanken versteckt, und diese ausfindig zu machen, ist
die Aufgabe der Psychoanalyse. Freud wies aber nach, daß auch
die Bilder und Ereignisse, aus denen der Traum besteht, zumeist
nur Entstellungen, symbolische Anspielungen verdrängter Gedanken-
reihen sind. Hinter dem bewußten Trauminhalt steckt also ein
latentes Traummaterial, das seinerseits durch sinnvolle, lo-
gische Traumgedanken angeregt wurde. Die Traumdeutung ist
nichts anderes als die Übersetzung des Traumes aus der hiero-
glyphisch-symbolischen Traumsprache in die Begriffssprache, die Zu-
rückführung des offenbaren Trauminhalts durch den Assoziations-
knäuel des verborgenen Traummaterials auf die logischen Traum-
gedanken. Das Mittel dazu ist die sogenannte freie Assoziation.
Wir lassen uns den Traum erzählen, teilen das Erzählte in mehrere
Teile oder Sätze und fordern den Träumer auf, alles zu sagen, was
ihm einfällt, wenn er seine Aufmerksamkeit nicht auf das Ganze
des Traumes, sondern auf einen bestimmten Traumteil, auf eine
darin vorkommende Begebenheit oder deren Wortbild richtet. Diese
Assoziation muß aber ganz frei sein, das einzig dabei Verbotene
ist also das Waltenlassen der kritischen Auswahl unter den Ein-
Die Psychoanalyse der Träume 45
fällen. Jeden halbwegs verständigen Menschen kann man dazu
bringen, alle sich an die Bruchstücke des Traumes knüpfenden Ge-
danken, ob klug oder „dumm“, sinnvoll oder sinnlos, angenehm
oder unangenehm, unter Überwindung der damit etwa verbundenen
Scham, herauszusagen. Auf diese Art lassen wir dann auch die
übrigen Traumbruchstücke bearbeiten und sammeln so das „latente
Traummaterial“, das heißt alle Gedanken und Erinnerungen, als
deren Verdichtungsprodukt das bewußte Traumbild zu betrachten ist.
Es ist nämlich ein Irrtum zu glauben, daß die freigelassene
Assoziationstätigkeit aller Gesetzmäßigkeit bar sei. Sobald wir bei
der Analyse die bewußten Zielvorstellungen des Denkens fallen
lassen, machen sich bei der Auswahl der Assoziationen die Richt-
kräfte der unbewußten Seelentätigkeit geltend, also gerade dieselben
seelischen Mächte, die beim Aufbau des Traumes tätig gewesen
waren. Wir befreundeten uns längst mit dem Gedanken, daß es in
der physischen Welt keinen Zufall gibt, also kein Geschehen ohne
zureichenden Grund; auf Grund der psychoanalytischen Erfahrung
müssen wir aber eine ebenso strenge Bestimmtheit jeder noch so
willkürlich erscheinenden geistigen Tätigkeit annehmen. Es ist eine
unberechtigte Befürchtung, daß die von allen Schranken befreite
Assoziationstätigkeit bei der Analyse wertlose Ergebnisse liefern
wird: Der zu Änalysierende, der anfangs vielleicht selber mit ver-
ächtlicher Ungläubigkeit seine scheinbar sinnlosen Einfälle wieder-
gibt, merkt bald zur eigenen Überraschung, daß die vom bewußten
Willen unbeeinflußte Verkettung zum Erwecken von Gedanken und
Erinnerungen führt, die längst vergessen, oder wegen der Uhnlust,
die sie hervorbringen würden, verdrängt waren, durch deren Auf-
tauchen aber das aus dem Traum herausgegriffene Bruchstück ver-
ständlich oder deutbar geworden ist. Wiederholen wir diesen Vor-
gang mit allen Teilen des Traumes, so sehen wir, daß die von den
einzelnen Brüchstücken ausgehenden Gedankenreihen gegen einen
meist wichtigen und am Vortage des Traumes rege gewordenen
Gedanken, gegen den eigentlichen Traumgedanken zu konver-
gieren, nach deren Erkennung nicht nur die einzelnen Bruchstücke,
sondern auch der Traum als Ganzes sinnvoll und verständlich
erscheint. Und wenn wir zum Schluß den Ausgangspunkt des Traumes,
den Traumgedanken, mit dem Inhalt des naiv erzählten Traumes ver-
46 Die Psychoanalyse der Träume
gleichen, so sehen wir, daß der Traum niehts’ anderes ist
als die verhüllte Erfüllung eines unterdrückten Wunsches.
Dieser Satz faßt die wichtigsten Ergebnisse der Freudschen
Traumforschungen in sich.
Die Auffassung, daß der Traum Wünsche erfüllt, die in der
rauhen Wirklichkeit versagt bleiben, scheint die in der Sprache
niedergelegte Volksweisheit zu teilen. „Träumen“ wird in den
meisten Sprachen metaphorisch für „wünschen“ gebraucht, und das
ungarische Sprichwort besagt geradezu, daß „das Schwein von
Eicheln, die Gans von Mais träumt“, was nur eine Anspielung auf
die gleiche Traumrichtung beim Menschen sein will.
Ein Teil der Träume Erwachsener und die meisten der Kinder
sind reine Wunscherfüllungsträume. Das Kind träumt von Lecker-
bissen, die ihm bei Tag versagt blieben, vom Spielzeug, um das
es seinen kleinen Kameraden beneidete, von sieghaften Kämpfen
mit Ältersgenossen, von der guten Mutter oder dem freundlichen
Vater, sehr häufig dünkt es sich im Traume „groß“, mit allen
Freiheiten und Machtmitteln der Eltern ausgestattet, die es bei Tage
so sehnsuchtsvoll gewünscht hat. Auch bei Erwachsenen kommen
ähnliche reine Wunschträume vor. Die schwere Prüfüng (um die
uns so bange ist) erscheint im Traume als glänzend überstanden;
liebe Verwandte erwachen aus ihrer Gruft und versichern uns; sie
seien nicht gestorben; wir selber kommen uns reich, mächtig, mit
großer Rednergabe ausgestattet vor; die schönsten Frauen bewerben
sich um unsere Gunst usw. Zumeist erreichen wir im Traume gerade
das, was wir im Wachen schmerzlich vermißen.
Die gleiche Tendenz nach Wunscherfüllung beherrscht nicht
nur die nächtlichen, sondern auch die Tagträume, die Phantasien,
bei denen wir uns in unbeschäftigten Augenblicken oder bei ein-
töniger Tätigkeit ertappen können. Freud hat beobachtet, daß die
Frauen zuviel von Dingen phantasieren, die unmittelbar oder mittel-
bar zum Geschlechtsleben gehören (Geliebt-, Angebetetwerden, schöne
Kleider), die Männer in erster Linie von Macht und Ansehen, aber
auch von geschlechtlicher Befriedigung.
‚Auch Phantasien über die Rettung aus einer wirklichen oder
erträumten Gefahr und über das Vernichten wirklicher oder erdichteter
Feinde sind sehr häufig.
Die Psychoanalyse der Träume 47
Diese einfach wunscherfüllenden Träume und Phantasien ver-
stehen sich von selbst, bedürfen also keiner besonderen Deutungs-
arbeit.
Das Neue, Überraschende und vielen Unglaubliche an der
Traumerklärung Freuds ist aber die Behauptung, daß alle Träume,
selbst die scheinbar gleichgültigen oder unangenehmen, auf diese
Grundform zurückzuführen sind und sich bei der Analyse als ver-
kappte Wunscherfüllungen erweisen. Um das zu verstehen, müssen
wir uns zunächst mit den Mechanismen der psychischen Tätigkeit
beim Träumen vertraut machen. |
Die assoziative Analyse eines Traumes ist nur die Umkehrung
jener synthetischen Arbeit, die die Seele bei Nacht verrichtet,
indem sie die den Schlaf störenden unangenehmen Gedanken
und unbefriedigenden Empfindungen in wunscherfüllende Traum-
bilder verwandelt. Diese Tätigkeit nennt Freud die Traumarbeit
und gibt auf Grund triftiger Erwägungen der Überzeugung Aus-
druck, daß diese Arbeit während des Schlafes fast nimmer ruht,
auch wenn wir uns etwa beim Erwachen nicht entsinnen können,
etwas geträumt zu haben. Die althergebrachte Auffassung, daß der
Traum die Ruhe des Schlafes stört, muß eben auf Grund der neu-
gewonnenen Erfahrungen fallen gelassen werden; im Gegenteil,
indem er die ruhestörenden, unlustvollen, peinlichen oder lästigen
Gedanken nicht in ihrem wirklichen Inhalte, sondern zu Wunsch-
erfüllungen verzaubert, bewußt werden läßt, müssen wir ihn förm-
lich als Hüter des Schlafes anerkennen.
Der psychische Faktor, der über die Ruhe des Schlafes oft
auch mit Hilfe der schon erwähnten Traumentstellung wacht, ist
die Zensur. Sie ist die Türhüterin an der Bewußtseinsschwelle,
die wir auch im wachen Geistesleben, besonders aber bei den Psycho-
neurosen, so eifrig an der Arbeit sehen, und die es auch für ihre
Aufgabe erachtet, alle in ästhetischer oder ethischer Hinsicht mit
dem Bewußtsein unverträglichen Gedankengruppen entweder ganz
zu unterdrücken, oder zu harmlos erscheinenden symbolisierenden
Symptomhandlungen oder Symptomgedanken zu entstellen. Die
Zensur will eben die Ruhe des Bewußtseins sichern und alle
unlustentbindenden, ruhestörenden, psychischen Bildungen davon fern-
halten. Und wie der Zensor zu Zeiten des politischen Absolutismus,
48 Die Psychoanalyse der Träume
setzt die psychische Zensur auch bei Nacht ihre Tätigkeit fort
wenn sie auch während des Schlafes den Rotstift bei weitem nicht
so streng handhabt wie im Wachen. Wahrscheinlich läßt sie sich
durch die Idee einschläfern, daß die Beweglichkeit im Schlafe ge-
lähmt ist, also Gedanken nicht zur Tat werden können. So erklärt
es sich, daß in den Träumen häufig Bilder und Lagen als Wunsch-
erfüllungen auftauchen, mit denen wir bei Tage jede Gemeinsamkeit
verleugnen würden.
Wir alle beherbergen in unserem Unbewußten eine Unzahl seit
Kindheit verdrängter Wünsche, die, sobald sie bei Nacht das Nach-
lassen der Zensur wahrnehmen, die Gelegenheit zur Geltendmachung
ihrer psychischen Intensität benützen.
Es ist kein Zufall, daß unter den im Traume sich enthüllenden
Wünschen die am strengsten überwachten sexuellen Regungen und
besonders deren meist verachtete Kundgebungen die größte Rolle
spielen, und es ist ein sehr großer Irrtum zu glauben, daß die Psycho-
analyse mit Absicht die Geschlechtstätigkeit in den Vordergrund
stellt. Niemand kann dafür, daß, wo immer man die Grundlagen
des Seelenlebens zerlegend zu erforschen versucht, man immer
wieder auf das Geschlechtliche stößt. Findet also jemand die Psycho-
analyse anstößig, so erniedrigt er damit die Beschreibung des un-
bewußten menschlichen Seelenlebens zu einer Zote.
Die Zensurjerung der Sexualität ist, wie gesagt, im Traum-
leben viel milder als im Wachen, darum begeht und erlebt man
in seinen Träumen so häufig schrankenlos geschlechtliche, ja an die
sogenannten Perversitäten gemahnende Handlungen und Situationen.
Ich berufe mich zum Beispiel auf den Traum einer im Leben außer-
ordentlich schamhaften Kranken: Sich selbst sah sie in ein antikes
Peplon gewickelt, das vorne mit einer Sicherheitsnadel befestigt
war. Plötzlich fiel die Nadel heraus, die weiße Hülle öffnete sich
vorne und so ließ sie von einer großen Schar von Männer ihre
Nacktheit bewundern. Eine andere, gleichfalls sehr zurückhaltende
Kranke brachte mir diesen Exhibitionstraum in einer etwas ver-
änderten Fassung. Sie war vom Scheitel bis zur Zehe in eine weiße
Hülle gewickelt und an eine Säule gebunden; um sie herum standen
fremdländische Männer, Türken oder Araber, die um sie feilschten-
Die Szene erinnert, wenn man von der Umhüllung absieht, lebhaft
Die Psychoanalyse der Träume 49
an einen orientalischen Sklavenmarkt, und tatsächlich brachte es die
Analyse heraus, daß die jetzt so schamhafte Dame als junges Mädchen
bei der Lektüre der Märchen der „Tausend und einen Nacht“ sich
sehr tief in das farbenprächtige Liebesleben des Morgenlandes hinein-
phantasiert hatte. Damals stellte sie sich noch vor, daß Sklavinnen
nicht verhüllt, sondern nackt zum Verkauf gestellt werden. Heute
verwirft sie die Nacktheit sogar im Traume so streng, daß sie
ihre darauf zielenden, verdrängten Wünsche nur ins Gegenteil
verkehrt verwirklichen kann. Eine dritte Träumerin erlaubte sich
nur noch soviel Freiheit in dieser Hinsicht, daß sie unvollkommen
bekleidet, in Strümpfen oder mit nackten Füßen sich inmitten der
übrigen Traumgestalten bewegte; und doch bewies die Analyse,
daß sie als Kind sehr gerne und sehr lange sich möglichst aller
Kleidungsstücke entledigte, was ihr damals den Spitznamen einer
„nackten Panczi“ (sie heißt Anna, und ungarisch auch Panna)
einbrachte. Solche Schaustellungsträume sind so häufig, daß sie
Freud unter den typischen Träumen, die nämlich bei den meisten
Menschen von Zeit zu Zeit wiederkehren und den gleichen Ursprung
haben, anführen konnte. Sie weisen darauf hin, daß in uns allen
eine unsterbliche Sehnsucht nach der Wiederkehr der paradiesischen
Zustände des Kindesalters fortlebt; dies ist „das goldene Zeitalter“,
das Dichter und Utopisten aus der Vergangenheit in die Zukunft
projizieren.
Ein recht häufiges Mittel zur Traumentstellung und zur Um-
gehung der Zensur ist es, daß der Wunsch nicht als solcher, sondern
nur in Form einer Anspielung im Traume dargestellt wird. Wir
würden es z. B. nicht verstehen, warum eine meiner Patientinnen
so häufig von geschlechtlichen Szenen mit einem ihr ganz indif-
ferenten Herrn namens Frater träumt, erführen wir nicht, daß in
ihrer Jugend der Bruder (frater) ihr Ideal war, und daß in der
Kindheit die Zuneigung des Geschwisterpaares nicht selten rein
erotische Formen angenommen hatte und sich in gegenseitigen
Berührungen kundgab, vor denen, als inzestuösen, sie jetzt zurück-
schrecken würden.
Dieses Zurückschrecken vor dem Verbotenen verschafft sich
oft auch in den Traum Eingang, besonders bei Personen, die in-
folge unvollständiger Befriedigung der Libido zu Angstentbindung
4
50 Die Psychoanalyse der Träume
neigen (Angstneurotiker nach Freud). Die nächtliche Angst kann
so hochgradig werden, daß der Träumer mit Unlustgefühlen erwacht
(pavor nocturnus). Die physiologisch begründete Angst bietet in
solchen Fällen den tiefst verdrängten, kindlich-perversen Regungen
Gelegenheit, sich im Traume zu verwirklichen, in Form fürchterlicher,
grausamer, grauenhafter Szenen, die, wie schrecklich sie auch uns
vorkommen, in einer gewissen Tiefe des Unbewußten wunschbe-
frfiedigend wirken, wie sie auch in dem „prähistorischen“ Zeitalter
unserer eigenen geistigen Entwicklung, in der Kindheit, tatsächlich
anerkannte Wünsche waren.
Das Vorherrschen der tätigen und erduldenden Grausamkeit
in diesen Träumen dürfte in der sadistischen Auffassung des Ge-
schlechtsverkehrs durch die Kinder seine Erklärung finden, was uns
Freud in seinen „infantilen Sexualtheorien“* so schön gezeigt hat.
Alle grausamen Handlungen solcher Träume erscheinen nach
der Analyse als ins Gewalttätige umgesetzte geschlechtliche Be-
gebenheiten. Die geschlechtlich unbefriedigten Frauen z. B. träumen
immerfort von Einbrechern, Raubattentaten, von Angriffen wilder
Tiere; aber irgend eine versteckte, unauffällige Einzelheit des Traumes
oder seines sprachlichen Ausdruckes läßt erraten, daß die Atten-
tate, denen die Träumenden zum Opfer fallen, eigentlich geschlecht-
liche Handlungen symbolisieren. Eine Hysterische meiner Beobachtung
träumte einmal, daß sie von einem Stier überrannt wurde, da sie
ein rotes Kleid anhatte. Der Traum verwirklichte hier nicht nur
den vorhandenen Wunsch nach dem Besitze eines solchen Kleides,
sondern auch uneingestandene geschlechtliche Wünsche, die auch
ihre Gemütskrankheit verursachten. Der Gedanke des schrecklichen
wütenden Stieres, der auch sonst ein allgemein verbreitetes Symbol
männlicher Kraft ist, war bei ihr noch speziell durch den Umstand
herbeigeführt, daß ein Mann mit einem „Stiernacken“ eine gewisse Rolle
in der Entwicklungsgeschichte ihres Geschlechtslebens gespielt hatte.
Beachten wir die stete und immer bedeutungsvolle Mitwirkung
kindlicher Erinnerungsbestandteile bei der Traumbildung und be-
rücksichtigen wir die durch Freud festgestellte Tatsache, daß das
früheste Kindesalter nicht nur nicht frei ist von sexuellen Regungen,
daß vielmehr die infantile, von der Erziehung noch unberührte Ge-
=... #Siehe Freu d, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905, 4. Auflage, 1920.
Die Psychoanalyse der Träume 51
schlechtlichkeit von ausgesprochen perversem Charakter ist, bei der
die orale und anal-urethrale erogene Zone, die Partial-
triebe der sexuellen Sehbegierde und des Exhibitionismus,
sowie sadistische und masochistische Regungen vorherrschen,
so kommen wir zur Einsicht, daß Freud im Recht ist, wenn er
auch Träume mit solch perversen Regungen als Wunscherfüllungen
anspricht, allerdings als Erfüllungen von Wünschen aus der scheinbar
längst überwundenen Kindheit.
Es gibt aber auch Träume sehr unangenehmen Inhalts, die
eigentümlicherweise unsere Nachtruhe fast gar nicht stören, so daß
wir uns beim Erwachen Vorwürfe machen, wie wir so fürchterliche
Ereignisse so mitleids- oder gefühllos erleben konnten. So erging
es z. B. einer Patientin Freuds, als sie im Traume dem Begräbnisse
eines geliebten Neffen beiwohnte. Eine scheinbar unwesentliche
Einzelheit des Traumes, ein Konzert-Billet, führte zur Aufklärung
ähnlicher Trauminhalte. Die Dame beabsichtigte in allernächster
Zeit ein Konzert zu besuchen, wo sie die Aussicht hatte, den einst
geliebten und noch immer nicht-vergessenen Mann, dem sie vor
längerer Zeit beim Begräbnis eines anderen Neffen zum letzten‘
Male begegnet war, wiederzusehen. Der Traum opferte, um die Be-
gegnung zu beschleunigen, auch den anderen Neffen, doch die
Zensur scheint gewußt zu haben, daß damit nicht der Wunsch eines
Todesfalles, sondern weit harmlosere Wünsche zu erfüllen waren,
sie ließ also die Begräbnisszene „passieren“, ohne ihr eine an-
gemessene Gemütserregung anzuhängen. Diese Analyse kann als
Muster für alle jene gelten, die der Wunschtheorie Freuds scheinbar
widersprechend, von sehr unwillkommenen Dingen oder gar von
der Nichterfüllung irgendeines Wunsches handeln. Erforschen wir
die hinter diesen unlustbetonten Träumen versteckten latenten Traum-
gedanken, so wird uns klar, daß, wie Freud sich ausdrückt, die
Nichterfüllung eines Wunsches im Traume stets die Er-
füllung irgendeines anderen Wunsches bedeutet.
Betrachten wir das an die bewußten Traumelemente sich frei
assoziierende Traummaterial, so fällt uns auf, daß es hauptsächlich
aus zwei gegensätzlichen Quellen fließt: aus kindlichen Erinnerungen
einerseits, aus den unbeachteten, nicht erledigten, oft ganz gering-
fügigen Erlebnissen des Traumtages anderseits. Ja, jeder gut gefügte
4*
52 Die Psychoanalyse der Träume
Traum steht nach dem Ausdrucke Freuds gleichsam auf zwei Beinen
und erscheint nach der Analyse als überderminiert, das heißt
als die Erfüllung gegenwärtiger und längst vergangener Wünsche.
Als Beispiel kann ich den Traum einer an nervösen Harn-
beschwerden leidenden Patientin anführen: „Glänzender Fußboden.
So naß, als wäre ein Tümpel darauf. Zwei Stühle sind an die
Wand gelehnt. Wie ich hinsehe, merke ich, daß die zwei vorderen
Füße beider Stühle fehlen, wie wenn man einem einen Streich
spielen will und ihn auf einen gebrochenen Stuhl setzen läßt, damit
er umfällt. Eine Freundin von mir mit ihrem Bräutigam waren auch
dabei.“ — Zum glänzenden, nassen Fußboden fällt ihr ein, daß
ihr Bruder in seiner Wut am Vortage einen Krug zu Boden warf,
wobei der Fußboden vom vergossenen Wasser aussah wie der im
Traume. Doch ein ganz ähnlicher Fußboden ist ihr auch aus ihrer
Kindheit erinnerlich; damals hat sie derselbe noch sehr jugendliche
Bruder auf eine Weise zum Lachen gebracht, daß sie den Harn
nicht halten konnte. Dieser Teil des Traumes, der sich auch für
die Symptombildung der Nervenkrankheit als bedeutungsvoll erwies,
war also die Erfüllung infantilerotischer Wünsche, die aber infolge
strenger Zensurierung jetzt nur noch in Anspielungen dargestellt
werden konnten. Die zwei gebrochenen, an die Wand gelehnten
Stühle erwiesen sich bei der Analyse als szenische Darstellung des
Sprichwortes: „Zwischen zwei Stühlen auf die Erde fallen“ (d. h.
von zwei Aussichten getäuscht zu werden). Die Patientin hatte
schon zwei Bewerber gehabt, aber ihre bereits erwähnte familiäre
Fixierung (die unbewußte Bruderliebe) verhinderte beide Male die
Heirat. Und obzwar ihr unbewußtes Ich, nach ihrer wiederholten
Aussage, sich längst mit dem Gedanken der Altjungferschaft ver-
söhnt hat, scheint sie doch in ihrem Innern nicht ohne Neid an die
jüngst stattgefundene Verlobung einer Freundin gedacht zu haben.
Das Brautpaar hatte gerade am Vortage des Traumes ihre Auf-
wartung bei ihr gemacht. | |
Nach Freuds Traumlehre können wir uns die Entstehung
dieses Traumes folgendermaßen vorstellen: Der Traumarbeit gelang es,
zwei Ereignisse des Vortages, das Zerbrechen des Kruges und den
Besuch des Brautpaares, mit jenen stets affekterfüllten Gedanken-
gruppen zu verknüpfen, die, obzwar schon in der Kindheit verdrängt,
Die Psychoanalyse der Träume 53
doch immer geneigt sind, ihre affektive Energie irgendeinem gegen-
wärtigen, mit dem Verdrängten noch so entfernt analogen psychischen
Gebilde zu leihen. Freud vergleicht den Traum mit der Gründung
eines geschäftlichen Unternehmens, zu dem die unbewußten, ver-
drängten Komplexe das Kapital, d. h. die affektive Energie bei-
stellen, während die rezenten und bewußten Erinnerungsbilder und
Wünsche die Rolle des Unternehmers spielen.
Eine andere (Juelle des Traumes fließt von jenen sensorischen
und sensiblen Nervenreizen her, von denen der Organismus
während des Schlafens getroffen wird. Solche sind z. B.: Haut-
reize, der Druck der Unterlage und der Decke, Abkühlung der
Haut, akustische oder optische Einwirkungen auf den Schlafenden,
Organgefühle: Hunger, Durst, Übersättigung, Reizzustand der Ge-
schlechtsteile usw. Die Mehrzahl der Psychologen und Physiologen
ist geneigt, diesen Reizen übergroße Bedeutung beizumessen; sie
glauben eine allgemein gültige Traumerklärung zu geben, wenn sie
behaupten, der Traum sei nichts als die Summe der psychophysischen
Reaktionen, die durch solche Nervenreize ausgelöst werden. Dem-
gegenüber verweist Freud mit Recht darauf, daß der Traum diese
körperlichen Reize nicht als solche zum Bewußtsein gelangen läßt,
sondern sie eigentümlich entstellt und verändert. Die Beweggründe
und Mittel dieser Entstellung werden aber nicht mehr vom äußeren
Reiz, sondern von seelischen Kraftquellen geliefert; die Nervenreize
während des Schlafes bieten gleichsam nur die Gelegenheit zur Ent-
faltung gewisser immanenter Tendenzen des Seelenlebens. Nach der
Analyse erscheinen oft auch die Nervenreizträume als offene oder
verhüllte Wunscherfüllungen: der Durstige trinkt viel Wasser im
Traume, der Hungernde sättigt sich, der Kranke, dem ein Eisbeutel
‘ auf dem Kopfe den Schlaf stört, wirft ihn weg, weil er sich im Traume
schon gesund dünkt, das schmerzhafte Pochen eines Furunkels am
Damme führt zur Traumvorstellung des Reitens, und so wird es möglich,
daß der Hunger, der Durst, der auf dem Kopfe lastende Druck, die
schmerzhafte Entzündung, den Schlafenden nicht wecken, sondern
durch psychische Kräfte in Wunscherfüllungen umgewandelt werden.
Die unter dem Namen „Alpdrücken“ bekannten ängstlichen
Träume, zu denen der überladene Magen, eine Störung der Atmung
oder des Blutkreislaufes oder eine Intoxikation Anlaß geben kann,
54 Die Psychoanalyse der Träume
können auf dieselbe Art erklärt werden; die unangenehmen Organ-
empfindungen bieten sehr tief verdrängten Wünschen Gelegen-
heit, sich zu erfüllen, Wünschen, die die kulturelle Zensur nicht
passieren ließe und nur in Verbindung mit Angst und Ekelgefühlen
zum Bewußtsein vordringen läßt.
Bei der Analyse legen wir, wie schon erwähnt, ungefähr den-
selben Weg, den die schlafende Seele bei der Traumbildung ging,
in umgekehrter Richtung zurück. Un wenn wir den oft ganz kurzen
manifesten Traum mit jenem riesigen Material vergleichen, das
während der Analyse zum Vorschein kommt, und wenn wir be-
denken, daß trotz dieses quantitativen Unterschiedes alle Elemente
des latenten Trauminhalts im Geoffenbarten irgendwie vertreten
sind, so müssen wir Freud Recht geben, wenn er diese Traum-
verdichtung als den mühsamsten Teil der Traumarbeit betrachtet.
Ich versuche dies durch ein Beispiel zu erläutern. Ein an psycho-
sexueller Impotenz leidender Kranker brachte mir einmal einen aus
zwei Stücken bestehenden Traum. Im ersten Stück handelte es
sich nur darum, daß er anstatt der ungarischen Zeitung „Pesti
Hirlap“, die er regelmäßig erhält, die Wiener „Neue Freie Presse“
bekam, auf die eigentlich ein Kollege abonniert ist. Der zweite
Teil des Traumes handelt von einer braunen Dame, die um jeden
Preis von ihm geheiratet werden will. |
Es stellte sich heraus, daß er sich nicht die ausländische Zeitung,
sondern in dieser Verhüllung eine ausländische Dame im Traume er-
wirbt, auf die in der Tat ein Kollege „abonniert“ ist, und die schon
lange das Interesse des Patienten erregte, da es ihm vorkam, als
könnte gerade diese Person seine mit starken Hemmungen kämpfende
Sexualität leistungsfähig machen. Die Gedankenverknüpfungen,
die sich hieraus ergaben, machten es klar, daß er bei einer anderen
Dame, mit der er sich aus der gleichen Absicht in ein dauerndes
Verhältnis eingelassen und die er, da sie eine Ungarin ist, im Traum
hinter dem Zeitungsnamen „Pesti Hirlap“ versteckt hatte, in seinen
Hoffnungen getäuscht wurde und sich darum in letzterer Zeit viel
damit beschäftigte, anstatt solcher fester Verhältnisse freiere ge-
schlechtliche Verbindungen zu suchen, die zu nichts verpflichten. Wenn
wir die große Freiheit, mit der sich der Traum der Symbolik be-
dient, kennen, werden wir uns nicht wundern, daß mein Patient
Die Psychoanalyse der Träume 55
auch den Ausdruck Presse in sexuellem Sinne verwendet. Der
zweite Teil des Traumes weist gleichsam, als wollte er unsere
Deutung bestätigen, darauf hin, daß der Patient oft nicht ohne
Besorgnis daran denken mußte, daß allzu dauerhafte Verhältnisse
wie das zwischen ihm und jener Freundin bestehende, leicht zu
einer Mißheirat führen können. Wer nicht weiß, daß, wie Freud
in einer Monographie bewiesen hat,“ die psychischen Beweg-
gründe und Darstellungsmittel der Witze fast die nämlichen sind
wie jene, die sich im Traume kundgeben, könnte es billige Witzelei
nennen, wenn wir behaupten, daß es dem Traume gelang, in den
drei Worten Neue Freie Presse alle jene Gedanken und Wünsche
des Patienten zu verdichten, die sich mit dem deprimierenden
Krankheitszustande und seinen vermeintlichen Hilfsmitteln beschäf-
tigen, nämlich mit dem Reiz des Neuen und der angestrebten
größeren Freiheit. (Neuheit und Zeitung werden im Ungarischen
durcn dasselbe Wort „ujsag“ ausgedrückt.)
Sehr charakteristische Produkte der Traumverdichtung sind
die Mischbildungen von Personen, Gegenständen und Worten.
Diese Monstrositäten der Traumwelt haben viel dazu bei-
getragen, daß die Träume bis auf unsere Tage als wert- und sinn-
lose Geisteserzeugnisse angesehen wurden. Doch überzeugt uns die
Psychoanalyse, daß, wenn der Traum zwei Gestalten oder Begriffe
aneinanderklebt oder vermischt, er eigentlich ein minder gelungenes
Produkt derselben Verdichtungsarbeit leistet, der auch die übrigen
weniger auffallenden Teile des Trauminhalts ihre Entstehung ver-
danken. Eine Regel der Traumdeutekunst schreibt vor, daß in
Fällen solcher Mischgebilde zunächst das Traummaterial der ein-
zelnen Bestandteile gesucht werden muß, dann kann man erst fest-
stellen, auf Grund welcher Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit das
Zusammenschweißen erfolgen konnte.
Ein lehrreiches Beispiel hiefür verdanke ich einer Patientin.
Das Mischgebilde, das in einem ihrer Träume vorkam, war aus
der Person eines Arztes und aus einem Pferde zusammengesetzt,
das noch dazu ein Nachthemd anhatte. Die Assoziationen führten
vom Pferd in die Kindheit der Patientin zurück. Sie litt als Mädchen
* Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Leipzig und
Wien, 1905.
56 Die Psychoanalyse der Träume
lange Zeit an ausgesprochener Phobie vor Pferden; sie scheute
sich vor ihnen besonders ob der auffallenden und offenen Befrie-
digung ihrer körperlichen Bedürfnisse. Daraufhin fällt ihr ein, daß
sie als kleines Kind öfter von ihrer Kindsfrau in das militärische
Gestüt mitgenommen wurde, wo sie Gelegenheit hatte, alle diese
Dinge mit damals noch ungehemmter Neugierde zu beobachten.
Das Nachthemd erinnerte sie an ihren Vater, den sie, als sie noch
im Zimmer der Eltern schlief, nicht nur in solchem Aufzug, sondern
auch bei Verrichtung der körperlichen Bedürfnisse zu sehen Gelegen-
heit hatte. (Dies ist ein sich sehr oft wiederholender Fall; die
Eltern nehmen sich vor drei- bis vierjährigen Kindern, deren Ver-
stand und Beobachtungsfähigkeit sie bedeutend unterschätzen, meist
gar nicht in Acht.) Der dritte Bestandteil des Mischgebildes, der
Arzt, erweckte in mir den sich als begründet erweisenden Ver-
dacht, daß die Patientin die geschlechtliche Neugierde unbewußt
vom Vater auf den sie behandelnden Arzt übertragen hatte.
Manchmal sind die Bestandteile einer Mischperson an der
Bildung dieser in ungleichem Maße beteiligt; von der einen Person
ist vielleicht nur eine bezeichnende Bewegung an die zweite Person
angelötet. In einem Traume sah ich einmal, wie ich mir mit der
rechten Hand ganz so die Stirne rieb, wie mein verehrter Meister
Freud es tut, wenn er über eine schwierigere Frage nachdenkt.
Es gehörte nicht viel Deutekunst dazu, um zu erraten, daß nur
Neid und Ehrgeiz diese Vermischung des Lehrers und Schülers —
besonders beim Nachdenken — dank dem nächtlichen Nachlassen
der intellektuellen Zensur verschuldet haben können. Im Wachen
muß ich lächeln über das Gewagte dieser Identifizierung, die leb-
haft an den Satz erinnert: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt,
das habt ihr ihm weidlich abgeguckt.“
Als Beispiel eines Wortgemisches führe ich an, daß im
Traum eines deutsch redenden Patienten ein gewisser Metzler
oder Wetzler vorkam. Personen mit solchen Namen sind aber
dem Patienten unbekannt. Sehr stark beschäftigte ihn hingegen am
Vortage die bevorstehende Ehe eines Freundes namens Messer,
der sich mit dem Patienten gerne hetzte (süddeutsche Bezeichnung
für necken). Vom Messer fällt ihm aber auch ein, daß er als
kleines Kind große Furcht vor seinem Großvater hatte, als jener
Die Psychoanalyse der Träume 57
ihn beim Wetzen seines Taschenmessers scherzweise mit der
Kastration bedrohte, welche Drohung nicht ohne Einfluß auf die
Entwicklung seiner Sexualität blieb. Die Namen Metzler-Wetzler
sind also nichts als Verdichtungen der Worte: Messer, hetzen
und wetzen. |
| Die Traumverdichtung hängt sehr enge mit der Verschie-
bungsarbeit des Traumes zusammen. Diese besteht im wesent-
lichen darin, daß die psychische Intensität der Traumgedanken von
der Hauptsache auf etwas Nebensächliches verschoben wird, der-
art, daß der im Mittelpunkte des Interesses stehende Gedanken-
komplex entweder gar nicht oder nur mittels einer schwachen An-
spielung im bewußten Trauminhalt vertreten bleibt, während das
Maximum des Interesses im Traume den bedeutungslosen Bestand-
teilen des Traumgedankens zugewandt ist. Verdichtungs- und Ver-
schiebungsarbeit gehen Hand in Hand. Der Traum macht einen
wichtigen, aber die Seelenruhe des Schlafenden störenden oder
ethisch zensurierten Gedanken unschädlich, indem er ihn gleichsam
überschreit und an eine nebensächliche Einzelheit des Stören-
friedes so lange Erinnerungsbilder knüpft, bis deren verdichtete
psychische Intensität die Aufmerksamkeit von dem eigentlich inter-
essierenden Gedanken abzulenken vermag. Als Beispiel für die
so verschobene Zentrierung des bewußten Traumes im Ver-
gleich zur Zentrierung des Traumgedankens erwähne ich
den bereits zitierten Traum einer Tante vom Tode des «geliebten
Neffen. Die in Wirklichkeit nebensächliche Begräbnisszene nahm
den größten Teil des Traumes ein, die für die Traumgedanken
eigentlich bedeutungsvolle Persönlichkeit hingegen war nur durch
eine entfernte Anspielung im Traume vertreten.
Ich hatte einmal den ganz kurzen Traum einer Dame zu
analysieren, sie habe einem bellenden, kleinen, weißen Hunde
den Hals umgedreht. Sie war höchlichst verwundert, daß sie,
die „nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun könne“, so Grau-
sames träumen konnte; sie erinnerte sich nicht, je dergleichen
getan zu haben. Doch gab sie zu, daß sie leidenschaftlich gern
kocht und manchmal eigenhändig Hühner und Tauben ge-
schlachtet habe. Dann fiel ihr ein, daß sie den Hals des
Hündchens im Traume gerade in der Art umgedreht habe, wie
58 Die Psychoanalyse der Träume
sie es bei den Tauben zu tun pflegte, um dem Tiere weniger
Pein zu verursachen. Die daran folgenden Gedankenverknüpfungen
bezogen sich schon auf Bilder und Erzählungen über die Hin-
richtung von Menschen, besonders darauf, daß der Henker, wenn
er den Strick um den Hals des Verbrechers festgezogen habe,
auch noch dessen Hals umdrehe, um den Eintritt des Todes zu
beschleunigen. Auf die Frage, wem sie denn jetzt sehr feindlich
gesinnt sei, nannte sie eine Schwägerin und war schier unerschöpf-
lich im Herzählen ihrer schlechten Eigenschaften und der bös-
willigen Machenschaften, mit denen sie, nachdem sie sich wie
eine zahme Taube in die Gunst ihres späteren Gatten einge-
schlichen hatte, den früher so schönen Familienfrieden zerstörte.
Unlängst spielte sich zwischen ihr und der Patientin eine sehr
heftige Szene ab, die .damit endete, daß die aufgebrachte Patientin
der anderen mit den Worten die Türe wies: „Entferne dich, einen
bissigen Hund kann ich in meiner Wohnung nicht dulden“. Nun
war es klar, wer denn eigentlich der kleine weiße Hund war,
dem sie im Traume den Hals umdrehte; ist doch die Schwägerin
eine kleine Person von auffallend weißer Gesichtsfarbe. Diese
Analyse ermöglicht es, den Traum in seiner verschiebenden und
dadurch entstellenden Tätigkeit zu beobachten. Zweifellos hat der
Traum den Vergleich mit dem bissigen Hund dazu benutzt, an
Stelle des eigentlichen Gegenstandes der Hinrichtungsphantasie,
nämlich der Schwägerin, einen kleinen weißen Hund einzuschmuggeln,
ähnlich wie der Engel der biblischen Erzählung dem zum Opfern
des Sohnes sich vorbereitenden Abraham im letzten Augenblick ein
Tier zu schlachten gab. Um dies zu erreichen, mußte der Traum Er-
innerungsbilder über die Tötung von Tieren solange anhäufen, bis
neben deren verdichteter psychischer Intensität das Bild der gehaßten
Person erblaßte und der Schauplatz des offenbaren Traumes in das
Tierreich verschoben wurde. Als Verbindungsbrücken der Verschie-
bung dienten Erinnerungsbilder über menschliche Hinrichtungen.
Dieses Beispiel bietet mir Gelegenheit, wiederholt darauf hin-
zuweisen, daß der bewußte Trauminhalt meist nicht die treue Wieder-
gabe unserer Traumgedanken, sondern nur ein verschobenes und
verdichtetes Zerrbild ist, aus dem man dieselben nur mit Hilfe der
Psychoanalyse wiederherstellen kann.
Die Psychoanalyse der Träume 3%
Eine besondere Erschwerung der Traumarbeit ergibt sich aus
dem Umstand, daß uns beim Träumen die Bausteine des abstrakten
Denkens, die Begriffe, nicht oder nur unvollkommen zur Verfügung
stehen, daß vielmehr der Traum die Gedanken nur in optischen
oder akustischen Sinnesbildern, gleichsam dramatisiert, zu Bühnen-
szenen verwandelt zur Darstellung bringen kann. Freud kenn-
zeichnet sehr treffend die Schwere dieser konkretisierenden Arbeit
des Traumes, durch das Beispiel, daß der Traum etwa die Ge-
dankengänge eines politischen Leitartikels in Illustrationen versinn-
bildlichen sollte.
Mit großer Vorliebe benutzt der Traum die Zweideutigkeit
der Worte und die Auslegbarkeit irgendeiner Redensart in konkretem
oder metaphorischem Sinne dazu, um abstrakte Begriffe und Ge-
danken gleichsam bühnenfähig und dadurch traumfähig zu machen.
Das Gedächtnis jedes halbwegs unterrichteten Menschen ent-
hält eine Menge witziger Sprichwörter, Zitate, Redensarten, Parabeln,
Versfragmente usw., und der Inhalt dieser bietet ein stets gegen-
wärtiges, sehr bequem verwendbares Material zur szenischen Dar-
stellung eines Gedankens oder zur Anspielung auf denselben. Ich
versuche, dies durch eine Reihe von Beispielen zu erläutern. Eine
meiner Patientinnen erzählte mir folgenden Traum: „Ich gehe in
einem großen Park auf einem sehr langen Wege spa-
zieren; ich sehe das Ende des Weges und den Gartenzaun
nicht, doch habe ich dabei den Gedanken, so lange zu
gehen, bis ich hinter den Zaun komme.“ * — Der Park und der
Zaun des Traumes sahen ganz so aus wie der Garten einer ihrer Tanten,
bei der sie viele schöne Ferien ihrer Jugendzeit verbracht hatte.
Von dieser Tante fällt ihr ein, daß sie gewöhnlich ihr Schlafzimmer
mit ihr teilte; doch wurde, wenn der Onkel zu Hause war, der
Gast ins Nachbarzimmer „ausgesetzt“. Das Mädchen, das damals
von Sexualität nur höchst fragmentarische Begriffe hatte, versuchte
es oft, durch Lauschen an der Türe und Gucken durchs Schlüssel-
loch zu erfahren, was wohl drin vor sich gehe, — doch waren ihre
Bemühungen erfolglos. Der Wunsch, hinter den Zaun zu kommen,
* Jede Sprache hat ihre eigenen Redensarten und demgemäß eine eigene
Traumsprache. Ich mußte an diesem Traum, der ungarisch geträumt wurde,
einige Worte verändern, um den Traum für Deutsche verständlich zu machen.
60 Die Psychoanalyse der Träume
symbolisierte in diesem Traum den Wunsch, dahinter zukommen,
was zwischen den Gatten geschehen ist. Dieser Wunsch war übrigens
auch durch ein Ereignis des Vortages determiniert.
Eine andere Patientin träumte vom Korridor des Mädchen-
pensionats, in dem sie erzogen wurde. Sie sieht ihren eigenen
Schrank dort, will ihn öffnen, — findet aber den Schlüssel
nicht, so daß sie das Schloß erbrechen muß. Wie sie
aber die Türe gewaltsam öffnet, stellt sich heraus, daß
nichts darin ist. Der ganze Traum entpuppte sich als symboli-
sierte Masturbationsphantasie, eine Erinnerung aus der Pubertäts-
zeit; das weibliche Genitale wird, wie so häufig, als Schrank
dargestellt. Die dem Traum angehängte „es ist nichts darin“
bedeutet aber in ungarischer Sprache soviel, wie das deutsche
„es ist nichts daran“, und ist gleichsam eine Entschuldigung
oder Selbstberuhigung der von Gewissensbissen Geplagten.
Ein älteres Mädchen, deren Neurose durch den Tod ihres Bruders,
der nach ihrer Ansicht zu früh geheiratet hatte und nicht glücklich in
der Ehe gewesen war, ausgelöst wurde, träumt fortwährend vom Ver-
storbenen. Einmal sieht sie ihn im Grabe liegend, aber der Kopf
ist ihm eigentümlich zur Seite gedreht oder der Schädel
ist an einen Äst angewachsen, ein anderes Mal sieht sie ihn in
Kinderkleidern auf einer Anhöhe, von welcher er herunter-
springen muß. Diese ganze Symbolik will eine Anklage gegen
die Frau und den Schwiegervater des Verstorbenen sein, die dem
Knaben den Kopf verdrehten, ihn, fast noch ein Kind, in die
Ehe hineinspringen ließen (eine ungarische Redewendung) und
ihn dabei nicht einmal als ihresgleichen betrachteten, da sie ihn doch
einmal, auf seine bescheidene Abstammung anspielend, einen vom
Ast Gefallenen nannten, mit welchen Worten der Ungar einen
„Dahergelaufenen“ zu bezeichnen pflegt.
Sehr oft versinnbildlicht das Herunterfallen von großer
Höhe den drohenden ethischen oder materiellen Nieder-
gang; bei Mädchen kann das Sitzen ein Sitzenbleiben, bei
Männern kann ein großer Korb das befürchtete Mißlingen der
Freiung bedeuten; noch häufiger kommt es vor, daß der mensch-
liche Körper Mu ein Haus symbolisiert wird, dessen Fenster,
Türen und Tore die natürlichen Körperöffnungen darstellen. Meine
Die Psychoanalyse der Träume 61
an sexueller Impotenz leidenden Patienten machen sich einen trivialen
ungarischen Ausdruck für das Koitieren, nämlich das Wort schießen
zunutze und träumen sehr oft von Schießereien, Nichtlosgehen-
wollen, Einrosten der Flinte usw.
Es wäre eine verlockende Aufgabe, die symbolisch erklärten
Traumstücke zu sammeln und ein modernes „Traumbüchel“ zu
schreiben, in dem für die einzelnen Traumbruchstücke sofort die Er-
klärung zu finden wäre. Dies ist aber nicht möglich, denn wenn auch
sehr viel Typisches in den Träumen wiederkehrt und in den meisten
Fällen auch ohne Analyse richtig gedeutet werden kann, so können
doch die Symbole bei den verschiedenen Individuen, ja beim
selben Individuum zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes bedeuten..
Wollen wir also alle Determinanten der einzelnen Traumfragmente
für den besonderen Fall eruieren, so. bleibt uns nichts anderes
übrig, als die mühevolle Traumanalyse, zu der die Findigkeit und der
Witz des Traumdeuters allein nicht ausreicht, sondern die fleißige
Mithilfe dessen, der geträumt hat, unumgänglich notwendig ist.
Noch größere Schwierigkeiten, als die Darstellung abstrakter
Gedanken sie schafft, erwachsen dem Traume aus dem Bestreben,
die Denkrelationen der einzelnen Traumgedanken zu versinn-
bildlichen, und es ist Freud hoch anzurechnen, daß es ihm gelang,
jene ganz versteckten formalen Eigentümlichkeiten des Traum-
gefüges, mit denen der Traum die Darstellung logischer Rela-
tionen versucht, ausfindig gemacht zu haben. Gedankliche Zu-
sammengehörigkeit zweier Traumelemente (beziehungsweise der
dahinter steckenden Traumgedanken) wird am einfachsten durch
zeitliche, räumliche Annäherung oder gar Verschmelzung der Traum-
gestalten angedeutet. Zur Andeutung des ursächlichen Zu-
sammenhanges, des Entweder-OÖder, der Bedingtheit usw.
mangelt es aber dem Traume an entsprechenden Darstellungs-
mitteln, so daß alle diese Beziehungen sehr dürftig durch ein
Nacheinander der Traumelemente zur Darstellung gebracht werden.
Daraus erwachsen große Verlegenheiten für den Traumdeuter, aus
denen ihn nur die Mitteilungen des Träumers heraushelfen. Manches
läßt sich aber doch erraten. Verwandelt sich z. B. ein Traumbild
in etwas anderes, so können wir dahinter Ursache und Wirkung
vermuten; diesen Zusammenhang stellt aber der Traum oft auch
62 Die Psychoanalyse der Träume
durch zwei vollkommen getrennte Träume dar, deren einer die
Ursache, der andere die Folge bedeutet. Selbst die einfache Ver-
neinung darzustellen, gelingt dem Traum nur unter den größten
Schwierigkeiten, so daß wir — wie wir es von Freud wissen —
niemals im voraus erraten können, ob ein Traumgedanke in posi-
tivem oder negativem Sinne zu deuten ist. Bei der Kompliziert-
heit unseres seelischen Organismus ist es verständlich, daß
Bejahung und WVerneinung desselben Gedanken- und Gefühl-
komplexes neben-, richtiger hintereinander in den Traumgedanken
anzutreffen sind. |
Als Zeichen des Mißfallens und Hohnes kann es aber aus-
gelegt werden, wenn etwas im Traum gestaltlich „verkehrt“ oder
der Wahrheit direkt ins Gesicht schlagend dargestellt wird. Das
so häufig vorkommende Gefühl des Gehemmtseins im Traume
bedeutet einen Willenskonflikt, den Kampf entgegengesetzter
Beweggründe.
Wenn trotz der Vernichtung aller logischen Beziehungen beim
Übergang der Traumgedanken in den manifesten Traum letzterer
dennoch so oft sinnvoll und zusammenhängend erscheint, so kann
das zwei Ursachen haben. Es kann sich einmal um eine Traum-
phantasie, d.h. um die Wiedergabe von im Wachen gefügten
Phantasien, in Büchern, Zeitungen gelesenen Dingen, von Roman-
bruchstücken, oder von selbstgesprochener oder gehörter Rede
handeln. Eine tiefere und häufiger zutreffende Erklärung für das
scheinbar so logische Gefüge mancher Träume ist aber die, daß
die rationalisierende Tendenz der Seelentätigkeit, die das
Unsinnige in eine sinnvolle Gedankenkette zu verweben sucht,
auch bei Nacht nicht ruht. Diese letzte Tätigkeit des Traumes nennt
Freud die sekundäre Bearbeitung; ihr ist es zu verdanken,
daß die ursprünglich bruchstückartigen Traumbestandteile durch nach-
träglich eingefügte Bindewörter und andere kleine Zutaten zu etwas
Ganzem abgerundet werden.
Wenn der Traum einen Traumgedanken gründlich verdichtet,
verschoben, entstellt, szenisch dargestellt, seiner logischen Beziehungen
beraubt und sekundär bearbeitet hat, ist die Mühseligkeit der
Deutungsarbeit oft riesengroß. Wir stehen dem bewußten Traum-
inhalte wie einer Hieroglypheninschrift oder einem sehr schwer
Die Psychoanalyse der Träume 63
auflösbaren Bilderrätsel gegenüber; die Erklärung vieler Träume
erfordert außer der Kenntnis der Regeln der Freudschen Traum-
deutung eine besondere Fähigkeit und Neigung zur Beschäftigung
mit diesen Fragen des Seelenlebens.
Ein nicht geringeres Rätsel, als der Traum selbst, ist auch sein
rasches Erblassen in der Erinnerung. Beim Erwachen stürzt
das bei Nacht so mühsam aufgebaute Traumgebilde wie ein Karten-
haus zusammen. Während des Schlafens gleicht die Seele einem
luftdicht verschlossenen Zimmer, in das von außen weder Licht noch
Schall eindringen kann, in dem aber gerade darum das leiseste
Geräusch, selbst das Summen einer Fliege, hörbar wird. Das Er-
wachen aber ist wie die Lüftung des Zimmers am hellichten Morgen;
durch die Tore unserer Sinne dringt der Lärm des Alltagslebens
in die Seele, und die durch Wunschphantasien eingewiegten all-
täglichen Sorgen werden wieder rege. Auch die Zensur erwacht
aus ihrem Schlummer und ihr Erstes ist, den Traum für eine „Dumm-
heit“; für Unsinn zu erklären — gleichsam wegen Unzurechnungs-
fähigkeit unter Vormundschaft zu stellen. Doch begnügt sie sich mit
dieser Maßregel nicht immer, sie ergreift auch viel strengere gegen
die revolutionären Träume (und es gibt keinen einzigen Traum,
der sich an Hand der Analyse nicht als gegen staatliche oder
ethische Gesetzesparagraphe verstoßend erwiese). Die strengere
Maßregel besteht in der Konfiszierung, der völligen Unterdrückung
des Traumbildes. Die seelische Beschlagnahme nennt man gewöhnlich
Vergessen und erzählt sich staunend, man hätte so klar geträumt,
beim Erwachen noch alles gewußt und in wenigen Minuten alles wieder
vergessen. Ändere Male weiß man nur anzugeben, der Traum sei
schön, gut, schlecht, verworren, anregend oder dumm gewesen.
Selbst in die Fassung dieser Urteile über den Traum verirrt sich
noch manchmal ein Rest des Trauminhaltes, dessen Analyse zur
späteren Wiedererinnerung an größere Traumbruchstücke führen
kann. Hinter solchen nachträglich hervorgeholten Traumstücken trifft
man oft gerade den Kern der Traumgedanken.
Eine wichtige Folge der Freudschen Traumlehre ist es, daß
man eigentlich fast immer träumt, solange man schläft. Daß man
sich daran nicht erinnert, ist kein entscheidender Einwurf gegen
diese Behauptung. Meine Patienten zum Beispiel, die am Beginne
64 Die Psychoanalyse der Träume
der Analyse angaben, sie hätten überhaupt keine Träume, gewöhnen
sich bei fortschreitender Abschwächung des innerpsychischen Wider-
standes durch die Kur allmählich daran, alle ihre Träume zu erinnern.
Stößt man aber bei der Analyse auf einen sehr stark widerstehenden
unlustbetonten Komplex, so bleiben die Träume scheinbar ganz aus,
natürlich werden sie nur ob ihres unerquicklichen Inhalts vergessen,
"verdrängt.
Die selbstverständliche Einwendung, daß diese Traumbeobach-
tungen und Analysen zumeist von nervenkranken, also abnormen
Persönlichkeiten herrühren, von denen der Rückschluß auf Gesunde
nicht gestattet sei, braucht nicht mit der Entgegnung abgewiesen
zu werden, daß geistige Gesundheit und Psychoneurose sich nur
quantitativ unterscheiden; man kann auch erwidern, daß die Analysen
Geistesgesunder mit den Traumdeutungen bei Neurotischen voll-
kommen übereinstimmen. Die Mitteilung der Analyse eigener Träume
stößt aber fast auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Freud ist auch
vor diesem Opfer, dem Preisgeben persönlicher Intimitäten, in seiner
„Traumdeutung“ nicht zurückgeschreckt, wenn auch Rücksichten auf
andere hie und da die Verstümmelung seiner Analysen unvermeidlich
machten. Ähnliche Rücksichten nötigten mich, die Prinzipien der.
Traumdeutung nicht an eigenen Träumen, sondern an denen meiner
Patienten zu erläutern. Übrigens ist die Übung der Selbstanalyse
unerläßlich für jeden, der in die unbewußten Vorgänge des Traum-
lebens eindringen will.
Die neurotischen Personen, deren Träume ich als -Beispiele
vorbrachte, verschafften mir die Gelegenheit, hie und da auch von
der pathologischen und der therapeutischen Bedeutung
der Träume und der Traumdeutung einige Worte fallen zu lassen.
Wir sahen, eine wie bedeutende Beschleunigung die Psychoanalyse
eines Neurotikers durch eine gelungene Traumanalyse erfahren kann.
Die nur halbwache Traumzensur läßt oft Gedankenkomplexe ins
Traumbewußtsein gelangen, die bei den freien Assoziationen im
Wachen noch bewußtseinsunfähig wären. Von den Traumbildern
führen also unmittelbarere und kürzere Wege zu dem verdrängten,
krankheitserregenden seelischen Material, d. h. zur Quelle der neu-
rotischen Symptome. Das Bewußtwerden solcher Komplexe kann
einen Schritt zur Besserung bedeuten.
Die Psychoanalyse der Träume 65
Auch die diagnostische Bedeutsamkeit der Träume
läßt sich nicht von der Hand weisen und in nicht zu ferner Zeit
dürfte neben der physiologischen auch eine pathologische Traum-
psychologie entstehen, die die Eigentümlichkeiten der Traum-
bildung bei der Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Dementia praecox,
Neurasthenie, Angstneurose, dem Alkoholismus, der Epilepsie, Para-
lyse, dem Schwachsinn usw. systematisch behandeln wird. Manche
pathognostische Eigenheiten der Träume bei diesen Krankheits-
zuständen sind schon heute erkennbar.
Doch alle diese mehr praktischen und Einzelfragen werden
an Bedeutsamkeit von dem unerwarteten theoretischen Erfolg dieser
Traumforschungen überragt. Freud ist es gelungen, den Traum,
einen Vorgang auf dem Grenzgebiete physiologischen und patho-
logischen Seelenlebens, mitten in seiner Arbeit, gleichsam in flagranti
zu überraschen und dadurch auch den Mechanismus der im Wachen
sich kundgebenden psychischen Vorgänge bei Normalen wie bei
Nerven- und Geisteskranken unserem Verständnis näher zu bringen.
Und wenn es das Studium der Psychoneurosen war, das Freud zu
seinen Traumforschungen veranlaßt hat, so zahlt die Traumlehre
mit Zinseszinsen zurück, was sie der Pathologie zu verdanken hat.
Anders konnte es gar nicht kommen. Sind doch Wachsein,
Träumen, Neurose und Psychose nur Variationen desselben psy-
chischen Materials unter verschiedenen Arbeitsweisen, und so mußte
die fortschreitende Einsicht in einen dieser Vorgänge notwendiger-
weise auch die Erkenntnis der übrigen vertiefen und erweitern.
Wer von der neuen Traumlehre etwa prophetischen Blick in
die Zukunft erwartete, wird ihr vielleicht enttäuscht den Rücken kehren.
Wer aber das ÄAufdecken bisher für "unlösbar gehaltener psycho-
logischer Probleme, die Erweiterung des psychologischen Gesichts-
kreises auch abgesehen vom unmittelbaren praktischen Nutzen hoch-
schätzt und am Fortschritt nicht durch festgewurzelte Schulmeinungen
gehindert ist, den wird das hier Mitgeteilte zum gründlichen und
ernsten Studium des bedeutendsten Werkes Freuds, der „Iraum-
deutung“,” anspornen.
* Prof. S. Freud, Traumdeutung 1900, Leipzig u. Wien, VI. Aufl. 1921.
Traume der Ahnungslosen*
Wir wissen, welche Mühe es oft kostet, den Traum eines in
psychoanalytischer Kur befindlichen Patienten zu deuten. Dieser ist
gleichsam „gewarnt“ und hütet sich, Träume zu produzieren, die
leicht zu übersetzen sind und die er am Ende auch selber deuten
könnte. Nicht so jene große Schar von Menschen, die von Psycho-
analyse keine Ahnung haben. Diese erzählen einander — beim
gedeckten Tisch oder sonst im Geplauder — ihre sozusagen primi-
tiven, von analytischer Kultur nicht beleckten Träume, und ahnen
nicht, daß sie dabei dem sachverständigen Zuhörer ihre intimsten
und geheimsten, oft vor sich selbst verheimlichten Wünsche ver-
raten. Ich brachte einmal mehrere Wochen in einem Kurorte zu
und konnte während der Mahlzeiten eine kleine Serie solcher leicht
deutbarer Träume sammeln. |
„Denken Sie, was mir heute geträumt hat“, sagte eine Dame,
die mit ihrer Tochter in der Pension weilte, zu ihrer Nachbarin:
„Man hat mir heute Nacht die Tochter geraubt; — beim Spazier-
gang im Wald kamen uns Männer entgegen und schleppten mir
die Tochter mit Gewalt weg. Es war fürchterlich!“ — Ich teilte
dieses Urteil über den Traum nicht und dachte mir, die Dame
möchte ihre mehr als mannbare Tochter schon los werden. — Die
Bestätigung ließ nicht lange auf sich warten. Schon Tags darauf
beklagte sich die Dame darüber, wie viel lustiger die voraus-
gegangene Saison gewesen wäre, da seien eine ganze Menge junger
Leute dagewesen, jetzt habe ihre Tochter gar keine passende
* Erschienen in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“, IV. Jahr-
gang, 1916.
Träume der Ahnungslosen 67
Gesellschaft, es seien lauter ältere Herren da. Am anderen Tage
kündigte sie an, daß sie bald abreisen wollten, und sie taten es auch.
Ein dort weilender Kollege sagt mir eines Morgens: „Heute
Nacht habe ich von Dir geträumt. Du kämpftest in einem Kanal
mit einem ÄApachen, der dich unters Wasser drücken wollte. Ich
lief zur Polizei, um Dir Hilfe zu bringen“. „Was habe ich Dir getan,
daß du mir so böse bist?“, konnte ich mich nicht enthalten, den
Kollegen zu fragen. „Aber gar nichts! Ich träumte nur so aufgeregt,
weil ich die ganze Nacht heftige Kolikschmerzen hatte“. „Das mag
seinen Teil an der Traumbildung haben“, entgegnete ich; „der
Kanal, in dem ich ersäuft werden sollte, mag» eine Anspielung
auf den Darmkanal sein, der also im Traume nicht dir," sondern
mir weh tun 'soll. Ich wiederhole, du mußt mir wegen irgend etwas
gram sein!“ „Du meinst doch nicht, daß ich dich deswegen er-
tränken wollte, weil Du mir gestern jene kleine Gefälligkeit ver-
sagen mußtest? Das werde ich Dir nimmer glauben!“ Für mich
aber war der Traum als Rachephantasie hiedurch gedeutet.
„Was bedeutet das, wenn man im Traume die Schuhe die
ganze Nacht an- und auszieht?“, fragte mich eine auffallend hübsche
und junge Kriegswitwe bei Tisch. „Um Gotteswillen, fragen sie
mich nicht so laut!“, war meine einzige Antwort und es gelang
mir, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken. Die Träumerin
ließ sich aber nicht so leicht abweisen. In der anderen Nacht setzte
sie den Traum fort und wollte nunmehr die Bedeutung folgenden
Traumes wissen: „Gestern träumte mir, daß ich einen älteren
Herrn geheiratet habe, die Mutter hat mich dazu gezwungen. Nach-
her hatte ich eine Unmenge von Schuhen in allen Farben, die ich
aus- und anzog, schwarze, braune, gelbe Schuhe!“ Sie hatte offen-
bar Freude am Besitze dieses Schuhlagers, denn selbst bei der
Erzählung lachte sie noch vergnügt. „Wem sah der alte Herr, Ihr
Gemahl im Traume, ähnlich“. „Ja, das ist merkwürdig, es war der
Mann einer jungen Bekannten von mir, die wirklich einen älteren
Mann heiratete. Ich finde solche Ehen unsittlich, sie sind direkt
auf den Ehebruch berechnet“. — Ich brauchte nicht weiter zu
fragen, um die Bedeutung der vielfarbigen Schuhe zu verstehen,
dachte mir nur: ältere Junggesellen müssen sich vor dieser Dame
in Acht nehmen.
5*
68 Träume der Ahnungslosen
Inzwischen scheint sich das Gerücht, daß ich mich für Träume
interessiere, im Hause doch verbreitet zu haben, denn eines Tages
kommt die Krankenwärterin einer dort weilenden Patientin zu mir
und erzählt folgenden schauerlichen Traum: „Ich sah in einem
Zimmer einen Sack, darin lag die Leiche. meiner verstorbenen
Schwester, der Sack selbst befand sich auf einem hölzernen Gefäß,
in dem sich schmutziges Wasser, vielleicht von der Verwesung der
Leiche stammend, ansammelte; aber es roch gar nicht schlecht. Merk-
würdigerweise vergaß ich immer wieder, daß meine Schwester ge-
storben war, und fing zu singen an, schlug mir aber dann immer
zur Strafe auf den Mund. Als ich den Sack aufmachte, sah ich, daß
die Schwester nicht tot? sondern nur sehr blaß war. Neben ihr
lag die Leiche eines kleinen Kindes. Auf dem Gesicht der
Schwester war ein häßlicher Ausschlag zu sehen.“
Zum Verständnis des Traumes muß man wissen, daß die
Träumerin eine wohlgebaute, 38—39jährige Person ist, die trotz
aller anscheinenden Eignung zur Mutterschaft ledig blieb und den
Pflegerinnenberuf wählte. Die eigenartige Sarggeburtsphantasie,
den Zweifel darüber, ob die Schwester tot ist oder lebt, mußte
ich mir als die Identifizierung der toten Schwester mit einer lebenden
Person deuten. Daß diese Lebende die Träumerin selbst sein
mochte, hiefür sprach ihr eigenartig zweideutiges Benehmen der
toten Schwester gegenüber: sie freut sich über den Tod, — dann
straft sie sich für diese Freude. Vielleicht beneidete sie einmal ihre
(wie ich erfuhr, verheiratet gewesene) Schwester und hätte sich an
ihre Stelle setzen mögen, damit auch sie Kinder bekommen könne. —
Die Frage nun, die ich an die Träumerin richtete, war folgende:
„Haben Sie nach dem Tode der Schwester nicht die Idee gehabt,
daß der Schwager, wie das so oft vorkommt, Sie heiraten wird?“
„Das nicht“ — antwortete sie — „der Schwager hat allerdings
um meine Hand angehalten, aber ich schlug seine Bitte aus,
weil ich die Sorge um die vier Kinder meiner Schwester
nicht auf mich nehmen wollte.“
Ich ließ mich nicht darauf ein, die Einzelheiten dieses Traumes
analytisch aufzuklären, soviel wurde mir aber schon aus dem Er-
zählten klar, daß die Träumerin die Entschiedenheit, mit der sie
damals das Anerbieten des Schwagers zurückwies, innerlich bereut
Träume der Ahnungslosen 69
haben mag. Ob nebstdem nicht auch wirkliche Erlebnisse Anteil
an der Traumbildung hatten — ich denke an einen Abortus — lasse
ich dahingestellt sein; ich hütete mich natürlich, diesbezüglich Fragen
zu stellen. Wenn wir aber auch die Frage: Phantasie oder Realität,
hier vernachlässigen müssen — und dazu sind wir bei Problemen
des Unbewußten berechtigt — so haben wir doch aus der Traum-
erzählung allein wichtige Regungen des Seelenlebens der Träumerin
erraten. |
Suggestion und Psychoanalyse“
Viele halten die Psychoanalyse aus Unorientiertheit für eine
„suggestiv“ wirkende Therapie. Aber auch solche, die vielleicht
etwas von der analytischen Literatur gelesen haben, sind, wenn
sie nicht über selbständige Erfahrung verfügen, nach oberflächlicher
Orientierung geneigt, die wissenschaftlichen und therapeutischen
Ergebnisse der Analyse als „Suggestion“ zu qualifizieren. Wer
dagegen, wie auch ich, sich praktisch mit Seelenanalyse be-
schäftigt, sieht. einen großen Unterschied zwischen den beiden
Forschungs- und Heilmethoden, die die Analyse und die Sug-
gestion kennzeichnen. Über diese Unterschiede möchte ich jetzt
einiges mitteilen.
Es ist vielleicht zu entschuldigen, wenn ich meinen Gefühlen
die Konzession mache, mit der Aufklärung der Unorientierten, also
noch Unparteiischen zu beginnen, und erst dann versuchen, die
lautgewordenen Einwände der zweiten Gruppe zu entkräften.
Den Sinn des Wortes „Suggestion“ zu bestimmen, ist vielleicht
schwer, aber jeder weiß, was das Wort bedeutet: die gewollte
Einschmuggelung von Empfindungen, Gefühlen, Gedanken und
Willensentschließungen in die Seelenwelt eines Anderen, und zwar
so, daß der Beeinflußte die suggerierten Gedanken, Gefühle und
Regungen aus eigener Kraft nicht verändern, korrigieren kann.
Kurz gesagt, die Suggestion ist das Aufdrängen, beziehungsweise
die kritiklose Annahme eines fremden seelischen Einflusses. Die
Ausschaltung der Kritik ist also die Vorbedingung der erfolgreichen
* Vortrag, gehalten in der „Freien Schule der Sozialen Wissenschaften“ in
Budapest.
Suggestion und Psychoanalyse 71
Suggestion; was aber sind die Mittel dazu? Einerseits das Impo-
nieren, das Ängstigen, andererseits das Bestechen durch gütiges,
liebevolles Zureden. An anderer Stelle versuchte ich nachzuweisen,
daß die Suggestion den Menschen geradezu auf das Niveau eines
unbeholfenen, zu Widerspruch, zu selbständigem Denken unfähigen
Kindes herabdrückt, wobei der Suggerierende sich mit geradezu
väterlicher Autorität dem Willen des Mediums aufdrängt, oder sich
mit mütterlicher Zärtlichkeit in seine Seele einschmeichelt. Und was
ist es, was der Hypnotiseur oder der Suggerierende von seinem
Medium beansprucht? Nichts weniger, als daß er nicht fühle, wisse,
und wolle, was es natürlicherweise zu wissen, fühlen und wollen
genötigt wäre. Es möge den quälenden, physischen oder seelischen
Schmerz nicht fühlen, die Zwangsvorstellungen, an denen es leidet,
sollen sein Bewußtsein nicht mehr bedrücken, es möge nicht mehr
unerreichbaren oder absurden Zielen nachjagen. Oder aber es soll
auch solches wissen, fühlen und wollen, wogegen sich etwas in ihm
auflehnt: es soll arbeiten, seine Aufmerksamkeit konzentrieren,
Projekte ausführen, vergeben, lieben und hassen können, auch dann,
wenn äußere und innere Ursachen diese seine Fähigkeiten lähmen.
Dem hysterisch Gelähmten sagt der Hypnotiseur wie einstmal Jesus:
stehe auf und gehe, — und der Patient soll aufstehen und gehen;
der Gebärenden sagt er: du wirst ohne Schmerzen entbinden, —
und das Wunder geschieht.
Wie wir sehen, macht es für die Hypnose und die Suggestion
keinen Unterschied, ob sie einen organischen Schmerz, ein reales
Wissen und einen motivierten Willensakt aufheben oder aber „irreale“,
sogenannte eingebildete Krankheitssymptome.
Das hynotische oder suggestive Heilverfahren wäre herrlich,
ein Märchenwunder, stünden nur nicht so viel Hindernisse seiner
Anwendung im Wege.
Das erste und größte Hindernis ist, daß nicht jeder Mensch
suggestiv beeinflußbar ist. Je selbständiger, reifer, seelisch ent-
wickelter die Menschheit wird, um so weniger Menschen kann der
ärztliche Wundertäter zu folgsamen Kindlein zähmen.
Der zweite Fehler liegt darin, daß, selbst wenn ein Individuum
durch relative Beschränktheit, eventuell durch Einengung des Selbst-
bewußtseins, beeinflußbar wird, die Wirkung nur zeitweilig ist, nur
72 Suggestion und Psychoanalyse
solange anhält, als die Autorität des Suggerierenden aufrecht oder
das in ihn gesetzte Vertrauen unerschüttert bleibt. Und das Gegenteil
davon kann wahrlich sehr schnell eintreten. Sie werden es vielleicht
nicht für wichtig halten, aber vom Standpunkte des durch Suggestion
Behandelten gesehen, ist auch das als Nachteil zu bewerten, daß die
Hypnose oder die Suggestion die Einengung des Bewußtseins gleich-
sam künstlich züchtet, also inneren und äußeren Wahrnehmungen
gegenüber zur Blindheit erzieht. Wer dem hypnotisierenden Arzt
blind vertraut, der glaubt bald auch an die wundertätige Maria
von Lourdes und die Quacksalberin von Ö-Buda*.
Die Psychoanalyse dagegen steht auf der festen Grundlage der
“ strengen Determiniertheit des seelischen Geschehens. Sie läßt vor
allem die Auffassung fallen, nach der die sogenannten „eingebildeten
Krankheiten“ grundlos, der Simulation verwandt, oder absurd sind.
Die Patienten brachten mich früher, solange ich die Psychoanalyse
noch nicht kannte, oft in Verlegenheit, wenn ich ihnen etwas sug-
gerieren wollte. Als ich dem Patienten, der zu systematischer Arbeit
unfähig war, sagte: „Es fehlt Ihnen nichts, mein Freund, nehmen
Sie sich zusammen, man muß nur wollen“, — antwortete er: „Das
ist ja gerade mein Leiden, daß ich keinen Willen habe! Tag und
Nacht sage ich mir, du mußt, du mußt — und ich kann doch nicht.
Ich bin eben gekommen, damit Sie mich lehren zu wollen!“ In
solchen Fällen macht es wenig oder gar keinen Eindruck auf den
Leidenden, — denn, daß er leidet, ist doch außer Zweifel —, wenn
der Arzt vielleicht mit erhobener Stimme, oder etwa mit noch
ernsterem, strengerem oder selbstgefälligerem Gesicht — wieder
nichts anderes tut, als daß er den Patienten anschreit: „Ja, du
mußt wollen!“ Der Kranke geht traurig und enttäuscht nach Hause,
geht zu einem anderen Arzt, und wenn er sich in Allen getäuscht
hat, dann kommt die Verzweiflung oder er gerät in die Hände der
Quacksalber. Ich weiß einen Fall, wo ein berühmter Arzt, an den
sich eine von Zwangsvorstellungen gequälte junge Frau mit Ver-
trauen gewandt hatte, sie mit dem Bedeuten heimschickte, es fehle
ihr nichts. Die Patientin ging sofort nach Hause und hängte sich auf.
Können wir behaupten, es sei kein tötliches Leiden, durch
das so viel Menschen Jahrzehnte hindurch gequält sind, um dessent-
* Vorstadt von Budapest.
Suggestion und Psychoanalyse 73
willen sie ihre Beschäftigung, ihre Familie vernachlässigen, und von
dem sie sich endlich durch den selbstgesuchten Tod erlösen? Steckt
nicht viel Wahrheit in der satirischen Bemerkung des Kranken,
der auf die Beruhigung des Arztes, er bilde sich alles doch nur
ein, mit der Frage antwortete: „Warum bilden Sie sich nichts ein,
Herr Doktor?“
Nun, die Psychoanalyse hat entdeckt, daß hierin nicht die
hypnotisierenden Ärzte im Rechte waren, sondern die Kranken. Der
eingebildete Kranke, der Willenlose, sie leiden wirklich, nur über
den wahren Grund ihres Leidens sind sie im Irrtum. „Grundlos“
ist die Angst des Hypochonders, der fortwährend seine Herzfunk-
tion beobachtet und jeden Moment den Tod herannahen sieht:
aber es ist nicht zu leugnen, daß in seiner Seele eine verborgene
Wunde ist, irgend eine reale oder der realen gleich stark wirkende
Angst, aus der die hypochondrische Angst stets neue Nahrung
erhält. Der an hysterischer Agoraphobie leidende, der keinen
Schritt auf der Gasse zu gehen wagt, hat in der Tat vollständig
gesunde Organe, sein Gehirn, sein Rückenmark und seine peripheren
Nervenbahnen sind in Ordnung; er hat gesunde Muskeln, Knochen
und Gelenke. Aber das bedeutet noch nicht, daß ihm „gar nichts
fehlt“. Die Psychoanalyse sucht und findet, wenn auch mit großer
Mühe und Geduld, die vergessene, unbewußt gewordene seelische
Wunde, deren karikierte, entstellte Äußerung die Agoraphobie ist.
Also, während die Hypnose und Suggestion das Übel entweder
einfach negiert oder tiefer zu vergraben trachtet, aber in Wahrheit
in der Tiefe der Seele fortglimmen läßt wie die Glut unter der
Asche, geht die Analyse der Ursache der Krankheit energisch,
nach, gräbt gleichsam das Feuer aus der Asche hervor und löscht
es an seinem Herde.
Und was sind diese Feuerherde? Anscheinend längst ver-
gessene, in Wahrheit lebendig gebliebene Erinnerungen, Wünsche,
Selbstbeschuldigungen, schwere Verletzungen des Selbstbewußtseins
oder der Eitelkeit, von denen der Mensch sich keine Rechenschaft
geben will, und lieber die Krankheit als Lösung wählt; hauptsächlich
aber unerledigte Konflikte der zwei Hauptinstinkte des Menschen,
des Selbst- und des Arterhaltungstriebes, die durch individuelle
Anlage begünstigt oder durch äußere Erlebnisse provoziert sind.
74 Suggestion und Psychoanalyse
Sie könnten fragen: was kann es jemandem nützen, wenn er
nach langem Suchen endlich erfährt, was ihm eigentlich fehlt?
Wäre es nicht klüger, ihm seine Zwangsvorstellungen oder seine
hysterische Lähmung weiter zu belassen, zu denen er sich instinktiv.
flüchtete, als ihn erbarmungslos dazu zu zwingen, daß er gut ver-
steckte ästhetische und ethische Defekte seiner Seele bloßstellt?
Die Erfahrung lehrt, daß dem nicht so ist. Denn ein reales
Übel läßt sich irgendwie erledigen, ja in vielen Fällen hatte es
nicht einmal die ihm zugeschriebene Bedeutung. Die Personen, die:
in den verdrängten Vorstellungsgruppen eine Rolle spielten, sind
vielleicht längst gestorben, oder für den Patienten bedeutungslos
geworden, und doch können diese Vorstellungskomplexe jahrzehnte-
langes seelisches Leiden verursachen, wenn jemand, um seine Empfind-
lichkeit zu schonen, statt der schmerzhaften bewußitseelischen Er-
ledigung, den Weg der Verdrängung, des Selbstbetrugs, der Ver-
hüllung vor sich selbst, wählt.
Nicht selten wiederholt sich in unseren Analysen das Drama,
das sich in Ibsens „Frau vom Meere“ so erschütternd abspielt.
Die Heldin des Stückes ist eine Frau, die, obzwar sie allen äußeren
Grund hätte, glücklich zu sein, von schweren Zwangsgefühlen ge-
peinigt wird. Das Meer, und immer nur das Meer, fesselt ihre ganze
Gefühlswelt; alle Zärtlichkeit ihrer Umgebung, ihrer Familie, prallt
wirkungslos von ihr ab. Der bekümmerte Gatte, ein Arzt, zieht mit
allen Waffen seines Wissens ins Feld, um das Gemütsleben seiner
Frau wieder aufzurichten: Beruhigung, Zerstreuung, Ablenkung jeder
Art, doch alles umsonst. Endlich kommt er, man könnte sagen,
durch eine Art psychoanalytischen Ausfragens, zur Überzeugung,
daß die eingebildete Krankheit seiner Frau einen realen Hinter-
grund hat. Die Erinnerung an einen Abenteurer, einen verwegenen
Seemann, dem sie noch als junges Mädchen Treue geschworen,
stört den Frieden ihrer Seele. Sie quält sich unbewußt immerfort
mit dem Gedanken ab, ihren Mann nicht aufrichtig zu lieben, nur
aus Interesse sein Weib geworden zu sein, ihr Herz gehöre noch
immer jenem Abenteurer. Am Ende des Dramas kehrt dieser
einstige Geliebte wirklich zurück und pocht auf seine Rechte. Der
Gatte will seine Frau erst mit Gewalt vor ihm schützen, doch sich
besinnend, begreift er bald, daß die vier Wände, zwischen die er
Suggestion und Psychoanalyse 75
seine Gattin sperren wollte, wohl den Körper gefangen halten
können, die Gefühle aber niemals; er gibt also seiner Frau das
Selbstbestimmungsrecht zurück, er läßt sie frei zwischen ihm und dem
Abenteurer wählen. Und in dem Moment, wo die Frau die freie Wahl
hat, wählt sie wieder nur ihren Mann; und dieser selbständige Ent-
schluß befreit sie endlich von der Qual, immer nur ans Meer denken
zu müssen, das ja nur ein Symbol ihres Verhältnisses zu jenem See-
mann und eine Ersatzvorstellung der verdrängten Idee war, daß nicht
Liebe, sondern nur Interesse sie an ihren Mann binde.
Dem Dichter ist es leicht, verschollene Gestalten nach Be-
lieben ins Leben zu rufen und wieder verschwinden zu lassen; diese
Möglichkeit fehlt natürlich in der Psychoanalyse. Aber auch die
durch die Analyse von ihren Fesseln befreite Phantasie kann wunder-
bar lebendig und kraftvoll die Erinnerungen aus alter Vergangen-
heit heraufbeschwören, — und oft stellt es sich dann heraus, daß
wie bei der „Frau vom Meere“, die unbewußte Sorge oder Idee,
die dem Kranken soviel unnötiges Leid verursachte, die Ruhe der
Seele nur solange stören konnte, als sie im Unbewußten verborgen
war, während sie in der gespensterbannenden Beleuchtung des
Vollbewußtseins von selbst verschwindet.
Doch auch wenn es sich bei der Analyse herausstellt, daß
die das Gleichgewicht der Seele störende, aber verdrängte, ge-
fürchtete Idee immer noch Daseinsberechtigung hat, auch heute
noch Konflikte zu erzeugen geeignet ist, selbst dann ist es vorteil-
hafter, dem Kranken die volle reine Wahrheit vorzuhalten.
Es gibt ja reale Übel, denen man abhelfen kann; wie aber
wenn man sie vor sich selbst ableugnet? Wir müssen das Übel
erkennen, das ist die Vorbedingung der Abhilfe. Fühlt eine „Frau
vom Meere“, die frei wählen kann, daß sie ihren Mann nicht liebt,
wohlan denn, so mag sie ihn verlassen. Dann kann sie immer
noch überlegen, ob sie dem Abenteurer folgen soll und ob es
nicht vernünftiger ist, weder dem Braven, aber Ungeliebten noch
dem Anziehenden, aber Unzuverlässigen anzugehören, sondern
von Beiden getrennt sich neue Ziele zu stecken und in einem
neuen Leben Entschädigung zu suchen.
Das aber wäre das Beispiel für eine dritte Möglichkeit, für
die nämlich, daß der Konflikt auch nach der Analyse sich als un-
76 Surgestion und Psychoanalyse
lösbar erweist. Man könnte meinen, daß in diesem Falle eine un-
sinnige Zwangsidee, — z. B. die monomanische Liebe zum Meere, —
denn doch erträglicher ist, als das Wissen um die unerbittliche
Wahrheit. Dem ist aber nicht so. Ein Hauptcharakterzug neuro-
tischer Symptome ist die Unmöglichkeit ihrer Erledigung und die
dadurch bedingte Unverwüstlichkeit. Um den im Unbewußten ver-
borgenen Komplex sammeln sich immer frische Energiemengen an,
wie im Schosse eines scheinbar erloschenen Vulkans, und wenn
die Spannung einen Höhepunkt überschritten hat, kommt es. immer
wieder zu Ausbrüchen. Was wir hingegen bewußt überschauen und
in all seiner Tiefe durchfühlen, das unterliegt in der Seele dem
Prozesse des Abilauens, der Abnützung, es verliert an Gefühls-
wert. Der vollen Erkenntnis folgt die „assoziative Zerstreuung“
der Gefühlsspannung auf dem Fusse. Auch die Trauer hat zwei
Erscheinungsformen, eine normale und eine pathologische. Bei der
ersteren folgt der ersten psychischen Lähmung bald die philo-
sophische Resignation, die Sorgen und Aufgaben der Zukunft
lassen den Selbsterhaltungstrieb bald zu Worte kommen. Wo
aber Jahre, Jahrzehnte vergehen, ohne daß das Gefühl der Trauer
nachließe, dort können wir versichert sein, daß der Trauernde nicht
nur den eben Verlorenen, nicht nur die Erinnerungen an ihn be-
weint, sondern, daß im Unbewußten verborgen, andere frühere,
deprimierende Motive die Gelegenheit des aktuellen Falles benützen,
um sich geltend zu machen. |
Die Analyse verwandelt die pathologische Trauer in eine phy-
siologische und macht sie dadurch der gefühlserlösenden Wirkung der
Zeit, des Lebens zugänglich, gleichwie das verschüttete antike Kunst-
werk nur so lange intakt bleibt, als es in der Tiefe der Erde be-
graben liegt; sobald es ans Tageslicht geholt wird, beginnen Regen,
Eis, Schnee und Sonnenschein ihre zerstörende Arbeit an ihm. Die
Suggestion heilt also palliativ, die Analyse verdient ein „kausales
Heilverfahren“ genannt zu werden. Der Suggerierende tut wie jener
Hygieniker, der gegen den Alkoholismus und die Tuberkulose fort-
während nur von Abstinenz und Desinfektion predigt; die Analyse
aber gleicht eher dem Soziologen, der nach den gesellschaftlichen
Übeln forscht, die die eigentlichen Urheber der Trunksucht und der
Tuberkulose sind, er kämpft gegen diese Grundursachen an.
Suggestion und Psychoanalyse 77
Wie ich schon sagte, fanden sich auch solche, die da behaup-
teten, auch die Analyse selbst sei nichts anderes als eine Form
der Suggestion. Der Analytiker beschäftige sich viel mit dem Kranken,
er „rede ihm ein“, die Ursachen der Symptome wären diese oder
jene, und diese Suggestion wirke heilend. Meist sind es dieselben
Kritiker, die in einem Atem sagen, daß die tatsächlichen Angaben
der Psychoanalyse unwahr seien und daß jene Tatsachen längst
bekannt wären; daß die Analyse wirkungslos oder auch schädlich
sei, und daß sie nur suggestiv heile.
Nach jener Grundregel der Dialektik, wonach der Behauptende
zu beweisen hat, müßte ich mich mit diesen Einwendungen nicht
beschäftigen, da sie überall nur als Möglichkeiten und leere Be-
hauptungen aufgeworfen wurden und nicht auf persönlichen Erfah-
rungen des Kritikers beruhen. Da aber diese Einwände so oft wieder-
holt werden und schon infolge der häufigen Wiederholung Ein-
druck machen können, will ich einige Fakten anführen, die dagegen
sprechen, daß die Suggestion im gewöhnlichen Sinne des Wortes
bei der Analyse eine namhafte oder gar die Hauptrolle spielen könnte.
Wie ich sagte, ist bei der Suggestion der Glaube des Pa-
tienten die Vorbedingung des Gelingens. Nun, die analytische Kur
beginnt damit, daß wir den Patienten auch darüber aufklären, daß
die größte Skepsis von seiner Seite erlaubt, ja notwendig ist. Wir
gestatten ihm, alle unsere Behauptungen zu kontrollieren; er darf
über uns lachen, uns schelten, kritisieren, wenn ihm etwas, was wir
behaupten, unglaublich, lächerlich oder grundlos erscheint. Ich könnte
nicht behaupten, daß die Patienten am Anfang der Kur viel Ge-
brauch von dieser Erlaubnis machen, im Gegenteil, es zeigt sich bei
ihnen ein großer Hang dazu, alle unsere Aussprüche für Offen-
barungen zu nehmen. In solchen Fällen erkennen wir selbst aus kleinen
Fehlleistungen, Versprechen des Patienten, den unterdrückten Zweifel
und zwingen ihn, diesen Unglauben sich und uns einzugestehen.
Manchen Patienten ergreift schon nach den ersten Aufklärungen
eine außerordentlich starke Neigung zum Prophetentum; er predigt
iortwährend und überall über die Psychoanalyse, kann über gar-
nichts anderes reden, will immerfort neue Anhänger werben. Solchen
müssen wir dann selber beweisen, daß der große Lärm nur dazu
dient, gewisse eigene Zweifel zu überschreien. Mit einem Wort, im
78 Suggestion und Psychoanalyse
Gegensatz zum Suggerierenden, der nichts will, als daß ihm der
Patient glaube, achten wir fortwährend darauf, daß der Kranke
nichts glaubt, wovon er sich nicht überzeugt hat.
Der Suggerierende will dem Kranken imponieren. Er nimmt
die selbstgefällige Miene der wissenschaftlichen, moralischen Au-
torität, der altruistischen Güte an und so sieht er seine Patienten
an, gibt ihnen beruhigende Erklärungen oder erteilt ihnen Befehle.
Selbst mit seiner äußeren Erscheinung, mit seinem Bartwuchs und
seiner feierlichen Kleidung will er auf sie Eindruck machen. |
Wie anders die Psychoanalytiker: Sie zwingen den Patienten,
alles was ihm durch den Kopf geht, zu sagen, nichts bei Seite zu
schieben, selbst das nicht, wovon er meint, daß es auf den Arzt
unangenehm oder beleidigend wirken könnte. So kommt denn auch
alles zum Vorschein, was sich an Verdächtigung, Geringschätzung,
Hohn, Haß, Zorn, Empfindlichkeit in ihm verbirgt, ohne die es
einmal unter Menschen nie zugeht, selbst wo im Allgemeinen Sym-
pathiegefühle vorherrschen. Das imponierende Auftreten des sug-
gerierenden Arztes, die Güte oder Strenge, die er zur Schau trägt,
drängen diese negativen Äffekte schon in statu nascendi zurück.
Gibt es aber einen unfruchtbareren Boden für das Zustandekommen
der Suggestion als ein Verhältnis, in dem es dem Behandelten
anheimgestellt ist, sich über seinen Arzt in jeder möglichen Weise
lustig zu machen, ihn — wenn es ihm einfällt — gering zu schätzen
und zu erniedrigen? Ich kann hier nämlich gleich bemerken, daß
viele Patienten diese Gelegenheit gerne ausnützen, um allem Haß
und Hohn, den sie seit Kindheit gegen jede Autorität in sich
hegten und erstickten, endlich einmal Luft zu machen. Mit scharfem
Auge beobachten sie den Arzt: Sein Äußeres, seine Gesichtszüge,
seine Kleidung, sein Gang werden kritisiert; es kommen Einfälle,
in denen er verschiedener Missetaten verdächtigt, an der Lauterkeit
seines Charakters gezweifelt wird. Der analysierende Arzt aber, der
sein Handwerk versteht, wird sich solchen Einfällen nicht gegenüber
verteidigen, sondern ruhig abwarten, bis der Patient selbst zur
Einsicht kommt, daß seine Aggressivität eigentlich gegen ganz
andere, für ihn bedeutsamere Personen gerichtet ist, und daß er
seine grundlosen oder haarsträubend übertriebenen Beschuldigungen
auf den Arzt nur „überträgt“.
Suggestion und Psychoanalyse 79
Bei der suggestiven und hypnotischen Kur sagt der Arzt dem
Patienten möglichst nur Angenehmes. Er leugnet, daß er überhaupt
krank sei, tröstet ihn, will ihm Kraft und Selbstvertrauen einflößen,
mit einem Wort, er suggeriert dem Kranken nur wohltuende Dinge
und dies gefällt diesem so gut, daß er wirklich im Stande ist, aus
Dankbarkeit hiefür das Produzieren der Symptome für eine Zeit
aufzugeben. Im Gegensatz dazu muß der Analytiker seinem Patienten
fortwährend unangenehme Wahrheiten ins Gesicht sagen. Er enthüllt
die Schattenseiten seines Charakters, seiner Ästhetik, seiner Intelli-
genz, er drückt sein gehobenes Selbstbewußtsein auf ein reales
Niveau hinab. Sträubt sich der Patient mit Händen und Füssen
gegen solche unangenehme Einsicht, so hütet sich der Analytiker
davor, ihn zu überreden, gibt eventuell auch die Möglichkeit eines
Irrtums von seiner Seite zu. Erst wenn der Patient selbst Er-
innerungen und Einfälle bringt, die den Verdacht des Analytikers
bekräftigen, also nach eigener Überzeugung des Kranken kann man
auf einen Fortschritt der analytischen Erkenntnis und auch auf die
Besserung des Zustandes rechnen.
Wenn jemand diese vorsichtige Art der Aufklärung Suggestion
nennen will, so ist gegen solche Namengebung natürlich nichts ein-
zuwenden, nur müßen wir dann den Begriff der Suggestion über-
haupt anders definieren und auch eine auf induktive Beweise ge-
gründete logische Überzeugung unter diesen Begriff subsummieren.
Damit verlöre aber das Wort wie auch der Einwand seine Bedeutung.
Dem Suggerierenden stehen außer dem Imponieren auch noch
andere Waffen zu Gebote, er kann den Patienten gegenüber In-
teresse, Selbstlosigkeit vortäuschen. Natürlich steigert das die Hoch-
achtung, manchmal auch die Leidenschaft, die die Person des sug-
gerierenden Nervenarztes hervorruft, bis zum höchsten Grad.
Solche Neigung des Patienten zu kritikloser Unterwerfung
offenbart sich allerdings auch in der Analyse und insoferne muß das
Vorhandensein suggestiver Faktoren auch in der Änalyse zuge-
geben werden; doch ist diese „Suggestion“ in der Analyse nur ein
Übergangsstadium und kein Kranker kann analytisch für geheilt
gelten, bei dem sich die Ernüchterung aus diesem Zustande nicht
eingestellt hat. Auch ist dafür gesorgt, daß der Enthusiasmus für
den Arzt in der Analyse nicht „in den Himmel‘ wächst“. Der
80 Suggestion und Psychoanalyse
Analytiker schont nämlich mit seinem Seziermesser auch diese
Sympathiegefühle nicht, die der Hypnotiseur so eifrig pflegt. Die
vom Patienten eingestandene Zuneigung könnte aber nicht ärger
beleidigt werden, als indem wir sie, statt sie zu erwidern, für ein
in wissenschaftlicher und in therapeutischer Hinsicht wichtiges Sym-
ptom erklären und analysieren. Und wahrhaftig, wie die pathologische
Trauer, so schwindet diese pathologische Liebe; die Übertragung
auf den Arzt verliert am Ende der Analyse allen Zauber.
Der Suggerierende beginnt damit, daß er dem Kranken be-
stimmt die Genesung verspricht. Das tut der kunstgerecht arbeitende
ÄAnalytiker nicht. Von Anbeginn der Kur an spricht er nur von
einer Möglichkeit der Heilung, höchstens von der Wahrscheinlichkeit;
anders kann er garnicht, denn die genauere Natur des Übels, seine:
Tragweite, die Hemmungen, die sich aus der Persönlichkeit des
Kranken ergeben, kommen erst während der Arbeit zum Vorschein
und erst dann wird es allmählich klar, ob und in wie weit es möglich
ist, die affektiven und intellektuellen Widerstände des Kranken zu
bekämpfen. Wenn aber der Patient trotz alledem gesund wird, so
kann von Suggestionserfolg nur der reden, der entweder nicht
weiß, was Analyse ist, oder sich über die psychoanalytische Technik
falsche Vorstellungen macht.
Der analysierende Arzt muß streng darauf achten, daß er sich
nicht mit einem nur suggestiven Erfolg zufrieden gibt. Es kommt
oft vor, daß der Patient schon mit freudestrahlendem Gesichte
erscheint und das Evangelium seiner Genesung verkündet; da ist
es die unangenehme Pflicht des Arztes, ihn auf die Zeichen auf-
merksam zu machen, die dagegen sprechen. Wer aber solches Vor-
gehen immer noch „Suggestion“ nennt, mit dem läßt sich überhaupt
nicht weiter diskutieren.
Zu Beginn ihrer historischen Entwicklung war die Psycho-
analyse mit der Hypnose kombiniert, sie hat sich aber von ihr
längst emanzipiert. Die Entdecker der Methode benützten anfangs
das bequeme Mittel der in der Hypnose verfeinerten Erinnerungs-
fähigkeit dazu, um verborgene Erinnerungsspuren wachzurufen. Bald
stellte es sich jedoch heraus, daß das Verquicken der Analyse mit
Suggestion, wenn es auch in manchen Fällen den Beginn der Kur
erleichterte, die Beendigung derselben und die Lösung der zu Stande
Suggestion und Psychoanalyse 8
gekommenen Gefühlsübertragungen auf den Arzt umso schwieriger
gestalte. Ich stütze mich auf die Meinung aller kompetenten Fach-
leute, wenn ich die mit Hilfe der Hypnose ausgeführte analytische
Kur für ein minderwertiges Surrogat der wirklichen, ohne Hypnose
ausgeführten erkläre. Es ist notwendig, dies zu betonen, denn viele
sind der falschen Ansicht, daß die Analyse auch heute noch, wie
zu Breuers Zeiten, nichts anderes ist als Erinnerungen-Wachrufen
und Affekte-Äbreagieren im hypnotischen Zustand. Davon ist keine
Rede, der Patient muß im Gegenteil wach sein, damit seine intellek-
tuellen und affektiven Widerstände sich restlos manifestieren und
überwunden werden können. |
Mit dem Gesagten wollte ich nur beweisen, daß die Analyse
nicht nur keine Suggestion, sondern ein fortwährender Kampf gegen
suggestive Einflüsse ist, und daß die Technik der Analyse mehr
Schutzmaßregeln gegen blinden Glauben und kritiklose Unterwerfung
anwendet als alle Methoden des Unterrichts und der‘ Aufklärung, _
die in der Kinderstube, an der Universität oder im Ordinations-
zimmer je in Anwendung gebracht worden sind.
Aber daß der suggestive Einfluß keine große Rolle in unserer
Psychoanalyse spielt, dafür sorgt auch die große Unbeliebtheit
dieser Methode in offiziellen Kreisen.
Selbst wenn die Analytiker nicht gegen die Suggestion an-
kämpfen und die inneren Widerstände des Patienten kein Gegen-
gewicht gegen suggestive Einflüsse schaffen würden: die allgemeine
timmung eines bedeutenden Teiles der Ärzte würde genügen,
um die Gläubigkeit unserer Patienten zu untergraben. In dieser
Hinsicht geschieht oft mehr, als unbedingt nötig ist. Wenn ein
analysierter Patient zufällig die Meinung eines anderen Arztes
über Psychoanalyse einholt — und wir kennen den Hang der
Neurotiker, Ärzte zu konsultieren, — so kehrt er schwer be-
laden mit allerlei Zweifeln gegen unser Heilverfahren heim. Es ist
noch nicht arg, wenn er nur zu hören bekommt, die Analyse sei
„der Riesenirrtum eines genialen Menschen“, sie sei „Phantasie“
oder „Belletristik“, es geht auch noch an, wenn die Analyse von
Ärzten, die keine blasse Ahnung davon haben, kurz und bündig
für Unsinn erklärt wird. Es kommt aber vor, daß, Dank dem
Wohlwollen mancher Kollegen, auch gegen die persönliche Ver-
/ 6
82 Suggestion und Psychoanalyse
trauenswürdigkeit des Analytikers der Verdacht des Kranken
geweckt wird.
Natürlich ahnen diese wohlmeinenden Informatoren nicht, daß
in der Analyse der Patient seinem Arzte wirklich alles erzählt,
und daß gerade dieser Zwang, alle Gedanken mitzuteilen, etwas
von der Schärfe der Gegensuggestion nimmt, die den Kranken in
seinem Vertrauen erschüttern möchte. Die Analyse ist heute noch
eine Operation, sagt der obengemeinte „geniale Mann“, bei
der Familienmitglieder und Ärzte fortwährend ins Operations-
feld spucken.
Bei der Analyse ist also nicht von Suggestion die Rede,
sondern im Gegenteil von der freien Äußerung jener starken
Widerstände, die teils der Unlust des Patienten, unangenehme
Wahrheiten zu ertragen, teils dem großen Mißtrauen entstammen,
das die Ablehnung der Psychoanalyse durch angesehene Ärzte
in offizieller Stellung im Patienten wecken muß. Und wenn es
_ unter so schweren Verhältnissen doch gelingt, mittels der Psycho-
analyse Kranke zu heilen oder qualvolle Seelenzustände dauernd zu
erleichtern, so ist dies einzig und allein das Verdienst der Methode
und nur ein Unorientierter kann es der „Suggestion“ zuschreiben.
Zwei Weltanschauungen sind es, die in unseren Tagen beim
Krankenbette des Neurotikers miteinander ringen, und sie messen
sich nicht nur in der Medizin, sondern auch in der Gesellschaft
längst mit feindlichen Augen. Der einen Zweck ist es, die Übel
mittels Vertuschung, Bemäntelung, Verdrängung zu erledigen; ihre
Mittel sind: Vortäuschen des Mitgefühls nach Art der Priester
und Konservieren der Autoritätsanbetung. Die andere rottet die
„Lebenslüge“ überall aus, wo sie sie vorfindet, mißbraucht die Au-
torität nicht und das Endziel ihrer Bestrebungen ist, das Licht des
Bewußtseins bis zu den verstecktesten Triebfedern des Denkens
und Fühlens dringen zu lassen; sie schrickt vor keiner qualvollen,
unangenehmen oder ekelhaften Erkenntnis zurück, wenn sie durch
sie zu den Quellen des Übels vordringen kann. Gelang es der
Psychoanalyse, das Denken und Fühlen eines Menschen von allen
Fesseln zu befreien, so kann sie es getrost seiner Vernunft über-
lassen, in den Handlungen die eigenen Interessen und Wünsche
mit denen der Gesellschaft in Einklang zu bringen.
Suggestion und Psychoanalyse 83
Der Mensch, und zwar sowohl der gesunde als auch der
kranke Mensch, ist reif geworden, seine verborgenen Übel bewußt
zu bekämpfen, und es ist übertriebene Ängstlichkeit, ihn wie ein
Kind mit suggestiver Beruhigung heilen zu wollen, anstatt ihn mit
der manchmal bitteren, aber immer heilsamen Pille der Wahrheit
fürs Leben zu stärken.
6*
Die wissenschaftliche Bedeutung
von Freuds „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie“ *
Die „Drei Abhandlungen“ zeigen uns Freud, den Änalytiker,
zum erstenmal in synthetischer Arbeit. Das unermeßlich reiche Er-
fahrungsmaterial, das sich aus der zergliedernden Prüfung so vieler
tausender Seelen ergab, versucht der Verfasser hier zum ersten-
mal derart zusammenzufassen, zu klassifizieren, in Beziehungen zu
bringen, daß sich daraus die Klärung eines großen Gebietes der
Seelenlehre, der Psychologie des Sexuallebens, ergebe. Daß er
gerade die Sexualität zum Gegenstand seiner ersten Synthese
wählte, folgte aus der Natur des ihm zu Gebote stehenden Beob-
achtungsstoffes. Er analysierte Kranke mit Psychoneurosen und
Psychosen und entdeckte als Grundursache dieser Leiden immer
irgend eine Störung des Sexuallebens. An die Psychoanalyse an-
knüpfende weitere Untersuchungen überzeugten ihn aber, daß die
Sexualität auch in der Seelentätigkeit des normalen und gesunden
Menschen eine weit größere und mannigfachere Rolle spielt, als
man es bisher, solange man nur die manifesten Äußerungen der
Erotik würdigen konnte und das Unbewußte nicht kannte, für
möglich hielt. Es stellte sich also heraus, daß die Sexualität —
* Diese Zeilen schickte der Verfasser seiner ungarischen Übersetzung der
dritten Auflage des Freudschen Werkes „Drei Abhandlungen zur Sexual-
theorie“ voran; sie wurden auch in der „Internationalen Zeitschrift für
Psychoanalyse“, IH. Jahrgang, 1915, abgedruckt.
R Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie* 85
trotz ihrer großen Literatur — ein im Verhältnis zu ihrer Wichtig-
keit sehr vernachlässigtes Kapitel des Wissens vom Menschen ist,
das also jedenfalls einer von neuen Gesichtspunkten ausgehenden
Untersuchung unterworfen zu werden verdient.
Es ist wohl nicht so sehr Bescheidenheit, als vielmehr die Un-
genügsamkeit des immer vorwärts strebenden Gelehrten, wenn Freud
in seinen letzten Konklusionen auf die Unvollkommenheiten dieses
Versuches hinweist. Der Schüler, der sozusagen ohne Kampf und
Mühe in den geistigen Besitz der in diesen Abhandlungen nieder-
gelegten neuen Erkenntnisse und Perspektiven gelangt, sieht nicht
die Unvollkommenheiten, sondern die Vorzüge des Werkes und rät
auch dem Äutor, einem französischen Spruche zu folgen und sich
zu sagen: „je vaux peu quand je me considere et beaucoup quand
je me compare.“ Wer die Reichhaltigkeit des Materials dieser Ab-
handlungen, die überraschende Neuheit ihrer Gesichtspunkte mit der
Art vergleicht, in der die Sexualität in anderen Werken abgehandelt
wird, der wird wohl nicht mit Unzufriedenheit, sondern mit dem
Gefühle bewundernder Achtung auf die Lektüre dieser Arbeiten
reagieren. Er wird dankbar anerkennen, daß die Libidotheorie, deren
Probleme vor Freud nicht einmal aufgeworfen wurden, durch die
Tätigkeit eines Einzelnen fest begründet, zum Teil ausgebaut, wenn
auch noch nicht ganz vollendet wurde.
Dieser Erfolg, wie auch die Erfolge der F reudschen psychia-
trischen Forschung, sind nicht nur dem Scharfblick des Autors,
sondern auch der konsequenten Anwendung einer Untersuchungs-
methode und dem Festhalten an gewissen wissenschaftlichen Gesichts-
punkten zu verdanken. Die psychoanalytische Untersuchungsmethode,
die in jedem Sinne des Wortes freie Assoziation, brachte eine
bisher ganz unbekannte und unbewußte tiefere Schichte des Seelen-
lebens zum Vorschein. Und die bisher nicht gekannte Strenge und
Ausnahmslosigkeit, mit der die Psychoanalyse den Grundsatz des
psychischen Determinismus und den Entwicklungsgedanken an-
wendet, ermöglichte die fruchtbare wissenschaftliche Verwertung
dieses neuen Materials.
Der Fortschritt, den wir dieser Arbeitsweise verdanken, ist
überraschend groß. Die Psychiatrie vor Freud war ein Raritäten-
kabinett sonderbarer und: sinnloser Krankheitsbilder, die Wissen-
86 Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
schaft der Sexualität bestand in der deskriptiven Gruppierung ab-
stoßender Abnormitäten. Die Psychoanalyse, stets treu dem Deter-
minismus und der Entwicklungsidee, scheute vor der Aufgabe nicht
zurück, auch diese die Logik, Ethik und Ästhetik verletzenden und
darum vernachlässigten psychischen Inhalte zu zergliedern und ver-
ständlich zu machen. Ihre Selbstüberwindung wurde reichlich be-
lohnt; in dem von den Geisteskranken produzierten Unsinn erkannte
sie onto- und phylogenetische Urkräfte der menschlichen Psyche,
den nährenden Humus aller Kultur- und Sublimierungsbestrebungen,
und es gelang ihr — besonders in diesen „Drei Abhandlungen“
— nachzuweisen, daß von den sexuellen Perversionen der einzige
Weg zum Verständnis des normalen Sexuallebens führt.
Ich hoffe, daß es einstmal nicht als Übertreibung klingen wird,
was ich von der Bedeutsamkeit dieser „Abhandlungen“ noch sagen
muß. Ich stehe nicht an, ihr eine wissenschaftsgeschichtliche
Bedeutung beizulegen. „Mein Ziel war, zu erkunden, wieviel
zur Biologie des menschlichen Sexuallebens mit den
Mitteln der psychoanalytischen Erforschung zu erraten
ist,“ erklärt der Verfasser im Vorwort zu seinen Abhandlungen.
Dieser bescheiden klingende Versuch bedeutet, genau betrachtet,
den Umsturz alles Hergebrachten; noch nie hat man bisher an die
Möglichkeit gedacht, daß eine psychologische, und zwar eine „intro-
spektive“ Methode ein biologisches Problem erklären helfen könnte.
Man muß weit zurückgreifen, will man dieses Bestreben seiner
Bedeutung entsprechend würdigen. Wir müssen uns erinnern, daß die
Wissenschaft in ihrer Urzeit anthropozentrisch, animistisch war; der
Mensch nahm seine eigenen seelischen Funktionen zum Maßstabe des
ganzen Weltgeschehens. Es war ein großer Fortschritt, als diese
Weltanschauung, der in der Astronomie das geozentrische, ptolo-
mäische System entsprach, von der „naturwissenschaftlichen“ — man
könnte sagen: kopernikanischen — Auffassung abgelöst wurde, die
dem Menschen die maßgebende Bedeutsamkeit benahm und ihm die
bescheidene Stellung eines Mechanismus unter unendlich vielen
anderen zuwies. Diese Ansicht schloß stillschweigend auch die An-
nahme in sich, daß nicht nur die leiblichen, sondern auch die
seelischen Funktionen des Menschen Leistungen von Mechanismen
sind. Stillschweigend — sage ich —, weil sich die Naturwissenschaft
Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 87
bis auf den heutigen Tag mit dieser ganz allgemeinen Annahme
begnügte, ohne uns den geringsten Einblick in die Natur der
psychischen Mechanismen zu gewähren; ja, sie leugnete dieses
Nichtwissen vor sich selbst ab, indem sie diese Lücke in der Er-
kenntnis mit phrasenhaften physiologischen und physikalischen Schein-
erklärungen zudeckte.
Von der Psychoanalyse kam der erste Lichtstrahl, der die
Mechanismen des Seelenlebens beleuchtete. Mit Hilfe ihrer Kennt-
nis konnte sich die Psychologie auch solcher Schichten des Seelen-
lebens bemächtigen, die der unmittelbaren Erfahrung entrückt sind;
sie getraute sich, den Gesetzen der unbewußten Seelentätigkeit
nachzuforschen. Der nächste Schritt wird gerade in diesen Ab-
handlungen getan: ein Stück Triebleben wird hier mit der Hyposta-
sierung gewisser in der Psyche tätigen Mechanismen unserem Ver-
ständnis näher gebracht. Wer weiß, ob wir nicht auch den letzten
Schritt erleben werden: die Verwertung der Kenntnisse von den
psychischen Mechanismen im organischen und anorganischen Ge-
schehen überhaupt.
Indem Freud mittels der psychoanalytischen Erfahrung Probleme
der Biologie, zunächst der Sexualtätigkeit, zu erraten versucht, kehrt
er gewissermaßen zur Methode der alten, animistischen Wissen-
schaft zurück. Es ist aber dafür gesorgt, daß ‘der Psychoanalytiker
nicht auch in die Fehler jenes naiven Animismus verfällt. Der naive
Animismus übertrug nämlich „en bloc“, ohne Analyse die Cha-
raktere des menschlichen Seelenlebens auf die Objekte der Natur;
die Psychoanalyse dagegen zergliedert zuvor die menschliche
Seelentätigkeit, verfolgt sie bis zur Grenze, wo Psychisches und
Physisches sich berühren: bis zu den Trieben, — befreit so die
Psychologie vom Anthropozentrismus und erst dann getraut sie sich
den so gereinigten Animismus biologisch zu verwerten. Diesen
Versuch zum erstenmal gemacht zu haben, ist die wissenschafts-
geschichtliche Tat Freuds in diesen Abhandlungen.
Ich muß darauf zurückkommen, daß nicht leere Spekulation,
sondern die emsige Beobachtung und Untersuchung bisher ganz
vernachlässigter psychischer Sonderbarkeiten und geschlechtlicher
Verirrungen zu diesen großen Perspektiven geführt hat. Der Ver-
fasser selbst begnügt sich in kurzen Notizen, flüchtigen Bemerkungen
83 Die Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“
auf sie hinzuweisen und beeilt sich, zu den Tatsachen, den Einzel-
fällen, zurückzukehren, um die Fühlung mit der Realität ja nicht
zu verlieren und für die Theorie eine sichere, breite Grundlage
zu bauen.
Der Schüler aber, dem diese Erkenntnisse den Beruf ver-
schönen, konnte es sich nicht versagen, sich einmal in die Be-
trachtung dieser Perspektiven zu versenken und auch andere darauf
aufmerksam zu machen, die sonst vielleicht achtlos bei dem Mark-
stein vorbeigegangen wären, den die „Drei Abhandlungen“ Freuds
für die Wissenschaft bedeuten. |
Die Psychoanalyse
des Witzes und des Komischen*®
Das Interesse der Ärzte für Witz und Komik ist nicht neu.
Die Ärzte des klassischen Zeitalters, deren Lehren ein ganzes
Jahrtausend lang in Ansehen blieben, empfahlen ganz ernsthaft, die
Kranken zum Lachen zu reizen, damit ihr Zwerchfell erschüttert
und ihre Verdauung gefördert werde. Im heutigen Vortrag will ich
aber meinen Hörern nicht die Mittel und Methoden solcher Unter-
haltungskunst beibringen. Im Gegenteil, es ist meine erklärte Ab-
sicht, die Wirkung, die der Witz und das Komische auf den naiv
Zuhörenden machen, zu zerstören. Ich übernehme die Rolle einer
typischen Gestalt des „Borsszem Jank6“,”* die Rolle des gelungen
karikierten Professor Tömb, der, anstatt die poetischen Schöpfungen
in ihrer ursprünglichen Form auf seine Schüler wirken zu lassen, sie
zerstückelt und ihre Schönheit durch die philologische und ästhetische
Analyse in Langeweile erstickt. Schon aus diesem Programm können
Sie ersehen, daß heute nicht der unterhaltsame und heilenwollende
Arzt aus mir spricht, sondern der Psychologe. Ich will Sie mit
einem Werke Prof. Freuds über den Witz”** bekannt machen.
‘Wie jede Karikatur, hat auch die des Professor Tömb, einen
ernsthaften Kern. Was dieser langweilige Philologe in aller Naivität
tut: daß er nämlich das Schöne durch Analyse langweilig macht,
* Vortrag, gehalten in der „Freien Schule der Sozialwissenschaften“ in
Budapest.
** Ungarisches humoristisches Wochenblatt.
*** Prof, Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Il. Auflage.
Wien 1921.
90 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
wodurch er auf jeden komisch wirkt, das betreibt Prof. Freud
ganz planmäßig und benützt es zur Erlangung überraschender
psychologischer Erkenntnisse. Vor Freud befaßten sich schon viele
mit dem Problem des Witzes, manche trugen sogar mit wertvollen
Bausteinen zu einer Psychologie der Lust am Witze bei, doch sie be-
leuchteten immer nur die eine oder die andere Seite des Problems,
wo sie die ganze Frage gelöst zu haben wähnten. Freuds Werk
umfaßt hingegen den ganzen Komplex und die ganze Tiefe der
hier in Betracht kommenden Fragen, so daß wir den Großmeister
der Seelenkunde und Seelenheilung auch auf dem Gebiete der
Ästhetik als Bahnbrecher bezeichnen können.
Ein genialer Gedanke war schon die Methode allein, mit der
er bei der Analyse des Witzes zu Werke ging, und die wir auf
Grund des oben gesagten „die Methode des langweiligen Philo-
logen“ nennen könnten. Freud dachte sich: wenn wir erfahren wollen,
was im Witz dasjenige ist, was die gute Laune auslöst und zum
Lachen reizt, so muß man vor allem feststellen, ob im Inhalt oder
in der Form, im Gedanken selbst oder in seiner Ausdrucksweise
— oder aber in beiden das bis jetzt unbestimmbare „Etwas“ steckt,
das den Zuhörer mit so unwiderstehlicher Kraft zur Innervation seiner
Lachmuskeln zwingt. Er stellte sich also zunächst die Frage, ob
man auch den allerbesten Witz „verderben“, das heißt, ihn trotz
vollständiger und treuer Wiedergabe seines Inhalts in eine solche
Form gießen kann, in der er nicht mehr erheiternd wirkt: Ist dem
so, dann wird es zweifellos, daß nicht der Inhalt, sondern nur die
Form — oder wie Freud es angt, die Technik — dem Wiize den
Witzcharakter verleiht. Auf diesem Wege kam Freud zu dem
überraschenden Resultat, daß man mit diesem Verfahren, welches
er die „Reduktion des Witzes“ nennt, wirklich fast jedem Witz
seine belustigenden Eigenschaften rauben kann, mit anderen Worten:
es gibt keinen noch so guten Witz, den man mit genügender
Sachkenntnis nicht verderben könnte.
Hören wir einmal, wie Freud diese „Reduktion“ an einem
bekannten Wortspiel demonstriert. In einem der „Reisebilder“
Heines, in den „Bädern von Lucca“, spricht der Dichter auch
vom Lotteriekollekteur und Hühneraugenoperateur Hirsch-Hyacinth
aus Hamburg, der sich dem Dichter gegenüber seiner Beziehungen
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 91
zum reichen Baron Rothschild rühmt und zuletzt sagt: „Und so
wahr mir Gott alles Gute geben soll, Herr Doktor, ich saß neben
Salomon Rothschild und er behandelte mich ganz wie seines
Gleichen, ganz famillionär.“ Hätte das Hirsch-Hyacinth so er-
zählt: „Rothschild behandelte mich ganz wie seines Gleichen, ganz
familiär, obschon er Millionär ist“, die Witzwirkung wäre ohne
Zweifel ausgeblieben. Diese Wirkung wurde also nur durch die
Verdichtung, die Mischwortbildung erzielt. Um dies zu ver-
anschaulichen, schreibe man die zwei Worte untereinander wie zwei
Ziffern, die man addieren will, und man führe die Addition aus,
indem man die Silben die in beiden Worten vorkommen, im
Resultat nur einmal figurieren läßt. Da ergibt sich folgendes
Rechenexempel: de
Famili är
4 Milli onär
— Famillionär
Was ist hier eigentlich vorgegangen? Nichts weiter, als daß es
dem Witze gelang, mit Hilfe einer oberflächlichen, akustischen
Assoziation zwei inhaltlich voneinander entfernte Begriffe, den °
der Familie und den des Reichtums, in ein Wort zu verdichten,
das heißt, mit einem Worte die Vorstellung beider heraufzu-
beschwören. Was ist nun Freuds Erklärung für den Lacheffekt
beim Anhören einer solchen Verdichtung? Das Lachen rührt, wie
er es an zahlreichen Beispielen beweist, davon her, daß die Ge-
dankenarbeit, die wir normalerweise hätten leisten müssen, um die
Idee der Familie mit der des Millionärs assoziativ zu verknüpfen,
und die wir — indem wir dem Erzähler folgten, — schon in Gang
gesetzt haben, infolge der Verdichtung plötzlich überflüssig wurde,
so daß wir die zum Denken bereits aufgespeicherte Inner-
vationsspannung, die wir so erspart haben, unwillkürlich als mo-
torische Innervation der Lachmuskeln abreagieren, sie als Lachen
abführen.
Um einen solchen „guten Witz“ vom „schlechten Witz“ zu
unterscheiden, nehmen wir auch ein solches Beispiel vor.
In einer Kindererzählung, die mir zufällig in die Hand
geraten ist, las ich ungefähr folgendes: Es gibt ein sonderbares
Land, in dem allerlei merkwürdige Tiere leben, Kanarinocerosse
92 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
fliegen in der Luft, Papageidechsen sonnen sich auf den Felsen,
ein Elephantast spaziert im Garten herum und die Köchin be-
reitet den Kindern eine Kamelspeise. Nun, das sind wohl auch
Wortverdichtungen, die weit entfernte Begriffe zusammenknüpfen,
aber hinter der oberflächlichen Assoziation verbirgt sich kein
tieferer Sinn, wie hinter dem Worte „famillionär“; darum bringen
solche Wortwitze den Erwachsenen höchstens zum Lächeln, das
befreiende Lachen der Witzwirkung bleibt hier aus.
Prinzipiell wichtig ist immerhin die Tatsache, daß selbst eine
solche Verdichtung zweier rein akustisch assoziierter Worte, die
sinngemäß nichts miteinander zu tun haben, belustigend wirken
kann. Dies ist der unzweifelhafte Beweis dafür, daß die erheiternde
Wirkung der Wortspiele nur davon herrührt, daß wir für einen
Moment die ernste zielstrebige Gedankenarbeit ersparten und, wie
es Kinder zu tun pflegen, sinnlos mit den Worten „spielten“.
Gegen solche Witze aber, denen der tiefere Sinn abgeht, wird
alsbald die logische Zensur mobilisiert, so daß die Scherzwirkung
recht bald einer abfälligen Kritik Platz macht. Diese Zensur ge-
stattet nur dann ein herzhaftes Lachen, wenn es dem Spaßmacher
gelingt, hinter der oberflächlichen akustischen Verdichtung auch
etwas „Tiefsinniges“ zu verstecken. Dieser tiefere Sinn ist es also,
der den sonst so wachsamen Hüter der logischen Denkordnung
besticht, und während dieser an dem ihm hingeworfenen intellek-
-tuellen Knochen nagt, hat das in unserem Unbewußten fortlebende
Kind die Situation längst ausgenützt und lacht herzlich darüber,
daß es ihm gelang, die Logik, diesen langweiligen und lästigen
Kontrolleur der Affekte, zum Besten zu halten.
Denjenigen unter Ihnen, die bereits etwas von der psycho-
analytischen Traumdeutung gehört haben, wird ganz gewiß die
weitgehende Ähnlichkeit zwischen der Traumarbeit und der Arbeit
des Spaßmachers auffallen. Im Traum so wie beim Witz wird das,
was das Bewußtsein zu hören bekommt: der manifeste Trauminhalt
und der erzählte Witz, nur dann verständlich und erklärlich, wenn
man den dahinter verborgenen Sinn erforscht. Beim Traum wie
beim Witz wurzelt das Motiv zur Traum- oder Witzarbeit im
Infantilen; dementsprechend herrscht sowohl in unseren nächtlichen
Phantasiegebilden, als auch bei der Gestaltung oder beim Genießen
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 93
eines Witzes nicht die strenge, logische Ordnung, sondern der durch
kindisch-oberflächliche Assoziation charakterisierte sogenannte „Pri-
märvorgang“. Nach den Erfahrungen unserer Analysen ist diese
Oberilächlichkeit im Traume viel größer als bei der Gestaltung des
Witzes, die ja im Wachzustande erfolgt; doch produziert manchmal
auch der Traum Wortverkettungen, Verklebungen, die auch als
Wortwitze möglich wären.
In einem eigenen Traume z. B. spielte unter anderem das
Wort „Hippopolitaine“ eine Rolle, das sich als ein ganz sinn-
loses Silbenaggregat anhört, bei der Analyse jedoch sich als die
Verdichtung der Worte Hyppolite Taine, Hippopotamus,
Metropolitaine entpuppte, somit allen Regeln der verdichtenden
Wortspieltechnik entsprach.
Es waren übrigens gerade seine Arbeiten über die Traum-
deutung, die Freud zum AÄufwerfen des Witzproblems brachten.
Es ist lehrreich zu hören, wie er dazu gekommen ist.
Als Freuds „Traumdeutung“ und die darin angewandte
Methode der freien, oberflächlichen Assoziation das Licht der Öffent-
lichkeit erblickte, empfing sie zur nicht geringen Überraschung des
Verfassers nur mitleidiges Lächeln der zünftigen Gelehrtenwelt. Es
gab aber auch rohe Gesellen, die darob Freud offen verlachten
und verhöhnten. Sie benahmen sich hierin ganz wie Neurotiker,
denen wir den Inhalt ihrer Träume deuten, und die sich lachend
der in der Deutung enthaltenen unangenehmen Wahrheiten erwehren.
Hätte einer von uns die in jahrelanger emsiger Arbeit ge-
sammelten Erkenntisse*den Fachgelehrten vorgelegt und auf Grund
nichtiger Einwände einen solchen Empfang gefunden, wir alle hätten
wohl die, die sich über unser Lebenswerk in frivoler Weise lustig
machten, zornig zurechtgewiesen, ihre Oberflächlichkeit und Un-
wissenheit unbarmherzig enthüllt, mit einem Wort sie tüchtig aus-
geschimpft. Anders Freud. Er sah in diesem allgemeinen Gelächter
eine der wissenschaftlichen Untersuchung werte seelische Erscheinung,
setzte sich also unverweilt an die Arbeit, um die Psychologie des
Lachens und des Witzes zu ergründen, und ruhte nicht, bis er
ausforschte, warum der Uneingeweihte die meisten der eigenen
Träume und alle Traumdeutung verlachen muß. Wohl darum — .
dies war das Ergebnis seiner Forschung — weil Traum und Witz
94 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
aus einer und derselben Seelenquelle, aus den unbewußten Schichten
der verdrängten infantilen Gelüste schöpfen und mit denselben
seelentechnischen Mitteln und Mechanismen arbeiten. In witzelnder
Verdichtung könnte ich also sagen, daß Freud, als man ihn aus-
lachte, zuerst das Buch schrieb, das er den ihn Verhöhnenden an
den Kopf werfen konnte.
Ich kann hier nicht auf die verschiedenen Abarten des Wort-
spiels im einzelnen eingehen. Wer Freuds Buch liest — und das
kann ich jedem empfehlen, der sich in diesen Fragen gründlich
orientieren und sich auch an der Formschönheit eines musterhaft
aufgebauten wissenschaftlichen Werkes erfreuen will — wird sich
davon überzeugen, daß jede Art der als „Wortspiel“ bezeichneten
Witzgruppe, also auch die „gleichartigen Stoff zweifach an-
wendenden,“ die „auf Doppelsinn aufgebauten“ und die mit
„verhüllten Anspielungen“ arbeitenden Wortwitze, denselben
Grundregeln gehorchen wie die hier näher beleuchteten Verdichtungs-
witze. Bei sämtlichen ist das kindische Spielen mit den Worten
die eigentliche Lustquelle, während der hinter den sinnlosen Wort-
verknüpfungen und Wiederholungen steckende Sinn teils dazu
dient, um die Zensur zu betören, teils dazu, um den Witzeffekt —
durch die für einen Moment hervorgerufene, aber sich schon im
nächsten Augenblick als überflüssig erweisende Denkanspannung
die auf diese Art erspart und im Lachen abgeführt wird, —
künstlich zu steigern. Nur noch ein Beispiel will ich aus Freuds
Witzbuch anführen, in dem sowohl die mehrfache Verwendung
derselben Worte als auch der Doppelsinn. eine Rolle spielt. In
einem der „Wiener Spaziergänge“ David Spitzers heißt es: „Das
Ehepaar X. lebt auf ziemlich großem Fuße; nach der Ansicht der
einen soll der Mann viel verdient und sich dabei etwas zurück-
gelegt haben, nach anderen wieder soll sich die Frau etwas
zurückgelegt und dabei viel verdient haben.“ Hätte uns der
Feuilletonist einfach von einem Ehepaar erzählt, wo der Mann an-
geblich viel verdient und etwas erspart hat, nach der Ansicht
anderer aber das Vermögen von der Frau erworben sei, die einen
unsittlichen Lebenswandel führt, so wäre die Witzwirkung voll-
kommen verloren. Die Wirkung beruht hier also nur auf der
doppelsinnigen Verwendung des Wortes „zurückgelegt“, und auf
e
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 35
der doppelten Verwendung desselben Wortmaterials: viel verdient,
etwas zurückgelegt, — etwas zurückgelegt, viel verdient. Die lust-
volle Wirkung rührt also einesteils davon her, daß im Worte
„zurückgelegt“ zwei von einander weit entfernte Begriffe, unsitt-
licher Lebenswandel und Sparsamkeit, verdichtet wurden, anderer-
seits von der refrainartigen Wiederholung derselben Wortklang-
bilder. Allerdings ist diese Art bereits eine Mischung des billigen
Wortwitzes mit einer anderen, höheren, bedeutend unterhaltsameren
Sorte der Witze, mit dem „Gedankenwitz“.
Hier das Beispiel eines reinen Gedankenwitzes: „Adolf und
Moritz geraten in Streit und gehen böse auseinander. Als Moritz
später zu Hause anlangt, sieht er, daß Adolf auf seine Wohnungs-
tür das Wort ‚Schurke‘ aufschrieb. Darauf eilt er zu Adolfs Wohnung
und gibt dort — seine Visitkarte ab.“
Worin steckt das Unterhaltende dieses Witzes? Warum halten
wir ihn für gut und geistreich? Es ist unsinnig, wenn man auf eine
brutale Beleidigung mit einem Höflichkeitsakt, mit dem Abgeben
seiner Karte antwortet. Die natürliche Antwort wäre wohl die ge-
wesen, daß Moritz auf Adolfs Türe als Antwort geschrieben hätte:
„Du bist der Schurke“. Das wäre aber kein Witz, sondern eine
geschmacklose Retourkutsche gewesen. Ein Witz ist die unverständ-
liche und deplacierte Höflichkeit dadurch geworden, daß Moritz
die auf seine Tür geschriebene Beleidigung absichtlich mißver-
steht und so tut, als hätte Adolf mit dem Wort „Schurke“ seine
Visitkarte abgegeben. Auf diesem Wege gelang es ihm, die Revanche
in einen Höflichkeitsakt einzukleiden, also die wirkliche Absicht
durch ihr Gegenteil darzustellen. Die Beleidigung „Du bist
der Schurke“ wird hier durch die Verwendung gewisser Mittel der
Witztechnik in einen gelungenen Witz verwandelt. Worin liegt das
Wesen dieser Techniken? Darin, daß es dem Witzigen gelingt, in
das verständige Denken eines ernsthaften Erwachsenen etwas Ab-
surdes, einen Denkfehler, überhaupt etwas von der kindisch un-
logischen Art des Urteilens und des Folgerns einzuschmuggeln.
Doch selbst nachdem wir diesen Witz aller seiner technischen
Mittel beraubten, gleichsam hinter seine Kulissen geschaut haben,
merken wir, daß er selbst in dieser reduzierten Form noch Lachen
erregen kann, zum Zeichen dessen, daß er noch immer nicht ge-
96 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
nügend „verdorben“ ist, daß noch etwas Lustvolles hinter ihm
steckt. Dieses Etwas ist aber kein Witz mehr, nicht die Verquickung
einer Ungereimtheit mit etwas Sinnvollem, sondern Situations-
komik. Wir finden es komisch und müssen darüber lachen, daß
Adolf durch die höfliche Kartenabgabe in eine hilflose Situation ge-
raten ist; es fehlt ihm ja jede Möglichkeit, den Streit weiterzuführen,
obzwar er die hinter der Höflichkeit verborgene, ungemein belei-
digende Absicht nur zu gut versteht. Wenn wir zu alldem noch
bedenken, daß diese ganze lange Erklärung eigentlich die Analyse
einer einzigen Handlung, des Abgebens der Karte ist, können wir
nicht in Zweifel darüber sein, daß dieser Witz zugleich ein Meister-
werk der Verdichtungstechnik ist. Es bedarf, wie wir sehen, vieler
Kunststücke, damit der auf die Wirklichkeiten des Lebens einge-
stellte, zum Ernst neigende menschliche Intellekt des Erwachsenen
seine hemmende Funktion für einen Moment ausschaltet und wir
in die spielerische, törichte, lachende Kinderzeit zurückversetzt
werden können.
Die besten Gedankenwitze sind derartige Verschiebungs-
witze: das gewollte Mißverstehen einer Frage, die unerwartete
Entgleisung auf ein unbemerktes Nebengeleise. Geradeso pflegt
die Traumarbeit die psychische Intensität von etwas Wesentlichem
auf Nebensächliches zu verschieben. Andere Mittel des Gedanken-
witzes: die Darstellung durch das Gegenteil oder durch eine ganz
leise Anspielung, das Übertrumpfen, der Aufsitzer mit Hilfe
eines Sophismus usw., sie alle wirken darum belustigend, weil sie
unser Urteil vorübergehend in die Irre führen und wir somit eine
gewisse Menge von Hemmungsarbeit, die wir bereits gewohnheits-
gemäß, automatisch in Gang setzten, ersparen und „ablachen“ können.
Es klingt paradox, es ist aber wirklich wahr, was uns Freud
sagt, daß wir nämlich beim Anhören eines Witzes eigentlich nie
recht wissen, worüber wir lachen, ja die Ablenkung der Aufmerk-
samkeit von den technischen Mitteln der eigentlichen Witzwirkung
gehört zu den wichtigsten Utensilien des gewandten Witzboldes.
Wenn wir aber die Witze auf diese Art analysieren, erfahren
wir, daß es Witze gibt, die sich weder durch ihren Gedankeninhalt
noch hinsichtlich der technischen Mittel besonders auszeichnen und
doch sehr effektvoll sind. Wenn wir diese Witze genauer betrachten, so
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 97
stellt es sich heraus, daß sie ausnahmslos tendenziöse Witze sind, zu-
meist aggressiver, obszöner, zynischer oder skeptischer Natur.
Wir amüsieren uns also über Witze mit aggressiver und sexueller
Tendenz besser, als sie es durch ihren Gedankeninhalt und durch
ihre Witztechnik verdienen würden. Freud wußte aus anderen
Quellen, daß die in uns allen verborgenen, stark affektbetonten,
aber meist tief verdrängten Tendenzen, von denen unser bewußtes
Denken vielleicht nur mit dem Gefühle des Ekels oder der Scham
Kenntnis nehmen würde, gerne die Gelegenheit benützen, sich mit
ihrem ursprünglichen ÄAffekt, das heißt mit Lust, besetzen zu lassen.
Das ist es aber, was beim Witz geschieht, wenn die Strenge der
psychischen Zensur durch die Einschmuggelung eines kindischen
Wortspiels oder eines Gedankenfehlers für einen Moment locker
läßt. Beim tendenziösen Witz spielen die Mittel der Witztechnik
nur die Rolle der Lockspeise, der Vorlust, die die größere
Befriedigung, die vorübergehende Suspendierung der mo-
ralischen Hemmung, sekundär nach sich zieht. So kann oft ein
sexueller oder aggressiver Witz, wenn er auch noch so „schwach“
ist, eine ganze Gesellschaft in gute Laune versetzen.
Je niedriger das Kulturniveau einer Gesellschaft ist, desto
roher, ungeschminkter muß die sexuelle Anspielung sein, um eine
Lustwirkung zu erzielen. Doch selbst in der besten Gesellschaft
kolportiert man mit Vorliebe Witze, die sich von den brutalen Spässen
des Volkes im Wesen nicht unterscheiden, nur daß sie das Obszöne
hinter eine feine Anspielung verstecken, die Zensur mit ihrer
intellektuellen und moralischen Fassade betören.
Nach der Feststellung dieser unerwartet neuen, und unerwartet
einfachen Erklärung der Witzwirkung, analysierte Freud den Witz
als soziale Erscheinung und auch diese äußerst scharfsinnig. Der
Witzbold von Beruf, das kann jeder Nervenarzt bestätigen, ist meist
ein nervöser Mensch mit unausgeglichenem Charakter, der in den
Witzen eigentlich die eigenen nicht genügend zensurierten intellek-
tuellen und moralischen Unvollkommenheiten, die eigenen Infan-
tilismen zum Besten gibt. Er lacht auch über die selbstgemachten
\Vitze meist nicht, und freut sich nur über die Heiterkeit, die er
bei seinen Hörern erweckt. Desto besser unterhält sich dabei der
Zuhörer, der den Witz sozusagen geschenkt bekommt.
98 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
Für jene primitive Form der sexuell aggressiven Spässe, die
bei den unteren Volksklassen zu Hause ist, genügen nicht mehr zwei
Personen; sie braucht deren wenigstens drei: ein Weib als Gegen-
stand der Aggression und zwei Männer, von denen der Eine der
Angreifende ist, der Andere die Rolle des Zuschauers spielt. Da
es sich um sexuelle Aggression handelt, würde man meinen, daß
die dritte Person als Zuschauer störend wirkt. In Wirklichkeit ist
aber dieser Letztere ein gern gesehener Helfershelfer, den der
ÄAngreifende dadurch eniwaffnet und besticht, daß er einem sexuellen
Zwiegespräch, dem Ersatz einer sexuellen Handlung, zuhören, die
Schamreaktion des Weibes mitansehen kann.
In besseren Kreisen nimmt die Frau an solcher Unterhaltung
persönlich nicht mehr Teil, aber die Männer unter sich erhalten die
alte Tradition. Teilt sich eine Gesellschaft nach Geschlechtern, so findet
sich unter den Männern bald jemand, der den neuesten sexuellen Witz
lanziert und damit den Auftakt zu einer endlosen Reihe zweideu-
tiger Witze gibt. Die Leute, die gerne solche Witze von sadistischer
oder sexueller Tendenz anhören oder erfinden, sind recht oft in
ihrem sonstigen Leben sittenstrenge Menschen, die es nicht ahnen,
wieviel sie durch ihr Benehmen dem Sachverständigen von ihrer
tiefinnersten, ihnen selbst unbewußten Natur verraten.
Nicht nur in solch engem Kreise, auch in größeren Gemein-
schaften kommt dem Witz eine gewisse Bedeutung zu. Jeder Redner,
jeder Demagoge würzt seinen Vortrag gern mit Witzen, er will
damit nicht nur ästhetisches Vergnügen bereiten, sondern scheint
auch zu ahnen, daß das Publikum auch ein schwaches Argument
leichter akzeptiert, wenn es durch einen guten Witz bestochen wird.
Änderseits gibt es keine, noch so ehrfurchtgebietende Persönlich-
keit, keine noch so anerkennenswerte wissenschaftliche, politische
oder künstlerische Bestrebung, die man mit einem gelungenen
Witz nicht herabsetzen könnte. Für die Menge geht das Vergnügen
über alles, sie verlangt heute so wie vor zweitausend Jahren nur:
Panem et circenses!
Am wirkungsvollsten sind jene tendenziösen Witze, die die
in uns allen tätige moralische Hemmungsarbeit für einen Moment
ausschalten. Oft entfesseln aber Anspielungen starken Lacheffekt,
in denen ein äußeres Hindernis, etwa die Rücksicht auf einen
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 99
Anwesenden, es nötig macht, die Aggression in Witzform zu
kleiden. Ich zitiere nach Freud folgenden „Serenissimuswitz“:
„Serenissimus macht eine Reise durch seine Staaten und bemerkt
in der Menge einen Mann, der seiner eigenen hohen Person auf-
fallend ähnlich sieht. Er winkt ihn heran, um ihn zu fragen: „Hat
seine Mutter wohl einmal in der Residenz gedient?“ —
„Nein Durchlaucht“, lautet die Antwort „aber mein Vater“.
Diese unschuldig scheinende Antwort ist die grausamste Replik
auf die Verdächtigung, mit der Serenissimus die Ehre der Mutter
des Soldaten beleidigte; aber der Witz rettet auch, und zwar gerade
durch den harmlosen Anschein, den Soldaten vor den Konsequenzen
der Majestätsbeleidigung. Die Zuhörer amüsieren sich dabei jeden-
falls köstlich, denn es freut jeden, „Untertan“, zu hören, wie einer
Autorität gründlich heimgezahlt wird, ohne daß dafür jemand be-
straft werden könnte.
Außer dem Gedankeninhalt, den technischen Kunstgriffen und
der Tendenz erhöht auch die Aktualität den Witzeffekt. Zum
Beispiel ein Witz über ein Mädchen, das mit Dreyfus verglichen
wird, „denn die Armee glaubt nicht an ihre Unschuld“, war zur
Zeit des Dreyfusprozesses sicherlich viel effektvoller als heute, wo
„Affaire“ die Öffentlichkeit nicht mehr so lebhaft beschäftigt. Die
Lustwirkung der Aktualität ist nach Freud gerade so mit der
Freude an der Wiederholung zu erklären wie bei der schon
erwähnten Art der Wort- und Gedankenwitze.
Wenn ich mich im Folgenden verhältnismäßig viel kürzer mit
einer anderen Art der belustigenden seelischen Erlebnisse beschäf-
tige, mit der Psychologie des Komischen, so folge ich treu
dem Werke Freuds, das sich mit diesem Abschnitt der psycho-
logischen Ästhetik viel weniger eingehend befaßt und eigentlich
nur die Unterschiede zwischen Witz und Komik ausführlich .behan-
delt. Während der tendenziöse Witz drei Personen erfordert, den
Spaßmacher, den Ausgelachten und den Zuhörer, begnügt sich die
Komik mit Zweien, mit einem der komisch ist, und einem Zweiten
der das Komische an ihm bemerkt und sich darüber lustig macht.
Der Witz wird „gemacht“; nach irgend einem Eindruck ent-
steht für einen Augenblick eine „Gedankenleere“ in unserem Be-
wußtsein, wobei die Ideenassoziation ins Unbewußte taucht, um
3
100 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
nach gründlicher Bearbeitung, Verdichtung, Verschiebung, mit Ge-
dankenfehlern und oberflächlichen Assoziationen „bereichert“, als
fertiger Witz zum Vorschein zu kommen. Die psychologische Werk-
statt des Witzes liegt also in der Schichte der unbewußten Seelen-
funktionen. Dieser Versenkung bedarf es zur Herbeiführung des
komischen Effektes nicht; der Schauplatz seiner Entstehung ist in
das „vorbewußte“ System zu verlegen, das für das Bewußtsein
nicht unzugänglich, wenn es auch nicht gerade im Brennpunkt der
Aufmerksamkeit steht.
Ein charakteristisches Beispiel des Komischen ist die Naivität,
die wir bei Kindern, bei beschränkten oder unerfahrenen Personen
belächeln. Naiv ist zum Beispiel die Frage des kleinen Moritz an
seine Mutter: „Sag Mama, ist der Papa so arm, daß er kein Bettzeug
mehr hat?“ — „Warum,“ frägt die Mutter? — „Ja, weil die Nach-
barin gesagt hat, er stecke mit dem Fräulein unter einer Decke.“
Wenn man bestimmt weiß, daß das Kind nicht ein verstelltes Wissen
absichtlich in witzige Form gekleidet hat, so lacht man eigentlich
über die Dummheit, die Unwissenheit des Kindes, richtiger man
vergleicht sein eigenes Wissen mit der Unwissenheit des Kindes,
mit dem man sich für einen Moment im Gedanken identifizierte.
Indem man das tut, wird die intellektuelle Spannungsdifferenz
zwischen der normalen und der infantilen intellektuellen Einstellung
im Lachen abgeführt. — In einer alten ungarischen Posse kommt ein
Dorfnotär vor, der zum ersten Mal im Leben im Theater ist, wo
gerade Othello gespielt wird. In seiner Naivität hält er die auf
der Bühne aufgeführte Szene für wirklich und stürmt auf die Bühne
um Desdemona aus den mörderischen Händen Othellos zu be-
freien. Das theatergewohnte Publikum kann dabei herzlich lachen,
indem es sein Wissen mit der Unwissenheit des Provinzlers ver-
gleicht und den großen Unterschied im Äffekt abreagiert. Auf ähn-
liche Vergleichung ist die Komik, die in der Ungeschicklichkeit, in
der Dummheit, in der abnormen Größe oder Kleinheit von Menschen
oder Körperteilen, in der automatischen Bewegung, wie auch im auto-
matischen Denken, in der Zerstreutheit u. s. w. liegt, zurückzuführen.
in diesen Fällen vergleicht man mittels „Einfühlung“ seine eigenen
Eigenschaften mit denen der komischen Person, und es ergibt sich
bei dieser Vergleichung eine psychische Aufwandsdifferenz, für die
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen 101
momentan keine andere Verwendung da ist, die also abfuhrfähig
ist und zur Lustquelle wird. Auch bei der Situationskomik
stellt man eine ähnliche Vergleichung an, doch nicht zwischen sich
und einem Anderen, sondern zwischen zweierlei Einstellungen einer
dritten Person. Komisch ist es z. B., wenn jemand, während er eine
preziöse oder hochtrabende Rede hält, plötzlich von einem dringen-
den körperlichen Bedürfnis befallen wird. Komisch ist es auch,
wenn sich jemand in seiner Erwartung täuscht. „Wie gut“ —
denkt sich dabei unser Vorbewußtes, „daß wir nicht so dumm, so
unüberlegt, so kindisch sind, wie der, der ohne genügende Be-
weise bestimmt annahm, daß seine Hoffnungen in Erfüllung gehen
werden“. In der Entlarvungskomik spielen bereits aggressive
Tendenzen mit eine starke Rolle.
Irgendwo zwischen Witz und ungewollter Komik bewegt sich
die Ironie, eigentlich die billigste Art, in der man jemandem ein
Lächeln abzwingen kann. Man braucht dazu nichts weiter, als daß
man immer das Gegenteil von dem sagt, was man sich denkt
und was man mit seiner Mimik, seinen Bewegungen, mit dem
Tonfall der Rede recht verständlich zum Ausdruck bringen will.
Der ironische Mensch wird nie sagen „Du siehst schlecht aus“ —
sondern immer so, — „Gut siehst Du aus!“ Er sagt nicht „Ich
“ denke nicht, daß Du die Prüfung bestehst“, sondern „Schön wirst
Du Deine Prüfung bestehen, wenn Du nicht lernst“, u. s. w.
Ein viel edleres Mittel, die Menschen zum Lachen zu bringer,
ist der Humor. Um dieses zu erklären, ging Freud von der Tat-
sache aus, daß wir über einen Witz, über etwas Komisches, nicht
immer lachen können. Sind wir von Sorgen geplagt oder traurig,
ist uns der Gegenstand des Spasses zu sehr ans Herz gewachsen,
so können wir über den besten Witz, die allerkomischeste Situation
gar nicht oder nur bitter. lachen. Nicht so der Mann von Humor.
Er erhebt sich über seine eigenen Kümmernisse, sein Ärger oder
seine Rührung, erspart so Äffektaufwand und verwendet diese
Energie zum Lachen, während sich der gewöhnliche Mensch seiner
traurigen Gemütsbewegung überläßt.
Die höchste Leistung des Humors ist wohl der sogenannte
„Galgenhumor“; wer ‘dazu fähig ist, den wird selbst die Nähe des
sicheren Todes nicht so herumkriegen, daß er über seine Situation
102 Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
nicht lachen oder lächeln könnte. Indem wir uns aber „über die
Dinge erheben“, alles was uns im Weg steht, geringschätzen, ver-
fallen wir in dieselbe „Großmannssucht“ und größenwahnartige
Prahlerei, mit der wir uns als Kinder unsere Winzigkeit und Macht-
losigkeit erträglicher erachten.
Auf Infantilismus führt also Freud schließlich sowohl den
Witz, als auch die Komik und den Humor zurück.
Der Witzbold spielt mit den Worten und will Dummheit und
Ungezogenheit annehmbar machen; der Komische benimmt sich
geradezu wie ein ungeschicktes, unwissendes Kind, und auch der
Humorist nimmt sich die Größenphantasien der Kinder zum Beispiel.
Wissenschaftlicher ausgedrückt, ist die Lustquelle des Witzes
ersparter Hemmungsaufwand, die der Komik ersparter Vor-
stellungsaufwand und die des Humors, ersparter Gefühls-
aufwand. Alle drei haben aber den einen Zweck, uns für einen
Augenblick in die naive Kindheit, in dieses „verlorene Paradies“
zurückzuversetzen.
Mein heutiger Vortrag aber wollte nur Vorlust erwecken, die
eigentliche Lust können Sie sich aus der Lektüre des Freudschen
Buches holen.
“
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
Jeder Fortschritt der Psychologie bringt Entwicklungen aller
Zweige der Geisteswissenschaften mit sich. Macht unser Wissen über
die menschliche Seele auch nur einen Schritt vorwärts, so müssen
wir alle Disziplinen, deren Gegenstand zum Seelenleben in Beziehung
steht, einer Revision unterziehen. Wovon könnte man dies aber
mit mehr Berechtigung behaupten, als von der Rechtslehre und der
Soziologie? Die Soziologie will uns über die Gesetzmäßigkeiten
belehren, die die Lebensverhältnisse der zu größeren Gruppen ver-
einigten Menschen beherrschen, und das Recht gießt die Prinzipien,
an die sich der Mensch anpassen muß, will er Mitglied der Ge-
sellschaft bleiben, in die Form genauer Regeln. Diese An-
passung ist in erster Linie ein psychischer Vorgang; von einem
höheren, allgemeineren Standpunkt gesehen ist also die Rechts-
wie auch die Gesellschaftslehre eigentlich nur angewandte Seelen-
kunde und muß als solche jede neuentdeckte Tatsache, jede neue
Richtung der Psychologie mit Aufmerksamkeit verfolgen. Ich möchte
Sie heute mit bedeutenden Fortschritten der Seelenlehre in den
letzten Jahrzehnten bekanntmachen. Diese Fortschritte knüpfen sich
an den Namen des Wiener Nervenarztes und Uhniversitätsprofessors
Dr. Sigmund Freud, der seine neue Methode der Seelenforschung
und das mit ihrer Hilfe entdeckte Wissensgebiet unter dem Namen
Psychoanalyse zusammenfaßte. Ä
Fragt man mich, was das größte wissenschaftliche Verdienst
der Psychoanalyse war und womit sie frische Bewegung in die toten
* Gehalten im Oktober 1913 im „Reichsverein der Richter und Staatsanwälte“
in Budapest.
104 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
Gewässer der Psychologie bringen konnte, so antworte ich: es war
die Entdeckung der Gesetzmäßigkeiten und der Mechanismen im
unbewußten Seelenleben.
Was die die Bedeutung des bewußten Seelenlebens so sehr
überschätzenden Philosophen bisher einfach für unmöglich hielten,
was einzelne zwar dunkel ahnten, aber für die genaue Erkenntnis eo
ipso unzugänglich glaubten, — das Seelenleben unter der Bewußt-
seinsschwelle: das gerade machten uns die Forschungen Freuds
zugänglich. Ich kann hier die Entwicklung dieser jungen, aber an
Erfahrungen und Erfolgen schon so reichen Wissenschaft nicht aus-
führlich darstellen, ich erwähne nur kurz, daß Freud durch das
Studium der seelischen Krankheiten in die Lage kam, die tieferen
Schichten der menschlichen Psyche aufzudecken. Gleichwie Er-
fahrungen bei körperlichen Erkrankungen Klarheit brachten über
gewisse bisher ganz unbekannte Schutz- und Anpassungseinrich-
tungen des Organismus, so erwiesen sich Neurosen und Psychosen
als Karikaturen der normalen psychischen Funktion, und ließen
uns auffallender, schärfer die Vorgänge erschauen, die sich unbe-
merkt auch im gesunden Menschen abspielen. Ein satirischer Eng-
iänder sagte einmal: „Willst Du die Menschen kennen lernen, so
gehe ıns Bedliam“ (ins Irrenhaus). Unsere Irrenärzte aber haben
sich diese einzigartige Gelegenheit, die Menschenkenntnis zu ver-
mehren, bisher entgehen lassen, sie gingen ganz in humanitären
Bestrebungen auf und leisteten wissenschaftlich wenig mehr als
unverbindliche Gruppierungen der Symptome auf Grund der ver-
schiedensten Prinzipien. Insbesondere haben sie die psychologischen
Gesichtspunkte beim Studium der Geisteskrankheiten ganz vernach-
lässigt. Das Seziermesser, das Mikroskop und das Experiment er-
wiesen sich aber vollkommen unfähig, uns dem Verständnis dieser
Krankheiten näherzubringen. Erst Breuer und Freud entdeckten
hinter den bizarren, unverständlichen Äußerungen der Hysterie
jene großartige Schutzvorrichtung, den Verdrängungsmechanis-
mus, der die Seele in den Stand setzt, sich quälenden Vorstellungen,
der Einsicht in die schmerzliche Realität, zu entziehen, indem
er solche Bewußtseinsinhalte in eine tiefere Seelenschichte, ins
Unbewußte, versenkt, aus der er sie nur in verzerrter, auch für
den Kranken selbst unverständlicher, daher erträglicherer Form: in
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte "105
der Form psychischer Symptome, wieder auftauchen läßt. Nach
diesem verdrängten Vorstellungsmaterial forschte Freud anfänglich,
indem er hypnotisierten Kranken all die unlustvollen Komplexe
in Erinnerung brachte, vor denen jener sich in die Krankheit
geflüchtet hatte. Später verzichtete er auf die Hypnose, und bediente
sich nur mehr der sogenannten „freien Ideenassoziation“; er ließ. sich
von den Kranken ohne Wahl alles erzählen, was ihnen einfiel, ohne
Rücksicht auf den logischen, ethischen und ästhetischen Wert der
Einfälle; so kamen, meist nach Überwindung großer Widerstände, die
bisher verdrängten Vorstellungen oder deren deutliche oder deut-
bare Anzeichen zum Vorschein. Die Analyse der Träume, die wissen-
schaftliche Traumdeutung, verschafite uns dann den ersten Einblick
in die unbewußte Seelenwelt auch des Gesunden. Dann kamen die
kleinen Fehlhandlungen des täglichen Lebens an die Reihe, die
psychologische Analyse des Vergessens, des Versprechens, Ver-
schreibens, der kleineren und größeren Ungeschicklichkeiter, von
denen nun erwiesen wurde, wie ungerecht es war, die Verant-
wortung für sie immer nur auf den Zufall zu schieben, und um
wie viel häufiger sie durch den Willen unseres Unbewußten deter-
miniert waren. Mit der Psychoanalyse des Witzes und des Komischen
machte dann Freud den ersten Schritt zum tieferen Verständnis
ästhetischer Wirkungen. Das überraschende, merkwürdig überein-
stimmende Ergebnis all dieser Forschungen war die Feststellung,
daß in dem Unbewußten auch des erwachsenen und in jeder Hin-
sicht normalen Menschen verdrängt, sämtliche primitiven mensch-
lichen, richtiger animalischen Triebe latent fortleben, auf derseiben
Stufe, auf der sie noch in der Kindheit bei der Anpassung an
die Kultur zum Schweigen verurteilt wurden. Wir erfahren auch,
daß diese Triebe nicht inaktiv sind, sie suchen immer noch nach
der Gelegenheit, die Schranken von Vernunft und Moral zu durch-
brechen und zur Geltung zu kommen. Auch wo solche Schranken
mächtig genug sind, äußern sich diese Triebe wenigstens in
kindisch absurder oder böswilliger Verkleidung als Witze, oder
sie ärgern mit Fehlleistungen unser höheres, logisches Bewußtsein,
und wo dies alles nicht genügt, leben sie sich in den Symptomen
seelischer Krankheiten aus. Es hat sich dann herausgestellt, daß
sämtliche Neurosen und Psychosen aus dem Konflikt der sexuellen
106 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
Triebe mit den Lebensinteressen des Individuums entstehen, das-
selbe gilt von den Charaktereigenheiten der Gesunden.
Wer das Seelenleben in seinem wirklichen Wesen erkennen
will, muß auch die romantischen Vorstellungen von der „unschul-
digen“ Seele des Kindes fallen lassen. Die Seele des Kindes wird
einerseits charakterisiert durch die Tendenz nach schranken- und
rücksichtslosem Sichgeltendmachen und durch erotische Tendenzen,
die man gewöhnlich mit dem Euphemismus „schlimme Gewohn-
heiten“ abtut. Man findet bei ihnen Gewalttätigkeit und Grausam-
keit, die mit Selbsterniedrigung abwechseln kann, spielerische Be-
schäftigung mit den entleerten Exkrementen, die sie auch gerne
beriechen oder kosten, Vergnügen an der Schaustellung der eigenen
Nacktheit und am Anschauen der Blößen anderer. Zu diesen „Ge-
wohnheiten“ gesellt sich schon in frühester Kindheit, oft schon im
Säuglingsalter die mechanische Reizung der Genitalien. Das Seelen-
leben des Kindes ist also in Bezug auf seine Ichiriebe egoistisch
und anarchistisch, in libidinöser Hinsicht aber pervers zu nennen.
Wir haben kein Recht, uns hierüber zu beklagen, eher verdienten
wir selber die Rüge, die wir unser ganzes Wissen von der anima-
lischen Natur des Menschen, von der Wiederholung des ganzen
Entwicklungsweges in jedem Individuum vergaßen und das Kind
zu einem Wesen idealisieren wollen, das sich vom Anfang an freudig
und spontan den höheren, sozialen Zwecken unterordnet. In Wirk-
lichkeit ist es Sache der Erziehung, die asozialen Instinkte zu bän-
digen, zu besänftigen, die Kinder zu „domestizieren“. Dazu nun
stehen uns zweierlei Hilfsmittel zur Verfügung: die Verdrängung und
die Sublimierung. Die erstere ist bestrebt, die primitiven Instinkte
mittels Strenge und Abschreckungsmitteln vollständig zu lähmen, ihr
Durchdringen zum bewußten Denken und Wollen zu verhindern.
Die Sublimierung dagegen will die in diesen Trieben tätigen wert-
vollen Energiequellen ausnützen, indem sie sie in den Dienst
sozial möglicher Zwecke beugt. Beispiele der Sublimierung in der
heutigen Erziehung sind die gewißen „Reaktionsbildungen“, die Um-
wandlung von Triebregungen in ihr genaues Gegenteil z. B. sexueller
Tendenzen in Ekel und Scham, dann die Überleitung primitiver
Instinkte in künstlerische Betätigung, der kindlichen Neugierde und
des Bemächtigungstriebes auf wissenschaftliches Forschen. Reaktions-
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 107
bildungen und Umwandlungsprodukte primitiver Triebrichtungen
können so zu einer sozial nützlichen Rolle gelangen. Von den zwei
Arten der kulturellen Anpassung ist die Verdrängung zweifel-
los die nachteiligere, da sie ja die Disposition zu Erkrankungen
erhöht, dabei auch unökonomisch ist, indem sie wertvolle seelische
Energien lahmlegt; in der Erziehung ist sie also. möglichst zu ver-
meiden; sie ganz ausschließen geht allerdings nicht an. Eine durch
Psychoanalyse belehrte Pädagogik wird sich womöglich der Methode
der Sublimierung bedienen, jede überflüssige Strenge und Gewalt .
meiden, mit der Erteilung und Entziehung von Liebesprämien, beim
Heranwachsenden mit Prämien moralischer Natur auszukommen
trachten, und die Triebe in individuell variabler Weise sozial ver-
werten. Wir müssen nämlich wissen, daß sogar die humane Tätig-
keit gar manchen ausgezeichneten Operateurs auf der in günstige
Bahnen gelenkten Anlage zur Grausamkeit beruht, die sich in der
Kindheit etwa in Tierquälerei äußerte, und gar viele suchen im
selbstaufopfernden Altruismus nur die Entschädigung für einen nicht
zu befriedigenden Teil ihres persönlichen Glückes. Die Entwicklung
der Triebbefriedigungsarten ist heutzutage natürlich nur selten so
günstig wie in den vorgebrachten Fällen. Viel häufiger wird der
grausame und leidenschaftliche Mensch ein unglückliches, arbeits-
unfähiges Mitglied der Gesellschaft. Der Pädagoge der Zukunft wird
aber diese Entwicklung nicht dem Zufall überlassen, sondern auf
Grund der Kenntnis der Triebe und ihrer Umwandlungsmöglich-
keiten mit kluger Diplomatie selbst die für die Entwicklung gün-
stigen Situationen schaffen und dadurch die Charakterbildung in
zweckmäßige Bahnen lenken.
Eine so bedeutende Vertiefung unserer Kenntnisse der indivi-
duellen Seele konnte die Auffassung über die Äußerungen der
Massenseele nicht unberührt lassen. Freud und seine Schüler
nahmen auch recht bald die Produkte der Volksseele, vor allem
die Mythen und Märchen zum Gegenstand ihrer Forschung und
klärten uns darüber auf, daß in diesen gerade so allegorische oder
symbolische Äußerungen verdrängter Triebe der Menschheit nach-
weisbar sind wie in den Symptomen der Hysterischen und in den
Träumen der Gesunden. Der Ödipus-Mythos z. B., dessen Inhalt
der inzestuöse Verkehr mit der Mutter und der Vatermord ausmacht
108 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
und dessen Pendant im mythischen Vorstellungskreise eines jeden
Volkes auftaucht, wurde uns erst verständlich, seitdem wir von der
Psychoanalyse gelernt hatten, daß diese Tendenzen auch in den jetzt
lebenden Menschen, wenn auch unbewußt, als atavistische Reste
eines Urzustandes der Menschheit weiter leben. Das Studium der
Seele der heute lebenden „Wilden“ ermöglichte der Psychoanalyse,
das Anfangsstadium der Anpassung an die Kultur zu rekonstruieren
und den Parallelismus zwischen dieser Phase der Menschheitsent-
wicklung und der Entwicklung der kindlichen Einzelseele bis ins
Detail nachzuweisen. Die primitivste Religion ist der Totemkult,
in dem die abergläubische Anbetung eines als Ahne verehrten
Tieres mit dessen feierlicher Aufopferung und Zerstückelung ab-
wechselt. Dieser merkwürdige Kult wurde erklärlich, seitdem die
Psychoanalyse in dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern viele
feine Züge dieser „Totemreligion“ nachwies, z. B. in der „scheuen
Achtung“, in der ambivalente Gefühlsregungen der Liebe und der
Empörung sich mengen. Forscher der vergleichenden Religions-
wissenschaft sahen schon vor Freud im Totemkult den Prototyp
aller Religionen. Freud ergänzte dies, indem er das Schuld-
bewußtsein und das Verlangen nach Sühne, diese wesentlichste
Ingredienz jeder Religion, für atavistische Reste einer erschüttern-
den Tragödie erklärte, die sich einst in der Urgeschichte der
Menschheit abspielte. Es war dies eine Revolution, in der die zu-
sammengerottete „Brüder-Horde“ den Vater, der als Kräftigster
‚alles materielle und sexuelle Gut für sich in Anspruch nahm, mit
tierischer Brutalität in Stücke zerriß, um in den Besitz jener Güter
zu gelangen. Den Brüdern blieb aber, wie wir hören, auch nach der
Entfernung des Tyrannen die erhoffte Befriedigung versagt. Keiner
der Brüder konnte die väterliche Macht und den Haupibesitz: die
Mutter für sich allein in Anspruch nehmen, so daß sich das ganze
Blutvergießen als zwecklos erwies. Da bemächtigte sich denn der
Mörder tiefe Reue über die blutige Tat: sie sehnten sich nach der
über alle gleichmäßig richtenden väterlichen Autorität zurück, er-
richteten ein Patriarchat auf noch strengerer Grundlage und ent-
wickelten den Begriff eines riesenhaften Vaters und überirdischen
Patriarchen, den Gottesbegriff. Die Zeremonie der „Opfer“
bringt aber auch in den heutigen Religionen noch die alten vater-
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 109
mörderischen und anthropophagen Tendenzen zum verhüllten sym-
kolischen Ausdruck.
Wie der Totemismus die erste Religion war, so waren die
„Tabus“ die ersten, noch ungeschriebenen Gesetze, die übrigens
in Zentralaustralien noch heute die Grundlage der Rechtssprechung
sind. Das „Tabu“ verbietet, gewisse Dinge zu berühren: die Person
des Königs, die blutsverwandten Frauen, die Kinder und Toten,
das fremde Eigentum. Jeder Verletzung des „Tabu“ folgt nach dem
Glauben dieser Völker von selbst die Todesstrafe. Der ganze Stamm
achtet eifersüchtig darauf, daß die „Tabu“-Verbote nicht übertreten
werden. Alle fürchten, sofort sterben zu müssen, wenn sie ihren
Blick auf den König zu richten wagen; tut das aber jemand und
bleibt dennoch am Leben, so wird er selbst ein gefährliches „Tabu“.
Viele versuchten schon die Erklärung dafür zu geben, wie diese
primitivste Form des Rechtsgefühls entstehen konnte. Die allzu
rationalistische Erklärung, daß es die Häuptlinge selbst waren, die
dieses System zu eigenem Nutz und Frommen erfanden und fürs
dumme Volk in abergläubische und mystische Form einkleideten,
läßt das eigentliche psychologische Problem des Tabuismus un-
erklärt: warum sich das Volk trotz seiner zahlenmäßigen Über-
legenheit dem Zauber eines einzigen Menschen, dem des Häuptlings
oder Königs, so willenlos ausliefert. Wenn wir aber Freud folgen
und auch die Loyalität als einen Abkömmling der späten Reue
nach jenem urgeschichtlichem Vatermord (der eigentlichen Erbsünde
der Menschheit) auffassen, so haben wir mehr Aussicht, die Urquelle
der „Achtung vor dem Gesetze“, des Rechtsgefühls, zu entdecken.
Es gibt eine sonderbare Neurose, Zwangsneurose genannt,
die durch eine ganze Reihe abergläubischer Selbstbeschränkungen
charakterisiert ist, deren Verletzung den Zwang nach sich zieht,
allerlei Opfer zu bringen. Die Zwangsneurotiker fürchten immer,
jemandem ein Leid angetan zu haben; damit das nicht eintrifft,
hüten sie sich ängstlich vor der Berührung jedes Gegenstandes,
der, wenn auch noch so mittelbar mit der Person oder Sache in
erührung kommen konnte, auf die sich die eigentliche krankhafte
Berührungsangst bezieht. Mußte er gegen seinen Willen einen
solchen Gegenstand berühren, so bringt ihm’ nur stundenlanges
Händewaschen, vielleicht nur ein empfindliches Geldopfer, ein sich
110 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
selbst zugefügter Schmerz die Seelenruhe wieder. Die Psychoanalyse
solcher Zwangsneurotiker konnte dann nachweisen, daß diese
Kranken in ihrem Unbewußten gerade gegen die von ihnen so
sehr geschonten Personen Gefühle des Hasses und der Grausam-
keit nähren und jede Gelegenheit ängstlich meiden, die die von
ihnen bewußt verabscheute Grausamkeit entfachen könnte. Das
Benehmen des Wilden und die Analyse des Neurotikers lehrt uns
aber auch die Entrüstung verstehen, die sich des Kulturmenschen
bemächtigt, wenn er Zeuge einer Rechtsverletzung ist. Wir müssen
allmählich einsehen, daß die Strafe des Gesetzes nicht nur als eine
zweckmäßige Einrichtung zum Schutze der Gesellschaft anzusehen
ist, nicht bloß die Besserung des Sünders oder die Abschreckung
von Strafhandlungen bezweckt, sondern zum Teil immer auch unseren
Rachedurst befriedigt. Dieses Rachegefühl selbst aber läßt sich
nicht anders erklären als dadurch, daß wir uns unbewußt dagegen
empören, daß der Verbrecher etwas zu tun wagte, wozu wir alle
unbewußterweise die stärkste Neigung hätten. Den Verbrecher ver-
achten und meiden wir hauptsächlich darum, weil unser Unbewußtes
sich aus guten Gründen vor der ansteckenden Wirkung des schlechten
Beispieles fürchtet. Selbstverständlich kann diese Erklärung des
Schuldbewußtseins und der willigen Unterwerfung unter die Straf-
sanktionen nicht ohne Einfluß auf die Kriminologie und auf die
Art der Ahndung der Verbrechen bleiben.
Dies führt uns wie von selbst zur Idee, daß eine Zeit kommen
muß, in der man die psychoanalytische Untersuchung und Heilung
der Verbrechen an Stelle der heute üblichen automatischen Strafmaß-
nahmen wird stellen müssen. Von einer Freiheitsstrafe kann man nur
in seltenen Fällen dauernde Besserung erwarten, gleichwie die sug-
gestive Beeinflussung eines neurotischen Symptoms nur eine vor-
übergehende sein kann. Erst jene tiefe Durchforschung der ganzen
Individualität, jene vollständige Selbstkenntnis, die die Psychoanalyse
ermöglicht, kann die von Kindheit an einwirkenden Milieueinflüsse
paralysieren und die bisher unbewußten und unbeherrschten ange-
borenen Triebe unter die Vormundschaft der bewußten Vernunft
bringen. Doch selbst wenn sich die Hoffnung, die Verbrecher zu heilen,
als trügerisch erwiese, wäre es unsere Pflicht, diese analytischen
Forschungen durchzuführen, schon damit wir Einblick in die see-
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 111
lischen Determinanten der Verbrechen gewinnen. Die bisherigen
analytischen Erfahrungen berechtigen übrigens auch zur Annahme, daß
z.B. der durch „Unachtsamkeit“, „Sorglosigkeit“ verursachte Schaden
in vielen Fällen auf ein unbewußtes „Wollen“ zurückgeführt werden
muß, daß sich in der Neigung zum Diebstahl und Mord oft nur
libidinöse Triebe in entstellter Form äußern usw.
„Principiis obsta, sero medicina paratur.“ Dieses Prinzip gilt
nicht nur in der Heilkunde. Arzt und Richter beschäftigen sich
mit der Sysiphusarbeit des Heilens und Flickens des schon ge-
schehenen und immer wiederkehrenden Übels; von einem eigent-
lichen Fortschritt könnten wir erst reden, wenn es für diese Übel
eine soziale Prophylaxe gäbe.
Wenn wir die Gesellschaft, einer geläufigen Analogie folgend,
mit einem Organismus vergleichen, so können wir auch die Stre-
bungen. dieses Großorganismus ganz gut in zwei Gruppen teilen, in
die der libidinösen und in die der egoistischen Triebe. Die For-
derung des Pöbels nach Brot und Belustigung erschöpft auch heute
wie in alten Zeiten jeden Anspruch der Masse; höchstens in der
Qualität änderte oder komplizierte sich die Idee des gewünschten
„Brotes“ und der „Lust“. Soll eine Gemeinschaft Bestand haben,
so müssen sich die Egoismen und die libidinösen Tendenzen der
Einzelindividuen gegenseitig anpassen, d.h. der einzelne muß auf die
ganz freie Befriedigung seiner Triebe verzichten. Er tut es in der
Hoffnung, daß die Gesellschaft ihn für dieses Opfer wenigstens
zum Teil entschädigen wird. Den Fortschritt in der gesellschaft-
lichen Entwicklung könnte man in der Sprache der Psychoanalyse
als allmählichen Sieg des Realitätsprinzips über das Lustprinzip
beschreiben. Aus dem Individualismus und Anarchismus uralter
Zeiten, der Tyrannis und Oligarchie der Antike und des Mittelalters
entwickelte sich der konstitutionelle Staat und dessen sozialdemo-
kratisches Ideal.
Soziologen und Politiker neigen aber allzusehr dazu, zu ver-
gessen, daß der Verzicht auf die Individualität, „der Staat“, nicht
Selbstzweck, sondern nur eines der Mittel zum Wohle des Indivi-
duums sein darf, und daß es keinen Sinn hat, für die Gemeinschaft
mehr persönliches Glück zu opfern, als unbedingt notwendig ist.
Die übertriebene Askese, die die auf Religion gegründeten Staaten
112 Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte
geradeso kennzeichnet wie den sozialdemokratischen, ist das massen-
psychologische Pendant jener Affektverdrängung, deren schädliche
Folgen für die Gesundheit des Einzelmenschen die Psychoanalyse
erwiesen hat. So kommt man zur Fragestellung, ob nicht auch die
sozialen Krankheiten auf Triebverdrängung zurückzuführen sind?
Die Analogien aus der Neurosenlehre sprechen für die Stichhältig-
keit dieser Annahme. Der religiöse Fanatismus ganzer Völker wurde
bereits mit der Zwangsneurose im Zusammenhang gebracht. Die
Paroxysmen der Revolutionen und der Kriege sind wie hysterische
Entladungen aufgespeicherter primitiver Triebe; die oft wie Feuer
sich verbreitende geistige Ansteckung durch die Ideen von falschen
Propheten und Philosophen könnte man den Wahnsinn der Gesell-
schaft heißen usw.
Es muß aber zwischen dem Änarchismus und dem Kommu-
nismus, zwischen dem schrankenlos individuellen Ausleben und der
sozialen Äskese irgendwo ein vernünftiges individual-soziali-
stisches „juste milieu“ geben, das nebst den Interessen der Ge-
sellschaft auch für das individuelle Wohl sorgt, statt der Trieb-
verdrängung die Triebsublimierung kultiviert und damit dem Fort-
schritt einen vor Revolutionen und Reaktionen gesicherten ruhigen
Weg bahnt.
Ich muß immer wieder auf die Reform der Erziehung zurück-
kommen, wenn ich an die Heilung der sozialen Übel denke. Heute
erzieht auch der wildeste Sozialistenführer sein Kind zu einem
Sklaven oder Tyrannen, wenn er in seiner Familie, anstatt die sonst
lautgeforderte Freiheit gelten zu lassen, als tyrannischer Vater regiert
und so seine Umgebung an die blinde Anbetung der Autorität
gewöhnt. Der „pater familias“ müßte vom gefährlich wackelnden
Thron der vermeintlichen Unfehlbarkeit herabsteigen, seinen Kindern
gegenüber auf die bisher genossene beinahe göttliche Allmacht
verzichten; er dürfte vor ihnen auch seine Schwächen und mensch-
lichen Regungen nicht verbergen. Möglich, daß dadurch ein Teil
der Autorität in Verlust geriete, aber nur der Teil, der früher oder
später von selbst zusammenstürzt. Der erwachsene, erfahrene Vater
behält auch nach Abzug der erlogenen Vorzüge genügend Ansehen,
das inm die Erziehung seiner Kinder ermöglicht. Von den „Vätern“
der großen Gemeinschaften der Menschheit gilt dasselbe.
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte 113
Wenn dann an Stelle der von Autoritäten anbefohlenen Dogmen
das durch die heutige Erziehung geknechtete selbständige Urteils-
vermögen und die freimütige Einsicht in die natürlichen Triebe
unseres Seeleninnern zur Herrschaft käme, um die Gesellschafts-
ordnung brauchte uns darum noch lange nicht bange zu sein.
Allerdings käme so eine Neuordnung zu Stande, die nicht nur auf
die Interessen einzelner Mächtiger Rücksicht nimmt.
Psychoanalyse und Kriminologie*
Die „Internationale Psychoanalytische Vereinigung“ und deren
Ortsgruppen bemühen sich schon seit 1908 darum, die neue For-
schungs- und Untersuchungsmethode der Seelenkunde, die anfäng-
lich nur ein ärztliches Heilverfahren war, für alle zugänglich zu
machen, die die Wissenschaft Freuds im weiten Kreis der Theorie
und Praxis anwenden wollen.
Niemand nahm noch die psychoanalytische Revision der
Soziologie in Ängriff; auf diesem Gebiete erschienen bis jetzt
nur unbedeutende Versuche und einzelne allgemein gehaltene
orientierende Aufsätze. Ich halte es für unaufschiebbar, daß diese
Arbeit von dazu berufenen Männern ehestens begonnen wird.”
Man darf aber nicht warten, bis die Fundamente dieser neuen
soziologischen Hilfswissenschaft gemächlich niedergelegt und Haus
und Dach darüber aufgebaut sind. In erster Reihe sollten jene
Arbeiten aufs Programm gesetzt werden, bei denen voraussichtlich
praktische Ergebnisse von Belang zu erzielen sind. Solch eine
Aufgabe ist meiner Ansicht nach die Ausgestaltung einer psycho-
analytischen Kriminologie.
Die Kriminologie hat bis jetzt die Verbrechen theoretisch auf
Versuchung und auf Einflüsse des Milieus zurückgeführt, in der
Praxis aber empfiehlt sie zu ihrer. Verhütung eugenetische, pädago-
* Aus „A pszichoanalizis haladäsa.“ Budapest 1920, S. 126 ff. (Zuerst ab-
gedruckt in „Az Ui Forradalom“ I. Budapest 1919.)
** Seither erschien allerdings Aurel Kolnais Arbeit über „Psychoanalyse
und Soziologie“ als Band 9 der Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek.
(Wien 1920.)
Psychoanalyse und Kriminologie 115
gische und wirtschaftliche Reformen. Dieses Programm ist im Grunde
richtig und erschöpft grundsätzlich alle Möglichkeiten, war aber in
seiner Durchführung oberflächlich und widersprach gerade dem von
seinen Vertretern stets propagierten „Determinismus“, indem es
unter den seelischen Triebfedern der Verbrechen die allmächtigsten
Determinanten, die Tendenzen des unbewußten Seelenlebens, ihre
Entstehungsart und die prophylaktischen Maßnahmen gegen sie
vollständig außer acht ließ.
Die nur aus dem Bewußten geschöpften Geständnisse der
Verbrecher und eine noch so eingehende Feststellung der Um-
stände des Verbrechens werden nie zureichend erklären, warum
das Individuum in der gegebenen Lage gerade jene Tat begehen
mußte. Die äußeren Umstände motivieren die Tat oft überhaupt
nicht, und der Täter, wenn er aufrichtig sein wollte, müßte zumeist
gestehen, daß er eigentlich selbst nicht genau weiß, was ihn dazu
bewogen hat; meistens ist er aber nicht so aufrichtig, auch sich
selbst gegenüber nicht, sondern sucht und findet nachträglich Er-
klärungen für sein im Grunde vielfach unverständliches und seelisch
nur unvollkommen motivierbares Vorgehen, das heißt, er rationa-
lisiert etwas, was irrationell ist.
Als Arzt hatte ich manchmal Gelegenheit, das Seelenleben
auch solcher Nervenkranker psychoanalytisch zu durchforschen, die
nebst anderen Krankheitserscheinungen, hysterischen oder Zwangs-
symptomen, den Hang oder den Impuls zu verbrecherischen Hand-
lungen zeigten. Bei manchen gelang es dann, die Neigung zur
Gewalttätigkeit, zu Diebstahl, Betrug, Brandstiftungen usw. auf unbe-
wußte seelische Triebfedern zurückzuführen und die Kraft dieser
Tendenzen, gerade mit Hilfe der psychoanalytischen Kur, abzu-
schwächen oder auch vollständig unwirksam zu machen.
Auf Grund solcher kleiner Erfolge erstarkte in mir die An-
sicht, daß man die Verbrechen nicht nur als Nebenprodukte der
Neurosen, sondern auch für sich allein zum Gegenstande eines
eingehenden psychoanalytischen Studiums machen müßte. Man
müßte also die Psychoanalyse in den Dienst der Kriminalpsycho-
logie stellen und eine Kriminalpsychoanalyse schaffen.
Die Ausführung dieses Programmes stößt — so denke ich —
auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.
8*
116 Psychoanalyse und Kriminologie
In erster Reihe kommt es darauf an, ein reiches kriminal-
psychoanalytisches Material zu sammeln.
Ich denke mir die Sache so, daß berufene Psychoanalytiker
die Aufgabe übernähmen, rechtskräftig verurteilte, geständige Ver-
brecher in den Zuchthäusern aufzusuchen und sie dort einer regel-
rechten Analyse zu unterziehen.
Ein solcher Verurteilter hat gar keinen Grund mehr, etwas
von den Gedanken und Assoziationen, mit deren Hilfe die un-
bewußten Motive seiner Handlungen und Tendenzen ans Tages-
licht gefördert werden können, zu verheimlichen. Hat er die Kur
einmal begonnen, so wird es ihm die sogenannte ‚„Übertragung“
durch die Gefühlsbindung an die Person des Analytikers sogar
erwünscht und angenehm machen, daß man sich mit ihm auf diese
Weise beschäftigt. Die vergleichende Untersuchung gleichartiger
Verbrechen wird es dann ermöglichen, die klaffenden Lücken
des kriminologischen Determinismus mit solidem wissenschaftlichen
Material auszufüllen.
Das wäre das zu erwartende theoretische Ergebnis dieser
Forschungen. Doch auch praktisch halte ich die Arbeit nicht für
aussichtslos. Abgesehen davon, daß man den Weg zur pädago-
gischen Prophylaxe der Verbrechen nur auf Grund einer
wirklichen Verbrecherpsychologie finden kann, ist es meine Über-
zeugung, daß auch die psychoanalytische Behandlung von
Verbrechernaturen, also eine analytische Kriminaltherapie
nicht unmöglich ist, jedenfalls hat sie mehr Aussicht auf Erfolg
als die barbarische Strenge der Gefangenenwächter oder der
fromme Zuspruch der Zuchthausgeistlichen.
Diese Möglichkeit einer psychoanalytischen Heilung, beziehungs-
weise Nacherziehung der Verbrecher, eröffnet vor uns eine weite
Perspektive.
Die „Bestrafung“ wurde bis jetzt vielfach mit dem Be-
dürfnis nach „Herstellung der beleidigten Rechtsordnung“ moti-
viert, andere erwarteten von der abschreckenden Wirkung die
Prophylaxe der Verbrechen; in Wahrheit aber können wir in der
heutigen Art der Strafbemessung und des Strafvollzugs mit Leich-
tigkeit auch rein libidinöse, den Sadismus der strafenden Organe
befriedigende Elemente entdecken. Die psychoanalytische Einsicht
Psychoanalyse und Kriminologie 117
und die darauf basierte Behandlungsmethode müßte bei den die
Strafe vollziehenden Organen wie überhaupt in der öffentlichen
Meinung dieses so schädliche Element der Straflust neutralisieren,
was an und für sich nicht wenig zur Ermöglichung der seelischen
„Wiedergeburt“ der Verbrecher und ihrer Anpassung an die
gesellschaftliche Ordnung beitrüge.
Philosophie und Psychoanalyse“
(Bemerkungen zu einem Aufsatze des H. Professors Dr. James ]J. Putnam von
der Harvard Universität, Boston U. 5. A.**)
In einem von edlen Absichten diktierten und mit der Bered-
samkeit ehrlicher Überzeugung verfaßten Aufsatze tritt der hoch-
verdiente Professor der Harvard Medical School mit Wärme dafür
ein, daß die Psychoanalytik, deren Bedeutsamkeit als psychologische
und therapeutische Methode er rückhaltslos anerkennt, in engere
Beziehungen zu umfassenderen philosophischen Anschauungen ge-
bracht werde.
Ein großer Teil seiner Ausführungen wird gewiß von allen
Analytikern als richtig anerkannt und befolgt werden. Der Psycho-
loge, der sich zur Aufgabe macht, unsere Kenntnis von der mensch-
lichen Seele zu vertiefen, darf sich der Betrachtung jener, von der
Menschheit mit Recht hochgeschätzten Systeme, in denen erhabene
Geister ihre tiefsten Ansichten über das Wesen und den Sinn der
Welt zusammenfaßten, keinesfalls verschließen, und wenn es der
. Analyse gelungen ist, selbst in den lange Zeit hindurch gering-
geschätzten Produktionen der Volksseele: in den Mythen und
Märchen, ewige — allerdings symbolisch verkleidete — psycho-
logische Wahrheiten zu entdecken, so darf man sicher hoffen, daß
ihr auch aus dem Studium der Philosophie und der Geschichte
neue Gesichtspunkte, neue Erkenntnisse erwachsen werden. Auch
* Erschienen in „Imago“, I. Jahrgang (1912).
** „Über die Bedeutung philosophischer Anschauungen und Ausbildung für
die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung.“ („Imaco“, I. Jahr-
gang, 2. Heft.)
Philosophie und Psychoanalyse 119
dem wird kein Psychoanalytiker widersprechen, daß „keine For-
schung gut gedeihen kann, ohne daß man ihre naturgemäßen Be-
ziehungen zu anderen Forschungsarten sorgfältig in Betracht zieht“.
Die Psychoanalyse ist nicht so unbescheiden, alles mit den eigenen
Mitteln erklären zu wollen, und obzwar wir noch weit davon entfernt
sind, alles erschöpft zu haben, was analytisch erklärt werden kann, so
ahnen wir doch schon, wo etwa die Grenzen unserer Wissenschaft ge-
steckt sind und wo man die Erklärung der Vorgänge anderen Diszi-
plinen (z.B. der Physik, Chemie und Biologie) wird überlassen müssen.
Auch, „daß wir mehr wissen, als wir ausdrücken können“,
daß „das Erlernen nichts anderes ist als eine Entdeckungsreise in
die eigene Seele“, daß es die Pflicht der Psychoanalytiker ist,
„die Ahnungen und Regungen“ (darunter auch die religiösen)
„soweit wie möglich, zu entdecken und näher zu prüfen“ muß jeder
Analytiker, der einmal mit dem Vorbewußten, d. h. mit der produk-
üven Kambiumschicht der Seele, in der jeder geistige Fortschritt
vorbereitet wird, Bekanntschaft machte, vollinhaltlich anerkennen.
Überhaupt müßten wir einen nicht unbeträchtlichen Teil der Put-
namschen Ausführungen neu abdrucken, wollten wir aus seiner Arbeit
alles hervorheben, womit wir uns einverstanden erklären dürfen.
Immerhin finden sich in diesem, so anregenden und inter-
essanten Aufsatz Bemerkungen, die in mir lebhaften Widerspruch
erweckten und über die ich mit meiner gegenteiligen Ansicht nicht
zurückhalten will, obzwar mir jede philosophische Schulung abgeht,
während Professor Putnam alle Vorteile eines philosophisch ge-
schulten Geistes für sich hat.
Professor Putnam fordert von den Psychoanalytikern, daß sie
ihre neugewonnenen Kenntnisse einer bestimmten philosophischen
Weltanschauung unterordnen oder in diese einordnen sollen.
Ich finde das für die Wissenschaft überhaupt gefährlich, be-
sonders aber für die analytische Psychologie, die noch nicht einmal
die Zusammenhänge innerhalb des eigenen Wissensgebietes ordent-
lich bearbeitet hat. — Die Schonzeit, die man selbst dem Jagawild
für die Zeit der Entwicklung gewährt, sollte man doch auch einer
iungen Wissenschaft nicht versagen und eine geraume Weile zu-
warten, bevor man mit den Waffen der Metaphysik an sie heran-
tritt. Je länger man die Systembildung hinausschiebt und sich da-
120 Philosophie und Psychoanalyse
mit begnügt, voraussetzungslos die Tatsachen zu sammeln und deren
Zusammenhänge untereinander festzustellen, umsomehr Aussicht hat
man, Neues und Wahres zu finden. Die allzufrühe Systembildung da-
gegen versetzt den Forscher in eine für die Realitätsprüfung ungün-
stige Gemütsverfassung, in der er Gefahr läuft, Tatsachen, die in das
System nicht passen wollen, zu mißachten oder geringzuschätzen.
Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Psychoanalyse,
wie die Psychologie überhaupt, das Recht hat, ja verpflichtet ist,
jede Art seelischer Leistung, die philosophischen Systeme nicht aus-
genommen, auf ihre Entstehungsbedingungen zu untersuchen und zu
trachten, den sonst im Psychischen herrschenden Gesetzmäßigkeiten
auch in ihnen Geltung zu verschaffen, richtiger: die Geltung dieser
Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen nachzuweisen. Wie aber könnte die
Psychologie Gesetzgeberin des Philosophierens sein, wenn ihr zu-
gemutet wird, daß sie sich a priori einem bestimmten oder über-
haupt irgend einem philosophischen System unterordne?*
* Daß es nicht unmöglich und auch nicht ganz unfruchtbar ist, die Entstehungs-
bedingungen der philosophischen Systeme psychologisch zu betrachten, möge hier
an einem Beispiel gezeigt werden. Psychoanalytische Untersuchungen an Kranken
führten zur Unterscheidung zweier gegensätzlicher Mechanismen der Verdrängung
(d.h. der Abwendung der bewußten Aufmerksamkeit vom Unlustvollen). Para-
noische Patienten neigen dazu, unlusterzeugende subjektive Seelenvorgänge als
Einwirkungen der Außenwelt zu fühlen (Projektion); Neurotiker hingegen fühlen
auch Vorgänge der Außenwelt (z. B. solche in anderen Menschen) intensiv mit,
sie „introjizieren“ einen Teil der Außenwelt, damit sie gewisse Spannungen in
ihrer Psyche lindern. Es ist nun merkwürdig, daß es philosophische Systeme
gibt, die man mit diesen, doch sicher von Gemütsbedürfnissen abhängigen Me-
chanismen in Analogie bringen kann. Den Materialismus, der das Ich leugnet
und es ganz in der „Außenwelt“ aufgehen läßt, kann man als die denkbar voil-
ständigste Projektion auffassen; der Solipsismus, der die ganze Welt leugnet,
d. h. sie ins Ich aufnimmt, ist die höchste Stufe der Introjektion. (S. Ferenczi,
Introjektion und Übertragung, „Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen“,
I. Band, 1909. — Ders., Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, „Zentralblatt für
Psychoanalyse“, II. Jahrgang, 4. Heft.) Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich,
daß sich am Ende ein großer Teil der Metaphysik psychologisch erklären läßt,
oder, wie es Freud sagt, sich als Metapsychologie erweisen wird. (S.Freud,
Zur Psychopathologie des Alltagslebens.) Auch auf die zwischen philosophischen
und paranoischen Systembildungen zum Teil bestehende Analogie hat Freud hin-
gewiesen. (Imago, I. Heft 4, Seite 332.) Ein anderer Teil mag sich allerdings später
als Vorahnung wissenschaftlicher Erkenntnisse entpuppen.
Philosophie und Psychoanalyse 121
Die Wissenschaft ist einem industriellen Unternehmen zu ver-
gleichen, das neue Werte zu schaffen hat; die „Weltanschauung“
dagegen ist die, allerdings nur sehr rohe Bilanz, die man zeitweise
vom Stand unseres Wissens ziehen soll, besonders um zu sehen,
wo die nächsten Arbeiten einzusetzen haben. Ein fortwährendes
Bilanzmachen würde aber den Geschäftsgang stören und Energien
verbrauchen, die besser hätten verwertet werden können.
Die philosophischen Systeme sind wie die Religionen: Kunst-
werke, Dichtungen, die gewiß eine Menge großartiger Ähnungen in
sich bergen; ihr Wert soll und darf nicht gering geschätzt werden.
Aber sie gehören in eine andere Kategorie als die Wissenschaft,
unter der wir die Summe jener Gesetzmäßigkeiten verstehen, die
wir nach möglichster Reinigung von den Phantasieprodukten des
Lustprinzips zurzeit als real bestehend annehmen müssen. Wissen-
schaft gibt es nur eine, philosophische Systeme und Religionen
gibt es aber so viele, als es mit verschiedenen Geistes- und
Gemütsrichtungen begabte Menschen gibt.
Es liegt im Interesse beider, verschiedenen Prinzipien ge-
horchenden Disziplinen, ihre Thesen nicht miteinander zu vermengen.
Die Psychologie muß Richterin auch über die Philosophie sein, sie
muß sich dafür natürlich gefallen lassen, in toto in die verschie-
denen philosophischen Systeme eingeordnet zu werden. Sie bleibe
aber auf ihrem eigenen Gebiete souverän und knüpfe ihr Schicksal
an keines dieser Systeme.
Nach der Weltanschauung Prof. Putnams, in die sich seiner
Ansicht nach die Psychoanalyse einzuordnen hätte, ist das einzig
Wirkliche auf der Welt eine selbsttätige Energie, eine mit den
höchsten intellektuellen und sittlichen Fähigkeiten begabte, man
kann also wohl sagen: göttliche Persönlichkeit, die zur Äußerung
ihrer Tendenzen die „Körperwelt“ aus sich selbst entstehen und
entwickeln ließ und läßt. Dieser Geist war schon vor dem Ent-
stehen der primitivsten Körper intelligent und moralisch und ist
auch im Menschen nicht zur vollen Entfaltung dieser seiner Eigen-
schaften gelangt. — Das klingt wie die Anpassung der ältesten
Schöpfungsmythen an die Biogenetik, von denen es sich nur da-
durch unterscheidet, daß hier die Erschaffung der Welt nicht in einem
einzelnen Schöpfungsakte, sondern in einer unendlichen Reihe solcher
122 Philosophie und Psychoanalyse
vor sich gegangen, resp. auch zurzeit vor sich gehend gedacht wird.
Man kann, wenn man will, dieses System monistisch heißen, da es
doch die Körperwelt als eine Manifestation derselben geistigen
Energie betrachtet, die den welterschaffenden Geist ausmacht; dieser
Monismus ist aber einem Dualismus außerordentlich ähnlich. Dar-
aus soll ihm aber durchaus kein Vorwurf erwachsen; die dualistische
Welt ist ebensowenig unmöglich wie die monistische, jede monisti-
sche und jede dualistische Philosophie ist also existenzberechtigt.
Wir sehen nur nicht ein, warum die analytische Psychologie gerade
mit der von Prof. Putnam skizzierten Weltanschauung innigere Be-
ziehungen anknüpfen sollte? Lassen sich doch die Tatsachen der
Psychoanalyse in jedes materialistische oder spiritualistische, monisti-
sche oder dualistische System einverleiben, sie vertragen sich z. B.
ganz gut auch mit einer Weltanschauung, die in einem nicht intelli-
senten und nicht sittlichen blinden Drang, z.B. im Willen Schopen-
hauers, das Wesen und den Urgrund der Welt erblickt. Ist es doch
nicht denkunmöglich, daß eine an sich sinn- und ziellose, blinde
Kraft durch natürliche Auslese die intelligentesten Wesen zustande-
bringen könne; unsere psychologischen Erfahrungen stehen auch
mit dieser Anschauung in keinem Widerspruche.
Auch die agnostizistische Philosophie, die ihr Unvermögen
zur Lösung der letzten Fragen ehrlich einbekennt, die also im
Grunde kein ‚abgeschlossenes System ist, ist eine für uns mögliche,
ja förderliche Weltanschauung. Denn wenn auch Professor Putnam
Recht hat, wo er behauptet, daß man die Vernunft nicht dazu be-
nützen darf, das Dasein der Vernunft zu leugnen, so übersieht er
anderseits die Gefahr, die in der Versuchung liegt, die Rolle des
Bewußtseins im Weltall zu überschätzen und in einen nicht ganz
gerechtfertigten Anthropomorphismus zu verfallen. Es ist übrigens
beinahe ein Glück für die Wissenschaften, daß keines dieser philo-
sophischen Systeme von zwingender Evidenz ist; die endgültige
Lösung der letzten Fragen des Lebens würde den Antrieb zum
Suchen nach neuen Wahrheiten vernichten.
Prof. Putnam unterscheidet mit Recht die seelischen Inhalte
von den Tätigkeitsformen des Geistes. Er fügt aber hinzu, daß der
Geist, vom Standpunkte der Tätigkeitsform betrachtet, weder ent-
wicklungsfähig, noch auch entwicklungsbedürftig ist und behauptet,
Philosophie und Psychoanalyse 123
daß die kindliche Seele und das Unbewußte (im psychoanalytischen
Sinne) sich nur dem Inhalte, nicht aber der Funktionsart nach vom
bewußten Geiste des Erwachsenen wesentlich unterscheiden.
Die psychoanalytischen Erfahrungen ergaben demgegenüber,
daß die Vorgänge im Unbewußten (und zum Teil auch in der
infantilen Seele) nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von be-
wußten Vorgängen verschieden sind.
Die bewußten psychischen Inhalte des wachen Normalmenschen
werden in die Kategorien des Raumes, der Zeit, der Kausalität
eingeordnet, sie werden auf ihre Realität geprüft. Das Bewußtsein
ist also, insoferne nicht unbewußte Elemente hineinspielen, logisch.
Die psychischen Inhalte eines wohlerzogenen Erwachsenen werden
auch vom Standpunkte der Ethik und der Ästhetik geordnet sein.
lm Unbewußten finden wir aber die psychischen Inhalte nach
ganz anderen Prinzipien geordnet. Der herrschende Grundsatz ist
hier der der Unlustverhütung, während die zeitliche und kausale
Währung hier wenig gilt. Die aus dem logischen Zusammenhange
gerissenen psychischen Inhalte befinden sich hier gleichsam in einem
Lustraum, in dem sie sich je nach ihrem spezifischen Lust-
gewichte schichten, und zwar so, daß die Unlustvollsten am wei-
testen von der Bewußtseinsperipherie ihren Platz finden. So kommen
logisch heterogene, aber gleichartig lustbetonte Inhalte dazu,
assoziativ hart nebeneinander zu liegen, ja sich miteinander zu ver-
mengen; Gegensätze bestehen ruhig nebeneinander; die entfernteste
Ähnlichkeit gilt für Identität; das ungemein „leichte Überfließen der
Intensitäten“ (Freud) ermöglicht die logisch unsinnigsten Verschie-
bungen und Verdichtungen; der Mangel der Abstraktion und der
Sprachsymbole gestattet nur ein Denken in dramatisierten Bildern. Daß
die ethische und ästhetische Kategorie in dieser Schichte der Seele
wenig oder oft gar nicht gilt, steht für jeden, der je Träume, Witze,
Symptomhandlungen und Neurosen analysiert hat, außer Zweifel.
Nach alledem wird man doch zumindest nicht ausschließen
können, daß eine mit Bewußtseinsorgan ausgestattete Psyche nicht
nur dem Inhalte, sondern auch der Tätigkeitsform nach eine „höhere“
Entwicklungsstufe des Geistes darstellt, womit aber zugleich die
Möglichkeit der Entwicklung hoher Formen geistiger Tätigkeit aus
einfacheren und einfachsten überhaupt gegeben ist.
124 Philosophie und Psychoanalyse
Was in dieser Arbeit Prof. Putnams die Psychoanalyse am
empfindlichsten berührt, ist der Angriff gegen den psychischen
Determinismus. Ist doch der allergrößte Fortschritt, den wir der
Analyse verdanken, gerade die durch sie gegebene Möglichkeit
des Nachweises derselben ausnahmslosen Gesetzmäßigkeit und Be-
stimmtheit auch im seelischen Geschehen, die sich im physikalischen
überall feststellen läßt.
Daß unsere Willensakte bestimmt sind, wird schon lange und
von vielen postuliert; doch erst die Psychoanalyse nach Freud
gestattete uns, durch Aufdeckung der unbewußten Determinanten
auch den vom Bewußtsein als frei empfundenen Willensakt und
den sogenannten „freisteigenden Einfall“ als unvermeidliche Resul-
tante anderer psychischer Vorgänge, die auch ihrerseits streng
determiniert sind, zu erkennen. Der Psychoanalytiker, dem diese
Bestimmtheit der Willensvorgänge durch tägliche Erfahrung in
Fleisch und Blut übergegangen ist, verdankt gerade dieser Über-
zeugung das wohltuende Gefühl, auch auf psychischem Gebiete
den festen Boden eherner Gesetzmäßigkeit nicht verlassen zu müssen.
Bei näherem Zusehen stellt sich allerdings heraus, daß der
scheinbar so große Unterschied zwischen dieser Auffassung und der
Prof. Putnams zum Teil wenigstens nur auf Verschiedenheit in
der Terminologie beruht. Dr. Putnam identifiziert stellenweise die
Begriffe des Willens und des undeterminierten Willens, die
wir scharf voneinander trennen möchten. Die Psychoanalyse leugnet
den Willen (den Trieb) durchaus nicht; weit entfernt, eine bio-
genetische Deskription zu sein, die sich „damit begnügte, die auf-
einander folgenden Erscheinungen eines Entwicklungsvorganges mit
genügender Genauigkeit aufzuspüren,“ findet sie überall im Psy-
chischen Strebungen, d. h. Seelenvorgänge, die mit unserem be-
wußten Willen in Analogie zu bringen sind. Die psychoanalytische
Psychologie ist also keine einfache Beschreibung, sondern ein
Versuch der dynamischen Erklärung der Seelenvorgänge. Die
Psychoanalytik hat nie behauptet, daß „die Person Hamlets als
willenlos anzusehen ist“, sondern, daß Hamlets Persönlichkeit in-
folge seiner angeborenen und erworbenen Eigenschaften dazu be-
stimmt war, seinen Willen in der schwankenden und schließlich
tragischen Weise zu betätigen.
Philosophie und Psychoanalyse 125
Auch das „Laissez-faire“-Prinzip wird von Dr. Putnam mit
Unrecht dem Determinismus gleichgesetzt. — Die modernen National-
‘ ökonomen handeln sehr richtig, wenn sie lehren, daß „Ideologien“,
d. h. Willens- und Bewußtseinsvorgänge, auch in der Entwicklung
der Staatswirtschaft sehr wichtige Faktoren sind; damit ist aber
durchaus nicht gesagt, daß diese Willens- und Geistesvorgänge
frei, d. h. undeterminiert sein müssen. Determinismus darf doch mit
Fatalismus nicht verwechselt werden. Die Lehre von der Bestimmt-
heit des Willens besagt ja nicht, daß man nichts tun, nichts wollen
kann (laisser-faire), und daß man zuwarten kann, bis die „Deter-
minanten“ das Werk statt unser vollführen. Sie besagt nur, daß,
wenn wir unseren subjektiv als frei gefühlten Willen betätigen, wir
uns von der Richtkraft der Determinanten nicht emanzipieren können.
Daß wir uns nicht dem „Laissez-faire“-Prinzip überlassen, sondern
aktiv die Lenkung unseres Schicksals in die Hand nehmen, ist
nicht ein Akt freier Willensentschließung, sondern das Resultat
phylo- und ontogener Determinanten, die uns davor schützen,
in ein für die Selbst- und Arterhaltung deletäres Nichtstun zu
verfallen.
Über das Wesen des Willensvorganges selbst sagt die Psycho-
analyse allerdings nichts aus, und das ist der Punkt, an dem ihre
Kompetenz einstweilen aufhört und der Platz vor philosophischen
und biologischen Erklärungsversuchen geräumt werden muß.
Prof. Putnam kann der Analyse den Vorwurf nicht ersparen,
daß sie sich zu einseitig um die Psychologie des Unbewußten, um
die Psyche der Kinder, der Wilden, der Künstler, der Neurotiker
und Psychopathen kümmert und die bei ihnen gefundenen Resul-
tate zur Erkenntnis der gesunden und sublimierten Seelentätigkeit
des normalen Erwachsenen verwertet, den umgekehrten Weg aber,
der von den höchstmöglichen seelischen Leistungen des Menschen
ausgeht und von hier aus das Verständnis des Psychischen über-
haupt erlangen will, vernachlässigt. |
_ Die Tatsächlichkeit dieses Sachverhaltes soll nicht geleugnet
werden, es fragt sich nur, ob die Umkehrung des Standpunktes,
der die Psychoanalyse charakterisiert, wirklich als etwas Nachteiliges,
und nicht vielmehr als eine der fruchtbarsten und rühmlichsten
Fortschritte der psychologischen Methodik zu betrachten ist.
126 Philosophie und Psychoanalyse
Jahrhundertelang war man bestrebt, die Seelenvorgänge von
der Bewußtseinsseite her verstehen zu lernen, indem man sie in
die Kategorien der bewußten und kultivierten Menschenseele (Logik,
Ethik, Ästhetik) einzuzwängen versuchte. Man kann nicht sagen,
daß man damit viel erreicht habe. Die alltäglichsten Kundgebungen
des Seelenlebens blieben ungelöste Komplexe und man blieb —
trotz gegenteiliger doktrinärer Versicherungen — stets im Banne
einer unfruchtbaren „Vermögenspsychologie“. Die Reaktion dagegen
war der physikalisch-physiologische Erklärungsversuch, dem es aber
nicht gelang, die gähnende Kluft zwischen den verhältnismäßig
einfachen physiologischen Vorgängen und den verwickelten seelischen
Leistungen des Kulturmenschen zu überbrücken. Die Psychophysik
versagte, sobald sie das Gebiet der deskriptiven Sinnesphysiologie
verlassen wollte, oder sie mußte — in schärfstem Gegensatz zur
vielgerühmten Exaktheit ihrer Methoden — zu den gewagtesten
Hypothesen ihre Zuflucht nehmen..
Da kamen die überraschenden Entdeckungen Freuds über
unbewußte Seelenvorgänge und über die Methodik, die uns ge-
stattet, Inhalt und Tätigkeitsformen des Unbewußten zu erforschen.
Die Entdeckungen wurden zunächst an Kranken gemacht. Als aber
Freud versuchte, die bei Neurotikern demaskierten latenten Seelen-
vorgänge auch bei der Betrachtung der seelischen Leistungen
„Normaler“ in die Lücke zwischen dem Biologischen und Bewußt-
Psychischem zu interpolieren: da lösten sich wie von selbst,
ohne Schwierigkeit Probleme, bei denen die Bewußtseinspsychologie
immer versagte und an die die Psychophysik sich nicht einmal
herangewagt hat.
Der Traum, der Witz, die Fehlhandlungen des Normal-
menschen, konnten nunmehr als sinnvolle und derselben Gesetz-
mäßigkeit gehorchende psychische Bildungen erkannt werden; es
schwand der Anschein ihrer Zufälligkeit oder Willkürlichkeit; in der
Psychologie des Künstlers und des Dichters, im Tatsachen-
material der Mytholoeie und Religion, der Völkerpsycho-
logie und Soziologie beginnt sich um die Kenntnis vom Un-
bewußten herum das tiefere Verständnis der Zusammenhänge her-
auszukristallisieren; es gelang, mit ihrer Hilfe die Geltung des bio-
genetischen Grundgesetzes auch im Seelischen nachzuweisen.
Philosophie und Psychoanalyse 127
Die überraschenden Erfolge der Freudschen Interpolation
sprechen — dächt ich — dafür, daß wir diese so fruchtbare Arbeits-
methode nicht aufgeben, sondern ihre Erfolge im pragmatistischen
Sinne als Evidenz ihrer Richtigkeit auffassend, ihr Anwendungs-
gebiet eher noch weiter ausdehnen sollten. Es ist also nach unserer
Auffassung eine näherliegende, weil viel mehr Erfolg versprechende
Aufgabe, auch die Bewußtseinsvorgänge und ihre Tätigkeitsformen
unter Zugrundelegung der Tiefenpsychologie erklären zu wollen,
als dem Ratschlage Professor Putnams folgend, wieder von der
Bewußtseinsseite her in den wegen ihrer Unergiebigkeit verlassenen
Schächten zu graben.
Es ist ja möglich, daß der jetzt so überreiche Strom an Er-
kenntnis, zu der uns das Forschen im Unbewußten verhilft, einmal
versiegt, und daß dann die psychologische Arbeit wieder von der
Seite des Bewußtseins her oder etwa auf physikalischer Grundlage
aufgenommen werden muß. Was ich betonen wollte, ist nur, daß
unsere nächste Aufgabe die ist, die Psychoanalytik, unabhängig
von philosophischen Systemen, weiter auszubauen.
Zur Psychogenese der Mechanik
(Kritische Bemerkungen über eine Studie von Ernst Mach.*)
Der Psychoanalytiker, der der fast einmütigen Ablehnung
seiner Erkenntnisse durch die in ihrer Seelenruhe gestörte Mensch-
heit einen gewissen Fatalismus entgegenzubringen gelernt hat, wird
in großen Zeitabständen von gewissen Erfahrungen vorübergehend
aus dieser Stimmung aufgerüttelt. Während die tonangebenden
Gelehrten unausgesetzt damit beschäftigt sind, unsere Wissenschaft
zum soundsovielten Male zu vernichten und zu begraben, meldet
sich bald aus dem fernsten Indien, bald aus Mexiko, Peru oder
Australien ein einsamer Denker, Arzt oder Menschenbeobachter,
‘und erklärt sich als Anhänger Freuds. Noch überraschender ist
es, wenn es sich herausstellt, daß in unserer nächster Nähe im
stillen ein Psychoanalytiker gearbeitet hat und mit dem jahrelang
gesammelten psychoanalytischen Wissen plötzlich vor die Öffent-
lichkeit tritt. Am allerseltensten kommt man aber in die Lage, in
den Werken der anerkannten Größen der heutigen Wissenschaft
Spuren des psychoanalytischen Einflusses oder einen Parallelismus
ihrer Denkrichtung mit jener der Psychoanalytiker zu entdecken.
Bei diesem Stande der Dinge wird es wohl jeder verzeihlich
und verständlich finden, daß ich bei der Lektüre des Vorwortes
von Ernst Machs Arbeit: „Kultur und Mechanik“** die, natür-
lich immer nur notgedrungene und schwer zu ertragende resignierte
Einstellung für einen Moment wieder fallen ließ und mich der op-
timistischen Idee hingab, in einem der bedeutendsten der jetzt
* Erschienen in der „Imago“, V. Band. 1917—19.
** Stuttgart, 1915.
Zur Psychogenese der Mechanik a Er,
lebenden Denker und Gelehrten“ einen Gleichgesinnten begrüßen
und verehren zu können.
Meine — wie sich bald herausstellte — irrige Erwartung wird
mir jeder Psychoanalytiker nachempfinden, der dieses Vorwort,
dessen Inhalt ich hier zum Teile wiedergebe, liest.
„In der Einleitung der 1883 erschienenen ‚Mechanik‘ des
Verfassers ist die Anschauung vertreten“ — heißt es am Änfange
des Vorwortes — „daß sich die Lehren der Mechanik aus den
Erfahrungsschätzen des Handwerks durch intellektuelle Läuterung
ergeben haben.“ |
„Es bot sich nın die Möglichkeit, noch einen Schritt weiter
zu gehen, indem es meinem in frühester Kindheit mechanisch
sehr veranlagten Sohne Ludwig auf meine Veranlassung ge-
lang, durch immer neu einsetzende Erinnerungsversuche
seine damalige Entwicklung mit vielen Einzelheiten im
wesentlichen zu reproduzieren, wobei es sich zeigte, daß die
gewaltigen, unauslöschlichen dynamischen Empfindungs-
erfahrungen jener Zeit uns mit einem Male auch dem instink-
tiven Ursprunge aller Behelfe, wie Werkzeuge, Waffen und
Maschinen, naherücken.“
„Von der Überzeugung geleitet, daß ein weiteres Verfolgen
solcher Erfahrungen eine unvergleichliche Vertiefung der Ur-
geschichte der Mechanik ermöglichen, außerdem aber auch
noch zur Begründung einer allgemeinen genetischen Tech-
nologie führen könnte, habe ich diese Studie als bescheidenen
Schritt in dieser Richtung unternommen . . .“**
In diesen Sätzen findet der Psychoanalytiker ihm längst ver-
traute Ideen und geläufige Arbeitsweisen wieder.
Die eigentlichen Grundlagen eines hochzusammengesetzten
psychischen Gebildes mittels „immer neu einsetzender Erinnerungs-
versuche“ aus primitiven abzuleiten und ihre Wurzel schließlich
im infantilen Erleben zu finden, ist das Wesentliche an der psycho-
analytischen Methode und ihr wichtigstes Ergebnis. Seit mehr als
zwanzig Jahren wurde Freud nicht müde, diese Methode mit dem
gleichen Ergebnis an den verschiedenartigsten psychischen Gebilden:
* Seit der Niederschrift dieser Zeilen ist Ernst Mach gestorben.
* Die Hervorhebungen stammen vom Referenten.
130 Zur Psychogenese der Mechanik
an neurotischen Symptomen der Kranken, an komplizierten psy-
chischen Leistungen des Gesunden, ja auch an gewissen sozialen
und künstlerischen Schöpfungen der Menschheit zu erproben. Einige
Schüler Freuds veröffentlichten bereits sogar psychogenetische
Theorien und Erfahrungssätze, die auf das Spezialgebiet Machs,
die Entwicklung der Mechanik, einiges Licht werfen.
In den einleitenden Sätzen Machs sind aber auch andere,
bisher fast nur von der Psychoanalyse befürwortete oder zuerst von
ihr ausdrücklich betonte Anschauungen subsumiert. Die Worte „un-
auslöschliche Empfindungserfahrungen der ersten Kindheit“ klingen
wie der Freudsche Satz von der Unzerstörbarkeit und: Zeitlosig-
keit des Infantilen und Unbewußten. Der Plan, die Urgeschichte
der Mechanik statt durch Ausgrabungen durch methodische gene-
alogische Untersuchungen des individuellen Seelenlebens zu fördern,
‘wiederholt nur die psychoanalytische These, wonach im Unbewußten
des Erwachsenen nicht nur psychische Tendenzen und Inhalte der
eigenen Kindheit, sondern auch solche der stammesgeschichtlichen
Vorfahren nachzuweisen sind. Die Machsche Idee, die Kultur-
geschichte der Menschheit — auf der Grundlage des biogenetischen
Grundgesetzes — individualpsychologisch zu fördern, ist in der
Psychoanalyse gang und gäbe. Ich verweise nur auf die epoche-
machende Arbeit Freuds „Totem und Tabu“ (1913), in der das
Wesen dieser bisher unerklärten sozialen Institutionen mit Hilie
individueller, bis auf die Kindheit zurückreichender Seelenanalysen
dem Verständnis näher gebracht wurde.”
Ich muß es gleich vorwegnehmen, daß meine Annahme, Mach
hätte bei seinen Untersuchungen die Ergebnisse der Psychoanalyse
benützt oder berücksichtigt, sich nicht bewahrheitet hat. Es wird zwar
nirgends gesagt, welcher Art jene „immer neu einsetzenden Er-
innerungsversuche“ waren, deren sich der Autor bediente; weder
* Siehe auch die Arbeiten von Storfer („Zur Sonderstellung des Vater-
mordes“), die Arbeiten Sperbers über die Psychogenese der Sprache, Gieses
Untersuchungen über die der Werkzeuge, Abrahams, Ranks Arbeiten über
die Genese von Mythen und Dichterwerken und die noch nicht publizierten Unter-
suchungen von Sachs über die Pflugkultur und ihren symbolischen Niederschlag
im Seelenleben des Menschen. — Einen Versuch, das besondere Interesse der
Menschen am Gelde ontogenetisch zu erklären, habe ich selbst unternommen.
(Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, I, 1914, S. 506 ff.)
— [0000
Zur Psychogenese der Mechanik 131
der Hergang noch das Ergebnis dieses psychologischen Experi-
mentes wird uns mitgeteilt, nur die Schlüsse, die daraus gezogen
werden konnten. Aber schon diese Schlüsse gestatten uns den
Rückschluß, daß es sich einfach um wiederholte Anstrengungen
handelte, das Vergangene durch bewußtes Hinlenken der Auf-
merksamkeit zu erinnern. Ob und inwieweit dabei die — hier gewiß
nicht unwirksame, weil väterliche — Suggestion die Erinnerungs-
widerstände überwinden half — etwa im Sinne der ersten analy-
tischen Versuche Freuds — erfahren wir nicht. Keineswegs scheint
aber die freie Assoziation angewendet worden zu sein, das heißt
die einzige Methode, die über alle affektiven Widerstände, welche die
infantile Amnesie verschulden, hinweghilft und die Vergangenheit fast
restlos zu reproduzieren gestattet. Dementsprechend ist die affektive
Determinierung der infantilen (und archaischen) mechanischen Ent-
deckungen in dieser Arbeit Machs nicht hinreichend gewürdigt und
die Fortschritte der Technik fast nur vom rationalistischen Stand-
punkte, als fortschreitende Entwicklung der Intelligenz beschrieben.
Machs Auffassung über die Genese der ersten kindlichen
und urzeitlichen Entdeckungen ist folgenden Sätzen zu entnehmen:
„Rückblickend (auf die Kindheit, auf die Urzeiten) sehen wir mit
Staunen, daß unser ganzes weiteres Leben nur eine Fortsetzung
unseres damaligen Verhaltens ist; wir bemühten uns, mit unserer
Umgebung fertig zu werden, sie zu verstehen und dadurch unseren
Willen zu erreichen“ ... „Mit einem Male ist uns nahegerückt,
wie ungezählte Generationen, manchmal durch Klima und Boden
etwas begünstigt, im dunklen Drange, besser zu leben, aber all-
gemein unter Verhältnissen, deren Härte wir gar nicht mehr ein-
zuschätzen vermögen, sich durch lange Jahrhunderte bemühten und
Werke schufen, deren heutige Endglieder wir in den Händen
haben“... „Denken und träumen wir aber über diesen Dingen
längst verschwundener Zeiten, so steigen gleich einer Illusion alte
Erinnerungen an Erlebtes und Gefühltes auf, und in unsere der-
einstige kindliche Empfindungswelt zurückversinkend, ahnen und
erwarten wir die mannigfachen Entstehungsweisen und Wege für
iene Funde von so unermeßlicher Tragweite.“
„ Dieses, wie gesagt auch von unserem Standpunkte, durchaus
richtige Programm wird aber. von Mach nur unvollkommen aus-
9*
132 Zur Psychogenese der Mechanik
geführt. Da er es verschmäht, die psychoanalytische Methode an-
zuwenden, die bewußten Träume und Gedanken, die infantilen
Deckerinnerungen durch Aufdeckung ihres unbewußten Hinter-
grundes zu ergänzen, ihre Entstellungen rückgängig zu machen,
mußten seine Erkenntnisse oberflächlich bleiben, und — da die libidi-
nösen Motive zumeist verdrängt und unbewußt sind — konnten
seine Versuche fast überall nur rationalistische Erklärungen für die
technischen Fortschritte ergeben, richtiger gesagt: nur die rationelle
Seite der Motivierung beleuchten.
Die Tonschalen entstanden zuerst vielleicht „als Ersatz der
Hohlhand beim Trinken“, indem etwa „das in hohlen Steinfragmenten
sich sammelnde Wasser den Anstoß zur Herstellung von Gefäßen
bildete, bloßen Tonklumpen, in die mit der Hand Höhlungen
gedrückt wurden.“ Warum aber „der zutage liegende feinplastische
Ton immer ein sehr anregendes Material gewesen sein muß“, wird
nicht weiter untersucht. Und doch liefert die Psychoanalyse diesen
fehlenden Teil der Erklärung, indem sie diese sonderbare „An-
regung“ auf ganz bestimmte erotische Komponenten der Libido
zurückzuführen gestattet.”
Ebensowenig wird bei Mach danach geforscht, warum zum
Beispiel „das Flechten und Drehen textiler Substanzen ein starker
Anreiz für den Beschäftigungstrieb — ein ständiges Vergnügen“
ist. Mach begnügt sich mit der Annahme eines primären Beschäf-
tigungstriebes, dessen Erinnerungsspuren in Zeiten des Bedürfnisses
blitzartig auftauchen und verwertet werden.
| „Das Glätten vorhandener Rotationskörper, wie das runder
Aststäbchen, gehörte wohl mit zu den Spielen primitivster Zeiten.
Als Kinder haben wir es unzählige Male ausgeübt und ein solches
Stäbchen einmal in irgend einer Rinne ohne axiale Verschiebung
mit der Hand hin- und hergerollt, wobei irgend eine Rauhigkeit
eine schöne Rinne zog .. .. usw.“ (Urform der Drehbank.)
. „Unsere eigenen spielenden Finger in der frühesten Kind-
heit haben uns die Schraube vermittelt; irgend etwas von schrauben-
förmiger Struktur war uns in die Hände geraten ... ., es im Spiele
drehend, fühlten wir, wie es sich in die Handfläche einbohrte —
* S. Freud, Charakter und Änalerotik, sowie die schon zitierte Arbeit
des Referenten „Zur Ontogenese des Geldinteresses“.
Zur Psychogenese der Mechanik 133
ein für uns damals besonders rätselhaftes Gefühl, das stets zur
Wiederholung lockte . . .“
In ähnlicher Weise erklärt uns Mach das Entstehen der
Feuerbohr- und -reibmaschinen, der Wasserschöpf- und
Pumpwerkzeuge etc. Immer und überall sieht er das Walten
eines Betätigungstriebes, der durch den glücklichen Zufall begünstigt,
zu einer Erfindung führt. „Erfindungen werden da gemacht, wo
die. Verhältnisse am günstigsten, die Schwierigkeiten am kleinsten
sind.“ Nach Mach können sich also Erfindungen „im Laufe riesiger
Zeiträume in das Leben unserer Vorfahren ganz ohne das Hinzu-
tun besonderer Persönlichkeiten und Individualitäten eingeschlichen
haben.“
Die Psychoanalyse lehrt es anders. In einer mehr programma-
tischen Arbeit über die Entwicklung des Realitätssinnes” mußte ich
auf Grund psychoanalytischer Erfahrungen annehmen, daß sowohl
in der individuellen als in der Artentwicklung, also auch in der
Entwicklung der Kultur des Menschen, die Not als treibendes Motiv
gewirkt haben mag. Ich wies besonders auf die Entbehrungen der
Eiszeiten hin, die einen bedeutenden Entwicklungsschub veranlaßt
haben mögen. Wenn nach Machs Mitteilung „der Erfindungs-
geist des Eskimos nach übereinstimmenden Aussagen uner-
schöpflich sein soll“, ist es schwer, eine besondere Begünstigung
seitens des Klimas und Bodens als zufällige Ursache der Erfin-
dungen anzunehmen. Viel plausibler ist es, besonders anpassungs-
fähige Individuen, also Persönlichkeiten zu postulieren, die, den
nie fehlenden „Zufall“ in ihren Dienst zwingend, zu. Entdeckern
wurden. |
Mit der Anpassung an die Realität sieht aber die Psycho-
analyse nur die eine Seite des Problems beleuchtet. Sie lehrt, daß
Entdeckungen außer der egoistischen fast immer auch eine libidi-
nöse Wurzel im Seelenleben haben. Die Bewegungs- und Beschäf- _
tigungslust des Kindes beim Kneten, Bohren, Wasserschöpfen,
Spritzen etc. fließt aus dem Erotismus der Organbetätigung, deren
eine Sublimierungsform das „symbolische“ Reproduzieren dieser
Tätigkeiten in der Außenwelt darstellt. Gewisse Einzelheiten
— besonders die Benennungen — der Werkzeuge des Menschen
* Internationale Zeitschrift f. ärztl. Psychoanalyse, I. Jahrg. 1913.
134 Zur Psychogenese der Mechanik
zeigen uns noch die Spuren ihrer zum Teile libidinösen Her-
kunft.“
Solche Anschauungen liegen aber Mach, der die analytische
Psychologie des Menschen nicht kennt, ganz fern. Er nennt sogar
die Anschauungen des Hegelianers E. Kapp, „der die mechanischen
Konstruktionen als unbewußte Organprojektionen auffaßt“, Witze,
die ernst zu nehmen man sich hüten muß, da „durch Mystik in
der Wissenschaft nichts klarer“ wird. Die Spencersche Idee aber,
wonach die mechanischen Konstruktionen Organ-Verlängerungen
sind, sei unverfänglich.
Unserer psychoanalytischen Auffassung widerspricht keine dieser
Erklärungen, ja, meiner Anschauung nach widersprechen sie auch
einander nicht. Es gibt wirklich primitive Maschinen, die noch nicht
Projektionen der Organe, sondern Introjektionen eines Teiles
der Außenwelt bedeuten, durch die der Wirkungskreis des Ich ver-
srößert wird, — so der Stock oder der Hammer.
Die selbsttätige Maschine dagegen ist schon fast reine Organ-
projektion: ein Stück der Außenwelt wird mit Menschenwillen
„beseeli“ und arbeitet statt unserer Hände. Die Introjektions- und
die Projektionsmaschinen — wie ich sie nennen möchte — schließen
einander also nicht aus, sie entsprechen .nur zwei psychischen Ent-
wicklungsstufen der Realitätsbewältigung. Der ins Auge springenden
Analogie gewisser Maschinen mit Organen”* kann sich übrigens
auch Mach nicht ganz entziehen.
Mit all diesen Bemerkungen will ich den großen Wert und die
Bedeutsamkeit der Machschen Arbeit durchaus nicht schmälern, mein
Zweck war nur, an einem Beispiel zu zeigen, welch reiche Erkenntnis-
quellen unsere Gelehrten durch die Nichtberücksichtigung der Psycho-
* Machs Anschauung über diesen Gegenstand, die die libidinösen Triebe
gar nicht berücksichtigt, ist ebenso unvollkommen wie die gegenteilige Über-
treibung Jungs, nach dem die Werkzeuge nur verdrängte erotische Neigungen
reproduzieren wollen, zum Beispiel die Feuerbohrer die unterdrückte Genital-
betätigung. Nach unserer Ansicht stammen, wie gesagt, die Entdeckungen aus
zwei Quellen, einer egoistischen und einer erotischen. Zuzugeben ist aber, daß
für die schließliche Gestaltung des Werkzeuges sehr oft eine libidinöse Organ-
funktion vorbildlich ist.
** Vergleiche dazu das instruktive Buch „Die Maschine in der Karikatur,
von Ing. H. Wettich (mit 260 Bildern). Berlin 1916.
Zur Psychogenese der Mechanik 135
analytik vor sich verschließen. Auch wir Psychoanalytiker wünschen
nichts sehnlicher als die von Mach in diesem Werke geforderte
Zusammenarbeit der Psychologie mit den exakten Wissenschaften,
verlangen aber, daß die exakten Wissenschaften in Fragen der
Psychogenetik auch unsere psychologischen Untersuchungsmethoden
anwenden und die sie interessierenden psychologischen Probleme
vom übrigen seelischen Material nicht künstlich isolieren sollen.
Mach selbst erachtet es für einen Fehler, „aus der Fülle der auf
das Individuum einwirkenden Eindrücke ... gerade die mechanischen
zu verfolgen, während in der Natur, im Leben, die verschieden-
artigsten instinktiven und empirischen Einblicke sich zweifellos mit-
und auseinander dereinst entwickelt haben“ (und darum gibt es
in dieser Arbeit Beispiele nicht nur mechanischer, sondern auch
metallurgischer, chemisch-technologischer, ja sogar biologischer
und toxikologischer Entdeckungen.)
An anderer Stelle des Buches betont er, daß die ganze
Mechanik eine Idealisierung ist, eine Abstraktion, die die nicht um-
kehrbaren (thermodynamischen) Prozesse exakt darzustellen nicht
imstande ist. Mit derselben Uhnparieilichkeit aber, mit der Mach
die Grenzen seines Spezialgebietes absteckt, könnte er sich auch
eingestehen, daß die aus dem übrigen seelischen Zusammenhange
gelöste Betrachtung der Entwicklung unserer mechanischen Fähig-
keiten, wie er sich ausdrücken würde, „durch Außerachtlassung
und Übersehen notwendig an Wahrscheinlichkeit verlieren“ und
eine der Realität entrückte Idealisierung bleiben muß.
Nur noch zu einer Anregung Machs möchten wir Stellung
nehmen. „Ein hervorragend wichtiges Hilfsmittel einer experimen-
tellen Ethnographie“, meint Mach, „wäre die Beobachtung isolierter,
ihrer Umgebung schon in allerersten Anfängen entzogeener und mög-
lichst sich selbst überlassener Kinder. Da erfahrungsgemäß Ele-
mentarkenntnisse auch von älteren Individuen in kürzester Zeit nach-
geholt werden, würde dies keinesfalls einen Eingriff in das Leben des
einzelnen bedeuten; anderseits steht bei dem ausschlaggebenden und
richtungsbestimmenden Einfluß des Charakters der ersten Entwick-
lungsperiode auf das ganze Leben zu erwarten, daß durch ein solches
Verfahren gegenteilig hervorragende Qualitäten des einzelnen geweckt
und hiedurch neue Werte von großer Tragweite geschaffen würden.“
136 Zur Psychogenese der Mechanik
Ich glaube endlich das entscheidende Argument gegen die
Realisierbarkeit dieses, bei Poeten und Philosophen immer und
immer wiederkehrenden (weil einem tiefen, eigenen, unbewußten
Wunsche entspringenden) Planes der Züchtung von solchen un-
kultivierten „Naturkindern“ gefunden zu haben. Einen kleinen Ur-
menschen zu erziehen ist darum unmöglich, weil wir den Neu-
geborenen — soll er von der Kultur absolut nicht berührt werden
— sofort nach der Geburt in ein Urmenschenmilieu versetzen
müßten, etwa in eine Urmenschenfamilie vor der Erfindung der
ersten mechanischen Werkzeuge. Daß dies undurchführbar ist, wird
wohl jeder ohneweiters einsehen. Höchstens könnte man ihn von
einer Draviden- oder Südseeinsulanerfamilie adoptieren lassen; das
ist aber durchaus überflüssig, es gibt ja ohnehin Kinder bei den
Draviden und Insulanern, der Ethnograph braucht nur hinzureisen,
um sie beobachten zu können. Die Idee aber, ein Kind „ohne
Milieu“ sich selbst zu überlassen, ist widersinnig; nie noch hat es
ein menschliches, auch kein urmenschliches Wesen ohne ent-
sprechendes Milieu gegeben, das ihm die schon gewonnene, wenn
auch noch so bescheidene Kultur übermittelte. Die Anfänge der
Kultur findet man schon bei unseren tierischen Vorfahren, Mach
selbst schreibt ja den Affen mechanische Begabung zu. Die vor-
geschlagene Art experimenteller Ethnographie wird also niemals
zur Tat werden können; auch bin ich nicht sicher, ob aus dem
Kinde, das „ohne Milieu“ sich selbst überlassen bliebe, nicht ein
Imbeciler würde. Auch die Begabung bedarf ja der Anregung von
außen. Die Junglebook-Phantasie bleibt also besser den Poeten
überlassen.
Trotz diesen, zum Teil übrigens unwesentlichen Einwendungen
muß ich auch nach der Lektüre des Buches Mach für einen Psycho-
analytiker erklären, mag sich der kritische Verfasser des Werkes
„Erkenntnis und Irrtum“ dagegen noch so scharf verwahren und
die Psychoanalyse als „Mystik“ abweisen.
„Wohl unbewußt fußen Empfindung und Verständnis in
unserer oder unserer Ahnen Erinnerung“ ... „Kindheits- und
Ahnengefühle lassen uns die archaisch angehauchten Kunstwerke
so tief ergreifend finden.“ Dies sind Sätze, die ebensowohl in
einem psychoanalytischen Aufsatze vorkommen könnten — sicher
Zur Psychogenese der Mechanik 137
auch schon vorgekommen sind; auch ist es die Psychoanalyse allein,
die für die Tatsächlichkeit dieser Behauptungen exakte Beweise
anzuführen imstande ist.
„Von dem Kulturstadium, in das wir hineingeboren sind, auf-
genommen, durcheilen wir in einer kurzen Lernzeit (ähnlich wie im
fötalen Zustande) ungeheure Arbeits- und Entwicklungszeiten . . .“
Ginge die Kultur plötzlich verloren, so müßten die Maschinen, von
den einfachsten Fertigkeiten des Naturmenschen ausgehend, —
wieder in der alten Reihenfolge aufgebaut werden. Mach scheint
hier den unerbittlichen Instanzenzug, der im Psychischen (vielleicht
im Organischen überhaupt) herrscht und den Freud zuerst demon-
strieren konnte, genial erfaßt zu haben. Er beschreibt die kompli-
zierte mechanische (und anderweitige) Kultur als höchste Blüte
menschlichen Könnens, die aber auch heute noch in einfachsten Be-
tätigungstrieben wurzelt und nur aus fhnen regeneriert werden kann.
Darum macht auch Mach — den bisher nur jene Gedanken-
arbeit beschäftigte, die sich in der wissenschaftlichen Literatur der
Mechanik vollzieht — nunmehr den einfachen Arbeiter, das Kind,
den Urmenschen zum Objekte seiner Untersuchung; er hat ein-
gesehen, daß die Kenntnis einfacherer Verhältnisse „die notwendig
vorausgehende Grundlage und Bedingung“ für das Verständnis
des Komplizierteren ist. Auch hierin möchten wir einen Parallelismus
mit dem Arbeitsplane der Psychoanalytiker erblicken, die ja: über-
haupt aus dem kindlichen oder in Traum und Krankheit zur Kind-
heit regredierten Seelenleben das Verständnis für die verwickel-
testen Kulturleistungen des wachen Normalmenschen holen wollen.
Nicht unerwähnt darf ich den freien animistischen Geist
lassen, der dieses Werk eines’ so hervorragenden Kenners der
physischen Welt durchweht. Er scheut sich nicht einzubekennen,
daß ein Mechanismus für sich unbeweglich sein müßte, da „erst
durch die Kraft Bewegung in ein mechanisches System kommt“;
Leibnitz aber sprach das glückliche Wort aus: „die Kraft sei
etwas der Seele Analoges.“
Wann werden der Physiker, der im Mechanismus die Seele findet,
und der Psychoanalytiker, der in der Seele Mechanismen sieht, ein-
ander die Hände reichen und an einer von Einseitigkeiten und „Ideali-
sierungen“ freien Weltanschauung mit vereinten Kräften arbeiten?
Nachtrag
zur „Psychogenese der Miechanik“*
In einer Arbeit über die „Psychogenese der Mechanik“ (Imago,
V. Jahrg., Heft 5/6, 1919) underzog ich die letzte Publikation des
verstorbenen - Wiener Physikers und Philosophen Ernst Mach:
„Kultur und Mechanik“ (Stuttgart 1915) vom Standpunkte der
Psychoanalyse einer Kritik. Ich hob unter anderem hervor, daß
das Büchlein im Leser den Eindruck erweckt, als hätten dem Autor
bei seiner Idee, die infantilen Elemente des Sinnes für Mechanik
bei seinem erwachsenen Sohne mittels methodischer Erinnerungs-
Anstrengungen aufzudecken, die Freudschen Forschungen vor-
geschwebt. Aus der Tatsache, daß Freud bei Mach nirgends
zitiert wird und aus der einseitig intellektualistischen Betrachtungs-
weise des Werkchens schloß ich aber, daß Mach vielleicht unab-
hängig von Freud auf diese Idee verfiel. Nun macht mich aber
Herr Ingenieur Dr. Patai darauf aufmerksam, daß sich schon in
den 1896 verfaßten „Prinzipien der Wärmelehre“ (auf S. 443,
444 der II. Auflage) eine Notiz findet, die uns beweist, daß Mach
mit der Grundidee der Psychoanalyse längst vertraut war, als er
sein Buch von den psychologischen Bedingungen der Entwicklung
_ des Sinnes für Mechanik schrieb, und wenn er deren dort keine
Erwähnung tut, wir es mit einem Falle von kryptomnestischer
Wiederentdeckung einer Idee zu tun haben.
Es ist bezeichnend, daß die von Mach vergessene Stelle sich
gerade mit dem Unbewußtwerden und Fortwirken gewisser Vor-
* Aus „Imago“, VI. Jahrgang, 1920.
Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ 139
stellungen beschäftigt. Er spricht dort von der „merkwürdigen
Tatsache, daß eine Vorstellung sozusagen fortlebt und fortwirkt,
ohne daß sie im Bewußtsein ist“... „In dieser Beziehung
dürften die vortrefflichen Beobachtungen von W. Robert über den
Traum (Hamburg 1886) aufklärend wirken. Robert hat beobachtet,
daß die bei Tage gestörten, unterbrochenen ÄAssoziationsreihen bei
Nacht sich als Träume fortspinnen“ ... „Ich habe Roberts Be-
obachtungen in unzähligen Fällen an mir bestätigt gefunden und
kann auch hinzufügen, daß man sich unangenehme Träume
erspart, wenn man unangenehme Gedanken, die sich
durch zufällige Anlässe ergeben, bei Tage vollkommen
ausdenkt, sich darüber ausspricht oder ausschreibt,
welches Verfahren auch allen zu düsteren Gedanken nei-
genden Personen angelegentlichst zu empfehlen ist. Den
Robertschen Erscheinungen verwandte kann man auch im wachen
Zustande beobachten. Ich pflege mich zu waschen, wenn ich einen
Händedruck von feuchter, schwitzender Hand erhalten habe. Werde
ich durch einen zufälligen Umstand daran verhindert, so verbleibt mir
ein unbehagliches Gefühl, dessen Grund ich zuweilen ganz ver-
gesse, von dem ich aber erst befreit bin, wenn es mir einfällt, daß
ich mich waschen wollte und wenn dies geschehen ist. Es ist also
wohl wahrscheinlich, daß einmal gesetzte Vorstellungen, auch
wenn sie nicht mehr im Bewußtsein sind, ihr Leben fort-
setzen. Dasselbe scheint dann besonders intensiv zu sein, wenn
dieselben beim Eintritt ins Bewußtsein verhindert wurden, die
assoziierten Vorstellungen, Bewegungen usw. auszulösen. Sie scheinen
dann wie eine Art Ladung zu wirken... Einigermaßen ver-
wandte Phänomene sind jene, welche Breuer und Freud
in ihrem Buche über Hysterie beschrieben haben.“
Daß es sich hier wirklich um eine kryptomnestische Entdeckung
handelt, wird durch den Umstand bestärkt, daß der Anlaß, der
Mach zu dieser psychologischen Abschweifung verleitete, gerade
eine Arbeit war, in der der Autor über die wissenschaftliche
Entdeckungen begünstigenden oder behindernden Bedingungen
schrieb. („Korrektur wissenschaftlicher Ansichten durch zufällige
Umstände“, S. 441.) Er spricht unter anderem von der Bedeutung
des Zufalls auch im technischen Leben; „sie kann durch die
140 Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“
Erfindung des Fernrohres, der Dampfmaschine, der Lithographie,
der Daguerrotypie usw. erläutert werden. Analoge Prozesse lassen
sich endlich bis in die Anfänge der menschlichen Kultur zurück-
verfolgen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die wich-
tigsten Kulturfortschritte ... . nicht mit Plan und Absicht, sondern
durch zufällige Umstände eingeleitet worden sind... .“ Dieser
Gedankengang wird nun in dem von mir referierten letzten
Werke Machs (Kultur und Mechanik) mit aller Ausführlichkeit
wiederholt, dann werden die Resultate der erwähnten
Erinnerungsversuche mit seinem technisch begabten
Sohne mitgeteilt, nur das in den „Prinzipien“ zitierte
Werk von Breuer und Freud, das bekanntlich gerade in
methodischen Versuchen zur Auffrischung längstver-
gessener Erinnerungen gipfelte, also Mach als Vorbild
zu seiner Theorie und Methodik gedient haben muß,
bleibt unerwähnt; die Erinnerung daran a offenbar
der Verdrängung.
Der Psychoanalytiker darf den Versuch wagen, auch die
Motive solcher Verdrängung aus gewissen Anzeichen zu erraten.
Wo Mach die Wirksamkeit unerledigter, unbewußter Vorstellungs-
komplexe mit einem selbsterlebten Beispiele illustrieren will, verrät
er uns ein Stück seiner Hemmung, die vielleicht mehr als über-
triebene Reinlichkeit und Pedanterie war“. Solche Überempfind-
lichkeit gegen die Berührung von Körperfeuchtigkeit und die Phobie
vor der Feuchtigkeit der Hand findet laut anderen Analysen in
der Abwehr bestimmter sexueller Vorstellungen und Erinnerungen
ihre letzte Quelle. Solche Personen pflegen auch vor der gei-
stigen Berührung mit sexuellen Dingen zurückzuschrecken.
Nun waren die ersten Mitteilungen von Breuer und Freud
beinahe „asexuell“. Erst die spätere Erfahrung zwang Freud zur
Ergänzung der Neurosenlehre durch die Sexualtheorie. Es scheint,
daß Mach diese Forschungen des (an derselben Universität leh-
renden) Prof. Freud nicht ganz unbekannt und höchst unsympathisch
gewesen sind und als solche abgelehnt und vergessen wurden. Die
* Über die unbewußte Bedeutung angeführter Beispiele überhaupt siehe
meinen Aufsatz „Zur psychoanalytischen Technik“, 3. Abschnitt: Das „Zum Bei-
spiel“ in der Analyse. (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, V., 1919, S. 187.) ..
Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ 141
mit der Sexualtheorie verknüpfte Unlust riß aber auch die Er-
innerungen-an die noch „harmlosen“ Breuer-Freudschen „Hysterie-
Analysen“ mit in die Verdrängung. Darum werden sie in der
„Kultur und Mechanik“ nicht zitiert, obzwar sie in-den „Prinzipien“
als weit entfernte Änalogien noch erwähnt werden, und darum
mußte Mach die ihm von Breuer und Freud eingegebene Idee
von den methodischen Erinnerungs-Änstrengungen (kryptomnestisch)
wiederentdecken.
Nun verstehen wir auch, warum Mach die Psychogenese des
Sinnes für Mechanik nur als fortschreitende Entfaltung der Intelligenz
auffaßt, und wo er aufs Triebhafte zu sprechen kommt, sich mit
der Annahme eines „Betätigungstriebes“ begnügt, der — sich des
günstigen Zufalls bedienend, zu Entdeckungen führt, während die
psychoanalytische Betrachtung, der er sich aus ihm unbewußten
Motiven entzog, die weitere Zerlegung jenes Betätigungstriebes
und den Nachweis der sexuellen Elemente darin gestattet hätte.”
* Ich entdeckte nachträglich auch in den Breuer-Freud’schen Studien
Über Hysterie (II. Auflage 184) eine Notiz, die die Mach’schen „Bewegungsempfin-
dungen“ mit hysterischen Phänomenen in Parallele bringt. Umso wahrscheinlicher,
daß sich Mach mit den „Studien“ eingehender beschäftigte.
Symbolische Darstellung des Lust- und
Realitätsprinzips im Odipus-Mythos*
(Gedeutet durch Schopenhauer)
„Jedes Werk hat seinen Ursprung in einem glücklichen Ein-
- fall, und dieser gibt die Wollust der Konzeption: die Geburt aber,
die Ausführung, ist, wenigstens bei mir, nicht ohne Pein: denn als-
dann stehe ich vor meinem eigenen Geist, wie ein unerbittlicher
Richter vor einem Gefangenen, der auf der Folter liegt, und lasse
ihn antworten, bis nichts mehr zu fragen übrig ist. Einzig aus dem
Mangel an jener Redlichkeit scheinen mir fast alle Irrtümer und
unsäglichen Verkehrtheiten entsprungen zu sein, davon die Theorien
und Philosophien so voll sind. Man fand die Wahrheit nicht, bloß
darum, daß man sie nicht suchte, sondern statt ihrer immer nur
irgendeine vorgefaßte Meinung wiederzufinden beabsichtigte, oder
wenigstens eine Lieblingsidee durchaus nicht verletzen wollte, zu
diesem Zwecke aber Winkelzüge gegen andere und sich selbst an-
wenden mußte. Der Mut, keine Frage auf dem Herzen zu
behalten, ist es, der den Philosophen macht. Dieser muß
dem Ödipus des Sophokles gleichen, der, Aufklärung
über sein eigenes schreckliches Schicksal suchend, rast-
los weiter forscht, selbst wenn er schon ahndet, daß sich
aus den Äntworten das Entsetzlichste für ihn ergeben
wird. Aber da tragen die meisten die Jokaste in sich,
welche den Ödipus um aller Götter willen bittet, nicht
weiter zu forschen: und sie gaben ihr nach, und darum
* „Imago“, I. Jahrgang 1912.
Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 143
steht es auch mit der Philosophie noch immer wie es
steht.“ Wie Odin am Höllentor die alte Seherin in ihrem Grabe
immer weiter ausfrägt, ihres Sträubens und Weigerns und Bittens
um Ruhe ohngeachtet, so muß der Philosoph unerbittlich sich
selbst ausfragen. Dieser philosophische Mut aber, der eins ist mit
der Treue und Redlichkeit des Forschens, die Sie mir zuerkennen,
entspringt nicht aus der Reflexion, läßt sich, nicht durch Vorsätze
erzwingen, sondern ist angeborene Richtung des Geistes . . .“
(Aus einem Briefe Schopenhauers an Goethe, nach Über-
sendung des Manuskripts „Über das Sehen und die Farben“;
datiert vom 11. November 1815.)
Die tiefe und gedrängte Weisheit dieser Sätze verdient etwas
auseinandergelegt und mit den Ergebnissen der Psychoanalyse zu-
sammengehalten zu werden.
Was Schopenhauer über die zur wissenschaftlichen (philosophi-
schen) Produktion erforderliche psychische Einstellung sagt, klingt
wie die Anwendung der Freudschen Formel über die Prinzipien
des psychischen Geschehens”* auf die Wissenschaftslehre. Freud
unterscheidet zwei solcher Prinzipien: Das Lustprinzip, das bei
primitiven Wesen (Tieren, Kindern, Wilden) sowie in primitiveren
seelischen Zuständen (in Traum, Witz, Phantasie, Neurose, Psychose)
die führende Rolle spielt und Vorgänge zustandekommen läßt, die
nur danach streben, auf dem kürzesten Wege Lust zu gewinnen,
während sich die psychische Tätigkeit von solchen Akten, welche
Unlust erzeugen könnten, zurückzieht (Verdrängung). Sodann
das Realitätsprinzip, das höhere Entwicklung und Wachsein
des psychischen Apparates voraussetzt und dadurch charakteri-
siert ist, daß „an Stelle der Verdrängung, welche einen Teil der
auftauchenden Vorstellungen als unlusterzeugend von der Be-
setzung ausschloß, die unparteiische Urteilsfällung tritt, welche,
entscheiden soll, ob eine bestimmte Vorstellung wahr oder falsch,
das heißt im Einklang mit der Realität sei oder nicht, und durch
Vergleichung mit den Erinnerungsspuren der Realität darüber
entscheidet.“
* Vom Ref. gesperrt.
** Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen,
IN. Band, S. 1.
144 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos
Nur eine Art der Denktätigkeit bleibt auch nach Einsetzung des
höheren Prinzips von der Realitätsprüfung frei gehalten und allein dem
Lustprinzip unterworfen: das Phantasieren, während die Überwin-
dung des Lustprinzips am gründlichsten der Wissenschaft gelingt.*
Die eingangs zitierte Ansicht Schopenhauers über die zur
wissenschaftlichen Tätigkeit erforderliche Geistesverfassung würde
also in Freuds Terminologie umgegossen etwa so lauten: der
Gelehrte darf (und soll) seine Phantasie spielen lassen, um so die
„Wollust der Konzeption“ genießen zu können — (neue Einfälle
sind eben auf andere Art nicht zu haben”*); aber damit aus den
phantastischen Einfällen Wissenschaft wird, müssen diese erst einer
mühevollen Realitätsprüfung unterworfen werden.
Schopenhauer hat es mit Scharfblick erkannt, daß die größten
Widerstände, die sich selbst beim Gelehrten gegen die vorurteils-
lose Prüfung der Realität erheben, nicht verstandesmäßiger, sondern
affektiver Natur sind. Auch der Gelehrte hat menschliche Schwächen
und Leidenschaften: Eitelkeit, Eifersucht, moralische und religiöse
Parteistellung wollen ihn blind machen einer Wahrheit gegenüber,
die ihm unangenehm ist, und allzu geneigt, einen Irrtum, der in
sein persönliches System paßt, für wahr zu halten.
Die Psychoanalyse kann die Forderung Schopenhauers nur
an einem einzigen Punkte vervollständigen. Sie fand, daß die inneren
Widerstände in der frühesten Kindheit fixiert und vollkommen un-
bewußt sein können, verlangt also von jedem Psychologen, der an
das Studium der Menschenseele herantritt, zuvor seine eigene —
angeborene und erworbene — seelische Verfassung bis in die
tiefsten Schichten und mit allen Hilfsmitteln der analytischen Technik
zu durchforschen. |
Unbewußte Affekte können aber nicht nur in der Psychologie,
sondern auch in allen anderen Wissenschaften die Wahrheit ver-
fälschen. Die Forderung Schopenhauers müßten wir also so formu-
lieren: Jedermann, der wissenschaftlich arbeitet, sollte sich zuerst
einer methodischen Psychoanalyse unterziehen.
* Freud, I. c., $. 4..
* Siehe dazu Alfr. Robitsek „Symbolisches Denken in der chemischen
Forschung“, „Imago“ (Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die
Geisteswissenschaften), I. Jahrgang, Heft 1.
Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 145
Die Vorteile, die der Wissenschaft aus dieser vertieften Selbst-
erkenntnis der Gelehrten erwüchsen, liegen auf der Hand. Eine
ungeheure Menge von Arbeitskraft, die jetzt auf infantil anmutende
Streitigkeiten und Prioritätskämpfe vergeudet wird, könnte in den
Dienst ernsterer Zwecke gestellt werden. Die Gefahr, daß man
„Eigentümlichkeiten seiner Person als allgemeingültige Theorie in die
Wissenschaft hinausprojiziert“ (Freud*), würde viel geringer werden.
Auch die feindselige Tendenz, mit der auch heutzutage neue, un-
gewohnte Ideen oder wissenschaftliche Vorschläge unbekannter,
durch keine Autorität gestützter Persönlichkeiten empfangen werden,
könnte einer vorurteilsfreieren Realitätsprüfung weichen. Ich stehe
nicht an, zu behaupten, daß durch die Einhaltung dieser Maßregel
der Selbstanalyse die Entwicklung der Wissenschaften, heute eine
endlose Kette von kräftevergeudenden Revolutionen und Reaktionen,
einen viel ruhigeren und doch ersprießlicheren, wohl auch be-
schleunigteren, Gang nehmen könnte.
Es ist nun durchaus kein Zufall, daß Schopenhauer, als er
die richtige psychische Einstellung des Gelehrten bei der geistigen
Produktion und die inneren Widerstände, die sich gegen diese
richtige Arbeitsweise erheben, durch ein Bild verdeutlichen wollte,
sofort der Ödipus-Mythus eingefallen ist. Wäre er — wie wir’
Analytiker — von der strengen Determinierbarkeit jedes psy-
chischen Aktes überzeugt gewesen, so hätte ihn dieser Einfall zum
Nachdenken anregen müssen. Uns, die wir uns im glücklichen Be-
sitze der Freudschen Psychologie befinden (welche wie ein geistiger
Dietrich so manches bisher für üunaufschließbar gehaltene Schloß
mit Leichtigkeit öffnet), fällt es gar nicht schwer, dieses Stück
Analyse nachzuholen. Dieser Einfall Schopenhauers deutet an, es
sei ihm unbewußt gegenwärtig gewesen, daß von allen inneren
Widerständen der Widerstand gegen die infantile Fixierung. an
feindselige Tendenzen dem Vater und an inzestuöse der Mutter
gegenüber die allerbedeutsamsten sind.
Diese durch die kulturelle Erziehung der Rasse und des
Einzelwesens für das Bewußtsein höchst unlustvoll gewordenen,
daher verdrängten Tendenzen ziehen eine große Menge anderer,
* Freud, Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung.
(Zentralblatt für Psychoanalyse, II. Jahrgang.)
10
146 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos
mit diesen Komplexen assoziierter Vorstellungen und Tendenzen
mit sich in die Verdrängung und schalten sie aus dem freien
Gedankenverkehre aus oder lassen sie zumindest nicht mehr mit
wissenschaftlicher Sachlichkeit behandeln.
Der „Ödipus-Komplex“ ist nicht nur der Kernkomplex der
Neurose (Freud); die Art der Stellungnahme zu ihm bestimmt auch
die wichtigsten Charakterzüge des normalen Menschen und z. T.
auch die größere oder geringere Objektivität eines Gelehrten. Ein
Mann der Wissenschaft, den die Inzestschranke daran hindert, die
in ihm etwa auch Blutverwandten gegenüber aufkeimenden Liebes-
und unehrerbietigen Neigungen sich einzugestehen, wird — um
die Verdrängung dieser Neigungen zu sichern — auch die Taten,
Werke und Gedanken anderer als elterlicher Autoritäten nicht mit
der von der Wissenschaft geforderten Uhnparteilichkeit auf ihre
Realität prüfen wollen und können.
Den unbewußten Gefühls- und Gedankeninhalt, der sich
hinter dem Wortlaut des Ödipus-Mythos versteckt, konnte also
selbst der sonst so scharfblickende Schopenhauer nicht enträtseln.
Er — wie die ganze Kulturmenschheit bis Freud — übersah, dab
dieser Mythos eine entstellte Wunschphantasie ist, die Projektion
verdrängter Wunschregungen (Vaterhaß, Mutterliebe) mit ver-
ändertem Lustvorzeichen (Abscheu, Grausen) auf eine äußere Macht,
das „Schicksal“. Diese Rekonstruktion des eigentlichen Sinnes des
Mythos, die Deutung desselben als „materialen Phänomens“
(Silberer) lag also dem Philosophen ferne. Er stand ja selber
— wie ich glaube — beim Schreiben dieses Briefes gerade unter
der Herrschaft von Affekten, die ihm diese Einsicht verwehrt
hätten.
Der aktuelle Anlaß, der Schopenhauer gerade den Vergleich
seiner selbst mit Ödipus wählen ließ, läßt sich nämlich aus den
übrigen Teilen des Briefes erraten. Der verkannt gewesene Philosoph
sieht sich zum ersten Male von einem Manne von der Größe und
vom Ansehen Goethes anerkannt. Er antwortet ihm in Ausdrücken
der Dankbarkeit, wie wir sie vom stolzen, selbstbewußten Scho-
penhauer nicht gewohnt sind. „Ew. Excellenz haben mir durch Ihr
gütiges Schreiben eine große Freude gemacht, weil alles, was von
Ihnen kommt, für mich von unschätzbarem Wert, ja mir ein Heilig-
Darstellung des Lust- und Realitatsprinzips im Oedipus-Mythos 147
tum ist. Überdies enthält Ihr Brief das Lob meiner Arbeit, und Ihr
Beifall überwiegt in meiner Schätzung jeden anderen . . .“
Das klingt förmlich wie die enthusiastische Danksagung eines
Menschen an einen älteren angesehenen Mann, in dem er den lange
gesuchten Gönner zu finden, d. h. den Vater wiederzufinden
hofft. Nebst Gott, König und Nationalhelden sind eben auch Geistes-
heroen wie Goethe „revenants“ des Vaters für zahllose Menschen,
die alle Gefühle der Dankbarkeit und Achtung, die sie einstmal
ihrem leiblichen Vater zollten, auf diese übertragen. — Das Zitieren
des Odipus-Mythos nachher könnte aber sehr wohl eine unbewußte
Reaktion gegen diese — vielleicht etwas zu überschwänglich
geratene — Danksagung an den Vater sein, die die feindseligen
Tendenzen der im Grunde .ambivalenten Gefühlseinstellung des
Sohnes dem Vater gegenüber zu Worte kommen läßt.
Vielleicht gerade mit Zuhilfenahme der von der materialen
Bedeutung abgelenkten Aufmerksamkeit gelang es Schopenhauer
in diesem Briefe, die selbst den Psychoanalytikern bislang ent-
gangene funktionale Symbolik gewisser Einzelheiten des Ödipus-
Mythos zu entziffern.
Funktionale Symbolphänomene nennt Silberer solche in
Träumen, Phantasien, Mythen etc. vorkommende Bilder, in denen
nicht das Inhaltliche des Denkens und Vorstellens, sondern die
Funktionsweise der Psyche, z. B. deren Leichtigkeit, Be-
schwerlichkeit, Gehemmtsein etc. indirekt dargestellt wird*.
Wenn wir Schopenhauers Vergleich gutheißen und ihn in die
analytisch-wissenschaftliche Sprache übersetzen, so müssen wir sagen,
daß die zwei Hauptpersonen der Sophokleischen Tragödie auch die
zwei Prinzipien des psychischen Geschehens symbolisieren. Ödipus,
der, „Aufklärung über sein schreckliches Schicksal suchend, rastlos
weiter forscht, selbst wenn er schon ahndet, daß sich aus den
Antworten das Entsetzlichste für ihn ergeben wird,“ stellt das
Realitätsprinzip im Menschengeiste dar, das keine der auftauchen-
* Vol. dazu Silberers durchaus originelle und inhaltsı . ‘he Arbeiten über
Symbolik, besonders: „Bericht über eine Methode, gewisse symbolische Hallu-
zinations-Erscheinungen hervorzurufen.“ (Jahrbuch für Psychoanalyse, I. Band,
2. Hälfte.) „Phantasie und Mythos.“ (Jahrbuch, II. Band, 2. Hälfte.) „Symbolik des
Erwachens etc.“ (Jahrbuch, II. Band, 2. Hälfte.) „Über ne (Ibidem).
- 10*
148 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Dede Methös.
den Vorstellungen, auch die Unlust erzeugenden nicht, zu ver-
drängen gestattet, sondern alle gleichmäßig auf ihren Wahrheits-
gehalt zu prüfen gebietet. Jokaste, „welche den Ödipus um aller
Götter willen bittet, nicht weiter zu forschen“, ist die Personi-
fizierung des Lustprinzips, das, unbekümmert um objektive Wahrheit,
nichts anderes anstrebt, als dem Ich Unlust zu ersparen, womöglich
Lust zu gewinnen, und das, um dieses Ziel zu erreichen, alle Vor-
stellungen und Gedanken, die Unlust zu entbinden drohen, wo-
möglich ins Unbewußte verbannt.
Durch die Deutung Schopenhauers und deren schlagende
analytische Bestätigung ermutigt, wage ich es, einen Schritt weiter
zu gehen und die Frage aufzuwerfen, ob es denn reiner Zufall ist,
daß im Ödipus-Mythos sowohl, als auch in der von unserem
Philosophen gleichfalls zitierten Edda-Sage das Realitätsprinzip
durch Männer (Ödipus, Wotan), das Lustprinzip durch Weiber
(Jokaste, Erda) dargestellt wird? Der Psychoanalytiker ist nicht
gewohnt, voreilig beim „Zufälligen“ Zuflucht zu nehmen, und wird
eher geneigt sein, dem Griechen- und Germanenvolke sowohl, als
Sophokles und Schopenhauer die unbewußte Kenntnis von der
psychischen Bisexualität eines jeden Menschen zuzumuten. Scho-
penhauer sagt ja geradezu, daß die meisten Menschen den Ödipus
und die Jokaste in sich tragen. Nicht schlecht würde zu dieser
Deutung stimmen, daß nach alltäglicher Erfahrung die Verdrängungs-
neigung, also das Lustprinzip, tatsächlich beim Weibe, die Fähig-
keit zu objektiver Urteilsfällung und zum Ertragen schmerzlicher
Einsichten, d. h. das Realitätsprinzip, im allgemeinen beim Manne
vorherrscht.
Der durch individualpsychologische Erfahrungen geschärfte Blick
wird in der Tragödie des Sophokles gewiß noch zahlreiche bedeut-
same Symbole entdecken und lösen können. Ich will nur noch auf
zwei sehr auffallende hinweisen, beide von der Kategorie der
„somatischen Symbolphänomene“ Silberers, in denen sich
also körperliche Zustände widerspiegeln. Da ist gleich der Name des
tragischen Helden Ödipus, der im Griechischen (oideo = schwellen,
pous=Fuß) Schwellfuß bedeutet. Diese anscheinend sinnlose, ja
befremdende Namengebung verliert sofort diesen Charakter, wenn
wir wissen, daß in Träumen und Witzen sowohl, als auch in der
Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 149
fetischistischen Verehrung des Fußes oder in der neurotischen Angst
vor diesem Glied, ihm symbolisch die Bedeutung des männlichen
Genitales zukommt.
Daß dieses Glied im Namen des Helden als geschwellt vor-
gestellt wird, wird durch dessen Erektilität genügend erklärt. Übrigens
kann es uns nicht Wunder nehmen, daß der Mythos den Menschen,
der die als ungeheuerlich, aber gewiß auch als übermenschlich ge-
dachte Leistung des Geschlechtsverkehrs mit der Mutter vollführte,
ganz und gar mit einem Phallus identifizierte.
Das andere somatische Symbolphänomen ist die Selbst-
blendung des Ödipus zur Strafe seiner unbewußt begangenen
Sünden. Der Tragöde gibt zwar die Erklärung für diese Strafe:
„Was noch sollt’ ich sehen“, „was ist mir noch Blickes, noch Wun-
sches wert“, läßt er den Ödipus (nicht ganz unzweideutig) aus-
rufen. Gewisse psychoanalytische Erfahrungen aber, bei denen die
Augen regelmäßig als Symbole der Geschlechtswerkzeuge gedeutet
werden mußten, gestatten es, daß ich die Selbstblendung als Ver-
schiebung der eigentlich gemeinten Selbstentmannung des
Ödipus, also der hier viel verständlicheren Talionstrafe deute. Auf
die entsetzte Frage des Chors aber: „Wie vermochst du dein
Gesicht — So auszulöschen ? Welcher Gott empörte Dich,“ ant-
wortet der Held:
„Es war Phöbos, teurer Mann, Phöbos war’s
Der all dieses mir, dies Leid all vollbracht.“
Also der Sonne, dem typischesten Vatersymbol*, durfte der
Held nicht mehr in die Augen sehen, was eine zweite Deter-
minante der Entstellung der Kastrationsstrafe zur Blendung abge-
geben haben mag**. |
* Freud, Nachtrag zur Analyse Schrebers (Jahrbuch f. Psychoanal. III. Bd.).
** Dem praktisch geübten Psychoanalytiker werden diese Symboldeutungen
sofort einleuchten, da er sie in seinen Traumanalysen ungezählte Male bestätigt
finden kann. Während der Durchsicht dieser Arbeit erhielt ich aber von Herrn
O. Rank die Mitteilung, daß die Richtigkeit sowohl der hier versuchten Deutung
des Namens Ödipus wie auch der sexualsymbolischen Erklärung der Selbst-
blendung sich auch aus vergleichend-mythologischen Studien mit Sicherheit
ergibt. In seinem soeben erschienenen Werke „Das Inzestmotiv in Dichtung
und Sage (Wien, Leipzig 1912) werden diese Deutungen mit reichem Tatsachen-
material belegt, das deren Annahme auch dem Nichtanalytiker ermöglicht.
150 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos
Haben wir uns einmal diese Deutungen zu eigen gemacht,
so muß in uns die Verwunderung darüber aufsteigen, daß es der
Volksseele gelungen sein soll, in diesem Mythos die — allerdings
entstellte — Erkenntnis vom bedeutsamsten Inhalte, dem Kern-
Komplexe des Unbewußten (d. h. dem Elternkomplex) mit der
allgemeinsten und umfassendsten, zwar nur symbolisch ausgedrückten
Formel des psychischen Geschehens zu verdichten. Unsere Ver-
wunderung macht aber dem Verständnis Platz, wenn wir erst aus
den grundlegenden mytho-psychologischen Arbeiten Otto Ranks
die Arbeitsweise der dichtenden Volksseele erfassen gelernt haben.
Rank zeigt uns an einem schönen Beispiele*, daß der einzelne
Dichter „vermöge seiner eigenen Komplexbetonung zur Verdeut-
lichung und Uhnterstreichung gewisser Züge eines überlieferten
Stoffes gelangt“, daß aber auch die sogenannten Volksproduktionen
als das Werk zahlreicher oder zahlloser Einzelindividuen zu be-
trachten sind, die als Urheber, Fortpflanzer und Ausschmücker
einer Überlieferung zu denken sind. „Nur geht hier“ — sagt
Rank weiter — „die Erzählung durch eine Reihe, offenbar in
ähnlicher Weise eingestellter Individualpsychen hindurch, von denen
jede in der gleichen Richtung an der Hervorbringung der allgemein-
menschlichen Motive und ‘der Abschleifung manches sie störenden
Beiwerks oft generationenlang arbeitet“.
Nach der doppelten Deutung des Ödipus-Mythos können
wir uns den von Rank geschilderten Kristallisierungsprozeß unseres
Mythos etwa so vorstellen:
Bedeutsame aber unbewußte psychische Inhalte (agressive
Phantasien gegen den Vater, Libido zur Mutter mit Erektions-
neigung, Angst, daß der Vater die sündhafte Absicht mit der
Kastrationsstrafe ahnden würde) verschafften sich, jeder für sich,
indirekte symbolische Vertretungen im Bewußtsein aller Männer.
Menschen mit besonderen schöpferischen Fähigkeiten, die Dichter,
verliehen diesen universellen Symbolen Ausdruck. So dürften
zunächst einzeln, von einander unabhängig, die mythischen Motive
der Aussetzung durch die Eltern, des Sieges über den Vater, des
unbewußten Verkehrs mit der Mutter, der Selbstblendung ent-
* O. Rank „Der Sinn der Griselda-Fabel“. (Imago, Zeitschrift für An-
wendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. I. Jahrgang, Heft 1).
>
Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 151
standen sein. Im Laufe der von Rank wahrscheinlich gemachten Wan-
derung der Mythen durch unzählige dichterische Individualpsychen
kam es sekundär zur Verdichtung der Einzelmotive, zu einer größeren
Einheit, die sich dann als dauerhaft erwies und die sich ziemlich
gleichartig bei allen Völkern und zu allen Zeiten neu bildete.*
Es ist aber wahrscheinlich, daß, wie in diesem, so auch in
jedem anderen Mythos, ja vielleicht bei der geistigen Produktion
überhaupt, der Tendenz, psychischen Inhalten Ausdruck zu ver-
leihen, auch die unbewußte Absicht parallel läuft, die bei der Be-
wältigung dieser Inhalte betätigte seelische Funktionsweise zur
Darstellung zu bringen**. Erst diese letzte Verschmelzung ergäbe
dann den fertigen Mythos, der, ohne an seiner Wirkung auf die
Menschen je etwas einzubüßen, jahrhundertelang unverändert über-
liefert wird. |
So der Ödipus-Mythos, in dem nicht nur die tiefstverdrängten
Gefühl- und Gedankenkomplexe des Menschen, sondern auch das
Spiel der seelischen Kräfte bildlich dargestellt wird, die sich beim
bewußten Bewältigenwollen solcher Inhalte, und zwar nach Ge-
schlecht und Individualität verschieden, betätigen.
Für die Richtigkeit dieser Deutung mögen einige Stellen der
Tragödie selbst Zeugenschaft ablegen””*:
ÖDIPUS: Wie? Muß der Mutter Bette mich nicht ängstigen?
JOKASTE: Was soll der Mensch doch fürchten, den das Ohngefähr
Beherrscht und nirgends klares Vorgefühl regiert?
Er lebt am Besten leicht dahin, wie er’s vermag.f
Und du erschrick nicht vor der Mutter Brautgemach.
Wohl viele schon der Menschen sah’n in Träumen sich
Der Mutter zugelagert. Doch wer alles dies
Für nichtig achtet, trägt allein das Leben leicht.
* S, dazu: Rank, Mythus von der Geburt des Helden. (Schriften zur
angew. Seelenkunde, V. Heft).
* Silberer, dem die Begriffsbestimmung der funktionalen Symbolik zu
verdanken ist, zitiert eine lange Reihe von Mythen und Märchen, die sich in
materielle und funktionale Symbolphänomene auflösen lassen. („Phantasie und
Mythos“, Jahrbuch für Psychoanalyse, II. Band, 2. Heft).
*** Sophokles. Übersetzt von G. Thudichum. (Leipzig. Reclam).
+ Die typographischen Hervorhebungen sind vom Ref.
152 Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos
JOKASTE (zu Ödipus, der, nach der schrecklichen Wahrheit forschend,
den einzigen Zeugen des Frevels zu sich bescheidet) :
... Merke nicht darauf und dem
Was sie gesprochen, sinne nicht vergebens nach.
ÖDIPUS: Das sei mir ferne, daß ich nicht, nach diesen mir
Gebot’nen Zeichen, mein Geschlecht enthüllen soll!
JOKASTE: Nein, bei den Göttern, so gewiß dein Leben dir
Lieb ist, ergründ’ es nicht! — Genug ist meine Qual!
— 000 A A A A
JOKASTE: Und dennoch folg’ mir! Tu’ es nicht! Ich bitte dich.
ÖDIPUS: Ich folge nicht dir, eh’ ich klar das alles weiß.
JOKASTE: Und wohl es meinend, nur das Beste rat’ ich dir.
ÖDIPUS: Doch eben dieses Beste quält mich lange schon.
JOKASTE: Unsel’ger, daß du nie erkenntest wer du bist.
ÖDIPUS: Es breche, was da brechen mag; ich aber will
Auch wenn es klein ist, mein Geschlecht ergründet
sehen.
— m EEE EEE EEE EEE
DER HIRT (der mit der Tötung des neugeborenen Ödipus betraut war,
ihn aber seinerzeit aussetzen ließ):
Weh’ mir, nun soll ich sagen das Entsetzliche!
ÖDIPUS: Und ich es hören. Doch es muß gehöret sein!
„Die Jokaste in uns“, wie Schopenhauser sagt, das Lust-
prinzip, wie wir es ausdrücken, will also, daß der Mensch „leicht
dahinleben soll, wie er vermag“, daß er die Dinge, die ihn ängsti-
gen, „für nichtig achte“ (unterdrücke), z. B. Phantasien und Träume
vom Tode des Vaters und vom Geschlechtsverkehr mit der Mutter
mit der oberflächlichsten Motivierung alle Bedeutsamkeit abspreche,
auf unangenehme und gefährliche Reden nicht achte, dem Ur-
sprunge der Dinge nicht nachgehe, besonders aber warnt es davor,
daß der Mensch erkenne, wer er ist.
Das Realitätsprinzip aber, der Ödipus in der Menschenseele,
läßt sich durch die Lockungen der Lust nicht davon abhalten, auch
der zunächst bitteren oder gar entsetzlich wirkenden Wahrheit auf
den Grund zu gehen; es schätzt nichts so gering, daß es einer
n
Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Oedipus-Mythos 153
Prüfung nicht wert wäre; es schämt sich nicht, selbst in den aber-
gläubischen Vorhersagen und Träumen den wahren psychologischen
Kern zu suchen, und lernt es ertragen, daß im Innersten der Seele
aggressive und sexuelle Instinkte hausen, die selbst vor den Schran-
ken nicht halt machen, die die Kultur zwischen dem Sohne und
seinen Eltern errichtet hat.
Cornelia, die Mutter der Gracchen*
Cornelia war viele Jahre lang die Frau des Tiberius Sem-
pronius, dem sie zwölf Kinder schenkte. Zwei Söhne, Tiberius
und Cajus, und eine Tochter, Sempronia (die dann Scipio
Africanus Junior heiratete), blieben ihr erhalten. Nach dem Tode
ihres Gatten schlug sie die Hand des ägyptischen Königs Ptolo-
mäus aus, um sich ausschließlich ihren Kindern zu widmen. Über
ihr Geschmeide befragt, antwortete sie einmal, auf ihre
Kinder zeigend: „Dies sind meine Schätze, meine Juwelen.“
Das traurige Los ihrer beiden Söhne ertrug sie standhaft in der
größten Zurückgezogenheit. Cornelia war eine der edelsten Frauen
Roms, die man auch ob ihrer großen Bildung verehrte; die Sprach-
schönheit ihrer Briefe wurde viel bewundert. Das römische Volk
verewigte das Andenken der „Mutter der Gracchen“ in einer
ehernen Statue.”*
. Soviel erfahren wir über diese- edle Römerin von Plutar-
chos; die Nachrichten über ihre Person stammen aber durchwegs
aus zweiter Hand und auch die in den Schriften des Cornelius
Nepos erhaltenen zwei Brieffragmente werden von Sachverständigen
nicht für echt gehalten.
Man darf es gewiß für eine Verwegenheit halten, wenn ich
mich getraue, nach mehr als zwei Jahrtausenden einen neuen Bei-
trag zum Verständnis des Charakters der Cornelia zu liefern.
Seine Veröffentlichung in dieser Zeitschrift läßt es aber erraten,
* Erschienen in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse,
V. Jahrgang (1919).
** Aus dem Artikel „Cornelia“ des ung. „Pallas“-Lexikons.
Cornelia, die Mutter der Gracchen 155
daß ich ihn nicht frischen Ausgrabungen, sondern psychoanalytischer
Erfahrung und Überlegung verdanke.
Es leben nämlich auch heute Frauen vom Typus der edlen
Cornelia, Frauen, die, selbst bescheiden, zurückhaltend, oft etwas
herb, — mit ihren Kindern wirklich wie andere mit ihrem Ge-
schmeide prangen. Es kommt auch vor, daß solche Frauen an einer
Psychoneurose erkranken, und da bietet sich dem Seelenarzte die
Gelegenheit, unter anderem auch diesen Charakterzug der Analyse
zu unterziehen. Er gewinnt dabei einen tieferen Einblick in die
Eigenart ihres Vorbildes Cornelia und lernt das universelle In-
teresse, das der über sie erzählten Anekdote entgegengebracht
wird, besser verstehen.
Ich verfüge über die zu einer Verallgemeinerung als Minimum
erforderliche Zweizahl, habe wirklich zwei solche Frauen eingehend
analysiert und dabei merkwürdige Übereinstimmungen ihrer äußeren
und inneren Schicksale festgestellt.
Die erste, eine seit vielen Jahren verheiratete Frau, begann
lange Zeit hindurch fast jede Analysenstunde mit Lobeserhebungen
über ihr ältestes und ihr jüngstes Kind, oder aber mit Klagen
über eines der mittleren, deren Betragen manches zu wünschen
übrig ließ; doch gab ihr die geistige Begabung auch dieser Kinder
sehr oft Anlaß zu liebevollen Erzählungen. Ihre äußerliche Er-
scheinung und ihr Betragen war einer Cornelia würdig. Unnahbar
entzog sie sich den Blicken der Männer, die ihre Schönheit mit
Begierde anzuschauen wagten, sie betrug sich dabei nicht nur
reserviert, sondern ausgesprochen ablehnend. Sie lebte einzig
ihrer Pflicht als Gattin und Mutter. Leider war diese schöne Har-
monie bei ihr durch eine hysterische Neurose getrübt, die sich
einesteils in lästigen körperlichen Erscheinungen und zeitweiligen
Gemütsalterationen äußerte, anderenteils — wie die Analyse bald
aufdeckte — darin, daß ihr die Fähigkeit zur Genitalbefriedigung
sozusagen abging. Im Laufe der Analyse nahm die Art, in der sie
sich ihrem jüngsten Kinde gegenüber betrug, allmählich sonderbare
Formen an. Sie bemerkte zu ihrem Schreck, daß sie bei der Lieb-
kosung dieses Kindes ausgesprochene erotische Anwandlungen, ja
förmliche Genitalsensationen verspürte, Sensationen, die sie beim
ehelichen Verkehr vermissen mußte. In Form der Übertragung auf
156 Cornelia, die Mutter der Gracchen
den Arzt kamen dann ihr selbst ganz unerwartete Züge zum Vor-
schein; hinter der etwas prüden und abweisenden Haltung zeigte
sich allmählich eine ganz ausgesprochene, man möchte sagen: ganz
normal frauenhafte Gefallsucht, die sich aller Mittel zu bedienen
verstand, welche die Aufmerksamkeit auf ihre Reize zu lenken geeignet
waren. Aus ihren Träumen ließ sich dann mit Hilfe einer uns sehr
geläufigen Symbolik leicht erraten, daß für sie das Kind eigent-
lich das Genitale bedeutete. Es gehörte nicht viel Scharfsinn
dazu, einen Schritt weiter zu gehen und zu erraten, daß ihre Nei-
gung, die Vorzüge der Kinder Änderen zu zeigen, ein Ersatz
für die normale Exhibitionslust war. Es kam denn auch her-
aus, daß dieser Partialtrieb bei ihr sowohl konstitutionell, als auch
infolge von Erlebnissen recht prominent war, und daß dessen Ver-
drängung einen erheblichen Anteil an der Motivierung ihrer Neu-
rose hatte. Einen besonders starken Verdrängungsschub erfuhr dieser
Trieb, als sie in recht jugendlichem Alter eine kleine Operation
an der Genitalgegend erdulden mußte. Von da an fühlte sie sich
anderen Mädchen gegenüber entwertet, verlegte ihr Interesse aufs
Geistige, begann — wie die Cornelia — schöne Briefe, sogar
kleine Gedichte zu schreiben, entwickelte aber sonst den schon
beschriebenen, etwas prüden Charakter.
Ihr Verhältnis zu Schmucksachen verhilft uns zum Ver-
ständnis jenes Vergleiches, dessen sich die edle Cornelia bediente.
Sie war, was Kleidung und Juwelen anbelangt, recht bescheiden.
Sie kündigte aber die Erinnerung an ihr peinliche Genitalerlebnisse
der Kinderzeit jedesmal mit dem Verlieren eines Schmuckgegen-
standes an, so daß sie allmählich fast um ihr ganzes Geschmeide kam.
In dem Maße, als sie die Fähigkeit zum Sexualgenuß und
das Bewußtsein ihrer Exhibitionslust erlangte, milderte sich ihre
Überschwänglichkeit im Zurschautragen der Vorzüge ihrer Kinder,
wobei aber ihr Verhältnis zu den Kindern natürlicher und inniger
wurde. Sie schämte sich auch nicht mehr, sich ihr Vergnügen an
Frauenschmuck aller Art einzugestehen, und ließ von der übertrie-
benen Hochschätzung des Geistigen im Menschen wesentlich ab.
Die die Patientin zuletzt so erschreckende erotische Sensation
beim Berühren ihres jüngsten Kindes fand in den tiefsten Schichten
ihrer Persönlichkeit und in der Erinnerung an die früheste Periode
Cornelia, die Mutter der Gracchen 157
ihrer Entwicklung ihre Erklärung. Diese Wollust war eine Repro-
duktion von Gefühlen, die sie vor der gewaltsamen Unterdrückung
ihrer infantilen Selbstbefriedigung reichlich genossen, die sich aber
in Angst verwandelt hatte und sie — beim unerwarteten Durch-
dringen zum Bewußtsein — erschrecken mußte.
Wer wird sich angesichts solcher Erfahrungen noch von der
„Als ob“-Natur, von der Irrealität der Symbole etwas vorfaseln
lassen?! Für diese Frau waren die Kinder und die Juwelen sicher-
lich Symbole, die an Realität und Wertigkeit keinem anderen psy-
chischen Inhalte nachstanden.
Die andere Patientin, von der ich berichten will, verriet ihr -
Verhältnis zum Schmuck und zu den Kindern viel auffälliger. Sie
wurde Diamantschleiferin, liebte es, ihr Kind in persona mitzu-
bringen, um es mir zu zeigen, und hatte — im schärfsten Gegen-
satz zu ihrer überaus dezenten, wie sie selbst sagte ge
haften“ Kleidung — typische Nacktheitsträume.
Ich fühle mich nach diesen Beobachtungen ehe auch
den Fall der berühmten Cornelia, trotz seiner Antiquität, ebenso
zu beurteilen wie den einer heute lebenden Frau, und anzu-
nehmen, daß ihre schönen Charakterzüge die Sublimierungs-
produkte derselben „perversen“ Exhibitionsneigung waren, die
wir hinter den nämlichen Eigenschaften unserer Patientinnen nach-
weisen konnten. |
In der Reihe: Genitale — Kind — Schmuck ist letzterer
sicherlich das uneigentlichste, das abgeschwächteste Symbol. Es
war also sehr angebracht, daß Cornelia ihre Mitbürgerinnen auf
das Unnatürliche in der Anbetung jenes Symbols aufmerksam
machte und mit ihrem Beispiel auf naturgemäßere Liebesobjekte
hinwies. Wir können uns aber die Fiktion einer noch viel älteren,
einer urmenschlichen Cornelia gestatten, die noch weiter ging,
und wenn sie merkte, daß ihre Genossinnen mit ihrer Verehrung
des Symbols „Kind“ allzuweit gehen, auf ihr Genitale hinwies, als
wollte sie sagen: Hier sind meine Schätze, meine Juwelen
und auch die Urquelle des Kultes, den ihr mit euren
Kindern treibt.
Übrigens braucht man sich um ein solches Beispiel nicht erst
an die Urzeit zu wenden. Die nächstbeste Neurotikerin oder Ex-
158 Cornelia, die Mutter der Gracchen
hibitionistin kann uns ein solches Zurückgreifen auf das Eigentliche
dieser Symbolik „ad oculos“ demonstrieren.
In einem Aufsatze „Analyse von Gleichnissen“ (Internationale
Zeitschrift für Psychoanalyse III, 1915, 5.270) hatte ich behauptet, daß
im Wortlaute achtlos hingeworfener Vergleiche oft dem unbewußten
Wissen entnommene tiefe Erkenntnisse enthalten sind. Das Gleichnis
der Cornelia wäre den dort angeführten Beispielen anzureihen.
Anatole France als Analytiker*
Ibsen und Änatole France haben die auch durch die Analyse
aufgedeckten Grundlagen unseres Seelenlebens auf dem Wege der
Eingebung erfasst. A. France hat seine psychologischen Erkennt-
nisse den Helden seiner Erzählungen in den Mund gelegt. Sie
sind in den salbungsvollen, alles wissenden und alles verzeihenden
Reden des Abbe Coignard, in den tiefsinnigen Gedanken des
Monsieur Bergeret und anderwärts in seinen Werken zerstreut
und verdienten gesammelt zu werden.
Nur an einer Stelle nimmt der große französische Schrift-
steller zu den Fragen der Psychiatrie unmittelbar Stellung, in einem
Feuilleton, das im Jahrgange 1887 des „Temps“ unter dem Titel:
„Les fous dans la litt&rature“ erschien und im ersten Band
der Sammlung Francescher publizistischer REN \,La vie
litt&raire“ abgedruckt ist.
Ich gebe hier einige bezeichnende Stellen dieses Aufsatzes
wieder und glaube, daß es keinem Leser des Zentralblattes schwer
fallen wird, nach Übersetzung der Franceschen Ansichten in die
psychoanalytische Kunstsprache die grundsätzliche Übereinstimmung
seiner und unserer Auffassung über funktionelle Psychosen fest-
zustellen.
„Ein Franzose“ — schreibt A. France — „der nach London
reiste, besuchte eines Tages den großen Charles Dickens. Er
wurde empfangen und entschuldigte sich dafür, daß er es wage,
einige Minuten eines so kostbaren Daseins in Anspruch zu nehmen.“
* Erschienen im „Zentralblatt für Psychoanalyse“, I. Jahrgang (1911),
Seite 461.
160 Anatole France als Analytiker
— „Ihr Ruhm,“ fügte er hinzu, „und die allgemeine Zuneigung,
die Sie erwecken, mag Sie unzähligen solchen Belästigungen aus-
setzen. Ihre Türe ist unausgesetzt belagert. Sie müssen tagtäglich
Fürsten, Staatsmänner, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler, sogar
Narren empfangen.“ —
— „Ja, Narren, Narren,“ rief Dickens, indem er sich in
großer Erregung, wie sie ihn an seinem Lebensende oft befiel,
erhob, „Narren! nur die machen mir Vergnügen.“
Sprachs, faßte den erstaunten Besucher bei den Schultern
und schob ihn zur Türe hinaus.
„Die Narren, die liebte Charles Dickens immer. Mit welch’
zarter Anmut beschrieb er die Unschuld des guten Mr. Dick.
Jedermann kennt Mr. Dick, da doch jedermann David Copper-
field gelesen hat. Jeder Franzose zumindest, da es in England
heutzutage Mode ist, den besten englischen Erzähler zu vernach-
lässigen. Ein junger Kunstgelehrter gestand mir unlängst, daß
„Dombey and Son“ nur in der Übersetzung lesbar sei. Er sagte
mir auch, daß Lord Byron ein ziemlich flacher Dichter sei, etwa
wie unser Ponsard. Ich glaube es nicht. Ich glaube, daß Byron
einer der größten Dichter des Jahrhunderts ist, und daß Dickens
mehr Gefühl besaß und erweckte als irgend ein anderer Schrift-
steller. Ich glaube, daß seine Romane schön sind, wie die Liebe
und die Barmherzigkeit, die sie einflößen. Ich glaube, daß „David.
Copperfield“ ein neues Evangelium ist. Ich glaube endlich, daß
Mr. Dick, mit dem allein ich es hier zu tun habe, ein wohl-
beratener Narr ist, da die einzige Art Vernunft, die ihm verblieb,
die Vernunft des Herzens ist, und diese nie betrügt.
Was schadet es, daß er Papierdrachen fliegen läßt, die er mit
weiß Gott welchen Träumereien über den Tod Karls des Ersten
bekritzelt hat! Er ist wohlwollend, er will Niemandem weh tun,
und das ist eine Weisheit, in der es viele vernünftige Menschen
nicht so weit gebracht haben wie er. Es ist ein Glück für Mr. Dick,
in England geboren zu sein. Die persönliche Freiheit ist dort größer
als in Frankreich. Eigenart wird dort mit mehr Wohlwollen be-
trachtet und mehr geachtet als bei uns. Und was ist am Ende der
Irrsinn anderes als geistige Eigenart? Ich rede vom Irrsinn und
nicht von der Demenz. Demenz ist Verlust der intellektuellen Fähig-
Anatole France als Änalytiker 161
xeiten, der Irrsinn aber nur eine absonderliche und eigenartige
Verwendung derselben.“
Diese wunderbar klare Definition France’s übertrifft an Rich-
tigkeit so ziemlich alle ähnlichen Versuche der berufsmäßigen Psy-
chiater, die auch die unzweifelhaft funktionellen, psychogenen Neu-
rosen und Psychosen anatomisch erklären und womöglich zur De-
menz brandmarken wollen. |
„In meiner Kindheit — setzt Änatole France fort — kannte
ich einen Greis, der bei der Nachricht vom Tode seines einzigen,
zwanzig Jahre alten Sohnes, den eine Lawine des Rigi verschüttet
hatte, irrsinnig wurde. Seine Narrheit war die, daß er Kleider aus
IMatratzenleinwand trug. Abgesehen davon war er vollkommen
vernünftig. Alle Straßenjungen der Umgebung liefen ihm mit In-
dianergeheul nach. Da sich aber in ihm die Milde eines Kindes
mit der Kraft eines Riesen paarte, hielt er sie in respektvoller
Ferne, indem er ihnen genügend Furcht einjagte, ohne ihnen
ie wehe zu tun. Er hätte einer guten Polizei als Vorbild dienen
können. |
Trat er in ein befreundetes Haus, so war es sein erstes,
diesen lächerlich großkarrierten groben Leinwandkittel abzulegen.
Er legte ihn auf einem Lehnstuhle in der Weise zurecht, daß er
möglichst ausschaue, als bekleidete er einen menschlichen Körper.
Seinen Spazierstock steckte er als Rückgrat in den Rock, dann
setzte er seinen großen Filzhut auf den kugeligen Knopf seines
Stockes und krämpte den Hutrand nach abwärts, wodurch die
Figur ein gar phantastisches Aussehen bekam. Nachdem das getan
war, betrachtete er einen Augenblick sein Werk, wie man einen
alten kranken Freund ansieht, und unvermittelt verwandelte er sich
in den vernünftigsten Menschen der Welt, als wäre es in Wirk-
lichkeit der eigene Irrsinn, der im Faschingsaufzug vor ihm
schlummerte.
Wie oft und wie gerne sah und hörte ich ihm zu. Er sprach
über alle Gegenstände mit viel Einsicht und’ Scharfsinn. Er war
ein Gelehrter, voll aller möglichen Kenntnisse über die Welt und
die Menschen. Namentlich über Reisen hatte er eine reiche Bibliothek
im Kopfe und war unvergleichlich im Erzählen des Schiffbruchs
der Meduse oder gewisser Matrosenabenteuer in Ozeanien.
11
"162 Anatole France als Analytiker
Es wäre unverzeihlich von mir, wenn ich zu erwähnen ver-
gässe, daß er ein vollendeter Humanist war. Er gab mir ja, rein
aus Wohlwollen, mehrere Lektionen in Griechisch und Latein, die
meinen Studien sehr zugute kamen. Seine Dienstfertigkeit zeigte
sich bei jeder Gelegenheit. Ich sah einmal, wie er verwickelie
Rechnungen, mit denen ihn ein Astronom betraut hatte, unter-
brach, um einer alten Dienerin beim Holzspalten behilflich zu sein.
Sein Gedächtnis war verläßlich; er behielt die Erinnerungen an
alle Ereignisse seines Lebens — ausgenommen das eine, das ihn
zerrüttet hatte. Der Tod seines Sohnes schien ihm aus dem Ge-
dächtnis ausgelöscht zu sein. Nie hörte man von ihm auch nur ein
Wort, aus dem man därauf hätte schließen können, daß er sich
an irgend etwas von diesem schrecklichen Unglück erinnerte“.
Seine Stimmung war sonst ausgeglichen, fast heiter. Er liebte
es, seinem Geiste milde lachende, liebliche Bilder vorzuführen.
Er suchte die Gesellschaft junger Leute und seine Geistesrichtung
wurde im Verkehr mit ihnen ausgesprochen lebhaft.
Er drang nicht recht in die Gedankenwelt dieser jungen Leute
ein; er verfolgte seine eigenen Gedanken mit einer Hartnäckigkeit,
die allen Versuchen, ihn aus dem Geleise zu bringen, widerstand.“
Hätten wir auf Grund dieser Beschreibung Frances die
Diagnose des Falles zu stellen, so müßten wir aus den Stereo-
typien, aus dem Erhaltenbleiben der Intelligenz, aus der Abge-
schlossenheit der Außenwelt gegenüber, welche Symptome der
Dichter auf ein erlittenes psychisches Trauma zurückführt, auf eine
funktionelle Psychose folgern. Wir finden in diesem Erklärungs-
versuche ÄAnatole Frances unsere eigenen Anschauungen wieder.
Das weitere Schicksal des Kranken erzählt der Dichter in folgendem:
„Nachdem er sich 'zwanzig Jahre lang Sommer wie Winter
mit einem Rock aus Matratzenleinwand bekleidet hatte, erschien
er eines Tages in einer kleinkarrierten Weste, die gar nicht lächer-
lich war. Aber auch seine Laune war wie sein Anzug, leider aber
sehr zu ihrem Nachteil, verändert. Der Arme war traurig, schweig-
sam und still. Er ließ nur hie und da einige Worte fallen, die
Unruhe und Erschütterung verrieten. An seinem Antlitz, früher so
* A. France ahnte' also schon 1887 den Mechanismus der Verdrängung
und deren Zusammenhang mit zirkumskripten Amnesien.
Anatole Frunce als Analytiker 163
rot, erschienen bläuliche Flecken. Seine Lippen wurden schwärzlich
und hängend. Er wies jede Nahrung von sich. Eines Tages sprach '
er vom Tode seines Sohnes. Am Morgen des darauffolgenden
Tages fand man ihn in seinem Zimmer erhängt*.“
Das Ende des Mannes mit dem Matratzenrock, der aller Wahr-
scheinlichkeit keine freie Erfindung Frances ist, erinnert an Fälle
von Dementia praecox, in denen unter dem Einfluß schwerer
körperlicher Erkrankungen oder auch ohne sichtbaren Grund merk-
würdig plötzliche Änderungen des Zustandsbildes vor sich gehen.
Ich weiß von Dr. Riklin, daß er in der Züricher Irrenanstalt häufig
Gelegenheit hatte, bei dementen Frauen Geburtshelferdienste zu
leisten und konstatieren konnte, daß die mit dem Gebären einher-
gchende Erschütterung auch die ungebärdigsten Patientinnen vor-
übergehend gefügig, ruhig und intelligent machte.
„Ich kann mich — setzt A. France fort — einer ausge-
sprochenen Sympathie für die Irrsinnigen, die anderen wenig zu
Leide tun, nicht erwehren. Anderen gar nicht wehe zu tun, ist
niemandem gegeben, Vernünftigen so wenig wie Irrsinnigen.
Die Irren verdienen keinen Haß. Sind sie denn nicht unseres-
gleichen? Wer kann von sich behaupten, daß er in keiner Hinsicht
närrisch ist ?
Ich habe soeben in Littre und de Robins „Dictionnaire“
die Begriffsbestimmung des Irrsinns gesucht, aber nicht gefunden.
Die dort gegebene Erklärung zumindest ist ganz unsinnig. Ich
war darauf gefaßt; denn der Irrsinn, wenn er durch .keine
anatomische Veränderung gekennzeichnet ist, bleibt undefinierbar.
Wir nennen einen Menschen einen Narren, wenn er anders denkt
als wir. Voilä tout. Philosophisch betrachtet, sind die Gedanken
der Narren ebenso berechtigt wie die unseren. Sie stellen sich die
Außenwelt nach den Eindrücken vor, die sie davon empfangen.
Wir, die wir für Vernünftige gelten, tun auch nichts anderes. Die
Welt spiegelt sich in ihnen auf andere Weise als in uns. Wir sagen
das Bild, das wir uns davon bilden, sei das richtige und das ihrige
sei falsch. In Wirklichkeit ist keines der beiden völlig wahr oder
völlig falsch. Ihr Bild gilt für sie als wahr, wie das unsere für uns.“
ne re sagen: das Auftauchen der bewußten Erinnerung verwandelte
die Krankheit in „gemeines Unglück“, das der Patient nicht ertragen konnte.
172
164 Anatole France als Änalytiker
Sodann erzählt uns ÄAnatole France eine Fabel vom Streit
zwischen einem Plan- und einem Konvexspiegel, die beide aus-
schließlich das auf der eigenen Spiegelfläche erscheinende Bild für
richtig erklären, und schließt mit der Warnung:
„Lernen Sie doch, meine Herren Spiegel, sich nicht gegen-
seitig Narren zu schimpfen, weil sie von den Dingen nicht dasselbe
Bild erhalten.“
Diese Fabel empfiehlt France den Irrenärzten, „die alle
Leute, deren Leidenschaften und Gefühle stark von den ihrigen
abweichen, einsperren lassen. Sie erklären einen verschwenderischen
Mann und eine verliebte Frau für blödsinnig. Als wäre im Ver-
schwenden und im Verliebtsein nicht mindestens soviel Sinn als
im Geiz und im Eigennutz.“
In diesem Satze finden wir unsere Ansicht, wonach funktio-
nelle Geisteskrankheit sich nur quantitativ von der Normalität
unterscheidet, wieder.
„Die Irrenärzte — sagt weiter France — sind der Änsicht,
daß ein Mensch, der hört, wenn die anderen Menschen nicht hören,
irsinnig sei. Und doch pflegte Sokrates bei seinem Schutzgeiste
Rat zu holen und hörte Jeanne d’Arc Stimmen. Sind wir denn
nicht allesamt Geisterseher und Halluzinanten? Wissen wir denn
überhaupt etwas vom Wesen der Außenwelt? Und erfahren wir
Zeit unseres Lebens etwas anderes als leuchtende oder schallende
Schwingungen unserer Empfindungsnerven ?“
Auf dieses erkenntnistheoretische Gebiet folgen wir Psycho-
analytiker dem philosophierenden Schriftsteller nicht. Uns gibt die
Sammlung und Sichtung der Tatsachen der empirischen Psycho-
logie noch für lange Zeit genug zu schaffen.
Wie gut sich aber France in das Wahnsystem eines Paranoikers
' einzufühlen versteht, ersehen wir aus einer anderen Stelle seiner
Abhandlung über die Narren in der Literatur. Er spricht dort von
der bekannten Novelle „Le Horla“ von Guy de Maupassant, „dem
Fürsten der Erzähler“. In dieser Novelle wird einer von einem
unsichtbaren Dämon, einem Vampyr gepeinigt, der ihm den Schlaf
raubt und die Milch von seinem Nachtkasten stiehlt.
„In der Tat ist nichts schrecklicher, — setzt A. France hinzu
— als sich in den Krallen eines unsichtbaren Feindes zu fühlen.
de Anatole France als Analytiker 165
Will ich aber ganz ehrlich sein, so muß ich gestehen, daß dieser
Irre Maupassant's weniger feinfühlig ist, als Verrückte zu sein
pflegen. Ich an seiner Stelle würde den Vampyr so viel Milch
saufen lassen, als ihm beliebt, und mir sagen: ‚Das freut mich!
Indem die Bestie diese alkalische Flüssigkeit verschlingt, assimiliert
sie auch deren für Licht undurchgängige Elemente und muß so
am Ende sichtbar werden. Wenn sie wollen, beschränke ich mich
nicht auf die Milch: ich werde versuchen, den Vampir auch Karmin
schlucken zu lassen, um ihn vom Scheitel bis zur Zehe rot zu
färben.“
Allerdings entspricht dieser launige Vorschlag nicht ganz
der Tendenz der „Horla“, in der der so tragisch dahingegangene
Dichter nicht die Ideen eines Paranoikers, sondern nach dem Gut-
achten seiner Biographen die Krankheitszeichen seiner eigenen,
mit Angsterscheinungen einsetzenden Paralyse beschreiben wollte.
Ich kann es mir nicht versagen, hier eine weitere Stelle aus
den Werken Anatole France’s wiederzugeben, die als ausgezeich-
nete psychoanalytische Deutung eines vielfach vorkommenden vorüber-
gehenden abnormen psychischen Zustandes gelten kann. In seiner
Novelle „Le manuscrit d’un medecin de village“, abgedruckt in
der Sammlung „Etui de nacre“ (Paris, Calm. Levy Editeurs, p. 161)
ıneditiert ein Landarzt ungemein tiefsinnig und geistvoll über das
Thema der Barmherzigkeit. France stellt diesen Arzt als einen
alten Praktiker dar, der inmitten seines schwerfälligen, hartherzigen
Bauernvolkes allmählich auch selbst das Gefühl des Mitleids mit
den Pflegebefohlenen verlor. Er blieb unverheiratet und widmet
alles Interesse, das ihm die Medizin übrig ließ, seiner wunder-
schönen Weinpflanzung. Eines Morgens wird er, während er sich
gerade mit seinen geliebten Weinreben beschäftigt, zum kleinen Eloi
gerufen, dem Söhnlein eines benachbarten Landwirts, das ihm durch
seine ungewöhnliche Begabung aufgefallen war und dessen geistige
Entwickelung er oft mit Staunen beobachtet hatte. Er untersucht
den kleinen Patienten, stellt die Diagnose auf Meningitis, konsta-
tiert aber zu gleicher Zeit eine eigentümliche psychische Veränderung
an sich selbst, die er folgendermaßen beschreibt und analysiert:
„Es ging nun in mir etwas ganz Ungewöhnliches vor. Obzwar
ich meine Kaltblütigkeit vollkommen bewahrte, sah ich den Kranken
—
166 . Anatole France als Änalytiker
wie durch einen Schleier hindurch und so weit von mir entfernt,
daß er mir ganz winzig klein erschien. Dieser Störung in der räum-
lichen Orientierung folgte sofort eine ganz analoge in der zeitlichen.
Obzwar mein Krankenbesuch keine fünf Minuten in Anspruch
nahm, kam es mir vor, als stünde ich schon seit langer, seit sehr
langer Zeit in jener niedrigen Stube vor dem kattunüberzogenen
Bette und als vergingen Monate, Jahre, während ich regungslos
dastand.
„Ich zwang mich, wie gewöhnlich, diese sonderbaren Eindrücke
sofort zu analysieren und hatte auch bald heraus, um was es sich
handelte. Diese Sache ist sehr einfach. Ich hatte den kleinen Eloi
lieb. Ihn so unerwartet schwerkrank daliegen zu sehen: „je n’en
revenais pas!“ Das ist der treffende und populäre Ausdruck dafür.
— Peinliche Momente erscheinen uns furchtbar lang. Darum machten
die fünf oder sechs Minuten bei Eloi den Eindruck des Endlosen
auf mich. — Was die Vision anbelangt, die mir das Kind so weit
entfernt zeigte, so kam sie von der Idee, daß ich ihn verlieren
muß. Diese Idee, die sich in mir ohne meine Zustimmung gebildet
hat, hatte von der ersten Sekunde an den Charakter absoluter
Sicherheit.“
Auch eine methodische Seelenanalyse hätte für diese Erschei-
nungen nur solche oder ähnliche Erklärungen finden können. A. France
scheint zu wissen, daß unerklärliche Seelenvorgänge erklärlich wer-
den, wenn man durch Nachdenken die bisher unbewußten Motive
findet. Auch wir würden sagen, daß der Arzt, der sich rühmte,
die Barmherzigkeit abgestreift zu haben, beim Bette des kleinen
Patienten diese Schwachheit wohl vom Bewußtsein verdrängen, es
aber nicht verhindern konnte, daß sich diese unterdrükten Gefühle
zu Störungen des Gesichts- und des Zeitsinnes konvertieren”.
Es wird uns aus diesen Beispielen zweifellos, daß A. France
ein großes Stück Analysenarbeit unabhängig von jeder Fachpsy-
chologie mit ähnlichen Ergebnissen geleistet hat, wie wir mit den
verfeinerten Methoden der Freud’schen Psychoanalytik. Wir finden
auch bei ihm überall die gebührende Würdigung des Unbewußten,
des Infantilen und Sexuellen wieder, so daß wir ihn für einen der
* Die Psychoanalyse würde übrigens diese räumliche und zeitliche Ent-
fernung des Uhnlustvollen als Fluchtversuch deuten. |
Anatole France als Analyliker 167
bedeutendsten Vorläufer der analytischen Psychologie ansehen
müssen.
Ich fand aber eine Stelle in Anatole France’s „Histoire Con-
temporaine“, die uns zeigt, daß dieser liebenswürdige Philosoph
nicht nur mit dem unklaren Mechanismus der Einfühlung arbeitet,
sondern daß ihm eine vorurteilslose, in keiner Hinsicht beschränkte,
wirklich freie Assoziation zu Gebote steht, und er diese dazu be-
nützt, um die Tiefen des eigenen Seelenlebens und dadurch auch
die der anderen Menschen zu ergründen. Diese Stelle befindet
sich auf S. 223 des „Mannequin d’Osier“. Der Verfasser legt hier
seine Gedanken dem Professor Bergeret in den Mund, diesem an-
ziehendsten aller Denker, dem keine Lüge, kein Selbstbetrug der
Menschheit verborgen bleibt, und der dennoch nie zum moralisie-
renden Prediger oder weltschmerzlichen Pessimisten wird, sondern
das Treiben der Mitmenschen heiter, barmherzig, wenn auch mit
feiner Ironie beurteilt. Monsieur Bergeret findet auf einer Bank
unter den Ulmen des Mail ein „grafitto“, eine jener mit Kreide
geschriebenen Mitteilungen, in denen die Kinder ihre ersten sexuellen
Entdeckungen ausposaunen. Bergeret knüpft daran tiefsinnige Be-
trachtungen über das Mitteilungsbedürfnis der Menschen, das schon
Phidias bestimmt hat, den Namen seiner Geliebten in die große
Zehe des olympischen Jupiters einzuritzen.
„Und doch — dachte Bergeret weiter — ist die Versteliung
die höchste Tugend des wohlerzogenen Menschen, der Eckstein
der Gesellschaft. Es ist für uns ebenso unvermeidlich, unsere Ge-
danken zu verbergen, wie Kleider zu tragen. Ein Mensch, der alles
sagt, was er denkt und wie er es denkt, ist in einer Stadt ebenso
unmöglich wie einer, der ganz nackt herumgeht. Erzählte ich z. B.
bei Paillot*, wo doch das Gespräch ziemlich frei ist, die Bilder,
die mir in diesem Moment vorschweben, die Ideen, die mir wie
ein Schwarm von besenreitenden Hexen durch den Kopf huschen;
beschriebe ich, wie ich mir soeben Madame de Gromance”” vor-
stelle, die unziemlichen Stellungen, in die ich sie bringe, und die
unsinniger, seltsamer, chimärischer, fremdartiger, ungeheuerlicher,
* Der Buchhändler, in dessen Laden sich die Intelligenz der Provinzstadt
zu versammeln pflegte.
** Eine sehr schöne und nicht sehr tugendhafte Dame der Gesellschaft.
168 Anatole France als Änalytiker
perverser und tausendmal böswilliger und unsittlicher sind als jene
berüchtigte Figur des jüngsten Gerichtes über dem Nordportal der
Kirche St. Exupere, in der ein phantasiebegabter Maler, der wohl
durch das Kellerloch der Hölle geguckt hat, die Sünde in Person
erblickt und dargestellt hat; zeigte ich genau die Merkwürdigkeiten
meiner Tagträume: man hielte mich für das Opfer einer entsetzlichen
Geisteskrankheit. Und doch weiß ich sicher, daß ich ein ehrenhaiter
Mensch und von Natur aus zu anständigen Gedanken geneigt bin;
daß mich Lebenserfahrung und Nachdenken Maß halten lehrten;
daß ich bescheiden und ganz und gar den friedlichen Genüssen
des Geistes ergeben bin, ein Feind jeder Ausschweifung, dem das
Laster wie alles Abnorme verhaßt ist“. —
Es ist tröstlich für uns Anhänger der Psychoanalyse, die wir
bei uns selbst wie bei unseren Kranken eine ähnliche Mischung von
„Tugend“ und „Perversität“ als Bestandteile des Seelenlebens
entdecken, Bergeret und mit ihm ÄAnatole France zu den unseren
rechnen zu können. Eine solche Gemeinschaft entschädigt uns reich-
lich für die Mißachtung jener Neurologen und Psychiater, die
weder im eigenen Busen noch in dem ihrer Patienten derlei Un-
geheuerlichkeiten finden, und geneigt sind, sie unserer verderbten
Einbildungskraft zuzuschreiben.
Zähmung eines wilden Pferdes”
Mit der Erlaubnis des Leiters der Budapester berittenen
Polizei wohnte ich am 29. April 1912 den Produktionen des Tol-
naer Hufschmiedes Joseph Ezer bei, der sich bereit erklärte, jedes,
auch das wildeste Pferd in einem Zuge zu zähmen und eigenhändig
zu beschlagen. Die Zeitungen brachten schon seit längerer Zeit
sonderbare Gerüchte über die unerklärliche Macht dieses Mannes;
man schrieb von ihm, er sei imstande, einzig durch die Über-
tragung seines Willens, also suggestiv, das ungebärdigste Pferd
gefügig zu machen. Die Kommission, die sich im Hofe der Polizei-
kaserne versammelte und die aus höheren Kavallerie-Offizieren
und Polizeibeamten bestand, stellte es sich zur Aufgabe, die Kunst
des Pferdebändigers an einem besonders wilden Tiere zu erproben.
Es war dies „Czicza“, die prächtige 4'/sjährige Vollblutstute eines
Husarenoberleutnants, die man —- trotz ihrer sonstigen hervor-
ragenden Eigenschaften — zu nichts gebrauchen konnte, da es noch
niemandem gelungen war, sie zu beschlagen. Das Tier war so wild,
daß sich ihm kein Fremder nahen durfte, es schlug sofort aus. Ja
selbst sein ständiger Pfleger konnte sich ihm nur vorsichtig nähern
und brachte es mit Mühe höchstens so weit, daß es sich von ihm
den Oberkörper bürsten ließ. Machte er aber Miene, ein Bein des
Tieres nur zu berühren, so gebärdete sich dieses wie toll und
wieherte fürchterlich. Da das Tier sonst vollkommen gesund war
und sich im Gestüt lebhaft herumtummelte, erklärte man seinen
Zustand für „Nervosität“ oder „Wildheit“, gab es für Renn- und
nie 2 verloren und wollte sich nun überzeugen, ob es
—® Erschienen im Zentralblatt für Psychoanalyse, 3. Jahrgang (1912).
——
170 Zähmung eines wilden Pferdes
der geheimnisvollen Kunst des Ezer gelingen werde, die Wider-
spenstige zu zähmen, an die noch immer jungfräulichen Hufe der
„Czieza“ das eiserne Schuhwerk zu befestigen und ihren Stolz zu
beugen.
Alsbald erscheint der Pferdebändiger, ein etwa dreißigjähriger
untersetzter Mann von bäuerischem Äußeren; er scheint ziemlich
selbstbewußt zu sein und unterhält sich mit all den hohen Herr-
schaften recht unbefangen. Dann wird das Pferd, das alle Kenner
als hervorragendes Rassenpferd mit bestem Stammbaum anerkennen
(Vater: Kisbe&röccse [berühmter Sieger am Turf], Mutter: Gerjer),
von seinem gewohnten Wärter, einem Stallburschen, vorgeführt.
Den Burschen läßt das Pferd an sich heran, nähert er aber cie
Hand scheu einem Beine des Tieres, so wiehert es schrecklich und
schlägt nach allen Seiten aus.
Daß Ezer zumindest nicht ausschließlich mit außerordentlichen
geistigen Kräften arbeitet, wurde mir sofort klar, als er die Vor-
führung damit begann, daß er das gewöhnliche Zaumzeug des
Pferdes mit einem mitgebrachten vertauschte, an dem gerade über
der Nase mehrere schwere Kettenringe angebracht waren und das
in einer längeren Longe endigte. Da ich dem Versuch mit gewissen
theoretisch begründeten Erwartungen (die ich am Schluß mitteilen
will) zusah, ziehe ich es vor, dessen Verlauf in der Beschreibung
eines unvoreingenommenen Zeitungsberichterstatters wiederzugeben.“
„Der Hufschmied nähert sich dem Pferde, wobei er schon
von weitem laut vernehmbar, aber mit unendlicher Zärtlichkeit,
seine Stimme erklingen läßt. Er girrt förmlich; zugleich nimmt er
die Longe dem Stallburschen aus der Hand. „... Hooh — mein
wunderliebes, schönes Pferdchen“, lockt der Schmied, „.. . hab’
keine Angst, ich hab’ dich ja lieb... . Hoh — du Närrchen, du,
— hoooh.“ — Er will die Brust des Tieres streicheln, dieses aber
wiehert, springt hoch und schlägt aus. Doch seine Beine sind noch
in der Luft, da hockt schon der Schmied vor ihm und brüllt mit
so fürchterlicher Stimme, daß uns allen bange wird: „Hah, du
Elender!“ Zugleich zerrt er kräftie an der Longe.”* Das Pferd fährt
*L. Fenyes im Abendblatt des „Az Est“ vom 30. April 1912.
** Wobei die Kettenringe heftig auf die Nase des Pferdes anschlagen.
(Meine Anmerkung.)
Zähmung eines wilden Pferdes 171
erschreckt zusammen und versucht noch einmal auszuschlagen und
zu springen, doch schon beim Versuch bekommt es die furchtbare
Stimme und den schrecklichen Blick des Meisters zu spüren.“ Im
nächsten Augenblicke plaudert mit ihm Joseph Ezer schon wieder
in einem Tone, als spräche eine Mutter zu ihrem Säugling: „Ho-
ho-hoh — hab’ keine Angst, ich liebe dich, kleines Pferdchen, o
du zuckersüßes ... .“ Dabei glänzt Ezer’s Gesicht vor Glückselig-
keit und Liebe. Langsam, aber sicher — doch mit keinen Äugen-
blick zaudernder Bewegung — legt er seine flache Hand an den
Hals des Pferdes, von dort läßt er sie auf die Brust niedergleiten.
Das Pferd schlägt wieder aus, bäumt sich pfeilgerade auf, so daß
man glaubt, sein Vorderhuf muß dem Schmied den Schädel ein-
schlagen. Doch dieser springt mit dem Pferde selber in die Luft,
brüllt es an, reißt an der Longe — und das Pferd wird wieder
ruhig. Der erste Erfolg war der, daß das Pferd von nun an nicht
mehr wieherte, es merkte, offenbar, daß sein Gebrüll von dem
Manne, der vor ihm stand, überschrien werde. Nach einer Viertel-
stunde zitterte „Czieza“ in allen Gliedern, es schwitzte, seine blit-
zenden Augen wurden allmählich, aber zusehends matter. Nach
einer halben Stunde ließ es sich die Beine anfassen und der
Schmied konnte mit ruhiger Kraft, aber zärtlich, die Gelenke biegen
und streicheln. Das Pferd stand vor ihm wie bezaubert auf drei
Beinen, das vierte behielt wie wächsern die Beugestellung, die ihm
der Hufschmied gab. So ging es eine Stunde lang. So oft das
Pferd ungebärdig zu werden drohte, schrie es der Schmied aus
Leibeskräften an, verhielt es sich aber ruhig, so streichelte er ihm
den Nacken und girrte: „O du mein armes Pferdchen, du schwit-
zest? Wir schwitzen ja beide. Nur keine Angst, für dieses kriegst
du keine Strafe,** ich weiß, du meinst es gut, o wie gut ist das
goldene Pferdchen. . . .“
Eine Stunde später klopfte schon der Schmied mit seinem Hammer
an einem Hufe des Pferdes, nach weiteren 50 Minuten war es regel-
vecht beschlagen, — zwar etwas erschöpft, aber schön ruhig und folg-
sam, ließ seine Beine überall streicheln und sich in den Stall führen.
* Auch den Schlag der Kettenringe auf der Nase. (Meine Anmerkung.)
“* Der Schmied strafte das Pferd nur für die mutwilligen Bewegungen;
unvermeidliche Reflexbewegungen sah er ihm nach. (Meine Anmerkung.)
172 Zähmung eines wilden Pferdes
Laut amtlicher Zeugnisse, die Ezer vorwies, gaben die von
ihm in dieser Art behandelten Pferde nicht nur vorübergehend,
sondern dauernd ihre Ungebärdigkeit auf oder wurden zumindest
bedeutend zugänglicher.
*
Nach der Vorführung, deren Verlauf der scharfsichtige Jour-
nalist treffend geschildert hat, richtete man die Frage an mich, ob
bei dieser Zähmung Gedankenübertragung, Hypnose oder Sug-
gestion eine Rolle gespielt habe? Meine Antwort lautete dahin,
daß von irgend welchen außergewöhnlichen Erscheinungen nicht
gesprochen werden darf, solange sich der Fall den uns bekannten
naturwissenschaftlichen und psychologischen Gesetzen unterordnen
läßt. Und daß letzteres der Fall ist, glaubte ich mit folgenden
Darlegungen beweisen zu können:
Die Art, wie die psychoanalytische Forschung die Wirkung
und das Verfahren der Hypnose und der Suggestion erklärt, ermög-
lichte mir alle Vorgänge dieser Art darauf zurückzuführen, daß
dem Menschen der kindliche Gehorsam auf Lebenszeit in Fleisch
und Blut übergeht.“ Ich konnte feststellen, daß es’ zwei Verfahren
des Hypnotisierens gibt: die Liebe und die Strenge. Das Gefügig-
machen durch Liebe (zärtliches Streicheln, Bitten, eintönig-
einlullendes Zureden) nannte ich die Mutterhypnose; die Hypnose
oder Suggestion durch Strenge (Anrufen, Anschreien, Befehlen,
Überrumpeln): die Vaterhypnose.
Es hängt von den Schicksalen der ersten vier Lebensjahre,
besonders von dem Verhältnis zu den Eltern, ab, ob der Mensch
für diese oder jene, oder für beide Arten der Beeinflussung zeit-
lebens empfänglich bleibt.
Das Gelingen der Hypnose eines Erwachsenen hängt also
nicht von einer besonderen Fähigkeit des Hypnotiseurs ab, sondern
von der angeborenen und anerzogenen (d. h. phylo- und onto-
genetisch erworbenen) Neigung des „Mediums“, durch Liebe oder
Furcht, also durch die in der Kindheit angewöhnten Erziehungs-
* Introjektion und Übertragune. (ll. Die Rolle der Übertragung in
der Hypnose und Suggestion.) Jahrbuch f. psychoanalyt. und psychopathol. For-
schungen. I. Band.
Zähmung eines wilden Pferdes 173
mittel der Eltern, willenlos gemacht zu werden. Clapar£&de findet,
daß diese Theorie. viel tiefer reicht als andere Erklärungen.* Er
erwähnt in seinem zusammenfassenden Bericht u. a. zahlreiche
Beispiele aus der Tierwelt, die dafür sprechen, daß manche Tiere,
die wahrscheinlich durch die Abstammungslehre erklärbare Fähig-
keit besitzen, bei plötzlichem Schreck in Hypnose zu verfallen
(Frösche, Meerschweinchen, Hühner etc.).
Demselben Verfasser gelang es, durch starres Ansehen und
durch zärtliches Streicheln der Brust und der Arme eine wilde,
ungebärdige Äffin von der Art der Hundeaffen in den Zustand
völliger Willenlosigkeit und kataleptischer Starre zu versetzen.
Er glaubt diese plötzliche Gefügigkeit als reflektorische Ein-
stellung, vielleicht als eine Einstellung zur Wollust, erklären zu
können und findet darin eine Stütze der von Freud und von mir
ceäußerten Anschauung, nach der die Suggerierbarkeit sexuelle
Abhängigkeit vom Suggerierenden erfordert.”*
Auch Morichau-Beauchant“”* und E. Jonesf konnten —
gestützt auf ihre Erfahrungen beim Menschen — dieser meiner Auf-
fassung zustimmen.
Es liegt kein Grund vor, die hier mitgeteilten Erfahrungen
auf das Suggerierverfahren des Hufschmiedes Ezer nicht anzu-
wenden. Dieser scheint aus eigenem Antriebe die zwei möglichen
Arten des Gefügigmachens: das Verzärteln und das Ängstigen,
ceschickt miteinander verbunden und durch diese kombinierte
Vater- und Muttersuggestion das sonst unbezähmbare Tier
* Cette theorie va bien plus profond que les autres, en cherchant &
expliguer, comment cette hypersuggestibilite du sujet est declanchee, par quels
me&canismes particuliers des actions aussi puissantes que celles que l’on rencontre
dans l’hypnose peuvent se realiser, quel est le vehicule affectif qui va faire
zccepter au sujet la pilule de la suggestion donnee.“ (Prof. Dr. Ed. Claparede,
Interpretation psychologique de l’Hypnose. Journal f. Psychologie u. Neurologie.
1911. Bd. XVIIL, H. 4).
* C]aparede: Etat hypnoide chez un singe. (Archives des sciences
physiques et naturelles. Tome XXXIl. Geneve.
®< R, Morichau-Beauchant. Prof. ä l’Ecole de med. de Poitiers: Le
„rapport affeetif“ dans la cure des Psychoneuroses. (Gazette des höpitaux du
14 novembre 1911.)
+ Prof. E. Jones (University of Toronto): The action of suggestion in
psychotherapy. (The Journal of Abnorm. Psychology. Boston. Dec. 1910).
174 Zähmung eines wilden Pferdes
gebändigt zu haben. Diese Kombination machte durch die psycho-
logische Wirkung der Gegensätze einen besonders tiefen Eindruck
auf das Pferd, und es ist glaubhaft, daß die Nachwirkung eines
so tiefgreifenden seelischen Erlebnisses dauernd sein kann, gleichwie
beim Menschen gewisse Erlebnisse der Kindheit fürs Leben fest-
gelegt bleiben können.
Freilich ist diese Art Dressur höchstens bei Haustieren an-
gebracht, deren erste Tugend die Folgsamkeit ist. Ein Mensch
aber, der in der Kindheit ähnliches Übermaß des Geliebt- und
Gezüchtigtwerdens durchmachen muß, läuft Gefahr, die Fähigkeit
zum selbständigen Handeln für immer zu verlieren. Aus der Reihe
der so „gezähmten“ Kinder rekrutieren sich die der übertragenen
Vater- oder Muttersuggestion zeitlebens leicht zugänglichen Menschen
und ein großer Teil der Neurotiker.
Ob diese gewaltsame Dressur nicht auch dem Charakter
oder der Gesundheit des Pferdes nachteilig ist, läßt sich von vorn- '
herein nicht entscheiden.
Glaube, Unglaube und Überzeugung”
Neuartige wissenschaftliche Auffassungen pflegen mit einem
Maß von Mißtrauen und Unglauben empfangen zu werden, das
die Grenzen der Objektivität weit übersteigt und ausgesprochene
Feindseligkeit verrät. Viele gehen der Überprüfung der vor-
gebrachten, dem Althergebrachten — besonders in methodologischer
Hinsicht — allzu schroff widersprechenden Tatsachen überhaupt
aus dem Wege, indem sie diese a priori für unwahrscheinlich
erklären; andere sind sichtlich bestrebt, die unvermeidlichen
Schwächen und Unvollkommenheiten einer neuen Einsicht hervor-
zuneben, um auf Grund dieser das Ganze fallen zu lassen, anstatt
ihre Vorzüge und Mängel mit der gleichen Unparteilichkeit zu prüfen
oder sogar mit einem gewissen Wohlwollen auf das Vorgebrachte
einzugehen und die Kritik erst nachträglich walten zu lassen.
In schroffem Gegensatz zu diesem „blinden Unglauben“
steht jener blinde Glaube, der anderen — an sich vielleicht viel
weniger wahrscheinlichen — Mitteilungen entgegengebracht wird,
sobald die Persönlichkeit, die sie vorbringt, oder die Methodik,
auf die sie sich stützt, im wissenschaftlichen Publikum sich großer
Achtung und Autorität erfreut.
Es sind dies affektive Momente, die also auch das wissen-
schaftliche Urteil zu trüben vermögen.
In der Psychoanalyse, die die zu Änalysierenden allmählich
dazu bringt, ihre Auffassung über viele Dinge wesentlich zu ver-
ändern, bietet sich reichliche Gelegenheit, dieses widerspruchsvolle
* Vortrag gehalten auf dem Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen
Vereinigung in München, 1913.
176 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
Verhalten der Menschen neuartigen Behauptungen gegenüber zu
beobachten, in seine Elemente zu zerlegen und seinen Entstehungs-
bedingungen nachzuforschen.
Mancher Patient — z. B. viele Hysterische — beginnen die
Kur mit übertriebener Glaubensseligkeit; sie nehmen alle unsere
Erklärungen unterschiedslos an und werden nicht müde, die neue
Methode öffentlich zu verherrlichen. Es sind dies die Fälle, die
den Anfänger zu falschen Vorstellungen über die Raschheit und
Promptheit der Wirkung der Psychoanalyse verleiten können.
Erst die tieferreichende Analyse, in der auch die Widerstände
zu Worte kommen, zeigt uns, daß diese Patienten von: der Rich-
tigkeit der psychoanalytischen Erklärungen nicht eigentlich über-
zeugt waren, sondern sie blind (dogmatisch, doktrinär) geglaubt
haben; sie benahmen sich wie Kinder überwältigenden Autoritäten
gegenüber: sie verdrängten mit Erfolg alle ihre Bedenken und
Einwände, nur um sich die auf den Arzt übertragene Vaterliebe
zu sichern.
Andere Patienten — besonders Zwangsneurotiker — bringen
allem, was vom Arzte behauptet wird, sofort den größten intellek-
tuellen Widerstand entgegen.“ Die Analyse läßt dann diese feind-
selige Einstellung auf die Enttäuschung an der Wahrheit der Aus-
sagen (resp. Wirklichkeit der Liebe) von Autoritätspersonen zurück-
führen, die zur Folge hat, daß so viele ihren Glauben zu ver-
drängen geneigt sind und nur den Unglauben zur Schau tragen.
Eine besondere Art der Zwangsneurose, die Zweifelsucht, ist durch
die Hemmung der Urteilsfunktion charakterisiert: Glaube und Un-
glaube kommen hier gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander
mit gleicher Intensität zur Geltung und verhindern das Zustande-
kommen sowohl der Überzeugung als auch der Ablehnung einer
Behauptung, also die Urteilsbildung überhaupt.
Der Paranoische gar geht gar nicht in die Prüfung eines ihm
vorgebrachten Erklärungsversuches ein, sondern bleibt bei der
Frage stecken: welches Motiv, welches Interesse mag der Arzt an
* „Bei männlichen Patienten scheinen die bedeutsamsten Kurwiderstände
vom Vaterkomplex auszugehen und sich in Furcht vor dem Vater, Trotz und Un-
glauben gegen den Vater aufzulösen!“ (Freud „Die zukünftigen Chancen der
psychoanalytischen Therapie“, Zentralblatt für Psychoanalyse, 1. 1.) |
Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 177
der Vorbringung jener Behauptung haben, welchen Zweck verfolgt
er damit; und da er solche Motive leicht finden oder erfinden
kann, läßt er sich gar nicht tiefer in die Analyse ein.“ Es: muß
also wenigstens eine Spur von Übertragungs- (Glaubens-) fähigkeit,
d. h. Vertrauen bei der Person, der man etwas beweisen will,
vorhanden sein; sie darf zumindest die Möglichkeit, daß ich
Recht habe, nicht von vorneherein ausschließen.
Im allgemeinen fließt der logisch nicht zureichend begrün-
dete Unglaube aus zwei ÄAffektquellen: aus der vorausgegangenen
Enttäuschung an der Fähigkeit autoritärer Persönlichkeiten zur
Erklärung von Dingen und Vorgängen, oder aus der Enttäuschung
an ihrem guten Willen zu richtigen Aufklärungen. Die erstere
Art ist eine Reaktion auf das ursprüngliche Vertrauen zum Alles-
wissen und Alleskönnen der Eltern, das der späteren Erfahrung
nicht standhält, die letztere ist die Reaktionsbildung auf die ur-
sprünglich vorausgesetzte und auch wirklich erfahrene elterliche
Allgüte. Den Namen „Unglaube“ verdient also eigentlich nur
die erstere Art des intellektuellen Negativismus, bei dem die Au-
torität überhaupt verloren gegangen ist, während die zweite Art
besser mit dem Worte „Mißtrauen“ bezeichnet wird. Im ersteren
Falle werden die Autoritäten gleichsam entgöttert, im zweiten
— allerdings negativistisch — weiter verehrt: nur wird der
Gottesglaube durch eine Art Teufelsglauben abgelöst, den
Glauben an eine Allmächtigkeit, die ausschließlich in den Dienst
böswilliger Absichten gestellt ist. Am allerdeutlichsten äußerst
sich dies beim Verfolgungswahnsinnigen, der dem Verfolger, rich-
tiger: der negativ gefaßten Vaterimago, übermenschliche Macht
und übernatürliche Fähigkeiten zuschreibt, z. B. Verfügung über
alle anderen Menschen, über alle physikalischen und okkulten
Kräfte (Elektrizität, Magnetismus, Telepathie etc.), die alle nur
dazu dienen, ihn (den Verfolgten) umso sicherer zu verderben. Es
gibt übrigens kaum eine Analyse, in der der Patient den an Stelle des
Vaters stehenden Arzt nicht vorübergehend oder auch für längere
* Ähnlich benehmen sich zeitweise auch die Neurotiker; zu dieser Kategorie
gehören auch jene „wissenschaftlichen“ Einwände gegen die Psychoanalyse, daß
der Analytiker nur Geld verdienen, zu Macht gelangen, die Moral der Patienten
verderben will, etc.
12
178 Glaube, Unglaube und-Ueberzeugung
Zeit mit dem Teufel in Person identifizierte; mancher sieht im
Arzt abwechselnd seinen hilfreichen, allmächtigen Gott, dem man
alles blind glauben muß, und seinen gleichfalls allmächtigen, aber
teuflisch böswilligen Verderber, dem man sogar das scheinbar
Evidente nicht glauben darf.
Alle diese Tatsachen weisen darauf hin und unsere Analysen
bringen dazu täglich Bestätigungen, daß die Abnormitäten des
Glaubens: die übermäßige Glaubensseligkeit, die Zweifelsucht, wie
auch der prinzipielle Unglaube und das Mißtrauen, Symptome der
Regression oder des Steckenbleibens auf jenen infantilen Stufen
der Realitätsentwicklung sind, die ich als die magische und
die Projektionsphase des Wirklichkeitssinnes benannt
habe.”
Nachdem das Kind, durch die Erfahrung gewitzigt, den Glauben
an die eigene ÄAllmacht, die ihm die Befriedigung aller Wünsche
einfach durch lebhaftes Wünschen, später durch Gebärden- und
Wortsignale verschaffte, zu verlieren beginnt, fängt es allmählich
zu ahnen an, daß es „höhere, göttliche“ Mächte gibt (Mutter oder
Amme), deren Gunst es besitzen muß, soll der magischen Gebärde
die Befriedigung auf dem Fusse folgen.”“ Es entspricht diesem
Stadium völkergeschichtlich die religiöse Phase der Menschheit.”””
Der Mensch hat auf die Allmacht der eigenen Wünsche zu ver-
zichten gelernt, nicht aber auf die Idee der Allmacht überhaupt.
Letztere wurde einfach auf andere, „höhere“, Wesen (Götter) über-
tragen, die dem Menschen allgütig alles gewähren, insoferne man
gewisse, ihnen gefällige Zeremonien pünktlich befolgt, (z. B. ge-
wisse Forderungen der Amme bezüglich der Reinlichkeit und des
sonstigen Betragens, resp. gewisse Gebetsformeln, die Gott gefällig
sind.) Die Neigung vieler Menschen zum blinden Autoritäts-
glauben kann als eine Fixierung an dieses Stadium der Wirk-
lichkeitsauffassung angesehen werden.
* Siehe dazu meinen Aufsatz über „Entwicklungsstufen des Wirklichkeits-
sinnes“. Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, I. Jahrgang, S. 132 und S. 135.
= Ar RO.
*** Siehe dazu: Freud „Über gewisse Übereinstimmungen im Seelenleben
der Wilden und.der Neurotiker.“ „Animismus, Magie und Ällmacht der Gedanken.“
Imago, II. Jahrgang, 1. Heft.
Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 179
Der Enttäuschung hinsichtlich der eigenen Macht folgt aber
bald auch die hinsichtlich der Macht und dem Wohwollen jener
höheren Mächte (Eltern, Götter). Es wird erkannt, daß es mit dem
guten Willen und der Macht jener Autoritäten nicht so weit her
ist; daß jene selber anderen, noch höheren Gewalten gehorchen
müssen (die Eltern den Vorgesetzten, dem Landesfürsten), daß
jene vergötterten Gestalten sich oft als kleinlich-egoistische Wesen
erweisen, die auch auf Kosten fremden Wohles auf das eigene
bedacht sind; schließlich verflüchtigt sich die Illusion der Existenz
einer göttlichen Allmacht und Allgüte überhaupt, um der Einsicht
in die alles gleichmäßig und gefühllos beherrschende Gesetzmäßig-
keit im Weltgeschehen Platz zu machen.
Das Produkt dieser letzten Enttäuschung ist die Projektions-,
nach Freud die wissenschaftliche, Phase des Realitätssinnes.
Aber jeder überwundene Standpunkt auf dem schmerzlichen Wege
dieser Entwicklung kann durch seinen überwältigenden Eindruck
gleichsam traumatisch eine vulnerable Stelle, einen „Fixierungs-
punkt“ im Seelenleben schaffen, zu dem die Libido immer zu
regredieren geneigt bleibt, der also in gewissen Äußerungen auch
des späteren Lebens wiederkehrt. Als Formen dieser „Wieder-
kehr“ des (scheinbar) Überwundenen erachte ich aber auch die
verschiedenen Äußerungen des blinden Glaubens, der Zweifelsucht,
des prinzipiellen Unglaubens und des Mißtrauens.
Die allererste Enttäuschung, die an der eigenen Allmacht,
erfährt das Kind bekanntlich, wenn in ihm Bedürfnisse erwachen,
die durch einfaches Wünschen nicht mehr, sondern nur durch „Ver-
änderung der Außenwelt“ zu befriedigen sind. Diese zwingen den
Menschen, die Außenwelt überhaupt zu objektivieren, sie als
solche wahrzunehmen und anzuerkennen; die sinnliche Wahrnehmung
ist also zunächst die einzige Gewähr der Objektivität, der Rea-
lität eines psychischen Inhaltes. Das ist die „Ur-Projektion“,
die Teilung der psychischen Inhalte zwischen dem „Ich“ und
dem „Nicht-Ich“.* Man hält nur solche Dinge für „wirklich“
(d. h. auch unabhängig von unserer Einbildung existierend), die
unabhängig von unserem Willen, ja ihm oft den Weg vertretend,
* Ferenczi: „Introjektion und Übertragung,“ Jahrbuch für psychoanalytische
Forschungen, 1. S. 430.
12*
180 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
sich uns in den Sinneswahrnehmungen „aufdrängen“. „Seeing is
believing.“*
Der erste Glaubensartikel des Kindes am Beginne der Rea-
litätserkenntnis heißt also: Wirklich, d. h. außer mir wirkend ist
alles, was sich mir, auch wenn ich es nicht will, als Sinneswahr-
nehmung aufdrängt. Die „Handgreiflichkeit“, „Augenscheinlichkeit“
bleibt denn auch zeitlebens die Grundlage jeder „Evidenz“. Aller-
dings lehrt die spätere Erfahrung, daß auch Sinneswahrnehmungen
täuschen können, und erst die simultane und sukzessive gegen-
seitige Kontrolle der Sinneseindrücke [die natürlich schon die Ent-
wicklung eines E-(Erinnerungs-)-Systems neben dem ursprünglichen
W-(Wahrnehmungs-)-System voraussetzt””] verschafft dann jene
„unmittelbare Gewißheit des Anschaulichen“, die wir kurz Evidenz
heißen. Im Laufe der fortschreitenden Entwicklung des Realitäts-
sinnes kommt es dann zur Ausbildung der logischen Denkformen,
d. h. jener Arten der die Vorstellungen aufeinander beziehenden
Geistestätigkeit, mit deren Hilfe man stets „richtig“ (d. h. der
Erfahrung niemals widersprechend) urteilen, folgern, Ereignisse
voraussagen und zweckmäßig handeln kann. Nebst der Sinnfällig-
keit kommt also auch den logischen Denkgesetzen (und der Ma-
thematik) unbestrittene Evidenz zu; da aber letztere eigentlich ein
Niederschlag der Erfahrung sind, so bleibt in letzter Linie doch
die Ansicht Lockes zurecht bestehen, wonach alle Evidenz auf
Anschauung beruht.
Unter den „Objekten“ der Außenwelt, die dem Willen des
Kindes entgegentreten, deren Existenz es also anerkennen muß,
spielen die anderen Menschen eine ganz besondere und immer
bedeutender werdende Rolle. Mit den übrigen Objekten der Außen-
welt wird das Kind allmählich fertig; sie legen ihm immer und
unabänderlich dieselben Hindernisse, d. h. ihre unveränderlichen
oder sich gesetzmäßig verändernden Eigenschaften in den Weg,
mit denen es rechnen und mittels deren Kenntnis es sie mehr
* „The ground of all certainty is obiective, — in the sense, that is, of being
something directly and immediately determined for the subiect and not by it“
(Artikel „Belief“ in der Encyclopedia Britannica, 10. Bd., p. 597.)
** Über diese Terminologie siehe dic letzten Abschnitte in Freuds „Traum-
deutung“.
Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 181
oder minder beherrschen kann. Die anderen Lebewesen, besonders
die anderen Menschen dagegen sind für das Kind unberechen-
bare, eigenwillige Objekte, die seinem Willen nicht nur pas-
siven, sondern aktiven Widerstand entgegenstellen, und gerade
diese anscheinende Schrankenlosigkeit mag das Kind veranlassen,
Allmachtsphantasien auf besonders imponierende Mitmenschen: auf
die Erwachsenen zu übertragen. Der andere große Unterschied
zwischen den Menschen und den übrigen Objekten der Außenwelt
ist, daß die anderen Objekte niemals lügen; irrt man sich in dieser
oder jener Eigenschaft eines Objekts, so stellt sich am Ende immer
heraus, daß der Fehler an uns lag. Das Kind behandelt die Worte
zunächst wie Gegenstände (Freud), — d. h. es glaubt ihnen, es
nimmt sie nicht nur wahr, sondern auch für wahr. Während es
aber seinen Irrtum in Bezug auf andere Objekte allmählich korri-
gieren lernt, wird ihm diese Möglichkeit bezüglich der Aussagen
der Eltern benommen; nicht nur weil diese ihm mit ihrer wirklichen
und vermeintlichen Allmacht schon von vorneherein derart impo-
nieren, daß es an ihnen nicht zu zweifeln wagt, sondern auch,
weil es ihm oft unter Androhung von Strafen und Entziehung der
Liebe verboten wird, sich von der Richtigkeit der Aussagen der
Erwachsenen zu überzeugen. Angeborene Neigung und Erziehungs-
einflüsse wirken also zusammen, um das Kind blindgläubig gegen-
über den Aussagen imponierender Persönlichkeiten zu machen.
Dieses Glauben unterscheidet sich von der Überzeugung da-
durch, daß das Glauben ein Akt der Verdrängung, die Über-
zeugung dagegen unparteiische Urteilsfällung ist.
Als komplizierender Umstand, der die Anpassung noch mehr
erschwert, erweist sich besonders der, daß die Erwachsenen die
eigene Urteilsbildung des Kindes nicht gleichmäßig hemmen. Über
gewisse, sogenannte „harmlose“ Dinge dürfen, ja sollen sie richtig
urteilen; Äußerungen der Intelligenz des Kindes werden sogar mit
Jubel aufgenommen und mit besonderen Liebesprämien belohnt,
solange sie nicht sexuelle und religiöse Fragen oder die autoritäre
Stellung der Erwachsenen betreffen; in den letztgenannten Dingen
aber fordert man von ihnen, daß sie sich — entgegen aller Evidenz —
blind stellen und allen Zweifel, jede Neugierde unterdrücken, man
kann also sagen, auf jede selbständige Denkarbeit verzichten. Wie
.182 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
das Freud öfters hervorgehoben hat“, bringt nicht jedes Kind
diese partielle Entsagung auf eigenes Urteilen zustande, sondern
sie reagieren darauf mit allgemeiner Denkhemmung, man kann
sagen: mit einer Art von affektivem Schwachsinn. Aus denen, die auf
dieser Stufe stecken bleiben, rekrutieren sich die Leute, die dem
Einflusse jeder energischen Persönlichkeit unterliegen oder, gewissen,
besonders energischen Suggestionen zeitlebens unterworfen, sich
niemals über den beschränkten Kreis dieser Eingebungen hinaus-
wagen. Etwas von dieser Disposition muß auch in den leicht hyp-
notisierbaren Personen vorhanden sein; ist doch die Hypnose nichts
anderes als der temporäre Rückfall in diese Phase infantiler Selbst-
entäußerung, Gläubigkeit und Unterwerfung.” Die Analyse solcher
Fälle deckt allerdings meist versteckten Spott und Hohn hinter
dem blinden Glauben auf. Der Satz: „Credo, quia absurdum“ ist
eigentlich die bitterste Selbstironie.
Kinder mit frühzeitig entwickeltem Realitätssinne kommen
der Forderung der partiellen Verdrängung ihrer Urteilsfähigkeit
nur teilweise nach. Ihr Zweifel kehrt — oft auf andere Vorstellungen
verschoben — aus der Verdrängung leicht wieder. Der Spruch
Lichtenbergs, daß „der Unglaube in einer Sache bei den meisten
Menschen sich auf blinden Glauben in einer anderen gründet“,
bewahrheitet sich bei diesen. Sie nehmen gewisse Dogmen kritik-
los an, rächen sich aber durch übertriebenes Mißtrauen allen
sonstigen Behauptungen gegenüber.
Die stärkste Belastung seiner Glaubensfähigkeit erfährt das
Kind in Bezug auf seine eigenen subjektiven Gefühle. Die Er-
wachsenen fordern von ihm, daß es Dinge, die ihm angenehm
sind, für „schlimm“ hält; die ıhm lästigen Entsagungen dagegen
für „schön“ und „gut“. Der Doppelsinn in den Worten „gut“ und
„schlecht“ (die sowohl gut- und schlecht-schmeckend, als auch
artig und unartig bedeuten), trägt nicht zum wenigsten dazu
bei, die Aussage dritter Personen über die eigenen Gefühle
zweifelhaft zu machen. Hierin dürften wir mindestens eine Quelle
des besonderen Mißtrauens gegenüber psychologischen Aus-
* Siehe besonders: Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.
** Siehe dazu meine Arbeit: Introjektion und Übertragung. Jahrbuch für
Psychoanalyse 1.
Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 183
sagen zu suchen haben, während sogenannten „exakten“, mathe-
matisch formulierten oder auf technisch-mechanische Beweisverfahren
gestützten Aussagen oft ungerechtfertigtes Vertrauen entgegen-
gebracht wird. Das Steckenbleiben im Stadium des Zweifels zieht
oft eine dauernde Lähmung der Urteilsfähigkeit nach sich, am
deutlichsten sehen wir diesen psychischen Zustand in der Zwangs-
neurose ausgeprägt.” Der Zwangsneurotische ist durch Hypnose
oder Suggestion nicht zu beeinflussen, anderseits vermag er sich
auch zu selbständigen Schlußfolgerungen nie aufzuschwingen.”“
Nun können wir es besser verstehen, warum die heutige
Gesellschaft auch wissenschaftlichen Behauptungen gegenüber zum
Teil ungläubig und zweifelsüchtig, zum Teil dogmatisch gläubig
geworden ist. Die übertriebene und oft ungerechtfertigte Hoch-
achtung vor technisch-mathematischen, graphischen, statistischen
Beweisverfahren und die große Skepsis besonders psychologischen
Dingen, z. B. den psychoanalytischen Lehren gegenüber wird jetzt
verständlicher. | |
Es scheint sich das alte Sprichwort zu bewahrheiten: wer
einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit
spricht. Die Enttäuschung, die man in gewissen psychologischen
* Siehe Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. (Kleine
Schriften zur Neurosenlehre, III. Bd.)
** In diesem Zusammenhange darf man die auffallende Tatsache hervor-
heben, daß von den Neurosen die Hysterie, der es gelingt, den Zweifel und
überhaupt den bewußtseinsfeindlichen Affekt aus der psychischen Sphäre voll-
ständig ins Körperliche zu verdrängen, anscheinend seltener wird; es mag damit
zusammenhängen, daß neuere Beobachtungen auch über die Hypnotisierbarkeit
der Menschen viel niedrigere Zahlen ergeben. Dagegen scheint die Zahl der
Zwangsneurotiker in Zunahme begriffen zu sein, ja man kann behaupten, daß es
heute wenige sogenannte Normalmenschen ohne gewisse Zwangserscheinungen
gibt. Man ist versucht, die Ursache dieser Verschiebung auf den unverkennbaren
Nachlaß der Religiosität in der Gesellschaft zurückzuführen. Auch wer den sozi«len
Wert der Religiosität hochschätzt, muß übrigens zugeben, daß die den Kindern
frühzeitig eingeprägten starren religiösen Dogmen die Selbständigkeit ihres
Urteils dauernd schädigen können. Schon Schopenhauer hat auf den Zusammen-
hang zwischen der Denkunfreihelt der Erwachsenen und der religiösen Erziehung
der Kinder hingewiesen. Er sagte: „Nicht nur das Aussprechen, die Mit-
teilung der Wahrheit, nein, selbst das Denken und Auffinden derselben wird
unmöglich zu machen gesucht, dadurch, daß man ın frühester Kindheit die Köpfe
den Priestern zum Bearbeiten in die Hände gab.“ (Parerga und Paralipomena.)
184 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
(sexuellen und religiösen) Dingen bezüglich der Wahrheitsliebe
der Eltern und Lehrer erfahren hat, machte die Menschen psycho-
logischen Aussagen gegenüber übermäßig skeptisch; darum fordern
sie besondere Sicherheiten, um nicht nochmals getäuscht zu werden.
Diese Forderung ist nur zu gerechtfertigt; unlogisch wird sie
nur, wenn diejenigen, die die Forderung nach der „Evidenz“ er-
heben, der einzigen Möglichkeit, sie zu holen, aus dem Wege gehen.
Diese einzige Möglichkeit ist — in psychischen
Dingen — das eigene Erleben.
Der Patient, der sich der Mühe der analytischen Behandlung
unterzieht und der im Anfang alle unsere Behauptungen mit spöt-
telndem Unglauben aufnimmt, kann sich nur durch Auffrischung
alter Erinnerungen, und wo diese nicht mehr zu erreichen sind,
„auf dem schmerzhaften Wege der Übertragung“ (auf Aktuelles,
besonders auf den behandelnden Arzt) von der Wahrheit unserer
Aussagen überzeugen. Ja: er muß es beinahe vergessen, daß wir
es waren, die ihn auf die richtige Spur wiesen, und die Wahrheit
selbst finden. So weit geht das instinktive Mißtrauen gegen alles
Lehrhafte, Autoritäre, daß eine bereits gewonnene Einsicht des
Patienten wieder schwankend werden kann, wenn man ihn daran
erinnert, daß er sie von uns hat.
Nicht geringer ist sein Mißtrauen gegen jede merkbare
Tendenz bei seinem Arzie; sobald er bei ihm eine „Absicht“
merkt, wird er verstimmt, d. h. ungläubig. Darum muß der Arzt,
der mit Zweifelsüchtigen zu tun hat, alle Erklärungen ohne Affekt
und mit gleichmäßiger Betonung vorbringen und darf nie merken
lassen, woran ihm am meisten gelegen ist: er muß auch das Aui-
finden der verschiedenen Wichtigkeitsgrade dem Zweifler selbst
überlassen. Jeder, der einem etwas erklären, beibringen will, wird
zu einem Vertreter der Vater- und Lehrer-Imago und lädt alien
Unglauben, den diese Persönlichkeiten einstmals im Kinde erweckt
haben, auf sich. Die weitverbreitete Abneigung gegen sogenannte
Tendenz-Stücke und Romane, in denen die moralisierende Absicht
des Verfassers allzu dick aufgetragen. ist, läßt sich gleichfalis aus
dieser Quelle ableiten. Dieselben Tendenzen nimmt aber der Leser
gerne, ja mit Vergnügen an, wenn sie in einem belletristischen
Werke .gleichsam versteckt sind und von dem Leser selbst ge-
Glaube, Ungiaube und Ueberzeugung 185
funden werden müssen. Es ist auch bekannt, daß beinahe alle
Lehren der Psychoanalyse —-sogar von den Psychiatern angenommen
und mit freudiger Anerkennung quittiert werden, wenn sie in die
Form des Witzes gekleidet oder als Einzelschicksale dargestellt sind.
Daraus folgt, daß aus poetischen Werken die psychologische
Evidenz nur auf dem Wege der Exemplifizierung (d. h. wieder des
im Detail Erlebens), nicht aber direkt auf Grund logischer Fol-
gerungen zu holen ist. Für psychologische Dinge gilt der eingangs
zitierte Satz in der Modifikation: Feeling is believing. Alles,
was man auf anderem Wege von der Psychologie lernt, erreicht
nie den Sicherheitsgrad des Selbsterlebten und bleibt auf irgend
einer Stufe der Plausibilität stecken. Sonst „hört man die Bot-
schaft“, — allein es fehlt einem der Glaube.
Diese Einsichten über die Bedingungen, unter denen man sich
psychologische Überzeugungen holen kann, setzen uns in den Stand,
die bisher vorgeschlagenen psychotherapeutischen Methoden kritisch
zu prüfen und ihren Wert zu vergleichen. Als die unbrauchbarste
von allen scheidet die Dubois’sche „Überredungs“- und „morali-
sierende“ Methode von selbst aus. Solange sie ihrem Programm
entsprechend wirklich nur „dialektisch“ und „demonstrierend“
ist und die Patienten „oft durch einfache Syllogismen“ dazu
bringen will einzusehen, daß ihre Symptome seelischer Natur sind,
daß sie „nichts sind, als die natürliche Folge einer Gemüts-
bewegung“ — muß diese Therapie unwirksam bleiben; insoferne
sie aber wirksam ist, verdankt sie dies versteckten oder offenen
Einflüssen auf das Gemüt des Patienten, womit sie aber auch
aufhört ‚rationell“ zu sein (d. h. nur mit logischen Mitteln auf
die Vernunft zu wirken); sie wird dadurch einfach eine — nicht
einmal geschickte — Abart der suggestiven (emotiven) Beeinflussung.
Der Versuch des Moralisierens und logischen Überredens muß ja
— aus den oben mitgeteilten Gründen — sofort allen Widerstand
der Patienten wecken. Sie stellen sich auf den Kriegsfuß zum be-
handelnden Arzt, kümmern sich nicht mehr darum, was in seinen
Aussagen Wahres enthalten ist, sondern suchen (und finden) nur
die schwachen Punkte in seiner Argumentation; haben sie am Ende
keine Ausflucht, so mögen sie sich zwar für besiegt erklären,
haben aber dabei .nicht die Empfindung, daß der Arzt recht hat,
186 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
sondern nur, daß er recht behielt. In der Seele der so Über-
führten lauert nach wie vor der Zweifel, ob er nicht nur der
dialektischen Geschicklichkeit des Arztes unterlegen ist und nur
seine Trugschlüsse nicht entlarven konnte.
Die Wirkungsfähigkeit der bewußt auf Gemütsbeeinflussung
hinzielenden suggestiven und hypnotischen Therapie steht
außer Zweifel. Ihrer Anwendung stehen aber mehrere Bedenken
im Wege. Das eine ist der oft hervorgehobene Mangel wirklicher
Hypnotisier- und Suggerierbarkeit bei den meisten Menschen.
(Ich halte es für unerlaubt, gewisse ganz unwirksame Prozeduren,
bei denen der Patient, trotz mystischer Dunkelheit und Stirn-
streichelns, alle seine Zweifel gegenüber den Aussagen des Arztes
beibehält, für „hypnotische“ auszugeben. Hinter dem Ausdruck
„Wachsuggestion“. steckt sehr viel Selbstbetrug; man erkundige
sich nur, wie viel Spott die Patienten, die solche Kuren durch-
machten, auf die von ihnen dupierten Ärzte ausschütten.) Doch
auch die zweifellos gelungene suggestive (resp. hypnotische) Be-
einflussung hat keine Aussicht, dem Patienten dauernd ein Ge-
fühl der Überzeugung von der Wahrheit der Aussagen des Arztes
und einen so tiefen Glauben einzuprägen, daß er stark genug
wäre, selbst der Evidenz zum Trotz das Gefühl des Nichtvorhanden-
seins der Symptome (d. h. eine negative Halluzination) aufrecht-
zuerhalten. Diese „Selbstverleugnung“ bringt der Kranke, wie be-
kannt, nur zustande, wenn und solange der Arzt für ihn als eiter-
liche Autorität gilt und diese seine Eigenschaft durch zeitweise wieder-
holte Liebesbeweise oder Strafandrohungen (d. h. Strenge) bezeugt.
(„Vater-“ und „Mutterhypnose“.) Ein dritter — mehr praktischer —
Einwand ist der, ob es gerechtfertigt ist, einen Menschen mit Ab-
sicht auf jene kindliche Stufe der Gläubigkeit, über die er sich, wie
die Symptome bezeugen, erheben möchte, wieder hinabzudrücken.
Beschränkt sich doch diese Selbsterniedrigung, soll sie wirksam sein,
niemals auf einen ganz speziellen Komplex, sondern erstreckt sich
auf die ganze Individualität. Wie dem auch sei, soviel steht außer
Zweifel, daß der Kranke sich auf dem Wege der Suggestion
niemals wirkliche „Überzeugungen“ verschaffen kann, die geeignet
wären, ihm als Basis einer dauernd symptomfreien, d. h. ökono-
mischeren und erträglicheren psychischen Existenz zu dienen.
Glaube, Unglaube und Ueberzeugung 187
Während die „rationelle“ (richtiger: rationalisierende) und
die suggestiv-hypnotische Psychotherapie ohne Rücksicht auf die,
ihren Vertretern übrigens unbekannten, Bedingungen für das Zu-
standekommen wichtiger, die bisherige psychische Einstellung ver-
ändernder Überzeugungen und Einsichten einseitig intellektuell
oder emotiv auf die Patienten einwirken wollen, fordert die
Freudsche Psychoanalyse die volle Berücksichtigung sowohl
des Vernunfts- als auch des Gemütslebens. Sie geht von der Tat-
sache aus, daß wirkliche Überzeugungen nur aus affektbetonten
Erlebnissen zu holen sind und daß ihr Zustandekommen durch
verdrängte Affekte des Hasses und des Unglaubens gehindert
wird. Mit Hilfe der freien Assoziation setzt sie den Patienten in
den Stand, verdrängte Erinnerungen und Phantasien, die einstmals
falsch d. h. auf dem Verdrängungswege erledigt wurden, wieder
zu erleben und mit deren Hilfe das eigene Seelenleben selbständig
und unbeeinflußt kritisch zu revidieren. Indem aber die Analyse
die (positiven und negativen) Affekte des Patienten auch in der
Form der Übertragung auf den Arzt zu Worte kommen läßt
(und ‘es muß hier betont werden, daß dieser Prozeß das Werk
des Patienten selbst und fast nie vom Arzt provoziert ist), er-
ermöglicht sie, daß der Patient auch Komplexe, deren bewußte
Spuren schon verlöscht und nicht mehr aufzufrischen sind, die ihm
also am fremdartigsten vorkamen, in Wirklichkeit dramatisch erlebt
und sich von deren Existenz in einer jeden Zweifel ausschließenden
Weise überzeugt. Die Psychoanalyse erweckt das Vertrauen des
Patienten durch ein einfaches Mittel: sie drängt nichts dem Patienten
auf, weder ihre Autorität noch mit deren Hilfe ihre Lehren. Im
Gegenteil: sie gestattet dem Analysierten jede Art und jedes Maß
des Unglaubens, des Spottes und des Hohns gegen die eigene
Methode und deren Vertreter, den Arzt, und wo sie deren versteckte
oder verdrängte Spuren bemerkt, bringt sie sie schonungslos ans
Tageslicht. Wenn der Patient sieht, daß er auch mißtrauen darf, daß er
in keiner Weise in seinen Gedanken und Gefühlen beeinträchtigt wird,
fängt er an, auch an die Möglichkeit zu denken, ob nicht vielleicht
doch etwas Richtiges aus den Behauptungen des Arztes zu holen ist.
Die sogenannte Breuer-Freud'sche kathartische Behand-
lungsmethode, bei der einzelne Ärzte, wie z. B. Frank, Bezzola,
188 Glaube, Unglaube und Ueberzeugung
stecken geblieben sind, weist noch zu viele Spuren der historischen
Entwicklung der Psychoanalytik aus der Hypnose auf. Die Autorität
des Arztes bleibt in dieser Behandlungsmethode — infolge der
Nichtberücksichtigung der Übertragung — unangetastet, die Pa-
tienten erlangen also dabei nicht die zur selbständigen Urteils-
bildung nötige volle Unabhängigkeit.
Die Adler’sche Psychotherapie, die das ganze neurotische
Seelenleben in das Prokrustesbett einer einzigen Formel (Minder-
wertigkeit und deren Kompensation) zwingen will, mag durch
charakterologische Feinheiten bei manchem Neurotiker Interesse
und Verständnis erwecken; sie finden eben in der Adler’schen
Lehre ihre eigenen (falschen) Ansichten über ihren Zustand wieder
und sind darüber entzückt. Therapeutisch ist aber damit nichts
gewonnen, da hier nicht einmal der Versuch gemacht wird, dem
Patienten zu neuartigen, seine bisherige Einstellung wesentlich
verändernden Überzeugungen zu verhelfen.
Eine therapeutische Modifikation, wie z. B. die Jung’s, die
keinen besonderen Wert darauf legt, daß die Patienten die infan-
tilen traumatischen Erlebnisse im Einzelnen wiedererleben, und sich
mit dem allgemeinen Hinweise auf den archaischen Charakter der .
Symptome oder mit wenigen Beispielen, die dies dem Patienten
bestätigen sollen, begnügt, verzichtet durch diese Abkürzung der
Behandlung auf den Vorteil, das dem Patienten Unbewußte mit
Hilfe einer genauen Lokalisation in das feste Gebäude der psy-
chischen Determination einzufügen. Allgemeines Belehren und Mo-
ralisieren mag den Patienten für den Moment hinreißen; diese Art
Einsicht ist aber — da sie nur suggestiv oder dialektisch aufgedrängt
sein kann — mit allen oben auseinandergesetzten Mängeln der
autoritären und der sogenannten „rationalen“ Therapie behaftet; auch
diese Modifikation benimmt also dem Patienten die Möglichkeit, sich
seine Überzeugungen selbst zu verschaffen, — d.h. die einzige Art,
in der in psychologischen Dingen Evidenz überhaupt zu holen ist.
Die Freud’sche Methode, die Psychoanalyse, ist es also,
die zu jenem Grad von innerer Sicherheit verhelfen kann, die
„Überzeugung“ genannt zu werden verdient.
Inhaltsverzeichnis
Seite
Über Aktual- und Psychoneurosen im Lichte der Freud’schen Forschungen
und über Psychoanalyse + 4-12. „m Sara BE Re 1
Zur analytischen Auffassung der Psychoneurosen » » "vr... 25
Die Psychoanalyse der Träume - »- »- - » een 41
Träume der Ähnungslosen - » »- «ever nenn 66
Suggestion und Psychoanalyse Er RR er an Be See a a A EE
Die wissenschaftliche Bedeutung von Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexual-
theorie“ - » se Su ee es at er N 84
Die Psychoanalyse des Witzes und des Komischen : -» » » » » Kl: 26 50 Zur 89
Ein Vortrag für Richter und Staatsanwälte - - ee. re. 103
Psychoanalyse und Kriminologie - - : » rennen en 114
Philosophie und Psychoanalyse » » » - +» «een 118
Zur Psychogenese der Mechanik » - » » » «ne een er ee. 128
138
Nachtrag zur „Psychogenese der Mechanik“ : - » » « + rer...
Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Ödipus-Mythos 142
Cornelia, die Mutter der Gracchen - - - » * een er 154
Anatole France als Änalytiker - - - - un tue ne 159
Zaähmung eines wilden Pferdes - » » » + TE ET Fe ee 169
175
Glaube, Unglaube und Überzeugung re 16: 2 Er
Von Dr. S. Ferenczi sind bisher erschienen:
Introjektion und Übertragung. Eine psychoanalytische
Studie. Leipzig u. Wien 1910. F. Deuticke. (Vergriffen.)
Hysterie und Pathoneurosen. Internationale Psychoanalyti-
sche Bibliothek Nr. II.) Leipzig, Wien u. ‚Carich 1912. Internationaler Psycho-
analytischer Verlag.
Contributions to Psychoanalysis. Authorised translation
by Dr. Ernest Jones (London). Boston 1916. R. G. Badger.
Lelekelemze&s (3. Aufl. 1919. M. Dick, Budapest).
Lelki Probl&mäk (2. Aufl. 1919," ebendort).
Ideges tünetek (2. Aufl. 1919, ebendort).
A Pszichoanalizis Haladäsa (1919, ebendort).
A hiszteria (1919, ebendort).
Über die Ergebnisse der psychoanalytischen Forschung
informieren fortlaufend unsere beiden Zeitschriften:
IMAGO
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud
Redigiert von Dr. Otto Rank und Dr. Hanns Sachs
4 Hefte jährlich im Gesamtumfang von mindestens 32 Bogen
und
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. Jan van Emden (Haag),
Dr. S.-Ferenczi (Budapest), Dr. E. Hitschmann (Wien), Dr. Ernest Jones
(London) und Dr. Emil Oberholzer (Zürich) redigiert von Dr. Otto Rank (Wien).
(Ständige Rubriken: Originalarbeiten. — Mitteilungen. — Aus der Praxis. — Kritiken und Referate. —
Zur psychoanalytischen Bewegung. — Korrespondenzblatt der Internationalen ok eg nie. Ver-
einigung. — Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages
4 Hefte jährlich im Gesamtumfang von mindestens 32 Bogen
Im Jahr 1922 erscheinen in den beiden Zeitschriften u. a. folgende Beiträge:
Prof. Freud: Traum und Telepathie Dr. Ernest Jones (London): Über funktionale
Dr. Karl Abraham (Berlin): Vaterrettung und Symbolik
Vatermord in den neurotischen Phantasien | Prof. Dr. Hans Kelsen (Wien): Freuds Massen-
psychologie und der Begriff des Staates
Doz. Dr. Johann Kinkel (Sofia): Zur Frage der
psychologischen Grundlagen des Ursprunges
— Die Spinne als Traumsymbol
Dr. F. Alexander (Berlin): Kastrastionskom-
plex und Charakterbildung
; ER der Religion
Dr. S. Bernfeld Kuien): Über SURHBRERDE Aurel Kolnai (Wien): Zur psychoanalytischen
Dr. F. Boehm (Berlin): Beobachtungen über den ® | Soziologie
erot. Verkleidungstrieb (Transvestitismus) z er
i Wr: Dr. F. Künkel (Oberndorf): Eine hynopause
Dr. Ren rer. ERPRORRED, Vorstellung. Zum Problem des Erwachens
| teen Ar Alexander en Gro ter | Dr. Monroe Meyer (New-York): Die Traum-
Dr. Helene Deutsch (Wien): Über die patho- form als Inhaltsdarstellung
togische Lüge Ar oendpEngin PENKERERN Dr. Emil Oberholzer (Zürich): Eine Deck-
Dr. S. Feldmann (Budapest): Über Erröten erinnerung
(Bee u, ERFSURMOgIe er a, Dr.C.Oberndorf (New-York): Die Rolle einer
Dr Ferenezi (Budapest): Die Psyche als organischen Ueberwertigkeit bei einer Neurose
emmungsorgan ar ’
Fr ; i Siegfried Peine (Hamburg): Von den neuro-
— Einige soziale Gesichtspunkte der Psycho- Euiat Wurzeln des gesteigerten Variations-
analyse bedürfnisses, insbesondere der vita sexualis
Albert Furrer (Zürich): Tagphantasien eines Pfarrer Dr. Oskar Pfister (Zürich): Die Reli-
sechseinhalbjährigen Mädchens gionspsychologie am Scheidewege
Dr. ‚Georg Groddeck (Baden-Baden) :. Der | — Die primären Gefühle als Bedingungen der
Symbolisierungszwang | höchsten Geistesfunktionen
Dr. , Hermann (Budapest): Randbemerkungen Doz. Dr. Paul Schilder (Wien): Über eine
zum Wiederholungszwang Psychose nach Staroperation
— ZurPsychogeneseder zeichnerischen Begabung Dr. Arnold Stocker (Jassy): Ödipustraum eines
Dr. R.H. Jokl (Wien): Über den Schreibkrampf | Schizophrenen
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beim direkten Bezug vom Internationalen Psychoanalytischen Verlag,
Leipzig, Hospitalstraße 10 oder Wien, VIl., Andreasgasse 3.
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HYSTERIE UND PATHONEUROSEN
VON f en] N \ N
D*.S:EEREN —
Inhalt: Über Pathoneurosen. — Erstens MaRERE isafdoms -—
Erklärungsversuch einiger hysterischer Stigmata. — Technische Schwierigkeiten
einer Hysterieanalyse. -— Die Psychoanalyse eines Falles von hysterischer Hypo-
chondrie. — Über zwei Typen der Kriesshysterie.
INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE ee
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ÜBER DAS VORBEWUSSTE
PHANTASIERENDE DENKEN
VON |
D® J. VARENDONCK
Autorisierte Übersetzung aus dem Englischen von ANNA FREUD
Mit einem Geleitwort von Prof. SIGM. FREUD.
Inhalt: EINLEITUNG: Die zwei Arten des Denkens. — ANALYTISCHER
TEIL: Die Entstehung der Gedankenketten. — Der Inhalt der Gedankenketten.
Das Denken in Bildern und das Denken in Worten. Fragen und Antworten.
Die Strömung der Erinnerungstätigkeit. — Irrtümer und Äbsurditäten. — Der
Abschluß der Gedankenketten. ‚Das Erwachen. Zensur und an. —
SCHLUSSWORT: Über die Bedeutung der Tagträume. |
QUELLENSCHRIFTEN ZUR SEELISCHEN ENTWICKLUNG
BANDNTN
VOM GEMEINSCHAFTSLEBEN
DER JUGEND
BEITRÄGE ZUR JUGENDFORSCHUNG
HERAUSGEGEBEN VON
DR SIEGFRIED BERNFELD
Inhalt: Die ee in De ER Sa; (Dr. S. BERNFELD). —
Ein Freundinnenkreis Ein Schülerverein (Gerhard
FUCHS). — Ein nd in einer Se (Wilhelm HOFFER). —
„Knurrland“. Versuch der Analyse eines Kinderspieles (Gerhard FUCHS). —
Die Initiationsriten der historischen Berufsstände (Erwin KOHN).
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
EEIPZIGWH WIEN. 7S ZÜRICH
GEORG GRODDECK
DER SEELE LENSUÜCHER
EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN
Der Stil erinnert etwas an die „Pick-
wickier“, wenn auch der Inhalt durchaus
nicht so harmlos ist; für Kinder ist diese
Lektüre nicht. Frankfurter Zeitung
Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat
unter deutschen Büchern, ein Buch von
eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre
Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was
sonst als erzählende deutsche
Prosa Humor übt, scheint Wasser
neben dieser Quintessenz... So
was Freches, Ungeniertes, raffiniert Ge-
scheit-Verrücktes ist von Erzählern unserer
Sprache noch nicht gewagt worden. Man
muß zu den Großen satirischer Dichtung,
will man die Patrone dieser Schrift nennen.
Von Jonathan Swifts unsterblicher Galle
kreist ein Tropfen in des Seelensuchers
Bitterkeit; an Cervantes erinnert der
Ritus, nach dem hier einer zugleich den
Priester und das Lamm seiner Narrheit
abgibt, erinnert die Durchsetzung dieser
Narrheit mit Idee und Idealität; in der
Rabies ihrer Witzigkeit aber gespenstert
das Überdimensionierte der Gargantua-
Komik.
/ Die Figuren haben beiläufige Kontur.
| Auch der Held Thomas, der als Don Qui-
xote Sigmund Freudscher Weltauschau-
ung seiner fürsorglichen Schwester Agathe
durchbrennt, streitbar durch die deutschen
Lande zieht, in die wunderlichsten Händel
und skurrilsten Abenteuer gerät, als Ritter
seiner Dulcinea Psychoanalyse die erbit-
tertsten Reden und andere Schlachten
schlägt, aller Orten — wie der de la
Mancha Burgen, Ritter, Burgfräulein —
aller Orten Symbole, insbesonders ero-
tische Symbole sieht, erfüllt von der hei-
ligen Gewißheit, daß die Menschen ihre
Psyche zwischen den Beinen tragen und
ihre Genitalien an jeder Stelle Körpers
und Geistes.
Dieser Thomas ist ein urgemütliches
Gespenst, das seine Hirnschale in Händen
hält und aus dem muntren Qualm, der
ihr entsteigt, die Welt deutet... Eine
Figur, so voll der kostbarsten Narrheit
— die keine Narrheit, sondern Ernst-
Clownerie — ist noch durch keinen deut-
schen Roman gewandelt... Sie hat ein
Format und eine Funktion; der Rest ist
Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte.
Hier lehrt einer, zum Gaudium des Lesers,
die Welt über den psychoanaly-
tischen Stock springen.
drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst,
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt
und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine
drolligste demonstratio ad rem et homi-
nem von der Unfreiheit der Erscheinungen.
Wie sich hier Sinn zu Hanswurstiaden
übersteigert, Geist in närrische Aktion
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich be-
hauptet, Erkenntnis, ihrer Unverletzbar-
keit hochmütig gewiß, ins dichteste Ge-
lächter stürzt — solche lustige ÄAbenteuer-
fahrt des Gedankens hat noch kein deut-
scher Mann gewagt. |
Alfred Polgar im Berliner Tageblatt
Es kann kein schlechtes Buch sein, dem
es wie diesem gelingt, den Leser vom
Anfang bis zum Ende zu fesseln, schwere
biologische und psychologische Probleme
in witziger, ja belustigender Form dar-
zustellen, und das es zustande bringt,
derbzynische, groteske und tief-
tragische Szenen, die in ihrer Nackt-
heit abstoßend wirken mußten, mit seinem
guten Humor wie mit einem Kleide zu
behängen.
Der erziehliche Wert des Buches liegt
darin, daß Groddeck, wie einst Swift,
Rabelais und Balzac, dem pietistisch-
hypokritischen Zeitgeist die Maske vom
Gesichte reißt und die dahinter versteckte
Grausamkeit und Lüsternheit, wenn auch
mit dem Verständnis für deren Selbst-
verständlichkeit, offen zur Schau stellt.
Die Symbolik, die die Psychoanalyse
zaghaft als eine der gedankenbildenden
Faktoren einstellt, ist für Weltlein tief
im Organischen, vielleicht im Kosmischen
begründet und die Sexualität ist das
Zentrum, um das sich die ganze Symbol-
welt bewegt. Dr. Ferenczi in Imago
es muß %
Der Stil erinnert etwas an die „Pick-
wickier“, wenn auch der Inhalt durchaus
nicht so harmlos ist; für Kinder ist diese
Lektüre nicht. Frankfurter Zeitung
Ein Buch, das kaum seinesgleichen hat
unter deutschen Büchern, ein Buch von
eigentümlicher spiritueller Schärfe, die ihre
Zeichen ins Hirn des Lesers ätzt. Was
sonst als erzählende deutsche
Prosa Humor übt, scheint Wasser
T neben dieser Quintessenz... So
h 1 was Freches, Ungeniertes, raffiniert Ge-
) scheit-Verrücktes ist von Erzählern unserer
4 Sprache noch nicht gewagt worden. Man
| muß zu den Großen satirischer Dichtung,
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an Cervantes erinnert der
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GEORG GRODDECK
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EIN PSYCHOANALYTISCHER ROMAN
— die keine Narrheit, sondern Ernst-
Clownerie — ist noch durch keinen deut-
schen Roman gewandelt... Sie hat ein
Format und eine Funktion; der Rest ist
Ulk. Aber Ulk von der hellsten Sorte.
Hier lehrt einer, zum Gaudium des Lesers,
die Welt über den psychoanaly-
tischen Stock springen. Alles muß
drüber, Mensch und Tier, Politik, Kunst,
Wissenschaft; und, mit etlicher Gewalt
und Schlauheit, glückt es bei allen. Eine
drolligste demonstratio ad rem et homi-
nem von der Unfreiheit der Erscheinungen.
Wie sich hier Sinn zu Hanswurstiaden
übersteigert, Geist in närrische Aktion
umsetzt, Dogma possenreißerisch sich be-
hauptet, Erkenntnis, ihrer Unverletzbar-
keit hochmütig gewiß, ins dichteste Ge-
lächter stürzt — solche lustige Äbenteuer-
fahrt des Gedankens hat noch kein deut-
scher Mann gewagt. | ES RR TEE
Alfred Polgar im Berliner Tageblatt
Es kann kein schlechtes Buch sein, dem
es wie diesem gelingt, den Leser vom
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NERVENARZT IN BUDAPEST
INTERNATIONALE PSYCHOANALYTISCHE BIBLIOTHEK
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Dr. S. Ferenczi
Populäre Vorträge
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Psychoanalyse
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Internationaler
Ferenczi / Populäre Vorträge über Psychoanalyse
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Psychoanalytischer Verlag
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