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Full text of "Psychoanalytische Bewegung II 1930 Heft 5"

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Il. Jahrgang September-Oktober 1930 Heft 5 
ANNETTE RM: 


Die psychoanalytische 


Bewegung 
Sigm. Freud... . Ansprache im Frankfurter 
Ooethe-Haus 
Alfons Paquet . Ooethe-Preis 1930 
Fritz Wittels. . Ooethe und Freud 


W. Muschg .. Freud als Schriftsteller 
Theodor Reik es Wir Fleud- Schak 


Preis des Heftes Marr: 2- 





„Die psychoanalytische Bewegung“ 
Erscheint zweimonatlich 


Herausgegeben von A. J. Storfer 
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Die psychoanalytische 





U. Jahrgang SeptembersOktober 1930 Hefe 5 
= NIUNNNUUNIINNUNIINUNNIUNUUINUUUNMNUUMIUNUUUUUUUUUUMUUNNN 


Bewegung - 
F 
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GoethesPreis 1930 


Brief von Dr. Alfons Paquet, Sekretär des „Kuratoriums des 
GoethesPreises der Stadt Frankfurt a. M.“ an Sigm. Freud 


Frankfurt a. M., 26. Juli 1990 





Hochverehrter Herr Professor! 


Es ist dem Unterzeichneten der 'ehrenvolle Auftrag geworden, Ihnen mit- 
zuteilen, daß das Kuratörium des Goethe-Preises mit Stimmenmehrheit be- 
schiossen hat, den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, der 10.000 Reichsmark 
beträgt, in diesem Jahre Ihnen zu verleihen. 

Nach der Ordnung für die Verleihung des Goethe-Preises „soll der Preis 
einer mit ihrem Schaffen bereits zur Geltung gelangten Persönlichkeit zu- 
erkannt werden, deren schöpferisches Wirken einer dem Andenken Goethes 
gewidmeten Ehrung würdig ist“. 

Die Preisträger in den früheren Jahren waren: Stefan George, Albert 
Schweitzer, Leopold Ziegler. 

Indem das Kuratorium nunmehr Ihnen, sehr verehrter Herr Professor, den 
‚Preis zuerkennt, wünscht es die hohe Wertung zum Ausdruck zu bringen, die 
es den umwälzenden Wirkungen der von Ihnen geschaffenen neuen Forschungs- 
formen auf die gestaltenden Kräfte unserer Zeit beimißt. In streng natur- 
wissenschaftlicher Methode, zugleich in kühner Deutung der von den Dichtern 
geprägten Gleichnisse hat Ihre Forschung einen Zugang zu den Triebkräften 
der Seele gebahnt und dadurch die Möglichkeit geschaffen, Entstehen und 
Aufban vieler Kulturformen in ihrer Wurzel zu verstehen und Krankheiten 


PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 


PsA. Bewegung — 417 — 'q INTERNATIONAL *8 














































































































zu heilen, zu denen die ärztliche Kunst bisher den Schlüssel nicht besaß, Ihre 
Psychologie hat aber nicht nur die ärztliche Wissenschaft, sondern auch die 
Vorstellungswelt der Künstler und der Seelsorger, der Geschichtsschreiber und 
Erzieher aufgewühlt und bereichert. Über die Gefahren monomanischer Selbst. 
zergliederung und über alle Unterschiede geistiger Richtungen hinweg lieferte 


Ihr Werk die Grundlage eines erreuerten, besseren Verständnisses der Völker, 
Wie nach Ihrer eigenen Mitteilung die frühesten Anfänge Ihrer wissenschaft. 





lichen Studien auf einen Vortrag von Goethes Aufsatz „Die Natur“ zurück 
gehen, so ist im Letzten auch der durch Ihre Forschungsweise geförderte, 
gleichsam mephistophelische Zug zum schonungslosen Zerreißen aller Schleier 
der unzertrennliche Begleiter der Faustischen Unersättlichkeit und Ehrfurcht. 
vor den im Unbewußten schlummernden bildnerisch-schöpferischen Gewalten, 


Die Ihnen zugedachte Ehrung gilt im gleichen Maße dem Gelehrten, wie auch 
dem Schriftsteller und dem Kämpfer, der in unserer, von brennenden Fragen 
bewegten Zeit dasteht als ein Hinweis auf eine der lebendigsten Seiten des 
Goetheschen Wesens. 

Der Punkt 4 der vom Magistrat der Stadt Frankfurt errichteten „Ordnung“ 
lautet: „Die festliche Verleihung des Goethe-Preises geschieht jeweils am 


28. August im Goethe-Haus, und zwar im Beisein der mit dem Preis aus- 
gezeichneten Persönlichkeit.“ 

Im Aujtrage des Vorsitzenden des Kuratoriums, des Herrn Oberbürger- 
meisters Dr. Landmann, erlaube ich mir, schon heute die entsprechende spätere 
Einladung anzukündigen und die Hoffnung auszusprechen, daß es Ihnen, Herr 
Professor, möglich sein werde, der Einladung, zur Entgegennahme des Preises 
persönlich in Frankfurt zu erscheinen, Folge zu leisten und anf die an Sie 
gerichtete Begrüßung mit einigen Ausführungen zu antworten, deren Inhalt, 
einer bisher durchgeführten schönen Gepflogenheit zufolge, eine innere Be- 
ziehung des Preisträgers zu Goethe zum Ausdruck bringt. 

Eine öffentliche Bekanntgabe der Entscheidung soll vor dem 28. August 
nicht stattfinden. Den bisher da und dort in die Presse gelangten Meldungen | 
oder Vermutungen über den diesjährigen Preisträger steht das Kuratorium fern. 

Empfangen Sie, hochverehrter Herr Professor, mit den aufrichtigsten Glück- 
wünschen zu der geschehenen Wahl den Ausdruck meiner vorzüglichen Hoch- 
achtung und Ergebenheit. 








Kuratorium des Goethe-Preises | 
der Stadt Frankfurt a. M. | 


Der Sekretär: Dr. Alfons Paquet 


— 418 = 






























Antwort Sigm. Freuds an Dr. Alfons Paquet 


Grundlsee, 3. 8. 1950 
Hochgeehrter Herr Doktor! 
Ich bin durch öffentliche Ehrungen nicht verwöhnt worden und habe mich 
darum so eingerichtet, daß ich solche entbehren konnte. Ich mag aber nicht 
bestreiten, daß mich die Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt 
sehr erfreut hat. Es ist etwas an ihm, was die Phantasie besonders erwärmt und 
eine seiner Bestimmungen räumt die Demütigung weg, die sonst durch solche 
A uszeichnungen mitbedingt wird. 
x Für Ihren Brief habe ich Ihnen besonderen Dank zu sagen, er hat mich 
ergriffen und verwundert. Von der liebenswürdigen Vertiefung in den Charak- 
ter meiner Arbeit abzusehen, habe ich doch nie zuvor die geheimen persön- 
lichen Absichten derselben mit solcher Klarheit erkannt gefunden wie von 
H Ihnen, und hätte Sie gern gefragt, woher Sie es wissen. 
Leider erfahre ich aus Ihrem Brief an meine Tochter, daß ich Sie in nächster 
Zeit nicht sehen soll, und Aufschub ist in meinen Lebenszeiten immerhin be- 
denklich. Natürlich bin ich gern bereit, den von Ihnen angekündigten Herrn 
(Dr. Michel) zu empfangen. 
Zur Feier nach Frankfurt kann ich leider nicht kommen, ich bin zu gebrech- 
lich für diese Unternehmung. Die Festgesellschaft wird nichts dadurch ver- 
lieren, meine Tochter Anna ist gewiß angenehmer anzusehen und anzuhören 
als ich. Sie soll einige Sätze verlesen, die Goethes Beziehungen zur Psycho- 
analyse behandeln und die Analytiker selbst gegen den Vorwurf in Schutz 
nehmen, daß sie durch analytische Versuche an ihm die dem Großen schuldige 
Ehrjurcht verletzt haben. Ich hoffe, daß es angeht, das mir gestellte T’hema: 
„Die inneren Beziehungen des Menschen und Forschers zu Goethe“ in solcher 
Weise umzubeugen, oder Sie würden noch so liebenswürdig sein, mir davon 


h Ihr in Hochachtung herzlich ergebener Freud 
5 %* 

\ 
_ Die offizielle Zuerkennung des Goethe-Preises 1930 fand am 28. August 
im Frankfurter Goethe-Haus im Rahmen eines Festaktes statt. Der Vorsitzende 
des Kuratoriums 
Oberbürgermeister Dr. Landmann 
jerlas eine Rede, in der die Entscheidung des Kuratoriums begründet und 
die Bedeutung des schöpferischen Wirkens Freuds hervorgehoben wurde. 
Oberbürgermeister Landmann wies auch darauf hin, daß „in der Verleihung 


— 49 — ss" 





m 


des Preises an den Österreicher Freud wieder etwas von jener alten Be- 
ziehung Frankfurts zu Österreich im Sinne der unzerstörbaren Kulturgemein- 
schaft lebendig werde, für die das Haus des kaiserlichen Rates Goethe ein 
Sinnbild war.“ Die Rede des Oberbürgermeisters wird im Jahrbuch des 
Freien Deutschen Hochstiftes veröffentlicht werden. 


Die Widmungsurkunde 
hat folgenden Wortlaut: 


„Den von ihr gestifteten Goethepreis verleiht in diesem Jahre die 
Stadt Frankfurt dem als Schöpfer grundlegend neuer Betrachtungs- 
formen anerkannten Forscher Sigmund Freud aus Wien. In streng 
naturwissenschaftlicher Methode, zugleich in kühner Deutung der von 
den Dichtern geprägten Gleichnisse, hat Sigmund Freud einen Zugang 
zu den Triebkräften der Seele gebahnt und dadurch die Möglichkeit 
geschaffen, Entstehen und Aufban der Kulturformen zu erkennen und 
manche ihrer Krankheiten zu heilen. Die Psychoanalyse hat nicht nur 
die ärztliche Wissenschaft, sondern auch die Vorstellungswelt der 
Künstler und Seelsorger, der Geschichtsschreiber und Erzieher auf- 
gewühlt und bereichert. Über die Gefahren der Selbsizergliederung 
und über alle Unterschiede geistiger Richtungen hinweg lieferte 
Sigmund Freud die Grundlage einer erneuerten Zusammenarbeit der 
Wissenschaften und eines besseren gegenseitigen Verständnisses der 
Völker. Wie die frühesten Anfänge der Frendschen Seelenforschung 
auf einen Vortrag von Goethes Aufsatz ‚Die Natur‘ zurückgehen, 
so erscheint im letzten auch der durch die Freudsche Forschungsweise 
geförderte mephistophelische Zug zum schonungslosen Zerreißen aller 
Schleier als ein unzertrennlicher Begleiter der faustischen Unersättlich- 
keit und Ehrfurcht vor den im Unbewußten schlummernden bildnerisch- 
schöpferischen Gewalten. Dem großen Gelehrten, Schriftsteller und 
Kämpfer Sigmund Freud ist bisher jede äußere Ehrung versagt ge- 
blieben, obgieich die umwälzende Wirkung seines Werkes wie die kaum 
eines anderen Lebenden den Zeitgeist mitbestimmte. Das Kuratorium 
wünscht nach sorgfältiger Erwägung aller Für und Wider mit dieser 
Ehrung auf die Auswertung der Freudschen Vorstellungswelt hinzu- 
weisen als auf einen Durchgang zu einer von überlebten Vorstellungen‘ 
gereinigten und nen gefestigten Welt der Werte.“ 





— 420 — 


























































































































Ansprache im Frankfurter Goethehaus 
am 28. August 1930 
Von 
Sıgm. Freud 
Verlesen von Anna Freud 


Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt. Ich 
peobachtete die feineren Störungen der seelischen Leistung bei 
Gesunden und Kranken und wollte aus solchen Anzeichen er- 
schließen — oder, wenn Sie es lieber hören: erraten —, wie 
der Apparat gebaut ist, der diesen Leistungen dient, und 
_ welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinanderwirken. 
"Was wir, ich, meine Freunde und Mitarbeiter, auf diesem 
Wege lernen konnten, erschien uns bedeutsam für den Auf- 
bau einer Seelenkunde, die normale wie pathologische Vor- 
gänge als Teile des nämlichen natürlichen Geschehens verstehen 
Täßt. 

Von solcher Einengung ruft mich Ihre mich überraschende 
"Auszeichnung zurück. Indem sie die Gestalt des großen Uni- 
_ versellen heraufbeschwört, der in diesem Hause geboren wurde, 
in diesen Räumen seine Kindheit erlebte, mahnt sie, sich 
gleichsam vor ihm zu rechtfertigen, wirft sie die Frage auf, wie 
er sich verhalten hätte, wenn sein für jede Neuerung der 
Wissenschaft ar Blick auch auf die Psychoanalyse 
gefallen wäre. 

An Vielseitigkeit kommt Goethe ja Leonardo da 
Vinci, dem Meister der Renaissance, nahe, der Künstler und 
"Forscher war wie er. Aber Menschenbilder können sich nie 
"wiederholen, es fehlt auch nicht an tiefgehenden Unterschieden 
zwischen den beiden Großen. In Leonardos Natur vertrug sich 
“der Forscher nicht mit dem Künstler, er störte ihn und er- 
drückte ihn vielleicht am Ende. In Goethes Leben fanden 


= & 


— a — 





































































































































































































z 


beide Persönlichkeiten Raum nebeneinander, sie lösten einander 
zeitweise in der Vorherrschaft ab. Es liegt nahe, die Störung 
bei Leonardo mit jener Entwicklungshemmung zusammenzu. 
bringen, die alles Erotische und damit die Psychologie seinem 
Interesse entrückte. In diesem Punkt durfte Goethes Wesen 
sich freier entfalten. 

Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeit. 
genossen, die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt. 
Er war ihr selbst in manchen Stücken nahegekommen, hatte 
in eigener Einsicht vieles erkannt, was wir seither bestätigen 
konnten, und manche Auffassungen, die uns Kritik und Spott 
eingetragen haben, werden von ihm wie selbstverständlich ver. 
treten. So war ihm z. B. die unvergleichliche Stärke der ersten 
affektiven Bindungen des Menschenkindes vertraut. Er feierte 
sie in der Zueignung der „Faust“-Dichtung in Worten, die 
wir für jede unserer Analysen wiederholen könnten : 

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, 


Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt, 
Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten ?* 


„Gleich einer alten, halbverklungnen Sage 
Kommt erste Lieb’ und Freundschaft mit herauf.“ 


Von der stärksten Liebesanziehung, die er als reifer Mann 
erfuhr, gab er sich Rechenschaft, indem er der Geliebten zu- 
rief: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester 
oder meine Frau.“ 

Er stellte somit nicht in Abrede, daß diese unvergänglichen 
ersten Neigungen Personen des eigenen Familienkreises zum 
Objekt nehmen. 

Den Inhalt des Traumlebens umschreibt Goethe mit den so 


stimmungsvollen Worten: 
„Was von Menschen nicht gewußt, 
Oder nicht bedacht, j 
Durch das Labyrinth der Brust 
Wandelt in der Nacht.“ 


— 422 — 


























Hinter diesem Zauber erkennen wir die altehrwürdige, un- 
bestreitbar richtige Aussage des Aristoteles, das 'Träumen 
sei die Fortsetzung unserer Seelentätigkeit in den Schlafzustand, 
vereint mit der Anerkennung des Unbewußten, die erst die 
Psychoanalyse hinzugefügt hat. Nur das Rätsel der Traument- 
stellung findet dabei keine Auflösung. 

In seiner vielleicht erhabensten Dichtung, der „Iphigenie*, 
zeigt uns Goethe ein ergreifendes Beispiel einer Entsühnung, 
einer Befreiung der leidenden Seele von dem Druck der Schuld, 
und er läßt diese Katharsis sich vollziehen durch einen leiden- 
schaftlichen Gefühlsausbruch unter dem wohltätigen Einfluß einer 
"liebevollen Teilnahme. Ja, er hat sich selbst wiederholt in 
_ psychischer Hilfeleistung versucht, so an jenem Unglücklichen, 
der in den Briefen Kraft genannt wird, an dem Professor 
Plessing, von dem er in der „Campagne in Frankreich‘ er- 
zählt, und das Verfahren, das er anwendete, geht über das 
E Vorgehen der katholischen Beichte hinaus und berührt sich in 
"merkwürdigen Einzelheiten mit der Technik unserer Psycho- 
analyse. Ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel 
‚einer psychotherapeutischen Beeinflussung möchte ich hier aus- 
_ führlich mitteilen, weil es vielleicht weniger bekannt und doch 
sehr charakteristisch ist. Aus einem Brief an Frau v. Stein 
(Nr. 1444 vom 5. September 1785): 

„Gestern Abend habe ich ein Psychologisches Kunststück gemacht. Die 
Herder war immer noch auf das Hypochondrischste gespannt über alles, 
was ihr im Carlsbad unangenemes begegnet war. Besonders von ihrer 
Hausgenossin. Ich ließ mir alles erzählen und beichten, fremde Unarten 
und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und Folgen und zuletzt 
absolvirte ich sie und machte ihr scherzhaft ‚unter dieser Formel begreif- 


lich, daß diese Dinge nun abgethan und in die Tiefe des Meeres ge- 
worfen seyen. Sie ward selbst lustig darüber und ist würklich kurirt.“ 


Den Eros hat Goethe immer hochgehalten, seine Macht nie 
zu verkleinern versucht, ist seinen primitiven oder selbst mut- 
willigen Äußerungen nicht minder achtungsvoll gefolgt wie 


— 4235 — 






















































































































































































| 


seinen hochsublimierten und hat, wie mir scheint, seine’ Wesens. 
einheit durch alle seine Erscheinungsformen nicht weniger ent. 
schieden vertreten als vor Zeiten Plato. Ja, vielleicht ist es 
mehr als zufälliges Zusammentreffen, wenn er in den „Wahl. 
verwandtschaften‘‘ eine Idee aus dem Vorstellungskreis der 
Chemie auf das Liebesleben anwendete, eine Beziehung, von 
der der Name selbst der Psychoanalyse zeugt. 

Ich bin auf den Vorwurf vorbereitet, wir Analytiker hätten 
das Recht verwirkt, uns unter die Patronanz Goethes zu stellen, 
weil wir die ihm schuldige Ehrfurcht verletzt haben, indem wir 
die Analyse auf ihn selbst anzuwenden versuchten, den großen 
Mann zum Objekt der analytischen Forschung erniedrigten. Ich 
aber bestreite zunächst, daß dies eine Erniedrigung beabsichtigt 
oder bedeutet. 

Wir alle, die wir Goethe verehren, lassen uns doch ohne 
viel Sträuben die Bemühungen der Biographen gefallen, die 
sein Leben aus den vorhandenen Berichten und Aufzeichnun- 
gen wiederherstellen wollen. Was aber sollen uns diese Bio- 
graphien leisten? Auch die beste und vollständigste könnte 
die beiden Fragen nicht beantworten, die allein wissenswert 
scheinen. 

Sie würde das Rätsel der wunderbaren Begabung nicht auf- 
klären, die den Künstler macht, und sie könnte uns nicht 
helfen, den Wert und die Wirkung seiner Werke besser zu 
erfassen. Und doch ist es unzweifelhaft, daß eine solche Bio- 
graphie ein starkes Bedürfnis bei uns befriedigt. Wir verspü- 
ren dies so deutlich, wenn die Ungunst der historischen Über- 


lieferung diesem Bedürfnis die Befriedigung versagt hat, z.B. 


im Falle Shakespeares. Es ist uns allen unleugbar peinlich, 
daß wir noch immer nicht wissen, wer die Komödien, Trauer- 
spiele und Sonette Shakespeares verfaßt hat, ob wirklich der 
ungelehrte Sohn des Stratforder Kleinbürgers, der in London 
eine bescheidene Stellung als Schauspieler erreicht, oder doch 


— 424 — 





_ eher der hochgeborene und feingebildete, leidenschaftlich un- 
ordentliche, einigermaßen deklassierte Aristokrat Edward de 
Vere, siebzehnter Earl of Oxford, erblicher Lord Great 
Chamberlain von England. Wie rechtfertigt sich aber ein sol- 
ches Bedürfnis, von den Lebensumständen eines Mannes Kunde 
zu erhalten, wenn dessen Werke für uns so bedeutungsvoll 
geworden sind? Man sagt allgemein, es sei das Verlangen, 
uns einen solchen Mann auch menschlich näherzubringen. 
Lassen wir das gelten; es ist also das Bedürfnis, affektive Be- 
ziehungen zu solchen Menschen zu gewinnen, sie den Vätern, 
_ Lehrern, Vorbildern anzureihen, die wir gekannt oder deren 
Einfluß wir bereits erfahren haben, unter der Erwartung, daß 
ihre Persönlichkeiten ebenso großartig und bewundernswert 
_ sein werden wie die Werke, die wir von ihnen besitzen. 
Immerhin wollen wir zugestehen, daß noch ein anderes 
Motiv im Spiele ist. Die Rechtfertigung des Biographen ent- 
hält auch ein Bekenntnis. Nicht herabsetzen zwar will der 
- Biograph den Heros, sondern ihn uns näherbringen. Aber das 
heißt doch die Distanz, die uns von ihm trennt, verringern, 
wirkt doch in der Richtung. einer Erniedrigung. Und es ist 
unvermeidlich, wenn wir vom Leben eines Großen mehr er- 
fahren, werden wir auch von Gelegenheiten hören, in denen 
er es wirklich nicht besser gemacht hat als wir, uns menschlich 
_ wirklich nahe gekommen ist. Dennoch meine ich, wir erklären 
die Bemühungen der Biographik für legitim. Unsere Einstellung 
zu Vätern und Lehrern ist nun einmal eine ambivalente, denn 
‚unsere Verehrung für sie deckt regelmäßig eine Komponente 
_ von feindseliger Auflehnung. Das ist ein psychologisches Ver- 
_ hängnis, läßt sich ohne gewaltsame Unterdrückung der Wahr- 


_ heit nicht ändern und muß sich auf unser Verhältnis zu den 





2 großen Männern, deren Lebensgeschichte wir erforschen wollen, 
fortsetzen. 
Wenn die Psychoanalyse sich in den Dienst der Biographik 


u. e 


























































































































begibt, hat sie natürlich ein Recht, nicht härter behandelt zu 
werden als diese selbst. Die Psychoanalyse kann manche Auf. 
schlüsse bringen, die auf anderen Wegen nicht zu erhalten 
sind, und so neue Zusammenhänge aufzeigen in dem Weber. 
meisterstück, das sich zwischen den Triebanlagen, den Erleb. 
nissen und den Werken eines Künstlers ausbreitet. Da es eine 
der hauptsächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den 
Stoff der Außenwelt psychisch zu bewältigen, meine ich, man 
müße es der Psychoanalyse danken, wenn sie auf den großen 
Mann angewendet zum Verständnis seiner großen Leistung 
beiträgt. Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es 
noch nicht weit gebracht. Das rührt daher, daß Goethe nicht 
nur als Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz 
der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer 
Verhüller. Wir können nicht umhin, hier der Worte Mephistos 
zu gedenken: 


„Das Beste, was du wissen kannst, 
Darfst du den Buben doch nicht sagen.“ 


Zum GoethesPreis 1930 


Rede im Südwestdeutschen Rundfunk, am 28. August 1930 in Frankfurt a. M. 


Von 


Alfons Paquet 


Die Stadt Frankfurt hat in diesem Jahr ihren Goethe-Preis abermals 
einem Gelehrten, nicht einem Dichter gegeben. Man kann das beklagen 
wie es Herbert Eulenberg gewissermaßen im Namen der deutschen 
Dichter tut. Eulenberg hat freilich, was Frankfurt betrifft, im Grund- 
sätzlichen Unrecht, denn den ersten Goethe-Preis, der vor einigen 


— 426 — 



























ahren verliehen wurde, erhielt Stefan George, und es ist zu erwarten, 
daß in künftigen Jahren Dichter wieder an die Reihe kommen. Im 
übrigen schreibt die Satzung des Goethe-Preises, und sicherlich aus gut 
überlegten Gründen, nicht vor, daß der Preis jedes Jahr einem Dichter 
gegeben werden müsse. Es handelt sich hier nicht um einen Literatur- 
preis wie bei dem Preis der Schillerstiftung oder der Kleiststiftung. 
Nach der ganzen Art, wie bisher bei der Wahl für den Frankfurter 
Goethe-Preis verfahren wurde, könnte man eher von einem Persönlich- 
keitspreise sprechen. Daher wohl auch das Ansehen, das diese Aus- 
zeichnung in den wenigen Jahren seit sie gestiftet wurde, gewonnen 
hat. So hat der Goethe-Preis dem bis dahin mehr im Ausland als in 
Deutschland bekannten großen Bach-Biographen, Theologen, Orgel- 
künstler und Kolonialarzt Albert Schweitzer und seinem Werk einen 
Weg zum Herzen der deutschen Öffentlichkeit gebahnt. Er hat ferner, 
wie es einer einstigen Freien Reichsstadt wohl würdig: ist, das ideen- 
reiche Werk Leopold Zieglers in seiner Bedeutung für die Gestaltung 
schöpferischer politischer Gedanken hervorgehoben. In dieser seiner 
Wirkung wäre der Preis auch Männern vom Zuschnitte Fritjof Nansens 
oder Friedrich Naumanns angemessen gewesen. Nicht einmal die mittel- 
bare oder die unmittelbare Beziehung auf Goethe ist der letzte Sinn 
des Goethe-Preises. Er könnte sonst leicht in der Forderung nach einer 
epigonischen Dichtung gipfeln oder Leute belohnen, nur weil sie ein 
mehr oder minder gutes Buch über Goethe geschrieben haben. Da ist 
es denn schon richtiger, sich an das napoleonische Vorla un homme zu 
halten, wie es für Goethe selber zutraf. 

Es braucht nun also auch zwischen Goethe und Sigmund Freud kein 
geistiger Zusammenhang künstlich konstruiert zu werden. Man braucht 
nicht mit dialektischen Mitteln die klaffenden Unterschiede zu über- 
brücken zwischen Goethe, dem Sohn einer frühbürgerlichen, höfischen 
Epoche, und dem repräsentativen Vertreter unserer Zeit, die in vollem 
Übergang und in voller analytischer Auflösung begriffen ist. Es fehlt 
ja keineswegs an Stimmen, die in der Verbindung dieser beiden Namen 
etwas Ungereimtes, geradezu Widersinniges finden. Man erinnert da 
an Goethes Abneigung gegen Newton. Man mag auch darauf hin- 
weisen, wie sehr das Weltbild Goethes, der das Geheimnis verehrte, mit 
seinem frommen Vertrauen auf einen letzten Sinn und eine tiefe Ge- 


UT — 








































































































































































































. 


setzmäßigkeit alles menschlichen und natürlichen Geschehen, * sich von 
dem Weltbild des Gelehrten unterscheidet, das nur kausalmechanisch 
Gesetzmäßigkeiten im Sinne eines materialistisch-darwinistischen Ent. 
wicklungsgedankens zugibt. Aber übertreibt man nicht hier schon die 
Gegensätzlichkeit? Bezeichnen nicht schon die Namen F echner, 
Schopenhauer und Nietzsche einen Weg, der zwischen beiden 
Anschauungsweisen, der intuitiven und der wissenschaftlichen in Wirk. 
lichkeit immer offen geblieben ist? Das gleiche gilt für Freud. Und es 
könnte sogar sein, daß zwischen dem modernen Naturwissenschafter 
Sigmund Freud, der ja in seinen Schriften vielfach die von den Dichtern 
geprägten Bilder erwähnt, und sie in einer oft überraschenden Weise 
deutet und Goethe sich innere Beziehungen ergeben (Übereinstimmungen), 
psychologischen Entdeckens, die gerade auf Goethe ein neues Licht 
werfen. Man erinnert sich, daß erst kürzlich auf einer Tagung bedeu- 
tender Chemiker die Gestalt Goethes als die eines Bahnbrechers der 
modernen Chemie von berufenem Munde gefeiert wurde. Es handelt 
sich bei den Beziehungen zur Psychoanalyse sowohl um den Goethe 
der naturwissenschaftlichen Betrachtung, wie um den Dichter des Faust, 
der Wahlverwandtschaften, der Iphigenie und der Natürlichen Tochter, 
den Übersetzer des Benvenuto Cellini. 

Was zunächst die Beziehungen des Psychoanalytikers Freud zur gro- 
ßen Dichtung überhaupt betrifft, so sei hier nur an das zum Mode- 
wort gewordene Vorstellungsbild vom Odipuskomplex erinnert. Der 
moderne Seelenarzt fand eine seiner tiefsten Entdeckungen von dem 
alten Griechen Sophokles vorweggenommen. So nehmen die Studien 
des Wiener Forschers in ihren verschiedenen "Themen und Auflagen 
immer wieder, und oft an entscheidender Stelle auf Dante und auf 
Shakespeare, den Schöpfer der Hamletgestalt, Bezug. Freuds Be- 
lesenheit in den Werken der Weltliteratur ist nicht die zufällige des 
Liebhabers. Sie erscheint wie die unentbehrliche Ergänzung seiner den 
Phänomenen der psychiatrischen Beobachtung zugewendeten Arbeiten, 
und man versteht den Stoßseufzer des Forschers, der bei den Dichtern 
im Flug ihrer Phantasie oft jene letzten Erkenntnisse gewonnen findet, 
die er selbst nur in mühselig tastender Verstandesarbeit zu sichern ver- 
mag. Erfährt man schließlich aus einer aufschlußreichen autobiographi- 
schen Arbeit Freuds (die vor mehreren Jahren in den bei Meiner in 


u 7 


























Leipzig herausgegebenen Selbstdarstellungen erschien), daß der Vortrag 
von Goethes „Fragment über die Natur“ in einer populären Vor- 
lesung dem jungen Menschen kurz vor der Reifeprüfung die Entschei- 
dung gab, daß er Medizin inskribierte, so wird ein Zusammenhang 
klar, den man aus dem Werke Freuds und seiner genauen Kenntnis 
auch des „unbekannten“ Goethe schon ahnen konnte. 

Noch in einer anderen Weise betrachtet, steht die Verleihung des 
Goethe-Preises an Freud in einer dichterischen Linie. Sie versteht sich 
vom Dichterischen her, denn der Sinn der Freudschen Lebensarbeit ist 
ja dieser: über die Bereiche hinaus, die sonst und im allgemeinen dem 
Arzte zugänglich sind, hat hier ein Lebender es gewagt, in den Orkus 
zu den unerklärbaren dunklen Dingen hinabzusteigen und durch die 
Tat der Namengebung ein Bezwinger der Schatten zu sein. Eine spätere 
Forschung mag die Namen prüfen, es bleibt das Schöpferische der 
Namengebung. Sie hat nicht nur die deutsche Sprache bis in den 
Sprachgebrauch des Alltages hinein um neue Vorstellungen, neue Be- 
griffe bereichert, sondern die Sprache der ganzen zivilisierten Welt. 
Über alles Vergängliche, Zweifelhafte und Anfangsmäßige der Einzel- 
leistung hinaus bleibt eine neue Schau der Dinge. Es bleibt dabei, daß 
das methodische Denken Freuds dem Denken unserer heutigen Welt 
etwas wie einen Erdrutsch verursacht hat. Es ist vielleicht das Merk- 
würdigste an dieser Schau, daß älteste mythische Vorstellungen aufs 
neue an ihr wach geworden sind. Wie die Rüstung der Athene erst 
vollständig ist mit ihrem Schilde, in dessen Mitte sich das Bild der Me- 
dusa befindet, so ist auch die Rüstung der modernen Wissenschaft erst 
vollständig mit der Trophäe der besiegten Unterwelt in ihrem 
Wappen. 

Das Werk Sigmund Freuds hat den Zeitgeist mitbestimmt wie das 
Werk nur weniger, die noch leben. Es bedeutet noch nicht den Sieg 
über den Orkus. Zuweilen eher seine Entfesselung. Aber es hat Er- 
kenntnisse gefördert, die wichtig sind für jeden, der als Mensch mit 
Menschen zu tun hat. Deshalb ist es über den Bereich der wissen- 
schaftlichen ärztlichen Disziplin hinausgedrungen. Es hat den Er- 
ziehern neue Mittel und Wege der Menschenbildung erschlossen. Freud, 
der selber oft den Winken der Dichter folgt, gibt den Künstlern und 
den Seelsorgern wichtige Fingerzeige. Thomas Mann, Hermann Hesse, 


— 429 — 




































































































































































| 


Alfred Döblin, die ganze neuere Literatur ist ohne den Freudschen 
Einfluß undenkbar. In England zeigen die Werke von Joyce und 
Lawrence seine Spuren. Die Theologie des Beichtstuhles, aber 
auch die kritische theologische Wissenschaft ist nicht davor zurückge. 
schreckt, von Freudschen Denkformen zu profitieren. Literaturwissen- 
schaft, Biographie und große Geschichtsschreibung, dann die Volks. 
kunde mit ihren Nachbarbereichen der Mythologie und der Prähistorie, 
auch das Rechtswesen mit seinen Aufgaben der psychologischen Ur. 
sachenergründung verdanken schon heute den von Freud gemachten 
und ausgearbeiteten Entdeckungen wesentliche Fortschritte, _ Selbst auf 
die jüngsten Formen der Menschendarstellung in ihren malerischen und 
schauspielerischen Bereichen ist die Tiefenpsychologie nicht ohne Ein. 
fluß geblieben. Es hat gewiß in diesem Prozeß der allgemeinen Auf. 
wühlung an unbeholfenen und mißglückten analytischen Versuchen 
nicht gefehlt. Es fehlte nicht an erbitterter und ironischer Abwehr. Es 
ist nicht nötig, das weite Bild dieser Kampffront hier aufzurollen. Die 
Richtungen, die Schulen, die sich auf die Freudsche Forschung stützen, 
ebenso wie sie sich wegen ihrer Früchte bekämpfen, sind kaum noch 
zu übersehen. Soll man für die Mängel und Entgleisungen der Schüler 
den Meister verantwortlich machen? Bis zu dem Grade ja, als Freud 
in seiner scharfen Selbstkontrolle und seiner fast pedantisch wirkenden 
Vorsicht sein eigenes Werk immer wieder als Stückwerk und Anfang 
bezeichnet und damit stürmischen Temperamenten den Weg freiläßt. 
Aber es erscheint angesichts dieser Gesamtlage geradezu als der Sinn 
der mit dem Goethe-Preis beabsichtigten Ehrung, ein Lebenswerk von 
größter Anlage auszuzeichnen, das den Ruhm deutscher, europäischer 
Wissenschaft bis in die fernsten Erdteile getragen hat und das in 
seinen Auswirkungen noch nirgends erschöpft ist. Es war an der Zeit, 
dieses Lebenswerk über die Sphäre der Mißverständnisse und Befeh- 
dungen hinauszuheben in jene Sphäre, wo sich alles Gültige begegnet. 


ÄNINNNRUNUNINNNNNUNNUN 
— 430 — 





Goethe und Freud 


Von 


Fritz Wittels 





Sigmund Freud ist ein Arzt, der seit mehr als vierzig Jahren 
Nervenkranke behandelt, die ihm von Nah und Fern zuströmen. Sein 
ärztlicher Name ist rund um den Erdball berühmt, er hat eine neue Me- 
thode angegeben, mit der hunderte anerkannte und tausende nicht aner- 
kannte Schüler Kranke und Krankheiten behandeln, die vor Freud einer 
systematischen Behandlung nicht zugänglich waren. Somit hältihn die Welt 
nicht nur für einen Arzt, sondern für einen großen Arzt, und niemand 
würde sich wundern, wenn er in der Stadt Wien oder anderwärts 
gerade als Heilkünstler ein steinernes Denkmal erhielte. Aber Freud 
selbst hält nicht viel von seiner ärztlichen Tätigkeit. Wir lesen in 
einer Publikation von 1927: „Nach 41jähriger, ärztlicher Tätigkeit sagt 
mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich kein richtiger Arzt ge- 
wesen. Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung 
meiner ursprünglichen Absicht“ [die ursprüngliche Absicht war natur- 
wissenschaftliche Erkenntnis und die Ablenkung war verursacht durch 
die Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen] „und mein 
Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg“ [nämlich 
über Behandlung von Nervenkranken] „die anfängliche Richtung 
wiedergefunden habe... In den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, 
etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst 
etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig. Die Inskription an 
der medizinischen Fakultät schien der beste Weg dazu, aber dann ver- 
suchte ich's — erfolglos — mit der Zoologie und der Chemie, bis ich 
unter dem Einfluß v. Brückes, der größten Autorität, die je auf 
mich gewirkt hat, an der Physiologie haften blieb, die sich damals 
freilich zu sehr auf Histologie einschränkte. Ich hatte dann bereits alle 
medizinischen Prüfungen abgelegt, ohne mich für etwas Ärztliches zu 
interessieren, bis ein Mahnwort des verehrten Lehrers mir sagte, daß 
ich in meiner armseligen materiellen Situation eine theoretische Lauf- 
bahn vermeiden müßte. So kam ich von der Histologie des Nerven- 


— 431 — 




































































































































































€. 


systems zur Neuropathologie und auf Grund neuer Anregungen zur 
Bemühung um die Neurosen. Ich meine aber, mein Mangel an der 
richtigen ärztlichen Disposition hat meinen Patienten nicht sehr ge- 
schadet. Denn der Kranke hat nicht viel davon, wenn das therapeu- 
tische Interesse beim Arzt affektiv überbetont ist. Für ihn ist es am 
besten, wenn der Arzt kühl und möglichst korrekt arbeitet.“ 

Diese eisige, zum Schluß nur etwas gemilderte Absage an die 
Medizin ist bei Freud nicht etwa spät im Leben entstanden, sie war 
immer da und mit verschiedenen Worten immer die gleiche. Rück- 
blickend auf die Zeit, bevor er sich zum Studium der Medizin ent- 
schloß, hören wir ihn sagen: „Obwohl wir in sehr beengten Verhält- 
nissen lebten, verlangte mein Vater, daß ich in der Berufswahl nur 
meinen Neigungen folgen sollte. Eine besondere Vorliebe für die Stel. 
lung und Tätigkeit des Arztes habe ich in jenen Jugendjahren nicht 
verspürt, übrigens auch später nicht. Eher bewegte mich eine Art von 
Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf 
natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als 
eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Indes, 
die damals aktuelle Lehre Darwins zog mich mächtig an, weil sie 
eine außerordentliche Förderung des Weltverständnisses versprach, und 
ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ‚Die 
Natur‘ in einer populären Vorlesung, kurz vor der Reifeprüfung die 
Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.“ 

Wenn man das und manches Ähnliches liest, was Freud über seine 
Stellung zur Medizin und zu seinen Medizinerkollegen veröffentlicht hat 
und dabei Freuds medizinische Hochleistungen nicht kennt, käme man 
schwer auf die Idee, daß hier einer schreibt, der zu den erfolgreichsten 
Medizinern des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts zählt. 
Freud legt so sehr das Hauptgewicht auf seine Leistung in der Psycho- 
logie, daß ihn das Licht stört, das von seinen ärztlichen Leistungen 
ausstrahlt. Die Zukunft wird entscheiden, ob die Psychoanalyse in ihrer 
doppelten Bedeutung als Heilmethode und als Psychologie mehr dem 
ärztlichen Praktiker oder dem theoretischen Seelenforscher zugehört. 
Freuds Verhalten erinnert an die Polarität so vieler großer Geister. 
die den Beifall dort ablehnen, wo er ihnen willig und reichlich 
gespendet wird — in Freuds Fall mindestens von den Leidenden, 


— 432 — 


denen seine Methode hilft, wenn schon nicht von der Majorität der 
Ärzte — und ihn dort heiß erstreben, wo ihre Zeit nicht mit kommt. 
Lionardo da Vinci wollte als Aviatiker unsterblich werden und Goethe 
hielt seine umfangreiche und eher unglückliche Farbenlehre für sein 
bestes Werk. 

Auf die Frage, warum denn Freud bei so viel herzlicher und 
dauernder Abneigung gleichwohl Medizin studiert hat, erhalten wir 
eine verblüffende Antwort. Ein Aufsatz von Goethe hat das 
Wunder vollbracht. Diesen Aufsatz wollen wir nachlesen. Wir sind 
aber sicher, daß die magische Gewalt nicht sowohl in seinem Inhalt als in der 
Person Goethes zu finden sein wird, zu dem Freud von früher Jugend 
an in einem besonderen Verhältnis stand. Man steht heute den großen 
Männern der Nation im allgemeinen nicht mehr mit jener partizipie- 
renden Verehrung gegenüber wie um die Mitte des neunzehnten Jahr- 
hunderts und etwas später. Auch damals war eher Schiller der Halb- 
gott der deutschen Nation, soweit sie als kompakte Masse in Betracht 
kam. Goethe hatte zwar gleichfalls Denkmäler in allen deutschen 
- Städten, aber er war nicht populär. Man kannte einige seiner "Theater- 
stüucke und führte sie auf, liebte viele seiner Gedichte und setzte sie 
in Musik, schon. weniger las man seine späteren Romane. Die ins Un- 
geheuere ragende, einzigartige Persönlichkeit Goethes war der Menge 
ganz unbekannt und ist es bis heute geblieben. Dieser Dom zeigte 
keinen Eingang für den kleinen Mann und Spießbürger, hingegen 
so manche abstoßende Seiten, die dem Bildungsphilister unbegreiflich 
waren. Nur weil ihm gelehrt war, Goethe sei der größte Dichter 
deutscher Sprache, bemühte sich. der kleine Mann, über so viel Sonder- 
bares in Goethes Leben und Werken schweigend hinweg zu schauen. 





















+ 


Goethes Weltruf begann früh. Er war ein dreiundzwanzigjähriger 
Jüngling, als er 1772 den kurzen Roman „Die Leiden des jungen 
Werther“ herausgab. Diese Liebesgeschichte, im sentimentalen und 
schwärmerischen Stile Rousseaus geschrieben, ist noch heute lebendig und 
kann erschüttern. Goethe hat seinen Erfolg nie wieder erreicht, sicher 
nicht übertroffen, auch nicht mit dem „Faust“ von 1808. Denn der 


PsA. Bewegung — 433 — 29 























































































































































































































































































































„Faust“, ein hohes Werk und herrlich wie am ersten Tag, 
ist in seiner unergründlichen Schönheit nur für Gebildete ver. 
ständlich, die „Leiden des jungen Werther“ wirken unmittelbar auf jede 
junge Seele. Goethe erhielt Glasmalereien aus China, die Werther und Lotte 
darstellten. Als Napoleon 1808 in Erfurt war, erzählte der eine große Mann 
dem andern, daß er den „Werther“ siebenmal gelesen und sogar aut 
dem ägyptischen Feldzug mitgehabt habe. Zur Zeit des Erfurter Fürsten. 
tages war Goethe 59 Jahre alt. Er hatte das tiefste Problem seines 
Lebens, die Erlösung des ewig vorwärts strebenden Geistes durch sich 
selbst, im Faust zu einem vorläufigen Abschluß gebracht, den er nach 
abermals zwanzig Jahren im zweiten Teile der Dichtung bis zu den 
Höhen. kirchlicher Mystik emporheben sollte. Außerdem war er tief in 
naturwissenschaftliche Arbeiten verstrickt, die von der Physik über die 
Geologie bis zu Botanik und vergleichender Anatomie reichten. Als 
er zu dichten begann, war die deutsche Sprache ein sprödes In- 
strument. Wie er sie vorfand, war die Sprache nicht geeignet 
zum Ausdruck weicher und feinerer Gefühle. Der erste Schöpfer der 
modernen deutschen Sprache war Martin Luther. Er schuf sie zum 
Zweck seiner Bibelübersetzung anno 1323 auf der gotischen Wart- 
burg. Heute spricht und liest der gebildete Deutsche die Sprache 
Goethes. Er hat sie umgeschaffen. Was da geleistet ist, kann der er- 
messen, der die scholastischen Schnörkel Immanuel Kants zu lesen ver- 
sucht, die spitzigen und bizarren Perioden dieses größten deutschen 
Denkers, und dann deutsche Philosophen vornimmt, die nach Goethe 
geschrieben haben, wie etwa Schopenhauer oder gar Nietzsche. 

Von alledem wußte Napoleon nichts und die Chinesen wußten. 
natürlich noch viel weniger davon. Nun erwäge man, mit wie ge- 
mischten Gefühlen ein großer Mann im siebenten Jahrzehnt seines Lebens 
Anerkennung und Verehrung aufnimmt, die sich auf eine Jugend- 
leistung gründen, mit der er längst nicht mehr zusammenhängt. Er 
konnte tun, was er wollte, konnte die gewaltigsten Herkules- 
taten verrichten, er blieb doch immer der Dichter des Werther. Da er 
weise war, mochte er wohl erkennen, daß dieses der Lauf der Welt 
ist. Sie versehen ihre Idole mit einer Etikette und erlauben den 
Idolen dann nicht, die Etikette zu verändern. Gewöhnlich vergehen 


an die hundert Jahre, bis die Nachwelt die wirkliche Entwicklung | 
| 
— 434 — | 






















überschaut und die wahre Größe erkennt. Solange er lebt, erblickt der 
Riese zu seinen Füßen Bewunderer, die das in die Wolken ragende 
Haupt gar nicht bemerken. 

Im Gegensatz zu Goethe und den meisten genialen Menschen, hat 
; g mit seinen Saunen erst spät eingesetzt. N war bei- 


ab, in denen nervöse Sn ion anf vergessene Schockerlebnisse 
Fr, eat werden und er war beinahe fünfzig, als er seine Sexual- 
theorie zum erstenmal im Zusammenhang veröffentlichte. Aber auch er 
ist auf diese ersten Leistungen festgelegt worden und nachdem man ihn 
_ im Gegensatz zu Goethe auch hierin — im Anfang gar nicht be- 
achtete, lobt und tadelt ihn die große Masse der Chinesen noch heute 


erlebnisse zurückführt. Was Freud aber in über dreißigjähriger Intuition 
und geduldiger Gelehrtenarbeit entwickelt hat, wie sehr seine Begriffe 
von Sexualität und Triebleben sich vertieft haben, das wollen die 
„Vielzuvielen“ nicht wissen. 

Wie könnte das auch anders sein? Im Leben großer 
Männer gibt es Augenblicke, in denen ihre Arbeit das Interesse der 
Zeit und der Zeitungsleser trifft. Solche Augenblicke hält dann die all- 
‚gemeine Meinung fest und wenn die Kometen ihren Schnittpunkt mit 
der Ekliptik längst verlassen haben, wird immer noch — anerkennend 
oder abfällig — davon gesprochen. Große Männer verdanken ihre 


allen gilt Nietzsches Wort: „Wenn eine Wahrheit auf dem Markte 
gesiegt hat, dann fraget nur: durch welchen Irrtum hat sie gesiegt.“ 
Freuds Traumdeutung mag die Menge noch einigermaßen interessiert 


Ute wie Goethe sagen (zu Een 1828): „Meine Sachen 
können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür 


— 485 — - 29* 




















































































































































































































































































































| 
strebt, ist in einen Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben 


sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen une 
suchen, und die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.“ 


* 


Das neunzehnte Jahrhundert war das Zeitalter des nationaler 
Bewußtseins. Große und kleine Völker erkannten ihre Nationalität 
befreiten und einigten sich. Ein wesentlicher Bestandteil dieses lärmender 
Nationalismus war immer der Haß gegen andere und die Verachtun; 
anderer Nationen. Man erkannte sich selbst, indem man den anderer 
herabsetzte. Das konnte in Haßgesängen geschehen, wie die der Bul 
garen und Griechen gegen die Türken. Bei einer so theoretisch ge 
richteten und philosophisch beeinflußbaren Nation wie die deutsche 
konnte nationale Begeisterung erweckt werden durch den „Nachweis“ 
daß die deutsche Sprache die tiefste, die deutsche Staatsform die beste 
die deutsche Sittlichkeit die verläßlichste sei, das heißt, daß man al 
Deutscher ein Recht habe, auf andere Völker wie die Franzosen jen 
seits und die Juden innerhalb der deutschen Grenzpfähle mit Gering 
schätzung herabzusehen. Als die preußische Regierung zu dem Kampf 
gegen Napoleon rüstete, der damals Befreiungskampf genannt wurde 
obwohl das Resultat für die Völker ganz das Gegenteil einer Be 
freiung wurde, berief sie den bis dahin für staatsgefährlich erachteteı 
Philosophen Fichte an die neu gegründete Berliner Universität, Dort 
selbst hielt Fichte seine berühmten „Reden an die deutsche Nation‘ 
(1808). Er sagte, daß die deutsche Sprache nicht nur besser, tiefer 
seelenvoller sei als die französische, englische oder’italienische, sonder: 
überhaupt unvergleichbar. Die deutsche Sprache als Ursprache mi 
eigenen Wurzeln lebe, während die genannten und andere Sprachei 
tote Entlehnungen verwenden. Wie man T'otes mit Lebendigem nich 
vergleichen könne, so auch nicht die deutsche Sprache mit der fran 
zösischen. Mit solchen und ähnlichen Reden richtete Fichte den ge 
sunkenen Nationalstolz auf. Predigten in Kirchen taten ihr Übrige 
und man ging vom Beichtstuhl und aus den Hörsälen hinaus auf 
Schlachtfeld. Aus einer theoretischen Abhandlung über deutsches Weseı 
holte man sich Begeisterung und es scheint, daß aus der Verschieden 


[) 
— 436 — 
























heit der Sprachwurzeln die Notwendigkeit folgte, sich gegenseitig tot- 
zuschlagen. 

Solche Abhandlungen sind ja schon an sich ein gefährliches Beispiel, 
vie der Idealismus im Handumdrehen alle Tatsachen der Beobachtung 
überspringt. Homer und Sophokles, die in der philologisch so hoch- 
geschätzten griechischen Sprache gesungen haben, in höchsten Ehren. 
Aber Shakespeare und Jesaias sind nicht geringer als die alten Hellenen 
4 und haben sich zweier Sprachen bedient, die von den Philologen mit 
‚Unmut betrachtet werden. Ein echter Philologe wird durch solche Tat- 
‚sachen kaum in Verlegenheit versetzt. Gut, die hebräischen Propheten 
und der englische Dichter sind groß. Aber wie groß wären sie erst 
‚geworden, wenn sie die deutsche oder die griechische Sprache mit 
ihren wunderbaren Flexionen zur Verfügung gehabt hätten! Viel 
schwerer kommen die Herolde des Nationalismus über die Frage hin- 
weg, was denn Goethe zur nationalen Idee in den Freiheitskriegen 
gegen Napoleon beigetragen habe. Es ist bekannt, daß er sich voll- 
'kommen passiv verhielt. Für Napoleon hegte er die Verehrung des 
Mannes, der das Genie erkennt. Haßgesänge gegen die Franzosen 
"konnte er auch nicht dichten. „Wie hätte ich Lieder des Hasses schreiben 
"können ohne Haß? Und, unter uns, ich haßte die Franzosen nicht, 
wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, 
‚dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation 
‚hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der 
En einen. so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte !“ 
„Überhaupt“, fuhr Goethe fort, „ist es mit dem Nationalhaß ein 
eigenes Ding. Auf den ‘untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn 
immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo 
et ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen 
steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes emp- 
findet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner 
“Natur gemäß, und‘ich hatte mich darin lange befestigt, ehe ich mein 
sechzigstes Jahr erreicht hatte.‘ 

' Eine harte Nuß für Nationalisten, ein Problem auch für jeden Psycho- 
logen! Der Mann, der die moderne deutsche Sprache geschaffen, der 
größte Dichter, den die Nation hervorgebracht hat, fühlte sich als Welt- 
bürger, durchaus übernational. Manche Leute, westlich und östlich, 


Bu .. 





















































































































































































































































m 
haben die deutsche Sprache erlernt, hauptsächlich um Goethe, diesen 
unübersetzbaren Großen für sich zu erwerben — und es steht dafür. 
Könige haben in unberechtigtem Eigendünkel von sich gesagt, V’etai 
c'est mo. Es ist aber eine Erhebung der deutschen Nation zum höchsten 
Adel, wenn einer sagte: Goethe sei das Deutschtum. Kaum irgend 
etwas Deutsches außerhalb Goethes läßt sich mit ihm vergleichen. Und 
dieser Mann war im Sinne des bewußten Nationalismus ein schlechter 
Deutscher! Hier weiß die Psychoanalyse Rat. Das wahrhaft Nationale 
ist eine „qualitas occulta“, quillt aus den Tiefen des Es und hat mit 
den Redensarten der bewußten Nationalpolitiker so gut wie nichts zu 
tun, Die großen nationalen Leistungen aller Völker fallen: geschichtlich 
in Zeiten, die sich des nationalen Gedankens und Wesens durchaus 
nicht bewußt waren. So sind deutsche Gruppen seit dem Mittelalter 
in Rußland, Polen, Rumänien und anderwärts versprengt. Sie bilden 
deutsche Sprachinseln einiger tausend inmitten von Millionen einer 
anderssprachigen Bevölkerung. Seit Jahrhunderten haben sie ihre 
deutsche Sprache und Art gegen diese Brandung bewahrt, ohne viel 
Aufhebens davon zu machen. Sie schen kein Verdienst darin, sind 
sich überhaupt nicht bewußt, daß sie ein unvergleichliches Beispiel 
nationaler Kraft zeigen. Wirksamkeit und Bewußtsein des Wirkens 
sind verschieden und häufig genug sogar einander entgegengesetzt. Das 
Geschwätz über Rassenhoheit und Rassenreinheit tritt immer dann auf, 
wenn eine Nation in ihrer geschichtlichen Entwicklung abwärts geht. 
Es ist eine Schande und ein großer Schaden für den deutschen Namen, 
daß die Welt diese Nation nach dem Bismarckschen und Wilhelmini- 
schen Deutschland und nicht nach Goethe beurteilt. Man kann auch 
noch weiter zurückgehen und den protestantischen Geist als Leistung 
des deutschen Genius ansprechen, der auch damals, als er stark genug 
war, eine neue geistige Weltordnung zu schaffen, nicht wußte, daß er 
spezifisch deutsch war. 

Ich sehe im Sinne der Psychoanalyse im überreizten und endlosen 
Reden der Schizophrenen, ihrem sogenannten Wortsalat, ein Seiten- 
stück zu den hohlen, wissenschaftlich und: menschlich nicht fundierten 
Tiraden der nationalen Emphatiker, die man natürlich nicht nur in 
Deutschland findet. Der Schizophrene hat den Zusammenhang mit den 
Quellen der Sprache in den unbewußten Tiefen des Es verloren. Die 


— 438 — 





Wortvorstellung hat sich von der Sachvorstellung getrennt, und schauer- 
lich befreit von ihrem eigentlichen Sinne läuft die Rede davon wie 
ein Uhrwerk ohne Hemmung, kann nicht aufhören zu lärmen, weil 
sie durch Endlosigkeit und Getöse den Schaden übertönen will. Politi- 
scher Nationalismus mit seinem Gefolge von Rassenhaß, Hochmut, 
Pogrom und Krieg sind ein Verzweiflungsakt derer, die den ruhigen 
und sicheren Besitz des nationalen Gutes nicht mehr fühlen. Man hat 
nie gehört, daß Chinesen viel Authebens von ihrer Nationalität gemacht 
haben. Und doch bestehen sie seit den ältesten Zeiten, halten jedes 
Klima aus von den Tropen bis zur Arktis und haben die stärkste 
nationale Kultur entwickelt, die wir kennen. 





+ 


Es ist notwendig, den Gegensatz zwischen falschem Nationalismus 
zu verstehen, der sich in Worten verpufft und der echten natio- 
nalen Leistung, die sich ihrer selbst kaum bewußt ist, um das 
Wien der Siebziger Jahre zu verstehen, in dem der junge Freud 
heranwuchs. Die im Weltkriege vernichtete österreichische Mon- 
archie war ein Feudalstaat. Viele verschiedensprachige Völker lebten 
gemeinsam unter einer Dynastie und deren Beamten. Der Staatsgedanke 
war eben diese Dynastie. Was in Amerika die Flagge bedeutet, in 
nationalen Staaten die gemeinsame Rasse und was für die theo- 
kratischen Staaten der Vorzeit die gemeinsame Verehrung Gottes, das 
war in. Österreich durch das Haus Habsburg ersetzt. Eine Art Byzanz 
hatte sich hier erhalten, gemildert natürlich durch den Geist der 
Moderne, aber immerhin mittelalterlich und ein Fremdkörper in 
der europäischen Entwicklung. Dieses Reich mußte zerfallen, aber 
es hat sich erstaunlich lange gegen die geschichtliche Notwendigkeit 
gewehrt. 

Die Habsburger und ihre Ratgeber wußten wohl, wo sie ihre 
Feinde zu suchen hatten: Der Hauptfeind im neunzehnten Jahrhundert 
war die nationale Propaganda unter den verschiedenen Völkern des 
Habsburgerreiches. Metternich und Radetzky ließen in Italien ihre 
weißröckigen Soldaten einmarschieren, wo sich nationale Ansprüche 
regten. Die deutsche nationale Bewegung wurde mit Gewalt unter- 


— 439 — 


























































































































u 


drückt, als man sie nach Niederwerfung Napoleons nicht mehr 
brauchte. Gegen die nationale Erhebung der Ungarn im Jahre des 
Sturmes 1848 riefen die Habsburger sogar die russische Armee zu Hilfe, 
um diesen nur allzu willigen Helfern schon wenige Jahre später mit 
schnödem Undank zu lohnen, weil Rußland die slavisch-nationale 
Agitation in Österreich ermutigte. Wien, die Hauptstadt des Reiches, 
die Residenz des Kaisers, war seit tausend Jahren eine kerndeutsche 
Stadt. Die Habsburger konnten das nicht ändern, obwohl sie selber 
spanischer Herkunft und spanischen, das ist jesuitischen Geistes voll 
waren. Sie taten aber was sie konnten, damit diese uralte bayrische 
Siedlung sich wenigstens ihres Wesens nicht bewußt würde. Im sieb- 
zehnten Jahrhundert unterdrückten sie den Protestantismus in Wien 
mit brutaler Gewalt, im achtzehnten Jahrhundert gaben sie der Stadt 
jenen eigentümlichen halbspanischen Charakter des Wiener Barock, 
der sich in den Bauwerken aus jener Zeit und deren späteren Nach- 
ahmungen so schön erhalten hat. Im neunzehnten Jahrhundert, eigentlich 
noch etwas früher, gaben die Habsburger den Wienern und der 
deutschen Nation das Burgtheater. 

Die Habsburger wußten natürlich nicht, was sie en taten. Alle 
Fürsten der Barockzeit hatten ihr Haustheater und so war auch der 
Hofburg in Wien eines angegliedert. Aber die Wiener, denen ver- 
boten war, über die Grenze zu ‚schielen, wo die anderen deutschen 
Stämme in 92, später in 25 Kleinstaaten beisammen lebten, machten, 
ohne es zu wissen und ohne es bewußt zu wollen, aus dem Burgtheater eine 
Hochburg des deutschen Geistes und des deutschen Idealismus. Es ist 
schier unmöglich, der heutigen Generation zu beschreiben, was das 
Burgtheater den gebildeten und sogar den ungebildeten Wienern von 
1870 bis 1890 und noch später bedeutete. In der Zeitung, im halb 
feudalen Parlamente durfte man sich nicht zum Deutschtum bekennen. 
Aber in seine „Incognitologe“ im Burgtheater kam der Kaiser selbst 
und sah und hörte, wie von den auserlesensten Schauspielern ganz 
Deutschlands Goethe, Schiller, Lessing, aber auch Shakespeare und 
Calderon aufgeführt wurden. In Weimar und anderen deutschen 
Städten war der klassische Geist längst verblaßt, als er in Wien zu 
blühen anhub. Das Burgtheater war das letzte Geschenk des deutschen 
Idealismus und ist mit dem deutschen Idealismus dahingegangen. So- 


— 440 — 











lange man in Wien das alte Burgtheater hatte, besaß man die edelsten 
Werte der deutschen Kunst. Seit man gegen diesen Besitz die übeln 
Schreier von Rassenhaß eingetauscht hat, das ist übelriechendes Fleisch 
gegen den Logos, ist kein Platz mehr übrig für die okkulten Werte 

des Es. Einer der hervorragendsten Schauspieler des alten Burgtheaters, 
| mehrmals sein Leiter, war Adolf Sonnenthal, ein gebürtiger Ungar 
und mehr noch, ein Jude. Als die Deutschen in der Welt noch nicht 
verhaßt waren, durften Juden häufig zum Ruhme der deutschen Idee 
beitragen. Keiner hat diese Idee, die sich naturgemäß um den größten 
Deutschen, um Goethe gruppierte, würdiger vertreten als Sonnenthal, 


der edelste Faust der deutschen Bühne. Da war auch Josef Lewinsky, _ 


ein gebürtiges Wiener Kind, aber wie sein Name aufzeigt, slavischen 
Ursprungs, der zu diesem Faust einen dämonischen Mephisto stellte, 
den: Höllenfürsten in jedem Zoll. Als Lewinsky 1883 zum erstenmal 
den Mephisto spielte, wurde das für die deutsche Welt ein Ereignis, 
mit dem sich nicht einmal ein Boxkampf um die Weltmeisterschaft 
von heute oder ein Transozeanflug vergleichen lassen. Aus allen 
Ländern kamen sie, um Lewinsky zu sehen. Monate lang sprach man 
in der Gesellschaft von nichts anderem. Der Literaturhistoriker Erich 
Schmidt schrieb noch zwanzig Jahre später in einem Kommentar. zu 
Goethes „Faust“: „Wer das Glück hatte, Josef Lewinsky als Mephisto 
zu sehen, der wird verstehen... “ 

Dabei war das Burgtheater keineswegs nur den Wohlhabenden zu- 
gänglich. Für wenige Kreuzer Eintrittsgeld konnte die unbemittelte Jugend 
von der vierten Galerie unter dem Dache die Vorstellungen stehend 


mitgenießen. Der Platz war eng, man stand Kopf an Kopf und um 


ihn zu erringen, mußte man sich viele Stunden vor den geschlossenen 
Toren des Theaters anstellen. Manchmal mußte man schon den Abend 
vorher ankommen und stand die ganze Nacht hindurch in der Unbill 
des Wetters, volle vierundzwanzig Stunden, bis das Tor eine halbe 
Stunde vor Beginn der Aufführung geöffnet wurde und eine wilde 
Jagd um die vorderen Plätze anhub, bei der es häufig ohne Ver- 
letzungen nicht abging. Aber man nahm alles in Kauf, um die Schau- 
spieler Halbgötter zu sehen und zu hören. Die Wolter als Iphigenie, 
Baumeister als Götz, Robert als Odipus, Sonnenthal als Hamlet und 
Faust, Lewinsky als Richard III. oder Mephisto. So kam man in eine 


— 441 — 














































































































































































































































































































u 


Beziehung zu Goethe, die gleichzeitig religiöse Verehrung’ und un. 
mittelbarer Zusammenhang war, wie mit einem nächsten Verwandten 
oder Freunde. Erinnern wir uns, daß Freud nicht sagt, er habe den 
Aufsatz Goethes über die Natur gelesen. Er hat ihn in einer Vor- 
lesung gehört und es hat einige Wahrscheinlichkeit für sich, daß 
diese Vorlesung von einer der Größen des Burgtheaters gehalten 
wurde. Denn sie zeigten sich dem Publikum auch häufig in Konzert. 
sälen, wo sie mit königlichen Gebärden zum Vortragstische schritten 
und mit einer Würde Platz nahmen, die unserer heutigen sogenannten 
demokratischen Zeit gar nicht mehr gemäß ist. 

Ich will also sagen, daß der deutsche Geist in jenem vergangenen 
Wien ganz besonders lebendig war, obwohl und vermütlich weil man 
ihm nicht gestattete, sich politisch auszuleben. Man fand ihn im 
Burgtheater und durch Vermittlung des Theaters dann auch in den 
Werken der großen deutschen Schriftsteller. So mag verständlich 
werden, daß Goethes gehörtes Wort auf den jungen Studenten Freud 
so Ausschlag gebende Bedeutung gewann und ihn — wie er später 
behauptete: seinen Neigungen entgegengesetzt und irrtümlich — der 
Medizin in die Arme trieb. Goethe hat für Freud weit mehr getan als 
das. Freuds Stil ist an Goethe gebildet, er ist ein großer Schriftsteller 
geworden, neben seiner Bedeutung als Gelehrter und den nicht fachlich 
interessierten Lesern ist häufig nicht so wichtig, was er sagt, als daß 
er sie entzückt, wie er es sagt. Die Übersetzungen seiner Schriften 
können den durchaus deutschen Geist nicht wiedergeben, in dem Freuds 
Werke atmen. Die Magie der Sprache läßt sich nicht übertragen. Wer 
Freuds Psychoanalyse wirklich von Grund auf verstehen will, der muß 
seine Bücher in der Ursprache lesen. Es ist kein Zufall, daß auch in 
Amerika und England die hervorragendsten Schüler Freuds imstande 
waren, den Meister im Original zu lesen. Es ist vermutlich nicht un- 
bedingt notwendig, Newton in englischer Sprache oder Spinoza 
lateinisch zu studieren. Aber Freud ist ein Künstler und alle Kunst 
fließt aus den Quellen der Nation. 

Dem wird man vermutlich entgegenhalten, daß Freud ein Jude sei 
und als solcher von einer guten Anzahl seiner deutschen Landsleute 
nicht für einen vollen Deutschen anerkannt wird. Wirklich gehört er 
nicht zu Bismarcks Deutschland, sondern zu dem Goethes, der sich 


— 442 — 








den Deut darum kümmerte, ob man ihn für einen guten Deutschen 
hielt oder nicht. 

Freud hat von Anfang an seine Organisationen und. Zeitschriften 
„international“ genannt. Es ist nötig, auch dieses Wort bei Freud im 
Goetheschen Sinne zu verstehen. Goethe korrespondierte mit Walter 
Scott und Carlyle, mit Geoffroy de St. Hilaire und anderen Franzosen. 
In seinem Weimar strömten die edelsten Geister aller Völker zusammen, 
um ihn zu sehen und zu sprechen. In diesem Sinne war er inter- 
national. Aber dieser kosmopolitische Klassiker wurde der Schöpfer 
des neuen Deutschtums. Wir hegen die Zuversicht, daß die Idee des 
Deutschtums durch die wilhelminische und nachwilhelminische Epoche 
mit nichten bestimmt wird. 


Goethe vertritt in der Naturwissenschaft eine Richtung, die sich nicht 
lehren läßt und die in den Händen von Forschern, welche die nötigen 
künstlerischen, intuitiven und objektiven Fähigkeiten und deren glück- 
liche Vereinigung nicht besitzen, höchst gefährlich werden kann. Goethe 
selbst, dem mit der ihm eigentümlichen Methode mehrere bedeutende 
Entdeckungen und großartige Einsichten gelangen, ist mit ihr mehrfach 
in grotesker Weise in die Irre gegangen. 

Das erste war bei Goethe immer die Idee. Er nannte sie aber nicht 
Idee, sondern: seine Anschauung. Goethe sah seine Ideen. Das 
klingt dunkel für jedermann und unannehmbar für den Philosophen. 
Plato lehrte, daß wir nur die Gegenstände der Erscheinungswelt.. (das 
ewig Werdende und Vergehende) wahrnehmen, hingegen von dem, 
was hinter diesen Gegenständen steckt, dem Bleibenden, wirklich Sei- 
enden, nur die Idee haben können. Die Idee der Dinge kann man 
nicht sehen. Aus dieser platonischen Idee haben Scholastiker einen 
Gegenstand der Anschauung gemacht, indem sie meinten: es gibt so 
viele verschiedene Tiere oder Pflanzen. Man sollte ein ideales oder 
Urtier konstruieren, das alle Eigenschaften der einzelnen Spezies ver- 
einigt. Diese Konstruktion eines Tieres enthielte dann die Idee der 
Katze ebensowohl wie des Molches oder der Laus und in dieser Form 
sollte die Idee des Tieres sichtbar gemacht werden. Goethe war weit 
entfernt von so abscheulichen Spekulationen. Aber er sah eine Pflanze 


— M43, — 





| 


aus dem Boden wachsen, die Wurzeln, Blätter, Stengel, Blüte, Griffel 
und Staubgefäße entwickelte und er sah, daß alle diese Bestandteile 
der Pflanze verschiedene Erscheinungsformen, Entwicklungsformen des 
Blattes waren. Alles entwickelt sich durch Umwandlung, durch Meta. 
morphose des Blattes. Diese Metamorphose sah Goethe zunächst nur 
in seiner Phantasie, sie war seine Idee oder wie er selber sagte: seine 
Anschauung. Als er bei einer seiner ersten Zusammenkünfte mit 
Schiller, diesem philosophisch gebildeten Freunde die Metamorphose 
der Pflanze erklärte und seine Anschauung nannte, entgegnete Schiller: 
„das ist keine Anschauung, das ist eine Idee.“ Worauf Goethe einiger- 
maßen geärgert sagte, es könne ihm ja ganz recht sein, wenn er seine 
Ideen so deutlich sehe, daß er sie für Anschauung halte. 

Wir befinden uns hier an der Grenze, wo die Anschauung, das ist 
die Wahrnehmung, in Denken (in die Idee) übergeht. Die Sinnes- 
empfindung empfängt ihre Anregung von außen. Außen ist die Pflanze, 
die ich sehe. Aber innen ist mein Denken, mit dem ich aus der Wahr- 
nehmung, und bis zu einem hohen Grade unabhängig von ihr, machen 
kann, was ich will. Schiller, der Philosoph, meinte, es: sei nötig, das 
Denken in Ideen von den einfachen Anschauungen der Objekte zu 
trennen. Goethe, der Künstler, sah diese Notwendigkeit nicht ein. Man 
sieht deutlich, daß Schiller vom wissenschaftlichen und Goethe vom 
künstlerischen Standpunkte recht behalten. 

Ein andermal sah Goethe in seinem Geiste, daß der Schädel des 
Wirbeltieres eigentlich aus einem oder mehreren umgewandelten 
Wirbeln bestehe. Die den Wirbeln so unähnlichen Schädelknochen 
seien dennoch durch Umwandlung der Seiten- und Mittelteile aus den 
"Wirbeln entstanden. Wieder ein andermal sah Goethe in seinem Geiste, 
daß auch der Mensch einen Zwischenkiefer habe: (os intermaxillare). 
Die oberen Schneidezähne wachsen bei den meisten Säugetieren aus 
einem Knochenstück heraus, das zwischen den beiden Oberkiefern sitzt 
(dem Zwischenkiefer). Am menschlichen Schädel sind weder Nähte noch 
sonst Zeichen eines Zwischenkiefers bemerkbar. Aber Goethe vermutete 
ihn und entdeckte ihn auch und setzte die Anerkennung seines Fundes 
gegen ziemlich hefiigen Widerstand der zeitgenössischen Anatomen 
durch. 

Da haben wir drei naturwissenschaftliche Leistungen Goethes: die 




















































































































— 444 — 











































































> 


Metamorphose der Pflanze, den Schädelwirbel und den menschlichen 
Zwischenkiefer. In allen drei Fällen war zuerst die Idee da, die Goethe 
eine Anschauung nennt. Auf die Vision folgte regelmäßig ein Erlebnis. Im 
Jahre 1790 sah Goethe im Sande des Lidos bei Venedig einen zer- 
borstenen Schöpsenschädel. Er hob ihn auf, sah ihn lange an und fand, 
daß in der Tat die Schädelknochen stark veränderte Wirbel seien. 
„Beim ersten Anblick“, sagt Helmholtz, „kann nichts unähnlicher 
sein, als die weite einförmige, von platten Knochen begrenzte Schädel- 
höhle der Säugetiere und das enge zylindrische Rohr der Wirbelsäule, 
aus kurzen, massigen und vielfach gezackten Knochen zusammengesetzt. 
Es gehört ein geistreicher Blick dazu, um im Schädel der Säugetiere 
die ausgeweiteten und umgeformten Wirbelringe wieder zu erkennen, 
während bei Amphibien und Fischen die Ähnlichkeit auffallender ist.“ 
Statt „geistreicher Blick“ wollen wir lieber sagen: eine Idee gehört 
dazu oder, was so manchem Naturforscher etwas anrüchig klingen 
dürfte: eine vorgefaßte Meinung. Es ging Goethe gerade so bei der 
Metamorphose der Pflanze. Er trug die Idee schon lange in sich, als 
er in Padua eine Fächerpalme sah, die ihm den Übergang von den 
ersten einfachsten Wurzelblättchen bis zu den zusammengesetzten Fieder- 
blättern deutlich zu zeigen schien. Zur Entdeckung des Zwischenkiefers 
führte ihn ein Menschenschädel, der schwache Spuren von Nähten 
zeigte, wie sie bei Tieren Oberkiefer und Zwischenkiefer verbinden. 
Um diese schwachen Spuren zu sehen, mußte man erst die Idee haben, 
daß sie vorhanden seien. 

Zum Ursprung in der Idee, zur Entbindung der Idee durch das 
einzelne Erlebnis eines glücklichen Tages kommt aber nun hinzu die Kon- 
trolle durch eine schr große Reihe von sorgfältigen Beobachtungen in 
der Natur. Goethe beobachtete hunderte von Schädeln, hielt auch mit 
der Publikation seiner Entdeckung jahrelang zurück, so lange, daß 
später andere ihm die Priorität streitig machten. Seine Arbeitsmethode 
aber ist dreifach: die anschauliche Idee kommt zuerst und in ihr schon 
liegt die unerschütterliche Überzeugung von der Richtigkeit der Ansicht. 
Diese Idee muß — wie die Psychoanalyse am besten weiß — nicht 
immer klar bewußt sein. Sie wird bewußt an dem Tage, wo sie durch 
eine einzelne Beobachtung objektiviert werden kann. Vermöge der 
inhärenten Idee wird die Beobachtung sofort verallgemeinert, der Welt 


— 445 — 











































































































& 


jedoch erst mitgeteilt, wenn die Verallgemeinerung durch die Beob. 
achtung oder das Experiment verifiziert worden ist. Alle diese Teile 
sind einzeln nichts und sogar gefährlich. Phantastische Ideen, denen in 
der Außenwelt nichts entspricht, sind wertlos. Verallgemeinerung ein. 
zelner Beobachtungen ist in der Naturwissenschaft unerlaubt. Aber auch 
geistlose und endlose Experimente und lange Reihen von Beobach. 
tungen, denen weder eine starke Idee noch ein „Geburtserlebnis“ ZU- 
grunde liegen, führen zu langweiliger und’ pedantischer Statistik, die 
obendrein auch noch gewöhnlich falsch ist. Das Zentrum von Goethes 
Arbeitsmethode liegt im glücklichen Erlebnis, von dem wir ja heute 
nach unseren psychoanalytischen Erfahrungen sehr wohl wissen, ‚daß 
es kommen mußte, weil die Idee es erzwingt. Goethe selbst hat diesen 
oder sehr ähnlichen Erlebnissen den Namen des „Urphänomen“ ge- 
geben. 

Man darf fragen: was sind das für eigentümliche und scheinbar un- 
zusammenhängende Entdeckungen auf dem Gebiete der Osteologie und 
der Physiologie der Pflanzen? Wie kann es einen sonnenäugigen 
Dichter zu solchen Einzelbeobachtungen treiben? Auf diese Fragen gibt 
es eine überraschende und höchst befriedigende Antwort. Die drei ge- 
nannten Entdeckungen Goethes und ihre Ideen stammen aus einer 
gemeinsamen übergeordneten Idee, die später durch Darwin berühmt 
geworden ist, aber schon von Goethe vollkommen klar formuliert 
wurde. Man versteht, daß die Deszendenztheorie gemeint ist. Zu 
gleicher Zeit wie Lamarck in Frankreich und unabhängig von ihm, 
war Goethe zur naturwissenschaftlichen Überzeugung gelangt, daß die 
Formen sich auseinander entwickeln und sich je nach den verschiedenen 
Zwecken metamorphosieren. Die vordere Extremität der Wirbeltiere 
entwickelt sich beim Menschen und Affen zur Hand, bei anderen 
Tieren zur Pfote mit Krallen oder zum Vorderfuß mit Hufen, beim 
schwimmenden Tiere zur Flosse, beim fliegenden zum Flügel. Die 
anatomische Gliederung, Stellung und Verbindung mit dem Rumpfe 
bleiben immer gleich. Darwin hat als Ursache dieser verschiedenen 
Entwicklung der Arten die natürliche Zuchtwahl angegeben, das Über- 
leben des am besten Angepaßten und das Aussterben des schlecht 
Angepaßten. Man hat später gesagt, daß harter Kampf ums Dasein in 
der Natur regelmäßig zu einer Verkümmerung der Art führe und 


— 446 — 





niemals zu einer Entwicklung nach aufwärts, wie Darwin behauptet. 
Mehr als fünfzig Jahre vor Darwin haben Lamarck und Goethe ein 
anderes Entwicklungsprinzip genannt, das neuerdings als Neo-Lamarckis- 
mus den Sieg über die Selektionstheorie davongetragen hat: die Arten 
und ihre Teile entwickeln sich je nach ihren Zwecken. Der Maulwurf 
erblindet, weil er in der finsteren Erde seine Augen so wenig braucht 
wie der Grottenolm. Er entwickelt Schaufeln aus seinen vorderen Glied- 
maßen, weil er sie zum Graben und nicht zum Laufen benötigt. Man 
bemerkt, um wie viel lebendiger und geistiger dieser Gedanke der 
finalen Entwicklung ist, als der Darwins mit seiner toten Kausalität, 
die zu ihrer Auswirkung hunderttausende von Jahren braucht. 

Die Entwicklungsidee wurde damals und noch ı890 in einer 
berühmten Diskussion vom großen Cuvier gegen Geoffroy 
St. Hilaire zu Paris abgelehnt. Erfolg oder Mißerfolg einer Lehr- 
meinung hängt ja stark von der Zeitströmung und dem Zeitstil ab. 
Der reißende Triumph naturwissenschaftlicher Erkenntnis, der sich an 
den Namen Darwins und sein 1859 publiziertes Hauptwerk anknüpft, 
konnte ı830 oder gar 1790 nicht errungen werden. Zum Teile ist an 
dieser Verzögerung das geringe Tatsachenmaterial schuld, das den 
Naturforschern um ı800 zur Verfügung stand. Sie hatten die richtige 
theoretische Einsicht, aber ein Zwischenkiefer, die Metamorphose der 
Pflanze und des Wirbels und das Wenige, was noch dazu kam, war 
nicht genügender empirischer Beweis Es war noch Cuvier 1890 ein 
Leichtes, mit dem ungeheueren Material der alten Schule für die Un- 
veränderlichkeit der lebenden Arten, die gleichzeitige Schöpfung aller 
der verschiedenen Formen, seinen Gegner Geoffroy zu schlagen. Und 
doch lebte um diese Zeit schon Darwin und sammelte sein Material, 
das unter Zuhilfenahme der Zellentheorie, in der zweiten Hälfte des 
neunzehnten Jahrhunderts den Entwicklungsgedanken zum Siege 
führte. 

Aber hinter dem Material steht immer die Idee. Auf das Aufklä- 
rungszeitalter im achtzehnten Jahrhundert folgte eine romantische 
Epoche, die einer Aufschließung der Welt durch Naturwissenschaft, 
das ist durch Beobachtung, nicht grün war. Auf die großen Idealisten 
Kant und Fichte folgten die sogenannten Naturphilosophen, die man 
eigentlich Unnatur-Philosophen nennen sollte. Sie verachteten die Be- 


— 447 — 





































































































obachtung und huldigten in der Tat der Ansicht, man könne das 
Verständnis der Natur aus dem eigenen Ich, dem eigenen Nachdenken 
entwickeln. Zu diesen Philosophen gehörten Hegel und Sche 1, 
ling, große Männer auf anderen Gebieten, aber ein unerträglicher 
Hemmschuh für den Naturforscher, der seinen Weg geduldig geht, 
Einzelheiten zusammenträgt, vergleicht, überprüft, experimentiert und 
von der Einzelbeobachtung vorsichtig zum Allgemeinen übergeht, 
Revolutionsartig hat sich die Naturforschung um die Mitte des neun- 
zehnten Jahrhunderts von der Naturphilosophie befreit. Es ist natür- 
lich kein Zufall, daß politische Revolutionen ungefähr zur selben Zeit 
durch Europa fegten. Wir leben in großen Zeitwellen, die unser gan- 
zes Leben auf einmal ergreifen: politische, wissenschaftliche, soziale 
Moden gehen miteinander. Naturwissenschaft, wie Goethe sie betrieb, 
war gerade damals, als er sie betrieb, nicht „modern“. Er blieb ziem- 
lich allein, mußte in seiner Einsamkeit natürlich oftmals irren — und 
was immer das Schlimmste ist — verbittert und ungerecht werden. 
Goethes Entwicklungsidee war richtig und hat sich längst den Erd- 
ball erobert. Aber die Einzelbeobachtungen, zu denen seine Grund- 
gedanken ihn führten, waren Stückwerk. Man hat später nachgewie- 
sen, daß nur der Hinterhauptknochen des Säugetierschädels ein 
verwandelter Wirbel ist, die anderen Schädelknochen aber nicht. Die 
Metamorphose der Pflanze (und des Tieres) bestehen zu Recht. Aber 
ihre Urform ist nicht das Blatt, sondern die Zelle, was Goethe wegen 
des geringen mikroskopischen Wissens seiner Zeit nicht finden konnte, 
Es ist auch fraglich, ob Goethe der Mann gewesen wäre, um lange 
ins Mikroskop zu schauen. Er war gegen „Hebel und Schrauben“, 
näherte sich der Natur am liebsten direkt und mit unbewaffneten 
Händen. Die meisten Irrtümer enthielt Goethes Farbenlehre, in der er 
— wenigstens vorläufig — völlig Unrecht behalten hat. Er hat auch 
in diese physikalische Materie den Entwicklungsgedanken hineingetra- 
gen. Die Materie erwies sich als zu spröde, zerfiel den formenden 
Händen Goethes. Goethe war aber so durchdrungen von der Rich- 
tigkeit seines Grundgedankens, den er im Innersten erlebte, daß er 
den Widerspruch gegen seine Farbenlehre nicht ertrug. Künstler sind 
in ihr Werk verliebt und empfinden Kritik wie einen Angriff gegen 
Geliebtes. Sie können deshalb Naturwissenschaft nur unter Schmerzen 


— 448 — 






betreiben und sie sollten es vielleicht nicht tun. Wohin aber käme die 
Wissenschaft, wenn nicht von Zeit zu Zeit richtige Künstler sich ihrer 
annähmen. Zwischen Wissenschaftler und Künstler hat Gott eine 
Schranke aufgerichtet, die immer wieder übersprungen werden muß. 
Sie sind wie zwei Völker, die auf dem gleichen Territorium leben, 
sich gegenseitig befehden, und dennoch ohne einander nicht auskom- 
men können. 

Das Wesentliche an Goethes Arbeitsweise ist, daß er die sinn- 
liche Anschaulichkeit nicht verließ. Die Harmonie, der meta- 
physische Sinn, den er in der Natur sah, schienen ihm gestört, sowie 
man den Boden der Anschauung verließ und die Erscheinungen ma- 
thematisch, symbolisch, theoretisch zu erklären trachtete. Schon die 
Idee war ihm nicht anschaulich genug, wenn er sie nicht mit den 
Sinnen in Zusammenhang bringen durfte. Wir haben in seinem Ge- 
spräche mit Schiller gesehen, daß er seine Ideen Anschauungen nannte. 
Vollends das trockene Experiment, das die lebendige, die, wie er 
sagte, „geprägte Form“ der Natur in einzelne tote Teile zerlegt, war 
ihm verhaßt. Er spottete über Newton, der das Licht durch enge 
Spalten und Prismen hindurch „quälte“ und pries die Versuche, welche 
man im klaren Sonnenschein unter freiem Himmel anstellen könne. 
Ein Poet gegen den fleißigen Physiker. Die moderne Wissenschaft, 
auch die moderne Psychologie können ohne das Experiment nicht 
auskommen. Sie müßen in Teile und immer wieder in Teile zerlegen. 
Goethe konnte da nicht mit. Seinen Mephisto läßt er sagen: „da habt 
ihr die Teile in eurer Hand, fehlt leider nur das geistige Band.“ Die 
Behauptung Newtons, daß das weiße Sonnenlicht aus den nicht mehr 
weiter zerlegbaren Farben des Regenbogens zusammengesetzt sei, fand 
er unerträglich. Weiß sei eben weiß, er sehe und fühle das, es sei 
ein Urphänomen und die Regenbogenfarben, die ganz anders aus- 
schen als weiß, könnten niemals zu weiß werden. Diese störrige Be- 
hauptung klang schon den Zeitgenossen Goethes nach Newtons un- 
widerleglichen experimentellen Beweisen so absurd, daß man nach 
Erklärungen für die offenkundige Dummheit eines großen Mannes 
suchen muß. Die Psychoanalyse weiß, daß jedermann in breitem Aus- 
maße so klug oder so dumm ist, als er will. Wo unsere Affekte 
sprechen, erhält der Verstand häufig einen blinden Fleck. Für Goethe 





PsA. Bewegung — A449 — 30 
































































































































| 


war die Natur ein Kunstwerk, eine harmonische Geliebte; die man 
zwar mit zärtlichen Blicken beschreiben, jedoch nicht wie ein Uhr. 
werk zerlegen durfte. Man sieht, daß die Psychoanalyse vor Goethes 
Augen in Gefahr geraten wäre. Sie zerlegt die Liebesenergie in einzelne 
Teiltriebe, die zusammen das normale Liebesleben ‚ergeben. Solche 
Zerlegung wäre ihm ebenso unannehmbar gewesen wie Newtons Prisma, 
Aber die Psychoanalyse stößt auch immer wieder auf das lebendige 
Lustprinzip, das alles psychische Geschehen durchleuchtet und diese 
Sinngebung des nur scheinbar Sinnlosen: Eros sive natura, muß jeden 


Künstler begeistern. 
* 


Seit langem wissen die Naturforscher, daß sie sich mit dem eigent- 
lichen Wesen der Natur nicht auseinandersetzen können. Ihre Instru- 
mente reichen dazu nicht aus. Die Gleichsetzung von Gott und Natur, 
deus sive nalura, stammt nicht von einem Naturforscher, sondern von 
Spinoza, von dem Renan gesagt hat, er habe von allen Menschen 
Gott am nächsten von Angesicht zu Angesicht geschaut. Der Natur- 
forscher ist viel bescheidener, hält sich an die wahrnehmbare Form 
und schaltet metaphysische Fragen nach dem Wesen der Dinge aus 
seiner Fragestellung aus. Er ist erst, als er sich zu solcher Bescheiden- 
heit durchgerungen hatte, auf seinem eigenen Gebiete groß geworden, 
Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts lebte der Schweizer Arzt 
Albrecht von Haller, ein bedeutender Naturforscher und Dichter. 
Wie er sich demütig zur Natur stellte, hat er 1730 in einem lange 
Zeit viel zitierten Gedichte kundgetan: 


Ins Innere der Natur 

Dringt kein erschaffner Geist. 
Glückselig, wem sie nur 

Die äuß’re Schale weist! 


Diese Strophe hat Goethe zu einem Zornesausbruch veranlaßt, einer 
olympischen Abwehr, die in wenigen Versen Goethes eigene, so ganz 
andere Stellung zur Natur und Naturwissenschaft kennzeichnet. Hier 
die erhabenen — vom Standpunkte des redlichen Experimentators, 
ach, so falschen — Worte: 


— 450 — 


„Ins Innre der Natur“ — 

O du Philister! — 

„Dringt kein erschaffner Geist.“ 
Mich und Geschwister 

Mögt ihr an solches Wort 

Nur nicht erinnern ! 

Wir denken: Ort für Ort 

Sind wir im Innern. d 
„Glückselig, wem sie nur 

Die äußre Schale weist!“ 

Das hör’ ich sechzig Jahre wiederholen 
Und fluche drauf, aber verstohlen ; 
Sage mir tausend tausend Male: 
Alles gibt sie reichlich und gern. 
Natur hat weder Kern 

Noch Schale, 

Alles ist sie mit einem Male. 
Dich prüfe du nur allermeist, 

Ob du Kern oder Schale seist ! 


Ab Goethe dieses Gedicht schrieb, war er über sebzig ia 















Freud, nach seinen eigenen Worten, bewog, Naturwissenschaften zu 
studieren. Goethes Anschauung hat sich in seinem Leben später nicht 
geändert. Freud hat den Enthusiasmus, von dem er im Innersten ge- 
tragen wird, zur Askese des Naturforschers verurteilt, der den Blick 
‚auf das Kleinste richtet und nur selten aufschaut. 


Fragment über die Natur 


' ur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unvermögend, aus 
ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Unge- 
beten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes anf und 
treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. 

h Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, 
_ kommt nicht wieder — alles ist nen und doch immer das Alte, 


Wir leben mitten in ihr und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich 
mit uns und verrät uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig auf sie 
und haben doch keine Gewalt. über sie. 


— 451 — sie 





















































































































































Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts 
aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte 
ist unzugänglich. 

Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist sie? — Sie ist die ein- 
zige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoffe zu den größten Kontrasten; ohne 
Schein der. Anstrengung zu der größten Vollendung — zur genauesten Be- 
stimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein 
eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten Begriff, und doch 
macht alles Eins aus. 

Sie spielt ein Schauspiel; ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch 
spielt sie’s für uns, die wir in der Ecke stehen. 


Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie 
nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in 
ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stille- 
stehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre Ausnahmen selten, 
ihre Gesetze unwandelbar. 

Gedacht hat sie und sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern 
als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den 
ihr niemand abmerken kann. 

Die Menschen sind all in ihr und sie in allen. Mit allen treibt sie ein 
freundliches Spiel und freut sich, je mehr man ihr abgewinnt. Sie treibt’s mit 
vielen so im verborgenen, daß sie’s zu Ende spielt, ehe sie’s merken. 


Auch das Unnatürlichste ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht 
sie nirgendwo recht. 

Sie liebt sich selber und haftet ewig mit Augen und Herzen ohne Zahl an 
sich selbst. Sie hat sich anseinandergesetzt, um sich selbst zu genießen. 
Immer läßt sie neue Genießer erwachsen, unersättlich, sich mitzuteilen. 


Sie freut sich an der Illusion. Wer diese in sich und andern zerstört, den 
straft sie als der strengste T'yrann. Wer ihr zutraulich folgt, den drückt sie 
wie ein Kind an ihr Herz. 

Ihre Kinder sind ohne Zahl. Keinem ist sie überall karg, aber sie hat Lieb- 
linge, an die sie viel verschwendet und denen sie viel aufopfert. Ans Große 
hat sie ihren Schutz geknüpft. 

Sie spritzt ihre Geschöpfe aus dem Nichts hervor und sagt ihnen nicht, 
woher sie kommen und wohin sie gehen. Sie sollen nur laufen. Die Bahn 
kennt sie. 

Sie hat wenige Triebfedern, aber nie abgenutzte, immer wirksam, immer 
mannigfaltig. 

Ihr Schauspiel ist immer nen, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben 
ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu 
haben. 


— 452 — 





Die hüllt den Menschen in Dumpfheit ein und spornt ihn ewig zum Lichte. 
Sie macht ihn abhängig zur Erde, träg und schwer, und schüttelt ihn immer 
wieder auf. 

Sie gibt Bedürfnisse, weil sie Bewegung liebt. Wunder, daß sie alle diese 
Bewegung mit so wenigem erreicht. Jedes Bedürfnis ist Wohltat. Schnell be- 
friedigt, schnell wieder erwachsend. Gibt sie eins mehr, so ist’s ein neuer 
Quell der Lust; aber sie kommt bald ins Gleichgewicht. 

Sie setzt alle Augenblicke zum längsten Lauf an und ist alle Augenblicke 
am Ziele. 

Sie ist die Eitelkeit selbst; aber nicht für uns, denen sie sich zur größten 
Wichtigkeit gemacht hat. 

Sie läßt jedes Kind an sich künsteln, jeden Toren über sich richten, 
tausend stumpf über sich hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre 
Freude und findet bei allen ihre Rechnung. 

Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt 
mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. 

Sie macht alles, was sie gibt, zur Wohltat; denn sie macht es erst unent- 
behrlich. Sie säumet, daß man sie verlange; sie eilet, daß man sie nicht satt 
werde. 

Sie hat keine Sprache, noch Rede; aber sie schafft Zungen und Herzen, 
durch die sie fühlt und spricht. 

Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht 
Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat alles 
isoliert, um alles zusammenzuziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher 
der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos. 

Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, erfreut und 
quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kraftlos 
und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt 
sie nicht. Gegenwart ist ihr Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen 
ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reißt ihr keine Erklärung vom 
Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, das sie nicht freiwillig gibt. Sie ist listig, 
aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken. 

Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s 
immer treiben. 

Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend 
Namen und Termen und ist immer dieselbe. 

Sie hat mich hereingestellt, Sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue 
mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich 
sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie ge- 
sprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst. 

* 


— 453 — 























































































































B 


Wenn wirklich Freud, dessen ursprüngliche Neigung "der Geistes. 
wissenschaft gehörte, der Verführung dieses Dithyrambus erlegen ist, 
und es ist schön daran zu glauben, dann ist er der Schönheit er. 
legen, die Goethe in die Natur hineinlegt und deren Gewalt gerade 
der Naturforscher sich immer wieder entziehen muß, wenn er ver. 
läßlich vorwärts kommen will. Man wird der Natur wissenschaftlich 
nicht oder nur im Sinne Goethes gerecht, wenn man sich dem 
Enthusiasmus für ihre Schönheit hingibt. Mit einem großartigen 
Willen zur Entsagung hat Freud später in der Tat auf allen Enthusias. 
mus verzichtet und sieht ihn auch nicht gern bei seinen Schülern. Er 
konnte dennoch niemals dauernd verleugnen, daß er wohl weiß und 
fühlt, was schön ist. Schön ist sein Stil und schön die Harmonie seines 
Lebenswerkes. Es ist kein Zufall, daß Freuds Libidotheorie auf Plato 
zurückführt. 

Shaftesbury vermittelte dem achtzehnten Jahrhundert die Philo- 
sophie Platos, welche die Natur beseelt. Wir sehen wohl, daß Goethe 
in seinem „Fragment“ die Natur als nährende Mutter feiert, nach der 
noch seinen Faust verlangt: 

Wo faß ich dich, unendliche Natur ? 
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen allen Lebens, 


An denen Himmel und Erde hängt... 
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht’ ich so vergebens ? 


Im Lichte der Wissenschaft, ihrer unerbittlichen Kritik teils trotzend, 
teils erliegend, stehen Entdeckungen von der Art des menschlichen 
Zwischenkiefers und des Schädelwirbels. Diesen Entdeckungen über- 
geordnet ist die Idee, daß die Formen sich entsprechend ihren Zwecken 
verändern und aus einer gemeinsamen Urform hervorgehen. Zu solchen 
Ideen aber kann man gelangen, wenn man wie Shaftesbury und Goethe 
die Natur als ein Kunstwerk auffaßt, als „geprägte Form, die lebend 
sich entwickelt“. Die Naturforscher haben besonders im neunzehnten 
Jahrhundert dieser Auffassung auf das Heftigste widersprochen. Die 
Natur sei nicht zweckhaft, d. h. teleologisch zu begreifen wie das 
Kunstwerk und wie der Geist des Menschen, der Kunstwerke schafft. 
Goethes Beispiel zeigt, daß man auch auf diesem Wege Naturwissen- 
schaft betreiben und zu dauerhaften Resultaten gelangen kann. Daß 
die Figur der Mutter mystisch am Anfange aller dieser Überlegungen 


— 454 — 





steht, die eben aus solcher Mystik ihre Kraft beziehen, mag uns 
einen Wink über den Ursprung aller schöpferischen Erkenntnis geben. 


” 


Naturwissenschaft ist auf Beobachtung gestellt. Aber eine Beob- 
achtung ohne vorhergehende Idee gibt es nicht. In der Idee liegt 
die Freiheit, in der Beobachtung liegt der Zwang. Wenn man mir 
einen Tisch zeigt, bin ich gezwungen, ihn als Tisch anzuerkennen. So- 
lange ich nicht irrsinnig bin, wird alle meine Geisteskraft nicht aus- 
reichen zu leugnen, daß der Tisch ein Tisch sei, und ihn etwa für 
einen Apfelbaum zu erklären. Es könnte aber sein, daß einem Beob- 
achter aus unscheinbaren Gründen die Idee aufsteigt, dieser Tisch sei 
ein ganz besonderer Tisch, auf dem Napoleon den Frieden von Paris 
unterzeichnet habe. Für den Entdecker liegt auch in dieser Idee ein 
Zwang. Aber seine Idee zwingt mich ganz und gar nicht. Ich wider- 
spreche, ich sehe nicht ein, ich versuche den Entdecker zu bewegen, 
auf seine Idee mangels an Beweisen zu verzichten. Ich sage: dieser 
Tisch ist einer aus Millionen Tischen. Er stammt vermutlich aus einer 
späteren Zeit. Wie unwahrscheinlich, daß es gerade Napoleons Tisch 
sein sollte! Wenn der Entdecker seine Idee nicht mit genügend Beob- 
achtungsmaterial stützen kann, werde ich ihn zwingen, auf seine Idee 
zu verzichten. Wenn er sie aber mit Dokumenten, Zeugen, Zusammen- 
hängen aller Art beweist, dann werde ich meinerseits ihm glauben 
müssen: denn die Beobachtung zwingt. 

Wenn man dahingegen sagt, die Idee sei frei, so wird man bei 
allen Anhängern des Kausalitätsprinzipes, das ist der Unfreiheit unseres 
Willens, auf Widerspruch stoßen. Aber wir haben das Gefühl, als 
steige die Idee frei und unabhängig aus unserem Inneren und große 
Forscher haben immer wieder berichtet, daß die Idee plötzlich, wenn 
sie es am wenigsten erwarteten, in ihnen aufleuchtete. Robert 
Mayer ist der Urheber des Gedankens von der Erhaltung der Kraft. 
Kraft kann in dieser Welt nicht verloren gehen, sie kann nur um- 
gewandelt werden: aus Arbeit wird Wärme, aus Wärme Elektrizität 
und umgekehrt; aber die Gesamtsumme ist immer die Gleiche. Mayer 
berichtet, daß dieser folgenschwere und wie sich später herausstellte, 


— 455 — 


























5 


unwiderleglich richtige Gedanke, plötzlich und ohne vorhergehende; 
Nachdenken in ihm aufstieg, als er gerade auf Deck spazieren ging; 
er war damals Schiffsarzt. Als er wieder daheim war, begegnete er 
Unglauben bei den Physikern. Einer sagte: „Wenn Arbeit sich in 
Wärme umsetzen könnte, müßte Wasser, das man in einer Flasche 
schüttelt, nach und nach immer wärmer werden“. Mayer ging sorgen. 
voll nach Hause, tat Wasser in eine Flasche, stellte die Temperatur 
des Wassers fest, schüttelte dann geraume Zeit und thermometrierte 
von neuem. Überwältigt von dem Resultat, lief er mit der Flasche 
zum Freunde und rief schon auf der Straße: es ist, es ist! Heute 
kennt jedes Schulkind ‘/,,, als das mechanische Wärmeäquivalent. — 
Kekule& fand seinen Benzolring, als er abends an seinem Kamin 
saß und Rauchringe in die Luft blies. Er befand sich in einem 
Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, als ihm der Gedanke 
kam, das komplizierte Molekül des Benzolkörpers könnte vielleicht 
chemisch erfaßt werden, wenn man die Radikale ringförmig ansetzte, 

Wenn in solchen frei aufsteigenden Ideen ebenfalls Zwang steckt, 
so ist es doch eine andere Art von Zwang, als der der Beobachtung; 
er kommt nicht von außen, sondern von innen und da er vom un- 
mittelbaren äußeren Zwange frei ist, nennen wir ihn die Freiheit der 
Idee. Zahllose solche Ideen steigen in uns auf, die meisten werden 
von uns selbst wieder verworfen, weil sie mit der Beobachtung im 
Widerspruch stehen. Andere Ideen, die uns mit der Beobachtung 
übereinzustimmen scheinen, werden dann noch von unseren Kritikern 
verworfen und von den wenigen Ideen, die übrig bleiben, sind die 
meisten auch nicht viel wert. Nur selten stößt die große Idee mit der 
großen Beobachtung zusammen und dann entsteht das Gesetz, durch 
das wir die Natur begreifen und beherrschen. Unsere Erkenntnis ist 
immer zusammengesetzt aus innerem und äußerem Zwang. Da wir 
den inneren Zwang nicht als solchen erleben, darf man ihn Freiheit 
nennen. 

Freie Ideen sind bei vielen Naturforschern so anrüchig geworden, 
daß sie sich ihrer schämen. Sie wollen anderen und sogar sich selbst 
nicht eingestehen, daß die Wurzel ihrer Erkenntnis Gnosis ist, ganz 
wie die Erkenntnis des religiös Gläubigen. Sie fürchten sich, mit 
Aposteln in eine Linie gestellt zu werden und deshalb behaupten sie 


— 456 — 














gerne, sie seien durch eine Reihe von Beobachtungen, Versuchen, 
klaren Überlegungen auf dem Boden von fest bewiesenen Prämissen 
auf ihre Idee gekommen. Es ist aber immer und notwendig umge- 
kehrt. Nehmen wir einen Arzt, der täglich die Runde durch seine 
Krankensäle macht, seinen Patienten den Puls fühlt, und alle ihre 
Symptome registriert. Eines Tages sieht er ein Krankheitsbild, das er 
noch nie gesehen hat. Er schaut in der medizinischen Literatur nach 
und findet nichts Ähnliches aufgezeichnet. Somit beschreibt er seine 
Beobachtung als eine neue Krankheit, die aber regelmäßig schon seit 
je bestanden hat und nur anderen nicht aufgefallen war. Sie war aber 
anderen nicht aufgefallen, weil sie die Idee nicht besaßen, die zu jeder 
Entdeckung nötig ist. Klassische Zeiten ergeben sich für die Natur- 
wissenschaften immer dann, wenn Idee und Beobachtung in schöner 
Harmonie zusammen wirken. Wenn die Idee überwuchert, gelangen 
wir zur Phantastik des scholastischen Mittelalters, in der Medizin zu 
Gesundbeten, tierischem Magnetismus und allerlei Hokuspokus. Wenn 
die Beobachtung sich von der Idee befreien will, dann geraten wir in 
die Wüste der Statistik. Es gibt dann immer Revolutionen, durch die 
das eine Extrem in das andere übergeführt wurde. Wenn die Idee 
sich durch Jahrzehnte, manchmal durch Jahrhunderte übernommen hat, 
dann kommen helläugige Beobachter und rufen: „Aber es ist ja alles 
nicht wahr, es ist ja offensichtlich alles anders!* Und mit verstaubtem 
Wust von Aberglauben wird aufgeräumt. Aber dann sammeln sich 
wieder die Tatsachen an, die Laboratorien mit Gläsern und Pumpen 
und Mühlen, die leeres Stroh mahlen, werden unerträglich und die 
Rebellen kommen von der anderen Seite und zerbrechen die Retorten. 

Es wird wohl die Wahrheit sein, daß Idee, Einzelbeobachtung und 
Kontrolle der entscheidenden Beobachtung durch möglichst zahlreiche 
Nachprüfungen voneinander unlösbar sind. Da man Ideen hat, ohne 
es zu wissen und da man auch unbewußt viel beobachtet, wird der 
Zusammenhang völlig undurchsichtig. Wenn ein Forscher sagt: „ich 
sah und da kam mir der Gedanke...“, so mag die Wahrheit sein, 
daß er den Gedanken schon lange mit sich herumtrug und daß er 
deshalb sah. Wenn er sagt: „eines Tages sah ich...“, so mag er 
schon oft dasselbe gesehen und unbewußt verarbeitet haben, bis es 
ihm anläßlich einer x-ten Beobachtung als scheinbar erstmalig ins Be- 


— 457 — 



































y 


wußtsein sprang. Nur so lassen sich einmalige Beobachtungen erklären, 
die sonst ein zu schmales Fundament für großartige Folgerungen wären, 
die sie zu tragen haben. Selten sind Naturforscher so aufrichtig wie 
Robert Mayer oder Kekul&. Ein Naturforscher, der den Ehrgeiz hat, 
von den Schulmeistern gelobt zu werden, wird sich auch nicht leicht 
auf eine Einzelbeobachtung berufen, die er verallgemeinert hat, wie 
Goethe und oft auch Freud taten. 


Goethe tritt an die Natur mit der Entwicklungsidee bewaffnet 
heran, Freud mit dem Lustprinzip. Alles Seelische strebt — soweit 
dieses Prinzip reicht — nach Lust. Seine Idee wirkt dem Forscher wie 
eine Laterne, sie erhellt immer wieder Geheimnisse, die ohne dieses 
Licht dunkel bleiben müssen. 

Eines Tages trat Freud an das Spiel der Kinder heran. Viele 
schon haben das Spiel der Kinder beobachtet, hunderte, tausende 
spielende Kinder. Diese induktive Methode ist nicht die der Psycho- 
analyse Freuds, wenigstens nicht die, mit der er seine Entdeckungen 
macht. Da er einen einzigen Fall Monate und Jahre lang analysiert, 
kann er unmöglich zugleich mit dem Gepränge der großen Zahlen 
aufwarten. Glücklicherweise bedarf es dessen nicht beim Genius Freuds. 
Er ersetzt die Breite durch die Tiefe des Blickes. 

Er hatte Gelegenheit, einen Knaben im Alter von anderthalb Jahren 
beim Spiele zu beobachten, einige Wochen lang, 


„bis das rätselhafte und andauernd wiederholte Tun mir seinen Sinn 
verriet... Es weinte nie, wenn die Mutter es für Stunden verließ, obwohl 
es en: Mutter zärtlich anhing, die das Kind nicht nur selbst genährt, 
sondern auch ohne jede fremde Beihilfe. gepflegt und betreut hatte. Dieses 
brave Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen 
Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von sich in eine Zimmer- 
ecke, unter ein Bett usw. zu schleudern, so daß das Zusammensuchen seines 
Spielzeuges oft keine leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck 
von Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes o-0-0-0, das nach 
dem übereinstimmenden Urteil der Mutter und des Beobachters keine Inter- 
jektion war, sondern ‚Fort‘ bedeutete. Ich merkte endlich, daß das ein Spiel 
sei, und daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benützte, mit ihnen 
‚Fortsein‘ zu spielen. Eines Tages machte ich dann die Beobachtung,“ [bier 


— 458 — 








die Beobachtung, die ja nicht ausbleiben konnte, weil Freud den Sinn des 
„rätselhaften Tuns“ schon von Anfang an unbewußt in der Idee hatte] 
„die meine Auffassung bestätigte. Das Kind hatte eine Holzspule, die mit 
einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am 
Boden hinter sich her zu ziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern 
cs warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand 
seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein 
bedeutungsvolles o-0-0-6 und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem 
Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen 
‚Da‘. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, 
wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde 
für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust 
unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. 

Diese Deutung wurde dann durch eine weitere Beobachtung völlig ge- 
sichert. Als eines Tages die Mutter über viele Stunden abwesend war, wurde 
sie beim Wiederkommen mit der Mitteilung begrüßt: Bebi o-o-o-0 ! die 
zunächst unverständlich blieb. Es ergab sich aber bald, daß das Kind wäh- 
rend dieses langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst ver- 
schwinden zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden reichenden 
Standspiegel entdeckt und sich dann niedergekauert, so daß das Spiegelbild 
‚fort‘ war. 

Die Deutung des Spieles lag dann nahe. Es war im Zusammenhang mit 
der großen kulturellen Leistung des Kindes, mit dem von ihm zustande- 
gebrachten Triebverzicht (Verzicht auf "Triebbefriedigung), das Fortgehen der 
Mutter ohne Sträuben zu gestatten. Es entschädigte sich gleichsam dafür, 
indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen mit den ihm erreich- 
baren Gegenständen selbst in Szene setzte... 

Die Analyse eines solchen einzelnen Falles ergibt keine sichere Entschei- 
dung; bei unbefangener Betrachtung gewinnt man den Eindruck, daß das 
Kind das Erlebnis aus einem anderen Motiv zum Spiel gemacht hat. Es 
war dabei passiv, wurde vom Erlebnis betroffen und 
bringt sich nun in eine aktive Rolle [bei Freud nicht gesperrt], 
indem es dasselbe, trotzdem).es unlustvoll war, als Spiel wiederholt. Dieses 
Bestreben könnte man einem Bemächtigungstrieb zurechnen, der sich davon 
unabhängig macht, ob die Erinnerung an sich lustvoll war oder nicht. Man 
kann aber auch eine andere Deutung versuchen. Das Wegwerfen des 
Gegenstandes, so daß er fort ist, könnte die Befriedigung eines im Leben 
unterdrückten Racheimpulses gegen die Mutter sein, weil sie vom Kinde 
fortgegangen ist, und dann die trotzige Bedeutung haben: Ja, geh’ nur fort, 
ich brauch’ dich nicht, ich schick’ dich selber weg... 

Man sieht, daß die Kinder alles im Spiele wiederholen, was ihnen im 
Leben großen Eindruck gemacht hat, daß sie dabei die Stärke des Ein- 
druckes abreagieren und sich sozusagen zu Herren der Situation machen. 


— 459 — 
















































































Aber anderseits ist es klar genug, daß all ihr Spielen unter dem Einflug 
des Wunsches steht, der diese ihre Zeit dominiert, des Wunsches : groß 
zu sein und es so tun zu können wie die Großen. Man macht auch die 
Beobachtung, daß der Unlustcharakter des Erlebnisses es nicht immer für 
das Spiel unbrauchbar macht. Wenn der Doktor dem Kinde in den Hals 
geschaut oder eine kleine Operation an ihm ausgeführt hat, so wird dies 
erschreckende Erlebnis ganz gewiß zum Inhalt des nächsten Spieles werden, 
aber der Lustgewinn aus anderer Quelle ist dabei nicht zu übersehen, 
Indem das Kind aus der Passivität des Erlebens in die 
Aktivität des Spielens übergeht [bei Freud nicht gesperrt], fügt 
es einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst widerfahren 
war, und rächt sich so an der Person dieses Stellveitreters.« 


Hier haben wir eine Einzelbeobachtung, wie Goethes Palme 
in Padua oder sein Schafsschädel bei Venedig. Freud entdeckt, daß 
Kinder, neben anderen biologischen und psychologischen Motiven, 
spielen, um aktiv sein zu können, anstatt das Ungemach und die Ge. 
fahren dieser Welt in Ohnmacht passiv zu erdulden. Durch das Spiel 
verwandelt sich das Kind aus dem Amboß in den Hammer. Das 
Prinzip war Freud schon vorher bekannt. Es ist auch im Mechanismus 
der Neurosen wirksam, oft gibt es dort den Ausschlag. Mit der Idee 
des Lustprinzips bewaffnet, findet Freud die Lust auch in der schein- 
baren Unlust. Die Lust stammt erstens aus der Aktivität, die den 
Willen zur Macht befriedigt; das Kind, das Doktor spielt, hat sich 
dessen Macht einverleibt. Zweitens liefert das Spiel symbolische Be- 
friedigung der Grausamkeit und Rachsucht. Drittens genießt das 
spielende Kind seine Sicherheit. Dieses Dritte wurde von Karl Bühler 
hervorgehoben. Aber schon vorher (1908) von Freud, als er über den 
„Dichter und das Phantasieren“ schrieb. Dichten und alle künstlerische 
Betätigung ist ja dem Kinderspiel so verwandt: 

„Suchen wir für unsere Vergleichung nicht gerade jene Dichter aus, die 
von der Kritik am höchsten geschätzt werden, sondern die anspruchsloseren 
Erzähler von Romanen, Novellen und Geschichten, die dafür die zahlreich- 
sten und eifrigsten Leser und Leserinnen finden. An den Schöpfungen dieser 
Erzähler muß uns vor allem ein Zug auffällig werden; sie alle haben einen 


Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere 
Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit einer 


— 460 — 























































besonderen Vorsehung zu beschützen schein. Wenn ich am Ende eines 
Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden blutend ver- 
lassen habe, so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten in sorgsamster 
Pflege und auf dem Wege der Herstellung zu finden, und wenn der erste 
Band mit dem Untergange des Schiffes im Seesturme geendigt hat, auf dem 
unser Held sich befand, so bin ich sicher, zu Anfang des zweiten Bandes 
von seiner wunderbaren Rettung zu lesen, ohne die der Roman ja keinen 
Fortgang hätte. Das Gefühl der Sicherheit, mit dem ich den Helden 
durch seine gefährlichen Schicksale begleite, ist das nämliche, mit dem ein 
wirklicher Held sich ins Wasser stürzt, um einen Ertrinkenden zu retten, 
oder sich dem feindlichen Feuer aussetzt, um eine Batterie zu stürmen, jenes 
eigentliche Heldengefühl, dem einer unserer besten Dichter den köstlichen 
Ausdruck geschenkt hat: ‚Es kann dir nix g’schehen« (Anzengruber). Ich 
meine aber, an diesem verräterischen Merkmal der Unverletzlichkeit erkennt 
man ohne Mühe — Seine Majestät, das Ich, den Helden aller T’agträume, 
wie aller Romane.“ 





Freud hat aus dem Spiele des anderthalbjährigen Knaben noch mehr 
und Bedeutungsvolleres herausgesehen. Er sieht in der endlosen 
Wiederholung des gleichen Vorganges ein Prinzip, das er dem Lust- 
prinzip als ebenbürtig an die Seite stellt: den Wiederholungs- 
zwang, dem alles Psychische und alles Lebendige unterliegt. Diesem 
Prinzip zu gehorchen, es handelnd darzustellen, bedeutet Genuß. 
Selbst ein unangenehmes Erlebnis wird zum Genuß, wenn es im 
Spiele rhythmischı wiederholt wird. Die Lust am Rhythmus ist 
stärker als die Unlust des schmerzlichen Inhaltes. Hier liegt eine der 
tiefsten Lehren Freuds vor. 

Kinderpsychologen haben sich gegen diese an Goethe erinnernde 
Methode, aus einer einzelnen Beobachtung so weitgehende Schlüsse 
zu ziehen, gewehrt. Da sieht man, haben sie gesagt, wohin man 
kommt, wenn man mangels Erfahrung nicht weiß, daß fast alle Kinder 
das Spiel vom Kukuk-dada, das heißt: verschwunden und wieder auf- 
getaucht, lieben und daß der Charakter der Wiederholung zur End- 
losigkeit gehört, mit der das Kind vom Morgen bis zum Abend spielt. 
Der Inhalt des Spieles eines kleinen Kindes ist doch, weiß Gott, gleich- 
gültig, es ändert ihn ja auch nach dem Wind, der weht und wesent- 
lich ist die Lust am Funktionieren, die der geistreiche Wiener Psychologe, 
Karl Bühler, dessen Argumentation ich in diesem Absatz wieder- 
gebe: die Funktionslust nennt, im Gegensatz zur anderen Lust, die 


— 461 — 
























































Spannung und Entspannung zur Voraussetzung hat. Freud, sagt Bühler, 
ist kein Formdenker, sondern ein Stoffdenker. Er vernachlässigt die 
Form des Geschehens und geht zu viel auf dessen Inhalt. Man findet 
aber den nämlichen Inhalt des „Verschwunden und wieder da“ bei 
fast allen Kindern, auch bei denen, deren Mütter nicht regelmäßig für 
Stunden und halbe Tage wegbleiben. 

An dieser Kritik ist soviel richtig, daß Freud wie Goethe ein Sto f£ 
denker ist. Deshalb ist er immer lebendig. Kant ist ein Form- 
denker, Nietzsche hat ihn darum Goethes Antipoden genannt. Man 
darf vielleicht sagen, daß Stoffdenken spezifisch deutsch ist. In der bil. 
denden Kunst ist es den Deutschen oft genug von den Franzosen zum 
Vorwurf gemacht worden. Die lateinischen Nationen sind formal be. 
gabter als die Deutschen. Zivilisation drängt. zur Formvollendung. Aber 
das Wesen hängt am Stoffe. Durch sein Medium dringt man in 
die Tiefe. „Dich prüfe du nur allermeist, ob du Kern oder Schale seist,“ 

Es ist möglich, daß Freud sein Beispiel nicht besonders gut 
gewählt hat. Auch Goethe plagte sich mit dem Schädel eines Säuge- 
tieres, das er im Sande fand, obgleich seine Idee am Schädel von 
Amphibien oder Fischen viel deutlicher in Erscheinung tritt. Freuds 
Beispiele sind nicht immer beweisend. Er selbst und seine 
Schüler haben fast regelmäßig später weitaus überzeugendere Beispiele 
für seine Traumdeutung, seine Theorie des Vergessens und auch des 
Kinderspieles gebracht. Aber wenn auch die ersten Exempel, die Freud 
zur Darstellung seiner Ideen verwendet, nicht immer schlagend sind, 
so ist es doch die Idee selbst, die weiter leuchtet. Alle Kinder spielen 
das Spiel von Freuds kleinem Knaben, weil alle das Nämliche zu er- 
dulden haben. Alle Kinder werden immer wieder verlassen und müssen 
zusehen, wie sie ohne ihre Schutzgeister durchs Leben kommen. Wie, 
wenn alle Kinder kein früheres, kein stärkeres Erlebnis hätten als 
diese "Treulosigkeit der Pfleger (loss of support!) und dies das erste 
Erdulden wäre, das sie ertragen, indem sie es aus dem Passiven ins 
Aktive verwandeln? Die Trennung von der Mutter, Geburt, Ent- 
wöhnung, Ankunft jüngerer Geschwister sind die ersten Anlässe, um 
von der Unlust des Erlebens an die Lust des Rhythmus zu appellieren, 
sich dem Wiederholungszwang wie einer masochistischen Lust hinzu- 
geben. Zwischen Bühlers Funktionslust und der Lust der Wiederholung 


— 462. — 























































mag der Unterschied vielleicht so groß nicht sein. Nur daß die ewige 
Wiederkehr des Gleichen das tiefere Prinzip zu sein scheint, etwa gar 
dasjenige, welches über Leben und Tod herrscht. 


Wir haben heute für die kalte und großartige Schönheit der Re- 
naissance wenig Sinn übrig. Wir verstehen nicht recht, wie Goethe 
für die uns langweiligen Säulenstellungen des Palladio schwärmen 
konnte, und ihm zuliebe seiner früheren Vorliebe für Gotik absagte. 
Es muß ja auch in allen diesen hohen Kunstwerken etwas stecken, 
wofür uns der Sinn verloren gegangen ist. Die Siebziger und Achtziger 
Jahre des neunzehnten Jahrhunderts scheinen diesen Sinn noch besessen 
zu haben. Man war damals ganz empört, daß die jüngeren Maler 
etwas Anderes zum Vorwurf ihrer Bilder sich erkoren, als das klassisch 
Schöne und in den Reisehandbüchern, die in jener Zeit geschrieben 
wurden — sie sind noch heute in den Händen der Touristen — 
werden die reinen Renaissancekünstler in den Himmel gehoben, mit 
‚Doppelsternchen versehen, während Michelangelo, soweit er in die 
nächste Epoche, die des Barock hinüber reicht, mit einigermaßen be- 
fremdeter Hochachtung, der gewaltige Tintoretto aber und die 
anderen Künstler des Barock geradezu mit Geringschätzung als Ver- 
fallserscheinungen abgetan werden. 

Es ist interessant, daß der Physiologe Ernst Brücke, bei dem Freud 
als Student und als junger Arzt Assistent („Demonstrator“) war und 
von dem er sagt, daß kein anderer in seinem Leben je so viel Einfluß 
auf ihn genommen habe, kurz vor seinem Tode und wie als sein 
Vermächtnis eine kleine Schrift verfaßt hat: „Schönheit und Fehler der 
menschlichen Gestalt.“ Wie manche Unentwegte heute Bücher schreiben 
über die „vollkommene Ehe und wie man zu ihr gelangen kann“ 
weil sie hoffen, durch solche Darstellungen den „Verfall der Ehe“ auf- 
zuhalten, so hoffte Brücke durch seine Normalmaße eine in seinen 
Augen verirrte Zeit wieder zur Normalschönheit zu bekehren. Denn 
Schönheit — so glaubten Brücke und seine Zeit — kann mit Zollstab 
und Zirkel gemessen werden. „Schön“, sagt Brücke, „nenne ich die- 
jenige Gestalt, welche sich in allen Stellungen und in .allen Ansichten, 


— 463 — 









































soweit sie in der idealen Kunst überhaupt zur Anwendung kommen, 
vorteilhaft verwenden läßt.“ 

„Ich habe mich hiemit“ fährt Brücke fort, „auf einen rein künstle. 
rischen Standpunkt gestellt, indem ich die Schönheit nicht abhängig 
mache vom subjektiven Gefallen am jeweiligen Anblick, sondern von 
einem viel bestimmteren Momente, von der allseitigen Verwendbarkeit 
in der idealen Kunst. Man hat viel gesprochen von sinnlicher Schönheit 
und schöner Sinnlichkeit, aber wo die Sinnlichkeit als solche mit in 
Betracht gekommen ist, hat sie mehr geschadet als genützt. Sie war es, 
die in der italienischen Kunst die hohen Ideale weiblicher Schönheit mit 
dem Beginne des Verfalles der Kunst“ [gemeint ist das heute von uns 
so hochgeschätzte Barock] „durch niedere ersetzt hat, und sie ist es noch 
heute, welche Maler und Bildhauer über die Fehler ihrer weiblichen 
Modelle hinwegsehen läßt... Daß das Gefühl für Schönheit der Linien 
in neuerer Zeit so zurückgetreten ist, ja ich möchte sagen, nur noch ver- 
einzelt gefunden wird, ist ein wesentlicher Vorwurf, den man der 
modernen Kunst gegenüber der des Altertums und der Renaissance 
machen muß.“ 

Im Gegensatz zu dieser Meinung des alten Brücke kann heute kein 
Mensch mehr die klassizistischen Figuren des neunzehnten Jahrhunderts 
anschauen, wie sie uns in ihrer langweiligen und entseelten Schönheit 
anstarren, die Arme bald nach links und bald nach rechts ausstrecken, 
ohne schaurig zu gähnen. Man sieht sie noch allenthalben auf den 
Vorhängen der ehemaligen Hoftheater. Und wie wurde der Kritiker 
Brücke wohl überhaupt mit den Fällen Velasquez und Rembrandt 
fertig? Er hätte sie als „Koloristen* tief unter die Konturenmeister 
seiner Renaissance gestellt. 

Freud sagte einmal gesprächsweise, Lionardo und Rembrandt seien 
die einzigen Maler, die zu studieren sich wirklich lohne. Gemeint sind 
da sehr wahrscheinlich das Lächeln der Mona Lisa und die uner- 
gründlichen Porträts von Rembrandt. Damit zeigt Freud deutlich ge- 
nug, daß er die Schönheit nicht im goldenen Schnitt oder anderen 
Zirkelmaßen sieht. Aber er war gleichwohl ein Kind seiner Zeit. Aut 
seinen vielen Reisen nach Italien mußte er die Renaissance und sie 
vor allem bewunderungswürdig finden. Er selbst nennt einmal den 
Dom von Orvieto mit seinen „großartigen Fresken von Signorelli“. 


— 464 — 





_ Lionardo und Michelangelo hat er größere Arbeiten gewidmet. Die 
klassische Vollendung ist sein Schönheitsideal, auch darin von Goethe 


Freud für die Schönheit des Barock, der Romantik, der Mystik, der 
Religion, des „Ozeanischen“, der Metaphysik wenig übrig hat. In 
Orvieto und im Rom des Papstes Julius konnte er sie nicht finden, 
den Romantikern ist er ausgewichen. Später hat er ägyptische Alter- 
tümer gesammelt, von denen man alles sagen kann, nur nicht, daß sie 
schön sind. Das Fremdartige zieht ihn an, das Geheimnis (Mona Lisa) 
und das Gegensätzliche (Helldunkel). 

Er hat seiner Erziehung entsprechend, besonders ausgesprochenen 
Sinn für alles Große, das Edle im klassischen Sinne und das Voll- 
endete. Das unterscheidet ihn von unserer Zeit, die er doch mit bil- 
den geholfen hat. Von der Schönheit, nämlich der weiblichen Schön- 
heit, hat er einmal gesagt, sie sei die einzige Gewalt, die sich neben 
der Macht des Geldes in unserer Zeit behauptet habe. Über das 
Wesen der Schönheit finden wir bei Freud die folgende, klein ge- 
druckte Anmerkung und sonst so gut wie nichts: „Es scheint mir un- 
zweifelhaft, daß der Begriff des ‚Schönen‘ auf dem Boden der Sexual- 
erregung wurzelt und ursprünglich das sexuell ‚Reizende‘ (‚die Reize‘) 
bedeutet. Es steht im Zusammenhange damit, daß wir die Genitalien 
selbst, deren Anblick die stärkste sexuelle Erregung hervorruft, eigent- 
lich niemals ‚schön‘ finden können.“ 

An einer anderen Stelle wiederholt Freud den zweiten Teil dieser 
Anmerkung, indem er behauptet, die Genitalien hätten die Entwicklung 
des Menschen zur Schönheit nicht mitgemacht. Er bedeckt die 
„Scham“ mit einem ästhetischen Feigenblatt. Sollte dieser große 
Mann hier nicht besonders zeitgebunden sein und moralische An- 
schauungen, die sich seit 1870 sehr verändert haben, in seine Analyse 
haben einfließen lassen? Warum sollten wir die Genitalien nicht schön 
finden können? Ich glaube, daß die Natur überall schön ist, wo man 
sie „sonnenhaft* betrachtet. Gerade von Freud haben wir gelernt, 
uns so etwas zu getrauen. Von Freud, von Nietzsche und von Dich- 
tern, die uns sagten: „Du sollst nicht im Dunkel lieben, sondern im 
Licht“ (Frank Wedekind). 

Hingegen ist der erste Teil der Anmerkung über die Wurzel 





PsA. Bewegung — 465 — 31 


beraten und vorgebildet. Aus dieser Erziehung wird sich erklären, daß 












































des Schönen ein Schlüssel zum Verständnis und wohl wert 
daß man ihn zur Grundlage einer modernen Ästhetik macht. 
Vergleichen wir mit seiner Klarheit, was Dostojewski einen 
seiner Karamasow über Schönheit sagen läßt: „Die Schönheit ist ein 
furchtbares und schreckliches Ding! Furchtbar, weil sie unbestimmba 
ist, und bestimmen kann man sie nicht, weil Gott uns Rätsel gegeben 
hat. Hier nähern sich die Ufer — hier leben alle Widersprüche bei. 
sammen.“ Die beiden Ufer, die Dostojewski meint, sind die des 
Teuflischen und des Göttlichen. Manches von dem, was Dostojewsk; 
für rätselhaft und unbestimmbar hielt, ist heute durch Freuds Lebens. 
werk am Tage. Über die Schönheit fände ich gerne mehr in Freuds 
Werken. Er ist auch dem Problem des Künstlers mit einer bei ihm 
merkwürdigen Zaghaftigkeit gegenübergetreten: „Woher dem Künstler 
die Fähigkeit zum Schaffen kommt, ist keine Frage der Psychologie. *— 
„Leider muß die Analyse vor dem Problem des Dichters die Waffen 
strecken.“ — Warum? Es wäre interessant von dem großen Desillu- 
sionisten, der hier auf einmal einsilbig und apodiktisch wird, Näheres 
über diesen Verzicht zu erfahren. 


Brechen wir diese Studie hier ab. Sie gehört einem größeren Zusammen- 
hang an und wurde geschrieben, bevor ich wußte, daß der Goethe- 
‘Preis der Stadt Frankfurt Freud zuerkannt worden ist. Sollte die deutsche 
Heimat wirklich beginnen zu erkennen, daß der Schöpfer der Psycho- 
analyse ein Großer ist? Spät genug und dennoch um ein nicht Geringes 
zu früh. Was nützte es, wenn sie ihn feiern, ohne ihn zu verstehen? 
Auch von Freud gilt das Wort des Konfuzius: „Im Anfang haben sie 
mich nicht erkannt und auch nicht von mir gesprochen. Jetzt sprechen 
sie von mir, aber sie haben mich nicht erkannt.“ 


LUD | 
1 
— 466 — 





Freud als Schriftsteller 


Von 
Walter Muschg 


1. 





Freud als Schriftsteller? wird der psychoanalytische Fachmann fragen, 
und ich frage es mich selbst, denn ich verstehe, was gemeint ist. Dieser 
Titel scheint fragwürdig; er riecht nach Ästhetentum, nach Einmischung 
des Literaten, die reichlich spät kommt und wahrlich nicht am Platz 
ist, wo es sich ein Leben lang nur um eine Sache handelte. Ich sehe 
mich genötigt, sogleich ein Geständnis anzufügen, um den fatalen Ein- 
druck wegzuwischen, den er begünstigt. 

Es sollen hier wirklich ein paar Worte über Freud als Prosaisten 
aufgezeichnet werden. Aber ich denke nicht daran, diesem Autor sein 
Sprachkleid zu stehlen, um es als schöngetupften Balg in die Regale 
der Ästhetik zu hängen; mich treibt eben die Genugtuung über die 
Unmöglichkeit einer solchen Prozedur. Der Schriftsteller Freud ist vom 
Psychologen nicht zu trennen, niemand wird jenen ohne diesen ver- 
stehen, und man hat es jederzeit mit seiner Lehre zu tun, wenn man 
sich mit seinen literarischen Fähigkeiten beschäftigt. Der Versuch, sein 
Wesen aus den Figurationen seiner Sprache, das Wirkende aus dem 
Bewirkten abzulesen, wäre hoffnungslos verfehlt. Die Zeit ist vorüber, 
wo man einem Autor in Dissertationen die Adjektive und Verben 
nachzählte, in Häufchen gruppierte und wie Bohnen sortierte, in der 
Erwartung, damit seinen „Stil“ zu klassifizieren. 

Nach dieser gröbsten Unterscheidung darf man aber wohl hervor- 
heben, daß der Schöpfer der Psychoanalyse seinen Zeitgenossen mit 
einem schriftstellerischen Oeuvre von seltenem Umfang und Reichtum 
gegenübersteht. Seine Werke sind in allen Buchläden ausgestellt, es 
gibt von ihnen Gesamtausgaben in mehreren Sprachen; junge Leute 
tragen sie jetzt auf der Straße unterm Arm, wie wir vor fünfzehn 
Jahren die roten Dostojewski-, die gelben Strindbergbände bei uns 
trugen. Freud hat eine geistige Großmacht der Epoche begründet, und 
er hat dies in der Hauptsache mit literarischen Mitteln und gegen ein Heer 


— 467 — 3ı* 

















h 


von Widerständen getan. Wer verkennt die Ausdauer und klare At 
sichtüchkeit, die seiner schriftstellerischen Hervorbringung eigen sin 
die am großen Erfolg ausschlaggebend beteiligt waren. Er ist heut 
im deutschen Sprachgebiet vielleicht das größte Beispiel eines organisd 
erwachsenen literarischen Triumphes, einer intensiven, durch Jahrzehnt 
vorbereiteten Wirkung — im Gegensatz zu vielen forcierten, wi; 
aufgeblähten Augenblickskonjunkturen, hinter denen nichts als die kalt 
Piraterie eines Propagandabureaus steht. 

Er ist schon dadurch literarisch denkwürdig geworden, mehr al 
dies: eine der Tröstungen, die dem ernsthaft bemühten Schriftstelle 
dieser Zeit angesichts einer chaotischen Betriebsamkeit vor Auger 
stehen. Sinnlosigkeit, offene oder trauernd geahnte, liegt über den 
Tun der heutigen Autoren oder doch einer großen Zahl und besonder 
der jüngeren unter ihnen, und viele verschweigen es nicht länger. Su 
sind kaum mehr in der Lage zu publizieren, mehr noch aus innert 
als aus äußern Hindernissen; die Presse ist ihnen durch die Blutschulc 
verwehrt, die auf ihr liegt, und an eine tiefere Wirkung auf die All. 
gemeinheit wagt keiner mehr recht zu glauben, der den ausgeleierter 
Mechanismus der übrigen Institutionen kennt, die sie vermitteln sollen, 
Ich glaube, daß auch bei den Lesern ein Wissen um diese Übel ver. 
breitet ist, und erkläre mir daraus die Umschichtung der geistigen In- 
teressen, von der jetzt jeder Ladenbesitzer etwas zu erzählen weiß, 
In den Vorständen aller Vortragsgesellschaften richtet man sich gegen- 
wärtig darnach, daß beim Publikum andere als „rein literarische“ 
Themen in Gunst sind; man hat Beispiele, daß Paläontologen, Arkchi- 
tekten, Entdeckungsreisende am sichersten eine Anziehungskraft aus- 
üben, und ich meine, Freud ist der Prototyp dieser faszinierenden 
Störenfriede. In den zwei vergangenen Jahrzehnten sind nacheinander 
eine Reihe von Autoren aufgetreten, die revolutionierende Maßstäbe 
oder neue Stoffbezirke vor die Offentlichkeit trugen, und die Dichtung 
ihrerseits wandte alles auf, um die Destruktion des hergebrachten Be- 
griffs der Literatur zu unterstützen, wobei es wieder — man denke 
an das Theater — nicht verborgen blieb, daß im Kern des Aufruhrs 
der Name Freud wirksam war. Es ist sicher, daß viele Menschen dieser 
Zeit jedes neue Buch in der unbewußten Hoffnung zur Hand nehmen, 
aus ihm eine neue Sinngebung der Literatur, bescheidener gesagt: des 


— 468 — 






Bücherschreibens und -lesens zu empfangen. Viele auffallende Erfolge, 
jeider nicht alle, sprechen für diesen Argwohn gegen die bloß literari- 
schen Qualitäten, die ja heute nicht mangeln, vielmehr sich von selber 
verstehen — auch die Auflagenziffern gewisser Kriegsbücher, die im 
Grund die Unaussprechlichkeit eines Erlebnisses, den Verzicht auf 
dichterische Behandlung verkündigen. Man nennt dies „neue Sachlich- 
keit“. Auf allen Arbeitsgebieten haben sich Herde dieser Abkehr von 
der formalen Verbrämung gebildet; desto effektreicher bewegen sich 
inmitten des Literaturzerfalls die Gestalten jener Autoren, die in pom- 
pöser Drapierung, wehmütig, durch Ironie oder Größenwahnsinn die 
Anpassung suchend oder in unfreiwilligem Zynismus das Lied ihrer 
zusammenbrechenden Welt zu Ende singen. 

Dieses Schauspiel ist wahrhaftig über Namen erhaben, aber ich stelle 
mich offenbar auf die Seite seiner schadenfrohen Augenzeugen, wenn 
ich mich dem sachlichsten aller lebenden deutschen Publizisten zuwende, 
um ihn als Schriftsteller zu charakterisieren, und es zum vornherein 
als mißlich empfinde, ihn ästhetisch zu „würdigen“. Nicht daß er gut 
schreibt, hat meinen Enthusiasmus geweckt, sondern daß er die Feder 
im Dienst eines erstrebten und zuletzt glorios erreichten Ziels gebraucht, 
ja daß offenbar in einem Sinne, den es erst zu fassen gilt, sein schrift- 
stellerisches Niveau durch seine Sache bedingt ist. Er verkörpert mir 
die seltene, spontan zu fühlende Einheit von Gehalt und Form, 
kurzum: die so vielerorts vermißte Notwendigkeit der schriftstelleri- 
schen Produktion. Ohne Zweifel hat die Überzeugungskraft, die ich 
zu spüren bekam, zum Teil durch die Form auf mich übergegriffen. 
Aber wenn ich mir gegenüber seinen Theorien den Vorwurf der Un- 
zuständigkeit gefallen lasse, so verhält sich dies anders im Hinblick 
auf den Ausdruck, durch den sie sich bieten. Hier maße ich mir ein 
Urteil an, nicht nur über das Können, sondern über seine Echtheit, 
über seine Authentizität. Dieses Urteil ist fast schmerzhaft geschärft 
durch so viel falsche Vollendung, so viel literarische Fertigkeit, die 
nichts Wichtiges mitzuteilen hat und dennoch so ertragreich in Blüte 
steht. Ich halte es für möglich, ja erforderlich, daß eine Sache auch ı 
an ihrer Form erkannt wird, und daß man ein Organ dafür besitzen | 
könne, ob sie sich durch ihre Ausdrucksweise rechtfertigt oder ver- | 
dächtigt. Ein Stil, der sich unter dieser Probe als „gut“ erweist, ist 


— 469 — 








b 


nur der Wahrheit eigen. Ich habe es deshalb stets komisch gefunden, 
wenn schlechter schreibende Schulfüchse etwa die Wertlosigkeit eines 
Bachofen nachzuweisen suchten, ohne ein Gefühl für seine Wortmagie 
zu verraten, wo doch das wahre Verhältnis — Wahrheit ist nicht 
immer identisch mit Richtigkeit — schon im Stilistischen evident war, 
Es gibt zu Bachofen, einem der großen Meister des Wortes, die 
zur Wirksamkeit auf unsere Generation gelangt sind, kaum einen 
schärferen sprachlichen Kontrast als Freud. Aber das hindert nicht, daß 
es mir mit diesem ebenso erging. Damit bin ich beim Thema und 
tilge das Pronomen der ersten Person, das nur das Grundsätzliche 
dieser Einleitung hervorgelockt hat. 


2. 


Es gibt in Freuds Schriften klare Anzeichen dafür, daß sich ihr Ver- 
fasser bewußt als Herr über die Sprache fühlt. Schönheit und Schlag- 
kraft der Formulierung, rhythmische und klangliche Sicherheit treten 
bereits aus seinen Titeln hervor. „Das Unbehagen in der Kultur“, 
„Das Ich und das Es“, „Jenseits des Lustprinzips“, „Trauer und Me- 
lancholie“ zeigen wie noch manche andere eine antithetische Spannung, 
die in der Zweihebigkeit des Akzents fortzuschwingen scheint — man 
glaubt aus diesen lakonischen, auserlesenen Formeln das Gesetz der 
Persönlichkeit, ihre gezügelte Energie, eine Fülle in der Kargheit her- 
auszuhören. Wie stumm beredt gibt sich der Titel „Die Traumdeu- 
tung“: der eigenen Position gewiß, den bestimmten Artikel betonend. 
In „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ begegnet einmal die Über- 
schrift: „Zwei künstliche Massen: Kirche und Heer“. Auch sie von 
jenem zwiefachen Rhythmus getragen, gesättigt mit Bildkraft, im 
Klanglichen wundervoll abgewogen. Niemand wird bezweifeln, daß 
eine um die Schönheit wissende Hand sie in diese Form gefaßt hat. 
Aber dies mögen noch äußerliche, in Geschmäcklerei befangene Be- 
obachtungen sein. Es ist ja auch ein vereinzelter Fall, daß Freud (in 
derselben Schrift) geradezu aus dem Wortspiel eine Definition gewinnt. 
Er korrigiert da die Auffassung, daß der Mensch ein „Herdentier“ 
sei, in die vom „Hordentier“, womit eine tiefgreifende sachliche 
Unterscheidung gemeint ist. 


— 410 — 






Hinter diesem Beispiel taucht aber schon eine Fülle verwandter Ein- 
gebungen auf: es sind jene Paradigmen für das Versprechen, für das 
Wortspiel, für das Reden im Traum, die Freud in der „Psycho- 
pathologie des Alltagslebens“, in der Arbeit über den Witz, in der 
Traumdeutung“ zusammenträgt. Wie er da die Tastatur der ineinan- 
gergleitenden Anklänge, Gleichklänge und Assoziationen bemeistert, 
wie er dem tollsten Wortwitz, den Launen des losgelassenen Klangs 
zu folgen weiß, wie er, ein Bruder Morgensterns und der Surrealisten, 
das Vierteltonklavier der Sprache spielt, das wird in jedem Leser eine 
hohe Vorstellung von seiner Sprachphantasie hinterlassen haben. Diesem 
Kapitel reiht sich würdig jenes andere über die Wiedergabe syntakti- 
scher Beziehungen im Traume an, das jeder Dichter mit Entzücken 
aufnehmen wird. Nur ein tief in der Sprache Lebender vermochte dies 
alles zu schreiben. 

Anderes kommt hinzu. Schon in den gemeinsam mit Breuer her- 
ausgegebenen „Studien über Hysterie“ von 1895 finden sich vereinzelt 
dichterische Zitate, findet sich der Ausspruch Charcots, der später so 
oft und eindrucksvoll wiederkehrt: „La theorie, c’est bon, mais ga 
n’empöche pas d’exister‘ — Freud haftet an solchen Prägungen, er wird 
sie nicht mehr los‘ und gibt dem Leser zu verstehen, daß sie eine 
Rolle in seiner inneren Entwicklung spielten. Er liebt es ja später 
auch, sich auf Volksliedstrophen und Sprichwörter zu berufen („Aber 
ich antworte Ihnen: Ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat“); gelegent- 
lich häuft er diese Wendungen (die Psychoanalyse als phantastische 
Geheimlehre verspottet, „die im Dunkeln bauen, im Trüben fischen 
möchte“), und es ist nicht gerade der übliche Medizinerton, wenn er 





(im „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“) erklärt: „Ich gebe Organen 
wie Vorgängen ihre technischen Namen und teile dieselben mit, wo 
sie — die Namen — etwa unbekannt sind. ‚J’appelle un chat un 
chat‘ ... Von der Unvermeidlichkeit der Berührung sexueller 'Themata 
muß man überzeugt sein, ehe man eine Hysteriebehandlung unter- 

nimmt, oder muß bereit sein, sich durch Erfahrungen überzeugen zu 

lassen. Man sagt sich dann: pour faire une omelette il faut casser des 

@ufs.“ Man sieht in diesem Hang die Zugehörigkeit zu einem Volks- 
tum, aber auch den Weg zur Dichtung, der Mutter alles höheren 
Sprachlebens, vorgezeichnet, der mit der Abhandlung über Jensens 


— 4711 — 








7 


„Gradiva“ für immer in die Nähe der Poesie hinleitet. Ein Passus in 
ienen „Studien“ rührt bereits an diesen Zusammenhang, ohne ihn 
allerdings im Ernst gelten zu lassen. „Ich bin nicht immer Psycho. 
therapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagno. 
stik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich 
selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, 
wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Ge. 
präges der Wissenschaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, 
daß für dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher 
verantwortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und 
elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie eben 
nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen. 
Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewohnt ist, mir ge- 
stattet, bei Anwendung einiger weniger psychologischer Formeln doch 
eine Art von Einsicht in den Hergang einer Hysterie zu gewinnen,“ 

Freud hat sich also schon in diesem Frühwerk gegen eine Unter. 
schiebung dichterischer Ambitionen zu wehren, und es regt sich eines 
seiner wichtigsten Ausdrucksprobleme in dieser Verteidigung. Denn 
ihre Begründung trifft nicht zu. Es liegt an diesem Darsteller, nicht 
nur am Stoff, daß das Mißverständnis möglich ist; weder vor noch 
nach ihm sind Krankengeschichten hysterischer Personen derart fesselnd 
vorgetragen worden, und es wird zur Entwicklung Freuds gehören, 
daß er diesen Sachverhalt immer weniger bestreitet und ihn schließlich 
selbstbewußt auf sich beruhen läßt. Die „Traumdeutung“ enthält das 
Geständnis, daß er einst durch eine Vorlesung des Fragments „Natur“, 
des „unvergleichlich schönen Aufsatzes von Goethe“, zum Studium der 
Naturwissenschaft gedrängt worden sei. Nun blättere man in den 
Werken der Folgezeit: man wird auf zahlreiche ähnlich vielsagende 
Sätze stoßen. Von den „Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- 
analyse“ fordert gleich die erste zur Verehrung der Sprache auf. | 
„Worte waren ursprünglich Zauber und das Wort hat noch heute 
viel von seiner alten Zauberkraft bewahrt. Durch Worte kann ein 
Mensch den andern selig machen oder zur Verzweiflung treiben, durch 
Worte überträgt der Lehrer sein Wissen auf die Schüler, durch Worte 
reißt der Redner die Versammlung der Zuhörer mit sich fort und be- 
stimmt ihre Urteile und Entscheidungen. Worte rufen Affekte hervor 


—. 412 = 











und sind das allgemeine Mittel zur Beeinflussung der Menschen unter- 
einander. Wir werden also die Verwendung der Worte in der Psycho- 
therapie nicht geringschätzen“ ... Wo hat man in unserer Zeit gleich 
Schönes gehört, wenn nicht bei einigen Dichtern, und wer erkennt 
darin nicht die Liebe des Schaffenden zu seinem Werkzeug, das er 
noch immer getreu erfand? „Die Frage der Laienanalyse“ nimmt die- 
sen Dank wieder auf: „Wir wollen übrigens das Wort nicht verach- 
ten. Es ist doch ein mächtiges Instrument, es ist das Mittel, durch das 
wir einander unsere Gefühle kundgeben, der Weg, auf den anderen 
Einfluß zu nehmen. Worte können unsagbar wohltun und fürchterliche 
Verletzungen zufügen. Gewiß, zu allem Anfang war die 'Tat, das 
Wort kam später, es war unter manchen Verhältnissen ein kultureller 
Fortschritt, wenn sich die Tat zum Wort ermäßigte. Aber das Wort 
war doch ursprünglich ein Zauber, ein magischer Akt, und es hat noch 
viel von seiner alten Kraft bewahrt.“ Diese Realität des Wortes ist im 
Grund gemeint, wenn einmal ein Kapitel anhebt: „Der Sprachgebrauch 
bleibt selbst in seinen Launen irgend einer Wirklichkeit treu“... Und 
es ist nicht minder deutlich die Liebe zur Sprache, die das Folgende 
schreibt: „Wir heißen diese Körperbedürfnisse, insofern sie Anreize 
für seelische Tätigkeit darstellen, Triebe, ein Wort, um das uns viele 
moderne Sprachen beneiden.* 

All diese zerstreuten Aussprüche krönt jener Exkurs über den Stil 
in der „Psychopathologie des Alltagslebens“, von dem schwer zu sagen 
ist, wodurch er den Leser mehr bezaubert: durch sein unvermutetes 
Erscheinen, durch seinen leicht hingeworfenen Ton oder durch die 
Schlichtheit und Tiefe seiner Argumentation. Es fließt alles in ihm zu- 
sammen und hat an der Klarheit teil, die von ihm ausgeht und ihn 
zu einem Schlüsselwort erhebt — Studenten der Literatur können mehr 
aus ihm lernen als aus mancher ziegelsteinschweren Ästhetik. Hier ist 
er: „Selbst bis in die Schätzung des Stils, den ein Autor schreibt, 
dürfen wir und sind wir gewöhnt, das Erklärungsprinzip zu tragen, 
welches wir bei der Ableitung des einzelnen Sprechfehlers nicht ent- 
behren können. Eine klare und unzweideutige Schreibweise belehrt ı 
uns, daß der Autor hier mit sich einig ist, und wo wir gezwungenen | 
und gewundenen Ausdruck finden, der, wie so richtig gesagt wird, | 
nach mehr als einem Scheine schielt, da können wir den Anteil eines | 


— 473 — 





nee 


Ee 


BERECSET SH ETER 




















| 


nicht genugsam erledigten, komplizierenden Gedankens erkennen oder 
die erstickte Stimme der Selbstkritik des Autors heraushören.“ 
Eheu miseros! 


3. 


Aber nun ist sofort eine Konstatierung nachzutragen. Diese zusam. 
mengelesenen Zeugnisse verfälschen das Bild. Freuds Atemluft ist die 
Abstraktion, aus ihr kommt er her, sie verläßt er nie. Seine Diktion 
ist durchaus auf der naturwissenschaftlich-medizinischen Prosa erwachsen 
und verrät diese Herkunft noch in den jüngsten Publikationen. Die 
Art, wie Freud sie in seinen ersten Büchern handhabt, ist geeignet, 
von der Strenge seiner wissenschaftlichen Erziehung, der Unerbittlich- 
keit seiner Anfänge einen Begriff zu geben. Steinerne Unpersönlichkeit, 
ein kalter Fanatismus des Intellekts bezeichnen diese Haltung, die in 
den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ ihren Höhepunkt erreicht. 
Man geht nicht fehl, wenn man in dieser unmenschlich objektiven 
Sprache das Abbild der Vereinsamung erblickt, die Freud zur Zeit der 
Niederschrift umgab. Ohne Spuren von entgegenkommendem Schmuck, 
eisklar und schroff wie die Aufstellungen eines Physikers sehen einen 
diese Seiten an, deren Text erbarmungslos ein Arsenal von zerfasernden 
Begriffen schmiedet und sicherstellt. Dieser schneidende Rationalismus 
geht nun allerdings auch weit über den durchschnittlichen Habitus der 
Medizinersprache hinaus: in seiner spröden, gläsernen Unpersönlichkeit 
kältet den Leser ein besonderes Schicksal an. Irgendein Lehrbuch der 
Anatomie oder Psychiatrie wirkt gemütvoll, menschlich, ungefährlich 
neben ihm. Freud hat sich auch später, wenngleich in etwas milderen 
Graden, auf diese frierende Isolierung zurückgezogen, sicherlich stets in 
entscheidenden Augenblicken der von ihm inaugurierten Bewegung: 
nach dem Verlust von Mitarbeitern, bei der Einführung neuer Problem- 
stellungen, beim Eingreifen in Kontroversen, in denen er verhängnis- 
volle Mißverständnisse wirken sah. Es ist, im Rahmen des Gesamtwerks, 
außerordentlich zu sehen, wie er sich da jederzeit mühelos wieder zu 
der reinen Reflexion aufschwingt, die er am Beginn seiner Forschungen 
kultivierte. „Das Ich und das Es“, „Hemmung, Symptom und Angst“ 
gehören zu diesen abstrakten Kundgebungen. Sie haben die „asketische 


— 414 — 












Wörtlichkeit“, die ein Literarhistoriker einmal Kant nachgesagt hat: 
einen Willen und ein Vermögen der absoluten rationalen Präzision, 
bei der es nichts zwischen den Zeilen zu lesen gibt, die sich einmalig 
ausdrückt, verbindliche Formeln vorbereitet und herbeiführt. Innerhalb 
der psychoanalytischen Literatur ist dieses Maß von nackter Begrifflich- 
keit einzigartig geblieben. Sie stellt das Unnahbare, das unzweideutig 
Führerhafte ihres Urhebers, seinen Aristokratismus des Geistes fast 
furchterregend dar. Auch die „Traumdeutung“ beruht im Großen und 
Ganzen auf ihr, und der Gegensatz dieser Vortragsweise zur farbig 
schimmernden Materie, die sie behandelt, bestimmt geradezu den 
literarischen Charakter jenes Buches. 

Dennoch wird keiner, der über eine Anschauung von der medizini- 
schen Literatur verfügt, die Eigenschaften übersehen, durch die sich 
auch die abstraktesten Schriften Freuds von ihr abheben. Sie sind stets 
durch eine sprachliche Noblesse, einen stilistischen Ehrgeiz aufgefallen, 
die in diesem Sektor des Schrifttums nicht zum Alltäglichen gehören. 
Das hastig hingehauene, aus chronischem Zeitmangel zusammengesetzte 
„Medizinerdeutsch“ ist seit langem zu einer unausrottbaren Kalamität 
geworden und wuchert heute üppiger als je: ein schlampiges Neglige 
der Sprachgebung, das seine Träger vielleicht selbst verlachen, wenn 
man darauf hinzeigt, während andere, die „etwas Besseres“ machen 
wollen, sich gern ein paar schöngeistige Zitate zulegen. Der medizini- 
sche Laie, der etwas von Sprache versteht, ist oft überrascht von der 
Harmlosigkeit, die an den Koryphäen der Klinik zum Vorschein kommt, 
sobald sie sich schriftlich mitteilen, und über die Verschönerungen, mit 
denen sie sich behängen, um literaturfähig zu erscheinen. Er blickt halb 
belustigt, halb geschmerzt auf diese Fachpublikationen, in denen sich 
die Rekorde der Sprachliederlichkeit überbieten, weil ja wahrhaftig 
niemand ein Recht hat und jeder sich schön hüten wird, von diesen 
ewig überlasteten Spezialisten auch noch Rücksichten auf das stilistische 
Auftreten zu verlangen. Es ist ein pikanter Zeitvertreib, in Freuds 
früheren Arbeiten nach Berührungen mit dieser Tradition zu suchen. 
Sie liegen alle in der Richtung einer gewissen Preziosität, einer Vor- 
liebe für gewählten Wortgebrauch (im wissenschaftlichen Sinne) und 
für gutsitzende Zitate. Es ist da die Rede von einem „auxiliären 
Moment“, von „Vizinität“ zweier Vorstellungen, von „vulnerabeln“ 


— 415 — 























Bestandteilen der Erinnerung, von der „Luzidität“ einer Darstellung. 
Diese Latinisierungen sind allerdings stets mit vollendetem Geschmack 
verwendet oder neu gebildet. Auch der häufige Gebrauch des Verbums 
„dürfen“, dieses Lieblingsstückes im Inventar aller‘ distanzierenden Be. 
schreiber, mutet als naturwissenschaftliches Erbe an. „Wir dürfen er- 
warten“, „man darf aussprechen“; der Einzelne, der eine Panik mit- 
erlebt und dabei die affektive Bindung an die Masse verliert, „darf« 
die Gefahr höher einschätzen, nachdem er ihr allein gegenübersteht — 
er „muß“ es vielmehr, es ist für ihn eine grauenhafte Notwendigkeit, 
das zu tun; der unerschütterliche Beobachter hat mit diesem Wort dem 
Opfer eine erkennende Lust an der Katastrophe zugeschrieben, die nur 
er besitzt. 

Diese forschende Haltung und ihr immer differenzierterer Ausdruck 
ist allen Werken Freuds eigentümlich. Wer sie mit offenen Augen 
liest, vergißt keinen Augenblick, daß sie von dem Autor herrühren, 
der einmal den Primat der Intelligenz als das „Psychologische Ideal“ 
bezeichnet hat und der in einem seiner Dialoge unversehens zu der 
Drohung imstande ist: „Versuchen Sie nicht, mir Literatur anstatt 
Wissenschaft zu geben...“ Freuds Sprache ist großer Wandlungen 
fähig, die von der starren Begrifflichkeit zur weichen Anmut der Ge- 
dankenführung reichen, aber sie verkörpert einen durch und durch 
rationalen Stil. Man halte einen seiner jüngsten Traktate neben die 
„Vorläufige Mitteilung“ über Hysterie von 1893: die innere Einheit, 
die bleibende Basis des Ausdrucks ist unverkennbar. 

Aber auch die Entwicklung, die dazwischen liegt, ist es, und die 
treibende Kraft, die hinter ihr steht. Schon die „Studien über Hysterie“ 
tragen den literarischen Anspruch an der Stirne. Man findet in ihnen 
die Spur einer ungewöhnlichen Gabe, Gedankliches sinnlich faßbar 
wiederzugeben. Das Mittel dazu ist die Metapher, die bildliche Aus- 
drucksweise ; in dieser Art: „Meine Therapie schloß sich dem Gange 
dieser Erinnerungstätigkeit an und suchte Tag für Tag aufzulösen und 
zu erledigen, was der Tag an die Oberfläche gebracht hatte, bis der 
erreichbare Vorrat an krankhaften Erinnerungen erschöpft schien.“ 
Diese Bildhaftigkeit ist nicht absichtslos entstanden, sie ist sorgsam ge- 
pflegt und begünstigt, denn sie darf sich bis ins feinste Detail ent- 
falten und wird niemals durch ein wesensfremdes Element zerstört. Der 


— 416 — 






Fall „Katharina...“ setzt in der Tat wie ein erzählendes Feuilleton 
ein. „In den Ferien des Jahres 189* machte ich einen Ausflug in die 
Hohen Tauern, um für eine Weile die Medizin und besonders die 
Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines Tages 
von der Hauptstraße abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu be- 
steigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut gehaltenen 
Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben 


angelangt, gestärkt und ausgeruht, saß ich dann, in die Betrachtung 


| 
| 


einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, daß 
ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: 
‚Ist der Herr ein Doktor ?‘* Das geht eine ganze Weile so weiter, die 
Ruferin wird sogar mit ihrem Dialekt eingeführt, alle Begleitumstände 
der Begegnung dürfen sich ausbreiten. In der Studie über „Fräulein 
Elisabeth v. R...“ konstatiert man eine elegant gelockerte Diktion 
des Berichterstatters, die an Gebräuche des deutschen Nachkriegsromans 
erinnert: „Die ersten Male, als sich diese Widerspenstigkeit zeigte, 
ließ ich mich bestimmen, die Arbeit abzubrechen, der Tag sei nicht 
günstig ; ein andermal.“ Man genießt eine Darstellung menschlicher 
Verhältnisse, der offenbar noch eine andere als die analytische Be- 
gabung zugrunde liegt. Es wird die Liebessehnsucht eines Mädchens 
wiedergegeben : „In solcher Stimmung machte die glückliche Ehe ihrer 
jüngeren Schwester den tiefsten Eindruck auf sie, wie rührend er für 
sie sorgte, wie sie sich mit einem Blicke verstanden, wie sicher sie 
einer des andern zu sein schienen. Es war ja gewiß bedauerlich, daß 
die zweite Schwangerschaft so rasch auf die erste folgte, und die 
Schwester wußte, daß dies die Ursache ihres Leidens sei, aber wie 
willig ertrug sie dieses Leiden, weil er die Ursache davon war.“ 

Das ist erzählende Kunst, beruhend auf einem lustvollen Gestalten 
und Verweilen, auf dem Trieb, die Seelenregungen lebendig, nicht als 
aufgespießte Präparate aufzubewahren. Wie sicher faßt eine andere 
Stelle dieses Buches den Charakter einer Nervösen in das Bild von 
der „nachholenden Träne“ zusammen. Der Aufsatz „Über Deckerin- 
nerungen“ von 1899 zeigt die wirksam abgetönte Dialogisierung, die 
schon in den „Studien“, aber vor allem in den späten Schriften zur 
Geltung kommt. Und der Nekrolog für Charcot (1893) faßt schon 
alle diese Mittel zusammen : ganz und gar meisterlich geschrieben, aus 


= N = 





























“ 


dem Vollen gespendet, eine reife Synthese aus Kritik und Verehrung, 
aus Reflexion und metaphernreicher Schilderung. 

So sind schon in den Anfängen Freuds die Elemente enthalten, die 
einen Prosaiker von Rang ankünden: ein spontaner Trieb zum Er. 
zählen, angeborene sinnliche Liebe zum Wort, Bildhaftigkeit, klang- 
liche und rhythmische Sensibilität, Verbundenheit mit der Dichtung 
und mit dem alltäglichen Leben der Sprache. Sie alle verschmelzen 
mit dem wissenschaftlichen Ausdruckswillen und nähren das sprach- 
liche Wachstum, das zu einer immer bestimmteren Verpersönlichung 
des literarischen Erbes, des durch Erziehung und Forschung erworbe. 
nen Sprachcharakters führt. 


4. 


Die Liebe zum Wort trägt in entscheidender Weise an Freuds 
Werkgebäude mit. Sie verrät sich in der Verwendung seltener, eigen- 
willig markanter und neugebildeter Prägungen, in einem Sinn für 
aparten Sprachgebrauch, wobei auch das Österreichische zu seinem Recht 
kommt. Es ist gut medizinische Sitte, daß „erinnern“ an zahlreichen 
Stellen transitiv gebraucht wird, aber zusammen mit dem ebenso 
häufigen Ausdruck „an etwas vergessen“ trägt sie eine besondere Fär- 
bung in Freuds Prosa hinein. Es sind nicht die einzigen Merkmale 
dieser Art. „Sich einer Tatsache besinnen“, „sich eines Vorwurfs, 
einiger abschließender Bemerkungen getrauen“, „das Glück begegnen“, 
„Sich einer Verwendung weigern“, „zu Grunde einer Zwangsneurose 
etwas finden“: solche Bildungen kehren regelmäßig wieder. Eine Reihe 
anderer weist man noch sicherer der freien Absicht des Verfassers zu 
Wendungen wie „im Zusammenhalte mit“, „Versöhnung oder Ab- 
gleichung des Gegensatzes“ (auch verbal: „Gegensätze gleichen sich 
oft durch Kompromißbildungen ab“), oder jene über eine Erkrankung, 
die „ihrerzeit“ nicht auffällig war: dieses Beispiel zeigt besonders 
schön die Feinheit, mit der Freuds Sprachempfinden reagiert. Daß von 
zwei Erlebnissen das eine die, das andere jene Wirkung „beistellt“, 
dürfte wieder Österreichisch sein. Genug der Klauberei! Es wären noch 
viele Kuriosa einzusammeln, aber ihre Bedeutung ist schon an diesen 
Mustern abzulesen. Sie leiten zu der Gruppe von Fügungen weiter, 


— 478 — 












die Freud aus erster Hand wählt und die durch nichts als durch 
die sprachliche Bildnerfreude, aber durch diese vollauf, gerechtfertigt 
sind. Wie eindrucksvoll spricht er von einem Weibe, das „frei vom 
Manne“ geblieben sei, wie glücklich definiert er gewisse Gestalten des 
Traums als „Sammel- und Mischpersonen“, weist er auf die „zeremo- 
niösen Verzierungen“ hin, die der Zwangsneurotiker an den Tätig- 
keiten des gewöhnlichen Lebens anbringe. Er handelt über die „Er- 
griffenheit der Sexualsphäre“, ohne den Doppelsinn des Ausdrucks zu 
beseitigen, und läßt seine Patienten „Symptome produzieren“. Jedem 
Leser ist der sinnfällige, vielleicht allzu drastische Terminus „Ver- 
lötung“ im Ohr geblieben, der bereits zu den stehenden Begriffen der 
psychoanalytischen Terminologie gehört und von der Schule über- 
nommen worden ist: es gibt Fälle, wo „zwischen Sexualtrieb und 
Sexualobjekt eine Verlötung vorliegt“ ... 

Kein Wunder, daß Freud für aphoristische Formulierungen Ver- 
ständnis zeigt. Er ist ein Künstler des Zitats, des Mottos — wer ver- 
gißt das Geleitwort der „Psychopathologie“, der „Traumdeutung“ oder 
die Goethesche Mahnung, die er dem Schlußkapitel der Broschüre „Zur 
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung“ vorangestellt hat: „Mach 
es kurz! Am Jüngsten Tag ist's nur ein Furz.“ Sein eigener Text 
gipfelt gern in solchen Kurzschlüssen von bald ernster, bald heiterer 
Tendenz. „Wer warten kann, braucht keine Konzessionen zu machen.“ 
„Amerika heißt nicht nach Kolumbus.“ Die Hand, die das schreibt, 
hat sich ja auch die Gelegenheit verschafft, Dutzende von brillanten 
Witzen zu erzählen, und sie geht in andern Werken immer wieder 
zu jenen mit Starkstrom geladenen Passagen über, in deren Mitte man 
aufhorcht, an deren Ende man das Buch ein wenig sinken läßt. Das 
„Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ enthält eine von ihnen: „Wer 
Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die 
Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen 
schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen ; aus allen Poren dringt 
ihm der Verrat.“ Hier ist noch einmal der Ort, auf die Behandlung 
des Versprechens und Verschreibens in der „Psychopathologie“ hinzu- 
weisen, die Freud auf glänzende Art als eingeweihten Genossen der 
verwegensten Sprachabenteuer und Wortmysterien ‚legitimiert. 

Wie reimt sich aber mit alldem jene Fußnote in der „Traumdeutung“ 


— 419 — 







































































(im Abschnitt über die Typischen Träume) zusammen, wo er von sich 
selber ein gehemmtes Ausdrucksvermögen eingesteht? „Auf der Treppe 
spucken“, liest man dort, „das führte, da ‚Spuken‘ eine Tätigkeit der 
Geister ist, bei loser Übersetzung zum ‚esprit d’escalier‘. Treppenwitz 
heißt soviel als Mangel an Schlagfertigkeit. Den habe ich mir wirklich 
vorzuwerfen“ .. Ein merkwürdiges Bekenntnis, das gleich durch diese 
Probe Freudschen Sprachdenkens Lügen gestraft wird! Das selbe 
Fragezeichen steht über seinen französisch geschriebenen Arbeiten, auf 
die der Leser der Gesamtausgabe zu seiner Überraschung stößt und 
die seinen Respekt noch beträchtlich steigern werden. In der „Selbst. 
darstellung“ wird nämlich von der deutschen Übersetzung der Charcot- 
schen Vorlesungen, die Freud besorgte, das Folgende erzählt: „Ich bot 
mich schriftlich dazu an; ich weiß noch, daß der Brief die Wendung 
enthielt, ich sei bloß mit der Aphasie motrice, aber nicht mit der 
Aphasie sensorielle du frangais behaftet.“ Auf diesem anmutigen Um- 
weg erfahren wir, daß Freud sich zu denen zählt, die die äußerliche 
Schwerblütigkeit im Gebrauch der Sprache durch eine innere Vertraut- 
heit mit ihr wettmachen — denn was er hier von seinem Verhältnis 
zum Französischen bemerkt, dehnt jene Fußnote auf seine Naturanlage 
aus. Werden die, die ihn aus persönlichem Umgang kennen, sich gegen 
eine solche Folgerung verwahren? Steht nicht auch fest, daß seine 
amerikanischen und besonders die Wiener Vorlesungen über Psycho- 
analyse als glänzende Beispiele eines Sprechstils zu gelten haben? Der 
Fernstehende hat kein Urteil darüber, welchen Eindruck jene Vorträge 
hervorgerufen haben. Aber er wird, so überzeugend Freud als Redner 
gewirkt haben mag, die Behauptung wagen, daß auch in diesem Fall 
dem gedruckten Text ein spezifischer Tonfall innewohnt, den sie ge- 
sprochen kaum besessen haben. Ja die glaubwürdigsten Zeugenaussagen, 
die uns des Gegenteils versichern wollen, helfen da nicht viel, weil 
ein höchst intimes Gesetz der Persönlichkeit in Frage steht, das Blicke 
von außen schwer gewahren, das ein Autor selber nicht bewußt zu 
kennen braucht, das aber dieser Allesenthüller offenbar in sich spielen 
sah. Es handelt sich um die Einsicht, daß ein Schriftsteller höheren 
Maßes notwendig eine Introversion seines Sprachvermögens zeigen wird. 
Es ist ihm natürlicher, sich in der Schrift zu äußern, als die gesprochene 
Rede anzuwenden, und wo er dies dennoch tut, wird er gleichwohl 


— 480 — 





nur im Geschriebenen sein Bestes, Wahrstes geben. Er „sublimiert‘‘ die 
sprachliche Funktion. Man betrachte die Bände der Freudschen Gesamt- 
ausgabe — wer zweifelt vor ihnen, daß der Trieb zu schreiben hier 
mächtiger war als der zu reden, ja vielleicht als der zu tun? Die Liebe 
zum dauernden Wort fällt einen mächtig aus ihnen an: als eine un- 
ausweichliche, primäre Verkettung. Man erkennt einen Willen und ein 
Bedürfnis, die eigene Existenz umfassend, lückenlos in der Schrift dar- 
zustellen, ein Drang nach allseitiger Vollständigkeit tut sich kund — 
wer will entscheiden, ob und wie sehr auch die Stimme des Blutes, 
das Vermächtnis eifernder Talmudisten darin am Werke war? Denn 
es ist vielleicht das Schönste, was da zu sagen bleibt, daß nicht nur 
die Gedanklichkeit eines reichen Lebens, sondern auch die Menschlich- 
keit des Schreibers in diese Bücher eingegangen ist. 

Als reiner Forscher ist Freud dazu gelangt, selbst das Urwort aller 
Dichter: das Wort Traum für sich zu usurpieren. Es fiel ihm als In- 
begriff eines selbstherrlich erwählten wissenschaftlichen "Themas zu, 
gewiß — aber in welcher Weise hat er sich, wiederum, auch seiner 
Lautreize bemächtigt. Er führt sie durch immer neue Variationen, er 
spricht von der Traumquelle, vom Traumtag und Traumwunsch, von 
der Traumrede, von Traumarbeit und Traumverdichtung, von Traum- 
reizen, Traumentstellung, Traumgedanken, Traummaterial. Man kann 
sich der Schönheit dieser Zusammensetzungen nicht entziehen, auch 
wenn man voll ermißt, daß sie als analytische Grundbegriffe geschaffen 
worden sind. Das ist aber gerade das Bezeichnende. Der Wortzauber 
ist da einem Ziel unterworfen, das keine Schwelgerei gestattet. Er ist 
nicht um seiner verführerischen Lockung willen da, sondern als Be- 
gleiter und Diener einer Norm. Er ist kein unverbindliches, genießeri- 
sches Spiel, er ist Gesetzgebung. Freuds Wortliebe läuft auf diese 
strenge Sachlichkeit hinaus. Er ist kein kokettierender Liebhaber der 
Sprache, der an der Erfüllung verzweifelt, er lebt in der Ehe mit ihr, 
wo die Sinnenreize hinter höheren Zielen zurücktreten. Sein Hang, 
schlagende Worte zu formen, ist weniger dem Künstler als dem Syste- 
matiker in ihm gutzuschreiben — sofern die beiden sich trennen lassen. 
Er frönt ihm unersättlich, es gibt kaum eine Veröffentlichung von 
ihm, die nicht einige ad hoc oder bleibend geschaffene Ausdrücke ein- 
führt. Es ist bekannt, wie viele endgültig gefaßte Begriffe der Lehre 


PsA. Bewegung — 481 — 32 












































































































































5 


auf seine Initiative zurückgehen. Wunscherfüllung, Verdrängung, Ver. 
schiebung, Widerstand, Fehlerinnern, Vatersurrogat. Anderswo ent. 
standene greift er mit spontanem Interesse auf und fügt sie als Bau. 
steine in die Architektur seines Systems: Affektquelle, Komplex, Mecha. 
nismus, Libido, Regression. In der psychoanalytischen Schule ist diese 
Neigung des Schöpfers (die er mit allen großen Systematikern teilt; 
man denke an Linne, Virchow, Paracelsus) zu der nicht durchwegs er. 
freulichen Handhabung eines Jargons ausgeartet. 

Die Proklamation neuer Wortsymbole ist eines jener häufigen, ein- 
drücklichen Vorkommnisse, die der Leser der Freudschen Schriften in 
Erinnerung behält. „Die Beobachtung des Liebesverkehres der Eltern 
ist ein selten vermißtes Stück aus dem Schatze unbewußter Phantasien, 
die man bei allen Neurotikern, wahrscheinlich bei allen Menschen- 
kindern, durch die Analyse auffinden kann. Ich heiße diese Phantasie. 
bildungen, die der Beobachtung des elterlichen Geschlechtsverkehres, 
die der Verführung, der Kastration und andere, Urphantasien und 
werde an anderer Stelle deren Herkunft sowie ihr Verhältnis zum in- 
dividuellen Erleben eingehend untersuchen.“ Was für ein autonomer, 
legislatorischer Ton! Es ist der Ton des Statthalters, die Gesinnung 
jenes „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“. Er wird 
sich eines Tages wieder auf das Diktum beziehen, es steht ein für alle- 
mal. Er formuliert aus einer diktatorischen Verantwortlichkeit, er nimmt 
das Brauchbare, wo er es findet, weil er es dadurch erst zu seinem 
wahren Wert erhöht. Sein Wirken hat eine Mitte, an die alle Funde 
anschließen, er gestaltet und erweitert aus einer einheitlichen, univer- 
salen Idee. Bald streben ihm von allen Seiten Reichtümer zu, die Mit- 
arbeiter helfen ihm die Ernte bergen, jeder in seiner Provinz, er 
sondert genau, was sie ihm zubringen, und legt auf das Gute Beschlag. 
Er bietet noch einmal das große, selten gewordene Schauspiel einer 
Schule, der geistigen Welteroberung. Freud hat diesen Anblick schon 
im Nekrolog auf Charcot beschworen. Er gesteht dort das Glück, das 
es ihm einst bereitet habe, wenn er den Meister auf einem stunden- 
langen Gang durch die Pariser Salp£tritre begleiten durfte, wo die 
Namen und Auffassungen der meisten Krankheiten, die da zu sehen 
waren, von diesem selbst herrührten — da mußte er „an den Mythus 
von Adam denken, der jenen von Charcot gepriesenen intellektuellen 


— 482 — 








Genuß im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als ihm Gott die 
Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und Benennung vorführte“. 

Es fehlt in unserer Zeit nicht an Anläufen zu ähnlichen architektoni- 
schen Versuchen, noch weniger an Fanatikern des Gedankens, die an 
ihrem Ort eine Brut von Schlagworten, von programmatisch gemein- 
ten Begriffen zur Welt bringen. Man sehe sich das Wortgemächte 
dieser Philosophen, Theologen, Politiker, Kochkunstreformer an, um 
den grundsätzlichen Unterschied zu gewahren. Da wird mit einem 
Schlage klar, daß Freud durch seine sprachliche Mächtigkeit von ihnen 
getrennt ist — durch diese Mächtigkeit, die eine geistige Energie re- 
präsentiert. Nicht alles, was er sprachlich geschaffen hat, ist vollkommen 
geraten. Aber in seiner schriftstellerischen Gesamterscheinung trägt er, 
inmitten einer zum grotesken Mißbrauch aller Ausdrucksmittel abge- 
sunkenen Zeit, das Zeichen des echten Schöpfertums. Er herrscht über 
eine innerlich errungene Sprachwelt — er herrscht durch die Sprache 
über eine innerlich errungene Welt. Er ist zuletzt in der Lage, einen 
Gegenstand, ein Phänomen, einen Menschen in einer durchaus selbst- 
geprägten Sprache zu charakterisieren — so im Nekrolog auf den 
Anhänger Putnam: „Wer ihn persönlich näher kannte, mußte ur- 
teilen, daß er zu jenen glücklich kompensierten Personen vom zwangs- 
neurotischen Typus gehöre, denen das Edle zur zweiten Natur und 
das Paktieren mit der Gemeinheit zur Unmöglichkeit geworden ist.“ 
Und dieser originale Gebrauch der Sprache ist, noch einmal, nur der 
literarische Ausdruck einer weltweit ausgedehnten Herrschaft durch 
die Idee. 


5. 


Diese Neigung zur gesetzhaften Wortformel wird aber noch durch 
Freuds Erzählertrieb übertroffen. Er steht wie ein lösendes, freiheit- 
liches Prinzip neben jenem Willen zur Konzentration. Alle Farbigkeit 
und abwechslungsreiche Fülle strömt durch ihn in diese Werke ein, 
er umspült ihre Abstraktion mit seinen bunten Reflexen. Er ist auch 
schuld daran, daß sich ihr Leser nie einer seelenlosen Tabelle, son- 
dern einem Menschen gegenüberbefindet, wenn auch oft einem mono- 
man demonstrierenden, bleich und stumm erregten. Es ist sicher kein 


— 483 — gar 


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er 


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Zufall, daß Freud ein halbes Dutzend Mal die Geschichte der von. 
ihm entfachten Bewegung geschildert hat, und es bereitet ungewöhn- 
lichen Genuß, die Souveränität zu verfolgen, mit der er das Thema 
von immer andern Seiten her aufgreift (wobei er aber nie auf das 
Private eintritt). Jedesmal findet er „ein neues Mengungsverhältnis 
zwischen subjektiver und objektiver Darstellung, zwischen biographi. 
schem und historischem Interesse“, wie es in der „Selbstdarstellung“ 
heißt. Aber die physikalische Metapher gibt die bewundernswerte 
Verschiedenheit dieser Essays nur unzureichend wieder. Mit welcher 
Verve und schriftstellerischen Würde sind die Seiten „Zur Geschichte 
der psychoanalytischen Bewegung“ geschrieben. Vor ihnen drängt sich 
doch noch einmal meine Person, der Schweizer in mir, in den Vor- 
dergrund — mit einem Wort des Dankes dafür, daß sich ihr Ver. 
fasser die Genugtuung nicht versagte, auch eine schon zur Legende gewor- 
dene Episode aus der schweizerischen Geistesgeschichte in so bedeuten- 
der Weise aufzuzeichnen. Hieher gehört aber auch, daß Freud bei 
jeder passenden Gelegenheit bereit ist, seine grundlegenden Arbeiten 
zu rekapitulieren, sei es in rascher Abbreviatur, um in anderem Zu- 
sammenhang die nötigen Voraussetzungen zu geben, sei es in liebe. 
voll variierender Ausführlichkeit. Die „Traumdeutung“ erscheint zu- 
sammengefaßt wieder in den „Vorlesungen“, in der Broschüre „Über 
den Traum“, und wie oft und geduldig werden etwa die theoreti- 
schen Ergebnisse über die infantile Sexualität, der Gedankengang der 
„Psychopathologie“ auf ein paar Seiten zusammengedrängt, wo das 
Thema es erfordert. „An der Frauenbrust treffen sich Liebe und 
Hunger“, heißt es in der Traumdeutung: das ist in einer Maxime 
schon der Inhalt der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Vom 
leichten Hinweis bis zur breiten Reproduktion reicht der Umfang 
dieser Anlehnungen, so daß sich in jedem Buch eine Gruppe von an- 
dern Büchern, alle Schriften in allen spiegeln. Ein ganzes System 
solcher bald näheren, bald entfernteren Durchblicke hält die Teile von 
Freuds Gesamtwerk unter sich verbunden — ein Zeugnis für seine 
organisatorische Phantasie, aber auch für seine unbesiegliche schrift- 
stellerische Bereitschaft. 

Geduld ist ihm überhaupt als Autorentugend nachzurühmen. Wenn 
er sich irgendwo einer neuen Problemstellung nähert, wird er unfehl- 


— 484 — 





bar erst die bisherigen Anschauungen über den Gegenstand aus- 
einandersetzen, von denen man ahnt, daß er sie weitgehend zu ver- 
werfen denkt, und er weiß sich dieser Vorpflichten mit einer Ge- 
wissenhaftigkeit zu entledigen, in der man beste wissenschaftliche 
Tradition, aber zudem die gelassene Zucht und methodische Sicher- 
heit einer Persönlichkeit am Werk sieht. Da wird kein Korn von 
Wahrscheinlichkeit fallen gelassen, ehe es um und um gewendet ist. 
Freud versteht es ganz großartig, zuzuhören. Er läßt seine Vorgänger 
in Ruhe, hinter geschlossenen Türen gleichsam, zu Worte kommen, 
zitiert ihre wesentlichen Aufstellungen unverkürzt, zieht noch diesen 
und jenen Passus an, der etwas Wichtiges enthält, und macht nur ab 
und zu einen vorläufigen Einwurf, gibt Zustimmung und Bedenken 
kund oder unterstreicht eine Behauptung, auf die er zurückzugreifen 
denkt. So geht er beispielsweise in „Massenpsychologie und Ich- 
Analyse“, in „Totem und Tabu“ vor. Er hat Zeit für die Probleme, 
für ihre minutiöse, wiederholte Betrachtung. In der „Traumdeutung“ 
arbeitet er sich besonders beharrlich durch die Schutthalde der Fach- 
literatur empor. Ein großes Stück des Werkes gehört der genauen 
Diskussion ihrer Resultate, eine Reihe fundamentaler Feststellungen 
wird während dieses mühseligen Aufstiegs, durch Referat und Kritik 
der vorhandenen Meinungen erarbeitet. Er setzt auch regelmäßig an 
irgendeiner scheinbar wenig belangreichen Ecke des Forschungsfeldes 
an, hebt da eine Ansicht, dort eine zweite auf, wie er sie vorfindet, 
prüft sie im Ganzen und wendet sich einer dritten zu. Bald hat er 
eine Menge von ihnen in jeder Hand, wirft etwas fort, um dafür 
etwas Früheres wieder aufzunehmen, gräbt ein paar weitere Stiche, 
findet neue Gesichtspunkte und steht mit einem Mal in einem rings- 
um aufgewühlten Gelände, nur noch bis zu den Hüften sichtbar, und 
schaufelt unaufhaltsam der Tiefe entgegen. Dies mitzuerleben, ist ein 
immer neues Entzücken. Das ist ein Aufreihen und Beiseitestellen von 
Fundstücken, ein Fallenlassen von wertlos Gewordenem, und schließ- 
lich ein Aufräumen, :Nachholen, Ergänzen und Abrunden... Da hat 
er dann an der höflichen Rücksicht auf halbe Einsichten kein Interesse 
mehr, da ist er ganz mit der Entwicklung der eigenen "Thesen und 
mit der Überzeugung des Lesers beschäftigt. 

Diesen nämlich vergißt er nie. Er hat eine überaus intensive Bezie- 


— 485 — 
































1 


hung zu seinem Publikum und wendet alles auf, um’ sie immer Zwin- 
gender zu gestalten. In seinem Vortrag bildet sich schrittweise eine 
Kunst der Belebung aus, die allein schon seine natürliche Berufung 
zum Schriftsteller erweist. Er glaubt einen Einwand zu hören: sogleich 
tritt er auf ihn ein. „Meine Leser werden nun gewiß erstaunt sein zu 
hören“... Die Erörterung einer Frage gerät ins Schwierige: sie wird 
für später aufgehoben, wo sie sich leichter oder vollständiger anlassen 
wird. „Wir werden auch auf diesen Punkt in späterer Diskussion zu. 
rückkommen, wenn wir das Material für seine unbewußte Liebes. 
bedingung nachgetragen haben.“ Man glaubt eine Stufe erstiegen zu 
haben, da fängt der neue Abschnitt mit den Worten an: „Wir wer- 
den uns nur kurze Zeit der Illusion freuen, durch diese Formel das 
Rätsel der Masse gelöst zu haben.“ Immer weiß man, wo man unge- 
fähr steht und was nun geschehen wird; es geht einem wie in der 
Sprechstunde eines hoch überlegenen, aber wohlgesinnten Arztes, der 
von Zeit zu Zeit durch eine Bemerkung verrät, was nun kommen 
soll und welche Erwartungen daran geknüpft werden dürfen. Wir 
werden auch kaum irregehen, wenn wir diese kompositorische Frische 
dem Therapeuten Freud zugute halten. In seinen langwierigen, so ganz 
auf Zwiesprache von Mensch zu Mensch abgestellten Behandlungen 
wird er sich diese Fähigkeit der Führung erworben haben und das 
Gefühl dafür, daß es zwar vornehm, aber wenig fruchtbar ist, ins 
Leere hinein zu dozieren. Er nimmt sich darum auch im Buch den 
Leser richtig vor, blickt häufig auf ihn, hält dauernd auf Kontakt. 
Seine Bücher haben etwas Unausweichliches, das meist schon auf der 
ersten Seite in Kraft tritt, obschon sie alle äußern Effekte vermeiden. 
Ihre Form ist sichtlich durch ihren Inhalt hervorgerufen. Rhetorische 
Fragen, Ausrufe, Vergleiche, Parenthesen halten im einzelnen die Auf- 
merksamkeit wach. Vor dem Gesamtverlauf der Untersuchung aber 
entsteht nach den ersten Kapiteln ein Gefühl des Mitgenommen-, des 
Beteiligtseins, das sich kaum begrifflich, nur im Gleichnis wiedergeben 
läßt. Es ist am besten als das Gefühl eines Weges zu bezeichnen, den 
man mit allen Strapazen und Erleichterungen, Pausen und Seitenblicken 
zurücklegt, und aus ein paar stets neu anklingenden Wendungen darf 
man vermuten, daß Freud selber im Schreiben dieses Bild vor Augen 
hat. „Ich mußte jetzt mehr als einen Weg einschlagen, um der Kran- 


— 486 — 





ken Linderung zu verschaffen“, hört man schon in den „Studien über 
Hysterie“ und in der „Geschichte einer infantilen Neurose“: „Hier 
kommt nun die Stelle, an der ich die Anlehnung an den Verlauf der 
Analyse verlassen muß. Ich fürchte, es wird auch die Stelle sein, an 
der der Glaube der Leser mich verlassen wird.* Solche Wendungen 
sind sehr häufig und rücken das Gefühl des Geleitetwerdens ins Visuelle 
hinein — es ist aber kein anderes Gefühl als jenes, das der dichterische 
Erzähler im Leser unterhält. 

Das gilt vollends von der Darstellung der Menschen in Freuds Werk. 
Man kommt bei ihm nicht um diesen Ausdruck aus dem ästhetischen 
Schulbuch herum, denn er verrät in diesem Punkt eine Gestalterlust 
und -gabe, die weit über alles hinausgeht, was durch die psychologische 
Materie von ihm gefordert war. Da muß zuerst auf das merkwürdige 
anonyme Personal gewiesen werden, das seine Schriften bevölkert. Die 
Dora des „Bruchstücks einer Hysterie-Analyse“ ist berühmt geworden, 
und der ‚kleine Hans“ in der „Analyse der Phobie eines fünfjährigen 
Knaben“ teilt ihr Schicksal — mit Recht, denn wie dieses Kerlchen 
durch die lebendigsten Mittel, durch Dialog und kindlichen Sprachton 
vergegenwärtigt ist, hat als ein Meisterstück zu gelten. Überflüssig, die 
gleichzeitigen und späteren Geschwister dieser beiden Figuren aufzu- 
zählen. Dagegen ist zu bemerken, daß mehr im Hintergrund noch 
andere Gestalten existieren, die merklich zur Belebtheit der Freudschen 
Bücher beitragen. Es sind jene Gelegenheitsakteure wie „ein jung- 
verheiratetes Ehepaar“, „Freund Otto“, „ein Wiener Professor“, „eine 
Dame aus meiner Bekanntschaft“, denen sich ganze Scharen mehr oder 
weniger sprechender Statisten aus Freuds Bekannten-, Kollegen- und 
Patientenkreis zugesellen. Viele von ihnen lernt man ja recht eingehend 
kennen, wenn auch nur vorübergehend — unter diesen deutlich an- 
wesenden Gestalten haftet aber vor allem auch die des Verfassers selbst, 
denn Freud hat eine besondere Gewohnheit, allgemeine Annahmen in 
der ersten Person vorzubringen, sodaß sein Ich eigentlich unausge- 
setzt spürbar bleibt: „Wenn ich schlafe, so muß“. ., „wenn ich das 
nicht tue“... 

Aber nun geht er noch weiter und erschafft sich, wo es ihm paßt 
oder ihn die Lust ankommt, gleichsam zum Spiel, aus lauter Über- 
schuß an Darstellungskraft eine Demonstrationspuppe, die im Hand- 


— 487 — 



































umdrehen lebendig wird, munter aufsteht und wandelt. So einmal im 
„Bruchstück“: „Man stelle sich einen Arbeiter, etwa einen Dachdecker 
vor, der sich zum Krüppel gefallen hat und nun an der Straßenecke 
bettelnd sein Leben friste. Man komme nun als Wundertäter und 
verspreche ihm, das krumme Bein gerade und gehfähig herzustellen, 
Ich meine, man darf sich nicht auf den Ausdruck besonderer Seligkeit 
in seiner Miene gefaßt machen.“ Wer nicht nach ein paar Seiten zu. 
rückblättert, um das noch einmal zu lesen, hat eine schlechte Witterung 
für das Schöpferische. Eines der am schönsten facettierten Beispiele für 
dieses Verfahren steht in den „Vorlesungen“ (in der ‚dritten). Freud 
zieht dort sogar einen wissenschaftlichen Antipoden in die imaginäre 
Szene hinein — doch das Intermezzo muß als Ganzes hier stehen: 
„Ich stelle mir den unbekannten Festredner vor; er ist wahrscheinlich 
ein Assistent des gefeierten Chefs, vielleicht schon Privatdozent, ein 
junger Mann mit den besten Lebenschancen. Ich will in ihn drängen, 
ob er nicht doch etwas verspürt hat, was sich der Aufforderung zur 
Verehrung des Chefs widersetzt haben mag. Da komme ich aber schön 
an. Er wird ungeduldig und fährt plötzlich auf mich los: ‚Sie, jetzt 
hören $’ einmal auf mit Ihrer Ausfragerei, sonst werd’ ich ungemütlich! . 
Sie verderben mir noch die ganze Karriere durch Ihre Verdächtigun- 
gen. Ich hab’ einfach au fstoßen anstatt anstoßen gesagt, weil ich im 
selben Satz schon zweimal vorher auf ausgesprochen habe. Das ist 
das, was der Meringer einen Nachklang heißt, und weiter ist daran 
nichts zu deuteln. Verstehen Sie mich? Basta‘ Hm, das ist eine über. 
raschende Reaktion, eine wirklich energische Ablehnung. Ich sehe, bei 
dem jungen Mann ist nichts auszurichten, denke mir aber auch, er 
verrät ein starkes persönliches Interesse daran, daß seine Fehlleistung 
keinen Sinn haben soll. Sie werden vielleicht auch finden, es ist nicht 
recht, daß er gleich so grob wird bei einer rein theoretischen Unter- 
suchung, aber schließlich, werden Sie meinen, muß er doch eigentlich 
wissen, was er sagen wollte und was nicht. So, muß er das? Das wäre 
vielleicht noch die Frage...“ 

Das ist der Stil der reifen, hohen Zeit. Aber schon in den „Studien 
über Hysterie“ atmen die stofflich undankbaren, monotonen Kranken- 
geschichten ein bemerkenswertes Leben. Schon vor ihnen stellt sich 
zuweilen eine fast romanhafte Spannung ein, denn wenn ihr Ver- 


— 488 — 





fasser auch kein Detektiv ist, so ist er doch ein Detektor, der mit 
eindrucksvoll behutsamer Gebärde die Decke über dem Seelendunkel 
Jüftet. Man wird sich ja auch fragen, ob die vielen Gelegenheiten, 
Anekdoten, Geschichten und Bonmots zu berichten, eher im Stoff oder 
im Gelüsten dieses Forschers begründet waren. Sicherlich da wie dort, 
und dieser zwiefache Ursprung der Problemstellung und der Lösungen 
hat der Psychoanalyse bis heute viel von ihrem Gesamtcharakter mit- 
geteilt. In der Abhandlung über den Witz werden die Beispiele noch 
mit einer unbewegten Miene aufgetischt, und man wird gerade durch 
ihren Kontrast zum strengen Ernst der Untersuchung auf ein verbor- 
genes Bild dessen hingelenkt, der sie so kundig und gewiß nicht ohne 
Lachen gesammelt hat. Erst viel später tritt Freud mit spürbarer 
menschlicher Wärme hervor, lockert sich im allgemeinen seine Dik- 
tion. Da regt sich dann ein leiser humoristischer Unterton, ein feines 
Sympathisieren mit den Launen der Kranken, besonders wenn sie 
Kinder sind. Es sind die Züge, deren befreite Entfaltung am altern- 
den Freud so wundervoll berührt. 


6. 


Das Gegenstück zu dieser Gestaltungsfreude und innig mit ihr ver- 
bunden ist der Hang zur Bildlichkeit, der Freuds Prosa auszeichnet. 
Dieser Verkündiger der Intelligenz ist einem verschwenderischen Ge- 
brauch der Metapher ergeben. Er äußert sich zunächst, weniger auf- 
fällig, in einer Vorliebe für anschauungsstarke Wörter, an denen die 
vergleichende "Tendenz nur flüchtig oder unbewußt empfunden wird, 
besonders für Verben wie verarbeiten, erhärten, aufsplittern, auf- und 
herstellen, eintragen — das Ich scheint gegen die Umwelt „gut abge- 
setzt“, ein Konflikt wird „angefacht“, zwei Vorgänge sind miteinander 
„verklebt“. Die Melancholien zeigen „das Ich geteilt, in zwei Stücke 
zerfällt, von denen das eine gegen das andere wütet“. In der Panik 
hören die gegenseitigen Bindungen der Massengeschöpfe auf, „und 
eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei“. Die Vorstellungskreise, die 
da angerührt werden, zeigen zugleich das universale geistige Interesse 
des Autors an, das man im Großen in der Wahl seiner Forschungs- 
objekte erkennen kann. Physik und Chemie, Malerei, Dichtung, Reli- 


— 489 — 











2 


gion, Politik und Geschichte, Handwerkliches und Naturvorgänge geben 
die Einfälle her. 

Die voll ausgewachsenen Metaphern wiederholen und bereichern 
dieses Bild. Man liest vom Inventar der Neurose, von Legierungen 
des Liebesstrebens, von einer Inflation der Liebe, von Abkömmlin. 
gen des Verdrängten, von (innerlichen) Fluchtversuchen der Patienten, 
von „dem Schirm, der spanischen Wand, der Suggestion“, von der 
Frühblüte des Geschlechtslebens und dem Pubertätssturm. Einmal heißt 
es: „Wenn das der Schlaf ist, so steht der Traum überhaupt nicht 
auf seinem Programm, scheint vielmehr eine unwillkommene. Zutat,“ 
Mit solchen einprägsamen Wendungen sind die Schriften Freuds über. 
sät; einige von ihnen haben eine leichte Dogmatisierung erfahren und 
tauchen immer wieder auf — halb Ernst, halb Spiel —, andere sind 
wirklich sakrosankt geworden. Welche dramatische Anschauung um- 
schließt der Titel „Der Untergang des Odipuskomplexes“. Wo Wieder- 
holung geübt wird, ist man bisweilen in der Lage, den Übergang 
vom spontanen zum kanonischen oder stereotypen Gebrauch zu ver- 
folgen. Ein solches Requisit ist die Redensart von den „Dämmen“ 
Scham, Ekel und Moral, die den Sexualtrieb des Erwachsenen ein- 
schränken — sie erscheint beispielsweise in „Charakter und Anal- 
erotik“ (1908), aber auch schon in den „Drei Abhandlungen“, hier in 
einem Passus, den man einmal Wort für Wort mustern möge, um 
die Bilderfülle verhalten fluten zu sehen. „Während dieser Periode 
totaler oder bloß partieller Latenz werden die seelischen Mächte auf- 
gebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten 
und gleich wie Dämme seine Richtung beengen werden (der Ekel, 
das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). 
Man gewinnt beim Kulturkinde den Eindruck, daß der Aufbau dieser 
Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung 
viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch be- 
dingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mit- 
hilfe der Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in 
dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf einschränkt, 
das organisch Vorgezeichnete nachzuziehen und es etwas sauberer und 
tiefer auszuprägen.“ 

Überrascht es da, daß dieser Metaphernreichtum in einer häufigen 


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Anwendung des regelrechten Gleichnisses gipfelt? Ja, es überrascht — 
denn diese Steigerung bringt eine erstaunliche Fülle von Eingebungen 
und Durchführungsformen. Sie gehört zu den unverwechselbaren Kenn- 
zeichen des Schriftstellers Freud. Auch diese Gabe hat er langsam ent- 
wickelt. Man wird in den „Studien über Hysterie“ nur ganz verein- 
zelte Belege für sie finden und in diesen die sichtliche Zurückhal- 
tung jener frühen Jahre. „Wir hatten oft die hysterische Symptomato- 
logie mit einer Bilderschrift verglichen, die wir nach Entdeckung 
einiger bilinguer Fälle zu lesen verstünden. In diesem Alphabet be- 
deutet Erbrechen Ekel“, teilt Freud da mit. Er kann sich noch nicht 
entschließen, ohne Umstände über den Zaun zwischen Begriff und 
Bild zu springen. Später verzichtet er auf solche rechtfertigende Er- 
klärung und isoliert das Gleichnis mit kunstvoller Absichtlichkeit. Nun 
nehmen der huschende Vergleich, das selbstgenugsam gerundete Gleich- 
nis so verschwenderisch überhand, daß man versucht ist, sie als seine 
eigentliche, stärkste und überzeugendste Ausdrucksweise hinzustellen. 
„In der Psychologie“, hat er unlängst noch selbst erklärt, „können 
wir nur mit Hilfe von Vergleichungen beschreiben. Das ist nichts Be- 
sonderes, es ist auch anderwärts so. Aber wir müssen diese Vergleiche 
auch immer wieder wechseln, keiner hält uns lange genug aus, Wenn 
ich also das Verhältnis zwischen Ich und Es deutlich machen will, so 
bitte ich Sie, sich vorzustellen, das Ich sei eine Art Fassade des Es, 
ein Vordergrund, gleichsam eine äußerliche, eine Rindenschicht des- 
selben“ („Die Frage der Laienanalyse“). Das wären also gleich drei 
Vergleiche mit einem halbgeborenen vierten dazu. Es drängt sich dazu 
wieder der Vorbehalt auf: wenn es wahr ist, daß auch „anderwärts“ 
die Vergleiche in Gebrauch sind, so wird man bei diesen Fachgenossen 
und Nachbarfakultäten doch vergeblich nach der Art und dem Grad 
der Verwendung suchen, die für Freud charakteristisch sind. 

Es lassen sich auch hier Gruppen unterscheiden. In die erste fallen 
die nur beiläufig hingestreuten, rasch präzisierenden Bilder — sie sind 
in Masse vorhanden. Die traumatischen Szenen der Hysterie „bilden 
nicht etwa einfache, perlschnurartige Reihen, sondern verzweigte, stamm- 
baumartige Zusammenhänge“. Die 'Traumrede hat „den Aufbau eines 
Brecciengesteines, in dem größere Brocken verschiedenen Materials 
durch eine erhärtete Zwischenmasse zusammengehalten werden.“ „So 


— 491 — 





ee 


















































1 


ist der Traum am tiefsinnigsten, wo er am tollsten erscheint. Zu allen 
Zeiten pflegten die, welche etwas zu sagen hatten und es nicht gefahrlos 
sagen konnten, gerne die Narrenkappe aufzusetzen.“ „Daß die neuroti- 
sche Angst aus der Libido entsteht, ein Umwandlungsprodukt derselben 
darstellt, sich also etwa so zu ihr verhält, wie der Essig zum Wein. .« 
(in einer Fußnote). Die kurzlebigen Massen sind den stabilen „gleich- 
sam aufgesetzt, wie die kurzen, aber hohen Wellen den langen Dünungen 
der See.“ Häufig ist der Typus der Proportion: „Die Psychoanalyse 
verhält sich zur Psychiatrie etwa wie die Histologie zur Anatomie“ 
Besonders schön wirkt die Erklärung, die Neurotiker steckten in ihrer 
Krankheit, „wie man sich in früheren Zeiten in ein Kloster zurückzu- 
ziehen pflegte, um dort ein schweres Lebensschicksal auszutragen.‘“ Ein 
berühmtes Wort Jacob Burckhardts über das Verhältnis des Barock 
zur Kunst der Renaissance tritt in Erinnerung, wenn Freud bemerkt, 
die Sprache der Zwangsneurose sei „gleichsam nur ein Dialekt der 
hysterischen Sprache“, 

Das sind bereits Beispiele ausgeführterer Vergleiche, auf die man gleich- 
falls auf Schritt und Tritt stößt, Die „Vorlesungen“ exzellieren in 
solchen Parallelen, die sich auf zwei oder drei Sätze erstrecken und 
aus unerschöpflihem Vorrat hingeworfen scheinen. Sie quellen aus 
Algebra und Astronomie, aus Medizin und Rechtspflege (dies besonders 
reichlich!) hervor, sie ernten aus den Künsten, aus Geschichte und 
aktuellen Ereignissen der Gegenwart. Freud fordert seine Hörer auf, 
sich in ein geschichtliches Kolleg statt eines psychologischen, in den 
Tatort eines Verbrechens, in ein chemisches Laboratorium, in eine 
Gerichtsverhandlung hineinzudenken und malt ihnen diese erdachten 
Situationen aus, sodaß sie sich in ihren Bänken gleichsam auf einem 
fliegenden Teppich befinden. Er erinnert sie vergleichend daran, daß 
für die Griechen ein Feldzug ohne Traumdeuter zuzeiten ebenso un- 
möglich gewesen sei wie heute ein Krieg ohne Fliegeraufklärer, daß 
es eine Zeit gab, in der es ebenso verboten war, menschliche Leichen 
zu zerlegen, wie es jetzt verpönt erscheine, Psychoanalyse zu üben, 
Aber auch die übrigen Werke treiben dieses bezaubernde Spiel der 
Phantasie. Vielbewundert jener Hinweis des Aufsatzes „Über Psycho- 
therapie“ auf Leonardos Unterscheidung der Plastik und der Malerei, 
die Freud auf das Verhältnis der analytischen zur hypnotischen Technik 





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ummünzt. In der „Geschichte einer infantilen Neurose“ leitet er ein 
Kapitel mit der Fabel von Eisbär und Walfisch ein, die nicht mit- 
einander Krieg führen können, um seine Stellung zu den nichtanalyti- 
schen Psychologen zu illustrieren. „Die Zukunft einer Illusion“ führt 
aus: „Freilich sind die Menschen so, aber haben Sie sich gefragt, ob 
sie so sein müssen, ob ihre innerste Natur sie dazu nötigt? Kann der 
Anthropologe den Schädelindex eines Volkes angeben, das die Sitte 
pflegt, die Köpfchen seiner Kinder von früh an durch Bandagen zu 
deformieren?“ „Das Unbehagen in der Kultur“: die heutige Erziehung 
benehme sich in der psychologischen Orientierung der Jugend so, „als 
wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommer- 
kleidern und Karten der oberitalischen Seen ausrüsten würde.“ Das 
sind Proben, aus denen die Qualität, aber noch nicht die Menge und 
Mannigfaltigkeit der Freudschen Vergleiche abzulesen ist. 

Es sei den Psychoanalytikern überlassen, den jeweiligen Anteil des 
Unbewußten an diesen Gebilden zu eruieren. Er ist offensichtlich groß, 
denn auch dem Laien fällt auf, daß sie in der Mehrzahl Motive ver- 
werten, die Freud selber als Sexualsymbole entlarvt hat: den Hut, das 
Wasser, den Strom, das Haus, das Teleskop — die Frage nach dem 
Material des seelischen Apparats sei der Psychologie so gleichgültig 
„wie der Optik die Frage, ob die Wände des Fernrohrs aus Metall 
oder aus Pappendeckel gemacht sind.“ In vielen andern Fällen liegt 
die Geheimtür zur tieferen Bedeutung verhüllter, aber doch erratbar 
zutage, und die für uns undurchsichtigen werden in der psychischen 
Konstellation des Entstehungsaugenblicks verwurzelt sein. Besonders 
zahlreich und schön sind noch die strategischen Vergleiche, deren 
Sexualcharakter die Psychoanalyse gleichfalls betont hat: die Bilder von 
der Besatzung in der eroberten Stadt, von der Armee in Feindesland, 
von Front und Etappe, in denen, äußerlich gesehen, Erinnerungen an 
die Kriegsjahre weiterleben. 

Eine gleich bedeutungsvolle Folie haben gewiß auch die Angehörigen 
der dritten Gruppe: die reinen Gleichnisse, die Freud an vielen Stellen 
mit erzählerischem Behagen einschaltet. Es sind anekdotisch oder no- 
vellistisch ausgeführte Ruhepunkte im anstrengenden Fluß seiner Unter- 
suchungen, die hier wegen ihres Umfangs nur erwähnt, nicht wieder- 
gegeben werden sollen. In der „Psychopathologie des Alltagslebens“ 


— 493 — 


















































2 


wird der Vorgang des Namenvergessens durch die spannende Schilde. 
rung eines Raubüberfalls ins Licht gesetzt, und es sind namentlich die 
Schriften der Kriegs- und Nachkriegszeit, die diese reizvolle erzähleri. 
sche Sitte pflegen. Es ließe sich aus ihnen eine farbig sprühende „Vor. 
schule der Psychoanalyse“ zusammenstellen. Ein merkwürdiges und 
durch seine allegorische Ausmalung vereinzeltes Stück für dieses Brevier 
wäre jene Darstellung in dem Aufsatz „Die Widerstände gegen die 
Psychoanalyse“, wo die menschliche Kultur als Herrscherin auf einem 
von gefesselten Sklaven getragenen Thron geschildert wird. 

Auch unter diesen Vergleichen und Gleichnissen gibt es solche, die 
wiederkehren dürfen, die Freud besonders zu lieben scheint. Das Wort 
der „Vorlesungen“ von den Symptomen der Zwangsneurosen, die den 
Kranken selbst den Eindruck machten, „als wären sie übergewaltige 
Gäste aus einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das Gewühl 
der Sterblichen gemengt haben“, taucht schlichter gewandet in seinem 
neuesten Buche (am Beginn des vierten Kapitels) wieder auf. Auch 
das phonetische Beispiel von a und b, die zur Silbe ab verschmelzen, 
ist mehrfach anzutreffen, und die vielen Wassergleichnisse sind da noch 
einmal als Variationen eines Urthemas aufzuführen. Die Hingabe, die 
Freud diesen dichterischen Einsprengseln gönnt, ist auf andere Art 
auch der sechsseitigen „Notiz über den ‚Wunderblock‘“ anzusehen: er 
hat es sich dort als impulsiver Gestalter nicht versagt, einen neu lancier- 
ten Warenhausartikel zu beschreiben und erfreut zur symbolischen 
Veranschaulichung des seelischen Apparats, wie er ihn auffaßt, zu ge- 
brauchen. 

Das schönste Gleichnis aber, das er gefunden hat, kommt auch an 
unzähligen Stellen vor und sendet seinen Lichtstrahl in alle diese 
Schichten der metaphorischen Redeweise. Man kann es werden, wach- 
sen und sich vollenden sehen. Es ist das archäologische. Durch das 
„Unbehagen in der Kultur“ ist eine seiner reichsten Ausführungen in 
frischer Erinnerung. Freud bittet hier zu Beginn den Leser, dem er 
eine Vorstellung vom Aufbau der menschlichen Seele geben will, sich 
die mehrtausendjährige Entwicklung Roms vor Augen zu halten. Er 
schildert die bauliche Geschichte der Stadt, ihre Umgestaltungen und 
Wachstumsphasen, und macht die „phantastische Annahme“, daß die 
ewige Stadt nicht eine Wohnstätte, sondern ein Psychisches Wesen sei: 


— 494 — 
































ger 





alles, was da einmal stand, sei noch vorhanden, rage durch- und in- 
einander empor, ‘Tempel und Paläste, Etruskisches, Päpstliches und 
Modernes. „Es hat offenbar keinen Sinn“, fährt er fort, „diese Phan- 
tasie weiter auszuspinnen, sie führt zu Unvorstellbarem... Unser 
Versuch scheint eine müßige Spielerei zu sein; er hat nur eine Recht- 
fertigung; er zeigt uns, wie weit wir davon entfernt sind, die Eigen- 
tümlichkeiten des seelischen Lebens durch anschauliche Darstellung zu 
bewältigen.“ 

Aber offenbar kommt dieses Symbol für sein Gefühl der Wahrheit 
sehr nahe, Im „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ finden sich die 
Sätze: „Angesichts der Unvollständigkeit meiner analytischen Ergeb- 
nisse blieb mir nichts übrig, als dem Beispiel jener Forscher zu folgen, 
welche so glücklich sind, die unschätzbaren wenn auch verstümmelten 
Reste des Altertums aus langer Begrabenheit an den Tag zu bringen. 
Ich habe das Unvollständige nach den besten mir von anderen Analy- 
sen her bekannten Mustern ergänzt, aber ebensowenig wie ein ge- 
wissenhafter Archäologe in jedem Falle anzugeben versäumt, wo meine 
Konstruktion an das Authentische ansetzt.“ In der „Zukunft einer Ilu- 
sion“ tritt das Motiv in noch einfacherer Fassung auf. „Archäologische Inter- 
essen sind ja recht lobenswert, aber man stellt keine Ausgrabungen an, 
wenn man durch sie die Wohnstätten der Lebenden untergräbt, so 
daß sie einstürzen und die Menschen unter ihren Trümmern verschütten. 
Die religiösen Lehren sind kein Gegenstand, über den man klügeln 
kann wie über einen beliebigen anderen.“ Die „Studien über Hysterie“ 
gebrauchen das Bild noch in der ihnen eigentümlichen kommentieren- 
den Gestalt. „So gelangte ich... zu einem Verfahren der schichtwei- 
sen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials, welches wir 
gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu 
vergleichen pflegten.“ 

Ganz nahe bei diesem frühesten Standort des Gleichnisses, nur we- 
nige Seiten entfernt, trifft man auf das erste Exemplar der aus verwandten 
Vorstellungen aufgeblühten Metaphern, deren unscheinbarere Kelche 
zahlreich über die folgenden Werke verstreut sind: „Mit dieser ersten 
Erwähnung des jungen Mannes war ein neuer Schacht eröffnet, dessen 
Inhalt ich nun allmählich herausbeförderte“ .... Unter diesen Metaphern 
aber steht der in verschiedenen Schattierungen spielende Ausdruck 


— 495 — 


























7 


obenan, den Freud für die frühe Jugend des Menschen verwendet. Er 
nennt sie „die prähistorischen Jahre eines Kindes“, „die kindliche Ur. 
zeit“, und diese unvergleichlich schöne Wendung ist ihrerseits in den 
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ wieder im Moment der Ent- 
stehung und Einführung zu beobachten: „Ich meine nun, daß die in- 
fantile Amnesie, die für jeden einzelnen seine Kindheit zu einer gleich. 
sam prähistorischen Vorzeit macht und ihm die Anfänge seines 
eigenen Geschlechtslebens verdeckt“... Wer es hier noch nicht her- 
ausgehört hat, kann aus gewissen Beispielen und persönlich gefärbten 
Bemerkungen in der „Traumdeutung“ erfahren, welches Interesse 
Freud den Gegenständen der Archäologie entgegenbringt. Er träumt 
von italienischen Museen und Ruinen, er sammelt Antiquitäten. Er ist 
sich ohne Zweifel auch über den latenten Sinn dieser Neigung im 
klaren. Für uns taucht auf der Ebene des Privaten die Genealogie die- 
ser Symbolik ins Unterirdische hinab, Wir werden vermuten, daß hier, 
wenn irgendwo, eine Urphantasie vergraben liegt, die so beharrlich 
ihre Regungen in die Sprache hinaufsendet. 

Wir werden aber auch das Gefühl nicht abweisen, daß wir hier 
im Bilde den tiefsinnigsten Ausdruck für das Wesen dieses Autors vor 
uns haben. Diese Sehnsucht nach dem Verschütteten, die Liebe zu den 
Orten, wo es ans Tageslicht gefördert liegt, und die Verehrung für 
die Forscher, die sich der Leidenschaft solchen Grabens und Findens 
verschrieben haben, sagt über Freud selber aus. Er ist dieser Gräber, in 
einem sehr viel schwierigeren Bereich. Er steigt ins nahezu Unfaßbare 
hinab, mit der Lampe der Sinnlichkeit in den Händen. Es ist oft kaum 
zu glauben, wie sicher er in der Finsternis seiner Gewölbe hantiert, 
und unvergeßlich, wie er das Namenlose, Furchtbare durch die Scheibe 
des Gleichnisses mit einem Schein aus der vertrauten Tagwelt an- 
leuchtet. In dieser ungeheuer entlegenen Tiefe der Seele gibt er allem 
einen Schimmer von Farbe und Gestalt, der das Begreifen ermöglicht, 
ohne den Schauder zu verscheuchen.. Vielleicht ist dies das Geheimnis 
seiner Wirksamkeit, daß er dazu bestimmt ist, in zwei Welten zu 
hausen, in die mütterliche Unterwelt den oberirdischen Vernunftglanz 
und in den hellen Tag die schwere Düsternis der Tiefe auszubreiten. 
Er trägt das wärmende Gleichnis ins Begriffliche und die verzehrende 
Abstraktion in die Realität. Seine Meisterschaft über die Sprache und 


MER. .; 
































der dichterische Grundzug dieser Souveränität, den wir vielleicht gegen 
seinen Willen wahrgenommen haben, lassen die Macht erkennen, die 
ihn oben, unter den Menschen, in der immerjungen Spannung der 
Gegenwart erhält, während er Verschollenes vom Meeresboden hebt: 
neben dem Fanatismus der Analyse den Willen zur Synthese. 


v? 


Zwei Meisterwerke des Vierzigjährigen und des Sechzigjährigen fassen 
repräsentativ die Elemente dieser Darstellungskunst zusammen: die 
„Traumdeutung“ und die „Vorlesungen zur Einführung in die Psycho- 
analyse“. Sie gehören als originale sprachliche Gestaltungen dem mo- 
dernen deutschen Schrifttum an. In der „Traumdeutung“ hat Freud, 
literarisch gesprochen, vor allem seine Lust am Erzählen ausgelebt, 
wozu ihm die vielen Beispiele und ihre Ausdeutungen Gelegenheit 
gaben. Man kann es nicht vergessen, wie er diese Paradigmen vor- 
zeigt: wie kostbare Stücke einer Liebhabersammlung, mit der Wort- 
kargheit dessen, der ihres Wertes sicher ist, auch wenn sie dem Be- 
schauer nicht gefallen sollten, und nur etwa eine Bemerkung über ihre 
äußere Geschichte einfließen läßt. Gleich die Überschrift, unter der er 
das erste behandelt, schafft diese spannungsreiche Stimmung: „Analyse 
eines Traummusters“. Ein „Traummuster“, sagt er — das ist wieder 
eines dieser nüchtern-wundervollen Komposita, bei dem man einen 
Augenblick an einen märchenhaften Teppich denkt. Erst die Erzählung 
des Traumgeschehens, knapp und kühn, als Stenogramm notiert und 
äußerste Präzision erstrebend; dann sogleich die Anstrengung für den 
gehabten Genuß: eine rigorose Folge von Zurückführungen, kühlen 
Zerstörungsmaßnahmen, von Hinweisen auf früher oder später. Dieser 
Wechsel vollzieht sich immer neu und inhaltlich anders, er bedingt die 
Komposition des Werkes. 

Es hat etwas Beispielloses, wie Freud hier eine kaum mehr wirkliche 
Materie anfaßt, wie er die überzarten nächtigen Gespinste, die sich 
nicht berühren lassen, ohne Schaden zu nehmen, erfahren auseinander- 
faltet und überprüft. Er zeigt ein ganz ungemeines Vermögen, dieses 
Magische, ungewiß Schwebende der Traumeindrücke in Worte zu 
bannen, scheinbar mühelos. „Ich sche dann P. durchdringend an, unter 




















PsA. Bewegung — 497 — 33 



















































































“ 


meinem Blicke wird er bleich, verschwommen, seine Augen werden 
krankhaft blau — und endlich löst er sich auf. Ich bin ungemein er. 
freut darüber, verstehe jetzt, daß auch Ernst Fleischl nur eine Erschei. 
nung, ein Revenant war, und finde es ganz wohl möglich, daß eine 
solche Person nur so lange besteht, als man es mag, und daß sie durch 
den Wunsch des anderen beseitigt werden kann.“ Oder dieses: „Wegen 
irgendwelcher Vorgänge in der Stadt Rom ist es notwendig, die Kinder 
zu flüchten, was auch geschieht. Die Szene ist dann vor einem Tore, 
Doppeltor nach antiker Art (die Porta romana in Siena, wie ich noch 
im 'Traume weiß). Ich sitze auf dem Rand eines Brunnens und bin 
sehr betrübt, weine fast. Eine weibliche Person — Wärterin, Nonne 
— bringt die zwei Knaben heraus und übergibt sie dem Vater, der nicht 
ich bin. Der Ältere der beiden ist deutlich mein Ältester, das Gesicht 
des anderen sehe ich nicht; die Frau, die den Knaben bringt, verlangt 
zum Abschied einen Kuß von ihm. Sie zeichnet sich durch eine rote 
Nase aus. Der Knabe verweigert ihr den Kuß, sagt aber, ihr zum 
Abschied die Hand reichend: ‚Auf Geseres‘ und zu uns beiden (oder 
zu einem von uns): ‚Auf Ungeseres‘. Ich habe die Idee, daß letzteres 
einen Vorzug bedeutet.“ Das ist wie Zauberei, vor der man spürt, daß 
man sie vergeblich versuchen würde. Die suggestive Gefühls- und 
Farbenglut dieser Stücke — der Traum vom „Frühstücksschiff“ ist eines 
der schönsten — ist kaum je von einem Nachfolger wieder erreicht 
worden. Freud beschäftigt sich da mit Dingen, die vor ihm fast nur 
Dichter gefesselt haben. 

Die „Traumdeutung“ ist seine Selbstanalyse, die Hälfte der berich- 
teten Träume stammt von ihm, und er ist durch dieses Verfahren, zu 
dem er sich um der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit willen gezwungen 
sah, veranlaßt, viel Privates, ja Intimes von sich niederzuschreiben. Es 
ist ein noch nie erlebter Fall von Selbstporträtierung. Man lernt, immer 
nur in flüchtigen Notizen, Freud als Menschen kennen: seine Gewohn- 
heiten, Liebhabereien und Berufssorgen, seinen Ehrgeiz, Professor zu 
werden, seine schriftstellerischen Pläne und Drangsale, seine Verehrung 
für große Gelehrte, seine Schwächen, aus deren Eingeständnis seine 
Vornehmheit fühlbar wird. Wie deutlich tritt auch das Wienerische 
zutage. Man erfährt, wo er in den Ferien war, was für Reisen er 
machte, daß seine sechs Kinder ihm alles sind, wie seine Praxis aus- 


— 498 — 






sieht, daß er gern und viel raucht, wie er sich über Kritiker ärgert 
und zu neuen Freunden kommt, man hört von seinen Söhnen im 
Krieg, von dem Lehrer, dem er am meisten zu danken hat, und von 
einer Narbe, die er sich als Kind schlug. Er zeigt sich als zärtlich be- 
sorgter Vater, als Knabe, Jüngling und junger Assistent. Wo das 
Sexuelle beginnt, bricht er ab, macht aber einige Ausnahmen. Man 
liest von familiären Angelegenheiten, von Verwandten in Amerika, 
von Personen, die er nicht leiden mag, man weiß ungefähr, wie er 
wohnt, daß er ein Nachtarbeiter und Langschläfer ist, daß er streit- 
lustig sein kann, imstande ist, Kellner und Schaffner zu frozzeln. „Ein 
intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige 
Erfordernisse meines Gefühlslebens.“ Auch in andern Werken kommen 
solche Einzelheiten vor, aber hier (und in den Zusatzarbeiten zur 
Traumlehre) machen sie den Charakter des Ganzen aus. Sie fügen sich 
zu einem wirren, bunt krustierten Gewebe von Strichen, das aus der 
Distanz, innerlich zusammengehalten, zu einem einzigartigen Bildnis 
zusammentritt, geschaffen aus virtuosem Können und einem großen 
Bekennermut. Man sieht diesen Mann, ungeheuer lebendig, durch die 
Schleierfalten des TTraums und die nüchternen Zwischenräume: wie er 
über die ‘Treppe springt, immer zwei Stufen nehmend, oder wie er 
an einem heißen Sommerabend von der Vorlesung durch die Wiener 
Straßen nachhause geht, müde und mißgestimmt, voll Ekel über seinen 
Beruf und mit Sehnsucht nach den Kindern, nach der Schönheit Italiens ; 
ein aufdringlicher Hörer hängt sich ihm an, er entrinnt ihm unglück- 
lich und blättert vor dem Schlafengehen im Rabelais und in Meyers 
„Leiden eines Knaben“... 

Obschon gerade die „Traumdeutung“ sich dem Leser gegenüber 
spröde, schwierig verhält, ist es doch unmöglich, das ästhetische Ent- 
zücken über diese visionäre Gegenständlichkeit zu unterdrücken. Es ist 
auch kein Zweifel, daß sie auf viele zeitgenössische Künstler einen 
tiefen Eindruck geübt hat. Man lese nur in Franz Kafkas Roman „Der 
Prozeß“ das Kapitel „Im Dom“, um die Stellung dieses Buches inner- 
halb der modernen Dichtung zu ermessen. Denn jene mystisch-phan- 
tastische Szene ist nicht nur später als die „Traumdeutung“ entstanden, 
sondern ist auf ersichtliche Weise abhängig von ihr. Sicher ist Freuds 
Werk überhaupt, jenseits von zeitgenössischen Strömungen der Litera- 


— 499 — ser 

















































































































“ 


tur, von künstlerischer Ambition, eines der denkwürdigsten Dokumente 
unseres Schrifttums, der modernen Autobiographie. Die nie geschenen 
Überschneidungen dieses Selbstbildnisses entstammen einem neuen Raum. 
und Zeitgefühl, enthalten eine schonungslose Tiefe der seelischen Rela- 
tionen, und es ist wohl denkbar, daß man es dereinst etwa neben 
gewissen Porträts Kokoschkas sehen wird, die in einer benachbarten 
Atmosphäre entstanden sind. Die Studie über Leonardo enthält einen 
Passus über das Wesen der Biographie, der den psychologischen Hinter. 
grund zu diesem Gemälde eröffnet, und auch die „Vorlesungen“ 
sprechen wissend von der Diskretion der großen Männer und der Ver- 
logenheit ihrer Biographen, die für gewöhnlich den Blick in die Wahr- 
heit der Seele verwehren — hier ist er unverwehrt, und man tut ihn 
nicht ohne verwandelnde Erschütterung. 

Die „Vorlesungen“ bieten ein gänzlich anderes Bild. Ihre Sprache 
ist die reinste, reifste, die Freud in seinen größeren Werken geschrieben 
hat. Ein Hauch von Heiterkeit, von unbesorgter Überfülle, von im- 
provisatorischer Leichte liegt auf diesem Buche, das auf jeder Seite das 
Glück des rednerischen Augenblicks auszukosten scheint. Wie ge- 
winnend, offen weiß Freud seine Zuhörer einzufangen, wie genußreich 
versteht er ihnen jede Stunde zu machen. Ein klassisches Werk mo- 
derner deutscher Prosa, eine köstliche Frucht der Meisterschaft. Er läßt 
kein Register seiner Darstellungsgabe unbenützt, er geudet mit ihrem 
Glanz. Auch hier bringt er, so oft er einen neuen Gegenstand hervor- 
zieht, zuerst Einwände, Bedenken, Hindernisse vor, die es eigentlich 
ratsam erscheinen lassen, auf die Behandlung des Themas zu verzichten. 
Desto lichter entwickelt er gleich darauf seine Ansichten und Resultate. 
Wie kreist er unter dem Titel „Schwierigkeiten und erste Annähe- 
rungen“ das Wesen des Traumes ein! Wie entrollt er Krankheits- 
bilder, etwa das der Zwangsneurose! Er läßt sich auf imaginierte 
Dispute mit den Hörern ein, geht in zweistimmiges Gespräch über; 
er sagt: „Ich biete Ihnen ein vorläufiges Kompromiß an auf Grund 
des Gleichnisses vom Richter und vom Angeklagten. Sie sollen mir 
zugeben, daß der Sinn einer Fehlleistung keinen Zweifel zuläßt, wenn 
der Analysierte ihn selbst zugibt. Ich will Ihnen dafür zugestehen, daß 
ein direkter Beweis des vermuteten Sinnes nicht zu erreichen ist, wenn 
der Analysierte die Auskunft verweigert...“ Er rückt plötzlich 


— 500 — 





mit der Anrede heraus: „Meine Herren! Ich muß jetzt die Frage auf- 
werfen, ist Ihnen das, was ich Ihnen sage, nicht zu dunkel und kom- 
pliziert ? Verwirre ich Sie nicht dadurch, daß ich so oft zurücknehme 
und einschränke, Gedankengänge anspinne und dann fallen lasse? Es 
sollte mir leid tun, wenn es so wäre. Ich habe aber eine starke Ab- 
neigung gegen Vereinfachungen auf Kosten der Wahrheitstreue, habe 
nichts dagegen, wenn Sie den vollen Eindruck von der Vielseitigkeit 
und Verwobenheit des Gegenstandes empfangen, und denke mir auch, 
es ist kein Schaden dabei, wenn ich Ihnen zu jedem Punkte mehr 
sage, als Sie augenblicklich verwerten können. Ich weiß doch, daß 
jeder Hörer und Leser das ihm Dargebotene in Gedanken zurichtet, 
verkürzt, vereinfacht und herauszieht, was er behalten möchte.“ Den 
ersten Kurs schließt er mit den überraschenden Sätzen: „Sie haben 
recht, das ist auffällig und fordert eine Erklärung. Aber ich werde sie 
Ihnen nicht geben, sondern Sie langsam zu den Zusammenhängen hin- 
führen, aus denen sich Ihnen die Erklärung ohne mein Dazutun auf- 
drängen wird.“ 

Er hat jeden Augenblick einen andern rhetorischen Einfall, der 
Spannung weckt und dem Verständnis dient. Sein Vortrag ist gesättigt 
und doch voll Anmut, ernst und doch froh, überladen mit Stoff und 
dennoch federleicht. Er ist ganz und gar sachlich gebunden und zu- 
gleich überwältigend persönlich, er kommt mit dem Daumen in der 
Westentasche daher und ist ganz Autorität. Wie ruft Freud da wieder 
Gestalten, Schicksale herbeil „Einst war ich als Gast bei einem jung- 
verheirateten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr letztes Er- 
lebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr von der Reise 
wieder ihre ledige Schwester aufgesucht habe, um mit ihr, wie in 
früheren Zeiten, Einkäufe zu machen, während der Ehemann seinen 
Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr auf der anderen Seite 
der Straße aufgefallen und sie habe, ihre Schwester anstoßend, gerufen : 
Schau, dort geht ja der Herr L. Sie hatte vergessen, daß dieser Herr 
seit einigen Wochen ihr Ehegemahl war. Mich schauerte bei dieser 
Erzählung, aber ich getraute mich der Folgerung nicht. Die kleine 
Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein, nachdem diese Ehe 
den unglücklichsten Ausgang genommen hatte.“ 

Auch hier das Auftauchen und Verschwinden der kasuistischen 





— 501 — 
































Figuren, die Blüte des Gleichnisses, der warme‘Strom der Anschaulich- 
keit. In ihm spiegelt sich auch ein Bekenntnis des Forschers Freud, aus 
dem sein Sinn für die irrationalen Faktoren aufleuchtet. „Es wäre ein 
Irrtum zu glauben, daß eine Wissenschaft aus lauter streng bewiesenen 
Lehrsätzen besteht, und ein Unrecht, solches zu fordern. Diese Forde. 
rung erhebt nur ein autoritätsüchtiges Gemüt, welches das Bedürfnis 
hat, seinen religiösen Katechismus durch einen anderen, wenn auch 
wissenschaftlichen, zu ersetzen.“ Es gibt da Partien, wo dieser Stil, ohne 
seine sparsame Schlichtheit zu verlieren, leise von seinem Melos trunken 
weiterfließt, wie aus Glück darüber, daß er das Schwerste in vollendeter 
Klarheit zu sagen weiß. Man höre auch davon eine Probe, eine Aus- 
führung über den Schlaf: „Unser Verhältnis zur Welt, in die wir so 
ungern gekommen sind, scheint es mit sich zu bringen, daß wir sie 
nicht ohne Unterbrechung aushalten. Wir ziehen uns darum zeitweise 
in den vorweltlichen Zustand zurück, in die Mutterleibsexistenz also. 
Wir schaffen uns wenigstens ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie damals 
bestanden: warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich noch 
zu einem engen Paket zusammen und nehmen zum Schlafen eine ähn- 
liche Körperhaltung wie im Mutterleibe ein. Es sicht so aus, als hätte 
die Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu 
einem Drittel sind wir überhaupt noch ungeboren. Jedes Erwachen am 
Morgen ist dann wie eine neue Geburt. Wir sprechen auch vom Zu- 
stand nach dem Schlaf mit den Worten: wir sind wie neugeboren, 
wobei wir über das Allgemeingefühl des Neugeborenen eine wahr- 
scheinlich sehr falsche Voraussetzung machen. Es ist anzunehmen, daß 
dieser sich vielmehr sehr unbehaglich fühlt.“ 

Was ist das für ein Reden! Wissen, das an Allwissen grenzt, ge- 
tragen von einem nie erlöschenden Interesse an den Erscheinungen des 
Lebens. Ein großer Dichter könnte dies geschrieben haben. Aber es 
stammt von einem Verfechter der reinen Vernunft, dem im Adel dieser 
Sprache, im Kontur dieser rein gestalteten Materie der endgültige Aus- 
druck seiner Verbundenheit mit der Mitwelt zugefallen ist. 


— 502 — 

















8. 





Von diesen „Vorlesungen“ führt der Weg zur Publizistik des alternden 
und des greisen Freud, zum Verfasser der rückschauenden, der aktu- 
ellen und kulturpsychologischen Broschüren. Er erhebt in ihnen ein 
drittes Antlitz, das zeitgemäße, und man findet in ihm alle frühere 
Kraft, das gebändigte Feuer der forschenden Hauptwerke wieder, aber 
noch viel anderes dazu. Er ist nun das beinah sagenhafte Haupt einer 
weltumfassenden Schule; er braucht nicht mehr alles selber zu leisten, 
sondern darf sich auf Anregungen, Ergänzungen, Interventionen be- 
schränken. Er gibt Anstöße, die von den Mitarbeitern aufgenommen 
werden; er redet zu diesem bestimmten, aber sehr weiten, in vielen 
Sprachen redenden und um zahlreiche Zeitschriften und Lehrinstitute 
gruppierten Kreis, dem seine Abhandlungen als Enzykliken zugedacht 
sind („Zur Einführung des Narzißmus“, „Das Ich und das Es“, „Hem- 
mung, Symptom und Angst“ und anderes). Wie weit liegen die für 
Fachblätter verfaßten Arbeiten zurück, mit denen er debütierte, wie 
weit aber auch die großen, in der Einsamkeit entstandenen Werke 
der Manneszeit. Er mehrt und sichert nun einen geistigen Besitz, der 
nur noch an den Rändern umstritten ist, der als Redensart und. Schlag- 
| wort in der Luft liegt, sodaß jeder Zeitungsschreiber sich etwas über 
\ 
| 
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om SE 


ihren Urheber zu sagen getraut, ohne je ein Werk Freuds in der 
Hand gehalten zu haben. Aber er bleibt auch auf dieser Grenze 
seiner Herrschaft nicht stehen; er begibt sich mit jugendlicher 
Initiative aus dem Bann der Schule in die Öffentlichkeit hinaus, um 
| ihr seine Resultate dicht unter die ratlos oder feindlich schweifenden 














Augen zu legen. 
| Dieser Gang ins Weite hat etwas Dämonisches und zeigt am schönsten 
Freuds angeborenen schriftstellerischen Trieb. Denn in diesen für das 
allgemeine Publikum geschriebenen Traktaten ist er genötigt, noch 
einmal von vorn anzufangen, wenngleich mit verkürzter Route und 
| mit dem fest gegründeten System der Lehre im Hintergrund. Er kann 
nicht damit rechnen, daß seine neuen Leser von jenen Ergebnissen 
etwas wissen, und verzichtet auch ganz auf diese Voraussetzung. Er 
läßt alle Insignien seiner wissenschaftlichen Würde zuhause und ver- 
läßt sich, indem er sich in die breite Masse der Zeitgenossen hinein- 




















— 503 — 








begibt, auf nichts als auf den gesunden Menschenverstand, den eigenn 
und den der andern. Er geht also in umgekehrter Richtung vor: von 
der Beschreibung der allbekannten Zeiterscheinungen zu ihrer psycho. 
logischen Grundlage und Erklärung. 

Dieser veränderten Haltung entspricht ein neues formales Prinzip, 
der Dialog. Er ist schon früher andeutungsweise verwendet, aber seit 
den „Vorlesungen“ entwickelt er sich in immer reicherer Nüancierung, 
„Die Frage der Laienanalyse“ zeigt diese sokratische Zwiesprache wohl 
am schönsten. Hier hat sich Freud „einen unserer hohen Funktionäre . A 
mit dem ich selbst ein Gespräch über die Causa Reik geführt und dem 
ich dann, wie er gewünscht, ein privates Gutachten darüber überreicht 
hatte“, zur Figur des „Unparteiischen* umgeschaffen, und es wäre ge- 
nauerer Betrachtung wert, wie er diesen Partner im Verlauf der Unter- . 
haltung mit lebendigen Zügen ausstattet, immer greifbarer werden läßt, 
obschon er dauernd in der zweiten Ebene bleibt, und raffiniert genug 
ist, ihn zuletzt nicht in den Boden hineinzudisputieren, sondern die 
Aussprache ungewiß enden zu lassen. Er nimmt also jetzt den Leser. 
geradezu in das Buch herein, er fragt: „Bin ich noch verständlich ?« 
und eröffnet (in der „Zukunft einer Illusion“) ein neues Kapitel mit 
der erfrischenden Überlegung: „Eine Untersuchung, die ungestört fort- 
schreitet wie ein Monolog, ist nicht ganz ungefährlich. Man gibt zu 
leicht der Versuchung nach, Gedanken zur Seite zu schieben, die sie 
unterbrechen wollen, und tauscht dafür ein Gefühl von Unsicherheit 
ein, das man am Ende durch allzu große Entschiedenheit übertönen 
will. Ich stelle mir also einen Gegner vor, der meine Ausführungen 
mit Mißtrauen verfolgt, und lasse ihn von Stelle zu Stelle zu Worte 
kommen.“ Es ist nicht schwer, als die Heimat auch dieses Elements 
die Situation der Sprechstunde zu erkennen. 

Die innere Sicherheit dieser Spätjahre tritt aus der Vorliebe für eine 
gewisse Art von Definitionen hervor, die mit ihrer Absichtslosigkeit 
die Schärfe des Sehens verschleiern, aus der sie entstanden sind. „Wir 
heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivie- 
rung die Wunscherfüllung vordrängt.* „Zum Zauber gehört unbedingt 
die Schnelligkeit, man möchte sagen: Plötzlichkeit des Erfolges.“ „Deuten 
heißt einen verborgenen Sinn finden.“ Auch hier die glanzvolle Häufung: 
„Angst bezeichnet einen gewissen Zustand wie Erwartung der Gefahr 


— 504 — 





und Vorbereitung auf dieselbe, mag sie auch eine unbekannte sein; 
Furcht verlangt ein bestimmtes Objekt, vor dem man sich fürchtet; 
Schreck aber benennt den Zustand, in den man gerät, wenn man in 
Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein, betont das Moment 
der Überraschung.“ Die Diktion gewinnt einen legeren, bei aller Ge- 
messenheit locker-mondänen Tonfall; dafür ist besonders die (schon 
zuvor gelegentlich geübte) Gewohnheit verantwortlich, indirekte Rede 
im Indikativ vorzubringen und überhaupt die Alltagssprache anzutönen. 
So etwa: „Sie erklärt, sie kann kein Geld von mir nehmen.“ „Aber 
wenn das menschliche Schuldgefühl auf die Tötung des Urvaters zu- 
rückgeht, das war doch ein Fall von ‚Reue‘...?“ „Wir sagen uns, 
es wäre ja sehr schön, wenn es einen Gott gäbe als Weltenschöpfer 
und gütige Vorsehung, eine sittliche Weltordnung und ein jenseitiges 
Leben, aber es ist doch sehr auffällig, daß dies alles so ist, wie wir es 
uns wünschen müssen.“ „Wir“ — sagt Freud jetzt immer, „wir müssen 
es ohne Klage hinnehmen ..“ ; diese Form hat sich an die Stelle des 
„Ich“ in den früheren Jahrzehnten gesetzt und bringt eine werbende 
Kameradschaftlichkeit, eine Solidarität des Menschlichen herein, die ja 
gerade das Ziel ist, das diese jüngsten Schriften propagieren. Ihr Autor 
identifiziert sich mit den Lesern, er macht mit ihnen gemeinsame Sache 
gegen die Schwierigkeit gewisser Probleme und gegen die Mächte der 
Dummheit und des Bösen, die sie verfälschen wollen. Er steht ohne 
Pose, aber desto überlegener da. Er ist jetzt imstande, an seinen Ge- 
dankengängen selber „mit einer gewissen wohlwollenden Neugierde“ 
teilzunehmen. Er läßt Unvorhergesehenem einen gewissen Raum, läßt 
allerlei durchblicken, man liest zwischen den Zeilen. Aber er hat nie 
den gerissenen, in sich selbst verliebten Literatenton, den Leerlauf der 
formalistisch-nichtssagenden Seiten. Er ist immer der Wissenschafter, 
der um eines bestimmten Zweckes willen zur Feder greift. Es redet 
eine tiefe, menschlich ratende Stimme, die es sich vorgenommen hat, 
den Geltungsbereich der Vernunft um einen Fußbreit zu erweitern, 
und die sich keine Illusionen darüber macht, welche Hinder- 
nisse diesem Unterfangen im Wege stehen. Die letzten Dinge sind 
immer einfacher Natur. 

In jeder dieser Schriften kommt einem, wenn man sie aufschlägt, 
mit dem ersten Satz die Schwingung der Notwendigkeit, des Nicht- 


\ 


— 505 — 






































7 


anderskönnens entgegen. Man kann an ihnen die Kriterien der geistigen 
Sendung kennen lernen; Alfred Döblin hob dies in seiner Rede auf 
den Siebzigjährigen mit den Worten hervor: „Hier spricht einer, der 
etwas zu sagen hat.“ Bei aller Gelöstheit sind diese Texte zum Staunen 
dicht gefügt; man denkt an keinen Abschluß, auch wenn auf der 
nächsten Seite nur noch zehn Zeilen stehen. Schon das Satzbild zeigt 
den innerlich steten, gesetzhaften Fluß. Nirgends eine Spur von im- 
pressionistischer Fahrigkeit, so locker und leicht die Diktion fort- 
zuschreiten versteht. Sie liegt in einer vollendeten Schwebe zwi- 
schen 'Tiefsinn und Heiterkeit, zwischen dem Persönlichen und dem 
Objektiven. 

Da erscheinen dann jene einfach-gewaltigen Aussagen wie dieses 
Totentanzwort: „Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und so oft 
wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir eigent- 
lich als Zuschauer weiter dabei bleiben.“ Oder wie jene monologischen 
Sätze in „Hemmung, Symptom und Angst“ (am Schluß des zweiten 
Kapitels), aus deren unwiderruflihem Gefüge ein herrlicher Wille redet. 

- „Ich bin überhaupt nicht für die Fabrikation von Weltanschauungen. 
Die überlasse man den Philosophen, die eingestandenermaßen die Lebens- 
reise ohne einen solchen Baedeker, der über alles Auskunft gibt, nicht 
ausführbar finden. Nehmen wir demütig die Verachtung auf uns, mit 
der die Philosophen vom Standpunkt ihrer höheren Bedürftigkeit auf 
uns herabschauen. Da auch wir unseren narzißtischen Stolz nicht ver- 
leugnen können, wollen wir unseren Trost in der Erwägung suchen, 
daß alle diese ‚Lebensführer‘ rasch veralten, daß es gerade unsere kurz- 
sichtig beschränkte Kleinarbeit ist, welche deren Neuauflagen notwendig 
macht, und daß selbst die modernsten dieser Baedeker Versuche sind, 
den alten, so bequemen und so vollständigen Katechismus zu ersetzen. 
Wir wissen genau, wie wenig Licht die Wissenschaft bisher über die 
Rätsel dieser Welt verbreiten konnte; alles Poltern der Philosophen 
kann daran nichts ändern, nur geduldige Fortsetzung der Arbeit, 
die alles der einen Forderung nach Gewißheit unterordnet, kann 
langsam Wandel schaffen. Wenn der Wanderer in der Dunkelheit 
singt, verleugnet er seine Ängstlichkeit, aber er sieht darum um 
nichts heller.“ 

In einer Abhandlung von 1925 stehen die Sätze: „Die ‚Traum- 





— 506 — 












deutung‘ und das ‚Bruchstück einer Hysterie-Analyse‘ (der Fall Dora) 
sind, wenn nicht durch neun Jahre nach dem Horazischen Rezept, so 
doch durch vier bis fünf Jahre von mir unterdrückt worden, ehe ich 
sie der Öffentlichkeit preisgab. Aber damals dehnte sich die Zeit un- 
absehbar vor mir aus — oceans of time, wie ein liebenswürdiger Dichter 
sagt — und das Material strömte mir so reichlich zu, daß ich mich 
der Erfahrungen kaum erwehren konnte. Auch war ich der einzige 
Arbeiter auf einem neuen Gebiet, meine Zurückhaltung brachte mir 
keine Gefahr und anderen keinen Schaden. Das ist nun alles anders 
geworden. Die Zeit vor mir ist begrenzt, sie wird nicht mehr voll- 
ständig von der Arbeit ausgenützt... Auch ist alles bereits abge- 
schöpft, was an der Oberfläche dahintrieb; das übrige muß in lang- 
samer Bemühung aus der "Tiefe geholt werden.“ Man hört aus diesen 
Worten den großen epischen Zug, zu dem die Darstellungsfreude sich 
geklärt hat. In ihnen lebt die letzte Haltung des Greises, der „sicher 
ist, bald jeder Gunst und Mißgunst entrückt zu werden“. Er übersieht 
ein ungeheures Leben mit durchdringender Klarheit. „Nach 41jähriger 
ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich 
kein richtiger Arzt gewesen... mein Lebenstriumph liegt darin, daß 
ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wieder gefunden 
habe.“ 

„Die Zukunft einer Illusion“, „Das Unbehagen in der Kultur“ sind 
gesättigt von dieser monumentalen Ruhe und Fülle der "T'odesnähe. 
Man steht ergriffen vor ihnen, weil man den Lebensbogen erkennt, 
der sich hinter ihnen erhebt, und weil man es wie zum ersten Mal 
erfaßt, was es denn eigentlich bedeutet, daß ein menschliches Dasein 
allein durch das Wort das Verwehen der Jahre zu überdauern ver- 
mag. Es ist das Bild der schon halb von der Erde befreiten Stufe, wo 
Freud das Gefühl des „Weges“ in einen kristallisch durchsichtigen Auf- 
bau seiner Schriften umsetzt, wo er tief in die eigene und in die 
menschliche Vorzeit zurückblickt, wo er aus der Vogelschau spottet und 
phrasenlos die Grenze seines Wissens eingesteht, fast aufdringlich her- 
vorhebt. „Ich habe bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt 
wie diesmal, daß ich allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, 
in weiterer Folge Setzerarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigent- 
lich selbstverständliche Dinge zu erzählen.“ In dieser Zeit bettet er 


— 507 — 

















. 


kleine Beiträge, zu denen er sich als berühmter Mann bewegen läßt, 
in eine wunderschön karge Szenerie, ist ihm aber auch kein Kultur. 
phänomen so schwierig zusammengesetzt, daß er es nicht wie im Spiel, 
in einem glücklichen, makroskopischen Schildern bewältigte. Er typisiert, 
Er steigert alles ins zeitlos Anonyme. 

Das Juwel dieser Altersschriften sind die zwei Aufsätze „Zeitgemäßes 
über Krieg und Tod“, in denen Freud am Beginn des Weltkriegs zu 
der heimgesuchten Nation gesprochen hat. Gefaßte Erschütterung bebt 
in diesen Seiten, die sein Verantwortungsgefühl als Forscher und Autor 
dokumentieren und in denen er ein einziges Mal in feierlichem Pathos 
spricht. Es ist ein Pathos, das an den Ton des alten Goethe erinnert 
und aus dem sichtbarer als irgendwo die sprachliche Größe hervorgeht, 
die ihm zu Gebote steht. „Vertrauend auf diese Einigung der Kultur- 
völker haben ungezählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen 
den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die 
Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft. 
Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle 
bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kultur- 
länder ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er sich 
ungehemmt und unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue und das 
graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesen- 
flächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der süd- 
lichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große 
historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur... 
Unter den großen Denkern, Dichtern, Künstlern aller Nationen hatte 
er die ausgewählt, denen er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm 
an Lebensgenuß und Lebensverständnis zugänglich geworden war, und 
sie den unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den ver- 
trauten Meistern seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen Großen war 
ihm darum fremd erschienen, weil er in anderer Sprache geredet hatte, 
weder der unvergleichliche Ergründer der menschlichen Leidenschaften, 
noch der schönheitstrunkene Schwärmer oder der gewaltig drohende 
Prophet, der feinsinnige Spötter, und niemals warf‘er sich dabei vor, 
abtrünnig geworden zu sein der eigenen Nation und der geliebten 
Muttersprache.“ 

In diesen Traktaten der vergangenen anderthalb Jahrzehnte, die sich 






























































— 508 — 





’ 






immer offenkundiger dem zeitgenössischen Europäer, nein: dem Menschen 
der Epoche nähern und die schon in ihrer äußeren Form etwas not- 
wendig und schön Gewachsenes sind, spricht einer der interessantesten, 
vielseitigsten, dem Leben nächsten und deshalb bezwingendsten Autoren 
unseres heutigen Schrifttums. Sie sind der weiteste Saum eines groß 
geschichteten Lebenswerkes, die lockenden Stufen an seinem Fuß. In 
ihnen zittert die heroische Gesetzlichkeit aus, die seinen Riesenbau zu- 
sammenhält. Nichts an ihm ist überflüssig, jeder unscheinbarste Beitrag 
erfüllt eine Funktion, ist unersetzlich in das System der Lehre einge- 
fügt. Es gibt von Freud keine schon zu Lebzeiten vergessenen Werke — 
wo ist der Schriftsteller, von dem sich dies heute sagen läßt. Er hat 
die grundlegenden unter ihnen stets wieder erweitert, umgestaltet, er 
feilt an ihnen noch immer für jede Neuauflage, denn er hat sie nicht 
aufs Geratewohl in die Zeit geworfen. Seine Könnerschaft steht ganz 
im Dienst einer Sache — welcher Anblick in einer Epoche der wach- 
senden Sinn- und Grundlosigkeit. Sie ist aber deshalb auch keine 
äußerliche Zutat, sie ist frei von der Zufälligkeit, die heute so viele 
entstellt, welche sich von Berufs wegen als Künstler aufspielen. Man 
kann den Zusammenhang nicht verkennen, der diesen Psychologen zu 
immer neuen Worten über das Wesen der Kunst verleitet hat. „Die 
Kunst bietet, wie wir längst gelernt haben, Ersatzbefriedigungen für 
die ältesten, immer noch am tiefsten empfundenen Kulturverzichte und 
wirkt darum wie nichts anderes aussöhnend mit den für sie gebrachten 
Opfern“, heißt es noch in einem seiner jüngsten Essays. Auch Freud 
hat diese Opfer gebracht und gewiß auch ihre Aussöhnungen empfunden ; 
er hat sich Mühen unterzogen, die jenseits seiner Erkenntnis verwurzelt 
waren, und damit Forderungen anerkannt, die immer nur Einer hören 
und verstehen wird: das Genie. 


INN 
— 309 — 



































Freuds Sprache 


Im Anschluß an den vorangegangenen Essay von Walter Muschg über „Freud als 
Schriftsteller“, der sich zum erstenmal eingehend und umfassend mit dem Problem der 
Freudschen Sprachkunst auseinandersetzt, wollen wir hier drei frühere Äußerungen über 
Freuds Sprache zitieren. 

Hermann Hesse 


schrieb in der „Neuen Rundschau“ in einer Besprechung der Freud-Gesamtausgabe : 


»... Sein Werk überzeugt auch außerhalb der Gilde durch ganz hohe 
menschliche wie literarische Qualitäten. ... Der sorgfältige Forscher und 
klare Logiker Freud hat sich ein vorzügliches Instrument in seiner ganz 
intellektualistischen, aber prachtvoll scharfen, genau definierenden, gelegentlich 
auch kampf- und spottlustigen Sprache geschaffen.“ 


Hugo Ignotus 


bezeichnet in einem Aufsatz „Freuds Sprache“ in der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ 
den Schöpfer der Psychoanalyse als „den größten deutschen Erzähler seit 
Gottfried Keller“ und fährt dann fort: 

».. Wer einmal etwa eine Krankengeschichte Freuds gelesen hat oder 
gar die Darstellung der von ihm aus den Urresten der Menschheitsgeschichte 
herausgefolgerten Hordentragödie, aus welcher er Totem und Tabu entstehen 
läßt, der wird diese Wertung nicht für übertrieben halten. Mit Keller und 
den auserwähltesten Deutschen teilt Freud, wie nur die Franzosen, die Gabe, 
sich der Worte und jener syntaktischen Formen, die der noch unabgegriffenen 
ursprünglichen Bedeutung der Worte angebildet sind, in dieser ursprünglichen 
Bedeutung zu bedienen, sie damit aus der Ohnmacht der Gemeinplätzlichkeit 
weckend, ihnen zu neuer Kraft verhelfend. Er schreibt sparsam, aber nicht 
gedrängt, immer wesensgerecht und damit klar, — vergeudet keine Adjek- 
tiva, da doch das Hauptwort, wenn richtig gewählt, sich selbst voll zu ent- 
halten hat, und häuft er zuweilen Zeitworte, dann immer, um alle Tätig- 
keiten des Subjekts zu erschöpfen und die Steigerung oder das Nacheinander 
der Phasen dieser Tätigkeiten oder ihr Entspringen aus einander zu ver- 
sinnlichen. Sein Satz hat Hebung und Senkung und Ausklang, also Musik, 
die dem Ausdruck behilflich ist. Ein glücklichster Schöpfer von Fachaus- 
drücken geht er selbst denen eigener Schöpfung aus dem Wege; er schreibt 
kein gelehrtes Kauderwelsch, er schreibt seine Bücher wie Briefe. Freilich 
haben bei ihm auch die Briefe, die kürzeste Postkartenmeldung, das Dank- 
wort auf einer Visitenkarte die knappe Fülle eines römischen Epitaphs, die 
magische Gedrängtheit eines Bibelverses, — nur sind sie eben ohne Feier- 


— 510 — 





lichkeit, verfallen in keine Pose, sind nirgends auf einer Unaufrichtigkeit zu 
ertappen. Er muß in seinen Lehrjahren seinen Tacitus und seinen Luther 
wohl gelesen haben, aber das Klassische wie das Alttestamentarische verteilt 
sih bei ihm (wiederum wie bei den Franzosen, deren Schüler er ja in 
seinen Pariser Semestern war), bis es zum Anmutig-Geometrischen wird ... . 

Von seiner Sprache gilt, was Luther vom Hebräischen sagt: es sei eine 
würdevolle, herrenhafte Sprache, im Worte einfach und gering, hinter dem 
aber viel stecke, so daß keine andere an sie heranreicht, — eine vermö- 
gende Sprache, die nicht bettelt und ihre eigene Farbe hat...“ 


Werner Achelis 


widmet in seiner gedankenreichen philosophischen Abhandlung „Das Problem des 


Traumes“ (Püttmann, Stuttgart 1928), auf die in dieser Zeitschrift (l. Jahrg., S. 80) 
bereits verwiesen worden ist, einen Exkurs dem Vergleich der Sprache Freuds mit jener 
Schopenhauers. Er schreibt u. a. : 

n... Es gibt ein ganz eindeutiges Kriterium dafür, ob ein Mensch den archai- 
schen Mächten als Bausteinen der Natur in sich begegnet ist und damit 
den Charakter des Weltgefüges überhaupt erkannt hat, und das ist die 
Sprache. 

Das Geheimnis der Sprache Freuds ist ihre kartographische Richtigkeit, 
und man mag hier zum Vergleich die Sprache Schopenhauers heranziehen. 
Schopenhauer bewegt sich gemeinhin in einer strengen philosophischen Ter- 
minologie, die nur dem verständlich is, der sich mit Hingebung in seine 
Philosophie versenkt. Schopenhauer steht zwar, da er ein Genie obersten 
Ranges ist, die ganze Erhabenheit, deren die menschliche Sprache fähig ist, 
zu Gebote, und er vermag in Engelszungen zu reden, wo ihn Erleuchtung 
überkommt; aber er weiß auch, daß man nicht versäumen darf, die Wahr- 
heit der strengen Hut eines unerbittlich abstrakten terminologischen Gefüges 
anzuvertrauen; vor allem aber weiß er, daß es hier in keinem Falle einen 
‚goldenen Mittelweg‘ gibt. In einer Sprache, die weder erhaben noch ter- 
minologisch gestrafft ist, wird niemals ein Denker über die Tiefen der Welt 
reden, und alle Popularphilosophie offenbart ihre Fälschernatur in der Mittel- 
mäßigkeit ihrer Redeweise. Freud hatte den richtigen Takt, daß man über 
die Dinge, die er sah, und die er zu verantworten hatte, nicht anders als 
in der strengen Gebundenheit der 'T’erminologie reden durfte, und daß die 
einzig erlaubte Gegenwehr gegen Mißdeutungen der Hinweis auf seine 
exaktesten und unzugänglichsten Schriften sein mußte .. .“ 


ANNIE 
— 5ll — 


























Wir FreudsSchüler 


Von 
Theodor Reik 
I 
Während die Fachgenossen nun — wenngleich mit Einschränkun- 


gen — die Bedeutung Freuds anerkennen, hat die Bezeichnung Freud- 
Schüler bei ihnen noch immer den Charakter eines Epitheton desor- 
nans. Ja — merkwürdig genug — die Anerkennung Freuds hat den 
Begriff diskreditieren geholfen. Freud-Schüler — das heißt noch immer 
eine seltsame Mischung von Fanatismus und Verstiegenheit, Abwegig- 
keit und intellektueller Verbohrtheit. Während Freud vorsichtig ist, 
sind seine Schüler verwegen, während seine Anschauungen von ein- 
schneidender Bedeutung sind, sind die ihren völlig wertlos und nicht 
ernst zu nehmen, lächerlich abstrus und einseitig, übertrieben und 
phantastisch. Nun ist es gewiß noch keinem Schüler Freuds einge- 
fallen, sich mit ihm in eine Linie stellen zu wollen, aber es ist auch 
höchst unwahrscheinlich, daß sich die Schülerschar gerade dieses aka- 
demischen Lehrers aus Phantasten und intellektuellen Mittelmäßig- 
keiten, die sich um einen hervorragenden Geist sammeln, rekrutieren 
sollte. Und wieso kommt es denn, daß der eine oder der andere von 
diesen Schülern, wenn er sich später von den Anschauungen seines 
Lehrers entfernt hat, eine solche Beurteilung nicht mehr erfährt? Wieso 
kommt es, daß man, wenn man einmal Freud-Schüler war, es aber 
nicht mehr ist, wenn man natürlich die Bedeutung Freuds noch immer 
anerkennt, aber natürlich auch von der Begrenztheit seiner Ansichten 
spricht, wenn man sagt, dieser Teil seiner Lehre sei übertrieben, jener 
beruhe auf einem Mißverständnis oder einer ungerechtfertigt einseitigen 
Anschauung des menschlichen Seelenlebens, diese seine Ansicht sei 
mehr geistreich als zutreffend oder widerspreche der klinischen Erfah- 
rung — wieso kommt es, frage ich, daß man bei solcher veränderter 
Perspektive von den Kritikern sogleich eine bessere Zensur erhält? Ist 
man da plötzlich einsichtsvoller und klüger, ein Weiser geworden? 
Man braucht kein Analytiker zu sein, um zu verstehen, daß solche 
Beurteilung der Freud-Schüler en bloc in erster Linie von uneinge- 
standenen Affekten geleitet wird, und man braucht kein Analytiker zu 


— 512 — 





sein, um zu erkennen, von welchen Affekten. Die Beobachtung des 
Alltags zeigt deutlich genug ähnliche Phänomene; jedermann weiß, 
daß manche Ehefrau, mancher Ehemann in einem Zerwürfnis mit dem 
Partner dessen Verwandte oder Freunde heruntersetzt und beschimpft, 
während man ihn selbst aus dem Spiele läßt, und die unfehlbar affek- 
tive Wirkung eines solchen Seitenhiebes beweist, wem er eigentlich 
gegolten hat. Es ist vorsichtig, dem Landfrieden in der Ehe nicht zu 
trauen, solange es in jenem besonderen Tonfalle heißt: „Deine 
Mutter...“ oder „Deine Freunde...“ 

Es will uns scheinen, daß die Bewunderung und Anerkennung 
Freuds keine aufrichtige sein kann, solange man für alle seine Mit- 
arbeiter und Schüler nur diese abfällige, ja verächtliche Beurteilung 
übrig hat. Wie, Freud ist ein Genie, sein Werk nicht vergänglich, die 
von ihm geschaffene Psychoanalyse eine umwälzende wissenschaftliche 
Leistung, die Bücher seiner Schüler aber sind phantastisch und abstrus, 
ihre Resultate höchst unzuverlässig und an den Haaren herbeigezogen? 
Nun, es wäre verständlich, daß sich ein Genie die Gefolgschaft mittel- 
mäßiger oder dummer Anhänger widerwillig gefallen ließe, aber wie 
ist es zu erklären, wie ist es mit einem so scharfsinnigen ‚Geiste zu 
vereinbaren, daß er viele seiner Schüler in seinen Werken anführt 
und als seine erfolgreichen Mitarbeiter anerkennt, daß er ihre Be- 
mühungen schätzt? Wie, daß er anerkennt, diese Arbeit eines seiner 
Schüler habe etwa seine eigene Ansicht korrigieren geholfen, jene be- 
deute einen wichtigen Beitrag zur Lösung eines Problems, eine andere 
einen wissenschaftlichen Fortschritt? Ist es möglich, daß sich der Schöpfer 
der Analyse gerade auf seinem eigenen Gebiete als so wenig urteils- 
fähig erweist? Ist es nicht so, daß dieses demonstrative Hervorheben eines 
Abstandes, den bisher niemand geleugnet hat, einen verborgenen Sinn ver- 
rät? Und daß dieser Sinn erkennbarer wird, wenn man beachtet, daß es 
dieselben oder ähnliche Adjektiva sind, die früher dem Werke des 
Lehrers, jetzt dem der Schüler gelten? Auch der angestrebte Neben- 
erfolg so merkwürdiger Komplimente für Freud ist uns nicht entgan- 
gen: die Psychoanalyse sollte mehr als das — gewiß geniale — System 
eines Einzelnen denn als eine objektiv nachweisbare Wissenschaft er- 
scheinen ; sie würde so für immer auf die Leistung dieses Einen be- 
schränkt bleiben. 


PsA. Bewegung — 513 — 34 





y 


Man sage nicht, dies alles sei pro domo gesprochen. Wir leugnen 
das nicht. Wenn wir hier aber von unserem persönlichen Standpunkt 
sprechen, sprechen wir deshalb weniger vom sachlichen? Und liegt 
uns die Sache weniger am Herzen, weil wir sie zu der unsrigen ge- 
macht haben? 

Wir haben sie aber zu der unsrigen gemacht, haben uns zu ihr be- 
kannt, als es noch höchst unliebsam und höchst unbequem war, haben 
ihre Entwicklung vor ihren Feinden und, was oft so viel schwieriger war, 
vor ihren Freunden beschützt. Das war gewiß kein Verdienst, es war 
innere Notwendigkeit, war uns Pflicht und Ruhm zugleich. 


I 


Es ist noch nicht lange her, daß man die Psychoanalytiker eine Sekte 
genannt hat. Aber auch heute wirft man ihnen vor, wie autoritäts- 
gläubig, wie einseitig starr, wie dogmatisch gebunden sie ihrem Lehrer 
durch dick und dünn folgen. Freud-Schüler, das ist die Bezeichnung für eine 
unduldsame und unbelehrbare Haltung in psychologicis. Dieselben Schüler, 
die so weit über die Anschauungen Freuds hinausgegangen sind, sie bis 
zur Unkenntlichkeit verzerrt, sie ins Bizarre und Lächerliche weitergeführt 
haben, sind nichts als der völlig getreue Abklatsch ihres Lehrers ; 
ihre Bücher, die von denen Freuds so weit abweichen, nichts als er- 
müdende Wiederholungen des von ihm Gesagten. Sie, diese vielge- 
scholtenen Schüler, die auch nicht einen Zug mit ihm gemeinsam haben, 
verhalten sich zu ihm wie sklavisch getreue Kopien zum Original. Ach, 
es hat Gott gefallen, die Welt voll Widersprüchen zu schaffen ! 

Die Erklärung dieses. Mangels an gedanklicher Selbständigkeit, dieses 
Fehlens jeder Originalität, jeder intellektuellen Freiheit bei den Schülern 
Freuds liegt — so wurde uns unlängst gesagt — in der Identifizierung 
mit dem Lehrer. Indem man dies ausspricht, meint man, etwas sehr 
Aufschlußreiches, ja Entscheidendes vorgebracht zu haben. Man sagt 
dies so, als wäre es etwas unerhört Neues und völlig Unbekanntes, 
daß sich etwa die Assistenten einer Klinik mit dem Professor identifizieren. 

Gewiß, wir identifizieren uns mit unserem Lehrer — man. möchte 
fragen: was denn sollen wir mit ihm tun? Aber das Wesen des 
Identifizierungsvorganges ist keineswegs so einfach, als es dem Laien 


— 5l4 — 























f 





— und dazu rechne ich jene Kritiker, die so leichtfertig mit analyti- 
schen Begriffen schalten — erscheinen mag. Vor allem: es gibt ver- 
schiedene Arten von Identifizierung. Es handelt sich ferner um einen 
organischen Prozeß, der vom bewußten Willen fast unabhängig: ist. 
Der Vorgang ist nicht eindeutig von zärtlichen Regungen geführt; feind- 
liche und aufrührerische Tendenzen haben am Zustandekommen der 
Identifizierung einen bestimmten Anteil. Jede Identifizierung ist par- 
tiell und es ist gewiß sehr bezeichnend für den Einzelnen, in welcher Art 
und in welcher Richtung er sich mit einer anderen Person identifiziert ; 
es ist auch keineswegs gleichgültig, wann, in welchem Abschnitte der 
individuellen Entwicklung ein Prozeß dieser Art einsetzt. Die Trieban- 
lagen und die Erlebnisse des Einzelnen werden für die Art und das 
Ausmaß des Vorganges entscheidend sein. Schließlich ist es natürlich 
kein Zufall, mit wem man sich identifiziert. Gewisse psychische Vor- 
aussetzungen sind unerläßlich und handelte es sich auch nur um einen 
seelischen Anspruch, um eine seelische Möglichkeit. 

Wie man weiß, kann man die Psychoanalyse nicht aus Büchern ler- 
nen. Tiefer noch und mit größerem Rechte als auf anderen Gebieten 
besteht auf diesem die Forderung, eine Erkenntnis zu erwerben, um 
sie zu besitzen. Dieses allmähliche Erkennen seelischer Zusammenhänge 
unter ständiger Einsicht in das Spiel der Kräfte, die sich solchem Er- 
kennen entgegenstellen, dieses langsame und keineswegs bequeme Er- 
werben eines Verständnisses, das umso resistenter ist, je tiefer die an- 
gerührten seelischen Schichten sind, es stellt selbst ein Stück Schick- 
salsgemeinschaft dar, da auch unsere Erkenntnisse und die Art, wie 
wir zu ihnen gelangen, zu unserem Schicksal gehören. Alle Einschrän- 
kungen anerkannt, bei Beobachtung aller notwendigen Distanz: man 
gleicht dem Geist, den man begreift. Es kommt eben auf die Tiefe 
und die Nachhaltigkeit dieses Begreifens an. Die beste — analytisch 
die einzige — Art des Begreifens der Tiefenpsychologie ist aber das 
eigene Erleben. Die Psychoanalyse ist ein organischer Prozeß, der, ein- 
mal bis zu einer bestimmten Tiefendimension vorgedrungen, nicht 
mehr willkürlich abgebrochen werden kann. Das Verständnis für ihn 
vertieft sich mit der Entfernung von ihm, erweitert sich, je mehr wir 
ein Stück eigenen Lebens nach seinen psychischen Voraussetzungen, 
seinen verborgenen Zielen regressiv erkennen lernen — auch nachdem 


— 515 — 34 























































































































> 


man längst die eigene Analyse verlassen hat. Jener analytische‘ Pro. 
zeß, der zur Erkenntnis des Ichs führt, ist nicht mit der Beendigung 
einer analytischen Behandlung oder eines Lehrkurses, einer „Psycho- 
analyse“, abgeschlossen. Die war’s nicht, der’s geschah. 

Die Möglichkeit der unbewußten Identifizierung wurde noch durch 
ein anderes Stück Schicksalsgemeinschaft verstärkt. Sie war durch die 
Art der Reaktionen der Umwelt gegeben, als wir versuchten, ihr eine 
Vorstellung von den neuen Erkenntnissen zu geben, die uns geschenkt 
worden waren und die wir doch erworben hatten. Sie war gegeben 
durch den Spott und die abfällige Kritik, die wir zu spüren bekamen, 
die Isolierung, in die wir uns gedrängt sahen, die Erfahrungen, die 
uns bestimmt waren, wenn wir an die innere Aufrichtigkeit und an 
den Mut der Zeitgenossen appellierten. Wie wir dann im vertiefteren, 
psychologischen Verstehen der Bedingtheiten des eigenen Lebens und 
vieler fremder Leben die schicksalhafte Rolle der Psychoanalyse er- 
kannten, wie wir dazu gelangten, mit dem analytischen Wissen frei zu 
schalten, „als wär’s ein Stück von mir“, wie sich dieses Wissen immer 
eindringlicher als ein wesentlicher Lebensinhalt erwies, der Schmerzliches 
und Beruhigendes, Tragisches und Trostvolles in sich schloß, jedenfalls 
aber eine seltsame Klarheit über sich und -die anderen schaffte — auch 
das erklärt die Möglichkeit einer Identifizierung. Es war die aufs 
Äußerste abgekürzte und abgemilderte, sozusagen die Liliput-Ausgabe 
jenes fremden Erlebens, das hier zum eigenen wurde und uns manches 
Verschlossene im Ich verstehen lernte. Man begreift nur den Geist, 
dem man gleicht, begreift ihn um so tiefer, je mehr man ihm 
gleicht. . 

Dies alles bezeichnet Züge eines anderen Charakters des unbewuß- 
ten Identifizierungsvorganges, der vorschreitenden Verinnerlichung — 
Merkmale, die jenem großzügigen Kritiker nichts bedeuten. Von der Stufe, 
die Äußerlichkeiten nachahmt, führt ein langer, in seinem Hauptteile 
uneinsichtiger Weg zu jener anderen, in der die Ziele des „Anderen“ 
angestrebt werden, weil sie als eigene gefühlt werden. Von der An- 
eignung der Art, wie er sich räuspert und wie er spuckt, geht ein 
Weg bis zur gleichen, unbewußten inneren Anforderung an das Ich, ein 
Weg, der eine seelische Entwicklung entscheidender Art bezeichnet. An 
seinem Ende gibt es einen Punkt, an dem die Unterscheidung, was 


— 516 — 





dem Objekt der Identifizierung und was dem Ich zugehört, fast alles 
von ihrer Bedeutung verloren hat. 

Der Talmud entscheidet, Moses sei, vom Sinai kommend, von Gottes 
Geist so erfüllt gewesen, daß er mit Recht den Kindern Israels hätte 
sagen dürfen: „Ich habe euch die Lehre gegeben.“ Ein chassidischer 
Rabbi wurde einmal von seinen Schülern befragt, wie diese Schrift- 
stelle zu verstehen sei. Er antwortete mit einem schönen Gleichnis: 
ein Kaufmann sollte eine Reise machen. Er nahm sich einen Gehilfen, 
der ihn in der Zwischenzeit vertreten sollte, und stellte ihn in den 
Laden; er selbst hielt sich zumeist in der angrenzenden Stube auf. 
Von da aus hörte er häufig, wie der Gehilfe einem Käufer sagte: „So 
billig kann es der Herr nicht geben.“ Der Kaufmann beschloß, er 
könne noch nicht auf seine Reise gehen. Im zweiten Jahr hörte er in 
derselben Situation den Gehilfen manchmal sagen: „So billig können 
wir es nicht hergeben.“ Noch immer meinte der Kaufmann, seine 
Reise verschieben zu müssen. Im dritten Jahr endlich hörte er aus 
dem Nebenzimmer, daß der Gehilfe einem Kunden sagte: „So billig 
kann ich es Ihnen nicht geben.“ Nun konnte er beruhigt die Reise 
antreten. 


II 


Wenn einmal eine ausführliche Biographie Freuds geschrieben sein 
wird, eine in die Einzelheiten gehende Geschichte seiner stummen 
Kämpfe und des erbitterten oder dumpfen Kampfes der Umwelt gegen 
die Psychoanalyse, dann wird man erkennen, daß dieses Leben ein 
im schönsten Sinne heroisches war, daß sein Abstand von dieser Zeit 
annähernd der zwischen Beethovens Eroica und einer Jazzoperette ist. Nur 
der geringste Teil seiner gedanklichen Arbeit liegt in den Sätzen seiner Ge- 
sammelten Schriften, ihr größerer ging in den Pausen zwischen den 
Bemühungen am lebendigen Objekt vor sich, bestand im Ringen um 
eine Wahrheit, die schwerer gefaßt und schwerer erfaßt werden 
konnte als andere, weil alles in uns selbst sich gegen sie sträubt, weil 
sich die stärksten Kräfte des Ichs gegen sie wehren, weil Erziehung und 
gewohnte Anschauung, Überzeugungen und Ideale ihr aufs heftigste 
widerstreben. Hier ist ein Heldenleben, das nicht weniger Siege kennt 
als das lärmendere des Kriegers, das nichts Geringeres überwindet als 


— 517 — 





> 


die Tapferkeit legendärer Gestalten, die mit Riesen und Fabelgetier ge- 
kämpft haben. 

Es ist heute beliebt geworden, die Haltung eines engeren, psycho. 
analytischen Kreises, der bekanntlich in seiner einseitigen, in wissen- 
schaftlichen Begriffen beschränkten Einstellung verharrt, von der eines 
größeren Kreises von Intellektuellen, die der Analyse gegenüber eine 
freiere Stellung besitzen und denen sie angeblich weitere Perspektiven 
bedeutet, zu unterscheiden. Gewiß wird in jenen Zirkeln, die so viele 
lebhafte Interessen hegen, die Lebensarbeit Freud „voll und ganz“ ge- 
würdigt, aber natürlich von einer höheren Warte aus als sie einem 
„Vereinsanalytiker‘“‘, einem Freud-Schüler erreichbar wäre. Immerhin 
ist es leichter, einen Weg wie den Freuds von so hoher Warte aus 
voll Wertschätzung zu überschauen, als ihn mitzumarschieren. Ein 
Kritiker schrieb einmal über eine bestimmte Gruppe von Beethoven- 
biographen: „,‚Durch Nacht zum Licht!‘ das kann jeder sagen.“ 

Wir, die wir uns stolz und bescheiden Freud-Schüler nennen, glauben 
die Tragweite der Psychoanalyse besser zu verstehen als Andere, nicht 
weil wir Freud näher standen, sondern weil wir das Beste unseres 
eigenen Lebens derselben schweren Arbeit, derselben schweren Auf- 
gabe widmeten. In dem immer wieder erneuten Kampf Freuds um dieses 
Stück Erkenntnis und in dem Kampf für diese Erkenntnis liegt eine 
gigantische Arbeit, deren Ausmaß, deren Mühen, deren Leid und deren 
Glück wir, die wir neben Freud, mit Freud gearbeitet haben, besser 
abschätzen können als Andere. 

In diesem unablässigen Ringen ist ein Vorbild enthalten für die jetzt 
heranrückende Generation — soweit ihr Interesse nicht in jenem anderen 
Ringen zwischen vier gespannten Seilen aufgeht. Hier spricht sich eine 
Lehre aus, die nicht gelehrt, die nur gelebt werden kann, wie so vieles, 
das wir Schüler bei Freud gelernt haben, wie so vieles, das wir ihm 
verdanken, ohne es ihm je danken zu können. 

Es ist dieselbe Lehre, die etwa vor einem Jahrhundert ein anderer 
Wahrheitsforscher dem Enkel als beste Einsicht seines langen Lebens zu 
geben hatte. Der kleine Walter von Goethe brachte an einem Apriltage 
des Jahres 1825 dem geliebten Großvater ein Stammbuch. Vermutlich 
hatte seine Mutter, die lebhafte und heitere Ottilie, den kleinen Jungen ge- 
schickt: der Allverehrte sollte auch einen Spruch zu Walters siebentem 


Ss — 


























































































































Geburtstag einschreiben. Manche Dame, mancher Herr der Weimarer 
Hofgesellschaft hatte sich dort mit eigenen oder fremden Aussprüchen 
eingezeichnet. Da hatte etwa die Frau Hofmarschall- von Spiegel einen 
jener melancholisch-geistreichelnden Sätze Jean Pauls, den sie besonders 
verehrte, niedergeschrieben:: „Der Mensch hat hier dritthalb Minuten: eine 
zu lächeln, eine zu seufzen und eine halbe zu lieben, denn mitten in 
dieser Minute stirbt er.“ In dem sechsundsiebzigjährigen Dichter, der 
das Buch sinken ließ, hatte sich ein entschiedenes Widerstreben beim 
Lesen dieses Ausspruches geregt. Etwas in ihm sträubte sich gegen das 
Unwahr-Rührselige, das ihn daraus anwehte, gegen diese Art der Lebens- 
auffassung, die den Inhalt des menschlichen Daseins in Lächeln und 
Seufzen und sanftem Lieben sah. Dem inneren Protest gegen die senti- 
mentale Weisheit des Satzes nachgebend, griff er zur Feder. Nachdenk- 
lich und zärtlich streifte sein Blick den kleinen Jungen an seiner Seite. 
Und während noch das Wort Jean Pauls, die Sentenz mit der Minuten- 
Einteilung, in ihm nachklang, schrieb er in seiner schrägen, schon ziemlich 
zittrigen Schrift, die etwas frei und freigebig Verströmendes hatte: 


„Ihrer sechzig hat die Stunde, 
Ihrer tausend hat der Tag; 
Söhnchen, werde dir die Kunde, 
Was man alles leisten mag.“ 


INN 


Die redaktionelle Zusammenstellung dieses Heftes erfolgte unter dem Eindruck 
der Verleihung des Goethe-Preises. Aus Raumgründen mußten wir die Beiträge, 
die sonst für dieses Heft bestimmt waren, für das nächste Heft zurückstellen. 
So mußte leider auch Fortsetzung und Schluß der Studie von Karl B achler 
über Strindberg verschoben werden, ebenso die Veröffentlichung eines 
Nachtrags von Albrecht Schaeffer zu seinem Aufsatz „Der Mensch und das 
Feuer“. 


INNEN 


Eigentümer und Verleger : 
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H., Wien, 1., Börsegasse 11 
Herausgeber: Adolf Josef Storfer, Wien, l., Börsegasse ı1 
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. Editha Sterba, Wien, VI., Mariahilferstraße 71 
Druck: Johann N. Vernay A.-G., Wien, IX., Canisiusgasse 8-10 


= Ale 





4 





EST NN NND 
SIGM. FREUD | 
Gesammelte Schriften 

11 Bände in Lexikonformat \ 

In Leinen M. 220°—, in Halbleder M. 280° — 
Prospekte auf Verlangen | 

= Internationaler Psychoanalytischer Verlag - 
= Wien, I, In der Börse : 
NG 
BUN 
= 
_ THEODOR REIK 
_ Warum verließ Goethe Friederike? | 


Gebeftet M. 6 -, in Leinen M, 8'- 


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PHILIPP SARASIN | 
Goethes Mignon | 


Gebeftet M. 2:60, in Leinen M. # - 


Internationaler Psychoanalytischer Verlag 
Wien, IL, In der Börse 


SAUNA 


5 NN 


































































































‚Die psychoanalytische Bewesung“ 


Erscheint zweimonatlich 


Herausgegeben von A. J. Storfer 


Im I. Band (Jahrgang 1929) 


erschienen unter anderem folgende Beiträge: 


Richard Behrendt. Das Problem Führer und Masse und die Psychoanalyse 


EwaldBohm.... 


H. Cornioley.. 
M. Eitingon... 


S.Ferenazi ..:. 


G.H. Graber. 
E. Hitschmann 


Die Psychoanalyse auf der Weltkonferenz für Or in 
Helsingör 
. Sexualsymbolik in der „Frommen Helene“ von Wilhelm Busch 


. Ansprache in Oxford 


Männlich und Weiblich. Über die Genitaltheorie und über sekun- 
däre und tertiäre Geschlechtsunterschiede 


- . Geburt und Tod 
. Knut Hamsun und die Psychoanalyse 


W.Jensen (fıgıı) Drei unveröftentlichte Briefe an Sigm. Freud 


Enese Jones... 


Thomas Mann... 


Wilhelm Reich.. 
Theodor Reik 
Hanns Sachs . 
E. Sterba 


A. Winterstein. 
. Le grand amour 
H Zulliger.. 
Arnold Zweig ... 


Fritz Wittels 


Die Insel Irland. Ein ner Beitrag zur politischen 
Psychologie 

Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte 

. Die Stellung der Psychoanalyse in der Sowjetunion 


. Anspielung und Entblößung 
. Zur Psychologie des Films 


Pflastersteine. Zwangsgewohnheiten auf der Straße 
Das Problem des Kunstwerks bei Freud 
Sexualsymbolik bei Naturvölkern 

Motorisches Erleben im schöpferischen Vorgang 


„Hysterie infolge Verdrängung ethischer Regungen“ 
Freud und der Mensch 


Askese und Sadomasochismus — Psychoanalyse im Schlafwagen — Zu Freuds Deutung der Cordelia- 
gestalt — Ackerbau und Sexualsymbolik — Vom Ekel — Erotik und Reklame — Psychoanalyse bei 
psychischer Impotenz — Abstinenz, Coitus interruptus und Angstneurose — Das Stabilitätsprinzip in 
der Psychoanalyse — Neue Literatur über dan Traum — Kevelaar über Psychoanalyse — Karl Kautsky 
und der Odipuskomplex — Bolschewistische Kritik an Freud — Der Gegensatz von Arzt und Volk 
— Psychoanalytische Heilung und christliche Bekehrung — Marcel Pr&vost und die Psychoanalyse — 


usw. 


„Preis des I. Jahrg. (1929) in Halbledereinband : Mark 10°60 





„Die psydoanalytishe Bewegung”, II. Jg., Heft 5, Sept.-Okt. 1930 








Seite 

Goethe-PreiE 71930. 5... ugs ea ae neee. e e N e 417 
Brief, von’ Alfons -Paquel an.Sızm., Freud ar aueh. 0 ee 417 
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Sigm. Freud : Ansprache im Frankfurter Goethe-Haus . ». 2... 222 2.. 421 j 
Alfons Rande: Zum; Goethe=Preis-1980% eas Jena. ur 2 na a ee 426 
ra Waller, Goetheund Breude 3. re, ae ne ei, AL 
Walter Muschg -. Freud:als: Schriftsteller . .. Na a Bee. 467 
Freuds Sprache (Hermann Hesse, Hugo Ignotus, Werner Adelis) . . ::. 2. 2... 510 
Theodor. Rak > Wir Fretid-Schüler 4... 0 ee 512 


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Ill 
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Das vorige Heft (Heft 4) enthielt u. a. folgende Beiträge: 


Eduard Hitschmann . . Psychoanalyse und Biographik 

v. Oppeln=Bronikowski . Eros als Schicksal bei Friedrich dem 
Großen und bei Stendhal 

Edgar Krebs . . . . . Das Unbewußte in den Dichtungen 
Conrad Ferdinand Meyers 

Angel Garma . . . . Eine obszöne Gebärde der hl. Teresa 

A. Endtz . . . 2... Die Hinrichtung des Damiens 

Otto Flake . . . . . Ein elementares Jahrhundert 

Karl Bachlee . . . . . August Strindberg 

Rene Laforgue . . . . Ein Traum Baudelaires 

Max Deri . . . . . . Caligula 


Das nächste Heft (Heft 6) erscheint Ende November 


INRUNUUDAUNUDNRUUUNNUNDN 





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NENNT 


Prospekte über psychoanalytische 
Literatur sendet auf Verlangen: 
Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag, Wien, I., Börsegasse 11