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Full text of "Psychoanalytische Bewegung V 1933 Heft 2"

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März-April 1933 Heft 2 
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Erscheint zweimonatlich 
MINIMIEREN 


Eduard Hitschmann Brahms und die Frauen 


| Edmund Bergler ade Zur Psychologie des 


ynikers 


| | Ignaz Feuerlicht . . Analyse des Idyllischen 


| Richard Sterba ee F reuds Neue Folge der 


Vorlesungen 


Eduard Glover Pe Das Institut zur wissen= 


schaftlichen Behandlung 
der Kriminalität, London 


und andere Beiträge 


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Preis des Heftes Mark 2- 





„Psychoanalytische Bewegung“ 
Erscheint zweimonatlich 
Schriftleiter: Dr. Eduard Hi 










tschmann 


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Psychoanalytısche 
Bewegung 





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Y. Jahrgang März sApril 1933 Heft 2 
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Johannes Brahms und die Frauen 
Von 


Eduard Hitschmann 


Motto: 
„Aber, was sollte aus aller geschichtlicher Forschung und allen Biographien 
werden, wenn sie immer mit Rücksicht geschrieben würden“. 


Brahms an Clara Schumann 

Wir müssen uns eingestehen, daß die Musiker über eine 
Geheimsprache verfügen, durch die sie ihr Inneres ausdrücken 
können, ohne allgemein verstanden zu werden. Mögen sie gerade 
aufgelegt sein sich zu verhüllen oder zu enthüllen, beides mag 
ihnen gelingen. Es bleibt oft ein großer Spielraum für die 
„Deutung“ eines musikalischen Produktes: „Legt ihr’s nicht 
aus, so legt was unter“. (Goethe.) 

Gerade unter den großen Musikern finden wir verschlossene, 
sonst schweigsame, einsam schaffende Persönlichkeiten, bei denen 
eine Anzahl von Umständen uns beweisen, daß sie sich der oft 
früh in häuslicher Tradition erlernten musiktechnischen Sprache 
aus tief innerem Bedürfnis bedienen, um über innere Konflikte 
und Stimmungen Herr zu werden. 

Wenn wir hören, mit welch tiefer seelischer Erschütterung, 
unter Tränen heulend, z. B. Brahms zuweilen komponiert hat, 
wie leicht ihm auch sonst beim Musizieren die Augen naß 
wurden, so beginnt uns sein sonst so gern verhülltes Innen- 
leben sehr zu interessieren und wir werden, wenn wir uns 

















PSYCHOANALYTIC 


PaA. Bewegung V u u ' INTERNATIONAL 


UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 


























auch den fachlich geschulten Deutern . seiner Kompositionen 
nicht verschließen werden, doch auf die anderen Quellen eines 
Verstehens seiner Persönlichkeit nicht verzichten. . 

Diese unsere kleine Arbeit beabsichtigt nicht, musikalische Be. 
lehrung irgend einer Art zu bringen, sondern geht wieder 
einmal den Weg des Spezial-Schürfrechtes der Psychoanalyse, 
indem sie das sonst von den Biographen so gern ‚vernachlässigte 
Liebesleben eines großen Künstlermenschen näher. betrachtet, 
Das Ziel ist, im Junggesellentum Brahms ein typisches 
seelisches Phänomen näher zu untersuchen und, da sich eben 
sein hundertster Geburtstag gefeiert findet, einen Baustein zur 
Wertung seiner Persönlichkeit mit heranzutragen. Hat er 
doch selbst seine Ehe- und Kinderlosigkeit, seine gezwüngene 
seelische Einsamkeit, über deren Ursachen er durch Rationali- 
sierungen sich selbst täuschte, als das Unglück seines Lebens 
bezeichnet, als den Kummer erkannt, der an ihm fraß und der 
ihn oft so schroff und ungerecht ‘erscheinen ließ, wenn Ent- 
täuschung und Neid ihr Haupt in ihm erhoben. 

Wir bezeichnen Hagestolz- und Altjungfern-Schicksal lieber 
mit dem Namen Ehehemmung, der besagt, daß Ledigbleiben 
ein Ausnahmsschicksal bedeutet, das, von. seltenen objektiven 
Hindernissen nicht zu sprechen, unbewußten seelischen Hem- 
mungen seinen Ursprung verdankt, die ihre Wirkung einbüßen, 
wenn sie bewußt gemacht sind. Wenn wir hier das Jung- 
gesellentum Brahms als ein Musterbeispiel heranziehen, um 
unsere psychoanalytischen Erkenntnisse darüber zu popularisieren, 
so geschieht dies nicht, um einer Reihe der viel häufigeren ruhm- 
losen Hagestolze noch den richtigen Weg zu weisen, sondern ' 
um für die nicht so seltenen Ehegehemmten unter den großen 
Männern generelle Wahrheit mitzuteilen. 

Dem Zusammenhang zwischen Ausleben oder Sublimieren der 
erotischen Triebe und — künstlerischer Produktionskraft, diesem 
komplizierten Thema, gehen wir aus dem Wege und lassen 
nur zwei Künstlermenschen sich hier äußern. 

»Wir brennen nach innen“, hat ein Dichter für viele andere 
gesagt; sie machen sozusagen aus der Not eine Tugend, ein 


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Vorgang, der natürlich ganz unbewußt vor sich geht. Anders 
hat es wohl auch Nietzsche nicht gemeint in seinem Fragment 
zur „Psychologie der Kunst“: „Keuschheit ist bloß die Okonomie 
eines Künstlers. Es ist ein und dieselbe Kraft, die man in der 
Kunstkonzeption und die man im geschlechtlichen Akt ausgibt. 
Es gibt nur eine Kraft“. 

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Brahms stammte aus armem Hause und seine Jugend stand 
unter dem Druck der kleinen Verhältnisse‘, aber sein späteres 
Leben müßte als ein glückliches bezeichnet werden: sein musi- 
kalisches Genie war früh von Erfolg begleitet, er fand rechtzeitig 
die ausgiebigste Förderung durch hervorragende Freunde, war 
von ausdauerndster Gesundheit und erntete Ruhm und Geld. 

Trotzdem war er kein „glücklicher Mensch“, schien eher 
ein trotziger Melancholiker und bezeichnete sich selbst als 
einen „Abseitigen“. Wenn er auch in Gesellschaft anders erscheine, 
schrieb er in einem Brief, innerlich lache er nie. Auch 
sagte er von sich, er sei nie, oder ganz selten, zufrieden mit 
sich, wohl nie behaglich, sondern wechselnd vergnügt oder 
finster gestimmt. Brahms war zuweilen reizbar, streitsüchtig, 
oft schroff und verstimmt, verletzte fast alle und stieß Menschen 
weg, zu denen es ihn gedrängt hatte, denen er das Du an- 
getragen hatte. 

„Feste verlebe ich“, sagt Brahms einmal, „immer recht einsam, 
ganz allein mit wenigen T'heuren auf meinem Zimmer und 
sehr ruhig — wasmaßen die Wenigen ja todt oder fern sind. 
Wie wohl ist mir dann, wenn ich wollüstig empfinde wie die 
Liebe eine Menschenbrust ausfüllt“. Ist dies schon Resignation 
später Jahre, so schrieb Brahms doch schon mit 30 Jahren 
nieder: „Ich war allezeit ein Mensch fürs Kloster — es gibt 
nur nicht die passende Sorte“. 

















ı) Brahms sagte einmal zur Clara Schumann, daß er noch in den Knaben- 
jahren stehend Eindrücke empfangen, Dinge gesehen, die einen düsteren 
Schatten auf seinem Gemüte hinterlassen hätten. 


— 99 — 7= 





















































7 


Wir dürfen aber gar nicht erwarten, daß die Äußerungen 
Brahms’ über sich selbst zahlreich wären, denn er. war ein über. 
aus verschlossener Mensch. So heißt es im Tagebuch der Clara 
Schumann: „wir hatten uns mal wieder ausgesprochen, soweit 
dies mit ihm möglich ist“ und an anderer Stelle: „Ich vermisse 
wie immer einen inneren Austausch“. Und im Jahre 1880 sagte 
Clara Schumann zu Kalbeck: „Werden Sie es mir glauben, daß 
Johannes trotz unserer langen und intimen Freundschaft nie. 
mals von dem gesprochen hat, was sein Gemüt bewegte? Er 
ist mir heute noch so rätselhaft, ich möchte fast sagen, so fremd, 
wie er mir vor fünfundzwanzig Jahren war“. 

Wir sind daher schon an dieser Stelle genötigt, den Fach- 
leuten die Frage vorzulegen, ob in den Kompositionen, ihren 
Themen oder Texten vielleicht das intime Gefühlsleben des 
großen Musikers zum Ausdruck kommt, und wir auch hier jene 
traurigen Gefühlslagen antreffen. 

„Nur in der Musik sprach er aus, was ihn bewegte“, sagte 
Kalbeck. Und Specht findet Brahms trotz aller schamhaften Ver- 
haltenheit „beredt bis zur seelischen Entblößung in seinen Tönen 
und in den von ihm gewählten Dichtungen“. „Die Gedichte, 
die er vertont, sind lauter Geständnisse; die Werke sind das 
beredte Tagebuch dieses in Einsamkeit gesegneten Daseins“, 
Kalbeck hatte einmal Gelegenheit, Brahms beim Ausarbeiten 
eines Klavierwerkes zu behorchen: Brahms winselt und stöhnt 
und heult laut wie ein Hund. Kalbeck findet ihn dann ein wenig 
verlegen sich mit der verkehrten Hand die Augen wischend — 
er mußte heftig geweint haben, denn die hellen Tropfen hingen 
ihm noch am Bart. 

Als Julie Schumann, eine ihm besonders liebe Tochter Claras, 
sich verheiratete, schien Brahms traurig enttäuscht. Nach 
der Hochzeit brachte er der Mutter eine Komposition 
voll Schmerz in Text und Musik‘). Er nannte sie seinen 
Brautgesang. Clara schreibt darüber in ihr Tagebuch: „Ich 
kann dieses Stück nicht anders empfinden als wie die Aussprache 


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ı) Rhapsodie für Altsolo, Männerchor und Orchester, Op. 53 





— 100 — 






seines eigenen Seelenschmerzes. Spräche er doch ein Mal nur 
so innig in Worten“. 

Aber auch sonst wollen die Kenner immer wieder Schmerz 
und ungestillte Sehnsucht aus den Werken Brahms heraushören ; 
so heißt es z. B. irgendwo: „aus den erschütternden Tönen der 
Rhapsodie, des Schicksalsliedes, der C-Moll-Symphonie und den 
vielen dämmerzarten, wie von ungeweinten tränenschweren 
Zwischensätzen seiner Kammermusik, in denen er sich frei- 
zuatmen scheint, und in denen man sein wundes Herz in un- 
gestillter Sehnsucht pochen hört“. 


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* 


Brahms Seelenleben war von früh an erfüllt von Musik, Sie 
kam vonseiten des Vaters in sein Leben, der ein tüchtiger 
Musikant war und die ungewöhnliche musikalische Begabung 
seines Johannes früh erkannte; er führte ihn tüchtigen Lehrern 
zu. Man muß sich den Knaben, der auch sonstiges Bildungs- 
streben aufwies, ganz von Musikehrgeiz erfüllt denken, durch 
Identifizierung mit dem Vater angeregt, aber über ihn hinaus- 
strebend, schon in jungen Jahren komponierend. Der erste Ein- 
druck, den er machte, als er in die Welt trat, war der einer „Natur, 
wie sie nur in der verborgensten Zurückgezogenheit sich in 
vollster Reine entwickeln konnte; rein wie Demant, weich wie 
Schnee‘ (Joachim). Clara Schumann beschrieb ihn in ihrem 
Tagebuch als weit hinaus in seiner Bildung und andernteils 
wieder so ganz kindlich in seinen Empfindungen. Eine Dame 
schildert den Eindruck, wie folgt: „Blond, anscheinend zart und 
doch im 20. Lebensjahr schon durchgearbeitete Züge, obgleich 
rein von aller Leidenschaft. Reinheit, Unschuld, Natur, Kraft 
und Tiefe — das bezeichnet sein Wesen... Und zu aller 
dieser freien Kraft ein dünnes Knabenstimmchen, das noch nicht 
mutiert hat, und ein Kinderantlitz, das ein jedes Mädchen ohne 
Erröthen küssen könnte...“ Bülow nannte ihn eine „kandide 
Natur“. 1853 heißt es über ihn: „die Reinheit und Sicherheit 
seines Wesens bürgt dafür, daß diesem Menschen die verdor- 
bene Welt nichts anhaben kann“. Schumann nannte ihn „einen 





— 101 — 









































der schönsten und genialsten Jünglinge“, Hanslick den Zwei. 
undzwanzigjährigen „einen Jean Paulschen Idealjüngling“. 

Sein Jugendbildnis mit den Haaren in langen Strähnen, macht 
einen femininen Eindruck, die hohe Stimme verblieb. Wenigstens 
in unbedachten oder erregten Momenten schlug der spröde 
Knabenklang immer wieder durch, erzählt Specht und fügt hin. 
zu, daß Bemühungen, der widerspenstigen Stimme eine künst. 
liche Männlichkeit abzuzwingen, nicht viel halfen. 

Als der zwanzigjährige Brahms zu Schumanns kam, hatte er 
von einer unschuldigen Primanerschwärmerei abgesehen, noch 
nie geliebt. Hier begegnete er der Frau, die er später als den 
„einzigen Menschen“ bezeichnete, den er „wirklich 
geliebt habe“. 


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Männer von überlegener Tüchtigkeit in der Musik waren 
Brahms in seinen Lehrern Cossel und Marxen begegnet, später 
traf er mit dem Geiger Remenyi, mit Joachim, Liszt u. a. zu- 
sammen, aber zum Schicksal sollte ihm erst die Begegnung mit 
dem Künstlerehepaar Robert und Clara Schumann werden. Nach 
vielen Jahren schrieb er an Clara: „Dir aber will ich heute 
wiederholen, daß Du und Dein Mann mir die schönste Er- 
fahrung meines Lebens sind, seinen größten Reichtum und 
edelsten Inhalt bedeuten.“ Der Weg zu den Frauen führte bei 
Brahms über den musikalischen Gatten, so auch später bei Eli- 
sabet von Herzogenberg, oder doch über deren Stimme, deren 
Gesang. Dem Zauber eines schönen, musikbegabten Mädchens 
konnte er nicht widerstehen, und eine schöne dunkle Stimme, 
wie die der Hermine Spieß, tat es ihm noch an, als er die 
Fünfzig schon überschritten hatte. 

Im September 1853 tritt Brahms zum erstenmal vor Robert Schu- 
mann, der ihm außer aufrichtiger Bewunderung seiner Kompo- 
sitionen und seines Klavierspieles eine persönliche Sympathie 
entgegenbringt, die wiederholt auch Brahms’ körperliche Schön- 
heit hervorhebt. Schumann zeigt schon um diese Zeit die 
ersten Andeutungen seiner Geisteskrankheit, u. a. Gehör- 


— 102 — 






täuschungen, und lebt in dem Wahn, Zwiesprache mit den 
höheren Mächten halten zu können. 

Des jungen Brahms’ geniale Begabung durchschaute er sofort, 
lud ihn ein, bei ihnen länger zu wohnen und führte ihn prei- 
send seiner geliebten Frau zu. Brahms lebte wie ein Kind im 
Hause. Er hatte sozusagen neue, erhöhte Eltern gefunden: es 
ist wie die Erfüllung eines Märchens ! Namentlich Clara, welche 
die „hohe Künstlerin so harmonisch mit dem vorzüglichen Haus- 
mütterchen zu vereinigen wußte“ (Kalbeck), mußte tiefen Ein- 
druck machen : Mutter, Dame, Künstlerin vom höchstem Ver- 
ständnis in einer Person! 

Schumann wurde gleichsam der Schöpfer seiner Existenz, 
denn er schrieb damals jene enthusiastische Ankündigung des 
neuen jungen Genius Brahms, „an dessen Wiege Grazien und 
Helden Wache hielten“, (‚Neue Zeitschrift für Musik“) und brachte 
die beste Förderung beim Verleger, wodurch sein Ruhm rasch 
zunahm. Wenige Monate darauf aber begeht Schumann in 
einem Wahnsinnsanfall einen Selbstmordversuch und kommt 
in die Irrenanstalt, die er nie mehr verlassen soll. Der junge 
Brahms eilt nach Düsseldorf zur tiefst erschütterten Clara und 
steht ihr in diesen schweren Zeiten bei. 

Von diesen Tagen aus nimmt jene eigenartige Beziehung 
ihren Anfang, die das Leben des aufstrebenden Jünglings mit 
der um 14 Jahre älteren Frau, Mutter von sieben Kindern, für 
ihr ganzes Leben verbinden wird, allerdings mit wechselnden 
Obertönen. Das treue Verhalten der Gattin und des dankschul- 
digen Freundes zu Robert Schumann gibt dieser Freundschaft 
zunächst die Weihe. In Brahms begleitet Clara wieder einen 
schaffenden Künstler auf Schritt und Tritt, er „streut ihr‘ wie 
sie sagt, im „täglichen, stündlichen Verkehr künstlerische An- 
regung edelster, höchster Art gleich kostbaren Perlen auf den 
Weg“. 

Die weltberühmte Klaviervirtuosin Clara ist oft auf Kunst- 
reisen, Brahms berichtet dann über die Kinder zuhause; ein 
Briefwechsel beginnt, der zeitlebens fortgesetzt wird, wenn man 
nicht beisammen ist. Aus diesem Briefwechsel ist die Vertiefung 


— 103 — 


















































der Beziehung bis zur tiefsten Verliebtheit des 
Mannes gar deutlich zu erkennen. 

Schon im Jahre 1854 kommt es zum Nennen beim Vornamen 
und Du — „Liebe ich ihn doch wie einen Sohn so innig“ 
(Tagebuch) — und Brahms verwendet, um nicht selbst die 
heißen Worte auszuwählen, einen Brief aus 1001 Nacht: „Dein 
Brief, o Herrin, ist angekommen und hat Balsam in eine von 
Sehnsucht und Verlangen gequälte Seele geträufelt und Heilung 
einem zerrissenen und kranken Herzen gebracht“. 

Im Jahre darauf heißt es in Brahms Briefen: „Was haben 
Sie mir angetan, können Sie den Zauber nicht wieder von 


mir nehmen? .... Viel habe ich auch von Ihnen geträumt 
und Schönes ..... Ich küsse die Jungen immer als von Ihnen, 
aber ich möchte Ihnen die Küsse auch wiedergeben! ... Jedes 


Wort reut mich, das ich an Sie schreibe und das nicht von 
Liebe spricht. Sie haben mich gelehrt und lehren es mich 
täglich mehr erkennen und anstaunen, was Liebe, Zuneigung 
und Hingebung ist. . .“ 

1856: „Nicht wahr, Geliebte (oder gel. Freundin) ich bin ein 
artig Kind?“. . . „Wirf nicht ein schönes Hutband oder dergl. 
weg, sondern gib mir’s. Ich lege es um Deine Briefe oder sonst 
Liebes. Oder gebrauche es als Lesezeichen.“ . 

1856: „Ich möchte, ich könnte Dir so zärtlich schreiben, wie 
ich Dich liebe, und so viel Liebes und Gutes thun, wie ich 
Dir’s wünsche. Du bist mir so unendlich lieb, daß ich es gar 
nicht sagen kann. In einem fort könnte ich Dich Liebling und 
alles Mögliche nennen, ohne satt zu werden, Dir zu schmeicheln. 
Wenn das so fortgeht, muß ich Dich später unter Glas setzen 
oder sparen und in Gold fassen lassen.“ 


1876 beim Tode ihres Sohnes Felix : „Laß Dir diese ernste 


Liebe auch etwas Tröstliches sein — ich liebe Dich mehr als 
mich und irgend wen und was auf der Welt.“ 

Brahms Briefe, in denen er seine Liebe so offen eingesteht, 
sind für uns ein wichtiges Dokument, obwohl der Briefwechsel 
nur einen Torso repräsentiert, denn im Jahre 1886 verabrede- 
ten Clara und Johannes den Austausch der Briefe. Brahms 


— 104 — 











b Clara die ihrigen zurück, ohne sie wieder gelesen zu haben, 
und sie vernichtete dieselben, aus den Jahren bis 1858. Brahms 
versenkte die zurückerhaltenen auf einer Rheinfahrt in den 
Strom. Aber Clara hatte eine Anzahl ihr besonders lieber Briefe 
zurückbehalten dürfen. Man muß wohl annehmen, daß Ten- 
denzen des Verbergens bei der Vernichtung wesentlich mit- 
gespielt haben. 

Daß Brahms damals für Clara Schumann in idealem Sinn 
ein Ersatz für den Gatten war, wieder ein Mann, dessen Kunst 
sie miterleben, reproduzieren, auch kritisieren sollte und an- 
preisen, ist klar sichtbar. So schreibt sie ihm 1858: „Daß ich 
oft mächtig erfaßt werde von Deinem reichen Genius, daß Du 
mir immer erscheinst als Einer, auf den der Himmel seine 
schönsten Gaben herabgeschüttet, daß ich Dich liebe und verehre 
um so vieles Herrlichen willen. . .“ 


Uns ist es aber hier in erster Linie um die Charakterisierung 
von Brahms’ Gefühlen zu tun, die offenbar eine Zeit lang nur 
als echte erotische Liebe aufzufassen sind. Tatsächlich 
sprach er selbst von seinem Klavierquartett in C-Moll es aus, 
daß der erste Satz eine Illustration zum letzten Kapitel von 
dem Mann im blauen Frack und der gelben Weste sei (Goethes 
Werther). Kalbeck nennt die Zeit von 1854—1856 Brahms’ 
Wertherzeit, der er ein musikalisches Denkmal im Allegro des 
Quartettes Op. 60 gesetzt habe. 

Die Biographen sprechen auch von Anfechtungen Claras; 
einer meint: Sie haben sich lange nebeneinander hingequält ; 
aber dann muß es eine Stunde gegeben haben, in der sie sich 
leidenschaftlich und selbstvergessen in die Arme gestürzt sind. 
Aber dies ist kaum zu beweisen." 

Wie dem immer sei, es ist wohl anzunehmen, daß schon die 
Erinnerung an Schumann hemmend gewirkt hatte. Was aus 
dieser Liebe Brahms’ wurde, ist etwas Einzigartiges: Freund- 
schaft verbunden mit Resignation auf Liebe. Jedenfalls war es 


ı) Man bleibt hier im Unklaren, wie bei Goethe und Frau von Stein. 
Ob nichts oder Flüchtiges, Enttäuschendes vorging, hat die gleiche Bedeutung. 


—- 15 —: 











die einzige dauernde und große in diesem Meisterdasein, hat 
auf seine ganze Existenz und nicht nur im Hinblick auf seine 
Ehelosigkeit weitergewirkt und hat tiefe Spuren in sein Leben 
und in seine Musik gegraben. 

Dem psychoanalytisch Erfahrenen ist diese Liebe zu einer 
um 14 Jahre älteren Frau, Mutter von sieben Kindern, — sie 
war schon 14 Jahre glücklichst verheiratet, als Brahms sie 
kennen lernte — nur zu erklären als mitentspringend aus der 
unbewußten Erinnerung an die eigene Mutter. Hat er Clara doch 
in ihrem Heim als mütterliche Hausfrau zum erstenmal gesehen, 

dann wie ein Sohn dort gelebt. In einem Brief nannte er sie 
„seine liebe Frau Mama“. Als Interpretin seiner Komposi- 
tionen, als Beraterin war sie auch ein musikalischer Freund. 
Aber ihre eigentliche Anziehungskraft ging vom Mütterlichen 
aus und hier war auch das Problematische von Brahms’ Erotik 
bedingt, worüber im weiteren mehr zu sagen sein wird. 

Wir glauben nicht, daß Brahms in sexuelle Beziehung zu 
Clara getreten ist, wie es auch sein ganzes übriges Leben ihm 
nie bei einer Dame beschieden war. Die Objekte seiner Sexua- 
lität waren nur Mädchen aus dem Volk, am meisten bezahlte 
Dirnen. Hier zeigt sich jene Spaltung: auf der einen Seite wird 
edleren Frauengestalten eine erhabene Liebe und Zärtlichkeit 
mit Bewunderung zugewendet, die Sexualbefriedigung aber 
wird bei erniedrigten Objekten gesucht‘). 

Freilich hat Brahms auch andere weibliche Wesen geliebt, 
so die viel jüngere Elisabet von Herzogenberg, worüber ein 
Briefwechsel berichtet. Brahms hat diese musikalische, schöne 
Dame, deren Bild lange Jahre auf seinem Schreibtische stand, 
schon im Mädchenalter kennen gelernt, aber wies sie als 






































ı) „Das Liebesleben solcher Menschen bleibt in die zwei Richtungen ge- 
spalten, die von der Kunst als himmlische und irdische (oder tierische) per- 
sonifiziert werden. Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, 
können sie nicht lieben... Das Hauptschutzmittel gegen solche Störung, 
dessen sich der Mensch in dieser Liebesspaltung bedient, besteht in der 
psychischen Ernie drigung des Sexualobjektes, während die dem Sexual- 
Objekt normalerweise zustehende Überschätzung dem inzestuösen Objekt und 
dessen Vertretungen reserviert wird“. (Freud). 


— 106 — 





Schülerin zurück: fühlte er sich wehrlos gegen ihren Zauber ? 
Es war dann eine echt Brahms’sche unglückliche „Liebe“, ohne 
Heimlichkeit vor dem Gatten, dem Komponisten. So schrieb 
er an sie später einmal: „Das sollen Sie aber wissen und 
glauben, daß Sie zu den wenigen Menschen gehören, die man 
so lieb hat, wie man es Ihnen — da der Mann immer mitliest 
und hört, nicht sagen kann; dieser selbst gehört auch zu den 
gedachten Wenigen !“ 

Wir wollen aber nach Besprechung der Beziehung zu diesen 
beiden glücklich verheirateten Ehefrauen — den Mädchen unsere 
Aufmerksamkeit zuwenden, die Brahms geliebt hat. 

Über Agathe von Siebold ist im Jahre 1930 ein Buch er- 
schienen mit dem Untertitel: Johannes Brahms’ Jugendliebe. 
Das Liebeserlebnis währte nicht allzulange und endete damit, 
daß Brahms, von einem gemeinsamen Freund aufgefordert sich 
zu erklären, dem Mädchen schrieb: „Ich liebe Dich! Ich muß 
Dich wiedersehen! aber Fesseln tragen kann ich 
nicht!“ Dieses Eingeständnis der Unfähigkeit, zu hei- 
raten, — auch wenn er ein Mädchen liebte, als Sängerin schätzte, 
ihr Lieder widmete, ja Ringe tauschte, wie mit Agathe — 
enthält das Problem, warum Brahms ledig geblieben ist, trotz 
Sehnsucht nach Frau und Kind, ein Grundproblem dieser Arbeit. 

Brahms’ Erlebnis mit Agathe spielte im Jahre 1858 in Göttingen 
und war das tiefste, das er mit einem Mädchen hatte; sein 
Schaffen galt in dieser Zeit nur ihr. Auch Clara Schumann 
weilte einige Wochen in Göttingen und ihre Tochter Eugenie 
berichtet in ihren „Erinnerungen“ eine Szene heitersten Ver- 
steckenspielens im Garten, an dem Agathe, Clara und Brahms 
teilnahmen. Im Buche von Michelmann über Agathe wird be- 
richtet, daß Brahms eine auflehnende Bemerkung gegen seine 
Abhängigkeit von Clara machte; seine Wertherzeit war damals 
schon vorüber. Frau Schumann aber reiste, eifersüchtig durch 
Brahms’, auf glückliche Verliebtheit zurückzuführende, über- 
schäumende Ausgelassenheit — plötzlich fort. 

Brahms sagte einmal zu Agathe: „Ich kann nie heiraten; ich 
könnte es nicht ertragen, wenn meine Frau einmal darunter zu 


— 107 — 
























































leiden hätte, daß ich nicht das Beste in der Musik leiste “ 
Eine kleinmütige Äußerung, anderen analog, deren Auslegung 
uns noch beschäftigen wird. Wir wollen einstweilen nochmals 
Michelmann zitieren, der intuitiv erkannt hat: „Eine gewisse 
Angst vor dem zarten Geschlechte und der eigenen Schwäche 
schien Brahms nicht zu verlassen.“ 

Nach Angabe einer Zuhörerin soll Brahms nach Jahren zu 
einem Freund gesagt haben: „Ich habe wie ein Schuft an 
Agathe gehandelt.“ 

Man kann sich denken, daß das Mädchen, als es den Absage- 
brief bekam, tief enttäuscht war; sie sahen einander nie wieder, 
aber sie heiratete einige Jahre später ‚getröstet‘ einen angesehenen 
Arzt. 

Noch sei einer für Brahms’ Kompositionen charakteristischen 
Tatsache Erwähnung getan. Sein G-Dur-Sextett für Streich- 
instrumente stellt nämlich einen wehmütig frohen Scheidegruß 
an Agathe dar, mehr eine objektive Verherrlichung ihres Wesens, 
als eine persönliche Klage um den erlittenen Verlust (Kalbeck). 
Das Werk (Op. 36) ist Agathe gewidmet, trägt jedoch ihren 
Namen, anstatt auf dem Titelblatte, inwendig im Text: Das 
Motiv tritt nicht als leitender Gedanke des ersten Satzes auf, 
sondern klingt nur in den Noten A,G, A,(T),H,E, in das zweite 
Thema dieses Satzes hineingewebt, an. Darüber sagte Brahms: 
„Da habe ich mich von meiner letzten Liebe losgemacht !“ 
Auch Joachim war in dieses krause Spiel des Ausdrucks von Ge- 
fühlen eingeweiht. 

Flüchtiger tauchte der Ehegedanke gegenüber anderen Mädchen 
gelegentlich auf; Brahms fand z. B. ein Mädchen sehr sym- 
pathisch, wandte sich aber sofort von ihr ab, als sie von einem 
Manne zu schwärmen begann, der ihm ein Greuel war. 

Widerschein einer Herzensgeschichte ist auch das B-Dur-Sextett, 
aber, meldet Brahms: sie heiratete einen andern, einen reichen 
Mann. 

Brahms ist darum ein so beweisender Fall für die Tatsache, 
daß die Hagestolze nur wider Willen — durch unbewußte 
Hemmungen behindert — unverheiratet geblieben sind, weil 


— 108 — 








er, im Gegensatz zu vielen solchen, den Ehewunsch offen ein- 
gesteht; wo jene ihn verleugnen und sich hinter Rationalisie- 
ungen ihrer Widerstände verbergen, die irreführen. Brahms 
klagte oft genug, daß ihm mit Frau und Kind „eigentlich das 
Beste fehle“. „Der Gedanke hat etwas Schauerliches“ sagt ein Bio- 
graph, „daß der Mensch, dessen liebesbedürftiges Herz so laut 
nach Weib und Kind rief und der in einsamen Nächten vor grim- 
migem Weh in die Kissen gestöhnt und gebissen hat, damit 
keiner es höre, nie eine Geliebte wirklich sein genannt, nie die 
erwählte Frau in den Armen gehalten hat“... Und weiter: 
„Daß einer, der als Mensch und als Künstler ein Frauenlob 
voll zartester Ritterlichkeit war und der im Lied wie kein 
anderer ‚nur Liebe im Erklingen‘ kannte, mit dem Abhub vor- 
lieb nehmen muß, gehört zur Tragik seines Lebens.“ 

Als alter Mann äußerte Brahms einmal: „Wie ich die Leute 
hasse, die mich ums Heiraten gebracht haben!“ Ein Jahr vor 
seinem Tode — Clara war schon dahingegangen —: „Ist es 
denn ein Leben so allein? Die einzige richtige Unsterblichkeit 
ist in den Kindern !“ 

Auch von Brahms liegt eine ausführliche bewußte Begründung 
seiner Ehelosigkeit vor, hinter der wir die unbewußte werden 
aufdecken müssen. Die Ehelosigkeit Brahms’ hat eine ganze 
Reihe von Ursachen, die wir ergänzen werden. Seine Angaben 
an Widmann (1887) aber lauten: 

„Ich hab’s versäumt. Als ich wohl Lust dazu gehabt hätte, 
konnte ich es einer Frau nicht so bieten, wie es recht gewesen 
wäre... in der Zeit, in der ich am liebsten geheiratet hätte, 
wurden meine Sachen in den Konzertsälen ausgepfiffen oder 
wenigstens mit eisiger Kälte aufgenommen. Das konnte ich nun 
sehr gut ertragen, denn ich wußte genau, was sie wert waren 
und wie sich das Blatt schon wenden würde. Und wenn ich 
nach solchen Mißerfolgen in meine einsame Kammer trat, war 
mir nicht schlimm zu Mute. Im Gegenteil! Aber wenn ich in 
solchen Momenten vor die Frau hätte hintreten, ihre fragenden 
Augen ängstlich auf die meinen gerichtet sehen und ihr hätte 
sagen müssen: ‚Es war wieder nichts‘ — das hätte ich nicht 


— 109 — 






























































ertragen! Denn mag eine Frau den Künstler, den sie zum 
Manne hat, noch so sehr lieben und auch, was man so nennt: 
an ihren Mann glauben — die volle Gewißheit eines endlichen 
Sieges, wie sie in seiner Brust liegt, kann sie nicht haben. Und 
wenn sie mich nun gar hätte trösten wollen... Mitleid der 
eigenen Frau bei Mißerfolgen des Mannes... puh! ich mag 
nicht daran denken, was das, so wie ich wenigstens fühle, für 
eine Hölle gewesen wäre.“ 

Brahms verrät hiermit keineswegs künstlerischen Kleinmut, 
aber Unglauben an große, opferfähige Liebe einer Frau zu ihm, 
einen Mangel an Vertrauen zur eigenen Persönlichkeit und 
männlichen Liebeskraft, die eine Frau bekanntlich treu, anhäng- 
lich, ja hörig machen kann. Er zeigt hier Angst vor der an- 
getrauten Frau, dem Ehestand. Wir entsinnen uns der Worte: 
Eine gewisse Angst vor dem zarten Geschlecht 
und der eigenen Schwäche. 

Die Heirat bedeutete für Brahms eine Großtat, etwas, was 
über seine Kräfte ging; so brachte er die Ehe in Parallele mit 
— dem Komponieren einer Oper! Er schrieb an Widmann: 
„Habe ich Ihnen nie von meinen schönen Prinzipien 
gesprochen ? Dazu gehört: keine Oper und keine Heirat mehr 
zu versuchen. . . So können Sie sich klarmachen, wieviel Geld 
ich spare und für eine italienische Reise übrig habe — wenn 
ich zum Sommer nicht heirate und mir keinen Operntext 
kaufe.“ Hier ist Scherz mit Ernst vermengt, doch klingt der 
Gedanke an: eine Frau kostet viel, man hat dann nichts 
übrig für eine Reise. Also der Gedanke: eine Frau ist angrei- 
fend, schädigend;; als ob eine Gattin nicht auch wohlhabend sein 
könnte, oder eine angenehme Gefährtin aufeiner Reise nach Italien. 

Ein tiefes, in seinen unbewußten Wurzeln zunächst unklares 
Minderwertigkeitsgefühl liebender Männlichkeit liegt hier vor, 
läßt die Bindung an ein weibliches Wesen beängstigend_ er- 
scheinen und alle möglichen Rationalisierungen dafür suchen. 

Daß Brahms’ Phantasie sich gerade die öffentliche Blamage und 
das entwertete Dastehen vor der Gattin als Möglichkeit in 
der Ehe ausmalt, zeigt von einem pessimistischen Phantasieren 


— 110 — 






und erinnert an ähnliche Einstellungen von Junggesellen, die 
sich ausmalen, gerade vor der Dame nicht zu bestehen. 

‚Für die einfache Magd oder Dirne bin ich geeignet mit 
meiner Schwäche,‘ heißt es etwa im unbewußten Grübeln, ‚aber 
vor einer hohen Frau kann ich mich doch nicht entblößen und 
in meiner Schwäche dastehen.‘ 

Besonders bei einem andern berühmten Hagestolz, bei Gottfried 
Keller, finden wir das blamierte, schlecht oder unbekleidete 
Dastehen vor Frauenblicken als tragisches Erlebnis und wieder- 
holten Traum berichtet. Z. B. ist der folgende "Traum des 
‚grünen Heinrich‘ besonders charakteristisch: „Indem er seinen 
nassen Hut schwenkte, fiel derselbe gänzlich zusammen und 
er hielt den übel aussehenden wie ein schlechtes Symbol in 
der Hand. So stand er denn auch gar über und über mit 
Schlamm und Kot bedeckt vor der schönen Person, die ihn 
aufmerksam betrachtete, und er schlug verlegen die Augen 
nieder und schämte sich“. 

Der sexuell Unsichere schrickt vor der Dame zurück, wenn 
er sich gerade noch traut, mit seiner Eigenheit oder Schwäche 


_ vor der Entwerteten zu bestehen. Die musikalische Blamage 


steht hier für die Blamage der Männlichkeit und ist daher 
wirklich ein Ehehindernis. 

So schwört Brahms auch, wie eben berichtet, gleichzeitig 
das Größte und Schwierigste in der Liebe und in der Musik 
ab: das Heiraten und das Komponieren einer Oper. 


* * 


* 

Steht es einmal fest, daß Brahms seine Gefühle und Sehn- 
süchte, Dank und Gedenken in seine Kompositionen verarbei- 
tete, daß seine Tagträume sich in Musik umsetzten, ja daß er 
in autistischen Gefühlsorgien erschüttert, seinen Ausdruck in der 
dunklen Sprache der Töne fand, so ist sein Bedürfnis nach 
abseits leben, nach einsamen Stunden und Spaziergängen selbst- 
verständlich. 

Finden die Werke eines Künstlers oder Dichters, von ihm 
selbst narzißtisch hoch eingeschätzt, dann auch die äußere An- 


— 111 — 











































































































erkennung, so wird sein Bedürfnis, sein Recht zur Isolierung 
sozusagen zur Pflicht. 

Hermann Levi hat über Brahms dies mit enthusiastischen 
Worten ausgedrückt: „Sonst tragen alle Erdenkinder den Stempel 
ihrer Zeit und deren Schwächen an der Stirne; er allein ver. 
mag sich loszulösen von allen menschlichen Verhältnissen, un. 
berührt zu bleiben von dem Schmutz und der Misere des 
Lebens, sich aufzuschwingen auf eine ideale Höhe, wohin wir 
nur ihm nachschauen, nicht ihm folgen können. Er sieht von 
souveränem Throne auf uns herab; wenn wir uns nahe fühlen, 
ruft er uns zu: Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht 
mir; wir sind momentan zurückgestoßen, verletzt, vernichtet, 
aber immer wieder fühlen wir uns zu ‘ihm hingezogen mit 
magnetischer Gewalt !“ 

Manche Schroffheit oder verletztende Herbheit Brahms’ findet 
hier ihre Erklärung, ein wenig wohl auch die Ehelosigkeit, 
„Seine Schroffheit“, berichtet Eugenie Schumann, „tat ihm im 
eigenen Herzen weh. Sie hielt ihn dauernd im Zustand der 
Abwehr gegen vermeintliche Eingriffe in sein Dasein und seine 
Unabhängigkeit. Setzte man eine Ansicht, ein Urteil bei ihm 
voraus, so behauptete er stets das Gegenteil. Er gab gerne, 
aber Ansprüche, Erwartungen stieß er zurück.“ Und weiter: 
„Wie alle einsamen Menschen bildete sich Brahms seine An- 
sichten im Stillen und ohne wesentliche Beeinflussung von 
außen, in Erörterungen ließ er sich ungern ein, wich ihnen 
aus, so gut es ging. .“ 

Als Narzißmus des Künstlers entschuldigen wir diese 
Artung Brahms’, die von Freund Joachim recht grollend dar- 
gestellt wurde (1854): „Brahms ist der eingefleischteste Egoist, 
den man sich denken kann, ohne daß er es selbst wüßte, wie 
denn überhaupt alles bei ihm in unmittelbarster Genialität ächt 
unbesorgt aus seiner sanguinischen Natur quillt, bisweilen aber 
mit einer Rücksichtslosigkeit die verletzt, weil sie Unbildung 
verrät. Er hat sich nie in seinem Leben Mühe gegeben, auch 
nur nachzudenken, was andere ihrer Natur und dem Gang 
ihrer Entwicklung gemäß hochhalten müssen; was nicht in 


—.112) — 








seine Begeisterung, in seine Erfahrung, ja in seine Stimmung 
paßt, wird mit liebloser Kälte abgewiesen .... wahrhaft genia- 
lisch ist seine Art sich alle ungesunden Empfindungen und 
eingebildeten Schmerzen anderer vom Halse zu halten.“ 

Aus dem Volke hervorgegangen, hielt er hartnäckig an 
manch Natürlichem und Primitivem fest, was leichter Beein- 
flußbare und Eitlere im sozialen Aufstieg abstreifen. Vom 
Tanzbodenmusikanten zum Musiker, zum berühmten Kom- 

onisten aufsteigend, blieb er einfach in Kleidung und Le- 
bensführung; Teoilettezwang blieb ihm tief verhaßt, besonders 
Kragen und steife Hemdbrust‘). Er sucht nur einfache Wirts- 
häuser gern auf und lebt in Bedürfnislosigkeit und Genügsam- 
keit. Er ist leicht zu rühren, bleibt dem Glauben treu und der 
Bibel, wie die Mutter es gewesen war. „In der heiligen Schrift 
findet er jene Worte, die ihm Festigkeit und Verheißung geben 
und die ... in seiner gewaltigsten, inspiriertesten Musik zu 
unvergänglicher Herrlichkeit auferstanden sind.“ (Specht.) Sich 
nicht aufgeben können, auch das ist Narzißmus; und auch von 
hier gehen Hemmungen für die Ehe aus. 

Ganz primitiv blieb aus vielen Gründen sein Sexualleben, 
das — wie in Wien bekannt war — sich fast immer auf 
Straßendirnen beschränkte. „Er trug das Verlangen seines kraft- 
voll strotzenden Körpers in die dunklen Gassen oder zu einem 
jener netten und gefälligen ‚Stubenmädeln‘, wie die es war, 
deren Namen er dann in eine seiner Partituren als ‚Erinnerung‘ 
hineingekritzelt fand ... .“ (Specht) Wien scheint in dieser 
Hinsicht Brahms besonders geeignet erschienen zu sein ; wenig- 
stens lehnt er eine fixe Anstellung in Düsseldorf auch ab, weil in 
einer kleinen Stadt ein Junggeselle eine Karikatur sei. „In Wien 
kann man ohne weiteres Junggeselle bleiben... Heiraten will 





1) „Am meisten machten die Beinkleider zu schaffen, die er immer so weit 
hinaufschnallte, daß sie bei den Knöcheln nicht zureichten. Es half nichts, daß 
der Schneider beauftragt wurde, sie länger und länger zu machen. Brahms 
zog den Leib bis unter die Achseln in die Höhe und schnitt die Hosen 
endlich unten mit der Papierscheere ab“ (Kalbeck). 


PsA, Bewegung V — 113 — 8 

















= 


ne 






























































ich nicht mehr, und — habe doch einige Gründe, mich Vor 
dem schönen Geschlecht zu fürchten“ (1877). — 

Kaum 13 Jahre alt, spielte der Knabe Brahms abends in 
Matrosenkneipen auf. Hier machte er allzufrüh Bekanntschaft 
mit der aktiven, frivolen, käuflichen Sexualität der Dirne, Er 
hat selbst einmal von den Szenen, deren Zeuge er da war, 
erzählt: von den Matrosen, die nach langer Seefahrt gierig 
nach Trunk, Spiel und Liebe die Kneipe stürmten, von den 
Weibern, die, halb entblößt, ihre obszönen Lieder zu seiner 
Begleitung sangen und ihn dann auf den Schoß nahmen und 
ihre Lust daran hatten, in ihm die ersten eroti 
schen Regungen zu erwecken. Solche Eindrücke, 
solches Verführtwerden sind folgenschwer einzuschätzen : viel- 
leicht liegt hier ein frühes brüskes Eingeführtsein in dunkle 
Geheimnisse des Lebens, die den Knaben zunächst beängstigen 
und abstoßen, aber den Mann immer wieder in ihre Netze ziehen. 

Dieses Sexualleben war gewiß ein unüberbrückbarer und 
unenthüllbarer Zwiespalt in seinem Wesen; ein schamhaftes 
Geheimnis, wenigstens vor den Damen seines Herzens. Die 
Geschlechtlichkeit ist in solchen Fällen herabgesetzt zu einer 
niedrigen körperlichen Funktion. Die zärtlich-schwärmerische 
Liebe zu Frauen blieb von dieser Funktion getrennt, „unbefleckt“. 
Diese verehrende Zuneigung war gewiß ursprünglich der Mutter 
zugewendet, einer Frau, die dem größeren Knaben, als nicht 
schöne, seit ihrer Kindkeit kränkliche, durch ein Fußleiden 
humpelnde und gealterte Frau, — sie war 17 Jahre älter als 
ihr Gatte — nicht gerade anziehend erscheinen konnte, deren 
Schätze des Gemütes, deren Güte und Frömmigkeit aber nach- 
wirkten. Ihre Gestalt war wohl besonders geeignet, im Sohne jene 
Spaltung zu bedingen, zwischen dem Objekt verehrender Zärtlich- 
keit und dem Objekt der Sinnlichkeit. 

Brahms wurde immer mehr ein alter Junggeselle mit Schrullen 
und Pedanterien, im Praktischen hilflos ; eine Krawatte zu binden, 
ein Packet zu machen und zur Post zu befördern, war eine 
Katastrophe. Er war nicht geschickt, auch beim Dirigieren erman- 
gelte er der manuellen Fähigkeiten. Sein mächtiger schöner Kopf 


— 114 — 






saß einem gedrungenen Körper auf; Eugenie Schumann be- 
richtet, wie geschickt und halsbrecherisch er seinerzeit in 
Düsseldorf vor den Kindern turnt und springt. Aber später 
wurde er dick und schwerfälliger. 

Fragte man ihn, warum er unbeweibt sei, so antwortete er aus- 
weichend, mit Scherzen. Einem vorlauten jungen Dämchen re- 
liziert er auf die Frage, warum der Herr Doktor nicht gehei- 
ratet hätte, schlagfertig: „Es hat mich noch keine gewollt, und 
gäbe es eine, so würde ich sie nicht mögen ihres schlechten 
Geschmackes wegen !“ In den achtziger Jahren drückte er seine 
ambivalente Einstellung mit einem Satze des Humoristen Daniel 
Spitzer charakteristisch aus: „Ich war leider nie verheiratet und 
bin es Gott sei Dank noch immer nicht.“ 

Man kennt die plumpen und unpsychologischen Versuche, 
Junggesellen „zuzureden“, sich zu verheiraten; auch Brahms 
widerfuhr dies öfter. 

Man weiß von einem Spaziergang zu berichten, an dem 
Brahms und auch Damen teilnahmen ; als man einkehrte, machte 
Brahms der Kellnerin den Hof: So was Gesundes, Hübsches 
und Frisches errege immer ein frohes Lebensgefühl in ihm. 
Man ruft, er solle doch heiraten; jemand fügt hinzu, er wüßte 
zwei, die bereit wären Brahms zu heiraten. Der Dreiundsechzig- 
jährige antwortet: „Ich kann nicht mehr heiraten. Glauben 
Sie mir, ich müßte ein Mädchen verachten, das mich zum 
Manne nehmen würde. Sie werden mir doch nicht ein- 
reden, daß sich eine in mich verlieben könnte — so wie ich 
jetzt bin ?‘“ 

Um diese Zeit war es natürlich zu spät; aber das Rätsel, 
warum er von 25 bis 45 Jahren widerstand, ist unser 
Problem. 

Die Psychoanalyse berühmter Toter entbehrt ungern der Nach- 
richten über die frühe Kindheit, die so bedeutungsvoll sein 
könnten. Manchmal entschädigt teilweise ein charakteristisches 
Moment, ein Wort aus späterer Zeit; ein solches aus dem Munde 
Brahms’, als er eben seine geliebte Mutter durch den Tod ver- 
loren hatte, sei hier berichtet. 


— 4 —- Pr 













































































k 


Florence May erzählt in ihrer Biographie, Brahms habe Unter 
dem Eindruck des Todes der Mutter nach der Beerdigung aus. 
gerufen: „Ich habe jetzt keine Mutter mehr: ich 
muß heiraten.“ So wird Augenzeugen nacherzählt. Kalbeck 
erzählt dasselbe, sagt, die Worte seien am Totenbette der Mutter 
gefallen. 

Diese Äußerung besagt, daß der Wegfall der Mutter im Sohne 
das Bedürfnis nach einer Gattin mobilisiert hat, oder anders aus. 
gedrückt, daß die seelische Bindung an die Mutter das Heiraten 
bisnun behindert oder doch überflüssig gemacht habe. Es wäre dies 
eine Bestätigung für die oft durch Psychoanalyse aufgedeckte 
Tatsache, daß intime seelische Fixierungen an die Mutter das 
Liebesleben des Sohnes charakteristisch beeinflussen und hemmen 
können, und die nicht seltene Erfahrung, daß so Gehemmte 
nach dem Tode der Mutter erst in Ehebedürftige sich 
verwandeln. 

Nur die Voraussetzung einer kindlichen, ungewöhnlich inten- 
siven und nachwirkenden Liebe zur Mutter ermöglicht das 
Verständnis dafür, daß der um 14 Jahre jüngere Brahms sich 
in die siebenfache Mutter Clara Schumann, die glücklich ver- 
heiratete Gattin des bewunderten Freundes verliebt, dem er die 
entscheidende Förderung verdankte, Ihr sprang er voll Mitleid 
zu, als Schumann ins Irrenhaus kam, mit ihr gemeinsam feierte 
er die pietätvollste Trauer um den Toten. Dann aber entwickelte 
sich die immer leidenschaftlichere Liebe Brahms’, wie sie aus 
den Briefen, die der Zerstörung entgangen sind, sowie aus der 
Musik jener Zeit, die eruptiv und in niemals stockender Fülle 
ihm zuströmte, zu erraten ist. Später muß eine Krise eingetre- 
ten sein, vielleicht eine teilweise Enttäuschung — von Liebes- 
leidenschaft auf Seiten Claras kann kaum die Rede sein _, 
und es begann jenes ideale Verhältnis voll gegenseitiger Teil- 
nahme, gegenseitiger Anregung und Aussprache, jene amitie 
amoureuse zweier hochstehender Geister und Gemüter. Eugenie 
Schumann berichtet, daß Brahms Clara wehgetan haben muß, 
so daß sie die Veränderung nicht recht begriff: „Brahms er- 
kannte, daß seiner eine Aufgabe harrte, die den ganzen Men- 


— 116 — 









schen erforderte, die mit ausschließlicher Hingabe an eine 
Freundschaft nicht vereinbar war.“ Das persönliche Zusammen- 
sein war nicht immer ungetrübt; wenn Brahms schroff war und 
Eugenie die Mutter trösten mußte, sagte Clara: „Du weißt nicht, 
wie er früher war, so zart und liebevoll, ein idealer Mensch.“ 
Man höre aber auch die Schilderung der Tochter (die nicht alles 
erfahren haben muß) über das letzte Zusammensein der beiden 
im Oktober 1895: Clara spielte Brahms Bach und aus seinen 
eigenen Werken vor. Sie saß dann da mit sanft geröteten 
Wangen, das Auge strahlte, wie von innerem Licht. Brahms 
saß ihr gegenüber und sah weich und ergriffen aus. „Ihre 
Mutter hat mir ganz herrlich vorgespielt“, sagte er. Die Freunde 
umarmten und küßten einander wie sie es seit Jahren bei jedem 
Abschied, jedem Wiedersehen getan hatten. Clara erkrankte 
bald nachher und starb im Mai darauf. 

Als vorerst schlechte Nachrichten über ihr Befinden kamen, 
schrieb Brahms an den gemeinsamen Freund Joachim: „Und wenn 
sie von uns gegangen ist, wird nicht unser Gesicht vor Freude 
leuchten, wenn wir ihrer gedenken ? Der herrlichen Frau, deren 
wir uns ein langes Leben hindurch haben erfreuen dürfen — 
sie immer mehr zu lieben und zu bewundern.“ 

Gerade Naturen wie Brahms sind solcher Mischgefühle fähig 
zwischen Liebe und Freundschaft, sie tragen die nicht 
überwundene Liebe zur Mutter in die Beziehungen zu den 
Frauen hinein; es entsteht ein Lieben, dem die (inzestuöse) 
Sexualität versagt zu bleiben pflegt. Aber die Freundschaft ist 
zärtlicher, mitleidiger, dankbarer, ehrfürchtiger und gebraucht 
das Wort Liebe. „Ich glaube, ich achte und verehre sie doch 
nicht höher, als ich sie liebe“, schrieb Brahms einst über diese 
Beziehung, ‚ich meine, ein Mädchen kann ich gar nicht mehr 
lieben, ich habe sie wenigstens ganz vergessen; sie versprechen 
uns nur den Himmel, den Clara uns geöffnet hat.“ So geartete 
Männer lieben eher Frauen als Mädchen, eher ältere Frauen 
als jüngere. Sie wünschen von ihnen Leitung und Beratung, 
lieben die Kinder dieser Freundinnen mit und helfen gern in 
der Not. Brahms bot Clara mehrmals in zartester Form eine 


— 111 — 



















































































große Geldsumme an; für die Kinder hatte er stets liebevolles 
Interesse, die Tochter Julie scheint er geliebt zu haben; was 
aber erst deutlich wurde, — als ein anderer sie gewählt hatte, 
Auch die lebenslange Treue, das Nie-Loskommen, wie es bei 
Clara und ihrer Duodez-Ausgabe Herzogenberg in Erscheinung 
trat, finden hier ihre Erklärung. Solchen Männern, die den 
„Odipus-Komplex“ nicht überwunden haben, vertritt die geliebte 
Frau nur die Mutter (Schwester), und die Beziehung ist mit 
neurotischen Zügen ausgestattet, Stimmungswechsel, Launen, 
Fluchtversuchen u. dgl. Hieher gehören jene paradoxen Schroff. 
heiten Brahms’ gegen Clara. 

Verzicht und ungestilltes Verlangen, Sehnsucht und Un- 
befriedigung, die Erhöhung ins Erhabene begünstigen Tag- 
träume; tragen sie sonst störende libidinöse Regungen in jede 
kulturelle Leistung hinein, so steht beim dazu Begabten das 
künstlerische Schaffen unter diesen Einflüssen: Daher Brahms’ 
Gefühlsorgien beim Komponieren, das Einweben von Liebes. 
gefühlen, die Widmungen. Der Komponist rettet sich in sein 
Schaffen und befreit sich darin; es ist Gestaltung und Form- 
werden innerer Vorgänge. 

Vom Klavierquartett in C-Moll als Illustration zu einem 
letzten Kapitel „Werthers Leiden“ haben wir schon gesprochen. 
In einem Brief an Clara heißt es: „Auch male ich an einem 
Portrait von Dir, das dann Adagio werden soll.“ In seinen 


Schumann-Variationen ließ er nicht nur eine zarte Huldigung - 


für den teuren Freund in einer Mittelstimme aufklingen, eine 
andere für Clara brachte er durch Hineinweben eines ihrer 
Themen versteckt an und ließ eine zarte Botschaft mittönen, 
Das B-Dur-Sextett ist der Widerschein jener Herzens- 
geschichte mit dem Mädchen, das dann einen reichen Mann 
heiratete. Der Herzogenberg gestand er seine unglückliche Liebe 
in den Klavier-Rhapsodien Op. 79, die er ihr widmete. Kalbeck 
und Specht wissen immer wieder Werke Brahms’ in dieser 
Richtung auszudeuten, oft genug auf eigene Andeutungen des 
Tondichters hin. Das „Deutsche Requiem“ gilt zwei geliebten 
Menschen: Robert Schumann und der Mutter. Aus den er- 


— 118 — 







schütternden Tönen der „Rhapsodie“, des „Schicksalsliedes* der 
C-Moll-Symphonie und den vielen dämmerzarten, wie von un- 
geweinten Tränen schweren Zwischensätzen seiner Kammer- 
musik, höre man sein wundes Herz in ungestillter Sehnsucht 
pochen. Auch freundschaftliche Zärtlichkeit findet musika- 
jischen Ausdruck; so schreibt er zur Partitur seiner Sere- 
made, sie Joachim sendend; „Behalte das Stück noch etwas 
lieb bester Freund, es gehört und klingt doch Dir sehr. Woher 
kommt’s denn schließlich, wenn Musik so freundlich tönt, wenn 
nicht von den paar Menschen, die man lieb hat wie Dich.“ 

Natürlich findet dieses Einkomponieren strömender Gefühle 
vor allem auch unbewußt statt. Brahms deutet dies an, da 
er die „ernsten Gesänge“ komponiert hat, ohne von der T'odes- 
gefahr für Clara zu wissen: „Tief innen im Menschen spricht 
und treibt oft etwas, uns fast unbewußt, und das mag wohl 
bisweilen als Gedicht oder Musik ertönen !“ 

Brahms’ Werke sind also das Tagebuch des sonst Verschlossenen, 
sein wahres Leben vollzieht sich abseits von den Dingen der 
Realität. Sein Schaffen geht ihm über Menschenbeziehungen. 
Es ist sein Trost, die Vergeistigung seiner Wünsche, Sub- 
limierung. „Ich bin verliebt in die Musik, ich liebe die Musik, 
ich denke nichts als sie und nur an anderes, wenn es mir 
Musik schöner macht. Passen Sie auf, ich schreibe wieder 
Liebeslieder, und nicht an A—Z, sondern an die Musik“. Von 
früh an war Musik sein Zentrum, sein Ehrgeiz. Ernstes Bil- 
dungsbestreben ließ ihn lesen, exzerpieren und Bücher kaufen. 
Dies gehörte zu seinem Ich-Ideal, wie Ehrlichkeit, Aufrichtig- 
keit, Bescheidenheit, Demokratie, Einfachheit der Lebensführung. 
Dem entsprach auch, daß das Sexuelle etwas Niedriges war, 
etwas Heimliches bleiben mußte. 

Niemann macht es sich leicht, wenn er Brahms’ Hagestolzen- 
tum einzig als eine Art freiwilligen Verzichtes aus Gründen 
allzulang gehemmter künstlerischer Anerkennung ansieht. Er 
folgt darin unvorsichtiger Weise Brahms’ eigenen Angaben, 
die uns nicht genügen. Die bekannte Anmerkung in Düntzers 
Goethe-Kommentar, in der es auf einen Ausspruch Goethes hin, 


— 119 — 
















































































daß Lili das Mädchen gewesen sei, das er am meisten geliebt 
habe, heißt: „Hier irrt Goethe“, — mag mit Recht Kritik 
herausfordern. Wir aber nehmen uns, durch Erfahrung bestärkt, 
das Recht, uns trotz Brahms’ Erklärung an Widmann, — tiefere 
und ihm unbewußte Motive seiner Ehehemmung zu suchen, 


Uns leitet dabei das Material über die Psychologie des Ledig. | 


bleibens aus Analysen anderer. 

Statistisch ist die Ehe in unserer Kultur die historisch ge- 
aichte natürliche Lösung des Lebens, eine durch das Vorbild 
der Elternehe und der Umwelt aufgedrängte Tradition ; sie ist die 
Plattform der Berufsleistung des Mannes, ungestört durch 
Suchen eines Jeweiligen Liebesobjektes. Die Gründung 
einer neuen Familie, eines neuen Zentrums, ist für den Mann aus 


mit dem Vater entsprungen. Die Ehe ist Folge der Loslösung 
aus der elterlichen Familie; ferner die hygienische Lösung der 


der-Art-schlagen gegenüber Generationen von Vorfahren, 


wenn ein Individuum ledig und ohne Nachkommen bleibt. 


bewußt sind und, durch das Bedürfnis nach Erklärung, dann 
sekundär durch Schein-Gründe ersetzt werden, welche na- 
türlich auch oft ein Stückchen Richtiges, praktisch Mitspielendes 
enthalten. Wenn Jemand behauptet, ledig geblieben zu sein, 
weil er zu spät Anerkennung oder Geldmittel erlangt habe, so 


ehe sie Anerkennung und Geld erreicht haben. Die Frage bleibt: 
welche seelischen Gründe sind es, die den Einen verzichten 
lassen und den Andern nicht ? 

Daß die produktiven Menschen, besonders die Philosophen, 
sehr oft nicht verheiratet oder in der Ehe unglücklich 
sind, daß Dichter und Künstler auch ihren Anteil hier haben, ist 
bekannt, Psychoanalytische Arbeiten haben hiezu Aufklärung 


— 120 — 





| 





gebracht.” Jene Beglücker der Menschheit sind selbst oft sehr 
unglücklich; auch Brahms war es, wie wir eingangs gehört 
haben. Daß die Hemmungen seines Liebeslebens hauptsächlich 
dies verschuldet haben, haben wir hier zu erweisen. 

Wir haben als eine Ursache dieser Hemmung die Fixierung 
an die Mutter hervorgehoben und wenden uns einer zweiten 
solchen Hemmung zu. Wir gehen aus von jenem Satze, den wir 
im Buch über Agathe von Siebold finden, und der so viel 


sagt: „Bine gewisse Angst vor dem zarten Ge 


schlechte und der eigenen Schwäche schien 
Brahms nicht zu verlassen.“ 

Wir kennen einen solchen Minderwertigkeitskomplex, der 
sich gerade auf das Sexuelle bezieht, gerade die eigene Männ- 
lichkeit anzweifelt; schüchtern und kleinmütig gegenüber dem 
weiblichen Geschlecht macht; Phantasien eingibt, dem höheren 
weiblichen Wesen und gar in der Dauerverbindung der Ehe 
nicht Genüge tun zu können. Wir nennen diesen Komplex 
„Kastrationskomplex‘“‘ und verstehen darunter im wörtlichen 
Sinn die Feststellung oder Angst, körperlich kein (vollkom- 
mener) Mann zu sein, hervorgerufen durch kindliche Eindrücke, 
Selbstvorwürfe u. dgl. Das Ausbleiben beruhigender sexueller 
Aufklärung unterstützt diesen Irrweg. Auch hier kann das 
Tiefste dunkel und unbewußt bleiben, aber durch anderen 
Kleinmut sich verraten. Unsicherheit aus anderen Wurzeln 
kann dazu kommen, wie bei Brahms die ursprüngliche Armut, 
das rasche Berühmtwerden, dem die gesellschaftliche Gewandt- 
heit nicht gleich rasch folgte u. dergl. mehr. 

Wir erinnern an die „allzulang gehemmte künstlerische An- 
erkennung“, die Brahms am Heiraten gehindert haben soll; 
seine Angst vor einer Gattin, wenn er Mißerfolge nachhause 
brächte; sein gleichzeitiges Abschwören von Oper und Ehe. 


‘) Freud „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens: Über die allgemeinste 
Erniedrigung des Liebeslebens“. Ges. Schriften, Bd. V. — Hitschmann „Ver- 
hütung und Heilung von Ehehemmungen“, Verhandlungen des IV. Kon- 
gresses für Sexualreform, 1930. Vgl. auch Hitschmann „Gottfried Keller“, 
Internat. psychoanalytischer Verlag 1919. 


— 121 — 


zur | 






































































































































Auch der Scherz, er könne ein Mädchen, das ihm geneigt | 
sei nicht heiraten, weil sie damit einen schlechten Geschmack 


beweise, gemahnt an Mißtrauen zu sich selbst, zu seiner Er. 
scheinung. Er gab nicht viel auf Äußeres, aber sein Haar tru 
er lang, und seinen Bart, das Zeichen der Männlichkeit, das 
auch die hohe Stimme wettmachte, als breiten Vollbart. Seine 
Figur war klein. 

Einmal äußerte er: „Ich bin nie, oder ganz selten, zufrieden 
mit mir. Wohl nie behaglich, sondern wechselnd vergnügt oder 
finster gestimmt. Ich habe aber so wenig Lust und Anlage, 
über meinen Mangel an Genie und Geschick zu Anderen zu 
lamentieren, daß ich ganz von selbst immer anders aussehe, “ 

Hier wäre manche finstere Stimmung zurückgeführt auf 
Zweifel an der eigenen Begabung ; anderseits gibt es Anzeichen 
genug von hohem Selbstgefühl in dieser Hinsicht. Brahms war 
auffallend wenig duldsam gegen seine Zeitgenossen Liszt, 
Wagner und Bruckner. Besonders gegen Liszt war er von un- 
nachgiebiger, fast gehässiger Aggressivität und unglaublicher 
Überreiztheit ; selbst seine Urteile über Werke seiner Freunde 


Gegen Wagner verhielt er sich skeptisch, gegen Bruckner 
feindselig mißverstehend. Bedenkt man noch die Schroffheiten 
gegen Freunde, so muß man sagen, daß Brahms seinen 
Aggressionstrieb nicht beherrschen konnte, daß er auch in 
dieser Richtung nicht ausgeglichen und harmonisch erscheint. 
„Brahms war in einem geheimen Winkel der Seele krank und 
mußte aus der eigenen Unruhe heraus andern wehtun“ (Specht). 
Unbefriedigung und Unzufriedenheit läßt ihn gelegentlich jeden 
verletzen und wegstoßen : seine Aggression erinnert an in ihrer 
Entwicklung gestörte neurotische Charaktere, die nie über 


Diese Aggressivität verursachte natürlich gelegentlich Schuldge- 
fühle und Selbstvorwürfe. 

Schüchtern und empfindlich, fand Brahms an der Gesellschaft von 
Kindern und Tieren mehr Gefallen und beglückte gerne Kinder 


— 12 — 





mit kleinen Geschenken. Für sich selbst bis auf Reisen bedürf- 
nislos lebend, hatte er einiges Vermögen, und an Clara wie an 
Daniel Spitzer trat er mit dem Angebot größerer Geldgeschenke 
heran. Sein T'estament, in dem er sein Vermögen der Gesell- 
schaft der Musikfreunde hinterlassen wollte, war unfertig und 
nicht unterschrieben. Im Verhältnis zum Geld erscheint er nicht 
unbefangen. Geld, ja ein Freibillet hat er nie angenommen ; er war 
ein Fanatiker der Aufrichtigkeit, der nie etwas anderes scheinen 
wollte als er war. Seine wenigen Fehler, sagt Eugenie Schu- 
mann, lagen an der Oberfläche. Unbekümmert trug er sie zur 
Schau, es der Welt überlassend, den leichten Schleier zu heben 
und darunter das Herz von lauterem Golde zu entdecken. 
Er schlug kein Rad, um eine Frau zu erobern, er warb um 
anderen Ruhm. 

Auch in seiner Musik wird seine strenge Ehrlichkeit, seine 
Schlichtheit, seine Selbstbeherrschung erkannt. 

Prof. Robert Lach sagt dazu: 

„Solche Naturen werden nicht müde in der Arbeit, sich 
selbst zu bändigen, jeder Regung subjektiver Willkür, Laune 
und momentaner Gefühlsaufwallung, die sie als nur zufällig 
und daher als Störung ihrer sittlichen Freiheit... empfinden, 
in sich niederzuringen,... etwa wie man ein ungebärdiges 
Roß ... bändigt.“ 

In einem Aufsatz „Das Ethos bei Brahms“' führt Lach des 
weiteren aus: 

„Als Romantiker und von den Romantikern freudig als einer 
der Ihrigen begrüßt, beginnt er seine Laufbahn; aber nur zu 
bald wird er sich der Gefahr der Romantik: des haltlosen Zer- 
fließens in haltlose Gefühlsüberschwänglichkeit und träumer- 
hafte Schwärmerei, bewußt und mit jener unerbittlich strengen 
Ehrlichkeit und Offenheit, wie sie als unendliche Schlichtheit, 
Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit bis zur schärfsten Schroffheit 
aus seinem ganzen Leben und Schaffen spricht, ... wendet er 
sich der strengeren Gebundenheit der Wiener Klassiker zu. 


1) In „Der Auftakt“, 1922. 
— 123 — 

































































Aber immer schärfer und strenger wird seine Selbstzucht, 
immer härter, schroffer und unbeugsamer die Forderung | 
der Eindämmung des eigenen Ich,... er wendet sich der Kunst 
eines Johann Seb. Bach und der großen niederländischen 
Kontrapunktiker, der Polyphonie des 16. Jahrhunderts, zu R. 
es steigert sich der von Anfang an vorhandene Trieb Zur 
Schlichtheit, Ehrlichkeit und schmucklosen Aufrichtigkeit zu 
fast asketischer Enthaltsamkeit in der Verwendung der künst. 
lerischen Ausdrucksmittel:: der Gedanke, das Erlebnis, und nur 
der Gedanke, nur das Erlebnis allein, und diese nur mit dem 
absolut notwendigen Minimum an Ausdrucksmitteln dargestellt, 
ist nun der einzige Zweck seines Kunstwerkes, der Zweck, vor 
dem alles andere: sinnliche Schönheit des Klanges, Glanz des 
Kolorits u. dgl. als nur äußerlicher Aufputz... zurücktreten 
müssen.“ 

Ferner spricht Lach von „den unerbittlich, ohne jede Rück- 
sicht auf die Herbheit, Härte und Schroffheit der daraus ent- 
stehenden Harmonien, gegeneinanderprallenden, knirschenden 
Kontrapunkten mit ihren trotzig den Kopf zurückwerfenden 
Synkopen und alla Lombardafiguren, von den unnachgiebig mit 
zermalmender Wucht einherschreitenden Bässen, der Spitzfin- 
digkeit und Stachlichkeit seiner Rythmen, der zähen, unerbittlichen 
und unnachsichtigen Logik seiner thematischen Verarbeitung“. 


3 
en 


Wir wollen nun Brahms’ Lebensgang zusammenfassen. Der 
höchst rechtschaffene, muntere und strebsame Vater gewann 


höher weisen, etwas Leidenschaft aufweisen. Sonst kommt auch 
der Sohn nicht über den Alltag hinaus. Vater Brahms ist „aus 
reiner Leidenschaft zur Musik zweimal dem elterlichen Hause 
entlaufen“ und hat dem Sohn die höhere Ausbildung angewiesen. 

Musik wurde denn der Kern des Lebens des Sohnes, der 


— 124 — 





jichen Ausdruck von Gefühlen dar, schenkte die narzißtische 
Befriedigung des Schaffens, brachte bald den Beifall der Umwelt. 
Vater und Mutter sind aber auch die moralischen Vorbilder, 
sie haben sicherlich zu seinem strengen Überich Pate gestanden; 
das Moralische verstand sich für Brahms stets von selbst. Die 
Musik, der Ernst, das Streben werden in diesem Leben die 
Grundsäulen sein, für Frauenliebe wird zunächst nicht viel 
Platz sein. In Matrosenkneipen hat man manche rücksichtslose 
Aufklärung erfahren; man hält sich selbst aber rein für seine 
höheren Ziele. Auch der Vater kann kein schönheitsdurstiger 
Erotiker gewesen sein, sonst hätte er nicht die um siebzehn 
Jahre ältere, hinkende Frau geheiratet. Überdies war das Milieu 
ein sorgenvolles, von Armut verdüstertes. „So schwer wie ich“, 
sagte Brahms später über seine Jugend, „hat es nicht leicht 
jemand gehabt.“ 
Wir haben keine Nachricht, ob das Söhnchen ursprünglich 
vielleicht widerwillig Musik betreiben mußte ; wahrscheinlicher ist, 
daß ihm Vaters Baßgeigenspiel gleich gefiel, daß es zum Gegen- 
stand der Bewunderung wurde, daß die Identifikation mit dem 
Vater, das Mann werden wollen, auch die Musik einbezog. 
Damit hatte die im Haushalt aufgehende Mutter nichts zu 
schaffen. Aber als zärtliche, gütige und fromme Frau, übertrug 
sie dieses ihr Wesen ; besonders die Güte und Freundlichkeit zu 
Kindern zeigte der Sohn zeitlebens, ebenso zu Tieren. Diesen 
beiden Arten von Lebewesen gegenüber ist Zärtlichkeit harm- 
loser als bei Menschen, und Befangene ziehen gern ihre Gesell- 
schaft der menschlichen vor. Mutter Brahms war nur Hausfrau 
und Mutter, lebte den Kindern, war kränklich, die Schwächere 
gegen den weltlich beschäftigten Vater. Der Sohn, vielleicht 
den Geschwistern mütterlicherseits vorgezogen, sog dieses Bild 
der nährenden, helfenden, lenkenden Mutter ein; unter dem 
Bilde der Hausmutter sollte ihm später die Frau begegnen, die 
— welche Bereicherung der Muttergestalt! — auch im Musi- 
kalischen nähren, helfen und lenken konnte: sie war für immer 
seine Egeria. Was vielleicht einmal da war von Auflehnung 
oder Kritik an den Eltern, es wurde harmonisch überwunden; 


— 125 — 














































































































Brahms war zeitlebens ein anhängliches und opfervolles Kind 


voll Pietät. 

Der Inhalt seines Lebens war das musikalische Schaffen, das 
Bewußtsein des Könnens, des Berufenseins, der Aufbau archi. 
tektonischer Gebilde von wohllautenden Tönen. „Wenn mir 
eine hübsche Melodie einfällt, ist mir das lieber als ein Leopolds. 
Orden, und wenn sie gar eine Symphonie gelingen ließe, ist 
mir dies noch lieber als alle Ehrenbürgerrechte.“ (Brahms.) 

Zu diesen Zielen lernte er früh die Einsamkeit, die Ungestört. 
heit schätzen, sowie das Horchen in sich hinein. Gesellschaft 
störte, daher auch die Ehe eine Gefahr bedeutete; an liebe 
Menschen dachte es sich besser. Ihre Gestalten und die Gefühle 
für sie mischten sich unter die musikwerdenden Tagträume. Auf 
einsamen eiligen Spaziergängen ließ sich am besten arbeiten, 
Das Komponieren am Klavier wurde oft zur Orgie erschütternder 
Gefühle, die der Tondichter narzißtisch genoß. 

Aus armem Hause stammend hatte Brahms Gewandtheit des 
Umganges nie gelernt, auch nichts von eleganten Kleidern ge- 
sehen; man blieb unsicher und schüchtern. Immer reinlich, bei- 
leibe kein Geck, aber Brahms wirkte doch immer wie einer, 
„der sich mit Kernseife am Brunnen wäscht“ (Specht). Er wirkte 
schon als junger Mann nicht einheitlich, so daß Rubinstein von 
ihm folgendes Bild entwarf: „für den Salon ist er nicht gewandt, 
für den Konzertsaal nicht temperamentvoll, fürs Land nicht 
primitiv, für die Stadt nicht abgeschliffen genug.“ 

Einen eigenartigen Kleinmut zeigte Brahms gegen Damen; 
er war kein Eroberer, er warb nicht. Einmal war er sehr ver- 
liebt in ein Mädchen, kam ihr so nahe, daß sie sogar schmale 
Ringlein tauschten. Aber als man ihn aufforderte, sich zu er- 
klären, entwand er sich trotz eingestandener Liebe mit dem 
Geständnis, er könne keine Fesseln tragen. Andern Mädchen 
aus der Gesellschaft gegenüber verriet er oft Gefallen, aber er 
schien unentschlossen und war um wenig überzeugende Gegen- 
gründe nie verlegen. Übrigens kamen nur Sängerinnen in nähe- 
ren Betracht. Der Mut zur Ehe war so wenig da, wie das 
Selbstzutrauen, eine Oper zu komponieren. Aber eine Sehn- 


— 126 — 


Ä 








sucht nach Weib und Kind war da, und die Enttäuschung über 
das Hagestolztum kam später oft zu tragischem oder verhül- 
jend sarkastischem Ausdruck. Die zärtliche Frauenliebe blieb 
unbefriedigt, hier war ewige Sehnsucht und Resignation sein 
Schicksal. Bändigung zur Ruhe und Harmonie hören denn auch 


die Kenner aus seiner Musik heraus. 


Das tiefere Minderwertigkeitsgefühl blieb unbewußt, Brahms 


schob die langsame Karriere, vielleicht auch die Kleinheit und Kurz- 
 sichtigkeit in den Vordergrund. Als Sexualobjekte kamen nur 
die einfachen Mädchen aus dem Volke in Betracht, die man 


bezahlen kann für ihren Liebesdienst. 

Aber eine Frau begleitet sein ganzes Leben, seit er sie mit 
20 Jahren getroffen hat. Es ist Clara Schumann, die große 
Künstlerin, die Tochter jenes harten Lehrmeisters Wieck, die 
Witwe Robert Schumanns, um den sie Jahre lang gekämpft 
hatte und mit dem sie Jahre ungetrübten Eheglücks verbracht 
hatte. Brahms verehrt sie zunächst als Gattin seines Gönners, 
des Schöpfers seiner Existenz, als größte Kennerin und Be- 
raterin in musicis, und verliebt sich in die gütige, ihn wie 
einen göttlich begabten Sohn bevorzugende Frau und Mutter. 
In ihrer Nähe, als Schumann geistig und bald auch körperlich 
stirbt, ihr Berater, Helfer, Tröster und Gesellschafter — fällt er 
dann in einen Zustand, der nichts mehr von seiner echten 
Verliebtheit verbergen kann, soweit wir aus den Briefen dieser 
Zeit ersehen. Es ist seine ‚Wertherzeit‘, besonders fruchtbare 
Arbeit krönt sie. 

Die 14 Jahre ältere, sieben Kinder versorgende, zum Erwerb 
gezwungene, in allen Ländern herumziehende Virtuosin erwirbt 
Weltruhm, gehört nicht ihm, außer als treue und durch die 
Kunst innigverstehende Freundin. Diese Freundschaft erfüllt 
sein Leben ; Clara ist die Interpretin seiner Werke, er schätzt ihr 
Urteil, lebt all die freudigen und leider überwiegend schmerz- 
lichen Ereignisse mit ihren Kindern mit. Man küßt sich beim 
Gehen und Kommen und betont trotz manchen Konfliktes 
immer wieder gegenseitige Treue. Sie ist der „einzige Mensch“, 
kann er von Clara sagen: „den ich wirklich geliebt habe“. Es 


— 127 — 




















































































war ein eigenartiger Zustand der Gebundenheit an ‚eine Mut. 
ter‘, eine seelisch Geliebte, eine Schwester in der Kunst — mit 
einer ohne Selbstmord überstandenen Wertherzeit. 

Diese Seelengemeinschaft war einzig, denn das Spiel mit der 
Neigung zu der viel jüngeren Elisabet von Herzogenberg ist 
nur ein schwaches Abbild aus ähnlichen Wurzeln. 

Brahms war kein glücklicher Mensch und wir glauben 
nun die Ursache zu kennen. Er war in seinem Liebesleben 
gehemmt, konnte nicht an einem edlen Frauenherzen Befriedigung 
finden. Trotz aller Sehnsucht blieb er unbeweibt, ging eigentlich 
ohne erfüllte Frauenliebe durchs Leben ; sein Schicksal war innere 
Einsamkeit, trotz seines Sinnes für heitere Geselligkeit, besonders 
die männliche Abendrunde mit Tabak und Alkohol. Wir 
wundern uns nicht, wenn Sehnsucht und Schmerz auch aus 
seiner Musik erklingt. Er scheint im Schmerz geschwelgt zu 
haben, vielleicht war ihm Leid erwünscht als Antrieb zum 
Schaffen, das dann Ersatz wurde für das Geliebtsein. Das 
Schicksalslied und die Rhapsodie handeln von Fatum, Getrieben- 
werden und von Unverstandenbleiben. Er war immer leicht 


gerührt. Wir verstehen besser seine Launen, seine Schroff. 


heiten, seine Aggression in Spott und Necken, wenn wir nun 
verstehen, wie halb sein Leben blieb, um sein Schaffen ganz 
zu machen. 

„Die befriedigte Sehnsucht, das gestillte Verlangen, der er- 
füllte Wunsch“, meint Kalbeck, „sind selten ein dankenswertes 
Geschenk für den Künstler, dessen Werke von dem ewig Un- 
erreichbaren leben und singen, und das grausam gescholtene 
Schicksal meint es besser mit ihm, wenn es ihm versagt, was 
es dem geringsten Sterblichen meist so bereitwillig gewährt.“ 

„Es gibt Lebewesen in der Natur“, sagt Walter Muschg von 
den Künstlern und Dichtern, „die in Reaktion auf einen De- 
fekt, einen schmerzhaften Eingriff in ihren Organismen Perlen 
produzieren... In der Menschenwelt leben ähnliche rätsel- 
hafte Geschöpfe, die eine gramvolle Störung ihrer Existenz mit 
der Bildung von Schönheit erwidern.“ 


— 128 — 





Literatur: 






Kalbeck Max: „Johannes Brahms“. Verlag Deutsche Brahms- 
Gesellsch., Berlin, 1910. 

Ernest Gustav: „Johannes Brahms“. Verlag Deutsche Brahms- 
Gesellsch., Berlin, 1930. 

Schumann Eugenie: „Erinnerungen“. Engelhorns Nfg., Stutt- 
gart, 1925. 

Michelmann Emil: „Agathe von Siebold, Joh. Brahms Ju- 
gendliebe“. L. Häntschel, Göttingen, 1930. 

Niemann Walter: „Brahms“. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart— 
Berlin, 1922. 

Specht Richard: „Johannes Brahms, Leben und Werk eines 
deutschen Meisters“. Avalunverlag, Hellerau. 
Schumann Clara—Johannes Brahms Briefea.d. Jahren 
 1859—1896. Hgg. v. Berthold Litzmann (Brahms-Gesellsch.). 
„Johannes Brahms im Briefwechsel mit Heinrich 
und Elisabet von Herzogenberg“. Hgg. v. Max Kalbeck. 
(Brahms-Gesellsch.) 

Jenner Gustav: „Johannes Brahms als Mensch, Lehrer 
und Künstler.“ N. G. Elwert, Marburg a. d. Lahn. 2. Aufl., 1930. 

Obphüls G.: „Erinnerungen an Johannes Brahms“. 
(Deutsche Brahms-Gesellsch., 1921.) 

Litzmann Berthold: „Clara Schumann. Ein Künstler 
leben. Nach Tagebüchern und Briefen“. Breitkopf u. Härtel, Leipzig, 
2. Aufl., 1909. 














ANNIE 


| PsA. Bewegung V — 129 — 9 
| 
| 


E 








































































































2 


Zur Psychologie des Zynikers 


on 


Edmund Bergler 
(Fortsetzung und Schluß) 


15) Der präventive Zyniker 


In Freuds „Witz und seine Beziehungen zum Unbewug. 
ten“ wird der Ausspruch eines alten Gelehrten zitiert, dem 
mitgeteilt wird, er sei eben Vater geworden und darauf fol. 
gende sonderbare Antwort erteilt: „Was doch Menschenhände 
alles zustande bringen.“ Dieser Ausspruch ist das Prototyp des 
präventiven Zynismus. Statt abzuwarten, bis sich die anderen ! 
über ihn lustig machen und seine Vaterschaft bezweifelt wird, 
verhöhnt er selbst seine supponierte Impotenz, den eventuellen 





Modus der immissio seminis und die vermuteten manuellen 
Praktiken. Zugleich ist ein Angriff gegen die Potenz der 
anderen darin enthalten. 

In dieselbe Gruppe gehören manche Lamentationen Hei nes 
auf seinem Krankenlager. (Z. B. das bekannte Gedicht: » Worte, 
Worte, keine Taten... ) 

Es gibt Übergänge zwischen dem Präventiven Zynismus und 
dem Humor, und doch sind der Ausspruch des Gelehrten und 
Heines Worte Zynismen, weil sie aggressiv gegen Zweifler, 
resp. die Geliebte sind, nach dem Motto „Der Angriff ist die 
beste Parade“. 


I6) Zynismen als Abwehr des Lächerlichseins 
Ein alter Mann, der Jahrzehnte lang u. a. aus unbewußtem 
Psychischen Masochismus einen Liebhaber der Frau halb ofli. 
ziell geduldet hatte, wird in einer Gesellschaft in taktloser und 
brutaler Art, scheinbar harmlos nach dem Befinden eben jenes 


ı) Etwa folgender Witz: Die erste Ehe eines Mannes wurde wegen 
seiner Impotenz geschieden. Er ging eine zweite Ehe ein. Der Ehe entsprossen 
Kinder und der Mann prahlte mit ihnen. „Ich habe niemals bezweifelt, daß 
Ihre erste Frau hätte Mutter werden können“, sagte ihm ein Freund. 


— 130 — 






Liebhabers gefragt. Nach einigen Sekunden des Schweigens 
antwortet der Greis sehr ruhig, er stehe jetzt mit dem Mann 
jediglich durch die Zeitung in Verbindung. „Ich schaue täglich 
nach, ob seine Parte in der Zeitung zu lesen ist.“ 

Gewiß ergeben sich bei dieser Form des Zynismus Über- 
gänge zum vorher besprochenen präventiven Zynismus. Der 
Unterschied liegt darin, daß beim präventiven Zynismus das 
Schwergewicht auf der scheinbaren Selbstverhöhnung liegt, 
| während hier der Haß gegen den Gegner deutlich hervortritt. 
| 
\ 


17) Zyniker aus dem Gefühl erlittenen Unrechts 


Freud‘ hat darauf aufmerksam gemacht, daß manche Men- 
schen aus dem Gefühl des erlittenen Unrechts, die Berechtigung 
zu Taten ableiten, die ihnen sonst ihr Über-Ich verbieten 
würde, und sich als „Ausnahmen“ betrachten. Das Über-Ich 
"wird offenbar durch erlittenes Leiden kaptiviert. In Shake- 
speares Richard III. sagt Gloster, der spätere König: 

„Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht, 
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln ; 
Ich, roh’geprägt, entblößt von Liebes-Majestät 
Vor leicht sich dreh’'nden Nymphen sich zu brüsten ; 
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt, 

Von der Natur um Bildung falsch betrogen, 
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt 

In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig 
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend, 
Daß Hunde bellen, hink’ ich wo vorbei; 

Und darum, weil ich nicht als_ein Verliebter 
Kann kürzen diese fein beredten Tage, 

Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden 

Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.“ 

In weiterer Folge gehören die meisten Zyniker aus 
unbewußter Rache in diese Gruppe. 


18) Zyniker in der Situation „Alles verloren“ 
Es gibt Situationen, in denen der Mensch seine Situation 
für verloren hält, wodurch ein Stück Hemmungsfreiheit ent- 


1) Freud, Ges. Schriften, Band X, Seite 288 „Die Ausnahmen“ (einige 
Charaktertypen aus der Psychoanalytischen Arbeit). 


= or 

























































































B 


steht. Der für die übliche Heuchelei verwendete Besetzung, 
aufwand ist überflüssig geworden und äußert sich in Lust. 
Der zum Galgen geführte Dienstmädchenmörder Schenk rief 
seinen Richtern pausenlos das „Götzzitat“ zu. Oder: Der 
Wiener Doppelmörder Zadrazil beschwerte sich beim Vor. 
sitzenden des Gerichthofes am Ende des zweiten Verhandlungs. 
tages (6. Juli 1932), daß er nicht schlafen könne, weil das Licht 
in seiner Zelle brennt: 


Ein Geschworener: „Sind es nicht die Gewissensbisse ?“ 
Angeklagter: „Nein, nur Augenbrennen.“ 


Zadrazil hatte Vorstrafen in der Höhe von 9 Jahren, war des 


Doppelmordes überführt und wußte, daß ihm das Höchstaus. 


maß der zulässigen Strafe zudiktiert werden würde: lebensläng. 
licher Kerker. 





Derselbe Zadrazil antwortete auf die Frage, wie er es über 
sich gebracht habe, zwei von ihm schwer verletzte Frauen im 
Keller einer unbewohnten Villa liegen zu lassen: 

Angeklagter: „Die Automobilisten überfahren auch manchmal einen 
und lassen ihn liegen, ohne ihm zu helfen.“ 
Staatsanwalt (schreiend): „Das sind ja Schweinehunde.“ 


Im Literarischen gehört etwa Hein es „Testament“ in diese 
Gruppe. 


I9) Der hinterhältige Zyniker (Typus Urias) 


Im alten Testament wird erzählt (D. Saul 11), daß König David 
mit der Frau des Urias, namens Bethseba, sexuelle Beziehungen 
anknüpfte. Da ihm der Ehemann unbequem war, schickte er 
ihn zu den im Felde stehenden Truppen mit einem Brief an 
den Oberbefehlhaber Joab, mit dem Auftrage, Urias aus dem 
Wege zu räumen. 

Ähnliches lesen wir bei Heine, „König David“: 

Sterbend spricht zu Salomo 
König David: Apropos 
Daß ich Joab Dir empfehle, 
Einen meiner Generäle, 


— 132 — 





Dieser tapfre General 

Ist seit Jahren mir fatal 

Doch ich wagte den Verhaßten, 
Niemals ernstlich anzutasten. 


Du mein Sohn, bist fromm und klug, 
Gottesfürchtig, stark genug, 

Und es wird Dir leicht gelingen, 
Jenen Joab umzubringen. 





Für diesen Typus ist charakteristisch, daß der Gedanke an 
die Verblüffung und Verzweiflung des Geschädigten im Augen- 
blick für die nichtgetane Tat entschädigt. 

Ein zwangsneurotischer Patient schrieb in der Phantasie 
ellenlange Briefe an seine vermeintlichen Feinde folgenden 


Inhalts : 
„Sehr geehrter Herr Trotteldreck ! 
Ich erlaube mir, Ihnen höflichst und untertänigst mitzuteilen, daß 
Sie ein ganz gemeiner Hundsschweinkerl sind. 

Oder: Ich lade Sie hiermit mit untertänigster Demut höflichst ein, mich 
freundlichst in den Arsch zu lecken. 

Oder: Ich erlaube mir hiermit Ihnen alleruntertänigst zu meinem größten 
Bedauern mitzuteilen, daß ich Ihnen morgen mit Hilfe einer Kopf- 
abschneidemaschine den Kopf abschneiden werde. 

Oder: Ich ersuche Sie hiermit mit ergebener Freundlichkeit Ihren Leckarsch- 
Sekretär zwecks Leckarschung allereiligst zu mir zu senden.“ 


Mit besonderer Freude malte sich der Patient die entsetzten 
und verblüfften Gesichter seiner Feinde beim Erhalt dieser 
Briefe aus. Großes Gewicht legte er auf die „kalte Grausam- 
keit gepaart mit äußerster Höflichkeit“. Sein Motto war das 
eines Bismarckschen Ausspruches: „Höflichkeit bis zur letzten 
Galgensprosse.‘ 


20) Gedankenzyniker 


Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß manche Zynismen 
scheinbar kein Publikum brauchen, unausgesprochen bleiben 
und doch die gleiche Lust gewähren, wie die ausgesprochenen. Es 
mag dies für den ersten Moment als Widerspruch zum „zyni- 
schen Mechanismus“ erscheinen. In Wirklichkeit erklärt sich 


— 133 — 

















































































































diese Tatsache daraus, daß das Publikum phantasier; 
wird. Es handelt sich entweder um schwer gehemmte Men. 
schen (Zwangsneurotiker), oder um Menschen, deren Realität,.- 
anpassung eine noch so gute ist, daß sie sich scheuen, ihre 
Zynismen offen auszusprechen. Ein Beispiel: Der Wiener 
Frauenmörder Laudenbach beschäftigte sich schon längere Zeit 
vor der Ausführung seiner Mordtaten mit dem Gedanken, auf 
welche Weise er die zu beraubenden Frauen wegschaffen 
könnte. U. a. kam er auf den Gedanken, die Frauen in einer 
Faschiermaschine zu zerkleinern und dann abzutransportieren, 
In der Verhandlung vor dem Schwurgericht (24. Juli 1932) 
sah das folgendermaßen aus: 


Ein Höhepunkt des Zeugenverhörs bedeutete die Vernehmung des 
Kaufmannes Jacques Ratz. Er betreibt ein Geschäft mit Haus- und 
Küchengeräten und Eisenwaren. 

Zeuge: Anfangs Februar kam ein Mann ins Lokal. Er fragte 
mich, ob ich Maschinen führe. Ich fragte ihn, welche Art von Ma- 
schinen er meinte. Er wollte eine Fleischmaschine. j 

Vorsitzender : Also eine Faschiermaschine. 

Zeuge : Ich zeigte ihm das Modell Nr. 5. Er lächelte und 
sagte, die ist viel zu klein. Nun schlug ich den Katalog 
auf und zeigte ihm eine Abbildung der Type 22, die etwa 40 Schil- 
ling koste. Der Fremde erkundigte sich nach der 
Stundengeschwindigkeit, und ich erklärte ihm, daß sie 
sechs bis sieben Kilogramm per Stunde bewältigt. „Wozu brauchen 
Sie das?“ fragte ich ihn. „Was interessiert Sie das?“ antwortete er 
mir. Und dann erzählte er, er sei vom Tierschutzverein 
oder Tierschutzspital, daran kann ich mich nicht erinnern, es gäbe 
dort Tiere, die unheilbar seien, denen gibt man etwas ein, und da 
gehen sie ein. Gewisse Fleischteile von ihnen werden dann faschiert 
und den anderen Tieren als Futter vorgeworfen. Man habe dort 
etwa 150 bis 200 Kilogramm täglich zu faschieren. Nun zeigte ich 
ihm die Type 38 und sagte ihm, daß sie hoch über 100 Schilling 
koste. Er war ganz entzückt und glückstrahlend, als 
ich ihm sagte, daß diese Maschine eine Stunde ngeschwindig- 
keit von 60 bis 70 Kilogramm hat. Nun fragte der Un- 
bekannte: „Gehen da auch Knochen durch? — Nein sagte ich, da 
brauchen Sie extra eine Knochenmascine. Der Fremde machte mir 
den Vorschlag, falls die Fleischmaschine der Direktion nicht passe, so 
so werde er sie tadellos gereinigt zurückstellen, ich soll der 





— 134 — 





| 


Fabrik sagen, die Kunde sei nicht gekommen, so daß ich kein Risiko 
habe. Die Knochenmühle werde er dann fix nehmen. 
Laudenbach: Von dem allen weiß ich nicht ein Wort. Auf 
alle Fälle irrt er sich. Wohin hätte ich denn die Maschine bringen 
wollen? In die Wohnung? Wozu sie brauchen? 
Ein Geschworner: Zum Faschieren! (Aus dem Gerichtssaal- 
bericht einer Tageszeitung.) 


2D Zynismus als Denkmöglichkeit 


Man erkennt diesen Typus an einer sonderbaren Diktion. 
Die Sätze beginnen etwa folgendermaßen: „Wollte man bos- 
haft sein, könnte man behaupten... .“ Oder: „Ein Zyniker 
würde sagen...“ Oder: „Sie werden wieder annehmen .. .“ 
Es handelt sich um Vorsichtsmaßregeln aus Angstschutz, ge- 
meint ist immer das, was „man‘ sagen könnte. Ähnlich hat 
die Kirche die Ketzer niemals selbst justifiziert, sondern sie 
„bloß“ dem weltlichen Gericht übergeben. 


22) Metier-Zyniker 


Es ist die an und für sich befremdliche Tatsache zu konsta- 
tieren, daß Angehörige ausnahmslos jedes Berufes über den 
eigenen Beruf zeitweise Zynismus aussagen. Dieser Metier- 
Zynismus hat folgende Ursache: 

Es handelt sich um eine unbewußte höhnende Aggres- 
sion gegen diejenige Autorität, mit der die Be- 
treffenden sich bei der Ausübung ihres Be- 
rufes unbewußt identifizieren. (Meister, Vordermann, 
akademischer Lehrer, etc.) 

Als harmlosestes Beispiel sei das des Direktors Bordenave 
in Zolas „Nana“ genannt‘: 

„Hektor besah sich den Mann mit großer Aufmerksamkeit. Das 
also war Bordenave der große Weiberverführer, der mit ihnen wie 
ein Galeerensklavenwächter umging, der Mann, dessen Gehirn fort- 
während über irgend eine Reklame brütet; der Mann, der jetzt 
schreit, spuckt, sich mit den Händen auf die Schenkel schlägt, der 
Zyniker mit dem Geist eines Gendarmen. 





ı) Emile Zola „Nana“ (Die Rougon-Macquart), Band IX. Harz-Verlag. 


— 135 — 




























































































Hektor glaubte, etwas angenehmes sagen zu müssen. 


„Ihr Theater ... begann er mit sanfter Stimme. 


Bordenave unterbrach ihn und entgegnete in dem rauhen Tone - 
eines Mannes, der gewohnt ist, frei von der Leber wegzureden : 
Sagen Sie lieber: Mein Bordell a 


23) Zynismus der Auguren 


Bekannt ist die Sage, daß, wenn zwei Auguren einander in 
Rom begegneten, sie einander zulächelten. Jede Gesellschaft 
hat in irgend welchen Formen einen Ausschank von Ilusio. 
nen, von denen manche konzessioniert sind, manche aber auf 
eigene Faust arbeiten. Letzten Endes bleibt den Leuten, die 
die Illusionen verschleissen, nichts anderes übrig, als zynisch 
zu werden, oder sich sehr ernst zu nehmen als „Stützen der 
Gesellschaft“. 

So erklärt sich z. B. ein Jugendausspruch Hermann Bahrs : 
„Der dramatische Schriftsteller muß sich genau so dumm stellen, 
wie sein Publikum wirklich ist, damit das Publikum glauben 
kann, es sei genau so klug, wie der Dichter... .“ 





24) Zyniker „aus Freude an der eigenen Schäbigkeit“. 


Das Wort „Freude an der eigenen Schäbigkeit“ (von K. Kraus 
geprägt) meint in diesem Zusammenhang etwa folgenden Typus: 
In Kästners „Geschichte eines Moralisten“ ' wird ein 
Redakteur geschildert, dem mitgeteilt wird, daß fünf Zeilen 
auf der ersten Seite des Blattes noch zu füllen sind. Er fabri- 
ziert hierauf folgende Nachricht : 
„In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen Mohammedanern und 
Indus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation sehr bald Herr 
wurde, ı4 Tote und 22 Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wieder 
hergestellt.“ 
„Aber in Kalkutta haben gar keine Unruhen stattgefunden“, ent- 
gegnete Irgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte 
fassungslos: „Vierzehn Tote.“ 


ne sl) 0, 
1) Erih Kästner „Fabian“ (Die Geschichte eines Moralisten), 
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1931. 


— 136 — 

















„Die Unruhen haben nicht stattgefunden ?« sagte Münzer ent- 
rüstet. „Wollen Sie mir das erstmal beweisen. In Kalkutta finden 
immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen 
Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken Sie sich fol- 
gendes ; Meldungen, deren Unwahrheit nicht, oder 
erstnach Wochen festgestellt werden kann, sind 
wahı. (Seite 35.) 

Einige Seiten später heißt es: (Seite 37) 

„Sie dürfen ihm nichts übel nehmen“, sagte der Handelsredakteur 
zu Fabian. „Er ist seit zwanzig Jahren Journalist 
und glaubt bereits, was er lügt. Über seinem Gewissen 
liegen zehn weiche Betten und oben drauf schläft Herr Münzer den 
Schlaf des Ungerechten. 

„Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen“, fragte Fabian Herrn 
Mallny. „Was tun Sie außerdem ?* 

Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. „Ich 
lüge auch“, erwiderte er, „aber ich weiß es. Ich weiß, daß das 
System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. 
Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im 
Rahmen des falschen System, dem ich mein bescheidenes 
Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen 
naturgemäß richtig und die richtigen sind be 
greiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen 
Konsequenz und ich bin außerdem ... 


„Ein Zyniker“ warf Münzer ein, ohne aufzublicken. 
(Seite 42) Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. 


„Ich bin ein Schwein‘, murmelte er. 


Auch dieses Hervorheben der eigenen Niedertracht ist eine 
Captatio benevolentiae an die Adresse des 
eigenen Ueber-Ichs. Es ist, als hoffte man Verzeihung, 
nachdem man sich selbst bestraft hat durch Erniedrigung und 
Verhöhnung. Zugleich wird ein weiteres Moment zur Straf- 
milderung in den Vordergrund gerückt: Die Schwierigkeiten 
des Berufes. Ist es der Beruf, der „schlecht‘‘ macht, ist man 
ja selbst schuldloser. Diese intrapsychische Argumentation sieht 
aus wie eine Verhandlung vor einem weltlichen Gericht. Nicht 
mit Unrecht versprach sich einer meiner Patienten, ein junger 
Rechtsanwalt, regelmäßig, wenn er das Wort Über-Ich aus- 


— 137 — 
















































































sprechen sollte. Er sagte, in Anlehnung an das Oberlande;. 
gericht: Ober-Ich. 


25) Sentimental-pathetische Zyniker. 


Es sind dies Pathetiker, die über die Ungerechtigkeit der 
besten aller Welten empört sind ', Sentimentale, die sich ihres 
inneren Gefühls schämen und ungemünzt in Form des Zynis. 
mus — als Distanzierungsmittel — vorbringen. Dieser Zynis. 
mus trägt aber das Zeichen „made in sentiments“ in seiner 
ganzen Art: Er ist dem Weinen näher als dem Lachen. 

Zum Beispiel: 

H. Heine: Lumpentum 


Die reichen Leute, die gewinnt 

Man nur durch platte Schmeichelein — 
Das Geld ist platt, mein liebes Kind, 

Und will auch platt geschmeichelt sein, 


Das Weihrauchfaß, das schwinge keck 
Vor jedem göttlich goldnen Kalb, 

Bet’ an den Staub, bet’ an den Dreck, 
Vor allem aber lob’ nicht halb. 


Das Brot ist teuer dieses Jahr, 
Jedoch die schönsten Worte hat 
Man noch umsonst ; Besinge gar 
Mäcenas Hund, und friß Dich satt ! 


26) Zyniker a posteriori 


Als Paradigma diene der Witz: Warum wollte Haman alle 
Juden an einem Tage umbringen lassen? Er wußte, daß der 
Plan mißlingen werde und die Juden zur Erinnerung an die 
Gefahr ein Fest einführen werden: Und zwei Tage als Feier- 
tag hat ihnen Haman nicht gegönnt..., 

Ohne auf den Mechanismus dieses Witzes einzugehen, sei 


ı) Richtiger gesagt: Menschen, die ihre unerledigten Odipuskonflikte 
auf die Welt im allgemeinen Projizieren. Gemeint ist zu tiefst: „Warum 
lieben mich die Eltern nicht ?“ 









hervorgehoben, daß ex eventu Gedanken in einen Menschen 
hineinprojiziert werden, die ihm gewiß ferne lagen. Zugleich 
wird dem überwundenen Feind ein Fußtritt versetzt, die aus- 
estandene Angst wird gefahrlos abreagiert und am Urheber 
erächt‘. 

In dieselbe Gruppe gehören auch Zynismen, die sich auf 
Institutionen beziehen, die anzugreifen heute relativ gefahrlos 
ist. Zum Beispiel folg. Zeitungsnachricht: 


„Wenn Christus heute auf die Welt käme“ 
Eine Betrachtung von Lloyd George 


Telegramm unseres Korrespondenten 
London, 27. Juni ı931. Lloyd George sprach gestern in der Lon- 
doner Baptisten-Gemeinde, der er angehört, über das Thema: „Wenn 
Christus heute auf die Welt käme.“ Er sagte unter anderem: „Christus 
würde heute einen Geist des Hasses und des Mißtrauens nicht unter 
den Mohammedanern und Buddhisten, sondern unter den sogenannten 
christlichen Nationen vorfinden. Wäre er in unserer Zeit geboren, so 
könnte er nicht vor einem Herodes fliehen, denn seine Eltern müßten 
erst um einen Paß einkommen und an der Grenze des fremden Lan- 
des würde man ihm die Einreise verweigern, weil fremde Arbeiter 
unerwünscht sind, im Zimmermannsgewerbe Arbeitslosigkeit herrscht 
und die Familie nicht genügend Subventionsmittel vorweisen könnte.“ 
Vor einigen hundert Jahren wäre ein solcher Spötter in 
einem Autodafe verbrannt worden. 

Als literarisches Beispiel der geschilderten Zynismusart sei ein 


Adam- und Eva-Roman von Erskine genannt”. 


27) Der Überbietungs-Zynismus 

In der Polemik wird häufig, um den Gegner herabzusetzen, 
seine an und für sich schwer angreifbare Handlungsweise 
dadurch verkleinert, daß ihr eine andere entgegengesetzt wird 
etwa mit dem Motto: „Das ist noch gar nichts...“ Es gibt 
hiefür ein interessantes Beispiel aus einer Streitschrift gegen den 
Zynismus. In seinem Pamphlet: „De morte Peregrim“ wollte 
Lukian beweisen, daß der Flammentod des Peregrin nichts 


ı) In einer Schilderung von Krokodiljagden in Afrika las ich, daß die 
Eingeborenen das getötete Krokodil bösartig höhnen. 


2) John Erskine „Adam und Eva“, Transmare-Verlag, Berlin. 


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>> 


pm 













































































a 


Besonderes sei und nichts für die Ehrlichkeit der Zyniker aug. 
sage. Dabei verstieg er sich zu folgenden Überbietungs. 
zynismus: 
„Aber was für eine Ursache hat Peregrin in die Flammen zu 
springen? Wie? Beim Zeus! Einen Beweis abzulegen, daß er den 
Brahmanen an Standhaftigkeit nichts nachgibt ... Als ob es in Indien 
nicht ebensogut ruhmsüchtige Narren geben könnte als wie bei uns, 
Aber gut. Wenn das seine Meinung ist, so ahme er sie im Ernste 
nach. Denn, nach dem Berichte des Onesikritos, der den Kalanos sich 
verbrennen sah, springen die Brahmanen nicht in die Flammen hin. 
ein, sondern, wenn der Scheiterhaufen zu brennen anfängt, stellen sie 
sich ganz nahe unbeweglich hin und lassen sich eine Weile sengen, 
steigen dann hinauf, legen sich ruhig hin und verbrennen, ohne einen 
Augenblick zu zucken, oder das Geringste an ihrer Lage zu verän- 
dern. Was wird hingegen Protheus so Großes getan 
haben, wenn er gleich im Hineinspringen von der 
Gewalt der über ihn zusammenschlagenden Flam- 
men erstickt wird ?”* 
Man könnte auch sagen: auf fremde Kosten sei der Zyniker 
sehr großzügig. 


28) Der wissenschaftliche Zynismus 


Der Begriff ist recht vieldeutig und beinhaltet in der Öffent- 
lichkeit den Vorwurf des Zynismus gegen: 


a) schöpferische große Geister, die wissenschaftliches Neuland 
entdecken und dadurch notwendigerweise viele Illusionen 
zerstören. 


b) Angstmeier, die sich mit ihrer Ambivalenz unter dem 
Schutze wissenschaftlicher Behauptungen herauswagen. 

c) Aggressive Masochisten, die sich wahrer oder unwahrer 
wissenschaftlicher Behauptungen bedienen, um ihre Prügel 
(bildlich gesprochen) in der Außenwelt einzukassieren. 

Von besonderer Bedeutung ist der erste Typus. Man denke 

an die Behauptung Freuds, die Menschheit hätte drei schwere 
narzißtische Kränkungen erlitten: Die Behauptungen Koper- 
nikus, Darwins und Freuds. Es ist ohneweiteres klar, 
daß diese drei Genies mit ihren geistig weltumstürzenden Be- 


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— 








hauptungen an und für sich nichts Zynisches gelehrt haben. 
Auch ist die Form, in der ihre Behauptungen vorgebracht 
wurden, durchaus unzynisch gewesen. Das Argument „Zynis- 
mus“ wird gegen die Analyse deshalb so häufig vorgebracht, 
weil die wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen affek- 
tiven Gegner gerne vom Sachlichen aufs Affektive rekurrie- 
ren, ähnlich wie gewisse Frauen, die, wenn ihnen die Argu- 
mente ausgehen, unfehlbar schreien: „Wie benimmst Du 
Dich...“ Mit derselben Berechtigung, mit der die Behauptung 
vorgebracht wird, die Analyse sei zynisch, könnte gesagt wer- 
den, daß der Röntgenapparat zynisch sei. Die Wissen- 
schaft ist eben keine Lebensversicherung für Illusionen. 


29) Der profanierende Zyniker 


Machtsituationen und Machtpositionen werden manchmal von 
den Trägern dieser Machtposten dazu verwendet, um die be- 
treffenden Institutionen ad absurdum zu führen. Dies kann 
bewußt oder unbewußt vor sich gehen. 

Rebellierende Bauern in den Südostprovinzen Rußlands 
haben in den Anfängen der Rätediktatur, um die Sowjets, die 
sie bekämpften, ad absusdum zu führen, einen Esel zum 
Bauernrat ernannt‘. 


30) Der zwangneurotische Zyniker 


Dieser Typus sei nur der Vollständigkeit halber genannt, da 
er in die Symptomatologie der Zwangsneurose gehört und in 
jedem Lehrbuch der Analyse zu finden ist. Die Zwangsneurose 
ist bekanntlich von unbewußtem Strafbedürfnis überflutet, der 
Beweis, daß die zwangsneurotischen Zynismen, die Rebellionen 
gegen den Vater darstellen, eine sadistische und Schuldgefühls- 
basis haben, erübrigt sich. Bei keinem anderen T'ypus ist der 
„zynische Mechanismus“ in solcher Reinkultur studierbar, wie 
beim Zwangsneurotiker. 





ı) E. E. Kisch „Asien gründlich verändert“. 


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5 


31) Der experimentierende Zyniker 


In einer Novelle von Villiers‘ macht der Chirurg An 
mand Volpeau dem zum Tode verurteilten Arzt Doktor Eg. 
mond-Desir Couty de la Pommerajs folgenden Vorschlag : 


„Nun denn, Herr de la Pommerais, im Namen der Wissenschaft, 
die uns beiden unendlich teurer ist und deren Märtyrer nicht zu 
zählen sind, spreche ich jetzt zu Ihnen... Wenn Ihr Gnadengesun, 
verworfen werden sollte, werden Sie als Arzt in der Lage sein, sich 
der peinlichsten Operation unterwerfen zu müssen, die es überhaupt 
gibt. Es würde eine unschätzbare Bereicherung des menschlichen 
Wissens bedeuten, wenn ein Mann wie Sie, in den Versuch willi. 
gen wollte, uns kurz nach der Exekution eine Mittei. 
lung zukommen zu ae) Der tHenker wird so 
schnell wie möglich Ihren Kopf meinen Händen überge. 
ben. Dann aber — das Experiment ist eben seiner Einfachheit we. 
gen von so großer Bedeutung — werde ich Ihnen ins Ohr rufen, 
Herr de la Pommerais, eingedenk der zu ihren Lebzeiten 
zwischen uns getroffenen Verabredung, können 
Sie in diesem Augenblick dreimal das Lid Ihres 
rechten Auges aufheben und wieder senken, während Sie 
das andere Auge weit geöffnet haben... .“ 


Es ist kein Zweifel, daß Übergänge zum ideologischen Zy- 
nismus gegeben sind: Der Mann experimentiert unter dem 
Schutze der wissenschaftlichen Ideologie, die ihn exkulpiert, 
Andererseits sind Verbindungsbrücken zum Zynismus nach 
dem Typus »Wertlosigkeit des Lebens des Anderen“ gegeben. 








32) Der propagandistische Zynismus 

In jeder Gruppe, Partei, Gemeinschaft, werden Äußerungen 
der feindlichen Konkurrenzgruppe kolportiert, die die Niedrig- 
keit der Konkurrenzgesinnung aufzeigen sollen. Nun kann 
man gewiß nicht leichtgläubig genug sein, wenn menschliche 
Niedertracht zur Debatte steht. Geschichte und Realität bewei- 
sen, daß die Menschen wohl jeder Niedertracht fähig sind. 
Aber in solchen Fällen ist doch Vorsicht geboten, da es sich 


ı) Villiers de l’Isle-Adam „Das Geheimnis des Schaffots“ Band I. der 
Gesamtausgabe (Grausame Geschichten) Seite 79. 


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um eine organisierte Massenpsychose handelt. Hinter der orga- 
nisierten Hetze steckt dann meistens ein ideologischer Zyniker. 

Manchmal handelt es sich auch um Projektionen eigener 
Wünsche. Der Gegner spielt dabei die Rolle des Teufels, also, 
wie Freud nachgewiesen hat, der abgewehrten eigenen, nach 
außen verlegten Einstellungen. 


33) Sublimierter Zynismus 


Gemeint ist vor allem die dichterische Sublimierung. Der 
Romancier oder Dramatiker schildert einen zynischen Menschen 
und projiziert Anteile der eigenen Persönlichkeit hinein. Durch 
den, dem Dichter eigenen Entsühnungsvorgang' — der im 
Mitschuldig-machen der Zuhörer und in der Exkulpierung 
durch sie besteht — entledigt sich der Dichter seines Schuld- 
gefühls. 

Ähnliches geschieht — si parva lice componere magnıs — 
beim Nacherzählen zynischer Witze, mit dem ausdrücklichen 
Hinweis, der Witz stamme von jemandem anderen. 


34) Die zynische „Verwechslung“ 


gehört zum beliebten Rüstzeug der Schriftsteller, stellt also eine 
Unterabteilung des sublimierten Zynismus dar: In einer No- 
velle von Maupassant”’ wird die Geschichte des Wacht- 
meisters Varajou geschildert, der seine Schwester in einer Klein- 
stadt besucht, sich langweilt und in ein Bordell gehen will. In 
seiner Ortsunkenntnis verirrt er sich und landet im Hause des 
Steueramtspräsidenten, von dem der Mann der Schwester, ein 
kleiner Steuerbeamter, abhängig ist, und spricht die dort zum 
Tee versammelten Damen in der Dirnensprache als Dirnen an. 





35) Zyniker aus unbewußtem Strafbedürfnis 


In jedem Zynismus steckt, wie früher aufgezeigt, ein unbe- 


1) S. Arbeiten von Rank, Reik und Sachs. 


2) Guy de Maupassant „Eine Abendgesellschaft“, Ges. Werke 
Ullstein, Band V, Seite 396. 


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7 


wußter Strafwunsch. Es gibt bekanntlich neben den Zwangsneu. 
rotikern eine Gruppe von Fällen, bei denen der Strafwunsch 
in aufdringlichster Form hervortritt: bei Fällen von Moral 
insanity. 

Ein Patient, der wegen Moral insanity in Analyse war und 
u. a. Symptomen das der Kleptomanie hatte, brachte mir eines 
Tages als „Geschenk“ ein Buch unter dem Titel »„Proverbig 
lurpia et erotica“ und teilte mir zugleich mit, wo er es ge. 
stohlen hatte‘. Noch stärker als die Verhöhnung war die 
Wiederholung des kindlichen Strafwunsches in der Übertragung, 
— Derselbe Patient lächelte, als ich für einen Angenblick das 
Ordinationszimmer wegen eines Telephonanrufes verlassen 
mußte, höhnisch. Auf meine Frage, was ihn so belustigte, 
meinte er, ich könnte mir denken, er hätte, während er allein 
war, ein Buch aus der Bibliothek gestohlen. Und visitieren 
könne ich ihn ja nicht. — Eine andere Patientin mit Zügen 
von Moral insanity, die sich wahllos Männern hingab, vor 
Jahren einen Selbstmordversuch gemacht hatte und offiziell 
wegen Frigidität in die Analyse kam, entschuldigte eines Tages 
ihr Zuspätkommen mit folgenden Worten: „Entschuldigen Sie 
die paar Minuten, aber mein Freund wollte unbedingt noch 
ein sechstes Mal verkehren. Ich komme nämlich direkt von 





es zuspät werden wird. Aber ihm — denken Sie — war das 
wichtiger als die Analyse.“ Der Strafwunsch der Patientin ist 
klar. Dieselbe Patientin sagte einige Zeit später bei der Deutung 
ihrer aggressiven Männlichkeitswünsche: „Unsinn, ich will gar 
kein Mann sein, da kann man ja nicht vergewaltigt werden, 
und daß ist ja ohnehin noch das Schönste am Ganzen.“ 


36) Zynismus als Beschwichtigungsmittel 


In den ersten Tagen der französischen Revolution von 1789 
schrie eine durch die Straßen marschierende Gruppe von Re- 





1) Wie man derlei Zumutungen abwehrt und zugleich analysiert, gehört, 
da es sich um eine analytisch-technische Frage handelt, nicht hierher. 


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——— 





yolutionären : „An die Laterne mit den Aristokraten“ und 
ackte den ersten besten Menschen, den sie für einen Aristo- 
kraten hielt, um ihn an die Laterne zu knüpfen. „Werdet Ihr 
deshalb heller sehen ?“, fragte der Delinquent gelassen. Der Witz 
wirkte, der Betreffende wurde laufen gelassen. 

Es handelt sich um eine besondere Form der Ableitung der 
Aggression auf dem Wege des Zynismus. 


37) Zynismus aus Gesclectshaß 


Man kann die unbewußte Abwehr des Mannes gegen die 
Frau und die der Frau gegen den Mann, wenn diese Abwehr 
höhere Grade erreicht, nach Strindberg Geschlechtshaß 
nennen. Simpler gesagt: Die Geschlechtsambivalenz. Diese be- 
dient sich häufig der Zynismen. Es seien zwei Beispiele ge- 
nannt: Eine arrivierte Ärztin von aggressiv-männlichem Typus, 
empfahl einer Patientin, da sich eine Behandlung durch einen 
Spezialarzt als notwendig erwies, eine Ärztin. Die Patientin 
protestierte: Sie wolle lediglich zu einem Mann in Behandlung 
gehen. Die Ärztin gab ihr hierauf absichtlich die Adresse eines 
ihr höchst unsympathischen Arztes, dessen äußere Erscheinung 
alles eher als der erhofften Siegfriedgestalt entsprach. Klarer 
konnte die Abwehr und Verachtung gegen die Spezies Mann 
nicht ausgedrückt werden. 

Als Beispiel der inneren Ambivalenz Mann-Frau sei ein 
Ausspruch Voltaires zitiert: „Eine Frau ist ein Wesen, 
das sich anzieht, schwätzt und sich auszieht.“ 


38) Der verbündete Zynismus 


Zyniker werden oft im Stadium der Bekämpfung des Geg- 
ners, also des Machtkampfes, ausgiebig als Verbündete ver- 
wendet. Man denke an den zynischen Witz als politische An- 
griffswafle. 

Es gibt ein interessantes historisches Beispiel, das zeigt, daß 
selbst die Kirche sich der Hilfe der alten Kyniker bediente. 
Bernays (o. c.) sagt darüber: 


PsA. Bewegung V — 145 — 10 






















































































„Noch ungehemmter als der ungefährlich scheinende Freimut der 
Kyniker konnte sich ihre religiöse Freigeisterei im Bereiche des römi- 
schen Kaiserreichs entfalten, das grundsätzlich alle nicht auf neue- 
Gemeinbildung gerichteten religiösen Bewegungen keiner Autmerk. 
samkeit würdigte. Und der Kynismus mußte seinem Wesen nach 
immer sporadisch bleiben. Aber in dieser zerstreuten Vereinzelung 
hat er doch mächtigden großenreligiösen Umschwung 
gefördert, welcher seit dem ersten Jahrhundert der Kaiserzeit sich 
ankündigte. In ihrem Kampfe gegen die verschiedenen Arten des 
Polytheismus fanden Judentum und Christentum wenig wirksam ere 
Bun desgenossen als die überall umherziehenden kynischen 
Wanderprediger, welche auch den staatlich anerkannten Kulten gegen. 
über sich jeder Rü Isicht des Anstandes entbanden. Sie gaben den 
mittleren und niederen Ständen, mit denen sie fortwährend Berührung 
suchten, das ansteckende Beispiel einer offenen, in die derbsten For- 
men gekleideten Gerings:hätzung aller der mythologischen Götter 
gebilde. Die Kyniker haben von ihrem ersten Auftreten an mit folge- 
richtiger Strenge den Gottesglauben festgehalten und den Götterdienst 
mit Hohn überflutet, Sie sind die am reinsten deistische Sekte, die 
das hellenisch-römische Altertum hervorgebracht hat. Schon Antisthenes 
rief unverhohlen: Die vielen Götter sind die konventionellen, der 
wahre Gott ist einer, und da dieser wahre Gott als ein einiger auch 
unvergleichlich ist, so kann man aus einem Bilde seiner nicht inne 
werden. Bei solcher monotheistischen Ansicht konnten die mythologi- 
schen Götterfamilien nur ihren Spott erregen. Als Bettelpriester der 
Kybele Antisthenes um eine Gabe für die Göttermutter ansprachen, 
soll er sie mit den Worten abgewiesen haben: Ich gebe nichts 
für den Unterhalt der Göttermutter, die Götter 
werden schon ihre Kindespflicht erfüllen und sie 
unterhalten. Mit kynischer Bitterkeit griff Oenomaos (zweites Jahr- 
hundert n. Ch.) das Orakelwesen in einer Schrift „Entlarvung der 
Gaukler“ an. Ihre Gesamttendenz gibt Eusebius dahin an, daß sie 
den Nachweis führen wolle, der Ursprung der Orakel sei weder, wie 
die frommen Heiden glaubten, auf die Götter, noch wie die älteren 
Christen annahmen, auf böse Dämonen zurückzuführen, sondern es 
gehe dabei alles schr menschlich zu: schlaue Betrüger haben die 
Einfalt der Menge mißbraucht. 

Als Ergebnis dieser Zusammenstellung tritt es wohl deutlich her- 
vor, daß nach der negativen Seite, soweit die Bekämpfung des Poly- 
theismus und aller seiner feineren und gröberen Anhängsel in Be- 
tracht kommt, eine volle Übereinstimmung bestehe 
zwischen den Kynikern und biblischen Religions- 
formen, die sich im römischen Kaiserreich ausbreiteten; es wird 





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sehr begreiflich, daß ein Jude oder Christ die Maske des Kyon wählte, 
um so, wie es im 28. Diogenes Briefe geschieht, den Hellenen ihre 
Sünden vorzuhalten und ebensowenig kann es Wunder nehmen, daß 
Übertritte aus dem einem in das andere Lager 
vorkamen, zumal, da auch die rauhe, meistens von der Familie 
losgetrennte Lebensweise der Kyniker früh unter den gnostischen 
Enkratikern und später in der Entwicklung des Einsiedler- und 
Mönchwesens ihr Gegenbild fand. Und wie Peregrinus 
aus einem Christen ein Kyniker wurde, so verzeichnet die Kirchen- 
geschichte der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts einen hervor- 
stechenden Übertritt nach der entgegengesetzten Richtung. Ein ägypti- 
scher Kyniker Maximus ward in den Schoß der orthodoxen Kirche 
aufgenommen, ohne daß man damals, wo die Arianer noch mächtig 
und die Nachwehen der Unternehmungen des Kaisers Julianus noch 
nicht völlig überwunden waren, ihm den Zutritt glaubte durch 
die Forderung erschweren zu sollen, daß er die äußerlichen Ab- 
zeichen des Zymismus ablegte. Erst als er mit Hilfe der hohen 
ägyptischen Geistlichkeit von einer Gegenpartei des Nazianzeners 
Gregorius als Bischof von Konstantinopel inthronisiert 
wurde, schnitt man ihm das struppige zynische Barthaar ab. 


39) Zynismen mit der Zielscheibe : Lächerlichkeit menschlicher 


Einrichtungen 


In der Nacht vor dem Staatsstreich Napoleon III. sagte 
ihm ein Mitverschworener: „Wie immer der morgige Tag aus- 
gehen mag, vor Ihrer Türe steht morgen ein Posten mit Bajo- 
nett-auf.‘“ Dieser Ausspruch karikiert die Lächerlichkeit mensch- 
licher Einrichtungen, die den Gefangenen und Herrscher be- 
wachen läßt und läßt zugleich die Aggression gegen den künf- 
tigen Herrn erkennen. 

Ein Ausspruch Heines (Reisebilder 1, Norderney) lautet: 
„Wer weiß, wer weiß, die Seele des Pythagoras ist vielleicht 
in einen armen Kandidaten gefahren, der durchs Examen fällt, 
weil er den pythagoräischen Lehrsatz nicht beweisen konnte, 
während in seinen Herren Eximinatoren die Seelen jener 
Ochsen wohnen, die einst Pythagoras aus Freude über die 
Entdeckung seines Satzes den ewigen Göttern geopfert hat.“ 
Die Lächerlichkeit der Schulweisheit wird hier aufs Korn ge- 


Sr 147 a 10* 
















































































nommen, wobei die alte Erfahrung, daß aus Vorzugsschülem, 
meistens nichts Rechtes wird, herangezogen wird. 

In die gleiche Gruppe gehört Anatole France's Au 
spruch: Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit 
den Armen und den Reichen unter der Brücke zu schlafen und 
Brot zu stehlen. 

Der französische Minister Choiseul sagte einmal: Wenn 
Ihr einen Genfer zum Fenster hinausspringen seht, SO springt 
nach, denn es müssen da wenigstens sechs Prozent zu ver. 
dienen sein. 

Heldentum wird von Börne („Der Narr im weißen Schwan“ 
wie folgt karikiert: „Das Geheimnis jeder Macht besteht darin: 
zu wissen, daß Andere noch feiger sind, als wir.“ 

„Unmoralisch ist, wenn jemand dabei ist“ _ definierte Karl 
Kraus die herrschende Moral. i 


40) Zynismen als Trost 
Eine Gruppe von Karrieristen präzisierte Ernst Ziel (,„Fun- 
ken ins Finstere“) folgendermaßen : 


„Zwei Geschlechter machen heute 
Karriere in jedem Staat. 

Ehrenfeste, liebe Leute, 

Trinken Bier und spielen Skat. 
Und sie heißen kurz und schlicht: 
Duckedich und Denkenicht. 

Es könnte dies der Trost eines Erfolglosen sein. Eine nar- 
zißtische Befriedigung der eigenen Überlegenheit an Stelle des 
äußeren Glanzes. Nicht nur „des Unglücks süße Milch: Philo- 
sophie“ (Schiller) tröstet, auch Zynismen eignen sich manchmal 
dazu. So ist etwa der Vers Heines zu verstehen: 

„Selten habt Ihr mich verstanden, 
Selten auch verstand ich Euch, 

Nur wenn wir im Kot uns fanden, 
So verstanden wir uns gleich.“ 

Eine andere Abart dieser Gruppe ist etwa die Antwort, die 
ein wegen seiner Grausamkeit bekannter spanischer General 
dem Priester gab, der ihn auf dem Sterbebett aufforderte, 


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seinen Feinden zu verzeihen: „Das ist überflüssig, sie sind 


alle tot.“ 
4) Zynische Parodien 


Es sei auf Nestroys Hebbelparodie und R. Neumanns 
‚Mit fremden Federn“ verwiesen. Genau so wie die Parodie 
en sozial zulässiges Plagiat darstellt, ist sie zugleich (in gemil- 
derter Form) eine geduldete Abart der Aggression. Zugleich ist 
die Parodie eine Spezialform des zynischen Witzes. Der An- 

iff ist allerdings ein indirekter: Er setzt eine Scheinidentifi- 
zierung mit dem Verhöhnten voraus. Daß Lächerlichkeit tötet, 
ist gewiß übertrieben. Jedenfalls merken meist „die Toten“ 
nichts von ihrem Tode. Es geht ihnen etwa wie jenem Ber- 
liner General, der beim Lesen seiner eigenen verfrühten Todes- 
nachricht sagte: „Ich dementiere mir.“ 


42) Zynismen als Überrumpelungstrick 


In B. Shaw’s „Kaiser von Amerika“ soll ein künftiger eng- 
lischer König, der sich in die Regierungsgeschäfte unbefugter- 
weise einmengt, in seine Schranken gewiesen werden. Der 
König überrumpelt seine Gegner durch die zynische Erklärung, 
er werde, wenn er nicht in Ruhe gelassen werde, auf seinen 
Thron verzichten und sich als Exkönig in das Unterhaus wählen 
lassen und dem Premier Opposition machen. 

Es gibt übrigens eine historische Parallele dieser „zynischen 
Verzichte“. Als Cäsar im Jahre 60 vor Christi sich um das 
Konsulat bewerben wollte, versuchten seine Gegner diesen 
Plan folgendermaßen zu durchkreuzen: Der Senat bewilligte 
ihm einen Triumph (pompöse Siegesfeier) für seine Siege. 
Einige Volkstribunen (Cäsars Anhänger) stellten hierauf den 
Antrag, Cäsar möge sich nach dem Beispiel von Lukullus ab- 
wesend um das Konsulat bewerben dürfen, da der siegreiche 
Feldherr nach einem alten Gesetz vor seinem Triumph Rom 
nicht betreten durfte. Die Annahme dieses Antrages sabotier- 
ten Cäsars Gegner durch Obstruktionsreden im Senat. Cäsar 
verzichtete auf den Triumph, kandidierte und wurde gewählt. 


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43) Zitat-Zynismen 7 


Eine Seziersaal-Anekdote erzählt von einem Anatomen, der 
bei der Sektion der Genitalien einer Publica konstatiereng 
zitiert haben soll: 

„Wer zählt die Völker, nennt die Namen, 
Die gastlich hier zusammenkamen.“ \ 

Ein impotenter Patient hatte bei einem Mädchen, bei dem 
er „in Schanden dalag“ (Goethe) und das sich darüber lustig 
machte, folgenden Zitateinfall: 

„Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen, 
Und das Erhabne in den Staub zu ziehen. 

O, fürchte nicht, es gibt noch schöne Herzen, 
Die für das Hohe, Herrliche entglühen. 

Die Form dieser Zynismen ist also die, „Erhabenes“ he; 
wenig erhabenen Gelegenheiten zu zitieren. Das leitet über 
zur Form der zynischen Anspielung. 








44) Die zynische Anspielung 


Als Beispiel seien zwei Aussprüche, die, wahrscheinlich 
fälschlich, der Madame de Staäl zugeschrieben werden, 
genannt: Sie erzählte in einer Gesellschaft von ihrer Absicht, 
Memoiren zu veröffentlichen. „Wollen Sie wirklich die Wahr- 
heit schreiben ?“ fragte ein Zweifler. „Ich gebe mehr ein 
Il Brustbild“, antwortete M. de Staäl. 

Die gleiche Dame bittet Napoleon um eine sofortige Audienz, 
Der Kaiser läßt sie abweisen, da er im Bade sei. „Das macht 
| nichts“, wehrt die Bittstellerin ab. „Das Genie ist geschlechts- 
los... 

Die obszöne Anspielung dient — wie Freud nachgewiesen 
hat — der Entblößung. S. auch Reik „Anspielung und Ent- 
blößung“. 


45) Zynismen unter der Maske heuchlerischer Komplimente 


Zwei Schriftsteller schrieben eine „historische Reportage“ 
über einen verstorbenen Staatsmann und rühmten sich nach 







































































— 150 — 








Aufführung des Stückes dieser neuen Literaturgattung, worüber 
sich ihre Kollegen lustig machten. Ein Kritiker bemerkte ernst: 
‚Man tut den Beiden unrecht. Sie haben tatsächlich etwas 
Neues geschaffen: Revue, gemildert durch Historie .. Su 

Ein französischer Philosoph bezeichnete einen Bekannten als 
zweitletzten aller Menschen“. Als sich jemand über diese son- 
derbare Einteilung wunderte, sagte er: „Um niemanden zu 
entmutigen.“ 

ir einem ähnlichen Sinnegilt der Vorschlag Wedekinds, 
einem.“churken den „Fensterkreuzorden am hänfernen Bande“ 
zu verlse'en. 

Der Zynismus dieser Spielart wird erst durch die schein- 
bare Captatio des Kompliments ermöglicht und gibt zugleich 
einen Hinweis auf eine der Arbeitsweisen des Heuchlers ‘. 


46) Zynismen unter der Maske der Freundschaft 


In einem Roman von A. Neumann (Narrenspiegel), der das 
tolle Treiben eines mittelalterlichen Herzogs (einer Falstaff- 
Gestalt) schildert, wird von einer Fahrt dieses Grandseigneurs 
zum Woywoden von Krakau erzählt. Der Herzog will König 
von Polen werden. Um den Herzog — seinem Konkurrenten 
— seine Mißachtung auszudrücken, läßt der Woywode eine 
lange Reihe von Bettlern längs der Straße aufmarschieren, die 
im Moment, in welcher die Kutsche des Herzogs durchfährt, 
urinieren. Der Freund des Herzogs beruhigt ihn — teilweise 
aus Hohn, teils aus Angst — es sei dies lediglich ein neues 
polnisches Grußzeremoniell ... 

In der Analyse eines älteren Mannes, der mit großer Ge- 
schicklichkeit Symptome einer organischen Krankheit hysterisch 
imitierte und damit lange Zeit die Ärzte irreführte, erzählte 
der Patient, er hätte alle möglichen Methoden angewendet, um 
Beziehungen zu Frauen anzuknüpfen. Sogar auf den Gedan- 
ken, in einer Tageszeitung zu inserieren, sei er vor Jahren 





1) Ähnliches geschieht, wenn ein bedeutungsloses Werkchen eines Autors 
überschwenglich gelobt wird, um sein Hauptwerk zu verschweigen. 


— 151 — 

















































































































gekommen. Er hätte sich lange Zeit nicht entschließen können, 
das Inserat einschalten zu lassen, und vor allem nicht gewußt, 
unter welchem Kennwort er dies tun solle. Fin Freund, dem 
er sich anvertraute, gab ihm den Rat, den gorüischen Knoten 
zu durchhauen und einfach ‚den griechischen Gott der" ehr. 
baren Bekanntschaften namens Priapus“ als Kennwort zu wählen, 
Patient war auf seinen Freund sehr wütend, als er in der 
Analyse erfuhr, was Priapus bedeutet. 


47) Unterschiebender Zynismus 


Die Technik dieser Zynismen besteht darin, dem inderen 
eine unsinnige Äußerung zu imputieren, um ihn lächerlich zu 
machen, oder zu schädigen. Zum Beispiel: Ein Mann hatte 
eine wohlhabende, aber recht dumme Frau geheiratet und 
mußte während eines mit Freuden. gemeinsam verbrachten Ur. 
laubs immer wieder sehen, wie lächerlich sich seine Frau be. 
nahm und wie sich seine Freunde darüber mokierten, Eines 
Tages parierte er, indem er beim Mittagstisch erzählte : »Wißt 
Ihr, was Erna heute gesagt hat? Sie meinte, sie verstehe nicht, 
weshalb die Sonne bei Tag scheine, wo es doch ohnehin hell 
ist. Daß in der Nacht der Mond, wo alles dunkel ist, leuchtet, 
hat immerhin noch einen SIan'y . 5° 

Ähnlich ist eine Äußerung eines Chemikers über seinen ihm 
verhaßten Konkurrenten, ebenfalls einen Chemiker, zu Ver- 
stehen. Er hätte, erzählte er, ein geistreiches Verfahren gefun- 
den, künstliche Erdbeeren zu erzeugen, und dabei Brom in 
großen Mengen freizubekommen. Das Rezept lautet: Man 
nehme Brombeeren, lege sie auf die Erde, dabei verbinden 
sich die Beeren mit der Erde zu Erdbeeren und Brom werde 
frei '. 


\ 
? 





1) In beiden Fällen besteht der Zynismus in der freimütigen Meinung: 
die Frau (der Kollege) ist ein Idiot. Zugleich wird auf die Ambivalenz der 


= B2— 





48) Zynismus nach dem Motto: Der Blick fürs Wesentliche 


Freud erzählt in seiner „Geschichte der psychoanalytischen 


ei, 
ewegung . 


Ein Jahr später hatte ich als Privatdozent für Nervenkrankheiten 
meine ärztliche Tätigkeit in Wien begonnen und war in allem, was 
Ätiologie der Neurosen betraf, so unschuldig und so unwissend ge- 
blieben, wie man es nur von einem hoffnungsvollen Akademiker for- 
dern darf. Da traf mich eines Tages ein freundlicher Ruf Chro- 
baks, eine Patientin von ihm zu übernehmen, welcher er in seiner 
neuen Stellung als Universitätslehrer nicht genug Zeit widmen könne. 
Ich kam früher als er zur Kranken und erfuhr, daß sie an sinn- 
losen Angstanfällen leide, die nur durch die sorgfältigste Information, 
wo sich zu jeder Zeit des Tages ihr Arzt befinde, beschwichtigt 
werden könnten. Als Chrobak erschien, nahm er mich beiseite und 
eröffnete mir, die Angst der Patientin rühre daher, daß sie trotz 
achtzehnjähriger Ehe Virgo intacta sei. Der Mann sei absolut impotent. 
Dem Arzt bleibe in solchen Fällen nichts übrig, als das häusliche 
Mißgeschick mit seiner Reputation zu decken und es sich gefallen zu 
lassen, wenn man achselzuckend über ihn sagte: Der kann auch 
nichts, wenn er sie in so vielen Jahren nicht hergestellt hat. Das 
einzige Rezept für solche Leiden, fügte er hinzu, ist uns wohl be- 
kannt, aber wir können es nicht verordnen. Es lautet: 

Rp. Penis normalis 
dosim 
Repetatur ! 


Ich hatte von solchem Rezept nichts gehört und hätte gern den 
Kopf geschüttelt über den Zynismus meines Gönners.« 


Viele Zynismen sind nach dem gleichen Mechanismus, wie 
Chrobaks Äußerung, aufgebaut. Als Beispiel diene die Anek- 
dote vom reichen Mann, bei dem die hübsche Frau eines 
Schnorrers für ihren Mann interveniert. Der Krösus will die 
Bitte des Schnorrers erfüllen, unter der Bedingung, daß die 
Frau sich ihm hingibt. Die Frau hält sich Bedenkzeit frei: 
Wenn sie sich entschließen könne, werde sie am nächsten Tage 
zu einer bestimmten Stunde kommen. Pünktlich erscheint sie 
auch und versucht den Börsianer in eine längere Konversation 
über das Wetter zu verwickeln. Plötzlich sagt der Geldmann : 
„Genug geflirtet, ziehen Sie sich aus.“ 


ı) Freud. Ges. Schriften, Band IV, S. 409. 





— 153 — 








49) Paragraphen-Zyniker 

Gemeint sind Menschen, die.bestehende, aber veraltete ge- 
setzliche Bestimmungen raffiniert-hinterhältig ausnützen, wobei 
das treibende, bewußte Motiv ein persönlicher Vorteil dar. 
stellt. Zum Beispiel ein wohlhabender Mann, der die Annu. 
lierung seiner Ehe nach 30jähriger Gemeinschaft mit seiner 
Frau, die er vor Jahrzehnten bewogen hatte, ihre erste Ehe zu 
lösen, anstrebt und folgende Begründung angibt: Er hätte vor 
30 Jahren vor der Eheschließung, zu einer Zeit also, in wel- 
cher die erste Ehe der Frau noch formell bestand, mit dieser 
sexuellen Umgang gehabt. Nach einem österreichischen Gesetz 
ist vorangegangener Ehebruch ein Eheausschließungsgrund, 
Unter Berufung auf diesen Paragraphen will sich der Mann 
I von der Zahlung der Alimente drücken. Es ist anzunehmen, 
daß auch für dieses Vorgehen eine Rationalisierung zwecks 
Über-Ich-Beschwichtigung zu finden sein wird. 








50) Zynismen unter Maske der Höflichkeit 

In der Vorrede zu seinen in Buchform erschienenen witzigen 
Feuilletons! äußert Spitzer Bedenken, ob eine Sammlung 
kurzlebiger Glossen einen Sinn habe: 
| „Ich hoffe, daß meine früheren Leser diese Sammlung gutheißen 
I werden — freilich nicht alle. Bei einem großen Diner wurde eine 
I sehr lustige Geschichte erzählt, über die alle Gäste herzlich lachten, 
| Nur ein junges Fräulein war, wie dem nebenan sitzenden Herrn 
| schien, teilnahmslos geblieben. ‚Und Sie lachen nicht, mein Fräulein? 
| fragte der Nachbar. ‚Ich danke‘, antwortete das wohlerzogene Mäd- 
chen, ich habe schon gelacht. So wird vielleicht auch man- 
cher von meinen früheren Lesern, denen ich diese Sammlung vor 
allen anbiete, bescheiden ablehnend antworten: Ich danke, ich habe 
schon gelacht.“ 
Die Antwort des Mädchens wäre — unter der Vorausset- 
zung, daß der Witzeerzähler eine Autorität für sie ist — ein 
Mittelding zwischen einem „naiven“ Zynismus (14.) und einem 
Zynismus unter der Maske der Höflichkeit. 

















1) Daniel Spitzer „Wiener Spaziergänge“, Band II, Seite 3, Georg 
Müller, München. 

















































































































— 154 — 








5I) Zynismus als Revanche 
Zu Beginn der französischen Revolution 1789 wurde einem 
Generalsteuerpächter von der Volksmenge der Kopf abgeschla- 
gen, ein Bündel Heu in den Mund gesteckt, sein Kopf auf 
eine Picke aufgespießt und triumphierend durch die Straßen 
getragen. Es war dies die Antwort der Revolutionäre auf eine 
Äußerung des Generalsteuerpächters: Wenn die Leute kein 
Brot haben, sollen sie Gras essen. 

Der Entsühnungs-Mechanismus ist der von Freud in „Mas- 
senpsychologie und Ich-Analyse“ geschilderte. 


52) Zynismen in Form einer ad absurdum 
geführten Gefügigkeit 
In einem Catullus-Drama' wird über dessen Geliebte Claudia 
folgendes gesagt: „In Wirklichkeit war Catull der düstere Hö- 
rige Claudias, einer verbrecherisch veranlagten, sexuell extra- 
vaganten Aristokratin, die ihn zu den höchsten Höhen mensch- 
lichen Glücks emporhob und dann mitleidslos zerstörte.‘“ Claudia 
will nun von Catull nichts mehr wissen und läßt ihn fallen. 
Catull rächt sich mit Spottgedichten an die Adresse Claudias 
und ihrer unterschiedlichen Geliebten”. Aus „Staatsgründen“ 
soll sich Claudia auf Cäsars Geheiß mit Catull versöhnen. 
Diese „Versöhnung“ wird folgendermaßen geschildert : 
„Claudia... Und die Dirne, die ich durch Dich geworden 
bin, die bleibe ich... Man kann mich haben... Du auch. (Sie 
legt sich auf ein Ruhebett.) Bediene Dich doch! Aber rasch, es ist spät 
und ich muß fort. 
Catullus (entsetzt): Das ist die Reue! Das ist die Wandlung, 
die mir Dein Bruder versprach ! 
Claudia: Was haben andere zu versprechen, von dem was ich 
fühle. Da — meinen Leib biete ich Dir wieder. Das Geschäft ist 
ehrlich! Was willst Du noch mehr ? 


ı) R. W. Trune (Pseudonym des Wiener Röntgenologen Professor 
Schwarz) „Catullus und Claudia“, Verlag Perles 1992. 

2) Catull schrieb über seine Nachfolger bei Claudia beißende Spott- 
gedichte aus Verzweiflung über den Verlust Claudias: Rufus warf er „wil- 
den Bocksgestank in den Achselhöhlen“ vor, Egnatius weiße Zähne führte 
er auf das Waschen mit eigenem Urin zurück. 


— 155 — 







































































Sen 



























































u 

Catullus (steht erstarrt). 
Claudia (erhebt sich). So, Du bist nicht in Laune heute ? Gur, 
mein Freund, vielleicht ein anderesmal.“ ö 
Die Rache an Catullus ist grausamer, als wenn Claudia sich 
ihm weiter verweigert hätte, die Über-Ich-Kaptivierung ge- 
schieht in Form der „Notwehr“ gegen einen Zwang, 


53) Zynismen des „advocatus diaboli“ 


Es werden — scheinbar selbstlos — dem Gegner Argumente 
geliefert, während in Wirklichkeit lediglich Prävenire gespielt 
wird: Das vorgebrachte, gegen die eigene Person gerichtete 
Argument wäre nach einiger Zeit vom Gegner selbst heran- 
gezogen worden. Durch Vorwegnahme wird es wesentlich ab. 
geschwächt und um die Wirkung des Überraschungsmomentes 
gebracht. Die zynische Meinung wird dem Gegner in den 
Mund gelegt, der ersparte Entrüstungsaufwand + dem narziß- 
tisch ausgewerteten Überlegenheitsgefühl ergeben das Lustvolle 
des Vorganges: Die dem Gegner imputierte Meinung ist häu- 
fig das Urteil des eigenen Über-Ichs über den „advocalus“. 





54) Zynismen im Dienste der Sensationen 


In einem Roman Dreisers‘ wird die Mutter des wegen 
Mordes angeklagten Helden als Berichterstatterin einer großen 
Zeitung engagiert, um über den Prozeß ihres eigenen Sohnes 
zu berichten. Die Mutter nimmt den Auftrag an, da sie sonst 
— Fahrtspesen! — nicht zum Prozeß ihres Kindes, der in 
einer von ihrem Wohnort weit entfernten Stadt stattfindet, 
kommen könnte... 

In den letzten Wochen meldeten die Zeitungen, daß ein 
findiger Amerikaner die Arbeitslosenvermittlung im Stile eines 
„Sklavenmarktes“ veranstaltete. 

Die Über-Ich-Kaptivierung wird ideologisch hergestellt: „Das 
Publikum will es.“ 


1) Dreiser: „Eine amerikanische Tragödie“. 


— 156 — 








55) Der vergällende Zynismus 


besteht darin, alles Erreichte oder Erstrebte mit aggressiver 
Tendenz als Nichtigkeit darzustellen. So sagte einmal Dis- 
raeli: „Und was machen Sie mit dem Gral, wenn Sie ihn 
gefunden haben ?“ 

Diese Form des Zynismus kann verschiedenen Tendenzen 
dienen: Der Rache (Neid), dem Strafbedürfnis („Was hilft mir 
der Erfolg, ich muß immer an die Vergänglichkeit aller Dinge 
und an den Tod denken“, hören wir häufig von unseren 
Zwangsneurotikern), dem Sadismus, dem sadistischen Voyeur- 
tum (Mitansehen der Verblüffung und des Ärgers derjenigen 
denen der Erfolg „vermießt‘“ wird) etc. ° 


56) Zynismus in Form des Schweigens 


In seinem Ärztedrama „Professor Bernhardi“ läßt Schnitz- 
ler seinen Helden gegen seinen Gegner den Vorwurf erheben, 
er hätte vor Jahrzehnten im Spital, obwohl er die Unrichtig- 
keit der Diagnose seines Chefs in einem speziellen Fall durch- 
schaut hätte, geschwiegen. Die Über-Ich-Kaptivierung erfolgt 
auf dem Wege der Abschiebung der Verantwortung auf einen 
„Großen“. 


57) Aufgeschobene Zynismen 


Von der Begeisterung sagte Goethe: „Begeisterung ist 
keine Heringsware, die man einpöckelt auf einige Jahre.“ 
Zynismen gehören aber manchmal zu dieser Sorte. Ein großer 
Psychologe, wie Schnitzler, läßt in seinem besten und des- 
halb wohl unbekanntesten Schauspiel „Die letzten Masken“ 
den sterbenden Journalisten Rademacher den Wunsch äußern, 
den bekannten Schriftsteller Weihgast noch einmal zu sehen, 
um ihm seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern und das 
jahrelang gehütete Geheimnis preiszugeben, daß er der Geliebte 
seiner Frau war. (Das Tragische der „Letzten Masken“ liegt 
darin, daß diese Worte der Verachtung nur bei der General- 
probe, mit dem ebenfalls moribunden Schauspieler Florian aus- 


— 157 — 









































































































































gesprochen werden; als Weihgast wirklich kommt, Spricht der 
Sterbende mit ihm nur Belangloses und sagt dann zu sich selbst. 
„Wie armselig sind die Leute, die auch noch morgen leben 
müssen.“ 

Auch in einer anderen Komödie (in der Sammlung „Ko. 
mödie der Worte“) läßt Schnitzler einen Ehemann jahre. 
lang das Geheimnis seines Hahnreitums mit sich herumtragen 
und erst in einem ihm günstig erscheinenden Augenblick (nach 
Verheiratung der Tochter) die Konsequenzen ziehen. 

Im ersten Fall liegt ein Zusammenspiel von einigen Formen 
von Zynismus vor: Zynismus als Trost, Zynismus der Sterbe. 
stunden, Gedankenzynismus, Zynismus aus Rache etc. 

Aus der Tatsache des häufigen Zusammentre£ 
fens einiger Formen des Zynismusin einem Zy- 
nismus geht hervor, daß in der Realität die hier 
vorgenommene Trennung keine scharfe sein 
wird. Anders ausgedrückt, daß Zynismen „rudelweise“ 
auftreten. 

Es sei hervorgehoben, daß der aufgeschobene Zynismus eine 
große Portion masochistischen Genusses an Selbst. 
quälerei zur Voraussetzung hat, wobei das Warten verschie. 
dentlich rationalisiert wird. 


58) Der „dosierte“ Zynismus 


In einer Novelle Villiers‘ findet am Tage vor der Ver- 
brennung ein zum Feuertode verurteilter Rabbi die Zellentür, 
die der Großinquisitor absichtlich offen läßt, unversperrt, 
schleicht sich an zwei Inquisitoren, die ihn scheinbar nicht be- 
achten, vorbei und wird erst in letzter Minute vom Großin- 
quisitor eingefangen: 

„Entsetzen! Er lag in den Armen des Großinquisitors, des ehr- 


würdigen Pedro Arbuez d’Espila, der ihn liebevoll anblickte. Große 
Tränen füllten sein Auge, er betrachtete den Rabbi mit der Miene 


ı) Villiers de P’Isle-Adam, Ges. Werke, Band: „Geschichten vom Jen- 
seits“, „Qualen der Hoftnung“, Seite 17. 


— 158 — 












des guten Hirten, der sein verlorenes Schäfchen wiedergefunden hat. 
Der finstere: Priester drückte den unglückseligen Juden mit einer sol- 
chen Inbrunst .an sein Herz, daß die härenen Spitzen des Büßerge- 
wandes, das er unter der Kutte trug, seine eigene Haut ritzten. Und 
während der Rabbi Aser Abarbanell zuckend und mit verdrehten 
Augen schauernd in den Armen des asketischen Arbuez lag, wurde 
ihm klar, daß alles, was er an diesem verhängnisvollen Abend erlebt, 
eine ihm vorher bestimmte Folter war, die Folter der Hoff 
nung. 

Der Großinquisitor jedoch flüsterte ihm mit sanfter Miene und vor- 
wurfsvollem, mildem Tone die Worte ins Ohr: 

‚Was denn, mein Kind, am Vorabende des Heils wolltest du uns 
verlassen « — —* 


erselbe potenzierte Zynismus (die Über-Ichbeschwichtigung 
ist die des ideologischen Zynismus), wird heute noch in ameri- 
kanischen Gefängnissen praktiziert. Die Kandidaten für den 
elektrischen Stuhl werden erst im „Todeszimmer“, einige Se- 
kunden vor der Hinrichtung, benachrichtigt, ob sie begnadigt 
werden. Die Rationalisierung lautet: Es sei gütig, den Verur- 
teilten Hoffnung bis zur letzten Minute zu geben. 


59) Der „gläubige“ Zyniker 


Ein Patient mit Moral insanity schloß sich — obwohl er 
typischer Ostjude war — ideologisch einer antisemitischen Be- 
wegung an, führte mit seinen Bekannten endlose Gespräche über 
ihre Berechtigung, nur um seine jüdischen Bekannten ärgern zu 
können. Diese Handlungsweise stellte ein Mittelding zwischen 
Voyeur-Zynismus und Schuldgefühls-Zynismus dar. Seine Über- 
Ich-Beschwichtigung holte sich der Patient in zahllosen maso- 
chistischen Aktionen, gleichsam in zwei Portionen, wobei er 
aus jeder Bestrafung unbewußt die Berechtigung zu neuen 
„Stückeln“ (so nannte Patient seine Provokationen) ableitete. 


60) Der Zynismus-Schnüffler 


Angstmeier, nach dem von Goethe in den „Zahmen Xenien“ 
geschilderten Typus: 


— 159 — 

















































































































































































































wm 

„Was ist ein Philister? Ein hohler Darm, 

Mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt, 

Daß Gott erbarm.“ 
mit einem Schuß Denunziantentum ergeben manchmal eine 
Kategorie von Menschen, die sich ihrer eigenen Ambivalenz 
auf dem Wege des Hineinprojizierens in andere entledigen, 
Es sind dies dann professionelle Schnüffler, die in allem und 
jedem Profanierungen sehen und es als ihre Pflicht betrachten, 
die „Bösen“ zu denunzieren. In Ermangelung einer Inquisi. 
tion begnügen sie sich mit „Rufmord“, Verleumdungen, etc, 
Kurzum: Es sind aus Angst verhinderte Zyniker, die sich 
meist mit irgend einem bequemen ideologischen Mäntelchen 
drapieren. 





„Bewußte“ Zynismen 


Alle echten Zynismen stammen aus dem Un- 
bewußten. Man kann — sensu sirictiori — Zynismen nicht 
„machen“, sie fallen einem ein, ähnlich wie dies Freud für 
den Witz postulierte. Die bewußt konstruier ten Zynis- 
men sind meistens wertlos. Vielfach verbirgt sich auch hinter 
den „bewußten“ Zynismen ein unbewußtes Moti v. 


61) Zyniker aus Effekthascherei 


Diese Gruppe von Zynikern stellt ein Sammelsurium von 

Dummköpfen dar. Es sind dies: 

„Die Philister, die Beschränkten, 

diese geistig Eingeengten .. .“ (Heine) 
die ihre Beschränktheit mit Zynismen maskieren. Auf diese 
Menschen paßt das Wort Schopenhauers: „Es gibt Men- 
schen von bloßer Fassade, wie Häuser, die aus Mangel an 
Mitteln nicht ausgebaut sind, den Eingang eines Palastes und 
den Wohnraum einer Hütte haben.“ Es handelt sich freilich 


— 160 — 








um den ödesten plattesten Zynismus, der diesen Namen 
kaum mehr verdient. Man denkt da unwillkürlich an die Worte 
Gellerts in seinem „Sterbenden Vater“, wo der Sterbende 
dem älteren Sohne ein Juwelenkästchen, dem jüngeren aber 
nichts vermacht, mit folgender Motivierung : 

„Für Jörgen ist mir gar nicht bange, 

Der kommt gewiß durch seine Dummheit fort.“ 

Wenn aber Jörgen nicht nur dumm ist, sondern auch zyni- 
nische Witze „machen“ kann, ist er gewiß ein „gemachter 
Mann“ ". 

Der Zynimus aus Effekthascherei gehört zu den minder- 
wertigsten bewußten Zynismen, die sich kaum über das Niveau 
platter Paradoxe erheben. Bei Schriftstellern, die Zynismen 
roduzieren, weiß man freilich nie, ob sie sich nur so platt 
stellen, oder aber wirklich sind. So ist zum Beispiel der um- 
schwärmte Pitigrilli in seinen Büchern ein Flachkopf von 
einem Zyniker, dessen ganzes Um-und-Auf in der ständigen Be- 
weisführung liegt, Liebe sei ausschließlich eine Angelegenheit der 
Epidermis. Man könnte geradezu sagen, jede Gesellschaft hat 
die Zyniker, die sie verdient. Je heuchlerischer und verlogener 
sie ist, desto leichter macht sie es den zynischen Opponenten 
und hat es sich nur selbst zuzuschreiben, daß Dummköpfe als 
Anti-Heuchler auftreten und trotz alledem — Recht haben. 


62) Zynismus aus Schüchternheit 


gehört ebenfalls zur Gruppe der bewußten Zynismen und 
stellt einen Abwehr- und Kompensationsmechanimus dar. Die 
allgemeine Bekanntheit dieser recht oberflächlichen Maske be- 
weist etwa eine Stelle, aus Maurois „Disraeli“, in welcher 
der puerile Disrali geschildert wird: 


„Im Verkehr mit Frauen und wenn er mit ihnen sprach, be- 
mühte er sich zynisch zu sein. Ein Bestandteil dieses Zynismus 





ı) Daß eine gewisse Intelligenz zum Zynismus gehört, gilt eben nicht 
ausnahmslos. 


PsA, Bewegung V — 161 — 1 











u = 
waren die Furcht, genasführt zu werden, uneingestandene Schüchtern. 
heit ‘, Mangel an Einbildungskraft und Systemsucht.“ 


Häufig verbirgt sich hinter der bewußten Maske eine 
Erythrophobie, also ein Neurotiker. 


63) Zynismus als Spielerei mit dem Tode 


Es gibt eine Reihe von Zynismen, die von der absichtlichen 
Fiktion ausgehen, als sei der Tod nichts anderes, als eine &: 
legenheit, Witze und Zynismen anzubringen. („Räumt’s die, 
| Toten weg, ich kann die Schlamperei nicht leiden“, heißt e; 
ii in Nestroys Hebbel-Parodie.) | 
ıı In dieselbe Gruppe gehören auch Verhöhnungen dieser kalt. | 
N herzigen Einstellungen : Zwei Engländer beobachten die Seine 
in Paris. Plötzlich springt ein Selbstmörder in den Fluß. Die 
Engländer schätzen die Möglichkeit ab, ob der Mann das Ufer 
werde erreichen können und schließen eine Wette ab. Ein 
| Passant will dem Ertrinkenden nachspringen. Die Engländer 
N . halten ihn empört zurück: Wie sollte ihre Wette entschieden 
| werden, wenn der Selbstmörder gerettet wird ? 

ı „Les gens, que vous iuez, se portent assez bien“ fügte Cor. 
N neille in seiner Bearbeitung einer Komödie von Alarcon 
hinzu. 

























































































64) Zynismus als prononcierte „Weltanschauung“ 


gehört meist in die Gruppe der bewußten und gewollten 
Zynismen und stellt deshalb das Grotesk-Unzulänglichste dar, 
das sich innerhalb der vielen fabrizierten Weltanschauungen 
nur denken läßt. Sie erschöpft sich meistens im Hervorheben 
materieller Motive und Hervorzerren von Alkoven-Gesichts- 


ı) Man denke an Wedekinds Verse: 


„Ihr spottet des Lebens und bildet Euch ein, 
Ihr stündet erhaben darüber. 
Doch seht Ihr ein schimmerndes Mädchenbein 
So überfällt Euch das Fieber. 


— 162 — 


































































































| 


unkten. Man denke zum Beispiel an das groteske Mißver- 
ständnis, das bei vielen Ärzten grassiert, man müsse einer 
Hysterica bloß einen Mann verordnen und alles sei geordnet. 
Das früher zitierte Chrobaksche Rezept kann nach analytischen 
Erfahrungen bei einer Aktualneurose, niemals aber bei einer 
echten Neurose wirken und verursacht bekanntlich Verschlim- 
merungen. 
Vollends versagt die zynische „Weltanschauung“ bei allen 
Fragen des Unbewußten, speziell bei den Fragen des un- 
bewußten Schuldgefühls. So erklärte mir zum Beispiel der 
Bruder einer Patientin, die aus unbewußten Schuldgefühlen 
„unheimliche Dummheiten“ angestellt hatte (ipsissima verba), 
alles sei einfach mit materiellen Motiven erklärlich. — Der 
Onkel einer Patientin, ein in seinem Fach bekannter Wissen- 
schaftler, meinte wieder, die Analyse, die er hätte zahlen sollen, 
sei für seine Nichte wertlos: sie müsse bloß mit ihm koitie- 
ren, um gesund zu werden. 
Eine besondere Rolle in dieser Weltanschauung spielt das 
Argument, die Anderen seien dumm, wobei jedes mißver- 
standene unbewußte Motiv durch das Wörtchen „dumm“ sub- 

stituiert wird. B 

Die Wertlosigkeit dieser Weltanschauung ist nur durch eines 
überbietbar: Durch die grenzenlose Überheblichkeit, die ihre 
Anhänger auszeichnet. 
Vielfach verbirgt sich hinter diesen bewußten Zynismen 
neben Dummheit eine schwere Neurose, die sich des Zynis- 
mus als Distanzierungsmethode bedient. ’ 















* 


Kehren wir nach Durchsicht der Galerie der Zyniker, die 
keineswegs vollständig ist, zum Ausgangspunkt: zu den grie- 
chischen Zynikern zurück. Wir finden bei ihnen eine Reihe 
von Eigenschaften, die uns bekannt anmuten. Der Succus des 
griechischen Zynismus ist theoretisch: Herrschaft des Ich 
über dieStrebungen des Es, und die Außenwelt. 


= m 
































































































































Beides wird aber praktisch erst durch schwerste S elbsr. 
bestrafungen und Verzichte ermöglicht‘). Es Wird 
die Vermutung berechtigt sein, daß alle griechischen Zyniker, die 
dieses Namens würdig waren und nicht nur aus einer Not Eine 
Tugend machten, eindeutige aggressive Masochis ten 
waren, oder präziser: Menschen mit schw ersteminner en 
Strafbedürfnis*?) Dieses Strafbedürfnisses versuchten sie 
sich auf folgende Weise zu entledigen : 


re SE DEREFERTEEE 


1) Es ist keine Frage, daß die Einführung des Schuldgefühlsmoment 
dem Verständnis der Zyniker näher kommt, als der billige Spott, der 
Zynikern gegenüber üblich war und den selbst ein Nietzsche nicht 
verschmähte : 


„Notdurft ist billig, Glück ist ohne Preis 
Drum’ sitz ich statt auf Gold auf meinem Steiß.“ 
„Auf der Tonne des Diogenes.“ Ges. Werke (Verlag Kröner) VII. S. 363. 





2) Wir haben keine Anhaltspunkte dafür, aus welchen Quellen 
dieses Strafbedürfnis stammt und können nur aus der Neurosenpathologie 
vermuten, daß es zum Teil vom Odipuskomplex, zum Teil von 
einem primären Masochismus ableitbar ist. Über keinen einzigen Kyniker ist 
das Kindheitsmaterial überliefert, so daß nicht einmal ein Versuch in diesem 
Ausmaß möglich ist, wie dies Gomperz bei Sokrates (Imago 1924) ver- 
suchte. Es bleibt nur übrig, aus dem Agieren der Kyniker Schlüsse zu ziehen. 
Diogenes z. B. drängte sich ursprünglich dem Antisthenes direkt auf, der 
ihn mit Stockschlägen vertrieb, dann trat er, nachdem ihn Antisthenes in 
seiner Gemeinschaft aufgenommen hatte, recht bald in Konkurrenz zu ihm 
und beschuldigte ihn der Lässigkeit in der Durchführung seiner Prinzipien. 
Als Antisthenes in seinem Alter über Schmerzen klagte, bot ihm Diogenes 
einen Dolch an, den Antisthenes mit dem Worten, der Weise müsse leben, 
ablehnte. Trotz aller Rationalisierungen, die sich aus der kynischen Theorie 
ergeben, beweist diese Handlungsweise gewiß keine allzu freundliche Ge- 
sinnung für Antisthenes. — Auch die Tatsache, daß Diogenes zeitweise in 
einer Tonne lebte, mag symbolisch im Sinne einer Mutterleibsphantasie 
verstanden werden. Vielleicht gehört auch die immer rigorosere Bedürfnis- 
losigkeit hicher: Von niemandem — in der Kindheit: vom Vater — abhängig 
zu sein. Daß sind aber, wie zugegeben werden soll, höchst hypothetische 
Vermutungen. Ebenso unsicher, wie etwa die häufig bestrittene Überliefe- 
rung, Diogenes hätte an der Falschmünzerei seines Vaters teilgenommen, und 
hätte deshalb aus seiner Vaterstadt fliehen müssen. Da diese Überlieferung 
unsicher ist, kann sie zum Verständnis des Aufbaus seines Über-Ichs nicht 
verwendet werden. — Ebenso unsicher ist die Rolle der bewußten und 
unbewußten Homosexualität bei den Kynikern. 


— 164 — 





1. durch ihre Lebensweise, die so eingerichtet war, daß 
kein Hund“ so weiter leben möchte‘. 

9, Durch ihre aggressive Werbetätigkeit für ihre 
Ideen. Es ist gewiß kein Zufall, wenn jemand die Berufung 
in sich fühlt, andere zu bekehren. Dahinter steckt immer der 
Wunsch, sich des eigenen Schuldgefühls auf aggressive Weise 
zu entledigen. Alle Inkonsequenzen, die den Zynikern mit 
Recht in ihrer Theorie nachgewiesen wurden (Siehe Zeller), 
erklären sich daraus, daß ihre Theorie bloß eine Ratio- 
nalisierung ihres inneren Strafbedürfnisses 
war und etwa genau so wenig mit der inneren Realität zu 
schaffen hatte, wie die Rationalisierungen, die unsere Neuroti- 
ker uns geben. 

3. „Ich willlieber verrückt,alsvergnügt sein“, 
lehrte Antisthenes. Andererseits behauptet Plutarch, das Leben 
des Krates sei wie ein ewiges Fest verlaufen. Beides dürfte 
stimmen: Die Grundeinstellung der Zyniker war wohl eine 
düstere (Schuldgefühle !), nach zeitweiser Abbüßung derselben 
konnten die Zyniker zeitweise die narzißtischen Freuden des Be- 
straften und schuldgefühlsfreien Aggressiven genießen. (Wegen der 
Selbstgefälligkeit, mit der Antisthenes die Löcher seines Man- 
tels herauskehrte, soll Sokrates gesagt haben, seine Eitelkeit 
sehe daraus hervor.) 

Um selbstverständliche Mißverständnisse auf das notwendige 
Maß zu reduzieren, sei nochmals hervorgehoben, daß die knap- 
pen Bemerkungen über die griechischen Zyniker keines- 
wegs den Anspruch erheben, dieselben zu ,„er- 





ı) Man denke an den Ausspruch Vespasianus über Diogenes: „Du hast 
es darauf angelegt, daß ich Dich hinrichten lasse, aber ich kümmre mich um 
einen bellenden Hund nicht.“ (Nicht uninteressant ist, daß Vespasianus offen- 
bar den unbewußten Bestrafungswunsch witterte, offiziell ist freilich nur der 
Narzißmus des Kaisers sichtbar.) — Alle echten Zyniker waren an materiellen 
Gütern desinteressiert oder entledigten sich, wenn sie zufällig vom Hause 
wohlhabend waren, ihrer Güter. (Krates Hypparchia.) Man denke an die 
Lebensweise des Diogenes, den Flammentod des Peregrinus, die Experimente 
eines Sallustius, der glühende Kohlen auf seine Schenkel legte, um zu 
probieren, wie lange er es aushalten werde etc. etc. 





— 165 — 


wen 
































































































































klären“. Die vermutenden Bemerkungen ergaben sich als 
Nebenprodukt bei der Bearbeitung des modernen Zynis. 
mus. Verfasser legt auf diesen Teil der Arbeit kein besonde. 
res Gewicht und überläßt diese Forschung gerne Berufeneren, 
den analytisch vorgebildeten Philosophen. Da 
Analyse hat ihre Triumphe am analysablen, also lebenden, 
sich der Analyse unterziehenden Menschen gefeiert. Der Versud 
mit analytischen Mitteln Handlungsweisen von Nichtanalysier. 
ten, tausende Jahre Toten zu erklären, ist immer ein schwie. 
riges Unternehmen. Methodisch ist das gewiß zulässig: Die 
Dürftigkeit der vorhandenen, nicht analytischen Erklärungen ist 
geradezu ein Freibrief. 


+ 


Die Überflutung der gesamten Kultur durch Gewissensangst 
führt dazu, daß auch dort, wo der Mensch sich seiner Fesseln 
gedanklich zu entledigen sucht, wie im Zynismus, nichts 
anderes zustande kommt, als ein Kompromiß mit dem Über. 
Ich. Man entfernt sich also nicht sehr von der Realität, wenn 
man aussagt, Zynismen seien zutiefst auch Verbeugungen vor 
dem Über-Ich und Kompromisse mit der inneren Stimme des 
Gewissens. „Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten“, 
lehrte ein Dichterphilosoph. Daß aber die Menschen selbst 
in diesem Spott dem Über-Ich Tribut leisten, ist grotesk. 


BAAR 
—.166 — 












Analyse des Idyllischen 


Von 
Ignaz Feuerlicht (Wien) 


Die Idylle ist keine zeitlich beschränkte Dichtungsgattung. Die 
deutsche Idylle endet nicht (trotz Th. Ziegler‘, G. Schneider*, E. Mer- 
ker°) in und mit der Dorfgeschichte. Die Idylle ist auch kein apartes 
Aparte der Literatur, keine wegen angeblicher „Nützlichkeitstenden- 
zen“* „nicht vollwertige Poesie.“ Unerklärlich wäre sonst schon das, 
allerdings nicht sehr bekannte, ungemein tiefe Verhältnis der beiden 

oßen deutschen Klassiker zur Idylle. Goethe sah in ihr „die ewige 
Naturform des menschlichen Geistes, das Bild des klassischen Daseins 
überhaupt“, für Schiller war sie „dem höchsten Ideal des Lebens und 
der Dichtung gleich“ (Fr. Strich®). 

Nicht zeitlich, noch stofflich, noch formal, weder von der Literatur- 
geschichte noch von der Poetik läßt sich die Idylle verstehen und be- 
begrenzen; nur von der inneren Haltung des sie Schaffenden und 
Empfangenden, von ihrem Gehalt, also von Idyllischen, das nun gar 
nicht auf eine bestimmte Dichtungsgattung, noch auf die Dichtung 
überhaupt beschränkt ist. Die Literaturgeschichte, die das Idyll stief- 
mütterlich behandelt, sieht in dem Idyllischen, wenn sie es überhaupt 
von der Idylle trennt, „Rückkehr zur Natur“. 

Diese vielberufene „Rückkehr zur Natur“ ist nun als Generalursache 
von gewissen Zeiterscheinungen, etwa im ı8. Jahrhundert, noch 
einigermaßen eindeutig, als allgemeine seelische Verfassung aber ganz 
nebelhaft, birgt sie vor allem Möglichkeiten einer der Idylle durchaus 
entgegengesetzten Haltung in sich. 

Schon Jean Paul hat jedoch („Vorschule der Ästhetik“) die Stim- 
mung der Idylle richtig wiedergegeben und ist zugleich, was wichtiger 


ı) Th. Ziegler: Studien und Studienköpfe aus der neueren und neue- 
sten Literaturgeschichte, 1877 (Das Idyll und seine Hauptvertreter im ı8. Jahr- 
hundert), S. 24. 

2) Gustav Schneider: Über das Wesen und den Entwicklungsgang 
der Idylle (Progr. Wilhelm-Gymn. Hamburg 1893), S. 34. 

3) Aufsatz „Idylle* im Reallexikon der deutschen Literatur- 
geschichte, hg. v. P. Merker und W. Stammler, 1925 ff. 

4) W. Knögel: Voss’ Luise und die Entwicklung der deutschen Idylle 
bis auf Heinrich Seidel (Programm Frankfurt a. M. 1904), 8. 7. 

5) Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik. Oder Vollendung und 
Unendlichkeit. Ein Vergleich. 2. Aufl. 1924, S. 21. 


— 167 — 









































. 
ist, ihrem Beweggrunde nähergekommen, wenn er die Idylle als 
„Vollglück in der Beschränkung“ und dieses Vollglück als 
»Widerschein des früheren kindlichen“ erkannt hat. Es liegt nun 
nahe, im Idyllischen das unbewußte Wieder-Kind-Sein-Wollen oder 
den Ausdruck eines gewissen Beharrens auf kindlicher Erlebnissguge 
zu sehen. Nicht in die „Natur“ schlechthin, sondern auf seine kind. 
liche Natur zieht sich der Idylliker zurück. (Das so vielen Idylien 
zugrundeliegende „goldene Zeitalter“ ist ja nur die in die Kindheit 
der Menschheit projizierte Vergangenheit des Menschen.) 

Die kindliche Natur kann nun aber in mehrfacher Weise wieder 
erlebt werden. Es können die verschiedenen Entwicklungsstufen der 
Kindheit verschieden stark fixiert erscheinen. Die erste Stufe, der Auf. 
enthalt im Mutterleib ist für die Idylle von grundlegender Bedeutung, 
ist doch der Mutterleib „die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte 
Behausung, in welcher man sicher war und sich so wohl fühlte“ (Sig. 





mund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 49). Wird diese 
Periode stärker wieder erlebt oder ersehnt als die folgenden, so tritt 
das Moment der Kleinheit, das der Enge, der Schicksalslosigkeit und 
der Ruhe in den Vordergrund der Idylle. Wird jedoch das Zweite 
Stadium, das des Säuglings besser reproduziert, so erscheint Mutter 
Natur mehr als sonst als Quelle von Glücksgütern, und die Idylle 
steht stärker im Zeichen des Glücks. Von der dritten Periode end. 
lich, der autoerotischen, leitet sich die Zufriedenheit und Selbstzufrie. 
denheit, die » Vergnügtheit“ eines Schulmeisterlein Wuz ab. 

In allen Fällen bedeutet die Rückkehr zur Kindheit durch die Idylle 
zugleich auch Entspannung und Erholung. Diesen Psychohygienischen 
Zweck der Idylle hat schon Schiller erkannt: „Wir können sie daher 
nur lieben und aufsuchen, wenn wir der Ruhe bedürftig sind“ (Über 


Schlaf ist (Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 
S. 144) „ein Zustand, in welchem alle Objektbesetzungen, die libidi. 


— 168 — 


ich selbst genügenden Ich wohnen“. (Der lange Schlaf ist für das 
Wind charakteristisch !) 

Das vollendete Beispiel für den Narzißmus in der Idylle bietet der 
 Wuz Jean Pauls. Er ist in sein geistiges Teil verliebt, ebenso wie 
E- sich in seinen Kindheitstagen in seinem kleinen Körper liebte. So 
redet er sich etwa nach einem Trunk oder einem Nießen zu oder er 
tröstet sich selbst, wenn er einen schlechten Tag überstanden hat: 
„Siehst du, Wuz, es ist doch vorbei!'“ In der Liebe zu seiner Justel 

“bt ihm „sein eigenes Fühlen an sich Befriedigung“, ist ihm vielleicht 
sogar wichtiger als sein Erreger. Er begehrt nie mehr als die Gegen- 
wart, „er war nur froh, daß er selber verliebt war“ (J. Paul). „Sein 
in sich verkapseltes Wesen kann und will alle Vergnügtheit nur aus 
sich entfalten“ (Küpper): „Ich fresse mich aber noch vor Liebe“, ruft 
er einmal aus. 

Wuz hat ein sehr geringes Objektbedürfnis, wie es für den Nar- 
zißten charakteristisch ist. Er ist trotz seiner Armut zufrieden. (Die 
„Zufriedenheit herrschte fast zu stark in ihm“, J. Paul: „Leben 
Fibels“, 1812, S, 164). Er besitzt eben die „Kunst fröhlich zu sein“, 
wie Hühnchen? die „Kunst glücklich zu sein“, oder der „Gustav“ 
Spittelers® die Fähigkeit, aus allem Vergnügen zu ziehen“. (J. Paul will 
„der Nachwelt Männer erziehen, die sich an allem erquicken.“) Diese 
Kunst beruht unter anderem darauf, wo immer nur möglich eigenen 
Besitz zu sehen (nicht etwa zu erlangen!) und diesen Besitz groß zu 
sehen. („Er hatte stets einen guten Vergrößerungsspiegel im Auge 
angebracht und dadurch leicht die Kirsche zum Pfirsich geschwellt und 
die Beere zum Apfel“, „Leben Fibels“.) Auch sich selbst sieht der 
Mensch der Idylle groß, ist er doch Narzißt. Das kann bis zu der von 
mir sogenannten idyllischen Hybris gehen, wie sie vor allem 
Wuz und Hühnchen aufweisen. Idyllische Großschau liegt etwa in 
folgenden Stellen aus „Hühnchen“: 

„Sieh mal so ein Ei, sagte er, es enthält ein ganzes Huhn, es braucht 
nur ausgebrütet zu werden. Und wenn dieses groß ist, da legt es 
wieder Eier, aus denen nochmals Hühner werden und so fort. Gene- 
rationen über Generationen. Ich sehe sie vor mir, zahllose Scharen, 
welche den Erdball bevölkern.“ ($. 10.) 





ı) Vgl. Helmut Küpper: ]J. Pauls Wuz. Ein Beitrag zur literarhist. 
Würdigung des Dichters (Hermaea 22, Halle a. d. S. 1928), S. 93. 

2) Heinrich Seidel: Leberecht Hühnchen, 1880. 

3) Karl Spitteler: Gustav. Ein Idyll. 2. Aufl. Zürich 1908 (1892). 


— 169 — 














„Es ist etwas Großes, sagte er, wenn man bedenkt, daß, damit id 
hier in aller Ruhe meinen Tee schlürfe und du deine Pfeife raucheı 
kannst, der fleißige Chinese in jenem fernen Lande für uns Pflanzt 

. der Neger für uns unter der Tropensonne arbeitet. Ja, das nicht allein 
Die großen Dampfer durchbrausen für uns in Sturm und Wogenschwgl 
den mächtigen Ozean und die Karawanen ziehen durch die brennende 
Wüste, Es schmeckt mir noch einmal so gut, wenn ich daran denke I« 

„Am Bücherbrett gegenüber, hingen anmutig gruppiert, wie Hühnchen 
sich ausdrückte, die Photographie einer Lokomotive, die Bilder Seiter 
Eltern und vieler Freunde. Das technische Museum, den Ahnensaal und 
den Freundschaftstempel nannte er das.“ | 

Aber den Gipfelpunkt seiner Hybris erreicht Hühnchen wohl in 
folgendem Ausspuch (S. 5): | 

»Die Erde ist mein und ich gebiete ihr. Was sie in) 
sorglich langer Arbeit mühsam zeugt, ist gerade gut genug, einen 
flüchtigen Augenblick lang meine Zunge zu ergötzen.“ 





kletterndes Zwergbäumchen legen“. Hühnchen wird aber in seiner 
Hybris von Wuz womöglich noch übertroffen. Wuz schreibt alle 


mieren. Auch das „Hannchen“ Eberhards weist idyllische Hybris auf: 
„Schönere Küchlein sahest du selten inRom und Neapel 


Bald wird Jeglichen Hof in Europa der unsere verdunkeln, 
Nirgends findest du auch in Europa zu Land und zu Wasser 
Eine geschicktere Hand zum Nesterbauen als meine !“ 
Die eingebildete Größe des Schulmeisterleins Wuz, Hühnchens und 
Hannchens hängt gerade mit ihrer Kleinheit zusammen, die schon 


Analog wird ja auch (nach K. Abraham) in der Dementia 


1) A. G. Eberh ard: Hannchen und die Küchlein. Eine Idylle. 
(Meyers Volksbücher, 979/80) 183232. 





— 170 — 












praecoX, die nach dem Gesagten der idyllyschen Hybris auf patho- 
ogischem Gebiet parallel zu stellen ist, die Libido den Objekten ent- 
zogen und auf das Ich zurückgewendet, was eben die Quelle des 
Größenwahns ist. So merkwürdig es auch zunächst berühren mag, 
daß gerade der Idylliker an Größenwahn leidet (ihn genießt, wäre 
jichtiger), ist doch wieder nicht zu übersehen, daß man auch bei Kin- 
dern und primitiven Völkern Züge findet, welche, wenn sie verein- 
zeit wären, dem Größenwahn zugerechnet werden könnten. (Freud: 
Zur Einführung des Narzifßmus, 1924, S. 5.) Ganz allgemein ist dem- 
nach jeder sekundäre Narzißmus mit seinen beiden Polen, der Selbst- 
genügsamkeit und der Selbstüberhebung, ob: nun im Schlafe oder im 
idyllischen Lebensgefühl, ob beim Primitiven oder in der Dementia 
praecox Widerkehr des urspünglich frühinfantilen. (Vergl. Freud, Vor- 
lesungen, S. 454.) 

Dieser allgemeine Satz schließt in sich die Grundbehauptung ein, 
von der die Analyse des Idyllischen ausging: Idylle ist lust- 
betonte Rückwendung zur eigenen Kindheit. Der Zusam- 
menhang der Idylle mit pathologischen Erscheinungen ist auch rein 
ästhetisch von Bedeutung. Gerade die ideale Idylle von der Art des 
„Schulmeisterlein Wuz“ und des „Leberecht Hühnchen“ wird für manchen 
Betrachter im Verlaufe oder gar schon am Anfang seiner Betrachtung ihre 
rosige Beleuchtung verlieren und in der gleichgültig grauen Farbe eines 
Krankheitsbildes erscheinen, das ein sich lediglich für den „Fall“ nicht 
für die Therapie interessierender Arzt entworfen hat. Die Ichform, 
in die Wuz wie Hühnchen gekleidet sind, entspricht denn auch dem 
Charakter eines medizinischen Referates über einen Spezialfall. 

Dieses Noch- oder Neu-Erleben der Kleinkindheit bedingt nicht nur 
den idyllischen Narzißmus, sondern, wie schon erwähnt, auch die zum 
Teil mit diesem und unter einander zusammenhängenden Momente 
der Kleinheit, der Enge, der Schicksallosigkeit, der Ruhe und des 
Glückes. Von ihnen soll hier nur die Schicksallosigkeit hervorgehoben 
werden. 

Wie beim Kind und beim Primitiven herrscht auch in der Idylle 
das Lustprinzip, sie alle wissen nichts von Ananke, dem Realitäts- 
prinzip. In Spittelers „Olympischem Frühling“ beendigt Ananke durch 
sein (sic!) persönliches Eingreifen selbst das olympische Idyll und das 
Kind (!) Eidolon (Idyll!), dessen Gegenwart mit der Gegenwart des 
idyllischen Glückes gleichbedeutend ist, verläßt den Olymp. Im selben 
Werk entgeht der Hirte Utis der Gewalt Anankes lange Zeit in 


— tl — 













seinem Maulwurfsbau. (Darin kann das Symbol der Idylle überhau 
erblickt werden.) Auch in Hyperions „Schicksalslied« (Hölderlin) wir 
die Abwesenheit des Schicksals im idyllischen Leben betont, diejen; 
gen, die an diesem Leben teilhaben, aber bezeichnenderweise mi 
einem schlafenden Säugling verglichen: 


können und wollen nicht aus ihrer Kindheit herauskommen, die anderen 
erleben sie erst wieder aus bestimmten Anlässen heraus, auf die noch 
näher einzugehen sein wird. So wurzelt beispielsweise, und dieser Satz 
ist Allgemeingut der Literaturgeschichte, Jean Pauls Leben und Dich- 
ten in seinen Kindheitserlebnissen. „Kaum eines seiner Werke, das 
nicht die Joditzer Kindheit zum Ausgangspunkt hätte.“ Alle sind 











— A 








—— 




























“ner Kindheit beeinflußt, die für ihn, wie für Jean Paul, die „Zeit 
Kines ungetrübten Glückes“ war und die er in einem Ort verbrachte, 
djer „ein rechtes Kinderparadies war“ '. 

Machen Idylliker wie Jean Paul und Seidel einen ausgesprochen 
ıfantilen Eindruck, so gehören zur anderen Gruppe durchwegs männ- 
liche Künstler, die ihre Kindheit in der idyllischen Periode ihres 
Lebens nicht noch, sondern neu erleben, ja, die zum erneuten Er- 
jebnis der Kindheit nur darum kommen, weil sie Männer sind. Es 
äßt sich nämlich zeigen, daß (wie anders garnicht zu erwarten ist) 
diese männlichen Dichter, deren Werk sonst weitab von der Idylle 
liegt, zur Idylle erst in der Zeit der beginnenden Häuslichkeit kom- 
men, daß sie ihre Kindheit im eigenen Kinde wiedererleben. Ich 
denke hier vor allem an Goethe, Hebbel, Liliencron, Thomas Mann, 
die im fast gleichen Alter (von 47, 44, 52 und 44 Jahren) zu Idylli- 
'kern wurden. „Hermann und Dorothea“, die Idealisierung und Idylli- 
‚sierung deutscher Ehe ist ohne Goethes glückliches Verhältnis zu 
Christiane (die nebstbei ja auch viele Züge zur Dorothea beigesteuert 
hat) garnicht zu denken. Bezeichnenderweise ist die gleichnamige 
Elegie, welche das Epos einbegleitet, zugleich eine Verherrlichung der 
Goetheschen Häuslichkeit, in der auch Goethes Sohn August seinen 
"Platz bekommt. Dieser häusliche Kreis bildet ja (in echt idyllischer, an 
Jean Paul, insbesondere aber an J. P. Hebel gemahnender Weise) 
nach Goethes Annahme den Rahmen für das idyllische Glück. (Idylle 
heißt ursprünglich Bildchen. Ich halte an dieser Etymologie fest und 
nicht am „kleinen Gedicht“.) 

Von unserem Gesichtspunkt aus läßt sich auch Goethes Gedicht 
„Alexis und Dora“, das in der Literaturgeschichte eine schwankende 
Charakterisierung erfährt, entsprechend einordnen. Koberstein? rechnet 
es „nach Inhalt und Form“ zur Elegie, Thheobald Ziegler” und Hehn* 
bezeichnen es als Idylle, Fritz Strich® führt es in einer Art Synthese 
beider Anschauungen als Beispiel eines „tragischen Idylis“ an. Aber 
wenn auch „Schmerz und Tod“ (Strich, Seite 21) in der Idylle vor- 





ı) Heinrich Seidel: Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben. Ges. 
W. XIII. 1894, S. 29. 

2) August Koberstein: Gesch. d. dt. Nationallit. vom 2. Viertel d. 
XVIIL Jahrh. bis zu Goethes Tod, V. Aufl. 1873. 

3) a. a. O. 

4) Victor Hehn: Gedanken über Goethe, 7.—g. Auflage, 1909, $. 219. 

BR) a. a. O. 8. 2ı. 


— 173 — 
























































kommen, wie wir sehen werden, wenn man sie auch »zu den Natuı 
formen des Daseins“ zählt, und mit Goethe die „ewige Naturfop 
des menschlichen Daseins“ als Idylle ansieht, ist man noch nicht Ba 


rechtigt, wie Strich es tut, die innere Unvereinbarkeit von Tragil 
und Idyllik zu übersehen und von „tragischem Idyl]“ zu sprechen 


Glück aus. Es ist darum weder eine reine Elegie, wie Koberstein, 
noch auch einfach ein Idyll, wie Zie &ler meint, sondern ein »Bildchen« 
(Idylle) in elegischem Rahmen. „Alexis und Dora“ ist ein (vorläufig) 
verhindertes „Hermann und Dorothea“, ein Idyll der "aufgeschobenen 


In ähnlicher Weise wie in „Hermann und Dorothea“ geht die, 
idyllische Stimmung in Hebbels „Mutter und Kind“: auf des Dichters 
(Gmundner) Eheidyl] zurück. Hier steht ja auch ein Kind, nein, das 


schon dem Titel nach ein „Gesang vom Kindchen“, vom Kindchen, 
das des Vaters herbe, männliche Kunst in düsterer Zeit zu idyllischer 


Da die Liebe der Eltern zum Kinde ein durch bewußte Anknüpfung 
an die eigene Kindheit vermitteltes, unbewußtes Wiedererkennen ihres 
„unschuldigen“ (bisexuellen) Urzustandes und das Kind also die voll- 
kommenste Wunscherfüllung des Menschen? ist, ist in diesen männ- 
lichen Idyllen nicht nur das von Jean Paul in der „Vorschule der 


erreichbare überhaupt bezeichnet. So heißt es in „Mutter und Kind“ 


V. 1424: 
1) Friedrich Hebbel: „Mutter und Kind. Ein Gedicht in sieben Gesän- 


gen“, 1857. 
2) Otto Rank: Der Künstler, 1907, S. 23. 





— 114 — 


Welches irdische Glück ist diesem höchsten vergleichbar, 


Fürsten empfinden’s nicht tiefer und Bettler empfinden’s 
nicht schwächer. 

Weil die einen den Säugling in Purpur wickeln, die andern 

In die Krippe ihn legen, das gibt kein Mehr und kein Minder. 


Und ähnlich in Liliencrons kunterbuntem Epos „Poggfred“ 


Ich will das einz’ge Glück mir nicht mehr rauben:: 
Das traute, höchste Glück: mit Weib und Kind. 
Die männlichen Idylliker sind sich natürlich der Neuheit ihres lust- 
‚ollen Erlebnisses bewußt. Wie es sich deutlich von ihren früheren 
frlebnissen und Einstellungen unterscheidet, so nimmt auch das neue 
Werk, in dem es zum Ausdruck kommt, die Idylle (denn der Ein- 
ugkeit im Bereiche des Erlebens entspricht in der Regel auch die Ein- 
hl in der Reihe der Gestaltungen) eine Sonderstellung in ihrem 
Lebenswerk ein: der eigenwüchsige Dramatiker Hebbel schafft ein im 
Bann der Tradition stehendes Epos, der moderne Prosaiker Thomas 
Mann greift zum antiken Hexameter. Und obwohl ihre literarisch be- 
deutendsten Leistungen auf entgegengesetztem Gebiete liegen, haben 
sie doch zu ihrer kleinen Idylle, in der so hohes und reines Glücks- 
erleben seinen Ausdruck fand, das innigste Verhältnis, wird sie, deren 
"Genius das Kind ist, selbst vielfach ihr Lieblingskind. So äußert sich 
Goethe einmal zu Eckermann über „Hermann und Dorothea“: „Es 
ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir noch Freude 
macht. Ich kann es nicht ohne innigen Anteil lesen.“ Und Hebbel 
“schreibt einmal an Friedrich von Uechtritz (21. XI. 1856), ihm liege 
„Mutter und Kind“ am Herzen, wie dem alten Jakob sein Josef, an 
Emil Kuh (29. II. 1837), er lege darauf, unter allen seinen Arbeiten, 
ein paar lyrische Sachen ausgenommen, den meisten Wert und an 
Karoline Sayn-Wittgenstein (14. XII. 1858), es liege ihm mehr am 
Herzen als vielleicht recht sei; ganz wie ein Vater, der erkennt, daß er 
sein Kind zu sehr verzärtle, aber gegen sein Gefühl nicht aufkommen 
kann und will. „Poggfred“ ist Liliencrons erklärtes Lieblingsbuch. 
Widmann gesteht in der Vorrede zur IV. Auflage seines „Pfarrhaus- 
idylis“ ‘, daß ihm die Seele schmelze am eigenen Gedicht. 
Während alle anderen T'heoretiker (die kühne, selten und nie ganz 


ı) Jos. Vic. Widmann: An den Menschen ein Wohlgefallen. Pfarrhaus- 
idyll, IV. Aufl. 1906 (1876). 





















— 175 — 

















_ m 


erreichte Schillersche Forderung der olympischen Idylle in der »Naiyen 
und sentimentalischen Dichtung“ ausgenommen) nur die kindliche 
Idylle sehen oder sehen wollen, postuliert Gervinust, in das andere 
Extrem verfallend, die männliche als die einzig wahre: „Die Kindheit 
ist das wahre goldene Zeitalter des Menschen und wenn wir den ge 
reiften, den gewordenen und vollendeten Menschen von dem kleinen 
eigenen Selbst erzählen hörten und von den Zuständen, aus denen 











Ein Wort in diesem Zusammenhange über die Geschlec hterliebe 
in der Idylle. In der kindlichen Idylle (Liebe des Wuz zu seiner Justel) 
ist sie ausgesprochen narzißtisch („Er war nur froh, daß er verliebt 
war“). In der männlichen Idylle liegt der Schwerpunkt bei der Dar- 
stellung eines idyllischen Liebesverhältnisses nicht in der Liebe selbst, 
sondern in der Verbindung, die zum Kind-Erlebnis, als dem Zentrum 
der Idylle, führt, Diese Tatsache kommt wohl am sinnfälligsten in der 
Schnelligkeit zum Ausdruck, mit der Verlobung und Heirat erfolgen, 
Ahnungslos betritt die Luise Vossens ein Zimmer und schon ist sie 
Ehefrau. In der „Parthenäis“ Baggesens verwundet Eros Nordfrank 
am Montag, am Dienstag verrät Myris Gegenliebe, am Mittwoch er- 
folgt, ohne ein vorhergehendes Liebegeständnis, also wie in „Her- 
mann und Dorothea“ die Verlobung unter Assistenz der Eltern der 
Braut, die sich nicht einmal Zeit nehmen, Nordfrank um seine Ein- 
willigung zu fragen. Auch im „Vikari“ erfolgt die Verlobung ganz 























Saar), in „Alexis und Dora“ und im „Gustav“ Spittelers. Unerwar- 
tete Ankunft bringt unerwartete Verlobung bei Roquette (Kleine 
Fußstapfen, Herzensgeschichten). Seine eigene Verlobung kommt für 


1) GG Gervinus: Gesc. d. dt. Dichtung, IV. Bd., S. 186 £. 
2) Mahler Müller: Idyllen, hg. v. O, Heuer, 9 Bde. Leipzig 1914. 

















— 176 — 





—— 






















„ Heinrich Widmanns völlig überraschend, wird ihm als Weih- 
uchtsgeschenk beschert. Lenore ist auf einmal da, sie hat ihn ge- 
iebt, sie steht schon im Brautkleide. Amalrich und Jucunde verloben 
sich an dem Tage, da sie sich zum zweiten Male im Leben schen. 
Thekla überrumpelt ihren Bruder: „Nimm sie hin, sie ist dein!“ Man 
kann geradezu sagen: die Menschen der Idylle lassen sich Zeit, nur 
zur Verlobung nicht. In Neuffers „Tag auf dem Lande“ ist denn auch 
die Mutter des Bräutigams über die Schnelligkeit der Trauung ent- 
rüstet. Im „Kloster“ Eberts, in Hebbels „Mutter und Kind“ und in 
Hartmanns „Adam und Eva* kommt die Vereinigung für das Paar 
völlig unerwartet, förmlich durch einen Theatereffekt. 

Da die Grundlage der Idylle das Wiedererleben des Kindheits- 
glückes ist, ist sie durchaus positiv, doch kann sich das bejahende 
Element aus ästhetischen Gründen nicht ungehemmt entfalten. Wenn 
das Idyllische auch, wie schon hervorgehoben, das Schicksal nicht 
kennt, so kann die Idylle, soweit sie Dichtung schlechthin ist, darauf 
nicht verzichten. Diesen oder, richtiger, einen damit zusammenhängen- 
den Widerspruch sah schon Schiller: „Eben darum, weil aller Wider- 
stand hinwegfällt, so wird es auch hier ungleich schwieriger als in den 
zwei vorigen Dichtungsarten, die Bewegung hervorzubringen, ohne 
welche doch überall keine poetische Wirkung sich denken läßt“. 
(Über naive u. sent. Dichtg.) Dem kindlichen, wachsenden, schöpferi- 
schen Prinzip in der Idylle muß also das zerstörende gegenüber- 
gestellt werden. Daher vor allem die Kriege und Katastrophen, 
daher Not und Tod in der Idylle. Äußerungen wie die Jean Pauls in der 
„Vorschule der Ästhetetik“, daß die Idylle die Gewalt der großen 
Staatsräder ausschließt, die Erna Merkers im Reallex. d. dt. Lg. 
daß sie sich „fern vom öffentlichen bewegten Leben vollzieht“, 
oder gar die Knögels', daß selbst der „Ausblick auf die großen 
Gegensätze und Kämpfe im Leben mit der Ruheseligkeit der Idylle 
unvereinbar“ ist, bedürfen einer weitgehenden Korrektur. Zwar ist 
„alles, was nur durch gewaltsame Unternehmungen zustandekommt, 
sowie alles, was aus dem gewöhnlichen Kreise der Existenz und des 
Lebens herausgeht, Krieg und Blutvergießen, jede heftige Leiden- 
schaft, die unruhige Tätigkeit der Wißbegierde ... der Idyllenstim- 
mung zuwider“ ?, aber die Idylle wird es gerade deshalb kaum je- 

1) a..a0,84 


2) Wilhelm v. Humbolde Ästhetische Versuche über Goethes „Hermann 
und Dorothea“, IV. Aufl, S. 197 £. 





PsA. Bewegung V — 177 — 12 

































































.— y 


mals unterlassen, ihrer kindlichen Einfalt die ausgewachsene Bosheit 
ihrer schuldlosen, glücklichen Enge die „große böse Welt“, ihrer Ruhe 
die aufgeregte Bewegtheit der Zeitverhältnisse als Folie zu geben, „ı\ 


Besonders das idyllische Epos mag nicht auf einen großen bewegten 
Hintergrund verzichten, den es schon seinem epischen Charakter schul-. 
dig ist. „Hermann und Dorothea“ mit seinem Hintergrund der fran- 
zösischen Revolution hat auch hier Schule gemacht. Wie „unidyllisch« 
muten doch etwa folgende Stellen an, die das Chaos selbst be 
schwören: 

Denn alles bewegt sich 
Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen. 
Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten, 
Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer. 
Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts 
Lösen in Chaos und Nacht sich auf und neu sich gestalten, 
(Hermann u. Dorothea, IX., V. 262 £.) 


Losgebunden erscheint, sobald die Schranken hinweg sind, 
Alles Böse, das tief das Gemüt in die Winkel zurücktrieb. 
(VI, Vers 79 £) 


Darum sind auch die schrecklichen Tiere 
Losgelassen, von denen die Offenbarung Johannis 
Prophezeite, sie sollen den Haufen lichten und sichten. 

„Mutter und Kind“, Vers 173 £.) 


Es wanken im innersten Grunde 
Alle Staaten der Erde. (Vers 1368 f.) 


Geht es so fort wie bisher, so werden Stände die Stände, 

Völker die Völker vertilgen und in die schweigende Ode 

Kehren die Tiere zurück, die einst den Menschen gewichen. 
(Vers 1384 £.) 

In Saars „Hermann und Dorothea“ erfährt der Leser von Natio- 
nalitäten- und Sprachenstreit, von der Gefahr des Zusammenbruchs 
der Östereichisch-ungarischen Monarchie, vom englischen Imperialismus, 
ja vom drohenden Weltkrieg (II., 114.) Und auch hier wird das 
drohende Chaos sichtbar : 


1) Ferd. v. Saar: „Hermann und Dorothea. Ein Idyll in 5 Gesängen“ 
(1903). 














— 178 — 


Mn 






















































Mein Gott, was ist sicher ? Und heutzutage schon gar nichts, 
Wo sich alles verändert und kehrt von oberst zu unterst! 
(Vers 54 £.) 


In Baggesens „Parthenäis“* schaut Nordfrank seherisch eine Zukunft 
voll Mord, Verwüstung und Pestdampf. In Usteris „Vikari“” ist die 
kanzösische Revolution und die Proklamierung der helvetischen Re- 
ublik in frischem Gedächtnis. Hartmanns „Adam und Eva“® spielt 
ur Zeit der napoleonischen Kriege (1812). Böhmen lernt die Ein- 
auartierung der Russen, die „Sorge um Hab und Gut und Leben“ 
und die „Angst um Sitte und Zucht“ kennen. Die napoleonischen 
Kriege spielen auch in Eberhards „Hannchen“ (Hannchens Vater 
und Bruder sind ihnen zum Opfer gefallen), ebenso in Kosegartens 
„Jukunde“* (1803, Amalrich hat zwei Feldzüge mitgemacht) und in 
Eberts „Kloster“ ® (die Hundert Tage) hinein. Für Hölderlins „Emilie 
vor ihrem Brauttag“ ist der Korsenaufstand unter Führung Paolis von 
"Bedeutung. In Corrodis „De Herr Professer“° wird auf den Zug der 
Eidgenossenschaft gegen Luzern (1847, 10 Jahre vor dem Erscheinen 
der Idylle) Bezug genommen. In der 1827 gedichteten Fischeridylle 
Platens „Die Fischer auf Capri” wird auf die italienischen Wirren des 
Jahres 1815 hingewiesen. Die Handlung in Widmanns „An den Men- 
schen ein Wohlgefallen* (1876) fällt in den deutsch-französischen Krieg 
von 1870/71. Pontens „Römisches Idyll“ spielt im „letzten Friedens- 
jahr* (1914). Der Schatten der Schlachten am Isonzo und bei Verdun 
und des Friedens von Versailles fällt gelegentlich auf die Dichtung. 
Schließlich fällt die Handlung in Thomas Manns „Gesang vom Kind- 
chen“ (1919) in den Weltkrieg. 

Während aber in der Umwelt das Schicksal unbarmherzig herrscht, 
erfreut sich der Dichter in seiner idyllischen Welt, in der „das Schick- 
sal keine Macht über den Menschen hat“ (Hebbel, Tageb., II, 1974) 
des von ihm als sicher empfundenen Glückes der wiedergewonnenen 
Kindheit, der Ehe (die in sich fest bleibt bei allem Wandel der äuße- 


1) Jens Baggesen: Parthenäis oder Die Alpenreise. Ein idyll. Epos in 
9 Ges. (1809). 

2) Joh. Mart. Usteri: De Vikari. Ländl. Idylle in Zürcher Mundart (1831). 

3) Moritz Hartmann: „Adam und Eva. Eine Idylle in 7 Gesängen.“ (1851.) 

4) L. Th. Kosegarten: Jucunde. Eine ländl. Dichtg. i. 5 Eklogen (18053). 

5) Karl Egon R. v. Ebert: Das Kloster. Idyll. Erzählg. i. 5' Ges. (1833). 

6) Aug. Corrodi: De Herr Professer. Idyll aus dem Züribiet (1857). 

7) Aug. Graf v. Platen: Idylien u. Eklogen, 1827—ı835 (Ged., 2 Bde., 
hg. v. Rudolf Schlösser, 1910). 


— 179 — ı2* 
































ren Dinge, vergl. „Hermann und Dorothea“), der Familie, Während 
die Zeit unruhig, wenn auch »groß“ ist, preist der Idylliker sich glück. 
lich, zur Ruhe der kleinen Verhältnisse, zur „holden Idylle ffüchten« 
(M. Hartmann: Adam und Eva, erster Gesang) zu können. Während 
aber der kindliche Idylliker sich „So einheimisch in eine Furche ein. 
nistet, daß er, wenn er aus seinem warmen Lerchennest heraussieht, 
keine Wolfsgruben, Beinhäuser und Stangen, sondern nur Ähren er. 
blickt, deren jede für den Nestvogel ein Baum und ein Sonnen- und 
Regenschirm ist“ (Jean Paul), muß sich der männliche Idylliker (wie Hein. 
tich Eduard Jacob, entschieden zu weitgehend, von allen Idyllikern mit. 



















hacken, herausschaufeln“, Bei diesem Verfahren tritt manchmal (nicht, 
wie Jacob meint, immer) sogar ein „wütender Zug“ auf, so im 
»Poggfred“ (g. Kantus): 


Die Pforte zu, den Riegel vorgeschoben ! 
Sind schon die spanischen Reiter ausgelegt, 
Wolfsgruben, tiefe Gräben ausgehoben, 

Mit Pallisaden alles eingehegt ? 

Verhack, verhau ! Schießscharten unten, oben! 
Ringsum die Bäume, fallreif eingesägt ! 
Bertouch, mein Alter, Du allein bleibst hier ; 
Ich möchte mich mal ausruhen vom Tournier. 


Dichtung und schließlich zwischen dem Dichter und seinen Vor- 
gängern in der betreffenden Gattung bestehen. In der Enge der 
Idylle kann man nicht Distanz halten. (Mit der Männlichkeit 
fällt auch die Distanz.) Der Züricher Usteri z. B, erzählt den „Vikari“ 
\ in ständigem Kontakt mit dem Leser. (Er sieht ihn vor sich, wie er 
etwa voll Erwartung den Hals streckt oder die Brille im Stillen putzt, 








— 180 — 












mit ihm usw.) Er ist hierin Vorbild für die reiche 
x Dialektidyllen-Literatur in Hexametern (insbesondere 
für Corrodi), die sich an ihn und durch ihn an Hebel schließt. (Auch 
der Dialekt in der Idylle selbst, der schon bei Theokrit und in por- 
ugiesischen Schäfergedichten auftritt, geht übrigens zum Teil auf die 
Vertraulichkeit der Idylle zurück. Der Hinweis auf die Sprache des 
Kindes, das ja in der Regel im Dialekt spricht, und auf die für die 
Idylle, wie wir sehen werden, bedeutsame Heimat ergibt sich von 
selbst. Es ist kein Zufall, daß die ersten deutschen Dialektdichtungen 
nach längerer Zeit Idyllen, von Voss und Hebel, waren. Der aleman- 
nische Dialekt hat überdies mit seiner Vorliebe für Diminutiva, mit 
seinem Diminutivcharakter sozusagen, ein durchaus kindliches Ge- 
präge, das ihn für die Idylle besonders geeignet macht. Ja man könnte 
ihn als den idyllischen Dialekt schlechthin bezeichnen. Auch Hebbel 
hat den „gemütvollen Zug, sich durch die Anrede mit dem Leser in 
vertrautere Beziehung zu setzen“ 1, ebenso Hartmann, Spitteler („Olympi- 
scher Frühling“), Liliencron („Poggfred*) usw. Daß der Dichter 
sich mit dem Leser auf gleichen Fuß stellt, führt auch dazu, daß er 
ihn in seine sonst nicht allgemein zugängliche Werkstatt führt oder 
sich von ihm bei der Arbeit über die Schulter blicken läßt. Die Dich- 
tung entsteht so vor unseren Augen. Dies ist der Fall bei Hartmanns 
„Adam und Eva“, Raabes „Chronik der Sperlingsgasse“?, Thomas 
Manns „Gesang vom Kindchen* („Vorsatz“) und in Münchhausens 
„Weihnachtsfest“°. Besonders zahlreiche und reizvolle Belege, auf 
deren Darbietung hier jedoch verzichtet werden muß, finden sich im 
Wuz, in Heyses „Hochzeitsreise an den Walchensee“ * und im „Pogg- 
fred“. Die „Hochzeitsreise“ ist geradezu ein Stegreifidyll. 

Wie zur Idylle selbst und ihren Lesern hat der Dichter auch zu 
ihren Personen ein vertrautes Verhältnis. Er spricht sie wie gute 
Freunde an, nimmt von ihnen am Schlusse Abschied (Hartmann) usw. 
Voss hat die Anrede an Personen der Dichtung zu einem stehenden 
Formelement gemacht, das bei allen seinen Nachfolgern (mit oft wört- 
licher Anlehnung bei Kosegarten, dem Verfasser der „Jucunde* und 


ı) Fritz Enss: Hebbels Epos „Mutter und Kind“. Diss. Marburg a. d.L. 
1909. 

2) Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse (1857). 

3) B. Fr. v. Münchhausen: Idylien und Lieder, 1928. 

4) Paul Heyse: „Die Hochzeitsreise an den Walchensee“ 1858. (Ges. W. 
Bd. III. Berlin 1873.) 


— 181 — 


















































oo 
der „Inselfahrt:“) wiederkehrt. Hierher gehören aber auch die „Idylle 
vom Bodensee“, „De Herr Professer“, „Die Hochzeitsreise an den 
Walchensee“ und das Idyll Widmanns. (Besonders innig ist die Be. 
ziehung des Dichters des Wuz zu seiner Hauptgestalt. Da aber W. 
niemand anderer als Jean Paul selbst ist, erreicht hier die Vertraulich. 
keit den reinen Narzißmus, dessen Mischform sie ja ist.) 
Und nun zur Vertraulichkeit im Verhältnis des Dichters der Idylle 





die Nennung und kurze günstige Beurteilung des Vorgängers zum 
Ausdruck. Das Musterbeispiel für ein »„Idyll im Idyli« liefert 
Saars „Hermann und Dorothea“. Hier kann man geradezu yon 
„Hermann und Dorothea“ in „Hermann und Dorothea“ sprechen, 
(Goethes Werk ist nicht nur Vorbild für Namengebung, Hand. 
lungsführung, Motive, Charakterzeichnung, Umweltschilderung und 
Tendenz, hat nicht nur, auch buchstäblich, das letzte Wort 
im Saarschen „Idyli“, sondern es tritt auch unmittelbar auf. B; 
wird vorgelesen, sein Inhalt kurz angegeben, sein Versmaß und sein 
Ethos gekennzeichnet und mehrere Zeilen werden zitiert.) Ein ähn- 
liches Idyll im Idyll bietet Hartmanns „Adam und Eva“, das, wie 
schon aus dem Titel hervorgeht, auf das biblische Idyll im Paradies 
Bezug nimmt. Wie Saar entnimmt auch Hartmann seinem Vor,bild- 
chen“ die Namen seiner Helden, die übrigens, wie bei Goethe und 
Saar, auch den Titel bilden. (Man vergleiche ferner die Überschriften 
der Gesänge Hartmanns: „Die Schöpfung“, „Das Paradies“, „Die 
Schlange“, „Der Baum der Erkenntnis“, „Der Baum des Lebens“, 
„Und er soll Dein Herr sein“, „Aus dem Paradies ins Leben“). Bei 
Widmann wird nach dem Muster von „Hermann und Dorothea“ der 
Gesang, in dem der Sohn der Mutter gesteht, daß er das fremde 
Mädchen liebt, „Mutter und Sohn“ betitelt. (Durch solche Anlehnung 
an ein bedeutendes, in seiner Wirkung bereits stabilisiertes Werk 
wird übrigens die Idylle gestützt, ihre Stimmung mitteilsamer ge- 


ı) L. Th. Kos egarten: „Die Inselfahrt oder Aloysius und Agnes. Ländl. 
Dichtung in 6 Eklogen“, 1806. 





— 182 — 


————  — — 













cht.) Die Namen oder die Werke früherer Idylliker werden in der 
Idylle oft genannt, wie die „Luise“ und „Hermann und Dorothea“ 
bei Hartmann, Geßner bei Baggesen, Theokrit und Voss (die 
Dioskuren der Idylle“ nach Jean Paul) bei Heyse, Theokrit bei 
Nietzsche‘, Oliver Goldsmith, Jean Paul (Wuz) und Voss in der 
‚Chronik der Sperlingsgasse“. (Auf den „70. Geburtstag“ wird ange- 
spielt und der „redliche Greis in gestreifter kalmankener Jacke“ zitiert). 
‘Manchmal ist auch von den Idyllendichtern im allgemeinen die Rede, 
"wie bei Seidel („Weinlese bei Leberecht Hühnchen“) und in Mahler 
Müllers „Schafschur“. Ein banaler Fall von Idyll im Idyll endlich, die 
"Verwendung des Wortes „Idylle“ selbst und seiner Ableitungen, even- 
well seiner Synonyma in der Idylle ist bei Baggesen, Stieler, Seidel, 
Nietzsche („Im Süden“), Ponten und besonders Kosegarten (in der 
Inselfahrt) zu verzeichnen. 

Die Vertraulichkeit erstreckt sich weiterhin auch auf das Tier. Ein 
kurioser Fall solcher Tierfreundschaft in der Enge sind die Fliegen, 
die der Jubilar im „70. Geburtstag“ zur „Wintergesellschaft“ aufbe- 
wahrt. (Zitiert und variiert ist dieser Fall in der „Chronik der Sper- 
lingsgasse“). Auch das Ding wird in dem engen Kreise der Idylle 
näher an den Menschen gebracht und oft auch geradezu vermensch- 
licht (bei Hebel nach Goethes bekanntem Wort „verbauert‘“). Ein 
klassisches Beispiel ist der berühmte alte 'Turmhahn in der gleich- 
namigen Idylle, diesem Stimmungsbildchen, das die Quintessenz der 
Idylle überhaupt ist. Eine Dingfreundschaft hat Börries von Münch- 
hausen in seinem „Eulenfederchen“ dargestellt. (Ein Eulenfederchen 
bittet einmal den Dichter, mitgenommen zu werden. Es wird ihm ein 
wahrer „Wanderkamerad“, der ihm „beim Weiterschreiten dank- 
erfüllt im Haar krault“, den er küßt usw.) 

Wie in solcher Vertraulichkeit äußert sich die Rückkehr zur Kind- 
heit auch in der Rolle, die die Heimat in der Idylle hat. Fast alle 
Idyllen spielen in der Heimat ihres Verfassers. Es ist daher sogar 
überflüssig, wie es gelegentlich trotzdem geschieht, von besonderen 
„Heimatidyllen“ zu sprechen. Von allen Idyllen Vossens spielt nur 
„Philemon und Bauzis“ nicht in seiner Heimat. „Unauslöschliche, be- 
stimmende Jugenderinnerungen beseelen wie bei Goethe in ‚Her- 
mann und Dorothea‘ die Schilderung des Milieus in „Mutter und 





ı) Friedr. Nietzsche: „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ („Idyllen aus 
Messina“), 1882, Ges. W. ı2. Bd. 1924. 





—al83 — 


N 





























den Jahren, wo ihr Stoff empfangen war; eine Art Heimweh war 


die Stimmung, die sie erzeugte... Die Jugenderinnerung dichtete.«. 
Widmann sagt von seinem »Pfarrhausidyll« (in den Versen zur 
4. Auflage): | 


Hier wird die Heimat ihm (sc. dem Dichter) aufs neu geboren, 
Die Kindheit, die ihm wie ein Traum zerrann. 
Und jeder Idylliker könnte (mit nur leichter Veränderung) seinem 
Werke die Verse Hartmanns (Adam und Eva) voranstellen: 
Und so müde des Zorns und müde des häßlichen Argers 
Flieg’ ich freudig zurück auf rosig idyllischem Flügel, 
Schnell zurück in das Land, das waldige, das mich geboren, 














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das in zahlreichen Idylien, namentlich, wie zu er- 
warten, als Eröffnung vorkommt: „Kleine Fußstapfen (©. Roquette‘), 
„Gustav“ (Spitteler), „Hermann und Dorothea“ (Saar), „Der 70. Ge- 
burtstag“ (Voss), „Das Nußkernen“ (Mahler Müller), „Das Kloster“ 
(Ebert), „An den Menschen ein Wohlgefallen“ (Widmann), „Hann- 
chen und die Küchlein“ (Eberhard), »Jucunde“ (Kosegarten), „Dan 
nagra“ (Kinkel)S, 

Die feste Verwurzelung der Idylle im Leben des Verfassers, in 
Kindheit und Heimat hat auch zur Folge, daß es fast keine im enge- 
ren Sinne historische Idylle gibt. (Hier ergibt sich, nebenbei be. 
merkt, ein Ausblick auf den Gegensatz zur romantischen Dichtung, den 
die Idylle als, wie hier nicht näher dargelegt werden kann, klassische 
Dichtung auch in vielen anderen Erscheinungen aufweist.) An Aus- 


a 







Som 











ı) Fritz Enss: a, a. 0.8.97 £ 

2) G.G. Gervinus: Gesch. d. dt. Dichtung, 5. Aufl. 1874, 5. Bd. S. 78. 

3) Karl Stieler: Ein Winteridyli (Karl Stielers Werke hg. v. Karl Quenzel. 
s. 2.) (1885), 

4) Otto Ro quette: Idylien, Elegien und Monologe, Stuttgart 1883, 

5) Gottfried Kinkel: Tanagra. Idyll aus Griechenland. 3. Aufl. 1886 (1883). 









tragen werden) nenne ich die arkadischen Idyllen Gessners, die drei 
ten Idyllen Roquettes („Naturstimmen“, „Olympia“, „Eros“) und 
Kinkels „lanagra“, die im Altertum spielen, „Das hölzerne Bein“ 
(von Gessner und „Die Muschel“ Roquettes, die einzigen Idyllen des 
Mittelalters überhaupt, und zwei Hutten-Idylien, „Der Zauberer Vir- 
zilius‘ von Roquette und „Huttens letzte Tage“ von K. F. Meyer. 
Die beiden letztgenannten Idyllen sind zugleich die einzigen, deren 
Held eine historische Persönlichkeit ist. (Von den autobiographischen 
Jdyllen sehe ich dabei natürlich ab.) Daß gerade Hutten, dieser Proto- 

eines Kämpfers, die einzige historische Gestalt der Idylle ist, ist 
‚gerade aus dem Gegensatz, der einen künstlerischen Reiz bot, zu er- 
klären: Klosterzelle und Huttens Freiheitsdrang bei Roquette (Idyll 
am Anfang des bewegten Lebens), die Ufenau und Huttens Ver- 
gangenheit bei K. F. Meyer (Idyll am Ende): 
Ich, sonst so kampfgewohnt und wetterhart, 
Auf dieser stillen Insel werd ich zart, 
Und dessen Hand so rasch zum Schwerte fuhr, 
Friedselig werd ich hier wie die Natur. 

(Huttens letzte T’age) 


„Huttens letzte Tage“ führen uns übrigens den idyllischen Narziß- 
mus in einer besonderen und besonders ausgeprägten Form vor: der 
Selbstbespiegelung des auf sein Leben Zurückblickenden. Es gibt eine 
Anzahl solcher autobiographischer Idyllen. Ihre Form ist lyrisch und - 
in der Regel zerfallen sie in Einzel„bildchen“. Ich nenne eine solche 
biographisch-Iyrische Dichtung autobiolyrische Idylle. Im Grunde 
ist jede Idylle autobiolyrisch, im engeren Sinne aber unter anderen Möri- 
kes „Turmhahn“ (dessen katholisches Seitenstück Drostes „Des alten 
Pfarrers Woche“ ist), Stielers Winteridyll und Liliencrons Poggfred. 

Meyers Werk ist aber auch mit seinem Thema des Sich-Zurück- 
ziehens, Sich-Erholens vom Kampfe ein Musterbeispiel für die männ- 
liche Idylle. Wie „unser Verhältnis zur Welt, in die wir so ungern 
gekommen sind, es mit sich bringt, daß wir sie nicht ohne Uhnter- 
brechung aushalten und daß wir uns darum zeitweise (im Schlafe) in 
den vorweltlichen Zustand zurückziehen, also in die Mutterleib- 
existenz'“, so sehnt und zieht sich der männliche Idylliker einmal von 
allen Kämpfen und Nöten des reifen Mannes in die Ruhe, Wärme 
und Geborgenheit der Enge (des Mutterleibes) oder zur Unschuld und 





ı) S. Freud: Vorlesungen, S. 86. 


—+185— 



































on 








zum Glück des Säuglings zurück. Beim kindlichen Idylliker liegt q; 
Sache anders. Er hat diese Kämpfe und Nöte gar nicht ‚kennen B“ 
lernt, denn er ist (wie Jean Paul! sich kennzeichnet) ein »häusliche, 
Schaltier, das sich recht behaglich in die engsten Windungen des 
Gehäuses zurückschiebt und verliebt.“ Er ist über die autoerotische 
Periode noch gar nicht hinausgekommen, und während der männlich j 








—__ 


ı) Ferd. Josef S chneider: Jean Pauls Jugend und erstes Auftreten in der 
Literatur, 1905. 


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— 186 — 


Di —— 












Freuds 
‚Neue Folge der Vorlesungen zur 
Einführung in die Psychoanalyse“ 


Richard Sterba (Wien) 


Je tiefer wir in das Studium der seelischen Vorgänge 
eindringen, desio mehr erkennen wir deren Reichhaltig- 
keit und Verwicklung. Manche einfache Formel, die uns 
anfangs zu entsprechen schien, hat sich später als unzu- 
reichend herausgestellt. Wir werden nicht müde, sie abzu- 
ändern und zu verbessern. (Aus der XXXII. Vorlesung.) 


Der Inhalt des neuen Buches von Freud entspricht der Doppel- 
deutigkeit des Wortes „Folge“. In vieler Hinsicht ist das Buch eine 
neue Auflage, in vieler anderer eine Fortsetzung des Inhaltes 
der alten Vorlesungen. Zwischen den ersten und den neuen Vor- 
lesungen liegt ein Zeitraum von sechzehn und siebzehn Jahren. — Die 
ersten Vorlesungen gelten uns bekanntlich als das Vollendetste an 
großzügiger Darstellung der analytischen Erkenntnisse. Die drei Vor- 
lesungen über die Fehlleistung, die elf über den "Traum, die dreizehn 
über die allgemeine Neurosenlehre zeichnen in kräftig gezogenen Linien 
das Grundgerüst des psychoanalytischen Lehrgebäudes. Mit einer 
freundlichen Gewalt des Denkens, der man sich zwingend unterwerfen 
muß, führt Freud darin die Wege, die er in die Dickichte des Uner- 
kannten, des Abgewiesenen, des Vorverurteilten geschlagen hat. Ihm 
in seiner Darstellung folgen, heißt das Erlebnis des Lichtwerdens im 
Wissen aus dem Dunkel des Nichterkannten mitfühlen, mitdenken, 
mitsehen. In keiner Darstellung auf wissenschaftlichem Gebiet ist je 
dieses Erlebnis so erschütternd vermittelt worden wie in den ersten 
Vorlesungen. Man merkt, die Arbeit stammt noch aus einer kämpferi- 
schen Zeit der Analyse, und dem Kampf, der Offensive darin verdankt 
sie ihre gehobene, geläutert klare, überzeugungskräftige Darstellung. 

Die erste Vorlesung der Neuen Folge, die „Revision der Traum- 
lehre“ setzt im Gegensatz dazu mit behaglicher Gelassenheit ein; man 
spürt das Geschlossen-Feste gerade dieses Wissensgebietes der Analyse 


— 187 — 






































nach allen Seiten. Die Wiedergabe ist mit ruhiger Klugheit geführt 
wie eben gesichertes Gut von einem Meister der Darstellung Über 
mittelt wird. Das Thema der Traumlehre ist trotz den wiederholten 
Darstellungen, die Freud im Laufe der Jahrzehnte gegeben har ; 

dieser Vorlesung frisch mit neuen Reizen, unermüdlich in neuen Ko ‘ 
binationen behandelt. Die Form, zu imaginären Hörern zu Sprechen 
an die zu denken an keiner Stelle vergessen wird, gibt Gelegenheit 2 
reizvoller Dialektik. An diesem „Schibboleth“ der Analyse rollt Freud Vor 
uns gleichzeitig die Übersicht über die Schar seiner Mitarbeiter auf, ven 
sichert er sich und uns der Höhe ihrer Qualitäten. Man merkt an der 
Lebendigkeit in der Wiedergabe des Themas, wieviel Zuversicht 
Überzeugung von der Richtigkeit benachbarter, verwandter Funde a 
sich, wie er uns an anderer Stelle versichert, immer wieder aus der 
Traumlehre geholt hat; sie bleibt sein liebstes Kind. 

Das zweite Kapitel, „Traum und Okkultismus“, fügt sich lose an 
das erste an. Es ist für diese Vorlesungen bezeichnend, daß sie ge- 
schlossener Übergänge entbehren, sie folgen einander nicht notwendig, 
So erhält das neue Buch den Charakter des Revisionären, es ist wie 
eine Heerschau dessen, was seit der ersten Folge der Vorlesungen neu 
gewonnen wurde. — Im Kapitel „Traum und Okkultismus“ sind zwei 
frühere Schriften aufgearbeitet, u. zw. „Iraum und Telepathie« aus 
dem Jahre 1922 und der Abschnitt: „Die okkulte Bedeutung des 
Traumes“ aus dem Zusatzkapitel C der „Traumdeutung“. Die Ein- 
fügung dieser Vorlesung in die gesamte Folge ist nicht sofort auf. 
scheinend. Der Anschluß an die Traumlehre bestimmt zunächst ihre 
Stellung. Ihre Wirkung aber äußert sie erst in Bezug auf die letzte Vor- 
lesung: „Über eine Weltanschauung“. Sie nimmt die Widerlegung 
eines Einwandes gegen diese letzte Vorlesung vorweg, des Einwandes 
nämlich, Freud sei in seiner „einseitig mechanistischen Auffassung“ 
beflissen, „Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere 
Schulweisheit sich nichts träumen läßt“, zu übersehen. Freud versucht 
in dieser XXX. Vorlesung mit wissenschaftlicher Unvoreingenommen- 
heit dem okkulten Phänomen sich zu nähern und findet, daß die 
wissenschaftliche Einstellung erlaube, telepathische Erscheinungen anzu- 
erkennen, ja daß die Analyse im besonderen befähigt sei, solche Er- 
scheinungen überhaupt erst aufzudecken; denn in allen geschilderten 
Fällen handelt es sich um das Erraten — besser um die telepathische 
Übermittlung — unbewußter, nur durch Analyse aufdeckbarer 
seelischer Inhalte durch andere Personen. Über das telepathische 


— 188 — 





'hinomen hinaus aber liegen für Freud exakte, glaubhafte, nach- 
“fbare okkulte Tatbestände nicht vor. Das Kapitel ist ein Doku- 
ment der ehrlichen Bereitschaft, vorurteilsfrei alles Beobachtbare anzu- 
grkennen und zur wissenschaftlichen Betrachtung zuzulassen. 
Die nächste Vorlesung handelt von der „Zerlegung der psychischen 
Persönlichkeit“. Die wichtigsten Erkenntnisse der Analyse auf struk- 
wrellem Gebiet sind darin eingetragen. Das Phänomen des Gewis- 
sens wird vor allem seiner Funktion und seiner Genese nach in 
den Mittelpunkt gestellt. Die Aufstellung des Über-Ichs wird neuer- 
dings darin abgeleitet und gerechtfertigt, seine Funktion als Sammel- 
stätte der von der Außenwelt zurückgewiesenen Aggression wieder 
deutlich gemacht. Diese strukturelle Untersuchung führt zur Notwen- 
digkeit, den Begriff des Unbewußten neuerlich festzulegen, ihn 
gegen das Verdrängte abzugrenzen. Das Es, dieser bei Freud in „Das 
Ich und das Es“ erstmalig auftauchende Begriff, von Groddeck über- 
nommen, erfährt eine klare Inhaltsbestimmung, Stellung und Abgren- 
zung. Eine Zeichnung, leicht verändert gegenüber der in „Das Ich und 
das Es“, gibt die strukturellen Verhältnisse auf die Fläche projiziert 
wieder. Was aber den Text so hervorragend bedeutend macht, ist die 
polydimensionale Darstellung, die hier eine selbst von Freud bisher 
unerreichte Höhe erlangt. Die Schwierigkeit der Mischung verschiedener 
Gesichtspunkte, des topischen, des strukturellen und des genetischen, wird 
darin mit erstaunlicher Mühelosigkeit bewältigt. Der Beziehungsreichtum 
der Teile der Darstellung zueinander, die Auflösung der Funde ineinan- 
der, die Identität der Ergebnisse bei Annäherung von den verschiede- 
nen Seiten geben diesem und dem nächsten Kapitel die Qualität des 
großen architektonischen Kunstwerks. 

In die Beschreibung der Funktion des Ichs, das drei Herren die- 
nen muß, und das die rettende Insel ist, auf deren Vergrößerung 
durch die Kulturarbeit unsere Hoffnung für die Zukunft der Mensch- 
heit beruht, klingt die XXXI. Vorlesung aus. 

Die organische Verknüpfung mit der XXXI. Vorlesung geht von 
der Aufzeigung einer weiteren Funktion des Ichs aus. Es werden seine 
schwierigsten Herren und Gegner, die Triebe dargestellt, erläutert, 
ihre Ordnung, die durch die Einteilung in Lebens- und Todestriebe 
eine neue geworden ist, revidiert. Dem Aggressionstrieb und 
der Schwierigkeit seiner Bewältigung wird so entsprechend den neueren 
Erkenntnissen aus dem „Jenseits des Lustprinzips“ und aus dem „Un- 
behagen in der Kultur“ ein erhöhter, breiterer, führender Platz in der 























— 189 — 

































































Problematik der Triebe und ihrer Bewältigung durch das Ich einge, 
räumt. Die Todestriebtheorie, die zu den genialsten Konzeptio, 
nen des Meisters zählt, wird aufgerollt, beleuchtet, ihre wirksamen 2 
Ausstrahlungen auf andere Gebiete der Theorie, auf das Problem dei 
Masochismus, des Schuldgefühls, der negativen therapeutischen Reaktion, 
der allgemeinen Aggressionsneigung der Menschen werden aufgezei 
Ein großer Raum in der Vorlesung aber gilt dem mächtigsten Mittel 
des Ichs im Kampf gegen das Es, der Angst. 

Das Problem der Angst wird zunächst seiner Entwicklung in der 
Psychoanalyse nach vorgebracht. Die erste Orientierung auf dem [e. 
biete des Angstproblems war eine nach den Bedingungen, unter denen 
die Angst auftrat. Die äußere Gefahr ist der typische, regelmäßige, 
begründete Anlaß zur Angstbereitsch aft, die sich als ein Zustand 
gesteigerter sensorischer Aufmerksamkeit und motorischer Spannung 
darbot. Aus ihr kann die Angstentwicklung erfolgen, indem der 
Angstaffekt nach dem Vorbilde und in Wiederholung des alten 
traumatischen Erlebnisses der Geburt sich bildet. Die neurotische 
Angst mußte wohl als von derselben Natur wie die Realangst er. 
kannt werden; ein Umstand aber legte den Gedanken nahe, daß ihre 
Herkunft eine andere sei als die der Realangst. Wenn die Libido 
bei sexueller Erregung nicht zur Abfuhr kommen konnte, trat an ihrer 
Stelle Angst auf (aktualneurotische Angst). Daraus lag der 
Schluß nahe, die aktualneurotische Angst sei ein Umwandlungsprodukt 
der Libido, sie verhalte sich zur Libido wie der Essig zum Wein, 
Dementsprechend nahm Freud an, daß auch die übrige neurotische 
Angst ein Umwandlungsprodukt aus unverwendbarer Libido sei. Er 
stellte sich vor, sie entstehe aus der Libido einer Triebregung dann, 
wenn diese der Verdrängung verfalle. Die erste Folge der Vor- 
lesungen entwickelt diese Theorie; Freud wiederholt ihre Ableitung 
in der XXXII. Vorlesung und bereitet so den Boden für das Ver- 
ständnis der neueren Erkenntnisse vor. 

Für das Angstproblem gilt wie für kein anderes das Motto, das wir 
an die Spitze unserer Ausführungen gesetzt haben. Entsprechend dem 
Fortschritt der Erkenntnisse hat Freud im Jahre 1926 in „Hem- 
mung, Symptom und Angst“ die bisherige Theorie der neurotischen 
Angst entkräftet und eine neue geschaffen, deren Fruchtbarkeit sich 
darin zeigt, wie viele Teilprobleme damit wie mit einem Schlag ihre 
Lösung fanden. Die Abgrenzung des Ichs und die Erkenntnis seiner 
Funktionen hat hier ihre wichtigste Frucht gebracht. — Die Angst ist, 


— 190 — 































‘e in „Hemmung, Symptom und Angst“ erläutert wird, zweifellos 
gem Ich zuzuteilen, als passives Erlebnis sowohl wie als Produkt. Das 
Ich ist die „Angststätte* und das Ich gebraucht die Angst, die es 
einerseits erleidet, andererseits als mächtigsten Helfer im Kampf gegen 
die dunkeln Mächte, die ihren Willen am Ich erzwingen wollen, gegen 
die Triebe. Das Ich erzeugt nach der neueren Ansicht Freuds die 
Angst probeweise nach dem Vorbild der Erlebnisse, die es unter 
der Einwirkung traumatischer Momente erfährt, dann, wenn 
ihm die Gefahr solcher traumatischer Einbrüche neuerlich droht. Die 
erste große traumatische Störung im Seelischen aber ist die Geburt. 
Die folgenden drohenden traumatischen Momente der Kindheit sind 
der Liebesentzug und die Kastration, beide wie reale Gefahren gefürchtet. 
Die Beziehung des Angstaffektes zur Geburt wird aus dem Verständnis 
des Signalcharakters der Angst inniger. Die phobische Angst wird 
damit zur Warnung; sie nimmt vorweg, was bei Einbruch des gefähr- 
lichen traumatischen Momentes geschehen könnte, indem das Ich die 
Unlustsensationen und Reaktionen des "Traumas der Geburt reproduziert. 
Und die unerträgliche Unlustspannung, mit der der Angstaffekt einher- 
geht, rüttelt an das „allmächtige“ Lust-Unlustprinzip, von dem aus die 
“dem Es entstammende Regung automatisch gestopt wird. 

Die Konzeption des Angstsignals bringt als Neuerkenntnis zu- 
nächst die Umkehrung des Verhältnisses von Angst und Verdrängung 
zueinander. Nicht die Verdrängung erzeugt die Angst, sondern die Angst 
erzwingt die Verdrängung. Wie sehr diese dynamische Einsicht unser 
Verständnis des Verdrängungsvorganges gefördert hat, läßt sich kaum 
wiedergeben. 

Diese Beobachtungs- und Denkergebnisse aus „Hemmung, Symptom 
und Angst“ sind nun in wohlgeordneter zwingender Folge im neuen 
Buche so dargelegt, daß sie jedem mit der Materie einigermaßen Ver- 
trauten verständlich sind. — Und das „non liquet“ am Ende des 
4. Kapitels von „Hemmung, Symptom und Angst“ wird aufgehoben. 
Dort hieß es von der aktualneurotischen und der phobischen Angst: 
„Die Reduktion der beiden Ursprünge der Angst auf einen einzigen 
läßt sich nicht leicht durchführen“. In der Neuen Folge ist sie durch- 
geführt. Die phobische Angst ist ein Warnungssignal vor der Ge- 
fahr, als Reaktionsprobe vorweggenommen dem Einbruch traumati- 
scher Momente, bestimmt, diesen Einbruch durch den Appell an das 
Lust-Unlustprinzip zu vermeiden. Die Aktualangst ist die 
Reaktion selbst auf traumatische Libidoeinbrüche ins Ich. Während 


—: 19, — 




































































die phobische Angst einem Gleichwie als Warnung entspricht, 
steht in der Aktualangst im Ich die ökonomische Störung neu, deren 
Reaktionen in der phobischen Angstentwicklung vorweggenommen un 
zur Warnung vom Ich erzeugt werden. So ist die Aktualangst pa 
sives Erleiden, die phobische Angst aber auch aktives Fra 
dukt des Ichs. Das „non liquet“ von Aktualangst und Phobischer 
Angst ist damit durch eine wohlverständliche Klarheit abgelöst, 

Die XXXIU. Vorlesung handelt vom Thema der weiblichen Ent, 
wicklung, das seit langem Schwierigkeiten für das Verständnis bot und 
das, durch die Vorarbeiten von Helene Deutsch, Ruth Mack. 
Brunswick und Jeanne Lampl-de Groot aktuell geworden, 
Freud in jüngster Zeit zu einer wichtigen und aufschlußreichen Publi- 
kation veranlaßt hat. („Über die weibliche Sexualität“. „Int. Zeitschr, 
f. Psychoanalyse“ Bd. XVII, 1931.) 1 

Diese Vorlesung ist eine „Probe analytischer „Detailarbeit“, wie es 
im Text heißt. Aber von dieser Detailarbeit aus fallen Schlaglichter 
auf die wichtigsten Fragen der Psychologie bis an die Grenzen des 
Biologischen. 

Am „Rätsel Weib“ sind der Analyse in jüngster Zeit neue Teil. 
lösungen gelungen; auch diese wie die meisten anderen von der 
Psychoanalyse geförderten Lösungen, brachte die genetische Erfor-. 
schung. Die psychvarchäologische Fragestellung: „Wie ist geworden, 
was ist, und was war es vorher?“ hat in mühevollster Kleinarbeit 
an der Entwicklung des kleinen Mädchens vor der Odipusphase eine. 
mächtige, durch die spätere Vaterbindung überdeckte, in sie umge- 
wandelte Triebvergangenheit finden lassen. Die Bindung an den Vater, 
wie sie im Odipuskomplex des kleinen Mädchens bis in die Reifungs- 
zeit und darüber hinaus gefunden wird, erweist sich als ein sekundäres 
Produkt. Sie ist eine „Überschreibung“ der Beziehung, die ursprünglich der 
Mutter gilt, auf den Vater. „Diese Einsicht in die präödipale Vor- 
zeit des Mädchens wirkt als Überraschung, ähnlich wie auf anderem 
Gebiet die Aufdeckung der minoisch-mykenischen Kultur hinter der 
griechischen“ („Über die weibliche Sexualität“). Dem Nichtanalytiker 
wird es kaum verständlich zu machen sein, welche Lösung der Schwierig- 
keit für das Verständnis in weiblichen Analysen die Aufdeckung der 
präoedipalen Mutterbindung gebracht hat. Es war wirklich, als ob in 
einem dunklen Raum plötzlich Licht würde, Ein Kapitel „Die Weib- 
lichkeit“ war erst nach diesem Funde möglich und gerechtfertigt. Die 
Rolle des Penisneides der Frau wird nunmehr tiefer verständlich, ihr 


— 192 — 











































strationskomplex in seiner mutterlösenden, vaterbindenden Funktion 
deutender gesehen. Nach der Entdeckung des eigenen genitalen 
Mangels macht das kleine Mädchen die Mutter für ihn verantwort- 
“h: alle unterdrückte Auflehnung gegen die erzieherischen Einschrän- 
ungen, alle Eifersucht, alle Enttäuschungen brechen jetzt erst zu 
“nem intensiven Haß gegen die Mutter aus und der bisher teils 
nebenher geliebte, teils als Rivale abgelehnte Vater wird in der Hoff- 
nung, von ihm als Ersatz des Penis das Kind zu bekommen, zum 
iebesobjekt genommen. Die Darstellung der schwierigen Wegteilun- 
in der Folge der Entwicklung des kleinen Mädchens, die in 
Neurose, Männlichkeitskomplex und normale Weiblichkeit führen, und 
vie sie im einzelnen gewählt werden, nimmt einen Teil der Vor- 
esung ein. Eine vorsichtige Aussage über die Besonderheiten der 
weiblichen Psyche, wie sie dem Manne so rätselvoll erscheinen, schließt 
diese Vorlesung. Auch in ihr zeigt die Darstellung höchsten sprach- 
lichen Umfang bei sparsamster Verwendung. Dem ist es zu danken, 
wenn die Bedeutung des Einzelfaktums immer wieder in ein größeres, 
issenschaftlich orientiertes Gesamtbild eingebettet ist. Selbst an der 
Darstellung der Detailarbeit wird so in diesem Buch der Zusammen- 
hang mit größerem, auch über die Analyse hinausgehenden, wissen- 
schaftlichen Überblick spürbar. 

Die XXXIV. Vorlesung bildet den Auftakt zur letzten. Sie ist 
Aufklärungen, Anwendungen und Orientierungen“ überschrieben. 
reud überschaut darin zunächst die Stellung der Analyse in der 
heutigen gebildeten Welt und warnt vor Überschätzung der Aner- 
ennung. Die Psychoanalyse ist ein mühsam erwerbbares Gut und nur, 
wer sich der Mühe einer Analyse selbst unterzieht, kann um ihre Be- 
deutung wissen. Jeder andere bleibt an ihrer Oberfläche und seine 
Widerstände hindern ihn an tieferer Erfassung, ja zwingen ihn zur 
Ablehnung der Erkenntnisse. Infolge der Unumstößlichkeit ihrer Er- 
gebnisse, die von den anderen Wissenschaften deshalb anerkannt wer- 
den müssen, weil viele der analytischen Erklärungen zu aufschlußreich 
für andere Wissenszweige geworden sind, als daß sie noch entbehrt 
werden könnten, verschiebt sich der Widerstand aus der wissenschaft- 
lichen Welt allmählich in die breite Schichte der Laien und Gebilde- 
ten, die aus ihrer oberflächlichen Kenntnis die Analyse nach persön- 
lihem Geschmack verurteilen zu dürfen glauben. Diesem Widerstande 
aber ist nicht mit Argumenten beizukommen, und ihnen nicht zu ant- 
worten, sei der beste Weg, meint Freud. 


PsA. Bewegung V — 193 — 13 
























































Die Abfallsbewegungen werden kurz abgetan, vor allem wird di 
Vorwurf der Intoleranz gegen diese entkräftet. Ihre Führer woll 
etwas Anderes als die analytischen Ergebnisse bieten konnten, 
Freud betont, daß sie zu ihrer eigenen Erleichterung ausgeschieden 
sind. Es mag von Interesse sein, daß keiner der Abgefallenen ein 
tiefergehenden Analyse unterzogen war, weder Adler, noch Jung 
noch Rank, noch Stekel. Und fest zur Psychoanalyse stehen un se 
ertragen kann nur, wer durch tiefe Introspektion in eigener Analyse 
die Überzeugung ihres Wahrheitsgehaltes erworben hat. 

Unter den Anwendungen, die im übrigen kurz gestreift werden 
verweilt Freud nur länger bei der Anwendung auf Pädagogischen 
Gebiet. Sie ist die bedeutendste, weil sie das beim Erwachsenen Ds 
schlossene durch direkte Beobachtung bestätigt, und weil sie die Do. 
mäne der Neurosenprophylaxe betrifft. Freud nennt die An. 
wendung auf die Pädagogik „vielleicht das Wichtigste von allem, was 
die Analyse betreibt“. Und Geist von seinem Geist ist es, der auch 
hier fruchtbarste Arbeit leistet. Anna Freud bürgt für die Exakt. 
heit und Erkenntnistiefe der analytischen Bearbeitung des Pädagogi. 
schen Gebictes. 

Die Psychoanalyse als Thera pie wird in dieser Vorlesung ge- 
wogen und für gut befunden. Sie ist „das über jeden Zweifel mäch- 
tigste der psychotherapeutischen Verfahren“. Sie hat ihre Schranken, 
die Freud beinahe zu enge zieht, sie hat den Nachteil der großen 
Arbeit und langen Dauer. Aber sie bleibt für schwere Formen der 
Neurose die Therapie der Wahl. 

In dieser Vorlesung zeigt sich vielleicht am deutlichsten der Charak- 
ter des Buches. Die Zusammenhänge sind locker, die Darstellung hat 
etwas Revisionäres, es ist eine Überschau, nicht nur des Gewonnenen, 


in das Land des festeren Wissens hineinreicht. Und zugleich eine zähe 
Befestigung jedes neu eroberten Landstrichs, jeder Zunge des Erober- 
ten, eine Arbeit, die den Vergleich mit der Zuydersee nicht nur für 
die Therapie brauchbar macht. 

Die letzte Vorlesung heißt „Über eine Weltanschauung“. In ihr er- 
hebt sich Freud aus dem Kreis des analytischen Wissensbereiches und 
tritt in einen größeren ein, Das Kapitel beginnt mit einer Definition 
von solcher Klarheit, Umfassung und Tiefe, daß an ihr die ganze 
große, geistige Gewalt des Genius sich offenbart: „... eine Welt- 


— 194. —. 








‚hauung ist eine intellektuelle Konstruktion, die alle Probleme 
„res Daseins aus einer übergeordneten Annahme einheitlich löst, in 
demnach keine Frage offen bleibt und alles, was unser Interesse 
seinen bestimmten Platz findet“ ‘. Vier große Weltanschauungen 

werden geschlossen darin aufgerollt. Die religiöse, die philosophische, 

die anarchistische mit ihrem mystischen Hintergrund und die marxisti- 
sche. Die fünfte, zu der auch Freud sich bekennt, und die er selbst 
als „wissenschaftlichen Agnostizismus“ bezeichnet hat, findet die breiteste 
aber auch zerstreuteste Darstellung. Und das deshalb, weil sie als 

Maß der anderen verwendet und dafür stückweise aufgerichtet, ent- 

wickelt und ergänzt wird. Seiner ständig genützten fruchtbaren Führung 

des Erkenntnisweges getreu legt Freud auch an die vier erstgenannten 

Weltanschauungen die Instrumente seiner genetischen Schürfung an. 

In großartigster Weise an die religiöse Weltanschauung. Wie die drei 

wesentlichsten Stücke an ihr, die Kosmogonie, der Schutz im Leben, 

und die Vorschrift für das Verhalten, durch die Sammlung in die 

Funktionen des Vaters eine einheitlich verständliche Ableitung er- 

fahren, ist von Freud niemals vorher so überzeugend gezeigt worden. 

Und daß alle anderen Weltanschauungen wesentlichste Stücke gerade 

der religiösen entnehmen, die so zur wichtigsten erhoben ist. Alle 

wollen die Wunschwelt an Stelle der realen setzen, wollen uns Men- 
schen zu Kindern niederdrücken, in Hilflosigkeit, Abhängigkeit und 

Unfreiheit, und nur die eine, die wissenschaftliche, trifft den rechten 

Ansatz, der Menschheit aus dieser Kindheit herauszuhelfen. Sie ist die 

einzige, die dem Intellekt, diesem überragenden Instrument der Mensch- 

heit, zu entsprechender Benützung verhilft. 

Diese Vorlesung zeigt Freud neuerdings als Kämpfer. Da seine 






































ı) In Absehung der geringen inhaltlichen Differenz läßt doch erst ein 
Vergleich dieser Definition mit der eines Gelehrten der Weltanschauungen 
die Geschlossenheit und Universalität der Freudschen Definition ganz ver- 
spüren. Jaspers setzt an die Spitze seines Buches „Psychologie der Welt- 
anschauungen“ folgende Begriffsbestimmung: „Was ist Weltanschauung ? 
Etwas Ganzes und etwas Universales. Wenn z. B. vom Wissen die Rede 
ist: nicht einzelnes Fachwissen, sondern das Wissen als eine Ganzbeit, als 
Kosmos. Aber Weltanschauung ist nicht bloß ein Wissen, sondern sie offen- 
bart sich in Wertungen, Lebensgestaltung, Schicksal, in der erlebten Rang- 
ordnung der Werte. Oder beides in anderer Ausdrucksweise: wenn wir 
von Weltanschauungen sprechen, so meinen wir Ideen, das Letzte und das 
Totale des Menschen, sowohl subjektiv als Erlebnis und Kraft und Gesin- 
nung, wie objektiv als gegenständlich gestaltete Welt.“ 


a 195 Fagzl z3* 

















wissenschaftlichen Ergebnisse nunmehr unerschütterlich feststehe, 
breitet er vor uns aus, welche innere Einstellung ihn seine Ergebni 
hat finden, sie verteidigen und sie erfolgreich werden lassen. Un 
der Kampf mit dem Ergebnis nicht ruhen darf, wie man 
Feinde der Wissenschaft, dieser Jüngsten Errungenschaft de 
lichen Geistes, rege sein müsse bis in sein hohes Alter. Und welcher 
Härte gegen sich selbst und welcher Illusionslosigkeit es bedarf, in 
diesem Kampf als „Ritter zwischen Tod und Teufel“ zu stehen, u 
seinem ehernen Defensivwillen für erkannte Wahrheit und für die 
Zukunft der Erkenntnis ist er der kräftigste Streiter der scientia 
militans. 

In diesem Ringen um die Zukuntt der Wissenschaft vermag Freud. 
alles oft Gesagte so frisch, so farbig, so klug zu geben, wie es nur 
werden kann, wenn die Verteidigung des höchsten Gutes den Geist 
zu äußerster Lebendigkeit spornt. Und diese jugendliche Frische mengt 
sich mit der hart erworbenen Erkentnis, daß der Weg zur Wahrheit 
zögernd, mühsam und illusionslos ist, zu höchster Kraft und kost- 
barster Weisheit. So kann uns sein leuchtendes Beispiel den Mut ver 
mehren, wie er — unter Verzicht auf alle Illusionen — die Wahr. 
heit durch alle erstaunlichen Schwierigkeiten als das einzige Gut für 
Gegenwart und Zukunft zu erstreben. 


d wie 


ME 
— 196 — 





[ Das Institut zur wissenschaftlichen 
© Behandlung der Kriminalität, 


London 
Von 


Edward Glover 


Im vergangenen Jahr hat eine Anzahl von Psychologen, 
Soziologen und Gerichtsmedizinern in London an der Gründung 
eines Instituts zur wissenschaftlichen Behandlung der Kriminalität 
gearbeitet. Dieses soll dazu dienen, die vorhandenen Bestrebungen 
auf diesem Gebiete zusammenzufassen, eine Klinik zur Behand- 
lung Krimineller zu gründen, die öffentliche Meinung zu interes- 
sieren usw. Die Psychoanalyse ist bei diesem neuen Unternehmen 
in einer ihrer Bedeutung entsprechenden Weise vertreten : 
Professor Freud, Dr. Jones und Dr. Glover sind unter 
den Vizepräsidenten. Dr. Glover ist auch Vorsitzender des 
Beratungsausschusses, dem als Mitglieder u. a. die psychoanaly- 
tischen Kollegen Dr. Eder, Dr. Rickman und Dr. Pail- 
thorpe angehören. 

Die Eröffnungssitzung fand am 29. XI. 1932 im University 
College unter dem Vorsitz von Dr. Glover statt. Anwesend waren 
etwa 300 Personen. Es sprachen u. a Winifred Cullis, 
Professor an der Universität London, Lord Feversham, 
Vorsitzender der „National Organisation of Probation Officers“, 
Dr. Hadfield, Dozent für Medizinische Psychologie an der 
Universität London, Dr. Rees, Stellvertretender Direktor des 
Instituts für Medizinische Psychologie, und Dr. Emanuel 
Miller, Direktor der East London Child Guidance Clinic. 

Im Folgenden geben wir die Eröffnungsansprache und die 
Schlußrede Dr. Glovers im Auszug wieder: 


Meine Damen und Herren! Das Institut zur wissenschaftlichen Behandlung 
der Kriminalität macht sich keine falschen Illusionen ; es kennt seine Schwächen 
ebenso gut wie seine großen künftigen Möglichkeiten. Wir haben beschlossen, 
es mit nicht mehr Getöse einzuweihen, als unbedingt erforderlich ist, um 
die Aufmerksamkeit auf seine Bedürfnisse zu lenken. Auf diese möchte ich 
Sie mit voller Deutlichkeit hinweisen und es den andern Rednern überlassen, 
die Gründung des Institutes zu rechtfertigen. 

Um einen kurzen Bericht über das Institut zu geben : es erwuchs aus 
der Überzeugung einer Anzahl von Menschen, daß eine Nation von Er- 
wachsenen nicht fortfahren dürfe, die kriminologischen Probleme mit der 
rohen Diagnose und primitiven T'herapie eines zweijährigen Kindes zu be- 


ed 


















handeln. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß unser Strafrecht tatsächlich 
aus den primitiven Rechtsauffassungen und dem grausamen Verhalten kleiner 
Kinder entstanden ist, und daß der erste Schritt zu einer zweckentsprechenden 
Behandlung der Kriminalität der sein muß, Haß, Wut und Angst auszu. 
schalten. Praktisch können wir, dies nur erreichen, indem wir die Wissen. 
schaftlichen Bestrebungen, die die Kriminologie aus einer Primitiven Mara} 
zu einer Wissenschaft gestalten wollen, organisieren. In der Annahme, daß 
diese unsere Überzeugung von den meisten Denkenden geteilt wird, haben 
wir uns zusammengetan und dieses Institut gegründet. Es mag leichtsinnig 
erscheinen, daß wir dies zu einer Zeit der allgemeinen Depression unter- 
nommen haben, aber wir taten es in der Hoffnung, daß diese soziale und 
moralische Ebbe wieder von einer Flut abgelöst wird, und daß ES Später 
möglich sein wird, großzügigere Förderungen zu erhalten, wenn es jetzt nur 
gelingt das Projekt zu sichern. 

Etwas möchte ich noch hervorheben. Unter den Gründern dieser neuen 
Gesellschaft waren nicht nur Mitglieder verschiedener humanitärer und Re- 
formbestrebungen, sondern auch fast jede Richtung der soziologischen, ärzt. 
lichen und psychologischen Auffassung war vertreten, — meiner Ansicht nach 
ein bemerkenswertes Phänomen ! Als Vorsitzender des Technischen Beratungs. 
ausschusses fand ich, daß angesichts der dringenden gemeinsamen Aufgabe 
alle Meinungsverschiedenheiten völlig zurücktraten. Aber diese Einstimmig. 
keit allein bildet noch kein Institut und wenn wir nur wenig Unterstützung 
finden, werden wir nur wenig leisten können. Wir können einige Fälle 
aus wissenschaftlichem Interesse behandeln, einige Vorträge halten, an die 
Zeitungen Zuschriften richten, aber wir werden keinen großen Einfluß ge- 
winnen und von der Regierung nicht beachtet werden. Wir müssen Mut 
zum Handeln haben und darum haben wir es uns zum Ziel gesetzt, die 
verstreuten Kräfte der Kriminologie zu sammeln, die verschiedenen Körper- 
schaften, die nach aufgeklärten und wissenschaftlichen Prinzipien, aber zur 
Zeit von einander isoliert auf diesem Gebiete arbeiten, zu vereinigen, die 
Psychotherapeutischen Bestrebungen, Kliniken, Polikliniken, Beratungs- und 
Wohlfahrtsstellen zu organisieren, das Verständnis und die Mitarbeit der 
Juristen und der Verwaltung zu gewinnen und großzügige philantropische 
Unterstützung zu sichern. Diese Sitzung bedeutet den ersten Schritt: wir 
haben die Vertreter verschiedener repräsentativer Körperschaften eingeladen, 
um Ihnen zu sagen, daß das Institut von Ihnen Opfer an Zeit, Energie 
und wissenschaftlicher Priorität verlangt. Ich erwähnte die wissenschaftliche 
Priorität. Es wäre wohl ein Ruhmestitel einer jeden Organisation, wenn sie 
ein Allheilmittel für die Kriminalität verkünden könnte. Doch ich fürchte, 
dies ist wohl nur ein Traum. Das Institut ist überzeugt, daß nur dann 
Hoffnung besteht, genügenden Antrieb zu einer rationellen kriminologischen 
Bewegung zu geben, wenn es gelingt, die Bemühungen einer großen Anzahl 
von Gesellschaften und Institutionen zu zentralisieren und einzuordnen, 


— 198 — 

































skeptischen Publikums zu ertragen haben werden. Ein wichtiger Punkt 
dem Programm des Institutes für wissenschaftliche Behandlung der Kri- 
tät ist folgender: die Aufgabe, zu beweisen, was für die Behandlung 
Kriminalität geleistet werden kann, wird durch die wichtige 
tersuchung, was nicht geleistet werden kann, ergänzt. 
Die Schlußrede) : 
ine Damen und Herren! Wenn das Institut auch erst seit einem 
Tahr besteht, so muß man doch gerechterweise anerkennen, daß es in dieser 
‚en Zeit all das geleistet hat, was man erwarten konnte. Zunächst war 
s damit beschäftigt, seine eigene Organisation auszubauen. In seinem Tech- 
"nischen Beratungsausschuß waren schon bis jetzt alle Nüancen der psycho- 
Iogischen und der soziologischen Auffassung vertreten. Ich freue mich, Ihnen 
mitteilen zu können, daß vor kurzem Professor Malinowski und Profes- 
sor Seligman sich bereit erklärten, diesem Ausschuß beizutreten. Nunmehr 
haben wir die Möglichkeit über alle ethnologischen Probleme der Krimino- 
logie von berufener Seite Auskunft zu erhalten. Die Bedeutung der 
“ethnologischen Kriminologie für das Verständnis der Kriminalität in zivili- 
‚sierten Gesellschaften braucht wohl nicht weiter betont zu werden. 
Das Institut hat es auch übernommen, einen vorläufigen Überblick über 
die vorhandenen Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten zu gewinnen 
ind hat großzügige Unterstützung erhalten. Durch Zusammenarbeit mit einem 
Londoner Krankenhaus ist das Institut in der Lage, eine Behandlungsstelle 
für die erste Zeit zu errichten. Weiter hoffen wir ein Verzeichnis der 
 beglaubigten Stellen zusammenzustellen, an die die Richter Fälle schicken 
können, wenn wir das Einverständnis der Regierung erhalten haben. Ferner 
wollen wir ein Verzeichnis von Einzelpersonen, von ausgebildeten Psychologen 
anlegen, die zwar augenblicklich nicht an einem Krankenhaus angestellt sind, 
_ aber bereit sind, Kriminelle zur Untersuchung und Behandlung zu übernehmen. 
Das Institut veranstaltet eine Reihe von Vorlesungen für seine Mitglieder 
und andere Personen, die sich für die soziologischen, psychologischen, 
juristischen und ethnologischen Probleme der Kriminalität interessieren. Wir 
“sind auch bereit, falls sich Bedarf zeigt, Gesellschaften speziellere Vorträge 
über Psychologie des Verbrechens zu halten. Andere Tätigkeiten, die das 
Institut schon in Angriff genommen hat, erstrecken sich auf die Untersuchung 
“ von Gerichtsverhandlungen, Parlamentsberichten, usw., die sich mit Verbrechen 
_ befassen. Auf Grund seines repräsentativen Charakters hält das Institut sich 
für besonders qualifiziert, den offiziellen Stellen Gutachten über solche Be- 
_ fichte vorzulegen. Es fühlt sich auch berechtigt, Vorschläge zur Modifizierung 
_ bestehender Verordnungen und Gesetze einzubringen. 
j Das nächste dringende Problem ist die Errichtung einer Zentralstelle für 


— 199 — 




















die Tätigkeit des Institutes. Diese könnte entweder ein rein administratiye, 
Zentrum sein oder ein administratives Zentrum, das zugleich Untersuchungs. 
und DBehandlungszwecken dien, — mit andern Worten eine Klinik. : 
Durch den Vorschlag, daß das Institut eine eigene Klinik errichten wol 
könnten unnötige Befürchtungen geweckt werden, daß dadurch ein Eingriff 
in den Wirkungsbereich anderer Institute erfolgen könnte, Ich glaube, daß 
diese Besorgnis unbegründet ist. Zunächst reichen die vorhandenen Möglich. 
keiten in keiner Weise für die Überfülle des Materials. Gerade heute 
untersuchte ich in der psychoanalytischen Klinik einen Fall von Krimi- 
nalität, bei dem Gefühle von sozialer Minderwertigkeit und eine latente 
homosexuelle Einstellung mit phantastischem Lügen und Stehlen einher. 
gingen, ein typisches psychologisches Syndrom. Dieses Individuum verdankt 
es nur der Freundlichkeit seiner verschiedenen Arbeitgeber, daß es bis 
jetzt dem Gefängnis entgangen ist. Die Zahl der bei uns vorgemerkten 
Patienten ist aber so groß, daß wir ihm frühestens in zwei Jahren 
eine Behandlung ermöglichen können. Da andere Kliniken nicht weniger 
in Anspruch genommen sind, läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit 
voraussagen, daß dieser junge Mann im Gefängnis sein wird, bevor 
man ihm eine vorbeugende Behandlung ermöglichen kann. — Ferner aber 
stellt die Kriminalität eine spezifische Erscheinung dar, die zwar den Psychosen 
und Neurosen verwandt ist, aber zweifellos die Ausbildung einer eigenen Technik 
erfordert. Diese läßt sich am Besten in einer besonderen Beobachtungs- und 
Behandlungsstelle durchführen. Nur aus diesen Gründen hält der Beratungs- 
ausschuß die Gründung einer Klinik für wichtig. 


(Übersetzt von Melitta Schmideberg) 


MINE 
— 200 — 








JUNI 
B Ü C H E R 


ZEN NN UNTEN 


Zum Thema Biographik und Psychoanalyse. 


Daß Literaturhistoriker sich auf das Heftigste gegen die Anwendung 
der Wissenschaft vom seelisch Unbewußten auf die Darstellung der Ent- 
wicklung und Äußerung einer Künstlerpersönlichkeit sträuben, ist eine so 
banale Tatsache, daß sie an sich gewiß nicht der Erwähnung wert ist; 
wir wissen aber auch zur Genüge, daß immer wieder fruchtbare Versuche 
unternommen werden, in kunstpsychologischen Arbeiten von der Konstitution 
des Künstlers zu sprechen und die sich daraus für sein Werk ergebenden 
Folgen aufzuzeigen. Ein Novum dürfte jedoch in der Tatsache gesehen werden 
können, daß ein Biograph durch über zweihundert Seiten das Leben seines 
Dichterhelden schildert, um dann auf Seite 228, wenn auch in abgeschwächter 
Form, einzugestehen, daß es vielleicht“ klug wäre, das Folgende mit einer 
anderen Methodik zu durchforschen, als es jene ist, die er bisher gehand- 
habt hat; mit Hilfe der Psychoanalyse müsse es gelingen, die Lösung seines 
Problems zu finden. 

Dieses gewiß mutige Geständnis oder Bekenntnis finden wir in Boris 
de Schloezers Studie über „Gogol“ (Verlag Plon, Paris 1992), in der 
es auf Seite 228 heißt; „Ich glaube, es wäre interessant, die Freudsche 
Methode auf die Analyse der Schriften von Gogol anzuwenden; ein solcher 
Versuch ist meines Wissens noch niemals unternommen worden“. Dieses 
es wäre interessant“ sind gleichsam zwei Schritte nach vorwärts; daher geht 
er schleunigst wieder einen zurück : „Man müßte dabei natürlich mit einem 
Zartgefühl vorgehen, an das uns Freud und seine Schüler nicht gewöhnt 
haben“. Damit ist jeder billige Einwand gegen den Mut des Wissenschaftlers 
zurückgewiesen und er kann zugeben: „Die Theorie von der Verdrängung 
könnte uns indes dazu verhelfen, zum Beispiel die „Nase“ zu entziffern. 
Wenn man sich an die Freudsche Symbolik erinnert, und im besondern an 
die Bedeutung, die in ihr die Nase hat, dann bekommt das Abenteuer 
Kowaljoffs, der glaubt, dieses Organ verloren zu haben, der ihm nachjagt, 
sich einbildet, daß seine Nase ihm verlorengegangen sei infolge der Intrigen, 
die von einer jungen Person ausgingen, die er zu erobern gehofft hatte, — 
da bekommt also diese ganze Geschichte einen sehr deutlich erfaßbaren Sinn, 
sie wird sogar logisch: ist sie nicht eine Spiegelung der Seelen- 
qualen, in die Gogol durch seine Impotenz geraten war?“. Natürlich wird 
sie logisch: die Sinnlosigkeit der Ereignisse, der manifest unlogisch ablaufende 


— 201 — 

















m 


Bericht von den Abenteuern des Gogolschen Helden versinken vor der Logik 
die im latenden Sinn dieser Geschichte verborgen ist. x 

Aber auch sonst ist die Untersuchung Schloezers von der Psychoanalyse 
beeinflußt; welchen Zweck sollte es sonst haben, daß in dieser Arbeit des 
öfteren auf ein Ereignis aus der Kindheit Gogols hingewiesen wird, dessen Inhalt 
uns zwar unbekannt geblieben, aber auf dessen nachhaltige Wirkung jedoch 
eine Briefstelle hinweist. Es wird von Schloezer auch mancherlei herbeige. 
tragen, was offen mit dem Sexualleben Gogols in Beziehung steht, wir 
erfahren von Gogols Liebe für schönes Schuhwerk, davon, daß er gerne 
gewagte Witze erzählte, daß er in seinem Werk Stellen aufnahm, die dann 
von den Verlegern unterdrückt werden mußten, daß er vermutlich der Frau 
nie anders als platonisch nahegestanden war; aber Schloezer wagt es auch, 
an manchen Stellen, nicht nur in der zitierten, auf symbolische Darstellungen 
psychischer Zustände hinzuweisen. Warum hat er nun, wo er doch über 
das Material, das zu einer Psychoanalytischen Untersuchung nötig ist, in 
ausgiebigem Maße verfügte, und wo er doch selbst erkannte, daß es inter 
essant wäre, die Freudsche Methode auf Gogol anzuwenden, sich nicht 
selbst zu diesem Schritt entschlossen und es gleichsam einem nächsten, groß- 
mütigerweise, überlassen, das Leben und die Leistung Gogols konsequent 
vom analytischen Standpunkt aus darzustellen ? 





Dr. F. L. 


R. ET Y. ALLENDY: Capitalisme et Sexualite. Verlag 
Denoel et Steele, Paris. 


Dr. Allendy, der französische Analytiker, der gemeinsam mit Dr. Laforgue 
eine Arbeit über «La Psychanalyse et les Nevroses» und «Le R&ve et la 
Psychoanalyse» veröffentlicht hat und sich in letzter Zeit durch eine Schrift 
über «La Justice interieure», «Le Probleme de la Destinee» und «La 
Psychanalyse» um die Popularisierung der Psychoanalyse in Frankreich be- 
mühte, versucht in seiner neuen Arbeit, einer Compagnie-Arbeit, die Zusammen- 
hänge zwischen Kapitalismus und Sexualität vom Blickfeld des Analytikers aus 





Besitztrieb dem Zeugungstrieb überall feindlich gegenübersteht, und daß die 
Situationen, die der Kapitalismus herstellt, diesen Konflikt nur noch ver- 
schärfen. Zuerst untersuchen die Autoren die Rolle der infantilen Triebe, die 
an diesem Unternehmen beteiligt sind, und unter welchem Aspekt sie beim 
reifen Menschen auftauchen ; nachdem sie die biologische Entwicklung, welche 
die einander widerstrebenden Kräfte genommen, nachdem sie ferner durch 
eine Analyse der individuellen Entwicklung, die sie bei Neurotikern aufzu- | 
weisen haben, gewisse Mechanismen, die hier wirksam sind, verständlich | 





— 202 — | 





wird) 





vemacht haben, zeigen sie die sozialen Formen der Begegnung von Mann und 
rau auf. Sie analysieren auf der Basis einer umfassenden Kompilation die 
ring der Ehe von ihren Urformen im Tierreich an bis zu den geg en- 
wärtigen Erscheinungen, zeigen, wie Besitztrieb, Sozialtrieb und Sexualtri eb 
hier zusammenfinden, und wie sich das Schwergewicht im Lauf der Ent- 
wicklung nach dem Pekuniären hin verlegt hat. Auch die Prostitution wird 
in erster Linie aus ihren psychologischen Ursachen heraus verstanden und 
mit dem Kapitalismus (ein Begriff, der immer im weitesten Sinn verwendet 

in Zusammenhang gebracht. Im vorletzten Kapitel der Arbeit 
steht dann das Problem der Verbindung von Zeugung und ökonomischer 
Situation im Vordergrund: Die Zeugung, durch die das Individuum seinen 
biologischen Wert bestätigt erhält und durch die es dem Tod zu entgehen 
versucht, hat aufgehört, eine Quelle der Macht zu sein, weil sie zur Ver- 
armung des Individuums führt. Wie nun die Krise, in der wir uns hier 
befinden, überwunden, gelöst werden wird, deuten die Verfasser im letzten 
Kapitel an: bei diesen Ausführungen muß jedoch die exakte Darstellung 
der Prophetie weichen, die Beweisführung hat daher nur mehr subjektiv 


geltenden Wert. 
Dr. F. 1. 


PSYCHOANALYSIS TODAY. Hgg. von Sandor Lorand. 


Dieses eben erschienene, aus 23 Aufsätzen verschiedener Psychoanalytiker 
bestehende, schön ausgestattete Werk von 370 Seiten will ein vollständiges 
Kompendium des heutigen Standes der Psychoanalyse geben. Es bemüht sich 
um eine klare einfache Darstellung der Materie, da es auch Erziehern und 
Laien verständlich bleiben und eine möglichst weite Verbreitung psychoana- 
Iytischer Kenntnisse geben will. Auch Ich-Psychologie, Charakter-Neurosen, 
moderne Kinder-Probleme, die Verhütung der Neurosen, die Beziehungen 
zur inneren Medizin, Anthropologie, Kriminologie, zur schönen Literatur und 
zur Religionswissenschaft sind wohl berücksichtigt und abgehandelt. 

Die Wiener Schule ist durch Nunberg, Schilder und Wittels vertreten ; 
ferner kommen neben den bekannten Amerikanern, mit Brill an der Spitze, 
zu Wort: Jones, Glover, Klein; Ferenczi und Roheim; Alexander, Laforgue 
und Ophuijsen. 

Wir behalten uns vor, in einer der nächsten Nummern unserer Zeitschrift 
eine der Abhandlungen als Musterbeispiel abzudrucken. E. H. 


1) Psychoanalysis Today. Its scope and function. Edited 
by Sandor Lorand with a foreword by Smith Ely Jelliffe, New York, 1933, 
Covici-Friede. 


— 203 — 























HENRI BERGSON: Die beiden Quellen der Mor 
und der Religion. Eugen Diederichs, Jena, 1933. 


bereits erwähnt. E. H 


NINE 
GEORG GRODDECK 


2 RE lang ar RM 6‘— 
Brebunden 2 mn RM 5— 


NN ER 


Eigentümer Verleger und Herausgeber 
Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Gesellschaft m, b. H., Wien, L, Börsegasse ı 
Schriftleiter und verantwortlicher Redakteur: Dr. Eduard Hitschmann, Wien, IX., Währingerstr: be 24 


— 204 — 


Soeben erschien 


SIGM. FREUD 


NEUE FOLGE 


DER 


VORLESUNGEN 


ZUR 


EINFÜHRUNG 


. IN DIE 


PSYCHOANALYSE 














In Leinen sieben Mark 





In gleicher Darstellungsart wie bei den vor fünfzehn Jahren zuerst 

erschienenen Vorlesungen hat Freud die zahlreichen Fortschritte und 

Entdeckungen der Psychoanalyse in dieser „Neuen Folge” zusammen- 

gefaßt. Ihre Kenntnis ist unentbehrlich für das Verständnis der Psycho- 
analyse in ihrer heutigen Gestaltung 





INHALT: 


Revision der Traumlehre 

Traum und Okkultismus 

Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit 
Angst und Triebleben 

Die Weiblichkeit 

Aufklärungen, Anwendungen, Orientierungen 
Über eine Weltanschauung 


INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 
G.M.B.H. WIEN I. 


og 


zu 


„Psydoanalytishe Bewegung”, V. Jg., Heft 2, März-April 1933 { 


Seite | 
Eduard Hitschmann: Brahms und die Frauen . . .» . 2 2 222.097 
Edmund Bergler : Zur Psychologie des Zynikers (T) . . . » 2.2....190 ] 





Ignaz Feuerlicht : Analyse des Idyllischen . . . BR. |: 
Richard Sterba : Freuds Neue der der Vorleunzen u zur Eioläbhung in die 1 
Psychoanalyse . . Bl 
Eduard Glover : Das Institut zur wimenschlilichiei Behandlung Rt Kin | 

naltar, ‚Londan'';s.. alt an ag a a a res 2 
BÜCHER: 
Zum Thema Biographik und Psychoanalyse . ..:. 2: 22.22... 201 
R.etY. Allendy: Capitalisme et Sexualt€ . ». 2.22... N. .- 
Psychoanalysis today. Hgg. von Sandor Lorand ... 2... 22200. 205 7 
Henry Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion . .. . - 204 
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_ Das vorhergehende Heft enthielt u. a. folgende Beiträge 
= Henri Floumoy ..... Der wissenschaftliche Charakter der 
Psychoanalyse 
= Edmund Bergler..... . . Zur Psychologie des Zynikers (|) 
= Karl Badler.......... Alfred Kubin und die Flucht ins 
= Traumreich 


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Prospekte über psychoanalytische 
Literatur sendet auf Verlangen: 
Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag, Wien, I., Börsegasse I