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Full text of "Psychologische Betrachtungen an griechischen Philosophen. Parmenides - Sokrates."

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Psychologische Jjeobachtungen 
an ^riecniscneii ± nilosopnen 

(Parmcnidcs — Sokratcs) 



HEINRICH GOMPERZ 



Internationaler 
Psy clioanaly tisclier Verlag 

Lelp-is ' W ''» / ZGrJcli 



INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 



WIEN VII. ANDREASGASSE 3 



IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

i 

Herausgegeben von Prof. Dr. SIGM. FREUD 

So2Z: al rV 9 tl 2 ~ 1923) u n ? ^ anderCn ***** ***• ™ *" <**£ ^ r 

Soziologie, der Volkerpsychologie u . der Religionswissenschaft 

Abraham: Der Versöhnungstag 
Andreas-Salome: Von frühem Gottesdienst 
I e r n y : Zur Hypothese des sex. Ursprungs der Sprache 

isler: Der fisch als Sexualsymbol 

elszeghy: Panik' und Pankomplex 

'"j xi»-7i n,ge l 4 ber ®'>Mtimmungen im Seelenleben 
der Wilden und der Neurotiker 




- rage der psychologischen Grundlaeer 
« de8 Ursprungs der Religion 
olnai: Ober das Mystische 

- Zur psychoanalytischen Soziologie 
bvi: Die Kastration in der Bibel 

- Sexualsymbolik in der biblischen Paradiesgeschichte 
i- ist das Kainszeichen die Beschneidung 
orenz: Der Mythus der Erde 

- Das Titanenmotiv in der allgemeinen Mythologie 



erschienen : 

Müller- Braunschweig: Psychoanalytische Ge- 
sichtspunkte zur Psychogenese der Moral 
r-fister: Die Entwicklung des Apostels Paulus 

*"„ » £ W n" $*?& ^ ^ d " PM »8«pk u - Seelsorgo 
Rank: Die Nacktheit in Sage und Dichtung 8 

~DichtWü Uan <ZUr S ° 2i8,en Funktion der 

Reik: Das Kainszeichen 

"gSiunSä" UBd dle P***— *•" Ver- 

— ödipus und die Sphinx 

Röheim: Zur Psychologie der Bundesriten 

S 1m1« sexuc,fe Anteil an der ***** 

Silberer: Ober Marchensymbolik 

Sperber: Ober den Einfluß sexueller Momente auf 

hntstehung und Entwicklung der Sprache 
Wölk: Das Tri-theon der alten Inder^ 



DER POLITISCHE MYTHUS 

BEITRÄGE ZUR MYTHOLOGIE DER KULTUR 

Von Dr. EMIL LORENZ 

Ho«.* , ine , pou«.^ ^t 22 ;:lr*~ tf e,n Barod£^,eB ' d, - *** r ' eine Gedanke V n keine ; 
^arcr*-- oiAt nur *■ tetere ~ *• *— * * — iJEsKSesa 



SYCHOANALYTISCHE PSYCHOTECHNIK 

Von Dr. FRITZ GIESE 

L Psychoanalyse und Wirtscfaaftspsychologie (Über erotisierte Reklame). - 
II. Psychologische Eignungsprüfung 







Psychologische Beobachtungen 
an griechischen Philosophen 



Von 

Dr. Heinrich Gomperz 

a. ö. Professor an der Universität Wien 



Sonderabdruck aus „Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse 
auf die Geisteswissenschaften" (herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud) 

X. Band (1924), Heft 1 



1924 

Internationaler Psychoanalytischer Verlag 

Leipzig / Wien / Zürich 



^ 






ALLE RECHTE, 

INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG, 

VORBEHALTEN 



COPYRIGHT 1924 
BY INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

GES. M.B.H. WIEN 



" J INTERNATIONAL 
- WM PSYCHOANALYTIC 




UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



GEDRUCKT BEI CARL FROMME GES. M.B.H., WIEN V 



Psychologische Beobachtungen 
an griechischen Philosophen 

Daß uns die Psychoanalyse auf viele Tatsachen achten gelehrt 
hat, die früher niemand beachtet hat und die doch der Beachtung 
in hohem Maße wert sind, kann kein Unbefangener bestreiten. 
Dies anerkennen heißt freilich nicht sich auch alle Schlüsse an- 
eignen, die sie aus solchen Tatsachen glaubte ziehen zu dürfen, 
oder gar alle Ergebnisse, zu denen diese Schlüsse sie geführt 
haben. Ja, auch das Bemühen, neue Tatsachen dieser Art zu er- 
mitteln und sie mit den sonst bekannten Tatsachen und Gesetz- 
mäßigkeiten wenigstens vermutungsweise zu verknüpfen, verträgt 
sich durchaus mit der Überzeugung, daß weder das schon Be- 
kannte noch das neu Ermittelte uns bisher in den Stand setzt, 
gerade jene Fragen zu beantworten, deren Beantwortung uns alle 
am meisten befriedigen würde. Der Wert der Tatsachen selbst 
wird durch diese Zurückhaltung nicht gemindert und bei ihrer 
Ermittlung, Verwertung und Veröffentlichung sollten auch solche 
zusammenwirken können, die über Haltbarkeit und Tragweite der 
bisherigen Ergebnisse der Psychoanalyse verschieden denken. In 
diesem Sinne möchte auch ich die Gastfreundschaft der „Imago" 

Imago X/i * 






H. Gomperz 



für einige Beobachtungen über die geistig-leibliche Veranlagung 
und Entwicklung griechischer Philosophen in Anspruch nehmen. 
Inwieweit diese Beobachtungen auch dazu beitragen, den eigen- 
tümlichen Lehrgehalt ihres Philosophierens besser verständlich zu 
machen, das werden die Leser selbst einigermaßen beurteilen 
können. Meines Erachtens ist das bisher nur in sehr eingeschränktem 
Umfang der Fall. 

i. Parmenides 

Parmenides lebte in Elea in Unteritalien. Als die Zeit seiner „Blüte" 
gaben die alten Chronologen die Jahre 504 bis 50 1 v. Chr. an, sie 
dachten ihn also etwa zwischen 544 und 541 geboren. Piaton 
schildert ihn, als wäre er um 455 oder 45 1 ein hochbetagter Mann 
gewesen, der indes noch trefflich erhalten, „etwa wie ein Fünfund- 
sechzigjähriger" aussah. Er zählte also damals gewiß mindestens 
achtzig Jahre, war demnach spätestens 531 geboren. 1 Zur Zeit, 
da er sein Lehrgedicht verfaßte, war er, wie aus diesem selbst 
hervorgeht, ein noch waffenfähiger Mann, 2 schwerlich über fünfund- 
vierzig. Dieses Gedicht kann also nicht jünger sein als 4865 wahr- 
scheinlich ist es einige Jahre älter. 

Über sein Leben wissen wir so gut wie nichts. Theophrast be- 
zeichnete ihn als den Sohn des Pyres , doch gab es daneben viel- 

vJ? ° idS ' Fra f^ ente der Vors °kratiker >8A 5 : WmQOOi^a ...xcn ävöoi näw 
Viag *dw noeoßvivi . . . M veo S 5>v izeivov ß äla *} roxe bvrog TtQMßtoov . . . eö 
Htua d V *9*ß**n> ■ • ■ «<p6ö Q a rcoAtdi», nalbv de KäyaMv zi,v o Vt v mgi £v V fidhoia 
xantrmikcwma. Man versteht .hier gewöhnlich: „Er war damals etwa fünfnnd- 
sechzig Jahre« und macht danach Parmenides um fünfzehn his zwanzig Jahre zu jung 
A- G \ r v ." ' einCS Fünfu "<^chzigjährigen hätte Piaton nicht so nach-' 

druckheh betont. Der Zeitpunkt, zu dem das Gespräch spielt, ergibt sich aus der 
Angabe der um 469 geborene Sokrates sei damals noch „ganz jung« gewesen. Piatons 
Darstellung stimmt, richtig verstanden, mit den Angaben Apollodors (Vorsokr 18 A ^ 
so ziemlich überein. °*'J 

2) Denn die Göttin redet ihn I, 24 als xovgog an, was ich durch „Junker" wieder 
zugeben versuche. «ieaer- 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 3 

leicht noch eine andere,* möglicherweise besser begründete Über- 
lieferung, der zufolge er „durch seine Geburt der Sohn des 
Teleutagoras, durch Adoption dagegen der Sohn des Parmenides" 
gewesen wäre. 3 Jedenfalls war seine Familie vornehm und begütert. 
Unzweifelhaft ist, daß der Dichter und Denker Xenophanes, der 
etwa dreißig Jahre älter war als er, auf Parmenides einen ge- 
wissen Einfluß übte, doch wissen wir nicht, ob dieser Einfluß 
sich auf persönliche Berührung gründete. 4 Als sein eigentlicher 
Lehrer erscheint vielmehr Ameinias, der Sohn des Diochaites, „ein 
edler, wenngleich armer Mann", der ihn für die pythagorische 
Lebensweise gewonnen haben soll und dem er nach seinem Tode 
ein Grabtempelchen errichtete. 5 Als Parmenides selbst alt geworden 
war, ward ein um vierzig Jahre jüngerer Mann, Zenon, sein 

3) Vorsokr. 19 Ai ist überliefert: „Zenon von Elea. Diesen nennt Apollodor in 
der Chronik den Sohn des Pyres und von Parmenides" (den nämlich Theophrast zum 
Sohne des Pyres macht) „sagt er, er sei als Sohn des Teleutagoras geboren, von 
Parmenides aber adoptiert worden." Man stellt nun meist um: „Zenon . . . Von 
diesem sagt Apollodor . . ., er sei als Sohn des Teleutagoras geboren, von Parmenides 
aber adoptiert worden, den Parmenides aber nennt er den Sohn des Pyres." So ist 
die Übereinstimmung mit Theophrast (Vorsokr. 18 A 7) hergestellt und die Bemerkung 
über Parmenides gut angeknüpft. Allein es ist doch auffallend, daß die Gleichnamig- 
keit des Adoptierenden und des Adoptierten (die besonders bei der Adoption eines 
Enkels oder Neffen häufig gewesen sein muß) nur auf mechanischer Textstörung be- 
ruhen soll; ferner, daß Piaton, wo er Parmenides und Zenon zusammen einführt, nicht 
nur von einer Adoption nichts erwähnt, sondern vielmehr von Zenon sagt : xai Xiyea'&at 
avzöv naidtxä xov IlaQfievtöov yeyovevai, was sich doch mit jenem Verhältnis kaum 
verträgt. Wich also Apollodor von Theophrast bewußt ab, so könnte er seine guten 
Gründe dafür gehabt haben. 

4) Eine solche Berührung wäre unwahrscheinlich, falls bei Parmenides Miß- 
verständnisse des Wortlauts von Versen des Xenophanes angenommen werden dürften. 
Und eine solche Annahme wird vielleicht dem beachtenswert scheinen, der Parmenides' 
Lehre von der dri£a (I, 30; VIII, 51; vgl. VIII, 60: ioixöza ndvza) mit den schlichten 
Bescheidenheitswendungen des Xenophanes vergleicht (XXXIV, 4: öÖKog ö'ini Jiäai 
zexvxzai; XXXV: xavza öeöo^äo 1 ^) ßiv ioixöza zotg iztipoioi) oder darauf achtet, in 
wie verschiedenem Sinne Parmeniaes (VIII, 4) das Wort otiXog auf sein Seiendes und 
Xenophanes eben dasselbe Wort (XXIV) auf seinen Gott anwendet. 

5) Vorsokr. 18 A 1. Sotion nennt hier Ameinias einen Pythagorikcr, von dem Par- 
menides elg "fjövzia-v JlQOEZQän'r]. l)avxta aber ist Kunstausdruck für die pythagorische 
Lebensweise (Vorsokr. 4, ig = Diog. Laert. VIII 7; Lukian, Vit. auct. 3). Durch Sotions 
Worte schimmert vielleicht noch ein Vers aus der Weihinschrift des Heroons durch, 
etwa: Sc. nozi /.i'ig ae/iviyf nQOvzQsnev ■fiövzlrjv ( v §^- u - Anm. 103). 



. H. Gomperz 

Schüler, der nicht nur seine Lehre verteidigte und zum Teil 
fortbildete, sich ihm vielmehr auch menschlich aufs innigste an- 
schloß: es ist möglich, daß er ihn an Sohnes Statt annahm, und 
Piaton erwähnt das (wie aus dem Folgenden hervorgehen wird, 
wohl durchaus unglaubwürdige) Gerücht, es habe zwischen beiden 
ein päderastisches Verhältnis bestanden. 

Das Lehrgedicht des Parmenides zerfiel in drei ungleiche Teile: 
die Einleitung, die „Wahrheit" und den „Wahn". Die beiden 
ersteren sind uns so gut wie vollständig erhalten/ auch aus dem 
dritten kennen wir nicht ganz wenige Verse und auch der Inhalt 
der verlorenen Abschnitte ist uns durch Auszüge zum Teil bekannt. 
In der Einleitung schildert Parmenides seine wunderbare Fahrt 
auf dem Sonnen wagen in die Himmelsburg, 8 allwo ihm Hemera, 
die Göttin des Tages, 9 die beiden Ansichten offenbart, die mit- 

6) Vorsokr. 18 A 5; vgl. o. Anm. 5. Festzuhalten ist, daß wir nur die Wahl haben, 
den Parmenides zum Adoptivsohn eines altern Parmenides oder aber zum Adoptivvater 
Z,enons zu machen, daß aber diese beiden Annainnen nicht zusammen bestehen können. 

7) W. Kranz, Über Aufbau und Bedeutung des parmenideischen Gedichts, Berliner 
Sitzungsberichte 1916, 1175; dazu H. Gomperz, Hermes LVIII, 28«. 

8) Das Tor dieser Burg (I, 25) öffnet und schließt die Dike (I, 14), eine der drei 
Hören (Hesiod, Theog. 902); von den Hören wird aber das Himmelstor gehütet (II. 
V 749) und daß Parmenides wirklich dieses selbe Tor im Sinn hat, lehrt der Ver- 
gleich seiner Worte (xfß §a öi'aizEav/iHg e%ov xoöoat y.aT'd,ua^ndv agpa xai Innovg, 
I, 20 f.) mit denen Homers (rrjt £a Öl'a1)td0v xsvTQr)vex6ac; l%ov Innovg, II. V 752). 
Die Himmelsburg, zu der die Sonnentöchter den Wagen fahren, ist entgegengesetzt 
dem Palaste der Nacht, von dem diese Fahrt ihren Ausgang nahm (I, 9): der Weg 
von diesem zu jener ist der Weg des Tages, der Weg von jener zu diesem ist der 
Weg der Nacht, beide Wege laufen durch das Einfahrtstor der Himmelsburg (I, 1 1 
— ebenso natürlich auch durch das des nächtlichen Palastes). 

9) Die Burg der Göttin ist das Ziel der Fahrt (I, 25), die von dem Palast der 
Nacht ihren Ausgang nahm (I, 9); Nyx, der Göttin der Nacht, entspricht aber als 
ihr Gegensatz Hemera, die Göttin des Tages (Hesiod, Theog. 124 und 748). Nur 
wohnen beide nicht, wie an dieser letzteren Stelle, in einem Hause, in dem sie sich 
dann freilich nur abwechselnd aufhalten könnten (das Tor dieses Hauses hat denn 
auch Theog. 750 eine eherne Schwelle, die des Himmelstores dagegen ist von Stein, 
Parm. I, 12), sondern in einander entgegenliegenden Burgen, die sie nicht selbst ver- 
lassen zwischen denen vielmehr der Sonnenwagen hin- und herfährt. Und so gehört 
es sich auch, da ja Parmenides (VIII, 58) ausdrücklich sagt, daß die Nacht dem himm- 
lischen Feuer gerade entgegenliegt. Zu der Annahme aber, die Göttin, die Parmenides 
belehrt, könnte dieselbe sein, die (XII, 3) die Welt lenkt, besteht um so weniger Anlaß, 
als es ja eben jene ist, die von dieser in der dritten Person zum D.chter spricht. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



einander im Streite liegen: die „Wahrheit", der zufolge es nur 
eines gibt, das „Seiende", das, ungeworden, unveränderlich und 
unvergänglich, als gleichartige, unbewegliche, kugelförmige Masse 
den Himmel ausfüllt und den „Wahn", der die Menschen dazu 
verführt hat, zweierlei zu unterscheiden, Licht und Dunkel: 
diese dachten sie auf eine obere und eine untere Region verteilt 
und aus ihrer Vermischung ist dann für diesen Wahn jene ent- 
standene, veränderliche und vergängliche Welt hervorgegangen, 10 
die wir mit unseren Augen und Ohren wahrzunehmen, mit unseren 
Worten zu benennen vermeinen. 

Ich lasse nun zunächst Einleitung und „Wahrheit" in deutscher 
Übersetzung folgen, und füge ihr nur jene Anmerkungen bei, die 
mir, sei es zum Verständnis des Gedichts, sei es zur Rechtferti- 
gung meiner Übersetzung, unerläßlich scheinen:" 

/. Einleitung 

Brachst. i,i: Rosse, die ihr mich fahrt, soweit mich mein Sehnen hinaustreibt, 
Diesmal jagtet ihr hin auf der heiligen Straße der Gottheit, 
Welche den kundigen Mann in sämtliche Teile der Welt trägt. 12 
Und so fuhr ich dahin: ihr, hochverständige Rosse, 
5: Jagtet dem Wagen voran' und die Mädchen wiesen den Weg uns. 1 ' 

10) Karl Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, 
Bonn 1 91 6, hat schön gezeigt, daß Parmenides zwischen einer bloß imaginären Weltbildung 
für den menschlichen Wahn und einer wirklichen Weltbildung durch eben diesen Wahn 
nicht folgerecht unterscheidet. Hätte man ihm freilich die Frage, so scharf zugespitzt, 
vorgelegt, er hätte nicht gezögert, sie im Sinne der erster en Auslegung zu entscheiden. 

11) Die Übersetzung sucht auch den außerordentlich holprigen und prosaischen 
Charakter der griechischen Verse wiederzugeben, der natürlich in der „Wahrheit" 
am meisten auffällt. - Meine Vorschläge zur Verbesserung des Textes sind, freilich 
ohne Begründung, auf Grund brieflicher Mitteilung größtenteils verzeichnet von 
Diels, Vorsokratiker, 4. Auflage. „Nachträge zum I. Bande«, 1922. 

12I Welche" kann auch im Griechischen sowohl auf „Straße« wie auf „Gottheit 
bezogen" werden; ersteres gewiß das Richtige. „Straße der Gottheit", weil sie den 
Dichter der Göttin zuführt, die ihn belehrt. An dem durch Vorsokr. 66 B 21, 3 (wo. 
es sich ebenfalls auf die Sonnenbahn bezieht) gesicherten jidvr'äöTi} ist trotz Nestle 
bei Zeller, Ph.d. Gr. I 16,727 a , nicht zu rütteln. 

13) Die Sonnentöchter fahren auf dem Sonnen wagen als seine Lenkerinnen mit. 






H. Gomperz 



Aber ein pfeifender Ton erklang von der Achse, die in den 
Naben, vom Kreisen der Räder herumgewirbelt, sich heiß lief; 
Denn es beeilten die Fahrt ins Licht die Töchter der Sonne. 
Weit schon lag hinter ihnen die Burg der Nacht und vom Haupte 
10 : Schlugen sie nun mit der Hand zurück die schützenden Schleier. 
Dort ist das Tor, das den Weg desTages sowie auch der Nacht sperrt: 14 
Unten die Schwelle von Stein, von oben umrahmt es der Türsturz ; 
Hochauf ragt es, erfüllt von gewaltigen Flügeln: den Schlüssel, 
Der sie versperrt und erschließt, verwahrt die Göttin des Rechtes.' 5 
15 : Dieser nun sprachen die Mädchen zu mit schmeichelnden Worten 
Und beredeten sie, den verpflöckten Riegel der Pforte 
Eilends ihnen zur Seite zu stoßen. 16 Da flogen die Flügel 
Klaffend auf: nacheinander drehten sich in den Pfannen 
Zapfen und Dornen der beiden mit Erz beschlagenen Pfosten 
20 : Und durchs geöffnete Tor, da lenkten die Mädchen, der Fahrspur 
Folgend, gerad' aufs Ziel den Wagen, den rossebespannten. 
Huldreich nahm die Göttin mich auf, ergriff meine Rechte 
Mit ihrer Hand und sprach, zu mir gewendet, die Worte: 
Sei uns, Junker, gegrüßt! Unsterbliche 1 " lenkten die Rosse, 
25: Die dich im Flug hieher, zu unserer Wohnung, getragen. 
Denn nicht regt' eine Unheilsmacht dir auf das Verlangen, 
Diese Straße zu zieh'n, weitab den Pfaden der Menschen, 
Sondern der Pflicht und des Rechtes Göttin; erfahre drum alles: 
Erst das nie erzitternde Herz der gerundeten Wahrheit, 
30: Dann auch der Sterblichen schwankenden Wahn, dem wahre 
Gewähr fehlt! 
Gleichwohl fass' auch diesen und daß wahrscheinlicher Anschein 
Einst notwendig das All in all seinen Teilen erfüllt hat!' 8 

14) Das Tor der Himmelsburg, die die Tagesgöttin bewohnt; vgl. 0. Anra. 8 und 9. 

15) Sie wacht darüber, daß der Sonnenwagen die Fahrzeiten einhält, bei denen 
die Länge von Tag und Nacht jeweils im richtigen, vorherbestimmten Verhältnis steht 
und verhindert so, daß Tag und Nacht voneinander benachteiligt werden könnten; 
vgl. Vorsokr. 12 B 94. 

16) Sie tut damit kein Unrecht, da diesmal nicht die Sonne selbst den Sonnen- 
wagen fahrt, dessen Einfahrt daher an dem Verhältnis der Tages- und der Nacht- 
länge nichts ändert. 

17) Die Sonnentöchter. 

18) Meine Auffassung der vielumstrittenen Verse Vorsokr., Nachtr. XXVIII, 11. 
for vorjv daß, nicht wie es notwendig wurde, da wg bei Parmenides durchwegs jene 
Bedeutung hat. xä öoxfytcoc öoxodita Wortspiel ganz ähnlich wie Vorsokr. 12 B 28, 
wo ich lese: öoy.eöviov yäg öoxifMÖvaiov ywäoy.ei . . . 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



IL Wahrheit 
Br. IV, i : Und nun verkünd' ich dir's, du aber bewahre die Rede, 

Welches die beiden einzigen Straßen erkennender Forschung 
Sind: die Straße des Seins, (der Erkenntnis): „Unmöglich ist 

Nichtsein", 19 

Ist der Belehrung Straße und alsbald folgt ihr die Wahrheit.-* 5 

5 : Aber des Nichtseins Straße, des Wahns : „Notwendig ist Nichtsein" , 

Das ist, so lehr' ich, ein Pfad, der gänzlich dem Wissen entrückt ist. 

Denn was nicht ist, das erkennst du auch nicht (wie wäre das 

möglich?) 
Und du nennst es auch nicht. 
Br v . Denn nur das, was ist, kann 

man kennen. 21 
Br VI, i: Dies nur erkenn' und sag': Das Seiende ist, denn es kann sein. 22 
Nichts aber kann nicht (sein) : ^ daß du fest dir im Geiste dies 

einprägst ! 
Und drum hüte zuerst dich vor dieser Straße des Irrtums! 
Dann aber auch vor jener, auf der unwissende Menschen 
5 : Schwanken, mit Doppelgesichtern, denn ratlos lenket im Herzen 
Ihnen den Schritt die schwanke Vernunft: so fahren dahin sie 
Blind und taub und dumm (wie junge Kälber), 2 * verworr'ne 

iq ) IV i bis VIII, 2 bilden den ersten Teil der „Wahrheit« und enthalten den 
Beweis daß das Seiende ist. IV, 2: ööol dl&Oiog, voi)öai ist das letzte Wort frei 
angehängt: Straßen der Forschung, die man erkennend betritt. IV, 5 &g louv empha- 
tisch fast wie ein Impersonale „es istet«, es gibt etwas, gibt ein Sein. 

20 ^ Das überlieferte >Akr,&elv besser als 'AAijfc^t, denn auch II. X\U 251, 
Od VIII 2*7 und Hesiod, W. u. T. 141 t folgt das höhere Wesen dem geringeren: 
die' Wahrheit folgt der Belehrung nicht wie ihre Dienerin, sondern erscheint un- 
mittelbar nach ihr, folgt ihr auf dem Fuße, ist von ihr untrennbar 

M ) XÖ y&o afaö vosiv laxtv %e %aX elvai. Gewöhnlich erklärt man: Erkennen = bei... 
Allein das wäre keine Begründung des Satzes, daß, was nicht ist, weder erkannt ;noA 
genannt werden kann. Sachlich ist daher nur die Erklärung von ^ZdU* •&**£* 
I 2«, 68 7 o) und Burnet (Greek Philosophy I, 67 ') annehmbar, sprachlich aber «"""• 
ich nicht: ziem coptari ?t *est et esse (potest), vielmehr ^^^^^^ZTZ 
aixö zwar Objekt von voslv, aber Subjekt von elvat ist): ,dem enun coptar fctf« ««. 
M) Ich teile ab: X Qr) rö Uyecv te voelv t'-iöv fefMWjr**t YW slvai ( T0 e ° n 

durch mannigfaltige Beziehungen, zum Teil bloße Wortspiele, mit Stellen Homer,, 
blonde" ft seinen Schilderungen von Fliegen- und Bienenschwärme^ .verbunden 
Sil Xixl- II 469; II 8 7 ; II 868; II 246; II 796; Od. VIII 505; auch Timon Frg 9 
Ssl Parme'üdes i£ also 'besonderen Wert darauf, die hier abgelehnte Irrlehre als 
Massenerscheinung zu kennzeichnen. 



H. Gomperz 



Haufen, denen was ist und was nicht ist als Eins und doch wieder 

Nicht-Eins gilt und denen beständig ihr Weg sich zurückbiegt ! *s 

Br. VII, i: Denn das setzt kein Mensch je durch, daß das, was nicht ist, seil 

Br. I, 33 : Drum wend' ab die Erkenntnis von dieser Straße der Forschung, 26 

Daß nicht Gewohnheit, die vielgewandte, dich zwinge, auf diese 

35: Straße das Auge, das blinde, zu lenken, 27 die dröhnenden Ohren 

25) Obwohl nach IV, 2 dem Forscher nur zwei Wege offen stehen, ein Wahrweg- 
und ein Abweg, ist nun VI, 4 bis 9 plötzlich von einem dritten Weg, einem zweiten 
Abweg, die Rede. Während nämlich nach Parmenides jener erste Abweg zwar in die 
Irre führt, indes doch immerhin ein Weg ist, der folgerecht bis zu einem gewissen 
Punkte verfolgt werden kann, ist dieser zweite Abweg überhaupt kein Weg, denn ei- 
nbiegt sich beständig zurück", wer ihn zu gehen versucht, widerspricht sich in einem- 
fort selbst. Sein nämlich ist nach Parmenides (VIII, 11) nur denkbar als „völliges", 
d. h. unentstandenes und unvergängliches Sein. Indem nun die Menschen zwar von 
Seiendem reden, diesem Seienden aber Entstehen und Vergehen beilegen, machen sie 
das Seiende zu einem Nichtseienden, verwischen jeden Unterschied zwischen Sein und 
Nichtsein, setzen Sein und Nichtsein einander gleich. Dabei aber reden sie doch 
wieder davon, daß eines ist, ein anderes nicht ist, so also, als wäre zwischen Sein 
und Nichtsein doch wieder ein Unterschied. In diesem Sinne also gilt ihnen „was ist 
und was nicht ist als Eins und doch wieder Nicht-Eins". Solche Menschen heißen mit 
Recht blind und taub, weil sie sich (I, 34 f.) von der Gewohnheit dazu verführen 
lassen, das Zeugnis ihres Auges und Gehörs auf solch angeblich Seiendes und doch 
in Wahrheit Nichtseiendes zu beziehen, es sind Ö.KQIXO, (püXa, weil sie es nicht ver- 
stehen, xqZvcu köywi (I, 36). Diese in verworr'nen Haufen einherschwankenden, von 
der Gewohnheit beherrschten, den Begriff „Sein" wohl verwendenden, aber an ihn 
keine Ansprüche logischer Folgerichtigkeit stellenden Menschen nun sind natürlich 
die Durchschnittsmenschen: während dem Forscher nur zwei Wege offen stehen: 
bedingungslose Anerkennung „völligen", d. i. ewigen Seins und bedingungslose Leug- 
nung alles Seins, versucht die große Masse einen dritten Weg zu gehen, nämlich 
ein Sein anzuerkennen, das aber nicht „völliges", ewiges und daher in Wahrheit gar 
kein Sein ist; eben darum aber ist dieser Weg auf die Dauer ungangbar, er biegt in 
sich selbst zurück und alle, die ihn zu gehen versuchen, sind zuletzt „verworrene 
Haufen", die hin- und herschwanken, gelenkt von ihrer „schwanken Vernunft". Der 
unglückliche Einfall von Jacob Bernays, Parmenides streite VI, 4 ff. gegen Heraklit 
oder Herakliteer, an dem auch heute noch verdiente Forscher hartnäckig festhalten, 
obzwar ihn Zeller längst widerlegt hat (Ph. d. Gr. I 2 6 , 926), sollte endlich aus der 
Wissenschaft verschwinden: weniges in der Geschichte der älteren griechischen Philo- 
sophie ist so gewiß, als daß es um 490 keine „Haufen" von Herakliteern gab! 

26) Nämlich von der VI, 4 genannten. Das würde aus der Entsprechung von VI, 7 
und I, 35 f. sogar dann folgen, wenn man die von Kranz ermittelte Folge der Bruch- 
stücke ablehnen wollte. 

27) öööv '/.axä zrjvöe ßtdada, vafiäv, „auf diesen Weg, nur deinen Blick . . . walten 
zu lassen" Diels. Aber es ist dieselbe Straße wie die I, 55 mit zi)aÖ'dq>'ödofJ bezeich- 
nete. Ihre Eigenart braucht [also nicht erst angegeben zu werden. Daher tilgte ich 
(unter brieflicher Zustimmung von Diels, vgl. Nachträge XXVIII, 28) den Beistrich: 
ßiäO'&di vafiäv = jtMjöt öfi . . . . ßidafta) vafiäv y.azä xryvöe vtyv ödöv. Parmenides ver- 
wirft das Zeugnis der Sinne nicht als solches; es darf nur nicht im Sinne der VI, 4 ff. 
besprochenen Auffassung gedeutet werden. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



Und das klingende Wort. 2 « Nach Gründen entscheide den 

Wettstreit! 29 
Denn dann siegt der Beweis, den ich dich gelehrt und es bleibt nur 
Br. VIII, 2: Ein Weg übrig: die Straße des Seins ;3° voll ist sie von Zeichen 
Dafür, daß, was ist, nicht werden und nicht vergeh'n kann: 
Einzig, fest, der Erschütt'rung unfähig wie der Vollendung, 
5 : Weder gewesen noch künftig, ist's jetzt beisammen, ein Ganzes, 
Welches zusammenhängt^ 1 Den n woher sollt' es entspringen? 

t 8) Ich beziehe ylüOOav auf die Zunge als Sprachwerkzeug: im Banne jener ver- 
kehrten Auffassung laßt sich der Mensch auch zu verkehrten Benennungen -«fuhren 
und diese sind es eigentlich, die seinen Wahn verkörpern ja nach Parmenides ihn 
eigentlich erzeugen (VIII, 38; VIII, 535 IX, 1). Doch scheint Empedokles m sexner 
Sfchbildung unserer Verse (Vorsokr. ., B 4, «0 die Zunge als Geschmackswerkzeug 

TSfciJrJS» in einem für die „Wiener Studie»« bestimmten Aufsatze zu 
Vorsokr xa B 1 zeige, in alter Sprache nie „Vernunft«. An unserer Stelle steh es an 
Gegensat,, nicht n ö W a, dxo»K ytoooav. sondern zu Wog: du sollst dich nicht 
vorder Gewohnheit vergewaltigen lassen, vielmehr den Stre.t nach .Grund« .der. 
Sache nach, entscheiden (vgl. bes. Vorsokr. 20 B 8/1; 21 B 55, 2; 55 B 7, Herodot I 

15 "»V kwi^ateSrterung Äem Ausgangspunkte IV 3 zurückgekehrt: nur 
die Straße des Seins steht zuletzt dem Forscher offen; es ist also bewiesen, daß das 
Seiende ist — erste Hälfte der „Wahrheit"! , , 

»1 VIII 2 bis 49 folgt nun die zweite Hälfte der „Wahrheit«, in welcher dar- 
gelegt wird, wie das Seiende beschaffen ist oder, wie Parmenides dies ausdruckt, 
welche Merkzeichen an der Straße des Seins stehen (daß oijpa wirklich Merk- 
Mal im eigentlichen Sinne bedeutet, erhellt aus der neuerlichen Verwendung des- 
selben Wortes Vin, 55). Die Merk-Male des Seienden sind aber hier zugleich Merk- 
Zeichen d h. Beweise, seiner Ungewordenheit und Unvergänglichkeit, denn um dies 
Haupt-Merkmal des Seienden, das es eben zum „völlig" Seienden stempelt, ist es dem 
Dichter zuletzt zu tun. Daher ordnet denn auch Parmenides die fünf Merkmale, die 
er dem Seienden außer diesem Hauptmerkmal beilegt, diesem entschieden unter: die 
Beweise dafür, daß sie dem Seienden wirklich zukommen, sind teils in den Beweis 
des Hauptmerkmals eingeschoben, teils folgen sie diesem als seine Ergänzungen nach. 
Die Gliederung der Beweise ist es auch, die uns berechtigt, neben dem Hauptmerk- 
mal der Ewigkeit gerade fünf weitere, im ganzen demnach sechs Merkmale zu unter- 
scheiden; doch ist es vielleicht kein Zufall, daß VIII, 57 *nd 59 den belden Ur- 
Erscheinungen der Wahn-Welt ebenfalls je drei, zusammen also gleichfalls seciis 
Merkmale zugezählt werden. Die sechs Merkmale des Seienden sind: 

I Hauptmerkmal: es ist nicht geworden und wird nicht vergehen. In & S a 7 ev^ov 
iöv ml ävMeVgöv e<m ist iöv Subjekt und bezeichnet das Sexendeme vi 1 , 
VIII, 25; VIII, 46 bis 47. Der eigentliche Beweis h.efur reicht von VIII, 6 bis 2 1. 
II. Merkmal: es ist einzig. Denn sollte es ein zweites Seiendes geben, so mußte es ent- 
weder aus dem Seienden oder es müßte dieses aus ihm hervorgegangen sein. Daher 
fällt der Beweis für die Undenkbarkeit einer solchen Annahme mit dem rur die 
Ewigkeit des Seienden zusammen und wird VIII » f. in diesen eingeschoben 
III. Merkmal: es ist nicht „gewesen«, so daß es jetzt nicht mehr wäre, auch nicht 
„künftig", so daß es jetzt noch nicht wäre. Denn in jenem Fall mußte das Sei- 









io • H. Gomperz 

Wie erwuchs' es? Woraus? Aus dem, was nicht ist? 32 Das darfst dx* 
Weder sagen noch glauben : unsagbar, unglaublich ist Nichtsein ! 
Und was hätte für Not das Sein erregt, daß es aus dem 
10: Nichts erst spät und nicht schon früher zu wachsen begonnen.? 
Und so gibt's notwendig ein völliges Sein oder gar kein's! 33 
Doch auch daß irgend aus dem, was schon ist, ein anderes werde, 
Wird durch die Kraft des Beweises verwehrt: 34, zum Vergehen. 

zum Werden 
Läßt es die Göttin des Rechts nicht zu: in ewigen Banden 

ende vergehen, in diesem werden können. Daher auch dieser Beweis VIII, 19 f. 
in den für die Ewigkeit des Seienden eingeschoben. 
IV. Merkmal: es ist fest, dicht, ganz von Sein erfüllt, lückenlos zusammenhängend % 
massiv. Diese Bedeutung von oüXoq ergibt sich aus Homer (II. XVI 22^, ; 
XXIV 646; Od. IV 299; VII 338; X 451; XVII 89; XIX 295) und ist auch fü> 
Vorsokr. 12 B 10 als Hauptbedeutung vorauszusetzen (vgl. auch Plutarch de garr. 
17, 5io e ; de primo frig. 21, 955- b ). Beweis: VIII, 22 bis25 als Ergänzung des Beweises 
für das Hauptmerkmal; denn wäre das Seiende nicht massiv, sondern teilbar, so 
könnte es auch zugrundegehen. 
V. Merkmal: es ist unerschütterlich, unbeweglich. Beweis: VIII, 26 bis 41, gleich- 
falls als Ergänzung des Beweises für das Hauptmerkmal; denn die Unvergäng-- 
lichkeit des Seienden beruht darauf, daß es von seiner kugelförmigen Grenzfläche 
zusammengehalten, ja bis zur Unbeweglichkeit zusammengeschnürt wird; könnte 
es diese Grenzfläche durchbrechen, so würde es zerstäuben; könnte es sich inner- 
halb ihrer bewegen, so müßten dort leere Stellen sein, es würde also dann diese 
Grenzfläche nicht mehr lückenlos ausfüllen, 
VI. Merkmal: es ist der Vollendimg unfähig, weil nicht bedürftig (dreXeOlOV = nort 
perfectibile, so richtig Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit = Jahr- 
bücher für klassische Philologie, Suppl. XXV, 1899, S. 53g; vgl. VIII, 32 bis 33). 
Beweis vorläufig VIII, 32 f., endgültig VIII, 42 bis 45; II; VIII, 46 bis 49, 
wiederum als Ergänzung des Beweises für das Hauptmerkmal; denn der Voll- 
endung fähig und bedürftig wäre das Seiende eben nur dann, wenn es nicht 
überall bis zur kugelförmigen Grenzfläche reichte, dann aber wäre es auch kein 
massives, unbewegliches und darum unvergängliches Ganzes. 
Mit den Worten „ein Ganzes, welches zusammenhängt" (jiäv, iv, övve^ec) wird 
dem Seienden kein neues Merkmal beigelegt, vielmehr fassen sie nur wiederholend 
zusammen, was schon mit „Einzig, Fest, Unvollendbar" {[lovvoyei'ig, oüXov, äreXearov) 
behauptet worden war. 

32) Es ist am überlieferten Wortlaut nichts zu ändern und auch keine Lücke an- 
zunehmen. Parmenides stellt in seinen Beweisen durchwegs den Fall des Nichtseins 
voran und so nun auch hier den der Entstehung aus dem Nichtsein. Und so wie er 
hatte es auch schon sein Vorgänger Xenophanes gehalten (Vorsokr. 11 A 28, 8 bis 9), 
53) „Völliges" oder absolutes, d. i. anfangs- und endloses Sein. Der Beweis ist aber 
damit noch nicht zu Ende, er schließt vorläufig nur mit dem Dilemma ab : entweder 
absolutes Sein oder absolutes Nichtsein! 

34) oiöe xox'lx nrit (övzog iqrfiaei ntöuog iozvsh'Cyveo'&ai %i nag'airö (raji statt 
jjir) nach Simplicius, Phys. 78, 27 Diels, doch nicht mit iövxog, sondern mit ylyveo&ai 
zu verbinden wie VIII, 7 mit avgt)üiv; noxe dagegen gehört zu £<pi)Oei wie VII jtwjnoTe 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



li 



15: Hält sie das Sein. 35 Der Urteilsspruch wird also begründet: 
Sein oder Nichtsein? 36 Und schon erfloß der Spruch: notwendig 
Lautet er: lass' die eine Straße, unfaßbar, unsagbar 
Ist sie und trügt, doch die andere leitet zum Sein und zur Wahrheit! 
Und wie wäre, was ist, zukünftig, wie war' es vergangen? 

20: War es einmal oder wird's erst sein, so ist es ja jetzt nicht! 37 
So ist Werden verlöscht und Vergang, den keiner ergründet! 
Seiendes teilt sich auch nicht: 38 's ist ein gleichartiges Ganzes, 
Dem nicht hier ein Mehr von Sein, dort ein schwächeres, stetig 
Sich zu erstrecken verwehrt: nein, ganz erfüllt es das Sein, 39 drum 

zu öaufii.) = otöä i<pi)oei noxe % änöde&g, ytyveö&ai nqi i$ ovrog jhjösv jiag'aiTÖ xö ov. 
Das leichte Anakoluth ovts VIII, 7 — ovde VIII, 12 ist ganz unbedenklich: weder 
kann das Seiende aus dem Nichtseienden entstanden sein, denn . . . Aber auch aus 
einem Seienden kann nichts anderes werden. Dies letztere sclüießt sowohl die Ent- 
stehung des Seienden aus einem frühem Seienden aus als auch die Umwandlung des 
Seienden in ein späteres Seiendes, somit seinen Untergang; daher nun ganz folgerecht 
nicht mehr bloß vom Entstehen, sondern auch vom Vergehen die R«?de ist. 

«) Dadurch, daß das Seiende in seine Grenzfläche unbeweglich eingeschnürt ist, 
ist sowohl (sein) Vergehen wie (das) Werden (eines anderen) ausgeschlossen Diese 
Einschnürung wird hier der Göttin des Rechtes zugeschrieben, weil sie dem Vv esen 
des Seienden und damit der Weltordnung gemäß ist; VIII, 50 und 57 ™rd diesette 
Tätigkeit aus ebenso einleuchtenden Gründen den Göttinnen des Zwanges und des 

Schicksals beigelegt. . , . j j„> 

*6) Damit wird das VIII, 11 gewonnene Dilemma wieder aufgenommen und der 
Entscheidung zugeführt. Unter „Sein" ist hier „völliges", absolutes Sein zu verstehen. 
37) Soweit sich beide Verse auf die Zukunft beziehen, sind sie ganz klar. Da aber 
nach VIII, 5 in Beziehung auf die Vergangenheit ein entsprechender Gedanke vor- 
auszusetzen ist, möchte ich annehmen, yevOLZO beziehungsweise iyivero bedeute hier 
etwa „etwas sein, wovon man sagt: es war einmal", „etwas sein, was einmal war, 
aber nicht mehr ist". . , 

58) Nicht nur, daß das Seiende nicht vernichtet werden kann, es kann auch nicht 
in mehrere Stücke zerfallen, ja es sind an ihm gar nicht verschiedene Stucke zu 
unterscheiden, in die es zerfallen könnte, denn es ist durchaus gleichart.g: Beweis 
der Massivität des Seienden. , _ 

39) Das Seiende ist ganz von Seiendem erfüllt - nur scheinbar unlogisch. Ge- 
meint ist: der vom Seienden erfüllte Raum ist von ihm ganz erfüllt. - Im tort- 
fiange des Gedichts wird es immer deutlicher, daß das Seiende des Parmemdes Stoii, 
Materie ist: der Begriff eines „Stoffes im allgemeinen", der nicht Wasser, Feuer 
oder dergleichen wäre, scheint in der Tat seine Schöpfung zu sein und so konnte auch 
erst er die Unvergänglichkeit des Stoffes als allgemeinen Satz aussprechen. Daß der 
Stoff nicht nur unvergänglich, sondern auch unveränderlich sei, scheint er nicht nur 
als erster deutlich ausgesprochen,' sondern auch als erster erkannt zu haben. Aus 
dieser Erkenntnis entwickelte dann wenige Jahrzehnte später Leukipp die Lehre von 
den Atomen. Was für eine Art von Stoff sich Parmenides unter dem „Seienden" vor- 
gestellt haben mag und ob er ihm auch Erkenntnis (Bewußtsein) zuschrieb, wissen 
wir nicht. Vielleicht spricht eher einiges dafür, daß er es sich als eine durchsichtige, 
etwa glasartige, lichterfüllte, auch der Erkenntnis teilhafte Masse dachte. Sem An- 



12 






H. Gomperz 



25: Hängt's auch ganz zusammen, denn ein Sein stößt an das and're.*° 
Aller Bewegung bar, umhegt von mächtigen Banden, 
Endlos, anfangslos (ist Sein); 41 Vergehen und Werden 
Sind in die Ferne geweht : die Wahrheit hat sie vertrieben ! 
Und so beharrt dies selbige (Sein) für sich an demselben 

30: Ort und harrt dort standhaft aus: des Zwanges Gewalt schlägt's 
In der Begrenzung Bande, die nun ringsum es umhegen. 
Darum darf, was ist, nicht der Vollendung entbehren. 
Denn ihm fehlt ja nichts. Wär's nicht, dann fehlte ihm alles!** 



bänger Melissos mindestens legte dem Seienden Bewußtsein bei lind sprach ihm 
obzwar es den Weltraum lückenlos erfüllen sollte, doch Körperlichkeit im gewöhn- 
lichen Sinne ab (Vorsokr. 20 B 7; B 9). 

40) Hier scheint mit einem Male von mehr als einem Seienden die Rede zu sein. 
Doch soll man darin nicht einen Selbstwiderspruch des Dichters finden wollen. £)ä 
er dem Seienden räumliche Erstreckung zuschrieb, so mußte er ja annehmen, daß 
jedes Raumstück von einem besonderen Stücke des Seienden erfüllt sei — nur daß 
eben diese einzelnen Stücke stetig aneinanderliegen und einander ununterscheidbar 
gleich sein sollten. Diese Stücke des Seienden nun sind es, die Parmenides bei den 
Worten im Auge hat: „ein Sein stößt an das andre". 

41) VIII, 26 beginnt der Beweis für die „Unerschütterlichkeit" des Seienden, der 
darauf gestützt wird, daß die Grenzfläche des Seienden von ihm erfüllt ist wie ein 
praller Beutel, in dem sich nichts bewegen kann. Dabei wird aber VIII, 27 f. sofort 
die Bedeutung dieses Merkmals für das Hauptmerkmal hervorgehoben: da das Seiende 
in seine Grenzen unbeweglich eingezwängt ist, gibt es in ihm auch keine Verände- 
rung, kein Werden und Vergehen, keinen Anfang und kein Ende! 

42) VIII, 52 geht Parmenides vorübergehend von der Unbeweglichkeit auf di t 
„Unvollendbarkeit" des Seienden über, d. h. auf seine Eigenschaft, der Vollendung, 
Vervollständigung, Ergänzung nicht zu bedürfen. Dabei handelt sich's ihm aber nicht 
darum, wie man ihn meist versteht, zu zeigen, daß das Seiende allseits begrenzt und 
abgeschlossen und nicht etwa unbegrenzt und unendlich sei. Das Vorhandensein einer 
das Seiende einschließenden, ja zusammenpressenden Grenzfläche gilt ihm vielmehr 
als durchaus selbstverständlich. Was ihm am Herzen liegt, ist, zu betonen, daß das 
Seiende diese Grenzfläche nicht etwa unvollständig erfüllt, daß zwischen jenem 
und dieser nicht etwa irgend welche leere Zwischenräume bleiben — in welchem 
Falle sich das Seiende ja freilich innerhalb der Grenze bewegen könnte wie etwa 
der Wein in einem nur halb vollen Faß. Nachdem er also gezeigt hat, daß die Bande 
der Begrenzung das Seiende rings umhegen, fährt er fort: Darum würde es auch 
gegen die Weltordnung verstoßen, wenn das Seiende unvollständig wäre (ovvezev 0*jc 
dxeXeilxmov xb iöv #6>ic elvat). Denn es bedarf ja nicht (irgend einer Ergänzung; 
ioxi yäg ovx iniöelg — so nämlich wäre das bei Simplicius an zwei Stellen über- 
lieferte iaiöees zu sprechen, wie ja auch I, 33 eZoye neben VIII, 31 ÜQyei, VIII, 46 
iy.vei.O'&at und gerade VIII, 53 iöelxo steht; doch auch das bei Simplicius an zwei 
anderen Stellen überlieferte imöevtg läßt sich nach dem Vorgang von Karsten und 
Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit, S. 568 „dreisilbig mit Synizese" lesen). 
Dem Nichtseienden freilich würde alles fehlen (fir) iöv ö'&v Tiavxög iöelxo. Obwohl 
schon Simplicius dies /«} las, haben es doch Bergk, Zeller, Diels, Reinhardt gestrichen. 
Die Worte sollen dann bedeuten: Wäre es dies, nämlich einer Ergänzung bedürftig- 



^\^o^eBe^^ ^ an griechischen Philosop hen 15 

Eins ist Erkennen und die Erkenntnis, es sei (das Erkannte) « 
55 - Denn nicht ohn' ein Sein, in dem die Erkenntnis sich aussieht, 
Wirst du sie jemals finden.** Nicht gibt's ja, jetzt oder künftig, 
Andres als nur, was ist: dies ruht, von der Parze gefesselt. 
Fest und bewegungslos. Drum sind's nur tönende Worte,« 
Die im Vertrauen, es sei die Wahrheit, Sterbliche brauchen 
4 o: Wie „Entstehen und Vergehen", wie ferner „Das Sein und das 
Nichtsein",* 6 
Wie „DieVeränd'rung des Orts" und „Der Wechsel der leuchtenden 

Farbe" ;f 

" \ " Jo k\,™ alles fehlen. Allein 1. kommt iöv bei Parmenides 

oder unvollständig, dann W .^£e ^tindHci, warum den, Seienden des- 
nur als Name des Seienden ™r, -• {eWen müßte; ^ und vor alle m 

wegen, weil ihm irgend e was fe hlt g Zusam menhang von VIII, 3 5 und 

hebt diese Änderung den sogleich darzuleg einnehmen, somit den 

VIII, 34 vollkommen auf) **££*«£ leer lasse n. Aber das Nichtseiende- 
gesamten Raum innerhalb der '&»*»" 'f anzen _ kan n ja nicht sein. Und 

Jo muß man hier Parmenider J^HSSb «?*• Unmöglichkeit des Nichtseins 
so schiebt er denn hier noch einen Beweis ur S ^ 

ein (VIII, 34 bis 5 ,, l,^™™^^»^«* Uckzukehre,. 
punkte dieser Abschweifung, de ' U T^" OT . V( ^ Man versteht zunächst: Lines 
4 3) «rifö» «'i«t W* T £ «Ol O0MM ^2 1Ö Xi n w enn sich nach VIII, 5 5 Jede 
ja ^Erkenntnis und das, w o von ^e .^enntms^ Allem w«£ ^ ^ ^ 

Erkenntnis in einem Sein „ausspne , ^ ^ Vorsokr _ Nac htr. 

schlechthin zusammenfallen. Ich * ^ Dieser Ge brauch von o0v«<a 

SSÄ^Ä^^' B 4 i «. - Od. V 2 i. XV 4 i ; 
XV 1 J^Äne Erkers sich og^ J— J - -J^« 
ST Ä^ÄÄCÄ ein irgendwie benanntes Etwas, worauf 

sie sich bezöge. , «!.„--*-»„. Nur Benennungen dieses 

45) Man kann auch « * als Dativ as .«n und «bergen ^ der 

Seienden sind in Wahrheit die Worte, die . _ -.^ (VITI , 53; IX, i; 

Parmenides auch sonst von „Namen« ^«TSÄ* «-• Auffassung nicht 
XIX, 3 ; vgl. auch Diels' JP™^"^^ "g demselben Sinne ein „tönendes 

4 6) „Sein" ist für *X^JS^*« also wohl der Sinn, in dem die 
Wort" wie „Entstehen« oder »y er f ehen . J gebrauchen (nämlich zur Bezeichnung 
Menschen die Worte „Sein" und „Ni chtsein geh rauche n Q ^ ^ 

von solchem, was nicht immer ist« ^^.^ eten auf dieselben Dinge 
vergeht) und vor allem dies, daß sie sie £ T"*^ J, entstan den ; was jetzt ist, 
anwenden (was früher nicht war, ist J etat "7 *"" «Ver Dich ter als bloße Redens- 
wird später nicht sein, - denn es wird vergehen), was 

art, als „bloßen Namen" verwirft. im Vordergrund. Vermut- 

' 7) Für Parmenides steht immer das Seiende als ^Ganzes im « ^ 

hchbezieht sich darum auch dies Vereng, ur «£a r a lern ^ ^g ^ 



Ljga 



14 



H. Gomperz 



Aber zu äußerst ist (Sein) begrenzt; nicht fehlt ihm der Abschluß 
Allseits: es gleicht der Wucht einer wohlgerundeten Kugel, 4 * 
Allwärts gleich, von der Mitte gemessen: es kann an dem einen 
45: Ort nicht stärker sein noch schwächer als an dem andren I« 
Br. II, 1 : Blick' auf das, was fern : nah zeigt's und verläßlich der Geist dir.5o 
Denn du reißest das Sein nicht los, daß vom Sein es sich scheide.5* 
Weder indem's allwärts sich zerstreut, gleichmäßig geordnet, 
Noch indem es sich sammelt (an dieser Stell' und an jener).* 2 



doch nach VIII, 55 ff. eben die Unterscheidung von Licht und Nacht die Grundtatsache 
des gesamten menschlichen Irrwahns). Allein wenigstens mittelbar sind in jenes Ver- 
werfungsurteil gewiO auch alle Bewegungen und Verfärbungen einzelner Dinge ein- 
geschlossen. 

48) VIII, 42 bis 49 der (VIII, 52 bis 33 mir flüchtig vorweggenommene) „Beweis« 
für die „Unvollendbarkeit", d. i. die Vollständigkeit des Seienden: es reicht auf allen 
Seiten bis zur „Grenze". Diese Grenze ist natürlich der Himmel als der augenschein- 
liche Abschluß des vorhandenen Stoffes und an diesem Augenschein hat Parmenides 
niemals gezweifelt! Da nun das Seiende (der Stoff) allseits bis zu dieser (wie Par- 
menides eben als ganz selbstverständlich voraussetzt: kugelförmigen) Grenze reicht, 
so „ist es" was seine Gestalt betrifft „der Masse eines gut gerundeten Balles ähnlich" 
— d. h. es ist selbst eine massive (weil durch und durch von Stoff erfüllte) Kugel : 
die als Unterschieds- und lückenlose Masse gedachte Weltkugel! 

49) Da das Seiende allseits bis an die begrenzende Kugelschale reicht, sind all 
seine Halbmesser gleich, die zwischen Mittelpunkt und Grenzfläche gelegene Masse 
kann nicht auf einer Seite dicker pder dünner sein als auf einer anderen: das 
Seiende hat keine unregelmäßige Gestalt. 

50) Mit alledem werden freilich Behauptungen über weit Entferntes, dem Augen- 
schein Entrücktes aufgestellt, allein was für die Sinne fern und fragwürdig scheint, 
»st für die Erkenntnis nah und gewiß {äneövza vom nageövza, vgl. das Vorsokr. 12 
ß 34 zitierte Sprichwort: nageövrag äneivai). Dieser erste Vers des Bruchstücks II 
ließe sich natürlich auch anderswo einschieben; allein VIII. 46 gibt deutlich die Be- 
gründung 2 „ II, 2 bi s 4 . Bei der „Erkenntnis" denkt aber Parmenides hier wohl an 
die anschauliche Vorstellbarkeit, denn die Annahme zweier räumlich getrennter Seiender 
bietet wohl kerne unmittelbar logische Schwierigkeit. Dagegen kann man sich nicht 
zwei Dinge m einem gewissen Abstand vorstellen, ohne sich auch dazwischen etwas 
vorzustellen, dies etwas aber wäre eben wieder Seiendes! 

51) Es gelingt dem Menschen nicht, ein Stück des Seienden abzuschneiden, so 
daß es mit dem andern (vgl. o. Anm. 40) nicht mehr zusammenhinge (änm/rißei ist 
2. Pers. Fut. Med., nicht 3. Fut. Act.; xov iövxog S X ea-&ai bezeichnet den Zustand, der 
durch das Abschneiden beseitigt würde). Das ist eben unvorstellbar (Anm. 50). VIII, 
44 f. war gezeigt worden, daß das Seiende nicht einen unregelmäßigen Körper dar- 
stellt. Noch weniger — so ergibt sich nun — kann es auf mehrere Körper verteilt sein. 

52) Weder so, daß kleine Stoffmassen regelmäßig {xaxä xööfiov, wie Tl. X 472; 
an „Welt" ist hier gar nicht zu denken) im Baum verteilt wären (erste Erwähnung' 
des Atomismus im Abendland! Der Gedanke blitzt freilich nur auf, um alsbald ver- 
worfen zu werden) noch so, daß der Stoff (hier und dort zu einigen größeren Massen) 
zusammenträte (II, 4 mag etwa mit Iv&a xai Iv&a geschlossen haben: vom Zusammen- 
treten zu einer Masse kann hier natürlich nicht die Bede gewesen sein, da es sich 
ja um eine der beiden möglichen Arten des „Abschneidens" handelt). 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 15 



Br. VIII, 46: Denn es gibt kein Sein, das es, sich zusammenzuschließen, • 

Hindern könnte noch kann ein Sein hier mehr als ein andres 
Sein, dort weniger: 53 jeglicher Mind'rung ist's gänzlich entzogen: 
Nur ein einziges (Sein) stößt, allseits gleich, an die Grenzen! 5 * 

III. Wahn 

Von diesem Teil ist der Anfang noch erhalten, der an den Schluß 
der „Wahrheit" unmittelbar anschließt: 

Br. VIII, 50: Und' hier end' ich dir nun die verläßliche Lehre, der Wahrheit 
Sich're Erkenntnis : von nun an vernimm der Sterblichen Irrwahn, 
Wie ihn dir der trügliche Bau meiner Worte verkündet! 55 
Zwei Gestalten 56 beschloß der Mensch mit Namen zu nennen — 57 

„) Ich übersetze den Text, wie ihn v. Wilamowitz und Kranz (a. a. O. S. 1 176) 
hergestellt haben, glanhe aber auch VIII, 46 <*** als erstes Wort überlieferte ovxe 
gegen jede Änderung schützen zu dürfen: ovxe yäg . .'. • ovt'iöv lau, %6 xev navoi . . . 
OVX'lotlV ÖJl<og dT) Y.ev, „Denn weder - (noch): weder gibt es ein Sem das ver- 
hinderte . . . noch ist es möglich, daß ein Sein . . .«- Parmenides unterscheidet zwei 
Fälle: zwischen mehreren Seienden könnte nur entweder nichts liegen oder etwas 
anderes, mehr oder weniger Seiendes (entweder leerer Raum oder ein anderer, 
dichterer oder dünnerer Stoff); ein Nichts oder Nichtseiendes aber gibt es nicht 
(IV, 7; VI, 2), es kann also auch Seiendes nicht auseinanderhalten; somit bliebe nur 
der zweite Fall übrig; allein daß es nicht verschiedene Grade des Seins geben kann, 
wurde auch schon gezeigt (VIII, 25); folglich ist das II, 2 ff. erörterte Bedenken, das 
Seiende könnte sich auf mehrere Körper verteilen, widerlegt. 

54) xoiydg statt ol yäg gewiß richtig Zeller, Ph. d. Gr. I 1 «, 695 '. iv nelgaoi 
KÖgei^neLgaoiv iyxvgel. Die „ünvollendbarkeit" oder „Vollständigkeit" des Seienden, 
d. h. die völlige Ausfüllung der kugelförmigen Grenzfläche (der Himmelskugel) durch 
das Seiende ist endgültig erwiesen und damit die Lehre vom Seienden, die Darlegung 
der „Wahrheit" von Seite der Göttin überhaupt zu Ende geführt. 

55) Daß es sich bei den „Irrlehren der Sterblichen" (ööfci ßgöxeiai) um eine 
fehlerhafte Gesamtanschauung, einen „Irrwahn" handelt, geht aus dem Inhalt der 
folgenden Darlegungen auch für uns noch deutlich hervor. — „Trüglich" sind natür- 
lich nicht die Worte der Göttin selbst, diese Bezeichnung verdient vielmehr der 
Wahn, dessen Inhalt c : e mit diesen Worten wiedergibt. 

56) Gestalt oder Gebilde (fiogq>v, &&»<*$ - VIII, 55 ™ d 59). nicht etwa Din S' 
Stoff, Element! flogen) bezeichnet nicht nur überhaupt die äußere Erscheinung, sondern 
insbesondere auch die wechselnde und täuschende (Aeschyl. Frg. 304, 5 Nauck; Sopnoc . 
Trach. 10; Eurip. Frg. 859, 14 N.), ja sogar die Truggestalt (des Traumes: Aeschy 
Prom 440). Licht und Dunkel, aus denen sich für den menschlichen Wahn die Welt 
zusammensetzt, sind - so dürfen wir die Meinung des Parmenides ziemlich genau 
wiedergeben - „Erscheinungen": etwas, das in Wahrheit „nicht ist«, indes den 
Menschen in ihrem Irrwahn zu „sein" scheint. 

K?) Der Mensch, denn er ist aus ßgotelag VIII, 51 als Subjekt zu erganzen. Dann, 
daß die Menschen bloße Erscheinungen, ein in Wahrheit Nichtseiendes, benannten 






i6 H. Gomperz 

Eine davon zu viel! 58 Da wich er vom richtigen Weg ab! 
55: Denn ein Doppelgebilde durch Gegensetzung der Zeichen 

Schuf er: 59 hierhin setzt' er das himmlische Feuer der Flamme, 

und damit hinstellten und setzten als ein Seiendes, bestand ihr Fehlgriff. Durch diesen 
Fehlgriff ist — zunächst für sie, damit aber doch auch irgendwie überhaupt (vgl. o. 
Anm. 10) — die Welt des Wahnes entstanden. Wo und wann aber ist dieser Fehl- 
griff begangen worden, wer hat denn zuletzt die zwei Gestalten benannt? Wie mir 
scheint, belastet diese Schuld für Parmenides vor allem Hesiod und etwa noch die 
andern Verfasser alter Kosmogonien. Denn für Hesiod ist der Gegensatz zwischen 
Hell und Dunkel, Tag und Nacht wirklich der erste, der bei der Bildung der Welt 
hervortrat (Theog. 123 f.) und ihm zufolge entwickeln sich jeweils die spätem Er- 
scheinungen aus den früheren durch geschlechtliche Zeugung, ganz wie dies nach 
XII, 3 ff. auch in der Welt des Walines der Fall ist. Aber freilich war der „Wahn" 
des Parmenides keinesfalls ein bloßer Auszug aus Hesiods Theogonie. Deren Inhalt 
erschien dort vielmehr offenbar in eigenartiger Zurechtrückung, Vereinfachung und 
Ergänzung : es ward gezeigt, wie Hesiod, wäre in seinem Wahnsinn Methode gewesen, 
die Weltbildung eigentlich hätte darstellen müssen. Aus seinem Gedicht waren also 
gewisse Grundgedanken herausgeschält und diese galten dem Parmenides gleichzeitig 
als die Leitideen des volkstümlichen wie des wissenschaftlichen Weltbildes seiner 
Zeit. Daher denn die einzelnen Lehren des „Wahnes" anscheinend von fünferlei Art 
waren: I. Solches, was Hesiod wirklich gesagt hatte; II. Solches, was er nach Par- 
menides folgerechter Weise hätte sagen sollen; III. Solches, was zur Zeit der Ab- 
fassung des Gedichtes alle Welt glaubte und was dem Dichter als Folgerung aus 
Hesiods angeblichen Grundgedanken erschien; IV. Solches, was die Wissenschaft 
seiner Zeit ermittelt zu haben meinte und was er daher in das Weltbild des gemeinen 
Mannes an gehöriger Stelle glaubte eintragen zu müssen, ohne deswegen dies Welt- 
bild für ein weniger wahnhaftes zu halten; V. endlich Solches, was Parmenides, vom 
Standpunkte der Wissenschaft ausgehend, selbst entdeckt hatte und womit er mm auf 
dieselbe Art wie mit den Entdeckungen seiner gelehrten Zeitgenossen verfuhr. Im ein- 
zelnen lassen sich diese fünferlei Bestandteile freilich nicht mehr deutlich sondern und 
hier mußte sogar fast auf jeden Versuch einer solchen Sonderung verzichtet werden. 

58) <5v fitav ov xqeüv iaxw, nicht dtv folgt]« oi) zqeüv (Diels, Parmenides S. 93) ! 
Also liegt der Fehler nicht (wie es vielleicht schon Aristoteles auffaßte, Vorsokr. 18 
A 24) darin, daß neben einer wahrhaft seienden Grunderscheinung (dem Licht) noch 
eine andere, nicht wahrhaft seiende (das Dunkel) angenommen wird — er liegt viel- 
mehr darin, daß statt einer Einheit eine Zweiheit (von der eben die eine Einheit zu 
viel ist, nicht angenommen werden sollte), statt des einen wahrhaft Seienden zwei 
nicht wahrhaft seiende Erscheinungen gesetzt werden (so richtig schon Tannery, 
Pour Vhistoirc de la sciencc Hellene p. 227: Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit 
S. 591; Reinhardt, Parmenides S. 70). Das schließt freilich nicht aus — und insofern 
mag ja die Auffassung des Aristoteles begründet sein — , daß Parmenides die eine 
der falschlich als seiend gesetzten Grunderscheinungen (das Licht) dem wahrhaft 
Seienden immerhin in mancher Hinsicht ähnlicher gedacht haben mag als die andere 

59) „Sie stellten die Gebilde einander gegenüber und sonderten ihre Merkmale 
voneinander": man kann nicht anschaulicher eine Begriffsbildung beschreiben — nur 
daß eben, nach Reinhardts schönem Nachweis, dem Parmenides die Bildung der Be- 
griffe zugleich auch als die Erzeugung der Erscheinungen selbst galt: Licht und 
Nacht werden einander nicht nur im logischen Sinne „entgegengesetzt", vielmehr 
kommt bei dieser Entgegensetzung das Licht nach oben, die Nacht nach unten zu stehen ! 



_J 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



»7 



60: 



Lind, gar fein und leicht, durchaus gleich, 60 aber dem andern 
Ungleich, das auf der anderen Seite gerad' ihm entgegen 61 
Steht, der Nacht, der dumpfen, dem lastenden, dichten Gebilde. 
Diese Ordnung verkünd' ich dir, ganz wie sie geschehen, 62 
Denn nicht soll jemals dich menschliches Wissen beschämen. 



60) fatw» tö, iiey'ägaiöv, iXa<p Q 6v, ßcovrcbij nävxooe xaixzov. Um den «ebenten 
Fuß des Hexameters zu beseitigen, darf man weder ägcuöv noch iXa<p Q 6v opfern, da 
diese den Merkmalen der Nacht nvxivöv . . . ipßQlßis T8 genau entsprechen (Patin 
Parmenides . . . S. 595). Allein auch r,mov, ägmöv, MacpQÖv . . (Simphcius Phys. I 
,0 « Diels; Patin a. a. O.) befriedigt nicht, da es die Einschiebung des siebenten 
Fußes nicht verständlich macht, tavt&i dagegen konnte zwar wegen des in VIII 58 
folgenden im Ö'Mqcoi ph rovxöv leicht eingeschoben werden, allem sicherlich wollte 
der Dichter mit „dvtoos vatoöv etwas ganz anderes sagen als die platte Selbst- 
verständlichkeit, Feuer sei „sich selbst gleich« (ist denn das die Nacht nicht?): da es 
sich hier um den Zustand der Welt handelt, wie er (dem Wahn zufolge) vor der 
Bildung der Gestirne bestand, so war das Himmelsfeuer noch nicht auf Sonne, Mond, 
Sterne verteilt, sondern erfüllte den „Äther" (VIII, 56) noch durchaus gleich- 
mäßig Von den beiden andern Fassungen des Simplicius aber hat das schwerer ver- 
bindliche fruw Tri („- und dies ist lind . . .«) schon als solches den größeren 
Anspruch auf Ursprünglichkeit (überdies spricht gegen fytlOV 6v auch noch 1. daß 
Parmenides sonst durchwegs £öv gebraucht, 2. daß er diesen Ausdruck ausschließlich 
zur Bezeichnung des „Seienden" verwendet, vgl. o. Anm. 42). 

61) Da das Licht leicht, die Nacht schwer ist, so liegt jenes „oben", diese „unten 
Werden aber dabei Oben und Unten als letzte Gegensätze gedacht, so daß das Licht 
All obere die Nacht die untere Hälfte der Himmelskugel einnimmt oder werden sie 
vom Mittelpunkte der Himmelskugel aus beurteilt, so daß das Licht die äußeren, die 
Na"ht die inneren Teile der Himmelskugel erfüllt? Diese Frage, von deren Beant- 
wortung das Verständnis des im „Wahn« des Parmenides dargestellten Weltbildes 
lurcSs abhängt, ist noch nicht entschieden und wo im folgenden die Ausdrucke 
Oben« und „UnL," gebraucht werden, ist diese ihre Zweideutigkeit im Auge zu 
■bduüL. Nac dem Auszuge des Aetios (Vorsokr. 18 A 57 1 vgl. u. Anm. 67) zu schließen, 
.dSTTheophrart, der das Gedicht des Parmenides noch als Ganzes las, es so ver- 

Wortlaut nach ebensowenig die Rede wie Vorsokr. 46 B 12 oder 18 C 1/6, .«*«.£ 
Tolch s Von einander-Scheiden und Ordnen der Stoffe in den Dar Stellung en der WeU- 
£ wiederzukehren pflegte, so nahm ***** «t^Ä^ 
Ordnung an - eine Bedeutungsentwicklung, die dadurch zum Abschluß gJ* omm * 
l JXSfJS die kosmogonischen Schriften Leukipp, und Devote* ^TjgJ-J 
die Kleine „Weltordnung« bezeichnet wurden). Und die ™~^l^v^wL 
ist ganz gleich« (eben das bedeuten dieselben Worte auch II. XXI 600 vgl. auch 
V 800 ™d Od. VI 301; überhaupt bedeutet *»* im Gegensatze zu uxög m alter 
S^h^mmer Gleich,' nie Wahrscheinlich), nämlich der Ordnung, wie sie von .den 
Menschen wirklich vollzogen wurde (derselbe Gedanke auch Vorsokr 1 1 B 55 ~*f™» 
phanes Vesp. 1521; elxäg = Gleich ohne beigefügten Dativ auch Aeschyl. Suppl. 283)- 

2 

Imago X/i 






J 8 H. Gomperz 

Br. IX, i : Aber nachdem nun alles benannt' nach dem Licht und der 

Nacht ist — 6 3 
Jeder der Namen, nach seiner Bedeutung, diesem und jenem! — , 6+ 
Ist nun alles des Lichtes sowohl wie der finsteren Nacht voll, 
Die sich genau dem Maß nach gleichen; 65 denn nichts ist 
dazwischen. 66 

Hier fehlen uns einige Verse. Ihr Inhalt läßt sich nach einem 
Auszug des Aetios ungefähr erraten i 67 die Göttin sprach von mehreren 

63) Daß IX, 1 „bald nach" VIII, 59 stand, sagt Simplicius ausdrücklich. Und daß 
zwischen beiden mehr als VIII, 60 bis 61 gestanden hätte, ist wenig wahrscheinlich 
da IX, 1 lediglich die Beendigung der VIII, 55 bis 59 geschilderten „Ordnung" voraussetzt. 

64) xai t& xaxä Oqisxigag öwäfietg ini xoiaL xe y.ai xolg. Der von Simplicius 
angeführte alte Erklärer (den ich wegen dnexgtih) etwa in die Zeit des Anaxagoras 
oder Archelaos setzen möchte, vgl. Vorsokr. 46 B 12; 47 A 4) verstand, die einzelnen 
Dinge seien auf Grund ihrer „Kräfte", d. i. Eigenschaften, den beiden Grunderscheinungen 
Licht und Nacht zugeordnet worden, bis eben „alles" nach der einen oder der andern 
benannt war. Allein dürfen wir Parmenides ohne Not einen solchen Selbstwiderspruch 
zumuten? Aus dem Gegensatz von Licht und Nacht sollte sich doch erst alle Vielheit 
entwickelt haben: woher nun mit einem Male die einzelnen, mit den verschiedensten 
„Kräften" begabten Dinge? Es gibt eine bessere Erklärung, dvvaßig bezeichnet die 
Bedeutung eines Wortes (Herodot IV 192; VI 98; vgl. II 30; Vorsokr. 79 A 11; Lysias 
in Theoranest. I 7; Plato, Cratyl. 394b; 435 d; Critias 113a; Phileb. 24C; 49 c). Nim 
hat Parmenides schon innerhalb des Seienden eine räumliche Vielheit, die einzelnen 
Stücke des Seienden, unterschieden (VIII, 25 und 47). Zur „Bedeutung" des leichten 
Feuers aber gehört, daß es „oben", zu der der schweren „Nacht", daß sie „unten" 
ist. Er sagt nun hier: die Namen Licht und Nacht wurden je nach ihrer Bedeutung 
diesem und jenem zugeteilt, d. h. es wurde alles, was oben liegt, Licht, alles, was 
unten liegt, Nacht genannt — und zwar so lange, bis alles mit einem dieser Namen 
belegt, das eine Seiende in die zwei Grunderscheinungen Licht und Nacht zerfallt war. 

65) Wie in Wahrheit (nach VIII, 24) alles, d. i. die ganze Himmelskugel, mit 
Seiendem, so ist es nun dem Wahne zufolge mit Licht und Nacht erfüllt und unter 
sie zu gleichen Teilen aufgeteilt — mögen mm die von Licht erfüllte „obere" und 
die von Nacht erfüllte „untere« Hälfte der Himmelskugel als ihre „nördliche" und 
„südliche" oder als ihre „äußere" und „innere" Hälfte zu deuten sein (vgl. o. Anm. 61). 

66) inel ovötxegcoi Jtera IM)ÖBV, wörtlich: denn keinem von beiden ist etwas anderes, 
oder aber: denn keinem von beiden ist das Nichts, d.h. ist Leere beigemischt. Sowohl 
dies als jenes muß aber zutreffen, wenn die Worte wirklich die Behauptung begründen 
sollen, daß Licht und Nacht zusammen „alles" erfüllen (IX. 3 ; daß es sich um die 
Begründung dieser Behauptung handelt, zeigte Lortzing, Jahresber. f. d. Fortschr. 
d. klass. Altertumswiss. 1902, I 257). Wahrscheinlich hat somit Parmenides mit Fleiß 
Worte gebraucht, die geeignet waren, jede Möglichkeit auszuschließen, es könnte, dem 
Wahn zufolge, im All neben Licht und Nacht noch etwas anderes geben. 

67) Daß nicht viel ausgefallen ist, ergibt sich aus den Worten des Simplicius, der 
zwischen VIII, 61 und XII, 1 nicht viel mehr las, als auch wir noch IX, 1 bis 4 lesen. 
Der Auszug des Aetios Vorsokr. 18 A37; den Text habe ich verbessert Vorsokr. 
Nachtr. XXVII, 30: Aetios kennt nur eine mit Dünnem (Feuer) und eine mit 






Psychologische Betrachtungen an griechischen Philosophen 19 



„aufeinander folgenden, die Welt umflechtenden Kronen". „Und 
das sie alle Umfassende sei fest wie eine Mauer", das Himmels- 
gewölbe nämlich, die äußerste „Krone". 

Br. XII, 1: Denn die engeren wurden erfüllt von lauterem Feuer, 68 

Andre von Nacht ^ doch da fährt ein Teil der Flamme dazwischen ! 7 ° 



Dichtem (Nacht) erfüllte Krone {xw> p&v & xov d 6 aioü, z V v de I* : toö nvxvoy); da 
nun die Feuer-Krone unmittelbar unter dem festen Himmelsgewölbe hegt, zwischen 
ihr und der Nacht-Krone aber sich noch gemischte Kronen einschieben (offenbar 
nim^ in ihnen der Anteil des Feuers stetig ab, der der Nacht ebenso stetig zu), 
S die Nacht-Krone die innerste sein. Danach ließ Sich der Anfang des Auszugs 
folgendermaßen herstellen: „Parmenides lehrte, es gebe aufemanderfolge ,nde die Welt 
umflechtende Kronen, die eine aus dem Dünnen, die andere aus dem Di^n be. tdumd 
zwischen diesen aber noch andere, aus Licht und ^el gemisch Un^ 1 du« edfe 
Umfassende sei fest wie eine Mauer; darunter befinde sich die un J e ^ronj Und 
was in ihrer aller Mitte liegt, (sei dicht. Dies umgebe em Reif, aus beidem, Dünnem 
und Dichtem, gemischt;) difsen wieder die feurige Krone«. Aefos, beziehungsweise 
sein Gewährsmann und zuletzt wohl auch Theophrast ^en demn^ dem 
was Parmenides „Oben" und „Unten- nennt, Umfang und Mit* te H^Ukujd 
und deuteten die „Kronen« {OVStpävat) als Kugelschalen - eine Deute ,ig, die wohl 
nicht die einzig mögliche ist, indes durchaus als zulässig ge ^e" -u3 (a^^ bed utet 
bei Homer mehrfach einen am Rande ausgezackten Helm: II. VII 11, X 30, XL 95, 
vgl He^chi" , v. und bei Herodian V 5, 5 ist von einer tiaraförmigen ****** 
Rede v.l. auch Aelian V. H. I 18; das Wort bezeichnet freilich auch kronenart g 
«zackte Diademe, mit denen dann Haarflechten, betürmte Mauern, Zmnen; gezackte 
lergtrspiige, Korbränder, überhaupt Reifen und Ringe verglichen werden: Antliol. 
0/^1*74; Eurip- Hec. gio; Anthol. Gr. IX 97 ™d r 5 * ', Ennp. Troad. 785; Po lyb. 
Tu J& 18; l XIII 157; Polyb. I 56; Apoll. Rhod. II 9*0; Moschus I 55; Pollux 

V L/--- II *9 ^ vielen Fällen endlich bleibt die Gestalt des „Kronenreifs« unbe- 
LETmt a B IL XVIII 597; Hesiod, Theog. 578; Aristophanes, Eccl. 1054; Ritter 968; 
T^ophrast, H. pl. V 6, 2 ; Vita SophocUs 4 5 Westermann; Athen. V 202* heißt eine 
Schau-Krone öT^dv»,, deren Höhe sich zu ihrem Umfang wie s : 16 verhalt). 

fitt Nach dem aus Aetios zu entnehmenden Zusammenhange heißen die Feuer- 
v en^er" im Verhältnis zu dem sie umschließenden Himmelsgewölbe. Da dieses 

aTcTne'U* dünne Kugelschale gedacht wird, kann die folgende Feuer-Krone die 
gewiß eine ansehnliche Dicke besitzt, als eine Mehrheit ebenso dunner Kugelschalen 
bezeichnet werden. ^ Auf& ^ AetJos aBiellI|lfll) sind 

ffi N 1 Kronen einfach „die folgenden«. Denn der Auszug Vorsokr. 18 A 37 "teilt 
f4n et^"ren Zeitpunkt der" Weltbildung dar. Hier liegen zwischen den Feuer- 
und den NacM-Kronen noch gemischte Kronen; allein von dieser Mischung berichtet 
Z f gSüT erst S der zweiten Hälfte unseres Verses: vor dieser Mischung kann s.e 
d ruS d K ^ c it-Kronen allerdings als die auf die Feuer-Kronen unmittelbar folgenden 



bezeichnen. 



70 Der vom Himmelsgewölbe eingeschlossene Raum war zur Hälfte von ^ Licht 
,der Feuer zur Hälfte von Nacht oder Dunkel erfüllt (IX, 3 b 1S 4; XII, 1 bis *). Nun 
tZ drhig'en 1 so muß nach dem Wahne der Menschen die Weltbildung vor s 1C h 
gegangen sein, wenn sich unsere so vielfältig gemischte Welt folgerecht aus zwei 



20 H. Gomperz 

Doch in der Mitte/ 1 da ruht die Göttin, die Lenk'rin des Weltalls: 

Überall regt sie Geburt, so reich an Schmerz, an und Paarung. 

5 : Denn, was weiblich, gesellt sie dem Männlichen, daß es sich paare 

Und, was männlich, dem Weiblichen zu — — — — 
i 

Es ist Aphrodite, 72 die Göttin der Paarung und damit die einzig 

angemessene Beherrscherin der Welt, wie sie sich dem Wahne der 

Sterblichen darstellt, ja wie sie durch diesen wirklich geworden 

ist: einer Welt des Werdens, in der jedes Gewordene nur als 

Grunderscheinungen soll ableiten lassen — Flammen in das Reich der Finsternis ein 
und damit beginnt jene Mischung von Licht und Dunkel, der unsere Welt, die Welt 
des Werdens und Vergehens, ihren Ursprung verdankt. Diese Mischung begann 
natürlich an der Berührungsfläche von Licht und Nacht (nach Aetios, indem sich 
hier „gemischte", von Licht und Nacht erfüllte „Kronen" bildeten). In dem Augen- 
blick aber, da von der ersten Mischung die Rede ist, wird sein- passend jener Gottheit 

Erwähnung getan, die allen Mischungen, aus denen Neues entstehen soll, vorsteht 

insbesondere also auch jener Mischung, die als Vorbild aller anderen Mischungen 
dieser Art gelten kann: der geschlechtlichen Zeugung. 

71) In der Mitte der genannten „Kronen", somit, wenn diese einander konzentrisch 
umschlossen, auch im Mittelpunkte des Himmelsgewölbes und des Weltgebäudes 
überhaupt. So hat es auch Simplicius, der die Verse noch in ihrem Zusammenhang 
las, verstanden (Wjv iv pedai aävzav l6gvfievi)v)- Der Gewährsmann des Aetios und 
des Epikureers bei Cicero dagegen (Vorsokr. 18 A 37) muß einen Auszug vor 
sich gehabt haben, in dem schon vor der Erwähnung der Göttin von „gemischten 
Kronen" die Rede war. So bezog er denn das iv fieöai ■toivatv auf diese und ver- 
setzte die Göttin mitten unter die „gemischten Kronen", ja auf Grund eines kaum 
glaublichen, dem klaren Sinn des Gedichts ins Gesicht schlagenden Mißverständnisses 
setzte er sie der mittelsten dieser „gemischten Kronen" gleich (rä>v de Ovn,uiyäv ii]v 
llEOautäxiyv; orbem, qui cingit caelum, quem appellat deum). Über diesen Unsinn konnte 
sich dann Ciceros Epikureer freilich leicht entrüsten! 

72) So wenigstens nennt sie Plutarch (Vorsokr. 18 B 15, denn daß die Göttin, die 
den Eros „erdenkt", dieselbe ist, wie die XII, 3 genannte, sagt ebendort Simplicius 
ausdrücklich) und auch wir werden der Gottin der geschlechtlichen Paarung schwer- 
lich einen passenderen Namen beizulegen wissen (Doering, Griech. Philosophie I 131), 
es sei denn etwa den jener Göttin „Liebe" ($lÜvijg), der Empedokles wohl in Nach- 
ahmung des parmenideischen Verses XII, 3 eine ähnliche Mittelpunktsstellung ein- 
räumt (Vorsokr. 21 B 35, 4). Der o. Anm. 71 sattsam gekennzeichnete Gewährs- 
mann des Aetios setzt die das All aus seinem Mittelpunkt steuernde Göttin mit der 
Schlüsselhalterin (denn Vorsokr. 18 A 37 ist mit Fülleborn x/,l)tdoÖ;jO£ zu lesen, da 
das überlieferte y.Xt]Q(ySyßg sonst nie ohne irgendwelche Beziehung auf eine Land- 
nahme gebraucht wird), der Göttin des Rechts und des Zwanges nur darum gleich, 
weil er aus I, 14; VIII, 14; VTJCT, 30 und X, 6 meinte herauslesen zu dürfen, daß 
Parmenides auch diesen Göttinnen die Weltherrschaft beigelegt habe. Vgl. auch o. 
Anm. 9, Schluß. Für die Gleichsetzung der göttlichen „Steuerfrau" (Vorsokr. 18 A 37) 
mit Aphrodite beruft man sich übrigens besser nicht auf Vorsokr. 18 B 20, da diese Verse 
nicht unter des Parmenides' Namen überliefert sind und nach der Einführungsformel 



L 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 2 1 



Ergebnis einer Mischung der beiden Urerscheinungen Licht und 
Nacht und der aus ihnen entstandenen Mischerscheinungen be- 
griffen werden kann — einer Welt also, deren Entstehung ihre 
Weisen und Sänger — Hesiod vor allen! — ganz folgerecht als 
eine stetige Folge von Zeugungsakten und Geburtsvorgängen be- 
schreiben; es ist ja eben die Welt, der jene irrtümliche Zweiheits- 
setzung gegensätzlicher Erscheinungen — des Lichten und Dunklen, 
eben damit aber, wie sich zeigen wird, auch des Weiblichen und 
Männlichen — zugrunde liegt! Und so ist denn auch die erste be- 
sonders angeführte Hervorbringung der die Welt lenkenden Göttin 
dem Wesen der Aphrodite vollkommen angemessen: 

Br. XIII: Und sie erdachte zuerst von allen Göttern den Eros." 

Doch scheint es nach einem von Cicero benützten, freilich durch- 
aus schleuderhaften Auszug aus diesem Abschnitt des parmenide- 
ischen Gedichtes, 74 daß hier weiterhin „auch der Krieg, auch die 
Zwietracht, auch die Begierde und all die andern aus derselben 
Sippe" auf dieselbe Göttin „zurückgeführt wurden": vermutlich als 
die Gottheiten der Trennung, da ja die Wahnwelt des Werdens 
zugleich eine solche des Vergehens ist, das durch Mischung der 
Urerscheinungen Gewordene aber nur durch deren Scheidung ver- 

Hippolyts fö WOMjrfc de ^Otv) eher einem dem Orpheus beigelegten Gedicht ent- 
stammen werden. Eine weltbeherrschende Stellung der Aphrodite konnte aber Par- 
menides auch bei Hesiod aus doppeltem Grunde zu finden glauben: nicht nur wird 
dort wirklich fast alles Entstehen als ein Geboren- und Erzeugtwerden dargestellt, 
sondern es heißt auch vom Eros, daß er den Sinn aller Menschen und Gotter 
bezwinge (Theog. 129), bald darauf aber wird ebenderselbe bloß ein Begleiter der 
Aphrodite genannt (Theog. 201). , 

7 j0 Daß dem Eros bei der Weltbildung eine entscheidende Rolle zufiel, ist kein 
dem Parmenides eigentümlicher Gedanke: er fand ihn sowohl bei Hesiod (Theog. 120) 
wie auch bei Akusilaos (Vorsokr. 73 B 1 bis 3V ' 

74) Vorsokr. 18 A 37; vgl. o. Anm. 71. Ciceros überlieferte Worte bedürfen keiner 

Änderung: „Nam Parmenides commenticium quiddam (seil, deum voluit esse): coronae simihm 

e fß c { t _ Stefanen appellat — , continentem ardorem Iuris, orbem, qui cingit caelum, quem 

appellat deum . . . multaque eiusdem monstra" (und viele Ausgeburten desselben Kreises), 

quippe qui bellum, qui discordiam, qui cupiditatem ceteraqut generis eiusdem ad deum revocat". 






22 H. Gomperz 

gehen kann. Wie nun dem menschlichen Wahn zufolge durch 
Mischung und vielleicht auch durch Scheidung von Licht und Dunkel 
Himmel und Erde entstanden sind, das legte die Göttin des Tages 
dem Dichter im einzelnen dar. Sie verhieß ihm, er werde erfahren, 

Br. XI, i : Wie die Erde, die Sonne, der Mond, die Helle des Himmels, 

Wie der Bogen von Milch, wie des Weltalls äußerster Gipfel 
Und die Glut der Gestirne hervor zum Werden sich drängten; 
Br. X, 1 : Wirst das Wesen erkennen der himmlischen Helle, darin die 
Sämtlichen Bilder; das dörrende Werk, das die heilige Sonne 
Übt mit weißlichem Schein und wie's zustandegekommen- 
Lernen des rundäugigen Mondes Wesen und Umlauf; 
5: Wirst den Himmel versteh'n, der ringsum alles umfaßt hält, 
Fassen, woraus er erwuchs, wie (des Zwanges Gewalt) ihn gefesselt 
Grenze der Sterne zu sein — — — — 75 

Darüber, wie die Göttin diese Verheißung einlöste, unterrichten 
uns fast nur ein paar dürftige Auszüge, 76 hochwichtig für die Ge- 
schichte der Astronomie, doch für unsern augenblicklichen Gesichts- 
punkt wenig belangreich. Jedenfalls sprach sie dabei von 

Br. XV a: — — — — der im Wasser wurzelnden Erde 

und zwar in Versen, in denen das spätere Altertum die erste Er- 
wähnung der Kugelgestalt der Erde, ja ihrer Einteilung in eine 
kalte, gemäßigte und heiße Zone fand 77 und kleidete die damals 
neue Erkenntnis, daß der Mond sein Licht von der Sonne erborgt, 
in zwei Verse, die Verse Homers aufs witzigste parodieren: 

7 5) In^ dem siebenfüßig überlieferten Vers X, 6: ev&ev pkv yüg lyv ys xai &g 
ßiv äyovd inebnaev 'AvdyxijInelQaz'lzeiv äargcov . . . darf man nicht /xev ydg tilgen 
wollen (wem wäre es eingefallen, diese Wörtchen in einen heilen Vers" einzu- 
schieben?), sondern ' Aväy/.r) ist als erklärender Zusatz des Clemens „außerhalb der 
Anführungszeichen" anzusehen: 'Avdyxrj wird wirklich Subjekt zu ÖTteörjöev gewesen 
sein, aber erst nach äargav, vielleicht am Ende des Verses 7, gestanden haben. 

76) Vorsokr. 18 A 57 bis 45 a. 

77) Vorsokr. 18 A 1/21; A 44 bis 44a und Nachtr. XXVII, 55. Gegen die Glaub- 
würdigkeit der Nachricht, daß schon Parmenides von der Kugelgestalt der Erde 
wußte, Patin, Parmenpdes im Kampfe gegen Heraklit, S. 61 1 und neuerdings Erich 
Frank, Plato u. d. sog. Pythagoreer, S. 198 f. 









' 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 23 



Br. XV: Auslug hält er stets nach den goldenen Strahlen der Sonne 
Br. XIV: Und umirrt, nachthell durch das Licht, das er borgte, die 

Erde. 7 * 

Dann wandte sich die Göttin der Entstehung der lebenden Wesen 
zu, die unter der Einwirkung der Sonnenwärme aus der Erde 
hervorgewachsen sein sollten 79 und legte dar, daß sich auch heute 
noch Gedächtnis und Denkkraft des Menschen nach dem Verhältnis 
richtet, nach dem in ihm Licht und Dunkel, Kälte und Wärme 
gemischt sind: 80 im Schlaf und im Alter nimmt mit der Wärme 
auch die Denkkraft ab, 81 im Tod erlischt sie mit ihr völlig, höchstens 
eine ärmliche Empfindung für Dunkel, Stille und Kälte bleibt im 
Leichnam zurück: 82 

Br. XVI, 1: Denn wie gerade die schwankenden Glieder zusammengesetzt 

sind, 83 
So gestaltet sich auch der Menschen Erkenntnis: nur eines 



7 8) Um die Art der Parodie zu kennzeichnen, versuche ich die Wortspiele wieder- 
zugeben und bilde daher die beiden Homerverse sehr frei so nach: 
Od XII 2*v Auslug hielt ich stets nach dem dunstumflossenen Festland. 

II V 214': Denn gleich streckt er mich dann mit dem Schwert, das er borgte, 



zur Erde. 



7 ^Dies ergibt sich aus Vorsokr. ,8 A 1/22 (wo yeveclv xs ävÖQÜnvv g 
79 j uies e g anzutasten und im folgenden vielleicht: [oxoizeia xax ] 



bis 55. 

80) Vorsokr. 18 A 46. 

81) Vorsokr. Nachtr. XXVII, 42. 



S2 *Ä*!£&i **°™ «**" «0j,,;.dr rV . Subjekt zu txe^°2 
Jn nTcht aus dem Vorhergehenden, so doch aus dem folgenden dv&Q^oiai zu 
wenn nicht WS»» * Glieder" schon bei Homer Bezeichnung des lebend.gen 

entnehmendes äv&QMtog. „Uie £ üe £ er XXIII iqi sind pMea ausnahmsweise 

Menschenleibes (a^abe, Homer g^*?^™ J eine M Tneit von Gliedern 
einzelne T ^ e f^f£Ä ganz, z. B. 11. VH X 5 x; XIII 6 7 i; XVI 6o 7 ; 
-11 olxLH XV 357) ganz g ä!nlich aber auch noch bei Pinto («.B. 
vTlllJ- Sem 70 XI 15; Äg. ,ii. 4) «"d Aischylos (z. B. Pers. 99 i ; Eumenid. ,65), 
fa y auch noch Z Empedokles (fpricht er doch Vorsokr. 21 B *p und B 5? 1 sogar 
1 nn den Gliedern« des Sphairos, an dem doch nach B 29, 3 keine Teile unter- 
sTeidbar* sfnd) Zt dieseAeib heißt „schwankend«, weil er vielfacher Täuschung 
ausgesetzt ist (vgl. Od. XX 105; Sophokles, Antig. 615; Parm. VI, 5)- 



g 4 H. Gomperz 

Ist's ja, was in den Menschen denkt — in allen und jedem — ,«♦ 
Nämlich der Glieder Natur: was vorwiegt, ist die Erkenntnis! 8 * 
Endlich legte die Göttin, wie es scheint, noch ziemlich ein- 
gehend die Physiologie und Pathologie der menschlichen Fort- 
pflanzung dar und die Ansichten, die ihr Parmenides über diesen 
Gegenstand in den Mund legte, stellen offenbar eine erhebliche 
Verwicklung und Verfeinerung der schon zu seiner Zeit gang und 
gäben Vorstellungen dar. 86 In allen Einzelheiten lassen sie sich 
leider nicht mehr mit voller Sicherheit wiederherstellen, 8 ' doch gibt 

Vorzug die größere Denk- und Gedächtniskraft (ebd.) des Lebenden , vo ^ det T t " 

ist : u^ i h s ^2tt*£z££ st f k t rr chiichen wahn -' ^ 

gesetzt. Diesen zufolge ff 7bt e s keT T " Wahrheit " ™i«elbar entgegen- 

eine, unveränderliche ^efende ff ibt ei 1 1 GegenStand der Erkenntnis als das 

Erkenntnis. Wer sich S£Ü° ">? »» /"* *?to -^Veränderliche 
Erkenntnis wechsle, je nachdem wi 1 S W F""? *« *»f*«»» ^ Menschen 
gesetzt sind", nur gi mm £ f MiflS^'t SC K hwa " kenden GIied ~ — e, 

das würdige Schlußstück ietes W , g fgegenbrmgen. sie konnte ihm nur als 

86) Vorsokr. 18 A «. bis «r„. R !v o Entstehens abgewandt hatte! 

87) Denn S. SSÄ &£ V^/ÄÄ J* A ' 3 * 'f 

Um in der link e„ Od-m.««^ i^^* ^J*- «*"«- 

werde, wurden Mädchen geboren (und „l so „fffrjj K^in bei pt„V "° P T " 
gleichen Körperhafte) läßt «M, ™;+ j •«. • ,T Änax>en Dei Empfängnis in der 
bleibt bei dem Ver^h dies JTdl f T " Sf**" nicht *"•*»*« und so 

söhnen, dem 3^^^^^^^"^^. S*" » ™" 
glaube meiner Wiederherstellung s ° 1 , S^isser Spielraum eröffnet. Ich 
eigene Worte (XVII) un e TÜfiSS2? Ged ^enganges des Dichters 

A^tios und des Lactanz (V^I^aST^^T^^^ 01 ***** *" 
daß AetiosV 7 A -Vor,okr ,8 I 54) ^gründe legen zu müssen und nehme an, 

Knab^f K S T SSCS VmaUScht ' S0 würden <™ ersten Fall) weiblich artete 
Knaben) geboren (im zweiten männlich geartete Mädchen)«. geartete 



/ 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 25 

wahrscheinlich folgender Gedankengang ihren wesentlichen Inhalt 
wieder: Entscheidend für das Geschlecht des Kindes ist die Körper- 
hälfte des Vaters, in der sich der Same gebildet hat: 

Br. XVII: Rechts (nämlich werden) die Knaben erzeugt, links aber die 

Mädchen. 88 

Regelmäßigerweise gelangt aber der im Vater rechts gebildete 
Same auch in die rechte Hälfte der Gebärmutter (und umgekehrt): 
der Keim ist dann von beiden Eltern her zum Knaben (oder zum 
Mädchen) bestimmt; solche gleichbestimmte Keime verschmelzen 
leicht und vollständig miteinander und entwickeln sich zu Kindern 
von ausgeprägter Männlichkeit (oder Weiblichkeit). Gelangt dagegen 
ausnahmsweise rechts gebildeter Samen in die linke, links gebildeter 
in die rechte Hälfte der Gebärmutter, dann findet nur eine schwierige 
und unvollständige Verschmelzung solcher, mit ungleicher Geschlechts- 
bestimmung behafteten Keime statt: es wird zwar — entsprechend 
der entscheidenden Bedeutung der väterlichen Körperhälfte — im 
ersten Fall ein Knabe, im zweiten ein Mädchen geboren, allein einem 



88) Galen bezog diese Worte auf die beiden Hälften der Gebärmutter. Allein mit 
dieser Auffassung streitet nicht nur die Darstellung des Lactanz, der ganz offenbar 
unter „männlichem" und „weiblichem" Samen den (im Vater) rechts und links 
gebildeten versteht, vielmehr auch das klare Zeugnis des Aetios, beziehungsweise 
des Censorin (Vorsokr. 18 A 53), demzufolge in der rechten Gebärmutterhälfte 
empfangene Kinder dem Vater, in der linken empfangene der Mutter ähnlich sein 
sollen; denn daß Parmenides nicht bloß Knaben den Vätern, Mädchen den Müttern 
ähnlich sein ließ, erhellt aus seinen eigenen Worten (XVIII, 3 bis 6). Parmenides 
spricht somit in Brachst. XVII entweder ausschließlich oder doch vorwiegend von 
den Körperhälften des Vaters (als Regel galt ihm ja, daß rechts gebildeter Same 
auch rechts empfangen wird, Aetios V 7, 4 = Vorsokr. 18 A 53) und was Aetios, be- 
ziehungsweise Censorin a. a. O. sagen wollen, ist dies, daß rechts empfangene Kinder 
entweder Knaben oder doch männlich geartete Mädchen sind, links empfangene 
entweder Mädchen oder doch weiblich geartete Knaben (je nachdem sichs nämlich 
in beiden Fällen um rechtsgebildeten, d. i. „männlichen«, oder linksgebildeten, d. 1. 
„weiblichen" Samen handelt). Die Frage nach den Gründen individueller Ähnlich- 
keit (zwischen dem Kind und einem seiner Eltern in Beziehung auf einzelne 
leibliche oder geistige Eigenschaften) hat Parmenides wohl kaum beschäftigt: nicht 
nur die Auszüge aus seinem Gedicht sprechen geg n eine solche Deutung, sondern 
auch seine eigenen Worte (XVIII). Empedokles freilich soll auch dies Problem schon 
beschäftigt haben (Vorsokr. 21 A 81). 






_ 



2 " H. Gomperz 

solchen Knaben haften noch von seiner Mutter her weibliche, einem 
solchen Mädchen haften von seinem Vater her männliche Eigen- 
schaften — und zwar ebenso des Geistes wie des Leibes — an: 89 

Br. XVIII, i : Wenn der Mann und das Weib die Keime der Liebe vermischen, 
Die in den Adern der beiden aus ihrem Blut sich gebildet, 9° 
Wächst, wenn die Keime verschmelzen, ein wohlgebildeter Körper. 
Doch wenn das doppelte Wesen uneins bei des Samens Vermischung 
sTOleibt und am werdenden Leib zur Einheit nicht sich verbindet, 
Dann wird nach der Geburt ihn zwiefache Artung zerrütten.9' 

Unter dieser „zwiefachen Artung" ist nicht etwa wahres Zwitter- 
tum zu verstehen, 92 vielmehr ist das gemeint, was Lactanz, der 

89) Vorsokr. 18 A 54; vgl. Anm. 88. 

90) Die Lehre von der Bildung des Samens, beziehungsweise des entsprechenden 
weiblichen Keims (den nach Vorsokr. 14 A 13 Parmenides wie schon vor ihm Alkmaioi 
und nach ihm Anaxagoras und Empedokles annahm) aus dem elterlichen Körper wird' 
in jener Zeit von dem Gedanken beherrscht, da durch die Zeugung auf das Kind 
auch die Denkkraft der Eltern übertragen wird, müßten in den Samen jene Stoffe 
eingehen, die als Träger dieser Denkkraft gelten: Alkmaion. dem das Gehirn als 
dieser Trager galt, hielt den Samen für eine Absonderung des Gehirns (Vorsokr. u 
A 15); Pythagoreer, die diese Ansicht übernahmen, jedoch als den eigentlichen Träger 
d l r Er . ken " tnis den warmen Hauch betrachteten, erklärten den Samen für einen 
„Tropfen Hirn der etwas warmen Hauch umhülle": aus dem Hirn erwachse der 

L 6 dirn Z i r S ™ 8 (V ° rSOkr - r ' NaChtr " XLI11 ' »3 bis *>i «* Parmenides 

L ' , f f 47 d ' e u W T ne des Kör Pers, also, wie es nach ihm Empedokles 

r,T^ ' m A PI g L Unde " (V ° rSOkr - " B 105 '3)' daher ist es nur folgerecht, 
wenn er aus dem Blut auch den Samen hervorgehen läßt. 

90 DiraejNascentemgemino vexabunt [semine sexum (Bruchst. XVIII ist uns nur in 
lateinischer Übersetzung erhalten). 

92) Ebensowenig gleichgeschlechtliche Liebesneigung, wie es der Übersetzer, Caelins 

SSSZ* ^ £ m nämUCh » Zwiefache Artung« auch von dem weiblich 

empfindenden Mann der männlich empfindenden Frau gesagt sein könnte). Diels, 
der dies als irrig erkannte (Parm. S. 1*6); dachte an körperliches Zwittertum. Allein 
gegen beides spricht m gleicher Weise, daß der einzige andere Autor des fünften 
Jahrhunderts, der aus Verschiedenheiten der Keimentwicklung Unterschiede der 
Männlichkeit und Weiblichkeit ableitet (Hippocrates de victu c. 28 bis 29 = VI 501 ff 
L.ttre) unter diesen Unterschieden nur verschiedene Grade leiblicher und geistiger 
Männlichkeit« und „Weiblichkeit« versteht (er unterscheidet je drei Stufen der 
Männlichkeit und Weiblichkeit: geistig hervorragend und körperlich kräftig; weniger 
hervorragend, indes immerhin noch mannhaft; weibisch - sehr weiblich und Wohl- 
gestalt; etwas dreist, indes immerhin noch sittsam; Mannweiber). Ferner bemerkt 
Piaton (Gastm. 189 e) ausdrücklich, Zwitter habe es zwar in Urzeiten gegeben, zu 
seiner Zeit jedoch werde der Ausdruck „Weibischer Mann" ausschließlich als Schimpf- 
wort (also zur Kennzeichnung von Feiglingen) gebraucht. Über das Zeugnis des Lactanz 
'endlich vergleiche die folgende Anmerkung. 



_ 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 2 7 

hier offenbar aus uns verlorenen Versen des Parmenides schöpft, 95 
folgendermaßen ausdrückt: „Wenn zufällig in die linke Gebär- 
mutterhälfte der Samen eines männlichen Kindes gelangt, entsteht, 
:so ist die Meinung, zwar ein Knabe, allein weil er auf der weib- 
lichen Seite empfangen wurde, hat er mehr Weiblichkeit an sich, 
als die männliche Würde zuläßt, sei es schöne Formen oder allzu 
lichte Hautfarbe oder geringes Körpergewicht oder zarte Gelenke 
oder kleine Gestalt oder schwache Stimme oder scheue Gemütsart 
oder auch mehr als eine dieser Eigenschaften. Und ebenso, wenn 
der Samen eines weiblichen Kindes in die rechte Hälfte einströmt, 
so werde zwar ein Mädchen geboren, aber weil es auf der männ- 
lichen Seite empfangen wurde, habe es mehr Männlichkeit au sich 
als mit der Eigenart dieses Geschlechtes verträglich ist: kräftige 
Gliedmaßen oder übermäßige Größe oder dunkle Hautfarbe oder 
haariges Gesicht oder unsittigen Blick oder rauhe Stimme oder 
frechen Sinn oder auch mehr als eine dieser Eigenschaften." — 
Die Rede der Tagesgöttin und mit ihr allem Vermuten nach auch 
das parmenideische Lehrgedicht 94 schloß mit diesen Worten: 

Br. XIX, 1: So nun ist (all) dies nach dem Wahne (der Menschen) entstanden, 
Ist so und wird auch künftig noch wachsen und endlich vergehen ; 
Aber auf jedes drückte der Mensch das Mal eines Namens. 

Die erste psychologische Bemerkung, die ich an diesen Sach- 
verhalt knüpfen möchte, geht von der parmenideischen Theorie 
der Geschlechtsbestimmung aus: wenn hier männliche Eigenschaften 
des Körpers wie des Gemütes als „zerrüttende" Störung der weib- 
lichen Eigenart erscheinen, so ist es ganz offenbar, daß der Dichter 

93) Vorsokr. 18 A 54. Zwar nennt Lactanz den Parmenides nicht, allein woher 
hätte er sonst die nur für diesen bezeugte Lehre von der regelmäßigen und ausnahms- 
weisen Richtung des Samenergusses? 

94) Höchstens einige Verse, mit denen die Göttin den Dichter entläßt, könnten 
auf XIX, 3 noch gefolgt sein; daß er auch seine Rückfahrt zur Erde geschildert 
hätte, ist zwar gewiß denkbar, doch nicht eben wahrscheinlich. 



z ° H. Gomperz 

selbst das „weibliche Weib" bevorzugt: wenn wir die Ausführungen 
des Lactanz mit Recht auf ihn zurückführen, so wissen wir sogar, daß 
ihm kleine Hände und Füße, eine nicht mehr als mittelgroße Gestalt, 
lichter, zarter Teint, eine helle Stimme, niedergeschlagene Augen 
und eine schüchterne Gemütsart als Kennzeichen des „wahren", 
also des begehrenswerten Weibes erschienen. Er liebt das „weib- 
liche Weib", war also aller Wahrscheinlichkeit nach selbst ein 
„männlicher" Mann. Schon daraus dürften wir schließen, daß 
seine Empfänglichkeit für Knabenschönheit kaum besonders groß 
gewesen sein wird und in der Tat lehnt er ja auch gerade die 
Eigenschaften ab, die den Knaben vom Manne unterscheiden und 
ihn dem Mädchen ähnlich machen; weibliche Eigenschaften zer 
rütten" die männliche Eigenart: den wahren Mann denkt er sich 
(nach Lactanz) etwas eckig und braungebrannt, massig und kräftig 
die Gestalt groß, die Stimme tief, ein furchtloses Gemüt. Die 
Veranlagung, die sich hierin ausspricht, ist der gewöhnlichen des 
griechischen Knabenliebhabers gerade entgegengesetzt; das von Piaton 
erwähnte Gerücht, Parmenides sei Zenons Liebhaber gewesen, wird 
demnach wohl bloßes Gerede gewesen sein: allem Vermuten' nach 
galt seine Liebe dem weiblichen Geschlecht. 

Diese Vermutung wird nun durch einen zweiten Umstand in 
überraschender Weise bekräftigt. Die Überlieferung drängt uns 
nämlich den Schluß auf, daß dem Parmenides das weibliche 
Geschlecht als das geistig begabtere gegolten hat. Wir 
erinnern uns ja, daß seiner Auffassung nach die geistige Begabung 
des Menschen davon abhängt, ob und in welchem Maße in ihm 
das Lichte und Warme das Dunkle und Kalte überwiegt, und da 
ihm eben Licht und Wärme als die Quelle des menschlichen Denkens 
gelten, so denkt er sich denn auch, der Mensch sei unter der Ein- 
wirkung der Sonne aus der Erde hervorgewachsen. Mit diesen An- 
schauungen nun steht er in seiner Zeit keineswegs allein und wer 









Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 29 

die gewöhnliche Ansicht von der höheren geistigen Begabung des 
Mannes teilte, dem ward es nicht schwer, sie mit dieser Ansicht 
übereinzustimmen. Empedokles z. B. lehrte, nur wenige Jahrzehnte 
nachdem Parmenides sein Gedicht verfaßt hatte, der Mann sei durch 
Wärme gekennzeichnet, das Weib durch Kälte, daher seien denn 
auch die ersten Männer in heißen Gegenden entstanden, die ersten 
Weiber in kalten. 95 Parmenides dagegen lehrte gerade um- 
gekehrt — Aristoteles selbst bezeugt's uns 96 — , das Weib sei wärmer 
als der Mann. Und demgemäß ließ er denn auch 97 „die ersten Weiber 
im Süden aus der Erde sprießen wegen ihrer Feinheit, die ersten 
Männer dagegen im Norden wegen ihrer Dichtigkeit". Das ist auch 
durchaus begreiflich, wenn wir bedenken, daß Parmenides von allem 
Anfang an das Licht als die feine und leichte, das Dunkel als die 
dichte und schwere Erscheinung bezeichnet: es war nur folgerecht, 
wenn er dann auch die weibliche Zartheit durch ein Mehr von 
Licht, die männliche Plumpheit durch ein Mehr von Dunkel 
bestimmt glaubte. 98 Es war aber auch nur folgerecht, wenn er 
dann dem Weib auch die höhere Denkkraft zuschrieb, hatte er 
doch der Nacht die der Erkenntnis hinderliche „Dumpfheit" als 
eines ihrer wesentlichen Merkmale beigelegt. 99 Ja, was noch weit 
mehr besagt, schon in der Einleitung des Gedichtes ist die Fahrt, 
die den Dichter der Erkenntnis entgegenführen soll, zugleich 
eine Fahrt aus dem Dunkel „ins Licht", sie, die ihn diesem 
Ziele zufahren, sind Licht-Mädchen, die Töchter der Sonne, 
und sie, die ihm endlich die volle Belehrung erteilt, ist selbst ein 



95) Vorsokr. zi A 81 ; B 65; B 67. 

9 6) Vorsokr. 18 A 52. 

97) Vorsokr. 18 A 53. 

98) Heißt es an der Anm. 97 genannten Stelle: rä de agög valg ßeayfißglaig i>))Aea 
(/3JlaöT?jQa6) Ttagä v4p> ägai6vt)ra, so könnten die letzten Worte ebensowohl auch 
lauten: naget vi]V änaXöz-ijra. Offenbar fallen für den Dichter die beiden Ausdrücke, 
in ihrer Anwendbarkeit aufs Weib, so gut wie zusammen. 

99) vvKx'äöaij, VIII, 59. 


















3° H. Gomperz 



Weib und ein Lichtwesen zugleich: Hemera, die Göttin des 
Tages! Konnte der Dichter deutlicher zum Ausdruck bringen, daß 
er zum Weib aufblickte wie zu einer ihm auch geistig überlegenen 
„Lichtgestalt", als indem er seine ganze Lehre einem weiblichen 
Lichtwesen, der Tagesgöttin, zuschob? 

Dazu kommt nun eine dritte Beobachtung, vielleicht die merk- 
würdigste von allen: nicht nur die Gottheit, die den Parmenides 
belehrt, ist weiblich — es kommen (und von dieser Regel gibt 
es so gut wie keine Ausnahme) in seinem Gedicht überhaupt 
nur weibliche Gottheiten vor! Denn weiblich wie die Göttin des 
Tages ist auch die der Nacht (I, 9), weiblich sind die Sonnentöchter 
(I, 8 5 1, 1 5), weiblich die Gottheit des Rechts (1, 1 4; I, 28 ; VIII, 1 4) wie 
auch die der Pflicht (I, 28), die Belehrung wie die Wahrheit (IV, 4) die 
Zwangsgewalt (VIII, 50 h X, 6) und die Parze (VIII, 37 ). Man kann 
einwenden, dies seien fast durchwegs vergöttlichte Abstraktionen 
und Abstraktionen seien eben im Griechischen großenteils weiblich. 
Allein diese Einwendung versagt doch völlig gegenüber jener Göttin^ 
die Parmenides in die Mitte des Himmels setzt und ausdrücklich 
als die „Lenk'rin des Weltalls" bezeichnet (XII, 5): sie ist so wenig 
eine bloße Abstraktion, daß (zumindest wo sie zuerst erwähnt ward) 
nicht einmal ihr Name genannt wird; daß aber so einer weiblichen 
Gottheit jene Herrscherstellung zufällt, die sonst „der Vater der 
Götter und Menschen" einzunehmen pflegt, das kann doch 
unmöglich ein Zufall sein, ja dies würde, so scheint mir, schon 
für sich allein den Schluß rechtfertigen, daß der Dichter, 
der diese Zeilen niederschrieb, das Weib ganz ungewöhnlich 
hoch gestellt haben muß. Nun aber ist diese Göttin, die das 
All lenkt, überdies dieselbe, die überall Geburt anregt und 



Paarung: 



Denn, was weiblich, gesellt sie dem Männlichen, daß es sich paare 
Und, was männlich, dem Weiblichen zu. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen zi 

Es ist also die Göttin der Liebe, und zwar der Liebe zum anderen 
Geschlecht, der die Weltherrschaft eingeräumt wird, und daß sie 
ihr an Zeus' Stelle zufällt, haben auch schon die Alten bemerkt,, 
denn Empedokles, wo er den von Parmenides geschilderten Welt- 
zustand als den einer fernen Urzeit hinstellt, schildert ihn mit den 
Worten: 100 

Jene kannten den Kriegsgott nicht, nicht den Gott des Getümmels, 
Kannten nicht Zeus, den König, nicht Kronos und nicht Poseidon, 
Sondern es herrschte Kypris allein, (die Göttin der Liebe). 

Alle Gottheiten also, die Parmenides kennt, sind weiblich. Die 
einzige Ausnahme, die es von dieser Regel gibt, ist eine solche, 
die sie bestätigt: der einzige Gott nämlich, dessen Namen wir in 
seinem Gedichte lesen, ist — Eros! (XIII). 101 Über ihnen allen aber 
thront als höchste der weiblichen Gottheiten — die Liebe zum 
Weibe! 

Fassen wir diese Beobachtungen zusammen, so dürfen wir sagen: 
die Welt des Parmenides erweist sich unverkennbar als die Ver- 
körperung einer wohl durchaus unbewußten, allein deswegen nicht 
weniger kräftig entwickelten, ausschließlich dem anderen Geschlechte 
zugewandten Erotik. Das weibliche Weib ist das vollkommene Weib. 
Und dies vollkommene Weib ist auch begabter, überhaupt voll- 
kommener als der Mann, denn in ihm ist weit mehr von dem 
enthalten, was wir wohl das weibliche Prinzip nennen dürfen : 
das Prinzip des Feinen, Zarten, Lichten, Verständigen, das offen- 
bar unvergleichlich wertvoller ist als das entgegengesetzte männ- 



100) Vorsokr. 21 B 128. 

101) Neben diesem mag freilich an weniger hervorragender Stelle noch ein männ- 
licher Kriegsgott gestanden nahen, wenn anders bei Cicero (Vorsokr. 18 A 57), wie 
es ja gewiß am nächsten liegt, „Bellum" als Übersetzung von TIöXef.iog aufzufassen ist 
(die dort weiter genannte Discordia läßt auf eine Göttin Eris schließen: Cupiditas 
bezieht Diels auf Eros, Parmenides kann indes auch von einer 'Emftvßla oder der- 
gleichen gesprochen haben). 



52 H. Gomperz 

liehe Prinzip: das des Festen, Plumpen, Dunkeln, Verstandlosen. 101 
Diese beiden Prinzipien aber sind die Grunderscheinungen der 
Welt; aus ihrer Vereinigung entsteht ^alles; der Trieb, der sie zu- 
einander zieht, sie paart, ist die höchste Weltmacht, die oberste 
Gottheit! 

Und nun die vierte und letzte Beobachtung, jene, um derent- 
willen alles Bisherige gesagt ist, die uns erst an das wahre Problem 
heranführt, um uns — oder doch um mich — dort fast ratlos 
zu verlassen: diese die Geschlechtsliebe verkörpernde, von der 
Geschlechtsliebe beherrschte Welt — lehnt Parmenides ab! Er 
verwirft sie aufs schärfste, erklärt sie für unwirklich, für eine 
bloße Ausgeburt menschlichen Wahnes. Und was diesen Wahn als 
Wahn kennzeichnet, ist eben- dies, daß er zwei gegensätzliche 
Grunderscheinungen annimmt, diese sich miteinander paaren läßt 
an diese Paarung Geburt, Entstehung, Werden geknüpft denkt^ 
In der wahren Welt, so versichert er immer wieder, gibt es kein 
Werden, kein Entstehen und Vergehen; in ihr gibt es auch nicht, 
eine Zweiheit von Erscheinungen, die sich miteinander paaren 
könnten, so daß dann aus dieser Paarung ein Neues hervorginge. 

102) Theophrast (Vorsokr. 18 A 7) sagt, Parmenides habe das Dichte und Kalte 
als das „stoffliche" Prinzip gedacht, das Dünne und Warme dagegen als „das Wir- 
kende und Tätige". Stammten diese Ausdrücke von Parmenides selbst, so könnte die 
Frage aufgeworfen werden, ob darin nicht ein Widerspruch gegen die von mir vor- 
ausgesetzte mehr weibliche Natur des Lichtes, die mehr männliche des Dunkeln liege. 
Nun bringt es ja aber das Wesen der Sache mit sich, daß man eine Mischung von 
Licht und Dunkel eher auf das Eindringen von Lichtstrahlen in die Finsternis als 
auf den umgekehrten Vorgang zurückführen wird. So schreibt denn auch Parmenides 
XII, 2 : Da fährt ein Teil der Flamme dazwischen. Aus diesen Worten und etwa noch 
aus einigen andern, ähnlichen glaubte dann Theophrast den „stofflichen" Charakter 
des Dunkeln, den „wirkenden" des Lichten bei Parmenides ableiten zu können, was 
ihm dann spätere Doxographen ohneweiters nachsprachen (Vorsokr. 18 A 1 ; A 25V 
Scheut er sich doch auch nicht, die Grün der scheinungen des „Wahnes" ohneweiters 
„Feuer und Erde" zu^nennen, was Aristoteles noch nicht wagte („Er setzt zwei Ur- 
sachen . . ., Warmes und Kaltes, womit er etwa Feuer und Erde meint, olov 
nvg 'Aal yr(V /.iyov, Vorsokr. 18 A 24) imd was Simplicius, da er den Wortlaut des 
Gedichts vor sich hatte, alsbald berichtigte (nvQ y.al YW V l*&?.?.ov (püg xai Oüötog, 
Vorsokr. 18 A 54.). 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 33 

In dieser wahren Welt gibt es nur eines und dies eine ist ein 
Sächliches: das „Seiende", dies eine sächliche Seiende aber ist 
unentstanden und unvergänglich, ewig unveränderlich und unbe- 
weglich . . . Parmenides glaubte diese Sätze aus dem Begriffe des 
Seins ableiten zu können: man braucht nicht Psychoanalyse studiert, 
man braucht nur Nietzsche gelesen, nur die Luft des zwanzigsten 
Jahrhunderts geatmet zu haben, um zu wissen, daß niemand aus 
rein und ausschließlich logischen Gründen das Zeugnis seiner eigenen 
Sinne verwirft. Allein, wenn ich mich nun frage: woher erhob sich 
in diesem in der Vollkraft der Jahre stehenden, anscheinend von 
gesunder Erotik erfüllten Manne die Kraft, die ihn dazu ver- 
mochte, den Augenschein zu leugnen, die Welt, in der sich für 
ihn sein durchaus gesundes Fühlen verkörperte, für bloßen Wahn 
zu erklären — dann versagt mir die Antwort. Gewiß wird man 
annehmen dürfen, daß Parmenides, indem er die Welt verwarf, 
in der sich ihm seine Erotik verkörperte, sich eben auch gegen 
diese Erotik aufgelehnt, in dem Gedanken an das eine, ewige, 
sächliche Seiende Befreiung von ihr gesucht und vielleicht auch 
gefunden hat. 103 Allein die aufgeworfene Frage ist damit nicht be- 
antwortet: woher kam dem Parmenides der Wunsch, nach einer 
solchen Befreiung zu streben? Woher kam ihm die Kraft, sie ins 
Werk zu setzen? . . . Habe ich es wahrscheinlich gemacht, daß für 



105) Vielleicht darf hier auch an die auffallenden Worte erinnert werden, mit 
denen (nach Vorsokr. 18 A 1) Sotion berichtete, daß Ameinias den Parmenides für die 
pythagorische Lebensweise gewonnen habe : dieser, sagte er, sei von jenem „für die 
Stille gewonnen worden" — Worte, durch die, wie ich schon sagte (vgl. o. Anm. 5), 
vielleicht noch eine Zeile der Inschrift auf dem Grabtempelchen durchscheint, das 
Parmenides dem Ameinias errichtet hat: 

Da mich der treffliche Mann heiliger Stille gewann. 

Unter der heiligen „Stille" ist wohl ganz allgemein das der Welt mit ihren 
Geschäften und Kämpfen, Genüssen und Entbehrungen abgekehrte, der bloßen Be- 
trachtung gewidmete Leben des Denkers zu verstehen. Daß er ihn für dies — wie 
man später sagte — „theoretische Leben" gewonnen habe, durfte Parmenides dem 
Ameinias bezeugen, auch wenn er sich dessen pythagorische Lehre nicht angeeignet 
hatte oder von ihr wieder abgewichen war. 

Imago X/i 3 



34 



H. Gomperz 



den ersten Abendländer, der die Wirklichkeit der sinn lichen Er- 
scheinj^.gswelt__geleugnet hat, diese Welt durch und durch von 
Erotik durchtränkt war, so ist ja auch dies Ergebnis gewiß des 
Festhaltens wert; allein auf die weit größere und schwierigere 
Frage, warum er nun die Wirklichkeit dieser von Erotik durch- 
tränkten Welt leugnen wollte und wie er sie leugnen konnte, 
weiß ich keine Antwort.' 04 



2. SoUrates 

Sokrates lebte in Athen etwa 46g bis 399 v. Chr. Sein Vater war 
der Steinmetzmeister Sophroniskos. 105 Seine Mutter Phainarete war 
in erster Ehe mit einem gewissen Chairedemos vermählt gewesen 
von dem sie einen Sohn, Patrokles, hatte ; J in vorgerückten Jahren 
vielleicht erst nach dem Tode des Sophroniskos, brachte sie sich 
als Geburtshelferin und Heiratsvermittlerin fort. 107 Den Patrokles 
bezeichnete Sokrates noch als reifer Mann als „seinen Bruder" 
er lebte noch, als Sokrates etwa vierundsechzig Jahre alt war-' 08 
sonst hatte dieser entweder überhaupt keine Geschwister gehabt 
oder sie waren doch früh gestorben. 109 Aus der Jugend des Sokrates 



104) Immerhin sei angemerkt, daß sich auch in Indien ein gewisser Zusammen- 
hang zwischen Leugnimg der äußeren Wirklichkeit und Ablehnung der Geschlecht- 
lichkeit behaupten ließe; denn mag diese Leugnung dort zuerst von buddhistischen 
Bhikshus oder von vedantistischen Yogins ausgegangen sein — in beiden Fällen 
handelt sich's um Angehörige einer mönchsartigen Bruderschaft, zu deren ersten 
Pflichten vollkommene Keuschheit gehörte. 

105) Der Name des Vaters Plato, Laches i8ode; Xenophon, Hell. I 7, 15. Sein Beruf 
im allgemeinen angedeutet PI. Euthyphro n b : dafür, daß er gerade Steinmetz, nicht 
etwa Bildhauer oder Erzgießer war, ist der älteste Zeuge Menedem aus Pyrrha bei 
Porphyr, Gesch. der Philos. Frg. 11 Nauck, dann auch Diog. Laert. II, 1 u. A. 

106) PI. Euthyd. 2o,7 e . Daß Chairedem der erste Mann der Phainerete war, ist 
nirgends überliefert, wird aber wohl mit Recht angenommen, da Laches 180 c voraus- 
gesetzt zu sein scheint, daß Sophroniskos nicht allzu lange vor der Zeit des Gesprächs 
(zwischen 424 und 415) gestorben war, also kaum viel vor 440. Da war Sokrates 
etwa 29 Jahre alt und seine Mutter hätte kaum mehr einen Sohn geboren. 

107) PI. Theaet. 149"; 149b; i49 d - 

108) Kirchner, Prosopographia Attica Nr. 11697. 

109) Dies erhellt aus der Anm. 106 angeführten Euthydem-Stelle. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 35 






wissen wir fast nichts. Etwa ein halbes Jahrhundert nach seinem 
Tode erzählte man, er habe sich frühzeitig gegen seinen Vater 
aufgelehnt: dieser habe ihn als Lehrburschen verwenden wollen 
und ihm häufig den Auftrag gegeben, ihm sein Handwerkszeug 
da- oder dorthin zu tragen, Sokrates aber habe sich um solche 
Aufträge nicht gekümmert und sei nach seinem Belieben umher- 
gestreift." Ein mißgünstiger Berichterstatter fügte hinzu, er habe 
nichts Rechtes gelernt, und das habe man auch noch, in späteren 
Jahren daran bemerken können, daß er beim Lesen gestottert habe 
wie ein Kind und auch beim Schreiben das Geschriebene stockend 
vor sich hinsagte 5 wer zugegen war, habe lachen müssen. 111 
Im Alter von siebzehn Jahren, so erzählte man weiter, habe er 
eine für sein Leben entscheidende Bekanntschaft gemacht: es näherte 
sich ihm nämlich ein gewisser Archelaos, ein Naturforscher aus 
der Schule des Anaxagoras: dieser stellte sich, als wäre er in ihn 
verliebt und gewann so seine Freundschaft, Sokrates aber schloß 
sich ihm eng an und verlebte viele Jahre in vertrautem Umgang 
mit ihm. 112 Und in der Tat wissen wir, daß beide, als Sokrates 
etwa dreißig Jahre alt war, zusammen den Feldzug nach Samos 
mitgemacht haben. 113 Durch Archelaos sei denn auch in Sokrates 
das Interesse für wissenschaftliche Fragen geweckt worden. Archelaos 

110) Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg. 12 Nauck. Die Nachricht scheint einem 
sokratischen Gespräch entlehnt, das älter war als Aristoxenos; denn schon dieser las 
aus der unmittelbar folgenden Nachricht über Sokrates und Archelaos ein päderasti- 
sches Verhältnis beider heraus (Frg. 1 Müller\ 

111) Porphyr, a. a. O. Frg. 11 Ende, wohl aus Aristoxenos. 

112) Ebd. Frg. 12. 

113) Ion v. Chios bei Diog. Laert. II, 22; vgl. Diels, Vorsokr. 47 A 5. Aber viel- 
leicht sprach Ion gar nicht vom Philosophen Sokrates, vielmehr vom Strategen 
(v. Wilamowitz, Piniol, ünterss. I 24O; Joel, Geschichte d. antik. Philos. I 758P Dann 
mußte die auf Sokrates zielende Bemerkung „als er jung war« später beigesetzt sein 
Und das ist an und für sich denkbar. Allein von einer Beziehung Sokrates' zu 
Archelaos wußte man schon vor der Zeit des Aristoxenos (vgl. Anm. 110) sie ward 
also gewiß nicht nur aus Ions Reise-Erinnerungen mißverständlich herausgelesen 
Dann ist aber die Annahme, schon Ion selbst habe vom „jungen" Philosophen Sokrates 
gesprochen, immerhin einfacher (so jetzt auch v. Wilamowitz, Piaton I 9 6<). 

3" 



J 




„ 6 H. Go mperz 

beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Naturphilosophie (Grund- 
und Urstoffe, Weltbildung) und erwarb sich insbesondere Verdienste 
um die Begründung der Akustik: es ist wohlbeglaubigt, daß auch 
Sokrates in seiner Jugend über solche Fragen nachgedacht und Lehren 
des Archelaos auch noch zu einer Zeit vertreten hat, zu der seine 
persönliche Beziehung zu diesem schon hinter ihm lag." Arche- 
laos nahm wie sein Lehrer Anaxagoras eine höchste Weltvernunft 
an als deren Trägerin ihm aber, wie seinem Zeitgenossen Diogenes 
aus Apollonia, die Luft galt, und auch als Vertreter dieser Ansicht 
ist Sokrates später (als er etwa siebenundvierzig Jahre alt war), 
wohl nicht mit Unrecht, verspottet worden." 5 Archelaos scheint 
aber auch als erster den Fortschritt der menschlichen Gesittung 
als etwas grundsätzlich von aller bloß natürlichen Entwicklung 
Verschiedenes betrachtet und in diesem Sinne dem „Wachstum" 
die Satzung" entgegengestellt zu haben." 6 Wenn also Sokrates 
sich späterhin immer mehr den Fragen der Naturwissenschaft 
ab- und solchen des Menschenlebens zugewandt, ja sogar das 
Recht geradezu für (teils göttliche, teils bloß menschliche) Satzung- 
erklärt hat, so wird auch hiezu der Einfluß des Archelaos bei- 

, ^ PI Phaedo 96a ff. Vgl. auch Aristophanes, Wolken 164 mit Vorsokr. 47 A x/i 7 . 
5 Vgl. Wolken , 9 8; ,50: *6 4 ; 6 2? ; 66 7 ; rf» mit Vorsokr. 47 A ja (vgl. A ,. 
und A 18) Da die von Aristophanes verspottete Lehre mit der des Diogenes aus 
Apollonia vielfach genau übereinkommt, glaubte Diels (55. Versammlung deutscher 
Philologen und Schulmänner 1881, 106) erwiesen zu haben, der Komiker habe Sokrates 
Je Anfchauungen dieses Naturphilosophen zu Unrecht in den Mund gelegt. Allein 
das h ßt die Originalitätssucht der Denker jener Zeit überschatzeii die emander ihre 
Insi ten vielfach entlehnten. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, die Luftlehre des 
nioLeies sei ihm nicht allein eigentümlich (Vorsokr. 51 A 20); sie kann somit sehr 
wohl auch von Archelaos geteilt worden und von diesem auf Sokrates übergegangen sein. 
l6 " Ana agoras hattf die Entstehung der menschlichen Gesittung als emw^ 
liehe Stück L Weltbildimg angesehen (Vorsokr. 46 B 4; B »1 ^Ebenso schloß 
wohl au dh d* Archelaos Darstellung der Weltbildung mit einem Hinweis auf die 
wohl auch aes Entstehung der Künste (Vorsokr. 47 A 4/6). Hob er 

Gründung der Städte und fe bestünden nicht auf Grund natürlichen 

nun trotzdem hervor, Kecnt una u " ♦„„♦„„„„ fFhH A ll. so sollte damit 

Wachstums, vielmehr auf Grund »^^^/"J'f'^^J^vdtall. abgetrennt 
vermutlich die Entstehung der Gesittung von der Entwicklung des Weitaus g 
und einer besonderen Untersuchung vorbehalten werden. 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 37 



getragen haben. 117 Als Sokrates etwa vierzig Jahre alt war, verließ 
Archelaos Athen," 8 und erst seit dieser Zeit scheint Sokrates die 
allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Zum 
mindesten wird uns seine Gestalt erst seit 430 — vor allem 
durch den Spott der Komödie — einigermaßen greifbar. 119 

Sokrates erschien seinen Zeitgenossen — und zwar auch jenen, 
die ihm leidenschaftlich ergeben waren — außergewöhnlich häßlich: 
auf einem nicht einmal mittelgroßen Körper 120 saß ein Kopf mit 
„krebsartig" vorstehenden Augen, wulstigen Lippen und einer kurzen 
Stumpfnase, deren Nasenlöcher dem Beschauer weit geöffnet ent- 
gegenstarrten 5 121 die ganze Erscheinung glich der eines Silens. 12 - 
Und waren so die Züge des „Silens" an und für sich wenig ein- 
nehmend, so wurde dieser Eindruck noch verstärkt durch seine 
Art, sich zu tragen und zu bewegen. Sein Äußeres war auffällig 
ungepflegt: eine bleiche Gesichtsfarbe zeugte von unzureichender 
Ernährung; das Haar wallte lang herab; die Füße waren unbe- 
schuht und nicht bloß ihnen, auch dem Körper war es anzu- 
merken, daß er nur selten, aus besonders festliche m Anlaß, ge- 

„7) Xen. Erinn. IV 4, u; 19$ •* Antiphon hatte (Vorsokr. ^ Nachtr p. XXXII) 
von e em „natürlichen« Recht gesprochen, dessen Übertretung s,ch selbst ^bes träfe. 
Erklärt nun Sokrates dies natürliche Recht selbst für e,n (freilich ungeschehenes und 
von Göttern, nicht von Menschen gegebenes) Gesetz, so scheint er damit den Satz 
des Archelaos (Recht = Gesetz) gegen Antiphons Widerspruch zu verteidigen. 

118^1 Vorsokr. 46 A 7. _ ,. „ , . 

110 Den Wert der Komiker-Stellen für unser Sokrates-Bild und die Grundsätze, 

die sie uns für die Bewertung der Sokratiker-Nachrichten J«*"?£^ a *^ 
gelegt in dem Aufsatz „Die somatische Frage als geschichtliches Problem (Hirtor. 
Zeitfchr. 19*4)1 die entsprechenden Folgerungen, die aus der Anklage des Meletos 
und seiner Gnossen zu ziehen sind, in dem Aufsatz „Die Anklage gegen Sokrates 
und Z Bedeutung für die Sokrates-Forschung« (Neue Jahrbücher für das klassische 
Altertum 1024). Das dort Gesagte kann ich hier nicht wiederholen. Wo daher im 
Folgenden für 4 eine Angabe des Textes die Anmerkungen Belege oder Erlamer.ngen 
schuldig zu bleiben scheinen, sind diese in den nm angeführten Aufsätzen zu finden, 
iso) Dies möchte ich aus PI. Phaedo io 2 b schließen, wo als Beispiel einer blofl 
beziehungsweisen Größenbestimmung angeführt wird: „Sokrates ist kleiner als 
Simmias, Simmias kleiner als Phaidon". 

121) Xen. Gastm. V, 5 bis 7. 

122) PI. Gastm. 2i5 ab - 




2 8 H. Gomperz 

badet wurde. 123 Dazu trat ein eigenartig stolzer, ein gewisses 
Absonderungsbedürfnis verratender Gang; die Augen wurden rasch 
hin- und hergeworfen 124 und blickten bald diesem, bald jenem 
starr ins Gesicht. 125 Sokrates' ganzes Wesen hatte denn auch etwas 
Prophetenhaftes, Weitabgewandtes, Jenseitiges, Entrücktes. Und 
wirklich ward er von Zeit zu Zeit auch von förmlichen Ent- 
rückungs- und Versenkungszuständen heimgesucht fänf unge- 
eignetsten Ort, auf dem Wege zu einem Festessen oder mitten 
im Heerlager, konnte er plötzlich stehen bleiben und nun, wie 
in tiefe Gedanken versunken, eine Stunde, zwei Stunden, aber 
auch vierundzwanzig Stunden unbeweglich dastehen. 126 Doch auch 
sonst fehlte es in seinem Leben nicht an Zügen, die er auf das Ein- 
greifen übermenschlicher Kräfte zurückführte: in lebhaften Traum- 
gesichten wurde ihm Kommendes vorhergesagt und dies oder jenes 
aufgetragen; so hörte er insbesondere immer wieder und noch kurz 
vor seinem Ende als Siebzigjähriger im Traum eine Stimme: 
„Sokrates, mach' Musik und sei fleißig!" 127 Vor allem aber war es 
ihm sehr oft auch im Wachen, als höre er eine Stimme, die ihm 
dies oder jenes, was er gerade tun oder sagen wollte, verbot: es 
waren scheinbar gleichgültige Dinge, allein hinterdrein ward es ihm 
fast immer klar, daß er oder einer seiner Freunde durch die Stimme 

125) Aristoph. Wolken 103; 885; Vögel 1282; 1554; PI. Phaedo 64b; Gastm. 174»; 

Xen. Gastm. I, 7. 

124) Wolken 562; vgl. PL Gastm. 221b. ßgevMsa&ai bedeutet bald sieb für etwas 
zu gut dünken (Bruchstück eines unbekannten Komikers Nr. 506 Kock), bald auf etwas 
stolz sein (Athenaios XV, 625b), bald sich gekränkt fühlen (Aristophanes, Friede 26: 
Lysistrate 887; Lukian, Die gemieteten Freunde 57, p. 697), ursprünglich natürlich 
sich benehmen wie der Vogel Brenthos (der aber bei Aristoteles bald als See- und 
Raubvogel, bald als Berg- und Singvogel erscheint: Tiergeschichte IX 1, 609b 24 und 
IX 11, 615a 15). Etwas Abweisendes und Stolzes will der Ausdruck dem Sokrates 
gewiß' anheften, und das wird durch den Zusammenhang, in dem Piaton ihn anführt, 
bestätigt. Als einen Mann, der sich absondert, zu den Menschen nur herablaßt, 
schildert ihn Aristophanes gleich bei seinem ersten Auftreten, Wolken 222 ff. 

125) PI. Phaedo 117 b. 

126) PI. Gastm. i75 ab ; 220^. 

127) PI. Phaedo 60 e ; vgl. Apol 55 c ; Crito 44a. 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 59 



vor ernsterem oder weniger ernstem Schaden bewahrt worden war. 
Daher er denn fest davon überzeugt war, daß diese wunderbare 
Stimme nur von der höchsten Gottheit ausgehen könne: von jener 
höchsten Vernunft, die, einem kunstreichen Meister vergleichbar, die 
Welt hervorbringe und in Ordnung halte, ihm, Sokrates, aber 
offenbar ihre Fürsorge ganz besonders angedeihen lasse, weshalb er 
sich denn auch, ihres Schutzes gewiß und in diesem Schutz geborgen, 
aller Besorgnis vor irgendwelchen irdischen Gefahren durchaus ent- 
schlagen dürfe. Doch darf dies nicht so ausgelegt werden, als hätte 
sich Sokrates etwa um irdische Dinge überhaupt nicht gekümmert: 
vielmehr galt gerade ihnen und ihrer Verbesserung nahezu sein 
ganzes Trachten und Wirken. 

Daran, daß Sokrates seine Bürgerpflicht im Krieg wie im Frieden 
vorbildlich erfüllt hat, ist nicht zu zweifeln: die Beschwerden des 
Winterfeldzugs von Potidaia (43 1 bis 429) ertrug er wie kein anderer, 
auf dem Rückzug von Delion (404) bewies er die größte Ruhe und 
Umsicht "• Als erlöster Vorsitzender der Volksversammlung (40b) 
trotzte er ganz allein dem Toben der Menge, die unbeliebten An- 
geklagten ein ihnen gesetzlich zustehendes Recht verkürzen wollte,- 
und unter der Herrschaft der Dreißig (404) weigerte er auf jede 
Gefahr hin dem Befehl Gehorsam, an einer gesetzwidrigen Verhaf- 
tung teilzunehmend Aus freien Stücken hat sich Sokrates am Staats- 
leben freilich nicht beteiligt,^ allein der Lebensplan, dem er sein 
eigenes Leben unterwarf, sollte nicht nur ihn selbst der irdischen 
Zufriedenheit so nahe als möglich bringen: indem er auch andere 

12 8) PI. Gastm. M f4L; vgl. Apol. *Se; Charm. 153«; Xen. Erinn. IV 4, 1. 

152) PI- AJ?0L _5» Berichtete paßt nicht zu seinem mAnm. 150 

r^in^^SerTauch würde eine Beziehung auf dieses anderen 
aSSSL^TSSF^ widersprechen (vgl. v. WiWowitz, Piaton I, .„«. 



■ 




4° H. Gomperz 

von der Richtigkeit dieses Lebensplanes zu überzeugen suchte, wollte 
er mittelbar auch den gesamten Zustand seiner Vaterstadt verbessern. 
Dieser Lebensplan hatte, ganz im allgemeinen betrachtet, den 
Vorsatz zum Mittelpunkt, in Fragen, die menschlicher Einsicht nicht 
grundsätzlich entzogen sind (und in denen man am besten tut, den 
Winken der Gottheit oder aber Brauch und Herkommen zu folgen), 133 
sich nie an eine andere Richtschnur als an die der eigenen Einsicht 
zu halten, die Autorität des Wissens höher zu stellen und zu achten 
als jede andere: denn nur der Erkenntnis gemäßes Handeln ist 
richtiges Handeln, das Bewußtsein, richtig zu handeln, aber verleiht 
schon an und für sich eine Befriedigung, mit der keine andere sich 
vergleichen kann. 15 * Als das der Erkenntnis einzig gemäße Leben 
erweist sich nun aber ein Leben der Selbstbeherrschung und frei- 
willigen Entbehrung, Abhärtung und Ertüchtigung, denn nur das 
worauf wir verzichten gelernt haben, werden wir auch zu ent- 
behren wissen, wenn es uns abgeht, und auch ein wirklich starker 
Genuß stellt sich nur dann ein, wenn ihm eine lange und fühlbare 
Entbehrung vorangegangen ist. 155 Solchen gelegentlichen Genüssen 
wie Festmahlen und Trinkgelagen war denn auch Sokrates durchaus 
nicht abhold, ja seinem Ertüchtigungsplan fehlt überhaupt völlig 
jedweder lebens- und genußfeindliche Zug. Böse Zungen des nächsten 
Jahrhunderts behaupteten sogar, in seinen Beziehungen zum weib- 
lichen Geschlecht habe Sokrates eher ein Zuwenig als ein Zuviel 
an Selbstbeherrschung gezeigt, ohne daß er freilich etwas Unrechtes 
getan hätte — habe er sich doch, außer mit seiner Frau 136 , nur 
mit öffentlichen Dirnen eingelassen. Und diese Nachricht, so schlecht 




135) Xen. Erinn. I 1, 6 bis 9. 

134) Xen. Erinn. 16, g; IV 8, 6; Apol. 5. 

155) Xen. Erinn. I 2, 1; I 3, 5 bis 8; I 6, 2 bis 3; 6, 7; IV 5, 9 (vgl. Hiero I, 25; 
Dio Chrys. VI 12); PI. Gastm. 2igd; 220a. 

136) Eigentlich „seinen (beiden - ! Frauen" (?) yag zalg yapezau; ?) zatg xoivaig 
ZQfja&ai fidvaig) ; vgl. u. Anm. 199. Daß von Sokrates eigenen Frauen die Rede ist, 
erhellt aus den vorhergehenden Worten: ädixlav de pi) siQoaeivai. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 4. 1 

ihre Bezeugung auch ist,' 37 sagt doch insofern gewiß etwas Wahres, 
als Sokrates Verhältnisse der zuletzt erwähnten Art offenbar nur 
als unschädliche Vergnügungen beurteilt, leidenschaftliche Zuneigung 
dagegen sicherlich nur für Knaben empfunden hat. 138 Noch glaub- 
würdiger scheint es, wenn ihm eine Neigung zum Jähzorn nach- 
gesagt wird („vom Zorn erhitzt habe er sich in Wort und Tat 
zum Äußersten hinreißen lassen"). 159 Gewiß ist jedenfalls, daß einer 
seiner leidenschaftlichsten Bewunderer von ihm erzählte, ein Physio- 
gnomiker habe aus seiner Erscheinung geschlossen, es müßten ihm 
alle möglichen lasterhaften Neigungen eigen sein; darüber hätten 
seine Freunde gelacht, als welche wußten, wie hievon gerade das 
Gegenteil gelte; allein Sokrates selbst habe geantwortet: „Du hast 
ganz recht gesehen, nur bin ich über all diese Neigungen Herr 
geworden. " l¥> In der Tat hat Sokrates in seinen Zeitgenossen den 
Eindruck eines zu voller innerer Ruhe und Harmonie gelangten, 
durchaus glücklichen und zufriedenen Mannes hinterlassen. 1 * 1 

Zu einem Leben wie dem seinen wollte aber nun Sokrates auch 
die Jugend erziehen, ja er war überzeugt, auf diesem und nur auf 
diesem Wege nicht nur deren eigenes Glück, vielmehr auch das 
der Stadt befördern zu können. Zwar wird man nicht sagen dürfen, 
daß Sokrates die für ihn bezeichnenden Gespräche ausschließlich 
mit jungen Leuten führte: abgesehen davon, daß auch zu seinem 

157) Aristoxenos Frg. 28 Müller. 

138) Xen. Erinn. I 3, 14; II 1, 5; II 2, 4 (vgl. Antisthenes bei Xen. Gastm. IV 58 
und bei Diog. Laert. VI 3). 

139) Aristoxenos Frg. 28 Müller. Wenn dieser sich treilich für das Schlechte, das 
er Sokrates wie andern großen Männern nachsagte, auf Erzählungen seines Vaters 
Spintharos berief, so halte ich das für literarische Fiktion; für die Darstellung des 
Verhältnisses zwischen Sokrates und Archelaos hat er offenbar aus schriftlichen 
Quellen geschöpft, das aus ihnen Geschöpfte aber mit dem Schmutze seines Übel- 
wollens getrübt und nicht anders werden auch seine übrigen Nachrichten zu be- 
urteilen sein. 

140) Über die Geschichte vom Physiognomiker Zopyros, die allem Vermuten nach 
aus dem gleichnamigen Gespräch des Phaidon stammt, s. Zeller, Ph. d. Griech. II 1*, 64» 
und v. Wilamowitz, Hermes XIV 1 87 f. 

141) Xen. Erinn. I 6, 14; IV 8, 11;* PI. Phaedo s 8e - 




4 2 H. Gomperz 

engeren Kreise ältere Freunde wie Kriton gehörten, wie auch davon, 
daß er wohl auch zu manchen Älteren, wie vor allem zu dem 
großen Tragiker Euripides, in rein freundschaftlicher Beziehung 
stand, kennen wir neben den Gesprächen, in denen Sokrates Jüngere 
belehrt, auch solche, in denen er von Älteren oder Gleichaltrigen 
zu lernen sucht. Es sind das dann regelmäßig Meister irgend einer 
Kunst: Maler, Bildhauer, Panzerschmiede, 1 * 2 vor allem aber natürlich 
die Meister der vornehmsten und eben damals neu aufgekommenen 
Kunst, die berufsmäßigen Lehrer der Rede- und der Staatskunst. 143 
Solchen nähert sich Sokrates, indem er ihnen zu verstehen gibt, er 
fühle sich in irgend einer Frage völlig unwissend und erwarte von 
ihnen sehnlichst endgültige Belehrung; dann legt er ihnen seine 
Frage vor. In einzelnen Fällen mag er sich dann wohl bei der er- 
teilten Antwort beruhigt haben j 1 ** meist bildete diese nur den Aus- 
gangspunkt zu neuer Fragestellung — und siehe da, Frage reiht 
sich an Frage, aus Belehrung heischenden werden widerlegende 
Fragen, immer entschiedener reißt Sokrates die Führung des Ge- 
sprächs an sich, zum Schluß stellt sich's heraus, daß der Meister 
und Lehrer gewiß nicht mehr, eher weit weniger weiß als der 
fragende Schüler, so daß, wenn schon zuletzt beide nichts Rechtes 
wissen mögen, Sokrates doch insofern der Klügere ist, „als erwengstens 

142) Xen. Erinn. III 10; vgl. PI. Apol. 22c ff. 

143) Gespräche mit Sophisten bei Xenophon, Erinn. I, 6 (Antiphon) und IV 4 
(Hippias) wie bei Piaton (Euthydemos, Protagoras, Gorgias, Hippias, Kratylos in 
den gleichnamigen Dialogen, dazu noch Thrasymachos im Staat); dann mit Poli- 
tikern (Xen. Erinn. I 2, 33 ff.; III 2; III 3; III 4; PI. Apol 22b ff.), weiter mit 
Dichtern (PI. Apol. 22 a) und Rhapsoden (Piatons Ion), endlich mit einem Fach- 
mann des religiösen Formel- und Opferwesens (Piatons Euthyphron). Dazu, wenn 
man will, noch mit dem Mathematiker Theodoros in Piatons Theaetet (um die 
ohne Zweifel von Piaton erdichteten Gespräche mit Pythagoreern und Eleaten nicht 
zu nennen). 

144) Die Nachrichten, die ich Sophistik und Rhetorik S. 90 ff. zusammengestellt 
habe, geben Anlaß zu dem Gedanken, Sokrates möge sich so öfters z. B. dem 
Sophisten Prodikos gegenüber verhalten haben, dessen Untersuchungen über die Be- 
deutungsunterschiede der Wörter den sokratischen Fragen nach dem Wesen des 
Guten, Anständigen, Gerechten usw. ohne Zweifel die Bahn geebnet haben. 



_ 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 45 

dies eine weiß, daß er nichts weiß". 145 Meist handelt sich 's dabei 
um die Frage nach dem Wesen eines sittlichen Grundbegriffs: „Du 
willst die jungen Leute lehren, rechtschaffen sein; wie also erklärst 
du das Wesen der Rechtschaffenheit, was ist rechtschaffen? Nicht 
töten, nicht täuschen? Aber im Krieg müssen wir doch die Feinde 
töten und täuschen. Die Freunde nicht täuschen? Aber müssen wir 
nicht einen Kranken täuschen, um ihm listig das Heilmittel ein- 
zuflößen, das er sich wissentlich zu trinken weigert? . . . Du weißt 
also nicht, was Rechtschaffenheit ist? Wie willst du sie dann lehren?" 
Im Mittelpunkt der Sokratischen Wirksamkeit steht trotz alledem 
sein Verhältnis zur Jugend. Seine Gespräche mit dieser unterscheiden 
sich allerdings nicht grundsätzlich von den soeben gekennzeichneten: 
der hier wiedergegebene Gedankengang findet sich ebensowohl in 
einer Unterredung mit einem Jüngling wie in einer solchen mit 
einem Lehrer der Rhetorik.'* 6 Allein das Gespräch findet in beiden 
Fällen nicht die gleiche Fortsetzung, es führt zu anderen Wirkungen, 
es hebt sich vor allem von einem ganz verschiedenen Gefühls- 
hintergrund ab. Während der bloßgestellte Lehrer von Sokrates 
mehr oder weniger aufgebracht scheidet, pflegt der seiner Unwissen- 
heit überführte Jüngling in sich zu gehen: er sieht ein, daß er sich 
für das tätige, vor allem für das öffentliche Leben nicht eignet, 
solang er noch nicht einmal die Grundbegriffe der Lebensführung 
ihrem Wesen nach richtig zu erklären vermag; Sokrates unterstützt 
diese Einsicht, indem er ihm vorhält, daß er sich um lauter Neben- 
sachen bemüht, statt um die eine Hauptsache, wenn er von Ruhm, 
Macht und Reichtum träumt statt von dem, was ganz allein zu Ruhm, 
Macht und Reichtum führen, aber auch ganz allein ihren Besitz 
zu einem ersprießlichen und darum wünschenswerten machen kann: 



145) PI. Apol. 21 d. 

146) Xen. Erinn. IV 2, 15 bis 18; PI. Staat I, 551c. Vgl. auch PI. Über Gerechtig- 
keit 374 b ff. 



J 





44 H. Gomperz 

von der Ausbildung seines Innern, dem Reifen seiner Erkenntnis! 
Und da bricht dann wohl ein gut veranlagter Jüngling schluchzend 
in sich zusammen 147 und schließt sich auf Gedeih und Verderb dem 
Sokrates an, wird zu einem „Freund", einem Jünger des Meisters! 
Über dem Verhältnis des Meisters zu seinen Jüngern, seinen 
„Freunden" aber schwebt, mehr oder weniger fühlbar, mehr oder 
weniger ausgesprochen, ein Hauch leidenschaftlicher Knabenliebe: 
einmal nähert sich Sokrates dem Jüngling geradezu als der erklärte 
Anbeter, der ihn schon lange verfolgt und schweigend bewundert; 
ein anderesmal ist er nur leidenschaftlich erregt durch den Anblick 
seiner Jugendblüte; ein drittes Mal hat es ihm nur der Lerneifer 
oder die Frühreife seines Mitunterredners angetan. 1 * 8 Darin aber 
sind all unsere Zeugen einig, daß sie Sokrates die höchste Empfäng- 
lichkeit für Knabenschönheit beilegen, 1 * 9 ja ihn in „immerwährender 
Verliebtheit" dahinleben lassen. 150 Ebenso freilich auch darin, daß 
er niemals auch nur den schwächsten Versuch gemacht hat, einen 
Knaben körperlich zu besitzen: gerade den, den er am heftigsten 
liebte, läßt Piaton erzählen, er habe sich dem Sokrates förmlich an- 
getragen, sei eine Nacht lang mit ihm unter einer Decke gelegen, 
allein als er sich am Morgen erhob, sei es nicht anders gewesen, 
als hätte er bei seinem Vater oder seinem älteren Bruder ge- 
legen.' 5 Ja, auch als Grundsatz hat Sokrates es ausgesprochen: die 
körperliche Vereinigung mit dem geliebten Knaben sei etwas 
Schweinisches, 152 ja schon das Verlangen nach ihr mache den Lie- 
benden unfrei, erniedrige ihn zu einem Bettler, einem Sklaven des 

147) PI. Gastm. 215c; Aischines aus Sphettos, Frg. 9 bis 10 Dittmar; vgl. Xen. 
Erinn. IV 2, 25; PI. Apol. 29«*; Kleitophon 407a ff. = Dio Chrys. XIII 16. 

148) Alkibiades (PI. Protag. 309a; Gorg. 481 d); Charmides (PI. Charm. 154c); 
Thcaitetos in Piatons gleichnamigem Gespräch; vgl. Xen. Erinn. IV 1, 2. 

149) Xen. Gastm. IV, 27 bis 28; vgl. Erinn. I 3, 12 bis 13; PI. Charm. i55<:de ; 
Phaedr. 25711. 

150) Xen. Erinn. II 6, 28; Gastm. VIII, 1 bis 2; PI. Charmides 154b. 

151) PI. Gastm. 2i8bbis aigd. Vgl. Xen. Erinn. I 3, 14. 

152) Xen. Erinn. 1 2, 50. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 45 

Geliebten: 153 der wahrhaft Edle liebt nur mit der Seele und liebt 
auch nur die Seele des geliebten Knaben; einzig und allein darauf 
ist er bedacht, diesen klüger und einsichtiger, eben damit aber auch 
besser und glücklicher zu machen. 154 

Die Jünglinge, die Sokrates so für sich gewonnen hatte, hingen 
ihm vielfach auch ihrerseits leidenschaftlich, manche nicht ohne 



153) Xen. Erinn. I 2, 29; I 3, 11; Gastm. VIII, 23. Daher soll denn auch Sokrates 
der Umgang mit einem ungeliebten Knaben immer noch weniger unheilvoll er- 
schienen sein als der mit einem geliebten (Xen. Erinn. I 3, 14). 

154) Xen. Erinn. II 6, 30 bis 52; IV 1, 2; Gastm. VIII, 12 bis 42; PI. Phaedr. 256*6; 
Staat 405 abc. DJ e besonders in Xenophons „Gastmahl" und in Platons „Phaidros" 
vorgetragene Lehre des Sokrates. der geliebte Knabe solle sich dem Liebhaber nicht 
körperlich hingeben, beide sollten sich mit der rein seelischen Liebe begnügen, wird 
erstaunlicherweise noch immer ganz allgemein mit der in Platons „Gastmahl" von 
Pausanias vertretenen Ansicht verwechselt, der Geliebte solle sich nur dem Liebhaber 
körperlich hingeben, der nicht bloß seinen Körper, sondern auch seine Seele liebt 
(PI. Gastm. 181 b ff.). Da Pausanias die Meinung, auch die Hingabe an den die Seele 
liebenden Liebhaber sei tadelnswert, ausdrücklich zurückweist (Ebd. 182»: 182c) 
diese Hingabe vielmehr förmlich billigt (Ebd. 185 b), steht es hiemit im besten Ein- 
klang, wenn Sokrates bei Xenophon (Gastm. VIII, 32) dem Pausanias nachsagt, er 
habe jene verteidigt, die ihr sinnliches Verlangen nach dem Besitz schöner Knaben 
nicht zu beherrschen verstehen — mag nun der xenophontische Sokrates den Stand- 
punkt des Pausanias aus Piaton kennen (was nicht wahrscheinlich ist, da VIIL, st* 
dem Pausanias ein Argument geliehen wird, das bei Plato 178^ ff. vielmehr Phaidros 
benutzt) oder aus dem „Archelaos" des Antisthenes (Diog. Laert. VI 18 — denn aus 
diesem könnte die Erzählung von Archelaos, Pausanias und Agathon bei Aelian 
V. H. II 21 stammen) oder mag wirklich — und das ist immerhin das wahrschein- 
lichste — „Pausanias, der Liebhaber des Agathon" (PI. Protagoras 515 de) eine Rede 
über Knabenliebe verfaßt haben (deswegen müßte sie noch nicht einmal aufgezeichnet 
worden sein; daß Athenaios V, 2i6f von einer solchen Aufzeichnung nichts weiß, be- 
weist jedenfalls nicht das Geringste). Damit, daß sich Sokrates in der Beurteilung 
der körperlichen Knabenliebe zu „Pausanias" in schärfstem Gegensatz befand, ver- 
trägt sich natürlich aufs beste, daß er ihm die Unterscheidung eines doppelten Eros 
und einer doppelten Aphrodite entlehnte: diese Unterscheidung bedeutet eben beiden 
etwas durchaus anderes. „Pausanias" hatte (PI. Gastm. 180 d ff.) den Umstand, daß Hesiod 
die Aphrodite einmal aus dem Blute des Himmelsgottes Uranos entstehen, einmal 
von Zeus erzeugt werden läßt, dazu benutzt, jener ersten „himmlischen" Liebes- 
göttin das leidenschaftliche Verlangen nach dauernder leiblicher und geistiger Lebens- 
gemeinschaft mit einem schönen und edlen Knaben zuzuordnen, während er der 
„gewöhnlichen" Aphrodite nur die rein sinnliche Begierde nach dem fleischlichen 
Umgang mit schönen Knaben oder auch Weibern zuwies; Sokrates dagegen (Xen. 
Gastm. VIII, 9 ff.) versteht unter der „gewöhnlichen" Liebe jedes Verlangen nach 
dem körperlichen Besitz des Geliebten und als „himmlische" Liebe gilt ihm nur 
die rein und ausschließliche seelische Neigung — kurz das, was wir darum .,pla- 
tonische" Liebe nennen, weil auch Piaton im „Phaidros" den Sokrates die hier ge- 
kennzeichnete Ansicht aussprechen läßt. 



4" H. Gomperz 

deutliche Anzeichen von Verliebtheit, an: 155 es erschien ganz natür- 
lich, daß auch sie als „Liebhaber des Sokrates" bezeichnet werden 
konnten.' 56 Und so lebten denn Meister und Jünger in enger Lebens- 
gemeinschaft, meist geradezu „ihre Tage zusammen verbringend", 157 
indem sie teils gemeinschaftlich die Schriften der Dichter lasen 
und deren Weisheitssprüche auf ihre Haltbarkeit prüften, 158 teils 
öffentliche Orte wie Turnplätze, Ringschulen u. dgl. aufsuchten, wo 
Sokrates von den Älteren oder Jüngeren diesen oder jenen ins Ge- 
spräch zu ziehen pflegte — ein Gespräch, dem dann der ganze 
Chor seiner Jünger mit leidenschaftlicher Spannung folgte. 159 Soweit 
Sokrates mit den wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit- 
genossen vertraut war, überlieferte er diese auch jenen seiner Jünger, 
denen es hierum zu tun war und die, seiner Meinung nach, aus 
ihnen Nutzen ziehen konnten; 160 soweit er sich auf einem Sonder- 

155) Antisthenes bei Xen. Gastm. VIII, 4 bis 6; Apollodor bei PI. Gastm. i 7 2e- 
vgl. über Chairephon PI. Charm. 155b; Apol. 21a. 

156) PI. Gastm. i73 b ; vgl. Xen. Apol. 28. 

157) Xen. Erinn. I 4, 1 ; Gastm. IV, 44. 

158) Xen. Erinn. I 6, 14; vgl. PI. Gorg. 485^. Daß unter den ..alten Weisen" vor 
allem die Dichter zu verstehen sind, erhellt aus PI. Phaedr. 255 bc : Hipparch 228b ff • 
Lysis 214a; lo 532«!; Staat II, 565c. rj a ß Sokrates sich in der Tat gern auf Dichter- 
stellen berief und diese dann oft recht gewaltsam in seinem Sinne deutete, beweisen 
wohl zur Geniige die Darstellungen seiner Jünger. Denn da deutet er: Homer bei 
Xenophon dreimal (Erinn. I 2, 58; II 6, 10 ff.; Gastm. VIII 28 ff.), bei Piaton siebenmal 
(Cratyl. 592a; 402 d ; Theaet. 152; kl. Hippias 570*; Staat I, 5348b; ni, 40 4 bc ; Minos 
3»9 b ff 0; Hesiod bei Xenophon viermal (Erinn. I 2, 5-; I 5, 5; H ,, 20 ; IV 1, 20), bei 
Piaton einmal (Minos 520 d; vgl. aber auch Charm. 163'bc); Orpheus bei Platonzweimal 
(Phaedo 6gcd ; Cratyl. 402=); Theognis bei Xenophon (Gastm. II, 4; vgl. Erinn. I 2, 20) 
und Piaton (Mcno 95 d ff.) je einmal; Simonides bei Piaton zweimal (Protag. 359«= ff.; 
Staat 1,331c ff.) und ebenso Pindar (Theaet. 175*; Meno 8ibc). 

159) Siehe das o. Anm. 155 über Apollodor Gesagte. 

160) Daß seine Jünger bei Sokrates auch Rechnen, Raumlehre und Redekunst 
lernten, habe ich in dem ersten der beiden Anm. 119 genannten Aufsätze aus der Über- 
einstimmung der Darstellungen eben dieser Jünger mit den spöttischen Anspielungen 
der zeitgenössischen Komiker nachgewiesen. Auf dieselbe Art läßt sich feststellen, 
daß Sokrates sie gelegentlich auch über grammatische Fragen belehrte (Grammati- 
sches im eigentlichen Sinn sowie die grammatischen Neuerungen des Protagoras 
Anstoph. Wolken 681 sowie 666, 851, 678, 1251 ; Antisthenes Frg. XIV/2 Winckelmann; 
PI. Theaet. 2o6d : Cratyl. 591 c ; Phaedr. 267c; richtige Abgrenzung der Wortbedeutungen 
gegenemander in der Art des Prodikos Aristoph. Wolken 741 ; Antisthenes Frg XII/i 
Wmckelmann; Xen. Erinn. III ,4, 2; IV 2, 22; vgl. Oec. VI 4 und 12; PI. Cratyl. 4 2 5 abc ; 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 47 

gebiet eigener Rückständigkeit bewußt war, wies er die jungen 
Leute an geeignete Fachlehrer und tat sich auf diese seine Meister- 
schaft in der „Kuppel"- und „Vermittlungs"-Kunst nicht wenig zu 
Gute. 161 Doch besagte all das zuletzt wenig neben der sittlichen 
Bildung, die ihnen aus der Lehre wie aus dem Vorbild des Meisters 
zufloß. Diese Lehre läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen. 
Wahrhaft wertvoll ist einzig die Erkenntnis: ihr allein verdankt 
es der Mensch, wenn er (anders als ganz gelegentlich und zufällig) 
etwas Gutes oder Nützliches erreicht und davon (anders als ganz 
gelegentlich und zufällig) einen vernünftigen, zweckmäßigen Ge- 
brauch macht. Erkenntnis bedeutet aber: ein Gebiet so beherr- 
schen, wie der Meister einer Kunst, eines Handwerks, das seine 
beherrscht — in jeder Lage wissen, was richtiger- und zweck- 
mäßigerweise zu tun ist und über das Warum und Wozu dieses 
Tuns Rechenschaft ablegen können! So verhält sich der Arzt 
in Fragen der Gesundheit, der Steuermann in Fragen der See- 
fahrt, der Schuster in Fragen der Fußbekleidung 162 — wenn 
anders diese alle ihre Kunst, ihr Handwerk verstehen! Nur wer 
sich in allen Fragen des tätigen Lebens — des eigenen wie des 
öffentlichen — ebenso verhielte, wer Mut, Selbstbeherrschung, 
Gerechtigkeit so verstünde, wie der Schuster das Schuhemachen 
und auch ebenso wie er davon Rechenschaft geben könnte — 
nur ein solcher verdiente ein wahrhaft tüchtiger Mann 163 und 

Charm. 165^; Ladies 197a; Enthyd. 277 c; Protag. 539a ff.), ferner über Metrik (Aristoph. 
Wolken 658 bis 651; PI. Phileb. 17«*; Io 534C; Staat III, 598 d bis 400b) und vielleicht 
auch über Gedächtniskunst (Aristoph. Wolken 414 und 483; Xen. Erinn. IV 1, 2: PI. 
Staat VI, 486 cd ), beides wohl vorzugsweise nach dem Vorgang des Hippias. 

161) Xen. Erinn. IV 7, 1 ; Gastm. III 10; IV 57 bis 64; Oec. III 14; PI. Theaet. 151 b. 

162) Vorliebe des Sokrates für Erläuterung seiner Lehre durch das Beispiel der 
Schuster und anderen Handwerksmeister besonders hervorgehoben bei Xen. Erinn. 
I *> 57; IV 4> 5 und p l- Gastm. 221«; Gorg. 491 a. Anspielung auf das ständige Schuster- 
beispiel vielleicht auch schon bei Ameipsias Frg. IX, 5 Kock. 

163) xaXög xe xai dyaftög, als Stichwort der Sokratiker schon bei Aristophanes, 
Wolken 101, verhöhnt. In ihren Schriften findet sich's unzählige Male, als besonders 




48 H. Gomperz 

nützlicher Bürger zu heißen. 164 Die Erkenntnis des Guten — 
denn auf sie zielt ja diese Forderung zuletzt — verleiht aber 
auch allein Anspruch auf alle Art von Autorität. Ein Vater 
z. B. — oder ein anderer älterer Verwandter — kann von 
seinen Söhnen nur insofern Unterordnung erwarten und verlangen, 
als er ihnen auch an Einsicht überlegen ist; in Dingen, von denen 
ein anderer mehr versteht, werden sie sich notgedrungen an dessen 
Urteil halten müssen: läßt sich doch auch niemand von einem ver- 
wandten Arzt behandeln, wenn er ihn für weniger sachkundig 
hält als einen fremden! Und Sokrates machte kein Hehl daraus, 
daß er in Fragen der Erziehung z. B. sich für einen berufeneren 
Ratgeber der Jugend hielt als die Eltern und Verwandten der 
meisten unter ihnen. 105 Allein was vom Vater gilt, das gilt erst 
recht vom Herrscher: nicht der verdient so zu heißen, den das Los 
oder die Wahl einer unverständigen Menge an die Stelle eines 
Führers gesetzt hat; der wahre Herrscher ist immer und einzig jener, 
der das Herrschen versteht, mag er nun an hervorragender Stelle 
stehen oder nicht 166 (regelmäßigerweise setzt sich ja sein Einfluß 
durch, auch wenn das nicht der Fall ist: 

Denn „den Staat beherrscht stets jener, der am meisten Einsicht hat ; lfi7 

handeln aber die jeweiligen Machthaber seinem Rate zuwider, so 
schaden sie sich nur selbst). 168 Und was für den Herrscher zu- 
trifft, das trifft auch für 's Gesetz zu: ein Gesetz ist gerade soviel wert, 

kennzeichnend liebe ich nur heraus: Aischines aus Sphettos Frg. 55 Dittmar; Xen. 
Erinn. I 2, 48; I 6, 14; II 6, 15; II 9 , 8; IV 2, 25; IV 8. 11; Gastm. II, 4; VIII, 3; 
Oec. VI, 12 bis VII, 5; PI. Gorg. 470c. 

164) Xen. Erinn. I 1, 16; IV 6. 6; PI. Ueb. Gerechtigkeit 575c; Aristoteles, Eth. 
Nie. VI 13, 1144b 17; Eth. Eud. I 5, 1216b 2 ; VII 13, 1246b 5 6; Große Moral I 1, 

ll82a JÖ; 1183b li; I 15, 1198a 10. 

165) Xen. Erinn. I 2, 49 ff.; Apol. 20 f. 

166) Xen. Erinn. I 2, 9 ff.; III 9, 10 bis 11; PI. Gorg. 455a ff.; Staat VI, 487 = ; 
vgl. auch Staatsmann 297 e ff. und Antisthenes bei Diog. Laert. VI 8. 

167) Euripides, Iph. Aul. 375, vermutlich unter dem Einfluß des Sokrates. 

168) Xen. Erinn. III 9, 12 bis 13; PI. Gorg. 466c ff. 




Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



49 



nicht mehr noch weniger, als die Einsicht des Gesetzgebers j 1 * an 
und für sich ist es nichts als ein hingeschriebener Satz; 170 die wahre 
Verfassung ist jene, die der Einsichtige als die richtige erkennt.' 71 
Ja, der alleinige und unbedingte Herrschaftsanspruch der Einsicht 
bewährt sich selbst am Göttlichen: wahrhaft g öttlich is t nur die 
Vernunft, die, zweckmäßig und planvoll wie ein weiser uncUiebe- 
voller Meister, 173 das Weltall gebaut hat und lenkt; die Götter, von 
denen die Dichter singen, verdienen Anerkennung und Anbetung 
nur, sofern sie bloß als verschiedene Namen der einen, wahren 
Gottheit aufgefaßt werden, unter denen diese nach dem Brauche 
der einzelnen Städte, Sippen und Gilden verehrt wird. 175 

Der wahrhaft Einsichtige wird das, was in den einzelnen Städten 
als recht und sittlich gilt, je jiachdem es vern ü nftig ist oder nicht, 
gutheißen oder verwerfen. Und zwar wird er als vernünftig vor 
allem jene Gebote und Verbote gelten lassen, deren Übertretung 
sich jm dem Übertreter g anz vonselbst rächt; dennTben^ürch~die^e 
ifire kunstreiche, ja unfehlbare Wirksamkeit beweisen sie, daß sie 
aus zwar unaufgezeichneten, dafür aber wahrhaft allgemeinen und 
natürlichen, zuletzt von der göttlichen Vernunft gegebenen Gesetzen 
fließen. 174 Dahin gehört vor allem das Gebot, die Eltern zu ehren, 
dies aber erweist nähere Überlegung als einen besonderen Fall des 
allgemeineren Gebotes, sich für empfangene Wohltaten dankbar zu 
erzeigen (denn die Eltern schenken den Kindern das Leben in be- 
wußter Absicht: bloß zur Befriedigung sinnlichen Begehrens würde 
niemand heiraten); wer aber dies Gebot übertritt, straft sich selbst, 

169) PI. Minos 3173b. 

o7i ^ is ^ h ! nes aus S P hett0S Prg. 51 Dittmar; PI. Phaedr. 278c; vgl. Staatsmann 
298 d ff. Aufreizung gegen die geltenden Staatsgesetze wird Sokrates in fast wörtlicher 
Übereinstimmung vorgeworfen bei Aristoplianes, Wolken 1400 und bei Xen Erinn 
I 2, 9 ff. 

171) Antisthenes, Bruchst. unbek. Herkunft Nr. VI Winckelmann 

172) Xen. Erinn. I 4, 7; PI. Staat VII, 530a; X, 596c ff.; vgl. Tim. 41a. 

173) Xen. Erinn. IV 3, 1; vgl. Gastm. VIII, 9. 

174) Xen. Erinn. IV 4, 19 bis 24. 

Iraago X/i 




5° 



H. Gomperz 



denn er beraubt sich seiner besten Freunde. 175 Natürlich ist auch 
die Liebe zu den Geschwistern: sie findet sich schon im Tierreich. 176 
Ebenso das Gebot, die Freunde zu lieben und ihnen zu helfen; doch 
läßt sich dies nur befolgen, wo nicht Neid und Nebenbuhlerschaft 
die natürliche menschliche Hilfsbedürftigkeit durchkreuzen: daher 
können in wahrer Freundschaft miteinander nur Einsichtige leben, 
die sich selbst zu beherrschen, ihre Bedürfnisse und Wünsche ein- 
zuschränken verstehen, soweit deren Befriedigung die Freunde in 
Streit verwickeln könnte (gemeinnützige Zwecke werden alle ge- 
meinsam verfolgen) 5 wahre Freunde müssen demnach die meisten 
Besitztümer miteinander teilen und sich zur gemeinsamen Leitung 
der Stadt verbünden. 177 Ein natürliches Verbot ist aber endlich auch 
jenes, das die Blutschande, den Umgang von Eltern und Kindern, 
verpönt: denn zwischen Eltern und Kindern besteht notwendig ein 
bedeutender Altersunterschied, es können daher nicht beide gleich- 
zeitig in der vollen Blüte ihrer Zeugungskraft stehen, die Kinder 
nicht voll zeugungskräftiger Eltern aber entarten und da entartete 
Kinder das größte Unglück sind, das Eltern treffen kann, so strafen 
sie sich, indem sie solche in die Welt setzen, selbst. 178 Da nun aber 
diese Begründung auf das Verbot des Umgangs zwischen Geschwistern 
nicht zutrifft, 179 so ist dies für ein bloß menschliches zu halten, 
von dem der Einsichtige aus triftigem Anlaß Ausnahmen bewilligen 
sollte. 180 Ebenfalls ein bloß menschliches Gebot, jedoch ein durchaus 



175) Ebd. IV 4, 20 und 24; II 2, 2 bis 4. 

176) Ebd. II 5, 4. 

177) Ebd. II 6, 21 bis 26; PI. Staat III, 416«!; 4178b. 

178) Xen. Erinn. IV 4, 20 bis 23. 

179) Sie paßt in Wahrheit nicht einmal auf das Verbot des Umgangs zwischen 
Vater und Tochter. Sokrates selbst heiratete eine Frau, die allem Vermuten nach seine 
Tochter hätte sein können, denn er war nahe an 55 (siehe u. Anm. 199), und sie gebar 
ihm noch drei Söhne. 

180) PI. Staat V, 461«. Vgl. Aristoph. Wolken 1571. Dies bezieht sich auf den 
„Aiolos" des Euripides, in dem die Zulässigkeit der Geschwisterehe grundsätzlich 
verteidigt wurde (Bruchst. Gr. Trag. S. 365 Nauckl. Dabei mögen Gründe, wie wir 



törichtes und darum in einer vernünftig geordneten Stadt abzu- 
schaffendes betrifft die grundsätzliche Ausschließung der Frau von 
Kriegsdienst und Staatsleben: jeder Mensch hat seine körperlichen 
und geistigen Kräfte nach Möglichkeit auszubilden; auf keines 
Menschen Kraft und Einsicht soll die Stadt von vornherein ver- 
zichte^ durch Übung uud Unterricht kann es die Frau viel weiter 
bringen, als die Athener annehmen: auch Frauen wären daher 
gymnastisch auszubilden (wie in Sparta) und in Wissenschaften und 
Künsten zu unterweisen; mögen sie es dabei im Durchschnitt nicht 
so weit bringen wie die Männer, viele Frauen werden doch viel 
mehr leisten als manche Männer, einige mögen sogar zur Leitung 
der Stadt heranzuziehen sein: die Brauchbarkeit eines Menschen 
hängt eben zuletzt von seiner Erkenntnisfähigkeit ab und in Be- 
ziehung auf diese besteht zwischen den Geschlechtern wohl ein 
Grad-, jedoch kein Wesensunterschied. 181 Die möglichste Ausbüdung 
aller leiblichen und geistigen Anlagen der Frau wird vor allem 
auch ihren Kindern zugute kommen. Um eine möglichst tüchtige 
Nachkommenschaft zu erzielen, sollten dann einsichtige Herrscher 
möglichst tüchtige, zueinander passende Männer und Weiber plan- 
mäßig zusammentun. 182 Zu den verwerflichen, weil unverständigen 

sie für Sokrates voraussetzen müssen, vorgebracht worden sein. Euripides Frg 24 
Nauck klingt wie die Antwort auf einen solchen Grund. Anlaß zu der ganzen Er- 
örterung mag die angebliche Geschwisterehe des von dem Sokratiker Kritias (Fr£ 8 
JUiels) höchlich bewunderten Spartanerfreundes Kimon (Plutarch, Kimon 4) gegeben 
hanen, die noch 422 dem Gedächtnis so wenig entschwunden war, daß Eupolis 
(rrg. 208 Kock) auf sie anspielen konnte. 

181) Antisthenes, Brachst, unbek. Herk. Nr. II Winckelmann; Xen. Gastm II o- 
«•Staat V, 45 i de; 455 de ; 457a b. Die Lehre geht gewiß nicht auf Antisthenes oder 
«aton zurück, deren Meinung von der Frau eine weit geringere war .vgl Xen 
Oastm. IV 5 8; Antisth. Brachst, unbek. Herk. Nr. XVII; XVIII W.; Tim. «6»? Wenn 
Piaton, wie v. Wilamowitz (Piaton I 395 ) richtig anmerkt, die für seine Zeit fast un- 
,™3T F ° rderun & nach grundsätzlicher Gleichstellung von Weib und Mann doch 
SUrTf m,t C T er S ewissen Schwunglosigkeit erhebt, so erklärt sich das eben 
Sokrätes tt. " SeJnC F ° rdenU1 ^ *•*»«** *e seines Meisters 

PI ^^^^^i £J« - **» ** * »"~. 

4* 



M 



H. Gomperz 

Bräuchen endUch rechnete Sekretes (so scheint es*) auch alle jene, 
die den Menschen den Leichen ihrer Angehörigen gegenüber ein 
gewisses ehrerbietiges Verhalten zur Pflicht machen; denn der Wert 
des Menschen besteht in seiner Denkkraft: der Denkkraft beraubt 
ist der menschliche Leib nicht wertvoller als jene seiner Bestandteile, 
die wir eben darum, wed sie verstandlos sind, durchaus mit Recht 
geringschätzen und so rasch als möglich entfernen: so wie wir Haare 
ohneweiters scheren, Nägel ohneweiters schneiden, Speichek ohne 
weitere Umstände ausspucken, so sollte man auch den Leichnam, 
selbst des nächsten Angehörigen, ohneweiters verbrennen oder ver- 

" Diese Stellung zu den überlieferten Vorschriften fließt ja nun 
wohl notwendig aus der höchsten und wertvollsten Erkenntnis, der 
Erkenntnis des Nützlichen und Guten, allein sie ist doch nicht der 
Hauptertrag, den diese Erkenntnis uns abwirft: als solcher ist 
vielmehr die Einsicht in die Notwendigkeit jenes Lebens der Selbst- 
beherrschung anzusehen, mit dem Sokrates den Jünglingen bei- 
spielgebend voranging. Denn die Vernunft zeigt uns: das wichtigste 
im Leben ist, sich selbst beherrschen, sich üben und abhärten, Un- 
bilden ertragen, Genüsse entbehren lernen.-" Werden doch selbst 
Genüsse erst nach vorangegangener Entbehrung wahrhaft genossen, 
wie die alltägliche Erfahrung des Essens und Trinkens, des Schlafs 
und des Liebesgenusses genugsam dartut, * und dazu gesellt sich nun 
„och das Wohlgefühl, zu wissen, daß man der Erkenntnis gemäß 
lebt und in der von ihr geforderten Vollkommenheit fortschreitet. 

. Wer sich selbst beherrscht, ist aber auch allein wahrhaft frei: denn 
wer sich über seine Bedürfnisse, Wünsche, Begierden nicht hinweg- 
^setzenjeknrt^^rwh^^ 

!4) *»• Erinn. IV 5, 9i vgl. Hier» I ., und .5! Du> Chrys. VI 

186) Siehe o. Anm. 154- 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



55 



•wird er doch von ihnen sogar daran gehindert, seiner eigenen 
Einsicht nachzuleben, da er jedem ersten besten, ihm gerade er- . 
reichbaren Genüsse wehrlos ausgeliefert ist. 187 Allein nicht nur von 
seinen eigenen Begierden wird ein solcher geknechtet, vielmehr auch 
von den anderen, der Selbstbeherrschung in höherem Grade fähigen 

3 8 7 ) Xen. Erinn. IV 2, 22; IV 5, 2 bis 7; 10 bis 11; PI. Gorg. 491 d ? vgl Xen. 
Erinn. III 9, 12 bis 15; W- Lysis 210b; Gorg. 466^. Kann aber nach echt somati- 
scher Lehre überhaupt jemand daran gehindert werden, seiner eigenen Einsicht nach- 
zuleben, zu tun, was er selbst für richtig hält, selbst als das Richtige und Gute, also 
zuletzt auch als das für ihn selbst Vorteilhafte erkennt? Darauf ist, wie ich glaube, 
im Sinne dieser Lehre folgendes zu erwidern: 

1. Daß die Menschen vielfach ihren Leidenschaften nachgeben, auch wo sie ihnen 
nicht nachgeben sollten, daß somit an ihnen „Mangel an Selbstbeherrschung 
(.Akrasie«) festzustellen ist, ist eine Tatsache: eben diese Akrasie ist es, gegen 
die sich der Mensch vor allem zur Wehr setzen sollte: Xen. Erinn. I 5, »> 55 
IV 5. 6 und 11 (auch III 9, 4, denn auch hier bedeutet äHoarste nur zuch l los , 
und die angeblich mit dieser Eigenschaft vereinbare Verständigkeit der Zuchtlosen 
wird durch ooyovg besonders ausgedrückt). , • 

2. Mangel an Selbstbeherrschung (Akrasie) . beruht aber zuletzt auf Mangel an Ein- 
sicht denn niemand tut etwas, obzwar er deutlich einsieht, daß es ihm .schadet 
wenn solche deutliche Einsicht in einem Menschen lebt, s ° k ^ °J "f,^ 
zugleich doch über sie hinwegsetzen; niemand tut also das Unrichtige und sieht 
gleichzeitig deutlich ein, daß es das Unrichtige ist; deutliche Emsich kann un- 
möglich von irgend einer andern Macht überwunden werden, sie ist vielmehr 
m menschhchef Dingen selbst die höchste Macht; versteht man demnach unter 

Mangel an Selbstbeherrschung" („Akrasie") dies daß ein M ensch sich von 
seiner Leidenschaft gegen seine bessere Einsacht fortreißen laßt _ so ist zu 
sagen, daß ein solcher Mangel an Selbstbeherrschung (diese „Akrasie' »»•»«£ 
ren Sinne) undenkbar, daß sie ein Unding ist: Xen. Erinn III .9, 4, IV £ b, 
PI Protag. 545-5 55*°; 558*« 5 Kleitophon ^ Üb. Gerechtigkeit 575*5 Ar sto- 
teles Eth § Nic III 7 1x15b H5 ™ *>, »45* «5 *** Moral 1*»%* 7iH 
i 20 ob 25 . TAn der ersten dieser Stellen folge ich der handschrifthchen Über- 
lieferung mit zwei geringfügigen Änderungen: „Zwischen Verstand und Sittl ch- 
ketkalte er keinen Unterschied, sondern das Rechte erkennen und es tun, 
daß Unrecht erkennen und es unterlassen (tÖ, **,U*A* «d*>M Hg*"*"* 
ro^ac avzots *al xo %ä ala xe ä, dMxa, sUaße^ai) erschien ihm als das 
Wesen der Verständigkeit und zugleich der Sittlichkeit (oocpov xs xot owpgov- 
dies statt oebVQOVa). Auf die.Frage aber, ob er denn nicht jenen, die das Rechte 
kennen, es aber nicht tun, Verstand zu-, aber Selbstbeherrschung abspreche, er- 
widerte er: Ebensowenig wie ich ihnen Verstand ab- und Selbstberrschung zu- 
spreche (r, äoöcpcvg re y.al **#** - *« statt axparagj Denn alle Menschen 
tun das, was sie für zuträglich halten; wer also etwas Unrechtes tut besitzt 
weder Verstand noch Sittlichkeit." (Zu Ende von III 9^ 5 »t wie zu Anfang zu 
lesen: nävza 00 a äQETfji ngäTTerai)]. 
3. Könnte es einen Menschen, der zwar das Unrichtige tut, dabei aber doch das 
Richtige einsieht, überhaupt geben, so müßte er ja immer noch besser sein, als 
wer es auch nicht einmal einsähe — so wie, wer bewußt schlecht schreibt oder 



1 n\ 



n 



54 



H. Gomperz 



und darum auch zur Herrschaft über andere geeigneteren Menschen. 
Denn wie wäre der eine Herrschernatur, der von seinen dringendsten 
Pflichten, den wichtigsten Entschlüssen und Taten jetzt durch 

rechnet, immer noch ein besserer Schreiber oder Rechner ist als nvvnhwßt 
schlecht schreibt oder rechnet. Das wollen die Leute nicht zugeben: sie meinen, 
Itt JSZ Unrechte tut, müsse noch schlechter sein Die Lösung hegt eben 
darin, daß das überhaupt nicht vorkommt: Xen. Ermn. IV ., i 9 bis 20; PL kl. 

4. D^deuüifhe Einsicht von der Leidenschaft nicht überwunden werden kan^ soll 
fcdoch nicht besagen, daß die Kraft, die Leidenschaft zu überwinden mithin 
lieh Tu beh rrschel einfach durch einen Akt des Verstandes durch Hören und 
Verstehen einer Wahrheit, erworben werden kann. Denn nichts Gutes ist ohne 
Mühe ÜTd Anstrengimg zu erreichen (Xen. Erinn. II 1, .8) und so heißt, deutlich«, 
EinsfchTgewinnen^der lernen, immer auch, sich diese Emsic Jt einprägen sie 
einüben; fernen« und „üben« gehören unt™nbar zusammen: Xe.Enn, I 5, 5, 
TT fi ««■ TTT o *■ III Q, 14. (vgl. Cyrup. VIII 8, 15; De rc equ. \ III, 1), FI. Staat 
Vn's^V^Lus erkSrttich'nun'aber dies, woraus insbesondere die ebenso 
Lbes'treitbare Tatsache, daß auch solche die ^e Schadhchkev^ einer Leiden 
schalt schon einmal eingesehen hatten, desungeachtet wiederum von ihr fort 

5 I^J^^Ln^ herüber eingehend aus (Erinn I ,, i 9 bis ,3) «nd 
ftellt ftS S in einem Menschen, der sich nicht zur Selbstbeherrschung erzogen 
hat die Leidenschaft diese Selbstbeherrschung untergräbt und ilm auch das was 
e schön eingeben hatte, vergessen läßt - eine Feststellung die eben als solche, 
zwar ulugbar richtig und auch nicht unsokratisch ist, indes die aufgeworfene 
££. überhaupt nichf, dalier auch nicht im Sinne des Sokrates zu beantworten 

6. SÄM- Antwort scheint im allgemeinen dahin zu gehen, daO .Stählung 
des Willens und Selbsterziehung die unerläßlichen Bedingungen für den Er- 
werb deutlicher sittlicher Erkenntnis sind, während uns ***»*%*?£* 
den Tag hinein an der Gewinnung solcher Erkenntnis hindert (Xen. Erinn. 
II 1, .0). Näher aber sollen wir uns dies, so scheint es folgendermaßen denken 
Die E n rieht, die unser Tun regeln soll und es, wenn sie deutlich genug ist auch 
wrklich regelt, hat zum Gegenstand Menge und Stärke des W°hlgefuhls oder 
Mißbehagens, das aus diesem oder jenem Tun für uns erfolgt - w b erst 
künftig eintretendes Wohlgefühl oder Mißbehagen um nichts geringer zu achte* 
STals das unmittelbar bevorstehende (PI. Protag. 356"; 557 ab )- *» Gegensatz 
hilzu ist es das Wesen der Leidenschaft^ uns immer nur das *«£^«f» « 
bevorstehende Wohlgefühl oder Mißbehagen vorzustellen (Xen. Erinn. IV 5, 10 
EndeTwer sich nuf nicht durch Übung dazu erzogen hat, sich diesem ihn auf 
das unmittelbar Bevorstehende ablenkenden Einfluß der Leidenschaft entgegen- 
zute3en, der mag zwar das Richtige sehen (aicMvsöMt, allein er wird 
auSS -in, ihm g mit seinemDenken dauernd zugewandt zu bleiben (**»*&*, 
und sfeh völlig mit seiner Richtigkeit zu durchdringen (y.ara^aVBCV am«) 
2t o wird er dem Ansturm der Leidenschaft eben darum erhegen, weil sie 
52 an der Gewinnung einer wirklich deutlichen Einsicht verhindert; nur durch 
lU nLTäBigLfiXZidäW »» Selbstbeherrschung hätte er sich vor diesem ihrem, 

Se^lSchfSübenden Einfluß bewahren können (Xen. Erinn. IV 5, 6). 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 55 



Hunger, dann wieder durch Durst, heute durch Müdigkeit, morgen 
durch Verliebtheit abgezogen wird? 188 Nur solche vielmehr, die sich 
beherrschen gelernt haben, vermögen auch andere zu beherrschen, 
nur wer zu entbehren versteht, wird auf jeden Sondervorteil ver- 
zichten und sich in wahrer Freund- und Kameradschaft einem 
herrschenden Stande einordnen wollen, 189 daher denn insofern von 
allen Hellenen allein die Spartaner die rechte Art kennen, Herren 
zu erziehen. 190 Ein solcher wahrhaft freier Mann aber wird nicht 
nur nicht von seinen Leidenschaften, nicht nur nicht von andern 
Menschen geknechtet werden, ihm wird auch das Schicksal nichts 
anzuhaben vermögen: das einzige, was ihm wahrhaft wertvoll ist, 
seine Erkenntnis, vermag es ihm nicht zu rauben; unvermeidliche 
Entbehrungen hat er zu ertragen gelernt 191 und das Bewußtsein, 
stets seine Aufgabe erfüllt, seiner Einsicht gemäß gehandelt zu haben, 
wird ihm jede Unbül versüßen: „Für den wahrhaft Tüchtigen gibt 
es kein Übel, weder im Leben noch nach dem Tode." 192 Wenn sich 
die Jünger des Sokrates bemühen, diese wahre Tüchtigkeit zu erringen, 
so werden sie nicht nur selbst ein freies und glückliches Leben 
führen, vielmehr auch als die berufenen Herrscher für dasjenige 
sorgen, was der Herrschaft wahres Ziel ist: das Gedeihen der Stadt 
und das Glück der Bürger! 193 

Für diese Lehre scheint Sokrates anfangs nicht allzuviele Anhänger 
gefunden zu ha ben, großenteil sj nthusiastische Jünglinge, aus un- 

lg g£ nf >' iiÄ & m, gl w *. v g i. x en . ew i s, * 

190) Xen. Erinn. IV 4, 15; Apol. 15; «• Grit0 5* e - 

S SÄrfÜ SUMS* VI Winc.eln.ann; PI Apol. J^. 
192; Amiswei , , Q2 ab- IX *8oS X 615*; vgl. Xen. Oec. IV 25; 

2£2£ I 14a! Th. Gomperx, Hellenika II 239; Arch. f. Gesch. d. Phuos. XX 479 ) 

2 o 4 e 9 f 3 Xe" Erinn. III », l tb \i VL Euthydem 2 9 x ab (vgl. Apelt S^ 101, Anm. 58 semer 
Übersetzung); vgl. Isokrates, Rede VIII, 91; Aristoteles, Poltik V 8, 1510b 40 ff. 



56 



H. Gomperz 



M 



bemittelten Familien stammend wie er selbst, die ihn an Strenge 
der Selbstüberwindung noch zu überbieten suchten. 19 * Da er einem 
bürgerlichen Erwerb wohl nie nachgegangen ist und sein väter- 
liches Erbteil, wenn er ein solches jemals erhielt, bald aufgezehrt 
worden war, so scheint er zeitlebens in der Hauptsache von frei- 
willigen Gaben seiner Freunde und Jünger gelebt zu haben: 195 so- 
lange also diese selbst zumeist arme Schlucker waren, herrschte im 
Sokratischen Kreise un verhüllte Not: um 425 wurde dieser Kreis 
auf der komischen Bühne wegen seiner Bettelhaftigkeit vielfach 
verhöhnt. 196 Darin scheint in den folgenden Jahren ein gewisser 
Wandel eingetreten zu sein: für die von Sokrates verherrlichte spar- 
tanische Erziehung begeisterten sich auch Abkömmlinge vornehmer 
Männer 5 damit mag es zusammenhängen, daß in seinen späteren 
Jahren gerade auch „die Söhne der Reichsten" sich unter seine 



194,) Das erhellt für Sokrates', so viel wir wissen, ersten und leidenschaftlichsten 
Anhänger, den „verrückten" Chairephon (PI. Charm. 153b; vgl. Apol. aia; Xen. Erinn. 
IT 5, 14 bis 17) aus Kratinos Prg. 202 ; Eupolis Frg. 239 Kock; Aristophanes, Wespen 1412 ; 
Wolken 103 f.; 503 f.; Vögel 1263; 1296; Frg. 573 Kock: offenbar sah der bedauerns- 
werte Sokratesjünger infolge seiner übermäßigen Selbstqual auffallend schlecht aus 
— mehr tot als lebendig, eher wie ein Geist als wie ein Mensch, so daß er unter 
Benutzung eines im Volksglauben begründeten und schon bei Homer vorkommenden 
Sinnbilds für die abgeschiedene Seele (0. Keller, Die antike Tierwelt II 11 f.; 
Odyssee XXIV 6 ff.) mit einer Fledermaus verglichen werden konnte. 

195) Aristophanes, Wolken 98; 1146 f.; Eupolis Frg. 352 Kock; Xen. Apol. ij; 
PI. Apol. 32b; vgl. Xen. Oec. II, 8. Damit steht keineswegs im Widerspruch, und 
Piaton a. a. O. sowie auch Xenophon (Erinn. I 2, 60 und I 6, 15) bezeugen es aus- 
drücklich, daß Sokrates für seinen Unterricht oder richtiger seinen Umgang Bezahlung 
nie verlangt, sie nie zur Bedingung dieses Umgangs gemacht hat: dies wirft ihm 
denn auch bei Xenophon (Erinn. I 6, 3 und 11 bis 12) der Weisheitslehrer Antiphon 
(als Verletzung der gemeinsamen Standespflicht) in bitteren Worten vor. 

196) Ameipsias Frg. 9; Eupolis Frg. 352 und 361 Kock; Aristophanes, Wolken 175 ff. 
v. Wilamowitz, Piaton I 95 f. führt hiegegen an, daß doch Sokrates um dieselbe Zeit 
die Schlacht bei Delion als Schwerbewaffneter mitmachte (siehe o. Anm. 129), somit 
„in der Lage war", „sich die volle Rüstung zu halten". Ich glaube, es ist umgekehrt zu 
schließen: da Sokrates um 423 öffentlich als Bettler verhöhnt wurde, wird er den 
Feldzug von 424 schwerlich als Hoplit mitgemacht haben. Daß seine Junger, die 
damals Kinder waren, dies etwa vierzig Jahre später behaupteten und vermutlich auch 
glaubten, beweist nicht viel; in der Tat haben denn auch in ihren Angaben über 
Sokrates' Kriegstaten schon Antisthenes imd Piaton einander widersprochen, was auch 
schon im Altertum bemerkt worden ist (Demochares bei Athenaios V, 215 c ff.). 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



57 



Jünger mengten. 197 Diese werden auch reichlicher für ihn gesorgt 
und es ihm so ermöglicht haben, sich, spät genug, einen eigenen 
Hausstand zu gründen: 198 um 414, etwa fünfundfünfzig Jahre alt, 
heiratete er Xanthippe, die ihm bald darauf einen Knaben und nach 
einigen Jahren deren noch zwei gebar und von der wir sonst nur 
wissen, daß sie den Zeitgenossen als ein wohlmeinendes, jedoch 
über die Maßen zänkisches und unverträgliches Geschöpf erschien. 1 " 



197) PI. Apol. 23 c. 

1 98) Bei alledem blieb er so gut wie mittellos oder wurde es doch wieder, als 
die etwaige, gewiß nicht bedeutende Mitgift seiner Frau aufgezehrt war und die 
Wirkungen des athenischen Zusammenbruchs seit dem letzten Kriegsjahr (vgl. Xen. 
Erirui. II 7, 2) auch für ihn sich fühlbar machten: für die Zeit seines Prozesses (599) 
hebt Piaton seine Armut mit großem Nachdruck hervor (Apol. 23b«:; 51 c ; 56a) mid fuhrt 
insbesondere an, er hätte eine Geldstrafe von mehr als einer Mine (d. i. einem Pfund) 
Silbers nicht aus eigenen Mitteln aufbringen können. Und dazu stimmt es recht gut, 
wenn Sokrates bei Xen. Oec. II, 3 den Erlös seines gesamten Besitztums „einschließ- 
lich des Hauses und bei einem guten Verkauf" auf höchsten fünf Minen schätzt. 

igg) Die Zeit der Verheiratung sowie der Geburt der Knaben erhellt mit an- 
nähernder Genauigkeit aus Piatons Angaben über deren Alter Apol. 34a. Über das 
Wesen der Xanthippe verdienen nur Xenophons Angaben Beachtung (Erinn. II 2, 7 
bis 10; Gasrm. II, 10). Die im Altertum so behebte Geschichte von Sokrates' Doppel- 
ehe ist längst als Fabel erkannt. Auch ihr Urheber ist wohl Aristoxenos (Frg. 29 bis 
30 Müller), der die auch in der (angeblich) aristotelischen Schrift über den Adel 
(Frg. 82 bis 95 Rose) erwähnte Nachricht bösartig mißdeutet zu haben scheint, daß 
Sokrates eine mittellose Witwe, Myrto, die Enkelin, genauer die „Tochterstochter" 
(oder die Tochter? Diese hatte Sokrates offenbar in einem uns verlorenen Gespräch 
gelobt: Aristoteles Frg. 92 R.; allein warum sollte er nicht, wenn von Aristeides' 
Enkelin die Rede war, auch deren Mutter rühmend erwähnt haben?) des großen 
Aristeides, in sein Haus aufgenommen habe. Nun hören wir in Piatons „Laches", daß 
um 420 (siehe o. Anm. 106) des Aristeides Sohn Lysimachos, ein sehr bejahrter (gewiß 
fast fünfundsiebzigjähriger) Mann, Sokrates, den Solm seines Jugendfreundes und 
Altersgenossen Sophroniskos, seit vielen Jahren aus den Augen verlören hatte. Daraus 
geht hervor: 1. daß zwischen Sokrates und der Familie' des Aristeides wirklich 
eine Beziehung bestand, die es ganz glaublich erscheinen ließe, wenn er sich eines 
hilfsbedürftigen Gliedes dieser Familie angenommen hätte; 2. daß er Myrto kaum 
früher als etwa 415, d. h. zur Zeit seiner Verheiratung, in sein Haus aufgenommen 
haben kann, denn solang ihr Oheim (oder gar ihr Bruder!) Lysimachos lebte, konnte 
sie nicht auf Sokrates' Hilfe angewiesen sein (auch Lysimachos' Sohn, der jüngere 
Aristeides, hat nach PI. Theaet. 151 a — vgl. Theages 130a — mit Sokrates verkehrt, 
scheint indes ein wenig rühmliches Ende genommen zu haben: solang es ihm gut 
ging, hatte nach griechischen Begriffen auch er sich um seine Kusine zu kümmern!) 
und überdies konnte sonst Piaton Lysimachos nicht sprechen lassen, als habe er seit 
Jahrzehnten von Sokrates nichts mehr gehört; 3. daß Myrto mindestens so alt war 
wie Sokrates (denn als die Tochter von Lysimachos' Schwester wird sie kaum mehr 
als fünfundzwanzig Jahre jünger gewesen sein als dieser — um so weniger, da Lysi- 



machos' Vater Aristeides, wenn Lysimachos wirklich nicht vor 495 geboren ist, damals 
selbst schon den Fünfzig nahe gewesen sein muß), daß sie also zu der Zeit, da 
Sokrates sie in sein Haus genommen haben soll, kaum weniger als fünfundfunfzig 
Jahre gezählt haben wird (die Tochter des Aristeides sogar fünfundsiebzig!). Be- 
gründet wäre somit die Eifersucht, die die Alten der Xanthippe gegen sie nach- 
sagten (Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg. 12 Nauck), kaum gewesen! Im übrigen mag 
„Tante Myrto" durch weibliche Handarbeiten zum Unterhalt der Familie beigetragen 
haben, wie eben auf Sokrates' Rat die in ähnlicher Lage befindlichen Verwandten 
des Aristarchos (Xen. Erinn. n 7, 7 ff.)- 

200) Aristophanes, Vögel 1281 ff. 

201) Aischines' Rede gegen Timarch, 173. 






^-8 H. Gomperz 

Allein Sokrates' Berührung mit vornehmen, spartafreundlichen Fa- 
milien hatte für ihn auch andere, minder erfreuliche Folgen. 
Zwischen Athen und Sparta bestand seit fünfzehn Jahren ein fast 
ununterbrochener Kriegszustand ; der Wunsch, Athen möge die 
spartanische Zucht einführen, war an sich mit dem andern, es möge 
sich Sparta im Felde gewachsen, ja überlegen zeigen, durchaus ver- 
träglich; allein ebensowohl konnte er sich doch auch mit dem Be- 
streben verknüpfen, den Sieg des Gegners zu befördern, die Zu- 
stände der Heimat mit dessen Hilfe zu erneuern. Daß Sokrates 
selbst „Lakonist" in diesem Sinne gewesen sei, ist nicht wahr- 
scheinlich, allein unter seinen Anhängern kann es auch an solchen 
Spartanerfreunden nicht gefehlt haben. Eben zu der Zeit, da es 
ihm ermöglicht ward, sich zu verheiraten, ward er auf der Bühne 
als der Liebling der jugendlichen Hochverräter gebrandmarkt. 200 
Und was noch mehr besagen will, als zehn Jahre später der Wider- 
stand Athens zusammenbrach, die Spartaner Athen besetzten, da 
war es — mit anderen, Gleichgesinnten — einer seiner ältesten 
Genossen, Kritias, der Sohn des Kallaischros, den sie, unter dem 
Schutz ihrer Waffen, den Athenern zum Herren setzten. Von diesem 
Augenblick an war Sokrates in den Augen des durchschnittlichen 
athenischen Vaterlandsfreundes vor allem der Erzieher des Verräters 
Kritias, und eben dies ward die letzte Ursache seines Untergangs. 20 
Denn Kritias und seine Genossen — denen Sokrates' freimütige Kritik 



V 



_ 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



59 



inzwischen freilich unbequem genug geworden war 802 — wurden 
vertrieben; Kritias fiel; seine Gegner gelangten zur Macht. Auch 
gegen den nun Sechsundsechzig) ährigen Sokrates zog sich ein Un- 
gewitter zusammen. Zunächst freiüch schützte ihn die allgemeine 
politische Amnestie, mit der der Bürgerkrieg geendet hatte. Doch 
dieser Schutz versagte, sobald die Gegner nicht-politische Eigen- 
tümlichkeiten seiner Lehre zu Zielpunkten ihres Angriffs wählten. 
Und solche zu finden, war nicht schwer. Im Jahre 599, als Sokrates 
siebzig Jahre alt geworden war, brachte Anytos, ein Führer der 
Volkspartei, der Kritias zum Opfer gefallen war, im Verein mit 
zwei Genossen 203 gegen ihn die Klage ein, er erkenne die Staats- 
götter nicht (als von der höchsten Gottheit verschiedene Wesen) 
an und ergebe sich der Verehrung neuer Gottheiten (indem er die 
Stimme der göttlichen Allvernunft zu vernehmen vorgebe); er ver- 
gifte ferner den Geist der Jugend (indem er sie gegen die unbedingte 
Autorität der Eltern und der bestehenden Staatsverfassung aufreize, 
Wahl und Auslosung der höchsten Staatsbeamten ins Lächerliche 
ziehe). Unwahres war damit nicht behauptet; ob das Behauptete 
bei dem damaligen Stand der athenischen Gesetzgebung strafbar 
war, ist eine Frage, die nur die Rechtshistoriker angeht; daß sich 
aber Sokrates keiner üblen Absicht bewußt, vielmehr fest überzeugt 
war, stets nach seiner besten Einsicht das Wohl der Stadt, das ihrer 
Bürger und auch sein eigenes befördert zu haben, ist gewiß. Über 
sein Verhalten vor Gericht und seine Verteidigung ist uns mancherlei 
überliefert, allein diese Nachrichten stimmen nur in wenigen Punkten 
überein und sind nicht hinreichend beglaubigt. Nur soviel ist gewiß, 
daß sein Verhalten vor Gericht in den Zuhörern den Eindruck 
vollster Furchtlosigkeit und unerschütterlicher Zuversicht zurück- 



202) Xen. Erinn. I, 2, 33 bis 3 8 - 

203) Daß Meletos die Klage nur als erster unterzeichnete, Anytos ihre Seele war, 
ergibt sich vor allem aus Piaton, Brief VII, 325b; vgl. Xen. Apol. 29. 






60 H. Gomperz 

gelassen hat, ja er schien ihnen die Richter eher zu reizen als zu. 
begütigen, den Tod, mit dem ihn die Klage bedrohte, eher zu suchen 
als zu fliehen. 204 Er hatte seiner Einsicht gemäß gehandelt, die 
Absicht der göttlichen Vernunft erfüllt: um die Folgen, so empfand 
man's, bekümmerte er sich nicht. So ward denn die Todesstrafe 
über ihn ausgesprochen. Doch auch dies vermochte seinen Gleichmut, 
seine Ruhe und Heiterkeit nicht zu trüben. Denn den Tod fürchtete 
er nicht. Vieles spricht sogar dafür, daß er der Ansicht zuneigte, 
dem Tüchtigen (d. h. dem Einsichtigen) möge diese seine Tüchtig- 
keit auch im Jenseits zugute kommen. 205 So führte er denn auch 
noch im Kerker mit seinen Freunden Gespräche derselben Art wie 
sonst — fast bis zu seiner letzten Stunde. Nur eines machte ihm 
vorübergehend Sorge: hatte er wirklich, wie er es bisher annahm, 
das oft wiederholte Gebot seiner Träume : „Sokrates, mach' Musik 
und sei fleißig!" erfüllt, indem er sein Leben der Erkenntnis, zu- 
letzt also den Musen weihte? Sicherer schien es ihm nun doch, 
dem Gebot auch buchstäblich nachzuleben und so dichtete er — 
es fiel ihm nicht leicht — ein Gedicht an Apollon und brachte 



204) Xen. Erinn. IV 8, 6 bis 10; Apol. 1 bis 9 ; PL Apol. 34c bis 37 a. 

205) Antisthenes schrieb über die Einrichtimg der Unterwelt (Diog. Laert. IV 17). 
Auch PI. läßt - im „Gorgias", im „Phaidon", im „Staat", im „Phaidros" - seinen 
Sokrates das Jenseits immer wieder ausmalen. Das geschieht im großen und ganzen 
mit den Farben der orphischen Mysterien. Doch auch in seiner Verteidigungsrede, 
wie PI. sie wiedergibt, drängt sich, wie Taylor bemerkt hat (Varia Socratica p. 31;, 
Orphisches auffällig vor: die Seelen werden im Jenseits von Totenrichtern gerichtet 
(Apol. 41 a) und unter den Abgeschiedenen, denen Sokrates dort zu begegnen hofft, 
werden Orpheus und Musaios als erste, Homer und Hesiod erst nach ihnen genannt. 
Nun scheint es das Eigentümliche der orphischen im Gegensatze zu anderen Mysterien 
gewesen zu sein, daß sie dem sittlichen Wert des Menschen grö ßeren Einfluß auf 
sein jenseitiges Los einYänmtenr afr dem bloßen Vo rgang seiner Einw gihung; da kann 
es nicht unwa"nBch~eihlich heiDFnTTfeß-aTtrclT-SöTfätes, dessen gesamtes Denken sich 
um den Gegensatz von Tüchtigkeit und Untüchtigkeit bewegte, dieser Lehre ein 
gewisses Verständnis entgegengebracht, sie zum mindesten nicht von vornherein ab- 
gelehnt haben mag! Möglicherweise bezieht sich auf Beschäftigung mit der Unter- 
welt schon Aristophanes, Wolken 188 und 192 (vgl. PI. Apol. 18b; 19b; 25$); dagegen 
möchte ich aus Vögel 1555 ff. — einer Stelle, deren Witz auf ihrer Vieldeutigkeit 
beruht — nicht gerne weittragende Schlüsse ziehen. 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



61 



einige Fabeln des Aesop in Verse. 206 Als aber die letzte Stunde ge- 
kommen war, leerte er den Giftbecher mit unerschütterter Ruhe. 
Dann legte er sich hin und sein Körper erstarrte. Als der letzte 
Augenblick schon ganz nahe war, fiel ihm ein, daß er kurz vor der Ge- 
richtsverhandlung, dem allgemeinen Brauch gemäß, anläßlich eines 
Krankheitsfalles in seinem Hause, dem Asklepios einen Hahn ge- 
lobt hatte, falls der Kranke genese; das war geschehen, doch zur 
Darbringung des Opfers war er nicht mehr gekommen: jetzt ge- 
dachte er dieses uneingelösten Versprechens, und, fast schon hinüber- 
geschlummert, legte er seinem Freund Kriton ans Herz, an seiner 
statt das Versäumte nachzuholen. 207 Und dann entschlief er .... 
Dem Gefühl, das seine Jünger in diesem Augenblick ergriff, gibt 
Piaton Ausdruck: es schien ihnen, sagt er, 208 als wären sie ihres 
Vaters beraubt worden und müßten nun ihr ganzes weiteres Leben 
als Waisen verbringen. Wirklich blieb Sokrates den meisten unter 
ihnen beständiges, wenngleich unerreichtes Vorbild, und, soweit ihre 
Meinungen sonst auseinandergingen, über drei Punkte waren sie 
doch im wesentlichen einig: daß das Gute das letzte Ziel ist, Ein- 
sicht aber das Mittel zu seiner Erreichung; daß dem Einsichtigen 
und darum Tüchtigen die Herrschaft gebührt und daß sein Glück, 
seine Zufriedenheit von allem Äußeren unabhängig, gegen jede 
Wendung des Schicksals gefeit ist. 209 

An dem soeben vorgeführten Sachverhalt glaube ich nun gewisse 
Umstände wahrzunehmen, die sich mit ähnlichen, an anderen Per- 
sonen beobachteten Umständen vergleichen lassen und darum ge- 



206) PI. Phaedo 60c bis 61b. 

207) Ebd. 118 a, richtig erklärt von Wilamowitz, Piaton II 58. Zum Vergleich 
eines unerfüllten Gelöbnisses mit einer unbezahlten Schuld vgl. Staat I, 55 ib. 

208) PI. Phaedo 116 a. 

209) Jenes ergibt sich besonders aus einer Vergleichung von PI. Staat VI, 509b mit 
Eukleides bei Diog. Laert. II 106, dieses habe ich in meinem Buch „Die Lebens- 
auffassung der griechischen Philosophen imd das Ideal der inneren Freiheit" (2. Auf- 
lage, Jena 1915) gezeigt. 




6 2 H. Gomperz 

eignet sind, wenigstens auf einige Züge im Wesen des Sokrates 
ein wenig Licht zu werfen. Diese Beobachtungen ordnen sich von 
selbst in zwei Gruppen: in den Mittelpunkt der einen Gruppe 
dürfen wir Sokrates' Empfänglichkeit für Knabenschönheit, in den 
der andern seine Hochschätzung der Handwerksmeister stellen. 

An und für sich war Sokrates ohne Zweifel für den Reiz beider 
Geschlechter empfänglich und diese doppelte Empfänglichkeit war 
ja auch in dem Kreis, in dem sich sein Leben abspielte, im vor- 
nehmen athenischen Bürgertum der zweiten Hälfte des fünften 
Jahrhunderts v. Chr., durchaus die Regel. Verliebt zwar war in 
der Regel nur der Mann in den Knaben, den er denn auch mit 
allen Mitteln körperlich zu besitzen strebte, allein das hinderte ihn 
keineswegs daran, mit einer fremden Hetäre ein Verhältnis zu unter- 
halten und noch weniger daran, eine athenische Bürgerin zur Ehe- 
frau zu nehmen und mit ihr Kinder zu zeugen. Dies letztere tat 
denn auch Sokrates in reiferen Jahren und auch Verhältnisse der 
ersteren Art wurden ihm, wie wir hörten, nachgesagt. Wir dürfen 
vermuten, daß ihm besonders knabenhafte Frauen begehrenswert 
erschienen sein werden, denn einmal erwarten wir dies bei einem 
Bewunderer mädchenhafter Knabenschönheit von vornherein, dann 
aber hätte Sokrates, war' es nicht der Fall gewesen, schwerlich in 
der gymnastischen, ja auch nur in der verstandesmäßigen Aus- 
bildung der Frau die ihr förderlichste Erziehungsweise erblickt. 
Gewiß dagegen ist, daß er die Empfindungsweise seiner Umgebung 
auch dem eigenen Geschlecht gegenüber teilte: seine Jünger legen 
ihm höchste Empfänglichkeit für Knabenschönheit bei und lassen 
ihn bald in diesen, bald in jenen Jüngling verliebt sein. 

Allein an diesem Punkte biegt nun sein Verhalten von dem 

seiner Mitbürger scharf ab: während diesen insgesamt als höchstes 

, Ziel der körperliche Besitz des geliebten Knaben vor Augen steht, 

und sie sich höchstens zu dem Zugeständnis verstehen, der wahrhaft 



• 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



65 



Vornehme solle nur einen solchen Knaben zu besitzen streben, 
an dem ihm auch die Seele liebenswert erscheint, lehnt Sokrates 
den körperlichen Umgang mit Knaben überhaupt entschieden ab 
und erklärt vielmehr die „rein seelische" Liebe, die leidenschaft- 
liche Sorge um die Tüchtigkeit, das Seelenheil des Geliebten für 
die einzig wahre, die „himmlische Liebe". Und dem entspricht 
sein Leben: er verkehrt beständig mit Knaben und Jünglingen, ja 
tritt diesen vielfach ganz offen als ihr Liebhaber gegenüber, allein 
er geht bei alledem nicht etwa darauf aus, sich nun diese seine 
„Lieblinge" körperlich gefügig zu machen, er ist vielmehr unab- 
lässig um ihr Wohl bemüht, ermahnt und rügt sie, kurz macht 
ihre Tüchtigkeit zum Hauptinhalt seines Denkens, und zu den guten 
Lehren, die er ihnen gibt, gehört gerade auch die, der körperliche 
Besitz eines geliebten Knaben sei etwas „Schweinisches" und als 
solches unbedingt zu meiden! Das hatte dann einerseits zur Folge, 
daß dieser seltsame Liebhaber, der auf das eigentliche Endziel der 
übrigen Liebhaber von vornherein verzichtete, vielen Zeitgenossen 
den Liebhaber überhaupt nur zu spielen schien, so daß sie dann 
auch seine Liebeserklärungen bloß als Äußerungen „somatischer 
Ironie" verstanden. 210 Anderseits läßt sich kaum bezweifeln, daß 
gerade die Durchdringung der Sokratischen Tugendpredigt mit dem 
Geiste dieser eigenartig-leidenschaftlichen, aber doch völlig ver- 
klärten, zu rein seelischer Fürsorge emporgeläuterten Liebe auch zu 
ihrem unvergleichlichen Erfolge sehr viel, ja vielleicht das meiste 
beigetragen haben wird. Wenn diese Predigt den jungen Mann 
aufforderte, sich nicht so sehr um Nebensächliches und Äußeres 
zu bekümmern, vielmehr vor allem um die Hauptsache, die Aus- 
bildung seines eigenen Innern, die eigene Einsicht und Tüchtigkeit, 
so wich sie ja damit inhaltlich nicht allzuweit von den Ratschlägen 



210) PI. Gastm. 3i8<*. 



1 



64 H. Gomperz 

anderer Tugendlehrer ab: .wenn sie dessenungeachtet auf die athe- 
nischen Jünglinge so viel stärker wirkte als diese, so lag das ge- 
wiß vor allem daran, daß sie eben nicht bloß Predigt und Rat- 
schlag war, daß sich in ihr nicht bloß gereiftes Nachdenken und 
menschenfreundliches Wohlwollen, sondern über das alles hinaus 
auch noch der leidenschaftliche Anteil eines liebenden Herzens 
aussprach! 211 

Die Wirksamkeit des Sokrates wurzelt so unverkennbar in einer 
zu erzieherischer Leidenschaft emporgeläuterten („sublimierten") 
Knabenliebe. Diese Emporläuterung und Verklärung könnte nun, 
von vornherein, entweder eine mehr angeborene, vorwiegend in 
der Eigenart der geistig-leiblichen Anlage wurzelnde oder aber 
eine mehr erworbene, dieser Anlage in einem inneren Kampfe 
abgerungene sein. Die Frage, ob dies oder jenes zutraf, scheint mir 
für Sokrates entschieden zu werden durch die Tatsache, daß im 
Mittelpunkte seines Lebens- und Gedankenkreises der Begriff der 
Selbstbeherrschung steht. Das Wort, das Sokrates zu jenem 
Physiognomiker gesprochen haben soll: er sei seiner lasterhaften 
Neigungen Herr geworden, spiegelt nur den Eindruck wider, 
den sein Wesen in seinen Jüngern zurückgelassen hat und den es 
auch in uns noch zurückläßt: Sokrates hat sich selbst zur Selbst- 
beherrschung erzogen, seinen Willen durch Gewöhnung an Ent- 

211) Vgl. Sokrates' Antwort auf den Antn. 195 erwähnten Vorwurf des Sophisten 
Antiphon, er verlange für seinen Unterricht keine Bezahlung, bei Xen. Erinn. I 6, 15: 
„Mein lieber Antiphon, in unserem Kreise {naQ^jitv — das kann aber nicht wohl 
heißen: „bei uns in Athen", da Antiphon ja selbst Athener ist) denkt man über den 
Verkauf des Wissens wie über den der Schönheit: ein junger Mann, der sich dem 
ersten besten, der dafür bezahlen will, hingibt, prostituiert sich; läßt er sich dagegen 
die Freundschaft eines innerlich vornehmen Liebhabers gefallen, dann handelt er ver- 
nünftig. Ganz ebenso prostituiert sich auch der Weisheitslehrer, der sein Wissen dem 
ersten besten für Geld verkauft; wer sich dagegen einen wohlveranlagten jungen 
Mann dadurch zum Freund macht, daß er ihm beibringt, was ihm nützlich sein kann, 
benimmt sich wie ein anständiger Mensch." — Es ist allerdings anzunehmen, daß 
Sokrates im Gegensatze zu anderen Lehrern zuletzt darum von seinen Schülern Be- 
zahlung nicht verlangt hat, weil ihm der Umgang mit ihnen Herzenssache war! 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



65 



behrungen aller Art planmäßig gestählt, auch seinen Jüngern die 
Selbstbeherrschung als die Frucht planmäßiger Erziehung und Ge- 
wöhnung hingestellt; er war nicht frei von Stolz auf die bei dieser 
Selbsterziehung errungenen Erfolge, voll heftigen Tadels für jene, 
die solche Erfolge nicht aufzuweisen hatten — keine Spur von jener 
verstehenden und bescheidenen Milde, die wir dort erwarten müßten, 
wo die eigene Art als notwendiges, kampfloses Ergebnis einer aus- 
nahmsweise glücklichen Naturanlage empfunden und beurteilt 
würde! Und gewiß haben wir allen Grund anzunehmen, daß das 
eigentliche Ziel dieser Sokratischen Selbsterziehung eben die Über- 
windung des Verlangens nach dem körperlichen Besitze schöner 
Knaben gewesen ist. Denn gerade an diesem Punkte war er in 
seinem Leben wie in seiner Lehre weitaus am strengsten: schon 
die Alten machen kein Hehl daraus, daß Sokrates seiner Neigung, 
sich an Speis' und Trunk, ja wohl auch am Umgang mit Weibern 
zu erfreuen, gelegentlich die Zügel schießen ließ, die einzige Selbst- 
beschränkung, von der sie keine Ausnahme kennen, ist die, die er 
sich den geliebten Knaben gegenüber auferlegte; und auch als 
Lehrer hat er in allen übrigen Stücken bloße Mäßigung, in 
diesem einen völlige Enthaltung gefordert! Wir sind also wohl 
berechtigt, vom psychologischen Standpunkte aus in der Unter- 
drückung der körperlichen Knabenliebe die eigentliche Haupt- 
leistung der Sokratischen Selbstbeherrschung, in deren übrigen 
Äußerungen mehr nur Mittel zur Stählung und Erziehung des 
Willens im Dienste dieser Hauptaufgabe zu sehen. Und von 
eben diesem Standpunkte aus müssen wir mit dieser Bedeutung 
der Selbstbeherrschung im Leben des Sokrates wohl auch die 
Mittelpunktsstellung zusammenschauen, die sie in seiner Lehre 
einnimmt: den Mahnruf, sich vor allem andern die Selbstbeherr- 
schung zu erkämpfen, hat er an seine Jünger zuletzt doch wohl 
darum gerichtet, weil er selbst schwer um sie gerungen hatte 

Imago X/l * 



66 



H. Gomperz 



und sich durch den siegreichen Abschluß dieses Ringens befreit 

und beglückt fand! 

Bisher wurden vor allem Tatsachen festgestellt: die erzieherische 
Wirksamkeit des Sokrates wurzelt in dem Boden einer vergeistigten 
Knabenliebe; sein Leben und seine Lehre werden beherrscht von 
der Aufgabe der Selbstüberwindung. Und von diesen Tatsachen 
entfernten wir uns zum mindesten nicht weit durch den Schluß: 
eben jene Vergeistigung der Knabenliebe wird die Hauptleistung 
dieser Selbstüberwindung gewesen sein. Diesen festen Boden der 
Tatsächlichkeit müssen wir wohl verlassen und nach mehr oder 
weniger einleuchtenden Vermutungen greifen, wenn wir nun die 
Frage zu beantworten suchen: welche inneren Antriebe mögen 
Sokrates den Willen eingegeben und die Kraft verliehen haben, 
sein Verlangen nach dem körperlichen Besitz geliebter Knaben zu 
unterdrücken, sich selbst zu überwinden, seine Knabenliebe zu ver- 
geistigen ? 

Wir denken in einem solchen Falle zunächst an die Macht 
der empörten öffentlichen Meinung, das eigene Bewußtsein des 
sittlich Unerlaubten. Allein für den Fall des Sokrates scheint 
eine solche Erklärung von vornherein auszuscheiden: in dem ge- 
sellschaftlichen Kreis, in dem sein Leben verlief, verstand sich 
die ganz un vergeistigte oder doch nur wenig vergeistigte Knaben- 
liebe durchaus von selbst, galt keineswegs als etwas besonders 
Tadelnswertes; in der Sokratischen Enthaltsamkeit sahen denn 
auch die Zeitgenossen nicht etwa bloß ein seltenes Beispiel 
pflichtmäßiger Gewissenhaftigkeit, vielmehr ein beispielloses, un- 
vergleichliches Wunder! Auch die Annahme, Sokrates' körperliches 
Verlangen möchte im Grunde doch mehr dem anderen als dem 
eigenen Geschlecht gegolten, von dem wirklichen Besitz auch des 
schönsten und geliebtesten Knaben möchte ihn zuletzt doch ein. 
dunkles Widerstreben zurückgehalten haben, würde schwerlich das 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 67 



richtige treffen: wäre ihm der Verzicht auf den körperlichen Besitz 
schöner Knaben leicht gefallen, was sollte dann sein Lob der Selbst- 
beherrschung, seine Verherrlichung ihrer Mühen und Früchte 
eio-entlich bedeuten? . . . Und auch der Glanz mühsam errungener 
Selbstbezwingung, von dem seine Gestalt den Zeitgenossen umstrahlt 
schien, war schwerlich bloß eine durch Mißverständnis hervorge- 
rufene Täuschung! Sokrates selbst führt gegen die körperliche Knaben- 
liebe vor allem an, daß durch sie der Liebhaber unfrei, von seinem 
Liebling abhängig, auf dessen Laune angewiesen wird, und es wäre 
durchaus unrecht, das Gewicht zu unterschätzen, das für eine so 
freiheitsstolze Natur dieser Erwägung wirklich zukommen mußte. 
Allein so schwer wir es heut' einem Manne glauben würden, daß 
er aus keinem anderen Grund als bloß aus Stolz und Unabhängigkeits- 
gefühl sein ganzes Leben lang keine Frau berührt habe, so wenig 
wird uns doch auch für Sokrates jene Begründung als eine wirklich 
ausreichende erscheinen. Und in der Tat, mindestens noch eine 
andere Erklärung bietet sich dar. Sokrates war in dem Kreis, in 
dem er lebte, nicht geboren. Und dem athenischen Kleinbürgertum, 
dem er entstammte, war — wir sehen es aus der Komödie — die 
Knabenliebe immer fremd geblieben: die „gute Gesellschaft" Attikas 
hatte diese Gefühlsweise von den Dorern übernommen. 212 Könnte 
so nicht das, was Sokrates den Willen und die Kraft gab, sein Ver- 
langen nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben zu überwinden, 
der Geist seines Elternhauses, der Umgebung, in der er aufwuchs, 
gewesen sein? Und wenn er dem Kritias vorhielt, das Verlangen 
nach dem Umgang mit einem Knaben sei etwas Schweinisches, 
hören wir in diesen Worten etwa den Nachklang des Urteils, das 
jene Umgebung über diesen Umgang zu fällen pflegte, und das 
Sokrates von den athenischen Kleinbürgern seit seiner Kindheit zu 
vernehmen gewohnt war? 

212) Vgl Erich Bethe, Die dorische Knabenliebe, Rheinisches Museum LXII, 438 ff. 



68 H. Gomperz 



Daß dies die Quelle jenes Widerstrebens gewesen sei, das, ver- 
stärkt durch seinen Unabhängigkeitsdrang, den Sokrates gegen die 
ungehemmte Herrschaft sinnlicher Knabenliebe sich aufbäumen ließ, 
ist, ich wiederhole es, bloße Vermutung. Daß dagegen ein solches 
inneres Aufbäumen stattfand, daß Sokrates sich die Herrschaft über 
seinen sinnlichen Trieb in inneren Kämpfen mühsam errang, darf 
mit weit stärkerer Zuversicht behauptet werden. Und hieran knüpft 
sich nun eine weitere Frage, die ich freilich gleichfalls nicht durch, 
den Hinweis auf Tatsachen, vielmehr bloß durch den auf Mög- 
lichkeiten, beantworten kann: wenn denn in Sokrates' Seele schwere 
sittliche Kämpfe stattfanden, könnte nicht auch die Vorherrschaft 
sittlicher Fragestellungen in seinem Denken eben in ihnen ihren 
letzten Grund gehabt haben? — Tatsache ist, daß Sokrates in den 
Jahren seiner Reife die Energie seines Denkens ganz überwiegend 
Fragen wie diesen zuwandte: Was ist das Gute? Das Anständige? 
Das Rechte? Um dies zu erklären, pflegt man auf den Geist jener 
Zeit zu verweisen, die eben begonnen habe, ihre Aufmerksamkeit 
den Fragen des menschlichen Lebens zuzuwenden. Und dies mit 
Recht, sofern sich's darum handelt, den Widerhall zu verstehen, 
den Sokrates' sittliche Fragestellungen im Denken seiner Zeitge- 
nossen fanden. Soll dagegen begreiflich gemacht werden, wie gerade 
dieser bestimmte Mensch dahin gelangt sein mag, jene Fragen auf- 
zuwerfen, dem Ringen um ihre Lösung sein Leben zu weihen, 
dann besagt doch diese Antwort recht wenig. Unser Streben nach 
psychologischem Verständnis jedenfalls würde sich mehr befriedigt 
fühlen, dürften wir die Annahme machen, Sokrates habe sich die 
Frage: Was ist das Gute, das Anständige, das Rechte? nicht aus 
bloßer theoretischer Wißbegierde gestellt, vielmehr ursprünglich 
darum, weil er wirklich nicht wußte, was für ihn gut, anständig 
und recht sei, mit anderem Wort: wie er sich verhalten, sein Leben 
gestalten solle? Diese Voraussetzung nun ist in der Tatsache, daß 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 69 



Sokrates einen heftigen sinnlichen Trieb in sich niederzukämpfen 
hatte, zwar noch nicht enthalten, indes, wie ich glaube, doch mit 
einiger Wahrscheinlichkeit aus ihr zu folgern. Denn unsere 
sittlichen Kämpfe spielen sich doch wohl recht selten so ab, daß 
wir uns darüber, auf welcher Seite das Recht sei, von vornherein 
ein für allemal im klaren sind, und daß es uns nur schwer fällt, 
dieser unserer Einsicht nun auch in unserem Handeln Geltung zu 
verschaffen; weit häufiger so, daß auch der bekämpfte Trieb uns 
Gründe, die zu seiner Rechtfertigung dienen können, vor Augen 
stellt, so daß dann unser Urteil zwischen diesen Gründen und den 
Gegengründen hin und her schwankt. Und dafür, daß eben dies 
auch der Fall des Sokrates gewesen sein wird, spricht ja schon der 
Umstand, daß dieser auch in seinen Gesprächen unsittliches Handeln 
durchwegs auf unzulängliche sittliche Einsicht zurückzuführen 
pflegt 213 Auch galt ja den Gebildeten Athens körperliche Knaben- 
liebe wirklich nicht als verwerflich, - ein Umstand, den der be- 
kämpfte Trieb für sich auszubeuten kaum unterlassen konnte. War 
es vollends etwa gar so, wie wir vorhin mutmaßten, schwankte 
Sokrates wirklich jemals zwischen der Gefühlsweise seines Eltern- 
hauses und der seiner späteren Umgebung hin und her, dann mußte 
er sich ja die Frage, was gut, anständig und recht sei, notwendig 
auch in dem Sinne stellen, daß sie für ihn soviel wie die andere 
Frage bedeutete: Was soll ich tun, wie soll ich leben? ... So darf 
es also wohl nicht unwahrscheinlich heißen, daß für Sokrates 
die Frage nach dem Wesen des Sittlichen und Guten ursprünglich 
die Bedeutung einer ganz persönlichen Lebensfrage gehabt hat. 

Diese soeben als nicht unwahrscheinlich bezeichnete Annahme 
besagt übrigens nicht, daß sich Sokrates die Frage nach dem Wesen 
des Guten und Schlechten erst in jenem Lebensalter gestellt haben 
könne, in dem er vor der Wahl stan d, dem Trieb der sinnlichen 

215) Vgl. o. Anm. 187. 






yo H. Gomperz 

Knabenliebe nachzugeben oder ihn zu unterdrücken, somit nicht 
vor dem ersten Mannesalter. Im Gegenteil! Zeigt sich an diesem 
einen Beispiel, daß Sokrates' Natur zu sittlichen Kämpfen über- 
haupt neigte, dann ist's fast wahrscheinlich, daß ihm der Wider- 
streit zwischen Neigung und Pflicht auch schon aus früheren An- 
lässen, wohl gar seit seiner Kindheit, schmerzlich fühlbar geworden 
sein wird. Und so wär's denn durchaus denkbar, daß sein unab- 
lässiges Fragen nach dem Wesen des Guten zwar wirklich zuletzt 
aus seinen eigensten sittlichen Nöten geflossen wäre, dennoch aber 
schon in seiner frühen Jugend angehoben und aus den seelischen 
Kämpfen, in die ihn seine Knabenliebe verwickelte, etwa nur neuen 
Anstoß empfangen hätte. Ein Umstand freilich spricht dafür, daß 
dem Ringen um die Vergeistigung der Knabenliebe für die Sokra- 
tische Fragestellung nach dem Wesen des Sittlichen doch eine 
größere Bedeutung zugekommen sein mag, als es sonst nach dem 
eben Gesagten scheinen könnte: Sokrates' Nachdenken scheinen in 
seinen Jünglingsjahren mehr Fragen der Naturerkenntnis, erst in 
seinem Mannesalter immer entschiedener Fragen des sittliphen 
Lebens beschäftigt zu haben ; das aber ist eben die Zeit, zu der 
sich seine Knabenliebe zuerst stark und bewußt in ihm geregt 
haben muß; ist doch nach den Begriffen jener Zeit ein Lieb- 
haber kaum unter fünfundzwanzig Jahren denkbar. Mag also 
Sokrates die Frage, was gut, anständig und recht sei, auch 
schon als Kind aufgeworfen haben, entscheidende Bedeutung 
scheint sie für sein Leben erst nach seinen Jünglings jähren ge- 
wonnen zu haben, und da darf es denn wohl eine einigermaßen 
scheinbare Vermutung heißen, daß diese Wendung in seinem 
Denken mit jenen inneren Kämpfen zusammenhing, in die ihn 
in eben denselben Jahren der Trieb zu sinnlicher Knabenliebe 
verwickelt haben dürfte. 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



7 1 



Ich komme zur zweiten Gruppe meiner Beobachtungen. Im Ge- 
dankenkreise des Sokrates nimmt der Begriff des Handwerksmeisters 
eine eigentümlich beherrschende Stellung ein: die Erkenntnis des 
Handwerksmeisters gilt ihm als die vorbildliche Erkenntnis; wie dieser 
die Fragen seines Fachs, so sollte jeder Tüchtige die Fragen des 
Lebens, der wahre Herrscher die der Staatskunst überblicken; ja 
selbst das Verhältnis Gottes zur Welt weiß sich Sokrates nur an 
dem des Handwerksmeisters zu seinem Erzeugnis zu erläutern. Nun 
war aber Sokrates der Sohn eines Steinmetzen, war also selbst im 
Haus eines Handwerksmeisters aufgewachsen: daraus dürfen wir 
schließen, daß sich in seinem Erkenntnisbegriff seine Jugendeindrücke 
niedergeschlagen haben, daß ihm das Fachwissen des Handwerks- 
meisters darum als das Musterbild alles Wissens überhaupt galt, 
weil für die Menschen, die ihn in seiner Jugend umgaben, tüchtige 
Handwerksmeister die maßgebenden Autoritäten waren und weü 
deshalb auch er selbst als Kind zu solchen Handwerksmeistern voll 
Achtung und Ehrerbietung aufgeblickt hatte. • _ . 

Allein Sokrates' Urteil über die Handwerksmeister erschöpft sich 
nicht in jener Anerkennung ihres Fachwissen, Es schließt auch die 
ebenso entschiedene Feststellung ein, daß die Handwerksmeister, 
wie sie in Athen wirklich zu finden sind, zulängliches Wissen nur 
in ihrem Fache besitzen, dagegen auf die wichtigsten Fragen der 
Lebensführung, der Staatsleitung und natürlich erst recht der Welt- 
einrichtung die Antwort ebenso schuldig bleiben wie die übrigen 
Bürger und Fremden. 21 * Das Fachwissen des Handwerksmeisters ist 
demnach zwar für Sokrates seiner Art nach die vorbildliche Er- 
kenntnis, allein ihrem vollen Umfang nach besitzen diese vor- 
bildliche Erkenntnis seiner Meinung nach nicht etwa irgendwelche 
wirkliche Handwerksmeister, vielmehr stellt er diesen einen als 
vollkommen g edach ten, kürzer: einen idealen Handwerksmeister 

214") PL Apol. 22 d. 



7 2 



H. Gomperz 



entgegen, und erst dieser gilt ihm als der einzig wahrhaft Tüchtige, 
der einzig wahre Herrscher, ja in gewissem Sinne sogar als die 
einzig wahre Gottheit. An die Annahme, Sokrates habe als Kind 
zu den athenischen Handwerksmeistern ehrfürchtig aufgeblickt, ist 
daher die weitere zu fügen, er habe sich gegen den Druck ihrer 
Autorität irgendeinmal aufgebäumt, ja sich von deren Anerkennung 
endlich völlig befreit. Sokrates verhielt sich demnach gegen die 
Handwerksmeister so, wie wir alle uns oft gegen Typen verhalten, 
zu denen wir einmal aufgeblickt haben, die aber dann die Er- 
wartungen, die wir auf sie gesetzt hatten, enttäuschten: wir „spalten" 
nämlich diese Typen, setzen etwa den „wahren Richter", den 
„wahren Gelehrten" den unzulänglich befundenen „wirklichen" 
Richtern und Gelehrten entgegen; jener erweist sich nun als ein 
durchaus geeigneter Gegenstand fortdauernder, von keinem Einwand 
mehr angefochtener Verehrung, diese dagegen werden jetzt durch 
unsere Wertschätzung des Typus gegen die Geringachtung, die 
uns dessen wirkliche Vertreter eingeflößt haben, nicht mehr ge- 
schützt. Und daß auch Sokrates von den wirklichen Handwerks- 
meistern, sofern er sie als Vorbilder zulänglicher Erkenntnis be- 
trachtet hatte, irgendeinmal schwer enttäuscht worden ist, darf 
aus der Art, wie er ihnen einen „idealen Handwerksmeister" ent- 
gegenstellte, mit Zuversicht geschlossen werden. Ja, da wir aus seiner 
Lebensgeschichte wissen, daß Sokrates etwa im achtzehnten Lebens- 
jahr mit dem Naturphilosophen Archelaos umzugehen begann, dessen 
Fragestellungen über den Wissenskreis der athenischen Handwerks- 
meister, mögen wir ihn noch so groß annehmen, ohne Zweifel 
weit hinausführen mußten, so dürfen wir sogar hinzusetzen, daß 
jene Enttäuschung kaum später als eben damals eingetreten sein 
kann. 

Wir können einer Autorität entweder still und unvermerkt ent- 
wachsen oder aber sie kann siclvunseren Ansprüchen gegenüber 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 75 



ein Mal über das andere als unzulänglich erweisen und so vor 
unseren Augen Stück für Stück zerbröckeln. Eine Vermutung 
darüber zu wagen, ob Sokrates in früher Jugend mit der Autorität 
der Handwerksmeister diese oder jene Erfahrung gemacht habe, 
scheint zunächst höchst vermessen: nur ein ganz besonders glück- 
ücher Umstand erlaubt es uns, diese Frage nicht bloß aufzuwerfen, 
nein, sie sogar mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrschein- 
lichkeit zu beantworten. Treffen wir nämlich bei einem Erwach- 
senen ein sonst für Kinder bezeichnendes Verhalten an, so dürfen 
wir doch mit großer Zuversicht annehmen, er werde dies Verhalten 
auch schon als Kind beobachtet und es eben seit damals beibehalten 
haben. Sokrates nun hat sein Leben damit zugebracht, mit immer 
gleichem, nie ermattendem Eifer all denen, mit denen er umging, 
Fragen vorzulegen: wer diese Fragen nicht - oder doch nicht 
ohne sich in Widersprüche zu verwickeln - beantworten konnte, 
der galt ihm als „widerlegt", seiner Unwissenheit überführt, seines 
Anspruchs auf Autorität beraubt. Die Erwachsenen mit Fragen zu 
bestürmen, ist aber ausgesprochene Kinderart. Ich folgere, es werde 
um so mehr auch die Art des Sokrates, als er noch ein Kind war, 
gewesen sein. Und da nun diesem auch noch in seinen reifen 
Jahren eine Autorität dann als entwertet galt, wenn der, dem sie 
beigelegt worden war, seine Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit 
zu beantworten wußte, so glaube ich weiter folgern zu dürfen, 
auch schon dem jugendlichen Sokrates werde die Autorität der 
Handwerksmeister auf dieselbe Art entwertet worden sein Mit 
anderen Worten, solange sich seine Fragen auf das Handwerk des 
einzelnen Meisters, seine Gegenstände und Verrichtungen bezogen, 
werden dessen Antworten den jugendlichen Frager höchlich be- 
friedigt haben: eben daher wird denn auch die hohe Achtung rühren, 
die Sokrates sein Leben lang für das Fachwissen der Handwerks- 
meister erfüllt hat. Allein dies mußte sich von Grund aus ändern, 



74 H. Gomperz 

sowie sich der Kreis der von Sokrates gestellten Fragen erweiterte. 
Piaton läßt diesen einmal selbst davon reden, Fragen welcher Art 
ihn in seiner Jugend beschäftigten: 215 Wie entstehen die Tiere? 216 
Mit welchem Bestandteil des Leibes denken wir? Ist die Erde 
flach oder rund? Und, wenn flach oder rund, wozu ist sie flach 
oder rund? . . . Solche Fragen konnten die Handwerksmeister, die 
Sokrates in seiner Jugend umgaben — der Steinmetz Sophroniskos, 
seine Verwandten und Freunde — unmöglich beantworten; noch 
weniger freilich die Fragen, die Sokrates später mit Vorliebe auf- 
warf, vielleicht aber doch auch schon früh gestellt hat: Was ist 
das gemeinsame Wesen alles Guten, Anständigen, Gerechten . . .? 
Und eben ihr Unvermögen, diese Fragen zu lösen, wird ihre Auto- 
rität in den Augen des jugendlichen Sokrates entwertet und diesen 
veranlaßt haben, ihnen als den wirklichen, jedoch unzulänglichen 
Handwerksmeistern einen als vollkommen gedachten, idealen Hand- 
werksmeister entgegenzusetzen. 

Wirklich hat sich ja Sokrates mit siebzehn Jahren dem Natur- 
philosophen Archelaos angeschlossen und ohne Zweifel zunächst in 
diesem zulängliches Wissen verkörpert zu finden, den wahren 
„Meister" zu sehen geglaubt. Vermochte ihn doch Archelaos nicht 
nur über die Entstehung der Tiere, das Denkorgan, die Gestalt 
der Erde und noch vieles andere dergleichen, vielmehr auch über 
den Ursprung von Recht und Staat zu belehren. Beider Verhältnis 
.war denn auch ein langdauerndes und inniges. 217 Endlich aber 

215) Phaedo 96a ff. 

216) Gemeint ist die Frage der Urzeugung. Piatons Worte lauten in Apelts Über- 
tragung: „. . . ob, wenn das Warme und Kalte in Fäulnis gerät, wirklich Lebewesen 
entstehen, wie Einige behaupten . . .?". 

217) Auf Seiten des älteren Freundes wird ihm eine gewisse leidenschaftliche 
Färbung wohl nicht gemangelt haben. Wirkte indes wirklich, wie wir vermuteten, 
111 Sokrates eine anerzogene Mißachtung körperlicher Knabenliebe dauernd nach, so 
wird er solcher Leidenschaft wohl von Anfang an gewisse Schranken gesetzt haben: 
manche Eigentümlichkeit seiner Lebensweise, die weder als Mittel zur Übung im 
Entbehren noch als solches der Willensstählung unbedingt gefordert scheint, wie etwa 






rT 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 75 



scheint Sokrates doch auch den Archelaos „überfragt" zu haben, 
und zwar vermutlich um so unverkennbarer, je entschiedener die 
Fragen nach dem gemeinsamen Wesen alles Guten, Anständigen, 
Gerechten sein Denken beherrschten: hätte Archelaos diese Fragen 
selbst zu beantworten gewußt, so wäre ja er der Begründer der 
wissenschaftlichen Sittenlehre geworden! Auch er also konnte dem 
Sokrates nicht dauernd die wahre Autorität, den wahren „Meister" 
bedeuten. Und die Erfahrung, die Sokrates an den Handwerks- 
meistern und nun auch an Archelaos gemacht hatte, sie wieder- 
holte sich ihm nun noch unzählige Male im Umgang mit all den 
Männern, die auf irgend einem Gebiet für hervorragend galten; 
denn auch er selbst wiederholte ihnen allen gegenüber das Ver- 
fahren, daß ihm seit seiner Kindheit geläufig war: er legte ihnen 
Fragen vor und beurteilte ihr Wissen, ihren Geltungsanspruch, 
ihre „Meisterschaft" nach den Antworten, die sie auf diese Fragen 
erteilten; da aber fand sich's regelmäßig, daß sie zwar auf ihrem 
Sondergebiet zulängliches Wissen besaßen, andere Fragen dagegen, 
besonders die dem Sokrates vor allem am Herzen liegenden nach 
dem Wesen des Guten, Anständigen und Rechten nicht wider- 
spruchslos und befriedigend zu beantworten vermochten. Alle blieben 
sie vielmehr dem Sokrates die erbetene Belehrung schuldig: wie 
hätte er ihnen da wahre Autorität zubilligen, sie als wahre „Meister" 
anerkennen können? 21 

Als der einzig wahre Meister galt ihm vielmehr jetzt Gott, die 
das All zweckgemäß einrichtende und leitende Vernunft. Die Vor- 



das seltene Baden und Haarschneiden, sieht ganz so aus, als stammte sie aus einer 
Zeit, da es Sokrates willkommen war, reiferen Männern nicht allzu anziehend zu 

erscheinen. . . _. , v .. . 

218I Daß Sokrates ein solches Gespräch helehrungsdurstig wie ein Kind beginnt, 
um in seinem Verlauf immer unverkennbarer den Meister des Widerspruchs der 
Widerlegung hervorzukehren, ward seinen Zeitgenossen einer der wichtigsten Anlasse, 
mit einem gewissen, freilich nur teilweisen Recht von „somatischer Irome zu 
sprechen. 






7" H. Gomperz 

Stellung solch einer göttlichen Vernunft mag ihm Archelaos ver- 
mittelt haben: daß sie in seinem Bewußtsein etwa die Stelle ein- 
nahm, die dereinst die Autoritäten seiner Jugend, die Männer, die 
in seinem Elternhause für weise galten, innegehabt hatten, daß 
also der Mann Sokrates der Gottheit innerlich etwa so gegenüber- 
stand, wie einst der Knabe Sokrates den weisen Handwerksmeistern 
gegenübergestanden hatte — dies dürfen wir mit ziemlicher Sicher- 
heit aus zwei Umständen schließen. Er selbst vergleicht diese Gott- 
heit einem „weisen und liebevollen Handwerksmeister" und die 
kurzen Verbote, die er von Zeit zu Zeit hörte und auf Gott zurück- 
führte, scheinen durchwegs von der Art gewesen zu sein, wie sie 
ältere Leute einem kleinen Buben zuzurufen pflegen; nach Piatons 
Andeutungen mögen sie etwa gelautet haben: „Bleib* stehen! Sitzen 
bleiben! Halt's Maul!"; auch das einzige göttliche Gebot, das So- 
krates, soviel wir wissen, (im Traum) vernahm, ist von ganz der- 
selben Art: „Sokrates, mach' Musik und sei fleißig!" Wo Sokrates 
seinem Gott gegenübersteht, fühlt er sich durchaus als Kind. 219 
Die entscheidende Bedeutung seines Gottesglaubens für Sokrates' 
Lebensgestaltung ist indes erst darin zu erblicken, daß dieser Glaube 
es ihm gestattete, sein Verlangen nach Unterordnung unter eine 
Autorität mit seinem Unabhängigkeitsdrang zu versöhnen. Der 
Widerstreit dieser beiden Bedürfnisse kehrt ja wohl in irgend einem 
Grad bei jedem Menschen wieder. Ein großer Teil des Reizes, den 
die Erinnerung an die Kinderzeit auf die meisten von uns ausübt, 
beruht darauf, daß dies eine Zeit war, da noch andere für uns 
dachten, sorgten und handelten, auf die wir uns verlassen, in deren " 
Hut wir uns geborgen fühlen durften. So oft es in unserem späteren 
Leben scheint, dieses Verhältnis könnte sich, wenn auch in abge- 
änderten Form en, wiederherstellen, es biete sich uns ein Erzieher 

219) Hier darf auch daran erinnert werden, daß Sokrates beim Lesen und Schreiben 
wie ein Kind gestammelt haben soll. 



I 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 77 



oder Lehrer, ein Vorgesetzter, ein Parteiführer oder ein Herrscher, 
ein Genius, ein Prophet oder eine Gottheit dar, denen wir nur zu 
folgen brauchten, auf die wir uns bedingungslos verlassen dürften, 
begrüßen wir, sofern sich keine Gegenwirkung fühlbar macht, diese 
Aussicht mit inniger Befriedigung. Und daß auch Sokrates so empfand, 
geht daraus hervor, daß sich ja sein ganzes Leben als ein Suchen 
nach dem „wahrhaft Wissenden", dem „wahren Meister" begreifen 
und darstellen läßt. Allein wenn die Erwachsenen dem Kind Sorge 
und Verantwortung für seine Entscheidungen abnehmen, so treten 
sie dafür doch auch der Erfüllung seiner Wünsche, der Befriedi- 
gung seiner Neigungen vielfach hemmend in den Weg. Daher es 
denn natürlich, ja notwendig ist, daß in dem Kinde die Sehnsucht 
nach ungehemmter Selbstbetätigung, völliger Selbständigkeit, schran- 
kenloser Unabhängigkeit erwacht. Und daß dies Streben nach voller, 
bedingungsloser Unabhängigkeit auch in Sokrates, und zwar in un- 
gemeinem Maße lebendig war, erhellt unzweideutig aus seiner un- 
ermüdlich wiederholten Forderung, die Jugend zu freien Herren- 
naturen zu erziehen, gewöhnt, lieber alle Entbehrungen auf sich 
zu nehmen als sich in irgendwelche Unfreiheit, irgendwelche Ab- 
hängigkeit von Menschen oder Verhältnissen zu fügen, eher auf 
jeden Genuß zu verzichten als auch nur ein Teilchen der 
eigenen Unabhängigkeit, der eigenen Selbstbestimmung preiszu- 
geben — un d erhellt vielleicht noch entschiedener daraus, daß 
auch Sokrates selbst dieser Forderung nachgelebt, sie in Leben 
und Sterben beispielgebend erfüllt hat. Diese beiden Urnei- 
gungen des menschlichen Herzens geraten nun aber, sobald sie 
über einen gewissen Stärkegrad hinaus anwachsen, notwendig in 
Streit: wer zu voller Unabhängigkeit durchdringen will, muß 
darauf verzichten, sich einer höheren Autorität anzuvertrauen und 
sich im Vertrauen auf sie vor jeder Fährlichkeit behütet zu fühlen; 
wer hierauf nicht verzichten kann, muß irgend eine Autorität 






7° H. Gomperz 

über sich stellen, gegen die gehalten er dann selbst als ein un- 
selbständiges Wesen von beschränkter Wirkungsmöglichkeit erscheint. 
Sokrates nun gehörte zu jenen Menschen, die diesen Streit so 
schlichten, daß sie eine übernatürliche Autorität unbedingt an- 
erkennen, sich ihr völlig unterwerfen, eben hiedurch aber in den 
Stand gesetzt werden, allen natürlichen Widerständen Trotz zu 
bieten, im Vertrauen auf den Schutz der Gottheit sich von aUen 
irdischen Mächten unabhängig zu fühlen. Dies haben in den ver- 
schiedensten Zeiten viele mit sehr ungleichem Ergebnis versucht; 
Sokrates ist es mit ganz besonderem Erfolge gelungen: er war fest 
davon überzeugt, daß Gott über ihm wache, ihn weise und für- 
sorglich leite, und diese Überzeugung hat ihm jene furchtlose Ruhe 
verliehen, die ihn allen äußeren Gefahren gegenüber beseelte, hat 
ihm das Gefühl völliger Unabhängigkeit vom Schicksal geschenkt. 
Voraussetzung war dabei für Sokrates freilich auch eine eigen- 
tümliche Geisteshaltung, die ihm mit vielen anderen Größen der 
Geistes- und besonders der Religionsgeschichte gemein ist. Schwerlich 
hätte die Gottheit für ihn diese lebensbestimmende, diese Wirklich- 
keitsbedeutung gewinnen und behaupten können, wäre sie für ihn 
Gegenstand bloßen Glaubens geblieben, ihm nicht in voller Sinn- 
fälligkeit entgegengetreten: er war überzeugt, ihre Stimme selbst 
zu hören, die Äußerungen ihrer Fürsorge für ihn und seine Freunde 
unmittelbar zu vernehmen. Das heißt aber: er trug das Idealbild 
des „wahren Meisters«, einer höchsten Weisheit, unbewußt in 
sich und da es nun in sein Bewußtsein eindrang, erschien es ihm 
als ein wirklich außer ihm Befindliches, an das er sich halten 
konnte mit der vollen Kraft des wirklichen Lebens. Daß nun mit 
dieser vollsten Lebendigkeit nur solche Erzeugnisse unseres Geistes 
auf uns wirken, die wir nicht als Erzeugnisse unseres eigenen 
Geistes erkennen, die wir vielmehr außer uns setzen als ein von 
uns unabhängiges Wirkliches, um nicht zu sagen Leibhaftiges, dies 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 79 

ist eine Grunderscheinung der Religionsgeschichte $ diese so eigen- 
tümlich-folgenreiche Geisteshaltung aber einigermaßen aufzuklären, 
vor allem ihr Verhältnis zu den Wahngebilden zu bestimmen, die 
ja der Geisteskranke nicht minder „außer sich" setzt, dies wäre wohl 
eine der dringendsten Forderungen an eine nervenärztliche Seelen- 
kunde. 

Fassen wir das in einer zweiten Gruppe von Beobachtungen 
bisher Festgestellte zusammen, so hat sich ergeben: Sokrates hat 
in früher Jugend zu tüchtigen Handwerksmeistern als höchsten 
Autoritäten aufgeblickt, ist aber dann, da sie seine über ihr Fach- 
gebiet hinausgreifenden Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit be- 
antworten konnten, an ihrer Autorität irre geworden und hat ihnen 
das Ideal eines wahren, d. h. wahrhaft weisen Handwerksmeisters 
entgegengesetzt 5 dieses aber fand er nicht unter Menschen ver- 
wirklicht, vielmehr einzig in der die Welt weise einrichtenden und 
leitenden Gottheit verkörpert, und indem er diese als höchste Auto- 
rität anerkannte, fand er in ihr zugleich den Stützpunkt, der ihn 
in den Stand setzte, allem Irdischen gegenüber seinen mächtigen 
Unabhängigkeitsdrang zur Geltung zu bringen. Und blicken wir 
nun von hier aus auf das zurück, was wir in einer ersten Gruppe 
von Beobachtungen über Sokrates' Stellung zu seinem gleichge- 
schlechtlichen Triebe festgestellt hatten, so werden wir einer engen 
Wechselbeziehung des dort und des nun hier Beobachteten gewahr. 
Sokrates selbst hatte ja als den Hauptgrund, aus dem er für sich 
wie seine Jünger die sinnliche Knabenliebe grundsätzlich ablehnte, 
die Unfreiheit bezeichnet, in die durch sie der Liebhaber dem 
Geliebten gegenüber gerate. Da sich der Trieb nach Unabhängigkeit 
von allem Äußeren als einer der Grundtriebe des Sokrates erwiesen 
hat, so bestätigt sich nun, was wir schon damals mutmaßen konnten : 
daß jene von Sokrates selbst gegebene Begründung durchaus ernst 
zu nehmen ist und, können wir sie auch nicht als ausreichenden 






80 H. Gomperz 

psychologischen Erklärungsgrund für Sokrates' Herrwerden über die 
sinnliche Knabenliebe gelten lassen, doch zu diesem Ergebnis ohne 
Zweifel wesentlich beigetragen haben wird. Anderseits aber ist 
auch innere Unabhängigkeit vom Schicksal dort undenkbar, wo ein 
Mensch von einem Drange beherrscht wird, über dessen Befriedi- 
gung oder Nichtbefriedigung eben dies Schicksal entscheidet. Folglich 
hätte Sokrates seinem Drang nach Unabhängigkeit von allem Äußeren 
überhaupt nicht zum Durchbruch verhelfen können, hätte er nicht 
die sinnliche Knabenliebe in sich unterdrückt, sie zu einem rein 
seelischen Erziehungseifer emporgeläutert. Er selbst hat es ausge- 
sprochen: Freihe it ist u nmöglich ohn^ ■Se1Kstfr f 4igrrer.hi]rig. 220 Sokrates 
war also durchaus folgerecht, wenn er in seiner Lehre die Forderung 
nach Selbstbeherrschung mit der nach innerer Freiheit verknüpfte 
und auch in seinem eigenen Leben vermochte er dieser zweiten 
Forderung nur darum Genüge zu tun, weil er auch jene erste er- 
füllte. War es, wie wir vermuteten, zuletzt wirklich die Abhängig- 
keit von der Empfindungsweise seines Elternhauses, die ihm die 
Bezwingung des heftigsten seiner körperlichen Triebe ermöglichte, 
dann hat ihm diese Abhängigkeit eben damit zugleich auch zur 
Erringung eines Höchstmaßes innerer Unabhängigkeit verholfen! 
Ich habe bisher Sokrates' Drang nach Unabhängigkeit und seine 
Auflehnung gegen die Autorität der Handwerksmeister, überhaupt 
der nicht wahrhaft Sachverständigen als zwei voneinander unab- 
hängige Erscheinungen besprochen. Und das sind sie ja auch wirklich, 
sofern wir nämlich voraussetzen dürfen, Sokrates habe seine Fragen 
zu allen Zeiten seines Lebens aus bloßer Wißbegierde gestellt; 
daß ihm die Autorität der Befragten, wenn sie, wie gewöhnlich, 
die gestellten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnten, 
in Nichts zusammenbrach, ist dann ein vollkommen unbeabsichtigter 
Nebenerfolg gewesen. Daneben wäre indes doch auch eine andere 

220I Xen. Erinn. IV 5, 2 bis 5. 









Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 8 1 



Auffassung denkbar. Es könnte sein, daß Sokrates' Unabhängigkeits- 
drang von früh auf der dauernden Anerkennung jeder menschlichen 
Autorität widerstrebt, und daß er mit seinen beständigen Fragen 
auch die Absicht verfolgt hätte, die Befragten in Verlegenheit zu 
bringen, in seinen eigenen Augen wie auch in denen etwaiger Zu- 
hörer ihre Autorität zu untergraben, zu entwerten. Jedenfalls wäre 
eine derartige Absicht auch schon bei einem Kind durchaus nichts 
Unerhörtes oder auch nur Ungewöhnliches. So wie die Erwachsenen 
vielfach der Erfüllung der Wünsche des Kindes im Wege stehen, 
so vor allem auch seinem angeborenen Streben nach Ansehen und 
Geltung, seinem Verlangen, sich vor aUen andern hervorzutun, neben 
ihnen als der Überlegene, der Erste zu erscheinen; denn dieses 
Verlangen ist wohl jedem vernünftigen, zum Leben unter Genossen 
bestimmten Wesen von Natur aus eigen. Ist nun anzunehmen, daß 
diese Neigung zur Auflehnung gegen die Autorität als solche auch 
in Sokrates besonders entwickelt war, daß er den wirklichen Hand- 
werksmeistern den idealen Handwerksmeister nicht nur darum ent- 
gegenstellte, weil sie seinen Wissensdrang enttäuschten, vielmehr 
auch darum, weil sie seinem Selbständigkeitsdrang im Wege waren, 
ja hat er vielleicht bald auch die Fragen, die er ihnen vorlegte, 
so gewählt, daß jene Enttäuschung nicht wohl ausbleiben konnte? 
Auf die frühe Jugend des Sokrates bezogen, überschreitet diese 
Frage natürlich den Umkreis dessen, was wir noch heute durch 
Beobachtungen an überlieferten Nachrichten mit einer gewissen 
Zuversicht feststellen dürfen. Allein an den uns erhaltenen Frage- 
stellungen des Sokrates in den Jahren seiner Reife ist das Streben 
nach geistiger Niederringung des Mitunterredners, nach Vernichtung 
seines Geltungsanspruchs unverkennbar, die Fassung und Anein- 
anderreihung der Fragen dient noch mehr der Widerlegung des 
Befragten als der Belehrung des Fragenden, die Fragekunst des 
Sokrates ist hier vorwiegend Widerlegungskunst, ja sie nähert sich 

Imago X/i 



oft genug der Streitkunst. Und hiezu tritt nun noch die Schärfe, 
mit der Sokrates jede angemaßte Geltung bekämpft, zur Nicht- 
achtung aller Väter, Lehrer, Herrscher, Gesetzgeber, die sich nicht 
über zulängliches Wissen ausweisen können, aufreizt. All das nun 
schließt sich mir zu einer so einheitlichen und geschlossenen Eigen- 
art zusammen und stimmt so gut zu dem doch offenbar tief im 
Wesen des Sokrates wurzelnden Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang, 
daß ich die Vermutung nicht abweisen kann, die vorhin aufge- 
worfene Frage sei zu bejahen: wenn Sokrates weder den Hand- 
werksmeistern noch irgendwelchen andern hervorragenden Männern 
eine wahrhaft zulängliche Erkenntnis zubilligte, so wird das wahr- 
scheinlich nicht nur darum geschehen sein, weil sie seine Wiß- 
begierde nicht endgültig zu befriedigen vermochten, vielmehr vor 
allem auch darum, weil sein Freiheits- und Unabhängigkeitsdurst 
sich bei der Anerkennung einer höchsten menschlichen Autorität 
nicht dauernd beruhigen konnte! 

Endlich drängt sich mir hier noch eine letzte Frage auf. Bemüht, 
dem halbwegs Sichern oder doch überwiegend Wahrscheinlichen vor 
dem bloß Möglichen und nicht Unwahrscheinlichen den Vortritt zu 
lassen, habe ich von jenen Handwerksmeistern, deren Autorität Sokrates 
in früher Jugend irgendeinmal feststand, gegen die er sich aber dann, 
wie wir vermuteten, später aufgelehnt hat, bisher nur ganz allgemein 
und unbestimmt gesprochen. Es liegt aber außerordentlich nahe, bei 
diesen ganz vorzugsweise an einen bestimmten Handwerksmeister, 
den Steinmetzen Sophroniskos, Sokrates' Vater, zu denken. Dürfte 
doch Sokrates die entscheidenden Erfahrungen von dem Betrieb eines 
Handwerks, dem Wissen des Meisters um die Regeln und Bedingungen 
seiner Kunst, seiner Eignung zur Beantwortung der ihm hierüber 
gestellten Fragen, seiner geringeren Eignung zur Beantwortung 
anderer Fragen vermutlich früher und öfter in der väterlichen 
Werkstatt als in der irgend eines Verwandten oder Freundes seines 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 85 



Vaters gemacht haben. Auch berichtet uns ein nicht unglaubwürdiger 
Zeuge, 221 Sokrates habe „unablässig das Steinmetzenhandwerk seines 
Vaters und den Hebammenberuf seiner Mutter im Mund geführt", 
woraus sich immerhin schließen ließe, gerade sein Vater sei ihm als 
typischer Vertreter des Handwerkerberufes erschienen. Wir dürften 
uns dann vorstellen, Sokrates habe als Kind nicht zu igendwelchen 
beliebigen Handwerkern aufgeblickt, später aber ihre Autorität be- 
stritten, vielmehr er habe zuerst unbedingt an seinen eigenen Vater 
geglaubt, dann aber sich gegen ihn aufgelehnt, 222 und er habe diesem 
wirklichen Vater das Idealbild nicht nur des „wahren Handwerks- 
meisters", vielmehr auch des „wahre n Vaters" entgegengesetzt, dieses 

-„) Menedem aus Pyrrha bei Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg » Nauck Auch 
wenn dieser bei seiner Bemerkung nur die Gewohnheiten des Sokrates »*»£-- 
Tum «roßten Teil verlorenen) Gesprächen der ältesten Sokratiker im Auge hatte, 
kommt seinem Zeugnis für uns doch ein gewisser Wert zu. 

"S Nehmen wT an, auch schon die Fragen, die Sokrates .einem Vater stellte, 
seien ihm (wenigstens teilweise und von einem gewissen Zeitpunkt an) von emer 
NeiLnTs ich gegen diesen aufzulehnen, eingegeben worden, so kann gefragt werden, 
woher fnageirf solcher Wille zur Auflehnung gegen den Vater zuletzt entsprungen 
sein De Psychoanalytiker denkt in einem Falle dieser Art zuerst an eme Neben 
Slerschaft um die Gunst der Mutter. Daß diese <he notwendige Bedmgung 
S ISleanungSWÜlens sei, kann ich nicht glauben. Denn es scheint mir : wenn 
es na ürltch ist, daß der Sohn zum Vater aufblickt, der so viel größer und machtiger 
£t al er ilun Befehle erteilt, ihn belohnt und bestraft, so ist es nicht minder natur- 
Hch daß er sich gegen diesen selben Vater doch auch wieder aufbäumt der seine 
Wunsche so vielfadf durchkreuzt, seinem Ehrgeiz, als der erste und w.cht.gste zu 
«Uen ieden Augenblick im Weg steht. Oft mag es sich dann auch ganz besonders 
um e"n Gehen fn den Augen der Mutter handeln. Und dafür, daß es sich so auch 
b2 Sokrates verhalten habe, läßt sich wirklich eimges wenige, jedoch gewiß nichts 
entscheidendes anführen. Sokrates bezeichnet bei Piaton seine Mutter als „sehr tüchtige 
und ansehnliche" Geburtshelferin (prffei yswaCagre xai ßXoövQäg, Theaet. 149*) -™t 
einem Ausdruck, den er anderswo auf Krieger anwendet (Staat VII 535*): es wäre 
denkbar daß darin ein Hinweis auf ihre etwas männliche Veranlagung läge die 
wieder auf seine Vorliebe für männlich veranlagte und erzogene Frauen von Einfluß 
«wesen sein könnte. Er setzt sich ebendort mit Phainarete insofern eins als er seine 
Gewohnheit, durch Fragen die Gedanken junger Leute ans Licht zu bringen mit 
ihrer geburtshilflichen und seine Neigung, sie mit geeigneten Lehrern m Verbindung 
zu setzen mit ihrer ehestiftenden Tätigkeit vergleicht. Er gibt endlich, wie wir horten, 
für das Verbot der Blutschande zwischen Eltern und Kindern eine Begründung, die 
allein auf die Beziehung von Mutter und Sohn, dagegen gar nicht auf die von Vater 
und Tochter paßt — woraus man vielleicht immerhin schließen dürfte, der Gedanke 
an einen Inzest der ersteren Art habe seinem Vorstelhmgskreis näher gelegen als der 
an einen solchen der zweiten. 



6* 






I 



84 H. Gomperz 



aber auf die Dauer in keinem anderen Menschen, vielmehr einzig 
in Gott verwirklicht gefunden. 223 Und so dürften wir weiterhin in 
dem Streit zwischen dem Auf blick zum Vater und der Auflehnung 
gegen ihn gleichsam den Urkeim zu all den seelischen Kämpfen in 
Sokrates' Innerin erkennen, durch die er ein großer Mensch und über- 
dies ein großer Ethiker geworden ist: von hier aus wäre sein lebens- 
langes Fahnden nach dem wahrhaft Wissenden wie seine schroffe 
Nichtachtung aller bloß überlieferten und angemaßten Autorität zu 
verstehen (er hätte eben nie aufgehört, den wahren Vater zu suchen, 
aber auch nie, sich gegen jede wirkliche Verkörperung dieses Ideal- 
bildes aufzulehnen), sein unbedingtes Vertrauen auf die Stimme Gottes 
neben seinem schrankenlosen Freiheitsdrang, endlich die Selbstbe- 
zwingung, die ihn zum Herrn über die, wie wir annehmen dürfen, 
vom Vater verpönte sinnliche Knabenliebe gemacht hat! Und für 
diese Auffassung läßt sich anführen, daß ja solch eine gegensätzliche 
Einstellung zu den „Vätern" sich auch in seiner Lehre wirklich 
findet. Stellt es doch diese einerseits als ungeschriebenes, göttliches 
Gesetz hin, die Eltern zu ehren, verpflichtet aber anderseits die 
jungen Leute zum Gehorsam gegen ihre Väter nur dann, wenn diese 
auch durch richtige Einsicht zum Befehlen befähigt sind, da andern- 
falls der Gehorsam nicht ihnen, vielmehr ausschließlich dem Einsich- 
tigen, dem „wahren" Erzieher und Vater gebühre! . . . Alles das 
bietet nun aber dem Historiker doch keinen vollen Ersatz dafür, daß 
uns über Sokrates' Verhältnis zu seinem Vater keine einzige glaub- 
würdige Nachricht unterrichtet, und so wird er den eben umrissenen 
Sachverhalt doch wohl mehr nur als eine anziehende Möglichkeit, 
denn als gesichertes Forschungsergebnis hinzustellen wagen. 

Übrigens bleibt mit der Frage des persönlichen Verhältnisses des 
Sokrates zu seinem Vater Sophroniskos doch nicht das zum Verständnis 

223) Die Vorstellung eines göttlichen Vaters hätte auch im Altertum durchaus nichts 
Erstaunliches ; heißt doch Zeus schon bei Homer der „Vater der Götter und Menschen" 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 85 



seiner Lehre und Wirksamkeit eigentlich Wichtige in der Schwebe. 
Denn unzweifelhaft ist, daß in Sokrates ein Verlangen nach Unter- 
ordnung unter eine Autorität mit dem Drang zu völliger Unabhängig- 
keit zusammenbestand; daß er jene Unterordnung dem als vollkommen 
gedachten „wahren Meister" gegenüber zu vollziehen bereit war und 
sie dem göttlichen „Meister" gegenüber wirklich vollzogen hat, diese 
Unabhängigkeit dagegen allen nicht auf Einsicht beruhenden, bloß 
überlieferten, angemaßten Autoritäten gegenüber schroff zur Geltung 
brachte, die Jugend zu ihrer aller Nichtachtung aufrief. Unzweifelhaft 
ist aber auch, daß zu diesen von Sokrates nur unter der Bedingung 
"hrer Einsichtigkeit anerkannten Autoritäten wie die des Herrschers 
und Gesetzgebers, so auch die des Vaters und Erziehers zählte, und 
daß er die Jünglinge dazu ermunterte, in Fragen der Erziehung 
statt ihren uneinsichtigen Vätern lieber ihm selbst als dem „wahren" 
Erzieher zu gehorchen, 224 und seine Jünger bezeugten's uns mit ihren 
eigenen Worten, daß sie den Sokrates geradezu als ihren „Vater" 
empfanden! Unzweifelhaft ist aber endlich auch dies, daß Sokrates* 
rücksichtslose Nichtachtung aller bloß überlieferten Autorität in 
Familie, Staat und Religion, insbesondere aber der väterlichen, sich 
endlich gegen ihn gekehrt, ihm den Untergang bereitet hat. Die 
athenischen Jünglinge, die sich dem Sokrates wie seine Söhne an- 
schlössen, wurden hiedurch zugleich ihrem angestammten Vaterhaus 
entfremdet, und ihre Väter empfanden'* ganz mit Recht, daß der 
Angriff, der da gegen sie geschah, ebensowohl jede andere Art 
überlieferten Geltungsanspruchs traf. Der Rache dieser Väter aber, von 
denen sich so ihre Söhne abwandten, ist Sokrates zum Opfer ge- 
fallen: 225 sie waren keineswegs im Unrecht, wenn sie ihm schuld 

«4) Vgl. H. v. Arnim, Xenophons Memorabilien und Apologie das Sokrates 
(Kff ltesd Wiss., Historisch-philolog. Mitteilungen VIII 1, 19 2 3 ), S. 92. 
( g L) PlSon beruft sich *ur Verteidigung des Sokrates darauf daß die Vater und 
Brüder sener hauptsächlichen Jünger vor Gericht nicht gegen ihn Zeugm abgelegt 
L^tt (Apol Sbis 34 b ; doch zeugten sie selbst nach seiner Darstellung auch 






86 



H. Gomperz 



gaben, er lehre die jungen Athener die überlieferten Götter mißachten 
und eine neue Gottheit verehren, er reize sie gegen die bestehende 
Staatsordnung auf, indem er an Stelle der erlosten und erwählten 
Beamten allein den „Meister der Politik" als „wahren Herrscher" 
gelten lasse, und er untergrabe die Autorität aller Eltern, indem er 
die Jünglinge dazu bewege, in Fragen der Erziehung zuletzt nicht 
diesen zu gehorchen, vielmehr ihm selbst als dem „wahren", weil 
allein sachkundigen „Meister der Erziehung"! 

Ich versuche nun, das hier über die seelischen Kräfte, die Sokrates 
bewegten, Ermittelte, ergänzt durch einige Vermutungen über den- 
selben Gegenstand, zusammenzustellen. Eigentümlich zunächst war 
ihm danach eine leiblich-geistige Anlage, die ihn erstens von ihm 
selbst unbewußt Gedachtes wie Fremdes von außen vernehmen 
und zweitens seine Liebesfähigkeit noch mehr als knabenhaften 
Frauen mädchenhaften Knaben zuwenden ließ (ob diese beiden 
Anlagen im strengen Sinne angeboren oder selbst schon erworben 
und ob sie voneinander durchaus unabhängig waren, kann dabei 
unbestimmt bleiben). In früher Jugend müssen ihm dann die 
athenischen Handwerksmeister, die Berufsgenossen seines Vaters, 

t!i&2^ ^JsSJ^iS^ erweck r als hKtten die v «~»*« 

einen f-ÄÄT S^ÄÄ^Ä 2Ä f 

zweifelt; wäre sie die Regel gewesen, so war' es ein Wunder ,„' "^ **" 

Xenophon -und daran istnicht zu zweifeln" lofaate^S T' T anderS 

von Vätern und Söhnen richtig wieL gibt (Ermn I ^TT^f ^ ^^ 
Anm. 224 ). üirigens kennen tt£^2fa!&&^l£ l f 1 £ " 5 Vgh 
halten höchlich entrüstete und gerade dieser plu söS se.nl r , ^ Sokrates Ver- 

hoben. Xenophon nämlich erzahlt (Apol. a bif 3 SÄK?"? TZ™^ 
auf dieselben Vorgänge anzuspielen), An/tos sei g'gen Grates V 7 T°A K 
aufgebracht worden, daß dieser sich in dxe Erziehunf z U mS T^?- " ! 

seinem Sohne angedeihen ließ: Sokrates h7l t ""? ' die An y tos 

Gerberei abwendi/machen und ihn EZ£^E££Z SuESZ 
aber sei dem entgegengetreten und habe auch seinen Willen «hirrW«*»*. V 

£££ ht 1 ^ °?HT gegen Sokrates ÄSSÄ-JiXS 

beherrscht, habe er spater die Anklage gegen den Philosophen angezettelt. - Der Sohn 

nhon^R Ti ^r, beSOnderer Bemühungen wohl kaum Würdig: nach Xeno" 
phons Bericht hat er bald nach dem Tode des Sokrates als Säufer geendet 







F *~ 



Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 87 

vielleicht vor allem dieser Vater selbst, als hohe Vorbilder zuläng- 
lichen Wissens vor Augen gestanden haben. Allein da er sie nun 
mit immer weiter ausgreifenden Fragen bestürmte — vermutlich 
sehr bald schon nicht mehr aus bloßer Wißbgierde, vielmehr weil 
sich sein Selbständigkeitsdrang schon damals gegen die vorbehalt- 
lose Anerkennung ihrer Überlegenheit aufgelehnt hat — , mußten 
sie ihm immer häufiger die Antwort schuldig bleiben. Damit aber 
hörten sie nun auf, ihm die höchsten Autoritäten zu sein, und er 
erkannte als solche an Stelle der wirklichen Handwerksmeister ideale 
Handwerksmeister an, die er mit wahrhaft zulänglichem Wissen 
begabt dachte; vielleicht galt ihm dann auch sein Vater seines 
unzulänglichen Wissens wegen bald nicht mehr als „wahrer" Vater, 
indem für ihn der ideale Handwerksmeister auch die Stelle eines 
idealen Vaters einzunehmen begann. Als ein solcher wahrer, weil 
mit zulänglichem Wissen ausgestatteter Meister und vielleicht auch 
Vater mag ihm eine Zeitlang Archelaos gegolten haben. Im ganzen 
aber läßt sich das Leben des Sokrates als ein vergebliches Suchen 
nach diesem wahren Meister verstehen: jedem Manne, der irgend- 
wie hervorragte, mit einem gewissen Geltungsanspruch auftrat, 
legte er seine Fragen vor und sobald dieser sie nicht zufrieden- 
stellend beantwortete, war damit in den Augen des Sokrates sein 
Geltungsanspruch vernichtet, bewiesen, daß auch dieser Mitunter- 
redner kein wahrer Meister sei. Wir glaubten mutmaßen zu dürfen, 
daß solche Erlebnisse für Sokrates nicht bloß eine Enttäuschung 
bedeuteten, daß es seinem Unabhängigkeitsdrang schwer gefallen 
wäre, einen andern Menschen als wahren Meister anzuerkennen, 
und daß er daher — zumindest in seinen reiferen Jahren — seine 
Fragen von vornherein darauf anlegte, mit ihnen den Geltungs- 
anspruch des Befragten zu vernichten. Im Gegensatz zu dieser all- 
gemeinen Unzulänglichkeit aller menschlichen Meister erschien 
Sokrates als der eine wahre Meister der Verfertiger der Welt: 



88 H. Gomperz 



die göttliche Vernunft; diesen Weltmeister empfand er als höchste 
Autorität, als seinen höchsten Schutzherrn, vielleicht geradezu als seinen 
wahren Vater, auf ihn führte er auch die kurz verbietenden Stimmen 
zurück, die er von Zeit zu Zeit zu vernehmen glaubte, und denen 
er sich bedingungslos unterwarf; in der Hut dieses höchsten Schutz- 
herrn geborgen war er sich jener vollen Unabhängigkeit von allen 
Menschen, Gefahren, Schicksalswendungen bewußt, nach der seine 
freiheitsdurstige Seele seit jeher gestrebt hatte (und wir vermuteten, 
dieser Unabhängigkeitsdrang werde schon zu seiner ersten Auf- 
lehnung gegen die Vorbilder seiner Kindheit sein Teil beigetragen 
haben). Dieser Unabhängigkeit vom Schicksal aber konnte er sich 
sicher fühlen, weil er über den leidenschaftlichsten seiner Triebe 
Herr geworden war, das Schicksal ihm also nichts mehr, was ihm 
lebenswichtig gewesen wäre, schenken oder rauben konnte. Dieser 
Trieb war das gleichgeschlechtliche Verlangen nach dem Besitz 
schöner Knaben. Dieses Verlangen empfand er unmittelbar als An- 
tastung seines selbstherrlichen Dranges nach unbedingter Unab- 
hängigkeit, wir vermuteten aber, es möge ihm zu seiner Über- 
windung auch die innere Nachwirkung der in seinem Elternhause 
über Verhältnisse solcher Art aller Wahrscheinlichkeit nach gefällten 
Mißbilligungsurteile verholfen haben. Gewiß ist jedenfalls, daß 
Sokrates jenen Trieb durch planmäßige Schulung seines Willens 
zur Beherrschung seiner Bedürfnisregungen überwand, genauer, daß 
er ihn auf diese Art zu leidenschaftlicher Fürsorge um die seelische 
Tüchtigkeit der geliebten Knaben verklärte. So erzog er sich selbst 
zu einem Leben der Selbstbeherrschung, und wir mutmaßten, die 
inneren Kämpfe, die er hiebei durchlebte, möchten den wichtigsten 
Anstoß dazu gegeben haben, daß seine Gedanken zeitlebens 
vor allem um die Frage nach dem Wesen des Guten, Richtigen, 
Sittlichen kreisten. Als das richtigste, weil glücklichste Leben be- 
urteilte er jedenfalls das der Selbstbeherrschung, seine verklärte 



L 



Knabenliebe aber äußerte sich nun vor allem darin, daß er sich 
unablässig mit Knaben umgab, gerade ihnen das Leben der Selbst- 
beherrschung als das richtige, weil beglückende, anpries. Dadurch 
nahm er nun seinen Jüngern gegenüber selbst die Stellung eines 
Meisters, ja eines Vaters ein und eben hierauf vor allem (darauf 
nämlich, daß die Jünglinge in ihm neben dem väterlichen Erzieher 
auch den Liebhaber empfanden) beruhte die einzigartige Macht seiner 
Einwirkung auf sie. Damit setzte er sich aber freilich in den Augen 
der jungen Leute an die Stelle, die natürlicherweise deren Vätern 
zukam, und diese suchten seiner Wirksamkeit ein Ende zu machen. 
Da sie aber ganz richtig fühlten, daß des Sokrates Nichtachtung 
der bloß tatsächlichen (nicht durch Wissen geadelten) Vaterschaft 
aus einer Quelle floß, aus der auch seine gleich rücksichtslose 
Nichtanerkennung aller bloß tatsächlichen Gesetzgebung und Gottes- 
verehrung strömte (wir vermuteten, daß als diese Quelle nicht 
allein Sokrates' fanatischer Erkenntnisdurst, vielmehr ebensosehr 
auch sein ebenso mächtiger Unabhängigkeitsdrang zu betrachten 
sei), so bereiteten sie ihm den Untergang durch eine Klage, die 
ihm „Nichtanerkennung der Staatsgötter und unheilvollen Einfluß 
auf die Jugend" schuld gab. 

Was hier festgestellt und vermutet wurde, liefert, wie ich glaube, 
gewisse Beiträge zum Verständnis einiger Züge der Persönlichkeit, 
der Lehre, ja auch des Schicksals des Sokrates. Das heißt, es wurde 
gezeigt oder doch einigermaßen glaubhaft gemacht, daß sich an 
der Persönlichkeit, der Lehre, dem Schicksal des Sokrates gewisse 
typische Züge beobachten lassen, die ihm mit vielen anderen 
Menschen gemeinsam sind (z. B. gleichgeschlechtliche Veranlagung, 
Bindung an die sittlichen Wertungen der ersten Jugend, Auflehnung 
gegen die ursprünglichen Autoritäten u. dgl. m.). Eben darum 
aber wäre nun die Meinung grundverkehrt, als wäre durch diese 






go H. Gomperz 

Beobachtungen und Vermutungen (auch ihre durchgängige Richtig- 
keit vorausgesetzt) gerade das Eigentümliche der Sokratischen 
Persönlichkeit, ihrer Äußerungen Und Wirkungen, irgendwie „er- 
klärt": eben das Eigentümlichste und Persönlichste eines Menschen 
kann ihm ja natürlich niemals mit anderen gemeinsam sein! An 
zweien der erörterten Züge in Sokrates' Wesen wird dies, so scheint 
mir, besonders deutlich. 

Nehmen wir an, Sokrates habe die für ihn so bezeichnenden 
Fragen von vornherein lediglich aus Wißbegierde gestellt, Wert 
und Geltungsanspruch aller Menschen, mit denen er umging, 
darnach beurteilt, in welchem Maße sie diese seine Wißbegier zu 
befriedigen vermochten, so stoßen wir in dieser so früh und so 
stark entwickelten Wißbegier von vornherein auf eine letzte Tat- 
sache, die wir als Sokrates ganz persönlich bezeichnend ansehen 
und somit unerklärt zurücklassen müssen. Neigen wir aber der 
Ansicht zu, an jenen Fragestellungen sei auch Lust am Wider- 
spruch beteiligt gewesen, die Entwertung aller Mitunterredner, 
die ihm nicht befriedigend zu antworten wußten, sei auch durch 
ein ganz eigentliches Auflehnungsbedürfnis des Sokrates zu erklären, 
so müssen wir wieder in der besonderen Gestalt, die dieses 
Auflehnungsbedürfnis bei Sokrates annahm, einen höchst persön- 
lichen und insofern unerklärbaren Zug seines Wesens erblicken. 
Zahllose Menschen haben sich ja gegen die Autoritäten ihrer Kind- 
heit, auch zahllose Söhne gegen ihre Väter aufgelehnt ; sehr viel 
geringer wird schon die Zahl derer sein, die vor allem die ge- 
dankliche Unzulänglichkeit dieser Autoritäten zum Zielpunkt nahmen j 
keinen zweiten Fall kenne ich, in dem die Auflehnung die Gestalt 
unausgesetzter Fragen angenommen und dieses widerlegende, die 
Unzulänglichkeit des Befragten bloßstellende Fragen sich förmlich 
zu einer Forschungsmethode entwickelt hätte. Auch bei dieser Auf- 
fassung also müssen wir hier zuletzt doch eine höchstpersönliche 






Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 91 

Eigenart anerkennen; denn nur indem wir bei Sokrates einen 
leidenschaftlichen Erkenntnisdurst einzigartiger Stärke vor- 
aussetzen, glauben wir zu verstehen, wie dieser Erkenntnisdurst 
seiner Auflehnung gegen die Autoritäten seiner Umgebung gerade 
die Richtung verleihen mußte, die sie wirklich genommen hat. 
Und wir müssen dem noch hinzusetzen: nur daß auch Sokrates* 
ganze Zeit von mehr als gewöhnlichem Erkenntnisdurst erfüllt 
war, erklärt uns den vielfältigen Widerhall, die mächtige Wirkung, 
die seiner also gerichteten Auflehnung zuteil geworden ist. 

Von den unzähligen Kindern ferner, die an ihren Vätern oder 
ersten Erziehern irre geworden sind oder sich gegen sie aufgelehnt 
haben, haben gar manche diese ihre ersten Vorbilder „gespalten",, 
den wirklichen Vater oder Erzieher als Gegenstand der Ehr- 
erbietung bei Seite geschoben, ein „ideales" Vorbild, oft einen 
göttlichen Schutzherrn oder Vater, an seine Stelle gesetzt. Allein 
wie wenigen ist es nun gelungen, allein auf das Gefühl der Ein- 
heit mit diesem bloß gedachten, „idealen" Vater oder Schutzherrn 
sich stützend, dem wirklichen Leben gegenüber wahre Unab- 
hängigkeit und innere Freiheit zu erringen! Gewiß verfügen wir 
für die Fähigkeit des Menschen, sich, auf bloß Gedachtes gestützt, 
über die Wirklichkeit hinwegzusetzen, zu erheben, über einen eigenen 
Namen: wir nennen sie Idealismus. Allein ist dieses Vermögen 
deswegen weniger rätselvoll? Die Kraft, die der Idealist der Wirk- 
lichkeit entgegensetzt, muß er zuletzt doch aus dem eigenen Innern 
schöpfen: woher kommt sie ihm? Auch hier wieder stoßen wir, 
so scheint's mir, auf eine letzte Tatsache, einen höchstpersönlichen 
und insofern unzurückführbaren Zug im Wesen des Sokrates: wir 
müssen ihm einen Unabhängigkeitsdrang von ganz außer- 
gewöhnlicher Stärke zuschreiben; nur unter dieser Voraussetzung 
können wir uns jenen „Idealismus" erklären, durch den er sich 
von der ungeheuren Mehrzahl der übrigen Menschen unterscheidet. 



I 



9 2 H. Gomperz: Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 



Und daß seine Zeit für ein Ideal reif war, das den Standesbegriff 
der Freiheit verinnerlichte, den, der sich von der Herrschaft des 
Schicksals selbst befreite, höher zu schätzen lehrte als den bloß 
Freigeborenen (denn hierin konnte es der kleinste Bürger, ja selbst 
der Knecht dem größten Adligen zuvortun) — dies war dann die 
Bedingung dafür, daß Sokrates' innere Unabhängigkeit von allem 
Äug eren die Jugend mächtig ergriff, ganz GKScEiSäna-äuf Jahr- 
hunderte hinaus zur Nachfolge mitriß. 

Fortschritte der Psychologie erweitern und vertiefen unsere Ein- 
sicht in das Typische der Menschen; über die Geheimnisse der 
Einzelseele verbreiten sie nicht eben sehr viel Licht. Aller solchen 
'Fortschritte ungeachtet besteht wohl noch immer der anspruchs- 
lose Satz zurecht: ein großer Mann ist jener, dessen Persönlich- 
Eigenartigstes den Forderungen seiner Zeit begegnet. Auch an 
Sokrates, so scheint's mir, bewährt er sich wieder. 




- 









c-** f 



J- 






7* 



1^ 



u< 



t 










INTE RNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

SIGM. FREUD 
GESAMMELTE SCHRIFTEN 

typen — Formulierungen über die zwei Prinzipien des 
psychischen Geschehens — Der Untergang des Ödipus- 
komplexes) / Metapsycnologie (Einige Bemer- 
kungen über d. Begriff des Unbewußten in der PsA. — 
Triebe u. Triebschicksale— Die Verdrängung — Das Un- 
bewußte — Metapsycholog. Ergänzung z. Traumlehre 
— Trauer und Melancholie — Neurose und Psychose) 



Studien iilicr Hysterie / Frühe Arbeiten 

zur Neurose nlelire (1 893 — 98) (Ein Fall von 
hypnot. Heilung nebst Bemerkungen über d. Entstehung 
hystcr. Symptome durch den Gegenwillen — Charcot — 
Quelques considt-rations pour unc etude comparntive 
des paralysies motrices organ. et hysteriques — Die 
Abwehr-Neuropsychosen — Ober die Berechtigung, von 
d. Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex 
als„ Angstneurose"obzutrennen - Obsessions et phobies 

— Zur Kritik d. Angstneurose — Weitere Bemerkungen 
über die Abwehr-Neuropsychosen — L'heredite et 
l'el iologic des nevroses — Zur Ätiologie der Hysterie 

— Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen) 

n 

Die Traumdeutung (l.—VI. Kapitel) 

m 

DieTraumdcutung (VII. u. Vttt. Kapltd.) / Über 

den Tranm / Beiträge zur Traumlehre 
(Märchenstoffe in Träumen — Ein Traum als Beweis- 
mittel — Traum und Telepathie — Bemerkungen zur 
Theorie und Praxis der Traumdeutung) 

rv 

Zur Psychopathologie ics Alltagslebens 

/ Das Interesse an der Psychoanalyse / 

über Psychoanalyse / Zur Geschickte 

der psychoanalytischen Bewegung 



Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie / 
Arbeiten zum Sexualleben und zur Neu- 
rosenlehre (Meine Ansichten über die Rolle der 
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen — Zur se- 
xuellen Aufklärung der Kinder — Die „kulturelle" 
Sexualmoral und die Nervosität — Ober infantile 
Sexualtheorien — Beiträge z. Psychologie des Liebes- 
lebens: Ober einen besonderen Typus der Objektwahl 
beim Manne. Ober die allgemeinste Erniedrigung des 
Liebeslebens. Das Tabu der Virginität — Die infantile 
Genitalorganisation — Zwei Kinderlügen — Gedanken- 
assoziation eines 4 jähr. Kindes — Hysterische Phan- 
tasien und ihre Beziehung zur Bisexualität — Über 
den hysterischen Anfall — Charakter und Analerotik 
Ober Triebumsetzungen, insbesondere der Anal- 
erotik — Die Disposition zur Zwangsneurose — Mit- 
teilung eines der psychoanalytischen Theorie wider- 
sprechenden Falles von Paranoia — Die psychogene 
Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung — Eine 
Beziehung zwischen einemSymbol und einemSymptom 
— Ober die Psychogenese eines Falles von weiblicher 
Homosexualität — „Ein Kind wird geschlagen" — 
Das ökonomische Problem des Masochismus — Über 
einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Pa- 
ranoia u. Homosexualität — Ober neurot. Erkrankungs- 



VI 

Zur TecuniK. (Die Freudsche psychoanalytische 
Methode — Ober Psychotherapie — Die zukünftigen 
Chancen der psychoanalytischen Therapie — Ober 
„wilde" Psychoanalyse — Die Handhabung der Traum- 
deutung in der Psychoanalyse — Zur Dynamik der 
Übertragung — Ratschläge für den Arzt bei der psy- 
choanalytischen Behandlung — Ober fausse recon- 
naissance [„dejä raconte"] während der psychoana- 
lytischen Arbeit — Zur Einleitung der Behandlung 
— Erinnern, Wiederholen u. Durcharbeiten — Bemer- 
kungen über die Übertragungsliebe— Wege der psycho- 
anal yt. Therapie — Zur Vorgeschichte der anal yt. Tech- 
nik) / Zur Einführung des Narzißmus / 
Jenseits d. Lustprinzips / Massenpsycho- 
logie u. Ich-Analyse / Das Ich u. das Es 
VII 
Vorlesungen zur Einführung in die 
Psyckoanalyse 

vnr 

Krankengeschichten (Bruchstück einer Hysterie- 
analyse - Analyse der Phobie eines 5 jähr. Knaben 

— Ueber einen Fall v. Zwangsneurose — Psa. Bemerkun- 
gen über einen autobiograph. beschriebenen Fall v. Para- 
noia — Aus der Geschichte einer infantilen Neurose) 

LX 

Der Witz und seine Beziehung zum 
UnbevuJjten/DeAv"ahn und die Träume 
in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kind- 
Leitserinnerung des Leonardo da Vinci 

X 
Totem und Tabu/ Arbeiten zur Anwen- 
dung der Psychoanalyse (Tatbestandsdia- 
gnostik und Psychoanalyse — Zwangshandlungen und 
Keligionsübong — Ueber den Gegensinn der Urworte 

— Der Dichter und das Phantasieren — Mytholo- 
gische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung 

— Das Motiv der Kästchenwahl — Der Moses des 
Michelangelo — Einige Charaktertypen aus der psy- 
choanalytischen Arbeit — Zeitgemäßes über Krieg und 
Tod— Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse — Eine 
Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit" — 
Das Unheimliche — Eine Teufelsneurose im 17. Jahrh.) 

XI 

Nachträge / Bibliographie / Register 



DieBändelV, V, Vllu. VIII erscheinen im Mal 19 3 4, die anderen Ende ipaS 



IMAG O -BÜ CHER 



T. 

DER KÜNSTLER 

ANSÄTZE ZU EINER SEXUAL-PSYCHOLOGIE 

• Von Dr. OTTO RANK 

Das Werk Ranks behandelt in lichtvoller Darstellung 
entscheidende Fragen. Der Weg ist kühn -aber kein 
Marsch auf der Straße. Die Zeit. 

Viele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und bei- 
nahe rücksichtslose Meinungen. Es gehört eine große 
Freiheit des Geistes und eine sehr schatzbare Unbe- 
fangenheit dam. Rank hat auf dem Wege nur Seelen- 
schau des Künstlers eine ganze Menge psychologischer 
Probleme auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft una 
mit schöner Prägnanz demonstriert. 

Münchner Allgemeine Zeitung. 

II. 

TOLSTOIS KINDHEITS- 
ERINNERUNGEN 

EIN BEITRAG ZU FREUDS LIB1D0THE0RIE 
Von Dr. N. OSSIPOW 

Auf der gigantischen Persönlichkeit dieses großen 
Russen, erschütternd entgegenschimmernd aus seinem 
künstlerischen Schaffen, fast nacktgeschurft in dem 
Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal der 
geschärfte und geläuterte Blick psychoanalytischer 
Erkenntnis. Der Mensch und Künstler selbst ein 
Zergliederor, selbst ein Träger genialischer licien- 
psychologic, tritt hier in den Leuchtkegel modernster 
wissenschaftlicher Seelencinsicht In merkwürdig«- 
Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer 
Sexualgrübelei mit denen der psychoanalytischen fcros- 
lchre Die Studie beansprucht, sowohl von den fae- 
nießern Tolstoischer Kunst willkommen geheißen zu 
werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten 
Leser brennendes Interesse vorzufinden. 

ni. 

DER EIGENE UND DER 
FREMDE GOTT 

ZUR PSYCHOANALYSE DER 
RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG 

Von Dr. THEODOR REIK 

Inhalt: Über kollektives Vergessen. — Jesus und 
Maria im Talmud. — Der hl. Epiphanius verschreibt 
sich. — Die wiederauferstandenen Götter. — Das Evan- 
gelium de« Judas Ischkarioth. — Die psychoanalytische 
Deutung des Judasproblems. — Gott und Teufel. — 
Die Unheimlichkeit fremder Götter und Kulte. — Das 
Unheimliche aus infantilen Komplexen. — Die Äqui- 
valenz d. Triebgegensatzpaare. —Über Differenzierung. 
Diese Arbeiten sollen, schreibt der Verfasser in der 
Vorbemerkung, „einen Versuch darstellen, von ana- 
lytischen Gesichtspunkten aus die Erscheinungen de * 
religiösen Feindseligkeit und Intoleranz psychologisch 
zu erklären und zugleich den tieferen Ursachen der 
religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen. Woferne 
die Konvergenz der Ergebnisse in diesen von ver- 
schiedenen Seiten hergeführten Untersuchungen einen 
Schluß auf die Richtigkeit des Ganzen zuläßt, wurde 
ich hoffen, daß die vorliegende Aufsatzreihe ein 
wichtiges Stück der religiösen Entwicklung in einem 
neuen Lichte erscheinen läßt." 



IV. 

DOSTOJEWSKI 

Von JOLAN NEUFELD 

Wie ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt 
ist und dabei an einer Verschwörung gegen den 
Zaren teilnimmt? Wie kann jemand tief religiös und 
zugleich absolut ungläubig sein? Woher kommt es, 
daß ein Mensch, der mit jeder Nervenfaser an seiner 
Heimatscholle klebt, Monate, ja Jahre im Auslande 
verbringt? Woher kommt es, daß er dem Gelde un- 
unterbrochen nachjagt, um es dann wie etwas voll- 
kommen Wertloses zum Fenster hinauszuwerfen? 
Wie das Leben, so ist auch die Dichtung Dostojewskis 
enigmatisch. Rätselhafte Charaktere, entgleiste Perverse 
sind die Helden seiner Romane und geben uns Rätsel 
über Rätsel auf, die mit der BewußlseinspsycholoBie 
überhaupt nicht lösbar sind. Der Zauberschlussel der 
Psychoanalyse aber sprengt die Schlösser. 

V. 

GEMEINSAME 

TAGTRÄUME 

Von HANNS SACHS 

Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung 
der Tagträume für den Lebensweg und die LlebeswaiU 
des Einzelnen hinwies, traf sie wenigstens an dieser 
einen Stelle mit einer längst gangbaren Überzeugung 
zusammen, daß nämlich die lagtraume die allgemein 
menschliche Vorstufe seien, von der aus sich in be- 
gnadetem Sonderfalle der Aufstieg zum Kunstwerk, 
zur Dichtung vollziehe. Sachs weist nun die unbe- 
wußten Quellen der Tagträume nach, und untersucht 
eingehend die Frage, wie sich der Tagtraum zum 
Kunstwerk verwandelt, wodurch sich der Dichter vom 
Neuroner, vom Verbrecher, vom Führer der Masse 
und schließlich in der Literatur vom Pfuscher und Nach- 
ahmer unterscheidet. Er weist auf den Zusammenhang 
zwischen dem nach EnÜastung lechzenden Schuldbe- 
wußtsein und dem zur Aufgabe des Ichs und zur 
Verschiebung auf das Werk bereiten Narzißmus hin. 
Im Besonderen analysiert er dann in zwei breit an- 
gelegten Studien zwei Kunstwerke, die beide Anzeichen 
und Vorboten einer Produküonsheramung im Leben 
ihrer Schöpfer darstellen: Schillers„Geistersener- 
und Shakespeares „Sturm". Die Psychoanalyse 
entwickelt sich „nach dem Gesetz nach dem sie ange- 
treten": da sie aus der Erforschung der Störungen er- 
wachsen ist, die der unvollkommenen Bewältigung un- 
bewußter Wünsche ihr Dasein verdanken, so vermag sie 
sich den Problemen der künstlerischen Schöpfung auch 
am besten von der Seite der Hemmungen her zu nähern. 

VI. 

DIE AMBIVALENZ 
DES KINDES 

Von Dr. HANS GUSTAV GRABER 

Aus dem Inhalt: Ambivalenz bei Bleuler; bei Freud. 
Der Urhaß. Die Elternbindung. Der Geschlechtsunter- 
schied. Das Lustverbot. Tierphobien. Das Uber-Ich. 

VII. 

PSYCHOANALYSE 
UND LOGIK 

Von Dr. I. HERMANN 

Ausdemlnhalt: Dualschritte aus der Entwicklungs- 
psychologie; in der Biologie; in der schönen Literatur. 
Der Umkehrschritt. Der Abwenduiigsscliritt. Der 
Schritt des Sinkens. Über Sophismen. 



INTERNATIONALER PSYCH OAALYTNISCHER VERLAG 

Wien VII. Andreasgasse 3 



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