Psychologische Jjeobachtungen
an ^riecniscneii ± nilosopnen
(Parmcnidcs — Sokratcs)
HEINRICH GOMPERZ
Internationaler
Psy clioanaly tisclier Verlag
Lelp-is ' W ''» / ZGrJcli
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN VII. ANDREASGASSE 3
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
i
Herausgegeben von Prof. Dr. SIGM. FREUD
So2Z: al rV 9 tl 2 ~ 1923) u n ? ^ anderCn ***** ***• ™ *" <**£ ^ r
Soziologie, der Volkerpsychologie u . der Religionswissenschaft
Abraham: Der Versöhnungstag
Andreas-Salome: Von frühem Gottesdienst
I e r n y : Zur Hypothese des sex. Ursprungs der Sprache
isler: Der fisch als Sexualsymbol
elszeghy: Panik' und Pankomplex
'"j xi»-7i n,ge l 4 ber ®'>Mtimmungen im Seelenleben
der Wilden und der Neurotiker
- rage der psychologischen Grundlaeer
« de8 Ursprungs der Religion
olnai: Ober das Mystische
- Zur psychoanalytischen Soziologie
bvi: Die Kastration in der Bibel
- Sexualsymbolik in der biblischen Paradiesgeschichte
i- ist das Kainszeichen die Beschneidung
orenz: Der Mythus der Erde
- Das Titanenmotiv in der allgemeinen Mythologie
erschienen :
Müller- Braunschweig: Psychoanalytische Ge-
sichtspunkte zur Psychogenese der Moral
r-fister: Die Entwicklung des Apostels Paulus
*"„ » £ W n" $*?& ^ ^ d " PM »8«pk u - Seelsorgo
Rank: Die Nacktheit in Sage und Dichtung 8
~DichtWü Uan <ZUr S ° 2i8,en Funktion der
Reik: Das Kainszeichen
"gSiunSä" UBd dle P***— *•" Ver-
— ödipus und die Sphinx
Röheim: Zur Psychologie der Bundesriten
S 1m1« sexuc,fe Anteil an der *****
Silberer: Ober Marchensymbolik
Sperber: Ober den Einfluß sexueller Momente auf
hntstehung und Entwicklung der Sprache
Wölk: Das Tri-theon der alten Inder^
DER POLITISCHE MYTHUS
BEITRÄGE ZUR MYTHOLOGIE DER KULTUR
Von Dr. EMIL LORENZ
Ho«.* , ine , pou«.^ ^t 22 ;:lr*~ tf e,n Barod£^,eB ' d, - *** r ' eine Gedanke V n keine ;
^arcr*-- oiAt nur *■ tetere ~ *• *— * * — iJEsKSesa
SYCHOANALYTISCHE PSYCHOTECHNIK
Von Dr. FRITZ GIESE
L Psychoanalyse und Wirtscfaaftspsychologie (Über erotisierte Reklame). -
II. Psychologische Eignungsprüfung
Psychologische Beobachtungen
an griechischen Philosophen
Von
Dr. Heinrich Gomperz
a. ö. Professor an der Universität Wien
Sonderabdruck aus „Imago, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
auf die Geisteswissenschaften" (herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud)
X. Band (1924), Heft 1
1924
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig / Wien / Zürich
^
ALLE RECHTE,
INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG,
VORBEHALTEN
COPYRIGHT 1924
BY INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
GES. M.B.H. WIEN
" J INTERNATIONAL
- WM PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
GEDRUCKT BEI CARL FROMME GES. M.B.H., WIEN V
Psychologische Beobachtungen
an griechischen Philosophen
Daß uns die Psychoanalyse auf viele Tatsachen achten gelehrt
hat, die früher niemand beachtet hat und die doch der Beachtung
in hohem Maße wert sind, kann kein Unbefangener bestreiten.
Dies anerkennen heißt freilich nicht sich auch alle Schlüsse an-
eignen, die sie aus solchen Tatsachen glaubte ziehen zu dürfen,
oder gar alle Ergebnisse, zu denen diese Schlüsse sie geführt
haben. Ja, auch das Bemühen, neue Tatsachen dieser Art zu er-
mitteln und sie mit den sonst bekannten Tatsachen und Gesetz-
mäßigkeiten wenigstens vermutungsweise zu verknüpfen, verträgt
sich durchaus mit der Überzeugung, daß weder das schon Be-
kannte noch das neu Ermittelte uns bisher in den Stand setzt,
gerade jene Fragen zu beantworten, deren Beantwortung uns alle
am meisten befriedigen würde. Der Wert der Tatsachen selbst
wird durch diese Zurückhaltung nicht gemindert und bei ihrer
Ermittlung, Verwertung und Veröffentlichung sollten auch solche
zusammenwirken können, die über Haltbarkeit und Tragweite der
bisherigen Ergebnisse der Psychoanalyse verschieden denken. In
diesem Sinne möchte auch ich die Gastfreundschaft der „Imago"
Imago X/i *
H. Gomperz
für einige Beobachtungen über die geistig-leibliche Veranlagung
und Entwicklung griechischer Philosophen in Anspruch nehmen.
Inwieweit diese Beobachtungen auch dazu beitragen, den eigen-
tümlichen Lehrgehalt ihres Philosophierens besser verständlich zu
machen, das werden die Leser selbst einigermaßen beurteilen
können. Meines Erachtens ist das bisher nur in sehr eingeschränktem
Umfang der Fall.
i. Parmenides
Parmenides lebte in Elea in Unteritalien. Als die Zeit seiner „Blüte"
gaben die alten Chronologen die Jahre 504 bis 50 1 v. Chr. an, sie
dachten ihn also etwa zwischen 544 und 541 geboren. Piaton
schildert ihn, als wäre er um 455 oder 45 1 ein hochbetagter Mann
gewesen, der indes noch trefflich erhalten, „etwa wie ein Fünfund-
sechzigjähriger" aussah. Er zählte also damals gewiß mindestens
achtzig Jahre, war demnach spätestens 531 geboren. 1 Zur Zeit,
da er sein Lehrgedicht verfaßte, war er, wie aus diesem selbst
hervorgeht, ein noch waffenfähiger Mann, 2 schwerlich über fünfund-
vierzig. Dieses Gedicht kann also nicht jünger sein als 4865 wahr-
scheinlich ist es einige Jahre älter.
Über sein Leben wissen wir so gut wie nichts. Theophrast be-
zeichnete ihn als den Sohn des Pyres , doch gab es daneben viel-
vJ? ° idS ' Fra f^ ente der Vors °kratiker >8A 5 : WmQOOi^a ...xcn ävöoi näw
Viag *dw noeoßvivi . . . M veo S 5>v izeivov ß äla *} roxe bvrog TtQMßtoov . . . eö
Htua d V *9*ß**n> ■ • ■ «<p6ö Q a rcoAtdi», nalbv de KäyaMv zi,v o Vt v mgi £v V fidhoia
xantrmikcwma. Man versteht .hier gewöhnlich: „Er war damals etwa fünfnnd-
sechzig Jahre« und macht danach Parmenides um fünfzehn his zwanzig Jahre zu jung
A- G \ r v ." ' einCS Fünfu "<^chzigjährigen hätte Piaton nicht so nach-'
druckheh betont. Der Zeitpunkt, zu dem das Gespräch spielt, ergibt sich aus der
Angabe der um 469 geborene Sokrates sei damals noch „ganz jung« gewesen. Piatons
Darstellung stimmt, richtig verstanden, mit den Angaben Apollodors (Vorsokr 18 A ^
so ziemlich überein. °*'J
2) Denn die Göttin redet ihn I, 24 als xovgog an, was ich durch „Junker" wieder
zugeben versuche. «ieaer-
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 3
leicht noch eine andere,* möglicherweise besser begründete Über-
lieferung, der zufolge er „durch seine Geburt der Sohn des
Teleutagoras, durch Adoption dagegen der Sohn des Parmenides"
gewesen wäre. 3 Jedenfalls war seine Familie vornehm und begütert.
Unzweifelhaft ist, daß der Dichter und Denker Xenophanes, der
etwa dreißig Jahre älter war als er, auf Parmenides einen ge-
wissen Einfluß übte, doch wissen wir nicht, ob dieser Einfluß
sich auf persönliche Berührung gründete. 4 Als sein eigentlicher
Lehrer erscheint vielmehr Ameinias, der Sohn des Diochaites, „ein
edler, wenngleich armer Mann", der ihn für die pythagorische
Lebensweise gewonnen haben soll und dem er nach seinem Tode
ein Grabtempelchen errichtete. 5 Als Parmenides selbst alt geworden
war, ward ein um vierzig Jahre jüngerer Mann, Zenon, sein
3) Vorsokr. 19 Ai ist überliefert: „Zenon von Elea. Diesen nennt Apollodor in
der Chronik den Sohn des Pyres und von Parmenides" (den nämlich Theophrast zum
Sohne des Pyres macht) „sagt er, er sei als Sohn des Teleutagoras geboren, von
Parmenides aber adoptiert worden." Man stellt nun meist um: „Zenon . . . Von
diesem sagt Apollodor . . ., er sei als Sohn des Teleutagoras geboren, von Parmenides
aber adoptiert worden, den Parmenides aber nennt er den Sohn des Pyres." So ist
die Übereinstimmung mit Theophrast (Vorsokr. 18 A 7) hergestellt und die Bemerkung
über Parmenides gut angeknüpft. Allein es ist doch auffallend, daß die Gleichnamig-
keit des Adoptierenden und des Adoptierten (die besonders bei der Adoption eines
Enkels oder Neffen häufig gewesen sein muß) nur auf mechanischer Textstörung be-
ruhen soll; ferner, daß Piaton, wo er Parmenides und Zenon zusammen einführt, nicht
nur von einer Adoption nichts erwähnt, sondern vielmehr von Zenon sagt : xai Xiyea'&at
avzöv naidtxä xov IlaQfievtöov yeyovevai, was sich doch mit jenem Verhältnis kaum
verträgt. Wich also Apollodor von Theophrast bewußt ab, so könnte er seine guten
Gründe dafür gehabt haben.
4) Eine solche Berührung wäre unwahrscheinlich, falls bei Parmenides Miß-
verständnisse des Wortlauts von Versen des Xenophanes angenommen werden dürften.
Und eine solche Annahme wird vielleicht dem beachtenswert scheinen, der Parmenides'
Lehre von der dri£a (I, 30; VIII, 51; vgl. VIII, 60: ioixöza ndvza) mit den schlichten
Bescheidenheitswendungen des Xenophanes vergleicht (XXXIV, 4: öÖKog ö'ini Jiäai
zexvxzai; XXXV: xavza öeöo^äo 1 ^) ßiv ioixöza zotg iztipoioi) oder darauf achtet, in
wie verschiedenem Sinne Parmeniaes (VIII, 4) das Wort otiXog auf sein Seiendes und
Xenophanes eben dasselbe Wort (XXIV) auf seinen Gott anwendet.
5) Vorsokr. 18 A 1. Sotion nennt hier Ameinias einen Pythagorikcr, von dem Par-
menides elg "fjövzia-v JlQOEZQän'r]. l)avxta aber ist Kunstausdruck für die pythagorische
Lebensweise (Vorsokr. 4, ig = Diog. Laert. VIII 7; Lukian, Vit. auct. 3). Durch Sotions
Worte schimmert vielleicht noch ein Vers aus der Weihinschrift des Heroons durch,
etwa: Sc. nozi /.i'ig ae/iviyf nQOvzQsnev ■fiövzlrjv ( v §^- u - Anm. 103).
. H. Gomperz
Schüler, der nicht nur seine Lehre verteidigte und zum Teil
fortbildete, sich ihm vielmehr auch menschlich aufs innigste an-
schloß: es ist möglich, daß er ihn an Sohnes Statt annahm, und
Piaton erwähnt das (wie aus dem Folgenden hervorgehen wird,
wohl durchaus unglaubwürdige) Gerücht, es habe zwischen beiden
ein päderastisches Verhältnis bestanden.
Das Lehrgedicht des Parmenides zerfiel in drei ungleiche Teile:
die Einleitung, die „Wahrheit" und den „Wahn". Die beiden
ersteren sind uns so gut wie vollständig erhalten/ auch aus dem
dritten kennen wir nicht ganz wenige Verse und auch der Inhalt
der verlorenen Abschnitte ist uns durch Auszüge zum Teil bekannt.
In der Einleitung schildert Parmenides seine wunderbare Fahrt
auf dem Sonnen wagen in die Himmelsburg, 8 allwo ihm Hemera,
die Göttin des Tages, 9 die beiden Ansichten offenbart, die mit-
6) Vorsokr. 18 A 5; vgl. o. Anm. 5. Festzuhalten ist, daß wir nur die Wahl haben,
den Parmenides zum Adoptivsohn eines altern Parmenides oder aber zum Adoptivvater
Z,enons zu machen, daß aber diese beiden Annainnen nicht zusammen bestehen können.
7) W. Kranz, Über Aufbau und Bedeutung des parmenideischen Gedichts, Berliner
Sitzungsberichte 1916, 1175; dazu H. Gomperz, Hermes LVIII, 28«.
8) Das Tor dieser Burg (I, 25) öffnet und schließt die Dike (I, 14), eine der drei
Hören (Hesiod, Theog. 902); von den Hören wird aber das Himmelstor gehütet (II.
V 749) und daß Parmenides wirklich dieses selbe Tor im Sinn hat, lehrt der Ver-
gleich seiner Worte (xfß §a öi'aizEav/iHg e%ov xoöoat y.aT'd,ua^ndv agpa xai Innovg,
I, 20 f.) mit denen Homers (rrjt £a Öl'a1)td0v xsvTQr)vex6ac; l%ov Innovg, II. V 752).
Die Himmelsburg, zu der die Sonnentöchter den Wagen fahren, ist entgegengesetzt
dem Palaste der Nacht, von dem diese Fahrt ihren Ausgang nahm (I, 9): der Weg
von diesem zu jener ist der Weg des Tages, der Weg von jener zu diesem ist der
Weg der Nacht, beide Wege laufen durch das Einfahrtstor der Himmelsburg (I, 1 1
— ebenso natürlich auch durch das des nächtlichen Palastes).
9) Die Burg der Göttin ist das Ziel der Fahrt (I, 25), die von dem Palast der
Nacht ihren Ausgang nahm (I, 9); Nyx, der Göttin der Nacht, entspricht aber als
ihr Gegensatz Hemera, die Göttin des Tages (Hesiod, Theog. 124 und 748). Nur
wohnen beide nicht, wie an dieser letzteren Stelle, in einem Hause, in dem sie sich
dann freilich nur abwechselnd aufhalten könnten (das Tor dieses Hauses hat denn
auch Theog. 750 eine eherne Schwelle, die des Himmelstores dagegen ist von Stein,
Parm. I, 12), sondern in einander entgegenliegenden Burgen, die sie nicht selbst ver-
lassen zwischen denen vielmehr der Sonnenwagen hin- und herfährt. Und so gehört
es sich auch, da ja Parmenides (VIII, 58) ausdrücklich sagt, daß die Nacht dem himm-
lischen Feuer gerade entgegenliegt. Zu der Annahme aber, die Göttin, die Parmenides
belehrt, könnte dieselbe sein, die (XII, 3) die Welt lenkt, besteht um so weniger Anlaß,
als es ja eben jene ist, die von dieser in der dritten Person zum D.chter spricht.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
einander im Streite liegen: die „Wahrheit", der zufolge es nur
eines gibt, das „Seiende", das, ungeworden, unveränderlich und
unvergänglich, als gleichartige, unbewegliche, kugelförmige Masse
den Himmel ausfüllt und den „Wahn", der die Menschen dazu
verführt hat, zweierlei zu unterscheiden, Licht und Dunkel:
diese dachten sie auf eine obere und eine untere Region verteilt
und aus ihrer Vermischung ist dann für diesen Wahn jene ent-
standene, veränderliche und vergängliche Welt hervorgegangen, 10
die wir mit unseren Augen und Ohren wahrzunehmen, mit unseren
Worten zu benennen vermeinen.
Ich lasse nun zunächst Einleitung und „Wahrheit" in deutscher
Übersetzung folgen, und füge ihr nur jene Anmerkungen bei, die
mir, sei es zum Verständnis des Gedichts, sei es zur Rechtferti-
gung meiner Übersetzung, unerläßlich scheinen:"
/. Einleitung
Brachst. i,i: Rosse, die ihr mich fahrt, soweit mich mein Sehnen hinaustreibt,
Diesmal jagtet ihr hin auf der heiligen Straße der Gottheit,
Welche den kundigen Mann in sämtliche Teile der Welt trägt. 12
Und so fuhr ich dahin: ihr, hochverständige Rosse,
5: Jagtet dem Wagen voran' und die Mädchen wiesen den Weg uns. 1 '
10) Karl Reinhardt, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie,
Bonn 1 91 6, hat schön gezeigt, daß Parmenides zwischen einer bloß imaginären Weltbildung
für den menschlichen Wahn und einer wirklichen Weltbildung durch eben diesen Wahn
nicht folgerecht unterscheidet. Hätte man ihm freilich die Frage, so scharf zugespitzt,
vorgelegt, er hätte nicht gezögert, sie im Sinne der erster en Auslegung zu entscheiden.
11) Die Übersetzung sucht auch den außerordentlich holprigen und prosaischen
Charakter der griechischen Verse wiederzugeben, der natürlich in der „Wahrheit"
am meisten auffällt. - Meine Vorschläge zur Verbesserung des Textes sind, freilich
ohne Begründung, auf Grund brieflicher Mitteilung größtenteils verzeichnet von
Diels, Vorsokratiker, 4. Auflage. „Nachträge zum I. Bande«, 1922.
12I Welche" kann auch im Griechischen sowohl auf „Straße« wie auf „Gottheit
bezogen" werden; ersteres gewiß das Richtige. „Straße der Gottheit", weil sie den
Dichter der Göttin zuführt, die ihn belehrt. An dem durch Vorsokr. 66 B 21, 3 (wo.
es sich ebenfalls auf die Sonnenbahn bezieht) gesicherten jidvr'äöTi} ist trotz Nestle
bei Zeller, Ph.d. Gr. I 16,727 a , nicht zu rütteln.
13) Die Sonnentöchter fahren auf dem Sonnen wagen als seine Lenkerinnen mit.
H. Gomperz
Aber ein pfeifender Ton erklang von der Achse, die in den
Naben, vom Kreisen der Räder herumgewirbelt, sich heiß lief;
Denn es beeilten die Fahrt ins Licht die Töchter der Sonne.
Weit schon lag hinter ihnen die Burg der Nacht und vom Haupte
10 : Schlugen sie nun mit der Hand zurück die schützenden Schleier.
Dort ist das Tor, das den Weg desTages sowie auch der Nacht sperrt: 14
Unten die Schwelle von Stein, von oben umrahmt es der Türsturz ;
Hochauf ragt es, erfüllt von gewaltigen Flügeln: den Schlüssel,
Der sie versperrt und erschließt, verwahrt die Göttin des Rechtes.' 5
15 : Dieser nun sprachen die Mädchen zu mit schmeichelnden Worten
Und beredeten sie, den verpflöckten Riegel der Pforte
Eilends ihnen zur Seite zu stoßen. 16 Da flogen die Flügel
Klaffend auf: nacheinander drehten sich in den Pfannen
Zapfen und Dornen der beiden mit Erz beschlagenen Pfosten
20 : Und durchs geöffnete Tor, da lenkten die Mädchen, der Fahrspur
Folgend, gerad' aufs Ziel den Wagen, den rossebespannten.
Huldreich nahm die Göttin mich auf, ergriff meine Rechte
Mit ihrer Hand und sprach, zu mir gewendet, die Worte:
Sei uns, Junker, gegrüßt! Unsterbliche 1 " lenkten die Rosse,
25: Die dich im Flug hieher, zu unserer Wohnung, getragen.
Denn nicht regt' eine Unheilsmacht dir auf das Verlangen,
Diese Straße zu zieh'n, weitab den Pfaden der Menschen,
Sondern der Pflicht und des Rechtes Göttin; erfahre drum alles:
Erst das nie erzitternde Herz der gerundeten Wahrheit,
30: Dann auch der Sterblichen schwankenden Wahn, dem wahre
Gewähr fehlt!
Gleichwohl fass' auch diesen und daß wahrscheinlicher Anschein
Einst notwendig das All in all seinen Teilen erfüllt hat!' 8
14) Das Tor der Himmelsburg, die die Tagesgöttin bewohnt; vgl. 0. Anra. 8 und 9.
15) Sie wacht darüber, daß der Sonnenwagen die Fahrzeiten einhält, bei denen
die Länge von Tag und Nacht jeweils im richtigen, vorherbestimmten Verhältnis steht
und verhindert so, daß Tag und Nacht voneinander benachteiligt werden könnten;
vgl. Vorsokr. 12 B 94.
16) Sie tut damit kein Unrecht, da diesmal nicht die Sonne selbst den Sonnen-
wagen fahrt, dessen Einfahrt daher an dem Verhältnis der Tages- und der Nacht-
länge nichts ändert.
17) Die Sonnentöchter.
18) Meine Auffassung der vielumstrittenen Verse Vorsokr., Nachtr. XXVIII, 11.
for vorjv daß, nicht wie es notwendig wurde, da wg bei Parmenides durchwegs jene
Bedeutung hat. xä öoxfytcoc öoxodita Wortspiel ganz ähnlich wie Vorsokr. 12 B 28,
wo ich lese: öoy.eöviov yäg öoxifMÖvaiov ywäoy.ei . . .
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
IL Wahrheit
Br. IV, i : Und nun verkünd' ich dir's, du aber bewahre die Rede,
Welches die beiden einzigen Straßen erkennender Forschung
Sind: die Straße des Seins, (der Erkenntnis): „Unmöglich ist
Nichtsein", 19
Ist der Belehrung Straße und alsbald folgt ihr die Wahrheit.-* 5
5 : Aber des Nichtseins Straße, des Wahns : „Notwendig ist Nichtsein" ,
Das ist, so lehr' ich, ein Pfad, der gänzlich dem Wissen entrückt ist.
Denn was nicht ist, das erkennst du auch nicht (wie wäre das
möglich?)
Und du nennst es auch nicht.
Br v . Denn nur das, was ist, kann
man kennen. 21
Br VI, i: Dies nur erkenn' und sag': Das Seiende ist, denn es kann sein. 22
Nichts aber kann nicht (sein) : ^ daß du fest dir im Geiste dies
einprägst !
Und drum hüte zuerst dich vor dieser Straße des Irrtums!
Dann aber auch vor jener, auf der unwissende Menschen
5 : Schwanken, mit Doppelgesichtern, denn ratlos lenket im Herzen
Ihnen den Schritt die schwanke Vernunft: so fahren dahin sie
Blind und taub und dumm (wie junge Kälber), 2 * verworr'ne
iq ) IV i bis VIII, 2 bilden den ersten Teil der „Wahrheit« und enthalten den
Beweis daß das Seiende ist. IV, 2: ööol dl&Oiog, voi)öai ist das letzte Wort frei
angehängt: Straßen der Forschung, die man erkennend betritt. IV, 5 &g louv empha-
tisch fast wie ein Impersonale „es istet«, es gibt etwas, gibt ein Sein.
20 ^ Das überlieferte >Akr,&elv besser als 'AAijfc^t, denn auch II. X\U 251,
Od VIII 2*7 und Hesiod, W. u. T. 141 t folgt das höhere Wesen dem geringeren:
die' Wahrheit folgt der Belehrung nicht wie ihre Dienerin, sondern erscheint un-
mittelbar nach ihr, folgt ihr auf dem Fuße, ist von ihr untrennbar
M ) XÖ y&o afaö vosiv laxtv %e %aX elvai. Gewöhnlich erklärt man: Erkennen = bei...
Allein das wäre keine Begründung des Satzes, daß, was nicht ist, weder erkannt ;noA
genannt werden kann. Sachlich ist daher nur die Erklärung von ^ZdU* •&**£*
I 2«, 68 7 o) und Burnet (Greek Philosophy I, 67 ') annehmbar, sprachlich aber «"""•
ich nicht: ziem coptari ?t *est et esse (potest), vielmehr ^^^^^^ZTZ
aixö zwar Objekt von voslv, aber Subjekt von elvat ist): ,dem enun coptar fctf« ««.
M) Ich teile ab: X Qr) rö Uyecv te voelv t'-iöv fefMWjr**t YW slvai ( T0 e ° n
durch mannigfaltige Beziehungen, zum Teil bloße Wortspiele, mit Stellen Homer,,
blonde" ft seinen Schilderungen von Fliegen- und Bienenschwärme^ .verbunden
Sil Xixl- II 469; II 8 7 ; II 868; II 246; II 796; Od. VIII 505; auch Timon Frg 9
Ssl Parme'üdes i£ also 'besonderen Wert darauf, die hier abgelehnte Irrlehre als
Massenerscheinung zu kennzeichnen.
H. Gomperz
Haufen, denen was ist und was nicht ist als Eins und doch wieder
Nicht-Eins gilt und denen beständig ihr Weg sich zurückbiegt ! *s
Br. VII, i: Denn das setzt kein Mensch je durch, daß das, was nicht ist, seil
Br. I, 33 : Drum wend' ab die Erkenntnis von dieser Straße der Forschung, 26
Daß nicht Gewohnheit, die vielgewandte, dich zwinge, auf diese
35: Straße das Auge, das blinde, zu lenken, 27 die dröhnenden Ohren
25) Obwohl nach IV, 2 dem Forscher nur zwei Wege offen stehen, ein Wahrweg-
und ein Abweg, ist nun VI, 4 bis 9 plötzlich von einem dritten Weg, einem zweiten
Abweg, die Rede. Während nämlich nach Parmenides jener erste Abweg zwar in die
Irre führt, indes doch immerhin ein Weg ist, der folgerecht bis zu einem gewissen
Punkte verfolgt werden kann, ist dieser zweite Abweg überhaupt kein Weg, denn ei-
nbiegt sich beständig zurück", wer ihn zu gehen versucht, widerspricht sich in einem-
fort selbst. Sein nämlich ist nach Parmenides (VIII, 11) nur denkbar als „völliges",
d. h. unentstandenes und unvergängliches Sein. Indem nun die Menschen zwar von
Seiendem reden, diesem Seienden aber Entstehen und Vergehen beilegen, machen sie
das Seiende zu einem Nichtseienden, verwischen jeden Unterschied zwischen Sein und
Nichtsein, setzen Sein und Nichtsein einander gleich. Dabei aber reden sie doch
wieder davon, daß eines ist, ein anderes nicht ist, so also, als wäre zwischen Sein
und Nichtsein doch wieder ein Unterschied. In diesem Sinne also gilt ihnen „was ist
und was nicht ist als Eins und doch wieder Nicht-Eins". Solche Menschen heißen mit
Recht blind und taub, weil sie sich (I, 34 f.) von der Gewohnheit dazu verführen
lassen, das Zeugnis ihres Auges und Gehörs auf solch angeblich Seiendes und doch
in Wahrheit Nichtseiendes zu beziehen, es sind Ö.KQIXO, (püXa, weil sie es nicht ver-
stehen, xqZvcu köywi (I, 36). Diese in verworr'nen Haufen einherschwankenden, von
der Gewohnheit beherrschten, den Begriff „Sein" wohl verwendenden, aber an ihn
keine Ansprüche logischer Folgerichtigkeit stellenden Menschen nun sind natürlich
die Durchschnittsmenschen: während dem Forscher nur zwei Wege offen stehen:
bedingungslose Anerkennung „völligen", d. i. ewigen Seins und bedingungslose Leug-
nung alles Seins, versucht die große Masse einen dritten Weg zu gehen, nämlich
ein Sein anzuerkennen, das aber nicht „völliges", ewiges und daher in Wahrheit gar
kein Sein ist; eben darum aber ist dieser Weg auf die Dauer ungangbar, er biegt in
sich selbst zurück und alle, die ihn zu gehen versuchen, sind zuletzt „verworrene
Haufen", die hin- und herschwanken, gelenkt von ihrer „schwanken Vernunft". Der
unglückliche Einfall von Jacob Bernays, Parmenides streite VI, 4 ff. gegen Heraklit
oder Herakliteer, an dem auch heute noch verdiente Forscher hartnäckig festhalten,
obzwar ihn Zeller längst widerlegt hat (Ph. d. Gr. I 2 6 , 926), sollte endlich aus der
Wissenschaft verschwinden: weniges in der Geschichte der älteren griechischen Philo-
sophie ist so gewiß, als daß es um 490 keine „Haufen" von Herakliteern gab!
26) Nämlich von der VI, 4 genannten. Das würde aus der Entsprechung von VI, 7
und I, 35 f. sogar dann folgen, wenn man die von Kranz ermittelte Folge der Bruch-
stücke ablehnen wollte.
27) öööv '/.axä zrjvöe ßtdada, vafiäv, „auf diesen Weg, nur deinen Blick . . . walten
zu lassen" Diels. Aber es ist dieselbe Straße wie die I, 55 mit zi)aÖ'dq>'ödofJ bezeich-
nete. Ihre Eigenart braucht [also nicht erst angegeben zu werden. Daher tilgte ich
(unter brieflicher Zustimmung von Diels, vgl. Nachträge XXVIII, 28) den Beistrich:
ßiäO'&di vafiäv = jtMjöt öfi . . . . ßidafta) vafiäv y.azä xryvöe vtyv ödöv. Parmenides ver-
wirft das Zeugnis der Sinne nicht als solches; es darf nur nicht im Sinne der VI, 4 ff.
besprochenen Auffassung gedeutet werden.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
Und das klingende Wort. 2 « Nach Gründen entscheide den
Wettstreit! 29
Denn dann siegt der Beweis, den ich dich gelehrt und es bleibt nur
Br. VIII, 2: Ein Weg übrig: die Straße des Seins ;3° voll ist sie von Zeichen
Dafür, daß, was ist, nicht werden und nicht vergeh'n kann:
Einzig, fest, der Erschütt'rung unfähig wie der Vollendung,
5 : Weder gewesen noch künftig, ist's jetzt beisammen, ein Ganzes,
Welches zusammenhängt^ 1 Den n woher sollt' es entspringen?
t 8) Ich beziehe ylüOOav auf die Zunge als Sprachwerkzeug: im Banne jener ver-
kehrten Auffassung laßt sich der Mensch auch zu verkehrten Benennungen -«fuhren
und diese sind es eigentlich, die seinen Wahn verkörpern ja nach Parmenides ihn
eigentlich erzeugen (VIII, 38; VIII, 535 IX, 1). Doch scheint Empedokles m sexner
Sfchbildung unserer Verse (Vorsokr. ., B 4, «0 die Zunge als Geschmackswerkzeug
TSfciJrJS» in einem für die „Wiener Studie»« bestimmten Aufsatze zu
Vorsokr xa B 1 zeige, in alter Sprache nie „Vernunft«. An unserer Stelle steh es an
Gegensat,, nicht n ö W a, dxo»K ytoooav. sondern zu Wog: du sollst dich nicht
vorder Gewohnheit vergewaltigen lassen, vielmehr den Stre.t nach .Grund« .der.
Sache nach, entscheiden (vgl. bes. Vorsokr. 20 B 8/1; 21 B 55, 2; 55 B 7, Herodot I
15 "»V kwi^ateSrterung Äem Ausgangspunkte IV 3 zurückgekehrt: nur
die Straße des Seins steht zuletzt dem Forscher offen; es ist also bewiesen, daß das
Seiende ist — erste Hälfte der „Wahrheit"! , ,
»1 VIII 2 bis 49 folgt nun die zweite Hälfte der „Wahrheit«, in welcher dar-
gelegt wird, wie das Seiende beschaffen ist oder, wie Parmenides dies ausdruckt,
welche Merkzeichen an der Straße des Seins stehen (daß oijpa wirklich Merk-
Mal im eigentlichen Sinne bedeutet, erhellt aus der neuerlichen Verwendung des-
selben Wortes Vin, 55). Die Merk-Male des Seienden sind aber hier zugleich Merk-
Zeichen d h. Beweise, seiner Ungewordenheit und Unvergänglichkeit, denn um dies
Haupt-Merkmal des Seienden, das es eben zum „völlig" Seienden stempelt, ist es dem
Dichter zuletzt zu tun. Daher ordnet denn auch Parmenides die fünf Merkmale, die
er dem Seienden außer diesem Hauptmerkmal beilegt, diesem entschieden unter: die
Beweise dafür, daß sie dem Seienden wirklich zukommen, sind teils in den Beweis
des Hauptmerkmals eingeschoben, teils folgen sie diesem als seine Ergänzungen nach.
Die Gliederung der Beweise ist es auch, die uns berechtigt, neben dem Hauptmerk-
mal der Ewigkeit gerade fünf weitere, im ganzen demnach sechs Merkmale zu unter-
scheiden; doch ist es vielleicht kein Zufall, daß VIII, 57 *nd 59 den belden Ur-
Erscheinungen der Wahn-Welt ebenfalls je drei, zusammen also gleichfalls seciis
Merkmale zugezählt werden. Die sechs Merkmale des Seienden sind:
I Hauptmerkmal: es ist nicht geworden und wird nicht vergehen. In & S a 7 ev^ov
iöv ml ävMeVgöv e<m ist iöv Subjekt und bezeichnet das Sexendeme vi 1 ,
VIII, 25; VIII, 46 bis 47. Der eigentliche Beweis h.efur reicht von VIII, 6 bis 2 1.
II. Merkmal: es ist einzig. Denn sollte es ein zweites Seiendes geben, so mußte es ent-
weder aus dem Seienden oder es müßte dieses aus ihm hervorgegangen sein. Daher
fällt der Beweis für die Undenkbarkeit einer solchen Annahme mit dem rur die
Ewigkeit des Seienden zusammen und wird VIII » f. in diesen eingeschoben
III. Merkmal: es ist nicht „gewesen«, so daß es jetzt nicht mehr wäre, auch nicht
„künftig", so daß es jetzt noch nicht wäre. Denn in jenem Fall mußte das Sei-
io • H. Gomperz
Wie erwuchs' es? Woraus? Aus dem, was nicht ist? 32 Das darfst dx*
Weder sagen noch glauben : unsagbar, unglaublich ist Nichtsein !
Und was hätte für Not das Sein erregt, daß es aus dem
10: Nichts erst spät und nicht schon früher zu wachsen begonnen.?
Und so gibt's notwendig ein völliges Sein oder gar kein's! 33
Doch auch daß irgend aus dem, was schon ist, ein anderes werde,
Wird durch die Kraft des Beweises verwehrt: 34, zum Vergehen.
zum Werden
Läßt es die Göttin des Rechts nicht zu: in ewigen Banden
ende vergehen, in diesem werden können. Daher auch dieser Beweis VIII, 19 f.
in den für die Ewigkeit des Seienden eingeschoben.
IV. Merkmal: es ist fest, dicht, ganz von Sein erfüllt, lückenlos zusammenhängend %
massiv. Diese Bedeutung von oüXoq ergibt sich aus Homer (II. XVI 22^, ;
XXIV 646; Od. IV 299; VII 338; X 451; XVII 89; XIX 295) und ist auch fü>
Vorsokr. 12 B 10 als Hauptbedeutung vorauszusetzen (vgl. auch Plutarch de garr.
17, 5io e ; de primo frig. 21, 955- b ). Beweis: VIII, 22 bis25 als Ergänzung des Beweises
für das Hauptmerkmal; denn wäre das Seiende nicht massiv, sondern teilbar, so
könnte es auch zugrundegehen.
V. Merkmal: es ist unerschütterlich, unbeweglich. Beweis: VIII, 26 bis 41, gleich-
falls als Ergänzung des Beweises für das Hauptmerkmal; denn die Unvergäng--
lichkeit des Seienden beruht darauf, daß es von seiner kugelförmigen Grenzfläche
zusammengehalten, ja bis zur Unbeweglichkeit zusammengeschnürt wird; könnte
es diese Grenzfläche durchbrechen, so würde es zerstäuben; könnte es sich inner-
halb ihrer bewegen, so müßten dort leere Stellen sein, es würde also dann diese
Grenzfläche nicht mehr lückenlos ausfüllen,
VI. Merkmal: es ist der Vollendimg unfähig, weil nicht bedürftig (dreXeOlOV = nort
perfectibile, so richtig Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit = Jahr-
bücher für klassische Philologie, Suppl. XXV, 1899, S. 53g; vgl. VIII, 32 bis 33).
Beweis vorläufig VIII, 32 f., endgültig VIII, 42 bis 45; II; VIII, 46 bis 49,
wiederum als Ergänzung des Beweises für das Hauptmerkmal; denn der Voll-
endung fähig und bedürftig wäre das Seiende eben nur dann, wenn es nicht
überall bis zur kugelförmigen Grenzfläche reichte, dann aber wäre es auch kein
massives, unbewegliches und darum unvergängliches Ganzes.
Mit den Worten „ein Ganzes, welches zusammenhängt" (jiäv, iv, övve^ec) wird
dem Seienden kein neues Merkmal beigelegt, vielmehr fassen sie nur wiederholend
zusammen, was schon mit „Einzig, Fest, Unvollendbar" {[lovvoyei'ig, oüXov, äreXearov)
behauptet worden war.
32) Es ist am überlieferten Wortlaut nichts zu ändern und auch keine Lücke an-
zunehmen. Parmenides stellt in seinen Beweisen durchwegs den Fall des Nichtseins
voran und so nun auch hier den der Entstehung aus dem Nichtsein. Und so wie er
hatte es auch schon sein Vorgänger Xenophanes gehalten (Vorsokr. 11 A 28, 8 bis 9),
53) „Völliges" oder absolutes, d. i. anfangs- und endloses Sein. Der Beweis ist aber
damit noch nicht zu Ende, er schließt vorläufig nur mit dem Dilemma ab : entweder
absolutes Sein oder absolutes Nichtsein!
34) oiöe xox'lx nrit (övzog iqrfiaei ntöuog iozvsh'Cyveo'&ai %i nag'airö (raji statt
jjir) nach Simplicius, Phys. 78, 27 Diels, doch nicht mit iövxog, sondern mit ylyveo&ai
zu verbinden wie VIII, 7 mit avgt)üiv; noxe dagegen gehört zu £<pi)Oei wie VII jtwjnoTe
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
li
15: Hält sie das Sein. 35 Der Urteilsspruch wird also begründet:
Sein oder Nichtsein? 36 Und schon erfloß der Spruch: notwendig
Lautet er: lass' die eine Straße, unfaßbar, unsagbar
Ist sie und trügt, doch die andere leitet zum Sein und zur Wahrheit!
Und wie wäre, was ist, zukünftig, wie war' es vergangen?
20: War es einmal oder wird's erst sein, so ist es ja jetzt nicht! 37
So ist Werden verlöscht und Vergang, den keiner ergründet!
Seiendes teilt sich auch nicht: 38 's ist ein gleichartiges Ganzes,
Dem nicht hier ein Mehr von Sein, dort ein schwächeres, stetig
Sich zu erstrecken verwehrt: nein, ganz erfüllt es das Sein, 39 drum
zu öaufii.) = otöä i<pi)oei noxe % änöde&g, ytyveö&ai nqi i$ ovrog jhjösv jiag'aiTÖ xö ov.
Das leichte Anakoluth ovts VIII, 7 — ovde VIII, 12 ist ganz unbedenklich: weder
kann das Seiende aus dem Nichtseienden entstanden sein, denn . . . Aber auch aus
einem Seienden kann nichts anderes werden. Dies letztere sclüießt sowohl die Ent-
stehung des Seienden aus einem frühem Seienden aus als auch die Umwandlung des
Seienden in ein späteres Seiendes, somit seinen Untergang; daher nun ganz folgerecht
nicht mehr bloß vom Entstehen, sondern auch vom Vergehen die R«?de ist.
«) Dadurch, daß das Seiende in seine Grenzfläche unbeweglich eingeschnürt ist,
ist sowohl (sein) Vergehen wie (das) Werden (eines anderen) ausgeschlossen Diese
Einschnürung wird hier der Göttin des Rechtes zugeschrieben, weil sie dem Vv esen
des Seienden und damit der Weltordnung gemäß ist; VIII, 50 und 57 ™rd diesette
Tätigkeit aus ebenso einleuchtenden Gründen den Göttinnen des Zwanges und des
Schicksals beigelegt. . , . j j„>
*6) Damit wird das VIII, 11 gewonnene Dilemma wieder aufgenommen und der
Entscheidung zugeführt. Unter „Sein" ist hier „völliges", absolutes Sein zu verstehen.
37) Soweit sich beide Verse auf die Zukunft beziehen, sind sie ganz klar. Da aber
nach VIII, 5 in Beziehung auf die Vergangenheit ein entsprechender Gedanke vor-
auszusetzen ist, möchte ich annehmen, yevOLZO beziehungsweise iyivero bedeute hier
etwa „etwas sein, wovon man sagt: es war einmal", „etwas sein, was einmal war,
aber nicht mehr ist". . ,
58) Nicht nur, daß das Seiende nicht vernichtet werden kann, es kann auch nicht
in mehrere Stücke zerfallen, ja es sind an ihm gar nicht verschiedene Stucke zu
unterscheiden, in die es zerfallen könnte, denn es ist durchaus gleichart.g: Beweis
der Massivität des Seienden. , _
39) Das Seiende ist ganz von Seiendem erfüllt - nur scheinbar unlogisch. Ge-
meint ist: der vom Seienden erfüllte Raum ist von ihm ganz erfüllt. - Im tort-
fiange des Gedichts wird es immer deutlicher, daß das Seiende des Parmemdes Stoii,
Materie ist: der Begriff eines „Stoffes im allgemeinen", der nicht Wasser, Feuer
oder dergleichen wäre, scheint in der Tat seine Schöpfung zu sein und so konnte auch
erst er die Unvergänglichkeit des Stoffes als allgemeinen Satz aussprechen. Daß der
Stoff nicht nur unvergänglich, sondern auch unveränderlich sei, scheint er nicht nur
als erster deutlich ausgesprochen,' sondern auch als erster erkannt zu haben. Aus
dieser Erkenntnis entwickelte dann wenige Jahrzehnte später Leukipp die Lehre von
den Atomen. Was für eine Art von Stoff sich Parmenides unter dem „Seienden" vor-
gestellt haben mag und ob er ihm auch Erkenntnis (Bewußtsein) zuschrieb, wissen
wir nicht. Vielleicht spricht eher einiges dafür, daß er es sich als eine durchsichtige,
etwa glasartige, lichterfüllte, auch der Erkenntnis teilhafte Masse dachte. Sem An-
12
H. Gomperz
25: Hängt's auch ganz zusammen, denn ein Sein stößt an das and're.*°
Aller Bewegung bar, umhegt von mächtigen Banden,
Endlos, anfangslos (ist Sein); 41 Vergehen und Werden
Sind in die Ferne geweht : die Wahrheit hat sie vertrieben !
Und so beharrt dies selbige (Sein) für sich an demselben
30: Ort und harrt dort standhaft aus: des Zwanges Gewalt schlägt's
In der Begrenzung Bande, die nun ringsum es umhegen.
Darum darf, was ist, nicht der Vollendung entbehren.
Denn ihm fehlt ja nichts. Wär's nicht, dann fehlte ihm alles!**
bänger Melissos mindestens legte dem Seienden Bewußtsein bei lind sprach ihm
obzwar es den Weltraum lückenlos erfüllen sollte, doch Körperlichkeit im gewöhn-
lichen Sinne ab (Vorsokr. 20 B 7; B 9).
40) Hier scheint mit einem Male von mehr als einem Seienden die Rede zu sein.
Doch soll man darin nicht einen Selbstwiderspruch des Dichters finden wollen. £)ä
er dem Seienden räumliche Erstreckung zuschrieb, so mußte er ja annehmen, daß
jedes Raumstück von einem besonderen Stücke des Seienden erfüllt sei — nur daß
eben diese einzelnen Stücke stetig aneinanderliegen und einander ununterscheidbar
gleich sein sollten. Diese Stücke des Seienden nun sind es, die Parmenides bei den
Worten im Auge hat: „ein Sein stößt an das andre".
41) VIII, 26 beginnt der Beweis für die „Unerschütterlichkeit" des Seienden, der
darauf gestützt wird, daß die Grenzfläche des Seienden von ihm erfüllt ist wie ein
praller Beutel, in dem sich nichts bewegen kann. Dabei wird aber VIII, 27 f. sofort
die Bedeutung dieses Merkmals für das Hauptmerkmal hervorgehoben: da das Seiende
in seine Grenzen unbeweglich eingezwängt ist, gibt es in ihm auch keine Verände-
rung, kein Werden und Vergehen, keinen Anfang und kein Ende!
42) VIII, 52 geht Parmenides vorübergehend von der Unbeweglichkeit auf di t
„Unvollendbarkeit" des Seienden über, d. h. auf seine Eigenschaft, der Vollendung,
Vervollständigung, Ergänzung nicht zu bedürfen. Dabei handelt sich's ihm aber nicht
darum, wie man ihn meist versteht, zu zeigen, daß das Seiende allseits begrenzt und
abgeschlossen und nicht etwa unbegrenzt und unendlich sei. Das Vorhandensein einer
das Seiende einschließenden, ja zusammenpressenden Grenzfläche gilt ihm vielmehr
als durchaus selbstverständlich. Was ihm am Herzen liegt, ist, zu betonen, daß das
Seiende diese Grenzfläche nicht etwa unvollständig erfüllt, daß zwischen jenem
und dieser nicht etwa irgend welche leere Zwischenräume bleiben — in welchem
Falle sich das Seiende ja freilich innerhalb der Grenze bewegen könnte wie etwa
der Wein in einem nur halb vollen Faß. Nachdem er also gezeigt hat, daß die Bande
der Begrenzung das Seiende rings umhegen, fährt er fort: Darum würde es auch
gegen die Weltordnung verstoßen, wenn das Seiende unvollständig wäre (ovvezev 0*jc
dxeXeilxmov xb iöv #6>ic elvat). Denn es bedarf ja nicht (irgend einer Ergänzung;
ioxi yäg ovx iniöelg — so nämlich wäre das bei Simplicius an zwei Stellen über-
lieferte iaiöees zu sprechen, wie ja auch I, 33 eZoye neben VIII, 31 ÜQyei, VIII, 46
iy.vei.O'&at und gerade VIII, 53 iöelxo steht; doch auch das bei Simplicius an zwei
anderen Stellen überlieferte imöevtg läßt sich nach dem Vorgang von Karsten und
Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit, S. 568 „dreisilbig mit Synizese" lesen).
Dem Nichtseienden freilich würde alles fehlen (fir) iöv ö'&v Tiavxög iöelxo. Obwohl
schon Simplicius dies /«} las, haben es doch Bergk, Zeller, Diels, Reinhardt gestrichen.
Die Worte sollen dann bedeuten: Wäre es dies, nämlich einer Ergänzung bedürftig-
^\^o^eBe^^ ^ an griechischen Philosop hen 15
Eins ist Erkennen und die Erkenntnis, es sei (das Erkannte) «
55 - Denn nicht ohn' ein Sein, in dem die Erkenntnis sich aussieht,
Wirst du sie jemals finden.** Nicht gibt's ja, jetzt oder künftig,
Andres als nur, was ist: dies ruht, von der Parze gefesselt.
Fest und bewegungslos. Drum sind's nur tönende Worte,«
Die im Vertrauen, es sei die Wahrheit, Sterbliche brauchen
4 o: Wie „Entstehen und Vergehen", wie ferner „Das Sein und das
Nichtsein",* 6
Wie „DieVeränd'rung des Orts" und „Der Wechsel der leuchtenden
Farbe" ;f
" \ " Jo k\,™ alles fehlen. Allein 1. kommt iöv bei Parmenides
oder unvollständig, dann W .^£e ^tindHci, warum den, Seienden des-
nur als Name des Seienden ™r, -• {eWen müßte; ^ und vor alle m
wegen, weil ihm irgend e was fe hlt g Zusam menhang von VIII, 3 5 und
hebt diese Änderung den sogleich darzuleg einnehmen, somit den
VIII, 34 vollkommen auf) **££*«£ leer lasse n. Aber das Nichtseiende-
gesamten Raum innerhalb der '&»*»" 'f anzen _ kan n ja nicht sein. Und
Jo muß man hier Parmenider J^HSSb «?*• Unmöglichkeit des Nichtseins
so schiebt er denn hier noch einen Beweis ur S ^
ein (VIII, 34 bis 5 ,, l,^™™^^»^«* Uckzukehre,.
punkte dieser Abschweifung, de ' U T^" OT . V( ^ Man versteht zunächst: Lines
4 3) «rifö» «'i«t W* T £ «Ol O0MM ^2 1Ö Xi n w enn sich nach VIII, 5 5 Jede
ja ^Erkenntnis und das, w o von ^e .^enntms^ Allem w«£ ^ ^ ^
Erkenntnis in einem Sein „ausspne , ^ ^ Vorsokr _ Nac htr.
schlechthin zusammenfallen. Ich * ^ Dieser Ge brauch von o0v«<a
SSÄ^Ä^^' B 4 i «. - Od. V 2 i. XV 4 i ;
XV 1 J^Äne Erkers sich og^ J— J - -J^«
ST Ä^ÄÄCÄ ein irgendwie benanntes Etwas, worauf
sie sich bezöge. , «!.„--*-»„. Nur Benennungen dieses
45) Man kann auch « * als Dativ as .«n und «bergen ^ der
Seienden sind in Wahrheit die Worte, die . _ -.^ (VITI , 53; IX, i;
Parmenides auch sonst von „Namen« ^«TSÄ* «-• Auffassung nicht
XIX, 3 ; vgl. auch Diels' JP™^"^^ "g demselben Sinne ein „tönendes
4 6) „Sein" ist für *X^JS^*« also wohl der Sinn, in dem die
Wort" wie „Entstehen« oder »y er f ehen . J gebrauchen (nämlich zur Bezeichnung
Menschen die Worte „Sein" und „Ni chtsein geh rauche n Q ^ ^
von solchem, was nicht immer ist« ^^.^ eten auf dieselben Dinge
vergeht) und vor allem dies, daß sie sie £ T"*^ J, entstan den ; was jetzt ist,
anwenden (was früher nicht war, ist J etat "7 *"" «Ver Dich ter als bloße Redens-
wird später nicht sein, - denn es wird vergehen), was
art, als „bloßen Namen" verwirft. im Vordergrund. Vermut-
' 7) Für Parmenides steht immer das Seiende als ^Ganzes im « ^
hchbezieht sich darum auch dies Vereng, ur «£a r a lern ^ ^g ^
Ljga
14
H. Gomperz
Aber zu äußerst ist (Sein) begrenzt; nicht fehlt ihm der Abschluß
Allseits: es gleicht der Wucht einer wohlgerundeten Kugel, 4 *
Allwärts gleich, von der Mitte gemessen: es kann an dem einen
45: Ort nicht stärker sein noch schwächer als an dem andren I«
Br. II, 1 : Blick' auf das, was fern : nah zeigt's und verläßlich der Geist dir.5o
Denn du reißest das Sein nicht los, daß vom Sein es sich scheide.5*
Weder indem's allwärts sich zerstreut, gleichmäßig geordnet,
Noch indem es sich sammelt (an dieser Stell' und an jener).* 2
doch nach VIII, 55 ff. eben die Unterscheidung von Licht und Nacht die Grundtatsache
des gesamten menschlichen Irrwahns). Allein wenigstens mittelbar sind in jenes Ver-
werfungsurteil gewiO auch alle Bewegungen und Verfärbungen einzelner Dinge ein-
geschlossen.
48) VIII, 42 bis 49 der (VIII, 52 bis 33 mir flüchtig vorweggenommene) „Beweis«
für die „Unvollendbarkeit", d. i. die Vollständigkeit des Seienden: es reicht auf allen
Seiten bis zur „Grenze". Diese Grenze ist natürlich der Himmel als der augenschein-
liche Abschluß des vorhandenen Stoffes und an diesem Augenschein hat Parmenides
niemals gezweifelt! Da nun das Seiende (der Stoff) allseits bis zu dieser (wie Par-
menides eben als ganz selbstverständlich voraussetzt: kugelförmigen) Grenze reicht,
so „ist es" was seine Gestalt betrifft „der Masse eines gut gerundeten Balles ähnlich"
— d. h. es ist selbst eine massive (weil durch und durch von Stoff erfüllte) Kugel :
die als Unterschieds- und lückenlose Masse gedachte Weltkugel!
49) Da das Seiende allseits bis an die begrenzende Kugelschale reicht, sind all
seine Halbmesser gleich, die zwischen Mittelpunkt und Grenzfläche gelegene Masse
kann nicht auf einer Seite dicker pder dünner sein als auf einer anderen: das
Seiende hat keine unregelmäßige Gestalt.
50) Mit alledem werden freilich Behauptungen über weit Entferntes, dem Augen-
schein Entrücktes aufgestellt, allein was für die Sinne fern und fragwürdig scheint,
»st für die Erkenntnis nah und gewiß {äneövza vom nageövza, vgl. das Vorsokr. 12
ß 34 zitierte Sprichwort: nageövrag äneivai). Dieser erste Vers des Bruchstücks II
ließe sich natürlich auch anderswo einschieben; allein VIII. 46 gibt deutlich die Be-
gründung 2 „ II, 2 bi s 4 . Bei der „Erkenntnis" denkt aber Parmenides hier wohl an
die anschauliche Vorstellbarkeit, denn die Annahme zweier räumlich getrennter Seiender
bietet wohl kerne unmittelbar logische Schwierigkeit. Dagegen kann man sich nicht
zwei Dinge m einem gewissen Abstand vorstellen, ohne sich auch dazwischen etwas
vorzustellen, dies etwas aber wäre eben wieder Seiendes!
51) Es gelingt dem Menschen nicht, ein Stück des Seienden abzuschneiden, so
daß es mit dem andern (vgl. o. Anm. 40) nicht mehr zusammenhinge (änm/rißei ist
2. Pers. Fut. Med., nicht 3. Fut. Act.; xov iövxog S X ea-&ai bezeichnet den Zustand, der
durch das Abschneiden beseitigt würde). Das ist eben unvorstellbar (Anm. 50). VIII,
44 f. war gezeigt worden, daß das Seiende nicht einen unregelmäßigen Körper dar-
stellt. Noch weniger — so ergibt sich nun — kann es auf mehrere Körper verteilt sein.
52) Weder so, daß kleine Stoffmassen regelmäßig {xaxä xööfiov, wie Tl. X 472;
an „Welt" ist hier gar nicht zu denken) im Baum verteilt wären (erste Erwähnung'
des Atomismus im Abendland! Der Gedanke blitzt freilich nur auf, um alsbald ver-
worfen zu werden) noch so, daß der Stoff (hier und dort zu einigen größeren Massen)
zusammenträte (II, 4 mag etwa mit Iv&a xai Iv&a geschlossen haben: vom Zusammen-
treten zu einer Masse kann hier natürlich nicht die Bede gewesen sein, da es sich
ja um eine der beiden möglichen Arten des „Abschneidens" handelt).
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 15
Br. VIII, 46: Denn es gibt kein Sein, das es, sich zusammenzuschließen, •
Hindern könnte noch kann ein Sein hier mehr als ein andres
Sein, dort weniger: 53 jeglicher Mind'rung ist's gänzlich entzogen:
Nur ein einziges (Sein) stößt, allseits gleich, an die Grenzen! 5 *
III. Wahn
Von diesem Teil ist der Anfang noch erhalten, der an den Schluß
der „Wahrheit" unmittelbar anschließt:
Br. VIII, 50: Und' hier end' ich dir nun die verläßliche Lehre, der Wahrheit
Sich're Erkenntnis : von nun an vernimm der Sterblichen Irrwahn,
Wie ihn dir der trügliche Bau meiner Worte verkündet! 55
Zwei Gestalten 56 beschloß der Mensch mit Namen zu nennen — 57
„) Ich übersetze den Text, wie ihn v. Wilamowitz und Kranz (a. a. O. S. 1 176)
hergestellt haben, glanhe aber auch VIII, 46 <*** als erstes Wort überlieferte ovxe
gegen jede Änderung schützen zu dürfen: ovxe yäg . .'. • ovt'iöv lau, %6 xev navoi . . .
OVX'lotlV ÖJl<og dT) Y.ev, „Denn weder - (noch): weder gibt es ein Sem das ver-
hinderte . . . noch ist es möglich, daß ein Sein . . .«- Parmenides unterscheidet zwei
Fälle: zwischen mehreren Seienden könnte nur entweder nichts liegen oder etwas
anderes, mehr oder weniger Seiendes (entweder leerer Raum oder ein anderer,
dichterer oder dünnerer Stoff); ein Nichts oder Nichtseiendes aber gibt es nicht
(IV, 7; VI, 2), es kann also auch Seiendes nicht auseinanderhalten; somit bliebe nur
der zweite Fall übrig; allein daß es nicht verschiedene Grade des Seins geben kann,
wurde auch schon gezeigt (VIII, 25); folglich ist das II, 2 ff. erörterte Bedenken, das
Seiende könnte sich auf mehrere Körper verteilen, widerlegt.
54) xoiydg statt ol yäg gewiß richtig Zeller, Ph. d. Gr. I 1 «, 695 '. iv nelgaoi
KÖgei^neLgaoiv iyxvgel. Die „ünvollendbarkeit" oder „Vollständigkeit" des Seienden,
d. h. die völlige Ausfüllung der kugelförmigen Grenzfläche (der Himmelskugel) durch
das Seiende ist endgültig erwiesen und damit die Lehre vom Seienden, die Darlegung
der „Wahrheit" von Seite der Göttin überhaupt zu Ende geführt.
55) Daß es sich bei den „Irrlehren der Sterblichen" (ööfci ßgöxeiai) um eine
fehlerhafte Gesamtanschauung, einen „Irrwahn" handelt, geht aus dem Inhalt der
folgenden Darlegungen auch für uns noch deutlich hervor. — „Trüglich" sind natür-
lich nicht die Worte der Göttin selbst, diese Bezeichnung verdient vielmehr der
Wahn, dessen Inhalt c : e mit diesen Worten wiedergibt.
56) Gestalt oder Gebilde (fiogq>v, &&»<*$ - VIII, 55 ™ d 59). nicht etwa Din S'
Stoff, Element! flogen) bezeichnet nicht nur überhaupt die äußere Erscheinung, sondern
insbesondere auch die wechselnde und täuschende (Aeschyl. Frg. 304, 5 Nauck; Sopnoc .
Trach. 10; Eurip. Frg. 859, 14 N.), ja sogar die Truggestalt (des Traumes: Aeschy
Prom 440). Licht und Dunkel, aus denen sich für den menschlichen Wahn die Welt
zusammensetzt, sind - so dürfen wir die Meinung des Parmenides ziemlich genau
wiedergeben - „Erscheinungen": etwas, das in Wahrheit „nicht ist«, indes den
Menschen in ihrem Irrwahn zu „sein" scheint.
K?) Der Mensch, denn er ist aus ßgotelag VIII, 51 als Subjekt zu erganzen. Dann,
daß die Menschen bloße Erscheinungen, ein in Wahrheit Nichtseiendes, benannten
i6 H. Gomperz
Eine davon zu viel! 58 Da wich er vom richtigen Weg ab!
55: Denn ein Doppelgebilde durch Gegensetzung der Zeichen
Schuf er: 59 hierhin setzt' er das himmlische Feuer der Flamme,
und damit hinstellten und setzten als ein Seiendes, bestand ihr Fehlgriff. Durch diesen
Fehlgriff ist — zunächst für sie, damit aber doch auch irgendwie überhaupt (vgl. o.
Anm. 10) — die Welt des Wahnes entstanden. Wo und wann aber ist dieser Fehl-
griff begangen worden, wer hat denn zuletzt die zwei Gestalten benannt? Wie mir
scheint, belastet diese Schuld für Parmenides vor allem Hesiod und etwa noch die
andern Verfasser alter Kosmogonien. Denn für Hesiod ist der Gegensatz zwischen
Hell und Dunkel, Tag und Nacht wirklich der erste, der bei der Bildung der Welt
hervortrat (Theog. 123 f.) und ihm zufolge entwickeln sich jeweils die spätem Er-
scheinungen aus den früheren durch geschlechtliche Zeugung, ganz wie dies nach
XII, 3 ff. auch in der Welt des Walines der Fall ist. Aber freilich war der „Wahn"
des Parmenides keinesfalls ein bloßer Auszug aus Hesiods Theogonie. Deren Inhalt
erschien dort vielmehr offenbar in eigenartiger Zurechtrückung, Vereinfachung und
Ergänzung : es ward gezeigt, wie Hesiod, wäre in seinem Wahnsinn Methode gewesen,
die Weltbildung eigentlich hätte darstellen müssen. Aus seinem Gedicht waren also
gewisse Grundgedanken herausgeschält und diese galten dem Parmenides gleichzeitig
als die Leitideen des volkstümlichen wie des wissenschaftlichen Weltbildes seiner
Zeit. Daher denn die einzelnen Lehren des „Wahnes" anscheinend von fünferlei Art
waren: I. Solches, was Hesiod wirklich gesagt hatte; II. Solches, was er nach Par-
menides folgerechter Weise hätte sagen sollen; III. Solches, was zur Zeit der Ab-
fassung des Gedichtes alle Welt glaubte und was dem Dichter als Folgerung aus
Hesiods angeblichen Grundgedanken erschien; IV. Solches, was die Wissenschaft
seiner Zeit ermittelt zu haben meinte und was er daher in das Weltbild des gemeinen
Mannes an gehöriger Stelle glaubte eintragen zu müssen, ohne deswegen dies Welt-
bild für ein weniger wahnhaftes zu halten; V. endlich Solches, was Parmenides, vom
Standpunkte der Wissenschaft ausgehend, selbst entdeckt hatte und womit er mm auf
dieselbe Art wie mit den Entdeckungen seiner gelehrten Zeitgenossen verfuhr. Im ein-
zelnen lassen sich diese fünferlei Bestandteile freilich nicht mehr deutlich sondern und
hier mußte sogar fast auf jeden Versuch einer solchen Sonderung verzichtet werden.
58) <5v fitav ov xqeüv iaxw, nicht dtv folgt]« oi) zqeüv (Diels, Parmenides S. 93) !
Also liegt der Fehler nicht (wie es vielleicht schon Aristoteles auffaßte, Vorsokr. 18
A 24) darin, daß neben einer wahrhaft seienden Grunderscheinung (dem Licht) noch
eine andere, nicht wahrhaft seiende (das Dunkel) angenommen wird — er liegt viel-
mehr darin, daß statt einer Einheit eine Zweiheit (von der eben die eine Einheit zu
viel ist, nicht angenommen werden sollte), statt des einen wahrhaft Seienden zwei
nicht wahrhaft seiende Erscheinungen gesetzt werden (so richtig schon Tannery,
Pour Vhistoirc de la sciencc Hellene p. 227: Patin, Parmenides im Kampfe gegen Heraklit
S. 591; Reinhardt, Parmenides S. 70). Das schließt freilich nicht aus — und insofern
mag ja die Auffassung des Aristoteles begründet sein — , daß Parmenides die eine
der falschlich als seiend gesetzten Grunderscheinungen (das Licht) dem wahrhaft
Seienden immerhin in mancher Hinsicht ähnlicher gedacht haben mag als die andere
59) „Sie stellten die Gebilde einander gegenüber und sonderten ihre Merkmale
voneinander": man kann nicht anschaulicher eine Begriffsbildung beschreiben — nur
daß eben, nach Reinhardts schönem Nachweis, dem Parmenides die Bildung der Be-
griffe zugleich auch als die Erzeugung der Erscheinungen selbst galt: Licht und
Nacht werden einander nicht nur im logischen Sinne „entgegengesetzt", vielmehr
kommt bei dieser Entgegensetzung das Licht nach oben, die Nacht nach unten zu stehen !
_J
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
»7
60:
Lind, gar fein und leicht, durchaus gleich, 60 aber dem andern
Ungleich, das auf der anderen Seite gerad' ihm entgegen 61
Steht, der Nacht, der dumpfen, dem lastenden, dichten Gebilde.
Diese Ordnung verkünd' ich dir, ganz wie sie geschehen, 62
Denn nicht soll jemals dich menschliches Wissen beschämen.
60) fatw» tö, iiey'ägaiöv, iXa<p Q 6v, ßcovrcbij nävxooe xaixzov. Um den «ebenten
Fuß des Hexameters zu beseitigen, darf man weder ägcuöv noch iXa<p Q 6v opfern, da
diese den Merkmalen der Nacht nvxivöv . . . ipßQlßis T8 genau entsprechen (Patin
Parmenides . . . S. 595). Allein auch r,mov, ägmöv, MacpQÖv . . (Simphcius Phys. I
,0 « Diels; Patin a. a. O.) befriedigt nicht, da es die Einschiebung des siebenten
Fußes nicht verständlich macht, tavt&i dagegen konnte zwar wegen des in VIII 58
folgenden im Ö'Mqcoi ph rovxöv leicht eingeschoben werden, allem sicherlich wollte
der Dichter mit „dvtoos vatoöv etwas ganz anderes sagen als die platte Selbst-
verständlichkeit, Feuer sei „sich selbst gleich« (ist denn das die Nacht nicht?): da es
sich hier um den Zustand der Welt handelt, wie er (dem Wahn zufolge) vor der
Bildung der Gestirne bestand, so war das Himmelsfeuer noch nicht auf Sonne, Mond,
Sterne verteilt, sondern erfüllte den „Äther" (VIII, 56) noch durchaus gleich-
mäßig Von den beiden andern Fassungen des Simplicius aber hat das schwerer ver-
bindliche fruw Tri („- und dies ist lind . . .«) schon als solches den größeren
Anspruch auf Ursprünglichkeit (überdies spricht gegen fytlOV 6v auch noch 1. daß
Parmenides sonst durchwegs £öv gebraucht, 2. daß er diesen Ausdruck ausschließlich
zur Bezeichnung des „Seienden" verwendet, vgl. o. Anm. 42).
61) Da das Licht leicht, die Nacht schwer ist, so liegt jenes „oben", diese „unten
Werden aber dabei Oben und Unten als letzte Gegensätze gedacht, so daß das Licht
All obere die Nacht die untere Hälfte der Himmelskugel einnimmt oder werden sie
vom Mittelpunkte der Himmelskugel aus beurteilt, so daß das Licht die äußeren, die
Na"ht die inneren Teile der Himmelskugel erfüllt? Diese Frage, von deren Beant-
wortung das Verständnis des im „Wahn« des Parmenides dargestellten Weltbildes
lurcSs abhängt, ist noch nicht entschieden und wo im folgenden die Ausdrucke
Oben« und „UnL," gebraucht werden, ist diese ihre Zweideutigkeit im Auge zu
■bduüL. Nac dem Auszuge des Aetios (Vorsokr. 18 A 57 1 vgl. u. Anm. 67) zu schließen,
.dSTTheophrart, der das Gedicht des Parmenides noch als Ganzes las, es so ver-
Wortlaut nach ebensowenig die Rede wie Vorsokr. 46 B 12 oder 18 C 1/6, .«*«.£
Tolch s Von einander-Scheiden und Ordnen der Stoffe in den Dar Stellung en der WeU-
£ wiederzukehren pflegte, so nahm ***** «t^Ä^
Ordnung an - eine Bedeutungsentwicklung, die dadurch zum Abschluß gJ* omm *
l JXSfJS die kosmogonischen Schriften Leukipp, und Devote* ^TjgJ-J
die Kleine „Weltordnung« bezeichnet wurden). Und die ™~^l^v^wL
ist ganz gleich« (eben das bedeuten dieselben Worte auch II. XXI 600 vgl. auch
V 800 ™d Od. VI 301; überhaupt bedeutet *»* im Gegensatze zu uxög m alter
S^h^mmer Gleich,' nie Wahrscheinlich), nämlich der Ordnung, wie sie von .den
Menschen wirklich vollzogen wurde (derselbe Gedanke auch Vorsokr 1 1 B 55 ~*f™»
phanes Vesp. 1521; elxäg = Gleich ohne beigefügten Dativ auch Aeschyl. Suppl. 283)-
2
Imago X/i
J 8 H. Gomperz
Br. IX, i : Aber nachdem nun alles benannt' nach dem Licht und der
Nacht ist — 6 3
Jeder der Namen, nach seiner Bedeutung, diesem und jenem! — , 6+
Ist nun alles des Lichtes sowohl wie der finsteren Nacht voll,
Die sich genau dem Maß nach gleichen; 65 denn nichts ist
dazwischen. 66
Hier fehlen uns einige Verse. Ihr Inhalt läßt sich nach einem
Auszug des Aetios ungefähr erraten i 67 die Göttin sprach von mehreren
63) Daß IX, 1 „bald nach" VIII, 59 stand, sagt Simplicius ausdrücklich. Und daß
zwischen beiden mehr als VIII, 60 bis 61 gestanden hätte, ist wenig wahrscheinlich
da IX, 1 lediglich die Beendigung der VIII, 55 bis 59 geschilderten „Ordnung" voraussetzt.
64) xai t& xaxä Oqisxigag öwäfietg ini xoiaL xe y.ai xolg. Der von Simplicius
angeführte alte Erklärer (den ich wegen dnexgtih) etwa in die Zeit des Anaxagoras
oder Archelaos setzen möchte, vgl. Vorsokr. 46 B 12; 47 A 4) verstand, die einzelnen
Dinge seien auf Grund ihrer „Kräfte", d. i. Eigenschaften, den beiden Grunderscheinungen
Licht und Nacht zugeordnet worden, bis eben „alles" nach der einen oder der andern
benannt war. Allein dürfen wir Parmenides ohne Not einen solchen Selbstwiderspruch
zumuten? Aus dem Gegensatz von Licht und Nacht sollte sich doch erst alle Vielheit
entwickelt haben: woher nun mit einem Male die einzelnen, mit den verschiedensten
„Kräften" begabten Dinge? Es gibt eine bessere Erklärung, dvvaßig bezeichnet die
Bedeutung eines Wortes (Herodot IV 192; VI 98; vgl. II 30; Vorsokr. 79 A 11; Lysias
in Theoranest. I 7; Plato, Cratyl. 394b; 435 d; Critias 113a; Phileb. 24C; 49 c). Nim
hat Parmenides schon innerhalb des Seienden eine räumliche Vielheit, die einzelnen
Stücke des Seienden, unterschieden (VIII, 25 und 47). Zur „Bedeutung" des leichten
Feuers aber gehört, daß es „oben", zu der der schweren „Nacht", daß sie „unten"
ist. Er sagt nun hier: die Namen Licht und Nacht wurden je nach ihrer Bedeutung
diesem und jenem zugeteilt, d. h. es wurde alles, was oben liegt, Licht, alles, was
unten liegt, Nacht genannt — und zwar so lange, bis alles mit einem dieser Namen
belegt, das eine Seiende in die zwei Grunderscheinungen Licht und Nacht zerfallt war.
65) Wie in Wahrheit (nach VIII, 24) alles, d. i. die ganze Himmelskugel, mit
Seiendem, so ist es nun dem Wahne zufolge mit Licht und Nacht erfüllt und unter
sie zu gleichen Teilen aufgeteilt — mögen mm die von Licht erfüllte „obere" und
die von Nacht erfüllte „untere« Hälfte der Himmelskugel als ihre „nördliche" und
„südliche" oder als ihre „äußere" und „innere" Hälfte zu deuten sein (vgl. o. Anm. 61).
66) inel ovötxegcoi Jtera IM)ÖBV, wörtlich: denn keinem von beiden ist etwas anderes,
oder aber: denn keinem von beiden ist das Nichts, d.h. ist Leere beigemischt. Sowohl
dies als jenes muß aber zutreffen, wenn die Worte wirklich die Behauptung begründen
sollen, daß Licht und Nacht zusammen „alles" erfüllen (IX. 3 ; daß es sich um die
Begründung dieser Behauptung handelt, zeigte Lortzing, Jahresber. f. d. Fortschr.
d. klass. Altertumswiss. 1902, I 257). Wahrscheinlich hat somit Parmenides mit Fleiß
Worte gebraucht, die geeignet waren, jede Möglichkeit auszuschließen, es könnte, dem
Wahn zufolge, im All neben Licht und Nacht noch etwas anderes geben.
67) Daß nicht viel ausgefallen ist, ergibt sich aus den Worten des Simplicius, der
zwischen VIII, 61 und XII, 1 nicht viel mehr las, als auch wir noch IX, 1 bis 4 lesen.
Der Auszug des Aetios Vorsokr. 18 A37; den Text habe ich verbessert Vorsokr.
Nachtr. XXVII, 30: Aetios kennt nur eine mit Dünnem (Feuer) und eine mit
Psychologische Betrachtungen an griechischen Philosophen 19
„aufeinander folgenden, die Welt umflechtenden Kronen". „Und
das sie alle Umfassende sei fest wie eine Mauer", das Himmels-
gewölbe nämlich, die äußerste „Krone".
Br. XII, 1: Denn die engeren wurden erfüllt von lauterem Feuer, 68
Andre von Nacht ^ doch da fährt ein Teil der Flamme dazwischen ! 7 °
Dichtem (Nacht) erfüllte Krone {xw> p&v & xov d 6 aioü, z V v de I* : toö nvxvoy); da
nun die Feuer-Krone unmittelbar unter dem festen Himmelsgewölbe hegt, zwischen
ihr und der Nacht-Krone aber sich noch gemischte Kronen einschieben (offenbar
nim^ in ihnen der Anteil des Feuers stetig ab, der der Nacht ebenso stetig zu),
S die Nacht-Krone die innerste sein. Danach ließ Sich der Anfang des Auszugs
folgendermaßen herstellen: „Parmenides lehrte, es gebe aufemanderfolge ,nde die Welt
umflechtende Kronen, die eine aus dem Dünnen, die andere aus dem Di^n be. tdumd
zwischen diesen aber noch andere, aus Licht und ^el gemisch Un^ 1 du« edfe
Umfassende sei fest wie eine Mauer; darunter befinde sich die un J e ^ronj Und
was in ihrer aller Mitte liegt, (sei dicht. Dies umgebe em Reif, aus beidem, Dünnem
und Dichtem, gemischt;) difsen wieder die feurige Krone«. Aefos, beziehungsweise
sein Gewährsmann und zuletzt wohl auch Theophrast ^en demn^ dem
was Parmenides „Oben" und „Unten- nennt, Umfang und Mit* te H^Ukujd
und deuteten die „Kronen« {OVStpävat) als Kugelschalen - eine Deute ,ig, die wohl
nicht die einzig mögliche ist, indes durchaus als zulässig ge ^e" -u3 (a^^ bed utet
bei Homer mehrfach einen am Rande ausgezackten Helm: II. VII 11, X 30, XL 95,
vgl He^chi" , v. und bei Herodian V 5, 5 ist von einer tiaraförmigen ******
Rede v.l. auch Aelian V. H. I 18; das Wort bezeichnet freilich auch kronenart g
«zackte Diademe, mit denen dann Haarflechten, betürmte Mauern, Zmnen; gezackte
lergtrspiige, Korbränder, überhaupt Reifen und Ringe verglichen werden: Antliol.
0/^1*74; Eurip- Hec. gio; Anthol. Gr. IX 97 ™d r 5 * ', Ennp. Troad. 785; Po lyb.
Tu J& 18; l XIII 157; Polyb. I 56; Apoll. Rhod. II 9*0; Moschus I 55; Pollux
V L/--- II *9 ^ vielen Fällen endlich bleibt die Gestalt des „Kronenreifs« unbe-
LETmt a B IL XVIII 597; Hesiod, Theog. 578; Aristophanes, Eccl. 1054; Ritter 968;
T^ophrast, H. pl. V 6, 2 ; Vita SophocUs 4 5 Westermann; Athen. V 202* heißt eine
Schau-Krone öT^dv»,, deren Höhe sich zu ihrem Umfang wie s : 16 verhalt).
fitt Nach dem aus Aetios zu entnehmenden Zusammenhange heißen die Feuer-
v en^er" im Verhältnis zu dem sie umschließenden Himmelsgewölbe. Da dieses
aTcTne'U* dünne Kugelschale gedacht wird, kann die folgende Feuer-Krone die
gewiß eine ansehnliche Dicke besitzt, als eine Mehrheit ebenso dunner Kugelschalen
bezeichnet werden. ^ Auf& ^ AetJos aBiellI|lfll) sind
ffi N 1 Kronen einfach „die folgenden«. Denn der Auszug Vorsokr. 18 A 37 "teilt
f4n et^"ren Zeitpunkt der" Weltbildung dar. Hier liegen zwischen den Feuer-
und den NacM-Kronen noch gemischte Kronen; allein von dieser Mischung berichtet
Z f gSüT erst S der zweiten Hälfte unseres Verses: vor dieser Mischung kann s.e
d ruS d K ^ c it-Kronen allerdings als die auf die Feuer-Kronen unmittelbar folgenden
bezeichnen.
70 Der vom Himmelsgewölbe eingeschlossene Raum war zur Hälfte von ^ Licht
,der Feuer zur Hälfte von Nacht oder Dunkel erfüllt (IX, 3 b 1S 4; XII, 1 bis *). Nun
tZ drhig'en 1 so muß nach dem Wahne der Menschen die Weltbildung vor s 1C h
gegangen sein, wenn sich unsere so vielfältig gemischte Welt folgerecht aus zwei
20 H. Gomperz
Doch in der Mitte/ 1 da ruht die Göttin, die Lenk'rin des Weltalls:
Überall regt sie Geburt, so reich an Schmerz, an und Paarung.
5 : Denn, was weiblich, gesellt sie dem Männlichen, daß es sich paare
Und, was männlich, dem Weiblichen zu — — — —
i
Es ist Aphrodite, 72 die Göttin der Paarung und damit die einzig
angemessene Beherrscherin der Welt, wie sie sich dem Wahne der
Sterblichen darstellt, ja wie sie durch diesen wirklich geworden
ist: einer Welt des Werdens, in der jedes Gewordene nur als
Grunderscheinungen soll ableiten lassen — Flammen in das Reich der Finsternis ein
und damit beginnt jene Mischung von Licht und Dunkel, der unsere Welt, die Welt
des Werdens und Vergehens, ihren Ursprung verdankt. Diese Mischung begann
natürlich an der Berührungsfläche von Licht und Nacht (nach Aetios, indem sich
hier „gemischte", von Licht und Nacht erfüllte „Kronen" bildeten). In dem Augen-
blick aber, da von der ersten Mischung die Rede ist, wird sein- passend jener Gottheit
Erwähnung getan, die allen Mischungen, aus denen Neues entstehen soll, vorsteht
insbesondere also auch jener Mischung, die als Vorbild aller anderen Mischungen
dieser Art gelten kann: der geschlechtlichen Zeugung.
71) In der Mitte der genannten „Kronen", somit, wenn diese einander konzentrisch
umschlossen, auch im Mittelpunkte des Himmelsgewölbes und des Weltgebäudes
überhaupt. So hat es auch Simplicius, der die Verse noch in ihrem Zusammenhang
las, verstanden (Wjv iv pedai aävzav l6gvfievi)v)- Der Gewährsmann des Aetios und
des Epikureers bei Cicero dagegen (Vorsokr. 18 A 37) muß einen Auszug vor
sich gehabt haben, in dem schon vor der Erwähnung der Göttin von „gemischten
Kronen" die Rede war. So bezog er denn das iv fieöai ■toivatv auf diese und ver-
setzte die Göttin mitten unter die „gemischten Kronen", ja auf Grund eines kaum
glaublichen, dem klaren Sinn des Gedichts ins Gesicht schlagenden Mißverständnisses
setzte er sie der mittelsten dieser „gemischten Kronen" gleich (rä>v de Ovn,uiyäv ii]v
llEOautäxiyv; orbem, qui cingit caelum, quem appellat deum). Über diesen Unsinn konnte
sich dann Ciceros Epikureer freilich leicht entrüsten!
72) So wenigstens nennt sie Plutarch (Vorsokr. 18 B 15, denn daß die Göttin, die
den Eros „erdenkt", dieselbe ist, wie die XII, 3 genannte, sagt ebendort Simplicius
ausdrücklich) und auch wir werden der Gottin der geschlechtlichen Paarung schwer-
lich einen passenderen Namen beizulegen wissen (Doering, Griech. Philosophie I 131),
es sei denn etwa den jener Göttin „Liebe" ($lÜvijg), der Empedokles wohl in Nach-
ahmung des parmenideischen Verses XII, 3 eine ähnliche Mittelpunktsstellung ein-
räumt (Vorsokr. 21 B 35, 4). Der o. Anm. 71 sattsam gekennzeichnete Gewährs-
mann des Aetios setzt die das All aus seinem Mittelpunkt steuernde Göttin mit der
Schlüsselhalterin (denn Vorsokr. 18 A 37 ist mit Fülleborn x/,l)tdoÖ;jO£ zu lesen, da
das überlieferte y.Xt]Q(ySyßg sonst nie ohne irgendwelche Beziehung auf eine Land-
nahme gebraucht wird), der Göttin des Rechts und des Zwanges nur darum gleich,
weil er aus I, 14; VIII, 14; VTJCT, 30 und X, 6 meinte herauslesen zu dürfen, daß
Parmenides auch diesen Göttinnen die Weltherrschaft beigelegt habe. Vgl. auch o.
Anm. 9, Schluß. Für die Gleichsetzung der göttlichen „Steuerfrau" (Vorsokr. 18 A 37)
mit Aphrodite beruft man sich übrigens besser nicht auf Vorsokr. 18 B 20, da diese Verse
nicht unter des Parmenides' Namen überliefert sind und nach der Einführungsformel
L
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 2 1
Ergebnis einer Mischung der beiden Urerscheinungen Licht und
Nacht und der aus ihnen entstandenen Mischerscheinungen be-
griffen werden kann — einer Welt also, deren Entstehung ihre
Weisen und Sänger — Hesiod vor allen! — ganz folgerecht als
eine stetige Folge von Zeugungsakten und Geburtsvorgängen be-
schreiben; es ist ja eben die Welt, der jene irrtümliche Zweiheits-
setzung gegensätzlicher Erscheinungen — des Lichten und Dunklen,
eben damit aber, wie sich zeigen wird, auch des Weiblichen und
Männlichen — zugrunde liegt! Und so ist denn auch die erste be-
sonders angeführte Hervorbringung der die Welt lenkenden Göttin
dem Wesen der Aphrodite vollkommen angemessen:
Br. XIII: Und sie erdachte zuerst von allen Göttern den Eros."
Doch scheint es nach einem von Cicero benützten, freilich durch-
aus schleuderhaften Auszug aus diesem Abschnitt des parmenide-
ischen Gedichtes, 74 daß hier weiterhin „auch der Krieg, auch die
Zwietracht, auch die Begierde und all die andern aus derselben
Sippe" auf dieselbe Göttin „zurückgeführt wurden": vermutlich als
die Gottheiten der Trennung, da ja die Wahnwelt des Werdens
zugleich eine solche des Vergehens ist, das durch Mischung der
Urerscheinungen Gewordene aber nur durch deren Scheidung ver-
Hippolyts fö WOMjrfc de ^Otv) eher einem dem Orpheus beigelegten Gedicht ent-
stammen werden. Eine weltbeherrschende Stellung der Aphrodite konnte aber Par-
menides auch bei Hesiod aus doppeltem Grunde zu finden glauben: nicht nur wird
dort wirklich fast alles Entstehen als ein Geboren- und Erzeugtwerden dargestellt,
sondern es heißt auch vom Eros, daß er den Sinn aller Menschen und Gotter
bezwinge (Theog. 129), bald darauf aber wird ebenderselbe bloß ein Begleiter der
Aphrodite genannt (Theog. 201). ,
7 j0 Daß dem Eros bei der Weltbildung eine entscheidende Rolle zufiel, ist kein
dem Parmenides eigentümlicher Gedanke: er fand ihn sowohl bei Hesiod (Theog. 120)
wie auch bei Akusilaos (Vorsokr. 73 B 1 bis 3V '
74) Vorsokr. 18 A 37; vgl. o. Anm. 71. Ciceros überlieferte Worte bedürfen keiner
Änderung: „Nam Parmenides commenticium quiddam (seil, deum voluit esse): coronae simihm
e fß c { t _ Stefanen appellat — , continentem ardorem Iuris, orbem, qui cingit caelum, quem
appellat deum . . . multaque eiusdem monstra" (und viele Ausgeburten desselben Kreises),
quippe qui bellum, qui discordiam, qui cupiditatem ceteraqut generis eiusdem ad deum revocat".
22 H. Gomperz
gehen kann. Wie nun dem menschlichen Wahn zufolge durch
Mischung und vielleicht auch durch Scheidung von Licht und Dunkel
Himmel und Erde entstanden sind, das legte die Göttin des Tages
dem Dichter im einzelnen dar. Sie verhieß ihm, er werde erfahren,
Br. XI, i : Wie die Erde, die Sonne, der Mond, die Helle des Himmels,
Wie der Bogen von Milch, wie des Weltalls äußerster Gipfel
Und die Glut der Gestirne hervor zum Werden sich drängten;
Br. X, 1 : Wirst das Wesen erkennen der himmlischen Helle, darin die
Sämtlichen Bilder; das dörrende Werk, das die heilige Sonne
Übt mit weißlichem Schein und wie's zustandegekommen-
Lernen des rundäugigen Mondes Wesen und Umlauf;
5: Wirst den Himmel versteh'n, der ringsum alles umfaßt hält,
Fassen, woraus er erwuchs, wie (des Zwanges Gewalt) ihn gefesselt
Grenze der Sterne zu sein — — — — 75
Darüber, wie die Göttin diese Verheißung einlöste, unterrichten
uns fast nur ein paar dürftige Auszüge, 76 hochwichtig für die Ge-
schichte der Astronomie, doch für unsern augenblicklichen Gesichts-
punkt wenig belangreich. Jedenfalls sprach sie dabei von
Br. XV a: — — — — der im Wasser wurzelnden Erde
und zwar in Versen, in denen das spätere Altertum die erste Er-
wähnung der Kugelgestalt der Erde, ja ihrer Einteilung in eine
kalte, gemäßigte und heiße Zone fand 77 und kleidete die damals
neue Erkenntnis, daß der Mond sein Licht von der Sonne erborgt,
in zwei Verse, die Verse Homers aufs witzigste parodieren:
7 5) In^ dem siebenfüßig überlieferten Vers X, 6: ev&ev pkv yüg lyv ys xai &g
ßiv äyovd inebnaev 'AvdyxijInelQaz'lzeiv äargcov . . . darf man nicht /xev ydg tilgen
wollen (wem wäre es eingefallen, diese Wörtchen in einen heilen Vers" einzu-
schieben?), sondern ' Aväy/.r) ist als erklärender Zusatz des Clemens „außerhalb der
Anführungszeichen" anzusehen: 'Avdyxrj wird wirklich Subjekt zu ÖTteörjöev gewesen
sein, aber erst nach äargav, vielleicht am Ende des Verses 7, gestanden haben.
76) Vorsokr. 18 A 57 bis 45 a.
77) Vorsokr. 18 A 1/21; A 44 bis 44a und Nachtr. XXVII, 55. Gegen die Glaub-
würdigkeit der Nachricht, daß schon Parmenides von der Kugelgestalt der Erde
wußte, Patin, Parmenpdes im Kampfe gegen Heraklit, S. 61 1 und neuerdings Erich
Frank, Plato u. d. sog. Pythagoreer, S. 198 f.
'
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 23
Br. XV: Auslug hält er stets nach den goldenen Strahlen der Sonne
Br. XIV: Und umirrt, nachthell durch das Licht, das er borgte, die
Erde. 7 *
Dann wandte sich die Göttin der Entstehung der lebenden Wesen
zu, die unter der Einwirkung der Sonnenwärme aus der Erde
hervorgewachsen sein sollten 79 und legte dar, daß sich auch heute
noch Gedächtnis und Denkkraft des Menschen nach dem Verhältnis
richtet, nach dem in ihm Licht und Dunkel, Kälte und Wärme
gemischt sind: 80 im Schlaf und im Alter nimmt mit der Wärme
auch die Denkkraft ab, 81 im Tod erlischt sie mit ihr völlig, höchstens
eine ärmliche Empfindung für Dunkel, Stille und Kälte bleibt im
Leichnam zurück: 82
Br. XVI, 1: Denn wie gerade die schwankenden Glieder zusammengesetzt
sind, 83
So gestaltet sich auch der Menschen Erkenntnis: nur eines
7 8) Um die Art der Parodie zu kennzeichnen, versuche ich die Wortspiele wieder-
zugeben und bilde daher die beiden Homerverse sehr frei so nach:
Od XII 2*v Auslug hielt ich stets nach dem dunstumflossenen Festland.
II V 214': Denn gleich streckt er mich dann mit dem Schwert, das er borgte,
zur Erde.
7 ^Dies ergibt sich aus Vorsokr. ,8 A 1/22 (wo yeveclv xs ävÖQÜnvv g
79 j uies e g anzutasten und im folgenden vielleicht: [oxoizeia xax ]
bis 55.
80) Vorsokr. 18 A 46.
81) Vorsokr. Nachtr. XXVII, 42.
S2 *Ä*!£&i **°™ «**" «0j,,;.dr rV . Subjekt zu txe^°2
Jn nTcht aus dem Vorhergehenden, so doch aus dem folgenden dv&Q^oiai zu
wenn nicht WS»» * Glieder" schon bei Homer Bezeichnung des lebend.gen
entnehmendes äv&QMtog. „Uie £ üe £ er XXIII iqi sind pMea ausnahmsweise
Menschenleibes (a^abe, Homer g^*?^™ J eine M Tneit von Gliedern
einzelne T ^ e f^f£Ä ganz, z. B. 11. VH X 5 x; XIII 6 7 i; XVI 6o 7 ;
-11 olxLH XV 357) ganz g ä!nlich aber auch noch bei Pinto («.B.
vTlllJ- Sem 70 XI 15; Äg. ,ii. 4) «"d Aischylos (z. B. Pers. 99 i ; Eumenid. ,65),
fa y auch noch Z Empedokles (fpricht er doch Vorsokr. 21 B *p und B 5? 1 sogar
1 nn den Gliedern« des Sphairos, an dem doch nach B 29, 3 keine Teile unter-
sTeidbar* sfnd) Zt dieseAeib heißt „schwankend«, weil er vielfacher Täuschung
ausgesetzt ist (vgl. Od. XX 105; Sophokles, Antig. 615; Parm. VI, 5)-
g 4 H. Gomperz
Ist's ja, was in den Menschen denkt — in allen und jedem — ,«♦
Nämlich der Glieder Natur: was vorwiegt, ist die Erkenntnis! 8 *
Endlich legte die Göttin, wie es scheint, noch ziemlich ein-
gehend die Physiologie und Pathologie der menschlichen Fort-
pflanzung dar und die Ansichten, die ihr Parmenides über diesen
Gegenstand in den Mund legte, stellen offenbar eine erhebliche
Verwicklung und Verfeinerung der schon zu seiner Zeit gang und
gäben Vorstellungen dar. 86 In allen Einzelheiten lassen sie sich
leider nicht mehr mit voller Sicherheit wiederherstellen, 8 ' doch gibt
Vorzug die größere Denk- und Gedächtniskraft (ebd.) des Lebenden , vo ^ det T t "
ist : u^ i h s ^2tt*£z££ st f k t rr chiichen wahn -' ^
gesetzt. Diesen zufolge ff 7bt e s keT T " Wahrheit " ™i«elbar entgegen-
eine, unveränderliche ^efende ff ibt ei 1 1 GegenStand der Erkenntnis als das
Erkenntnis. Wer sich S£Ü° ">? »» /"* *?to -^Veränderliche
Erkenntnis wechsle, je nachdem wi 1 S W F""? *« *»f*«»» ^ Menschen
gesetzt sind", nur gi mm £ f MiflS^'t SC K hwa " kenden GIied ~ — e,
das würdige Schlußstück ietes W , g fgegenbrmgen. sie konnte ihm nur als
86) Vorsokr. 18 A «. bis «r„. R !v o Entstehens abgewandt hatte!
87) Denn S. SSÄ &£ V^/ÄÄ J* A ' 3 * 'f
Um in der link e„ Od-m.««^ i^^* ^J*- «*"«-
werde, wurden Mädchen geboren (und „l so „fffrjj K^in bei pt„V "° P T "
gleichen Körperhafte) läßt «M, ™;+ j •«. • ,T Änax>en Dei Empfängnis in der
bleibt bei dem Ver^h dies JTdl f T " Sf**" nicht *"•*»*« und so
söhnen, dem 3^^^^^^^"^^. S*" » ™"
glaube meiner Wiederherstellung s ° 1 , S^isser Spielraum eröffnet. Ich
eigene Worte (XVII) un e TÜfiSS2? Ged ^enganges des Dichters
A^tios und des Lactanz (V^I^aST^^T^^^ 01 ***** *"
daß AetiosV 7 A -Vor,okr ,8 I 54) ^gründe legen zu müssen und nehme an,
Knab^f K S T SSCS VmaUScht ' S0 würden <™ ersten Fall) weiblich artete
Knaben) geboren (im zweiten männlich geartete Mädchen)«. geartete
/
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 25
wahrscheinlich folgender Gedankengang ihren wesentlichen Inhalt
wieder: Entscheidend für das Geschlecht des Kindes ist die Körper-
hälfte des Vaters, in der sich der Same gebildet hat:
Br. XVII: Rechts (nämlich werden) die Knaben erzeugt, links aber die
Mädchen. 88
Regelmäßigerweise gelangt aber der im Vater rechts gebildete
Same auch in die rechte Hälfte der Gebärmutter (und umgekehrt):
der Keim ist dann von beiden Eltern her zum Knaben (oder zum
Mädchen) bestimmt; solche gleichbestimmte Keime verschmelzen
leicht und vollständig miteinander und entwickeln sich zu Kindern
von ausgeprägter Männlichkeit (oder Weiblichkeit). Gelangt dagegen
ausnahmsweise rechts gebildeter Samen in die linke, links gebildeter
in die rechte Hälfte der Gebärmutter, dann findet nur eine schwierige
und unvollständige Verschmelzung solcher, mit ungleicher Geschlechts-
bestimmung behafteten Keime statt: es wird zwar — entsprechend
der entscheidenden Bedeutung der väterlichen Körperhälfte — im
ersten Fall ein Knabe, im zweiten ein Mädchen geboren, allein einem
88) Galen bezog diese Worte auf die beiden Hälften der Gebärmutter. Allein mit
dieser Auffassung streitet nicht nur die Darstellung des Lactanz, der ganz offenbar
unter „männlichem" und „weiblichem" Samen den (im Vater) rechts und links
gebildeten versteht, vielmehr auch das klare Zeugnis des Aetios, beziehungsweise
des Censorin (Vorsokr. 18 A 53), demzufolge in der rechten Gebärmutterhälfte
empfangene Kinder dem Vater, in der linken empfangene der Mutter ähnlich sein
sollen; denn daß Parmenides nicht bloß Knaben den Vätern, Mädchen den Müttern
ähnlich sein ließ, erhellt aus seinen eigenen Worten (XVIII, 3 bis 6). Parmenides
spricht somit in Brachst. XVII entweder ausschließlich oder doch vorwiegend von
den Körperhälften des Vaters (als Regel galt ihm ja, daß rechts gebildeter Same
auch rechts empfangen wird, Aetios V 7, 4 = Vorsokr. 18 A 53) und was Aetios, be-
ziehungsweise Censorin a. a. O. sagen wollen, ist dies, daß rechts empfangene Kinder
entweder Knaben oder doch männlich geartete Mädchen sind, links empfangene
entweder Mädchen oder doch weiblich geartete Knaben (je nachdem sichs nämlich
in beiden Fällen um rechtsgebildeten, d. i. „männlichen«, oder linksgebildeten, d. 1.
„weiblichen" Samen handelt). Die Frage nach den Gründen individueller Ähnlich-
keit (zwischen dem Kind und einem seiner Eltern in Beziehung auf einzelne
leibliche oder geistige Eigenschaften) hat Parmenides wohl kaum beschäftigt: nicht
nur die Auszüge aus seinem Gedicht sprechen geg n eine solche Deutung, sondern
auch seine eigenen Worte (XVIII). Empedokles freilich soll auch dies Problem schon
beschäftigt haben (Vorsokr. 21 A 81).
_
2 " H. Gomperz
solchen Knaben haften noch von seiner Mutter her weibliche, einem
solchen Mädchen haften von seinem Vater her männliche Eigen-
schaften — und zwar ebenso des Geistes wie des Leibes — an: 89
Br. XVIII, i : Wenn der Mann und das Weib die Keime der Liebe vermischen,
Die in den Adern der beiden aus ihrem Blut sich gebildet, 9°
Wächst, wenn die Keime verschmelzen, ein wohlgebildeter Körper.
Doch wenn das doppelte Wesen uneins bei des Samens Vermischung
sTOleibt und am werdenden Leib zur Einheit nicht sich verbindet,
Dann wird nach der Geburt ihn zwiefache Artung zerrütten.9'
Unter dieser „zwiefachen Artung" ist nicht etwa wahres Zwitter-
tum zu verstehen, 92 vielmehr ist das gemeint, was Lactanz, der
89) Vorsokr. 18 A 54; vgl. Anm. 88.
90) Die Lehre von der Bildung des Samens, beziehungsweise des entsprechenden
weiblichen Keims (den nach Vorsokr. 14 A 13 Parmenides wie schon vor ihm Alkmaioi
und nach ihm Anaxagoras und Empedokles annahm) aus dem elterlichen Körper wird'
in jener Zeit von dem Gedanken beherrscht, da durch die Zeugung auf das Kind
auch die Denkkraft der Eltern übertragen wird, müßten in den Samen jene Stoffe
eingehen, die als Träger dieser Denkkraft gelten: Alkmaion. dem das Gehirn als
dieser Trager galt, hielt den Samen für eine Absonderung des Gehirns (Vorsokr. u
A 15); Pythagoreer, die diese Ansicht übernahmen, jedoch als den eigentlichen Träger
d l r Er . ken " tnis den warmen Hauch betrachteten, erklärten den Samen für einen
„Tropfen Hirn der etwas warmen Hauch umhülle": aus dem Hirn erwachse der
L 6 dirn Z i r S ™ 8 (V ° rSOkr - r ' NaChtr " XLI11 ' »3 bis *>i «* Parmenides
L ' , f f 47 d ' e u W T ne des Kör Pers, also, wie es nach ihm Empedokles
r,T^ ' m A PI g L Unde " (V ° rSOkr - " B 105 '3)' daher ist es nur folgerecht,
wenn er aus dem Blut auch den Samen hervorgehen läßt.
90 DiraejNascentemgemino vexabunt [semine sexum (Bruchst. XVIII ist uns nur in
lateinischer Übersetzung erhalten).
92) Ebensowenig gleichgeschlechtliche Liebesneigung, wie es der Übersetzer, Caelins
SSSZ* ^ £ m nämUCh » Zwiefache Artung« auch von dem weiblich
empfindenden Mann der männlich empfindenden Frau gesagt sein könnte). Diels,
der dies als irrig erkannte (Parm. S. 1*6); dachte an körperliches Zwittertum. Allein
gegen beides spricht m gleicher Weise, daß der einzige andere Autor des fünften
Jahrhunderts, der aus Verschiedenheiten der Keimentwicklung Unterschiede der
Männlichkeit und Weiblichkeit ableitet (Hippocrates de victu c. 28 bis 29 = VI 501 ff
L.ttre) unter diesen Unterschieden nur verschiedene Grade leiblicher und geistiger
Männlichkeit« und „Weiblichkeit« versteht (er unterscheidet je drei Stufen der
Männlichkeit und Weiblichkeit: geistig hervorragend und körperlich kräftig; weniger
hervorragend, indes immerhin noch mannhaft; weibisch - sehr weiblich und Wohl-
gestalt; etwas dreist, indes immerhin noch sittsam; Mannweiber). Ferner bemerkt
Piaton (Gastm. 189 e) ausdrücklich, Zwitter habe es zwar in Urzeiten gegeben, zu
seiner Zeit jedoch werde der Ausdruck „Weibischer Mann" ausschließlich als Schimpf-
wort (also zur Kennzeichnung von Feiglingen) gebraucht. Über das Zeugnis des Lactanz
'endlich vergleiche die folgende Anmerkung.
_
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 2 7
hier offenbar aus uns verlorenen Versen des Parmenides schöpft, 95
folgendermaßen ausdrückt: „Wenn zufällig in die linke Gebär-
mutterhälfte der Samen eines männlichen Kindes gelangt, entsteht,
:so ist die Meinung, zwar ein Knabe, allein weil er auf der weib-
lichen Seite empfangen wurde, hat er mehr Weiblichkeit an sich,
als die männliche Würde zuläßt, sei es schöne Formen oder allzu
lichte Hautfarbe oder geringes Körpergewicht oder zarte Gelenke
oder kleine Gestalt oder schwache Stimme oder scheue Gemütsart
oder auch mehr als eine dieser Eigenschaften. Und ebenso, wenn
der Samen eines weiblichen Kindes in die rechte Hälfte einströmt,
so werde zwar ein Mädchen geboren, aber weil es auf der männ-
lichen Seite empfangen wurde, habe es mehr Männlichkeit au sich
als mit der Eigenart dieses Geschlechtes verträglich ist: kräftige
Gliedmaßen oder übermäßige Größe oder dunkle Hautfarbe oder
haariges Gesicht oder unsittigen Blick oder rauhe Stimme oder
frechen Sinn oder auch mehr als eine dieser Eigenschaften." —
Die Rede der Tagesgöttin und mit ihr allem Vermuten nach auch
das parmenideische Lehrgedicht 94 schloß mit diesen Worten:
Br. XIX, 1: So nun ist (all) dies nach dem Wahne (der Menschen) entstanden,
Ist so und wird auch künftig noch wachsen und endlich vergehen ;
Aber auf jedes drückte der Mensch das Mal eines Namens.
Die erste psychologische Bemerkung, die ich an diesen Sach-
verhalt knüpfen möchte, geht von der parmenideischen Theorie
der Geschlechtsbestimmung aus: wenn hier männliche Eigenschaften
des Körpers wie des Gemütes als „zerrüttende" Störung der weib-
lichen Eigenart erscheinen, so ist es ganz offenbar, daß der Dichter
93) Vorsokr. 18 A 54. Zwar nennt Lactanz den Parmenides nicht, allein woher
hätte er sonst die nur für diesen bezeugte Lehre von der regelmäßigen und ausnahms-
weisen Richtung des Samenergusses?
94) Höchstens einige Verse, mit denen die Göttin den Dichter entläßt, könnten
auf XIX, 3 noch gefolgt sein; daß er auch seine Rückfahrt zur Erde geschildert
hätte, ist zwar gewiß denkbar, doch nicht eben wahrscheinlich.
z ° H. Gomperz
selbst das „weibliche Weib" bevorzugt: wenn wir die Ausführungen
des Lactanz mit Recht auf ihn zurückführen, so wissen wir sogar, daß
ihm kleine Hände und Füße, eine nicht mehr als mittelgroße Gestalt,
lichter, zarter Teint, eine helle Stimme, niedergeschlagene Augen
und eine schüchterne Gemütsart als Kennzeichen des „wahren",
also des begehrenswerten Weibes erschienen. Er liebt das „weib-
liche Weib", war also aller Wahrscheinlichkeit nach selbst ein
„männlicher" Mann. Schon daraus dürften wir schließen, daß
seine Empfänglichkeit für Knabenschönheit kaum besonders groß
gewesen sein wird und in der Tat lehnt er ja auch gerade die
Eigenschaften ab, die den Knaben vom Manne unterscheiden und
ihn dem Mädchen ähnlich machen; weibliche Eigenschaften zer
rütten" die männliche Eigenart: den wahren Mann denkt er sich
(nach Lactanz) etwas eckig und braungebrannt, massig und kräftig
die Gestalt groß, die Stimme tief, ein furchtloses Gemüt. Die
Veranlagung, die sich hierin ausspricht, ist der gewöhnlichen des
griechischen Knabenliebhabers gerade entgegengesetzt; das von Piaton
erwähnte Gerücht, Parmenides sei Zenons Liebhaber gewesen, wird
demnach wohl bloßes Gerede gewesen sein: allem Vermuten' nach
galt seine Liebe dem weiblichen Geschlecht.
Diese Vermutung wird nun durch einen zweiten Umstand in
überraschender Weise bekräftigt. Die Überlieferung drängt uns
nämlich den Schluß auf, daß dem Parmenides das weibliche
Geschlecht als das geistig begabtere gegolten hat. Wir
erinnern uns ja, daß seiner Auffassung nach die geistige Begabung
des Menschen davon abhängt, ob und in welchem Maße in ihm
das Lichte und Warme das Dunkle und Kalte überwiegt, und da
ihm eben Licht und Wärme als die Quelle des menschlichen Denkens
gelten, so denkt er sich denn auch, der Mensch sei unter der Ein-
wirkung der Sonne aus der Erde hervorgewachsen. Mit diesen An-
schauungen nun steht er in seiner Zeit keineswegs allein und wer
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 29
die gewöhnliche Ansicht von der höheren geistigen Begabung des
Mannes teilte, dem ward es nicht schwer, sie mit dieser Ansicht
übereinzustimmen. Empedokles z. B. lehrte, nur wenige Jahrzehnte
nachdem Parmenides sein Gedicht verfaßt hatte, der Mann sei durch
Wärme gekennzeichnet, das Weib durch Kälte, daher seien denn
auch die ersten Männer in heißen Gegenden entstanden, die ersten
Weiber in kalten. 95 Parmenides dagegen lehrte gerade um-
gekehrt — Aristoteles selbst bezeugt's uns 96 — , das Weib sei wärmer
als der Mann. Und demgemäß ließ er denn auch 97 „die ersten Weiber
im Süden aus der Erde sprießen wegen ihrer Feinheit, die ersten
Männer dagegen im Norden wegen ihrer Dichtigkeit". Das ist auch
durchaus begreiflich, wenn wir bedenken, daß Parmenides von allem
Anfang an das Licht als die feine und leichte, das Dunkel als die
dichte und schwere Erscheinung bezeichnet: es war nur folgerecht,
wenn er dann auch die weibliche Zartheit durch ein Mehr von
Licht, die männliche Plumpheit durch ein Mehr von Dunkel
bestimmt glaubte. 98 Es war aber auch nur folgerecht, wenn er
dann dem Weib auch die höhere Denkkraft zuschrieb, hatte er
doch der Nacht die der Erkenntnis hinderliche „Dumpfheit" als
eines ihrer wesentlichen Merkmale beigelegt. 99 Ja, was noch weit
mehr besagt, schon in der Einleitung des Gedichtes ist die Fahrt,
die den Dichter der Erkenntnis entgegenführen soll, zugleich
eine Fahrt aus dem Dunkel „ins Licht", sie, die ihn diesem
Ziele zufahren, sind Licht-Mädchen, die Töchter der Sonne,
und sie, die ihm endlich die volle Belehrung erteilt, ist selbst ein
95) Vorsokr. zi A 81 ; B 65; B 67.
9 6) Vorsokr. 18 A 52.
97) Vorsokr. 18 A 53.
98) Heißt es an der Anm. 97 genannten Stelle: rä de agög valg ßeayfißglaig i>))Aea
(/3JlaöT?jQa6) Ttagä v4p> ägai6vt)ra, so könnten die letzten Worte ebensowohl auch
lauten: naget vi]V änaXöz-ijra. Offenbar fallen für den Dichter die beiden Ausdrücke,
in ihrer Anwendbarkeit aufs Weib, so gut wie zusammen.
99) vvKx'äöaij, VIII, 59.
3° H. Gomperz
Weib und ein Lichtwesen zugleich: Hemera, die Göttin des
Tages! Konnte der Dichter deutlicher zum Ausdruck bringen, daß
er zum Weib aufblickte wie zu einer ihm auch geistig überlegenen
„Lichtgestalt", als indem er seine ganze Lehre einem weiblichen
Lichtwesen, der Tagesgöttin, zuschob?
Dazu kommt nun eine dritte Beobachtung, vielleicht die merk-
würdigste von allen: nicht nur die Gottheit, die den Parmenides
belehrt, ist weiblich — es kommen (und von dieser Regel gibt
es so gut wie keine Ausnahme) in seinem Gedicht überhaupt
nur weibliche Gottheiten vor! Denn weiblich wie die Göttin des
Tages ist auch die der Nacht (I, 9), weiblich sind die Sonnentöchter
(I, 8 5 1, 1 5), weiblich die Gottheit des Rechts (1, 1 4; I, 28 ; VIII, 1 4) wie
auch die der Pflicht (I, 28), die Belehrung wie die Wahrheit (IV, 4) die
Zwangsgewalt (VIII, 50 h X, 6) und die Parze (VIII, 37 ). Man kann
einwenden, dies seien fast durchwegs vergöttlichte Abstraktionen
und Abstraktionen seien eben im Griechischen großenteils weiblich.
Allein diese Einwendung versagt doch völlig gegenüber jener Göttin^
die Parmenides in die Mitte des Himmels setzt und ausdrücklich
als die „Lenk'rin des Weltalls" bezeichnet (XII, 5): sie ist so wenig
eine bloße Abstraktion, daß (zumindest wo sie zuerst erwähnt ward)
nicht einmal ihr Name genannt wird; daß aber so einer weiblichen
Gottheit jene Herrscherstellung zufällt, die sonst „der Vater der
Götter und Menschen" einzunehmen pflegt, das kann doch
unmöglich ein Zufall sein, ja dies würde, so scheint mir, schon
für sich allein den Schluß rechtfertigen, daß der Dichter,
der diese Zeilen niederschrieb, das Weib ganz ungewöhnlich
hoch gestellt haben muß. Nun aber ist diese Göttin, die das
All lenkt, überdies dieselbe, die überall Geburt anregt und
Paarung:
Denn, was weiblich, gesellt sie dem Männlichen, daß es sich paare
Und, was männlich, dem Weiblichen zu.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen zi
Es ist also die Göttin der Liebe, und zwar der Liebe zum anderen
Geschlecht, der die Weltherrschaft eingeräumt wird, und daß sie
ihr an Zeus' Stelle zufällt, haben auch schon die Alten bemerkt,,
denn Empedokles, wo er den von Parmenides geschilderten Welt-
zustand als den einer fernen Urzeit hinstellt, schildert ihn mit den
Worten: 100
Jene kannten den Kriegsgott nicht, nicht den Gott des Getümmels,
Kannten nicht Zeus, den König, nicht Kronos und nicht Poseidon,
Sondern es herrschte Kypris allein, (die Göttin der Liebe).
Alle Gottheiten also, die Parmenides kennt, sind weiblich. Die
einzige Ausnahme, die es von dieser Regel gibt, ist eine solche,
die sie bestätigt: der einzige Gott nämlich, dessen Namen wir in
seinem Gedichte lesen, ist — Eros! (XIII). 101 Über ihnen allen aber
thront als höchste der weiblichen Gottheiten — die Liebe zum
Weibe!
Fassen wir diese Beobachtungen zusammen, so dürfen wir sagen:
die Welt des Parmenides erweist sich unverkennbar als die Ver-
körperung einer wohl durchaus unbewußten, allein deswegen nicht
weniger kräftig entwickelten, ausschließlich dem anderen Geschlechte
zugewandten Erotik. Das weibliche Weib ist das vollkommene Weib.
Und dies vollkommene Weib ist auch begabter, überhaupt voll-
kommener als der Mann, denn in ihm ist weit mehr von dem
enthalten, was wir wohl das weibliche Prinzip nennen dürfen :
das Prinzip des Feinen, Zarten, Lichten, Verständigen, das offen-
bar unvergleichlich wertvoller ist als das entgegengesetzte männ-
100) Vorsokr. 21 B 128.
101) Neben diesem mag freilich an weniger hervorragender Stelle noch ein männ-
licher Kriegsgott gestanden nahen, wenn anders bei Cicero (Vorsokr. 18 A 57), wie
es ja gewiß am nächsten liegt, „Bellum" als Übersetzung von TIöXef.iog aufzufassen ist
(die dort weiter genannte Discordia läßt auf eine Göttin Eris schließen: Cupiditas
bezieht Diels auf Eros, Parmenides kann indes auch von einer 'Emftvßla oder der-
gleichen gesprochen haben).
52 H. Gomperz
liehe Prinzip: das des Festen, Plumpen, Dunkeln, Verstandlosen. 101
Diese beiden Prinzipien aber sind die Grunderscheinungen der
Welt; aus ihrer Vereinigung entsteht ^alles; der Trieb, der sie zu-
einander zieht, sie paart, ist die höchste Weltmacht, die oberste
Gottheit!
Und nun die vierte und letzte Beobachtung, jene, um derent-
willen alles Bisherige gesagt ist, die uns erst an das wahre Problem
heranführt, um uns — oder doch um mich — dort fast ratlos
zu verlassen: diese die Geschlechtsliebe verkörpernde, von der
Geschlechtsliebe beherrschte Welt — lehnt Parmenides ab! Er
verwirft sie aufs schärfste, erklärt sie für unwirklich, für eine
bloße Ausgeburt menschlichen Wahnes. Und was diesen Wahn als
Wahn kennzeichnet, ist eben- dies, daß er zwei gegensätzliche
Grunderscheinungen annimmt, diese sich miteinander paaren läßt
an diese Paarung Geburt, Entstehung, Werden geknüpft denkt^
In der wahren Welt, so versichert er immer wieder, gibt es kein
Werden, kein Entstehen und Vergehen; in ihr gibt es auch nicht,
eine Zweiheit von Erscheinungen, die sich miteinander paaren
könnten, so daß dann aus dieser Paarung ein Neues hervorginge.
102) Theophrast (Vorsokr. 18 A 7) sagt, Parmenides habe das Dichte und Kalte
als das „stoffliche" Prinzip gedacht, das Dünne und Warme dagegen als „das Wir-
kende und Tätige". Stammten diese Ausdrücke von Parmenides selbst, so könnte die
Frage aufgeworfen werden, ob darin nicht ein Widerspruch gegen die von mir vor-
ausgesetzte mehr weibliche Natur des Lichtes, die mehr männliche des Dunkeln liege.
Nun bringt es ja aber das Wesen der Sache mit sich, daß man eine Mischung von
Licht und Dunkel eher auf das Eindringen von Lichtstrahlen in die Finsternis als
auf den umgekehrten Vorgang zurückführen wird. So schreibt denn auch Parmenides
XII, 2 : Da fährt ein Teil der Flamme dazwischen. Aus diesen Worten und etwa noch
aus einigen andern, ähnlichen glaubte dann Theophrast den „stofflichen" Charakter
des Dunkeln, den „wirkenden" des Lichten bei Parmenides ableiten zu können, was
ihm dann spätere Doxographen ohneweiters nachsprachen (Vorsokr. 18 A 1 ; A 25V
Scheut er sich doch auch nicht, die Grün der scheinungen des „Wahnes" ohneweiters
„Feuer und Erde" zu^nennen, was Aristoteles noch nicht wagte („Er setzt zwei Ur-
sachen . . ., Warmes und Kaltes, womit er etwa Feuer und Erde meint, olov
nvg 'Aal yr(V /.iyov, Vorsokr. 18 A 24) imd was Simplicius, da er den Wortlaut des
Gedichts vor sich hatte, alsbald berichtigte (nvQ y.al YW V l*&?.?.ov (püg xai Oüötog,
Vorsokr. 18 A 54.).
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 33
In dieser wahren Welt gibt es nur eines und dies eine ist ein
Sächliches: das „Seiende", dies eine sächliche Seiende aber ist
unentstanden und unvergänglich, ewig unveränderlich und unbe-
weglich . . . Parmenides glaubte diese Sätze aus dem Begriffe des
Seins ableiten zu können: man braucht nicht Psychoanalyse studiert,
man braucht nur Nietzsche gelesen, nur die Luft des zwanzigsten
Jahrhunderts geatmet zu haben, um zu wissen, daß niemand aus
rein und ausschließlich logischen Gründen das Zeugnis seiner eigenen
Sinne verwirft. Allein, wenn ich mich nun frage: woher erhob sich
in diesem in der Vollkraft der Jahre stehenden, anscheinend von
gesunder Erotik erfüllten Manne die Kraft, die ihn dazu ver-
mochte, den Augenschein zu leugnen, die Welt, in der sich für
ihn sein durchaus gesundes Fühlen verkörperte, für bloßen Wahn
zu erklären — dann versagt mir die Antwort. Gewiß wird man
annehmen dürfen, daß Parmenides, indem er die Welt verwarf,
in der sich ihm seine Erotik verkörperte, sich eben auch gegen
diese Erotik aufgelehnt, in dem Gedanken an das eine, ewige,
sächliche Seiende Befreiung von ihr gesucht und vielleicht auch
gefunden hat. 103 Allein die aufgeworfene Frage ist damit nicht be-
antwortet: woher kam dem Parmenides der Wunsch, nach einer
solchen Befreiung zu streben? Woher kam ihm die Kraft, sie ins
Werk zu setzen? . . . Habe ich es wahrscheinlich gemacht, daß für
105) Vielleicht darf hier auch an die auffallenden Worte erinnert werden, mit
denen (nach Vorsokr. 18 A 1) Sotion berichtete, daß Ameinias den Parmenides für die
pythagorische Lebensweise gewonnen habe : dieser, sagte er, sei von jenem „für die
Stille gewonnen worden" — Worte, durch die, wie ich schon sagte (vgl. o. Anm. 5),
vielleicht noch eine Zeile der Inschrift auf dem Grabtempelchen durchscheint, das
Parmenides dem Ameinias errichtet hat:
Da mich der treffliche Mann heiliger Stille gewann.
Unter der heiligen „Stille" ist wohl ganz allgemein das der Welt mit ihren
Geschäften und Kämpfen, Genüssen und Entbehrungen abgekehrte, der bloßen Be-
trachtung gewidmete Leben des Denkers zu verstehen. Daß er ihn für dies — wie
man später sagte — „theoretische Leben" gewonnen habe, durfte Parmenides dem
Ameinias bezeugen, auch wenn er sich dessen pythagorische Lehre nicht angeeignet
hatte oder von ihr wieder abgewichen war.
Imago X/i 3
34
H. Gomperz
den ersten Abendländer, der die Wirklichkeit der sinn lichen Er-
scheinj^.gswelt__geleugnet hat, diese Welt durch und durch von
Erotik durchtränkt war, so ist ja auch dies Ergebnis gewiß des
Festhaltens wert; allein auf die weit größere und schwierigere
Frage, warum er nun die Wirklichkeit dieser von Erotik durch-
tränkten Welt leugnen wollte und wie er sie leugnen konnte,
weiß ich keine Antwort.' 04
2. SoUrates
Sokrates lebte in Athen etwa 46g bis 399 v. Chr. Sein Vater war
der Steinmetzmeister Sophroniskos. 105 Seine Mutter Phainarete war
in erster Ehe mit einem gewissen Chairedemos vermählt gewesen
von dem sie einen Sohn, Patrokles, hatte ; J in vorgerückten Jahren
vielleicht erst nach dem Tode des Sophroniskos, brachte sie sich
als Geburtshelferin und Heiratsvermittlerin fort. 107 Den Patrokles
bezeichnete Sokrates noch als reifer Mann als „seinen Bruder"
er lebte noch, als Sokrates etwa vierundsechzig Jahre alt war-' 08
sonst hatte dieser entweder überhaupt keine Geschwister gehabt
oder sie waren doch früh gestorben. 109 Aus der Jugend des Sokrates
104) Immerhin sei angemerkt, daß sich auch in Indien ein gewisser Zusammen-
hang zwischen Leugnimg der äußeren Wirklichkeit und Ablehnung der Geschlecht-
lichkeit behaupten ließe; denn mag diese Leugnung dort zuerst von buddhistischen
Bhikshus oder von vedantistischen Yogins ausgegangen sein — in beiden Fällen
handelt sich's um Angehörige einer mönchsartigen Bruderschaft, zu deren ersten
Pflichten vollkommene Keuschheit gehörte.
105) Der Name des Vaters Plato, Laches i8ode; Xenophon, Hell. I 7, 15. Sein Beruf
im allgemeinen angedeutet PI. Euthyphro n b : dafür, daß er gerade Steinmetz, nicht
etwa Bildhauer oder Erzgießer war, ist der älteste Zeuge Menedem aus Pyrrha bei
Porphyr, Gesch. der Philos. Frg. 11 Nauck, dann auch Diog. Laert. II, 1 u. A.
106) PI. Euthyd. 2o,7 e . Daß Chairedem der erste Mann der Phainerete war, ist
nirgends überliefert, wird aber wohl mit Recht angenommen, da Laches 180 c voraus-
gesetzt zu sein scheint, daß Sophroniskos nicht allzu lange vor der Zeit des Gesprächs
(zwischen 424 und 415) gestorben war, also kaum viel vor 440. Da war Sokrates
etwa 29 Jahre alt und seine Mutter hätte kaum mehr einen Sohn geboren.
107) PI. Theaet. 149"; 149b; i49 d -
108) Kirchner, Prosopographia Attica Nr. 11697.
109) Dies erhellt aus der Anm. 106 angeführten Euthydem-Stelle.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 35
wissen wir fast nichts. Etwa ein halbes Jahrhundert nach seinem
Tode erzählte man, er habe sich frühzeitig gegen seinen Vater
aufgelehnt: dieser habe ihn als Lehrburschen verwenden wollen
und ihm häufig den Auftrag gegeben, ihm sein Handwerkszeug
da- oder dorthin zu tragen, Sokrates aber habe sich um solche
Aufträge nicht gekümmert und sei nach seinem Belieben umher-
gestreift." Ein mißgünstiger Berichterstatter fügte hinzu, er habe
nichts Rechtes gelernt, und das habe man auch noch, in späteren
Jahren daran bemerken können, daß er beim Lesen gestottert habe
wie ein Kind und auch beim Schreiben das Geschriebene stockend
vor sich hinsagte 5 wer zugegen war, habe lachen müssen. 111
Im Alter von siebzehn Jahren, so erzählte man weiter, habe er
eine für sein Leben entscheidende Bekanntschaft gemacht: es näherte
sich ihm nämlich ein gewisser Archelaos, ein Naturforscher aus
der Schule des Anaxagoras: dieser stellte sich, als wäre er in ihn
verliebt und gewann so seine Freundschaft, Sokrates aber schloß
sich ihm eng an und verlebte viele Jahre in vertrautem Umgang
mit ihm. 112 Und in der Tat wissen wir, daß beide, als Sokrates
etwa dreißig Jahre alt war, zusammen den Feldzug nach Samos
mitgemacht haben. 113 Durch Archelaos sei denn auch in Sokrates
das Interesse für wissenschaftliche Fragen geweckt worden. Archelaos
110) Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg. 12 Nauck. Die Nachricht scheint einem
sokratischen Gespräch entlehnt, das älter war als Aristoxenos; denn schon dieser las
aus der unmittelbar folgenden Nachricht über Sokrates und Archelaos ein päderasti-
sches Verhältnis beider heraus (Frg. 1 Müller\
111) Porphyr, a. a. O. Frg. 11 Ende, wohl aus Aristoxenos.
112) Ebd. Frg. 12.
113) Ion v. Chios bei Diog. Laert. II, 22; vgl. Diels, Vorsokr. 47 A 5. Aber viel-
leicht sprach Ion gar nicht vom Philosophen Sokrates, vielmehr vom Strategen
(v. Wilamowitz, Piniol, ünterss. I 24O; Joel, Geschichte d. antik. Philos. I 758P Dann
mußte die auf Sokrates zielende Bemerkung „als er jung war« später beigesetzt sein
Und das ist an und für sich denkbar. Allein von einer Beziehung Sokrates' zu
Archelaos wußte man schon vor der Zeit des Aristoxenos (vgl. Anm. 110) sie ward
also gewiß nicht nur aus Ions Reise-Erinnerungen mißverständlich herausgelesen
Dann ist aber die Annahme, schon Ion selbst habe vom „jungen" Philosophen Sokrates
gesprochen, immerhin einfacher (so jetzt auch v. Wilamowitz, Piaton I 9 6<).
3"
J
„ 6 H. Go mperz
beschäftigte sich vor allem mit Fragen der Naturphilosophie (Grund-
und Urstoffe, Weltbildung) und erwarb sich insbesondere Verdienste
um die Begründung der Akustik: es ist wohlbeglaubigt, daß auch
Sokrates in seiner Jugend über solche Fragen nachgedacht und Lehren
des Archelaos auch noch zu einer Zeit vertreten hat, zu der seine
persönliche Beziehung zu diesem schon hinter ihm lag." Arche-
laos nahm wie sein Lehrer Anaxagoras eine höchste Weltvernunft
an als deren Trägerin ihm aber, wie seinem Zeitgenossen Diogenes
aus Apollonia, die Luft galt, und auch als Vertreter dieser Ansicht
ist Sokrates später (als er etwa siebenundvierzig Jahre alt war),
wohl nicht mit Unrecht, verspottet worden." 5 Archelaos scheint
aber auch als erster den Fortschritt der menschlichen Gesittung
als etwas grundsätzlich von aller bloß natürlichen Entwicklung
Verschiedenes betrachtet und in diesem Sinne dem „Wachstum"
die Satzung" entgegengestellt zu haben." 6 Wenn also Sokrates
sich späterhin immer mehr den Fragen der Naturwissenschaft
ab- und solchen des Menschenlebens zugewandt, ja sogar das
Recht geradezu für (teils göttliche, teils bloß menschliche) Satzung-
erklärt hat, so wird auch hiezu der Einfluß des Archelaos bei-
, ^ PI Phaedo 96a ff. Vgl. auch Aristophanes, Wolken 164 mit Vorsokr. 47 A x/i 7 .
5 Vgl. Wolken , 9 8; ,50: *6 4 ; 6 2? ; 66 7 ; rf» mit Vorsokr. 47 A ja (vgl. A ,.
und A 18) Da die von Aristophanes verspottete Lehre mit der des Diogenes aus
Apollonia vielfach genau übereinkommt, glaubte Diels (55. Versammlung deutscher
Philologen und Schulmänner 1881, 106) erwiesen zu haben, der Komiker habe Sokrates
Je Anfchauungen dieses Naturphilosophen zu Unrecht in den Mund gelegt. Allein
das h ßt die Originalitätssucht der Denker jener Zeit überschatzeii die emander ihre
Insi ten vielfach entlehnten. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, die Luftlehre des
nioLeies sei ihm nicht allein eigentümlich (Vorsokr. 51 A 20); sie kann somit sehr
wohl auch von Archelaos geteilt worden und von diesem auf Sokrates übergegangen sein.
l6 " Ana agoras hattf die Entstehung der menschlichen Gesittung als emw^
liehe Stück L Weltbildimg angesehen (Vorsokr. 46 B 4; B »1 ^Ebenso schloß
wohl au dh d* Archelaos Darstellung der Weltbildung mit einem Hinweis auf die
wohl auch aes Entstehung der Künste (Vorsokr. 47 A 4/6). Hob er
Gründung der Städte und fe bestünden nicht auf Grund natürlichen
nun trotzdem hervor, Kecnt una u " ♦„„♦„„„„ fFhH A ll. so sollte damit
Wachstums, vielmehr auf Grund »^^^/"J'f'^^J^vdtall. abgetrennt
vermutlich die Entstehung der Gesittung von der Entwicklung des Weitaus g
und einer besonderen Untersuchung vorbehalten werden.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 37
getragen haben. 117 Als Sokrates etwa vierzig Jahre alt war, verließ
Archelaos Athen," 8 und erst seit dieser Zeit scheint Sokrates die
allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen zu haben. Zum
mindesten wird uns seine Gestalt erst seit 430 — vor allem
durch den Spott der Komödie — einigermaßen greifbar. 119
Sokrates erschien seinen Zeitgenossen — und zwar auch jenen,
die ihm leidenschaftlich ergeben waren — außergewöhnlich häßlich:
auf einem nicht einmal mittelgroßen Körper 120 saß ein Kopf mit
„krebsartig" vorstehenden Augen, wulstigen Lippen und einer kurzen
Stumpfnase, deren Nasenlöcher dem Beschauer weit geöffnet ent-
gegenstarrten 5 121 die ganze Erscheinung glich der eines Silens. 12 -
Und waren so die Züge des „Silens" an und für sich wenig ein-
nehmend, so wurde dieser Eindruck noch verstärkt durch seine
Art, sich zu tragen und zu bewegen. Sein Äußeres war auffällig
ungepflegt: eine bleiche Gesichtsfarbe zeugte von unzureichender
Ernährung; das Haar wallte lang herab; die Füße waren unbe-
schuht und nicht bloß ihnen, auch dem Körper war es anzu-
merken, daß er nur selten, aus besonders festliche m Anlaß, ge-
„7) Xen. Erinn. IV 4, u; 19$ •* Antiphon hatte (Vorsokr. ^ Nachtr p. XXXII)
von e em „natürlichen« Recht gesprochen, dessen Übertretung s,ch selbst ^bes träfe.
Erklärt nun Sokrates dies natürliche Recht selbst für e,n (freilich ungeschehenes und
von Göttern, nicht von Menschen gegebenes) Gesetz, so scheint er damit den Satz
des Archelaos (Recht = Gesetz) gegen Antiphons Widerspruch zu verteidigen.
118^1 Vorsokr. 46 A 7. _ ,. „ , .
110 Den Wert der Komiker-Stellen für unser Sokrates-Bild und die Grundsätze,
die sie uns für die Bewertung der Sokratiker-Nachrichten J«*"?£^ a *^
gelegt in dem Aufsatz „Die somatische Frage als geschichtliches Problem (Hirtor.
Zeitfchr. 19*4)1 die entsprechenden Folgerungen, die aus der Anklage des Meletos
und seiner Gnossen zu ziehen sind, in dem Aufsatz „Die Anklage gegen Sokrates
und Z Bedeutung für die Sokrates-Forschung« (Neue Jahrbücher für das klassische
Altertum 1024). Das dort Gesagte kann ich hier nicht wiederholen. Wo daher im
Folgenden für 4 eine Angabe des Textes die Anmerkungen Belege oder Erlamer.ngen
schuldig zu bleiben scheinen, sind diese in den nm angeführten Aufsätzen zu finden,
iso) Dies möchte ich aus PI. Phaedo io 2 b schließen, wo als Beispiel einer blofl
beziehungsweisen Größenbestimmung angeführt wird: „Sokrates ist kleiner als
Simmias, Simmias kleiner als Phaidon".
121) Xen. Gastm. V, 5 bis 7.
122) PI. Gastm. 2i5 ab -
2 8 H. Gomperz
badet wurde. 123 Dazu trat ein eigenartig stolzer, ein gewisses
Absonderungsbedürfnis verratender Gang; die Augen wurden rasch
hin- und hergeworfen 124 und blickten bald diesem, bald jenem
starr ins Gesicht. 125 Sokrates' ganzes Wesen hatte denn auch etwas
Prophetenhaftes, Weitabgewandtes, Jenseitiges, Entrücktes. Und
wirklich ward er von Zeit zu Zeit auch von förmlichen Ent-
rückungs- und Versenkungszuständen heimgesucht fänf unge-
eignetsten Ort, auf dem Wege zu einem Festessen oder mitten
im Heerlager, konnte er plötzlich stehen bleiben und nun, wie
in tiefe Gedanken versunken, eine Stunde, zwei Stunden, aber
auch vierundzwanzig Stunden unbeweglich dastehen. 126 Doch auch
sonst fehlte es in seinem Leben nicht an Zügen, die er auf das Ein-
greifen übermenschlicher Kräfte zurückführte: in lebhaften Traum-
gesichten wurde ihm Kommendes vorhergesagt und dies oder jenes
aufgetragen; so hörte er insbesondere immer wieder und noch kurz
vor seinem Ende als Siebzigjähriger im Traum eine Stimme:
„Sokrates, mach' Musik und sei fleißig!" 127 Vor allem aber war es
ihm sehr oft auch im Wachen, als höre er eine Stimme, die ihm
dies oder jenes, was er gerade tun oder sagen wollte, verbot: es
waren scheinbar gleichgültige Dinge, allein hinterdrein ward es ihm
fast immer klar, daß er oder einer seiner Freunde durch die Stimme
125) Aristoph. Wolken 103; 885; Vögel 1282; 1554; PI. Phaedo 64b; Gastm. 174»;
Xen. Gastm. I, 7.
124) Wolken 562; vgl. PL Gastm. 221b. ßgevMsa&ai bedeutet bald sieb für etwas
zu gut dünken (Bruchstück eines unbekannten Komikers Nr. 506 Kock), bald auf etwas
stolz sein (Athenaios XV, 625b), bald sich gekränkt fühlen (Aristophanes, Friede 26:
Lysistrate 887; Lukian, Die gemieteten Freunde 57, p. 697), ursprünglich natürlich
sich benehmen wie der Vogel Brenthos (der aber bei Aristoteles bald als See- und
Raubvogel, bald als Berg- und Singvogel erscheint: Tiergeschichte IX 1, 609b 24 und
IX 11, 615a 15). Etwas Abweisendes und Stolzes will der Ausdruck dem Sokrates
gewiß' anheften, und das wird durch den Zusammenhang, in dem Piaton ihn anführt,
bestätigt. Als einen Mann, der sich absondert, zu den Menschen nur herablaßt,
schildert ihn Aristophanes gleich bei seinem ersten Auftreten, Wolken 222 ff.
125) PI. Phaedo 117 b.
126) PI. Gastm. i75 ab ; 220^.
127) PI. Phaedo 60 e ; vgl. Apol 55 c ; Crito 44a.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 59
vor ernsterem oder weniger ernstem Schaden bewahrt worden war.
Daher er denn fest davon überzeugt war, daß diese wunderbare
Stimme nur von der höchsten Gottheit ausgehen könne: von jener
höchsten Vernunft, die, einem kunstreichen Meister vergleichbar, die
Welt hervorbringe und in Ordnung halte, ihm, Sokrates, aber
offenbar ihre Fürsorge ganz besonders angedeihen lasse, weshalb er
sich denn auch, ihres Schutzes gewiß und in diesem Schutz geborgen,
aller Besorgnis vor irgendwelchen irdischen Gefahren durchaus ent-
schlagen dürfe. Doch darf dies nicht so ausgelegt werden, als hätte
sich Sokrates etwa um irdische Dinge überhaupt nicht gekümmert:
vielmehr galt gerade ihnen und ihrer Verbesserung nahezu sein
ganzes Trachten und Wirken.
Daran, daß Sokrates seine Bürgerpflicht im Krieg wie im Frieden
vorbildlich erfüllt hat, ist nicht zu zweifeln: die Beschwerden des
Winterfeldzugs von Potidaia (43 1 bis 429) ertrug er wie kein anderer,
auf dem Rückzug von Delion (404) bewies er die größte Ruhe und
Umsicht "• Als erlöster Vorsitzender der Volksversammlung (40b)
trotzte er ganz allein dem Toben der Menge, die unbeliebten An-
geklagten ein ihnen gesetzlich zustehendes Recht verkürzen wollte,-
und unter der Herrschaft der Dreißig (404) weigerte er auf jede
Gefahr hin dem Befehl Gehorsam, an einer gesetzwidrigen Verhaf-
tung teilzunehmend Aus freien Stücken hat sich Sokrates am Staats-
leben freilich nicht beteiligt,^ allein der Lebensplan, dem er sein
eigenes Leben unterwarf, sollte nicht nur ihn selbst der irdischen
Zufriedenheit so nahe als möglich bringen: indem er auch andere
12 8) PI. Gastm. M f4L; vgl. Apol. *Se; Charm. 153«; Xen. Erinn. IV 4, 1.
152) PI- AJ?0L _5» Berichtete paßt nicht zu seinem mAnm. 150
r^in^^SerTauch würde eine Beziehung auf dieses anderen
aSSSL^TSSF^ widersprechen (vgl. v. WiWowitz, Piaton I, .„«.
■
4° H. Gomperz
von der Richtigkeit dieses Lebensplanes zu überzeugen suchte, wollte
er mittelbar auch den gesamten Zustand seiner Vaterstadt verbessern.
Dieser Lebensplan hatte, ganz im allgemeinen betrachtet, den
Vorsatz zum Mittelpunkt, in Fragen, die menschlicher Einsicht nicht
grundsätzlich entzogen sind (und in denen man am besten tut, den
Winken der Gottheit oder aber Brauch und Herkommen zu folgen), 133
sich nie an eine andere Richtschnur als an die der eigenen Einsicht
zu halten, die Autorität des Wissens höher zu stellen und zu achten
als jede andere: denn nur der Erkenntnis gemäßes Handeln ist
richtiges Handeln, das Bewußtsein, richtig zu handeln, aber verleiht
schon an und für sich eine Befriedigung, mit der keine andere sich
vergleichen kann. 15 * Als das der Erkenntnis einzig gemäße Leben
erweist sich nun aber ein Leben der Selbstbeherrschung und frei-
willigen Entbehrung, Abhärtung und Ertüchtigung, denn nur das
worauf wir verzichten gelernt haben, werden wir auch zu ent-
behren wissen, wenn es uns abgeht, und auch ein wirklich starker
Genuß stellt sich nur dann ein, wenn ihm eine lange und fühlbare
Entbehrung vorangegangen ist. 155 Solchen gelegentlichen Genüssen
wie Festmahlen und Trinkgelagen war denn auch Sokrates durchaus
nicht abhold, ja seinem Ertüchtigungsplan fehlt überhaupt völlig
jedweder lebens- und genußfeindliche Zug. Böse Zungen des nächsten
Jahrhunderts behaupteten sogar, in seinen Beziehungen zum weib-
lichen Geschlecht habe Sokrates eher ein Zuwenig als ein Zuviel
an Selbstbeherrschung gezeigt, ohne daß er freilich etwas Unrechtes
getan hätte — habe er sich doch, außer mit seiner Frau 136 , nur
mit öffentlichen Dirnen eingelassen. Und diese Nachricht, so schlecht
135) Xen. Erinn. I 1, 6 bis 9.
134) Xen. Erinn. 16, g; IV 8, 6; Apol. 5.
155) Xen. Erinn. I 2, 1; I 3, 5 bis 8; I 6, 2 bis 3; 6, 7; IV 5, 9 (vgl. Hiero I, 25;
Dio Chrys. VI 12); PI. Gastm. 2igd; 220a.
136) Eigentlich „seinen (beiden - ! Frauen" (?) yag zalg yapezau; ?) zatg xoivaig
ZQfja&ai fidvaig) ; vgl. u. Anm. 199. Daß von Sokrates eigenen Frauen die Rede ist,
erhellt aus den vorhergehenden Worten: ädixlav de pi) siQoaeivai.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 4. 1
ihre Bezeugung auch ist,' 37 sagt doch insofern gewiß etwas Wahres,
als Sokrates Verhältnisse der zuletzt erwähnten Art offenbar nur
als unschädliche Vergnügungen beurteilt, leidenschaftliche Zuneigung
dagegen sicherlich nur für Knaben empfunden hat. 138 Noch glaub-
würdiger scheint es, wenn ihm eine Neigung zum Jähzorn nach-
gesagt wird („vom Zorn erhitzt habe er sich in Wort und Tat
zum Äußersten hinreißen lassen"). 159 Gewiß ist jedenfalls, daß einer
seiner leidenschaftlichsten Bewunderer von ihm erzählte, ein Physio-
gnomiker habe aus seiner Erscheinung geschlossen, es müßten ihm
alle möglichen lasterhaften Neigungen eigen sein; darüber hätten
seine Freunde gelacht, als welche wußten, wie hievon gerade das
Gegenteil gelte; allein Sokrates selbst habe geantwortet: „Du hast
ganz recht gesehen, nur bin ich über all diese Neigungen Herr
geworden. " l¥> In der Tat hat Sokrates in seinen Zeitgenossen den
Eindruck eines zu voller innerer Ruhe und Harmonie gelangten,
durchaus glücklichen und zufriedenen Mannes hinterlassen. 1 * 1
Zu einem Leben wie dem seinen wollte aber nun Sokrates auch
die Jugend erziehen, ja er war überzeugt, auf diesem und nur auf
diesem Wege nicht nur deren eigenes Glück, vielmehr auch das
der Stadt befördern zu können. Zwar wird man nicht sagen dürfen,
daß Sokrates die für ihn bezeichnenden Gespräche ausschließlich
mit jungen Leuten führte: abgesehen davon, daß auch zu seinem
157) Aristoxenos Frg. 28 Müller.
138) Xen. Erinn. I 3, 14; II 1, 5; II 2, 4 (vgl. Antisthenes bei Xen. Gastm. IV 58
und bei Diog. Laert. VI 3).
139) Aristoxenos Frg. 28 Müller. Wenn dieser sich treilich für das Schlechte, das
er Sokrates wie andern großen Männern nachsagte, auf Erzählungen seines Vaters
Spintharos berief, so halte ich das für literarische Fiktion; für die Darstellung des
Verhältnisses zwischen Sokrates und Archelaos hat er offenbar aus schriftlichen
Quellen geschöpft, das aus ihnen Geschöpfte aber mit dem Schmutze seines Übel-
wollens getrübt und nicht anders werden auch seine übrigen Nachrichten zu be-
urteilen sein.
140) Über die Geschichte vom Physiognomiker Zopyros, die allem Vermuten nach
aus dem gleichnamigen Gespräch des Phaidon stammt, s. Zeller, Ph. d. Griech. II 1*, 64»
und v. Wilamowitz, Hermes XIV 1 87 f.
141) Xen. Erinn. I 6, 14; IV 8, 11;* PI. Phaedo s 8e -
4 2 H. Gomperz
engeren Kreise ältere Freunde wie Kriton gehörten, wie auch davon,
daß er wohl auch zu manchen Älteren, wie vor allem zu dem
großen Tragiker Euripides, in rein freundschaftlicher Beziehung
stand, kennen wir neben den Gesprächen, in denen Sokrates Jüngere
belehrt, auch solche, in denen er von Älteren oder Gleichaltrigen
zu lernen sucht. Es sind das dann regelmäßig Meister irgend einer
Kunst: Maler, Bildhauer, Panzerschmiede, 1 * 2 vor allem aber natürlich
die Meister der vornehmsten und eben damals neu aufgekommenen
Kunst, die berufsmäßigen Lehrer der Rede- und der Staatskunst. 143
Solchen nähert sich Sokrates, indem er ihnen zu verstehen gibt, er
fühle sich in irgend einer Frage völlig unwissend und erwarte von
ihnen sehnlichst endgültige Belehrung; dann legt er ihnen seine
Frage vor. In einzelnen Fällen mag er sich dann wohl bei der er-
teilten Antwort beruhigt haben j 1 ** meist bildete diese nur den Aus-
gangspunkt zu neuer Fragestellung — und siehe da, Frage reiht
sich an Frage, aus Belehrung heischenden werden widerlegende
Fragen, immer entschiedener reißt Sokrates die Führung des Ge-
sprächs an sich, zum Schluß stellt sich's heraus, daß der Meister
und Lehrer gewiß nicht mehr, eher weit weniger weiß als der
fragende Schüler, so daß, wenn schon zuletzt beide nichts Rechtes
wissen mögen, Sokrates doch insofern der Klügere ist, „als erwengstens
142) Xen. Erinn. III 10; vgl. PI. Apol. 22c ff.
143) Gespräche mit Sophisten bei Xenophon, Erinn. I, 6 (Antiphon) und IV 4
(Hippias) wie bei Piaton (Euthydemos, Protagoras, Gorgias, Hippias, Kratylos in
den gleichnamigen Dialogen, dazu noch Thrasymachos im Staat); dann mit Poli-
tikern (Xen. Erinn. I 2, 33 ff.; III 2; III 3; III 4; PI. Apol 22b ff.), weiter mit
Dichtern (PI. Apol. 22 a) und Rhapsoden (Piatons Ion), endlich mit einem Fach-
mann des religiösen Formel- und Opferwesens (Piatons Euthyphron). Dazu, wenn
man will, noch mit dem Mathematiker Theodoros in Piatons Theaetet (um die
ohne Zweifel von Piaton erdichteten Gespräche mit Pythagoreern und Eleaten nicht
zu nennen).
144) Die Nachrichten, die ich Sophistik und Rhetorik S. 90 ff. zusammengestellt
habe, geben Anlaß zu dem Gedanken, Sokrates möge sich so öfters z. B. dem
Sophisten Prodikos gegenüber verhalten haben, dessen Untersuchungen über die Be-
deutungsunterschiede der Wörter den sokratischen Fragen nach dem Wesen des
Guten, Anständigen, Gerechten usw. ohne Zweifel die Bahn geebnet haben.
_
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 45
dies eine weiß, daß er nichts weiß". 145 Meist handelt sich 's dabei
um die Frage nach dem Wesen eines sittlichen Grundbegriffs: „Du
willst die jungen Leute lehren, rechtschaffen sein; wie also erklärst
du das Wesen der Rechtschaffenheit, was ist rechtschaffen? Nicht
töten, nicht täuschen? Aber im Krieg müssen wir doch die Feinde
töten und täuschen. Die Freunde nicht täuschen? Aber müssen wir
nicht einen Kranken täuschen, um ihm listig das Heilmittel ein-
zuflößen, das er sich wissentlich zu trinken weigert? . . . Du weißt
also nicht, was Rechtschaffenheit ist? Wie willst du sie dann lehren?"
Im Mittelpunkt der Sokratischen Wirksamkeit steht trotz alledem
sein Verhältnis zur Jugend. Seine Gespräche mit dieser unterscheiden
sich allerdings nicht grundsätzlich von den soeben gekennzeichneten:
der hier wiedergegebene Gedankengang findet sich ebensowohl in
einer Unterredung mit einem Jüngling wie in einer solchen mit
einem Lehrer der Rhetorik.'* 6 Allein das Gespräch findet in beiden
Fällen nicht die gleiche Fortsetzung, es führt zu anderen Wirkungen,
es hebt sich vor allem von einem ganz verschiedenen Gefühls-
hintergrund ab. Während der bloßgestellte Lehrer von Sokrates
mehr oder weniger aufgebracht scheidet, pflegt der seiner Unwissen-
heit überführte Jüngling in sich zu gehen: er sieht ein, daß er sich
für das tätige, vor allem für das öffentliche Leben nicht eignet,
solang er noch nicht einmal die Grundbegriffe der Lebensführung
ihrem Wesen nach richtig zu erklären vermag; Sokrates unterstützt
diese Einsicht, indem er ihm vorhält, daß er sich um lauter Neben-
sachen bemüht, statt um die eine Hauptsache, wenn er von Ruhm,
Macht und Reichtum träumt statt von dem, was ganz allein zu Ruhm,
Macht und Reichtum führen, aber auch ganz allein ihren Besitz
zu einem ersprießlichen und darum wünschenswerten machen kann:
145) PI. Apol. 21 d.
146) Xen. Erinn. IV 2, 15 bis 18; PI. Staat I, 551c. Vgl. auch PI. Über Gerechtig-
keit 374 b ff.
J
44 H. Gomperz
von der Ausbildung seines Innern, dem Reifen seiner Erkenntnis!
Und da bricht dann wohl ein gut veranlagter Jüngling schluchzend
in sich zusammen 147 und schließt sich auf Gedeih und Verderb dem
Sokrates an, wird zu einem „Freund", einem Jünger des Meisters!
Über dem Verhältnis des Meisters zu seinen Jüngern, seinen
„Freunden" aber schwebt, mehr oder weniger fühlbar, mehr oder
weniger ausgesprochen, ein Hauch leidenschaftlicher Knabenliebe:
einmal nähert sich Sokrates dem Jüngling geradezu als der erklärte
Anbeter, der ihn schon lange verfolgt und schweigend bewundert;
ein anderesmal ist er nur leidenschaftlich erregt durch den Anblick
seiner Jugendblüte; ein drittes Mal hat es ihm nur der Lerneifer
oder die Frühreife seines Mitunterredners angetan. 1 * 8 Darin aber
sind all unsere Zeugen einig, daß sie Sokrates die höchste Empfäng-
lichkeit für Knabenschönheit beilegen, 1 * 9 ja ihn in „immerwährender
Verliebtheit" dahinleben lassen. 150 Ebenso freilich auch darin, daß
er niemals auch nur den schwächsten Versuch gemacht hat, einen
Knaben körperlich zu besitzen: gerade den, den er am heftigsten
liebte, läßt Piaton erzählen, er habe sich dem Sokrates förmlich an-
getragen, sei eine Nacht lang mit ihm unter einer Decke gelegen,
allein als er sich am Morgen erhob, sei es nicht anders gewesen,
als hätte er bei seinem Vater oder seinem älteren Bruder ge-
legen.' 5 Ja, auch als Grundsatz hat Sokrates es ausgesprochen: die
körperliche Vereinigung mit dem geliebten Knaben sei etwas
Schweinisches, 152 ja schon das Verlangen nach ihr mache den Lie-
benden unfrei, erniedrige ihn zu einem Bettler, einem Sklaven des
147) PI. Gastm. 215c; Aischines aus Sphettos, Frg. 9 bis 10 Dittmar; vgl. Xen.
Erinn. IV 2, 25; PI. Apol. 29«*; Kleitophon 407a ff. = Dio Chrys. XIII 16.
148) Alkibiades (PI. Protag. 309a; Gorg. 481 d); Charmides (PI. Charm. 154c);
Thcaitetos in Piatons gleichnamigem Gespräch; vgl. Xen. Erinn. IV 1, 2.
149) Xen. Gastm. IV, 27 bis 28; vgl. Erinn. I 3, 12 bis 13; PI. Charm. i55<:de ;
Phaedr. 25711.
150) Xen. Erinn. II 6, 28; Gastm. VIII, 1 bis 2; PI. Charmides 154b.
151) PI. Gastm. 2i8bbis aigd. Vgl. Xen. Erinn. I 3, 14.
152) Xen. Erinn. 1 2, 50.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 45
Geliebten: 153 der wahrhaft Edle liebt nur mit der Seele und liebt
auch nur die Seele des geliebten Knaben; einzig und allein darauf
ist er bedacht, diesen klüger und einsichtiger, eben damit aber auch
besser und glücklicher zu machen. 154
Die Jünglinge, die Sokrates so für sich gewonnen hatte, hingen
ihm vielfach auch ihrerseits leidenschaftlich, manche nicht ohne
153) Xen. Erinn. I 2, 29; I 3, 11; Gastm. VIII, 23. Daher soll denn auch Sokrates
der Umgang mit einem ungeliebten Knaben immer noch weniger unheilvoll er-
schienen sein als der mit einem geliebten (Xen. Erinn. I 3, 14).
154) Xen. Erinn. II 6, 30 bis 52; IV 1, 2; Gastm. VIII, 12 bis 42; PI. Phaedr. 256*6;
Staat 405 abc. DJ e besonders in Xenophons „Gastmahl" und in Platons „Phaidros"
vorgetragene Lehre des Sokrates. der geliebte Knabe solle sich dem Liebhaber nicht
körperlich hingeben, beide sollten sich mit der rein seelischen Liebe begnügen, wird
erstaunlicherweise noch immer ganz allgemein mit der in Platons „Gastmahl" von
Pausanias vertretenen Ansicht verwechselt, der Geliebte solle sich nur dem Liebhaber
körperlich hingeben, der nicht bloß seinen Körper, sondern auch seine Seele liebt
(PI. Gastm. 181 b ff.). Da Pausanias die Meinung, auch die Hingabe an den die Seele
liebenden Liebhaber sei tadelnswert, ausdrücklich zurückweist (Ebd. 182»: 182c)
diese Hingabe vielmehr förmlich billigt (Ebd. 185 b), steht es hiemit im besten Ein-
klang, wenn Sokrates bei Xenophon (Gastm. VIII, 32) dem Pausanias nachsagt, er
habe jene verteidigt, die ihr sinnliches Verlangen nach dem Besitz schöner Knaben
nicht zu beherrschen verstehen — mag nun der xenophontische Sokrates den Stand-
punkt des Pausanias aus Piaton kennen (was nicht wahrscheinlich ist, da VIIL, st*
dem Pausanias ein Argument geliehen wird, das bei Plato 178^ ff. vielmehr Phaidros
benutzt) oder aus dem „Archelaos" des Antisthenes (Diog. Laert. VI 18 — denn aus
diesem könnte die Erzählung von Archelaos, Pausanias und Agathon bei Aelian
V. H. II 21 stammen) oder mag wirklich — und das ist immerhin das wahrschein-
lichste — „Pausanias, der Liebhaber des Agathon" (PI. Protagoras 515 de) eine Rede
über Knabenliebe verfaßt haben (deswegen müßte sie noch nicht einmal aufgezeichnet
worden sein; daß Athenaios V, 2i6f von einer solchen Aufzeichnung nichts weiß, be-
weist jedenfalls nicht das Geringste). Damit, daß sich Sokrates in der Beurteilung
der körperlichen Knabenliebe zu „Pausanias" in schärfstem Gegensatz befand, ver-
trägt sich natürlich aufs beste, daß er ihm die Unterscheidung eines doppelten Eros
und einer doppelten Aphrodite entlehnte: diese Unterscheidung bedeutet eben beiden
etwas durchaus anderes. „Pausanias" hatte (PI. Gastm. 180 d ff.) den Umstand, daß Hesiod
die Aphrodite einmal aus dem Blute des Himmelsgottes Uranos entstehen, einmal
von Zeus erzeugt werden läßt, dazu benutzt, jener ersten „himmlischen" Liebes-
göttin das leidenschaftliche Verlangen nach dauernder leiblicher und geistiger Lebens-
gemeinschaft mit einem schönen und edlen Knaben zuzuordnen, während er der
„gewöhnlichen" Aphrodite nur die rein sinnliche Begierde nach dem fleischlichen
Umgang mit schönen Knaben oder auch Weibern zuwies; Sokrates dagegen (Xen.
Gastm. VIII, 9 ff.) versteht unter der „gewöhnlichen" Liebe jedes Verlangen nach
dem körperlichen Besitz des Geliebten und als „himmlische" Liebe gilt ihm nur
die rein und ausschließliche seelische Neigung — kurz das, was wir darum .,pla-
tonische" Liebe nennen, weil auch Piaton im „Phaidros" den Sokrates die hier ge-
kennzeichnete Ansicht aussprechen läßt.
4" H. Gomperz
deutliche Anzeichen von Verliebtheit, an: 155 es erschien ganz natür-
lich, daß auch sie als „Liebhaber des Sokrates" bezeichnet werden
konnten.' 56 Und so lebten denn Meister und Jünger in enger Lebens-
gemeinschaft, meist geradezu „ihre Tage zusammen verbringend", 157
indem sie teils gemeinschaftlich die Schriften der Dichter lasen
und deren Weisheitssprüche auf ihre Haltbarkeit prüften, 158 teils
öffentliche Orte wie Turnplätze, Ringschulen u. dgl. aufsuchten, wo
Sokrates von den Älteren oder Jüngeren diesen oder jenen ins Ge-
spräch zu ziehen pflegte — ein Gespräch, dem dann der ganze
Chor seiner Jünger mit leidenschaftlicher Spannung folgte. 159 Soweit
Sokrates mit den wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit-
genossen vertraut war, überlieferte er diese auch jenen seiner Jünger,
denen es hierum zu tun war und die, seiner Meinung nach, aus
ihnen Nutzen ziehen konnten; 160 soweit er sich auf einem Sonder-
155) Antisthenes bei Xen. Gastm. VIII, 4 bis 6; Apollodor bei PI. Gastm. i 7 2e-
vgl. über Chairephon PI. Charm. 155b; Apol. 21a.
156) PI. Gastm. i73 b ; vgl. Xen. Apol. 28.
157) Xen. Erinn. I 4, 1 ; Gastm. IV, 44.
158) Xen. Erinn. I 6, 14; vgl. PI. Gorg. 485^. Daß unter den ..alten Weisen" vor
allem die Dichter zu verstehen sind, erhellt aus PI. Phaedr. 255 bc : Hipparch 228b ff •
Lysis 214a; lo 532«!; Staat II, 565c. rj a ß Sokrates sich in der Tat gern auf Dichter-
stellen berief und diese dann oft recht gewaltsam in seinem Sinne deutete, beweisen
wohl zur Geniige die Darstellungen seiner Jünger. Denn da deutet er: Homer bei
Xenophon dreimal (Erinn. I 2, 58; II 6, 10 ff.; Gastm. VIII 28 ff.), bei Piaton siebenmal
(Cratyl. 592a; 402 d ; Theaet. 152; kl. Hippias 570*; Staat I, 5348b; ni, 40 4 bc ; Minos
3»9 b ff 0; Hesiod bei Xenophon viermal (Erinn. I 2, 5-; I 5, 5; H ,, 20 ; IV 1, 20), bei
Piaton einmal (Minos 520 d; vgl. aber auch Charm. 163'bc); Orpheus bei Platonzweimal
(Phaedo 6gcd ; Cratyl. 402=); Theognis bei Xenophon (Gastm. II, 4; vgl. Erinn. I 2, 20)
und Piaton (Mcno 95 d ff.) je einmal; Simonides bei Piaton zweimal (Protag. 359«= ff.;
Staat 1,331c ff.) und ebenso Pindar (Theaet. 175*; Meno 8ibc).
159) Siehe das o. Anm. 155 über Apollodor Gesagte.
160) Daß seine Jünger bei Sokrates auch Rechnen, Raumlehre und Redekunst
lernten, habe ich in dem ersten der beiden Anm. 119 genannten Aufsätze aus der Über-
einstimmung der Darstellungen eben dieser Jünger mit den spöttischen Anspielungen
der zeitgenössischen Komiker nachgewiesen. Auf dieselbe Art läßt sich feststellen,
daß Sokrates sie gelegentlich auch über grammatische Fragen belehrte (Grammati-
sches im eigentlichen Sinn sowie die grammatischen Neuerungen des Protagoras
Anstoph. Wolken 681 sowie 666, 851, 678, 1251 ; Antisthenes Frg. XIV/2 Winckelmann;
PI. Theaet. 2o6d : Cratyl. 591 c ; Phaedr. 267c; richtige Abgrenzung der Wortbedeutungen
gegenemander in der Art des Prodikos Aristoph. Wolken 741 ; Antisthenes Frg XII/i
Wmckelmann; Xen. Erinn. III ,4, 2; IV 2, 22; vgl. Oec. VI 4 und 12; PI. Cratyl. 4 2 5 abc ;
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 47
gebiet eigener Rückständigkeit bewußt war, wies er die jungen
Leute an geeignete Fachlehrer und tat sich auf diese seine Meister-
schaft in der „Kuppel"- und „Vermittlungs"-Kunst nicht wenig zu
Gute. 161 Doch besagte all das zuletzt wenig neben der sittlichen
Bildung, die ihnen aus der Lehre wie aus dem Vorbild des Meisters
zufloß. Diese Lehre läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen.
Wahrhaft wertvoll ist einzig die Erkenntnis: ihr allein verdankt
es der Mensch, wenn er (anders als ganz gelegentlich und zufällig)
etwas Gutes oder Nützliches erreicht und davon (anders als ganz
gelegentlich und zufällig) einen vernünftigen, zweckmäßigen Ge-
brauch macht. Erkenntnis bedeutet aber: ein Gebiet so beherr-
schen, wie der Meister einer Kunst, eines Handwerks, das seine
beherrscht — in jeder Lage wissen, was richtiger- und zweck-
mäßigerweise zu tun ist und über das Warum und Wozu dieses
Tuns Rechenschaft ablegen können! So verhält sich der Arzt
in Fragen der Gesundheit, der Steuermann in Fragen der See-
fahrt, der Schuster in Fragen der Fußbekleidung 162 — wenn
anders diese alle ihre Kunst, ihr Handwerk verstehen! Nur wer
sich in allen Fragen des tätigen Lebens — des eigenen wie des
öffentlichen — ebenso verhielte, wer Mut, Selbstbeherrschung,
Gerechtigkeit so verstünde, wie der Schuster das Schuhemachen
und auch ebenso wie er davon Rechenschaft geben könnte —
nur ein solcher verdiente ein wahrhaft tüchtiger Mann 163 und
Charm. 165^; Ladies 197a; Enthyd. 277 c; Protag. 539a ff.), ferner über Metrik (Aristoph.
Wolken 658 bis 651; PI. Phileb. 17«*; Io 534C; Staat III, 598 d bis 400b) und vielleicht
auch über Gedächtniskunst (Aristoph. Wolken 414 und 483; Xen. Erinn. IV 1, 2: PI.
Staat VI, 486 cd ), beides wohl vorzugsweise nach dem Vorgang des Hippias.
161) Xen. Erinn. IV 7, 1 ; Gastm. III 10; IV 57 bis 64; Oec. III 14; PI. Theaet. 151 b.
162) Vorliebe des Sokrates für Erläuterung seiner Lehre durch das Beispiel der
Schuster und anderen Handwerksmeister besonders hervorgehoben bei Xen. Erinn.
I *> 57; IV 4> 5 und p l- Gastm. 221«; Gorg. 491 a. Anspielung auf das ständige Schuster-
beispiel vielleicht auch schon bei Ameipsias Frg. IX, 5 Kock.
163) xaXög xe xai dyaftög, als Stichwort der Sokratiker schon bei Aristophanes,
Wolken 101, verhöhnt. In ihren Schriften findet sich's unzählige Male, als besonders
48 H. Gomperz
nützlicher Bürger zu heißen. 164 Die Erkenntnis des Guten —
denn auf sie zielt ja diese Forderung zuletzt — verleiht aber
auch allein Anspruch auf alle Art von Autorität. Ein Vater
z. B. — oder ein anderer älterer Verwandter — kann von
seinen Söhnen nur insofern Unterordnung erwarten und verlangen,
als er ihnen auch an Einsicht überlegen ist; in Dingen, von denen
ein anderer mehr versteht, werden sie sich notgedrungen an dessen
Urteil halten müssen: läßt sich doch auch niemand von einem ver-
wandten Arzt behandeln, wenn er ihn für weniger sachkundig
hält als einen fremden! Und Sokrates machte kein Hehl daraus,
daß er in Fragen der Erziehung z. B. sich für einen berufeneren
Ratgeber der Jugend hielt als die Eltern und Verwandten der
meisten unter ihnen. 105 Allein was vom Vater gilt, das gilt erst
recht vom Herrscher: nicht der verdient so zu heißen, den das Los
oder die Wahl einer unverständigen Menge an die Stelle eines
Führers gesetzt hat; der wahre Herrscher ist immer und einzig jener,
der das Herrschen versteht, mag er nun an hervorragender Stelle
stehen oder nicht 166 (regelmäßigerweise setzt sich ja sein Einfluß
durch, auch wenn das nicht der Fall ist:
Denn „den Staat beherrscht stets jener, der am meisten Einsicht hat ; lfi7
handeln aber die jeweiligen Machthaber seinem Rate zuwider, so
schaden sie sich nur selbst). 168 Und was für den Herrscher zu-
trifft, das trifft auch für 's Gesetz zu: ein Gesetz ist gerade soviel wert,
kennzeichnend liebe ich nur heraus: Aischines aus Sphettos Frg. 55 Dittmar; Xen.
Erinn. I 2, 48; I 6, 14; II 6, 15; II 9 , 8; IV 2, 25; IV 8. 11; Gastm. II, 4; VIII, 3;
Oec. VI, 12 bis VII, 5; PI. Gorg. 470c.
164) Xen. Erinn. I 1, 16; IV 6. 6; PI. Ueb. Gerechtigkeit 575c; Aristoteles, Eth.
Nie. VI 13, 1144b 17; Eth. Eud. I 5, 1216b 2 ; VII 13, 1246b 5 6; Große Moral I 1,
ll82a JÖ; 1183b li; I 15, 1198a 10.
165) Xen. Erinn. I 2, 49 ff.; Apol. 20 f.
166) Xen. Erinn. I 2, 9 ff.; III 9, 10 bis 11; PI. Gorg. 455a ff.; Staat VI, 487 = ;
vgl. auch Staatsmann 297 e ff. und Antisthenes bei Diog. Laert. VI 8.
167) Euripides, Iph. Aul. 375, vermutlich unter dem Einfluß des Sokrates.
168) Xen. Erinn. III 9, 12 bis 13; PI. Gorg. 466c ff.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
49
nicht mehr noch weniger, als die Einsicht des Gesetzgebers j 1 * an
und für sich ist es nichts als ein hingeschriebener Satz; 170 die wahre
Verfassung ist jene, die der Einsichtige als die richtige erkennt.' 71
Ja, der alleinige und unbedingte Herrschaftsanspruch der Einsicht
bewährt sich selbst am Göttlichen: wahrhaft g öttlich is t nur die
Vernunft, die, zweckmäßig und planvoll wie ein weiser uncUiebe-
voller Meister, 173 das Weltall gebaut hat und lenkt; die Götter, von
denen die Dichter singen, verdienen Anerkennung und Anbetung
nur, sofern sie bloß als verschiedene Namen der einen, wahren
Gottheit aufgefaßt werden, unter denen diese nach dem Brauche
der einzelnen Städte, Sippen und Gilden verehrt wird. 175
Der wahrhaft Einsichtige wird das, was in den einzelnen Städten
als recht und sittlich gilt, je jiachdem es vern ü nftig ist oder nicht,
gutheißen oder verwerfen. Und zwar wird er als vernünftig vor
allem jene Gebote und Verbote gelten lassen, deren Übertretung
sich jm dem Übertreter g anz vonselbst rächt; dennTben^ürch~die^e
ifire kunstreiche, ja unfehlbare Wirksamkeit beweisen sie, daß sie
aus zwar unaufgezeichneten, dafür aber wahrhaft allgemeinen und
natürlichen, zuletzt von der göttlichen Vernunft gegebenen Gesetzen
fließen. 174 Dahin gehört vor allem das Gebot, die Eltern zu ehren,
dies aber erweist nähere Überlegung als einen besonderen Fall des
allgemeineren Gebotes, sich für empfangene Wohltaten dankbar zu
erzeigen (denn die Eltern schenken den Kindern das Leben in be-
wußter Absicht: bloß zur Befriedigung sinnlichen Begehrens würde
niemand heiraten); wer aber dies Gebot übertritt, straft sich selbst,
169) PI. Minos 3173b.
o7i ^ is ^ h ! nes aus S P hett0S Prg. 51 Dittmar; PI. Phaedr. 278c; vgl. Staatsmann
298 d ff. Aufreizung gegen die geltenden Staatsgesetze wird Sokrates in fast wörtlicher
Übereinstimmung vorgeworfen bei Aristoplianes, Wolken 1400 und bei Xen Erinn
I 2, 9 ff.
171) Antisthenes, Bruchst. unbek. Herkunft Nr. VI Winckelmann
172) Xen. Erinn. I 4, 7; PI. Staat VII, 530a; X, 596c ff.; vgl. Tim. 41a.
173) Xen. Erinn. IV 3, 1; vgl. Gastm. VIII, 9.
174) Xen. Erinn. IV 4, 19 bis 24.
Iraago X/i
5°
H. Gomperz
denn er beraubt sich seiner besten Freunde. 175 Natürlich ist auch
die Liebe zu den Geschwistern: sie findet sich schon im Tierreich. 176
Ebenso das Gebot, die Freunde zu lieben und ihnen zu helfen; doch
läßt sich dies nur befolgen, wo nicht Neid und Nebenbuhlerschaft
die natürliche menschliche Hilfsbedürftigkeit durchkreuzen: daher
können in wahrer Freundschaft miteinander nur Einsichtige leben,
die sich selbst zu beherrschen, ihre Bedürfnisse und Wünsche ein-
zuschränken verstehen, soweit deren Befriedigung die Freunde in
Streit verwickeln könnte (gemeinnützige Zwecke werden alle ge-
meinsam verfolgen) 5 wahre Freunde müssen demnach die meisten
Besitztümer miteinander teilen und sich zur gemeinsamen Leitung
der Stadt verbünden. 177 Ein natürliches Verbot ist aber endlich auch
jenes, das die Blutschande, den Umgang von Eltern und Kindern,
verpönt: denn zwischen Eltern und Kindern besteht notwendig ein
bedeutender Altersunterschied, es können daher nicht beide gleich-
zeitig in der vollen Blüte ihrer Zeugungskraft stehen, die Kinder
nicht voll zeugungskräftiger Eltern aber entarten und da entartete
Kinder das größte Unglück sind, das Eltern treffen kann, so strafen
sie sich, indem sie solche in die Welt setzen, selbst. 178 Da nun aber
diese Begründung auf das Verbot des Umgangs zwischen Geschwistern
nicht zutrifft, 179 so ist dies für ein bloß menschliches zu halten,
von dem der Einsichtige aus triftigem Anlaß Ausnahmen bewilligen
sollte. 180 Ebenfalls ein bloß menschliches Gebot, jedoch ein durchaus
175) Ebd. IV 4, 20 und 24; II 2, 2 bis 4.
176) Ebd. II 5, 4.
177) Ebd. II 6, 21 bis 26; PI. Staat III, 416«!; 4178b.
178) Xen. Erinn. IV 4, 20 bis 23.
179) Sie paßt in Wahrheit nicht einmal auf das Verbot des Umgangs zwischen
Vater und Tochter. Sokrates selbst heiratete eine Frau, die allem Vermuten nach seine
Tochter hätte sein können, denn er war nahe an 55 (siehe u. Anm. 199), und sie gebar
ihm noch drei Söhne.
180) PI. Staat V, 461«. Vgl. Aristoph. Wolken 1571. Dies bezieht sich auf den
„Aiolos" des Euripides, in dem die Zulässigkeit der Geschwisterehe grundsätzlich
verteidigt wurde (Bruchst. Gr. Trag. S. 365 Nauckl. Dabei mögen Gründe, wie wir
törichtes und darum in einer vernünftig geordneten Stadt abzu-
schaffendes betrifft die grundsätzliche Ausschließung der Frau von
Kriegsdienst und Staatsleben: jeder Mensch hat seine körperlichen
und geistigen Kräfte nach Möglichkeit auszubilden; auf keines
Menschen Kraft und Einsicht soll die Stadt von vornherein ver-
zichte^ durch Übung uud Unterricht kann es die Frau viel weiter
bringen, als die Athener annehmen: auch Frauen wären daher
gymnastisch auszubilden (wie in Sparta) und in Wissenschaften und
Künsten zu unterweisen; mögen sie es dabei im Durchschnitt nicht
so weit bringen wie die Männer, viele Frauen werden doch viel
mehr leisten als manche Männer, einige mögen sogar zur Leitung
der Stadt heranzuziehen sein: die Brauchbarkeit eines Menschen
hängt eben zuletzt von seiner Erkenntnisfähigkeit ab und in Be-
ziehung auf diese besteht zwischen den Geschlechtern wohl ein
Grad-, jedoch kein Wesensunterschied. 181 Die möglichste Ausbüdung
aller leiblichen und geistigen Anlagen der Frau wird vor allem
auch ihren Kindern zugute kommen. Um eine möglichst tüchtige
Nachkommenschaft zu erzielen, sollten dann einsichtige Herrscher
möglichst tüchtige, zueinander passende Männer und Weiber plan-
mäßig zusammentun. 182 Zu den verwerflichen, weil unverständigen
sie für Sokrates voraussetzen müssen, vorgebracht worden sein. Euripides Frg 24
Nauck klingt wie die Antwort auf einen solchen Grund. Anlaß zu der ganzen Er-
örterung mag die angebliche Geschwisterehe des von dem Sokratiker Kritias (Fr£ 8
JUiels) höchlich bewunderten Spartanerfreundes Kimon (Plutarch, Kimon 4) gegeben
hanen, die noch 422 dem Gedächtnis so wenig entschwunden war, daß Eupolis
(rrg. 208 Kock) auf sie anspielen konnte.
181) Antisthenes, Brachst, unbek. Herk. Nr. II Winckelmann; Xen. Gastm II o-
«•Staat V, 45 i de; 455 de ; 457a b. Die Lehre geht gewiß nicht auf Antisthenes oder
«aton zurück, deren Meinung von der Frau eine weit geringere war .vgl Xen
Oastm. IV 5 8; Antisth. Brachst, unbek. Herk. Nr. XVII; XVIII W.; Tim. «6»? Wenn
Piaton, wie v. Wilamowitz (Piaton I 395 ) richtig anmerkt, die für seine Zeit fast un-
,™3T F ° rderun & nach grundsätzlicher Gleichstellung von Weib und Mann doch
SUrTf m,t C T er S ewissen Schwunglosigkeit erhebt, so erklärt sich das eben
Sokrätes tt. " SeJnC F ° rdenU1 ^ *•*»«** *e seines Meisters
PI ^^^^^i £J« - **» ** * »"~.
4*
M
H. Gomperz
Bräuchen endUch rechnete Sekretes (so scheint es*) auch alle jene,
die den Menschen den Leichen ihrer Angehörigen gegenüber ein
gewisses ehrerbietiges Verhalten zur Pflicht machen; denn der Wert
des Menschen besteht in seiner Denkkraft: der Denkkraft beraubt
ist der menschliche Leib nicht wertvoller als jene seiner Bestandteile,
die wir eben darum, wed sie verstandlos sind, durchaus mit Recht
geringschätzen und so rasch als möglich entfernen: so wie wir Haare
ohneweiters scheren, Nägel ohneweiters schneiden, Speichek ohne
weitere Umstände ausspucken, so sollte man auch den Leichnam,
selbst des nächsten Angehörigen, ohneweiters verbrennen oder ver-
" Diese Stellung zu den überlieferten Vorschriften fließt ja nun
wohl notwendig aus der höchsten und wertvollsten Erkenntnis, der
Erkenntnis des Nützlichen und Guten, allein sie ist doch nicht der
Hauptertrag, den diese Erkenntnis uns abwirft: als solcher ist
vielmehr die Einsicht in die Notwendigkeit jenes Lebens der Selbst-
beherrschung anzusehen, mit dem Sokrates den Jünglingen bei-
spielgebend voranging. Denn die Vernunft zeigt uns: das wichtigste
im Leben ist, sich selbst beherrschen, sich üben und abhärten, Un-
bilden ertragen, Genüsse entbehren lernen.-" Werden doch selbst
Genüsse erst nach vorangegangener Entbehrung wahrhaft genossen,
wie die alltägliche Erfahrung des Essens und Trinkens, des Schlafs
und des Liebesgenusses genugsam dartut, * und dazu gesellt sich nun
„och das Wohlgefühl, zu wissen, daß man der Erkenntnis gemäß
lebt und in der von ihr geforderten Vollkommenheit fortschreitet.
. Wer sich selbst beherrscht, ist aber auch allein wahrhaft frei: denn
wer sich über seine Bedürfnisse, Wünsche, Begierden nicht hinweg-
^setzenjeknrt^^rwh^^
!4) *»• Erinn. IV 5, 9i vgl. Hier» I ., und .5! Du> Chrys. VI
186) Siehe o. Anm. 154-
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
55
•wird er doch von ihnen sogar daran gehindert, seiner eigenen
Einsicht nachzuleben, da er jedem ersten besten, ihm gerade er- .
reichbaren Genüsse wehrlos ausgeliefert ist. 187 Allein nicht nur von
seinen eigenen Begierden wird ein solcher geknechtet, vielmehr auch
von den anderen, der Selbstbeherrschung in höherem Grade fähigen
3 8 7 ) Xen. Erinn. IV 2, 22; IV 5, 2 bis 7; 10 bis 11; PI. Gorg. 491 d ? vgl Xen.
Erinn. III 9, 12 bis 15; W- Lysis 210b; Gorg. 466^. Kann aber nach echt somati-
scher Lehre überhaupt jemand daran gehindert werden, seiner eigenen Einsicht nach-
zuleben, zu tun, was er selbst für richtig hält, selbst als das Richtige und Gute, also
zuletzt auch als das für ihn selbst Vorteilhafte erkennt? Darauf ist, wie ich glaube,
im Sinne dieser Lehre folgendes zu erwidern:
1. Daß die Menschen vielfach ihren Leidenschaften nachgeben, auch wo sie ihnen
nicht nachgeben sollten, daß somit an ihnen „Mangel an Selbstbeherrschung
(.Akrasie«) festzustellen ist, ist eine Tatsache: eben diese Akrasie ist es, gegen
die sich der Mensch vor allem zur Wehr setzen sollte: Xen. Erinn. I 5, »> 55
IV 5. 6 und 11 (auch III 9, 4, denn auch hier bedeutet äHoarste nur zuch l los ,
und die angeblich mit dieser Eigenschaft vereinbare Verständigkeit der Zuchtlosen
wird durch ooyovg besonders ausgedrückt). , •
2. Mangel an Selbstbeherrschung (Akrasie) . beruht aber zuletzt auf Mangel an Ein-
sicht denn niemand tut etwas, obzwar er deutlich einsieht, daß es ihm .schadet
wenn solche deutliche Einsicht in einem Menschen lebt, s ° k ^ °J "f,^
zugleich doch über sie hinwegsetzen; niemand tut also das Unrichtige und sieht
gleichzeitig deutlich ein, daß es das Unrichtige ist; deutliche Emsich kann un-
möglich von irgend einer andern Macht überwunden werden, sie ist vielmehr
m menschhchef Dingen selbst die höchste Macht; versteht man demnach unter
Mangel an Selbstbeherrschung" („Akrasie") dies daß ein M ensch sich von
seiner Leidenschaft gegen seine bessere Einsacht fortreißen laßt _ so ist zu
sagen, daß ein solcher Mangel an Selbstbeherrschung (diese „Akrasie' »»•»«£
ren Sinne) undenkbar, daß sie ein Unding ist: Xen. Erinn III .9, 4, IV £ b,
PI Protag. 545-5 55*°; 558*« 5 Kleitophon ^ Üb. Gerechtigkeit 575*5 Ar sto-
teles Eth § Nic III 7 1x15b H5 ™ *>, »45* «5 *** Moral 1*»%* 7iH
i 20 ob 25 . TAn der ersten dieser Stellen folge ich der handschrifthchen Über-
lieferung mit zwei geringfügigen Änderungen: „Zwischen Verstand und Sittl ch-
ketkalte er keinen Unterschied, sondern das Rechte erkennen und es tun,
daß Unrecht erkennen und es unterlassen (tÖ, **,U*A* «d*>M Hg*"*"*
ro^ac avzots *al xo %ä ala xe ä, dMxa, sUaße^ai) erschien ihm als das
Wesen der Verständigkeit und zugleich der Sittlichkeit (oocpov xs xot owpgov-
dies statt oebVQOVa). Auf die.Frage aber, ob er denn nicht jenen, die das Rechte
kennen, es aber nicht tun, Verstand zu-, aber Selbstbeherrschung abspreche, er-
widerte er: Ebensowenig wie ich ihnen Verstand ab- und Selbstberrschung zu-
spreche (r, äoöcpcvg re y.al **#** - *« statt axparagj Denn alle Menschen
tun das, was sie für zuträglich halten; wer also etwas Unrechtes tut besitzt
weder Verstand noch Sittlichkeit." (Zu Ende von III 9^ 5 »t wie zu Anfang zu
lesen: nävza 00 a äQETfji ngäTTerai)].
3. Könnte es einen Menschen, der zwar das Unrichtige tut, dabei aber doch das
Richtige einsieht, überhaupt geben, so müßte er ja immer noch besser sein, als
wer es auch nicht einmal einsähe — so wie, wer bewußt schlecht schreibt oder
1 n\
n
54
H. Gomperz
und darum auch zur Herrschaft über andere geeigneteren Menschen.
Denn wie wäre der eine Herrschernatur, der von seinen dringendsten
Pflichten, den wichtigsten Entschlüssen und Taten jetzt durch
rechnet, immer noch ein besserer Schreiber oder Rechner ist als nvvnhwßt
schlecht schreibt oder rechnet. Das wollen die Leute nicht zugeben: sie meinen,
Itt JSZ Unrechte tut, müsse noch schlechter sein Die Lösung hegt eben
darin, daß das überhaupt nicht vorkommt: Xen. Ermn. IV ., i 9 bis 20; PL kl.
4. D^deuüifhe Einsicht von der Leidenschaft nicht überwunden werden kan^ soll
fcdoch nicht besagen, daß die Kraft, die Leidenschaft zu überwinden mithin
lieh Tu beh rrschel einfach durch einen Akt des Verstandes durch Hören und
Verstehen einer Wahrheit, erworben werden kann. Denn nichts Gutes ist ohne
Mühe ÜTd Anstrengimg zu erreichen (Xen. Erinn. II 1, .8) und so heißt, deutlich«,
EinsfchTgewinnen^der lernen, immer auch, sich diese Emsic Jt einprägen sie
einüben; fernen« und „üben« gehören unt™nbar zusammen: Xe.Enn, I 5, 5,
TT fi ««■ TTT o *■ III Q, 14. (vgl. Cyrup. VIII 8, 15; De rc equ. \ III, 1), FI. Staat
Vn's^V^Lus erkSrttich'nun'aber dies, woraus insbesondere die ebenso
Lbes'treitbare Tatsache, daß auch solche die ^e Schadhchkev^ einer Leiden
schalt schon einmal eingesehen hatten, desungeachtet wiederum von ihr fort
5 I^J^^Ln^ herüber eingehend aus (Erinn I ,, i 9 bis ,3) «nd
ftellt ftS S in einem Menschen, der sich nicht zur Selbstbeherrschung erzogen
hat die Leidenschaft diese Selbstbeherrschung untergräbt und ilm auch das was
e schön eingeben hatte, vergessen läßt - eine Feststellung die eben als solche,
zwar ulugbar richtig und auch nicht unsokratisch ist, indes die aufgeworfene
££. überhaupt nichf, dalier auch nicht im Sinne des Sokrates zu beantworten
6. SÄM- Antwort scheint im allgemeinen dahin zu gehen, daO .Stählung
des Willens und Selbsterziehung die unerläßlichen Bedingungen für den Er-
werb deutlicher sittlicher Erkenntnis sind, während uns ***»*%*?£*
den Tag hinein an der Gewinnung solcher Erkenntnis hindert (Xen. Erinn.
II 1, .0). Näher aber sollen wir uns dies, so scheint es folgendermaßen denken
Die E n rieht, die unser Tun regeln soll und es, wenn sie deutlich genug ist auch
wrklich regelt, hat zum Gegenstand Menge und Stärke des W°hlgefuhls oder
Mißbehagens, das aus diesem oder jenem Tun für uns erfolgt - w b erst
künftig eintretendes Wohlgefühl oder Mißbehagen um nichts geringer zu achte*
STals das unmittelbar bevorstehende (PI. Protag. 356"; 557 ab )- *» Gegensatz
hilzu ist es das Wesen der Leidenschaft^ uns immer nur das *«£^«f» «
bevorstehende Wohlgefühl oder Mißbehagen vorzustellen (Xen. Erinn. IV 5, 10
EndeTwer sich nuf nicht durch Übung dazu erzogen hat, sich diesem ihn auf
das unmittelbar Bevorstehende ablenkenden Einfluß der Leidenschaft entgegen-
zute3en, der mag zwar das Richtige sehen (aicMvsöMt, allein er wird
auSS -in, ihm g mit seinemDenken dauernd zugewandt zu bleiben (**»*&*,
und sfeh völlig mit seiner Richtigkeit zu durchdringen (y.ara^aVBCV am«)
2t o wird er dem Ansturm der Leidenschaft eben darum erhegen, weil sie
52 an der Gewinnung einer wirklich deutlichen Einsicht verhindert; nur durch
lU nLTäBigLfiXZidäW »» Selbstbeherrschung hätte er sich vor diesem ihrem,
Se^lSchfSübenden Einfluß bewahren können (Xen. Erinn. IV 5, 6).
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 55
Hunger, dann wieder durch Durst, heute durch Müdigkeit, morgen
durch Verliebtheit abgezogen wird? 188 Nur solche vielmehr, die sich
beherrschen gelernt haben, vermögen auch andere zu beherrschen,
nur wer zu entbehren versteht, wird auf jeden Sondervorteil ver-
zichten und sich in wahrer Freund- und Kameradschaft einem
herrschenden Stande einordnen wollen, 189 daher denn insofern von
allen Hellenen allein die Spartaner die rechte Art kennen, Herren
zu erziehen. 190 Ein solcher wahrhaft freier Mann aber wird nicht
nur nicht von seinen Leidenschaften, nicht nur nicht von andern
Menschen geknechtet werden, ihm wird auch das Schicksal nichts
anzuhaben vermögen: das einzige, was ihm wahrhaft wertvoll ist,
seine Erkenntnis, vermag es ihm nicht zu rauben; unvermeidliche
Entbehrungen hat er zu ertragen gelernt 191 und das Bewußtsein,
stets seine Aufgabe erfüllt, seiner Einsicht gemäß gehandelt zu haben,
wird ihm jede Unbül versüßen: „Für den wahrhaft Tüchtigen gibt
es kein Übel, weder im Leben noch nach dem Tode." 192 Wenn sich
die Jünger des Sokrates bemühen, diese wahre Tüchtigkeit zu erringen,
so werden sie nicht nur selbst ein freies und glückliches Leben
führen, vielmehr auch als die berufenen Herrscher für dasjenige
sorgen, was der Herrschaft wahres Ziel ist: das Gedeihen der Stadt
und das Glück der Bürger! 193
Für diese Lehre scheint Sokrates anfangs nicht allzuviele Anhänger
gefunden zu ha ben, großenteil sj nthusiastische Jünglinge, aus un-
lg g£ nf >' iiÄ & m, gl w *. v g i. x en . ew i s, *
190) Xen. Erinn. IV 4, 15; Apol. 15; «• Grit0 5* e -
S SÄrfÜ SUMS* VI Winc.eln.ann; PI Apol. J^.
192; Amiswei , , Q2 ab- IX *8oS X 615*; vgl. Xen. Oec. IV 25;
2£2£ I 14a! Th. Gomperx, Hellenika II 239; Arch. f. Gesch. d. Phuos. XX 479 )
2 o 4 e 9 f 3 Xe" Erinn. III », l tb \i VL Euthydem 2 9 x ab (vgl. Apelt S^ 101, Anm. 58 semer
Übersetzung); vgl. Isokrates, Rede VIII, 91; Aristoteles, Poltik V 8, 1510b 40 ff.
56
H. Gomperz
M
bemittelten Familien stammend wie er selbst, die ihn an Strenge
der Selbstüberwindung noch zu überbieten suchten. 19 * Da er einem
bürgerlichen Erwerb wohl nie nachgegangen ist und sein väter-
liches Erbteil, wenn er ein solches jemals erhielt, bald aufgezehrt
worden war, so scheint er zeitlebens in der Hauptsache von frei-
willigen Gaben seiner Freunde und Jünger gelebt zu haben: 195 so-
lange also diese selbst zumeist arme Schlucker waren, herrschte im
Sokratischen Kreise un verhüllte Not: um 425 wurde dieser Kreis
auf der komischen Bühne wegen seiner Bettelhaftigkeit vielfach
verhöhnt. 196 Darin scheint in den folgenden Jahren ein gewisser
Wandel eingetreten zu sein: für die von Sokrates verherrlichte spar-
tanische Erziehung begeisterten sich auch Abkömmlinge vornehmer
Männer 5 damit mag es zusammenhängen, daß in seinen späteren
Jahren gerade auch „die Söhne der Reichsten" sich unter seine
194,) Das erhellt für Sokrates', so viel wir wissen, ersten und leidenschaftlichsten
Anhänger, den „verrückten" Chairephon (PI. Charm. 153b; vgl. Apol. aia; Xen. Erinn.
IT 5, 14 bis 17) aus Kratinos Prg. 202 ; Eupolis Frg. 239 Kock; Aristophanes, Wespen 1412 ;
Wolken 103 f.; 503 f.; Vögel 1263; 1296; Frg. 573 Kock: offenbar sah der bedauerns-
werte Sokratesjünger infolge seiner übermäßigen Selbstqual auffallend schlecht aus
— mehr tot als lebendig, eher wie ein Geist als wie ein Mensch, so daß er unter
Benutzung eines im Volksglauben begründeten und schon bei Homer vorkommenden
Sinnbilds für die abgeschiedene Seele (0. Keller, Die antike Tierwelt II 11 f.;
Odyssee XXIV 6 ff.) mit einer Fledermaus verglichen werden konnte.
195) Aristophanes, Wolken 98; 1146 f.; Eupolis Frg. 352 Kock; Xen. Apol. ij;
PI. Apol. 32b; vgl. Xen. Oec. II, 8. Damit steht keineswegs im Widerspruch, und
Piaton a. a. O. sowie auch Xenophon (Erinn. I 2, 60 und I 6, 15) bezeugen es aus-
drücklich, daß Sokrates für seinen Unterricht oder richtiger seinen Umgang Bezahlung
nie verlangt, sie nie zur Bedingung dieses Umgangs gemacht hat: dies wirft ihm
denn auch bei Xenophon (Erinn. I 6, 3 und 11 bis 12) der Weisheitslehrer Antiphon
(als Verletzung der gemeinsamen Standespflicht) in bitteren Worten vor.
196) Ameipsias Frg. 9; Eupolis Frg. 352 und 361 Kock; Aristophanes, Wolken 175 ff.
v. Wilamowitz, Piaton I 95 f. führt hiegegen an, daß doch Sokrates um dieselbe Zeit
die Schlacht bei Delion als Schwerbewaffneter mitmachte (siehe o. Anm. 129), somit
„in der Lage war", „sich die volle Rüstung zu halten". Ich glaube, es ist umgekehrt zu
schließen: da Sokrates um 423 öffentlich als Bettler verhöhnt wurde, wird er den
Feldzug von 424 schwerlich als Hoplit mitgemacht haben. Daß seine Junger, die
damals Kinder waren, dies etwa vierzig Jahre später behaupteten und vermutlich auch
glaubten, beweist nicht viel; in der Tat haben denn auch in ihren Angaben über
Sokrates' Kriegstaten schon Antisthenes imd Piaton einander widersprochen, was auch
schon im Altertum bemerkt worden ist (Demochares bei Athenaios V, 215 c ff.).
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
57
Jünger mengten. 197 Diese werden auch reichlicher für ihn gesorgt
und es ihm so ermöglicht haben, sich, spät genug, einen eigenen
Hausstand zu gründen: 198 um 414, etwa fünfundfünfzig Jahre alt,
heiratete er Xanthippe, die ihm bald darauf einen Knaben und nach
einigen Jahren deren noch zwei gebar und von der wir sonst nur
wissen, daß sie den Zeitgenossen als ein wohlmeinendes, jedoch
über die Maßen zänkisches und unverträgliches Geschöpf erschien. 1 "
197) PI. Apol. 23 c.
1 98) Bei alledem blieb er so gut wie mittellos oder wurde es doch wieder, als
die etwaige, gewiß nicht bedeutende Mitgift seiner Frau aufgezehrt war und die
Wirkungen des athenischen Zusammenbruchs seit dem letzten Kriegsjahr (vgl. Xen.
Erirui. II 7, 2) auch für ihn sich fühlbar machten: für die Zeit seines Prozesses (599)
hebt Piaton seine Armut mit großem Nachdruck hervor (Apol. 23b«:; 51 c ; 56a) mid fuhrt
insbesondere an, er hätte eine Geldstrafe von mehr als einer Mine (d. i. einem Pfund)
Silbers nicht aus eigenen Mitteln aufbringen können. Und dazu stimmt es recht gut,
wenn Sokrates bei Xen. Oec. II, 3 den Erlös seines gesamten Besitztums „einschließ-
lich des Hauses und bei einem guten Verkauf" auf höchsten fünf Minen schätzt.
igg) Die Zeit der Verheiratung sowie der Geburt der Knaben erhellt mit an-
nähernder Genauigkeit aus Piatons Angaben über deren Alter Apol. 34a. Über das
Wesen der Xanthippe verdienen nur Xenophons Angaben Beachtung (Erinn. II 2, 7
bis 10; Gasrm. II, 10). Die im Altertum so behebte Geschichte von Sokrates' Doppel-
ehe ist längst als Fabel erkannt. Auch ihr Urheber ist wohl Aristoxenos (Frg. 29 bis
30 Müller), der die auch in der (angeblich) aristotelischen Schrift über den Adel
(Frg. 82 bis 95 Rose) erwähnte Nachricht bösartig mißdeutet zu haben scheint, daß
Sokrates eine mittellose Witwe, Myrto, die Enkelin, genauer die „Tochterstochter"
(oder die Tochter? Diese hatte Sokrates offenbar in einem uns verlorenen Gespräch
gelobt: Aristoteles Frg. 92 R.; allein warum sollte er nicht, wenn von Aristeides'
Enkelin die Rede war, auch deren Mutter rühmend erwähnt haben?) des großen
Aristeides, in sein Haus aufgenommen habe. Nun hören wir in Piatons „Laches", daß
um 420 (siehe o. Anm. 106) des Aristeides Sohn Lysimachos, ein sehr bejahrter (gewiß
fast fünfundsiebzigjähriger) Mann, Sokrates, den Solm seines Jugendfreundes und
Altersgenossen Sophroniskos, seit vielen Jahren aus den Augen verlören hatte. Daraus
geht hervor: 1. daß zwischen Sokrates und der Familie' des Aristeides wirklich
eine Beziehung bestand, die es ganz glaublich erscheinen ließe, wenn er sich eines
hilfsbedürftigen Gliedes dieser Familie angenommen hätte; 2. daß er Myrto kaum
früher als etwa 415, d. h. zur Zeit seiner Verheiratung, in sein Haus aufgenommen
haben kann, denn solang ihr Oheim (oder gar ihr Bruder!) Lysimachos lebte, konnte
sie nicht auf Sokrates' Hilfe angewiesen sein (auch Lysimachos' Sohn, der jüngere
Aristeides, hat nach PI. Theaet. 151 a — vgl. Theages 130a — mit Sokrates verkehrt,
scheint indes ein wenig rühmliches Ende genommen zu haben: solang es ihm gut
ging, hatte nach griechischen Begriffen auch er sich um seine Kusine zu kümmern!)
und überdies konnte sonst Piaton Lysimachos nicht sprechen lassen, als habe er seit
Jahrzehnten von Sokrates nichts mehr gehört; 3. daß Myrto mindestens so alt war
wie Sokrates (denn als die Tochter von Lysimachos' Schwester wird sie kaum mehr
als fünfundzwanzig Jahre jünger gewesen sein als dieser — um so weniger, da Lysi-
machos' Vater Aristeides, wenn Lysimachos wirklich nicht vor 495 geboren ist, damals
selbst schon den Fünfzig nahe gewesen sein muß), daß sie also zu der Zeit, da
Sokrates sie in sein Haus genommen haben soll, kaum weniger als fünfundfunfzig
Jahre gezählt haben wird (die Tochter des Aristeides sogar fünfundsiebzig!). Be-
gründet wäre somit die Eifersucht, die die Alten der Xanthippe gegen sie nach-
sagten (Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg. 12 Nauck), kaum gewesen! Im übrigen mag
„Tante Myrto" durch weibliche Handarbeiten zum Unterhalt der Familie beigetragen
haben, wie eben auf Sokrates' Rat die in ähnlicher Lage befindlichen Verwandten
des Aristarchos (Xen. Erinn. n 7, 7 ff.)-
200) Aristophanes, Vögel 1281 ff.
201) Aischines' Rede gegen Timarch, 173.
^-8 H. Gomperz
Allein Sokrates' Berührung mit vornehmen, spartafreundlichen Fa-
milien hatte für ihn auch andere, minder erfreuliche Folgen.
Zwischen Athen und Sparta bestand seit fünfzehn Jahren ein fast
ununterbrochener Kriegszustand ; der Wunsch, Athen möge die
spartanische Zucht einführen, war an sich mit dem andern, es möge
sich Sparta im Felde gewachsen, ja überlegen zeigen, durchaus ver-
träglich; allein ebensowohl konnte er sich doch auch mit dem Be-
streben verknüpfen, den Sieg des Gegners zu befördern, die Zu-
stände der Heimat mit dessen Hilfe zu erneuern. Daß Sokrates
selbst „Lakonist" in diesem Sinne gewesen sei, ist nicht wahr-
scheinlich, allein unter seinen Anhängern kann es auch an solchen
Spartanerfreunden nicht gefehlt haben. Eben zu der Zeit, da es
ihm ermöglicht ward, sich zu verheiraten, ward er auf der Bühne
als der Liebling der jugendlichen Hochverräter gebrandmarkt. 200
Und was noch mehr besagen will, als zehn Jahre später der Wider-
stand Athens zusammenbrach, die Spartaner Athen besetzten, da
war es — mit anderen, Gleichgesinnten — einer seiner ältesten
Genossen, Kritias, der Sohn des Kallaischros, den sie, unter dem
Schutz ihrer Waffen, den Athenern zum Herren setzten. Von diesem
Augenblick an war Sokrates in den Augen des durchschnittlichen
athenischen Vaterlandsfreundes vor allem der Erzieher des Verräters
Kritias, und eben dies ward die letzte Ursache seines Untergangs. 20
Denn Kritias und seine Genossen — denen Sokrates' freimütige Kritik
V
_
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
59
inzwischen freilich unbequem genug geworden war 802 — wurden
vertrieben; Kritias fiel; seine Gegner gelangten zur Macht. Auch
gegen den nun Sechsundsechzig) ährigen Sokrates zog sich ein Un-
gewitter zusammen. Zunächst freiüch schützte ihn die allgemeine
politische Amnestie, mit der der Bürgerkrieg geendet hatte. Doch
dieser Schutz versagte, sobald die Gegner nicht-politische Eigen-
tümlichkeiten seiner Lehre zu Zielpunkten ihres Angriffs wählten.
Und solche zu finden, war nicht schwer. Im Jahre 599, als Sokrates
siebzig Jahre alt geworden war, brachte Anytos, ein Führer der
Volkspartei, der Kritias zum Opfer gefallen war, im Verein mit
zwei Genossen 203 gegen ihn die Klage ein, er erkenne die Staats-
götter nicht (als von der höchsten Gottheit verschiedene Wesen)
an und ergebe sich der Verehrung neuer Gottheiten (indem er die
Stimme der göttlichen Allvernunft zu vernehmen vorgebe); er ver-
gifte ferner den Geist der Jugend (indem er sie gegen die unbedingte
Autorität der Eltern und der bestehenden Staatsverfassung aufreize,
Wahl und Auslosung der höchsten Staatsbeamten ins Lächerliche
ziehe). Unwahres war damit nicht behauptet; ob das Behauptete
bei dem damaligen Stand der athenischen Gesetzgebung strafbar
war, ist eine Frage, die nur die Rechtshistoriker angeht; daß sich
aber Sokrates keiner üblen Absicht bewußt, vielmehr fest überzeugt
war, stets nach seiner besten Einsicht das Wohl der Stadt, das ihrer
Bürger und auch sein eigenes befördert zu haben, ist gewiß. Über
sein Verhalten vor Gericht und seine Verteidigung ist uns mancherlei
überliefert, allein diese Nachrichten stimmen nur in wenigen Punkten
überein und sind nicht hinreichend beglaubigt. Nur soviel ist gewiß,
daß sein Verhalten vor Gericht in den Zuhörern den Eindruck
vollster Furchtlosigkeit und unerschütterlicher Zuversicht zurück-
202) Xen. Erinn. I, 2, 33 bis 3 8 -
203) Daß Meletos die Klage nur als erster unterzeichnete, Anytos ihre Seele war,
ergibt sich vor allem aus Piaton, Brief VII, 325b; vgl. Xen. Apol. 29.
60 H. Gomperz
gelassen hat, ja er schien ihnen die Richter eher zu reizen als zu.
begütigen, den Tod, mit dem ihn die Klage bedrohte, eher zu suchen
als zu fliehen. 204 Er hatte seiner Einsicht gemäß gehandelt, die
Absicht der göttlichen Vernunft erfüllt: um die Folgen, so empfand
man's, bekümmerte er sich nicht. So ward denn die Todesstrafe
über ihn ausgesprochen. Doch auch dies vermochte seinen Gleichmut,
seine Ruhe und Heiterkeit nicht zu trüben. Denn den Tod fürchtete
er nicht. Vieles spricht sogar dafür, daß er der Ansicht zuneigte,
dem Tüchtigen (d. h. dem Einsichtigen) möge diese seine Tüchtig-
keit auch im Jenseits zugute kommen. 205 So führte er denn auch
noch im Kerker mit seinen Freunden Gespräche derselben Art wie
sonst — fast bis zu seiner letzten Stunde. Nur eines machte ihm
vorübergehend Sorge: hatte er wirklich, wie er es bisher annahm,
das oft wiederholte Gebot seiner Träume : „Sokrates, mach' Musik
und sei fleißig!" erfüllt, indem er sein Leben der Erkenntnis, zu-
letzt also den Musen weihte? Sicherer schien es ihm nun doch,
dem Gebot auch buchstäblich nachzuleben und so dichtete er —
es fiel ihm nicht leicht — ein Gedicht an Apollon und brachte
204) Xen. Erinn. IV 8, 6 bis 10; Apol. 1 bis 9 ; PL Apol. 34c bis 37 a.
205) Antisthenes schrieb über die Einrichtimg der Unterwelt (Diog. Laert. IV 17).
Auch PI. läßt - im „Gorgias", im „Phaidon", im „Staat", im „Phaidros" - seinen
Sokrates das Jenseits immer wieder ausmalen. Das geschieht im großen und ganzen
mit den Farben der orphischen Mysterien. Doch auch in seiner Verteidigungsrede,
wie PI. sie wiedergibt, drängt sich, wie Taylor bemerkt hat (Varia Socratica p. 31;,
Orphisches auffällig vor: die Seelen werden im Jenseits von Totenrichtern gerichtet
(Apol. 41 a) und unter den Abgeschiedenen, denen Sokrates dort zu begegnen hofft,
werden Orpheus und Musaios als erste, Homer und Hesiod erst nach ihnen genannt.
Nun scheint es das Eigentümliche der orphischen im Gegensatze zu anderen Mysterien
gewesen zu sein, daß sie dem sittlichen Wert des Menschen grö ßeren Einfluß auf
sein jenseitiges Los einYänmtenr afr dem bloßen Vo rgang seiner Einw gihung; da kann
es nicht unwa"nBch~eihlich heiDFnTTfeß-aTtrclT-SöTfätes, dessen gesamtes Denken sich
um den Gegensatz von Tüchtigkeit und Untüchtigkeit bewegte, dieser Lehre ein
gewisses Verständnis entgegengebracht, sie zum mindesten nicht von vornherein ab-
gelehnt haben mag! Möglicherweise bezieht sich auf Beschäftigung mit der Unter-
welt schon Aristophanes, Wolken 188 und 192 (vgl. PI. Apol. 18b; 19b; 25$); dagegen
möchte ich aus Vögel 1555 ff. — einer Stelle, deren Witz auf ihrer Vieldeutigkeit
beruht — nicht gerne weittragende Schlüsse ziehen.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
61
einige Fabeln des Aesop in Verse. 206 Als aber die letzte Stunde ge-
kommen war, leerte er den Giftbecher mit unerschütterter Ruhe.
Dann legte er sich hin und sein Körper erstarrte. Als der letzte
Augenblick schon ganz nahe war, fiel ihm ein, daß er kurz vor der Ge-
richtsverhandlung, dem allgemeinen Brauch gemäß, anläßlich eines
Krankheitsfalles in seinem Hause, dem Asklepios einen Hahn ge-
lobt hatte, falls der Kranke genese; das war geschehen, doch zur
Darbringung des Opfers war er nicht mehr gekommen: jetzt ge-
dachte er dieses uneingelösten Versprechens, und, fast schon hinüber-
geschlummert, legte er seinem Freund Kriton ans Herz, an seiner
statt das Versäumte nachzuholen. 207 Und dann entschlief er ....
Dem Gefühl, das seine Jünger in diesem Augenblick ergriff, gibt
Piaton Ausdruck: es schien ihnen, sagt er, 208 als wären sie ihres
Vaters beraubt worden und müßten nun ihr ganzes weiteres Leben
als Waisen verbringen. Wirklich blieb Sokrates den meisten unter
ihnen beständiges, wenngleich unerreichtes Vorbild, und, soweit ihre
Meinungen sonst auseinandergingen, über drei Punkte waren sie
doch im wesentlichen einig: daß das Gute das letzte Ziel ist, Ein-
sicht aber das Mittel zu seiner Erreichung; daß dem Einsichtigen
und darum Tüchtigen die Herrschaft gebührt und daß sein Glück,
seine Zufriedenheit von allem Äußeren unabhängig, gegen jede
Wendung des Schicksals gefeit ist. 209
An dem soeben vorgeführten Sachverhalt glaube ich nun gewisse
Umstände wahrzunehmen, die sich mit ähnlichen, an anderen Per-
sonen beobachteten Umständen vergleichen lassen und darum ge-
206) PI. Phaedo 60c bis 61b.
207) Ebd. 118 a, richtig erklärt von Wilamowitz, Piaton II 58. Zum Vergleich
eines unerfüllten Gelöbnisses mit einer unbezahlten Schuld vgl. Staat I, 55 ib.
208) PI. Phaedo 116 a.
209) Jenes ergibt sich besonders aus einer Vergleichung von PI. Staat VI, 509b mit
Eukleides bei Diog. Laert. II 106, dieses habe ich in meinem Buch „Die Lebens-
auffassung der griechischen Philosophen imd das Ideal der inneren Freiheit" (2. Auf-
lage, Jena 1915) gezeigt.
6 2 H. Gomperz
eignet sind, wenigstens auf einige Züge im Wesen des Sokrates
ein wenig Licht zu werfen. Diese Beobachtungen ordnen sich von
selbst in zwei Gruppen: in den Mittelpunkt der einen Gruppe
dürfen wir Sokrates' Empfänglichkeit für Knabenschönheit, in den
der andern seine Hochschätzung der Handwerksmeister stellen.
An und für sich war Sokrates ohne Zweifel für den Reiz beider
Geschlechter empfänglich und diese doppelte Empfänglichkeit war
ja auch in dem Kreis, in dem sich sein Leben abspielte, im vor-
nehmen athenischen Bürgertum der zweiten Hälfte des fünften
Jahrhunderts v. Chr., durchaus die Regel. Verliebt zwar war in
der Regel nur der Mann in den Knaben, den er denn auch mit
allen Mitteln körperlich zu besitzen strebte, allein das hinderte ihn
keineswegs daran, mit einer fremden Hetäre ein Verhältnis zu unter-
halten und noch weniger daran, eine athenische Bürgerin zur Ehe-
frau zu nehmen und mit ihr Kinder zu zeugen. Dies letztere tat
denn auch Sokrates in reiferen Jahren und auch Verhältnisse der
ersteren Art wurden ihm, wie wir hörten, nachgesagt. Wir dürfen
vermuten, daß ihm besonders knabenhafte Frauen begehrenswert
erschienen sein werden, denn einmal erwarten wir dies bei einem
Bewunderer mädchenhafter Knabenschönheit von vornherein, dann
aber hätte Sokrates, war' es nicht der Fall gewesen, schwerlich in
der gymnastischen, ja auch nur in der verstandesmäßigen Aus-
bildung der Frau die ihr förderlichste Erziehungsweise erblickt.
Gewiß dagegen ist, daß er die Empfindungsweise seiner Umgebung
auch dem eigenen Geschlecht gegenüber teilte: seine Jünger legen
ihm höchste Empfänglichkeit für Knabenschönheit bei und lassen
ihn bald in diesen, bald in jenen Jüngling verliebt sein.
Allein an diesem Punkte biegt nun sein Verhalten von dem
seiner Mitbürger scharf ab: während diesen insgesamt als höchstes
, Ziel der körperliche Besitz des geliebten Knaben vor Augen steht,
und sie sich höchstens zu dem Zugeständnis verstehen, der wahrhaft
•
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
65
Vornehme solle nur einen solchen Knaben zu besitzen streben,
an dem ihm auch die Seele liebenswert erscheint, lehnt Sokrates
den körperlichen Umgang mit Knaben überhaupt entschieden ab
und erklärt vielmehr die „rein seelische" Liebe, die leidenschaft-
liche Sorge um die Tüchtigkeit, das Seelenheil des Geliebten für
die einzig wahre, die „himmlische Liebe". Und dem entspricht
sein Leben: er verkehrt beständig mit Knaben und Jünglingen, ja
tritt diesen vielfach ganz offen als ihr Liebhaber gegenüber, allein
er geht bei alledem nicht etwa darauf aus, sich nun diese seine
„Lieblinge" körperlich gefügig zu machen, er ist vielmehr unab-
lässig um ihr Wohl bemüht, ermahnt und rügt sie, kurz macht
ihre Tüchtigkeit zum Hauptinhalt seines Denkens, und zu den guten
Lehren, die er ihnen gibt, gehört gerade auch die, der körperliche
Besitz eines geliebten Knaben sei etwas „Schweinisches" und als
solches unbedingt zu meiden! Das hatte dann einerseits zur Folge,
daß dieser seltsame Liebhaber, der auf das eigentliche Endziel der
übrigen Liebhaber von vornherein verzichtete, vielen Zeitgenossen
den Liebhaber überhaupt nur zu spielen schien, so daß sie dann
auch seine Liebeserklärungen bloß als Äußerungen „somatischer
Ironie" verstanden. 210 Anderseits läßt sich kaum bezweifeln, daß
gerade die Durchdringung der Sokratischen Tugendpredigt mit dem
Geiste dieser eigenartig-leidenschaftlichen, aber doch völlig ver-
klärten, zu rein seelischer Fürsorge emporgeläuterten Liebe auch zu
ihrem unvergleichlichen Erfolge sehr viel, ja vielleicht das meiste
beigetragen haben wird. Wenn diese Predigt den jungen Mann
aufforderte, sich nicht so sehr um Nebensächliches und Äußeres
zu bekümmern, vielmehr vor allem um die Hauptsache, die Aus-
bildung seines eigenen Innern, die eigene Einsicht und Tüchtigkeit,
so wich sie ja damit inhaltlich nicht allzuweit von den Ratschlägen
210) PI. Gastm. 3i8<*.
1
64 H. Gomperz
anderer Tugendlehrer ab: .wenn sie dessenungeachtet auf die athe-
nischen Jünglinge so viel stärker wirkte als diese, so lag das ge-
wiß vor allem daran, daß sie eben nicht bloß Predigt und Rat-
schlag war, daß sich in ihr nicht bloß gereiftes Nachdenken und
menschenfreundliches Wohlwollen, sondern über das alles hinaus
auch noch der leidenschaftliche Anteil eines liebenden Herzens
aussprach! 211
Die Wirksamkeit des Sokrates wurzelt so unverkennbar in einer
zu erzieherischer Leidenschaft emporgeläuterten („sublimierten")
Knabenliebe. Diese Emporläuterung und Verklärung könnte nun,
von vornherein, entweder eine mehr angeborene, vorwiegend in
der Eigenart der geistig-leiblichen Anlage wurzelnde oder aber
eine mehr erworbene, dieser Anlage in einem inneren Kampfe
abgerungene sein. Die Frage, ob dies oder jenes zutraf, scheint mir
für Sokrates entschieden zu werden durch die Tatsache, daß im
Mittelpunkte seines Lebens- und Gedankenkreises der Begriff der
Selbstbeherrschung steht. Das Wort, das Sokrates zu jenem
Physiognomiker gesprochen haben soll: er sei seiner lasterhaften
Neigungen Herr geworden, spiegelt nur den Eindruck wider,
den sein Wesen in seinen Jüngern zurückgelassen hat und den es
auch in uns noch zurückläßt: Sokrates hat sich selbst zur Selbst-
beherrschung erzogen, seinen Willen durch Gewöhnung an Ent-
211) Vgl. Sokrates' Antwort auf den Antn. 195 erwähnten Vorwurf des Sophisten
Antiphon, er verlange für seinen Unterricht keine Bezahlung, bei Xen. Erinn. I 6, 15:
„Mein lieber Antiphon, in unserem Kreise {naQ^jitv — das kann aber nicht wohl
heißen: „bei uns in Athen", da Antiphon ja selbst Athener ist) denkt man über den
Verkauf des Wissens wie über den der Schönheit: ein junger Mann, der sich dem
ersten besten, der dafür bezahlen will, hingibt, prostituiert sich; läßt er sich dagegen
die Freundschaft eines innerlich vornehmen Liebhabers gefallen, dann handelt er ver-
nünftig. Ganz ebenso prostituiert sich auch der Weisheitslehrer, der sein Wissen dem
ersten besten für Geld verkauft; wer sich dagegen einen wohlveranlagten jungen
Mann dadurch zum Freund macht, daß er ihm beibringt, was ihm nützlich sein kann,
benimmt sich wie ein anständiger Mensch." — Es ist allerdings anzunehmen, daß
Sokrates im Gegensatze zu anderen Lehrern zuletzt darum von seinen Schülern Be-
zahlung nicht verlangt hat, weil ihm der Umgang mit ihnen Herzenssache war!
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
65
behrungen aller Art planmäßig gestählt, auch seinen Jüngern die
Selbstbeherrschung als die Frucht planmäßiger Erziehung und Ge-
wöhnung hingestellt; er war nicht frei von Stolz auf die bei dieser
Selbsterziehung errungenen Erfolge, voll heftigen Tadels für jene,
die solche Erfolge nicht aufzuweisen hatten — keine Spur von jener
verstehenden und bescheidenen Milde, die wir dort erwarten müßten,
wo die eigene Art als notwendiges, kampfloses Ergebnis einer aus-
nahmsweise glücklichen Naturanlage empfunden und beurteilt
würde! Und gewiß haben wir allen Grund anzunehmen, daß das
eigentliche Ziel dieser Sokratischen Selbsterziehung eben die Über-
windung des Verlangens nach dem körperlichen Besitze schöner
Knaben gewesen ist. Denn gerade an diesem Punkte war er in
seinem Leben wie in seiner Lehre weitaus am strengsten: schon
die Alten machen kein Hehl daraus, daß Sokrates seiner Neigung,
sich an Speis' und Trunk, ja wohl auch am Umgang mit Weibern
zu erfreuen, gelegentlich die Zügel schießen ließ, die einzige Selbst-
beschränkung, von der sie keine Ausnahme kennen, ist die, die er
sich den geliebten Knaben gegenüber auferlegte; und auch als
Lehrer hat er in allen übrigen Stücken bloße Mäßigung, in
diesem einen völlige Enthaltung gefordert! Wir sind also wohl
berechtigt, vom psychologischen Standpunkte aus in der Unter-
drückung der körperlichen Knabenliebe die eigentliche Haupt-
leistung der Sokratischen Selbstbeherrschung, in deren übrigen
Äußerungen mehr nur Mittel zur Stählung und Erziehung des
Willens im Dienste dieser Hauptaufgabe zu sehen. Und von
eben diesem Standpunkte aus müssen wir mit dieser Bedeutung
der Selbstbeherrschung im Leben des Sokrates wohl auch die
Mittelpunktsstellung zusammenschauen, die sie in seiner Lehre
einnimmt: den Mahnruf, sich vor allem andern die Selbstbeherr-
schung zu erkämpfen, hat er an seine Jünger zuletzt doch wohl
darum gerichtet, weil er selbst schwer um sie gerungen hatte
Imago X/l *
66
H. Gomperz
und sich durch den siegreichen Abschluß dieses Ringens befreit
und beglückt fand!
Bisher wurden vor allem Tatsachen festgestellt: die erzieherische
Wirksamkeit des Sokrates wurzelt in dem Boden einer vergeistigten
Knabenliebe; sein Leben und seine Lehre werden beherrscht von
der Aufgabe der Selbstüberwindung. Und von diesen Tatsachen
entfernten wir uns zum mindesten nicht weit durch den Schluß:
eben jene Vergeistigung der Knabenliebe wird die Hauptleistung
dieser Selbstüberwindung gewesen sein. Diesen festen Boden der
Tatsächlichkeit müssen wir wohl verlassen und nach mehr oder
weniger einleuchtenden Vermutungen greifen, wenn wir nun die
Frage zu beantworten suchen: welche inneren Antriebe mögen
Sokrates den Willen eingegeben und die Kraft verliehen haben,
sein Verlangen nach dem körperlichen Besitz geliebter Knaben zu
unterdrücken, sich selbst zu überwinden, seine Knabenliebe zu ver-
geistigen ?
Wir denken in einem solchen Falle zunächst an die Macht
der empörten öffentlichen Meinung, das eigene Bewußtsein des
sittlich Unerlaubten. Allein für den Fall des Sokrates scheint
eine solche Erklärung von vornherein auszuscheiden: in dem ge-
sellschaftlichen Kreis, in dem sein Leben verlief, verstand sich
die ganz un vergeistigte oder doch nur wenig vergeistigte Knaben-
liebe durchaus von selbst, galt keineswegs als etwas besonders
Tadelnswertes; in der Sokratischen Enthaltsamkeit sahen denn
auch die Zeitgenossen nicht etwa bloß ein seltenes Beispiel
pflichtmäßiger Gewissenhaftigkeit, vielmehr ein beispielloses, un-
vergleichliches Wunder! Auch die Annahme, Sokrates' körperliches
Verlangen möchte im Grunde doch mehr dem anderen als dem
eigenen Geschlecht gegolten, von dem wirklichen Besitz auch des
schönsten und geliebtesten Knaben möchte ihn zuletzt doch ein.
dunkles Widerstreben zurückgehalten haben, würde schwerlich das
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 67
richtige treffen: wäre ihm der Verzicht auf den körperlichen Besitz
schöner Knaben leicht gefallen, was sollte dann sein Lob der Selbst-
beherrschung, seine Verherrlichung ihrer Mühen und Früchte
eio-entlich bedeuten? . . . Und auch der Glanz mühsam errungener
Selbstbezwingung, von dem seine Gestalt den Zeitgenossen umstrahlt
schien, war schwerlich bloß eine durch Mißverständnis hervorge-
rufene Täuschung! Sokrates selbst führt gegen die körperliche Knaben-
liebe vor allem an, daß durch sie der Liebhaber unfrei, von seinem
Liebling abhängig, auf dessen Laune angewiesen wird, und es wäre
durchaus unrecht, das Gewicht zu unterschätzen, das für eine so
freiheitsstolze Natur dieser Erwägung wirklich zukommen mußte.
Allein so schwer wir es heut' einem Manne glauben würden, daß
er aus keinem anderen Grund als bloß aus Stolz und Unabhängigkeits-
gefühl sein ganzes Leben lang keine Frau berührt habe, so wenig
wird uns doch auch für Sokrates jene Begründung als eine wirklich
ausreichende erscheinen. Und in der Tat, mindestens noch eine
andere Erklärung bietet sich dar. Sokrates war in dem Kreis, in
dem er lebte, nicht geboren. Und dem athenischen Kleinbürgertum,
dem er entstammte, war — wir sehen es aus der Komödie — die
Knabenliebe immer fremd geblieben: die „gute Gesellschaft" Attikas
hatte diese Gefühlsweise von den Dorern übernommen. 212 Könnte
so nicht das, was Sokrates den Willen und die Kraft gab, sein Ver-
langen nach dem körperlichen Besitz schöner Knaben zu überwinden,
der Geist seines Elternhauses, der Umgebung, in der er aufwuchs,
gewesen sein? Und wenn er dem Kritias vorhielt, das Verlangen
nach dem Umgang mit einem Knaben sei etwas Schweinisches,
hören wir in diesen Worten etwa den Nachklang des Urteils, das
jene Umgebung über diesen Umgang zu fällen pflegte, und das
Sokrates von den athenischen Kleinbürgern seit seiner Kindheit zu
vernehmen gewohnt war?
212) Vgl Erich Bethe, Die dorische Knabenliebe, Rheinisches Museum LXII, 438 ff.
68 H. Gomperz
Daß dies die Quelle jenes Widerstrebens gewesen sei, das, ver-
stärkt durch seinen Unabhängigkeitsdrang, den Sokrates gegen die
ungehemmte Herrschaft sinnlicher Knabenliebe sich aufbäumen ließ,
ist, ich wiederhole es, bloße Vermutung. Daß dagegen ein solches
inneres Aufbäumen stattfand, daß Sokrates sich die Herrschaft über
seinen sinnlichen Trieb in inneren Kämpfen mühsam errang, darf
mit weit stärkerer Zuversicht behauptet werden. Und hieran knüpft
sich nun eine weitere Frage, die ich freilich gleichfalls nicht durch,
den Hinweis auf Tatsachen, vielmehr bloß durch den auf Mög-
lichkeiten, beantworten kann: wenn denn in Sokrates' Seele schwere
sittliche Kämpfe stattfanden, könnte nicht auch die Vorherrschaft
sittlicher Fragestellungen in seinem Denken eben in ihnen ihren
letzten Grund gehabt haben? — Tatsache ist, daß Sokrates in den
Jahren seiner Reife die Energie seines Denkens ganz überwiegend
Fragen wie diesen zuwandte: Was ist das Gute? Das Anständige?
Das Rechte? Um dies zu erklären, pflegt man auf den Geist jener
Zeit zu verweisen, die eben begonnen habe, ihre Aufmerksamkeit
den Fragen des menschlichen Lebens zuzuwenden. Und dies mit
Recht, sofern sich's darum handelt, den Widerhall zu verstehen,
den Sokrates' sittliche Fragestellungen im Denken seiner Zeitge-
nossen fanden. Soll dagegen begreiflich gemacht werden, wie gerade
dieser bestimmte Mensch dahin gelangt sein mag, jene Fragen auf-
zuwerfen, dem Ringen um ihre Lösung sein Leben zu weihen,
dann besagt doch diese Antwort recht wenig. Unser Streben nach
psychologischem Verständnis jedenfalls würde sich mehr befriedigt
fühlen, dürften wir die Annahme machen, Sokrates habe sich die
Frage: Was ist das Gute, das Anständige, das Rechte? nicht aus
bloßer theoretischer Wißbegierde gestellt, vielmehr ursprünglich
darum, weil er wirklich nicht wußte, was für ihn gut, anständig
und recht sei, mit anderem Wort: wie er sich verhalten, sein Leben
gestalten solle? Diese Voraussetzung nun ist in der Tatsache, daß
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 69
Sokrates einen heftigen sinnlichen Trieb in sich niederzukämpfen
hatte, zwar noch nicht enthalten, indes, wie ich glaube, doch mit
einiger Wahrscheinlichkeit aus ihr zu folgern. Denn unsere
sittlichen Kämpfe spielen sich doch wohl recht selten so ab, daß
wir uns darüber, auf welcher Seite das Recht sei, von vornherein
ein für allemal im klaren sind, und daß es uns nur schwer fällt,
dieser unserer Einsicht nun auch in unserem Handeln Geltung zu
verschaffen; weit häufiger so, daß auch der bekämpfte Trieb uns
Gründe, die zu seiner Rechtfertigung dienen können, vor Augen
stellt, so daß dann unser Urteil zwischen diesen Gründen und den
Gegengründen hin und her schwankt. Und dafür, daß eben dies
auch der Fall des Sokrates gewesen sein wird, spricht ja schon der
Umstand, daß dieser auch in seinen Gesprächen unsittliches Handeln
durchwegs auf unzulängliche sittliche Einsicht zurückzuführen
pflegt 213 Auch galt ja den Gebildeten Athens körperliche Knaben-
liebe wirklich nicht als verwerflich, - ein Umstand, den der be-
kämpfte Trieb für sich auszubeuten kaum unterlassen konnte. War
es vollends etwa gar so, wie wir vorhin mutmaßten, schwankte
Sokrates wirklich jemals zwischen der Gefühlsweise seines Eltern-
hauses und der seiner späteren Umgebung hin und her, dann mußte
er sich ja die Frage, was gut, anständig und recht sei, notwendig
auch in dem Sinne stellen, daß sie für ihn soviel wie die andere
Frage bedeutete: Was soll ich tun, wie soll ich leben? ... So darf
es also wohl nicht unwahrscheinlich heißen, daß für Sokrates
die Frage nach dem Wesen des Sittlichen und Guten ursprünglich
die Bedeutung einer ganz persönlichen Lebensfrage gehabt hat.
Diese soeben als nicht unwahrscheinlich bezeichnete Annahme
besagt übrigens nicht, daß sich Sokrates die Frage nach dem Wesen
des Guten und Schlechten erst in jenem Lebensalter gestellt haben
könne, in dem er vor der Wahl stan d, dem Trieb der sinnlichen
215) Vgl. o. Anm. 187.
yo H. Gomperz
Knabenliebe nachzugeben oder ihn zu unterdrücken, somit nicht
vor dem ersten Mannesalter. Im Gegenteil! Zeigt sich an diesem
einen Beispiel, daß Sokrates' Natur zu sittlichen Kämpfen über-
haupt neigte, dann ist's fast wahrscheinlich, daß ihm der Wider-
streit zwischen Neigung und Pflicht auch schon aus früheren An-
lässen, wohl gar seit seiner Kindheit, schmerzlich fühlbar geworden
sein wird. Und so wär's denn durchaus denkbar, daß sein unab-
lässiges Fragen nach dem Wesen des Guten zwar wirklich zuletzt
aus seinen eigensten sittlichen Nöten geflossen wäre, dennoch aber
schon in seiner frühen Jugend angehoben und aus den seelischen
Kämpfen, in die ihn seine Knabenliebe verwickelte, etwa nur neuen
Anstoß empfangen hätte. Ein Umstand freilich spricht dafür, daß
dem Ringen um die Vergeistigung der Knabenliebe für die Sokra-
tische Fragestellung nach dem Wesen des Sittlichen doch eine
größere Bedeutung zugekommen sein mag, als es sonst nach dem
eben Gesagten scheinen könnte: Sokrates' Nachdenken scheinen in
seinen Jünglingsjahren mehr Fragen der Naturerkenntnis, erst in
seinem Mannesalter immer entschiedener Fragen des sittliphen
Lebens beschäftigt zu haben ; das aber ist eben die Zeit, zu der
sich seine Knabenliebe zuerst stark und bewußt in ihm geregt
haben muß; ist doch nach den Begriffen jener Zeit ein Lieb-
haber kaum unter fünfundzwanzig Jahren denkbar. Mag also
Sokrates die Frage, was gut, anständig und recht sei, auch
schon als Kind aufgeworfen haben, entscheidende Bedeutung
scheint sie für sein Leben erst nach seinen Jünglings jähren ge-
wonnen zu haben, und da darf es denn wohl eine einigermaßen
scheinbare Vermutung heißen, daß diese Wendung in seinem
Denken mit jenen inneren Kämpfen zusammenhing, in die ihn
in eben denselben Jahren der Trieb zu sinnlicher Knabenliebe
verwickelt haben dürfte.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
7 1
Ich komme zur zweiten Gruppe meiner Beobachtungen. Im Ge-
dankenkreise des Sokrates nimmt der Begriff des Handwerksmeisters
eine eigentümlich beherrschende Stellung ein: die Erkenntnis des
Handwerksmeisters gilt ihm als die vorbildliche Erkenntnis; wie dieser
die Fragen seines Fachs, so sollte jeder Tüchtige die Fragen des
Lebens, der wahre Herrscher die der Staatskunst überblicken; ja
selbst das Verhältnis Gottes zur Welt weiß sich Sokrates nur an
dem des Handwerksmeisters zu seinem Erzeugnis zu erläutern. Nun
war aber Sokrates der Sohn eines Steinmetzen, war also selbst im
Haus eines Handwerksmeisters aufgewachsen: daraus dürfen wir
schließen, daß sich in seinem Erkenntnisbegriff seine Jugendeindrücke
niedergeschlagen haben, daß ihm das Fachwissen des Handwerks-
meisters darum als das Musterbild alles Wissens überhaupt galt,
weil für die Menschen, die ihn in seiner Jugend umgaben, tüchtige
Handwerksmeister die maßgebenden Autoritäten waren und weü
deshalb auch er selbst als Kind zu solchen Handwerksmeistern voll
Achtung und Ehrerbietung aufgeblickt hatte. • _ .
Allein Sokrates' Urteil über die Handwerksmeister erschöpft sich
nicht in jener Anerkennung ihres Fachwissen, Es schließt auch die
ebenso entschiedene Feststellung ein, daß die Handwerksmeister,
wie sie in Athen wirklich zu finden sind, zulängliches Wissen nur
in ihrem Fache besitzen, dagegen auf die wichtigsten Fragen der
Lebensführung, der Staatsleitung und natürlich erst recht der Welt-
einrichtung die Antwort ebenso schuldig bleiben wie die übrigen
Bürger und Fremden. 21 * Das Fachwissen des Handwerksmeisters ist
demnach zwar für Sokrates seiner Art nach die vorbildliche Er-
kenntnis, allein ihrem vollen Umfang nach besitzen diese vor-
bildliche Erkenntnis seiner Meinung nach nicht etwa irgendwelche
wirkliche Handwerksmeister, vielmehr stellt er diesen einen als
vollkommen g edach ten, kürzer: einen idealen Handwerksmeister
214") PL Apol. 22 d.
7 2
H. Gomperz
entgegen, und erst dieser gilt ihm als der einzig wahrhaft Tüchtige,
der einzig wahre Herrscher, ja in gewissem Sinne sogar als die
einzig wahre Gottheit. An die Annahme, Sokrates habe als Kind
zu den athenischen Handwerksmeistern ehrfürchtig aufgeblickt, ist
daher die weitere zu fügen, er habe sich gegen den Druck ihrer
Autorität irgendeinmal aufgebäumt, ja sich von deren Anerkennung
endlich völlig befreit. Sokrates verhielt sich demnach gegen die
Handwerksmeister so, wie wir alle uns oft gegen Typen verhalten,
zu denen wir einmal aufgeblickt haben, die aber dann die Er-
wartungen, die wir auf sie gesetzt hatten, enttäuschten: wir „spalten"
nämlich diese Typen, setzen etwa den „wahren Richter", den
„wahren Gelehrten" den unzulänglich befundenen „wirklichen"
Richtern und Gelehrten entgegen; jener erweist sich nun als ein
durchaus geeigneter Gegenstand fortdauernder, von keinem Einwand
mehr angefochtener Verehrung, diese dagegen werden jetzt durch
unsere Wertschätzung des Typus gegen die Geringachtung, die
uns dessen wirkliche Vertreter eingeflößt haben, nicht mehr ge-
schützt. Und daß auch Sokrates von den wirklichen Handwerks-
meistern, sofern er sie als Vorbilder zulänglicher Erkenntnis be-
trachtet hatte, irgendeinmal schwer enttäuscht worden ist, darf
aus der Art, wie er ihnen einen „idealen Handwerksmeister" ent-
gegenstellte, mit Zuversicht geschlossen werden. Ja, da wir aus seiner
Lebensgeschichte wissen, daß Sokrates etwa im achtzehnten Lebens-
jahr mit dem Naturphilosophen Archelaos umzugehen begann, dessen
Fragestellungen über den Wissenskreis der athenischen Handwerks-
meister, mögen wir ihn noch so groß annehmen, ohne Zweifel
weit hinausführen mußten, so dürfen wir sogar hinzusetzen, daß
jene Enttäuschung kaum später als eben damals eingetreten sein
kann.
Wir können einer Autorität entweder still und unvermerkt ent-
wachsen oder aber sie kann siclvunseren Ansprüchen gegenüber
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 75
ein Mal über das andere als unzulänglich erweisen und so vor
unseren Augen Stück für Stück zerbröckeln. Eine Vermutung
darüber zu wagen, ob Sokrates in früher Jugend mit der Autorität
der Handwerksmeister diese oder jene Erfahrung gemacht habe,
scheint zunächst höchst vermessen: nur ein ganz besonders glück-
ücher Umstand erlaubt es uns, diese Frage nicht bloß aufzuwerfen,
nein, sie sogar mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrschein-
lichkeit zu beantworten. Treffen wir nämlich bei einem Erwach-
senen ein sonst für Kinder bezeichnendes Verhalten an, so dürfen
wir doch mit großer Zuversicht annehmen, er werde dies Verhalten
auch schon als Kind beobachtet und es eben seit damals beibehalten
haben. Sokrates nun hat sein Leben damit zugebracht, mit immer
gleichem, nie ermattendem Eifer all denen, mit denen er umging,
Fragen vorzulegen: wer diese Fragen nicht - oder doch nicht
ohne sich in Widersprüche zu verwickeln - beantworten konnte,
der galt ihm als „widerlegt", seiner Unwissenheit überführt, seines
Anspruchs auf Autorität beraubt. Die Erwachsenen mit Fragen zu
bestürmen, ist aber ausgesprochene Kinderart. Ich folgere, es werde
um so mehr auch die Art des Sokrates, als er noch ein Kind war,
gewesen sein. Und da nun diesem auch noch in seinen reifen
Jahren eine Autorität dann als entwertet galt, wenn der, dem sie
beigelegt worden war, seine Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit
zu beantworten wußte, so glaube ich weiter folgern zu dürfen,
auch schon dem jugendlichen Sokrates werde die Autorität der
Handwerksmeister auf dieselbe Art entwertet worden sein Mit
anderen Worten, solange sich seine Fragen auf das Handwerk des
einzelnen Meisters, seine Gegenstände und Verrichtungen bezogen,
werden dessen Antworten den jugendlichen Frager höchlich be-
friedigt haben: eben daher wird denn auch die hohe Achtung rühren,
die Sokrates sein Leben lang für das Fachwissen der Handwerks-
meister erfüllt hat. Allein dies mußte sich von Grund aus ändern,
74 H. Gomperz
sowie sich der Kreis der von Sokrates gestellten Fragen erweiterte.
Piaton läßt diesen einmal selbst davon reden, Fragen welcher Art
ihn in seiner Jugend beschäftigten: 215 Wie entstehen die Tiere? 216
Mit welchem Bestandteil des Leibes denken wir? Ist die Erde
flach oder rund? Und, wenn flach oder rund, wozu ist sie flach
oder rund? . . . Solche Fragen konnten die Handwerksmeister, die
Sokrates in seiner Jugend umgaben — der Steinmetz Sophroniskos,
seine Verwandten und Freunde — unmöglich beantworten; noch
weniger freilich die Fragen, die Sokrates später mit Vorliebe auf-
warf, vielleicht aber doch auch schon früh gestellt hat: Was ist
das gemeinsame Wesen alles Guten, Anständigen, Gerechten . . .?
Und eben ihr Unvermögen, diese Fragen zu lösen, wird ihre Auto-
rität in den Augen des jugendlichen Sokrates entwertet und diesen
veranlaßt haben, ihnen als den wirklichen, jedoch unzulänglichen
Handwerksmeistern einen als vollkommen gedachten, idealen Hand-
werksmeister entgegenzusetzen.
Wirklich hat sich ja Sokrates mit siebzehn Jahren dem Natur-
philosophen Archelaos angeschlossen und ohne Zweifel zunächst in
diesem zulängliches Wissen verkörpert zu finden, den wahren
„Meister" zu sehen geglaubt. Vermochte ihn doch Archelaos nicht
nur über die Entstehung der Tiere, das Denkorgan, die Gestalt
der Erde und noch vieles andere dergleichen, vielmehr auch über
den Ursprung von Recht und Staat zu belehren. Beider Verhältnis
.war denn auch ein langdauerndes und inniges. 217 Endlich aber
215) Phaedo 96a ff.
216) Gemeint ist die Frage der Urzeugung. Piatons Worte lauten in Apelts Über-
tragung: „. . . ob, wenn das Warme und Kalte in Fäulnis gerät, wirklich Lebewesen
entstehen, wie Einige behaupten . . .?".
217) Auf Seiten des älteren Freundes wird ihm eine gewisse leidenschaftliche
Färbung wohl nicht gemangelt haben. Wirkte indes wirklich, wie wir vermuteten,
111 Sokrates eine anerzogene Mißachtung körperlicher Knabenliebe dauernd nach, so
wird er solcher Leidenschaft wohl von Anfang an gewisse Schranken gesetzt haben:
manche Eigentümlichkeit seiner Lebensweise, die weder als Mittel zur Übung im
Entbehren noch als solches der Willensstählung unbedingt gefordert scheint, wie etwa
rT
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 75
scheint Sokrates doch auch den Archelaos „überfragt" zu haben,
und zwar vermutlich um so unverkennbarer, je entschiedener die
Fragen nach dem gemeinsamen Wesen alles Guten, Anständigen,
Gerechten sein Denken beherrschten: hätte Archelaos diese Fragen
selbst zu beantworten gewußt, so wäre ja er der Begründer der
wissenschaftlichen Sittenlehre geworden! Auch er also konnte dem
Sokrates nicht dauernd die wahre Autorität, den wahren „Meister"
bedeuten. Und die Erfahrung, die Sokrates an den Handwerks-
meistern und nun auch an Archelaos gemacht hatte, sie wieder-
holte sich ihm nun noch unzählige Male im Umgang mit all den
Männern, die auf irgend einem Gebiet für hervorragend galten;
denn auch er selbst wiederholte ihnen allen gegenüber das Ver-
fahren, daß ihm seit seiner Kindheit geläufig war: er legte ihnen
Fragen vor und beurteilte ihr Wissen, ihren Geltungsanspruch,
ihre „Meisterschaft" nach den Antworten, die sie auf diese Fragen
erteilten; da aber fand sich's regelmäßig, daß sie zwar auf ihrem
Sondergebiet zulängliches Wissen besaßen, andere Fragen dagegen,
besonders die dem Sokrates vor allem am Herzen liegenden nach
dem Wesen des Guten, Anständigen und Rechten nicht wider-
spruchslos und befriedigend zu beantworten vermochten. Alle blieben
sie vielmehr dem Sokrates die erbetene Belehrung schuldig: wie
hätte er ihnen da wahre Autorität zubilligen, sie als wahre „Meister"
anerkennen können? 21
Als der einzig wahre Meister galt ihm vielmehr jetzt Gott, die
das All zweckgemäß einrichtende und leitende Vernunft. Die Vor-
das seltene Baden und Haarschneiden, sieht ganz so aus, als stammte sie aus einer
Zeit, da es Sokrates willkommen war, reiferen Männern nicht allzu anziehend zu
erscheinen. . . _. , v .. .
218I Daß Sokrates ein solches Gespräch helehrungsdurstig wie ein Kind beginnt,
um in seinem Verlauf immer unverkennbarer den Meister des Widerspruchs der
Widerlegung hervorzukehren, ward seinen Zeitgenossen einer der wichtigsten Anlasse,
mit einem gewissen, freilich nur teilweisen Recht von „somatischer Irome zu
sprechen.
7" H. Gomperz
Stellung solch einer göttlichen Vernunft mag ihm Archelaos ver-
mittelt haben: daß sie in seinem Bewußtsein etwa die Stelle ein-
nahm, die dereinst die Autoritäten seiner Jugend, die Männer, die
in seinem Elternhause für weise galten, innegehabt hatten, daß
also der Mann Sokrates der Gottheit innerlich etwa so gegenüber-
stand, wie einst der Knabe Sokrates den weisen Handwerksmeistern
gegenübergestanden hatte — dies dürfen wir mit ziemlicher Sicher-
heit aus zwei Umständen schließen. Er selbst vergleicht diese Gott-
heit einem „weisen und liebevollen Handwerksmeister" und die
kurzen Verbote, die er von Zeit zu Zeit hörte und auf Gott zurück-
führte, scheinen durchwegs von der Art gewesen zu sein, wie sie
ältere Leute einem kleinen Buben zuzurufen pflegen; nach Piatons
Andeutungen mögen sie etwa gelautet haben: „Bleib* stehen! Sitzen
bleiben! Halt's Maul!"; auch das einzige göttliche Gebot, das So-
krates, soviel wir wissen, (im Traum) vernahm, ist von ganz der-
selben Art: „Sokrates, mach' Musik und sei fleißig!" Wo Sokrates
seinem Gott gegenübersteht, fühlt er sich durchaus als Kind. 219
Die entscheidende Bedeutung seines Gottesglaubens für Sokrates'
Lebensgestaltung ist indes erst darin zu erblicken, daß dieser Glaube
es ihm gestattete, sein Verlangen nach Unterordnung unter eine
Autorität mit seinem Unabhängigkeitsdrang zu versöhnen. Der
Widerstreit dieser beiden Bedürfnisse kehrt ja wohl in irgend einem
Grad bei jedem Menschen wieder. Ein großer Teil des Reizes, den
die Erinnerung an die Kinderzeit auf die meisten von uns ausübt,
beruht darauf, daß dies eine Zeit war, da noch andere für uns
dachten, sorgten und handelten, auf die wir uns verlassen, in deren "
Hut wir uns geborgen fühlen durften. So oft es in unserem späteren
Leben scheint, dieses Verhältnis könnte sich, wenn auch in abge-
änderten Form en, wiederherstellen, es biete sich uns ein Erzieher
219) Hier darf auch daran erinnert werden, daß Sokrates beim Lesen und Schreiben
wie ein Kind gestammelt haben soll.
I
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 77
oder Lehrer, ein Vorgesetzter, ein Parteiführer oder ein Herrscher,
ein Genius, ein Prophet oder eine Gottheit dar, denen wir nur zu
folgen brauchten, auf die wir uns bedingungslos verlassen dürften,
begrüßen wir, sofern sich keine Gegenwirkung fühlbar macht, diese
Aussicht mit inniger Befriedigung. Und daß auch Sokrates so empfand,
geht daraus hervor, daß sich ja sein ganzes Leben als ein Suchen
nach dem „wahrhaft Wissenden", dem „wahren Meister" begreifen
und darstellen läßt. Allein wenn die Erwachsenen dem Kind Sorge
und Verantwortung für seine Entscheidungen abnehmen, so treten
sie dafür doch auch der Erfüllung seiner Wünsche, der Befriedi-
gung seiner Neigungen vielfach hemmend in den Weg. Daher es
denn natürlich, ja notwendig ist, daß in dem Kinde die Sehnsucht
nach ungehemmter Selbstbetätigung, völliger Selbständigkeit, schran-
kenloser Unabhängigkeit erwacht. Und daß dies Streben nach voller,
bedingungsloser Unabhängigkeit auch in Sokrates, und zwar in un-
gemeinem Maße lebendig war, erhellt unzweideutig aus seiner un-
ermüdlich wiederholten Forderung, die Jugend zu freien Herren-
naturen zu erziehen, gewöhnt, lieber alle Entbehrungen auf sich
zu nehmen als sich in irgendwelche Unfreiheit, irgendwelche Ab-
hängigkeit von Menschen oder Verhältnissen zu fügen, eher auf
jeden Genuß zu verzichten als auch nur ein Teilchen der
eigenen Unabhängigkeit, der eigenen Selbstbestimmung preiszu-
geben — un d erhellt vielleicht noch entschiedener daraus, daß
auch Sokrates selbst dieser Forderung nachgelebt, sie in Leben
und Sterben beispielgebend erfüllt hat. Diese beiden Urnei-
gungen des menschlichen Herzens geraten nun aber, sobald sie
über einen gewissen Stärkegrad hinaus anwachsen, notwendig in
Streit: wer zu voller Unabhängigkeit durchdringen will, muß
darauf verzichten, sich einer höheren Autorität anzuvertrauen und
sich im Vertrauen auf sie vor jeder Fährlichkeit behütet zu fühlen;
wer hierauf nicht verzichten kann, muß irgend eine Autorität
7° H. Gomperz
über sich stellen, gegen die gehalten er dann selbst als ein un-
selbständiges Wesen von beschränkter Wirkungsmöglichkeit erscheint.
Sokrates nun gehörte zu jenen Menschen, die diesen Streit so
schlichten, daß sie eine übernatürliche Autorität unbedingt an-
erkennen, sich ihr völlig unterwerfen, eben hiedurch aber in den
Stand gesetzt werden, allen natürlichen Widerständen Trotz zu
bieten, im Vertrauen auf den Schutz der Gottheit sich von aUen
irdischen Mächten unabhängig zu fühlen. Dies haben in den ver-
schiedensten Zeiten viele mit sehr ungleichem Ergebnis versucht;
Sokrates ist es mit ganz besonderem Erfolge gelungen: er war fest
davon überzeugt, daß Gott über ihm wache, ihn weise und für-
sorglich leite, und diese Überzeugung hat ihm jene furchtlose Ruhe
verliehen, die ihn allen äußeren Gefahren gegenüber beseelte, hat
ihm das Gefühl völliger Unabhängigkeit vom Schicksal geschenkt.
Voraussetzung war dabei für Sokrates freilich auch eine eigen-
tümliche Geisteshaltung, die ihm mit vielen anderen Größen der
Geistes- und besonders der Religionsgeschichte gemein ist. Schwerlich
hätte die Gottheit für ihn diese lebensbestimmende, diese Wirklich-
keitsbedeutung gewinnen und behaupten können, wäre sie für ihn
Gegenstand bloßen Glaubens geblieben, ihm nicht in voller Sinn-
fälligkeit entgegengetreten: er war überzeugt, ihre Stimme selbst
zu hören, die Äußerungen ihrer Fürsorge für ihn und seine Freunde
unmittelbar zu vernehmen. Das heißt aber: er trug das Idealbild
des „wahren Meisters«, einer höchsten Weisheit, unbewußt in
sich und da es nun in sein Bewußtsein eindrang, erschien es ihm
als ein wirklich außer ihm Befindliches, an das er sich halten
konnte mit der vollen Kraft des wirklichen Lebens. Daß nun mit
dieser vollsten Lebendigkeit nur solche Erzeugnisse unseres Geistes
auf uns wirken, die wir nicht als Erzeugnisse unseres eigenen
Geistes erkennen, die wir vielmehr außer uns setzen als ein von
uns unabhängiges Wirkliches, um nicht zu sagen Leibhaftiges, dies
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 79
ist eine Grunderscheinung der Religionsgeschichte $ diese so eigen-
tümlich-folgenreiche Geisteshaltung aber einigermaßen aufzuklären,
vor allem ihr Verhältnis zu den Wahngebilden zu bestimmen, die
ja der Geisteskranke nicht minder „außer sich" setzt, dies wäre wohl
eine der dringendsten Forderungen an eine nervenärztliche Seelen-
kunde.
Fassen wir das in einer zweiten Gruppe von Beobachtungen
bisher Festgestellte zusammen, so hat sich ergeben: Sokrates hat
in früher Jugend zu tüchtigen Handwerksmeistern als höchsten
Autoritäten aufgeblickt, ist aber dann, da sie seine über ihr Fach-
gebiet hinausgreifenden Fragen nicht zu seiner Zufriedenheit be-
antworten konnten, an ihrer Autorität irre geworden und hat ihnen
das Ideal eines wahren, d. h. wahrhaft weisen Handwerksmeisters
entgegengesetzt 5 dieses aber fand er nicht unter Menschen ver-
wirklicht, vielmehr einzig in der die Welt weise einrichtenden und
leitenden Gottheit verkörpert, und indem er diese als höchste Auto-
rität anerkannte, fand er in ihr zugleich den Stützpunkt, der ihn
in den Stand setzte, allem Irdischen gegenüber seinen mächtigen
Unabhängigkeitsdrang zur Geltung zu bringen. Und blicken wir
nun von hier aus auf das zurück, was wir in einer ersten Gruppe
von Beobachtungen über Sokrates' Stellung zu seinem gleichge-
schlechtlichen Triebe festgestellt hatten, so werden wir einer engen
Wechselbeziehung des dort und des nun hier Beobachteten gewahr.
Sokrates selbst hatte ja als den Hauptgrund, aus dem er für sich
wie seine Jünger die sinnliche Knabenliebe grundsätzlich ablehnte,
die Unfreiheit bezeichnet, in die durch sie der Liebhaber dem
Geliebten gegenüber gerate. Da sich der Trieb nach Unabhängigkeit
von allem Äußeren als einer der Grundtriebe des Sokrates erwiesen
hat, so bestätigt sich nun, was wir schon damals mutmaßen konnten :
daß jene von Sokrates selbst gegebene Begründung durchaus ernst
zu nehmen ist und, können wir sie auch nicht als ausreichenden
80 H. Gomperz
psychologischen Erklärungsgrund für Sokrates' Herrwerden über die
sinnliche Knabenliebe gelten lassen, doch zu diesem Ergebnis ohne
Zweifel wesentlich beigetragen haben wird. Anderseits aber ist
auch innere Unabhängigkeit vom Schicksal dort undenkbar, wo ein
Mensch von einem Drange beherrscht wird, über dessen Befriedi-
gung oder Nichtbefriedigung eben dies Schicksal entscheidet. Folglich
hätte Sokrates seinem Drang nach Unabhängigkeit von allem Äußeren
überhaupt nicht zum Durchbruch verhelfen können, hätte er nicht
die sinnliche Knabenliebe in sich unterdrückt, sie zu einem rein
seelischen Erziehungseifer emporgeläutert. Er selbst hat es ausge-
sprochen: Freihe it ist u nmöglich ohn^ ■Se1Kstfr f 4igrrer.hi]rig. 220 Sokrates
war also durchaus folgerecht, wenn er in seiner Lehre die Forderung
nach Selbstbeherrschung mit der nach innerer Freiheit verknüpfte
und auch in seinem eigenen Leben vermochte er dieser zweiten
Forderung nur darum Genüge zu tun, weil er auch jene erste er-
füllte. War es, wie wir vermuteten, zuletzt wirklich die Abhängig-
keit von der Empfindungsweise seines Elternhauses, die ihm die
Bezwingung des heftigsten seiner körperlichen Triebe ermöglichte,
dann hat ihm diese Abhängigkeit eben damit zugleich auch zur
Erringung eines Höchstmaßes innerer Unabhängigkeit verholfen!
Ich habe bisher Sokrates' Drang nach Unabhängigkeit und seine
Auflehnung gegen die Autorität der Handwerksmeister, überhaupt
der nicht wahrhaft Sachverständigen als zwei voneinander unab-
hängige Erscheinungen besprochen. Und das sind sie ja auch wirklich,
sofern wir nämlich voraussetzen dürfen, Sokrates habe seine Fragen
zu allen Zeiten seines Lebens aus bloßer Wißbegierde gestellt;
daß ihm die Autorität der Befragten, wenn sie, wie gewöhnlich,
die gestellten Fragen nicht zufriedenstellend beantworten konnten,
in Nichts zusammenbrach, ist dann ein vollkommen unbeabsichtigter
Nebenerfolg gewesen. Daneben wäre indes doch auch eine andere
220I Xen. Erinn. IV 5, 2 bis 5.
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 8 1
Auffassung denkbar. Es könnte sein, daß Sokrates' Unabhängigkeits-
drang von früh auf der dauernden Anerkennung jeder menschlichen
Autorität widerstrebt, und daß er mit seinen beständigen Fragen
auch die Absicht verfolgt hätte, die Befragten in Verlegenheit zu
bringen, in seinen eigenen Augen wie auch in denen etwaiger Zu-
hörer ihre Autorität zu untergraben, zu entwerten. Jedenfalls wäre
eine derartige Absicht auch schon bei einem Kind durchaus nichts
Unerhörtes oder auch nur Ungewöhnliches. So wie die Erwachsenen
vielfach der Erfüllung der Wünsche des Kindes im Wege stehen,
so vor allem auch seinem angeborenen Streben nach Ansehen und
Geltung, seinem Verlangen, sich vor aUen andern hervorzutun, neben
ihnen als der Überlegene, der Erste zu erscheinen; denn dieses
Verlangen ist wohl jedem vernünftigen, zum Leben unter Genossen
bestimmten Wesen von Natur aus eigen. Ist nun anzunehmen, daß
diese Neigung zur Auflehnung gegen die Autorität als solche auch
in Sokrates besonders entwickelt war, daß er den wirklichen Hand-
werksmeistern den idealen Handwerksmeister nicht nur darum ent-
gegenstellte, weil sie seinen Wissensdrang enttäuschten, vielmehr
auch darum, weil sie seinem Selbständigkeitsdrang im Wege waren,
ja hat er vielleicht bald auch die Fragen, die er ihnen vorlegte,
so gewählt, daß jene Enttäuschung nicht wohl ausbleiben konnte?
Auf die frühe Jugend des Sokrates bezogen, überschreitet diese
Frage natürlich den Umkreis dessen, was wir noch heute durch
Beobachtungen an überlieferten Nachrichten mit einer gewissen
Zuversicht feststellen dürfen. Allein an den uns erhaltenen Frage-
stellungen des Sokrates in den Jahren seiner Reife ist das Streben
nach geistiger Niederringung des Mitunterredners, nach Vernichtung
seines Geltungsanspruchs unverkennbar, die Fassung und Anein-
anderreihung der Fragen dient noch mehr der Widerlegung des
Befragten als der Belehrung des Fragenden, die Fragekunst des
Sokrates ist hier vorwiegend Widerlegungskunst, ja sie nähert sich
Imago X/i
oft genug der Streitkunst. Und hiezu tritt nun noch die Schärfe,
mit der Sokrates jede angemaßte Geltung bekämpft, zur Nicht-
achtung aller Väter, Lehrer, Herrscher, Gesetzgeber, die sich nicht
über zulängliches Wissen ausweisen können, aufreizt. All das nun
schließt sich mir zu einer so einheitlichen und geschlossenen Eigen-
art zusammen und stimmt so gut zu dem doch offenbar tief im
Wesen des Sokrates wurzelnden Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang,
daß ich die Vermutung nicht abweisen kann, die vorhin aufge-
worfene Frage sei zu bejahen: wenn Sokrates weder den Hand-
werksmeistern noch irgendwelchen andern hervorragenden Männern
eine wahrhaft zulängliche Erkenntnis zubilligte, so wird das wahr-
scheinlich nicht nur darum geschehen sein, weil sie seine Wiß-
begierde nicht endgültig zu befriedigen vermochten, vielmehr vor
allem auch darum, weil sein Freiheits- und Unabhängigkeitsdurst
sich bei der Anerkennung einer höchsten menschlichen Autorität
nicht dauernd beruhigen konnte!
Endlich drängt sich mir hier noch eine letzte Frage auf. Bemüht,
dem halbwegs Sichern oder doch überwiegend Wahrscheinlichen vor
dem bloß Möglichen und nicht Unwahrscheinlichen den Vortritt zu
lassen, habe ich von jenen Handwerksmeistern, deren Autorität Sokrates
in früher Jugend irgendeinmal feststand, gegen die er sich aber dann,
wie wir vermuteten, später aufgelehnt hat, bisher nur ganz allgemein
und unbestimmt gesprochen. Es liegt aber außerordentlich nahe, bei
diesen ganz vorzugsweise an einen bestimmten Handwerksmeister,
den Steinmetzen Sophroniskos, Sokrates' Vater, zu denken. Dürfte
doch Sokrates die entscheidenden Erfahrungen von dem Betrieb eines
Handwerks, dem Wissen des Meisters um die Regeln und Bedingungen
seiner Kunst, seiner Eignung zur Beantwortung der ihm hierüber
gestellten Fragen, seiner geringeren Eignung zur Beantwortung
anderer Fragen vermutlich früher und öfter in der väterlichen
Werkstatt als in der irgend eines Verwandten oder Freundes seines
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 85
Vaters gemacht haben. Auch berichtet uns ein nicht unglaubwürdiger
Zeuge, 221 Sokrates habe „unablässig das Steinmetzenhandwerk seines
Vaters und den Hebammenberuf seiner Mutter im Mund geführt",
woraus sich immerhin schließen ließe, gerade sein Vater sei ihm als
typischer Vertreter des Handwerkerberufes erschienen. Wir dürften
uns dann vorstellen, Sokrates habe als Kind nicht zu igendwelchen
beliebigen Handwerkern aufgeblickt, später aber ihre Autorität be-
stritten, vielmehr er habe zuerst unbedingt an seinen eigenen Vater
geglaubt, dann aber sich gegen ihn aufgelehnt, 222 und er habe diesem
wirklichen Vater das Idealbild nicht nur des „wahren Handwerks-
meisters", vielmehr auch des „wahre n Vaters" entgegengesetzt, dieses
-„) Menedem aus Pyrrha bei Porphyr, Gesch. d. Philos. Frg » Nauck Auch
wenn dieser bei seiner Bemerkung nur die Gewohnheiten des Sokrates »*»£--
Tum «roßten Teil verlorenen) Gesprächen der ältesten Sokratiker im Auge hatte,
kommt seinem Zeugnis für uns doch ein gewisser Wert zu.
"S Nehmen wT an, auch schon die Fragen, die Sokrates .einem Vater stellte,
seien ihm (wenigstens teilweise und von einem gewissen Zeitpunkt an) von emer
NeiLnTs ich gegen diesen aufzulehnen, eingegeben worden, so kann gefragt werden,
woher fnageirf solcher Wille zur Auflehnung gegen den Vater zuletzt entsprungen
sein De Psychoanalytiker denkt in einem Falle dieser Art zuerst an eme Neben
Slerschaft um die Gunst der Mutter. Daß diese <he notwendige Bedmgung
S ISleanungSWÜlens sei, kann ich nicht glauben. Denn es scheint mir : wenn
es na ürltch ist, daß der Sohn zum Vater aufblickt, der so viel größer und machtiger
£t al er ilun Befehle erteilt, ihn belohnt und bestraft, so ist es nicht minder natur-
Hch daß er sich gegen diesen selben Vater doch auch wieder aufbäumt der seine
Wunsche so vielfadf durchkreuzt, seinem Ehrgeiz, als der erste und w.cht.gste zu
«Uen ieden Augenblick im Weg steht. Oft mag es sich dann auch ganz besonders
um e"n Gehen fn den Augen der Mutter handeln. Und dafür, daß es sich so auch
b2 Sokrates verhalten habe, läßt sich wirklich eimges wenige, jedoch gewiß nichts
entscheidendes anführen. Sokrates bezeichnet bei Piaton seine Mutter als „sehr tüchtige
und ansehnliche" Geburtshelferin (prffei yswaCagre xai ßXoövQäg, Theaet. 149*) -™t
einem Ausdruck, den er anderswo auf Krieger anwendet (Staat VII 535*): es wäre
denkbar daß darin ein Hinweis auf ihre etwas männliche Veranlagung läge die
wieder auf seine Vorliebe für männlich veranlagte und erzogene Frauen von Einfluß
«wesen sein könnte. Er setzt sich ebendort mit Phainarete insofern eins als er seine
Gewohnheit, durch Fragen die Gedanken junger Leute ans Licht zu bringen mit
ihrer geburtshilflichen und seine Neigung, sie mit geeigneten Lehrern m Verbindung
zu setzen mit ihrer ehestiftenden Tätigkeit vergleicht. Er gibt endlich, wie wir horten,
für das Verbot der Blutschande zwischen Eltern und Kindern eine Begründung, die
allein auf die Beziehung von Mutter und Sohn, dagegen gar nicht auf die von Vater
und Tochter paßt — woraus man vielleicht immerhin schließen dürfte, der Gedanke
an einen Inzest der ersteren Art habe seinem Vorstelhmgskreis näher gelegen als der
an einen solchen der zweiten.
6*
I
84 H. Gomperz
aber auf die Dauer in keinem anderen Menschen, vielmehr einzig
in Gott verwirklicht gefunden. 223 Und so dürften wir weiterhin in
dem Streit zwischen dem Auf blick zum Vater und der Auflehnung
gegen ihn gleichsam den Urkeim zu all den seelischen Kämpfen in
Sokrates' Innerin erkennen, durch die er ein großer Mensch und über-
dies ein großer Ethiker geworden ist: von hier aus wäre sein lebens-
langes Fahnden nach dem wahrhaft Wissenden wie seine schroffe
Nichtachtung aller bloß überlieferten und angemaßten Autorität zu
verstehen (er hätte eben nie aufgehört, den wahren Vater zu suchen,
aber auch nie, sich gegen jede wirkliche Verkörperung dieses Ideal-
bildes aufzulehnen), sein unbedingtes Vertrauen auf die Stimme Gottes
neben seinem schrankenlosen Freiheitsdrang, endlich die Selbstbe-
zwingung, die ihn zum Herrn über die, wie wir annehmen dürfen,
vom Vater verpönte sinnliche Knabenliebe gemacht hat! Und für
diese Auffassung läßt sich anführen, daß ja solch eine gegensätzliche
Einstellung zu den „Vätern" sich auch in seiner Lehre wirklich
findet. Stellt es doch diese einerseits als ungeschriebenes, göttliches
Gesetz hin, die Eltern zu ehren, verpflichtet aber anderseits die
jungen Leute zum Gehorsam gegen ihre Väter nur dann, wenn diese
auch durch richtige Einsicht zum Befehlen befähigt sind, da andern-
falls der Gehorsam nicht ihnen, vielmehr ausschließlich dem Einsich-
tigen, dem „wahren" Erzieher und Vater gebühre! . . . Alles das
bietet nun aber dem Historiker doch keinen vollen Ersatz dafür, daß
uns über Sokrates' Verhältnis zu seinem Vater keine einzige glaub-
würdige Nachricht unterrichtet, und so wird er den eben umrissenen
Sachverhalt doch wohl mehr nur als eine anziehende Möglichkeit,
denn als gesichertes Forschungsergebnis hinzustellen wagen.
Übrigens bleibt mit der Frage des persönlichen Verhältnisses des
Sokrates zu seinem Vater Sophroniskos doch nicht das zum Verständnis
223) Die Vorstellung eines göttlichen Vaters hätte auch im Altertum durchaus nichts
Erstaunliches ; heißt doch Zeus schon bei Homer der „Vater der Götter und Menschen"
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 85
seiner Lehre und Wirksamkeit eigentlich Wichtige in der Schwebe.
Denn unzweifelhaft ist, daß in Sokrates ein Verlangen nach Unter-
ordnung unter eine Autorität mit dem Drang zu völliger Unabhängig-
keit zusammenbestand; daß er jene Unterordnung dem als vollkommen
gedachten „wahren Meister" gegenüber zu vollziehen bereit war und
sie dem göttlichen „Meister" gegenüber wirklich vollzogen hat, diese
Unabhängigkeit dagegen allen nicht auf Einsicht beruhenden, bloß
überlieferten, angemaßten Autoritäten gegenüber schroff zur Geltung
brachte, die Jugend zu ihrer aller Nichtachtung aufrief. Unzweifelhaft
ist aber auch, daß zu diesen von Sokrates nur unter der Bedingung
"hrer Einsichtigkeit anerkannten Autoritäten wie die des Herrschers
und Gesetzgebers, so auch die des Vaters und Erziehers zählte, und
daß er die Jünglinge dazu ermunterte, in Fragen der Erziehung
statt ihren uneinsichtigen Vätern lieber ihm selbst als dem „wahren"
Erzieher zu gehorchen, 224 und seine Jünger bezeugten's uns mit ihren
eigenen Worten, daß sie den Sokrates geradezu als ihren „Vater"
empfanden! Unzweifelhaft ist aber endlich auch dies, daß Sokrates*
rücksichtslose Nichtachtung aller bloß überlieferten Autorität in
Familie, Staat und Religion, insbesondere aber der väterlichen, sich
endlich gegen ihn gekehrt, ihm den Untergang bereitet hat. Die
athenischen Jünglinge, die sich dem Sokrates wie seine Söhne an-
schlössen, wurden hiedurch zugleich ihrem angestammten Vaterhaus
entfremdet, und ihre Väter empfanden'* ganz mit Recht, daß der
Angriff, der da gegen sie geschah, ebensowohl jede andere Art
überlieferten Geltungsanspruchs traf. Der Rache dieser Väter aber, von
denen sich so ihre Söhne abwandten, ist Sokrates zum Opfer ge-
fallen: 225 sie waren keineswegs im Unrecht, wenn sie ihm schuld
«4) Vgl. H. v. Arnim, Xenophons Memorabilien und Apologie das Sokrates
(Kff ltesd Wiss., Historisch-philolog. Mitteilungen VIII 1, 19 2 3 ), S. 92.
( g L) PlSon beruft sich *ur Verteidigung des Sokrates darauf daß die Vater und
Brüder sener hauptsächlichen Jünger vor Gericht nicht gegen ihn Zeugm abgelegt
L^tt (Apol Sbis 34 b ; doch zeugten sie selbst nach seiner Darstellung auch
86
H. Gomperz
gaben, er lehre die jungen Athener die überlieferten Götter mißachten
und eine neue Gottheit verehren, er reize sie gegen die bestehende
Staatsordnung auf, indem er an Stelle der erlosten und erwählten
Beamten allein den „Meister der Politik" als „wahren Herrscher"
gelten lasse, und er untergrabe die Autorität aller Eltern, indem er
die Jünglinge dazu bewege, in Fragen der Erziehung zuletzt nicht
diesen zu gehorchen, vielmehr ihm selbst als dem „wahren", weil
allein sachkundigen „Meister der Erziehung"!
Ich versuche nun, das hier über die seelischen Kräfte, die Sokrates
bewegten, Ermittelte, ergänzt durch einige Vermutungen über den-
selben Gegenstand, zusammenzustellen. Eigentümlich zunächst war
ihm danach eine leiblich-geistige Anlage, die ihn erstens von ihm
selbst unbewußt Gedachtes wie Fremdes von außen vernehmen
und zweitens seine Liebesfähigkeit noch mehr als knabenhaften
Frauen mädchenhaften Knaben zuwenden ließ (ob diese beiden
Anlagen im strengen Sinne angeboren oder selbst schon erworben
und ob sie voneinander durchaus unabhängig waren, kann dabei
unbestimmt bleiben). In früher Jugend müssen ihm dann die
athenischen Handwerksmeister, die Berufsgenossen seines Vaters,
t!i&2^ ^JsSJ^iS^ erweck r als hKtten die v «~»*«
einen f-ÄÄT S^ÄÄ^Ä 2Ä f
zweifelt; wäre sie die Regel gewesen, so war' es ein Wunder ,„' "^ **"
Xenophon -und daran istnicht zu zweifeln" lofaate^S T' T anderS
von Vätern und Söhnen richtig wieL gibt (Ermn I ^TT^f ^ ^^
Anm. 224 ). üirigens kennen tt£^2fa!&&^l£ l f 1 £ " 5 Vgh
halten höchlich entrüstete und gerade dieser plu söS se.nl r , ^ Sokrates Ver-
hoben. Xenophon nämlich erzahlt (Apol. a bif 3 SÄK?"? TZ™^
auf dieselben Vorgänge anzuspielen), An/tos sei g'gen Grates V 7 T°A K
aufgebracht worden, daß dieser sich in dxe Erziehunf z U mS T^?- " !
seinem Sohne angedeihen ließ: Sokrates h7l t ""? ' die An y tos
Gerberei abwendi/machen und ihn EZ£^E££Z SuESZ
aber sei dem entgegengetreten und habe auch seinen Willen «hirrW«*»*. V
£££ ht 1 ^ °?HT gegen Sokrates ÄSSÄ-JiXS
beherrscht, habe er spater die Anklage gegen den Philosophen angezettelt. - Der Sohn
nhon^R Ti ^r, beSOnderer Bemühungen wohl kaum Würdig: nach Xeno"
phons Bericht hat er bald nach dem Tode des Sokrates als Säufer geendet
F *~
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 87
vielleicht vor allem dieser Vater selbst, als hohe Vorbilder zuläng-
lichen Wissens vor Augen gestanden haben. Allein da er sie nun
mit immer weiter ausgreifenden Fragen bestürmte — vermutlich
sehr bald schon nicht mehr aus bloßer Wißbgierde, vielmehr weil
sich sein Selbständigkeitsdrang schon damals gegen die vorbehalt-
lose Anerkennung ihrer Überlegenheit aufgelehnt hat — , mußten
sie ihm immer häufiger die Antwort schuldig bleiben. Damit aber
hörten sie nun auf, ihm die höchsten Autoritäten zu sein, und er
erkannte als solche an Stelle der wirklichen Handwerksmeister ideale
Handwerksmeister an, die er mit wahrhaft zulänglichem Wissen
begabt dachte; vielleicht galt ihm dann auch sein Vater seines
unzulänglichen Wissens wegen bald nicht mehr als „wahrer" Vater,
indem für ihn der ideale Handwerksmeister auch die Stelle eines
idealen Vaters einzunehmen begann. Als ein solcher wahrer, weil
mit zulänglichem Wissen ausgestatteter Meister und vielleicht auch
Vater mag ihm eine Zeitlang Archelaos gegolten haben. Im ganzen
aber läßt sich das Leben des Sokrates als ein vergebliches Suchen
nach diesem wahren Meister verstehen: jedem Manne, der irgend-
wie hervorragte, mit einem gewissen Geltungsanspruch auftrat,
legte er seine Fragen vor und sobald dieser sie nicht zufrieden-
stellend beantwortete, war damit in den Augen des Sokrates sein
Geltungsanspruch vernichtet, bewiesen, daß auch dieser Mitunter-
redner kein wahrer Meister sei. Wir glaubten mutmaßen zu dürfen,
daß solche Erlebnisse für Sokrates nicht bloß eine Enttäuschung
bedeuteten, daß es seinem Unabhängigkeitsdrang schwer gefallen
wäre, einen andern Menschen als wahren Meister anzuerkennen,
und daß er daher — zumindest in seinen reiferen Jahren — seine
Fragen von vornherein darauf anlegte, mit ihnen den Geltungs-
anspruch des Befragten zu vernichten. Im Gegensatz zu dieser all-
gemeinen Unzulänglichkeit aller menschlichen Meister erschien
Sokrates als der eine wahre Meister der Verfertiger der Welt:
88 H. Gomperz
die göttliche Vernunft; diesen Weltmeister empfand er als höchste
Autorität, als seinen höchsten Schutzherrn, vielleicht geradezu als seinen
wahren Vater, auf ihn führte er auch die kurz verbietenden Stimmen
zurück, die er von Zeit zu Zeit zu vernehmen glaubte, und denen
er sich bedingungslos unterwarf; in der Hut dieses höchsten Schutz-
herrn geborgen war er sich jener vollen Unabhängigkeit von allen
Menschen, Gefahren, Schicksalswendungen bewußt, nach der seine
freiheitsdurstige Seele seit jeher gestrebt hatte (und wir vermuteten,
dieser Unabhängigkeitsdrang werde schon zu seiner ersten Auf-
lehnung gegen die Vorbilder seiner Kindheit sein Teil beigetragen
haben). Dieser Unabhängigkeit vom Schicksal aber konnte er sich
sicher fühlen, weil er über den leidenschaftlichsten seiner Triebe
Herr geworden war, das Schicksal ihm also nichts mehr, was ihm
lebenswichtig gewesen wäre, schenken oder rauben konnte. Dieser
Trieb war das gleichgeschlechtliche Verlangen nach dem Besitz
schöner Knaben. Dieses Verlangen empfand er unmittelbar als An-
tastung seines selbstherrlichen Dranges nach unbedingter Unab-
hängigkeit, wir vermuteten aber, es möge ihm zu seiner Über-
windung auch die innere Nachwirkung der in seinem Elternhause
über Verhältnisse solcher Art aller Wahrscheinlichkeit nach gefällten
Mißbilligungsurteile verholfen haben. Gewiß ist jedenfalls, daß
Sokrates jenen Trieb durch planmäßige Schulung seines Willens
zur Beherrschung seiner Bedürfnisregungen überwand, genauer, daß
er ihn auf diese Art zu leidenschaftlicher Fürsorge um die seelische
Tüchtigkeit der geliebten Knaben verklärte. So erzog er sich selbst
zu einem Leben der Selbstbeherrschung, und wir mutmaßten, die
inneren Kämpfe, die er hiebei durchlebte, möchten den wichtigsten
Anstoß dazu gegeben haben, daß seine Gedanken zeitlebens
vor allem um die Frage nach dem Wesen des Guten, Richtigen,
Sittlichen kreisten. Als das richtigste, weil glücklichste Leben be-
urteilte er jedenfalls das der Selbstbeherrschung, seine verklärte
L
Knabenliebe aber äußerte sich nun vor allem darin, daß er sich
unablässig mit Knaben umgab, gerade ihnen das Leben der Selbst-
beherrschung als das richtige, weil beglückende, anpries. Dadurch
nahm er nun seinen Jüngern gegenüber selbst die Stellung eines
Meisters, ja eines Vaters ein und eben hierauf vor allem (darauf
nämlich, daß die Jünglinge in ihm neben dem väterlichen Erzieher
auch den Liebhaber empfanden) beruhte die einzigartige Macht seiner
Einwirkung auf sie. Damit setzte er sich aber freilich in den Augen
der jungen Leute an die Stelle, die natürlicherweise deren Vätern
zukam, und diese suchten seiner Wirksamkeit ein Ende zu machen.
Da sie aber ganz richtig fühlten, daß des Sokrates Nichtachtung
der bloß tatsächlichen (nicht durch Wissen geadelten) Vaterschaft
aus einer Quelle floß, aus der auch seine gleich rücksichtslose
Nichtanerkennung aller bloß tatsächlichen Gesetzgebung und Gottes-
verehrung strömte (wir vermuteten, daß als diese Quelle nicht
allein Sokrates' fanatischer Erkenntnisdurst, vielmehr ebensosehr
auch sein ebenso mächtiger Unabhängigkeitsdrang zu betrachten
sei), so bereiteten sie ihm den Untergang durch eine Klage, die
ihm „Nichtanerkennung der Staatsgötter und unheilvollen Einfluß
auf die Jugend" schuld gab.
Was hier festgestellt und vermutet wurde, liefert, wie ich glaube,
gewisse Beiträge zum Verständnis einiger Züge der Persönlichkeit,
der Lehre, ja auch des Schicksals des Sokrates. Das heißt, es wurde
gezeigt oder doch einigermaßen glaubhaft gemacht, daß sich an
der Persönlichkeit, der Lehre, dem Schicksal des Sokrates gewisse
typische Züge beobachten lassen, die ihm mit vielen anderen
Menschen gemeinsam sind (z. B. gleichgeschlechtliche Veranlagung,
Bindung an die sittlichen Wertungen der ersten Jugend, Auflehnung
gegen die ursprünglichen Autoritäten u. dgl. m.). Eben darum
aber wäre nun die Meinung grundverkehrt, als wäre durch diese
go H. Gomperz
Beobachtungen und Vermutungen (auch ihre durchgängige Richtig-
keit vorausgesetzt) gerade das Eigentümliche der Sokratischen
Persönlichkeit, ihrer Äußerungen Und Wirkungen, irgendwie „er-
klärt": eben das Eigentümlichste und Persönlichste eines Menschen
kann ihm ja natürlich niemals mit anderen gemeinsam sein! An
zweien der erörterten Züge in Sokrates' Wesen wird dies, so scheint
mir, besonders deutlich.
Nehmen wir an, Sokrates habe die für ihn so bezeichnenden
Fragen von vornherein lediglich aus Wißbegierde gestellt, Wert
und Geltungsanspruch aller Menschen, mit denen er umging,
darnach beurteilt, in welchem Maße sie diese seine Wißbegier zu
befriedigen vermochten, so stoßen wir in dieser so früh und so
stark entwickelten Wißbegier von vornherein auf eine letzte Tat-
sache, die wir als Sokrates ganz persönlich bezeichnend ansehen
und somit unerklärt zurücklassen müssen. Neigen wir aber der
Ansicht zu, an jenen Fragestellungen sei auch Lust am Wider-
spruch beteiligt gewesen, die Entwertung aller Mitunterredner,
die ihm nicht befriedigend zu antworten wußten, sei auch durch
ein ganz eigentliches Auflehnungsbedürfnis des Sokrates zu erklären,
so müssen wir wieder in der besonderen Gestalt, die dieses
Auflehnungsbedürfnis bei Sokrates annahm, einen höchst persön-
lichen und insofern unerklärbaren Zug seines Wesens erblicken.
Zahllose Menschen haben sich ja gegen die Autoritäten ihrer Kind-
heit, auch zahllose Söhne gegen ihre Väter aufgelehnt ; sehr viel
geringer wird schon die Zahl derer sein, die vor allem die ge-
dankliche Unzulänglichkeit dieser Autoritäten zum Zielpunkt nahmen j
keinen zweiten Fall kenne ich, in dem die Auflehnung die Gestalt
unausgesetzter Fragen angenommen und dieses widerlegende, die
Unzulänglichkeit des Befragten bloßstellende Fragen sich förmlich
zu einer Forschungsmethode entwickelt hätte. Auch bei dieser Auf-
fassung also müssen wir hier zuletzt doch eine höchstpersönliche
Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen 91
Eigenart anerkennen; denn nur indem wir bei Sokrates einen
leidenschaftlichen Erkenntnisdurst einzigartiger Stärke vor-
aussetzen, glauben wir zu verstehen, wie dieser Erkenntnisdurst
seiner Auflehnung gegen die Autoritäten seiner Umgebung gerade
die Richtung verleihen mußte, die sie wirklich genommen hat.
Und wir müssen dem noch hinzusetzen: nur daß auch Sokrates*
ganze Zeit von mehr als gewöhnlichem Erkenntnisdurst erfüllt
war, erklärt uns den vielfältigen Widerhall, die mächtige Wirkung,
die seiner also gerichteten Auflehnung zuteil geworden ist.
Von den unzähligen Kindern ferner, die an ihren Vätern oder
ersten Erziehern irre geworden sind oder sich gegen sie aufgelehnt
haben, haben gar manche diese ihre ersten Vorbilder „gespalten",,
den wirklichen Vater oder Erzieher als Gegenstand der Ehr-
erbietung bei Seite geschoben, ein „ideales" Vorbild, oft einen
göttlichen Schutzherrn oder Vater, an seine Stelle gesetzt. Allein
wie wenigen ist es nun gelungen, allein auf das Gefühl der Ein-
heit mit diesem bloß gedachten, „idealen" Vater oder Schutzherrn
sich stützend, dem wirklichen Leben gegenüber wahre Unab-
hängigkeit und innere Freiheit zu erringen! Gewiß verfügen wir
für die Fähigkeit des Menschen, sich, auf bloß Gedachtes gestützt,
über die Wirklichkeit hinwegzusetzen, zu erheben, über einen eigenen
Namen: wir nennen sie Idealismus. Allein ist dieses Vermögen
deswegen weniger rätselvoll? Die Kraft, die der Idealist der Wirk-
lichkeit entgegensetzt, muß er zuletzt doch aus dem eigenen Innern
schöpfen: woher kommt sie ihm? Auch hier wieder stoßen wir,
so scheint's mir, auf eine letzte Tatsache, einen höchstpersönlichen
und insofern unzurückführbaren Zug im Wesen des Sokrates: wir
müssen ihm einen Unabhängigkeitsdrang von ganz außer-
gewöhnlicher Stärke zuschreiben; nur unter dieser Voraussetzung
können wir uns jenen „Idealismus" erklären, durch den er sich
von der ungeheuren Mehrzahl der übrigen Menschen unterscheidet.
I
9 2 H. Gomperz: Psychologische Beobachtungen an griechischen Philosophen
Und daß seine Zeit für ein Ideal reif war, das den Standesbegriff
der Freiheit verinnerlichte, den, der sich von der Herrschaft des
Schicksals selbst befreite, höher zu schätzen lehrte als den bloß
Freigeborenen (denn hierin konnte es der kleinste Bürger, ja selbst
der Knecht dem größten Adligen zuvortun) — dies war dann die
Bedingung dafür, daß Sokrates' innere Unabhängigkeit von allem
Äug eren die Jugend mächtig ergriff, ganz GKScEiSäna-äuf Jahr-
hunderte hinaus zur Nachfolge mitriß.
Fortschritte der Psychologie erweitern und vertiefen unsere Ein-
sicht in das Typische der Menschen; über die Geheimnisse der
Einzelseele verbreiten sie nicht eben sehr viel Licht. Aller solchen
'Fortschritte ungeachtet besteht wohl noch immer der anspruchs-
lose Satz zurecht: ein großer Mann ist jener, dessen Persönlich-
Eigenartigstes den Forderungen seiner Zeit begegnet. Auch an
Sokrates, so scheint's mir, bewährt er sich wieder.
-
c-** f
J-
7*
1^
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t
INTE RNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
SIGM. FREUD
GESAMMELTE SCHRIFTEN
typen — Formulierungen über die zwei Prinzipien des
psychischen Geschehens — Der Untergang des Ödipus-
komplexes) / Metapsycnologie (Einige Bemer-
kungen über d. Begriff des Unbewußten in der PsA. —
Triebe u. Triebschicksale— Die Verdrängung — Das Un-
bewußte — Metapsycholog. Ergänzung z. Traumlehre
— Trauer und Melancholie — Neurose und Psychose)
Studien iilicr Hysterie / Frühe Arbeiten
zur Neurose nlelire (1 893 — 98) (Ein Fall von
hypnot. Heilung nebst Bemerkungen über d. Entstehung
hystcr. Symptome durch den Gegenwillen — Charcot —
Quelques considt-rations pour unc etude comparntive
des paralysies motrices organ. et hysteriques — Die
Abwehr-Neuropsychosen — Ober die Berechtigung, von
d. Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex
als„ Angstneurose"obzutrennen - Obsessions et phobies
— Zur Kritik d. Angstneurose — Weitere Bemerkungen
über die Abwehr-Neuropsychosen — L'heredite et
l'el iologic des nevroses — Zur Ätiologie der Hysterie
— Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen)
n
Die Traumdeutung (l.—VI. Kapitel)
m
DieTraumdcutung (VII. u. Vttt. Kapltd.) / Über
den Tranm / Beiträge zur Traumlehre
(Märchenstoffe in Träumen — Ein Traum als Beweis-
mittel — Traum und Telepathie — Bemerkungen zur
Theorie und Praxis der Traumdeutung)
rv
Zur Psychopathologie ics Alltagslebens
/ Das Interesse an der Psychoanalyse /
über Psychoanalyse / Zur Geschickte
der psychoanalytischen Bewegung
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie /
Arbeiten zum Sexualleben und zur Neu-
rosenlehre (Meine Ansichten über die Rolle der
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen — Zur se-
xuellen Aufklärung der Kinder — Die „kulturelle"
Sexualmoral und die Nervosität — Ober infantile
Sexualtheorien — Beiträge z. Psychologie des Liebes-
lebens: Ober einen besonderen Typus der Objektwahl
beim Manne. Ober die allgemeinste Erniedrigung des
Liebeslebens. Das Tabu der Virginität — Die infantile
Genitalorganisation — Zwei Kinderlügen — Gedanken-
assoziation eines 4 jähr. Kindes — Hysterische Phan-
tasien und ihre Beziehung zur Bisexualität — Über
den hysterischen Anfall — Charakter und Analerotik
Ober Triebumsetzungen, insbesondere der Anal-
erotik — Die Disposition zur Zwangsneurose — Mit-
teilung eines der psychoanalytischen Theorie wider-
sprechenden Falles von Paranoia — Die psychogene
Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung — Eine
Beziehung zwischen einemSymbol und einemSymptom
— Ober die Psychogenese eines Falles von weiblicher
Homosexualität — „Ein Kind wird geschlagen" —
Das ökonomische Problem des Masochismus — Über
einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Pa-
ranoia u. Homosexualität — Ober neurot. Erkrankungs-
VI
Zur TecuniK. (Die Freudsche psychoanalytische
Methode — Ober Psychotherapie — Die zukünftigen
Chancen der psychoanalytischen Therapie — Ober
„wilde" Psychoanalyse — Die Handhabung der Traum-
deutung in der Psychoanalyse — Zur Dynamik der
Übertragung — Ratschläge für den Arzt bei der psy-
choanalytischen Behandlung — Ober fausse recon-
naissance [„dejä raconte"] während der psychoana-
lytischen Arbeit — Zur Einleitung der Behandlung
— Erinnern, Wiederholen u. Durcharbeiten — Bemer-
kungen über die Übertragungsliebe— Wege der psycho-
anal yt. Therapie — Zur Vorgeschichte der anal yt. Tech-
nik) / Zur Einführung des Narzißmus /
Jenseits d. Lustprinzips / Massenpsycho-
logie u. Ich-Analyse / Das Ich u. das Es
VII
Vorlesungen zur Einführung in die
Psyckoanalyse
vnr
Krankengeschichten (Bruchstück einer Hysterie-
analyse - Analyse der Phobie eines 5 jähr. Knaben
— Ueber einen Fall v. Zwangsneurose — Psa. Bemerkun-
gen über einen autobiograph. beschriebenen Fall v. Para-
noia — Aus der Geschichte einer infantilen Neurose)
LX
Der Witz und seine Beziehung zum
UnbevuJjten/DeAv"ahn und die Träume
in W. Jensens „Gradiva" / Eine Kind-
Leitserinnerung des Leonardo da Vinci
X
Totem und Tabu/ Arbeiten zur Anwen-
dung der Psychoanalyse (Tatbestandsdia-
gnostik und Psychoanalyse — Zwangshandlungen und
Keligionsübong — Ueber den Gegensinn der Urworte
— Der Dichter und das Phantasieren — Mytholo-
gische Parallele zu einer plastischen Zwangsvorstellung
— Das Motiv der Kästchenwahl — Der Moses des
Michelangelo — Einige Charaktertypen aus der psy-
choanalytischen Arbeit — Zeitgemäßes über Krieg und
Tod— Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse — Eine
Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahrheit" —
Das Unheimliche — Eine Teufelsneurose im 17. Jahrh.)
XI
Nachträge / Bibliographie / Register
DieBändelV, V, Vllu. VIII erscheinen im Mal 19 3 4, die anderen Ende ipaS
IMAG O -BÜ CHER
T.
DER KÜNSTLER
ANSÄTZE ZU EINER SEXUAL-PSYCHOLOGIE
• Von Dr. OTTO RANK
Das Werk Ranks behandelt in lichtvoller Darstellung
entscheidende Fragen. Der Weg ist kühn -aber kein
Marsch auf der Straße. Die Zeit.
Viele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und bei-
nahe rücksichtslose Meinungen. Es gehört eine große
Freiheit des Geistes und eine sehr schatzbare Unbe-
fangenheit dam. Rank hat auf dem Wege nur Seelen-
schau des Künstlers eine ganze Menge psychologischer
Probleme auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft una
mit schöner Prägnanz demonstriert.
Münchner Allgemeine Zeitung.
II.
TOLSTOIS KINDHEITS-
ERINNERUNGEN
EIN BEITRAG ZU FREUDS LIB1D0THE0RIE
Von Dr. N. OSSIPOW
Auf der gigantischen Persönlichkeit dieses großen
Russen, erschütternd entgegenschimmernd aus seinem
künstlerischen Schaffen, fast nacktgeschurft in dem
Autobiographischen, ruht hier zum erstenmal der
geschärfte und geläuterte Blick psychoanalytischer
Erkenntnis. Der Mensch und Künstler selbst ein
Zergliederor, selbst ein Träger genialischer licien-
psychologic, tritt hier in den Leuchtkegel modernster
wissenschaftlicher Seelencinsicht In merkwürdig«-
Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer
Sexualgrübelei mit denen der psychoanalytischen fcros-
lchre Die Studie beansprucht, sowohl von den fae-
nießern Tolstoischer Kunst willkommen geheißen zu
werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten
Leser brennendes Interesse vorzufinden.
ni.
DER EIGENE UND DER
FREMDE GOTT
ZUR PSYCHOANALYSE DER
RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG
Von Dr. THEODOR REIK
Inhalt: Über kollektives Vergessen. — Jesus und
Maria im Talmud. — Der hl. Epiphanius verschreibt
sich. — Die wiederauferstandenen Götter. — Das Evan-
gelium de« Judas Ischkarioth. — Die psychoanalytische
Deutung des Judasproblems. — Gott und Teufel. —
Die Unheimlichkeit fremder Götter und Kulte. — Das
Unheimliche aus infantilen Komplexen. — Die Äqui-
valenz d. Triebgegensatzpaare. —Über Differenzierung.
Diese Arbeiten sollen, schreibt der Verfasser in der
Vorbemerkung, „einen Versuch darstellen, von ana-
lytischen Gesichtspunkten aus die Erscheinungen de *
religiösen Feindseligkeit und Intoleranz psychologisch
zu erklären und zugleich den tieferen Ursachen der
religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen. Woferne
die Konvergenz der Ergebnisse in diesen von ver-
schiedenen Seiten hergeführten Untersuchungen einen
Schluß auf die Richtigkeit des Ganzen zuläßt, wurde
ich hoffen, daß die vorliegende Aufsatzreihe ein
wichtiges Stück der religiösen Entwicklung in einem
neuen Lichte erscheinen läßt."
IV.
DOSTOJEWSKI
Von JOLAN NEUFELD
Wie ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt
ist und dabei an einer Verschwörung gegen den
Zaren teilnimmt? Wie kann jemand tief religiös und
zugleich absolut ungläubig sein? Woher kommt es,
daß ein Mensch, der mit jeder Nervenfaser an seiner
Heimatscholle klebt, Monate, ja Jahre im Auslande
verbringt? Woher kommt es, daß er dem Gelde un-
unterbrochen nachjagt, um es dann wie etwas voll-
kommen Wertloses zum Fenster hinauszuwerfen?
Wie das Leben, so ist auch die Dichtung Dostojewskis
enigmatisch. Rätselhafte Charaktere, entgleiste Perverse
sind die Helden seiner Romane und geben uns Rätsel
über Rätsel auf, die mit der BewußlseinspsycholoBie
überhaupt nicht lösbar sind. Der Zauberschlussel der
Psychoanalyse aber sprengt die Schlösser.
V.
GEMEINSAME
TAGTRÄUME
Von HANNS SACHS
Als die Psychoanalyse auf die entscheidende Bedeutung
der Tagträume für den Lebensweg und die LlebeswaiU
des Einzelnen hinwies, traf sie wenigstens an dieser
einen Stelle mit einer längst gangbaren Überzeugung
zusammen, daß nämlich die lagtraume die allgemein
menschliche Vorstufe seien, von der aus sich in be-
gnadetem Sonderfalle der Aufstieg zum Kunstwerk,
zur Dichtung vollziehe. Sachs weist nun die unbe-
wußten Quellen der Tagträume nach, und untersucht
eingehend die Frage, wie sich der Tagtraum zum
Kunstwerk verwandelt, wodurch sich der Dichter vom
Neuroner, vom Verbrecher, vom Führer der Masse
und schließlich in der Literatur vom Pfuscher und Nach-
ahmer unterscheidet. Er weist auf den Zusammenhang
zwischen dem nach EnÜastung lechzenden Schuldbe-
wußtsein und dem zur Aufgabe des Ichs und zur
Verschiebung auf das Werk bereiten Narzißmus hin.
Im Besonderen analysiert er dann in zwei breit an-
gelegten Studien zwei Kunstwerke, die beide Anzeichen
und Vorboten einer Produküonsheramung im Leben
ihrer Schöpfer darstellen: Schillers„Geistersener-
und Shakespeares „Sturm". Die Psychoanalyse
entwickelt sich „nach dem Gesetz nach dem sie ange-
treten": da sie aus der Erforschung der Störungen er-
wachsen ist, die der unvollkommenen Bewältigung un-
bewußter Wünsche ihr Dasein verdanken, so vermag sie
sich den Problemen der künstlerischen Schöpfung auch
am besten von der Seite der Hemmungen her zu nähern.
VI.
DIE AMBIVALENZ
DES KINDES
Von Dr. HANS GUSTAV GRABER
Aus dem Inhalt: Ambivalenz bei Bleuler; bei Freud.
Der Urhaß. Die Elternbindung. Der Geschlechtsunter-
schied. Das Lustverbot. Tierphobien. Das Uber-Ich.
VII.
PSYCHOANALYSE
UND LOGIK
Von Dr. I. HERMANN
Ausdemlnhalt: Dualschritte aus der Entwicklungs-
psychologie; in der Biologie; in der schönen Literatur.
Der Umkehrschritt. Der Abwenduiigsscliritt. Der
Schritt des Sinkens. Über Sophismen.
INTERNATIONALER PSYCH OAALYTNISCHER VERLAG
Wien VII. Andreasgasse 3
.