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Full text of "Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung [2., wesentlich erweiterte Auflage]"

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SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE 


HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 
FÜNFTES HEFT 





DER MYTHUS VON DER 
GEBURT DES HELDEN 


VERSUCH EINER 
PSYCHOLOGISCHEN MYTHENDEUTUNG 


VON 
Dr. OTTO RANK 


ZWEITE, WESENTLICH ERWEITERTE AUFLAGE 





LEIPZIG UND WIEN 


FRANZ DEUTICKE 
1922 


Verlags-Nr. 2742 


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BOSTON 
PSYCHOANALYTIC 
INSTITUTE 


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GIFT OF: 


John H. Taylor 








SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE 








DER MYTHUS VON DER 
GEBURT DES HELDEN 


VERSUCH EINER 
PSYCHOLOGISCHEN MYTHENDEUTUNG 


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> VON 
: Dr. OTTO RANK 


ZWEITE, WESENTLICH ERWEITERTE AUFLAGE 





LEIPZIG UND WIEN 
FRANZ DEUTICKE 
1922 




























































































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VORZUGSAUSGABE 
(85 Exemplare) | 
EXEMPLAR NO. E28= 


2 PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 


INTERNATIONAL 





BuchÀdruckerei Carl Fromme, @. m. b. H., Wien V, 





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Vorbemerkung zur ersten Auflage. 


Die vorliegende Untersuchung verdankt ihre Entstehung, 
einer Anregung Professor Freuds, dem ich mich dafĂŒr, sowie 
fĂŒr seine weitere UnterstĂŒtzung und stetige Teilnahme an 


dem Fortschreiten der Arbeit auch vor der Öffentlichkeit zu 


danken verpflichtet fĂŒhle. 
Wien, Weihnachten 1908, 


Der Verfasser. 





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Zur zweiten Auflage. 


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In dem langen Zeitraum seit dem ersten Erscheinen dieser 
Arbeit hat die in steter Weiterentwicklung begriffene psycho- 
analytische Lehre gewaltige Fortschritte gemacht, deren WĂŒr- 
digung in bezug auf unser Thema nach zwei Richtungen 
geboten erscheint. 

Einmal hat sich dieser erste Versuch einer wirklich 
psychologischen Mythendeutung selbst als vollberechtigt und 
fĂŒr das VerstĂ€ndnis weiterer ZusammenhĂ€nge aufschlußreich 
erwiesen, und ist, als gesicherter Besitz unseres Wissens vom 
menschliehen Seelenleben, die Grundlage weiterer Àhnlich ge- 
richteter Arbeiten — besonders des Verfassers — geworden. 

Anderseits hat aber auch fĂŒr einige Motive und Probleme, 
die seinerzeit keine volle AufklÀrung finden konnten, unser 
seitheriger Zuwachs — sowohl an psychoanalytischen Erkennt- 
nissen wie an mythologischem und folkloristischem Material — 
Lösungen gebracht, die sich dem Rahmen der unverÀnderten 
Grundauffassung so gut einfĂŒgen, daß es nicht ĂŒberflĂŒssig 
scheint, hier besonders auf sie aufmerksam zu machen. 

Vornehmlich ein neuer Gesichtspunkt ist es, der besondere 
Bedeutung beansprucht, weil er ein Hauptmotiv des Helden- 
mythus restlos verstÀndlich macht: nÀmlich der Totemismus, 
dessen psychoanalytische AufklÀrung durch Freud das seinerzeit 
wenig verstandene Motiv der „hilfreichen Tiere” als den 
„Familienroman” des Urzeitmenschen erkennen lĂ€ĂŸt (S. 116 ff.). 

Im Zusammenhang damit sei gleich hervorgehoben, daß 
wir eben gerade auch durch die analytische Erforschung völker- 
psychologischer Erscheinungen, wie sie Freud in „Totem und 


vI VORWORT. 





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Tabu” (1913) angebahnt hat, das urgeschichtliche und kollek- 
tive Moment besser verstehen gelernt haben. In diesem Sinne 
wurden neben dem individuellen und phantastischen Element 
in der Mythenbildung die realen und kulturellen Faktoren 
mehr als frĂŒher berĂŒcksichtigt (siehe S. 118 ff... Zu diesem 
Zwecke mußte aber auch außer dem rein mythologischen 
Material volkskundliches — sowohl der Natur- als auch der 
Kulturvölker — herangezogen werden, wie beispielsweise bei der 
Deutung des Rettungsmotivs in der Mosessage die primitiven 
BrÀuche der Kindesaussetzung, respektive der Scheinaussetzung 
(S. 129 ff), oder beim Nachweis der Geburtssymbolik der 
Volksaberglaube, der die menschliche „Nachgeburt” betrifft 
(S. 102 £.). ° 

Neben diesen und Àhnlichen ErgÀnzungen nach der kul- 
turhistorischen Seite hat aber auch der Stoff eine Vertiefung 
und Erweiterung im eigentlich psychologischen Sinne erfahren. 
Der Kern des Aussetzungesmythus, die Geburt aus dem 
Wasser, hat durch ausfĂŒhrliche Mitteilung der sogenannten „Ge- 
burtstrĂ€ume” (S. 83 bis 96), des Kinderglaubens der Erwach- 
senen (S. 97 bis 101) und der Symbolik der antiken Welt 
(S. 101 ff,) eine so breite Basis gewonnen, daß sie sich fĂŒr 
ein weiteres StĂŒck psychologischer Mythendeutung als trag- 
fÀhig erwies. 

Vor allem die an das Rettungsmotiv anknĂŒpfende Sint- 
flutsage (S. 134 f.) mit ihren Fortbildungen (Verschlingungs- 
mythe) und AuslĂ€ufern (GlĂŒcksmĂ€rchen, S. 138 f), auf die in 
der ersten Auflage bloß hingedeutet war, ist hier in den 
gebĂŒhrenden Znsammenhang gestellt, wenngleich dadurch viel- 
leicht die KontinuitÀt des Hauptthemas leidet, 

Endlich sind auch die individual-psychologischen Streif- 
lichter am Schluß der Arbeit etwas stĂ€rker aufgesetzt und durch 
Hinweis auf die den Familienroman ergÀnzende Rettungs- 
phantasie klarer gemacht worden (S. 158). 

Das eigentliche Material der Heldenmythen selbst wurde 
nur um wenige ZusÀtze vermehrt, von denen hier besonders 
auf Dionysos (S. 30), Kullerwo, diesen interessanten VorlÀufer 
Hamlets (S. 48), Trakhan (S. 50) und Tristan (5. 70) hinge- 


4 








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wiesen sei; auch auf die ErgÀnzungen zu Sargon (S. 16) und 
Moses (S. 19) sei noch aufmerksam gemacht. 

Die vor dreizehn Jahren publizierte Arbeit des Verfassers 
erschien im Jahre 1913 im „Journal of Nervous and Mental 
Disease” in erweiterter und verbesserter Form in englischer 
Sprache, ĂŒbersetzt von den Doktoren Robbins und Jelliffe 
(Buchausgabe in „Nervous and Mental Disease Monograph 
Series”, Nr. 18, New-York 1914). 

Im FrĂŒhjahr 1915 plante Herr Professor M. Levi- 
Bianchini (Salerno) eine italienische Übersetzung, die jedoch 
infolge der KriegsverhĂ€ltnisse erst kĂŒrzlich herausgegeben 
werden konnte („Biblioteca Psicoanalitica Italiana”, Nr. 4, 
Nocera Inferiore, 1921); ihr liegt der gleiche Text wie der 
amerikanischen Ausgabe zugrunde. 

So recht im Gegensatz zu_diesem Ă€ußeren Erfolg der 
Arbeit muß konstatiert werden, daß die eigentliche Fachwissen- 
schaft, der sie dienen sollte, ihr bisher ziemlich verstÀndnislos 
gegenĂŒbergestanden hat. Wenigstens ist dem Verfasser keine 
Stimme bekannt geworden, die das Gegenteil bewiesen hÀtte. 
Vielmehr ist an den wenigen Stellen, wo sich in der offiziellen 
Wissenschaft eine AnnÀherung an die hier dargelegten Gesichts- 
punkte zeigt, eine Vorsicht bemerkbar, die von einer sonder- 
baren Auffassung wissenschaftlicher Forschung zeugt, deren 
Aussterben wir geduldig abwarten können. 

Und so möge es denn nicht als Anmaßung ausgelegt 
werden, wenn die Leser, die an einer Weiterverfolgung der in 
dieser Arbeit dargelegten Ideen interessiert sind, auf die seither 
erschienenen mythologischen Publikationen des Verfassers, ins- 
besondere auf: „Die Lohengrinsage” (1913), „Das Inzest- 
motiv in Dichtung und Sage” (1912) und Psychoanaly- 
tische BeitrĂ€ge zur Mythenforschung” (1919) hingewiesen 
werden. 


Mödling, im Sommer 1921. 
Dr. Otto Rank. 





I. 


Fast alle bedeutenden Kulturvölker, wie die Babylonier, 
Ägypter, Israeliten, Inder, Iranier, Perser, Griechen, Römer 
Germanen und andere, haben uns Überlieferungen hinterlassen, 
in denen sie frĂŒhzeitig ihre Helden, sagenhaften Könige und 
FĂŒrsten, Religionsstifter, Dynastie-, Reichs- und StĂ€dtegrĂŒnder 
kurz ihre Nationalheroen, in zahlreichen Dichtungen und Sagen 
verherrlichen. Besonders dieGeburts-undJugendgeschichte 
dieser Übermenschen erscheint mit phantastischen ZĂŒgen aus- 
gestattet, deren verblĂŒffende Ähnlichkeit, ja teilweise wörtliche 
Übereinstimmung bei verschiedenen, weit getrennt und völlig 
unabhÀngig voneinander lebenden Völkern lÀngst bekannt und 
vielen Forschern aufgefallen ist. 

Die Frage nach dem Grunde solcher weitgehenden Ana- 
logien in den wesentlichen GrundzĂŒgen der mythischen Er- 
zĂ€hlungen, die durch die Übereinstimmung gewisser Details. und 
durch deren Auftreten in fast allen Mythengruppen noch 
rÀtselhafter erscheinen, . ist ein Hauptproblem der Mythen- 
forschung geworden und auch noch bis heute Problem ge- 
blieben. Die mythologischen Theorien, die es unternommen 
haben, eine ErklÀrung dieser auffÀlligen Erscheinung zu geben, 
lassen sich im großen nach drei Hauptgesichtspunkten grup- 
pieren!): 

1. Die von Adolf Bastian (Das BestÀndige in den 
Menschenrassen und die Spielweise ihrer VerÀnderlichkeit, 
Berlin 1868) aufgestellte „Völkeridee”, eine Theorie der Ele- 


1) Eine kurze und ziemlich vollstĂ€ndige Übersicht ĂŒber die allgemeinen 
Theorien der Mythologie und ihre Hauptvertreter findet man in Wundts 
Völkerpsychologie, Bd. II, Mythus und Religion, Teil I (Leipzig 1905), 8. 577 uff. 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. 2, Aufl. 1 


























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2 DIE MYTHOLOGISCHEN THEORIEN 


mentargedanken, wonach die Übereinstimmung der Mythen 
aus der gleichförmigen Anlage des Menschengeistes und der 
zu allen Zeiten und an allen Orten innerhalb gewisser Grenzen 
gleichen Art seiner BetÀtigung notwendig folge; eine An- 
schauungsweise, die Adolf Bauer (Die Kyrossage und Ver- 
wandtes, in den Sitzungsber. der Wiener Akademie d. Wiss,, 
Bd. 100, 1882, S. 495 u. ff.) zur ErklÀrung der weiten Ver- 
breitung unseres Heldenmythus nachdrĂŒcklich geltend ge- 
macht hat; 

2. das zuerst von Th. Benfey (Pantschatantra, 2 Bde., 1859) 
fĂŒr die weitverbreiteten Parallelformen der MĂ€rchen aufgestellte 
ErklÀrungsprinzip der Urgemeinschaft, wonach die MÀrchen, 
an einem begĂŒnstigten Punkte der Erde (in Indien) entstanden, 
zunÀchst von den urverwandten (also den indogermanischen) 
Völkern aufgenommen, mit Beibehaltung der gemeinsamen 
UrzĂŒge weiterentwickelt und in letzter Linie ĂŒber die ganze 
Erde ausgestrahlt sein sollen. Die Anwendung dieser Er- 
klÀrungsweise auf die weite Verbreitung der Heldenmythen hat 
Rudolf Schubert (Herodots Darstellung der Cyrussage, 
Breslau 1890) durchgefĂŒhrt; 

3. die moderne Theorie der Wanderung oder Ent- 
lehnung, nach der die einzelnen Mythen von bestimmten 
Völkern (vornehmlich von den Babyloniern) ausgehen und dureh 
mĂŒndliche Überlieferung (Handelsverkehr etc.) oder literarische 
Beeinflussung von anderen Völkern aufgenommen werden sollen 
(man vgl. Eduard Stucken: Astralmythen, Leipzig 1896 bis 
1907; besonders Teil V: Mose, und Heinrich Leßmann: Die 
Kyrossage in Europa; wissensch. Beil. z. Jahresbericht d. stÀdt. 
Realschule zu Charlottenburg, Ostern 1906). 

Es lĂ€ĂŸt sich leicht zeigen, daß die moderne Theorie der 
Wanderung und Entlehnung nur eine unter dem Einfluß un- 
vereinbaren Materials erfolgte Modifizierung der Benfeyschen 
Theorie ist. Ausgebreitete Untersuchungen neuerer Forscher 
haben es nahegelegt, daß eher Babylonien nicht Indien als die 
Urheimat der Mythen angesehen werden könne 1), und daß die 


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‘) „Sobald einmal alle Übereinstimmungen als Übertragungen gedeutet 
werden, wird man jeweils in das Gebiet, dessen Kultur als die Àltere eilt, 








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UND IHRE SCHEINBARE GEGENSÄTZLICHKEIT. 3 


mythischen ErzĂ€hlungen ĂŒbrigens auch nicht von einem Punkt | 
ausgestrahlt, vielmehr kreuz und quer ĂŒber die ganze bewohnte 
Erde gewandert sein dĂŒrften. WĂ€hrend also der Gedanke der | 
AbhÀneigkeit mythischer Gebilde voneinander, ein Gedanke, | 
den Braun!) als „Grundgesetz der menschlichen Geistesnatur” 
dahin verallgemeinerte, daß „nie etwas erfunden werde, solange 
man kopieren könne”, derart in den Vordergrund gerĂŒckt 
wurde, schien dagegen die vor mehr als 25 Jahren von Bauer 
nachdrĂŒcklich vertretene Theorie der Elementargedanken in 
‘ Verfall zu geraten. Nicht nur Schubert, wie es scheint ein 
persönlicher Gegner Bauers, sondern auch die modernsten 
Forscher, wie namentlich Winckler und Stucken, lehnen sie 
bedingungslos ab und halten an der Wanderung und Ent- 
lehnung fest. Mag sich nun diese auch in vielen FĂ€llen nachweisen 
lassen, so muß man sich, wo das nicht gelingt, entschließen, auch 
andere Gesichtspunkte gelten zu lassen und darf sich den 
Weg weiterer Forschung nicht durch den in gewissem Sinne 
unwissenschaftlichen Standpunkt des sonst so verdienstvollen 
Wincekler versperren, der meint: „Wenn wir Menschen und 
ihre Erzeugnisse, die sich genau entsprechen, an weit ausein- 
ander liegenden Punkten der Welt finden, so mĂŒssen wir daraus 
schließen, daß sie dorthin gewandert sind. Ob wir wissen wie 
und wann, kommt fĂŒr die Annahme der Tatsache selbst nicht 
in Betracht” ?). 

Wir können vor allem den scharfen Gegensatz zwischen 
den verschiedenen Theorien und ihren Vertretern durchaus 
nicht anerkennen, da neben der Elementargedankentheorie die 
Gesichtspunkte des gemeinsamen Urbesitzes und der Wanderung 
Raum haben. Im ĂŒbrigen lautet ja das Problem in letzter Linie 
den Ursprung der mythologischen Vorstellungen verlegen, Diese Ansicht 
fĂŒhrt daher leicht zur allgemeinen Wanderhypothese” (Wundt, 1. c., 5. 509, 
Anmerkung). | | 

ı) Naturgesch. d. Sage. RĂŒckfĂŒhrung aller religiösen Ideen, Sagen, 
Systeme auf ihren gemeinsamen Stammbaum und ihre letzte Wurzel. 2 Bde, 
MĂŒnchen 1864—1865. 

2) „Die babylonische Geisteskultur in ihren Beziehungen zur Kultur- 
entwicklung der Menschheit” (Bd. 15 der Sammlung: Wissenschaft u. Bil- 
dung), Leipzig 1907, 8. 47. 

1* 


— 


4 DIE AUFFASSUNG DER HISTORIKER, MYTHOLOGEN, ETHNOLOGEN. 











nicht, woher und auf welche Weise der Stoff zu einem be- 
stimmten Volke gekommen sein mag, sondern woher er ĂŒber- 
haupt stammt. Durch die genannten Theorien könnte nur 
die Mannigfaltigkeit und Verbreitung, nicht aber die Herkunft 
des Mythus erklÀrt werden. Wie sehr sich selbst Schubert, 
der erbittertste Gegner von Bauers Auffassung, dieser Einsicht 
nicht verschließen kann, zeigen Grundprinzip und Resultat 


seiner Schrift: daß nĂ€mlich alle diese mannigfachen Sagen auf 


ein einziges uraltes Vorbild zurĂŒckgingeen. Vom Ursprungdieses 
Vorbildes weiß er allerdings nichts zu sagen. Ebenso neigt aber 
auch Bauer, der auf Schuberts AusfĂŒhrungen scharf repli- 
zierte!), dieser vermittelnden Auffassung zu, wenn er wieder- 
holt darauf hinweist, daß man trotz der mehrfachen Entstehung 
unabhÀngiger ErzÀhlungen auch der weitgehenden und viel- 
verzweigten Entlehnung sowie der ursprĂŒnglichen Gemein- 
samkeit der Vorstellungen bei verwandten Völkern ihr Recht 
lassen mĂŒsse. Neben diesen Zeugnissen der Historiker hat auch 
ein Vertreter der modernen Mythologie, Heinrich Leßmann, 
in einer programmatischen Schrift: Aufgaben und Ziele der 
vergleichenden Mythenforschung (Mytholog. Bibl., Bd. I, Heft 4, 
Leipzig 1908) diesen vermittelnden Standpunkt, jedoch mit 
strengem Ausschluß der Annahme von Elementargedanken, ein- 
genommen, indem er anerkennt, daß Urverwandtsghaft und 
Entlehnung einander nicht ausschlössen. Von ethnologischer 
Seite ist das gemĂ€ĂŸigte Urteil des frĂŒhverstorbenen Amerika- 
nisten Ehrenreich?) bemerkenswert, der „Wanderung, Ent- 
lehnung und selbstÀndige Entstehung an sich gleichberechtigt 
und von jeher nebeneinander wirksam” erklĂ€rt. Neuestens hat 
auch Frazer?°), gerade mit Beziehung auf den uns hier be- 
schĂ€ftigenden Mythenkreis, seine auf reiches Material gegrĂŒn- 
dete Ansicht ĂŒber dieses Problem dahin zusammengefaßt, daß 
er Entlehnung (Nachbildung) fĂŒr ebensogut möglich halte wie 


1) Zeitschr. f. d. österr. Gymn. 1891, S. 161 u, ff. Schuberts Er- 
widerung steht ebenda, S, 574 u. ft. 

2) „Die allgemeine Mythologie und ihre ethnol. Grundlagen.” Leipzig 
1910, 5. 265. (Mythol. Bibl. IV, 1.) 

°») The Folk-Lore in the Old Testament, London 1919. 





2 


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DAS PSYCHOLOGISCHE PROBLEM, 1) 





unabhÀngige Herkunft einer gemeinsamen Wurzel der Volks- 
phantasie (popular imagination). Er enthÀlt sich jeder Ent- 
scheidung, verweist aber darauf, daß beispielsweise die indischen 
Parallelen, bei denen man schwerlich eine Kenntnis der semi 
tischen Quellen voraussetzen könne, doch mehr fĂŒr die unab- 
hÀngige Entstehung zu sprechen scheinen. 

Eine endgĂŒltige Entscheidung in dieser Frage, soweit sie 
ĂŒberhaupt anzustreben oder zu finden ist, kann unseres Er- 
achtens nur die Psychologie auf Grund des Materials bringen, 
das Mythologen, Ethnologen und Historiker ihr liefern, deren 
völlige psychologische Unorientiertheit ihren Forschungen nur 
zum Vorteil gereichen könnte, wenn sie sich kein abschließendes 
Urteil anmaßten. Die psychologische KlĂ€rung des Problems 
hat Wundt angebahnt, der, fĂŒr kompliziertere MotivĂŒberein- 
stimmungen die Wanderung zugestehend, meint: „FĂŒr das 
Bild des mythologischen Denkens der primitiven Völker ist 
aber die Frage solcher vereinzelter Beimengungen relativ un- 
erheblicher, weil doch nur das dauernd festgehalten 
werden kann, was ihrer eigenen Stufe mythologischen 
Denkens entspricht.” (S. 62.) „WĂŒrden doch jene leisen Er- 
innerungen an vorausgegangene ErzÀhlungen schwerlich aus- 
reichen, den gleichen Stoff neu zu gestalten, wenn nicht die 
Motive dazu selbst gegenwÀrtig blieben, die eben deshalb aber 
auch ohne solehe Assoziationen einen in den Grundmotiven 
ĂŒbereinstimmenden Inhalt neu erzeugen können” (Völkerpsychol,, 
II. Bd., 3. Teil, 1909, S. 285). Jedenfalls bleibt das rein psycho- 
logische Problem der Entstehung des Mythentypus bestehen, 
dessen Lösung uns gleichzeitig in den Stand setzt, auch die 
auf dem Wege der Wanderung erfolgte Aneiznung eines Stoffes 
aus zureichenderen GrĂŒnden als dem des bloßen Wohlgefallens 
zu verstehen. 

Wir wollen also gerade die Frage nach der Art der Ver- 
breitung dieser Mythen, welche die frĂŒher genannten Forscher 
eigentlich beschÀftigt hat, zunÀchst ganz beiseite lassen und 
uns auf die ErklÀrung der Herkunft des Heldenmythus selbst be- 
schrÀnken. Denn aus dem Material gewinnt man den Eindruck, 
daß — wie immer man sich zur Frage des Ursprunges dieser 





6 KRITIK DER HIMMELSMYTHOLOGIE. 


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mythischen ErzĂ€hlungen stellen mag — eine .seradezu auf- 
dringliche Tendenz besteht, alle heroischen Persönlichkeiten in 
das Schema einer bestimmten Geburtssage zu zwÀngen, eine 
Tendenz, die sogar noch bei zahlreichen Romanhelden unserer 
Zeit zum Ausdruck kommt. Es verliert damit die Entscheidung 
zwischen Wanderung und Neuschöpfung an Interesse und das 
Problem der OriginitÀt tritt mÀchtig in den Vordergrund, das 
der allerdings „lunar” beeinflußte Ehrenreich in die Frage 
faßt: „Warum werden die scheinbar so verschiedenen MĂ€rchen- 
und Mythenhelden magisch empfangen und geboren, warum 
werden sie in KÀsten, Körbe, Futterschwingen, Krippen und 
Muschelschalen gelegt und in diesen oft dem Wasser ĂŒber- 
geben ?”!) 

Ein solches Suchen nach den psychischen Motiven der 
Mythenbildung wird aber notwendigerweise auch ĂŒber den 
Inhalt dieser Mythen tiefere AufschlĂŒsse geben mĂŒssen, als 
die in ihren fachlichen Gesichtskreis eingeengten Mythologen 
wahrhaben, die darin, der immer noch herrschenden natur- 
mythologischen Deutungsweise folgend, lediglich personifizierte 
NaturvorgÀnge sehen wollen, Der neugeborene Held ist etwa 
die junge, aus dem Wasser auftauchende Sonne, der sich bei 
ihrem Aufgeang Wolken hemmend entgegenstellen, die aber doch 
schließlich alle Hindernisse siegreich ĂŒberwindet (nach Brod- 
beck, Zoroaster, Leipzig 1893, S. 138). Ob man, wie es die ersten 
Vertreter dieses Deutungsverfahrens taten, vornehmlich die atmo- 
sphÀrischen Naturerscheinungen heranzieht?) oder, wie neuere 
Forscher, die Mythen in einem engeren Sinne als Astralmythen 
auffaßt (vgl. Stucken, Winckler u. a.), ist kein so wesentlicher 
Unterschied wie den Vertretern dieser einzelnen Richtungen 
scheint. Auch können wir keinen Fortschritt darin erblicken, 
wenn die rein solare Deutung, wie sie hauptsÀchlich Frobenius 
vertrittÂź), bekĂ€mpft wird und man sich, wie G. HĂŒsing in seinen 

ı) Allg. Myth. 48. 

2) Als ein besonders abschreckendes Beispiel einer Art dieses Ver- 
fahrens sei hier die unseren Sagenkreis streifende Arbeit des bekannten 
Naturmythologen Schwartz: Der Ursprung der Stamm- und GrĂŒndungs- 


sage Roms unter dem Reflex indogermanischer Mythen (Jena 1878) genannt. 
3) Das Zeitalter des Sonnengottes. Berlin 1904. 





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DER ALLGEMEIN-MENSCHLICHE INHALT DER MYTHEN. 7 





BeitrÀgen zur Kyrossage (Berlin 1906), auf den von Siecke!) 
angebahnten Standpunkt stellt, alle Mythen seien ursprĂŒnglich 
Mondmythen gewesen, eine Anschauungsweise, die Siecke als 
die einzig berechtigte und evidente auch fĂŒr die Auffassung 
der Geburtsmythen der Helden hingestellt hat?). 

Wir ersparen uns hier eine Kritik dieser nur in einem 
gewissen Sinne zutreffenden, im ganzen aber doch unbefrie- 
digenden und einseitigen ErklÀrungsweise, da wir spÀter aus- 
fĂŒhrlich auf die Deutung der Mythen selbst eingehen werden?) 
Wir sehen zunĂ€chst auch davon ab, daß uns die Himmels- 
mythologie keinen Einblick in die seelischen Motive der Mythen- 
bildung gewÀhrt, und möchten vorlÀufig nur das Bedenken er- 
heben, ob die ZurĂŒckfĂŒhrung auf astronomische VorgĂ€nge dem 
Inhalt dieser Mythen voll entspricht, oder ob nicht vielleicht 
eine menschliche Deutung weit klarere und natĂŒrlichere Ver- 
hÀltnisse ergÀbe. Da ist es nun die vielgeschmÀhte Theorie der 
Elementargedanken, die uns in gewissem Sinne auf eine bisher 
fast gar nicht beachtete Seite der mythologischen Forschung 
hindrÀngt. Bauer gibt sowohl zu Beginn als auch am Schlusse 
seiner Arbeit dem Gedanken Ausdruck, daß es doch weit wahr- 
scheinlicher und nĂ€herliegend sei, den Grund fĂŒr die durch- 
gĂ€ngige Übereinstimmung dieser Mythen in ganz allgemeinen 
ZĂŒgen des menschlichen Seelenlebens als etwa in der Urge- 
meinschaft oder Wanderung zu suchen. Seine Annahme er- 
scheint uns um so berechtigter, als wir solche allgemein mensch- 
liche Seelenregungen in anderen Formen und auf anderen Ge- 
bieten wirksam gefunden haben. FĂŒr uns ergibt sich die Mög- 
lichkeit, an diese Idee wieder anzuknĂŒpfen, von einer Seite 


1) „Liebesgeschichte des Himmels.” ‚Straßburg 1892. — „Mytholog. 
Briefe.” Berlin 1901. ; 

2), Ernst Siecke, „Hermes als Mondgott” (Mythol. Bibl., Bd. II, H.1), 
Leipzig 1908, S. 48. — Man vergleiche auch die teils lunare, teils solare, jeden- 
falls aber ganz einseitige Auffassung des Heldenmythus bei Gustav Fried- 
richs: Grundlage, Entstehung und genaue Einzeldeutung der bekanntesten 
germanischen MĂ€rchen, Mythen und Sagen, Leipzig 1909, S. 118. 

3) Zur prinzipiellen Stellungnahme vgl. man des Verf, „Psychoanaly- 
tische BeitrĂ€ge zur Mythenferschung” (Internat, Psa, Bibl. Bd. IV, bes, 
Kapitel I. Wien und Leipzig 1919. 


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8 TRAUM UND MYTHUS, 


her, die der Mythologie lÀngst nicht fremd geblieben ist, wenn- 
gleich sie sie nicht in ihrer vollen Bedeutung zu wĂŒrdigen 
vermochte, weil die psychologischen Voraussetzungen fehlten: 
vom Traume. Die außerordentliche Bedeutung des Traumlebens 
fĂŒr den Mythus war, wie P. Ehrenreich betont, zu allen Zeiten 
anerkannt. Nicht nur sollen bei einzelnen Naturvölkern, nach 
ihrer eigenen Angabe, TrÀume die einzige Quelle der Mythen- 
bildung sein, auch namhafte Mythologen wie Laistner, Mann- 
hardt, Roscher und neuestens auch Wundt haben die Be- 
deutung des Traumlebens,namentlich desAngst(Alp-)traumes, 
fĂŒr das VerstĂ€ndnis einzelner Mythen- oder wenigstens Motiv- 
gruppen eingehend gewĂŒrdigt. ” 

Die ablehnendeHaltung der vorwiegend von der „Gesellschaft 
fĂŒr vergleichende Mythenforschung” vertretenen modernsten 


mythologischen . Richtung gegen jeden Versuch, Traum und 


Mythus zueinÀnder in Beziehung zu bringen '), entspringt haupt- 
sÀchlich der BeschrÀnkung der Parallelisierung auf die Alp- 
trÀume, wie sie Laistner in seinem beachtenswerten Buche 
„Das RĂ€tsel der Sphinx” (Berlin 1589) versucht hat und aus 
der Unkenntnis der hier zu wĂŒrdigenden Auffassung Freuds. 
Diese hat uns nicht nur die TrÀume selbst erst verstehen ge- 
lehrt, sondern auch ihre Vorbildlichkeit und innige Verwandt- 
schaft mit allen seelischen PhĂ€nomenen ĂŒberhaupt, insbesondere 
mit den TagtrĂ€umen. oder Phantasien, mit dem kĂŒnstlerischen 
Schaffen und mit gewissen Störungen der normalen Seelen- 
tÀtigkeit gezeigt. Ein gemeinsamer Anteil an allen diesen Produk- 
tionen fÀllt nÀmlich einer einzigen seelischen Macht, der mensch- 
lichen Phantasie, zu. Eben dieser PhantasietÀtigkeit sieht sich 
auch die genannte moderne Mythentheorie genötigt, einen — 
und vielleicht sogar den ersten — Rang in der Frage nach dem 
letzten Ursprung aller Mythen einzurÀumen. Denn die Auf- 
fassung der Mythen im astralen Sinne oder noch prÀziser gesagt 
als „KalendererzĂ€hlungen” lĂ€ĂŸt, nach Leßmanns Zeugnis (a.a. 
O., S. 31 ff), mit RĂŒcksicht auf „eine schaffende Phantasie der 
Menschheit” die Frage entstehen, „ob der erste Keim zum Ent- 


)) Man vgl. Leßmann a. a. O. (Mythol. Bibl. I, 4). 





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DIE MENSCHLICHE PHANTASIETÄTIGKEIT. 9 


stehen derartiger ErzÀhlungen eben in den VorgÀngen am 
Himmel zu suchen sei oder ob umgekehrt fertige ErzÀhlungen 
eanz anderen Ursprunges erst nachmals auf die Himmelskörper 
ĂŒbertragen wurden”!). Den Einwendungen, die Leßmann selbst 
gegen die Wahrscheinlichkeit einer solchen Auffassung vorbringt, 
seien hier die positiven Zeugnisse Ehrenreichs und Wundts 
gegenĂŒbergestellt, die eine ursprĂŒngliche Himmelsmythologie als 
unvollziehbare Vorstellung. zurĂŒckweisen. Ehrenreich (. ce. 
S. 104): „Sicherlich besinnt die mythologische Entwicklung auf 
irdischem Boden, insofern erstErfahrungen in der nÀchsten Umwelt 
gemacht sein mĂŒssen, ehe man sie in die himmlische Welt proji- 
zieren kann.” — Und Wundt fĂŒhrt (l.c. 8.282) aus: „Jene Theorie 
von der Entwicklung der Mythen, die sie zuerst am Himmel 
entstehen und dann in irgend einem spÀteren Zeitpunkte zur 
Erde wandern lĂ€ĂŸt, steht aber nicht bloß im Widerspruch mit 
der Geschichte des Mythus, die von einer solchen Wanderung 
nichts weiß, sondern auch mit der Psychologie der Mythen- 
bildung, die jene Translokation als eine innerlich unmögliche 
zurĂŒckweisen muß.” Wir hoffen in den folgenden Untersuchungen 
den Nachweis zu erbringen, daß die Mythen‘) nicht bloß irdischen 
(Ehrenreich), sondern — wie auch Wundt meint — psychischen 
Ursprungs sind, d. h. Gebilde der menschlichen PhantasietÀtig- 
keit, die sekundÀr auf die Himmelskörper mit ihren rÀtsel- 
haften Erscheinungen ĂŒbertragen werden können. Dabei sollen 
die unverkennbaren Spuren, die diese Umdeutung in den 


1) In diesem Sinne sagt Stucken (Mose $. 432): „Der von den Vor- 
fahren ĂŒberkommene Mytlus wurde auf NaturvorgĂ€nge ĂŒbertragen und 
naturalistisch gedeutet, nicht umgekehrt.” — „Die Naturdeutung selbst ist 
ein Motiv” (S. 633, Anm.). Ähnlich Ă€ußert Meyer (Gesch. d. Altert, II. 48): 
„In zahlreichen FĂ€llen ist die in den Mythen gesuchte Natursymbolik nur 
scheinbar vorhanden oder sekundÀr in sie hineingetragen, wie sehr vielfach 
in den vedischen und in den Àgyptischen Mythen, sie ist ein primitiver 
Deutungsversuch so gut wie die bei den Griechen seit dem 5. Jahrhundert 
aufkommenden Mythendeutungen.” 

2) FĂŒr die MĂ€rchen macht sowohl in diesem wie auch in anderen 
wesentlichen Punkten Thimme den gleichen Standpunkt geltend wie es hier 
fĂŒr die Mythen geschieht. Vgl. Adolf Thimme: „Das MĂ€rchen”, 2. Bd. der 
HandbĂŒcher z. Volkskunde. Leipzig 1909. 


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10 FREUDS DEUTUNG DER ÖDIPUS-MYTHE. 








Mythen hinterlassen hat, wie die festen Zahlen u. a., in ihrer 
Bedeutung nicht herabgesetzt werden, obwohl es auch von 
diesen Zahlen keineswegs als ausgemacht giit, daß auch sie nicht 
menschlichen Ursprungs wÀren und erst spÀter, eben dieser 
Bedeutung wegen, den Kalender- und Himmelsbereehnungen 
zugrunde gelegt worden seien!). Ä 

An einem der Sagenstoffe, die in die Gruppe der Hel- 
denmyihen gehören, ist bereits die Ableitung eines wesentlichen 
Bestandteiles aus einer allgemein menschlichen Quelle mit 
Erfolg geschehen. In seiner Traumdeutung?) hat Freud 
den Zusammenhang der Fabel vom Ödipus, dem das 
Orakel weissagt, er werde seinen Vater töten und seine 
Mutter heiraten, was er dann auch unwissentlich vollfĂŒhrt, 
mit den beiden typischen TrÀumen vom Tode des Vaters 
und vom geschlechtlichen Verkehr mit der Mutter aufgedeckt, 
TrĂ€umen, die auch heute noch viele Menschen haben. Es heißt 
dort vom König Ödipus: „Sein Schicksal ergreift uns nur darum, 
weil es auch das unserige hÀtte werden können, weil das Orakel 
vor unserer Geburt denselben Fluch ĂŒber uns verhĂ€ngt hat 
wie ĂŒber ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste 
sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalt- 
tÀtigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere TrÀume 
ĂŒberzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laios 
erschlagen und seine Mutter lokaste geheiratet hat, ist nur die 
\WunscherfĂŒllung unserer Kindheit”). Die hier sich offenbarende 
innige Verwandtschaft zwischen Traum und Mythus, die sich 
nicht nur auf den Inhalt sondern auch auf die Form und die 
TriebkrĂ€fte dieser beiden sowie vieler anderer -—- insbesondere 
krankhafter — seelischer Gebilde erstreckt, lĂ€ĂŸt die Auffassung 
des Mythus als „Massentraum” des Volkes, wie ich sie gelegent- 


1) HierĂŒber handelt eine vom Verfasser vorbereitete Arbeit: „Mikro- 
kosmos und Makrokosmos.” 

2) Wien und Leipzig 1900, S, 180 uff. 

9) Auch die Fabel von Shakespeares „Hamlet” lĂ€ĂŸt nach Freuds 
Darstellung (a. a. OÖ.) eine Ă€hnliche Deutung zu. Es wird sich spĂ€ter zeigen, 
wie mythologische Forscher die Hamletsage von ganz anderen Gesichts- 
punkten her in den Zusammenhang unseres Mythenkreises bringen. 





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DIE PROJEKTION AN DEN HIMMEL. 11 


lich angedeutet habe!), und die Übertragung der Methode und 
zum Teil auch der Resultate der Freudschen Traumdeutungs- 
technik auf die Mythen, wie sie Abraham in seiner Schrift: 
„Traum und Mythus?)” des nĂ€hern begrĂŒndet und an einem 
Beispiel durchgefĂŒhrt hat, vollkommen berechtigt erscheinen. 
Wir werden auch bei dem hier zu behandelnden Mythenkreise 
wieder die innigen Beziehungen von Traum und Mythus be- 
stĂ€tigt finden und die AufschlĂŒsse, die uns ihre Analogisierung 
bietet, reichlich benĂŒtzen. Betrachtet man, was diesem psycho- 
logischen VerstĂ€ndnis gegenĂŒber die naturmythologische Deutung, 
etwa der anstĂ¶ĂŸigen Ödipusfabel, bietet: Ödipus, der seinen 
Vater mordet, seine Mutter heiratet und als blinder Greis stirbt, 
ist der Sonnenheld, der seinen Erzeuger, die Finsternis, mordet, 
der sein Bett mit der Mutter, der Abendröte, aus deren Schoß 
(der Morgenröte) er hervorgegangen ist, teilt, und der ge- 
blendet, als untergehende Sonne, stirbt?), so gewinnt man den 
Eindruck, als ob die Forscher, welche sich einer ausschließlich 
naturmythologischen Deutungsweise — gleichviel in welchem 
Sinne — bedienen, bei ihrem BemĂŒhen, den ursprĂŒnglichen 
Sinn der mythischen ErzĂ€hlungen zu ergrĂŒnden, sich nicht 
ganz einem psychologischen Prozeß entziehen könnten, wie wir 
ihn auch bei den Schöpfern der Mythen annehmen mĂŒssen. 
Das Motiv, das sowohl die Mythenschöpfer als auch ihre Aus- 
leger zu demselben Vorgange veranlaßt hat, ist das nĂ€mliche. 
Wir finden es bei einem der BegrĂŒnder und VorkĂ€mpfer der 
vergleichenden Mythenforschung und der naturmythologischen 
Deutungsweise, bei Max MĂŒller, in seinen „Essays”*) ganz 


!) Rank: Der KĂŒnstler, AnsĂ€tze zu einer Sexualpsychologie, Wien und 
Leipzig 1907, S. 36 (2. u. 3. Aufl. 1918, S. 52). 

2) Viertes Heft dieser Sammlung. Leipzig und Wien 1909. 2. Auf- 
lage, 1922. 

5) Siehe Ignaz Goldziher: Der Mythos bei den HebrÀern und seine 
geschichtliche Entwicklung, Leipzig 1876, S. 125. 

4) Band II der deutschen Übersetzung, Leipzig 1869, S. 143. — Auch 
Cox vertritt in seinem bekannten Werke „The Mythology of the Aryan 
Nations” den Standpunkt, daß die Mythen nur scheinbar so unsittlich seien, 
wenn wir sie aber naturmythologisch auffaßten, die anstĂ¶ĂŸigen ZĂŒge ver- 
lören. — Auch fĂŒr Siecke (Hermes als Mondgott, Leipzig 1908, S. 39) ver- 





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12 DAS MOTIV DER PROJEKTION. 





naiv ausgesprochen in dem Gedanken, daß ‚durch dieses Ver- 
fahren nicht bloß bedeutungslose Sagen eine eigene Bedeutung 
und Schönheit erhielten, sondern daß man dadurch einige der 
empörendsten ZĂŒge der klassischen Mythologie be- 
‚ seitige und ihren wahren Sinn ausfindig mache”. Diese Em- 
pörung, deren Grund uns leicht verstÀndlich wird, hindert 
natĂŒrlich den Mythologen anzunehmen, daß Motiven wie Inzest 
mit der Mutter, Schwester oder Tochter, wie Totschlag von 
Vater, Großvater oder Bruder, allgemein menschliche Phantasien 
zugrunde liegen könnten, die, wie uns Freud gelehrt hat, 
ihre Quelle im kindlichen Vorstellungsleben mit seiner eigen- 
artigen Auffassung der Außenwelt und ihrer Personen haben. 
Diese Empörung ist also nur die Reaktion auf die dunkel ge- 
ahnte peinliche Erkenntnis der TatsÀchlichkeit dieser VerhÀltnisse, 
eine Reaktion, die dann die Ausdeuter der Mythen dazu drÀngt, 
zu ihrer eigenen unbewußten Rehabilitierung und zu der der 
ganzen Menschheit, diesen Motiven eine ganz andere Bedeutung 
unterzulegen, als sie ursprĂŒnglich hatten. Dieselbe innere Auf- 
lehnung lĂ€ĂŸt auch das mythenschaffende Volk nicht an die 
Möglichkeit solcher anstĂ¶ĂŸigen Gedanken glauben und diese 
Abwehr ist wahrscheinlich der erste Grund zur Projektion 
dieser VerhÀltnisse an den Himmel gewesen. Denn die psycho- 
logische Beruhigung, die aus einer solchen Rechtfertigung durch 
Projektion auf Ă€ußere — möglichst entfernte — Objekte ge- 
wonnen wird, lĂ€ĂŸt sich vielleicht nachfĂŒhlen, sie ist aber kein 
wissenschaftliches Argument, und eine solche Empörung — sei 
sie auch nicht immer eine so bewußte — ist angesichts vor- 
liegender Tatsachen ganz unangebracht. Man wird sich eben 
entweder mit diesen AnstĂ¶ĂŸigkeiten, falls man sie ĂŒberhaupt 
als solche empfindet, abfinden oder sich von der Untersuchung 
psychologischer PhĂ€nomene fernhalten mĂŒssen. Es ist wohl 
klar, daß die Menschen, selbst nicht in den Ă€ltesten Zeiten und 


lieren die Inzestmythen durch ZurĂŒckfĂŒhrung auf den Mond und sein Ver- 
hĂ€ltnis zur «Sonne alles AuffĂ€llige und „erklĂ€ren sich ganz einfach: die 
Tochter [der neue Mond] ist die Wiederholung der Mutter [des alten Mondes]; 
mit ihr verbindet sich der Vater [die Sonne], (auch der Bruder, der Sohn) 
von neuem”! 





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BERECHTIGUNG DER PSYCHOLOGISCHEN DEUTUNG. 13 


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beim naivsten Vorstellungsleben, am Himmel oben Inzest und 
Vatermord sahen!), vielmehr daß diese Vorstellungen nur aus 
einer menschlichen Quelle stammen können. Auf welche Weise 
sie dann an den Himmel kamen und welche Modifikationen 
und Zutaten sie dabei erfuhren, das sind Fragen sekundÀrer 
Natur, die erst zur Beantwortung gelansen können, wenn Ur- 
sprung und Bedeutung der Mythen ĂŒberhaupt festgestellt sein 
werden. 

Zumindest aber wird man schon jetzt neben der astralen 
Auffassung die Geltendmachung des Anteils, den das Seelen- 
leben an der Mythenbildung hat, als gleichberechtigt hinstellen 
dĂŒrfen, eine Forderung, die durch die Resultate unseres Deutungs- 
verfahrens zu rechtfertigen versucht werden soll. 

Wir wenden uns zu diesem Zwecke zunÀchst dem Mythen- 
material zu, an dem wir den Versuch einer solchen psycho- 
logischen Deutung zum erstenmal im Großen unternehmen 
wollen, und wÀhlen dazu aus der Menge?) dieser vorwiegend 


') Sollte man glauben! In einer Schrift: „Urreligion der Indogermanen” 
(Berlin 1897), wo Siecke darauf verweist, daß die Inzestmythen Nach- 
erzÀhlungen des angeschauten unbegreiflichen Naturvorganges 
seien, wendet er gegen eine Bemerkung Oldenburgs (Rel. d. Veda, S. 5) 
der eine uralte Neigung des Mytlıus zum Motiv des Inzestes annimmt, ein, 
daß „der Urzeit das Motiv ohne eigene Neigung der ErzĂ€hler durch 
die Macht der geschauten Tatsachen sich aufdrĂ€ngte”. (S. 22). 
Derartigen Deutungen gegenĂŒber sagt Wundt (S. 252) mit Recht: Damit 
wĂŒrde hier die Mythenbildung wieder zu einer allegorischen Dichtung. Auch 
ist es bezeichnend fĂŒr diese Mythendeutung, die eigentlich selbst 
schon die ursprĂŒngliche Mythenbildung begleitet haben mĂŒĂŸte, 
daß sie zwei Sageninhalte von so gĂ€nzlich abweichendem Charakter, auf 
ein und dasselbe Ă€ußere Grundmotiv zurĂŒckfĂŒhrt”. (Hervorhebungen 
vom Ref.) 

2) Die große Mannigfaltigkeit und weite Verbreitung des Mythus von 
der Geburt des Helden ersieht man aus den genannten Arbeiten von Bauer, 
Schubert u. a., wÀhrend ihr umfassender Inhalt und ihre feinen Verzwei- 
gungen besonders von HĂŒsing, Leßmann und den ĂŒbrigen Vertretern der 
modernen Richtung dargelegt wurden. 

UnzÀhlige MÀrchen, ErzÀhlungen und Dichtungen aus allen Zeiten, bis 
in die modernste Dramen- und Romanliteratur hinein, weisen die Haupt- 
motive des Heldenmythus deutlich auf. 








14 DAS MATERIAL DER BIOGRAPHISCHEN MYTHEN. 





biographischen Heldenmythen die bekanntesten und einige 
besonders charakteristische aus, die wir im folgenden so weit im 
Auszuge, jedoch mit Angabe der Quellen, mitteilen, als sie fĂŒr 
unsere Untersuchung von Belang sind. Die wichtigsten, stets 
wiederkehrenden Motive sollen dabei durch den Druck hervor- 
gehoben werden. 





II. | ' 
Sargon. 


Wohl die Ă€lteste, zugleich einfachste Überlieferung unseres 
Heldenmythus, die ihn gleichsam auf ein Grundmotiv reduziert 
zeigt, stammt aus der Zeit der GrĂŒndung Babylons (um 2800 
v. Chr.!) und behandelt die Geburtsgeschichte ihres GrĂŒnders, 
Sargons des Ersten. Der Bericht, der sich der Form der Ab- 
fassung nach als Originalinschrift des Königs Sargon selbst 
einfĂŒhrt, lautet in wörtlicher Übersetzung°): 

„Sargon, der mĂ€chtige König, König von Agade, bin ich. 
Meine Mutter war eine Vestalin, meinen Vater kannte 
ich nicht, wÀhrend der Bruder meines Vaters das Gebirge 
bewohnte, In meiner Stadt Azupirani, welche am Ufer des 
Euphrats gelegen ist, wurde mit mir schwanger die Mutter, 
die Vestalin. Im Verborgenen gebar siemich. Sielegetemich 
in ein GefĂ€ĂŸ von Schilfrohr, verschloß mit Erdpech meine 
TĂŒre und ließ mich nieder in den Strom, welcher mich 
nicht ertrĂ€nkte. Der Strom fĂŒhrte mich zu Akki, dem Wasser- 
schöpfer. Akki, der Wasserschöpfer, in der GĂŒte seines Herzens 
hob er mich heraus, Akki, der Wasserschöpfer, als seinen 
eigenen Sohn zog er mich auf, Akki, der Wasserschöpfer, 


1) HĂŒsing wirft die Frage auf, ob die Entstehungszeit der Sargon- 
legende nicht wesentlich herabzurĂŒcken wĂ€re. (Die iranische Überlieferung 
etc., Mythol, Bibl, II, 2, 1909, S. 100.) 

2) Die verschiedenen Übersetzungen des zum Teil entstellten Textes 
unterscheiden sich nur in unwesentlichen Punkten, Vgl. Hommels Gesch. 
Babyloniens und Assyriens (Berlin 1885), S. 302, wo man auch die Quellen 
der Überlieferung findet, und A. Jeremias: Das Alte Testament im Lichte 
des alten Olients. 2. Aufl, Leipzig 1906, S. 410, 











16 SARGON, — ETANA. — MOSES, 


zu seinem GĂ€rtner machte er mich. In meinem GĂ€rtneramt 
gewann Istar mich lieb, ich wurde König und 45 Jahre ĂŒbte 
ich die Königsherrschaft aus.” 


Im babylonischen Etana-Mythus sieht Zimmern (KAT, 565 ÂŁ.), 
im Anschluß an E. T. Harpner (Beitr. z. Assyriologie etc., hg. v. 
Delitzsch ete,, Leipzig 1890 ff., II, 405 ff), eine Parallele zu den 
Sagen von der Geburt des ersten Landeskönigs, wie z. B. Sargon, 
Kyros, Romulus u. a. Ward faßt die bildlichen Szenen der Etana- 
Sigelzylinder als Darstellungen aus dem Vorleben des Heros auf 
von der Zeit an, da er ausgesetzt war, Herden hĂŒtete und seinen 
Unterhalt stahl. (Es folgt dann der Aufstieg Etanas auf dem Adler 
zum 'Thron der Himmelskönigin Istar, der Geburtshelferin, um das 
Geburtskraut [zur Erlangung eines Sohnes] zu holen. Aber Etana 
stĂŒrzt mit dem Adler in die Tiefe, da er knapp vor dem Ziele 
Furcht bekommt.) Ähnlich heißt es von dem babylonischen Gott 
Tammuz: „Als Kleiner in einem versinkenden Schiff liegt er.” 
(Zimmern, Der babylonische Gott Tammuz. Abh. d. SĂ€chs. Akad. 
XXVII, 1909, S. 727.) 


Moses. 


Große Ă€ußere Ähnlichkeit mit der Sargonlegende, ja manche 
weitgehende Übereinstimmung einzelner Motive, zeigt die bib- 
lische Geburtsgeschichte Mosis,!) die Exodus, Kap. 2, erzÀhlt 
wird. Im ersten Kapitel (22) heißt es schon, Pharao habe 
seinem Volke geboten, alle Söhne der HebrĂ€er, die „eboren 
wĂŒrden, ins Wasser zu werfen, die Töchter aber leben zu 


lassen, ein Gebot, das mit der allzu großen Fruchtbarkeit 


der Israeliten begrĂŒndet wird. Dann berichtet das zweite Kapitel: 
„Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine 
Tochter Levis?). Und das Weib ward schwanger und gebar 


1) Wegen dieser Ähnlichkeiten hat man vielfach eine AbhĂ€ngigkeit 
der Exodus-ErzÀhlung von der Sargonlegende angenommen, hat aber dabei, 
wie es scheint, zu wenig auf gewisse psychologische Unterschiede geachtet, 
die uns bei der Deutung noch ausfĂŒhrlich beschĂ€fiigen werden. 

2) Mosis Eltern waren ursprĂŒnglich namenlos, wie alle Personen in 
diesem Àltesten Berichte, Erst die Priesterschaft hat ihnen Namen verliehen; 





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MOSES: DIE BEDEUTUNG SEINES NAMENS. 17 


einen Sohn und da sie sah, daß er stattlich war, verbarg 
sie ihn drei Monate, Und da sie ihn nicht lÀnger verbergen 
konnte, nahm sie fĂŒr ihn ein KĂ€stlein von Rohr und 
verklebte es mit Erdharz und Pech, und legte das Kind 
darein und setzte ihn in das Schilf am Ufer des Nils. 
Aber seine Schwester stand von ferne, daß sie erfĂŒhre, was 
ihm geschehen wĂŒrde. Und die Tochter des Pharao ging hinab, 
um im Nil zu baden, und ihre Jungfrauen gingen am Rande 
des Wassers. Und da sie das KĂ€stlein im Schilfe sah, sandte 
sie ihre Magd hin und ließ es holen. Und da sie es auftat, sah 
sie ein Kind; und siehe, es war ein KnÀblein, das weinte. Da 
jammerte es sie und sie sprach: Es ist der hebrÀischen Kinder 
eins. Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: 
Soll ich hingehen und dir der hebrÀischen Weiber eine rufen, 
die da sĂ€uget, daß sie dir das Kind sĂ€uge? Und die Tochter 
des Pharao sprach zu ihr: Gehe hin. Und das MĂ€dchen ging 
hin und rief des Kindes Mutter. Da sprach des Pharao 
Tochter zu ihr: Nimm hin das Kind und sĂ€uge mir’s, so will 
ich dir’s lohnen. Das Weib nahm das Kind und sĂ€ugte es. 
Und da das Kind groß ward, brachte sie es der Tochter 
des Pharao und es ward ihr Sohn. Und sie nannte ihn 
Moses (Moseh), denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem 
Wasser gezogen”!). 


kap. 6, 20, heißt es: Und Amram nahm seine Muhme Jochebed zum Weibe, die 
gebar ihm Aaron und Mose (und ihre Schwester Mirjam. IV, 26, 59). Vgl. 
dazu Winckler: Gesch. Israels II, und Jeremias a, a, O,, S. 408, 

1) Der Name soll vielmehr nach Winckler (Die babyl. Geisteskultur, 
S. 119) „der Wasserziehende” bedeuten (siehe auch Winckler: Altorientalische 
Forschungen III, 468 f.), was die Moseslegende der Sargonlegende noch 
nÀher brÀchte, denn der Name Akki bedeutet: ich habe Wasser geschöpft. 
Im hebrĂ€isch-chaldĂ€ischen Wörterbuch von FĂŒrst wird das Wort mit moi = 
Sohn und esche = Isis: Sohn der Isis (nach Analogie der Àgyptischen Königs- 
namen: Thoutmosis = Sohn des Thout) erklÀrt. Danach wÀre also die Haupt- 
bedeutung Sohn, und zwar Sohn des Wassers, da auch Josephus den Namen 
aus dem Koptischen mo = Wasser, ioydai — gerettet, ableitet. Übrigens ist 
Moses ein hÀufiger Àgyptischer Personenname und bedeutet: infans, Kind 
(Ebers, Durch Gosen zum Sinai, 8. 525 f.; Spiegelberg, Der Aufenthalt der 
Israeliten in Ägypten, $. 23; Brupsch, Ägyptologie, $. 118). 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden 2, Aufl, rJ 














13 DER MYTHISCHE MOSES. 


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Diesen Bericht schmĂŒckt die Mythologie mit der Vorgeschichte 
von Mosis Geburt aus: Im 60. Jahre nach dem Tode Josefs sah 
der regierende Pharao im Traum einen alten Mann, der eine 
Wage hielt; in der einen Schale lagen alle Bewohner Ägyptens, in 
der anderen Schale aber hing nur ein Milchlamm und dennoch wog 
es alle Ägypter auf. Der erschreckte König befragte sofort die 
Gelehrten und Astrologen, die erklĂ€rten, der Traum bedeute, daß 
den Israeliten ein Sohn werde geboren werden, der ganz 
Ägypten zerstören werde. Der dadurch geĂ€ngstigte König erließ 
sogleich den Befehl, alle neugeborenen Kinder der Israeliten 
im ganzen Lande zu töten. Infolge dieser tyrannischen Verordnung 
wollte sich der in Gosen ansÀssige Levite Amram von seinem Weibe 
Jochebed scheiden, um nicht auch seine zu zeugenden Kinder dem 
sicheren Tode zu ĂŒberliefern. Diesem Entschlusse widersetzte sich 
aber spÀter seine Tochter Mirjam, indem sie mit prophetischer Ge- 
wißheit aussagte, eben jenes im Traum des Königs angedeutete Kind 
werde aus dem Schoß ihrer Mutter hervorgehen und der Befreier 
seines Volkes werden!), Amram vereinigte sich also wieder mit 
seinem Weibe, dem er drei Jahre lang fern geblieben war. Nach 
drei Monaten wurde sie schwanger und gebar danach einen Knaben, 
bei dessen Geburt das ganze Haus von einem ungewöhnlichen Licht- 
elanz erhellt wurde, was die Wahrheit der Prophezeiung ahnen ließ. 
(Nach Bergel, Mythol. d. HebrÀer, Leipzig 1882.) 

Ähnlich wie bei Sargon hat man auch fĂŒr die Mosesgeschichte 
ein göttliches Vorbild im Àgyptischen Thout gefunden (Völter, Moses 
u, die Àgypt. Mythol., Leiden 1912, S. 80 ff). Weitere Àgyptische 
Parallelsagen sind die von Osiris (Adonis), der auf dem Meer in 
einer Truhe schwimmt, der Geburtsgeschichte des Àgyptischen Königs- 
sohnes (Ermar, Ägypt. Rel., S. 40) und von Ahi, dem Kind von 
Ra und Hathor, das aus dem Nu, d.h. der jungen Flut, hervorgeht 
(Brugsch, Rel. u. Mythol. d. Äsypt., 8. 376). (Andere Parallelen 
zar Mosessage findet man bei Kampers, Alexander d, Gr. und die 
Idee des Weltimperiums, 1901, $S. 10, Anm. 3; Gunkel, Zum rel.- 


1) Schemot rabba zu 2,4. Und zu 2 Mos. I, 22, heißt es, daß die 
Sterndeuter dem Pharao gesagt hatten, eine Frau gehe mit dem Erlöser 
Israels schwanger. 1 











PARALLELEN DER NATURVÖLKER. 19 








gesch. VerstÀndnis d, N. T,, 1903 (1910°), S. 69: Wundt, Völker- 
psychol. II/3, Leipzig 1909, S. 254 fl., 262 ff, 268 ff.) 

Von besonderem Interesse ist eine Bemerkung in dem neuesten 
Werk von Frazer (Folklore in the Old Testament, II, 451’), wonach 
die Aussetzungsgeschichte Mosis mit verschiedenen Geschichten 
verglichen wurde, die von den Tonga sprechenden StÀmmen von 
Nordwest Rhodesia erzĂ€hlt werden (J. Torrend, „Likenesses of 
Moses’ Story in the Central Africa Folk-lore”. Anthropos V (1910), 
pp. 54— 70), 

Daß auch sonst den Naturvölkern die gleichen Motive gelĂ€ufig 
sind, mögen folgende Beispiele zeigen: Stucken erzÀhlt die neusee- 
lÀndische Sage vom polynesischen Feuer-(und Samen-) RÀuber Mani- 
tiki-tiki, der sofort nach seiner Geburt ausgesetzt wird, indem ihn 
seine Mutter in einer SchĂŒrze ins Meer wirft. Eine Ă€hnliche Ge- 
schichte berichtet Frobenius (l. c. S. 379) aus Betsimisaraka, wo 
das auf dem Wasser ausgesetzte Kind von einer reichen kinderlosen 
Frau gefunden und erzogen wird, endlich aber doch beschließt, seine 
wirklichen Eltern aufzusuchen. Und nach einem Bericht von Bab 
(Zeitschrift f. Ethnol., 1906, S. 281) erhielt die Frau des Raja Be- 
surjak ein auf einer Wasserschaumblase schwimmendes Kind (aus 
Singapore). Besonders eindrucksvoll schildert in der Mauimythe der 
JĂŒngste Soln seiner Mutter, wie er geboren wurde (siehe White, 
„Ihe ancient history of the Maori, Wellington 1887, B. II, in mehr- 
fachen Versionen; nach Frobenius, Das Zeitalter des Sonnengottes, 
S. 66. fÂŁ.): „Ich weiß, ich war vorzeitig an der MeereskĂŒste ge- 
boren und wurde, nachdem du mich in eine Locke deines Haares 
gewickelt, welche du dir zu diesem Zwecke abgeschnitten hattest, in 
den Meerschaum geworfen. Da umschlang mich das Seegras mit seinen 
langen Flechten, formte und bildete mich, Die weichen Schleimfische 
wickelten sich um mich, um mich zu beschĂŒtzen, Myriaden von 
Fliegen summten um mich herum und legten ihre Eier auf mich, 
damit die Maden mich essen möchten; SchwÀrme von Vögeln sam- 
melten sich um mich, um an mir zu picken, aber in diesem Augen- 
blicke erschien mein großer Ahnherr, der Himmel, Tama-nui-ki-te- 
Rangi, und er sah die Fliegen und die Vögel. Der alte Mann eilte, 
so schnell er konnte, herbei, löste die umwickelten Schleimfische 
ab und fand da ein menschliches Wesen, Dann nahm er mich auf 

2# 








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20 ABRAHAM. — ISAAK. — JOSEPH. 





und hing mich in das Dach, damit ich den warmen Rauch und die 
Hitze des Feuers fĂŒhlen möchte und so wurde ich durch die 
Freundlichkeit des alten Mannes gerettet.” 


Ähnliches wie von Mose, mit dem die nationale Geschichte der 


Juden beginnt, wird von der Geburt des Stammvaters der hebrÀischen 
Nation, von Abraham, berichtet. Er war ein Sohn 'Therachs, Nim- 
rods Feldherrn, und der Amtelai. Vor seiner Geburt wird dem 
König Nimrod aus den Sternen geoffenbart, das zu erwartende 
Kind werde mĂ€chtige FĂŒrsten vom Throne stĂŒrzen und ihre 
LÀnder in Besitz nehmen. König Nimrod will das Kind sofort 
nach der Geburt töten lassen. Aber als man den Knaben von 
Therach verlangt, sagt er: Allerdings ist mir ein Solın geboren 
worden, allein er ist gestorben. Er liefert dann ein fremdes Kind 
aus, wÀhrend er seinen eigenen Sohn in einer Höhle unter der 
Erde verbirgt, wo Gott ihn Milch aus einem Finger der rechten 
Hand saugen lĂ€ĂŸt. In dieser Höhle soll Abraham bis zu seinem 
dritten (nach anderen bis zum zehnten) Lebensjahre geblieben sein. 


(Vgl. Aug. WĂŒnsche, Aus Israels Lehrhallen, Leipzig 1907, der 


— 8:14 uf) — eine Übersetzung von Abrahams Geburtstage bringt, 
und Beer, Das Leben Abrahams nach Auffassung der jĂŒdischen Dage, 
Leipzig 1859, der — S. 27 uff. — Parallelen zur Aussetzung anfĂŒhrt. 
Siehe auch Marmorstein, Legendenmotive in der rabbinischen 
Literatur. Arch, f. Rel. Wiss. XVI, 1913, 1 u. 2.) 

Wie so hÀufig tauchen die gleichen mythischen Motive in der 
nÀchsten Generation, in der Geschichte Isaaks auf. Vor seiner 
Geburt wird König Abimelech im Traum gewarnt, die Sarah zu be- 
rĂŒhren, da er sonst sterben mĂŒsse. Nach langer Unfruchtbarkeit 
kommt Isaak endlich zur Welt und wird — hier etwas verspĂ€tet — 
vom eigenen Vater zur Opferung bestimmt, aber schließlich gerettet, 
wĂ€hrend Abrahams anderer Sohn Ismael — mit seiner Mutter Hagar — 
ausgestoßen wird. (Gen. 20, 6 und Bergel 1. c.) 

NatĂŒrlich gehört auch die biblische Joseph-Geschichte hieher, 
die nichts weiter ist als ein romanhaft ausgeschmĂŒckter Abklatsch 
der Aussetzungssage: Der JĂŒngste wird ausgesetzt und bleibt drei 
Tage in der Zisterne (Wassermotiv!), aus der er dann gerettet wird, 
wĂ€hrend die BrĂŒder den Vater durch ein blutiges Tierfell tĂ€uschen. 
Auch die typi-che Karriere des Ausgesetzten (Staithalter) fehlt nicht. 








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KARNA. — VIKRÄMADITYA. 21 





Karna. 


Eng verwandte ZĂŒge mit der Sargonlegende zeigt auch 
die ErzÀhlung des altindischen!) Epos MahÀbhÀrata von der 
Geburt des Helden Karna. Den Inhalt der Sage gibt Lassen 
(Ind. Altertumskunde, I?, S. 673) kurz wieder: Die FĂŒrsten- 
tochter Pritha, die auch Kunti genannt wird, gebar als 
Jungfrau dem Sonnengott Surya den Sohn Karna, der 
mit den goldenen OhrgehÀngen seines Vaters und einem un- 
spaltbaren Panzer geboren ward. In ihrer Angst hatte die 
Mutter den Knaben verborgen und ausgesetzt. In der 
von A. Holtzmann?) gemachten Nachbildung der Sage heißt es 
V. 14558: „Da machten meine Amme und ich aus Binsen einen 
großen Korb und legten einen Deckel darauf und ĂŒber- 
zogen ihn mit Wachs; drein legte ich den Knaben und 
trug zum Flusse AgvĂ€ ihn hinab.” Von den Wellen getragen, 
kommt das Körbchen in den Strom Ganga bis zur Stadt CampÀ, 
„Dort ging gerade am Ufer des Stromes des Dhrtarastra edler 
Freund, der Wagenlenker, mit ihm Radha, sein schönes, frommes 


—,— 


1) Auch die Geburtslegenden der ersten mythischen Könige Indiens 
sind hier zu nennen. Im Heldenbuche „VikrĂ€madityacaritam” wird erzĂ€hlt, 
daß König VikrĂ€ma, der Sohn eines Gottes sei, den Indra fĂŒr eine Zeitlang 
zum Erdenleben verdammt hatte, weil er im Zorn verwĂŒnschte, als Esel zu 
leben. Nach Ablauf der Strafzeit ließ der Gott seine irdische Gemahlin 
schwanger zurĂŒck. Ihr Vater jedoch, durch eine Weissagunge vor seinem 
Tochtersohn gewarnt, befahl, ihm die Entbindung sofort zu melden, in der 
Absicht, Jas Kind zu beseitigen. Die Tochter, die das alınte, wartete ihre 
Stunde nicht ab, sondern schnitt sich das Kind vor der Zeit aus dem Leibe 
und vertraute es einer Dienerin an, die es in Sicherheit brachte. So kam 
König VikrÀma zur Welt und Àhnlich auch sein Sohn VikrÀmaditya, die 
darum beide im Heldenbuche als „ungeboren” bezeichnet werden. Als 
VikrĂ€ma in einem Kriegszug fiel, ließ er sein Land verwaist zurĂŒck, denn 
die Königin war erst mit dem Thronfolger schwanger. Um nun dem Land 
einen Erben zu geben und doch auch dem Witwenbrauch folgen zu können, 
wurde der Sohn herausgeschnitten, wÀhrend die Mutter sieh mit ihrem toten 
Gatten verbrennen ließ. Man findet auch bei VikrĂ€maditya die wunderbare 
Geburt, unheilvolle Vorzeichen, die Aussetzung des Knaben im Walde, seine 
ErnĂ€hrung mit Honig und schließlich die Anerkennung. (Siehe JĂŒlg, Mon- 
golische MĂ€rchen, Innsbruck 1858, S. 73 uff.) 

2) Indische Sagen (Karlsruhe 1846), Teil II, S. 117 bis 127. 











22 KARNA. — ION. 





Weib. Sie war in tiefen Kummer versenkt, weil ihr kein Sohn 
verliehen war. Da sah sie auf dem Flusse den Korb, den an 
das Ufer ihr ganz nah die Wellen trieben; sie zeigte ihn dem 
Azirath und dieser ging und zog ihn aus den Fluten heraus.” 
Die beiden nehmen sich des KnÀbleins an und erziehen 
es als ihr Kind. 

Kunti heiratet spĂ€ter den König PĂ€ndu, den der ‚Fluch, 
er werde einst in den Armen seiner Gattin sterben, zur Ent- 
haltung vom ehelichen Verkehr zwingt. Aber Kunti ge- 
biert, wieder durch göttliche EmpfÀngnis, drei Söhne, 
von denen einer in einer Wolfshöhle zur Welt kam. 
PĂ€ndu stirbt dann in der Umarmung seiner zweiten Gattin. 
Die Söhne wachsen heran und bei einem Turnier, das sie ver- 
anstalten, taucht Karna auf, um sich mit dem besten KĂ€mpfer, 
mit Arjuna, dem Sohne der Kunti, zu messen. Arjuna weigert 
sich spöttisch, mit dem Fuhrmannssohn zu kÀmpfen. Um ihn 
zum ebenbĂŒrtigen Gegner zu machen, salbt ihn einer der 
Anwesenden zum König. Indessen hat die Kunti an dem 
Götterzeichen den Karna als ihren Sohn erkannt und bittet ihn, 
indem sie ihm das Geheimnis seiner Geburt offenbart, vom 
Bruderkampf abzustehen. Er aber hĂ€lt ihre EnthĂŒllung fĂŒr ein 
MĂ€rchen und besteht unerbittlich auf Genugtuung. Im Streit 
fĂ€llt er, von Arjunas Pfeil getroffen. (Vgl. die ausfĂŒhrliche Dar- 
stellung in Lefmanns Gesch. d. alten Indien, Berlin 1890, 
S. 181 uff.) 


Eine auffallende Ähnlichkeit in der ganzen Anlage mit der 
Karnasage zeigt die Geburtsgeschichte Ions, des Stammvaters der 


Ionier, von dem die verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig spĂ€te Ne Überlieferung 
berichtet: di 


!) Wo nichts anderes angegeben ist, sind alle griechischen und römi- 
schen Sagen dem von Roscher herausgegebenen . „AusfĂŒhrlichen Lexi- 
kon der griech. und röm, Mythologie” entnommen, wo man auch alle 
Quellen verzeichnet findet. 

Die Ion-Mythe gibt Roschers Lexikon nach der gleichnamigen 
Tragödie des Euripides wieder, der jedoch den alten Stoff bereits „natio- 
nalisiert” hatte, Die mittelgriechische Kolonisation nach der mittleren KĂŒste 








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DIE IONSAGE UND IHRE ENTWICKLUNG. 23 





Apollo zeugte mit des Erechtheus Tochter Kreusa 
einen Sohn in der Grotte des athenischen Burgfelsens. In dieser 
Grotte wurde der Knabe auch geboren und ausgesetzt; 
die Mutter lĂ€ĂŸt das Kind in einem geflochtenen Körbchen 
zurĂŒck, in der Hoffnung, Apollo werde seinen Sohn nicht unter- 
gehen lassen, Auf Apollons Bitten trÀgt Hermes das Kind in der- 
selben Nacht nach Delphi, wo es am Morgen die Priesterin auf der 
Schwelle des Tempels findet. Sie zieht den Knaben auf und 
macht ihn als JĂŒngling zum Tempeldiener. 

Erechtheus gab spÀter die Kreusa dem eingewanderten Xuthos 
zur Frau. Da ihre Ehe lange kinderlos blieb, wandten sie sich 
an das delphische Orakel, um von ihm Kindersegen zu erflehen., 
Der Gott offenbart dem Xuthos, der sei sein Sohn, der ihm beim 
Austritt aus dem Heiligtum als erster entgegenkommen werde. 
Er eilt hinaus und begegnet dem JĂŒngling, den er freudig als 
Sohn begrĂŒĂŸt und ihm den Namen Ion, das heißt „GĂ€nger”, gibt. 
Kreusa weigert sich, den JĂŒngling als Sohn anzunehmen; ihr 
Versuch, ihn zu vergiften, mißlingt und das wĂŒtende Volk wendet 
sich gegen sie selbst. Schon will Ion Hand an sie legen, aber 
Apollo, der nicht wollte, daß der Sohn seine leibliche Mutter 
töte, erleuchtete den Sinn der Priesterin, so daß sie den Zusammen- 


und den Inseln des westlichen Kleinasien, durch welche die Ionier ent- 
standen, soll nach der Überlieferung des Altertums von Athen ausgegangen 
sein. Diese Ableitung wird bereits in der Ilias anerkannt — N 685 ff. sitzen 
die lonier zur Zeit des troischen Krieges in Athen — und Athens Anspruch, 
die Mutterstadt der lonier zu heißen, ist nie bestritten worden. Daher gilt 
Ion, der Stammvater der Ionier, als Sohn Apollons und einer attischen 
Prinzessin und muß in Athen gelebt haben, so schwer es auch war, ihn in 
der attischen Sagengeschichte, die von ihm nichts wußte, unterzubringen 
(Meyer, Gesch. d. Altert. II, 239). Nach alter Sage ist Ion ein Sohn des 
Xuthos und des Pythischen Apollo und hat eine Landestochter, Kreusa, zur 
Mutter, wodurch die neugewonnene Heimat bezeichnet wurde. Euripides 
dagegen löst den Ion von Xuthos, der immer etwas rauh und tyrannisch 
geschildert wird, und wendet es so, daß er nicht als Eindringling, sondern 
als einziger Sproß des Erechthidenstammes weiblicher Linie erscheint. Da- 
dureh wird die Autochthonie der Athener gerettet, auf welche der Demos 
sich soviel einbildete, und der widerstrebende Mythos auf erwĂŒnschte Weise 
beseitigt (MĂŒller, Dorier, I, 248), 








24 ÖDIPUS, 


hang durchschaute Mit Hilfe des Körbchens, in dem einst der 
Neugeborene gelegen hatte, erkennt ihn Kreusa als ihren Sohn 
und entdeckt ihm das Geheimnis seiner Geburt. 


Ödipus. 


Die Eltern des Ödipus, König Laios und seine Gemahlin 
Iokaste, leben lange Zeit in kinderloser Ehe. Laios, 
der sich nach einem Erben sehnt, fragt den delphischen Apollo 
um Aufschluß; das Orakel antwortet, wenn er es wĂŒnsche, 
werde er einen Sohn bekommen, aber es sei ihm vom 
Schicksal bestimmt, von diesem Sohne getötet zu 
werden. Aus Furcht vor der ErfĂŒllung des Orakelspruches 
bleibt Laios dem ehelichen Umgang fern; aber einst im 
Rausch zeugt er doch einen Sohn, den er kaum drei Tage 
nach der Geburt im Kithairon aussetzen lĂ€ĂŸt. Damit 
das Kind um so sicherer zugrunde gehe, lĂ€ĂŸt ihm Laios die 
Fußgelenke durchbohren. Nach der Darstellung des Sophokles, 
die aber nicht die Ă€lteste ist, ĂŒbergibt der mit der Aus- 
setzung betraute Hirte den Knaben einem Hirten des 
Königs Polybos von Korinth, an dessen Hof er, nach dem all- 
gemeinen Bericht, erzogen wird. Nach Anderen soll der Knabe 
in einem KĂ€stchen (zpvaÂŁ) auf dem Meere ausgesetzt 
und von Periböa, der Gemahlin des Königs Polybos, beim 
SpĂŒlen der WĂ€sche aus dem Wasser herausgezogen 
worden sein!), Polybos zieht ihn als seinen eigenen 
Sohn auf. Als Ödipus durch Zufall erfĂ€hrt, daß er ein Find- 
ling ist, befragt er das delphische Orakel um seine leiblichen 
Eltern, erhÀlt aber die Weissagung, er werde seinen 
Vater töten und seine Mutter heiraten. In der Meinung, 
diese Prophezeiung beziehe sich auf seine Pflegeeltern, flieht 
er aus Korinth nach Theben; unterwegs aber erschlÀgt er 


1) Schol. Eurip. Phoen, 26. Nach Bethe (Thebanische Heldenlieder) 
war die Ausseizung auf dem \asser die ursprĂŒngliche Form, Nach anderen 
Versionen wird der Knabe von Pferdehirten gefunden und auferzogen, 
nach einer spÀten Sage von einem Landmann, Melibios,. 














ÖDIPUS. — JUDAS. — GREGORIUS. 26 

ahnungslos seinen Vater Laios, befreit die Stadt durch die 

Lösung eines RÀtsels von der Plage der Sphinx, eines menschen- 

wĂŒrgenden Ungeheuers, und erhĂ€lt zum Lohn dafĂŒr die Hand 

Iokastes, seiner Mutter, sowie den Thron seines Vaters. Die 

EnthĂŒllung dieser Greuel und des Ödipus spĂ€teres UnglĂŒck Ä 
war bei den griechischen Tragikern ein beliebter Gegenstand | 
der Darstellung !), 


Nach dem Muster der Ödipussage ist eine ganze Reihe von 
christlichen Legenden gearbeitet; als Paradigma dieser Gruppe 
sei kurz der Inhalt der Legende von Judas erzÀhlt: Vor seiner | 
Geburt wird seine Mutter Cyborea durch einen Traum gewarnt, 
sie werde einen ruchlosen Sohn, zum Verderben seines ganzen Volkes, 
gebÀren. Die Eltern setzen den Knaben in einem KÀstchen 
auf dem Meer aus. Die Wellen treiben das Kind an die Insel 
Scariot, wo es die kinderlose Königin findet und als ihren Sohn 
erzieht. SpÀter bekommt das Königspaar selbst einen Sohn und 
da der Findling zurĂŒckgesetzt wird, erschlĂ€gt er seinen Pflegebruder, 
Aus dem Lande flĂŒchtig, findet er einen Dienst am Hofe des 
Pilatus, der ihn zu seinem Vertrauten erhob und ĂŒber sein ganzes 
Hauswesen setzte. Einst im Streit erschlÀgt Judas einen 
Nachbarn, ohne zu wissen, daß es sein Vater ist. Die 
Witwe des Erschlagenen, also seine eigene Mutter, hei- 
ratet er dann, Nach EnthĂŒllune dieser Greuel begibt er sich 
reuig zum Heiland, der ihn unter seine Apostel aufnimmt, Sein 
Verrat Jesu ist aus den Evangelien bekannt?). 

Die Legende vom heiligen Gregorius auf dem Stein, 


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PAARE 


) Goldziher berichtet (l. e. 216) eine arabische Parallele zur Ödipus- 
sage: Nimrod wird infolge einer Weissagung ausgesetzt, durch ein Tiger- 
weibehen (nimr) gerettet, sammelt, herangewachsen, ein Heer, tötet schließ- 
lich seinen Vater Kenaan und heiratet seine Mutter Saleha. 

Auch vom GrĂŒnder der tĂŒrkischen Na’ion wird erzĂ€hlt, er sei als Kind 
aurgesetzt, gerettet und von einer Wölfin gesÀugt worden, die er spÀter 
heiratete. (Stanislas Julien, Documents historiques sur les Tou- Kione (Tures), 
traduit du chinois, Paris 1877, pp 2 sq. 25 sq. 

?) Auf eine Möglichkeit der Identifizierung des Judas mit Jesus, d.h, 
also der Übertragung mythischer ZĂŒge von diesem auf jenen, hat Reik 
hingewiesen. („Der eigene und der fremde Gott.”) 





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26 KÖNIG DÄRÄB. 


die Hartmann von Aue nacherzÀhlt hat, sei als komplizierter 
Typus dieser Sagenform erwÀhnt. Gregor, das Kind aus der blut- 
schĂ€nderischen Verbindung zweier FĂŒrstenkinder, wird von der 
Mutter in einem KĂ€stchen auf dem Meer ausgesetzt, von 
Fischern aufgefischt und aufgezogen und dann in einem Kloster 
zum Geistlichen herangebildet. Er zieht aber das Ritterleben vor, 
besteht siegreiche KÀmpfe und erhÀlt zum Lohn die Hand seiner 
Mutter, der FĂŒrstin!), Nach Entdeckung des Inzests tut Gregorius 
18 Jahre lang auf einem Felsen, der mitten im Meere steht, Buße 
und wird schließlich auf Gottes Befehl zum Papst gemacht. 

Dieser Legende ganz Àhnlich ist die von Firdusi im Königs- 
buche erzÀhlte iranische Sage vom König DÀrÀb, die Spiegel 
(Eranische Altertumskunde II, 584) wiedergibt: Der letzte KaiÀnier 
Behmen ernannte seine Tochter und gleichzeitige Gemahlin HumÀi 
zu seiner Nachfolgerin, so daß sein Sohn SĂ€sĂ€in, aus Verdruß 
hierĂŒber, sich in die .Einsamkeit zurĂŒckzog. Kurze Zeit nach 
dem Ableben ihres Gemahls gebar HumÀi einen Sohn, den sie 
auszusetzen beschloß. Er wurde in ein KĂ€stchen gelegt, 
das in den Euphrat gesetzt wurde und den Strom hinab 
trieb, bis es durch einen Stein aufgehalten wurde, den ein Walker 
in das Wasser gelegt hatte. Der Walker fing das KĂ€stchen auf 
und fand das Kind, welches er seiner Frau brachte, die kurz vor- 
her ihr eigenes Kind verloren hatte. Das Ehepaar beschloß, den 
Findling aufzuziehen, und als der Knabe heranwuchs, wurde 
er bald so stark, daß die anderen Kinder es nicht mit ihm aufzu- 
nehmen vermochten. Er hat keine Lust zu dem Handwerk des 
Vaters, sondern bildet sich 'zum Kriegsmann aus, erzwingt von 
seiner Pflegemutter das Geheimnis seiner Herkunft 
und schließt sich dem Heere an, das HumĂ€i gerade zur Be- 
kĂ€mpfung des Königs von RĂŒm aussandte. Durch seine Tapferkeit 
auf ihn aufmerksam gemacht, erkenne HumÀi in ihm leicht ihren 
Sohn und ernennt ihn zu ihrem Nachfolger, 


1) Das ungeheure Material der mittelalterlichen Inzestlegenden ist 
eingehend behandelt in des Verfassers „Inzestmotiv in Dichtung und Sage”, 
Leipzig und Wien 1912, Kapitel X. 





et ‚ST WERE 





PARIS, 27 








Paris. 


Apollodorus erzÀhlt von der Geburt des Paris: König 
Priamos hatte von seiner Gemahlin Hekabe einen Sohn Hektor. 
Als Hekabe zum zweitenmal Mutter werden sollte, trÀumte 
ihr, sie bringe ein brennendes Scheit zur Welt, das die ganze 
Stadt in Brand setze. Priamos fragte den der Traumdeutung 
kundigen Aisakos, seinen Sohn von der ersten Gemahlin 
Arisbe, um Rat. Aisakos erklÀrte, das Kind werde der 
Stadt Verderben bringen, und riet, es auszusetzen. 
Priamos gab das KnÀblein einem Sklaven, der es auf den 
Ida trug; der Mann hieß Agelaos. Das Kind wurde fĂŒnf 
Tage lang von einer BÀrin genÀhrt. Als es Agelaos noch 
lebend fand, hob er es auf und nahm es zu sich, um es auf- 
zuziehen. Er nannte den Knaben Paris; als der aber ein 
schöner und starker JĂŒngling geworden war, nannte man 
ihn, weil er die RĂ€uber abwehrte und die Herden schĂŒtzte, 
Alexandros. Nicht lange dauerte es, da fand er seine Eltern, 

Auf welche Weise das geschah, erzÀhlt Hyeginus!), nach 
dessen Bericht das ausgesetzte KnÀblein von Hirten ge- 
[unden wird. Einst kommen Boten von Priamos zu diesen 
Hirten, um einen Stier zu holen, der bei einer fĂŒr Paris ver- 
anstalteten GedÀchtnisfeier als Kampfpreis dienen sollte. Sie 
wĂ€hlten einen Stier, den Paris so lieb hatte, daß er den 
MĂ€nnern, als sie das Tier wegfĂŒhrten, folgte, an den Kampf- 
spielen teiinahm und den Preis gewann. Unwillie darĂŒber, 
zĂŒckte sein Bruder Deiphobos das Schwert gegen ihn, aber 
seine Schwester Kassandra erkannte ihn als ihren Bruder‘), 
worauf Priamos ihn freudig als seinen Sohn aufnahm. 


1) Die Hyginsche Fabel von der Jugend des Paris soll den Inhalt 
einer griechischen Dichtung wiedergeben. Sophokles' Jugend des Paris 
(„Alexandros”) ist (nach Robert: Philolog. Unters., Bd. V., 2371.) der Jugend 
des Kyros bei Herodot nachgebildet, des Freundes des Sophokles, der 
auch in der „Elektra” den Traum der Mandane zum Traum der Elektra 
gemacht haben soll. (J.Classen in d. Verh, d. Kieler Philolog. Vers., S. 114.) 
— LeĂŸĂ¶mann vermutet (O.L. Z. 1905), daß in der Geschichte von Paris- 
Alexandros eine phrygische Fassung der Kyrossage vorliege. 

?) Bei Euripides spricht Kassandra, die sich der Aufnahme des 
Alexandros widersetzt, auch aus, daß Hekabe in eine HĂŒndin verwandelt 


| 
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25 ZAL. — TELEPHOS2. 


Das spĂ€tere UnglĂŒck, das Paris durch den Raub der Helena 
seiner Familie und seiner Vaterstadt brachte, ist aus den Homer- 
schen Gedichten sowie ihren NachlÀufern, den Kyklikern, bekannt. 


Einige Ähnlichkeit mit der ErzĂ€hlung von der Geburt des 
Paris hat das Gedicht von Zal in Firdusis Persischen Heldensagen 
(ĂŒbers. v. Schack): Sam, dem König von Sistan, wird von einem 
seiner Weiber der erste Sohn geboren. Da er weißes Haar hatte, 
“verheimlichte die Mutter seine Geburt. Aber die Amme ver- 
rĂ€t dem König die Geburt des Sohnes. Sam fĂŒhlt sich enttĂ€uscht 
und befiehlt, das Kind auszusetzen, Die Knechte bringen es 
auf den Berg Allurs, wo es der Simurgh, ein mÀchtiger Vogel 
aufzieht. Den herangewachsenen JĂŒngling sieht einst eine vorĂŒber- 
ziehende Karawane und berichtet von ihm, dem ein „Vogel gut 
genug sei zur Amme”. Einst, als Sam seinen Sohn im Traum 
sieht, zieht er aus, um das ausgesetzte Kind zu suchen. Auf den 
Gipfel des steilen Felsens, wo er den JĂŒngling endlich sieht, kann 
er nicht hingelangen. Der Simurgh aber bringt ihm den Sohn herab,!) 
den er nun freudig aufnimmt und zum Nachfolger in der Herrschaft 
einsetzt. 


Telephos. 


Aleos, der König von Tegea, hatte gemĂ€ĂŸ dem Ausspruch 
des Orakels, seine Söhne wĂŒrden durch einen Abkömmling 
seiner Tochter umkommen, seine Tochter Auge zur Prie- 
sterin der Athene gemacht und ihr fĂŒr den Fall, als sie 
einem Manne beiwohnen sollte, mit dem Tode gedroht. Als 
aber Herakles auf dem Zuge gegen Augeias als Gast im Heilig- 
tum der Athene verweilte, sah er die Jungfrau und tat ihr im 
Rausche Gewalt an. Als Aleos ihre Schwangerschaft be- 
merkte, ĂŒbergab er sie dem Nauplios, einem rauhen 
Schiffsmanne, mit dem Auftrage, sie ins Meer zu werfen. 


werden solle und diese Verwandlung findet sich schon in alten lyrischen 
Versen, vermutlich von Alkman (Welcker, Der epische Cyclus, II, 90 ÂŁ.). 
I) Das pers. „murgh” (zendisch mörögha) bedeutet Vogel und Seele. (Vgl. 
Geza Kuun u. J. Goldziher: Der Seelenvogel im islamischen Volksglauben 
Globus LXAXXIIIL, Nr. 19 sowie Weicker: Der Seelenvogel, Leipzig 1902.) 





TELEPHOS. — PERSEUS. 29 








Unterwegs aber gebar sie auf dem Parthenios den Telephos, 
und Nauplios, uneingedenk des ihm gegebenen Befehls, brachte 
sie und das Kind nach Mysien und ĂŒbergab beide dem König 
Teuthras. 

Nach einer anderen Überlieferung gebar Auge heimlich 
als Priesterin und hielt das Kind im Tempel verborgen. Als 
Aleos den Frevel entdeckte, ließ er das Kind auf dem parthe- 
nischen Gebirge aussetzen'); die Mutter sollte Nauplios im 
Auslande verkaufen oder töten. Er ĂŒbergab sie dem Teuthras. 

Nach der gelÀufigen Tradition setzt Auge das neuge- 
borene Kind aus und flĂŒchtet nach Mysien, wo sie der kinder- 
lose König Teuthras an Kindes statt annimmt. Der Knabe 
aber wird von einer Hirschkuh gesÀugt und von Hirten 
gefunden, die ihn zum König Korythos bringen. Der 
zieht ihn als seinen Sohn auf. Als JĂŒngling begibt sich 
Telephos auf den Rat des Orakels nach Mysien, um seine 
Mutter zu suchen. Er befreit den hart bedrÀnsten Teuthras 
von Seinen Feinden und erhĂ€lt zum Lohn dafĂŒr die Hand 
der angeblichen Tochter des Königs, nÀmlich der Auge, 
seiner eigenen Mutter. Sie weigert sich aber, sich dem 
Telephos hinzugeben, und schon will er im Zorn die Wider- 
spenstige durchbohren, da ruft sie in ihrer Angst ihren Ge- 
liebten Herakles an und Telephos erkennt daran seine Mutter. 
Nach dem Tode des Teuthras wird er König von Mysien. 


Perseus. 


Akrisios, der König von Argos, stand schon in hohem 
Alter und hatte keinen mÀnnlichen Nachkommen. Da er einen 
Sohn wĂŒnschte, befragte er das delphische Orakel, das ihn 
jedoch vor mÀnnlicher Nachkommenschaft warnte. Seine 
Tochter Danaö werde einen Sohn gebÀren, durch dessen 
Hand er fallen mĂŒsse. Um das zu verhindern, verschloß 

') Bei Euripides, von dem die Tragödien „Auge” und „Telephos” 
existieren, ließ Aleos Mutter und Kind in einem Kasten ins Meer 
werfen, der aber durch die FĂŒrsorge der Athene in die MĂŒndung des 


mysischen Flusses Kaikos gelangte. Hier fand sie Teuthras und machte Auge 
zur Gattin; ihr Kind nahm er als Pflegesohn in sein Haus. 


. - - . Ben 





30 PERSEUS. — DIONYSOS. 


er seine Tochter in ein ehernes Gemach, das er streng 
bewachen ließ. Aber Zeus drang als goldener Regen durch das 
Dach in das Gemach ein, und Danaö wurde Mutter eines Knaben!). 
Als Akrisios einst aus dem Gemach seiner Tochter die Stimme 
des jungen Perseus hörte und so erfuhr, daß seine Tochter doch 
geboren habe, tötete er dieAmme, die Tochter aber mit ihrem 
Sohn trug er auf den Hausaltar des Zeus, um sich den Namen 
des wahren Vaters beschwören zu lassen. Er glaubt aber der 
Aussage der Tochter nicht, daß Zeus der Vater sei und schließt 
sie mit dem Kind in einen Kasten’), den er ins Meer 
wirft. Der Kasten wird von den Fluten an die KĂŒste von 
Seriphos getragen, wo Diktys, ein Fischer, gewöhnlich ein 
Bruder des Königs Polydektes genannt, Mutter und Kind 
rettet, indem er sie mit seinen Netzen aus dem Meere 
zieht. Diktys fĂŒhrt beide in sein Haus und hĂ€lt sie wie seine 
Verwandten. Polydektes aber verliebt sich in die schöne Mutter 
und da Perseus ihm im Wege stand, suchte er ihn zu 
beseitigen, indem er ihn aussandte, das Haupt der Gorgo 
Medusa zu holen. Perseus vollfĂŒhrt aber wider Erwarten des 
Königs die gefÀhrliche Aufgabe und verrichtet noch zahlreiche 
Heldentaten. Beim Diskoswerfen tötet er einst zufĂ€llig — dem 
Orakel gemĂ€ĂŸ — seinen Großvater. Er wird König von Argos, 
dann von Tirynth und erbaut Mykene?). 


Dionysos. 


In der hellenischen Götter- und Sagengeschichte kehrt 
das Motiv der Aussetzung fast bei allen mythischen Gestalten 
regelmĂ€ĂŸig wieder. | 


1) SpÀtere Schriftsteller, darunter Pindar, geben an, Dana sei nicht 
von Zeus, sondern vom Bruder ihres Vaters geschwÀngert worden. 

2) Simonides von Keos (fr. 37 ed. Bergk) spricht von einem „erzfesten 
GehĂ€use”, worin Dana&ö ausgesetzt worden sei. (Geibel, Klassisches Lieder- 
buch, S, 62,) 

3) Über die weite Ausbreitung und Verzweigung des Typus der Per- 
seussage vgl. Sydney Hartland: Legend of Perseus. 3 vols. 1894 bis 1806. 
Nach HĂŒsing (a. a. OÖ.) ist die Perseussage auch in Japan in mehreren 
Varianten nachzuweisen. 











— 


DIONYSOS UND DER MYSTERIENKULT. 31 


TE er I 








Von besonderer Bedeutung ist die J ugrendgeschichte des 
Dionysos, weil sie die Entstehung des Mysterienkultes in 
sich schließt. 

Nach der von Pausanias (III, 24, 3 ÂŁ.) ĂŒberlieferten Version 
aus Prasiai in Lakonien hatte Kadmos, als er entdeckte, daß 
seine Tochter Semele vor der Ehe ein KnÀblein (von Zeus) 
geboren hatte, Mutter und Kind in eine Truhe einge- 
schlossen und ins Meer werfen lassen, das die Geretteten 
an der Lakonischen KĂŒste ans Land spĂŒlte. Die Mutter ist tot, 
aber ihre Schwester Ino nimmt sich des KnĂ€bleins mĂŒtter- 
lieh an und zieht es als Amme auf. Im Verein mit ihren 
Schwestern Autonoe und Agaue verbirgt sie — nach der von 
Appian ĂŒberlieferten Sage — den Knaben aus Furcht vor Hera 
und Pentheus im Gebirge. Dort, in einer Höhle, die man noch 
spÀter als Heiligtum zeigte, bargen sie das KnÀblein in eine 
Truhe aus Fichtenholz, bedeekten diese mit Rehfellen und 
mit KrĂ€nzen von blĂŒhendem Epheu und umtanzten sie mit Musik, 
um das Wimmern des SĂ€uglings zu ĂŒbertönen; so ĂŒbten sie 
mit den böotischen Frauen, die sich zu ihnen gesellten, die 
erste Geheimfeier um die versteckte Truhe. Dann wird 
die heilige Lade mit dem Gott bekrĂ€nzt auf den RĂŒcken eines 
Esels gesetzt und zum Gestade des Euripos geleitet, wo ein 
Fischer sie nach Euboia ĂŒberfĂ€hrt. Aristaios erhĂ€lt dort in 
seiner Höhle den kleinen Dionysos aus der Truhe der Ino, 
der des Knaben mit Hilfe von Dryaden und bienenzĂŒchtenden 
Nymphen wartet. 

Nach Usener (Sintflut, 185) erscheinen die hier ‚vereinigten 
Motive sonst getrennt. Die Bithynier kennen die Ankunft des 
Dionysos auf einem Delphin ans Land; den Ioniern kommt 
er im Schiff angefahren, ĂŒber dessen Deck sich die wunder- 
bare Rebe breitet; aber er wird auch, in der Truhe einge- 
schlossen, durch die Wellen von Lemnos her nach der Insel 
Sikinos getragen und nach Patrai bringt Eurypilos das Schnitz- 
bild des Dionysos in der Truhe. Auch von dem Esel wird 
Dionysos durch die Fluten getragen, nach der von Philiskos 
bearbeiteten DodonÀischen Sage. 





32 APOLLO. — AINOS. — ADONIS. — ERICHTHONIOS. 


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Ähnliches ĂŒber Apollos Geburt lĂ€ĂŸt sich aus kultischen Resten 
erschließen. In der NĂ€he der kretischen Niederlassung Xanthos und 
am eleichnamigen Flusse lag ein Hain der Leto, nahe ein uralter 
Tempel des lykischen Apollo, dessen GrĂŒndung die Dage folgender- 
maßen motiviert: Wölfe hatten die irrende Göttin hieher gefĂŒhrt 
und hatten die Kinder nach der Geburt im Flusse gebadet; eine 
alte Frau hatte sie in die Ă€rmliche HĂŒtte aufgenommen. 

Eins Àhnliche Sage heftet sich auch an Ainos, den Heros der 
Insel Delos, den Àltesten König und Priester des Apollo. Von seiner 
Geburt erzÀhli Diodor (V, 62, 1f.): Rhoio, von Apollo schwanger, 
wurde von ihrem Vater in einer Truhe ins Meer ausgesetzt, 
die auf der Insel Delos landete. Dort wurde Rhoio von dem Knaben 
entbunden, den sie Ainos, d. h. „Kummervoll” nannte!), Sie legte 
den SĂ€ugling auf den Altar des Apollo und betete, wenn er der 
Vater des KnÀbleins sei, möge er sich seiner annehmen. Apollo 
hob den Knaben auf, verbarg ihn anfangs, zog ihn aber dann auf. 

Adonis, der Sproß aus der blutschĂ€nderischen Verbindung der 
Smyrna mit ihrem Vater, wird von Aphrodite in einer Iruhe ver- 
borgen, die sie der Unterweltsgöttin Persephone zur Bewachung 
ĂŒbergibt. Diese öffnet das KĂ€stchen und ist von der Schönheit des 
KnĂ€bleins so entzĂŒckt, daß sie es nicht mehr hergeben will. Zeus 
entscheidet den Streit der beiden Göttinnen dahin, daß das Kind ein 
halbes Jahr bei jeder verbleiben solle. 

Ähnlich verbirgt Athene den von der Erde geborenen Erich- 
thonios in einem geflochtenen Korbe, wo er von Schlangen 
bewacht wird und ĂŒbergibt ihn den drei Töchtern des Kekrops mit 
dem Befehl, die Kiste nicht zu öffnen. Sie öffnen sie aber trotz 
des Verbotes und sehen das KnÀblein mit der Schlange, worauf sie 
sich in Raserei von dem Felsen der Akropolis stĂŒrzen. Nachdem 
der Knabe, der im unteren Teil als Schlange gestaltet sein sollte, 
herangewachsen war, ĂŒbergibt ihm der kinderlose Kekrops die Herr- 

schaft ĂŒber Attika. 
| Gilgamos. 


Älian, der um das Jahr 200 n. Chr. lebte, erzĂ€hlt in 
seinen „Tiergeschichten” die Geschichte eines von einem 








1) Vgl. die heilige Genovefa und ihren Sohn „Schmerzenreich”. 

















GILGAMOS. — KYROS. 33 





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Adler geretteten Knaben): „Den Tieren eigentĂŒmlich 
ist auch die Menschenliebe. So ernÀhrte ein Adler ein Kind. 
Ich will die ganze Geschichte erzĂ€hlen, um Zeugnis fĂŒr meine 
Behauptung abzulegen. Als Senechoros ĂŒber die Babylonier 
herrschte, sagten die chaldÀischen Wahrsager, der Sohn 
der königlichen Tochter werde seinem Großvater das 
Königreich entreiben; und dieser Ausspruch war eine Weis- 
sagung der ChaldĂ€er. Diese fĂŒrchtete der König und wurde, 
um scherzhaft zu reden, fĂŒr seine Tochter ein zweiter Akrisius, 
denn er bewachte sie mit großer Strenge. Die Tochter aber 
— denn das Schicksal war weiser als der Babylonier — gebar 
heimlich von einem unscheinbaren Manne. Das Kind 
warfen die WÀchter aus Furcht vor dem Könige von der 
Akropolis herab; denn hier war die königliche Tochter ein- 
geschlossen. Da sah der Adler mit seinen scharfen Ausen den 
Tall des Knaben, ehe er gegen die Erde anschlug, nahm ihn 
auf den RĂŒcken, trug ihn in einen Garten und setzte ihn hier 
mit großer Behutsamkeit nieder. Wie nun der Aufseher des 
Platzes das schöne KnÀbchen sieht, gewinnt er es lieb 
und erzieht es; es bekommt den Namen Gilgamos und wird 
König von Babylonien. Wenn jemand das fĂŒr eine Fabel 
hÀlt, so habe ich nichts dagegen, ob ich gleich die Sache 
nach KrĂ€ften geprĂŒft habe. Auch von Achaemenes, dem, 
Perser, von dem der Adel der Perser herkommt, höre ich 
daß er der Zögling eines Adlers gewesen sei”?). 


Kyros. 


Die Sage von Kyros, die von den meisten Forschern — 
wie es scheint nicht mit vollem Recht — in den Mittelpunkt 
dieses ganzen Mythenkreises gestellt wird, ist uns in mehreren 


') Claudius Aelianus, Hist. anim. XII, 21. Übersetzt v. Fr. Jakobs 
(Stuttgart 1841). 

?2\ Auch von PtolemÀus, dem Sohne des Lagos und der Arsino£, er- 
zĂ€hlte man, ein Adler habe den ausgesetzten Knaben mit seinen FlĂŒgeln 
gegen Sonnenschein, Regen und Raubvögel geschĂŒtzt (1. c.). 

» Man vgl. dazu die Fabel Ganymeds mit dem Adler, 
Rank, Der Mythus von der Geburt des Halden 2, Aull, 3 


- 








34 DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. 


Versionen ĂŒberliefert. Nach dem Berichte Herodots (um 
450 v. Chr.), der selbst sagt (I, 95), daß er von vier ihm be- 
kannten Versionen die am wenigsten glorifizierende gewÀhlt 
habe, lautet die Geburts- und Jugendgeschichte des Kyros 
(2: 107-018.) 

In der KönigswĂŒrde ĂŒber die Meder folgte dem Kyaxares 
sein Sohn Astyages. Dieser hatte eine Tochter mit Namen 
Mandane. Einst sah er sie im Traum, wie so viel Wasser 
von ihr ging, daß seine ganze Stadt davon erfĂŒllt 
und ganz Asien ĂŒberschwemmt wurde. Er legte also den 
Traumdeutern unter den Magiern seinen Traum vor und 
fĂŒrchtete sich sehr, da sie ihm alles erklĂ€rten. Als darauf 
Mandane mannbar wurde, gab er sie keinem Meder, der 
hm ebenbĂŒrtig gewesen wĂ€re, sondern einem Perser mit 
Namen Kambyses.: Dieser war aus einem guten Hause und 
von ruhiger Lebensweise und er hielt ihn fĂŒr geringer als 
einen Meder vom Mittelstande Als nun Mandane Kambyses’ 
Frau war, sah Astyages im ersten Jahre ein anderes Traum- 
gesicht. Er trĂ€umte, es wĂŒchse aus seiner Tochter Schoß ein 
Weinstock empor, und dieser Weinstock ĂŒberschatte ganz 
Asien. Und als er dieses Gesicht abermals den Traumdeutern 
vorlegte, ließ er seine Tochter, die schwanger war, aus Persien 
holen. Und als sie angekommen war, bewachte er sie, 
weil er ihr Kindlein umbringen wollte Denn es 
hatten ihm die Traumdeuter unter den Magiern geweis- 
sagt, seiner Tochter Sohn wĂŒrde König werden an 
seiner Statt. Um das nun von sich abzuwenden, ließ er, als 
Kyros zur Welt gekommen war, den Harpagos rufen, der 
sein Verwandter und sein Vertrautester unter den Medern 
war und den er ĂŒber alle seine GeschĂ€fte gesetzt hatte. Zu 
diesem sprach er: 

„Lieber Harpagos, ich werde dir ein GeschĂ€ft ĂŒbertragen, 
das mußt du mir gewissenhaft ausfĂŒhren. Aber hintergehe 
mich nicht und nimm keinen anderen dazu, es könnte dir 


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1) Fr. Lange: Herodots Geschiehten (Reclam). Vgl. auch Dunckers 
Gesch. d. Altertums (Leipzig 1280), IV’, S. 256 u.ff. . 











DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. 35 


einmal ĂŒbel bekommen. Hier nimm den Knaben, den 
Mandane zur Welt gebracht, trag ihn in dein Haus und 
bring ihn um. Nachher kannst du ihn begraben, wie und 
auf welche Art du willst.” 

Harpagos aber antwortete: „Großer König, nie hast du 
vordem deinen Knecht ungehorsam befunden und auch in 
Zukunft will ich mich bewahren, daß ich nicht vor dir sĂŒndige. 
Wenn dies dein Wille ist, so ziemt mir, ihn treulich auszu- 
richten.” 

Als Harpagos dieses gesagt hatte und ihm das KnÀblein 
mit allem Schmuck zum Tode ĂŒberantwortet war, ging er 
weinend nach Hause. Und wis er dort angekommen war, er- 
zÀhlte er seiner Frau alles, was ihm Astyages gesagt. Diese 
aber sprach zu ihm: „Was denkst du denn zu tun?” 

Er aber antwortete: „Ich werde dem Astyages nicht 
gehorchen und wenn er gleich noch zehnmal Ă€rger wĂŒtete 
und raste als jetzt, so will ich dennoch nicht seinen Willen tun 
und mich zu solcher Mordtat verstehen Und dazu habe ich 
viele GrĂŒnde. Denn erstlich ist der Knabe mein Blutsverwandter 
und dann ist Astyages alt und hat keinen mÀnnlichen Erben. 
Wenn er nun stirbt und das Königreich an seine Tochter fÀllt 
deren Sohn er jetzt durch mich umbringen will, laufe ich da 
nieht die grĂ¶ĂŸte Gefahr? Doch meiner Sicherheit wegen soll 
der Knabe sterben; es soll aber einer von Astyages Leuten 
sein Mörder sein, keiner von meinen.” 

So sprach er und sofort sandte er einen Boten aus zu 
einem von Astyages’ Rinderbirten, der, wie er wußte, gerade 
auf recht schieklicher Hutung hĂŒtete, auf Bergen voll reißender 
Tiere, und dessen Name war Mithradates. Sein Weib war auch 
eine Leibeigene des Astyages und .der Name des Weibes war 
Kyno auf griechisch, auf medisch aber Spako?). 

Als nun der Hirt auf Harpagos’ Befehl mit grĂ¶ĂŸter Eile 
herbeikam, sprach Harpagos also zu ihm: „Astyages gebietet 
dir, dieses KnÀblein zu nehmen und in dem wildesten 


1) Zum Namen Iraxo vgl. Jak. Grimm, Gesch. d. deutsch. Sprache, 89. 
Anmerkung. 
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36 DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. 


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Gebirge auszusetzen, daß es so bald als möglich umkomme, 
und also hat er mir geboten, dir zu sagen: „Wenn du es nicht 
umbringst, sondern am Leben erhĂ€ltst, auf was fĂŒr eine Art 
es sein mag, so sollst du des schmÀhlichsten Todes sterben. 
Und ich habe den Befehl, nachzusehen, ob es wirklich ausge- 
gesetzt ist.” Und als der Hirt das vernommen hatte, nahm er 
das KnĂ€blein und ging wieder heim und kam in seine HĂŒtte. 
Und sein Weib war schwanger und hatte ihre Wehen den 
ganzen Tag und es traf sich, daß sie gerade gebar, als 
der Hirt in die Stadt gegangen war. Und sie waren in großer 
Sorge einer um den anderen. Als er nun aber wieder da war 
und die Frau ihn unverhofit wiedersah, fragte sie zuerst, warum 
Harpagos ihn denn gar so eilig habe rufen lassen. Er aber 
sprach: „Liebes Weib, was ich in der Stadt gesehen und gehört 
habe, das, wollte ich, hÀtte ich nimmer gesehen und wÀre 
nimmer unserer Herrschaft widerfahren. Harpagos’ Haus war 
mit Jammer und Wehklagen erfĂŒllt. Das fiel mir auf, doch 
ging ich hinein. Und alsbald, nachdem ich eingetreten war, 
sah ich ein KnÀblein vor mir liegen, das zappelte und schrie 
und war geschmĂŒckt mit Gold und bunten Kleidern. Als Har- 
pagos mich gewahrte, gebot er mir, eiligst das KnÀblein zu 
nehmen und auszusetzen an den wildesten Ort des Gebirges, 
und er sagte, Astyages hĂ€tte es befohlen, und fĂŒcte noch 
schreckliche Drohworte hinzu, wenn ich es nieht tÀte. Und ich 
nahm das Kind und ging mit ihm weg, in der Meinung, es 
sei der Diener eines; denn noch ließ ich mir nicht trĂ€umen, 


daß es daher entsprossen sei. Unterwegs aber hörte ich die ' 


ganze Geschichte von dem Diener, der mich aus der Stadt 
geleitet und mir das KnĂ€blein eingehĂ€ndigt hatte: daß es ein 
Sohn der Mandane sei, der Tochter des Astyages und des 
Kambyses, des Sohnes des Kyros, und daß Astyages geboten 
habe, ihn umzubringen, und siehe, hier ist er!” 

Als der Hirt so gesprochen hatte, enthĂŒllte und zeigte 
er das Kind und als das Weib sah, das es ein starkes 
und schönes Kind war, weinte sie und fiel ihrem 
Mann zu FĂŒĂŸen und bat ihn, -es doch ja nicht aus- 
zusetzen. Er aber sagte, er könne nicht anders, denn 











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KYROS. — CANDRAGUPTA. 37 








Harpagos wĂŒrde Diener herausschicken, die nachsehen sollten; 
er mĂŒĂŸte des schmĂ€hlichsten Todes sterben, wenn er es nicht 
tĂ€te. Da sprach sie abermals: „Kann ich dich denn nicht 
bewegen, nun so mache es so, wenn sie schlechterdings ein 
ausgesetztes Kind sehen mĂŒssen; auch ich habe geboren, 
aber ein totes Kind; nimm das und setze es aus 
und den Sohn der Tochter des Astyages wollen wir 
aufziehen wie unser eigenes Kind. So wirst du nicht als 
ein ungehorsamer Knecht befunden werden, noch werden wir 
uns selbst schlecht beraten. Denn unser totgeborenes Kind 
wird einer königlichen Bestattung teilhaftig werden und dem, 
lebenden wird das Leben erhalten.” Der Hirt tat, wie seine 
Frau gebeten und geraten hatte. Er legte seinen toten Knaben 
in einen Korb, tat ihm den ganzen Schmuck des anderen an 
und setzte ihn auf dem ödesten Berge aus. Drei Tage darauf 
meldete er dem Harpagos, daß er nun des Knaben Leichnam 
zeigen könne. Da schickte Harpagos seine getreuesten Leib- 
wĂ€chter und ließ den Sohn des Rinderhirten begraben. Den 
anderen aber, der nachher Kyros hieß, erzog das Hirtenweib. Sie 
nannten ihn aber nicht Kyros, sondern gaben ihm einen anderen 
Namen!). 

Und als der Knabe zwölf Jahre alt war, kam es heraus 
durch folgenden Umstand: Er spielte in dem Dorfe, wo auch 
die Rinder standen, mit anderen Knaben seines Alters im 
Wege. Und die Kuaben spielten König und wÀhlten des 
Rinderhirten angeblichen Sohn). Er aber ordnete sie, 





1) Der Name, unter dem Kyros bei den Hirten aufwÀchst, wÀre nach 
Strabo „Agradaies” gewesen. Den Namen Cyrus (gr. Kyros, was nur eine 
GrÀzisierung des persischen Kores, Koresch, d. h. die Sonne ist) nahm er 
wahrscheinlich erst spÀter als König von Persien an. Der Name wird in 
den Ă€ltesten schriftlichen Urkunden in babylonischer Sprache „Kurasch”, 
der große König, der mĂ€chtige König, der König von Babel genannt. 
„Kurasch” bedeutet aber im Susischen „Hirte (ist er)”. (Grundriß d. iran, 
Philol , S. 41öff.) 

2) Das gleiche Königspiel findet man in der indischen Sage von 
Candragupta, dem GrĂŒnder der Maurjadynastie, den seine Mutter nach 
seiner Geburt in einem GefĂ€ĂŸ an dem Tore eines Kuhstalles aussetzte, wo 
ihn ein Hirt fand und aufzog. SpÀter kam er zu einem JÀger, wo er als 





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38 KYROS. — DAS MOTIV DES KONIGSPIELS. 
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die einen, daß sie HĂ€user bauten, die anderen zu LanzentrĂ€gern; 
diese machte er zum Auge des Königs, jenen gab er das Amt, 
die Meldungen hereinzubringen, kurz, jedem gab er s«in eigenes 
GeschÀft. Einer aber von den Knaben, welche mitspielten, war 
Artembares’ Sohn, eines achtbaren Mannes unter den Medern, 
und da er nicht tat, was ihm Kyros befabl, hieß dieser die 
anderen Knaben ihn ergreifen. Und die Knaben gehorchten 
und Kyros zĂŒchtigte ihn mit recht derben SchlĂ€gen. Kaum 
aber ließen sie ihn los, so war er gewaltig böse, als wĂ€re man 
mit ihm unwĂŒrdig umgegangen. Und er lief in die Stadt und 
ı klagte seinem Vater, was Kyros ihm getan. Er sagte aber nicht 
Kyros, denn so hieß er noch nicht, sondern des Rinderhirten 
Sohn. Artembares aber ging mit seinem Sohne voller Zorn 
zu Astyages, sagte, das wĂ€re eine ganz unwĂŒrdige Behandlung 
und sprach also: „Großer König, von deinem Knechte, des 
Hirten Sohn, erleiden wir so schmĂ€hliche Behandlung”; und 
er zeigte ihm seines Sohnes Schultern. 
Als Astyages dies hörte und sah, wollte er dem Knaben 
Genugtuung verschaffen um Artembares’ willen und ließ den 





Kuhhirte mit den anderen Knaben das Königspiel spielte und als König 
befahl, den schweren Verbreehern HĂ€nde und FĂŒĂŸe abzuhauen. (Das weit- 
verbreitete ZerstĂŒckelungsmotiv kommt auch in der Ryros-Sage vor.) Auf 
seinen Befehl kehrten die abgehauenen Glieder dann wieder an ihre Stelle 

\ zurĂŒck. KĂ€nakja, der einmal dem Spiele zusah, bewunderte den Knaben, 
kaufte ihn dem JĂ€ger fĂŒr ein Tausend KĂ€rshĂ€pana ab und entdeckte 
dann zu Hause, daß er ein Maurja sei. (Nach Lassen: Ind. Altertumskunde 
II, 1926, Anm. 1.) Zum „Königspiel”: Als Moses mit drei Jahren wĂ€hrend 
einer Mahlzeit die Krone vom Haupte des Königs herabnahm und sie sich 
aufsetzte, gemahnte Biieam den König an seinen Traum und forderte die 
Hinrichtung des Kindes (GrĂŒnbaum: Neue Beitr. z. semit, Sagenkunde). 
Nach Josephus (JĂŒd. Altert. Il, 7) nahm der Pharao auf Wunsch Seiner 
Tochter den Moses an Kindesstatt an und setzte ihm zum Zeichen dessen 
die Krone aufs Haupt, die der Kleine jedoch in kindischer Weise zu Boden 
warf und mit FĂŒĂŸen trat, worin man eine schlimme Vorbedeutung fĂŒr den 
König erbliekte. — Nero lĂ€ĂŸt seinen Stiefsohn Rufius Crispinus ersĂ€ufen, 
weil er gehört hatte, er stelle beim Sp'elen Feldherrn und Regenten dar 
(Sueton, e. 35). Vgl. auch das Spiel in der Gregorlegende, wobei Gregorius 
seinen Pflegebruder schlÀgt und von seiner Pfilegemutter Basıard gescholten 
wird, 

















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DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. 39 


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Rinderhirten samt seinem Sohne rufen. Und als beide da 
waren, sah Astyages den Kyros an und sprach: 

„Du, eines so geringen Mannes Sohn, hast dich 
erdreistet, so schmÀhlich den Sohn eines Mannes, der bei mir 
in großen Ehren steht, zu behandeln?” 

Er aber antwortete: „Herr, dem ist nichts als sein Recht 
geschehen. Denn die Knaben im Dorfe spielten (er war auch 
‘ darunter) und machten mich zu ihrem Könige, denn sie 
olaubten, ich eignete mich am besten dazu. Und die anderen 
Knaben taten, was ihnen geboten war, der aber war unge- 
horsam und machte sich gar nichts aus mir. DafĂŒr hat er 
seinen Lohn empfangen. Habe ich darum Strafe verdient, siehe, 
hier bin ich!” | 

Als der Knabe also redete, erkannte ihn Astyages sofort. 
Denn die ZĂŒge des Gesichtes deuchten ihm wie seine eigenen 
und die Anwort war wie die eines Edlen; auch traf, wie ihm 
deuchte, die Z:it der Aussetzung zusammen mit dem Alter 
des Knaben. Das fiel ihm auf das Herz und er blieb eine 
Zeitlang sprachlos. Kaum aber war er wieder zu sich gekommen 
so sprach er, denn er wollte gern den Artembares los sein 
auf daß er den Rinderhirten ohne Zeugen verhörte, also: 

„Lieber Artembares, ich werde dafĂŒr sorgen, daß weder 
du noch dein Sohn sich beklagen soll.” Also entließ er den 
Artembares. Den Kyros aber fĂŒhrten die Diener hinein auf 
Astyages’ Befehl und der Rinderhirte mußte da bleiben. Und 
als er nun ganz allein mit ihm war, fragte ihn Astyages aus, 
wo er den Knaben her hĂ€tte und wer ihm denselben ĂŒbergeben. 
Der Hirt aber sagte, es wÀre sein eigener Sohn und 
das Weib, das ihn geboren, lebe bei ihm. Da sayte 
Astyages, es wĂ€re recht unklug von ihm gehandelt, daß ihn 
so verlangte nach der grausamsten Marter, und dabei winkte 
er den LanzentrĂ€gern, daß sie ihn ergriffen. Der Hirt aber 
gestand, als man ihn zur Marterbank fĂŒhrte, die ganze Geschichte 
von Anfang bis zu Ende nach aller Wahrheit und am Ende 
legte er sich aufs Bitten und flehte um Verzeihung und Gnade. 

Astyages aber war auf den Hirten, der ihm die Wahrheit 
offenbart hatte, nicht so erzĂŒrnt wie auf Harpagos; er gebot 











40 DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. 


den LanzentrÀgern, ihn zu rufen, und als Harpagos vor ihm 
stand, fragte ihn Astyages also: 

„Lieber Harpagos, auf welche Art hast du denn meiner 
Tochter Sohn ums Leben gebracht, den ich dir damals 
ĂŒbergab?” 

Und als Harpagos den Hirten gewahrte, wandte er sich 
nicht auf den Weg der Unwahrheit, aus Furcht, er möchte 
sogleich ĂŒberfĂŒhrt werden. 

Harpagos also erzÀhlte die Wahrheit. Astyages aber ver- 
barg den Zorn, den er wegen der Geschichte auf ihn ge- 
worfen hatte, und erzÀhlte ihm zuerst, was er von dem Hirten 
erfahren hatte; dann kam er darauf, daß der Knabe noch 
lebte, und daß es so recht schön gekommen sei. Denn, sagte 
er, es hat mir großen Kummer gemacht, was ich an dem 
Kinde getan habe, und meiner Tochter VorwĂŒrfe sind mir 
durch die Seele gegangen. Da aber die Sache so schön ze- 
kommen ist, so schicke doch fĂŒrs erste deinen Sohn her zu 
unserem neuen Ankömmling und dann komm doch zu mir. 
zu Tische, denn ich bin willens, den Göttern, die das voll- 
fĂŒhrt haben, einen Dankschmaus anzurichten. Ä 

Als Harpagos dies vernahm, warf er sich vor dem Könige 
zur Erde nieder und pries sich glĂŒcklich, daß sein Versehen 
‚zum Guten ausgeschlagen sei und daß er zu Tische geladen 
wĂŒrde wegen einer glĂŒcklichen Begebenheit, und eing nach 
Hause. Und als er nach Hause gekommen war, schickte er 
sofort seinen Sohn weg — es war sein einziger und unge- 
fĂ€hr dreizehn Jahr alt — und gebot ihm, zu Astyages zu gehen 
und zu tun, was der ihm befehle, und er selber voll srober 
Freude erzÀhlte seiner Frau, was ihm widerfahren war. 
Astyages aber schlachtete des Harpagos’ Sohn als dieser zu 
ihm kam, schnitt ihn in StĂŒcke und briet das Fleisch zum 
Teil, zum Teil ließ er es kochen, und da alles wohl bereitet 
war, hielt er es fertig. Darauf, als die Stunde des Mahles da 
war, kamen Harpagos und die ĂŒbrigen GĂ€ste. Vor Ästyages 
nun und den ĂŒbrigen ward ein Tisch angerichtet mit Hammel- 
fleisch, dem Harpagos aber ward seines eigenen Sohnes Fleisch 
aufgetragen, ohne den Kopf und das Klein von HĂ€nden und 








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41 


DIE KYROSSAGE NACH HERODOT. E 
FĂŒĂŸen, das andere alles. Dies lag besonders verdecktin einem 
Korbe. Als nun Harpagos gesÀttigt zu sein schien, fragte ihn 
Astyages, ob ihm das Gericht gut geschmeckt hÀtte, und als 
Harpagos versicherte, es hÀtte ihm sehr gut geschmeckt, 
brachten die Diener, die dazu bestellt waren, seines Sohnes 
verdeckten Kopf nebst HĂ€nden und FĂŒĂŸen und traten vor 
Harpagos und hießen ihn aufdecken und nehmen, was ihm 
beliebte. Und Harpago tat also, deckte auf und erblickte die 
Überbleibsel seines Sohnes. Und als er das sah, entsetzte er 
sich nicht, sondern verbiß es. Da fragte ihn Astyages, ob er 
wohl wĂŒĂŸte, von welchem Wildpret er gegessen habe, und er 
anwortete, er wisse es sehr wohl, und was der König tue, das 
sei alles wohlgetan. Also sprach er, nahm das ĂŒbrige Fleisch 
und ging damit nach Hause. Hier, denke ich, wollte er es zu- 
sammen begraben. 

Dem Harpagos nun hatte Astyages eine solche Rache 
bereitet, ĂŒber Kyros aber ging er zu Rat und hieß dieselben 
Magier rufen, die ihm den Traum ausgelegt hatten, und fragte 
sie, wie sie ihm jenes Traumgesicht damals ausgelegt hÀtten. 
Sie aber sagten wieder ebenso: Der Knabe mĂŒĂŸte König werden, 
wenn er am Leben bliebe und nicht zuvor stĂŒrbe Er aber 
antwortete folgendes: 

„Der Knabe lebt und ist da, und da er sich auf dem 
Lande aufhielt, haben sich ihn die Knaben des Dorfes zum 
König gewÀhlt. Er hat aber alles so gemacht wie die wirk- 
lichen Könige. Denn er hat sich als Herrscher LanzentrÀger 
und TorwÀrter und Botschaftbringer bestellt und alles. Was 
dĂŒnkt euch nun dieses zu bedeuten?” 

Die Magier antworteten: „Wenn der Knabe lebt und König 
eewesen ist ohne jemandes Zutun, so kannst du seinetwegen 
dich zufrieden geben und guten Mutes scin; denn nunmehr 
wird er nicht zum anderen Male König werden. Denn auch uns 
sind schon etliche Weissagungen auf das Unbedeutende ge- 
eangen und leicht wird nichtig, was auf TrÀumen beruht. 

Astyages antwortete: „Ihr Magier, ich bin ganz eurer 
Meinung, daß der Traum in-ErfĂŒllung gegangen sei, da der 
Knabe dem Namen nach König ‘gewesen ist, und daß ich nichts 





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42 KYROS. — ARDASCHIR. 








mehr von ihm zu fĂŒrchten habe. Aber dennoch ratet mir vor- 
sichtig, was das Sicherste sei fĂŒr mein Haus und fĂŒr euch.” 

Darauf sprachen die Magier: — — — — — — — „Den 
Knaben sende fort, daß er dir aus den Augen komme, ins 
Perserland zu seinen Eltern.” 

Als Astyages das vernommen hatte, freute er sich sehr, 
Er hieß den Kyros kommen und sprach zu ihm: 

„Mein Sohn, ich habe dir großes Unrecht getan, durch 
ein trĂŒgerisches Traumbild verfĂŒhrt, doch dein gutes GlĂŒck 
hat dich gerettet. Jetzt gehe freudigen Mutes nach dem Perser- 
land, ich werde dich geleiten lassen; da wirst du einen ganz 
anderen Vater und eine ganz andere Mutter finden als 
den Hirten Mithradates und sein Weib.” Also sprach 
Astyages und sandte den Kyros fort. Als er zur Behausung 
des Kambyses kam, empfingen ihn die Eltern mit großer Freude, 
nachdem sie erfahren hatten, wer er sei, da sie glaubten, er 
sei damals umgekommen, und verlangten zu wissen, auf welche 
Weise er erhalten worden sei. Er sagte ihnen, daß er gemeint 
habe, der Sohn des Rinderhirten zu sein; aber von den Ge- 
leitern, die Astyages ihm mitgegeben hÀtte, habe er unterwegs 
alles erfahren. Er erzĂ€hlte, daß ihn des Rinderhirten Weib 
aufgezogen habe, er lobte sie durchaus und die HĂŒndin (die Spako) 
war die Hauptsache in seinen Reden. Diesen Namen oriffen die 
Eltern auf, damit den Leuten die Erhaltung des Kindes um so 
wunderbarer vorkÀme, und legten so den Grund zu der Sare, 
daß eine HĂŒndin den ausgesetzten Kyros gesĂ€uct habe. 

SpÀter wiegelt Kyros, von Harpagos angespornt, die Perser 
gegen die Meder auf. Es kommt zum Krieg und Kyros, an der 
Spitze der Perser, besiegt die Meder in der Schlacht. Astyaoes 
wird lebend gefangen genommen, aber Kyros tat ihm kein Leid, 
sondern behielt ihn bei sich bis an sein Ende. Herodots Bericht 
schließt dann mit den Worten: „Die Perser aber und Kyros 
herrschten von der Zeit an ĂŒber Asien. Also ward Kyros ge- 
boren und auferzogen und ward König”!), 


!) Es ist bemerkenswert, daß die Sage an den BegrĂŒnder des zweiten 
persischen Reiches, Ardaschir, Ă€hnlich wunderbare und romantische ZĂŒge 
wie an Cyrus knĂŒpft, Vgl. Noeldecke (Aufs. z. pers. Gesch., Leipzig 1887), 


- 








KYROS NACH JUSTINUS. 


Der Bericht des Pompejus Trogus ist uns nur in Justins!) 
Auszug erhalten: Astyages hatte zwar eine Tochter, aber keinen 
mĂ€nnlichen Erben. Er sah im Traum aus ihrem Schoß einen 
Weinstock aufwachsen, dessen SchĂ¶ĂŸlinge ganz Asien 
ĂŒberschatteten. Die Traumdeuter erklĂ€rten, daß das Gesicht die 
GrĂ¶ĂŸe des Enkels, den seine Tochter gebĂ€ren werde, ihm aber 
den Verlust der Herrschaft bedaeute. Dieser Furcht ledig zu 
werden, habe Astyages seine Tochter weder einem hervorragenden 
Manne noch einem Meder zur Frau gegeben, damit nicht das vÀter- 
liche neben dem mĂŒtterlichen Ansehen den Sinn des Enkels erhebe, 
sondern dem Kambyses, einem mittleren Manne aus dem damals un- 
bekannten Volke der Perser, Aber auch dies habe des Astyages 
Furcht nicht beseitigt: er habe die schwangere Tochter zu sich be- 
schieden, um deren Frucht unter seinen Augen töten zu 
lassen. Als ein Knabe geboren war, gab er ihn dem Harpagos, 
seinem Freunde und Vertrauten, um ihn zu töten. Aus Furcht, daß 
des Astyages Tochter, wenn die Regierung nach dem Tode des 
Vaters an sie komme, fĂŒr den Tod ihres Knaben an ihm Rache 
nehmen werde, ĂŒbergab er das Kind dem Hirten des 
Königs zur Aussetzung. Zu derselben Zeit, als Kyros 
geboren wurde, war zufÀllig auch dem Hirten ein Sohn ge- 
boren worden, Als sein Weib gehört hatte, daß das Kind des 
Königs ausgesetzt sei, bat sie dringend, es möge ihr gebracht werden, 
damit sie es betrachten könne. Der Hirt ließ sich durch ihre 
Bitten bewegen und kehrte in den Wald zurĂŒck. Hier fand er 
neben dem Kind eine HĂŒndin stehen, die ihm ihre Euter 


hinhielt und die Tiere und Vögel von ihm abwehrte. Bei 


diesem Anblick wurde er von gleichem Mitleid ergriffen wie die 


der auch die Geschichte des ArtachSir aus dem Pehlewi ĂŒbersetzte (Festschr. 
{. Benfey). Derselbe Stoff ist behandelt von Firdusi im „SchĂ€hnĂ€me” (vgl. 
Gutschmied in Zschr. d.D.M. G. 34, 585 ff.) Auch Cyrus, dem ReichsgrĂŒnder 
in Tibet (im 4. Jahrh, v. Chr.), wird — wie Schmidt in seiner Gesch. d, 
Ostmongolen ($. 20 bis 27) versichert — eine an die Findung des Cyrus bei 
Herodot erinnernde Kindheitsgeschichte angedichtet 

1) Justinus: Auszug aus des Pompeius Trogus Philippischer Geschichte 
(1, 4 bis 7). So weit Justins Anszug erkennen lĂ€ĂŸt, dĂŒrften der ErzĂ€hlung 
des Trogus Deinons (in der ersten HĂ€lfte des 4. Jahrh. v. Chr. geschrie- 
bene) persische Geschichten zugrunde liegen. 


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44 KYROS NACH KTESIAS. 
HĂŒndin. Er nalım daher den Knaben auf und trug ihn in seine 
Wohnung, wobei die HĂŒndin ihm voller Besorgnis folgte. Als 
seine Frau den Knaben auf ihren Arm nahm, lÀchelte er sie an, 
als ob sie ihm schon bekannt wÀre; und da er sehr krÀftig war 
und sich durch sein anmutiges LĂ€cheln bei ihr einschmeichelte, so 
bat sie den Hirten aus freien StĂŒcken, er möchte (ihr Kind 
statt jenes aussetzen und)!) erlauben, den Knaben aufzu-. 
ziehen, sei es daß sie sein GlĂŒck im Auge hatte oder daß sie 
auf ihn ihre Hoffnung setzte. So mußten nun beide Knaben 
ihr Los vertauschen: der eine wurde an Stelle des Hirten- 
kindes aufgezogen, der andere wurde statt des Enkels 
des König ausgesetzt. 

Die Fortsetzung dieses anscheinend ursprĂŒnglicheren Berichtes 
stimmt mit der Herodotischen ErzĂ€hlung im wesentlichen ĂŒberein. 


Eine ganz abweichende Version aber ist uns erhalten in 
dem Bericht eines Zeitgenossen Herodots, des Ktesias, dessen 
Verlust durch ein Fragment des Nikolaos von Damaskos?) aus- 
geglichen wird. „Das Fragment des Nikolaos gibt die ErzĂ€hlung 
des Ktesias, die in seiner persischen Geschichte mehr als ein 
Buch umfaßte, zusammenfassend wieder: Astyages soll der edelste 
König der Meder nach dem Arbakes gewesen sein. Unter seiner 
Herrschaft geschah die große Umwandlung, durch welche die Herr- 
schaft von den Medern an die Perser kam, und zwar aus fol- 
gender Ursache, Es war ein Gesetz bei den Medern, daß der 
Arme, welcher des Unterhaltes wegen zum Reichen geht und sich 
ihm ĂŒbergibt, von diesem ernĂ€hrt und gekleidet und einem Sklaven 
gleichgehalten werde; gewÀhrt der Reiche das nicht, so steht es 
dem Armen frei, zu einem anderen zu gehen, So kam ein Knabe 
des Namens Kyros, von Geburt ein Meder, zu dem Diener des 
Königs, der ĂŒber die Palastkehrer gesetzt war, Kyros war der 
Sohn des Atradates, der aus Armut vom Raube, und 
dessen Frau, Argoste, des Kyros Mutter, davon lebte, daß 
sie Ziegen hĂŒtete. Kyros ĂŒbergab sich jenem des Brotes wegen, 
reinigte im Palaste und da er fleißig war, gab ihm der Vorsteher 


!) Dieeingeklammerten Worte sollen in manchen Handschriften fehlen. 
2) Nicol., Damascen, Fragm. 66. Ctes, Fragm, Pers. ?, 5. 














KYROS NACH KTESIAR. 45 


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bessere Kleidung und brachte ihn von denen, welche außen 
kehrten, zu denen, die im Innern beim Könige reinigten, und 
stellte ibn unter deren Aufseher. Der aber war streng und 
peitschte den Kyros oft. Kyros verließ diesen und ging zum 
LichtanzĂŒnder, der ihn gern hatte und dem Könige nĂ€herbrachte, 
indem er ihn unter dessen LichttrÀger setzte. Da Kyros sich auch 
unter diesen auszeichnete, kam er zum Artembares, der den 
Weinschenken vorstand und dem Könige selbst die Schale dar- 
reichte. Dieser nahm den Kyros gern an und hieß ihn, den Tisch- 
genossen des Königs einschenken. Nicht lange darauf bemerkte 
Astyages, wie geschickt und gewandt Kyros aufwartete und wie 
stattlich er die Schale darreichte, und fragte den Artembares, 
woher der JĂŒngling sei, der so gut einschenke, „O Herr”, sagte 
jener, „er ist dein Sklave, ein Perser von Geschlecht, aus dem 
Stamme der Marder, der sich mir, um sein Leben zu fristen, 
ĂŒbergeben hat.” Artembares war alt und einst, als er vom Fieber 
ergriffen war, bat er den König, zu Hause bleiben zu dĂŒrfen, 
bis er genesen sei: „Statt meiner wird der JĂŒngling, welchen du 
lobst, den Wein schenken, und wenn er dir, dem Herrn, als 
Schenke genĂŒgen sollte, so werde ich, der Eunuch, ihn zum 
Sohn annehmen.” Astyages war es zufrieden, jener aber empfahl 
dem Kyros vieles wie einem Sohne. Kyros stand nun an der 
Seite des Königs und schenkte ihm bei Tage urd zur Nacht ein 
und zeigte viel Besonnenheit und TĂŒchtigkeit. Und Astyages gab 
ihm, als dem Sohne des Artembares, dessen EinkĂŒnfte und fĂŒgte 
noch viele Geschenke hinzu und Kyros war groß und man 
hörte seinen Namen ĂŒberall, 

Astyages aber hatte eine sehr edle und schöne Toclhter!). 

Diese gab er dem Meder Spitamas und fĂŒgte ganz Medien 
als Mitgift hinzu. Da ließ Kyros seinen Vater und seine Mutter 
aus dem Lande der Meder kommen und sie freuten sich des An- 
sehens ihres Sohnes und seine Mutter erzÀhlte ihm den 
Traum, welchen sie gehabt, als sie ihn im Schoße ge- 
tragen, und die Ziegen hĂŒtend, im Heiligtum. eingeschlafen sei: 
Es sei so viel Wasser von ihr gegangen, daß es einem 


1) Diese Tochter heißt bei Ktesias Amytis (nicht Mandane), 


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46 KYROS NACH KTESIAS. 
großen Strom gleich geworden, ganz Asien ĂŒberschwemmt 
habe und bis zum Meer geflossen sei. Als der Vater dies 
hörte, gebot er, den Traum den CialdÀern in Babylon vo:zulegen. 
Kyros ließ den KlĂŒgsten von ihnen kommen und teilte ihm den 
Traum mit. Dieser erklĂ€rte, daß der Traum ihm großes GlĂŒck 
anzeire und die höchste WĂŒrde in Asien; Astyages aber 
dĂŒrfe nichts davon erfahren; „sonst wĂŒrde er dich schmĂ€hlich um- 
bringen und mich, den Ausleger, dazu,” sagte der Babylonier. Sie 
schwuren einander zu, dieses große und keinem gleiche Gesicht 
niemandem mitzuteilen. Kyros kam darnach zu noch grĂ¶ĂŸeren 
Ehren, machte seinen Vater zum Satrapen von Persien 
und seine Mutter an Besitz und Ansehen zur ersten unter 
den Frauen Persiens. 

Als aber bald darauf Öbares, der Vertraute des Kyros, 
den Babylonier tötet, verrÀt dessen Frau dem König den ver- 
heißungsvollen Traum, als sie von der Reise des Kyros nach 
Persien hört, die er zur Vorbereitung des Aufstandes unternommen 
hatte. Der König sendet dem Kyros Reiter nach mit dem Auftrag, 
ihn tot oder lebend einzuliefern. Aber Kyros weiß sie zu ĂŒber- 
listen und entkommt ihnen, Schließlich kommt es zum Kampfe 
der mit der Niederlage der Meder endet; Kyros nimmt auch 
Egbatana ein. „Hier wurden des Astyages Tochter und deren 
Mann Spitamas samt ihren beiden Söhnen gefangen. Aber Astyages 
selbst war nicht zu finden; Amytis und Spitamas hatten ihn im 
Palaste, im GebÀlk des Daches, versteckt. Da habe Kyros befohlen, - 
die Amytis, ihren Mann und die Kinder zu foltern, damit sie ge- 
stÀnden, wo Astyages sei; dieser aber sei freiwillig hervorgekommen, 
damit die Seinen nicht seinetwegen gefoltert wĂŒrden. Den Spitamas 
nun habe Kyros hinrichten lassen, weil er gelogen habe, 
indem er behauptete, den Versteck des Astyages nicht zu kennen; 
die Amytis aber habe er selbst zum Weibe genommen. 
Den Astyages, welchen Öbares mit schweren Banden gefesselt 
hatte, löste er und ehrte ihn wie einen Vater und machte 
ibn zum Satrapen der Barkanier.” 


Der Herodotischen Version der Kyrossage ist die Jugend- 
geschichte des iranischen Königshelden Kaikhosrav, wie sie 








KAIKHOSRAV, 47 
Firdusi im SĂ€h-nĂ€me erzĂ€hlt, ganz Ă€hnlich; am ausfĂŒhrlichsten 
ist die Sage von Spiegel (Eranische Altertumskunde I, 581 u.ff) 
wiedergegeben: WÀhrend eines Krieges, den der König KaikÀus 
von Baktrien und Iran gegen den König AfrÀsiÀb von Turan 
fĂŒhrte, entzweite sich KaikĂ€us mit seinem Sohne SiĂ€vaksh, 
der sich nun an AfrÀsiÀb um Schutz und Hilfe wandte. Er wurde 
freundlich aufgenommen und AfrÀsiÀb gab ihm sogar seine Tochter 
Feringis zur Frau, wozu er sich durch seinen Wesir PirĂ€n ĂŒberreden 
ließ, obwohl ihm geweissagt worden war, daß der aus 
dieser Verbindung hervorgehende Sohn einmal großes 
UnglĂŒck ĂŒber ihn bringen werde. Garsövaz, des Königs Bruder 
und ein naher Verwandter des SiÀvaksh, verleumdet den Schwieger- 
sohn bei AfrÀsiÀb, der nun mit einem Heere gegen ihn zieht. 
Vor der Geburt seines Sohnes wird SiÀvaksh durch einen 
Traum gewarnt, der ihm Untergang und Tod, dem SprĂ¶ĂŸ- 
ling aber die Herrschaft verhieß. Er flieht daher vor AfrĂ€siĂ€b, 
wird aber gefangen und auf Befehl des SÀh getötet. Sein schwan- 
geres Weib wird von PirÀn aus den HÀnden der Henker gerettet. 
Gegen die Verpflichtung, die Entbindung der Feringis dem König 
sofort anzuzeigen, erhÀlt PirÀn die Erlaubnis, sie in seinem Hause 
zu behalten, Einst verkindigt ihm im Traum der Schatten des 
ermordeten SiÀvaksh, ihm sei ein RÀcher geboren worden, und 
wirklich findet PirÀn im Gemache der Feringis einen neugeborenen 
Knaben, den er Kaikhosray nennt, AfrÀsiÀb bestand nun nicht 
mehr auf der Tötung des Knaben, aber er befahl dem PirÀn, das 
Kind nebst einer Amme den Hirten zu ĂŒbergeben, die 
ihn in Unkenntnis seiner Herkunft aufziehen sollten. Bald 
offenbart sich aber seine königliche Abstammung in seinem Mut 
und seinem Benehmen; und da PirÀn den Knaben wieder in sein 
Haus nimmt, wird AfrĂ€siĂ€b mißtrauisch und lĂ€ĂŸt sich ihn vorfĂŒhren, 
Auf PirÀns Belehrung stellt sich nun Kaikhosrav töricht!), und 


1) Vgl. auch die Törichtprobe des Moses (nach Bergell. ce): Im 
Palast setzt er einst des Königs Krone auf, der ihn darum auf die Probe 
stellt, ob er zu großen Dingen berufen wĂ€re: Er lĂ€ĂŸt zwei GefĂ€ĂŸe vor ihn 
hinstellen, in einem ist Gold, im andern glĂŒhende Kohlen. Er greift nach 
der Kohle, fĂŒhrt den verbrannten Finger zum Munde und versengt sich 
damit die Zunge; seitdem stottert er. — Ähnlich verbrennt sich Siegfried den 


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48 DIE TÖRICHTPROBE: HAMLET. — KULLERWO. 


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beruhigt ĂŒber die UngefĂ€hrlichkeit des Knaben entlĂ€ĂŸt ihn der 
SĂ€h zu seiner Mutter Feringis. Schließlich wird Kaikhosrav von 
seinem Großvater KaikĂ€us zum König gekrönt. Nach langen, ver- 
wickelten und mĂŒhevollen KĂ€mpfen gelingt es schließlich mit 
göttlicher Hilfe, des AfrÀsiÀb habhaft zu werden, Kaikhosrav 
schlĂ€gt ihm den Kopf ab und lĂ€ĂŸt auch den Garsevaz onthaupten, 


- Auf Grund des Motivs vom verstellten Wahnsinn und 
einiger anderen ĂŒbereinstimmenden Motive hat Jiriczek („Hamlet 
in Iran” in der Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde, Band 10, 1900, 
S. 353 uf.) die Hamletsage als eine Variante der iranischen 
Sage von Kaikhosrav hingestellt, ein Gedanke, der dann von Heinr, 
Leßmann (Die Kyrossage in Europa, a. a. OÖ.) weiter ausgefĂŒhrt 
wurde, Leßmann zeigt, daß die Hamletsage wieder in einigen 
Punkten, so im Törichtstellen, auffÀllig mit der Brutus- und Tell- 
sage ĂŒbereinstimmt und weist auch auf die Geschichte Davids hin, 
wie sie in den BĂŒchern Samuelis erzĂ€hlt wird!), Auch dort ist 
der königliche Sprosse, David, zu einem Hirten gemacht, der all- 
mÀhlich die soziale Rangleiter bis zum Köuigsthron emporsteigt. 
Auch er bekommt die Tochter des Königs (Sauls) zur Frau und 
der König stellt seinem Leben na-h; aber immer wird David auf 


wunderbare Weise aus den grĂ¶ĂŸten Grfahren gerettet. Auch er. 


entgeht dadurch, daß er Wahusinn heuchelt, sich töricht steilt, der 
Verfolgung. 

Zur Hamletsage stimmt auffĂ€llig die finnische Überlieferung 
von Kullerwo. Untamo, im Krieg gegen seinen Bruder Ka'erwo, 
tötet ıhn und sein ganzes Geschlecht, bis auf ein schwangeres 
Weib, die in Untamos Haus Kullerwo — als RĂ€cher seines Ge- 
sehlchtes — gebiert. Untamo möchte sich des Knaben, von dem 
er Gefahr fĂŒrchtet, entledigen: man setzt ihn in einem Faxsse 
aufs Wasser aus, er bleibt am Leben und erweist sich auch 
gegen Feuer und Luft (aufhĂ€ngen) gefeit. Als Knecht verĂŒbt er 


Finger am Drachenblut, das er zum Munde fĂŒhrt, woraul er die Spraehe 
der Vögel versteht. 
!) Den biblischen Charakter dieses ganzen Sagenkreises betont auch 


Jiriezek: er findet in der ErzĂ€hlung vom Tode des SiĂ€vaksh ZĂŒge aus 


der Passion des Heilands. 











KALEWI-POEG — FERIDUN, 49 


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Eulenspiegeleien (Dummstellen) und kommt nach dem Dienst bei 
Ilmarinen wieder in seine Familie. Im Walde ĂŒberwĂ€ltigt er 
unerkannt seine Schwester, die sich ins Wasser stĂŒrzt (vgl. 
das Àhnliche Schicksal Ophelias), als sie erfÀhrt, wer er ist; auch 
er klagt, er möchte lieber als Kind getötet worden sein (Hamlets 
Pessimismus!), Schließlich unternimmt er einen Rachezug gegen Untamo, 
findet aber bei seiner RĂŒckkehr seine Familie nicht und endet durch 
Selbstmord an der Stelle, wo er seine Schwester geschÀndet hatte. 

Bei den Esten ist die im Finnischen episodische Kalerwo- 
Sage der einzige Stoff der Epik. Der estnische Held ist Kalewi- 
Poeg, Kalew-Sohn. Sein Vater stirbt vor seiner Geburt, seine 
Mutter wird von einem finnischen Zauberer geraubt. Er schwimmt 
ihr nach Finnland nach. Auf der Insel schwÀcht er ein MÀdchen, 
(dessen Schwestercharakter vergessen ist wie bei Ophelia), das sich 
ertrÀnkt. Zur Befreiung seiner Mutter erschlÀgt er den Zauberer, 
findet aber die Mutter schon tot. Er steigt in die Unterwelt und 
kommt schließlich durch sein eigenes Schwert um (Hamlet!). (Vgl. 
zum ganzen Sagenkreis SetÀlÀ: Kullerwo-Hamlet. Ein sagenver- 
gleichender Versuch. Helsingfors.) 

Im finnischen Epos Kalewala (1. Rune) wird der Held 
WainÀmoinen von der durch Wind und Wogen geschwÀngerten 
Wassermutter geboren und treibt lange auf den Wogen um- 
her, bis er endlich ans Ufer gelangt, Er wirbt dann als JĂŒngling 
um Jonkahainens Schwester, die ihn nicht mag und sich ins 
Meer stĂŒrzt, aus dem sie der Held in Fischgestalt rettet. SpĂ€ter 
stĂŒrzt sie ihn jedoch ins Meer, wo er mehrere Tage schwimmt, bis 
ihn ein Adler rettet, 

Eine gewisse, jedoch schon entferntere Ähnlichkeit mit der 
Kaikhosravsage weist der iranische Mythus von Feridun auf, wie 
ihn Firdusi in seinen „Persischen Heldensagen” (ĂŒbersetzt von 
Schack) erzÀhlt. ZohÀk!), der König von Iran, sieht einst im 


1) Der Name ZohĂ€k ist eine VerstĂŒmmelung der ursprĂŒnglich zendi- 
schen Bezeichnung Ashi dahaka (AZiS-dahaka), verderbliche Schlange (siehe: 
Die Sage von FeridĂŒn in Indien und Iran von Dr. R. Roth in der Zeitschr. 
der Deutsch. morgenl. Ges. II, 216 uff.), welchen Namen (Ashdahak) die 
Armenier nach Oppert in Astyages umbenannt haben. Dem iranischen 
FeridĂŒn entsprieht der indische Trita, dessen avestischer Doppel- 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. 2, Aufl. 4 


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50 FERIDUN. — TRAKHAN. . 


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Traum drei MÀnner königlichen Stammes; zwei vom Alter | 
gebeugt, in ihrer Mitte aber einen jĂŒngeren, der eine Keule 
mit einem Stierkopf in der Rechten hÀlt, auf ihn zutritt und ihn 
mit der Keule zu Boden schlÀgt. Die Traumdeuter erklÀren 
dem König, der junge Held, der ihn vom 'Ihrone stoßen werde, 
sei Feridun, ein SprĂ¶ĂŸling vom Stamme des Dschemschid. Sogleich 





beginnt ZohĂ€k, die Spuren des GefĂŒrchteten zu suchen. Feridun 
ist der Sohn Abtins, eines Enkels des Dschemschid. Sein Vater 
verbirgt sich vor den Nachstellungen des Tyrannen, wird aber 
ergriffen und getötet, Ihn selbst, den noch zarten Knaben, rettet 
seine Mutter FirÀnek, indem sie mit ihm flieht und ihn 
dem HĂŒter eines entlegenen Waldes zur Pflege ĂŒbergibt. | 
Dort wird er von der Kuh PĂŒrmĂ€je gesĂ€ugt; drei Jahre 3 
bleibt er da, dann glaubt ihn seine Mutter nicht mehr sicher und 
trÀgt ihn auf den Berg Alburs zu einem Einsiedler. Bald darauf | 
kommt ZohĂ€k in den Wald und tötet den HĂŒter sowie PurmĂ€je, $ 
Als Feridun sechzehn Jahre alt war, stieg er vom Alburs herunter, 4 
erfuhr von der Mutter seine Abkunft und schwur, den Tod seines 
Vaters und seiner ErnÀhrerin zu rÀchen. Auf dem Zuge gegen Zo- 
hĂ€k begleiten ihn seine beiden Ă€lteren BrĂŒder PurmĂ€je und . 
KayĂ€nush. Die Keule, die er sich schmieden lĂ€ĂŸt, schmĂŒckt er 
zum Andenken an die Kuh mit dem Stierkopf; mit dieser Keule A 
trifft er dann, wie es der "Traum ankĂŒndiste, den ZohĂ€k. i 





Trakhan. 


Eine Àhnliche Geschichte wird von der Aussetzung und 3 
Rettung Trakhans, des Königs von Gilgit, erzÀhlt, einer Stadt, 9 
die in mehr als 5000 Fuß Höhe im ewigen Schnee des Hima- Br 
laja gelegen, in alten Zeiten Sitz eines mÀchtigen Herrscher- u 
geschlechtes war. Aus diesem ragte besonders Trakhan, | 
der zu Anfang des XIII. Jahrhunderts regierte, hervor. Er | 
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gĂ€nger Thraetaona ist. Die zuletzt genannte Form ist am ĂŒberwiegendsten 
beglaubigt; daraus entstand durch Übergang der Hauchlaute PhrödĂŒna, 


dann FredĂŒn oder Afreödun; Feridun ist neuere Verderbung. Vgl. Fr, 
Spiegels ErÀnische Altertumskunde, I, S. 537 u. ff. 


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soll der sirengste und stolzeste König gewesen sein und 
die Überlieferung ĂŒberbietet ‘sich selbst in den Schilde- 
rungen seiner Erlebnisse und Taten?). Die ErzÀhlung von 
seiner Geburt und Aussetzung lautet: (nach Frazer: The Folk- 
lore in the Old Testament, London 1919, Vol. U, p. 452): Sein 
Vater Tra-Trakhan, König von Gilgit, hatte eine Frau aus 
einer Familie in Darel geheiratet. Er huldigte leidenschaftlich 
dem Polospiel und begab sich jede Woche nach Darel, um 
mit den sieben BrĂŒdern seiner Frau zu spielen. Einst setzten 
sie fest, daß der Gewinner seine Partner töten sollte; der 
König blieb nach hartem Kampf Sieger und tötete seine 
sieben SchwÀger. Seine Frau rÀchte sogleich den Tod ihrer 
BrĂŒder und vergiftete den König, an dessen Stelle sie dann 
herrschte. Einen Monat nach der Beseitigung des Königs gebar 
die Königin einen Knaben von ihm, den sie Trakhan nannte. 
Sie konnte aber das Kind des Mörders ihrer BrĂŒder. nicht 
sehen, legte es darum in ein HolzgefĂ€ĂŸ und warf dieses 
heimlich in den Fluß. Der Strom schwemmte das GefĂ€ĂŸ bis 
Hoder, einem Dorf im Chilasdistrikt. Dort erbliekten zwei 
arme BrĂŒder, die in dem GefĂ€ĂŸ einen Schatz vermuteten, 
das KĂ€stchen und einer von ihnen watete in den Fluß, um es 
ans Land zu bringen. Um keinen Verdacht zu erregen, hĂŒllten 
sie das KĂ€stchen in ein BĂŒndel und brachten es nach Hause. 
Dort fanden sie zu ihrer Überraschung einen lebenden Knaben 
darin, den ihre Mutter mit großer Sorgfalt aufzog. Mit dem 
Knaben war das GlĂŒck in ihr Haus eingezogen und die 
BrĂŒder wurden bald reich und angesehen. Mit 12 Jahren 
faßte der Findelknabe den Entschluß, nach Gilgit zu ziehen, 
von welcher Stadt er viel gehört hatte. 

So machten sich also seine beiden PflegebrĂŒder mit ihm 
auf den Weg. Unterwegs machten sie an einem Orte, Baldes, 
auf der Spitze eines HĂŒgels, halt. Nun war seine Mutter noch 
Köniein von Gilgit, aber da sie sehr krank war und keinen 
Nachfolger hatte, suchte das Volk nach einem König, der von 


 ——— 


1) Major J. Biddneph, Tribes of the Hindoo Koosh. Caleutta 1880. 
Ghulam Muhammed „Festivals and Folk-lore of Gilgit”. Memoirs of 
the asiatie Soeiety of Bengal. Vol. I, Nr. 7 (Caleutta 1905), p-. 124 ft. 
4 





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52 ‘“ ROMULUS. 


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irgendwoher kĂ€me, um ĂŒber sie zu herrschen. Eines Morgens 
nun krÀhten die HÀhne im Dorfe nicht wie gewöhnlich, sondern 
„Beldas tham bayi”, was so viel bedeutet wie: „Es ist ein 
König in Beldas”. Da wurden MĂ€nner ausgesandt, um alle 
Fremdlinge, die zu finden wÀren, zu bringen. Die Boten fanden 
die drei BrĂŒder und brachten sie vor die Königin. Da Trakhan 
stattlich und hĂŒbsch war, wandte sich die Königin an ihn und 
erfuhr im Laufe der Unterredung seine Geschichte. Zu ihrer 
Freude und Überraschung erkannte sie in ihm ihren verloren 
geglaubten Sohn, den sie in einer Aufwallung von Schmerz 
und Rache in den Fluß geworfen hatte. Sie umarmte ihn und 
erklĂ€rte ihn zum rechtmĂ€ĂŸigen König von Gilgit. 


Romulus. 


Die ursprĂŒngliche Fassung der ErzĂ€hlung von Romulus 
und Remus bei dem Àltesten römischen Annalisten, Fabius 
Pictor, lautet nach Mommsen!): Die von der llia, der Tochter 
des frĂŒheren Königs Numitor, aus der Umarmung des 
Gottes Mars geborenen Zwillinge befahl der jetzige 
Herr von Alba, König Amulius, in den Fluß zu werien. 
Die Diener des Königs nahmen die Kinder und trugen sie 
von Alba bis an den Tiber auf den HĂŒgel des Palatin; aber 
als sie von diesem zum Flusse hinabsteigen wollten, um den 
Befehl zu vollziehen, fanden sie ihn ausgetreten und ver- 
mochten das Strombett nicht zu erreichen. So schoben sie 
die Wanne mit den Kindern in das flache Uferwasser. Sie 
schwamm eine Weile; aber die Wasser traten bald 
zurĂŒck und da sie gegen einen Stein stieß, fiel sie 
um; schreiend lagen die Kinder im Schlamm. Das hörte 
eine Wölfin, die eben vorher geworfen und die Euter 
schwer von Milch hatte, und sie kam herbei und 


1) Th, Mommsen: Die echte und die falsche Acca Larentia; in: 
Festgaben fĂŒr G. Homeyer (Berlin 1871), S. 93. uff., und: Röm. Forschungen 
(Berlin 1x79), IL, S. 1 uff, Mommsen konstruiert die verlorene ErzÀhlung 
des Fabius nach den erhaltenen Berichten des Dionysios (1, 79—83) und 
Plutarchs (Romulus). 


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ROMULUS NACH FABIUS PICTOR. 55 


reichte den KnÀblein die Zitzen, um sie zu trÀnken, 
und wÀhrend sie tranken, leckte sie sie mit der Zunge rein. 
Über ihnen flog ein Specht; er hĂŒtete die Kinder und trug 
ihnen gleichfalls Speise zu. Der Vater waltete ĂŒber seinen 
Söhnen; denn Wolf und Specht sind die heilieen Tiere des 
Vaters Mars. Das sah einer der königlichen Hirten, welcher 
die Schweine wieder zurĂŒcktrieb auf die vom Wasser frei 
gewordene Flur, und er staunte und rief die Genossen; die 
fanden die Wölfin, wie sie mĂŒtterlich sorgte fĂŒr die Kinder 
und die Kinder zu ihr waren wie zu einer Mutter. Und sie 
machten einen großen LĂ€rm, um das Tier zu verscheuchen. 
Aber die Wölfin ward nicht scheu; sie ließ von den Kindern, 
aber nicht aus Furcht; langsam und ohne um die Hirten sich 
u kĂŒmmern, verschwand sie bei der heiligen StĂ€tte des 
Faunus, wo aus einer Schlucht des Berges das Wasser hervor- 
sprudelt, in das Dickicht des Waldes. Die MĂ€nner aber hoben 
die Knaben auf und brachten sie dem Obersten der Schweine- 
hirten des Königs, dem Faustulus; denn sie meinten, die 
Götter wollten nicht, daß sie umkĂ€men. Aber des Faustulus 
Frau hatte eben ein totes Kind geboren und war 
traurig. Da gab ihr der Mann die Zwillinge und sie 
nÀhrte sie, und sie zogen Sie aul und nannten sie 
Romulus und Remus. Als dann Rom gesrĂŒndet worden 
war, da baute König Romulus sich sein Haus unfern der 
StÀtte, wo seine Wanne gestanden. Die Schlucht aber, in 


der die Wölfin verschwunden war, heißt seitdem die Wolfs-. 


schlucht, das Lupercal; dort ward spÀterhin das eherne Bild 
der Wölfin mit den Zwillingen aufgestellt und der Wölfin 
selbst, der Lupa, erwiesen die Römer göttliche Ehre!'). 


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1!) Die kapitolinische Wölfin gilt als ein uraltes Werk etruskischer 
KĂŒnstler, das nach Livius (X, 23) im Jahre 296 v. Chr, beim Luperecal auf- 
gestellt wurde. Soltau versucht den Nachweis, daß die Wölfin mit den 
Kindern campanischen, hellenistischen Ursprungs sei. Das campani- 
sche Didrachmon bietet eine Darstellung, auf der die Wölfin sich sorgsam 
nach den saugenden Kindern umsieht, wÀhrend das alte Erzbild, welches 
jetzt auf dem Kapitol steht, die Wölfin grimmig ausspÀhend, gleichsam die 
Feinde abwehrend, nach vorne starrend, zeigt, was wohl kaum auf ibre Rolle 
als altrix infantium hindeutet. Soltau nimmt an, ‚daß man dieser ursprĂŒng- 








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54 ROMULUS NACH LIVIUS. 


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SpÀter erfuhr dann die Romulussage mannigfache Um- 
arbeitungen, Entstellungen, Erweiterungen und Auslegungen'); 
am bekanntesten ist sie in der Form, die bei Livius (I, 8 u. ff.) 
ĂŒberliefert ist; wir erfahren dort einiges ĂŒber die Vorgeschichte 
und die spÀteren Schicksale der Zwillinge. 

König Proca vererbte seinem erstgeborenen Sohne Numitök 
die KönigswĂŒrde. Aber der jĂŒngere Bruder Amulius 
verdrÀngt ihn vom Thron und wird selbst König. Damit 
aber kein SprĂ¶ĂŸling aus Numitors Familie einst als RĂ€cher 
erscheine, tötet er den mÀnnlichen Nachkommen des Bruders; 
der Tochter Rea Silvia aber raubt er, unter dem Schein 
einer ehrenden Auszeichnung, indem er sie zur Vestalin 
wÀhlte, durch den immerwÀhrenden Jungfrauenstand 
die Hoffnung auf Nachkommenschaft. Doch die Vestalin 
wurde mit Gewalt ĂŒbermannt und als sie Zwillinge zur 
Welt gebracht hatte, gab sie, sei es aus Überzeugung oder 
weil ihr ein Gott als Urheber der Schuld ehrenhafter er- 
schien, den Mars als Vater der unehelichen SprĂ¶ĂŸlinge 
an. Nach der ErzÀhlung von der Aussetzung im Tiber heibt 
es dann weiter: Die Sace erzĂ€hlt nun, daß die schwimmende 
Wanne, worin die Knaben ausgesetzt worden waren, von dem 
niederen Wasserstand auf dem Trockenen gelassen wurde 
und daß eine durstige Wölfin, von den umliegenden Bergen 
nach dem Kindergeschrei hingelenkt, den Kindern ihre Euter 
dargeboten habe. Von dem königlichen Oberhirten, der 
Faustulus geheißen haben soll, seien dann die Knaben gefunden 
und nach dem Gehöft seiner Frau Larentia zum Auferziehen 
gebracht worden. Einige glauben, Larentia sei, weil sie ihren 
Körper preisgab, von den Hirten „Lupa (Wölfin)” genannt 
worden und so sei die wunderbare Sage entstanden. 

Zu JĂŒnglingen herangewachsen, schĂŒtzen Romulus und 
Remus die Herden vor dem Angriff wilder Tiere und RĂ€uber. 
Einst wird Remus von den RĂ€ubern gefangen genommen und 


lich apotropÀischen Wölfin spÀter die Pflege der infantes conditores zu- 
getraut habe. Vgl. die Titelvignette, 

1) Alle diese Darstellungen hat Schwegler in seiner Römischen 
Geschichte, I, S. 384 u. ff,, zusammengestellt. 








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DIE ROMULUSLEGENDE. 55 





des Raubes an Numitors Herden beschuldigt. Numitor aber, dem 
er zur Bestrafung ĂŒbergeben ward, wurde durch seine Jugend 
gerĂŒhrt und als er von den ZwillingsbrĂŒdern hörte, auf die 
Vermutung gefĂŒhrt, daß die beiden seine ausgesetzten Enkel 
seien. WĂ€hrend ihn nun bald die Ähnlichkeit mit den Gesichts- 
zĂŒgen seiner Tochter, bald das der Zeit der Aussetzung ent- 
sprechende Alter des JĂŒnglings in Ă€ngstlicher Spannung er- 
hielt, kam Faustulus mit Romulus dazu und da man von dem 
Hirten die Herkunft der Knaben erfahren hatte, wird eine 
Verschwörung angestiftet; es bewaffnen sich sowohl die JĂŒng- 
linge zur Rache, als auch Numitor, um seine AnsprĂŒche auf 
den ihm geraubten Thron geltend zu machen. Nach der 
Ermordung des Amulius wird Numitor wieder in die 
Herrschaft eingesetzt und die JĂŒnglinge beschließen, in der 
Gegend, wo sie ausgesetzt und erzogen worden waren, eine 
Stadt zu grĂŒnden. Bei der Frage, welcher von den Zwillings- 
brĂŒdern die neuerbaute Stadt beherrschen solle, kam es — 
da der Vorzug der Erstgeburt fĂŒr keinen sprach und auch 
das Ergebnis der Vogelschau nicht einwandfrei war — zu 
einem erbitterten Streit. Remus soll, wie die Sage erzÀhlt, 
zur Verhöbnung des Bruders ĂŒber die neue Mauer gesprungen 
sein, worauf ervon dem erzĂŒrnten Romulus erschlagen 
worden sei. So bemÀchtigte sieh Romulus der Alleinherrschaft 
und die Stadt wurde nach ihm Rom benannt. 


Nach Auffassung der Historiker und Philologen (Ranke, Ribbeck, 
Mjıeber, Reich, Ed. Meyer, Soltau!), die durchaus nach einem be- 
stimmten Vorbild der mythischen Überlieferungen fahnden, soll die 
Romuluslegende (erst im 3, Jahrh, v. Chr.) aus der Tyro des Sophokles 
entlehnt und nach Rom ĂŒbertragen worden sein. Tyro, die Tochter 
des Königs Salomoneus, empfÀngt von Poseidon die beiden Söhne 
Neleus und Pelias, die auf Veranlassung der Stiefmutter von dem 
grausamen Herrscher in einer Wanne im Enipeus ausgesetzt, aber 
wunderbarerweise von einer HĂŒndin, beziehungsweise Stute gesĂ€ugt, 
von Hirten gefunden und aufgezogen werden. Die Mutter wird von 


') Die Entstehung der Romuluslegende. Arch, f, Rel. Wiss. XII, 1, 1909. 











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56 AMPHION UND ZETHO3S. — ZWILLINGSSAGEN. 





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ihrem Vater Salomoneus in den Kerker geworfen und dort von ihrer 
Stiefmutter Sidero gepeinigt, bis sie spÀter von ihren erwachsenen 
Söhnen befreit wird, die den tyrannischen Vater stĂŒrzen und das 
Leiden ihrer Mutter an Sidero rÀchen. 

Ähnlich ist auch die griechische StĂ€dtegrĂŒndersage won den Zwil- 
lingsbrĂŒdern Amphion und Zethos, die zuerst den Sitz des sieben- 
torigen Theben begrĂŒndeten, indem Amphion die gewaltigen Fels- 
blöcke, die Zethos aus den Bergen herbeischleppte, durch sein 
Saitenspiel zu den spĂ€ter so berĂŒhmten Mauern zusammenfĂŒgte. 
Amphion und Zethos galten als Kinder des Zeus und der Antiope, 
der Tochter des Königs Nykteus. Durch die Flucht entzog sie sich 
der Bestrafung durch ihren Vater, den der Gram tötete; sterbend 
beschwor er aber seinenBruder und ThronfolgerLykos, Antiopes 
Vergehen zu bestrafen. Sie hatte inzwischen Epopeus, den König von 
Sikyon, „geheiratet, den nun Lykos tötete. Antiope fĂŒhrte er in 
Fesseln fort. Im Kithairon gebar sie Zwillinge und ließ sie 
dort zurĂŒck. Ein Hirt zog die Knaben auf und nannte sie 
Amphion und Zethos. SpÀter gelang es Antiope, den Peinigungen 
des Lykos und seiner Gemahlin Dirke zu entfliehen; im Kithairon 


ucht sie zufÀllig bei den inzwischen herangewachsenen Zwillings- - 


brĂŒdern Schutz. Der Hirt verrĂ€t den JĂŒnglingen, daß Antiope ihre 
Mutter ist. Sie töten hierauf die Dirke auf grausame Weise und 
berauben den Lykos der Herrschaft. | 

Auf die ĂŒbrigen, sehr zahlreichen Zwillingssagen!) kann 
hier nicht nÀher eingegangen werden; sie stellen offenbar eine 
Komplikation des Geburtsmythus mit einem verwandten und weit- 
verbreiten Mythenkomplex, dem der feindlichen BrĂŒder, dar, 
dessen ausfĂŒhrliche Behandlung in einem anderen Zusammenhang 
gegeben worden ist?). Die Berechtigung der Abtrennung dieses 
StĂŒckes der Mythologie von unserem Thema gibt uns der anscheinend 

1) Einige griechische Zwillingssagen fĂŒhrt Schubert (2. 2:0. 
8. 13 u.ff.) ihrem wesentlichen Inhalt nach an. Zur weiten Verbreitung 
dieser Sagenform vergleiche man das konfuse Buch von J. H. Becker, Die 
Zwillingssage als SchlĂŒssel zur Deutung urzeitlicher Überlieferung. Mit 
einer Tabelle der Zwillingssage. Leipzig 1891. 

2) Vgl. des Verfassers „Inzest-Motiv in Dichtung und Sage”, II. Teil 


sowie die Abschnitte XI, XII und XIII in „Psychoanalytische BeitrĂ€ge zur 
Mythenforschung”, 1919. 





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HERAKLES. — HATSHEPSET, 67 











spÀte und sekundÀre Charakter des Zwillingstypus in den Geburts- 
mythen. FĂŒr die Romulussage hat es Mommsen!) wahrscheinlich 
gemacht, daß sie ursprĂŒnglich nur von Romulus allein berichtet 
habe, und daß die Gestalt des Remus erst nachtrĂ€glich und ziemlich 
lose eingefĂŒgt worden sei, als es sich darum handelte, dem Konsulat 
eine in der alten Überlieferung begrĂŒndete Weihe zu erteilen. 


Herakles:). 


Nach dem Verlust seiner zahlreichen Söhne verlobt 
Elektryon seine Tochter Alkmene mit Amphitryon, dem 
Sohne seines Bruders AlkÀos. Da aber Amphitryon durch 
einen unglĂŒcklichen Zufall den Tod Elektryons verschuldet, 
flĂŒchtet er mit seiner Verlobten nach Theben. Noch ist er ihrer 
nieht froh geworden, denn sie hat ihm das feierliche GelĂŒbde 
abgenommen, ihr nicht eher zu nahen, als bis er ihre BrĂŒder 
an den Teleboern gerĂ€cht habe; er rĂŒstet daher von Theben 
aus zu diesem Zuge. Schon hat er den König des feindlichen 
Volkes, Pierelaos, und alle Inseln unterworfen und kehrt nach 
Theben zurĂŒck, da begibt sich Zeus in der Gestalt Amphi- 
tryons?°) zu Alkmene, bringt einen goldenen Becher als Pfand 
des Sieges und ruht bei der reizenden Jungfrau, wie die spÀteren 
Dichter sagen, drei NĂ€chte lang, da er die Sonne um einen Tag 
zurĂŒckgehalten habe. In derselben Nacht kommt Amphitryon, 
siegesfroh und liebeschmachtend. Dann erfĂŒllt sich die Zeit, 
wo die Frucht der göttlichen und der menschlichen Umarmung‘‘) 


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1) Die Remuslegende. Hermes 1881. 

2) Nach Preller: Griech. Mythologie (Leipzig 1854), II, S. 120 u. ff. 

>, Die gleiche Verwandlung des göttlichen Erzeugers in die Gestalt des 
menschlichen Vaters findet man in der Geburtsgeschichte der Àgyptischen 
Königin Hatshepset (um 1500 v. Chr.), die der Meinung ist, der Gott Amen 
habe in der Gestalt ihres Vaters, Thothmes des Ersten, ihrer Mutter Aahames 
beigewohnt (siehe Budge: A history of Egypt IV, Books on Egypt and 
Chaldaea vol, XII, p, 21 ete). 

4, Eine Àhnliche Vermischung der göttlichen und menschlichen Vater- 
schaft erzÀhlt der Mythus von der Geburt des Theseus, dessen Mutter 











68 HERAKLES. — THESEUS: DIOSKUREN. 














ans Licht drĂ€net, und Zeus kĂŒndigt den Göttern seinen Sohn 
als den mÀchtigsten Herrscher der Zukunft an. Aber seine 
eifersĂŒchtige Gemahlin Hera weiß ihn zu dem verhĂ€ngnisvollen 
Sehwur zu verleiten, daß der erste Perseusenkel, der geboren 
wĂŒrde, der Beherrscher aller ĂŒbrigen Nachkommen des Perseus 
sein sollte. Hera eilt hierauf nach Mykene, um die Frau des 
dritten Persiden Sthenelos von dem Siebenmonatskind Eurys- 
theus zu entbinden, und hemmt und erschwert zugleich die 
Geburt der Alkmene durch allerlei bösen Zauber, gerade wie 
bei der Geburt des Lichtgottes Apollo. Alkmene gebiert dann 
Herakles und Iphikles!), dieser jenem weder an Mut noch an 





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Aithra, eine Geliebte Poseidons, in einer Nacht von diesem Gotte und von 
dem trunken gemachten kinderlosen König Aigeus von Athen beschlafen 
wurde. Der Knabe wurde dann heimlich und in Unkenntnis seines Vaters 
erzoren (v. Roschers Lexikon s. Aigeus). 

ı) Von Zeus gebar Alkmene den Herakles, von Amphitryon den 
Iphikles; nach Apollodor 2, 4, 8 waren sie Zwillingskinder, also zu 
gleicher Zeit geboren, nach anderen soll Iphikles eine Nacht spÀter emp- 
fangen und geboren worden sein als Herakles (siehe Roschers Lexikon, 8. 


Amphitryon und Alkmene). Der schemenhafte Charakter des Zwillingsbruders 


und sein loser Zusammenhang mit der ganzen Sage fÀllt auch hier wieder 
auf. Ähnliches ist von Telephos, dem Sohn der Auge, nachzutragen, der 
zusammen mit ParthenopÀus, dem Sohn der Atalante, ausgesetzt, von einer 
Hirschkuh gesÀugt und von Hirten dem König Korythos gebracht wurde. 
Auch hier ist die Ă€ußerliche und spĂ€tere EinfĂŒgung des Partners ganz 
deutlich. Den Typus der Zwillinge, von denen nur einem Unsterblichkeit 
zuteil wird, bilden die Dioskuren, Kastor und Polydeukes, deren Mutter 
Leda in einer Nacht von Zeus und ihrem Gatten Tyndareos umarmt wird. 
(Apoll. III, 10, 7 und Hygin fab. 80.) Die Helena, die Schwester der Dios- 
kuren, empfÀngt Leda von dem in einen Schwan verwandelten Gott. Das Ei 
verwahrt Leda in einer Kiste und zieht dann die aus dem Ei geborene 
Helena auf (Apoll. III, 10, 6). 


In diesem Zusammenhange sei auch eine japanische Überlieferung 


erwÀhnt, die sich mit einzelnen Motiven hier anreiht, 

Die japanische Göttin Buns$o — es soll die spĂ€tere Benten sein — 
brachte 500 Eier zur Welt, glaubte, sie könnten nur Drachen enthalten und 
ließ sie in einen Kasten verpackt in den Strom werfen, Ein Fischer 
fand den Kasten, Knaben krochen aus den Eiern, gelangten spÀter zum 
elterlichen Palast, wurden von der Mutter anerkannt und bilden seither 
ihr himmlisches Gefolge (Brauns, Japanische MĂ€rchen und Sagen. 8. 160) 
Man vgl. dazu (l, e. S, 355 ff,) die von der Göttin Benten vollzogene “Ver- 





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HERAKLES: DAS AMMENMOTIV. 59 


KrÀften gleich, aber der Vater seines treuen Freundes lolaos. 
So war Eurystheus König zu Mykene im Argiverlande, nach 
dem Schwur des Zeus, und der spÀter geborene Herakles 
ihm unterworfen. 

Von der ErnĂ€hrung des Herakles wußte die alte Diehtung 
zu erzĂ€hlen, daß ihn, wie alle Kinder Thebens, das krĂ€ftige 
Wasser der Dirke genÀhrt habe. SpÀter wurde aber eine 
andere Version erzÀhlt: Aus Furcht vor Heras Eifersucht 
setzte Alkmene das Kind, das sie geboren hatte, an 
einem Platze aus, der noch in spÀten Zeiten das Herakles- 
feld hieß. Um diese Zeit kam Athene mit der Hera dahin. Sie 
betrachtete die schöne Gestalt des Kindes mit Verwunderung 
und bewog die Hera, ihm die Brust zu reichen. Aber der 
Knabe sog viel krÀftiger an der Brust, als sein Alter erwarten 
ließ; Hera empfand Schmerzen und warf das Kind unwillig zu 
Boden. Athene aber trug es in die nahe Stadt und brachte 
es der Königin Alkmene, um deren Mutterschaft sie 


nicht wußte, als ein armes Findelkind, das sie aus 


Barmherzigkeit aufzuziehen bat. Man wundert sich billig 
ĂŒber den sonderbaren Zufall. Die leibliche Mutter lĂ€ĂŸt das 
Kind umkommen, die Pflicht der natĂŒrlichen Liebe verleugnend, 
und die Stiefmutter, die von natĂŒrlichkem Haß gegen das 
Kind erfĂŒllt ist, rettet, ohne es zu wissen, ihren Feind (mach 
Diodor IV, 9, ĂŒbersetzt von Wurm, Stuttgart 1831). Herakles 
hatte nur ein paar ZĂŒge an Heras Brust getan; aber die 
wenigen Tropfen Göttermilch waren genĂŒgend, ihm Unsterb- 
lichkeit einzuflĂ¶ĂŸen. Auch ein Versuch Heras, den in der 
Wiege schlummernden Knaben durch zwei Schlangen zu töten, 
mißlingt: das erwachte Kind erstickt die Tiere mit einem 
einzigen Druck seiner HÀnde. Als Knabe erschlÀgt Herakles 
einst, wegen einer ungerechten ZĂŒchtigung erzĂŒrnt, seinen 
Hofmeister Linos und Amphitryon, der die Wildheit 
des JĂŒnglings fĂŒrchtet, schickt ihn zu seinen Ochsen- 
herden „ins Gebirge und unter die Hirten, wo er nach 








wandlung ihrer beiden Kinder in Schlangen, da sie deren Heirat verhin- 
dern will. 











60 KRIS!INA. — JESUS. 


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Einigen ganz aufgewachsen ist, wie Amphion und Zethos, 
Kyros und Romulus. Hier lebt er der Jagd und der freien 
Natur”. (Preller II, 123.) 


Schmidt (Jona, S. 125) sieht in Herakles (Melkart), der 
von einem Meerungeheuer verschlungen und so gerettet 
wurde, nachdem das Schiff, auf dem er fuhr, gescheitert war, 
den Helden der Rettungsgeschichten in ihrer ursprĂŒnglichen 
Gestalt. Über Arion, den Delphinreiter, und Verwandtes siehe 


gpÀter. 
An den Mythus von Herakles erinnert in einzelnen Motiven 
die indische Sage von dem Helden Krishna, der — wie so viele 


Heroen — einem allgemeinen Kindermord entgeht und dann bei einer 
Hirtenfrau, Jasodha, erzogen wird. Da erscheint eine böse DÀmonin, 
die vom König Kansa abgeschickt ist, den Knaben zu töten. Sie 
verdingt sich als Amme im Hause, wird aber von Krishna er- 
kannt und beim SĂ€ugen derart gebissen (wie Hera von dem 
sĂ€ugenden Herakles, den sie ebenfalls vernichten will), daß sie 
stirbt. (Die Jugendgeschichte des Hirtengottes Krishna wird im 
sogenannten Karivamsa erzÀhlt.) 


Jesus. 


Das Evangelium nach Lukas (li, 26 bis 35) erzÀhlt von 
der Verheißung der Geburt Jesu: 

Es wurde „der Engel Gabriel gesandt von Gott in eine 
Stadt in GalilĂ€a, die heißt Nazareth, zu einer Jungfrau, 
die vertrauet war einem Manne mit Namen Joseph, 
vom Hause Davids; und die Jungfrau hieß Maria. Und der 
Engel kam zu ihr hinein und sprach: GegrĂŒĂŸet seist du, 
Holdselige, der Herr ist mit dir, du Gebenedeite unter den 
Weibern. Da sie ihn aber sahe, erschrak sie ĂŒber seiner 
Rede und gedachte: Welch ein Gruß ist das? Und der Engel 
sprach zu ihr: FĂŒrchte dieh nicht, Maria, du hast Gnade 
bei Gott gefunden. Siehe, du wirst schwanger. werden 
im Leibe und einen Sohn gebĂ€ren, deß Namen 
sollst du Jesus heißen. Der wird groß und ein Sohn 
des Höchsten genannt werden und Gott der Herr wird 








JESUS NACH MATTHÄUS. 61 


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ihm den Stuhl seines Vaters David geben. Und er wird ein 


König sein ĂŒber das Haus Jakobs ewiglich und seines König- 
reichs wird kein Ende sein. Da sprach Maria zu dem Engel: 
„Wie soll das zugehen? Sintemal ich von keinem Manne 
weiß. Der Engel antwortete und sprach zu ihr: der heilige 
Geist wird ĂŒber dich kommen und die Kraft des Höchsten 
wird dich ĂŒberschatten; darum auch das Heilige, das von dir 
geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden.” 

Diesen Bericht ergÀnzt das Evangelium nach MatthÀus!) 
(1, 18 bis 25) durch die ErzÀhlung von der Geburt und 
Kindheit Jesu: 

„Die Geburt Christi war aber also getan. Als Maria, 
seine Mutter, dem Joseph vertrauet war, ehe er sie 
heimholte, erfand sich’s, daß sie schwanger war von 
dem Heiligen Geist. Joseph aber, ihr Mann, war fromm und 


wollte sie nicht rĂŒgen; gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. 


Indem er aber also gedachte, siehe, da erschien ihm ein 

Engel des Herrn im Traum und sprach: ‚Joseph, du Sohn 

Davids, fĂŒrchte dich nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu 

nehmen: denn das in ihr geboren ist, das ist von dem Heiligen 

(Geist, Und sie wird einen Sohn gebÀren, des Namen sollst du 
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) Um auch formell die volle IdentitÀt der Geburis- und Kindheits- 
geschichte Jesu mit den ĂŒbrigen Heldenmythen darzutun, sei es gestattet, 
die betreffenden Abschnitte aus den verschiedenen Versionen, den Eyan- 
gelien, ohne RĂŒcksicht auf den ĂŒberlieferten Zusammenhang und die Ur- 
sprĂŒnglichkeit der einzelnen Teile, umzuordnen. Alter, Herkunft und Echt- 
heit dieser Teile findet man kurz und ĂŒbersichtlich dargelegt bei Wilh. 
Soltau: Die Geburtsgeschichte Jesu Christi. Leipzig 1902. Wir haben dabei 
auch die nach Usener (Geburt und Kindheit Christi, 1903, in: VortrÀg- 
und AufsĂ€tze, Leipzig 1907) einander widersprechenden, ja ausschließenden 
Überlieferungen der einzelnen Evangelien unbedenklich nebeneinandere 
gestellt bezw. stehen lassen, weil es ja gerade unsere Aufgabe ist, das 
scheinbar Widerspruchsvolle dieser Geburtsmythen aufzuklĂ€ren, gleichgĂŒltig, 
ob es sich innerhalb einer einheitlichen Sage findet oder in ihren ver- 
schiedenen Versionen (wie z. B. bei Kyros). 

Hugo Gressmann hat 1914, also sechs Jahre nach Erscheinen der 
ersten Auflage vorliegender Untersuchung, die Vermutung gewagt, daß der 
EvangelienerzÀhlung die Aussetzungsgeschiehte zugrundeliegen könnte, 
(„Das Weihnachtsevangelium”.) 














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62 JESU GEBURT 


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NACH LUKAS. 


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Jesus heißen; denn er wird sein Volk selig machen von ihren 
SĂŒnden. Das ist aber alles geschehen, auf daß erfĂŒllet wĂŒrde, 
das der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: 
Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn ge- 
bĂ€ren und sie werden seinen Namen Emanuel heißen, das ist 
verdolmetschet, Gott mit uns’ Da nun Joseph vom Schlaf er- 
wachte, tat er, wie ihm des Herrn Engel befohlen hatte, und 
nahm sein Gemahl zu sich; und erkannte sie nicht, bis sie 
ihren ersten Sohn gebar: und hieß seinen Namen Jesus.” 

Hier schalten wir die atısfĂŒhrliche Schilderung der Geburt 
Jesu aus dem Evangelium Lukas (2, 4 bis 20) ein: 

„Da machte sich auch auf Joseph aus GalilĂ€a, aus der 
Stadt Nazareth, in das jĂŒdische Land, zur Stadt Davids, die da 
heißt Bethlehem, darum, daß er von dem Hause und Geschlecht 
Davids war, auf daß er sich schĂ€tzen ließe mit Maria, seinem 
vertrauten Weibe. Die war schwanger, und als sie daselbst 
waren, kam die Zeit, daß sie gebĂ€ren sollte. Und sie gebar 
ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und 
legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum 
in der Herberge!). Und es waren Hirten in derselben Gegend 
auf dem Felde bei den HĂŒrden, die hĂŒteten des Nachts ihrer 
Herde. Und siehe, des Herrn ‘Engel trat zu ihnen, und die 
Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fĂŒrchteten sich 
sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: FĂŒrchtet euch nicht, 
siehe, ich verkĂŒndige euch große Freude, die allem Volk wider- 
fahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher 
ist Christus der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum 
Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und 
in einer Krippe liegend. Und alsobald war bei dem Engel die 
Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und 
sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und 
den Menschen ein Wohlgefallen. Und da die Engel von ihnen 
gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt 


!) Über die Geburt Jesu in einer Höhle und die Ausstattung des 
Geburtsortes mit den typischen Tieren (Ochsund Esel) vgl. Jeremias: 
Babylonisches im Neuen Testament (Leipzig 1905), 3. 56 u. Preuschen, Jesu 
Geburt in einer Höhle, Zeitschr, f. d. neutest. Wiss. 1902, 5. 359. 








DIE VERFOLGUNG NACH MATTHÄUS, 63 


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uns gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da 
geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen 
eilend, und fanden beide, Mariam und Joseph, dazu das Kind 
in der Krippe liegend. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten 
sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt 
war, Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die 
ihnen die Hirten gesagt hatten, 

Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in 
ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und 
lobten Gott um alles, das sie gehöret und gesehen hatten, wie 
denn zu ihnen gesagt war.” 

Wir setzen nun den Bericht nach MatthÀus mit dem zweiten 
Kapitel fort: 

„Da Jesus geboren war zu Bethlehem im jĂŒdischen Lande, 
zur Zeit des Königs Herodes, siehe, da kamen die Weisen vom 
Morgenlande gen Jerusalem, und sprachen: Wo ist der 
neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern 
gesehen im Morgenlande, und sind gekommen, ihn anzubeten. 
Da das der König Herodes hörte, erschrak er und mit ihm 
das ganze Jerusalem; und ließ versammeln alle Hohepriester 
und Schriftgelehrten unter dem Volk: und erforschte von 
ihnen, wo Christus sollte geboren werden. Und sie sagten ihm: 
zu Bethlehem im jĂŒdischen Lande. Da berief Herodes heimlich 
die Weisen, und erlernte mit Fleiß von ihnen, wann der Stern 
erschienen wÀre; und wies sie gen Bethlehem und sprach: 
Ziehet hin und forschet fleißig nach dem Kindlein; und wenn 
ihr es findet, so sagt mir’s wieder, daß ich auch komme und 
es anbete. Als sienun den König gehöret hatten, zogen sie hin. 
Und siehe, der Stern, den sie im Morgenlande gesehen hatten, 
ging vor ihnen hin, bis daß er kam und stand oben ĂŒber, da 
das Kindlein war. Da sie den Stern sahen, wurden sie hoch- 
erfreut; und gingen in das Haus und fanden das Kindlein mit 
Maria, seiner Mutter, und fielen nieder, und beteten es an, und 
taten ihre SchÀtze auf und schenkten ihm Gold, Weihrauch 
und Myrrhen. Und Gott befahl ihnen im Traum, daß sie sich 
nicht sollten wieder zu Herodes lenken. Und zogen durch einen 
anderen Weg wieder in ihr Land. Da sie aber hinweggezogen 





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64 JESUS, — ZOROASTER. 


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waren, siehe, daerschien der Engel des Herrn dem Joseph 
im Traum, und sprach: Stehe auf, und nimm das Kindlein 
und seine Mutter zu dir, und fliehe ins Ägyptenland, 
und bleibe allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, daß 
Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen. 
Und er stand auf, und nahm das Kindlein und seine Mutter 
zu sich, bei der Nacht, und entwich in Ägyptenland; und blieb 
allda bis nach dem Tode Herodis, auf daß erfĂŒllt wĂŒrde, das 
der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: Aus 
Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen. Da Herodes nun sahe 
daß er von den Weisen betrogen war, ward er sehr zornig 
und schiekte aus, und ließ alle Kinder zu Bethlehem töten 
und an ihren ganzen Grenzen, die da zweijÀhrig und 
darunter waren, nach der Zeit, die er mit Fleiß von den 
Weisen erlernt hatte. Da aber Herodes gestorben war, siehe, 
da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum in 
Ägyptenland und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein 
und seine Mutter zu dir, und ziehe hin in das Land Israel; 
sie sind gestorben, die dem Kinde nach dem Leben 
standen. Und er stand auf, nahm das Kindlein und seine Mutter 
zu sich, und kam in das Land Israel. Da er aber hörte, dab 
Archelaus im jĂŒdischen Lande König war, anstatt seines Vaters 
Herodes, fĂŒrchtete er sich, dahin zu kommen. Und im Traum 
empfing er Befehl von Gott, und zog in die Örter des gali- 
lÀischen Landes. Und kam und wohnte in der Stadt, die da 
heißt Nazareth; auf daß erfĂŒllt wĂŒrde, das da gesagt ist durch 
die Propheten: Er soll Nazarenus heiben”!). 


Ähnliche Geburtslegenden wie von Jesus sind auch von anderen 
„Religionsstiftern” ĂŒberliefert. So von Zoroaster, der um das Jahr 
1000 v. Chr. gelebt haben soll. Dughda, seine Mutter, trÀumt 


!) Nach neueren Forschungen soll die Geburtsgeschichte Christi die 
grĂ¶ĂŸte Ähnlichkeit mit der ĂŒber 5000 Jahre alten Ă€gyptischen Königssage 
haben, die von der Geburt Amenophis’ III. berichtet. Man findet dort 
wieder die göttliche Verheißung der Geburt eines Sohnes an die hoflnungs- 
volle Königin; ihre Befruchtung durch den himmlischen Feuerhauch, die 
göttlichen KĂŒhe, die das Neugeborene sĂ€ugen, die Huldigung der Könige 
u. a. m. wozu man vgl. A, Malvert: Wissenschaft und Religion, Frank 








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im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, daß die bösen und 
die guten Geister um den Embryo Zoroasters stritten: ein Ungeheuer 
riß den zukĂŒnftigen Zoroaster aus dem Leib der Mutter; ein Licht- 
gott aber bekĂ€mpft das Ungeheuer mit seinem Lichthorn, schließt 
den Embryo wieder in den Mutterleib ein, blÀst Dughda an 
und sie ward schwanger. Als sie erwacht, eilt sie erschreckt 
zu einem weisen Traumdeuter, der ihr aber erst nach drei 
Tagen den wunderbaren Traum auszulegen vermag: das Kind, 
mit dem sie schwanger sei, werde ein Mann von großer Be- 
deutung werden; die finstere Wolke und der Lichtberg bedeuten, 
daß sie und ihr Sohn zuerst viel TrĂŒbsal durch Tyrannen und 
Ă€hnliche Bösewichter aushalten mĂŒĂŸten, daß sie aber zuletzt ĂŒber 
alle Gefahren siegen wĂŒrden. Dughda geht sofort nach Hause und 
erzÀhlt alles, was sich zugetragen hat, ihrem Manne, dem Pourus- 
hacpa. Sofort nach seiner Geburt lachte der Knabe; das war das 
ers'e Wunder, wodurch er die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Die 
Magier melden die Geburt des Kindes unheilverkĂŒndend 
dem FĂŒrsten der Gegend, DurĂ€nsarĂ€n, der sich selbst schleunig 
in die Wohnung des Pourushacpa begibt, um das Kind zu erdolchen. 
Aber die Hand erlahmt ihm und er muß unverrichteter Dinge 
wieder abziehen. Das war das zweite Wunder. Bald darauf stehlen 
die bösen DÀmonen der Mutter das Kind und bringen es in die 
WĂŒste, um es dort zu töten; aber Dushda findet das unversehrte 
Kind ruhig schlafend. Das ist das dritte Wunder. Sodann sollte 
Zoroaster nach dem Befehl des FĂŒrsten in einem engen Weg von 
einer Ochsenherde zertreten werden). Aber das grĂ¶ĂŸte unter den 


furt 1904, 5. 49 £, und die Anregung Prof. Ißleibs in Bonn (Feuilleton 
d. Frankf. Zeitung, 8. November 1908). 

!) Ganz Ă€hnliche ZĂŒge finden sich in der von Justin (44, 4) ĂŒber- 
lieferten keltischen Sage von Habis, der, als außerehelicher Sohn einer 
Königstochter von seinem königlichen Großvater Gargoris auf alle möglichen 
Arten verfolgt, durch glĂŒckliche FĂŒgungen immer wieder gerettet wird, bis 
er schließlich, von seinem Großvater anerkannt, zur Königsherrschaft ge- 
langt. Wie in der Zarathustralegende findet sich auch hier eine ganze 
Sammlung der verschiedensten Verfolgungsmethoden: Zuerst wird er aus- 
gesetzt, aber von wilden Tieren gesÀugt, dann soll er auf einem engen 
Pfade von einer Herde zertreten, ferner hungrigen Tieren vorgeworfen 
werden, die ihn jedoch wieder sĂ€ugen, und schließlich wird er ins Meer 


Kank, Der Mythus von der Geburt des Helden. 2, Aut, r 





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66 ZORÖOASTER. — BUDDHA. 


Rindern nahm das Kind zwischen seine FĂŒĂŸe und verhinderte, daß 
ihm ein Leid zugefĂŒgt werde, Dies ist das vierte Wunder. Das 
fĂŒnfte ist bloß eine Wiederholung des vorhergehenden. Was die 
Rinder sich geweigert hatten zu tun, das sollten die Pferde voll- 
bringen. Aber wieder schĂŒtzt ein Pferd das Kind vor den Hufen 
der ĂŒbrigen. Nun ließ DurĂ€nsarĂŒn in einem Wolfslager, wĂ€hrend der 
Abwesenheit der Alten die Jungen erschlagen und den Zoroaster an 
ihre Stelle legen. Aber ein Gott verschloß den wĂŒtenden Wölfen 
den Rachen, so daß sie dem Kinde kein Leid zufĂŒgen konnten. 
Dagegen kamen zwei himmlische KĂŒhe, die dem Kind ihre Euter 
darreichten und es trinken ließen. Das war das sechste Wunder, 
wodurch Zoroaster am Leben erhalten wurde (vgl. Spiegels 
Eranische Altertumskunde, I, S. 688 uff., sowie Brodbeck: Zoro- 
aster, Leipzig 1893). 

Verwandte ZĂŒge sind auch bei Buddha, dessen Lebenszeit 
ins 6. Jahrh, v. Chr. zurĂŒckverlegt wird, zu finden!), So die lange 
Unfruchtbarkeit der Eltern, der Traum, die Geburt des Knaben 
unter freiem Himmel?), der Tod der Mutter und ihr Ersatz durch 
eine Pflegemutter, die Meldung der Geburt an den FĂŒrsten der 
Gegend; spÀter der Verlust des Knaben im Tempel (wie bei Jesus; 
vgl. Lukas 2, 40—52). 


geworfen, das ihn aber sanft ans Ufer spĂŒlt, wo er von einer Hirschkuh 
gesÀugt wird, bei der er dann auch aufwÀchst. 

i) A Manual of Budhism by K. Spence Hardy, London 1853, p. 501. 

Die chinesische Legende stattet Fohi mit Àhnlichen Motiven ge- 
heimnisvoller Herkunft und Errettung aus. 

2) Die Geburt des Bödhisattwa wird im „Lalita Vistara” (ĂŒbers. v. 
3. Lefmann, Berlin 1874) folgendermaßen geschildert. Bei einer Götterver- 
sammlung im Tusitahimmel, den Buddha bei seiner Inkarnation verlassen 
muß, wird beschlossen, daß er in 12 Jahren in den Schoß seiner Mutter 
eingehen werde. Vor der Menschwerdung Buddhas beriet er mit den Göttern, 
in welcher Gestalt er in den Mutterschoß eingehen sollte; es wurden 
12 Gestalten genannt, aber erst der 13. Vorschlag gelangte zur Verwirkliehung. 
„Ein Elefant von hochedlem ‚Ansehen, Sechshauer, wie mit goldenem 
Flechtwerk angetan, schön glÀnzend, schön gerötet das Haupt, hervorge- 
hoben und herabfallend, in seiner Erscheinung majestĂ€tisch.” (Lal, Vist. 
8. 33f.), — In der NidĂ€nakathĂ€, der Einleitung zum Kommentar des JĂ€taka- 
buches, wird die Menschwerdung Buddhas so geschildert: „Hierauf stieg der 
Bödhisattwa, der in der Gestalt eines herrlichen weißen Elefanten auf einem 














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MITHRAS. 67 


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Über die Geburt des Mithras besitzen wir zwar keine aus- 
fĂŒhrliche literarische Überlieferung, ‘aber glĂŒcklicherweise lassen 
die DenkmÀler deutliche Reste erkennen. Sie zeigen (nach 
Roscher) wie Mithras aus einem Felsen (Höhle) geboren wird, 
„auf dem Haupt eine phrygische MĂŒtze, bis zu den Knien oder 
zur Scham in einem Felsblock steckend, der bisweilen von einer 
Schlange umgeben ist.., Mit der einen Hand erhebt der Gott 
meistens ein Messer, seine gzewöhnliche Waffe, mit der anderen 
eine Fackel... Zuweilen wird.auf dem Felsen der Kopf eines 
Flußgottes, oder neben ihm die ganze Figur desselben dargestellt, 
wohl weil die mythische Szene der MNithrasgeburt neben einem 
Strom stattgefunden haben soll. Außerdem sieht man auf einer 
Anzahl Reliefs Hirten, die sich hinter einem Felsen verstecken, 
um das Wunder zu betrachten, was ohne Zweifel auch auf die 
ErzĂ€hlung der Legende anspielt. — Zwei weitere interessante Dar- 
stellungen, die regelmĂ€ĂŸig vereinigt sind, scheinen auf die iranische 
Sage von der Sintflut und vom Weltbrand Bezug zu haben. Ein 
Stier — dieses lier spielt bekanntlich im Mithraskult die grĂ¶ĂŸte 
Rolle — wird in einem Nachen vom Wasser hochgetragen; 
daneben steht ein HĂ€uschen, das von einem Maun in asiatischer 
Tracht (Mithras?) angezĂŒndet wird, und aus der TĂŒre stĂŒrzt der 
Stier heraus. Das mythische Tier wÀre also den Gefahren entgangen, 
mit welchen die zwei großen Plagen ihn bedrohten (Roscher S, 3048), 


nahe gelegenen goldenen Berge sich aufgehalten hatte, von da herab, stieg 
den silbernen Berg hinan — er kam dabei von Norden her — faßte mit 
seinem RĂŒssel, der die Farbe eines silbernen Bandes hatte, eine weiße Blume 
und stieß ein lautes GebrĂŒll aus. Sodann trat er in das goldene Haus ein, 
umschritt dreimal von rechts das Lager seiner Mutter, berĂŒhrte ihre rechte 
Seite und ging so gleichsam in ihren Leib ein.” — In dem Augenblick der 
Menschwerdung des Bödhisattwa entstand in den 10.000 Welten eine uner- 
meßliche Helle, seine Mutter sah ihn in ihrem Leibe wie man in einem 
durehsichtigen Edelstein einen eingeschlossenen hellgelben Faden sieht, sie 
trug ihn wie Sesamöl in einem GefĂ€ĂŸ. Bei seiner Geburt ging er, ohne in- 
folge seines Aufenthaltes im Mutterleib befleckt zu sein, aus demselben 
hervor, rein und weiß und strahlend wie ein auf ein Gewand von weißer 
Baumwolle gelegter Edelstein (J. Dutoit: Das Leben des Buddha. Leipzig 1906. 
S. 4 uff.). Vgl. auch ĂŒber Buddhas Geburt in den Abh. d, SĂ€chs. Akad. d, 
Wiss. Phil.-hist, Kl. Bd, 26, 1908, 8. 93 ft. 


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68 SIEGFRIED. 


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Siegfried. 


Die um das Jahr 1250 von einem IslĂ€nder nach mĂŒnd- 
lichen Überlieferungen und alten Liedern aufgezeichnete alt- 5, 
nordische Thidreksaga erzÀhlt Siegfrieds Geburts- und | 





Jugendzeschichte'): Könige Sigmund von Tarlungaland ver- 
stĂ¶ĂŸt, von einem Kriegszuge heimgekehrt, seine Gemahlin 
Sisibe, die Tochter König Nidungs von Hispanien, die von =: 
einem abgewiesenen Zudringling, dem Grafen Hartvin, ver- | 
botenen Umgangs mit einem Knecht beschuldigt wird. n 
Die Ratgeber empfehlen dem König statt der Tötung der E 
Unschuldigen ihre VerstĂŒmmelung und Hartvin erhĂ€lt den 
Auftrag, ihr im Walde die Zunge auszuschneiden, um sie dem 
König als Wahrzeichen zu bringen. Sein Begleiter, Graf F 
Hermann, widersetzt. sich der AusfĂŒhrung des grausamen - 
Befehles und schlÀgt vor, dem König die Zunge eines Hundes 

vorzuweisen. WĂ€hrend nun die beiden MĂ€nner in einen helf- 

tigen Streit geraten, gebiert Sisibe einen ĂŒberaus schönen 

Knaben; „darauf nahm sie aus ihrem MethgerĂ€t, das sie 

bei sich gehabt hatte, ein GlasgefĂ€ĂŸ, und nachdem sie den 

Knaben in TĂŒcher gewickelt hatte, setzte sie ihn in 1 
das GlasgefĂ€ĂŸ und verschloß es sodann wieder sorg- 2 
fĂ€ltig und legte es neben sich” (Raßmann). In dem Kampfe 
'Tiel Hartvin und stieß mit dem Fuße nach dem GlasgefĂ€ĂŸ, so 
daß es hinab in den Strom stĂŒrzte. Als die Königin das 
sah, fiel sie in eine Ohnmacht und verschied bald darauf. 
Hermann ging nun heim, erzĂ€hlte alles dem König und wurde ’ 
aus dem Reiche verbannt. „Das GlasgefĂ€ĂŸ aber trieb den MW 
Strom hinab zur See und das war nicht allzulange und es war 
gerade See-Ebbe. Da trieb das GefĂ€ĂŸ an eine Felsklippe 
und die See lief ab, so daß es dort ganz trocken war, wo 


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1) Vgl. August Raßmann: Die deutsche Heldensage und ihre Heimat, 
Hannover 1857 —1858, Band II, 8.7 ff.; fĂŒr die Quellen: Jiriezek, Die 
deutsche Heldensage (Sammlung Göschen) und Pipers Einleitung zu dem 
Band: Die Nibelungen, in KĂŒrschners deutscher Nationalliteratur. — Nach 
Boer wĂ€re die Geburtsgeschichte erst spĂ€ter an die Siegfriedsage angefĂŒgt 
worden. 











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SIEGFRIED. — WOLFDIETRICH. — GENOVEFA,. 69 








das GefĂ€ĂŸ lag. Nun war der Knabe etwas gewachsen und als 
das GefĂ€ĂŸ an die Felsklippe stieß, da brach es entzwei und 
weinte das Kind”? (Raßmann). Eine Hirschkuh hörte das 
Wimmern des Knaben, faßte ihn mit ihren Lefzen und trug 
ihn in ihr Lager, wo sie ihn mit ihren Jungen zu- 
sammen sÀugte. Nachdem das Kind zwölf Monate im Lager 
der Hirsechkuh verbracht hatte, war es so groß und stark 
geworden wie andere vier Jahre alte Knaben. Einst lief es in 
den Wald, wo der weise und kunstreiche Schmied Mimir 
hauste, der schon neun Jahre in kinderloser Ehe lebte. 
Er sah den Knaben, dem die Hirschkuh sorglich folgte, nahm 
ihn zu sich und beschloß, ihn als seinen Sohn aufzu- 
ziehen. Er gab ihm den Namen Siegfried. Im Hause Mimirs 
entwickelte Siegfried sich bald zu gewaltiger GrĂ¶ĂŸe und 
StÀrke; aber seine UngebÀrdigkeit bewog Mimir, sich seiner 
zu entledigen. Er schickte ihn in den Wald, wo ihn nach 
der Verabredung Mimirs Bruder, der Drache Regin, töten 
sollte. Aber Siegfried erschlÀgt den Drachen und tötet auch 
Mimir. Dann zieht er zu Brynhild, die ihm seine Eltern nennt!), 


Der Jugendgeschichte Siegfrieds Àbnlich erzÀhlt eine austra- 
sische Sage die Geburt und Jugend WolfdietrichsÂź). Auch seine 
Mutter wird von einem abgewiesenen Vasallen bei dem heim- 
kehrenden König (Hugdietrich von Konstantinopel) der Untreue 
und teuflischen Buhlschaft beschuldigt?). Der König ĂŒbergibt 


it) Als unbekannter Retter kommt Siegfried ĂŒber das Wasser zur Jung- 
frau gefahren (wie Lohengrin, SeeÀf, Wieland u. a.) nach Boer. 

2)Vgl Deutsches Heldenbuch, Teil III, Band 1(Berlin 1871), hg. 
v. Amelung und Jaenicke, wo auch die zweite Form (B) der Wolfdietrich- 
sage zu finden ist. Vgl. auch Schneider: Die Gedichte und die Sage von 
Wolfdietrieh. Unters. ĂŒber ihre Entstebungsgesch, MĂŒnchen 1913. — Wilh. 
Grimm hat (in Haupts Zeitschr. f. d. Altert. XII, 206) die Geburtsgeschichte 
Wolfdietriehs mit der Romulussage verglichen, MĂŒllenhoff die historischen 
Beziehungen aufgezeigt (ebda, VI, 435), 

3) Das Motiv der Verleumdung der Herrin durch einen zurĂŒckge- 
wiesenen Liebeswerber in Verbindung mit der Aussetzung und TiersÀugung 
(Hirschkuh) bildet den Kern der Geschichte von Genovefa und ihrem 
Sohne Schmerzenreich, wie sie z. B. die BrĂŒder Grimm in ihren „deutschen 
Sagen” (Berlin 1818, TI, $. 289 uf.) erzĂ€hlen. Auch hier stellt der treulose 











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10 WOLFDIETRICH UND ANDERE HELDENEPEN. — TRISTAN, 














das Kind zur Tötung dem treuen Berchtung, der es jedoch 
im Walde an einem Wasser aussetzt, in der Hoffnung, es 
werde von selbst hineinfallen und so den Tod finden. Das spielende 
Kind bleibt aber unversehrt und auch die wilden "Tiere (Löwen, 
BÀren, Wölfe), die abends ans Wasser kommen, tun ihm nichts 
zuleide. DarĂŒber erstaunt, beschließt Berchtung, den Knaben zu 
retten; er ĂŒbergibt ihn einem WildhĂŒter, der ihn, gemein- 
sam mit seinem Weib, aufzieht, und nennt ihn Wolfdietrich. 

(Die gleiche Betonung des Tiermotivs findet man in der 
Sage von SchalĂŒ, dem indischen Wolfskind; vgl. JĂŒlg: Mon- 
golische MĂ€rchen, Innsbruck 1868.) 

Von spĂ€teren Heldenepen seien noch angefĂŒhrt: aus dem 
XIII, Jahrhundert die Sage von Horn, dem Sohne Alufs, der aufs 
Meer ausgesetzt, schließlich an den Hof des Königs Hunlaf 
kommt und nach vielen Abenteuern dessen Tochter Rimhilt zum 
Weibe gewinnt. 

Ferner ein an Siegfried erinnerndes Detail aus der Sage von 
Wieland, dem Schmied, der nach RĂ€chung seines auf hinter- 
listige Weise getöteten Vaters mit den SchÀtzen und Werkzeugen 
seiner Lehrmeister beladen in einen Baumstamm kĂŒnstlich 
eingeschlossen die Weser hinabtreibt. (Hagen, Schwanen- 
sage, 524.) 

Endlich enthÀlt auch die Arthursage die Verwandlung des 
göttlichen und menschlichen Vaters, die Aussetzung und das Auf- 
wachsen bei einem niederen Manne. 


Tristan. 


Dem Schema dieser ErzÀhlungen reiht sich die Tristan- 
sage an, wie sie im Epos Gottfrieds von Straßburg er- 


Verleumder den Antrag, die GrÀfin mit ihrem Kind im Wasser zu 
ersĂ€ufen. — Zur literarhistorischen Orientierung vgl. man J. Zacher: Die 
Historie von der PfalzgrÀfin Genovefa, Königsberg 1860, und B. Seuffert: 
Die Legende von der PfalzgrĂ€fin Genovefa,. WĂŒrzburg 1877. — Verwandte 
Überlieferungen von der Untreue beschuldigten und zur Strafe ausgesetzten 
Frauen sind im XI. Kapitel meiner Untersuchung „Das Inzestmotiv in 
Diehtung und Sage” behandelt. 





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TRISTAN. 1 








zÀhlt wird. Vor allem die Vorgeschichte, die dann in den 
Schicksalen des Helden selbst wiederkehrt (Doublierung) 
Riwalin, König im Parmenierlande, hatte bei einem Zuge zu 
Marke, dem König von Kurnewal und England, dessen schöne 
Schwester Blancheflure kennen gelernt und war zu ihr in 
hefticer Liebe entbrannt. Als Riwalin einst in einem Feldzuge 
Marke unterstĂŒtzte, wurde er, auf den Tod verwundet, nach 
Tintajole gebracht. Blancheflure eilte, als Bettlerin ver- 
kleidet, an sein Krankenlager und es gelang ihrer auf- 
opfernden Liebe, den König zu retten. Sie entfloh mit 
dem Geliebten in dessen Heimatland (Hindernisse) und 
wurde dort als seine Gattin ausgerufen. Allein Morgan ĂŒber- 
fiel Riwalins Land um Blancheflures willen, die der König 
da sie ein Kind von ihm unter dem Herzen trug, seinem‘ 
treuen Marschall Rual anvertraute, der die Königin auf 
Kastell Kanoel in Sicherheit brachte. Dort gebar sie ster- 
bend ein Söhnlein, wÀhrend ihr Gatte im Kampf gegen 
Morgan fiel. Rual verbreitete nun, um den SprĂ¶ĂŸling vor 
Morgans Nachstellungen zu schĂŒtzen, das GerĂŒcht, das 
Kind sei tot zur Welt gekommen, und legte dem Knaben 
den Namen Tristan bei, weil er in Trauer empfangen und 
in Trauer geboren sei. Unter der Obhut seiner Pflege- 
eltern wuchs Tristan heran, geistig und körperlich gleich 
gut erzogen, bis ihn im 14. Lebensjahre norwegische Kauf- 
leute entfĂŒhrten und aus Furcht vor dem Zorn der Götter 
in Kurnewal ans Land setzten. Dort fanden ihn Mannen 
des Königs Marke, dem der schöne, tapfere JĂŒngling so 
gut gefiel, daB er ihn bald zu seinem JĂ€germeister ernannte 
(Karriere) und sich seiner in voller Zuneigung annahm. Unter- 
dessen war der treue Rual aufgebrochen, um den geraubten 
Pflegling zu suchen, den er schließlich, bettelnd durch die 
Marken ziehend, in Kurnewal fand und König Marke ĂŒber 
Tristans Abstammung aufklÀrte Der Herrscher, sehr 
erfreut, den Sohn seiner geliebten Schwester vor sich zu 
sehen, ernannte ihn zum Ritter. Um den Vater zu rÀchen, 
zog nun Tristan mit Rual nach Parmenien, stĂŒrzte den Usur- 
pator Morgan und gab das Land Rual als Lehen, selbst zum 





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12 TRISTAN. 


Oheim Marke zurĂŒckkehrend (nach Chop: ErlĂ€uterungen zu 
Wagners Tristan, Reclam-Bibl.). 

Es folgt nun in der eigentlichen Tristansage eine Wieder- 
holung der Hauptmotive. Im Dienste Markes tötet Tristan den 
Morold, den BrÀutigam der Isolde, und wird, auf den Tod 
verwundet, von Isolde gerettet. Er wirbt um sie, aller- 
dings fĂŒr Marke, seinen Oheim, erfĂŒllt die Bedingung der 
Drachentötung und sie folgt ihm, wenn auch widerwillig, zu 
Schiff nach Kurnewal. Unterwegs trinken sie unwissentlich den 
unheilbringenden Liebestrank, der sie in rasender Leiden- 
schaft aneinander bindet. Sie begehen Treubruch an Marke 
und in der Hochzeitsnacht gibt Isoldens treue Dienerin 
BrangÀne ihre JungfrÀulichkeit an Stelle ihrer Herrin dem 


‘König Marke preis. Es folet schließlich die Verbannung 


Tristans, seine verschiedenen Versuche, die Geliebte wieder- 
zusehen, trotzdem er inzwischen die ihr Ă€hnliche Isolde Weiß- 
hand geheiratet hatte, endlich seine neuerliche Verwundung 
auf den Tod, zu deren Heilung Isolde zu spÀt kommt!). 


Eine deutlichere Darstellung der Tristansace, im Sinne der 
den Mythus von der Geburt des Helden charakterisierenden Motive, 
findet sich in dem MĂ€rchen „Die rechte Braut”, das in der Ritters- 
hausschen MĂ€rchensammlung (XXVIL, p. 113) angefĂŒhrt ist. Ein 
Königspaar hat keine Kinder. Da der König seine Frau zu töten 
droht, wenn sie bis zur RĂŒckkehr von seiner Meerfahrt kein 
Kind habe, wird sie ihm von seiner besorgten Dienerin auf seiner 
Fahrt, ohne daß er sie kennt (vgl. die Brautunterschiebung Bran- 
gĂ€nes) als schönste von drei lustwandelnden Frauen zugefĂŒhrt und 


er nimmt sie ins Zelt. Sie kehrt unbemerkt heim; sie gebiert dann 


ein MÀdchen, Isol, und stirbt. Isol findet spÀter am Strand 
einen kleinen, wunderschönen Knaben in einem Kasten, 
namens Tristan und zieht ihn auf, um sich mit ihm zu ver- 


!) Vgl. Immermann: „Tristan und Isolde. Ein Gedicht in Romanzen.” 
DĂŒsseldorf 1511. Gleich dem Epos Gottfrieds beginnt das Gedicht mit der 
Urgeschichte, der Liebe von Tristans Eltern: Markes schĂŒner Schwester 
Blancheflure und König Riwalin, der sterbend den Tristan heimlich zeugt. 
Der Knabe wÀchst in der Obhut des treuen Rual und seines Weibes (Floreto) 





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LOHENGERIN. 13 











loben. Die weitere ErzÀhlung, die das Motiv der rechten Braut 
enthĂ€lt, ist fĂŒr uns dadurch bemerkenswert, daß auch hier der 
Vergessenheitstrank und zwei Isolden vorkommen. Die zweite Fıau‘ 
des Königs gibt Tristan einen Trank, so daß er die blonde Isol 
ganz vergißt und die schwarze Isota zur Frau nehmen will. 
Schließlich entdeckt er aber den Betrug und wird mit Isol vereinigt. 


Lohengrin. 


Aus der weitverbreiteten und auf uralte keltische Über- 
lieferung zurĂŒckgehenden Sagengeruppe vom Schwanritter 
(altfranz. chevalier au cigne) sei hier die Fassung mitgeteilt, 
die uns seit Wagners Dramatisierung dieses Stoffes vertraut 
geworden ist: die Sage von Lohengrin, dem Ritter mit 
dem Schwane, wie sie uns das mittelhochdeutsche Helden- 
gedicht (erneut von Junghaus, Reclam) ĂŒberliefert und wie sie 
die BrĂŒder Grimm in ihren „Deutschen Sagen” (2, Teil, 
Berlin 1818,.S. 306) unter dem Titel: Lohengrin zu Brabant 
kurz wiedergeben!). 

Der Herzog von Brabant und Limburg starb, ohne andere 
Erben als eine junge Tochter Els oder Elsam zu hinterlassen; 
diese empfahl er auf dem Todbette einem seiner Dienstmannen, 
Friedrich von Telramund. Friedrich, ein tapferer Held, wurde 
ĂŒbermĂŒtig und warb um der jungen Herzogin Hand und Land, 
unter dem falschen Vorgeben, daß sie ihm die Ehe gelobt 
hÀtte. Da sie sich standhaft weigerte, klagte Friedrich bei dem 
Kaiser Heinrich dem Vogler; und es wurde Recht gesprochen, 
daß sie sich im Gotteskampf durch einen Helden gegen ihn 
verteidigen mĂŒsse. Als sich keiner finden wollte, betete die 
Herzogin inbrĂŒnstig zu Gott um Rettung. Da erscholl weit 
davon zu Montsalvatsch beim Gral der Laut der Glocke, zum 
Zeichen, daß jemand dringender Hilfe bedĂŒrfe. Alsobald be- 





auf, bis er als JĂ€ger im Dienste Markes von diesem — an einem Ringe der 
Blanchsflur — als Neife erkannt und dessen GĂŒnstling wird. 

') Vgl. Des Verfassers „Lohengrinsage”, wo auch die weiter unten 
folgende SeeĂ€fsage ausfĂŒhrlich behandelt ist, (Diese Sammlung, H, 13.) 








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4 LOHENGERIN. 


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schloß der Gral, den Sohn Parsifals, Lohengrin, darnach aus- 
zusenden. Eben wollte dieser seinen Fuß in den Stegreif setzen, 
da kam ein Schwan auf dem Wasser geflossen und zog 
hinter sich ein Schiff daher. Kaum erblickte ihn Loben- 
orin, als er rief: „Bringt das Roß wieder zur Krippe; ich will 
nun mit diesem Vogel ziehen, wohin er mich fĂŒhrt”. Speise 
nahm er im Vertrauen auf Gott nicht in das Schiff; nachdem 
sie fĂŒnf Tage ĂŒber Meer gefahren waren, fuhr der Schwan mit 
dem Schnabel ins Wasser, fing ein Fischlein auf, ab es halb 
und gab dem FĂŒrsten die andere HĂ€lfte zu essen. So wurde 
der Ritter von dem Schwan gespeist. 

Unterdessen hatte Elsa ihre FĂŒrsten und Mannen zu einer 
Landsprache nach Antwerpen berufen. Gerade am Tage der 
Versammlung sah man einen Schwan die Schelde herauf- 
schwimmen, der ein Schifflein zog, in welchem Lohengrin auf 
sein Schild ausgestreckt schlief. Der Schwan landete bald am 
Gestade und der FĂŒrst wurde fröhlich empfangen. Kaum hatte 
man ihm Helm, Schild und Schwert aus dem Schiffe getragen, 
als der Schwan sogleich zurĂŒckfuhr. Lohengrin vernahm 
nun das Unrecht, welches die Herzogin litt, und ĂŒbernahm es 
gerne, ihr KĂ€mpfer zu sein. Elsa ließ hierauf alle ihre Ver- 
wandten und Untertanen entbieten; in Mainz wurde das GestĂŒhl 
errichtet, wo Lohengrin und Friedrich in Gegenwart des Kaisers 
kĂ€mpfen sollten. Der Held vom Gral ĂŒberwand Friedrich; 
dieser gestand, die Herzogin angelogen zu haben, und wurde 
mit SchlÀgel und Barte (Beil) gerichtet. Elsa fiel nun dem 
Lohenerin zu Teil, die lÀngst einander liebten. Doch behielt 
er sich insgeheim vor, daß sie alle Fragen, welches 
Stammes er sei und woher er gekommen wÀre, zu Ver- 
meiden habe: denn sonst mĂŒĂŸte er sie augenblicklich ver- 
lassen, so daß sie ihn nimmer wiedersĂ€he. 

Eine Zeitlang verlebten die Eheleute in ungestörtem GlĂŒck 
und Lohengrin beherrschte das Land weise und mÀchtig. Auch 
dem Kaiser leistete er auf den ZĂŒgen gegen die Hunnen und 
Heiden große Dienste. Es trug sich aber zu, daß er einmal im 
Speerwechsel den Herzog von Cleve herunterstach, so daß dieser 
den Arm brach. Neidisch redete da die Clever Herzogin laut 








LOHENGRIN. 75 


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unter den Frauen: „Ein kĂŒhner Held mag Lohengrin sein und 
Christenglauben scheint er zu haben; schade, daß Adels halben 
sein Ruhm gering ist; denn niemand weiß, woher er ans 
Land geschwommen kam”. Dieses Wort ging der Herzogin 
von Brabant durch das Herz, sie errötete und erblich. Nachts 
im Bette, als ihr Gemahl sie in Armen hielt, weinte sie und er 
sprach: „Was ist dir, Elsa mein?” Sie antwortete: „Die Clever 
Herzogin hat mich zu tiefen Seufzern gebracht”. Aber Lohen- 
grin schwieg und fragte nicht weiter. Die zweite Nacht ging 
es ebenso. Allein in der dritten Nacht konnte sich Elsa nicht 
lĂ€nger halten und sprach: „Herr, zĂŒrnt mir nicht! Ich wĂŒĂŸte 
gern, um unserer Kinder willen, von wannen ihr ge- 
boren seid; denn mein Herz sagt mir, ihr seid reich an Adel”, 
Als nun der Tag anbrach, erklĂ€rte Lohengrin Öffentlich, woher 
er stamme: daß Parsifal sein Vater sei und Gott ihn vom 
Grale hergesandt habe. Darauf ließ er seine beiden Kinder 
bringen, die ihm die Herzogin geboren hatte, kĂŒĂŸte sie, befahl 
ihnen, Horn und Schwert, das er zurĂŒcklasse, wohl aufzuheben 
und sagte: „Nun muß ich auf die Fahrt!” Der Herzogin ließ 
er das Fingerlein, das ihm einst seine Mutter geschenkt hatte. 
Da kam mit Eile sein Freund, der Schwan geschwommen, hinter 
ihm das Schifflein; der FĂŒrst trat hinein und fuhr ĂŒbers 
Wasser wieder in den Dienst des Grales. Elsa sank ohnmÀchtig 
nieder. Den jĂŒngeren der Knaben, Lohengrin, beschloß 
die Königin um seines Vaters willen zu behalten und 
ihn wie ihr eigenes Kind zu erziehen. Die Witwe aber 
weinte und klaste ihr ĂŒbriges Leben lange um den geliebten 
Gemahl, der nimmer wiederkehrte!). 

Wenn man mit Berufung auf die in den Mythen nicht 
seltene Umordnung, ja Umkehrung der Motive den Schluß der 1 
| 1) Die BrĂŒder Grimm fĂŒhren in ihren deutschen Sagen (2. Teil, | 
S, 286 uff.) noch sechs Fassungen der Sage vom Schwanritter an. In den 
gleichen mythologischen Zusammenhang gehören auch einige MÀrchen der 
BrĂŒder Grimm; so „Die sechs SchwĂ€ne” (Nr. 49), „Die zwölf BrĂŒder” (Nr. 9) 
und „Die sieben Raben” (Nr. 25) mit ihren im Ill. Bande der Kinder- und 
HausmĂ€rchen angefĂŒhrten Parallelen und Varianten. Weiteres Material aus 
diesem Sagenkreis findet manin Leos „Beowulf” undin Görres Einleitung 
zum „Lohengrin” (Heidelber& 1813). 





i6 DER RITTER MIT DEM SCHWAN. 


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Lohengrinsage voranstellt, so ergibt sich der uns gelÀufige 
Sagentypus: der kleine Lohengrin, der identisch ist mit 
seinem gleichnamigen Vater, schwimmt in einem Nachen 
auf dem Meere und wird von einem Schwan ans Land 
eebracht. Die Kaiserin nimmt ihn an Sohnesstatt an 
under wĂ€chstzum kĂŒhnen Helden heran. Mit einer edlen 
Jungfrau des Landes vermÀhlt, verbietet er, nach seiner Her 
kunft zu fragen. Als das Gebot ĂŒbertreten wird. muß er seine 
wunderbare Abkunft und göttliche Sendung enthĂŒllen, worauf 
ihn der Schwan im Nachen wieder zum Gral zurĂŒckfĂŒhrt. 


Andere Versionen der Sclwanrittersage haben diese ursprĂŒng- 
liche Anordnung der Motive bewahrt, wenn sie auch mit mÀrchen- 
haften ZĂŒgen vermengt erscheinen. So enthĂ€lt die in dem flam- 
lÀndischerp Volksbuche mitgeteilte Sage vom Ritter mit dem 
Schwan (Deutsche Sage II, 291) zu Anfang die Geburt von sieben 
Kindern!), die Beatrix, die Gemahlin Königin Oriants von Flandern, 
zur Welt bringt. Matabruna, die böse Mutter des abwesenden Königs, 
befiehlt die Kinder zu töten und an deren Stelle der Königin sieben 
junge Hunde unterzuschieben. Der Diener begnĂŒgt sich jedoch mit 
der Aussetzung der Kinder, die von einem Einsiedler namens 
Helias gefunden und von einer Geiß gesĂ€ugt werden, bis sie 
herangewachsen sind. Beatrix wird in den Kerker geworfen. SpÀter 
eıfÀhrt Matabruna von der Rettung der Kinder und: ein neuerlicher 
Befehl, sie zu töten, hat den Erfolg, daß der damit beauftraste 
JĂ€ger zum Zeichen der scheinbaren VollfĂŒhrung des Befehls ihr die 
silbernen Halsketten bringt, welche die Kinder schon bei ihrer 
Geburt gehabt hatten, Einer der Knaben, nach seinem Pilegevater 


) Ähnlich in der alten longobardischen Aussetzungssage, die Paulus 
Diaconus (I, 15) vom König Lamissio erzÀhlt. Eine Dirne hatte ihre sieben 
neugeborenen Kinder in einen Fischteich geworfen, als König Agelmund 
vorbei kam und die Kinder neugierig betrachtete, indem er sie mit seinem 
Speere umwandte. Als dabei eines von den Kindern nach dem Speer griff, 
deutete der König das als gĂŒnstiges Vorzeichen, befahl, diesen Knaben aus 
dem Teich zu ziehen und ihn einer Amme zum SĂ€ugen zu ĂŒbergeben. Da 
er ihn aus dem Teich, der in seiner Sprache lama genannt wird, ge- 
zogen hatte, nannte er. den Knaben Lamissio. Herangewachsen wurde er 
ein tapferer IIeld und nach Agelmunds Tode König der Longobarden, 





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. LAMISSIO. — SCEÄF. 17 


Helias genannt, behÀlt allein seine Kette und wird so vor dem 
Schicksal seiner Geschwister bewahrt, dis sich mit Abnahme der 
Ketten in SchwÀne verwandeln. Da soll nun auf neuerliches 
Anstiften der Matabruna, die sich erbötig macht, den Umgang der 
Königin mit dem Hunde zu erweisen, Beatrix getötet werden, wenn 
kein KĂ€mpfer fĂŒr ihr Recht eintrete. In dieser Not betet sie zu 
Gott, der ihren Sohn Helias als Retter schickt. Auch seine Ge- 
schwister werden nun mit Hilfe der Ketten wieder erlöst bis auf 
einen, dessen Kette schon verarbeitet ist, Hierauf ĂŒbergibt König 
Oriant die Regierung seinem Sohne Helias, der die böse Matabruna 
verbrennen lĂ€ĂŸt. Eines Tages sieht Helias, wie sein Bruder, der 
Schwan, auf dem Schloßweiher einen Nachen zieht, hĂ€lt das fĂŒr ein 
Zeichen des Himmels und besteigt gewafinet das Schifflein. Der 
Schwan fĂŒhrt ihn durch FlĂŒsse und Ströme zu der Stelle, wohin er 
nach Gottes Willen beschieden war. Nun folgt die der Lohengrin- 
sage analoge Befreiung -einer unschuldig angeklagten Herzogin und 
die VermÀhlung mit ihrer Tochter Klarissa, der die Frage nach der 
Herkunft ihres Gatten verboten wird. Im siebenten Jahr ihrer Ehe 
tut sie aber doch die Frage, worauf Helias in dem Schwanenschiff 
wieder nach Hause zurĂŒckkehrt, wo nun auch der letzte Bruder 


Sehwan erlöst wird. 


SceÀf. 


Die der Lohengrinsage eigentĂŒmlichen ZĂŒge, daß der 
göttliche Held auf dieselbe geheimnisvolle Weise, wie er 
gekommen ist, auch wieder verschwindet, und ebenso die 
Übertragung mythischer Motive aus dem Leben des Ă€lteren 
gleichnamigen Helden auf einen jĂŒngeren, einen ganz allge- 
meinen Vorgang der Mythenbildung, enthÀlt auch die anglisch- 
langobardische Sage von ScöÀf, dieim Eingang des Beowulf- 
liedes, des Àltesten deutschen, in angelsÀchsischer Mundart 
erhaltenen Heldengedichtes (ĂŒbersetzt von H. v. Wolzogen, 
Reclam), erwÀhnt wird. Der Vater des alten Beowulf hat seinen 
Namen Seild Se@fing, d. i. Sohn des SeöÀf, davon, daß er als 
ganz junger Knabe, den Bewohnern des Landes un- 
bekannt, auf einer Korngarbe (ags. seöÀf) im Nachen 


18 DER MYTHUS VON ZEUGUNG UND TOD DES HELDEN. 


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sehlafend von den Meereswogenan die KĂŒste desLandes 
eetrieben wurde, das erzu beschirmen ausersehen war. Er wird 
von den Einwohnern als ein Wunder in Empfang genommen, auf- 
erzogen und spÀter als ein Gottgesandter zu ihrem König 
gemacht (vel. Grimm: Deutsch. Mythol.‘, I, S. 306, II, S. 391 
und H. Leo: Beowulf, Halle 1839'). Was von dem Ahnbherrn 
der Königsfamilie, von Scaf oder ScöÀf erzÀhlt wird, er- 
scheint im Beowulflied auf seinen Sohn, den SeöÀfing Seild 
ĂŒbertragen, nach ĂŒbereinstimmender Angabe Grimms (a. a. O.) 
und Leos (S. 24): Sein Leichnam wird nÀmlich auf seine An- 
ordnung von königlichem Reichtum umgeben auf einem mann- 
schaftslosen Schiffe in die See ausgesetzt (Anfang des Beowulf- 
liedes). Er verschwindet also auf dieselbe geheimnisvolle Weise, 
wie sein Vater ans Land kam, ein Zug, der sich nach Analogie 
der Lohengrinsage durch die mythische IdentitÀt von Vater 
und Sohn erklÀrt?). 


i) Der Name Beowulf, den Grimm als Bienenwolf erklÀrt, scheint 
ursprĂŒnglich (nach Wolzogen) BĂ€rwelf d. i. JungbĂ€r zu bedeuten, was an 
die Sage vom „Ursprung der Welfen” (Grimm II, 233) erinnert, wo die 
Knaben als Welfe ins Wasser geworfen werden sollen. 

2) Das sich typisch wiederholende Motiv vom Ende des Heldenlebens 
verdiente — ebenso wie das Motiv von der Zeugung des Helden — eine ge- 
sonderte Behandlung, was in meiner Monographie ĂŒber die Lohengrinsage an- 
gebahnt ist, Dabei zeigt sich der Mythus vom Tode des Helden von Àhnlich 
wunderbaren Motiven (EntrĂŒckung), aber auch von der gleichen unbe- 
wußten Symbolik beherrscht, wie sie unsere Deutung im Mythus von der 
Geburt des Helden aufzeigen kann. 


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II. 


Überblickt man die Menge dieser mannigfach ausgestalteten 
Heldensagen, so drÀngt sich einem eine Reihe durchgÀngig 
gemeinsamer ZĂŒge auf, die es nahelegen, aus diesen typischen 
Grundelementen gleichsam eine Durchschnittssage zu bilden. 
FĂŒr die individuellen ZĂŒge der einzelnen Mythen und ins- 
besondere fĂŒr manche scheinbare Abweichung vom Schema 
wird erst die Deutung volle AufklÀrung bringen. Die Durch- 
sehnittssage selbst könnte man schematisch etwa so formu- 
lieren. 

Der Held ist das Kind vornehmster Eltern, meist ein 
Königsohn. 

Seiner Entstehung gehen Schwierigkeiten voraus, wie 
Enthaltsamkeit oder lange Unfruchtbarkeit oder heimlicher Ver- 
kehr der Eltern infolge Ă€ußerer Verbote oder Hindernisse. 
WĂ€hrend der Schwangerschaft oder schon frĂŒher erfolgt eine 
vor seiner Geburt warnende VerkĂŒndigung (Traum, Orakel), 
die meist dem Vater Gefahr droht. 

Infolgedessen wird das neugeborne Kind, meist auf 
Veranlassung des Vaters oder der ihn vertretenden Person, 
zur Tötung oder Aussetzung bestimmt; in der Regel wird 
es in einem KĂ€stehen dem Wasser ĂŒbergeben. 

Es wird dann von Tieren oder geringen Leuten 
(Hirten) gerettet und von einem weiblichen Tiere oder 
einem geringen Weibe gesÀusgt. 

Herangewachsen, findet es auf einem sehr wechselvollen 
Wege die vornehmen Eltern wieder, rÀcht sich am Vater 








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50 DER HELD UND SEINE 


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einerseits, wird anerkannt anderseits und gelangt zu GrĂ¶ĂŸe 
und Ruhm!). 

Da in allen diesen Mythen, wie das Schema zeigt, regel- 
mĂ€ĂŸig die normalen Beziehungen des Helden zu Vater und 
Mutter gestört erscheinen, SO ist die Annahme nicht 
unbegrĂŒndet, daß etwas in der Natur des Helden liegen mĂŒsse, 
was eine solche. Störung zu bewirken im stande ist. Solche 
Motive sind zunĂ€chst nieht schwer zu finden. Es lĂ€ĂŸt sich 
leicht verstehen und wir können es ja an den AuslÀufern 
des Heldentums in unserer Zeit beobachten, daß fĂŒr den 
Helden, der in viel höherem Grade als jeder andere dem 
Neid, der Mißgunst und der Nachrede ausgesetzt ist, die Ab- 
kunft von seinen Eltern hÀufig zur Quelle peinlicher Ver- 
legenheiten wird. Das alte Wort: „Nemo propheta in patria” 
hat ja auch keine andere Bedeutung, als daß man den, dessen 
Eltern, Gesehwister und Gespielen man gekannt hat, schwerlich 
fĂŒr einen Propheten gelten lĂ€bt (Evang. Mark. VI, 4). Es scheint 
eine gewisse GesetzmĂ€ĂŸigkeit darin zu liegen, daß der Prophet 
seine Eltern verleugnen muß. Der bekannten Oper Meyerbeers 
liegt ja das Bekenntnis zugrunde, dal der prophetische Held 
zugunsten seiner Mission selbst die zÀrtlich geliebte Mutter 
verlassen darf. 

Wollen wir aber eine tiefere ErgrĂŒndung der Regungen 
versuchen, die den Helden nötigen, seine Familienbeziehungen 
zu brechen, so stoßen wir auf eine Reihe von Schwierigkeiten. 
Daß man zum VerstĂ€ndnis der Mythenbildung auf ihre letzte 
Quelle, die individuelle PhantasietĂ€tigkeit, zurĂŒckgehen mĂŒsse, 
ist schon von vielen Forschern hervorgehoben worden?); ebenso 
die Tatsache, daß man diese PhantasietĂ€tigkeit in lebhafter, 
ungehemmter Entfaltung nur beim Kinde antrifftÂź). Man mĂŒĂŸte 
also zunÀchst das Phantasieleben des Kindes erforschen, um 


t) Eine Möglichkeit weiterer Detaillierung einzelner Punkte dieses 
Schemas ergĂ€be sich aus der Zusammenstellung, die Heinrich Leßmann 
am Schluß seiner Arbeit: „Die Kyrossage in Europa,” gegeben hat. 

2) Siehe auch Wundt (a. a. O., S. 48), der den Helden psychologisch 
als Projektion menschlicher WĂŒnsche und Bestrebungen auffaßt. 

3) ef. Cox (l. e..p. 9.) 





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DIE NEUROTISCHEN PHANTASIEN. si 





dem VerstÀndnis der ungleich komplizierteren, durch mancherlei 
EinflĂŒsse modifizierten mythischen uud kĂŒnstlerischen Phantasie- 
tÀtigkeit nÀher zu kommen. Die Erforschung-des kindlichen 
Phantasielebens ist aber kaum noch in‘ Angriff genommen, 
geschweige denn so weit gefĂŒhrt, . daß. man ihre ‚Ergebnisse 
zur ErklÀrung der komplizierteren Leistungen heranziehen 
könnte. Der Grund fĂŒr diese mangelhafte Kenntnis’ des kind- 
lichen Seelenlebens ist darin zu suchen, daß es sowohl an 
einem geeigneten Instrument -als auch an einem sicheren Weee 
zur Erforschung dieses so heiklen und schwer zugÀnglichen 
Gebietes fehlte. Beim normalen erwachsenen Menschen lassen 
sich diese kindlichen Regungen schlechterdings nicht studieren; 
ja man kann sogar im Hinblick auf gewisse seelische Störungen 
sagen, daß die psychische NormalitĂ€t des Normalen eben darin 
besteht, daß er sein kindliches Vorstellungs-: und Phantasie- 
leben ĂŒberwunden, richtiger gesagt gut verdrĂ€ngt hat: da fehlt 
uns also der Weg. Beim Kinde dagegen lĂ€ĂŸt uns die empirische 
Beobachtung, die in der Regel nur oberflÀchlich bleiben kann, 
bei der Erforschung seelischer VorgÀnge im Stich, da wir noch 
nicht im stande sind, aus allen Äußerungen richtig auf ihre 
TriebkrĂ€fte zu schließen: hier fehlt uns also das Instrument. 
Bloß eine Klasse von Menschen, die sogenannten Psycho- 
neurotiker, die, wie uns die Forschungen Freuds gelehrt 
haben, gleichsam in gewissem Sinne Kinder geblieben : sind, 
wenn sie sich auch sonst als Erwachsene prÀsentieren, haben 
ihr kindliches Seelenleben sozusagen nicht aufgegeben; es hat 
vielmehr bei ihnen im Laufe der Reife eine VerstÀrkung und 
Fixierung statt einer modifizierenden Entwicklung erfahren. 
Beim Psychoneurotiker ist die InfantilitÀt gesteigert erhalten 
und dadurch zu pathologischen Wirkungen befÀhigt, die uns 
diese sonst unbeachteten Regungen vergröbert, sozusagen in 
mikroskopischer VergrĂ¶ĂŸerung zeigen. Die Phantasien der 
Neurotiker gleichen in jeder Beziehung ĂŒbertriebenen Repro- 
duktionen der kindlichen Phantasien; da hÀtten wir also den 
Weg. UnglĂŒcklicherweise ist hier aber der Zugang noch weit 
schwieriger als beim Kind. Es gibt nur ein Mittel, das 
diesen Weg gangbar macht, und.das ist die psychoanalytische 
Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, 2. Aufl. ĂŒ 











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82 DIE ABLÖSUNG DES KINDES VON DEN ELTERN. 


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Methode, deren Ausbildung Freud zu verdanken ist. Die 
stÀndige BeschÀftigung mit dieser Methode schÀrft dem Beob- 
achter den Blick so weit, daß er dann im Seelenleben der spĂ€ter 
nicht neurotisch gewordenen Menschen die gleichen TriebkrÀfte 
in ihren feiner nuancierten Äußerungen wiederzuerkennen 
vermag. he ur 
Herrn Professor Freud, der mir seine reichen Erfahrungen 
aus der Neurosenpsychologie zur VerfĂŒgung stellte, verdanke 
ich das Folgende ĂŒber das Phantasieleben des Kindes und 
des Neurotikers: ' ' ' 
„Die Ablösung des heranwachsenden Individuums von 
der AutoritÀt der Eltern ist eine der notwendigsten, aber 
auch schmerzlichsten Leistungen der Entwicklung. Es ist 
durehaus notwendig, daß sie sieh vollziehe, und man darf an- 
nehmen, jeder, normal gewordene Mensch habe sie in einem 
gewissen Maß zustande gebracht. Ja, der Fortschritt der 
Gesellschaft beruht ĂŒberhaupt auf dieser GegensĂ€tzlichkeit der 
beiden Generationen. Anderseits gibt es eine Klasse von Neu- 
rotikern, in deren Zustand man die Bedingtheit erkennt, daß 
sie an dieser Aufgabe gescheitert sind. | 
‚FĂŒr das kleine Kind sind die Eltern zunĂ€chst die einzige 
AutoritĂ€t und die Quelle alles Glaubens. Ihnen, das heißt dem 
gleichgeschlechtlichen Teile, gleich zu werden, oeroß zu werden 
wie Vater und Mutter ist der intensivste, folgenschwerste 
Wunsch dieser Kinderjahre. Mit der zunehmenden intellektuellen 
Entwicklung kann es aber nicht ausbleiben, dab das Kind all- 
mÀhlich die Kategorien kennen lernt, in die seine Eltern gehören. 
Es lernt andere Eltern kennen, vergleicht sie mit den seinigen 
und bekommt so ein Recht, an der ihnen zugeschriebenen 
Unvereleichlichkeit und Einzigartigkeit zu zweifeln. Kleine 
Ereignisse im Leben des Kindes, die eine unzufriedene Stimmung 
bei ihm hervorrufen, geben ihm den Anlaß, mit der Kritik 
der Eltern einzusetzen und die gewonnene Kenntnis, dab 
andere Eltern in mancher Hinsieht vorzuziehen seien, zu dieser 
Stellungnahme gegen seine Eltern zu verwerten, Aus der 
Neurosenpsychologie wissen wir, daß dabei unter anderen die 
intensivsten Regungen sexueller RivalitÀt mitwirken. Der Gegen- 

















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DIE FANILIENROMANE DER NEUROTIKER. 85 


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stand dieser AnlĂ€sse ist offenbar das GefĂŒhl der ZurĂŒcksetzung. 
Nur zu oft ergeben sich Gelegenheiten, bei denen’ das Kind 
zurĂŒckgesetzt wird oder sich wenigstens zurĂŒckgesetzt fĂŒhlt, 
wo es die volle Liebe der Eltern vermißt, besonders aber 
bedauert, sie mit anderen Geschwistern teilen zu mĂŒssen. Die 
Empfindung, daß die eigenen Neigungen nicht voll erwidert 
werden, macht sich dann in der aus frĂŒhen Kinderjahren oft 
bewußt erinnerten Idee Luft, man sei ein Stiefkind oder ein 
angenommenes Kind. Viele nicht neurotisch gewordene Menschen 
entsinnen sich sehr hĂ€ufig an solche Gelegenheiten, wo’ sie 
— meist durch LektĂŒre beeinflußt — das feindselige Benehmen 
der Eltern in dieser Weise auffaßten und erwiderten. Es 
zeigt sich aber hier bereits der Einfluß des Geschlechts, indem 
der Knabe bei weitem mehr Neigung zu feindseligen Regungen 
gegen seinen Vater als gegen seine Mutter zeigt und eine viel 
intensivere Neigung, sich von jenem als von dieser freizumachen. 
Die PhantasietÀtigkeit der MÀdchen mag sich in diesem Punkte 
viel schwĂ€cher erweisen. In diesen bewußt erinnerten Seelen- 
regungen der Kinderjahre finden wir das Moment, welches uns 
das VerstĂ€ndnis des Mythus ermöglicht.” 

„Selten bewußt erinnert, aber fast immer durch die Payöhd; 
analyse nachzuweisen, ist dat die weitere Entwicklungsstufe 
dieser beginnenden Entfremdung von den Eltern, die man mit 
dem Namen: Familienromane der Neurotiker bezeichnen 
kann. Es gehört nÀmlich durchaus zum Wesen der Neuröse 
und auch jeder höheren Begabung eine ganz besondere TÀtigkeit 
der Phantasie, die sich zunÀchst in den kindlichen Spielen 
offenbart und die nun, ungefÀhr von der Zeit der VorpubertÀt 
angefangen, sich des Themas der Familienb eziehungen bemÀchtigt. 
Ein charakteristisches Beispiel dieser besonderen Phantasie- 
tĂ€tigkeit ist das bekannte TagtrĂ€umen!), das weit ĂŒber die 
PubertÀt hinaus fortgesetzt wird. Eine genaue Beobachtung 
dieser TagtrĂ€ume lehrt, daß sie der ErfĂŒllung von WĂŒnschen, 





t) Vgl. darĂŒber Freud: Hystefische Phantasien und ihre Beziehung 
zur BisexualitÀt, wo auch auf die Literatur zu diesem Thema verwiesen 
ist. Die Arbeit findet sich in der zweiten Folge der „Sammlung kleiner 
Schriften zur Neurosenlehre” (Wien und Leipzig) 1909, wieder abgedruckt. 


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St DIE PHANTASIEN VON HOHER ABKUNFT. 


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der Korrektur des Lebens dienen und vornehmlich zwei Ziele 
kennen: das erotische und das ehrgeizige (hinter dem aber 
meist auch das erotische steckt). Um die , angegebene Zeit be- 
schÀftigt sich nun die Phantasie des Kindes mit der Aufgabe, 
die jetzt gering geschÀtzten Eltern loszuwerden und durch in 
der Regel sozial höherstehende zu ersetzen. Dabei wird das 
zufÀllioe Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die 
Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzers auf dem 
Lande, der FĂŒrstlichkeit in der Stadt) ausgenĂŒtzt. Solche zu- 
fÀllige Erlebnisse erwecken. den: Neid des Kindes, der dann 
den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern 
durch vornehmere ersetzt. In der Technik der AusfĂŒhrung 
solcher Phantasien, die natĂŒrlich um diese Zeit bewußt sind, 
kommt es auf die Geschicklichkeit und das Material an, das 
dem Kinde zur VerfĂŒgung steht. Auch handelt es sich darum, 
ob die Phantasien mit einem großen oder geringen BemĂŒhen, 
die Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ausgearbeitet sind. Dieses 
Stadium wird zu einer Zeit erreicht, wo dem Kinde die Kenntnis 
der sexuellen Bedingungen der Herkunft noch fehlt.” 

„Kommt dann dieKenntnis der verschiedenartigen sexuellen 
Beziehungen von Vater und Mutter dazu, begreift das Kind, 
daß pater semper incertus est, wĂ€hrend die Mutter certissima 
ist, so erfĂ€hrt der Familienroman eine eigentĂŒmliche Ein- 
schrĂ€nkung; er begenĂŒgt sich nĂ€mlieh damit, den Vater zu er- 
höhen, die Abkunft von der Mutter aber als etwas UnabÀnderliches 
nieht weiter in Zweifel zu ziehen. Dieses zweite (sexuelle) 
Stadium des Familienromans wird auch von einem zweiten 
Motiv getragen, das dem ersten (asexuellen) Stadium fehlte, 
Mit der Kenntnis der geschlechtlichen VorgÀnge entsteht die 
Neigung, sich erotische Situationen und Beziehungen auszu- 
malen, wozu ‚als Triebkraft die Lust tritt," die Mutter, die 
Gegenstand der höchsten sexuellen Neugierde ist, in die Situation 
von geheimer Untreue und geheimen LiebesverhÀltnissen zu 
bringen. In dieser Weise werden jene ersten gleichsam asexuellen 
Phantasien auf die Höhe der jetzigen Erkenntnis gebracht.” 
| „Übrigens zeigt sich das Motiv der Rache und Vergeltung, 
das frĂŒher im Vordergrunde stand, auch hier. Diese neurotischen 


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DEUTUNG. UND RECHTFERTIGUNG DIESER-PHANTASIEN. 35 


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Kinder sind es ja auch meist, die bei der Abgewöhnung 
sexueller Unarten von den Eltern bestraft wurden, und die 
sich nun durch solche Phantasien an ihren Eltern rĂ€chen.” 

„Ganz besonders sind es nachgeborene Kinder, die vor 
allem ihre VordermÀnner durch derartige Dichtungen (ganz 
wie in historischen Intrigen) ihres Vorzuges berauben, ja die 
sich oft nicht scheuen, der Mutter ebensoviele LiebesverhÀlt- 
nisse anzudichten, als Konkurrenten vorhanden sind. Eine 
interessante Variante dieses Familienromans ist es dann, wenn 
der dichtende Held fĂŒr sich selbst zur LegitimitĂ€t zurĂŒckkehrt, 
wÀhrend er die anderen Geschwister auf diese Art als illegitim 
beseitigt. Dabei kann noch ein besonderes Interesse den 
Familienroman dirigieren, der mit seiner Vielseitigkeit und 
mannigfachen Verwendbarkeit allerlei Bestrebungen entgegen- 
kommt. So beseitigt der kleine Phantast zum Beispiel auf dieses 
Weise die verwandtschaftliche Beziehung zu einer Pappe 
die ihn etwa sexuell angezogen hat.” 

„Wer sich von dieser Verderbtheit des kindlichen GemĂŒtes 
mit Schaudern abwendete, ja selbst die Möglichkeit solcher 
Dinge bestreiten wollte, dem sei bemerkt, daß alle diese an- 
scheinend so feindseligen Dichtungen eigentlich nicht so böse‘ 
gemeint sind und unter leichter Verkleidung die erhalten ge- 
bliebene ursprĂŒngliche ZĂ€rtlichkeit des Kindes fĂŒr seine Eltern 
bewahren. Es ist nur scheinbare Treulosigkeit und Undankbarkeit; 
denn wenn man die hÀufigste dieser Romanphantasien, den 
Ersatz beider Eltern oder nur des Vaters durch großartigere 
Personen, im Detail durchgeht, so macht man die Entdeckung, 
daß diese neuen und vornehmen Eltern durchwegs mit ZĂŒgen 
ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen an die wirklichen 
niederen Eltern herrĂŒhren, so daß das Kind den Vater 
eigentlich nicht beseitigt, sondern erhöht. Ja, das ganze 
Bestreben, den wirklichen Vater durch einen vor- 
nehmeren zu ersetzen, ist nur der Ausdruck der Sehn- 
sucht des Kindes nach der verlorenen glĂŒcklichen Zeit, 
in der ihm sein Vater als der vornehmste und stÀrkste 
Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau 
erschienen ist. Er wendet sich vom Vater, den er jetzt er- 








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86 DER FAMILIENROMAN WIRD 


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kennt, zurĂŒck zu dem, an den er in frĂŒheren Kinderjahren 
geglaubt hat, und die Phantasie ist eigentlich nur der 
Ausdruck des Bedauerns, daß diese glĂŒckliche Zeit 
entschwunden ist. Die ÜberschĂ€tzung der frĂŒhesten Kindheits- 
jahre tritt also in diesen Phantasien wieder in ihr volles Recht. 
Ein interessanter Beitrag zu diesem Thema ergibt sich aus 
dem Studium der TrÀume. Die Traumdeutung lehrt nÀmlich, 
daß auch noch in spĂ€teren Jahren in TrĂ€umen vom Kaiser 
oder von der Kaiserin diese erlauchten Persönlichkeiten Vater 
und Mutter bedeuten!).. Die kindliche ÜberschĂ€tzung der 
Eltern ist also auch im Traum des normalen Erwachsenen er- 


halten.” 2 


Wenn wir nun darangehen, diese Gesichtspunkte auf unser 
Schema anzuwenden, so gibt uns die Übereinstimmung der 
Tendenz des Familienromans ‚und des Heldenmythus die Be- 
rechtirung, das Ich des Kindes mit dem Helden der Sage zu 
analogisieren. Erinnern wir uns, daß der Mythus durchgĂ€ngig 
das Bestreben verrĂ€t, die Eltern loszuwerden, und daß derselbe 
Wunsch in den Phantasien des kindlichen Individuums zu einer 
Zeit erwacht, wo es seine UnabhÀngigkeit und SelbstÀndigkeit 
zu erlangen sucht. Das Ich des Kindes benimmt sich dabei wie 
der Held der Sage und eigentlich ist ja der Held immer nur 
als ein Kollektiv-Ich aufzufassen, das mit allen vorzĂŒglichen 
Eigenschaften ausgestattet wird, Àhnlich wie ja auch in der 
persönlichen dichterischen Schöpfung der Held meist den 
Dichter selbst oder besser eine Seite seines Wesens darstellt?). 


f 1) Traumdeutung, 2. Aufl, S. 200. 

2) Der Familienroman bildet naturgemĂ€ĂŸ ein Kernmotiv unserer ge- 
samten Romanliteratur, angefangen von den spÀtgriechischen SchÀferromanen, 
wie sie in Heliodors „Aethiopika”, in Eustathius’, „Ismenias und Ismene” 
und in der Geschichte der zwei ausgesetzten Kinder „Daphnis und Chloe” 
erzÀhlt werden. Auch die neueren dramatischen Hirtengedichte Italiens 
grĂŒnden sieh sehr hĂ€ufig auf die Aussetzung von Kindern, die von den 
Pflegeeltern als SchÀfer auferzogen und dann von den wirklichen Eltern mittels 
Erkennungszeichen, die ihnen bei der. Aussetzung mitgegeben wurden 
wiedererkannt werden. — Aus der spĂ€teren Literatur sei ferner die Familien- 
geschichte in Grimmelshausens „Simplieissimus” (1665), Jean Pauls 





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DURCH I DEN | MYTHUS REALISIERT. 57 


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Rufen wir uns die wesentlichen Hauptmotive des Helden- 
mythus: die Geburt von vornehmen Eltern, die Aussetzung 
im Fluß und KĂ€stehen und die Aufziehung durch niedrige 
Eltern — woran sich dann in der weiteren Entwicklung die 
RĂŒckkehr des Helden zu den ersten Eltern, mit oder ohne 
deren Bestrafung, schließt — ins GedĂ€chtnis zurĂŒck, so ist ohne 
weiteres deutlich, daß die beiden Elternpaare des Mythus dem 
realen und dem idealen Elternpaare der Romanphantasie ent- 
sprechen. Bei nÀherem Zusehen erkennt man dann auch hier, 
ganz wie in den kindlichen und neurotischen Phantasien, die 
psychologische IdentitÀt des niederen und des vornehmen 
Elternpaares. Auch beginnt der Mythus, entsprechend der 
ÜberschĂ€tzung der Eltern in der frĂŒheren Kinderzeit!), mit dem 
vornehmen Elternpaar, ebenso wie dieRomanphantasie, wÀhrend 
sich in der Wirklichkeit der Erwachsene bald mit den tat- 
sÀchlichen VerhÀltnissen abfindet. DiePhantasie des Familien- 
romans erscheint also im Mythus, mit einer kĂŒhnen 
Umkehrung der RUSIDDATERN VerhÀltnisse, Sintaoh rea- 
lisiert. 

Die Feindseligkeit des ER und die Aush ihn veran- 
laßte Aussetzung betonen die Motive, welche das Ich zu der 
ganzen Dichtung veranlaßt haben. Der gedichtete Roman ist 
gleichsam die Entschuldigung fĂŒr die feindseligen GefĂŒhle, die 
das Kind gegen den Vater hegt und die es in dieser Dichtung 
auf den Vater projiziert. Die Aussetzung im Mythus entspricht 
„Litan” (1800), sowie gewisse Formen der Robinsonaden und des 
Ritterromans genannt, wozu man besonders Wurzbachs Einleitung zur 
Ausgabe des „Don Quichotte” (in der Hesseschen Ausg.) vergleiche. 
Aus der allermodernsten basrabır sei nur Norbert Jaques’ hr 
genannt. Ei 

1) Die experimentell-statistischen Unterauchungen ĂŒber die Ideale der 
Kinder scheinen zu den analytischen Befunden zu stimmen. So fand Varen- 
donck (Les idöals d’enfants. ‘Arch, de Psychol. VII, 1908) bei 745 Kindern 
der belgischen Schulen zwischen 6 und 16 Jahren, daß bei den Kleinen die 
Tendenz besteht, die eigenen Eltern als Ideal zu nehmen, dab aber diese 
Tendenz — entsprechend unserer Auffassung — mit dem Alter bei beiden 


Geschlechtern stÀndig abnimmt und die Kinder dann andere Ideale, sei es 
aus der aktuellen Gegenwart oder Helden aus der Geschichte, wÀhlen, 





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85 DEUTUNG DER SYMBOLISCHEN DETAILS. 








also der Verleuenung in der Romanphantasie. Im neurotischen 
Roman hat das Kind den Vater einfach abgeschĂŒttelt, im 
Mythus sucht der Vater sich des Kindes zu entledigen. 

Rettung und Rache sind die natĂŒrlichen, vom Wesen einer 
Phantasie geforderten AbschlĂŒsse. 

Soll diese vorlÀufig in groben Umrissen angedeutete 
Parallelisierung vollen Wert erhalten, so muß sie uns in den 
Stand setzen, gewisse, konstant wiederkehrende Details des 
Mythus, die einer besonderen ErklĂ€rung bedĂŒrftig erscheinen, 
zu: verstehen. Auch erscheint uns diese Forderung deshalb be- 
sonders wichtig, weil wir in den Schriften selbst der ĂŒber- 
zeugtesten Astral- und Naturmythologen keine befriedigende 
AufklÀrung dieser Details finden. Solche Details sind das regel- 
mĂ€ĂŸige Vorkommen von TrĂ€umen (oder Orakel), ferner die 
Art der Aussetzung im KĂ€stchen und im Wasser, die hilfreichen 
Tiere und andere konstante Motive, die zunÀchst eine psycho- 
logische Ableitung nicht zuzulassen scheinen. Auch hier er- 
möglichte_uns das psychoanalytische Studium des. Traumes 
und seiner Symbolismen, der Phobien und weiterhin einer 
Gruppe von ethnologischen - und folkloristischen Tatsachen, 
die Bedeutung dieser Elemente des Heldenmythus befriedigend 
aufzuklÀren. 

Eine intensive BeschÀftigung mit den TrÀumen gesunder 
und gemĂŒtskranker Menschen hat gestattet, gewisse typische, 
das heißt. bei allen Menschen immer mit der gleichen geheimen 
Bedeutung wiederkehrende Traumgruppen aufzustellen. Eine 
derselben umfaßt die sogenannten „GeburtstrĂ€ume” (Freud, 
Trmdtg., S. 199), deren VerstÀndnis uns ermöglicht hat, den ver- 
borgenen Sinn auch des Aussetzungsmythus zu ergrĂŒnden. 


chen Scherner'), ee das Wesen des Traumes in intuitiver 
Weise vielfach treffend erfaßt hatte, sieht in den WassertrĂ€umen Be- 
ziehungen zur Geburt (8. 200 £): „... in den Wassersgefahr- 
trĂ€umen des Weibes ist es sehr auffallend, daß die TrĂ€umerin, 
wiewohl sie bereits Matrone ist und ihre Kinder erwachsen, dennoch 
zumeist‘ den gefĂ€hrdeten Sohn oder Tochter als kleines 


1) Das Lahn des ae Berlin 1861. 

















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SCHERNERS TRAUMSYMBOLIK. 59 








Kind sieht und zu retten sucht. Zum Beispiel eine unverheiratete 
Dame trÀumte, sie sei bei einer Wiege beschÀftigt, habe einen kleinen 
Knaben zu wiegen und zu warten; gleich sieht sie noch ein anderes 
ihr bekanntes: kleines Kind neben dem ersteren in der Wiege; wie 
sie eg nÀher betrachtet, ist es ein niedlicher Kanarienvogel; und 
endlich soll sie noch einen dritten Kleinen in Pflege nehmen, der 
aber, wie die danach eintretende 'Traumerkundigung ergibt, erst 
noch geboren werden soll, wozu die Entbindung erwartet werde. 
Wie verrÀterisch ist dieser Traum. Mit der dreifachen Zahl der 
kindlichen Wesen enthĂŒllt sich die fruchtbare Natur des zugrunde 
liegenden Reizes; mit der Verwandlung des zweiten Kindes in das 
lebhafte Wesen des Vogels spiegelt sich der erregte Reiz; durch die 
Verwandlung von Kind zu Vogel zudem die AnnÀherung der Frucht 
(Vogel fĂŒr Kind) der GrĂ¶ĂŸe nach an das geschlossene Fruchtorgan 
der Jungfrau; mit dem dritten Kind endlich, was die Phan- 
tasie deutlich als noch nicht geborenes, respektive als noch 
vom Fruchthalter umfangenes bezeichnet, versetzt sich die 
Symbolik objektiv unmittelbar in das Organ, in dem sie 
erregt wurde und bezeichnet das innere Geschlechtsorgan des 
Weibes als den direkten Erreger des Traumes, — Solche und Ă€hn- 
liche Traumspiele der Frauen und Jungfrauen mit Kindern sind 
Ă€ußerst hĂ€ufig und bilden die scheinbar harmloseste BeschĂ€ftigung 
im Traume und beweisen, wie sehr diese bedeutsam ist.” 

Eine noch deutlichere Sprache spricht ein anderer gleichfalls 
von Scherner (S. 204) mitgeteilter Traum: „Eine unverheiratete Dame 
trĂ€umt, sie stehe an einem sehr großen Wasser, der Strom fĂŒhre 
eine Menge schwimmender GegenstÀnde mit sich. Am meisten 
fesselt sie darunter ein schwimmender Beutel (nach der Rede der 
TrĂ€umerin), etwa so groß wie ein starker Kindskopf und wie ein 
kleiner Ballon aufgeblasen. Nun ist sie neugierig, was. wohl in dem 
Beutel sei, eg könnten SchÀtze darin sein; aber sie ist in Angst, 
daß wohl ein kleines Kind darin verborgen sein könnte und dies 
hĂ€lt sie zurĂŒck, ihn nĂ€her zu betrachten, Endlich aber siegt ihre 
Neugier, sie blickt hinein und findet ein HĂ€ufchen trockener WĂ€sche, 
Analyse: Es ist höchst bemerkenswert, wie die Phantasie der 
TrÀumerin von dem Bilde des Schatzes in dem Beutel radikal ab- 
pringt und durch die: hineingestellte Vermutung, es könnte wohl 


90 DIE ANALYSE DER GEBURTSTRÄUME. 


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ein kleines Kind darin sein, den Beutel als das fruchttragende Organ 
des Weibes, respektive als Symbol des Fruchthalters in der 
jungfrĂ€ulichen T'rĂ€umerin bezeichnet.” | | 2: 

Ist hier die Assoziation der TrÀumerin fast analytisch ver- 
wertet, so stellen unsere psychoanalytischen Deutungen den von 
Scherner erratenen Zusammenhang ĂŒber jeden Zweifel fest. 

Ein solcher Traum wurde Abraham (Traum und Mythus, 
S. 22 uf) von einer jung verheirateten, im Anfang der GraviditÀt 
stehenden Frau erzÀhlt, die ihrer Entbindung nicht ohne Angst ent- 
gegensah. Er lautet: „Ich bin allein in einem lĂ€nglichen Zimmer. 
Plötzlich ertönt ein unterirdischer LÀrm, der mich aber nicht in 
Verwunderung setzt, da ich mich sogleich erinnere, daß von einer 
Stelle des Fußbodens aus ein unterirdischer Kanal direkt ins 
Wasser fĂŒhrt. Ich hebe also eine Klappe im Fußboden auf, und 
sogleich erscheint ein in einen brÀunlichen Pelz gekleidetes 
Geschöpf, das beinahe einem Seelund gleicht. Es wirft den 
Pelz ab und entpuppt sich als mein Bruder, der mich er- 
schöpft und atemlos bittet, ihm Unterkunft zu gewÀhren, da er ohne 
Urlaub fortgelaufen und den ganzen Weg unter Wasser ge- 
schwommen sei. Ich veranlasse ihn, sich auf einer im Zimmer 
stehenden Chaiselongue auszustrecken, und er schlÀft ein. Wenige 
Augenblicke spÀter ertönt erneutes, viel stÀrkeres GerÀusch an der 
TĂŒr, Mein Bruder springt mit einem Schreckensrufe auf: sie wollen 
mich holen, sie werden denken, ich bin desertiert! Er schlĂŒpft 
wieder in seinen Pelz und versucht durch den unterirdischen 
Kanal zu entfliehen, kehrt aber sofort um und sagt: es hilft 
nichts mehr, sie haben den Gang von der Wasserseite her 
"besetzt! .In diesem Moment springt die TĂŒr auf und mehrere 
MĂ€nner stĂŒrzen herein und bemĂ€chtigen sich meines Bruders. Ich 
rufe ihnen verzweifelt zu: er hat ja nichts getan, ich will fĂŒr ihn 
plĂ€dieren! — In diesem Augenblick erwachte ich.” Als unmittel- 
baren Anlaß des Traumes fĂŒhrt Abraham außer dem Zustand der 
GraviditĂ€t folgendes an: „Am Abend hat sie sich von ihrem Arzte 
Verschiedenes ĂŒber Entwicklung und Physiologie des Fötus erklĂ€ren 
lassen. Sie war schon vorher aus BĂŒchern im ganzen orientiert, 
doch stellten sich einige irrtĂŒmliche Auffassungen heraus. Sie hatte 
z. B. die Bedeutung des Fruchtwassers "nicht richtig aufgefaßt, 








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BEISPIELE VON GEBURTSTRÄUMEN. 91 


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Ferner stellte sie sich die feine fötale Behaarung (lanugo) als dichte 
Behaarang wie bei einem jungen Tiere vor” (S. 23). Aus der Analyse 
hebt Abraham nur die wesentlichsten Ergebnisse der nicht voll- 
stĂ€ndig durchgefĂŒhrten Deutungsarbeit hervor, die aber fĂŒr unsere 
Untersuchung völlig hinreichen. „Der Kanal, der direkt ins Wasser 
fĂŒhrt = Geburtsweg. Wasser = Fruchtwasser. Aus diesem Kanal 
kommt ein behaartes Tier, wie ein Seehund. Seehund ist ein be- 
haartes Tier, das im Wasser lebt, ganz wie der Fötus im Frucht- 
wasser. Dieses Geschöpf, also das zu erwartende Kind, erscheint 


sogleich: rasche, leichte Entbindung. Es entpuppt sich als Bruder 


der TrĂ€umerin. Der Bruder ist tatsĂ€chlich erheblich jĂŒnger; nach 
dem frĂŒhen Tode der Mutter mußte sie fĂŒr ihn sorgen, stand zu 
ihm in einem VerhĂ€ltnis, das viel von MĂŒtterlichkeit an sich hatte. 
Sie nennt ihn noch jetzt gern den „Kleinen” ... Der Traum 
macht mit Vorliebe von solchen Wörtern Gebrauch, welche im ver- 
schiedenen Sinne verstanden werden können ... So tritt der Bruder 
der TrÀumerin an die Stelle des Kindes, obgleich er lÀngst 
erwachsen ist . . ., so vertritt er das erwartete Kind, Sie 
wĂŒnscht sich seinen Besuch, sie erwartet also erstens den Bruder, 
zweitens das Kind. Dies die zweite Analogie zwischen Bruder und 
Kind, Sie wĂŒnscht also, daß der Bruder seinen Wohnort verlasse. 
Daher „desertiert” er im Traume von seinem Wohnort. Jeuer Ort 
liegt am Wasser; er schwimmt dort sehr oft. (Dritte Analogie mit 
dem Fötus.) Auch ihr Wohnort liegt am Wasser. — Das schmale 
Zimmer, in welchem sie sich im Traume befindet, hat Aussicht auf 
das Wasser. Im Zimmer steht eine auch als Bett benĂŒtzbare Chaise- 
longue; sie dient als Bett, wenn ein Logiergast kommt. Eine vierte 
Analogie: das Zimmer soll spÀter Kinderzimmer werden, das Baby 
soll darin schlafen! — Der Bruder ist atemlos, als er kommt. Er 
ist ja unter Wasser geschwommen. Auch der Fötus muß, wenn er 
den Kanal verlassen hat, nach Atem ringen. Der Bruder schlÀft 
sogleich ein, wie das Kind bald nach der Geburt. — Nun 
folgt eine Szene, in der der Bruder sich in lebhafter Angst befindet, 
in einer Situation, aus der es kein Entweichen gibt. Eine solche 
der TrÀumerin selbst bevorstehende Situation ist die Entbindung. 
Diese bereitet ihr schon im voraus Angst. Im Traume- schiebt sie 
die Angst dem Fötus; respektive "dem ihn vertretenden Bruder 


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92 BEISPIELE VON GEBURTSTR. ÄUMEN. 








zu und ĂŒbernimmt seine Rolle als Jurist, indem sie fĂŒr ihn 
plÀdiert. 

Indem wir aus dieser Traumanalyse neben der Verwendung 
des Wassers als Geburtswasser und des engen Kanals als sym- 
bolischer Vertretung des im Mythus durch ein KÀstchen, Körbchen 
oder Schifflein angedeuteten Mutterleibes, noch die Auffassung des 
Neugeborenen als eiues Tieres, die durch Abstreifen der tierischen 
HĂŒlle erfolgende Verwandlung in ein Menschenkind, ferner dessen 
Ersetzung durch eine erwachsene Person, den eigentĂŒmlichen Schlaf- 
zustand des „Helden” sowie schießlich seinen Versuch, sich auf 
demselben sonderbaren Wege zu entfernen, der spÀteren Heran- 
ziehung vorbehalten, wenden wir uns einem zweiten Traumbeispiel 
zu, das Jones von einer Patientin mitteilt!). Es lautet in deutscher 
Übersetzung: 

„Sie stand am Meeresufer und beaufsichtigte einen kleinen 
Knaben, welcher der ihrige zu sein schien, wÀhrend er ins Wasser 
watete. Dies tat er so weit, bis das Wasser ihn bedeckte, so daß 
sie nur noch seinen Kopf sehen konnte wie er sich an der 
OberflÀche auf und nieder bewegte. Die Szene verwandelte 
sich dann in die gefĂŒllte Halle eines Hotels. Ihr Gatte verließ sie, 
und sie trat in ein GesprÀch mit einem Fremden. 

Die zweite HĂ€lfte der Traumes enthĂŒllte sich ohne weiteres 
bei der Analyse als Darstellung einer Flucht von ihrem Gatten 
und AnknĂŒpfung intimer Beziehungen zu einer dritten Person. Der 
erste Teil des Traumes war eine offenkundige Geburtsphantasie. 
In den TrÀumen wie in der Mythologie wird die Entbindung eines 
Kindes aus dem Fruchtwasser gewöhnlich mittels der Umkehrung 
als Eintritt des Kindes ins Wasser dargestellt. Das Auf- und Nieder- 
tauchen des Kopfes im Wasser erinnert die Patientin sogleich an 
die Empfindung der Kindesbewegungen, welche sie wÀhrend ihrer 
einzigen Schwangerschaft kennen gelernt hatte, Der Gedanke an 
den ins Wasser steigenden Knaben erweckt eine TrÀumerei, in 
welcher sie sich selbst sah, wie sie ihn aus dem Wasser herauszog, 
ihn in die Kinderstube fĂŒhrte, ihn wusch und kleidete und schließ- 
lich in ihr Haus fĂŒhrte, 


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‘) American Journal .of Psychology. April 1910, p. 296 1. 











BEISPIELE VON GEBURTSTRÄUMEN. 93 


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In einem dritten Beispiel handelt es sich um den Traum eines 
jungen MĂ€dchens, das nicht ohne triftigen Grund befĂŒrchtete, gravid 
geworden zu sein, was sich jedoch einige Zeit nach dem im Zustand 
dieser Besorgnis vorgefallenen Traum als unbegrĂŒndet erwies. 

(I.) „Im Innern eines Hauses haben mich Löwen verfolgt und 
bedrÀngt, weil ich ihr Junges in einer Art Tourniquet (Drehkreuz) 
zerquetscht hatte. Da sind die Alten auf mich losgegangen und 
ich habe mich auf das Dach geflĂŒchtet, von wo ich sah, daß unten 
auf dem Wasser ein kleiner Kahn daher gefahren kam, der an 
Stelle des Schifisschnabels einen Kopf hatte, so daß er zugleich 
als Fahrzeug und Tier erschien. In dem Kahn saß ein Junger 
Amor, ein fĂŒnf- bis sechsjĂ€hriger schöner blonder Knabe. Er war 
nackt, hatte FlĂŒgel am RĂŒcken und trug an der Seite den Köcher 
mit Pfeilen. In der einen Hand hielt er ein Seidenband, das um 
den Kopf des Kahnes geschlungen war und mit dem er das Fahr- 
zeug lenkte. In der andern Hand hielt er eine Art Anker (der 
wie eine Schaufel geformt war), mit dem er großen gehörnten 
lieren (nach Art von Hirschen), die im Wasser heramschwammen 
und mich auch verfolgen wollten, die ĂŒber den Wasserspiegel 
herausragenden Köpfe leicht und spielend abmĂ€hte, so daß 
keine Spur von ihnen mehr zu sehen war, Ich war froh, als er 
mich von diesen ‘lieren befreite und hĂ€tte ihm gern dafĂŒr gedankt, 
konnte aber nicht zu ihm gelangen. (II.) Dann lief ich wieder 
hinaus und sah plötzlich, wie mich ein großer Wolf verfolgte. Ich 
flĂŒchtete nun angstvoll in ein Gasthaus, in eine Ecke hinter einen 
Tisch, und bat den nachstĂŒrmenden Wolf, mir das Leben zu 
schenken. Erleichtert atmete ich auf, als ich sah, daß er mich 
verschonen wollte und einer neben mir sitzenden alten Frau den 
Kopf abbrach, um ihn aufzufressen (der Wolf hat sich ĂŒberhaupt 
wie ein Mensch benommen und ist auch bloß auf den beiden 
Hinterbeinen gestanden). Sie scheint ihm aber nicht geschmeckt zu 
haben, denn er brach nun meinem andern Nachbar, einem alten 
Mann, ebentalls den Kopf ab und fraß ilın. (III) Dann befand ich 
mich in einer mir bekannten Wohnung, wo ein junger Mann erschien 
und mir einen Liebesantrag machte, als ich ihn abwies, stĂŒrzte er 
sich auf mich, um mich zu vergewaltigen, aber ich drÀngte ihn 
hinaus. Ba'd darauf erschien er nochmals mit Revolver und Dolch‘ 


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BEISPIELE VON GEBURTS 


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und wollte mich töten. Ich schickte um Detektivs, die ihn ver- 
haften sollten. Unterdes kam ein Trupp Soldaten, von denen ich 
glaubte, sie kÀmen ihn holen. Sie haben aber jemanden, wie ich 
vom oberen Gang aus gesehen habe, in eine Art Burgverließ hin- 
untergelassen. Dann ist der Detektiv gekommen und hat den Ein- 
dringling verhaftet. Ich habe mir gedacht, daß er wahrscheinlich 
auch in eine solche Vertiefung kommen wird und habe mir darum die 
Höhle genau angesehen. Sie war sehr tief und dunkel und sah aus wie 
eine mir bekannte Grotte im Karstgebiet. Ich habe mir gedacht, da 
kann er sich ja ein Loch in die Erde bohren und entweichen oder 
noch leichter die Grottenwand durchbohren und so hinaus gelangen.”. 

Wenn wir uns diesen ziemlich durchsichtigen, nur etwas 
ungeordneten Traum nach der vermeintlichen Situation der TrÀu- 
merin zurechtlegen, so beginnt er mit (III) den LiebesantrÀgen 
des jungen Mannes, die sie zurĂŒckweist und sich damit vor- 
sichtiger als in Wirklichkeit benimmt. Dann folgt die Phantasie 
einer Vergewaltigung, die ganz wie bei den Jungfrauensöhnen des 
Mythus die Hingabe als eine erzwungene zu rechtfertigen versucht. 
Damit nicht genug, soll der Vater einesteils wegen dieses Delikts, 
andernteils offenbar zur Feststellung (Anerkennung) der von der 
T'rÀumerin bereits angenommenen PaternitÀt verhaftet und in ein 
unterirdisches Verließ gesperrt werden, was sogar zweimal im 
'Traume geschieht. WĂ€hrend nun das zweite Hinunterlassen deutlich 
die eigentliche Bestrafung am Vater vollzieht, soll das erste Hin- 
unterlassen den Vorgang der Konzeption andeuten, Da nÀmlich der 
vermeintliche Vater dem MilitÀrstand angehört, so wird verstÀndlich, 
warum im Traume Soldaten ein Lebewesen in das Verließ hinab- 
lassen, das sich nun aus dieser. dunklen und tiefen Höhle einen 
Ausgang bohren muß, ganz wie in dem von Abraham mitgeteilten 
Traum der Fötus aus einer im Fußboden sich öffnenden Lucke auf- 
taucht. Nun schließt sich sinngemĂ€ĂŸ der Anfang des Traumes (I.) 
an:‘ die in der Höhle befindlichen Lebewesen schwimmen auch im 
Wasser und entpuppen sich plötzlich, wie in Abrahams Fall, als 
ein schöner kleiner Knabe, der im Nachen auf dem Wasser fÀhrt. 
Der Traum lĂ€ĂŸt sich nur als Geburtstraum verstehen und er macht 
ia auch kein Hehl aus dieser Bedeutung, dı er neben der Über- 
wĂ€ltigung und Konzeption die Schwangerschaft (Höhle) und schließ- 





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BEISPIELE VON GEBURTSTRÄUMEN. 95 


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lich die Geburt (Wasser) schildert. Diese Deutung wird voll bestÀtigt 
durch die AufklÀrung der TrÀumerin, die nach dem Vorbild des 


‚kleinen blonden Amor gefragt, naiv eingesteht, sie habe sich immer 


zum Kinde einen so schönen, blondlockigen Knaben gewĂŒnscht. FĂŒr 
die Geburt spricht außerdem noch die Nacktheit des Kindes und 
die Auffassung des Ankers, den er in der Hand hÀlt, von seiten 
der TrĂ€umerin, die darin ein Symbol der „Hoffnung” sieht; aller- 
dings in ihrer Situation wohl der Hoffnung, kein Kind zu bekommen, 
weswegen auch der Anker die im Wasser schwimmenden Tiere 
spurlos beseitigt, indem er die Köpfe glatt abschneidet, was seine 
ErgÀnzung durch den Wolf findet, der ja den Menschen den Kopf 
abbricht und den sie bittet, ihr das Leben zu schenken, was sie 
selbst im Traume ihrem eigenen Kind zu verweigern sucht!). Daß sich 
die Feindseligkeit der TrÀumerin nicht nur gegen den vermeint- 
lichen Vater der unehelichen Leibesfrucht, sondern auch gegen diese 
selbst richtet, zeigt sich in der Eingangszene des Traumes, wo sie 
das Junge eines Löwenpaares zerquetscht. Die Abneigung gegen 
den Verschulder ihres vermeintlichen UnglĂŒcks kommt darin zum 
Ausdruck, daß sie ihn als hungriges Raubtier, als einen großen Wolf 
darstellt, der sie (mit LiebesantrĂ€gen) „verfolgt” und ihr ĂŒberall 
„nachlĂ€uft”. Findet doch der Überfall durch den Wolf im Gasthaus 
sein deutliches GegenstĂŒck in dem sexuellen Überfall des jungen 
Mannes in der Wohnung (III) und die Kette schließt sich, wenn 
wir erfahren, daß in Wirklichkeit jener junge Mann des Traumes 
sie vor kurzem in ein Gasthaus eingeladen hatte, Daß der kleine 
Knabe wie Lohengrin im Nachen anf dem Wasser fÀhrt, fÀllt der 





1) Die vom Wolf so arg behandelte alte Frau, die ihm nicht „schmeckt”, 
und der neben ihr sitzende alte Mann scheinen die Eltern der TrÀumerin 
darzustellen, da ihr ja in dieser Ă€ngstlichen Situation „das Leben geschenkt” 
wird. — In einem andern ihrer TrĂ€ume aus dieser Zeit sah sie, ganz wie 
Abrahams TrÀumerin, ihren bereits erwachsenen Bruder als kleinen Jungen 
mit einer Art Peitsche oder Angel in der Hand, wobei auch ein Schwan oder 
Storch eine ihr nicht mehr deutlich erinnerliche Rolle spielte. Hier 
scheint das Herausfischen (Angel) der Kinder aus dem Wasser durch den 
Storch und die Vorstellung, daß die Kinder auf dem Storch geritten kommen, 
(Peitsche) zugrunde zu liegen. — In einer bei Frobenius (S, 288) mitge- 
teilten koreanischen Sage erscheint der Held eines Tages in wunderlicher 
Weise auf einem Storehe reitend. 





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96 BEISPIELE VON GEBURTSTRÄUMEN. 


yĂ€umerin nicht auf, was uns als Beweis sehr wertvoll ist, daß es 
sich dabei nicht um bewußte Reminiszenz oder Nachbildung handelt, 
sondern um den Ausdruck des gleichen unbewußten Komplexes mit 
Hilfe derselben allgemein-menschlichen Symbole. 2 

In welch typischer Art die gleiche symbolische Ausdrucks- 
weise die Sprache des Traumes — wie die des Mythus — be- 
herrscht, möge endlich ein BruchstĂŒck aus einem anderen Geburts- 
(Abtreibungs-) Iraum desselben MĂ€dchens zeigen. Sie kommt mit 
ihrem Begleiter in ein Schloß, wo sie ein Herr — angeblich der 
Scharfrichter — in einen großen Raum geleitet. „Dort bemerke 
ich eine röhrenhafte Vertiefung, die einige Meter hinunterging. 
Die Höhle war mit Stein ausgemauert. Der Scharfrichter sagte zu 
mir, die (Tier-) Felle, die hier herauskommen, gehören mir; 
ich freute mich sehr, stellte mich ganz nahe an den Rand der Ver- 
tiefung und schaue hinunter, was da herauskommen wird. Ich war 
ganz ĂŒberrascht, als ich an einer Kette einen Kinderrumpf er- 
blickte, da ich doch das versprochene Fell erwartete. Dann erfahre 
ich, daß alle Kinder, die eine infizierbare Krankheit haben, wie 
z.B, Tuberkulose ete., h’er in diese Höhle hinunter gelassen werden; 
unten ist eine Maschine, da wird ihnen der Kopf abgetrennt und 
der Körper wird heraufgezogen. Richtig kam auch ein Kind, das 
hustete und mich dabei anspuckte. Ich war sehr erzĂŒrnt darĂŒber, 
wendete mein Gesicht ab und dachte, jetzt werde ich auch diese 
Krankheit bekommen, Das Kind wurde auch hinuntergelassen. Die 
Höhle war so eng, daß bloß ein Kind hindurchschlĂŒpfen 
konnte!” — In einem spĂ€teren Teil des Traumes liegt sie mit ihrem 
Begleiter im Ehebett, wo sie morgens seweckt wird und bemerkt, 
daß sie beide blutig sind; wie sie sich im Traume erklĂ€rt, von der 
Menstruation. Dem Traume liegt also der Wunsch nach der Men- 
struation zugrunde (Wunsch: nicht gravid zu sein) oder, wenn 
diese schon ausbleibe, wenigstens verheiratet zu sein (Ehebetten), 
denn sonst bliebe ihr nichts ĂŒbrig, als ein eventuelles Kind zu töten 
(Totgeburt), ihm den Kopf abzuschneiden (Blut — Scharfrichter). 
Die Bıunnenhöhlung als Symbol des Mutterleibes ist wieder 
deutlich. Dazu kommt die gleichfalls typische Auffassung der 
GraviditÀt als infektiöse Krankheit; deswegen erklÀrt man auch den 
Kindern die GraviditÀt der Mutter als Krankheit. 
































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DIE AUSSETZUNG EIN SYMBOL DER GEBURT. 97 


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Schon aus der Verwendung der gleichen typischen Symbole 
lĂ€ĂŸt sich mit Sicherheit schließen, daß die Aussetzung des 
neugebornen Helden im KĂ€stchen und Wasser nichts anderes 
als einen symbolischen Ausdruck der Geburt darstellt. 
Die Kinder kommen bekanntlich, nicht nur in dem keineswegs 
so ungereimten Storchglauben, sondern auch in Wirklichkeit, 
aus dem Wasser, dem Fruchtwasser nÀmlich, und das so wohl- 
verschlossene und den kleinen Helden schĂŒtzende KĂ€stchen ist 
leicht als eine bildliche Darstellung des FruchtbehÀlters, des 
Mutterleibes zu erkennen. Das Herausziehen aus dem Wasser 
aber, das im Aussetzungsmythus — wie mitunter auch im 
Traume (Freud, Tr., $S. 198; 238) — aus gewissen unbewußten 
Tendenzen, die spÀter besprochen werden sollen, als ein Hinein- 
stĂŒrzen dargestellt wird‘), symbolisiert direkt den Geburts- 
vorgang. Volksglaube, Sage und MĂ€rchen drĂŒcken diese in 
Traum und Aussetzungsmythus symbolisch dargestellte An- 
schauungsweise direkt und unverhĂŒllt aus und es verlohnt sich, 
einen Blick auf die reiche folkloristische Überlieferung zu werfen, 
die sieh mit diesem Thema beschÀftigt. 


Nach Mannhardt (Germanische Mythen, 255, wo man auch 
weitere Literatur verzeichnet findet) „ist die Ammenrede, daß die 
kleinen Wickelkinder aus dem Brunnen geholt werden, durch ganz 
Deutschland verbreitet”. Es gibt in Deutschland eine Menge „lokali- 
sierter Brunnen und Weiher, in denen die Ungeborenen als voll- 
stĂ€ndig fertige Wesen hausen”¼) und nur darauf warten, herausgezogen 
zu werden. So berichtet beispielsweise H. Pröhle „Aus dem Harz” 
(Zeitschr... d. Myth., I, 196 £.): „Den Kindern sagt man dort 
auch, daß sie bei der Geburt aus dem neuen Teiche geholt werden. 


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1) Vgl. dieselbe Umkehrung der Bedeutung in der Wincklerschen 
Auffassung der Etymologie des Namens Moses (S,17, A.1) oder in der Sage von 
HephÀstos, der nach Homer Ilias (XVIII, 396 uff,) wegen seiner Lahm- 
heit von der Mutter ins Meer geworfen wird, wo erneun Jahre in einer 
von Wasser umströmten Höhle verborgen blieb. 

2) Reitzenstein: Der Kausalzusammenhang zwischen Geschlechts- 
verkehr und EmpfÀngnis in Glaube und Brauch der Natur- und Kultur- 
völker, Zeitschr. f. Ethnol. 41. Jahrg. 1909, S. 644. — Ders., StorehenmĂ€rchen 
und eonceptio immaculata. Dokumente d. Fortschritts, 1910. 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. 2. Aufl. 7 











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983 DER VOLKSGLAUBE 


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Solche Kinderteiche wird es bei uns wohl an jedem Orte geben. — 
Bei Schulenburg oben sitzt im Festenburger Teich die große Wasser- 
frau, die hat die Kinder bei sich im Teiche. Von da kommen sie 
in der Flut heruntergeschwommen und werden von den Leuten in 
Schulenburg aufgefangen.” — Im Wasser zu Elbingerode, wo der 
wilde JĂ€ger alle sieben Jahre jagt, kommen die Kinder aus dem 
Teichloch (Mannhardt, S. 95) und Àhnlich sollen sich in einem 
WĂ€sserehen bei Stolberg an verschiedenen Stellen kleine Kinder 
gezeigt haben (Mannhardt, S. 205). Ebenso berichtet F. Woeste 
(Zeitschr. f. d. Mythol., II, 8. 90): „Von Kinderteichen und Kinder- 
brunnen sowie von KinderbÀumen ist in unserem Gebirgslande 
allerwegen die Rede. In Dielinghofen kommen die Kindlein aus 
dem Burdyke, was Bauernteich, aber auch Samenteich besagen 
kann. In Limburg nannte man mir den Milchbrunnen, anderen war 
es eine zur Flutzeit gefĂŒllte Höhle unter dem Oegersteine. — Im 
Westen der Kolme wird dagegen meist gesagt: die Kleinen kommen 
aus einem hohlen Baume.” Aus Wasser, hohlen BĂ€umen oder Zubern 
kommen die Kinder auch nach dem von V. Zingerle (Zeitschr. ÂŁ. 
d. Mythol., II, 345) aufgezeichneten Volksglauben. Aber auch eine 
in weit entlegenen Fernen, im indischen Archipel (Singapore) 
heimische Überlieferung kleidet den Geburtsvorgang in eine Ă€hnliche 
symbolische Sprache. Nach Bab (Zeitsch. f. Ethnol., 1906, S. 281) 
erhielt die Frau des Rajah Besurjag ein auf einer Wasserschaumblase 
schwimmendes Kind. Am ĂŒbereinstimmendsten mit dem Aussetzungs- 
mythus gibt der niederösterreische Volksglaube, den J. Wurth 
(Zeitschr. f. d. Mythol., IV, 140) mitteilt, die Herkunft der Kinder an: 
„Weit, weit im Meere da steht ein Baum, bei diesem wachsen die 
kleinen Kinder. Sie sind mit einer Schnur an dem Baume ange- 
wachsen, wenn das Kind reif ist, so reißt die Schnur ab und das 
Kind schwimmt fort. Damit es aber nicht ertrinkt, so ist es in 
einer Schachtel und mit dieser schwimmt es nach dem Meere 
herab, bis es in einen Bach kommt, Nun lĂ€ĂŸt unser Herrgott ein 
Weib, welchem er das Kind zugedacht hat, krank werden. Da wird 
der Arzt geholt. Diesem hat es unser Herrgott schon eingegeben, _ 
daß das kranke Weib ein kleines Kind bekommen wird. Er geht 
daher hinaus zum Bache und paßt da so lange auf, bis endlich die 
Schachtel mit dem Kinde herabgeschwommen kommt, welche er 











VON DER HERKUNFT DER KINDER. 99 


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auffÀngt und dem kranken Weibe bringt. Und auf solche Weise be- 
kommen alle Leute die kleinen Kinder.” (Trumau.) Wie hier das 
neugeborene Kind vom Geburtshelfer aus dem Wasser gezogen 
wird, so heißt es Ă€hnlich in der Sage vom „Frau Hollen Teich” 
(Grimm, D. 8, I, 7): „Die neugeborenen Kinder stammen aus 
ihrem Brunnen und sie trĂ€gt sie daraus hervor.” 

In Ostfriesland werden Àhnlich die Kinder aus den Mooren 
geholt. Die Eltern fahren dahin in glÀsernen Kutschen, von denen 
freilich manchmal eine umfÀllt; dann bricht Mutter das Bein 
und muß ins Bett. Die Kinder liegen da unter den Flinten (erra- 
tische Blöcke) oder unter den Plaggen (Torfschollen), Zwillinge 
natĂŒrlich unter besonders großen, Das gilt als unbestreitbare 
Wahrheit, die noch dadurch verstĂ€rkt wird, daß „van d’mo’er” den 
Doppelsinn hat: vom Moor und auch von der Mutter. Da aber in 
Ostfriesland doch nicht alles Moor ist, so kommen auf den Inseln 
die kleinen Kinder „ut de DĂŒnen”, und die Emder holen sie aus 
dem Nesserlander Kinderborn. Die Eltern fahren dorthin auf ihrem 
Schiffe, der Vater umschreitet den Born dreimal, worauf daraus 
ein Demantschifflein emportaucht, dem er das Kind entnimmt: Das 
Nesserland war der einzige Rest von den im Dollart untergegan- 
genen Ortschaften, deren TrĂŒmmer noch bis um 1600 gelegentlich 
bei Ebbe wieder sichtbar wurden (Die Gartenlaube, 1912, H. 6, 
S. 136). 

„Aus dem Stein oder Brunnen werden die Kinder durch den. 
Storch abgeholt und den MĂŒttern gebracht” (Mannhardt, G. M,, 
S. 257). 

Bei Weilburg an der Lahn stehen im Walde der gegenĂŒber- 
liegenden Höhen, geheimnisvoll von dichtem Fichtengehölz umgeben, 
drei immer verschlossene, im Hufeck zueinander gerichtete HĂ€user, 
in denen das Wasser angesammelt wird, das die Brunnen speist. 
Man nennt sie BrunnenhĂ€user und die Jugend weiß, daß darin die 
kleinen Kinder auf dem Wasser schwimmen und der Storch sie 
von dorther holt. — „Zu Scheidingen, in der Gegend von Werl, 
holt der Storch die Kinder aus dem Teiche auf der Werler Voede. 
In Erfurt holt der Storch die Kinder aus dem Kessel, einer Ver- 
tiefung beim Wallgraben, zu Halberstadt aus der KlĂŒs” (Mann- 
hardt, S. 257). — Ein in Dietzenbach und Umgegend „ar den Storch 

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100 DIE HERKUNFT DER KINDER. 








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als Kinderbringer” gerichtetes Lied (Zeitschr. f. d. Mythol,, I, 475) 
lautet: „Stork stork steine mit de lange beine, mit de korze knie! 
Jungfrau Marie hat e kind gefunne in dem kleine Brunne, 
wer solls hebe? —” In Köln werden die Kinder aus dem Brunnen der 
St. Kunibertskirche geholt. Dort sitzen sie um die Mutter Gottes 
herum, welche ihnen Brei gibt und mit ihnen spielt. In Jugenheim an 
der Bergstraße sitzt Maria mit Johannes im Brunnen, geigt den 
darin befindlichen Kindern und spielt mit ihnen (Golther, Handb. 
d. germ. Mythol.). Auf den „Ammenglauben” der Herkunft aus dem 
Wasser stĂŒtzen sich auch zahlreiche Kinderreime und -liedchen, 
die A. Landau (Zeitschr. d. Vereins f. Volksk., IX., 8. 72 ff.) anfĂŒhrt. 
Weitere folkloristische Belege findet man in der volkskundlichen 
Zeitschrift „Am Urquell”, hg. v. F. S. Krauss, Bd. IV bis VI in 
der Rubrik „Woher stammen die Kinder?” 

Aber auch „im MĂ€rchen wird die Geburt des Menschen 
öfters als ein Heraufholen des Kindes aus einem Brunnen oder 
einem See dargestellt” (Thimme, Das MĂ€rchen, 8. 157). FĂŒr ge- 
wöhnlich wird diese Aufgabe dem Storch zugeschrieben, wie z. B. 
im MĂ€rchen von den „Beiden Wanderern” (Grimm, K. H. M,, 
Nr. 107), wo der diensteifrige Storch das besorgte Schneiderlein, 
das dem König einen Erben herbeischaffen soll, mit den Worten 
beruhigt: „Schon lange bringe ich die Wickelkinder in die Stadt, 
da kann ich auch einmal einen kleinen Prinzen aus dem Brunnen 
holen. Geh heim und verhalte dich ruhig. Heute ĂŒber neun Tage 
begib dich in das königliche Schloß, da will ich kommen.” Zur 
bestimmten Stunde kommt der Storch mit einem KnÀblein im 
Schnabel durchs Fenster in den königlichen Palast geflogen und 
lest der Königin ein schönes Kind auf den Schoß. 

Der sleiche Glaube findet sich bei den Naturvölkern. Von 
den zentralasiatischen StĂ€mmen wird berichtet, daß „sie glauben, 
ein Pflanzengeist fahre in das Weib ein; er haust in einem großen 
Wald oder in der Wassertiefe, wie in unserem Volksglauben. 
Bei den Australiern war die Heimat der Kinder der Wald, 
Steine oder WassertĂŒmpel, wĂ€hrend wir bei den Mexikanern ein 
vollstÀndig ausgebildetes Kinderreich, ein Seelenland, finden. Aber 
auch die hilfreichen Geburtstiere, welche nach Art unseres Storches 
die Befruchtung bewirken, kennen die Australier; es sind Schlange, 








DIE GEBURTSSYMBOLIR. 101 
Brachschnepfe und KĂ€nguruh. Bei den Indern spielt der Ibis die 
gleiche Rolle, bei den Japanern der Kranich, bei den Mexikanern 
der rote Löffelreiher und in ganz Vorderasien war es die Taube, 
die spÀter als heiliges Tier der Liebesgöttin galt und noch bei der 
conceptio immaculata der Maria eine Àhnliche Rolle spielt, wie auch 
in der Sage der Semiramis. Am Cape Grafton glauben die Einge- 
borenen, wie Roth erzĂ€hlt, daß die vollstĂ€ndig ausgebildeten Kinder 
der Mutter von einer Taube im Traume gebracht werden (Reitzen- 
stein, $. 668). Bei den Germanen und in verschiedenen anderen euro- 
pĂ€ischen LĂ€ndern hat bekanntlich der Storch diese Aufgabe ĂŒber- 
nommen, woher er seinen alten Namen adebar = Kinderbringer 
hat; neben ihm waren in frĂŒherer Zeit die Schlange und der Hase 
beteiligt, wÀhrend er in den LÀndern des Nordens durch den 
Schwan ersetzt wurde. 


Überall zeigt sich also die gleiche symbolische Darstel- 
lung des FruchtbehÀlters, des Mutterleibs, als Brunnen, 
Kessel, Graben, dunkle Höhle und hohler Baum, welche regel- 
mĂ€ĂŸig auch „als Wohnsitz der ungeborenen Seelen gedacht 
werden” (Mannhardt, S. 255), des Fruchtwassers als Teich, See 
oder Quelle (Brunnen)!) und endlich des mÀnnlichen Retters 
aus diesem UrgefÀngnis in Gestalt des Storches*) oder eines 
anderen Tieres, das gleichzeitig als Seelentier gedacht wird. 
‘) Belege zur Quelle als Symbol der vulva siehe bei Storfer: Marias 
jungfrÀuliche Mutterschaft, Berlin 1914, S. 117! und L. Levy in Zeitschr, 
f. Sex. Wissenschaft. I, 318, 

2) Vgl. Kleinpaul (Die Lebendigen u.d. Ioten, S, 112ÂŁ.) ĂŒber den „Sinn 
dieser weiteren Phantasie, der Brunnen der Mutterschoß und nun 
vollends der Storch, der rotbeinige Storch, der Kinderbringer, an den die 
Gelehrten so viel Tiefsinn gewandt haben, nichts weiter als ein launiges 
Bild, fĂŒr das gern mit einem langen Halse, einer Gans oder einem Storche 
verglichene Organ gewesen, das die kleinen Kinder tatsÀchlich aus dem 
Mutterleib herausholt,. Wer nicht auf den Kopf gefallen ist, der hört in 
diesem Falle eben die Kinder fragen: wo kommen denn die kleinen Kinder 
her? — Und die Eltern verblĂŒmt antworten: der Storch hat sie gebracht. 
Was fehlt denn der Mutter, daß sie sechs Wochen lang nicht aufsteht? — 
Der Storch hat sie ins Bein gebissen. Unnölig ein Mehreres darĂŒber zu 
verlieren” — Ähnlich eindeutig faßt auch F. 5. Krauss die Storch- 
fabel auf. 











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102 DER ZWILLINGSBRUDER. 


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So erweist sich also die scheinbar in absichtlicher Erfindung 
den Kindern aufoktroyierte Fabel von der Herkunft der 
Kinder als uralter, im primitiven Vorstellungsleben wurzelnder 
Rest ehemaligen Volksglaubens!) und die symbolische Er- 
fassung dieser rÀtselhaften VorgÀnge, die in gleicher Weise der 
Aussetzungsmythus wie unsere nÀchtlichen Traumschöpfungen 
zeigen, scheint sich mit unleugbarer GesetzmĂ€ĂŸigkeit weniger 
typischer Ausdrucksmittel zu bedienen. 

Wollte man trotz dieser ĂŒberwĂ€ltigenden Beweise fĂŒr 
die Geburtssymbolik an ihrer GĂŒltigkeit fĂŒr den Heldenmythus 
noch zweifeln, so mĂŒĂŸte einen die Verwendung eines weiteren 
physiologischen Faktums vollkommen ĂŒberzeugen, da es dar- 
zutun scheint, daß kein Detail des Geburtsvorganges un- 
berĂŒcksichtigt geblieben ist, wenn auch seine ursprĂŒngliche 
Bedeutung bei der allmÀhlichen Ausgestaltung der Helden- 
mythen vor logisch einwandfreien Rationalisierungen oder 
sentimentalen Sublimierungen verblaßte. In manchen Helden- 
mythen wird die Rettung des Neugeborenen nur dadurch er- 
möglicht, daß an seiner Stelle ein anderes — wie es heibt 
„totgeborenes” — Kind den auf diese Weise getĂ€uschten Ver- 
derbern untergeschoben wird, wie z. B. in der Kyrossage; dieses 
Ersatzkind wird dann auch meist mit dem königlichen Gewand 
des Heldenkindes bekleidet und in allen Ehren an seiner Stelle 
bestattet. Andere Male spielt dieses Nebenkind eine etwas akti- 
vere Rolle, indem es als Zwillingsbruder des Helden auftritt 
und einen’ Teil seines Schicksals in schattenhaften - mit- 
erlebt. Das klassische Beispiel fĂŒr diesen Typus ist die Dios- 
kurenlegende, die nach der Überlieferung des Apollodorus 


1) Auch der Mythologe Usener faßt diese Überlieferungen im rein 
menschlichen Sinne (Die Sintflutsage.. „Man kann sagen, daß das Bild 
noch in unseren heutigen Vorstellungen fortlebt, Was unsere Kinderwelt 
ĂŒber das RĂ€tsel der Geburt hört und denkt, ist eine willkĂŒrliche Fort- 
bildung des alten mythischen Bildes. Es ist allgemeiner Kinderglaube, dab 
die kleinen Kinder vom Storch gebracht werden. Der Storch ist ein 
Wandervogel, er kommt aus geheimnisvoller Ferne, in die man das wunder- 
bare Wasser verlegen mag, aus dem der Storch die kleinen Kinder fischt, 
die er bringt und der Mutter in den Schoß legt.” 











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DIE DIOSKURENLEGENDE. 103 


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(III, 10, 7) und Hyeins (Fab. 80) berichtet, wie Leda, die Mutter 
der Dioskuren, in einer und derselben Nacht von Zeus und 
von ihrem Gemahl Tyndareos begattet wird; der eine der 
Zwillinge, Polydeukes, ist daher vom Beginn zur Unsterb- 
lichkeit bestimmt, der andere, Kastor, ist sterblich. Der gleiche 
Gegensatz des göttlichen und unsterblichen Helden zu seinem 
menschlichen und sterblichen (Zwillings-) Bruder, der gleichsam 
ein abgeblaßtes und schattenhaftes Nebendasein fĂŒhrt, blickt 
im VerhÀltnis des Herakles zu Iphykles wie in einer Reihe 
anderer mythischer Gestalten durch und hat in weiterer Aus- 
gestaltung zu den BrĂŒdermĂ€rchen gefĂŒhrt, in denen noch 
der JĂŒngste und SchwĂ€chste seine VordermĂ€nner ĂŒberflĂŒgelt. 

Diese Dioskuren oder göttlichen Zwillinge sind jedoch 
nicht, wie noch Gruppe!) behauptet, nur bei den Indogermanen 
zu finden (Griechen, Indern, Litauern), sondern bilden eine 
der verbreitetsten mythologischen ErzÀhlungsformen. Wie nament- 
lich Ehrenreich?) nachgewiesen hat, gehören sie bei den 
Naturvölkern zum regelmĂ€ĂŸigen Bestand der mythischen Er- 
zĂ€hlungen. Dieses typische Motiv — manchmal kombiniert mit 
dem Streit der noch ungeborenen Zwillinge im Mutterleib — im 
Verein mit dem der magischen EmpfÀngnis und Geburt, wieder- 
holt sich ĂŒber das ganze amerikanische Gebiet hin, wobei in 
den entwickelteren Mythologien der Nordamerikaner und Poly- 
nesier das Zwillings- oder Bruderpaar in mehrere genealogisch 
zusammenhĂ€ngende Gruppen aufgelöst erscheint. „Ein merk- 
wĂŒrdiger, noch unerklĂ€rter, in Amerika mehrfach vorkommender 
Zug ist der, daß nur einer der BrĂŒder göttliche QualitĂ€ten 
hat, wÀhrend der andere rein menschlich gedacht ist. Sein 
Vater ist ein Mensch, der die gottbefruchtete Mutter zum zweiten 
Male schwĂ€ngert. DemgemĂ€ĂŸ hat dieser zweite Sohn schwĂ€cheren 
Charakter und menschliche Unvollkommenheiten”?). 

Nun verrÀt uns ein Zug in den Sagen der Naturvölker, 
den Ehrenreich ohne das VerstĂ€ndnis seiner Bedeutung: ĂŒber- 
liefert, die ErklÀrung dieses sonderbaren Motivs, das nur im 
Rahmen unserer Auffassung des Mythus von der Geburt des 


4) Arch, f. Rel. Wiss. II, 274. 
2) Die allg. Mythologie. 5. 31, 69, 239. 














104 DER „NACHGEBURTS-KNABE". 


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Helden sinnvoll wird. „Das Motiv erscheint auch in der Form, 
daß der zweite aus der weggeworfenen Nacheeburt des ersten 
entsteht. Dieser ‚Nachgeburts-Knabe’ ist eine der hĂ€ufigsten 
Sagenfiguren der PrĂ€rie-Indianer” (Ehrenreich, S. 239). Diese 
Vorstellung klingt fĂŒr uns noch sonderbar genug, wenn wir sie 
in der Überlieferung selbst vorfinden, verliert aber im Zu- 
sammenhang unserer Deutung sogleich alles Befremdende. Wie 
so oft bietet uns auch hier das Folklore offenkundig als — 


allerdings unverstandene — Überlieferung dar, was wir 
sonst mĂŒhsam aus der Symbolik das Unbewußten entziffern 
mĂŒssen’). 


Die mit der Nachgeburt verbundenen aberglÀubischen 


Vorstellungen fast aller Natur- und der meisten Kulturvölker, 


zeigen die Beziehung zwischen dem Menschen und seiner 
Nachgeburt (samt dem zugehörigen Nabelstrang) als so innig, 
daß GlĂŒck und UnglĂŒck des Individuums fĂŒr sein ganzes Leben 
daran geknĂŒpft scheint, und zwar in der Weise, daß bei sorg- 
samer Bewahrung und Behandlung dieser ehemaligen Teile des 
Ichs dasselbe spÀterhin selbst erfolgreich wird, bei Verletzung 
oder Verlust der Nachgeburt dagegen gleicherweise leidet 
oder zugrunde geht. Frazer hat die entsprechenden Über- 
lieferungen mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit gesammelt 
und gruppiert und wir lassen aus seinen Angaben die fĂŒr 
unseren Zusammenhang: charakteristischen folgen?). 


Im sĂŒdlichen Celebes bezeichnet man Nabelschnur und Nach- 
geburt als Bruder respektive Schwester des Kindes. Man gibt sie in 
einen Topf mit Reis, damit sie zu essen haben (eine BegrĂŒndung, die 
vielleicht den anderwĂ€rts ohne dieselbe geĂŒbten Brauch der Ver- 
wendung des Reistopfes erklÀrt). Wenn das (prinzliche) Kind zum 
ersten Male ausgeht, begleitet es der Reistopf mit seinen zwei Ge- 
schwistern, in ein Staatsgewand gekleidet und geschĂŒtzt von einem 


1) Auch der Witz darf ein StĂŒck archaischer Denkweise wiederbeleben. 
Von einem beliebten Wiener Komiker wird erzĂ€hlt, daß er einmal in guter 
Laune die HĂ€ĂŸlichkeit eines Kollegen daher erklĂ€rte, es mĂŒsse bei dessen 
Geburt die Hebamme betrunken gewesen sein und statt des Kindes die Nach- 
reburt aufgezogen haben, 

32) The Magic. Art, Vol. I, p. 182 ff. und Balder, Vol. Il, p. 160 ft. 





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DIE NACHGEBURT BEI DEN PRIMITIVEN. 105 
Sonnenschirm. Wenn der Prinz (oder Prinzessin) stirbt, wird die 
Nachgeburt beerdigt. 

Die Kei-Insulaner im SĂŒdwesten von Neu-Guinea betrachten 
die Nabelschnur als Bruder oder Schwester des Neugebornen, je 
nachdem ob es ein Knabe oder MĂ€dchen ist, In einem Topf mit 
Asche wird sie in die Zweige eines Baumes gelegt, damit sie ein 
wachsames Auge auf das GlĂŒck ihres Kameraden habe. Anderemal 
wird die Plazenta vergraben, im Wald verborgen oder in einer 
Höhle unter dem Hause weggelegt, wobei es sich mehr um die Idee 
der Ausschaltung schĂ€dlicher (dĂ€monischer) EinflĂŒsse als um die 
einer Bestattung zu handeln scheint. 

Die Baganda in Afrika glauben, daß jeder Mensch mit einem 
DoppelgÀnger geboren ist, den sie mit der Nachgeburt identifizieren, 
indem sie dieselbe als ein zweites Kind betrachten. Die Nabelschnur 
spielt auch eine Rolle bei der Namengebung und heißt selbst 
„Zwilling” (mulongo),. Des Königs Nabelschnur oder „Zwilling” 
wird in ein Kinderkleid gewickelt, mit Perlen geschmĂŒckt, und wie 
ein Mensch behandelt; sie wird der Obhut des Kimbugwe anvertraut, 
des zweiten Beamten im Lande, der ein eigens dafĂŒr gebautes Haus 
hat. Jeden Monat, sobald der neue Mond am Himmel erscheint, 
fĂŒhrt der Kimbugwe das BĂŒndel, das den Zwilling enthĂ€lt, in feier- 
licher Prozession mit Musikbegleitung zu des Königs Behausung. 
Der König untersucht es und gibt es ihm hierauf zurĂŒck. Bei des 
Königs Tode wird sein „Zwilling” zugleich mit ihm beigesetzt, Sein 
Geist wohnt in beiden Überbleibseln. 

Bei den Batas auf Sumatra sowie bei vielen anderen Völkerschaften 
des indischen Archipels, gilt die Plazenta als des Kindes jĂŒngerer 
Bruder oder Schwester und wird unter dem Hause begraben. 

Manchmal lassen die Frauen im Innern von Java die Plazenta, 
umgeben von FrĂŒchten und Blumen und beleuchtet mit kleinen 
Lichtern den Fluß abwĂ€rts in die DĂ€mmerung des Abend schwimmen 
als Speise fĂŒr die Krokodile oder eigentlich ihrer Vorfahren, deren 
Seelen sie sich in diesen Tieren hausend denken. | 

Einige primitive Inselvölker werfen die Nachgeburt feierlich 
ins Meor; sie wird gut zugedeckt, in einen "Topf gegeben und in 
einem Boot ins Meer ausgesetzt. In dem Topf wird eine Öffnung 
semacht, um ihn zum Sinken zu bringen, 








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106 DER SINN DER NACHGEBURTSBRÄUCHE. 


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Bei den Maori wird vor der feierlichen Namengebung die 
Nabelschur an einem heilisen Ort begraben und ein junger SchĂ¶ĂŸling 
darĂŒber gepflanzt. Wenn das BĂ€umchen gedeiht, ist dies ein gutes 
Zeichen fĂŒr das Leben des Kindes, Ähnlich ist auch bei den Fidji- 
Insulanern das Leben eines Knaben aufs engste mit dem des Baumes 
verbunden, der mit der Nabelschnur zugleich in die Erde gesetzt 
wurde. Die Nabelschnur von MĂ€dchen wird bei den Fidji beim ersten 
Fischen nach der Geburt von der Mutter (oder Schwester) ins Meer 
geworfen, damit das Kind ein gutes Fischerweib werde. 

Bei den Kooboos, einem primitiven Stamm auf Sumatra, ist 
die Idee der Nachgeburt mit dem Nabelstrang als eines seelischen 
DoppelgÀngers schr stark; sie werden als Bruder respektive Schwester 
des Kindes betrachtet und gelten als geistig höher entwickelt, weil 
ihr Körper unentwickelt geblieben ist; sie sind Schutzgeister fĂŒrs 
eauze Leben, an die die Kooboos immer denken, wobei sie die beiden 
als eines auffassen und benennen. 


Kommt in diesen magischen BrÀuchen der Primitiven 
die Bedeutung der Nachgeburt als eines zweiten Wesens mit 
vorwiegendem Schutzgeisteharakter zum Ausdruck, der deutliche 
Beziehungen zur Vorstellung von der Körperseele aufweist‘), 
so zeigen die Àhnlichen aberglÀubischen Ideen, denen wir in 
Europa begegnen [bei Deutschen?), EnglĂ€ndern°), Ruthenen”), 
ItalienernÂź)], weitere Rationalisierungen der unverstandenen 
Riten im Sinne des Fruchtbarkeitszaubers, in denen doch 
wieder ein StĂŒck der ursprĂŒnglich verdrĂ€ngten Bedeutung zum 
Vorschein kommen mag. Denn die BrÀuche der Naturvölker, 
die im Sinne ihrer DÀmonologie Böses vom Neugebornen 
abwenden sollen, können im Sinne der psychoanalytischen Auf- 
klĂ€rungen¼‘) nur der eigenen Feindseliekeit der Eltern ent- 

1) Siehe Rank: Der DoppelgÀnger. Imago III, 1914. 

2) Frazer, l.ce.p. 198, sowie Ploss-Bartels: Das Kind ete. I], 15 ff., 
II, 198 ff. 

2) G. Bellueei: La placenta nelle tradizione italiane e nell’ etnografia. 
Arch. per l’antropologia e la etnografia italiana. XL, 1910, No. 3—4. (Nach 
F,S. Krauß: Folkloristisches von der Mutterschaft, woselbst auch andere 
NachgeburtsbrÀuche, insbesondere der Japaner, herangezogen werden.) 


4) Vgl. Freuds AusfĂŒhrungen ĂŒber Magie und Allmacht der Gedanken. 
Imago II, 1913. 








DIE BEDEUTUNG DES KÄSTCHENS. 107 
springen und scheinen so dem phantasierten Familienroman 
des Helden Recht zu geben. Es kommt in ihnen jedoch schon 
das gleiche Kompromiß wie in diesem zustande, indem der 
bedrohte Heldenknabe durch Unterschiebung eines Ersatzopfers 
gerettet wird. Ja, mitunter decken sich Ritus und Mythus in 
weitgehendem Maße, so in den BrĂ€uchen, wo die Nachgeburt 
im Wasser ausgesetzt — man möchte sagen freiwillig geopfert — 
wird, um dem Kinde selbst dieses Schicksal zu ersparen!). 
Aber nicht bloß in den Sagen und BrĂ€uchen der Primi- 
tiven verrĂ€t sich ein StĂŒck der dem Heldenmythus zugrunde- 
liegenden Geburtssymbolik mit unzweideutiger Offenheit; es 
wird uns nicht wundernehmen, wenn sich mitunter auch in 
hochentwickelten Kulten der Antike da und dort ein Bruch- 
stĂŒck der primitiven Bedeutung ins Bewußtsein durchdrĂ€ngt. Nur 
betrifft es einmal dieses, ein andermal nur jenes Detail der 
Überlieferung, das dann besonders scharf betont erscheint. So 
ist beispielsweise das uns aus zahlreichen TrÀumen in seiner 
weiblichen Bedeutung bekannte KĂ€stchen im griechischen 
Kultus offen im gleichen Sinn verwendet, den es unserer 
Deutung nach im Aussetzungsmythus auch inne hat. Im ur- 
alten Zeremoniell der Hierogamie wurde die goldene Phallus- 
schlange, der die VirginitÀt geopfert wurde, im KÀstchen ge- 
borgen und in den Mysterien zu Athen uud Eleusis wurde der 
eöttliche Phallus im KÀstchen oder Körbchen verschlossen, als 
geheimes Kleinod in feierlicher Prozession herumgetragen?). 
Gleicherweise vertritt in den uns beschÀftigenden mpythischen 
ErzĂ€hlungen das KĂ€stchen den bergenden Mutterschoß. Schon 
Gruppe (Griech. Mythol. 1171) weist darauf hin, daß in der 





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1) So begrĂŒnden manche StĂ€mme den Brauch, die Nachgeburt ins 
Meer zu werfen, damit, daß das herangewachsene Kind beim Seefahren der 
Gefahr des Ertrinkens entgehe. 

2) Auch hier ist — Ähnlich wie bei der Jesuslegende (s. S. 61, Anmkg. 1, 
Schluß) — die Religionswissenschaft unserer psychologischen Deutung nach- 
gehinkt. So hat der Altphilologe A. Körte erst die Apologeten und Kirchen- 
vÀter, die sich nieht scheuen, die antiken Dinge beim rechten Namen zu 
nennen, bemĂŒhen mĂŒssen, um zu erweisen, daß die rĂ€tselhafte Cista mystica 
der eleusinischen Mysterien ein Symbol des weiblichen Schoßes darstelle 
(Arch. f. Rel. Wiss. XVIII, 1915, 5. 116). 


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108 WEITERE GEBURTSSYMBOLE. 
Tennes-, Erichthonios-, Perseus-, Moses-, Noah- u. a. Saren die 
den Helden bergende Kiste auf das Ritual der Gottesgeburt 
hindeute!). Dasselbe scheint fĂŒr die Legende von Baechus 
zu gelten, der nach Pausanias (III, 21) durch Aussetzung in 
einer Kiste im Nil der Verfolgung des Königs entzogen und 
drei Monate alt, von einer Königstochter gerettet wird, was 
auffÀllig an die Mosessage erinnert?). 4 

In einzelnen amrerikanischen Überlieferungen (s. Ehren- 
reich I, e. 8. 81) wird das GefĂ€ĂŸ, aus dem der junge Held bei der 
Geburt hervorkommt, direkt mit einer dunklen Blutmasse ge- 
fĂŒllt gedacht; andere Male wieder ist es die Zeitangabe, die 
ziemlich deutlich auf die Schwangerschaftsdauer hinweist, wie 
im Mythus von Ares, der (nach Ilias, 5, 387) 13 Monate lang 
gefesselt im ehernen Fasse lag, das Böcklin (Die UnglĂŒcks- 
zahl 13, S. 15) dem Kasten, der Schachtel, der Arche gleichsetzt. 
Oder wie bei Deukalion, dem griechischen Noah, der 9 Tage 
und NĂ€chte im Kasten auf dem Wasser schwimmt). Andere 
Überlieferungen scheinen direkt den rein animalischen Vorgang 
der Geburt zu betonen, indem sie die enge Beziehung des 
Helden zu einem tierischen Seeungeheuer in den Vordergrund 
rĂŒcken, das den Helden verschlingt und wieder ausspeit (Jona- 
Typus). In einer Reihe hellenischer Überlieferungen ist dann 
aus dem verschlungenen und wieder ausgespieenen Heros zuerst 
der ertrunkene und tot ans Land getragene, dann der 
ĂŒber das stille Meer schlafend dahingefĂŒhrte und endlich der 
auf dem Delphin reitende schöne Götterknabe (Arion) ge- 
worden, zu dem der auf dem Seepferd sitzende Melkart viel- 
leicht den ersten Anlaß gegeben haben mag (Schmidt, Jona, 
S. 126). 





1) Proelus vergleicht die Arche, die sich Noe aus Holz zimmerte, mit 
der Arche, die sich Christus, der geistige Noe, aus dem jungfrÀulichen 
Leibe Marias baute. — Hesychius bezeichnet Maria als „Arche”, breiter, 
lÀnger, herrlicher als die Arche Noes. (Nach Storfer: Marias jungfrÀuliche 
Mutterschaft. Berlin 1914, 5. 109.) 

2, Man vgl. auch den babylonischen Marduk-Tammuz-, sowie den 
Àgyptisch-phönizischen Osiris-Adonis-Mythus bei Winckler: Die Welt- 
ansehauung des alten Orients (Ex Oriente lux 1, 1, S, 44) und Jeremias, 
3 0.8411: 














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Die WASSE RGEBURT. 109 


In anderen Überlieferungen weist wieder der Name des 
Helden in verrÀterischer Weise auf den Sinn der Geburts- 
symbolik hin. So in der Sage von Kypselos, wie sie Herodot 
(V, 92 ff.) berichtet. Danach rettet Labda ihr Neugeborenes, 
von dem ein Orakel UnglĂŒck prophezeite, vor den Nachstel- 
lungen der Feinde im Mehlkasten „und weil er dieser Gefahr 
entflohen war, bekam er nach dem Kasten den Namen 
Kypselos oder Kastner”. Ähnlich konnte Leo (S. 24, Anmkg.) 
zeicen, daß der Name des englisch-langobardischen SeeĂ€f 
nicht wie die rationalistische Etymologie meinte, mantpuwlus 
frumenti bedeute, sondern daß dieses Wort mit unserem 
hochdeutschen Schaffing verwandt ist: „da Seyld ein Scefing 
genannt wurde, liege die Vermutung nahe, er habe gar keinen 
Vater SceÀf oder Schaf gehabt, sondern sei selbst jener von 
den Wellen angetriebene Knabe gewesen, den man den Sohn 
des Fasses (Schaffing) nannte”. Und in gleichem Sinne hat 
Cassel (p. 43 f.) hervorgehoben: „Seild ist ein Sohn der 
Arche, des Schiffleins, des Kastens, in welchem er liegend 
ans Land kam. Althochdeutsch ist scef das Schiff; mit dem 
Namen fĂŒr GefĂ€ĂŸ ist es verwandt, skaf ist das Schiff und skef 
das GefĂ€ĂŸ. Ähnlich ist das VerhĂ€ltnis des lateinischen scapha. 
Die: ErklÀrung aus manipulus frumenti hat man offenbar erst 
in spĂ€ter Zeit aus dem Namen gemacht. — Auch aus dem 
Kasten Noahs, der ohne Segel und Ruder durch Gottes Vor- 
sehung behĂŒtet wird, steigt ein neues Geschlecht. Söhne Noahs 
und Söhne der Arche sind alle Menschen, die von ihnen stammen. 
Ein Kind seines Sehiffesist auch Seild der Sohn des SceÀf, 
das lehrt sein Name”!). 

Eine noch weiter gehende Verallgemeinerung aber auch 
Verdeutlichung drĂŒckt sich in der Vorstellung der Wasser- 
geburt aus, die gleichsam das Aussetzungmotiv Kat’ exochen, 
die run an sich, darstellt. So wie der indische Äptya „der 


1) Cassel verweist (Anmkg. 177) darauf, daß der Name Noalı mit den 
vielfachen AusdrĂŒcken fĂŒr Schiff verwandt ist: nau (Sanskrit), raĂŒs, 
navis, vesın. 

Auf die weibliche Bedeutung des Schiffes in den Augen der Seeleute 
hat Kleinpaul hingewiesen (S. 196). 


110 WASSERTRÄUME ALS GEBURTSTRÄUME. 
aus dem Wasser geborene” heißt, oder wie der Scholiast zu 
Rigveda erklĂ€rt „der Sohn der Wasser” (Mannhardt: G. M,, 
S. 213); wie der vedische PurĂŒravas (nach Schröder, S. 31) sagt: 
„die Wasserfrau brachte mir, was ich begehrte: geboren ward 
aus dem Naß ein edler Knabe”; wie Agni, der ein Enkel der 
Fluten (apĂ€im napĂ€t) heißt; wie der nordische Gott Freyr, von 
dem uns die skandinavische Mythe bei Saxo die Wassergeburt 
erhalten hat (Mannhardt, S. 214, 221.); wie ferner der biblische 
Moses (nach Josephus Altt. II, ec. 6) auf Grund einer Volks- 
etymologie als der aus dem Wasser gezogene, als Sohn 
des Wassers erklÀrt wird; wie: das deutsche MÀrchen die 
Söhne des durch einen Wasserstrahl geschwÀngerten MÀdchens 
Wasserpeter und Wasserpaul (Grimm, K. H. M., III, Nr. 60), 
Wassersprung und Brunnenhold nennt (Mannhardt: G. M,, 
S. 216 ff.)!): so wird auch der englisch-langobardische Sceaf 
als Sohn des Wassers (und des GefĂ€ĂŸes), in welchem er schwimmt, 
aufgefaßt: dies sind seine Eltern. 

Eine direkte BestÀtigung dieser aus der allgemein-mensch- 
lichen Symbolik geschöpften Deutung der Aussetzung im Wasser 
eibt uns das Material selbst an die Hand in dem Traum, den der 
Großvater — noch schlagender in der Ktesianischen Version die 
leibliche Mutter — des Kyros vor seiner Geburt trĂ€umt, ‚und 
worin aus der Schwangeren Schoß so viel Wasser fließt, daß 
es, einem ungeheuren Meere gleich, ganz Asien ĂŒberschwemmt?). 
Überraschenderweise deuten die ChaldĂ€er in beiden FĂ€llen ganz 
richtig diese WassertrÀume als GeburtstrÀume, wie ja diese 
TrĂ€ume selbst gewiß aus der Kenntnis einer uralten, allgemein 


1) Zur Wassergeburt des MÀrchenhelden vgl. man noch: Asbjörnson 
und Moe, ĂŒbers, v,. Bresemann Nr. 5; K.H.M. Nr, 29; Meier, MĂ€rchen Nr. 79, 
S. 273; Pröhle, M.f.d. Jugend Nr. 8, S. 30 £. 

2) Daß der Traum bei Herodot dem Großvater zugeschrieben wird, 
erscheint uns keineswegs als willkĂŒrliche Variante, denn in dem der Sage 
. zugrunde liegenden Familienroman ist es ein typischer VaterreprÀsentant, 
. dem ein mehr oder weniger symbolischer Traum Gefahr und Verderben vom 
ungeborenen Sohne (oder Enkel) prophezeit, Der VerknĂŒpfung mit dem Groß- 
vater liegt, wie die entsprechenden MĂ€rchenĂŒberlieferungen deutlich zeigen, 
das Motiv von dem seine Tochter eifersĂŒchtig bewachenden Vaters zugrunde 
(vgl. dazu S. 124), trotz dessen Vorsicht der gefÀhrliche Held zur Welt kommt. 





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DER GEBURTSMYTHUS EIN TRAUMSTOFF. 111 


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gebrÀuchlichen Symbolik gebildet sind und einer dunkeln 
Ahnung der Beziehungen und ZusammenhÀnge, welche die 
Freudsche Traumlehre wissenschaftlich verifiziert hat. 

Diese tieferfaßte Traumbedeutung scheint im Zusammen- 
hang mit dem stereotypen Vorkommen des warnenden "[raum- 
bildes im Heldenmythus -darauf hinzuweisen, daß wir es hier 
mit einem uralten Traumstoff!) zu tun haben, dessen Kern 
ceerade darum so gut von unserer wissenschaftlichen Traum- 
erkenntnis zugĂ€nglich wird. Eine weitere BestĂ€tigung fĂŒr die 
Berechtigung dieser Auffassung, welche Wassertraum und Aus- 
setzung gleichstellt, erblicken wir in dem Umstand, dab eben 
in der Kyrossage, die den Wassertraum enthÀlt, das Motiv der 
Aussetzung im Wasser fehlt, so daß der Mythus den Ge- 
burtstraum einfach als real darstellt. 

Nur darf man sieh beim tendenziösen Heldenmythus 
nicht an der Inkoneruenz in der Reihenfolge der einzelnen 
Elemente des symbolisierten Zurweltkommens mit dem wirk- 
lichen Geburtsvorgang stoßen. Diese zeitliche Umordnung, ja 
Umkehrung, erklÀrt sich, wie Freud gezeigt hat, aus der all- 
gemeinen Art, wie Erinnerungen zu Phantasien verarbeitet 
‚werden: es erscheine nĂ€mlich in den Phantasien dasselbe Material 
verwendet, aber in durchaus neuer Anordnung, und auf eine 
natĂŒrliche Reihenfolge der Akte werde gar nicht Bedacht ge- 
nommen’). 


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1) Die altbabylonische Flutsage, die — wie das ganz Asien ĂŒber- 
schwemmende Geburiswasser in der Kyrossage zeigt — in diesen Zusammen- 
hang gehört, erzĂ€hlt Berosus so, daß König Xisuthros durch einen göttlichen 
Traum gewarnt worden sei, alle Menschen wĂŒrden in einer eroßen Flut 
umkommen, er selbst aber mit seiner Familie in einem Schiff gerettet 
werden. — Und schon im keilschriftlichen Sintflutbericht scheint die 
rÀtselhafte Stelle v. 21 bis 22 nach der Auffassung mancher Forscher 
mit Traumvisionen zusammenzuhÀngen, die Ea dem babylonischen Noalı 
zuteil werden lĂ€ĂŸt, 

2) Die gleichen VerhÀltnisse herrschen bei der Traumbildung und der 
Umsetzung hysterischer Phantasien in AnfÀlle (vgl. Traumdeutung?, 5. 238, 
und die Anmke. ebenda; ferner Freud: Allgemeines ĂŒber den hysterischen 
Anfall, in Sammlg. Kl. Schr. z. Neurosenlehre, 2. Folge, S. 146 u. ff.) 

Ebenso in der dichterischen PhantasietÀtigkeit, was eine charakteristische 
Stelle bei Strindberg besonders deutlich zeigt: „Meine Erinnerungen kann 


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112 DIE UMKEHRUNGEN DES INHALTS. 


Neben dieser formalen Umkehrung beansprucht die in- 
haltliche eine besondere AufklĂ€rung. Der nĂ€chste Grund fĂŒr 
die Darstellung der Geburt durch ihr Gegenteil, die lebens- 
feindliche Aussetzung im Wasser, ist die Betonung. der Feind- 
seliekeit der Eltern dem zukĂŒnftigen Helden gegenĂŒber‘). Wir 
begreifen den schöpferischen Einfluß dieser Tendenz, die 
Eltern als die ersten und mÀchtigsten Gegner des Helden dar- 
zustellen, wenn wir uns erinnern, daß ja der ganze Familien- 
roman ĂŒberhaupt der Empfindung der ZurĂŒcksetzung, also der 
supponierten Feindseligkeit der Eltern, seinen Ursprung ver- 
dankt. Diese Feindseligkeit geht im Mythus so weit, daß die 
Eltern das Kind gar nicht zur Welt kommen lassen wollen, 
worĂŒber sich eben der Held beklagt; ja man kann aus dem 
Mythus deutlich den Wunsch vernehmen, das Zurweltkommen 
selbst gegen den Willen der Eltern durchzusetzen. Die Lebens- 
eefahr aber, die sich so hinter der Geburt, in ihrer Darstellung 
durch die Aussetzung verbirgt, ist ja tÀtsÀchlich im Geburtsakt 
gegeben. In der Überwindung aller dieser Hindernisse kommt 
auch der Gedanke zum Ausdruck, daß der zukĂŒnftige Held 
die grĂ¶ĂŸten Schwierigkeiten eigentlich schon mit seiner Geburt 
ĂŒberwunden habe, indem er alle Versuche, sie zu verhindern?), 
siegreich abwehrt. Es ist hier auch Raum fĂŒr eine zweite 
Deutung, derzufolge der junge Held, der ja ahnen mag, dab er 
ich wie die StĂŒcke eines BaukĂ€stens behandeln; mit ihnen kann ich alles 
mögliche zusammensetzen; und dieselbe Erinnerung kann zu allem mög- 
lichen in einem PhantasiegebÀude dienen, verschieden gefÀrbte Seiten nach 
oben wenden; und da die Anzahl Zusammenstellungen unendlich ist, be- 
komme ich bei meinen Spielen den Eindruck der Unendlichkeit” („Einsam”, 
Leipzig, H. Seemanns Nchf. 1905, S. 76). 

1) Nach einer ansprechenden Bemerkung Jungs ermöglicht diese 
Umkehrung in weiterer mythischer Sublimierung den Anschluß des Helden- 
lebens an den Sonnenlauf (Wandlungen und Symbole der Libido, IT. Teil,) 

2) Hieher gehört Punkt 2 unseres Schemas: die freiwillige Enthalt- 
samkeit oder die gewaltsame Trennung der Eltern, die natĂŒrlich die wunder- 
bare EmpfĂ€ngnis und die Jungfrauengeburt der Mutter im Gefolge hat. — 
Auch die Abtreibungsphantasien, die in der Zoroasterlegende besonders 
deutlich sind, gehören in diesen Zusammenhang, wie möglicherweise auch 
die vorzeitig aus dem Mutterleib geschnittenen Helden, wie Sigurt (Grimm, 
Myth.*, 5. 322), Tristan bei Eilhardt, Vikramaditya u. a. m. 








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ZWISCHEN PHANTASIE UND MYTHOS, 113 


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dazu bestimmt ist, alle Schwere des Lebens in besonderem 
Ausmaße zu verkosten, in pessimistischer Stimmung wie ĂŒber 
einen feindlichen Akt darĂŒber klagt, daß man ihm das Leben 
segeben habe. Er klagt gleichsam die Eltern an, daß sie ihn in 
das feindliche Leben ausgesetzt, daß sie ihn haben geboren 
werden lassen'). Die Weigerung, den Sohn zur Welt kommen 
zu lassen, die besonders dem Vater zukommt, scheint oft durch 
das Gegensatzmotiv, den Wunsch nach einem Kinde, verdeckt 
(wie bei Ödipus, Perseus u. a.), wĂ€hrend die feindliche Gesinnung 
gecen den zukĂŒnftigen Nachfolger in Thron und Reich nach 
außen projiziert, also einem Orakelspruche zugeschrieben wird, 
der sich so als Ersatz des unheilverkĂŒndenden Traumes oder 
besser gesagt, als Äquivalent seiner Auslegung offenbart. 

Auf der anderen Seite aber zeigt der Familienroman, daß 
die anscheinend die Eltern entfremdenden Phantasien des Kindes 
nichts anderes von ihnen aussagen können als die BekrÀftigung, 
sie seien doch die wirklichen Eltern. Auch der Aussetzungs- 
mythus enthĂ€lt, mit Hilfe der Symbolik ĂŒbersetzt, nichts als 
die Versicherung: das ist meine Mutter, die mich auf Geheiß 
des Vaters geboren hat. Infolge der Tendenz des Mythus und 
der dadurch bewirkten Verschiebung der feindseligen Gesinnung 
vom Kinde auf die Eltern kommt diese Versicherung der wirk- 
ichen Elternschaft in Form ihrer Ablehnung zum Ausdruck. 


Sehen wir uns nun die feindselige Stellung des Helden 
seinen Eltern eegenĂŒber nĂ€her an, so fĂ€llt zunĂ€chst auf, dab 


') Völlig im Sinne dieser unserer Auffassung scheint es gedacht, wenn 
der römische Dichter Luerez die Geburt mit einem Schiffbruch vergleicht: 
„Siehe das KnĂ€blein, wie ein durch die Wut der Wellen an das Ufer ge- 
worfener Sehiffer liegt es da, das arme Kind! nackt, auf der Erde, aller 
Lebenshilfe dĂŒrftig, wann es zuerst die Natur aus dem Schoße der Mutter 
mit Schmerzen losgerissen hat. Mit klĂ€glichem Gewimmer erfĂŒllt es seinen 
Geburtsort und das wohl mit Recht, dem so viele Übel im Leben noch 
berorstehen” (Luerez, de natura rerum V. 222 bis 227). — Und Ă€hnlich heißt 
es in der ersten Fassung von Schillers „RĂ€uber” von der Natur: „Gab sie 
uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses 
großen Ozeans Welt. — Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump 
ist, gehe unter!” 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden. 2. Aufl, 8 


114 DER KONFLIKT MIT DEM VATER. 


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sie vornehmlich den Vater betrifft. Meist wird ja, wie im Mythus 
von Ödipus, Paris u. a,, dem königlichen Vater ein Unheil, das 
ihm von dem erwarteten Sohne droht, geweissagt; der Vater 
ist es da auch, der die Aussetzung des Knaben veranlaßt und 
den wider Erwarten Geretteten auf-alle möglichen Arten ver- 
folgt und bedroht, der aber schließlich doch, nach der Prophe- 
zeiung, dem Sohne unterliegt. Um diesen anfangs vielleicht 
befremdenden Zug zu verstehen, braucht man nicht erst am 
Himmel nach einem Vorgang zu suchen, in den er sich 
mĂŒhselig hineindeuten lĂ€ĂŸt. Wer mit offenen Augen und un- 
befansenen Sinnes die VerhÀltnisse zwischen Eltern, Kindern 
und Geschwistern einmal ansieht, wie sie wirklich sind’), der 
wird hĂ€ufig, jaman muß eigentlich sagen regelmĂ€ĂŸig, wenn 
auch nicht offensichtlich und dauernd, so doch gewiß im Un- 
bewußten lauernd und zeitweilig durchbrechend, eine gewisse 
Spannung zwischen Vater und Sohn und noch deutlicher ein 
KonkurrenzverhÀltnis zwischen Geschwistern finden. Besonders 
sind es erotische Momente, die dabei mitspielen, und in der 
Regel ist auch die tiefste — meist unbewußte — Wurzel der 


Abneigung des Sohnes gegen den Vater oder zweier BrĂŒder 


vereneinander in dem KonkurrenzverhÀltnis um die zÀrtliche 
Aufmerksamkeit und Liebe der Mutter zu suchen. Die Ödipus- 
fabel zeigt uns ja deutlich — nur in vergröberten Dimensionen 
— die Richtigkeit dieser Auffassung, indem sie auf den Tot- 
schlag des Vaters den Inzest mit der Mutter folgen lĂ€ĂŸt. Dieses 
erotische VerhÀltnis zur Mutter, das wieder in anderen Mythen- 
kreisen dominiert, ist in den Mythen von der Geburt des 
Helden in den Hintergrund gedrÀngt?), wÀhrend der Kampf 
geren den Vater ĂŒberstark betont wird. 





1) Vgl. die Darstellung dieses VerhÀltnisses und seiner seelischen 
Folgen bei Freud: Traumdeutung, S. 172 u. ft. 

2) Bei einzelnen Mythen hat man den Eindruck, als sei das Liebes- 
verhĂ€ltnis zur Mutter, als dem Bewußtsein mancher Zeiten und Völker zu 
anstĂ¶ĂŸig, beseitigt worden. Die Spuren dieser Beseitigung erkennt man noch 
bei einer Vergleichung verschiedener Mythen oder verschiedener Versionen 
desselben Mythus. So ist nach der Herodotischen Fassung Kyros ein Sohn 
von Astyages’ Tochter, nach dem Berichte des Ktesias nimmt er aber nach 
Besiegung des Astyages dessen Tochter zur Frau, wÀhrend er ihren Mann, 








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DAS „HILFREICHE TIER”. 115 





Es scheint jedoch mit unserer Deutung der Aussetzung 
als Geburt nicht recht im Einklang zu stehen, daß gerade 
die Mutter und ihr VerhĂ€ltnis zum Helden so stiefmĂŒtterlich 
— im wahren Sinne des Wortes — behandelt sein sollte. Doch 
verrÀt uns ein anderes, ziemlich aufdringliches Motiv, dab dies 
nur scheinbar der Fall ist. Denn mit auffallender RegelmĂ€ĂŸigkeit 
wird die leibliche Mutter durch ein hilfreiches Tier vertreten, | 
das sich des Ausgesetzten annimmt und ihm oft als Amme 
dient!). Abzesehen von der Betonung des rein animalischen 


der bei Herodot sein Vater ist, tötet, Vgl. HĂŒsing: Beitr. z. Kyrossage, Al. 
Auch bei Vergleichung der Sage von Darab mit der ihr ganz Àhnlichen 
Legende vom heiligen Gregor wird deutlich, daß bei Darab der 
Inzest mit der Mutter einfach weggelassen ist, der sonst der Erkennung 
des Sohnes vorausgeht; hier verhindert dagegen die Erkennung den Inzest, 
eine AbschwÀchung, die man im Mythus von Telephos sozusagen in statu 
nascendi studieren kann, wo der Held zwar mit seiner Mutter vermÀhlt wird, 
sie aber noch vor dem Vollzuge des Inzests erkennt. 

Man vgl. ĂŒbrigens des Verfassers Buch: „Das Inzestmotiy in 
Diehtung und Sage” (1912), wo das hier nur gestreifte Inzestthema eine 
ausfĂŒhrliche Behandlung erfĂ€hrt, und die zahlreichen hier fallen gelassenen 
FĂ€den, die zu diesem Thema fĂŒhren, aufgenommen sind. 

Den Zusammenhang des Ödipus-Motivs mit dem Mythus von der 
Geburt des Helden habe ich in meiner Untersuchung ĂŒber „die Lohen- 
grinsage” (1911) nĂ€her ausgefĂŒhrt, deren zyklischen Charakter ich aus 
der von Freud aufgedeckten Identifizierung mit dem Vater verstÀndlich 
machen konnte. (Vgl. dortselbst S. 131, auch S.96 und 99.) So erklÀrt 
sich die in manchen Sagen aufgezeigte identitÀt von Vater und Sohn, die 
Wiederholung ihrer LebenslĂ€ufe, so der Umstand, daß der Held mitunter 
erst im erwachsenen Alter ausgesetzt wird, so auelı die innige VerknĂŒpfung 
von Geburt und Tod im Aussetzungsmotiv (Über das Wasser als Todeswasser 
vgl. bes. Kap. IV der Lohengrinsage). Jung, der im typischen Schicksal 
der Helden Abbilder der menschlichen Libido und ihrer typischen Schick- 
sale sieht, hat dieses Thema als Wiedergeburtsphantasie in den Mittel- 
punkt seiner Auffassung gestellt und ihr das Motiv des Inzests untergeordnet. 
Dabei will er aber nicht nur die unter sonderbaren symbolischen UmstÀnden 
erfolgende Geburt des Helden, sondern auch das Motiv seiner zwei MĂŒtter 
daraus erklĂ€ren, daß die Geburt des Helden unter den geheimnisvollen 
Zeremonien einer Wiedergeburt aus der Mutter-Gattin erfolge (l. c. 
S. 356). 

!) In einzelnen spÀteren Sagenformen (Romulus, Kyros) hat die ratio- 
nalistische Deutung dieses „Wunder” dadurch plausibel zu machen gesucht, 

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116 FREUDS AUFKLÄRUNG 


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VerhÀltnisses zur Mutter, auf dessen Auffassung durch das 
Kind wir noch zurĂŒckkommen ($. 142 f., 150 f.), lebt in diesem 
Motiv auch ein StĂŒck der totemistischen Abstammungslehre der 
primitiven Völker fort, deren tief menschliche Bedeutung uns 
oleichfalls durch die Forschungen Freuds erschlossen wurde, 





Im Totemismus sieht die Wissenschaft die erste Stufe der 
menschlichen Organisation, deren HauptzĂŒge darin bestehen, daß die 
Totemgenossen das Totem als gemeinsamen Stammvater verehren 
und den „eschlechtlichen Verkehr untereinander meiden und verab- 
scheuen, Dem ersten der beiden ZĂŒge entspricht es, daß das 'Totem 
-— in der Regel ein Tier — seine Abkömmlinge verschont und 
von ihnen verschont wird, welche segensreiche kulturelle Rolle 
das Muttertier im Heldenmythus noch direkt verkörpert. 

Die Parallelisierung dieser 'lotemverehrung mit eiver Reihe 
von Beobachtungen an Kindern und Neurotikern durch Frend') 
erwies die eieentĂŒmliche Ahnenverehrung einer bestimmten Tier- 
eattung als Folge einer unbewußten Identifizierung dieses Tieres 
mit dem Vater, was ĂŒbrigens auch die primitiven 'Totemisten direkt 
aussprechen, da sie sich keineswegs nur in bildlicher Weise als die 
Abkömmlinge des Totems betrachten. Damit wÀre unschwer die 
Verehrung des Totems, aber nicht das eigeentĂŒmliche Zeremoniell 
seiner gelegentlich gebotenen Opferung erklÀrt, Gerade hier setzt 
Freud ein, indem er zu dem einen RĂ€tsel das andere der Ent- 
stehung der Inzestschranke hinzunimmt, der die Exogamie der 


daß sie den Weibern Tiernamen beilegte (Kyno [Spako]|, Lupa), die erst 
den Anlaß zu der wunderbaren AusschmĂŒckung gegeben haben sollien. 

Es sei ĂŒbrigens bei dieser Gelegenheit darauf verwiesen, daß eine 
Anzahl unserer bĂŒrgerlichen Familiennamen nicht nur totemistischen Ur- 
sprung verraten (Fuchs, Wolf, BĂ€r ete.), sondern auch der degradierten 
Vaterrolle zu entsprechen scheinen (Fischer, MĂŒller, Schneider). 

Über Tiere in den Aussetzungssagen siehe die Arbeiten von Bauer 
(S.574f.), Goldziher (5. 274) und Liebreeht: Zur Volkskunde (Romulug 


und die Welfen‘, Heilbronn 1879. — Zur totemistischen Grundlage der 
römischen Wölfin vel. Jones, „Alptraum”, $. 57 f. — Über den Specht 
der Romulussage hat Jung (l.e. S. 382 f£.) gehandelt. — Allgemeines bei 


subernatis: Zoological Mythology. London 1872. Deutsch von Hartmann; 
Die Tiere in der indogerman,. Mythologie. Leipzig 1874. 
!) „Totem und Tabu”, 1913. 





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DES TOTEMISMUS. 117 


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'T'otemgenossen entspricht. Er knĂŒpft an Darwin und Atkinson 
an, die die Àlteste Form der Gemeinschaft in Analogie zu jener 
der höhe:en Affen in einer „Urhorde” sehen, bestehend aus mehreren 
Weibchen und einem alten und starken MĂ€nnchen. Dieses duldet 
keinen Nebenbuhler in der Horde und tötet die Söhne oder treibt 
sie aus, soba'd sie geschlechtsreif werden. Den Weg von dieser 
„Urhorde” zur ersten Stufe sozialer Organisation, den die genannten 
Forscher nicht gefunden haben, rekonstruiert Freud aus dem eigent- 
lichen Sinn des Totemismus heraus, den dieser allerdings nur der 
psychoanalytischen Betrachtungsweise verrÀt. Schon Atkinson ver- 
mutete, daß die ausgetriebenen Söhne sich verbanden und durch 
Gemeinsamkeit gestĂ€rkt, den Vater erschlugen. Das wĂŒrde der 
Vereinigung des Stammes zum 'Totemop’'er entsprechen. Aber da 
nun jeder die Weiber fĂŒr sich begehrte und keiner stark genug 
war, die andern auszuschließen, entstand Unbefriedigung und Un- 
friede. Um den Verband, ohne den der einzelne nicht zu existieren 


vermochte, aufrecht zu erhalten, mußten SĂ€mtliche sich freiwillig 


den Verzicht auf die Weiber des Stammes auferlegen. Die wichtige 
Rolle, welche die „MĂ€nnerbĂŒnde” bei allen Naturvölkern spielen, ist 
eine StĂŒtze dieser Auffassung. Durch diesen Verzicht wĂ€re die 
Grundlage fĂŒr die Totemexogamie gegeben, aber auch fĂŒr die nach- 
trÀgliche Verehrung des mÀchtigen, im Grunde bewunderten Vaters, 
dessen nutzlos gebliebenen Mord die Söhne bereuten. 

Alle diese Ereignisse, die natĂŒrlich nur als Zusammenfassung 
einer mehrtausendjÀhrigen Entwicklung gedacht sind, haben in den 
totemistischen und anderen BrÀuchen ihre Spuren hinterlassen und 
in den mythischen Überlieferungen, wie in den mĂ€rchenhaften Er- 
zÀhlungen, ihren kulturgeschichtlichen Nachklang gefunden. 


Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet scheint der Familien- 
"oman des Helden in gewissem Sinne die urprĂŒnglich reale 
Verfolgung des Sohnes durch den Vater widerzuspiegeln, die nur 
aus einer spĂ€teren — erinnerten — Zeitin die Zeit der Geburt, ja 
sogar des Ungeborenseins zurĂŒckphantasiert wird, und zwar 
dann, sobald der Sohn dem als feindselig empfundenen Vater 
nichts mehr, auch nieht das Leben verdanken will. Hier, setzt 
nun die rettende Tat der Mutter ein, die vielleicht wirklich 


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115 DIE AUSSETZUNG WAR EINMAL REAL. 


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einmal in der Urgeschichte das Kind nach der Geburt vor dem 
unmenschlichen Vater zu schĂŒtzen hatte, wie noch ganz naiv 
der griechische Mythus von Zeus erzÀhlt, den seine Mutter aus 
Furcht vor dem kinderverschlingenden Kronos in einer Höhle 
des Idagebirges zur Welt bringt und verborgen hÀlt, wo -das 
KnÀblein von der Ziege Amalthea genÀhrt wird. So kehrt die 
Mutter als schĂŒtzendes und nĂ€hrendes Totemtier im,Helden- 
mythus wieder, wÀhrend im Erzeuger der alte vertotemistische 
Uryater in seiner. ganzen PrimitivitÀt weiterlebt. 

So stellt das StĂŒck Aussetzungsmythus — neben der sym- 
bolischen Geburtsbedeutung — einen offenkundig feindseligen 
Akt von seiten des grausamen Urvaters dar, der im Orakel 
eigentlich den Wunsch ausspricht, daß der Sohn gar nicht 
hÀtte zur Welt kommen sollen. 


Im weiteren Inhalt der Heldenniythen merkt man unschwer, 
daß sich dieser feindselige Urakt des Vaters noch einige Male 
wiederholt. Zum erstenmal, sobald der Knabe, der ja die Kindheit 
in der Fremde verlebt, zum JĂŒngling herangewachsen ist. Zu dieser 
Zeit zieht der mythische Sohn aus seiner zweiten Heimat aus, um 
„Abenteuer zu suchen”, und zur selben Zeit trifft merkwĂŒrdigerweise 
der Vater neuerdings seine Schutzmaßregeln zur Sicherung seines 
Lebens und seiner Macht. Man versteht die eigentliche Bedeutung 
dieses mythischen Zuges, wenn man das ethnologische GegenstĂŒck 
dazu, die PubertÀtsriten der Wilden, zur Vergleichung heranzieht, 
die Reik in einer wertvollen Studie psychoanalytisch beleuchtet 
hat!), Auch dort wird den reifgewordenen JĂŒnglingen, allerdings in 
der bei weitem eindrucksvolleren Weise des Ritus, die noch unge- 
brochene Macht der VĂ€ter vor Augen gefĂŒhrt. Die feindseligen Akte, 
welche sich die Alten bei diesem feierlichen Anlaß gegen die Jugend 
erlauben dĂŒrfen, sollen diese vor der Verwirklichung ihrer geheimen, 
aus dem Elternkomplex stammenden WĂŒnsche warnen und sind zu- 
gleich Standhaftigkeitsproben auf ihre mÀnnliche Kraft, die sie erst 
wĂŒrdig macht, in die Ă€ltere Generation vorzurĂŒcken und in den 
Kreis der VĂ€ter aufgenommen zu werden. Im Mythus ist die Form, 
in der sich die Feindseligkeit des Vaters zum erstenmal wiederholt, 


') „Die PubertĂ€isriten der Wilden”, Imago IV, 1915, 








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DAS MOTIV DER MANNHEITSPROBE, 119 


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eine durchwegs dem höheren kulturellen Niveau angepaßte „Auf- 
gabe”, die eines „Helden” wĂŒrdig ist. Immer handelt es sich um 
ganz besondere Leistungen, denen kein anderer sich gewachsen zeigt 
und bei deren Lösung noch jeder den Tod gefunden hat, die der 
Held aber wider Erwarten des Auftraggebers, ungeachtet aller 
Hemmnisse, bewÀltigt. Dieser Vorgang, beliebig vervielfacht, ergibt 
die eigentlichen „Heldentaten”, die, unter den entwickelten Gesichts- 
punkten betrachtet, sich in nachstehender Weise zur Aussetzung und 
den ihr entsprechenden „Aufgaben” verhalten: 


Die Aussetzung stellt im Sinne ihrer symbolischen Be- 
deutung die unter den erschwerten UmstÀnden der primitiven 
VerhĂ€ltnisse erfolgte Geburt dar, die somit als die erste groß- 
artige Leistung (Aufgabe) erscheint, bei der viele den Tod 
finden, die der Held aber trotz aller Schwierigkeiten ĂŒbersteht'). 
So liegt schon im Sohnsein selbst das Heldenhafte. 

Die eigentliche Aufgabe, die zur Zeit der Reife gestellt 
wird, und deren verderbenbringende Absicht sie als Ersatz der 
Aussetzung: verrÀt, ist eine Mannheitsprobe, die ebenso wie 
das Aussetzungsmotiv doppelte (ambivalente) Bedeutung hat: 
Sie setzt den JĂŒneling dem Verderben aus, macht ihn aber 
oleichzeitig mit dem Bestehen dieser Probe dem Vater eben- 
bĂŒrtie (Ordal)'). 


', Es ist hier an den altgermanischen Brauch zu erinnern, das neu- 
geborene Kind vor Anerkennung der Vaterschaft auf einem Schild im Rhein 
auszusetzen. (R. Civilli: „Le jugement du Rhin et la lögitimation des enfanis 
par ordalie”. Bull. et M&m. de la Soc. d’Anthrop. de Paris, VI. Ser. III. 1912, 
pp. 80-88). [Ähnlich aber auch von den Banyaro in Zentralafrika. Siehe 
John Hamming Speke: Journ. of the discovery ol the source of the Nil. 
London 1912, ch. XIX, p. 444. Everyman’s Library]. Wenn z. B. ein Kelte 
bei einem neugeborenen Kind an seiner Vaterschaft zweifelte, so setzte er 
es auf einem großen Schild in den nĂ€chsten Fluß. Trugen es die Wellen ans 
Ufer, so galt es als legitim, kam das Kind jedoch um, so galt das Gegenteil 
fiir erwiesen und auch die Mutter wurde hingerichtet. (Siehe Franz H elbing: 
„Gesch. d. weibl. Untreue”.) Ferner ist auf den unter den germanischen 
Völkerschaften schr verbreiteten Brauch der Kindesaufhebung hinzuweisen, 
weleher der römischen Sitte des „liberos tollere, suseipere” vollkommen 
entspricht: das auf dem Boden liegende Kind wurde vom Vater entweder 
aufgenommen oder ausgesetzt (altnord. â€žĂŒt bera, ĂŒt kasta”). (Vgl. die auch 





120 DIE AMBIVALENZ DES AUSSETZUNGSMOTIYVS. 


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Das Aussetzungsmotiv, das — wie die Mythen- und MĂ€rchen- 
motive ĂŒberhaupt — von ambivalenten GefĂŒhlen getragen ist, 
erscheint so als gegenseitiger Schutz der beiden Generationen 
voreinander, gleichsam als eine Art wechselseitiger Lebens- 
versicherung, da der Sohn durch die im Interesse des Vaters 
erfolgende Aussetzung letzten Endes vor diesem seinen Ver- 
folger in Sicherheit gebracht wird, ja in ihm gerade der 
vom Vater mit Recht so gefĂŒrchtete Feind heranwĂ€chst. Darum 
kann es auch nicht verwundern, daß die Heldenaufgaben, die 
ursprĂŒnglich eine Vervielfachung des urvĂ€terlichen Beseitigungs- 
impulses gegen den Sohn darstellen, sich schließlich als ver- 
kappte Rachehandlungen des Sohnes gegen den „bösen“ Vater 
(Vatertötung) entpuppen, was allerdings dadurch verdeckt scheint, 
daß sie im Auftrage des Vaters selbst geschehen. In entsprechender 
Weise wird auch gerne die korrelate urzeitliche Besitzergreifung 
der Mutter in der verhĂŒllenden Gegensatzform des Potiphar- 
motivs, das umgekehrt die VerfĂŒhrung des standhaften Helden 
durch ein lĂŒsternes Muttersurrogat vortĂ€uscht, verleugnet 
(Inzestscheu). | 

Indem der Sohn die aufrĂŒhrerischen Handlungen und die 
Beseitigungsimpulse in der Fremde an Deckpersonen oder 
noch hÀufiger an Tierungeheuern (Totemopfer) befriedigt, wird 
er durch Lösung der vom Vater zu seinem Verderben gestell- 
ten Aufgaben aus einem unzufriedenen Sohn ein sozial 
wertvoller Reformer, ein Bezwinger menschenverzehrender 
oder lĂ€nderverwĂŒstender Ungeheuer, ein Erfinder, StĂ€dte- 
grĂŒnder und KulturtrĂ€ger, wie insbesondere das kulturell so 
hochstehende griechische Volk in seinen Heroen Herakles, Per- 
sonst fĂŒr unser Thema aufschlußreiche Abhandlung von Nejmark: „Die 
geschichtliche Entwieklung des Deliktes der Aussetzung”, Aarau 1918, 
B> 13°1..283 Ä 

Wie das Aussetzungsmotiv selbst, will Frazer auch das typische 
Medium, das Wasser, aus psychologisch unverstandenen BrÀuchen erklÀren 
nÀmlich als Erinnerung an die zur BestÀtigung der LegitimitÀt veranstal- 
teten Wasserordalien, die aber selbst nur ein der symbolischen Geburts- 
bedeutung der Wasseraussetzung entsprechender Ritus sind. Man vgl. dazu 
die Rolle des Wassers bei den Scheingeburten des Wiedergeburtszeremoniells 
(Zachariae iin d. Z, V.t. V. XX, 145 ff.) 











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DIE AUFLEHNUNG GEGEN DEN VATER. 121 


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seus. Thescus, Ödipus, Bellerophon u. a. zeigt. Sie ale töten 
im Auftrag böser Tyrannen Tierungeheuer, die sich auf Grund 
ihrer totemistischen Bedeutung um so leichter als Vatersurro- 
gate verstehen lassen, als der Mythus die erste Heldentat, die 
mit der Rettung (von der Aussetzung) gegebene Überwindung 
des Vaters, als wesentlich voranstellt. Mit dieser Einkleidung 
der Heroentaten in die Form der VaterĂŒberwindung verrĂ€t 
aber der Mythus ihre Herkunft und Bedeutung. 

Schon dadurch, daß der Held mit Lösung der vom Vater 
zu seinem Verderben gestellten Aufgaben (Heldentaten) schließ- 
lich an die Stelle des Vaters gelangt (und die Frau fĂŒr sich 
gewinnt), erweisen sich seine Leistungen als Ersatz der Vater- 
tötung, woraus sich die Formulierung ergibt, daß das Helden- 
hafte cben in der Überwindung des Vaters liegt, von dem 
die Aussetzung und die Aufgaben ihren Ausgang nehmen. 
Also nicht der Held hat eine wunderbare Geburts- und Jugend- 
geschichte, sondern diese Geschichte selbst macht eben das 
eigentlich Heldenhafte aus. Historisch wÀre dieser Tatbestand 
so zu formulieren, daß es einmal eine Heldentat war, als 
Sohn eines strengen eifersĂŒchtigen Vaters zur Welt zu kommen 
und sich gegen sein MachtgelĂŒste durchzusetzen. Die Aus- 
setzung und die ihr auf spÀterer Stufe entsprechende Aus- 
schiekung auf Heldentaten sind als mythische Motive schon 
wesentlich gemilderte Formen der ursprĂŒnglichen Austrei- 
bung der Söhne, die der pater familias vornimmt, um sich 
vor den GewalttÀtigkeiten seiner heranwachsenden machtbegie- 
rigen SprĂ¶ĂŸlinge zu schĂŒtzen 1): 


Die Kultur- und Sittengeschichte lĂ€ĂŸt keinen Zweifel daran, 
daß die in den Mythen und MĂ€rchen erzĂ€hlten Grausamkeiten 


1) Die mythische Austreibung des Sohnes nimmt in der alitestament- 
lichen Überlieferung eine breite Stelle ein, wie das Umherirren des durch 
Gottvater ausgestoßenen Brudermörders Kain, aber auch die ErzĂ€hlungen 
von Ismael und Jakob, der in der Fremde dienen muß, zeigen. Auch die 
Legende vom verlorenen Sohn fÀllt in diesen Zusammenhang, von dem 
NachklÀnge noch bei Shakespeare (Glosters Sohn Edgar im Lear), Schiller 
Karl Moor) und in zahlreichen Diehtungen zu finden sind, 





122 DIE VÄTERLICHE MACHT. 


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innerhalb der Familie einmal real waren. „Das Haupt der Familie 
besaß das volle Recht, nach seinem Belieben ĂŒber Leben und Tod 
eines hilflosen Familienmitgliedes zu verfĂŒgen. Ein solcher Rechts- 
zustand lĂ€ĂŸt sich noch jetzt bei verschiedenen Naturvölkern be- 
obachten”? (Nejmark, 1. c. S. 1). „Der Vater hatte zu entscheiden, 
ob das neugeborene Kind aufgezogen oder ausgesetzt werden sollte 
und auch spÀter lag das Leben des Kindes in seiner Hand... 
Deshalb verschwindet die Sitte der Kinderaussetzung erst mit dem 
Untergang der streng patriarchalen Familienverfassung ... die bei 
den Naturvölkern die herrschende Familienform ist” (l. c. 8. 6). 
„Die auf höherer Kulturstufe stehenden Naturvölker zeigen uns 
einige Beispiele einer solchen AbschwÀchung der vÀterlichen Ge- 
waltherrschaft. Es ist meistens der Fall, daß die erste BeschrĂ€n- 
kung der vÀterlichen Gewalt in der Aberkennung des Rechtes 
ĂŒber Leib und Leben gegenĂŒber dem heranwachsenden Sohne auf- 
tritt... Weitherhin wird das Tötungsrecht gegenĂŒber den Kindern 
ausschließlich auf die Neugeborenen beschrĂ€nkt, und zuletzt wird 
dem Vater auch dieses Recht der Tötung und Aussetzung von Neu- 
geborenen ebenfalls entzogen” (l. c. S. 8). In besonders deutlicher 
und kulturgeschichtlich interessanter Weise ist der Prozeß der Ein- 
schrÀnkung der vÀterlichen Gewalt in der römischen Rechts- und 
Staatsgeschichte zu verfolgen: „denn der römische Staat ist nach 
dem Muster der römischen Familie entstanden, so daß der römische 
König ĂŒber seine Untertanen wesentlich dieselben Rechte hatte, die 
dem pater familias gegenĂŒber den ‚personae in potestate’ zugestanden 
haben” (l. c. 8. 15). So erweist sich also die Revolution gegen jede 
endlich drĂŒckend empfundene Gewaltherrschaft letzten Endes als 
Auflehnung gegen die vÀterliche Gewalt'). 





ı) Als eine Art Revanche gegen die unbeschrÀnkten Vorrechte des 
Vaters erscheint die „bei zahlreichen Völkern herrschende Sitte, sich der 
Greise zu entledigen, sei es durch deren Tötung, wie es bei den Eskimo 
und GrönlÀndern geschieht, bei denen der Sohn seinen Vater, wenn dieser 
alt und unnĂŒtz wird, erhĂ€ngt, sei es durch Aussetzung des Hausyaters wie 
bei den Chiappavaeren (Nordamerika)” (l. ec. $. 2). Daß bei vielen Völkern 
fĂŒr den Haussohn sogar eine Verpflichtung bestand, seinen gebrechlichen 
Vater umzubringen (l. e. S. 4), kann nur als bewußter Nachklang der 
Totemopferung verstanden werden, 








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DER PARANOIDE CHARAKTER DES MYTHUS. n 123 


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Daß die kindliche Auflehnung gegen den Vater in den 
Geburtsmythen ausschließlich durch das feindselige Benehmen 
des Vaters provoziert erscheint, ist — wie schon angedeutet 
wurde — eine durch ganz besondere EigentĂŒmlichkeiten der 
mythenbildenden SeelentÀtigkeit bewirkte tendenziöse Dar- 
stellung des VerhÀltnisses, welche wir Projektion benennen. 
Der Projektionsmechanismus, der auch seinen Anteil an der 
Umkehrung („HineiustĂŒrzen”) des Geburtsaktes hatte, sowie 
einige ‚spĂ€ter (s. S. 153.) zu besprechende Charaktere der 
Mythenbildung legen, wegen ihrer Gleichheit mit auffÀlligen 
VorgÀngen im Mechanismus gewisser seelischen Störungen, die 
allcemeine Charakterisierung des Mythus als „paranoides’ 
Gebilde nahe. Mit dem paranoiden Charakter ist vornehmlich 
die Eigenschaft, auseinanderzulegen, was in der Phantasie 
verschmolzen ist, innig verknĂŒpft. Dieser Vorgang gibt, wie 
wir an den beiden Elternpaaren gesehen haben, das Fundament 
unserer Mythenbildung ab und ist neben dem Mechanismus 
der Projektion der SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis fĂŒr eine ganze 
Reihe sonst unerklÀrlicher Gestaltungen des Mythus. Der 
Prozeß, welcher mit der einer Rechtfertigungstendenz dienen- 
den Projektion beginnt, setzt sich weiter fort und hat auch, 
mit Hilfe des Mechanismus der Auseinanderlegung, in ganz 
eigenartigen Formen des Heldenmythus einen verschiedenen 
Ausdruck seines allmÀhlichen Fortschreitens gefunden. 

In der psychologisch ursprĂŒnglichen Form ist der Vater 
identisch mit dem König, dem tyrannischen Verfolger. Die 
erste Stufe der Milderung dieses VerhÀltnisses zeigen die 
Mythen, in denen die Loslösung des tyrannischen Verfolgers von 
dem wirkliehen Vater versucht wird, aber noch nicht ganz 
vollzogen ist. Denn der tyrannische Verfolger ist immerhin 
noeh verwandt mit dem Helden, und zwar ist es meist sein 
Großvater, wie in der Kyrossage und ihren Parallelen, 
wie ĂŒberhaupt in der Mehrzahl aller Heldenmythen. Dieser 
Typus bedeutet aber, in der Loslösung der Rolle des Vaters 
von der des Königs, den ersten Schritt zur RĂŒckwendung der 
Abkunftsphantasie zu den wirklichen VerhÀltnissen, und wir 
finden daher auch bei diesem Typus in der Regel als Vater 





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124 


DIE MILDERUNGEN DES KONFLIKTS 

des Helden einen niederen Mann (siehe: Kyros, Gilgamos u. a.). 
Der Held strebt also hier wieder eine AnnÀherung an seine 
Eltern an, eine gewisse Zugehörigkeit zu ihnen, die darin zum 
Ausdruck kommt, daß nicht nur er selbst, sondern auch sein 
Vater und seine Mutter fĂŒr den Tyrannen Objekte der Veriol- 
eung bilden. Erlangt damit der Held besonders eine innigere 
VerknĂŒpfung mit der Mutter — er wird ja oft mit ihr zu- 
sammen ausgesetzt (Perseus, Telephos, Feridun) —, die ihm ja 
auch sonst aus verschiedenen Motiven nÀher liegt, so er- 
reicht die Ablehnung seines llasses gegen den Vater hier 
ihren stÀrksten Reaktionsausdruck!), indem der Held nun, wie 
in der Hamletsage, nicht als Verfolger seines Vaters (be- 
ziehungsweise Großvaters), sondern als RĂ€cher des verfolgten 
Vaters auftritt. Es ergibt sich hier eine tiefere Beziehung der 
Hamletsage zu der iranischen ErzÀhlung von Kaikhosrav, denn 
auch hier tritt ja der Held als RÀcher seines getöteten Vaters 
auf (vgl. auch Feridun, Kullervo u. a.). 

Aber auch die Person des Großvaters selbst, die in ein- 
zelnen Sagen durch andere Verwandte ersetzt erscheint (bei 
Hamlet ist es der Oheim), hat ihre tiefere Bedeutung. Es ver- 
bindet sich hier das Ödipusmotiv mit dem zweiten korrelaten 
Komplex, der die erotischen Beziehungen zwischen Vater und 
Tochter zum Inhalt hat?). Der Vater, der seine Tochter keinem 
Freier geben will, oder der gewisse, schwer zu erfĂŒllende 
Bedingungen an die Erwerbung der Tochter knĂŒpft, tut das, 
weil er sieim letzten Grunde keinem anderen gönnt, sie selbst 
besitzen möchte. Er versperrt sie, damit ihre Jungfrauenschaft 
ungefÀhrdet bleibe, an einem unzugÀnglichen Orte (Perseus, 
Gilgamos, Telephos, Romulus) und verfolgt im Falle der Über- 
tretung seines Gebotes die Tochter und ihren SprĂ¶ĂŸling mit 
unersĂ€ttlichem Haß. Die unbewußten sexuellen BeweggrĂŒnde 
seines feindlichen Tuns, das ihm spÀter vom Enkel vergolten 


!) Den Mechanismus dieser Abwehr findet man in Freuds Hanlet- 
analyse (Traumdeutung, S. 183, Anm.) dargelegt. 

2) Zum „Großyater” vgl. man noch Freuds Analyse der Phobie 
eines 5SjÀhrigen Knaben (Jahrb. f. Psa., I, 1909, S. 73 f.) sowie die Arbeiten 
von Jones, Abraham und Ferenczi (Internat. Zeitschr. f. Àrztl. Psa., 
I. Jahrg. 1913, left 2). 

















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MIT DEM VATER UND SEINE ERSETZUNGEN. 125 


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wird, zeigen aber deutlich, dal der Held in ihm mit Recht 
doch wieder den Mann verfolgt, der ihm die Liebe seiner 
Mutter entziehen will: also den Vater). 

Es ist dann wiederum ein Versuch der RĂŒckkehr zum 
ursprĂŒnglichen Typus, wenn die durch Trennung der Rolle 
des Vaters von der des König bewirkte RĂŒckwendung des 
Familienromans zum niederen Vater dureh dessen sekundÀre 
Erhöhung zum Gott wieder aufgehoben wird, wie bei Perseus 
und den anderen Jungfrauensöhnen, Karna, Ion, Romulus, 
Jesus. Die sekundÀre Natur dieser Gott-Vaterschaft sieht man 
besonders deutlich in den Mythen, wo die durch göttliche 
EmpfÀngnis schwangere Junglrau spÀter einen Sterblichen 
heiratet (Jesus, Karna, Ion), der sich dann als der wirkliche 
Vater darstellt, wÀhrend der Gott nur die aufs höchste ge- 
steieerte kindliche Vorstellung von der GrĂ¶ĂŸe und Macht- 
vollkommenheit des Vaters reprÀsentiert?). Zugleich damit wird 
in diesen Mythen das anderwÀrts nur eestreifte Motiv der 
VirginitĂ€t der Mutter konsequent durchgefĂŒhrt, wozu die durch 
EinfĂŒhrung des Gottes geforderte ĂŒbersinnliche Tendenz viel- 
leicht den ersten Anstoß gibt. Die Geburt von der Jungfrau 
ist aber die schroffste Ablehnung des Vaters, die Vollendung 
des ganzen Mythus, wie beispielsweise die Sargonlegende zeigt, 





t) Hieher gehört nebst anderen (Inzestmotiv, Kap. XI angefĂŒhrten), 
weit verzweigten Sagengruppen insbesondere die in einer Unzahl von 
Fassungen umlaufende ErzÀhlung von dem n eugeborenen Knaben, von 
dem prophezeit ist, daß er dereinst der Sehwiegersohn und Erbe 
eines gewissen Herrschers oder MĂ€chtigen werden soll, und der dies 
sehließlieh trotz aller Verfolgungen (Aussetzung ete) auch wird. Aus- 
fĂŒhrliche Literaturangaben ĂŒber die weite Verbreitung dieser ErzĂ€hlung 
gibt R. Köhler, Kl. Schr. II, 35T ff.; vgl. neuestens auch T. Vaelav: Das 
MĂ€rchen vom Schicksalskind. Zeitschr. d. V. f. Volksk. 1920, S, 22 bis 40, 

2») Eine solehe Identifizierung des Vaters mit Gott (Himmelsvater etc.) 
findet sich nach Freud in den Phantasien des normalen und pathologischen 
Seelenlebens mit ebensolcher RegelmĂ€ĂŸigkeit wie die Identifizierung des 
Herrschers mit dem Yater. Hier ist auch daran zu erinnern, daß fast jedes 
Volk seine Abkunft von seinem Gott herleitet. Im ĂŒbrigen hat ja gerade das 
psychoanalytische VerstÀndnis des Totemismus die Entwicklung der ersten 
Gottesvorstellung aus dem Vaterbegriff ĂŒber jeden Zweifel sichergestellt. 
Freud: Totem und Tabu. 1913. 


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126 WEITERE MODIFIKATIONEN 


die neben der Vestalin-Mutter ĂŒberhaupt keinen Vater 
kennen will. 

Die letzte Stufe der fortschreitenden Milderung des feind- 
lichen VerhÀltnisses zum Vater stellt die Form des Mythus dar, 
in welcher die Person des königlichen Verfolgers nicht nur von 
der des Vaters gÀnzlich losgelöst erscheint, sondern auch jede 
noch so entfernte verwandtschaftliche Beziehung zur Familie 
des Helden verloren hat und ihr in der schrofisten Weise als 
Feind gegenĂŒbersteht (wie bei Feridun, Abraham, König Herodes 
bei Jesus u. a. m.). Es ist ihm von seiner ursprĂŒnglich drei- 
fachen Eigenschaft als Vater, König und Verfolger nur noch 
die Rolle des königlichen Verfolgers, des Tyrannen, geblieben, 
aber man hat doch aus der ganzen Anlage des Mythus den 
Eindruck, als ob sieh nichts geÀndert hÀtte, sondern nur statt 
der Bezeichnung „Vater” die Bezeichnung „Tyrann” eingefĂŒhrt 
wĂ€re. Diese gleicherweise fĂŒr das primitive und kindliche Vor- 
stellungsleben typische Vorstellung des Vaters als Tyrannen !) 
wird sich uns spĂ€ter fĂŒr die Auffassung oewisser abnormer 
Konstellationen dieses Komplexes als hochbedeutsam erweisen 
Vorbildlich fĂŒr die unbewußte Identifizierung des Königs mit 
dem Vater, die wir auch in den TrÀumen Erwachsener regel- 
mĂ€ĂŸig wiederfinden, dĂŒrfte entwicklungsgeschichtlich der Ur- 
sprung des Königtums aus dem Patriarchat in der Familie 
gewesen Sein, den noch der Gebrauch identischer Worte fĂŒr 
König und Vater in den indogermanischen Sprachen beweist‘) 
(vgl. unser „Landesvater”). Die RĂŒckwendung des Familien- 
romans zu den tatsÀchlichen VerhÀltnissen ist in diesem Mythen- 


1} Ich verweise hier auf ein amĂŒsantes Beispiel von unbewußtem 
Humor der Kinder, das die Runde durch unsere Tageszeitungen machte. 
Ein Politiker erklÀrte seinem kleinen Sohne, ein Tyrann wÀre ein Mann, der 
die anderen zwinge, zu tun, was er wolle, ohne sich nach ihren WĂŒnschen 
zu ricbten. „So”, meinte der Kleine, „dann seid ihr, du und die Mama, also 
auch Tyrannen!” 

Âź) Siehe Max MĂŒller: Essais, Bd. II. (Leipzig 1869) S. 20 ff. Über 
die verschiedenen Ausgangsmöglichkeiten dieser Einstellung vel. S. 86 u.. 
meines Inzestbuches, — Weiteres sexuologisch verwertete sprachwissen- 
schaftliche Material zu diesem Thema bei Adolf Gerson: Sprachdenkmale 
aus deutscher Urzeit. Zeitschr. f. Sex. Wiss. VII, 1920, S. 273. 

















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DES AUFSETZUDOREU ES UND DER VATERROLLE. 127 


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typus fast restlos vollzogen. Die niederen Eltern werden mit 
einer Aufrichtigkeit anerkannt, die der Tendenz des ganzen 
Mythus direkt zu widersprechen scheint. 

Aber gerade diese Aufdeckung der wirklichen VerhÀltniune, 
die wir bisher der Deutungsarbeit ĂŒberlassen mußten, setzt 
uns in den Stand, deren Richtigkeit an dem Material selbst zu 
prĂŒfen. Es bietet sich hiezu die auch nach verschiedenen anderen 
Richtungen bemerkenswerte biblische Mosessage. lassen’ wir 
das Resultat unseres bisherigen Deutungsverfahrens zusammen, 
so ergibt sich, nachdem die Auseinanderlegung in die Personen 
des Vaters und des tyrannischen Verfolgers rĂŒckgĂ€ngig gemacht 
ist, die IdentitÀt der beiden Elternpaare und wir erkannten 
in den vornehmen Eltern den Nachklang der ĂŒberschwenglichen 
Vorstellung, die das Kind anfangs von seinen Eltern hatte. 
Die Moseslegende zeigt uns nun tatsÀchlich die Eltern des 
Helden aller ĂŒberragenden Attribute entkleidet: es sind ein- 
fache Leute, die dem Kinde zÀrtlich zugetan sind und an eine 
SchÀdigung desselben gar nicht denken. Das Durchschlagen 
der zÀrtlichen Regungen gegen das Kind ist aber hier, wie 
ĂŒberall (vgl. Akki, den GĂ€rtner bei Gilgamos, den Fuhrmann 
bei Karna, den Fischer bei Perseus ete.), fĂŒr die leibliche 
Elternschaft beweisend !). Damit steht auch die in dieser Mythen- 
form vorwiegende freundliche Verwendung des Aussetzungs- 
motivs in Zusammenhang: Das Kind wird in einem Körbehen 
dem Wasser ĂŒbergeben; aber nicht in der Absicht, es zu ver- 
derben (wie etwa die feindselige Aussetzung des Ödipus und 
vieler anderen Helden), sondern in der Absicht, es zu retten (vgl. 
auch Abrahams Jugendeeschichte, S. 15). Ebenso ist, was fĂŒr 
den erhöhten Vater eine unheilverkĂŒndende Warnung war, fĂŒr 
den niederen Vater eine verheißungsvolle VerkĂŒndigung (vgl. 
in der Geburtsgeschichte Jesu das Orakel an Herodes und den 
Traum Josefs), die ganz den Hoffnungen entspricht, welche 
sich die meisten Eltern von dem zukĂŒnftigen Lebenslauf 
ihres SprĂ¶ĂŸlings machen. 

1) Man vgl, hiezu das berĂŒhmte Salomonische Urteil (I. Könige 3, 


16 bis 28), das ĂŒbrigens mit seinem Hauptmotiv vom vertauschten 
Kinde enge zum Familienroman gehört (siehe auch 5. 158). 


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1?S URSPRÜNGLICHE FORM DES MYTHUS VON MOSES GEBURT. 


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Halten wir" aber vom Standpunkte der ursprĂŒnglichen 
Romantendenz daran fest, das Bitiah, die Tochter des Pharao, 
das Kind aus dem Wasser gezogen, das heißt geboren habe, 
so ergibt sich das uns bereits bekannte Schema (Großvater- 
typus) vom König, dessen Tochter einen Sohn gebÀren soll, 
der aber, durch die unheilvolle Auslegung eines Traumes ge- 
warnt, sein zukĂŒnftiges Enkelkind zu töten beschließt. Die 
Magd seiner Tochter (die in der biblischen ErzÀhlung das 
KĂ€stehen auf Geheiß der Prinzessin aus dem Wasser zieht) 
wĂŒrde vom König beauftraet, das neugeborene Kind in einem 
KĂ€stchen im Wasser des Nilflusses auszusetzen, damit es um- 
komme (hier erschiene natĂŒrlich auch das Aussetzungsmotiv, 
vom Standpunkte der vornehmen Eltern, in seiner ursprĂŒng- 
lich verderblichen Bedeutung). Das KĂ€stehen mit dem Kinde 
| wird dann von den niederen Leuten gefunden und die arme 
Frau zieht das Kind (als Amme) auf, das erwachsen von der 
| 
| 





Prinzessin als Sohn anerkannt wird (ganz wie im Schema die 

Phantasie mit der Anerkennung durch die vornehmen Eltern 

schließt). LĂ€ge uns die Mosessage in dieser ursprĂŒnglichen, von 

uns aus dem vorhandenen Material rekonstruierten Form vor'), 

| so ergÀbe sich etwa als Resultat unseres Deutungsverfahrens 

| — was der tatsĂ€chlich ĂŒberlieferte Mythus aussagt: daß nĂ€mlich 

| seine leibliche Mutter keine Prinzessin, sondern das als Amme 

| eingefĂŒhrte arme Weib gewesen sei und deren Mann sein 

Vater. Diese Deutung aber brinet uns der rĂŒckverwandelte 

Mythus als Überlieferung entgesen und der Umstand, daß die 

| progrediente Verwandlung, die wir hier annĂ€hernd durchfĂŒhrten, 

uns den wohlbekannten Mythentypus liefert, ist eine unerwartete 
BestÀtigung unserer Deutung. 

!) Vgl. E. Meyer (Ber. d. kgl. preuß. Akad. d. Wiss, XXXI, 1905, 


5. 640): Die Mosessage und die Leviten: „Auch Mose wird oewiß ursprĂŒnglich 
der Sohn der Tochter des Tyrannen (jetzt ist sie seine Ziehmutter} und 


vermutlich göttlichen Ursprungs gewesen sein. Der Befehl, ihm das Leben | 
zu nehmen, ist im Alten Testament zur Ausmalung der Not der Israeliten 
verwendet und auf alle Knaben ĂŒbertragen. Die Königstochter, die ihn 


rettet und als ihr Kind aufzieht, ĂŒbernimmt zugleich die Rolle der rettenden | 
Gottheit, die sonst von ihr geschieden ist. Auch der Tod des Tyrannen 
kann nicht gefehlt haben; hier ist er auf seinen Nachfolger ĂŒbertragen, der 
in den Wellen des Schilfmeeres zugrunde geht.” 











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PARALLELEN ZUR SCHEINAUSSETZUNG. 129 


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WĂ€hrend also derart die Mosesgeschichte den Familien- 
roman auf die nĂŒchterne Wirklichkeit zu reduzieren scheint, wird 
sie in einem anderen Punkte so recht phantastisch, ja direkt 
vorbildlich fĂŒr ein ausgesprochen mĂ€rchenhaftes Motiv: nĂ€mlich 
die Rettung des Helden, auf deren ursprĂŒngliche Bedeutung 
und weitere Ausgestaltung im Nachstehenden wenigstens kur- 
sorisch hingewiesen sei. 


Die Mosessage, die auch sonst vielfach vom Schema abweicht, 
ist die einzige von allen ĂŒberlieferten mythischen ErzĂ€hlungen, in 
der die Aussetzung nur zum Schein erfolgt, indem des Helden 
Schwester vom Ufer aus zusieht, was mit dem Kind geschieht 
(eigentlich darĂŒber wacht) und dann auch seine leibliche Mutter als 
Amme herbeiholt. Ganz analoge Überlieferungen finden sich (nach 
Frazer, Old Test. III, 168) bei einigen afrikanischen StÀmmen, wo 
das Kind sofort nach der Geburt von der Mutter außerhalb des 
Dorfes in eine gebĂŒschumwachsene Stelle gebracht wird. Ein altes 
Weib, mit dem man sich vorher verstÀndigt hat, nimmt es auf und 
bringt es zunÀchst zu sich nach Hause, von wo es dann der Vater 
wieder abholt, indem er der Frau eine Ziege (bei anderen StÀmmen 
auch Geld) dafĂŒr gibt. Das alte Weib wird von dem Kind spĂ€ter 
Mutter genanut und gilt als .eine Art Patin (godmother). Ist das 
Kind ein Knabe, so wird er Owiti genannt, ist es ein MĂ€dchen, so 
heißt sie Awiti, was soviel bedeutet wie ein Kind, das weggelegt 
wurde. Diese Zeremonie, die veranstaltet wird, wenn frĂŒhere Ge- 
schwister des Neugeborenen in zartem Alter gestorben sind, soll 
den bösen DĂ€monen vortĂ€uschen, daß die von ihnen scheinbar mit 
Vorliebe heimgesuchte Familie kein neues Kind bekommen habe, 
sondern die alte Frau. Deutlich kommt der DĂ€monenschutz zum 
Ausdruck in dem entsprechenden Brauch der Dyaks auf Borneo, der 
ganz an die Mosesgeschichte erinnert: Sie setzen das neugeborene 
Kind in ein kleines Boot und lassen es stromabwÀrts treiben, wÀhrend 
sie, am Ufer stehend, alle bösen Geister anrufen, das Kind mit sich 
zu nehmen, damit den Eltern der grĂ¶ĂŸere Schmerz erspart bleibe, 
es spÀter zu verlieren. Wird das Kind, nachdem es eine Strecke 
weit flußabwĂ€rts getrieben wurde, unversehrt aufgefunden, so nehmen 
es die Eltern nach Hause, befriedigt, daß es uun unangefochten 

Rank, Der Mythus von der Geburt des Helden, ?. Aufl, 9 


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130 DER TODESWUNSCH GEGEN DAS NEUGEBORENE. 


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heranwachsen werde (l. ec. p. 173). In Central UCelebes wird eine 
ganze Aussetzungskomödie inszeniert (l. c. p. 175). — Greradezu 
grotesk mutet aber diese Rettung des Kindes vor den TodesdÀmonen 
an, wenn 8!o in Form einer direkten Darbietung an diese bösen 
Geister erfolgt, wie z. B. bei den Nandi in Ostafrika, wo das Neu- 
geborene, dessen Geschwister klein gestorben waren, fĂŒr ein paar 
Minuten auf eine HyĂ€nenfĂ€hrte relegt wird, in der Hoffnung, daß 
die Raubtiere mit dem TodesdÀmon um die Beute streiten werden 
und so das Leben des Kindes verschont wĂŒrde. Bleibt das Kind 
am Leben, so heißt es „HyĂ€ne”, womit zugleich erreicht werden 
soll, daß die DĂ€monen das Neugeborene fĂŒr ein junges Raubtier 
halten und es in Frieden lassen, (Totemistischer Nachklang im Schutz 
durch das Totemtier „HyĂ€ne”.) 

Hier wird deutlich, daß die Schutzzeremonien im tiefsten 
Grunde doch die in den mythischen ErzĂ€hlungen erwĂŒnschte Besei- 
tigung des Kindes anstreben und dies nur — gleichwie die Ă€hnlich 
sentimental abgeschwĂ€chten MĂ€rchen — in der Form ĂŒbermĂ€ĂŸiger 
Angst und Besorgnis um das Leben des Kindes darstellen!). Diese 
ĂŒbertriebene Angst ist aber nichts anderes als der verdrĂ€ngte (Todes-) 
Wunsch, wie die Psychoanalyse lehrt, die auch die DĂ€monen nicht 
als letzte Tatsachen anerkennen kann, wieFrazer, der nur eine ethnolo- 
gische ErklÀrung der BrÀuche gibt, sondern als Projektionen dieser 
verdrĂ€ngten WĂŒnsche nach außen. 

Daß der Todeswunsch gegen das neugeborene Kind — wenn 
es ein Knabe ist ausschließlich vom Vater ausgehend — tatsĂ€chlich 
in der Brust des Primitivren — und nicht nur des Primitiven — 
vorhanden ist, zeigt die von zahlreichen Völkern in verschiedenen 
Teilen der Welt geĂŒbte Sitte, ihre erstgeborenen Kinder tatsĂ€chlich 
zu töten (Frazer, The Folk-lore in the Old Testament I, 562f. — 
Ihe Dying God, 3.°% p. 166 squ.). Der Grund liegt meist in der 
aberglĂ€ubischen Furcht, daß die Geburt des ersten Sohnes das 
Leben des Vaters bedrohe und dieser Aberglaube grĂŒndet sich auf 
den Glauben an die Wiedergeburt der Seele, der am reinsten bei 


I) Das hat seine BegrĂŒndung möglicherweise darin, daß der Brauch 
mit dem Setzen der Tat ein abschwÀchendes Gegengewicht in ihrer Moti- 
vierung braucht, wÀhrend der Mythus nur von der Tat als etwas Ver- 
gangenem, Urzeitlichem erzĂ€hlt, sie aber dafĂŒr offen motivieren kann, 














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DIE OPFERUNG DER ERSTGEBURT. 131 


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den Hindus ausgeprÀgt ist, aber auch bei den Wilden fast regel- 
mĂ€ĂŸig vorkommt. So glauben die Hindus, daß ein Mensch in seinem 
Sohne wiedergeboren werde und darum bedroht die Geburt des 
Sohnes das Leben des Vaters so unmittelbar, daß man begreift, 
wieso in den Mythen regelmĂ€ĂŸig der Vater durch ein Orakel (oder 
Traum) gewarnt wird, er werde durch seinen Sohn den Tod finden, 
Dem sucht er zuvorzukommen, indem er das Kind sofort tötet, 
Namentlich bei Söhnen von HĂ€uptlingen und Königen — wie ja im 
Mythus regelmĂ€ĂŸig — trifft dies immer zu. Die Aussetzung er- 
scheint schon als Milderung dieser Maßregel, da sie ja immerhin 
noch die Möglichkeit einer Rettung bietet und den direkten Kindes- 
mord vermeidet; denn praktisch betrachtet wÀre sie ja ohne 
schĂŒtzendes KĂ€stchen noch wirksamer. Die Schein-Aussetzung ist 
jedoch nur als VerdrÀngungs- und Reaktionserscheinung dagegen 


aufzufassen. Die Sitte der Opferung der Erstgeburt hat bekanntlich 


(siehe auch Frazer, I, c. I, 562£.) bei den verschiedensten Völkern, 
besonders aber bei den Semiten bestanden (Erstlingsopfer) und 
spielt in der Mosessage eine bemerkenswerte Rolle, indem nicht 
nur Moses sellıst als Opfer einer allgemeinen Verfolgung ausgesetzt 
wird, sondern auch selbst die Ägypter dann mit der Plage des Erst- 
geburtsterbens straft. 

FĂŒr den ursprĂŒnglich verderblichen Sinn der Aussetzung spricht 
auch der Umstand, daß zur TĂ€uschung der DĂ€monen von den Primi- 
tiven hĂ€ufig der Brauch geĂŒbt wird, den bereits erfolgten Tod 
des (angeblich bedrohten) Kindes vorzuspiegeln. So wird in Sibirien 
(Frazer, 1. c. III, 177) ein Abbild des Kindes (eine Art Puppe) 
durch feierliche Bestattung den DĂ€monen ĂŒberlassen, wĂ€hrend das 
Kind selbst verborgen wird. Das gleiche Motiv der TĂ€uschung be- 
wahrt in den Mythen den jungen Helden vor dem Sterben, indem 
er von hilfsbereiten Pflegeeltern gerettet und an seiner Stelle ein 
anderes (meist totgeborenes) Kind feierlich als der dahingeschiedene 
Herrschersproß bestattet wird (Cyrus)!), 

An Stelle der (wirklichen oder vorgeblichen) Bestattung des 
Kindes treten allmÀhlich mildere körperliche Verletzungen als an- 


1) Bei den Baganda erwĂŒrgt die Hebamme den erstgeborenen Königs- 
sohn und sagt, es sei ein totes Kind geboren worden. — Vgl. dazu das ĂŒber 
die Nachgeburt Gesagte (S. 105 ff.). 

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132 MILDERUNGEN DER AUSSETZUNG: 


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gebliche Schutzmittel' gegen die DĂ€monen, die uns jedoch noch deutlich 
die SchÀdigungsabsicht verraten. Die Art dieser BeschÀdigungen 
macht es auf Grund unseres psychoanalytischen Wissens wahrschein- 
lich, daß sie der auch in der Urgeschichte an Stelle der Tötung 
der Söhne gesetzten Milderung, der Kastration, entsprechen. Es sind 
dies Abschneiden eines Fingergliedes, eines OhrlÀppchens etc. Ins- 
besondere das Durchbohren des Ohres ist ein so weitverbreiteter 
und typischer Brauch bei Kindern, deren Àltere Geschwister ver- 
storben sind, daß Frazer ihm ein großes Kapitel (IIT) in seinem 
angefĂŒhrten Werk gewidmet hat. Diese Sitte, daß der Vater dem 
Kinde vor der Aussetzung die Ohren durchbohrt, findet eine auf- 
fallende Parallele in der griechischen ÖdipusĂŒberlieferung, nach 
der dem ausgesetzten KnĂ€blein die FĂŒĂŸe durchbohrt wurden, woher 
sich auch sein Name erklĂ€ren soll. Noch auffallender wird die Über- 
einstimmung in der Sitte der Annamiten, bei denen das Neuge- 
borene dem Schmied des Dorfes verkauft wird, der einen kleinen 
Eisenring macht und ihn dem Kind an den Fuß legt, indem er 
ihn noch mit einer kleinen Eisenkette befestigt!). 

In Europa wurde vielfach der Brauch der (Schein-) Aussetzung 
Erstgeborener mit ihrer Adoption durch Fremde verknĂŒpft, wie in 
Mazedonien, Bulgarien, Rußland, Schottland und Albanien, wo das 
Kind auf einem Kreuzweg ausgesetzt wird und vom Erstbesten, der 
es findet, den Namen erhÀlt (1. c. III, 250 ff.). Bei manchen. Primi- 
tiven wird die Adoption durch Veranstaltung einer Wiedergeburt 
vollzogen (l. c. II, 27 bis 37). 

Eine noch stĂ€rkere, bewußte Ablehnung der feindseligen Im- 
pulse gegen das Neugeborene Ă€ußert sich bei den Primitiven in den 
BrÀuchen, die auf jede, auch die Scheinaussetzung, des Kindes ver- 
zichten, und es — ganz im Sinne des neurotischen Familienromans — 
nur bei Pflegeeltern aufwachsen lassen; so auf den ostindischen 
Inseln, wo die Kinder, deren Àltere Geschwister gestorben sind, zu 
Verwandten oder Freunden in Pflege gegeben werden und spÀter 
(mit fĂŒnf Jahren) erst ins Elternhaus kommen (l. ec. II, 174). 

Auch in der abgeschwÀchten Form findet sich der Familien- 


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i) Auch Halskettchen und sonstige Amulette dienen dann in den 
mittelalterlicehen Legenden zur Erkennung des Findlings (und VerhĂŒtung 
des Inzests). 














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VERSTÜMMELUNG, ADOPTION, SOZIALE ERNIEDRIGUNG., 183 








roman in den BrĂ€uchen gewisser Primitiven, daß das Kind, wie bei 
den meisten indischen StÀmmen (besonders in Bombay), einem Weib 
aus einer niederen Kaste zum Schein um einen geringen Preis 
verkauft und dann um einen weit höheren Geldbetrag von ihr 
wieder zurĂŒckgekauft wird. In den mittleren und niederen Kasten 
bekommen die Kinder sogar den Namen der Kaste des Weibes, dem 
sie zum Schein verkauft wurden (manchmal genĂŒgt eine solche Namen- 
gebung allein, ohne den fiktiven Kauf). (Frazer, 1. c. 179fÂŁ) In 
diesen BrÀuchen erscheint die soziale Seite des Familienromans be- 
sonders betont (Kastenwesen), obwohl sie natĂŒrlich auch sonst 
nirgends fehlt. 


An der Mosessage und ihren ethnographischen wie folk- 
loristischen Parallelen wird vom Standpunkt unserer Auffassung 
besonders deutlich, wie irrefĂŒhrend und oberflĂ€chlich die bloß 
Ă€ußerliche Parallelisierung auf Grund des gemeinsamen Aus- 
setzunesmotivs ist. Denn unsere Untersuchung zeigt gerade, wie 
wenig es auf das — ĂŒbrigens ganz verschiedenartige — Aus- 
setzungsmotiv ankommt, wie viel dagegen seine besondere 
Verwendung in einem bestimmten Zusammenhange sowie in 
gewisser Tendenz bedeutet. Ebenso ersahen wir die Unmög- 


lichkeit, die BrĂ€uche — selbst ganz primitiver Völker — zur 
ErklĂ€rung mythischer Motive heranzuziehen, da sie — wie 
diese selbst — bereits hochkomplizierte seelische VorgĂ€nge 


voraussetzen, die selbst erst der psychologischen Deutung be- 
dĂŒrfen, um verstĂ€ndlich zu sein. 


Die der Mosessage scheinbar anhaltende Verallgemeine- 
rungstendenz!) setzt uns in den Stand, von ihr aus eine 





ı) WĂ€hrend Hugo Greßmann (Mose u. s. Zeit. Göttingen 1918, S. 3) 
meint, daß die Aussetzungssage in unlösbarem Widerspruch zu den ĂŒbrigen 
Sagen des Auszugs stehe und darausibren jĂŒngeren Ursprung folgert, macht 
Ed. Meyor (Die Israeliten, 9. 48), der diese WidersprĂŒche aufgedeckt hat, 
es wahrscheinlich, daß das, was ursprĂŒnglich von dem Mosesknaben erzĂ€hlt 
wurde, spĂ€ter auf alle Kinder und dann sogar auf das ganze Volk ĂŒber- 
tragen wurde, um dadurch zugleich eine Motivierung fĂŒr den Auszug aus 
Ägypten zu geben. 

Die das Aussetzungsmotiv mit der Flutsage verbindende Durch- 
schreitung des Roten Meeres ist ebenso wie die ExoduserzÀhlung, eine 








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134 DAS RETTUNGSNOTIV 


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andere hochbedeutsame Mythengruppe psychologisch zu ver- 
stehen. 

Das in der Mosessage zum Rettungsmotiv umgebogene 
Aussetzungsmotiv erscheint in großartiger, makrokosmischer 
Ausgestaltung im biblischen Sintflutbericht, hinter dessen 
religiöser Tendenz und spÀten ethischen FÀrbung man leicht 
den umgearbeiteten und verallgemeinerten Geburtsmythus er- 
kennt?). In der Sintflutsage ist die ganze Menschheit in ihrem 
besten Vertreter zum Helden geworden, der zĂŒrnende Vater 
erscheint als der himmlische, mit dem Unterschied, daß die 
Rettung des braven, gottgefÀlligen Sohnes zum Mittelpunkt 
der ganzen ErzÀhlung gemacht ist. 

In Angleichung an die Aussetzungssage lĂ€ĂŸt sich das 
Schema der Flutsage, wie sie sich namentlich in babylonischer 
und biblischer Überlieferung findet, mit Frazer (l. «. I, p. 140) 
folgendermaßen formulieren: Gott beschließt, das Menschen- 
geschlecht durch eine große Flut zu vernichten. Das Geheimnis 
wird vorher einem Manne (im Traum) durch einen Gott ver- 
raten (Orakel), der ihn anweist, ein großes Schiff zu bauen und 


großartige Projektion vom einzelnen Helden auf das ganze Volk, wobei der 
Mythus offenbar den Spuren eines realen Ereignisses, eines großen Völker- 
schubes folgte, 

') Zum Motiv der großen Flut siehe Jeremias a. a. O., S. 226 u. ff. 
sowie Leßmann am Schlusse seiner Abhandlung ĂŒber die Kyrossage in 
Europa, der die SĂŒndflut als eine mögliche Seitenentwicklung der Aus- 
setzung im Wasser hinstellt — Als charakteristische Übergangsbeispiele seien 
hier genannt, die Flutsage, die Bader in seinen badischen Volkssagen er- 
zĂ€hlt: Als einst das Sunkental durch einen Wolkenbruch ĂŒberschwemmt 
wurde, schwamm auf der Flut in einer Wiege ein KnÀblein, das auf wunder- 
bare Weise durch eine Katze gerettet wurde; Àhnlich bei Grimm (Myth. II, 
821) die Flutsage, nach der ein Kind im Wipfel eines Baumes, in seiner 
Wiege liegend, hÀngen bleibt. 

Es ist in diesem Zusammenhange bemerkenswert, daß der verpichte 
Kasten, in dem Noah auf dem Wasser schwimmt, im Alten Testament mit 
demselben Worte (tebah) bezeichnet ist wie das GefĂ€ĂŸ, in dem der kleine 
Moses ausgesetzt wird (Jeremias, A. T. L. A. O.?, 1906, 8. 250). — Inter- 
essanterweise wird in einer Überlieferung der mexikanischen Indianer (der 
Huichol) ein Mann von den Göttern gewarnt, ein KĂ€stchen so groß wie 
seinen Körper zu machen, es wasserdicht zu verschließen und sich darin 
mit einer Ziege zu retten (Frazer, L'e.}; 











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UND DIE N 155 


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sich darin zu retten. Er befolgt die Weisung, besteigt beim 
Beginn der Flut das Schiff, verpicht es wasserdicht und rettet 
sich so vor dem allgemeinen Untergang. Zur Feststellung des 
Endes der Flut werden Vögel ausgesandt (die hilfreichen, 
rettenden Tiere, die sich ĂŒbrigens im biblischen Bericht schon 
als ReisegefĂ€hrten in der Arche befinden). Schließlich landet 
das Schiff auf einem Berg und der gerettete' Heros bringt an 
Land dem Gott ein Opfer. Wie im Heldenmythus der Vater, 
so setzt in der Flutsage der Gott (der erhöhte Vater) den 
Heros auf dem Wasser aus, aber um ihn zu erretten und 


‘die ĂŒbrige Menschheit zu verderben. Außerdem ist der Held 


hier bereits erwachsen!) und anstatt seiner Geburt wird die 
Geburt (eigentlich Wiedergeburt) des ganzen Menschenge- 
chlechtes durch ihn selbst berichtet; in der Regel erfolgt 
dies durch eine inzestuöse Verbindung, deren enge Zugehörig- 
keit durch eine Reihe von Flutsagen der Naturvölker, die 
Frazer?) zusammengestellt hat, bekrÀftigt wird. 

Im Zusammenhang unserer Deutung — und nur soweit 
sei das Flutmotiv hier betrachtet?) — wird ohne weiteres klar, 
daß wir es mit einem Wunschgebilde des Sohnes zu tun haben, 
sozusagen mit einer versöhnenden Darstellung des Helden- 





1) SpĂ€tjĂŒdische AusschmĂŒckungen verringern auch diesen Unterschied, 
indem sie erzĂ€hlen, die Menschen hĂ€tten vor der Flut magische KĂŒnste ge- 
trieben, so daß die Kinder statt neun Monate nur wenige Tage im Muiter- 
leib waren (Aussetzung) und sogleich nach der Geburt gehen und sprechen 
konnten (wie Erwachsene). (Ginzberg, JĂŒd. Legenden.) (Auch Deukalion 
schwimmt neun Tage und NÀchte im Kasten auf dem Wasser.) Ganz Àhn- 
lich erzĂ€hlen die Pima (Frazer, 1. c. 284 f.), daß der „Ältere Bruder”, der 
sich im „schwarzen Haus” gerettet hat, dann einen wunderbaren JĂŒngling 
erschafft, der mit dem ersten Weib nach vier Monaten, mit dem zweiten 
nach drei Monaten ein Kind hat usw., bis er endlich von der letzten Frau 
am Hochzeitstage ein Kind bekommt: dieses verursacht (ganz wie in der 
jĂŒdischen Legende) die Flut (nach dem Willen des „Älteren Bruders”). 

2) 1. c. I, bes. p. 195 ff. 

3) Die psychologischen Beziehungen zwischen dem Aussetzungsmythus, 
der Sintflutsage und dem Verschlingungsmythus versuchte ich in meiner 
Arbeit ĂŒber „Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im 
amythischen Denken” (Jahrb. f. Isa. IV, 1912) darzulegen (s. auch Psycho- 
analytische BeitrÀge zur Mythenforschung. 1919. Kap. vn. 


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136 DER VERSCHLINGUNGSMYTHUS 


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mythus, worauf im biblischen Bericht auch der Bund Noahs 
mit Gottvater (Regenbogenmotiv) hinzuweisen scheint. WĂ€hrend 
im Heldenmythus der Vater durch einen Traum vor dem ge- 
fĂ€hrlichen Sohn gewarnt wird, lĂ€ĂŸt sich hier der brave Sohn 
vom Vater — vor dessen eigenem Vernichtungsplane — warnen, 
auf Grund eines Paktes (Tieropfer nach erfolgter Rettung), in 
dem wir ein Spiegelbild der totemistischen Grundsituation er- 
blicken (Schonung der Tierpaare, der totemistischen Eltern, 
gegen Schonung des Sohnes). Auf diese Weise gelingt es dem 
schlauen Sohn, die lĂ€stige Konkurrentschaft der BrĂŒder los zu 
werden, die in der Flut umkommen, gleichzeitig aber sich selbst 
die verbotene Inzestverbindung zu ermöglichen, derentwegen 
sonst die Aussetzung erfolgt und sich durch Zeugung der 
neuen Generation an die Stelle des Urvaters zu setzen. Diese 
unblutige Revolution wird erreicht durch eine verallgemeinernde 
Umarbeitung der ursprĂŒnglichen Geburtssage zu einem Wieder- 
geburtsmythus, welchem die gleiche Symbolik von KĂ€stchen 
und Wasser zugrunde liegt. 


Einen indirekten Beweis fĂŒr diesen tiefreichenden psycholo- 
gischen Zusammenhang bietet uns eine verwandte Mythengruppe, die 
schon aus rein Ă€ußerlichen GrĂŒnden von den Mythologen zur Flut- 
sage gestellt wird, nÀmlich die Verschlingungsm ythen, die sich 
jedem unvoreingenommenen Betrachter als Geburtsdarstellungen auf- 
drĂ€ngen mĂŒssen, Dieser Nachweis wĂ€re an Hand des reichhaltigen, 
von Frobenius l. c. gesammelten Materials leicht im Detail zu 
erbringen. Doch mag hier eine schematische Inhaltsangabe und Deu- 
tung dieser meist als Walfischsagen eingekleideten Überlieferungen 
hinreichen, als deren typischer ReprÀsentant die Jona-Sage allgemein 
bekannt ist!) Der Held wird entweder als Knabe oder Erwachsener 
(manchmal auch mit seiner Mutter, seinen BrĂŒdern usw.) von einem 
ungeheuren Fisch verschlungen, ganz wie in der biblischen Jona- 
sage, und schwimmt eine Zeitlang im Fischbauch auf dem Meere. 
Zur Stillung des Hungers beginnt er hÀufig das Herz des Fisches 
abzuschneiden, entzĂŒndet ein Feuer in dessen Innern und wird endlich 


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!) FĂŒr die mythologischen ZusammenhĂ€nge vgl. Hans Sehmidt: 
Jona. Eine Unters. z, vgl. Rel. Gesch. 1907. 





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UND DIE GEBURTSSYMBOLIK. 157 


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von dem UngetĂŒm ans Land gespien oder gelangt durch Aufschlitzen 
des Bauches ins Freie. Frobenius hat diese zahlreichen und mannig- 
fach variierten Überlieferungen, besonders mit RĂŒcksicht darauf, daß 
dem Helden meist infolge der großen Hitze im Innern des Tieres 
das Haar (Strahlen) ausfÀllt, als Sonnenuntergangs-, respektive Auf- 
gangssymbole betrachtet, Diesen himmlischen Ursprung des Mythos 
hat jedoch bereits Wundt (l. c. 244) abgewiesen, indem er den 
menschlichen Inhalt der Vorstellungen betonte (S. 262) und ihre 
Beziehungen zum TruhenmÀrchen und zur Flutsage hervorhob, Auf 
Grund unserer Kenntnis der Traumsymbolik und der infantilen 
Sexualtheorien!) kann uns die Bedeutung des Verschlingungsmythos 
als infantile Auffassung der Schwangerschaft (Aufenthalt im Mutter- 
leib) und des Geburtsvorganges kaum zweifelhaft sein; manclıe der 
Überlieferungen symbolisieren den Geburtsvorgang mit aller detaillierten 
Deutlichkeit (vgl. die S. 19 mitgeteilte Mythe) und meist spielt in 
der Geschichte ĂŒberdies auch eine Schwangere eine Rolle. Der Auf- 
enthalt im „Bauch” und die ErnĂ€hrung im Mutterleib kann wohl 
nicht deutlicher geschildert werden und nur die Verblendung allem 
gegenĂŒber, was mit der SexualitĂ€t in Verbindung steht, konnte diese 
Bedeutung des Mythus verkennen. Der scheinbar feindliche aber 
zum „Retter” gewordene Fisch ist in der Flutsage zum bergenden 
Schiff (das lautlich merkwĂŒrdigerweise der Umkehrung von Fisch 
entspricht)?) und im Aussetzungsmythus zum schĂŒtzenden Kasten oder 
Körbehen geworden, symbolisiert aber ĂŒberall in gleicher Weise den 
bergenden Mutterschoß?). 

1) Dazu gehören: Die Befruchtung durch Verschlucken, das GebÀren 
dureh Aufschneiden des Bauches (RotkÀppchen), durch Ausspeien (Kronos) 
und auf dem Wege eines Exkrementes (vgl. Frobenius, S. 9%, 92, 125). 
Siehe in des Verf. „Psychoanalytische BeitrĂ€ge zur Mythenforschung” (Internat, 
Psa. Bibl. Band IV, 1919). Kap. VI „Völkerpsychologische Parallelen zu den 
infantilen Sexualtheorien”, 

2) In der indischen Flutsage ist es sonderbarerweise ein Wunderfisch, 
der die Arche Manus dem rettenden Berge zufĂŒhrt. 

3) Ein vierjÀhriges, mit dem Geburtsproblem beschÀftigte MÀdchen 
erzĂ€hlte Jung nachstehenden Traum: „Ich habe heute Nacht die Arche Noah 
getrÀumt und da waren viele Tierchen darin und da war unten ein Deckel 
daran, der ging auf und die Tierchen fielen alle heraus”, (Jahrb, f. Psycho- 
analyse, II, 1910, S. 46.) 

Vgl. dazu auch die interessanten Geburtsphantasien einer Dementia- 








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133 MÄRCHENHAFTE FORMEN DES RETTUNGSMOTINVS. 





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Es ist klar, daß auch der Verschlingungsmythus nicht ein- 
fach den Geburtsvorgang symbolisiert, sondern in der Rettung 
im Bauch des Tieres die gleiche Tendenz des mĂŒtterlichen 
Schutzes (vor dem Vater) zum Ausdruck bringt wie der Helden- 
mythus und insofern das ergĂ€nzende GegenstĂŒck zur SĂ€ugung 
durch das Tier darstellt (ErnÀhrung im Mutterleib)'). Die ver- 
schiedenen mythischen Formen erklĂ€ren sich daraus, daß bald 
das Motiv der Wassergefahr betont wird (Flutmotiv), bald das 
rettende (schĂŒtzende) Tier (Verschlingungssage), bald wieder 
das GefĂ€ĂŸ („TruhenmĂ€rchen”: nach Wundt). Allen diesen Ab- 
wandlungen liert jedoch, im vollen Gegensatz zum manifesten 
Inhalt des Heldenmythus, die Rettung des Helden als treibende 
Tendenz zugrunde, die — an und fĂŒr sich ein mĂ€rchenhaftes 
Motiv — auch im MĂ€rchen erst zu eigentlich voller Entfaltung 
gelangt ist?). 


Als besonders charakteristisch fĂŒr diese Entwicklung aus dem 
Heldenmythus seien nachstehende MĂ€rchen kurz genannt: Das neu- 
griechische vom schönen Jusif (Prym und Socin, Syrische Sagen 
und MÀrchen, Göttingen 1887, S. 80 ff), der als Findelkind seinen 
Pflegevater und dessen Solın erschlÀgt, weil sie ihn wegen seiner 


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praecox-Kranken, die S. Spielrein im Jahrbuch f. Psychoanalyse, III, 
S. 367 fg. analysiert hat; z. B. „Schiffszefahr” = Abortus usw. 

1) Der Mutterleib als Tier ist nach Hommel (OLZ. 1919, Nr. 3/4, 
Sp. 67/68) eine weitverbreitete Idee. So vergleicht beispielsweise Anaximander 
nach einer alten mikrokosmischen Symbolik den Mutterleib mit dem Haifisch. 
Auch an die Kröte als Symbol der GebÀrmutter, wie sie noch heutigentags 
in Bayern in Form von Votivgaben (Fruchtbarkeit) erscheint, ist hier zu 
erinnern. 

?) Das Rettungsmotiv wird dann eines der beliebtesten Requisite des 
GlĂŒcksmĂ€rchens (Wundt) wie im „Teufel mit den drei goldenen 
Haaren”. (Grimm Nr. 29) (und der ganz Ă€hnlichen „Sage von Kaiser 
Heinrich IIL”, bei Grimm, Deutsch. Sag. II, 177), Wasserpeter mit seinen 
zahlreichen Varianten (Grimm IIIÂź, p. 103 uff), Fundevogel (Nr. 51), 
De drei VĂŒgelkens (Nr. 96), Der König vom goldenen Berg (Nr. 9?) 
mit seinen Parallelen, sowie einige auslÀndische MÀrchen, die Bauer am 
Schlusse seiner Arbeit anfĂŒhrt. Vgl. auch bei Hahn: Griech. u. alban, MĂ€rchen 
(Leipz. 1864) die Übersicht der Aussetzungssagen und -mĂ€rchen u. bes. Nr. 20 
u. 569, aber auch Nr. 4, 8, 27, 42. 








MÄRCHENBEISPIELE. 139 
illegitimen Herkunft verspotten, und dann im Gebirge als gefĂŒrchteter 
RĂ€uber lebt. Endlich gelingt es, ihn in den Armen eines MĂ€dchens 
zu fangen, er wird ins Meer geworfen und dort von einem Haifisch 
verschlungen, der vorher schon eine Prinzessin geschluckt hatte, mit 
der er sich verlobt. Ein Jahr leben sie im Bauch des Fisches, der 
dann krank wird und sie ans Ufer speit. Sie verschonen ihn, weil 
er sie gerettet hatte und finden dann die von einem Ungeheuer 
geraubte Mutter des Jusif, die ihn eiust im Gebirge gebar und der 
er verloren gegangen war. 

Das rumÀnische MÀrchen (Schott, Walachische M., Stuttgart 
1845, Nr. 27, 8. 265) vom Florianu, dessen schwangere Mutter von 
ihrem Vater in einem Faß ins Meer geworfen wird, „Mitten in den 
Wellen wuchs das Kind im Augenblick so gewaltig, daß er, wie er 
sich regte und sich ausstrecken wollte, das Faß auseinander drĂŒckte, 
als ob es von Papier wĂ€re.” Er setzt die Mutter auf einige Dauben 
des zerbrochenen Fasses und zieht sie, mit einer Hand rudernd, ans 
Land. — Ähnlich das deutsche MĂ€rchen: „Der Page und die Prinzessin.” 
(©. Knoop: Volkssagen, Erz. usw. aus d. östl. Hinterpommern. Posen 
1885, S. 230 fÂŁ.). Auch das tĂŒrkische MĂ€rchen (Kunos, TĂŒrk. Volks- 
mÀrchen aus Stambul, Leyden 1905, 8. 3 ff.), wo die von einem Fisch 
verschlungene Frau eines Sultans im Bauche des Fisches einem 
Knaben das Leben gibt, gehört hierher. Das Motiv der in der Kiste 
ausgessetzten Unschuldigen in der Geschichte von Ghanem und Kut 
Alkulub in 1001 Nacht. — Ähnlich in „Die Fahrten des Sajjid 
Batthal” ĂŒbers. v. H. Ethe, Leipzig 1571, II. Band, S. 159. 

Die griechische Aussetzungssage von Tennes, wie sie Pausanias 
(X, 14, 1 bis 4) erzÀhlt, enthÀlt bereits eine Reihe novellistisch zu- 
gespitzter Motive (böse Stieimutter, falsche Anklage), wie sie uns im 
Mittelalter in einer ganzen Reihe von Sagen, Lerenden und Novellen 
entgegentreten. Als Typus nennen wir die Geschichte von Crescentia 
(Hagen, (iesamtabenteuer, Bd. 1) mit ihren unzÀhligen Varianten. 

Das Verschlingungsmotiv ist uns aus dem deutschen MĂ€rchen: 
RotkÀppchen, Der Wolf und die sieben Geislein u, a. m. gelÀufig, 
die im Mythus von Kronos ihr Vorbild haben, der seine neugeborenen 
Kinder verschlingt, dem aber statt des JĂŒngsten ein Stein vorgesetzt 
wird (getÀuschtes Ungeheuer), wodurch die Mutter dieses Kind (Zeus) 
vor dem Untergang rettet und den Verderber des Vaters heranzieht. 


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140 DIE SCHÖPFER DES HELDENMYTHUS. 


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Hatten wir so das unerwartete GlĂŒck, die Richtigkeit 
unserer Deutung an dem Material selbst erweisen und 
unsere Ergebnisse mit Erfolg auf weitere mythologische 
Probleme anwenden zu können, so ist es nun an der Zeit, 
die Haltbarkeit unseres allgemeinen Standpunktes zu recht- 
fertigen, auf dem die ganze Deutung ruht. Die Resultate 
unserer ErklÀrung erweckten bis nun den Anschein, als 
ginge die ganze Mythenbildung vom Helden selbst, und zwar 
von dem jugendlichen Helden, aus; ja wir stellten uns von 
Anfang an auf diesen Standpunkt, indem wir den Helden 
der Sage mit dem Ich des Kindes analogisierten. Es erwÀchst 
uns nun die Verpflichtung, diese Ann?hmen und Ergebnisse 
mit unseren sonstigen Auffassungen von der Mythenbildung, 
denen sie direkt zu widersprechen scheinen, in Einklang zu 
bringen. 

Die Mythen werden gewiß nicht vom Helden selbst, am 
allerwenigsten vom kindlichen Helden, sondern, wie wir zu 
wissen glauben, von einem Volke von Erwachsenen gebildet. Den 
Anstoß dazu gibt allerdings das Staunen ĂŒber die Erscheinung 
des Helden, dessen außergewöhnlichen Lebensgang sich das 
Volk nur von einer so wundersamen Kindheit eingeleitet denken 
kann. Diese außergewöhnliche Kindheit des Helden aber ge- 
stalten die einzelnen Myihenschöpfer — in solche mĂŒssen wir 
wohl den unbestimmten Begriff der Volksseele auflösen — aus 
ihrem eigenen Kindheitsbewußtsein heraus. Und indem sie dem 
Helden so ihre eigene Kindergeschichte unterlegen, identifizieren 
sie sich mit ihm; sagen gleichsam: so ein Held war ich auch. So 
ist also der eigentliche Held der Romandichtung das Ich, das 
im Helden sich selbst wiederfindet, indem es sich in die Zeit 
zurĂŒckversetzt, wo es selbst ein Held war durch seine erste 
Heldentat, die Auflehnung gegen den Vater. Das eigene Helden- 
tum findet das Durchschnitts-Ich nur in der Kindheit wieder 
und darum muß es seine eigene Auflehnung dem Helden unter- 
schieben, ihm das beilegen, worin es selbst ein Held war. Es 
fĂŒhrt diese Absicht mit infantilen Motiven und Materialien aus, 
indem es auf seinen Kinderroman zurĂŒckgreift und ihn dem 
Helden unterschiebt. Der Erwachsene schafft also die Mythen 








IDENTIFIZIERUNG DES ICH MIT DEM HELDEN. 141 


mittels des ZurĂŒckphantasierens in die Kindheit'), wobei er 
seine eigene Kindergeschichte dem Helden zuschreibt. Ander- 
seits findet das bĂŒrgerliche Ich im ĂŒbermĂ€chtigen, aus der 
Menge hervorragenden Volksheros seine eigenen infantilen 
WĂŒnsche und SehnsĂŒchte realisiert. Im revolutionĂ€ren Sieg 
des Helden ĂŒber die ihm entgegenstehenden tyrannischen 
MĂ€chte ist aber nicht nur ein StĂŒck infantiler Tendenzen, 
sondern, wie wir bereits gezeigt haben, noch mehr ein StĂŒck 
vorzeitlicher Urgeschichte reprÀsentiert. WÀhrend aber im 
Heroenmythus der Held die Urtat der Beseitigung des störenden 
Tyrannen, die in der Vorgeschichte die „gemeinsame” Helden- 
tat der vereinigten BrĂŒder gewesen zu sein scheint, gleichsam 
als seine eigene Leistung usurpiert (Freuds „heroische LĂŒge”)?) 
ist es vielmehr das eihzelne bĂŒrgerliche Durchschnitts-Ich, das 
in der Identifizierung mit dem Helden seinen alten Anspruch 
an der kulturbildenden Urtat geltend macht: Der Heldenmythus 
dient also nur scheinbar der Anerkennung und Bewunderung 
des mythisch erhöhten Heros, wÀhrend sich eigentlich in ihm 
das ganze Volk der Mythenschöpfer als Helden fĂŒhlen kann 
(Nationalheros). Im Heldenmythus vermögen alle Individuen 
des Volksganzen, sozusagen jeder einzelne Sohn, die Urtut 
wieder fĂŒr sich in Anspruch zu nehmen. Aber man kann 
von diesem Gesichtspunkt aus im Heldenmythus auch einen 
ironisch-parodistischen Zug konstatieren, indem der bĂŒrger- 
liche Durchschnittsohn (Fischer, Hirt, MĂŒller) sich einen mĂ€ch- 
tigen König zum Vater phantasiert und sich gleichsam auf 


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!) Diesen aus dem VerstÀndnis der neurotischen Phantasie- und Symptom- 
bildung gewonnenen Gedanken hat zuerst Freud fĂŒr die Auffassung der 
diehterischen und mythischen PhantasietÀtigkeit fruchtbar gemacht in einem 
Vortrag; „Der Diehter und das Phantasieren” (Abdruck: 2. Folge der 
Sammlung kl. Schriften, S. 197 u. ff.). Die Anwendung dieses Gesichtspunktes 
fĂŒr das VerstĂ€ndnis der epischen Dichtungsform habe ich -— den Andeu- 
tungen Freuds folgend — in dem Aufsatz ĂŒber „die diehterische Phantasie- 
tĂ€tigkeii” versucht (Imago, V, S. 372), der als einleitender Abschnitt zu 
einer Psychologie der epischen Volksdichtung gedacht ist. 

2) S, Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse 1921, 8. 124 
bis 128. 


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142 DIE GEBURT ALS DIE URHELDENTAT. 
diese Weise einen Urvater-Popanz schaff, um ihn — in 
Identifizierung mit dem Helden — zu stĂŒrzen und sich so in 


eine Heldenrolle zu versetzen, die unter nicht heroischen Ver- 
hĂ€ltnissen lĂ€cherlich wirken mĂŒĂŸte. Besonders deutlich scheint 
dieser ironisierende Zug durch das Motiv unterstrichen, das 
eigentlich die Identifizierung des Durchschnitts-Ich mit dem 
Helden ermöglicht. Diese erfolgt auf Grund der menschlichen 
ZĂŒge, die dem Helden anhaften und auf die auch seine Be- 
wunderer bekanntlich hinzuweisen lieben. Das allermenschlichste 
aber am Helden ist und bleibt die Geburt, die der Mythus 
eben gerade deswegen gerne auf ĂŒbernatĂŒrliche Weise geschehen 
lĂ€ĂŸt!), die aber auch im Heldenmythus letzten Endes als rein 
animalisch hingestellt wird (TiersÀugung). In der Urzeit war 
allerdings schon dieses bloße Zurweltkommen eine Heldentat, 
da das junge Leben vor dem grausamen, eirensĂŒchtigen 
Urvater geschĂŒtzt werden mußte, Ă€hnlich wie es im Mutter- 
leib gegen seine Angriffe geschĂŒtzt war?). Daher erfolgt im 
Mythus der Schutz durch ein Mutterleibssymbol (KĂ€stchen, 
Körbehen, Wasser) und in diesem Sinne stellt die Aussetzung 
auch eine RĂŒckkehr in den schĂŒtzenden Mutterleib dar, 
was manche ErzĂ€hlungen direkt darin ausdrĂŒcken, daß Mutter 
und Kind zusammen ausgesetzt werden. Anderseits war die 
Aussetzung als gemilderte Form der Tötung in einer Ent- 
wicklungsphase der Menschheit sicher real und hatte die Be- 
deutung eines Schicksalsorakels: Wenn es dem Kind gelingt, 
sich trotzdem zu erhalten, dann hat es ein Recht zu leben, 
dann ist es — ein Held. Es klingt, als hĂ€tten die UrvĂ€ter es 
ihren Kindern nicht so leicht machen wollen, das Leben zu er- 
halten, wenn sie selbst als Kinder so schwer darum zu kÀmpfen 
hatten: gegen die Ungunst der Natur und die Mißgunst des 
tyrannischen Vaters. Die Überreste aus der menschlichen Ur- 
geschichte, die uns in den Mythen mit wunderbarer Frische 





!) Man braucht nur an die zahlreichen, aus dem Mutterleib geschnit- 
tenen Helden zu denken, „die kein Weib gebar” (Sigurd, Vikramaditija, 
Macduff), 

2), Man vgl. Freuds Auffassung der im Geburtsakt erlebten physio- 
logischen Angst als Vorbild aller spÀteren Angst im Leben. 








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DIE URGESCHICHTLICHE HELDENROLLE. 143 


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erhalten sind, wenn man sie nur zu entziffern versteht, machen 
es sehr wahrscheinlich, daß der Urvater auf seine mĂŒhsam er- 
kÀmpften Vorrechte auf Nahrung und Frauen nicht leicht ver- 
zichtete und daß ‘es nach einer Andeutung Freuds das Weib, 
das ihm Kinder gebar, gewesen sein dĂŒrfte, das ihn allmĂ€hlich 
an die Schonung und Anerkennung der jungen Generation 
gewöhnte. Auf diese Weise wurde das von Natur aus innige 
Band zwischen Mutter und Kind befestigt, wÀhrend die von 
Anfang an zweifelhaite Zugehörickeit des Vaters sich weiter 
lockern konnte, wie denn auch die extreme Form des Mythus 
den Vater nur als fremden Tyrannen, die Mutter dagegen als 
hilfreiches SĂ€ugetier kennt. So ist es zu verstehen, wenn wir 
einen ironischen Sinn darin zu sehen meinten, daß fĂŒr das 
Durchschnitts-Ich die VaterĂŒberwindung schon im Geboren- 
werden besteht, welches ' eigentlich die Heldentat des Durch- 
schnittsmenschen bleibt, die er gegen den Willen des Vaters 
und mit Hilfe der ihm eng verbĂŒndeten Mutter vollbringt, welche 
ja auch im Mythus als schĂŒtzendes Totemtier erscheint, wĂ€hrend 
der Vater seine vortotemistische Raubtierrolle in wenig gemil- 
derter Form weiterspielt. 

Dabei ist nun höchst bemerkenswert und wirft ein Lieht 
auf die sonderbare ZĂ€higkeit des psychischen Erlebens, daß 
der in kulturellen VerhÀltnissen geborene Sohn, der keinerlei 
Gewalttat vom Vater mehr zu fĂŒrchten hat, gleichsam mit dem 
urzeitlichen Schreck in den Gliedern jederzeit bereit ist, dem 
Vater die alte urzeitliche Anklage entgegenzuschleudern, sobald 
er Anlaß zur Unzufriedenheit mit ihm zu haben glaubt. Die 
PubertÀts-Phantasien der Neurotiker verraten der psychoana- 
lytischen Betrachtungsweise ebenso unzweideutig diese Ur- 
vaterangst wie die Heldenmythen die Urauflehnung des Sohnes 
immer noch mit der alten Vaterschuld motivieren mĂŒssen, 
einerseits um eine Rechtfertigung zu haben, anderseits um 
sich in die Heldenrolle versetzen zu können, Die Tendenz der 
Mythenbildung ist also die Rechtfertigung der Einzelindividuen 
des Volkes wegen ihrer eigenen kindlichen Auflehnung gegen 
den Vater. So enthÀlt der Mythus in der Rechtfertigung des 
Helden wegen seiner revolutionÀren Auflehnung zugleich die 





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144 DER HELDENMYTUHUS ALS INDIVIDUELLE RECHTFERTIGUNG. 


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Rechtfertigung jedes einzelnen wegen seiner Auflehnung gegen 
den Vater. Diese hatte ihn seit seiner Kindheit bedrĂŒckt, da 
er doch spÀter kein Held geworden war. Hieher vehören viel- 
leicht auch die Körperfehler mancher Helden (Zal, Ödipus, 
Hephaistos), die vermutlich gleichfalls der Rechtfertigung des 
einzelnen dienen sollen, der die VorwĂŒrfe, die er wegen etwaiger 
Fehler und MĂ€ngel vom Vater anhören mußte mit der 
entsprechenden Betonung in den Mythus aufnimmt und mit 
den SchwĂ€chen, die sein eigenes Selbstbewußtsein drĂŒcken, 
auch den Helden ausstattet. Nun kann er sich rechtfertigen, 
indem er sich darauf beruft, daß der Vater ihm Grund zur 
Feindseligkeit gegeben habe. Allerdings kommt, wie wir ge- 
sehen haben, in derselben Dichtung auch die zÀrtliche Ge- 
sinnung gegen den Vater zum Durchbruch. 

Diese Mythen sind also zwei entgegengesetzten Mo- 
tiven entsprungen, die sich beide dem Motiv der Rechtferti- 
gung des einzelnen durch den Helden unterordnen: einerseits 
dem Motiv der ZĂ€rtlichkeit und Dankbarkeit gegen die Eltern 
und anderseits dem Motiv der Auflehnung gegen den Vater. 
Es wird aber in diesen Mythen nicht klar ausgesprochen, daß 
der Konflikt mit dem Vater auf die sexuelle RivalitÀt bei der 
Mutter zurĂŒckgeht. Vielmehr erscheint die Mutter, um die der 
Kampf ursprĂŒnglich gefĂŒhrt wird, in diesem Mythenkreis be- 
reits von Anfang an als eng VerbĂŒndete des aufrĂŒhrerischen 
Sohnes, die ihn vor den Nachstellungen des Vaters rettet 
(gebiert). Im Mittelpunkt dieser Mythen steht zweifellos die 
Geburtals eines der grĂ¶ĂŸten und gefahryollsten Mysterien fĂŒr 
den primitiven Menschen — wie ĂŒbrigens noch fĂŒr unsere Kinder 
—, dessen symbolische Lösung in der uralten Storchfabel zu 
einer einseitigen ÜberschĂ€tzung der mĂŒtterlichen Rolle fĂŒhrt, 
wÀhrend die zweifelhafte Rolle des Vaters in tendenziöser 
Weise vernachlÀssigt oder gar völlig abgeleugnet wird. Die 
Kinder kommen im KĂ€stchen aus dem Wasser, wohin sie der 
Vater ausgesetzt hat, gegen seinen Willen heraus: das besagt 
der Mythus in symbolischer Einkleidung ĂŒnd will damit dem 
Vater ĂŒberhaupt das Recht absprechen, ĂŒber das Leben des 
Kindes zu verfĂŒgen, das von der Mutter kommt und von ihr n 








DOUBLETTEN IM MYTHUS. 145 


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geschĂŒtzt wird. Möglicherweise spiegelt sich in diesen Mythen 
unmittelbar eine Stufe der Sexualerkenntnis, welche die Rolle 
des Vaters noch nicht voll erfaßt hatte und in ihm nur den 
störenden Bedroher der eigenen SelbstÀndigkeit und den Kon- 
kurrenten erblickte. Wie dem auch sei, der Mythus spricht - 
jedenfalls dem Vater das Recht auf das Leben des Kindes ab, 
das von der Mutter komme, und rechtfertigt eleichzeitig die 
Auflehnung gegen ihn, als einen {fremden Menschen, dem man 
keinerlei RĂŒcksicht und Dankbarkeit schulde. So macht der 
Held sein Gewissen fĂŒr seinen Kampf gegen die AutoritĂ€t frei! 


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Es erĂŒbrigt nun noch, kurz auf einige Komplikationen 
dieses jetzt seinem latenten Inhalt nach abgegrenzten Mythus 
von der Geburt des Helden sowohl innerhalb seiner engeren 
Gestaltung als auch mit anderen Mythen oder einzelnen fremden 
Motiven hinzuweisen. 

GewisseKomplikationen innerhalb des Geburtsmythus selbst 
haben sich aus dessen paranoiden (s. S. 123) Charakter als Ab- 
spaltungen von der Person des königlichen Vaters und Verfolgers 
erklÀrt. In einzelnen Mythen, ganz besonders aber in den hieher 
gehörigen MÀrchen, die eben dieser Komplikationen wegen hier 
beiseite gelassen wurden, geht die VervielfÀltigung mythischer 
Personen und mit ihnen natĂŒrlich auch der Motive, ja ganzer 
Br“ ErzĂ€hlungen, so weit, daß mitunter die ursprĂŒnglichen ZĂŒge 
| von diesem Beiwerk ganz ĂŒberwuchert erscheinen. Die Ver- 

vielfĂ€ltigung ist so mannigfaltig und reich entwickelt, daß man 
hr mit dem Mechanismus der Auseinanderlegung nicht mehr ge- 
recht wird. Auch tragen die neuen Personen hier gleichsam nicht 
so viel SelbstÀndigkeit an sich wie die durch Abspaltung geschaf- 
fenen, sondern sie haben mehr den Charakter einer Kopie, eines 
Abklatsches, sie sind, um einen bezeichnenden mythologischen 
Terminus zu gebrauchen, Doubletten. Es sei hier nur an 
einem anscheinend sehr komplizierten Beispiel, der Herodotischen 
Version der Kyrossage, gezeigt, daß auch diese Doubletten 
Rank Der Mythus von der Geburt des Helden, ?, Auii, 10 








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146 DIE KOMPLIKATIONEN 

nicht der bloßen AusschmĂŒckung zu liebe oder zur Erreichung 
eines Anscheines historischer Treue eingefĂŒhrt sind, sondern 
daß sie unlösbar mit der Mythenbildung und ihrer Tendenz 
verknĂŒpft sind. Auch in der Kyrossage steht ja, wie in den 
anderen Mythen, dem königlichen Großvater Astyages und 
seiner Tochter samt deren Mann der Rinderhirt und sein 
Weib gegenĂŒber. Daneben aber bewegt sich eine bunte Reihe 
von Personen, die sich jedoch auf den ersten Blick zwanglos 


gruppieren: zwischen dem vornehmen Elternpaar mit seinem 


Kinde (Kyros) und dem Hirtenehepaar mit seinem Kinde steht 
der Minister Harpagos mit seiner Frau und seinem Sohn 
und der edle Artembares mit seinem ehelichen Kinde. Unser 
fĂŒr die EigentĂŒmlichkeiten der Mythenbildung bereits ge- 
schÀrfter Blick erkennt ohneweiters in den beiden Zwischen- 
elternpaaren Doubletten der eigentlichen Eltern und in allen 
Beteiligten identische Personen der Eltern und ihres Kindes, 
eine Auffassung, die der MythĂŒs selbst durch Andeutung ein- 
zelner ZĂŒge nahelegt. Harpagos bekommt das Kind vom 
König, um es auszusetzen; er handelt also ganz wie der 
königliche Vater und bleibt seiner fiktiven Vaterrolle auch 


darin treu, daß er das Kind — weil es ihm verwandt ist — 


nicht selbst töten will, sondern dem Hirten Mithradates ĂŒber- 
gibt, der so wieder mit Harpagos identifiziert wird. Aber 
auch der edle Artembares, dessen Sohn Kyros prĂŒgeln lĂ€ĂŸt, 
wird mit dem Harpagos identifiziert: so wie nÀmlich Artem- 
bares mit seinem verprĂŒgelten Sohne vor dem König steht, 
um Vergeltung zu fordern, so steht unmittelbar darauf Har- 
pagos vor den König, um sich zu verantworten, und auch er 
muß seinen Sohn vor den König bringen. Also auch Artem- 
bares spielt episodisch die Figur des Heldenvaters, was die 
ktesianische Version voll bestĂ€tigt mit dem Hinweise, daß der 
edle Mann, der den Hirtensohn Kyros an Sohnes Statt 
annahm, Artembares geheißen habe. Noch deutlicher als 
die IdentitÀt der verschiedenen VÀter ist die ihrer Kinder, 
durch die natĂŒrlich wieder die der VĂ€ter bestĂ€tigt wird. Vor 
allem sind die Kinder, und das ist doch wohl beweisend, 
alle eleichaltrig. Nieht nur der Sohn der Prinzessin und 





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IN DER KYROSSAGE. 147 


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das Kind der Hirten, die ja zu gleicher Zeit geboren werden; 
sondern Herodot hebt ausdrĂŒcklich hervor, daß Kyros das 
Königsspiel, bei dem er den Sohn des Artembares prĂŒgeln 
lĂ€ĂŸt, mit Knaben „gleichen Alters” gespielt habe. Ebenso betont 
er — fast wie absichtlich — daß auch der Sohn des Har- 
pagos, der dem vom König erkannten Kyros angeblich als 
SpielgefĂ€hrten beigegeben werden soll, „ungefĂ€hr” im Alter 
des Kyros stand. Ferner werden die Überreste dieses Knaben 
seinem Vater Harpagos in einem Korbe vorgelegt; in einem 
Korbe sollte aber auch der neuceborene Kyros ausgesetzt 
werden, wie es ja auch wirklich seinem Stellvertreter, dem 
Hirtensohn, geschieht, dessen IdentitÀt mit Kyros sich mit 
HĂ€nden greifen lĂ€ĂŸt in dem Bericht Justins (S. 34). In diesem 
Berichte wird Kyros sogÀr mit dem lebend geborenen Kinde 
der Hirten vertauscht, eine Paradoxie des elterlichen GefĂŒhls, 
die aber durch das Bewußtsein, daß sich mit dieser Vertauschung 
im Grunde eigentlich gar nichts geÀndert hat, aufgehoben wird. 
Besreiflicher erscheint es schon, wenn das Hirtenweib, wie bei 
Herodot, statt ihres totgeborenen Knaben das lebende 
Königskind aufziehen will; aber auch da ist die IdentitÀt der 
Knaben wieder deutlich, denn so wie frĂŒher der Hirtensohn an 
Kyros’ Stelle tot war, so wird zwölf Jahre spĂ€ter — der 
Sohn des Harpagos (auch im Korbe!) direkt fĂŒr Kyros — den 
Harpagos hatte am Leben gelassen — getötet!). Man bekommt 
so den Eindruck, daß alle VervielfĂ€ltungen des Kyros, nachdem 
sie zu einem gewissen Zweck ins Leben gerufen worden waren, 
nach ErfĂŒllung dieses Zweckes als störend wieder beseitigt 
werden. Dieser Zweck aber ist offenbar die Erhöhungstendenz, 
die dem Familienroman innewohnt. Denn wie der Held in den 
verschiedenen Doublierungen seiner selbst und seiner Eltern 
die soziale Rangleiter vom Hirten Mithradates ĂŒber den edlen, 
in der Gunst des Königs stehenden Artembares und den mit 





ı) Hier wĂ€re ein Anschluß an das Motiv der Zwillinge gegeben, in 
denen wir die zu gleicher Zeit geborenen Knaben wiederzuerkennen glauben, 
von denen einer um des anderen willen — sei es unmittelbar nach der 
Geburt oder erst spĂ€ter — stirbt und deren Eltern in unseren Mythen in 
zwei oder mehrere Elternpaare auseinandergelegt erscheinen. 

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148 DER HISTORISCHE KERN DES MYTHUS. 


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dem König selbst verwandten ersten Minister Harpagos bis zum 
Prinzen selbst emporsteigt, eine Karriere, die wir in der 
Ktesianischen Fassung, wo Kyros vom Hirtensohn bis zum 
Minister avanciert, bloßgelegt fanden'), so beseitigt er gleichsam 
immer die letzten Spuren seines Aufstieges, indem der niedrigere 
Kyros nach Absolvierung der verschiedenen Stadien dieser 
Laufbahn beiseite gerĂ€umt wird’). 

i) Die Jugendgeschichte Sigurds, wie sie in der Völsungasage erzÀhlt 
wird (vgl. Raßmann |], 99), hat große Ähnlichkeit mit der Ktesianischen 
kassung der Kyrossage, so daß auch von diesem Helden neben dem wunder- 
buren Lebenslauf dessen rationale Zurechtlegung ĂŒberliefert ist. NĂ€heres dar- 
ĂŒber findet man bei Bauer a.a. 0. 8.554 uf. — Die Geschichte des 
biblischen Joseph (1 Mos, 37. uff.) scheint mit der Aussetzung, dem Tier- 
orter, den TrĂ€umen, den schemenhaften BrĂŒdern und der fabelhaften 
Karriere des Helden mehr dem MÀrchentypus anzugehören; nach Wundt 
(1. ec. 417) wĂ€re sie in ihren wesentlichen ZĂŒgen einem Ă€gyptischen MĂ€rchen 
nacherzĂ€hlt. Vgl. A. Erman: Ägypten, S. 505 ff. Maspero, Contes de ’Egypte 
ancienneÂź, p. 6 f, Ähnliches auch in einer indischen ErzĂ€hlung, also walhır- 
scheinlich einer weitverbreiteten orientalischen MĂ€rchentradition ent- 
stammend. 

2?) Es erscheint hier, um MißverstĂ€ndnissen vorzubeugen, notwendig, 
auf den historischen Kern einzelner Heldenmythen hinzuweisen. Kyros stammt, 
wie die aufgefundenen Inschriften zeigen (vgl. Duncker, S. 289, Bauer, 
S. 498), aus einem alten erbgesessenen Königshause. Und so wenig der Mythus 
darauf ausgehen konnte, die Abkunft des Kyros zu erhöhen, so wenig soll 
unsere Deutung als Versuch aufgefaßt werden, dem Kyros eine niedere Ab- 
stammung nachzuweisen. Ähnlich verhĂ€lt es sich mit Bargon, dessen könig- 
licher Vater auch bekannt ist (vgl. Jeremias, S. 410 Anm.). Trotzdem meint 
ein Historiker (Ungnad: Die AnfÀnge der Staatenbildung in Babylonien, 
Deutsche Rundschau, Juli 1905) von Sargon: „Augenscheinlich war er nicht 
von vornehmer Abstammung, sonst hĂ€tte sich keine solche Sage ĂŒber seine 
Geburt und Jugend bilden können.” Und auch der Ethnologe Frazer will 
die Inschrift Sargons als BestĂ€tigung fĂŒr dessen illegitime Geburt auffassen. 
Es wĂ€re nun ein grobes MißverstĂ€ndnis, unsere Deutung als BeweisfĂŒhrung 
in diesem Sinne zu nehmen. Der scheinbare Widerspruch aber, den man 
bei anderer Auffassung unserer Deutung zum Vorwurf machen könnte, wird 
zum Beweise fĂŒr ihre Richtigkeit durch die ErwĂ€gung, daß nicht der Held, 
sondern der Durchschnittsmensch den Mythus schafft und in tendenziöser 
Weise zur Rechtfertigung seiner kindlichen Wunschphantasien fÀrbt. Die 
Verleugung des Vaters und der Abstammung von ihm ist uns ja als 
der wesentlichste Kern des Familienromans klar geworden. — Nur auf 
Grund einer golehen, mehr oder weniger weitgehenden Ansetzung phanta- 


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BRÜDERMYTHEN. 149 








Wir sehen also diesen komplizierten und mit einem 
reichlichen Personenaufgebot ausgestatteten Mythus sich ver- 
einfachen und auf drei Personen, nÀmlich den Helden und 
seine Eltern reduzieren. Ganz Àhnlich nun verhÀlt es sich mit 
dem Personenaufgebot in vielen anderen Mythen. Nur betrifft 
die Doublierung einmal die Tochter, wie in der Moseslegende, 
wo die Prinzessin-Mutter zur Herstellung der IdentitÀt beider 
Familien!) bei den armen Leuten auch als Tochter (Mirjam) 
auftritt, die ja nur eine Abspaltung der Mutter ist, welche in 
Prinzessin und armes Weib auseinandergelegt erscheint. Betrifft 
die Doublierung den Vater, so erscheinen seine VervielfÀltigungen 
zum Unterschied von den durch die Auseinanderlegung ge- 
schaffenen fremden Personen, in der Regel als Verwandte, 
insbesondere als seine BrĂŒder, wie z. B. in der Hamletsage. 
In Àhnlicher Weise kann dann auch der den Vater vertretende 
Großvater durch einen Bruder doubliert erscheiner, der dann 
als Großoheim des Helden der Gegenspieler ist, wie bei Romulus, 
Perseus u. v. a. Andere Doublierungen in scheinbar komplizierten 
Sagengebilden (z.B. bei Kaikhosrav, Feridun u. a.) lassen sich 
nach diesen Gesichtspunkten leicht durchschauen. 

Die Doublierung des Vaters resp. Großvaters durch einen 
Bruder fĂŒhrt, wenn sie, in die nĂ€chste Generation fortgesetzt, 
den Helden selbst betrifft, zu den BrĂŒdermythen, auf deren 
tieferen Zusammenhang mit unserem Thema bereits hingewiesen 
wurde. Die Abbilder des Knaben, die in der Kyrossage nach 
ErfĂŒllung ihres Zweckes — der Abkuniftserhöhung des Helden 
— wieder in ihr Nichts zerflossen waren, brauchen nur selb- 
stÀndiges Leben annehmen und sie stehen dem Helden als gleich- 
berechtigte Konkurrenten, als seine BrĂŒder, gegenĂŒber. Dem 


stischer Motive an einen realen Kern kann uns die Übertragung mythischer 
ZĂŒge auf historische Persönlichkeiten ĂŒberhaupt verstĂ€ndlich werden. (Über 
CĂ€sar, Augustus u. a. vgl. Usener, Rhein, Mus. LV, 271.) 

1) Diese Identifizierung der Familien ist in manchen Mythen bis zum 
Abklatsch genau durchgefĂŒhrt, wie z. B. in der Ödipussage, wo dem einen 
königlichen Ehepaar das andere entspricht und wo auch der Hirt, der das 
KnÀblein zur Aussetzung empfÀngt, sein getreues Spiegelbild hat in dem 
Hirten, dem er es zur Rettung ĂŒbergibt. 








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150 DAS AMMENMOTIV. 








ursprĂŒnglichen Zusammenhang wird man wahrscheinlich ge- 
rechter, wenn man die fremden Doubletten des Helden als ver- 
blaßte BrĂŒder auffaßt, die, wie der Zwillingsbruder, fĂŒr den 
Helden sterben mĂŒssen. So wie der Vater, der dem sich ent- 
wickelnden Sohne im Wege steht, wird auch mit einer naiven 
Realisierung kindlicher Phantasien, die störende Konkurrent- 
schaft des Bruders einfach beseitigt, weil der Held keine 
Familie brauchen kann. 

Eine die Mutter betreffende „Auseinanderlegung” haben 
wir in den Ammen-Figuren zu erblicken, die in manchen 
Heldenmythen eine besondere Rolle spielen. Offenbar liegt 
darin, neben dem uralten Tiermotiv, auch eine tendenziöse 
Degradierung der leiblichen. (tierischen) Mutter, wÀhrend die 
Rolle der GebĂ€rerin der „vornehmen” Mutter vorbehalten bleibt. 
Diese Sonderung der GebÀrerin von der ErnÀhrerin, die scheinbar 
die leibliche Mutter mit Hilfe ihrer Ersetzung durch ein Tier 
(eine fremde Amme) ganz zu beseitigen versucht, kann aber 
im letzten Grunde — wenn wir die Auseinanderlegung rĂŒck- 
eĂ€ngie machen — wieder nichts anderes als in Dankbarkeit 
bezeucen: das Weib, das mich gesÀugt hat, ist meine Mutter, 
eine Aussage, die wir in der Moseslegende, deren rĂŒckgebildeter 
Charakter uns schon bekannt ist, direkt versinnbildlicht finden. 
Es wird nÀmlich dort gerade das Weib zu seiner Amme gemacht, 
das seine leibliche Mutter ist (Ă€hnlich auch bei Herakles und 
im Àgyptisch-phönizischen Osiris-Adonis-Mythus, nach welchem 
Osiris, in der Truhe eingeschlossen den Fluß hinab nach 
Phönizien schwimmt, wo ihn Isis endlich unter dem Namen 
Adonis findet und von der Königin Astarte zur WÀrterin ihres 
eigenen Sohnes bestellt wird) !). 


i) Usener (Stoff d. griech. Epos, $. 53): „Wir werden ohne Bedenken 
Thero statt einer Amme als Mutter des Ares ansehen dĂŒrfen. Der Wider- 
streit Ă€lterer und jĂŒngerer gemeingriechischer Sage ĂŒber die Mutter einer 
Gottheit pflegt durch die Formel ausgeglichen zu werden, daß die Mutter 
der gemeingriechischen Sage anerkannt und die Mutter der örtlichen Über- 
lieferung zur Amme herabgesetzt wird, So ist die Leda als Mutier der Helena 
dadurch mit der attischen und epischen Sage von Nemesis ausgeglichen, 
das Leda das Ei der Nemesis auffindet und die daraus geborene Helena 








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DIE STORCHFABEL. 151 





Das Tier eignet sich besonders gut zum Ersatz der Mutter- 
Amme weil es die SexualvorgĂ€nge auch fĂŒr das Kind deutlich 
erkennen lĂ€ĂŸt und weil wahrscheinlich in der Verheimlichung 
dieser VorgÀnge die Auflehnung des Kindes gegen die Eltern 
wurzelt. Wie also die Aussetzung im KĂ€stehen und Wasser den 
Geburtsvorgang in kindlicher Weise gleichsam asexualisiert — 
die Kinder werden vom Storch!) aus dem Wasser gezogen und 
in einem Körbehen den Eltern gebracht —, so berichtigt die 
Tierfabel diese Vorstellung durch den Hinweis auf die Ähnlichkeit 
der menschlichen mit der tierischen Geburt. Von diesem Stand- 


als Pfiegemutter aufzieht. Thyone ist noch fĂŒr Pindar (Pyth. 3, 99) Mutter 
des Dionysos, aber um Semele in ihrem Recht zu lassen, hieß sie schon 
bei Panyasis Amme des Dionysos.” 

!) Der Storch als Kinderbringer ist auch mythologisch bekannt und 
Sieeke (Liebesgesch. d. Himmels, $S. 26) verweist darauf, daß in manchen 
Gegenden und LĂ€ndern der Schwan diese Rolle inne habe. Die Errettung 
und weitere BeschĂŒtzung des Helden durch einen Vogel ist nichts Seltenes; 
vel. Gilgamos, Zal und Kyknos, der von seiner Mutter nahe am Meer 
ausgesetzt, von einem Schwan ernÀhrt wird, wÀhrend sein Sohn Tennes in 
der Kiste auf dem Wasser seliwimmt, 

Zur psychologischen Bedeutung der Storchfabel vgl. man Freud: 
Über infantile Sexualtheorien (Sammlg. kl. Schriften II. F. S. 159 1.). 

Es sei hier auf eine weitere Bedeutung der Storchfabel hingewiesen, 
die zeigt, daß in ihr selbst der Familienroman in nuce enthalten ist. Wenn 
der Storeh die Kinder erst bringen muß, so gehören sie ja ursprĂŒnglich 
nicht den Eltern (zur Familie) und dieser Umstand dient sowohl den eigenen 
Abkunitsphantasien wie auch besonders gerne zur Ausschaltung der stören- 
den Konkurrentschaft der Geschwister, deren Erseheinen oder Nichterscheinen 
(Verschwinden oder Erscheinen in einem anderen Hause) dann ganz iu der 
WillkĂŒr des Menschen zu liegen scheint. Man vgl. z. B. dazu die Abkunfts- 
phantasien von Binswangers Bgtientin Irma (Jahrb. I, S. 294), die sich 
erinnert, mit 3 oder 4 Jahren immer behauptet zu haben, „daß sie dem 
Storch sicher zu schwer gewesen sei, deswegen habe er sie bei ihrer 
Mutter niedergelegt und nicht in dem benachbarten Palais. Eigentlich sei 
sie eine Prinzessin”: 

So ermöglicht die Storehfabel dem Familienroman eine vielseitige Ent- 
faltung und das zÀhe Festhalten der Kinder an dieser von den Erwachsenen 
verĂ€chtlich als „AmmenmĂ€rchen” beiseite geschobenen Tradition ist nicht 
zum geringsten Teil darin begrĂŒndet, daß es dem Kinde eben gestattet, die 
Rolle der Eltern zu der bloß zufĂ€lliger Pflegepersonen zu degradieren, die 
weiter keinen Anspruch an das Kind haben, 








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152 STORCHFABEL UND TOTEMISMUS. 





punkte könnte man auch die EinfĂŒhrung dieses Motivs parodi- 
stisch auffassen, indem das Kind mit verstellter Unwissenheit das 
StorchmĂ€rchen von den Eltern annimmt und in ĂŒberlegener 
Weise hinzusetzt: Wenn mich ein Tier hat bringen können, 
so hat es mich auch sÀugen können. (Motiv des Dummstellens.) 
Es ist hier die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß 
das Tier ĂŒberhaupt einen Teil seiner totemistischen ÜberschĂ€t- 
zung der Tatsache verdanken mag, daß es die SexualvorgĂ€nge 
so offen verrÀt, wÀhrend die Eltern bestrebt sind, sie zu ver- 
heimlichen. Wenigstens scheinen alle unsere Erfahrungen aus 
der individuellen Entwicklungsgeschichte auf diesen Zusammen- 
hang hinzuweisen, den insbesondere die analytische Durch- 
leuchtung der Tierphobien nahelegt'). Und so kÀme auch im 
totemistischen Vatertier neben der feindselisen Auffassung 
vielleicht eine zÀrtliche Sehnsucht zu ihrem Recht, welche die 
komplizierte Rolle des Vaters in Àhnlicher Offenheit dargeboten 
wĂŒnscht wie die primitivere und nicht zu verbergende?) Auf- 
gabe des mĂŒtterlichen Tieres. 


Wir könnten die Untersuchung nach der psychologischen 
Bedeutung des Mythus von der Geburt des Helden nicht 
als abgeschlossen betrachten, wenn wir nicht auch seine 
Beziehungen zu gewissen Geisteskrankheiten hervorheben 
wĂŒrden, die auch jedem psychiatrisch nicht Geschulten auf- 
gefallen sein werden. Unsere Heldenmythen decken sich 
nĂ€mlich in vielen weSentlichen "ZĂŒgen mit den Wahnideen 
gewisser geisteskranker Personen, die an Verfolgungs- und 
GrĂ¶ĂŸenwahn leiden, den sogenannten Paranoikern.‘ Das 
Wahnsystem solcher Personen ist im Kern hÀufig wie unser 
Mythus aufgebaut und lĂ€ĂŸt daher, so unzugĂ€nrglich es auch 


1) Vgl. Freud: Analyse der Phobie eines fĂŒnfjĂ€hrigen Knaben. Jahrb. 
f, psychoanalyt. u. psychopath. Forschungen, Bd. I, 1, 1909, 8. 3/4 u. 8. 52, 

2) In manchen Mythen heißt es verrĂ€terisch, die Mutter „verbarg” 
das Kind (etwa drei Monate lang), bis dies nicht mehr möglich war. 


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DER ABKUNFTSWAHN DER PARANOIKER. 153 





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selbst psychoanalytischen BemĂŒhungen ist, auf die gleiche 
psychische Motivierung wie der analysierbare neurotische 
Familienroman schließen. So behauptet der Paranoiker etwa, 
„die Leute, deren Namen er trage, seien nicht seine wirklichen 
Eltern, er sei tatsĂ€chlich der Sohn einer fĂŒrstlichen Person, 
habe aus einem geheimnisvollen Grunde beseitigt werden sollen 
und sei deswegen als Kind seinen ‚Eltern’ zur Pflege ĂŒber- 
geben worden. Seine Feinde wollen nun die Fiktion aufrecht 
erhalten, daß er niederer Abkunft sei, um seine berechtigten 
AnsprĂŒche auf die Krone oder große ReichtĂŒmer zu unter- 
drĂŒcken”!). 

Wir haben diese innige Verwandtschaft unseres Mythus 
mit dem Wahngebilde des Paranoikers schon formal festgestellt 
in der Charakterisierung des Mythus als paranoides Gebilde, 
die nun auch inhaltliche BestÀtigung im Abkunftswahn findet: 
Der auffĂ€llige Umstand, daß die Paranoiker den ganzen Roman 
offen erzÀhlen, kann uns nicht mehr rÀtselhaft sein, seitdem 
uns die tiefgreifenden Untersuchungen Freuds gezeigt haben, 
daß sich die durch Analyse bewußt zu machenden Phantasien 
der Hysteriker inhaltlich bis ins Einzelne mit den Klagen ver- 
foleter Paranoiker decken und daß uns der identische Inhalt 
auch als -RealitÀt in den Veranstaltungen Perverser zur Be- 
friedigung ihrer GelĂŒste entgegentritt‘). Beim Paranoiker olfen- 
bart sich aber auch deutlich der egoistische Charakter des 


1) Abraham, a.a. O. S. 40. — Von einem Ă€hnlichen Wahn bei einem 
Findelkind berichtet Riklin: WunscherfĂŒllung und Symbolik im MĂ€rchen, S. 74. 

Ich selbst hatte einmal Gelegenheit, die Wahnidee einer jungen Mutter, 
daß ihr das Kind vertauscht worden sei, analytisch zu studieren, und 
glaubte als Grundlage ihren eigenen — in die nĂ€chste Generation ver- 
schobenen — Familienroman vermuten zu dĂŒrfen (Mutteridentifizierung). 
(Die Analyse wurde leider durch den Krieg unterbrochen.) Der Kinder- 
tauseh, der hier in wahnhafter Form auftritt, erscheint im Heldenmythus 
als typisches Motiv (vgl. Kyros u. a.). Siehe auch den Hinweis auf das 
Salomonische Urteil (5. 127). 

2) Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Wien u. Leipzig 
1905, S. 24, Anm., dann: Psychopathologie des Alltagslebens, 2. Aufl. 
Berlin 1907, 8. 115, Anm., und: Hysterische Phantasien und ihre Beziehung 
zur BisexualitÀt, 





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154 PSEUDOLOGIE UND HOCHSTAPELEI. 





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ganzen Systems, FĂŒr ihn ist die Erhöhung der Eltern, die er 
vornimmt, lediglich ein Mittel seiner eigenen Erhöhung und 
er stellt auch in den Mittelpunkt seines ganzen Systems in 
der Regel nur das Resultat des Familienromans mit dem 
apodiktischen Ausspruch: ich bin der Kaiser (oder Gott). Er 
setzt sich jedoch damit — in der Symbolik des Jraumes und 
des Mythus gesprochen, die aber auch die Symbolik jeder 
anderen, selbst der „krankhaften” PhantasietĂ€tigkeit ist -— nur 
an die Stelle des Vaters, womit ja auch der Held seine Auf- 
lehnung gegen den Vater abschließt. Beide können das aber, 
weil der Konflikt mit dem Vater, der nach dem Inhalt des 
Mythus auf die Verheimlichung der sexuellen VorgĂ€nge zurĂŒck- 
geht, in dem Moment illusorisch, wird, wo der Knabe selbst 
erwachsen, selbst Vater geworden ist. Die aufdringliche GebÀrde, 
mit der sich der Paranoiker an die Stelle des Vaters setzt 
also selbst Vater wird, mutet wie eine Illustration zu der 
hÀufigen Entgegnung an, die der kleine Knabe auf eine Zurecht- 
weisung oder Vertröstung seiner störenden Neugierde bereit 
hat, in den Worten: Warte nur, bis ich selbst Papa bin, werde 
ich alles das wissen. Der Paranoiker ist gleichsam ein Mensch, 
dem die Auflösung seines individuellen Konflikts mit dem 
. Vater’) und die Rechtfertigung im Massenprodukt des Mythus 
nicht gelungen ist, der aber auch an dem Versuch einer indi- 
viduellen Lösung dieser Aufgabe scheitert. 

Vom Paranoiker, dessen Phantasie ihm die RealitÀt 
wahnhaft ersetzt, unterscheidet sich der pathologische LĂŒgner 
durch die wenigstens partielle Einsicht in die Unwahrheit dessen, 
was er an Stelle der RealitÀt setzen möchte. Der Pseudo- 
logist ist imstande, den Familienroman mit dem Anspruch auf 
GlaubwĂŒrdigkeit zu erzĂ€hlen und wo er Glauben findet, da 
spricht die Gesellschaft von Hochstapelei, ohne daran zu 
denken, wie nahe verwandt die phantastische LĂŒge dem Wahn 
ist?). Derartige FÀlle beschÀftigen daher hÀufig die IrrenÀrzte 
und die Gerichte. 


1) Siehe Freud: Jahrb, f. Psa. III, 1911, 5. 9ff. 
2) Gewisse Bedingungen ihrer Entstehung untersucht Helene Deutsch: 
Über die pathologische LĂŒge. Int. Zeitschr. f, Psa. (im Druck). 











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„FRAU VON HERVAY.” 


Es sei hier nur der Fall einer Frau von Hervay kurz erwÀhnt, 


weil an ihn Alfred Freiherr v, Berger einige feinsinnige psycho- 
logische Bemerkungen geknĂŒpft hat (Feuilleton der „Neuen Freie 


Presse? vom 6. November 1904, Nr. 14.441), die sich zum ‘leil mit 


unserer Auffassung des Heldenmythus berĂŒhren. So schreibt Berger: 
„Ich bin ĂŒberzeugt, daß sie sich allen Ernstes fĂŒr die uneheliche 
Tochter einer, aristokratischen russischen Dame hÀlt. Wahrscheinlich 
rerte sich schon in der ersten Jugend in ihr der Wunsch, einen 
vornehmeren und glÀnzenderen Milieu durch die Geburt anzugehören, 
als demjenigen, von dem sie sich umgeben sah ... So erwuchs aus 
dem Wunsch, eine Prinzessin zu sein, der Wahn, sie sei gar nicht 
die wirkliche Tochter ihrer Eltern, sondern das Kind einer vornehmen 
Dame, welche die Frucht ihres Fehltrittes der Welt verbarg, indem 
sie sie als Tochter eines Taschenspielers aufwachsen ließ... .. Einmal 
in diese Einbildung verstrickt, mußte sie jedes rauhe Wort, das sie 
krĂ€nkte, jede zufĂ€llige doppelsinnige Äußerung, die sie auffing, vor 
allem aber die Abneigung, die Tochter dieser Paares zu sein, als 
Beglaubigung ihres romanhaften Wahnes deuten und so wurde es 
zur Aufgabe ihres Lebens, sich die soziale Position, um die sie sich 
betrogen fĂŒhlte, zurĂŒckzuerobern. Als die mit zĂ€her Energie betriebene, 
zuletzt tragisch abschließende DurchfĂŒhrung dieses Gedankens stellt 
sich ihre Biographie dar” !). 

Einen weiteren Schritt auf der asozialen Bahn vom Para- 
noiker, der den Konflikten mit der RealitÀt durch das Dis- 
simulieren auszuweichen sucht, und dem Pseudologisten, der 
als Hochstapler zum sozialen LĂŒgner wird, bedeutet der wirk- 


i) Der weibliche Typus des Familienromans, wie er uns in diesem Falle 
von seiner asozialen Seite entgegentritt, ist vereinzelt auch als Heldenmythus 
ĂŒberliefert. So wird von der spĂ€teren Königin Semiramis erzĂ€hlt (bei 
Diodor II, 4), ihre Mutter, die Göttin Derketo, habe sie aus Scham in einer 


öden, felsigen Gegend ausgesetzt, wo sie von Tauben ernÀhrt und von 


Hirten gefunden wurde, die das Kind dem Aufseher der königlichen Herden, 
dem kinderlosen Simmas schenkten, der sie wie seine eigene Tochter aufzog. 
Er nannte sie Semiramis, was in der syrischen Sprache Taube bezeichnet. 
Ihre weitere Karriere bis zur Alleinherrschaft, die sie ihrer mÀnnlichen 
Energie verdankte, ist ja historisch bekannt. 

Andere Aussetzungssagen werden von Atalante, Kybele und Aörope 
erzÀhlt (v. Roscher). 








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156 DER ATTENTÄTER (ANARCHIST) 








lich Asoziale.e Wie nĂ€mlich in der Äußerung der inhaltlich 
identischen Phantasien dem Hysteriker, der sie verdrÀngt hat, 
der Perverse gegenĂŒbersteht, der sie verwirklicht, so steht 
such dem kranken, passiven Paranciker, der eben den Wahn 
zur Korrektur der ihm unertrÀglichen Wirklichkeit braucht, 
der Aktive, der Verbrecher gegenĂŒber, der die Wirklichkeit 
nach seinem Sinne zu Ă€ndern versucht: das ist fĂŒr diesen 
speziellen Fall der Anarchist?). Auch der Held beginnt ja, 
wie seine Ablösung von den Eltern zeigt, seine Laufbahn im 
Gegensatz zur alten Generation; er ist Empörer und Erneuerer 
zugleich, er ist RevolutionÀr. Jeder RevolutionÀr ist aber ur- 
sprĂŒnglich eigentlich ein ungehorsamer Sohn, ein AufrĂŒhrer 
gegen den Vater¼) .(vgl. dazu den Hinweis Freuds im Anschluß 
an die Deutung eines „revolutionĂ€ren Traumes”, Traumdeutung, 
2. Aufl., S. 153, Anm.). WĂ€hrend aber der Paranoiker, seinem 
passiven Charakter entsprechend, Verfolgungen und Beein- 
trÀchtigungen zu leiden hat, die in letzter Linie vom Vater 
auszehen und denen er sich dadurch zu entziehen sucht, dab 
er sich selbst an die Stelle des Vaters, des Kaisers, setzt, bleibt 
der Anarchist dem heldenhaften Charakter darin treuer, daß 
er bald selbst zum Verfolger der Könige wird und, ganz wie 
der Held, schließlieh den König tötet. 

Zum VerstÀndnis des psychologischen Mechanismus dieser 
Einstellung bietet uns der Familienroman einen direkten Zugang 
wie ich an einigen mir zufÀllig bekannt gewordenen Beispielen 

1) Bekanntlich gibt es unter den Anarchisten nicht wenige Paranoiker, 
wie diese anderseits oft Verbrecher (gemeingefÀhrlich) werden können. 
Vel. bes. Penta: Parrieida paranoieo. Giorn. per i mediei periti ete. 1897. 

2) Das ist besonders in den griechischen Göttermythen deutlich, wo 
der Sohn (Kronos, Zeus) erst den Vater beseitigen muß, bevor er die Herr- 
schaft antreten kann, Die Form der Beseitigung, nÀmlich die Entmannung, 
ist offenbar der stÀrkste Ausdruck der Auflehnung gegen den Vater, zugleich 
aber der Beweis ihrer sexuellen Herkunft. Über den Revanchecharakter der 
Entmannung sowie die infantile Bedeutung des ganzen Komplexes vgl. man 
Freud: „Über infantile Sexualtheorien” und „Analyse der FPhobie eines fĂŒnf- 
jĂ€hrigen Knaben” (Il. e.). 

Neuestens zum ganzen Thema: Paul Federn, Die vaterlose Gesellschaft. 
Zur Psychologie der Revolution. Wien 1920. 








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UND SEIN FAMILIENROMAN. 157 


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zeigen konnte?). Sei es, daß die spĂ€teren Anarchisten oder Atten- 
tÀter als ausgesetzte (uneheliche) Findelkinder, denen einer oder 
beide Elternteile fehlten, den Anfang des Familienromans wirk- 
lich erleben und aus diesem Erleben heraus auch den sonst in 
der Phantasie vollendeten Familienroman realisieren mußten, wie 
beispielsweise der Anarchist Luccheni u.a. Sei es, daß der Familien- 
roman sonst irgendwie schicksalhaft ihr Leben beeinflußte wie 
bei Charlotte Corday, die sich ĂŒber die Tatsache, daß ihr 
Vater ein verarmter Edelmann war, durch Phantasien ihrer 
hohen Abkunft von sagenhaften schottischen Königen hinweg- 
setzte?): In jedem Falle sehen wir das VerhÀltnis zu den Eltern 
in frĂŒher Kindheit entscheidend gestört?) und zwar in ganz 
Ă€hnlicher Weise, wie es sich der Neurotiker phantasiert und 
wie es der Mythus fĂŒr die Urzeit supponiert. Nur glaubt der 
AttentĂ€ter, sich fĂŒr die Gesellschaft an ihren FĂŒhrern zu rĂ€chen, 
wÀhrend er sich in Wirklichkeit selbst am eigenen erhöhten 
Vater rÀcht, was die Gesellschaft auch durch Verurteilung der 
Tat zu erkennen gibt. Wenn man aber den Helden derselben 
Tat wegen feiert‘), ohne sich um ihre psychische Motivierung 
Der Familenroman in der Psychologie des AttentÀters. Internat. 


Zeitschr. f. Psa. I, 1913. 
2) Ihr Biograph Henri d’Almeras faßt auf Grund derartiger ZĂŒge 


ihre Tat als Ausfluß hysterischer Stimmung, — Man vgl. auch die Schilderung 
ihrer einsamen Jugend durch Michelet (Die Frauen der Revolution, Langen, 
MĂŒnchen). 


3) Man vgl. die folgende Bemerkung von Eduard Bernstein ĂŒber den 
bekannten Anarchisten Most: „Was ihm fehlte, war der innere Halt, ein 
Mangel, der vielleicht darauf zurĂŒckzufĂŒhren ist, daß er als Knabe 
sehr frĂŒh die Mutter verlor, die Stiefmutter haßte und im Vater 
den Komödianten verachtete. So mißlich es ist, aus persönlichen Er- 
fahrungen und seien ihrer noch so viele, allgemeine SchlĂŒsse zu ziehen, so 
kann ich doch die Bemerkung nicht unterdrĂŒcken, daß so oft mir auf 
meinem Lebensweg Persönlichkeiten begegneten, die amgleichen 
Mangel litten, nĂ€here Unterhaltung ĂŒber ihre Jugend stets ergab, 
daß sie mit den Eltern in keiner seelischen Beziehung gestanden 
hatten.” (Aus einem Artikel „Einige Erinnerungen an August Bebel” in 
der „Frankfurter Zeitung” vom 24. August 1913.) 

4) Vgl. den Gegensatz von Tell und Parrieida in Schillers Wilhelm 
Tell, den ich in einem anderen Zusammenhange nÀher beleuchtet habe (vgl. 
Inzestmotiv, S. 111 u. f.). 





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158 DIE VATERRETTUNG (RETTUNGSPHANTASIE) 


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zu kĂŒmmern, so könnte billig den Anarchisten der Umstand 
vor den hĂ€rtesten Strafen schĂŒtzen, daß er — bei scheinbar 
noch so guter anderweitiger, etwa politischer Motivierung 
seiner Tat — auch einen ganz anderen tötete, als er eigentlich 
vermeinte!). 

Von dieser ins Pathologische verzerrten Heldenrolle des 
anarchistischen AttentÀters wenden wir uns einem letzten, 
sonderbaren AuslÀufer des Familienromans zu, der in den 
mythischen Überlieferungen angedeutet ist, in denen der Held 
scheinbar seinen Vater an einem gemeinsamen Feind zu rÀchen 
hat. Wie bereits angedeutet, handelt es sich dabei auch nur 
um eine mehr entstellte Form der Rache am Vater; ihr indi- 
viduelles GegenstĂŒck finden wir in den hĂ€ufigen Phantasien 
der PubertÀtszeit von der Rettung einer bekannten Persönlichkeit 
(Kaiser) aus Lebensgefahr, was sich uns leicht als Vaterrettung 
erschließt. Freud hat gezeigt?), daß diese Phantasie der PubertĂ€ts- 
jahre das GegenstĂŒck zur zĂ€rtlichen Rettung der Mutter (aus 
der Gewalt des Vaters) darstellt und versucht, dem Vater, dem 
man nichts mehr verdanken will, das Geschenk des Lebens 
durch ein gleichwertiges Gegengeschenk zu vergelten. Wie der 
mythische Familienroman selbst wĂŒrde also auch die Rettungs- 
phantasie auf Verleugnung des Vaters und Attachement an die 
Mutter hinauslaufenŸ). Nur zeigt sie eine starke Versöhnungs- 
tendenz dem Vater gegenĂŒber, die aus der allmĂ€hlichen Identi- 
fizierung mit ihm und der daran geknĂŒpften Vergeltungs- 
furcht stammen mag. Der heranwachsende Sohn will sich 
gleichsam vor dem eigenen Vaterwerden sozusagen mit dem 
Vaterprinzip aussöhnen, damit er seinerseits von seinem 
Sohne geschont werde. Er rettet dem Vater das Leben, aus 
Dankbarkeit fĂŒr das eigene Leben, das ja seinerzeit durch 

1) Man vergleiche dazu das Fehlatteniat der Tatjana Leontiew und 
seine feine psychologische Durchleuchtung bei Wittels: Die sexuelle Not. 
(Weibliche AttentÀter). Wien u. Leipzig, 1909. 

2) Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim.Manne, Jahrbuch 
II, 1910, S. 389 ff. 

Âź) Rank: Belege zur Retiungsphantasie. Zentralbl. f. Psa. I, 1911, 


S. 335 f. -—— Dazu neuestens Abraham: „Vaterrettung und Vatermord in 
den neurotischen Phantasiegebilden.” Int, Zeitschr. f, Psa. (im Druck). 





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ALS VERSÖHNENDER ABSCHLUSS (REVANCHE). 159 


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die Aussetzung (Zeugung) des Vaters eigentlich gerettet (geboren) 
worden war!). So stellt die Rettungsphantasie letzten Grundes 
den versöhnenden Abschluß des Familienromans dar, indem 
der Sohn, in vollkommener Revanche fĂŒr seine Jugendgeschichte, 
den Vater in eine eroße Lebensgefahr bringt (Aussetzung), um 
ihn aus dieser zu erretten. Möglicherweise drĂŒckt sich darin 
ein Kulturfortschritt der jĂŒngeren Generation gegenĂŒber der 
Ă€lteren aus, der dabei gezeigt wird, wie großmĂŒtig man in 
dieser Situation handeln solle. Der Sohn vollbringt damit in 
der Phantasie dasselbe, was erin bezug auf sein eigenes Leben 
vom Vater phantasierte, er handelt also (am Vater) wie der 
Vater (an ihm), d. h. er identifiziert sich mit ihm und ist 
so imstande, den Vaterkomplex samt dem damit verbundenen 
Familienroman zu ĂŒberwinden. 

Hier aber, an der schmalen Grenzscheide, wo sich das 
unschuldige kindliche Phantasieleben, die ins Unbewußte ver- 
drÀngten neurotischen Phantasmen, die diehterische Mythen- 
bildung und gewisse Formen der Geisteskrankheit und des 


1) Wie eng „retten” und zurweltikommen im UnbewuĂ¶ĂŸten verbunden 
sind, zeigt ein mir von S, Ferenezi mitgeteilter Fall, in welchem der Lebens- 
retter zum Vater erhoben wird: Ein spÀter an sexueller Impotenz leidender 
Patient war im Alter von 8 Jahren ins Waser gefallen und von einem 
armen Fischer gerettet worden. Seit vielen Jahren litt er an der uner- 
klĂ€rlichen Angst, diesen Menschen wiederzusehen. Er machte sich darĂŒber 
die heftigsten VorwĂŒrfe, die beinahe Zwangscharakter hatten. Dabei konnte 
er sich nie entschließen, diesem Manne, „dem er doch das Leben verdankt”, 
eine grĂ¶ĂŸere Summe zu schenken; er begnĂŒgte sich mit einer Kleinigkeit, 
die er ihm jĂ€hrlich zukommen lĂ€ĂŸt. In der Analyse ergibt sich, daß alle 
diese GefĂŒhle dem wirklichen Vater gelten, an den er mit allen seinen 
positiven und negativen GefĂŒhlen fixiert ist. Er hatte als Kind den Vater 
angebetet (Erhöhung), wurde aber von ihm schlecht behandelt, wurde dann 
spÀter sehr ambitiös und schÀmte sich seiner armen Verwandtschaft (Familien- 
roman). So wurde der Vater zum „armen Fischer, dem er sein Leben verdankt”, 
und der Fischer zum Angriffspunkt seiner einander widerstreitenden Affekte, 
die eigentlich dem Vater gelten, 

FĂŒr den tiefreicehenden uralten Zusammenhang von Rettung und Leben 
zeugen sprachliche Beziehungen, die Keller (Lat. Volksetym. 228) zur Er- 
klĂ€rung des Wortes „Paladion” heranzieht, das er mit hebr. pĂ€lat „ent- 
kommen, fliehen”, peletĂ€h „Rettung”, babylon.-assyr, balĂ€tu „am Leben 
bleiben” verbindet. 





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Verbrechens inhaltlich sowie in ihren Ursachen und TriebkrÀften 
so innig und doch wieder so differenziert berĂŒhren, wie es 
eben anzudeuten versucht wurde, wollen wir fĂŒr diesmal halt- 
machen und der Verloekung widerstehen, einen der hier ab- 
zweigenden Wege zu betreten, die, nach ganz anderen Gebieten 
gerichtet, sich vorlÀufig noch in dichtem Urwald verlieren. 





VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIEN 


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/ 

Jahrbuch der Psychoanalyse. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud 
in Wien, Redigiert von Dr. Karl Abraham in Berlin und Dr, Eduard 
Hitschmann in Wien, Neue Folge des Jahrbuches fĂŒr psychoanalyt. und 
psychopath. Forschungen. VI. Band. 1914. Mit einer Tafel. Preis M 70 —. 

Jung, Doz. Dr. C. G., Der Inhalt der Psychose. Akademischer Vortrag, 
gehalten im Rathause der Stadt ZĂŒrich am 16. JĂ€nner 1908. Zweite, 
durch einen Nachtrag ergÀnzte Auflage. (Zuerst erschienen als 3, Heft 
der „Schriften zur angewandten Seelenkunde”.) Preis M $-—. 

Jung, Doz. Dr. C. G., Die Bedeutung des Vaters fĂŒr das Schicksal des 
Einzelnen. (Sonderabdruck aus dem Jahrbuch fĂŒr psychoanalyt. u. psycho- 
patholog, Forschungen, I. Band,) Als Separatabdruck vergriffen, Nur noch 
in Band I, 2. HĂ€lfte, des Jahrb. fĂŒr psychoanalyt. Forschungen zu haben. 

Jung, Doz. Dr. med, et jur. C. G., Über Konflikte der kindlichen Seele. 
(Sonderabdruck aus dem Jahrbuch fĂŒr psychoanalytische und psychopatho- 
logische Forschungen, II. Band.) Zweite Auflage, Preis M 7°—. 

Jung, Doz. Dr. med. et jur. C. G., Wandlungen und Symbole der Libido. 
BeitrÀge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Als Sonderabdruck 
vergriffen. Nur noch in Band III, 1. HĂ€lfte, und Band IV, 1. HĂ€lfte, 
des Jahrbuches fĂŒr psychoanalytische Forschungen zu haben. 

Jung, Doz. Dr. med. et jur. C.G., Versuch einer Darstellung der psycho- 
analytischen Theorie. Neun Vorlesungen, gehalten in New York im 
September 1912. Vergriffen. Nur noch in Band V, 1. HĂ€lfte, des Jahrbuches 
fĂŒr psychoanalytische Forschungen zu haben. | 

Kaplan, Leo, GrundzĂŒge der Psychoanalyse. Preis M 30°—. 

Kaplan, Leo, Psychoanalytische Probleme. Preis M 25°—. 

Kaplan, Leo, Hypnotismus, Animismus und Psychoanalyse. Historisch- 
kritische Versuche. Preis M 38°—., 

Loy, Dr. R,'Psychotherapeutische Zeitiragen. Ein Briefwechsel mit Dr. 
C. G. Jung, Privatdozenten der Psychiatrie in ZĂŒrich, Preis M 6°—. 

Maeder, Dr. A, Über das Traumproblem. Nach einem am Kongresse der 
Psychoanalytischen Vereinigung gehaltenen Vortrage, MĂŒnchen, Sep- 
tember 1913, (Sonderabdruck aus dem Jahrbuch fĂŒr psychoanalytische 
und psychopathologische Forschungen, V. Band.) Preis M 7°—. 

PfennigR., GrundzĂŒgeder Fließschen Periodenrechnung. Preis M 25°—. 

Pfister, Dr. Oskar, Die psychologische EntrÀtselung der religiösen 
Glossolalie. (Sonderabdruck aus dem Jahrbuch fĂŒr psychoanalytische 
und psychopathologische Forschungen, III, Band.) Preis M 25°—. 

Pfister, Dr. Oskar, Analytische Untersuchungen ĂŒber die Psychologie 
des Hasses und der Versöhnung. (Sonderabdruck aus dem Jahrbuch 
fĂŒr psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, II. Band.) 
Vergriffen als Sonderabdruck. Nur noch in Band II, 1. HĂ€lfte des Jahr- 
buches fĂŒr psychoanalytische Forschungen zu haben. 

Rank, Otto, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. GrundzĂŒge einer 
Psychologie des dichterischen Schaffens. Preis M 75°—, 





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Ban. . Schriften zur angewandten Seelenkunde. Herausgegeben von Prof. Dr. H 5 
N Sigm. Freud in Wien. n =) 
2% a Eh I. Heft. Der Wahn und die TrĂ€ume in W. Jensens „Gradiva” . Von el $ 
ir u | | ». Dr. Sigm. Freud in Wien, Zweite Auflage. Preis M. 13°—. je 
ER; “ U. „. WunscherfĂŒllung und Symbolik im MĂ€rchen. Eine. Studie von Be 
VE Dr. Franz Riklin. Vergriffen. Neuauflage in Vorbereitung, 
SED - IH. -„ Inhalt der Psychose. Von Dr. Jung. Zweite Auflage, Ver-- 
se griffen. Die dritte Auflage ist außerhalb des Rahmens der 
EL „Schriften zur angewandten Seelenkunde’ erschienen. | ° 
Re et. IV. „. Traum und Mythus. Eine Studie der Völkerpsychologie. Von u 
re: Dr. Karl Abraham. Vergriffen, Neuauflage in Vorbereitung. er 
EN V.. „. Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psycho- Te 
138 i logischen Mythendeutung. Von Otto Rank, 2. Aufl. en: Si 
u: Hl, | VI „Aus dem Liebesleben Nikolaus Lenaus. Von Dr. ]. Sadgen 2 
S ) Nervenarzt in Wien, Vergriffen, Dr a 
ra VII. „. Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Prof. ER 
, Dr. Sigm, Freud in Wien. Zweite Auflage. Preis M 10’ a Ken. 
Be SASE VII. „ Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Von Dr. Ra. 
Âź N | Oskar Pfister, Pfarrer in ZĂŒrich. Preis M 23-—. | Be Yo 
ARTEN IX. „Richard Wagner im „Fliegenden HollĂ€nder”. Ein Beitrag z, Psycho- “ Ai 
Ge logie kĂŒnstlerischen Schaffens. Von Dr. Max Graf, Vergriffen. 3 
Ba, X. 5% Das Problem des Hamlet und der Ödipus-Komplex. VonDr.E 
gs | Jones. Übersetzt von Paul Tausig, Vergriffen. . Neuauflage = 
de N in Vorbereitung, RE 
EN > XI. „ Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch. Von Dr. 
A IE NE Karl Abraham, Arzt in Berlin. Mit 2 Beilagen. Vergriffen. 
Rh XU. „ . Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine rechtsgeschichtlicee 
Ey u. völkerpsychologische Studie, Von A. Storfer. Preis MS—. 
u; | XII, „Die Lohengrinsage. Ein Beitrag zu ihrer Motivgestaltung und i 
a Deutung. Von Otto Rank, Preis M 25° — I 
BE a XIV. „ Der Alptraum in seiner Beziehung zu gewissen Firmen des 
EN. | | mittelalterlichen Aberglaubens. Von Prof. Dr. Ernest Jones. Im 
rer! Deutsch von Dr. E. H. Sachs. Preis M 25 —. EEE ie 
ARE XV. „Aus dem Seelenleben des Kindes. Eine psychoanalytische Studie. Y) 
War | Von Dr. H. Hug-Hellmuth. 2, Auflage, Preis M 37—. 
a N: Ve XVI ,„ Über Nachtwandeln und Mondsucht. Eine medizinisch-Üterarscceee | 
Re Studie. Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien. Preis M 23° —., 3 2 | 
ie XVII. „. Jakob Boehme, Ein pathographischer Beitrag zur Psychologie Di, 
ale?! der Mystik. VonDr.A.Kielholz in Königsfelden, Preis M1i?—. 
u 0% XVII. .„ Friedrich Hebbel. Ein psychbanalytischer Versuch, Von Dr. ER BR 
RE, Lohn Sadger in Wien, Preis M 60°—. | I 
50 | Steiner, Dr. Maximilian, Die psychischen Störungen der mÀnnlichen JENE 
WEN Potenz. Ihre Tragweite und ihre Behandlung. Zweite Auflage, Mit et, 
BETH einem Vorwort von Prof. Dr. Sigm, Freud, Preis M 13°—, | Kae 
a Swoboda, Dr, H. Studien zur Grundlegung der Psychologie. Preis " Ru] 
ER M 13°—. Be “7 : 
GE } Swoboda, Doz. Dr, Hermann, Harmonia animae. Preis M $°—. | AP 
Buchdruckerei Carl Fromme, G.m.b.H,, Wien V. 2 6% 
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