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Full text of "Der unbekannte Mörder. Von der Tat zum Täter"

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INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



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THEODOR REIK 






DER 

UNBEKANNTE 

MORDER 

VON DER TAT ZUM TÄTER 


















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1932 

INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG WIEN 







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ALLE RECHTE 

INSBESONDERE DIE DER ÜBERSETZUNG 

VORBEHALTEN 



COPYRIGHT 1932 

BY INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

GES. M. B H. WIEN 






PRINTED IN AUSTRIA 
DRUCK DER VERNAY A.-G.. WIEN IX. 



- "— ^ - 



Ein kriminalistisches Interesse 

Es sind nicht psychologische Fragen, die uns zuerst beschäftigen, wenn wir 
von einem unaufgeklärten Verbrechen hören. Vor anderen drängt sich die 
Frage auf: „Wer ist der Täter?" In Fällen, in denen die Begleitumstände bei 
Ausführung des Verbrechens rätselhaft sind, werden sich andere Fragen dieser 
anreihen. Wir werden wissen wollen, wie ein Mord begangen wurde, welchem 
Plane der unbekannte Verbrecher folgte, wie er sich der Ermittlung entzog 
usw. Auch die Aufmerksamkeit des Psychologen wird sich in solchen 
Fällen eher oder stärker der Sicherstellung und Deutung von Tatspuren zu- 
wenden als den unbewußten Verbrechensmotiven des Täters. Die Schlüsse, 
welche die Kriminalpolizei aus dem Vorhandensein und der Art dieser Spuren 
zog, die Nachforschungen, die von hier ausgingen, wie sich der Kreis der in 
Betracht kommenden Personen erweiterte und verengte, alles das wird uns 
stärker beschäftigen als etwa der Beteiligungsgrad des Ichs an der Psycho- 
genese des Verbrechens. 

Die Art der Aufklärung, die kriminalistische Tatbestandsermittlung, nament- 
lich die Verwertung der Spuren, der sachlichen Indizien, ziehen unsere Aufmerk- 
samkeit auf sich. Wenn wir uns selbst wegen der Art dieses Interesses zur Rede 
stellen, müssen wir uns die Antwort schuldig bleiben. Es ist ein abwegiges Inter- 
esse, das wir da in uns finden. Umso sonderbarer, als wir meinten, unser Inter- 
esse in der Kriminologie gelte nur der Aufdeckung der unbewußten Motive und 
Ziele des Verbrechens und der strafenden Gesellschaft. In der analytischen 
Literatur wurden bisher verschiedene Fragen der Verbrecherpsychologie, der 
Verbrechensprophylaxe und -therapie, des Strafvollzugs und der Strafrechts- 
reform behandelt, aber die Beschäftigung mit diesen Problemen setzt natürlich 
voraus, daß der Verbrecher bekannt ist. Man kann einen Unbekannten nicht 
psychologisch untersuchen. 

Die Auffindung, Deutung und Verwertung von Sachspuren, die Indizien- 
forschung im Dienste der Verbrechensaufklärung führen von psychologischer 
Betrachtungsweise weit ab. Unser Interesse wäre noch gut verständlich, wenn 
es Methoden zur Assoziationsprüfung, wie sie versuchsweise in der Tatbestands- 
diagnostik zur Anwendung kamen, wären, wenn es psychischen Vorgängen 
gelte, wie sie sich dem als Sachverständigen zugezogenen Neurologen, 






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Psychiater oder Psychologen darstellen. Aber Fingerabdrücke, Streichhölzer, 
ein Stückchen Papier, achtlos verstreute Asche? Das sind Dinge, die in der 
kriminalistischen Praxis eine Rolle spielen mögen, die Beschäftigung mit ihnen 
ist Sache der Chemie, der Mikrophotographie usw., keinesfalls der wissen- 
schaftlichen Psychologie. Die Spuren am Tatort, die zumeist Stücke der anor- 
ganischen Natur sind, fallen durchaus außerhalb des Rahmens dieser Forschung. 

An die Stelle dieses Interesses an leblosen Indizien, das vom Psycho- 
logischen in ein weit entferntes Gebiet führt, muß langsam ein anderes 
treten, das uns vertrauter anmutet. Es ist ein Staunen über das eigene psychische 
Phänomen. Es ist nämlich die Frage aufgetaucht, was dieses Interesse psycho- 
logisch bedeutet und woher es stammt. Damit aber sind wir auf unser, auf das 
psychologische Gebiet zurückgekehrt. Die folgende Untersuchung wird von 
dieser Frage, die wir uns gestellt haben oder die sich uns gestellt hat, ausgehen 
und zu ihr zurückkehren. 

Sicherlich wird es der Darstellung nicht möglich sein, alle Spuren meiner 
vielfach in die Irre und manchmal in die Breite gehenden Bemühungen, die 
Probleme zu bewältigen, zu verwischen. Es ist mir bewußt, wie sehr sie hinter 
dem Bilde einer geschlossenen, wissenschaftlichen Beweisführung einer These 
zurückbleibt. Es wurde nicht versucht, die unvermeidbaren Lücken, Unklar- 
heiten und Unsicherheiten zu verhüllen. Man könnte vielleicht beweisen, daß 
eine andere Art der Darstellung besser gewesen wäre als diese genetische, die 
zeigt, wie ein Problem zuerst auftauchte, wie es seine vielen Seiten zeigt und 
wie die Bemühungen, es zu lösen, verliefen. Ich kann dies nicht bestreiten. Viel- 
leicht besteht doch ein verborgener innerer Zusammenhang zwischen Inhalt und 
Form des Dargestellten und es ist dieser unterirdische Zusammenhäng, der sich 
in der Darstellung durchsetzt. Der der Gestaltung gegenüber spröde Stoff hat 
sich auch inhaltlich als ausgebreiteter, komplizierter und beziehungsreicher er- 
wiesen als sein Ausgangspunkt ahnen ließ, wie dies ja in Leben und Wissen- 
schaft zu geschehen pflegt. Es zeigte sich bald als unmöglich, bei der ursprüng- 
lich begrenzten Fragestellung zu verbleiben, die Demarkationslinie einzuhalten. 
Das Anfangsproblem mußte bald zurücktreten, weil sich neue, nicht umgeh- 
bare Probleme wie Hürden auf der Bahn zum Ziele entgegenstellten. 

Die vorliegende Untersuchung wird, so hoffe ich, zeigen können, daß die 
Bedeutung der Psychoanalyse für das Gebiet der Kriminologie keineswegs auf 
die Behandlung der Fragen beschränkt ist, die bisher von den Analytikern 
diskutiert wurden. Ein neues, bisher nicht erschlossenes Gebiet der analytischen 
Forschung tritt hier ans Licht. Auf den folgenden Seiten wird versucht zu 
zeigen, ob und was die Psychoanalyse zu dem Problem des unbekannten Ver- 
brechers beizutragen hat, ja, was dieses Problem überhaupt psychologisch 
bedeutet. Im Anfang war die Tat. Die Tat des Verbrechers hat indessen selten 
Zeugen und die Untersuchungsrichter, Strafrichter und Geschworenen sind 
meistens auf Indizien angewiesen, denen eine bestimmte Bedeutung für die 






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Annahme von Schuld oder Nichtschuld einer Person zukomme. Die Gesamtheit 
dieser Indizien wird zum Beweis herangezogen, spricht für oder gegen die 
Täterschaft eines Angeklagten — auch dann und insbesondere dann, wenn sie 
stumm und leblos sind. 

Von der Tat zum Täter 

Was sind Indizien? Nach Glaser 1 umfaßt der Begriff „alles, was zum 
Beweis dient, aber noch nicht Beweis macht". Allgemein sind unter Indizien 
Tatsachen zu verstehen, deren Vorhandensein auf die Existenz einer anderen, 
zu beweisenden Tatsache schließen läßt. Im Strafprozeß hat die Bezeichnung 
immer deutlicher die Bedeutung von Tatsachen, die eine Schlußfolgerung auf 
die Schuld oder Unschuld eines Beschuldigten zulassen, angenommen. Man er- 
kennt die außerordentliche Wichtigkeit des Begriffes für den Strafprozeß, wenn 
man sich vergegenwärtigt, daß es meistens Indizien sind, die es möglich machen, 
sich eine Meinung über den Tatbestand zu bilden. Daneben kommt nur die 
Ertappung auf frischer Tat in Betracht. Sie und das Geständnis, das ehemals 
als die Krone der Beweise galt, sind Ausnahmsfälle innerhalb der Beweis- 
erhebung. 

Bevor die Indizien als Beweisglieder gewürdigt werden, dienen sie als Hin- 
weise, Anzeigen, wie der Wortsinn sagt, zur Aufklärung des Verbrechens. Sie 
stehen im Mittelpunkt der Kriminaltaktik, welche die Spuren der Tat und den 
psychischen Prozeß ihrer Verarbeitung bis zur endgültigen Fixierung in Form 
der richterlichen Überzeugung verfolgt. 

Innerhalb der Indizien hebt sich nun eine Gruppe von Tatsachen deutlich 
heraus: die sachlichen Spuren. Ein deutscher Fachmann gibt der Bezeichnung 
Spuren den Sinn 2 : „alles, was der Kriminalist wahrzunehmen und irgendwie 
kriminalistisch zu verwerten vermag". Die hier gemeinte Wahrnehmung be- 
schränkt sich natürlich nicht auf den Gesichtssinn: Auch der Petroleumgeruch 
an einer Brandstelle ist eine Spur. Die Spurensuche und Spurensicherung be- 
schränkt sich nicht auf den Tatort. Neben den Tatortspuren gibt es andere 
Anzeichen ferne davon, zum Beispiel Blutspuren an der Kleidung verdächtiger 
Personen. Die moderne Kriminalistik unterscheidet zwischen Spurensichern, 
Spurenuntersuchen und Spurenverwerten. Der Beweiswert sachlicher Spuren 
ist so groß geworden, daß das chemische Laboratorium geradezu als Vorzimmer 
des Gerichtshofes bezeichnet worden ist \ Wie weit ist ein Sherlock Holmes 
hinter den Kriminalisten unserer Zeit zurückgeblieben; wie armselig muten uns 
seine Methoden, wie primitiv seine Technik der Verbrechensaufklärung an. 









*) Julius Glaser, Handbuch des Strafprozesses. I. Bd. Leipzig 1883. S. 738. 
a ) Erich Anusclut, Spureij in der kriminalistischen Praxis. Die Polizei. 5. April 1931. 
3 ) Edmond L o c a r d. Die Kriminaluntersuchung und ihre wissenschaftlichen Methoden. 
Berlin 1930. S. z6. 












Sherlock Holmes kannte das Auto nicht, nicht das Telephon, nicht die draht- 
lose Telegraphie, nicht das Lichtbild, nicht die Daktyloskopie und das Moulage- 
verfahren usw. 4 . Man vergleiche das Vorgehen des Detektivs, den uns 
Conan Doyle schildert, mit den Mitteln, über welche die heutige Krimina- 
listik verfügt, die Ergebnisse, zu denen er in einer bestimmten Zeit gelangen 
konnte, mit den jetzt erreichbaren. In einer der Erzählungen Doyles 5 wird 
in einem kleinen Hause die Leiche eines Mannes gefunden; neben ihr ein gol- 
dener Ring; an der Wand ist mit Blut das Wort „Rache" geschrieben. Holmes 
stellt zunächst fest, daß der Ermordete das Haus in Begleitung eines großen 
Mannes — die auffallende Schrittweite der Fußspuren zeigt ihm die Größe — 
betreten und daß dieser es dann allein verlassen hat. Ferner sieht Holmes, daß 
der Ermordete unverletzt ist. Es ist erkennbar, daß er vergiftet wurde. Nirgends 
gibt es Anzeichen von Kampf. Auch der Täter dürfte nicht verletzt sein. Woher 
stammt das Blut an der Wand? Der Verbrecher wird Nasenbluten bekommen 
haben. Das würde voraussetzen, daß er vollblütig war; er dürfte ein rotes 
Gesicht haben. Es ergibt sich so als erste und provisorische Beschreibung des 
Täters: ein großer Mann mit einem roten Gesicht. 

Man vergleiche nun dieses Resultat etwa mit dem, zu welchem der Gerichts- 
arzt Pf äff in einem bestimmten Falle gelangte". Ein Verbrecher hatte am 
Tatort eine Mütze zurückgelassen, in der sich zwei graublonde Haare befanden. 
Der Arzt fand mit dem Mikroskop in der Marksubstanz noch zahlreiche pech- 
schwarze Pigmentzellen. Die Schnittflächen der Haare waren ganz scharf, die 
Haarwurzeln beträchtlich atrophiert. In der Epithelialschicht waren mehrere, 
von Schweiß herrührende, warzenförmige Hervorragungen zu erkennen. 
Dr. P f a f f konnte in seinem Gutachten erklären: Der Verbrecher ist ein 
kräftiger, zur Korpulenz neigender, in den mittleren Jahren stehender Mann 
mit schwarz und grau meliertem Haar, das neulich geschnitten wurde, und 
beginnender Glatze 7 . 

Die Daktyloskopie, die Fortschritte der Mikrophotographie und der Mikro- 
chemie, der Medizin und anderer Disziplinen sind in den Dienst der Ver- 
brechensaufklärung getreten. Die Bereicherungen und Verfeinerungen der 
Technik sind natürlich auch den Verbrechern zugutegekommen und man kann 
mit Recht von einem technischen Wettlauf der Kriminalistik mit dem Ver- 
brechen sprechen. Nicht immer ist die Polizei in diesem Wettbewerb siegreich 

geblieben. 

Die Deutung und Verwertung der Spuren kann nach zwei Richtungen bedeut- 



*) Bercher, „L'oeuvre de Sherlok Holmes et le Police säend jique." Paris 1926. 

5 ) „A study in scarlet." 

•) Weingart, Kriminalistik. Leipzig 1904. S. 109. 

') Der Chef des Lyoner Erkennungsdienstes Dr. Edmond L o c a r d hat in einer instruktiven 
Studie „Policiers de roman et de laboratoire" , Paris 1930, Gemeinsamkeiten und Unterschiede 
der Methoden scharf hervorgehoben. 






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sam werden: nach der Richtung des objektiven Tatbestandes, in dessen Erfor- 
schung die Frage: „"Was ist geschehen und wie ist es geschehen?" im Mittelpunkt 
steht, und nach der Richtung des subjektiven Tatbestandes, für den die Antwort 
auf die Frage „"Wer ist der Täter?" entscheidend ist. Es ist klar, daß die Unter- 
suchungen nach beiden Richtungen geführt werden müssen; ebenso klar aber, 
daß sie häufig voneinander unabhängig geführt werden. 

Die Praxis zeigt oft, daß der objektive Tatbestand rasch, ja im ersten 
Augenblick erkennbar ist, während keine oder nur wenig Spuren vorhanden 
sind, welche den subjektiven Tatbestand aufklären könnten. Vielleicht ist es 
am günstigsten, wenn wir einen bestimmteren Eindruck von der Vielheit und 
Verschiedenheit der Gesichtspunkte durch eine Reihe von Beispielen zu ge- 
winnen trachten. Schon 1889 gelang Dr. Jeserich in einem Falle vor dem 
Landgericht Aurich der Nachweis, daß zunächst ein Mord begangen war, dem 
eine Brandstiftung folgte, um ihn zu verdecken. Jeserich fand nämlich 
in dem der Lunge des verkohlten Leichnams entnommenen Blut keine Spur von 
Kohlenoxyd. Beim Brande war also kein Atmen mehr erfolgt s . Hier wird 
sogleich deutlich, wie wichtig die Ermittlung des objektiven Tatbestandes ist. 
Sie entscheidet z. B. über die Frage, ob ein Verbrechen oder ein Unfall vorliegt. 
An der rechten Hand einer Leiche lag ein Revolver. Man hatte zuerst einen 
Selbstmord angenommen, doch der Tote war, wie festgestellt wurde, links- 
händig gewesen. Der erwähnte Umstand war es, der zuerst den Verdacht auf 
einen verschleierten Mord lenkte. Selbstverständlich wird es von der präzisen 
und gewissenhaften Feststellung des objektiven Tatbestandes abhängen, ob und 
in welche Richtung die Suche nach dem unbekannten Täter erfolgt. Dabei 
ereignet es sich nicht selten, daß sich diese Frage sozusagen von selbst löst. Ein 
berühmt gewordenes Beispiel dieser Art: Zwei Gutsbesitzer fahren zusammen 
in einem "Wagen, die Pferde gehen durch. Einer der beiden Herren stürzt aus 
dem Wagen und findet den Tod. Eine genauere, fast als überflüssig empfundene 
Besichtigung des Wagens zeigt zwischen den Rädern hinten einen Blutspritzer. 
Ein solcher konnte bei einem Sturz aus dem Wagen nicht entstanden sein. Das 
Ende dieser Untersuchung war, daß der zweite Gutsbesitzer des Mordes über- 
führt wurde. Er hatte den anderen unter einem Vorwand zum Aussteigen ver- 
anlaßt und ihn hinter dem Wagen erschlagen. 

Die Kriminalisten haben eine Art Katechismus aufgestellt, nach welchem man 
bei jedem geheimnisvollen und komplizierten Kriminalfall zu fragen hat: die 
„sL-ben goldenen W des Kriminalisten". Das will heißen, daß die richtige 
Beantwortung von sieben bestimmten Fragen die ausreichende Aufklärung über 
jedes Verbrechen garantiert. Die Fragen sind: Was — Wer — Wann — 
Wo — Wie — Womit — Weshalb? Nehmen wir an, ein Mann werde 



8 ) Nach Hans Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter. 5. Aufl. München 1908. Bd. I. 
S. 310. 

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tot, anscheinend ermordet, aufgefunden. Was ist geschehen? Wer ist der Er- 
mordete? Wann ist es geschehen? Wo geschah es? Wie geschah es? Womit 
geschah es? Weshalb geschah es? Gelänge es, alle diese Fragen bei einem 
Kriminalfall zu lösen, so wäre er vom kriminalistischen Standpunkte aus völlig 
aufgeklärt. Häufig ist die Hälfte dieser Fragen sogleich gelöst; oft aber bleibt 
ein Fall völlig im Dunkeln, weil eine einzige von ihnen sich als unlösbar 
erweist. Wir werden im Verlaufe dieser Arbeit so viele Beispiele von Be- 
mühungen zur Beantwortung dieser Fragen vorführen, daß es nicht notwendig 
erscheint, jede einzelne in ihrer Bedeutung für die Verbrechensaufklärung dar- 
zustellen. Hier sei nur betont, daß alle Momente, welche zur Beantwortung 
einer einzelnen oder aller dieser Fragen geeignet erscheinen, als Indizien ange- 
sprochen werden müssen. 

Es ist klar, daß die erste, nämlich „Was ist geschehen?" die Kardinalfrage 
für den Anfang der Untersuchung ist. Wir haben ja gesehen, daß es oft von 
ihrer Beantwortung abhängt, ob eine solche Untersuchung überhaupt stattfindet. 
Die Frage „Wer ist der Ermordete?" ist oft schwer zu ermitteln, sei es, daß die 
äußeren Umstände des Todes, sei es, daß der Mörder selbst die Leiche unkennt- 
lich gemacht haben. Ein Versicherungsbetrug wurde unlängst in der Art aus- 
geführt, daß der Versicherte einen Handwerksburschen aufnahm, als der Ver- 
brecher sich mit seinem Auto auf einer einsamen Landstraße befand. Er tötete 
den Armen und stattete die Leiche mit den eigenen Dingen (Paß, Uhr usw.) 
aus, dann steckte er das Auto und die Leiche in Brand. Man mußte annehmen, 
der Besitzer des Autos, der sich in Wirklichkeit auf der Flucht ins Ausland 
befand, sei der Verunglückte. 

Die Lösung der unscheinbaren Frage „Wann ist es geschehen?" hat schon oft 
die Entscheidung über einen schwer aufklärbaren Fall gebracht. So kann das 
Gutachten der Ärzte in Mordfällen, wann der Tod eingetreten ist, von eminen- 
ter Bedeutung für den Tatbestand werden. Kleine Einzelheiten wie eine stehen- 
gebliebene Uhr, ein Abreißkalender können eine exakte Lösung der Täterfrage 
manchmal wesentlich fördern. Weingart erwähnt folgenden Fall : Am 
Tage nach einem Diebstahl fand man bei einem Verdächtigten Geld, das in 
Zeitungspapier eingewickelt war. Er behauptete, daß er das Geld schon seit 
vier Wochen besitze und seit dieser Zeit so eingewickelt an diesem Orte liegen 
habe. Es wurde festgestellt, daß das Zeitungsblatt am Tage vorher gedruckt 
war. Damit war die Aussage widerlegt. Die Bedeutung der zeitlichen Umstände 
sowie der Indizien, welche in diese Richtung weisen, sei z. B. an einem Fall 
gezeigt, den der bedeutende amerikanische Kriminalist Albert S. O s b o r n in 
seinem Werke „The Problem of Proof" anführt 10 : Ein Brief, der die Echtheit 
einer Schuldangabe über mehrere tausend Joch Land beweisen sollte, war im 
Jahre 1892 datiert und mit einer Remington-Schreibmaschine geschrieben. Nun 

') Weingart, Kriminalistik. S. 1J7. 
10 ) New York 1926, S. 231. 



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hatten die Remington-Maschinen unter anderen Veränderungen den Abstand 
des unteren Teiles des großgeschriebenen P von 048 zu 060 Zoll im Jahre 
1898 geändert. Der als Bestätigung vorgebrachte Brief zeigte nun schon die 
erwähnten Veränderungen; das P hatte schon einen Abstand von 060 Zoll. 
Dieses Beispiel, in dem die Messungen der Typen die „Controlling facts" des 
Falles darstellten, kann gleichzeitig zeigen, in welcher Art das Werkzeug des 
Verbrechers manchmal zum Verräter an ihm wird. Die große Bedeutung der 
zeitlichen Indizien braucht nicht eingehender erwiesen zu werden, wenn man 
an die Überzeugungskraft eines Alibi erinnert. Der Kriminalist Karl S t i e 1 e r 
behauptete einmal, für einen ordentlichen Wilddieb seien nur drei Dinge not- 
wendig: Ein Abschraubegewehr, ein geschwärztes Gesicht und ein verläßlicher 
Alibibeweis. Der Ort, an dem das Verbrechen geschah („Wo geschah es?") mag 
dem Laien manchmal als von geringerer Wichtigkeit erscheinen; seine Eruierung 
führt aber häufig zur Ermittlung des Täters. Dies geschieht nicht nur durch 
direkte Tatortspuren wie Fingerabdrücke usw.; die Ortsfeststellung als solche 
läßt manchmal bedeutsame Schlüsse zu. So wird etwa das tote Opfer zu einem 
abgelegenen Ort verschleppt, um die Tatspur überhaupt zu verwischen. Hier 
seien nur zwei Beispiele erwähnt, die zeigen sollen, in wie verschiedener Art 
die Tatortermittlung für die Aufklärung eines Verbrechens wichtig wird": 
Nach einer Brandstiftung fand man an der Fahrradlaterne eines Verdächtigen 
hängengebliebene Teile einer Getreideähre von gleicher Art und gleichem Reife- 
grad wie auf einem Getreidefeld neben dem Tatort. Der Brandstifter hatte, 
um schnell an den Tatort und wieder zurückzukommen, sein Fahrrad benützt 
und es während der Tat in das Getreidefeld gelegt. Hier war der Tatort 
gegeben; seine unmittelbare Umgebung wurde zum Verräter. In anderen Fällen 
ist der Tatort unbekannt und seine Eruierung wird zum wichtigsten Hinweis 
auf die Täterschaft wie z. B. in folgendem Falle: Auf einer norddeutschen 
Eisenbahnstrecke war ein mit Geld gefüllter Postbeutel seines Inhaltes beraubt 
und dann zur Verdeckung der Tat mit Sand gefüllt worden. Der Zug hatte 
etwa zwanzig Stationen berührt. Um den Tatort zu ermitteln, wendete man 
sich an einen Geologen. Dieser ließ sich in einzelnen Behältern Sand von sämt- 
lichen Stationen kommen, verglich ihn mit dem Sand im Postbeutel und stellte 
fest, daß der Sand von einer bestimmten Station herrührte. Dort war der 
Diebstahl ausgeführt worden. 

Die nächste Frage „Wie konnte es geschehen?" macht die Erkundung der 
äußeren Umstände der Tat nötig. Hier werden sich häufig Indizien ergeben, 
die unzweideutig auf den Täter hinweisen. Das „Wie" der Tat gibt in einer 
außerordentlich großen Anzahl von Fällen mittelbare Auskunft über den Täter 
selbst. Alles, was der Mensch tut und unterläßt, was er ist und was er sein 

u ) Zum Teil nach Weingarc, Kriminalistik. S. 120, 181. Viele ähnliche Fälle in den 
bekannten Handbüchern von Gross, Nicefort-Lindenau, Reiss, Otto- 
1 e n g h i usw. 

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möchte, kann hier zum Ausdruck kommen und Spuren hinterlassen. Die Aus- 
führung von Tätigkeiten, die mit dem Verbrechen nur unmittelbar im Zusam- 
menhange stehen, sagt oft mehr über einen Täter aus als die Zeugen. 

Hier ein Beispiel von kriminalistischer Verwertung eines solchen Hilfs- 
indizes '". Anfang 1923 wurde Dr. W. Schatz vom Inhaber eines Getreide- 
geschäftes gebeten, ihm bei der Aufklärung von Getreidediebstählen behilflich 
zu sein. Ein in Verdacht stehender Arbeiter, der dem Betrieb angehörte, konnte 
nicht überführt werden. In dem Raum, aus dem mehrere Säcke gestohlen wor- 
den waren, fand man keine Spuren. Schatz bemerkte zufällig das Ende eines 
frei herumliegenden Bindfadenknäuls, das einen ganz frischen Schnitt aufwies. 
Die Durchsuchung der "Wohnung des betreffenden Arbeiters hatte den Erfolg, 
daß dort ein ungefähr zwei Meter großes Stück gleichen Bindfadens gefunden 
wurde, von dem ein Ende genau auf den Schnitt des am Tatort befindlichen 
Schnittes paßte, wie sich mittels des Mikroskopes nachweisen ließ. Der Täter 
hatte die von ihm entwendeten Säcke mit einem Bindfaden zusammengebunden 
und aus dem Dachfenster in den Nachbargarten geworfen, um sie später abzu- 
holen. Schatz zog aus der Beschaffenheit des Fundes den Schluß, daß zwei 
Personen an der Tat beteiligt gewesen sein müssen. Der Schnitt am Bindfaden 
war nämlich nicht gerade sondern schräg geführt worden. Einzelne Personen 
schneiden nun in der Regel derbere Bindfaden so, daß sie eine Schlinge bilden 
und das Messer in gerader Richtung durchführen. Wenn sich aber zwei Per- 
sonen beteiligen, bewegt der Schneidende das Messer meistens von sich weg, 
so daß ein Schrägschnitt entsteht. Der Arbeiter gestand, daß sein Sohn ihm 
beim Verschnüren der Säcke und beim Schneiden der Stricke geholfen habe. 
Gerade in der Beurteilung solcher Indizien und in den Schlußfolgerungen, die 
ihre sachgemäße und wissenschaftliche Untersuchung gestattet, feiern die 
gerichtliche Medizin, die Mikrochemie und Mikrophotographie ihre Triumphe. 
Unscheinbare Dinge werden zu Beweisstücken, deren Überzeugungskraft außer- 
ordentlich ist 13 . 

So wurde einmal auf dem Tatorte ein Arbeitsrock gefunden, der äußerlich 
keinen Anhaltspunkt für die Person des Besitzers bot. Der Rock wurde nun 
in einen gut geklebten Sack aus starkem Papier gebracht und das Ganze so 
lange und stark mit Stäben geklopft, als es das Papier gestattete, ohne zu 
zerreißen. Dann wurde der Sack geöffnet, der Staub, der sich auf dem Papier 
unter dem Rock befand, sorgfältig gesammelt und dem Mikroskopiker über- 
geben. Die Untersuchung ergab, daß der Staub, der reichlich aus dem Rock 



") Dr. W. Schatz, Hilfsindizien. Kriminalistische Monatshefte. 1928. S. 271 ff. 

a ) Man vergleiche: Dennstcdt, Die Chemie in der Rechtspflege, Leipzig 1910; J c s e- 
rich, Chemie und Photographie im Dienste der Verbrechensaufklärung, 193 1, ferner die 
Beiträge von Popp, Schütze u. a. im „Archiv für Kriminalanthropologic", Look, 
Chemie und Photographie bei Kriminalforschungen, Düsseldorf, enthalten eine Fülle solcher 
Beispiele. 

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1 



herausgefallen war, hauptsächlich aus fein zerriebener Holzfaser bestand, so 
daß man annehmen durfte, der Rock gehöre einem Schreiner, Zimmermann, 
Sägemüller. Solche Spuren, die durch die Anwesenheit des Täters am Tatorte 
entstehen, sind entweder Einwirkungen seines Körpers auf die Umgebung 
(z. B. Abdrücke und Eindrücke), oder Einwirkungen der Umgebung auf 
den Körper (auf die Kleidung oder Objekte des Täters). Die Spuren, die von 
den Rippen einer Samtjacke auf einer staubigen Marmorplatte hinterlassen 
wurden, haben die Überführung eines Mannes ermöglicht, der in der Gegend 
von Tour einen Mord begangen hatte lt . In einem anderen Falle fiel ein Dieb 
beim Erklimmen einer Mauer auf die Knie; er trug eine Samthose, die an einer 
Stelle mit anders gemustertem Stoff geflickt war. Er hinterließ, dank dieser 
Kleinigkeit, eine ganz charakteristische Spur, die seine Entlarvung erleichterte ir '. 
Im Falle eines Petersburger Bankiers 1 ' 1 , der in seinem Bureau getötet wurde, hatte 
man in der Nähe der Leiche eine Zigarre gefunden, die deutliche Zahnabdrücke 
zeigte, und zwar, wie man feststellen konnte, nicht die des Opfers. Die ver- 
räterischen Spuren klärten den Fall auf: der Mörder war der Cousin des 
Bankiers. In ähnlicher Art werden andere Gegenstände, die Zahnabdrücke 
zeigen, z. B. eine Pfeife wichtige Hilfsmitel zur Identifizierung des Täters. 
Die Art der Verletzungen ergibt bei Mordfällen oft als solche einen Hinweis 
auf die Person des Verbrechers. Ein Mädchen war durch zwei regelrecht auf 
beiden Seiten des Halses beigebrachte Schnitte in die Karotiden ermordet 
worden. Mit Recht schloß man aus dieser Art der Tat auf einen Fleischer (nach 
Tardieu). A. Griffith erzählt in seinen „Mysteries of Police and Crime" 
den interessanten Fall der Madame Henri, der sich etwa 1830 in Frankreich 
zutrug. Teile eines männlichen Körpers in einem Sacke wurden im Fluß 
gefunden. Man zog aus dem Umstände, daß der Sack oben zugenäht war, den 
Schluß, daß eine Frau die Täterin sei, denn man nahm an, ein Mann hätte den 
Sack zugebunden und zugeknöpft. Diese Beobachtung führte auf Madame 
Henri, sobald der Körper als der ihres Gatten agnosziert war. 

Womit wurde die Tat begangen? Die Wichtigkeit der Lösung dieser Frage 
leuchtet unmittelbar ein. In Dresden hatte ein Fleischergeselle einer Frau ein 
langes Fleischermesser in die Brust gestoßen und es in der Eile der Flucht 
stecken lassen. Das Messer war schon jahrelang benutzt und deshalb oft 
geschliffen worden. Es hatte durch das viele Schleifen eine ganz eigenartige, 
etwas sichelähnliche Form erhalten. Der Verdächtigte bestritt, daß das Messer 
von ihm sei. Seine übrigen Messer wurden herbeigezogen und damit verglichen; 
sie hatten sämtlich die gleiche sichelartige Form. Es wurden nun noch zahl- 

") Edmond Locard, Die Kriminaluntersuchung und ihre wissenschaftlichen Methoden, 
Berlin, S. 125. 

1B ) Der Altertumsforscher F i r c 1 1 i hat bekanntlich in der Asche von Pompeji Spuren 
von Kleidungsstücken gefunden, die so deutlich waren, daß man Zeichnung und Art der ver- 
wendeten Stoffe feststellen konnte. 

1B ) Weingart, Kriminalistik. S. in. 

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reiche andere, oft geschliffene Messer von mehreren Fleischern zum Vergleich 
herangezogen; bei allen diesen hatte das Schleifen die Form ganz anders ver- 
ändert. Der Mord an dem Kinogeschäftsführer Schmoller in Berlin (1931) wurde 
durch ein Indiz, das von den Schießsachverständigen klargestellt wurde, aufge- 
klärt: durch die Beschaffenheit der Revolverkugel. Die gefundenen Geschoß- 
hülsen stammten von einem Typ der amerikanischen Munition „Colt", die erst 
seit sechs Monaten im Handel war. Der Verdächtigte, der Artist Urban, kam 
erst Anfang Januar 193 1 von Amerika, wo er eine zweijährige Tournee gemacht 
hatte, zurück. Hermann Z a f i t a hat besonders darauf hingewiesen, in welcher 
Art die Requisiten einen Täter charakterisieren. Er betont, wie wichtig es kri- 
minalpsychologisch sei, die Objekte zu untersuchen, die der Mensch als Mittel 
seiner verbrecherischen Betätigung heranzieht ". 

Auch abgesehen von solchen kriminalpsychologischen Gesichtspunkten, die 
über allgemeine Bemerkungen bisher nicht hinausgeführt haben, wird die Be- 
deutung der Werkzeuge und Mittel in der Tatausführung für die Lösung der 
Täterfrage klar, wenn man sich etwa folgendes Beispiel vor Augen hält, das 
die Thüringer Landes-Kriminalpolizei angeführt hat: In einem Dorfe ging ein 
Hof in Flammen auf. Beim Durchsuchen einer Scheune fand man, von einem 
herabgefallenen Dachziegel versteckt und durch ihn vor Feuer geschützt, einen 
kleinen bedruckten Papierstreifen, dessen sich der Brandstifter vermutlich be- 
dient hatte. Die Polizei stellte fest, daß der bedruckte Streifen aus einem Kin- 
derlesebuch herausgerissen worden war, und ermittelte den Besitzer des Buches. 
Man hat gesagt, der größte Verräter des Verbrechers sei die Hand. Dies galt 
bereits zu der Zeit, da es noch keine Daktyloskopie gab: Ein Bauer zeichnete 
mit einem Stück Holz dem Nachbar in großen Umrissen das Wort „Geizhals" 
in die Saat und streute Kornblumen in die Spur. Der vom Beleidigten zuge- 
zogene Sachverständige ließ die Schriftzüge photographieren: sie stimmten mit 
der Handschrift eines feindlichen Nachbarn völlig überein 18 . Es ist wirklich so, 
daß alles, was wir tun, Spuren hinterläßt, die von unserer persönlichen Art er- 
zählen könnten. 

Dieses Beispiel ist geeignet, zu der letzten Frage aus der Reihe jener 
sieben goldenen W des Kriminalisten überzuleiten: Weshalb wurde die Tat ver- 
übt? Oft gibt der Charakter der Tat selbst ausreichende Auskunft, oft aber 
bedarf es großer Mühe, um sie zu beantworten. Wir kommen auf diese Frage 
und ihre Rolle in der Verbrechensaufklärung zurück. Unsere Absichten erfordern 
keine weitere Aufzählung von Beispielen, kein näheres Eingehen auf die spe- 

") Zur kriminalpsychologischen Bedeutung des Verbrecherwerkzeugs. Archiv für Kriminal- 
anthropologie. Bd. jz, S. 249 ff. „Im Allgemeinen", bemerkt der Autor, „kann man mit an- 
nähernder Genauigkeit aus den Qualitäten der Verbrecherwerkzeuge auf die psychischen 
Voraussetzungen der Tat schließen, umsomehr dann, wenn die Erhebungen und Nach- 
forschungen dasselbe ergeben, was aus der Beschaffenheit entnommen und bestimmt werden 
kann". 

18 ) H e n z e, zitiert von W e i n g a r t, Kriminalistik. S. 87. 



M 



H 



ziellen kriminalistischen Gesichtspunkte. Von den Unterscheidungen der Spuren 
in führende und lückenschließende, eindeutige und mehrdeutige, kreisbegren- 
zende, gruppenbestimmende, einzelbestimmende usw. sind gewiß nicht alle 
bedeutsam. 

Der Laie weiß nicht, wieviel Mühe und wie großer Aufwand von Ge- 
danken und materieller Arbeit bei der Aufklärung einzelner Verbrecher not- 
der Schlauheit des Verbrechers und mit dem Zufall zu rechnen hat, die ihn in 
seiner Arbeit empfindlich stören und irreleiten können. Hier ist der Ort, auf 
„Trugspuren" hinzuweisen, welche oft zu verhängnisvollen Irrtümern führen. 
Es ist wirklich und wahrhaftig vorgekommen, daß man an einer Mordstelle ein 
Messer gefunden hat, das ein harmloser Wanderer eine Stunde vor der Tat 
gerade dort verlor; Blutspuren, an die der Gerichtsarzt die wichtigsten Folge- 
rungen knüpfte, rührten vom Nasenbluten einer kurz vorher am Tatort an- 
wesenden, völlig unbeteiligten Person her. Der Kriminalist muß die größte Auf- 
merksamkeit der Unterscheidung, ob eine Spur mit der Tat in Zusammenhang 
steht oder nicht, zuwenden. Bei einem Mordfall fielen vor dem Hause Blut- 
spuren auf, an die man verschiedene Schlüsse knüpfte. Wie sich später heraus- 
stellte, stammten die Blutspuren von einer Beißerei zwischen zwei Hunden ,e . 
Zu den Trugspuren gehören natürlich auch solche, welche vom Verbrecher selbst 
fingiert werden und einen bestimmten Tatbestand vortäuschen sollen. Die 
Kriminalisten gestehen zu, daß in einer solchen künstlichen Herstellung von 
Spuren manchmal ein beachtenswertes Stück gedanklicher Arbeit steckt. Der 
Verbrecher muß in seiner Vorstellung die voraussichtlichen Schlüsse der unter- 
suchenden Personen vorwegnehmen und die Dinge so arrangieren, daß sie in 
diesem bestimmten, ursächlichen Zusammenhange zu stehen scheinen. Der Erfolg 
solcher Bemühungen ist in vielen Fällen unbestreitbar. Oft wurde das Opfer 
eines Verbrechens schon anstandslos beerdigt; erst viel später wurde durch einen 
Zufall oder unvorhergesehene Umstände die gewaltsame Natur des Todesfalles 
klar. Bei der Leiche eines erschossenen Försters, der seit Tagen hinter einem 
berüchtigten Wilddieb S. her war, fand man das offene Notizbuch, worin mit 
zittriger Hand gekritzelt war: „S. hat mich erschossen." Da noch andere In- 
dizien hinzukamen, wurde S. zum Tode verurteilt, das Urteil wurde jedoch 
nicht vollstreckt. Lange Zeit später äußerte sich ein Junge, der Sohn eines 
gewissen G., über merkwürdige Redensarten, die er bei Streitigkeiten zwischen 
seinen Eltern gehört hatte. G. wurde verhört und gestand endlich, daß er den 
Förster erschossen hatte. Bei der Tat hatte er sich durch Anlegen eines falschen 
Bartes dem S. möglichst ähnlich gemacht. Den Vermerk in das Buch hatte er 
absichtlich „zittrig" geschrieben 20 . Das Erzeugen falscher Spuren ist keinswegs 
leicht aufzuklären; oft genug wird der unter suchende Beamte durch sie ge- 

") Dieses wie einige frühere Beispiele von dem Berliner Kriminalkommissär Erich Anu- 
schat, Spuren in der kriminalistischen Praxis. Die Polizei, 193 1. 
M ) Erich Anuschat, Die Gedankenarbeit des Kriminalisten, Berlin 1921, S. 44- 

15 



täuscht. Die Wendung „Crime does not pay" entstammt einer optimistischen 
Weltanschauung, die trotz ihres kaufmännischen Charakters die Voraussicht 
und Geschicklichkeit mancher Verbrecher unterschätzt. Wird freilich die Un- 
echtheit, die fingierte Natur von Spuren entdeckt, so werden sie erst recht und 
in ganz anderer Art als ihr Produzent es wünschte, zum Mittel, den Tatbestand 
festzustellen. 

Schließlich muß erwähnt werden, daß die kriminalistische Untersuchung, die 
sich mit der des Sachverständigen vergesellschaftet, Gegenindizien erkennen 
kann, d. h. also, Zeichen dafür, daß der Verdächtigte nicht der Täter ist. Da es 
sich uns hier darum handelt, ein Bild der kriminalistischen Situation zu geben, 
sei nur ein interessantes Beispiel für so viele herangezogen. Es soll dieses Mal 
die Astronomen als Sachverständige in einem Strafprozeß zeigen sl : Im Früh- 
jahr 1910 wurde ein Mann in Nebraska verdächtigt, eine Explosion verursacht 
zu haben. Zur fraglichen Zeit war der Mann mit einem Handkoffer von zwei 
Zeuginnen gesehen worden. Zufällig hatte ein Amateur Leute, die aus einer, 
eine halbe Stunde vom Tatort entfernten Kirche kamen, photographiert; 
darunter auch die beiden Zeuginnen. Astronomen berechneten nun aus einem 
Schatten, den irgendein Mann nach der Photographie auf eine Mauer geworfen 
hatte, mit voller Bestimmtheit (auf wenige Minuten) die Zeit der Aufnahme. Im 
Vergleich zur Zeit der Explosion ergab sich daraus, daß der (schon zu fünf- 
zehn Jahren Zuchthaus verurteilte) Mann unmöglich der Täter sein konnte. In 
der zweiten Verhandlung wurde er freigesprochen. 

In dem gleichen Maße, in dem die wissenschaftlichen Untersuchungen die 
Gefahren der Zeugenaussage zeigten, haben sie den Vorrang des Tatsachen- 
beweises ermöglicht. Das Vertrauen in diesen „technischen Beweis" ist ständig 
im Wachsen und die Wissenschaft legt steigend Wert auf Vervollkommnung der 
Methoden, die sich mit der Untersuchung der „Realien", des Tatsachenbefundes 
und der Spuren, beschäftigen. Sie soll das wirksamste Gegenmittel gegen „das 
Gift der Zeugenaussage" bilden "". Die Einführung wissenschaftlicher Methoden 
in die Kriminaluntersuchung hat dieses Gift gewiß nicht ausgeschaltet, aber viel- 
leicht in seiner Wirksamkeit sehr abgeschwächt. Es liegt freilich in ihr selbst 
so viel verborgenes Gift. 

Der „indirekte Beweis durch sachliche Indizien", wie man ihn in strenger 
kriminalistischer Terminologie nennen muß, überführt den Schuldigen nicht 
durch sich selbst. Er setzt vielmehr eine strenge methodische Verwertungsarbeit 
voraus; die Spuren müssen gedeutet, untereinander verglichen, überprüft wer- 
den. Das Vorkommen von Gift in einer Leiche beweist die Vergiftung, nicht ein 
Verbrechen; der Fingerabdruck am Tatort beweist die Anwesenheit einer 

2l ) Gross, Handbuch, S. 187. 

23 ) „Mic jedem Fortschritt der Kriminalistik fällt der Wert der Zeugenaussage und steigt 
die Bedeutung der realen Beweise", sagt Hans Gross. (Vorwort zur dritten Auflage des 
Handbuches für Untersuchungsrichter.) 



16 









Person, nicht den begangenen Diebstahl dieser Person. Die sorgfältige und prä- 
zise Feststellung des Tatbestandes ist die erste Aufgabe des Kriminalisten; sie 
muß der Überprüfung und Deutung der Indizien vorausgehen. In einem eng- 
lischen Kochbuch beginnt das Kapitel, das die verschiedenen Arten der Zube- 
reitung des Hasen behandelt, mit dem lapidaren Satz: „First catch tbe bare!" 

Zuerst Collegium logicum 

Das Indiz ist eine Tatsache, die eingegliedert, in ursächlichen Zusammenhang 
oder eine andere Beziehung zu anderen Tatsachen gebracht werden muß, um für 
die Tatbestandsermittlung wertvoll zu sein. Mit anderen Worten: Das Indiz 
erhält seinen Wert erst durch einen bestimmten seelischen Vorgang beim Unter- 
suchenden. Von welcher Art ist nun dieser psychische Prozeß? Tatsachen unter- 
einander in Beziehung setzen, sie miteinander so verknüpfen, daß ihre funktio- 
nale Bedeutung ersichtlich wird, das Wesentliche strenge vom Zufälligen son- 
dern, aus bestimmten Prämissen Schlüsse ziehen — das sind logische Ope- 
rationen. Die Logik ist es also, die hier das erste Wort zu reden hat? Oder 
das letzte? 

Es ist logische Denkarbeit, so scheint es, der die Kriminalisten ihre 
großen Erfolge zu verdanken haben; es ist diese intellektuelle Leistung, die wir 
manchmal bewundern. Die Handbücher für Richter und Kriminalbeamte weisen 
mit Nachdruck auf die Notwendigkeit des logischen Denkens und auf die Ge- 
fährlichkeit falscher Schlüsse in der kriminalistischen Arbeit hin und diese 
Betonung logischer Reinheit und Folgerichtigkeit ist sehr verständlich. Wer 
eine einzige falsche Schlußfolgerung zieht, kann wirklich sehr weit vom Wege 
abkommen und immer tiefer in die Irre gehen. Das gilt bereits von der Erfas- 
sung des Zusammenhanges zwischen Spur und Täter. Eine Fußspur, eine Schar- 
tenspur, ein Zigarrenstummel, diese Spuren in ursächlichen Zusammenhang 
mit dem Handeln des Täters zu setzen — hier beginnt die logische Arbeit. 
Hans Gross sagt darüber in seiner berühmt gewordenen Kriminalpsychologie: 
„So einfach diese Feststellung bezüglich des ursächlichen Schließens ist, so wich- 
tig ist sie für uns, weil das fortwährende und immer wieder erneuerte Fragen: 
Was ist hier Wirkung, wo ist die Ursache? die eigentliche und wichtigste Arbeit 
für uns bleibt. Wer daran festhält, sich das bis zum Überdruß oft zu fragen, 
kann nicht leicht einen größeren Fehler begehen." 

Als Vorbild logisch richtigen Denkens wird etwa den jungen Kriminalisten 
Sherlock Holmes gezeigt. Gewiß, das ist Literatur, die Hilfsmittel, die der 
Engländer anwendet, sind längst überholt, aber die Gabe der Beobachtung und 
Schlußfolgerung, die er sein eigen nennt, bleibt für den Kriminalisten beneidens- 



wert M . 



«) „Your peculiar facility for deduetion", nennt es sein getreuer Watson („The Greek 
Interpreter"). Holmes selbst rühmt sich dieser „faculties of deduetion wbieb I have made 
my special province" („The Adventure of the Copper breeches"). 

Reit: Der unbekannte Mörder 1 ' 









Dieser Detektiv beobachtet scharf geringfügige Einzelheiten, die niemand 
sonst der Beachtung wert hält, denkt über sie nach, setzt sie in Beziehung zu 
einander, legt sie seinen Deduktionen zugrunde. Er beobachtet die Form der 
Hände, der Fingernägel, der Schwielen, die Haltung eines Menschen, Details 
seiner Kleidung, etwa der Rockärmel, der Hosenknie, der Stiefel. Abgescheuerte 
Stellen der Kleidung führen ihn oft zu den verblüffendsten Schlußfolgerungen, 
lassen ihn mit Sicherheit den Hergang eines Verbrechens erschließen und er- 
lauben ihm, einen verborgenen Tatbestand auf das Genaueste zu rekonstruieren. 
Solche Beobachtungen an sonst unbeachteten Kleinigkeiten führen zu Einsichten 
in den Beruf, die Lebensgewohnheiten, das gegenwärtige und vergangene Leben 
einer Person. Zu solcher Beobachtungsgabe tritt nun jene treffsichere Art der 
Schlußfolgerung, welche fast nie irrt. Lothar Philipp, der eine eigene krimi- 
nalistische Denklehre fordert, stellt Sherlock Holmes Weise der Beobachtung 
und Schlußfolgerung als Muster hin 2i . 

Wären wir durch die rein äußerliche, auf Knalleffekte berechnete Art des 
englischen Detektivs nicht ernüchtert, wir könnten manchen Zug der hier 
beschriebenen kriminalistischen Technik mit der besonderen Art psychoana- 
lytischer Beobachtung und Deutung vergleichen. Ist es vielleicht gerade diese 
Ähnlichkeit der Methoden, die unser Interesse erweckt hat? Hier wie dort die 
Beobachtung und ihre Deutung sowie die Dienste, welche sie, in besonderen Zu- 
sammenhang gebracht, zur Aufdeckung verborgerncr Tatbestände leisten? Ge- 
wiß, hier gibt es bestimmte Ähnlichkeiten methodischer Art 2r ', doch sind dar- 
über die einschneidenden Differenzen nicht zu vernachlässigen. Auch wenn man 
von der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Ziele der beiden intellek- 
tuellen Prozesse absieht, bleiben noch genug und genug entscheidende Diffe- 
renzen. 

Im Falle der kriminalistischen Gedankenarbeit handelt es sich um ein streng 
logisches Schließen; es gibt einen Obersatz, einen Untersatz (oder mehrere) und 
eine Schlußfolgerung. Die psychischen Vorgänge beim Analytiker, der Verbor- 
genes entdecken will, sind von anderer Art. Sie haben mit bewußter Logik 
wenig zu tun; der Analytiker bedient sich anderer Erkenntniswege und -mittel. 
Der Zweck der kriminalistischen Gedankenarbeit ist das Erkennen eines mate- 
riellen Vorganges und die Ermittlung einer unbekannten Person, das der ana- 
lytischen Arbeit ist das Aufdecken eines psychischen Vorganges oder einer 
Abfolge psychischer Vorgänge. In der Psychoanalyse ist alles unwesentlich 
gegenüber der psychologischen Erkenntnis, während dem Kriminalisten der 
psychische Vorgang nebensächlich oder unwichtig erscheint, verglichen mit der 



=*) Kriminalistische Denklchrc, Berlin 1927; ebenso weisen Locard, Anuschat u. a. 
auf Sherlock Holmes Vorbild hin. 

28 ) Unlängst hat S. B e r n f e 1 d auf die Ähnlichkeit des analytischen Deutungsverfahrens 
und der kriminalistischen Arbeit hingewiesen. („Die Krise der Psychologie und die Psycho- 
analyse", Int. Zeitschr. f. Psa., Jg. XVII, 193". Hcft *•) 



18 






1 






Realität, die klarzustellen sein erstes und oft auch sein einziges Bemühen ist. 
Hier wie dort werden freilich Spuren beobachtet, verwertet und gedeutet, aber 
der wesentliche Unterschied liegt in der Art dieser Spuren und in der Art ihrer 
Verwertung. Die sachlichen Indizien sind zumeist Stücke der anorganischen 
Natur. Ein bißchen Staub, ein Fingerabdruck, ein Hemdkragen erzählen dem 
Kriminalisten ganze Geschichten, erlauben ihm bestimmte Rückschlüsse; die 
Objekte als solche sprechen. Der Analytiker gelangt zu ähnlichen Schlüssen 
in der überwiegenden Anzahl von Fällen erst durch die Beobachtung der 
Handlungen der Personen. Das unbelebte Objekt als solches sagt ihm nichts, 
wenn nichts mit ihm geschieht, wenn es nicht berührt oder bewegt wird, wenn 
es nicht, zugleich Objekt der Aktivität jener Person wird, die ihn interessiert. Der 
Psychoanalytiker würde jenem kriminalistischen Ausspruche, der größte Ver- 
räter des Menschen sei seine Hand, in einem Sinne beistimmen können. Der 
Kriminalist meint z. B. den Fingerabdruck, wie er durch die Methoden der 
Daktyloskopie sichergestellt ist. Der Abdruck, den er an der Schublade des 
Tatortes findet, ist für ihn als solcher von höchster Bedeutung; er liefert viel- 
leicht unzweideutige Auskunft über den unbekannten Täter. Dem Psycho- 
analytiker hat der Fingerabdruck als solcher nichts zu sagen, aber er könnte 
gewisse Schlüsse ziehen, wenn er etwa einen Menschen beobachtet, der mit 
seinen Fingern gedankenlos mit einem bestimmten Objekt spielt oder sonst 
unbewußt hantiert. Man sieht, die Ähnlichkeiten beschränken sich auf einzelne 
Züge der Methoden und ergeben sich zum Teil aus dem gemeinsamen Bemühen, 
einen verborgenen Sachverhalt ans Licht zu bringen 28 . 

Es obliegt uns jetzt, zu einer Behauptung zurückzukehren, die uns schon als 
wir sie aufstellten, nicht ganz richtig zu klingen schien. Wir sagten, die Wege, 
auf denen der Kriminalist zu seinen Resultaten gelangt, sind rein logischer Art. 
Die Kriminalisten selbst werden das gerne, viele sogar sehr gerne hören. Viele, 
namentlich die jüngeren unter ihnen, sagen, solche logische und kombinatorische 
Arbeit mache das Wesentliche ihrer Ermittlungstätigkeit aus. Sie stellen ihre 
Erfahrungen dar, zeigen die Art dieser entscheidenden Operationen, ihrer Er- 
folge sowie durch Fehlschlüsse bedingten Mißerfolge und bemühen sich, die 
Notwendigkeit, ja Unerläßlichkeit logischer Überlegungen in der Krimina- 
listik zu erweisen. Das kühle und sachliche Nachdenken, die Überprüfung 
einer Sachlage nach logischen Regeln, das „Raisonnement" (Locard) steht so 
im Mittelpunkt der kriminalistischen Denkarbeit. Liest man manche jener 
Handbücher, könnte man fast meinen, daß die genaue Kenntnis der verschiedenen 
Arten der Schlußfolgerung über den kriminalistischen Erfolg oder Mißerfolg 
entscheidet. Da 'werden die Möglichkeiten falscher Schlußfolgerungen auf das 
strengste differenziert und katalogisiert, da wird die verschiedene Verläßhch- 

M ) Edmund Locard meint, der Kriminalist baue aus den Spuren die Person des Schul- 
digen auf wie der Erforscher der Vorgeschichte urzeitliche Lebewesen aus ihren Über- 
bleibseln. (Die Kriminaluntersuchung usw., S. 200.) 

*9 










keit, da wird der Umfang von Obersatz und Untersatz geprüft, da werden die 
Gesetze des richtigen Schließens gelehrt und Zirkelbeweise, Heterozetese und 
Unverständigkeit der Disjunktion in ihrer Bedeutung für die Kriminalistik 
gewürdigt 27 . 

Die Unterscheidung der Prämissen als apodiktische, assertorische und proble- 
matische soll nach dieser Ansicht dem Kriminalisten ebenso vertraut sein wie 
die Theorie logischer Fehlschlüsse oder Syllogismen, der Satz des ausgeschlos- 
senen Dritten, des zureichenden Grundes, des Widerspruches usw. muß ihm 
ebenso wichtig sein wie die Stellung des Mittelbegriffes, die spezifische Schluß- 
gattung oder Schlußfigur. Es wird die strenge Forderung aufgestellt 2S , daß der 
Kriminalist „die Gesetze der Logik beachten, daß er folgerichtig denken lernen 



CC "'J 

müsse . 



Ich bin skeptisch genug, den Wert solcher Einführung und Ausbildung 
in der logischen Disziplin nicht hoch anzuschlagen, ja manchmal bin ich sogar 
der Ansicht, sie könnten in der Aufklärung bestimmter Fälle indirekt geradezu 
schädlich sein, da sie die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen ablenken. Bei der 
Bewertung von Indizien, fürchte ich, wird es dem Untersuchungsrichter wenie 
helfen, wenn er die hypothetisch-disjunktive Schlußform von der kategorischen 
so scharf zu unterscheiden gelernt hat, wie es die „kriminalistische Denklehre" 
vorschreibt. Nehmen wir an, ein Kriminalkommissär sei mit der Aufklärung 
eines Einbruches betraut, so wird er kaum viel klarer sehen, wenn er sich vor 
Augen hält 30 : „Die Anzahl der möglichen Tatbestände steht in reziprokem 
Verhältnis zur Anzahl der Indizien, sie verringert sich in dem Maße, wie sich 
die Anzahl der Indizien vergrößert." Vom beschränkten Wert der Warnung vor 
falschen Schlußfolgerungen haben wir schon gesprochen: Die Gefahr solchen 
Falschschließens ist als solche keineswegs so groß wie man nach der Ansicht der 
kriminalistischen Theorie annehmen sollte 31 . Die Forscher berichten uns, daß 
bei den Hupa-Indianern die erlegten Hirsche vorschriftsmäßig zubereitet, ser- 
viert und gegessen werden müssen, weil nach dem Glauben dieser Stämme die 
anderen Hirsche dem Jäger sonst nicht mehr in den Weg laufen würden. Der 



J7 ) D. F. Krüger, Begriff und Grenzen der kriminalistischen Kombination. (Krim. 
Monatshefte 1927. I.) 

S8 ) Lothar Philipp, Kriminalistische Denklehre, Berlin 1927. 

s °) Anuschat, Die Gedankenarbeit des Kriminalisten, S. 7. 

M ) Lothar Philipp, Einführung in die kriminalistische Dcnklchre, S. 84. Der Satz ist 
übrigens nicht uneingeschränkt gültig, da es auch auf den Wert der Indizien ankommt, ihre 
Vieldeutigkeit in Betracht genommen werden muß usw. 

* l ) Man vergleiche Schopenhauers berechtigte Zurechtweisung: „Der gesunde 
Mensch ist gar nicht in Gefahr, schlecht zu schließen, aber gar sehr, falsch zu urteilen. 
Falsche Urteile gibt es in Menge, hingegen falsche Schlüsse, im Ernst gemacht, sehr selten 
sind, sie können bloß einer Übereilung entspringen und werden berichtigt, sobald man sich 
besinnt. Die Schwierigkeit und die Gefahr zu fehlen liegt im Aufstellen der Prämissen, nicht 
im Ziehen der Konklusionen daraus, dieses erfolgt notwendig und von selbst, aber die 
Prämissen finden, das ist das Schwere." 

20 









Ethnologe P r e u ß behauptet, diese Gewohnheit könne nicht aus Küche- und 
Speisegewohnheiten entstanden sein; es müsse ihr vielmehr die magische Ansicht 
zugrundeliegcn, daß die Reste oder Teile des erlegten Tieres das gleichartige 
Wild anziehen. Man wird an einen solchen Glauben erinnert, wenn man sich 
vergegenwärtigt, in welcher Art die Bedeutung streng logischer Überlegung für 
die Ermittlung unbekannter Verbrecher durch die kriminalistische Theorie dar- 
gestellt wird 02 . 

Nehmen wir irgendeines der Beispiele, welche uns die Kriminalisten in ihrer 
Darstellung falscher Schlußfolgerungen liefern und durch die sie die Unerläß- 
lichkeit logischer Kenntnisse und Unterscheidungen illustrieren 33 : In einem 
Keller hat ein Einbruch stattgefunden. Der Anzeiger A. meint, die Tat sei dem 
mit ihm verfeindeten M. zuzutrauen. Tatsächlich rührt eine Fingerspur an der 
Bierflasche, welche der Einbrecher angeblich ausgetrunken hat, von M. her. 
Diese Fingerspur ist ein Indiz gegen M., aber, so warnt uns der Kriminalist, 
es ist ein irreführendes. In unserem Falle hatte A. die Bierflasche aus dem 
Gartenhause M.'s in seinen Keller gebracht und den Einbruch vorgetäuscht. 
Die Schlußfolgerung, M. ist der Täter, ist falsch, denn, so wird uns gesagt, sie 
entspricht nicht den Gesetzen der Logik. In "Wahrheit entsteht der Irrtum 
aber durch die mangelnde Einsicht in das Wesen der Fingerspuren, nicht durch 
logische Schwäche. Jeder vorurteilsfreie Mensch wird sagen, diese Tatortfinger- 
spur, wie man neuestens unschön sagt, beweist nur, daß ihr Verursacher den 
Gegenstand berührt hat, nicht, daß er den Einbruch begangen hat. „There needs 
no ghost"; es braucht kein Gespenst aus dem Grabe der formalistischen Logik 
herzukommen, um uns solches zu lehren. Die Schwächen dieser Art von 
Schlußfolgerungen entstammen der falschen, flüchtigen oder unvollständigen 
Beobachtung oder, wenn man es logisch ausdrücken will, sie sind schon im 
Untersatz enthalten, sie haben nichts mit Fehlern in der Kunst des Schließens 
zu tun. In der kriminalistischen Praxis zeugen die Folgerungen oft von er- 
staunlichem Scharfsinn, aber die Prämissen beruhen auf mangelnder Kenntnis 
oder mangelhafter Beobachtung. Man gelangt etwa in einem bestimmten Fall 
zu der Annahme, der Täter müsse auf diese Art entflohen sein. Bestimmte 
Umstände lassen diese Annahme als unmöglich erscheinen; sie wird als logisch 
unhaltbar fallen gelassen. Bald aber stellt sich heraus, daß diese „Unmöglich- 
keit" in Wirklichkeit keine ist, der Täter entfloh doch so. Das Schema von 
Obersatz, Untersatz, Schlußfolgerung, die Methodik des logischen, abstrakten 
Denkens ist in solchen Fällen der Tatbestandsermittlung unangebracht. Man 
wird an den Spott E. A. Poes erinnert, der behauptet, die als scharfsinnig 
gerühmte Pariser Polizei gehe nach einer bestimmten Anzahl von Regeln vor, 



3S ) Goddard, The Hupa, zitiere von Th. Preuss, im „Archiv für Religionswissen- 
schaft", IX, S. 102. 

**) Polizeidirektor Ttnaer, Kriminaltaktische Grundsätze. Kriminal. Monatshefte 

1930. Heft 12. 



21 









wenn es gelte, Verbrechen aufzuklären. Diese Regeln entsprechen indessen ihrem 
Zweck nicht selten so schlecht, daß man unwillkürlich an jenen Herrn erinnert 
wird, der seinen Schlafrock verlangte, um die Musik besser hören zu können. 
Folgender Fall blieb angeblich durch die Schuld logischer Mängel längere Zeit 
rätselhaft: 

Vor mehreren Jahren begab sich einmal ein Schlächter frühmorgens an seine 
Arbeitsstelle und wurde in einer einsamen Straße niedergeschossen. Die Frau 
hatte einen jungen polnischen Arbeiter zum „Hausfreund"; dieser wies jedoch 
nach, daß er die ganze Zeit über, vom Abend bis zur Auffindung des Toten, 
zu Hause gewesen war. Mit ihm zusammenwohnende, einwandfreie und glaub- 
würdige Leute bestätigten das; die Wohnung lag immerhin ziemlich vom Tat- 
orte ab. Das Verbrechen erhielt folgende Aufklärung: der Mann hatte den Weg 
des Schlächters vorher genau berechnet und ihm am Tage zuvor durch einen 
Jungen Botschaft vom Meister geschickt, er solle genau um sechs Uhr an der 
Arbeitsstelle sein. Einige Minuten, bevor der Schlächter nach seiner Berech- 
nung in der Nähe des Hauses vorbeikommen mußte, suchte er das auf dem 
Treppenabsatz liegende Klosett auf. Dann wie der Blitz auf die Straße, auf 
Strümpfen eine ganze Strecke hinter dem Schlächter hergeschlichen, ihn nieder- 
geschossen und zurück auf das Klosett. Eine Minute später schimpfte schon 
sein Schwager an der Tür wegen seines „langen Sitzens". 

Dieser von Anuschat angeführte Fall a4 , der übrigens die besondere Wich- 
tigkeit präziser örtlicher und zeitlicher Daten beweist, kann nicht als Schul- 
beispiel für die besondere Bedeutung logischer Kenntnisse und Erwägungen für 
den Kriminalisten dienen: Es ist nicht ein logischer Fehler, der das Verständnis 
des Falles aufgehalten hat, es ist eher ein Mangel an Skepsis. Die Aussagen der 
Leute, welche das Alibi bezeugten, wurden nicht genügend auf ihre objektive 
Richtigkeit geprüft, sondern akzeptiert, weil es sich eben um vertrauenswürdige 
Personen handelte. 

Immer wieder, wenn man die Handbücher der Kriminalistik studiert und 
überprüft, findet man, daß die Bedeutung der Logik für die Tataufklärung 
weit überschätzt wird. Dies gilt sowohl negativ als positiv: es werden Miß- 
erfolge auf das Konto der Logik gesetzt, während Mängel der Beobachtung und 
des Wissens für sie verantwortlich sind. Es werden der Logik kriminalistische 
Erfolge zugeschrieben, die wesentlich durch andere psychische Vorgänge 
bestimmt werden. Hier ein Beispiel der zweiten Art, die Aufklärung einer 
schwierigen Kriminalaffäre der letzten Zeit: Man fand in Berlin-Dahlem eine 
Taxe, die blutbefleckt war; die eine Scheibe war zertrümmert, auf dem Tritt- 
brett war eine Patronenhülse. Fast zur selben Stunde wurde in Ferch bei Berlin 
die Leiche eines Chauffeurs, der erschossen worden war, gefunden. Der Zu- 
sammenhang zwischen den beiden Funden war leicht herzustellen. Bald war 



3 ') Die Gedankenarbeit des Kriminalisten, S. 28. 



22 






■ 

• 
auch der Tote als der Taxibesitzer Fritz Ponick erkannt. Der Fall schien in 
ein undurchdringliches Dunkel gehüllt; es waren keine brauchbaren Indizien 
vorhanden. Die gefundenen Patronen waren gewöhnliche Geschoße ohne jedes 
besondere Merkmal. Die einzige Spur, die vorhanden war, erwies sich als irre- 
führend: Ponick hatte durch eine Gerichtsaussage einen Arbeiter um seine Stel- 
lung gebracht. Es wäre denkbar gewesen, daß dieser Mann Ponick aus Rache 
erschossen hätte. Die Spur wurde verfolgt und war vollkommen ergebnislos. 
Unübersehbar war die Fülle von einlaufenden Meldungen und Angaben; diese 
Fülle barg aber keinen kriminalistisch wertvollen Inhalt. Fest stand nur, daß 
der Mord auf der Chaussee nach Ferch verübt worden war. Die beiden Krimi- 
nalkommissäre, die mit der Aufklärung betraut wurden, fragten sich, warum 
der Täter gerade diese Chaussee für sein Verbrechen erwählt hatte. Sie ver- 
muteten, daß er die Chaussee gut kannte. Gewiß kennen auch die Berliner die 
Straße gut, aber die Ferch er kennen sie sicherlich besser; am besten vielleicht 
die Fercher, die dort ein Auto haben oder zumindest chauffieren können. Nun 
begann die kriminalistische Kleinarbeit, die von der Frage ausging: Wer kann 
in Ferch autofahren? Es dauerte zwölf Tage, bis man das Alibi aller Fercher, 
die chauffieren konnten, nachgeprüft hatte, bis man auch allen denen nachge- 
spürt hatte, die seit kürzerer oder längerer Zeit von Ferch nach Berlin gezogen 
sind. Unter den Übersiedelten befand sich auch der 23jährige Johann Kabhtz, 
dessen Alibi nicht stimmte und der als Täter eruiert wurde. Diese Verbrechens- 
aufklärung, die man als einen Sieg der kriminalistischen Logik bezeichnet hat, 
ist nur zum geringsten Teil an logische Voraussetzungen geknüpft. Die Schluß- 
folgerung (der Mord ist in Ferch verübt worden — die Chaussee wird von 
einem Fercher am besten gekannt — sie wird am besten von einem Mann ge- 
kannt, der die Chaussee selbst mit einem Auto gefahren hat — der Mord wurde 
vermutlich von einem Bewohner von Ferch, der chauffieren kann, begangen) 
ist gewiß logisch und ihr Wert sowie ihre Verläßlichkeit müssen von den 
logischen Instanzen geprüft werden. Ihr wesentlicher Inhalt ist aber von 
anderer Art. Es waren, anders ausgedrückt, nicht logische Urteile, sondern 
psychologische Vor-Urteile, die auf die Spur des Verbrechers lenkten. Schon in 
den Vermutungen, warum der Täter gerade die Chaussee nach Ferch wählte, 
spielen solche psychologische Faktoren unbewußt eine Rolle. Der Wert logischer 
Überlegungen, namentlich ihr Wert als Korrektiv, soll natürlich auch in der 
kriminalistischen Aufklärungsarbeit nicht geleugnet werden. Es bleibt indessen 
unbestreitbar, daß die Erfolge der Kriminalisten in der erdrückenden Majorität 
der Fälle nicht logischen, sonders andersartigen seelischen Vorgängen zu ver- 
danken sind. Das soll nicht ausschließen, daß sich diese andersartigen Vorgänge 
eines logischen Deckmantels bedienen. Die Logik läßt sich unschwer irreführen, 
unser Verstand ist nur zu willfährig, häufig von anonymen Kräften geführt. 
So kann man mit der einwandfreiesten Logik zu den falschesten Schlüssen 
gelangen. 

2 3 



CS 



M ) Vgl. die gute Diskussion der Gutachten im Halsmann-Prozcß von W. G u t m a n n, 
Das Fakultätsgutachten im Falle Halsmann, Berlin 193 1. 

M ) Wir wählen aus einer übergroßen Anzahl von Fällen irgendein beliebiges Beispiel dieser 
Art. Viele ähnliche in den Büchern von Sello, Aisberg, Hellwig usw.: Otto Götz 
wurde am 5. Dezember 19 19 wegen Giftmordes an seiner Braut zum Tode verurteilt. Das 
Urteil ruhte in erster Linie auf dem Gutachten eines Apothekers als Sachverständigen, der — 
ohne von irgendeiner Seite Widerstand zu finden — behauptete, Zyankali sei als Abtreibungs- 
mittel unbekannt. Es war ihm freilich unbekannt, daß alle Gifte, auch Zyankali zu 
Abtreibungszwecken verwendet werden. Nachdem Götz neun Jahre im Zuchthaus gesessen 
hatte, wurde sein Fall wieder aufgenommen. Sein zweites Urteil am ly. Februar 1929 am 
Schwurgericht Augsburg lautete auf vier Jahre Zuchthaus wegen versuchter Abtreibung in 
Tateinheit mit fahrlässiger Tötung. 



,4 



I 



Häufig wurden logische Fehler vorgeschoben, wenn erwiesen wurde, daß ein 
Justizirrrum von Sachverständigen verschuldet wurde. Man lese etwa die Gut- 
achten von Ärzten und Chemikern, auf die sich so viele gerichtliche Urteile 
stützen, die nur hundert Jahre alt sind, und man wird verwundert wahrnehmen, 
auf Grund welcher Entscheidungen Menschen schwerster Verbrechen schuldig 
erkannt wurden. Und warum in die Ferne schweifen, wenn das Falsche, Schiefe, 
Oberflächliche so nahe liegt? Man lese psychiatrische oder psychologische Gut- 
achten unserer Tage und vergegenwärtige sich ihre Tragweite für die Frage der 
Täterschaft eines Verdächtigten " 5 . Man braucht kein Prophet zu sein, um vor- 
auszusagen, daß der künftige Betrachter über manche Gutachten unserer wissen- 
schaftlichen Autoritäten nicht wenig entsetzt sein wird. Es sind nicht die 
logischen Fehler, die uns bestürzt machen, wenn wir solche Gutachten lesen; es 
sind meistens die oberflächlichen und falschen Voraussetzungen, welche zu den 
verhängnisvollen Konsequenzen führen 3C . Die fehlerhafte Tatbestandsfeststel- 
lung auf Grund falscher Voraussetzungen ist in Wahrheit viel mehr zu fürchten 
als Mängel der Deduktion. 

Es wurde früher gesagt, daß die gedankliche Arbeit des Kriminalisten nur 
selten eine rein logische ist, daß sie sich aber gerne ihres nur-logischen Charak- 
ters rühmt, es gerne sieht, wenn man ihr nachsagt, sie sei ganz auf Verstandes- 
operationen gestellt. Dies gilt ebensowohl vom Kriminalkommissär wie vom 
Untersuchungsrichter, vom Staatsanwalt wie vom Verteidiger. Dabei geschieht 
es sehr häufig, daß eine Behauptung als logischer Akt, als Schlußfolgerung 
bezeichnet und bewertet wird, während gerade die logische Qualität in der 
vorangehenden Überlegung oder Erwägung keine oder nur eine untergeordnete 
Rolle gespielt hat. Dies tritt auch negativ hervor, indem man sich nachzuweisen 
bemüht, welche logischen Mängel zu einer falschen Behauptung geführt haben. 
Gross betont in seiner Kriminalpsychologie, daß eine wichtige Fehlerquelle 
in bezug auf die Verbindung von Ursache und Wirkung in der allgemeinen und 
tiefgreifenden Annahme liege, daß die Ursache eine gewisse Ähnlichkeit mit der 
Wirkung haben müsse. Als Beispiel einer solchen völlig ungerechtfertigten Ver- 
knüpfung führt er an, ein ganz intelligenter Mann habe den Verdacht wegen 



.. 






•«*: 



eines begangenen Mordes gegen einen Menschen ausgesprochen, weil die Mutter 
des Bezeichneten gewaltsam ums Leben gekommen war. Der Zeuge blieb dabei: 
„Der Mensch hatte schon einmal mit dem Umbringen zu tun; er wird auch hier 
dabei gewesen sein" 37 . Gewiß liegt hier eine falsche Schlußfolgerung vor, aber 
nicht der logische Defekt ist das Interessante und Aufschlußreiche, sondern der 
Grund der psychologischen Verknüpfung. Die Konstatierung der logischen 
Fehlerhaftigkeit ist nur eine Vorstufe zu der entscheidenden Frage, warum der 
Mann eine solche Verknüpfung als notwendig annimmt. Diese Frage ist eine 
psychologische und kann nur durch psychologische Erforschung gelöst 
werden. Der rein intellektualistische Standpunkt des Beobachters führt gerade 
Kriminalisten und Strafrechtswissenschaftler dazu, daß diese wesentlichere 
Seite völlig vernachlässigt wird. Eben fällt mir eine Arbeit „Kriminalistische 
Beurteilung" von Prof. von L i s z t 38 in die Hände; sie will zeigen, wie sorg- 
fältig der Kriminalist in seinen logischen Konstruktionen sein müsse. Gegen 
eine solche Sorgfalt ist sicherlich nichts einzuwenden, wenn sie nicht eine Unter- 
schätzung der Wichtigkeit anderer Funktionen bedingt. L i s z t führt zwei 
Beispiele falscher Schlußfolgerung an, wovon das erste dem Staatsanwalt, das 
andere dem Richter zur Last fällt. Hier das erste: 

„Ich verteidigte einst einen bei Nacht in einem der äußeren Wiener Parks 
(Humboldtpark) verhafteten, wegen Diebstahls (als Leichenfledderer) ange- 
klagten Mann. Bei seiner Verhaftung war die ganze Umgebung des Schau- 
platzes ebenso wie der Verhaftete selbst seitens der Patrouille mit negativem 
Erfolg durchsucht worden. Während der Hauptverhandlung behauptete der 
Staatsanwalt, ein unbekannter Diebsgenosse müsse mit der dem Betrunkenen 
gestohlenen Brieftasche rechtzeitig durchgegangen sein, und sagte mit Nach- 
druck: .Warum wäre der Angeklagte überhaupt bei Nacht in den Humboldtpark 
gegangen, wenn er nicht hätte stehlen wollen? Dorthin geht doch bei Nacht 
niemand, wenn er nicht stehlen will!' Und er schaute recht verwundert drein, 
als ich erwiderte: ,Mit dem großen Unbekannten habe ich bisher nur Ver- 
brecher manipulieren gesehen, die Staatsanwaltschaft aber sollte es unter ihrer 
Würde finden. Und wenn bei Nacht nur Leute in den Humboldtpark gehen, die 
stehlen wollen — warum geht denn überhaupt ein Dieb hin, da er doch nur 
Kollegen dort treffen kann? Und wie ist der angeblich Bestohlene selbst hin- 
gekommen?'." 

Gewiß ist diese Zurechtweisung berechtigt, wenngleich ihr leise triumphie- 
render Ton, ihre belligerante Art zu denken gibt, wenn es sich nur um rein 
logische Operationen handelt. Ist der Irrtum des Staatsanwaltes wirklich, wie 
der Verteidiger meint, ein logischer, ist er wirklich eine falsche Schlußfolgerung? 
Wenn der Staatsanwalt behauptet, daß der Angeklagte bei Nacht in den Park 



37 ) Kriminalpsychologie, S. 157. 

38 ) Kriminalistische Monatshefte, I. Jg., Heft j. 



25 






ging, um zu stehlen, und daß niemand dorthin gehe, der nicht stehlen wolle, so 
hat er psychologische Behauptungen ausgesprochen. Nicht an der Logik, an der 
Psychologie ist es, die Behauptung nachzuprüfen, ob Menschen nur zu dem 
Zweck des Stehlens nachts einen Park aufsuchen. Auch die Zurückweisung der 
staatsanwaltschaftlichen Behauptung — mag sie nun von schlechter oder guter 
Psychologie zeugen — erfolgt von psychologischen Gesichtspunkten. Der Vertei- 
diger fragt: „Warum geht dann überhaupt ein Dieb hin, da er doch nur Kol- 
legen dort treffen kann?" Das ist ein psychologisches, kein logisches Problem; 
es ist die Frage nach menschlichen Absichten und Zielen, nach bestimmten 
seelischen Vorgängen. Die Form der aufgestellten Behauptungen ist logisch, ihr 
Inhalt psychologisch. So ist es aber häufig in Straf rechtsfällen: Unter der aus- 
geprägt, ja oft überscharf formulierten Außenseite gewahrt man überall die 
psychologische Fragestellung sn . Überall, wo logische Fehlschlüsse aufgezeigt 
werden, hat man das Recht, auch verborgene, bewußte oder unbewußte Ten- 
denzen zu suchen; es wird unter der falschen Fahne der Logik viel geschmug- 
gelt, was sich frei nicht gerne sehen läßt. 

Das andere Beispiel, das L i s z t anführt, ist von ähnlicher Art; es ist dieses 
Mal ein Beispiel „richterlicher Schlußfolgerungskunst", wie es L i s z t sarkastisch 
bezeichnet: „Die Hausfrau war an der Wohnung einer eben bei offener 
Wohnungstür waschenden Mietpartei stehen geblieben und es entspann sich ein 
Wortwechsel. Plötzlich sprang die Hausfrau auf die Waschende zu, entriß ihr 
ein Stück nasser Wäsche, schlug es ihr um den Kopf und warf es zu Boden. 
Die Waschende bückte sich und hob das Wäschestück auf. In diesem Augenblick 
kam auch der Hausherr hinzu und drang mit erhobener Faust und Schimpf- 
worten auf die Gebückte los. Diese richtete sich rasch auf und wollte die 
drohende Faust abwehren. Dabei soll sie der Hausfrau mit dem flatternden 
Wäschestück ins Gesicht gekommen sein. Die streitbare Hausfrau erhob des- 
halb die Beleidigungsklage. Ich wies durch zwei ganz bei den Streitenden 
stehende Zeugen nach, daß die Mietpartei keinesfalls einen Schlag gegen die 
Hausfrau geführt hatte und dieser höchstens — vielleicht — zufällig an das 
Gesicht gekommen sei. Der Richter verurteilte aber die Angeklagte mit folgen- 
der, von mir wörtlich mitstenographierter Begründung: .Zwar haben zwei 
Zeugen ausgesagt, daß die Angeklagte keinen Schlag ausgeführt hat. Aber die 
beiden Zeugen scheinen mit ihren Sympathien nicht auf der Seite der Hausfrau 
zu stehen. Und es ist psychologisch wahrscheinlich, daß eine Frau, die geschlagen 
wird, auch zurückschlägt'." 

30 ) Die Art dieser Psychologie ist übrigens kaum stärker als die dieser Logik. Der Ver- 
teidiger argumentiert: Wenn (nach Meinung des Staatsanwaltes) nur Diebe nachts den 
Humboldtpark besuchen, warum geht denn überhaupt ein Dieb hin, da er doch nur Kollegen 
dort treffen kann? Die vielfache Motivierung menschlicher Handlungen kommt in einer 
solchen Betrachtung ebensowenig zu ihrem Rechte, wie die nicht nur theoretisch bestehende 
Möglichkeit, daß auch Diebe einander bestehlen. 

z6 
















Kein Zweifel, der Autor irrt sich hier ebenso wie früher: Der Richter weist 
so"ar ausdrücklich auf den psychologischen Charakter seiner Urteilsbegründung 
hin. Zweifellos wird hier psychologisch, nicht logisch gewertet 40 . 

"Wir haben diese beiden Fälle nicht etwa als besonders repräsentative ange- 
führt, viel eindringlichere und wirkungsvollere wären hier beizubringen. 
Worauf es uns ankommt, ist die Hervorhebung der Tatsachen, daß die Fest- 
stellung des objektiven und subjektiven Tatbestandes ein psychischer Vorgang 
ist. Hier aber erhebt sich gebieterisch eine Forderung, ein strafrechtliches, nein, 
ein menschliches Postulat: Wenn dies so ist, so ist es wichtiger, über die seeli- 
schen Vorgänge in Verbrechern etwas zu wissen, als über Regeln der Schluß- 
folgerung. Ist es nicht wichtiger, zu verstehen, was in dem aufklärenden Kri- 
minalkommissär und im Untersuchungsrichter psychisch vorgeht, als in den 
Lehrbüchern der Logik Bescheid zu wissen? Man warnt den Kriminalisten vor 
falschen Schlußfolgerungen, übereilten Deduktionen, fehlerhaften logischen 
Akten jeder Art. Wer warnt ihn vor psychologischen Irrtümern? Wenn die 
Tatbestandsfeststellung ein psychischer Vorgang ist, ist die Gefahr, psycho- 
logisch schlecht zu urteilen, nicht näherliegender als die falschen Schließens? 

Psychologische Indizien 

Einer der wichtigsten Wege zur Ausforschung des unbekannten Verbrechers 
ist die Suche nach dem Tatmotiv. Kein Zweifel; hier ist die Domäne der 
Psychologie. Es ist kein Teil der richterlichen Pflicht, das Motiv oder vielmehr 
die Motive einer verbrecherischen Tat klarzustellen, aber sie bleibt rätselhaft, 
solange darüber keine Klarheit herrscht. Ja, man muß zugestehen, daß diese 
Rätselhaftigkeit von anderer beunruhigender Art ist als etwa die, welche ein 
zeitliches oder örtliches, nicht aufgeklärtes Moment hat. Das Fehlen jedes 
Motivs in einem Mordfall hat etwas Seltsames, das den Kriminalisten dazu 
reizen muß, den Fall immer wieder zu erforschen. Die Wichtigkeit der Erhel- 
lung der Motive für den Indizienbeweis ergibt sich nicht nur daraus, daß das 
Motiv als solches ein schwerwiegendes Indiz darstellt. Oft können andere 
Indizien nicht oder nicht nach ihrer ganzen Bedeutung gewürdigt werden, 
solange nicht ein Motiv für das Verbrechen gefunden wird. Die Frage nach der 
Tatmotivierung wird so manchmal zum Sprungbrett, von dem aus die krimi- 
nalistische Verbrechensaufklärung erfolgt. Diese Frage scheint vom Stand- 
punkte einer naiven Psychologie leicht zu lösen: Die Natur des Verbrechens 
selbst scheint darüber Auskunft geben zu können. Es ist klar, daß hier ein Mord 
aus Rache, dort ein Einbruch zur Entwendung von Waren, dort eine Doku- 
mentenfälschung aus gewinnsüchtiger Absicht vorliegt. Allein diese schöne 

*°) Auch Albert H e 1 1 w i g (Kriminalistik als Lehre von den Spuren der Tat. Monatsschrift 
für Kriminalpsychologie, 12. Bd., 1921hl, S. 345) muß zugeben, „daß die Feststellung des 
Tatbestandes letzten Endes lediglich ein psychischer Prozeß ist". 

*7 






Sicherheit wird durch zwei Einwände erschüttert. Der erste weist darauf hin, 
wie häufig in der Kriminalgeschichte Vortäuschungen eines bestimmten Sach- 
verhaltes vorkommen. Da wird ein Einbruch begangen, alle Laden wurden 
durchwühlt; es wird festgestellt, daß Geld und Wertsachen gestohlen wurden. 
Dieser Diebstahl ist nur vorgetäuscht; dem Täter kam es nur auf den Besitz 
bestimmter Briefe an, von deren Existenz die Polizei nichts wußte. Der zweite 
Einwand besagt: Jener Schluß vom Effekt auf die Absicht erweist sich manch- 
mal deshalb als falsch, weil er sich auf unserer Identifizierungsfähigkeit mit 
dem Täter aufbaut. Vor allem erscheint dem Kriminalisten solche Identifizie- 
rung als ein vom bewußten Willen abhängiger, mechanischer Prozeß, den er nach 
seinem Belieben durchführen kann oder nicht". Der Effekt einer Hand- 
lung kann sehr wohl auf eines ihrer wirksamen Motive zurückweisen, aber diese 
Folgerung setzt voraus, daß wir mit einem Seelenleben rechnen, das unserem 
ähnlich ist. Sie stimmt nicht, wenn wir es etwa mit einem Falle von Psychose 
zu tun haben. Ein Paranoiker hat einen Mann niedergeschlagen, weil er ihm 
als sein Verfolger erschien. Wir suchen den unbekannten Verbrecher, vermuten 
ein uns bekanntes Motiv etwa politische Feindschaft, Eifersucht usw. Wir 
haben eines jener Motive vermutet, die dem allgemeinen Menschenwahn ent- 
stammen, doch keines vorausgesetzt, das nur die Psychopathologie dieses beson- 
deren Wahnes erklären kann. Die Suche nach einem wirksamen Verbrechens- 
motiv kann z. B. fehlgehen, weil wir die Voraussetzungen seelischer Vorgänge 
bei einem Angehörigen eines fremden Volkes nicht würdigen. Ich erinnere mich 
an einen rätselhaften Mordfall, der die österreichischen Gerichte während des 
Krieges in Montenegro beschäftigte. Unser Verständnis wurde dadurch beein- 
trächtigt, daß wir die Bedeutung, welche die Blutrache für bestimmte Albaner- 
stämme hat, psychologisch nicht erfaßt hatten. Wie groß die praktisch-krimi- 
nalistische Wichtigkeit der Verbrechensmotivierung ist, haben wir erst unlängst 
wieder anläßlich der großen Eisenbahnattentate von Jüterbog und Bia-Torbagy 
sowie der Anschläge von Anzbach und Neulengbach konstatieren können. Die 
schrecklichen Katastrophen schienen die Vermutung nahezulegen, daß eine 
internationale Verbrecherbande an verschiedenen Orten die Attentate aus- 
führe, um politische Ziele zu verfolgen. Ein am Tatort vorgefundener Zettel 
mit der Ankündigung weiterer Attentate mußte diese Annahme bekräftigen; 
er wies auf eine kommunistische Aktion hin. Die mühevollen und zeitraubenden 
Nachforschungen in dieser Richtung waren erfolglos: der später ermittelte Ver- 
brecher, Silvester Matuschka, war ein schwer pathologischer Mensch, der durch 
Explosionen und andere Katastrophen seine sexuelle Befriedigung fand und 
eine Art herostratischen Ruhmes ersehnte. 

Man sieht, wieviel für die Lösung kriminalistischer Aufgaben von der psycho- 

*') Philipp (Einführung in die kriminalistische Denkarbeit, Berlin 1917, S. 82): „Die 
restlichen Möglichkeiten prüfe man auf ihre psychologische Möglichkeit, wobei es allerdings 
nötig ist, daß man sich in die Psyche des vermeintlichen Täters hineinversetzen muß." 

28 



logischen Kenntnis und Begabung abhängt. Mehr als dies: Man erkennt, wie 
wenig wir von den psychischen Voraussetzungen und Motiven, von der Psycho- 
genese der Kapitalverbrechen wissen. Jenes furchtbare Wort über das Ver- 
brechen: „Erst war's vorher, dann war's vorbei. Dazwischen ist kein Raum", 
ist gerade für den Stolz des Psychologen schwer erträglich. Wir müssen uns 
sagen, daß wir trotz vielem Bemühen von den seelischen Vorgängen im Ver- 
brecher noch wenig wissen. Es wird noch immer zu wenig beachtet, daß der 
Täter im Augenblick der Tat ein anderer ist als nachher — so sehr, daß man 
manchmal meinen möchte, zwei völlig verschiedene Individuen vor sich zu 
haben. Gerade in manchen Fällen schwerster Verbrechen wird man durch die 
Differenz solcher Eindrücke an den mittelalterlichen Glauben der Besessenheit 
erinnert. (Nietzsche hat in der „Genealogie der Moral" ausgesprochen, daß 
es zu den Zügen der ferneren Entwicklung des Strafrechtes gehören wird, den 
Verbrecher und seine Tat voneinander zu isolieren.) Unser psychologisches Urteil, 
unser Instinkt ebenso wie unsere Erfahrung scheinen uns manchmal zu sagen, 
daß die Tat nicht zu diesem Täter, der Täter nicht zu dieser Tat paßt. Dennoch 
muß die Tat ein Ausdruck der seelischen Spannung des Verbrechers sein, muß 
seinen psychischen Voraussetzungen entstammen, seinen seelischen Bedürfnissen 
Befriedigung versprochen haben. Wir stehen vor einem Rätsel, weil wir nicht 
wissen, welches Motiv den Täter trieb. Weiß er es besser? In vielen Fällen und 
gerade bei den schwersten Verbrechen könnte er beim besten Willen zur Auf- 
richtigkeit nur unzulängliche Auskunft geben und wäre unfähig, eine feste Ver- 
bindung zwischen der Tat und der eigenen Person zu schlagen **. Man hat mit 
Recht daran gezweifelt, daß die psychologische Kenntnis und das psycho- 
logische Verständnis des Richters Problemen dieser Art gewachsen sind. Es ist so, 
wie wenn man mit einem Spaten aus einem Kinderwerkzeugkasten zu den 
tiefen Schichten der Erde vordringen wollte. Man spreche nicht vom gesunden 
Menschenverstand, der auch den Richter bei seinen Untersuchungen leitet. Die 
folgenschwersten Dummheiten werden noch immer im Namen des gesunden 
Menschenverstandes gemacht. Die Art, wie der Richter, der Staatsanwalt, der 
Verteidiger den Angeklagten kennen lernt, ist die denkbar flüchtigste, das 
Material, das ihnen zur Verfügung steht, das dürftigste, die Methoden, die sie 
besitzen, die oberflächlichsten. Es wäre etwa so, wie wenn ein Reisender be- 
haupten wollte, er kenne London sehr gut, weil er eine jener Stadtrundfahrten 
gemacht hat. In Wirklichkeit hat er einige bemerkenswerte Punkte von London 
gesehen, und zwar gerade diejenigen, welche man gerne Touristen zeigt, ein- 
schließlich einiger besonders unheimlich anmutender Straßen der China-Town. 

Bietet schon die Frage, welche Motive eine Person zum Verbrechen geführt 
haben, bestimmte Schwierigkeiten, wenn man den Täter bereits kennt, so wird 
sie besonders schwierig, ja manchmal unlösba r, wenn es gilt, das Motiv und von 

4a ) Vgl. R e i k, Geständniszwang und Strafbedürfnis. Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag 1927. 

29 



^. 



ihm aus den unbekannten Täter zu erraten. Hier kommt die Quartaner- 
psychologie der Kriminalisten oft in beschämender Art zum Vorschein. Die 
Frage nach dem Motiv ist, soweit sie Auskunft über den vermutlichen Täter 
geben soll, als solche in besonderem Grade irreführend. Wenn man nur nach 
dem Motiv urteilen wollte, würde sich bald eine groteske Situation ergeben. 
Wenn jeder, der ein Motiv dazu hat, mordete, so würde es wenige Fälle von 
natürlichem Tode geben. 

Jenseits der Motivforschung wird die Primitivität kriminalistischer Psycho- 
logie für jeden Vorurteilsfreien erkennbar, wenn die verfängliche Frage auf- 
taucht, ob die Tat dem A. oder B. zuzutrauen ist, mit anderen Worten, in der 
Bewertung von charakterologischen Indizien. In den Versuchen zur Beantwor- 
tung dieser Frage tritt eine psychologische Naivität zutage, die an die Erkun- 
digung jenes kleinen Mädchens: „Mama, wie sieht ein Dieb aus?" erinnert. Wie 
man früher annahm, es gebe eine bestimmte Verbrecherphysiognomie, wie sich 
geradezu ein Ohrläppchenkult entwickelte, so meint man jetzt aus dem Gesamt- 
eiodruck oder aus Einzelzügen herausfinden zu können, ob man jemandem 
einen Mord oder Diebstahl zutrauen dürfe. Es handelt sich um psychologische 
Clichis, sozusagen um „standardized" Psychologie: Diese charakterologischen 
Indizien sind oft unsicher und irreführend. Die berühmten Giftmischerinnen 
der Zeit Ludwig XIV. sahen aus wie Engel und waren von besonderer 
Sanftmut. 

Viele Jahre hindurch hat Denke in seinem Hause, das mitten in einem 
schlesischen Orte stand, seine Opfer niedergeschlagen und faßweise eingepöckelt. 
Er galt allgemein als sehr rechtlicher, harmloser Mensch ruhigen Charakters, 
den Gesetzen und der Religion treu ergeben. Ebenso Angerstein, der seine 
Familie ausrottete, ebenso Matuschka, wegen seiner Frömmigkeit besonders 
verehrt, der Eisenbahnzüge voll Menschen in Tod und Verderben schickte; 
ebenso viele andere Massenmörder. Die bürgerliche Gesellschaft liebt es, die Kluft 
zwischen sich und dem Rechtsbrecher als völlig unüberbrückbar zu bezeichnen, 
und erschrickt, wenn es sich dann zeigt, daß auch Massenmörder Fleisch von 
unserem Fleisch sind und sich in allen Richtungen des Lebens so benehmen wie 
wir alle — jeder neben dir kann ein Mörder sein. Die Genügsamkeit der 
ßewußtseinspsychologie, die Oberflächlichkeit psychologischer Betrachtungs- 
weise in der Kriminalistik kommt nirgends besser zum Vorschein, als in der 
Behandlung der Frage, ob man die Tat jemanden zutrauen solle oder nicht. 
Solcher primitiver Art des Sehens gegenüber steht noch immer Goethes Selbst- 
charakteristik: „Fs gibt kein Verbrechen, dessen ich mich nicht für fähig hielte." 

Man erinnert sich der bedeutsamen Rolle, welche das charakterologischc 
Indiz im Falle des Landarbeiters Josef Jakubowski gespielt hat. Dieser Mann, 
ein früherer russischer Kriegsgefangener, war angeklagt, sein dreijähriges Kind 
ermordet zu haben. Immer wieder beteuerte der Unglückliche: „Ich bin unschul- 
dig. Ich nichts getan. Wozu viel reden?" Noch dieses Verhalten wurde ihm 

30 












ungünstig ausgelegt. In der Urteilsbegründung findet sich der Satz, der Ange- 
klagte sei „ein schlauer, durchtriebener und skrupelloser Mann" dem „man 
einen Mord zutrauen kann". Das Todesurteil an Jakubowski, dessen Unschuld 
sich später zweifelsfrei herausstellte, wurde am 15. Februar 1929 vollstreckt, 
nachdem die Regierung des Freistaates Mecklenburg-Strelitz es abgelehnt hatte, 
von dem Begnadigungsrecht Gebrauch zu machen. In diesem, nur auf Indizien 
aufgebauten Prozeß war das psychologische Moment eines der gewichtigsten 
Indizien. In wie vielen Fällen stehen diese, die psychologischen Gründe, nicht 
in der Urteilsbegründung und begründen doch das Urteil. Wie viele Indizien- 
, beweise wären als mißglückt oder lückenhaft erkannt worden, wenn der Ange- 
klagte geschickter gewesen wäre und sich umgänglicher und sympathischer 
gezeigt hätte. Man darf einen unbewußten, ungünstigen Eindruck auf Richter 
und Geschworene nicht unterschätzen; er vermindert das Mißtrauen gegen sonst 
sehr sorgfältig geprüfte Indizien. 

Die Art psychologischen Denkens, welche die Tatbestandsdiagnostik be- 
herrscht, wird am gefährlichsten, wenn sie als Gewicht in die Waage der Justiz 
geworfen wird. Es wird hier falsch gewogen, mag es sich nun darum handeln, 
„Sachverständige" über das Erinnerungsvermögen von Zeugen einzuvernehmen 
oder sich ein Urteil über die Identität der Triebimpulse eines Verdächtigen 
zu bilden, um auf Grund eines solchen Gutachtens die Tatfrage zu entscheiden. 
Es kann nicht meine Aufgabe sein, nachzuweisen, in wie vielen tausend Fällen 
das naive Vertrauen in die eigene psychologische Erkenntnis oder das eigene 
Verständnis fremder Seelenvorgänge zu schweren und schwersten Justiz- 
irrtümern geführt hat". Es handelt sich ja nicht darum, die Sachlage voll- 
ständig, sondern repräsentativ darzustellen.- Ein Beispiel muß hier viele hunderte 
vertreten, ein Fall für viele stehen: In den Siebzigerjahren des vorigen Jahr- 
hunderts saß ein reicher Bauer an einem Kirchtag in einem kleinen öster- 
reichischen Städtchen im Wirtshaus. Dort erklärte er vor allen Anwesenden 
einem jungen Forstadjunkten, der in die Tochter des Bauern sehr verliebt war 
und sich stürmisch um das junge Mädchen beworben hatte, daß von einer 
41 ) Auf dem Londoner Gefängniskongreß im August 1925 sagte der oberste Richter 
Großbritanniens (Lord Chief Justice): „Lassen Sie uns nicht vergessen, daß die Hälfte aller 
zu harten Gerichtsurteile in dem mangelnden Einfühlungsvermögen, d. h. der Unfähigkeit 
der Richter, sich in die Seele des Täters hineinzuversetzen, ihren Grund hat." Die Forderung 
nach psychologischer Ausbildung der Kriminalisten ist in den letzten Jahren so oft und so 
eindringlich erhoben worden, daß man — nach dem Resultat zu schließen — fast meinen 
könnte, sie stehe an Stelle ihrer Durchführung. Es erübrigt sich, hier Gewährsmänner aus den 
Kreisen der Richter und Anwälte anzuführen. Statt vieler soll nur eine Stimme gehört 
werden. (E. Sello, Die Hau-Prozesse und ihre Lehren, Berlin 1908, S. 133 f.) „Wer als 
Strafrichter, Staatsanwalt oder Verteidiger mit der empirischen Alltagspsychologie auszu- 
kommen wähnt, hänge das Handwerk ruhig an den Nagel. Kein Beruf bedarf einer so 
strengen, wissenschaftlichen psychologischen Schulung, theoretischer wie praktischer, wie der 
des Strafrechtsjuristen, denn keinem liegt die praktische Lösung gleich schwieriger und ver- 
antwortungsvoller Probleme ob. Er dürfte, so paradox es klingt, eher der Rechtswissen- 
schaften entraten, als der Psychologie." 

3* 



Heirat zwischen den beiden nicht die Rede sein könnte. Der junge Forstadjunkt 
saß, verzweifelt vor sich hinstarrend, an einem Tisch. Plötzlich schrie er so 
laut, daß alle Gäste es mitten im Lärm hören konnten: „Diesem Hund wird 
man es noch zeigen! Der wird sehen! Und nicht ich, er wird unglücklich 
werden." Der Adjunkt trank weiter. Der Bauer ging nach Hause. Am nächsten 
Tage wird der Leichnam des Bauern auf der hellbclcuchteten Straße gefunden. 
Zwei Obdachlose berichten, daß sie gesehen haben, wie der Forstadjunkt den 
Dolch, mit dem der Bauer getötet worden war, aus dem Rücken des Ermordeten 
gezogen habe. Man prüft den Dolch; der Adjunkt wird verhaftet. Er beteuert 
immer wieder: „Ich bin unschuldig." Man hält ihm alle so schwerwiegenden 
Indizien vor, nimmt ihn ins Kreuzverhör. Er bleibt dabei, daß er unschuldig 
sei. Er wird zum Tode durch den Strang verurteilt, zu zwanzig Jahren Zucht- 
haus begnadigt. Nachdem er zwölf Jahre abgebüßt hatte, legt der wirkliche 
Täter am Totenbett ein Geständnis ab. Es wurde klar, wie der Fall wirklich 
lag: Im Dorfe gab es einen Bauer, der in mißlichen Geldverhältnissen lebte 
und wußte, daß jener andere Bauer, der Vater des Mädchens, die Brieftasche 
voll Banknoten bei sich hatte. Als der Forstadjunkt beim Wirtshaustisch trank, 
stahl ihm jener Bauer heimlich den Dolch aus der Scheide und stach dann auf 
der Straße den heimkehrenden Bauer nieder. Der Forstadjunkt, der den Leich- 
nam auf der Straße findet, erkennt entsetzt seinen eigenen Dolch im Rücken 
des Getöteten. Nun weiß er, er wird des Mordes beschuldigt werden, sein 
Dolchmesser wird den stärksten Beweis gegen ihn bilden. Er zieht, um sich zu 
retten, den Dolch aus dem Körper und wischt ihn ab — in dieser Situation wird 
er eben von den beiden Obdachlosen gesehen. Neben diesen Zeugenaussagen 
war das wichtigste Moment in der Anklage das psychologische: Die Bewertung 
der Wut und Verzweiflung des jungen, abgewiesenen Freiers gegen den reichen 
Bauern. Die wüsten Drohungen im Wirtshause bezeugten deutlich genug das 
Ausmaß der schweren Feindseligkeit, ja sie wiesen unzweideutig auf die An- 
griffsabsicht hin. Hier aber, in der Verwertung der psychischen Situation, zeigte 
sich in diesem Falle wie in unzähligen anderen die Armseligkeit der krimi- 
nalistischen Psychologie. Daß der Forstadjunkt jenen reichen Bauern bedroht 
hat, daß er ihm sogar den Tod in Aussicht stellte, muß nicht unbedingt für 
seine tatsächliche Schuld sprechen; es kann unter Umständen sogar dagegen 
sprechen, wenn man psychologisch wertet. Das gesprochene Wort, die Be- 
schimpfung, der Fluch und die Drohung wirken oft wie ein psychisches Ventil, 
funktionieren häufig im Sinne einer Abzugsquclle für eine seelische Spannung. 
(„Groß war das Wort, weil es die Tat nicht war.") Wir wissen, in wie vielen 
Fällen die verbale Aktion die motorische ersetzt. Freilich ist diese Bewertung 
auch nach der anderen Seite hin unzuverlässig: Trotz wüstem Schimpfen und 
Toben kann es doch zum tätlichen Angriff, zum Mord, kommen. Wir haben 
kein Mittel, die Wirksamkeit der individuellen Hemmungscinrichtungen abzu- 
schätzen. 



3* 



i 



Dostojewski hat mit Bezug auf die Psychologie im Indizienbeweis ge- 
sagt, sie sei ein Stock mit zwei Enden «*. Wirklich entzieht sich die Psychologie 
nicht ihrem Gebrauch zur Belastung oder Entlastung des Angeklagten. Es ist 
Sache des Psychologen, dieses Mißverständnis seiner Wissenschaft klar erkennen 
zu lassen und abzulehnen. Es bliebe noch dann Mißbrauch, wenn die Mißver- 
ständnisse weniger kläglich, die Untersuchungsmethoden minder grobschlächtig, 
die Überlegungen der Kriminalisten dem seelischen Bereich, das sie ergründen 
wollen, angemessener wären. Die Deutungen menschlichen Verhaltens in solchen 
Untersuchungen sind oft von beschämender Naivität, die psychologischen 
Experimente im Verhör manchmal Kindereien, die Beobachtungen ohne jede 
Kontrolle und Sicherheit, die Folgerungen daraus oft von erschreckender Welt- 
fremdheit. Nun wäre eine solche Schlichtheit in der Auffassung psychologischer 
Tatbestände beim Juristen kein Malheur; sie kann es aber werden, wenn von 
ihr die Entscheidung über Schuldig und Unschuldig mitbestimmt wird. Der 
Bau der Strafrechtspflege kracht in allen Fugen, aber so lange er hält, gilt für 
den Richter: Soll er strafen oder schonen, muß er Menschen menschlich sehen. 
Überall wird im Strafprozeß die Unzulänglichkeit der kriminalistischen Psycho- 
logie offenbar. Schweigt der Angeklagte, so wird das als Ausdruck des Schuld- 
gefühles gedeutet, ebenso, wenn er erregt spricht. 

Im Ritualmordprozeß Hilsner wies der Staatsanwalt auf bestimmte Zeugen- 
aussagen hin, die an dem Angeklagten eine gewisse Beklommenheit und Nach- 
denklichkeit, sowie Erröten bemerkt hatten. Der Staatsanwalt berief sich 
darauf und sagte: „Daß an Hilsner wirklich ein solcher Kampf, daß an ihm 
eine seelische Beklemmung zu erkennen war, muß ich Ihnen nicht sagen, da 
Sie Gelegenheit hatten, ihn im Laufe der Verhandlung zu beobachten . . . Dieses 
krampfhafte Bewegen der Finger, dieses Verändern der Farbe sind kein gutes 
Gewissen." Auch wenn wir annehmen, der letzte Satz soll ausdrücken, daß 
Hilsners Verhalten von keinem guten Gewissen zeuge, stellt die Behauptung 
eine Deutung des staatlichen Funktionärs dar und manche könnten im Sinne 
jener Dostojewskischen Auffassung die Zeichen im entgegengesetzten Sinn 
deuten. Hier wird das Janusgesicht psychologischer Betrachtung im gericht- 
lichen Verfahren wahrnehmbar, die Gefährlichkeit falscher und einseitiger Ver- 
wertung psychologischer Indizien erkennbar. Oft ist der Schuldige durchaus 
ruhig und selbstsicher, während der zu Unrecht Beschuldigte den Eindruck des 
Schuldbewußten macht « Der Angeklagte stottert, ist verwirrt, beschämt ver- 
legen, er redet in inkohärenten Sätzen; was er sagt, macht den Eindruck dum- 
me r Ausflüchte; seine Stimme ist unsicher und stockend; im Verhör scheint er 

«) In den „Brüdern Karamasow". Schon in „Radion Raskolnikow" heißt es von 
Porphyri Petrowitsch, er habe in seiner Verfolgung „gar nichts, keine Tatsachen, n.chts 
Positives, nichts außer diesem Heberwahn und außer der Psychologie, die ihre zwe, 

^Vgl.' Alber t-Hellwig, Zur Frage der Befangenheit des Angeklagten. Archiv für 
Krim.-Anthrop. 57, S. 274; derselbe, Befangenheit als Verdachtsgrund. Ebenda 37, S. 3 77- 

R e i k : Der unbekannte Mord« 3 






Details zu erfinden, da er nach Worten sucht und doch ist er nicht schuldig 
Der wirkliche Täter, der etwa als Zeuge einvernommen wird, erscheint mir 
klaren Augen vor Gericht, voll Ruhe und Sicherheit; er antwortet offen und i n 
kurzen, präzisen, vernünftigen Sätzen, ist geistesgegenwärtig und man hat den 
Eindruck, die Sache gehe ihn nichts weiter an. Man hat schon einigemal einen 
Angeklagten gesehen, der angesichts der ihm vorgewiesenen blutigen Waffe 
einen Kollaps bekam und doch unschuldig war. Die Überschätzung psycho- 
logischer Indizien in ihrer Beweiskraft für die Tatfrage ist noch jetzt, da man 
anerkennt, daß eine Erregung ebenso oft von bestimmten endokrinen Vorgängen 
als von der tatsächlichen Schuld zeugt, nicht gewichen. Man denke etwa 
daran, daß ein Angeklagter lügt, diese Lügen nachgewiesen wurden und welche 
psychologischen Folgerungen daraus gezogen werden. Wie viele und wie ver- 
schiedene Motive kann der Angeklagte für seine Lüge haben — selbst voraus- 
gesetzt, daß er sie immer als solche erkennt. Die Deutung der Lüge als Schuld- 
beweis oder zumindest als Verdachtsgrund ist so allgemein, daß sie fast als 
zwangsmäßig erscheint. Im Ritualmordprozeß Hilsner, den ein berufener An- 
walt „einen der beschämendsten Justizirrtümer" nennt, war der Verdacht des 
Mordes auf sexueller Grundlage aufgetaucht und der Angeklagte wurde nach 
seinem Sexualleben gefragt. Er behauptete, impotent zu sein und wurde durch 
eine Zeugin widerlegt. Ebenso behauptet er fälschlich, die Leiche der Ermor- 
deten nicht gesehen zu haben. Beide Aussagen erwiesen sich als Lügen, indessen 
wurde es klar, daß der Beschuldigte glaubte, durch eine bejahende Antwort seine 
Situation zu verschlechtern. Die Schlußfolgerungen, die man aus den beiden 
Lügen auf die Täterschaft zog, waren durchaus irreführend. Die naive Analogie, 
die der Richter in seinem psychologischen Denken häufig zeigt, ist erstaunlich. 
E. Zola schildert einmal, wie verständnislos ein Untersuchungsrichter einem 
Manne gegenübersteht, der sich nicht im geringsten schämt, einen Diebstahl ein- 
zugestehen, aber von Scham bewältigt wird, wenn es gilt, zuzugeben, daß er 
den Strumpf einer geliebten Frau für sich behalten hat. Es sind besonders 
psychologische Widersprüche, welche die Kriminalisten in Erstaunen setzen, in 
ein Erstaunen, das sich leicht in Erbitterung verwandelt. Diese Erbitterung 
äußeit sich in einer Tendenz, die Aussage von solchen Widersprüchen, welche 
schwer erträglich sind, freizumachen. In dem früher erwähnten Werke Z o 1 a s 
(„La bete humaine") hat Roubaud aus Eifersucht einen Mann getötet. Der 
Untersuchungsrichter Denizet, dem der Fall übertragen wurde, kann nicht 
glauben, daß Eifersucht das Motiv der Tat war: Die Frau Roubauds hatte 
nachher auch einen Liebhaber. Warum hat er jenen getötet, nicht diesen? „Ich 
weiß es nicht . . . Ich habe den anderen getötet, ich habe diesen nicht getötet." 
Denizet, der auf seine psychologische Begabung und seine Kunst psychologischer 
Durchdringung sehr stolz ist, fährt den Verbrecher unwillig an: „Sagen Sic mir 
nicht mehr, daß Sie eifersüchtig sind und sich rächen wollten! Ich rate Ihnen, 
diesen Roman nicht den Herren Richtern vorzutragen, denn sie werden darüber 

34 



die Achseln zucken . . . Glauben Sie mir, ändern Sie Ihr System, nur die Wahr- 
heit könnte Sie retten." Und doch ist es die Wahrheit, die Roubaud gesprochen 
hat 1 ' 5 . Ähnliche Situationen spielen sich täglich vor den Kommissären und 
Untersuchungsrichtern der ganzen Welt ab. Es ist bemerkenswert, daß die 
Situation des Beschuldigten selbst den Untersuchungsrichter unbewußt in der 
Richtung zum ungünstigen Urteil beeinflußt. Wird der Angeklagte auf einer 
Lüge ertappt, so hat der Richter sozusagen Blut geleckt. Das hartnäckige 
Leugnen erbittert ihn unbewußt wie eine persönliche Beleidigung; es ist so, wie 
wenn der Beschuldigte ihn für dumm hielte, ihn betrügen wolle, und der Richter 
reagiert entsprechend darauf. 

Meinen die meisten Menschen, daß sich das Psychologische von selbst ver- 
stehe, so ist dem Kriminalisten im Besonderen die Seele kein weites Land, 
sondern eher ein genau eingeteilter polizeilicher Bezirk. Es liegt in der Natur 
des Untersuchungsrichters, daß er Überraschungen im Psychologischen nicht 

liebt. 

Die ethische Anschauung des Richters gestattet es ihm nicht, den Zusammen- 
hang zwischen der Tat, deren ein Angeklagter beschuldigt wird, und seiner 
moralischen Haltung in anderen Angelegenheiten zu vernachlässigen. In einem 
Mordfalle in Österreich hatte man es dem Verbrecher besonders verargt, daß er 
angesichts des Erschlagenen sein Abendessen eingenommen hatte. In einem 
anderen Falle, in dem die Ehefrau und der Knecht gemeinsam den Bauern 
getötet hatten, hatte man es den beiden besonders angekreidet, daß sie unmittel- 
bar nachher koiiiert hatten. Sie hatten sich sozusagen angesichts der Leiche 
unanständig benommen. Man hatte bei diesen Mördern das Zartgefühl vermißt 
und offenbar geglaubt, sie würden eine Art Respektpause einhalten. Es geschieht 
nicht selten, daß das Vorleben des Angeklagten — anständige Bürger haben 
kein „Vorleben" — als Verdachtsgrund in besonderer Art erscheint. Nicht nur 
das Verbrechen wird beurteilt, sondern der Charakter, und eine verbrecherische 
Tat ist dem, der etwa einmal zynisch über Gott oder die Ehe gesprochen oder 
sich über die Polizei lustig gemacht hat, eher zuzutrauen als dem untertänigen 
Bürger. Wie sehr diese moralischen Anschauungen der Untersuchungsrichter und 
Geschworenen ihre Meinung über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten 

beeinflussen, ist bekannt genug". 


*°)Vom vierten Band von Zolas „Evangelien", der Justice" heißen sollte, sind nur 
wenige flüchtige und unvollständige Aufzeichnungen vorhanden. Er hätte, wäre er vollendet 
worden, sicherlich die Psychologie des Untersuchungsrichters ausgezeichnet dargesetllt. 

") Ein paar Beispiele aus der Kriminalistik der letzten Zeit: Im Frenzel-Prozcß in Potsdam 
sprach der Staatsanwalt von den erotischen Beziehungen zwischen zwei (anwesenden) halb- 
wüchsigen Mädchen als von „Schweinereien". In dem Wiener Mordprozeß gegen Gustav Bauer, 
in dem die Entscheidung zum großen Teil von der Bewertung charakterolog.scher Indizien 
abhing, rief der Staatsanwalt dem Angeklagten voll Hohn zu: „Sie sind also der Mann, der 
zwei Frauen zu gleicher Zeit lieben kann!" Nicht alle Menschen antworten auf Fragen 
solcher Art in derselben ruhigen und unbeirrten Art, wie der Arzt Dr. von Hirsch-Gereuth, 






3* 



35 






.. 



- - — 



Wir haben keinesfalls die Absicht, uns über das Fehlen der psychologischen 
Schulung und den Mangel an psychologischem Verständnis in der üblichen Art 
zu beklagen. Diese Schulung ist gewiß ein Ziel, aufs innigste zu wünschen, aber 
nicht in dem Sinne, wie es jetzt von seiten der Strafrechtstheoretiker geschieht, 
um die psychologischen Indizien gegen den Verdächtigten schärfer fassen zu 
können und um Richter und Kriminalkommissare sicherer in ihrer Aufgabe des 
Schuldbeweises zu machen. Fast würde ich es wagen, das Gegenteil zu sagen: 
um sie unsicherer darin zu machen. Das will heißen: Die Funktionäre, denen 
die Wahrheitsforschung im Strafprozeß obliegt, sollten genug Einblick in die 
wissenschaftliche Psychologie gewinnen, um zu erkennen, wie unzuverlässig 
und ungeeignet psychologische und charakterologische Indizien in der Tat- 
bestandsdiagnostik sind, in wie seltenen Fällen und mit welcher Vorsicht sie 
heranzuziehen sind. 

Wie bisher halten wir die Erwerbung psychologischer Kenntnisse bei den 
gerichtlichen Funktionären für dringend notwendig. Sie wird nicht nur der so 
notwendigen Korrektur der naiven psychologischen Anschauungen dienen, son- 
dern Richter, Staatsanwälte usw. gegen ihr eigenes Urteil skeptisch machen. Sie 
wird dem Kriminalisten helfen, das Werden und Wesen einer verbrecherischen 
Tat besser zu verstehen, wenn der Täter festgestellt ist. Als Beweismittel, als 
Indiz für oder gegen die Täterschaft ist die Psychologie unbrauchbar. Der 
Mißbrauch der Psychologie im Indizienprozeß begegnet uns täglich im Gerichts- 
saal. Die vielen hunderte von Beispielen, welche die Strafrechtsgeschichte 
liefert, sind, so scheint es, nicht stark genug, solche psychologische Betrach- 
tungen auszuschalten. Die plastischeste Warnung in Dostojewskis „Brüder 
Karamasow" eindringlicher dargestellt als in den Handbüchern der Straf- 
rechtstheoretiker, ist ohne Nutzen verhallt. Wir lesen mit Entsetzen in den 
Protokollen der Hexenprozesse, welche Beweismittel man für die Schuld dieser 
armen Weiber anführte. Eine Zukunft, die vielleicht nicht mehr sehr entfernt 
ist, wird ähnlich von den heutigen psychologischen Indizien und von den 
Methoden, einen Charakter im Strafprozeß zu bestimmen, denken. 

Die Psychologie ist, so scheint es, nicht geeignet, Menschen mittels eines ent- 
sprechenden wissenschaftlichen Verfahrens eines Verbrechens zu überführen. 
Ist keine Hoffnung auf eine zuverlässige psychologische Methode, den Täter 
eines Verbrechens zu eruieren, vorhanden? Ist von seiten der Psychologie in 
absehbarer Zeit keine Hilfe in der Lösung dieser Aufgabe zu gewärtigen? 
Ich glaube: nein. Die Gesetze des Seelenlebens kümmern sich anscheinend 
nicht darum, daß die Gesellschaft Unglückliche bestimmter Art Verbrecher 
nennt. 

der im Meineidprozeß Kolb als Zeuge einvernommen, gefragt wurde: „Haben Sie bemerkt, 
daß der Angeklagte im Zustande der Erregung bisweilen Worte gebraucht, die er nicht voll 
verantworten kann?" — »Das habe ich bei allen Menschen bemerkt", antwortete der lebens- 
kundige Arzt. 

3 6 






Indizienbeweis und Psychoanalyse 

Es ist nicht mehr zweifelhaft, daß das Eindringen psychoanalytischer 
Gesichtspunkte die Strafrechtspflege langsam verändern muß. Diese Verände- 
rungen werden sich vermutlich nicht in der Art vollziehen, wie die einen 
fürchten und die anderen hoffen. Sie läßt sich schwer voraussagen, wenngleich 
sie in letzter Zeit von Strafrechtslehrern und Psychoanalytikern häufig und mit 
großer Sicherheit vorausgesagt wurde. Der Beobachter, der die Strafrechts- 
pfle-e in den großen Veränderungen unserer Zeit studiert, wird sich, zu einer 
Ansicht heraussgefordert, in einer umso schwierigeren Situation befinden, als 
es sich bei Kriminalisten und Analytikern nicht um zwei einander entgegen- 
gesetzte Gruppen handelt, sondern um so und soviele untereinander verschiedene 
Persönlichkeiten mit gesonderten Meinungen. Es ist nicht meine Absicht, in 
eine Diskussion der Bedeutung der Psychoanalyse für die Kriminalistik einzu- 
gehen. Es sei nur gesagt, daß wir Psychoanalytiker nicht immer unschuldig sind 
an den vielen und manchmal grotesken Mißverständnissen unserer Absichten 
auf kriminalistischem Gebiete. Ich meine, wir haben uns allzu bereitwillig in 
den Dienst der Strafrechtspflege gestellt, ohne ausdrücklich zu betonen, wie 
fragwürdig uns dieser Dienst als solcher erscheint. So schien es A 1 e x a n d e r 
und Staub von vornherein richtig und wichtig, daß der Psychoanalytiker in 
den Gerichtssaal „hereingelassen" werde-. Sie prophezeiten dann, die Psycho- 
analyse werde aus dem Gerichtssaale nicht mehr verschwinden". In einer 
Besprechung des Buches von A lexa nder und S ta u b, deren Meriten in 
kriminalpsychologischer Richtung ich hervorhob, gab ich dem Zweifel Aus- 
druck ob es denn wirklich so wünschenswert sei, daß die Psychoanalyse in den 
Verhandlungssaal eingelassen werde. Ich fürchtete, so führte ich dort aus, daß 
die Gerichtsfunktionäre die analytische Lehre falsch verstehen und daß sie jetzt 
mit Hilfe der neuen Theorien den Verbrecher lehren werden, daß, was er sonst 
getrieben frei, eins, zwei, drei dazu nötig sei. 

Kaum waren diese Sätze geschrieben, als sie sich als prophetisch erwiesen: 
Im Vatermordprozeß gegen Philipp Halsmann hat es die Innsbrucker medi- 
zinische Fakultät als wahrscheinlich hingestellt, daß Halsmann einen Ödipus- 
komplex habe und diese seelische Konstellation, die man sich in Innsbruck gerne 
als Eigentümlichkeit einiger Menschen vorstellt, offenbar als Verdachtsgrund 
gegen den Angeklagten in Erwägung gezogen. Freud hat dann selbst gezeigt 
wie die Erwägung des Ödipuskomplexes in einem solchen Falle besonders müßig 
und irreführend ist». Demjenig enjb^r^de^sojch^Bn führung der Psychoanalyse 

-> Der Verbrecher und seine Richter. Internationaler Psychoanalytischer Verkg, «, 
A „Die Analyse ist in den Gerichtssaal eingedrungen und w.rd von dort au d.« : Dm* 
nicht mehr verschwinden." (Hugo Staub, Einige praktische Schw.engke.ten der psycho- 
analytischen Kriminalistik. Imago I93i> Heft 2 -) . . rUinus 
») Freud, Das Fakultätsgutachten im Prozeß Halsmann, sow.e Erich Fromm, öd.pus 

in Innsbruck. Psa. Bewegung 1930, Heft 1. 

37 






in den Gerichtssaal für eine nahe Zukunft erwartet, eröffnen sich Perspektiven, 
die grauenhaft und bizarr zugleich sind: Die Existenz des Ödipuskomplexes als 
Indiz gegen den Beschuldigten verwendet, die unbewußten Regungen, die durch 
Psychoanalyse gefunden wurden, als Schuldbeweis vor Gericht gestellt, ein 
Hcxensabbath des gesunden Menschenverstandes. Nein, ich wünsche nicht, 
daß die Psychoanalyse in den Gerichtssaal „hereingelassen" werde. Sie soll 
lieber draußen bleiben als solche Verwendung finden. 

Ich meine, der Gerichtssaal ist vielleicht überhaupt nicht das richtige Milieu 
für die Psychoanalyse. Die Tiefenwirkung der Psychoanalyse geht in andere 
Richtung: Ihre Forschungen auf kriminalistischem Gebiet werden dazu führen, 
die Strafrechtspflege in ihrer ganzen Problematik erkennen zu lassen. 

Es schien eine Zeitlang, als könnten die analytischen Gesichtspunkte auch in 
der Erreichung bestimmter Ziele dienlich, sein, die jeder Erörterung über den 
Zweck der Strafe, über Strafbemessung und Strafvollzug vorangehen müssen. 
Ist die Psychoanalyse geeignet, einen Beitrag zur Frage nach dem unbekannten 
Tater zu geben, ja vielleicht sogar diese Frage zu lösen? 

Das Problem der psychologischen Tatbestandsdiagnostik taucht immer wieder 
auf; immer wieder hat es Richter und Laien, Geschworene und Verteidiger 
interessiert, zu erfahren, ob nicht ein Verfahren gefunden werden kann, das den 
Angeklagten nötigt, seine Schuld oder Unschuld durch objektive, seinem Willen 
entzogene Zeichen zu erweisen. Wenn es solche zuverlässige psychologische 
Methoden gäbe, so würde der Strafprozeß eine umwälzende Veränderung er- 
fahren. Wertheimer und Gross haben eine Methode gesucht, die durch 
Assoziationsexperimente, unabhängig von den Angaben der Versuchsperson, 
erkennen lassen sollte, ob ihr ein bestimmter Sachverhalt bekannt ist oder nicht. 
Das Aufdeckungsverfahren für verborgenes seelisches Geschehen sollte hier zum 
objektiven Selbstverrat verwendet werden. In Freuds Vortrag „Tat- 
bestandsdiagnostik und Psychoanalyse" waren die allgemeinen Gesichts- 
punkte, welche ein solches Verfahren möglich machen könnten, klar dargelegt 
worden '". Dort war freilich betont worden, daß ein Einfluß dieses psycho- 
logischen Experiments auf die Entscheidung der Täterfrage nicht in Betracht 
kommen könne. Die Unterschiede in der seelischen Situation des Verbrechers 
und des Neurotikers, des Untersuchungsrichters und des Psychoanalytikers sind 
so einschneidende, daß an eine praktische Verwertbarkeit der psycho- 
analytischen Methode, die nicht zur Erforschung der materiellen Wirklichkeit 
geschaffen wurde, in der Frage der Täterschaft nicht gedacht werden konnte. 
Die Versuche haben ergeben, daß in manchen Fällen der Tatbestand gegen den 
Willen des Verdächtigten durch eine solche psychologische Tatbestands- 
diagnostik ermittelt werden konnte. Ihnen gegenüber stehen Fälle, in denen 
die erreichten Reaktionen einen eindeutigen und sicheren Schluß nicht zulassen. 

S1 ) Gehalten Juni 1906 in Professor Löfflers Seminar an der Wiener Universität. (Ges. 
Schriften, Bd. X, S. 197 ff.) 



P 












' 









Unser cetcrum censeo: Die Psychoanalyse ist nach dem jetzigen Stand unseres 
Wissens zur Lösung der Täterfrage weder kompetent noch geeignet. Man kann 
nicht wissen, wie die Frage der praktischen Verwertbarkeit der analytischen 
Methode in der nächsten Generation beantwortet werden wird. 

Die eben heraufkommende Generation analytischer Forscher scheint in dieser 
Beziehung außerordentlich zuversichtlich zu sein, was besonders erfreulich wäre, 
wenn sich dieses Gefühl auf neue Erkenntnisse stützen könnte. So glaubt 
Fromm 52 , „daß die Psychoanalyse gerade in den Fragen der Tatbestands- 
feststellung ihre Einsichten durchsetzen wird, d. h. also in Fällen, wo die 
Psychologie dazu dienen soll, den Tatbestand zu klären, wo sie dazu verhelfen 
soll, festzustellen, ob ein Angeklagter der Täter ist oder nicht". Nach diesem 
Autor kommt der Psychologie in diesen Fällen eine ähnliche Rolle zu, wie etwa 
der Chemie oder der Medizin: „Die Zahl der Fälle, in denen psychologische 
Erwägungen für die Feststellung, ob ein Angeschuldigter der Täter ist oder 
nicht, wichtig sind, ist recht groß. Es handelt sich vor allem um solche Fälle, 
in denen ein Geständnis des Täters nicht vorliegt und die Auffindung eines 
plausiblen Motivs entscheidend ist dafür, ob man ihm die Tat zutraue oder 
nicht, ferner um andere, in denen nicht die Tat, sondern ihre strafrechtliche 
Einordnung zweifelhaft erscheine. In allen diesen Fällen nun könnte die ana- 
lytische Psychologie auch de lege Uta Verwendung finden, weil sie hier nicht 
durch ihre Auffassung von dem Schuld-, Verantwortungs- und Besserungs- 
problem in einem Gegensatz zum System des heutigen Strafrechts steht, son- 
dern innerhalb desselben dieselbe Funktion ausübt, wie es etwa die Chemie tut, 
wenn sie Aufklärung darüber schafft, ob ein Blutfleck von menschlichem oder 
tierischem Blut stammt, oder die Graphologie, wenn sie die Identität des 
Schreibers zweier Handschriften feststellt." 

Die hier vertretene Anschauung zeugt von einem Optimismus, dem die Tat- 
sache, daß ihr Inhalt falsch ist, sicherlich wenig anhaben kann. Richtig ist in 
ihr allein die Konstatierung der Tatsache, daß die Fälle, in denen psycho- 
logische Erwägungen für die Frage der Täterschaft wichtig geworden sind 
recht groß ist. Fraglich bleibt, wie weit diese Erwägungen verläßlich sind und 
wie weit sie nicht falsch am Ort sind. Sonst sind die Behauptungen Fromms 
in erstaunlicher Art irreführend. Der Vergleich, demzufolge die F^ä"**« 
in diesen Fällen eine ähnliche Rolle spielen könnte wie die Chemie oder Medi- 
zin, ist durchaus schief. Der entscheidende Unterschied springt sofort in die 
Augen, wenn man bedenkt, daß das Anwendungsgebiet der genannten Wissen- 
schaften eine toto genere verschiedenes ist. Das Reich der Chemie und Medizin 
ist von dieser greifbaren (wenngleich nicht immer faßbaren) Welt es ist 
materiell; das der psychischen Vorgänge, das Reich der Psychologie, liegt aut 
einer anderen Ebene. In der Chemie gibt es feste, scharf umnssene Reaktionen, 
») Erich Fromm, Zur Psychologie des Verbrechens und der strafenden Gesellschaft, 
Imago 193 1, Heft 2. 

39 
























- 






deren Natur vom Geruch-, Geschmacks- und Gesichtssinn entschieden wird. 
Man sieht im Reagenzglas die Probe darauf, ob ein Stoff von dieser bestimmten 
Art ist. Die Reaktion im Seelischen weist auf kein solches materielles Vor- 
handensein hin — und wiese sie auch darauf hin, es wäre für die psychologische 
Forschung nicht das Wesentliche. Es kann z. B. eine bestimmte mimische 
Reaktion als „Ausdruck der Gemütsbewegungen" wie man es früher nannte, 
deshalb eintreten, weil ein Mensch ein Verbrechen begangen hat; sie kann sich 
aber auch einstellen, weil er es zu begehen wünschte. Die psychische Realität 
ist für die Psychologie das einzig Entscheidende, die materielle tritt zurück. 

Wenn in jenem kriminalistisch-analytischen Programm der psycho- 
analytischen Betrachtungsweise eine besondere Bedeutung in der Frage, ob man 
einem Beschuldigten die Tat zutrauen dürfe oder nicht, zugeschrieben wird, so 
sei auf die vorangehenden Bemerkungen verwiesen. Die Frage des „Zutrauens" 
einer Tat ist durch die Analyse nicht lösbar — sie gehört aber auch nicht zu 
den Fragen, deren Beantwortung die Analyse anstrebt. Die Analyse ist viel eher 
geeignet, Aufklärungen über einen Verbrecher zu geben, der die Tat sicher 
begangen hat und dem sie nicht zuzutrauen ist. 

Im Gegensatz zu F r o m m und zahlreichen anderen Analytikern und Psycho- 
logen halte ich die Fsychoanalyse für völlig ungeeignet zur Hilfe in der mate- 
riellen Wahrheitsforschung, die dem Richter obliegt. Ich sehe auch keinen Weg, 
unsere wissenschaftlichen Methoden so umzuformen, daß sie den Anforderungen 
der Kriminalistik dienlich sein können, wenn sie die Spuren des unbekannten 
Verbrechers verfolgt. Greifen wir noch einmal zur Revision auf den Vergleich 
zurück, wie ihn Fromm zwischen der Rolle der Psychoanalyse und der 
Chemie ausgefühlt hat. Nehmen wir an, es sei ein Notzuchtsakt an einem Kinde 
vollzogen worden. Ein Landstreicher wird unter dem Verdachte, das Ver- 
brechen begangen zu haben, verhaftet; an seiner Hose zeigen sich Flecken von 
auffälliger Beschaffenheit, sie werden untersucht, es sind Samenflecken. Diese 
Spermatozoenspuren werden sicherlich als Indizien gewertet, die zusammen mit 
anderen einen Tatbeweis konstituieren können. Kann die Psychologie wirklich, 
wie jener Analytiker behauptete, in einem solchen Falle eine ähnliche Rolle 
spielen wie die Chemie? Keineswegs. Der Analytiker mag es mit dem freien 
Einfall, mit Assoziationsexperimenten, mit der Deutung von Träumen und 
Fehlleistungen, mit der analytischen Verwertung anderer psychischer Aktionen 
probieren, er wird nichts für die Täterfrage Belangvolles beibringen können. 
Seine Bemühungen werden auf bestimmte psychische Erlebnisse hinweisen, aber 
sie werden nichts zur Beantwortung der Frage beitragen können, ob die beob- 
achteten Reaktionen sich auf bestimmte materielle Vorgänge beziehen. Dies 
gilt für den günstigsten Fall, daß die Versuchsperson bereitwillige Auskunft 
über ihre seelischen Prozesse geben will. Und nun bedenke man die Situation 
eines Angeklagten, der wegen eines Verbrechens verdächtigt wird. Der Psycho- 
analytiker, beauftragt, sein psychologisches Gutachten über die Frage abzu- 



40 



gehen, ob man dem Angeklagten dieses Verbrechen zutrauen dürfe, betritt die 
Zelle des Untersuchungshäftlings — wird er auch willkommen scheinen? 

Ist es klar, worin der Unterschied zwischen den genannten Wissenschaften 
und der Psychoanalyse in ihren Anwendungsmöglichkeiten liegt? Nicht in 
einem Plus oder Minus an Exaktheit, nicht in der Differenz der Zuverlässigkeit 
und Sicherheit der Methoden, nicht in einem Unterschied des empirischen 
Charakters der Untersuchung, sondern in der wesenhaften Differenz des Unter- 
suchungsgebietes. Fromm meint, die Psychoanalyse könne in den bezeichneten 
Fällen innerhalb des heutigen Strafrechtes dieselbe Funktion ausüben wie etwa 
die Chemie, wenn sie Aufklärungen darüber schafft, ob ein Blutfleck von 
menschlichem oder tierischem Blut stammt, oder wie die Graphologie, wenn sie 
die Identität des Schreibers zweier Handschriften feststellt. Allein der Blut- 
fleck und das Blatt mit der fraglichen Handschrift gehören der materiellen 
Realität an, die Vorgänge, welche der Analytiker zu untersuchen hat, der 
psychischen Realität. Die Diskussion mit der F r o m m sehen Auffassung wurde 
hier nicht wegen deren Bedeutsamkeit so eingehend geführt, sondern weil sie 
und ihr nahestehende Meinungen geeignet sind, gefährliche Mißverständnisse 
über den Anwendungsbereich der Psychoanalyse zu begünstigen. Es muß jedem 
für dieses Gebiet interessierten Psychologen, das will heißen, jedem Psychologen 
am Herzen liegen, das Halbdunkel, das über diesem Problem liegt, aufzuklären 
und die Sachlage so scharf und eindeutig wie möglich darzustellen. Man erweist 
der analytischen Psychologie keinen Dienst, wenn man ihr Anwendungsgebiet 
ins Imaginäre erweitert; dadurch wird die Aufmerksamkeit von ihrem wirk- 
lichen Rayon abgezogen 53 . Es gibt gerade auf kriminalistischem Gebiete für 

») Die Polemik gegen die oben dargestellte Auffassung einiger Analytiker erscheint mir 
auch deshalb notwendig, weil sie irrigen Anschauungen mancher Kriminalisten und Straf- 
rechtslehrer nahesteht. Ein so ruhiger und verständiger Beurteiler der analytischen Beitrage 
zur Kriminalistik, wie der Kölner Strafrechtslehrer Prof. G. Bohne, findet es durchaus 
zutreffend, wenn die Psychoanalytiker annehmen, ihre Lehre werde d ie Knm.nologie und 
Strafrechtswissenschaf: in einschneidender Weise beeinflussen. Die grundlegende Reform 
des Strafrechtes, an deren Anfang wir heute stehen, werde aber nicht in der Ersetzung der 
Strafen durch sichernde und bessernde Maßnahmen, auch nicht in der Erweiterung der 
richterlichen Ermessensfreiheit, sondern vielmehr in einer völligen Umgestaltung der Bcwe.s- 
methoden, in einer Verarbeitung psychologischer und naturwissenschaftlicher Erkenntn.sse 
für das Beweisverfahren bestehen. Dieses Beweisverfahren werde n.cht mehr wie früher auf 
den äußeren Hergang des zur Aburteilung stehenden Ereignisses, auf d.e materiellen Spuren 
der Tat beschränkt sein, sondern vor allem auf die innere Konstellat.on des Taters, auf d.e 
immateriellen psychischen Spuren erstreckt und damit der Strafzumessung dienstbar gemach 
werden. (Psychoanalyse und Strafrecht. Archiv f. Strafrechtsw.ssensch. 1929, S. 445-) 
Wir S i n d mit Prof. Bohne einverstanden, wenn er annimmt, d.e durch die Psychoanalyse 
notwendig gemachte Reform des Strafrechts werde am Beweisverfahren beginnen und nicht, 
wie viele Analytiker annehmen, im System der Bestrafung, des Strafvollzuges, der psycho- 
logischen Betrachtung des Täters usw. Dem verehrten Herrn Gegner gegenüber aber meine 
ich daß diese Reform sich zuerst in der Zersetzung des bisherigen Bcweisverfahrens aus- 
wirken wird. Dafür sprechen viele Zeugnisse: Dieses Buch über den stärksten Beweis des 
jetzigen Strafprozesses, den Indizienbeweis, reiht sich ihnen an. D.e Argumente, d.e man 

41 



^ 



die Psychoanalyse Aufgaben, die noch nicht einmal gesehen, geschweige in An- 
griff genommen wurden. 

Der Straf richter, welcher fragt: „Ist dieser Mann, diese Frau der Täter?" 
erwartet von den psychologischen Sachverständigen die Antwort: Ja oder nein. 
Der Psychoanalytiker aber kann — auch unter den günstigsten Bedingungen — 
nach Abschluß seiner Untersuchung über das Triebleben eines Menschen 
darüber nichts aussagen. Er könnte etwa in einem Falle sagen: Ich habe ge- 
funden, daß dieser Mann, welcher das Muster zarter Rücksicht und größten 
altruistischen Eifers ist, schwere sadistische Triebregungen unbewußter Natur 
zu bewältigen hat. Der Weg von solcher Triebrichtung und -intensität zur ent- 
sprechenden Tat, zur aggressiven Ausschreitung ist ein weiter, ja, er ist kein 
direkter. In den meisten Menschen ist die Reaktion auf solche verpönte Trieb- 
regungen so stark geworden, daß sie jede äußere reale Befriedigung ausschließt. 
Die Existenz so starker verbotener Impulse hat die ganze Macht der psychischen 
Abwehrkräfte wachgerufen, so daß jene sich nur in Träumen und unbewußten 
Gedanken Ausdruck verschaffen können. Ich weiß nicht, wo ich einmal den 
prägnanten Satz las: „Das Mädchen war arm, aber sauber; ihre Phantasien 
waren das Gegenteil." 

Nun wäre die psychologische Situation nicht schwer zu erfassen, wenn sich 
der Tatbestand so einfach darstellte, daß verdrängte Triebkräfte von ziemlicher 
Stärke eine Art Garantie gegen antisoziale Triebbefriedigung bildeten. 






gegen diese Zersetzung von Seiten der Richter anführen wird und deren Bedeutung man 
keineswegs unterschätzen darf, werden den Eindruck nicht abschwächen, daß sie ein Rück- 
zugsgefecht des untergehenden Strafrechtes darstellen. Es handelt sich nicht um eine 
„Änderung unseres durchaus ungenügenden Beweisrechtes" (B o h n c), sondern um sein 
Verschwinden. Gegenüber Prof. Bohne sowie meinen analytischen Kollegen (E. Fromm 
u. a.) vertrete ich die Ansicht, daß die psychischen Spuren keinen Platz im Beweisverfahren 
beanspruchen dürfen. A. H e 1 1 w i g hatte ebenfalls eingeräumt, daß die Psychoanalyse für 
verschiedene Aufgabenkreisc der Strafrcchtspflcgc Bedeutung gewinnen könne; so werde sie 
insbesondere für das Gebiet der Pönologie wichtig werden. (Psychoanalyse und Strafrcchts- 
pflege. Juristische Rundschau 1930. Heft 3.) Derselbe Autor gibt neuerdings seiner Entrüstung 
darüber Ausdruck, daß in letzter Zeit Psychoanalytiker „die mitunter nicht einmal Ärzte, 
geschweige denn Psychiater «ind, als Sachverständige vor Gericht geladen werden." 
(A. Hellwig, Psychoanalyse und Strafrechtspflcge. Juristische Wochenschrift, 23. Mai 
1931.) Er weist auf die analytisch-kriminalistische Arbeitsgemeinschaft am Berliner Psycho- 
analytischen Institut hin, die eingerichtet wurde, „um Richter, Staatsanwälte und Verteidiger 
für die Lehren der Psychoanalyse zu gewinnen und sie zu veranlassen, in allen geeigneten 
Fällen an Stelle der psychiatrischen Sachverständigen Psychoanalytiker heranzuziehen." Man 
darf ernsthafte Zweifel daran hegen, daß dies das Ziel jener kriminalistisch-psycho- 
analytischen Arbeitsgemeinschaft war. Hellwig meint übrigens, noch ein anderes ihrer 
Ziele zu erkennen: „Ja letzten Endes wird sogar erstrebt, die Organe der Strafrechtspflcge 
psychoanalytisch so weit zu schulen, daß wir imstande seien, die Hilfe eines psycho- 
analytischen, aber auch die eines psychologischen oder eines psychiatrischen Sachverständigen 
zu entbehren". Ich glaube dies nicht. Eher würde ich noch glauben, daß erstrebt wurde, 
die betreffenden Organe der Strafrechtspflege so weit zu schulen, daß wir imstande sind, 
sie, die Straf rech tspf lege und ihre Organe, zu entbehren. 



4* 



Das ist aber keineswegs der Fall. Diese unterdrückten Triebimpulse 
können plötzlich und an unvermuteter Stelle mit der besonderen Kraft lange 
gestauter Energie durchbrechen und zu sadistischen Szenen, zu brutalen per- 
versen Aktionen und zu verbrecherischen Handlungen führen 64 . Wir können 
die Psychologie in keiner Art darüber entscheiden lassen, ob jemand seiner 
Triebanlage nach ein Verbrechen begangen hat oder nicht. Es ist ja nicht nur 
die Intensität der Triebregungen, sondern auch die der Gegenbesetzungen 
bestimmend, die ganze Dynamik des Trieblebens, die sich auf die Kräftever- 
hältnisse der einzelnen Determinanten bezieht, ist hier ebenso zu beachten, wie 
die Topik der seelischen Vorgänge. Auch quantitative Momente, die zwischen 
Wunsch und Ausführung, Absicht und Ausführung vermitteln und die abzu- 
messen uns kein Mittel zur Verfügung steht, sind im Spiel. 

Es sei uns gestattet, zu jenem früher zitierten Ausspruche aus der Gerichts- 
szene der „Brüder Karamasow", die Psychologie sei ein Stock mit zwei Enden, 
zurückzukehren. Freud 56 , der den Satz wiederholt anführt, hebt hervor, 
der Ausspruch stelle eine großartige Verhüllung dar; nicht die Psychologie, 
sondern das gerichtliche Ermittlungsverfahren verdiene den Spott: „Es ist ja 
gleichgültig, wer die Tat wirklich ausgeführt hat, für die Psychologie kommt 
es nur darauf an, wer sie in seinem Gefühl gewollt und, als sie geschehen, will- 
kommen geheißen hat." Mit diesen Worten ist nicht nur der Interessenkreis 
der Psychologie abgegrenzt, sondern auch die Grenze ihrer Kompetenz 
klargestellt :,u . Die Lösung der Täterfrage liegt außerhalb ihres Rahmens; sie hat 
andere Aufgaben und Probleme, deren Tragweite kaum geringer ist. 



**) Die französischen Kriminalpsychologen haben diese psychische Konstellation besser 
verstanden als ihre deutschen Kollegen. So macht Edmond L o c a r d (Policiers de roman et 
de laboratoire. Paris 1929. S. 14$) darauf aufmerksam, daß ein anonymer Brief voll Obszö- 
nitäten fast nie von einer Prostituierten oder einem Lebemanne stammt, ja kaum von einer 
Frau oder einem Manne mit normalem Sexualleben. Man könne den Beamten, die sich 
darüber verwundern, daß so schamlose Briefe von jungen „keuschen" Mädchen aus guter 
Familie geschrieben werden, geradezu sagen: „l'anonymographie est un brevet de vir- 
ginite." Natürlich handle es sich nur um körperliche Keuschheit, die sehr wohl mit 
phantasierten Orgien vereinbar -wäre. Der bedeutende Kriminalist setzt hinzu: „Et je ne 
crois pas qu'on puisse trouver de mcilleifr Illustration ä U these de Freud, sous le nom ^e 
Psychoanalyse, que cette predominance de l'idee sexuelle dans des lettres oü la personnalite 
s'exprime en se dissimulant." Ein von Locard ausführlich dargestellter Fall dieser Art 
(S. 2$iff) zeige die vorzügliche psychologische Beobachtung des Lyoncr Kriminalisten. 

65 ) F r e u d, Dostojewski und die Vatertötung in , .Die Urgestalt der Brüder Karamasow", 
Leipzig 1930. - .» 

M ) Die Versuchung, diesen Kompetenzbereich zu überschreiten, liegt nicht nur dem 
Psychologen, sondern insbesondere dem Richter, dem Staatsanwalt, dem Kriminalbeamten 
nahe. Neuerdings sind wieder komplizierte Versuche unternommen worden, psychologische 
Beweismethoden zur Lösung der Tatfrage auszuarbeiten, wie etwa die in ihrer Naivität 
manchmal geradezu rührende Bemühung des Leipziger Landgerichtsdirektors C. Leon- 
hardt („Psychologische Beweisführung", Monatsschrift für Kriminalpsychologie und 
Strafrechtsreform, 22. Jg., März 193 1, 3. Heft). 

43 






i 



Der Selbstverrat 

Innerhalb der Indizien gibt es eine Gruppe, die auf den Beobachter einen 
bestimmten Eindruck macht: es scheinen Unbedachtheiten oder Unvorsichtig- 
keiten zu sein, die den Verbrecher verraten, während er seine Aufmerksamkeit 
darauf gerichtet hat, all seine Spuren zu verwischen. Solche Indizien, deren 
Existenz man mit der Annahme von „Dummheit" des Verbrechers zu ver- 
knüpfen versucht, liefern ihn häufig der Strafe aus. Diese selbstverratenden 
Indizien können in der Art des Verbrechens, in den Werkzeugen, in Zeit und 
Ort der Tat, in allen Begleitumständen entdeckt werden. Am 4. Dezember 1924 
meldeten die Zeitungen, daß eine Räuberbande die Villa des Direktors einer 
Kalksteingrube bei Stegen, Angerstein, überfallen habe. Sämtliche Anwesenden, 
acht Personen, wurden getötet, mit Ausnahme Angersteins selbst, der schwer 
verletzt wurde. Man vermutete, daß das Ziel des Überfalls ein Lohngeldraub 
war; die Villa selbst war von der Bande in Brand gesteckt worden. Dieser 
Bericht konnte sich vornehmlich auf die Aussagen des schwerverletzten Anger- 
stein, der im Krankenhaus einvernommen wurde, stützen. Man konstatierte 
indessen, daß die Tat wesentlich früher begangen sein mußte, als Angerstein 
angab; an der Leichenstarre der acht Opfer konnte man die Todesstunde unge- 
fähr feststellen. Diese Möglichkeit hatte Angerstein in seinem schrecklichen 
Mordplane nicht berücksichtigt. Ein anderes Beispiel: Dr. Erdely, der Gatte 
der schönen Budapester Schauspielerin Anna Forgacs, reiste kurz nach der 
Hochzeit mit seiner jungen Frau nach Millstatt in Kärnten. Bald darauf erfuhr 
man, daß Frau Erdely in eine 17 Meter tiefe Schlucht in der Nähe des Kur- 
ortes abgestürzt sei. Ins Hotel gebracht, starb sie. Der Arzt konstatierte Herz- 
lähmung und gab die Leiche zur Bestattung frei. Der Gatte schien völlig zu- 
sammengebrochen zu sein. Immerhin telegraphierte er an die Versicherungs- 
gesellschaft, sie möge ihm sofort die 20.000 Dollar, mit denen das Leben der 
I'rau Erdelys versichert war, überweisen. Die Gesellschaft war indessen miß- 
trauisch geworden und drang auf Obduktion der Leiche. Dr. Erdely hatte 
nicht bedacht, daß Würgespuren bei durch Absturz Verunglückten nicht vorzu- 
kommen pflegen. Wenn der Verbrecher sehr vorsichtig sein will, alle Möglich- 
keiten genau voraussehen und berücksichtigen will, so kommt es oft vor, daß 
er zu „vorsichtig" wird, sich gerade durch seine Umständlichkeit selbst verrät. 
Manche Kriminalisten behaupten, eine sichere Art, ein Verbrechen zu begehen, 
sei die, es unter der Herrschaft des Impulses zu tun. Wenn der Verbrecher dann 
durch glückliche Umstände begünstigt wird, wird er vielleicht niemals entdeckt. 
Die sorgfältig geplanten und bis ins Detail voraus berechnetsten schweren Ver- 
brechen werden häufig durch einen „dummen" Zufall verraten. Der Ver- 
brecher sorgt z. B. für ein lückenloses Alibi, aber es ist zu sorgsam vorbereitet 
und gerade dadurch läßt sich eine verborgen gehaltene Lücke erkennen. Der 
Artist Urban, der den Direktor des Mercedes-Palastes in Neukölln tötete, gab 

44 



an, daß er um die Zeit der Tat ein Telephongespräch mit seiner Braut in 
Leipzig geführt hatte. Die Angabe war nahezu richtig, aber die genaue Zeit des 
Gespräches konnte durch die Buchung des Fernsprechamtes kontrolliert werden: 
Die Korrektheit und Präzision des amtlichen Apparates wurde Urban zum 
Verhängnis. Ein drittes Beispiel: Der Tankwärter Hoba in Wannsee bei Berlin 
wurde in einer Septembernacht besinnungslos in seiner Tankstelle aufgefunden. 
Der Mann röchelte schwer; die Schubladen waren durchwühlt, das Geld 
geraubt worden; alles deutete auf einen Überfall hin. Der Verletzte konnte 
am nächsten Tag schildern, wie zwei Männer auf einem Motorrad vorgefahren 
wären, die ihn niederschlugen und die Kasse raubten. Hoba hatte einen Um- 
stand nicht genügend berücksichtigt: im Tank fehlten 165 Liter Benzin und 
165 Liter Benzin konnten die Verbrecher nicht auf ihrem Motorrad mitgenom- 
men haben. Hoba hatte der Zapfstelle Benzin entnommen und die Kassengelder 
unterschlagen. Der Überfall war fingiert worden. 

Die Kriminalisten beweisen uns, daß solche Indizien, die sie als „Sicherung 
des Beweises durch den Rechtsbrecher selbst" bezeichnen, gerade bei den 
schwersten Verbrechen nicht selten vorkommen. Man denke nur an die Auf- 
zeichnungen der Massenmörder Haarmann und Denke. Der Leichtsinn, dem 
solche verräterische Indizien zuzuschreiben sind, kontrastiert seltsam mit der 
großen Vorsicht bei Ausführung der Tat. In einem von W u 1 f f e n berichteten 
Falle " benützte ein Lackierer, der einen Knaben ermordet hatte, eine Scherbe 
des Emailkruges, den das Kind vor der Tat in der Hand getragen hatte, als 
Farbentopf in der Werkstatt. Er hatte diese Scherbe so achtlos auf dem Fenster- 
brette stehen, daß sie von einem vorübergehenden Polizeibeamten dort gesehen 
wurde. Niemand findet etwas Sonderbares darin, daß Verbrecher nicht ihre 
Visitenkarte am Tatorte zurücklassen. Es ist viel sonderbarer, daß sie es 
manchmal doch tun. Das „Berliner Tageblatt" berichtet z. B. unter der Über- 
schrift „Das durfte nicht kommen" (30. Juli 1931), daß der Schneider Paul 
Kneisel der Kriminalpolizei nicht viel Probleme stellte. Dieser Mann hatte mit 
zwei Freunden in der Nacht zum 7. Juli 193 1 einen Einbruch in ein Herren- 
konfektionsgeschäft in der Berliner Krummen Straße verübt. Die drei Freunde 
hatten den Wunsch, sich neu zu bekleiden. Beim Weggehen hatten sie weitere 
drei neue Anzüge mitgenommen, die sie dann verkauften. Kneisel allein hatte, 
als er seine alte Jacke am Tatort zurückließ, vergessen, seinen polizeilichen 
Anmeldeschein herauszunehmen. 

Das Material ist hier so überreich, daß man nicht die kriminalistische Litera- 
tur bemühen muß. Was der Tag uns zuträgt, genügt für unsere Zwecke. Beson- 
ders auffällig und aufschlußreich sind Fälle, in denen sich die Züge, die man 
gemeinhin als Nachlässigkeit, Unachtsamkeit, Verbrecherdummheit bezeichnet, 
häufen und dies gerade bei Verbrechen, vor deren Ausführung jede Einzelheit 



C7 ) Kriminalpsychologic, S. 22S. 

45 







sorgsam bedacht und geprüft wurde. Nehmen wir den Fall des Generalkonsuls 
von Barckhausen, dessen rätselhafter Tod (Juli 193 1 ) viel erörtert wurde. 
Dr. Barckhausen, der eine glänzende Laufbahn rasch durchmessen hatte, führte 
ein glückliches Familienleben und war in weiten Kreisen besonders beliebt und 
geachtet. Niemand ahnte, daß der lebenslustige Mann, der jugoslawischer 
Generalkonsul in Berlin war, mit schweren materiellen Sorgen zu kämpfen 
hatte und sein zur Schau getragener Reichtum seinen Ruin auf die Dauer nicht 
verdecken konnte. Barckhausen beschloß in seiner verzweifelten Lage, wenig- 
stens die Zukunft seiner Familie sicherzustellen. Der Vertrag seiner Lebens- 
versicherung lautete auf 200.000 Mark, welche seinen Angehörigen bei seinem 
Tode (außer im Falle des Selbstmordes) ausbezahlt werden sollten. Barckhausen 
arbeitete nun sehr sorgfältig einen Plan aus, der die Untersuchungskommission 
zu der Annahme führen mußte, daß der Konsul von Einbrechern in seiner 
Villa überfallen und ermordet worden war. Als man Barckhausen in seinem 
Arbeitszimmer erschossen auffand, sprachen alle Zeichen für einen solchen 
Überfall. Es war alles so inszeniert, daß man eine Ermordung durch unbe- 
kannte Täter, die durch das Fenster eingedrungen waren, glauben mußte. Erst 
spät entdeckte die kriminalistische Untersuchung einige Einzelheiten, welche 
diesen Tatbestand ausschlössen und endlich nur jenen anderen, den verschleier- 
ten Selbstmord, zuließen. Es waren ein paar Kleinigkeiten, winzige Fehler in 
dem Meisterwerk an Berechnung und Überlegung, das der Plan des Versiche- 
rungsbetruges darstellte. Gerade an diesen kleinen Fehlern aber scheiterte der 
Plan. Es sollte der Eindruck erweckt werden, daß Barckhausen Sonntag nachts 
während des Schreibens ein Geräusch von Einbrechern vernommen habe, ihnen 
entgegengeeilt und von ihnen im Kampfe erschossen worden sei. Das war gut 
berechnet und alle Einzelheiten im Zimmer deuteten darauf hin, aber der Füll- 
federhalter, mit dem jener so jäh unterbrochene Brief geschrieben war, war 
geschlossen. Als man die Leiche Barckhausens fand, hielt der Tode in der 
rechten Hand krampfhaft einen Totschläger und eine zerrissene Krawatte. Der 
zu rekonstruierende Tatbestand mußte sich dem kriminalistischen Beobachter 
aufdrängen: Barckhausen war offenbar mit den Eindringlingen in ein Hand- 
gemenge geraten und hatte einem im Kampf den Schlips heruntergerissen. Allein 
auch in dieser Rechnung gab es einen kleinen, unauffälligen Fehler: der Tote 
hielt die Krawatte so, daß ihr Inneres nach außen lag. Hätte er seinen Mörder 
an der Krawatte gepackt, und sie zerrissen, so hätte er mit dem Handteller 
unter die Krawatte greifen müssen und der Totschläger wäre ihm entglitten. 
Wiesen schon diese zwei Züge daraufhin, daß ein Überfall der angenommenen 
Art höchst unwahrscheinlich war, so brachte das Verschwinden und das Auf- 
finden der Brieftasche des Toten Klarheit über den Tatbestand. Als die Leiche 
Barckhausens entdeckt wurde, suchte man vergebens nach seinem Portefeuille. 
Am nächsten Tag meldete sich ein Briefträger, der beim Leeren des Brief- 
kastens am Nachbarhause die Tasche gefunden und auf seinem Postamte abge- 

46 












geben hatte. Zur Zeit aber, als der Briefträger Sonntag nachts den Briefkasten 
leerte, lebte Barckhausen noch. Zu eben dieser Zeit hatte er sich zum letztenmal 
mit seiner Hausangestellten unterhalten. Das Fehlen der Brieftasche sollte auf 
den Einbrecher hinweisen; der Fund am nächsten Tag sollte die Annahme des 
Einbruches noch bestätigen: Der Verbrecher hatte anscheinend das geleerte 
Portefeuille in den nächsten Briefkasten geworfen, um sich seiner zu entledigen. 
Barckhausen hatte aber vergessen, sich zu vergewissern, wann der Briefkasten 
zum letztenmal entleert werden würde. Er nahm wohl an, daß am Sonntag 
keine Leerung mehr erfolgen würde. Die Zeit des Einwurfes erbrachte den 
Beweis, daß Barckhausen selbst die angeblich geraubte Tasche in den Postkasten 
geworfen hatte. Hier sowie in einer großen Anzahl von Fällen, welche die 
Kriminalgeschichte berichtet, findet sich eine Reihe verräterischer kleiner Fehl- 
griffe gerade in einer Aktion, die bis ins kleinste vorausgedacht und -berechnet 
wurde. Oft ist es nur ein winziger Lapsus, der einen ausgezeichneten Plan, ein 
mit vollendeter Logik aufgebautes, verbrecherisches Schema zum Scheitern 
bringt. Es ist immerhin auffällig, daß sich solche kleine selbstverräterische Züge, 
insbesondere bei schweren Verbrechen einstellen; wir werden uns zu fragen 
haben, ob dafür besondere Gründe erkennbar sind. 

Der Verbrecher scheint den Neid der Götter zu fürchten wie die Werkmeister 
des Tempels von Nihko. Das Tor dieses nordjapanischen Heiligtums war von 
so vollendeter Schönheit, seine überreichen, erhabenen Schnitzereien so voll- 
kommen gearbeitet, daß die Baumeister nach seiner Fertigstellung annahmen, 
es habe den Neid der höheren Mächte erweckt. Die Folgen eines solchen Ge- 
fühles wären schreckliche gewesen, wenn die Werkmeister nicht absichtlich an 
einer der Säulen einen ungeschickten Fehler angebracht hätten, um die erzürnten 
Götter zu versöhnen. 

Oft begnügt sich ein Verbrecher damit, einen Teil der zu erwartenden Spuren 
künstlich zu erzeugen, aber er unterläßt es, sie weiterzuführen. In einer von 
einem Teich umschlossenen Villa war ein Diebstahl verübt worden. An der 
Parkmauer fanden sich Spuren davon, daß man dort überklettert war; ebenso 
waren auf dem sandbestreuten Wege bis zur Villa Fußspuren zu sehen. Eine 
genauere Besichtigung ergab, daß an der Parkmauer zwar Spuren vom Her- 
unterrutschen einer Person zu sehen waren, daß aber an ihrer Außenseite Spuren 
vom Überklettern fehlten. Der Dieb war sonach unter den Insassen des Grund- 
stücks zu suchen 08 . Verstand und scharfe Überlegung bieten keinen Schutz 
gegen diese „avenging chance", die der kriminalistischen Untersuchung manch- 
mal zu Hilfe kam: Ein mit allem Raffinement gefälschtes Testament datierte 
vom Jahre 1868. Allein das Wasserzeichen des Papiers, auf dem es fixiert war, 
wies das Wappen des Deutschen Reiches auf; ein großer Aufwand von Scharf- 
sinn war vertan. Auch nachträgliche Versuche der Spurenverwischung sind 



M ) Weingart, Kriminalistik, Leipzig I9°4> S. 123. 

47 



- 



oft solchen Tücken des Objekts, die vom Subjekt nicht unabhängig sind, aus- 
gesetzt. Die Materia peccans revoltiert hier gegen den Menschen. Ein 
Mann saß wegen Meineides in Untersuchungshaft. Er wurde auch einer Reihe 
von Diebstählen, die weit zurücklagen, verdächtigt. Es drohte seine Über- 
führung, da man an den Tatorten Fingerabdrücke gefunden und festgehalten 
hatte. Der Verbrecher wollte nun die Beweiskraft der Fingerabdrücke radikal 
widerlegen. Er produzierte im Gefängnis seine Fingerabdrücke auf Glasscheiben; 
eben zur Entlassung kommende Sträflinge nahmen diese Glasscheiben mit. Bei 
einem neuen Einbruch deponierten die hilfreichen Kameraden diese Fingerab- 
drücke unauffällig, indem sie die betreffende Glasscheibe unter die zerbro- 
chenen Scheiben eines von ihnen eingeschlagenen Fensters mischten. Der Ver- 
brecher, dessen Fingerabdrücke hier erschienen, konnte unmöglich an der Tat 
beteiligt gewesen sein, da er zur selben Zeit im Gefängnis saß. Mit der gelun- 
genen List wäre auch das ganze System der Daktyloskopie, eines der wichtigsten 
Hilfsmittel der kriminalistischen Untersuchung, in seiner UnZuverlässigkeit und 
Unzulänglichkeit erwiesen worden. Allein die List des Gefangenen mißlang; 
die Götter wollten sein Verderben. Das Glas mit den Fingerabdrücken war 
unglückseligerweise dünner als die Scheibe, die bei dem Einbruch eingeschlagen 
worden war. Es gibt Beispiele genug, die zeigen, daß derselbe Mensch, der mit 
dem eindringlichsten Scharfsinn und dem größten Raffinement alle Künste 
und Arrangements gewiegter Verbrecher durchkreuzte, selbst zum Verbrecher 
geworden, demselben dunklen Verhängnis unterliegt, dieselben Fehler 
und „Dummheiten" begeht, die er bei anderen erkannt hatte. Der Generalstabs- 
oberst Redl, der die österreichische Kundschafterstellc leitete, hatte viele Spione 
mit besonderem kriminalistischem Geschick entlarvt 60 . Viele Jahre war die Auf- 
deckung der gegen Österreich arbeitenden Spionage sein Fachgebiet gewesen. 
In seinem Bureau gab es präparierte Zigarettcnschachteln und Bonbonnieren, die 
dem Besucher gereicht wurden, um so auf unverdächtige Art Fingerspuren zu 
erhalten; Besucher wurden ohne ihr Wissen photographiert, ihre Worte insge- 
heim festgehalten. Vielen Spionen wurde auf die raffinierteste Art eine Falle 
gelegt. So wurde der Major Ritter von Wienckovsky in Stanislau von Redl 
der Spionage überführt. Eine Offizierskommission nahm in der Wohnung des 
Verdächtigten eine Hausdurchsuchung vor. Im Kinderzimmer spielte das sechs- 
jährige Töchterchen des Majors mit der deutschen Gouvernante. Das hübsche 
Kind, das anfangs sehr befangen war, starrte die fremden Offiziere an. Redl 
wußte die Kleine zutraulich zu machen, nahm ihr Händchen und plauderte 
polnisch mit ihr. Er fragte sie, wieviel zweimal vier sind, stellte sich überrascht 
über ihre richtige Antwort und lobte sie sehr. „Bist du auch so gescheit, daß 
du weißt, wo Papa seine Briefe versteckt?" — „Natürlich", antwortete die 
Kleine rasch, läuft in das Arbeitszimmer des Vaters, k riecht unter den Schreib - 

">•) Der folgende Bericht nach Egon Erwin Kisch, Der Fall des Generalstabschefs Redl. 
Berlin 1924. 

48 



L 



tisch und deutet unter dessen linke Ecke. Das schwere Möbelstück wird um- 
gelegt; ein verborgener Knopf wird gefunden und ein Fach mit belastenden 
Dokumenten geöffnet. Derselbe Mann, der so das Vertrauen eines Kindes zu 
erwerben und zu mißbrauchen gewußt hatte, benahm sich, als sein Geheimnis in 
Frage kam, kindisch genug. Niemand ahnte, daß der Leiter des Kundschafts- 
bureaus selbst in den Diensten der russischen Spionage stand. Angesichts der 
Kriegsgefahr wurde damals die Privatpost überwacht. Im März 1913 kamen 
zwei Briefe mit der Chiffre „Opernball B" aus Eydtkuhnen beim Hauptpost- 
amt Wien an. Die Briefadresse war mit Schreibmaschine geschrieben, der 
Inhalt hohe Geldbeträge. Redl behob den Brief erst am 24. Mai 191 3 und 
entwischte den im Postamte wachenden Detektiven in einem Auto, das er vor 
dem Amte angekurbelt warten ließ. Der Wagen wurde später festgestellt, der 
Weg, den er genommen hatte, konstatiert. Er führte zum Hotel Klomser. Im 
Fond des laxis fanden die zwei Detektivs das Futteral eines Taschenmessers, 
eine Hülle aus hellgrauem Tuch. Vermutlich hatte der Unbekannte, der die 
Briefe behoben hatte, das Taschenmesser zum Aufschneiden benützt. Das 
Futteral wurde dem Portier des Hotels übergeben; er sollte die Gäste befragen, 
wem es gehöre. Eben kommt Oberst Redl die Treppe herab, legt den Schlüssel 
seines Zimmers auf den Tisch. Der Portier fragt: „Haben Herr Oberst das 
Futteral Ihres Taschenmessers verloren?" — „Ja", antwortet der Oberst und 
steckt das ihm gereichte hellgraue Tuchsäckchen gedankenlos ein, „wo habe 
ich es denn . . .?" Er bricht den Satz ab, da er sich erinnert; sein Blick fällt auf 
einen fremden Herrn, der am selben Tisch interessiert Briefe durchsieht. Der 
Oberst ahnt, daß er verloren ist. 

Wir haben nun genug Beispiele angeführt. Was sind das nur für dunkle 
Kräfte, welche die Absichten so vieler Verbrecher durchkreuzen? Es muß doch 
eine psychologische Erklärung für das Zustandekommen solcher typischer 
Übersehen und Unvollkommenheiten, die zu wichtigsten Indizien werden, 
geben. Die Kriminalpsychologie hat dieses Moment als die Lehre „von der 
einen Dummheit" zusammengefaßt, die fast bei jedem sehr schweren Ver- 
brechen gemacht zu werden pflegt"". Trotz dem Übereinstimmen zahlreicher 
Kriminalisten wollen wir es nicht glauben, daß diese typische Dummheit bei 
fast allen großen Verbrechen vorkommt. Die Kriminalgeschichte liefert uns 
eine Unzahl schwerer Verbrechen, , die tadellos ausgeführt wurden und deren 
Täter die irdische Gerechtigkeit schweren Herzens der himmlischen überließ. 

Die Improvidenz des Täters 

Die Kriminalisten haben für jene Unvorsichtigkeiten, Unbedachtheiten und 
Nachlässigkeiten, die allgemeine Bezeichnung „Verbrecherpech" und für sie ist 

00 ) Hans Gross, Handbuch für Untersuchungsgefangene, I. Teil, S. 21. 

R c i k : Der unbekannte Mörder 4 49 



das Verbrecherpech „etwas ganz Selbstverständliches"" 1 . Es handelt sich, 
wie W u 1 f f e n in seiner großen Kriminalpsychologic auseinandersetzt, eben 
um die „Improvidcnz des Täters". Es scheint W u 1 f f e n keine Schwierig- 
keiten zu machen, diese Namensgebung eine psychologische Erklärung zu 
nennen. Der eben geschilderte Fall des Oberst Redl zeigt sicherlich 
eine solche Improvidenz in klarer Form, aber mit dieser Bezeichnung ist die 
kriminalpsychologische Untersuchung nicht geschlossen, sondern eröffnet. Wie 
konnte der so gewiegte Kriminalist jenes Futteral vergessen und wie konnte es 
ihm passieren, daß er sich sofort verriet, als man es ihm vorzeigte? Wie ist 
diese Improvidenz, um W u 1 f f e D s Ausdruck beizubehalten, mit dern 
Höchstmaß der Vorsicht, Schlauheit und Berechnung zu vereinbaren, die der 
Oberst bei anderen Gelegenheiten bewies, wie mit dem besonderen Scharfsinn 
seiner Methoden, Verbrecher zu überführen, wie mit dem nicht gewöhnlichen 
Wissen darüber, wie Spione sich verraten? Wir haben gerade diesen Fall ge- 
wählt, weil die Existenz der Providenz nicht gut geleugnet werden kann und 
weil in ihm der Verbrecher und der Kriminalist durch Personalunion verbunden 
waren. Ähnlich intellektualistisch wie W u 1 f f e n urteilt auch Hans Gross, 
der betont, wie oft Kriminalisten von einem schon betretenen richtigen Weg 
wieder abgelenkt wurden, bloß weil man sich sagte: „Nein, so dumm kann 
der Täter doch nicht gewesen sein." Ebenso viele Prozesse aber beweisen, daß 
er es doch gewesen sei r '-. „Ja, ich habe einmal sogar gefragt, ob das Wesen 
des Verbrechers nicht gerade in der Unfähigkeit besteht, große Fehler zu unter- 
lassen?" 

Wie man sieht, meinen die Kriminalisten, daß es auch bei jenem Verbrecher- 
pech um den Ausdruck der kommunen Dummheit, einer physiologisch 
bedingten intellektuellen Minderwertigkeit, handelt. Diese mag wohl in ver- 
einzelten Fällen in der Ausführung von Verbrechen in Erscheinung treten; 
sicherlich nicht in der großen Anzahl mit äußerster Vorsicht und Voraussicht 
geplanter Verbrechen, die sich doch durch einen kleinen Fehler verraten. Man 
muß sich nach anderen Erklärungen umsehen und die beste, welche uns die 
Wissenschaft bisher zur Verfügung gestellt hat, ist die psychoanalytische. 
Diese versichert uns, daß „die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können" 
(Freud) und daß der Selbstverrat ihnen aus allen Poren dringt. Jene kleinen 
Aktionen und Unterlassungen lassen sich als Fehlleistungen verstehen, in denen 
dem Ich unbekannte, seelische Regungen Ausdruck gewinnen. Hier wird nun 
der Gegensatz zwischen der äußersten Vorsicht und Voraussicht des Rechts- 
brechers und seiner „Improvidenz" erklärbar. Es handelt sich nicht um ein 
intellektuelles Versagen schlechthin, um vermeidbare Fehler. Hier wirkt ein 
seelischer Zwang, der nicht weniger zwingend ist, weil seine Motive anonym 

") W u 1 f f e n, Kriminalpsychologie, S. 249. 
M ) Handbuch für Untersuchungsrichter, S. 21. 

50 






bleiben. Läßt man die Beispiele dieser Art, welche uns die Kriminalgeschichte 
in bisher nicht erschöpfter Fülle liefert, Revue passieren, so wird die Annahme 
nicht mehr abweisbar, daß es sich in der überwiegenden Anzahl um solche 
unbewußt determinierte Fehlleistung der Täter handelt. Ein Mörder hat seinen 
Plan mit dem größten Raffinement durchgeführt, sich mit außerordentlicher 
List seinen Verfolgern entzogen und sich später doch durch eine kleine Un- 
vorsichtigkeit verraten: Er weiß wohl gut sich mit der Polizei, doch schlecht 
sich mit dem Blutbann abzufinden. 

Die Improvidenz des Täters, die uns als letztes psychologisches Motiv jener 
selbstvcrräterischen Indizien vorgestellt wurde, ist also unbewußte Providenz 
mit dem Ziele des Selbstverrates, ist von dunklen, dem Täter unbekannten 
Absichten geführt. Sein Geheimnis ist stärker als sein Wille. Ein Gcgenwille, 
der mächtiger ist als seine bewußten Vorsätze, durchkreuzt alle Vorsicht. Wer 
Verbrechen ohne Zeugen verübt hat, ist der Einzige, der darum weiß und es ist, 
als ob er dieses Wissen teilen, mitteilen müßte, als ob er es nicht bei sich 
behalten könne, als wüchse eine seelische Spannung in ihm, die ihn drängt, 
dieses Wissen zu verraten, koste es, was es wolle — selbst den eigenen Kopf. 
Die Kinder haben ein Spiel, in dem gefragt wird: „Ich weiß etwas, was du 
nicht weißt . . . Was ist es?" und nun wird eine Anspielung auf dieses Unbe- 
kannte gemacht, etwa eine seiner Eigentümlichkeiten genannt, sein Ort ange- 
deutet usw. Die Mitspielenden haben dann in Verwertung dieser Andeutungen 
oder, wie wir sie nennen könnten, Indizien den bestimmten Gegenstand oder 
die gedachte Tätigkeit zu erraten. Etwas ähnliches wie jene im Spiel auf- 
tretende Tendenz muß in dem Verbrecher unbewußt vorhanden sein und ihre 
Wirkungen in der Produktion der beschriebenen Fehlleistungen entfalten. Es 
ist so, wie wenn er (wie das spielende Kind) der Justiz ein Rätsel aufgäbe: 
„Ich weiß etwas, was du nicht weißt . . ." Wenn jemand das sagt, wird es der 
Andere auch bald wissen, insbesondere dann, wenn der erste sich seines ge- 
heimen Wissens rühmt. Geheimnis ist nämlich jenes Wissen, das zur Offen- 
barung drängt. Der unbewußte Selbstverrat äußert sich gerne in vieldeutigen 
Worten. Wenn aber die psychische Spannung nicht mehr ertragbar ist, drängt 
er zu dem Worte, das nur mehr eine Deutung zuläßt. In einer Nacht des 
Jahres 1887 wurde der Kaufmann Kreyss in seinem Laden in Berlin ermordet 08 . 
Das Verbrechen wurde erst spät am nächsten Morgen entdeckt. Früh kurz nach 
6 Uhr bat ein Mann eine die Treppen hinaufgehende Zeitungsfrau um eine 
Nummer des Journals. Bei der Rückkehr fragte die Frau: „Na, schon gelesen?" 
Der Mann antwortete: „Ach, es steht ja noch nichts drin von dem Mord' . 
. Sie fragte: „Schon wieder ein Mord?" - „Ja, in der Adalbertstraße." Der so 
sprach, war der Mörder selbst. 

Was ist es, das die Verbrecher zur entstellten, verhüllten Mitteilung ihrer 



6S ) Weingart, Kriminaltaktik, S. 165. 
4* 



Tat drängt, was bewirkt es, daß Mord oft spricht in sonderbaren Zungen 01 ? E s 
ist klar, daß im Verbrecher zwei seelische Kräfte um die Herrschaft ringen: 
Die eine, welche alle Spuren der Tat verbergen will und die andere, welche die 
Tat und den Täter allen zeigen möchte. Ich werde auf Wesen und Wirksam- 
keit dieser zweiten unbewußten Tendenz hier nicht näher eingehen, weil ich 
sie in einem 1925 erschienenen Werke ausführlich dargestellt habe 05 . Es sind 
insbesondere Impulse, die aus dem unbewußten Strafbedürfnis aufsteigen, die sich 
in dieser Art der Fehlleistungen durchsetzen. Natürlich gibt es eine unbestimmt 
große Anzahl von Verbrechern, die auf ihre Tat nicht in dieser Art reagieren. 
In einzelnen Fällen, welche die Kriminalliteratur überliefert, werden die aus 
dem unbewußten Strafbedürfnis stammenden Regungen so stark, daß sie den 
Verbrecher gleichsam überrumpeln, seine Tat zunichte machen und ihn noch 
vor ihrer Ausführung ins Verderben stürzen. Nur einige der Beispiele, die bei 
W u 1 f f e n unter der Bezeichnung Verbrecherpech oder -dummheit erscheinen, 
mögen hier erscheinen: Ein epileptischer Dieb brach in die Wohnung eines 
Arztes ein. Als er sich im Arbeitszimmer plötzlich einem menschlichen Skelett 
gegenübersah, fiel er vor Schrecken in epileptische Krämpfe und wurde so auf- 
gefunden. Ein anderes Beispiel, das W u 1 f f e n anführt, ist so merkwürdig, 
daß es ihn an der Improvidenz des Täters als Erklärung des Verbrecherpechs 
hätte stutzig machen müssen. Franz Gal aus Kaposvar in Ungarn hatte in 
Erfahrung gebracht, daß sein Nachbar Josef Varga seine Ochsen für 
900 Kronen verkauft hatte. Er wartete, bis die Eheleute ihr Haus verlassen 
hatten und stahl das Geld. Das sechsjährige Töchterchen Vargäs allein war 
zu Hause und Gal beschloß, die unbequeme Zeugin zu beseitigen. Er knüpfte 
einen Strick an den Deckenbalken des Vargaschen Hauses, machte eine Schlinge 
und forderte das Kind auf, den Kopf hineinzustecken. Die Kleine wünschte, 
Gal sollte ihr das vormachen. Er stieg nun auf einen Stuhl, um dem Kinde zu 
zeigen, wie es den Kopf in die Schlinge stecken sollte. Plötzlich stürzte der 
Stuhl um, so daß Gal in der Schlinge hängen blieb. Das erschreckte Kind lief 
aus der Wohnung. Als seine Eltern kamen, war der Einbrecher schon eine 
Leiche. Hier ist das Beispiel einer Fehlleistung, die sich als Unglück maskiert, 
ein verhüllter Selbstmord, der sich einer Ungeschicklichkeit bedient. Die Selbst- 
bestrafungstendenzen sind hier wie manchmal in der Zwangsneurose der Aus- 
führung einer verpönten Tat vorausgegangen und haben das Ich in den Tod 
getrieben, den es unbewußt über sich verhängt hatte 0B . 



) „tor murder, though it have no tongue will speak with most miraculous organs." 
Hamlec II, 2. 

) Rcik, Geständniszwang und Strafbedürfnis. Internationaler Psychoanalytischer 
Verlag, 1925. 

M ) Unlängst berichtete Pollke in den „Kriminalistischen Monatsschriften" (Jg. 1928, 
Bd. 2, S. 20j) folgenden ähnlichen Fall: Der Pole Michael Wolca, der bei einer Baustelle 
im Duisburger Wald Beschäftigung gefunden hatte, hatte am 2. September 1927 seiner» 
Wochenlohn mit seinen Kollegen im Gasthause vertrunken und verspielt. Nach dem Vc r , 

52 



Ähnliche Beispiele scheinen auf eine psychische Entwicklung hinzuweisen, 
die man als Verinnerlichung des Jus talionis beschreiben könnte. Jedenfalls 
müßten sie den Kriminalisten darüber belehren, daß es in der seelischen Unter- 
welt des Verbrechers Vorgänge gibt, die ihnen bisher unbekannt waren und 
für deren Resultat sie nur unzulängliche und banale Erklärungen zu geben 
hatten. Diese Erklärungen gingen manchmal von der Auffassung der Schwer- 
verbrecher, der Mörder und Wüstlinge als „betes humaines" aus. Die Wirk- 
samkeit unbewußter, selbstbestrafcnder und zerstörender Impulse, die manch- 
mal gerade bei den schwersten Verbrechen auftreten, zerstören diese Legende, 
die ja den menschlichen Narzißmus wieder aufrichten sollte, indem sie eine 
Distanz ungeheuerlich vergrößerte. Auf der anderen Seite darf die Existenz und 
Wirkung unbewußter moralischer Faktoren nicht dazu verführen, in den 
Schwerverbrechern Edelmenschen zu sehen und zu bewundern" 7 . 



Die Visitenkarte des Verbrechers 

Eine chemische Untersuchung der Fäkalien, welche manche Verbrecher am 
Tatort zurücklassen, hat in zahlreichen Fällen zur Ermittlung des Täters 
geführt. Diese Untersuchung war manchmal so aufschlußreich, daß ein fran- 
zösischer Kriminalist (R e i s s in Lyon) den am Tatort zurückgelassenen Stuhl 
Ja carte de visite odorante" des Verbrechers genannt hat. Es ist leicht nach- 
weisbar, daß der Grumus merdae mit mannigfachen abergläubischen Vor- 
stellungen verknüpft wird. So meint man in Verbrecherkreisen manchmal, 
man habe keine „Nachjagd", wenn Stuhl am Tatort zurückbleibt. Um die 
Frist zu verlängern, wird der Kothaufen häufig mit Objekten bedeckt. Volks- 
tümliche Bezeichnungen für diese Fäkalien wie „Wächter", „Posten" (Deutsch- 
land), „Schuldwächten" (Holland), „Sentinelle" (Frankreich), „Uomini di 
notte" (Italien) bezeugen den erwähnten Aberglauben. W u 1 f f e n erklärt 
die - Kothaufen am Tatort als „sichtbare Zeichen des Übermutes des Ver- 
brechers" ° 8 . Gewiß wird auch eine solche Absicht der Verhöhnung manchmal 
nachweisbar sein, es ist doch ausgeschlossen, daß sie das primäre Motiv der 

lassen des Gasthauses ging "W. zur Baubude des Unternehmers, wo die Arbeitskleidcr der 
ganzen Kolonne aufbewahrt waren. Er wollte die Kleider stehlen und verkaufen. Das 
Schloß der Hütte widerstand seinen Anstrengungen. W. stieg auf einen Holzballenstapel, 
der vor der Baubude stand. Er zwängte einen zirka zwei Meter langen Wuchtbaum zwi- 
schen Dach und Seitenwand der Hütte. Mit dessen Hilfe hob er nun das Dach so weit, 
daß er seinen Kopf und den rechten Arm durchzwängen konnte. Schon hatte er einige 
der Kleider, die an der Innenwand hingen, herausgezogen und auf den Boden geworfen, 
da kippte der Bohnenstapel um, und der Dieb verlor den Halt unter den Füßen. Das Dach 
schnellte in seine ursprüngliche Lage zurück, so daß W. zwischen Dach und Seitenwand 
der Bude hängen blieb. Er wurde tot aufgefunden. 

<") „There is something of the warst in the best of us, there is somelhing of the best 
in the worst of us." 

M ) Kriminalpsychologie, S. 265. 

53 












seltsamen Gewohnheit ist. Vorsichtiger als W u 1 f f e n hat H c 1 1 w i g den 
Verbrecherbrauch, den er in vielen Ländern nachweist, erklärt ". Er meint, daß 
der Grumus merdae auf die Idee zurückzuführen sei, der Täter müsse irgend 
etwas am Tatort zurücklassen, um selbst glücklich zu entkommen. Der 
zugrundeliegende Gedanke sei der Glaube, daß jedes Verbrechen eine Sühne 
erfordere. Durch das freiwillige Opfer glaube man, entweder die Gottheit zu 
versöhnen oder sie geradezu zu zwingen, den Täter im übrigen straffrei zu 
lassen. Wie man sieht, hat sich H e 1 1 w i g die Aberglaubenstheorie zu eigen ge- 
macht. Tatsächlich ist diese geeignet, den Brauch bis zu einem gewissen Punkt 
zu erklären. Der Charakter des freiwilligen Opfers, der Strafablöse, wird dem 
am Tatort zurückbleibenden Kot von vielen Verbrechern wirklich zuge- 
schrieben. 

Zwei Momente werden uns indessen zurückhalten, die H e 1 1 w i g sehe 
Theorie als eine ausreichende psychologische Erklärung gelten zu lassen. Das 
erste ist eine Überlegung allgemeinerer Art, die sich als Erwerb der analytischen 
Praxis darstellt: Sie sagt, daß das von den Abergläubischen angegebene Motiv 
nichts Letztes und Eindeutiges ist, sondern selbst der psychologischen Unter- 
suchung und Erklärung bedarf. Diese Personen geben nur einen Teil der 
Gründe ihres Glaubens, nämlich die bewußtseinsfähigen Motive an, während 
sie naturgemäß über die wichtigeren, unbewußten Tendenzen ihres Verhaltens 
nichts aussagen können. Wir meinen also, daß die Aberglaubenstheorie der 
psychologischen Vertiefung bedarf. Der andere Einwand gegen die Hei 1- 
w i g sehe These ist von besonderer Natur; er wird klar, wenn wir vorläufig, 
sozusagen zu Versuchszwecken die Aberglaubcnstheorie akzeptieren. Wenn 
der Brauch auf jenen erwähnten Aberglauben zurückgeht: muß sich nicht dem 
Verbrecher am Tatort manchmal die bange Frage aufdrängen, woher er, nicht der 
Not gehorchend, nur dem inneren Triebe, das Material für sein Opfer nehmen 
soll? Gewiß kommt es hier auf die Möglichkeit der Produktion an: „Bereit sein 
ist alles." Gerade in dieser Bereitschaft auf Wunsch liegt, wie mir scheint, ein 
Rätsel. 

B. Kraft, dem die meines Wissens neueste Arbeit über den Gegenstand zu 
verdanken ist, weist die Theorie, derzufolge das Zurücklassen der Exkremente 
infolge eines alten Aberglaubens geschieht, entschieden zurück 70 . Er nimmt 
vielmehr an, daß durch die Nervosität des Verbrechers eine vermehrte 
peristaltische Bewegung des Darmes bewirkt wird, wodurch der Drang ent- 
steht, sich der Faeces zu entledigen. Weiters weist dieser Autor darauf hin, 
daß die Erscheinung mit der Gewöhnung an das Verbrechen mehr und mehr 
schwindet. Er gelangt so zu der Schlußfolgerung, daß die Anwesenheit von 

••) Ein eigenartiger Diebsabcrglaube in Europa und Asien. Arch. für Krim.-Anthrop., 
1908, S. 302 f. 

m ) Neues zur Kotuntersuchung in Kriminalfällen. Archiv für Kriminologie, Bd. 84, Mai 
1920, S. 14 ff. 

J4 



Fäkalmassen am Tatort in den meisten Fällen für die Ausführung der Tat 
durch eine im kriminellen Gewerbe noch nicht abgestumpfte Person spreche 
oder daß zum mindesten eine solche Person bei der Tat zugegen war. Kraft 
nimmt ferner an, daß es dieser dargestellte Grund ist, der den Anlaß zu dem 
erwähnten Aberglauben gegeben habe. 

Wir verdanken Freud den Nachweis, daß der Kot vom Kinde als Ge- 
schenk, als Zeichen der Zärtlichkeit gewertet wird, daß sich das Kind seiner 
zugunsten einer geliebten Person entäußert 71 . Diese infantile Bedeutung des 
eigenen Stuhles schließt seine gelegentliche Verwendung im Sinne des Trotzes 
nicht aus; diese ist nur die negative Wendung der früheren primären Bedeutung. 
Der Grumus merdae würde so nach Freud beides bedeuten: den Hohn und 
die regressiv ausgedrückte Entschädigung. Hier findet sich die von Kraft 
allgemein als Nervosität bezeichnete Erregung näher bestimmt: sie ist zu ihrem 
wesentlichen Teile Angst. Die Entstehung jenes Verbrecheraberglaubens, der 
Sühne- und Schutzbedeutung des zurückgelassenen Stuhles, wird aus dem Cha- 
rakter der Fäkalien als einer in infantiler Art ausgedrückten Entschädigung 
verständlich. Der Anteil von Hohn tritt neben der Wirkung jener regressiven 
unbewußten Tendenz deutlich hervor. 

Der Kot vertritt als Stück des eigenen Leibes den Täter selbst; im Sinne jener 
infantilen Anschauung bleibt er gleichsam als pars pro toto am Tatort zurück. 
Auf einer anderen kulturellen Ebene wird sich derselbe Gedanke im Strafrecht 
halbwilder Völker und im Frühmittelalter in anderer Form äußern: auch Tot- 
schlag, Mord und Raub können durch Geldbußen oder durch Ablieferung einer 
Anzahl von Haustieren gesühnt werden. 

Der demonstrative Charakter des Grumus merdae weist darauf hin, daß er 
einen Ausdruck des unbewußten Geständniszwanges darstellt: Der Stuhl er- 
scheint hier als Ausdruck der sozialen Angst. Es stimmt gut zu dieser Auffassung, 
daß die Anwesenheit von Fäkalien nach K r a f t für einen noch jungen oder 
nicht abgestumpften Verbrecher spricht. Manchmal würde man, vom Effekt 
auf die unbewußten Motive schließend, annehmen, daß der Verbrecher seinen 
Stuhl zum Selbstverrat zurückgelassen habe. Wenn wir hören, wie häufig man 
durch die Untersuchung des Kotes zur Verfolgung einer bestimmten Spur ge- 
langt 72 , erkennen wir, daß jener Aberglaube vom Schutz des Verbrechers durch 
den Kot die optimistische Umdeutung jenes Glaubens ist. Er kann sich auf 
die Überzeugung stützen, daß der Verbrecher in dieser infantilen Form schon 
der Gerechtigkeit oder dem Geschädigten seinen „Tribut" gezollt hat. Es kommt 
nicht selten vor, daß der Selbstverrat sich bei dieser Funktion noch in anderer 
Art durchsetzt. So berichtet Gross den Fall eines gefährlichen Einbrechers, 
Demeter Radek, der ein Geschäft in Cernowitz plünderte. Radek, der soeben 

") Freud, Aus der Geschichte einer infantilen Neurose. Ges. Schriften, Bd. 7. & J z 3- 
n ) H e 1 1 w i g, Die Bedeutung des grumus merdae für den Praktiker. Archiv, f. Krim.- 
Anthrop., Bd. 23, S. 188 ff. 



55 



aus dem Lcmbcrgcr Gefängnis entlassen worden war, entleerte sich in dem er- 
brochenen Verkaufsraum und nahm zum Abwischen den auf seinen Namen 
lautenden Entlassungsschein aus dem Gefängnis. 

Vielleicht geht die psychologische Erklärung, welche die Psychoanalyse füx 
den Grumus merdae gegeben hat, über diesen besonderen Fall hinaus und be- 
hält ihre Geltung für eine ganze Gruppe von Indizien? Hellwig berichtet 73 , 
daß man in der ganzen Umgebung von Alecksinc glaube, wenn einer einen 
Menschen töte, brauche er nur ein Stück seiner Kleidung auf den Ermordeten 
zu werfen, dann könne ihn keiner fangen. Vor ungefähr 25 Jahren ereignete 
sich folgender Fall, der die Natur dieses Glaubens illustriert: Eines Nachmittags 
geriet ein Bauer aus der Umgebung von Soho Banja mit einem anderen Bauer 
in einem Kaffeehaus in Alecksine in Streit. Das Lokal war gut besucht. Ein 
Wort gab das andere, schließlich ging der Streit in Tätlichkeiten über. Der 
Bauer aus der Gegend von Soho Banja zückte sein Messer und tötete seinen 
Gegner durch einen Stich. Hierauf zog er seine Pelzmütze vom Kopf, warf sie 
auf die Leiche, bahnte sich durch die umstehende Menschenmenge einen Weg 
und entkam. Die Leute meinten, er sei deshalb nicht gefangen worden, weil 
er seine Mütze auf den Ermordeten geworfen hätte. Nach dem Volksglauben 
in Bosnien und Herzegowina wird ein Mörder vom Blut des Getöteten derart 
angezogen, daß er sich vor dem Ermordeten nicht entfernen kann. Um dies 
zu können, müsse er einen ihm gehörigen Gegenstand, z. B. ein Gewehr auf 
den Toten werfen. In den Abruzzen muß der Mörder seine Waffe in bestimm- 
ter Richtung wegwerfen. In Sizilien glaubt man, daß der Mörder, welcher 
den Dolch behält 74 , von einer unwiderstehlichen geheimnisvollen Macht in die 
Hände der Justiz getrieben wird. Wie ein ähnlicher Aberglaube Indizien pro- 
duziert, möge etwa folgendes, von Hellwig beigebrachtes Beispiel zeigen: 
Eine Frau setzte ihr zehn Monate altes Kind in bitterkalter Winternacht auf 
die Landstraße, neben ihm ließ sie ihre Schuhe zurück in der Hoffnung, ihr 
Name werde dann nicht ermittelt werden können. Gerade mit Hilfe der 
Schuhe wurde indessen die Frau ausfindig gemacht, da sich der Ortsschuh- 
macher erinnerte, für wen er seinerzeit die Schuhe anfertigte. Hellwig 
meint nun, die Schuhe wären in dem Glauben zurückgelassen worden, daß dann 
die Fußspur nicht erkannt, also auch nicht ermittelt werden könnte, wohin 
die Frau gegangen sei. In einem Falle wurde der Abdruck einer mit Blut be- 
schmierten Hand am Tatort vorgefunden. Man schloß daraus, der Täter habe 
entweder seine Hand besudelt oder sie zerschnitten. Bei seiner Verhaftung ge- 
stand er, sich die Hände vorsätzlich zerschnitten zu haben, um eine derartige 
Spur zu hinterlassen. Der blutige Händedruck vertritt nach Hellwig im 
Volksglauben den Menschen selbst. Alle diese Glaubcnsvorstellungen der Ver- 

7S ) Kriminalistische Aufsätze, Archiv für Krim.-Anthrop., 1908, S. 302. 
") Kriminalistische Aufsätze, S. 310. 






brecher, wie sie von H e 1 1 w i g und anderen Autoren gesammelt wurden, 
legen Zeugnis von der Annahme eines magischen Bandes zwischen dem Opfer 
und dem Verbrecher ab. Der Ermordete ist nach diesem Glauben nicht ganz 
tot und kann jederzeit Rache an seinen Mörder nehmen. Ihn oder seinen rach- 
süchtigen Geist, der ursprünglich mit dem körperlichen Ich des Getöteten iden- 
tisch ist, zu versöhnen, gab es ursprünglich nur ein Mittel: Den Tod des Täters 
nach dem Jus talionis. Der Mörder konnte später ein solches Selbstopfer durch 
ein Stück seines Ichs (den eigenen Kot, sein Blut, ein Stück seiner Kleidung usw.) 
ablösen. Das, was später als Indiz verwertet wurde, ein Stück Material, das 
auf den Täter hinwies, war also einmal ein Stück des Täters selbst. Was später 
unbewußt vergessen wurde, was als Resultat einer unbewußten Fehlleistung 
zum Anhaltspunkt für die Persönlichkeit wird, war ursprünglich etwas von ihm 
absichtlich, zu magischen Zwecken Zurückgelassenes. Was später als Indiz Ver- 
wendung fand und die Spur des Täters wies, hat einen bestimmten Platz im 
lebendigen Aberglauben vieler Verbrecher. Die seelische Entwicklung hat hier 
zwei Vorgänge umfaßt: eine Verschiebung auf das Kleinste und eine Verall- 
gemeinerung, die vom ursprünglich Leiblichen auf alles, was mit dem Mörder 
in Berührung kam, übergriff. Im Sinne der Ambivalenz hat sie die freund- 
liche, aussöhnende, primär apotrophäische Bedeutung des zurückgelassenen 
Objekts als eines Sühnemittels in ihr gefühlsmäßiges Gegenteil verkehrt. Eine 
solche Herkunft des Indizes läßt verstehen, daß dasselbe Objekt, das den Ver- 
brecher vor Verfolgung und Strafe schützen soll, ihn der Rache ausliefert. Der 
Verbrecher zeigt in seinem Aberglauben eine archaische Denkart, welche die 
technisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise nicht ausschließt, wenn es 
sich um die Ausführung seines Verbrechens handelt. Die Geschichte des Indizes 
gibt auch Auskunft darüber, wie an Stelle der Selbstbestrafung der Selbst- 
verrat, an die Stelle der zwanghaften Sühnungstcndenz der unbewußte Ge- 
ständniszwang in der Produktion von Fehlleistungen getreten ist. Die Sühne- 
handlung wurde durch die Fehlhandlung ersetzt, aber die Fehlhandlung ist selbst 
unbewußt eine Sühneaktion. Mord verlangte einst den eigenen Tod als Buße; 
dasselbe unerbittliche Gesetz fordert nun, unbewußt geworden, daß der Täter 
sich der Justiz durch den Selbstverrat ausliefere. Auch dieses seelische Gesetz 
kennt kein Erbarmen: dura lex, sed lex. 

Die Rückkehr zum Tatort 

Wenn unsere Ableitung richtig ist, müßte sich noch im Glauben heute leben- 
der Menschen ein Rest jener Anschauung, daß der Tote seinen Mörder nicht 
loslasse, ihn als Sühne für die Tat haben will, finden lassen. Hier soll nur auf 
eines der Phänomene hingewiesen werden, die mit dieser Anschauung in noch 
nicht erfaßtem psychologischen Zusammenhang stehen: Auf die Rückkehr des 
Mörders zum Tatort. 

$7 



_ 



-^ 



Natürlich verspüren nicht alle Mörder diese starke Tendenz und sicherlich 
geben ihr nicht alle Mörder, die sie verspüren, nach. Für uns Psychologen ist 
es wichtig, daß sich diese Absicht oft mit zwanghafter Stärke geltend macht. 
Was treibt die Verbrecher zu so widersinnigem Tun? Wulffen zeigt, daß 
in manchen Fällen praktische Zweckmäßigkeitsgründc ein so befremdendes 
Verhalten erklären könnten". In einem Falle hatte z. B. ein Verbrecher ver- 
gessen, seinem Opfer die Rocktaschen zu durchsuchen. Er kehrte zurück und 
holte das Versäumte nach. Ein anderer hatte sein Notizbuch am Tatort ver- 
loren; er mußte es holen, weil es zum Verräter an ihm geworden wäre. Ebenso 
kann die Absicht wirksam sein, Veränderungen am Tatorte vorzunehmen. So 
zerstampfte in einem von Wulffen erwähnten Falle ein Verbrecher bei 
seiner Rückkehr, um einen Überfall mehrerer Personen glaubhaft zu machen, 
die Erde am Tatort. Solche zutage liegende Gründe brauchen nicht die ein- 
zigen und brauchen nicht die ausschlaggebenden zu sein. Könnten sich nicht 
hinter ihnen andere, dumpfere, unklarere verbergen und sie im Sinne der 
Rationalisierung vor dem eigenen Ich benützen? Auch "Wulffen muß zu- 
geben, daß die praktische Zweckmäßigkeit in einer Reihe von Fällen fehlte. 
So erklärte ein Mörder, er sei zurückgekehrt, um noch einmal bei hellem Tag 
den Tatort zu sehen, an dem die Tat ihn in der Abendstunde gewissermaßen 
selbst überraschte und wider eigenes Erwarten gelang. Es wundert uns freilich, 
daß eine solche Erklärung, die gewiß die wirksamen Motive nicht rein wieder- 
gibt, von dem Kriminalpsychologen als Auskunft angenommen wurde. Dasselbe 
naive Vertrauen in die introspektive Begabung des Verbrechers zeigt 
Wulffen im Falle eines Mädchenmörders, der versicherte, er sei zurück- 
gekehrt, weil ihn die Schönheit der Landschaft gerührt und er das Opfer nach- 
träglich bedauert habe. „Bei diesem Verbrecher kamen also ästhetische Gefühle 
in Betracht", meint Wulffen arglos. Indessen erkennt er, daß sich die Mör- 
der zuweilen „selbst nicht im klaren sind, durch welche Gründe sie zur Wieder- 
kehr bestimmt werden", und setzt mit imponierender psychologischer Sicherheit 
hinzu, „wie sie überhaupt Instinktmenschen sind und wenig nach Grundsätzen 
handeln". Jenseits dieser Auskunft versichert Wulffen, daß der Tatort den 
Mörder unwillkürlich, man möchte sagen, geheimnisvoll anziehe. Weil die Tat 
ihn in Gedanken noch beschäftige, feßle ihn auch ihr Schauplatz. Damit ver- 
bunden seien nun eigenartige Gefühle: Der große Verbrecher schätze seine Untat 
leicht als Tat ein, verherrliche sie und finde gerade am Tatort Beruhigung. So 
erkläre sich „die eigentümliche, uns kaum faßbare Empfindung der Sicherheit 
des Täters am Tatorte, die ihn gerade nicht selten dem Verfolger in die Arme 
liefert" 78 . Der Mörder könne sich in seinem eigentümlichen Dunstkreise ein- 
bilden, seine Anwesenheit verleihe ihm über denselben eine Art Herrschaft. 
Wulffen verweist auf die Wiederkehr Raskolnikoffs an den Ort seines zwei- 



70 ) Kriminalpsychologic, S. i}jff. 

70 ) Wulffen, Kriminalpsychologie, S. 237. 



$8 



fachen Mordes und seinen Wunsch, jene Wohnung zu mieten. Diese Absicht 
sei sehr charakteristisch, auch wenn man sie nicht ernst nehme. Sie zeige „zu- 
mindest den Gedankenwunsch Raskolnikoffs, dauernd in der Mordwohnung 
zu hausen, ja ein instinktives Verlangen, über die Mordstelle eine Art Herr- 
schaft auszuüben"' 7 . 

Wenn es richtig ist, daß die tiefsten Motive so befremdender Aktionen un- 
bewußt sind, so können wir die Auskünfte, welche uns die Verbrecher selbst 
geben, nur als Substrat der psychologischen Forschung, nicht als psychologische 
Erklärung gelten lassen. Der größere und bedeutsamere Teil der seelischen 
Voraussetzungen und Motive der Tat liegt im Dunkeln. Ebenso unbewußt sind 
für den Verbrecher seine eigenen psychischen Reaktionen auf die Tat. Was in 
ihm nachher vorgeht, ist zum wesentlichen Teil dem Ich entzogen, wird ihm 
nicht bekannt. Gerade von den schwersten Verbrechen könnte man behaup- 
ten, sie stellen ein psychisches Trauma auch für den Täter dar, ein Trauma, 
das er seelisch bewältigen muß. Nur die oberflächlichste psychologische Be- 
trachtung könnte dagegen einwenden, daß ja das Verbrechen vom Täter selbst 
geplant und vorbereitet, „getan" wurde. Dennoch kann sie für ihn eine Über- 
raschung sein, dennoch kann er der eigenen Tat manchmal „persönhchkeits- 
fremd" gegenüberstehen. 

Wir müssen zugestehen, daß es uns nicht gelungen ist, jene seltsame Rück- 
kehr des Mörders zum Tatorte psychologisch zu erfassen. Paradoxerweise ist 
solche Erkenntnis beruhigender als die psychologische „Erklärung" des Phäno- 
mens durch die Kriminalpsychologie, welche es völlig durchschaut und nichts 
Rätselhaftes mehr in ihm findet. Das Wenige, das wir von seinem verborgenen 
Sinn zu erraten meinen, kann wohl von der unbewußten, dem Ich fremden 
Absicht ausgehen, die Tat seelisch zu bewältigen. Wer mit psychoanalytischen 
Anschauungen vertraut ist, wird nicht darüber erstaunt sein, daß diese Rück- 
kehr auch Antriebe zur Wiederholung des Verbrechens in sich schließt, dunkle 
Impulse drängen dorthin, wo eine starke, dunkle Lust verspürt wurde". Der 
Tatort wird vielleicht die genußvolle Erinnerung an die Tat wiederbringen, 
das lustvolle Erlebnis in der Phantasie wiederholen lassen. Wenn wir an den 
früher erwähnten Fall jenes Mädchenmörders denken, so werden wir vermuten, 
daß sein Bedürfnis, den Tatort bei Tageslicht wiederzusehen, vielleicht nur 
einem unbewußten Wunsch, den Mädchenkörper wiederzusehen, vertritt. Die 
Tendenz, genossene Lust wieder zu verspüren, ist sicherlich eines der verbor- 
genen Motive, welche den Verbrecher zum Tatort zurückführt. Der seelische 
Mechanismus, der diese Tendenz an den Ort knüpft, ist, wenn man von banaler 
Begründung absieht, noch nicht klar. Ebensowenig, warum gerade Mörder 
solchem geheimnisvollen Drang stärker verfallen sind als Verbrecher anderer 
Art. Dem unbewußten Drang, alte Lust zu erinnern und wiederzuerleben, ist 

") Kriminalpsychologie, S. 238. 

n ) Vgl. Freud, Jenseits des Luscprinzips. Ges. Schriften, Bd. 11. 

59 



J 



eine andere, nicht minder zwingende Tendenz vergesellschaftet: Das unbe- 
wußte Strafbedürfnis. Das mag paradox erscheinen, doch das Seelenleben ist 
voll solcher Paradoxien: Wenn alle Lust Ewigkeit will, so will sie sicher auch 
jene Ewigkeit der Vernichtung. Wie zwei annähernd gleiche, gegensätzliche 
Strömungen hier zu einer einzigen Aktion zusammenwirken, bedarf noch nähe- 
rer und tieferer Untersuchung. 

Die Tatsache der Rückkehr des Verbrechers ist noch nicht einmal phäno- 
menologisch richtig dargestellt worden. Es ist fast nie der Fall, daß ein Mörder 
bald nach seiner Tat zum Tatort zurückkehrt. Die Rückkehr des Verbrechers 
ist nur die andere Seite seiner Flucht, und die eine Erscheinung ist ohne die 
andere nicht zu erklären. Die Tendenz zur Rückkehr setzt spät ein; ja sie ist 
vielleicht nur die Fortsetzung des ersten Fluchtreflexes. Die Rückkehr zum Tat- 
ort ist ein Teil der Flucht, in der sie die Richtung, nicht ihr Wesen geändert 
hat. Sie darf nicht isoliert, sondern muß im Zusammenhang mit den übrigen 
seelischen Reaktionen des Verbrechers — besser gesagt: eines Verbrechertypus 
— betrachtet werden. 

Mörder lassen selten ihre Taten auf sich beruhen. Manche Kriminalisten 
behaupten, die Wahrheit würde in zahlreichen Fällen vielleicht nie heraus- 
kommen ohne solche intensive gedankliche Beschäftigung des Verbrechers mit 
seiner Tat. Die Art dieser Beschäftigung, die wir als Versuch der seelischen 
Bewältigung der Tat bezeichnen wollen, ist von verschiedener Art. Manche 
Verbrecher bemühen sich, die Tat einem anderen in die Schuhe zu schieben, 
andere verfolgen jede Einzelheit der Nachforschungen nach dem Täter; 
manche schreiben Briefe an die Kriminalpolizei. Diese Briefe oder Nachrichten 
an die Behörden sind von besonderer Art: Sie verhöhnen die kriminalistische 
Arbeit, machen sich über die Polizei lustig oder kündigen neue Verbrechen an. 
Manche Beispiele zeigen, daß es gerade durch diese Briefe der Kriminalpolizei 
gelungen ist, des Verbrechers habhaft zu werden; in anderen Fällen haben diese 
Indizien versagt. Sollte es nicht eine der unbewußten Absichten solcher Aktio- 
nen gewesen sein, den nachforschenden Funktionären Material zu geben? Eine 
so seltsame Art unbewußten Selbstverrates braucht jene andere Absicht, die der 
Herausforderung und des Trotzes, nicht ausschließen. Der Massenmörder 
Kürten hörte überall aufmerksam den erregten Gesprächen über die geheim- 
nisvollen Morde zu, verfolgte die Nachforschungen mit fieberhaftem Interesse, 
drängte sich an die Kriminalisten, welche die Spuren verfolgten, heran und ver- 
wickelte sie in Gespräche. Nach seiner eigenen Aussage befand er sich dabei 
in einer seltsamen seelischen Verfassung: Er war gleichzeitig ängstlich auf- 
geregt und erwartungsvoll; er hatte auch ein deutliches Uberlcgenheitsgefühl, 
weil er alles viel besser wußte, weil er alles bis ins letzte Detail hätte erzählen 
können. Diese besondere Gefühlskonstcllation läßt vermuten, daß der Trotz 
und das Überlegenheitsgefühl, der herausfordernde, hohnvollc Ton in den 
Briefen mancher Mörder die verborgene Unsicherheit, die geheime Absicht der 

60 



1 



Selbstdestruktion verbergen sollen. Jene Reaktion, die ich die hybride nennen 
möchte, stellt einen Ausdruck des Ankämpfens gegen die unbewußten Kräfte, 
welche zur Auslieferung drängen, dar. 

Die analytischen Gesichtspunkte legen gerade für die schweren Verbrechen 
die Annahme bestimmter Projektionsmechanismen nahe: Der Verbrecher flieht 
vor dem eigenen Gewissen wie vor einem äußeren Feind, ja er projiziert diesen 
inneren Gegner nach außen. Unter einem Druck, gegen den sich das schwächer 
werdende Ich des Täters vergebens zur Wehr setzt, begeht er häufig Unvorsich- 
tigkeiten, verrät er sich. Vor der übermächtig werdenden inneren Gewalt 
flüchtet er zur äußeren, vermutlich, weil mit dieser Wendung eine psychische 
Entlastung verbunden ist, die in vielen Fällen größer ist als die Angst vor der 
Strafe. Wir bekommen eine Ahnung, warum die äußeren Machthaber so viel 
weniger zu fürchten sind als jene seelischen, wenn wir die Psychogenese des 
Gewissens studieren, wie sie Freud gekennzeichnet hat. Die Erinnyen, die den 
Orest verfolgen, sind die wiedererstandene ermordete Mutter selbst, die in ver- 
vielfältigster Gestalt vor dem Verbrecher auftaucht. Vor ihr, vor solchem sicht- 
baren, doch unfaßbaren Wesen flüchtet der Mörder zur irdischen Gerechtigkeit, 
nimmt die von ihr auferlegte Strafe auf sich, weil sie barmherziger ist als jener 
Schrecken. 

Wenn so Gewissen Feige auch aus den Verbrechern macht, so macht es, wenn 
es härter, quälender, unerbittlich geworden ist, Verwegene aus ihnen; dies zeigt 
jenes merkwürdige Phänomen der Rückkehr zum Tatort, Diese Rückkehr er- 
scheint fast wie eine trotzige Frage an das Schicksal, wie ein unbewußtes Ora- 
kel, mutet an wie ein introjiziertes Ordal: Wenn es mir gelingt, diesen Ort 
wieder zu betreten, sozusagen die Tat wieder zu begehen, ohne verhaftet zu 
werden, wenn es mir gelingt, davonzukommen, dann bin ich sicher, dann stehe 
ich unter dem Schutz von Gewalten, denen die Polizei nicht gewachsen ist. 
Es ist einige Male vorgekommen, daß sich ein Verbrecher mit den Unter- 
suchungsbehörden ins Einvernehmen gesetzt hat, um sie auf falsche Spuren zu 
lenken, daß er im Gespräch mit Kriminalisten mit großem Vergnügen die 
eigene Gewandtheit und Selbstbeherrschung konstatiert hat und keine Ahnung 
davon hatte, daß er sich durch eine kleine Einzelheit verraten hatte. In man- 
chen Fällen wird man die Wirkung dieser Doppeltendenz dort nachweisen kön- 
nen, wo der Verbrecher die Polizei irreleiten will, und sie gerade durch diese Be- 
mühung zur eigenen Spur hinführt. Hier sträubt sich das Ich vergebens gegen 
den unbewußten Geständniszwang 7 ") Die Wiederkehr des Mörders wird sich 

70 ) F. M. Dostojewski hat diese unbewußten Tendenzen weit tiefer erkannt als die 
modernen Kriminalpsychologen. Petrowitsch im „Raskolnikow" schildert das eigenartige 
Verhalten des Verbrechers einige Zeit nach der Tat: „...er beginnt sich selbst vorzu- 
drängen, beginnt sich hineinzumischen, wo man ihn nicht fragt, spricht in einemfort über 
Dinge, über die er im Gegenteil schweigen müßte, läßt allerhand Allegorien vom Stapel, 
kommt selbst und fragt, warum man ihn so lange nicht festnimmt . . ." Natürlich bezieht 
sich diese Schilderung nur auf einen bestimmten Verbrechertyp. 

61 



in diesen Zusammenhang einfügen, denn eines der verborgenen Ziele dieser 
Rückkehr ist die dem Ich verborgene Sehnsucht, sich dem Gerichte zu stellen 80 . 
Der königliche Schurke Richard fürchtet seinen Traum tausendmal mehr als 
das rächende Heer, das ihn am Morgen erwartet: 

„Bei dem Apostel Paul! es warfen Schatten 
Zu Nacht mehr Schrecken in die Seele Richards 
Als zehntausend Krieger könnten 
In Stahl und angeführt vom flachen Richmond." 

Es wäre unrichtig zu sagen, daß der Selbsthaß des Verbrechers schlechthin 
ihn zu diesen selbstverräterischen Aktionen treibt, die ihm nicht bewußt sind, 
vielleicht ist es in manchen Fällen eher das Mitleid mit sich selbst oder die 
Liebe zu dem im Ich introjizierten Objekt. Was bedeutet die Strenge des 
irdischen Richters, verglichen mit der Pein, die das Übcr-Ich über den Mörder 
verhängt? Vielleicht bedeutet es schon eine Milderung der Selbstzerstörung, 
eine Art Begnadigung oder Rast für den Gehetzten, wenn er dem Gesetze aus- 
geliefert ist. „Es ist jemand hinter mir her und das bin ich", so hat einmal ein 
mehrfacher Mörder seine seelische Situation beschrieben. Auch der Schwerver- 
brecher dieses Typus hat Angst vor der Wut seines Über-Ichs, vor der Aggression, 
die von innen kommt und ihn ins Verderben stürzen will. Nach dem ungeschrie- 
benen jus talionis fürchtet er nicht nur das Schicksal seines Opfers, den Tod, 
sondern auch alle Angst und alle Pein des Sterbens, die jenes Opfer zu erleiden 
hatte. Die Polizei hat in der Verfolgung dieses Verbrechers den besten Bundes- 
genossen in ihm selbst. Die gesetzliche Strafe kann manchmal als ein Purga- 
torium erscheinen, verglichen mit dem Inferno, das jene unbewußten Gewissens- 
mächte herzustellen vermögen. 

Es ist keineswegs verwunderlich, daß es gerade Schwerverbrecher, Mörder 
und Totschläger sind, die so starke unbewußte Impulse des Selbst Verrates 
zeigen. Es sind auch meistens diejenigen Verbrecher, die keine Reue, kein 
bewußtes Schuldgefühl zeigen. Viele Fälle von moral insanity gehören hierher. 
Ihr Schuldgefühl wäre überflüssig, da es durch jene unbewußten Tendenzen 
der Selbstvernichtung mehr als ersetzt ist. 

Die heimliche Bundesgenossenschaft der Verfolgung von außen und des 
Über-Ichs, jenes verborgene Einverständnis, bedient sich einer Geheimsprache, 
von der das Ich nichts weiß und in der sich jene zwei Faktoren über alles Tren- 
nende hinweg miteinander verständigen: Es sind eben jene unbewußt produ- 

80 ) Petrowitsch kalkuliere: „Wenn ich nun einen solchen Herrn ganz allein lasse, ihn 
nicht festnehme und nicht beunruhige — aber er soll jede Stunde und jeden Augenblick 
wissen oder wenigstens ahnen, daß ich alles weiß, sein ganzes Geheimnis — Tag und Nacht 
ihn beobachten lasse, restlos über ihn wache, und wenn er sich bewußt unter eigenem 
Verdacht und in ewiger Angst fühlt — bei Gott, da wird er nicht aus und ein wissen, er 
wird tatsächlich selbst kommen . . ., was dem Zwcimalzwei bestimmt ähnlich sein wird, was 
sozusagen wie ein mathematisches Excmpel aussieht . . ." 

6z 















zierten Indizien, die so deutlich sprechen. Die Indizien sind ein Ersatz für die 
Person des Täters selbst. In der Rückkehr zum Tatort ist der Täter endlich 
wirklich dorthin zurückgekehrt, wohin es ihn drängte: Er ist ein zur Person 
zurückgewandeltes Indiz, totus pro parte. Es ist erklärlich, daß sich diese Er- 
scheinung bei den großen Verbrechern viel häufiger findet, als bei der „petite 
criminalite" der Diebe, Fälscher, Betrüger. Auch bei dem Schwerverbrecher 
geht etwas in dem seelischen Raum, der ihm nicht zugänglich ist, vor, drängt 
sein Geheimnis nach außen, will sein unbesänftigtes Gewissen sprechen. Auch 
der Schwerverbrecher, der den Verfolgungen der Polizei entgangen ist, ist nicht 
sicher vor den Überraschungen, die von innen kommen. 

"Wir haben gehört, in welcher Art die Kriminalpsychologie die Indizien auf- 
faßt und in welcher Art der Richter sie in der Beweiswürdigung verwertet. Ist 
es die einzig mögliche, ja ist es die einzig gerechtfertigte Art der Betrachtung 
der Indizien im Strafprozeß? Vielleicht darf man darauf hinweisen, daß in 
der unbewußten Produktion von Indizien verborgene seelische Kräfte zur 
Äußerung drängen, die bisher von der Rechtsfindung nicht beachtet wurden 
und nicht beachtet werden konnten. Die Sage erzählt, ein indischer Richter habe 
einen Einbrecher freigesprochen, weil dieser in Träumereien darüber versunken 
war, ob er dem Loch beim Einbruch die Gestalt einer Lyra oder die eines 
Schmetterlings geben sollte. Vielleicht gab es so kunstsinnige Richter nur im 
Indien der Sage, aber ein Hauch von dem psychologischen Geiste, den ein sol- 
ches Urteil atmet, möchte man jedem Richter gern zumuten. 

Ein Fall aus dem Jahre 1386 

Ein sonderbares Interesse hat uns dazu gedrängt, uns mit der Bedeutung sach- 
licher Indizien zu beschäftigen. Wir sind dazu gelangt die Art dieses Inter- 
esses nicht nur fragwürdig, sondern auch der Frage und Erkundung wert zu 
erachten. Ist es nur das Vergnügen am Scharfsinn und an der logischen Kunst 
der Kriminalisten, wie sie in den Schlußfolgerungen aus der Indizienbewertung 
zutage treten? Unstreitig ist ein solches Vergnügen vorhanden, aber die krimi- 
nalistische Indizienforschung und -deutung ist nur zum geringsten Teil von 
logischer Art. Wir fanden uns auf die Psychologie zurückverwiesen. Welche 
psychologischen Momente sind in der kriminalistischen Indizienwürdigung 
bestimmend? Im Bemühen, diese Faktoren klarzustellen, mußten wir uns mit 
der Rolle der Psychologie im Indizienbeweis überhaupt sowie mit der Bedeu- 
tung psychologischer Indizien im Strafrechtverfahren beschäftigen. Dabei 
durften wir einige prinzipiell wichtige Fragen nicht übergehen, verfängliche 
Fragen mitunter. Wir konnten sie in diesem Zusammenhang nicht mit der 
wünschenswerten wissenschaftlichen Genauigkeit behandeln, doch erforderte 
es unser Gegenstand, etwa das Problem, ob die Psychoanalyse zur Lösung der 
Täterfrage berufen sei, sowie unsere Anschauungen über die forensische Bedeu- 

63 



— 



tu 



ng psychologischer Indizien darzustellen. Jenseits der bisher üblichen Betrach- 
tungsweise tauchte ein neuer psychologischer Gesichtspunkt auf: Die sachlichen 
Indizien wiesen auf bisher nicht gekannte oder nicht gewürdigte unbewußte Ten- 
denzen des Täters hin. Auf verborgene Impulse, deren Feststellung freilich 
keine große Bedeutung für die Eruierung der Person des Täters, vielleicht aber 
einige für die psychologische Erforschung seiner Persönlichkeit beanspruchen 

dürfen. 

Wir wollen es nicht beschönigen und nicht verbergen: unsere bisherige Aus- 
beute ist recht gering. Das logische Interesse an der kriminalistischen Deutung 
und Verwertung sachlicher Indizien hat sich als enger erwiesen als wir gedacht 
hätten. Das psychologische Interesse hat uns auf ein der Kriminalpsychologie 
bisher unbekanntes Gebiet geführt. Es ist mehr in die Breite und Tiefe ge- 
drungen als wir vermutet hätten, doch vermag es nicht, das Ausmaß unserer 
Aufmerksamkeit für die indirekten Indizien zu rechtfertigen. Vielleicht 
wissen wir noch zu wenig von ihrem Wesen und Werden? Die kriminalistische 
Literatur gibt uns Beispiele in Fülle, aber nur Beispiele. Die unbewußte Bedeu- 
tung, welche Indizien als Mittel des geheim beabsichtigten Selbstverrates bean- 
spruchen, hat uns zu einer neuen Fragestellung geführt: Was haben Indizien 
früher bedeutet? Sind sie nicht an die Stelle anderer Erscheinungen, welche 
früher die Beziehungen zwischen Rechtsbrecher und strafender Gesellschaft 
bestimmten, getreten? Die Indizien stehen ja nicht außerhalb der Abfolge der 
strafrechtsgeschichtlichen Entwicklung; sie ersetzten andere Institutionen der 
Verbrechensaufklärung und Wahrheitsfindung und werden vermutlich selbst 
wieder von anderen ersetzt werden. Damit aber haben wir das Reich der 
Geschichte betreten. Sie, die große Lehrmeistcrin, und die ihr verschwisterte 
vergleichende Völkerkunde werden sicherlich imstande sein, die genetische 
Seite unseres Problems weitgehend klarzustellen. 

Dürfen wir nicht den günstigen Zufall begrüßen, der uns gerade von unge- 
fähr einen Bericht über einen schwierigen kriminalistischen Fall, der etwa 
jjo Jahre zurückliegt, in die Hände spielt? Er soll als Auftakt der folgenden 
Abschnitte willkommen sein 81 . 

Wie in den Kreuzzügen verließen auch in dem hundertjährigen Krieg 
zwischen England und Frankreich die Ritter häufig auf unbestimmte Zeit Frau 
und Burg und vertrauten beide dem Schutze eines Freundes an. Uns erhaltene 
Berichte sagen, daß Jean Carouge desgleichen tat, als er im Jahre 1385 mit 
dem Geschwader des Admirals von Vienne nach England ging. Sein Nachbar 
und Freund Jacques Legris übernahm die heilige Pflicht der Sorge für Dame 
Maria Carouge und für die Burg. Ein Jahr später kehrte Jean Carouge vom 
Kriegszug zurück; er fand Maria in tiefster Niedergeschlagenheit. Nach langem 
Fragen erfuhr er, daß Jacques Legris ihr in Gegenwart seines Stallmeister s 

81 ) Erzählt nach A. Gleiche n-Rußwurm, Weltgeschichte in Anekdoten und Quer- 
schnitten, Leipzig 1929. 



64 



. 









Louvet Gewalt angetan habe. Aufs tiefste in seiner Ehre getroffen, schwor der 
Ritter Rache. Der geliebten Gattin konnte er nicht zürnen, denn sie war nur 
der Gewalt gewichen. Der Stallmeister Louvet hatte sie, wie sie eingestand, 
festgehalten. Der Lehnsherr Graf von Alencon berief ein Schiedsgericht von 
Geistlichen, Rittern und Räten. Vor diesem Gericht sollten Carouge und Legris 
sich äußern nach ritterlichem Gebrauch und Recht. Carouge erschien vor dem 
Tribunal als Kläger und warf seinen Handschuh als Zeichen der Fehde gegen 
Legris auf den Tisch des Gerichtes. Die weisen Herren forderten zuerst die 
Aussage von Louvet. Dieser konnte sich indessen an nichts erinnern. Legris 
leugnete und warf wie Carouge seinen Handschuh in die Schranken des Ge- 
richtes. Auch er erklärte sich bereit, seine Unschuld im ritterlichen Kampfe zu 
erweisen. Das Tribunal beriet lange und gelangte endlich zu dem Urteil, daß 
man bei so widerspruchsvollen Aussagen keinem der beiden Ritter den Kampf, 
der die Frage der Schuld klarstellen würde, verweigern könne. Der König 
Karl VI., der sich auf dem Wege nach dem englischen Kriegsschauplatz befand, 
verschob die Angelegenheit bis zu seiner Rückkehr, da er selbst dem Kampfe 
beiwohnen wollte. Der 13. Dezember 1386 wurde als Kampftag bestimmt. 
Das Pariser Parlament, das jenen Entschluß gefaßt hatte, ließ die Schranken 
rüsten, die Tribünen bauen und bestellte die Kampfordner. Karl VI., Königin 
Isabeau, die Großen des Reiches mit ihren Damen und eine ungeheure Menge 
Volkes umgaben die Stichbahn, in der Carouge und Legris ihre Ehre ver- 
teidigen wollten. Auch Dame Marie war im Trauergewand erschienen, um dem 
Kampfe zuzusehen, doch wurde sie im Namen des Königs zurückgewiesen. 
Da sagte ihr Carouge: „Dame, für Sie bringe ich mein Leben in Gefahr, Sie 
allein wissen, ob meine Sache recht ist vor Gott." Sie antwortete: „Kämpfen Sie 
getrost, Ihre Sache ist gut." Er umarmte die Gattin, bekreuzigte sich und ging 
in die Schranken. Die Richter nahmen beiden Rittern einen feierlichen Eid ab, 
daß sie kein Zaubermittel gebraucht hätten. Der König gab das Zeichen zum 
Kampf. Das Lanzenstechen zu Pferd brachte kein Ergebnis. Im Schwertkampf 
zu Fuß, der folgte, verwundete Legris seinen Gegner an der Hüfte. Carouge 
erhob sich indessen rasch und stieß Legris, der sich der Gefahr nicht versah, 
das Schwert in den Leib. „Gestehe, daß du mein Weib entehrt hast", rief 
Carouge und kniete auf dem Sterbenden. Legris beschwor seine Unschuld noch 
mit dem letzten Röcheln und starb auf dem Kampfplatz. Carouge trat als 
Sieger vor den König und beugte sein Knie. Die Leiche des Schuldigen wurde 
aufgehängt; seine Güter zugunsten des Siegers versteigert. Dieser aber zog ins 
Heilige Land, die Ungläubigen zu bekämpfen, mit seinem Knappen 
de Tillieres, der seinerzeit bei Dame Marie in der Burg geblieben war. Als die 
Dame erfuhr, daß ihr Gatte im Kampf gegen die Araber gefallen war, ließ sie 
sich in einer Klosterzelle einmauern, in der sie noch fünf Jahre als fromme 
Büßerin lebte. Am Totenbette, so wird berichtet, soll Tillieres viel später 
gebeichtet haben, daß er einst die Dame Carouge vergewaltigt habe. Ein 

R e i k : Der unbekannte Mörder 5 "5 









Mönch berichtete dieses Geständnis Tilliercs. Die Akten wurden dem König 
vorgelegt. Karl VI., den man den Wahnsinnigen genannt hat, schrieb zwei 
Zeilen voll Weisheit darunter: „Was ist menschliche Gerechtigkeit? Was ist 
Wahrheit? Spielball sind wir eines rätselhaften Geschicks." 

Seit Karl VI. diese Worte in jenen Akt schrieb, sind fast sechs Jahrhunderte 
verstrichen. Die Beweismittel des Gerichtes haben sich radikal geändert. We- 
ghüben nicht mehr, daß durch einen ritterlichen Zweikampf vor Gericht 
entschieden wird, ob jemand ein Verbrechen begangen hat, aber jene Worte 
haben nichts von ihrer eindringlichen und melancholischen Wahrheit verloren. 
Die Menschen des 14. Jahrhunderts waren völlig davon überzeugt, daß Gott 
den Schuldigen erweisen werde, indem er ihn im Lanzenstechen unterliegen 
lasse. Die Menschen unseres Jahrhunderts sind davon durchdrungen, daß die 
Wahrheit durch den Kampf mit logischen Waffen gefunden wird. Sie sind 
von der absoluten Geltung des Indizienbeweises so überzeugt, wie ihre Vor- 
fahren etwa von der Unfehlbarkeit der Feuerprobe. Auch die Richter des 
14. Jahrhunderts wollten auf ihre Art die Wahrheit finden und niemand kann 
sie tadeln, da sie sich nach bestem Wissen und Gewissen bemühten, die 
Täterfrage zu lösen. Es ist lächerlich anzunehmen, daß die Richter, welche im 
die Hexen zu schrecklicher Todesstrafe verurteilten und jene, welche im 
Dienste der heiligen Inquisition Mohammedaner und Juden als Ketzer ver- 
brennen ließen, minder eifrig und gewissenhaft im Dienste der Wahrheits- 
findung waren als die Strafrichter unserer Tage. Die Mittel der Wahrheits- 
findung waren verschieden von den unseren, aber die Beweisgründe, über 
welche die Kriminalisten jener Zeit verfügten, galten ihnen genau so über- 
zeugend wie uns etwa der Beweis durch die Daktyloskopie. Man befragte einst 
den Dorfgötzen, man holte sich Rat im Vogelflug, man unterwarf sich dem 
Ordal, um den Täter eines Verbrechens zu eruieren, und niemand kann sagen, 
daß dieser Weg viel unzuverlässiger war als der unsere. In den Dienst der 
Wahrheitsforschung trat die Folter wie jetzt das Verhör im Untersuchungs- 
verfahren. Man wandte besondere Methoden wie Aufhängen, Daumschrauben, 
Aufsradflechten an. Der Drang, die Wahrheit über ein Verbrechen zu finden, 
hat sich nicht selten verbrecherischer Mittel bedient. 

Kriminalgeschichte ist Kulturgeschichte. Wer immer sich um die Frage 
bemüht, wie die Gemeinschaft auf das Verbrechen reagierte, welche Mittel 
ein Volk anwandte, um einen unbekannten Verbrecher zu ermitteln, wird 
überraschende Auskünfte über das kollektive Seelenleben erhalten können 8a . 
Vor allem ist es überraschend zu erfahren, daß vielleicht viele Jahrtausende 
lang dieses Problem die Gesellschaft gar nicht interessierte. Die Rechtshistorie 
und das vergleichende Studium der Rechtsinstitutionen, das auch die krimi- 
nalistischen Methoden wilder und halbwilder Völkerschaften erforscht, liefert 

«») „Dort drängt die Menge sich zum Bösen, 

Da muß sich manches Rätsel lösen." (Faust, Walpurgisnacht.) 

66 



über diese Frage der Verbrechensaufklärung ein ungeheures Material, das wenig 
bearbeitet und geformt ist. Es ist dem Einzelnen nicht möglich, das ausge- 
dehnte Material der Rechtsgeschichte und der -vergleichenden Rechtskunde zu 
Überblicken — könnte er es aber, er würde nichts als eine amorphe Sammlung 
historischer Tatsachen, eine Registrierung von Quellen, Textstellen, Urkunden 
und berichten wahrnehmen, ein Material, das, oft nicht einmal im gröbsten 
gegliedert, geistige Durchdringung und psychologische Kontinuität vermissen 
läßt 93 . Es ist dem Studierenden überlassen, sich eine Entwicklung in bestimm- 
ter Richtung vorzustellen, das geistige Band zu suchen, das diese verstreuten 
Elemente vereint. Es kann nicht in unserer Absicht liegen, die rechtsgeschicht- 
liche Entwicklung der verschiedenen Beweisverfahren zu verfolgen oder ihre 
verschiedenen Formen bei den primitiven Völkern zu studieren. Eine solche 
Darstellung ist dem Laien nicht möglich. Sie ist aber auch nicht notwendig, 
weil unser Gegenstand von spezieller Art ist. Wir wollen nur das Wesen und 
die Entwicklungsgeschichte des jüngsten Beweismittels, der sachlichen Indizien, 
studieren, und die verschiedenen Beweisverfahren der Antike und der primi- 
tiven Völker interessieren uns hier nur insofern, als sie uns Hinweise auf die 
kulturelle Entwicklung geben, welche zur Einführung des Indizienbeweises 
führte. An repräsentativen Beispielen, die wir mit den Methoden moderner 
Kriminalistik vergleichen werden, wollen wir zu erkennen versuchen, was diese 
Entwicklung psychologisch bedeutet. 

Anfange der Kriminalistik 

Es geschieht in der "Wissenschaft nicht selten, daß schon in einer ersten 
Fragestellung verborgen jener Fehler liegt, der dann zu einer schiefen und un- 
gerechtfertigt vereinfachenden Behandlung des Gegenstandes führen muß. Als 
einer dieser Fälle erscheint mir die bisherige Darstellung der primitiven Ver- 
brechensaufklärung oder, wenn man will, der Anfänge des Beweisverfahrens. 
Wir sind natürlich bereit, anzunehmen, daß auf tiefen Kulturstufen und in 
prähistorischer Zeit Verbrechen in wesentlich anderer Art betrachtet wurden, 
ja daß, was uns als Verbrechen erscheint, damals nic ht als solches angesehen 

«) "Wer meint, daß diese Ansicht übertrieben ist, lese etwa, was ein hervorragender 
Rechtswissenschaftler selbst zu der Frage zu sagen hat: „DieRechtsgeschichte ist 
noch zu einseitig Ins ti tu t io n sgesch ich t e. Sie beschreibt Rechscinrich- 
tungen und Rechtsnormen. Sie bespricht den Werdegang und die Auswirkungen dieser 
Institutionen ... Mit einem Worte: die Rechtsgeschichte ist zuviel Institutions- und zu 
wenig Geistesgeschichte. Läuft sie auf den heutigen Bahnen weiter, so gerät sie in Gefahr, 
eine Unsumme von Stoff zu häufen und zu beschreiben, aber Stoff ohne tiefes und festes 
geistiges Fundament ist tot. Die Rechtsgeschichte als Stoffgeschichte muß langsam auf ein 
totes Gleis laufen. Sie wird einen immer kleineren Kreis von Menschen beschäftigen, zuletzt 
nur noch den Rechtshistoriker selbst. Statt an der Erkenntnis des Menschengeschlechtes 
wird sie nur noch an der Erkenntnis des Rechtsstoffes arbeiten." (Hans Fehr, Gottesurteil 
und Folter. Festgabe für Rudolf Stammler, zum 70. Geburtstag, Leipzig 1926, S. 231). 



i 



wurde daß es rechtliche Institutionen gab, die den unseren nicht ähnelten. Es 
wird uns wenig Schwierigkeiten machen, zu glauben, daß es in den Kultur- 
anfängen keine Kriminalistik, vielleicht nicht einmal eine ganz rohe und ele- 
mentare Verbrechensaufklärung gegeben habe. Für die Zeit aber, da es eine 
solche gab, setzen wir mit der naiven Selbstverständlichkeit des gebildeten Euro- 
päers voraus, daß die Grundlage der Strafrechtspflege dieselbe gewesen sein 

muß wie die unsere. I 

Eine jener fundamentalen Naivitäten liegt in der Annahme, daß die Reihen- 
folge Verbrechen — Verbrechensaufklärung — Täterermittlung — Bestrafung 
— die natürliche und einzig mögliche sei. Wir machen uns gar keine Ge- 
danken darüber, daß diese Abfolge für eine von uns völlig verschiedene Kultur- 
welt vielleicht nicht existierte, daß schon diese unsere Voraussetzung falsch sein 
kann. Verschiedene Züge, wie sie noch die Strafrechtspflege der frühen ge- 
schichtlichen Antike und der halbwilden Völker des australischen Kontinents 
zeigt, sind geeignet, uns mißtrauisch gegen derartige Vorurteile und „natür- 
liche" prinzipielle Voraussetzungen zu machen. So unterscheidet sich etwa die 
primitive Auffassung von der unseren durch die merkwürdige Ansicht, daß 
nicht der Einzelne, sondern der Stamm das Verbrechen begangen habe und 
auch die Strafe oder Buße erleiden müsse. Die strafrechtliche Konsequenz dieser 
besonderen Anschauung ist in der Institution der Blutrache gegeben. Uns 
ist eine so primitive Ansicht von der Natur des Mordes fremd. (In Aus- 
nahmsfällen ist es freilich legitim, ja staatlich sanktioniert: der Krieg, der 
Pogrom, die bewaffnete Unterdrückung von Minderheiten sind solche Falle.) 
Die oben bezeichnete Auffassung überträgt unsere modernen Begriffe in eine 
Zeit und ein Kulturmilieu, die völlig andere seelische Voraussetzungen hatten. 
So seltsam dies zuerst klingen mag, einer prähistorischen Zeit und einer anderen 
kulturellen Schicht liegt eine Reihenfolge näher, an deren Anfang die Be- 
strafung und an deren Ende die Verbrechensaufklärung steht. Das erscheint 
auf den ersten Blick sehr befremdend, verliert diesen Anschein aber bei schär- 
ferer Betrachtung, die sich die archaischen Vorstellungen vom Wesen des Ver- 
brechens und der Strafe vergegenwärtigt. Das Verbrechen ist für die Menschen 
einer prähistorischen Periode wie für die Primitiven, welche den Kultur- 
einflüssen fast entzogen sind, eine Verletzung der großen Tabuvorschriften, 
welche die Organisation der Gemeinschaft bestimmen und erhalten. Rechts- 
brecher ist, wer diese Gesetze, die niemand schrieb, doch jeder kennt, übertntt 
und so, durch die außerordentlich starke und gefürchtete Infektionsfähigkeit des 
Tabus seinen Clan gefährdet. Die Notwendigkeit, die Gemeinschaft zu schützen, 
den Verbrecher zu ermitteln und zu isolieren, gehört schon einer späteren Zeit 
an. Ein Bruch des Tabus straft sich ursprünglich selbst; diese automatische 
Wirkung macht eine Verbrechensaufklärung oder eine kriminalistische Arbeit 
in unserem Sinne zuerst überflüssig. Ein Mann stirbt plötzlich. Für den Prirm- 
tiven besteht kein Zweifel, daß er getötet wurde, weil er eine Tabuvorschrift 



68 



^ 




verletzt hat. Er starb an dieser Verletzung eines Tabu wie eine Person an den 
Wirkungen eines starken elektrischen Schlages stirbt. Eine Aufklärung seines 
Verbrechens erübrigt sich; sie ist aber auch unmöglich. An eine Verwertung 
von Indizien in einem Sinne, der dem unserer kriminalistischen Methoden an- 
nähernd entspricht, ist unter so verschiedenen kulturellen Bedingungen gewiß 
nicht zu denken, aber auch eine andersartige Verwendung der Spuren, etwa 
im Sinne magischer Prozeduren, kommt auf dieser Entwicklungsstufe nicht in 
Betracht. Der Tote ist tabu, der Mörder ist tabu; alles, was er berührt hat, und 
alles, was ihn berührt hat, ist tabu. Die hohe Infektionsmöglichkeit des Tabu 
schließt jede kriminalistische Beschäftigung mit der Tat aus. Es müssen tief- 
gehende Veränderungen innerhalb der Tabureligion vor sich gehen, alte Ein- 
schränkungen aufgehoben, Glaubensvorstellungen in ihrer früher unbeschränk- 
ten Macht abgeschwächt worden sein, ehe sich das Interesse an der Verbrechens- 
aufklärung, kühner geworden, ans Tageslicht wagte. Der moderne Priester, der 
dem Strafgefangenen geistliche Tröstung bringt, beruft sich freilich, seltsam 
genug, noch immer auf das Wort: „Die Rache ist mein", spricht der Herr. In 
jener Zeit aber, die den Herrn nicht nur so sprechen, sondern auch so handeln 
ließ, solange Jahve ein böser und rachsüchtiger Gott primitiver Stämme war, 
der den Frevler im Dunklen schlug, die Hand, die sich am Verbotenen ver- 
griff, selbst lähmte, in dieser Zeit bedurfte man keiner kriminalistischen Auf- 
klärung. Der Gott oder der Dämon des Clans wachte selbst darüber, daß seine 
Gesetze eingehalten wurden, und bestrafte unbarmherzig den Rechtsbrecher. 
Das Auge des Stammeshäuptlings, der nach seinem Tode allmählich zum 
Stammesgott geworden war, war selbst das Auge des Gesetzes. 

Jene uns fremd anmutende Auffassung, die erst vor den Wirkungen der 
Bestrafung aus zur Verbrechensaufklärung gelangt, gehört schon dieser späte- 
ren Phase der primitiven Kulturentwicklung an, welche die ursprünglich un- 
beschränkte Herrschaft des Tabuglaubens gelockert zeigt. Er ist da noch immer 
von ungeheurer Macht, und wird es trotz allen sozialen Veränderungen noch 
für viele Jahrtausende bleiben; noch immer ist das Verbrechen ein Bruch der 
Tabugesetzgebung der primitiven Gesellschaft. Das sicherste Zeichen, daß ein 
solcher schrecklicher Verstoß geschehen ist, ist eben das Eintreffen der Bestra- 
fung: Ein schweres Unglück, eine Katastrophe, die über die Gemeinschaft oder 
über den Einzelnen hereingebrochen ist. Dieses Unglück zu bannen, der Not, 
der Krankheit, dem Mißgeschick und dem Tode, die als Folge des Tabubruches 
alle Stammesmitglieder bedrohten, entgegenzutreten, diese Motive gaben den 
wirksamsten Anstoß zur Verbrechensaufklärung. Man darf sagen, wenn es auf 
dieser Kulturstufe eine Einrichtung gibt, die ihrer Stellung nach in der primi- 
tiven Gemeinschaft der Strafe entspricht, so ist es die rituelle Reinigung, die 
wir als Konsequenz der Verbrechensaufklärung finden 81 . Die Strafe ist die 

M ) Die hier angedeutete Rückführung der Strafe auf ein Bußzeremoniell verdient eine ein- 
gehende Untersuchung. 

6 9 



^J 






Voraussetzung, die conditio sine qua non der Verbrechensaufklärung, nicht 
ihr primäres Ziel. Die uns so paradox erscheinende Umkehrung der Reihen- 
folge Verbrechensaufklärung — Strafe ist nicht nur in Spuren, welche 
Bruchstücke der Überlieferung, Sage und Folklore enthalten, erkennbar; sie 
findet sich auch in einer, der langen Entwicklung entsprechend veränderten 
Form noch lebendig bei manchen australischen Stämmen. 

Die Beispiele, die einem sogleich einfallen, wenn man einmal auf jene um- 
gekehrte Reihenfolge aufmerksam geworden ist, sind zu zahlreich, um aufge- 
zählt zu werden. Das "Wüten der Pest in Theben gibt die Veranlassung zur 
Aufklärung jener alten Tat des ödipus. Die Mißerfolge des israelitischen Heeres 
machen es notwendig, zu erfahren, wegen welchen Verbrechens der Herr 
seinem auserwählten Volke zürne; eine Hungersnot, das Ausbrechen einer epi- 
demischen Krankheit haben die gleiche kriminalistisch-religiöse Wirkung. Be- 
kanntlich gibt es nur ausgewählte Völker; so wird ein großes Mißgeschick, das 
einen Stamm trifft, dem Zorne des Stammesgottes, der ihn sonst liebt, wegen 
eines Verbrechens, das nicht gesühnt wurde, zugeschrieben. Mythen und Mär- 
chen geben klare Auskunft über diese Anschauungen. Sie scheinen auch zu be- 
weisen, daß der Stammesgott oft nur der avancierte Stammeshäuptling war, 
der nach seinem Tode den Clangenossen zürnt. Statt vieler sei hier nur ein 
Beispiel aus dem Leben der Kaileute in Deutsch-Neu-Guinea gekennzeichnet, 
jenes halbwilden Papuavolkes, über das wir ausgezeichnete Berichte des Mis- 
sionärs M. Key ss er haben 88 : Wie die meisten Naturvölker nehmen auch 
die Kai an, daß jeder Tod durch Zauberei verursacht sei. Der schuldige Zau- 
berer verfällt der Blutrache; ebenso seine Verwandtschaft. Fast alle Kriege 
zwischen Dörfern und Stämmen kommen auf das Konto solcher Racheexpedi- 
tionen. Der Geist der Toten fordert gebieterische Rache und wird, wenn er 
sie nicht erhält, seine Verwandten ihre Nachlässigkeit schwer büßen lassen. 
Er wird ihnen nicht nur kein Glück bei der Jagd schicken, er wird Wild- 
schweine in ihre Felder treiben, welche die Saat zertrampeln, und ihnen jede 
Unbill zufügen. Wenn eine Epidemie ausbricht, erkennen die Leute den Zorn 
des Geistes, der nur durch das Schlachten des bösen Zauberers oder sonst einer 
Person besänftigt werden kann. Noch die mittelalterliche Kirche hat von 
Krankheit, Mißernte und Niederlage im Krieg auf heimliche Sünden in der 
Christenheit geschlossen. Der Einzelne geht psychologisch ursprünglich den- 
selben Weg: der Dulder Hiob erkrankt an jenem schrecklichen Aussatz. Es ist 
für ihn und den antiken Kulturkreis, in dem er lebt, das Natürlichste, zu 
denken, sein Leid sei die göttliche Strafe für ein unbekanntes oder unerkann- 
tes Verbrechen. Seine Frage gilt nur einem Gegenstand: Welches Verbrechen 
habe ich begangen? Wir bemerken schon, wir stehen hier bereits an der Schwelle 
einer neuen Zeit, denn es handel t sich nicht mehr — oder nicht nur — urn 

85 ) Ch. Key ss er, Aus dem Leben der Kaileute in R. Neuhaus, Deutsch-Neu-Guinea, 
in., S. 62 ff. 

7° 






^ 



rituelle Fehler oder Mißgriffe, nicht mehr um Verstöße gegen die Tabugesetz- 
gebung in ihrem ursprünglichen Sinn. Es ist notwendig, hier, wo zuerst das 
Problem der Gedankensünde auftaucht und uns in seine Tiefen ziehen will, 
abzubrechen. 

Wir haben keinen Anlaß, uns in diesem Rahmen mit den langsamen sozialen 
und kulturellen Veränderungen zu beschäftigen, welche diese primitive Reihen- 
folge Strafe (eigentlich Verbrechenswirkung) — Verbrechensaufklärung in die 
uns geläufigere verwandelten 88 . Es war wichtig, den Charakter jener archa- 
ischen Phase der Kriminalistik scharf zu formulieren, denn nur aus ihren 
Voraussetzungen, namentlich aus der der Tabuwirkung des Verbrechens, werden 
sich die Entwicklungen, Wege und Methoden der frühen Verbrechensaufklä- 
rung und des ersten Beweisverfahrens verstehen lassen. 

Primitive Motivsuche 

Als Leopold von Ranke einmal im Kreise seiner Fachgenossen gefragt 
wurde, warum er Geschichtsforscher geworden sei, antwortete er: „Aus Neu- 
gierde." Es wäre ungerechtfertigt, zu behaupten, daß die Gelehrten, die sich der 
Erforschung der Geschichte des Strafrechtes gewidmet haben, wenig von dieser 
Eigenschaft oder diesem Laster besitzen. Es ist indessen nicht unwahrschein- 
lich, daß ihre Neugierde gerne gebahnte Wege geht und unbekannte Straßen 
gerne vermeidet. Wie wäre es sonst möglich, daß z. B. der Ursprung der In- 
dizien bisher nicht erkannt wurde? Dieses Ursprungsgebiet aber ist die Zauberei. 

Sehr viele wilde Stämme sind der Ansicht, daß sie niemals sterben würden, 
wenn nicht die bösen Künste der Zauberer ihren Lebensfaden abschnitten. Es 
wäre vielleicht falsch, zu sagen, sie glauben nicht an einen natürlichen Tod, 
und richtiger, zu behaupten, daß sie annehmen, jeder Todesfall sei ein gewalt- 
samer, meistens durch Magie verursachter 87 . So meinten die Abiponer, ein jetzt 
ausgestorbener Indianerstamm in Paraguay, daß keiner von ihnen sterben 
würde, wenn nur die Spanier und die Zauberer aus Amerika verbannt würden. 
Selbst wenn ein Mann mit vielen Wunden oder an Altersschwäche stirbt, 
glauben sie fest daran, daß er verzaubert wurde. So geschah es z. B., daß in 
einem Streit, der zwischen zwei Männern über ein Pferd entstand, ein dritter 
Mann, der den Zank schlichten wollte, durch ihre Speere tödlich verwundet 
wurde und nach einigen Tagen starb. Uns mag es wohl so erscheinen, daß der 
Friedensstifter durch die Speerwunden, die er erhielt, getötet wurde, aber kein 
Abiponier würde dies einen Augenblick annehmen. Sie behaupten fest, daß ihr 
Kamerad durch die Zauberei einer unbekannten Person getötet wurde; ihr Ver- 
dacht fiel auf ein bestimmtes altes Weib, das als Hexe bekannt war und der 

") Auf die Analogie in den Symptomen der Zwangsneurose sei hier hingewiesen. 
87 ) Ober den Gegenstand gibt jetzt das Werk von I. G. F r a z e r, „Tke Belief in Immorta- 
lity and the Worship of the Deod", London, 191 3, ausführliche Auskunft. 

71 



der Dahingeschiedene in letzter Zeit eine Wassermelone verweigert hatte. Mar» 
nahm an, daß sie den Mann aus Rache durch ihre Zauberkünste getötet hatte, 
wenngleich er nach europäischen Begriffen an einer Speerwunde gestorben war" s . 
Ebensowenig glauben die kriegerischen Araukanier in Chile an einen natürlichen 
Tod. Selbst wenn ein Mann im Alter von hundert Jahren friedlich einschlum- 
mert, glauben sie, daß er von einem Feinde verzaubert worden sei" 9 . Als Karl 
von den Steinen einen Bakairi-Indianer in Brasilien den Satz „Jedermann 
muß sterben" in die Bakairi-Sprache übersetzen ließ, blieb der Indianer zum 
Erstaunen des Forschers lange Zeit schweigend. Der Fragende mußte erkennen, 
daß die Notwendigkeit des Sterbens für den Wilden keineswegs klar war; die 
Bakairi glauben, daß jede Krankheit und jeder Todesfall auf die Wirkung von 
Zauberei zurückzuführen sei, und wissen nichts über ein natürliches Ende des 
Lebensprozesses 00 . Ebenso allgemein ist diese Anschauung bei den Indianern 
von Guiana. Sie glauben, jeder Mensch habe einen Körper und eine Seele, und 
daß Zauberer ihre Seele aus ihrem Körper entfernen können, um weit entfernte 
Personen zu schädigen. Nicht immer geschieht dies unsichtbar; der Zauberer 
kann sich auf diesen verbrecherischen Expeditionen in eine Schlange, einen 
Vogel, ein Insekt oder Ähnliches verwandeln. So wird also ein Indianer, der 
von einem wilden Tiere angegriffen wird, nicht annehmen, daß dieses sein 
Feind ist, sondern der Zauberer, der sich in dieses Tier verwandelt hat 81 . Wir 
wollen die praktischen Konsequenzen eines solchen Glaubens etwa an einem 
Fall, den J. I. Monteiro" von den Eingeborenen des Kongo-Ufers erzählt, 
studieren: „Während meines Aufenthaltes in Ambrizctte gingen drei Cabinda- 
Frauen an den Strom, um Wasser zu schöpfen. Eine nach der anderen füllte 
ihre Krüge; da wurde diejenige, die in der Mitte war, plötzlich von einem 
Alligator erfaßt, herabgezogen und verschlungen. Die Familie der armen Frau 
klagte sogleich die zwei anderen an, sie verzaubert zu haben, so daß sie aus 
ihrer Mitte von dem Alligator erfaßt wurde. Ich machte ihnen Vorhaltungen 
und versuchte, ihnen die tiefe Absurdität ihrer Anklage zu zeigen, aber sie ant- 
worteten: „Warum hat der Alligator gerade diese in der Mitte und nicht eine 
von denen, die auf jeder Seite waren, erfaßt?" Es war unmöglich, ihnen diese 
Idee zu nehmen. Die beiden Frauen wurden gezwungen, die „Casca" (Giftordal) 
zu trinken". Monteiro glaubt, daß eine der beiden daran starb. Aus der- 
selben Gegend berichtet H. M. B e n 1 1 e y, daß man annehme, die Zauberer 
verwandeln sich häufig in Krokodile oder Leoparden, um so ihr Opfer zu 
töten 93 . Die Eingeborenen versichern auf das energischeste, daß die Krokodile 

m ) M. Dobritzhoffer, Historia de Apibonibus, Wien, 1784, II., 92, 240. 
") C. Gay, Fragment d'un Voyage dans le Chili et au Cusco, Paris, 1848, p. 25. 
"") K. von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zcntral-Brasiliens, Berlin, 1894, 
S. 344. 348. 
•') E. F. im Thurn, Among the Indians of Guiana, London, 1884, pp. 330 ff. 
M ) J. I. Monteiro, Angola and the River Congo, 1875, I., p. 65. 
M ) H. M. Bentley, Pioneering on the Congo, I., p. 27 j. 

72 



] 



") Father A b i n a I, Astrologie Madagascc. Missions Catholiques XL, 1879, p. 506. 

73 






als solche harmlos sind. Davon sind sie so überzeugt, daß sie an manchen 
Stellen ohne Zaudern in den Strom steigen, um ihre Fischfallen zu besichtigen. 
Wenn einer von ihnen dann von einem Krokodil verzehrt wird, halten sie ein 
Palaver, um den schuldigen Zauberer zu entdecken, töten ihn und benehmen 
sich mit den Krokodilen so sorglos wie vorher. Niemand in Madagaskar glaubt 
an einem natürlichen Tod. Mit Ausnahme von Hundertjährigen stirbt jeder, so 
glaubt man, als Opfer der schrecklichen Künste der Zauberer. Die übliche Bei- 
leidsformel, die man Leuten sagt, deren Verwandte gestorben sind, lautet: „Ver- 
flucht sei der Zauberer, der seinen Tod verursacht hat" 9 \ Wenn man in einem 
Malariabezirk die Krankheit erworben hat, wird sie noch immer einem Zau- 
berer zugeschrieben, der irgend einen tödlichen Stoff in den Körper gezaubert 
hat. Diese Beispiele müssen viele hunderte, welche F r a z e r anführt, vertreten. 
Sie sollen uns nur auf einen grundlegenden Unterschied zwischen der primi- 
tiven und unserer kriminalistischen Einstellung hinweisen. Kein Unter- 
suchungsrichter, kein Kriminalbeamter glaubt mehr an den Mord durch Zauber. 
So wären also die Ermittlungsmethoden unserer Kriminalistik durch einen Ab- 
grund von der elementaren Verbrechensaufklärung der Naturvölker getrennt? 
Ja und nein. Was bedeutet es denn, wenn die halbwilden Völker etwa behaup- 
ten, dieser oder jener Zauberer habe diese Person durch Magie getötet? Sie 
meinen es natürlich ganz wörtlich, aber die psychologische Bedeutung eines 
solchen Glaubens wird erst durch die Annahme übermenschlicher oder zu- 
mindest außergewöhnlicher seelischer Kräfte klar. Diese Kraft hat vorwiegend 
ein Ziel: Dem Nebenmenschen zu schaden, sein Leben und sein Gut anzutasten. 
Es ist auch nur scheinbar so, daß die Eingeborenen diesen oder jenen Zauberer 
aufs Geratewohl als den Urheber der bösen Tat bezeichnen. Sie haben unbe- 
wußte Motive für diese Annahmen; sie schreiben nämlich den betreffenden 
Personen die böse Absicht des Tötens zu, sie nehmen an, daß dieser Mann den 
anderen gehaßt habe. Dabei geben sie freilich wie bei uns die Zwangsneurotiker 
diesen Absichten eine besondere Kraft, unmittelbar Wirklichkeit zu werden, sich 
zu erfüllen. Gewiß, unsere Kriminalistik geht nicht von diesen Voraussetzungen 
aus, aber wir fanden ein Stück jenes primitiven Glaubens, der auf eine unbe- 
wußte Gleichsetzung von Absicht und Tatausführung zurückführt, in der 
Frage, ob jemandem das Verbrechen zuzutrauen, wieder. Gewiß, die Unter- 
schiede sind nicht zu übersehen; ebensowenig aber, glaube ich, die Überein- 
stimmungen zwischen jener elementaren Kriminalistik und der unseren: die 
Wilden, welche jenem Zauberer die Tat zutrauen, töten ihn auf dem kürze- 
sten Wege. Ihr Zutrauen ist so stark, daß sie ihr primitives psychologisches 
Urteil als genügenden Schuldbeweis für den Verdächtigten nehmen. Manche 
Justizmorde der neueren Zeit haben keine stärkere Begründung als die Tat- 
sache, daß man diesem oder jenem Manne die verbrecherische Tat zutrauen 









könne. Wir finden also die alte Zauberatmosphäre in nur wenig moderni- 
sierter Form als psychologische Betrachtung in der modernen Kriminalistik 
wieder. Wir haben früher als Beispiel der allgemeinen Annahme der Natur- 
völker, daß jeder Tod auf eine Verzauberung zurückführt, den Fall jener drei 
Frauen vom Kongoufer, wie J. M o n t e i r o ihn schildert, berichtet. Auch hier 
ist die psychologische Voraussetzung für die Annahme, jene beiden Freun- 
dinnen hätten die Verunglückte verzaubert, leicht erratbar: es ist die unbewußte 
Erkenntnis der zwischen den drei Freundinnen herrschenden verdrängten Feind- 
seligkeiten, der die Eingeborenen nun die Kraft zugetraut haben, die eine der 
Frauen zu töten. Aber ist es wirklich so weit von solcher primitiver Annahme 
zu unseren Anschauungen, lebt jene nicht, nur leise verändert, unter uns weiter? 
Stellen wir jenen Fall der verunglückten Cabinda-Frau ein Beispiel aus der 
Kriminalgeschichte unserer kultivierten Zonen zur Seite 05 : Im Jahre 1886 ließ 
sich ein Ehepaar namens Druaux in dem kleinen Orte Malaunay nieder, wo die 
Ehefrau ein Schankgeschäft eröffnete. Bei ihnen wohnte ein Bruder der Frau, 
Gaston Delacroix. Das Zusammenleben der drei Personen war nicht friedlich. 
Die beiden Schwäger vertrugen sich zwar gut, aber zwischen ihnen und der 
Frau D. kam es häufig zu Streitigkeiten. Diese war dem Trünke ergeben, nahm 
es auch mit der ehelichen Treue nicht genau. Zwischen den Eheleuten war des- 
halb wiederholt Zank ausgebrochen, in dessen Verlauf Frau D. ihren Mann 
einige Male mißhandelt hatte. Die gleiche Behandlung hatte sie auch ihrem 
Bruder angedeihen lassen, der auf Seiten ihres Mannes stand und ihr wegen 
ihres Lebenswandels öfters Vorhaltungen machte. 

Am 6. April 1886 überraschte Druaux, als er von der Arbeit zurückkehrte, 
seine Frau beim Ehebruch. Er jagte sie sofort aus dem Hause und erstattete bei 
der Gendarmerie Anzeige. Frau D., die kein anderweitiges Unterkommen 
hatte, irrte am 7. April im Walde umher und kam des Abends wieder zu ihrem 
Gatten mit der Bitte, sie noch einmal aufzunehmen. Der Ehemann gab dieser 
Bitte nach unter der Bedingung, daß die Schankwirtschaft geschlossen werde. 
Dies geschah. Am 9. April wurden die Eheleute von Nachbarn zuletzt ge- 
sehen. Da am Sonntag, den 10. April, die Nachbarn niemanden von der Fa- 
milie zu Gesicht bekamen, drangen sie in das Haus ein. Sie fanden die beiden 
Männer als Leichen. Der Ehemann lag tot in seinem Ehebett, die Leiche des 
Schwagers, vollständig bekleidet, im Erdgeschoß neben der Küchentür. Die 
Ehefrau war im Hause und hatte fast den ganzen Sonntag, ohne sich zu 
melden oder Hilfe zu holen, bei den Leichen zugebracht. Sie schien betrunken 
zu sein. Ein sofort hinzugezogener Arzt vermochte an den Leichen keinerlei 
Verletzungen oder Spuren erkennbarer Krankheiten festzustellen. Bei der 
Leicheneröffnung wurde konstatiert, daß die beiden Männer einer Vergiftung 
erlegen waren. Der Verdacht, sie durch Gift aus dem Wege geräumt zu haben, 

M ) Nach Erich Sello, Die Irrtümer der Strafjusciz und ihre Ursachen. 1. Bd., Berlin, 
191 1, S. 397 f. 

74 



1 






konnte sich auf niemand anderen als auf die Ehefrau D. lenken. Sie wurde 
verhaftet und wegen zweifachen Giftmordes unter Anklage gestellt. 

Sic bestritt ihre Schuld, mußte aber ihren unsittlichen Lebenswandel sowie 
die Tatsache zugeben, daß sie in Unfrieden mit Mann und Schwager gelebt 
und beide des öfteren gröblich mißhandelt hatte. Über die Vorgänge am 8., 9. 
und 10. April konnte sie nur folgendes angeben: Nachdem ihr Mann sie am 
7. April wieder aufgenommen habe, sei die Aussöhnung durch einen Trunk 
gefeiert worden. Sie beide hätten stark dem Schnaps zugesprochen, der Mann 
so stark, daß er die nächsten Tage krank gewesen und nicht zur Arbeit ge- 
gangen sei. Er habe schon lange über Kopfschmerzen geklagt, so auch am 8. 
und 9. April. Am 9. April sei er dann um 4 Uhr morgens aufgestanden, um 
aufs neue zu trinken; um 7 Uhr habe sie ihm noch Kaffee gegeben, worauf sie 
beide wieder eingeschlafen seien. Erst am Nachmittag sei sie aufgewacht und 
habe nun entdeckt, daß ihr Mann tot neben ihr liege. Sie sei hinuntergegangen, 
um dies ihrem Bruder mitzuteilen, und habe auch diesen tot gefunden. Woran 
die beiden gestorben seien, wisse sie nicht. — Frau D. hatte gelegentlich ge- 
äußert, ihr Mann werde nicht sehr alt werden; ein anderes Mal, als er sich nicht 
wohl fühlte: sterben müssen wir alle; niemand ist unersetzlich. Solche Reden 
erschienen recht verdächtig. 

Die vernommenen Sachverständigen Dr. Cerne, Dr. Pennetier und Professor der 
Chemie Renard bekundeten übereinstimmend, daß beide Todesfälle auf Ver- 
giftung mit demselben Gift zurückgeführt werden müßten; doch seien in den 
Leichen keinerlei Spuren gefunden, die einen sicheren Schluß auf die Natur 
des Giftes zuließen. Mineralische Gifte ständen nicht in Frage. Als einzige 
Möglichkeit komme ein animalisches Gift, Cantharidin, in Betracht. Bei der 
mikroskopischen Untersuchung der Eingeweide des Ehemannes sei auch ein Par- 
tikelchen gefunden worden, das einem vom Cantharidin herrührenden völlig 
ähnlich sei. *~ 

Auf Befragen des Präsidenten gaben die Sachverständigen noch an, daß die 
beiden Opfer ungeheure Schmerzen im Magen und Abdomen hätten ertragen 
müssen und daß es „absolut unmöglich" sei, daß der Mann nebe,n seiner Frau 
gestorben sei, ohne daß diese davon etwas gemerkt habe. 

Unter Zubilligung mildernder Umstände wurde die Angeklagte, obwohl nicht 
aufgeklärt werden konnte, woher sie das Cantharidin bekommen habe, zu 
lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt. 

In das Druauxsche Gasthaus war noch im Herbst 1887 das junge Ehepaar 
Gautier eingezogen. Sehr bald darauf wurde Frau Gautier von Schwindel und 
Ohnmachtsanfällen heimgesucht, mehrere Male wurde sie besinnungslos und 
ganz kalt am Boden liegend aufgefunden. Eines Tages, im Mai 1888, stürzte 
sie in ihrer Küche tot zu Boden. Sie wies die gleichen Vergiftungserscheinungen 
auf wie die beiden (angeblichen) Opfer der Frau D. 

Andere seltsame Umstände kamen hinzu: Fische, die Gautier in seine Räume 

7S 



J 



brachte, zersetzten sich in ganz kurzer Zeit „wie durch Zauberei". Auch fielen 
des öfteren Gäste, die des Abends, um ein Glas Bier zu trinken, in die Herberge 
gekommen waren, nachdem sie sich einige Zeit dort aufgehalten hatten, be- 
wußtlos nieder. 

Im Jahre 1889 übernahm das Ehepaar Dubeaux, nach dem Tode der Frau 
Gautier, die Schankwirtschaft. Nach kurzer Zeit wurden auch sie von unerklär- 
lichen Kopfschmerzen, Schwindelanfällen, Ohnmächten und Übelkeiten be- 
fallen. Eines Tages — Mitte der Neunzigerjahre — fiel Frau Dubeaux tot zur 
Erde, fast zur selben Zeit fand man ihren Gatten entseelt in der Wohnung. 

Endlich kam man auf den Gedanken, daß der unmittelbar an die Wirt- 
schaftsstube anstoßende Kalkofen des Nachbargrundstückes die Ursache dieser 
unerklärlichen Todesfälle sein könne. Man löschte ihn aus. Seit diesem Augen- 
blick zeigten sich keinerlei weitere Krankheitserscheinungen bei den Bewohnern 
und Gästen des Nachbarhauses. 

Durch Sachverständige wurde nun zweifelsfrei festgestellt, daß die sämtlichen 
Krankheits- und Todesfälle auf eine Vergiftung durch Kohlcnoxydgas zurück- 
zuführen waren, das vom Kalkofen durch die undichte Mauer in die Wirtsstube 
hatte einströmen können. 

Die Witwe Druaux wurde, nachdem sie acht Jahre ihrer Strafe verbüßt hatte, 
freigesprochen. 

Ist hier nicht derselbe Glaube wirksam, der uns bei den Eingeborenen Afri- 
kas und Australiens so merkwürdig vorkam? Lebt nicht auch in den Unter- 
suchungsrichtern, die den Fall zu entscheiden hatten, der Unglaube, daß die 
beiden Männer, die Objekte des Hasses der Frau D. waren und die an einer 
natürlichen Todesursache gestorben waren, einem Unfall zum Opfer gefallen 
seien? Wie weit ist diese Annahme von der jener Wilden entfernt? Ist es nicht 
so, daß die Überzeugung, welche die halbkultivierten Völker zu sofortiger 
Tötung des angeblichen Zauberers führt, psychologisch dem Urteil des fran- 
zösischen Gerichtshofes, der Frau Druaux zu lebenslänglichem Zuchthaus ver- 
urteilte, entspricht? Wir ahnen schon, daß eine psychologische Vertiefung in 
dieses Problem zu besonderen Aufklärungen über die seelischen Voraussetzungen 
unserer Straf rech tspflege führen muß. Wir verschieben diese Aufgabe für einen 
späteren Teil dieser Untersuchung und verfolgen den bisher eingeschlagenen 
Weg weiter. Er hat uns dazu geführt, auch im Strafrechtsverfahren der wilden 
Völker ein nicht bewußt gewordenes Stück Psychologie als wirksames Element 
wiederzufinden. Es sind, könnte man sagen, unbewußte psychologische Indizien, 
die in diesem rohen Strafrechtsverfahren erscheinen und irgendwie Berücksich- 
tigung finden. Wenn etwa in unserer gerichtlichen Voruntersuchung wegen 
Mordes bewußt die Frage „Cui bono?" erscheint und als Indiz gewertet wird, 
so wird sie freilich in der Welt der Primitiven nicht ausdrücklich gestellt, aber 
sie ist doch in der Form: „Wer hatte ein Motiv zur Tat?" unbewußt vorhanden 
und lenkt vielleicht unterirdisch den Ausfall jener mystischen Verbrecherorakel. 

76 









Um zu zeigen, in welchem überraschenden Sinne diese Indizien im Leben 
primitiver Völker betrachtet werden, sei auf einen Bericht verwiesen, den 
Malinowski über den legalen Aspekt der Zauberei in Melanesien gegeben 
hat 06 . Auch dort wird jede schwere Krankheit und jeder Todesfall der schwar- 
zen Magie zugeschrieben; die Zauberei ist als eine genuine legale Macht an- 
erkannt. Dies wird etwa durch die Art bewiesen, in der man die Gründe findet, 
warum ein Mann durch Zauberei getötet wurde. Diese Untersuchung geschieht 
durch eine genaue Deutung bestimmter Zeichen oder Symptome, die man an 
dem exhumierten Körper bemerkt. Etwa 12 bis 24 Stunden nach dem provi- 
sorischen Begräbnis wird bei Sonnenuntergang das Grab geöffnet, die Leiche 
gereinigt, bemalt und untersucht. Unter bestimmten, dramatisch anmutenden 
Zeremonien wird der Leichnam mit Kokusnußsahne gewaschen und die Zei- 
chen an ihm werden registriert und gedeutet. Diese Symptome weisen auf be- 
stimmte Charakterzüge oder Gewohnheiten hin, welche die Feindseligkeit einer 
Person erregten und dazu geführt haben, den Betreffenden durch einen Zau- 
berer töten zu lassen. "Wenn z. B. der Körper Risse oder Schrammen besonderer 
Art an der Schulter zeigt, welche den Liebesmalen (kimali) während des Sexual- 
verkehrs ähneln, heißt es, der Verstorbene habe sich des Ehebruches schuldig 
gemacht oder sei bei Frauen zu erfolgreich gewesen und habe so den Zorn eines 
Häuptlings oder eines Zauberers erregt. Dieselbe Todesursache oder vielmehr 
dasselbe Mordmotiv verrät sich auch auf andere Art: so wenn die Leiche z. B. 
mit auseinandergespreizten Beinen oder mit gespitztem Munde gefunden wird. 
Dieselbe Bedeutung hat es, wenn der Tote mit Läusen bedeckt gefunden wird, 
weil Einander-Lausen als besonders zärtlicher Ausdruck der Liebe betrachtet 
wird. Gewisse Symptome erscheinen schon vor dem Tod und werden in dieser 
besonderen Art gedeutet. Ein konkreter Fall: Ein sterbender Mann hatte einen 
schmatzenden Laut ausgestoßen (wie man ihn ertönen läßt, wenn man eine ge- 
liebte Person zu einem heimlichen Stelldichein ruft). Bei der Exhumierung wim- 
melte der Leichnam von Läusen. Es war bekannt, daß dieser Mann es sich ge- 
stattet hatte, öffentlich von einer der Frauen Numakalas, des früheren Ober- 
hauptes des Kiriwina-Stammes, gelaust zu werden. Offenbar war er auf höhe- 
rem Befehl bestraft worden. Wenn am Leichnam Zeichen gefunden werden, 
die an Schmuck, Gesichtsbemalung oder bestimmte Tanzverzierungen denken 
lassen, so hat die persönliche Schönheit dem dahingeschiedenen Don Juan den 
bösen Zauber zugezogen. Rote, schwarze und weiße Farben auf der Haut, 
Muster, ähnlich den Zeichnungen am Hause eines Edlen, Geschwülste, ähnlich 
den Balken eines reichen Yam-Hauses, zeigen an, daß der Tote sich zu ehr- 
geizige Ausschmückung seiner Hütte erlaubte und sich so den Zorn des Häupt- 
lings zuzog. Taro-ähnliche Beulen oder ein ungewöhnlicher Appetit auf dieses 
Gemüse kurz vor dem Tode weise n darauf hin, daß der Verstorb ene zu schöne 

M ) Bronislaw Malinowski, Crime and Custom in Savade Society. London, 1916 
S. 87 ff. 

77 



< 



i 



Taro-Anlagen hatte oder nicht genug Abgaben von dieser Ware an den Häupt- 
ling zahlte. Der Häuptling liebt es nicht, wenn einer seiner Untergebenen das 
Zeremoniell nicht strenge genug eingehalten und sich nicht tief genug vor ihm 
verbeugt hat; so ein Mann wird später in seinem Grabe zusammengekrümmt 
gefunden werden. Malinowsky hat durch Diskussion konkreter Fälle 
einen ganzen Zauber-Code für diese Leichenschau der wilden Stämme zu- 
sammengestellt. 

Kein einsichtsvoller Kriminalist wird leugnen, daß die Marken oder 
Symptome, die so sorgsam untersucht werden, den Namen von Indizien ver- 
dienen. Wenn der moderne Kriminalist aus dem Leichenschaubefund bestimmte 
Schlüsse auf die Motive und die Person des Mörders zieht, so tut hier sein 
Kollege unter den Wilden Australiens dasselbe, und niemand kann nachweisen, 
daß die logischen und psychologischen Fähigkeiten, die bei solchen Über- 
legungen entscheidend sind, bei den Untersuchenden mit weißer Hautfarbe 
höhere sein müssen als bei dem schwarzen Zauberer. Wichtiger als die Unter- 
scheidung zwischen den wahnhaften oder magischen und den mechanisch- 
kausalen Voraussetzungen dieser Indiziendeutung ist das, was über den Abgrund 
der Kulturstufen hinweg ihr Gemeinsames ausmacht: die psychologische Motiv- 
erforschung auf Grund der Leichenschau. Es ist ferner wichtig, daß sich die 
melanesischen Kriminalisten im Gegensatz zu den unseren mit der Konstatie- 
rung des Tatmotivs häufig begnügen, als ob sie meinten, nicht der Mörder, der 
Ermordete sei schuldig. Wir gelangen hier wieder zur Betonung jener Differenz 
zurück, die wir früher dargestellt haben: das kriminalistische Interesse auf den 
früheren Kulturstufen geht von der Strafe, beziehungsweise von einem Ereignis, 
das als Strafe gedeutet wird, aus und erhält von dort aus den Impuls zur 
Verbrechensaufklärung oder zur Aufhellung des Tatmotivs. Bei bestimmten 
Stämmen auf anderer Entwicklungsstufe werden diese Todesfälle einer direk- 
ten Tat böser Geister, nur manche der indirekten Betätigung von Zauberern 
zugeschrieben. Die praktischen, man möchte sagen: strafrechtlichen Konsequen- 
zen einer solchen Unterscheidung, die man vielleicht als rein theoretische auf- 
fassen möchte, sind bedeutend. Während nämlich Todesfälle durch Zauberei 
nach Ansicht der Wilden gerächt werden müssen, indem man einen oder meh- 
rere Zauberer erschlägt, kann der Tod durch böse Geister nicht gerächt werden, 
weil die Täter unerreichbar sind. Beachten wir die Bedeutung dieser Differenz, 
indem wir noch einmal zum Beispiel der Indianer von Guiana zurückkehren. 
Ein Missionär berichtet uns 97 , daß der Medizinmann gerufen wird, wenn eine 
Person gestorben ist, und daß dieser nun zu entscheiden hat, ob der Mann durch 
böse Dämonen oder durch einen Zauberer zugrunde ging. Wenn der Spruch 
dahin lautet, daß der Mann durch die Böswilligkeit eines Geistes dahinschied, 
wird die Leiche ruhig begraben und niemand denkt mehr an die Sache. Wenn 

B7 ) Rev. J. H. Bernau, Missionary Labours in British Guiana. London, 1847, S. 561. 
78 



aber der Zauberer erklärt, daß die Todesursache Zauberei war, wird die Leiche 
genau untersucht und ein blaues Zeichen, das etwa an ihr gefunden wird, als 
die Stelle bezeichnet, an welcher der unsichtbare vergiftete Pfeil des Zauberers 
eindrang. Der beschuldigte Zauberer wird dann getötet. Für einen Mörder unter 
diesen Stämmen ist es also sehr wichtig, seinen Stammesgenossen die Überzeu- 
gung beizubringen, daß der Tote einem Geiste oder einem Gotte zum Opfer 
gefallen sei. Gelingt es dem Mörder, in dem untersuchenden Zauberer diese An- 
schauung zu erwecken, so ist er vor Strafe sicher, mögen auch mehrere Zeugen 
sein Verbrechen gesehen haben. Ein Mann mit Gott ist nach Bismarcks 
trotzigem Wort immer in der Majorität. 

Der Mörder wird gesucht 

Die Kai-Stämme im früheren Deutsch-Neu-Guinea glauben, daß der Tote, 
der auf die Bahre gelegt wird, den Betel, den man ihm in den Mund steckt, 
ausspuckt oder ein Zeichen ähnlicher Art gibt, wenn sich sein Mörder ihm 
nähert. So erklärt es sich, daß die Verwandten eines Toten oder Schwerkranken 
gegen diejenigen, welche ihn nicht besucht oder seinem Leichenbegängnis nicht 
beigewohnt haben, schweren Verdacht hegen 98 . Bei bestimmten melanesischen 
Stämmen wird der Sterbende, der gleichsam schon als Toter betrachtet wird, 
nach seinem Mörder gefragt. Man glaubt, daß ein Tabaran (Dämon) den Kran- 
ken besessen hat, und die Antworten stammen von diesem Geist, wenn sie auch 
durch die Stimme des Sterbenden mitgeteilt werden. Man fragt ihn z. B.: „Wer 
hat dich verzaubert? Antworte schnell oder man wird dich verbrennen "." In 
der Provinz Viktoria in Australien beobachtet man sorgfältig die Beine des Ster- 
benden; ihre Bewegungen zeigen die Richtung an, in der der Verbrecher zu 
suchen ist 100 . Bei den Narrenyerie in Süd- Australien schläft in der ersten Nacht 
nach dem Tod der nächste Verwandte mit dem Kopfe auf der Leiche, damit 
er träume, welcher Zauberer den Tod herbeigeführt hat. Am nächsten Tag 
wird der Leichnam auf eine Art Bahre, Ngaratta genannt, gelegt und diese auf 
die Schulter bestimmter Leute gehoben. Die Freunde des Verstorbenen bilden 
dann einen Kreis um ihn, und es werden verschiedene Namen ausgesprochen, 
um zu beobachten, welche Wirkung sie auf den Leichnam haben werden. Am 
Ende spricht der nächste Verwandte den Namen jener Person aus, von der er 
geträumt hat. Die Eingeborenen glauben nun, daß der Leichnam in diesem 
Augenblick seinen Trägern einen Stoß versetzt, dem sie angeblich nicht wider- 
stehen können. Dieser Stoß ist das Zeichen, das beweist, daß der Name der 
gesuchte ist 101 . Noch direkter ist das Totenverhör in Neu-Eng- 

M ) R. Neuhaus, Deutsch-Neu-Guinea, III., p. 134. 
") George Brown, Melanesians and Polynesians, p. 197. 

10 °) S t a n b r i d g e, On the Aborigines of Victoria. Transaction of the Elhnological 
Society (1861), I., p. 299. 
I( ") G. T a p 1 i n, The Narrinyerie Tribe, p. 19. bis 20. 



79 



U 



land 102 . Die Verwandten versammeln sich in der Nacht nach dem Tode vor 
der Hütte des Verstorbenen. Der Zauberpriester (tena agagara) ruft mit lauter 
Stimme den Geist des Toten und fragt ihn um den Namen der Person, die ihn 
verzaubert hat. Erfolgt keine Antwort, spricht der Tena agarara den Namen 
einer Person aus, die man verdächtigt. Wird wieder keine Antwort vernommen, 
so wird ein anderer Name genannt und so fort, bis sich endlich im Hause 
selbst oder in der Muschel, die der Zauberer in der Hand hält, ein Ton hören 
läßt. Dieser Ton im Augenblick des Aussprechens eines Namens gilt als ent- 
scheidendes Indiz. Bei den Dieri in Südost-Australien ergibt sich ein solches 
Hauptindiz aus der Richtung, in der der Leichnam vom Kopfe der zwei 
Leute, die ihn tragen und ins Grab senken, herabfällt. In dieser Richtung ist 
der Mörder zu suchen 10 ''. Die Antwort des Toten auf die ihm gestellte Frage 
ist eben dieses Zeichen, das ursprünglich grob materieller Natur ist. Wenn bei 
den australischen Eingeborenen der am Morde schuldige Stamm nicht anderswie 
entdeckt wird, löst man die Frage, indem man den Leichman auf einen Baum 
legt. Man verfolgt die Richtung, den der erste Blutstropfen, der vom Leich- 
nam auf den sorgsam geebneten Boden fällt, anzeigt 104 . Auch in Afrika wird 
der Tote selbst gefragt; in der Wüste von Guinea wird der Tote, der von 
einigen Männern auf die Schultern gehoben wird, verhört. Die Bewegungen, 
die der Tote seine Träger auf geheimnisvolle Art machen läßt, werden als ja 
gedeutet, sonst verbleiben die Träger unbeweglich"" 1 . In Togo gibt man dem 
Toten einen Stab in die Hand und trägt ihn zweimal durch das Dorf; der- 
jenige, den der Leichnam mit dem Stocke zu bezeichnen scheint, wird schuldig 
geglaubt 106 . Die gemeinsame Anschauung, die aus diesen Beispielen erkennbar 
wird, ist so klar, daß wir sie nicht diskutieren, sondern lieber analoge Beispiele 
aus der Frühzeit der Germanen anreihen wollen. Bei den Friesen blieb die 
Leiche unbestattet, doch aufgebahrt, bis der Tod gerächt war. Der Tote selbst 
sorgte für die Entdeckung des Mörders. Als Hagen an die Leiche Siegfrieds 
trat, fing der Leichnam zu bluten an 107 . Die Bahrprobe, die man in den früher 
erwähnten australischen Gebräuchen wiedererkennt, hat, wie insbesondere 
Rudolf H i s wahrscheinlich gemacht hat 108 , ursprünglich die Absicht, aus einer 
Reihe von Personen den Täter herauszufinden. In Freiburg in Uechtland hat 
man die Bahrprobe spät auch bei Ertrunkenen angewandt; man berührte den 

im ) George Brown, Melanesians and Polynesians, p. 385 bis 386. 
m ) A. W. Howitt, The Native Tribes of South-East Australia, p. 448. 
1M ) J. D a v s o n, Australian Aborigines, p. 68. 
106 ) W. B o s m a n, Voyage de Cuinee, /je lettre, p. 227. 
10 °) W. Plehn, Beiträge zur Völkerkunde des Togogebictcs. Mitteilungen des Seminars 
für orientalische Sprachen. III., p. 97. 

1OT ) Vgl. K. Lehmann, Das Bahrrcchc. Germanist. Abhandl. f. Konrad v. Maurer, 1893. 

S. 23 ff. 

10S ) Rud. H i s, Der Totenglaube in der Geschichte des germanischen Strafrechtes. Münster 

1929. S. 15 f. 
80 



1 






Leichnam mit dem Gerichtsstab und beschwor ihn im Namen der heiligen Drei- 
faltigkeit, durch ein Zeichen den etwaigen Urheber des Todes anzugeben. 
Später ist es nicht mehr der Tote, der den Mörder angibt, sondern Gott selbst 
— man könnte sagen, der Tote in seiner späteren deifizierten, unendlich ge- 
steigerten und sublimierten Gestalt. In der Szene des Bahrrechtes ist der Tote 
in zweifacher Art anwesend: als Leichnam, stumm und kalt, doch noch nicht 
ganz entseelt, in seiner irdischen Form und als Gott, zu dem der verehrte und 
gefürchtete Tote geworden ist, überirdisch, doch mit Erdenresten behaftet. 
Diese nur historisch begreifbare Verdoppelung einer ursprünglich einheitlichen 
Gestalt wirkt sich auch in der Verwandlung der Bahrprobe aus; sie wird zum 
Gottesgericht. Gott überführt nun den verborgenen Mörder durch ein Wun- 
der, das an der Leiche erkennbar wird, statt durch ein Wunder, das die Leiche 
produziert. Das Bahrrecht hat sich in dieser theologisch-kriminalistischen Form 
noch bis zum 17. Jahrhundert erhalten. Die Marburger Juristische Fakultät 
hat noch im Jahre 1608 den Ausgang der Bahrprobe für ein entscheidendes 
Indiz gehalten 109 . Da bei Shakespeare der schreckliche Richard an der Bahre 
erscheint, ruft Anna 110 : 

„Ihr Herren, seht, seht! 

Des toten Heinrichs Wunden 

öffnen den starren Mund 

Und bluten frisch. — 

Erröte, Klumpen, schnöde Mißgestalt! 

Denn deine Gegenwart 

Haucht dieses Blut 

Aus Adern kalt und leer, 

Wo kein Blut wohnt." 

Shakespeares Dramen zeigen auch, wie nahe noch die Elisabethische Zeit dem 
Glauben stand, daß der Tote selbst den Mord und den Mörder verrät: 

„My father's spirit in armsf 

All is not well 

I doubt some foul play . . ." 

ruft Hamlet ahnungsvoll, als er von dem Erscheinen des Geistes hört (I, 2). 

Bestimmte Zeichen sprechen dafür, daß dieser Glaube, daß der Tote auf die 
eine oder andere Art seinen Mörder bekanntgibt, selbst schon eine späte Ent- 
wicklung einer noch primitiveren und radikaleren Anschauung darstellt: näm- 



108 ) K. Lehmann, Das Bahrrecht. S. 42. — Eine Erinnerung an die Bahrprobe lebt 
noch im § 88 der deutschen Strafprozeßordnung, demzufolge dem Beschuldigten die Leiche 
zur Anerkennung vorzuzeigen ist. Bei dieser Gelegenheit wird natürlich der Versuch ge- 
macht, den angeblichen Täter zum Geständnis zu bringen. (Hans Schneickert, Verheim- 
lichte Tatbestände. Berlin 1924. S. 21.) 

"°) Richard der Dritte, 1. Akt, 2. 

R e i k : Der unbekannte Mörder 6 8 I 

- 






lieh, daß der Tote seinen Mord an dem Verbrecher selbst rächt, ihn verfolgt 
und tötet 111 . In dem reichen Material, aus dem wir hier nur einige Proben 
der Vorstellungen der germanischen Vorzeit und der jetzigen Primitiven ang. 
führt haben, hat er sich schon mit einer bescheideneren, kriminalistischen Rolle 
zufrieden geben müssen. Wir können uns hier nur diesen Hinweis auf eine 
kulturell und sozial bedingte Entwicklung der Anschauungen, deren Spuren 
noch im frühen germanischen Strafrecht erkennbar sind, gestatten" 2 . Es kommt 
uns hier nicht auf die prozessuale, sondern in erster Linie auf die kriminali- 
stische Seite der Frage an. Es gilt, die Mittel, durch welche ein unbekannter 
Verbrecher — hier ein Mörder — eruiert wird, klarzustellen. Der Tote, der vor 
Gericht oder vor den Zauberpriester getragen wird, ist ursprünglich ebenso 
Corpus delicti wie Kläger selbst. Das Blut, das rinnt, die Körperbewegung, die 
er macht, das Zittern, das über seine Züge zu gleiten scheint, der Stoß, den der 
Leichnam seinen Trägern gibt, es sind Zeichen, Inzichten im strengen kriminali- 
stischen Sinne. Der Eingeborene Zentralaustraliens, der unser Zeitgenosse auf 
einem fernen Kontinent ist, und der Germane aus der vorchristlichen Ära 
begegnen sich in dem Glauben, daß der Tote nicht ganz tot ist, daß er den 
Willen und die Fähigkeit hat, seinen Mörder bekanntzugeben. Eine prä- 
historische Zeit hat sicher geglaubt, daß der Tote selbst die Rache ausübt, die 
später seine Verwandten als heilige Pflicht übernehmen; die Erinnye ist ursprüng- 
lich die Ermordete selbst, die nun, zum Totengeist geworden, Orest verfolgt. 

Wie steht es denn mit unserem Glauben, daß die Toten schweigen? Wir sind 
zwar bewußt völlig überzeugt, daß dies so ist, aber unbewußt lebt in uns die 
Ansicht, daß die Toten die Macht haben, ihre Mörder zu verraten und der 
Bestrafung zuzuführen. Ist nicht in den Methoden der modernen kriminali- 
stischen Untersuchung eines Mordfalles noch etwas von jenem Glauben — 
freilich in völlig umgeformter Art — wirksam? Lebt nicht noch etwas von 
jenen dunklen Gefühlen, die zur Institution der Bahrprobe führten, weiter, wenn 
wir den Verdächtigten zum Lokalaugenschein und vor den Leichnam führen? 
Die Untersuchung des Toten bringt selbst Aufklärung und Zeichen, die zur 
Eruierung des Mörders führen können. Dem Wilden zeigt der Blutstropfen, 

U1 ) Bei den Kpelle, einem Negerstamm in Liberia, -wird dem Toten ein scharfes Messer 
in das Grab gelegt, damit er seinen Mörder töte. (Nach Dietrich West ermann. Die 
Kpelle. Göttingen 192 1. S 1.80.) 

"*) Im altgermanischen Strafrecht wird der Ermordete vor Gericht getragen, die Ver- 
wandten begleiten den Leichnam mit gezogenen Schwertern und erheben das formelle Klage- 
geschrei. Es liegt nahe, anzunehmen, daß der Tote ursprünglich selbst der Kläger ist und 
seine Verwandten erst später sozusagen als sein Vormund auftreten. Auch Brunner 
(Deutsche Rechtsgcschichte, 1. Bd. 1906, S. 252) ist ähnlicher Ansicht: „Nur so lassen sich 
die verschiedenen Funktionen des Toten im Rechtsgang, die Klage mit dem Toten, die Be- 
redung des Toten, der Gewährschaftszwang auf den Toten, der Tote als Eidcshclfer und als 
Zeuge und die Rolle des Toten bei der Bahrprobe unter einen einheitlichen Gesichtspunkt 
bringen." — Vgl. ferner W. H i s, Der Totenglaubc, S. 18, Hans Scheuer, Das Reche 
der Toten. Zeitschrift für vgl. Rechtswissenschaft, 34. Bd. 1916. 

82 




w 



~ 






der von dem Leichnam rinnt, die Richtung, in welcher der Mörder zu suchen 
ist, dem modernen Kriminalisten gibt die Art des Blutes, das vergossen wurde, 
die Form der Blutspritzer, der Umstand, daß kein Blut fließt usw. Hinweise, 
aus denen sich bestimmte logische Folgerungen ziehen lassen, die für die Ver- 
brechensaufklärung entscheidend sind. Die Blutzeichen bei der Bahrprobe können 
als Ahnherren der Indizien der modernen Kriminalistik bezeichnet werden. Was 
hier wissenschaftlich untersucht und verwertet wird, sollte dort auf einem 
magischen Wege erreicht werden. Unverkennbar ist dem tieferen Blicke der 
verborgene Zusammenhang zwischen den beiden, anscheinend durch eine tiefe 
Kluft voneinander getrennten Phänomenen. Wir rufen uns die seit Kindertagen 
vertraute Szene aus dem Nibelungenlied ins Gedächtnis zurück, die schildert, 
wie die Leiche des toten Helden Siegfried zu bluten beginnt, da der düstere 
Hagen herantritt. Hier ist das klassische Beispiel einer altdeutschen Bahrprobe, 
in welcher der Tote seinen Mörder angibt. Man vergleiche mit diesem 
kriminalistischen Verfahren das moderne, wie es etwa Gross in einem nach 
mancher Richtung hin lehrreichen Fall geschildert hat 113 : 

In einem Flusse war der vollkommen nackte Leichnam eines Bauernmädchens 
gefunden worden. Man hatte — es war Hochsommerzeit — sofort die sichere 
Annahme bereit, daß es beim Baden ertrunken war. Die trotzdem veranlaßte 
Obduktion ergab, daß die Ertrunkene im vierten Monate schwanger war, und 
jetzt wurde wieder ebenso rasch behauptet, daß sie sich aus diesem Grunde 
ertränkt habe. Nun trug die Leiche aber längs des ganzen Rückens und über 
das Gesäß auffallende, parallell dunkelrote Streifen, die beim Einschnitte 
vitale Reaktion gezeigt hatten. Hierdurch wurde klar, daß die Verstorbene 
über einen Gegenstand gestreift worden sein mußte, der in gleichen Abständen 
Hervorragungen hatte. Weiters hatten aber die vitalen Reaktionen dargetan, 
daß die Verstorbene jenen Gegenstand passiert haben muß, als sie noch am 
Leben war. Man vermaß und zeichnete jene Streifen, ließ den Leichnam behufs 
etwa nötiger neuer Vergleiche usw. einstweilen nicht beerdigen und unternahm 
eine Wanderung längst des Flusses in der Richtung, wo der Leichnam herge- 
kommen war. Ein fortwährendes genaues Besichtigen des Flußbettes und aller 
Gegenstände, die in und an diesem irgendwie auffällig waren, ließ an einer im 
Wasser liegenden Baumwurzel einen Kleiderfetzen und später mehrere solche 
an anderen Hervorragungen entdecken. Mittlerweile hatte ein Gendarm die 
Identität der Verstorbenen konstatieren können. Er kam der erhebenden 
Kommission mit der Mutter der Ertrunkenen entgegen. Es war nun leicht, 
festzustellen, daß die aufgefundenen Fetzen von deren Kleidern herrührten. 
Das Mädchen war also keineswegs nackt ins Wasser gekommen. Erst im rasch 
strömenden und mit vielen Baumwurzeln u. dgl. versehenen Wasser waren die 
Kleider und die Wäsche vom Leichnam gerissen worden. Die Ertrunkene hatte 
keine Schuhe getragen, sie war barfuß gegangen. Nach langer mühsamer 

us ) Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik. I. Teil. S. 183. 

6» 83 



- - 



=s*i 



Wanderung, auf der noch Reste der Kleider und der Wäsche aufgefischt 
wurden, kam die Kommision an der Behausung der Verunglückten (etwa 
1500 Schritte seitwärts vom Flusse) vorbei, ohne das Hindernis entdeckt zu 
haben, das jene striemenartigen Streifen am Körper des Mädchens erzeuge 
haben konnte. Mittlerweile hatte man von der Mutter der Toten erfahren, daß 
sie einen Geliebten gehabt hatte, der in einer Lohstampfe (mühlenartige Ein- 
richtung zur Erzeugung von Gerberlohe) bedienstet sei. Die Lohstampfe liege 
noch etwas stromaufwärts. Die Kommission wanderte nun bis zur Lohstampfe. 
Unterhalb dieser war nun das sogenannte Mühlfluder durch einen großen 
hölzernen Rechen durchquert, bei dem die Querstäbe einige Zoll über den 
Hauptbalken emporragten, während dieser etwa eine Spanne hoch vom 
Wasser überflutet wurde. Vorgenommene Messungen ergaben, daß die Ent- 
fernungen jener überragenden Querstäbe genau mit der Entfernung der kratzer- 
artigen Streifen auf dem Rücken der Verunglückten übereinstimmten. Zweifel- 
los war also, daß sie über dem Rechen ins Wasser gefallen war, und daß dies 
nicht weit über diesem gewesen sein konnte, denn wie die vitalen Reaktionen 
bewiesen, hatte das Mädchen noch gelebt, als es über den Rechen geschwemmt 
wurde. Nahe ober diesem war aber die Lohstampfe, wo der Liebhaber des Mäd- 
chens wohnte, der auch der Vater des zu gewärtigenden Kindes war. Es wurde 
festgestellt, daß er vor zwei Tagen abends seine Geliebte zu sich bestellt, und 
daß niemand seitdem das Mädchen lebend gesehen hatte. Es war kaum mehr 
daran zu zweifeln, daß er sie ins Wasser gestoßen hatte. 

Das Blut an Siegfrieds Körper und die dunklroten Streifen an der Leiche 
des Bauernmädchens sind beide Indizien im Sinne des Untersuchungsrichters. 
Und doch, wie verschieden von uns deuten die Helden, die sich um Siegfrieds 
Leichnam geschart haben, die Blutstropfen. Auch jene blutigen Streifen am 
Körper des Mädchens geben einen Hinweis auf den Täter, auch sie drängen 
zu bestimmten Schlußfolgerungen und doch, wie anders wirkt dies Zeichen 
auf den modernen Kriminalisten ein. Die ganze Entwicklung der Menschheit 

— manche würden sagen: der ganze Kulturfortschritt der Menschheit 

— vom magischen Denken zum Glauben an kausal-mechanische Gesetze spiegelt 
sich in dieser Differenz. 

Die Kraniche des Ibykus und die Fliegen des Mr. Breese 

In Schillers Gedicht vertraut der Sterbende, den Räuber überfielen, den 
vorüberfhegenden Kranichen die Rache an und der Mörder verrät sich selbst, 
da er die Vögel wiedersieht. Was wir in dem Gedicht miterlebten, ist ein 
psychischer Vorgang. Das Erscheinen der Kraniche ist nur ein auslösendes 
Moment für die folgende Szene, das Wesentliche ist der unbewußte Geständnis- 
zwang des Mörders 114 . Man ist versucht, die ursprüngliche Form der Sage von 

"*) Es ist beachtenswert, daß in Schillers Ballade die Szene auf dem Theater das un- 
bewußte Geständnis des Verbrechers psychologisch vorbereitet. 

84 













der Ermordung des Ibykus zu rekonstruieren 1 ", indem man die uns bekannten 
Glaubensvorstellungen antiker und primitiver Völker über die Eruierung un- 
bekannter Verbrecher heranzieht. 

Wir fanden, daß der einfachste Weg zur Ermittlung eines unbekannten Mör- 
ders im Glauben der Primitiven der ist, den Toten zu befragen. Hier wollen 
wir den Fall ins Auge fassen, daß der Ermordete diesen kriminalistischen 
Dienst nicht leisten kann oder nicht leisten will. Einer der Wege, der dann 
zur Eruierung des Verbrechers führt, ist der des Tierorakels. So berichtet 
j. D a w s o n über bestimmte australische Stämme, daß Indizien für die Schuld 
des oder der Zauberer in einem Mordfalle in dieser besonderen Art gewonnen 
werden: wenn der Leichnam begraben ist, wird die Oberfläche des Gra- 
bes geglättet. Die erste Ameise, welche darüberläuft, zeigt die Richtung an, 
in welcher der Stamm wohnt, der den Tod verschuldet hat 110 . Diese Ameise 
beantwortet hier an Stelle des Toten die Frage nach dem Mörder. Bei den 
Watchandis Australiens 117 wird der Erdboden rings um das Grab von Steinen, 
Pflanzen usw. entblößt und dann mit besonderer Sorgfalt völlig eben gemacht. 
Jeden Morgen sieht man dann nach, ob ein lebendes Wesen hier passiert hat. 
Sicherlich entdeckt man früher oder später Spuren irgendeines Tieres (es kann 
auch ein kleines Insekt sein) und die so angezeigte Richtung weist auf den 
Ort des Stammes hin, dem der böse Zauberer angehört. Die antike Augural- 
wissenschaft wurde sicherlich ebenfalls zu solchen Tierorakeln herangezogen, 
wenn es galt, Verbrechen aufzuklären 118 . Die Wanyanwesi in Afrika sind über- 
zeugt, daß der Tod immer durch Giftmord verursacht wird. Um einen solchen 
unbekannten Giftmörder zu entdecken, zerteilen die bafüme, eine Art Ober- 
priester und Zauberer, lebende Hühner und geben vor, die Namen der Schul- 
digen in den Eingeweiden zu lesen 110 , ein Glaube, der sich auch bei anderen 
Volksstämmen nachweisen läßt. 

Wer ist eigentlich jene Ameise, oder jener Skarabäus, die über das Grab 
kriechen und den Mörder verraten? Das läßt sich unschwer erraten, wenn man 
sich des bei den antiken und halbwilden Völkern verbreiteten Glaubens an die 
Seelentiere erinnert 120 . Die Seele wird später als Vogel gedacht; noch die 

UB ) Diese ursprüngliche Form ist natürlich hypothetisch angenommen; sie liegt den 
auf uns gekommenen Berichten, welche Schiller zur dichterischen Gestaltung anregten, 
zugrunde. Bekanntlich hat der Dichter den Stoff dem Wörterbuch des Suidas entnommen 
sowie je eine Stelle aus Plutarch und aus der griechischen Anthologie verwertet. 

,1B ) J. D a w s o n, Australian Aborigines, S. 68. 

117 ) A. 1 d f i e 1 d, The Aborigines of Australia. Transactions of the Anthropologkai 
Society II. (1865), S. 246. 

1J8 ) Vgl. Ludwig Hopf, Tierorakel und Orakeltiere in alter und neuer Zeit. Stutt- 
gart 1888. 

11B ) G. P. Steinmetz, Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und 

Ozeanien. S. 278. 

12 °) Man vergleiche außer Wundts Völkerpsychologie Rudolf Kleinpaul, Die 

Lebendigen und Toten. Leipzig 1898, S. 12 ff. 

85 






Raben Odhins, die seine Begleiter sind, vertreten ihn selbst. Die Kraniche des 
Ibykus sind vielleicht an Stelle der Geier getreten, die von dem Leichnam ge- 
fressen haben; sie sind aber ursprünglich der Tote selbst in vervielfältigter 
Gestalt 121 . Es war ursprünglich ihr Flug, der als Anzeichen, als Indiz gewertet 
wurde, nicht der Ausruf des einen Mörders; es war die Richtung, die sie an- 
gaben wie die Ameise, welche über das Grab eines Eingeborenen in Austra- 
lien kriecht. Kein Zweifel, für die primitiven Stämme ist dieses Indiz ebenso 
zuverlässig wie ein anderes sachliches Indiz für unsere Kriminalisten 122 . 

Diese Ordaltiere, wie wir sie nennen wollen, sind vermutlich solche, 
welche mit dem Toten selbst in Berührung gekommen sind, vielleicht von dem 
Leichnam gefressen haben 123 . Der Begriff der Berührung wird in diesem Fall 
in dem weiteren Sinne genommen wie bei dem Phänomen des primitiven 
Tabuglaubens; so werden Tiere, die in der Nähe eines Toten waren, hier 
einbezogen. Die Ordaltiere erfüllen also eine magische Funktion. Die Tat- 
sache, daß sie ursprünglich der Tote selbst in Tiergestalt sind, läßt sich leicht 
mit der anderen vereinen, daß sie in manchen Fällen als Geister oder über- 
natürliche Wesen erscheinen. 

Die primitive Vorstellung, daß eine Ameise, die über das Grab eines Toten 
kriecht, den bösen Zauberer und Mörder angibt, muß jedem naturwissenschaft- 
lich Erzogenen phantastisch vorkommen. Natürlich sind so abergläubische 
Glaubensvorstellungen, welche einen Kausalzusammenhang etwa zwischen der 
Richtung eines fliegenden Tieres und dem Aufenthalt eines unbekannten Ver- 
brechers annehmen, unserer Kriminalistik, welche mit den modernsten 
Mitteln der exakten Wissenschaft arbeitet, fremd. Nicht nur dies; die ganze 
„prälogische" Denkungsart der Naturvölker unterscheidet sich so fundamental 
von dem diskursiven, streng logischen Denken der modernen Kriminalistik, daß 
es fast sakrilegisch ist, die beiden Betrachtungsweisen in einem Atem zu nennen. 
Um den ganzen Abstand, der ein gewaltiges Stück der Kulturentwicklung 
kennzeichnet, zu erkennen, braucht man den Beispielen der primitiven 
Zauberpraktiker und des ihnen zugrundeliegenden Glaubens nur einen Fall 

m ) Die Sage vom Tode des Ibykus von Rhcgium hat ihre deutsche Parallele in der 
Erzählung vom heiligen Meinrad und seinen Raben. Die Vögel verfolgen den Mörder 
des Heiligen, erheben ein furchtbares Geschrei, fliegen um den Kopf und bringen 
so das Verbrechen zur Aufklärung. 

'") Es hat eine magische Bedeutung für Hektor (Ilias XII. 329), wohin die Vögel 
sich wenden: 

„Ob sie rechts hinfliegen, zum Tagesglanz und zur Sonne 
Oder auch links dorthin, zum nächtlichen Dunkel gewendet". 

1M ) Zu diesen Tieren gehört auch die Fliege. Die Brut der Leichenfliege (Sarcophage 
Mortuorum) nährt sich von Leichen. — In der Philisterstadt Ekron gab es (2. Kön. 12) 
ein Flicgenorakcl, zu dem der israelitische König Ahasja schickt. Der als Orakel benutzte 
Baalzebub ist der Herr der Fliegen. Bei den skandinavischen Stämmen der Germanen 
waren auch die Fliegen neben den Pferden und Vögeln Orakeltiere. (Hopf, Tierorakel 
und Orakeltiere, S. 115 ff.) 

86 







W 



von kriminalistischer logischer Schlußfolgerung entgegenzustellen. "Warum 
sollten wir nicht ein Stück Genugtuung aus der Überlegung gewinnen, wie 
weit der Kulturfortschritt auch auf diesem, dem kriminalistischen Gebiet, gegan- 
gen ist? Ein guter Beobachter 1 ", der die Vereinigten Staaten von Nordamerika 
bereist hat, erkannte einen charakteristischen Zug in der Aufschrift auf dem 
Bahnhofe einer kleinen Stadt, die den Reisenden in besonders großen Lettern 
zurief: „See us increase!" (Sieh uns wachsen!) Warum sollten wir uns nicht 
in ähnlicher Art unserer kulturellen Errungenschaften freuen! Da kommt uns 
ein vorzügliches Beispiel aus der amerikanischen Kriminalgeschichte der letzten 
Jahre zurecht: 

Am Morgen des 5. Juni 1925 war der angesehene Millionär Mr. Ellington 
Breese in Philadelphia ermordet aufgefunden worden. Es bestand kein Zweifel, 
daß Breese durch Giftgas, das während der Nacht in seinem Schlafzimmer er- 
zeugt worden war, getötet wurde. Breeses Diener, ein Neger, hatte seinen 
Herrn um 8 Uhr Morgens tot im Bette gefunden. Auf dem Kaminsims fand 
man eine Glasflasche mit einem Fassungsraum von ungefähr einem Liter, da- 
neben einen Stöpsel. Das Gefäß war von der Art, wie man es in chemischen 
Laboratorien verwendet. Nach Aussage der Sachverständigen hatte man eine 
bestimmte chemische Flüssigkeit auf eine zweite gegossen, wodurch das Gift- 
gas erzeugt worden war. Das Gas mußte sich dann rapid im Zimmer ver- 
breitet haben. Weder an dem Glasgefäß noch an anderen Gegenständen 
wurden Fingerabdrücke gefunden. Jedes Lebewesen im Zimmer war unter der 
fast augenblicklichen Wirkung des Gases getötet worden, obwohl die beiden 
Fenster (Schiebefenster mit Vorhängen) zwanzig Zentimeter vom unteren Rand 
offenstanden. Der Stieglitz lag tot im Käfig. Viele Fliegen und Mücken lagen 
tot am Fensterbrett. 

Zwei junge Männer, die beide Kenntnisse in chemischen Dingen hatten und 
die Lebensverhältnisse des Ermordeten gut kannten, wurden unmittelbar des 
Mordes verdächtigt. Der eine war Walter Breese, der Neffe und gleichzeitig 
der einzig überlebende Verwandte des Toten. Der andere war Breeses Privat- 
sekretär Adam Boardman. Beide beteuerten ihre Unschuld, beide konnten auch 
ein gewisses Alibi nachweisen. Polizeiliche Auskünfte ergaben, daß beide weder 
Schulden noch kostspielige Verhältnisse hatten. Auffällig schien nur, daß man 
beiden ein starkes Motiv zur Tat zuschreiben durfte. Das Testament Breeses 
lautete nämlich dahin, daß die Hälfte seines großen Vermögens "Wohltätigkeits- 
anstalten zufallen, die andere Hälfte aber, etwa eine halbe Million Dollar, 
zwischen dem Neffen und dem Sekretär geteilt werden sollte. Diese testamenta- 
rischen Bestimmungen waren beiden bekannt. Die ärztliche Untersuchung wurde 
zwei Stunden nach Auffindung der Leiche durchgeführt. Sie ergab, daß Breese 
mindestens vier, möglicherweise aber bereits zehn Stunden tot sei. Nach der 



"') Andre Siegfried, Les Etats-Unis d'aujourd'hui. Paris. 1928. 

«7 



Lage des Leichnams in seinem Bette mußte der Tod völlig überraschend einge- 
treten sein. Die Kriminalisten hatten den Neffen und den Privatsekretär gleicher- 
maßen in Verdacht. Man konnte den Mörder überführen, so lautete das vor- 
läufige Ergebnis ihrer Arbeit, wenn man annähernd die Stunde ermitteln 
könnte, in der das giftige Gas in Breeses Schlafzimmer erzeugt worden war. 
Von dieser Bestimmung hing alles ab. 

Der Privatsekretär Boardman gab nämlich an, daß er sich bis kurz nach 
zwölf Uhr bei Breese befunden habe. Die Haushälterin Breeses, deren Zimmer 
unmittelbar neben dem Mordzimmer im zweiten Stock lag, sagte aus, daß der 
Sekretär das Haus gegen zwölf Uhr verlassen hatte. Boardman hatte mit Breese 
eine dringliche Angelegenheit, deren Wichtigkeit er auch vor Gericht beweisen 
konnte, besprochen. Er gab an, er sei noch einmal zurückgegangen, um seine 
vergessene Aktentasche zu holen. Bei dieser Gelegenheit hatte er auf Breeses 
Wunsch das elektrische Licht im Schlafzimmer abgedreht und das Fenster bis 
auf einen Spalt von zwanzig Zentimeter geschlossen. Nach dem Verlassen des 
Hauses war er direkt in seine Wohnung gegangen, die er mit zwei anderen 
jungen Leuten teilte. Sein Alibi für den Rest der Nacht war zuverlässig. 

Der Neffe Walter Breese war verreist gewesen und war gegen ein Uhr früh 
unerwartet aus Washington zurückgekehrt. Die Haushälterin hatte ihn kommen 
hören und hatte mit ihm im Korridor des zweiten Stockwerks gesprochen. Sie 
hatte gefragt, ob er noch etwas wünsche. Walter Breese antwortete, er habe 
keinen Hunger und wolle sogleich zu Bett gehen. Er erkundigte sich noch, 
wie es dem Onkel gehe, und erfuhr, daß Mr. Breese noch bis Mitternacht eine 
geschäftliche Besprechung mit seinem Sekretär gehabt habe. Dann stieg Walter 
Breese in sein Zimmer, das im dritten Stock lag, hinauf. Die Haushälterin sagte 
noch aus, sie habe wegen ihres Rheumatismus nicht vor vier Uhr einschlafen 
können. Sie hätte Schritte zur Tür des Ermordeten hören müssen. Die Kriminal- 
beamten gelangten später zu folgendem Schlüsse: Wenn Breese vor Mitternacht 
starb, war der Sekretär Boardman der Mörder. Wenn Breese nach Mitternacht 
starb, mußte der Neffe das Giftgas erzeugt haben. 

Walter Breese hatte die Tat begangen. Der Schluß von den Indizien auf den 
ungefähren Zeitpunkt des Mordes und damit auf den Mörder ging von einer 
einzigen Beobachtung aus: die tot aufgefundenen Fliegen und Mücken waren 
sämtlich auf dem Fensterbrett und nicht im Zimmer verstreut gefunden worden. 
Das wies darauf hin, daß sich das Gas erst nach Tagesanbruch im Zimmer aus- 
gebreitet haben konnte. Die Gründe für diese Annahme lagen klar zu Tage: 
das Giftgas mußte natürlich kleine Insekten wie Fliegen und Mücken augen- 
blicklich getötet haben. Folglich mußten die Fliegen und Mücken sich beim 
Fenster befunden haben, als sie vom Gas erreicht wurden. Daraus kann man 
schließen, daß es um diese Zeit bereits licht im Zimmer wurde. In einem sonst 
dunklen Raum lockt das beim Fenster einfallende Licht die Insekten ans Fenster. 
Wäre das augenblicklich tötende Gift im Dunkel der Nacht oder gar bei 

88 







^ 



brennender Nachtlampe erzeugt worden, so hätte man nicht alle Insekten tot 
am Fensterbrett gefunden 125 . 

Auf Grund dieser Indizien wurde Walter Breese in ein neuerliches scharfes 
Kreuzverhör genommen: er brach schließlich zusammen und legte ein Ge- 
ständnis ab. Bei Tagesanbruch hatte er sich vom dritten in den zweiten Stock 
hinabgeschlichen. Spielverluste hatten ihn zu dem Verbrechen getrieben. Er 
wurde anfangs 1926 hingerichtet. 

Niemand wird ernsthaft daran denken, die so scharfsinnigen Schlußfolge- 
rungen der Philadelphiaer Kriminalbeamten mit den abergläubischen, auf Magie 
basierenden Vorstellungen australischer Medizinmänner in eine Linie setzen zu 
wollen. Und doch ist es eine Linie, wenngleich keine gerade, sondern eine viel- 
fach gewundene Linie mit seltsamen Krümmungen, welche die Entwicklung 
menschlicher Einrichtungen widerspiegelt. Die kühle, logische Überlegung und 
Schlußfolgerung der Kriminalisten, die sich völlig im Abstrakten abspielt und 
zu so sicheren Resultaten führt, und der Aberglaube der Naturvölker, der ge- 
heimnisvolle Kausalverbindungen knüpft, die jenseits jeder uns zugänglichen 
Logik sind, haben nichts miteinander zu tun. Und doch: die Ameise, die über 
das Grab eines Ermordeten läuft, und die Fliegen im Zimmer des toten Mr. 
Breese — haben sie nicht dieselbe Funktion, nämlich die, zu helfen, den Mörder 
ausfindig zu machen? Die Überlegungen der amerikanischen Kriminalpolizei in 
dem dargestellten Falle gingen von einer Beobachtung aus so wie die Einsicht 
des australischen Zauberers — und doch scheint eine Welt zwischen den zwei 
Betrachtungsweisen zu liegen. 

Wie gelangt der Zauberpriester der Wilden (und sein Volk) zu der Ansicht, 
daß die Ameise die Richtung angibt, in der sich der unbekannte Mörder be- 
findet? Das ist so mysteriös, daß man, um es zu verstehen, etwas noch Myste- 
riöseres annehmen muß: nämlich daß im Glauben dieser Stämme die Ameise, 
die aus dem Grabe kommt, den Toten vertritt, ja ursprünglich dieser Tote 
selbst ist. Dieser Glaube aber hat seine tiefliegenden seelischen Voraussetzungen 
und Motive, von denen wir einige der wichtigsten zu erraten meinen. 

Wie steht es nun mit jenem Kriminalkommissär in „God's own country", den 
wir Inspektor Smith nennen wollen, und dessen Schlußfolgerungen die Auf- 
klärung des Giftmordes an Mr. Breese zu verdanken ist? Nun, er ist natürlich 
offiziell ein Methodist oder Presbyterianer, im intimeren Freundeskreis ein 
„agnostic". So unsinnige oder groteske Anschauungen wie die des australischen 
Zauberpriesters liegen ihm völlig fern. Er arbeitet nicht mit magischen Vor- 
stellungen, sondern mit logischen Schlüssen. Für den Mordfall Breese z. B. war 
nicht etwa ein geheimnisvoller Glaube, sondern die Angabe entscheidend, wann 

1!0 ) Es kann nicht unsere Aufgabe sein (es ist auch für unsere Zwecke unwesentlich), zu 
überprüfen, ob die hier dargestellte kriminalistische Schlußfolgerung richtig ist oder zu Ein- 
wänden berechtigt; es kommt uns lediglich auf die Rekonstruktion des psychologischen Pro- 
zesses an. 

89 



genau der Tod eingetreten war. Nach der Untersuchung des Tatortes fällt der 
Blick des Inspektors vielleicht noch einmal auf die Fliegen am Fensterbrett. Er 
hat sie natürlich schon früher bei der genauen Untersuchung bemerkt. Sie ge- 
hören ja mit zu den Tatbestandselementen und werden in der Tatortsbeschrei- 
bung erscheinen: sie sind dem Gift ebenso rasch erlegen wie der Tote im Bette. 
Was dem Inspektor jetzt aber auffällt, ist etwas anderes: merkwürdig, wie sie 
alle da auf dem Fensterbrette liegen! Und nun, so meint der Laie, vollzieht 
sich, von dieser keineswegs ungewöhnlichen Apperzeption ausgehend, ein prä- 
ziser, rein logischer Schluß, eine exakte Verstandesoperation: die Fliegen 
müssen, da sie alle am Fensterbrett liegen und da sie augenblicklich vom Gift 
getötet wurden, in der Frühe ermordet worden sein, da sie sich erfahrungs- 
gemäß in einem dunklen Zimmer zum Fenster drängen, wenn dort Licht ein- 
fällt. So scheint der Gedankengang des Kriminalbeamten gewesen zu sein. Ich 
glaube aber nicht, daß diese Beschreibung mehr als die oberste psychische 
Schicht wiedergibt, sie berücksichtigt die tieferen Schichten des Denkvorganges 
in keiner Art. In Wahrheit handelt es sich zum großen und sicherlich zum 
wesentlichen Teil um einen unbewußten Denkprozeß, der sich hinter diesen 
rein logischen Schlußfolgerungen eher verbirgt als daß er aus ihnen erkennbar 
wird. Der Anblick der am Fenster liegenden toten Fliegen hat den Inspektor, 
der den Tatort mit minutiöser Sorgfalt untersucht hat, wieder zum Gedanken 
an den Hergang der Tat, d. h. hier an den Ermordeten selbst, zurückgeführt. 
Durch eine jener unbewußten Identifizierungen, die sich in einer dem Ich un- 
zugänglichen Ebene abspielen, wurden der Tote und die Fliegen einander gleich- 
gesetzt, sozusagen zu einer durch dieselbe Gefühlseinstellung gebundenen, ge- 
danklichen Einheit. Das ist ja phantastisch, könnte man einwerfen, das heißt 
ja, daß der nüchterne Kriminalbeamte fast auf der Stufe des australischen 
Wilden steht, der die Ameise auf dem Grabe und den Toten in seinem Denken 
miteinander in Verbindung setzt! Gerade unter dem Einflüsse eines Affektes, 
dessen Ausmaß dem Ich nicht bekannt sein muß, kommen solche Gleichsetzun- 
gen unbewußter Art vor. Sie stellen Regressionen in eine bewußt verschwun- 
dene Vorstellungswelt dar, wie wir sie bei den wilden Völkern und bei Kin- 
dern voraussetzen dürfen. Der dünne Firnis der Kultur, dessen Haltbarkeit 
wir sehr überschätzen, ist für die Dauer von Sekunden abgestreift, und der 
Einzelne ist für diese kurze Zeit unbewußt zu einer sehr frühen und indiffe- 
renzierten Stufe des Denkens zurückgekehrt. Vermutlich steht der seelische 
Vorgang demjenigen am nächsten, der in der Psychogenese des Witzes von 
Freud rekonstruiert wurde: in unserem Beispiele ist ein vorbewußter Ein- 
druck, eben der Inhalt jener Beobachtung („merkwürdig, wie da alle Fliegen an* 
Fensterbrett liegen"), für einen Zeitbruchteil ins Unbewußte gesunken und hat 
dort eine Verarbeitung erfahren, die zu dem überraschenden Resultat führte. 
Das Ergebnis des seelischen Vorganges wurde vom Bewußtsein erfaßt, der 
Prozeß selbst blieb unbewußt und kann nur regressiv erschlossen werden. Das 

90 




Wesentliche jener unbewußten Verarbeitung geht von der Identifizierung der 
Fliegen mit dem Ermordeten aus, einer Gleichsetzung, die durch die Tatsachen 
der Anwesenheit im selben Raum, der Tötung im gleichen Augenblick und der- 
selben Todesursache vorbereitet war. In diesem Augenblick der Absence wurde 
also unbewußt die Schranke zwischen Mensch und Tier, die von so fundamen- 
taler Wichtigkeit für unsere Welt ist, im Denken des sicherlich fortschrittlich 
orientierten Inspektors Smith aufgehoben, ohne daß ihm dies oder die Ähn- 
lichkeit seines Denkvorganges mit dem eines „coloured" zum Bewußtsein ge- 
kommen wäre. Der gedankliche Vorgang von der Beobachtung (die Fliegen 
liegen alle tot am Fensterbrett) bis zum Denkresultat (die Fliegen und 
Mr. Breese wurden am Morgen getötet), muß einem Kurzschluß verglichen 
werden. Die Einzelheiten des psychischen Ablaufes entziehen sich noch der 
psychologischen Analyse, doch darf man gewisse Vermutungen über sie aus- 
sprechen, wenn man den Vorgang mit ähnlichen, uns besser bekannten psychi- 
schen Prozessen vergleicht. So glaube ich annehmen zu können, daß sich be- 
stimmte affektive Momente schon in den Wahrnehmungsakt, der den Fliegen 
galt, mengten. Unbewußt war ein wirksames Stück Affektbesetzung beim Leich- 
nam Breeses verblieben. Dieser unbewußte Affekt, der unerledigt ist, begleitet 
sozusagen den gedanklichen Ablauf der nächsten Minuten. Auch dieser vollzieht 
sich nur zum Teile in der Bewußtseinsebene. Die Tatsache, daß alle Fliegen und 
Mücken tot am Fensterbrette lagen, muß sich mit einem vorbewußten Eindruck, 
daß sie ins Freie, ins Licht, ja fliehen wollten, verbunden haben. Erst nachher, 
gleichsam zur Legitimierung dieses affektbetonten Zusammenhanges vor der 
Verstandesinstanz kam dann die Schlußfolgerung: es muß schon gegen Tag 
gewesen sein. So unglaubwürdig dies auch klingen mag, der logische Prozeß 
geht der Erkenntnis nicht voraus; er folgt ihr vielmehr nach. Das Resultat, zu 
dem unser Kriminalbeamter gelangte und dessen logische Präzision wir be- 
wunderten, ist nicht das Ergebnis scharfen oder anhaltenden bewußten Nach- 
denkens (oder nur zum geringsten Teile), sondern die gedankliche Verarbeitung 
eines aus dem Unbewußten aufsteigenden Einfalls mit den Mitteln, welche uns 
die Bewußtseinsinstanzen zur Verfügung stellen. Die wichtigste Funktion des 
logischen Prozesses wäre dann, die Erkenntnis, die auf unbewußtem Wege zu- 
standekam, zu gliedern, ihr die Form einer logischen Operation zu geben und 
sie gleichzeitig auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Wir ahnen, daß die Bedeu- 
tung dieses besonderen, sekundären Charakters der logischen Prozesse weit über 
unseren Gegenstand hinausgeht und noch nicht genügend gewürdigt wurde. 

Wie kommt es nun von dem speziellen Eindruck, der den Fliegen gilt, zu der 
Erkenntnis: der Mord an Mr. Breese ist vor Tagesanbruch und nicht in der 
Nacht geschehen? Hier greift der Vorgang auf jene unbewußte Affektbesetzung, 
die dem Toten gilt, zurück, erhält diese ein Stück Erledigung. Die Wahrneh- 
mung der Situation der tot daliegenden Fliegen hat sich unbewußt mit dem 
Gedanken an die Mordszene verlötet. Der Gedanke oder die gedankliche 

9» 






Gleichsetzung: die Fliege, die bei Tagesanbruch gegen das Fenster fliegt, zum 
Licht, in die Freiheit will, und der unglückliche alte Mann, der seinen Todes- 
kampf zur selben Stunde kämpft, ist hier aktuell geworden. Wieder wird sich 
erst später das logische Denken dieses unbewußten Gedankens bemächtigen und 
ihn aus seiner amorphen Form in die einer Schlußfolgerung verwandeln, die 
dem forschenden und prüfenden Verstand präsentiert werden kann. Aus dem 
Rohmaterial solcher unbewußter Eindrücke und Gedanken schält sich gleich- 
sam die Zeitangabe los, die vom Bewußtsein erfaßt und in ihrer Bedeutung für 
die Verbrechensaufklärung gewürdigt wird. Vielleicht ist noch die Schluß- 
folgerung: Wenn Breese bei Tagesanbruch ermordet wurde, muß der Neffe sein 
Mörder sein, auf demselben Wege über unbewußte Eindrücke an die Oberfläche 
gelangt, hat erst später Anschluß an die kausale Kategorie und an einen 
logischen Überbau gefunden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch sie aus unbe- 
kannten psychischen Tiefenschichten aufstieg und sich erst später als Ver- 
standesoperation verkleidet hat. Die logischen Prozesse können ihre Herkunft 
nicht ganz verleugnen; noch in ihnen wird ein freilich psychologisch sekun- 
därer, künstlicher Zusammenhang zwischen Mr. Breese und den Fliegen, eine 
nun zeitlich bedingte Verknüpfung hergestellt. Die logische Schlußfolgerung 
des Kriminalisten ist nur scheinbar das Wesentliche unseres Falles; entscheidend 
ist vielmehr der unbewußte Vorgang, namentlich die verborgene, affektiv be- 
stimmte Identifizierung zwischen Mr. Breese und den Fliegen. Was so über- 
raschend, anscheinend als letztes Glied einer logischen Kette zu Tage trat, war 
unbewußt schon vorbereitet. Die Überraschung lag in der Begegnung und im 
Wiedererkennen eines bereits vorher Erkannten, das verdrängt wurde. In unse- 
rem Falle ist dieses Stück Verdrängte eben jene affektive und gedankliche 
Gleichsetzung von Tier und Mensch. 

Ich fürchte, wir haben uns weit von unserem Gegenstand, der sich auf das 
Wesen der Indizien beschränkt hat, entfernt. Der Rückweg ist leicht gefunden, 
wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Ameisen des australischen Zauber- 
priesters wie die Insekten im Sterbezimmer Mr. Brceses im kriminalistischen 
Sinne Indizien sind. Beide gehören zur „circumstantial evidence", wie es der 
Philadelphiaer Inspektor bezeichnen würde, beide weisen auf den unbekannten 
Verbrecher hin. Ich glaube gezeigt zu haben, in wie tiefem psychologischen 
Zusammenhange noch die Betrachtungsweise der modernen Kriminalistik, die 
sich ihres rein naturwissenschaftlich-technischen Charakters rühmt, mit der 
abergläubischen Auffassung australischer Stämme auf der tiefsten Kulturstufe 
steht. Aller Fortschritt in der Kriminalistik konnte die animistische Denkweise 
unserer Ahnen nicht völlig überwinden, ja alte Denkwege mußten sich rationa- 
listisch verkleiden und mit logischen Mitteln cachieren, wie im Kriege Wege, 
die vom Feinde eingesehen werden konnten, künstlich verdeckt wurden. Das 
Wesentliche für unsere Untersuchung liegt aber nicht im Nachweis dieser un- 
bewußten Verhüllung, sondern in dem der Herkunft der Indizien des modernen 

9* 



. 



' 



Strafrechtsprozesses aus dem Kreise rohester, abergläubischer Vorstellungen, die 
wir längst überwunden zu haben glaubten. 

Unsere Zeit und die Kriminalistik unserer Zeit kennt freilich keine Tier- 
orakel und keine Orakeltiere, welche das Altertum und die halbwilden Völker 
in den Dienst der Verbrechensaufklärung gestellt haben. Wir verfolgen nicht 
mehr mit gespannten Sinnen den Weg einer Ameise, die uns als magische Botin 
des Toten oder der Götter erscheint und uns zeigt, in welcher Richtung wir den 
Mörder zu suchen haben. Ein einziger Nachklang jener uralten Symphonie des 
magischen Glaubens, der einmal den Erdball umfaßte, dringt in unsere nüch- 
terne Zeit, eine einzige Spur des alten Tierorakels ist noch erhalten, allerdings 
in so veränderter Form, daß sie schwer als solche erkannt werden kann. Auch 
handelt es sich nicht mehr um ein Orakel, sondern um ein ganz rationelles und 
methodisch angewandtes Hilfsmittel des kriminalistischen Ermittlungsdienstes; 
ich meine die Arbeit des Polizeihundes 12 ". Er wird auf die Spur des unbekann- 
ten Verbrechers gesetzt 127 , verfolgt die Fährte und verbellt den Täter, falls er 
erreichbar ist, noch nach Tagen. An die Stelle der primitiven Zauberpraktiken 
haben wir die kriminalistische Ausnützung der Dressur gesetzt. 



* 50 ) Vgl. A. Hellwig, Verwendung von Polizeihunden. Preußisches Kommunalarchiv. 
Bd. 2. S. 398 ff. — Friedo Schmidt, Verbrecherspur und Polizeihund. Augsburg 1910, 
sowie Polizeihundeerfolge deutscher Schäferhunde und neue Winke für Polizeihundführer, 
Liebhaber und Behörden. Augsburg 191 1. 

*") Hier sei nur ein einziges Beispiel der Arbeit und des Erfolges von Polizeihunden an- 
geführt, das ich A. Hellwig (Moderne Kriminalistik. Leipzig, 1914. S. 33 f.) entnehme: 
„Auf dem Gute Dallmin in der Westpriegnitz war ein neunjähriges Mädchen in eine Tannen- 
schonung gelockt und ermordet worden; am Abend fand man die Leiche. Am nächsten 
Morgen fuhren zwei Schöneberger Schutzleute mit ihren Polizeihunden .Prinz' und .Bolko' 
nach Dallmin, wo unterdessen schon ein Havelberger Polizeihund vergeblich versucht hatte, 
die Spur zu verfolgen. Witterung wurde an den Kleidern des Kindes gegeben. .Prinz' führte, 
während es fortgesetzt schneite, durch die Schonung und dann zu dem Kutscherhaus des 
Gutes; von dort aus war die Spur des tiefen Schnees wegen nicht mehr zu verfolgen. Doch 
hatte man einen gewissen Anhalt, daß der Täter unter den Gutsleuten zu suchen sei. Ver- 
dächtig war ein Arbeiter wegen seiner Kratzwunden im Gesicht und ein sechzehnjähriger 
Gärtnerlehrling, der aber von dem Vater der Ermordeten und von dem Untersuchungsrichter 
für unschuldig gehalten wurde. Dieser Lehrling wurde unter den Gutsleuten aufgestellt und 
dem Hunde darauf an dem unteren Teile der Schürze des Mädchens Witterung gegeben, da 
es sich offenbar um einen Lustmord handelte. Der Hund suchte zunächst im Zimmer herum; 
als er an den Lehrling kam, bellte er sofort und blickte abwechselnd seinen Führer und den 
Verdächtigen an. Der Lehrling beteuerte zunächst auch weiterhin seine Unschuld und gab 
an, er sei vom Hund nur deshalb gestellt worden, weil er beim Suchen nach der Leiche 
diese unter den Armen gefaßt und hochgehoben habe. Erst als man ihm vorhielt, daß der 
Hund nur an dem unteren Teil der Schürze Witterung erhalten habe, gab er das Leugnen auf. 
Er gestand auch, daß er das zur Mordtat benutzte Taschenmesser in der Schonung weg- 
geworfen habe. Am nächsten Tage wurde in der Nähe des Tatortes ,Bolko' an den Händen 
des Mörders Witterung gegeben, worauf er nach kurzer Zeit das unter einer Tanne liegende 
Mordmesser apportierte." 

93 



„Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor" 

Wir haben konstatiert, daß die Entwicklung der primitiven Glaubensvor- 
stellungen dahin drängte, daß der Tote sein Amt als Rächer und Verfolger 
aufgab und sich mit dem Hinweis auf den bösen Zauberer, der ihn getötet 
hat, begnügte. Diese kriminalistische Arbeit wurde durch eine Art Verhör 
erreicht: die Überlebenden fragen und der Tote antwortet. Er antwortet mit 
seinem Körper, seinem Blut und den Bewegungen, die man an ihm zu bemerken 
scheint. 

Viel zahlreicher sind freilich die Zeugnisse halbkultivierter Völker dafür, 
daß der Verbrecher auf eine andere, noch immer mit dem Toten verknüpfte 
Art festgestellt wird. Der Tote spricht oder vielmehr ein Teil von ihm spricht 
und gibt den Täter an. In der Grimmschen Sammlung findet sich das Märchen 
vom singenden Knochen, das aus Hessen stammt. Der ältere Bruder hat den 
jüngeren aus Neid von einer Brücke herabgestürzt und unter der Brücke be- 
graben. Nach langen Jahren treibt ein Hirte seine Herde über die Brücke. 
Er sieht einen weißen Knochen da liegen und schnitzt daraus ein Mundstück 
für sein Hörn. Als er zum erstenmal darauf spielen wollte, fing der Knochen 
selbst zu singen an: 

„Ach, du liebes Hirtelein, 
Du bläst auf meinem Knöchelein, 
Mein Bruder hat mich erschlagen, 
Unter der Brücke begraben." 

Man gräbt unter der Brücke die Erde auf und findet das Gerippe des 
Toten; der Mörder wird ertränkt 128 . Wir ahnen hier, daß die Phrase, das ver- 
gossene Blut schreie zum Himmel, einmal einen wörtlichen Sinn gehabt hat. 
Ein dem hessischen ähnliches Märchenmotiv findet sich bei vielen Völkern, 
z. B. bei afrikanischen Stämmen; ihm nahe steht die Erzählung vom Arm des 
Ermordeten, der sich aus dem Grabe reckt. Wirklich ersteht dem Gemordeten 
aus den Knochen ein Rächer, wie es jener Virgilvers wünscht. Verwandte 
Märchen werden in vielen Gegenden gefunden 120 . In einem sizilianischen 
Märchen wird aus Knochen und Haut des Toten ein Dudelsack angefertigt, 
der den Mord verrät. In nordafrikanischen Märchen wächst aus dem Grabe 
des Toten ein Granatapfelbaum oder ein Weinstock, deren Frucht sich dann 
in den Kopf des Toten verwandelt. 130 Die Sage erzählt 181 , der Hund eines 

I2S ) Diesen Märchenstoff hat bekanntlich Gustav M a h 1 e r für sein „Klagendes Lied" 
verwertet. 

**•) Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 28. 

1S0 ) Monseur, L'os qui chante. Bulletin de Folklore I, 39 ff., 89 ff., 2, 219 ff., 245 ff., 
3, 3 5 ff. S. Mackensen, Der singende Knochen, 1923. Schweizer Arch. f. Volkskunde. 

*J. 147- 

1M ) Anton Mailly, Deutsche Rcchtsakertümcr. Wien 1929, S. 195. 

94 



1 



Wiener Edelmannes, der sich auf der Jagd befand, grub im Jahre 1585 aus der 
Erde einige Knochen heraus. Der Edelmann übergab diese Knochen einem 
Schwertfeger, um daraus Griffplatten für einen Hirschfänger zu verfertigen. 
Kaum hatte der Schwertfeger die Knochen berührt, begannen sie zu bluten. 
Darüber war er entsetzt, die Reue überkam ihn und er gestand, vor langen 
Jahren einen Kameraden erschlagen und dessen Leichnam in diesem Walde 
begraben zu haben. 

Es ist klar, daß die Knochen als Teile des Toten jene anklägerische und 
rächende Funktion übernehmen, die früher das Ganze, nämlich der Körper 
des Toten, durchgeführt hatte. Die Knochen „sprechen" und was sie sagen, 
weist die Spur. Dieselbe Anschauung, die sich in den angeführten Märchen 
und Sagen ausspricht, hegt der kriminalistischen Praxis, wie sie sich im 
Knochenorakel afrikanischer und australischer Stämme herausgebildet hat, 
zugrunde. Wählen wir aus den zahlreichen Beispielen etwa das Knochenorakel 
der Maquamba und Bawenda in Südafrika 132 . Ein Kaffer begibt sich zum 
Zauber-Doktor, um die Hexe zu ermitteln, die sein verstorbenes Kind verhext 
hat. Der Zauberer holt aus seinem Bündel Knochen heraus und wirft sie wie 
Würfel vor sich hin. Er fragt nun die Knochen, ob der schuldige Zauberer 
(oder die Hexe) diesem oder jenem Stamme angehört und welchem Häuptlinge 
er unterstellt sei. Über jede Frage entscheidet ein Wurf der Knochen. Der 
Zauberdoktor rät nun weiter, bis er den Kraal und die Hütte des Mannes, 
der das Kind tot gehext hat, erraten hat. Ein Beispiel aus dem Westen 
Afrikas 138 : In Krankheits- oder Todesfällen ruft man bei den Ganguella den 
Wahrsager, um zu erfahren, wer für das Unglück verantwortlich ist; er stellt 
sich inmitten des im Kreise herumziehenden Volkes auf. Sein Handwerkzeug be- 
steht aus einer Kalabasse mit großen Glasperlen und getrocknetem Mais, sowie 
aus einem Korbe, der mit Steinen, Menschenknochen, Holzstäbchen, Vogel- 
knochen, Fischgräten usw. gefüllt ist. Er beginnt die Geisterbeschwörung, indem 
er die Kalabasse in wildester Art schwingt. Dann schüttet er den Korb um 
und entscheidet nun je nach den Gegenständen, ob böse Geister oder Zauberer 
für den traurigen Fall verantwortlich sind. Im zweiten Fall nennt er den 
Namen einer bestimmten Person. Ebenso wird etwa im Brisban-Distrikt in 
Australien die Beantwortung der Frage nach dem Mörder den Knochen des 
Verstorbenen überlassen 13 *. In der Moreton-Bay und ihrem Hinterlande wird 
die Frage von der Haut des Ermordeten beantwortet 136 . 

Das sind gewiß Methoden der Kriminalistik, die von denen unserer Kultur- 
schichten sehr verschieden sind. Und doch werden wir, soferne wir nicht Straf- 

i33 ) A. Schiel, 23 Jahre Sturm und Sonnenschein in Südafrika. Leipzig 1902, S. 228 ff. 
1M ) S. Pinto, Wanderungen quer durch Afrika. Frei übersetzt von H. von Wobeter. 
Leipzig 1881. Bd. I. S. 121, 123. 

JM ) W. E. Roth, North Queensland. Ethnograph. Bulletin 9, Nr. 13. 
13S ) K. W. Schmidt in J. D. Lang, Queensland, p. 360 bis 361. 

9S 









J 



rechtslehrer und Kriminalisten sind, an sie erinnert, wenn wir erfahren, wie 
Mörder unserer Zeit manchmal ermittelt werden. In Hannover und Umgebung 
spülte die Leine eines Tages einen menschlichen Schädel ans Ufer, später einen 
zweiten. Nach einigen Wochen wurde ein dritter gefunden. Bei den Nach- 
forschungen der Kriminalpolizei wurde in dem Flusse gefischt und getaucht: man 
fand einen großen Haufen von Knochen. Es ließen sich aus ihnen sechsund- 
zwanzig vollständige Skelette zusammenzustellen; sie stammten alle von 
jungen Männern. Hier war ein Massenmörder am Werke; man fand ihn nach 
vielen Mißgriffen und Irrtümern, den schrecklichen Georg Haarmann, der 
mitten in der Großstadt zahlreiche Menschen umgebracht hatte, während er 
als Vigilant der Kriminalpolizei Dienste leistete. 

Bei den Wilden werden die Knochen des Toten von dem Zauberdoktor und 
den Stammesangehörigen als mit geheimnisvollen Kräften begabt betrachtet. 
Die Knochen sprechen eine bestimmte Sprache, dem kundigen Priester vertraut. 
Die Knochen im Falle Haarmann haben ebenfalls die entscheidende Rolle in 
der Verbrechensaufklärung gespielt, eine Rolle, die freilich nicht mehr magi- 
scher Art war. Nicht mehr der Medizinmann, aber sein Nachfolger, der Medi- 
ziner, hatte sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie gaben ihm in Sektionssaal Kunde 
über den Verbrecher oder vielmehr über seine Opfer. Diese Befunde und die 
Schlußfolgerungen, die sich aus ihnen ergeben, werden für die kriminalistische 
Arbeit wertvoll. Man sieht wieder den Gegensatz: hier magische, dort wissen- 
schaftliche Betrachtung, hier Divination, dort Schlußfolgerung. 

Die Differenz der Betrachtungsweise tritt noch stärker hervor, wenn man 
diese Art der magischen Verwertung der Knochen usw. mit der mechanisch- 
kausalen Betrachtung dort vergleicht, wo sie nicht von wissenschaftlicher, son- 
dern nur von sachkundiger Seite ausgeht. Man erkennt den Abstand am 
besten, wenn man Beispiele aus den so verschiedenen Sphären nebeneinander 
stellt: Wenn bei den Watschandis in Westaustralien der Schuldige auf keine 
andere Art gefunden wird, nehmen die Eingeborenen eine handvoll Staub und 
werfen ihn in die Luft und beobachten nun die Richtung, in die er fällt. Dort- 
hin laufen sie nun, um den Mord an ihrem Verwandten oder Freund zu 
rächen 138 . Levy-Bruhl, der diesen Brauch anführt, bemerkt, daß die Beob- 
achtung unvollständig ist: es sei nicht Staub oder Feuer schlechthin, die den 
Eingeborenen die gewünschte Richtung anzeigen. Dieser Staub, dieses Feuer 
haben Teil an der Person des Toten; er ist es, der durch dieses Mittel auf die 
gestellten Fragen antwortet 137 . Das Beispiel der Dajah auf Borneo, die den 
Rauch des Feuers, in dem der Tote verbrannt wird, sorgsam beobachten, gehört 
hierher. Wenn das Feuer durch Wind oder andere Ursachen schief brennt oder 
der Rauch in bestimmte Richtung geht, schließen sie, daß der anzu (Geist) 



1M ) R. Salvado, Memoires historiques sur l'Australia, p. 332—333. 
M7 ) L. Levy-Bruhl, La Mentalite primitive. Paris 1922, S. 194. 



9 6 




r- - 



noch nicht zufriedengestellt ist und ein anderer Tod folgen wird 188 . Zweifellos 
gibt der verbrannte Tote selbst noch, in Flammen aufgehend, den Mörder an. 
Es ist der Tote in seiner verflüchtigtesten Gestalt, der hier kriminalistische 
Dienste leistet. Die Strafe, die seiner Auskunft über den Täter folgt, ist immer 
der Tod. Wenn z. B. bei den Stämmen von Viktoria in Australien ein Toter 
verbrannt wird, glauben die Eingeborenen, die schuldige Partei werde durch die 
Richtung des Rauches angegeben" 8 . Die Söhne des Hingeschiedenen oder seine 
nächsten Verwandten begeben sich auf eine Racheexpedition und töten durch 
Speerwurf den Nächtsbesten, den sie in der so bezeichneten Richtung finden, 
überzeugt, daß er der Mörder sei. Man stelle diesen primitiven Vorstellungen 
und Praktiken ein modernes Beispiel von Beobachtung eines Indizes gegenüber. 
F e u e r b a c h berichtet in seiner Kriminalgeschichte von jenem jungen Pfarrer, 
der mehrere junge Mädchen, die er geschwängert hatte, tötete. Der Priester zer- 
legte die Leichen sorgfältig und verbrannte die Leichenteile im Pfarrhof, um 
alle Spuren radikal zu entfernen. Eines Tages ging das kleine Haus, das dem 
Pfarrhof gegenüberstand, in den Besitz eines Metzgermeisters über. Diesem 
sachverständigen Beobachter fiel nun bei einer Gelegenheit auf, daß der Rauch, 
der aus dem Schornstein des Pfarrhofes aufstieg, eine Färbung zeigte, die er 
nur bei Verbrennung von Fleisch und Knochen aufweist. 

Diese Beobachtung wurde dafür entscheidend, daß der Zusammenhang 
zwischen den abgängigen Mädchen und dem Pfarrhofe bald unzweideutig her- 
gestellt wurde. 

Kriminalistische und magische Technik 

Wir haben die Entwicklung der primitiven Verbrechensaufklärung eine be- 
stimmte Strecke weit verfolgt. Wir meinten zu erkennen, daß zuerst der Tote 
selbst die Verfolgung übernahm, später den Täter ermittelte, bis er diese Auf- 
gabe dem Zauberpriester oder seinen Verwandten (die von seinem Hauch 
beseelt wurden) oder Tieren, Pflanzen usw., in die er oder ein Teil seines Ichs 
sich verwandelt hatte, überließ. Noch immer ist es der Tote selbst; erst spat 
macht sich die Anschauung geltend, daß der Elephant, der jenen des Mordes 
Verdächtigten niedergetrampelt hat, oder der Wurm, der aus dem Grabe in 
die Richtung des feindlichen Stammes kriecht, gewissermaßen im Auftrage des 
Ermordeten handelt. Ursprünglich kann jener Denkweise gemäß deren pralo- 
gischer Charakter seine eigene strikte und folgrichtige Logik hat, der Tote 
verwest im Grabe liegen und doch zugleich als Wurm über das Grab kriechen 
_ eine Annahme, deren Charakter keineswegs absurder erscheint als etwa die 
christliche Lehre der Transsubstantiation. „Hie et ubi.ue ruft Hamlet der 
nV^ Vaters Racheruf überall hört. Wir klich, hier und überall ist der Tote. Er ist 

as ) Hueh Low, Sarawak, p. 262—263. , c— «A« 

J) Albert A. C. Le Soulf, „Nor« on the Nativc, 0/ Austrat m R. Brough äruths 
„Aborigmti of Victoria" (Melbourne and London 1878). IL 289 f. 

97 

R e i k : Der unbekannte Mörder 7 






in dem Zauberer, der den Mörder nennt, ist in den Knochen, die im Orakel auf 
den unbekannten Verbrecher hinweisen, ist in dem Zweig, der aus einem Grabe 
blüht, und in dem Vogel, der sich von dort aus zum Flug erhebt. 

Immer wieder muß man die magische Art der Verbrechensaufklärung neben 
die modernen kriminalistischen Methoden stellen, um sich einen starken Ein- 
druck von gewissen Übereinstimmungen zu holen. Es ist selbstverständlich und 
bedarf keiner Hervorhebung, da dies ja als bekannt vorausgesetzt werden darf, 
welche und wie große Unterschiede zwischen diesen Arten von Kriminalistik 
bestehen. Für unsere Zwecke und für die allgemein-wissenschaftliche Auf- 
klärung aber ist es wichtiger, darzustellen, aus welchen psychischen Schichten 
der Glaube an Indizien stammt und in welchem verborgenen Zusammenhange 
diese Ur-Gründe noch mit den exakten naturwissenschaftlichen Voraus- 
setzungen der modernen Strafrechtspflege stehen. 

Wir wollen einmal von den Märchenmotiven ausgehen, die ja bestimmte 
Rechtsanschauungen einer Zeit so getreu widerspiegeln wie andere Formen der 
Tradition. In einem Märchen der Siebenbürger Sachsen verrät eine Flöte 
einen Mord"". Sie ist aus einem Rohrstengel verfertigt, der aus dem Grabe jenes 
Ermordeten sprießt. Im Andersen-Märchen vom Rosenelf wird ein Mörder von 
den Jasminblumen getötet, die am Grabe wachsen. Wenn in diesem Märchen 
die Seelen des Jasminstrauches bei Nacht zum Bett des Mörders fliegen und 
ihn mit ihren giftigen Stacheln töten, so ist dies nur eine besondere Form der 
Blumenrache, die als Märchenmotiv häufig erscheint. Es ist klar, daß die Pflanze 
hier auf magischem Wege etwas von der Kraft und dem Willen des Toten über- 
nommen hat. Märchenmotive dieser Art zeigen die Wirkung der Übertragungs- 
magie. Die örtliche Nähe hat einen magischen Zusammenhang bewirkt, der 
nicht mehr gelockert werden kann; eine Art infektiöser Wirkung geht nun von 
der Pflanze aus, die aus jenem Grabe kam. Der allgemeine Gedanke, auf dem 
diese Zauberwirkung der sympathetischen Magie ruht, ist der, daß eine sympa- 
thetische Verbindung bestehen bleibt zwischen einer Person und allem, was 
einmal einen Teil ihres Körpers ausgemacht hat oder mit ihm nahe verbunden 
war. Es ist die örtliche Nähe des Toten, welche hier den Pflanzen jene Zauber- 
kraft, den verborgenen Verbrecher zu verraten und zu bestrafen, verliehen hat. 
In manchen Fällen ist eine Pflanze auch von der modernen Kriminalistik im 
Sinne eines Indizes verwertet worden. Auch dort ist es der örtliche Zusammen- 
hang, der entscheidet, aber die Verwertung dieses Zusammenhanges ist nicht 
mehr magisch, sondern mechanistisch und rationalistisch. Stellen wir dem 
Märchenmotiv von der Blumen Rache und der Blumen Verrat, die so oft den 
unbekannten Verbrecher ermitteln, ein modernes Gegenstück zur Seite 141 . Am 

14 °) Man vergleiche ähnliche Beispiele bei Rudolf H i s, Der Totcnglaube in der Geschichte 
des germanischen Strafrechts. Münster 1929. S. 16 f. 

141 ) E. Hesse link, Ein verräterisches Eichenblattstückchen. Archiv für Kriminal, 
anthropologic und Kriminalistik. 80. Bd. 1927. S. jj ff. 

98 



^ 



23. August 1910 war in einem Dorfe unweit von Arnhem in Holland ein 
dreizehnjähriges Mädchen vermißt worden. Nach längerem Suchen hatte man 
den Leichnam des Kindes im Eichengestrüpp liegend gefunden. Das Mädchen 
war nach dem Befund genotzüchtigt und dann mit einem Band erwürgt 
worden. Vom Täter fehlte jede Spur. Man hatte nicht darauf geachtet, daß der 
Tatort nicht verändert werden durfte; man fand dort am Erdboden nichts 
als dürres Eichenlaub. Versuche mit Polizeihunden blieben erfolglos. Im Ver- 
laufe der Erhebungen am selben Tage wurden dem Untersuchungsrichter auch 
zwei Arbeiter A. und R. vorgeführt. R. war in der Nähe des Tatortes gesehen 
worden. Beide Männer wurden körperlich genau untersucht. Als bei R. die 
Vorhaut zurückgezogen wurde, ergab sich ein merkwürdiger Befund. An der 
Unterseite der Eichel zeigte sich ein kleines, dunkles Pfröpfchen, das mit etwas 
Watte weggenommen wurde. Als der Sachverständige Dr. W. Hesselink es 
untersuchte, fand er, daß es ein kleines Stück dürren Eichenblattes war. Es 
stimmte mit dem dürren Eichenlaub am Tatort überein. Gerade dieser Befund 
war wegen der versteckten Fundstelle am Penis besonders charakteristisch: 
Gerade bei dem betreffenden Verbrechen war diese Fundstelle für das dürre 
Eichenlaub am Tatort leicht zugänglich. Der Befund machte auf R., wie er 
selbst bezeugte, einen so überwältigenden Eindruck, daß er die Tat eingestand. 

Man wird die ganze, tiefe Kluft zwischen jenem Verrat durch Pflanzen in 
den Märchen und der Indizienverwertung in diesem Beispiel ermessen und doch 
zugestehen, daß die Parallele frappant ist. Ist der tiefe Eindruck auf den Ver- 
brecher nicht darauf zurückzuführen, daß ihm der Sachverständigenbefund 
selbst wie eine Zauberei, wie ein Stück Magie vorkam? Kein Zweifel, das 
Gutachten des Sachverständigen ist an die Stelle des Orakels des Zauber- 
priesters getreten und die exakte naturwissenschaftliche Beobachtung hat die 
Erbschaft der Divination übernommen. 

Die Beispiele, die wir aus den Märchenmotiven holten, würde F r a z e r der 
kontagiösen Magie zurechnen, weil sie den Zusammenhang im Raum, die 
Kontiguität als wirksam annehmen. Von derselben Wichtigkeit für die Ent- 
wicklung der Kriminalistik sind die Prinzipien der imitativen oder 
homöopathischen Magie. Wir erkennen sogleich die Wichtigkeit dieser beiden 
Arten von magischen Prozeduren für die Kriminalistik, wenn wir uns vergegen- 
wärtigen, daß die modernen kriminalistischen Methoden sich auf magische 
Handlungen als ihre direkten Vorstufen zurückführen lassen. Will man einem 
Feinde schaden, bemächtigt man sich eines Stückes seiner Person, seiner Haare, 
seiner Nägel, seiner Exkremente oder eines Teiles seiner Kleidung und führt 
an diesen Objekten eine feindliche Aktion aus. Die magische Ansicht geht 
dahin, daß dasselbe, was man so einem Bestandteile einer Person oder einem 
ihr gehörigen Dinge antut, dem Menschen widerfährt. Man schädigt einen 
Feind, indem man ein Bild aus Ton oder Holz von ihm macht und dieses 
Bild dann mit einem spitzen Nagel durchbohrt. Die Peru-Indianer formten 

7* 99 



Bilder aus einer Mischung von Fett und Korn und verbrannten dieses Abbild 
eines Menschen auf dem Wege, den die betreffende Person vorüberkommen 
mußte. Sie nannten das das „Verbrennen der Seele". Das moderne Gegenstück ist 
etwa die steckbriefliche Verfolgung eines Menschen mit Hilfe der Photographie, 
des Portrait parle. Wir erfahren, daß magische Prozeduren auch an den 
Eindrücken, welche ein menschlicher Körper im Sande hinterlassen hat, aus- 
geführt werden können. Die Eingeborenen von Südost-Australien glauben 
z. B. sie könnten einen Menschen lähmen, indem sie scharfe Stücke Quarz, 
Glas, Knochen oder Kohle in seine Fußspuren stecken. In seinem Bericht über 
den Kurnai-Stamm von Viktoria erzählt A. Howitt" 2 : „Als ich einen 
Tatungolung sehr lahm sah, fragte ich ihn, was ihm fehle. Er sagte: ,Ein Kerl 
hat Flasche in meinen Fuß gesteckt.' Ich bat ihn, mich den Fuß sehen zu lassen. 
Ich fand, daß er wahrscheinlich an Rheumatismus litt. Er erklärte, ein Feind 
müsse seine Fußspur gesehen und ein Stück einer zerbrochenen Flasche hinein- 
gegraben haben". 

Die moderne kriminalistische Technik bedient sich freilich nicht mehr magi- 
scher, sondern physikalisch-mechanischer Mittel, um dieselben Objekte, Ein- 
drücke des Körpers, Fußspuren usw. der Ermittlung und der Bestrafung unbe- 
kannter Täter dienstbar zu machen. Die magische Verwendung von Finger- 
abdrücken wird zum System der Daktyloskopie, die feindselige Prozedur an 
den EKkrementen zur Untersuchung des am Tatorte zurückgelassenen Grumus 
merdae. Wenn bei den Murrigs und anderen Stämmen von South-Wales die 
Zähne junger Menschen nicht in einen Sack gesteckt werden dürfen, weil sonst 
jene ehemaligen Besitzer in große Gefahr stürzen könnten; wenn die Basutos 
in Afrika fürchten, daß ein Feind ihnen schweren Schaden bringen kann, wenn 
er an einem ihrer ausgefallenen Zähne eine magische Handlung vornimmt; so 
erinnert man sich zahlreicher Beispiele aus der Kriminalgeschichte, in denen 
etwa ein Zahnabdruck an einem Backwerk, einem zurückgelassenen Apfel zur 
Eruierung des Verbrechers gedient hat. Wir denken an die außerordentlich 
erfolgreichen Untersuchungen berühmter Gerichtschemiker wie Je r s e r i c h, 
Papp u. a., welche durch minutiöse Untersuchung von Haaren, Nägeln, 
Spermaflecken usw. so viel zur Ermittlung unbekannter Verbrecher beigetragen 
haben. Ein Zauberer der Marquesas-Insulaner nimmt z. B. etwas von dem 
Haar, Speichel oder anderen Abfällen eines Mannes, dem er schaden will, 
wickelt sie in ein Blatt und steckt sie in eine Tüte aus Fäden oder Fasern, 
die ineinander verschlungen sind. Das Ganze wird dann unter bestimmten 
Zeremonien vergraben, worauf das Opfer an einer schleichenden Krankheit 
dahinsiecht. Ein Maorizauberer, der etwa darauf bedacht ist, jemanden zu 
behexen, wird sich eine Strähne von dessen Haar, ein Stück abgeschnittenen 
Nagels, einen Fetzen von seinem Gewand verschaffen. Wenn er diesen Gegen- 

l43 ) Lorimer Fison und A. W. Howitt, Kamilaroi and Kurnai. Melbourne 1880. 
p. ajoff. 

100 



stand erlangt hat, wird er mit einer Fistelstimme gewisse Beschwörungen und 
Flüche darüber singen und ihn in der Erde begraben. Während das Objekt 
verwest, soll auch der Betreffende, von dem die Sache genommen ist, dahin- 
siechen. Das moderne kriminalistische Pendant ist in vielen tausenden Fällen 
gegeben. Vor etwa zehn Jahren fand man auf einer Landstraße in der Nähe 
von Berlin ein beraubtes Auto. Der Wagen war gegen ein über die Straße 
gespanntes Seil gefahren, das dem Chauffeur den Kopf abgerissen hatte. In 
den Drahtmaschen des Seiles fand sich ein mikroskopisch kleines Teilchen 
einer Wollfaser. Aus der Untersuchung dieses Objektes, der Farbe und Krüm- 
mung der Faser zog man den Schluß, daß es von einem grünen Sweater stammen 
dürfte. Die Kriminalpolizei suchte nun den Mann mit dem grünen Sweater. 
Sie fand einen Verdächtigen, der so bekleidet war. Der Vergleich der Wolle 
ergab die völlige Übereinstimmung des Stoffes und später die Täterschaft des 
Verdächtigten. 

Wir kennen das Prinzip, das die Magie regiert, durch die Untersuchungen 
Freuds" 3 : es ist der Glaube an die „Allmacht der Gedanken". Jedes Bei- 
spiel, das wir hier von einer magischen Handlung anführten, zeigt dieses 
Prinzip in seiner vollen Wirksamkeit. Es wird im Verlaufe der Untersuchung 
gezeigt werden, wie sich dieses Prinzip noch in der so späten Form des 
Indizienbeweises nachweisen läßt. Wenn man den langen Weg von der Magie, 
die man die Technik des Animismus genannt hat" 4 , bis zur modernen Krimi- 
nalistik, die eine der Techniken unseres wissenschaftlichen Zeitalters repräsen- 
tiert, ermißt, wird man über die Zähigkeit und Langlebigkeit alter Glaubens- 
vorstellungen verwundert sein. Hier soll uns der zweite charakteristische Zug, 
den die magische Prozedur mit der Indizienverwertung unserer Kriminalistik 
gemeinsam hat, beschäftigen: das Phänomen der Verschiebung auf ein Klein- 
stes. Die Erscheinung ist gewiß auf beiden Gebieten nicht immer zu beobachten, 
doch ist sie besonders für die späteren Entwicklungsstufen charakteristisch. Die 
besondere Wertschätzung kleiner Anzeichen, sonst unbemerkter Details in 
der Kriminalistik ist in den vielen angeführten Beispielen deutlich geworden. 
Die Verwertung und Deutung gerne übersehener, kleiner Züge, unscheinbarer 
Indizien hat in der Verbrechensaufklärung des letzten Jahrhunderts oft die 
Hauptrolle gespielt. Die magischen Prozeduren, die uns von den primitiven 
Völkern berichtet werden, zeigen denselben Zug, daß sich nämlich der psy- 
chische Akzent langsam auf entfernte, vom ursprünglichen magischen Objekt 
weit abliegende, kleine Gegenstände verschiebt. Im Falle der Aufklärung des 
Mordes haben wir früher einige Beispiele gegeben, die von diesem Verschie- 
bungszwang Zeugnis ablegen. 

Das Verständnis für die beiden charakteristischen Züge des Glaubens an die 



m ) Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Ges. Schriften Bd. VIII, 
und Totem und Tabu. Ges. Schriften Bd. X. 

1M ) Hubert und M a u s s in ,^innee sociologique" VII. Bd. 1904. 



101 






Allmacht der Gedanken und des Verschiebungsprozesses auf ein Kleinstes, wie 
sie in der Magie deutlicher, in der kriminalistischen Technik nur umgeformt 
und entstellt erscheinen, wird am besten durch den Vergleich mit der 
Neurosensymptomatologie gewonnen. Man wird natürlich nicht erwarten dürfen, 
daß die Symptome einer nervösen Krankheit genau dieselben Erscheinungen 
zeigen wie eine Reihe magischer Handlungen oder eine kriminalistische Unter- 
suchung. Es handelt sich nur um Ähnlichkeiten, deren tiefliegende psychische 
Voraussetzungen dem Analytiker klar werden. Man vergleiche etwa den Glau- 
ben an die Allmacht der Gedanken und die Gemeinsamkeit des Verschiebungs- 
mechanismus, die in den bisher angeführten Beispielen deutlich wurden, mit den 
analogen Zügen in dem Symptomen einer Patientin, die mit Zwangsgedanken 
zu kämpfen hat: Sie will einen Rahmen für die Photographie ihres Vaters 
kaufen. Sie kann keinen Rahmen kaufen, denn der erste, den sie sieht, ist 
aus schwarzem Holz. Die Vorstellung des schwarzen Holzstreifens um die 
Photographie hat sie an einen Sarg erinnert. Sie kann diesen Rahmen (später 
überhaupt einen Rahmen) nicht kaufen, sonst würde ihr Vater sterben. Dies 
entspricht völlig dem primitiven Glauben an den magischen Effekt einer Hand- 
lung. Es ist vielmehr den magischen Vermeidungen und Vorsichten an die 
Seite zu stellen, die wir bei vielen primitiven Völkern finden. Ein anderes Bei- 
spiel von derselben Patientin soll uns noch deutlicher die Angst vor der 
eigenen Gedankenallmacht, sowie den Vorgang der Verschiebung auf ein 
Detail zeigen, wie sie die magischen Aktionen antiker und primitiver Zauber- 
pnester aufweisen: Die Patientin will ihrem kleinen Neffen ein Spielzeug 
kaufen und betrachtet in einer Auslage ein kleines schönes Modell, das ein 
Känguruhweibchen darstellt, aus dessen Beutel ein Junges seinen Kopf heraus- 
streckt. Die Dame will das niedliche Modell, das ihr wohlgefällt, schon kaufen, 
da überfällt sie ein schrecklicher Gedanke: Das Känguruhweibchen hat sie an 
die ältere Schwester, die Mutter des zu beschenkenden Neffen, erinnert, die 
gerade wieder vor einer Geburt steht. Das Modell mit dem kleinen Känguruh 
im Beutel des Weibchens hat in ihrer Vorstellung die Möglichkeit eines 
Abortus bei der geliebten und unbewußt beneideten Schwester wachgerufen, eine 
Möglichkeit, gegen deren Erfüllung sich die Kranke wehrt, indem sie sich den 
Kauf des Spielzeuges verbietet. Wie in der Magie" 5 ) wird hier vorausgesetzt, daß 
die Relationen, die zwischen den Vorstellungen bestehen, auch zwischen den 
Dingen selbst vorhanden sein müssen. Auch der Vorgang der Verschiebung 
auf ein Kleinstes ist in diesem Beispiel gut zu studieren. Das neurotische 
Symptom zielt freilich auf die Abwehr des unbewußten Wunsches, die 
Schwester möge eine Fehlgeburt haben: Es läßt ein starkes Sträuben gegen 
jene unbewußt lustbetonte Vorstellung erkennen. 

Die kriminalistischen Aufklärungsarbeiten sind am ehesten mit jenen magi- 
schen Prozeduren zu verglei chen, die einen bösen oder feindlichen Zauber auf 

,4S ) Frazer, The Magic Art. I.. p. 120, 122 u. a. 
I02 



£v 






eine entfernte Person ausüben, eine Person festhalten, hemmen oder schädigen 
sollen. Hier begegnen Verbrecher und Kriminalist einander, indem dieser sich 
dem unbekannten Verbrecher gegenüber derselben Mittel bedient, die man sonst 
als verbrecherische bezeichnen würde. Wir verstehen diese Gleichartigkeit besser, 
wenn wir uns vor Augen halten, daß die angewandten Methoden beider 
Gruppen ursprünglich im Dienste magischer Absichten standen. Bei den 
Primitiven gibt es neben der privaten, später geheimen und verbotenen Magie 
eine öffentliche Zauberei zum Wohle des Ganzen, der Gemeinschaft. Der Kri- 
minalist und der Sachverständige, die an der Verbrechensaufklärung arbeiten, 
sind Nachfolger jener Zauberpriester im Dienste der offiziellen Magie. 

Orakel und Ordal 

Wir sind mißtrauisch gegen jene angeblich zuverlässigen Mittel geworden, 
welche einen verborgenen oder geheimnisvollen Tatbestand genau rekonstruie- 
ren wollen. Viele Jahrhunderte lang gab es keinen Zweifel an der Zuverlässig- 
keit der sonderbarsten Mittel der Wahrheitsforschung. Das Orakel, das Gottes- 
urteil, der Eid bestimmten, welcher der Tatbestand gewesen war. Die Frage, die 
etwa in einem Ordal gestellt wurde, war durch den Ausgang der Probe eindeu- 
tig beantwortet. Gottes Rede war: „ja, ja — nein, nein". Erst später wurde sie 
ausführlicher, aber auch dunkler und unsicherer. 

Die vorausgehende Untersuchung hat gezeigt, daß das Gottesurteil nicht eine 
sehr primitive Form der Wahrheitsforschung sein kann, obwohl es vermut- 
lich durch eine lange Periode kultureller Entwicklung bei allen Völkern 
existierte 116 ), denn der Gefragte war ursprünglich nicht ein Gott, sondern der 
Tote — oder wenn man will — die Toten. Diese Toten, die freilich nicht ganz 
tot waren, wurden nach dem unbekannten Verbrecher gefragt und die Toten 
beantworteten die Frage auf ihre Art. Es war dies sozusagen der Anfang ihrer 
divinatorischen Fähigkeit, denn später bezogen sich die Fragen, die man ihnen 
stellte, auf sehr verschiedene Dinge, auf Unternehmungen des privaten und 
des Stammeslebens, auf Krieg, Jagd usw. Nichts mehr im Wesen der späteren, 
der Religionsorganisation angehörigen Einrichtung des Orakels, etwa jenes von 
Delphi oder von Dodona, weist auf diesen seinen Ursprung hin: Kein toter 
Häuptling mehr ist der Gefragte, sondern ein Gott, Phoebus Apollo, aber viel- 
leicht ist Apollo nur ein später Nachfahr eines zum Gott gewordenen, ver- 
gessenen Häuptlings der Danaer. Wir haben eine Entwicklung verfolgt, die 
ethnologisch und kulturhistorisch nachzuweisen ist und die zeigt, daß zuerst der 
Tote auf die ihm gestellte Frage antwortet, dann entscheiden Teile seines Kör- 

" 8 ) A. E. Crawley in „Encyclopaedia of Religion and Ethics" (VI. Vol. S. J07) macht 
darauf aufmerksam, daß diese Periode annähernd mit Hilfe zweier Tatsachen abgegrenzt 
werden kann: Die kulturell tief stehenden Australneger kennen kein Ordal und die euro- 
päischen Völker haben das Gottesurteil im ausgehenden Mittelalter verlassen. 

103 



pers (Knochenorakel usw.), Objekte, die mit diesem in Berührung waren, und 
auch Dinge, die in einer manchmal für uns nicht mehr aufklärbaren, assoziati- 
ven Verbindung mit ihm standen. "Wenn wir die Reihe solcher primitiver straf- 
rechtlicher Entscheidungen Revue passieren lassen, könnte es scheinen, als ob sie 
einen gemeinsamen Zug aufweisen: das entscheidende Indiz oder die Indizien, 
die in ihnen erscheinen, sind Zeichen am Körper des Toten oder stehen mit 
ihm in Beziehung. Es ist derselbe Willensakt des toten Körpers, der den 
australischen Verwandten antwortet, wer den Dahingeschiedenen verzaubert 
hat, oder der die Bahrträger in Westafrika in die Richtung des Hauses des 
unbekannten Mörders stoßt. 

Diesem Teil der Ordalien aber steht ein ungleich größerer und ausge- 
breiteter Teil gegenüber, in dem die Indizien am oder im Körper der Ver- 
dächtigten erscheinen. Die vergleichende Volkskunde und die Kulturgeschichte 
liefern ein viel reicheres Material von dieser Art der Ordalien. Wählen wir 
einige Beispiele afrikanischer Kraft- und Geschicklichkeitsproben, denen sich 
der eines Verbrechens Beschuldigte unterwerfen muß und die keinerlei Ver- 
bindungen mit dem Toten mehr erkennen lassen. In Badagry setzt man dem 
Angeschuldigten eine große Mütze aus Holz, die mit drei Ecken versehen ist, 
auf. Sieht man, daß die Mütze auf dem Haupte des Verdächtigten zittert, 
wird er verurteilt. Macht sie keine merkbare Bewegung, so wird er freige- 
sprochen 117 . Diesem ganz ähnlich ist das Ordal des Wassertragens bei den 
Banoten: die Inquisiten müssen einen zum Überlaufen mit Wasser gefüllten 
Topf aufheben oder eine ziemlich vollgegossene Kürbisflasche auf den Kopf 
nehmen und getreu die Bewegungen des Uganga, des Zauberpriesters, der 
einen Tanz aufführt, nachahmen. Der Priester entdeckt nun den Schuldigen 
durch die Bewegungen des Wassers, je nachdem es vorwärts, rückwärts oder 
seitwärts verschüttet wird 148 . Das Ordal des Nadelstiches, das an der Zunge oder 
dem Ohrläppchen des Beschuldigten durchgeführt wird, die Augenprobe, bei 
welcher Einträufelungen in dieses Organ über Schuld oder Unschuld ent- 
scheiden, die verschiedenen Giftproben, die Feuer-, Heißwasser- und Heißöl- 
proben, die Kaltwasserordalien, die Kesselprobe usw. reihen sich hier an. Allen 
diesen Ordalien ist gemeinsam, daß die Schuldkriterien am Körper des Be- 
schuldigten gesucht werden: es ergibt sich hier ein auffallender Gegensatz zu 
der früher bezeichneten Gruppe von Indizien. 

Wir erinnern uns zur rechten Zeit, daß unsere moderne Bezeichnung Indizien 
sich auf beide Gruppen von Anzeichen — und noch auf viele andere Gruppen 
— bezieht. So wird z. B. in einem Mordfalle sowohl die Wunde des Toten als 
auch ein verlorenes Taschentuch des Täters als Indiz gewertet. In der vor- 
liegenden Untersuchung, die sich bemühte, die Herkunft des Begriffes der In- 
dizien aus der Sphäre magischer Vorstellungen abzuleiten, sind wir v on den 

•*) A. H. Post, Afrikanische Jurisprudenz. Leipzig 1887. Bd. II, S. 149. 
148 ) E. Peschuel-Loesche, Volkskunde von Loango. Stuttgart 1907, S. 112. 

104 






Anzeichen am Körper des Toten ausgegangen. Das Auftauchen jener zweiten 
Art von Indizien legt uns die Frage nahe, welche Anzeichen Anspruch auf den 
Charakter des Primären erheben dürfen. Wie haben wir uns die historische und 
psychologische Entwicklung der beiden Gruppen vorzustellen? Und welches 
ist die Beziehung zwischen den beiden? Wie kommt es zur Beobachtung und 
Verwertung andersartiger Indizien, die sich diesem Schema nicht einfügen? 
Einige Überlegung ergibt, daß man der Lösung dieser Fragen näherkommen 
könnte, wenn man die beiden Gruppen von Indizien scharf gegeneinander 
kontrastiert und die Herkunft jener zweiten Art untersucht. Es ist ziemlich 
gleichgültig, an welchem Beispiel von Ordal man diese Untersuchung vor- 
nimmt; es soll nur zwei Bedingungen erfüllen. Es müßte von repräsentativer 
Art sein, so daß es dem beschriebenen Totenordal oder -Orakel entspricht, und 
es müßte sich auf die Aufklärung desselben Verbrechens beziehen, d. h. auf 
Mord. Ich wähle als Beispiel, das diesen Anforderungen entspricht, die Probe 
der Giftwirkung im Körper eines Verdächtigten, das Giftordal. Diese Bezeich- 
nung ist freilich falsch gewählt: sie greift einen besonderen Fall aus einer um- 
fassenderen Gruppe von Ordalien heraus und vernachlässigt die anderen Fälle, 
die zur selben Kategorie gehören. Das Wesentliche dieser Art von Proben ist, 
daß der Verdächtigte etwas zu essen oder zu trinken erhält und daß die 
Wirkung dieses Bissens oder Trankes auf seinen Organismus seine Schuld oder 
Unschuld erweisen soll. Man beraubt sich einer bestimmten Chance des Ver- 
ständnisses, wenn man in der Untersuchung diese Art des Ordals auf die 
speziellere der Griftprobe einschränkt. Das vom Verdächtigten verzehrte oder 
eingenommene Objekt muß nicht immer Gift sein; es ist freilich immer von 
besonderer Art, eine Zaubersubstanz, die ihre magische Wirkung hervorbringt. 
Es sei gleich bewiesen, wie sehr jene ungerechtfertigte Einschränkung auf die 
Giftbcispiele geeignet ist, den Blick vom Wesentlichen beim Studium dieser 
Probe abzulenken. Curt Wiedemann, der sich besonders gewissenhaft mit 
den Gottesurteilen afrikanischer Stämme beschäftigt hat, bemerkt" 9 : „Während 
im Mittelalter so ziemlich alle wichtigen Arten von Gottesurteilen in Anwen- 
dung kommen, wird es nicht gelingen, ein Beispiel für die Giftprobe zu finden." 
Dies würde dem Forscher nicht wunderlich erscheinen, wenn er berücksichtigte, 
daß das christliche Mittelalter das Abendmahl als Beweismittel an die Stelle 
des Giftordals gesetzt hat. Das Charakteristische der Giftprobe ist, daß erwartet 
wird, die Substanz, die der Verdächtigte zu sich genommen hat, werde eine 
ganz bestimmte Wirkung auf seinen Organismus ausüben. Gewöhnlich stirbt 
oder erkrankt der Schuldige von dem Mittel, während es der Unschuldige ohne 
Schaden bei sich behält oder erbricht. Nach dem Glauben des Mittelalters 
würde aber der Sündige bei der Abendmahlprobe sterben, während der Un- 
schuldige die Hostie mit ruhigem Gewissen nehmen kann. Es handelt sich 

1<9 ) Die Gottesurteile bei den Bantuvölkem, Sudannegern und Hamiten. W«ida i. Th. 1909. 

105 



zweifellos um dieselbe Art von Ordal, das im Mittelalter eine christliche Ge- 
stalt angenommen hat 160 . Daß hier eine Umformung desselben Ordals vorliegt 
und daß die Giftprobe auch in der Frühzeit der europäischen Völker im Rechts- 
leben bestanden haben muß, beweisen Redensarten wie: „Darauf will ich Gift 
nehmen". Auf ähnliche Ordalien weisen Ausdrücke wie z. B.: „Es soll mir der 
Bissen im Halse stecken bleiben, wenn nicht . . ." Ich schlage vor, für die 
Zwecke unseres Studiums an Stelle der zu speziellen Bezeichnung Giftordal 
nach dem Organ, an dem sich die Prüfung abspielt, den umfassenderen Namen 
„orale Probe" oder „orales Ordal" zu gebrauchen. 



Das orale Ordal 

Aus dem reichen ethnologischen Material geben wir ein paar afrikanische 
Beispiele: In Atakpame stellt man Gift aus der Rinde des Baumes iroko her; 
dieser Baum ist dem Fetisch geheiligt und darf nur von Fetischleuten berührt 
werden. Der zerriebene Giftstoff wird in Wasser oder öl gelöst. Der Fetisch- 
priester reicht dem Verdächtigten diesen Trank: der Ankläger sagt: „Two 
kpo ni, du hast getötet." Der Beschuldigte erwidert: „Kpa (i) wo, töten (tust) 
du (durch deine Anklage)." Erbricht der Angeklagte das Gift, so gilt er als 
unschuldig. Andernfalls erliegt er unter heftiger Atemnot und Krämpfen dem 
Gift und wird an Ort und Stelle verscharrt, nachdem man der Leiche das Herz 
herausgeschnitten hat 151 . Bei den Beronga in Südostafrika werden dem Gift- 
tranke Fett eines lange vorher an Aussatz Verstorbenen, das man konserviert 
hat, und Pulver aus einem verbrannten Knochen desselben Aussätzigen 
beigemengt. Läßt der Angeklagte nach dem Gifttrank bestimmte körperliche 
Symptome erkennen, gilt seine Schuld für erwiesen. Nach der Schilderung von 
C o m p i e g n e ,S2 zieht der Fetischpriester in Jombe eine Furche in den Sand, 

,0 °) Neben dem Abendmahl gehört auch die Brotprobe (Judicium offae) in diese Gruppe; 
der Bissen mußte ungekaut geschluckt werden; bleibt er im Halse stecken, ist die Schuld 
offenbar. Felix Dahn (Studium zur Geschichte der germanischen Gottesurteile. München 1857. 
S. 13) ist der Meinung, das Abendmahl wurde zum Gottesurteil in Anlehnung an das heid- 
nische Ordal des Probebissens umgewandelt. Er verweist auf den Ausdruck communicare, 
der ebenso von dem kommunizierenden Priester als auch von dem Brot und Käse ver- 
schluckenden Angeklagten gebraucht wird. Ein berühmtes geschichtliches Beispiel für die 
unter Provokation augenblicklichen Todes vollzogene Kommunion gibt der Bericht, wonach 
der Papst Gregor VII. in seinem Streite mit Kaiser Heinrich IV. das Abendmahl genommen 
hat, indem er plötzlichen Tod auf sich hcrabbeschworen, wenn er der von der kaiserlichen 
Partei ihm zur Last gelegten Verbrechen schuldig sei. — Zum Ordalcharakter des Abend- 
mahles vgl. den Ausspruch des Radbertus, daß, wer das Fleisch Christi unwürdig esse und 
sein Blut unwürdig trinke, sich selbst das Gericht esse. (Benno H i 1 s e, Das Gottes-Urtcil 
der Abendmahlprobc. Berlin 1867. S. $0.): Der Angeklagte empfing die Hostie, nachdem er 
gesagt hatte: „Si aliter est quam dixi et juravi tunc hoc domini nostri Jesu Christi corpus non 
pertranseat guttcr meum, sed haereat in faueibus meis, strangulet me sufjocet me ac interficat 
me statim in momento". (F. Dahn, Bausteine. Berlin 1879. II. S. 16.) 
151 ) Müller im Globus. Bd. 81. S. 280. 

1M ) De Compiegne, L'Afrique equatoriale. Paris 187$. S. 309, 320. 

106 



etwa zehn Schritte vor dem Verdächtigten, dem er die mit dem Gifttrank 
gefüllte Schale reicht. Dieser muß sie auf einen Zug leeren und auf ein Zeichen 
des Fetischpriesters vorwärtsschreiten. Fällt er unter Krämpfen zu Boden, 
bevor er die gezogene Furche erreicht hat, so ist seine Schuld erwiesen. Sein 
Todeskampf wird durch die wütende Menge der Zuschauer, die den Mann in 
Stücke hauen, verkürzt. Gelingt es dem Beschuldigten dagegen, die Furche zu 
überschreiten, so gilt er für unschuldig. Bei den meisten afrikanischen Stämmen 
gilt für unschuldig, wer das Gift erbricht, für schuldig dagegen, wer das Gift 
behält oder bei dem es als Laxiermittel wirkt. In Papabella reicht man als 
Ordal einen Aufguß der Kaska-Rinde. Wer das Gift nicht erbricht, wird von 
den Eingeborenen mit plumpen Messern zerhackt und über langsamem Feuer 
gekocht. Dieses Ordal nimmt nach J o h n s t o n 1M jeder auf sich, der für einen 
Todesfall verantwortlich gemacht wird. Die Massai trinken eine Mischung 
von Blut und Milch als legales Ordal 15 *. Im alten Griechenland wurde Stier- 
blut im Ordal verwendet"''. Die Israeliten nahmen den Staub des goldenen 
Kalbes in Wasser vermischt ein — eine Art kollektiven Ordals. In ähnlicher 
Weise mußte im alten Indien ein Verdächtigter Wasser trinken, in dem man 
die Bilder der „schrecklichen Götter" gebadet hatte. Während er es trank, 
wandte er sich zu den Göttern und sagte: „Ich habe dies nicht getan 156 ." In 
Madagaskar wurde ein starkes Gift tanghin für das Ordal verwendet 157 . Der 
Angeklagte hatte zuerst ein wenig Reis zu essen, dann legte der Ankläger seine 
Hand auf den Kopf des Verdächtigten und begann seine Beschwörung der 
tangbin mit den Worten: „Höre, höre sorgfältig! Sei aufmerksam! Manamango! 
Du bist nur ein einfacher Samen, ganz rund, ohne Augen und doch siehst du 
klar, ohne Ohren, und du hörst, ohne Mund, und du sprichst. Durch dich 
zeigt Gott seine Wünsche." Über die Opfer des tanghin gibt es natürlich keine 
Schätzung; nach den Angaben des Volkes stirbt jede fünfte Person von denen, 
die es nehmen. Im letzten Jahrhundert wurde etwa ein Zehntel der Bevölke- 
rung von Madagaskar der Probe unterworfen, was dem Tode von 40.000 bis 
50.000 Personen in einer Generation oder 1500 bis 2000 Todesfällen durch 
Ordal in jedem Jahr gleichkommt. Ein französischer Beamter erzählt, daß bei 
den Neyaux an der Elfenbeinküste ähnliche Ordalren die Bevölkerung ver- 
mindern, da jeder einzelne Todesfall den Tod von vier oder fünf Personen 
verursacht. Beim Tode eines Häuptlings gingen fünfzehn Männer und Frauen 
durch Giftordal zugrunde. Die französische Regierung hatte große Schwierig- 
keiten, das Ordal zu unterdrücken, da die Eingeborenen von der Gerechtigkeit 
der Probe vollkommen überzeugt waren und sich ihr im Bewußtsein ihrer 

16S ) J. H. Johns ton, Der Congo. Aus dem Englischen. Leipzig 1884. S. 37$. 
151 ) Encyclopaedia 0} Religion and Ethics. Vol. IX. S $26 ff. 
164 ) Vgl. Frazer, Pausanias. London 1898, IV. S. 175. 

"•) Zitiert nach Encyclopaedia 0} Religion and Ethics. Vol. IX. S. 508. 

"') Encyclopaedia of Religion and Ethics. Vol. IX. S. 526 ff. 

107 



—. r — 



Unschuld gerne unterwarfen 15 *. Von demselben tiefen Glauben an das Gift- 
ordal sind die Eingeborenen von Calabar erfüllt; das läßt sie selbst an das 
Ordal appellieren, um ihre Unschuld zu erweisen. Nach dem Zeugnis des 
Missionärs Rev. Hugh Goldi e lt0 hat sich ein kleiner Stamm Uwet im 
Hügelland von Calabar durch die beständige Anwendung von Ordalien fast 
selbst vernichtet. Bei einer bestimmten Gelegenheit trank der ganze Stamm, 
um seine Unschuld zu beweisen, das Giftordal. 

Was soll das orale Ordal bedeuten? Was soll es z. B. heißen, welchen Sinn 
soll es haben (wofern es überhaupt einen Sinn hat), daß derjenige, der das 
Gift oder die Zaubersubstanz bei sich behält, schuldig erkannt, während der 
andere, der sie erbricht, als unschuldig angesehen wird? Bisher ist keine irgend- 
wie plausible Erklärung für eine solche Annahme der wilden Stämme gegeben 
worden. Die analytische Deutungstechnik lehnt es ab, einen Volksbrauch, eine 
Glaubensvorstellung für unsinnig oder absurd zu halten, weil sie auf den 
ersten Blick so erscheint. Sie sucht hinter der oft unverständlichen äußeren 
Fassade einen verborgenen Sinn, einen bewußt verlorenen, psychologischen Zu- 
sammenhang. Folgen wir solchen Deutungsprinzipien auch in dem vorliegen- 
den Falle, so ergibt sich ein verblüffendes Resultat. Unbeschadet aller anderen 
Bedeutungen des oralen Ordals muß nach analytischen Voraussetzungen das 
Gift oder die Substanz, welche der Beschuldigte zu sich nimmt, ursprünglich 
(und unbewußt noch jetzt) in irgend einer Beziehung zu dem Verbrechen 
stehen, zu dessen Aufklärung das Ordal durchgeführt wurde. Die Art dieser 
Beziehung ist nicht schwer zu erfassen: Im Falle des Mordes z. B. stammt die 
Substanz jenes Giftes oder jener magische Stoff von dem Toten selbst, ist viel- 
leicht ein Stück seines Körpers, ist von seinem Blute oder ersetzt dieses. Wenn 
diese Annahme richtig ist, wären wir zu einer ersten Aufklärung über den 
latenten Sinn der oralen Probe gelangt: sie ist, was immer sie sonst noch sein 
mag, eine Wiederholung des Verbrechens (eventuell an einem Ersatzmaterial) 
zu Inquisitionszwecken. Nun, das ist trotz seinem vorläufigen und unzuläng- 
lichen Charakter ein Ergebnis, das des Überdenkens wert wäre. Verhehlen wir 
uns nicht, daß es auch bedenklich klingt, ja daß es sich als unwahrscheinlich 
und grotesk darstellt. Schieben wir indessen vorläufig unsere Einwände und 
Bedenken zur Seite und akzeptieren wir versuchsweise diese unsere Annahme: 
In der oralen Probe nimmt der Beschuldigte ein Stück vom Leichnam des 
Ermordeten zu sich. Das würde also im Sinne des Ordals bedeuten: das Fleisch 
oder das Blut des Erschlagenen werde sich an dem Täter rächen, ihn schwer 
erkranken oder sterben lassen; wenn er aber unschuldig ist, werde er das Ver- 



1M ) Gouvernement General de I'Afrique Ocädentale Francaise. Noticcs publikes par l e 
Gouvernement General ä l'occasion de l'Exposition Coloniale de Marseille. La Cöte lvoire. 
Corbeil 1901. p. 570 — 572. 

1M ) Calabar and its Mission. Edinbourgh and London. 1901. p. 34 ff. 

108 



^ . 






zehrte ausbrechen wie etwas, an dem er keinen Teil haben will. Nun darf 
sich auch das zurückgedrängte Bedenken wieder melden: Wir sagten, die 
Substanz der oralen Probe muß in einer besonderen Beziehung zu der Tat, zu 
dem Verbrechen stehen, dessen man den Inkulpanten bezichtigt. Dieses Ver- 
brechen aber ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Mord oder Tot- 
schlag. Die orale Probe wird freilich auch in anderen Fällen, z. B. bei Dieb- 
stahl oder Ehebruch durchgeführt, doch ist diese Verwendung eine spätere und 
abgeleitete. Welches könnte nun die besondere Beziehung sein, die wir zwischen 
dem Verbrechen und dem besonderen Akt des Verzehrens eines Stückes des 
Toten vermuteten? Das Verständnis der unbewußt wirkenden Gesetze des 
Seelenlebens führt zu einer psychologisch unentrinnbaren Folgerung, die allein 
dem archaischen Jus talionis entspricht. Wenn der Schuldige in diesem oralen 
Ordal nach dem Essen eines Stückes des Leichnams stirbt, so bestand sein Ver- 
brechen im Verzehren dieser selben Person. Diese Folgerung verliert ihren für 
uns befremdenden Charakter, wenn wir bedenken, daß für eine niedrige 
Kulturstufe Ermorden und Fressen eines Menschen dasselbe bedeutet, daß der 
Mörder sein Opfer auch auffraß. Unsere Folgerung lautet demnach: Das orale 
Ordal bezog sich ursprünglich auf den Kannibalismus. 

Dieser Ursprung des oralen Ordals ist mit der steigenden säkularen Ver- 
drängung kannibaler Tendenzen dem Bewußtsein verloren gegangen, aber der 
Effekt weist noch in den späten Entwicklungsphasen dieser Probe auf das 
primäre Motiv zurück. Hinter dem magischen Zusammenhang, der allein dem 
Ich zugänglich ist, wird noch der psychologisch wirksame erkennbar, da die 
zu büßende Tat in den späteren Formen der Probe an einem anderen Material 
.wiederholt wird. Hier ist die Stelle, wo wir unsere Hypothese noch weiter 
zurück in eine prähistorische Zeit fortführen können. Das will heißen, daß 
die Form des oralen Ordals, die wir jetzt bei halbwilden Völkern antreffen, 
eine späte und abgeschwächte Fortentwicklung einer ursprünglich viel krasse- 
ren" Probe ist, die durch die Macht der säkularen Verdrängung verschwunden 
ist. Ursprünglich mußte der Beschuldigte wirklich ein Stück von dem Leichnam 
einer ermordeten Person fressen oder von ihrem Blute trinken. Taucht hier 
nicht wieder der Gedanke an die christliche Eucharistie auf; sollte die mittel- 
alterliche Verwendung des Abendmahles nicht als Ordal eine Rückkehr zu 
einer früheren Form bedeuten? In jenem Glauben, wer als Sündiger den Leib 
des Herrn genießt, müsse sterben, wird die kannibalische Natur der Abend- 
mahlprobe klar erkennbar. 

Ein Einwand läßt sich hier vernehmen. Er wird darauf hinweisen, daß das 
orale Ordal keineswegs auf Mord beschränkt ist und in anderen Fällen eine 
talionsartige Wirkung der von uns vermuteten Art ihren Sinn verlöre. Wählen 
wir der Abwechslung halber ein Beispiel aus dem Südwesten Chinas, vom 
Stamme der Lob, von denen ColborneBaber berichtet, daß das orale 



10«) 



■ 



Ordal bei ihnen häufig angewandt wird 100 : Wenn z. B. ein Gegenstand von 
einigem Wert gestohlen wurde und der Dieb unentdeckt bleibt, werden die 
Leute vom Medizinmann versammelt; jeder Person wird eine Handvoll roher 
Reis serviert. Es folgt eine Zeit feierlichen Kauens. Sein Ergebnis wird ausge- 
spien und ein Blutfleck an dem gekauten Bissen verrät mit absoluter Sicherheit 
den Schuldigen. Man versichert, daß das Zahnfleisch des Schuldigen blute und 
daß ein Geständnis nachfolge. Hier wie in zahlreichen analogen Fällen gibt 
es keinen Toten und der Probeschein steht in keinerlei ersichtlicher Beziehung 
zur Art des Deliktes. Unsere Ableitung bezieht sich auf den angenommenen 
Ursprung der Sitte und wir können nicht sagen, wie sie sich weiter entwickelt 
hat und zu welchen Gestaltungen sie durch später hinzutretende Faktoren be- 
stimmt wurde. Die psychischen Mechanismen der Verschiebung und Verall- 
gemeinerung haben es dahin gebracht, daß der ursprüngliche Zusammenhang 
gelockert wurde. Je seltener das Verbrechen des Kannibalismus unter dem 
Drucke der Verdrängung wirklich begangen wurde, um so leichter konnte die 
Verschiebung der Durchführung der oralen Probe auf die Ermittlung anders- 
artiger Delikte erfolgen. Die kulturellen Veränderungen wurden für diese Ver- 
schiebungen auch in anderer Art bestimmend: Nun erscheint das orale Ordal 
auch dort, wo kein kannibalisches Verbrechen, kein Mord und Totschlag in 
Frage kommt, doch ein Delikt, das jenen an Schwere nahekommt. Der ur- 
sprüngliche Bissen vom Körper des Toten, der Schluck von seinem Blut wird 
nun durch eine andersartige Substanz ersetzt, später nur symbolisch angedeutet. 
Noch immer findet sich freilich, obwohl schwer erkennbar, eine Spur der alten 
Figur des Erschlagenen, schimmert durch die überlagernden Schichten das alte 
Gewebe. Wenn bei den Bukongo dem Verdächtigten die Kaska-Rinde gegeben 
wird, so glaubt man, der Delinquent werde auf diese Weise „den Teufel 
heraufbringen und ihn mit der Galle herauswerfen" 101 . Bei den meisten 
Stämmen Afrikas gilt der Baum, aus dessen Rinde die Substanz der oralen 
Probe bereitet wird, als Fetischbaum. In Angola bezeichnet man das Gift- 
nehmen als nuam kissy, Fetischverschlucken. Es klingt wie ein symbolischer 
Ausdruck der primären Bedeutung der oralen Probe, wenn sich in Loango bei 
schweren Diebstählen folgender Vorgang abspielt: Dem Fetisch, der bei der 
Ermittlung des Schuldigen helfen soll, wird eine Banane oder ein Tropfen der 
Maniokwurzel in den Mund gesteckt. Der Bezichtigte muß denselben mit 
seinem Munde herausnehmen und verzehren. Hat er das fragliche Verbrechen 
begangen, so schwillt ihm der Leib an und der Tod ist die sichere Folge. 
Ergibt dies nicht, nur durch das Medium der Banane verdeckt, das ursprüng- 

IB0 ) A Journey in W. hsu-ch-uan. Royal Geographical Society. Supplementary Paper. 
London i8$6. I. S. 70. 
"») Peschuel-Loesche, Volkskunde von Loango. Scuttgart 1907. S. 434 f. 

110 









■ 



K 



liehe Bild, der Beschuldigte frißt vom Fetisch, verzehrt das Heilige? 162 Daß 
aber der Fetisch ursprünglich den toten Häuptling vertritt, ist nicht zweifelhaft. 
Unsere Untersuchung, die sich freilich nur auf ein repräsentatives Beispiel 
jener zweiten Gruppe von Indizien beziehen konnte, hat uns zu einem uner- 
warteten Resultat geführt. Jener Unterscheidung zwischen der einen Art der 
Indizien, die am Körper des Toten beobachtet werden, und der anderen Art, 
die aus der Beobachtung des Körpers des Verdächtigten gewonnen werden, 
kann keine tiefgreifende Bedeutung zuerkannt werden: Die Analyse des oralen 
Ordals beweist, daß sein Wesen gerade in der Einverleibung eines Stückes des 
Toten durch den (angeblichen) Täter liegt. Die orale Probe darf, sowohl was 
ihre Verbreitung als auch was ihren primitiven Charakter anlangt, als das be- 
deutsamste Beispiel eines Beweises, der sein Objekt am Körper des Beschuldigten 
hat, angesehen werden. Noch immer ist hier ein Stück der mystischen, magisch 
wirkenden Substanz das wichtigste Element des Ordals. Ihre Wirksamkeit im 
Körper des Beschuldigten wies uns ja den Weg zur analytischen Deutung des 
oralen Ordals: Jene Substanz zeigt noch alle charakteristischen Zeichen des 
Lebendigen und Aktiven, auch wenn sie in unseren Augen ein Stück toten 
Fleisches ist oder in den späteren Ersatzbildungen vertritt. Wir vermuten 
nun, daß dieses Element als das magisch ursprüngliche und wirksamste in den 
meisten Ordalien nachzuweisen sein wird, mag es sich um Feuer-, Heißwasser- 
oder Heißölproben handeln. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die spezielle 
Art dieser latenten, unbewußt gewordenen Verknüpfung bei jeder einzelnen 
Gruppe von Ordalien nachzuweisen 103 . Es müßte einem Vertreter der vergleichen- 
den Rechtsgeschichte gelingen, mit Hilfe der analytischen Methode das psycho- 
logisch wie kulturhistorisch gleich interessante Problem der Lösung näher- 
zuführen 104 . Wir sind dahin gelangt, eine der frühen Formen der Verbrechens- 
aufklärung in der Deutung von magischen Indizien, die vom Körper des Toten 
stammen, zu erblicken. Am Körper, durch Berührung mit ihm oder einem Teil 
von ihm wird der Schuldige erkannt, gleichgültig, ob diese Berührung nun in 
der Form der Bahrprobe, des Knochenorakels oder des Giftordals vor sich 
geht. Das Indiz ergibt sich als Erfolg dieser Berührung. Wir haben vermutet, 
daß sich die Indizien zuerst am Körper des Toten zeigten und dann auf den 
des Beschuldigten übertragen wurden. Diese Übertragung geschieht in einer Art, 

1B2 ) Das Erbrechen, d. h. das Herausgeben des Gefressenen ist das Vorbild des Geständ- 
nisses. Es ist sozusagen die primitive Form der Reue. Wer das Gefressene, den verzehrten 
Leichnam „bei sich behält", nicht erbricht, ist schuldig. 

" 3 ) Die Psychoanalyse kann manche bisher unaufgeklärte Formen der Ordalien durch 
den Hinweis auf die Symbolik verstehen. So wird z. B. bei den Lattuka in Afrika eine der 
ehelichen Untreue bezichtigte Frau gezwungen, eine glühende Lanzenspitze anzufassen. 
(Fr. Stuhlmann, Mit Emin Pascha ins Herz von Afrika. Berlin 1894. S. 781.) 

1M ) Im Sinne des antiken und primitiven Denkens wird auch die Divination, durch 
welche etwa der Zauberpriester einen unbekannten Verbrecher ermittelt, durch eine Be- 
rührung ausgelöst. Der Geist des Toten hat von dem Priester Besitz genommen; der 
Zauberer ist von ihm besessen. 

III 






die man am besten mit der Infektion vergleichen kann. Man könnte sich ge- 
trauen, die besondere Art der Infektion entsprechend der Entwicklung der 
Ordalien in ihren einzelnen Gruppen zu unterscheiden. Unser gegenwärtiges 
Interesse an dem Problem ist erschöpft, wenn wir in der Analyse des oralen 
Ordals erkannt haben, daß noch in dieser so weitgehend entstellten Form der 
Tote lebendig genug ist, seinen Mörder zu überführen. 

Noch ein Schritt in das Prähistorische führt über das gewonnene Resultat 
hinaus: er müßte zur Annahme einer Schicht führen, welche das Tabu der 
Toten noch viel wirksamer zeigt. Das Bahrrecht hängt sicherlich mit diesem 
Tabu zusammen. Der Mörder, der den Toten, doch nicht Entseelten berührt, 
erfährt die geheimnisvolle Tabuwirkung. Verbrechensaufklärung und Strafe, 
Beweiserhebung und Strafvollzug fallen hier noch zusammen. Die Berührung 
ermittelt den Schuldigen und sühnt zugleich die Schuld, beides auf magischem 
Wege. 

Keine Sühne ohne Wiederholung der Tat 

In der analytischen Zurückführung des weitverbreiteten Giftordals sind wir 
zu einer Darstellung des prähistorischen, ursprünglichen Ordals gelangt, die 
merkwürdige Züge zeigte. Unsere Rekonstruktion erhielt den Charakter einer 
Reduktion, führte zu einer einzigen, bestimmten Form der später so viel diffe- 
renzierten, vielgestaltigen oralen Probe. Wir fanden, daß das orale Ordal darin 
besteht, daß man den Angeschuldigten sein kannibalisches Verbrechen andeu- 
tungsweise und am Verschiebungsersatz noch einmal begehen läßt. Wie, müssen 
wir uns fragen, im Strafrechtsverfahren, gerade im Laufe einer Aktion, welche 
die Sühnung eines Verbrechens zum Ziele hat, sollte man den Täter dazu ver- 
halten, es noch einmal zu begehen? Mit einer solchen Behauptung wäre ja das 
Paradoxe zur These erhoben, würde das Widersinnige den Rang einer wissen- 
schaftlichen Hypothese erhalten! Andererseits kann man nicht abweisen, daß 
alle Züge des oralen Ordals, soweit sie in unserer Deutung erkennbar 
wurden, den Charakter einer Wiederholung der Tat konstituierten. Die Un- 
wahrscheinlichkeit einer derartigen Annahme gegenüber diesem Anschein will 
uns zu dem Schlüsse drängen, daß unsere Deutung völlig in die Irre gegangen 
ist. Vielleicht wird es zur Beruhigung in solcher Kontroverse beitragen, wenn 
man daran erinnert, daß es ja nicht in erster Linie ein Strafverfahren, sondern 
ein Beweisverfahren ist, in dem das Ordal die entscheidende Rolle spielt. Durch 
das Ordal soll erkannt werden, wer der Schuldige oder vielmehr, ob der An- 
geschuldigte wirklich der Schuldige ist. Wie aber wird dies bewiesen? Indem 
man den Verdächtigten das Verbrechen am Phantom, am Verschiebungsersatz 
noch einmal begehen läßt. Die Phänomenologie der primitiven Strafrechtspflege 
läßt keinen Zweifel zu, daß dies den ursprünglichen Charakter des Ordals 
ausmachte. In der Bahrprobe soll der mutmaßliche Mörder den Toten noch 
einmal berühren (später sich ihm nur nähern), im oralen Ordal der Ver- 

112 



brechcr noch einmal ein Stück Fleisch von dem Ermordeten essen. Freilich 
ist nicht zu leugnen, daß das Ordal zugleich ein Strafverfahren ist, daß es 
mit der Strafe endet wie unser Strafprozeß. Ist dies aber der ursprüngliche 
Zweck des Ordalverfahrens, ist Strafe sein primäres Ziel? Wir zweifeln daran. 
Wieder drängt sich an dieser Stelle eine Erscheinung im individuellen Sym- 
ptomenkomplex der Zwangsneurose zum Vergleich auf. Im klinischen Bild 
dieser Erkrankung spielt eine eigenartige symptomatische Verhaltungsweise 
der Kranken eine Rolle, die Freud nach ihrer unbewußten Tendenz als Un- 
geschehenmachen bezeichnet hat. Diese Bezeichnung ist sicherlich berechtigt, 
doch tritt der Büß- oder Sühnecharakter dieser neurotischen Praktiken eben- 
falls so deutlich hervor, daß es richtig wäre, ihn in der Namengebung zu 
berücksichtigen. Es handelt sich zumeist um kleine unauffällige Aktionen, Hand- 
lungen oder Bewegungen harmlosen Charakters, die manchmal einen unsinnigen 
oder läppischen Eindruck machen. Da werden bestimmte Schritte rund um einen 
Gegenstand gemacht, die rechte Hand wird ausgestreckt, ein Gegenstand be- 
rührt, es wird in den Spiegel gesehen usw. Die Kranken geben an, daß sie einen 
Zwang verspüren, diese Bewegung auszuführen, und daß die Unterdrückung 
dieses Zwanges, das Unterlassen dieser kleinen Aktionen Angst oder zumindest 
lebhaftes Unbehagen auslöst. Die Aussagen der Kranken führen zu der Schluß- 
folgerung, daß die Maßregel den Zweck habe, frühere Handlungen und Be- 
wegungen aufzuheben oder zu sühnen, die Wirksamkeit, die ihnen von den 
Kranken zugeschrieben wird, zu paralysieren. Erst durch Anwendung der ana- 
lytischen Technik wird es möglich, den latenten Sinn dieser Praktiken zu er- 
kennen und die Natur jener zu büßenden oder zu annullierenden Handlungen 
zu erschließen. Ich gebe ein Beispiel aus der Beobachtung eines zwangskranken 
Mädchens: Die Patientin ist genötigt, nahezu hundertmal im Tage zum Wasser- 
hahn zu gehen und sich zu überzeugen, daß er geschlossen ist, so daß er nicht 
tropfen kann. Über den Sinn ihres Tuns weiß sie fast nichts anzugeben. Er 
wird im Verlaufe der Analyse klar, als es mir gelingt, ihr groteskes Verhalten 
mit ihrem Sexualleben in gedankliche Verbindung zu setzen. Jene so oft 
wiederholte Handlung stellt den symbolischen Ersatz einer anderen Vorsicht 
dar, die sich ihr im Liebesspiel mit ihrem Bräutigam notwendig erwiesen hat 
und die sie davor schützen soll, noch vor der Ehe schwanger zu werden. Der 
Verschiebungsmechanismus hat den Sinn soweit entstellt, daß er ihrem Be- 
wußtsein entzogen blieb. In der ersten Zeit der Analyse erfuhr das Symptom 
die übliche passagere Steigerung und Verschlimmerung, bevor es völlig auf- 
geklärt wurde und verschwand. In dieser Zeit macht es neben der Intensivie- 
rung noch eine deutliche Veränderung durch. Es war zuerst als Schutzmaß- 
regel, als Vorsicht- oder Abwehrsymptom aufgetreten: der Wasserhahn mußte 
abgesperrt sein, kein Tropfen sollte herausfließen. Vielleicht darf man sagen, 
diese Vorsicht am Verschiebungsersatz sei etwas spät zutage getreten, aber dies 
ist eben der Charakter derartiger neurotischer Symptome, welche früher 

R. c i k : Der unbekannte Mörder S 1 1 3 












Geschehenes auf magische Art ungeschehen machen. Im Abwehrkampf wurde 
nun die Sorgfalt, sich zu überzeugen, so sehr gesteigert und geschärft, daß das 
Mädchen den fest geschlossenen Wasserhahn immer wieder öffnete, um sich 
zu vergewissern, daß er versperrt sei. Die unterdrückte Triebregung hatte sich 
innerhalb der Abwehr immer entschiedeneren Ausdruck verschafft, bis er 
schließlich die Abwehrkräfte in den Hintergrund drängte und im Verschie- 
bungsersatz siegreich blieb. Der Charakter des Ungeschehenmachens tritt in 
der Verschiebung zuerst klar hervor, das Symptom setzt als Reaktion auf das 
Geschehene, auf die sexuellen Spiele ein. Das Abwehrsymptom enthält freilich 
schon das Abgewehrte, enthüllt sich immer mehr als Mischprodukt und Kom- 
promißausdruck zwischen abgewehrten und abwehrenden Regungen, um in der 
Endphase unter der Maske besonders gesteigerter Triebunterdrückung den ver- 
pönten Impulsen Befriedigung zu geben. Diese Entwicklung der Zwangs- 
symptome darf einen bestimmten typischen Charakter beanspruchen: sie be- 
ginnen im Zeichen starker Triebabwehr und enden, während sie diese anschei- 
nend steigern, mit dem Triebsieg, mit der umgeformten Wiederholung der ver- 
botenen Tat. 

Auch das Ordal scheint eine Entwicklung durchgemacht zu haben, welche 
in der Genese und Veränderung jener zwangsneurotischen Phänomene ihre 
psychologische Analogie findet. Sicherlich ist das Ordal ursprünglich eher eine 
Sühnemaßregel als eine Strafe — die Strafe gehört einer fortgeschritteneren 
oder vielmehr einer späteren Zeit an — es hat sich vermutlich aus den Reini- 
gungs- und Sühnezeremonien entwickelt, die wir bei den primitiven Völkern 
vorfinden, wenn ein Tabu des Stammes verletzt wird. Als Sühne für ein Ver- 
brechen hat es begonnen; es müssen sich in ihm die im Verbrechen wirksamen 
Triebregungen immer mehr Ausdruck verschafft haben, bis die Durchführung 
des Ordals zu einer entstellten Wiederholung des Verbrechens am Verschie- 
bungsersatz (analog dem dargestellten Fall von Zwangsneurose am Wasser- 
hahn) wurde. Unsere frühere Annahme muß dahin korrigiert werden, daß das 
orale Ordal keine sehr primitive Erscheinung sein kann. Gerade die Wieder- 
kehr des Verdrängten aus der Mitte des Verdrängenden beweist, daß es sich 
um eine späte Gestaltung handelt, da die primären Züge weitgehend entstellt 
und verallgemeinert wieder auftauchen und die alten Triebregungen in ver- 
änderter undurchsichtiger Maske Befriedigung erhalten. Von dieser Stufe der 
Ordalien aus gab es keine Weiterentwicklung dieser Rechtsinstitution mehr. 
Andere Institutionen werden nun den alten Konflikt zwischen Abwehr und 
Durchbruch verpönter Triebregungen in neuen Gestaltungen fortsetzen. 

Das orale Ordal als von der Gemeinschaft befohlene Wiederholung einer 
verbrecherischen Tat am Verschiebungsersatz erinnert in vielen wesenhaften 
Zügen an eine grundlegende Einrichtung der primitiven Religion: an die feier- 
liche Tötung und Verzehrung des Totemtieres durch den Stamm. Auch wenn 
man die einschneidenden Differenzen zwischen den zwei Phönomenen berück- 

114 



sichtigt, könnte man dem Totemmahl den Charakter eines kollektiven Ordals 
zuschreiben. Das kollektive Moment scheint freilich eines der entscheidenden 
Unterschiede darzustellen, doch kennen wir zahlreiche Beispiele aus der Welt 
der Primitiven, in denen sich ganze Stämme oder Dörfer einem Ordal unter- 
warfen. Immerhin werden wir hier auf einen Unterschied aufmerksam: Im 
Totemmahl machen sich alle des Verbrechens wieder schuldig; durch die 
Sanktion der Gesellschaft geht aber der Charakter des Verbrechens verloren, 
wird das Verbrechen zur Pflicht. Nicht nur der Krieg ist ein von der Gemein- 
schaft gebilligtes, ja gefordertes Verbrechen. Das gemeinsame Töten und Ver- 
zehren eines Totemtieres hatte vermutlich für unsere Urahnen dieselbe Gefühls- 
betonung, wie für uns die staatliche Aufforderung zum Massenmord, die in 
der Kriegserklärung enthalten ist. Indem alle vom Fleisch und Blut des sonst 
verbotenen Totemtieres genießen, haben sie die alte verbrecherische Tat wieder- 
holt, die Erinnerung an sie erneuert und die in ihr zum Durchbruch gekom- 
menen Triebregungen noch einmal befriedigt. Diese Befriedigung unter der 
Sanktion der Gemeinschaft ist doch von der ursprünglichen wesentlich unter- 
schieden. Sie soll die Tischgenossen vereinigen in der Gemeinschaft mit dem 
Totemtier und untereinander und soll gleichzeitig eine Garantie für die son- 
stige Abstinenz geben. Das Kollektivordal des Totemmahles, wenn man es so 
nennen mag, zeigt als Urbild der oralen Probe bereits alle jene uns nun be- 
kannten Kompromißzüge, aber es ist unstreitig eine geheiligte Wiederholung 
einer sonst verbotenen Tat. Noch in der christlichen Eucharistie tritt dieses 
Kennzeichen hervor. 

Hat unser Blick den Jahrtausende langen Weg vom Giftordal des Mittel- 
alters bis zum Totemmahl prähistorischer Tage zurückverfolgt, so wendet 
er sich nun der Entwicklung des Ordals zu bis zu jener späten Zeit, da es 
anderen Institutionen wich. Ein wesentliches Stück des latenten Sinnes des 
Ordals, nämlich das der Wiederholung der Tat zu ihrer Aufklärung und Buße, 
wird noch in den spätesten und differenzierten Gestaltungen, welche das Ordal 
ersetzen, erkennbar. Diese Wiederholung wird gewiß nicht mehr denselben 
dramatischen und plastischen Ausdruck erlangen wie in der Zeit des Ordals. 
Die fortschreitende Entstellung der ursprünglichen Bedeutung wird sich auch 
in einer abstrakteren Form geltend machen. Mag sich auch die Gestalt des 
Ordals ändern, mag es in einer Welt veränderter kultureller Anschauungen 
auch im Strafprozeß eine völlige Wandlung erfahren, es wird doch nur lang- 
sam an Bedeutung verlieren. Es ist noch nicht verschwunden, ein Überbleibsel, 
ein survival des Ordals ragt fast unverändert in eben jenen modernen Straf- 
rechtsprozeß und beweist täglich, welche Macht es in seiner magischen Natur 
noch über die Gemüter hat: ich meine den Eid. So wie dieser das Wort an die 
Stelle der ursprünglichen Aktion setzt und sie nur in einer begleitenden Hand- 
bewegung an die Peripherie der Bedeutung drängt, so muß sich jene ursprüng- 
lich dramatische Wiederholung des Verbrechens am Verschiebungsersatz jetzt 

8» iij 



des Wortes bedienen, um einen ziemlich bescheidenen, kulturgemäßen Ausdruck 
zu erlangen. Die Verhöre, die Beweiserhebungen, die Erzählungen des An- 
geklagten, die Berichte des Sachverständigen, die Plaidoyers — das sind alles 
fragmentarische Beiträge zur Erfüllung jener Aufgabe, der Wiederholung des 
Verbrechens im Wort. Diese Wiederholung hat durch die Einflüsse der kultu- 
rellen Veränderungen teilweise ihre Funktion verändert, wurde zu einer Forde- 
rung des Beweisverfahrens, ist allmählich komplizierter, schwieriger, anspruchs- 
voll und zeitraubend geworden, daher ihre Verteilung auf mehrere Akteure; ihr 
Hauptanteil aber fällt noch immer dem Angeklagten zu. Es ist gewissermaßen 
der Held in der Tragödie, die da gespielt wird, und es ist nur diese tragende 
Rolle, die uns gegenwärtig interessiert. Im Sinne meiner vorangegangenen Aus- 
führungen soll der Angeklagte sein Verbrechen ungeschehen machen. Er kann 
dies aber, paradox ausgedrückt, nur tun, indem er es wiederholt: indem er gleich- 
sam zeigt, wie e s dazu gekommen ist, und wie e r dazu gekommen ist. Man 
versteht die psychische Wirkung des Geständnisses besser und tiefer, wenn 
man sich vergegenwärtigt, daß es eine Wiederholung des Verbrechens in seiner 
abgeblaßtesten Form, in Worten, darstellt. Mit dieser Wiederholung aber ist 
eine Art Ungeschehenmachen in magischem Sinn erfolgt. Der Versuch des Un- 
geschehenmachens durch das Wort und die Geste ist freilich, wenn sich nicht 
eine starke affektive Reaktion einstellt, unzureichend. Er bleibt doch ein Ver- 
such der psychischen Bewältigung der Tat. Eine solche seelische Wirkung der \ 
Tatwiederholung mag zuerst sonderbar erscheinen; sie wird vielleicht verständ- 
licher, indem man die Sachlage beschreibt, wenn eine derartige Wiederholung 
der Tat im magischen Sinn nicht erfolgt. Da diese Wiederholung im partiellen 
Bewußtwerden der Genese und der Bedeutung des Verbrechens liegt, ist Buße 
oder Reue ohne sie nicht möglich. Ein tiefgehendes Schuldgefühl und damit eine 
wirksame Sühnetendenz ist nur zu erreichen, wenn die triebhafte Befriedigung am 
Verbrechen in ihrer ganzen Tiefe bewußt geworden ist. Solches Bewußtwerden 
aber ist an die Bedingung der Erinnerung und ihrer Übersetzung in Wortvor- 
stellungen sowie an ein affektives Wiedererleben geknüpft: Wir würden sagen, 
sie ist ohne eine bestimmte Art der Wiederholung der triebhaften Befriedigung 
(am Verschiebungsersatz) nicht möglich. Ohne sie bleibt die Tat dem Bewußtsein 
so entzogen, wie etwa Inschriften, die irgendwo tief in ägyptischer Erde seit 
drei Jahrtausenden verborgen ruhen, dem Wissen. Dem Lichte und der Luft ent- 
zogen, werden sich die Hieroglyphentafeln durch die Jahrtausende konservieren. 
Erst ihre Ausgrabung, ihre Begegnung mit dem Licht, setzt sie dem allgemeinen 
Los der Vergänglichkeit aus; ihre Zersetzung endet dann in einer „Staub- 
explosion". In der analytischen Praxis erleben wir die phantasierte Wieder- 
holung dessen, was der Kranke als verbrecherisch oder sündhaft in sich emp- 
funden hat, als Voraussetzung jener seelischen Erschütterung, die zur psychi- 
schen Bewältigung früherer pathogener Erlebnisse führt. Hier wirken also 



116 



inneres Wiedererleben der Tat sowie ihre Besetzung mit "Wortvorstellungen 
zusammen im therapeutischen Erfolg. 

Ohne solches Wiedererleben der Tat und der in ihr enthaltenen Befriedigung 
ist, so meinten wir, ein bewußtes Schuldgefühl des Verbrechers nicht zu 
erreichen. Ein bewußtes Schuldgefühl aber scheint uns eine unerläßliche 
Voraussetzung jeder Sühne. Ohne diese Voraussetzung verliert der Begriff 
Sühne oder Strafe jeden Sinn oder sinkt zur Bezeichnung einer rein äußerlichen 
oder mechanischen legalen Maßregel herab. Die Sühne wird in diesem Falle 
nicht erlebt, sondern nur passiert. Es ist so, wie wenn ein Mensch ein undres- 
siertes Tier für sein natürliches Verhalten und seine Folgen mißhandelte; es 
müßte erst aus seiner Dumpfheit erwachen und erkennen, was dieses Verhalten 
bedeutet, sonst wäre die Strafe sinnlos — vorausgesetzt, daß sie sonst einen 

Sinn hat. 

Das Wort: Tat darf den Psychologen nicht irreführen. Der Verbrecher führte 
die Tat aus; häufig aber sollte man eher sagen: das Verbrechen geschah durch 
ihn. Das Zurkenntnisnehmen der Beteiligung des Ichs an dem Verbrechen ist 
nur durch die mit Affekt verbundene Erinnerung, das will aber heißen, durch 
die am Vorstellungsersatz sich abspielende Wiederholung der Tat, zu er- 
langen. Es kommt nicht darauf an, den Täter zur Überzeugung seiner Schuld 
im legalen Sinne („b e k e n n e n sie sich schuldig?"), sondern zum Bewußtsein 
der eigenen psychischen Verantwortung zu bringen („e r k e n n e n Sie sich als 
schuldig?"). Die tief ergehenden Gedanken und Einfälle, die wichtigen und inter- 
essanten Fragestellungen, die sich hier anfügen wollen, müssen wir für eine 
andere Gelegenheit sparen. 

Als bisher letzten Ausläufer der Entwicklung des Ordals stellt sich uns der 
moderne Strafprozeß dar. In seinem Gefüge ergibt sich (freilich für einen 
neuen Zweck, den der Wahrheitsfindung) die Rekonstruktion des Verbrechens, 
die wir am Grunde der Institution des Ordals fanden. Das Ordal brachte die 
Tatwiederholung am realen Verschiebungsersatz; der moderne Strafprozeß 
strebt sie in der Form sprachlicher Mitteilung und logischer Ineinanderfügung 
am Vorstellungsersatz an. Der Indizienbeweis unseres Strafprozesses bildet 
heute vielleicht das wesentlichste Stück einer solchen notwendigen Rekon- 
struktion. 

Als eine Art von Nachtrag sei noch eine Bemerkung früheren Marginalien zur 
Entwicklungsgeschichte des Ordals angefügt. Wenn in einem Gerichtssaale Bei- 
falls- oder Mißfallensäußerungen seitens der Zuhörer laut werden, wird der 
Vorsitzende mit erhobener Stimme die Zuhörer ermahnen. Selten wird er ver- 
fehlen, seinem Tadel hinzuzufügen: „Wir sind hier nicht im Theater!" Solche 
Ermahnung hat gewiß nicht den Sinn, die Zuhörer zu orientieren, sondern den, 
den ernsten Charakter des Strafprozesses gegen unerwünschte Kundgebungen 
7U sichern. Nicht jeder Gerichtsvorsitzende weiß, wie nahe die beiden 
Institutionen, die er in seiner Mahnung so scharf auseinander hält, einander 



"7 



ursprünglich waren. Wir sagten früher, das Ordal sei eine Art dargestellter 
Wiederholung der Tat. Man könnte es, falls unsere Redaktion auf seine ur- 
sprüngliche Gestalt zu Recht besteht, eine Sühneaktion in dramatischer Dar- 
stellung nennen, ein Ungeschehenmachen der Tat, indem man sie in einer 
plastischen Verschiebung noch einmal geschehen läßt. Nun von einer anderen 
Seite betrachtet: Der Inhalt der antiken Tragödie ist nichts anderes als die 
Darstellung eines schweren Verbrechens, der Auflehnung gegen das Gebot der 
Götter, seiner Aufklärung und Sühnung. Diese Kennzeichnung trifft aber nicht 
nur das älteste griechische Drama, welches das Verbrechen des göttlichen Bockes 
darstellt. Sie gilt auch für die Handlung des „Oedipus rex" und für die 
Passionsspiele des Mittelalters, mit denen die dramatische Produktion des 
Christentums einsetzt. Die Wiederholung des Verbrechens innerhalb des gericht- 
lichen Verfahrens in der Ersatzform des Ordals und die in der Darstellung des 
Theaters sind genetisch und formal miteinander verbunden. Was dort ein Ein- 
zelner sühnt, wird hier von der Masse in der Identifizierung, nach der Formel 
des Aristoteles in Furcht und Mitleiden mit einem sie vertretenden Ein- 
zelnen seelisch bewältigt. 

Der Eid und die Folter 

Eine naive Anschauung vom historischen Werden läßt uns annehmen, daß, 
wo immer eine soziale Institution auf eine andere folgt, die erste völlig ver- 
schwindet, da sie der neuen Platz macht, diese dann langsam altert, sich völlig 
„über-lebt" und neuen Einrichtungen weicht. Das ist nur im Gröbsten richtig: 
Die neue Institution ist häufig nur die durch wirtschaftliche und andere 
Faktoren modifizierte alte, aber auch diese selbst lebt in der ursprünglichen 
Form noch Seite an Seite mit der „neuen" Einrichtung lange weiter und taucht 
auch dort, wo sie untergegangen scheint, noch öfter, nur unter neuer Namen- 
gebung wieder auf. Manchmal hat sie nur zeitweise ihrem Abkömmling den 
Weg überlassen, um ihn später selbst in derselben oder einer abweichenden 
Richtung weiterzugehen oder ihn einer anderen ihrer Gestalten zu überlassen. 
Eine gesellschaftliche Institution hat häufig mehrere Erben wie ein Mensch. 

Dieser Sprossungsvorgang ist auch auf dem Gebiete, das uns hier beschäftigt, 
zu beobachten. Einer der Sprößlinge des alten Ordals lebt nun, wie erwähnt, 
schon halb verblüht noch im Strafrechtsverfahren unserer Tage: der Eid. Er 
ist eine späte Differenzierung des Ordals; das Wort spielt in ihm anfänglich 
keine Rolle. Der auf das Schwert geschworene Eid, der Schwur unter dem 
Rasen, der Schwur mit Berührung des Felles eines wilden Tieres und alle jene 
vielen Formen des Eides, welche uns die historische und völkerkundliche For- 
schung kennen gelehrt hat, sind ursprünglich keineswegs symbolische Akte, son- 
dern magische Handlungen. Sie sind wirkliche Ordalien: Man erwartete, daß 
der Meineidige, besser gesagt der falsch Beschwörende durch das Schwert um- 
kommen werde, unter die Erde begraben oder von einem wilden Tiere ver- 

118 



^ 






schlungen werden würde. Die Selbstverfluchung, als die wir den Eid in der 
Antike und bei den halbkultivierten Völkern der Gegenwart antreffen 565 , ist 
selbst schon eine späte und differenzierte Form der anfänglich magischen Pro- 
zedur. Was wir als begleitende Geste, als Ausdrucksmittel oder unterstützende 
Aktion neben dem Worte im Eid erkennen, ist ein Überbleibsel des früher allein 
Wichtigen in der Durchführung des alten Ordals. Ein solches ist der Ureid 
nämlich und seine spätere Form, welche zuerst die einzige war, nämlich die des 
Reinigungseides des Beschuldigten, zeugt noch von dieser seiner Natur. Das 
Beschwören ging dem Schwören voraus. Es lebt und wirkt in 
diesem weiter. Im Ordal sollten die verehrten Toten des Stammes, die Ahnen- 
geister den Schuldigen bestimmen und bestrafen; beim Eid wird ursprünglich 
erwartet, daß die Götter den Meineidigen bestrafen werden. Die völlig abstrakt 
gewordene, zu einem leeren Symbol degradierte, zur legalen Zeremonie herab- 
gesunkene Form des Eides in unserem Strafverfahren ist, so nichtssagend sie 
bei allem Wortreichtum ist, ein entarteter Rest der Magie im Recht. Ihr Fort- 
leben zeigt, welche außerordentliche Zähigkeit und Langlebigkeit den sozialen 

Gebilden eignet. 

Das hier nicht anzuführende historische und ethnologische Material läßt 
erkennen, wie oft in einer entwickelteren Phase der Ordalien der Beschuldigte 
als Probe oder Bestätigung seiner Unschuld das Giftgericht auf sich nimmt. Im 
Eid ist dieses Initialstadium des Ordalvorganges, die Beteuerung oder Beschwö- 
rung sozusagen isoliert, das Übrige des Ordals dagegen auf Andeutungen be- 
schränkt und an die Peripherie gedrängt. Die späten Formen des Eides werden 
nur mehr in kleinen Handlungen und begleitenden Gesten (Handaufheben beim 
Schwur) die Erinnerung an den Ursprung aus dem Ordal festhalten. In den 
Ordalien der Naturvölker erscheint die Beteuerung oder Beschwörung noch 
heute entweder gar nicht oder wird nebensächlich behandelt, das Wesentliche 
ist die Durchführung der Probe selbst. Die Beispiele sprechen dafür, daß die 
Unschuldsversicherung oder Beschwörung eine später hinzugekommene Er- 
scheinung ist. Die Entwicklung vom Ordal zum Eid ist im Wesentlichen durch 
die Wirkung zweier seelischer Mechanismen bestimmt: Ein Stück des ursprüng- 
lichen Vorganges wurde vom Ganzen abgetrennt und trat in den Vordergrund, 
während der Rest mehr und mehr bedeutungslos wurde und schließlich der Ver- 
gessenheit anheimfiel. Es sind dieselben Mechanismen der Isolierung und der 
Verschiebung des psychischen Akzentes, deren Wirkung wir in der Symptoma- 
tologie der Neurosen studieren. 

Ein anderer Sprößling der Entwicklung des Ordals ist die Folter. In den 
Proben halbkultivierter Völker haben wir häufig solche getroffen, die dem 
Beschuldigten arge körperliche Sc hmerzen bereiteten. Es sieht manchmal so aus, 

"») Das bablyonischc Wort für Eid MametH kann auch für Fluch gebraucht werden. 
Ich muß im Sinne der Raumersparung für die folgenden Ausführungen auf die Beibringung 
von belegendem wissenschaftlichen Material leider verzichten. 

II 9 



als wäre ein solches Ordal sozusagen eine Partial strafe, der die eigentliche 
Strafe für den schuldig Erkannten folge. Wenn wir etwa in einem mittel- 
alterlichen Bericht von einem Diebe lesen, der die Probe des glühenden Eisens 
zu bestehen hatte, „das Eisen verbrannte ihm die Hand und der Bischof ließ 
ihn hängen 11 " 1 , so drängt sich die Frage auf, warum der ehrwürdige Vater es 
nach dem Ordal nicht genug sein ließ des grausamen Spiels. Tatsächlich zeigen 
uns die Quellen, daß das Ordal und die Strafe für das Verbrechen häufig zu- 
sammenfielen. Wer sich im Giftordal den Tod trank, hatte seine Strafe dahin. 
Wir nehmen an, daß sich die grausame Tendenz innerhalb des Ordals verstärkt 
haben muß, denn auch hier wurde wie beim späteren Eide ein Stück des Ordal- 
vorganges, nämlich sein Ende isoliert, machte eine Sonderentwicklung durch, die 
schließlich zu einer völligen Selbständigkeit führte. Auch einen anderen Vorgang, 
den wir in der Ausprägung neurotischer Symptome beobachten, nämlich die Neu- 
motivierung und Umgestaltung der Erscheinungen zu einem vom alten verschie- 
denen Ziel kann man in der Entwicklung des Eides und des Ordals studieren. 
Das Ordal war eine Beschwörung gewesen, der Eid wird seines Ordalcharakters 
mehr und mehr entkleidet. Sein Ziel wird, je später umso deutlicher ein an- 
deres: Aus einem magischen Anrufen der Dämonen wird er zu einer feier- 
lichen Bestätigung einer Behauptung (zuerst nur der Behauptung der eigenen 
Unschuld im Reinigungseid). Nur in dem vereinzelten Zug, daß dem Mein- 
eidigen schreckliche Strafen von höheren Mächten drohen, ist noch eine Spur 
der ursprünglichen Natur des Eides erhalten. Das Absinken des religiösen 
Glaubens hat an Stelle der Angst vor solchen überirdischen Mächten die Furcht 
vor staatlichen Strafen gesetzt. 

Namentlich Hans F e h r hat gezeigt, wie oberflächlich und schief die übliche 
Auffassung der mittelalterlichen Institution der Folter noch immer ist. Wie 
mir scheint, hat er Recht mit seiner Meinung, daß die Verbindung zwischen 
Gottesurteil und Folter noch immer eine sehr starke ist, daß die Folter sozu- 
sagen die Erbschaft des Ordals angetreten hat. Ihr ursprünglicher Zweck war 
nach F e h r ein magischer: der Teufel, der den Verbrecher besessen hat, sollte 
ausgetrieben werden. Erst sehr spät wurde die uns geläufige, sicherlich sekun- 
däre Motivierung des Folterns, die Erlangung des Geständnisses, zum Ziel. In 
den mittelalterlichen Zeugnissen erweisen die Vorbereitungen und das sakrale 
Zeremoniell sowie andere Züge der Tortur ihre Abkunft vom alten Ordal. 

Auch der Zeugenbeweis trat keineswegs so spät und ohne Vorbereitung in 
den Strafprozeß, als man nach der Lektüre vieler Kompendien der Rechts- 
geschichte annehmen müßte. Man könnte eher behaupten, er wurde erst spat 
in seiner materiellen Bedeutung erkannt. Auch die Institution der Zeugenaus- 
sage hatte ihre magischen Vorläufer: man erkennt sie in dem Auftreten der 
Eideshelfer im frühgermanischen Strafprozeß wieder. Jene ehrbaren Freunde 
und Nachbarn sollten nicht etwa mit ihrem Eid die Realität, nicht den objek- 
1M ) Hermann Kurz in Germania, ij. Bd. S. 235. ~ 



120 




tiven Tatbestand bestätigen, sondern die Rache der Götter auf sich selbst 
herabbeschwören, wenn der Freund schuldig wäre. Erst allmählich wurde unter 
dem Einflüsse einschneidender kultureller Veränderungen aus solchem magischen 
Brauch die rationale, der Tatbestandsfeststellung geltende Aussage der Zeugen 
unter Eid. Natürlich war diese Aussage schon früher im Strafprozeß aufge- 
taucht, aber erst mußte ihr magischer Charakter zurücktreten, ehe sie in ihrer 
eigentlichen Bedeutung für die Wahrheitsfindung erkannt werden konnte. Noch 
dem Urkundenbeweis haftet für lange ein Rest solcher verborgener magischer 
Natur an. 

Der magische heidnische Charakter dieser gesetzlichen Einrichtungen wird 
auch darin deutlich, daß das Christentum sie ursprünglich ablehnt. Das Ordal 
wurde zuerst von der Kirche verdammt, erst spät assimiliert und nach ihren 
Grundsätzen umgeformt. Ebenso wurde die Folter zuerst von der Kirche nicht 
anerkannt und erst spät ad maiorem Dei gloriam herangezogen. Der Eid war 
ursprünglich ein magisches Mittel, Schuld und Unschuld des Angeklagten fest- 
zustellen. Es war ein Bestandteil des Inquisitionsverfahrens ebenso wie die 
Folter, die ja ein modifiziertes Ordal ist. Beide traten dann in den Dienst des 
Beweisverfahrens und wurden allmählich zu Beweismitteln. Diese Umwandlung 
geht zuerst langsam und unmerklich vor sich, dann immer rascher und deut- 
licher, je schwächer der Glaube an die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit dieser 
Mittel wird, je mehr der Zweifel an ihnen nagt. Es ist so, als ob Eid und 
Folter, da ihre Funktion in der Verbrechensaufklärung erlischt, immer größere 
Bedeutung als Beweismittel erlangen wollten. Das Verhör trat schließlich an 
ihre Stelle 197 . Diese umgekehrte Proportionalität von Glaube und offizieller 
Ausbreitung und Bedeutung trat uns schon in der Entwicklung des Ordals ent- 
gegen. Hier taucht sie wieder auf. Sie wird sich auf dem Gebiete des Indizien- 
beweises wiederholen 169 . 

Vom magischen zum wissenschaftlichen Indizienbeweis 

Wir haben unser entschiedenes Mißtrauen gegen die traditionelle Auf- 
fassung der Rechtsgeschichte, die eine Aufeinanderfolge: Ordal, Eid, Folter, 
moderne Beweiserhebung, insbesondere Indizienbeweis annimmt, ausgesprochen. 
Eine solche Annahme, sagten wir, sei nur im Gröbsten zutreffend; jede tiefere 
Betrachtung der Vorgänge, die das Werden und Vergehen sozialer Institutionen 
bestimmen, muß die Unrichtigkeit einer derartigen äußerlichen Geschichts- 
auffassung erkennen lass en. Jedes Geschlecht und jede Zeit hat, soferne sie 

"') Die amerikanischen Kriminalisten nennen eine bestimmte Art des Verhörs noch immer 
„tbe third degree", der Slang umschreibt das Verhör eines Angeklagten mit „to put him on 
the grill". 

1BS ) Dasselbe Phänomen konnte ich in der Genese und der weiteren Gestaltung einer an- 
deren sozialen Institution studieren und darstellen: Je mehr der Glaube an das Dogma als 
Heilswahrheit schwand, um so schärfer und scharfsinniger wurde es präzisiert, um so größer 
wurde seine offizielle Bedeutung, um so spitzfindiger und auführlicher wurde es bewiesen 
(Reik, Dogma und Zwangsidee, Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1930). 

121 






überhaupt die Verbrechensaufklärung wünschte, den Indizienbeweis gekannt, 
nur die Art und die Deutung der Indizien waren verschieden. Die Rechts- 
historiker sehen freilich keinen Zusammenhang zwischen einem Knochenorakel 
und dem Indizienbeweis auf Grund einer chemischen Analyse 100 , uns ist aber 
eine inhaltliche und psychologische Verbindung zwischen beiden Institutionen 
evident geworden. 

Im Falle der Indizienverwertung beim Mord war eine Entwicklung von der 
einen Form zur anderen nachweisbar. Das Bahrordal ruhte auf der animisti- 
schen Oberzeugung, daß der Tote seinen Mörder anzeige. Wenn nach altem 
germanischem Recht eine des Totschlages verdächtigte Person zum Körper des 
Erschlagenen geführt wurde, so waren die Wunden, die frisch zu bluten be- 
gannen, Indizien wie die in unserem Strafprozeß geltenden. Die Sitte wurde 
später in anderer Form gehandhabt. Wenn der vermutliche Mörder nicht vor 
die Leiche geführt werden konnte, wurde folgendes Verfahren eingeschlagen: 
Die Leiche wurde vor Gericht beschaut, das heißt, die Gerichtsfunktionäre 
überzeugten sich sorgfältig davon, ob die Person wirklich getötet worden war. 
Es wurde dann das Gewand des Ermordeten aufbewahrt, um, wenn der Täter 
gefangen eingebracht wurde, die Stelle des begrabenen Leichnams einzunehmen. 
Wir sind hier schon auf dem Wege zur modernen Indizienverwertung, wenn- 
gleich noch immer im Banne der alten animistischen Auffassung. Ursprünglich 
glaubte man gewiß, die Kleider des Toten hätten dieselbe magische Kraft, die 
man früher seinem Körper zuschrieb. Auch in unserem Untersuchungs- und 
Beweisverfahren werden dem vermutlichen Täter die Kleider des Opfers vorge- 
wiesen, freilich nicht als magisch wirkende Objekte. Der Übergang von der 
einen zur anderen Bedeutung wird am besten durch die Einrichtung des 
„Scheingehens", wie es etwa im alten Bamberger Stadtrecht und anderen 
fränkischen Rechten erscheint, faßbar. Nach G r i m m"° war zur Verurteilung 
eines Verbrechers nötig: „Gichtiger Mund" (Geständnis), „handhafte Tat" (Be- 
tretung bei der Missetat) oder „blickender Schein" (augenfälliger Beweis). Das 
Wort Schein ist vom mittelhochdeutschen schin abgeleitet. Das Scheingehen 
wurde etwa folgendermaßen vollzogen: Man, d. h. meistens der Kläger, löste 
eine von den Händen des Ermordeten ab und legte sie bei versammeltem 
Gericht auf den Tisch, vor den sich der Angeklagte, bis auf die Schamteile 
entkleidet, zu begeben hatte. Er mußte dreimal nach einander knieend unter 
Auflegung seiner Finger auf das „Schein" die Hand des Toten oder das be- 
treffende Objekt berühren und unter Aufhebung desselben seine Unschuld be- 
teuern. War er schuldig, so mußte, so glaubte man, an der Hand ein Zeichen 
geschehen (z. B. Blut „erscheinen"). Erfolgte kein solches Zeichen, so wurde der 
Beschuldigte freigelassen. Schröder und andere Rechtshistoriker fassen den 

18 ') Zumindest bin ich in der mir zugänglichen, rechtshistorischen und rechtsvergleichenden 
Literatur keinem derartigen Hinweis begegnet. 

170 ) Deutsche Rechtsaltcrtümer. Halthaus 172, 1607 u. a. 

122 









„blickenden schin" als eine Art gerichtlichen Augenscheines in unserem mo- 
dernen Sinne auf. Was bedeutete jene Hand des Ermordeten ursprünglich? 
Ist sie mit dem Beweismittel unseres Strafprozesses identisch? Davon kann 
natürlich keine Rede sein. In einer solchen Auffassung spiegelt sich sicherlich 
nicht der Geist jener Zeiten, sondern der Herren Rechtshistoriker eigener Geist. 
Es handelt sich zuerst um ein echtes Totenorakel, worauf sowohl die erwarteten 
Zeichen an der Hand als auch das ganze Zeremoniell hinweisen. Wir erkennen 
hier wie in früher behandelten Prozessen die Wirksamkeit der seelischen Ver- 
schiebung auf einen Teil, der dieselbe magische Kraft besitzt wie das Ganze. 
Der Glaube, daß an der Hand Zeichen erscheinen, ist als solcher schon das 
Produkt einer späteren Phase der animistischen Anschauung. Wenn diese Hand 
aber selbst zum Zeichen wird, zum Beweismittel im modernen straf-prozessualen 
Sinn gehört dies nicht mehr der Gefühls- und Gedankenwelt des Mittelalters 
an; es steht schon an der Schwelle einer neuen Zeit. Nicht mehr die magische 
Kraft, sondern der materielle Charakter der aufgezeigten Spuren wurde nun 
für den Schuldbeweis bestimmend. 

Es muß den Rechtshistorikern überlassen bleiben, den hier erschlossenen 
Weg innerhalb seiner einzelnen Strecken zu verfolgen und darzustellen. Sie 
werden zu zeigen haben, wie der alte Ordalprozeß langsam dem Inquisitions- 
prozeß wich, in der neuen Ordnung aber doch verhüllt weiterlebte, wie all- 
mählich der psychische Akzent auf die Tatsache des Verständnisses verlegt 
wurde und wie nach dem Verbot der Ordalien durch die Kirche (12 15) lang- 
sam eine neue Form des Ordals, die „peinliche Frage", allen Beweiswert erhielt. 

Das Ordal war ein Verfahren, das man einen primitiven Indizienbeweis im 
magischen Sinne nennen könnte. Die sozialen und kulturellen Veränderungen 
ließen den Glauben an die magische Kraft dieser Art von Indizien abschwächen. 
Das neue Reichsrecht, die Constitutio Criminalis Carolina von 1532 kennt 
natürlich bereits Indizien, doch verwendet es sie in einem abweichenden Sinne. 
Diese peinliche Gerichtsordnung bestimmt nämlich, daß eine Verurteilung nie- 
mals auf Grund von Indizien erfolgen dürfe, weil diese nur Vermutungen der 
Schuld, niemals aber Gewißheit schaffen können. Dagegen darf der Ange- 
klagte auf Grund „genügsamer Anzeygung" peinlich gefragt und gefoltert 
werden. Eine Verurteilung durfte nur auf Grund eines Geständnisses („eygen 
bekennen") oder gestützt auf zwei oder drei „glaubhaftige, gute", sogenannte 
klassische Zeugen erfolgen (CCCArt. 22 und 67). Solches Geständnis zu er- 
langen, gab es in den meisten Fällen nur ein Mittel: die Folter. 

Als diese Art der peinlichen Frage dem Rechtsgefühl immer unerträglicher 
wurde, setzte eine Reaktion ein. Unter dem lebhaften Widerspruch der 
Autoritäten, welche den nahen Zusammenbruch jeder Moral und jeder sozialen 
Ordnung prophezeiten, schränkte man die Folter ein und schaltete sie endlich 
aus. Man kehrte zu dem bisher unterdrückten Indizienbeweis zurück; trotzdem 
wirkt das alte Mißtrauen gegen ihn nach. Es äußert sich besonders in der Auf- 

"3 



. 



Stellung fester Regeln, an welche die Gerichte beim Anzeigenbeweis streng ge- 
bunden waren. Die Rechtsautoritäten unterscheiden genau die Arten der Indi- 
zien, geben einen Katalog von solchen, die allein als maßgeblich in Betracht 
kommen können, und schreiben vor, daß eine Verurteilung nur auf Grund einer 
bestimmten Anzahl von Indizien, und zwar von Indizien verschiedener 
Gruppen zulässig sei. Die Kriminal-Gerichtsordnung Josefs II. von 1788, 
aber auch das österreichische Strafgesetzbuch von 1803, S. 213, gebrauchen mit 
Recht den Ausdruck „Beweis aus dem Zusammentreffen der Umstände" für den 
Indizienbeweis. Es gab hier ein förmliches und ausgearbeitetes System: was 
nicht hineinpaßte, gab es sozusagen nicht, wurde nicht als existent anerkannt. 
Es war die scholastische Zeit der Beweisführung, in der nicht so sehr das 
Inhaltliche der Indizien, als ihre dialektische Natur und ihre methodische 
Gruppierung über ihren Beweiswert entschieden. Anscheinend war diese Prä- 
zision und Genauigkeit da, um den Angeklagten zu schützen und um zu ver- 
hüten, daß ein Unschuldiger verurteilt werde. In Wirklichkeit aber war hier 
der Inquisitionsprozeß zu einem Höhepunkt gelangt, da alle Gerichtsfunktionäre 
darin wetteiferten, gerade jene Arten von Indizien zu finden, welche den 
„Inkulpanten" schuldig werden ließen. Mit einer Gewissenhaftigkeit, die nur 
der zwangsneurotischen verglichen werden kann, wird nun auf das sorgfältigste 
untersucht, ob alle Indizien genau den im Beweissystem dargelegten Regeln ent- 
sprechen, aber wunderbar genug, das Material paßt sich den Regeln meist an, 
es erweist sich trotz aller Starrheit der Tatsachen als plastisch und gefügig. Die 
alte Folter ist verschwunden („müßig liegt das Eisen in der Halle"), doch das 
Verhör nach dem neuen Beweisrecht wird eine Art psychischer Folter. Es muß 
diese zum Extrem getriebene Auffassung des Beweisrechtes im Sinne eines 
neurotischen Systems mit dem Gegensatz von bewußten und unbewußten Ab- 
sichten und seiner Tendenz der Isolierung gewesen sein, welche in ihrer Über- 
spitztheit und ihrem abstrakten Charakter zu einer neuen Reform führte. 

Als ein neuer Durchbruch alter Tendenzen entsteht die Strafprozeßordnung 
des 19. Jahrhunderts, mit Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit 
des Verfahrens und dem entschiedenen Charakter des Anklageprozesses. Mit 
der Erneuerung war eine Änderung des Beweisrechtes verbunden. Man er- 
weiterte den Katalog der Indizien und erklärte später sogar die Anführung der 
Anzeigen nur als beispielsweise, „um der richterlichen Reflexion vorzuleuchten". 
Man verzichtete schließlich auf die Forderung, daß die Indizien verschiedenen 
Gruppen angehören müßten. Die letzte Phase der Entwicklung kennt keine 
gesetzlichen Beweisregeln mehr. Der Richter hat nicht mehr nach formalen 
äußeren Kriterien zu entscheiden, sondern allein nach seiner freien Überzeu- 
gung. Sein Urteil wird sich auf die Eindrücke gründen, die das vor seinen 
Augen und Ohren geführte Verfahren auf ihn macht' 71 . Der Richter darf alles, 

in ) „Ober das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner rreien, 
aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung." (§ 261.) 

124 









was ihm auf das Verbrechen und auf die Täterschaft des Angeklagten hin- 
zudeuten scheint, als Indiz heranziehen. Er muß sich selbst schlüssig werden, 
wie er die einzelnen Indizien nach ihrer Beweiskraft einschätzt. Der indirekte 
oder Indizienbeweis ist nun dem direkten Beweis gleichgestellt, er kann auch 
der Verurteilung zu den schwersten Strafen zugrundegelegt werden. 

Der Indizienbeweis hat sein ursprüngliches Anwendungsgebiet mehr und mehr 
erweitert. In der Tat kann ein Schluß, den man aus richtig gewerteten Indizien 
zieht, unter Umständen genau so zwingend sein, wie der Schluß aus direkten 
Zeugenaussagen. Man weiß, wie vielen Einwänden der Indizienbeweis ausgesetzt 
ist. Richter und Staatsanwälte, Strafrechtslehrer und Kriminalisten versichern 
uns, daß er besser ist als sein Ruf. Die Geschichte der zahlreichen Justiz- 
irrtümer, die sich auf Indizienbeweise gründeten, spricht indessen eine ein- 
dringlich mahnende Sprache. 

Die Angriffe gegen den Indizienbeweis richteten sich insbesondere gegen die 
Schlüsse, die aus Zeugenaussagen abgeleitet sind und so oft verhängnisvoll 
werden. Die Psychologie der Aussage hat gezeigt, daß die fehlerhafte Aussage 
nicht eine Ausnahme, sondern die Regel ist. Die neueste Phase der Beweismittel- 
führung ist durch die hohe Schätzung der sachlichen Indizien charakterisiert. 
Wenn man vom Indizienbeweis im engeren Sinne spricht, ist dieser auf sachliche 
Momente aufgebaute Beweis gemeint. Diese Indizien können nicht lügen, nicht 
falsch oder verzerrt aussagen, sich nicht in Widersprüche verwickeln — es sind 
ausgezeichnete, unbestechliche Zeugen. Das Odium, das dem indirekten Beweis 
anhaftete, scheint durch die außerordentliche Bedeutung sachlicher Indizien 
verschwunden. „Ist auch", so sagt einer unserer bekanntesten Kriminalisten 1 ", 
„ist auch bei diesem sachlichen Indizienbeweis ein Irrtum nicht völlig ausge- 
schlossen, so ist bei Verwendung erfahrener Sachverständiger zur Deutung der 
sachlichen Indizien die Möglichkeit eines Irrtums doch so gering wie bei keinem 
anderen Beweis, ausgenommen vielleicht durch ein Geständnis des Verdäch- 
tigen." Nach den Zeugnissen hervorragender Kriminalisten war die Über- 
zeugung, die von diesem Richter ausgesprochen wird, noch vor kurzem fast 
allgemein: „Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß dem sachlichen 
Indizienbeweis die Zukunft gehört . . ." Das klang beruhigend und voll Zuver- 
sicht, wie eine Paraphrase jener Voraussage: „Quidquid latet apparebit; Nil 
inultum remanebit". Unser Zweifel will trotz der Sicherheit solcher Prophe- 
zeiung nicht verstummen. 

Der latente Charakter der Indizien. 

Da die Auskünfte, die wir von der vergleichenden Rechtswissenschaft er- 
halten konnten, so unbefriedigend waren, haben wir es gewagt, rechts- 
historische und rechtsvergleichende Studien auf eigene Faust zu unternehmen. 

"") Albert H e 1 1 w i g, Moderne Kriminalistik. Leipzig 1914. S. 89. 

«5 






Ungenügend vorbereitet und mit unzulänglichen Mitteln durchgeführt, werden 
sie sicherlich alle jene Mängel aufweisen, die laienhaften Versuchen anhaften. 
Immerhin gelangten sie zu einem Forschungsresultat, das trotz oder wegen 
seiner Sonderbarkeit ernsthafte Nachprüfung zu verdienen scheint: Das Ur- 
sprungsgebiet der Indizien ist die Zauberei. Die prähistorischen Indizien waren 
von ähnlicher Art wie die Indizien unserer Kriminalistik, konnten auch wie 
diese zur Verbrechensaufklärung herangezogen werden; sie wurden freilich 
anders gewertet und gedeutet. Der Zusammenhang jener magischen Anzeichen 
mit den modernen Indizien ist trotz allen Kulturdifferenzen unverkennbar. 

Als eine frühe Form solcher magischer Indizien haben wir Zeichen ange- 
sehen, die sich am Körper ermordeter Personen fanden und die von den 
Primitiven in bestimmter Art gedeutet wurden. Von dort ging der Begriff auf 
Zeichen am Verdächtigten oder Schuldigen über, an seinem Körper, seiner 
Waffe, seinem sonstigen Eigentum, aber auch auf die Zeit und den Ort des Ver- 
brechens, kurz auf alles, was mit ihm assoziativ verbunden ist. Wir haben 
keine genaue Vorstellung darüber, wie es zu einer solchen Verschiebung 
kommen konnte; die Tatsache selbst ist indessen nicht zweifelhaft und wir 
müssen, wollen wir sie erklären, unsere Zuflucht zu einer Hypothese nehmen. 
Sie bietet sich dar, wenn wir den durchgängigen starken Glauben an die 
Macht und Wirkung des Tabus in primitiven Kulturen bedenken. Das Ver- 
brechen ist ursprünglich ein Bruch des Tabus; der Verbrecher muß durch die 
Wirkungen seines Verstoßes gegen diese geheimnisvolle Macht erkannt werden. 
Es gibt keine Zeugnisse, welche unmittelbar jene gekennzeichnete Entwicklung 
beweisen, zahlreiche dagegen, welche sie wahrscheinlich machen. Ich führe 
hier ein einziges an, weil es eindringlich genug zeigt, wo der Ursprung der 
späteren Indizien zu suchen ist, und weil es sogar den Weg erkennen läßt, der 
von der magischen Auffassung zur modern-naturwissenschaftlichen führt. Das 
Beispiel zeugt auch für die Wahrscheinlichkeit unserer Hypothese, derzufolge 
die Verschiebung der magischen Anzeichen bzw. Indizien auf den von den 
Tabugesetzen gekennzeichneten Wegen erfolgte. 

Die Kaileute in Deutsch-Neu-Guinea, unter denen der Missionär Ch. Keys- 
ser lange gelebt hat 173 , ziehen sich nach einer erfolgreichen, kriegerischen 
Expedition rasch zurück, um noch vor Anbruch der Nacht heil zu Hause oder 
zumindestens im Schutze eines befreundeten Dorfes zu sein. Ihr Motiv für die 
Eile ist ihre schreckliche Angst, in der Nacht von den Geistern ihrer er- 
schlagenen Feinde eingeholt zu werden. Diese mächtigen Geister verfolgen die 
Spuren ihrer Feinde wie Bluthunde im Dunkeln: Sie wollen sie erreichen, um 
durch die Berührung mit den blutbedeckten Waffen ihrer Mörder den Lebens- 
stoff wiederzugewinnen, den sie verloren haben. Erst bis sie dies erreicht haben, 
können sie Ruhe und F rieden finden. Deshalb werden die siegreichen Mörder 

"") Ch. Key sse r, Aus dem Leben der Kaileute in R. Ncuhauss, Deutsch-Ncu- 
Guinea III. 

126 






besonders darauf achten, ihre Waffen vorläufig nicht in ihr Dorf zurückzu- 
bringen, sondern sie im Busch irgendwo in sicherer Entfernung zu verstecken. 
Dort lassen sie sie für einige Tage, bis man annimmt, daß die getäuschten 
Geister die Jagd aufgegeben haben und traurig und wütend zu ihren ver- 
stümmelten Leichnamen und in die verkohlten Ruinen ihres alten Heimes 
zurückgekehrt sind. Die erste Nacht nach der Rückkehr der Krieger ist immer 
die gefährlichste Zeit. Alle Dorfbewohner sind dann auf der Hut vor den 
Geistern. Wenn aber diese Nacht ruhig vorbeigegangen ist, weicht ihr 
Schrecken nach und nach und sie fürchten sich nur mehr von den überlebenden 
Feinden. 

Der Glaube an die magische Anziehungskraft des vergossenen Blutes, 
das die Geister wiedergewinnen wollen, erweckt eine schreckliche Angst, führt 
zu der überstürzten Flucht und zwingt die siegreichen Krieger, die Mordwaffen 
zu verstecken. Vielleicht dürfen wir eine Vermutung hinzufügen, welche uns 
durch anderes ethnologisches Material nahegelegt wurde. Jenes Verstecken der 
Waffen ist auch bedingt durch die allgemeine Angst der Ansteckung der tot- 
bringenden Kraft, die der blutbefleckten Lanze oder Axt innewohnt. Die Angst, 
die Waffe könnte sich später im Dienste der Talion gegen den Sieger kehren, 
ist hier leicht zu vermuten. Jedenfalls ist es eine Sicherheitsmaßregel, die durch 
den Tabuglauben diktiert wird, wenn die Wilden diese Waffen im Busch ver- 
bergen. Ich glaube, wir haben alle Berechtigung, die Lanze, die Blutflecken 
aufweist, in dem dargelegten Sinne ein magisches Objekt oder ein magisches 
Indizvorbild zu nennen. An die Stelle der alten Angst vor den Geistern der 
Erschlagenen, die ihre Mörder verfolgen, und die ihren Weg durch das an den 
Waffen haftende Blut finden, wird später die Angst vor der Kriminalpolizei 
treten, der die blutbefleckte Waffe ein wichtiges Indiz liefert, ohne daß jene 
primitive Angst verschwunden wäre. Unbewußt wirkt noch im Mörder unserer 
Kulturschicht wie in dem siegreichen australischen Krieger die Angst vor den 
Geistern der Erschlagenen, die von der totbringenden Waffe angezogen werden. 
Die Waffe wird bei den Primitiven versteckt, um die Geister nicht auf die 
Spur der Krieger zu lenken; auch der moderne Mörder wird die verräterische 
Waffe verstecken. Das Motiv hat nur seine Gestalt, nicht sein tiefstes Wesen 
gewechselt. Die Indizien werden aus magisch wirkenden Objekten zu rational 
betrachteten Zeichen. Die Bedeutung, die ihnen eignet, verschiebt sich von der 
Sphäre der psychischen auf die der materiellen Realität. Einst wurden sie vom 
Zauberer untersucht, jetzt vom Gerichtschemiker. 

Der magische Charakter der ursprünglichen Indizien hat eine bestimmte 
psychologische Voraussetzung: die animistische Weltauffassung. Jene in 
unserem Sinne anorganischen, sachlichen Indizien sind nicht nur belebt, sondern 
haben auch einen persönlichen Willen, den sie zum Ausdruck bringen; sie ver- 
raten z. B. den Verbrecher, weil sie ihn der Strafe zuführen wollen. Das Blut 
sickert, wenn der unbekannte Mörder naht; es tut dies, weil es ihn bekannt- 

127 



geben will. Ein vom Verbrecher am Tatort zurückgelassener Zettel gilt uns 
als ein lebloses Stück Papier. Gewiß sprechen wir gelegentlich davon, daß es 
etwas „sagt", etwas verrät, aber das ist nichts als eine poetische Redensart. 
Einmal war es doch mehr als eine Redensart. Wir messen die Fußspur des 
flüchtigen Verbrechers, wir nehmen einen Abguß seiner Zahnabdrücke, wir 
halten die Linien seiner Hand fest, um sie mit anderen zu vergleichen, wir 
lassen den Faden seines Anzuges, den wir fanden, im gerichtschemischen Labo- 
ratorium untersuchen. Indem wir so den unbekannten Täter ermitteln, wird 
der Weg zu seiner Festhaltung und Bestrafung eröffnet. Wir behandeln das 
Indiz, als wäre es ein Stück von jenem Verbrecher, das uns Aufschluß über 
ihn geben kann. Für den Fetischpriester der Primitiven ist es aber wirklich 
ein Stück von ihm und er behandelt es entsprechend dieser Auffassung und 
im Sinne seiner Zauberprinzipien. Er steckt einen Nagel in die Fußspur, um 
den unbekannten Verbrecher festzuhalten, verbrennt ein gefundenes Haar, 
murmelt Verwünschungen über einen Zahn. 

Das Wesentliche für unsere Zwecke ist nicht nur der Nachweis dieser 
Differenz in der Auffassung der Indizien, sondern die Tatsache des Fort- 
lebens und Fortwirkens der animistischen Anschauung innerhalb der natur- 
wissenschaftlich-rationalen. Das will heißen, daß wir unbewußt jene anorga- 
nischen Objekte, die wir als Indizien betrachten, noch immer als belebt und 
mit magischen Kräften ausgestattet glauben. Einer durchaus rationalistischen 
Ansicht, welche Indizien nur nach den Gesetzen der Naturwissenschaft und 
Logik bewertet, steht eine geheime Tendenz gegenüber, die in ihnen selbst- 
tätige Objekte, mit Macht beladen, sieht. Oft treffen beide Absichten auf ver- 
schiedenen Wegen beim gleichen Ziel zusammen, wobei die rational-moderne 
Tendenz manchmal den Spuren ihrer geheimen, magischen Vorgängerin folgt. 
Im Falle des empirischen Indizienbeweises feiert die angewandte Wissenschaft 
manche Triumphe. Es kommt nicht selten vor, daß Richter und Geschworene, 
Staatsanwälte und Sachverständige, ihrer Logik und Vernunft allzu sicher, 
sich von den unsichtbaren Gewalten lenken lassen, welche einmal über 
Schuldig oder Unschuldig entschieden haben. Die Sicherheit der richterlichen 
Entscheidung ist durch den unbewußten animistischen Glauben, welcher der 
rationalistischen Anschauung trotzt, noch immer gefährdet. In manchen Fällen 
würde der Richter einen Fehlspruch eher vermeiden, könnt' er Magie von seinem 
Pfad entfernen. 



Indizienbeweis und Justizirrtum 

Der berühmte Fall des jungen Bäckergesellen, der vor einigen Jahrhunderten 
unschuldig zum Galgen geführt wurde, hatte den venezianischen Senat zu 
einem Beschluß geführt: jedesmal, wenn es sich um eine Anklage auf Tod und 

128 



. 



Leben handelte, erschien ein Abgesandter des Senats vor den Richtern und 
sprach feierlich die Mahnung: „Gedenket des armen Bäckergesellen!" 

Hätte sich eine solche Institution bis in unsere Zeiten erhalten, so müßte der 
Funktionär, der so furchteinflößende Erinnerungen des Gerichtes zu erwecken 
hat, einen ganzen Katalog von Justizirrtümern aufzählen. Noch dieser Ka- 
talog wäre weit von der wirklichen Ziffer schrecklicher Fehlurteile entfernt, da 
eine große Anzahl von ihnen nie bekannt wurde und nie bekannt werden wird. 
Nun könnte man annehmen, die große Zahl der Justizirrtümer früherer Zeit 
sei auf die fehlerhaften Ermittlungsmethoden zurückzuführen und der moderne 
Strafprozeß mache mit seiner sorgfältigen Beweiserhebung Fehlurteile zu 
seltenen Ereignissen. Das reiche Material, das uns die Sammlungen von S e 1 1 o, 
Aisberg, Hellwig, Rittler und anderen bieten, zeigt indessen, wie 
zahlreiche Justizirrtümer gerade auf Grund des Indizienbeweises, auf den 
sich der Strafprozeß unserer Zeit fast ausschließlich gründet, vorkommen 17 *. 

Wenn wir nun als Psychologen daran gehen, das vorliegende Material zur 
Pathologie der richterlichen Urteilsbildung zu untersuchen, so wird niemand 
die Legitimität unseres Unternehmens bestreiten können, solange wir uns auf 
psychologisches Gebiet beschränken. Gewiß könnten wir an zahlreichen Bei- 
spielen bald diesen, bald jenen Zug herausgreifen und zeigen, wieviel er zum 
Zustandekommen eines Justizirrtums beigetragen hat. Es erscheint mir aber 
vorteilhafter, zunächst zu versuchen, an einem einzigen Fall von repräsen- 
tativer Bedeutung die Wirksamkeit seelischer Faktoren in der Genese von 
Fehlurteilen zu zeigen. Ich kenne die Einwände, die sich gegen ein solches 
Verfahren vorbringen lassen, und will die wichtigsten von ihnen sogleich selbst 
erwähnen. Die Darstellung eines solchen Falles kann nicht alle psychologischen 
Möglichkeiten lehren; sie läßt notgedrungen viele psychische Prozesse, die 
wichtig sind, außer Betracht. Dies ist wirklich so, aber es liegt mir auch nur 
daran, einige seelische Momente zu zeigen, die für die Psychogenese des Fehl- 
urteils von besonderer Bedeutung sind. Die anderen Faktoren werden von mir 
nicht behandelt und bleiben anderen Untersuchungen und anderen Forschern 
vorbehalten. Wie auf Bildern mancher Maler fällt ein besonders intensives Licht 
hier nur auf einen Teil des Darzustellenden, während ein anderes Stück des 
seelischen Kräftespiels nur angedeutet erscheint und ein drittes völlig im 
Dunkeln bleibt. Gewiß kann ein einzelner Fall nur Gelegenheit bieten, be- 
stimmte Seiten des Problems zu zeigen; ich werde andere psychologisch wesent- 
liche Seiten darzustellen versuchen, indem ich verschiedene Beispiele von 
falschen Indizienbeweisen in Verkürzung dem einen anreihe. Ich darf gewiß 
nicht hoffen, auf diese Art dem Reichtum an Variationen, den das Material 

"*) Erich S eil o, Die Irrtümer der Strafjustiz. Berlin 191 1. — Albert Hellwig, Justiz- 
irrtümer. Minden 1914. — Theodor Rittler, Der Indizienbeweis und sein Wert. Schwei- 
zerische Zeitschrift für Strafrecht. 43. Jahrg. 1929- v g'- ferner das reicne Material in den 
Schriften von Max Aisberg, Groß u. a. 

R c i k : Der unbekannte Mörder 9 129 



. . 



dS. 






bietet gerecht zu werden, es bleibt aber die einzige Möglichkeit, auf ihn hinzu- 
weisen 175 . Die breite Darstellung des einen Beispiels wird durch die Notwendig- 
keit, an ihm die wesentlichen seelischen Vorgänge, die wir im Auge haben, zu 
studieren, gerechtfertigt. 

Wo finden wir aber einen solchen Fall, der besonders repräsentativ und für 
die psychologische Untersuchung geeignet ist? Wählen wir einen der bekannten 
Kriminalfälle der letzten Vergangenheit, die im Gedächtnis aller Zeitgenossen 
leben, so haben wir gewiß manche Vorteile für uns. Sollen wir den Fall 
Drcyfus, den Mordprozeß Halsmann, den Prozeß Gustav Bauer, der sich an 
den Leichenfund im Lainzer Tiergarten anschloß, wählen, sollen wir den 
Justizmord, der an dem russischen Kriegsgefangenen Jakubowski begangen 
wurde, studieren? Ich meine, wir sollten auf jene leicht bestimmbaren Vorteile 
lieber verzichten, weil die Diskussion dieser Fälle vielleicht die Gefahr mit 
sich bringt, Leidenschaften zu erwecken, welche der objektiven Beurteilung 
abträglich sind, weil nationale oder konfessionelle Momente die vorurteilslose 
Betrachtung stören könnten. Wir wollen keinen sensationellen, sondern einen 
repräsentativen Fall von Justizirrtum studieren. 

Ich glaube, daß das nun darzustellende Beispiel unseren Anforderungen ent- 
spricht. Es ist ein Mordprozeß, der über 40 Jahre zurückliegt, nur auf In- 
dizien aufgebaut war und dessen einzelne Stadien sehr sorgfältig studiert 
wurden. An seinem repräsentativen Charakter als einem eklatanten Justiz- 
irrtum auf Grund eines Indizienbeweises kann schwer gezweifelt werden. Er 
erscheint als solcher in den Sammlungen von Sei lo und Hell wig und 
wurde sowohl von Strafrechtslehrern wie von Richtern und Staatsanwälten 
häufig ausführlich dargestellt und wissenschaftlich untersucht. Von vielen 
Seiten betrachtet und von den Vertretern der Kriminalistik häufig angeführt, 
entbehrt er doch der Kennzeichen des Sensationellen und des Aktuellen, die 
wir als störend ausschließen wollten. Kein Vorurteilsfreier wird sich nach dem 
Studium dieses Falles der Einsicht verschließen, auf wie schwachen Füßen 
menschliche Gerechtigkeit steht. 

Am Morgen des 28. Oktober 1886 wurde in der Nähe des kleinen Markt- 
fleckens Finkbrunnen im südlichen Österreich die Leiche der Magd Juliane Sand- 
bauer gefunden 176 . Sie lag unter dem Vordach einer Scheune, die einem gewissen 
Andreas Ulrich gehörte. Der Kopf wies eine Anzahl furchtbarer Verletzungen 
auf, vor allem war das Knochengerüst des Schädels vollständig zertrümmert. 
Nach der Auffindung der Leiche gab es im ganzen Ort nur eine Stimme, daß 
niemand anderer als der Ledera rbeiter Gregor Adamsberger der Mörder sei. 

"«) „Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle ." 
(Goethe.) . 

»•) Der Bericht über den Fall, den Staatsanwalt Neman tisch in: Gross, Archiv, 
Bd. VI. S. 272 fr., gegeben hat, gibt nur die Vornamen. Die hier hinzugefügten Namen sm d 
erdichtet und nur im Interesse leichterer Darstcllbarkcit angeführt. 

130 









Juliane Sandbauer war mehrere Jahre bei dem Lederer Adamsberger als Magd 
bedienstet gewesen. Gregor Adamsberger, der jungverheiratet war und zwei 
Kinder hatte, hatte mit der um acht Jahre jüngeren Juliane sogleich ein Ver- 
hältnis begonnen, dem im Laufe der ersten vier Jahre ebensoviel Kinder ent- 
sprangen. Obwohl Juliane bald aus den Diensten des Gregor austrat, verkehrte 
sie tagtäglich in seinem Hause. Sowohl der Lederer als seine Geliebte standen 
in schlechtem Leumund. Die Juliane galt als leichtsinnige Person, Gregor war 
als roh, rachsüchtig und gewalttätig bekannt 1 ". Man erzählte sich in dem 
Marktflecken, daß beide zur Nachtzeit Streifzüge auf fremden Feldern unter- 
nahmen. Wiederholt war es zwischen Gregor und Juliane, die immer wieder 
Geldansprüche an ihren früheren Liebhaber stellte, zu heftigen Auftritten ge- 
kommen. Ein Zeuge Hans Berger hatte am Sonntag vor der Tat gesehen, wie 
die Juliane nach einem Streit aus dem Hause des Gregor lief und mit geballten 
Fäusten drohend schrie: „Ich werde euch beim Bezirksgericht anzeigen." Man 
bezog die Drohung auf einen Vorfall, der im Dorfe bekannt war. Am 30. Sep- 
tember 1879 war nämlich ein dem Gregor Adamsberger gehöriges Wirtschafts- 
gebäude abgebrannt. Gregor hatte damals von der Versicherungsgesellschaft 
3000 Gulden Brandentschädigung erhalten. Im Jahre 1882 vertraute die 
Juliane verschiedenen Leuten an, sie habe damals auf Anstiften ihres Dienst- 
herrn Gregor das Feuer gelegt, um ihm die Versicherungssumme zu ver- 
schaffen. Am Nikoloabend 1881 hatte sie in ihrer Wut auf offenem Markt 
dem Gregor zugeschrien: „Du hast mich angestiftet, daß ich dein Wirtschafts- 
gebäude angezündet habe. Für dich habe ich schon mehr als zweihundert 
Gulden gestohlen". Später hatte die Juliane gesagt, sie habe solche Drohungen 
nur im Rausch ausgestoßen und sich an Gregor, der sie mißhandelte, gerächt. 
Es war bekannt, daß Gregor die Frau oft schlug; einige Male hatte er Juliane 
mit Stockschlägen aus seinem Hause getrieben. Ein Nachbar Gregors, Franz 
Pulver, gab später vor Gericht an, die Juliane habe ihm nach Streitigkeiten 
mit Gregor wiederholt gesagt, sie werde ihren früheren Geliebten wegen der 
Brandstiftung anzeigen. Noch in der letztvergangenen Woche habe sie erklärt, 
wenn der Gregor jetzt kein Geld für sie und ihre Kinder hergebe, werde sie 
mit der Anzeige zum Bezirksgericht gehen. Gregor selbst habe wiederholt mit 
Bezug auf die Juliane gedroht: „Ich werde den Teufel erschlagen!" 

Gregor mußte zugeben, daß die Juliane die letzten Stunden vor ihrer Ermor- 
dung in seinem Hause gewesen war. Die Aussage seiner im Orte angesehenen 
Schwiegermutter belastete ihn sehr. Sie berichtete, am Abend des z 7 Oktober 
seien die bei den Kinder Gregor s jmi_die_Zeit_ des Avemanaläutens zu ihr in das 
-) Der Staatsanwalt Dr. August T^em ani t seh, der diesen Strafprozeß im Archiv für 
Krininalanthropologie, Bd. 6, „01, dargestellt hat („Em fataler Indmenbeweis ), sagt, 
Juliane sei im Ort „als Tochter der Venus vulgwaga" verschrien gewesen. Von Gregor be- 
hauptet er dagegen, „der Mann hätte leicht sein Auslangen finden können, wenn er n.cht 
zuviel dem Bacchus und der Venus gefrönt hätte". So mytholog.sch druckten sich die Staats- 
anwälte um die Jahrhundertwende aus, wenn sie Angeklagte zu beurteilen hatten. 

'31 






' 















Zimmer gestürmt mit der Nachricht, sie seien von ihrer Mutter fortgeschickt 
worden, weil der Vater mit der Juliane in Streit geraten sei und sie auf das 
Heftigste auszanke. Es schien, als habe man in der Schwiegermutter Gregors 
geradezu eine Ohrenzeugin gefunden, denn sie gab weiter an: „Ich hörte dann 
bald darauf im Hause des Gregor einen plötzlichen Aufschrei, der mir von der 
Stimme der Juliane herzurühren schien; worauf dann alles still wurde". Es 
fand sich niemand, der die Juliane nach diesem Auftritte lebend gesehen hätte- 
am nächsten Morgen war ihre Leiche auf jenem Felde gefunden worden. 

Man legte dem beschuldigten Gregor diese Tatsachen vor. Er stellte seine 
Täterschaft entschieden in Abrede. Er gab zu, die Juliane habe sich an dem 
fraglichen Abend bei ihm aufgehalten, sei aber, kurz nachdem sie zu ihm ge- 
kommen, wieder gegangen. Sic habe gesagt, sie wolle zu ihrem Geliebten, dem 
Sohne des Bäckermeisters Anton Kunze gehen; seither habe er sie nicht wieder- 
gesehen. Das erste Vernehmungsprotokoll Gregors, das diese Angaben enthielt, 
schloß mit seiner Erklärung, mehr könne er nicht angeben. 

Immerhin fügte er einige Tage darauf vor dem Untersuchungsrichter noch 
einige Einzelheiten hinzu. So erzählte er, die Juliane habe ihm schon früher 
öfter gesagt, daß sie mit dem jungen Bäcker Franz Kunz häufig in der 
Laubhütte seiner Eltern Zusammenkünfte gehabt habe. Dabei habe Franz Kunz 
ihr Speisen und Getränke zugesteckt. Auch an jenem Abende habe sie mit 
dem Franz im Garten von dessen Eltern eine heimliche Verabredung gehabt. Er, 
Gregor, selbst habe ihr vorher einen alten abgetragenen Rock geliehen, da sie 
gesagt habe, es sei ihr kalt. Wirklich hatte man an der Leiche der Juliane einen 
alten Männerrock gefunden, der später als Eigentum des Gregor erkannt wurde. 
Warum aber hatte dieser nicht früher von jenem Rocke gesprochen, warum 
hatte er solange gewartet, bis man das Kleidungsstück als ihm gehörig agnosziert 
hatte? War dieser Umstand schon verdächtig, was sollte man erst von seinen 
Angaben in Bezug auf Franz Kunz denken? Franz war ein schwächlicher halb- 
wüchsiger Bursche von 16 Jahren, der im Orte als bescheiden und sittenrein 
bekannt war. Es war äußerst unwahrscheinlich, daß der unscheinbare Junge mit 
Juliane, einem unschönen, Übel beleumundeten Frauenzimmer, die mehr als 
doppelt so alt war, ein Verhältnis gehabt hatte, von dem niemand in dem kleinen 
Marktflecken auch nur eine Ahnung hatte. Die Angaben Gregors, bei denen er 
nach Art dummer Lügner trotz allen Vorhaltungen hartnäckig blieb, waren 
offenbar erfunden. Was jenen Abend anlangte, wurde dies schon durch die be- 
stimmte Erklärung der Mutter des Franz Kunz erwiesen. Sie gab an, ihr Sohn, 
der im elterlichen Hause als Bäckergehilfe arbeitete, sei am 27. Oktober um 
6 Uhr Abends mit ihr und seinen Geschwistern in den Schlafraum im ersten 
Stock gegangen. Er habe sich sogleich zu Bett gelegt und sei erst um Mitter- 
nacht aufgestanden, um zur Arbeit in die Bäckerei hinunterzugehen. Franz 
Kunz selbst stellte irgendwelche Beziehungen zu Juliane in ruhiger und unbe- 
fangener Art in Abrede; die Geschichte mit dem nächtlichen Rendezvous sei 

132 



. _. 






selbstverständlich" eine Erfindung. Er verwies anch auf d.e ortsbekaunte Tat- 

Sdn Aussage schloß mit den Worten: „Ich habe noch an bemerken daß h.er 
lerne». bLnnt ist, daß Juliane Sandbauer von Gregor Adamsberger ^un- 
menschlich mißhandelt wurde. Ich selbst weiß, daß s,e emmal : «bmmd m 
»sTem Hause gelaufen kam, Kopfverletznnge» ze.gte und befugte, daß ,hr 
Gtooi Adamsberger dieselben beigebracht habe . 

Bei einer spätere» Vernehmung versuchte Gregor den von .hm ausgespro- 
chenen Verdacht gegen den Bäckerjungen Franz noch au verstarken, aber was 
r angab, erwies sich als völlig unwahr und machte ihn noch meh r verdach , g 
Die luli ne habe ihm, so behauptete er, selber erzählt, am a 7 . Oktober habe s.e 
d cJ Tn dreizehnjährigen Sohn Johann einen Zette an den Franz Kunz g. 
slkkt. Auf diesem Zettel habe sie diesen gebeten, Geld für M W zu halt n 
Ke Zeilen habe ihr Junge nun Versehendich dem Brotaus.ragcr Val » » 
Krgauer ausgehändigt. S,e, Juliane, sei dann von Franz Kunz wegen ,hr« 
Undichtigkeit ausgezankt worden. Der Sohn der Juliane erklarte d.ese An- 
STXl-br. Valentin Pirgaucr gab an, daß diese ganze Gesuchte aus 
der Luft gegriffen sei, und setzte hinzu: „Ich glaube übrigens mchts von d,es m 
Verhältnis, weil Franz Kunz „och zu schüchtern und zu ,u»g .st und er» 
I h V rhältnis in einem Orte wie Fi»kbru»»e» gew.ß n.cht u»b=ka»nt 
Itbe» wäre«. Die Funknonäre, welche die U»,ers»ch»„g führte», wäre» 
Tu» mehr denn je überzeugt, der Beschuldigte Gregor habe d.e ganze Erzählung 
:LI„, um ich aus seiner höchst gefährdeten Si.uat.on zu retten, .»dem 

"Das 'SÄ- - der Folgezeit machte eine solche Aunahme noch 
wah che n i her Nachdem er ei»gesehe» hatte, daß seine Verdächtige» de 
Frl Kunz „icht de» gewü»schte» Erfolg hatte», s»ch,e er den Verdacht auf 
eben anderen Nachbarn zu lenke», der angeblich mit der Ermordete» m ta£ 
Ichafc gelebt hatte. Ei»« Haussuchung bei diesem Verdachten verhef volhg 

er8 Die m ^ernein« Oberzeugung, daß Gregor Adamsberger der Mörder ^ 
wurde von jedem Dorfbewohner, der ^^^TÄS- 

SPr ° Che f \ De f r . LOk al TlS n 'daß ZU d, -r dem M cke» Ue 8 e„d, das 
richter durchgeführt wurde, ergab^daa me ^ 

' " 7~ a „,n Vax totuli sei die Äußerung des greisen Franz 

«, Als Beispiel der so laut ^l^übl^ nicht verschließen, daß niemand 

Pürnagl angeführt: „Ich kann m.ch der fes« ^J^« GM 2U entgehen und die 

anderer als Gregor Adamsberger, urn dem ew g 6 ^^ Hand angc , egt hat und 

Mitwisserin seines Geheimnis zu ^"^^ von FLnk brunnen geteilt. Ich wüßte 

Finkbrunnen ein typisches Juristendeutsch sprechen. 












135 


















Gesicht abgewendet, aufgefunden worden war. Der Ort, jene Scheune — öster- 
reichisch „Harpfe" genannt — dem Andreas Ulrich gehörig, lag unmittelbar 
hinter dem Marktflecken auf freiem Felde. Der Körper der Ermordeten wies 
zwölf zum großen Teil schwere Verletzungen auf, die schwersten am Kopf. 
Die Obduktion ergab noch eine andere Tatsache, die von besonderer Bedeu- 
tung war: es wurde festgestellt, daß Juliane schon im 7. Monate der 
Schwangerschaft war. Hatte nicht Franz Kunz bereits auf das Gerücht über 
ihre Schwangerschaft hingewiesen? Wurde hier nicht das eigentliche Motiv des 
Mordes klar erkennbar? Die Gerichtsärzte erklärten in ihrem Gutachten nach 
der Obduktion, die Verletzungen seien mit einer scharfen Hacke zugefügt 
worden. Sie behaupteten ferner, daß der Täter den Mord nach reiflicher Über- 
legung und nicht im Affekt ausgeführt habe. 

Sonderbar mutete die Aussage jenes Besitzers der Scheune Ulrich an, der 
die Leiche gefunden hatte. In der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter 
am 7. November 1886 gab Ulrich an, die Kleider der Juliane seien hinauf- 
gezogen gewesen, als er die Leiche fand. Er sowie ein gewisser Rudolf Maus- 
bacher, der hinzugekommen war, waren deshalb zu der Ansicht gelangt, die 
Juliane sei im oder nach dem Sexualverkehr ermordet worden. Sie hätten die 
Röcke (aus Schicklichkeitsgründcn) dann hinuntergezogen, so daß sie beim 
gerichtlichen Augenschein nicht mehr in dem früheren Zustand gewesen wären. 

Die Staatsanwaltschaft, der verschiedene Punkte im Obduktionsprotokoll 
nicht klar erschienen, beantragte, die Leiche wieder auszugraben. Dem Antrag 
wurde stattgegeben, eine neuerliche Untersuchung durch die Sachverständigen 
angeordnet und am 7. Januar 1887 ein zweites Gutachten erstattet. Dieses kon- 
statierte nun, jene Vermutung des Zeugen Ulrich, die er auf Grund der Lage 
der Kleider Julianens geäußert hatte, könne nach dem objektiven Befund an 
dem fraglichen Tage nicht den Tatsachen entsprechen. Ferner erklärten die 
Sachverständigen mit absoluter Sicherheit, der Mord könne nicht an der 
Fundstelle der Leiche verübt worden sein, da die Kleider trotz den furcht- 
barsten Verletzungen nur geringe Blutspuren aufweisen; am Boden selbst sei 
sehr wenig Blut zu konstatieren. Sic erklärten auch, daß die Schneide einer 
Holzhacke, die man bei dem Lederarbeiter Gregor gefunden hatte, genau in 
eine der Kopfverletzungen der Leiche hineinpasse. Eine halbmondförmige 
Schulterverletzung, so lautete ihr Befund, war offenbar durch ein Messer mit 
gebogener Klinge verursacht — jener Art von Messer, wie es die Lederer zum 
Sohlenschneiden benutzen. 

Das Gutachten schloß die Möglichkeit aus, daß der Fundort der Leiche der 
Tatort war. Es war nun unwahrscheinlich, daß der Mörder den Körper allein 
an den Fundort hätte tragen können. Man kam so zu der Vermutung, daß die 
Juliane im Hause Gregor ermordet worden sei und daß der Beschuldigte 
und seine Frau die Leiche gemeinsam an die Stelle getragen hatten, wo sie 
am nächsten Tag gefunden worden war. Nun erschien auch jene durchtriebene 

i34 









» 






• <- c ;„ neuem Licht: Er selbst hatte dann die Kleider der 
£ÄÄ IT« t —ebene Verdacht nach )ener 

*» * St"] -^UfÄTÄ l"t t ia erschlagen.' Maria 
soglach gefragt: „,Wo habt ihr den J irgendwelche Ver- 

Adamsberger wiederhol ejas J«^~3 Ad amsberger, weichet meine 

S and ich sah, daß et zuerst im Gesicht ganz tot war dies, . ft*. "e 

hatte, mit nachfolgte «» f».** _g* Trich wenn man dem Protokoll 
waschen haben soll", Diese bäuerliche Zeugi^ die s^h w ^ 

glaub, eines so kotrekten Guria^ hW^ ^^ ^ 
oft sie von Gregor in der Hoffnung war ^ ^ 

In solchen Fällen sei Juliane a» fc der Zeu ^ ^ 

Urningen gezeigt und geklagt, da* «T Va g Adamsberger wirklich 

beiden einvernommenen Frauen *£**£ «* #g A l hme , d an 
SJfÄ ÖÄ2Ä 7-he vom Bin, gereinigt habe, 

q uemen Geliebten ^ÄKfSÄÄÄS^ *"- 
brachte, entledigen. Es galt -h es et 8 ^„„^„dels, los- 

Uchen Geheimnisses, der Brands, t ung Adamsberger 

zuwerden. Die Anklage auf -sa^n ££^« ^ führen müssen . Es 
erhoben wurde, hätte eigent ich zu Verum ^ österreichischen 

gab da einige f-male Schwierigkeit^ d«en nahe ^^ ^ 

»35 






' 


















" 






. . .. .. .— ^ 









Gregor meldete zunächst die Nichtigkeitsbeschwerde an, zog sie aber bald 
zurück und trat seine Strafe am 30. Juli 1887 an. Eine schwere Bluttat schien 
so ihre Sühne gefunden zu haben. In keinem der Funktionäre, welche an dem 
Strafprozeß gegen Gregor Adamsberger beteiligt waren, scheint der leiseste 
Zweifel an dessen Schuld aufgetaucht zu sein. Nun schien er sich selbst zu 
seiner Tat zu bekennen, da er die Nichtigkeitsbeschwerde zurückgezogen hatte. 
In einem Falle wie diesem, da alle sachlichen und psychologischen Anzeichen 
unzweideutig und widerspruchslos die Schuld des Angeklagten verkündeten, 
konnte man seines ausdrücklichen Geständnisses entraten. 

Zwei Jahre, nachdem der Mörder in das Zuchthaus gekommen war, trat 
eine entscheidende Wendung ein. Seit dem Frühjahr 1889 hatte der Bäcker- 
meister Georg Halter in Seefeld einen Gesellen, mit dem er sehr zufrieden 
war, denn er war heiteren Gemütes und festen Charakters, mied die weibliche 
Gesellschaft und verbrachte seine freien Stunden mit Laubsägearbeiten und 
Zitherspielen. Es war jener Bursche Franz Kunz, den Gregor Adamsberger 
m so leichtfertiger Art und so leicht durchschaubarer Absicht des Mordes 
bezichtigt hatte. Am 20. Januar 1890 übergab Franz dem Sohne seines Meisters 
zwei Briefe und sagte ihm: „Bestell' die Briefe an ihre Adresse; ich bin seit 
vier Jahren ein unglücklicher Mensch." Er schloß sich in sein Zimmer ein. Der 
Meister, der die Tür sprengte, fand ihn mit aufgeschnittenen Adern. Dem 
herbeigerufenen Arzte gelang es, die Verblutung aufzuhalten. Die beiden Briefe, 
die an den Gerichtshof in Marburg und an die Eltern Franz' gerichtet waren, 
gaben Auskunft über das Motiv des Selbstmordversuches. Sie enthielten ein aus- 
führliches Geständnis des Mordes, den Franz an der Juliane begangen hatte: der 
Verbrecher konnte den Gewissensdruck nicht mehr ertragen. Er wiederholte 
spater sein Geständnis mündlich vor Gericht. Er gab an, er sei von Juliane, die 
im März 1886 Backware bei ihm kaufte, verführt worden, als er allein mit ihr 
im Zimmer gewesen sei. Seither hatten sie sich wiederholt heimlich in der 
Laubhütte des elterlichen Gartens getroffen. Niemand im Orte hatte etwas von 
«iren Beziehungen geahnt, da sie sie sorgfältig geheim hielten. Nach einiger 
Zeit gestand ihm Juliane, daß sie von ihm guter Hoffnung sei und begann, ihn 
mit Drohungen und Erpressungen einzuschüchtern. Er mußte seinen Eltern 
Lebensmittel, Branntwein und Geld entwenden, um sie ihr zuzustecken. Sie 
drohte, daß sie ihm das Kind auf die Stiege des väterlichen Hauses legen 
werde. Zwei Tage vor der Tat habe sie wieder acht Gulden von ihm verlangt, 
die er ihr nicht geben konnte. Das Leben sei ihm unter dem Druck ihrer 
ständigen Erpressungen so unerträglich geworden, daß er beschlossen habe, sich 
um jeden Preis von Juliane zu befreien. 



Verbrechen konnte nach österreichischem Rechte als Verschärfung der Todesstrafe angesehen 
werden, was durch das Gesetz verboten ist. Gregor wurde nicht zum Tode verurteilt, weü 
er mehr als den die Todesstrafe rechtfertigenden Mord begangen hatte. Die Anwendung des 
Gesetzes führt in ihrer strengen Logik gelegentlich zu nützlichen Konsequenzen. 



136 






Er schilderte nun genau den Hergang der Tat. Als Juliane ihn am Nach- 
mittag des 27. Oktober um das Geld gemahnt habe, habe er sie für den späten 
Abend in den väterlichen Garten bestellt. Um 6 Uhr legte er sich in dem 
Zimmer, in dem auch sein jüngerer Bruder Viktor schlief, zu Bett. Gegen 
7 Uhr schlich er unbemerkt aus dem Schlafzimmer über die finstere Treppe in 
den Garten. Er forderte die dort wartende Juliane auf, mit ihm aufs freie Feld 
zu gehen, da er sich dort sicherer fühlte. Heimlich holte er die kurzstielige 
Holzhacke, die er Tags zuvor neben der Hütte versteckt hatte, hervor. Bei der 
Scheune des Andreas Ulrich angelegt, hatte sich Juliane ungeheißen auf einen 
Möhrenhaufen gelegt und zum Sexualverkehr die Röcke hinaufgezogen. „Ohne 
etwas zu sprechen, kniete ich zwischen ihre Füße nieder; sie forderte mich auf, 
schnell zu tun, ich aber suchte mit der rechten Hand, da die Nacht finster war, 
ihren Kopf und führte mit der in der linken Hand gehaltenen Hacke (ich bin 
Linkshänder) einen kräftigen Hieb auf ihren Kopf, wahrscheinlich mit der 
Schneide." Franz schilderte, wie er nach dem Tode der Juliane nach Hause ge- 
eilt sei und am nächsten Tag die zersägte Hacke in den Abort geworfen habe. 
Dort fand man auch, tief in alte Exkrementmassen versenkt, die vollkommen 
verrostete Waffe. 

Im Wiederaufnahmeverfahren wurde Gregor Adamsberger von der Anklage 
des Mordes freigesprochen, Franz Kunz, der zur Zeit der Tat noch nicht zwan- 
zig Jahre gewesen war, zu sieben Jahren schweren Kerkers verurteilt. 

Es ist den Juristen und Kriminalisten nicht schwer geworden, eingehende 
und scharfe Kritik an dem Ermittlungsverfahren und der Urteilsbegründung im 
Prozeß gegen Gregor Adamsberger zu üben. Solche kritische Bemerkungen fin- 
den sich in der bereits zitierten ausführlichen Darstellung des Staatsanwaltes 
Nemanitsch, in der Besprechung des Falles bei S e 1 1 o und H e 1 1 w i g, 
sowie in seiner Diskussion durch Professor H. Gros s 180 und Professor 

Stooß 181 . 

Wir haben keinen Anlaß, diese Erörterungen ausführlich wiederzugeben, 
und beschränken uns darauf, einige wesentliche Punkte aus ihnen hervorzu- 
heben. Nemanitsch betont, daß hier gewiß nicht der Zufall allein sein 
loses Spiel getrieben habe; anderseits könne keinem der rechtfindenden 
Faktoren eine Schuld an dem Fehlspruche zugeschrieben werden. Der Justiz- 
irrtum sei einzig und allein auf das Konto der suggerierenden Macht der Volks- 
stimme zu setzen. Nach Ansicht dieses Staatsanwaltes handelt es sich in diesem 
Falle um einen Justizirrtum, der nicht vermeidbar gewesen wäre, um ein 
tragisches Verhängnis. Auch Stooß macht die öffentliche Meinung für das 
Fehlurteil verantwortlich, allein es ist für ihn zweifellos, daß die Sachver- 



18 °) Gross, „Anmerkungen" (Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. VI, S. 290 ff.), sowie: 
„Ein fataler Indizienbeweis, Gegenbemerkungen zu den Bemerkungen in diesem Falle" (eben- 

dort, Bd. VII, S. 323 ff-)- 
* B1 ) Stooß, „Ein fataler Indizienbeweis" (ebendort, Bd. VII, S. 312 ff.). 



137 












. 



ständigen und Richter von ihr nicht hätten beeinflußt werden dürfen Hi„ 
«uchc also die Frage auf ob es nicht möglich gewesen wäre, sich von d " " 
Massensuggestion freizuha ten. Auch Hans Gross weist mit Nachdrück auf 
d,e suggerierende Kraft der öffentlichen Meinung hin Der AI,™ 7 

Kriminalist* tadelt die Flüchtigkeit der ersten Erhebung* k £TZ t 
Volkstimme verantwortlich macht, nicht ohne sie, die so oft von dt Krim 
nahsten als™, ^/gewürdigt wurde, als „diese »„heilvolle feVra^ '" 
b zeichnen"». Im übrigen benütz, er die Gelegenheit dieses „fatalen „dLen 
beweises", um gegenüber den vielen Gefahren der 7„„„ Indizien- 

gas 5s; «sassöftS* 

g« h eh, 1' V • " ^ ** die Ta,SMhc ' auf dk si < "euten, <* 
gechichtliches Ereignis außer allem Zweifel steht. Wenn der Richter nach an- 

eten M , S " Zen , " rttiIC ' S ° S''"" 8 ' er 2U "V^achtsstrafen"; er spreche 
n m^ß 7 t"' d ' 8 ' "^ " SCh ° ldie * ■»«• ■** ™ - huldig 

F mit d!rlb ,, MS Verha ' Kn ^ RichMr ♦«^ Hä "< ™» *n 

na dr l b ° Mnen V ° nkht Wa ° d£ ". - h«te aller Wahrscheinlichkeit 

nifcen Die M Tb" 1 F*** ^ """» "° d ™""» •»"» 
W5 so e f be fl % T«" E habC diC S - hw -ändige„ und vor allem die 
falt vorn" bl Ä ' tf * ihre Übungen nicht mit derjenigen Sorg- 

auf cZd 7 am u Pla,M geWKe " Wäre - G ^or Adamsberger hätte 

wer a ::dürf c t r „ 8egen i ; hn T" ^"^ ™ a ^ründe niemals verurteil, 
werden dürfen, wenn Untersuchungsrichter und Staatsanwalt, von der öffent- 
hchen Meinung unbeeinflußt, den Sachverhalt objektiv gewü digt hätten Aus 

MÄftatr " ""** fi -S Bei der Prüf^ 



,9: ) Archiv. Bd. VI. S. 290. 

*") Archiv. Bd. VII (1901). S. 327. 

r 3 8 









Zur Psychopathologie der Urteilsbildung 

Wir haben unseren Eindruck nicht verhehlt, daß die Erklärungen der 
kriminalistischen und juristischen Fachleute über die Genese des Fehlspruches, 
den wir als repräsentativ bezeichneten, den Charakter psychologischer Vor- 
läufigkeiten tragen. Wir meinen, daß sie keinen tieferen Einblick in die 
seelischen Vorgänge der Gerichtsfunktionäre geben, daß Begriffe wie Macht 
der Volksstimme, Mangel an moralischer Kraft, der Vorwurf des Außeracht- 
lassens bestimmter Vorsichten uns für den Ausfall psychologischen Verständ- 
nisses in keiner Art entschädigen können. Es war gewiß leicht, einige der 
Faktoren, die am Zustandekommen des Urteils mitwirkten, namhaft zu machen, 
doch wurden dadurch weder die seelischen Motive noch die Mechanismen, 
weder die psychischen Voraussetzungen noch die verborgenen Ziele solcher 
Justizirrtümer freigelegt. Es war auch nicht zu erwarten, daß die entschei- 
denden Vorgänge in der Psychogenese der Urteilsbildung durch die Unter- 
suchung von Kriminalisten und Juristen, die ja Psychologie durchaus im Sinne 
der Laien treiben, aufgeklärt werden könnten. Ihre Auskünfte glichen eher 
Versprechungen als Erklärungen. Es war vergleichsweise so, als wollte man 
den Hunger eines Mannes beschwichtigen, indem man ihm Speisekarten als 
Lektüre gibt. 

Schon der Ausgangspunkt jener psychologischen Untersuchungen von 
Seiten der Kriminalisten ist nicht glücklich gewählt. Es war ihnen selbstver- 
ständlich, den forensischen Akt der Beweiswürdigung und der Urteilsbildung 
als isoliertes Objekt anzusehen und zu studieren. Solche künstliche Isolierung 
versperrt vom Anfang an den Weg zum psychologischen Verständnis jener 
Prozesse. Man gelangt am leichtesten zu ihm, wenn man seelische Vorgänge 
dieser Art mit anderen Phänomenen vergleicht, die von der Forschung besser 
studiert worden sind. Doch wo finden sich solche Phänomene und welche Art 
der Forschung könnte sie nach ihren Zielen und Voraussetzungen verständlich 
machen? 

Die psychoanalytische Forschung bietet uns eine ganze Reihe von seelischen 
Erscheinungen, die in ihrer psychischen Struktur dem Phänomen des Fehl- 
urteils ähnlich sind. Es kann sich vorläufig gewiß nur um Analogien in den 
seelischen Prozessen handeln, wenn wir z. B. das Charakteristische eines 
Indizienbeweises mit der Begründung eines neurotischen Systems vergleichen. 
Welche Gemeinsamkeiten sollten zwischen diesen voneinander so entfernten 
Erscheinungen bestehen? Ich darf versichern, daß sich ein Vergleich zwischen 
ihnen lohnt. 

Wo liegt das Auffällige im Urteil im Strafprozeß Gregor, was sind die 
wesentlichen Züge, welche die Gerichtsfunktionäre dazu verführten, ihr Fehl- 
urteil auszusprechen? Wenn wir die Beweiserhebung und -Würdigung noch 
einmal Revue passieren lassen, müssen wir sagen: Jedes einzelne Indiz schien 

•- 
*39 






auf Gregor Adamsbcrger als den Mörder hinzuweisen und die Verbindung 
-.sehen den emzelncn Ansichten ließ augenscheinlieh keine andere Mogth 
k ,t zu^Das emzclne Element klagte ihn ebenso an wie ihre Vereinigung^ 
kleine Anzechen wie der Totaleindruck aller Indizien'" DI, , J j f' 
der Tatsachen sprach lau, genug gegen ihn und and ' Tlf L ° gik 

ein Zweifel mogheh schien, können e Vel Zi ZZ'T W "' 7" 
Richter und Sachverständigen die Lücken leicTt und I" ber 1^" All' 

Entdeckung weiß we r T r denn ° C V eigK ; ,Ch dem ' der ™> ^ »*«« 
Zusammenhang delle t de ""' 7/* T" ""S'™" ™ d <' *>« 

künstlich berge teil, TrÜe K 7 U " d *J ^ " ltäÄ *»>*■>> -1» 
Standes zur E„ [-J ' U " d VerMm ScWen ' Was d " Kräf » des Vcr- 

grL ü f S "d 7 8SW T ""r hCr a " eS m A ^™™» ""d Bewei S - 

Psy ho nable! H„ V ,T j* f L Uf f ™ dK ^ik. Woran erinnert u„ s 
SltS ^P^odige seelische Erscheinung, Woran diese» 
deuti* zu hl! Em2elh "K". d.e »neu bestimmten Zusammenhang unzwei- 

wSgiLtr^nf e,nen ' während sie *- -*"* «» Cta «■ 

•35. f^&ZS&t In b f ien im BewriWabrc " d « 

die weit absei« lie gt . m " d" Z t TT, ' "" emer Enchemwgsmle, 
Wesens einer Psy honeuro e Hie 7 *""* fc ^""S U " d des 
meister in einer große rc Tp !'" aPPanKS Bcis P W: Ei " ' ü "« crer B "»- 

Der pflichttreu Z W 7 7"' Vc ™ andre ° »»d freunde ängstigte. 

in seinem Bett weinte l'd I "'"„ zu «<"*»■ la 8 dumpf verzweifelt 

— -^^^^^±^^1^11 ^ ungern, wollte niem anden 

e.nz.Inen k„„ krae „ Tauche „"",, ™' h ™<*" .'"' D >< '"« °«*gt, daß au« eine, 
Taoaene gesogen werden ka„n" 7 ! 7" P °"" V " Sehl " ß ""' *• "^ l»«"<™* 
artiger «e i !t . Die zwei« Erf'L™ 7 7 f"''*"'' "» *° eröl! " *** * *«-■ 
die unabhängig «ü'™* £»? » ** »«4 bedeute T.-eL. 
ein« andere, „„eh nie., ÄT^ÄT^"* Wahfeheinüehzei, ,ur 



140 



sehen und erklärte, mit seinem Leben sei es zu Ende. Zu dem Leidenden, der 
mir flüchtig bekannt war, gerufen, fand ich ihn in einer verzweifelten Stim- 
mung; gleich am Anfang unserer Unterredung versicherte er mir, nichts und 
niemand könne ihm helfen, alles sei verloren, seine Existenz vernichtet. Was 
war dem Manne zugestoßen? Er wurde zu den geachtetesten Vertretern seines 
Berufes gezählt, lebte mit seiner Mutter ein behagliches Junggesellenleben, das 
neben der Arbeit genug Raum für die Annehmlichkeiten geselligen Verkehrs 
hatte, und hegte vielerlei, namentlich künstlerische Interessen. Sein Ruf war 
im Ansteigen, neue Aufträge drängten, versprachen Bestätigung seines An- 
sehens und sicherten den Zulauf neuer Kunden. Der Gesundheitszustand des 
etwa 3j jährigen, liebenswürdigen, etwas feminin aussehenden Mannes war aus- 
gezeichnet; auch psychisch war er seinen Freunden vorher nie labil vor- 
gekommen. Die Erklärung, die er mir für seine schwere Verstimmung gab, ließ 
diese freilich verständlich erscheinen. Bei ernsterer Lebensauffassung, wie sie 
der Patient zweifellos hatte, konnte man sich auch nicht über ihre Tiefe wun- 
dern, zumal wenn man den Ehrgeiz des Mannes, seine Besorgtheit um seinen 
Namen und den der Firma, die er allein repräsentierte, kannte. 

Der von ihm dargestellte Sachverhalt war folgender: Einige 
Wochen vorher hatte er im Auftrage eines seiner besten Kunden ein 
großes Miethaus nach langer sorgfältiger Arbeit fertiggestellt. Das stolze Ge- 
bäude sollte demnächst den zahlenden Bewohnern übergeben werden, die 
angesichts der Wohnungsnot der Nachkriegszeit schon sehnsüchtig dem neuen 
Heim entgegensahen. Dem Baumeister, der natürlich den Bau leitete und besich- 
tigte, gefiel sein Werk nach der Fertigstellung gut. Seine Erzählung ließ es 
in charakteristischer Art unsicher, wann und unter welchen Umständen der 
erste Zweifel an der baulichen Sicherheit des neuen Gebäudes aufgetaucht war. 
War er spontan und plötzlich, ohne eine äußere Anregung erschienen oder 
hatte er sich im Anschluß an eine flüchtige Bemerkung eines der Herren von 
der Baukommission, welche die Baufestigkeit und Dauerhaftigkeit des Gebäudes 
zu überprüfen hatte, erhoben? Der Patient selbst glaubte eher, es sei nach dieser 
Prüfung, die nach Vollendung des Baues in seinen wichtigsten Teilen 
(Mauern, Decken, Dach und Treppen) stattfand, gewesen, daß in ihm der 
Gedanke auftauchte, das Haus sei durch Grundwasser gefährdet. Man weiß, 
es handelt sich dabei um das durch poröse Bodenschichten gesickerte und auf 
jener tieferen undurchlässigen Schicht angesammelte Wasser. Weinend schil- 
derte mir der Patient nun, welche Vorsichtsmaßregeln er vor dem Bau getroffen 
hatte, wie sorgfältig der Baugrund untersucht worden war. Seine Ausführungen 
kehrten immer wieder zu seiner festen Überzeugung zurück, daß das Grund- 
wasser bei den gerade dort bestehenden Bodenverhältnissen in absehbarer Zeit 
das Gebäude zusammenstürzen lassen würde. Er schilderte in einer sogar mir 
Laien anschaulichen Art, die zugleich das präzise Wissen des Sachverständigen 
erkennen ließ, die ungeheure Gefahr, welche unter bestimmten Umständen die 

141 



. 






Bewohn« da Hau« bedrohe. Eine entsetzliche Katastrophe, an der er allein 
Schuld trage, werde über alle hereinbrechen. Der Gedanke an diese naheliegende 
Moghchke« verheß ,h„ nicht „ehr, immer wieder müsse er sich alle Folge,, 
ein s solchen schrecklichen Ereignisses ausmalen. Auf sein dnngendes Ansuchen 
hatte eme nur zu diesem Zwecke zusammengestellte Kommission von Baufach 
leuten - mur ihnen p rofesoren d „ techn ; sche „ HochschuIc _ daj *<£ 

ausführliche, in alle Emzelheiten gehende Gutachten, das der Patient mir vor- 
legte, konnte .ch „ach den sachlichen Belangen natürlich nicht überprüfen doch 

T T, P „ atient SdbSt 3uf ei " i8e PunkM hin ' in d ™» ~ W in* einer 

sehr bedingten Form und in einer Sprache, die. mir durch das Übermaß von 
Fachausdrucken schwer zugänglich war - die Möglichkeit der Gefährdung der 
Baufest.gke,, durch das Grundwasser bedingungsweise zugestanden wurde. 
Ander. Aussagen ,„ diesem Gutachten schienen freilich eine solche Gefährdung 

in hTnzus! II T ' eß r ^ ZUmindKt aUf ""* 2rit a,s -wahrscheln 
hch hmzustellen. Der scharfsinnige Kranke konnte es mir aber auf Grund seiner 

dastlh " a' maChen - d " ß di " C BefMdc » - verhüllterer Form 

dasselbe aussagten wie die anderen. 

klaren Befürchtungen horte, hätte bei wiederholter und sorgfältiger verglei- 

tllnn' " "f ", *^ ^ dOT ™" *" K-ke„ dargl «„ 

mäfie™ SSS r !Cl, T *" Vn%UcK daS ih " betroff - "»«■ <** *»> Aus- 
Baume « r ^ CkteS . gcfu " dc »-, '* - -8-™t, wenn ein junger, ehrgeiziger 
zahl« h M " a ? ™ n " d ^ Bautätigkeit findet, daß sein Gebäude 

S.™aT « " ^^ U " d dam;t de " ZW"»**«* -er 

felörDen s" 7 ' ■""', ^^ V «"™»8 -fäHt? Die Intensität 
3 deT™, "' ^ T hr ma " V ° n ieM " BrfarchtMg« horte und ver- 
Bein, mächT an8eS 7" Un * d * n *** "«— — - •*■ Sein 
^ d r^telhe " ," aUS8 T "" SC ° rdne,Cn Und '°8 isch - Ei » d "- k . d » ™ 
SdTdfct ^ hi T r" g c W3r ^ U " d 1 "™'" K " t - Verschiedene Um- 

sler Erzäh " "tl ^^ d '™ llm ka ""' «^ di < *<*<** 
S"i„,e„ „t 7 "!'*"*'■»• ^er, durch den detaillierten Bericht des 

*taT.I T"' , G , UtaChtm d - B -kommissio„ zum zweiten- und 

"Teicnne, 8 T T BrfUrchtU "^n erkennen. Alle Daten paßten aus- 

SS.'Tt' d ' e A "S a1 *"' *• d « K«"ke -achte und von denen 

bat e iZ wä d pr f ar warcr '' s,immten - Und doch war a,ie L °* ik - " h -- 

de"; ™tT de t r i ZuSammenlun8 * kUn!tlich ««gestellter, lagen ganz an- 
B 1 b ^ « f™ Sem<:r Vm ™™»8 gründe. Dem sorgfäldgen 

der Schml m L eS W* *W- i ' auffalk "- <■* » begreiflich au* 
der Schmerz und der melancholische Charakter der Depression sein mochten, 
gew.« Zuge ,m Verhalten des Kranken nicht zu dem Bilde, das er mir ent- 



■4Z 



- worf „hatte, passen wollten. Manche Sätze in dem Gutachten, anf die er sich 
benef, tonnte man nur m„ einigem Zwang in dem von ihm geaeig en sL„ 
deuten manche semer Begründungen machten einen sophistiscLn S5 
Wenngletch der logjsche Schein für sie sprach, wollte der Zweifel an a«r 
Echthet, meht verschwinden. Das Gefiige seiner Erzählung war fest- 7 u 
gab es darin einige kleinere Inhonseouenaen; alles darin war „ISrul'u "doct 
schienen einige wenige Einzelzüge gewaltsam. 

An einer bestimmten Stelle unserer Unterredungen, die zumeist von seinen 
Klagen und den Ausbrüchen seiner Verzweiflung über den bevorstehenden Zu- 
sammenbruch seiner Existenz ausgefüllt waren, erwähnte er in einer Paranthese 
auch den Umstand, daß er keine eigene Wohnung besaß und zusammen m 
der Mu ter wohnte Es war ganz beiläufig, vielleicht sogar (da er es im Zu- 

woTn 7 Z PI- f Umei5terberuf er -hnte) fast scherzhaft gesagt 
worden dennoch hinterließ es in mir eine psychische Spur. Es würde n!n zu 
weit fuhren, wenn ich darstellen wollte, in welcher Art sich später bei lang 22 

wferEt"^ 1 "^ , Srdhe CnthÜllte ' ^ in dnC überraschende S££ 
wies. Erst die muhse ige einer Mosaikarbeit vergleichbare Zusammenstellung 
vieler Andeutungen die in langen Intervallen auftauchten, ergab S^kfü 
Stuck eine befremdende Rekonstruktion der seelischen Vorgänge, welche di 
Psychogenese der Depression bestimmt hatten. Diese R^nsL^l^ 
folgende wesentliche Zuge: Der junge Baumeister, der mit seiner Mutte/X 
Wohnung teilte war vor einiger Zeit in Beziehungen zu einer verheiratet! 
Frau getreten Das sexuelle Verhältnis, das sich rasch aus der Bekanntschaft 
entwickelte hatte mit vielfachen Schwierigkeiten - nicht nur äußeren - zu 
kämpfen. Nicht die geringste von diesen war die Frage, wo die beiden Ver- 
heb en ihre Zusammenkünfte halten sollten. In der kleinen Stadt, die dem 

fZ C rT : 8 d 7^"? MÖ8lkhkeiten Cin « -verdächtigten Zusammen- 
seins. Gerade in der Zeit, als unser Baumeister mit jenem wichtigen Hausbau 
beschäftigt war war diese Sorge besonders akut geworden. Die Frage stellte 
sich .hm auch in der Form ob er sich, ohne Aufsehen zu erregen, eine ^n 
Wohn Ung nehmen konnte oder ob nicht eine andere Möglichkeit innerhalb der 
Stadt gefunden werden könnte. Zur selben Zeit aber war ihm eine ganz anders- 
artige Sorge genaht: Bei seiner alten Mutter waren bestimmte Krankheits- 
symptome aufgetreten, die es ratsam machten, einen erfahrenen Gynäkologen 
zu konsultieren. Dieser hatte dem Sohn gegenüber vorsichtig die Vermutung 
ausgesprochen, daß ein Fall von Gebärmutterkrebs vorliegen könne, und seine 
endgültige Diagnose von einer zweiten Untersuchung abhängig gemacht Der 
Patient wurde nun von der Sorge gequält, die geliebte Mutter könnte von der 
gefurchteten Krankheit befallen sein. Alles dies erfuhr ich erst viel 
später und in einem Zusammenhange, der von der angegebenen Ver- 
ursachung seiner Verstimmung weit entfernt war. Es erschien aber auffällig 
daß die Sorge um die Mutter so gar keinen Anteil am Zustandekommen der 



M3 









Depression des Sohnes gehabt haben sollte. Meine Rekonstruktion, die in dieser 
Richtung nicht mehr als einige Schritte über das Feststellbare hinausging, ließ 
indessen einen besonders innigen Zusammenhang zwischen der Verzweiflung 
des Sohnes und der schweren Erkrankung der Mutter vermuten. Freilich war 
es nicht die Sorge um das Leben der Mutter schlechthin, welche seine Depres- 
sion produzierte. Bestimmte Anzeichen, die sich immer wieder darboten, 
drängten zu einer psychologischen Annahme besonderer Art: An einem Abende 
jener sorgenvollen Zeit war mitten im Kummer, welcher der Gesundheit der 
Mutter galt, in dem Sohne der sehnsüchtige Gedanke an jene Frau sowie die 
Erinnerung an die Schwierigkeiten, die mit diesem Verhältnis verbunden waren, 
aufgetaucht. Jene beiden Gedankenreihen begegneten einander für einen be- 
stimmten Augenblick und plötzlich tauchte, aus dem Unbewußten durch- 
brechend, ein Einfall auf, den er entsetzt zurückwies. Der „schreckliche" Ge- 
danke, wie er ihn später oft bezeichnete, war der folgende: Wenn die Mutter 
jetzt stürbe, könnte ich die Wohnung für mich allein haben und meine Freundin 
dort ungestört und ungeniert empfangen. Der Gedanke, auf seine primäre Form 
zurückgeführt, hatte wohl den Charakter eines Wunsches. 

Die psychische Reaktion auf diese plötzlich auftauchende Regung, das Ent- 
setzen vor ihr, die verstärkte Trauer wegen der Krankheit der Mutter und die 
reaktiv gesteigerte Zärtlichkeit für sie - hier sind die verdeckten Probleme der 
Erkrankung zu suchen. Wo sind die seelischen Verbindungen zwischen dieser 
unbewußt seelischen Kausalreihe und der von dem Kranken angegebenen? Wie 
sollen wir uns das Verhältnis der beiden zueinander vorstellen? Es besteht kein 
Zweifel, daß der Patient bewußt unter der Sorge wegen des Neubaus leidet, daß 
er wegen dessen Baufestigkeit bekümmert ist und sich wegen seiner mangelnden 
Vorsorge schwere Selbstvorwürfe macht. Auf der anderen Seite bezeugt die 
analytische Rekonstruktion, daß in ihm Gedanken und Wünsche aufgetaucht 
sind, die sich auf die Erkrankung und den wahrscheinlichen Tod der Mutter 
bezogen und die er erschreckt abwehrte. 

Die wirkliche tiefliegende Begründung der schweren Verstimmung ist unbe- 
wußt; da dieser Zusammenhang dem Ich entzogen ist, muß ein sekundärer, 
nachträglich hergestellter konstruiert werden. Die Herstellung eines solchen 
Ersatzzusammenhanges, einer solchen Verständlichmachung des Unbekannten, 
welches das Ich in allen seinen Tiefen erschüttert, ergibt als Resultat ein 
System, dessen besondere Eigenschaften wir in der Psychoanalyse so gut kennen 
lernen. Der hier geschilderte Fall zeigt ein schönes Beispiel von psycho- 
neurotischer Systembildung. Wir wissen, welche starke Motive dazu dräng- 
ten, die Vorstellung vom Tode der Mutter als lustvoll erscheinen zu lassen und 
welche seelischen Mächte sich einem solchen Gefühl entgegensetzten und es ver- 
drängten. Der geheime Gedanke lautet: vielleicht wird der Gebärmutterkrebs, 
der so zerstörend wirkt, die Mutter töten. Die Umordnung dieses latenten 
psychischen Materials nach einem neuen Ziele erfolgt dadurch, daß es auf den 



'44 






Neubau, der eben zu Ende geführt wurde, bezogen wurde Es 1**™ cVU L 
diebischen Brücken zwischen den, verdien S^Ä^ 
fahren Material erkennen: es war ja der Wunsch nach einer Wohnung, der zu 
den stärksten Motiven jenes rasch unterdrückten Todeswunsches gehörte In 
jenem von Am aufgeführten Neubau gab es nun solcher kleiner Wohnungen 
die für An gepaßt hatten, genug. Wir sind jetzt in der Lage, das neurotische' 
System und che .hm zugrundeliegenden verborgenen Gedanken nebeneinander 
zu Stelen und umeinander zu vergleichen. Die bewußtseinsfähige Gestalt des 
gedanklichen Zusammenhanges wird bekanntlich durch die sekundäre Bearbei- 
tung benimmt Sie ist es, welche das seelische Material neuordnet, Verbindungen 
zwischen einzelnen Elementen herstellt und dort, wo der wahre Sinn dem Ich 
nicht mehr zugänglich ist, einen zweiten herstellt. Dieser künstliche Zusammen- 
hang, wie er sich dem Bewußtsein nach der erfolgten sekundären Bearbeitung 
darbietet laßt sich etwa folgendermaßen beschreiben: Das Haus, das ich baue 
steht nicht auf festem Grunde, die unterirdische und unablässige Arbeit de. 
Grundwassers wird es langsam zerstören, bis es stürzt. Diese Katastrophe wird 

A 3? t amere , U r , mem LebCn Vernkhten - DaS «gehende verdrängte 
gedankliche Material läßt sich grob so darstellen: Meine Mutter ist lebens- 
gefährlich erkrankt, die verborgene destruktive Arbeit des Krebses macht 
schreckliche Fortschritte; sie wird bald sterben. Deshalb bin ich so verzweifelt 
Unschwer lassen s.ch die gemeinsamen Elemente zwischen dem verdrängten 
und dem bewußtseinsfähigen Material festhalten. So entspricht die ärztliche 
Untersuchung der Prüfung durch die Baukommission des manifesten Zu- 
sammenhanges, so wird in symbolischer Ausdrucksweise der kranke Leib der 
Mutter dem gefährdeten Gebäude gleichgestellt, die unterirdische Macht des 
Grundwassers ersetzt gewiß die im Verborgenen weiterwirkende Gewalt der 
Krankheit, die eine Katastrophe die andere. Natürlich kann die Ersetzung 
keine vollständ.ge sein; auch die sekundäre Bearbeitung kann nicht alle Ele- 
mente neu ordnen und für alle ausfallenden Teile und Teilchen eine genau 
entsprechende zweite Garnitur beistellen. Manchmal schimmert durch alle 
logische Konsequenz und alle gedankliche Strenge die alte unbewußte Trieb- 
unterlage durch wie ein armseliges Gewand durch einen prunkvollen, doch 
zu kurzen Überwurf. So entstehen jene kleinen Lücken, jene kaum wahrnehm- 
baren Inkonsequenzen und Willkürlichkeiten, jene Sprünge und Risse im 
System, welche nur scharfer Beobachtung wahrnehmbar sind, durchaus analog 
den Fehlern und Mängeln, welche die Kritik in der Urteilsbegründung des 
Prozesses gegen Gregor Adamsberger festgestellt hat. 

Wer Stück für Stück den Indizienbeweis in diesem Mordprozeß überprüft 
findet, wie jedes einzelne Element zweimal eingereiht werden kann. Es ist 
verständlich, wenn es von dem Standpunkt, Gregor ist der Mörder, betrachtet 
wird, und es ist verständlich und richtig, wenn es von der Voraussetzung des 

R e i k : Der unbekannte Mörder 10 

M5 






wirklichen Sachverhaltes aus verstanden wird 185 . Das ganze Material erscheint 
vernünftig und wirkt widerspruchsfrei, sobald es unter dem Gesichtspunkt 
der Täterschaft Gregors erfaßt wird. Ebenso werden die Depressionen jenes 
Patienten und ihre einzelnen Symptome durchaus verständlich, wenn man sie 
als Reaktion auf die angeblich drohende Gefahr des Gebäudeeinsturzes erkennt. 
Dennoch würde jeder, der hier den wahren, das will heißen, den wirksamen 
Zusammenhang sehen wollte, in die Irre gehen. 

Was hier im Bewußtsein und im Unbewußten des Einzelnen vorgeht, darf 
zwanglos den seelischen Vorgängen in dem Untersuchungsrichter, in dem Sach- 
verständigen und in den anderen gerichtlichen Funktionären verglichen werden. 
Die schwere Verstimmung, die den Baumeister befiel, forderte eine Erklärung, 
und das Bewußte, das die verdrängten Faktoren nicht erfassen konnte, be- 
mächtigte sich des erstbesten — doch nicht des erstbesten — psychischen Mate- 
rials, das sich darbot, unter der Nötigung der Verständlichkeit. So wurde ein 
intelligibler Zusammenhang hergestellt, wo sonst ein unerklärbares und 
chaotisches Gebilde Verwirrung brachte. Nur so konnte eine Möglichkeit des 
Verständnisses gewonnen, nur so jene befremdende Erfahrung in den Zu- 
sammenhang der bekannten Lebenserscheinungen eingereiht werden. Die Er- 
klärung: Meine Depression ist der Ausdruck meiner Verzweiflung über den 
drohenden (von mir verschuldeten) Zusammenbruch des fertiggestellten 
Hauses, leistet diese Dienste der Verständlichmachung. Sie imponiert uns 
nicht nur als eine synthetische Produktion einer Ichfunktion. Sie dient auch 
dazu, die Fernhaltung des unbewußten Zusammenhanges zu verstärken und zu 
verdecken. Der Erfolg dieser Absichten zeigt klar, daß die tieferliegende 
Kausalreihe nicht erkannt werden sollte. Die Gerichtsfunktionäre in jenem 
Prozeß standen vor der Frage: Wer hat den Mord begangen? Die Nach- 
forschungen ergaben eine lange Reihe von Momenten, die nur auf Gregor 
Adamsberger hinwiesen, jedes dieser Indizien schien das andere zu unterstützen. 
Ein anderer Täter kam offenbar nicht in Betracht. "Wenn man nicht die 
Täterschaft Gregors annehmen wollte, stand man vor einem Rätsel — dort 
wo man am wenigsten zu stehen wünschte. Gregor Adamsberger war zwar nicht 
der Täter, aber er hätte der Täter sein können. 

Besser noch als in der Neurosensymptomatologie wird die Wirksamkeit jener 
psychischen Funktion, der wir den Aufbau der Systembildung zuschrieben, 
in der Psychose erkennbar. In der Paranoia z. B. ist das ganze Krankheitsbild 
vom System beherrscht, und, was uns als Wahn so starken Eindruck macht, i st 
zum großen Teil das von der sekundären Bearbeitung umredigierte, seelische 
Material. Der kombinatorische Scharfsinn des Paranoikers bringt es zustande, 

185 ) Auch für den Indizienbeweis gilt mit einigen Einschränkungen, was Erich Kauf- 
mann im Referat über Gleichheit vor dem Gesetz auf der Tagung deutscher Staatsrechts- 
lehrer 1926 von der juristischen Technik behauptet hat, sie sei eine Hure, die jedem z u 
allem willig sei. 

146 



— - «= 



daß das ganze Weltbild eine Verschiebung oder Verzerrung im Sinne der 
Systembildung erfahrt, eme Neuordnung, deren Folgerichtigkeit und Logik uns 
imponiert. Die Leistungen der sekundären Bearbeitung können wir am eigenen 
Seelenleben in jenem psychischen Produkt, das dem Wahne am nächsten steht 
beobachten: am Traume. Der Traum, der uns nach dem Erwachen oft so wirr 
und zusammenhanglos anmutet, macht manchmal einen sehr „vernünftigen" 
sinnvollen und kohärenten Eindruck. Was so geordnet und logisch erscheint' 
verdeckt und vertritt den wirklichen Zusammenhang der latenten Traum- 
gedanken. In einzelnen Traumpartien paßt so ein Element zum anderen, ist 
alles sinnreich komponiert, aber diese so glatte und vernünftige Außenseite 
tauscht und soll täuschen: sie ist selbst Ausdruck der Traumstellung, ist Erfolg 
spaterer Deutung. Was Ordnung scheint, ist bereits Umordnung, was so genau 
und natürlich zusammenpaßt, späterer Einschub, was wie unlösbar und von 
Anfang an miteinander verbunden aussieht, ist mühsam gekittet. Hier ein 
Beispiel einer solchen durch sekundäre Bearbeitung entstandenen Traumfassade: 
Eine Traumpartie schildert die Szene einer künstlerischen Vorführung. Die 
Träumerin erzählt: „Das Publikum klatscht dem Tanze Beifall. Jemand sagt: 
,Das ist nicht in Takt; das ist etwas Modernes/« Dieses Stück 
des manifesten Trauminhaltes paßt vorzüglich zum anderen Teil; alles ist aus- 
gezeichnet verständlich geordnet, scheint organisch aus der Situation zu 
wachsen. Es sind solche außerordentlich klare und logisch folgerichtige Traum- 
stücke, die dafür verantwortlich zu machen sind, daß noch immer der mani- 
feste Traummhalt mit den latenten Traumgedanken verwechselt wird. Diese 
Versuchung ist besonders groß, wenn wie im vorliegenden Falle rezentes Er- 
innerungsmaterial vorliegt, so daß es aussieht, wie wenn der Traum einfach 
eine wenig bearbeitete Reminiszenz an das Erlebte des Vortages wäre Die 
Träumerin hatte nämlich an diesem Tage der Vorführung einer Schule rhyth- 
mischer Gymnastik beigewohnt und es waren wirklich Tanzgruppen gezeigt 
worden. Wie sehr wächst der Anschein, als drücke der manifeste Trauminhalt 
als solcher die Meinung des Traumes aus, wenn die Analysandin zu berichten 
hat, es sei eine exotische Melodie gespielt worden und sie habe beim Anhören 
gedacht: das ist etwas Modernes. Und welcher Hörer moderner Musik wollte 
leugnen, daß man von vielen Kompositionen unserer Zeit den Eindruck erhält, 
sie seien „nicht im Takt«? So drängt also ein Teil der Assoziationen der 
Träumerin selbst in die Richtung, die unser Denken einschlagen will. Freilich 
nur ein Teil, ein anderer will sich nicht in diesen Rahmen fügen. Man kann 
es im Zusammenhange noch gut verstehen, wenn die Träumerin berichtet, sie 
sei an diesem Tage mit verschiedenen Gedanken über das Generationenproblem 
beschäftigt gewesen. Es klingt vorerst wie eine Bestätigung unseres Eindruckes- 
vielleicht haben sich Gedanken über den Gegensatz der Musik der alten und 
der neuen Generation im Traum Ausdruck verschafft, Gedanken, die vielleicht 
beim Hören jener Komposition erwacht sind? Ein solcher Zusammenhang, der 



i47 






. 



zuerst so natürlich erscheint, könnte aber angesichts der nun folgenden Einfälle 
der Analysandin nur mit sehr künstlichen Mitteln aufrechterhalten werden 
und würde einen besonders unnatürlichen Eindruck machen. Sie erzählt näm- 
lich, wie sie zu jenem Gedanken des Generationenproblems gelangt sei; sie sei 
unlängst eingeladen worden, in einem Frauenverein einen Vortrag zu halten, 
und habe eben jenes Thema, insbesondere den Gegensatz von Müttern und 
Töchtern, gewählt. Dabei seien ihre Gedanken, wie so häufig in letzter Zeit, 
zu dem Konflikt zurückgekehrt, den sie selbst als junges Mädchen mit der 
Mutter gehabt hatte. Sie habe sich allen Vorschriften der konventionellen Moral 
ihrer Zeit gefügt: als sie ziemlich spät heiratete, sei sie Jungfrau gewesen. In 
den Jahren vorher hatte sie einen heftigen Kampf gegen ihre starke Sinnlich- 
keit durchzukämpfen gehabt. Wenn sie an die heutige Jugend denke, werde 
sie von bitteren Gefühlen gegenüber ihrer strengen Mutter bewegt. Kein Mäd- 
chen von heute lege besonderen Wert auf die Erhaltung der Virginität: es sei 
nicht wichtig, daß in der Hochzeitsnacht das Hymen intakt sei. Der Ehemann 
erwarte das gar nicht, das sei nicht modern. Sie vermag jetzt selbst das Traum- 
bruchstück der Deutung nahezubringen: das ist ja nicht intakt, das 
ist etwas Modernes oder in einer Umkehrung, die leichterem Ver- 
ständnis zuliebe erlaubt sein mag: es ist etwas Modernes, daß das 
nicht intakt ist. Dieser Gedanke bezieht sich also nicht auf die Musik, 
sondern auf die sexuelle Moral und auf die Frage der Virginität, die sie in dem 
beabsichtigten Vortrage ebenfalls diskutieren wollte. Die Außenseite des 
Traumes, die von so großer Klarheit schien, ist eine sekundäre Bildung, ihre 
Folgerichtigkeit nur eine künstlich hergestellte und trügerische: die eine harm- 
lose Reihe von Gedanken wurde zur Vertreterin einer anderen, versteckten. 
Die Traumfassade hat uns den wirklichen, bedeutsamen Kern eher verdeckt 
als entdeckt. Ebenso wie wir uns hier von den Taschenspieler-Kunststücken der 
Bewußtseinsinstanzen narren ließen, wie wir hier ungewarnt und unbelehrt 
einem Irrtum unterlagen, in ähnlicher Art werden die gerichtlichen Funktionäre 
in ihrem logischen Bedürfnis häufig vom Anschein verlockt, wenn es die Täter- 
frage gilt. Der Zwang, der von der synthetischen Ichfunktion ausgeht, ist so 
stark, daß er uns manchmal ein Stück bedeutsamer Differenz einfach übersehen 
laßt; ja uns dazu bringt, die Wahrheit des vorliegenden Materials unbewußt 
zu verfälschen. Oft genügt es für seine Ziele, wenn ein unscheinbares, schein- 
bar unwichtiges Detail etwas verschoben oder verzerrt, ein bißchen „einge- 
richtet" in den vorbereiteten Zusammenhang gelangt. Man beachte in unserem 
Beispiel den Satz: „Das ist ja nicht in Takt", der so gut in die von der Er- 
wähnung von Tanz und Musik bestimmte Gedankenreihe zu passen scheint. 
Waren wir nicht sogleich bereit, hier einen sehr verständlichen, ja fast selbst- 
verständlichen Hinweis zu erkennen? Haben wir nicht ohne weiteres ange- 
nommen, daß es „im Takt" lautet? Wie selbstverständlich haben wir m 

148 



statt n gehört. Wir haben gar nicht daran gezweifelt, daß es „im Takt" heißt, 
denn das stand in bester Übereinstimmung mit unserer Erwartungsvorstellung; 
wir nahmen sofort an, es handle sich um die Musik und nur das brachte uns 
dazu, das Ganze als einheitlich zu erfassen. 

Von unzähligen Beispielen aus der kriminalistischen Praxis, die sich hier 
zum Vergleich darbieten, sei nur ein einziges hierhergesetzt: Es läßt erkennen, 
in welchem Ausmaße dieselben seelischen Faktoren uns auch dort, wo wir 
wachend und mit scharfen Sinnen die Außenwelt erfassen, in die Irre führen. Es 
handelt sich um eine Einzelheit in dem Strafprozeß wegen der Ermordung 
Katharina Fellners. Frau Katharina Fellner, die aus Triest nach Wien ge- 
kommen war, wurde am 17. Juli 1928 im Lainzer Tiergarten erschossen auf- 
gefunden. Die Wiener Polizei entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit zur Auf- 
klärung des Mordes: Nachdem man die Tote durch einen überraschenden Zu- 
fall identifizieren konnte, erforschte man ihr Vorleben. Sie war früher 
Kellnerin gewesen, war dann zur reichen Lebedame geworden und hatte später 
einen schlecht beleumundeten Mann, einen Ungarn Andreas Fellner, geheiratet, 
von dem sie sich aber bald wieder trennte. Es hatte freilich schon lange keine 
Beziehungen mehr zwischen Frau Fellncr und ihrem Manne gegeben, dennoch 
aber, so schloß die Wiener Polizei, deren psychologischer Scharfsinn berühmt 
ist, hätte der Mann das plötzliche Verschwinden seiner Frau, die entfernt von 
ihm lebte, bemerken müssen. Sein Schweigen darüber wirkte wie der Ausdruck 
des schlechten Gewissens. Ferner hatten einige Leute in der Nähe jenes Parkes 
bei Wien, in dem die Leiche gefunden worden war, einen dämonisch aussehen- 
den Mann gesehen, den sie als Südländer mit herabhängendem Schnurrbart 
schilderten. Auch diese Beschreibung konnte bei einiger Phantasie auf Andreas 
Fellner passen. Neben diesen Indizien gab es eine entscheidende Tatsache: 
Fellner, der sich seit längerer Zeit dauernd in Italien aufgehalten hatte, hatte 
sich in der Nacht vor dem Morde auf der Fahrt nach Wien befunden. Das be- 
wies die Eintragung seines Namens bei der Paßstelle in Maribor am 17. Juli 
1928. Er hatte also gerade an diesem Tage die italienische Grenze in der Rich- 
tung nach Wien überschritten. Nun aber brach sich die lange und mühsam ge- 
dämmte Energie der Wiener Polizei Bahn: Der geschiedene Gatte der Ermorde- 
ten wurde im Sommer 1928 in Abazzia ausgeforscht und verhaftet. Die Nach- 
forschungen hatten ergeben, daß Andreas Fellner ein mehrfach abgestraftes 
Individuum war. Es fehlte anscheinend nichts mehr zum Schuldbeweis. Da 
fügte es ein Zufall, daß der Verhaftete einwandfrei nachweisen konnte, daß 
er gerade am 17. Juli 1928 in dem istrianischen Dorfe Oderzo einen Kraft- 
wagenunfall erlitten hatte und von dem dortigen Arzte behandelt worden war: 
er konnte an demselben Tage unmöglich die Grenze überschritten haben. Es 
mußte ein Irrtum seitens der recherchierenden Beamten vorliegen. Der Irrtum 
konnte darauf zurückgeführt werden, daß sich nach ungarischem Brauch die 

149 



Ehefrau mit Vor- und Zuname des Gatten nennt und nur eine kurze Nach- 
silbe hinzufügt. In jenem Grenzprotokoll stand: Fellner Andreasne, 
das heißt: die Frau des Andreas Fellner. Wirklich hatte in jener Nacht Frau 
Katharina Fellner, das spätere Opfer, die Grenze überschritten. Die ganze 
Konstruktion der Wiener Polizei brach zusammen. 

Der Vergleich des unbewußten Mißverständnisses jenes Satzteiles „nicht in 
Takt" mit der hier angeführten kriminalistischen Fehlkonstruktion ist in mehr 
als einer Richtung psychologisch lehrreich. Wie dort handelt es sich hier um 
das Übersehen eines Details, aber die falsche Deutung hätte hier fast zu tragi- 
schen Konsequenzen geführt. In beiden Fällen sehen wir dieselbe psychische 
Instanz, die ein bestimmtes Moment mehr oder minder gewaltsam umdeutet, 
um es in einen vorher angenommenen Zusammenhang zu bringen, wirksam. 
In beiden Fällen geschieht diese Umordnung des Materials unbewußt. Eine 
Reihe solcher Umdeutungen, miteinander in Beziehung gesetzt, führt dann zu 
einem System, das in der Neurose den wahren Zusammenhang verhüllt. 

Auch eine andere Erkenntnis kann aus dem Vergleich der Bedeutung der 
sekundären Bearbeitung im Traum und im kriminalistischen Denken abge- 
leitet werden. Wir haben aus der Deutung von Träumen gelernt, besonders 
vorsichtig und mißtrauisch gegen jene Traumstücke zu verfahren, die so gut 
komponiert und folgerichtig, so besonders klar und logisch aussehen. Gewöhn- 
lich verbergen gerade solche Träume oder Traumpartien wichtige Gedanken, 
die sich geschickt hinter der „vernünftigen" Traumfassade verstecken. Der 
Kriminalist und der Untersuchungsrichter werden bei der Aufklärungsarbeit 
eines Verbrechens ebenfalls ein besonderes Mißtrauen gegenüber Tatbeständen, 
die einfach und leicht verständlich erscheinen, hegen. Es kommt vor, daß Ver- 
brecher sich mit vollem Bewußtsein jener natürlichen Vorliebe für das Ein- 
fach-Verständliche im Kriminalisten anpassen und einen Tatbestand so er- 
scheinen lassen, wie er sich der sekundären Bearbeitung darstellen würde. Sie 
dürfen darauf rechnen, daß auch bei den besten Kriminalisten ein starkes Be- 
dürfnis besteht, den Zweifel rasch auszuschalten und eine naheliegende Mög- 
lichkeit für die Wirklichkeit zu halten. Oft bleibt nur eine höchst unwahr- 
scheinliche Möglichkeit übrig, wenn man sich nicht für das Nächstliegende ent- 
scheidet. Freilich wird gerade auf dem Gebiete des Verbrechens manchmal 
das Unwahrscheinliche Ereignis. 

Richter und Geschworene, Staatsanwälte und Sachverständige fühlen die 
Versuchung, die Lücken in dem ihnen vorliegenden Material, das sich auf die 
Wahrheitsfindung bezieht, in dem hier dargestellten Sinne auszufüllen. Auch 
sie unterliegen dem psychologischen Zwang, den Ablauf der Ereignisse folge- 
richtig zu verstehen und sich selbst eine „vernünftige" Erklärung zu geben. Es 
ist indessen nicht ihre Aufgabe, eine vernünftige Erklärung des Sachverhaltes 
zu geben, sondern die zutreffende. 

IJO 



Psychologischer Scharfsinn eines Kriminalisten 

(Intermezzo capriccioso) 

Die geschilderte Überschätzung der Verständlichkeit, der logischen Aufein- 
anderfolge, des vernünftigen Charakters einer Gedankenreihe hat den Fort- 
schritt der Wissenschaft ebenso lange aufgehalten wie den der Justiz. Es ist 
nicht wahr, daß die Menschen die Wahrheit nicht erfahren wollen. Das größte 
Hindernis, das sich der Erringung einer Erkenntnis entgegensetzt, ist vielmehr 
die feste Überzeugung, daß man die Wahrheit bereits besitzt. In solchem 
Glauben genießt sowohl der Wissenschaftler als auch der Kriminalist oft das 
Vorgefühl hohen Glückes. 

Der Zufall ließ mich unlängst ein Beispiel finden, welches das eben darge- 
stellte Phänomen in hellste Beleuchtung rückt. Das Beispiel ist um so hübscher, 
als es einen Forscher an der Arbeit zeigt, der zugleich Kriminalist war, und 
der seine medizinischen und psychologischen Kenntnisse und, was mehr be- 
deutet, Erkenntnisse gerade auf kriminalistischem Gebiete verwertet hat. Es 
handelt sich eben um die Wirkungen der „sekundären" Bearbeitung, welche 
sich in die Denkarbeit des Forschers ebenso einschleicht wie in die Überlegun- 
gen des Kriminalisten, welche die Wahrheitsfindung hier wie dort stört. Das 
Beispiel entnehme ich einem Aufsatze „Zum Mechanismus des Versprechens", 
den der bekannte Medizinalrat und Kriminalist Dr. P. N ä c k e im „Archiv 
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" 1908, veröffentlicht hat. Der 
Kriminalpsychologe bezieht sich in seinem Aufsatz auf das Freud sehe Buch 
„Zur Psychopathologie des Alltagslebens" und auf die dort gegebene Theorie 
der Psychogenese des Versprechens. „In der Kritik dieses Buches", so 
bemerkt Näcke strenge, „mache ich darauf aufmerksam, daß sicher dieser 
Modus nicht der alleinige sei, daß Freud eben überall und stets über- 
treibt. Ein hübsches Beispiel hiefür las ich. soeben in der Leipziger Abendzeitung 
vom 12. April 1908, das ein ähnliches Versprechen aufweist, wie ich es früher 
von mir selbst erwähnt hatte. Dort wird uns berichtet, daß ein protestantischer 
Geistlicher Kirchenexamen mit seinen Konfirmanden abhält. Die Kinder be- 
fanden sich natürlich alle mehr oder weniger in einem Zustand der Aufregung. 
Der Pastor beginnt eben das Wort Christi zu sagen: .Wachet und betet, damit ihr 
nicht in Anfechtung fallet' und fordert ein Mädchen auf, das Weitere zu 
sagen. Sie platzt mit: „denn der Geist ist willig, aber das Fleisch ist teuer" 
heraus. Tableau! Hier liegt gewiß nicht eine Wirkung eines abgespalteten 
Affekts vor, denn das Wort .willig' hat zunächst den Klangreim billig er- 
klingen lassen, welcher wieder mit Bezug auf das Wort Fleisch in die nahe 
Kontrastassoziation teuer auslief". So konstruiert Näcke den psychologischen 
Vorgang. Das sehr hübsche Beispiel zeige, „wie Angst, Erregtheit, Erwartung 
usw. aber ebenso gewisse psychotische Zustände die Zielvorstellung verfehlen 
lassen und die naheliegenden und banalen Klangassoziationen oder die des 

IS* 



Kontrastes, die auf der Hand liegen, auf die Bühne bringen. Die Apperzeption 
ist geschwächt, würde Wundt sagen, und nun verläuft der Assoziations- 
prozeß ohne Richtungslinie, anscheinend „als ziellos, wenngleich immer natür- 
lich gesetzmäßig. Dabei ist nicht ausgeschlossen, sogar sehr wahrscheinlich, daß, 
da das Mädchen in den letzten Zeiten sicher viel über die Fleischpreise klagen 
hörte, dies auch mit nachklang und so das Wort „teuer" auch noch mit 
„Fleisch" verkettet war." 

Klingt diese Erklärung nicht wahrscheinlich? Hat sie nicht viel Bestechendes 
in sich? Dennoch mutet sie, die zuerst so natürlich und plausibel klingt, uns 
sonderbar künstlich an, wenn wir näher hinsehen; sie macht den Eindruck des 
ad hoc Konstruierten, erscheint, um einen Ausdruck des Films zu verwenden 
wie „gestellt". Näcke nimmt an, der Satz „der Geist ist willig" habe den 
Reim „billig" und dann als Gegensatz den Gedanken „aber das Fleisch ist 
teuer" erweckt. Das klingt folgerichtig und logisch unangreifbar und gibt sicher- 
lich ein Stück des Sachverhaltes wieder, es ist aber nicht vollständig und es 
bleibt im Psychologischen an der Oberfläche. Die Angst und die Erregung des 
Mädchens werden als Ursache der Konfusion hingestellt, aber von welcher Art 
ist diese Angst, diese Erregtheit? 

Es handelt sich um Mädchen im Pubertätsalter, die hier Konfirmanden- 
unterricht erhalten. Man weiß, wie sehr dieser Unterricht mit Hinweisen auf 
die Bewahrung der Keuschheit durchsetzt ist. Wenn der Pastor das Wort 
Christi rezitiert: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallet", so 
wird nicht nur die Christengemeinde der Erwachsenen, sondern jedes Mädchen 
im Konfirmandenunterricht verstehen, daß der Begriff Anfechtung den Sinn 
der sexuellen Versuchung hat. Aufgefordert, die Fortsetzung des Satzes zu 
sagen, schiebt sich der Gegensatz „Geist — Fleisch" im nächsten Satz selbst vor. 
Dabei ist Fleisch von dem Mädchen unbewußt oder vorbewußt eindeutig so 
gemeint, wie von der Christengemeinde: es weist auf die sinnliche Lust hin. 
Die vorangehende Warnung vor Anfechtung hat ja die Gedanken des halb- 
wüchsigen Mädchens in diese bestimmte Richtung gelenkt — soferne sie nicht 
schon in diese Richtung gingen. Der Geist ist willig; nun sollte die Fortsetzung 
kommen: aber das Fleisch ist schwach. Statt dessen taucht ein früher unter- 
drückter Gedanke auf: Die Vorstellung Anfechtung, der Hinweis auf das 
Fleisch in der Bedeutung grob-sinnlicher Lust hat in dem Mädchen die Vor- 
stellung an jene Frauen wachgerufen, die — zumindestens in der Phantasie einer 
kleinen Leipzigerin — uneingeschränkt der Sinnenlust leben und dafür noch gut 
bezahlt werden. Der Einfall war naheliegend: das Fleisch ist schwach, das will 
doch heißen: der Mensch erliegt leicht der sexuellen Versuchung. Der Vor- 
stellungsweg, der zu dem Resultat der Fehlleistung führt, ist klar: Fleisch — 
Sinnesgenuß, man wird dafür noch gezahlt — das Fleisch ist teuer. Es muß 
seinen guten Sinn haben, daß der Satz „das Fleisch ist schwach" durch den 
anderen „das Fleisch ist teuer" ersetzt wurde. 



152 



Es scheint, als sei jenes Mädchen durch den Konfirmandenunterricht in 
ihren moralischen Anschauungen noch nicht gekräftigt genug, noch nicht so rein 
im Herzen, wie es wünschenswert wäre. Der intendierte Satz wies auf die 
bekannte Schwäche des Widerstandes und des Willens gegen die verpönte 
Sinneslust hin. Was sich aber störend vordrängt, will sagen: und viel Geld 
kriegt man auch noch dazu! Die Kleine hat in ihrem Satz weniger ihre Ver- 
trautheit mit dem Kleinhandelpreis verschiedener Fleischgattungen verraten, 
wie N ä c k e meint; viel eher ihr Wissen um die Prostitution in dem „kleinen 
Paris". Mehr als dies: Der entstellte Satz weist darauf hin, daß sie darüber ver- 
wundert ist, daß man für genossene Lust noch ziemlich viel Geld bekommt. Sie 
wird später sicher besser verstehen, warum der Protest gegen den strengen Geist 
auch durch die Verlockung des Geldes unterstützt wird. Jenes Versprechen zeigt 
aber, daß sie schon jetzt nicht nur um das Verständnis der christlichen Lehren 
bemüht ist. 

Vermutlich ging der Assoziationsverlauf wirklich über billig und benützte 
den Reimklang, wie N ä c k e meint; es ist auch nicht unwahrscheinlich, daß das 
Mädchen über die teuren Fleischpreise klagen gehört hat. Entscheidend ist aber, 
daß manche Gedanken über die Prostitiuton, über die Verbindung von 
Sexualität und Lust nicht zur Klärung in ihr kamen und jetzt störend in ihre 
Redeabsichten eintraten. Wer etwa daran zweifeln sollte, daß Mädchen sogar 
im Konfirmandenunterricht von dergleichen depravierenden Gedanken heim- 
gesucht werden, weiß noch nicht, wie wenig mächtig sich der heilige Unter- 
richt gegen die Tücke des Bösen erweist 188 . Wie man sieht, hat sich nicht einmal 
ein Kriminalpsychologe und ärztlicher Sachverständiger eines solchen Über- 
falles versehen: den Teufel spürt das Völkchen nie und wenn er sie beim 
Kragen hätte. 

Was die Form des Versprechens, die Art seiner Entstehung und die Natur des 
unterdrückten Gedankens anlangt, sei an einen Ausspruch Nietzsches 
erinnert, den uns die Fehlleistung der Konfirmandin ins Gedächtnis zurück- 
ruft. Von ihm stammt das böse, gegen die Frauen gerichtete Wort: „Das Fleisch 
ist willig, aber der Geist ist schwach." 

Die Theorie des Kriminalisten und ärztlichen Psychologen N ä c k e legt 
deutlich Zeugnis von der Wirksamkeit der sekundären Bearbeitung in unserem 
Sinne ab, ja sie ist selbst ein Musterbeispiel einer solchen innerhalb der wissen- 
schaftlichen Arbeit. Sie zeigt, wie ein Kriminalist einen psychologischen Tat- 
bestand beurteilt, und sie läßt ahnen, warum er ihn so beurteilt. Was drängte 
N ä c k e dazu, die Erklärung, welche die nächstliegende war, sogleich anzu- 
nehmen und nun alle Tatsachen des Falles nur unter diesem Gesichtspunkte zu 

188 ) Eine Patientin erinnert sich, daß sie in einem Alter, das dem der Konfirmandin ent- 
spricht, gewöhnlich statt Südfrüchte Sündfrüchte las. Das Verlesen ist natürlich 
durch die unbewußte Erinnerung an die Bezeichnung „Früchte der Sünde" in schlechten 
Romanen bestimmt. 

153 



_v 



sehen? Natürlich ordnen sie sich ihm dann einheitlich und verständlich ein, 
aber man hat sich, diesem ersten Impuls folgend, vom Augenschein narren 
lassen wie die Vögel, die auf die gemalten Früchte des Apelles losflogen, um 
an ihnen zu picken. 

Materielle und psychische Realität 

Eine psychoanalytische Untersuchung des Justizirrtums, der verschiedenen 
Fehlerquellen zugeschrieben werden muß, ist hier nicht geplant. Wir wollen nur 
einige wenige, unbewußt wirkende Momente zeigen, deren Einmengung in das 
bewußte und rationale Denken zu Irrtümern geführt hat. 

Wenn wir zur Erörterung des Strafprozesses Gregor Adamberger zurück- 
kehren, so interessiert uns nicht so sehr das strafprozessual wichtige Verhältnis 
von Indizien und Gegenindizien als vielmehr die Frage: Was drängte die 
Richter und Geschworenen neben den rationalen Überlegungen zu ihrem 
Schuldspruch? Was ließ sie die Überzeugungskraft der Indizien überbewerten, 
was die ihnen entgegenstehenden Möglichkeiten geringschätzen oder ganz 
übersehen? 

Unsere Aufmerksamkeit soll zuerst dem Opfer dieses Justizirrtums, dem 
Lederarbeiter Gregor Adamsberger, gelten. Ist es nur ein tückisches Spiel des 
Zufalls, das ihn zum Objekt dieses Justizirrtums gemacht hat? Ist es gleich- 
gültig, wer ein solches Schicksal erlebt, wer von einem solchen Schicksal ge- 
troffen wird? Das ist eine Frage, die den Richter, den Staatsanwalt, die Ge- 
schworenen nicht beschäftigt. Sie geht heute die untersuchenden gerichtlichen 
Funktionäre nichts an — niemand kann sagen, ob sie sie morgen auch nichts 
angehen wird. Auch heute kann dieser Gesichtspunkt nicht hochmütig ausge- 
schaltet werden, wenn die angewandte Psychologie wahrscheinlich machen 
kann, daß er für die Wahrheitsfindung von besonderer Bedeutung ist, daß ein 
bisher unbekannter, das heißt seinem Wesen nach nicht erkannter psychischer 
Faktor die Wahrheitsermittlung stören kann. 

Es wäre natürlich Unsinn, in der Genese jedes Justizirrtums auf Grund von 
Indizienbeweisen die Lösung des Rätsels in der Persönlichkeit des fälschlich Ver- 
urteilten zu suchen. Es gibt eine ganze Reihe von solchen Justizirrtümern, bei 
denen diese Person keinerlei Rolle spielt, eine ganze Reihe von Fehlsprüchen, die 
auf dem Zusammenwirken äußerer Umstände und Zufälligkeiten beruhen und 
die mit psychischen Vorgängen in dem Verdächtigten nicht das Mindeste zu tun 
haben. Innerhalb der Gruppe der vermeidbaren Justizirrtümer gibt es aber eine 
Reihe von Fällen, deren Untersuchung es dem Psychologen gestattet, im Ver- 
halten des Angeklagten selbst einige seelische Faktoren klarzustellen, welche 
seine Verurteilung, beziehungsweise die Genese der richterlichen Überzeugung 
wesentlich mitbedingten. 

Wie alle Zeugen übereinstimmend aussagen, war Gregor Adamsberger ein 

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/ 



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brutaler und jähzorniger Mensch, der die frühere Geliebte oft roh mißhandelte. 
Er hat manchmal gedroht, die Juliane zu töten. Die Drohungen waren sicher- 
lich als psychologische Indizien in der Beweisführung, die zu dem Urteil 
führte, von großer Bedeutung. Sie waren freilich nur Ausdruck der Haßein- 
stellung Gregors gegen die unbequem gewordene Geliebte, aber dieser Ausdruck 
wurde für die Bildung der richterlichen Überzeugung wichtig. 

Jenseits der Bedeutung der bewußten Würdigung dieses Hasses beginnt nun 
ein bisher unbekanntes Gebiet: Ich meine die unbewußte Wahrnehmung der 
Intensität und der Tendenzen dieses Hasses. Das klingt zuerst grotesk; dieser 
Eindruck darf indessen nicht von der Überprüfung einer solchen Annahme ab- 
halten. Ein Einwand meldet sich sogleich: Dieser Haß hat keinen unbewußten 
Charakter; er hat sich in genügend heftigen und zahlreichen Zeichen mani- 
festiert. Wir wollen dem nicht entgegenhalten, daß die Drohungen und Be- 
schimpfungen Adambergers nicht so ernst genommen wurden, daß Mißhand- 
lungen der Frau in diesem Milieu nicht unbedingt als Äußerungen wütenden 
Hasses gewertet werden müssen. Wenn wir auch zugeben, daß der Lederarbeiter 
die frühere Geliebte gründlich gehaßt hat, ist dieser bewußte Haß stark und 
wirksam genug, um einen Mord zu planen und auszuführen? Wir wissen es nicht, 
wir wissen nur, daß Gregor den Mord nicht ausgeführt hat. Was ich hier nach- 
drücklich behaupten will, ist aber, daß es die Fortsetzung jener Wut oder 
jenes Hasses in das Unbewußte war, deren Echo sich bei den Richtern und 
den Geschworenen bemerkbar machte und ihren Fehlspruch mitbestimmte. Ich 
meine, die unbewußte Intensität dieses Hasses war eines der Momente gewesen, 
welche das Gericht zu dem Urteil Schuldig gelangen ließen, gerade jener Grad 
und jene Tendenz dieses unbewußten Haßgefühles, die zur Ausführung eines 
Mordes drängten. Aber ist diese Annahme nicht grotesk? Wie, die Tatsache, 
daß der Lederarbeiter Adamsberger einen so tiefen Haß gegen die Juliane hegte, 
daß er sie umbringen wollte, soll zu dem Urteil, daß er sie wirklich umgebracht 
hat, entscheidend beigetragen haben? Auf welchem Wege sollten die Gerichts- 
funktionäre von den unbewußten Vorgängen bei dem Angeklagten Kenntnis 
erhalten haben? Wir würden antworten: An bestimmten Zeichen 187 erkennt das 
Unbewußte der gerichtlichen Funktionäre jene unbewußten (oder nur zum Teil 
bewußten) Vorgänge beim Angeklagten und reagiert darauf so, als wären sie 
Bekenntnisse der materiellen Täterschaft. Es ist so, als ob die Richter und 
Geschworenen geheime Gedanken, Wünsche, Impulse so beurteilten und ver- 
urteilten, als ob sie reale Taten wären. Die Richter reagieren auf die Ausdrucks- 
bewegungen der Angeklagten in dem Sinne, daß die psychische 
Realität von ihnen der materiellen gleichgesetzt wird. 
Allen Ernstes will ich behaupten, daß die Verwechslung 

187 ) Auch im Leben sonst deuten wir mimische Zeichen, Betonungen, Gesten, die wir be- 
wußt nicht apperzipieren, im Sinne der unbewußten Regungen der Anderen und schlagen so 
eine Brücke zwischen dem Unbewußten des Anderen zu dem unseren. 

*55 



1 



. 



von unbewußt wahrgenommener psychischer Realität 
mit der materiellen Wirklichkeit einen bisher nicht ge- 
würdigten wichtigen ätiologischen Faktor des Justiz- 
irrtums darstellt. Die nähere Natur jener Kommunikation von 
zwei Unbewußten, am ehesten dem instinkthaften Erkennen der Tiere 
vergleichbar, bleibt nach wie vor rätselhaft. 

Nun sollte ich meine These durch die Darstellung anderer Beispiele wahr- 
scheinlich machen. Es geht nicht an, hier an einer großen Reihe von Fällen den 
neugefundenen Faktor in der Genese von Justizirrtümern zu zeigen. Nur noch 
e i n weiteres Beispiel sei angeführt, um einige Züge, die noch nicht betont wur- 
den, an ihm analytisch zu untersuchen. Es ist der Fall Steiner, der 1878 in Wien 
spielte 188 . Die Prostituierte Katharina Steiner wurde angeklagt, ihre Nachbarin 
Katharina Balogh ermordet zu haben. Man fand die Balogh am Morgen des 
3. April gegen 9 Uhr in ihrem Zimmer erwürgt. Die Hausleute sagten aus, daß 
noch um sieben Uhr morgens ein junger Mann bei der Prostituierten Balogh 
gewesen sei und mit ihr gefrühstückt habe. Die Tat mußte also zwischen sieben 
und neun Uhr morgens verübt worden sein. Katharina Steiner leugnete beharr- 
lich, obwohl die gründliche Voruntersuchung zahlreiche objektive und subjek- 
tive Verdachtsmomente gegen sie ergeben hatte. Die Anklageschrift stellte 
geradezu das Muster eines sachlichen und vollkommen überzeugenden Indizien- 
beweises dar. Die getötete Balogh war besonders schön gewesen; zwischen ihr 
und der Steiner hatte es oft Streit gegeben, weil die Steiner in hohem Grade 
eifersüchtig war. Einzelne Zeugen hatten gehört, daß die Steiner die Balogh 
bedroht hatte. Die Angeklagte hatte einen gewalttätigen Charakter; man kannte 
ihre ungebändigte Wildheit. Die Erforschung ihrer Vergangenheit ergab, daß sie 
öfters auch wegen Diebstahls bestraft worden war. Bei der Entdeckung des Mor- 
des benahm sie sich auffällig. Seit dem Tode der Balogh fürchtete sie sich, allein 
zu sein, was als Ausdruck ihrer Gewissensangst gewertet wurde. In gleichem 
Sinne wurden ihr unruhiges Wesen, ihr Aufschreien im Traum, einzelne Reden, 
die sie mit ihren Zellengenossinnen geführt haben sollte, bemerkt und ange- 
merkt. Widersprüche und Lügen waren in ihren Ausführungen leicht nachzu- 
weisen. In der Schwurgerichtsverhandlung benahm sie sich nach dem Zeugnis 
ihres Verteidigers „so beispiellos frech und ungeschickt, daß sie sich um jegliche 
Sympathie brachte. Mit bunten Bändern aufgeputzt, liebäugelte sie mit dem 
Publikum; ihr Mienenspiel und ihr herausforderndes Wesen standen im schroff- 
sten Widerspruch zur Schwere der Anklage. Zugleich legte sie eine so unge- 
stüme Heftigkeit an den Tag, daß eine Disziplinarstrafe von drei Tagen 
Dunkelarrest über sie verhängt werden mußte". Sie wurde wegen Mordes zum 
Tode verurteilt. Ihr Verteidiger Neu da berichtet, daß ihm von dem 



,8S ) Der Verteidiger Ncuda hat ihn in Katschcrs „Schuldlos verurteilt", Leipzig 
1895, S. 74 f., dargestellt. Ebenso Sello in „Die Irrtümer der Strafjustiz", S. 212 f. 

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Generalprokurator wie von den Richtern beider Instanzen 180 stets versichert 
worden sei, es sei nach reiflicher Erwägung des Falles und nach eingehendem 
Studium der Akten ihre unerschütterliche Überzeugung, daß niemand anderer 
als Katharina Steiner die Balogh ermordet habe. 

Solche Unerschütterlichkeit war indessen keine Gewähr gegen den Justiz- 
irrtum. Nach vier Jahren (das erstrichterliche Urteil gegen die Steiner war 
später zu einer Kerkerstrafe von sieben Jahren abgemildert worden) stellte 
sich der wirkliche Mörder. Es war der junge Mann, der am 3. April 1878 früh 
um 7 Uhr mit der Balogh gefrühstückt und das Mädchen dann erwürgt hatte. 

Hier hat sich unzweifelhaft die Wahrnehmung der unbewußten Wünsche der 
Steiner als Indiz verkleidet und maßgebend zur richterlichen Entscheidung 
beigetragen. Auch hier handelt es sich um die unbewußte Fortsetzung von Haß- 
regungen, die zu Todeswünschen geführt haben, denn es gab ja Streitszenen 
zwischen den beiden Frauen und es fehlte nicht an Drohungen der Steiner. Wenn 
aber die Gerichtsbeamten so die psychische mit der materiellen Realität ver- 
wechselt haben, so ist ihnen jemand anderer vorausgegangen: die Angeklagte. 
Diese war wütend auf die Balogh wegen ihrer Schönheit, sicherlich hat sie ihr 
bewußt oder unbewußt den Tod gewünscht und nun wird die Rivalin eines 
Tages wirklich ermordet aufgefunden. Die Steiner weiß natürlich, daß sie die 
Balogh nicht umgebracht hat — sie stellt ja den Mord sogleich in Abrede, aber 
wollte sie sie nicht umbringen? Hier nun, in dieser Koinzidenz von Wunsch und 
Realität, liegt die Lösung einer der wichtigsten Fragen, die uns nicht nur dieser 
Fall von Indizienbeweis aufgibt. Dieses Zusammentreffen liefert nicht nur das 
psychische Material zu einem wesentlichen Grunde, der die Richter zu der Ent- 
scheidung „Schuldig des Mordes" brachte. Daneben läßt diese sonderbare Begeg- 
nung psychischer und materieller Tatsachen vieles in der Haltung der Steiner 
verstehen, was sonst unverständlich bleiben muß, da sie ja die Tat nicht ausge- 
führt hat. So wird ihr Benehmen bei der Entdeckung des Mordes, das als so 
auffällig geschildert wird, psychologisch verständlich. Es mußte auffällig sein, 
denn es war Ausdruck jenes vehementen Schreckens, den Menschen verspüren, 
wenn sich plötzlich und ohne ihr Zutun einer ihrer dringendsten verbotenen 
Wünsche erfüllt. Diese Bestürzung der Steiner wird als Schuldbeweis gewertet 
und ist auch ein Schuldbeweis, wenn man nur die psychische Realität in Be- 
tracht zieht. Das unerwartete Zusammentreffen von psychischer und materieller 
Realität, das die Steiner mit blitzähnlicher Wucht treffen mußte, erklärt ana- 
lytisch ihre Furcht, nach dem Morde allein zu sein (aus der Angst vor der 
Rache der getöteten Balogh), ihr unruhiges Wesen usw., die als Ausdruck des 
bösen Gewissens der Mörderin als erstklassige Indizien gewertet wurden. Sie 
sind auch Ausdruck des bösen Gewissens, aber jenes, das sich auf die Mord- 
wünsche bezieht. Das Gericht hat so geurteilt, wie wenn nicht der wirkliche 
Mörder, sondern der morden wollte, schuldig wäre. 

18B ) Dr. Ncuda hatte die Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil eingebracht. 

*57 



, 



Statt ähnliche Beispiele anzuführen, sei betont, daß die Zeichen von 
Schrecken, Bestürzung und Schuldgefühl, die man als psychologische Indizien 
anführt, oft aus einem solchen überraschenden Zusammentreffen einer materiel- 
len Realität, wie es das Resultat eines Verbrechens darstellt, und einer 
endopsychisch wahrgenommenen starken Triebregung, die zu einem bestimmten 
Wunsche führte, zu erklären sind. Dasselbe gilt auch für ein Zusammentreffen 
von gewissen Umständen. So werden Ausdrucksbewegungen und mimische 
Zeichen von Richtern und Geschworenen häufig fälschlich oder vielmehr nur 
psychologisch richtig als verräterische Indizien gewertet. Da zeigt sich 
z. B. ein Angeklagter bestürzt, da er hört, ein Mord sei zu einer bestimmten Zeit 
verübt worden, und diese Überraschung wird als verdächtig registriert. Sie ist 
psychologisch sehr verständlich, wenn sich der Angeklagte z. B. erinnert, daß 
er gerade um diese Zeit voll Wut an den Ermordeten gedacht hat. Andere 
Zufälle zeitlicher und anderer Art, die unübersehbare Reihe von Fällen, in 
denen bestimmte Umstände für den Angeklagten überraschend zusammen- 
treffen, können denselben psychischen Effekt auslösen und werden häufig im 
Sinne von Indizien für die Schuldfrage gedeutet. 

In anderen Fällen von Justizirrtümern auf Grund von Indizienbeweisen ist 
es nicht die Intensität einer unbewußten Triebregung, die als nicht erkanntes 
Indiz in die Überlegung des Richters einfließt; es sind dann verdrängte, 
bewußtseinsunfähige Tendenzen, deren Wahrnehmung in der Genese des Ur- 
teils eine bestimmte Rolle spielt. Als klassisches Beispiel dieser Art empfiehlt sich 
etwa der Ritualmordprozeß. Die besondere Blutscheu der Juden ließ die 
Masse die verdrängten sadistischen und kannibalistischen Triebtendenzen, die 
schon in prähistorischer Zeit der Verfehmung verfielen, ahnen und jenen real 
unsinnigen Verdacht entstehen. Gerade der Gegensatz der verdrängten Trieb- 
welt und der bewußten psychischen Situation wird hier schicksalsbestimmend. 
Der besonders betonte Patriotismus eines Dreyfus und sein ziemlich snobisti- 
scher Drang, als Jude eine Rolle inmitten einer christlich-nationalen Offiziers- 
kamarilla zu spielen, hat natürlich nichts mit irgendwelcher Tendenz, sein 
Vaterland zu verraten, zu tun. In dem jüdischen Offizier muß doch ein Stück 
unbewußten Ressentiments gegen den hochmütig, christlich betonten 
Chauvinismus seiner Kameraden wirksam gewesen sein. Gewiß hätte ihn dies 
niemals zu irgend einer Aktion gegen den Generalstab getrieben; gerade seine 
isolierte Stellung, seine Langmut und seine bewußte Gleichgültigkeit gegen die 
Antipathie, die man ihm zeigte, haben vermutlich aufreizend gewirkt. Die unbe- 
wußte Wahrnehmung seiner militärischen Vorgesetzten hat sich wahrscheinlich 
gerade jener Gegenströmungen der Wut und des Aufruhrs, des Ressentiments 
bemächtigt. Seine Verurteilung ist sicherlich zum Teil durch die Mitwirkung 
dieser latenten, unbewußt gebliebenen Wahrnehmung verdrängter Affekte 
gegen seine Umgebung bedingt. 

Wir haben bei früherer Gelegenheit den Fall des Ehepaares Druaux kurz dar- 

158 



gestellt, in dem gar kein Verbrechen vorlag und doch eine verdächtigte Person 
wegen Mordes verurteilt wurde. In diesem Falle kann für den Psychologen 
wohl kein Zweifel bestehen, daß sich das Fehlurteil auf der unbewußten Wahr- 
nehmung der Triebregungen der Beschuldigten aufbaute. Gerade solche Fälle, 
in denen kein Verbrechen vorhegt und nachweisbar ein Justizirrtum an einem 
Verdächtigten begangen wurde, sind für den hier dargestellten Zusammenhang 
besonders lehrreich. Neue Beispiele könnten unseren Eindruck wohl verstärken, 
doch nicht verändern. Dieser Eindruck geht dahin, daß Richter und Sachver- 
ständige, Staatsanwälte und Geschworene häufig der bezeichneten unbewußten 
Verwechslung von psychischer und materieller Realität verfallen. Wie, Männer 
von Lebenserfahrung und -kenntnis, besonnen und der tätigen Seite des Da- 
seins zugewandt, sollten solchem Trug unterliegen? Und dies geschieht nicht 
etwa zur Zeit der Hexen, sondern in der des Radios, des Luftschiffes und der 
Traktoren? Dennoch gibt es keine Gewähr dagegen, daß sich Justizirrtümer 
dieser Art gerade zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, wiederholen. 
Gibt es keine Gewähr, so könnte man doch gewisse Vorsichten beachten; 
freilich nur wenn man weiß, wovor man sich zu schützen hat. Bisher hat meines 
Wissens noch niemand diese hier bezeichnete, psychologisch bedingte Quelle 
des irrtümlichen Indizienbeweises dargestellt. Vielleicht wird die vorliegende 
Abhandlung dazu beitragen können, durch Würdigung der hier klargewordenen 
unbewußten Faktoren Fehlurteile dieser Art mehr und mehr zu vermeiden. 

Sind wir unseiem gegenwärtigen Thema, dem der Vernachlässigung der 
unbewußten Vorgänge innerhalb der Wahrheitsfindung, gerecht geworden? Ich 
meine, nein, solange wir nicht betont haben, wie wenig Grund unsere Richter 
haben, auf ihre Vorgänger bei den Primitiven, die Zauberer und Schamanen, 
voll Verachtung herabzusehen. Wir haben das verborgene Band entdeckt, das 
von deren rohen und abergläubischen Vorstellungen zu denen einer hochent- 
wickelten Strafrechtspflege führt. „Jusütia est fundamentum regnorum". Aber 
was wäre das für ein Staat, der auf Magie aufgebaut ist? Es sind zum großen 
Teil doch dieselben Momente, welche den Urteilsspruch des modernen Rich- 
ters und den des Zauberers im australischen Busch bestimmen. Überlegen wir 
etwa den Fall der Frau Druaux: man findet den Mann und den Bruder unter 
verdächtigen Umständen tot, die Frau halbbetäubt. Die Männer sind an Gift 
gestorben. Niemand zweifelt nach dem vorangegangenen Streit daran, daß sie 
von der Frau vergiftet wurden. Die Richter verurteilen sie wegen Mordes. 
Die Australneger der niedrigsten Kulturstufe glauben ausnahmslos, daß jeder 
Tod auf Zauberei zurückgehe. Sir George Grey sagt uns z. B. von den 
Stämmen von West-Australien, daß „die Eingeborenen nicht zugeben, daß es 
etwas wie Tod durch natürliche Ursachen gibt; sie glauben, sie würden, wenn 
es nicht Mörder und die Böswilligkeit der Zauberer gebe, ewig leben". Wenn 
ein Eingeborener etwa durch einen Unfall oder durch irgend eine natürliche 
Ursache stirbt, so werden die Eingeborenen mit Hilfe bestimmter Zeremonien 

159 



, 



herausfinden, in welcher Richtung der böse Zauberer lebt, dessen böse Praktiken 
den Tod verursacht hat 1 " . F r a z e r gibt eine Unzahl von Beispielen dafür, daß 
jener Glaube bei den primitiven Stämmen universal ist "'. Bei den Primitiven 
wird der Unfall als solcher nicht anerkannt, oder vielmehr als von einem bösen 
Zauberer bewirkt angesehen. Unterscheiden sich jene modernen französischen 
Richter, welche Frau Druaux wegen Vergiftung ihres Gatten und Bruders ver- 
urteilten, wirklich in ihren kriminalistischen Grundansichten so sehr von den 
australischen Zauberern, die einen Todesfall zu untersuchen haben? Bei beiden 
ist die Wahrnehmung der unbewußten Aggressionstendenz ein den Schuldspruch 
entscheidend beeinflussendes Element. Wenn die Beantwortung der Schuldfrage 
in unserem repräsentativen Fall, dem des Lederers Gregor Adamsberger, mit 
der Entscheidung eines Zauberpriesters in einem Mordfall verglichen werden 
soll, wenn etwa der Bericht über das magische Ermittlungsverfahren bei be- 
stimmten zentralaustralischen Stämmen und der Bericht über den Mordprozeß 
Juliane studiert wird, fällt der Vergleich nicht unbedingt zu Gunsten des zivili- 
sierten Strafrechtsverfahrens aus. Welche Mittel wendet so ein primitiver 
Richter in der Wahrheitsfindung an? Nehmen wir der Abwechslung halber das 
Beispiel afrikanischer Stämme. Nach N a c h t i g a 1 s 192 Bericht entdeckt man 
den Zauberer, der den Mord eines Stammesgenossen verschuldet hat, unter den 
versammelten Männern durch die Bewegungen eines Bündels bestimmten 
Grases oder Laubes. Nachdem dieses auf den Kopf eines weisen Mannes gelegt 
worden ist, treibt es diesen anscheinend hin und her, führt ihn nach mannig- 
fachen Schwanken und Taumeln zum Schuldigen hin und fällt vor ihm zu 
Boden. Was hindert uns, das mannigfache Schwanken und Taumeln und die 
Bewegungen des Grasbündels auf dem Kopfe jenes weisen Mannes mit den 
Überlegungen des Landesgerichtsrates Z. in der Beweiswürdigung im Mordprozeß 
Gregor Adamsberger zu vergleichen? Der weise Mann, welcher durch die Ent- 
scheidung des Grasbündels den Neger U für schuldig des Mordes erklärt, hat 
für seinen Spruch vielleicht ebenso gute Gründe wie jener Landesgerichtsrat. 
Wenn die psychische Realität mit der materiellen verwechselt wird, wie wir in 
der Analyse verschiedener Justizirrtümer erkannt haben, taucht hier unerwartet 
ein Gesichtspunkt auf, der den Richter in London, Paris, Berlin und seinen 
schwarzen ungelehrten Kollegen über den Abgrund der Kulturen hinweg 
verbindet. 

Dieser Gesichtspunkt ist am besten als unbewußte Anerkennung der Allmacht 
der Gedanken zu bezeichnen. Die Forschungsreisenden und Missionäre berichten 
uns von den wilden und halbwilden Völkern, wie tief eingewurzelt dieser 

lM ) Sir George Grey, Journal of two Expeditions o} Discovery in North-West and 
West-Australia. London 1841, II., S. 238. 

1B1 ) J. G. Frazer, The Belief in Immortality and the Worship of the Death. London 

1913. I. Bd. 

1M ) S. Nachtigal, Sahara und Sudan. Berlin 1879. II. Bd. S. 686. 

160 









Glaube ist und daß er seine guten psychologischen Gründe hat. Pechucl- 
L o e s c h e erklärt uns in seinem Bericht über die Loango-Expedition ,93 , daß 
es manche Personen gibt, die sich selbst für Hexen im schlimmsten Sinne halten. 
Dies ist verständlich, da ja die feindliche Gesinnung genügt, um zu schaden und 
zu töten, der böse Wille der Tat gleichgesetzt wird. Wir werden an die Psycho- 
genese mancher Urteile, die sich auf Indizienbeweise aufbauen, gemahnt, wenn 
wir von den Negern lesen: „Böse Gedanken können scheinbar Erfolg haben, 
bedingen böses Gewissen, sogar Selbstanklagen oder doch ein Betragen, 
das in Anderen Verdacht erweckt und sie zu Beschuldigungen ermutigt, zumal 
die mannigfaltigen persönlichen Beziehungen recht gut durchschaut werden." 
Es ist dieselbe unbewußte Würdigung der Allmacht der Gedanken, die für 
manche Justizirrtümer unserer Kulturen verantwortlich zu machen ist. 

Ein alter deutscher Spruch sagt: „Für's Denken tut man ein' nicht henken". 
Die analytische Erforschung der Ätiologie des Justizirrtums zeigt, daß man 
„für's Denken" schon zahlreiche Personen gehenkt hat und daß der Spruch 
falsch ist wie so viele gute, alte, deutsche Sprüche. 



Zur Zukunft der Strafrechtspflege 

Es wurde hier dargestellt, daß die Personen, denen die Verbrechensaufklärung 
und die Beweiswürdigung obliegen, manchmal einem Trugbild unterliegen, 
da sie die psychische Realität mit der materiellen verwechseln, indem sie 
unbewußt Gedanken wie Taten behandeln. Die gerichtlichen Funktionäre 
würden im einzelnen Fall, da ihnen eine so fatale Verwechslung nachgewiesen 
würde, sicherlich den Gedanken an ein solches Tun entsetzt von sich weisen. 
Vielleicht ist ein solcher Irrtum gerade dadurch ermöglicht, daß die Gedanken, 
die unbewußt Taten gleichgesetzt werden, keineswegs die geringschätzige, ja 
verächtliche Behandlung verdienen, die wir ihnen bewußt angedeihen lassen. 

Es wurde hier versucht zu zeigen, welche Bedeutung unbewußten Gedanken 
im Rahmen der Strafrechtspflege für die Beweiswürdigung zukommt, ja wie sie 
in der Entscheidung über Tod und Leben von Angeklagten verborgen mit- 
wirken. Hier tauchen neue Fragen auch für die Strafrechtspflege auf, die einer 
Generation vor uns nicht nur unbekannt, sondern unvorstellbar gewesen wären. 

Man kommt ihrem Verständnis am besten durch folgende Überlegung nahe: 
Die Warnung vor der unbewußten Überschätzung der Macht der menschlichen 
Wünsche, wie sie auch in der Psychogenese der richterlichen Über- 
zeugung häufig erkennbar ist, hat die andere Seite des Problems erkennen 
lassen. Jene unbewußte Überschätzung ist dadurch bedingt, daß wir in einer 
Hypertrophie rationalistischen Eifers die psychische Wirksamkeit unbewußter 

1M ) Eduard Pechuel-Loesche, Die Loango-Expedition. Stuttgart 1907. 3. Abt. 
2. Hälfte. S. 33J. 

Rcik : Der unbekannte Mörder n l6l 



■ 



Gedanken unterschätzt, ja gar nicht erkannt haben. Sie haben sich gleichsam 
gerächt, indem sie die Grenze zwischen Tat und Gedanke, verbrecherischem 
Delikt und verpönter Wunschregung verwischt haben, selbst wenn es die 
richterliche Entscheidung über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten galt. 
Vielleicht ist eine solche verhängnisvolle Grenzüberschreitung geeignet, uns 
vor die Frage zu stellen: ist die verbrecherische Tat wirklich etwas so Unge- 
heures und Unvorstellbares, so fern von uns Liegendes, wie wir bekennen? 
Wenn wir alle so böse Wünsche in uns beherbergen und ihr Bereich so weit 
geht, daß Richter manchmal auf Grund der Wahrnehmung dieser unbewußten 
Wünsche zu Fehlsprüchen kommen, bildet es wirklich eine Welt von Unter- 
schied, wenn die Grenzscheide zwischen Wunsch und Tat durchbrochen wird? 
Ist die Strafe wirklich die adäquate Reaktion auf einen solchen Durchbruch 
von der einen Ebene zur anderen? Muß nicht jede tiefere Betrachtungsweise 
dazu führen, die Fragwürdigkeit dieser Maßregel zu entdecken? 

Man sage nicht, daß eine solche Überlegung praktisch wenig Wert hat und 
keine Aussichten für die Zukunft gebe. Der Minister des alten Österreich 
Metternich hat über diesen Staat geäußert: „Unsere Feinde können uns 
nicht vernichten, weil sie nicht wissen, was sie an unsere Stelle setzen können." 
Eine solche Verlegenheit ist freilich auch in der Diskussion des Strafproblems 
vorhanden, aber jener Optimismus hatte, wie man weiß, dennoch eine recht be- 
schränkte Geltung. Die Zukunft ist uns verborgen, aber die Vergangenheit, von 
der wir immerhin einen Schimmer haben, zeigt, daß es mehrere radikale Ver- 
änderungen in der Strafrechtspflege gegeben hat. Der Wechsel menschlicher 
Anschauungen wird auch die Auffassung von Schuld und Strafe nicht unbe- 
rührt lassen. Gerade die Geschichte des Strafrechtes zeigt, daß jahrhunderte- 
alte gesetzliche Institutionen gleichsam über Nacht verschwinden. Wer von 
unseren Urahnen hätte sich die Einrichtung der Bewährungsfrist träumen 
lassen? Das Strafrecht der antiken Völker kannte nur den absoluten Ver- 
brechensbegriff, für den es keine Rücksicht auf die Individualität des Täters 
gab. Der Erfolg der Tat entschied allein über ihre Beurteilung. Ihr „Täter" 
war für sie verantwortlich, auch wenn er sie nicht beabsichtigt hatte, auch wenn 
er nur ein zufälliges Werkzeug war. Von dort gab es einen langen Weg bis 
zu der Stufe, auf der nicht der objektive Tatbestand, sondern das subjektive 
Verschulden, die Gesinnung des Täters entscheidend ist. Verwundert lesen wir 
die Berichte über jene Anschauungen einer überwundenen Strafrechtspflege. 
Vielleicht, nein, sicher wird eine Generation künftiger Kulturhistoriker von 
der Beweisführung unserer Prozesse so mitleidig denken, wie wir von der der 
Hexenprozesse. 

Die großen Veränderungen in der Strafrechtspflege werden gerade von den 
neuen Anschauungen, die wir der Wissenschaft von den seelischen Prozessen 
verdanken, ausgehen. Sie zeigt, daß die Begriffe schuldig und unschuldig, die 
häufig schon gegenüber den grob materiellen Tatbeständen versagen, unzu- 

162 



länglich sind 104 . Die Waage Justitias ist den neuen Anforderungen nicht ge- 
wachsen. Wenn, wer einen Mord nur gewünscht hat, völlig unschuldig ist, 
während derjenige, der ihn etwa durch Zufall verursacht hat, schwerste Strafe 
erleidet, so wird die Idee der Gerechtigkeit zur Phantasmagorie. 

Heute können wir uns nicht vorstellen, daß- Begriffe wie Schuld, Strafe und 
ähnliche, einmal verschwinden werden. Die hohe strafrechtliche Wertung der 
Tat als solche stammt aus einer Kulturphase, die jetzt zu Ende geht. Ein großer 
Dichter hat gerade am Beispiel eines Indizienbeweises gezeigt, wie unzuläng- 
lich ein solcher Tatbegriff wird, wie problematisch unsere Strafrechtspflege 
noch immer ist. Der tiefste Sinn des Karamasoffromanes erschließt sich erst 
dem, der die Nichtigkeit des sogenannten objektiven Ermittlungsverfahrens 
erkennt. Es ist nicht so wichtig, welcher von den drei Brüdern die Tat ausge- 
führt hat; psychologisch kommt es mehr darauf an, wer sie gewünscht hat, und 
alle haben sie herbeigesehnt. Von hier aus führen nur einige Schritte zu einem 
Standpunkte, der annimmt, daß wir alle schuldig werden. 

Die Vertrauenskrise der Justiz geht* viel weiter, als sich auch entschiedene 
Reformer träumen lassen, und ihre Voraussetzungen sind von tieferer Art, als 
etwa Alexander und Staub in ihrem Buche annehmen. Es handelt sich 
nicht nur, wie jene analytischen Autoren in ziemlich kurzsichtiger Art meinten, 
um Klassifizierung der Rechtsbrecher, um Unterscheidungen des Beteiligungs- 
grades des Ichs usw. Andere Fragen werden zur Diskussion stehen und, was 
uns heute utopisch erscheint, wird einer künftigen Zeit vielleicht als Banalität, 
unsere Kulturerrungenschaften ihr als Barbarei vorkommen. Die Tat als solche, 
die jetzt als integraler Teil des Strafrechtes gilt, wird vermutlich eine ver- 
änderte Wertung erhalten, die Psychologie dann eine anders geartete Rolle 
spielen 1 " 5 . 

Vielleicht aber ist unser Blick zu optimistisch, vielleicht sehen wir schon 
nahe, was erst in weiter Ferne schwebt. Vielleicht gilt auch für die allge- 
meineren Gesichtspunkte der Strafrechtspflege, was wir an ihren Verände- 
rungen im Einzelnen beobachten: Auf unseren Opernbühnen erscheinen manch- 
mal Chöre von tapferen Kriegern, die voll Entschlossenheit singen: „Wir 
marschieren, wir marschieren!" und dabei Marsch auf der Stelle machen, ohne 
einen Schritt vorwärtszukommen. Manchmal möchte man meinen, es werde 
hier Gehaben und Gangart der Strafrechtsreform dargestellt. 

Die „Allmacht der Gedanken" im Strafprozeß 

Von den dargelegten psychologischen Annahmen aus erklären sich auch 
manche Züge in der Haltung und im Benehmen vieler Beschuldigter. Wenn 

,M ) „Das Recht ist und bleibt ein verhältnismäßig ganz grobes Instrument, ein Beil, kein 
Rasiermesser oder Mikrotom" (J. J. A n o s s o w. Tat und Täter. Monatsschrift für Kriminal- 
psychologie und Strafrechtsreform, 12. Jahrg., Sept. 1931, 9. Heft). 

l * 5 ) Der vorzügliche Artikel von J. J. A n o s s o w, „Tat und Täter" (siehe oben), bringt 
einige solcher Perspektiven der künftigen Strafrechtspflege. 






ein verborgenes Schuldgefühl wirksam ist, wird die intellektuelle Abbiendung 
verständlich, die sich in "Widersprüchen und dummen, unstichhältigen Ver- 
antwortungen äußert, die in scharfem Gegensatz zur sonstigen Intelligenz des 
Angeklagten steht. Ein Musterbeispiel dieser Art bietet der Fall Halsmann; 
die Aussagen des (unschuldig) wegen Vatermordes Angeklagten waren mit den 
Tatsachen und mit anderen eigenen Aussagen in unlösbarem Widerspruch. 
Seine Angaben waren nach dem Eindruck guter Beobachter „so blöd erfunden, 
daß er sich durch dieselben geradezu die Anklage zuziehen mußte". In solcher 
Lage scheint es manchmal, als ob sehr kluge Angeklagte von Vernunft und 
Logik verlassen wären und nur ihren geheimen Affekten folgten. Widersprüche, 
die von dem Angeklagten sonst sicherlich als solche erkannt würden, werden 
hartnäckig festgehalten. Einer der Sachverständigen im Prozeß Halsmann hat 
sich in seinem Gutachten über das Benehmen des Angeklagten folgendermaßen 
geäußert 190 : „Vor allem macht sich bei der Verhandlung seine vordringliche 
Rechthaberei und kniffige Rabbulistik unangenehm bemerkbar. Halsmann 
machte der Verteidigung auch dadurch Schwierigkeiten, daß er sich ihrer 
Führung schlecht fügte, immer wieder selbst eingriff, um in aufdringlich lang- 
atmigen Darlegungen und Wiederholungen Umstände, die seiner Sache förder- 
lich erschienen, zu Gehör zu bringen. Eigensinnig kämpfte er dabei nicht selten 
um Dinge, die entweder nebensächlich oder schon überholt sind." Derselbe 
Sachverständige betont, Halsmann trage „ein herausforderndes Benehmen zur 
Schau, das in Anbetracht der schweren Belastung einen üblen Eindruck machte 
und selbst die Verteidiger manchmal bewog, Halsmann abzuwinken". Ein so 
sonderbares Verhalten zeigt sich manchmal bei unschuldig Angeklagten; es ist, 
als wollten sie durch ihre Streitlust und Arroganz die Antipathie des Gerichts- 
hofes geradezu herausfordern. Gewiß ist dieses Verhalten zum Teil durch die 
falsche Anschuldigung psychologisch erklärbar, indessen ist es oft durch die 
verborgene Gedankenschuld mitbestimmt. Es besteht sicherlich keine Staats- 
bürgerpflicht, den gerichtlichen Funktionären sympathisch zu sein, aber auch 
keine Verpflichtung des Gegenteils. Das geschilderte Benehmen hat meistens die 
unbewußt gewollte Wirkung und seine Beurteilung tritt häufig als geheimes 
Verbindungsglied in die Indizienkette ein. Es wird oft vom Richter und Staats- 
anwalt als Ausdruck des Trotzes und Schuldbewußtseins gewertet. In manchen 
Fällen besteht kein Zweifel, daß diese vom unbewußten Schuldgefühl diktierte 
Reaktion der Sache des Angeklagten sehr geschadet hat. Der Verteidiger der 
Katharina Steiner, deren Fall ich früher berichtet habe, erzählt, sie „benahm 
sich im Schwurgerichtssaal so frech und ungeschickt, daß sie sich um jegliche 
Sympathie brachte. Mit bunten Bändern aufgeputzt, liebäugelte sie mit dem 
Publikum. Ihr Mienenspiel und ihr herausforderndes Wesen standen im 
schroffsten Widerspruch zur Schwere der Anklage, zugleich legte sie eine so 

l9B ) Professor Meixner, zitiert in W. Gut mann, Das Fakultätsgutachten im Falle 
Halsmann. Berlin 193 1. S. jj. 

164 



ungestüme Heftigkeit an den Tag, daß eine Strafe von drei Tagen Dunkel- 
arrest über sie verhängt werden mußte." Ähnlich unsympathisch muß die Wir- 
kung des Verhaltens des Kapitän Dreyfus gewesen sein. Gute Beobachter ver- 
sichern, daß dieser elsässische Jude mit seinen kurzsichtigen Augen hinter dem 
Kneifer, dem hölzernen Benehmen und linkischen Gesten bei seinem Auf- 
treten vor dem Militärgericht wenig vom Offizier an sich hatte. Nicht nur 
Anatole France, der im Kampf um Dreyfus' Unschuld in der ersten Reihe 
kämpfte, hat bemerkt, wie unsympathisch die Persönlichkeit des fälschlich 
Angeklagten wirkte; sein eigener Verteidiger Demange mußte in seinem 
Plädoyer vor dem Kriegsgericht in Rennes diesen Punkt erwähnen 107 . 

Es bildet keinen Gegensatz zu dieser psychologischen Erwägung, wenn 
Dreyfus sein Verhalten nach dem Urteil änderte. Hier sind seelische Mächte 
im Spiel, deren Intensitäten sich in ihrem Widerstreit nicht abwägen lassen. 
Nachdem ihm, der sich unbewußt wegen seiner revolutionären Tendenzen 
gegen das feudale Offizierskorps und die Armee schuldbewußt fühlt, das 
Schmählichste widerfahren ist, was ihm angetan werden konnte, da erhebt sich 
dieser kleine Mensch vor dem Schicksal, das ihn zermalmt. Die Szene der 
Degradierung im Kriegsschulhof am 5. Jänner 1895 wird von allen Zeugen 
übereinstimmend geschildert: Dreyfus hebt beide Hände, die in Fesseln sind, 
in die Höhe und schreit: „Ich bin unschuldig!" Trommelwirbel setzen, wie 
befohlen, immer ein, wenn er sprechen will. Und nun kommt, nachdem die Ab- 
zeichen heruntergerissen worden waren und der Säbel zerbrochen war, das Defile 
des Verräters vor der Truppe. Die Menge die sich gegen das Gitter drängt, 
brüllt: „A mort, ä mort!" Dreyfus stößt die am Boden liegenden Abzeichen 
mit dem Fuße beiseite und tritt, ohne die Aufforderung abzuwarten, in die 
Mitte der Soldaten, die das schmachvolle Defile zu eskortieren haben. Er mar- 
schiert fast vor ihnen her, seine Gestalt scheint gewachsen; er reckt sich, sein 
Schritt ist hart, sein Blick erhoben. So macht er die Runde. Einer der Offiziere, 
erbost über soviel Hochmut eines Schweinehundes, ruft laut: „Der Kerl geht 
ja wie ein Offizier an der Spitze seiner Abteilung!" Es ist psychologisch nicht 
unwahrscheinlich, daß Dreyfus zum erstenmal in dieser Situation so ging. 

Andere, sonst unerklärbare Einzelzüge erhalten in diesem Zusammenhang 
einige Aufhellung: Durch die Einwirkung des unbewußten Schuldgefühls 
werden vermutlich manche unschuldig Verurteilte davon abgehalten, den 
„Kampf ums Recht" aufzunehmen, dazu geführt, auf die Wiederaufnahme zu 
verzichten 1£IS . Ein alter Rechtsspruch behauptet: „Volenti non fit injuria." Auch 

107 ) „Erklären Sie mir, bitte, wie es kam, daß Dreyfus, wenn er wirklich ein Verräter 
wäre, sich so unbeliebt gemacht hätte, wie es hier behauptet wurde. Wäre er ein Verräter 
gewesen, so hätte er sich gewiß mit allen seinen Kameraden auf guten Fuß gestellt . . ." 
(Sept. 1889). 

,BS ) Von der psychischen Wirkung des Glaubens an die Allmacht der Gedanken zeugen 
auch die Selbstbezichtigungcn verschiedener Art. Ihre analytische Untersuchung würde eine 
besondere Arbeit erfordern und lohnen. 

165 







wenn man von den zahlreichen Willkürakten und Dummheiten der Ämter 
absieht, ist der Spruch seinem Wortsinne nach nicht ganz richtig. Das Unbe- 
wußte eines Beschuldigten kann gerade das wollen, was er bewußt mit ganzer 
Energie von sich fernhalten will. 

Wir gelangen so wieder zu dem Problem, das in der seelischen Reaktion von 
Richtern, Geschworenen, Staatsanwälten auf das unbewußte Wollen des An- 
geklagten enthalten ist. Wenn die Annahme einer solchen unbewußten Wir- 
kung, die durch analytische Forschungen auf anderen Gebieten nahegelegt 
wird, zu Recht besteht, so muß sich auch in diesen Gerichtsfunktionären ein 
Stück des Allmachtsglaubens unbewußt lebendig erhalten haben. Diese ge- 
heimen Tendenzen werden sich mit Vorliebe gerade dort, wo man sie am 
wenigstens vermuten sollte, auf dem Gebiete der Logik, besonders im Bereiche 
des Indizienbeweises durchsetzen können. Natürlich handelt es sich dabei um 
eine hochsublimierte Form der Triebbefriedigung, die von grausamen und Be- 
mächtigungsimpulsen gefordert wird. In logischen Schlüssen, im Aufzeigen von 
Widersprüchen, im Kreuzverhör des Angeklagten wird sich das Allmachts- 
streben als „zwingende" Logik verkleidet geltend machen. Jene aus dem Un- 
bewußten stammenden Tendenzen werden sich im Aufbau eines lückenlosen 
Indizienbeweises am unverdächtigsten äußern dürfen. Der „Wille zur Macht" 
erscheint hier als Wille zur Wahrheit. Mit Recht hat man darauf hingewiesen, 
daß Rechtsprechen ja nicht eine abstrakte logische Operation, sondern ein Akt 
des Willens, eine Tat ist 1 "". Die Metaphern und Bilder, die wir etwa vom 
Indizienbeweis gebrauchen, weisen deutlich auf diesen sadistischen Untergrund 
hin: Man sagt, das Netz des Indizienbeweises schließe sich immer enger um 
den Angeklagten. Wir hören von der unerbittlichen Logik des Staatsanwaltes, 
von der „räumlich-zeitlichen Einkreisung des Täters" 20 °. Die Verwandtschaft 
bestimmter Vernehmungstechniken mit der Tortur ist unverkennbar. Der 
vielleicht hervorragendste Kriminalist der letzten Jahrzehnte, Hans Gross, 
legt unfreiwillig Zeugnis von diesem Charakter der Vernehmung als tortura 
spiritualis ab, wenn er schreibt 2I " : „Vor allem fordere ich vom Untersuchungs- 
richter einen bedeutenden Grad jener Eigenschaft, die sich einzig und allein 
mit ,Schneidigkeit' bezeichnen läßt. Es gibt nichts Traurigeres und Unbrauch- 
bareres als einen langweiligen, mattherzigen und schläfrigen Untersuchungs- 
richter: ich glaube, ein Kavallerist dürfte eher noch diese Eigenschaft haben 
als ein Untersuchungsrichter; und wer keine Schneidigkeit in sich fühlt, der 
wende sich ja gewiß zu einem anderen Zweige juristischer Tätigkeit . . ." 

1M ) „Rechtsprechung ist nicht nur rein juristisch-technische Kunst, ist auch Willensakt, ja 
in viel höherem Maße als jene." Deinhardt, Erfahrungen und Anregungen zur Kunst 
der Rechtspflege. Jena 1909. S. 43. 

"•) Max Rumpf, Der Strafrichter. Berlin 1912. S. 98. 

MI ) Handbuch für Untersuchungsrichter. I. Teil. S. 34. 

166 



- 



Nicht nur der hier angeführte Vergleich entspricht dem Geiste der 
Justitia militans. 

Jener Allmachtsglaube wird als gedankliche Repräsentanz narzißtischer 
und grausamer Triebregungen dort am klarsten, wo er, wie in der Konstruk- 
tion eines Indizienbeweises, von falschen Voraussetzungen aus die Realität 
unter seine Gesetze zwingen will. Ich habe früher dargestellt, wie aus kleinen 
Verdachtsgründen, zuerst unter sorgsamer Selbstkritik, dann immer kühner 
und sorgloser, zuerst peinlich überprüft, dann in seltsamer Verblendung, eine 
Konstruktion aufgebaut wird, deren Logik dieselbe ist wie die eines Wahn- 
systems. Die Kooperation bewußter und unbewußter Triebregungen wird von 
dem Richter nicht als solche erkannt, da sich Abkömmlinge des Verdrängten 
als Bewußtseinsmomente verkleiden. Richter und Geschworene sind meistens 
stolz darauf, daß dunkle Gefühle keine Macht über sie haben, wenn es die 
Beweiserhebung und -Würdigung gilt, daß sie nur die „Sprache der Tatsachen" 
gelten lassen. Der Untersuchungsrichter ahnt in bestimmten Fällen nicht, daß 
er unbewußt alle Tatsachen seiner Theorie anpaßt und in seinen Gedanken die 
Realität nach seinem Willen umformt wie nur ein Gott. Die Zeugen werden 
unbewußt in die bestimmte Richtung gedrängt, dem Angeklagten Lügen und 
Widersprüche nachgewiesen, jedes seiner Worte im Sinne jenes Systems ge- 
deutet, jede Tatsache ihm angepaßt. Im Falle Gregor Adamsberger haben wir 
die ungeheure Macht des Irrtums, die zähe Energie des Vorurteils, die Unbe- 
irrbarkeit der falschen Logik und die hoffnungslose Unfähigkeit des sogenann- 
ten gesunden Menschenverstandes zu erkennen geglaubt. Alle diese Züge sind 
psychologisch nur erklärbar, wenn hinter dieser Treibjagd der Indizien, die als 
Beweiserhebung erscheint, umso heftigere Leidenschaften wirksam sind, je 
„vorurteilsloser" und scheinbar sachlicher die Wahrheitsfindung angestrebt 
wird. Jene sadistische Triebwelle, die sich in vergeistigtester Art im Zwange 
logischer Prozesse auswirkt, wird in der Endphase des Strafprozesses deutlicher: 
Die Beweiskette ist gewissermaßen der provisorische Ersatz der Sträflingsketten. 
Sichtlich steigert sich der Eifer des Richters und Staatsanwaltes, die Beweis- 
führung wird durch Widerspruch reizbarer, die eigene Meinung wird umso 
zäher festgehalten und verfochten, je unwahrscheinlicher sie zu werden droht. 
Den Indizienbeweis lückenlos zu gestalten, wird unbewußt zu einer intellek- 
tuellen Leistung von sozusagen sportlichem Charakter. Hinter dem narziß- 
tischen Stolz auf den eigenen Scharfsinn wird doch der grausame Trieb- 
anspruch fühlbar. Die Treiberkette der Indizien entlang geht die Jagd bis zum 
Halali des Urteilsspruches. Im Verlaufe des Verfahrens ist der Ehrgeiz des 
Richters und Staatsanwaltes wach geworden; ihr Eifer geht nun dahin, den 
Indizienbeweis unangreifbar zu machen. Jenes Allmachtsstreben des Richters 
ist erst befriedigt, wenn die Welt sein Wille und seine Vorstellung geworden ist. 
Er hat bewiesen, daß richtig ist, was er gedacht hat, daß seine Vermutungen mit 

167 



^ _ 



der Wirklichkeit übereinstimmen. Der Beweis ist gelungen: quod indiciis de- 
monstrandum erat 203 . 

Bei solcher heimlicher Mitwirkung triebhafter Faktoren, die umso wirk- 
samer sind, je sorgsamer der Richter bewußt auf die „reine" Logik bedacht 
ist, wird die Häufigkeit des Justizirrtums auf Grund von Indizienbeweisen 
nicht überraschen 20S . Es ist eher überraschend, daß sie nicht häufiger sind. 

Auch der Sieg der Logik über die Widersprüche der Realität ist ein Sieg der 
Allmacht der Gedanken. Das Rätsel hat etwas höchst Unbefriedigendes für 
den menschlichen Geist. Schon seine Existenz ist geeignet, unser Selbstgefühl 
zu beeinträchtigen. Die Versuchung, jene dadurch bedingte psychische Span- 
nung durch Einwirkung des gedanklichen Willens, der die Welt durch Aus- 
füllung von Lücken verständlich macht, loszuwerden, ist groß. Man ahnt, daß 
hinter solchem Ehrgeiz der Trieb seine Befriedigung sucht, die Grausamkeit des 
sozialen Menschen nach verborgener Sättigung verlangt™*. Kein Zweifel: Die 
Überzeugung des Richters, der Geschworenen usw. ist selbst eines der ernstesten 
Indizien in der Tatfrage. Der unbewußte Drang ist auf die Bestätigung der 
eigenen Ansicht gerichtet. Das Selbstgefühl in einer Welt, die uns an allen 
Ecken und Enden unsere Hilflosigkeit fühlen läßt, wird durch solche Bestä- 
tigung gehoben 20! . 

ItKI ) So hat Calvin auf Grund äußerst scharfsinniger logischer Beweisführung in vier 
Jahren über fünfzig Personen aus theologischen Gründen hinrichten lassen. Luther meinte 
bei dieser Gelegenheit, daß „die Henker nicht die besten Doktores" seien. 

™») Kein Geringerer als Emil« Zola hat geschildert, -wie sich aus kleinen Verdachts- 
gründen beim Untersuchungsrichter eine bestimmte Überzeugung bildet und sich gegen alle 
Argumente siegreich erhält, sogar Absurditäten in den Kauf nimmt, Zufälle ausschließt, wo 
sie nicht in das gedankliche System passen, Unwahrscheinlichkeiten gelten läßt und alle 
widerstrebenden Momente in ihrem Sinne umdeutet („La Bete Humaine"). Zola zeigt, wie 
ein Untersuchungsrichter dem Geständnis eines Mörders einen unbesiegbaren Unglauben ent- 
gegenbringt, weil einige Einzelheiten in dessen Erzählung nicht in das System passen. Der 
Untersuchungsrichter folgt seiner mit großem Scharfsinn aufgebauten und gestützten falschen 
Theorie mit der unbewußten Leidenschaftlichkeit, die Monomanen zeigen. Der Vorgang des 
Verbrechers muß sich so abgespielt haben und nicht anders; auch hier wird der Glaube 
an die Allmacht der Gedanken für die Beweiserhebung verhängnisvoll. 

2M ) Jetzt haben auch andere Beobachter unter dem Einflüsse der analytischen Lehren auf 
die Wirksamkeit dieser unbewußten Triebregungen hingewiesen (z. B. Max A 1 s b e r g, Das 
Weltbild des Strafrichters. Berlin 1930). Sello (Psychologie der cause celebre, Berlin 1910. 
S. 19) zitiert den Ausspruch eines erfahrenen Verteidigers während der Verhandlung eines 
sensationellen Mordprozesses: „Die Sache steht schlecht, es ist zuviel Blut darin." Dieses 
Zuviel bezieht sich auf den Richter; auch seine Phantasie hat Blut geleckt. — Der wahn- 
sinnige Lear erkennt, daß im Richter dieselben Triebkräfte, die im Verbrechen ihre Befrie- 
digung fanden, in der Urtcilsbildung latent wirksam sind: „Sich, wie jener Richter auf den 
einfältigen Dieb schmält! Horch' unter uns: den Platz gewechselt und die Hand gedreht, 
wer ist Richter, wer ist Dieb?" 

S06 ) Der Verteidiger Max A 1 s b e r g bemerkte, es sei unter deutschen Richtern nicht 
selten der Aberglaube anzutreffen, „das Eingeständnis, die zur Verurteilung erforderliche 
Überzeugung nicht gewinnen zu können, diskreditiere über den Einzelfall hinaus die ganze 
Straf rechtspflege". Der Anwalt setzt hinzu: „Ich schöpfe nicht aus dem hohlen Faß, wenn ich 
offen ausspreche, daß es Richter gibt, die in einer Freisprechung ein Armutszeugnis erblicken, 

168 



Ein deutliches Zeichen, wie stark jenes triebhafte Element in der Genese der 
Beweiswürdigung und des Urteils ist, ist das deutliche Sträuben des Richters 
und der anderen maßgeblichen Faktoren gegen den Wiederaufnahmeantrag 
eines Prozesses. Ich kann natürlich nicht auf die juristische Seite dieses 
Problems eingehen, auch mit Bezug auf die psychologische muß ich mich auf 
eine Bemerkung beschränken 200 . Es ist bekannt, wie feindlich die Stellung der 
meisten Richter gegenüber einem Wiederaufnahmeantrag ist. Es ist klar, daß 
ein solcher Antrag ihrem narzißtischen Stolze abträglich ist. Hirschberg 
betont mit Recht 207 , es müsse „die Zumutung, das eigene Urteil, besonders 
wenn es für den Angeklagten vernichtend war und wenn es schon jahrelang 
verbüßt ist, als Fehlurteil anzuerkennen, auch bei dem hochstehenden Richter, 
und vielleicht gerade bei diesem, heftigen Widerstand auslösen". Das unbe- 
wußte Schuldgefühl wird sich in jenem Sträuben neben der narzißtischen 
Kränkung geltend machen. Nur so ist es zu erklären, daß die betreffenden 
Gerichtsstellen manchmal, wie es ein geistreicher Schriftsteller 208 nur mit 
geringer Übertreibung ausgedrückt hat, „den Justizmord der eigenen Kom- 
promittierung bei weitem vorziehen". 

Die Verdrängung in der Beweiserhebung 

Der Fall des Lederarbeiters Gregor Adamsberger erweist sich als lehrreicher 
als wir gedacht, denn er kann, analytisch gesehen, über mehr als eine Gefahr, 
die mit dem Indizienbeweis verknüpft ist, Aufklärung geben. Gegen den An- 
geklagten bestand eine Reihe von Indizien, deren Beweiskraft sich auf Zeit, 
Gelegenheit und Motiv der Tat bezog. Wir wissen, daß ihr Gewicht durch 

das man nicht ausstellen könne ohne das bittere Gefühl, der Strafrechtspflege in ihrer 
Gesamtheit zu schaden." (Zitiert nach Rudolf Ol den und Josef Bernstein, Der Justiz- 
mord an Jakubowski, Berlin 1928, S. 6. Die Gelegenheit soll nicht vorbeigehen, ohne das 
Studium dieses kleinen Buches demjenigen, der sich für den Indizienbeweis interessiert, zu 
empfehlen.) 

300 ) Man erzählt, daß der Löwe, der einen Sprung getan und sein Opfer nicht erreicht, 
beschämt von dannen zieht. Etwas von dieser Scham lebt unbewußt in dem Richter, der 
einen Angeklagten freisprechen muß, weil der Indizienbeweis nicht ganz gelungen ist. Gegen 
die Annahme einer solchen unbewußten Gesinnung des Richters, Staatsanwalts usw. werden 
gewiß manche Einwände geltend gemacht werden können. Manche Beobachter leugnen freilich 
auch jenen Kleinmut des Löwen in der bezeichneten Situation, aber nur wenige dürften be- 
haupten, daß der Löwe befriedigt, sein Opfer schonen zu können, nach dem Fehlsprung froh 
seines Weges geht. 

* 07 ) Hirschberg gibt (Zur Psychologie des Wiederaufnahmeverfahrens. Monatsschrift 
für Kriminalpsychologie, 21. Jahrg., 7. Heft, 1930. S. 407) viele Beispiele solchen Sträubens 
gegen das berechtigte Wiederaufnahmeverfahren, ebenso S e 1 1 o (Die Irrtümer der Straf- 
justiz. I. Band. Berlin 1911. S. 462). Im gleichen Sinne spricht sich Aisberg (Justizirrtum 
und Wiederaufnahme. Berlin 1913. S. 47 ff.) aus. — Der Richter betrachtet es, wie Hirsch- 
berg meint, als eine moralische Niederlage, „wenn er anerkennen soll, daß der Staat an 
einem Nichtschuldigen die Vernichtung vollzogen hat". 

*•) Ich glaube: Alfred P o 1 g a r. 

169 



Ä ^ 



einen verborgenen Umstand verstärkt wurde, durch die Wahrnehmung der 
unbewußten Tendenzen Gregors, Juliane umzubringen. Wer aufmerksam den 
Bericht über den Prozeß verfolgt und sich die Beweiserhebung noch einmal 
vergegenwärtigt, wird sich fragen: Hat nicht Gregor Adamsberger ausdrück- 
lich ausgesagt, daß Juliane am Abend ihrer Ermordung erzählt habe, sie wolle 
zu ihrem Geliebten, dem Sohne des Bäckermeisters Anton Kunz, gehen? Später 
gab er zu Protokoll, Juliane habe ihm erzählt, daß sie schon öfters mit Franz 
Kunz in der Laubhütte seiner Eltern Zusammenkünfte gehabt habe. Auch an 
jenem Abend sei sie von Franz Kunz zu einer heimlichen Verabredung bestellt 
gewesen. Das waren deutliche und unzweideutige Mitteilungen. Was ist mit 
ihnen geschehen? Die Richter, der Staatsanwalt und die Geschworenen konn- 
ten unmöglich später sagen, sie wären nicht zu ihrer Kenntnis gelangt. Besser 
begründet wäre die Angabe, sie hätten diese Aussagen nicht zur Kenntnis ge- 
nommen. Sie konnten freilich darauf hinweisen, wie unglaubwürdig diese Mit- 
teilungen Gregor Adamsbergers klangen. Die Mitteilungen von des Mordes drin- 
gend Verdächtigten klingen dem Untersuchungsrichter freilich immer unglaub- 
würdig, hier aber war dieser Klang besonders eindringlich. Der kaum sechzehn 
Jahre alte, unscheinbare Junge, der als schüchtern und sittenrein bekannt war, 
sollte mit der mehr als doppelt so alten, unschönen, berüchtigten Frau ein 
Verhältnis haben? Und niemand in dem kleinen Marktflecken sollte davon 
eine Ahnung gehabt haben? Es wäre auch unglaublich und unglaubhaft ge- 
wesen, wenn das Alibi des jungen Bäckergehilfen nicht festgestanden hätte. 
Seine eigene ruhige Aussage ließ so unwahrscheinliche sexuelle Beziehungen 
noch unglaubwürdiger erscheinen. Nun aber, zumal sich noch eine Angabe 
Gregor Adamsbergers über den angeblichen Verkehr zwischen Juliane und 
Franz Kunz als völlig unwahr erwies, erkannte man klar, daß die Aussage des 
Beschuldigten frei erfunden war. Man erinnert sich, jene Angabe hatte von 
einem Zettel wissen wollen, den angeblich der dreizehnjährige Sohn der Juliane 
dem Franz Kunz geben sollte und in dem sie den Bäckerjungen aufforderte, 
Geld für sie bereitzuhalten. Gregor fügte als Detail der Erzählung Julianes 
noch hinzu, Franz Kunz habe sie wegen ihrer Unvorsichtigkeit ausgezankt. Es 
war alles erfunden und erlogen. 

Die Angaben Gregors über Franz Kunz waren klar und bestimmt gewesen. 
Gewiß, sie stimmten nicht mit anderen Tatsachen überein und niemand würde 
dem Burschen eine solche Tat zutrauen. Alles sprach für die Schuld Gregors 
und gegen die Schuld des Bäckerlehrlings. Und doch — es muß etwas Unaus- 
sprechliches gegen die Schuld Franz Kunz' gesprochen haben. Es muß neben 
allen Vernunftsgründen, über allen Vernunftsgründen ein starkes, aus den 
Tiefen kommendes Vorurteil bei Richter und Geschworenen die Annahme der 
Schuld von Franz Kunz zurückgewiesen haben. Wir glauben es zu erkennen, 
wenn wir dem heimlichen Sinn jener rationalen Gründe nachforschen, wenn 
wir nicht hören, was sie sagen, sondern was sie sagen wollen. Es ist äußerst 

170 



unglaubwürdig, daß der schwächliche Bäckerlehrling mit seinen sechzehn 
Jahren, als schüchtern und sittenrein bekannt, mit dem doppelt so alten, übel- 
beleumundeten Frauenzimmer ein Verhältnis gehabt hat? Er hätte ja ihr Sohn 
sein können! Ich glaube, gerade von hier aus könnte man die unbewußten 
Motive der Abwehr jener Behauptung Gregor Adamsbergers erraten. Klingt 
diese Abweisung einer Verdächtigung nicht wie die Abwehr einer Inzestver- 
dächtigung? Der von Gregor ausgesprochene Verdacht muß in Richtern, Ge- 
schworenen und Zuhörern an diese Reihe verpönter Vorstellungen gerührt haben. 
Ist nicht in dem von niemand geahnten Verhältnis des schüchternen sechzehn- 
jährigen Jungen mit der vierunddreißigjährigen Frau, die mehreremale geboren 
hat, in diesen heimlichen, nächtlichen sexuellen Szenen im Garten der Eltern 
etwas, das an den Inzest gemahnt? Ist es nicht so, wie wenn durch jene Beschul- 
digung unbewußt dieser tiefliegende gedankliche Komplex erweckt und damit 
starke seelische Abwehrkräfte mobilisiert worden wären? Die unbewußt affekt- 
besetzte Vorstellung des Inzests, die durch die AltersdifFerenz und die suppo- 
nierte sexuelle Beziehung zwischen Juliane und Franz nahegelegt wurde, wurde 
durch einen anderen Umstand noch näher gerückt. Der Sohn der Juliane, der 
nach den Angaben Gregor Adamsbergers sogar eine Vermittlerrolle bei dem 
Liebespaar gespielt hat, war dreizehn Jahre alt, der Liebhaber der Frau sechzehn 
Jahre. Die Kraft der Verdrängung, die sich hier in der Abwehr eines begrün- 
deten Verdachtes auswirkte, wird sich auch in anderen Fällen in verschiedener 
Form geltend machen, sei es, daß sie wichtige Gegenindizien übersieht, be- 
stimmte kausale Zusammenhänge zerreißt, gewisse Daten isoliert oder den 
Tatbestand verzerrt darstellt. Gewöhnlich kombiniert sich eine solche unbe- 
wußte Abweisung eines bestimmten Verdachts, eine solche durch Verdrängung 
bedingte oder zumindestens mitbedingte Vernachlässigung des wirklichen Sach- 
verhaltes mit der Konstruktion eines andersgearteten Bildes vom Tatbestand, 
wie wir es als System gekennzeichnet haben. Diese den wahnhaften Bildungen 
vergleichbare Vorstellungsreihe, welche das wirkliche Bild des Vorgangs ver- 
deckt, tritt durch die Wirkung der Verdrängungsmechanismen in ihrer Glaub- 
haftigkeit besonders klar hervor. Die vorhandenen Indizien bekommen da- 
durch, daß andere, in verschiedene Richtung zeigende Inzichten nicht beachtet 
werden, ein vervielfachtes Gewicht. Der Ausfall eines andersartigen Indizes, 
der sich so als Bedeutungsverstärkung der vorliegenden Anzeichen darstellt, 
kann in manchen Fällen zu katastrophalen Folgen führen ao °. 

Die Kriminalgeschichte der letzten Jahrzehnte zeigt eine große Reihe von Fäl- 

20B ) Im Februar 1911 wurde der Fleischer Eduard Trautmann wegen Ermordung der 
Arbeiterin Emma Sander verurteilt. Der Staatsanwalt verlangte von den Geschworenen auf 
Grund eines lückenlosen Indizienbeweises die Todesstrafe für Trautmann mit den Worten: 
„Vernichten Sie diese Bestie in Menschengestalt!" Sechzehn Jahre später, nach sechzehn 
Jahren Zuchthaus, wurde Trautmann freigesprochen. Es hatte sich herausgestellt, daß die 
Sander ein Opfer des Wütens des Massenmörders Karl Denke gewesen war, der zwanzig 
Morde verübt hatte, bevor die Kriminalisten seine Spur fanden. 

171 



len, in deren sorgfältiger Analyse man erkennt, daß Richter, Staatsanwälte un 4 . 
Geschworene bestimmte Möglichkeiten, die sich später als Tatsachen erwiesen, 
nicht beachteten oder achtlos beiseiteschoben, weil eine näherliegende Möglich- 
keit da war. Dieses Verhalten kann unmöglich einfach durch Nachlässigkeit 
oder Mangel an Aufmerksamkeit erklärt werden; es geht auch nicht an, die 
persönliche Integrität oder die intellektuellen Qualitäten dieser Gerichtsfunk- 
tionäre anzuzweifeln. Etwas Übermächtiges, weil Unfaßbares und Verborgenes, 
muß sich in ihnen gesträubt haben, als es galt, eine Tatsache bestimmter Art 
ins Auge zu fassen, die Verdrängung muß an bestimmter Stelle die Richtung 
der Gedanken abgelenkt haben. Nietzsche deutet gelegentlich diese Ver- 
drängungsschranke an: „Auch der Mutigste hat nur selten den Mut zu dem, 
was er eigentlich weiß." Es ist ein Unsinn, alle Militärrichter, Zeugen, Sach- 
verständigen im Falle Dreyfus als Idioten, Schurken oder Fanatiker hinzu- 
stellen, wie dies gelegentlich geschieht. Sicherlich sträubte sich in vielen von 
ihnen ein unbewußtes Gefühl dagegen, in einem der Ihren, in einem französi- 
schen Offizier, einen Verräter zu sehen, denn dies bedeutete den Niedergang 
des Heeres, der „gloire de l'armee", der nationalen Ehre. Wenn dies möglich 
war, so war es auch denkbar, daß ähnliche verräterische Regungen in jedem 
von ihnen lebten. Es war viel leichter vorzustellen, daß der Fremde, der 
jüdische Eindringling, sich einer solchen Untat schuldig machte. Hier wird 
deutlich, daß eines der Ziele der Verdrängungsmächte das ist, Unlust zu er- 
sparen, denn die Entdeckung des wahren Schuldigen in diesen Fällen ist ge- 
eignet, den Narzißmus des Einzelnen und der Massen zu kränken. 

Die unbewußten Faktoren, die in der Psychopathologie des Fehlurteils nach- 
weisbar sind, sind ihrer Wirksamkeit nach von zweierlei Art: Es sind solche, 
welche dazu drängen, einem Unschuldigen (im materiellen Sinne) die Tat zu- 
zuschreiben und solche, welche es verhindern, den wirklichen Täter zu er- 
kennen und anzuerkennen. Oder im Sinne des Indizienbeweises: solche, welche 
möglichst viele und gewichtige Indizien auf den scheinbar Schuldigen häufen 
und solche, welche vorhandene Indizien gegen den Schuldigen übersehen oder 
entwerten. Eine unbewußte Anziehung nach der einen Seite wird durch die 
Verdrängungsabwehr auf der anderen Seite vervollständigt. Ein großer Teil 
jener falschen Urteile auf Grund von Indizienbeweisen ist nur durch das 
Zusammenwirken jener beiden unbewußten Tendenzen zu erklären. Die An- 
ziehung ist wesentlich durch die unbewußte Kenntnis des Schuldgefühles der 
Stellungen, die den Gerichtsfunktionären peinÜch sind. Beide psychische Vor- 
stellungen, die den Gerichtsfunktion ären peinlich sind. Beide psychischen Vor- 
gänge dürfen sich an gute rationale Begründungen und an eine ausreichende 
Indizienkette anlehnen. 

Es kann hier nicht an einzelnen Beispielen geschildert werden, wie die 
psychischen Komponenten in dem bezeichneten Kräftespiel ineinander greifen, 
zusammen- oder einander entgegenwirken. Es muß genügen, an einem repräsen- 

172 



. -* 



tativen Beispiele die Wirksamkeit unbewußter Faktoren in der Psychogenese 
des richterlichen Urteils zu zeigen. Die Lehren, die sich aus der Einsicht in die 
seelische Tiefendimension ergeben, werden vielleicht den auf ihren Scharfsinn 
stolzen Richtern und Geschworenen nicht gefällig klingen. Es ist aber zu 
hoffen, daß sie solche narzißtische Kränkung rasch überwinden und die Erkennt- 
nis ertragen lernen, daß auch ihr Intellekt manchmal durch den Einbruch unbe- 
wußter Triebregungen eine Trübung erfährt. Wie dumm müßte jemand sein, 
der sich beständig für klug hält! 

Die Unheimlichkeit des unaufgeklärten Mordes 

In der vorliegenden Untersuchung, die sich sachte ihrem Abschlüsse nähert, 
sind bei Anführung von Beispielen Fälle von Mord und Totschlag bevorzugt 
worden. Dafür sind verschiedene Gründe anzuführen: Der Mord ist das 
schwerste Verbrechen und wird auch bei den primitiven Völkern als solches 
angesehen. Auch auf tieferen Kulturstufen wird der Mord als ein Verbrechen 
angesehen, das nicht dem Grade, sondern dem Wesen nach von den anderen 
unterschieden ist. Die entscheidende Rolle, welche Indizien gerade in der Auf- 
klärung von Mordfällen spielen, ist bekannt. Gerade an solchen Beispielen 
mußte Wesen und Werden des Indizienbeweises besonders gut darstellbar sein. 

Ich will ferner ausdrücklich behaupten, daß der Mord, dessen Täter unbe- 
kannt bleibt, für die meisten Menschen etwas Unheimliches hat, das anderen 
unaufgeklärten Verbrechen, etwa einem Kassendiebstahl, nicht eignet. Es ist ein 
besonderes Grauen, das nicht nur der Tat als solcher gilt; es ist ein Gefühl 
starker psychischer Unsicherheit, als wären wir selbst und unsere Lieben unbe- 
bekannten Gefahren ausgesetzt. Dieses Gefühl ist freilich mit anderen, ebenso 
dunklen gemischt. Der Mord durch einen unbekannten Täter, insbesondere 
Mord, bei dem es keine erkennbaren, auf den Täter weisenden Spuren gibt, hat 
fast etwas Unwirkliches in unserer modernen Zeit. Er scheint gegen alle unsere 
Denkgewohnheiten und gegen die rationalistische Auffassung, die uns das 
Leben und die Welt um uns verstehen läßt, zu verstoßen. Wieso kommt jener 
Eindruck des Unheimlichen des Mordes, dessen Täter man nicht kennt und 
dessen Ausführung rätselhaft geblieben ist, zustande? Eine solche Tat scheint 
magische Überzeugungen, die wir längst überwunden zu haben glauben, zu 
bestätigen. Ein Mord ohne Mörder, eine Tat, die keine Spuren hinterläßt — 
hier droht ein alter Glaube, der in allen einmal lebendig war, wiederaufzuleben: 
der Glaube an die Möglichkeit des Gedankenmordes. Hier scheint die 
Phantasie, die in jener Redensart „tuer son mandarin" ihren Ausdruck gefunden 
hat, Wirklichkeit zu werden. Nur durch die Kraft des Gedankens ist ein Mord 
verübt worden; es findet sich keine Waffe, kein Werkzeug, keine Spur mensch- 
licher Tätigkeit, jemand wurde durch Wirkung in die Ferne umgebracht, so 
scheint es, denn nichts oder fast nichts deutet darauf hin, daß der oder jener 

V3 









Anwesende die Tat verübt hat. Aus dem Dunkel, in das die Aufklärung der 
Menschheit jenen primitiven Allmachtsglauben gebannt hat, scheint er, durch 
solche Gelegenheit aktuell geworden, wieder emporzutauchen. Es ist leicht zu 
erklären, woher die Genugtuung, ja Befriedigung stammt, die bei Aufklärung 
eines geheimnisvollen Mordfalles verspürt wird. Der Anteil, den die Erwartung 
der Bestrafung des Verbrechers und die damit verknüpften sozialen Garantien 
an diesem Gefühl haben, muß natürlich anerkannt werden. Neben ihm und 
anderen hier nicht zu erörternden Komponenten ist die psychische Wirkung 
der Überwindung jener gedanklichen Möglichkeit zuzuschreiben; wir erkennen 
nun, daß jene Bestätigung unseres Allmachtsglaubens nur eine scheinbare war, 
daß es Zauberei, Magie, Gedankenmord in unserer nüchternen Welt nicht gibt, 
daß alles mit natürlichen oder künstlichen, keineswegs aber mit übernatürlichen 
Dingen zugeht. Der Platz, der innerhalb dieser Überlegung den Indizien zu- 
kommt, ist unschwer zu bestimmen. Indizien sind greifbare Zeichen, die be- 
weisen (zu beweisen scheinen), daß es keine Verbrechen durch Gedanken- 
allmacht gibt, sondern erweisen, daß wir in einer Welt leben, die nur mecha- 
nischen Gesetzen gehorcht. Der Tote hier wurde nicht durch Geisterhand er- 
würgt, sondern durch Verbrecher von Fleisch und Blut. Die Antwort auf die 
Frage »Wer hat die Tat begangen?", die durch Indizien gegeben wird, liefert 
die Gewißheit dafür, daß es nicht böse Zauberer waren. Wie der Handschuh 
in Kleists „Prinz von Homburg", weisen manche Indizien auf die unwahr- 
scheinliche, doch unzweifelhafte Anwesenheit einer Person hin. Die Lösung der 
Frage „Wie wurde die Tat begangen?" läßt keinen Raum mehr für die un- 
bewußte Annahme, sie sei durch Beschwörung geschehen. Der Nachweis, daß 
ein Schuß aus einem bestimmten Revolver stammt, tut dem geheimen Allmachts- 
glauben erheblichen Abbruch. Wenn genau nachgewiesen werden kann, wie der 
Verbrecher an den Tatort kam, wie er es bewerkstelligte, zu entkommen, daß 
er Spuren hinterließ, erkennen wir auch, daß er ein Wesen von Fleisch und 
Blut war wie wir. Die Elemente des Unheimlichen werden ausgeschaltet. Dieser 
unheimliche Eindruck kam ja dadurch zustande, daß wesentliche Punkte des 
Tatbestandes, solche der Zeit, des Ortes, der Gelegenheit und des Motivs, 
rätselhaft geblieben waren. Der Täter flog nicht durch die Lüfte, er benützte 
das Fenster; die Abwesenheit jeder Spur ist nicht ein Zeichen, daß Zauberei am 
Werke war, sondern daß geschickte Verbrecher ihre Spuren verwischen 
konnten. Wir verstehen nun auch die verborgene Bedeutung der Indizien, das, 
was neben und über dem strafprozessualen Zweck ihren psychischen Sinn 
ausmacht. 

Wir überblicken die Wandlung der Indizien durch die Jahrtausende und 
durch die Kulturstufen. Es muß einmal eine Zeit gegeben haben, da Indizien 
jene Zeichen waren, an denen der primitive und der frühantike Mensch er- 
kannte, daß das Verbrechen von Zauberern vollbracht wurde, daß Magie hier 
ihre Arbeit getan hat. Solchen Zeichen durfte man sich ursprünglich nicht 

»74 



nähern; man suchte sie nur, um sich zu vergewissern und um sich selbst gegen 
jene Zauberer zu schützen 210 . Von den Fragen, die im Katechismus des moder- 
nen Kriminalisten als wesentlich erscheinen, entfiel in jenen Zeiten sicherlich die- 
jenige, die später für die Verbrechensaufklärung so bedeutungsvoll wurde: Wie 
wurde die Tat ausgeführt? Man wußte es: Durch Zauberei. 

Wir sind hier am Ursprungsgebiet der Indizien: Sie zeigten ursprünglich, daß 
ein Zauberer einen Mord begangen hatte; heute dienen sie der unbewußten 
Aufgabe zu erweisen, daß kein Zauberer am Werke war. Früher stumme Zeugen 
des Geisterglaubens, werden sie nun zu Zeichen des technisch-mechanistischen 
Glaubens (oder Aberglaubens) unserer Zeit. Ihre Beweiskraft ist dieselbe geblie- 
ben, nur ihre Deutung hat sich verändert. In der Entwicklung der sozialen 
Funktion der Indizien spiegelt sich ein wichtiges Stück der Kulturentwicklung, 
das weit über den kriminalistischen und juristischen Rahmen hinausgeht. Dieses 
entscheidende Stück ist durch den Ursprung der Indizien, den ich hier zeigen 
konnte, und durch die Phase, bei der sie jetzt angelangt sind (und die vermut- 
lich ihren Endpunkt darstellt), gekennzeichnet: Das Indiz bestätigt am Anfange 
der Kriminalistik den Glauben an die Gedankenallmacht, um ihn zuletzt zer- 
stören zu helfen. Wir haben nicht vergessen, daß es gerade eine hochsublimierte 
Form dieses Glaubens an die Allmacht der Gedanken ist, der sich dennoch im 
streng logischen und sachlichen Indizienbeweis durchzusetzen vermag. 

Kann es wirklich nur die Entkräftigung jener primitiven Vorstellungen, die 
theoretische Überzeugung einer rational-mechanischen Welt sein, welche un:. 
Beruhigung verschafft? Ist nicht der Eindruck eines solchen Mordes ein tie- 
ferer hat er nicht etwas von einem Schrecken an sich, der durch den Gedan- 
ken an die Heiligkeit des Blutes allein nicht erklärt werden kann? Die analy- 
tischen Forschungen zeigen nicht nur, daß in uns allen heimlich ein Stück jenes 
Allmachtsglaubens lebt, sondern auch, daß wir oft anderen Menschen den 
Tod gewünscht haben. Die Aufklärung eines Mordes bringt auch die beruhi- 
gende Gewißheit: nicht du, ein Anderer ist der Mörder. Diese Auffassung er- 
gänzt nur die frühere Erklärung: Es muß in uns eine dunkle, unbewußte Angst 
leben, daß wir nur durch die Macht unserer Wünsche Menschen umbringen 
könnten 211 . Auf Grund solcher unbewußter Vorstellungen könnten viele von 
uns meinen, für den Tod mancher von ihren Verwandten und Bekannten ver- 
antwortlich zu sein. 

Die psychologische Analyse der Zwangsneurose, die gerade auf kriminalisti- 



5, °) Wie bereits angedeutet, stellt es vermutlich eine rationalistisch umgearbeitete Wieder- 
kehr jenes Charakters der Indizien dar, wenn die Kriminalpolizei jede Berührung der In- 
dizien im Interesse der „Spurensicherung" verbietet. 

*") Manchmal in der Form, daß wir Menschen umgebracht haben könnten, ohne es zu 
wissen. Wo die Realitätsprüfung beim Auftauchen solcher Gedanken verloren geht, kann es 
zu wahnhaften Bildungen von großer Resistenz kommen. Arthur Schnitzler hat in 
seiner letzten Novelle „Die Flucht in die Finsternis" (Berlin 1931) eine vorzügliche Dar- 
stellung des Übermächtigwerdens solcher Gedanken gegeben. 

175 



v 



schem Gebiete so aufschlußreich zu werden verspricht, zeigt, daß derjenige, der 
sich für solche Gedankensünden unbewußt verantwortlich hält, von einer Erwar- 
tungsangst eines drohenden Unheils gedrückt wird. Diese nur seltenen Erleich- 
terungen zugängliche Unheilserwartung ist, wie die Analyse zu erweisen ver- 
mag, die psychische Reaktion auf jene starken, feindseligen und grausamen 
Wünsche der Kranken. Die Kranken erwarten stets die Strafe, die sie für ihre 
Gedankenschuld zu verdienen meinen. Etwas von der dunklen Angst, als drohe 
auch uns auf Grund so feindlicher und blutrünstiger Tendenzen eine schwere 
Strafe, muß in uns leben und durch die Aufklärung jedes Mordfalles seine 
seelische Bewältigung finden. 

Nun endlich wird klarer, woher jenes Interesse an der Frage „Wer ist der 
Mörder?" und „Wie wurde die Tat begangen?" stammt. Das affektive Interesse 
an der Phantasie des heimlichen Tötens durch die Macht der Gedanken hat sich 
auf die Frage nach dem unbekannten Mörder verschoben. Durch die Wirkung 
der Verdrängung bleibt dieser Ursprung unseres Interesses unbewußt; seine Natur 
aber bezeigt noch immer seine Herkunft aus den unerkannten Tiefen des Be- 
mächtigungs- und Zerstörungstriebes. Noch in diesem Interesse lebt unter- 
irdisch die alte Aggressionsneigung, die sich jetzt in der Form der Neugierde in 
Bezug auf die Lösung jener Frage äußert. Die supponierte Gedankenmacht ist 
es, welche sowohl den Mord vollbringt, als auch den verborgenen Verbrecher 
und seine dunklen Praktiken ausforscht, so wie nach dem Glauben der Wilden 
ein Zauberer seine geheimen Kräfte zur heimlichen Tötung von Menschen, ein 
anderer (oft auch derselbe) jene Macht zur Eruierung des Verbrechens gebraucht. 
Die Gesellschaft befreit sich von dem Verbrecher, wie die Gemeinschaft wil- 
der Stämme von dem Mitglied, das ein wichtiges Tabu gebrochen hat. Es ist 
insbesondere die infektiöse Macht des Tabus, die gefürchtet wird und in der 
Freud die unbewußte Versuchungsangst aller Mitglieder der Gemeinschaft 
aufgedeckt hat. Diese Versuchungsangst darf sich auf die starken unterdrückten 
Triebregungen des Einzelnen, der dieselben antisozialen Taten begehen möchte, 
stützen. Der Schrecken über das Verbrechen, das Sühneverlangen, das dringende 
Bedürfnis, den Täter zu eruieren, das alles sind Zeugnisse der Abwehr jener 
eigenen verdrängten Regungen. In allen, im Richter, in den anderen gericht- 
lichen Funktionären, im Publikum wirken dieselben unbewußten Tendenzen, 
die zum Mord drängten. Es ist, wie wenn diese durch einen Mordfall einer Ver- 
suchung ausgesetzt würden, durchzubrechen. Die reaktiv verstärkte Gegen- 
regung wird sich in dem Drang, den Mörder zu finden und zu strafen, äußern. 
Mögen wirtschaftliche und andere soziale Momente hier auch einspielen, viel- 
leicht ist die besondere Hast, die Eile, in der die Prozeßführung, die Beweis- 
erhebung und -Würdigung sowie die Verurteilung vor sich geht, ebenfalls auf 
Rechnung jener Abwehr der eigenen verborgenen Triebregung zu setzen - 12 . 

115 Auch die Eile in der Verbrechensaufklärung ist durch rationelle Momente allein nicht 
erklärbar und bezeugt die unbewußte Wirksamkeit jener affektiven Tendenzen des Kriminalisten. 

i 7 6 






Der Fall der Margaret Odell 

Das Wesen des Indizienbeweises und die psychologischen Quellen des auf 
ihm basierenden Justizirrtums hätten sich durch die Analysen des Dosto- 
jewskischen Romans „Die Brüder Karamasoff" sicher besser illustrieren 
lassen als durch die Darstellung von Fällen der Kriminalgeschichte. Die Phan- 
tasie des Dichters ist nicht „wirklicher", doch wahrhafter als das Leben: am 
Material des Prozesses Karamasoff hätten sich auch unsere Thesen besser ver- 
anschaulichen lassen, als an dem des Lederarbeiters Gregor Adamsberger 213 . 
Allein ich scheute die Kritik, die darauf hätte hinweisen können, daß es sich 
um ausgedachte Fälle handle und daß sich die Wirklichkeit ganz anders prä- 
sentiere 214 . Es gibt Richter, die allen Ernstes behaupten, der Justizirrtum gehöre 
in das Reich der Legende. 

Jetzt aber, da es sich nicht mehr darum handelt, meine Ansichten an dem 
Material aus dem Leben zu erweisen, sondern eher darum, es noch einmal zu 
überprüfen, darf ich ausnahmsweise ein literarisches Beispiel heranziehen. 
Woher sollen wir ein geeignetes Beispiel nehmen? Die Analyse der „Brüder 
Karamasoff" würde ein eigenes Buch erfordern. Sollen wir Kriminalgeschichten 
E. A. Poes oder die eines jener beliebten englischen Erzähler wählen? Es ist 
eigentlich gleichgültig, welches Material wir nehmen, es kommt uns ja nicht auf 
literarischen Wert an. Streng genommen müßten wir die Probe aufs Exempel 
auch an Kriminalerzählungen machen können, die nur stoffliche Spannung ent- 
halten und deren künstlerischer Wert gering ist, wofern sie nur die Spiegelung 
des wirklichen Lebens zeigen. Ich bin dem Zufall dankbar, daß er mich den 
Unsicherheiten der Wahl enthebt. Die letzte Erzählung dieser Art, die ich ge- 



Im Anfang einer Detektivgeschichte von Conan Doyle „The Naval Treaty" wird ein. solcher 
psychologischer Zusammenhang unversehens deutlich. Shcrlock Holmes äußert, mit der Auf- 
klärung eines Verbrechens betraut, plötzlich: "/ suspect myself . . ." — "What?" — "Oj 
Coming to conclusions too rapidly." 

5U ) Freud bemerkt, es sei nicht zufällig, daß drei Meisterwerke der Literatur aller Zeiten 
das gleiche Thema der Vatertötung behandeln (Dostojewski und die Vatertötung, S. XXVIII). 
Es ist hinzuzufügen, daß — ebensowenig zufällig — die Entdeckung und Überführung des un- 
bekannten Mörders einen wesentlichen Teil der äußeren und inneren Handlung des Sophokles- 
schen ödipus, des Hamlets Shakespeares und der Brüder Karamasoff Dostojewskis bildet. Es ist 
des Nachdenkens wert, welche Mittel der Verbrechensaufklärung in diesen Werken er- 
scheinen (Orakel, Ordal, Indizienbeweis) und wie verschieden die Kriminaltaktik in der 
Ermittlung des Täters vorgeht. („Wie finden wir die Spur der längst verjährten Schuld?" 
ödipus, I.) Eine eingehende analytische Untersuchung würde zeigen können, in welchen Formen 
sich der Glaube an die Gcdankcnallmacht bei den drei Dichtern verbirgt und verrät. 

9H ) Die Hervorhebung eines gemeinsamen Problems in den früher angeführten Meister- 
werken zeigt, daß ich die so verbreitete Verachtung der Kriminalliteratur nicht teile. Wie ich 
glaube, ist diese Meinung auf die Wirkung bestimmter unbewußter Faktoren zurückzuführen. 
Nicht nur die drei angeführten Werke erweisen, daß viele der hervorragendsten Werke der 
Weltliteratur als Kern eine Kriminalgeschichte haben. Diese ist oft nur eine andere Form der 
Darstellung der wichtigsten Probleme, wenn die verbotene Tat ausgeführt ist und die Sphinx- 
frage lautet: „Wer ist der Täter?" 

II e i k : Der unbekannte Mörder II l 77 






lesen habe, wird unserem Zwecke entsprechen wie irgend eine andere. Sie ist 
gewiß nicht von besonderem künstlerischen Werte, gehört dem guten Durch- 
schnitt an, den sie in einigen Zügen sogar überragt; ihre Spannung ist vielleicht 
nicht von so grober und unverhüllter Art wie die der meisten Kriminalromane. 
Sie ist von einem amerikanischen Autor S. S. van D i n e und heißt „The Canari 

— Murder Case" m . 

Vor ihrer Handlung sei kurz wiedergegeben, was sich als Material unserer 
Überprüfung eignet: Margaret Odell wurde gegen 1 1 Uhr Abends in ihrer Woh- 
nung in der 71. Straße New-Yorks aufgefunden. Sie hatte der Halbwelt- 
Boheme des Broadways angehört und war eine jener Kokotten gewesen, die auf 
Männer einen so rätselhaften Einfluß ausüben. Zuerst sieht die Sache nach einem 
Raubüberfall aus, bei dem das Mädchen erwürgt worden war. „Jede Fährte, 
welche die Untersuchung aufnahm, bewies anscheinend nur, daß niemand 
Margaret Odell ermordet haben konnte; aber die Leiche, die zusammen- 
gekrümmt auf dem großen seidenbespannten Sopha lag, strafte diese groteske 
Mutmaßung Lügen." Die Wohnung hatte nur einen Eingang, die Fenster waren 
gesichert; es gab nur eine Möglichkeit, in die Wohnung zu gelangen. Die Be- 
dienerin und der Telephonist des Hauses sagten einstimmig aus, daß Miß Odell 
am Tage ihrer Ermordung mit einem ihrer Freunde dinieren ausging. Gegen 
1 1 Uhr kam sie mit demselben Gentleman, den der Telephonist von früheren 
Besuchen her kannte und den er genau beschreibt, zurück. Der Herr sei etwa 
eine halbe Stunde mit Miß Odell geblieben. Sonst hatte niemand die Dame an 
diesem Abend besucht; der Telephonist hätte jeden Besucher unbedingt sehen 
müssen, da er an dem Telephonstand hätte vorbeikommen müssen. Niemand 
konnte ungesehen durch den Hausflur gehen. Es sieht also so aus, als könnte 
nur jener Besucher, mit dem Miß Odell ausging, der Mörder sein. Nachdem alle 
Möglichkeiten genauestens untersucht werden, bleibt nur diese eine. Der Tcle- 
phonist, ein zuverlässiger und ruhiger Mann, erzählte nun dem untersuchenden 
Polizeichef einen Vorfall, der jene Annahme ausschließt: „Die Sache war so, 
Sir: Als der Gentleman gegen Vi\z Uhr Miß Odclls Wohnung verließ, beauf- 
tragte er mich, ihm ein Taxi zu bestellen. Ich gab den Anruf durch. Während 
er beim Telephontisch auf den Wagen wartete, hörten wir plötzlich Miß Odell 
schreien und um Hilfe rufen. Der Gentleman eilte sofort zur Tür und ich folgte 
ihm schnell. Er klopfte, aber keine Antwort kam. Er klopfte nochmals und 
fragte, was los sei. Diesmal antwortete Miß Odell und sagte, es sei alles in 
Ordnung, er solle heimgehen und sich keine Gedanken machen. Der Gentleman 
ging mit mir zum Telephontisch zurück. Er sagte, vermutlich sei Miß Odell 
schnell eingeschlafen und habe einen Alptraum gehabt. Wir sprachen noch ein 
paar Minuten und dann kam das Taxi. Er sagte gute Nacht und ging fort. 
Ich hörte, wie der Wagen abfuhr." 

- ,5 ) Vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienen („Der Fall der Margaret Odell", 
Berlin 1931). 

178 



Genaue Erkundigungen ergeben, daß jener Besucher die Wohnung ungefähr 
fünf Minuten verlassen hatte, ehe der Telephonist Miß Odell aufschreien hörte. 
Eben hatte dieser die Verbindung hergestellt, als der Schrei kam. Natürlich 
wird der Kriminalist, der die Untersuchung führt, alle Einzelheiten erkunden: 
„Stand der Mann bei Ihnen am Tisch?" „Ycs, Sir. Sein eitler Arm ruhte auf dem 
Steckbrett.' 1 „Wieviele Male schrie Miß Odell auf und was rief sie?" „Sie schrie 
zweimal auf und rief dann ,Hilfe, Hilfe' ". „Was sagte der Mann, als er zum 
zweitenmal klopfte?" „Soweit ich mich erinnern kann, sagte er: Mach die 
Tür auf, Margaret! Was ist los?" „Können Sie sich noch genau besinnen, was 
sie ihm antwortete?" „Soweit ich mich besinne, sagte sie: Nichts ist los, es ist 
alles in Ordnung. Geh, bitte, heim und reg dich nicht weiter auf!" Es kann sein, 
daß dies nicht Wort für Wort stimmt, Sir, aber was sie sagte, kam auf das- 
selbe heraus." „Sie konnten das deutlich durch die Türe verstehen?" „Jawohl. 
Diese Türen sind nicht sehr dick." 

Wir werden den Fall nicht mit allen mitunter nicht uninteressanten Kompli- 
ziertheiten weitererzählen, sondern nur berichten, daß jener Besucher von Miß 
Odell sich selbst bei der Polizei meldet und sein Bericht vollkommen mit dem 
des Telephonisten übereinstimmt. Der Mann heißt Spotswood, entstammt einer 
sehr respektablen Familie und ist ein geschätztes Mitglied der Gesellschaft. Die 
Angst dieses verheirateten Mannes geht dahin, daß seine Beziehungen zu dem 
anrüchigen Mädchen bekannt werden und ihm schaden könnten. Er sagt aus, 
er sei, als er die Hilferufe der Odell gehört habe, besorgt gewesen, aber auf 
ihre Versicherung, daß alles in Ordnung sei, habe er gedacht, daß sie einge- 
döst war und einen Alptraum gehabt habe. So habe er nichts weiter bei 
der Sache gedacht. Er war dann direkt in den Club gefahren, wo er bis 
Früh Poker gespielt hatte. Sein Alibi ist unanfechtbar. Wäre er ihr Mörder, 
er hätte unmöglich zur Zeit des Mordes im Club sein können. Als er im Hause 
der Odell war, hatte sie noch gelebt, denn eine Tote ruft nicht um Hilfe und 
spricht nicht mit ihrem Mörder. Spotswood hatte weder Zeit noch Gelegenheit 
zum Mord; es ist nicht möglich, um diese Tatsachen herumzukommen. Sie 
schließen die Schuld dieses Mannes so endgültig aus, wie wenn er in jener Nacht 
am Nordpol gewesen wäre. Aber auch das Alibi anderer Personen, die der 
Tat verdächtigt werden, stellt sich unzweideutig heraus. Hier erscheint also 
der unheimliche Fall eines Mordes, ohne daß ein Mörder anwesend gewesen 
wäre. Der reiche Müßiggänger und Amateurdetektiv Vance, welcher der rat- 
losen Polizei seine Hilfe leiht, untersucht noch einmal die Wohnung der ermor- 
deten Kokotte. Es findet sich nichts Aufklärendes. Vance geht noch einmal 
alle einzelnen Möbelstücke durch, prüft, zwischen Interesse und Langeweile 
schwankend, Klavier, Teppiche, Toilettetisch, Papierkorb und schlendert 
lässig zum Schrankgrammophon; er will doch den musikalischen Geschmack 
der Odell kennenlernen. „Zweifellos süßer Kitsch", sagte Vance seinem 
Begleiter. Er hebt den Deckel des Grammophons in die Höhe; eine Platte 

179 






1 



. . _— ■- 



ist bereits aufgelegt: „Schau an! das Andante aus Beethovens C-Moll- 
Symphonie. Das schönste Andante, das je komponiert wurde." Er setzt die Nadel 
ein und läßt die Platte laufen, allein der einzige Laut, der aus dem Apparat 
kommt, ist ein leises Kratzen. Die Drehscheibe des Grammophons fährt die 
Schallspur nach, aber das Instrument spielt nicht. Die Nadel nähert sich dem 
Ende der stummen Platte, da wird plötzlich die Wohnung von furchtbaren 
Schreien erfüllt: zwei Hilfeschreie folgen. Nach einer kurzen Stille sagt dieselbe 
Stimme: „Nein, es ist nichts los. Alles ist in Ordnung. Bitte geh nach Hause 
und reg' dich nicht weiter auf!". Die Nadel ist am Ende der Schallspur ange- 
kommen; nun wird es stille. 

Der Mord ist aufgeklärt: Spotswood hat eine Grammophonplatte mit seiner 
eigenen Stimme im Falsett präpariert. Er hat eine Etikette von der entspre- 
chenden Schallplatte abgeweicht und auf sein eigenes Fabrikat geklebt. Dieses 
hat er der Dame am Abend des Mordes mit einigen anderen Schallplatten mit- 
gebracht. Nach dem Theater hatte er das Mädchen ermordet. Er ließ, bevor er 
wegging, die Platte laufen, nachdem er einen Teppich auf das Grammophon 
gelegt hatte, um den Eindruck zu erwecken, das Instrument werde selten 
benützt. Er bat dann nach dem Verlassen der Wohnung den Telephonisten, 
für ihn ein Taxi zu bestellen. Während er wartet, ist die Grammophonnadel 
so weit, daß jene Schreie durch die Nacht gellen. Da sie durch die Holztüre 
filtriert wurden, fielen die Nebengeräusche gar nicht auf. Vom Augenblick, da 
die Schreie ertönten, kalkulierte er auf der Armbanduhr die Pause und fragte 
dann im rechten Augenblick. Der im Laboratorium sorgfältig erprobte Plan 
gelang, da der Mörder die Schreie an das Ende der Schallspur verlegt hatte, 
so daß er genug Zeit zum Weggehen und zum Bestellen des Taxis hatte. 

Das Beispiel ist deshalb psychologisch besonders lehrreich, weil unser Interesse 
während der Lektüre auf die Lösung beider Fragen gerichtet ist: „Wer ist der 
Täter?" und „Wie wurde die Tat vollbracht?" Dem Anschein nach hat kein 
lebender Mensch den Mord an Miß Odell ausgeführt. Es scheint wirklich, daß 
das Mädchen durch jene unheimliche Macht der Gedanken umgebracht worden 
ist. Dieser Eindruck wird durch die Erzählung des Telephonisten noch erhöht. 
Als dann jener Amateurdetektiv auf eine interessante, hier nicht wiedergegebene 
Art findet, daß Spotswood der Mörder ist, ist unsere Spannung zwar sehr ver- 
ringert, aber nicht verschwunden. Denn wie hat er die Tat begangen? Trotz- 
dem wir wissen, daß Spotswood ein sehr bürgerlicher Automobilzubehör- 
fabrikant in New York ist, ist doch noch ein Geheimnis um ihn. Der Mann 
hat die Odell aus bestimmten, sehr naheliegenden Gründen umgebracht, das 
verstehen wir wohl. Es kann dennoch nicht mit natürlichen Dingen zugegangen 
sein. Das Mädchen sprach ja noch mit ihm, sie lebte noch, als er sie verließ. 
Trotzdem alle Zeichen dafür vorhanden sind, daß Miß Odell auf eine recht 
irdische Art erwürgt wurde, muß in uns noch irgendwo der Rest eines Glau- 

180 



bens leben, daß sie verzaubert, durch schwarze Magie getötet wurde 210 . Dieser 
Zweifel erscheint in der Verschiebung auf ein Detail, nämlich auf den Umstand, 
daß das Mädchen, das doch anscheinend zu der Zeit schon tot war, noch mit 
dem Manne, ihrem vermutlichen Mörder, geredet hatte. Diese Einzelheit erinnert 
an einen besonderen Punkt innerhalb der animistischen Vorstellungen, die ins- 
geheim noch von uns geglaubt werden: Der Tote ist sozusagen nicht völlig tot 
und es ist nicht ausgeschlossen, daß er seine Stimme erhebe und spreche 217 . Ein 
Echo dieses Glaubens, über den wir bewußt lächeln, wird erweckt, wenn Vance 
(und wir mit ihm) Wochen, nachdem Miß Odell begraben ist, plötzlich ihre 
gellende Stimme hört, die „Hilfe"! schreit. Es kommt uns jetzt auch zum 
Bewußtsein, daß Vance hier eine Art modernen Ordals durchführt, da er, ohne 
es zu wissen, ein Stück jenes Geschehens noch einmal akustisch abrollen läßt. 
Gerade hier aber, wo das Unheimliche aus dem Wiederauftauchen animistischer 
Überzeugungen am stärksten wird, ergibt sich die natürliche Erklärung. Nach- 
dem wir einen Herzschlag lang mit den Zuhörern einen starken Schrecken und 
ein unheimliches Gefühl verspürt haben, verstehen wir rasch, wie das Ver- 
brechen begangen wurde. Die präparierte Schallplatte erweist es. Kein Wunder 
aus dem Reiche des Übernatürlichen, höchstens eines jener Wunder der Technik, 
an die wir uns so rasch gewöhnt haben, liegt vor. Immerhin sind wir für 
Sekundendauer gewissermaßen auf die Kulturstufe eines abergläubischen Austral- 
negers zurückgekehrt und haben geglaubt, Tote könnten reden, Ermordete 
vielleicht ihren Mörder anzeigen. Bald haben wir erkannt, daß es nicht eine 
Stimme aus dem Grabe, sondern aus dem Grammophon war. Der Anschein des 
Mysteriösen ist der Kenntnis mechanischer Herstellungsbedingungen gewichen 
— das Geheimnis des Mordes ist gelöst. 

Hier wird auch das Janusgesicht der Indizien klar erkennbar: Das, was zuerst 
als Zeichen des Übernatürlichen, des Magischen, des außer und über den 
Naturgesetzen Stehenden schien, gerade das wird nun zur Bestätigung dafür, 
daß keine magische Ursache jene Wirkungen hervorbringe, daß keine geheimnis- 
vollen übernatürlichen Kräfte den Gang unseres Schicksals bestimmen. Die 
Indizien, ursprünglich Träger des Unheimlichen, heben nun den Eindruck des 
Unheimlichen auf. 

Wir meinten, das Interesse an jenen Fragen „Wer ist der Täter?" und „Wie 
geschah die Tat?" liege weit ab von allen psychologischen Themen. Wir glau- 
ben jetzt zu erkennen, daß es doch der Psychologie entstammt, daß uns die 
Untersuchung dieser kriminalistischen Probleme auf Umwegen doch wieder zu 
psychologischen Fragen und vielleicht sogar zu mancher Antwort geführt hat. 

s,e ) Wir benehmen uns in dieser verborgenen Erwartungsvorstellung ähnlich wie die 
Wilden, die zwar zugeben müssen, daß dieses Krokodil den A. getötet habe, abw sagen, der 
Zauberer B. habe dem Krokodil den Auftrag zu der bösen Tat gegeben. 

■") "Death d o teil tales." 

181 






Schlußbemerkung 

Über dem mächtigen Portal des Dresdener Landesgerichtes stehen die Worte: 
„Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen". Ein solcher 
Ausspruch befriedigt unser Gerechtigkeitsgefühl, das nicht erlauben will, daß 
der Verbrecher unerkannt und seine Tat ohne Strafe bleibt, vielleicht sogar der 
Unschuldige für das Verbrechen eines Anderen büße. 

Wenn wir an die zahlreichen Fälle von Justizirrtümern denken, die Un- 
schuldige viele Jahre im Zuchthaus verbringen ließen, werden wir freilich 
sagen, daß es nicht gleichgültig ist, ob jenes feine Gespinst an die Sonne des 
Jahres 1920 oder an die des Jahres 1933 komme. Die Erinnerung an den Fall 
Jakubowski und manche ähnliche wird uns noch skeptischer gegen jene Spruch- 
weisheit stimmen. Es macht immerhin einigen Unterschied, ob die Sonne, 
an die ein so spät aufgeklärtes Verbrechen kommt, einem rechtskräftig Ver- 
urteilten noch scheint oder nicht. 



* 






^v 



C=J^" 



Kapitelfolge 

Seite 
Ein kriminalistisches Interesse 

Von der Tat zum Täter 

Zuerst Collegium logicum 

Psychologische Indizien 

Indizienbeweis und Psychoanalyse 

Der Selbstverrat 

44 

Die Improvidcnz des Täters 

49 

Die Visitenkarte des Verbrechers 

Die Rückkehr zum Tatort 

Ein Fall aus dem Jahre 1386 6 

Anfänge der Krirainalstatistik .... ,- 

07 

Primitive Motivsuche .... 

71 

Der Mörder wird gesucht 

79 

Die Kraniche des Ybikus und die Fliegen des Mr. Brecse g 4 

Exoriarc aliquis nostris ex ossibus ultor 

Kriminalistische und magische Technik 

Orakel und Ordal 

i°3 

Das orale Ordal , 

106 

Keine Sühne ohne Wiederholung der Tat 

Der Eid und die Folter „ 

• 1 1 

Vom magischen zum wissenschaftlichen Indizienbeweis , 2I 

Der latente Charakter der Indizien 

Indizienbeweis und Justizirrtum ... « 

I2o 

Zur Psychopathologie der Urteilsbildung 

Psychologischer Scharfsinn eines Kriminalisten 

Materielle und psychische Realität 

Zur Zukunft der Strafrechtspflege 

Die „Allmacht der Gedanken" im Strafprozeß .... e 

Die Verdrängung in der Beweiserhebung , 

Die Unhcimlichkcit des unaufgeklärten Mordes 

Der Fall der Margaret Odell 

Schlußbemerkung 

1 82 



183 



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. 



VON THEODOR REIK 

sind in unserem Verlage ferner erschienen: 

GESTÄNDNISZWANG UND STRAFBEDÜRFNIS 

Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie In Ganzfeine» lo '— 

Inhalt: Der unbewußte Gcstandnlszwang. — Zur Wiederkehr des Verdrängten. — Zur Tlefen- 
dlmenslun der Neurose. — Der Geständniszwang In der Kriminalistik. — Die psychoanalytische Stra'- 
rechtstheorie. — Der Geständnlszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache. — Zur Entstehung 
des Gewissens. — Zur Klnderpsycho''.gle und Pädagogik. — Der soziale Gesiändnlszwang. 

DER SCHRECKEN u. a. psychoanalytische Studien 

Gel). 5' — > in Ganzfeinen 6'So 
Inhalt: Der Schrecken. — Libido und Schuldgefühl. — Über den Zusammenhang von Haß und 
Angst. — Der Traum von der Theorie des Gestandnlszwanges. — Verleihung und Hache. — Erfolg 
und unbewußte Gewissensangst. — Der Glaube an die ausgleichende Gerechtigkeit. — Zui Psycho- 
genese des Cber-Ichs. 

DAS RITUAL 

In Ganzfeinen 14' — 
Inhalt: I) Einleitung. — II) Die Couvade und die Psydhogenese der Vergeltungsfurcht. — III) Die 
Pubertätsriten der Wilden. — IV) Kolnldre (Stimme des Gelübdes). — V) Das Schofar (Das Widder- 
hnrn). — VI) Der Moses des Michelangelo. 

Heik» Buch kann nicht referiert werden, da ledes Referat nur Stückwerk bleiben muß; es Man 
Buch, das durchforscht zu werden verdient und das in sich den Keim neuen Werdens trügt. (Pro). 
Liepmann in der Zeitschrift für Sexualwissenschaft.) 

DER EIGENE UND DER FREMDE GOTT 

In Ganzfeinen lo'5o 
Aus dem Inhalt: Jesus und Maria im Talmud. — Der hl. Eplphanlus verschreibt sich. — Das 
Evangelium des Judas Ischarioth. — Die Unheimllchkeit fremder Götter und Kulte. — usw. 
Ein geistreiches Buch . . . Einer der hellsten Köpfe unter den Psychoanalytikern. (Alfred Doblm In 
der Vossischen Zeitung.) 

DOGMA UND ZWANGSIDEE 

In Ganzfeinen 7' — 
Inhalt: I) Das Dogma. — II) Die Entstehung des Dogmas. — III) Dogma und Zwangsidee (Das 
Dogma als Kompromlßausdruck von verdrängten und verdrängenden Vorstellungen. Die Verschiebung 
auf ein Kleinstes. Zweifel und Hohn. Dogma und Anathema. Der Widersinn Im Dogma und in der 
Zwangsidee. Die sekundäre Bearbeitung in der rationalen Theologie. Fides und Ratio. Das Tabu des 
Dogmas. Der latente Inhalt des Dogmas. Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. Das Wledri- 
kehrend-Verdrängte. Die Stellung des Dogmas In der Religion. Glaubensgesetz und .Sittengesetz.) 

LUST UND LEID IM WITZ 

In Ganzfeinen 6' — 
Inhalt: Über den zynischen Witz. — Die elliptische Entstellung. — Zur Psychoanalyse des )ttdl- 
scheu Witzes. — Künstlerisdies Schaffen und Witzarbelt. — Anspielung und Entblößung. — Die 
zweifache Überraschung. 

WARUM VERLIESS GOETHE FRIEDERIRE? 

In Ganzfeinen o" — 
Inhalt: Dichtung und Wahrheit. Ein Mann erzählt die Geschichte seiner Liebe. Die Gründe der 
Trennung. Die Verkleidung. Der Klndtaulkuchen. Die Kußangst. Sexualität und Gewissensangst. Die 
neue Melusine. Der Schatten des Vaters. „Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm." 

WIE MAN PSYCHOLOGE WIRD 

In Ganzfeinen 5' — 
Vi Wie man Psychologe wird. — II) Psychologie und Depersonalisation. — 111) Die psychologische Be- 
deutung des Schwelgens. 



INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG / WIEN 






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VON THEODOR REIK 

sind in unserem Verlage ferner erschienen: 

GESTÄNDNISZWANG UND STRAFBEDÜRFNIS 

Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie In Ganzfeinen lo'— 

I n h a 1 1 : Der unbewußle Geständniszwang. — Zur Wiederkehr des Verdrängten. — Zur Tlefen- 
dlmenslun der Neurose. — Der Gestandnlszwaiig In der Kriminalistik. — Die psychoanalytische Stra'- 
rechtstheorie. — Der Gestandnfszwang in Religion, Mythus, Kunst und Sprache. — Zur Entstehung 
des Gewissens. — Zur Kinderpsyihol'.gle und Pädagogik. — Der soziale Gestandnlszwang. 

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DER SCHRECKEN u. a. psychoanalytische Studien 

Gef>. 5' — > in Ganzfeinen ö'So 
Inhalt: Der Schrecken. — Libido und Schuldgefühl. — über den Zusammenhang von Haß und 
Anns:. — Der Traum von der Theorie des Gesländnlszwanges. — Verleihung und Rache. — Erfolg 
und unbewußte Gewissensangst. — Der Glaube an die ausgleichende Gerechtigkeit. — Zui Psytho- 
genese des Uber-Ichs. 

DAS RITUAL 

In Ganzfeinen 14' — 
Inhalt: I) Einleitung. — II) Die Couvade und die Psydiogenese der Vergeltungsfurcht. — III) Die 
Pubertütsriten der Wilden. — IV) Kolnldre (Stimme des Gelübdes). — V) Das Scholar (Das Wldder- 
horn). — VI) Der Moses des Michelangelo. 

Helles Buch kann nicht referiert werden, da Jedes Referat nur Stückwerk bleiben muß; es Ist ein 
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Liepmann in der Zeitschrift für 5exua(wissenscbaft.) 



DER 


EIGENE 


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GOTT 


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Aus dem Inhalt: Jesus und Maria im Talmud. — Der hl. Eplphanlus versdirelbt sich. — Das 
Evangelium des Judas Isdiarioth. — Die Unhelmlichkelt fremder Gölter und Kulte. — usw. 
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DOGMA UND 


ZWANGSIDEE 


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In Ganzfeinen 7'— 
Inhalt: I) Das Dogma. — II) Die Entstehung des Dogmas. — III) Dogma und Zwangsidee (Das 
Dogma als Kompromlüaundrudc von verdrängten und verdrängenden Vorstellungen. Die Verschiebung 
auf ein Kleinstes. Zweifel und Hohn. Dogma und Anathema. Der Widersinn im Dogma und In der 
Zwangsidee. Die sekundäre Bearbeitung In der rationalen Theologie. Fides und Ratio. Das Tabu des 
Dogmas. Der latente Inhalt des Dogmas. Das Wunder Ist des Glaubens liebstes Kind. Das Wfedei- 
kehrend-Verdrängte. Die Stellung des Dogmas in der Religion. Glaubensgesetz und Sittengesetz.) 

LUST UND LEID IM WITZ 

In Ganzfeinen Ö' — 
Inhalt: Über den zynischen Witz. — Die elliptische Entstellung. — Zur Psychoanalyse des Jüdi- 
schen Witzes. — Künstlerisches Schaffen und Witzarbelt. — Anspielung und Entblößung. — Die 
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Inhalt: Dichtung und Wahrheit. Ein Mann erzählt die Geschichte seiner Liebe. Die Gründe der 
Trennung. Die Verkleidung. Der Kindtaufkuchen. Die Kußangst. Sexualität und Gewissensangst. Die 
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