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Philipp Sarasin
GOETHES
MIGNON
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„Eine peychoanalytische Studie
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(oethes Mignon
Eine psy choanalytische Studie
Von
P hilipp Sarasin
Basel
Sonderabdruck aus „Imago, Zeitschrift für Anwendung der
Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften“
(herausgegeben von Sigm. Freud), Bd. XV (1929)
1930
Internatio naler P sychoanalytischer Verlag
Wien
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
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Druck: Christoph Reisser's Söhne, Wien V
55 Und keine Zeit und köhte Macht sörstlichele
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ :
ö Goethe: Urworte. Orphisc.
ı*
Vorbemerkung
Die Studie, die ich hier folgen lasse, entstand allmählich im Verlaufe
mehrerer Jahre. Den ersten Anstoß dazu gab Freud selber, der mir auch
später seinen Rat nicht versagt hat. Ohne ihn ist diese Arbeit überhaupt
nicht zu denken, denn sie ruht auf den Grundlagen der Psychoanalyse,
dieser nunmehr historischen Methode und unentbehrlichen Voraussetzung
jeder biographischen Untersuchung.
Der Weg, der vor uns liegt, ist außerordentlich mühsam, und zwar aus
verschiedenen Ursachen. Goethe ist so viel gelesen und so sehr Allgemein-
gut, daß wir nichts von ihm erwähnen können, ohne mannigfaches Echo
zu erwecken. Dieses Echo ist aber erwünscht oder gefürchtet, je nachdem
es hilft, unsere eigenen Gedanken mitzuteilen oder nicht. Wir brauchen
doch nur einzelne Worte anklingen zu lassen, wie „Götz“ oder „Faust“,
um beim Leser eine ganze Welt emporzurufen. Diese Welt ist aber in
jedem Leser eine andere und dieses vielfältige Echo verwirrt und ängstigt
wiederum den Schreibenden, denn jeder hat ja „seinen“ Goethe und da
läßt man sich nicht gerne hineinreden. :
Die Schwierigkeiten, denen wir begegnen werden, liegen auch im Dichter
selber. Goethe war den Versuchen, der Genese seiner Phantasiegestalten nach-
zuspüren, sehr abhold. Wußte er doch selber kaum, wo sie herkommen.
Dämonisch überfiel ihn die Dichtergewalt, halb nachtwandelnd „wühlt“ er
seine schönsten Gedichte hin und staunt dann über das „Naturgewordene“.
Obgleich der Dichter die Gesamtheit seiner Dichtungen als große Kon-
fession bezeichnet, gesteht er doch wieder ausdrücklich, daß er sich eigent-
lich dem Leser immer wieder entziehe und den innersten Kern seiner
Persönlichkeit mit einer Art „Verschleierungstechnik“ verhülle.
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6 Philipp Sarasın
Er äußert sich darüber in einem Briefe an Schiller folgendermaßen:
Brief Goethes an Schiller: Weimar, den g. Juli 1776.
„Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten
Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz,
meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken
behaglich finde. So werde ich immer gerne inkognito reisen, das geringere Kleid
vor dem besseren wählen, und in der Unterredung mit Fremden oder Halb-
bekannten den unbedeutenderen Gegenstand oder den weniger bedeutenden Aus-
druck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin, und mich so, ich möchte
sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigene Erscheinung stellen . . .“
„.. . und ich komme mir vor wie einer, der, nachdem er viele und große
Zahlen übereinandergestellt, endlich mutwillig selbst Additionsfehler machte,
um die letzte Summe aus Gott weiß was für einer Grille zu verringern.“
y. ..so werde ich Sie bitten, zuletzt... das noch selbst hinzuzufügen, was
ich, durch die sonderbarste Naturnotwendigkeit gebunden, nicht auszusprechen
vermag.“ (Goethe-Schiller: Brief: 188. Bd. I. S. 215.)
Die Schwierigkeiten, auf die wir stoßen werden, ersehen wir auch aus
anderen Äußerungen des Dichters.
Die Grundlage unserer Forschung ist das Verständnis des Infantilen, also
der Denk- und Urteilsfähigkeit des Kindes. Alles hängt davon ab, wieweit
wir dem Kinde gegenüber gerecht sind. Hier scheint der Dichter ganz zu
versagen. In einer Stelle, die er schließlich nicht in seine Lebensbeschreibung
aufgenommen hatte, äußert er sich folgendermaßen:
„In dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern entwickelt sich der sittliche
Charakter der ersten eigentlich gar nicht. Der Abstand ist zu groß; Dankbar-
keit, Neigung, Liebe, Ehrfurcht halten die jüngeren und bedürftigen Wesen
zurück, sich nach ihrer Weise zu äußern. Jeder tätige Widerstand ist ein Ver-
brechen. Entbehrungen und Strafen lehren das Kind schnell auf sich zurück-
gehen, und da seine Wünsche sehr naheliegen, wird es bald klug und ver-
stellt. Damals wenigstens war es so; und mich dünkt, in den neuern Zeiten,
da man den Kindern mehr Spielraum ließ, da man sie mit den Eltern auf
gleichen Fuß setzte, da ein gemeinschaftliches Du das Obere und Untere ver-
band, ist es nicht anders geworden: es gibt wohl grobe Kinder, aber
keine aufrichtigen.“ (Goethe, Anmerkungen. Bd. XXII. $. 269.)
Damit ist die tiefe Differenz zwischen dem Standpunkt des Dichters und
dem unsrigen scharf bezeichnet. Er weist auf die bestehende Unaufrichtig-
keit zwischen Kind und Erwachsenen hin, übersieht aber die Möglichkeit,
daß vielleicht geradesoviel Unaufrichtigkeit auf der Seite des Erwachsenen
zu finden ist.
Ich habe mir im folgenden die Aufgabe gestellt, die bekannte Poesie-
gestalt der Mignon psychoanalytisch zu bearbeiten, vor allem, die Mignon
—————————————————— ne euere
Goethes Mignon 7
als Phantasieerzeugnis eines Menschen aufzufassen, der in seinem Denken,
Tun und Leben soweit uns selber verständlich ist, daß wir dieses Phan-
tasieprodukt aus ihm selber, aus dem Dichter, also aus Goethe heraus ver-
stehen können.
Der Versuch, Mignon aus Quellen zu rekonstruieren, ist wirklich schon
einmal gemacht worden von Eugen Wolff. Er hat die Quellen ausgiebig
benützt und gibt eine klare und durchsichtige Darstellung. Er findet das
Urbild der Mignon in einer zeitgenössischen Sängerin, der Elisabeth Ger-
trud Schmeling-Mara, die Goethe gekannt hat und in seiner Korrespondenz
erwähnt. Es liegt viel Überzeugendes in dieser Auffassung. Wir können
uns aber nicht recht denken, daß der Übergang aus rezenten Quellen in
die Dichtung so unvermerkt vor sich gegangen sein sollte, wenn wir uns
daran erinnern, wie wir „Werther’s Leiden“ fast Wort für Wort aus den
Quellen rekonstruieren können.
Ich möchte damit keineswegs die Verdienste Wolffs schmälern, habe
aber vor, noch andere Quellen heranzuziehen. Ich verdanke seiner Vor-
arbeit wertvolle Anregungen; denn er ist ein überlegener Kenner der Goethe-
literatur.
Wir wollen also versuchen, soweit dies möglich ist, in die Gedanken-
welt des Dichters einzudringen. Die Untersuchung führt uns dazu auf
langen Umwegen.
Die Mignongestalt selber ist so objektiv und losgelöst in die Welt hinaus-
gestellt, daß wir kaum etwas erreichen könnten, wenn wir sie als allein-
stehendes Phänomen angehen würden.
Wir müssen den ganzen Mignonkomplex angreifen, der bekanntlich
in den Meisterroman verflochten ist. Wir wollen daher zunächst auf
den Meisterroman kurz eingehen, um uns die Welt zu vergegenwärtigen,
in die der Dichter seine Gestalt hineinversetzt.
I ) Der Meisterroman
Zehn inhaltsreiche Jahre waren vergangen, seit der schwächliche Student
1765 nach Leipzig auf die Universität ging. Die juristischen Studien wurden
allmählich in Straßburg, Wetzlar und Frankfurt beendet, zugleich entstan-
den seine Erstlingswerke: Götz, Clavigo, Stella, Werther, der Urfaust, und
trugen den jungen Menschen in kurzer Zeit unter die größten Dichter
aller Zeiten. Der Aufenthalt im engen und bürgerlichen Frankfurt, wo
ihn der Vater zu juristischen und praktischen Arbeiten erziehen will, wird
allmählich unerträglich, dazu kommt eine tief aufwühlende, aber aussichts-
lose Leidenschaft zu einer vornehmen Tochter eines Frankfurter Hauses,
zu Lili Schönemann.
Wie eine Erlösung kommt darum die Anfrage vom Weimarer Hof, sich
als Berater am herzoglichen Hofe zu verpflichten. Im November 1775 ver-
läßt Goethe für immer seine Vaterstadt und trifft am siebenten des Monats
bei Nacht und Nebel im herzoglichen Hofe ein. Hier wird er Freund,
Berater, Minister seines herzoglichen Gönners und zehrt sich im schweren
Staatsdienste beinahe auf. Lieber den Tod, als nochmals solche Jahre, sagt
er später. Sein unruhiges Herz aber findet in der Hofdame Charlotte von
Stein einen inneren Ruhepunkt und die geistigen Welten beginnen all-
mählich um diese zu kreisen.
Diese erste Weimarer Epoche dauert genau elf Jahre und schließt mit
Goethes Reise nach Italien ab. Die Sehnsucht nach dem gelobten Lande
ließ sich nicht länger meistern. Alle poetischen Erzeugnisse dieser Zeit
sind nun Liebesgaben an die Stein, die den Dichter völlig eingekreist, ihn
aber auch aus einem unbändigen Geniemenschen zu einem souveränen
Weltmanne umgewandelt hatte. In dieser Epoche entsteht der Meisterroman.
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Goethes Mignon 9
Am ı6. Februar 1777 finden wir die erste Notiz in seinem, Tagebuch es
ist das Todesjahr seiner Schwester. Allmählich mehren sich die Bemerkungen,
treten dann wieder zurück, aber Zug für Zug entsteht nun sein „dramati-
sches Ebenbild“ Wilhelm Meister, wie er in der sogenannten „Theatra-
lischen Sendung“ vor uns erscheint, dem „Urmeister“, der uns seit ı910
wieder zur Verfügung steht.
Zehn Jahre später, unter dem drängenden Einfluß Schillers, wird der
Stoff nochmals aufgenommen und in der Form der „Lehrjahre“ publiziert.
Die Probleme waren dem Dichter bereits ferne gerückt, er fühlt sich nur
noch als Herausgeber dieser Papiere. Der „Mignonkomplex“ wird aber un-
verändert aus der ersten Fassung in die neue hinübergenommen, sie ist
eine Erfindung der ersten Weimarer Epoche und entstand während der
Liebesbeziehung zur Stein.
Der Inhalt ist etwa folgender:
Wilhelm Meister wächst als ältester Sohn ehrbarer bürgerlicher Eltern
einer mittleren Reichsstadt in geordneten Verhältnissen auf. Frühzeitig meldet
sich in ihm eine tiefe Neigung zu Poesie und Theater. In der Kindheit ist es
ein Puppentheater, das ihn fesselt, später das Schauspiel selber, bis ihn eine
zarte Bindung an die jugendliche Schauspielerin Mariane inniger ans Theater
kettet. Bald aber stürzt ihn die Entdeckung vermeintlicher Untreue seiner An-
gebeteten in tiefste Verzweiflung, „und so war der arme Wilhelm von seinem
Schicksale überwältigt, daß in einem Augenblicke sein ganzes Eingeweide
brannte... Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Ge-
träumtes (gingen) auf einmal scheiternd durcheinander“. (Sendung S$. 68.)
Wilhelm wendet sich in dieser Enttäuschung vom Theater ab und ver-
_ sucht sich in Kontorarbeit zu vergraben. Er läßt sich von seinem Schwager
Werner bestimmen (der Mann seiner Schwester Amalie), auf einer Geschäfts-
reise Sorgen und Kummer zu vergessen. — Wilhelm macht sich auf und
nun beginnt das eigentliche Fortschreiten der Erzählung. Es geht nicht
lange, so sieht er sich wieder in Gesellschaft von Theaterleuten, die er
unterrichtet und belehrt und denen er bald unentbehrlich wird; bis er
nicht mehr von ihnen loskommt. Als Glied dieser T'heatergesellschaft findet
er vorübergehende Aufnahme in einem vornehmen Schlosse, wo er die ersten
Blicke tut in die damals große Welt der Grafen, Prinzen und Barone.
„Doch läßt sich manches zu seiner Entschuldigung sagen“, erzählt der Dichter,
„besonders dürfen wir nicht verschweigen, daß er stille die Spur Marianens
aufsuchte, ..... wir haben lange dieses Fadens nicht erwähnt, der durch sein
ganzes Dasein fortzog.“ (Sendung, 8. 369.)
ı0 Philipp Sarasın
Dieser Faden wird vom Dichter auch in der späteren Bearbeitung nie
ganz aufgegeben. Allerdings scheidet Mariane als handelnde Person aus, da
sie der Dichter an der Geburt eines Knaben, eines Sohnes Wilhelms, sterben
läßt. Felix, den der Dichter bald in die Erzählung einfügt, begleitet aber
seinen Vater, Wilhelm, den Held des Romanes, bis ans Ende der „Wander-
jahre“. i
Diese etwas abenteuerliche und romantische Reise kann man in unserer
Sprache kaum mehr wiedergeben. Man muß sie eben selber lesen. Unter-
wegs schließen sich Wilhelm zwei seltsame Gestalten an, um die wir uns
nun kümmern müssen. Beide tauchen auf, man weiß nicht recht woher,
ergänzen aber den Helden auf eine besondere Weise und machen eine Art
wunderbare Familie aus: Mignon und der Harfner.
Der Harfenspieler wird unvermittelt vom Dichter eingeführt, als Wil-
helm mit seinen Schauspielerfreunden bei Tisch sitzt, Mignon lernen wir
allmählich kennen. „Nach einigen Tagereisen kam er (Wilhelm) in eine
mittelmäßige Stadt“ ...., erzählt der Dichter. „In seinem Wirtshaus gefiel
es ihm noch am besten, denn da ging es lustig zu und gab allerlei Ver-
änderungen, die ihn interessierten. Eine große Gesellschaft von Seiltänzern,
Springern, Gauklern, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit
einer großen Anzahl Weiber und Kinder eingezogen und machten, indem
sie sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den
anderen... Auf dem Markte sah er ein weitläufiges Gerüste aufgeschlagen,
die Schwingbretter angebracht, die Pfosten zu den Schlappseilen befestigt
und die Böcke zu dem straffen Seile zurechte gestellt. Den andern Morgen
ging der Zug fort, durch den die Stadt von dem Schauspiele benachrichtigt
werden sollte, das man ihr bereitete. Vorauf ein Tambour und der Entre-
preneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe
mit einem Kinde vor sich, wohl mit Bändern und mit Flintern heraus-
geputzt, darauf Paar auf Paar die übrige Truppe zu Fuß, die Kinder in
abenteuerlichen Stellungen auf ihren Schultern.“ (Sendung $. 143.)
„Ein Fremder, ..., bedauerte, daß ein gewisses Kind nicht mehr bei
der Truppe sei, das verschiedene Kunststücke mit großer Geschicklichkeit
und besonders den Eiertanz so schön als er ihn niemals gesehen ausgeführt
hätte.“ (Sendung, $. 147.)
„. .. und indem kam ein junges Geschöpf die Treppe heruntergesprungen,
das seine Aufmerksamkeit erregte. Ein kurzes Westchen mit geschlitzten
spanischen Ärmeln und weiten Beinkleidern stund dem Kinde gar artig,
lange, schwarze Haare hatte es in Locken und Zöpfen um den Kopf ge-
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Goethes Mignon ıı
wunden. Er sah es scharf an und konnte nicht gleich einig werden, ob
er es für einen Knaben oder für ein Mädchen halten sollte, doch entschied
er sich bald für das letztere und grüßte, als sie bei ihm vorbeikam, mit einem
Guten Morgen diese Erscheinung. — Mit einem schwarzen, scharfen Seiten-
blick sah sie ihn an, indem sie an ihm vorbei und in die Küche lief, ohne zu
antworten.“ (Sendung, S. 152.)
„Wilhelm erinnerte sich unter den Reden der sonderbaren Figur, die
ihm begegnet war, und fragte nach ihr. Wir wissen selbst nicht (antwortete
man ihm), was wir aus dem Kinde machen sollen. Vor ungefähr vier Wochen
war eine Gesellschaft Seiltänzer hier, die sehr künstliche Sachen zeigte. Unter
andern war auch dieses Kind dabei, ein Mädchen, das alles recht gut aus-
führte, besonders tanzte sie den Fandango allerliebst und machte verschiedene
andere Kunststücke mit vieler Geschicklichkeit und Anstand, doch war sie
immer still, wenn man mit ihr sprach oder sie lobte oder sie um etwas
bat. Eines Tages, kurz vor der Abreise, hörten wir einen erschröcklichen
Lärm unten im Hause. Der Herr von dieser Truppe schalt entsetzlich auf
das Kind, das er zur Stube hinausgeworfen hatte, und das in der Ecke des
Saales unbeweglich stand. Er verlangte mit Heftigkeit etwas von ihm, das
es, wie wir aber hörten, zu tun sich weigerte. Er holte darauf eine Peitsche
und schlug unbarmherzig auf das Kind zu, es rührte sich nicht, verzog das
Gesicht kaum, und es überfiel uns ein Mitleiden, daß wir hinunterliefen
und uns in die Sache mischten. Der ergrimmte Mann schalt nunmehr auf
uns und schlug immer zu, bis er endlich, von uns aufgehalten, seinen Un-
willen in einen ungeheuren Strom von Worten ausgoß. Er schrie, stampfte
und schäumte, und soviel wir verstehen konnten, hatte das Kind sich ge-
weigert zu tanzen und war weder mit Bitten, noch mit Gewalt zu bewegen
gewesen. Es sollte auf das Seil, es tat es nicht, viele hundert Menschen
waren herbeigelaufen, den angekündigten Eiertanz zu sehen, man forderte
ihn laut, aber vergebens. Der Unternehmer ward rasend, da das Publikum
unwillig auseinanderging und unter diesem Vorwande nicht bezahlte.“
(Sendung, 8. 154.)
(Als das Kind hereintrat, blieb es an der Türe stehen), „als wenn es
gleich wieder hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust
und die linke vor die Stirne und bückte sich tief“.
„Lritt näher, liebe Kleine, sagte Wilhelm. Sie sah ihn mit unsicherem
Blick an und kam herbei.“
„Wie nennst du dich? fragte er. Sie heißen mich Mignon, antwortete sie.
Wieviel Jahre hast du? — Es hat sie niemand gezählt. — Wer war dein
12 Philipp Sarasın
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Vater? — Der große Teufel ist tot. Die letzten Worte erklärte man ihm,
daß ein gewisser Springer, der vor kurzem gestorben und sich den großen
Teufel nannte, für ihren Vater sei gehalten worden. Sie brachte ihre Ant-
worten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer Art vor, die Wilhelmen
in Verwirrung setzte, dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt
und neigte sich tief.“ (Sendung, 8.156.)
Der Dichter erzählt weiter:
„Er (Wilhelm) schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre. Ihr Körper war
gut gebaut, nur daß ihre Knöchel und Gelenke einen stärkeren Wachstum
versprachen oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war
nicht regelmäßig, aber auffallend, ihre Stirne kündigte ein Geheimnis an,
ihre Nase war außerordentlich schön und der Mund, obschon er ein wenig
aufgeworfen war und sie manchmal mit demselben zuckte, doch noch immer
treuherzig und reizend. Ihre Gesichtsfarbe war bräunlich, mit wenigem Rot
ihre Wangen besprengt, überhaupt von der Schminke sehr verdorben, die sie
auch jetzt nicht anders als mit größtem Widerwillen auflegte. (Sendung, $. 157.)
„Auch ward ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender. In allem
seinen Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die
Treppe weder auf noch ab, sondern es sprang, es stieg auf den Geländern
der Gänge weg, und ehe man sich’s versah, saß es oben auf dem Schranke
und blieb eine ganze Weile ruhig. Manche Tage antwortete sie mehr auf
verschiedene Fragen und immer sonderbar; doch konnte man nicht unter-
scheiden, ob es Witz oder Mangel des Ausdruckes war, indem sie ein gar
gebrochenes, mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach...
Er fand sie oft, daß sie sich wusch und sie war immer reinlich gekleidet,
obgleich fast alles doppelt und dreifach an ihr geflickt war... und (Wilhelm)
machte sich tausend Gedanken über diese Gestalt und konnte sich nichts
Bestimmtes dabei denken.“ (Ebenda, S. 164/165.)
„Dagegen hörte er sie einmal auf einer Zither klimpern, die mit unter
dem Theaterhausrat war. Er sorgte dafür, daß sie ordentlich bezogen wurde,
und Mignon fing an, in abgebrochenen Zeiten darauf allerlei zu spielen
und zu phantasieren, immer, wie gewöhnlich, in wunderbaren Stellungen.
Bald saß sie auf der obersten Sprosse einer Leiter, mit übereinandergeschlagenen
Füßen, wie die Türken auf ihren Teppichen, bald spazierte sie auf den Dach-
rinnen der Hofgebäude, und der klagende Ton ihrer Saiten, zu dem sich
auch manchmal eine angenehme, obgleich etwas rauhe Stimme gesellte,
machte alle Menschen aufmerksam, staunen und stutzen. Einige verglichen
sie mit einem Affen, andere mit anderen fremden Tieren, und darin kamen
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Goethes Mignon 13
sie überein, daß etwas Sonderbares, Fremdes und Abenteuerliches in dem
Kinde stecke.“ (Ebenda, $. 186.)
Sehr charakteristisch für Mignon ist ein artistisches Kunststück, worauf
sie sich besonders verstand: der sogenannte Eiertanz.
Eines Tages trat Mignon zu Wilhelm herein, breitete einen Teppich auf
dem Boden aus, stellte vier Lichter in jede Ecke, legte in gewissem Maße
Eier voneinander und rief einen Menschen herein, der ihr zum Tanze auf-
spielen sollte.
„Sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit
der Musik wie ein aufgezogenes Uhrwerk an, indem sie Takt und Melodie
mit dem Schlage der Kastagnette begleitete. Behende, leicht, rasch, präzis
führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier
hinein, bei den Eiern nieder, daß man in dem Augenblicke dachte, sie
müsse eines zertreten oder bei schnellen Wendungen fortschleudern. — Un-
aufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg, und die sonderbare Musik
gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze
bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß.“
„Wilhelm empfand, was er alles für Mignon gefühlt, in diesem Augen-
blick auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Sıatt
seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der
Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.“ (Sendung,
5. 218 —220.)
Die tief innerliche Beziehung, die sich allmählich zwischen Mignon und
Wilhelm hergestellt hatte, wird in folgender Episode besonders klar:
„Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im Stillen genährt,
eine Treue, die sich im Verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer
bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahekommt und offenbar
wird. Die lang und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms
Herz konnte nicht empfänglicher sein. Sie stand vor ihm und sah seine
Unruhe. Herr! rief sie aus, wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon
werden? — Liebes Geschöpf, sagte er, indem er ihre Hände nahm, du bist
auch mit unter meinen Schmerzen. Sie sah ihm in die Augen, die von
verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder;
er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz
stille. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange
ruhig. Endlich fühlte er eine Art Zucken durch alle ihre Glieder, das ganz
sachte anfing und sich stärker verbreitete. Was ist dir, Mignon? rief er aus,
was ist dir? Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal
dıd Philipp Sarasin
nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, die Schmerzen verbeißt. Er hub
sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß, er drückte sie an sich und küßte sie.
Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt
ihr Herz fest und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen
Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich
wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher
Anblick. Mein Kind! rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte,
mein Kind, was ist dir? Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich
den schlotternden Gliedern mitteilte, sie hing nur in seinen Armen. Er
schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal
schien sie wieder angespannt und angespannter, wie eins, das den höchsten
körperlichen Schmerz erträgt; und bald, mit einer neuen Heftigkeit, wurden
alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort,
das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger
Riß geschah, und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus
ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte
und weinte und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre
langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder,
und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam
dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinder, es ergoß sich
ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm,
sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrig
behalten. Er hielt sie nur fester und fester. Mein Kind! rief er aus, mein
Kind! du bist ja mein! wenn dich das Wort trösten kann! du bist mein!
ich werde dich behalten! dich nicht verlassen! Ihre Tränen flossen noch
immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von
ihrem Gesichte. Mein Vater! rief sie, du willst mich nicht verlassen!
Willst mein Vater sein! Ich bin dein Kind! (Sendung, S. 278 ff.)*
Das innerste Wesen der Mignon findet aber ihren Ausdruck in ihrem
Liede: „Kennst du das Land?“ Der Dichter begleitet das Lied mit folgenden
Erläuterungen:
„Unter den Liedchen, die Mignon sang, hatte sich Wilhelm eins gemerkt,
dessen Melodie und Ausdruck ihm besonders wohl gefiel, ob er gleich die
Worte nicht alle verstehen konnte. Er verlangte es von ihm, ließ sich
erklären, merkte es sich und übersetzte es in die deutsche Sprache, oder
vielmehr, er ahmte es nach, wie wir es unserem Leser mitteilen. Zwar
die kindische Unschuld des Ausdruckes ging mit der gebrochenen Sprache
verloren, und der Reiz in der Melodie konnte mit nichts verglichen werden.
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Goethes Mignon ı5
Sie fing jeden Vers mit Feier, mit einer Pracht an, als wenn sie auf etwas
Merkwürdiges aufmerksam machen, etwas Wichtiges erzählen wollte. Bei '
der dritten und vierten Zeile wurde der Gesang dumpfer und düsterer.
Das ‚Kennst du es wohl?‘ drückte sie geheimnisvoll und bedenklich aus,
in dem ‚Dahin! dahin!‘ lag eine unwiderstehliche Sehnsucht und das
‚Gebieter, laß uns ziehn!‘ wußte sie, so oft sie es sang, zu modifizieren,
daß es bald bittend, dringend, treibend, hastig und vielversprechend war.
Einmal, als sie es wiederholt hatte, hielt sie nach geendigtem Liede
einen Augenblick inne, sah ihren Herrn scharf an und fragte: Kennst du
das Land? — Es muß wohl Italien gemeint sein, versetzte Wilhelm; woher
hast du das Liedchen? — Italien! versetzte Mignon, gehst du nach Italien,
so nimm mich mit, es friert mich hier. — Bist du in Italien gewesen,
liebe Kleine? sagte Wilhelm. Das Kind war still und nichts weiter aus
ihm zu bringen.“ (Sendung, $. 207/208.)
Die seelische Verfassung des Kindes wird in unzähligen zarten Szenen
geschildert. Die Lehrjahre berichten dann, wie das Kind berufenen Händen
anvertraut wird und heranwächst, aber stets ätherisch und wie über-
menschlich bleibt, bis sie die schmerzliche Entdeckung macht, daß Wilhelm
sein Herz ernstlich verschenken will und an dieser Erschütterung innerlich
zerbricht und stirbt.
Der Mignon innig zugesellt ist nun der Harfner. Wir wissen nicht,
wo er herkommt, er ist plötzlich da und stellt sich der wandernden Schau-
spielertruppe vor.
„Die Gestalt dieses seltsamen Gastes machte die ganze Gesellschaft er-
staunen und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand
ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Ein kahler
Scheitel, von wenig grauen Haaren umkränzt, große, blaue Augen, die
unter langen, weißen Augenbrauen hervorsahen, eine wohlgebildete Nase,
an die sich ein weißer, mittelmäßiger Bart anschloß, mußte der Gesellschaft
ein sonderbares Bild vorstellen. Ein langes, dunkelfarbiges Gewand bedeckte
einen schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen. Er nahm die Harfe
und fing zu präludieren an. — Die Gesellschaft war aber noch darüber
strittig, ‚ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei‘.“ (Sendung, $. 250/251.)
Es ist der Sänger von altem Schrot und Kom:
„Ich singe, wie der Vogel singt,
Der in den Zweigen wohnet,
Das Lied, das aus der Kehle dringt, >
Ist Lohn, der reichlich lohnet.“ (Sendung, $. 253.)
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16 Philipp Saras ın
Sein Betragen vergleicht aber der Dichter mit dem der Herrnhuter. Eine
Unterredung Wilhelms mit dem Harfner wird folgendermaßen geschildert:
„Auf alles, was der Jüngling zu ihm sagte, antwortete der Alte in der
reinsten Übereinstimmung durch Anklänge, die alle verwandte Empfindun-
gen rege machten und ein weites Feld des Denkens eröffneten. Wer einer
Versammlung Herrnhuter oder anderer Frommen, die sich auf ihre Weise
erbauen, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von dieser Szene
machen können.“ (Sendung, S. 262.)
Er verkörpert die geheimnisvolle Gestalt des „Wanderers“, wie sie in der
Dichtung der Romantik häufig wiederkehrt und zum Beispiel von Schubert
musikalisch erfaßt worden war. Er schließt sich innig an Wilhelm an und
hilft seine wunderbare Familie bereichern.
In unserem Roman gedeiht allerdings die Gestalt nur zu mangelhafter
Größe, trägt aber doch viele Züge, die uns interessieren werden. In ge-
wissem Sinne ist er ein Doppelgänger Wilhelms, dann aber auch sein
Gegenspieler. Er ist Dichter und Sänger wie Wilhelm, nur in gesteigertem
Maße und wächst bis ins Mythologische hinein. Auch zieht er flüchtig und
unstet in der Welt herum wie Wilhelm. Zeigt aber seine menschenfreund-
lichen und weichen Züge nicht, die Wilhelm auszeichnen und die Fähigkeit,
sich um hilflose Wesen zu sorgen und zu kümmern.
In der späteren Bearbeitung des Romanes treten diese Züge deutlicher
hervor. Der Dichter beschreibt ihn folgendermaßen : Der Harfner leidet an
einer Zwangsidee, einen Knaben töten oder durch einen solchen umkommen
zu müssen. „Er behauptete nämlich, daß bei seinem Erwachen zu jeder
Stunde der Nacht ein schöner Knabe unten an seinem Bette stehe und ihm
mit einem blanken Messer drohe.“ (Lehrjahre, Bd. XVIII, $. 371.)
Geradezu phantastisch wird dieser krankhafte Hang in folgender Szene,
die an Isaaks Opferung durch Abraham erinnert, auf die der Dichter offen-
sichtlich auch anspielt:
„Wilhelm ging unruhig einigemal in seinem Zimmer auf und ab..,
Auf einmal stürzte Mignon in das Zimmer und faßte ihn an und rief;
Meister! rette das Haus! es brennt!“
Wilhelm geht dem Unglücke nach.
„In diesem Augenblick sprang Mignon herauf und rief: Meister! rette
deinen Felix! der Alte ist rasend! der Alte bringt ihn um! Wilhelm sprang,
ohne sich zu besinnen, die Treppe hinab und Mignon folgte ihm an den Fersen.
Auf den letzten Stufen, die ins Gartengewölbe führten, blieb er mit
Entsetzen stehen. Große Bündel Stroh und Reisholz, die man daselbst auf-
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Goethes Mignon 17
gehäuft hatte, brannten mit heller Flamme; Felix lag am Boden und schrie;
der Alte stand mit niedergesenktem Haupte seitwärts an der Wand. Was
machst du, Unglücklicher? rief Wilhelm. Der Alte schwieg.. u
„Durch viele Fragen erfuhr Wilhelm, daß der Harfenspieler, als sie in
das Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand gerissen und das Stroh
sogleich angezündet habe. Darauf habe er den Felix niedergesetzt, mit
wunderlicher Gebärde die Hände auf des Kindes Kopf gelegt und ein
Messer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie sei zugesprungen und
habe ihm das Messer aus der Hand gerissen. . .“ (Lehrjahre, Bd. XVTII, S. 63.)
Sein Ende findet der Harfner schließlich in einer Situation, die auf den
gleichen Gedanken zurückgeht. Er lernte seine Schwermut beherrschen,
dadurch, daß er stets eine letale Dosis Opium bei sich trug, um sich aus
freien Stücken jederzeit seinem unerträglichen Zustand durch den Tod
entziehen zu können. Durch einen unglücklichen Zufall meint er, Wilhelms
Sohn Felix habe davon getrunken und schneidet sich in seiner Verzweiflung
die Kehle durch.
Schließlich erläutert der Dichter Mignons Herkunft. Sie war ein natür-
liches Kind des Harfners und dessen leiblicher Schwester Sperata, die in
einem Kloster, ferne von der Welt aufgezogen worden war, Angehörige
einer vornehmen italienischen Familie. Goethe schildert also in Mignon
das Geschick und das Verhängnis eines Inzestes.
Fassen wir noch einmal das Wesentliche zusammen:
Mignon ist der Urtypus des Seiltänzerkindes geheimnisvoller Herkunft,
die in hoffnungsloser Leidenschaft zu ihrem Freund und Gebieter vergeht.
Wie zufällig schließt sich ihr die Gestalt des Harfenspielers an und
bildet mit Wilhelm die wunderbare . Familie (dramatisch-objektiver
Gehalt).
Mignon verzehrt sich aber auch in ihrer Sehnsucht nach der fernen
Heimat im Süden und gibt dieser Stimmung in ihren Liedern ergreifenden
Ausdruck (lyrisch-subjektiver Gehalt).
Sarasin: Goethes Mignon. 5
183 ) Goethes J ugendgeschichte
Freud variierte einmal gesprächsweise Buffons bekannten Ausspruch:
„ie style c’est ’homme“ folgendermaßen: „Ze style, c'est Phistoire de l’homme“,
Wir dürfen diese Wendung wohl so übersetzen: Was und wie jemand schreibt,
stammt in jeder Beziehung aus der Vergangenheit und bildet sozusagen
deren Niederschlag.
Der Meisterroman und in ihm die Mignon ist mehr als ein anderes Werk,
ein Niederschlag aus Goethes eigenen Erlebnissen und Erfahrungen und
wir dürfen es darum wohl wagen, die historische Methode der Psycho-
analyse auf. diese Gestalt anzuwenden.
Der Meisterroman liegt in zwei Fassungen vor uns. Die erste Fassung,
die „Sendung“, entstand in der ersten Weimarer Epoche vor der italieni-
schen Reise. Der Minister am herzoglichen Hofe wollte einmal endgültig
mit seiner romantischen Lebenseinstellung fertig werden und schrieb sich,
während er allmählich die Metamorphose vom unbeholfenen Sturm- und
Drangmenschen zum geschmeidigen Hofmann durchmachte, seine überlebten
Theaterphantasien von der Seele. Das vermittelnde Ferment in diesem Prozesse
war die Stein. Stil und Darstellung atmen Gewitterschwüle und rücken
mit ihrer ossianischen Stimmung in die Nähe Werthers.
Die definitive Fassung, die „Lehrjahre“, aus den neunziger Jahren, tilgen
das Ungestüme und Wildstürmende der „Sendung“ aus und leuchten in
ruhigem, sattem Lichte. Zwischen den beiden Fassungen liegt die Flucht nach
Italien. Wilhelm Meisters Sendung ist eine Art romanhafter Lebensgeschichte
des Dichters selber. Sie beginnt mit den Jugendjahren des Helden, nimmt
das Puppenspiel, die ersten Liebesträume und Liebesenttäuschungen aus der
Lebensgeschichte des Dichters selber auf. Manches stammt aus der un-
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Goethes Mignon 19
mittelbaren Umgebung des Weimarer Hofes, manches scheint auch an-
gelesen zu sein.
Mignon und der Harfner stammen aber wie aus einer anderen Welt.
Dämonisch, fast wie Mephisto, steigt Mignon aus der Phantasiewelt des
Dichters empor und gibt dem Psychoanalytiker besondere Rätsel auf. Er
hat aber gelernt, dämonische Phantasiegebilde Geisteskranker verständlich
zu machen, und fand den Weg, wirre Träume aufzulösen, Tagesphantasien
oder Dichtungen zu erklären. Vielleicht besitzt er auch Mittel und Wege,
die Mignon aus ihrer Isolierung herauszulösen und mit dem Gedanken-
strom der Goetheschen Innenwelt zu verbinden.
Die Psychoanalyse lehrt uns, daß der Stoff unseres Denkens nicht nur
aus jüngster Zeit stammt oder aus Zeitabschnitten, die uns wohl erinner-
lich sind, sondern aus Zeitepochen, die wir wohl einmal intensiv erlebt,
aber nicht mehr in Erinnerung haben. Diese frühesten Lebensepochen
nennen wir „infantile“. Ungezählte psychoanalytisch durchforschte Träume
und Krankengeschichten erweisen, daß diese ersten Lebensjahre für unser
waches Denken wohl vergessen sind, aber unbewußt weiterwirken. Dieses
„Infantile“ ist ein so sicherer Bestandteil unseres Denkens und Träumens,
daß wir bei jedem phantasieartigen Stoffe daran denken müssen, darum
auch hier bei der Mignon.
Alle Quellen aufzuweisen, aus denen Mignon allmählich entstanden ist,
gehört nicht zu unserer Aufgabe. Die Vorstellung vom musizierenden Alten
mit dem bettelnden Kinde ist altes Sagengut und läßt das Wanderermotiv
„Heimatlos“ immer wieder entstehen. Wir nehmen hier die Mignongestalt,
die eng mit dem Harfner verflochten ist, als feste Größe und achten auf
die Variationen, die der Dichter auf diese Melodie zu finden weiß.
Wenden wir uns aber zuerst der Jugendgeschichte des Dichters selber zu.
Die J ugendgeschichte
In die „Jugendgeschichte“ nehmen wir nur die wichtigsten Daten auf,
um unserer Aufgabe vorzuarbeiten. Ich lasse sie in Form einer erzählenden
Chronik folgen:
Johann Wolfgang Goethe kam am 28. August 1749 in Frankfurt am
Main zur Welt, — Die Mutter war achtzehn und der Vater neununddreißig
Jahre alt. Ihr Altersunterschied betrug also ganze einundzwanzig Jahre. Die
Mutter, eine geborene Textor, stammte aus einer alten, angesehenen Frank-
furter Familie und war ohne höheren Unterricht in fröhlicher Jugendfreiheit
2*
20 Philipp Sarasın
aufgewachsen (Bielschowsky). Ihr Vater war kaiserlicher Rat und Stadt-
schultheiß in Frankfurt, ihr Großvater Doctor juris und Syndikus. Dieser
Familienkreis verkörperte die gutbürgerlichen Lebensgewohnheiten Frank-
furts. Zwei Schwestern von ihr werden in Dichtung und Wahrheit erwähnt:
eine lustige und lebhafte Tante: Johanna Maria, seit 1751 mit dem Handels-
manne Melber verheiratet, und eine etwas stillere Tante! Anna Maria,
1756 mit Prediger Starck verheiratet.
Die großväterliche Familie Textor bewohnte einen Häuserkomplex an
der Friedberger Gasse in Frankfurt, mit sonnigem Garten, der vom Groß-
vater teilweise selber besorgt wurde.
Die Familie Goethe stammte von auswärts. Der Urgroßvater des
Dichters war Hufschmied in Artern an der Unstrut in der heutigen
Provinz Sachsen, südlich vom Harz, etwa vierzig Kilometer nördlich von
Weimar, der späteren Heimat seines berühmten Urenkels. Der Großvater
des Dichters war Schneider, etablierte sich in Frankfurt und brachte es zu
ansehnlichem Vermögen, so daß er seinem Sohne eine sorgfältige Erziehung
geben konnte. Goethes Vater wurde Jurist, studierte an verschiedenen deut-
schen Universitäten und erweiterte seinen Gesichtskreis auf Reisen in Öster-
reich, Frankreich und Italien. Frankfurt gegenüber bewahrte er dauernd
ein Gefühl innerer Fremdheit. Er hatte den Ehrgeiz, vom Rate ein Amt
ohne Gehalt, aber auch ohne Wahlverfahren übertragen zu erhalten, Da
diesem Verlangen nicht entsprochen wurde, zog er sich grollend von jeder
öffentlichen Tätigkeit zurück. Diese Verstimmung wurde auch nicht durch
seine eheliche Verbindung mit der Tochter der regierenden Familie Textor
behoben und sollte später deutlicher hervortreten.
Ein warmes, inniges Verhältnis scheint zwischen den Ehegatten nicht
bestanden zu haben. Die seelische Kluft zwischen den Eltern war denkbar
groß. Der Schauplatz dieser Ehe war das Goethesche Haus am großen
Hirschengraben. Bei Wolfgangs Geburt lebte der Großvater Goethe nicht
mehr, dagegen hauste die Großmutter Goethe in einem der hinteren Zimmer
und ging eben ins einundachtzigste Lebensjahr. Goethe erinnert sich ihrer
noch „gleichsam als eines Geistes, als einer schönen, hagern, immer weiß
und reinlich Ben Frau. Sanft, freundlich, wohlwollend ist sie mir
im Gedächtnis geblieben“. (Dichtung und Wahrheit — Goethe, Bd. XXIL, S. 9) ).
Dann lebte noch ein Gehilfe des Vaters in diesen Räumen, ein gewisser
Rechtskandidat Clauer, der anschließend scheint trübsinnig geworden zu
sein, aber weiterhin im Hause blieb. Über die Dienstboten, männlichen
oder weiblichen Geschlechts, bin ich nicht genügend orientiert, es scheint
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Goethes Mignon 21
später ein männliches Faktotum dagewesen zu sein, der auch schneidern
konnte, und Mägde, die nach geringen Andeutungen des Dichters ziemlich
primitiv gewesen waren.
Am 7. Dezember des nächsten Jahres 1750 bekam Wolfgang ein Schwester-
chen Cornelie, an das sich der Kleine von anfang an innigst anschloß.
Dies ist sozusagen die Urfamilie, in der Mutter und Kinder in schöner,
ungetrübter Harmonie lebten. Die Sonntage werden im großväterlichen
Hause Textor verbracht. Diese Herrlichkeit dauerte bis zum 27. Novem-
ber 1752, also drei Jahre und zwei Monate, wenn wir die Welt nun mit
den Augen des Kindes Wolfgang betrachten.
Nun tritt aber die erste Trübung ein. Wolfgang bekommt einen kleinen
Bruder: Hermann Jakob. Die Mutter wendet sich dem neuen Ankömm-
ling zu. Freud behandelt diesen Zeitpunkt in seiner Arbeit: „Eine Kind-
heitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit‘“. Goethe erzählt eine Episode
aus seiner Kindheit, an die er sich selber nicht mehr erinnert, die ihm
aber immer wieder erzählt worden sei. Eines Tages, „da alles ruhig im
Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen mein
Wesen und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein
Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach“. Dem
einen folgten bald andere und er hätte die ganze Küche geräumt, wenn
man ihn nicht daran gehindert hätte.
Freud weist nach, daß diese Handlung eine Reaktion auf die unerwünschte
Ankunft des Bruders war, aus dem tiefen Gefühl der Beleidigung, daß ihm
nun ein anderer den Platz bei der Mutter streitig macht.
Die Beziehung zum Bruder bleibt dauernd dunkel. Erwähnt wird er nur
nebenbei, auch wurde er nicht sehr alt.
Im folgenden Jahre, zu Weihnachten, werden die lebendigen Märchen-
erzählungen, die die gesprächige und phantasievolle Mutter den Kindern
erzählte, in Wirklichkeit vorgeführt. Die Großmutter Goethe schenkt den
Kindern ein Puppentheater (Weihnachten 1753).
Im folgenden Jahre 1754. bekommt die Familie wieder Zuwachs, ein
Mädchen Katharina Elisabeth, das aber im Jahre darauf stirbt. Am 30. Juni
wird zu Ehren Wolfgangs eine Kindergesellschaft eingeladen und das Puppen-
theater wieder aufgestellt.
Indessen stirbt die Großmutter Goethe am 26. März 1754.
Für den Vater Goethe ist nun der Zeitpunkt gekommen, sein Haus
einem völligen Umbau zu unterziehen. Die Pläne waren alle schon sorg-
fältig vorbereitet. Dabei handelte es sich darum, die alte Bauart des Hauses
n .
22 Philipp Sarasın
mit den nach der Straße vorspringenden, oberen Stockwerken beizubehalten,
ohne durch die städtischen Baugesetze, die dies an Neubauten verboten,
behindert zu werden. Der durchgreifende Neubau wurde darum in Form
einer großen Reparatur durchgesetzt. Die Familie bewohnte die verfügbaren
Räume weiter und die Kinder machten die ganze Unruhe und das Ge-
triebe mit.
Im November 1755 dringt die Kunde vom Erdbeben von Lissabon in
den Familienkreis und regt den altklugen Knaben zu weisen Betrachtungen
an. Am 22. Dezember wird sein Schwesterchen Katharina Elisabeth begraben.
Mit dem Jahreswechsel 1755/56 schließt die erste Lebensepoche des
Dichters ab.
Wolfgang ist der erklärte Liebling einer phantasievollen und lebens-
durstigen Mutter, der etwas gönnerhafte, ältere Freund einer sehr liebes-
hungrigen und begabten Schwester. Ein jüngerer Bruder wird möglichst
nicht beachtet und aus der Bedeutung eines etwas düsteren, steifen, alten
Herrn, den man Vater nennen muß, wird man nicht recht klug.
Die Urzeit des Dichters schließt hiemit ab. Der Elternkomplex und der
Geschwisterkomplex sind nun präformiert und angelegt.
Die nachfolgenden Jahre sind schon viel reicher. Im Herbste 1756 bricht
der Siebenjährige Krieg aus. Die Preußen rücken in Sachsen ein. Die Er-
eignisse werden im Familienkreise lebhaft erörtert. Vater Goethe ist glühender
Verehrer Friedrichs des Großen, Großvater Textor steht mit seiner Familie
auf Seite der angegriffenen Österreicher. Goethe macht kein Hehl aus seiner
Auffassung. Die beiden geraten hart aufeinander. Wir werden später wieder
darauf zurückkömmen.
Zu Neujahr 1757 überbringt der kleine Wolfgang ein etwas großartiges
Neujahrsgedicht seinen Großeltern, an dem die Hand des Lehrers nach-
geholfen hat.
„Erhabener GrosPapa
Erhabene GrosMama“
beginnen die Strophen. Die Beziehungen der beiden Familien scheinen
wieder notdürftig geflickt worden zu sein.
Die Familie bekommt wieder Zuwachs. Am 29. März 1757 wird ein
Töchterchen namens Johanna Maria getauft. Es bereichert den Familien-
kreis die folgenden zwei Jahre.
Der Unterricht zeitigt die ersten deutlichen Früchte. Wir besitzen aus den
Jahren 1757—1759 ein Übungsheft mitReinschriften Wolfgangs, teils selbst-
erfundene Zwiegespräche in deutscher und lateinischer Sprache von erstaun-
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Goethes Mignon 23
licher Lebendigkeit und Naturtreue der Erfindung. Der spätere Dramatiker
kündigt sich bereits an. Besonders ein Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn
beleuchtet das Verhältnis zwischen den beiden und läßt eine leise Ironie und
eine tiefe geistige Überlegenheit des Sohnes über den alten Herrn durchblicken.
Eingreifend ist dann wieder das Jahr 1759. Am 2. Januar besetzen die
Franzosen die Mainstadt. Die Bewohner bekommen Einquartierung, die volle
vier Jahre dauern soll. Dem Hause am Hirschgraben wird der so-
genannte Königsleutnant zugewiesen. Der preußisch gesinnte Rat Goethe
muß es sich gefallen lassen, aber nur ingrimmig; denn nach der Schlacht
bei Bergen am 13. April macht er seinem Zorne dem Grafen von Thoranc
gegenüber Luft und entgeht nur knapp einer ernsten Maßregelung.
Am ı3. Januar 1759 stirbt der sechsjährige Hermann Jakob, was bei
Wolfgang keine Spuren zurückgelassen zu haben scheint. Das Ereignis geht
im Getriebe der neuen Zeit unter. Am ıı. August wird die stille und
angenehme Johanna Maria begraben.
Die Aufsicht über den Knaben läßt merklich nach. Er streift in der
Stadt herum, in dem sich französisches Wesen geltend macht. Er lernt die
neuen französischen Kaffeehäuser kennen. Er ist erst zehn Jahre alt, bekommt
vom franzosenfreundlichen Großvater ein Freibillett ins französische Schau-
spielhaus und schließt sich dort dem Sohne einer Schauspielerfamilie,
de Rosne, an. Der Vater scheint schon sehr verstimmt zu sein und den
Knaben gewähren zu lassen. — Das väterliche Haus ist düster und un-
freundlich, das Reich des Großvaters ist verschlossen und nun treibt er
sich eben in der Stadt herum. Ein bißchen herrenlos.
Nach späteren Äußerungen in Briefen an seine Schwester scheint jetzt
die intensivere Dichtertätigkeit einzusetzen. In den nächsten sechs Jahren
schreibt er jedes Jahr einen Quartband von 500 Seiten Poesie zusammen
(Brief an die Schwester aus Leipzig. August 1767).
Das Jahr 1760 bringt wieder Familienzuwachs. Am ı5. Juni wird ein
Georg Adolph getauft, stirbt aber schon im nächsten Jahre.
Ostern ı76ı wird Wolfgang konfirmiert, also kaum zwölf Jahre alt. Im
Sommer scheint der Königsleutnant das Haus verlassen zu haben.
Die dichterische Produktivität tritt nun massiger hervor. Er versucht sich
mit einem Epos „Joseph“, das durch den trübsinnigen Rechtskandidaten Clauer
abgeschrieben wird. — Cornelie und Wolfgang glänzen in einer Theater-
aufführung, einem Stücke von Schlegel und in Britannicus von Racine.
Im Jahre 1763 findet der Siebenjährige Krieg seinen Abschluß, die
Franzosen räumen Frankfurt. Wolfgang scheint noch mehr in der Stadt
24 Philipp Sarasın
seinen eigenen Wegen nachzugehen. Es beginnt im Herbst die erste Liebes-
beziehung zu einem schönen Mädchen, das er Gretchen nennt.
Aber im folgenden Jahre, genau nach dem glänzenden Krönungsfest
Josephs des Zweiten, 3. April 1764, das rauschend und prächtig die Main-
stadt erfüllt hatte, geht ein Ungewitter über den ahnungslos Liebenden
nieder. Ein junger Mensch des Bekanntenkreises, in dem sich Wolfgang
bewegt hatte, wurde in einen Rechtshandel verwickelt und unlauterer Dinge
bezichtigt, Wolfgang in die Sache hineingezogen und von einem Hausfreund
schonend, aber doch sachlich verhört. Er sieht nun plötzlich seine heim-
liche, aber tief brennende Liebe ans grelle Tageslicht gezerrt und gerät
darob in äußerste Scham und Verzweiflung. „Wie wenn ungefähr unter
der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät, gingen in seinem Busen
Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes
auf einmal scheiternd durcheinander.“ (Sendung, 8. 68.)
Es wird ihm nun ein Hauslehrer als eine Art Hofmeister oder Berater
zur Seite gestellt. Er scheint sich aber vereinsamt zu fühlen und sucht
um Aufnahme in einen neuen Freundeskreis. Briefe an einen gewissen
Buri sind erhalten, er scheint aber den Anschluß nicht gefunden zu haben.
Seine Schwester war nun doppelt froh, endlich den Treulosen wieder
an sich fesseln zu können, denn sie litt zu sehr unter der Einsamkeit,
dem trübseligen und harten Wesen ihres Vaters. Das Glück sollte aber nicht
lange dauern, denn im September des folgenden Jahres, 1765, zieht der
junge Student auf die Universität von Leipzig.
III ) Ergänzungen zur J ugendgeschichte
Im folgenden möchte ich nun diese Jugendgeschichte mehrfach ergänzen.
Der eine Versuch bezieht sich auf das Jahr 1756, der andere auf das Jahr 1759
und schließlich untersuchen wir die Todesursachen der jüngeren Geschwister
Goethes, soweit es möglich ist.
\ a) Das Kshesmäschen
Eine der frühesten Jugenddichtungen Goethes, die auf uns gekommen
sind, ist das sogenannte Knabenmärchen: „Der neue Paris.“ Als Goethe
diese Jugendphantasie schließlich niederschrieb, hatte er sein sechzigstes Lebens-
‚jahr überschritten. Er fügt sie in das zweite Buch des ersten Teiles seiner
Lebensbeschreibung ein und sagt: „Ich füge daher ein solches Märchen
bei, welches mir, da ich es meinen Gar oft wiederholen mußte, noch
ganz wohl vor der Einbildungskraft und im Gedächtnis schwebt.“ (Goethe,
Bd. XXIL, $. 56.) Denn „als ich die Fortsetzung meines Märchens hartnäckig
verweigerte, ward dieser erste Teil öfters wieder begehrt. Ich hütete mich,
an den Umständen viel zu verändern, und durch die Gleichförmigkeit meiner
Erzählung verwandelte ich in den Gemütern meiner Zuhörer die Fabel in
Wahrheit“. (Goethe, Bd. XXII, 5. 74.)
Die Frage, wieweit der alternde Dichter diese Jugendphantasie beim
Niederschreiben wohl verändert habe, beantwortet Goethes Biograph, Biel-
schowsky, folgendermaßen: „Seine Form müssen wir auf Rechnung der
späteren Kunst des Dichters setzen, der es erst 1811 niedergeschrieben hat.
Den Inhalt aber der Knabenzeit abzusprechen, verbietet die sehr bestimmte
Erklärung des Dichters.“ (Bd. I, S. 35.)
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26 Philipp Sarasın
Die Erzählung des jugendlichen Dichters lautet in prosaischer knapper
Form etwa folgendermaßen:
An einem Pfingstsonntagmorgen hatte er einen Traum. Er stehe vor dem
Spiegel und wolle sich zum Ausgange bereit machen, werde aber mit dem
Anziehen der Kleidungsstücke nicht fertig. Da trete Merkur zu ihm und
übergebe ihm verheißungsvolle Aufträge. Schließlich wache er auf, mache
sich zum Kirchgange bereit, sei aber immer noch mit seinem Traume be-
schäftigt, ebenso beim Mittagessen bei den Großeltern Textor.
Dann streift er nachmittags in der Stadt umher und entdeckt an der
sogenannten schlimmen Mauer ein Pförtchen, das er sonst noch nie gesehen
hatte. Er tastet daran herum, bis es sich von innen von selber öffnete und
ihm Eintritt in einen Garten gewährt. Ein alter, ehrwürdiger Greis in
weitem, sonderbarem Gewande, mit weißem Barte empfängt ihn. Zuerst
sieht er einen von Linden überschatteten Platz. Bald dringt er aber in den
geheimnisvollen Garten ein. Ein doppelreihiges Gitter senkt sich über einen
Wassergraben, in dem Gold- und Silberfische hin und wider schwimmen.
Über schöne Wege gelangt er zuletzt in ein angenehmes Gartenhaus, aus
dem wohllautende Musik dringt. Er wird im Innern von drei zauberhaft
schönen Damen empfangen und einer kleinen munteren Freundin bewill-
kommt. Lustige Spiele und leckere Speisen, die ein Kinderherz entzücken,
werden in märchenhaften Mengen aufgetischt, bis Übermut und Streit zwischen
dem Helden und der kleinen Alerte, so heißt das muntere Mädchen, dem
Treiben ein Ende bereiten und Wolfgang den Garten wieder verlassen muß.
Wir wissen nicht genau aus welcher Zeit diese Dichtung stammt. Die
Zwiegespräche in deutscher und lateinischer Sprache, die auf uns gekommen
sind, die aus den Jahren 1757—1759 stammen, machen einen so reifen Ein-
druck, daß diese etwas planlose und kindische Geschichte nicht recht hinein-
passen will. Viel früher dürfen wir aber auch nicht greifen. Dagegen gibt
uns die Geschichte selber deutlicheren Aufschluß.
Schauen wir einmal diesen Märchenstoff genauer an.
An einem Sonntagsmorgen hat Wolfgang einen verheißungsvollen Traum,
geht dann zur Kirche und ißt wie gewohnt bei seinen Großeltern Textor
zu Mittag. Will dann nachmittags seine Freunde aufsuchen, gerät aber beim
Durchstreifen der Stadt bei jener geheimnisvollen Mauer in einen Feen-
garten, wo ihm ein würdiger Greis herrliche Dinge zeigt.
Wir wissen nun aus den Erzählungen .des Dichters, daß die Sonntage
bei den Großeltern Textor zu den vergnügtesten Stunden der Woche ge-
hörten. Da war ein großer, herrlicher Garten mit Obst und Blumenbeeten,
Goethes Mignon 27
Stachelbeeren so viel man wollte. „In diesem friedlichen Revier fand man
jeden Abend den Großvater mit behaglicher Geschäftigkeit eigenhändig Obst-
und Blumenzucht besorgend. So trug er auch immer einen talarähnlichen
Schlafrock und auf dem Haupt eine faltige, schwarze Samtmütze, so daß er
eine mittlere Person zwischen Alcinous und Laertes hätte vorstellen können.“
(Goethe, Bd. XXII, S. 42.)?
Diese fröhlichen Sonntage wurden aber im Herbst 1756 mit dem Aus-
bruch des Siebenjährigen Krieges gestört.
„(Aber) kaum hatte ich am 28. August 1756 mein siebentes Jahr
zurückgelegt, als gleich darauf jener weltbekannte Krieg ausbrach, welcher
auf die nächsten sieben Jahre meines Lebens auch großen Einfluß haben
sollte. Friedrich der Zweite, König von Preußen, war mit 60.000 Mann in
Sachsen eingefallen... Die Welt, ...spaltete sich sogleich in zwei Par-
teien, und unsere Familie war ein Bild des großen Ganzen.“
„Mein Großvater, ... war mit einigen Schwiegersöhnen und Töchtern
auf österreichischer Seite. Mein Vater... . neigte sich mit der kleineren
Familienhälfte gegen Preußen. Gar bald wurden unsere Zusammenkünfte,
die man seit mehreren Jahren Sonntags ununterbrochen fortgesetzt hatte,
gestört... . Man stritt, man überwarf sich, man schwieg, man brach los.
Der Großvater, sonst ein heiterer, ruhiger und bequemer Mann, ward un-
geduldig. Die Frauen versuchten vergebens das Feuer zu tüschen, und nach
einigen unangenehmen Szenen blieb mein Vater zuerst aus der Gesellschaft.“
(Goethe, Bd. XII, S. 50.)
Das Zerwürfnis scheint sehr tief gewesen zu sein, denn ich finde fol-
gende Angabe im Tagebuch eines Zeitgenossen, des Arztes Senckenberg:
„Bei einem Festmahl im Hause des Pfarrers Starck (Gatte von Anna
Maria Textor, verheiratet 1756) soll der Rat Goethe seinen Schwiegervater
als bestochenen Verräter verflucht haben; dieser habe darauf mit einem
Messer nach ihm geworfen, und mühsam habe man die Streitenden ge-
trennt.“ (Anmerkung in Goethe-Ausgabe, Bd. XXIL, S. 267.)
Diese wohltuenden Sonntage im großelterlichen Hause waren nun gestört.
Kein Bissen wollte Wolfgang mehr schmecken, „denn ich mußte meinen
Helden aufs greulichste verleumden hören. Hier wehte ein anderer Wind,
hier klang ein anderer Ton als zu Hause. Die Neigung, ja die Verehrung
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ı) Freud machte mich auf die Ähnlichkeit der beiden Namen Laertes und Alerte
aufmerksam. Die beiden ersten Buchstaben sind gegeneinander vertauscht, Goethes
Beziehungsreichtum vorbewußter Vorstellungen scheint sich in diesem Wortspiele zu
spiegeln.
28 Philipp Sarasın
für meine Großeltern nahm ab. Bei den Eltern durfte ich nichts davon
erwähnen; ich unterließ es aus eigenem Gefühl und auch weil die Mutter
mich gewarnt hatte. Dadurch wurde ich auf mich selbst zurückgewiesen.“
(Dichtung und Wahrheit, Bd. XXII, S. so/s1/52.)
Überblicken wir nun noch einmal den Gang unserer Untersuchung, so
werden wir deutlich gewahr, wie der Umschwung der Stimmung im groß-
väterlichen Hause sich wie Mehltau auf das Vertrauen des Enkels zu den
Großeltern legt, so daß der kleine Wolfgang sich an den sonst so fröhlichen
Sonntagen bei den Großeltern Textor nicht mehr recht freuen kann. Die
Furcht vor dem Großvater breitet sich, wie es nicht anders zu denken ist,
auf die ganze Familie Textor aus, auf sein Haus an der Friedbergergasse
und auf seinen Garten.
Wir dürfen also wohl folgende Vermutung wagen:
Das Knabenmärchen gibt eine phantastische Schilderung von den Herrlich-
keiten im großväterlichen Garten, die er einmal genossen, die ihm aber
seit der Verstimmung zwischen den beiden Familien vergällt waren. Die
entschwundene Herrlichkeit wird, wenn auch in kindlicher Form, poetisch
aufgearbeitet und den horchenden Freunden aufgetischt. (Herbst 1756.)
Das Knabenmärchen steht also an der Schwelle zwischen Kindheit und
Knabenzeit des Dichters und stellt die poetische Verarbeitung eines un-
ersetzlichen Verlustes dar. Sie ist sozusagen die moderne und individuelle
Aufarbeitung der Vertreibung aus dem Paradiese und wir dürfen mit Recht
erwarten, daß das Motiv dieses Urgartens wohl später wieder aufge-
nommen wird.
Das Knabenmärchen aber lehrt uns noch mehr. Wenn der geschilderte
Garten auf den großelterlichen Garten zurückgeht, so ist der alte, sonder-
bare Greis sein Großvater, der ihm allerdings durch die Parteinahme gegen
Friedrich den Großen seltsam genug erschienen ist. Die fidele, kleine Alerte
aber ist eine poetische Verarbeitung seiner Schwester Kornelie, mit der er
aufgewachsen ist. Die schönen Damen, die ihn bewirten, aber dürften in
seinen Tanten, den Schwestern der Mutter, ihr Urbild finden.
Die Alerte, der würdige Greis, der Feengarten sind poetische Elemente,
die ich betonen möchte, da sie uns wieder später entgegenkommen werden.
b) Die französischen Schauspieler
Das Jahr 1759 weist uns in andere Richtung.
Am 2. Januar wird Frankfurt von französischen Truppen überrumpelt
und besetzt. Die Bevölkerung erhält Einquartierung, auch das Goethesche
a
Goethes Mignon 29
Haus. Vater Goethe, der sich eben in seinem neu eingerichteten Haus
anfing wohl zu fühlen, wehrt sich wie ein Löwe dagegen, es nützt ihm
aber nichts. Der Königsleutnant, Frangois de Theas, comte de Thoranc,
bezieht die Räume im ersten Stock.
"Dazu aber kam folgendes. Die französische Einquartierung brachte auch
das französische Schauspiel in die Mainstadt.
„Von meinem Großvater“, erzählt Goethe, „hatte ich ein Freibillett er-
halten, dessen ich mich, mit Widerwillen meines Vaters, unter dem Bei-
stand der Mutter, täglich bediente. Hier saß ich nun im Parterre vor einer
fremden Bühne...“ „. . . da ich (aber) nicht immer die ganzen Stücke
anzuhören die Geduld hatte und manche Zeit in den Korridors, auch wohl
bei gelinderer Jahreszeit vor der Tür (es ist Frühjahr 1759) mit anderen
Kindern meines Alters allerlei Spiele trieb, so gesellte sich ein schöner,
munterer Knabe zu uns, der zum Theater gehörte und den ich in manchen
kleinen Rollen, obwohl nur beiläufig, gesehen hatte.“
„Der junge Derones, so will ich den Knaben nennen, mit dem ich
mein Verhältnis immer fortsetzte, war außer seinen Aufschneidereien ein
Knabe von guten Sitten und recht artigem Betragen. Er machte mich mit
seiner Schwester bekannt, die ein paar Jahre älter als wir und ein gar
angenehmes Mädchen war, gut gewachsen, von einer regelmäßigen Bildung,
brauner Farbe, schwarzen Haaren und Augen; ihr ganzes Betragen hatte
etwas Stilles, ja Trauriges. Ich suchte ihr auf alle Weise gefällig zu sein;
allein ich konnte ihre Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken. ... Mit einem
jüngeren Bruder hatte ich kein Verhältnis... Der Knabe zeigte mir hinter
dem Bette seiner Mutter... . das Porträt eines schönen Mannes, und bemerkte
zugleich mit schlauer Miene: das sei eigentlich nicht der Papa, aber ebenso-
gut wie der Papa .. . so glaubte ich herauszufinden, daß die Tochter wohl
dem Vater, die beiden andern Kinder aber dem Hausfreund angehören
mochten. Ich erklärte mir nun ihr trauriges Ansehen und hatte sie nur
um desto lieber.“ (Dichtung und Wahrheit, Bd. XXII, 8. 107.)
Wir sehen also, wie Wolfgang sich von seinem eigenen väterlichen Hause
unvermerkt loslöst und beginnt, sich in einer Schauspielerfamilie heimisch .
zu fühlen. Das Interesse für die eigenen Geschwister scheint so zu schwinden,
daß er gar nicht bemerkt, was sich zu Hause zuträgt, denn Goethe meldet
mit keinem Worte, daß zu Hause schwere Schicksalsschläge die Eltern
treffen. |
Am 13. Januar 1759 stirbt sein sechsjähriger Bruder Hermann Jakob.
Am ıı. August des gleichen Jahres wird seine kleine Schwester Johanna
50 Philipp Sarasın
Maria begraben, die der Dichter als ein schönes und angenehmes Mädchen
gerühmt hatte. Der Dichter übergeht diese beiden Ereignisse in seiner
Lebensgeschichte völlig.
Nun berichtet der Dichter aus dieser Zeit ein kleines Ereignis, das
wie ein Reflex der Vorgänge in der Familie am Hirschengraben uns an-
mutet:
„Ein anderes Abenteuer, das mir auch im Schauspielhause, obgleich
später (offenbar im Herbste 1759) begegnet, will ich bei dieser Gelegenheit
erzählen.
Ich saß nämlich mit einem meiner Gespielen ganz ruhig im Parterre,
und wir sahen mit Vergnügen einem Solotanze zu, den ein hübscher
Knabe, ungefähr von unserem Alter, der Sohn eines durchreisenden fran-
zösischen Tanzmeisters ..... mit vieler Gewandtheit und Anmut aufführte.
Nach Art der Tänzer war er mit einem knappen Wämschen von roter Seide
bekleidet, welches in einen kurzen Reifrock ausgehend, gleich den Laufer-
schürzen, bis über die Knie schwebte.... Ich sagte zu meinem Begleiter:
Wie schön war dieser Knabe geputzt, und wie gut nahm er sich aus; wer
weiß, in was für einem zerrissenen Jäckchen er heute Nacht schlafen mag!“
Die Mutter des Tänzers, die in der Nähe war, hatte diese Worte gehört
und machte den jungen Goethe beim Verlassen des Theaters gewaltig
herunter.
„Da ich mich weder entschuldigen noch von ihr entfernen konnte (wegen
des Gedränges der Leute), so war ich wirklich verlegen, und als sie einen
Augenblick innehielt, sagte ich, ohne etwas dabei zu denken: Nun, wozu
der Lärm? Heute rot, morgen tot! — Ich dachte nicht weiter an meine
Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als der Knabe, anstatt
sich nochmals sehen zu lassen, krank ward, und zwar sehr gefährlich. Ob
er gestorben ist, weiß ich nicht zu sagen.“ ( Dichtung und Wahrheit, Bd. XXII.
S. 1zo/111.)
Der Knabe Wolfgang stand unter dem frischen Eindruck des Todes seines
Bruders Hermann Jakob, den er offenbar nicht liebte und wahrschein-
lich auch seiner Schwester Johanna Maria, die am ıı. August beerdigt
wurde.
Die Worte: „Wozu der Lärm? Heute rot, morgen tot!“ wurden
instinktiv, ganz unbewußt hervorgestoßen und verlangen darum gebieterisch
nach ihrer historischen und gefühlsmäßigen Determinierung.
Wir sahen, wie sich Wolfgang unbemerkt vom elterlichen Hause loslöste
und seine Gefühle auf das Schauspielermilieu übertrug; wir sind genötigt
Goethes Mignon 31
anzunehmen, daß auch unbewußten Inhalten dasselbe geschieht und daß
irgendwelche Vorkommnisse in der neuen Umgebung ihn an Vergangenes
erinnert. Wir arbeiten bekanntlich stets nach Mustern.
Die Sentenz „Heute rot, morgen tot“ hat ihre Quelle zweifellos im vor-
zeitigen Ableben der beiden Geschwister Goethes.
Die Übertragung aufs Schauspielermilieu machte auch darum keine
Schwierigkeiten, da Aufführungen, schauspielerische Darstellungen in der
Kinderstube des Dichters eine hergebrachte Sache war. Wir erinnern an das
Puppentheater, das in der Kindheit Goethes eine so große Rolle gespielt hatte.
Der Mittelpunkt schauspielerischer Leidenschaft war ja bekanntlich Goethes
“ Mutter.
c) Zum frühen Tode der Geschwister Goethes
Das rasche Dahinsterben der Geschwister Goethes zieht in besonderem
Maße unsere Aufmerksamkeit auf sich.
Hermann Jakob stirbt mit sechs Jahren, sechs Monaten.
Katharina Elisabeth mit einem Jahr, vier Monaten.
Johanna Maria mit zwei Jahren, vier Monaten.
Georg Adolf mit acht Monaten.
Cornelie stirbt im Wochenbett, nachdem sie sich Jahre lang mit halber
Gesundheit geschleppt hatte.
Auch Goethe hatte mit Krankheiten zu tun, die damals nicht erkannt
wurden und heute schwer zu deuten sind.
Nach der Gretchenkatastrophe im Frühjahr 1764 wird er körperlich krank.
Auf der Reise von Frankfurt nach Leipzig im Herbst 1765 hat er einen
Wagenunfall bei Auerstädt. „Ich ermangelte nicht, mich mit Eifer anzu-
strengen, und mochte mir dadurch die Bänder der Brust übermäßig aus-
gedehnt haben; denn ich empfand bald nachher einen Schmerz, der ver-
schwand und wiederkehrte und erst nach vielen Jahren mich völlig verließ.“
(Dichtung und Wahrheit, Bd. XXI, $S. 35.) In der nämlichen Nacht nahm
sich seiner ein durchreisendes Ehepaar an und da trat er mit dem Hute
auf dem Kopfe zum Tischgebet, was nicht geringes Aufsehen machte. Er |
war aber von den Anstrengungen der Reise so ermüdet, daß er dies nicht
bemerkte.
Am Ende seiner Studienzeit in Leipzig legt ihn ein Blutsturz ins Bett
und schließlich kehrt er seelisch und körperlich erschüttert ins Elternhaus
nach Frankfurt zurück, wo ihn noch längere Zeit eine Halsgeschwulst und
Darmgeschichten quälten.
32 Ä Philipp Sarasin
Moebius betrachtet es als wahrscheinlich, daß Goethe an Lungentuberkulose
erkrankt war, und wir fügen hinzu, daß sich diese Krankheit bereits auf
der Reise nach Leipzig gezeigt hatte. Der Brustschmerz wäre dann die
Wirkung einer pleuritischen Reizung eines fiebernden jungen Mannes,
der sich vor Übermüdung wohl bei einem Tischgebet nicht. ganz richtig
benehmen mag.
Über die Todesursache der jüngeren Geschwister wissen wir aber nichts.
Dagegen dürfen wir die Vermutung wagen, da Goethe seine Tuberkulose
bereits aus Frankfurt nach Leipzig mitgebracht hatte, daß er aus einem
tuberkuloseverdächtigen Hause hergekommen ist. Es ist darum nicht von
der Hand zu weisen, daß die vier jüngsten Geschwister gerade von dieser
tückischen Krankheit hinweggerafft worden sind. Auch bei Cornelie müssen
wir daran denken. „Einen Monat noch siechte sie dahin.“ (Witkowski, 8. 177.)
Freud bestärkte mich in dieser Annahme und fügte hinzu, hätte Soxhlet
früher gelebt, so wären diese Kinder der Familie erhalten geblieben, was
den Lebenslauf des Dichters und damit auch seine Dichtung entscheidend
beeinflußt und verändert hätte. Davon aber später,
d) Zusammenfassung der J ugendgeschichte
Fassen wir die wichtigsten Daten aus der Jugendgeschichte zusammen.
Die Temperamentverhältnisse und Altersunterschiede zwischen Vater und
Mutter Goethes waren denkbar groß und ungünstig.
Wolfgang wächst mit der fast gleichalterigen Schwester in der Sonne
mütterlicher Gunst auf, eine Gunst, die von Liebesbedürfnissen des kargen
Vaters kaum wesentlich gestört wird.
Endlich tritt der erste Liebesrivale auf, bei der Geburt von Hermann
Jakob. Dies ist die erste Zäsur im Leben des Dichters.
Und nun folgen immer wieder Geschwister, die sozusagen vom „Storch
wieder geholt werden“, wie man in der Kindersprache sagen könnte, ver-
mutlich aber von Tuberkulose hinweggerafft worden sind. Zwei Brüder und
zwei Schwestern erscheinen und verschwinden wieder.
Frühzeitig meldet sich die kindliche Phantasie, die durch die begabte
Mutter bereichert und angeregt wird.
Wir erhalten Kunde von einer üppigen, wenn auch etwas planlosen
Kindergeschichte vom geheimnisvollen Feengarten, ein Phantasieerzeugnis,
das wir auf einen ursprünglichen Verzicht, auf einen Verlust realer Ver-
gnügungen zurückführen konnten. Ein kindliches Milieu, die Familie des
Goethes Mignon 33
Großvaters Textor, sein wohlgepflegter Garten unterliegt einer dichterischen
Verarbeitung und bildet die reale Grundlage des sogenannten Knaben-
märchens.
Es wurde mir einmal geringschätzig gesagt: „Ach, dieses Knabenmärchen
ist eine ‚nachempfundene‘ Geschichte nach dem Muster der französischen
Feenmärchen.“ Ich glaube, es ist mehr. In dieser Geschichte spiegelt sich
das Zerwürfnis des Vaters Goethes mit der Familie seiner Frau und mit
seiner Vaterstadt.
Aus dem Jahre 1759 ersehen wir, wie ein neuer Schub geistiger Ent-
wicklung im jungen Dichter vor sich geht. Die Besetzung der Vaterstadt
durch fremde Truppen, Einquartierung im väterlichen Hause, schwere
und dauernde Verstimmung des Vaters treibt ihn vom Heimatsherde fort,
bei neuen Menschen Verständnis, Freundschaft, geistige Nahrung zu finden.
Er wird im Hause der Schauspielerin de Rosne aufgenommen, verliebt
sich dort in ein schönes, stilles, älteres Mädchen. Er überträgt also die
Liebe zu seinen Angehörigen auf ein neues, ganz anderes Milieu, auf eine
Schauspielertruppe.
Innerhalb dieser Schauspielererlebnisse heftet sich die Aufmerksamkeit
besonders auf den kleinen Tänzer eines französischen Tanzmeisters, auf
den Wolfgang das Geschick seiner eigenen Geschwister überträgt, die alle
so rasch dahinschwanden.
Wir sehen also, wie Wolfgang frühzeitig sein bürgerliches Milieu mit
einem schauspielerischen zu vertauschen die Neigung hatte und werden
nicht mehr erstaunt sein, wenn wir erfahren, daß er in „Wilhelm Meister“
schildert, wie ein rechtschaffener Bürgerssohn auf schauspielerische Abwege
gerät und alle Energie aufwenden muß, um aus diesen peinlichen Verhält-
nissen herauszukommen.
Sarasin: Goethes Mignon. 3
IT V) Analytische Deutung der dramatischen Momente
a) Die Gestalten des Meisterromans
Betrachten wir nun die Mignon der Sendung genauer.
Das Seiltänzerkind unbekannter Herkunft, das bei rohem, fahrendem
Volk aufgewachsen ist, lehnt sich eines Tages gegen seine Peiniger auf,
weigert sich, einen kunstvollen Tanz aufzuführen und läuft davon. Sie wird
erst von einer Schauspielertruppe, dann aber vom Helden des Romans auf-
genommen, und schließt sich Wilhelm innig an. Bald taucht — man weiß
nicht woher — der Harfner auf, ergänzt die Mignon, wie die Fabel es
verlangt und bildet mit Wilhelm die wunderlichste Familie.
„Die beiden waren ihm geblieben, der Harfner, den er brauchte, und
Mignon, den er nicht entbehren konnte.“ (Sendung, S. 366.)
Dies ist die Gesellschaft, in der wir den Helden der theatralischen Sen-
dung schließlich antreffen: „ein herumziehender Bänkelsänger und ein
albernes, zwitterhaftes Geschöpf“, wie eine herzlose Bemerkung meinte.
(Goethe, Bd. XVII, $. 223.)
Was führte den Dichter dazu, Wilhelm, sein dramatisches Ebenbild, in
diese seltsame Gesellschaft zu bringen, die wirklich zu einem jungen, be-
gabten, strebsamen Menschen nicht passen will?
Ich will zuerst die einzelnen Personen dieses Dramas genauer, ich möchte
sagen „phänomenologisch“, beschreiben.
Wilhelm ist der schwankende Charakter, der sich in seine bürgerliche
Aufgabe und Rolle nicht finden kann und schwärmerischen Ideen nach-
geht. Die Identifikation mit einem bestimmten Vorbild scheint ihm nicht
gelingen zu wollen.
Goethes Mignon 35
Mignon ist ein exaltiertes, leidenschaftliches Wesen und zeigt eine Menge
oraler (Beißen, Zucken um den Mund) und anäl-sadistischer Züge (starkes
motorisches Bedürfnis, trotziges Schweigen).
Wir können vielleicht von einer prägenitalen Fixierung sprechen. Die
Genitalstufe scheint nicht erreicht worden zu sein, was auf ein vorzeitiges,
tragisches Ende hinweist. Sie ist ein Geschöpf der Latenzzeit und steht
zwischen der ersten und zweiten Sexualblüte. Die sexuelle Erregung bleibt
rein psychisch und wahrt den Charakter hoffnungsloser Sehnsucht.
Auch der Harfner, Mignons männliches Gegenstück, ist reine Sehn-
sucht, deren Schwermut die Sexualversagung erraten läßt. Die Sendung
schildert ihn als schwärmenden Sektierer herrnhuterischer Richtung. Erst
die Lehrjahre tragen Züge ernsten, pathologischen Charakters (Zwangs-
ideen, Brandstiftung, Mordversuch an einem Kinde und Selbstmord).
Beide Gestalten, die Mignon und der Harfner, sind in. gewissem Sinne
allegorische Gestalten, die Wilhelm, Goethes dramatisches Ebenbild, be-
gleiten. Beide zeichnen sich durch ausgesprochene Sexualversagung aus und
beide leiden an Sexualsehnsucht. Allerdings bildet der Sexualverzicht mit
geglückter Introversion die Grundlage künstlerischen Schaffens, wenn Natur
und Begabung diese erhöhte innere Spannung aufzunehmen bereit ist. Wir
können also von dieser Seite aus verstehen, warum der Dichter sein Eben-
bild von diesen Gestalten begleiten läßt, über die Jarno so zynisch spottet.
Anderseits dürfen wir nicht übersehen, daß die Sendung, vor allem die
Lehrjahre, geradezu darauf angelegt sind, Wilhelm von dieser krankhaften
Gesellschaft zu befreien, ein Prozeß, den der Dichter offenbar nach außen
projiziert hat und dem wir nun analytisch nachgehen wollen.
b) Das Seiltänzermilieu
Das Seiltänzermilieu ist die eigentliche Umgebung der Mignon, zugleich
aber auch die Keimzelle des ganzen Meisterromanes. Goethe ist damit von
frühester Zeit her vertraut. Er schreibt in Dichtung und Wahrheit:
„Hatte man in einer solchen patriotischen Beschränkung kaum ein halbes
Jahr hingebracht, so traten schon die Messen wieder ein, welche in den
sämtlichen Kinderköpfen jederzeit eine unglaubliche Gärung hervorbrachten.
Eine durch Erbauung so vieler Buden innerhalb der Stadt in weniger Zeit
entspringende neue Stadt, das Wogen und Treiben, das Abladen und Aus-
packen der Waren, erregte von den ersten Momenten des Bewußtseins an
eine unbezwinglich tätige Neugierde und ein unbegrenztes Verlangen nach
kindischem Besitz...“ (Goethe, Bd. XXII, $. 22.)
3”
ur nn
Aus Briefen der Mutter Goethe erfahren wir etwas mehr über das
Treiben dieser Messezeit: '
An die Herzogin Anna Amalia.
„Frankfurt, den ı1. Aprill 1779
Bei uns ists Messe!!! Weitmäuligte Laffen, Feilschen und gaffen, Gaffen
und kauffen, Bestienhauffen, Kinder und Fratzen, Affen und Katzen u, s. w.. . .“
(Briefe Frau Rat Goethe, S. 63.)
Frau Rat Goethe an die Herzogin Anna Amalia.
„den ı2. September 1780.
Zumahl in der Messe, da mann vor Trommlen, Posaunen, Leyern, Geigen
den gantzen Tag nicht zum besinnen komt vielweniger Musick studiren kan.
Zumahl diese Messe — Wir haben Großmann und seine Truppe, Opera Buffa,
Zwey Gesellschaften Seiltäntzer, ein ditto Luftspringer u. s. w. Nun stellen Sichs
Ihro Durchlaucht vor, daß die Kerls den ganzen Tag in der Stadt herum
reiten, und vor sich her Trommlen und pfeiffen lassen, alle der andern Speck-
tackel nicht zu gedencken.“ (Briefe der Frau Rat, S. 97.)
Moebius macht über dies Seiltänzermilieu eine Anmerkung, der wir uns
wohl anschließen dürfen:
„Natürlich kenne ich die Geschichte von dem Seiltänzermädchen in
Göttingen, die Goethe wahrscheinlich schon in Leipzig erfahren hat. Aber
diese Anekdote, sowie Goethes Begegnungen mit fahrenden Kindern haben
doch nur für den Rahmen Mignons gedient. Die Schilderung der Person
und ihrer Abnormitäten scheint Goethes Eigentum zu sein.“ (Moebius:
Goethe, Bd. I, S. 105, Anmerkung.)
c) Mignon und Cornelie
Wenden wir uns nun wieder der Mignon zu. Mignon ist eine schart
umrissene Gestalt mit ausgeprägten, eigentümlichen Zügen. Im Französi-
schen bedeutet das Wort soviel wie „delicat, gentil“ und Kinder in ihrem
frühen, narzißtischen Stadium werden gerne „mignon“ genannt, Im Deutschen
sagt man dafür vielleicht „süß“. Das Menschlich-Rührende ist nicht diese
Gestalt allein, sondern ihre sonderbare und aussichtslose Neigung für Wil-
helm, der in einer gewissen Verlegenheit mit dieser Anhänglichkeit nichts
anzufangen weiß. Wolff spricht in seiner Arbeit die Vermutung aus,
Goethe habe ursprünglich daran gedacht, Mignon heranreifen zu lassen,
daß sich Mignon und Wilhelm schließlich heiraten könnten, wie es in
der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas auch wirklich geschieht.
Über die Absicht des Dichters sind wir nicht unterrichtet, dagegen wissen
_
Goethes Mignon 37
wir genau, daß ihm dieser Ausgang jedenfalls nicht gelungen ist. Das
Unbewußte hat dem Dichter dieses heitere Ende nicht gewährt. Darin liegt
aber der tragische Kern der Gestalt. Das Schwergewicht in Mignons Tra-
gödie liegt eben im schlechthin Hoffnungslosen ihrer Leidenschaft zu ihrem
Freunde. Sie wird so zum Urbild hoffnungsloser kindlicher Sehnsucht.
Ich hatte Gelegenheit, bei weiblichen Patienten Züge zu verfolgen, die
deutlich an Mignons Charakter erinnerten. Frühzeitig bestand das Gefühl,
von ihrer Umgebung nicht verstanden zu werden, in der Atmosphäre des
Streites, die oft zwischen Vater und Mutter herrschte, zu ersticken oder zu
erfrieren, wodurch jede Möglichkeit sich auszusprechen innerlich verloren ging.
Besonders deutlich trat dies Wesen entgegen in Mienons Liede:
„Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
Ich möchte dir mein ganzes Inn’re zeigen,
Allein das Schicksal will es nicht.“
Ein jeder fühlt im Arm des Freundes Ruh,
Dort kann die Flut der Klagen sich ergießen;
Allein mir drückt ein Schwur die Lippen zu,
Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.“
(Sendung, S. 191.)
Wir wissen nun aus verschiedenen Darstellungen und aus den vor-
liegenden Quellen, daß Goethes Schwester Cornelie neurotisch schwer
krank war. Der Dichter bemerkte keine Spur von Sinnlichkeit an ihr,
dagegen hervorragende geistige Gaben. An Tagen von Festen trat bei ihr
hartnäckig ein Ausschlag im Gesicht hervor, der sie verunstaltete. Die Ehe
mit Schlosser war eine denkbar unglückliche, sie siechte dahin, der Gatte
klagte, die Frau habe geradezu Ekel vor ihm, berühmte Ärzte bemühten
sich um die Unglückliche. In einem Wochenbett starb sie vorzeitig, am
8. Juni 1777, erst 27 Jahre alt.
Es liegt uns nicht die Aufgabe vor, die Krankheit Corneliens psycho-
analytisch aufzulösen. Daß sie schwer neurotisch war, ist bekannt.
Wir wissen, daß sich Goethe mit dem Plane getragen hat, eine Lebens-
geschichte seiner Schwester zu schreiben, daß diese aber nicht zustande-
gekommen ist, daß auch kleine Reste in die eigene Lebensbeschreibung
eingegangen sind.
Nach dem Tode der Schwester entsteht dagegen der Wilhelm Meister,
eine romanhafte Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte mit dem sonder-
baren Geschöpf der Mignon.
38 Philipp Sarasın
Wolfgangs Schwester Cornelie ist Gegenstand vieler Darstellungen ge-
wesen. Ich weise besonders auf die von Witkowski hin. Auch Rank hat
sich mit ihr abgegeben und zuletzt Brunold Springer. Alle Darstellungen
stimmen darin übereih, daß Cornelie eine begabte, aber seltsame Persön-
lichkeit gewesen war.
Lassen wir nun Goethe selber das Wort.
„Sie, nur ein Jahr jünger als ich, hatte mein ganzes bewußtes Leben
mit mir herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden.“
„Unter diesen Umständen war es natürlich, daß Bruder und Schwester
sich fest aneinander schlossen und sich zur Mutter hielten.“
„Ungern spreche ich dies im allgemeinen aus, was ich vor Jahren dar-
zustellen unternahm, ohne daß ich es hätte ausführen können. Da ich
dieses geliebte, unbegreifliche Wesen nur zu bald verlor, fühlte ich
genugsamen Anlaß, mir ihren Wert zu vergegenwärtigen, und so entstand
bei mir der Begriff eines dichterischen Ganzen, in welchem es möglich
gewesen wäre, ihre Individualität darzustellen, ... eine Vorstellung dieser
merkwürdigen Persönlichkeit mitzuteilen.“
„Sie war groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas natürlich Würdiges
in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge
ihres Gesichtes, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen, das
weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren
nicht die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man am
meisten erwartete, und wenn sie irgendeine Neigung, eine Liebe ausdrückten,
einen Glanz hatten ohnegleichen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich
nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehn-
süchtiges und Verlangendes mit sich führt.“ (Goethe, Bd. XXIII, S. 15— 19.)
„Sie war ein eigenes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist.“
„. .. das Unheil, daß ihre Haut selten rein war, ein Übel, das sich durch
ein dämonisches Mißgeschick schon von Jugend auf gewöhnlich an Fest-
tagen einzufinden pflegte, an Tagen von Konzerten, Bällen und sonstigen
Einladungen. Diese Zustände hatte sie nach und nach durchgekämpft ...“
„Ein fester, nicht leicht bezwinglicher Charakter, eine teilnehmende,
Teilnahme bedürftige Seele...
„Zu allem diesen ist noch ein Wundersames zu offenbaren: in ihrem
Wesen lag nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir aufgewachsen
und wünschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen
und zuzubringen .. .,als ich nach Wetzlar ging, schien ihr die Einsamkeit
unerträglich...“ (Goethe, Bd. XXV, S. 71 ff.)
Goethes Mignon 39
Diese Beschreibung eines geliebten, unbegreiflichen Wesens, das weder
mit sich einig war, noch werden konnte, von dem schwer zu sprechen ist,
mit einem Ausdruck, der etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich
führt, erinnert nun aber entschieden an Mignon, dessen Wesen der Dichter
in einem Notizbuch folgendermaßen charakterisiert:
„Mignon: Wahnsinn des Mißverhältnisses“. (Wolff, S. 240.)
d) Cornelie und ihr Bruder
Die unbewußt-sinnliche Bindung Corneliens an ihren Bruder, die daraus
entstandene Neurose und die unglückliche Ehe wurden in einer Studie von
Brunold Springer trefflich beschrieben. Im folgenden versuche ich diese
Lebensgeschichte in bezug auf die infantilen Grundlagen aus vorhandenen
Spuren zu ergänzen.
Analytisch dürfen wir wohl voraussetzen: Cornelie habe in der Früh-
blüte ihrer Sexualität eine sinnliche Neigung übermäßig erlebt und sich
gegen eine Wiederholung durch ein Ekzem geschützt, besonders aber durch
einen Gesichtsausschlag, der jeweils bei Anlässen aufzutreten pflegte, bei
denen sie anmutig und anziehend erscheinen sollte. Wahrscheinlich dürfen
wir die Quellen dieser Reaktionsweise nicht erst in der Pubertätszeit suchen,
sondern müssen in die Zeit der ersten Sexualblüte zurückgehen: in die Kindheit.
Goethe weist uns in seiner Lebensgeschichte selber auf einen Weg, dem
wir folgen wollen. Er erzählt:
„Unglücklicherweise hatte man noch die Erziehungsmaxime, den Kindern
frühzeitig alle Furcht vor dem Ahnungsvollen und Unsichtbaren zu be-
nehmen und sie an das Schauderhafte zu gewöhnen. Wir Kinder sollten
daher allein schlafen, und wenn uns dieses unmöglich fiel und wir uns
sacht aus den Betten hervormachten und die Gesellschaft der Bedienten
und Mägde suchten, so stellte sich in umgewandtem Schlafrock und also
für uns verkleidet genug, der Vater in den Weg und schreckte uns in
unsere Ruhestätte zurück.“ (Dichtung und Wahrheit, Bd. XXIL, 5. 11.)
Das Motiv vom Zusammenschlafen von Kindern mit vertrauten Erwach-
senen nimmt Goethe im Einakter „Die Geschwister“ auf, einem Stück,
das eindeutig mit dem Inzest spielt. Die Szene lautet folgendermaßen:
Fabrice. „Haben Sie den Kleinen weggeschafft?“
Marianne. „Ich hätt’ ihn gern da behalten; ich weil nur, der Bruder hat’s
nicht gern, und da unterlass’ ich’s. Manchmal erbettelt sich der kleine Dieb
selbst die Erlaubnis von ihm, mein Schlafkamerad zu sein.“
Fabrice. „Ist er Ihnen denn nicht lästig?“
fo Philipp Sarasın
Marianne. „Ach, gar nicht. Er ist so wild den ganzen Tag, und wenn ich
zu ihm ins Bett komm’, ist er so gut wie ein Lämmchen! Ein Schmeichel-
kätzchen! und herzt mich, was er kann; manchmal kann ich ihn gar nicht zum
Schlafen bringen.“ (Die Geschwister, Bd. XI, S. 203.)
Der Analytiker weiß nun, daß die seelischen Regungen, die im nächt-
lichen Zusammenschlafen erwachen, im Kinde bereits vorgebildet sind und
häufig genug zu leidenschaftlichen Entladungen führen, die vom Erwachsenen
als unverständliche oder lästige Ängstlichkeit ignoriert werden. Diese kind-
lichen Angstzustände sind aber nicht weniger ernsthafter Natur als beim
Erwachsenen, was Rank in nicht mißzuverstehender Deutlichkeit folgender-
maßen darlegt:
„Wer aus dem Studium der Neurosen weiß, wie häufig ein solches Zu-
sammenschlafen des Kindes mit einer erwachsenen Person (meist der Mutter)
die libidinöse Fixierung im Inzestkomplex verstärkt und wie ferner aus Be-
obachtungen in der Kinderstube das häufige Beisammenschlafen von ziemlich
gleichaltrigen Geschwistern und dessen spätere Folgen auf die infantile Fixierung
kennt, der wird in dieser poetischen Schilderung unschwer eine Reminiszenz
an ähnliche sinnlich erregende Erlebnisse und Eindrücke des Knaben Goethe
erkennen.“ (Rank: Inzest-Motiv, II. Auflage, S. 490.)
Ich glaube kaum fehlzugehen, wenn ich sage, daß Cornelie als Kind
bei erwachsenen Personen, vielleicht mit dem Bruder geschlafen hat, wenn
die Angst des Alleinseins zu unerträglich geworden war und daß diese
nächtlichen Erlebnisse nicht ohne Einfluß auf die seelische Entwicklung
der zarten Schwester geblieben sind.
Die Lehrjahre kennen nun eine bestimmte Szene, die wir hier an-
schließen wollen. Die langvorbereitete Hamletaufführung war geräuschvoll
und erfolgreich zu Ende gegängen. Die Schauspieler fanden sich zur heiteren
Nachfeier zusammen.
„Mignon ward bis zur Wut lustig.“ Spät in der Nacht trennte man sich
und Wilhelm eilte auf sein Zimmer, ins Bett. „Der Schlaf wollte sogleich
sich seiner bemeistern; allein ein Geräusch, das in seiner Stube hinter dem
Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte: vor
seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnischten Königs; er richtete
sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen umschlungen,
seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen und eine Brust an der
seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht den Mut hatte.“ (Lehrjahre,
Ba. XVIIL, S. 57158.)
Die Lehrjahre berichten weiter, daß am Morgen nach der Hamlet-
aufführung Wilhelm an Mignon die Spuren einer seelischen Wandlung
Goethes Mignon dı
bemerkte. „Sie schien diese Nacht größer geworden zu sein; sie trat mit
einem hohen, edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft
in die Augen, so daß er den Blick nicht ertragen konnte.“ (Lehrjahre,
Ba. XVIII, $S. 58.) Das Kindliche war wie abgestreift und ein unnahbares
Wesen deutete auf ein kaum überstandenes Erlebnis.
Wir erfahren später, daß sich Mignon in heißer Sehnsucht angeschickt
hatte, ihren Freund nächtlicherweile aufzusuchen, daß ihr aber Philine,
die lose Schauspielerin, zuvorgekommen war.
Nun hat Wolfgang viel mit seiner Schwester Theater gespielt, überhaupt
gespielt, wie es Kinder tun, aber besonders leidenschaftlich, wie es Wolfgang
und Cornelie nicht anders tun konnten. So wie sie miteinander Klopstock-
verse rezitierten „zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft“,
so daß der Chirurgus, der den Vater im gleichen Zimmer rasierte, heftig
erschrak und ihm das Seifenbecken in die Brust goß. (Dichtung und
Wahrheit, Bd. XXII, S. 93.)
Später dann, Witkoswky vermutet Anno 1761, wurden Theaterstücke auch
bei Bekannten gegeben. Goethe erzählt selber:
„Von Olenschlager hatte viel Anmut im Umgang. Man sah wenig Gesell-
schaft bei ihm, aber zu einer geistreichen Unterhaltung war er sehr geneigt,
und er veranlaßte uns junge Leute, von Zeit zu Zeit ein Schauspiel auf-
zuführen: denn man hielt dafür, daß eine solche Übung der Jugend besonders
nützlich sei. Wir gaben den „Kanut“ von Schlegel, worin mir die Rolle
des Königs, meiner Schwester die Estrithe ... zugeteilt wurde. Sodann
wagten wir uns an den „Britannicus“ ... Ich erhielt den Nero, meine
Schwester die Agrippine ... Wir wurden mehr gelobt, als wir verdienten,
und glaubten es noch besser gemacht zu haben, als wie wir gelobt wurden.“
(Dichtung und Wahrheit, Bd. XXI, S. 186.)
Die heißsinnliche Gegenwart Wolfgangs wird wohl nirgends so deutlich
hervorgetreten sein, als gerade beim Theaterspielen. An dieser dichterischen
Glut hat sich aber Cornelie buchstäblich versengt.
„Mignon ward bis zur Wut lustig“, berichten die Lehrjahre. „Ihre
Haare flogen, und indem sie den Kopf zurück- und alle ihre Glieder
gleichsam in die Luft warf, schien sie einer Mänade ähnlich.“ (Goethe,
Bd. XVIIL, S. 56.)
Dies Gebaren erinnert nun stark an das ausgelassene Toben und Spielen
lebhafter Kinder. Und wenn dann die beiden Geschwister nachts vor Auf-
regung nicht einschlafen konnten, so krochen sie zu den Bediensteten und
Mägden ins Bett, bis der im umgewandten Schlafrock unheimlich genug
42 Philipp Sarasın
anzusehende alte Rat die Kinder wieder in ihr Bett scheuchte, gespensterhaft,
wie ein Geist von Hamlets Vater.
Wolfgangs gemeinsames Theaterspielen mit seiner Schwester Cornelie
ist eine feststehende Tatsache. Ebenso unzweifelhaft historisch ist, daß sich
die Kinder bei nächtlichen Ängsten in die Betten der Bediensteten und
Mägde geflüchtet haben, wir dürfen ergänzen, nachdem die gemeinsamen
Spiele am Tage besonders aufregend gewesen sind.
Wir dürfen vermuten, daß Corneliens Fixierung an den Bruder und ihre
spätere Neurose den Ursprung in diesen leidenschaftlichen Kinderspielen
genommen haben und ihren dichterischen Niederschlag in Mignons nächt-
lichem Erlebnis nach der Hamletaufführung gefunden haben.
e) Mignon und die Vateridentifizierung des Dichters
Betrachten wir nun eine andere Seite des Mignonkomplexes, wodurch
wir neue Beziehungen zum Dichter herstellen können.
Hören wir, wie der Dichter im Roman erzählt: Wilhelm befindet sich,
nachdem er dem Theaterwesen den Rücken gekehrt hatte, auf einer Geschäfts-
reise, und sollte für seine väterliche Firma ausstehende Gelder eintreiben.
Er gerät in eine wandernde Schauspieltruppe zweifelhaften Rufes und
nimmt sich eines kleinen, herrenlosen Kindes an, das sich ihm bald eng
und leidenschaftlich anschließt. Für Wilhelm ist das Kind eine rechte
Herzenssorge. Er klagt vernehmlich:
„Du gutes Kind, dachte er bei sich selbst, was wird aus dir werden,
wie kann ich für dich sorgen... Wärst du ein Knabe, so solltest du gewiß
mit mir reisen, und ich wollte dich pflegen und dich erziehen, so gut ich
könnte. Er ging in der Stube auf und ab, dachte dem Schicksale des Kindes
nach und fühlte in einem Augenblicke, daß er es verlassen müsse und daß
er es nicht verlassen könne.“ (Sendung, $. 177.)
Über diesen Zug, jüngere und hilfsbedürftige Menschen an sich zu
ziehen, ihnen zu helfen, eine Erziehung angedeihen zu lassen — ich
möchte hier fast an Goethes Zeitgenossen Pestalozzi erinnern — äußert
sich der Dichter selbst.
Im September 1771 kehrte der Dichter, also 2ı Jahre alt, gesünder und
stärker aus Straßburg nach Hause zurück und erzählt:
„In Mainz hatte mir ein harfespielender Knabe so wohl gefallen, daß
ich ihn, weil die Messe gerade vor der Türe war, nach Frankfurt einlud,
ihm Wohnung zu geben und ihn zu befördern versprach. In diesem Er-
rrrrr————————————————————————————————
Goethes Mignon 43
eignis trat wieder einmal diejenige Gelegenheit hervor, die mich in meinem
Leben so viel gekostet hat, daß ich nämlich gerne sehe, wenn jüngere
Wesen sich um mich versarmmeln und an mich anknüpfen, wodurch ich
denn freilich zuletzt mit ihrem Schicksal belastet werde. Eine unangenehme
Erfahrung nach der andern konnte mich von dem angeborenen Trieb nicht
zurückbringen, der noch gegenwärtig bei der deutlichsten Überzeugung,
von Zeit zu Zeit mich irre zu führen droht.“ (Dichtung und Wahrheit,
Ba. XXIV, S. 68.)
Dieser lehrhafte, leicht pedantische Zug wird besonders deutlich in den
Briefen des sechzehnjährigen Leipziger Studenten an seine Schwester Cornelie.
Er schreibt: „Leipzig, den 6. Dezember 1765.
Was willst du von mir lernen?... Schreib deine Briefe auf ein gebrochenes
Blat und ich will dir die Antwort und die Critick darneben schreiben...
Mercke dies; schreibe nur wie du reden würdest, und so wirst du einen guten
: j fr
Brief schreiben. „ı2. Dezember 1767.
Dieses nur kann ich dir einstweilen sagen; ich finde, daß deine Ideen über
die meisten Gegenstände noch sehr brouillirt sind.“
„... denn dieses sind alles Dinge, die ein Mädgen, die meine Schülerin
werden soll nothwendig besitzen muß.“
„Wirst du nun dieses alles, nach meiner Vorschrifft getahn haben, wenn ich
nach Hause komme; so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen
Jahre, das vernünftigste, artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen, nicht
nur in Franckfurt, sondern im ganzen Reiche sein. “ (Junge Goethe, Bd. I,
S. 109 und 173—175.)
Dieser pädagogische Zug Goethes tritt beim Dichter frühzeitig hervor,
und zwar seltsamerweise einem Menschen gegenüber, den er ursprünglich
offenbar abgelehnt hatte, ich meine Hermann Jakob.
Aus Gesprächen mit der Mutter Goethes erfahren wir:
„Sonderbar fiel es der Mutter auf, daß er bei dem Tode seines jüngeren
Bruders Jakob, der sein Spielkamerad war, keine Träne vergoß, er schien
vielmehr eine Art Ärger über die Klagen der Eltern und Geschwister zu
haben; da die Mutter nun später den Trotzigen fragte, ob er den Bruder
nicht geliebt habe, lief er in seine Kammer, brachte unter dem Bette
hervor eine Menge Papiere, die mit Lektionen und Geschichten beschrieben
waren, er sagte ihr, daß er dies alles gemacht habe, um es dem Bruder
zu lehren.“ (Gespräche: Elisabeth Goethe. Max Morris: Der junge Goethe.
I. Ba., S. 93.)
Die Beziehung des jungen Dichters zu seinem jüngeren Bruder ist uns
aber eine wohlbekannte Sache. Die Geburt Hermann Jakobs bedeutete für
——ee0 [nn
den dreijährigen Wolfgang eine schwere Erschütterung. Auf die grund-
legende Arbeit von Freud haben wir schon aufmerksam gemacht.
Wie unartig Wolfgang gegen andere Kinder, die ihm nicht paßten,
gerade in jener Zeit sein konnte, zeigt folgende Jugenderinnerung, die
uns die Mutter des Dichters überliefert:
„Er spielte nicht gerne mit kleinen Kindern, sie mußten denn sehr
schön sein. In einer Gesellschaft fing er plötzlich an zu weinen und schrie:
das schwarze Kind soll hinaus, das kann ich nicht leiden; er hörte auch
nicht mit Weinen auf, bis er nach Hause kam, wo ihn die Mutter über die
Unart befragte; er konnte sich nicht trösten über des Kindes Häßlichkeit,
Damals war er drei Jahre alt...“ (Elisabeth Goethe, Gespräche. Max Morris,
Der junge Goethe, Bd. I, S. 92.)
Des Kindes Häßlichkeit spielte hier wohl keine Rolle, sondern dies
Ereignis trifft in die nämliche Zeit, wie die Geburt des Bruders, den
Wolfgang eben aus der Welt schaffen wollte.
Dem Dichter ist dies auch beinahe gelungen. Wir wissen fast gar nichts
von diesem Gaste. Goethe erwähnt ihn nur ganz flüchtig:
„Bei Gelegenheit dieses Familienleidens (Pocken) will ich auch noch
eines Bruders gedenken, welcher, um drei Jahre jünger als ich, gleichfalls
von jener Ansteckung ergriffen wurde und nicht wenig davon litt. Er war
von zarter Natur, still und eigensinnig, und wir hatten niemals ein
eigentliches Verhältnis zusammen. Auch überlebte er kaum die
Kinderjahre. Unter mehreren nachgeborenen Geschwistern, die gleichfalls
nicht lange am Leben blieben, erinnere ich mich nur eines sehr schönen
und angenehmen Mädchens, die aber auch bald verschwand...“ ( Dichtung
und Wahrheit, Bd. XXII, S. 40.)
Das lehrhafte Wesen Wolfgangs hat aber eine bestimmte und wohl-
bekannte Quelle. Sein Vater hat die Erziehung seiner Kinder, da ihn keine
andere Beschäftigung in Anspruch nahm, selber geleitet und diese Tätigkeit
pedantisch, fast nörgelnd durchgesetzt. Die Schwester Cornelie hat nicht
wenig darunter gelitten, während sich Wolfgang der lehrhaften Autorität
mit feiner Ironie zu entwinden wußte. Seine Labores juveniles geben uns
davon einen guten Begriff. Zwei Zwiegespräche zwischen Vater und Sohn,
die aus dem Jahre 1757 stammen, sind von erstaunlicher Lebendigkeit und
Sicherheit und spiegeln die latente Feindseligkeit zwischen Erzieher und
Zögling wider, im rasch und gewandt geführten Wortgefecht.
Wolfgang wendet bald die lehrhafte Tätigkeit, die er vom Vater über-
nommen hat, gegen seine Schwester Cornelie und gegen den jüngeren
Goethes Mignon 45
Bruder Hermann Jakob an, der stirbt, als Wolfgang sein neuntes Lebensjahr
bereits überschritten hatte. Die erwähnten glänzenden Zwiegespräche waren
zwei Jahre vorher entstanden. Wir können sagen: Wolfgang begibt sich
Cornelien gegenüber in die Vateridentifikation, die Wilhelm gegen Mignon
einhält.
Der Harfner ist somit das feindselige Gegenstück zu Wilhelm, aber auch
die andere Seite des Vaters, des unheimlichen, an der Melancholie leiden-
den, kastrierenden Vaters. Der Harfner mag dem eigenen Vater Goethes
nachgebildet sein. Übrigens spielte der alte Rat seine Laute, wie der Harfner
seine Harfe (Dichtung und Wahrheit, Bd. XXIII, 8. 149) und Witkowski
weiß von Cornelien zu berichten: „Sie sang, indem sie sich selbst auf der
Zither begleitete, mit Vorliebe Volkslieder und wußte ihre Zuhörer tief zu
rühren.“ (Witkowski, Cornelia, die Schwester Goethes, $. 29.)
Nun erinnern wir uns aber, daß der Harfner wie ein herrnhuterischer
Sektierer geschildert wird. Dies befremdet uns nicht mehr so ganz. Die
tiefe Grundlage jeder religiösen Regung geht auf das Schuldgefühl zurück,
das seinerseits seine Spiegelung in den infantilen Konflikten erhält. Wir
sahen, wie der Harfner seinem Schuldgefühl in der Zwangsidee Ausdruck
gab, einen Knaben töten zu müssen und wissen, daß Goethe selber dieses
Schuldgefühl teilte. Wir wissen auch, daß Goethe sich ernstlich mit den
Gedankengängen der Herrnhuter befaßte, besonders unter Mithilfe seiner
Freundin Klettenberg, deren Erinnerungen zuletzt in die Bekenntnisse einer
schönen Seele (VI. Buch der Lehrjahre) eingegangen sind.
Der Gedanke der „Brüdergemeinde“, wie sich die Herrnhuter auch
nennen, schiebt sich hier organisch ein, denn der Harfner leidet am Bruder-
haß, der vom Dichter stammt. Eine Brüdergemeinde will aber eben diesen
Haß, der dem Angehörigen eines Geschwisterkreises so nahe liegt, über-
winden.
Dieser Zug wirft ein seltsames Licht auf Goethes Neigung, jüngere Leute
an sich zu ziehen, um sie zu unterrichten. Unter dem menschenfreundlichen
Trieb, anderen erzieherisch zu helfen, glimmt ein verborgener Haß, den
Zögling zu vernichten. Dies erklärt die oft ungeschickte Auswahl seiner
pädagogischen Objekte, die er selber beklagt, vielleicht auch die unge-
schickte Hand in der Erziehung seines Sohnes August.
Ich erinnere daran, daß wir schon einmal auf eine seltsame Verarbeitung,
in die der Bruder Hermann Jakob hineingezogen worden war, aufmerksam
geworden sind. Es war im Jahre 1759. Frankfurt wurde von den Franzosen
besetzt, im väterlichen Hause ging alles durcheinander, der zehnjährige
46 Philipp Sarasin
frühreife Knabe lernt das französische Theaterleben kennen, schließt sich
an die Schauspielerfamilie De Rosne an, „überträgt“ deutlich Familien-
empfindungen von den eigenen unerguicklichen Verhältnissen auf diese
neuen romantischen, verliebt sich in ein stilles, schönes, älteres Mädchen,
mißt sich spielend mit dem gleichaltrigen Derones und gewinnt zu einem
kleinen Bruder kein rechtes Verhältnis. Endlich veranlaßt ihn das Auftreten
des schönen Knaben eines französischen Tanzmeisters zu moralischen Re-
flexionen, die in der sentenzartigen Äußerung: „Wozu der Lärm? Heute
rot, morgen tot“ gipfelt.
Wir konnten es wahrscheinlich machen, daß dieser Ausspruch den Ein-
druck widerspiegelte, den die wiederholten Todesfälle in der Goetheschen
Familie auf den empfindsamen Knaben hervorgerufen hatten. Der Seil-
tänzerknabe wird deutlich zum Spiegelbild eigener Familienerlebnisse, die
dem Bewußtsein des Dichters allmählich entgleiten. Wir dürfen es aber
auch als sehr wahrscheinlich annehmen, daß diese Tänzerfigur in die erst
viel später konzipierte Mignongestalt eingegangen ist. Auch der Kommen-
tator meiner Goetheausgabe (Cotta, Jubiläumsausgabe), Richard Meyer,
bezeichnet diese Tänzerfigur als „mignonartig“, aber offenbar ohne etwas
Tieferes damit andeuten zu wollen. Meyer ist jedenfalls psychoanalytisch
ganz unverdächtig.
Die Tanzkunst ist aber auch in Mignon ganz besonders vertreten und
tritt in ihrem Eiertanz besonders deutlich hervor. Auf diesem Wege haben
wir aber wiederum eine Verbindung zwischen Mignon und Hermann Jakob
hergestellt: zwischen Mignon und der frühesten Jugend des Dichters.
Vielleicht können wir nun einige Sonderbarkeiten an Goethes Mignon
verstehen. Gleich anfangs bemerkt der Dichter, man wußte nicht recht,
ob man sie für einen Knaben oder ein Mädchen halten sollte. Diese Un-
sicherheit drückt sich in der Sendung so stark aus, daß fortwährend das
männliche Geschlecht mit dem weiblichen wechselt und dem sächlichen
Platz macht. Auch das Alter des Kindes bleibt schwebend und unsicher.
Wilhelm schätzt das Kind auf zwölf bis dreizehn Jahre. Das Wesen trägt
aber Züge eines viel jüngeren und eines viel älteren.
Dieses Schwanken von Geschlecht und Alter wurde zum Beispiel von
Wolff als Ausdruck eines physiologischen Hermaphroditismus gedeutet. Ich
glaube, es handelt sich um etwas anderes. Zweifellos schildert der Dichter
offenbar völlig unbewußt die krankhaften Züge seiner Schwester, die leiden-
schaftliche Anhänglichkeit ohne rechtes Liebesvermögen, wir würden sagen,
in der analytischen Sprache ausgesprochen, anal-sadistische Züge eines Wesens,
Goethes Mignon 47
das die Genitalstufe nicht erreicht hat. Das Wechseln oder traumhafte Ver-
schweben des Geschlechtes beruht darauf, daß auch Züge seines Bruders
Hermann Jakob in die Gestalt eingegangen sind. Das ist aber nicht alles.
f) Mignon und die anderen Geschwister des Dichters
Kehren wir nun zum Anfang unserer Untersuchung zurück. Wir schlossen
uns der Ansicht an, im Meisterroman im gewissen Sinne eine romanhafte
Selbstbiographie des Dichters zu sehen und erkannten weiter fortschreitend,
daß in dasseltsame Kleeblatt Wilhelm-Harfner-Mignon eine Menge individueller
Züge des Dichters und seiner Lebensgeschichte eingegangen sind. Suchen
wir das Fehlende zu ergänzen.
Besonders seltsam ist die leidenschaftliche Szene, worin Mignon in Wilhelms
Umarmung einen hysterischen Weinkrampf bekommt. Ich habe diese Szene
anfangs in extenso hingesetzt, da sich Wolff in seiner Mignon eingehend
damit beschäftigt hat. Wolff vermutet, daß die pathologischen Züge dieses
Erlebnisses erst in der zweiten Bearbeitung eingefügt wurden und gibt
Wort für Wort an, was alt und was neu hinzugekommen sei. Wolff hat
sich aber hier getäuscht. Die ganze Szene mit dem Krampfanfall stammt
aus den achtziger Jahren. Hätte Wolff die nämliche Untersuchung am Harfner
vorgenommen, so wäre ihm eine Konjektur genial geglückt. Harfners schwer
pathologischen Züge mit Zwangsideen und Selbstmord kommen erst in den
neunziger Jahren hinzu. Wir sind aber mit Wolff in seiner Vermutung
einig, daß diese Krampfanfälle auffallend sind, besonders wo Mignon wie
ein Ressort zusammenschlägt. Dies ist mehr als Schauspiel der Hysterie.
Freud hat mich nun mehrmals ermuntert, eine Vermutung auszusprechen,
die ich hier hinzufügen will.
Wir haben erfahren, daß Goethe sicher an Tuberkulose litt. Verdächtig
ist auch das frühe Hinwelken Corneliens. Außerordentlich auffällig das früh-
zeitige Sterben von vier jüngeren Geschwistern Wolfgangs. Wir vermuten, eben-
falls an Tuberkulose. Der Anblick der schwer kranken Geschwister wird W olf-
gang kaum erspart geblieben sein, auch nicht der der Krampfanfälle, wenn
wir eine miliare Tuberkulose mit meningitischer Reizung annehmen dürfen.
Ein Anblick solcher Art muß allerdings „gräßlich genug“ gewesen sein.
Mignons Weinkrampf erfährt dadurch seine eigenartige und organische Er-
gänzung. Zweifellos spiegelte sich in Mignon nicht nur Cornelie und Hermann
Jakob, sondern die ganze Geschwisterreihe, besonders die liebliche Johanna
Maria, die der Dichter als ein schönes und angenehmes Mädchen rühmt.
V) Analytische Deutung der Iyrischen Momente
Der Italiensehnsucht Mignons müssen wir auf einem anderen Wege
Herr werden.
Freud hat in seiner Arbeit „Der Dichter und das Phantasieren* auf
die engen Beziehungen zwischen der poetischen Produktion, Tag- und Nacht-
träumen, hingewiesen und äußert sich darüber folgendermaßen: „Eine
Phantasie schwebt gleichsam zwischen drei Zeiten, den drei Zeitmomenten
unseres Vorstellens. Die Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck, einen
Anlaß in der Gegenwart an, der imstande war, einen der großen Wünsche
der Person zu wecken, greift von da auf die Erinnerung eines früheren,
meist infantilen Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war und
schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die
Erfüllung jenes Wunsches darstellt, eben den Tagtraum oder die Phantasie,
die nun die Spuren ihrer Herkunft vom Anlasse und von der Erinnerung
an sich trägt.“ (Freud, Bd. X, S. 233/234.)
Dieses Schema von der Dreizeitigkeit dichterischer Produktion
möchte ich im folgenden nun auf Mignons Lied anwenden: „Kennst
du das Land?“
Das Gedicht scheint im November ı782 die definitive Gestalt ge-
wonnen zu haben. Goethe schreibt am 9. November 1783 an die Stein:
„Am vierten (Buche des Urmeisters, das mit dem Liede ‚Kennst du das
Land‘ beginnt) schreibe ich akkurat ein Jahr, seit dem ı2. November
ı782, wie ich angemerkt habe.“ (Brief an die Stein, Bd. IL, S. 268,
Brief 1160.) |
In der späteren Fassung wurden nur ganz geringfügige Änderungen vor-
genommen, die wir übergehen.
m öööüöüööüöüöüöIähhhhhhhHHn
Goethes Mignon dg
Das Gedicht enthält eine volle, südliche Stimmung, die der Dichter erst
vier Jahre später in Wirklichkeit erleben sollte. Er antizipiert also in ge-
heimnisvoller Weise spätere Erlebnisse.
Wir brauchen uns allerdings nicht so mystisch auszudrücken. Der Dichter
hatte reichlich Gelegenheit gehabt, sich ein vollständiges Bild von Italien
zu machen, bevor er selber hinkam. Die erste Anregung empfing er vom
eigenen Vater: „Innerhalb des Hauses zog mein Blick am meisten eine
Reihe römischer Prospekte auf sich, mit welchen der Vater einen Vorsaal
ausgeschmückt hatte... Hier sah ich täglich die Piazza del Popolo, das
Coliseo, den Petersplatz, die Peterskirche von außen und innen, die Enngels-
burg und so manches andere. Die Gestalten drückten sich tief bei mir ein,
der sonst so lakonische Vater hatte wohl manchmal die Gefälligkeit, eine
Beschreibung des Gegenstandes vernehmen zu lassen.“ (Dichtung und Wahr-
heit, Bd. XXII, S. 12.)
„Ferner erzählte er mir, daß ich nach Wetzlar und nach Regens-
burg, nicht weniger nach Wien und von da nach Italien gehen sollte...
Dieses Märchen meines künftigen Jugendganges ließ ich mir gern
wiederholen, besonders da es in eine Erzählung von Italien und zuletzt
in eine Beschreibung von Neapel auslief. Sein sonstiger Ernst und seine
Trockenheit schienen sich jederzeit aufzulösen und zu beleben und
erzeugte sich in uns Kindern der leidenschaftliche Wunsch, auch
dieser Paradiese teilhaft zu werden. (Dichtung und Wahrheit, Bd. XXIJ,
5. 35.)
Die Mutter ergänzt diesen Bericht in ihren Briefen:
131. An die Herzogin Anna Amalie.
„Frankfurth den gten Merz 1787
. mich haben sie (zwey Briefe) freylich unendlich gefreut, weil sein
innigster und heißester Wunsch erhört worden ist — von früher Jugend
an war der Gedancke Rom zu sehen in seine Seele geprägt und ich kan mir
die Freuden sehr lebhaft dencken, die Er jetzt fühlt in dem Genuß der Meister-
werke der Vorwelt — auf sein gantzes Leben muß ihn das ergötzen .. .“
(Frau Rat, Gesammelte Briefe, S. 183.)
Der Dichter sagt selber:
„Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß, wuchs so sehr mit
jedem Augenblicke, daß kein Bleibens mehr war, und ich mich nur drei
Stunden in Florenz aufhielt.
Nun bin ich hier und ruhig und wie es scheint, auf mein ganzes Leben
beruhigt.
Sarasin: Goethes Mignon 4
50 i Philipp Sarasın
Alle Träume meiner Jugend seh ich nun lebendig, die ersten Kupfer-
bilder, deren ich mich erinnere (mein Vater hatte die Prospekte von Rom
in einem Vorsaale aufgehängt) . ... es ist alles wie ich mir’s dachte und
alles neu.
Ebenso kann ich von meinen Beobachtungen, von meinen Ideen sagen.
Ich habe keinen ganz neuen Gedanken gehabt, nichts ganz fremd gefunden,
aber die alten sind so bestimmt, so lebendig, so zusammenhängend geworden,
daß sie für neu gelten können.“ (Briefe an die Stein, Bd. III, S. 114, Nr. 1600.)
Diese Italiensehnsucht aber findet ihren Kristallisationspunkt in der Gestalt
der Mignon, wie der Dichter selber sagt:
„Freilich, in dem geistreichen und kunstliebenden Kreise unserer Herzogin
Amalia war es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem
wahrer Gebildeter betrachtet wurde und ein lebhaftes Streben dahin, wie
es nur Mignon ausdrücken konnte, sich immer in Herz und Sinn erhielt.“
(Italienische Reise, Rom 1787, Bericht Oktober.)
Frühzeitig formte sich der Wunsch in Goethe, das südliche Land einmal
zu sehen. Um so seltsamer ist es, daß es so lange gedauert hat, bis der
Wunsch in Erfüllung ging. Der Vater drängte, der Sohn widersetzte sich
und nahm still den Unwillen des Vaters auf sich, der ihm Vorwürfe machte,
als er im Jahre 1775 nicht nach Italien hinuntergestiegen war. Im Herbst
desselben Jahres sendet ihn der Vater nochmals nach Italien, ohne daß es
zur Ausführung gekommen wäre, da ihn der Herzog Karl August nach
Weimar berief. Am ı3. November 1779 kehrt er nochmals auf der Höhe
des St. Gotthard um; er befand sich damals auf einer Schweizer Reise mit
dem Herzog.
Erst 1786 entschließt er sich endgültig, das gelobte Land aufzusuchen,
und zwar heimlich, ohne Mitwissen seiner Freunde in Weimar, wie ein
Dieb in der Nacht. Dies seltsam Schwankende, Zweifelnde, ich möchte sagen
Zwanghafte in der Italienreise bekommt eine bestimmte Grundlage, wenn
wir bedenken, daß sie ursprünglich auf einen Wunsch und Befehl des Vaters
zurückgeht, auf einen breit angelegten Studienplan, den der Vater sich für
seinen Sohn ausgedacht hatte und den der geniale Sohn fortwährend zu
durchkreuzen sich alle erdenkliche Mühe gab.
Das vom Sohne abgelehnte Gebot kämpfte mit dem eigenen Wunsch,
Italien zu sehen. Als der Vater am 27. Mai 1786 starb, fiel diese hemmende
Seite weg und der eigene Wunsch setzte sich allmählich durch. Es vergingen
aber noch vier Jahre bis zur Ausführung des Planes. Inzwischen wuchs aber
die Verkörperung der Italiensehnsucht heran: Mignon. Im Herbst des näm-
u 1
er ze EEE
Goethes Mignon s h 51
lichen Jahres entstand das Lied: „Kennst du das Land?“ das wir in seiner
ersten Fassung folgen lassen.
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im grünen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und froh der Lorbeer steht?
Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut...“ (Sendung, S. 207.)
Die beiden ersten Strophen geben das stimmungsvolle Bild wieder, das
sich der nordische Dichter vom südlichen Lande gemacht hatte, ich möchte
sagen, der Dichter der Ossianstimmungen im Werther. Die dritte Strophe
keimt direkt aus der ersten Schweizer Reise, als er sich auf dem Gotthard
im Sommer 17735 nicht entschließen konnte, trotz des väterlichen Wunsches,
nach Italien hinunterzusteigen.
Er erzählt in Dichtung und Wahrheit: „... fand ich mich wieder in
Frankfurt, wohl empfangen von jedermann, auch von meinem Vater, ob
dieser gleich seine Mißbilligung, daß ich nicht nach Airolo hinabgestiegen,
ihm meine Ankunft in Mailand gemeldet habe, zwar nicht ausdrücklich
aber stillschweigend merken ließ, besonders keine Teilnahme an jenen
wilden Felsen, Nebelseen und Drachennestern im mindesten beweisen
konnte ..., wer Neapel nicht gesehen, habe nicht gelebt.“ (Dichtung und
Wahrheit, Bd. XXV, $. 112.)
Die beiden ersten Strophen scheinen mehr allgemeine Stimmungen
wiederzugeben, enthalten aber einzelne Bilder, die so deutlich und frappant
in späteren poetischen Versuchen wiederkehren, daß wir diese Spur verfolgen
können.
Es war in Sizilien. Da drängten sich ihm mit erneuter Urgewalt die
Gestalten der Odyssee, des Phäakenlandes auf, kam er sich doch selber als
fahrender Odysseus vor und fühlte sich im fremden Lande gastlich auf-
genommen.
Er schreibt dort folgende Verse aus einem Gespräch zwischen Odysseus
und der Phäakentochter nieder:
4
———————,
52 Philipp Sarasın
Nausikaa:
„In meines Vaters Garten soll die Erde
Dich umgetrieben vielgeplagten Mann
Zum freundlichsten empfangen .
Das schönste Feld hat er sein ganzes Leben
Bepflanzt, gepflügt und erntet nun im Alter
Des Fleißes Lohn, ein tägliches Vergnügen.
Dort dringen neben Früchten wieder Blüten,
Und Frucht auf Früchte wechseln durch das Jahr.
Die Pomeranze, die Zitrone steht
Im dunkeln Laube, die Feige folgt
Der Feige ... beschützt ist rings umher
Mit Aloe und Stachelfeigen ...
Dort wirst du in den schönen Lauben wandeln,
An weiten Teppichen von Blumen dich erfreuen.“
ER RR („Nausikaa“, Goethe, Bd. XV, $. 67.)
„Die Pomeranze, die Zitrone steht
Im dunkeln Laube“
nimmt der Dichter das südliche Motiv des Mignonliedes wieder auf, aber
in vollerer Form. Die südliche Landschaft umgibt den Staunenden nun
auf der Sizilienreise zum erstenmal in der überwältigenden Fülle südlichen
Frühlings. Im Herbst 1786 kam er nach Rom. Anfangs April 1787 landet
er an der sizilischen Küste in Palermo. Die Üppigkeit südlicher Vegetation
macht tiefen Eindruck auf den Ankömmling-
Besonders der botanische Garten in Palermo gewinnt seine Aufmerk-
samkeit: . „Palermo, Sonnabend, den 7. April 1787.
In dem öffentlichen Garten, unmittelbar an der Reede, brachte ich
im stillen die vergnügtesten Stunden zu. Es ist der wunderbarste Ort von
der Welt. Regelmäßig angelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht
gar langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum. Grüne Beeteinfassungen
umschließen fremde Gewächse; Zitronenspaliere wölben sich zum niedlichen
Laubengange; hohe Wände des Oleanders, geschmückt von tausend roten,
nelkenhaften Blüten, locken das Auge. — Eine hinter dem flachen Raum
erhöhte Bank läßt einen so wundersam verschlungenen Wachstum übersehen
und lenkt den Blick zuletzt auf große Bassins, in welchen Gold- und Silber-
fische sich gar lieblich bewegen, bald sich unter bemooste Röhren verbergen,
bald wieder scharenweise, durch einen Bissen Brot gelockt, sich versammeln,
... Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu tief geblieben;
... das alles rief mir die Insel der seligen Phäaken in die Sinne sowie
Goethes Mignon 53
ins Gedächtnis. Ich eilte sogleich, einen Homer zu kaufen, .. .“ (Italienische
Reise, Bd. XXVI, S. 282.)
In diese südliche Gegend versetzt der Dichter nun die Gestaltenwelt
der Odyssee:
„... 5o gab ich um so mehr einem Drange nach, die gegenwärtige
herrliche Umgebung, das Meer, die Inseln, die Häfen, durch poetische
würdige Gestalten zu beleben.“ ... „Ich ergriff nämlich den Gedanken,
den Gegenstand der Nausikaa als Tragödie zu behandeln... Der Haupt-
sinn (des Planes) war der, in der Nausikaa eine treffliche, von vielen um-
worbene Jungfrau darzustellen, die, sich keiner Neigung bewußt, alle Freier
bisher ablehnend, durch einen seltsamen Fremdling aber gerührt, aus ihrem
Zustand heraustritt und durch eine voreilige Äußerung ihrer Neigung sich
kompromittiert.“ (Italienische Reise, Bd. XXVT, S. 353/354.)
„Es war in dieser Komposition (Nausikaa) nichts, was ich nicht aus eigner
Erfahrung nach der Natur hätte ausmalen können ..., das alles gab mir
ein solches Attachement an diesen Plan, an diesen Vorsatz, daß ich darüber
meinen Aufenthalt zu Palermo, ja den größten Teil meiner übrigen sizi-
lianischen Reise verträumte. Weshalb ich denn auch von allen Unbequem-
lichkeiten wenig empfand, da ich mich auf dem überklassischen Boden
in einer poetischen Stimmung fühlte ...“ (Italienische Reise, Bd. XXVI,
8. 3551356
Das Motiv von der Bevölkerung eines reichen Gartens durch die homerischen
Phantasiegestalten eines Laertes oder eines Alkinous ist uns aber schon wohl
bekannt.
Als der Dichter in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahre die frühesten
Lebenserinnerungen aufzeichnete, vergleicht er seinen Großvater Textor, der
gemächlich seinen schönen Garten teilweise selber besorgte, mit einem Laertes
oder Alkinous und verweilt besonders eingehend bei den Handschuhen, die
sein Großvater alljährlich als Stadtschöffe geschenkt bekam, womit er sich
vor stechlichten Gewächsen schützte, ganz so wie Laertes in der Odyssee.
(Voß: Odyssee, 24, 229.)
Die Schilderung des großväterlichen Gartens entspricht der Wirklichkeit,
die homerischen Vergleiche werden später hineingetragen. Nun liegt aber
schon eine poetische Verarbeitung des großväterlichen Gartens vor: im
Knabenmärchen. Wir erkennen den Großvater in dem sonderbaren alten
Mann mit dem talarähnlichen Kleid. Wir gehen darum nicht fehl, wenn
wir in der poetischen Verarbeitung der südlichen Landschaft, im botanischen
Garten zu Palermo eine Neubearbeitung, eine Neuauflage des großväterlichen
Te eEHEEEESZSEEEBTENEENEE a RERCR®
54 Philipp Sarasın
Garten Textors erblicken dürfen. Das Leitmotiv ist der würdige Greis, der
einen Garten selber besorgt.
Wir wissen nicht, aus welcher Zeit der Name der lustigen Spielgenossin
Alerte im Knabenmärchen stammt. Auffallend aber ist ein merkwürdiges
Mißverständnis des Dichters, der in der ersten Niederschrift seines Nausikaa-
stoffes die Heldin Arete nennt, was an den Namen im Knabenmärchen
anklingt.
Der Odysseestoff begleitete den Dichter auf der ganzen Italienreise. Schon
am 22. Oktober 1786 weist er in einem Briefe darauf hin (Goethe, Bd. XV,
$. 352), aber erst in Sizilien, im Garten von Palermo, tritt die poetische
Wirklichkeit an ihn heran.
Er schreibt am ı4. Februar 1798 an Schiller: „In welchem Glanze aber
dieses Gedicht vor mir erschien, als ich Gesänge desselben in Neapel und
Sizilien las! Es war, als wenn man ein eingeschlagenes Bild mit Firnis
überzieht, wodurch das Werk zugleich deutlich und in Harmonie erscheint.“
(Briefwechsel Schiller-Goethe, Bd. II, S. 49.)
Analytisch können wir dieses Phänomen dadurch erläutern: Er sieht die
südliche Landschaft erst dann in ihrem Glanze, als die Übertragung infan-
tiler Inhalte auf die Gegenwart gelang, als ihm der sonnige großväterliche
Garten in südlichem Gewande neu entgegentrat.
Im botanischen Garten von Palermo erlebt der großväterliche Garten
sozusagen eine Renaissance.
Schauen wir nun nochmals zurück:
Das Knabenmärchen konzipiert Goethe im Jahre 1756 beim Ausbruch
des Siebenjährigen Krieges, das Mignonlied im Todesjahr seines Vaters 1782,
den Nausikaastoff schließlich in Italien selber.
Alerte bildet im Garten des Knabenmärchens den nämlichen Mittelpunkt,
wie Mignon in der südlichen Landschaft ihres Liedes oder wie Nausikaa-
Arete in der homerischen Landschaft des botanischen Gartens von Palermo.
Alle drei Gestalten gehen aber auf Cornelie zurück, den schwesterlichen
Spielkameraden Wolfgangs im Garten von Großvater Textor.
Im Todesjahre des Vaters aber, als Goethe noch ferne von Italien war
und kaum daran denken konnte, das gelobte Land je zu sehen, antizipiert
er visionär die ganze Fülle südlicher Landschaft.
Die psychologische Situation des Dichters in der ersten Weimarer Epoche
ist darum folgende: Er verarbeitet rezente Eindrücke und Kenntnisse süd-
licher Gegend mit unbewußtem Stoffe aus frühester Jugend und pro-
jiziert das gewonnene Bild als mögliches Erlebnis in die dunkle Zukunft,
Goethes Mignon 55
wie das schimmernde Bild des Regenbogens vor die dunkle Wand der
Gewitterwolke.
Das ist aber genau die Konzeption von Freud:
„Ein starkes aktuelles Erlebnis weckt im Dichter die Erinnerung an ein
früheres, meist der Kindheit angehöriges Erlebnis auf, von welchem nun
der Wunsch ausgeht, der sich in der Dichtung seine Erfüllung schafft;
die Dichtung läßt sowohl Elemente des frischen Anlasses als auch der alten
Erinnerung erkennen.“ (Freud, Bd. X, $. 237.)
VI Zusammenfassung und Nachträge
Goethes Beziehungen zu den Frauen waren vielgestaltig und reich. Viele
sind in seinen Lebenskreis getreten, aber keine hat ihn je ganz besessen,
Immer wieder wußte er die Fesseln, die ihn innerlich hemmten, abzu-
streifen, um phönixartig verjüngt aus der überstandenen Krise hervorzugehen,
Goethe selber empfand dieses Weitergehen zu einer neuen Frau als
Treulosigkeit, wenn wir hören, wie er sich durch Darstellung eines Clavigo
zu bestrafen oder zu läutern suchte. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese
scheinbare Untreue aufzuhellen, sicher hat er selber schwer daran gelitten und
geißelte jede herzlose Äußerung Mephistos erbarmungslos. Schließlich wurde
Gretchen aber doch von Faust im Stiche gelassen und so ging es Goethen
mit Friederike Brion, Lily Schönemann, mit der Stein und nicht zuletzt
mit seiner Schwester Cornelie. Auch Mignon stirbt im Momente, wo sie
gewahr wird, daß Wilhelm sich anschickt, sein Herz an Therese zu ver-
geben.
Es ist, als ob sich Goethe immer wieder vom geliebten Weibe loslöste,
um neuen, drängenden Aufgaben entgegenzugehen, die ihm sein Genius
stellte, zeichnete aber die Leiden des verlassenen, sich in Sehnsucht ver-
zehrenden Menschenkindes Zug für Zug nach, mit erschütternder Deut-
lichkeit, wie der Anatom sein Objekt.
Wie tief aber der Dichter selber an diesen Loslösungen litt, erkennen
wir am besten am Harfner, seinem düsteren Doppelgänger, der wie von
stillem Wahnsinn umhergetrieben wird, den der Dichter aus eigener Er-
fahrung nur zu genau kannte. Aus seinen Liedern können wir kaum
erraten, ob hier Mignon klagt oder der Harfner, ob es Faust ist, der sich
sehnt, oder Gretchen, die verzweifelt, Goethe oder die Stein.
Goethes Mignon 57
Vermutlich schauen wir hier in einen seelischen Zustand, der nahe
an Wahnsinn grenzt, wo die Sehnsucht nach dem geliebten Objekte die
Grenzen zwischen dem Ich und dem Du verwischt und einen seelischen
Prozeß einleitet, der uns unter dem Namen der Identifikation bekannt ist.
Der Harfner trägt aber auch Züge von Goethes Vater. Wolfgangs Be-
ziehungen zu seinem Vater sind noch reichlich dunkel. Wir dürfen aber
vermuten, daß der väterliche Einfluß erheblich war, wenn auch der Sohn
seiner kaum Erwähnung tut.
Sicher ist, daß erst nach des Vaters Tode das Lied: „Kennst du das
Land“ entstanden und die längstgeplante Reise nach Italien zur Ausführung
gekommen ist. Eine Reise, die von Vater und Sohn herbeigesehnt wurde,
die aber der Sohn erst dann ausführen konnte, als der Vater nicht mehr
lebte.
Wir dürfen vermuten, daß sich mit dem T‘ode des alten Rats eine tiefgreifende
Wandlung im Dichter vollzogen hat. Ein kaum wahrnehmbarer, aber ständig
lastender Druck wurde plötzlich aufgehoben und drohende Gewitterwolken,
die ihn innerlich verdüsterten, lösten sich endgültig auf. Es ist, als ob mit
dem Tode des Vaters plötzlich der Weg nach dem Süden frei geworden wäre.
Schließlich kehrte Goethe geläutert und gefestigt aus dem Süden zurück.
Auch seine Beziehungen zur Frau wurden damit tiefer, anhaltender, ge-
lassener, heiterer.
Die Spiegelung dieser mühsam errungenen, ausgeglichenen seelischen
Verfassung, woran auch die Frauen teilnahmen, — denken wir nur an
Suleika, — finden wir in den Lehrjahren wieder, dem Meisterroman der
neunziger Jahre.
Ein Traum, den der Dichter seinen Helden Wilhelm träumen läßt, als
er schließlich das Theaterunwesen völlig überwunden hatte, enthält fast
alle Gestalten der Sendung, aber friedlich nebeneinander, ohne die Sturm-
stimmung, die für den Urmeister so charakteristisch ist und die der reife
Goethe der neunziger Jahre nicht mehr so recht verstand. Er lautet folgender-
maßen:
„Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er Jand sich in
dem Garten, den er als Knabe öfters besucht hat, und sah mit Vergnügen die
bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Marianne begegnete ihm,
er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Miß-
verhältnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen im Hauskleide, und
mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hieß er den Sohn zwei Stühle
aus dem Gartenhause holen, nahm Mariannen bei der Hand und führte sie
nach einer Laube . Wilhelm eilte nach dem Gartensaale .. blickte zum
rn,
58 Philipp Sarasın
Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen,
von denen er einige sogleich erkannte... Mignon und Felix lagen im Grase,
Jene ausgestreckt auf dem Rücken, dieser auf dem Gesichte.“ (Bd. XVIIT, S. 174,
Alle Bestandteile der Mignondichtung, die wir in unserer Arbeit mühsam
aufgefunden haben, legen sich hier wie selbsttätig auseinander, doch ohne
seelische Spannung, ohne krankhafte Sehnsucht nach einem fernen, un-
erreichbaren Lande, in friedlichem Nebeneinander, ohne Verstimmung, ohne
diesem unheimlichen Wahnsinn geheimer Mißverhältnisse. Ein getreües Ab-
bild des reifen Goethe, der in Italien schließlich das innere Gleichgewicht
gefunden hatte.
*
Schauen wir nochmals zurück.
Zweifellos spiegeln sich in Mignon nicht nur Cornelie und ihr Bruder
Hermann Jakob, sondern die ganze Geschwisterreihe, besonders die liebliche
Johanna Maria, die der Dichter als ein schönes und angenehmes Mädchen
rühmt, die aber auch bald dahinschwand, so daß Wolfgang und Cornelie
schließlich allein übrig blieben.
Und nun erinnern wir uns, daß auch noch ein Rechtskandidat Clauer
im elterlichen Hause wohnte und von seinem Studieren und vor Dünkel
blödsinnig geworden sei. Wir erkennen in ihm die Keimzelle des Harfners.
Und nun befinden wir uns mitten im Lebenskreise, aus dem Mignon
herausgewachsen ist, die glückliche Zeit vor dem Jahre 1759. Wir sehen
Cornelie mit ihren Geschwistern, das Puppentheater, die römischen Prospekte,
den Vater, der manchmal vertraulich von Italien zu erzählen wußte, dann
wieder mürrisch und abweisend war, den sonderbaren Clauer, dem oft nichı
zu trauen war: wir erkennen die ganze Familie, die schließlich in Mignon
und im Harfner eine geheimnisvolle, vieldeutige, poetische Verarbeitung
gefunden hat.
Literatur
Ich zitiere folgendermaßen:
1) (Goethe, Bd...., 5....) oder (Dichtung und Wahrheit) oder (Lehrjahre) oder (Italie-
nische Reise) aus: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe. J. G. Cottasche
Buchhandlung. 40 Bde.
2) (Briefe an die Stein) aus: Goethes Briefe an Charlotte von Stein. Herausgegeben
von Julius Petersen. Insel-Verlag. Leipzig 1908. 3 Bde.
3) (Briefe der Frau Rat) aus: Frau Rat Goethe. Gesammelte Briefe. Herausgegeben
von Ludwig Geiger. Leipzig. Hesse & Becker.
Goethes Mignon : 59
(Der junge Goethe) aus: Der junge Goethe. Ausgabe besorgt von Max Morris.
Insel-Verlag. Leipzig 1909. 6 Bde. :
(Sendung) aus: Goethe. Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Nach der Schul-
theßschen Abschrift herausgegeben von Harry Maync. J. G. Cottasche Buch-
handlung. ıg1ı.
(Goethe-Schiller, Brief) aus: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Verlegt bei
Eugen Diederichs. Jena ıgı0. 2 Bde.
Eugen Wolff: Mignon. Ein Beitrag zur Geschichte des Wilhelm Meister. München
1909. ©. H. Becksche Verlagsbuchhandlung.
Freud: Gesammelte Schriften. Bd. I—XI. Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorbemerkung. : oa... ».r 0. a 8 nn ne a 5
D Der Meistertemän.e an. 0 un en aan 8
II) Goethes Jugendgeschichte ...... rc... .. 18
Die Jugendgeschichte ..... vr enee. 19
II) Ergänzungen zur Jugendgeschichte ........ 25
a) Das Knabenmärchen .....: ss, unsern cn“ 25
b) Die französischen Schauspieler. ............ 28
c) Zum frühen Tod der Geschwister Goethes ..... 31
d) Zusammenfassung der Jugendgeschichte . .. ...- 52
IV) Analytische Deutung der dramatischen Momente 34
a) Die Gestalten des Meisterromans ........... 34
b) Das Selltänzermilieu.., » » = » u,0. 8.0. m a an ne abe 35
c) Mignon ‚und: Gomelie. ... +... + «u EEE NE ee 36
d). Görnelienndiähr" Bruder ... nr. a 5 39
e) Mignon und die Vateridentifizierung des Dichters . 42
‚f> Mignon und die anderen Geschwister Goethes . . . 47
V) Analytische Deutung der lyrischen Momente. . 48
VI) Zusammenfassung und Nachträge ........: 56
TITETABUR EN. NT aa sen e iaact a ee ae 58
Psychoanalytische Biographik
ED UARD HITSCHMANN:. Gottfried Keller. Psychoanalyse des Dichters,
seiner Gestalten und Motive. Geheftet M. 3.50
„Das vorliegende Keller-Buch hat mir auch als Literarhistoriker einige Lichter aufgesteckt ... Das
Buch vertieft unseren Einblick in die erotischen Probleme bei dem Menschen wie bei dem Künstler Keller.
Er erklärt die Hemmungen in seiner persönlichen Liebeswahl und Sexualität und beleuchtet entsprechende
Motive seiner Dichtung,“ (Prof. Harry Maync, Bern, im „Literarischen Echo“)
EDUARDHITSCHMANN: Ein Gespenst aus der Kindheit Knut Hamsuns.
Geh. M. 2. —, Ganzleinen M. 3,50
Inhalt: Eine Kindheitserinnerung Hamsuns - Psychoanalytische Deutung der Gespenster — Kastrationssymbolik
in Hamsuns Werken — Die Entmannung der Väter (Altern und Verarmen) — Das Motiv der Eifersucht und des
geschädigten Dritten — Grausamkeit und Leidnsechaftlichkeit, Belauschen und Zuschauen — Hamsuns Ideale
——————— In
IMRE HERMANN: Gustav Theodor Fechner. Eine psychoanalytische Studie
über individuelle Bedingtheiten wissenschaftlicher Ideen.
Geh. M. 3.—, Ganzleinen M. 4.60
Inhalt: Biographisches — Die schwere Krankheit — Die Idee der Psychophysik — Die „Tagesansicht“ — Das
Formale im Denken Fechners — Die Begabungsgrundlagen — Fechner als Vorläufer psychoanalytischer Ideen
ERWIN KOHN: Lassalle — der Führer. Geh. M. 4.—, Ganzleinen M. 6._
Inhalt: I) Die psychologische Entstehung des Führers — II) Die psychologische Technik der Führung bei
Lassalle — III) Das Liebesschicksal Lassalles — IV) Die psychische Struktur des Führertums bei Lassalle —
V) Die Nachfolge Lassalles und das Ende der Organisation.
RB
JOLAN NEUFELD: Dostojewski. Skizze zu seiner Psychoanalyse.
Geh. M. 5.—, Ganzleinen M. 5.—
„Der ernste, etwas analytisch orientierte Leser wird die flüssige und beredte Dostojewski-Skizze in
einem Zuge durchlesen, und ohne Widerspruch.“ („Neue Zürcher Zeitung“)
| —
N. OSSIPOW: Tolstois Kindheitserinnerungen. Ein Beitrag zu Freuds Libido-
theorie. Geh. M. 6.—, Halbleinen M. 7.50
Inhalt: I) Vorbemerkungen — II) Die „Ersten Erinnerungen“ — III) Zwei allererste Erinnerungen (Das Indi-
vidual-Ich und die Ich-Libido — IV) Über den Narzißmus — V) Drei weitere Erinnerungen (Objektlibido) ==
VI) Der Seelenkonflikt — VII) „Die Ameisenbrüder* (Das Supra-Ich) — VIII) Über die infantile Amnesie
Die psychoanalytische
Bewegung
Erscheint zweimonatlich — Herausgegeben von A.J. Storfer
X
Abonnement 1930 (LI. Jahrgang: 6 Hefte im
Gesamtumfang über 600 Seiten) Mark ı10.—
x
Der I. Jahrgang (1929) enthielt u. a.
folgende Beiträge:
Behrendt Das Problem Führer und Masse und die Psychoanalyse
Cornioley Sexualsymbolik in der „Frommen Helene“ von Wilh. Busch
Ferenczi Männlich und Weiblich. Über sekundäre und tertiäre
Geschlechtsmerkmale
Graber Geburt und Tod
Hitschmann .... Knut Hamsun und die Psychoanalyse
W. Jensen (f). . . Drei unveröffentlichte Briefe an Sigm. Freud
Die Insel Irland
Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte
Anspielung und Entblößung f
Zur Psychologie des Films
Sterba Das Problem des Kunstwerks bei Freud
Wälder Sexualsymbolik bei Naturvölkern
Winterstein .... Motorisches Erleben im schöpferischen Vorgang
Mittels Le grand amour
Zulliger „Hysterie infolge Verdrängung ethischer Regungen“
Arnold Zweig .. Freud und der Mensch
x
Preis des I.J ahrgangs in Halblederband Mark 10.60
Gleichzeitig Erscheint
Warum retlie
Eine psychoanalytische Monographie
Von
Theodor Reik
Geheftet M bi; Cnasizleinieh M 8.—
Inhalt:
Dichtung und Wahrheit — Ein neuer Versuch — Ein alter Mann
erzählt die Geschichte seiner Liebe — Friederike — Die Gründe
der Trennung — Die Verkleidung — Der Kindtaufkuchen —
Zwischenspiel (Chronologische und andere Verwirrung) — Die
Kußangst — Reprise — Sexualität und Gewissensangst — Der
junge Goethe erzählt ein Märchen — Der Dichter über die „Neue
Melusine“ — Die analytische Deutung des Märchens — Der Schatten
des Vaters — Der Text der Zwangsbetürchtung — Capriccio dolo-
roso — Freundliche Vision — „Frohe und dankbare Gefühle
nach dem Sturm“ — Coda
Internationaler P sychoanalytischer Verlag
Wien I; In der Börse
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