DIE PSYCHISCHEN
STÖRUNGEN DER MÄNNLICHEN
POTENZ
IHRE TRAGWEITE UND IHRE BEHANDLUNG
VON
DR. MAXIM. STEINER
SPEZIALARZT FÜR SEXUALKRANKHEITEN IN WIEN
MIT EINEM VORWORT VON PROF. SIGM. FREUD
DRITTE, UMGEARBEITETE AUFLAGE
LEIPZIG UND WIEN
FRANZ DEUTICKE
1926
VerUgs-Nr. 3068
I
Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wi3n.
Der Ablauf des Lebens.
Grundlegung zur exakten Biologie.
Von
Dr. W. Fließ.
Zweite, neubearbeitete Auflage. (1923.) XVI und 406 Seiten.
Preis, broschiert Goldmark 10. — , gebunden Goldmark 12.60.
Die Traumdeutung.
Von
Prof. Dr. Sigm. Freud.
Siebente Auflage. Mit Beiträgen von Dr. Otto fiank (1922.) VIII und 480 Seiten.
Preis broschiert Goldmark 8.40, gebunden Goldmark 10.40.
Wandlungen und Symbole der Libido.
Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens.
Von
Dozent Dr. C. G. Jung.
Zweite Auflage. (1925.) IV und 430 Seiten.
Preis broschiert Goldmark 12.—, gebunden Goldmark 14.60.
Die Lehre von den Greschlechtsverirrungen
(Psychopathia sexualis)
auf psychoanalytischer Grundlage.
Von
Dr. J. Sadger
Nervenarzt in Wien.
Preis broschiert Goldmark 6.60, gebunden Goldmark 8.80.
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DIE PSYCHISCHEN
STÖRUNGEN DER MÄNNLICHEN
POTENZ
IHRE TRAGWEITE UND IHRE BEHANDLUNG
VON
DR. MAXIM. STEINER
SPEZIALARZT FÜR SEXUALKRANKHEITEN IN WIEN
MIT EINEM VORWORT VON PROF. SIGM. FREUD
DRITTE, UMGEARBEITETE AUFLAGE
LEIPZIG UND WIEN
FRANZ DEUTICKE
1926
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I
Verlags-Nr. 3068
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in
fremde Sprachen, vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
M»nzsche BuchdrucUerei, Wien IX. 2165
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-H-
Vorwort
von Prof. Sigm. Freud (Wien).
Der Autor dieser kleinen Monographie, welche die Patho-
logie und Therapie der psychischen Impotenz des Mannes
behandelt, gehört zu jener kleinen Schar von Ärzten, welche
frühzeitig die Bedeutung der Psychoanalyse für ihr Spezial-
fach erkannt und seitdem nicht aufgehört haben, sich in deren
Theorie und Technik zu vervollkommnen. Wir wissen ja,
daß nur ein kleiner Anteil der neurotischen Leiden — welche
wir jetzt als Folgen von Störung der Sexualfunktion erkannt
haben — in der Neuropathologie selbst abgehandelt wird. Der
größere Teil derselben fällt unter die Erkrankungen des be-
treffenden Organs, welches von der neurotischen Störung
heimgesucht wird. Es ist nur zweckmäßig und billig, wenn
auch die Behandlung dieser Symptome oder Syndrome die
Sache des Spezialarztes wird, welcher allein die Differential-
diagnose gegen eine organische Affektion stellen, bei Misch-
formen den Anteil des organischen Elements von dem des
neurotischen abgrenzen und im allgemeinen Aufschluß über
die gegenseitige Förderung von beiderlei Krankheitsfaktoren
geben kann. Sollen aber die „nervösen" Organkrankheiten
nicht als ein Anhang zu den materiellen Erkrankungen der-
selben Organe einer Vernachlässigung anheimfallen, welche
sie bei ihrer Häufigkeit und praktischen Bedeutsamkeit keines-
wegs verdienen, so muß der Spezialist, sei er Magen-, Herz-
oder Urogenitalarzt, außer seinen allgemeinen ärztlichen und
seinen Spezialkenntnissen auch die Gesichtspunkte, Ein-
sichten und Techniken des Nervenarztes für sein Gebiet ver-
werten können.
IV • Vorwort
Es wird einen großen therapeutischen Fortschritt be-
deuten, wenn der Spezialarzt den mit einem nervösen Organ-
leiden Behafteten nicht mehr mit dem Bescheid entlassen
wird: „Ihnen fehlt nichts; es ist bloß nervös." Oder mit der
nicht viel besseren Fortsetzung: „Gehen Sie zum Nerven-
arzt, er wird Ihnen eine leichte Kaltwasserkur verordnen."
Man wird gewiß auch eher vom Organspezialisten verlangen
dürfen, daß er die nervösen Störungen seines Gebietes ver-
stehe und behandeln könne, als vom Nervenarzt, daß er
sich zum Universalspezialisten für alle Organe ausbilde, an
denen die Neurosen Symptome machen. Demnach ist vorauszu-
sehen, daß nur die Neurosen mit wesentlich psychischen Sym-
ptomen die Domäne des Nervenarztes bleiben werden.
Die Zeit ist dann hoffentlich nicht ferne, in welcher die
Einsicht allgemein wird, daß man keinerlei nervöse Störung
verstehen und behandeln kann, wenn man nicht die Gesichts-
punkte, oft auch die Technik der Psychoanalyse zu Hilfe
nimmt. Diese Behauptung mag heute wie eine anmaßende
Übertreibung klingen; ich getraue mich vorherzusagen, daß
sie dazu bestimmt ist, ein Gemeinplatz zu werden. Es wird
aber ein bleibendes Verdienst des Autors dieser Schrift sein,
daß er diese Zeit nicht abgewartet hat, um die Psychoanalyse
in die Therapie der nervösen Leiden seines Spezialgebietes
einzulassen.
Wien, im März 1913.
^
■HM
Vorwort des Verfassers.
Man kann nicht gerade behaupten, daß an Werken und
Abhandlungen über die psychische Impotenz des Mannes
Mangel wäre. Brauche ich doch nur auf die klassischen
Arbeiten von Curschmann 1 ), Eulenburg 2 ), Finger 3 ), Für-
bringer 4 ), Krafft-Ebing 5 ) und anderen hinzuweisen, die
dieses Thema behandelten. Wenn ich gleichwohl die Nötigung
empfinde, die funktionelle Impotenz des Mannes, ihre Trag-
weite und ihre Behandlung zum Gegenstand einer Mono-
graphie zu machen, so leite ich die Berechtigung hiezu vor-
nehmlich aus den neuen Gesichtspunkten her, die der Dia-
gnostik und Therapie neurotischer Erkrankungen seit etwas
mehr als einem Jahrzehnt durch die bahnbrechenden Arbeiten
Freuds gewiesen worden sind. Es hat sich infolgedessen
die Notwendigkeit ergeben, wie die Betrachtungsweise der
*) „Die funktionellen Störungen der männlichen Genitalien." Ziemssens
Handbuch, IX, 2.
2 ) „Neuropathia sexualis virorum." Zülzer-Oberländer, Handbuch der
Krankheiten der Harn- und Sexualorg., 1894, IV.
3 ) „Die Störungen der Geschlechtsfunktion des Mannes." Handbuch der
Urologie von Frisch-Zuckerkandl, III. Bd., 1906.
4 ) „Störungen der Geschlechtsfunktion des Mannes." Nothnagel, Spez.
Pathol. und Therapie, XIX. Bd., 2, 1901.
5 ) „Psychopathia sexualis." Stuttgart 1886.
„Neuraslhenia sexualis beim Manne." Wr. Med. Presse, 1887.
„über psychosexuales Zwittertum." Oberländers Zentralbl., 1890.
„Die Nervosität und neurasthenische Zustände." Nothnagel, Spez.
Pathol. und Therapie.. XII. Bd., 2, 1900.
s«c<. _^rasat<
VI Vorwort des Verfassers.
Neurosen überhaupt, so auch die meines speziellen Themas
einer Revision vom Standpunkt der Psychoanalyse zu unter-
ziehen. Allerdings haben auch schon Psychoanalytiker die
Impotenz gelegentlich in den Kreis ihrer Betrachtung gezogen
(siehe die unten in der Reihenfolge ihrer Publikation ange-
führten Arbeiten 1 ), doch wendeten sich diese Darstellungen
vorwiegend an den psychoanalytischen oder neurologischen
Spezialisten, waren also der großen Masse der Praktiker
weniger zugänglich. Diesem relativen Mangel abzuhelfen, soll
die Aufgabe meiner zusammenfassenden Behandlung dieses
Themas sein. Hervorgegangen aus den in der Praxis ge-
wonnenen Erfahrungen, ist meine Arbeit auch in erster Linie
für den praktischen Arzt bestimmt und soll ihn gleichzeitig
mit gewissen elementaren Grundsätzen der Psychoanalyse be-
kannt machen. In dieser Bestimmung mag man eine Erklärung,
wenn man will auch eine Rechtfertigung, für die Tatsache
erblicken, daß ich dem besseren Verständnis des Zusammen-
hanges zuliebe vieles dem geschulten Psychoanalytiker bereits
völlig Vertraute nochmals erörtere. Dagegen ist die an die all-
gemeinen Darlegungen sich anschließende Kasuistik, eine
Sammlung von Fällen mit teilweise komplizierterem psychi-
schem Gefüge, vorwiegend für den Fachmann bestimmt.
Es wäre für mich eine große Genugtuung, wenn es mir
gelänge, ein weiteres ärztliches Publikum von der Wichtigkeit
der psychoanalytischen Betrachtungsweise auch in der An-
wendung auf dieses Gebiet zu überzeugen.
«■) Dr. Maxim. Steiner, „Die funktionelle Impotenz des Mannes und
ihre Behandlung." Wr. Med. Presse, 1907, Nr. 42.
Dr. S. Ferenczi (Budapest), „Analytische Deutung und Behandlung der
psychosexuellen Impotenz beim Manne." Psych.-Neurol. Woche 1908 Nr 35
und 36.
Dr. Wilh. Stekel, „Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung."
Wien-Berlin, 1908, 2. Aufl., 1912.
Prof. S. Freud, „Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. Über die
allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens." Jahrbuch f. psychoanalyt. u.
psychopatholog. Forschungen, IV. Bd.. 1912.
Vorwort des Verfassers.
VII
Zum Schlüsse erübrigt es mir noch, all denen zu danken,
die mich bei dieser Arbeit direkt oder indirekt gefördert haben.
In erster Reihe Herrn Professor Freud, dann Herrn Dr. Paul
Federn, Herrn Dr. Otto Rank und den meisten anderen
Mitgliedern der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung", bei
deren interessanten Diskussionsabenden mir manche wertvolle
Anregung zugekommen ist.
Wien, Ostern 1913.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Da die erste Auflage dieses Büchleins binnen Jahresfrist,
vergriffen war, hätte die zweite bereits im Herbst 1914 er-
scheinen sollen. Doch legte mir der Ausbruch des Weltkrieges
den Entschluß nahe, die Ausführung meines Planes auf einen
günstigeren Zeitpunkt, d. h. bis zum Friedensschlüsse, zu
verschieben. So sind denn mit Harren und Hoffen drei Jahre
vergangen, und ich habe mich nunmehr entschlossen, nicht
länger zuzuwarten, da trotz der bewegten Zeitläufte das Inter-
esse für psychoanalytische Probleme ungeschwächt fortbesteht.
Die vorliegende zweite Auflage ist bis auf geringfügige sti-
listische Verbesserungen ein nahezu unveränderter Abdruck
der ersten, um so mehr, als auch bei Berücksichtigung der
inzwischen erschienenen einschlägigen Publikationen*) für
mich kein Anlaß besteht, von meinen seinerzeitigen An-
schauungen irgendwie abzugehen.
Die erste Auflage hat bei der berufenen Fachkritik fast
ausnahmslos eine sehr wohlwollende Aufnahme gefunden.
Möge der zweiten ein gleiches Schicksal beschieden sein!
Wien, im Oktober 1917.
Der Verfasser.
*) M. Hirschfeld u. E. Burchard. Zur Frage der psychischen Im-
potenz als Folgeerscheinung sexueller Totalabstinenz beim Manne. (Sexual-
probleme, IX. Jahrgang, 1913.)
_.
Vorwort zur zweiten Auflage. jj£
C. Hudovernig. Eine besondere sexuelle Neurasthenie in reiferem
Alter. (Med. Klinik 1913, Nr. 13.)
W. Lißmann. Ein seltener Fall von Potenzstörung. (Münchner Medi-
zinische Wochenschrift 20/13.)
Dr. Ernst Tobias. Die physikalische Therapie der sexuellen Impotenz.
(Deutsche Medizinische Wochenschrift 20/13.)
Vecki Victor G. Psychotherapy in urology. (Calif. State Journ. of
Med. 12, 1914.)
Bloch J. Zur Behandlung der sexuellen Insuffizienz. (Med. Klinik 11,
1915.)
Maier Hans W. Zur Kasuistik der psychischen Impotenz. (Münchner
Medizinische Wochenschrift 63, 1916.)
Sinclair D. A. Sexual dislurbances and funclional Neuroses of the
Male Genito-urinary apparalus.
Hirschfeld Magnus. Sexualpathologie. (Bonn 1917.)
Hirschfeld Magnus. Sexuelle Hypochondrie u. Skrupelsucht. (Zeitschr.
f. Sexualwissenschaft, Bd. II, p. 121.
Dr. Abraham Karl. Über ejaculalio praecox. (Internat. Zeitschr. f.
Psychoanalyse, IV. Jahrg., Heft 4.)
Dr. Ferenczi S. Pollution ohne orgastischen Traum und Orgasmus im
Traume ohne Pollution. (Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IV. Jahrg..
Heft 4.)
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kTT
^=
Vorwort zur dritten Auflage.
In dem Vorworte, das Prof. Freud dieser Monographie
bei ihrem ersten Erscheinen mitgab, hat er die Erwartung
ausgesprochen, daß die Zeit hoffentlich nicht fern sei, da
man keine nervöse Erkrankung ohne Kenntnis der psycho-
analytischen Gesichtspunkte und Technik werde behandeln
können. Diese Prophezeiung ist in einem Ausmaße in Er-
füllung gegangen, das wohl die kühnsten Hoffnungen über-
troffen hat. Denn nicht nur auf dem Gebiete der nervösen
Erkrankungen, auch auf dem Gebiete der übrigen Medizin,
in den Geisteswissenschaften, in der Pädagogik, in der schönen
Literatur hat die Psychoanalyse sich durchgesetzt, ja selbst
in der Sprache der Gebildeten des ganzen Erdenrunds hat
die psychoanalytische Terminologie Bürgerrecht erlangt. Die
einschlägige Literatur ist schier unübersehbar geworden,
Theorie und Technik haben höchst fruchtbare Gesichtspunkte
gezeitigt. Diese an sich höchst erfreuliche Tatsache wurde
für mich eine Quelle der Verlegenheit, als ich, da die zweite
Auflage dieses Büchleins schon lange vergriffen war, mich
auf Drängen meines Verlegers entschließen mußte, eine neue
vorzubereiten. Denn da es sich inzwischen herausgestellt hat,
daß es fast keine neurotische Erkrankung ohne Potenz-
störung gibt, ist das Studium der psychischen Impotenz
ein ganz großes Problem geworden, und es ergibt sich die
merkwürdige Tatsache, daß es viel leichter wäre, im Rahmen
eines großen Werkes den komplizierten Beziehungen zwischen
den Störungen des Sexualtriebes und den verschiedenen
Neurosenformen gerecht zu werden, als das Impotenzthema
sozusagen aus dem Zusammenhange gerissen in der knappen
!
lk-*
Vorwort zur dritten Auflage. XI
und präzisen Form einer für die Bedürfnisse des Praktikers
angelegten Broschüre zu erörtern. Da ich mirs aber, vor
allem schon wegen Zeitmangels, derzeit versagen muß, die
erstere Idee zu verwirklichen, habe ich mich zuletzt doch ent-
schlossen, die Arbeit in ihrer bisherigen knappen Fassung zu
belassen, jedoch den Versuch gemacht, sie durch Ände-
rungen, Zusätze, Fußnoten und Literaturangaben*), die auf
Vollständigkeit naturgemäß keinen Anspruch erheben können,
mit den wichtigsten inzwischen gefundenen neuen Gesichts-
punkten in Übereinstimmung zu bringen. Zu diesem Entschluß
hat wesentlich die Überlegung beigetragen, daß dieses Büchlein
nicht die Aufgabe haben soll, dem Leser das Studium der
*) Ferenczi. Versuch einer Genitaltheorie. Internat. Psychoan. Ver-
lag 1924.
Ferenczi. Zur Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten. Internat.
Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. XI, 1925.
Freud. Zur Einführung des Narzißmus. Ges. Sehr., Bd. VI.
Freud. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Sehr.,
Bd. VII.
Freud. Die infantile Genitalorganisation. Ges. Sehr., Bd. V.
Freud. Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
Freud. Das Ich und das Es. Ges. Sehr., Bd. VI.
Rank. Perversion und Neurose. Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse,
Bd. VIII, 1922.
Rank. Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang.
Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. IX, 1923.
Reich. Über Spezifität der Onanieformen. Internat. Zeitschr. f. Psycho-
analyse, Bd. VIII, 1922.
Reich. Über Genitalität vom Standpunkt der psychoanalytischen Pro-
gnose und Therapie. Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. X, 1924.
Reich. Weitere Bemerkungen zur therapeutischen Bedeutung der Genital-
libido. Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. XI, 1925.
Reich. Über die chronische hypochondrische Neurasthenie. Internat.
Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. XII, 1926.
Sadger. Über den Kastrationskomplex. Fortschritte der Medizin,
XXXIV. Jahrg., 30 u. 31.
Sadger. Lehre von den Geschlechtsverirrungen. Wien 1921.
.
XU Vorwort zur dritten Auflage.
psychoanalytischen Literatur zu ersparen, sondern ihn viel-
mehr dazu anzuregen, und weiters der Umstand, daß die
Arbeit in ihrer bisherigen Form eine recht wohlwollende
Aufnahme gefunden hat.
Zum Schlüsse entledige ich mich der angenehmen Pflicht
zu danken. In erster Reihe Herrn Prof. Freud, sodann Herrn
Dr. Eduard Hitschmann und Herrn Dr. Wilhelm Reich,
die mir durch mannigfache Anregungen und sachkundige
Mithilfe bei Sichtung der Literatur wertvolle Dienste ge-
leistet haben.
Wien, im November 1925.
Der Verfasser.
Bloch. Die traumatische Impotenz. Zeitschr. f. Sexualwissenschaft,
1918, Heft. 4.
Flatau. Sexuelle Neurasthenie. 2. Aufl., Berlin 1923.
Gaupp. Das Problem der homosexuellen Sexualität. Kl. Wochenschr.
1922, Heft 21.
Hirschfeld. Sexualpathologie. Bd. III, Bonn 1920.
Kronfeld. Sexualpathologie. Deuticke 1923.
Li p schütz. Die Pubertätsdrüse und ihre Wirkungen. Bern 1919.
Löwenfeld. Sexualleben und Nervenleiden. Wiesbaden 1922.
Mathias. Die sexuelle Insuffizienz und ihre Behandlung. München 1919,
Ny ström. Impotenz bei jüngeren und sexuelle Kraft Lei älteren
Männern. Zeitschr. f. Sexualwissenschaft, Bd. IX, Heft 7.
Orlowski. Die Impotenz des Mannes. Leipzig 1922.
Pick. Über Sexualstörungen im Kriege. Kl. Wochenschr. 1917, Nr. 8.
Romeis. Geschlechtsleben oder Zwischenzellen. Kl. Wochenschr. 1922,
Nr. 19 bis 21.
Stekel. Impotenz des Mannes. Wien 1920.
Stekel. Kriegsimpotenz. Med. Klinik, 1920, Nr. 30.
Inhalts-Übersicht.
Seite
Einleitung .1
I. Anamnese und Symptomatologie . . ■ . ■ 4
a) Organische Symptome 6
b) Psychische Symptome 8
II. Ätiologie . . 12
III. Diagnose 23
IV. Prognose und Therapie • .... 27
V. Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz 40
Kasuistik ... 47
•
Einleitung.
Ich habe die Absicht, von jener Abart der Impotenz zu
sprechen, die jeder organischen Grundlage entbehrt und die
man gemeinhin die funktionelle nennt. Das Fehlen jeder orga-
nischen Grundlage ist aber hier nur cum grano salis zu
nehmen, da die neuesten Forschungen auf dem Gebiete der
inneren Sekretion lehren, daß auch für diese Art der Impotenz
organische Grundlagen zu finden sein dürften. Da die verschie-
densten Zustände unter der Flagge der Impotenz segeln, habe
ich mir auf Grund eines großen Krankenmaterials und auf
Grund eigener Beobachtungen die Aufgabe gestellt, sie nach
ätiologischen Gesichtspunkten in ein System zu
bringen.
Nun hat man eigentlich nicht die Berechtigung, von der
Impotenz als einer selbständigen Krankheitsform zu sprechen,
denn sie ist stets nur ein Symptom einer Neurose, allerdings
das wichtigste, ja man kann sagen, das Symptom der Sym-
ptome 1 ). Die Berechtigung, sie selbständig abzuhandeln, er-
gibt sich aber nicht nur aus ihrer kolossalen Verbreitung,
sondern auch aus ihrer Bedeutung für das Individuum und die
Gesellschaft. Wir werden sehen, daß alle psychischen Äuße-
rungen des Menschen, das was wir im banalen Leben als
Temperament und Charakter bezeichnen, in sehr engen, nicht
!) Eine statistische Untersuchung über die Häufigkeit der Impotenz (und
Frigidität) am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium hat sogar ergeben,
daß dieses Symptom eine typische Begleiterscheinung jeder schwereren seeli-
schen Erkrankung ist. (Vgl. Reich, Weitere Bemerkungen zur therapeutischen
Bedeutung der Genitallibido. Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse. XI, 1925.)
Stoiner, Die psychischen Störungen. 8. Aufl. i
2
Einleitung.
allzu schwer nachweisbaren Beziehungen zur Sexualfunktion
stehen, daß man also mit Fug und Recht im Sinne Freuds
von einer Vorbildlichkeit des Sexuallebens für alle übrigen
Lebensäußerungen des Individuums sprechen kann 1 ). Im Hin-
blick darauf wird uns die schwere Beeinträchtigung an Lei-
stungs- und Genußfähigkeit beim psychisch Impotenten ver-
ständlich sein. Die soziale Tragweite der Impotenz gedenke
ich später in einem eigenen Kapitel auszuführen, doch will ich
hier schon andeuten, daß dem heutigen Gesellschaftsleben ge-
wisse charakteristische Eigenschaften anhaften, als da sind:
Überschätzung des Weibes (Amerika) auf der einen, Sucht,
die Frau zu entwerten, auf der anderen Seite, auffällige
Abneigung gegen Eheschließungen, Beschränkung der Kinder-
zahl, Berufsarbeit der Frau, Ängstlichkeit, Zweifel, Hang zum
Geheimnisvollen (Mystizismus), Hast nach Erwerb und Ver-
gnügen usw., Merkmale, die alle mehr oder weniger deut-
liche Beziehungen zu einer degenerierten Sexualfunktion ver-
raten. Diesen Gesichtspunkt möchte ich vor allem unter-
streichen, weil ich mich damit in bewußtem Gegensatz zu
der Mehrzahl der Autoren und der Argumentation der Patienten
selbst befinde, die im Gegenteil den sozialen Momenten einen
ungebührlichen Einfluß auf die Sexualfunktion beimessen.
So antwortete mir ein Amerikaner, der bis zum 38. Lebens-
jahr kein Weib berührt hatte, auf meine Frage, wie das bei
einem sonst gesunden, kräftigen und wohlhabenden Menschen
möglich sei, er hätte bis jetzt infolge angestrengter Arbeit
(business) keine Zeit dazu gefunden. Die Antworten, die wir
von unseren Patienten bekommen, sind nicht immer so kraß
und leicht als vorgeschobene Motive („,Rationalisation" nach
Jones) zu durchschauen, wie in diesem Falle, aber wir hören
von unseren Patienten fast täglich ähnliche Vorwände: zum
Beispiel Angst vor Infektion oder Konzeption, mangelnden
*) Ich halte mich hier und im folgenden fast durchgehends an die
Terminologie Freuds, die ich vornehmlich seinen „Schriften zur Neurosen-
lehre" sowie den klassischen „Abhandlungen zur Sexualtheorie" des ge-
nannten Autors entnehme.
'
!
Einleitung.
o
Verkehr in kleinen Städten, Schüchternheit im Umgang mit
Frauen Enthusiasmus für Abstinenzideen, ethische und reli-
giöse Skrupel usw. - - Die eingehende Beschäftigung mit den
Neurosen lehrt uns die Oberflächlichkeit dieser Motivierungen
erkennen. Ich brauche zu diesem Behufe nur auf die Arbeilen
r-reuds zu verweisen, in denen gezeigt wird, daß das wich-
tigste der angeführten Symptome, Angst in jeder Form die
notwendige Folge jeder Unterdrückung oder nicht genügenden
Erledigung des Sexualtriebes darstellt. Die Beziehung der Im-
potenz zu den Kardinalsymptomen aller Neurosen läßt schon
jetzt ahnen, daß es schwierig sein wird, sie in der Praxis
rein vorzufinden; stets wird man bei näherem Eingehen auf
ein Stück Hysterie oder Neurasthenie, möglicherweise auch auf
eine andere neurotische Erkrankung stoßen. Aus dem Ge-
sagten ergibt sich auch, wie wichtig es für den Praktiker
ist, die Diagnose der oft durch verschiedene Krankheits-
symptome überwucherten Impotenz zu stellen, da durch die
damit gegebene Möglichkeit einer rechtzeitigen Behandlung
•sehr oft eine schon schiffbrüchige Existenz dem Leben er-
halten werden kann. Jedenfalls wird man schon aus den bis-
herigen Andeutungen erkennen, daß die psychische Impotenz
in ihrer Tragweite bisher bedeutend unterschätzt wurde, was
vielleicht dadurch zu erklären ist, daß die traditionelle
ruderie von jeher die größte Hemmung bei der Erkenntnis
und Behandlung dieser Zustände gebildet hat.
1*
•*:,
I
I.
Anamnese und Symptomatologie.
Die Klagen der vielen Patienten., die uns wegen Störungen
der Potenz aufsuchen, sind gar mannigfacher Art. Die einen
erzählen, sie merkten, daß die Potenz schon seit langer Zeit
nl7r h n SU* laSSG; «*■*** «anz gut, sei sie all-
mählich schlechter geworden: die Erektion nicht mehr kräftig
genug die Ejakulation entweder vorzeitig, seltener auch vor
zögert. Die anderen bringen uns Klagen mehr spezieller Art-
Erektion und Ejakulation seien ziemlich normal, doch voll-
ziehe sich der Koitus ohne Wollustgefühl i). Andere wieder be-
richten daß der Verkehr mit gewissen Frauen, worunter
meist die eigenen gemeint sind, wenig genußreich sei, wäh-
rend er mit anderen Frauen ausgeübt, volle Befriedigung
gewahre*). Dieser Zustand wird für die Patienten namentlich
dann zur Veranlassung quälender Gefühle, wenn es sich zeigt
daß es oft gerade minderwertige Frauen sind, bei denen sie
am besten reüssieren. Die Dirne bietet ihnen den Genuß der
ihnen bei der anständigen Frau versagt bleibt. Aber auch das
Gegenteil ereignet sich. Ein Ehemann verkehrt mit der Gattin
recht und schlecht, versucht er aber einmal einen Seiten-
sprung so erlebt er eine peinliche Blamage, selbst wenn ihm
dieser Gegenstand des Interesses begehrenswerter erscheint ah
die eigene Frau. Andere wieder fühlen sich sonst potent
scheiternder bei der Möglichkeit des Verkehres mit einer"
Potent, V a gl a d o. neUeSten UnterSUChUn S en Reichs «« ^ „orgastische
») Ferenczi, Zur Psychoanalyse von Sexualgeirohnheiten. Internat
/eitschr. f. Psychoanalyse, Bd. XI, 1925.
-■ ™ ^^iWBMun
I. Anamnese und Symptomatologie.
o
unierthrten Jungfrau. Ein nicht seltener Typ ist ,1er M
der wohl mit jeder Frau anstandslos verkehr , d,' i '
st, daß far ,hn nächstens nur wieder eine andere in Belrach
kommt. Be, der zweiten ergeht es ihm nicht hesser e, 1,
«* stets nach einem neuen Objekt (Don-Juan-Ä
bnnem anderen gelingt der Verkehr „„Ämter gewissen Be'
mgnnge» d,e wieder mannigfachster Art »eiu'fcZ^ Ge
stall, Haarfarbe, Kleidung, Geruch, Gang usw. spielen dabei
eme große Rolle. Selbstverständlich kommen auclfc ie psvehb
chen Einschalten in allen ihren Varianten in Betrac
Umweg der Perversen s.ch geschlechtlich betätigen können:
Lw*^ r US ' „ M t° chismus - Exhibitionismus, Fetischismus
gewährt d,e volle Befragung, die auf dem normalen Wege
el, r ," g f iStl) ' Ei " er anderen Kale 8°'' ie wo Pa-
te eu gohngt der Koitus nur mit Benützung von Hilfs-
vo^tellungen mannigfachster Art. So konnte z. B einer
2*fa d!''pf , " e " K ° itUS mr dan " aus£ühre ". we ™ er
zvarTn 7 aS ' e alS Wei " eiBem Weib0 «Wenflbe,, und
Zu hiL ! ' P f ""a R0 " e Sah ' Andere müsse " sadistische.
Wa um "' r , • Und ahnliChe Pha ' ÜaSiei1 z « HOfe nehmen,
forde," ch 1 ? ST"- e ' ne SpeZ " isChe Hilfsvorstelhmg er-
SS sei i nn ?' W ' r "" aaderer Stelk auseinandersetzen,
ür L s*t °" J 1 vm "^no mm en, daß die Begründung
to Ä" en d 'r T?*"** in engem Zusammen"
Die Zahl de "•! Ualerlebnissen dieser Patienten steht.
■—MlÄSRSSSi* ^- Abweichen vom „ ormalo „
Porvers» zu JLpJe. ^0? "T ''" •** *" *"
"
6 I. Anamnese und Symptomatologie.
jedoch stets in dem Augenblick im Stiche läßt, wenn er sie
am notwendigsten braucht, nämlich in der Gegenwart des
Weibes.
Es wird auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen,
daß manche der oben angeführten Typen in die Impotenz
eingereiht wurden, doch muß, in der Theorie wenigstens,
daran festgehalten werden, daß der gesunde Mann seiner
Potenz im gegebenen Falle sicher sein muß. Ist doch der
Koitus eigentlich ein Rückenmarksakt, bei dem die Betätigung
der Phantasie möglichst ausgeschaltet werden sollte.
a) Organische Symptome.
Nicht alle Patienten mit Störungen der Potenz, die uns
aufsuchen, fallen gleich mit der Tür ins Haus, sondern sie
bringen uns, teils absichtlich, teils unabsichtlich, anderweitige
Klagen vor, aus denen der Kenner erst Störungen der Potenz
erschließen muß. Hieher gehören die Klagen über Schlaflosig-
keit, über Beschwerden von Seiten des Herzens, über Magen-
und Darmstörungen, namentlich habituelle Obstipation, mannig-
fache Harnbeschwerden (Brennen während und nach der
Miktion, Nachträufeln), verschiedenste periodisch auftretende,
meist juckende Hautkrankheiten, gelegentlich auch Juckreiz
ohne sichtbare Dermatosen, Kopf- und Rückenschmerzen,
Augenflimmern, Ohrensausen; kurz der ganze neurasthenische
Symptomenkomplex wird vom Patienten abgeleiert. Auffallend
daran und zugleich ein Hinweis auf die nicht organische
Veranlassung dieser Beschwerden ist entweder das völlige
Fehlen von objektiv nachweisbaren Symptomen oder das krasse
Mißverhältnis zwischen diesen und den subjektiv oft sehr
bedeutenden Beschwerden. Der Arzt, der sich mit Freuds
epochemachenden Arbeiten auf dem Gebiet der Neurosenlehre
vertraut gemacht hat, weiß, daß jede nicht organisch be-
gründete Beschwerde des Patienten für ihn den strikten An-
laß bildet, sich mit dessen Sexualfunktion eingehend zu be-
schäftigen. Wenn in herkömmlicher Weise ein Patient nach
a) Organische Symptome. 7
eingehender Untersuchung vom Arzte den Bescheid erhält:
„Ihnen fehlt ja nichts, alle Ihre Organe sind gesund, Ihre
Beschwerden sind rein nervös", so ist dem Patienten damit,
eigentlich nur sehr wenig gedient. Gar mancher sagt darauf
in der oder jener Form: „Es wäre mir lieber, ich hätte ein
organisches Leiden und keine Beschwerden, ich wäre besser
daran als jetzt, da ich angeblich gesund bin und unaufhörlich
leide." Außerdem hat der Arzt in diesem Falle das be-
schämende Gefühl, dem Patienten nicht helfen zu können,
denn er weiß ganz gut, daß alle die vielen Prozeduren, die
er in solchen Fällen zu verordnen pflegt, von den Medika-
menten nicht zu sprechen, entweder gar keinen oder nur
einen vorübergehenden Erfolg haben, meistens nur so lange,
als die vom Arzte ausgehende suggestive Beeinflussung des
Patienten dauert. Nach einiger Zeit versagt diese, der ge-
quälte Kranke geht zu einem anderen Arzt, worauf sich das
liebliche Spiel mit Grazie wiederholt. Ist der Patient auf
diese Weise einigemal enttäuscht worden, so kommt er auf
die Idee, überhaupt, unheilbar zu sein und ein geheimes Leiden
zu besitzen, da er sich nicht gut vorstellen kann, daß es
Beschwerden ohne organische Veranlassung gebe. Man be-
merkt auch stets bei Patienten dieser Art eine gewisse Re-
signation, die nicht frei ist von einer Geringschätzung des
Arztes und der gesamten medizinischen Wissenschaft, die
seiner Ansicht nach seinem Leiden noch nicht gewachsen
ist. Der Arzt, der sich die Freudsche Auffassung zu eigen
gemacht hat, ist in einer weit glücklicheren Lage als der-
jenige, der mit den psychoanalytischen Gesichtspunkten nicht
vertraut ist. Er geht zielbewußt auf die eigentliche Krankheits-
ursache los, stellt präzise Fragen nach dem Sexualleben des
Patienten und kann stets von neuem wieder die Erfahrung
machen, daß er dabei einen Punkt berührt, an den keiner
seiner Vorgänger gedacht oder den er höchstens nur kurz ge-
streift hat. Und wenn er auch nicht stets die Genugtuung er-
fährt, gleich im ersten Augenblick alles vom Patienten zu er-
fahren, bei dem ja die üblichen Widerstände eine sofortige.
8 I. Anamnese und Symptomatologie.
freie Aussprache nicht zulassen, so erkennt er doch an dem
Benehmen des Patienten, daß er den Nagel auf dem Kopf ge-
troffen hat. Der Patient hinwiederum, der schon nahe am
Verzweifeln war, gewinnt neue Zuversicht, da er den gefühls-
mäßigen Eindruck hat, daß eine nach solchen ganz neuen Ge-
sichtspunkten geleitete Behandlung ihm endlich Heil und Ge-
nesung bringen werde.
Hat der Arzt einmal das Vertrauen des Patienten ge-
wonnen, so bringt dieser bereitwillig immer neues Material
als Stütze für eine sexuelle Ätiologie seiner Krankheils-
symptome. Das ist auch sehr notwendig, denn der Patient
ist beim besten Willen nicht in der Lage, bei einer kurzen
erstmaligen Besprechung sich an alles zu erinnern, was in
dieser Hinsicht von Belang ist. Gar viele Ärzte, die von der
neuen Wissenschaft etwas läuten gehört haben und auch
modern sein wollen, erhalten auf die schüchtern gestellte
Frage, ob in sexueller Hinsicht alles in Ordnung sei, häufig
beruhigende Auskünfte und registrieren gewissenhaft: „In
sexualibus nicht abnorm", schalten also bei dem betreffenden
Falle die sexuelle Ätiologie aus. Daß bei dieser oberflächlichen
Methode Fehldiagnosen auf der Tagesordnung stehen, braucht
nicht erst bewiesen zu werden. Nur dem mit der Methode
und Technik der Psychoanalyse Vertrauten wird es gelingen,
des erforderlichen Materials habhaft zu werden und die nicht
immer einfachen Zusammenhänge aufzudecken.
b) Psychische Symptome.
Die soeben besprochenen organischen Masken weisen
immerhin noch Merkmale auf, die den Zusammenhang mit
Störungen der Sexualfunktion auch dem minder Geübten ver-
raten können. Anders steht es mit den psychischen Ver-
kleidungen, unter denen diese Störungen aufzutreten pflegen.
Allerdings wird der erfahrene psychoanalytisch geschulte
Arzt, schon wenn er die Tür zu seinem Wartezimmer öffnet,
in dem Gesichtsausdruck der draußen Harrenden lesen können.
^-
^
b) Psychische Symptome. y
Er wird Schüchternheit, Kleinmut, Zerfahrenheit, Zweifel,
Angst, Melancholie in allen ihren Schattierungen vorfinden.
Die Unzulänglichkeit der Sexualfunktion tritt eben je nach
dem Temperament des Menschen in den verschiedensten
psychischen Formen zutage. Aber allen Patienten gemein-
sam ist das Gefühl der Minderwertigkeit, allen gemein-
sam auch das Gefühl, mit ihrer Krankheit vereinzelt zu sein.
Der Grund hiefür ist, daß alle, die sich so minderwertig
fühlen, ihren Zustand streng geheimhalten, so daß einer
vom anderen nichts erfährt. Wie erstaunt und zugleich einiger-
maßen beruhigt sind diese Unglücklichen schon, wenn man
ihnen allen Ernstes versichert, daß sie sehr viele Genossen
ihres Leidens haben. Allen gemeinsam ist die Neigung zur
Hypochondrie, da sie sich aus ihren vielseitigen Sym-
ptomen die mannigfachsten Leiden konstruieren. Patienten
dieser Art halten sich stets für schwer krank, meist für
rückenmarkleidend, und viele von ihnen sind sicher, einer
Psychose zu verfallen. Zu den inneren Motiven dieser Er-
scheinung tritt als äußere Veranlassung die allenthalben leicht
zugängliche pseudowissenschaftliche Literatur, die die Folgen
sexueller Ausschweifungen in den schwärzesten Farben schil-
dert. Jeder ist sich im geheimen dieser Ursache seines Leidens
wenigstens teilweise bewußt und glaubt nun, einem traurigen
Schicksal entgegenzugehen. Der Patient ist ja überzeugt, daß
sein ganzes Leiden die Folge der vielen eingebildeten Sünden
ist, die er seit frühester Jugend begangen hat. Er weiß nicht,
daß er sich damit in einer großen Gesellschaft befindet und
daß ihn nicht das „Vergehen" an sich krank gemacht hat,
sondern die besondere Wirkung, die es auf ihn übte. Wir
werden in den folgenden Kapiteln sehen, daß dieses „Ver-
gehen" bei weitem nicht die Bedeutung besitzt, die ihm von
den Patienten und leider auch noch immer von vielen Ärzten
zugeschrieben wird. Gleichwohl wird es nicht unangebracht
sein, das Onanieproblem an dieser Stelle zu erörtern 1 ).
i) Vgl. „Die Onanie". 14 Beiträge zu einer Diskussion der Wiener
Psychoanalylischen Vereinigung (Bergmann, Wiesbaden 1912).
lü I. Anamnese und Symptomatologie.
Die Onanie tritt eigentlich als eine physiologische Sexual-
betätigung von der frühesten Kindheit bis etwa zum fünften
Lebensjahre in Erscheinung und setzt in der Pubertätszeit
neuerlich ein. In der Zeit vom fünften Lebensjahre bis zur
Pubertät („Latenzzeit") wird sie normalerweise nicht geübt.
Von der infantilen Onanie und ihrer Bedeutung für die indi-
viduelle Sexualentwicklung wird später die Rede sein. Hier
soll nur vorweggenommen und ausdrücklich betont werden,
daß trotz der häufigen gegenteiligen Einstellung der Eltern
und Pädagogen die Onanie an sich weit weniger Schaden
stiften kann, als ihre gewaltsame Unterdrückung. Als relativ
unschädlich! kann man jene Onanie bezeichnen, die nach der
Art ihrer Betätigung den normalen Geschlechtsakt, imitiert
und zum Inhalt ihrer Phantasien das normale Sexualziel hat.
Als schädlich kann man folgende Abweichungen vom
geschilderten Typus ansehen:
1. Ungewöhnlich lange Dauer der Onanie. In diesem Falle
wird sie auch während der Latenzzeit nicht unterbrochen, oft
auch durchs ganze übrige Leben für sich allein oder neben
der normalen geschlechtlichen Betätigung fortgesetzt.
2. Onanie an einer Stelle, die nicht der normalen „Leit-
zone" entspricht, also nicht an der Eichel oder am Schaft
des Gliedes erfolgt, sondern an der Peniswurzel, am Hoden-
sack, durch Quetschen des Gliedes zwischen den Ober-
schenkeln usw.
3. Ersatz der die Onanie begleitenden Koitusphantasien
durch masochistische, anale, urethrale und andere nicht geni-
tale Phantasien.
4. Onanie, deren Betätigung mit starkem Schuldgefühl
einhergeht, dessen Herkunft später besprochen werden soll.
Onanisten vom zuletzt geschilderten Typ leiden unter
allerhand quälenden Vorstellungen, so ist z. B. oft die bei
vielen Patienten vorhandene Meinung, durch fortgesetzten Miß-
brauch eine Verkleinerung der Genitalien herbeigeführt zu
haben, eine Quelle des sexuellen und allgemeinen Minder-
wertigkeitsgefühles. Das Bewußtsein, ein geheimes Laster zu
_
b) Psychische Symptome.
11
treiben, das einem jeder leicht von den Augen ablesen könne,
ist eine der häufigsten Ursachen der Schüchternheit und
Menschenscheu. Um nicht entlarvt zu werden, gelangen
sie schließlich dahin, den Menschen überhaupt auszuweichen,
wobei als kleiner Nebengewinn die weitere ungestörte Aus-
übung ihres Lasters resultiert. Ferner- wird der ewige Kampf
gegen die eingewurzelte Übung durch seine Aussichtslosigkeit
zur Quelle von Unsicherheit und Energielosigkeit. Ander-
seits wird gelegentlich der mit übermenschlicher Kraft er-
zielte Bruch mit der alten lieben Gewohnheit zur Veran-
lassung der Angst. Ist der Patient durch soziale Umstände
genötigt, sich selbst zu überwinden und den Verkehr mit
der Umwelt aufrechtzuerhalten, so gerät er durch Über-
kompensation leicht in den Anschein, einen Trotz und ein
Selbstbewußtsein zu besitzen, die ihm innerlich vollkommen
fremd sind. Es ist klar, daß er auch diese schwierige Rolle
nur mit seelischen Schädigungen durchführen kann. Eine Zeit-
lang mag dies gelingen; er wird die nur ihm bekannten Mängel
durch übertriebene Pedanterie, Ordnungsliebe, Rechtlichkeit,
und ethische Betätigung wettzumachen suchen. Auf die Dauer
aber vermag auch die größte Selbstbeherrschung den schließ-
lichen Zusammenbruch nicht aufzuhalten. Diese wenigen Bei-
spiele mögen zeigen, wie mannigfaltig die Masken sind, unter
denen die gestörte Sexualität ihr wahres Gesicht verhüllen kann.
II
Ätiologie.
Es scheint auf den ersten Blick nicht sehr aussichtsvoll,
die unter dem Namen der psychischen Impotenz zusammen-
gefaßten Zustände ätiologisch zu differenzieren. Wir werden
als vorläufige Ätiologie, um uns möglichst allgemein auszu
drucken, die mit unserem Kulturlehen zusammenhängenden
Schädlichkeiten hinstellen müssen, die von Jugend auf die
sexuelle Entwicklung beeinflussen. Da wir nun wissen, daß
— wenigstens eine Zeitlang — fast alle Menschen diesen
Schädlichkeiten in größerem Maße unterworfen sind, ernst-
liche Schädigungen der Potenz aber nur bei einem Teile vor-
kommen, so bleibt nichts übrig, als eine besondere Dispo-
sition bei diesem Teile der Menschheit anzunehmen.
Wenn wir nun unsere Patienten auf diese Disposition
hin ansehen, können wir sie zwanglos in drei Kategorien
gruppieren: je nachdem, ob die Disposition 1. angeboren,
2. in der frühesten Kindheit oder 3. erst im Verlauf
des späteren Lebens erworben wurde. Die erste Gruppe
unserer Patienten ist gewiß schon von Geburt an minderwertig.
Inwiefern dabei die Heredität mitspielt, ist nicht leicht fest-
zustellen, doch war ich in einer größeren Zahl von Fällen in
der Lage, Syphilis der Eltern entweder nachzuweisen oder
aus Folgekrankheiten zu erschließen. Die Minderwertigkeit
zeigt sich im gesamten Habitus (Schwächlichkeit, Neigung
zu Rhachitis, adenoiden Vegetationen im Nasen-Rachenraum,
habitueller Obstipation, einer ungewöhnlich langen Dauer der
^m
II. Ätiologie.
13
Enuresis noct. usw. 1 ). Späterhin sind die Knaben schwächlich,
zeigen bei sonst gut entwickelter Intelligenz nicht die gewöhn-
liche Lebhaftigkeit ihrer Altersgenossen, meiden die wilden
Spiele derselben., zeigen mit einem Worte Charakterzüge, die
sich dem weiblichen Typus nähern. Merkwürdigerweise ver-
raten diese in so mancher Hinsicht zurückgebliebenen Menschen
deutliche Symptome von sexueller Frühreife. Was dar-
unter zu verstehen ist, läßt sich schwer wissenschaftlich aus-
drücken, doch müssen wir uns nach dem heutigen Stande,
der Wissenschaft vorstellen, daß diese Frühreife in Störungen
der innersekretorischen Verhältnisse ihre Begründung findet 2 ).
Diese Störungen regen die noch unentwickelten Genitalorgane
zu einer vorzeitigen Funktion an, die im Mißverhältnis zu
ihrer anatomischen Entwicklung steht. Sie allein können uns
eine befriedigende Erklärung für den Typus des kindlichen
Sexualneurasthenikers geben, der vom normalen Kinde
so verschieden ist. Es ist weiterhin klar, daß die durch vor-
zeitige innere und auch äußere Reize erschlafften Keimdrüsen
des Neurasthenikers auch in der Pubertät ein von der Norm
abweichendes Verhalten aufweisen. Tritt der normale Orga-
nismus in die Pubertät ein, so vollzieht sich eine fast plötz-
liche Hypertrophie eines bis dahin nahezu rudimentären
Organs; beim Neuras theniker erfolgt die Entwicklung mehr
verlangsamt, während wir den normalen Menschen fast über
Wacht reif werden sehen. Der Neurastheniker war nie ein
Kind, er wird auch nie ein Mann. Die Pubertät ist bei ihm
gewissermaßen protrahiert (verlangsamtes Wachstum der
Scham- und Barthaare, verlangsamtes Mutieren usw.), die
Flegeljahre dauern bei ihm länger, er ist empfindlich und reiz-
bar, ein Kind mit den Allüren, Begierden und Neigungen
eines Mannes. Die chronisch hyperämisierten Genitaldrüsen
des Neurasthenikers versagen auch in der Pubertätsperiode so-
wohl in b ezug auf die Funktion, als auch in bezug auf die
!) Vgl. Alfred Adler, „Studie über die Minderwertigkeit von Organen"
(Urban & Schwarzenberg, Wien-BerUn 1907).
2 ) Biedl, „Innere Sekretion", 1910.
14 U. Ätiologie.
Hormonenbildung. Es ist nach diesen Voraussetzungen ohne-
weiters klar, daß in solchen Fällen Schädlichkeiten früher auf-
treten und auch eine größere Wirkung haben müssen als
in normalen 1 ).
Bei der zweiten Kategorie von Patienten sind die Be-
dingungen, die zur Impotenz führen, in frühester Kind-
heit, bei den Patienten der dritten Kategorie erst nach Ein-
tritt der Pubertät erworben. Zwischen diesen beiden
Kategorien besteht aber kein prinzipieller Unterschied, dem)
die beiden Formen differieren nur ätiologisch, nicht aber
klinisch. Wir sind tatsächlich berechtigt, die erste Kindheit
— wir verstehen darunter das Alter bis zum 5. bzw. 6. Lebens-
jahr — als eine besondere Epoche in sexueller Hinsicht zu
betrachten, wie die Untersuchungen in Freuds „Abhandlungen
zur Sexualtheorie" beweisen. Die Eindrücke aus dieser Zeit
sind ja, wenn sie auch späterhin in unserem bewußten Denken,
eine auffallend geringe Rolle spielen, ausschlaggebend für
unsere ganze fernere Entwicklung und ganz besonders in
sexueller Hinsicht. Jedenfalls bekommt der Geschlechtstrieb
der meisten Menschen in dieser Epoche Form und Rich-
tung.
Da wäre zunächst der autoerotischen Betätigungen des
Säuglings zu gedenken, der nicht nur aus den der Nahrungs-
aufnahme und den Ausscheidungsvorgängen dienenden, son-
dern auch aus allerhand aktiven und passiven Muskelaktionen
*) Psychoanalytische Untersuchungen von Freud, Abraham, Sadger
und vielen anderen haben ergeben, daß ein gewisser Teil dieser Erscheinungen
auf frühinfantile Erlebnisse und spezielle Bedingungen der Sexualentwick-
lung zurückzuführen ist. So wird z. B. die dispositionell gegebene Enuresis
noctura gesteigert und festgehalten, wenn sie sich in den Dienst gewisser
infantiler Wünsche stellt. Ferner haben die neuesten Untersuchungen Freuds
über die Entwicklung des Charakters ergeben, daß die weibliche Haltung von
Knaben durch fehlerhafte psychische Identifizierung entstehen kann. (Vgl.
Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, Ges. Sehr., Bd. VIII,
und Das Ich und das Es, Ges. Sehr., Bd. VI.) Man wird also daran denken
müssen, daß auch die vererbte Disposition Anhaltspunkte in der individuellen
Entwicklung braucht, um sich entfallen zu können.
IL Ätiologie. -je
(Lutschen, wiegenden Bewegungen des Kopfes, rhythmischem
Zusammenpressen der Beine, Schaukeln der Wiege usw.) und
aus den mit der Pflege zusammenhängenden Manipulationen
(Bädern, Irrigationen, Reinigung nach Harn- und Stuhl-
entleerung) einen Lustgewinn zu ziehen weiß. Diese prä-
genitalen Lustakte sind, wemi das Kind sich ungestört
entwickelt, das Vorspiel zur infantilen genitalen Onanie, eine
notwendige Etappe der kindlichen Sexualentwicklung und von
großer Wichtigkeit für die Etablierung des „Primats der
Genitalzone" 1 ), das ums 1 bis 5. Lebensjahr, nicht, wie
ursprünglich angenommen, erst in der Pubertät zustandekommt.
Dieser normale, gesetzmäßige Ablauf der kindlichen Geni-
talitäl kann unter gewissen Umständen eine Hemmimg im
Sinne einer Fixierung auf der prä genitalen Stufe er-
fahren, z. B. durch übermäßige Beachtung der analen und
urethralen Funktionen des Kindes, durch allzu intensive Pflege-
und therapeutische Maßnahmen, durch Zärtlichkeitsbezeigun-
gen, die den betreffenden Körperteilen oft nur allzu liebreich
zugedacht werden, endlich aber auch durch rohe Behandlung
des Kindes wegen urethraler und analer Vergehen. Es ist
wohl ohneweiters klar, daß die gewaltsame Unterdrückung
dieser beim Kinde lustbetonten Funktionen in ihrer Trag-
weite der gewaltsamen Unterdrückung der genitalen Onanie
gleichzusetzen ist. Solche auf prägenitaler Stufe in ihrer
Sexualentwicklung gehemmten Kinder gehören, wenn sie bei
entsprechender Disposition impotent werden, zu jenem ganz
bestimmten schweren Typ von Neurotikern analen, femininen,
masochistischen Charakters 2), die, wie wir später sehen
werden, auch bei sorgfältiger Behandlung schlechte Chancen
i) Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 5. Aufl., 1922 (Verlag
F. Deuticke) und
Ferenczi, Versuch einer Genitaltheorie. Int. Psychoan. Verlag 1924.
2) Vgl. Abraham, Ejaculatio praecox. Internat. Zeitschr. f. Psycho-
analyse, IV, 1917, und
Reich, Über die chronische hypochondrische Neurasthenie. Internat.
Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. XII, 1926.
Iß IL Ätiologie.
haben, geheilt zu werden. Denn sie haben, wenn es auch
durch die Analyse gelingt, ihre libidinösen Strebungen frei-
zumachen, keine Aussicht, sie zu realisieren.
Wir wollen uns nun mit den weiteren Schicksalen be-
schäftigen, die der Libido des Kindes durch die Beziehungen
zu seiner Umgebimg (Eltern, Geschwistern, Erziehern) er-
wachsen können, und sind damit bei dem wichtigsten Motiv,
sozusagen dem Motiv par excellence, der psychischen Im-
potenz angelangt, nämlich bei dem Inzestmotiv. Wir ver-
stehen darunter die Fixierung der kindlichen Libido an Eltern,
Geschwistern und anderen Personen der Umgebung, die dem
Kinde als Stellvertreter blutsverwandter Personen imponieren
können. Das Kind kennt nämlich keinen Unterschied bei seinen
Sympathiebezeigungen, es vermag zwischen den zwei Formen
von Liebe, die sich beim Erwachsenen als Sexualgefühl einer-
seits, als ideale Liebe anderseits differenzieren, noch nicht zu
unterscheiden. Das Kind kennt nur einen Wunsch, das ge-
liebte Objekt zu besitzen, ob es sich nun um eine Sache oder
eine Person handelt, und es betrachtet demgemäß alles, was
sich diesem Bestreben entgegenstellt, als einen schweren Ein-
griff in seine Rechte. Es ist daher sowohl seine Neigung zum
geliebten Objekt als die Abneigung gegen den Störer seines
Liebesglückes mit schweren Affekten besetzt. Das erste Objekt
der Liebe ist notwendigerweise für jeden Knaben zunächst,
die Mutter, die ihn mit großer Zärtlichkeit nährt, pflegt und
schützt, und demgemäß gehört auch ihr seine ganze Neigung.
Er will sie voll und ganz für sich haben. Tritt da zunächst
der Vater als Nebenbuhler um die Liebe der Mutter auf den
Plan — und die instinktive Eifersucht des Kindes sieht in ihm
bald den begünstigten Nebenbuhler — , so ist die nächste Folge
eine starke affektive Abneigung gegen den vermeintlichen
Störer seines Glückes, die sich bis zum Vaterhaß steigern
kann. Diese Konstellation erinnert an das Motiv der Ödipus-
sage, in welcher bekanntlich der Sohn den Vater tötet und
die Mutter heiratet. Auf einer späteren Altersstufe gelangt das
Kind durch Kultur- und Erziehungseinflüsse zur Erkenntnis,
IL Ätiologie. 17
daß seine bisherige Einstellung zu den Eltern eine unrichtige
gewesen sei, und hebt die ursprüngliche, ausgesprochen sinn-
liche Neigung zur Mutter auf das höhere Niveau der konven-
tionellen Kindesliebe. Seine sinnlichen Gefühle lernt er in
Hinkunft anderen Objekten zuwenden, bei denen er mit den
herrschenden Moralgesetzen nicht in Kollision gerät. Dies
ist der normale Vorgang. Andere Individuen aber bringen das.
nicht ohneweiters zustande. Wenn der Moment gekommen
ist, ihre sinnliche Neigung von der Mutter abzulösen,
so bringen sie das nur in der Weise zustande, daß sie
ihre gesamte Liebesfähigkeit zugleich mit aufgeben
müssen und sozusagen das Kind mit dem Bade ausschütten.
Sie haben wohl die erotische Neigung zur Mutter verdrängt,
aber zugleich auch ihre ganze Sexualität 1 ). Dies ist das ge-
wöhnliche Paradigma für die Entstehung der psychischen
Impotenz auf Grund infantiler Sexualeindrücke. Was von der
Mutter gilt, muß man natürlich mutatis mutandis auf die
Schwester anwenden; allerdings ist sehr oft die Neigung
zur Schwester schon etwas Sekundäres und bedeutet eigent-
lich einen Ersatz des anstößigen Inzests durch einen weniger
anstößigen. Anderseits ereignet sich auch der Fall, daß das
gänzliche Fehlen der Schwester oder ein großer Altersunter-
schied, der praktisch so ziemlich dasselbe bedeutet, für den
Knaben späterhin zum Verhängnis werden kann. Denn dieser
Mangel scheint mir oft die Veranlassung dafür abzugeben, daß
die Patienten auch im späteren Leben nicht das richtige Ver-
hältnis zum Weibe finden. Das Weib wird für sie schon in
jungen Jahren zum Mysterium. Sie gelangen demnach nie-
mals zu seiner richtigen Einschätzung, sondern stets zur
Über- oder Unterschätzung des anderen Geschlechtes. Für
sie ist das Weib entweder eine Heilige oder eine Dirne.
!) Manche Patienten gehen nicht so weit, sondern wenden sich bloß
von dem Weibe ab und dem Manne zu. Als unbewußtes Motiv dieser
Flucht in die Homosexualität findet sich in der Analyse gewöhnlich
eine schwere Enttäuschung, die in früher Kindheit an der Mutter erlitten
wurde (Freud, Sadger).
Steiner, Die psychischen Störungen. 3. Aufl. 2
lg IL Ätiologie.
Bei der Entstehung der Impotenz durch inzestuöse
Fixierung kommt noch ein zweites Motiv in Betracht, dem
Freud und seine Schule die gleiche ätiologische Bedeutung
für die Entstehung der Neurose überhaupt beimessen wie dem
Inzestmotiv. Der Knabe, der die Mutter begehrt und den Vater
als Nebenbuhler haßt, produziert Phantasien mit dem Inhalt,
ihn zu beseitigen 1 ). Aus diesen beiden Strebungen, dem Inzest-
wunsch, der sich auf die Mutter, und dem Todeswunsch,
der sich gegen den Vater richtet, resultiert die Angst, dafür
bestraft zu werden. Das Organ, an dem die Strafe vollzogen
werden soll, ist das Genitale. Die Analysen von Neurotikern
zeigen, warum die Angst sich gerade auf dieses Organ kon-
zentriert. Das Kind macht nämlich, wie schon früher erwähnt,
im kritischen Alter zwischen dem 3. und 5. Lebensjahre eine
Phase genitaler Masturbation durch. Diese entspringt lokalen,
physiologischen Reizen, wird aber vorwiegend durch die Inzest-
phantasien, die sie begleiten, fixiert. Mit der genitalen Onanie
verbindet sich das Schuldgefühl aus dem Inzestkomplex.
Dieses in Verbindung mit dem Verhalten unvernünftiger Eltern,
die dem Kinde, wenn sie es bei der Onanie ertappen, mit Ab-
schneiden des Gliedes, Abhacken der Hände oder anderen
Gewaltmaßnahmen drohen, legt zunächst den Grund zu der
so folgenschweren Kastrationsangst. Dadurch, daß die
Kastrationsdrohung vom mächtigen und gefürchteten Vater
ausgeht und auf ein bereits vorhandenes Schuldgefühl stößt,
verstärkt sich die Angst um den Verlust des Gliedes noch ganz
besonders. Behalten solche Knaben die Fixierung an die
Mutter noch über die Pubertät hinaus, so werden sie auch
die Kastrationsangst nicht los. Als Impotente zeigen sie dann
charakteristische Haltungen. Sie begehren verheiratete Frauen,
schrecken aber, wenn sie Entgegenkommen finden, davor
zurück, die letzte Konsequenz zu ziehen. Dagegen sind sie
gelegentlich imstande, ihre Sinnlichkeit bei der Dirne zu be-
friedigen, weil hier die Inzestscheu nicht in Betracht kommt * J ).
i) Vgl. hiezu Freud, Totem und Tabu. Ges. Sehr., Bd. X.
s ) Freud konnte jedoch zeigen, daß unter gewissen Bedingungen auch
i*
IL Ätiologie.
19
Als Abkömmlinge der Kastrationsangst, finden sich ferner
nicht selten bei später impotent Gewordenen Ekel und Ab-
scheu vor dem Koitus überhaupt, übertriebene Angst vor In-
fektionen (Syphilidophobie), religiöse und moralische Hem-
mungen u. a. m.
Kastrationsangst kann nach Freud auch ohne vorange-
gangene Kastrationsdrohung Zustandekommen, und zwar auf
folgende Weise: Der Knabe schreibt, ehe er an Schwestern
oder Gespielinnen den Geschlechtsunterschied wahrgenommen
hat, gewöhnlich auch dem weiblichen Geschlecht den Besitz
eines Penis zu, und erschrickt über den vermeintlichen Defekt,
wenn er das weibliche Genitale zum erstenmal erblickt. Sehr
häufig entsteht dadurch bei ihm die Ansicht, daß dem Mädchen
das Glied weggeschnitten worden sei, weil es „schlimm" war,
d. h. ebenso mit dem Gliede gespielt habe wie er. Charakte-
ristische Haltungen mancher Impotenter entsprechen diesen
frühinfantilen Eindrücken. Sie empfinden auf Grund ihrer
unbewußten Vorstellungen 1 ) beim Anblick der weiblichen Ge-
schlechtsteile Unlust, Abscheu wie vor einer offenen Wunde,
aber auch eine unerklärliche Angst, die sie von einer An-
näherung abhält, wie wenn in der weiblichen Scheide etwas
Gefahrbringendes sei, das etwa nach dem Gliede schnappe.
Die Angst vor dem weiblichen Genitale kulminiert gelegent-
lich in der Vorstellung einer „vagina dentata", die das Glied
abbeißen könnte 9 ).
Inzestscheu und Kastrationsangst sind somit die
wesentlichsten Motive der Impotenz. Gelegentlich sind sie
bei der Dirne die Inzestscheu ihre hemmende Wirkung entfalten kann. Vgl.
Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens II. Ges. Sehr., Bd. V.
i) Die Idee, daß die Frau kastriert sei, wird in manchen Fällen durch
ein unbewußtes Festhalten an der Überzeugung, daß sie doch ein Glied habe,
wettgemacht. Diese Vorstellung, die sich gelegentlich auch im Traume durch-
setzt, erweist sich natürlich auch als Hemmung beim Verkehre.
2 ) Als Pendant hiezu findet sich bei frigiden Frauen der unbewußte
Wunsch, das Glied des Mannes bei sich zu behalten, ein Wunsch, der im
Vaginismus körperlich in Erscheinung tritt.
2*
20
II. Ätiologie.
aber nicht direkt als Hemmung wirksam, sondern machen sich
in der Weise geltend, daß durch sie Triebkräfte geweckt werden,
die mit der genitalen Strebung erfolgreich konkurrieren. So
fungieren als Hemmungen auch verdrängte homosexuelle
Regungen, koprophile Neigungen usw., in der frühesten Kind-
heit erlebte Attentate, deren Opfer der Patient geworden ist,
selbst Attentate, die in Wirklichkeit nie stattgefunden haben,
sondern erst unter dem Einflüsse von während der Pubertät
empfangenen Eindrücken in die Kindheit projiziert worden sind.
Die Patienten selbst sind sich dieses Mechanismus
nicht bewußt; im Gegenteil schieben sie gerne aktu-
elle Momente in den Vordergrund und wollen diesen
die ganze Schuld an ihrem Leiden beimessen. Hieher
gehört die große Armee derjenigen, die aus Furcht vor In-
fektion, aus Mangel an Gelegenheit, aus falsch verstandener
Ethik zu den abenteuerlichsten Surrogaten des normalen Koitus
getrieben werden. Hieher gehören die Verlobten, die lange Zeil
abstinent sind, dagegen sich allen frustranen Erregungen
hingeben, die Ehemänner, die aus Angst vor Nachkommen-
schaft dem Coitus interruptus huldigen, ferner die Opfer allzu
anspruchsvoller Gattinnen ebenso gut wie die, die das Malheur
haben, auf eine natura frigida zu stoßen; viele junge Leute
der guten Gesellschaft, die aufregende Verhältnisse mit Demi-
viergen unterhalten, endlich die Opfer der modernen Abstinenz-
bewegung: kurz alle diejenigen, die der Natur in weitem
Bogen aus dem Wege gehen. Doch muß man nochmals be-
tonen, daß die angeführten Motive nur scheinbar als letzte
Ursachen der eingetretenen Potenzstörung anzusehen sind. Ein
genaues Eingehen auf den Fall wird stets zeigen, daß auch
bei den scheinbar aus nur aktuellen Anlässen Erkrankten
Zusammenhänge mit den früher erwähnten infantilen Kom-
plexen unschwer nachzuweisen sind.
Wie kommt es nun, daß anscheinend normale Lebens-
bedingungen, die ja in der Entwicklung jedes Menschen vor-
zufinden sind, bei manchen zur Entstehung der psychischen
Impotenz führen, während die meisten Menschen trotz alle-
•—» -. - — ■ -am. , jy
II. Ätiologie.
21
dem von diesen Schädlichkeiten unberührt bleiben und im
entsprechenden Moment auch ihr normales Sexualziel er-
reichen? — Wir müssen ja annehmen, daß die große Masse
derer, die da leben und lieben, ohne jemals ärztlichen Bei-
stand aufzusuchen, aus allen Schäden der Kinderzeit — auch
aus dem Inzestkomplex — , auch aus allen Schäden der
Pubertät heil hervorgegangen sind. Bei den Patienten, die
wir in die erste Kategorie eingereiht haben, also bei den
von Geburt an Minderwertigen, ist es ohne weiteres klar,
daß sie den Anforderungen auch des normalen Sexual-
lebens nicht gewachsen sind. Sie vertragen nicht die von
den Normalen anstandslos geübte Masturbation, sie vertragen
ebensowenig den normalen Sexualakt. Die weiblichen Patien-
ten dieser Kategorie vertragen nicht die physiologische Men-
struation, auch nicht die Strapazen der Schwangerschaft.
Während der Sexualakt das normale Individuum befriedigt,
ja sogar erfrischt, werden die erwähnten Patienten davon in
mehr weniger hohem Grade alteriert und brauchen Stunden,
oft Tage, bis sie wieder körperlich und seelisch ins Gleich-
gewicht kommen. Bis dahin machen sie einen Zustand durch,
den man nicht anders als neurasthenisch bezeichnen kann
und für den Ferenczi mit Recht den glücklichen Namen
„Einlagsneurasthenie" geprägt hat.
Nicht ohne weiteres aber ist es klar, warum die Patienten
der zweiten und dritten Kategorie., anscheinend normal
veranlagte Menschen, durch Einflüsse der Erziehung oder
stärkere Beanspruchungen sexueller Natur, die ja auch
anderen Menschenkindern nicht erspart bleiben, insuffizient
werden. Wir werden eben nicht umhin können, auch für diese
beiden Kategorien von Patienten eine gewisse Disposition an-
zunehmen. Nicht so stark allerdings, wie bei den Patienten
der ersten Kategorie, die schon von Geburt an die Stigmen
der Minderwertigkeit aufweisen, doch immerhin ausreichend
genug, um früher oder später die Erkrankung herbeizuführen.
Allerdings könnte man behaupten: Wären diesen Patienten, bei
denen wir eine sozusagen leichtere Disposition annehmen,
22
II. Ätiologie.
Schädigungen der genannten Art in der Kindheit erspart wor-
den, hätten kluge Eltern mit psychologischem Blick nicht durch
übergroße Zärtlichkeit, gelegentlich auch durch übermäßige
Strenge, Anlaß geboten, hätten einsichtige Erzieher sich diesen
meist verschlossenen Naturen liebevoller gewidmet, so wären
sie sicherlich unversehrt bis an die Pforten der Pubertät ge-
langt. Leichter wäre es schon gewesen, sie durch die Ge-
fahren der Pubertät hindurchzubringen, da in dieser Zeit der
Mensch bereits selbst Verständnis genug hat, um mit einiger
Nachhilfe aktuellen Schäden auszuweichen. In den Fällen der
ersten Kategorie bringt die Disposition unter Mithilfe nur ge-
ringfügiger individueller Erlebnisse das zustande, was in den
übrigen Fallen den verschiedenen psychischen und physischen
1 räumen der Kindheit bei nur geringer Disposition gelingt.
Man wird also Fälle unterscheiden müssen, bei denen der
Disposition die bestimmende Rolle, den Erlebnissen nur die
Rolle von Gelegenheitsursachen zuzuschreiben ist, und andere,
bei denen die frühinfantilen Erlebnisse mit Hilfe einer relativ
geringen Disposition die Erkrankung verursachen, während die
Erlebnisse nach der Pubertät bloß als Gelegenheitsursachen zu
werten sind. So wird man, um eine Analogie aus dem Gebiete
der organischen Erkrankungen heranzuziehen, bei der Tuber-
kulose in dem einen Falle dem asthenischen Habitus, in
anderen Fällen der Infektionsgelegenheit und den sozialen
Verhältnissen die bestimmende Rolle beim Zustandekommen
der Krankheit zuschreiben.
III.
Diagnose.
Die Diagnose der psychischen Impotenz an sich unterliegt
kaum je irgend einer Schwierigkeit. Die Angabe einer mangel-
haften oder fehlenden Erektion, einer vorzeitigen, verzögerten
oder ausbleibenden Ejakulation, einer fehlenden orgastischen
Befriedigung, oder die Angabe des Vorhandenseins von sonst
kräftigen, aber in der Gegenwart des Weibes versagenden
fcreküone.i, das absolute Fehlen irgend einer anatomischen
Anomalie reichen hm, um die Diagnose zu sichern. Sehr
häufig findet sich als einziges objektives Symptom eine mit
der Knopfsonde nachweisbare Hyperästhesie des prostatischen
Teiles der Harnröhre, ohne daß bei der endoskopischen Unter-
suchung auch nur ein Katarrh dieser Stelle nachzuweisen
wäre. Es ist ganz gut denkbar, daß diese Hyperästhesie in
vielen Fallen als rein psychisches Symptom aufzufassen ist,
als Analogen zur hochgradigen Empfindlichkeit gegen taktile
Reize, die wir als „Kitzlichkeit" bezeichnen und die ja be-
kanntermaßen an den verschiedensten Haut- und Schleimhaut-
l)art,en auftreten kann. Die psychischen Symptome, die uns
das diagnostische Bild vervollständigen helfen, oft für sich
allem auf die Spur des Leidens führen, sind Legion Wie
wir bereits in dem der Anamnese gewidmeten Kapitel dargelegt
haben, bringen uns die Patienten die Diagnose nicht gerade
immer auf dem Präsentierteller dar. Sie leiden an allem Mög-
lichen: an Schlaflosigkeit, Vergeßlichkeit, Zerstreutheit und
ähnlichen Störungen, die sich bis zur Arbeitsunfähigkeit
steigern können. Sie erzählen von Kopfdruck, hartnäckiger
Obstipation, quälendem Harndrang, gehäuften Pollutionen,
24
III. Diagnose.
Parästhesien in Armen und Beinen, Kreuzschmerzen, Augen-
flimmern, Ohrensausen; sie schildern uns detailliert ihre
Magen- und Darmbeschwerden (Zungenbelag, Aufstoßen, Blä-
hungen, Appetitlosigkeit, Schmerzen, die nicht selten eine
Appendizitis vortäuschen), die man ohne weiteres versucht
wäre, als selbständige Krankheit aufzufassen, würde nicht bei
eingehendster objektiver Untersuchung — auch mit Röntgen-
strahlen — ein absolut negativer Befund resultieren. Man
untersucht sie nach allen Regeln der Kunst, macht Funk-
tionsbestimmungen, chemische Untersuchungen des Magen-
saftes, auch die Rektoskopie wird herangezogen, und man
muß zum Schluß gestehen, daß man für die Schmerzen, das
Erbrechen, das „Nichtvertragen" aller möglichen Speisen, so
gut wie gar keinen Anhaltspunkt findet. Andere Patienten
wissen von Herzbeschwerden zu erzählen, von Herzklopfen,
Arhythmie, Schmerzen in der Herzgegend, Beklemmungs-
gefühlen und stenokardi sehen Anfällen: ein schweres Krank-
heitsbild, bei dem die eingehende Untersuchung gleichfalls zu
keinem Ergebnis führt. Es wäre zu weitläufig, alle die Er-
scheinungen aufzuzählen, die ich in einem früheren Kapitel
als Masken der Impotenz bezeichnet habe. Allen diesen Zu-
ständen ist nur das eine gemeinsam, daß die Schwere der
subjektiven Erscheinungen in einem grellen Mißverhältnis zum
objektiven Befund steht. In allen diesen Fällen wird man kaum
je fehl gehen, wenn man mehr weniger schwere Schädigungen
der Potenz annehmen wird. Allerdings darf man sich nicht
bei einer oberflächlichen Frage nach der Sexualfunktion, noch
weniger bei der Antwort des Patienten beruhigen, daß alles in
Ordnung sei. Die anamnestischen Angaben der Patienten, die
ja auch sonst nicht immer ganz verläßlich sind, erweisen sich
in diesem Punkte fast stets als lückenhaft oder entstellt.
Manchmal mit Absicht, manchmal auch unabsichtlich. Alle
Beschwerden vertraut der Patient rückhaltlos seinem Arzte
an, nicht aber die sexuellen. Auch weniger feinfühlige Naturen
gehen nicht gern auf dieses peinliche Thema ein, da außer
der konventionellen Prüderie ein instinktives Unbehagen sie
•
III. Diagnose.
25
davon abhält. Sache des Arztes ist es nun, das Vertrauen
des Patienten zu gewinnen, ihm entgegenzukommen, sozusagen
goldene Brücken zu bauen, ihm mit einem Worte das Geständ-
nis aller dieser peinlichen Dinge leicht zu machen. Er wird
nicht etwa mit sittlichem Pathos nach sexuellen Verfehlungen
inquirieren; — die brüske Frage nach der Masturbation z. B.
wird bekanntlich stets mit einem ebenso brüsken Nein be-
antwortet. — Er wird im Gegenteil durch ein diplomatisches
Vorgehen — naturalia non sunt turpia — die Zunge des
Patienten lösen, sein Herz erleichtern und von ihm in wenigen
Minuten das erfahren, was dem rücksichtslosen Draufgänger
nimmer zuteil werden wird. Noch besser ist es, wenn der
erfahrene Praktiker, ohne eine Frage an den Patienten zu
stellen und ohne ihn viel reden zu lassen, in wenigen Worten
das mutmaßliche Krankheitsbild selbst skizziert — auf die
Gefahr hin, daß das eine oder andere Detail nicht zutrifft.
Der Patient wird stets aus dem Gesagten etwas herausfinden,
das bei ihm zutrifft, das Fehlende bereitwillig ergänzen. Man
merkt an dem Aufleuchten der Augen, daß der Patient glück-
lich ist, jemand gefunden zu haben, der ihn so gut versteht,
als ob er ihn schon lange kennte. Er ist auch glücklich,
jemand gefunden zu haben, mit dem er über die Dinge
sprechen kann, die er vor allen verbergen mußte und die er
sich selbst nicht einzugestehen wagte. Er ist kein Ausge-
stoßener mehr, kein Verbrecher, der das Licht des Tages zu
scheuen braucht. Das Material strömt dann oft so reichlich,
wie der Eiter aus einem schon überreifen Abszeß; die Erleich-
terung tritt in gleicher Weise ein. Hat man auf diese Weise
einiges über die aktuellen Schäden erfahren, deren sich der
Patient bewußt ist, so darf man sich freilich auch damit
noch nicht begnügen. Es ist zwar viel, aber es ist doch erst
der Anfang. Man wird erstaunt sein, wenn man schon nach
der ersten Ordination alles zu wissen glaubte, bei jeder fol-
genden noch weit mehr zu erfahren. Gerade die Fälle, in
denen der Patient so viel und so bereitwillig erzählt, sind
offenbar die leichteren. Man darf daher nicht den Fehler
I
26
III. Diagnose.
begehen, aus dem Umstand, daß nur Weniges und dies wider-
willig vorgebracht wird, auf einen nicht schweren Fall zu
schließen. Man kann im Gegenteil erwarten, daß dort, wo
die größten Widerstände zutage treten, auch schwere psy-
chische Konflikte zu finden sein werden. Das sind die Fälle,,
in denen man mit Erfolg nach weit zurückliegenden, bis in
die allererste Kindheit reichenden Veranlassungen suchen
wird.
■
--i-;*
IV.
Prognose und Therapie.
Die Prognose richtet sich ganz präzise nach der Ätiologie,
die wir im voranstehenden aufgestellt haben. Die ungün-
stigste geben die Fälle der ersten Kategorie, bei denen
angeborene Umstände als verursachende Momente anzu-
sprechen sind. Patienten dieser Gattung werden kaum je eine
absolute Potenz gewinnen, außer wenn sie die Chance haben,
auf ein Wesen zu stoßen, das durch seine Veranlagung sozu-
sagen auf sie geeicht ist. Steht ein solcher Patient vor der
Ehe, so werden wir uns nicht leicht entschließen können, sie
ihm anzuempfehlen, da wir nicht wissen, ob seine Erwählte
ihm adäquat ist. Oft genug werden solche Menschen in der
Ehe erst recht unglücklich. Ich erinnere mich lebhaft an
einen Herrn, der ein junges hübsches Mädchen, allerdings
ohne Neigung, heiratete und diesem gegenüber völlig impotent
war. Gleichzeitig war er aber vollkommen potent seiner Köchin
gegenüber, von der ich nur weiß, daß sie von geringer Intelli-
genz, dagegen von energischem Charakter war. Der Patient
kam in größter Seelenpein zu mir, da die ihm aufgezwungene
Unaufrichtigkeit gegen seine Frau sowie das Gefühl, sein
eigenes Haus zu beschmutzen, für ihn höchst deprimierend
war. Er war sonst völlig gesund, dagegen hereditär belastet,
ein Bruder von ihm hatte durch Selbstmord geendet. Ich
konnte ihm keinen besseren Rat geben, als das Verhältnis
fortzusetzen, jedoch außer Hause, um so wenigstens einen
Teil der Hemmung zu eliminieren. Indem also die Therapie
sein Vergehen sanktionierte, beruhigte sich sein Gewissen.
Seine Stimmung schlug der Frau gegenüber in Mitleid um,
28 IV. Prognose und Therapie.
das sie ihm einigermaßen sympathisch, ihn seihst ihr gegen-
über wenigstens ah und zu potent machte. Da in diese Kate-
gorie von Patienten unter anderen auch alle Fälle von psycho-
sexuellem Zwittertum (Krafft-Ebing) gehören, wird auch bei
diesen die Prognose nur bedingungsweise günstig sein, wenn es
nämlich gelingt, durch aufmerksame Analyse des Patienten
seine jeweilige Liebesbedingung zu eruieren und die ent-
sprechenden Ratschläge zu geben.
Die Prognose der zweiten Kategorie ist unter Um-
ständen eine günstige. Jedoch nur dann, wenn es gelingt,
die im Unbewußten schlummernde, das Sexualleben
beherrschende Vorstellung in die bewußte Empfin-
dung zu rufen. Das ist mitunter leicht, sehr oft aber äußerst
schwierig und nur vom gewiegten Psychoanalytiker bei hin-
gehendster Arbeit erreichbar. Es läßt sich nach den neuesten
Untersuchungen 1 ) ganz allgemein sagen, daß jene Fälle die
günstigsten sind, die in der Kindheit die genitale Stufe der
Libidoentwicklung (Freud) erreicht haben, dagegen jene eine
zweifelhafte oder ungünstige Prognose geben, die, wie im
Kapitel „Ätiologie" besprochen wurde, diese Stufe der kind-
lichen Genitalität durch irgend eine Hemmung unvollständig
oder gar nicht erreicht haben. Die Patienten der dritten
Kategorie, die ihre Impotenz scheinbar nur einer in späteren
Lebensepochen eingetretenen Schädlichkeit verdanken, geben
eine fast ausnahmslos günstige Prognose. Es handelt
sich da um Patienten, bei denen die Konstitution relativ gut
war und bei denen Schäden in der Kindheit nicht in Er-
scheinung getreten oder ohne Folgen geblieben sind. Erst das
Hinzukommen von allerhand Schädlichkeiten während und
nach der Pubertätsepoche hat die Krankheit manifest werden
lassen. Das sind die Fälle, in denen auch der psychoanalytisch
weniger Geschulte wird Erfolge aufweisen können, da die
Beseitigung der aktuellen Schädlichkeiten oft hinreichen wird,
die Sympt ome zum Schwinden zu bringen. Aber selbst bei
*) Reich, Über Genitalität vom Standpunkte der psychoanalytischen
Prognose und Therapie. Internat. Zeitschr. f. Psychoanalyse, Bd. X, 1924.
±
IV. Prognose und Therapie. 29
den schwereren Fällen dieser Kategorie wird es der Analyse
leicht gelingen, durch Bewnßtmachung der Hemmungen die
genitalen Strebungen wieder den realen Objekten zuzuführen.
Es ist nach dem vorher Gesagten ohne weiteres klar, daß die
Therapie bei der ersten Kategorie nicht allzuviel leisten kann,
aus dem Grunde, weil sie gegen konstitutionelle Momente
schwerlich anzukämpfen vermag. Bei der dritten Kategorie
wird die Behandlung nicht allzuviel leisten müssen, da sie
eigentlich eine mehr suggestive sein wird. Die Domäne der
psychischen Behandlung dagegen sind die Fälle der zweiten
Kategorie, welche allerdings auch die weitaus häufigsten sind.
Es wäre zu weitläufig, wollte ich an dieser Stelle die ganze
Methode und Technik der Psychoanalyse erörtern. Ich ver-
weise diejenigen, die sich auf diesem Gebiet gründlich infor-
mieren wollen, auf die Arbeiten Freuds, die dieses Thema
behandeln. Doch soviel muß, um einer weitverbreiteten irr-
tümlichen Auffassung dieser Methode zu begegnen, hier gesagt
werden, daß die Behandlungsmethode keineswegs auf Sugges-
tion beruht. Der Arzt hat dabei dem Patienten nichts ein-
und nichts auszureden. Es handelt sich im wesentlichen
darum, den Patienten zum Reden zu bringen. Er soll
durch geeignete Mittel in die Lage versetzt werden, über sich
zu sprechen, alles zu sagen, selbst wenn es ihm „Schimpf
und Schande" bringen könnte, die Dinge auszusprechen, die
er sich eben denkt, auch wenn sie banal sind und in einem
anderen Falle der unerbittlichen „Zensur" zum Opfer fielen.
Außerdem muß er für alle wichtigen, aber auch scheinbar
minder wichtigen Vorfälle seines Lebens ein sehr gutes Ge-
dächtnis haben. Er muß sich an viele nichtige Begebenheiten
seiner Jugend und seiner Kindheit erinnern; nichts ist unbe-
deutend, mag es noch so belanglos scheinen. Es zeigt sich
häufig, daß gerade die vom Patienten als unwesentlich be-
zeichneten Einfälle sich bei näherer Betrachtung als äußerst
wertvoll erweisen. Denn von diesen scheinbar bedeutungslosen
Erinnerungen führen assoziative Brücken zu anderen, die ver-
möge des an ihnen haftenden Affektes sehr wohl die
m§
30 IV. Prognose und Therapie.
Veranlassung schwerer psychischer Hemmungen wer-
den konnten. Außerdem muß in Betracht gezogen weiden,
daß Begebenheiten, die dem Erwachsenen nichtig scheinen,
zur Zeit, als das Kind sie erlebte, einen ganz beträchtlichen
Affektwert besaßen. Uns allen ist ja geläufig, daß die Ein-
drücke der Kinderzeit weit lebhafter und nachhaltiger sind
als die jeder folgenden Lebensperiode. Es darf uns somit
nicht wundernehmen, daß uns das Erforschen der unbe-
wußten, verdrängten Regungen stets, wenn auch auf Um-
wegen, in die erste Kindheit führt. Auf Umwegen deshalb,
weil wir zunächst oft auf Begebenheiten einer relativ nicht
weit zurückliegenden Epoche stoßen, die im ersten Augen-
blick eine ätiologische Wichtigkeit zu haben scheinen. Diese
Begebenheiten erweisen sich aber fast stets als die Kulisse,
hinter der sich der Blick auf Bedeutsameres eröffnet. Wir
bezeichnen Erinnerungen solcher Art als Deckerinnerungen.
Nach Hinwegräumung all des Erinnerungsschuttes, den die
vielen Jahre aufgehäuft haben, kommt man stets auf das solide
Fundament, auf den eigentlichen Kern der Neurose, der uns
die Triebe in ihrer primitiven Form zeigt, gleichsam wie sich
in der Chemie die kompliziertesten Verbindungen bei fort-
schreitender Analyse stets auf einfachste Elemente zurück-
führen lassen.
Die Zugänge zum Unbewußten der Seele sind gar man-
nigfacher Art. Neben den bereits erwähnten Einfällen des
Patienten kommen als Quellen noch Träume und Symptom-
handlungen 1 ) in Betracht. Über die Bedeutung des Traumes
braucht an dieser Stelle nichts gesagt zu werden. Das Thema
ist ja seit Freuds grundlegenden Forschungen so gut wie
abgeschlossen 2 ). Es soll davon hier nur so weit die Rede
sein, als die speziellen Verhältnisse der psychischen Impotenz
es erfordern. Das Grundmotiv der Träume aller psychisch
Impotenten ist die Unzulänglichkeit, die in der oder jener
J ) Siehe Freud, „Zur Psychopathologie des Alltagslebens". 4. Aufl
Berlin 1912.
2 ) Freud, „Die Traumdeutung", 7. Aufl., 1922 (Verlag F. Deuticke).
••*=c
IV. Prognose und Therapie. 31
Form, mehr oder weniger maskiert, stets zum Ausdruck kommt.
Allerdings muß man sich die Grundprinzipien der wissenschaft-
lichen Traumdeutung so weit zu eigen gemacht haben, daß man
hinter dem scheinbar absurden (manifesten) Trauminhalt
mittels der Deutungstechnik das treibende (latente) Motiv
aufzudecken vermag. Es gibt eine Unzahl von typischen
Traumbildern, hinter denen sich die oben erwähnte Un-
zulänglichkeit verbirgt. Hieher gehören die Prüfungsträume,
die Flug- und Fall träume, verschiedenste Formen des
Angsttraumes (Angst vor Mördern, Einbrechern, Unmög-
lichkeit zu schreien oder sich zu bewegen, mißglückte Ver-
suche, sich mit oder ohne Waffe zur Wehre zu setzen, Un-
möglichkeit irgend ein Objekt zu erreichen usw.). Neben diesen
Träumen, die noch eine relativ nahe Beziehung zur Unzuläng-
lichkeit verraten, gibt es eine ganze Reihe anderer, die ihren
Inhalt nur nach schwerer Deutungsarbeit offenbaren. Wesent-
liche Unterstützung dabei gewährt uns die Kenntnis gewisser
mit typischer Bedeutung wiederkehrender Traumelemente, die
wir als Symbole bezeichnen. Diese sind jedem geläufig, der
sich einigermaßen mit Traumdeutung beschäftigt hat und sind
in großer Zahl von den Erforschern dieses Gebietes, allen
voran Freud, dann aber auch Stekel, Riklin, Abraham,
Jung, Rank u. a. in unermüdlicher Arbeit festgestellt worden.
Doch ist das Thema nicht abgeschlossen und namentlich noch
von Seite der Mythologen und Folkloristen einer Ergänzung
zugänglich 1 ). Es sind meist Symbole, die irgend eine Bezie-
hung zum männlichen oder weiblichen Genitale oder deren
Funktionen haben. Es ist nun interessant zu sehen, wie sich
gerade in den Träumen, die die Patienten mit maliziösem
Lächeln als vollkommen asexuell ausgeben, das peinliche
Thema oft am schönsten durchzusetzen weiß. Ich hatte, wie
schon öfters, Gelegenheit, in einer kleinen Gesellschaft über
die Freudsche Traumdeutung zu diskutieren, wobei sich
*) Eine experimentelle Bestätigung der Symbolik erbrachte kürzlich
Dr. Karl Schrot ter (Wien), worüber er im Zentralbl. f. Psychoanalyse,
II. Jahrg., S. 638 ff., berichtet hat.
32 IV. Prognose und Therapie.
Anhänger und Gegner die Wage hielten. Unter den letztge-
nannten replizierte einer besonders scharf: „Ach was, das
Ganze ist ja Unsinn! Ich habe seit Jahren von Zeit zu Zeit
immer wieder denselben Traum, an dem ich die Unrichtigkeit
der Theorie beweisen kann. Wie erklären Sie es, daß mir
immer träumt, ich werde aus Religion geprüft und bekomme
die Note Nichtgenügend, während ich in Wirklichkeit aus
diesem Gegenstand stets die Note Vorzüglich hatte?" Es war
nicht schwer, dem unvorsichtigen Frager unter vier Augen
nachzuweisen, daß die Angst vor der Impotenz beim Zustande-
kommen dieses Traumes die Hauptrolle gespielt hatte. Ich
konnte dies mit um so größerer Sicherheit tun, als die Be-
mäntelung der sexuellen Unzulänglichkeit mit religiösen, ethi-
schen und ähnlichen Motiven ja auch dem Nichtanalytiker
sehr geläufig ist. Jedes zweite Wort des Impotenten lautet:
Ich bin viel zu anständig, ein Mädchen oder eine Frau zu
verführen usw. — Ein anderer Bekämpfer der Freudschen
Wunscherfüllungstheorie gab folgenden Traum zum besten:
„Mir träumt stets, ich steige mit einer Leiter auf Dächern
herum, was mir in Wirklichkeit doch nie eingefallen ist!"
Genaue Kenner der persönlichen Verhältnisse dieses Herrn
konnten ein Lächeln schwer unterdrücken, als sie sich dessen
erinnerten, daß der in Betracht kommende Herr von kleiner
Statur war, dagegen eine Gattin hatte, die ihn an Größe
beträchtlich überragte. Für Impotenz sprechen auch manche
Träume von schlechten Erwerbs- und Geschäftsverhältnissen,
um so beweisender, wenn hiezu der aktuelle Anlaß fehlt. Oft
wird das sexuelle Symbol aus dem Berufskomplex genommen :
So können Ingenieure vom Versagen komplizierter Maschinen,
Beamte von Anständen im Dienste beim Verkehr mit Vor-
gesetzten, Schauspieler vom Steckenbleiben, andere von Bla-
magen ähnlicher Art träumen. Häufig bringen die Träume
erregte Kampf- und Streitszenen, die leicht als Abweisung
oder Umkehrung von Selbstvorwürfen zu deuten sind, die
sich solche Patienten stets über die Veranlassung ihrer
sexuellen Unzulänglichkeit au machen pflegen. Der Tenor
IV. Prognose und Therapie. 33
solcher Träume ist stets ungefähr der: Hättest du dich nicht
so vielen Ausschweifungen und Perversionen ergeben, so
stünde es heute um deine Potenz besser. Hieher gehören
auch Träume, die in mehr weniger verhüllter Symbolik die
Kastrationsangst 1 ) der Patienten zum Ausdruck bringen.
Solche Träume führen in die früheste Kindheit und beleuchten
das Verhältnis zu Vater und Mutter als letzte Veranlassung
der heutigen Leiden. Nur erscheint der Vater einmal als
Kaiser, ein anderesmal als Bürgermeister, Direktor, Lehrer,
kurz unter der Maske irgend einer Respektperson; ähnlich
die Mutter in irgend einer nicht schwer zu deutenden Ver-
kleidung. Auch der Arzt hat nicht selten die Genugtuung,
im Traume des Patienten zu erscheinen, meistens als Lehrer
oder Professor, ein Zeichen, wie lebhaft der Gedanke an die
Kur sich auch im Unbewußten durchsetzt, ein Zeichen aber
auch dafür, daß der Patient bei der Bestrebung, sich von alten
Idealen abzulösen, seine Neigung vorübergehend an den Arzt
fixiert, der ihm einerseits die Respektperson verkörpert und
ihm anderseits als Mitwisser seiner intimsten Geheimnisse zum
zärtlich geliebten Freunde geworden ist („Übertragung") So
wünschenswert dies auch ist - ist es doch die Vorbedingung
des Gelingens der Kur - so ist es oft auch die Hemmung, an
der der Fortgang der Behandlung scheitern kann, da der unbe-
wußte Wunsch des Patienten, den vertrauten Freund nicht zu
verlieren, ihn länger als nötig aufhalten kann. Doch wird sich
unter entsprechender Führung des Arztes der Patient dieser
Hemmung stets bewußt und erreicht, nachdem er auch dieses
letzte Hindernis genommen hat, zum Schluß doch stets das
gewünschte Sexualziel: Denn das muß betont werden: die
Fälle von psychischer Impotenz sind glücklicherweise
fast immer dankbare Objekte für die psychoanaly-
tische Behandlung, wobei als begünstigende Momente für
*) Diese kann auch als Todesangst, als allgemeine Katastrophenangst
oder als hypochondrische Angst zum Vorschein kommen (Freud, Das Ich
und das Es, a. a. 0.).
Steiner, Die psychischen Störungen. 3. Aufl. o
34
IV. Prognose und Therapie.
möglichst raschen Erfolg der Kur Jugend und Intelligenz des
Patienten in Betracht kommen.
Die Behandlung der psychischen Impotenz wäre unvoll-
kommen, wenn man sich nicht dessen bewußt würde, daß in
vielen Fällen auch organische Symptome vorhanden sind,
deren Behandlung mit der psychischen Hand in Hand gehen
muß. In diesen Fällen handelt es sich bestimmt um ein so-
genanntes körperliches Entgegenkommen. Bei den Fällen der
ersten Kategorie haben wir ja angenommen, daß die Minder-
wertigkeit der Anlage im Zusammenhang mit sexueller Früh-
reife zu einer vorzeitigen Funktion und relativen Erschöpfung
der Keimdrüsen führen müsse. Bei den Fällen der zweiten
Kategorie, wo schädliche Beeinflussungen der Kinderzeit vor-
liegen, werden sicherlich gleichfalls die Genitalien allzu früh
und über Gebühr beansprucht. Bei den Fällen der dritten
Kategorie endlich kommt es infolge des unnatürlichen oder
abnormen Ablaufs der Sexual Vorgänge zu einer oft durch
Jahre wiederholten übermäßigen Irritation der Sexualorgane,
mit anderen Worten die lange fortgesetzte Onanie, Coitus
interruptus und frustrane Erregungen führen infolge der
steten Wiederholung zu einer allzu häufigen Hyperämisie-
rung, namentlich der Prostata und des prostatischen Teiles der
Harnröhre, welche die Funktion ganz bedeutend beeinträchtigen
können. So wird z. B. die Ejaculatio praecox sehr oft durch die
Überempfindlichkeit (Hyperästhesie) des genannten Teiles der
Harnröhre verursacht.
Wir können mit Recht annehmen, daß die organische
Behandlung unter allen Umständen eine Besserung der
Situation des psychisch Impotenten herbeiführen wird. Sie
wird aber nur in ganz bestimmten Fällen das erwünschte
Resultat ergeben. Nämlich in denen, wo erst unter dem An-
sturm der aktuellen Schädlichkeiten die Krankheit manifest
geworden ist, also bei den Fällen der dritten Kategorie. Bei
diesen kann es gelingen, die entstandenen körperlichen Verände-
rungen zu heilen und den Patienten im Falle der Vermeidung
der genannten Schädlichkeiten in Hinkunft vor einem neuer-
IV. Prognose und Therapie. 35
liehen Rezidive seines Leidens zu bewahren. Das wirksamste
Mittel zur Beseitigung der Hyperästhesie der pars prostatica
urethrae sind dicke Sonden, auch Kühlsonden und andere
hydrotherapeutische Maßnahmen 1 ). Schon nach kurzer
Anwendung dieser Behelfe hören die lange dauernden und
quälenden, aber dabei völlig unzureichenden Erektionen auf,
über die Patienten dieser Art stets im ungeeigneten Moment
verfügen, sowie auch etwa bis dahin bestandene Pollutionen.
Es tritt eine gewisse Beruhigung ein, ein Zustand scheinbarer
Asexualität, der minder intelligente Patienten in große Be-
sorgnis versetzt, da sie nunmehr überhaupt „fertig" zu sein
glauben. Daher tut man gut, schon vor Beginn der Behand-
lung dieses Stadium vorauszusagen. Ist man so weit, dann
tritt die Elektrizität in ihre Rechte, und zwar in Form des
faradischen Stromes, eine Elektrode ins Rektum, die andere
auf den mons veneris. Die nunmehr auftretenden Erektionen
sind viel ausgiebiger, treten zu passender Gelegenheit auf
und werden nicht mehr als unangenehm empfunden. Bis zu
diesem Zeitpunkt wird selbstverständlich strenge Abstinenz
verordnet, nicht nur vom Koitus, sondern auch so weit als
möglich von jeder geschlechtlichen Aufregung, Lektüre von
auch nicht lasziven Büchern, da die erhitzte Phantasie unserer
Patienten zwischen den Zeilen zu lesen versteht. Außerdem
wird die Lebensweise geregelt: Zeitiges Aufstehen, Zimmer-
gymnastik am Morgen, viel Aufenthalt in frischer Luft, aller-
lei Sport, Mäßigkeit im Essen und Trinken, namentlich des
Abends, sorgfältige Regelung des Stuhles sind notwendige
Voraussetzungen der Behandlung. Namentlich das letztere ist
von Wichtigkeit, denn es ist unleugbar, daß die bei sexuellen
Störungen meistens vorhandene Obstipation einen großen Teil
der Beschwerden veranlaßt. Während der ganzen Zeit muß
der Arzt seinen Einfluß aufbieten, um den Patienten von der
*) Siehe Winternitz, „Die Hydrotherapie auf physiologischer und
klinischer Grundlage". 1879. — Ferner Paul Groag, „Über nervöse Funktions-
störungen der männlichen .Sexualorgane' - . Zeitschr. f. physik. u. diälet.
Therapie, Bd. XVI, 1912.
36 IV. Prognose und Therapie.
Ungefährlichkeit und der guten Prognose des Leidens zu
überzeugen und ihm das Vertrauen zu sich selbst wieder-
zugeben. Wichtig ist auch die Voraussage, daß die ersten
Koitus in der Regel nicht glänzend ausfallen, ja sogar ein
kompletter Mißerfolg nicht ausgeschlossen ist. Gelingt der erste
Koitus, so sollen die weiteren Versuche in nicht zu kleinen
Intervallen gestattet werden; inzwischen wird die Behand-
lung, allerdings in immer größeren Intervallen, fortgesetzt.
Der Patient emanzipiert sich vom Arzt auf diese Art nach
und nach, bis er mit dem Eintritt des vollen Erfolges endlich
ganz ausbleibt. Solange der Kranke sich nicht ganz sicher
fühlt, halte ich ihn an, seine Versuche stets bei derselben
Person zu wiederholen, da bei größerer Intimität und nach
längerer Bekanntschaft gewiß viele Hemmungen entfallen.
Manche Patienten reüssieren schwer, weil sie mit kleinen
Ungeschicklichkeiten zu kämpfen haben, namentlich versagt
bei manchen die schon kräftige Erektion in dem Moment, da
sie sich aus der Rücken- oder Seitenlage in die für den Koitus
erforderliche Position zu begeben beabsichtigen, namentlich
aber wenn sie im Begriffe sind, in die Vulva einzudringen.
Ich empfehle derartigen Patienten, sich nicht des zweifellosen
Vorteils zu begeben, der in der weisen Führung von selten
des Weibes liegt. Es mag vielleicht sein, daß die Berührung
mit der Hand den Patienten, die ja bis dahin der Onanie oder
gleichwertigen Erregungen ergeben waren, den Übergang zur
normalen Geschlechtsbetätigung erleichtert. Anders steht die
Sache, wenn wiederholte Versuche mißlingen. In diesem Falle
kann man sicher sein, daß nunmehr, da die organischen
Schäden behoben wurden, eine psychische Hemmung vorliegt.
Von diesem Moment an ist auf die psychische Behandlung das
Hauptgewicht zu legen. Es ist nun sehr interessant zu sehen,
daß der Mißerfolg auch sein Gutes hat, indem der Patient durch
ihn veranlaßt wird, die Bestrebungen des Arztes von nun an
kräftiger zu unterstützen, d. h. in unserem Falle, sich zu
bemühen, psychisches Material in größerer Fülle herbeizu-
schaffen. Die Verzweiflung verleiht ihm offenbar Kräfte, über
IV. Prognose und Therapie. 37
die er für gewöhnlich nicht verfügt. Es ist erstaunlich zu
sehen, daß Patienten, die bis, zu diesem Augenblick spärlich
Einfälle und Träume gebracht hatten, sich nun mit einem
Schlage ändern. Es vergeht kein Tag, ohne daß sie eine
wichtige Kindheitserinnerung oder einen interessanten Traum
brächten. Es zeigt sich jetzt erst in vielen Fällen, daß die
aktuellen Schädlichkeiten, die der Patient als die Quelle seines
Übels aufzufassen geneigt war, eine verschwindend geringe
Rolle spielen in Vergleich zu den tiefer liegenden Ursachen,
die sich ihm nun entschleiern. Der nächste Versuch ist unter
solchen Umständen oft von Erfolg gekrönt. Bleibt er aber aus,
so kann man sicher sein, daß noch psychisches Material unge-
hoben ist, das der Erschließung harrt. Anderseits ist es ver-
blüffend zu sehen, wie nach Eintreten des vollen Erfolges wie
mit einem Schlage die Einfälle, insbesondere die Träume, auf-
hören, wie die bis zu diesem Zeitpunkt so reich fließende
Quelle versiegt. Der Patient hat keinen Anlaß mehr, zu träumen
und zu phantasieren, denn die Wirklichkeit bietet ihm volle
Befriedigung. Wie denn überhaupt sich die Wahngebilde des
Neurotikers nur als unvollkommener Ersatz für das darstellen,
was die Wirklichkeit dem Individuum nicht bietet. Ferner zeigt
sich noch folgendes merkwürdige Verhalten des Patienten,
wenn er den sexuellen Erfolg erzielt hat. Während er bis dahin
sein Leiden für mehr weniger unheilbar, einen Erfolg so gut
wie für ausgeschlossen hielt, tritt mit dem Moment, da dieser
erzielt ist, ein völliger Stimmungsumschwung ein. Er findet
den geglückten Koitus so selbstverständlich, wie ihm früher
das Gegenteil war. Er ist überhaupt geneigt, im Lichte der
Vergangenheit verklärt, die verflossene Krankheit als ein
leichtes Leiden zu bezeichnen, dem er eigentlich nie beson-
dere Bedeutung beigemessen habe. Es sei nur eine „kleine
Nervosität" gewesen, die sich mit der Zeit wahrscheinlich
von selber gegeben hätte und ähnliches mehr. Tritt schon
die Eigenschaft der Kranken, überstandene Leiden zu baga-
tellisieren, bei organischen Erkrankungen hervor, so daß der
Arzt mit Recht von einer physiologischen Undankbarkeit des
38
IV. Prognose und Therapie.
Patienten sprechen darf, so zeigt sich diese Neigung bei den
von psychischer Impotenz Geheilten, wie überhaupt bei allen
geheilten Neurotikern, in verstärktem Maße. Ist der Psycho-
analyse bei sachkundigster und zielbewußter Technik kein
voller Erfolg beschieden, so kann man überzeugt sein, daß
man an konstitutionellen Momenten scheitert, denen schwer
beizukommen ist. Es ist vielleicht zu hoffen, daß bei weiterem
Ausbau der Lehre von der inneren Sekretion und der auf sie
gestützten Therapie auch auf diesem Gebiete einiges zu er-
reichen sein wird. Es wird selbst unter den heutigen Um
standen bei solchen Fällen ein organotherapeutischer Ver-
such nicht ganz aussichtslos sein. Die Erfolge der Behandlung
mit Spermin, Testogan, Testosan, Neosex und vielen anderen
ähnlichen Präparaten in manchen Fällen von neuras thenischen
Krankheitsformen sind ja sicherlich nicht zu bezweifeln.
An dieser Stelle muß auch der Steinachschen Operation
gedacht werden. Da sie noch Gegenstand einer regen wissen-
schaftlichen Diskussion ist, die von Anhängern und Gegnern
mit großer Leidenschaftlichkeit geführt wird, ist ein ab-
schließendes Urteil über sie derzeit nicht möglich. Ihre Wir-
kung im Sinne einer nachhaltigen Beeinflussung des hormo-
nalen Stoffwechsels ist nicht zu bezweifeln. So weit meine
eigene Erfahrung reicht, habe ich fast in allen Fällen, in
denen ich sie Männern der verschiedensten Altersstufen
empfohlen habe, eine günstige Wirkung sowohl in Bezug auf
den Allgemeinzustand als auf die Sexualfunktion konstatieren
können. Ich glaube auch nicht berechtigt zu sein, sie jenen
Patienten zu verweigern, die nach Fehlschlagen der gewissen-
haftesten therapeutischen Bemühungen in ihr die letzte
Heilungsmöglichkeit erblicken.
Zusammenfassend ließe sich meine diagnostisch-thera-
peutische Methode folgendermaßen formulieren: Sind wir in
einem Falle von psychischer Impotenz im Zweifel, in
welche Kategorie er einzureihen sei, so befassen wir
uns vorerst mit den etwa vorhandenen organischen
Störungen. Gelingt es schon dadurch einen Erfolg her-
J
m
IV. Prognose und Therapie. 39
beizuführen, so handelt es sich sicherlich um einen
Fall der dritten Kategorie (mit geringer psychischer
Beteiligung). Tritt der Erfolg erst nach Zuhilfenahme
der psychoanalytischen Behandlungsmethode ein, so
dürfen wir den Patienten als zur zweiten Kategorie
unseres Systems gehörig betrachten. Bleibt der Erfolg
auch nach psychischer Behandlung aus oder tritt er
nur unvollkommen eiiij so werden wir nicht fehlgehen,
den Kranken in die erste Kategorie einzureihen, bei
der es sich vorwiegend um angeborene konstitutio-
nelle Momente handelt. Es ist selbstverständlich, daß die
hier aufgestellten Typen in der Praxis nicht immer rein vor-
kommen und daß viele Krankheitsbilder der einen und der
anderen, mitunter sogar allen drei Kategorien angehören. In
diesem Falle wird uns die Erwägung des Vorwiegens der
einen oder der anderen Ätiologie zweifellos wertvolle Anhalts-
punkte bieten.
v.
Individuelle und soziale Tragweite
der Impotenz.
Im voranstehenden haben wir uns bemüht, das Wesen
der Impotenz zu kennzeichnen, ihre Entstehung, ihre Sym-
ptomatik und Behandlung zu skizzieren. Es erübrigt nun
noch, die Bedeutung der Impotenz für das einzelne Indi-
viduum sowohl als für die ganze menschliche Gesellschaft
festzustellen, anzudeuten, welch ungeahnte Tragweite der Stö-
rung des normalen Ablaufs der Sexualfunktion zukommt.
Es ist ja ganz allgemein bekannt, daß Störungen der Potenz
des Mannes für ihn eine weit größere Bedeutung haben, als
irgend welche andere Störungen seines Wohlbefindens; daß
Krankheiten der Sexualorgane weit schwerer ertragen werden
als andere Krankheiten, daß sie sich weit mehr bemerkbar
machen, als nach dem anatomischen Befund zu erwarten
wäre, daß mit einem Worte ein krasses Mißverhältnis zwischen
dem klinischen Symptom und dem von ihm verursachten
Allgemeinzustand des Patienten besteht. Selbst körperliche
Schädigungen, durch Verletzungen, Infektionen, Neubildungen
hervorgerufen, können sich in dieser Hinsicht mit der Im-
potenz nicht messen, bei der oft gar keine oder nur eine
unbedeutende anatomische Läsion vorliegt. Es machen sich
körperliche und seelische Folgezustände bemerkbar. Zu den
organischen Veränderungen gehören chronisch entzünd-
liche und degenerative Vorgänge sowohl in den peripheren
Genitalorganen als auch in weiterer Folge in den zu ihnen
gehörigen Nervenbahnen und höher gelegenen Zentren. Zu
ihnen gehören weiters Störungen der inneren Sekretion und
— -^_.
V. Individuelle, uiid soziale Tragweite der Impotenz. 41
infolgedessen im ganzen großen Gebiete des sympathischen
Nervensystems. Auch schwere Stoffwechselstörungen, wie zum
Beispiel der nervöse Diabetes, der, gerade im Einklang mit den
neuen Forschungsergebnissen, eher die Folge als die Veran-
lassung von sexuellen Störungen zu sein scheint. In diesem
wie in so manchen anderen Fällen kann man sich des Ein-
druckes nicht erwehren, daß der Körper, dessen Sexual-
funktion erlahmt, seines wirksamsten Schutzes beraubt ist:
er wird zum steuerlosen Wrack. Die Sexualfunktion hat sich,
solange sie unversehrt war, als vorzüglicher Regulator im
somatischen und psychischen Haushalt bewährt; mit ihrem
Versagen kommt es in diesem zur völligen Anarchie. Allgemein
bekannt sind ja die schweren Störungen, die sich im männ-
lichen und weiblichen Klimakterium ergeben. Besonders auf-
fällig sind sie, wenn es beim Manne oder beim Weibe zum
vorzeitigen Klimakterium kommt. In diesem Falle sieht man
oft über Nacht bei noch relativ jungen Individuen Zeichen des
Verfalls auftreten. Es ist gewiß kein Zufall, daß eine Reihe der
schwersten Erkrankungen, z. B. bösartige Neubildungen, mit.
dem Verlust der Geschlechtsfunktion zeitlich zusammenfallen,
des weiteren kein Zufall, daß die Individuen, bei denen solche
Erkrankungen in relativ jungen Jahren eintreten, auch gewöhn-
lich ein vorzeitiges Klimakterium aufweisen. Zu den orga-
nischen Veränderungen dieser Art zählen auch Veränderungen
an der Haut (Runzeln und Welken), das Auftreten einer Reihe
namentlich juckender Dermatosen, Veränderungen im Unter-
hautzellgewebe, Auftreten eines starken Fettansatzes, vor-
zeitiges Ergrauen der Haare und Haarausfall u. a. m. Hieher
gehören auch die relativ häufig auftretenden arteriosklero-
tischen Veränderungen an den Gefäßen und am Herzen.
Ebenso zahlreich sind die psychischen Veränderun-
gen, die mit den Störungen der Sexualfunktion verknüpft
sind. Es ist ja sicher nicht allein im Sprachgebrauch be-
gründet, daß wir im übertragenen Sinne die Fähigkeit, Tüchtig-
keit, die Energieentfaltung, kurz all das, was das Wesen des
Mannes ausmacht, zusammenfassend als „Potenz" bezeichnen.
42 V. Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz.
Es ist daher ebenso erklärlich, daß alle die genannten Eigen-
schaften dort, wo wir von einer Schwächung der Potenz
sprechen, eine bedeutende Einbuße erleiden werden. An die
Stelle des Mutes, der Energie, der Schaffensfreude treten Ver-
zagtheit, Willensschwäche und Ängstlichkeit. Die große Zähig-
keit, die den normalen geschlechtskräftigen Mann über Hinder-
nisse aller Art triumphieren läßt, die ihn alles Ungemach ver-
gessen heißt, die ihn veranlaßt, trotz wiederholter Mißerfolge
sich nicht entmutigen zu lassen, die ihn mit einem Wort be-
fähigt, sich im Kampfe ums Dasein durchzusetzen, weicht
dem Kleinmut und der Resignation. Der Impotente wird ja
wohl gelegentlich einen geistigen Aufschwung nehmen, er wird
vielleicht noch ein oder das andere Mal den Mut der Ver-
zweiflung finden, aber nach einem Mißerfolg unweigerlich in
die tiefste Depression verfallen. Er wird zwischen den beiden
Polen, „himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt", umher-
pendeln. Es ist ein Schwanken an die Stelle der früheren
Stetigkeit getreten, Unsicherheit und Zweifel sind die Merk-
male seiner geistigen Verfassung. Er gleicht dem Spekulanten,
dessen Schicksal durch unberechenbare Zufälle bestimmt wird.
Er verzehrt sich in innerer Unruhe, die er vergebens durcb
äußerliche Vielgeschäftigkeit zu übertäuben sucht. Diese Un-
rast äußert sich in einem gesteigerten Spiel-, Reise- und
Beschäftigungstrieb überhaupt, dem aber das Maß einer ge-
ordneten Tätigkeit fehlt. Er schafft sich stets neue Sensa-
tionen, um sich von den inneren Konflikten abzulenken. Es
darf uns daher nicht wundernehmen, wenn gelegentlich solch
ein Unglücklicher in seiner Verzweiflung seine letzte Energie
zusammenrafft, um sich weiterem Ungemach zu entziehen.
Selbstmord aus diesem Anlaß ist ein keineswegs seltenes
Vorkommnis, wenn auch das eigentliche Motiv nicht immer
einbekannt wird.
Schwer genug sind die genannten seelischen Störungen
schon dann, wenn sie das Individuum selbst betreffen, folgen-
schwerer werden sie noch, wenn der impotent Gewordene
in der Ehe seine Genossin indirekt schädigt. Es unterliegt
V. Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz.
43
wohl keinem Zweifel, daß nicht nur das Fehlen, sondern auch
die Herabsetzung der männlichen Potenz beim Weibe weit-
gehende Folgen nach sich zieht, sei es, daß von vornherein die
normale Geschlechtsempfindlichkeit des Weibes nicht zur Ent-
wicklung gelangt, sei es, daß durch vorzeitiges Aufhören der
Potenz die geschlechtliche Befriedigung des Weibes ausbleibt
und es dadurch zur Entwicklung der verschiedenartigsten
Anomalien kommt. Wir wollen hier nur von jener Form der
Anästhesie des Weibes sprechen, die als direkte Folge der
mangelhaften Potenz des Mannes auftritt und die wir als
relative Anästhesie bezeichnen. Es überschritte den Rahmen
dieser Schrift, alle die Folgeerscheinungen aufzuzählen, die
mit der weiblichen Unempfindlichkeit verknüpft ist, doch ist
es klar, daß sie mit Sicherheit den Zusammenbruch des ehe-
lichen Glückes herbeiführen. Da die Voraussetzungen, unter
denen die Ehe begründet wurde, sich als trügerisch erwiesen
haben, ist sie völlig haltlos geworden. Es schwindet zwischen
den ans gleiche Joch geschmiedeten Genossen jegliche Har-
monie, jegliches Vertrauen, es stellt sich sehr oft zwischen
ihnen unverhohlene Feindschaft ein, die von feiner empfinden-
den Naturen lange bemäntelt und unterdrückt wird, aber gleich-
wohl in gewissen unbewachten Momenten in kleinen Symptom-
handlungen, in Träumen (Todeswünsche) und anderen Äuße-
rungen des Unbewußten für den Kundigen deutlich zum Vor-
schein kommt. Oft ist selbst das Vorhandensein von Kindern
kein ausreichendes Bindeglied für die auseinanderstrebenden
Gefährten. Gelingt es hochkultivierten Eltern, ihre Triebe auf
ein höheres Niveau zu sublimieren, all das, was vom starken
Sexualtrieb übrig blieb, in edle Vater- oder Mutterliebe um-
zuwandeln, so gereicht es doch den davon betroffenen Kindern
nicht zum Vorteil. Es ist eine Elternliebe, die von Übertreibung
und Angst, dem Negativ alles gehemmten Trieblebens, nicht
frei ist und für das Kind statt zur Wohltat zur Plage wird.
Handelt es sich noch, wie in solchen Fällen sehr wahrschein-
lich, um einzige Kinder, so ist der nachteilige Einfluß auf
das Schicksal des Kindes ohneweiters einleuchtend.
44 V; Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz.
Treffen die geschilderten Umstände, wie es heutzutage der
Fall ist, bei einer großen Zahl von einzelnen Individuen zu,
so werden die mit ihnen verbundenen Folgen sich in Erschei-
nungen äußern, die besonders charakteristisch sind und dem
Zeitalter gewissermaßen ihren Stempel aufprägen. Es wird
dem denkenden Beobachter nicht entgehen, daß unserer Zeit,
mehr als jeder früheren, gewisse Eigentümlichkeiten anhaften,
als da sind : ein über das Maß gesteigerter Erwerbs- und Genuß-
trieb, Hang zur Spekulation, d. h. zur Erzielung müheloser
Gewinne in kurzer Zeit, ein allgemein gesteigertes Luxus-
bedürfnis, grenzenloser Egoismus, hypochondrische Angst
vor Erkrankungen aller Art, die oft in Bazillenfurcht ausartet,
Beschränkung der Kinderzahl, die meist fälschlich mit der
Rücksicht auf die Sprößlinge motiviert wird, infolgedessen
eine übermäßige Verzärtelung und unsinnige Überschätzung
der vorhandenen Kinder. Ist es nicht merkwürdig, wie eine
Epoche, die sich mit Stolz das Jahrhundert des Kindes nennt,
die Kinder gar nicht zur Welt kommen läßt! Darin zeigt
sich vor allem die Unaufrichtigkeit dieser Devise und die Be-
mäntelung tiefer liegender uneingestandener Ursachen. Nebst
der unrichtigen Einschätzung des Kindes tritt auch deutlich
eine unrichtige Einschätzung des Weibes in Erschei-
nung. Sie ist ein so auffälliges Zeichen unserer Zeit, daß
es wohl der Mühe wert ist, ihr einige Worte zu widmen. In
Europa, aber noch mehr in Amerika, zeigt es sich, daß die
Frau, der die normale Befriedigung entweder gänzlich versagt
oder nur verkümmert geboten wird, gewisse Charakterzüge an-
nimmt, die ihr eigentlich von Natur aus fremd sind. All das,
was ihr der Mann an den Werten dieser Welt bietet, hat für
sie keinen Reiz, gemessen an dem, was er ihr vorenthält.
Sie hat das Gefühl des Bettlers, dem man statt Brot Steine
bietet. Ihre dadurch hervorgerufene Mißstimmung kommt in
Arroganz, Launenhaftigkeit, „Nervosität" und einer Gering-
schätzung des Mannes zum Ausdruck. Dieser wiederum hat
es schon verlernt, die wahren Beweggründe des Weibes zu
erkennen, trachtet den Unmut durch verdoppeltes Entgegen-
V. Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz. 45
kommen zu beschwören und erreicht damit nur das gerade
Gegenteil. Die Verhimmelung des Weibes ist besonders für
amerikanische Verhältnisse charakteristisch. Der Amerikaner
hat das Weib, das so gern nichts anderes sein möchte, zur
Göttin erhoben. Sie muß wohl oder übel eine Rolle spielen,
die ihr von vornherein nicht zugedacht war, in die sie sich
aber nolens volens hineinfindet. Sie schiebt alle unterdrückten
Triebe sozusagen auf ein Nebengeleise, wird zur Meisterin
in all den Dingen, die nur durch Äußerlichkeiten ihren Ur-
sprung verraten: Sie frönt der Putzsucht, dem Luxus, sie
bringt es zur Vollendung im Flirt, diesem mißratenen Ab-
kömmling des echten Liebesspiels, und straft durch raffinierte
Koketterie den Urheber der ganzen Komödie. Aber all die
Geschäftigkeit, die sie veranlaßt, Betätigungen zu suchen,
die ihr ursprünglich fern liegen (Studium, politische und so-
ziale Wirksamkeit usw;), in nervöser Hast die halbe Welt
zu bereisen und allen Genüssen nachzujagen, ist ihr kein voller
Ersatz. Der Mann hinwiederum findet nicht mehr den Zugang
zu diesem so hochstehenden W r eib. Er flüchtet mit den Resten
seiner Sexualität, deren er sich schämt, zur feilen Dirne, auf
die er alle seine Verachtung lädt. Die doppelte Moral, die
er sich auf diese Weise zurechtgelegt hat, ist eine der Säulen
der nicht nur jenseits des Ozeans herrschenden Prüderie und
Heuchelei, eines der Hauptcharakteristika unserer Zeit. Es
ist unschwer nachzuweisen, daß auch viele andere Erschei-
nungen, die unsere heutige Gesellschaftskultur kennzeichnen,
als da sind: der Hang zur schwülen Erotik im gesellschaft-
lichen Leben, in Kunst und Literatur, das Bedürfnis nach
immer neuen Sensationen und allerhand Nervenkitzel, nur un-
vollkommene Surrogate für unterdrückte gesunde Sinnlichkeit
sind. Auch in anderen Ekstasen, allerlei mystischen und aber-
gläubischen Kulten, die mitunter in wissenschaftlichem, mit-
unter auch in politischem Gewände auftreten (Spiritismus,
Okkultismus, Anarchismus usw.), äußert sich der mißhandelte
und irregeleitete Eros.
Es ist ein wahres Glück, daß jede Versündigung gegen
\
46 V. Individuelle und soziale Tragweite der Impotenz.
die Natur, wenn auch auf Umwegen, aus sich selbst heraus
Abhilfe schafft. Auf dem Wege über das Komplizierte gelangt,
man oft zum Primitiven, und so ist z. B. in unserer Zeil im
Sport, der ursprünglich nervöser Betätigungssucht entsprang,
ein Gegengewicht gegen die allzu weitgehende Überkultur
erstanden. So ist denn zu hoffen, daß diese Rückkehr zur
Natur nicht nur der jetzigen, sondern auch den kommenden
Generationen zum Heile gereichen wird.
Kasuistik.
Im nachfolgenden sollen einige Krankengeschichten vor-
geführt werden, die namentlich auf das psychische Verhalten
der Patienten ein Licht werfen. Selbst diese Kasuistik, die
sich nur auf wenige Fälle erstreckt, die interessanteren, die
ich meiner reichhaltigen Sammlung entnehme, wird zeigen,
welch mächtigen Einfluß die sexuellen Vorgänge auf die
Psyche nehmen. Aber bei aller Verschiedenheit der psychi-
schen Äußerungen findet der Praktiker bei den in Betracht
kommenden Patienten gewisse gemeinsame Merkmale aus-
geprägt. Das auffallendste Stigma ist das Fehlen der für den
Normalen so charakteristischen Aggression. Der Impotente
geht am Weib vorbei, anstatt auf sie loszugehen. Es fehlt
diesen Patienten meistens nicht an Gelegenheit zum Verkehr
mit dem anderen Geschlecht, nur lassen sie sie unbenutzt,
und Begegnungen, die für den normalen Mann zum Ausgangs-
punkt von Abenteuern würden, bleiben bei ihnen ohne weitere
Konsequenzen. Es sind lauter Bomane, die im ersten Kapitel
abbrechen 1 ). Manchmal werden sie trotzdem weitergeführt,
um vor dem entscheidenden Punkte ein jähes Ende zu finden.
Sie haben es in der Kunst, der Entscheidung auszuweichen,
geradezu zur Meisterschaft gebracht. Freilich stellen die Pa-
tienten die Sache meist so dar, als ob der andere Teil im
kritischen Augenblick die Flucht ergriffen hätte. Es ist klar,
daß Männer, die dem Weibe gegenüber ein so maßvolles
Verhalten an den Tag legen, von diesem eine Zeitlang mehr
J ) Es ist nicht uninteressant, daß psychisch impotente Männer sich sehr
häufig gerade zu anästhelischen Frauen hingezogen fühlen.
48 Kasuistik.
geschätzt werden und durch ihre scheinbare Frigidität beim
anderen Teile sexuelle Erregung hervorrufen. So erklärt es
sich, daß gerade die psychisch Impotenten bei den Frauen
die meisten Chancen haben. Freilich wird ihnen der Segen
zum Fluch, wie weiland König Midas.
Fall 1. Offizier. Unvollständige Analyse infolge äußerer
Hindernisse. Impotenz infolge verdrängter Wutregungen gegen
seine Frau, von der er sich nicht mit Unrecht verachtet und
betrogen glaubt, ohne es sich aber einzugestehen, da er sie
aus Opposition gegen sein Elternhaus, seine Erziehung und
seine ganze Vergangenheit geheiratet hat.
Fall 2. Student mit Onaniezwang, der ihn nicht zum
Weibe kommen läßt. Begründung der Onanie durch Trotz
gegen die Eltern, von denen er sich immer zurückgesetzt
glaubt. Er gibt die Onanie nicht auf, weil sie ihn von den
Eltern unabhängiger macht, denen er das zur Befriedigung
seines sexuellen Bedürfnisses nötige Geld nicht abbetteln
will. Große Beschämung in den Pubertätsjahren wegen der
Entdeckung eines sexuellen Attentats auf eine etwas jüngere
Verwandte. Bei den ersten Koitusversuchen erweist er sich
impotent, doch kommt er schließlich im Laufe der Behand-
lung zu einer normalen Potenz.
Fall 3. Philosoph. Besondere Intelligenz und sexuelle
Frühreife. Stark perverse Betätigung in früher Kindheit, be-
sonders Analerotik. Bei Beginn der Behandlung gehäufte Pol-
lutionen, volle Arbeitsunfähigkeit, Klage über Mangel an Be-
ziehung zur Außenwelt, absolute Impotenz trotz ungewöhn-
lich günstiger Verkehrsgelegenheiten. Die Impotenz ist bedingt
durch Fixation an die Mutter, die in besonderer Intimität
mit ihm gelebt hatte. Er wird durch Phantasien beherrscht,
welche an die Entkleidungen der Mutter anknüpfen (Kleider-
fetischismus). Die Libido ging späterhin auf seine um zwei
Jahre jüngere Schwester über. Im Laufe der Behandlung
überwand er bei großer Besserung des Allgemeinbefindens
die Impotenz und brachte es bei mehreren Frauen zu Lei-
stungen, durch welche sich diese höchlich befriedigt: zeigten,
Kasuistik.
49
während er selbst in gewissem Grade anästhetisch blieb. Im
Beisammensein mit der Mutter, nach Abbruch der Behand-
lung, traten die Pollutionen wieder auf.
Fall 4. Großindustrieller. Allmähliche Verschlechterung
einer normal einsetzenden Potenz, bis zum endlichen Ver-
sagen. Fixierung an die Mutter, deren einziges Kind er ist,
Gegnerschaft gegen den Vater. Unzufriedenheit mit der Aus-
sicht, in das Geschäft des Vaters einzutreten. Er gewinnt in
der Kur die volle Potenz wieder und findet sich mit der Not-
wendigkeit ab, die Stelle des Vaters im Geschäft einzunehmen.
Fall 5. Kaufmann, gutmütiger tüchtiger Mann, der mit
34 Jahren geheiratet und bis dahin keinen Koitus versucht
hatte. Volle Impotenz, die durch keinerlei somatische Be-
handlung beeinflußt werden konnte. Kräftige Erektionen stellten
sich während der vierjährigen Ehe nur ein, wenn die Frau
die Periode hatte, und zur Zeit, als ihr wegen einer gynäko-
logischen Operation der Verkehr untersagt wurde. Seine
sexuelle Befriedigung erzielte er bis zur Heirat durch Mastur-
bation, geknüpft an eine Phantasie, in welcher er sich unter
allerlei Zeremoniell von Frauen abschlachten ließ 1 ). Die Ent-
wicklung dieser masochistischen Phantasie reicht bis in die
Vorpubertät zurück; sie stellt eine Reaktion auf frühzeitige
sadistische Regungen dar. Dazwischen läuft eine Geburts-
phantasie, in der er das Weib (die Mutter) darstellt. Er war
schon als kleiner Knabe an die Mutter fixiert und von dem
strengen Vater übermäßig eingeschüchtert. Seit der Heirat hat
er die Onanie aufgegeben. Zum Versuch mit anderen Frauen
ist er nicht bereit.
Fall 6. Advokat. Begabter, aber sehr zerfahrener Mann,
mit bewegtem, an bunten Abenteuern reichem Vorleben.
Wiederholte Gonorrhöe, außerordentliche Phantasietätigkeit,
unmäßige Onanie, die durch sexuellen Verkehr nicht gehemmt
i) Für die prognostische Beurteilung des einzelnen Falles ist der
Charakter der Onanier-Phantasie von großer Bedeutung. Sind es, wie im vor-
liegenden Falle, masochistische Phantasien komplizierterer Art, so ist
wegen ihrer schweren Realisierbarkeit die Prognose meist ungünstig.
Steiner, Die psychischen Störungen. 3. Aufl. 4
50 Kasuistik.
wird. Allmähliche Abnahme der Potenz, häufiges Versagen
und sehr verfrühte Ejakulation, allmähliche Entwicklung von
Herzangst, Eisenbahnangst, Klaustrophobie und anderen Angst-
zuständen, die seine Existenz sehr erschweren. Er gewinnt
in der Behandlung bei weitgehender Herstellung von seinen
Beschwerden seine gute Potenz, entsagt der Onanie und tritt
in befriedigende Liebesbeziehungen ein.
Fall 7. Junger Amerikaner, dessen Sexualleben eine
normale Entwicklung einschlug, der aber im 23. Jahre den
Sexualverkehr plötzlich aufgab und durch 14 Jahre ohne
Schaden abstinierte. Nach dem Tode seines Vaters versuchte
er im 37. Lebensjahr wieder zu koitieren, fand sich aber
völlig impotent und wurde nach erfolgter örtlicher Behand-
lung nach Wien geschickt. Seine Potenz kehrte hier schon
während der Lokalbehandlung wieder und gestaltete sich
während der Psychoanalyse zu einer in jeder Hinsicht nor-
malen. Seine Libido war an die Mutter fixiert, er hatte den
sexuellen Verkehr aufgegeben, als er von einem galanten
Abenteuer des Vaters Kenntnis erhielt, und getraute sich
erst nach dessen Ableben den Verkehr wieder aufzunehmen.
Er heiratete nach der Rückkehr in seine Heimat ein junges
Mädchen.
Fall 8. Junger Mann in angeblich glücklichster Ehe
(Liebesheirat, schöne Frau, ein Kind von wenigen Monaten),
der nach seiner ersten Untreue auf der Reise von einer
schweren Depression befallen wird, seiner Frau eine Beichte
ablegt, aber trotzdem in hypochondrischer Verstimmung ver-
bleibt. Fixation der Libido an eine jüngere Schwester, die,
selbst an ihn gebunden, seine Heirat mit einer Hysterie be-
antwortet und seine Frau mit Feindseligkeit verfolgt. —
Heilung der Depression.
Fall 9. Gendarm. Hat bis zum 40. Jahr keinen Koitus-
versuch unternommen, dagegen viel onaniert. Er geht im
40. Lebensjahr eine Vernunftehe mit einer älteren reizlosen
Frau ein und erweist sich als vollkommen impotent. Die
Lokalbehandlung bleibt zunächst ohne Erfolg. Die Analyse
*
.
Kasuistik.
51
des sehr intelligenten Patienten, der eine Unmasse von Träu-
men von dem charakteristischen Unzulänglichkeitstypus pro-
duziert, ergibt eine Fixierung an die Mutter und stark aus-
geprägten Vaterhaß. Der anfängliche Erfolg wird nach einem
kurzen Besuch bei der noch lebenden, aber an einem anderen
Orte wohnenden Mutter durch neuerliche Mißerfolge abge-
löst. Die Fortsetzung der Analyse fördert abermals neues
Material zutage. Patient reist in seinen Dienstort ab und es
gelingt ihm zunächst, mehrmals den Koitus — allerdings
nicht bei der eigenen Frau — auszuführen. Da Patient nicht
mehr in der Lage ist, neuerdings nach Wien zu kommen,
gebe ich ihm den Rat, die Analyse, soweit es geht, selbständig
fortzusetzen, seine Träume aufzuzeichnen und mir einzu-
senden. Ich sende sie ihm zurück mit der Aufforderung, auch
seine Deutungsversuche beizufügen. Zugleich mit diesen be-
komme ich einige Tage später auch die Nachricht von dem
ersten bei der eigenen Frau vollzogenen Koitus.
(Weit häufiger, als man erwarten sollte, hatte ich Ge-
legenheit, bei unseren Gendarmen Fälle von psychischer Im-
potenz zu beobachten. Es handelt sich stets um körperlich
und geistig wohlentwickelte Menschen mit relativ großer In-
telligenz. Vielleicht liegt schon in der Berufswahl dieser Leute
ein Hinweis auf den verdrängten unbewußten Komplex [auf-
rührerische Einstellung gegen den Vater und ihre Über-
kompensation durch bewußte Hingabe an Loyalität und Ge-
setzesachtung]. Sicher ist, daß auf die Frage nach der mut-
maßlichen Ursache des Krankheitszustandes diese Patienten
stets die stereotype Antwort geben, der Beruf sei daran schuld,
denn er erfordere ein sehr reserviertes Benehmen; sie dürf-
ten, um nicht die Achtung der Bevölkerung zu verscherzen,
sich nicht in Heimlichkeiten und Liebesverhältnisse einlassen,
lebten unter steter Kontrolle der Behörden und der Bevölke-
rung, überdies biete ihnen der anstrengende Dienst und der
damit verbundene Ortswechsel kaum Gelegenheit, sich irgend-
wo zu engagieren.)
Fall 10. Junger Fabrikant. Sucht mich wegen Magen- und
4*
52 Kasuistik.
Darmbeschwerden, namentlich einer hartnäckigen Obstipation,
auf, obwohl ihm genau bekannt ist, daß ich kein Spezialist
für die erwähnten Krankheiten bin. Er ist sehr nervös, leidet
an Pollutionen. Onanie wird anfangs geleugnet, aber später
spontan eingestanden. Objektive Untersuchung ergibt bei dem
jungen Mann, der nie eine Geschlechtskrankheit hatte, chro-
nische Prostatitis und Überempfindlichkeit der pars prostatica
urethrae. Nach Beseitigung der genannten Zustände durch
lokale Behandlung tritt eine auffallende Besserung der Magen-
Darm-Beschwerden ein, die offenbar auf Sexualneurasthenie
hinweisen.. Um dieser abzuhelfen, verordne ich regelmäßigen
Koitus, der bei der Dirne auch anstandslos gelingt, ohne
aber Vergnügen zu bereiten, im Gegenteil wieder die ursprüng-
lichen Beschwerden hervorruft. Patient hat selbst die Emp-
findung, daß ihm der Koitus mit einer gleichwertigen Person
nottut. Auch er sieht darin die Lösung seines Problems
Doch kann er sich nicht entschließen, eine Beziehung anzu-
knüpfen, da ihm der Mut fehlt, die Initiative bei einem an-
ständigen Weibe zu. ergreifen. Der Zustand verschlechtert sich
zusehends, eine abermalige lokale Behandlung beseitigt die
Verdauungsbesckwerden. Um nicht neuerdings zu Prosti-
tuierten gehen zu müssen, nimmt er die Onanie wieder auf
die aber ebenfalls schlecht vertragen wird und die alten Be-
schwerden verursacht. Zwei durch einen gefälligen Freund
vermittelte Verhältnisse mit besseren Mädchen löst er nach
kurzer Zeit, ohne daß es zu einem Koitus gekommen wäre-
er gibt an, daß ihn diese Beziehungen noch nervöser gemacht
hatten. Patient war das jüngste Kind betagter Eltern, die Mutter
war gestorben, kurz bevor er in meine Behandlung trat. Der
alte Vater hing zwar am Sohn mit großer Zärtlichkeit, doch
hielt er ihn sehr knapp und ließ ihm wenig Freiheit. Das
ist auch nach Ansicht des Patienten der Grund, warum er zu
keinem richtigen Sexualverkehr kommen könne, da die stete
Kontrolle ihn irritiere. Kurz nachdem der Vater gestorben
war, ging er ein neues Verhältnis ein, das zwar abermals
durch Vermittlung zustande kam, in dem Patient aber sofort
__
Kasuistik. k«
eine normale Potenz zeigte und bis heute derselben Person
gegenüber behalten hat. In den Verdauungsbeschwerden sind
nur gelegentlich leichte, bald vorübergehende Rückfälle vorge-
kommen. - Bei diesem Falle, der bis zum endgültigen Er-
folg nahezu drei Jahre in meiner Behandlung stand, habe
ich keine eigentliche Analyse vorgenommen. Nichtsdesto-
weniger kann der lange intime Verkehr, während dessen es
mir gelang, das Vertrauen des Patienten völlig zu erwerben
imd dieser Gelegenheit hatte, sich über alles mir gegenüber
ruckhaltlos auszusprechen, wohl als Surrogat einer richtigen
Analyse gelten. - l n konstitutioneller Hinsicht wäre zu be-
merken, daß die Mutter des Patienten an einer schweren Herz-
neurose litt, eine Schwester leidet an einer Psychose, ein
verstorbener Bruder des Patienten soll gleichfalls hochgradig
nervös gewesen sein.
Fal1 11. Kaufmann aus der Provinz, in kleinlichen Ver-
haltnissen aufgewachsen, entstammt einer neuropathischen
Familie, deren meiste Mitglieder, sowie der Patient selbst,
stark kurzsichtig sind. In der Kindheit mannigfache Ver-
fuhrungsszenen, passiv und aktiv. Die letzteren beziehen sich
vorwiegend auf die jüngere Schwester, die angeblich gleich-
falls nervös geworden ist, geheiratet hat und in der Ehe
anasthetisch sein soll. Aus einer Reihe von schönen Träu-
men des Patienten ergibt sich die Mutter als ursprüngliches
Objekt der Libido. Die Schwester bedeutet bereits eine Ver-
schiebung. Bei der Loslösung von der Schwester fixiert sieb
der Patient an eine Cousine, die schließlich durch eine Fremde
ersetzt wird, die aber in nahen Beziehungen zur Familie
steht und „zufälligerweise", obgleich keine Verwandte, den
gleichen Familiennamen führt. Bei dieser werden auch die
ersten Koitusversuche unternommen, die aber mißlingen Die
Analyse geht in diesem Falle nach Überwindung der ersten
Widerstände glatt von statten und führt zu einem nur zu voll-
ständigen Erfolg, d. h. zur Schwängerung des Mädchens.
Dieser unerwünschte Erfolg verursacht zeitweiliges Aufgeben
des Verhältnisses und Versuch eines Koitus mit anderen
54 Kasuistik.
Mädchen, der aber mißlingt. Patient entschließt sich, das
Mädchen, bei dem er reüssiert hatte, zu heiraten.
Fall 12. Junger Fabrikant, der seit der Pubertät anstands-
los koitiert hat, erweist sich von dem Augenblick, da er
sich zur Heilung eines nervösen Magen-Darmleidens in ein
Sanatorium begeben hat, als völlig impotent. Als zunächst»
liegende Ursache ergibt sich der Umstand, daß Patient im
Sanatorium sich in eine junge Dame verliebt hat und seit-
dem jedes andere Sexualobjekt ablehnt. Die Analyse ergibt
reichlich Inzestmotive auf Grund von Träumen, in denen
wiederholt von einem Rivalen die Rede ist 1 ) (offenbarer
Hinweis auf den Vater), der auch aktuell ist, da außer ihm
noch jemand um die Gunst des Mädchens warb. Es gelingt
ihm, den Rivalen aus dem Felde zu schlagen und das Mäd-
chen heimzuführen, bei dem er eine befriedigende Potenz
gewinnt.
Fall 13. Arzt, Mitte der Dreißigerjahre, hat noch nie-
mals bei einem Weibe reüssiert, stets organisch gesund ge-
wesen, ja sogar ausgesprochen robust, wird aber von Phan-
tasien beherrscht, die in bunter Reihenfolge und mannig-
faltigster Verschränkung sadistische, masochistische, exhibitio-
nistische, fetischistische Szenen zum Inhalt haben. Als Fetisch
dienen ihm weibliche Dessous, die bei allen von ihm in der
Phantasie durchgeführten Entkleidungsszenen eine große
Rolle spielen. Ganz besonders interessant ist in diesem Falle
das absolute Unvermögen des Patienten, sich ein weibliches
Genitale vorzustellen, um so verwunderlicher, als Patient Arzt
ist und in seiner Praxis täglich oft mehrmals Gelegenheit hat,
den weiblichen Geschlechtsteil zu sehen 2 ). Die organische
*) In einem dieser Träume spricht Patient von einem Gutsnachbarn, mit
dem er um ein Grundstück in Streit geraten sei. Rivalitätsträume sind
überhaupt bei Neurotikern nicht selten und decken affektbetonte Beziehungen
zum Vater, eventuell zu den Geschwistern.
*) Diesen Zug weisen sehr viele psychisch Impotente auf; Männer, die
oft in beschränkten Verhältnissen mit Geschwistern ungefähr gleichen Alters
aufgewachsen sind, geben, wenn sie späterhin neurotisch geworden sind, oft
•
Kasuistik.
55
Behandlung der ausgesprochen prostatischen Hyperästhesie
hat gar keinen Erfolg. Erst nach Durchführung der Analyse,
die ein reiches Material im oben angeführten Sinne liefert,
stellt sich der volle Erfolg ein.
Fall 14. Russischer Schriftsteller von starker Begabung,
der einen Teil seiner schwülen Erotik in sehr feinen lyrischen
Dichtungen sublimiert hat. Während und nach der Durch-
führung der lokalen Behandlung arbeitet der sehr intelligente
Patient, der über die Freudsche Theorie hinreichend infor-
miert ist, an einer Selbstanalyse, die den gewünschten Er-
folg herbeiführt. Interessant ist, daß von diesem Moment an
sich ein deutlicher Wechsel in der Form der Produktion zeigt,
indem er von da an ein äußerst erfolgreicher Dramatiker wird.
Seine Arbeiten haben vollen künstlerischen Wert und zugleich
starke theatralische Wirkung, während die im Anfang erwähnte
lyrische Periode Schöpfungen mehr sublimer und ätherischer
Art aufgewiesen hatte.
Fall 15. Privatgelehrter von abschreckender Häßlichkeit,
mit merkwürdig sinnlichen Augen. Seine bis dahin ganz
leidliche Potenz erlischt in dem Augenblick, da er die Ab-
sicht hat, eine Konventionsehe zu schließen. Die Phantasie des
Mannes, der sein Leben anscheinend nur reinsten wissen-
schaftlichen Zielen geweiht hat, ist erfüllt von wüsten Orgien,
in denen sadistische Vorstellungen vorherrschen, aber auch
andere Perversionen reichlich vertreten sind. Speziell Figuren
der antiken Mythologie werden in seinen Phantasiestücken
verarbeitet, in denen er jede mögliche Rolle spielt. Die
Analyse deckt intensiv verdrängte Inzestwünsche auf. Nach-
dem er seine volle Potenz erlangt hat, heiratet er eine arme
Cousine, in die er schon lange verliebt war.
Fall 16. Junger Offizier, etwas infantil aussehend, mit
an, keine Kenntnis vom weiblichen Genitale zu haben. Natürlich liegt gerade
in dieser Dissimulation ein deutlicher Hinweis auf die im Unbewußten
schlummernden, die Neurose veranlassenden Motive (inzestuöse Fixierung an
Mutter oder Schwestern). Solche Patienten benehmen sich wie der Mörder, der
9ein Opfer überhaupt nicht gekannt haben will.
56 Kasuistik.
für seinen Beruf nicht zureichender äußerer Erscheinung (ge-
ringe Muskelentwicklung). Auffallend geringe Sexualität bis
zum 14. Lebensjahr, dann mäßige Onanie mit masochistischen
Vorstellungen. Seit dem 20. Lebensjahr mutuelle Onanie mit.
Dirnen bei Unfähigkeit zur immissio penis. Erektionen auch
auf die gewöhnlichen sexuellen Reize, Ejakulation nur bei
masochistischen Phantasien. Unvereinbarkeit von sexuellen
und Liebesempfindungen. Infolge leidenschaftlicher Neigung
zu einem in den Patienten stark verliebten Mädchen wurde
der Wunsch nach normalem Verkehr intensiv und führte ihn
in Behandlung, da er bei dem Mädchen sich als vollkommen
impotent erwies. Er mußte deshalb seine Hypothese aufgeben,
daß nur mangelnde Liebe an der Dauer seiner Impotenz
schuld sei. Als Ursache der Impotenz zeigte sich bis in die
frühe Kindheit zurückgehende masochistische Fixierung an
Dienstmädchen. Durch die Behandlung wurde Patient be-
fähigt, mit nicht geliebten Personen zu verkehren, und war
imstande, sich gegenüber dem Sexualobjekt aktiv einzustellen.
Fall 17. Hoher Beamter in den Vierzigerjahren, stammt
von gutmütigem Vater und brutaler Mutter (vier Brüder).
Die im 11. Lebensjahr aufgenommene Onanie bleibt durch
sein ganzes Leben als einzige Sexualbefriedigung bestehen,
und zwar mit sadistisch-heterosexuellen Phantasien ver-
knüpft. Der kulturell und ethisch sehr hochstehende Mann
war sein ganzes Leben hindurch vom Kampfe mit den ihm
selbst unwürdig erscheinenden perversen Gelüsten und den
daraus resultierenden Vorwürfen gequält und entschloß sich
bei einer Steigerung dieser Zustände zur Behandlung. Patient
hatte nie einen Versuch zum Koitus gemacht infolge man-
gelnden Mutes gegenüber begehrenswerten Frauen und Ab-
scheues gegen käufliche Objekte. Als Ursache stellte sich
lange dauernde homosexuelle Einstellung auf Verwandte und
Freunde heraus, welche Beziehungen gleichfalls infolge der
damit verbundenen sadistischen Gelüste zu keinerlei Betäti-
gung geführt hatten. Der Sadismus des Patienten hing innig
mit dem Mutterkomplex zusammen. Als Resultat der Behand-
ar"
Kasuistik. 57
hing ergab sich eine Aussöhnung des Patienten mit seinem
liebelosen Leben; die sadistischen Phantasien traten nur mehr
in geringer Intensität und ganz selten auf. Patient versöhnte
sich mit den Resten seiner infantilen Sexualeindrücke, die
ihre quälende Wirkung verloren. Dadurch gewann er gesell-
schaftlich wie auch persönlich eine nie gekannte Lebens-
freude und Arbeitsenergie.
Fall 18. Jurist, impotenter Angsthysteriker, mitAbsenzen,
Ohnmachtsanfällen und Platzangst; Zwangslachen, Schweiß-
ausbrüche, Zwangserröten. Erinnert nie onaniert zu haben.
Vom 2. bis 6. Lebensjahr werden sexuelle Aggressionen gegen-
über der Mutter und Dienstmädchen erinnert, später kommen
inzestuöse Betätigungen an kleinen Geschwistern hinzu. Im
11. Lebensjahr setzte die Neurose mit Anfällen von Kopf-
schmerz und Angstzuständen ein. Dann asexuelle Zeit bis
zum 14. Lebensjahr. Von da an sehr häufig nächtliche Pol-
lutionen bis zum 18. Lebensjahr. Die begleitenden Pollutions-
träume enthielten in der Kindheit erlebte Entblößungsszenen
von Mädchen, wobei regelmäßig zu Beginn des Traumes die.
Mutter anwesend war und durch „Lenkung" des Traumes
entfernt wurde. Im Tagesleben war die Sexualität, im Zu-
sammenhang mit der Angsthysterie, vollkommen gehemmt,
wozu die masochistische Einstellung gegenüber dem Vater
und den älteren männlichen Verwandten die Hauptveran-
lassung war. Es gelang der Analyse, die mannigfaltigen Wider-
stände gegen die Sexualität aufzulösen und sie von der
Fixierung zu befreien. Aber auch jetzt war der Koitus immer
noch unmöglich, da sich eine Reihe von fetischistischen Be-
dingungen in bezug auf Gestalt, Kleidung, Brustform, Alter,
Haarfarbe usw. herausstellten. In wie frühe Jahre die
sexuellen Störungen zurückgehen mußten, ergibt sich daraus,
daß der Knabe im 12. Lebensjahr wegen eines Sphinkter-
krampfes mit Sonden behandelt wurde, ohne nachweisbare
organische Veranlassung. Es gelang der kombinierten psychi-
schen und organischen Behandlung, die sehr starke latente
Potenz vollkommen herzustellen.
~*
58 Kasuistik.
Fall 19. Junger Sänger, der es gegen den Willen seiner
Eltern geworden ist, die ihn für das väterliche Geschäft be-
stimmt hatten. Trotz großer Fähigkeit im Beruf ausge-
sprochene Schüchternheit, die sich namentlich als Lampen-
fieber vor öffentlichem Auftreten äußert. Der Koitus gelingt
bei Dirnen, ohne Vergnügen zu gewähren. Bei anständigen
Mädchen, auch wenn sie ihm die größten Avancen machen,
reüssiert er nur teilweise, d. h. mit ejaculatio praecox. Die
lokale Behandlung bessert diesen Befund für einige Zeit. Bei
der neuerlichen Rezidive stellt sich Patient mit der Angabe
vor, daß er an Herzklopfen, Beklemmungen und Schlaflosig-
keit leide. Patient wünscht eine Psychoanalyse durchzu-
machen, von der er durch Bekannte erfahren hat. Die Analyse
ergibt eine starke Erotik in den Vorpubertätsjahren; Patient
wurde ertappt bei einem Attentatsversuch auf ein kleines
Mädchen, die er als Nachbarin häufig zu sehen Gelegenheit
hatte. Die Träume zeigen deutlich Inzestphantasien mit stark
betonter Eifersucht, die auf jüngere Brüder gerichtet ist. Die
organischen Beschwerden sind noch im Laufe der Behand-
lung zurückgegangen. Die Analyse selbst wurde aus äußeren
Gründen nicht zu Ende geführt.
Fall 20. Kaufmann, Mitte der Dreißiger jähre, von hervor-
ragender Intelligenz, kräftig männliche Erscheinung, gegen
die ein ängstliches, unsicheres Auftreten kontrastiert, welches
den Patienten in seinem Beruf und im geselligen Leben schwer
störte. Namentlich aber war er nicht imstande, geschäftliche
oder menschliche Beziehungen durch länger als höchstens zwei
Jahre zu unterhalten, weil das Gefühl, „gekannt zu sein",
ihn hinderte, mit den Menschen weiter zu verkehren. Er war
in seinem geschäftlichen Verhalten durch schwere Skrupel
gestört, so daß er Transaktionen nur mit größter Willens-
anstrengung durchführen konnte, aus Angst, dabei Geld zu
verdienen. Aber diese neurotischen Scharten kompensierte
er durch ungewöhnliche Tüchtigkeit. Im geselligen Verkehr
störte Zwangslachen, Erröten und Errötungsangst, Stammeln
und Verlegenheit. Die Ursache lag in schweren sexuellen
Kasuistik. 59
Schuldgefühlen, hervorgerufen durch perverse zoerastische Be-
ziehungen in der Kindheit. Die ganze Entwicklung des Pa-
tienten war durch den harten, übermäßig moralischen Vater
derart beeinflußt, daß jede normale Sexualerregung mit Scham-
gefühl und Angst vor Verrat einherging, so daß immer nur
unter der stärksten Steigerung des unbefriedigten Triebes
Sexualbefriedigung bei Individuen gesucht wurde, von denen
kein Verrat zu befürchten war. So war es in der Kindheit
und Pubertätszeit bei den Tieren und später bei Individuen,
die der Patient nicht zur menschlichen Gesellschaft rechnete,
also nur bei Prostituierten niedriger Sorte, wobei er auch nie
den Verkehr mit demselben Mädchen wiederholte. Dabei führt
der Patient ein Doppelleben, indem er mit vornehmen und
anständigen Frauen, die in sein Leben eingetreten waren, ein
höchst verfeinertes psychisches Verhältnis unterhielt, das sich
durch eingehende und fördernde Teilnahme an ihrem Schick-
sal, feines Verständnis für das geistige Leben des anderen
und das Bedürfnis, sich selbst mitzuteilen, auszeichnete. Bei
diesen platonischen Verhältnissen hatte der Patient nie eine
sexuelle Erregung gehabt, er gehörte also auch zu den
Menschen, bei denen Wertschätzung und Lüsternheit der-
selben Person gegenüber einander ausschließen. Dieses Ver-
halten war bewußt bedingt dadurch, daß er selbst sich so
niedrig einschätzte und sich eines reinen Wesens nicht für
würdig hielt; im Unbewußten lag eine infantile Fixierung
an seine Mutter zugrunde, die in den ersten Kinderjahren
durch normale Zärtlichkeit das Kind an sich gefesselt hatte,
und später in idealer Art das Schicksal des gequälten Jungen
begleitet hat. Sie starb, als der Knabe 16 Jahre alt war, der
nach diesem Termin die Perversion aufgab und in der patho-
logischen Trauer um sein tiefstes Liebesobjekt perseverierte.
Der Erfolg der psychischen Behandlung war eine vollkommene
Herstellung von seiner Arbeits- und Berufsstörung, Befreiung
von den Depressionen und Wiederherstellung der sexuellen
Gefühle gegenüber geschätzten Frauen.
Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien.
Bleuler, Prot Dr. E., Die Psychoanalyse Freuds. Verteidigung und kritische Be-
merkungen. Preis Goldmark 1.80.
Braun, Prof. Dr. L., Herz und Psyche in ihren 'Wirkungen aufeinander. Preis
Goldmark 3.—.
Breuer, Dr. J. und Freud, Prof. Dr. Sigm., Studien über Hysterie. Vierte,
unveränderte Auflage. Preis Goldmark 7. — .
Fließ, Dr. W., Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechts'
Organen. In ihrer biolog. Bedeutung dargestellt. Preis Goldmark 2.50.
Fließ, Dr. W., Nasale Fernleiden. Dritte, vermehrte Auflage. Preis Goldmark 2.40.
Fortschritte der Sexualwissenschaft und Psychanalyse. Herausgegeben von
Dr. Wilhelm S t e k e 1. I. Band. Preis geh. Goldmark 11.60. geb. Goldmark 13.80.
n. Band. Preis Goldmark 18.—.
Freud, Prof. Dr. Sigm., Drei Abhandinngen zur Sexualtheorie. Fünfte, unveränderte
Auflage. Preis Goldmark 2.—.
Freud, Prof. Dr. Sigm., Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre.
I. Folge. Aus den Jahren 1893 bis 1906. 3. Auflage. Preis Goldmark 4.20.
H. Folge. 3. Auflage. Preis Goldmark 6. — .
III. Folge. 2. Auflage. Preis Goldmark 6.—.
Freud, Prof. Dr. Sigm., Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen, gehalten zur
zwanzigjährigen Gründungsfeier der Clark - University in Worcester Mass.
September 1909. Siebente, unveränderte Auflage. Preis Goldmark 2. — .
Freud, Prof. Dr. Sigm., Der "Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. Vierte
Auflage. Preis brosch. Goldmark 6.—, geb. Goldmark 8.~.
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analytische Vorlesungen für Eltern, Lehrer, Erzieher, Schulärzte, Kindergärtnerinnen
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Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. Heraus-
gegeben von Prof. Dr. E. Bleuler in Zürich und Prof. Dr. Sigm. Freud in
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I. Band, 1. und 2. Hälfte. 1909. Preis Goldmark 14.—.
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ID. Band, 1. und 2. Hälfte. 1911. Preis Goldmark 17.—.
IV. Band, 1. und 2. Hälfte. 1912. Preis Goldmark 16.—.
V. Band, 1. und 2. Hälfte. 1913. Preis Goldmark 19.—.
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Kedigiert von Dr. Karl Abraham in Berlin und Dr. Eduard Hitschmann
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logische Forschungen. VI. Band. 1914. Preis Goldmark 12. — .
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Jung, Doz. Dr. C. G., Der Inhalt der Psychose. Akademischer Vortrag, gehalten im
Rathause der Stadt Zürich am 16. Jänner 1908. Zweite, durch einen Nachtrag er-
gänzte Auflage. Preis Goldmark 1.50.
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aus dem Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen,
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Kaplan, Leo, Hypnotisinns, Animisuius und Psychoanalyse. Historisch-kritische
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K r o n f e 1 d, Dr. med. et phil. A., Sexnalpsychopathologie. Preis Goldmark 3.60.
L o y, Dr. R., Psychotherapeutische Zeitfolgen. Ein Briefwechsel mit Dr. C. G. Jnng.
Privatdozenten der Psychiatrie in Zürich. Preis Goldmark 1.20.
M a e d e r, Dr. A., Über das Traumproblem. Nach einem am Kongreß der Psycho-
analytischen Vereinigung gehaltenen Vortrage, München, September 1913. Preis
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und Hypnosetherapie pathologischer Leidenschaften. Preis brosch. Goldmark 6.—,
geb. Goldmark 6.60.
Pfennig, R., Grundzlige der FlieBschen Periodenrechnung. Preis Goldmark 1.80.
P f i s t e r, Dr. Oskar, Die psychologische Enträtselung der religiösen Glossolalie.
. Preis Goldmark 1.80.
Schneider, Prof. Dr. Kurt, Die psychopathischen Persönlichkeiten. Preis Gold-
mark 3.80.
Schriften zur angewandten Seelenkunde. Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud
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L Bett. Der Wahn nnd die Träume in W. Jensens „Gradiva". Von Prof. Dr. Sigm. Freud in
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VI. Hoft. Aus dem Liebeslehen Nieolaus Lenaus. Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien.
Zweite Auflage. Preis Goldmark •!.— .
VII. Heft. Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Prof. Dr. Sigm. Freud iu
Wien. Dritte Auflage. Preis Goldmark 8.50
VIII. Heft. Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Von Dr. Oskar Pfister in
Zürlob. Zweite Auflage. Preis Goldmark 5.—.
XI. Heft. Giovanni Segantinl. Ein psychoanalytischer Versuch. Von Dr. Karl Abraham. Mit
£ Beilagen. Zweite Auflage. Preis Goldmark Z.50.
XII. Heft. Zur Sonderstellung des Vatermordes. Von Dr. A. J. Storfer in Zürich. Preis
Goldmark 1.4u.
XIII. Heft. Die Lohengrinsage. Ein Beitrag zu ihrer Motivgestaltung und Deutung. Von
Dr. Otto Rank. Preis Goldmark «.-.
XIV. Heft. Der Alptraum in seiner Beziehung zu gewissen Formen des mittelalterlichen Aber-
glaubens. Von Prof. Dr. Ernest Jones. Deutsch von Dr. E.H. Sachs. Preis Goldmark 4.—.
XV. Heft. Aus dem Seelenleben des Kindes. Von Dr. H. Hng-Hellmuth t. Zweite Auflage.
Preis Goldmark 3.40.
XVI. Heft. Über Nachtwandeln und Mondsucht. Eine mediz.-Iiter. Studie. Von Dr. J. Sadger,
Nervenarzt in Wien. Preis Goldmark 4.—.
\XVII. Heft. Jakob Boebme. Ein pathogr. Beitrag zur Psychologie der Mystik. Von Doktor
A. Kielbolz iu KSnigsfcIden. Preis Goldmark 1.80.
XVIII. Heft. Friedrich Hebbel. Ein psychoanalytischer Vorsunh. Von Dr. J. Sadger, Nerven-
■ .» .«rzt in Wien. Preis Goldmark 6.—.
XIX. Heft. Scboponhauor und der Animismus. Eine psychoanalytische Studie. Von Leo Kaplan.
Preis Goldmark 6.—.
XX. Heft. Robert Mayer und die Entdeckung des Energiegesetzes. Von Dr. H. Timerding.
Preis Goldmark *.—.
V Heft H, HI, IV, IX, X, vergriffen. Neue Auflagen in Vorbereitung.
Manzsche Buchdruckercl, Wien IX. 2165
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