SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
DREIZEHNTES HEFT
DIE LOHENGRINSAGE.
EIN BEITRAG
ZU IHRER MOTIVGESTALTUNG UND DEUTUNG
VON
OTTO RANK.
•
LEIPZIG UND WIEN
FRANZ DEUTICKE
1911.
fc Verlags-Nr. 1911.
VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIEN.
Nachstehende sieben Werke, welche als die Dokumente für
den Entwicklungsgang und Inhalt der Freudschen Lehren anzu-
sehen sind, werden, wenn auf einmal bezogen, zum Vorzugspreise
von M 30.— = K 36.— (statt M 38.— = K 45.60) abgegeben :
Studien über Hysterie.
Von Dr. Jos. Breuer and Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. PreiB M 7.— == K 8.40.
Die Traumdeutung.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Dritte, vermehrte Auflage. Preis M 10.— = K 12.—.
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.
Von Prof. Dr. Sigm. Frend.
Zweite Auflage. Preis M 2.— = K 2.40.
Sammlung kleiner Schriften
zur Neurosenlehre.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
I. und DT. Reihe. Preis ä M 5.— = K 6.—.
Der Wahn und die Träume
in W. Jensens »Gradiva«.
(Schriften zur angewandten Seelenknnde. I. Heft.)
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Preis M 2.50 = K 3.—.
Der Witz
und seine Beziehung zum Unbewußten.
Von Prof. Dr. Sigm. Frend.
Preis M 5.— = K 6.—.
Über Psychoanalyse.
Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier
der Clark University in Worcester Mass.
Von Prof. Dr. Sigm. Freud.
Zweite Auflage. Preis M 1.50 = K 1.80.
SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
DREIZEHNTES HEFT.
DIE LOHENGKINSAGE.
EIN BEITRAG
ZU IHRER MOTIVGESTALTUNG UND DEUTUNG
VON
OTTO RANK.
LEIPZIG UND WIEN.
FRANZ DEUTICKE.
1911.
Verlags Nr. 1911.
Berlin
K. und K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaaka in Tcschen.
Inhaltsübersicht.
Seite
I. Wagners Lohengrin- Drama und seine Stoff quellen 1
II. Das Aussetzungsmotiv als Kern der Lohengrinsage H>
III. Der Skeaf- Mythus von der Geburt des Helden 32
IV. Die geheimnisvolle Abfahrt des Helden 40
V. Das Frageverbot und die Lorinnensage 53
VI. Des Sehwanritters Jugendgeschichte und das Schwanenmärchon . 65
VII. Die befreiende Heldentat und die Rettungsphantasie 87
VIII. Die dichterische Gestaltung des Stoffes durch Wagner 131
IX. Nachweise und Anmerkungen 152
X. Literaturverzeichnis 177
Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen,
woher ich kam der Fahrt,
noch wie mein Nam' und Art!
I.
Die Sage von Lohengrin, dem Ritter mit dem Schwane,
ist durch Richard Wagners eindrucksvolles Musikdrama
dem modernen Empfinden nahe gebracht und man darf wohl
sagen vertraut worden. Eine Untersuchung, welche sich zu-
nächst den dem Wagner sehen Drama zu Grunde liegenden
Stoffquellen zuwendet, sieht sich daher in die glückliche Lage
der attischen Tragiker versetzt, welche bekanntlich die Kennt-
nis der Stoffe, die sie ihren Darstellungen zu Grunde legten,
bei den Zuhörern voraussetzen und darum ein um so intimeres
Eingehen auf das feinere Detail der Ausführung erwarten
durften. Um dieses unschätzbaren Vorteils willen sei es ge-
stattet, mit Verzicht auf den leichter gangbaren Weg der
historischen Betrachtung, von dem wohl allgemein bekannten
Lohengrin-Drama — auf dessen Gestaltung und Dichter erst
am Schlüsse unserer Ausführungen ein Licht fallen kann —
auszugehen und die Hauptzüge seines Inhalts dem Leser kurz
in Erinnerung zu rufen.
Der meisterhaft aufgebaute erste Akt versetzt uns nach
Antwerpen an das Ufer der Scheide mitten in die Ereignisse.
Friedrich Graf von Telramund, ein brabantischer Edler, tritt als
Kläger vor König Heinrich dem Ersten, dem Vogler, auf. Er be-
schuldigt Elsa, die Tochter des Herzogs von Brabant, die ihr Vater
auf dem Sterbebette seinem Schutze anvertraut und ihm verlobt
habe, des Mordes an ihrem kleinen Bruder Gottfried, durch dessen
Beseitigung sie die Herrschaft über Brabant, die Verweigerung der
Heirat mit ihm, ihrem Lehnsmanne, und die Fortsetzung einer ge-
heimen Buhlschaft angestrebt habe. Ihr Land jedoch, auf das
auch seine Gemahlin Ortrud ein Anrecht habe, spreche er als
Rank, Die Lohengrinsage. 2
2 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
nächster Verwandter des Herzogs für sich an. Da Elsa zu ihrer
Verteidigung nichts vorzubringen weiß und nur in schwärmerischer
Verzückung einen wunderbaren Traum berichtet, der ihr die An-
kunft eines herrlichen Ritters zur Verteidigung ihrer Unschuld
verkündet habe, wird Telramund zuversichtlicher und erbietet sich
stolz im Bewußtsein seines Ansehens und seiner Tapferkeit die
Beschuldigungen im Gotteskampf zu erhärten. Elsa weiß keinen
realeren Streiter für ihr Recht zu nennen, als den im Traum ge-
schauten Ritter, dessen sie harren will und dem sie die Krone von
Brabant sowie ihre Hand im voraus als Kampfpreis bestimmt.
Schon scheint Elsas Sache verloren, da sich nach zweimaligem
Aufruf kein Kämpfer für sie meldet. Da erscheint plötzlich auf
Elsas inbrünstiges Gebet im Augenblick der höchsten Not der von
ihr ersehnte Ritter, wie er ihr im Traume erschienen war. In einem
Nachen, den ein Schwan an goldener Kette zieht, kommt der
Ritter, in glänzender Silberrüstung, aufrecht stehend auf sein Schwert
gelehnt, den Fluß herabgeschwommen. Während er ans Land steigt, den
Schwan mit freundlichen Worten verabschiedet, den König begrüßt
und auf Elsa, deren Person, Name und Bedrängnis ihm bekannt
scheint, zutritt, ist das erwartungsvolle Staunen aller auf ihn ge-
richtet. Elsa sinkt ihm zu Füßen und begrüßt ihn als ihren Retter,
dem sie sich völlig anvertraue und ergebe. Doch der Ritter stellt mit
besonderem Nachdruck eine Bedingung, von deren Einhaltung die
Möglichkeit ihrer Heirat und das künftige Glück ihrer Ehe ab-
hänge : sie dürfe ihn niemals fragen, noch danach forschen, woher
er gekommen sei, wie er heiße und wer er wäre ; sonst müßte er auf ewig
von ihr scheiden. Im Wonnetaumel der ersten Überraschung ver-
pflichtet sich Elsa zur Einhaltung des Gebotes und der Ritter ge-
steht ihr seine Liebe. Nun tritt er für sie in die Schranken und
besiegt nach kurzem Waffengange den Grafen von Telramund, dem
er in seinem Edelmute das verfallene Leben schenkt. Im Jubel
des Volkes und der beiden Liebenden schließt der erste Akt, jedoch
nicht ohne das Aufkeimen eines Racheplanes für ihren entehrten
Gemahl bei Ortrud anzudeuten.
Der zweite Aufzug beginnt in der Nacht des so ereignisreichen
Tages auf der Burg zu Antwerpen. Friedrich überhäuft sein Weib
mit Vorwürfen, aus denen wir erfahren, daß sie — eine zweite
Lady Macbeth — die eigentliche Anstifterin der ganzen Anklage
und damit auch die Urheberin alles Unglücks ist. Doch sie weiß
den verzweifelten Mann neuerdings zu betören, daß er durch einen
Zaubertrug, den er brechen könnte, besiegt worden sei. Hätte er
seinen Gegner im Kampfe nur des kleinsten Gliedes, ja WoB eines
Fingers Spitze beraubt, so wäre der kühne Held des Zaubers
verlustig und in seiner Gewalt gewesen. Auch die Frage nach
WAGNERS L0HENGR1N-DRAMA.
Namen und Herkunft habe der Ritter nur darum verboten, weil
mit ihrer Nennung seine Zaubermacht ein Ende habe. Da aber
nur Elsa es vermöge, ihm sein Geheimnis zu entreißen, so gelte
es, ihren Argwohn zu wecken und sie zur Fragestellung zu ver-
leiten. Diese Aufgabe nimmt Ortrud auf sich, indem sie sieh unter
dem Scheine heuchlerischer Zerknirschung das Vertrauen Elsas
wieder zu erwerben weiß, die bei Nacht das dämonische Weib und
mit ihr den bösen Zweifel bei sich einläßt.
Inzwischen ist der Morgen des Hochzeitstages angebrochen.
Als der Zug mit dem Brautpaar an der Spitze sich dem Münster
nähert, tritt Ortrud vor allem Volke der Braut mit Verdächtigungen
des unbekannten Ritters entgegen, während der geächtete Telramund
den reinen Helden vor König und Volk der Zauberei anzuklagen
wagt und ihn auffordert, Namen und Herkunft zu nennen. Der
Ritter weist seine Frage mit der bedeutungsvollen Motivierung
zurück, daß er nur Elsa allein Antwort zu geben verpflichtet sei.
Während der Schwanritter von allen Umstehenden des vollen Ver-
trauens versichert wird, erbietet sich Telramund heimlich der in
innerem Kampfe ringenden Elsa das Geheimnis ihres Gatten bei
voller Wahrung seiner Treue und Beständigkeit zu verschaffen,
wenn sie ihm nachts gestatten wollte, ihn nur einer Fingerspitze
zu berauben. Der Held weist die Versucher von hinnen und stellt
die in ihrem Glauben schwankend gewordene Elsa, ehe sie zur
Trauung schreiten, vor die Wahl, die verbotene Frage zu tun, wenn
es sie dazu dränge. Doch ihre Liebe siegt über den Zweifel und
der Hochzeitszug betritt den Münster. Wieder bereitet eine drohende
Gebärde Ortruds darauf vor, daß das junge Glück nicht von
langer Dauer sein werde.
Der Schlußakt setzt am Abend des Hochzeitstages im Braut-
gemach der Neuvermählten ein. Diese tauschen die Versicherung
gegenseitiger Zuneigung sowie Zärtlichkeiten aus. Nach Art der
Liebenden gestehen sie die Empfindung, daß sie einander ge-
ahnt hätten, ohne doch von einander Kenntnis besessen zu haben.
Immer sucht Elsa, wie von einer fixen Idee besessen, das Gespräch
auf sein Geheimnis hinzulenken und ihn, ohne direkte Anfrage, zur
Offenbarung desselben zu bewegen. Seine zurückweisende Haltung,
welche die Frau mit einigen Andeutungen seiner hohen und edeln
Herkunft zu beruhigen hofft, läßt sie für den Bestand ihres
Glückes fürchten und entflammt ihre Neugierde noch unbezwing-
licher. In ihrer angstvollen Halluzination des Schwanschiffes,
von dem sie fürchten muß, daß es ihr den Gatten eines Tages
auf ebenso geheimnisvolle Weise entführen werde, wie es ihn
herbeib "achte, stellt sie die verbotenen Fragen, noch ehe der be-
stürzte Gatte sie daran zu hindern vermag. Im selben Augenblick
l*
WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
stürzt der bewaffnete Telramund mit vier Verschworenen in das
Brautgemach. Elsa, die ihn bemerkt hat, reicht ihrem Gatten mit
dem Rufe: »Rette dich!« sein Schwert, von dem Telramund ge-
troffen tot zu Boden sinkt. Der Schwanenritter befiehlt hierauf,
die Leiche Telramunds und seine Gemahlin Elsa vor den König zu
bringen, wo er vor allem Volke Namen und Herkunft ver-
künden werde.
Mittlerweile dämmert der Morgen dieser unseligen Brautnacht,
der uns wieder an den Schauplatz am Ufer der Scheide zurück-
versetzt, wo der geheimnisvolle Recke angekommen war. Nun aber
hat sich die Situation gewendet: es erscheint jetzt der hoffnungs-
volle Held selbst, der die Brabanter ins Feld führen sollte, als
Ankläger : sowohl des Meuchlers Telramund als auch seiner eigenen
Gattin, die sein Vertrauen so schwer getäuscht hatte. In feierlicher
Erzählung enthüllt er hierauf der erwartungsvoll lausehenden Menge
das Geheimnis seiner Herkunft. Vom heiligen Gral auf Monsalvat
sei er als einer der Gralsritter ausgesandt worden, um der be-
drängten Unschuld Recht zu erstreiten, was nach den Geboten
der Gralsritterschaft nur durch Wahrung seiner geheimnisvollen
Herkunft möglich sei. Nun, da er diese enthüllen müsse, dürfe er
nicht länger bleiben. Sein Vater sei der Gralkönig Parzival, er
selbst sei Lohengrin genannt. Dem Bitten und Drängen Elsas, des
Königs und des Volkes, doch zu bleiben, darf Lohengrin nicht nach-
geben und schon erscheint auch der Schwan mit dem Nachen zur
letzten traurigen Fahrt. Schmerzlich bewegt, nimmt Lohengrin von
seiner jungfräulichen Gattin Abschied und eröffnet ihr noch, daß
sie durch ihren Ungehorsam nicht nur ihr junges Eheglück zer-
stört, sondern auch die Erlösung ihres totgewähnten Bruders
Gottfried vereitelt habe, der nach einem Jahre glücklichen Ehe-
lebens in des Grals Geleite zurückgekehrt wäre. Er sagt jedoch
sein späteres Erscheinen voraus und hinterläßt ihm sein Hörn,
sein Schwert und einen Ring zum Andenken. Als Lohengrin eben
den Kahn besteigen will, erscheint Ortrud und verkündet jubelnd,
daß sie den Schwan an der Kette, die er trägt, als den von ihr
verzauberten Gottfried, den Erben von Brabant, erkenne, dessen
Erlösung nun verwirkt sei. Da sinkt Lohengrin zu einem stummen
Gebete feierlich auf die Knie ; das Erscheinen der weißen Gralstaube
verkündet ihm Erhörung seines Gebetes. Er löst dem Schwan die
Kette, worauf dieser sogleich untertaucht und an seiner Stelle hebt
Lohengrin einen schönen Knaben in glänzendem Silbergewande —
Gottfried — aus dem Flusse an das Ufer. »Bei seinem Anblick
sinkt Ortrud mit einem Schrei zusammen. Lohengrin springt schnell
in den Kahn, den die Taube an der Kette gefaßt hat und sogleich
fortzieht.« Gottfried verneigt sich als Erbe von Brabant vor dem
WAGNERS STOFFQUELLEN.
König und eilt dann in Elsas Arme, die den Blick auf das Ufer
gerichtet, nach dem Ausruf: »Mein Gatte! Mein Gatte!« an ihm
langsam entseelt zu Boden gleitet.
Dies sind die Hauptzüge der Handlung, die Wagner
mit unübertrefflicher Meisterschaft dramatisch wirksam zu ge-
stalten wußte und die wir entsprechend der Dreiteilung des
Dramas auf folgende Formel reduzieren können : Geheimnis-
volleAnkunft — Heirat — und Abfahrt des Helden.
Als Motivierungen dieses Ganges der Handlung werden fol-
gende Verbindungsglieder eingeführt : seine Ankunft erscheint
motiviert durch die fälschliche Beschuldigung einer reinen
Jungfrau, deren Bedränger der unbekannte Held besiegt ; die
Heirat mit ihr ist eine natürliche Folge ihrer Errettung ; das
Scheiden des Gatten wird motiviert durch ihre Übertretung
des Verbotes, nach seinem Namen und seiner Herkunft zu
fragen.
Dieses Gerippe der Handlung sowie eine Reihe teils
ergänzender, teils ausschmückender Einzelheiten hat Wag-
ner, dessen intensives Interesse und feines Verständnis für
die Volkspoesie ja hier nicht hervorgehoben zu werden braucht,
in der Sagenüberlieferung vorgefunden, der wir uns nun
gleichfalls zuwenden wollen. Die Quellen, aus denen der Dichter-
komponist die Anregung und das Material zu seinem Lohengrin-
Drama schöpfte, sind uns genau bekannt und leicht zugäng-
lich (Kapp S. 143; Golther: Wagner).
Die erste Kenntnis des Lohengrinstoffes erhielt Wagner
zur Zeit seines ersten Pariser Aufenthaltes (1841), als er mit
dem Plane zu seinem »Tannhäuser« beschäftigt war. In der
um die Mitte des XIII. Jahrhunderts entstandenen Dichtung:
»Der Sängerkrieg auf der Wartburg« (»Wartburgkrieg«) wird die
Lohengrinsage erzählt. Vorher hatte schon Wolfram von
Eschenbach (gest. um 1220), dessen Gestalt Wagner sehr
vertraut geworden war, am Schlüsse seines epischen Gedich-
tes : »Parzival« (Str. 824—826) die Sage vom Gralritter Loheran-
grin kurz berichtet. Woher er den Stoff hatte, läßt sich bei
der Knappheit seiner Erzählung, die manchen Zug verschweigt
oder nicht kennt, mit Sicherheit nicht sagen. Da Wolfram
6 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
aber in dem Gedichte selbst als seine Quelle den »Meister
Kyot«, den provencalischen Dichter Guiot de Provins
nennt und auch sonst nach französischen Vorbildern — wie
Chretien von Troyes, der um 1170 einen Roman vom heiligen
Gral schrieb*) — arbeitete, lag es nahe, auch für die Lo-
hengrinsage an eine Entlehnung aus altfranzösischer Quelle
zu denken. Auf Grund entsprechender Zeugnisse haben nun
Martin (Afda. V., 86) und nach ihm Golther (Lohcngrin,
S. 122 ff.) angenommen, daß Wolfram die Verknüpfung der
altfranzösischen Sage vom Chevalier au cygne mit dem Gral,
mit dem sie ursprünglich nichts zu tun hatte, bereits in sei-
nem französischen Muster vorgefunden habe, wie sie sich
auch bei Gerbert (gegen 1220), einem Fortsetzer des Chre-
stien, finde (Inhaltsauszug bei Birch-Hirsehfeld, S. 102 — 107).
Also nur die besondere Art der Verknüpfung, nicht diese
selbst, sieht Golther als das Werk Wolframs an. Der
höfische Dichter sah in der verhängnisvollen Frage,
die in der Leidensgeschichte des Gralkönigs Anfortas eine so
große Rolle gespielt hatte, das einigende Band. Die Frage
nach Namen und Geschlecht der Gralsritter sei deshalb ver-
boten gewesen, weil das Fragen an sich die Templeisen an
das harte Los des Anfortas erinnerte, dem die erlösende
Frage solange ferne geblieben war (Parz. str. 819). Der ein-
fältige Jüngling Parzival hätte nur nach den Wundern der
Gralsburg und nach der Krankheit ihres Königs fragen
müssen, um Anfortas von seinem Leiden zu erlösen und sich
selbst zum König zu machen. Aber von seiner Mutter in ab-
sichtlicher Unkenntnis der Welt erzogen und von Gurnemans,
der später Vaterstelle bei ihm vertrat, gelehrt, niemals zu
viel zu fragen, unterläßt er in seiner »Tunipheit« die Frage
und wird zur Strafe dafür von der furchtbaren Botin des
Grals, Kundrie, ruhelos umhergejagt, bis er endlich nach
langen mühevollen Leiden den Weg zur Gralsburg und da-
mit ihre Krone gewinnt. Aber noch rächt sich seine Schuld —
*) »Chretien von Troyes hatte wohl in seinem anderen Roman : Ereek und
Enyte die Lohengringeschichte übereinstimmend mit dem mittelhochdeutschen
Gedicht erzählt« (Görres, LIX).
WOLFRAMS PARZIVALEPOS.
und hier knüpft Wolfram die beiden Sagen aneinander —
an allen Gralsrittern, also auch an seinem Sohne Lohengrin,
welche jede Frage nach ihrer Herkunft strenge verbieten
und bei Übertretung des Verbotes wieder in die Ferne ziehen
müssen, wie einst der umherirrende Parzival (Hagen, S. 552).
Wie man sieht, ist trotz dieser geistreichen, vom poetischen
Standpunkte wohl zu rechtfertigenden Interpretation die Ver-
knüpf ung dieser beiden »Fragemotive«, die ursprünglich nichts
miteinander zu tun hatten, eine ziemlich äußerliche geblie-
ben. Wird auch das Hauptgewicht auf die gebotene und
verbotene Frage Parzivals und Lohengrins gelegt, so han-
delt es sich doch bei Lohengrin um eine spezielle Frage nach
Namen und Herkunft, während auf Grund der Anfortassage,
wie Bloete richtig bemerkt (Zfda. 42, S. 27), eigentlich jede
Art von Frage verhaßt sein müßte. »Bei Anfortas handelt es
sich um eine »Mitleidsfrage«, bei Lohengrin um eine »Erkun-
digungsfrage« (Bloete 1. c, Anmkg.). Ist also diese interessante,
wenn auch nicht gerade glückliche Verknüpfung der beiden
Fragemotive wahrscheinlich als Wolframs Leistung zu betrach-
ten, so läßt sich mit voller Sicherheit sagen, daß der Name Lohe-
rangrin sowie die Vaterschaft Parzivals Erfindungen Wolframs
sind (Golther : Lohengrin S. 128), dessen Vorliebe überhaupt auf
Einführung einer möglichst großen Zahl exotischer Namen ge-
richtet war. In den französischen Fassungen des Chevalier au
cygne, auf die wir später zurückkommen werden, findet sich der
NameLohenangrin — den Bart seh (S.144L) übrigens für einen
ursprünglich deutschen hält — nirgends für den Schwanen-
ritter, der gewöhnlich namenlos, bloß als Chevalier au cygne
bezeichnet oder in Anlehnung an den biblischen Elias, der
im Feuerwagen (Hagen, S. 555), und den griechischen Helios,
der im Sonnenwagen über das Firmament fährt (Golther,
S. 106 Anmkg.), Helias genannt wird. Für Wolfram war der
Name des vom Gral ausgesandten Schwanritters dadurch ge-
geben, daß er bereits im XV. Buche für die Söhne Parzivals
die Namen Kardeiz und Loherangrin gewählt hatte. Als er
dann den jüngsten Sohn des Gralkönigs zum Schwanritter
machte, war er an den Namen Loherangrin gebunden. Den
8 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
Namen selbst, der an das altfranzösische Garins li Loherains,
Garin der Lothringer, den Namen eines berühmten karolin-
gischen Epenhelden, li Loherens Garin, erinnert, dürfte W o 1 f-
r am in einer seiner Quellen vorgefunden haben (Zf. d. Phil. 3,
451), hat ihn jedoch ganz willkürlich dem Schwanritter bei-
gelegt, den wir heute fast nur noch unter diesem ihm ur-
sprünglich völlig ferne liegenden Namen kennen.
Wie die eigentümliche Verknüpfung der Gralsage mit
dem Schwanritter, dessen neuer Name und seine Abstammung von
Parzival als Erfindungen Wolframs gelten müssen, so hat
der höfische Dichter auch der Sage selbst, wenn auch mit
Wahrung ihrer Hauptzüge, eine eigentümliche Gestalt gege-
ben, die es von vornherein als sicher erscheinen läßt, daß
Wagner außerdem noch andere Quellen, denen er die bei
Wolfram fehlenden Züge entnehmen konnte, benützt haben
muß. So fehlt vor allem bei Wolfram der Zweikampf des
Schwanenritters mit dem Bedränger der edlen Frau, »der
sich überall in den Bearbeitungen der Schwanensage, nur
nicht bei Wolfram und im jüngeren Titurel, als ein Haupt-
knotenpunkt der Begebenheiten, wenngleich in der verschie-
densten Motivierung und äußeren Kolorierung findet« (Rük-
kert, S. 242). Das Fehlen dieses Zuges bedingt eine Reihe
weiterer Änderungen. Während nämlich in den gangbaren
Darstellungen der Schwanritter für das Erbe einer verwit-
weten Fürstin streitet und als Siegeslohn die Hand ihrer
Tochter gewinnt, ist bei Wolf r am mit dem Wegfall des feind-
lichen Bedrängers auch die alte Herzogin überflüssig gewor-
den, eine Modifikation, deren Bühnenwirksamkeit Wagners
sicherer dramatischer Blick für seine Darstellung festhielt.
Auch hat bei Wolfram die junge Fürstin von Brabant sich
nicht den Haß und die Anklage eines zurückgewiesenen Be-
werbers zugezogen, sondern sie hat die Männer überhaupt
verschworen und gelobt, sich nur jenem Manne zu vermäh-
len, den ihr Gott zusenden werde. Dieser Mann erscheint in
Gestalt des Schwanenritters, der sie unter der Bedingung,
die Frage zu vermeiden, die hier in den Vordergrund ge-
rückt ist, heiratet und mehrere Kinder mit ihr zeugt, bis er
WOLFRAMS ABWEICHUNGEN VON DER ÜBERLIEFERUNG.
durch ihre Frage vertrieben wieder im Nachen, den der
Schwan zieht, nach Munsalvaesche zurückkehrt. Da sich diese
Abweichungen von der Überlieferung, die insbesondere die
Gewinnung der Gattin betreffen, in Wolf ra ms Vorlage nicht
finden konnten (Golther, S. 125), war die literarhistorische
Kritik vor die Frage gestellt, ob Wolfram diese Züge an-
derwärts entlehnt oder ob er sie selbständig erfunden habe;
im ersten Falle mußte man sich weiter fragen, wo das Vor-
bild zu suchen wäre, im zweiten Falle, aus welchem Grunde
er sich zu einer derartigen Modifikation entschlossen haben
mochte. Die erste Möglichkeit schien dadurch ausgeschlossen,
daß die Wolframsche Version in keiner seiner mög-
lichen Quellen ihr Vorbild fand. Es blieb also nur die
zweite Möglichkeit offen, daß sie eine selbständige poetische
Umbildung des gegebenen Sagenstoffes darstelle, wofür
unter anderem auch die Wolfram eigentümliche keusche
und innige Zeichnung der jungen Fürstin spräche. Schwieriger
ist die Frage nach dem Grunde diesör Umbildung bei dem
sonst seinen Quellen ziemlich getreu folgenden Dichter zu be-
antworten, wenn man Golther nicht auf den bequemen, aber
gänzlich uninteressanten Ausweg folgen will, daß Wolfram
seine Quellen in der ihm vielleicht nicht völlig geläufigen
französischen Sprache teils nur halb und flüchtig gelesen,
teils den Sinn nicht immer verstanden und die so ent-
standenen Lücken so gut es ging mit Hilfe seiner reichen
Phantasie ausgefüllt habe. Ansprechender und interes-
santer ist die Auffassung von Bloete (Zfda. 42), weil sie
nicht nur Wolframs Abweichungen vom Sagenstoff als be-
wußte dichterische Absicht verständlich macht, sondern zu-
gleich das noch gar nicht aufgeworfene Problem befriedigend
löst, wieso der Dichter überhaupt dazu kam, an den Schluß
seines Parzivalepos ganz unvermittelt und scheinbar zusam-
menhanglos die Schwanrittersage anzuhängen. Bloete weist
nämlich darauf hin, daß die Schwanrittersage, die wegen
ihres fesselnden Inhaltes selbst so häufig und mit so umständ-
licher Breite erzählt worden war, in Wolframs Gedicht
einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen habe (S. 27). Wolf-
10 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
ram schildert in seinem »Parzival« das Leben der Grals-
ritterschaft, die mit Ausnahme des vermählten Königs zu
strenger Keuschheit verpflichtet war ; diese galt jedoch nur
im Gebiete des Grales selbst, während außerhalb desselben
die im Dienste des Grales stehenden Männer und Frauen nicht
nur dieser Verpflichtung enthoben, sondern geradezu ver-
pflichtet waren, Kinder zu zeugen, die dann für den Grals-
dienst aufgezogen wurden. Zu diesem Zwecke wurden nun
von Zeit zu Zeit Ritter und Jungfrauen des Grales ausgesandt ;
während aber die Frauen wie Herzeloyde (str. 494) und spä-
ter Repanse de Schoye öffentlich mit ihrem Gemahl die
Gralsburg verließen, durften die Ritter nur heimlich
(»verholne«) in die Fremde ziehen, um dem Gral Kinder
zu gewinnen. Daraus erklärt sich nun, »warum am Ende
der Dichtung gerade der Stoff vom Schwanritter ange-
hängt wurde. Nicht etwa weil in Parzivals, Anfortas und
des Schwanritters Leben eine Frage eine bedeutende Rolle
spielt, obgleich der Dichter auf die Frage großen Nach-
druck legt. Auch nicht weil er vielleicht die Verbin-
dung in der Überlieferung vorfand. Sondern mit der (un-
mittelbar vor der Lohengrinerzählung geschilderten) Vermäh-
lung der Repanse (XVI) war von neuem eine Graldienerin
öffentlich vergeben worden. Dies muß den Dichter daran
erinnert haben — die Behandlung des Schwanritters als An-
hang weist darauf hin — , daß es für die zweimal (IX, 494,
13. 495, 2) betonte heimliche Entsendung eines Graldieners
im ganzen Gedicht noch kein Beispiel gab. Und unter allen
Stoffen war der von dem geheimnisvoll ankommenden Schwan-
ritter der geeignetste« (Bloete). Aber auch die Abweichun-
gen Wo lfr am s werden aus dem Umstand verständlich, daß
in seiner so benützten Schwanrittersage nur die in den Vor-
schriften der Gralsritterschaft erwähnten Bedingungen zum
Ausdruck zukommen brauchten. Wolframs Version ist also
bedingt durch die besondere Art seiner Verknüpfung des
Schwanritters mit der Gralsage. Nach den Satzungen des
Grales »werden Gralsritter nicht in herrenlose Länder ge-
schickt, strittige Angelegenheiten zu schlichten, sondern ein
ANDERE LOHENGRIN-BE ARBEITUNGEN. 11
Gralsritter zieht in ein fremdes Reich, um Fürst des Landes
zu werden, sich wie der Gralkönig eine Gemahlin zu nehmen
und mit ihr schöne Kinder zu erzeugen« (Bloete).
Von Wolfram, der die Schwanrittersage in so eigen-
artiger Auffassung und Umbildung aus ihrer französischen
Heimat nach Deutschland verpflanzte, nahm eine deutsche
Sonderentwicklung des Chevalier au cygne ihren Ausgangs-
punkt, die durch Beibehaltung des dem Schwanenritter von
Wolfram beigelegten Namens Loherangrin sowie seiner Be-
ziehung zum Gral ihre direkte Abhängigkeit vom Dichter
des Parzivalepos verrät. So hat Albrecht von Scharf en-
b e r g im Anschluß an Wolframs Titurelfragmente (v. Zfda.
25, 189 ff.) um 1270 in seinem »jüngeren Titurel« (5882, 4)
den deutschen Namen des Schwanritters beibehalten, ebenso
wie das um 1258 vollendete mittelhochdeutsche Heldengedicht :
»Loh engr in« (hg. von Görres; von Rückert; übersetzt
von Junghaus), dessen Verfasser unbekannt ist. Wie Lach-
mann (Jen. Lit.- Zeitg.,1820, Nr. 97) zuerst ausgesprochen und
nach ihm Elster in scharfsinniger Weise ausgeführt hat,
haben wir darin ein Werk zweier Dichter zu sehen, deren
verschiedener Anteil durch E Isters Untersuchung sicher-
gestellt ist (1)*). »Das Gedicht Lohengrin ist erhalten in Bear-
beitungen aus dem Ende des XIII. Jahrhunderts, ferner teil-
weise in der Kolmarer Liederhandschrift und in der Umar-
beitung eines Meistersängers (hg. von Steinmeyer), welche
den Helden Lorengel, umgebildet aus Lorengrin, Loren-
glin, benennt. Das ganze Gedicht gibt gekürzt wieder Ulrich
Füterer: Abentewr von hern lohergrim (Inhaltsangabe bei
Hoff stätter)« (Golther, S. 130) (2). Eine von Wolframs Ein-
fluß unabhängige Sonderstellung in der deutschen Entwick-
lung der Schwanrittersage nimmt der um 1280 unmittelbar
nach einem französischen Texte behandelte Schwanritter K o n-
rads von Würzburg (hg. von Roth) ein, der die Sage in
Nimwegen unter Karl dem Großen spielen läßt. Doch verrät
auch das Lohengringedicht durch eine Reihe neuer Züge, daß
*) Die in Klammer stehenden Zahlen beziehen sich auf die Nachweise
und Anmerkungen am Schlüsse der Arbeit.
12 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
es nicht bloß eine breite Ausspinnung von Wolframs Ver-
sion darstellt, sondern auch aus anderen, vermutlich wieder
französischen Quellen geschöpft hat. Diesem Gedichte ver-
dankt Wagner sowohl die Hauptzüge der Handlung wie
eine Reihe nicht unwesentlicher Details; es darf uns aber
bei einem Dichter von der Gestaltungskraft und Innerlich-
keit eines Wagner nicht wundern, wenn er dieses »alt-
deutsche Gedicht als das dürftigste und platteste, was in die-
ser Art auf uns gekommen ist« bezeichnet und hinzusetzt:
»Ich fühle mich in der Befriedigung des Reizes sehr glück-
lich, die fast ganz unkenntlich gewordene Sage aus dem
Schutt der schlechten prosaischen Behandlung des alten Dich-
ters erlöst und durch eigene Erfindung und Nachgestaltung
sie wieder zu ihrem reichen hochpoetischen Wert gebracht
zu haben.« (Nach Kapp, S. 143.) Diese Bedeutung des alten
Lohengringediehtes für die Konzeption und Gestaltung des
Wagn ersehen Musikdramas mag es rechtfertigen, etwas
länger bei seinem Inhalt zu verweilen, der uns, bevor wir an die
Deutung der Sage gehen, ihre Grundzüge nochmals in geschlos-
sener Form in Erinnerung bringen mag. Wir sehen dabei von der
Einkleidung der Sage, die hier beim Sängerkrieg auf der Wart-
burg dem Dichter Wolfram von Eschenbach in den Mund
gelegt wird, sowie von der am Schlüsse behandelten Ge-
schichte und Nachkommenschaft König Heinrich I. ab, in
dessen Regierungszeit (919 — 936) und politische Geschichte
die Sage von Lohengrin hier verwoben erscheint. Die Sage
selbst teilen wir in der unnachahmlichen Wiedergabe [der
Brüder Grimm: Lohengrin zu Brabant (Deutsche Sagen, 2. Teil,
S. 3G6) mit und wollen dabei gewisse vonWagn erübergangene
oder umgebildete Details für unsere spätere Untersuchung
hervorheben.
Der Herzog von Brabant und Limburg starb, ohne andere
Erben als eine junge Tochter Eis oder Elsam zu hinterlassen;
diese empfahl er auf dem Todbette einem seiner Dienstmannen,
Friedrich von Telramund. Friedrich, sonst ein tapferer Held, der
zu Stockholm in Schweden einen Drachen getötet hatte, wurde
übermütig und warb um der jungen Herzogin Hand und Land,
unter dem falschen Vorgeben, daß sie ihm die Ehe gelobt hätte.
DAS LOHENGRINGEDICHT. 13
Da sie sich standhaft weigerte, klagte Friedrich bei dem Kaiser,
Heinrich dem Vogler ; und es wurde Recht gesprochen, daß sie
sich im Gotteskampf durch einen Helden gegen ihn verteidigen
müsse. Als sich keiner finden wollte, betete die Herzogin inbrün-
stig zu Gott um Rettung. Da erscholl weit davon zu Montsalvatsch
beim Gral der Laut der Glocke, zum Zeichen, daß jemand drin-
gender Hilfe bedürfe. Alsobald beschloß der Gral, den Sohn Par-
zivals, Lohengrin, danach auszusenden. Eben wollte dieser sei-
nen Fuß in den Stegreif setzen, da kam ein Schwan auf dem
Wasser geflossen und zog hinter sich ein Schiff daher. Kaum
erblickte ihn Lohengrin, als er rief: »Bringt das Roß wieder zur
Krippe; ich will nun mit diesem Vogel ziehen, wohin er mich
führt.« Speise, im Vertrauen auf Gott, nahm er nicht in das
Schiff; nachdem sie fünf Tage über Meer gefahren waren,
fuhr der Schwan mit dem Schnabel ins Wasser, fing ein Fisch-
lein auf, aß es halb und gab dem Fürsten die andere Hälfte zu
essen. So wurde der Ritter von dem Schwan gespeist.
Unterdessen hatte Elsa ihre Fürsten und Mannen zu einer
Landsprache nach Antwerpen berufen. Gerade am Tage der Ver-
sammlung sah man einen Schwan die Scheide herauf schwimmen,
der ein Schifflein zog, in welchem Lohengrin auf sein Schild
ausgestreckt schlief. Der Schwan landete bald am Gestade
und der Fürst wurde fröhlich empfangen. Kaum hatte man ihm
Helm, Schild und Schwert aus dem Schiffe getragen, als der
Schwan sogleich zurückfuhr. Lohengrin vernahm nun das Unrecht,
welches die Herzogin litt, und übernahm es gern, ihr Kämpfer
zu sein. Elsam ließ hierauf alle ihre Verwandten und Unter-
tanen entbieten; in Mainz wurde das Gestühl errichtet, wo Lohen-
grin und Friedrich in Gegenwart des Kaisers kämpfen sollten.
Der Held vom Gral überwand Friedrich; dieser gestand, die Her-
zogin . angelogen zu haben, und wurde mit Schlägel und Barte
(Beil) gerichtet. Elsa fiel nun dem Lohengrin zu Teil, die längst
einander liebten. Doch behielt er sich insgeheim vor, daß
sie alle Fragen, welches Stammes er sei und woher
er gekommen wäre, zu vermeiden habe: denn sonst müßte
er sie augenblicklich verlassen, so daß sie ihn nimmer wiedersähe.
Eine Zeitlang verlebten die Eheleute in ungestörtem Glück
und Lohengrin beherrschte das Land weise und mächtig. Auch
dem Kaiser leistete er auf den Zügen gegen die Hunnen und Hei-
den große Dienste. Es trug sich aber zu, daß er einmal im Speer-
wechsel den Herzog von Cleve herunterstach, so daß dieser den
Arm brach. Neidisch redete da die Clever Herzogin laut unter den
Frauen: »Ein kühner Held mag Lohengrin sein und Christenglau-
ben scheint er zu haben ; schade, daß Adels halben sein Ruhm
14 WAGNERS LOHENGRIN-DRAMA UND SEINE STOFFQUELLEN.
gering ist; denn niemand weiß, woher er ans Land
geschwommen kam.« Dieses Wort ging der Herzogin von Bra-
bant durch das Herz, sie errötete und erblich. Nachts im Bette,
als ihr Gemahl sie in Armen hielt, weinte sie und er sprach : »Was
ist dir, Elsa mein?« Sie antwortete: »Die Clever Herzogin hat
mich zu tiefen Seufzern gebracht.« Aber Lohengrin schwieg und
fragte nicht weiter. Die zweite Nacht ging es ebenso. Allein in der
dritten Nacht konnte sich Elsa nicht länger halten und sprach:
»Herr, zürnt mir nicht! Ich wüßte gern, um unserer
Kinder willen, von wannen ihr geboren seid; denn mein
Herz sagt mir, ihr seid reich an Adel.« Als nun der Tag anbrach,
erklärte Lohengrin öffentlich, woher er stamme: daß Parzival sein
Vater sei und Gott ihn vom Gral hergesandt habe. Dar-
auf ließ er seine beiden Kinder bringen, die ihm die Her-
zogin geboren hatte, küßte sie, befahl ihnen Hörn und Schwert,
das er zurücklasse, wohl aufzuheben und sagte: »Nun muß ich
auf die Fahrt!« Der Herzogin ließ er das Fingerlein, das ihm
einst seine Mutter geschenkt hatte. Da kam mit Eile sein
Freund, der Schwan geschwommen, hinter ihm das Schifflein; der
Fürst trat hinein und fuhr übers Wasser wieder in den Dienst
des Grals. Elsa sank ohnmächtig nieder, daß man mit einem Keil
ihre Zähne aufbrechen und ihr Wasser eingießen mußte. Den jün-
geren der Knaben, Lohengrin, beschloß die Kaiserin
um seines Vaters willen zu behalten und ihn wie ihr
eigenes Kind zu erziehen. Die Witwe aber weinte und klagte
ihr übriges Leben lang um den geliebten Gemahl, der nimmer
wiederkehrte.
Die im Vorstehenden aufgezeigte und verfolgte Sonder-
entwicklung der unter dem Namen Lohengrin auf deutschen
Boden verpflanzten Schwanrittersage war Wagner wohl
bekannt, als er im Sommer 1845, vier Jahre nach dem Auf-
tauchen des ersten Planes zum Lohengrin, an den Entwurf
einer Textskizze ging. Aber nun erscheint der Lohengrin der
Phantasie des Dichters nicht mehr als isolierte Gestalt, son-
dern als erstes Glied einer Trilogie, die den Lohengrinstoff
über die »Meistersinger von Nürnberg« hinweg mit dem
»Parzival« verbinden sollte (Chop, S. 4). Mitten in der ersten
Niederschrift des Entwurfs seiner »komischen« Oper drängte
es jedoch den rastlos schaffenden Dichter mit unwidersteh-
licher Gewalt zur Gestaltung des Lohengrin, den er in der
kurzen Erholungszeit seines Marienbader Aufenthalts so weit
WAGNERS STELLUNG ZU SEINEM STOFF. 15
förderte, daß er bereits Mitte November im Freundeskreise
die eben beendete Dichtung vorlesen konnte (Glasenapp, II, 2).
Die mächtige Anziehungskraft, die der Lohengrin nun auf
ihn ausübte, äußert sich am deutlichsten in der impulsiven
Konzeption des Stoffes, der dem Meister schon seit seiner
Pariser Zeit vertraut war. »Der Lohengrin. . . stand plötzlich
vollkommen gerüstet mit größter Ausführlichkeit der drama-
tischen Gestaltung des ganzen Stoffes vor mir. Namentlich
gewann die an ihm so bedeutungsvoll haftende Schwanensage
durch alle um jene Zeit, vermöge meiner Studien mir bekannt
gewordenen Züge dieses Mythenkomplexes, einen übermäßigen
Reiz für meine Phantasie« (Mein Leben, S. 360 f.). Aber die
damalige Beiseitesetzung des Themas war nicht nur darin
begründet gewesen, daß er zunächst vom Tannhäuser erfüllt
worden war, »sondern auch weil die Form, in der Lohengrin
mir entgegentrat, einen fast unangenehmen Eindruck auf mein
Gefühl machte, faßte ich ihn damals nicht schärfer ins Auge.
Erst als der unmittelbare Eindruck dieser Lektüre [des mit-
telalterlichen Gedichtes] sich mir verwischt hatte, tauchte die
Gestalt des Lohengrin wiederholt und mit wachsender An-
ziehungskraft vor meiner Seele auf; und diese Kunst ge-
wann von außen her namentlich auch dadurch Nahrung, daß
ich den Lohengrin-Mythos in seinen einfacheren Zügen,
und zugleich nach seiner tieferen Bedeutung, als eigentliches
Gedicht des Volkes kennen lernte, wie er aus den läuternden
Forschungen der neueren Sagenkunde hervorgegangen ist«
(Wagner: Eine Mitteilung an meine Freunde). Wagner
bezieht sich hier auf die Forschungen der Brüder Grimm,
die in ihren »Deutschen Sagen« noch eine Reihe anderer,
sehr merkwürdiger Fassungen der Schwanrittersage mitteilen,
die der Dichter des Lohengrindramas wohl gekannt und
denen er einzelne Züge entnommen hat, um sie mit staunens-
werter Meisterschaft in seine Handlung zu verweben.
Ehe wir uns aber diesen interessanten Versionen der
Sage zuwenden, die uns auf den weiten und beschwerlichen
Weg der Sagendeutung und von dort wieder zu unserem Aus-
gangspunkt, dem Musikdrama des Bayreuther Meisters zurück-
16 DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
führen sollen, wird es sich empfehlen, ein Stück Deutung
der Lohengrinsage, welches bereits gegeben ist und auf dem
breiten Fundament der vergleichenden Sagen- und eindring-
lichen Seelenforschung ruht, vorwegzunehmen.
U.
Dieses Stück Deutung stellen wir jedoch nicht so sehr
darum voran, weil es bereits bekannt und gesichert erscheint,
sondern vornehmlich deshalb, weil es den eigentlichen Kern
der Sage betrifft und uns von der literargeschichtlichen Kritik
ebenso wie vom naiven Wohlgefallen an dem Stoff mit einem
Male mitten in das geheimnisvolle und doch im Grunde so
primitive Schaffen der Volksseele versetzt.
Den Kern der Sage, die geheimnisvolle Ankunft eines
unbekannten Helden, der auf wunderbare Weise zum Heile
eines fremden Landes über das Meer gezogen kommt und
nach einem glücklichen und ruhmreichen Leben durch die
Frage nach seiner Herkunft verscheucht, auf ebenso seltsame
Weise wieder verschwindet, hat Wagner scharf erfaßt
und in seiner eigentümlich poetischen Weise beschrieben :
»Ein uralter und mannigfach wiederholter Zug geht durch
die Sagen der Völker, die an Meeren oder an meer-
mündenden Flüssen wohnten: auf dem blauen Spiegel
der Wogen nahte ihnen ein Unbekannter von höchster
Anmut und reinster Tugend, der alles hinriß und jedes Herz
durch unwiderstehlichen Zauber gewann ; er war der erfüllte
Wunsch des Sehnsuchtsvollen, der über dem Meeresspiegel
in jenem Lande, das er nicht erkennen konnte, das Glück
sich träumte. Der Unbekannte verschwand wieder und zog
über die Meereswogen zurück, sobald nach seinem Wesen ge-
forscht wurde.« (Nach Kapp, S. 143.)
In meiner Untersuchung über den »Mythus von der
Geburt des Helden« konnte ich nun nachweisen, daß dieser
Sagenkern gleichsam das Schema einer uralten, unter allen
Kulturvölkern weit verbreiteten mythischen Erzählung ist,
welche die wunderbare Geburt und das ruhmvolle Leben des
Helden schildert.
DAS SCHEMA DES AUSSETZUNGSMYTHUS. 17
Diese weitverzweigte Mythengruppe ließ sich trotz der
verschiedenartigsten und oft ziemlich abweichenden Einklei-
dungen auf eine Durchschnittsage etwa folgender Gestalt
reduzieren :
»Der Held ist das Kind vornehmster Eltern, meist
ein Königs- oder Göttersohn.
Seiner Entstehung gehen Schwierigkeiten voraus,
wie Enthaltsamkeit oder lange Unfruchtbarkeit oder heim-
licher Verkehr der Eltern infolge äußerer Verbote oder Hin-
dernisse. Während der Schwangerschaft oder schon früher
erfolgt eine vor seiner Geburt warnende Verkündigung
(Traum, Orakel), die meist dem Vater Gefahr droht.
Infolgedessen wird das neugeborene Kind, meist auf Ver-
anlassung des Vaters oder der ihn vertretenden
Person, zur Tötung oder Aussetzung bestimmt; in der
Regel wird es in einem Kästchen dem Wasser
übergeben.
Es wird dann von Tieren oder geringen Leuten
(Hirten) gerettet und von einem weiblichen Tiere
oder einem geringen Weibe gesäugt.
Herangewachsen, findet es auf einem sehr wechselvollen
Wege die vornehmen Eltern wieder, rächt sich am Vater
einerseits, wird anerkannt anderseits und gelangt zu
Größe und Ruhm.« (Rank: Mythus, S. 61.)
In diesem Zusammenhang interessiert uns zunächst nur
die feindselige Aussetzung des Neugeborenen, der — wie bei-
spielsweise die Mythen von Moses, Sargon, Karna, Ödipus
u. v. a. erzählen — in einem wohl verschlossenen Kästchen
dem Wasser übergeben, aber von einem hilfreichen Tier oder
gutherzigen Leuten gerettet und so seinem späteren Helden-
berufe aufbewahrt wird. Wenn wir nun nach dem Sinn dieses
Mythus fragen und dabei nicht so genügsam, vor allem aber
nicht so unpsychologisch sein wollen, uns mit einer natura
mythologischen Auslegung zufrieden zu geben, die auch im
Schwanritter nur den auf dem meergleichen Wolkenhimmel
wie in einem Nachen dahinf ahrenden Sonnengott sieht (Hoff ory),
so müssen wir im stände sein, für eine Weile alle philologisch-
Rank, Die Lohengrinsage. 2
18 DER AÜSSETZUNGSMYTHÜS.
etymologischen Künste, unsere literarhistorische Kritik, die
ganze Mythenforschung, Sagenkunde und Götterlehre beiseite
zu setzen und uns vertrauensvoll um Aufschluß an die Psy-
chologie, die Kunde vom menschlichen Seelenleben wenden.
Denn mögen wir uns auch die anschauliche und alles in
phantastischer Weise belebende Begabung der jungen, im
Weltall und Erdenleben unorientierten Menschheit auch noch
so weitschweifend und üppig vorstellen, sie bleibt doch immer
Phantasie, das heißt ein innerer Vorgang im Seelen- und
Vorstellungsleben des Individuums. Und so wenig wir den
heute noch unter uns lebenden besonders phantasiebegabten
Wesen, den Dichtern, ein Schaffen aus der bloßen Anschauung
heraus zutrauen, so müssen wir auch bei den primitiveren
Mythenschöpfern eine gewisse psychologische Verfassung, eine
Art Gemütsstimmung wenn man will, voraussetzen. Läßt sich
nun auch diese Stimmung nicht so leicht nachfühlen und er-
fassen, so ermöglicht der heutige Stand unserer Psychologie
doch schon, die einzelnen in der Regel nicht voll bewußten
Elemente, aus denen sie erwächst, zu ermitteln. Wir müßten
dazu nur die Möglichkeit besitzen, von dem fertigen, mit
voller Deutlichkeit ins Bewußtsein tretenden Mythus zu seinen
weniger klar bewußten oder vielleicht gänzlich unbewußten
seelischen Vorstufen zu gelangen (3). Nun müßte, da wir die
Mythenschöpfer nicht mehr befragen und ausforschen können,
diese Aufgabe ihrer Natur nach scheitern, wenn nicht diese
ganze scheinbar unwiderbringlich versunkene Märchenwelt in
uns allen fortlebte und sich von Zeit zu Zeit durch gewisse
unverstandene und nicht beachtete Anzeichen, unsere nächt-
lichen Träume, kundgäbe. Den geheimnisvollen und über-
raschend tiefen Sinn dieser individuellen Mythen, der sich
hinter ihrem faßbaren Inhalt verbirgt, ans Licht gezogen und
verständlich gemacht zu haben ist das unsterbliche Verdienst
Freuds. In seiner »Traumdeutung« hat er jenen, welche
sich nicht scheuen, aus der geheimnisreichen Geisterwelt
unseres Seelenlebens ungehobene Schätze an fruchtbaren Er-
kenntnissen zu gewinnen, die Springwurzel in die Hand ge-
geben, die das dem Uneingeweihten verschlossene Geisterreich
DIE SYMBOLIK VON KÄSTCHEN UND WASSER. 19
öffnet. Mit der von ihm geschaffenen und immer weiter ver-
vollkommneten psychoanalytischen Methode gelang es ihm
zu zeigen, daß unsere nächtlichen Traumbilder den entstell-
ten Ausdruck vollwertiger und für den Träumer bedeutungs-
voller Gedanken darstellen, die ihm teilweise bewußt, zum
größten Teile jedoch unbewußt sind. Eine intensive Beschäf-
tigung mit den Träumen gesunder und gemütskranker Men-
schen hat nun gestattet, gewisse typische, das heißt bei allen
Menschen immer mit der gleichen geheimen Bedeutung
wiederkehrende Traumgruppen aufzustellen. Eine derselben
umfaßt die sogenannten »Geburt s träume« (Freud, Tr.,
S. 199), deren Studium uns ermöglicht hat, den verborgenen
Sinn auch des Aussetzungsmythus zu ergründen. Aus der
Verwendung der gleichen typischen Symbole läßt sich mit
Sicherheit schließen, daß die Aussetzung des neugeborenen
Helden im Kästchen und Wasser nichts als einen symbolischen
Ausdruck der Geburt darstellt. Die Kinder kommen bekannt-
lich nicht nur in dem keineswegs so ungereimten Storchglauben
sondern auch in Wirklichkeit aus dem Wasser, dem Frucht-
wasser nämlich, und das so wohlverschlossene und den kleinen
Helden schützende Kästchen ist nichts als eine bildliche Dar-
stellung des Fruchtbehälters, des Mutterleibs. Das Heraus-
ziehen aus dem Wasser aber, das im Aussetzungsmythus -
wie mitunter auch im Traume (Freud, Tr., S. 198) — aus
gewissen in der Mythenschöpfung begründeten Tendenzen
(vgl. darüber Rank: Mythus) als ein Hineinstürzen dar-
gestellt wird, symbolisiert direkt den Geburtsvorgang. Volks-
glaube, Sage und Märchen drücken diese im Aussetzungs-
mythus symbolisch dargestellte Anschauungsweise direkt und
unverhüllt aus und es verlohnt sich, einen Blick auf die reiche
folkloristische Überlieferung zu werfen, die sich mit diesem
Thema beschäftigt.*)
*) Völlig im Sinne dieser unbewußten Symbolik scheint es auch gedacht,
wenn der römische Dichter Luerez die Geburt mit einem Schiffbruch ver-
gleicht, wobei das neugeborene Kind nackt und bloß ans Ufer einer unbe-
kannten Insel geworfen wird: »Siehe das Knäblein, wie ein durch die Wut
der Wellen an das Ufer geworfener Schiffer liegt es da, das arme Kind!
2*
20
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
Nach Mannhardt (G. M. 255, wo man auch weitere Lite-
ratur verzeichnet findet) »ist die Ammenrede, daß die kleinen
Wickelkinder aus dem Brunnen geholt werden, durch ganz Deutsch-
land verbreitet«. Es gibt in Deutschland eine Menge »lokalisierter
Brunnen und Weiher, in denen die Ungeborenen als vollständig
fertige Wesen hausen« (Reitzenstein, S. 662) und nur darauf warten,
herausgezogen zu werden. So berichtet beispielsweise H. Pro hie
»Aus dem Harz« (Zfd. Myth., L, 196 f.): »Den Kindern sagt man
dort auch, daß sie bei der Geburt aus dem neuen Teiche geholt
werden. Solche Kinderteiche wird es bei uns wohl an jedem Orte
g e b en< — Bei Schulenburg oben sitzt im Festenburger Teich die
große Wasserfrau, die hat die Kinder bei sich im Teiche. Von da
kommen sie in der Flut heruntergeschwommen und werden von
den Leuten in Schulenburg aufgefangen.« — Im Wasser zu
Elbingerode, wo der wilde Jäger alle sieben Jahre jagt, kommen
die Kinder aus dem Teichloch (Mannhardt, S. 95) und ähnlich
sollen sich in einem Wässerchen bei Stolberg an verschiedenen
Stellen kleine Kinder gezeigt haben (Mannhardt, S. 205). Ebenso
berichtet F. Woeste (Zeitschr. f. d. Mythol., II, S. 90): »Von
Kinderteichen und Kinderbrunnen sowie von Kinderbäumen ist
in unserem Gebirgslande allerwegen die Rede. In Dielinghofen
kommen die Kindlein aus dem Burdyke, was Bauernteich, aber auch
Samenteich besagen kann. In Limburg nannte man mir den Milch-
brunnen, anderen war es eine zur Flutzeit gefüllte Höhle unter dem
Oegersteine. — Im Westen der Kolme wird dagegen meist gesagt :
die Kleinen kommen aus einem hohlen Baume.« Aus Wasser, hohlen
Bäumen oder Zubern kommen die Kinder auch nach dem von
V. Z i n g e r 1 e (Zeitschr. f. d. Myth., II, 345) aufgezeichneten Volks-
glauben. Aber auch eine in weit entlegenen Fernen, im indischen
Archipel (Singapore) heimische Überlieferung kleidet den Geburts-
vorgang in eine ähnliche symbolische Sprache. Nach Bab (Zf.
Ethn., 1906, S. 281) erhielt die Frau des Rajah Besurjag ein auf
einer Wassersehaumblase schwimmendes Kind. Am übereinstim-
mendsten mit dem Aussetzungsmythus gibt der niederösterreichische
Volksglaube, den J. Wurth (Zf. d. Mythol., IV, 140) mitteilt,
die Herkunft der Kinder an: »Weit, weit im Meere da steht ein
Baum, bei diesem wachsen die kleinen Kinder. Sie sind mit einer
Schnur an dem Baume angewachsen, wenn das Kind reif ist, so
reißt die Schnur ab und das Kind schwimmt fort. Damit es aber
nackt, auf der Erde, aller Lebenshilfe dürftig, wann es zuerst die Natur aus
dem Schöße der Mutter mit Schmerzen losgerissen hat. Mit kläglichem Gewim-
mer erfüllt es seinen Geburtsort. Und das wohl mit Recht, dem so viele Übel
noch im Leben bevorstehen.« (Lucrez, de natura rerum, V, 222 — 227.)
DER STORCHGLAUBE IN DER VOLKSÜBERLIEP^ERUNG. 21
nicht ertrinkt, so ist es in einer Schachtel und mit dieser schwimmt
es nach dem Meere herab, bis es in einen Bach kommt. Nun läßt
unser Herrgott ein Weib, welchem er das Kind zugedacht hat
krank werden. Da wird der Arzt geholt. Diesem hat es unser
Herrgott schon eingegeben, daß das kranke Weib ein kleines Kind
bekommen wird. Er geht daher hinaus zum Bache und paßt da
so lange auf, bis endlich die Schachtel mit dem Kinde herabge-
schwommen kommt, welche er auffängt und dem kranken Weibe
bringt. Und auf solche Weise bekommen alle Leute die kleinen
Kinder.« (Trumau.) Wie hier das neugeborene Kind vom Geburts-
helfer aus dem Wasser gezogen wird, so heißt es ähnlich in der
Sage vom »Frau Hohen Teich« (Grimm, D. S, I, 7): »Die neu-
geborenen Kinder stammen aus ihrem Brunnen und sie trägt sie
daraus hervor.« Aber nicht nur im Mythus, im Volksglauben und
in der Sage, auch »im Märchen wird die Geburt des Menschen
öfters als ein Heraufholen des Kindes aus einem Brunnen oder
einem See dargestellt« (Thimme, S. 157). Für gewöhnlich wird
diese Aufgabe dem Storch zugeschrieben, mit dem wir uns noch
zu beschäftigen haben werden. »Aus dem Stein oder Brunnen
werden die Kinder durch den Storch abgeholt und den Müttern
gebracht« (Mannhardt, G. M., S. 257), wie z. B. im Märchen von
den »Beiden Wanderern« (Grimm, K. H. M., Nr. 107), wo der
diensteifrige Storch das besorgte Schneiderlein, das dem König
einen Erben herbeischaffen soll, mit den Worten beruhigt: »Schon
lange bringe ich die Wickelkinder in die Stadt, da kann ich auch
einmal einen kleinen Prinzen aus dem Brunnen holen. Geh heim
und verhalte dich ruhig. Heute über neun Tage begib dich in
das königliche Schloß, da will ich kommen.« Zur bestimmten
Stunde kommt der Storch mit einem Knäblein im Schnabel durchs
Fenster in den königlichen Palast geflogen und legt der Königin
ein schönes Kind auf den Schoß. — »Zu Seheidingen, in der Ge-
gend von Werl, holt der Storch die Kinder aus dem Teiche auf
der Werler Voede. In Erfurt holt der Storch die Kinder aus dem
Kessel, einer Vertiefung beim Wallgraben, zu Halberstadt aus der
Klüs« (Mannhardt, S. 257 3 ). — Ein in Dietzenbach und Umgegend
»an den Storch als Kinderbringer« gerichtetes Lied (Zf. d.
Myth., I, 475) lautet: »Stork stork steine mit de lange beine, mit
de korze knie! Jungfrau Marie hat e kind gefunne in
dem kleine Brunne, wer solls hebe? « Überall zeigt sich
also die gleiche symbolische Darstellung des Fruchtbehälters, des
Mutterleibs, als Brunnen, Teich, See (4), als Kessel, Graben, dunkle
Höhle und hohler Baum, welche regelmäßig auch »als Wohnsitz
der ungeborenen Seelen gedacht werden« (Mannhardt, S. 255) und
an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Wir werden auf
22
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
die tiefere Bedeutung dieser Symbolik noch bei der psychologischen
Analyse des Unterweltbegriffes zurückkommen und möchten hier
nur kurz darauf hinweisen, wie uralt und weitverbreitet besonders
der Glaube ist, daß die Menschen aus Gewächsen, insbesondere aus
hohlen Bäumen stammen. So erwähnt Krauß (S. 26), daß nach
japanischem Volksglauben der Mensch vom Baume abstammt und
wieder in den Baum zurückkehrt. — »Japanen und Chinesen be-
ziehen folgerichtig auch ihren Nachwuchs von den Baumseelen und
hegt daher Brautleuten ob, sich deren Wohlwollen zu erwerben.«
— »Der Missionär Krösczyk berichtet vom Glauben der Miaotze,
einer vorchinesischen Bevölkerungsschichte in der Kantonprovinz,
wonach die Kinderseelen in einem Garten leben und, wenn die
Frauen unfruchtbar sind, dort von Geistern zurückgehalten werden,
die man Blumengroßvater und -Großmutter nennt« (Krauß,
S. 96). Sehr interessantes Material zur Geburt aus dem hohlen
Baume hat Frobenius (I, 273) zusammengestellt: »In Südafrika
kommt das erste Menschenpaar aus einem hohlen Baume. In der
Südostecke Neuhollands, die die außerordentlich reiche Befruchtung
durch ozeanische Mythologie erfahren hat, wird der erste Mensch
aus Baumknoten herausgeholt. Der wahrscheinlich aus Indien
stammende Dionysosmythus der Griechen läßt diesen Gott aus dem
hohlen Baume kommen. In Ägypten wächst nicht nur Horus aus
dem hohlen Baume heraus, sondern in seiner Nachtfahrt wird
Osiris in dem berühmten Baume eingeschlossen, aus dem Isis ihn
herausschält.« Von diesem hohlen Baume ist nur ein Schritt zu
dem Nachen oder Schiff lein, in welchem das ausgesetzte Neu-
geborene schwimmt, da bekanntlich als die ersten Wasserfahrzeuge
ausgehöhlte Bäume dienten, in denen man auch, wie wir später
hören werden, die Toten beisetzte.
So schließt sich von überall her der Kreis dieses weit-
verbreiteten Volksglaubens, den Reitzen stein in seiner in-
teressanten Abhandlung an reichem, bei Naturvölkern ge-
sammelten Material als Überrest eines ehemaligen Glaubens
der Erwachsenen nachgewiesen hat. »Das Storchmärchen wurde
nicht zu dem Zwecke erfunden, um den Kindern den wahren
Vorgang der Geburt und Zeugung zu verheimlichen, sondern
es wurzelt in Vorstellungen, die ehedem die Erwachsenen
hatten«, bevor ihnen »der Kausalzusammenhang zwischen
Geschlechtsverkehr und Empfängnis« klar geworden war, der
heute unsern Kindern noch so viele Rätsel aufgibt. So wird
von zentralasiatischen Stämmen berichtet, daß »sie glauben,
DER STORCHGLAUBE BEI DEN NATURVÖLKERN. 23
ein Pflanzengeist fahre in das Weib ein; er haust in einem
großen Wald oder in der Wassertiefe, wie in unserem Volks-
glauben, wo ja auch die Kinder aus Bäumen oder aus dem
Wasser geholt werden. Diese Geister denkt man sich wie ein
kleines Sandkorn, das durch den Nabel in die Mutter eingeht
und dort zum Kinde wächst.« — Im Gebiete des Aranda-
stammes glaubt man, daß in gewissen Steinen*) Kinder-
geister stecken, die sowohl durch Zauber wie durch eigene
Machtmittel in den Körper des Weibes eingehen, und zwar
meist durch den Nabel. — Bei den Australiern war die Hei-
mat der Kinder der Wald, Steine oder Wassertümpel, während
wir bei den Mexikanern ein vollständig ausgebildetes Kinder-
reich, ein Seelenland, finden. Aber auch schon die vermit-
telnden Tiere, welche nach Art unseres Storches die Befruch-
tung bewirken, kennen die Australier; es sind Schlange,
Brachschnepfe und Känguruh. Bei den Indern spielt der Ibis
die gleiche Rolle, bei den Japanern der Kranich, bei den
Mexikanern der rote Löffelreiher und in ganz Vorderasien
war es die Taube, die später als heiliges Tier der Liebes-
göttin galt. Das bekannteste Beispiel ihrer Tätigkeit ist nach
Reitzenstein, dem auch die vorhergehenden Angaben ent-
lehnt sind, die conceptio immaeulata der Maria. — Auch in
der Sage der Semiramis spielt die Taube eine ähnliche Rolle
und am Cape Graf ton glauben die Eingeborenen, wie Roth
erzählt, daß die vollständig ausgebildeten Kinder der Mutter
von einer Taube im Traume gebracht werden (Reitzenstein,
S. 668). Bei den Germanen und in verschiedenen anderen
europäischen Ländern hat bekanntlich der Storch diese Aufgabe
übernommen, woher er seinen alten Namen adebar = Kinder-
bringer hat ; neben ihm waren in früherer Zeit die Schlange
*) Diese Kinder bei'genden Steine scheinen im Hinblick auf die Stein-
phalloi der Japaner (Krauß, S. 30), denen die alten griechischen Hermen voll
entsprechen, Symbole des männlichen Gliedes zu sein, wie ja Brunnen,
Wasser, hohle Bäume u. s. w. Symbole des weiblichen sind. Daraus erklärt sich'
auch ihre Fruchtbarkeitswirkung, denn der Phallus ist ja eigentlich der Auf-
enthalt der Ungeborenen. Vgl. die Ko-dane-ishi (= child-seed-stone) »said
io have miraculous effects in cases of sterility« (Krauß, S. 52 ff.).
24
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
und der Hase beteiligt, während er in den Ländern des Nor-
dens durch den Schwan ersetzt wurde. — So erweist sich
also die scheinbar in absichtlicher Erfindung den Kindern
aufoktroyierte Fabel von der Herkunft der Kinder als uralter,
im primitiven Vorstellungsleben wurzelnder Rest ehemaligen
Volksglauben und die symbolische Erfassung dieser rätsel-
haften Vorgänge, die in gleicher Weise der Aussetzungs-
mythus wie unsere nächtlichen Traumschöpfungen zeigen,
scheint sich mit unleugbarer Gesetzmäßigkeit weniger typi-
scher Ausdrucksmittel zu bedienen.
Man hat es nun bequem gefunden, mit einem unbeküm-
merten Hinwegsehen über diese volkskundlichen Zeugnisse
die Ergebnisse der Freud sehen Traumlehre, die nur ein so
durchaus unnatürlich fühlendes Zeitalter wie das unsrige an-
stößig finden konnte, als willkürlich und unbewiesen abzu-
lehnen. Über die Beweisfrage möchten wir hier nicht disku-
tieren, da bekanntlich oft gerade die selbstverständlichen
Dinge eines streng wissenschaftlichen Beweises nicht fähig
sind, während es anderseits jedermann freisteht, selbst an den
exakten Beweisen der Mathematik zu zweifeln. Beweise ruhen
nämlich auf gewissen allgemein-menschlichen Voraussetzun-
gen und Konventionen, sind also niemals absolut gültig und
lassen überdies auf den verschiedenen Gebieten wissenschaft-
lichen Denkens jeweils nur einen bestimmten Grad von Evi-
denz zu. Was speziell die Beweisbarkeit der Symbolik be-
trifft, so können wir nur voll und ganz die vor mehr als
einem halben Jahrhundert niedergeschriebene Auffassung des
Mythen- und Sprachforschers Wilhelm Müller teilen, der
gelegentlich eines naturmythologischen Deutungsversuches der
Schwanrittersage folgendes ausführt:
»Dann möge man auch die einzige Art des wissenschaft-
lichen Beweises gelten lassen, die auf diesem Gebiete möglich
ist, und die ich von jeher bei mythologischen Untersuchungen
angewandt habe. Der mythische Ausdruck der Vorzeit ist
einer fremden oder einer mit für sich unverständlichen Worten
untermischten Sprache zu vergleichen. Wie wir nun die Be-
deutung unbekannter Worte dadurch ermitteln, daß wir die-
BEWEISBARKEIT DER SYMBOLIK. 25
selbe zunächst aus dem Zusammenhange einer Stelle erraten
und sie für richtig halten, wenn sie an allen Stellen, wo das
Wort wiederkehrt, paßt, so ist die Erklärung eines Symbols,
abgesehen von anderen Stützpunkten, dann für richtig zu
halten, wenn dasselbe allenthalben, wo es erscheint, oder doch
in einer großen Anzahl von Fällen, dieselbe Erklärung zuläßt,
und diese in den Zusammenhang des Mythus paßt. Wer eine
solche Art der Beweisführung nicht gelten lassen will, wie es
manche tun möchten, welche keine Neigung haben, die Mytho-
logie zu lernen, der muß uns dagegen den Beweis liefern,
daß es überhaupt keine Mythen, weder historische noch re-
ligiöse geben könne, und daß folglich auch keine Deutung
derselben zulässig sei« (Müller, S. 419). Soll diese Befür-
wortung des Mythologen unser Verfahren insbesondere vor
den Sprachforschern, die ja in ihrer Methodik genau so vor-
gehen, rechtfertigen, so darf sich die Freud sehe Traumlehre
anderseits auf die Jahrtausende alte, weisheitsgesättigte Volks-
meinung und -Überlieferung berufen, die niemals daran ge-
zweifelt hat, daß Wasserträume als Geburtsträume aufzufassen
seien. *) So findet sich in der dem Aussetzungsmythus zuge-
hörigen Kyrossage, in der Version des Ktesias (vgl. Rank,
Mythus, S. 36), die reale Aussetzung ersetzt durch einen
*) Auch Sclierner (Das Leben des Traumes, Berlin 1861), der das
Wesen des Traumes in intuitiver Weise vielfach treffend erfaßt hat, sieht
in den Wasserträumen Beziehungen zur Geburt (S. 200 f.) : »Die Geschlechts-
regung symbolisiert sich durch Vorbildungen kleiner Kinder und damit ver-
bundener Phantasieaktionen. Es ist offenbar, daß der Umgang mit den
Säuglingen zum großen Teil das Gemütsleben des Weibes zur Darstellung
bringt; ebensowenig aber ist zu leugnen, daß gerade in dem Bilde des
Säuglings die verwandtschaftliche Beziehung desselben zum Schöße, dem er
kaum entsprossen war, also zur Geschlechtlichkeit des Weibes sich ausdrückt.
Schon in den Wassersgefahrträumen des Weibes ist es sehr auffallend,
daß die Träumerin, wiewohl sie bereits Matrone ist- und ihre Kinder er-
wachsen, dennoch zumeist den gefährdeten Sohn oder Tochter als
kleines Kind sieht und zu retten sucht. Zum Beispiel eine un-
verheiratete Dame träumte, sie sei bei einer Wiege beschäftigt, habe einen
kleinen Knaben zu wiegen und zu warten ; gleich sieht sie noch ein anderes
ihr bekanntes kleines Kind neben dem ersteren in der Wiege; wie sie es
näher betrachtet, ist es ein niedlicher Kanarienvogel ; und endlich soll sie
26
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
Traum der mit dem Kyros schwangeren Mutter, in welchem
so viel Wasser von ihr geht, daß es einem großen Strome
gleich, ganz Asien überschwemmt und bis zum Meere fließt.
Diesen an den Sintflutmythos gemahnenden Wassertraum, den
die Herodotische Version der Kyrossage (Buch I, Kap. 107
u. ff.) dem Vater der schwangeren Frau zuschreibt, nehmen
die zu seiner Deutung berufenen Chaldäer, denen man be-
dingungslose Anhängerschaft an F reuds Traumdeutungslehre
schwerlich wird vorwerfen wollen, ohne weiters als Geburts-
traum, indem sie lediglich auf die Kenntnis dieses Traumes
gestützt verkünden, daß die Frau einen Sohn zur Welt brin-
gen werde, dessen künftige Größe und Mächtigkeit in der
ungeheuren Ausbreitung des Wassers zum Ausdruck komme.
Um den typischen Charakter und gewisse Besonderhei-
ten dieser Wasser-Geburtsträume zu illustrieren, sei eine
scheinbare Abschweifung von unserem eigentlichen Thema
gestattet, die uns jedoch dem inneren Verständnis der Sagen-
bildung näher bringen wird als dieser anfängliche Umweg
zunächst ahnen ließe. Die engbegrenzte Absicht dieser Ein-
schaltung mag die Unvollständigkeit der mitgeteilten Traum-
analysen entschuldigen, die nur so weit geführt werden
sollen, als sie für unsere Untersuchung in Betracht kommen.
noch einen dritten Kleinen in Pflege nehmen, der aber, wie die danach ein-
tretende Traumerkundigung ergibt, e r s t noch geboren werden soll
wozu die Entbindung erwartet werde. Wie verräterisch ist dieser Traum.
Mit der dreifachen Zahl der kind liehen Wesen enthüllt sich die fruchtbare
Natur des zu Grunde liegenden Reizes; mit der Verwandlung des zweiten
Kindes in das lebhafte Wesen des Vogels spiegelt sich der erregte Reiz •
durch die Verwandlung von Kind zu Vogel zudem die Annäherung der Frucht
(Vogel für Kind) der Größe nach an das geschlossene Fruchtorgan der Juno-
frau ; mit dem dritten Kind endlich, was die Phantasie deut-
lich als noch nicht geboren es respektive als noch vom Frucht-
halter umfangenes bezeichnet, versetzt sich die Symbolik
objektiv unmittelbar in das Organ, in dem sie erregt wurde
und bezeichnet das innere Geschlechtsorgan des Weibes als den direkten
Erreger des Traumes. — Solche und ähnliche Traumspiele der Frauen und
Jungfrauen mit Kindern sind äußerst häufig und bilden die scheinbar harm-
loseste Beschäftigung im Traume und beweisen, wie sehr diese bedeut-
sam ist.«
GEBURTSTRÄUME.
Ein solcher Traum wurde Abraha m (S. 22 u. f.) von einer jung
verheirateten, im Anfang der Gravidität stehenden Frau erzählt,
die ihrer Entbindung nicht ohne Angst entgegensah. Er lautet :
«Ich bin allein in einem länglichen Zimmer. Plötzlich ertönt ein
unterirdischer Lärm, der mich aber nicht in Verwunderung setzt,
da ich mich sogleich erinnere, daß von einer Stelle des Fußbodens
aus ein unterirdischer Kanal direkt ins Wasser führt.
Ich hebe also eine Klappe im Fußboden auf, und sogleich er-
scheint ein in einen bräunlichen Pelz gekleidetes Ge-
schöpf, das beinahe einem Seehund gleicht. Es wirft
den Pelz ab und entpuppt sich als mein Bruder,
der mich erschöpft und atemlos bittet, ihm Unterkunft zu gewäh-
ren, da er ohne Urlaub fortgelaufen und den ganzen Weg un-
ter Wasser geschwommen sei. Ich veranlasse ihn, sich
auf einer im Zimmer stehenden Chaiselongue auszustrecken, und
er schläft ein. Wenige Augenblicke später ertönt erneutes, viel
stärkeres Geräusch an der Tür. Mein Bruder springt mit einem
Schreckensrufe auf : sie wollen mich holen, sie werden denken, ich
bin desertiert! Er schlüpft wieder in seinen Pelz und ver-
sucht durch den unterirdischen Kanal zu entfliehen,
kehrt aber sofort um und sagt: es hilft nichts mehr,
sie haben den Gang von der Wasserseite her besetzt!
In diesem Moment springt die Tür auf und mehrere Männer stür-
zen herein und bemächtigen sich meines Bruders. Ich rufe ihnen
verzweifelt zu : er hat ja nichts getan, ich will für ihn plädieren !
— In diesem Augenblick erwache ich.« Als unmittelbaren Anlaß
des Traumes führt Abraham außer dem Zustand der Gravidität
folgendes an: »Am Abend hat sie sich von ihrem Arzte Verschie-
denes über Entwicklung und Physiologie des Fötus erklären las-
sen. Sie war schon vorher aus Büchern im ganzen orientiert, doch
stellten sich einige irrtümliche Auffassungen heraus. Sie hatte
z. B. die Bedeutung des Fruchtwassers nicht richtig aufgefaßt.
Ferner stellte sie sich die feine fötale Behaarung (lanugo) als dichte
Behaarung wie bei einem jungen Tiere vor« (S. 23). Aus der
Analyse hebt Abraham nur die wesentlichsten Ergebnisse der
nicht vollständig durchgeführten Deutungsarbeit hervor, die aber für
unsere Untersuchung völlig hinreichen. »Der Kanal, der direkt ins
Wasser führt = Geburtsweg. Wasser = Fruchtwasser. Aus diesem
Kanal kommt ein behaartes Tier, wie ein Seehund. Seehund
ist ein behaartes Tier, das im Wasser lebt, ganz wie der Fötus im
Fruchtwasser. Dieses Geschöpf, also das zu erwartende Kind, er-
scheint sogleich: rasche, leichte Entbindung. Es entpuppt sich als
Bruder der Träumerin. Der Bruder ist tatsächlich erheblich jün-
ger ; nach dem frühen Tode der Mutter mußte sie für ihn sorgen,
28
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
stand zu ihm in einem Verhältnis, das viel von Mütterlichkeit an
sich hatte. Sie nennt ihn noch jetzt gern den »Kleinen« . . . Der
Traum macht mit Vorliebe von solchen Wörtern Gebrauch, welche
im verschiedenen Sinne verstanden werden können ... So tritt
der Bruder der Träumerin an die Stelle des Kindes, obgleich
er längst erwachsen ist . . ., so vertritt er das erwartete Kind.
Sie wünscht sich seinen Besuch, sie erwartet also erstens den Bru-
der, zweitens das Kind. Dies die zweite Analogie zwischen Bruder
und Kind. Sie wünscht also, daß der Bruder seinen Wohnort ver-
lasse. Daher »desertiert« er im Traume von seinem Wohnort. Jener
Ort liegt am Wasser; er schwimmt dort sehr oft. (Dritte Analogie
mit dem Fötus.) Auch ihr Wohnort hegt am Wasser. — Das
schmale Zimmer, in welchem sie sich im Traume befindet, hat
Aussicht auf das Wasser. Im Zimmer steht eine auch als Bett be-
nutzbare Chaiselongue; sie dient als Bett, wenn ein Logiergast
kommt. Eine vierte Analogie: das Zimmer soll später Kinderzim-
mer werden, das Baby soll darin schlafen ! — Der Bruder ist
atemlos, als er kommt. Er ist ja unter Wasser geschwommen. Auch
der Fötus muß, wenn er den Kanal verlassen hat, nach Atem rin-
gen. Der Bruder schläft sogleich ein, wie das Kind bald
nach der Geburt. — Nun folgt eine Szene, in der der Bruder
sich in lebhafter Angst befindet, in einer Situation, aus der es kern
Entweichen gibt. Eine solche der Träumerin selbst bevorstehende
Situation ist die Entbindung. Diese bereitet ihr schon im voraus
Angst. Im Traume schiebt sie die Angst dem Fötus respektive dem
ihn vertretenden Bruder zu und übernimmt seine Rolle als Jurist,
indem sie für ihn plädiert (Abraham, S. 24).
Indem wir aus dieser Traumanalyse neben der Verwendung
des Wassers als Geburtswasser und des engen Kanals als sym-
bolischer Vertretung des im Mythus durch ein Kästchen, Körbchen
oder Schifflein angedeuteten Mutterleibes, noch die Auffassung des
Neugeborenen als eines Tieres, die durch Abstreifen der tierischen
Hülle erfolgende Verwandlung in ein Menschenkind, ferner dessen
Ersetzung durch eine erwachsene Person, den eigentümlichen Schlaf-
zustand des »Helden« sowie schließlich seinen Versuch, sich auf
demselben sonderbaren Wege zu entfernen, der späteren Heran-
ziehung vorbehalten, wenden wir uns einem zweiten Traumbeispiel
zu, das Jones (S. 296 f.) von einer Patientin mitteilt. Es lautet
in deutscher Übersetzung:
»Sie stand am Meeresufer und beaufsichtigte einen kleinen
Knaben, welcher der ihrige zu sein schien, während er ins Wasser
watete. Dies tat er so weit, bis das Wasser ihn bedeckte, so daß
sie nur noch seinen Kopf sehen konnte wie er sich an
der Oberfläche auf und nieder bewegte. Die Szene ver-
GEBURTSTRÄUME. 29
wandelte sich dann in die gefüllte Halle eines Hotels. Ihr Gatte
verließ sie, und sie trat in ein Gespräch mit einem Fremden.
Die zweite Hälfte des Traumes enthüllte sich ohne weiteres
bei der Analyse als Darstellung einer Flucht von ihrem Gatten
und Anknüpfung intimer Beziehungen zu einer dritten Person. Der
erste Teil des Traumes war eine offenkundige Geburtsphantasie.
In den Träumen wie in der Mythologie wird die Entbindung eines
Kindes aus dem Fruchtwasser gewöhnlich mittels der Umkehrung
als Eintritt des Kindes i n s Wasser dargestellt. Das Auf- und Nieder-
tauchen des Kopfes im Wasser erinnert die Patientin sogleich an
die Empfindung der Kindesbewegungen, welche sie während ihrer
einzigen Schwangerschaft kennen gelernt hatte. Der Gedanke an
den ins Wasser steigenden Knaben erweckt eine Träumerei, in wel-
cher sie sich selbst sah, wie sie ihn aus dem Wasser herauszog,
ihn in die Kinderstube führte, ihn wusch und kleidete und schließ-
lich in ihr Haus führte.
Die zweite Hälfte des Traumes stellt also Gedanken dar, wel-
che das Fortlaufen betreffen, das zu der ersten Hälfte der verbor-
genen Traumgedanken in Beziehung steht; die erste Hälfte des
Traumes entspricht dem latenten Inhalt der zweiten Hälfte, der
Geburtsphantasie. Außer der früher erwähnten Umkehrung greifen
weitere Umkehrungen in jeder Hälfte des Traumes Platz. In der
ersten Hälfte geht das Kind in das Wasser und dann baumelt
sein Kopf ; in den zu Grunde liegenden Traumgedanken tauchen erst
die Kindesbewegungen auf und dann verläßt das Kind das Was-
ser (eine doppelte Umkehrung). In der zweiten Hälfte verläßt ihr
Gatte sie; in den Traumgedanken verläßt sie ihren Gatten.«
Wir schließen die Reihe mit einem dritten Beispiel, das uns
wieder zu dem unserer Aufmerksamkeit fast gänzlich entschwun-
denen Schwanritter zurückführen soll. Es handelt sich um den
Traum eines jungen Mädchens, das nicht ohne triftigen Grund be-
fürchtete, gravid geworden zu sein, was sich jedoch einige Zeit
nach dem im Zustand dieser Besorgnis vorgefallenen Traum als
unbegründet erwies. Ich teile den Traum nach ihrer Nieder-
schrift mit :
(I.) »Im Innern eines Hauses haben mich Löwen verfolgt und
bedrängt, weil ich ihr Junges in einer Art Tourniquet (Drehkreuz)
zerquetscht hatte. Da sind die Alten auf mich losgegangen und
ich habe mich auf das Dach geflüchtet, von wo ich sah, daß unten
auf dem Wasser ein kleiner Kahn daher gefahren kam, der an
Stelle des Schiffsschnabels einen Kopf hatte, so daß er zugleich
als Fahrzeug und Tier erschien. In dem Kahn saß ein junger
Amor, ein fünf- bis sechsjähriger schöner blonder Knabe. Er war
nackt, hatte Flügel am Rücken und trug an der Seite den Köcher
30
DER AUSSETZUNGSMYTHUS.
mit Pfeilen. In der einen Hand hielt er ein Seidenband, das um
den Kopf des Kahnes geschlungen war und mit dem er das Fahr-
zeug lenkte. In der andern Hand hielt er eine Art Anker (der
wie eine Schaufel geformt war), mit dem er großen gehörnten
Tieren (nach Art von Hirschen), die im Wasser herumschwammen
und mich auch verfolgen wollten, die über den Wasser-
spiegel herausragenden Köpfe leicht und spielend abmähte,
so daß keine Spur von ihnen mehr zu sehen war. Ich war froh,
als er mich von diesen Tieren befreite und hätte ihm gern dafür
gedankt, konnte aber nicht zu ihm gelangen. (II.) Dann lief ich wieder
hinaus und sah plötzlich, wie mich ein großer Wolf verfolgte.
Ich flüchtete nun angstvoll in ein Gasthaus, in eine Ecke hinter
einen Tisch, und bat den nachstürmenden Wolf, mir das Leben
zu schenken. Erleichtert atmete ich auf, als ich sah, daß er mich
verschonen wollte und einer neben mir sitzenden alten Frau den
Kopf abbrach, um ihn aufzufressen (der Wolf hat sich überhaupt
wie ein Mensch benommen und ist auch bloß auf den beiden
Hinterbeinen gestanden). Sie scheint ihm aber nicht geschmeckt
zu haben, denn er brach nun meinem andern Nachbai", einem alten
Mann, ebenfalls den Kopf ab und fraß ihn. (III.) Dann befand ich mich
in einer mir bekannten Wohnung, wo ein junger Mann erschien
und mir einen Liebesantrag machte; als ich ihn abwies, stürzteer
sich auf mich, um mich zu vergewaltigen, aber ich drängte ihn
hinaus. Bald darauf erschien er nochmals mit Revolver und
Dolch und wollte mich töten. Ich schickte um Detektivs, die ihn
verhaften sollten. Unterdes kam ein Trupp Soldaten, von denen
ich glaubte, sie kämen ihn holen. Sie haben aber jemanden, wie ich
vom oberen Gang aus gesehen habe, in eine Art Burgverließ hin-
untergelassen. Dann ist der Detektiv gekommen und hat den Ein-
dringling verhaftet. Ich habe mir gedacht, daß er wahrscheinlich
auch in eine solche Vertiefung kommen wird und habe mir darum
die Höhle genau angesehen. Sie war sehr tief und dunkel und
sah aus wie eine mir bekannte Grotte im Karstgebiet. Ich habe
mir gedacht, da kann er sich ja ein Loch in die Erde bohren und
entweichen oder noch leichter die Grottenwand durchbohren und
so hinaus gelangen.« Wenn wir uns diesen ziemlich durchsich-
tigen, nur etwas ungeordneten Traum nach der vermeintlichen
Situation der Träumerin zurechtlegen, so beginnt er mit (III) den
Liebesanträgen des jungen Mannes, die sie zurückweist und sich
damit vorsichtiger als in Wirklichkeit benimmt. Dann folgt die
Phantasie einer Vergewaltigung, die ganz wie bei den Jungfrauen-
söhnen des Mythus die Hingabe als eine erzwungene zu recht-
fertigen versucht. Damit nicht genug, soll der Vater einesteils wegen
dieses Delikts, andernteils offenbar zur Feststellung (Anerkennung)
GEBURTSTRÄUME. 31
der von der Träumerin bereits angenommenen Paternität verhaftet
und in ein unterirdisches Verließ gesperrt werden, was sogar zwei-
mal im Traume geschieht. Während nun das zweite Hinunter-
lassen deutlieh die eigentliche Bestrafung am Vater vollzieht, soll
das erste Hinunterlassen den Vorgang der Konzeption andeuten.
Da nämlich der vermeintliche Vater dem Militärstand angehört, so
wird verständlich, warum im Traume Soldaten ein Lebewesen in
das Verließ hinablassen, das sich nun aus dieser dunklen und
tiefen Höhle einen Ausgang bohren muß, ganz wie in dem von
Abraham mitgeteilten Traum der Fötus aus einer im Fußboden
sich öffnenden Lücke auftaucht (5). Nun schließt sich sinngemäß
der Anfang des Traumes (I.) an : die in der Höhle befindlichen Lebe-
wesen schwimmen auch im Wasser und entpuppen sich plötzlich,
wie in Abrahams Fall, als ein schöner kleiner Knabo, der im
Nachen auf dem Wasser fährt. Der Traum läßt sich nur als Ge-
burtstraum verstehen und er macht ja auch kein Hehl aus dieser
Bedeutung, da er erst die Überwältigung und die Konzeption, dann
die Schwangerschaft (Höhle) und schließlich die Geburt (Wasser)
schildert. Diese Deutung wird voll bestätigt durch die Aufklärung
der Träumerin, die nach dem Vorbild des kleinen blonden Amor
gefragt, naiv eingesteht, sie habe sich immer zum Kinde einen so
schönen, blondlockigen Knaben gewünscht. Für die Geburt spricht
außerdem noch die Nacktheit des Kindes und die Auffassung des
Ankers, den er in der Hand hält, von Seiten der Träumerin, die
darin ein Symbol der »Hoffnung« sieht; allerdings in ihrer Situation
wohl der Hoffnung, kein Kind zu bekommen, weswegen auch der
Anker die im Wasser schwimmenden Tiere spurlos beseitigt, in-
dem er die Köpfe glatt abschneidet, was seine Ergänzung durch
den Wolf findet, der ja den Menschen den Kopf abbricht und den
sie bittet, ihr das Leben zu schenken, was sie selbst im
Traume ihrem eigenen Kind zu verweigern sucht.*) Daß sich
*) Die vom Wolf so arg behandelte alte Frau, die ihm nicht »schmeckt«:
und der neben ihr sitzende alte Mann scheinen die Eltern der Träumerin
darzustellen, da ihr ja in dieser ängstlichen Situation »das Leben geschenkt«
wird. — In einem andern ihrer Träume aus dieser Zeit sah sie, ganz wie
Abrahams Träumerin, ihren bereits erwachsenen Bruder als kleinen Jungen
mit einer Art Peitsche oder Angel in der Hand, wobei auch ein Schwan oder
Storch eine ihr nicht mehr deutlich erinnerliche Rolle spielte. Jedenfalls
scheint das Herausfischen (Angel) der Kinder aus dem Wasser durch den
Storch und die Vorstellung von dem den Kindern als Reittier (Peitsche)
dienenden Vogel zu Grunde zu liegen. — In einer bei Frobenius (S. 288)
mitgeteilten koreanischen Sage erscheint der Held eines Tages in wunder-
licher Weise auf einem Storche reitend.
32
DER MYTHUS VON DER GEBURT DES SKEAF.
die Feindseligkeit der Träumerin nicht nur gegen den vermeint-
lichen Vater der unehelichen Leibesfrucht, sondern auch gehen diese
selbst richtet, zeigt sich in der Eingangsszene des Traumes, wo sie
das Junge eines Löwenpaares zerquetscht. Die Abneigung gegen
den Verschulder ihres vermeintlichen Unglücks kommt darin zum
Ausdruck, daß sie ihn als hungriges Raubtier, als einen großen Wolf
darstellt, der sie (mit Liebesanträgen) »verfolgt« und ihr überall
»nachläuft«. Findet doch der Überfall durch den Wolf im Gasthaus
sein deutliches Gegenstück in dem sexuellen Überfall des jungen
Mannes in der Wohnung (III) und die Kette schließt sich, wenn wir
erfahren, daß in Wirklichkeit jener junge Mann des Traumes sie
vor kurzem in ein Gasthaus eingeladen hatte. Daß der kleine
Knabe wie Lohengrin im Nachen auf dem Wasser fährt, fällt der
Träumerin nicht auf, was uns als Beweis sehr wertvoll ist, daß es
sich dabei nicht um bewußte Reminiszenz oder Nachbildung handelt,
sondern um den Ausdruck des gleichen unbewußten Komplexes
mit Hilfe derselben, allgemein-menschlichen Symbole.
Fügen wir noch hinzu, daß nach einem Bericht von
Reichensperger (Wolf: Beiträge, IE, 211) ein von den
Heiden gefangen gehaltener Ritter geträumt habe, er werde
von einem Schwan über Meer und Land in die Heimat ge-
tragen, wo er sich tatsächlich beim Erwachen befunden habe
und zum Danke für dieses der heiligen Jungfrau zugeschrie-
bene Wunder an der Stelle, bei Carden an der Mosel, die
Schwanenkirche erbaute, — daß also die ganze wunderbare
Wasserfahrt, ähnlich wie in der Kyrossage, auch als Traum
des Schwanritters gedacht wurde, *) so finden wir uns, gleich
jenem Ritter selbst, mit einem Schlage aus der fremden Welt
des unbewußten Traumlebens in das helle Licht der uns ver-
trauteren Sagengeschichte zurückversetzt.
ni.
Wenn man nun auch jenen aus der seelischen Untenveit
heraufbeschworenen Zeugen wird Glauben schenken und sich
zu der Einsicht bekehren wollen, die Aussetzung des neu-
geborenen Helden durch einen Elternteil unmittelbar nach
der Geburt im wohlverschlossenen Kästchen ins Wasser sei
*) Vgl. dazu in der Zfd. Mythol., I, 305 ff., die Mitteilung von Hocker:
Frouwa und der Schwan.
DAS BEOWULFLIED. 33
der rationalisierte Ausdruck des symbolisch dargestellten
Geburtsvorganges, so wird man doch zunächst mit einem ge-
wissen Anschein von Berechtigung die Anwendbarkeit dieses
Gesichtspunktes auf die Lohengrinsage bestreiten. Denn von
all den aufgezeigten Elementen ist nur die wunderbare
Wasserfahrt vorhanden. Es handelt sich weder um einen
feindlichen Akt der Aussetzung, dessen Vorbedingung, die
Eltern, ja überhaupt fehlen, noch um eine Rettung aus dieser
ersten großen Lebensgefahr; der Held ist ferner erwachsen,
ohne daß uns von seiner Kindheit etwas berichtet worden
wäre. Eher könnten wir uns schon mit unwesentlicheren
Modifikationen abfinden, wie z. B. der Umwandlung des
verschlossenen Kästchens in einen Kahn oder dem Um-
stand, daß das gewöhnlich erst nach der Rettung des Knäb-
leins auftretende hilfreiche Tier hier auch die Wasserfahrt
schon mitmacht. Vor allem aber wird man, die psycho-
logische Verwandtschaft von Traum und Mythus zugestanden,
die Lohengrinsage überhaupt von einer derartigen Betrachtung
ausschließen wollen, da sie in das Gebiet der historischen
Sage gehöre, welche sich durch ihre bewußten Tendenzen
wesentlich vom Mythus unterscheide (6).
Nun sind wir glücklicherweise im Besitze des mytholo-
gischen Materials, welches uns ermöglicht, die schwerwie-
gendsten dieser Einwände zu beseitigen und uns vor allem
die Gewißheit zu verschaffen, daß in der Lohengrinsage
uraltes mythisches Gut weiterlebt. Der Eingang des aus dem
VIII. Jahrhundert stammenden Beowulfliedes (hg. von
M. Heyne, übersetzt von Ettmüller, von Simrock u. a.) erzählt
ohne deutlichen Zusammenhang mit dem übrigen Inhalt des
Gedichtes von dem mächtigen König Scyld Scefing*), dem
Stammvater der dänischen Könige und des dänischen Volkes :
»In uralten Zeiten lebte ein edler Dänenkönig; Scyld, Schir-
mer, war sein Name; er war ein Sohn Scefs oder Sceäfs,
woher er auch Scefing, Sceäfs Sohn, genannt wird. Auf
*) Köhler (S. 311 ff.) hat diese Zusammenhanglosigkeit damit begründet,
daß die von Scylds Bestattung handelnde Stelle aus einem alten selbständigen
Liede stamme.
Bank, Die Lohengrinsage. 3
34
DER MYTHUS VON DER GEBURT DES SKEAF.
wunderbare Weise war er als kleines Kind nach Denaland
gekommen. Großes Unglück lastete gerade damals auf dem
Lande : unter der tyrannischen Herrschaft Heremöds waren
der Edlen viele gefallen, auch ein Fürstenkind, von dem die
geängstete Nation erwartete, daß er der Ahnen Hort und
und Thron einnehmen werde. *) Da wurde der Gewalthaber
gestürzt, und Ratlosigkeit, wer sein Nachfolger sein solle,
würde aufs Neue die Greuel des Bürgerzwistes über das
fürstenlose Volk gebracht haben, wenn nicht eine von den
Göttern gesandte Rettung ins Mittel geführt worden wäre.
Eines Tages nämlich sieht der Strandwart am fernen Horizont
ein Schiff treiben : es führt kein Segel, keinen Mast, ist un-
bemannt, und doch steuert es gerades Laufs auf das Sköda-
land zu. Verwundert über den ungewohnten Anblick eilt alles
herbei ; da landet der Nachen : in seiner Mitte ruht, umgeben
von strahlenden Waffen, ein Knäblein: des Vaters und der
Ahnen Namen mochten wohl auf dem Schwerte eingegraben
stehen. Das Wunderkind wird sorgfältig auferzogen, dann
von dem Rate der witan zum König erwählt, und ist fortan
des Landes Hort und Schild, daher sein Name. Erbe des
väterlichen Ruhmes und der weit über das Meer hinaus er-
worbenen Macht ist Beowulf Scylding, Scylds Sohn. Hoch-
betagt und in gutem Frieden legt Scyld sein greises Haupt
zur Ruhe. Dem lieben Landesfürsten hatten die Dänen geloben
müssen, ihn, nachdem er gestorben, wieder fernhin zu senden
auf des Meeres Rücken. Herrlich beladen mit nicht geringeren
Kostbarkeiten, als diejenigen waren, so er als Kind mitge-
bracht, wird Scylds Totenschiff der Meeresflut übergeben,
Menschen fürwahr nicht wußten zu sagen, wer diese Ladung
aufnahm. So kennt denn niemand das Grab des Ahnherrn
der Scyldinge, des dänischen Königsgeschlechts : in mythisches
*) Bouterwek glaubt sich zu seiner besonderen Auffassung, die den
Tyrannen Heremod mit Sceaf in Verbindung bringt, dadurch berechtigt, daß
Sceäf, der ja nach den Chronisten als Kind an Schleswigs Küste getrieben war,
in einer der vielen angelsächsischen Genealogien ein Sohn Heremöds genannt
wird. (S. 396 Anmkg.) — Diese Auffassung wird sich im weiteren Verlaufe
als bedeutsam erweisen.
DER SKEAFMYTHUS. 35
Dunkel gehüllt ist seine Ankunft an Schleswigs Küste, nicht
minder geheimnisvoll sein Ausgang aus dem von ihm be-
glückten Lande« (Bouterwek, S. 396 f.). Es war also
auf seine Anordnung sein Leichnam auf einem mannschafts-
losen Schiffe in die See ausgesetzt worden, nur begleitet
von seinen Waffen und Schätzen, die er auch mit sich
geführt hatte, als er »in erster Jugend« über die See in das
Land gekommen war. Der ausführliche Bericht dieser im
Gedicht nur angedeuteten geheimnisvollen Ankunft findet
sich bei verschiedenen lateinischen Schriftstellern des Mittel-
alters (7), wo er jedoch nicht von Scyld Scefig, sondern
von seinem Vater Sceäf erzählt wird, dessen Name eben
daher stammen soll, daß er als ganz junger Knabe, den
Bewohnern des Landes unbekannt, auf einer Korngarbe, die
angelsächsisch sceäf heißt, im Nachen schlafend von den
Meereswogen an die Küste des Landes getrieben worden
sei, das er zu beschirmen ausersehen war. Er wurde von
den Einwohnern als ein Wunder aufgenommen, erzogen
und spater als ein Gottgesandter zu ihrem König gemacht
(Nach Leo, S. 20.) Halten wir zu diesem Bericht von der
wunderbaren Ankunft die im Beowulflied auf den Sohn über-
tragene Erzählung der gleichen geheimnisvollen Abfahrt,
zwischen welchen Ereignissen ein ruhmreiches Heldenleben
hegt (8), so erkennen wir ohne weiteres die Grundzüge der
Lohengmaage wieder. Es bedarf nicht erst des gewichtigen
Zeugnisses von Jakob Grimm (D. M., I, 306), um anzu-
erkennen, daß .Hellas, Gerhart oder Lohengrin des XIII. Jahr-
hunderts identisch sind mit dem Scöf oder Scoup des VII.,
Vm. Jahrhunderts, so abweichend auch die übrige Einkleidung
mag gewesen sein«. Dürfen wir dies aber als gesichert an-
sehen, so müssen wir diesen Kern der Lohengrinsage nach
dem übereinstimmenden Urteil der bedeutendsten Forscher
auf diesem Gebiete als echten und alten Mythus ansprechen
Und wie eine Probe auf das Exempel muß es erscheinen
daß wir auf diesem Boden auch das in der Lohengrinsage
vermißte Kind des Aussetzungsmythus finden, das im Nachen
ans Land geschwommen kommt. Nach einer Andeutung von
3*
36
DER MYTHUS VON DER GEBURT DES SKEAF.
Hof fory (S. 435) ist übrigens auch der Schwan in der Sceäf-
sage nicht gänzlich verschwunden, sondern — ganz wie in
dem Amortraum des Mädchens — »mit dem Schiff zu-
sammengefallen, denn die Angelsachsen verliehen dem Schiff
gern Schwansgestalt und an einen Schwan denkt der Sänger
des ersten Beowulfabenteuers, wenn er »das schaumhalsige
Fahrzeug preist, das einem Vogel gleich, die Fluten durch-
schneidet« (Beow. 218).*) — Aber nicht nur das kleine Kind,
das der Chronist »valde recens puer« nennt, findet sich in
der Sceäfsage, sondern eine dunkle Stelle, die den Kommen-
tatoren und Übersetzern Schwierigkeiten genug bereitet hat,
scheint noch unzweideutiger für unsere Auffassung des Aus-
setzungsmotivs zu sprechen. Das in den Chroniken »schlafend«
angeschwommene junge Kind wird im Beowulftext (Z. 46)
»umborvesende« genannt, ein schwieriges Wort, das meines
Wissens zuerst von Grundtvig in der Einleitung zu seiner
Ausgabe des Beowulfliedes (1822) als »recens natus« gedeutet
wurde. In seiner Besprechung dieser Arbeit (Götting. gel.
Anz., 1823) stimmt Grimm dieser Auffassung bei und zieht eine
zweite Stelle (S. 91 der Grundtvigschen Ausgabe ; Heyne v. 1187)
heran, wo dasselbe Wort wiederkehre und wo es füglich »juvenili
aetate« heißen könne. Später hat jedoch Grimm in seiner
deutschen Mythologie (I, S. 322, Anmkg.) die Vermutung
ausgesprochen, daß dieses Wort vielleicht unborvesende zu
lesen sei und somit ausdrücke, daß Sceäf für ungeboren
galt, was nach Grimm so viel wie: aus dem Mutterleib ge-
schnitten hieße ; er stützt diese Auffassung mit dem Hinweis,
daß derartige Kinder (wie z. B. der persische Rüstern, Tristan,
der russische Dobrunä Nikititsch und der schottische Macduff)
große Helden zu werden pflegen. Mit voller Entschiedenheit
*) »Sieh dieses Schiff, sagt der arabische Dichter, erstaune über den
wunderbaren Anblick. Es kommt dem Winde zuvor; es gleicht einem Vogel,
der seine Flügel spreitet und über das unendliche Meer dahinstreicht.« —
Auch abgesehen von den Flügeln, hat ein Schwan oder ein Kormoran die
größte Ähnlichkeit mit einem Schiffe oder umgekehrt; es ist bemerkenswert,
daß die deutschen Kreuzer vierter Klasse durchweg Vogelnamen führen,
und daß die eiserne Spitze des Vorderstevens, der Sporn, im Altertum Schnabel
hieß« (Kleinpaul, S. 196).
.
DER SKEAFMYTHUS ALS GRUNDLAGE DER LOHENGRINSAGE. 37
vertritt endlich S im rock (Beowulf, S. 170) diese von Grimm
bloß vermutete Auffassung. Bei seiner Ankunft sei Sceäf tat-
sächlich noch ungeboren gewesen, »wie es Einleitung,
Zeile 46, ausdrücklich heißt, so sehr man sich auch gesträubt
hat, diesen deutlichen Sinn des Wortes uinborvesende gelten zu
lassen, obgleich man zuletzt zugestehen mußte, daß es dem
valde recens puer der Chronisten entspricht.« Welcher Auf-
fassung man sich nun auch in dieser philologisch strittigen
Frage zuneigen mag, vom rein mythologischen Standpunkt,
wie ihn unsere Auffassung nahelegt, wird man wohl für
den Sinn entscheiden müssen, welcher den Ausdruck als »un-
geboren« faßt.*) Von ganz besonderem Interesse für unseren
Zusammenhang und, wie auch Grimm (D. M., III, 391, Anmkg.)
meint, beweisend für den Zusammenhang mit der Schwanritter-
sage ist der Umstand, daß der kleine Sceäf auch als
»schlafend« angeschwommen kommt, was sich ja in ge-
wissem Sinne von unserem Standpunkt auch verstehen läßt,
da ja sowohl die noch ungeborenen, wie auch die neugebore-
nen Kinder schlafen. Nun trägt aber auch unser Lohengrin,
so erwachsen und reif er sonst geschildert wird, diesen ver-
räterischen Zug der kindlichen Schwäche an sich, der bei
dem heldenhaften und so sehnsüchtig erwarteten Befreier des
Landes ein wenig seltsam anmutet. In Konrad v. Würzburgs
Schwanritter (Z. 116-122), der nach Hoffory (S. 431) die
ursprünglichste und einfachste Gestalt der Sage aufweist (6),
sowie nach dem Lohengringedicht liegt der Held auf seinen
Schild gebettet schlafend im Nachen und erwacht erst, als
das Gefolge des Königs ihm ans Ufer entgegen eilt. Wer die
Berufung auf dieses unscheinbare Detail als Kleinlichkeits-
krämerei nicht gelten lassen will, der trifft mit diesem der
*) Heye erklärt das Wort als acc. sing, des partic. mit »Kind seiend,
als Kind«, eine Auffassung, die Köhler (S. 313 Anmkg.) mit der Bemerkung
motivierte, daß es ihm und jedermann unverständlich sein müsse, wie ein
Mensch ungeboren in ein fremdes Land kommen könne. Er will jedoch dabei
keineswegs verkennen, daß die von Simrock vertretene Auffassung dieser
Stelle wegen ihres mythischen Bezugs allenfalls angehen möge, trotzdem derselbe
Ausdruck v. 1187 von HrOdulf gebraucht werde, der durchaus nichts My-
thisches habe.
38
DER MYTHUS VON DER GEBURT DES SKEAF.
Psychoanalyse so häufig gemachten Vorwurf zunächst die bei
weitem ältere und anerkanntere philologische Kritik, die in
der Beachtung sonst vernachlässigter Einzelheiten und den
daraus gezogenen Schlüssen der psychoanalytischen Methode
vorausgeeilt ist. Dürfen wir also im schlafenden Schwanen-
ritter jenes neugeborene Knäblein des Heldenmythus wieder-
finden, das aus dem bergenden Mutterschoß in die feindliche
Welt ausgesetzt worden ist, so scheint zunächst auch ohne
weiteres der Grund ersichtlich, warum der Held der Schwan-
rittersage als Erwachsener auftreten muß. Kommt er doch
ins Land, um den Kampf gegen einen Bösewicht aufzunehmen
und sich Weib und Kinder zu gewinnen, ähnlich wie Odys-
seus (9). Auch in der Sceäfmythe erscheint der unbekannte
Knabe, als schwere Drangsal das Volk betroffen hat und
diese in der Göttersage wohl akzeptable, in der Heldensage
jedoch unmögliche hilfreiche Macht eines Kindes annehmbar
zu machen, mußte der Schwanrittor an Alter reifer erschei-
nen (10). Warum ihm jedoch diese rettende Aufgabe zufallen
muß, um derentwillen er als Erwachsener auftritt, das wird
uns eine Untersuchung der französischen Passungen des Che-
valier au cygne lehren, mit der wir uns im VII. Abschnitt
unserer eigentlichen Aufgabe zuwenden wollen. Während
uns nämlich bisher nur die Geburt des Helden interessiert
hat und wir — ähnlich wie das Beowulflied (8) — weder auf
den besonderen Inhalt seines Heldenlebens noch auf sein
Sterben eingegangen waren, wird die Lohengrinsage gerade
dadurch für unsere Ergebnisse wertvoll und beweisend, daß
sie uns diese bisher vernachlässigten Momente im Zusammen-
hang unserer Auffassung verstehen lehrt. Die altfranzösische
Sage vom Chevalier au cygne wird uns ferner zeigen, warum
von den Eltern des Schwanritters, die ja sonst im Aussetzungs-
mythus eine so große Rolle spielen, nicht die Rede sein
konnte, indem erst sie uns die Geburts- und Kindheits-
geschichte des Schwanritters berichtet. Daß aber Überhaupt
die Möglichheit gegeben war, den Aussetzungsmythus un-
abhängig von den Eltern darzustellen, findet seine Begründung
ebenfalls in der Sceäfsage, von der es keine Fassung gibt,
DIE WASSERGEBURT.
in der die Eltern genannt werden. Dieser Mythus stellt gleich-
sam das Aussetzungsmotiv Kat' exochen, die Geburt an sich,
dar. So wie der indische Aptya »der aus dem Wasser ge-
borene« genannt wird oder wie der Scholiast zu Rigveda
erklärt »der Sohn der Wasser« (Mannhardt: G. M., S. 213)
wie der vedische Purüravas (nach Schröder, S. 31)
sagt: »die Wasserfrau brachte mir, was ich begehrte:
geboren ward aus dem Naß ein edler Knabe«, wie ferner der
biblische Moses (nach Josephus Altt. II, c. 6) nach dem
Ägyptischen Moy — Wasser, Eses — gerettet, als der aus dem
Wasser gezogene, als Sohn des Wassers erklärt wird (11),
wie das deutsche Märchen die Söhne des durch einen Wasser-
strahl geschwängerten Mädchens Wasserpeter und Wasserpaul
(Grimm, K. H. M., III, Nr. 60), Wassersprung und Brunnen-
hold nennt (Mannhardt: G. M., S. 216 ff.), so wird auch der
englisch-langobardische Sceäf als Sohn des Wassers und des
Gefäßes, in welchem er schwimmt, aufgefaßt : dies sind seine
Eltern. In diesem Sinne konnte Leo (S. 24, Anmkg.) in Ver-
tiefung der rationalistischen Etymologie des Namens Sceäf
(manipulus frumenti) darauf hinweisen, daß dieses Wort mit
unserem hochdeutschen Schaffing verwandt ist : da Scyld ein
Scefing genannt wurde, liege die Vermutung nahe, »er habe
gar keinen Vater Sceäf oder Schaf gehabt, sondern sei selbst
jener von den Wellen angetriebene Knabe gewesen, den man
den Sohn des Fasses (Schaffing) nannte.« Und in gleichem
Sinne hat Cassel (p. 43 f.) hervorgehoben: »Scild ist ein
Sohn der Arche, des Schiffleins, des Kastens, in
welchem er liegend ans Land kam. Althochdeutsch ist scef
das Schiff; mit dem Namen für Gefäß ist es verwandt, skaf
ist das Schiff und skef das Gefäß. Ähnlich ist das Verhält-
nis des lateinischen scapha. Die Erklärung aus manipulus
frumenti hat man offenbar erst in später Zeit aus dem
Namen gemacht. — Auch aus dem Kasten Noahs, der ohne
Segel und Ruder durch Gottes Vorsehung behütet wird,
steigt ein neues Geschlecht. Söhne Noahs und Söhne der
Arche sind alle Menschen, die von ihnen stammen. Ein
Kind seines Schiffes ist auch Scild der Sohn des
40
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT.
Sceäf, das lehrt sein Name.«*) Wenn hier das Schiff als Weib
aufgefaßt wird, so stimmt dazu treffend der interessante Hin-
weis von Kleinpaul (S. 196), daß in Deutschland und
England alle Fahrzeuge, die größten wie die kleinsten, als
Feminina behandelt werden: »In den Augen der Seeleute ist
das Schiff ein Weib, das auf dem Rücken schwimmt. Der
Kiel, über welchem das Kielschwein liegt, stellt das Rückgrat
dar, auf welches die Spanten wie Rippen aufgebolzt sind —
die letzteren außen und innen mit einer Haut von Bohlen
überkleidet — der Körper des ganzen Schiffes heißt der
Rumpf, es hat Schultern und Hinterteil, auf der Spitze des
Mastes einen Zopf und ein Eselshaupt, und es ist aufgetackelt
wie eine Schöne am Sonntag.«
IV.
Der uralte Skeafmythus, das mythische Vorbild der
Lohengrinsage, lehrt uns aber nicht nur die geheimnisvolle An-
kunft als symbolischen Ausdruck des Mysteriums der Geburt ver-
stehen, sondern gibt uns auch den Schlüssel zum Verständ-
nis der geheimnisvollen Abfahrt des Schwanritters. Resümie-
ren wir nach Hoffory kurz den Inhalt des Skeafmythus,
dessen Eingang das Beowulflied bloß andeutet, während es
den Schluß, die geheimnisvolle Abfahrt, ausführlicher schildert :
»Auf einem steuerlosen Schiffe treibt ein junger hilf-
loser Knabe ans Land. Er ruht schlafend auf einer Garbe
(sceäf), von Waffen umgeben, und ist den Bewohnern des
Landes unbekannt. Sie nehmen ihn gastlich auf, erziehen ihn
und machen ihn nachmals zu ihrem König. Nach langer und
ruhmreicher Regierung stirbt Sceäf und wird von seinen
Mannen wieder auf das Schiff gelegt, das sie, mit Kleinodien
und Waffen reich gerüstet, trauernden Herzens den Wellen
übergeben. Aber niemand konnte sagen, wer diese Last emp-
fing« (S. 434). Nun läßt hier der Mythus nicht den gering-
sten Zweifel darüber zu, daß mit dieser geheimnisvollen Reise
*) Ca6sel (Anmkg. 177) verweist darauf, daß der Name Nöah mit den
vielfachen Ausdrücken für Schiff verwandt ist: nau (Sankrit), voü«, navis,
vteiv.
DIE WASSERBESTATTUTSG. 41
ins unbekannte Land die Totenfahrt des Helden gemeint ist,
da er sie ja erst als Leichnam antritt. Auch wäre daran gar
nichts Seltsames, da es ja (nach Mannhardt : G. M., S. 357)
»ein häufiger Gebrauch im Norden war, die Leichen in einem
Schiffe dem Meere zu überlassen«.
»Das Heidentum der Germanen dachte sich gleich dem noch
anderer Völker eine Schiffahrt der Gestorbenen in das Jenseits«
(Wackernagel S. 574). »Die Toten fahren in einem Kahne über
den weltumgürtenden See; denn jenseits*) desselben, jenseits des
»Wandelmeeres« hegt das Totenland Utgard, das außerweltliche
Gebiet. Es ist vielleicht diese Bestattungsart eine der ältesten,
daß man den Toten in ein Schiff legte und es dem Winde und
den Wellen überließ« (Spieß, S. 376). »Man erinnert sich an die
Unzähligen, die seit Anbeginn der Schöpfung so abgesegelt sind —
an die Klosterbrüder von Heisterbach, die an den Rhein gingen,
wenn sie starben — an den schlaftrunkenen Fährmann, der in
stürmischer Nacht von einem Mönch geweckt wird: der Mönch
verlangt, über die Donau gesetzt zu werden, und drückt ihm das
Fährgeld in die Hand : der Ferge macht sich fertig, aber kaum
ist der Nachen flott, so füllt er sich mit anderen unbekannten
Gästen, daß er beinahe sinkt und der Schiffer kaum noch stehen
kann : mit Mühe rudert er hinüber, und der letzte Mann ist noch
nicht ausgestiegen, so wird das Fahrzeug von einem jähen Sturm
an das diesseitige Ufer zurückgeworfen, wo schon wieder neue
Reisende harren, die alle übergesetzt sein woUen « (Kleinpaul,
S. 155). — »Zufällig besitzen die venezianischen Leichenbegängnisse
geradeso wie die Spreewälder einen höchst altertümüchen Charakter,
sie haben etwas Urzeitliches und Eisgraues wie die sogenannten
Schiffssetzungen und die Kahnsärge, die sich in vorgeschichtlichen
Gräbern, desgleichen bei den Finnen und Ostjaken finden und die
unverstandene Rudimente einer elementaren Vorsichtsmaßregel sind.
Das ist nämlich eine alte Regel, daß die Toten auf Inseln zu
hegen kommen. Daß sie über das Wasser gesetzt und erst dann
begraben werden. Von Ohms Zeiten her bildet das Wasser die
natürliche Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, all-
überall scheidet ein Fluß das Leben vom Schattenreiche. Sowohl
der griechische Hades als auch die deutsche Hölle ist von einem
Styx umgeben, über den eine Fähre setzt oder eine Brücke führt.
Ruhelos mußte der Grieche an den Ufern des tiefen kalten Höllen-
flusses umherirren, wenn er nicht begraben war — weil er eben
*) Nach Kleinpaul (S. 160) sind die Ausdrücke Diesseits und Jen-
seits von dieser Vorstellung ausgegangen.
42
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT.
erst jenseits desselben begraben werden konnte. Diese Vorstellungen
weisen nämlich darauf hin, daß man einst die Verstorbenen wirklieh
über einen Fluß gebracht hat ; die Sitte ist auch in vielen Ländern
historisch nachzuweisen. Zum Beispiel in Ägypten, wo man noch
heute über den Nil setzen muß, um zu den Pyramiden und zu den
Königsgräbern zu gelangen« (Kleinpaul, S. 158).
Mythische Nachrichten aus dunkler Vergangenheit über-
liefern uns die gleiche Vorstellung: »Als Sigmundr seinen
toten Sohn Sinfjötli lange herumgetragen, kam er zu einer
schmalen Meerbucht. Am Gestade harrte ein Mann, der sich
zur Überfahrt erbot. Kaum war die Leiche in den Kahn ge-
legt, als der Ferge abstieß und verschwand. Lebensmüde
Greise gaben sich auf diese Weise selbst den Tod« (Mann-
hardt: G. M., S. 358). So soll sich beispielsweise der alte lebens-
müde Flosi in ein schlechtes Schiff gelegt und den Meereswogen
überlassen haben (Grimm, D. M., II, S. 692 f.). Ähnlichen Sinn
birgt die keltische Vorstellung vom Jenseits, die sich nach Spieß
(S. 360) »in einer bis ins Mittelalter in Irland verbreiteten Sage
ausspricht. Danach gab es in einem gewissen See der jetzigen
Grafschaft Munster zwei Eilande, die Inseln des Lebens und des
Todes genannt. Auf die eine konnte der Tod nicht dringen, aber
Alter und Krankheit, Lebensüberdruß und heftige Anfälle fürch-
terlicher Leiden waren dort heimisch und bewirkten, daß die Be-
wohner derselben, der Unsterblichkeit müde, sehnsüchtig nach der
gegenüberliegenden Insel als einem Hafen der Ruhe schauten, in
Barken dem dunklen Ge Wässer sich anvertrauten und
so endlich Erlösung auf der Insel des Todes fanden.« In späterer
Zeit zündete man auf dem Totenschiffe einen Holzstoß an, ehe man es
den Wellen übergab (Beispiele bei Mannhardt 1. c. und Simrock,
Handb., 368). So hat »die nordische Erzählung von Baldrs Tod
den merkwürdigen Zug, daß die Äsen seine Leiche auf ein Schiff
brachten, in demselben einen Scheiterhaufen errichteten, anzünde-
ten und es der flutenden See überließen« (Grimm, D. M., II, 692 f.).
Noch in später Zeit gab es im Gebiet der Burgunden bei Arles
einen berühmten Begräbnisort, »wohin viele Leichen weither ge-
bracht wurden, meist indem man sie in einem Nachen in Särgen
oder Fässern dem Rhonestrom überließ« (Mannhardt, S. 360).
Nach Grimm (1. c.) wurden Leichen auch direkt im Schiff be-
graben. »Wahrscheinlich legte man vornehme Leichen erst in eine
Kiste und setzte diese ins Schiff.« Ähnlich bestattet Gudrun
den Atli in einem Steinsarg, den sie in ein Schiff setzt (Mann-
hardt 1. c). Daher gab es später auch Steinsärge in der Form
von Schiffen (Wackernagel, S. 574) und darauf weist auch der
spätere Brauch, Särgen und Gräbern die Gestalt eines Schiffes zu
TOTENBAUM UND TOTENSCHIFF. 43
geben.*) Wie nun den Menschen als erste Fahrzeuge ausgehöhlte
Bäume dienten (Grimm : Gesch. d. deutsch. Spr., S. 5), so wurden auch
die Toten anfangs in hohlen Bäumen beigesetzt (Grimm 1. c, Wacker-
nagel), woraus sich nach Müller (429 x ) die unterweltliche Bedeu-
tung des hohlen Baumes erklärt, der zunächst der Totenbaum oder
Sarg ist. »Die sogenannten Totenbäume des alamannischen Stammes
waren nichts anderes als zuSärgen ausgehöhlte Stämme« (Spieß, S. 376).
Der Sarg »war in vorchristlicher Zeit ein Baumstamm, das
heißt die Hälfte eines Baumstammes, die ausgehöhlt und mit
der anderen Hälfte zugedeckt ward. Daher spricht man an
manchen Orten noch von Totenbäumen. Ähnlich werden viel-
fach die Schiffe und die Wiegen hergestellt« (Kleinpaul, S. 70). —
Aus hohlen Bäumen stammen aber nach anderer Überlieferung
wieder die Menschen und diese beiden Vorstellungen finden sich
auch im Glauben vieler Völker verknüpft. So setzten die Tasma-
nier ihre Verstorbenen in hohlen Bäumen bei, um der Seele den
Übergang in den Baum zu erleichtern; denn diese Pflanzengeister
gehen ihrer Meinung nach wieder in die menschliche Mutter ein
und befruchten sie (Reitzenstein, 648). Ähnlich berichtet Krauß,
daß" nach südslawischem Glauben die Seelen Verstorbener, beson-
ders in zartester Kindheit Gestorbener, sich in Bäumen aufhalten.
Um der Seele die Heimkehr in ihren Urwohnort zu erleichtern,
pflanzten die Japaner auf Gräbern Blumen und Bäume (Krauß,
S. 29). Ebenso geht nach griechischem Glauben die Seele jedes Ge-
storbenen in einen Baum über (Mannhardt). Endlich gehört hier-
her die Bestattungsart der »Tungusen, die ihre Toten an Bäumen
aufhängen, ein Verfahren, welches ganz an die skythische Bestattungs-
weise erinnert, die uns aus der Erzählung des Argonautenzuges
noch wohl bekannt ist und wonach es in Kolchis für einen Frevel
galt, die Männer zu verbrennen oder in die Erde zu vergraben.
Sie hängten ihre Toten, in rohe Stierfelle gewickelt, an den Bäu-
men auf, fern von der Stadt und überließen sie der Luft zum
austrocknen. Nur die Weiber wurden, damit die Erde nicht zu
kurz käme, in diese begraben (Spieß, 106).
Werden in solchen Berichten die Leichname selbst in
Schiffen, Booten oder hohlen Bäumen ins Jenseits befördert,
so betrifft dies in anderen Überlieferungen bloß die vom
Leibe entbundenen Seelen. Hierher gehört der bekannte grie-
chische Glaube, wonach Charon die Seelen der Verstorbenen
*) »Naufus (naucus, nauchus gotisch naus, was mit dem lateinischen
navis und mit unserem Nachen zusammenhängt) scheint nichts anderes als
ein Sarg zu sein.« (Spieß, 376 Anmkg.)
44
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT.
in einem schmalen zweirudrigen Boote über den Styx, Ache-
ron oder Kocytos in das Reich der Unterwelt geleitet (Grimm,
D. M. 1. c). Damit hat die Reise des Toten ein bestimmtes
Ziel, die Unterwelt, bekommen, zu deren richtigen Erreichung
dem Leichnam oder der Seele ein Toten- oder Seelenleiter
dient. Daß nun auch unser Schwanritter bei seiner geheim-
nisvollen Abfahrt als Ziel das Totenland, die Unterwelt, hatte,
wurde zuerst von Simrock (Handb., 369, Beowulf, S. 170)
auf Grund der Analogie mit Skeaf nachdrücklich betont und
von Müller mit Hilfe der Symbolik nachzuweisen versucht.
Nun fehlt zwar im Skeafmythus die verhängnisvolle Frage,
die den Ritter ins Totenland befördern soll, während
der Schwanritter wieder nicht als Leiche abfährt. Doch
faßt bereits Grimm (D. M., LT, 692 f., Gott. Anz., 1823,
S. 10 f.) diese Abweichungen als spätere Modifikationen und
das Entscheidende bleibt, daß der Schwanritter vor allem
ebenso geheimnisvoll, aber auch in einem und demselben
Fahrzeug ankommt und verschwindet wie Skeaf. Während
aber Skeafs Schiff steuerlos Wind und Wellen überlassen
wird, hat der Schwanritter einen zuverlässigen Totenleiter
dem er die Führung beruhigt anvertrauen kann. Es ist dies
der Schwan, der wieder im Skeafmythus fehlt, wo dafür
der Held wirklich als Leichnam dahin fährt. Nun wird tat-
sächlich »in unseren Volkssagen der Schwan häufig als Toten-
leiter genannt« (Mannhardt, G. ML, S. 342 f., vgl. auch Müller
S.421). So berichtet Kleinpaul (S. 219 f.) eine südschottische
Sage, wo die Schwäne als Todesboten erscheinen. »Im
Roman von Gawan führt ein Schwan einen Nachen
worin ein toter Ritter liegt*). Geradeso führt ein
Schwan den Lohengrin aus dem Lande der Seligen nach
Cleve und wieder zurück. Dieser Schwan wird ausdrücklich
als Engel, d. i. als Alb bezeichnet« (Mannhardt, 1. c.) Auch
beim Schwan als Totenvogel stoßen wir wieder, wie bei der
Überfahrt in die Unterwelt, auf die Unterscheidung von
*) Vgl. den jüngeren Parzival in Kellers Romvart 670: Hie füret ein
swan ein schiffelin über mer zu kunig Artus liofe und einen toten ritter
drinne (cit. nach Müller, 429 2 ).
DER SCHWAN ALS SEELEN- UND TOTENVOGEL. 45
Leichnam und Seele. Der Schwan gilt bald als Toten-,
bald als Seelenleiter. Daraus scheint sich dann die Vorstel-
lung entwickelt zu haben, welche die Seelen der Verstorbe-
nen selbst als Vogel, häufig als Schwan oder die gleichbe-
deutende Taube (Afda. 13, 48), die wir bereits als Liebes-
vogel kennen gelernt haben (S. 23), erscheinen läßt (12). »In
unzähligen Fällen ist die Phantasie diesen Weg gegangen und
der Vogel geradezu das beliebteste Sinnbild der Seele im Augen-
blicke ihrer Empanzipation geworden« (Kleinpaul, S. 28). »Die
Seelen der Verstorbenen pflegen als Schwäne zu erscheinen
und so faßt auch das flämische Volksbuch von dem Schwan-
ritter den Schwan, der das Schiff zieht« (Simrock, Beow., S. 170).
Nach einem von Woeste (Zf. d. Myth., III, 46) mitgeteilten
Märchen steht ein Toter später in Gestalt eines Schwanes dem
Helden helfend zur Seite (vgl. auch Simrock, guter Ger-
hard, p. 75). Über die in zahlreichen deutschen Überlieferun-
gen vorkommende Vorstellung der nach dem Tode als Vogel
entflatternden Seele vgl. Kuhn (bes. S. 106, wo die Literatur
verzeichnet ist). Ein interessantes Beispiel, auf das wir noch
zurückkommen werden, findet sich im Märchen »De drei Vügel-
kens« (Grimm, K. H. M., Nr. 96), zu dem die Herausgeber fol-
gende Bemerkung machen (III, 190) : »Eigentümlich dem deut-
schen (Märchen) und schön ist's, daß aus dem Wasser jedesmal,
wie das Kind hineingeworfen ist, ein Vögelchen aufsteigt, welches
andeutet, daß der Geist das Leben bewahrt (denn die Seele ist
ein Vogel, eine Taube), wie im Märchen vom Machandel-
boom (Nr. 47).« Ähnlich läßt ja die bekannte christliche Vor-
stellung die Seele der heiligen Anna in Gestalt einer Taube
zum Himmel entschweben, wie überhaupt die ersten Christen
die Seelen ihrer Märtyrer, zumal der jungfräulichen, in Tauben-
gestalt dachten (Kleinpaul, S. 29). Auch den Malaien sind
nach Frobenius (363) die Tauben, wenn sie über die Glut
davonfliegen, ein Sinnbild der aufwärts fliegenden Seele. —
»Wenn der Tod das Band zwischen Leib und Seele aufgelöst
hat, dann entfliegt die Seele aus dem Munde des Sterbenden
als Taube oder als Rabe (Spieß, S. 384). Bei den Araukanern
trägt nach Frobenius (219) der Walfisch die Seelen ins
46
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT.
Jenseits, was einer Vermittlungsvorstellung zwischen dem
Totenschiff und dem Tier als Totenleiter zu entsprechen scheint,
welche zwei Vorstellungen ihr Gegenstück finden in dem be-
reits angeführten Glauben von der Herkunft der Menschen
aus hohlen Bäumen (Schiffen) einerseits und aus dem Wasser
durch Vermittlung von Tieren (Storch) anderseits. Denn nicht
nur als Geleiter der Seele aus dem toten Körper werden die
Vögel gedacht, sondern auch als Seelenbringer, die dem
neugeborenen Kinde »den himmlischen Feuerfunken der Seele
herabbrachten« (Kuhn, S. 104), wie der römische Picus, der
Specht, welcher die beiden ausgesetzten Zwillinge Romulus
und Remus ernährt, ähnlich dem Schwan, der im Lohengrin-
gedicht den Ritter speist. Nun war aber ein solcher Seelen-
oder Kinderbringer auch unser Storch, der — wie alle
Seelentiere : Hase, Käfer etc. — zugleich als Totenleiter
galt. So ist z. B. in Südafrika Kaninchen oder Hase der Bote
des Mondes, der die Todes- oder Lebensnachricht bringt
(Frobenius, 356). Dasselbe wissen wir von unserem Schwan,
der neben seiner Rolle als Totenvogel z. B. auf Rügen die
Stelle des Storches vertritt und die Kinderbringt, wie Arndt
(Schriften, Bd. III, S. 547) anführt und Siecke (Liebesge-
sehichte des Himmels, S. 26) auch für andere Gegenden und
Länder geltend macht ; bei Arndt findet sich auch das Lied :
Adebar (= Kinderbringer) du Langbeen. Ob der Vogel dabei,
wie die Mythologen wollen (vgl. Kuhn, S. 106), als Seelenbrin-
ger oder wie der naive Volks- und Kinderglauben uns nahe-
legt direkt als Kinderbringer erscheint, mag dabei unentschieden
bleiben. Immer gilt jedoch ein und dasselbe Tier zugleich
als Führer ins Leben und als Geleiter aus dem Leben (vgl.
Mannhardt, G. M., 730). Es muß diesem Glauben wohl die
Vorstellung zugrunde liegen, ■ daß der Seelenvogel die Ver-
storbenen an denselben Ort zurückgeleite, woher er sie ge-
bracht habe. Und tatsächlich läßt sich dieser Glaube in wei-
tem Umfange nachweisen. Es werden nämlich die Seelen der
Verstorbenen als Himmelsfunken aufgefaßt, »welche dann der
Kinder holende Storch (13) oder Schwan aus der Unterwelt
auf die Erde bringe; siehe Simrock a. a. O., S. 444. In der
«
DER KREISLAUF DER SEELEN. 47
Unterwelt weilen si e, nach vielfach auftauchen-
der Meinung, bis sie geboren werden. Dorthin
kehren sie auch zurück und gehören zum Gefolge der
Unterweltsgöttin . . . Wenn sie die Göttin der Unterwelt, —
die nicht bloß die Göttin des Todes, sondern auch des Lebens,
wie die hehre Nerthus, ist, — umgeben, werden sie auch
Heimchen, Heinchen oder Eiben genannt. Nach Menzel
Germ., II, 234, wären diese Heimchen, deren Namen er als
Keimchen (Embryonen) erklärt*), ursprünglich nur die
Seelen der neugeborenen Kinder, welche man also prä-
existent dachte« (Spieß, S. 385 f.). »Die Vorstellung, daß
die Menschen bei der Geburt aus der Gemeinschaft der
die Unterwelt bewohnenden Eiben heraustreten und bei
dem Tode in sie zurückkehren, wurzelt tief in unserem
altgermanischen Heidentum« — sagt Sommer 170, womit
auch Kuhn, Märkische Sagen, 240, und Rochholz, I, 245,
zu vergleichen sind. Auch der Name Loherangrin scheint
auf die Unterwelt zu deuten, da in der altdeutschen
Vorstellung neben der Wasserhölle auch eine Glut- oder
Feuerhölle angenommen wurde« (Spieß, 377 fg.). Es werden
also nach uraltem allgemeinen deutschen Volksglauben die
Seelen der Verstorbenen den Seelen der noch Ungebo-
renen gleichgesetzt. »Gütchen und Butzen, d. h. Seelen Ver-
storbener und Kinderseelen sind identisch« (Mannhardt, G.
M., 297 4 ). »Überraschend ist die auffallende Übereinstimmung
dieser Vorstellung mit altindischen« (ebenda, S. 730). Auch
bei den Mexikanern finden wir — wie etwa bei den Germa-
nen — nach Reitzenstein (652) ein Kinderreich völlig aus-
gebildet. Es ist das der 13. Himmel, der »Haus des Herab-
kommens« heißt, des Geborenwerdens, und die Herabkom-
menden sind eben die Kinder. Andere Namen, die das Wunder-
land führt, sind: »Ort, wo die Kinder gemacht werden« oder
>Ort, wo die Blumen wachsen«. Hier lebten denn auch, wie
bei den Germanen, »die Seelen der Verstorbenen«. —
*) Nach anderer Meinung deutet der Name auf Heim, Heimat, d. i.
auf den Himmel, aus welchem die Seelen kommen (Spieß, 388).
48
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT.
»Neben Bäumen und Brunnen waren auch Gräber und Berge
Kinderheimat, da man ja die Wohnung der Ungeborenen
stets mit der der Verstorbenen zusammenbrachte, weil man
eine Art Kreislauf annahm« (Reitzenstein, 663). Überhaupt
wurde das Seelenland dem Kinderland gleichgesetzt. In die-
sem Sinne hat Wolf (Beitr., I, 62) von der weißen Frau,
zu der die früh verstorbenen Kinder zurückkehren, ver-
mutet, sie sei identisch mit der deutschen Göttin Holda, aus
deren Brunnen nach anderer Sage (Grimm, D. S., I, 7) die
Kinder herauskommen.
Haben wir so den Schwan als Kinderbringer und
Totenleiter erkannt, so läßt sich die Vorstellung, daß der
Tote an den Ort und in den Zustand des Ungeborenseins
zurückkehre, wie anderseits der Neugeborene aus dem Seelen-
land stamme, in unserer Sage noch von anderer Seite her
nachweisen. Wie nämlich der verstorbene Sceäf in einem
Schiff ins Totenland geleitet wird, so kommen anderseits
»nach mancherlei Spuren im Volksglauben und nach Andeu-
tungen der Kinderlieder die Kinder zu Schiff auf der
W e 1 1 a n« (Spieß, 377). »Zu Schiffe werden nicht bloß die Toten
der Unterwelt zugesandt, zu Schiffe kommen auch die neu-
geborenen Kinder« (Mannhardt a. a. 0., 370. Rochholz,
Schweizersagen, I, 51). In Cortryk kommen die Kinder, statt
mit dem Storch aus dem Kinderbrunnen, zu Schiffe herbei :
Wenn die Kinder fragen: Moder, wennehr kopen wy een
Kindje ? so antwortet die Mutter : Het Schip zal weldra kom-
men, dann zult gy een Züsterken hebben (Wolf, Beitr., I,
164. Vgl. Simrock, Kinderbuch, Nr. 154, 155). Die mythische
Vorstellung, daß das Schiff die neugeborenen Kinder bringe,
liegt auch dem Weihnachtslied zu Grunde, das sich an Taulers
Namen knüpft:
Es kommt ein Schiff geladen
Bis an den höchsten Bord,
Trägt Gottes Sohn voll Gnaden u. s. w.
(Simrock, Beow.)
In diesem Sinne konnte Simrock mit Recht behaupten
und Müller es vertreten, daß der Schwanritter ebensowohl
DIE BEDEUTUNG DES UNTERWELTBEGRIFFS. 49
aus dem Totenlande komme als er dahin zurückkehre, und
wir können ohne weiters alle Aufenthaltsorte der Kinder —
in dem hohlen Baume, im Wasser, in der Schlangengrube
— mit Müller (S. 427) als Symbole der Unterwelt auf-
fassen. Nur müssen wir vom naturwissenschaftlichen Stand-
punkt aus einen Schritt aus dem Bereiche der mytho-
logischen Deutung in die psychologische machen. Wir
hoffen, nicht erst beweisen zu müssen, daß die Unter-
welt der Alten oder die christliche Hölle keine realen
Lokalisationen, sondern Phantasiegebilde sind, und es kann
sich nur nach ihrem Sinn und Motiv fragen. Ohne daß
wir nun das vielfach komplizierte Problem des Fortlebens
der Seele nach dem Tode in der Unterwelt einer umfassen-
den Lösung zuführen wollten, möchten wir doch die psycho-
logische Bedeutung jener Unterwelt klarzulegen versuchen,
aus der der Schwanritter kommt und in welche er zurück-
kehrt. Nun ist aber der geheimnisvolle Ort, wo er herkommt,
nicht nur nach unserer Deutung des Aussetzungsmythus, son-
dern zufällig auch in Wirklichkeit der Mutterleib, das Käst-
chen, in dem der Ungeborene im Wasser schwimmt. Sollte
er am Ende wieder in den Mutterleib zurückkehren? So un-
gereimt das nun zunächst auch klingen mag, es entspricht
tatsächlich der der Sage zu Grunde liegenden Vorstellung.
Wir haben schon den Volksglauben angeführt, daß die Seelen
der verstorbenen Kinder wieder in den Kinderbrunnen, aus
dem sie stammen, zurückkehren. Diesem Glauben entspricht
völlig die frühinfantile, ganz richtige Vorstellung, daß die
Kinder auch beim Storch (also im Mutterleibe) schon leben
(Freud, Jb. I, S. 54). »Ungeboren und gestorben steht
sich mythisch gleich,« sagt Simrock (Beowulf, S. 170) und
»die Unterwelt ist die Quelle alles Lebens wie auch alles
Leben dahin zurückkehrt.« Diese ganze Unterwelt selbst mit
ihrer Vorstellung des Fortlebens nach dem Tode ist aber,
wie Freud (Tr. r S. 199, Anmkg.) aus dem unbewußten Phan-
tasieleben erschließen konnte, nichts anderes, als die Pro-
jektion des unheimlichen Lebens vor der Geburt im Mutter-
leibe in die Zukunft.
Rank, Die Lohengrinsage. 4
50 DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT
»Auch der Germane wird zunächst die Geburt — meint
M a n n h a r d t (G. M., 587) als Ausfluß ein- und derselben Macht,
welche den Tod verhängte, empfunden haben.« Diese innige
Beziehung, in die eine richtige Ahnung der menschlichen
Phantasie Geburt und Tod, Zeugen und Sterben bringt, spielt
im Seelenleben des Kindes eine ungeheure Rolle und führt
z. B. nicht selten zu der Auffassung, daß erst ein Mensch
(die Mutter) sterben müsse, ehe ein anderer (ihr Kind) auf
die Welt kommen könne (Jung, S. 34); diese Theorie wird
vom Kinde so formuliert, wie es unsere Sage voraussetzt :
Wenn ein Mensch stirbt, so wird er ein Engel und dann
wird er ein Kind, indem er vom Storche wieder auf die Erde
heruntergebracht wird (1. c). Ähnlich werden nach Ansicht
der Tonkinesen die Kinder im Mutterleib von denjenigen
Kindern belebt, die sterben, ehe sie zur völligen Reife des
Verstandes gelangen konnten (Bab, Zeitschr. f. Ethnologie,
1906, S. 282).
Wir sehen also wie viel Typisches, Allgemein-mensch-
liches in dieser Auffassung liegt und werden uns nicht wun-
dern, daß in einer sonderbaren, von G.Paris mitgeteilten
Version der Schwanrittersage (»l'Elioxe«) die Mutter tatsäch-
lich bei der Geburt des Kindes stirbt. Außer den Kindern und
den Naturvölkern sind es dann insbesondere die Dichter, die in
gewissem Sinne immer Kinder bleiben, welche die geheimnisvolle
Beziehung von Werden und Vergehen ewig neu zu variieren
wissen. Eine besonders eindrucksvolle Stelle aus Ganghofers
Lebenslauf eines Optimisten sei hierhergesetzt: »Da sprechen
nun die beiden Kontraste durcheinander: der Tod, der das
Leben endet — und das Geheimnis, aus dem alles Leben
quillt. Und zwischen diesen beiden Gegensätzen zittert ein
erschrockenes Kinderseelchen« (zitiert nach Zentralbl. f.
Psychoanalyse, I, p. 166). — Und vollkommen im Sinne
nicht nur unserer Sage, sondern direkt unserer Deutung,
scheint es gesprochen, wenn Gerhard Hauptmannini letzten
Akt seines jüngsten Dramas : »Die Ratten« die des geliebten
Kindes beraubte Frau John phantasieren läßt: »Wenn een
Kindchen meinswechen jeboren ist, denn is et jedennoch noch
ALS SYMBOL DES STERBENS. 51
in der Mutter . . . und wenn es meinswechen jestorben ist
denn is es immer noch in der Mutter . , . « Diese Vorstelluno'
von einer Rückkehr in den Mutterleib, die uns vom Sterben
als von einer Wiederkehr »in den Schoß der großen Mutter«
sprechen läßt (Kleinpaul, S. 265), findet dann ihr völliges
Gegenstück in den neurotischen Phantasien vom Lebendi»-
begraben werden und in den Sarg-Angstanfällen gewisser
Hysterischen die, wenn sie sich ein Kind wünschen, sich nach
Freud mit der eigenen Mutter identifizieren und endlich
selbst wieder zum Kind im Mutterleibe werden (Binswanger,
S. 349).*) Aber noch von anderen Seiten her schließt sich hier
das Beweismaterial zu einer lückenlosen Kette. Den pathologi-
schen Verdrängungsformen der Mutterleibsphantasie, also etwa
der Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen, ent-
sprechen im normalen Traumleben die Vorstellungen des Ab-
reisens, der Abfahrt als symbolische Ausdrücke des Todes, der
großen Reise ins Jenseits (Stekel) und diese in der Traum-
sprache lebendig gebliebene Darstellungsweise stammt nach den
Forschungen Freuds aus dem kindlichen Vorstellungsleben,
das den Tod einer nahestehenden Person nicht in seiner
vollen Bedeutung, sondern nur als Entfernung im Sinne einer
Abreise aufzufassen vermag. Eine pathologische Fixierung
dieser Vorstellung im Unbewußten kann dann bei entspre-
chender psychischer Konstellation leicht zur Eisenbahn- oder
Reiseangst überhaupt führen. Verstehen wir so die geheimnis-
volle Abfahrt des Helden als Ausdruck seines Todes, den die
mythische Phantasie in Übereinstimmung mit kindlichen und
neurotischen Vorstellungen als Abreise in ein fernes Land, als
eine Rückkehr in den Mutterleib faßt, so wird uns der Sceäf-
mythus in seiner vollen, im Grunde schon von Simrock (Beow.,
*) Die späteren Phantasien mancher erwachsenen Personen von ihrem
früheren Aufenthalt oder ihrer Rückkehr in den Mutterleib spielen nicht
nur im Seelenleben des Neurotikers eine bedeutsame Rolle. Wohl eine der
großartigsten Mutterleibsphantasien ist uns in einem 1795 anonym erschie-
nenen Buche erhalten, das den Titel führt: Meine Geschichte eh' ich
geboren ward und die neuerdings als 2. Band der »Neudrucke literar-
historischer Seltenheiten« von Dr. S. Rahmer herausgegeben im Verlage von
Ernst Frensdorff, Berlin, erschienen ist.
52
DIE GEHEIMNISVOLLE ABFAHRT
S. 170) erkannten Bedeutung und Tiefe verständlich. Simrock
führt aus: »Sceäf lag auf dem Schaub, dem manipulus fru-
menti, dem Bündel Stroh (Müllenhof, Sagen, Märchen und
Lieder, S. 4), von dem er den Namen hat, wie die Chronisten
ausdrücklich melden. Auf dem »Schoof« liegen, heißt am
Niederrhein gestorben sein, weil es Sitte war, die Toten
auf ein Schaub Stroh zu betten. Wenn dies zu dem Beweise
genügt, daß Sceäf, als er heimkehrte, zum Totenlande fuhr,
so bleibt eins noch darzutun, daß er auch aus dem Seelen-
lande kam. Sceäf lag auf dem Schaub, nicht bloß als er
ankam. Damals war noch ungeboren, wie es Einl. Z. 46
ausdrücklich heißt . . . Ungeboren und gestorben steht sich
aber mythisch gleich, die Unterwelt ist die Quelle alles Lebens
wie auch alles Leben dahin zurückkehrt. Das Kind, das der
Storch bringt, ist noch nicht geboren, solange der Storch
es im Schnabel trägt: erst wenn er es der Mutter in den
Schoß legt, kommt es zur Geburt. So galt auch Sceäf noch
für ungeboren, solange er im Schiffe auf dem Schaube lag:
erst als das Schiff landete und die Leute des Landes ihn für
ein Wunder aufnahmen, schien er zur Geburt zu kommen.
. . . Der Annahme, daß Sceäf aus dem Seelenlande komme
und dahin zurückkehre, widerspricht es nicht, daß er mit
Waffen und Schätzen umgeben ist. Waffen und Schätze
gab man den Toten mit, und sowie der Schaub, die Bausche
Stroh, die eigentlich nur dem ins Totenreich zurückkehren-
den Helden zu gehören scheint, auf den noch ungeborenen
übertragen ist, wie sie beide auch schon durch das Schiff
gleichgestellt sind, das sie brachte und wieder hinwegführte,
so mögen Waffen und Schätze ursprünglich auch nur dem
heimkehrenden Helden zugehört haben, aber auf den anlan-
denden übertragen sein« (Simrock, Beow., S. 170). Setzen
wir an Stelle des zweifellos richtigen mythologischen Begriffs
der Unterwelt den psychologisch geforderten des Mutterleibes,
so können wir die treffenden Ausführungen Simrocks nur
vollinhaltlich akzeptieren und haben ihnen eigentlich nichts
hinzuzufügen, als vielleicht den Hinweis, daß uns die Zurück-
führung des Verstorbenen durch den Schwan an den Ort
UND DIE KINDLICHEN TODESWÜNSCHE. 53
seiner Herkunft auffällig an die fast typische Reaktion des
kleinen Kindes erinnert, welches die Störung seiner bevor-
zugten Stellung durch die Ankunft eines neuen Geschwister-
chens regelmäßig damit beantwortet, daß es unverhohlen äußert,
der Storch solle das Kind nur wieder dorthin mitnehmen,
woher er es gebracht habe (siehe Freud, Tr.,
S. 177, Jb., I, S. 5 2 , Kl. Sehr., II, 162). Daß es damit den
Todeswunsch ganz im Sinne unseres Mythus ausdrückt, haben
die wertvollen Aufklärungen Freuds (I.e.) gelehrt. Auch
zu dieser Regung kindlicher Selbstsucht bietet außer den im
VI. Kapitel zu besprechenden Märchen der Volksglaube das
beweisende Gegenstück. Nach Pröhle (Z. f. d. Myth., I,
196 f.) sagt man im unteren Lerbach (Harz) den Kindern, daß
der liebe Gott die Kinder in den Teich »wuppt« (wirft) und
daß die Kinderfrau sie »heraus häckelt«. »Will je ne denn
ok beholen ? süst nehm ick ne wedder midde und stoppe ne
weeder hie«, sagt die Kindsfrau zu den älteren Geschwistern
nach der Geburt eines kleinen Bruders. Und der an ver-
schiedenen Orten heimische Glaube, daß die Kleinen ihren
Geschwistern Leckeres mitbringen (Z. f. d. Myth., H, 90),
geht wohl auf den Gedanken zurück, einem zu unfreundlichen
Empfang vorzubeugen.
V.
Bevor wir uns dem französischen Sagenstamm des Che-
valier au cygne und damit der Geburtsgeschichte und der
befreienden Heldentat des Schwanritters zuwenden, möchten
wir unser bisheriges Ergebnis zusammenzufassen und in einer
bestimmten Richtung für die Deutung zu verwerten suchen.
Der unbekannte Ritter, der in einem Nachen vom Schwan
ans Land gebracht wird, verbietet die Frage nach seiner
Herkunft, da er sonst wieder scheiden müßte. Über Sinn und
Ursprung dieses Verbotes herrscht bei den Mythologen ein
gleiches Dunkel, wie über Nam' und Art des Schwanritters
selbst bei seiner Umgebung. Mit Ausnahme zweier später zu
besprechender Erklärungsversuche, von denen der eine den
speziellen Sinn des Frageverbots in der Lohengrinsage un-
54 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
erklärt läßt, während der andere selbst erst einer Deutung
bedarf, hat eigentlich noch niemand Sinn und Bedeutung
dieses Motivs klargelegt, das auch in der Sage selbst nicht
seine Erklärung findet. Es wird nicht der geringste Grund
für dieses Gebot der Verheimlichung angeführt und wir
müssen natürlich auch die scharfsinnige, aber gekünstelte
Motivierung, die Wolfram mit der unterlassenen Frage
Parzivals hergestellt hat, als sekundär und im Wesen der
Sage völlig unbegründet, ausschalten. Wie in der Beachtung
des sonst vernachlässigten unscheinbaren Details, so ist auch
hierin die literarhistorische und sagengeschichtliche Kritik
mit der Psychoanalyse einig, daß ein solcher im Zusammen-
hang der Sage völlig unmotivierter Zug vermutlich aus einem
anderen Zusammenhange stammen dürfte, in den er besser
passen und sich sinnreich einfügen würde. Während aber die
Mythenforschung entsprechend ihrem Material und ihrer Me-
thodik diesen vermuteten ursprünglichen Zusammenhang durch
Vergleichung mit verwandten Mythen (siehe unsere Heran-
ziehung der Sceäfsage) festzustellen sucht, ist es eine der
Eigenarten der psychoanalytischen Methode, daß sie uns in
den Stand setzt, den gesuchten Zusammenhang nicht selten
an dem problematischen Material selbst, gleichsam in einer
unteren, verborgenen Schicht desselben, aufdecken zu kön-
nen. Ehe wir also nach verwandten Sagen suchen, in denen
ein solches Frageverbot eine Rolle spielt, wollen wir zusehen,
ob dieses Motiv nicht aus dem bereits eruierten tieferen
Sagengehalt stammt und von dort unverstanden in die ratio-
nalisierte Oberfläche hineinragt. Wir haben wahrscheinlich
zu machen gesucht, daß die geheimnisvolle Ankunft des jungen
Helden, der vom Schwan aus dem Wasser ans Land gebracht
wird, den symbolischen Ausdruck der Geburt darstellt. Sollte
vielleicht das Frageverbot, das beim Erwachsenen unmoti-
viert erscheint, für das Kind einen Sinn haben? Zunächst
scheint dies nun nicht der Fall zu sein; denn bei einem
kleinen Kinde wird uns solch großtuerisches Gebaren noch
unverständlicher vorkommen müssen. Wenn wir uns aber
zu einer gleicherweise in der Mythologie wie in der Traum-
DIE FRAGE NACH DER HERKUNFT DER KINDER. 55
deutung ohne weiteres gestatteten Umkehrung dieses Elemen-
tes entschließen, so erhält das bisher unverstandene Motiv
plötzlich Sinn und Bedeutung, ja mehrfachen Sinn und ver-
schiedene Bedeutung. Denken wir uns nämlich das notwen-
dige Korrelat zu dem Verbot, nach etwas Unbekanntem
zu forschen, also die gegenteilige Bedingung, das dringende
Verlangen, dieses Unbekannte zu erfahren, so ergibt
sich eine mögliche Bedeutung dieses Motivs, welche zu dem
geheimen Sinn der Aussetzung sehr wohl paßt. Wir müssen
dieses Forschungsbedürfnis nur dem unbekannten Ankömm-
ling selbst zuschreiben, von dessen Standpunkt ja der Mythus
geschaffen ist (vgl. Rank, Mythus, S. 81 fg.) und wir stehen
mit einem Male vor der berühmten Frage, die sich dem Er-
kenntnisdrang jedes neuen Erdenbürgers als eine der ersten
aufdrängt in dem Problem : Woher kommen die Kinder
und woher bin ich denn selbst gekommen? Der Mythus be-
antwortet diese Frage, wie wir sahen, ganz richtig — wenn
auch mit der diplomatischen Zweideutigkeit der delphischen
Orakelsprüche — dahin, daß das Kind aus dem verschlos-
senen Kästchen und dem Wasser, also aus dem Mutterleib,
komme. Den gleichen Sinn hat auch die im gewöhnlichen
Leben dem neugierigen Kinde gegebene Aufklärung, der
Storch hole die Kinder aus dem Wasser und bringe sie den
Eltern.*) Aber die Erfahrung zeigt nur zu oft, daß das
superkluge Kind den richtigen Kern dieser mythologischen
Aufklärung nicht verstehen kann oder will und von da an ein
unausrottbares Mißtrauen gegen den Vertreter dieser falschen
*) Den wahren Sinn und Inhalt dieser Auskunft hat in scharfsichtiger
Weise bereits Kleinpaul erkannt, der (S. 112 f.) sagt: »Berta von Rosen-
berg ist also eine jener Stammütter, die als Todesengel ihres eigenen Ge-
schlechtes gedacht werden, wie die Göttin Berchta, die auch Frau Holle ge-
nannt wird, offenbar selbst eine solche verewigte Mutter gewesen ist — die
letztere gilt zugleich für eine Hüterin und Pflegerin der abgerufenen Seelen,
die sie in einem himmlischen Brunnen wie in einem Depot aufbewahrt und
zur rechten Zeit wieder auf die Erde zurücksendet, wo sie dann als Kinder
wiedergeboren werden. Auf diese Weise erhält nämlich die Ahnfrau ihr
Geschlecht, einer fruchtbaren Mutter gleich, die neue Kinder in die Welt
setzt, nachdem die ersten gestorben sind. Gewiß ist das überhaupt der Sinn
r
56 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
Behauptung — meist den Vater — bewahrt (vgl. Freud, Kl.
Sehr., II, 169). Läßt es nun etwa gar seine Unzufriedenheit
über diese Art der Belehrung laut werden, so wird ihm meist
aufs strengste untersagt, derartige Fragen zu stellen, was
nicht selten zu einer dauernden Feindseligkeit des schwer ge-
kränkten Kindes gegen seine Eltern führt. Hier stoßen wir
auf eine zweite Umkehrung, die sich der Mythus zu schulden
kommen läßt. Denn das Frageverbot nach der geheimnis-
vollen Herkunft des Kindes, das sich der Schwanritter an-
maßt, gilt dem ursprünglichen Sinne nach ihm selbst und
muß ihm wohl von den Erwachsenen, zu denen er gesandt
wurde, auferlegt worden sein. Und wie um die Sonderbar-
keiten zu häufen, werden wir hier an eine dritte Umkehrung
erinnert, welche das gleiche Material des Aussetzungsmythus
betraf, der ja an Stelle des Herauskommens aus dem Wasser,
des Geborenwerdens, das Hineinstürzen ins Wasser, die
eigentliche Aussetzung, einsetzt. Woher rühren nun diese
Sonderbarkeiten des Mythus und was haben sie zu bedeuten ?
Begnügen wir uns vorläufig damit, für eine Form der Um-
kehrung einen naheliegenden' Sinn geltend zu machen, der
zugleich auf einen anderen Zug der Sage einiges Licht wirft und
uns später noch beschäftigen wird. Es gehört nur ein biß-
chen Verständnis für das Seelenleben des Kindes dazu, um
zu erkennen, daß sich das superkluge Kind mit der Ablehnung
des Storchmärchens zu einem, wissenden Erwachsenen auf-
spielt und nun seinerseits ein rechtes Vergnügen daran fin-
det, sich für das Auftischen dieser Fabel an den unaufrich-
tigen Eltern zu revanchieren und ihnen die tollsten Dinge
dieser weiteren Phantasie, der Brunnen der Mutterschoß und nun
vollends der Storch, der rotbeinige Storch, der Kinderbringer, an den die
Gelehrten so viel Tiefsinn gewandt haben, nichts weiter als ein launiges
Bild, für das gern mit einen langen Halse, einer Gans oder einem Storche
verglichene Organ gewesen, das die kleinen Kinder tatsächlich aus dem Mutter-
leib herausholt. Wer nicht auf den Kopf gefallen ist, der hört in diesem Falle
eben die Kinder fragen: wo kommen denn die kleinen Kinder her? - — Und
die Eltern verblümt antworten : der Storch hat sie gebracht. Was fehlt denn
der Mutter, daß sie sechs Wochen lang nicht aufsteht? — Der Storch hat sie
ins Bein gebissen. Unnötig ein Mehreres darüber zu verlieren.«
DAS VERHALTEN DER KINDER ZUR STORCHFABEL. 57
weismachen zu wollen (vgl. Freud, Jb., I, S. 52, und Jung,
S. 54). Das Kind muß sich dabei absichtlich dumm stellen,*)
da es ja diese Dinge selbst zu glauben vorgibt und ander-
seits sich trotz der inneren Unbefriedigung scheinbar mit
dem Storchmärchen zufrieden gibt. Dieses Aufspielen zum
Erwachsenen, der nun seinerseits sagen darf: mich hat ein
Schwan aus dem Wasser zu euch gebracht, aber ich verbiete
euch, weiter nach meiner Herkunft zu forschen, diese ironisie-
rende Revanche des enttäuschten Kindes an seinen heuchle-
rischen Eltern möchten wir als einen möglichen Sinn des Frage-
verbots in der Lohengrinsage hervorheben. Eigentlich bezieht
sich aber das Verbot auf den jungen Ankömmling selbst, der
nicht fragen darf, woher er gekommen ist und der vielleicht
von seiner Seite die Frage darum verbietet, weil er sie —
wie die Sage zeigt — gar nicht beantworten kann. Und es ist
vielleicht auch kein Zufall, daß dieses Verbot gerade als Bedin-
gung der Ehe aufgestellt wird, welche erst die sexuelle Neu-
gierde des Knaben voll befriedigt. Erinnern wir nochmals
daran, daß in manchen Gegenden und Ländern der Schwan
die sonst dem Storch zugeschriebene Rolle des Kinderbringers
einnimmt, so können wir den wesentlichen Sinn des Frage-
verbots in die Worte kleiden : Dem Kinde ist die Herkunft
des Menschen ein Geheimnis, nach dem es nicht fragen darf
und dessen Aufklärung ihm ersetzt wird durch den Hinweis
auf die Storchfabel, nach der der Storch oder Schwan die
Neugeborenen im Kästchen aus dem Wasser zieht und den
Eltern auf wunderbare Weise bringt.
Nun sind wir aber von der Vermutung ausgegangen,
daß wie im Leben des Kindes, so auch im Mythus das Ver-
bot etwas Sekundäres sein müsse und jedenfalls eine neu-
gierige Frage, das Forschen nach einer bestimmten Richtung
*) Vgl. die interessante Arbeit von Ernest Jones (Simulated
Foolishness) und die feine Bemerkung des Dichters Geijerstamni (Frauen-
maclit, S. 135) : »Ich glaube fest, Kinder wissen so gut wie alles, und nur
wir Großen sind es, die ihre Kinderzeit vergessen haben. Mir tun die kleinen
Kinder leid, die gezwungen werden, ihre Überlegenheit über uns dadurch zu
zeigen, daß sie schweigen und sich uns willig fügen.«
■
58 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
voraussetze. Und tatsächlich scheint die später zu bespre-
chende Schwanritterversion vom Chevalier au cygne in diesem
Punkte so weit ursprünglicher, daß beim Auftreten des Helden
von einem Verbot keine Rede ist, sondern daß erst im Ver-
laufe seiner Ehe die Frau sich eines Tages nach seiner Her-
kunft erkundigt und darauf das Verbot von seiner Seite
erfolgt. Anderseits gibt es aber eine Gruppe verwandter
Sagen, wo dieses im Lohengrin entstellte logische Verhältnis
ins andere Extrem gesteigert erscheint. Statt des Verbotes
zu forschen oder der dasselbe veranlassenden Neugierde er-
scheint tatsächlich der Zwang zu grübeln, die Bedingung,
ein Rätsel zu lösen, als direkter Gegensatz des Frage-
verbotes. Dies trifft z. B. für die Sage von Ödipus zu,
der nach einer Version von seinen Eltern im Kästchen ins
Meer ausgesetzt, von einem fremden Königspaar gerettet und
erzogen wird und der nun als unbekannter Held in seine
Heimat zurückkehrt, wo er trotz der Warnung eines miß-
verstandenen Orakels seinen Vater tötet und seine eigene
Mutter heiratet. Ganz wie unser Schwanritter befreit er das
bedrohte Land und gewinnt dessen Herrin — die von ihm
unerkannte Mutter — zum Weib, und zwar indem er genau
dasselbe Rätsel löst, nach dem der Schwanritter zu forschen
verbietet. Dieses schwierige Sphinxrätsel, dessen Lösung dem
erleuchteten Ödipus vorbehalten blieb, muß wohl neben seinem
offenkundigen Sinn, den jedes Kind erraten hätte, ein tieferes
Geheimnis bergen. Die Frage selbst lautet nach dem Wesen
das am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zwei und
abends auf drei Beinen gehe. Die Lösung lautet : der Mensch.
Er kriecht als neugeborenes Kind auf allen Vieren wie
ein Tier auf der Erde, geht als Mann aufrecht auf zwei
Beinen und nimmt als Greis einen Stock zur Stütze. Die Frage
richtet sich also nicht so sehr nach der Herkunft wie nach
dem Wesen des Menschen, so daß die eigentliche Frage: was
ist der Mensch, mit jener seltsamen Umkehrung, die dieses
Thema regelmäßig zu betreffen scheint, hier zur Anwort ge-
macht ist. Immerhin ist aber das, wonach gefragt wird, das
rätselhafte Wesen, der Mensch (14). Und auch hier scheint
DIE WANDLUNGEN DES FRAGEMOTIVS. 59
es wieder kein Zufall, daß die Lösung des Rätsels der Ehe
vorausgeht, ja deren Vorbedingung ist. — Eine Mittelstellung
zwischen der Lohengrin- und der Ödipussage nimmt bezüg-
lich der Rätselfrage und ihres Verbotes die Parzivalsage ein,
wo es sich weder um ein ausdrückliches Verbot noch um ein
direktes Gebot handelt und wo demnach auch der Sinn des
Rätsels weniger deutlich hervortritt. Parzival wird von
seiner Mutter in absichtlicher Unwissenheit aufgezogen,
damit er dem frühzeitigen Todesschicksal seines tatendurstigen
Vaters entgehe. Er entläuft aber doch der Mutter, trotzdem
sie ihm Narrenkleider angelegt hat, und kommt in die präch-
tige Gralsburg. Dort brauchte er nur nach des Königs An-
fortas Leiden und nach den Wundern des Schlosses zu
fragen, so wäre Anfortas erlöst und er selbst an seiner
Stelle König geworden. Aber in seiner Jugend gelehrt,
so wenig als möglich zu fragen (Frageverbot), unter-
läßt er in seiner »Tumpheit« die Frage, wo er sei. Ist
also hier die eigentliche Frage noch weiter entstellt, so wird
dafür der Ursprung des Verbotes in die früheste Kindheit
verlegt und die hervorgehobene Dümmlingsnatur Parzivals,
die uns an das Dummstellen des superklugen Kindes gemahnt,
scheint mit dieser Unterbindung des frühen Forscherdranges
in einen gewissen Zusammenhang gebracht (vgl. Freud,
Leonardo, S. 16 f.). Daß es sich dabei in letzter Linie um
die sexuelle Unwissenheit handelt, geht unter anderem daraus
hervor, daß Parzival in Wolframs Epos von Gurnemans als
zu dumm für die Minne erklärt (str. 165), zwei Nächte neben
seiner Frau schläft, ohne sie zu berühren (str. 202), was uns
als interessantes Gegenstück des Sagenzuges erscheint, daß
Ödipus erst nach Lösung des Rätsels und Lohengrin nach
Aufstellung des Frageverbots die Ehe zu vollziehen im stände
sind. In diesen geheimen Beziehungen des Lohengrinverbots
zur Parzivalfrage erblicken wir auch den Hauptgrund, sowie
die psychologische Berechtigung für die logische Verknüpfung
dieser beiden Motive durch den intuitiv schaffenden Dichter.
Es erübrigt nun noch, uns nach verwandten Mythen
umzusehen, in denen das Verbot nach einer Erkundigung
60 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
bedeutsam hervortritt und zu untersuchen, inwieweit sie
sich der entwickelten Auffassung fügen oder ihr widerstreben.
Nun gibt es tatsächlich, wie schon Görres (S.LXIII, Anmkg.)
erwähnt, eine Reihe anderer Sagen, in denen ein Verbot das
Kernmotiv darstellt. Es sind dies hauptsächlich Sagen, in
denen ein höheres Wesen mit einem geringeren die Ehe ein-
geht, und wo das Verbot vornehmlich dem Manne — nicht
wie in der Lohengrinsage der Frau — gilt. Solche Ehen
sind (nach Görres) die Friedrichs von Schwaben mit Angel-
burg, Raimund und Melusine, Partenuplis und Amelor, Amor
und Psyche, Graelent und die Fee, Lanval u. a. m. »Immer
ist es eine Liebe, die das Band zwischen entgegengesetzten Na-
turen knüpft und eine unzeitige Neugierde, die es, zerreißt«
(Görres 1. c).
So handelt es sich beispielsweise in der Sage von Lanval
(vgl. den Lais der Marie de France) wie in der ähnlichen von
Graelent (ebenda Köhlers Anmerkungen) um das Liebesverhält-
nis des Helden mit einer Fee, welche als Bedingung des höchsten
Glückes die Geheimhaltung des Liebesbundes stellt, bei Graelent
auch ausdrücklich das Verbot, sich ihres Besitzes oder ihrer
Schönheit zu rühmen. Er kann sich aber der allgemein bewun-
derten Königin gegenüber nicht enthalten seiner unvergleichlichen
Geliebten zu erwähnen und wird nun verhalten, sie zum Erweise
für seine Behauptung zur Stelle zu schaffen. Sie, die sonst immer
und zu jeder Stelle auf seinen Wunsch erschienen war — in der
verwandten italienischen Geschichte des Liombruno vermittels eines
Zauberringes (1. c. Köhler) — , läßt ihn nun im Stiche und er-
scheint erst im letzten Augenblick der höchsen Not zur Rettung
des Geliebten — ganz wie unser Schwanritter. Dem Schwanritter
noch näher gerückt erscheint diese Sagengruppe in einem hessi-
schen Märchen (Wolf, II, 211), wo ein aus einem Schwan verwan-
deltes Mädchen einem Jäger die Bedingung stellt, er könne sie er-
lösen, nur dürfe er nie von ihrer Schönheit sprechen. Der Jäger
gewinnt bald darauf des Königs Tochter, die schönste Jungfrau im
Lande, sagt aber, seine Braut sei noch tausendmal schöner und
muß sie dann im goldenen Berge suchen. Die Ähnlichkeit dieser
Sagen mit unserem Schwanrittertypus im Punkte des Fragever-
bots ist, wie man sieht, ziemlich auffällig und geht manchmal sehr
weit. So verliert Friedrich von Schwaben die mit übernatürlichen
Gaben ausgestattete Gehebte dadurch, daß er gegen ihr Gebot Licht
in das Gemach bringt, ein Zug, der ähnlich im Märchen von Amor
DAS FRAGEVERBOT IN VERWANDTEN SAGEN. 61
und Psyche erscheint. Friedrich zieht dann unter falschem
Namen auf die Suche nach der Geliebten aus und besteht man-
cherlei Abenteuer. Unter anderem kämpft er ritterlich für die junge
Fürstin Osana von Brabant gegen den furchtbaren König Arnold
von Norwegen, verschmäht aber Hand und Land der schönen Für-
stin, die ihm als Preis geboten werden (Hagen, S. 535). Die Ähn-
lichkeit dieses Zuges mit dem Eingreifen Lohengrins ist so groß,
daß man versucht wäre an Entlehnung zu denken, wenn das nicht
für unsere Untersuchung zunächst gleichgültig wäre; tauchen doch
andere Motive der Lohengrinsage in so verschiedenem Zusammen-
hange und in so weit auseinanderliegenden Örtlichkeiten auf, daß
bei dem allgemein-menschlichen Inhalt, den wir eben nachzu-
weisen bemüht sind, ebensowohl die selbständige Entwicklung die-
ser Züge möglich ist. So verbietet in der von Holt z mann (3, 140)
mitgeteilten indischen Sage von Bhishmas Geburt die Göttin
Ganga dem Gemahl nach ihrem Namen zu fragen. Die sieben
Kinder, welche sie geboren hat, wirft sie ins Wasser und
verläßt, als beim achten Kind das Gebot übertreten wird, den Gatten.
Die Ähnlichkeit geht hier so weit, daß Leo ( Vorlesg., I, S. 83) be-
haupten konnte, unsere Schwanrittersage sei nichts als eine aus-
geschmückte Anpassung der indischen Fabel an unsere deutsche
Sagenwelt. Ein Blick auf die weitverzweigte, interessante Überlie-
ferung der Naturvölker belehrt uns aber, daß trotz weitgehender
Übereinstimmungen an eine allgemeine Entlehnung und Wande-
rung dieser Sagen oder Motive nicht zu denken ist, wenn sie sich
auch in einzelnen Fällen mag nachweisen lassen. Aus dem reichen
Material, das Frobenius in dem Kapitel (XIII) über die Schwan-
jungfrauenmythe (I, 304 — 333) mitteilt, sei eine Fabel aus Afrika
für viele mitgeteilt (S. 318) : »Betsimisaraka aus Madagaskar«. —
Man erzählt, daß ein Betsimisaraka, der fischen gegangen war, eine
wunderbare Undine mit weißer schöner Haut und langen schwarzen
Haaren heraufgezogen habe. Dieses Weib lebte im Wasser und
nährte sich von rohem Fleische. »Ich heirate dich«, sagte sie zum
Fischer, »und wohne mit dir unter der Bedingung, daß du nie
meinen Ursprung aufdeckst« (Verbot). Sie heiraten (Heirat) und
das Weib lebte auf Erden, wie wenn sie eine gewöhnliche Frau
wäre. Aus dieser Ehe entsprossen vier Kinder, zwei Knaben und
zwei Mädchen (Kindersegen). Eines Tages, als der Mann vom Rum
betrunken war, fragte man ihn, wie ein so armer Fischer wie er
sei, eine so schöne Frau hätte heiraten können. Er erzählte, auf
welche Weise die Ehe zu stände gekommen sei und enthüllte so
den Ursprung seiner Frau (Verbotsbruch). Sowie die Tochter des
Wassers dies vernahm, verließ sie ihren Gatten und kehrte in den
Fluß zurück (Abschied). Die Töchter folgten ihr und wurden
62 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
Undinen wie sie. Die Söhne blieben bei ihrem Vater. Sie wurden
Stammväter und nannten ihre Nachkommen, »die Söhne des
Wassers«. Es gibt noch Nachkommen von ihnen in Tamatave.«
Noch größere Übereinstimmung mit der Lohengrinsage, spe-
ziell mit der später zu besprechenden Fassung vom Chevalier au
cygne, hat folgende von Cassel (p. 13) mitgeteilte Sage, die sich
auch in der von Brockhaus (Leipzig 1843) verdeutschten Märchen-
sammlung »Somadeva Bhatta« (I, 191) findet: »In der schönen
hindostanischen Sage vom Holzhauer hat Tulisa einen himmlischen
Gemahl erhalten. Sie wird von ihm ungemein beglückt. Er hat sie
und ihre Eltern von Hunger und Not errettet. Sie hat nur eine
Bedingung zu erfüllen. Nach dem Namen ihres Mannes soll sie
nicht fragen. Nur dann wird sie des himmlischen Genusses teil-
haftig bleiben. Aber sie hält es nicht aus und fragt. Dies Schick-
sal ward ihr bereitet durch die böse Schwiegermutter, welche sie
durch böse Tücke dazu verleitet, um sie zu stürzen. Durch die
Frage geht ihr wie ihres Mannes Glück unter. Er muß scheiden.
Erst nach Prüfungen aller Art wird das Vergehen wieder gut ge-
macht.« In anderen offenbar gleichsinnigen Sagen wird Verbot und
Frage dadurch umgangen, daß das übernatürliche Wesen der Frau
durch ihre völlige Schweigsamkeit noch umheimlicher er-
scheint. Eine solche Sage findet sich beispielsweise bei Vincent von
Beauvais, nach dessen Erzählung sie Hagen (S. 549) kurz be-
richtet : »Wie ein bei Mondschein im Meere badender Jüngling ein
ihm nachschwimmendes Weib bei den Haaren ergreift und sie, die
auf alle Fragen stumm bleibt, in sein Gewand hüllt, heim-
führt und zur Gattin nahm, dann aber, von einem Genossen ver-
spottet, daß er ein Gespenst zur Frau habe, ihr den Tod des
mit ihr erzeugten Knaben droht, wenn sie nicht sage,
woher sie wäre: worauf sie wehklagend, daß er sie zu reden
und damit zu scheiden zwinge, verschwand, um später auch den
erwachsenen Knaben, der gern im Meer badete, in die Tiefe zu
ziehen.« Ganz ähnliche Sagen verschiedener Herkunft führt Man n-
hardt (B. K., S. 60) an mit dem Bemerken, daß dieser Zug der
Stummheit alt und echt sei.
In einer weiteren hierher gehörigen Gruppe handelt es
sich wieder um die uns bereits verständlichere Frage nach
der Herkunft — nicht nach dem Namen — , die an sich
verhängnisvoll wird, ohne daß ein Verbot vorausgegangen wäre.
So in einer anderen indischen Erzählung (Somadeva Bhatta, 1, 169),
wo die Vidhyadara Kanakarekha nicht länger auf Erden verweilen
kann, wo sie als Tochter eines mächtigen Königs geboren ward,
sobald sie ein Mann »nach dem Rätsel ihres irdischen
Daseins fragt« (Cassel, S. 13). Noch deutlicher ist der Zusam-
LAISTNERS ALPTRAUM-THEORIE. 63
menhang in einer nachMüll enhoff (Sagen, S. 243) von Wolf (268)
angeführten Erzählung, wo ein nachts vom Mahr geplagter Jüng-
ling, das Loch, durch welches dieser eingedrungen ist, verstopft
und am Morgen ein schönes junges Weib in seinem Bette findet,
die er heiratet und die ihm Zwillinge gebiert. Einst fragt er sie
im Streite ärgerlich, wo sie denn eigentlich her sei? wor-
auf die Frau antwortete, das weiß ich gar nicht. Da zeigte ihr
der Mann das Loch, durch das sie gekommen war, und sie flog durch
dasselbe davon. — Hier haben wir die geheimnisvolle Ankunft durch
ein Loch und das plötzliche Verschwinden durch dasselbe, als nach
der Herkunft gefragt wird. Daß es sich dabei im Grunde um die
bedeutsame Frage handelt, woher die Menschenkinder kommen,
wird nicht nur durch die allzu durchsichtige Symbolik nahegelegt,
sondern durch eine ähnliche und wie es scheint in einem Punkte
vollständigere Sage direkt ausgesprochen. Die Sage erzählt L a i s t-
ner (I, 192) nach Alpenburg (Alpensagen, S. 264, Nr. 275) fol-
gendermaßen : »Ein Bauer im Ultentale hatte eine Salige zur Frau
genommen und sie gebar ihm dreizehn Kinder; das Paar war in
glücklicher Ehe schier alt geworden, und der Mann beobachtete
treulich das Gebot, niemals nach der Frau Herkommen
zu fragen. Endlich plagte ihn doch die Neugier, und halb im
Scherz fragte er, wo sie her sei, sie scheine ihm aus
dem Kindleinbrunnen zu stammen. Da rollten ihr zwei
zornige Zähren aus den Augen, sie rief mit halberstickter Stimme :
Fragst du, so klagst du! und verschwand samt den dreizehn Kin-
dern.« — »Mit diesem „Fragst du, so klagst du", meint Laist-
ner anschließend, »sind wir denn beim „ Schwanritter" angelangt.«
In seinem interessanten Buche hat Laistner diese zahl-
reichen Versionen der Alpsage in geistreicher Weise aus einem
einheitlichen Gesichtspunkt zu erklären versucht. Das Grund-
schema dieser Lorinnen- oder Mahrtensagen, die Laistner
auf das Alptraum-Erlebnis zurückführt, läßt sich mit be-
sonderer Beziehung auf unsere Untersuchung nach Kuhn (S. 90)
etwa so formulieren: Die unter seltsamen Umständen (im
Wald, im Wasser oder wie die Mährte in der Kammer) ge-
fangene Lorin, die durch ein Mittel festgehalten werden muß
(sei es durch Raub ihres Schwanenkleides, durch Verstopfen
des Eintrittsloches oder durch unerschrockenes Festhalten
ihrer sich verwandelnden Gestalt) und dann mit dem mensch-
lichen Gatten die Ehe eingeht und ihm Kinder gebiert, ver-
schwindet in ähnlich seltsamer Weise, wie sie gewonnen wurde,
64 DAS FRAGEVERBOT UND DIE LORINNENSAGE.
sobald der Gatte die Bedingung der Ehe bricht, die sich regel-
mäßig darauf bezieht, daß die Kenntnis von der wahren Natur
des elbischen Wesens verhindert werden soll. Nach Laistn er
ist mythisch begründet bloß das Aussprechen des Namens,
während die Frage sagenhafte Ausschmückung wäre (S. 191).
»Wo die Nennung des Namens verboten ist, da mag sich leicht
die Version einstellen, die Erkundigung danach und nach
Namen und Herkommen sei verboten gewesen« (S. 192). Der
Name darf aber nicht genannt werden, weil nach dem Inhalt
der Überlieferung der Alp flieht, wenn man ihn beim Namen
nennt. Hier setzt nun Laistners scharfsinnige und sicher-
lich in einem gewissen Ausmaße zutreffende Deutung ein, welche
diesen Zug darin begründet sieht, daß der Alptraum weicht, so-
bald der Schläfer im stände ist, zu sprechen oder auch nur
einen Laut auszustoßen« (S. 224). Dieses Namensgeheimnis
erscheine in manchen Lauringsagen als Verbot, überhaupt
zu sprechen, bald wieder zum Rätsel umgewandelt (S. 221),
das sich häufig, wie z. B. im Rumpelstilzchen-Typus, auf das
Erraten eines unbekannten Namens bezieht. Nach Laistners
ansprechender Vermutung (S. 192 f.) wäre nun auch die
Schwanrittersage von Lohengrin, dessen Namen Laistner
sogar mit dem lurischen Wesen, der Laurings-Natur des
Helden in Zusammenhang gebracht hat (15), eine Übertragung
der ursprünglich weiblichen Mahrtensage auf einen männ-
lichen Lur (16). »Mythisch ist an dieser Sage nur der Anfang : der
in einem Schifflein ankommende Lur hat sein Gegenstück
an dem angelsächsischen Skeaf, und die Schwanrittersage
entstand in der Weise, daß man auf den Skeaftypus die
Lorinnensage von der verbotenen Frage aufimpfte« (S. 193).
So wahrscheinlich uns eine solche in der Sagenüberlieferung
nicht seltene Zusammenschweißung ursprünglich fremder Motive
auch scheint, so möchten wir doch nicht versäumen, hervor-
zuheben, daß damit über die Deutung der einzelnen Motive
nichts ausgesagt sei, ja daß wir im Gegenteile nun an jeden
Deutungsversuch überdies die Forderung stellen müssen, uns
auch über das Motiv dieser Zusammenschweißung aufzuklären.
Nun sucht zwar Laistner auch dieser Forderung gerecht
DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE. 65
zu werden, indem er hervorhebt (II, 373), daß die ausgesetz-
ten Kinder, die Schicksalskinder, als elbische Wesen gekenn-
zeichnet sind ; aber es bleibt bei ihm im Detail der Mythen
doch so vieles unverstanden und unerklärt, daß wir auf die
im vorigen Abschnitt entwickelte Auffassung zurückgreifen
dürfen, der sich auch die Lorinnensage wie wir meinen um
so mehr fügt, als unsere gerade auf die Kenntnis der Traum-
symbolik gestützte Deutung durch Laistners Alptraum-
Theorie gewissermaßen gerechtfertigt erscheint.
Und wenn es sich auch nicht immer um die verbotene
Frage nach der geheimnisvollen Herkunft des Menschen han-
delt, so tritt in einer auffällig großen und weitverbreiteten
Gruppe von Sagen dafür das V e r b o t ein, die geheimnisvolle
Fraunacktzusehen (Melusinen typus), welches sich gleich-
falls gegen die sexuelle Neugierde des Kindes zu richten
scheint,*) so daß wir zumindest behaupten dürfen, die geheim-
nisvolle Frage erscheine in einzelnen Sagen in diesem ganz
speziellen von uns hervorgehobenen Sinne verwertet, was
allerdings für die Lohengrinsage erst aus dem ganzen Zu-
sammenhange zu erweisen wäre.
VI.
Zu diesem Zwecke wenden wir uns nun dem schon an-
gekündigten Sagenstamm des Chevalier au cygne zu, der uns
nicht nur in die bisher vermißte Geburts- und Kindheitsge-
schichte des Schwanritters Einblick gestattet, sondern auch
die besondere Art seiner Heldenaufgabe verstehen lehrt, die —
gering genug — in der Befreiung einer unschuldig angeklagten
Fürstin besteht. Aus dem Gewirr der schriftlichen Überlie-
ferung dieser verschiedenen Versionen des »Chevalier au cygne«,
die sich vom XII. bis ins XVI. Jahrhundert verfolgen läßt (17),
flüchten wir zu der schlichten Erzählung vom »Ritter mit
dem Schwan«, wie sie die Brüder Grimm (D. S., II, 291)
*) Wegen dieser intimen Beziehung zu dem fernerliegenden Motiv der
Nacktheit und dem entsprechenden Verbot sexueller Neugierde müssen die weit-
verbreiteten und so verschiedenartig gestalteten Lorinnensagen in ihrem spe-
ziellen Inhalt hier unerörtert bleiben.
Rank, Hie Lohengrinsage. 5
66 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
nach einer altdeutschen Handschrift (Altd. Bl.) und der breiten
Schilderung des flamländischen Volksbuches — das übrigens
auch in das deutsche Volksbuch (hg. v. Simrock, Bd. 6,
S. 205 — 278) übergegangen ist — berichten und die wir im
folgenden gekürzt wiedergeben.
König Oriant von Lillefort jagte eines Tages im Walde einen
Hirsch, der ihm aber in ein Wasser entsprang. Müde setzte sich
der König an einen schönen Brunnen, um dabei auszuruhen. Als
er so allein saß, kam eine edle Jungfrau gegangen und fragte ihn,
mit wessen Verlaub er in ihrem Walde jage? Diese Jungfrau hieß
Beatrix, und Oriant wurde von ihrer wunderbaren Schönheit so
getroffen, daß er ihr die Liebe erklärte und seine Hand auf der
Stelle bot. Beatrix willigte ein und der junge König nahm sie mit
aus dem Walde nach Lillefort, um eine fröhliche Hochzeit zu feiern.
Matabruna aber, seine Mutter, ging ihm entgegen, und war der
jungen Braut gram ; darum, daß er sie nackt und bloß heimgeführt
hatte, und niemand wußte, woher sie stammte. Nach eini-
ger Zeit nun wurde die Königin schwanger; während dessen ge-
schahs, daß sie von ungefähr am Fenster stand, und zwei Kind-
lein, die eine Frau auf einmal geboren hatte, zur Taufe tragen
sah. Da rief sie heimlieh ihren Gemahl und sprach: wie das
möglich wäre, daß eine Frau zwei Kinder auf einmal
gebäre, ohne zwei Männer zu haben? Oriant antwortete:
mit Gottes Gnaden kann eine Frau sieben Kinder auf einmal von
ihrem Manne empfangen.
Bald danach mußte der König in den Krieg ziehen; da sich
nun seine Gemahlin schwanger befand, empfahl er sie seiner Mutter
zu sorgfältiger Obhut, und nahm Abschied. Matabruna hingegen
dachte auf nichts als Böses, und beredete sich mit der Wehmutter,
die ihr riet, das zu erwartende Kind zu töten und die Mutter pes
Kindesmordes anzuklagen. Doch Matabruna schlug ein anderes Mit-
tel vor, um dem König noch größeren Abscheu einzuflößen: »Ihr
seht 'sie ist so überaus starken Leibes, daß man ver-
muten mag, sie werde zwei bis drei Kinder zur Welt bringen. Nun
ist mein Bat, an ihrer SteUe junge Hunde unterzuschieben,
die Kinder selbst insWaser zuwerfen, und Beatrix e i n e r
strafbaren Gemeinschaft mit Hunden anzuklagen.«
Als nun ihre Zeit heranrückte, ward Beatrix von sechs Söhnen
und einer Tochter entbunden und jedem Kindlein lag um seinen
Hals eine süberne Kette, woran bezeugt ward, daß Beatrix auch
edeln Geschlechtes sei. Matabruna schaffte sogleich die Kinder weg
und legte sieben Wölpe hin. Beatrix weinte und rang die Hände,
daß es einen erbarmen mußte; die alte Königin aber hub an sie
DAS VOLKSBUCH VOM SCHWANRITTER. 67
heftig zu schelten und des schändlichsten Ehebruchs mit einem
Hunde zu zeihen. Darauf ging Matabruna weg, rief einen vertrau-
ten Diener, dem sie die sieben Kindlein zur Tötung übergab. Der
Knecht nahm sie in seinen Mantel, ritt in den Wald und wollte
sie töten. Als sie ihn aber in ihrer vollen Schönheit anlachten
empfand er Mitleid, nahm zärtlichen Abschied von ihnen und emp-
fahl sie der Barmherzigkeit Gottes. Darauf kehrte er an den Hof
zurück und sagte der Alten, daß er ihren Befehl ausgerichtet und
die Kinder in Stücke zerhauen in den Strom geworfen hätte. Die
sieben Kinder schrien unterdessen vor Hunger im Walde; das
hörte ein Einsiedler, Helias mit Namen, der fand sie und trug sie
in seinem Gewände mit sich in die Klause. Der alte Mann wußte
aber nicht wie er sie ernähren sollte; siehe, da kam eine weiße
Geiß gelaufen, bot den Kindern ihre Mammen und säugte sie wie
eine Amme. Diese Geiß stellte sich nun von Tag zu Tag ein, bis
daß die Kinder wuchsen und größer wurden.
Unterdessen war König Oriant siegreich aus dem Kriege
heimgekehrt und wurde mit Klagen empfangen: daß sein Gemahl
von einem schändlichen Hunde sieben Wölpe geboren hätte, welche
man weggeschafft. Da befiel ihn tiefer Schmerz; er versammelte
seinen Rat und fragte, was zu tun wäre? Der Bischof riet, sie
nicht zu töten, sondern nur gefangen einzuschließen, da sie viel-
leicht an dem Verbrechen unschuldig und im Schlafe überwältigt
worden sei. Und obgleich ein übelwollender Ritter auf Verbrennung
der Schuldigen und Wiedervermählung des Königs antragte, so
beschloß der König dennoch, dem Rat des Bischofs zu folgen, denn
er liebte die Königin noch zärtlich. Also blieb die unschuldige
Beatrix eingeschlossen, bis zur Zeit, daß sie wieder erlöst werden
sollte.
Der Einsiedel hatte unterdes die sieben Kinder getauft und
eines, das er besonders liebte, Helias nach seinem Namen geheißen.
Die Kinder aber in ihren Blätterröcklein, barfuß und barhaupt,
liefen stets miteinander im Walde herum. Es geschah aber, daß
ein Jäger der alten Königin daselbst jagte, und die Kindlein mit
ihren Süberketten um den Hals fand. Sie flohen zu ihrer Klause
und der Einsiedler bat den Jäger, ihnen nichts zu Leide zu tun:
er habe sie als Neugeborene im Walde gefunden und aufgezogen.
Als der Jäger wieder nach Lillefort kam, erzählte er Matabrunen
alles, was er gesehen hatte und sie riet wohl, daß es Oriants sieben
Kinder seien, welche Gott beschirmt hatte. Da sprach sie auf der Stelle •
»0 guter Gesell nehmt von euern Leuten und kehret mir eilends
zum Walde, daß ihr die sieben Kinder tötet und bringt mir die
sieben Ketten zum Wahrzeichen mit.« Der Jäger nahm sieben
Männer und machte sich auf den Weg nach dem Walde. Unter-
5*
68 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
wegs mußten sie durch ein Dorf, wo ein großer Haufen Menschen
versammelt war. Der Jäger fragte nach der Ursache und erhielt
zur Antwort: es soll eine Frau hingerichtet werden, weil sie ihr
Kind ermordet hat. Ach, dachte der Jäger, die Frau wird verbrennt,
weil sie ein Kind getötet hat, und ich gehe darauf aus, sieben
Kinder zu morden; verflucht sei die Hand, die dergleichen voll-
bringt! Da sprachen alle Jäger: »Wir wollen den Kindern kein
Leid tun, sondern ihnen nur die Ketten abnehmen und sie der
Königin bringen, zum Beweise, daß sie tot seien.« Als sie in den
Wald kamen, war der Einsiedler gerade mit einem der Kinder aus-
gegangen. Sie taten also den sechsen die Ketten vom Halse; in
demselben Augenblick, wo das geschah, wurden sie zu weißen
Schwänen und flogen in die Luft. Die Jäger aber erschraken
sehr und zuletzt gingen sie nach Hause und brachten der alten
Königin die sechs Ketten unter dem Vorgeben, sie hätten die siebente
verloren. Darüber war Matabruna sehr bös und entbot einem
Goldschmied, aus den sechsen einen Napf zu schmieden. Der
Goldschmied nahm eine der Ketten und wollte sie im Feuer prüfen,
ob das Silber gut wäre. Da wurde die Kette so schwer, daß sie
allein mehr wog als vorher die sechse zusammen. Der Schmied
war verwundert, gab die fünfe seiner Frau, sie aufzuheben; und
aus der sechsten, die geschmolzen war, wirkte er zwei Näpfe, jeden
so groß, als ihn Matabruna begehrt hatte. Den einen davon be-
hielt er auch noch zu den Ketten und den anderen trug er
der Königin hin, die sehr zufrieden mit seiner Größe und
Schwere war.
Als nun die Kinder in weiße Schwäne verwandelt worden
waren, kam der Einsiedler mit dem jungen Helias auch wieder
heim und war erschrocken, daß die anderen fehlten. Und sie
suchten nach ihnen den heben langen Tag, bis zum Abend und
fanden nichts und waren sehr traurig. Morgens frühe begann der
kleine Helias wieder nach seinen Geschwistern zu suchen, bis er
zu einem Weiher kam, worauf sechs Schwäne schwammen, die zu
ihm hin flössen und sich mit Brot füttern ließen. Von nun an
ging er alle Tage zu dem Wasser und brachte den Schwänen
Brot. So verstrich eine geraume Zeit.
Während Beatrix gefangen saß, dachte Matabruna auf nichts
anderes, als sie durch den Tod wegzuräumen. Sie stiftete daher
einen falschen Zeugen an, welcher aussagte, den Hund gekannt
zu haben, mit dem die Königin Umgang gepflogen hätte und daß
sie es auch darauf angelegt habe, den König und seine Mutter zu
vergiften. Oriant wurde dadurch von neuem erbittert; und als der
Zeuge sich erbot, seine Aussage gegen jedermann im Gotteskampf
zu bewähren, schwur der König, daß Beatrix sterben sollte, wenn
DAS VOLKSBUCH VOM SCHWANRITTER. 69
kein Kämpfer für sie aufträte. In dieser Not betete sie zu Gott
der ihr Flehen hörte und einen Engel zum Einsiedler sandte. Dieser
erfuhr nunmehr den ganzen Verlauf : wer die Schwäne wären und
in welcher Gefahr ihre arme Mutter schwebte, die sechzehn
Jahre lang gefangen gehalten worden war. Und er solle Helias
aussenden, der seine Widersacher besiegen und seinen Geschwistern
ihre menschliche Gestalt wiedergeben werde, von denen ein großes
Geschlecht auszugehen bestimmt sei.
Helias, der Jüngling, war erfreut über diese Nachricht und
machte sich barfuß, barhaupt und in seinem Blätterkleide auf an
den Hof des Königs, seines Vaters, seine Mutter zu schirmen. Seine
einzige Waffe war ein hölzerner Stock. Das Gericht war gerade
versammelt und der Verräter stand zum Kampfe bereit. Da er-
schien Helias, wurde jedoch von dem Pförtner und den Dienern
ob seiner Kleidung für einen Narren gehalten, und als dem König
endlich gemeldet ward, ein halbnackter Jüngling frage nach dem
Ankläger und wolle wider ihn kämpfen, um die Ehre der Königin
zu beschirmen, die er seine Mutter nennte, da meinte auch er, das
könne nur ein Tor sein. Doch gelüstete es ihn, den Jüngling selbst
zu vernehmen, dem alsbald der verräterische Ankläger gewiesen
wurde. Helias trat auf ihn zu, schlug ihn mit der Faust zu Boden
und hätte ihm die Gurgel abgeschnitten, wenn er nicht aus seinen
Händen befreit worden wäre. Dann umarmte er seine Mutter,
tröstete sie, gab sich in ausführlicher Erzählung seiner Geburts-
und Kindheitsgeschichte seinen Eltern zu erkennen und tat vor
der Versammlung die Unschuld der geliebten Mutter dar, die so-
gleich befreit und in ihre vorigen Rechte eingesetzt wurde, während
an ihrer Stelle Matabruna gefangen gesetzt ward. Der König be-
fahl nun seinen Sohn Helias von Kopf zu den Füßen zu wappnen,
damit er gegen den Ritter kämpfe. Nach hartem Waffengang
machte Helias ihn endlich kampfunfähig, indem er ihm den rechten
Arm abhieb. Schon holte er zum Todesstreiehe aus, als der Unter-
legene flehentlich um sein Leben bat, um den ganzen Verrat zu
bekennen. Auf Grund seiner Aussage wurde er gehängt und der
Goldschmied entboten, der die fünf Ketten und den Napf brachte.
Als Helias sie empfangen hatte, zeigten sich plötzlich auf dem Schloß-
weiher sechs weiße Schwäne. Und vor allem Volk legte Helias ihnen
die Ketten um den Hals, worauf sie augenblicklich in ihrer mensch-
lichen Gestalt dastanden, fünf Söhne und eine Tochter, welche von
den Eltern herzlich begrüßt wurden. Als aber der sechste Schwan
sah, daß er allein kein Mensch wurde, weil seine Kette einge-
schmolzen war, wurde er tief betrübt und zog sich im Schmerz
die Federn aus. Helias weinte und ermahnte ihn tröstend zur
Geduld.
70 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
Nach diesen wunderbaren Begebenheiten gab nun König Oriant
die Regierung des Reiches in die Hände seines Sohnes Stellas und
überantwortete ihm das Schicksal seiner bösen Mutter Matabrune.
Der junge König eroberte die feste Burg, wohin sie geflohen war
und überlieferte sie dem Gerichte, welches die Übeltäterin zum
Tode des Feuers verdammte. Als Helias sein Reich Lillefort eine
Weile in gutem Frieden regiert hatte, sah er eines Tages seinen
Bruder, den Schwan, auf dem Schloßweiher einen Nachen ziehen.
Er hielt dies für ein Zeichen des Himmels, daß er dem Schwan
folgen und irgendwo Ruhm und Ehre erwerben solle. Er ver-
abschiedete sich also von Eltern und Geschwistern, Heß sich Harnisch
und Schild bringen und bestieg den Nachen ; der Schwann schwamm
voraus und so flössen sie schnell dahin von Fluß zu Fluß, von
Strom zu Strom, bis sie zu der Stelle gelangten, wohin sie nach
Gottes Willen beschieden waren.«
Es folgt nun die ausführliche Schilderung der Episode, die
den Inhalt der Lohengrinsage bildet und die wir, gleichwie die
späteren Schicksale des Schwanrittes bis zu seinem seligen Ende,
in aller Kürze referieren wollen. Der Schwanritter landet in Nym-
wegen, wo Otto I. seinen Reichstag hält und der Graf von Fran-
kenburg die Herzogin Clarissa von Billon (Bouillon) beschuldigt,
ihren Gemahl vergiftet und während seiner dreijährigen Meerfahrt
eine uneheliche Tochter geboren zu haben. Helias erbietet sich,
für ihr Recht zu streiten und die Herzogin vertraut ihm ihre
Sache, gestützt auf einen glückverheißenden Traum der letzten
Nacht, worin sie mit dem Grafen vor Gericht dingte und ver-
urteilt ward, verbrannt zu werden, als im entscheidenden Augen-
blicke ein Schwan über ihrem Haupte flog und Wasser zum Löschen
des Feuers brachte; dem Wasser entstieg ein Fisch, vor dem sich
alle fürchteten. Der Ritter mit dem Schwane trat also für die Herzogin
in die Schranken und schlug nach hartem Kampfe dem Grafen Otto,
der vergeblich um sein Leben bat, das Haupt vom Halse und der
Herzogin Unschuld wurde offenbar. Sie begab sich des Landes zu
Gunsten ihrer Tochter Clarissa und vermählte sie dem Helden, der
sie errettet hatte. Nach neun Monaten gebar die Herzogin eine
Tochter Ida, welche späterhin die Mutter Gottfrieds von Bouillon
ward. Eines Tages fragte die Herzogin ihren Gemahl im Gespräch
wer er sei und aus welchem Lande er gekommen wäre in dem
Schifflein, das der Schwan ans Land gezogen. Helias aber antwortete
nichts, sondern verbot ihr diese Frage; sonst müsse er von ihr
scheiden. Sie fragte ihn also nicht mehr, und sechs Jahre lebten
sie in Ruhe und Frieden zusammen. Eines Nachts jedoch, als sie
bei ihrem Gemahl zu Bette lag, sprach sie dennoch: »Ach Herr,
ich wüßte so gern, welcher Abkunft ihr seid.« Als Helias dies
DIE SCHWANENMÄRCHEN. 71
hörte, wurde er betrübt und antwortete: »Ihr wißt, daß ihr das
nicht wissen sollt; ich gelobe euch nun, morgen vom Lande zu
scheiden.« Und wieviel sie und die Tochter weinten und klagten,
blieb der Herzog doch bei seinem Entschluß. Es erschien auch
der Schwan wieder, der ihn im Nachen nach Lillefort zurück-
geleitete, wo er mit Freuden empfangen wurde. Es wird nun dem
letzten Bruder Schwan mit Hilfe der aus den Näpfen wieder her-
gestellten Kette und auf das inbrünstige Gebet der Seinigen die
menschliehe Gestalt wiedergegeben. Bald darauf zog sich Helias
in ein Kloster zurück, wo ihn nach langem Suchen ein Bote der
Herzogin von Billon und ihrer inzwischen vermählten Tochter
endlieh findet. Sie ziehen zu ihrem Gemahl und Vater hin, der
bald danach starb ; die Herzogin, seine Gemahlin, folgte ihm bald
darauf aus Betrübnis; die Gräfin, ihre Tochter aber, zog ihre
Söhne in Tugend und Gottesfurcht auf, die nachmals den Un-
gläubigen das heilige Land abgewannen und zu Jerusalem als
Könige gekrönt wurden.
Ehe wir diese breit ausgesponnene Geburts- und Kind-
heitsgeschichte des Schwanritters psychologisch auf ihren
Inhalt und die Art ihrer Gestaltung prüfen, darf nicht uner-
wähnt bleiben, daß es eine in mehrfachen Varianten erhaltene
Gruppe von Märchen gibt, welche ähnliche Geburts- und
Kindheitsgeschichten zum Inhalte haben, in welchen ebenfalls
der Schwan oder ein ihn vertretender Seelenvogel (Kinder-
bringer und Totenleiter) in bedeutsamer Weise hervortritt
und deren eingehendere Betrachtung uns dem Verständnis der
Kindheitsgeschichte des Schwanritters näher zu bringen ver-
mag. Als charakteristischer Typus dieser Gruppe sei zunächst
in aller Kürze das Märchen von den sechs Schwänen
(Grimm, K. H. M., Nr. 49) wiedergegeben.
Ein König verirrt sich auf der Jagd und muß für die Wei-
sung des richtigen Weges die Tochter einer alten Hexe heiraten.
Da er nun fürchtete, die Stiefmutter möchte seine sieben Kinder
aus erster Ehe, sechs Knaben und ein Mädchen, schlecht behan-
deln und ihnen gar ein Leid antun, so brachte er sie in ein ein-
sames Schloß, das so schwer zu finden war, daß der König selbst sich
dazu eines wunderbaren Knäuels bedienen mußte. Die Königin
aber entdeckt das Versteck der Kinder und verwandelt sie durch
Überwerfen kleiner weiß seidener Hemdchen in Schwäne, von wel-
chem Schicksal nur das Schwesterchen verschont wird, das sich
aufmacht, die verwandelten Brüder zu suchen. Es erfährt von
72
DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
ihnen, daß sie erlöst werden könnten, wenn das Schwesterchen
sechs Jahre lang nicht spreche und nicht lache und
während dieser Zeit sechs Hemdchen aus Sternenblumen an-
fertige.
Die Schwester will sich dieser schwierigen Aufgabe unter-
ziehen und begibt sich mitten in den Wald auf einen Baum. Nach
langer Zeit findet sie dort der König des Landes und nimmt das
schöne Mädchen zur Frau, obwohl sie nicht zum sprechen zu be-
wegen ist. Die böse Mutter des Königs aber war unzufrieden mit
dieser Heirat und als die Königin das erste Kind zur Welt brachte,
nahm es ihr die Alte weg und bestrich ihr im Schlafe den Mund
mit Blut. Dann ging sie zum König und klagte sie an, sie wäre eine
Menschenfresserin. Der König wollte es nicht glauben und litt
nicht, daß man ihr ein Leid antat. Ebenso ging es beim zweiten
Knaben. Beim dritten Male aber mußte der König seine Frau dem
Gericht übergeben, und das verurteilte sie, den Tod durchs
Feuer zu erleiden. Der Tag, an dem das Urteil vollzogen werden
sollte, war aber zugleich der letzte Tag von den sechs Jahren.
Die sechs Hemden waren fertig geworden, nur daß an dem letzten
der Unke Ärmel noch fehlte. Als das Feuer eben sollte angezündet
werden, so schaute sie sich um, da kamen sechs Schwäne durch
die Luft daher gezogen und senkten sich zu ihr herab. Als sie
ihnen die Hemden überwarf, fielen die Schwanenhäute ab und ihre
Brüder standen leibhaftig, frisch und schön, vor ihr; nur dem
Jüngsten fehlte der linke Arm und er hatte dafür einen Schwanen-
l'lügel am Rücken. Nun erzählte die Königin von dem Betrug der
Alten ; die drei Kinder wurden herbeigeholt und die Schwieger-
mutter zur Strafe auf den Scheiterhaufen gebunden und zu
Asche verbrannt. Der König aber und die Königin mit ihren sechs
Brüdern lebten lange Jahre in Glück und Frieden.
Trotz mancher Abweichungen im einzelnen, die sich er-
gaben aus der Verbindung dieses Schwankindermärchens mit
der Rettungstat des Schwanritters, welche im Märchen in den
Hintergrund tritt und der Schwester zugeschoben ist, wird
doch die wesentliche Übereinstimmung dieser Fassung mit
der Kindergeschichte des Chevalier au cygne sogleich auf-
fallen. Scheint auch die Vorgeschichte der Geburt hier
nicht angedeutet, so sind doch alle übrigen Motive vollzählig
beisammen : die Heirat wider den Willen der Mutter, die Ver-
folgung der Frau und der Kinder durch dieselbe, die Ver-
wandlung der Kinder in Schwäne, die Verschonung eines
Kindes von diesem Schicksal, das dann die übrigen durch Voll-
DIE ENTSTELLUNGEN DES MÄRCHENS. 73
bringung einer schwierigen Aufgabe erlöst und endlich die
Verurteilung der bösen Schwiegermutter zu derselben Strafe,
die sie über die unschuldige Königin verhängen wollte. Nur
sind diese Motive im Gegensatz zur Schwanrittersage nicht
in logischer Aufeinanderfolge verbunden, sondern wie ge-
waltsam auseinandergerissen und auf zwei scharf geson-
derte Teile des Märchens verstreut. So werden hier andere
Kinder in Schwäne verwandelt, als die, welche ausgesetzt
werden (das Wegnehmen der Kinder durch die Alte), und
die Verwandlung bewirkt eine andere böse Mutter als die-
jenige, welche später die Kinder wegschafft und die Mutter
anklagt. Und wenn wir sahen, daß im »Chevalier au cygne«
diese Vorgänge ein und dieselben Personen betreffen, so wer-
den wir nicht nur geneigt sein, diese Fassung als die voll-
ständigere und mythisch (nicht etwa auch literarhistorisch)
echtere, ursprünglichere anzusehen, sondern auch eher
wagen, an dem stark entstellten Märchen die entsprechenden,
uns durch die Sage vorgezeichneten Motivverschiebungen vor-
zunehmen. Wir müssen dann sowohl die beiden nicht näher
bezeichneten Könige, als auch die beiden Frauen, die sie hei-
raten, ebenso wie die Kinder, welche sie von ihnen empfan-
gen identifizieren, wozu uns nicht nur die widerspruchslosere
Sage vom Chevalier au cygne, sondern auch einzelne Auffäl-
ligkeiten des Märchens selbst zu berechtigen scheinen. So
findet der erste König seine Frau, als er sich auf der Jagd
verirrt, ebenso wie der zweite, wodurch mythologisch wie
psychologisch in gleicher Weise die Identität der Personen
und Vorgänge angedeutet ist. Aus der Schwanrittersage kön-
nen wir ferner einsetzen, daß die verwandelten Kinder iden-
tisch sind mit denen, welche der beschuldigten Mutter abge-
nommen (ausgesetzt) werden. Nach einer von Kuhn (Mark.
Sag., S. 282 fg.) mitgeteilten Fassung läßt die böse Schwieger-
mutter die neugeborenen Kinder aussetzen und gibt vor, daß
die Mutter sie verzehrt habe. Diese wird darauf selbst in den
Wald gebracht, um den Tod zu erleiden, wird aber verschont
und lebt mit ihren Kindern vereint i n e In emhohlenBaume,
wo sie dann von ihrem Gemahl gefunden wird. Dazu bemerkt
74 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICIITE.
Müller (427) treffend, »in diesem Märchen sei noch deut-
licher, daß die in Schwäne verwandelten Brüder den ausge-
setzten Kindern entsprechen, und daß die Mutter, welche mit den
ausgesetzten Kindern im Walde in einem hohlen Baume wohnt,
bis sie von dem Gemahl gefunden wird, dasselbe Wesen ist
wie die Schwester, welche bei den verwandelten Brüdern auf
dem Glasberge, in einer Hütte, auf dem Baume, weilt. Wir
sehen also wie das eine weibliche Wesen, in welchem die
Märchen ihren Mittelpunkt haben, in der symbolischen An-
schauung in dreifacher Form erscheint: sie ist die Leidende, Ver-
folgte, als Gattin und Mutter ; tötet die Kinder als Schwiegermut-
ter oder Stiefmutter, und erweckt diese zu neuem Leben als Toch-
ter oder Schwester.« So können wir nach Zurechtrückung
der Motive folgende ursprüngliche Märchenform rekonstru-
ieren, wobei es für unsere Untersuchung gleichgültig und darum
unentschieden bleibt, ob diese Form auch literarisch fixiert
sein mochte oder nur einer vielleicht mündlich, vielleicht auch
gar nicht fortgepflanzten Phantasievorstufe des vorliegenden
Märchens entsprechen mag. Ein König verirrt sich einst auf
der Jagd und findet ein Mädchen, das er zur Frau nimmt;
sie bringt Kinder zur Welt, die von der bösen Mutter des
Königs beiseite geschafft (ausgesetzt) und dann in Schwäne
verwandelt werden, während die unschuldige Frau selbst als
Feindin ihrer Kinder verdächtigt und angeklagt wird. Da
sie nicht zum Sprechen zu bewegen ist, soll sie endlich nach
mehrmaliger Begnadigung verbrannt werden. Doch erscheint
im Augenblick der höchsten Not ein bevorzugtes von ihren
Kindern, welches der Verwandlung entgangen war und nun
seine Mutter und Geschwister befreit, die böse Alte aber zum
Tode verdammt.
Ohne vorläufig noch die weiteren Konsequenzen zu ziehen,
die sich aus dieser Motiv-Rekonstruktion ergeben, sei zunächst
darauf hingewiesen, daß diese von uns versuchte Wiederherstel-
lung der ursprünglichen Märchenform nicht nur die größte
Ähnlichkeit mit der Schwanrittersage hat, sondern sich auch
in einer märchenhaften Form derselben tatsächlich wiederfindet.
Es ist dies eine Erzählung der altfranzösischen Bearbeitung der
MÄRCHENHAFTE FASSUNG DER SCHWANRITTERSAGE. 75
sieben weisen Meister durch Herbert von Paris (um 1260),
welche in den Altdeutschen Blättern nach einer aus dem
XV. Jahrhundert stammenden altdeutschen Leipziger Hand-
schrift mitgeteilt und von Bechstein (S. 206) erneut wurde.
Sie zeigt, wie schon Hagen (S. 560) erkannte, eine eigentüm-
liche Verbindung des Schwanenmärchens mit der Schwanjung-
frauensage als Vorgeschichte und setzt anderseits die Kenntnis
der Schwanritterdichtung voraus ; es tritt darin ebenfalls die
Schwester unter den sieben Schwankindern als deren und der
Mutter Retterin hervor. Eine kurze Inhaltsangabe möge ihre
eigenartige Gestaltung andeuten.
Ein Ritter jagt vergeblich eine schneeweiße Hindin, trifft so
am Flusse eine wunderschöne Jungfrau, die badet und eine
goldene Kette in der Hand hält; er schleicht hinzu, nimmt ihr die
Zauberkette, trägt die Nackte in sein Zelt, liegt bei ihr und führt
sie am nächsten Morgen als seine Gattin heim. Sie war ein »Wün-
schelweib« und weissagt,*) daß sie in dieser Nacht sechs Söhne
und eine Tochter empfangen habe. Die Mutter des Ritters sieht die
junge Frau nicht gern, sie »haßte sie und suchte ihren Sohn zu
bereden, daß er sie nicht sollte so lieb haben und hätte gern Zwist
und Streit zwischen den beiden erregt«. Doch erreicht sie nur, daß
der Sohn ihr böse wird; da sinnt sie auf andere Rache. Als die
Frau die vorausgesagten Kinder zur Welt bringt, vertauscht sie
die Alte mit jungen Hunden und befiehlt einem Knecht die Kinder
zu töten oder im Wasser zu ertränken. Sie werden von einem alten
Einsiedler gefunden, mit der Müch einer Hindin genährt und auf-
gezogen. Der Ritter aber schenkte den Anschuldigungen der Mutter
Glauben, hieß sein Weib mitten auf dem Hofe bis an die Brust
in die Erde eingraben, setzte auf ihr Haupt ein Becken mit Was-
ser und gebot allen seinen Leuten, sie sollten sich, wenn sie zu
Tische gingen, auf ihrem Haupte waschen und mit ihrem Haar
trocknen. Auch sollte man ihr nur Hundefutter vorsetzen. Sieben
Jahre mußte sie diese Qual erdulden, wobei sie bis auf die Knochen
abmagerte. Da sieht eines Tages der Ritter im Walde sieben Kin-
der, die vor ihm fliehen, und erzählt den Vorfall seiner Mutter
•) Wie der kinder- und seelenbringeride Schwan selbst für einen
weissagenden Vogel galt, wofür Grimm (D. M., I, 354) unsere Redensart:
es schwant mir = es ahnt mir anführt, so besaßen nach Leo auch die Schwan-
iungfrauen die Gabe der Weissagung und der tapfere Hagen befragt ja
drei von ihnen nach dem Ausgang des Zuges an Etzels Hof. — Nach schwei-
zerischem Volksglauben gilt der Storch als allwissend (Zfd. Phil., I. 1869, S. 348) .
76 DES SCHWANKITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
die Böses ahnend, den Knecht wieder ausschickt, um die goldenen
Ketten zu holen, welche die Kinder bei ihrer Geburt am Halse ge-
tragen hatten. Mit Abnahme der Ketten verwandeln sich die Kinder
— ausgenommen das entflohene Mädchen — in Schwäne und ihre
Ketten werden dem Goldschmied zur Verarbeitung übergeben. Die
Schwäne fliegen fort und lassen sich zufällig auf einem Wasser
nieder, das man von der Burg ihres Vaters sieht. Als dieser die
schönen Schwäne bemerkte, befahl er, sie zu füttern und verbot
den Leuten strengstens, ihnen etwas zuleide zu tun. Die unver-
wandelte Schwester, die in Schwansgestalt ihnen gefolgt war, bet-
telt auf der Burg ihres Vaters für sich um Nahrung und beteilt
davon auch seine armen verwandelten Brüder und die leidende
Mutter,. die sie nicht erkennt. Dem Ritter fällt aber die Ähnlich-
keit des Mädchens mit der ehemals so schönen Mutter wie auch
die goldene Kette auf und er fragt sie nach Namen, Her-
kunft und Eltern. Sie erzählt nun, was sie weiß ; der Knecht
bekennt die Verbrechen ; die eingegrabene Frau wird befreit und
an ihre Stelle die böse Alte gesetzt. Die Schwäne erhalten ihre
menschliche Gestalt wieder bis auf einen, dessen Kette der Gold-
schmied verarbeitet hatte. »Von diesem Schwane«, heißt es am
Schluß der Erzählung, »findet man in anderen Schriften viele Aben-
teuer beschrieben, die nicht hieher gehören.«
Wird insbesondere in diesem Schlußsatz die Kenntnis der
Schwanrittersage für diese Fassung vorausgesetzt, so ist eine
solche direkte Beziehung zu dem zuerst mitgeteilten Märchen
von den sechs Schwänen*) nicht nachzuweisen, so daß man wohl
mit den vorsichtigen Grimm (K. H. M., III, 91) sich mit dem
Hinweis auf die Ähnlichkeit wird begnügen können, zumal
in dem Moment, wo man sich für die Priorität der einen oder
der anderen Gruppe zu entscheiden beginnt, sofort die wider-
sprechendsten Ansichten auftauchen. Während es z. B. für
Leo (Beowulf) als ausgemacht gilt, daß das Märchen Nr. 49
aus der Schwanrittersage erwachsen ist, wofür ja vielleicht
auch die weitergehende Entstellung des Märchens spräche,
scheint anderen Autoren auf Grund des literarhistorischen
Märchens von Alter, Echtheit und Ursprünglichkeit der Mär-
chen, ein solcher Gedanke unannehmbar. Daß aber eine Be-
einflussung der Märchengruppe auf den Chevalier au cygne
*) Eine nachgebildete Erzählung von 11 in wilde Schwäne verwandelten
Kindern bei Andersen (Gesam. Märchen, Leipzig 1849, S. 394).
.
SCHWANRITTERSAGE UND SCHWANENMÄRCHEN. 77
stattgefunden habe, gilt jetzt allgemein als ausgemacht. So
meint Paris (Romania, 19, 326) im Hinblick auf die mitge-
teilte Erzählung: »Vers le milieu de XIP. siecle, on eut l'idee
de faire de ce conte l'introduction ä la legende du Chevalier
au cygne: on y introduisit les chaines d'or ou d'argent qui
permettaient aux enfants de changer ä volonte de nature, et
on supposa que l'un d'eux etait, par suite de la lesion d'une
de ces chaines, reste definitivement cygne.« Ferner p. 325:
»II semble bien que c'est le presence de cygnes dans le conte
qui a donne l'idee d'en faire l'introduction de la legende
du heros guide par un cygne. Cette idee, ä vrai dire, n'etait
pas heureuse. Le conte des enfants cygnes, meine un peu
altere pour cet usage, n'explique pas la faculte attribuee au
cygne de trainer le bateau oü dort le heros; il n'explique
pas pourquoi le heros doit taire son nom et comment, des
qu'on le lui demande, le cygne vient le reprendre et il est ob-
lige de le suivre. Mais l'imagination des enfants — et le public
d'alors etait un public d'enfants — n'en demande pas si long.
Du moment qu'on lui fournissait un cygne doue l'intelligence
et ayant un lieu mysterieux avec le Chevalier dont il trainait
le bateau, eile etait satisfaite. Le soudure se fit sans doute
dans cette region de Lotharingie oü s'etait localisee la legende
du heros amene et remmene par un cygne, et oü le conte des
enfants-cygnes parait aussi avoir et6 populaire de fort
bone heure.« Einer solchen ursprünglichen Unabhängigkeit
und nachträgliehen Vereinigung der Schwanrittersage mit dem
Märchen von den Schwanenkindern, die auch Golther (S. 108)
annimmt, wird man um so eher beipflichten können, als die
Verwandlung von Menschen in Schwäne und umgekehrt be-
kanntlich schon in der griechischen Mythologie vorkommt,
Indem wir auf die Sage von der Leda bloß verweisen, die
Schröder mit indischen Überlieferungen zusammenhält,
können wir doch nicht umhin, den für unseren Zusammenhang
interessanten Mythus des Kyknos*) kurz anzuführen, der
neben der Schwanverwandlung auch das Aussetzungsmotiv
*) Nach Pausanias, X, 14, 2. Strabo, XIV, 1, 640. Diodor Bibl., 5, 83.
78 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
zeigt. Kyknos (= Schwan), ein Sohn des Meergottes Poseidon
und der Nymphe Kalyke, wurde von Fischern, die ihn am
Meeresufer von seiner Mutter ausgesetzt fanden, so genannt,
weil sie einen Schwan auf ihn herabfliegen und ihn er-
nähren sahen ; er ward später König von Kolonai in Troas.
Von seiner ersten Frau Prokleia hatte er einen Sohn Tennes,
den er auf Verleumdung der in ihrer Liebe zu dem schönen
Jüngling enttäuschten Stiefmutter Philomene in einem Kasten
ins Meer warf (nach einigen zusammen mit seiner Schwester
Hemithea). Der Jüngling landet jedoch glücklich auf der Insel
Leukophrys, wo er König wird und sie nach seinem Namen
Tenedos heißt. Später erkannte sein Vater Kyknos das Un-
recht und zog aus, ihn zu holen und ihm zu verzeihen. Nach
einem von Cassel (S. 4G) mitgeteilten Berichte zerhieb Tennes
die Kette, mit welcher seines Vaters Schiff am Strande befestigt
war und revanchierte sich so für seine Aussetzung. Nach dem
gangbaren Bericht jedoch zogen beide versöhnt in den troja-
nischen Krieg, wurden aber bei ihrer Landung von Achilleus
getötet. Und zwar soll Kyknos, da er von seinem Vater Posei-
don die Gabe der Unverwundbarkeit empfangen hatte, mit
dem Helmriemen erdrosselt worden sein (Halsketten des
Schwanenmärchens !) ; nach anderen hätte Achilleus, als er ihn
niederwarf, die Waffen leer gefunden, denn sein Vater Po-
seidon hatte ihn entrückt und in einen Schwan verwandelt
(Ovid, Metam., XII, 72 ff.). Mit dieser Verwandlung des Men-
schen in einen Schwan*) bringt der Kyknos-Mythus in selte-
ner Deutlichkeit die Rolle des Schwanes als Kinderbringer
und Totenleiter, also als Seelenvogel, zum Ausdruck; das
Kind wird vom Schwan gebracht und ernährt und wird nach
seinem Tode wieder zum Schwan.
*) Nicht nur Schwäne werden in Menschen verwandelt, sondern nach
Kuhn (S. 105) gelten Störche nach altem Glauben als verwandelte Menschen,
wie bei uns jetzt noch mohrfach bekannt ist (Lit. siehe bei Kuhn). Diesen
Glauben kennt schon A el i a n in seiner Naturgeschichte der Tiere, wo es (III, 23)
heißt, daß der Storch sich auf den Inseln des Ozeans in einen frommen
Menschen verwandle, was auffallend an die geistreiche Verwertung einer
ähnlichen Täuschung in Anatol Franc e's Roman: Les Pinguines erinnert.
ANDERE VERWANDTE MÄRCHEN. 79
Doch erscheinen in anderen Märchen dieser Gruppe, die
bald das -eine, bald das andere Motiv besonders hervorheben,
auch andere Vögel, z. B. Raben, in der Rolle des Schwanes
oder es wird der entsprechende Vorgang überhaupt anders
angedeutet. Diese Märchen verdienen auch darum noch, we-
nigstens kursorisch, erwähnt zu werden, weil sie nicht nur
die weite Verbreitung und das intensive Interesse an diesem
Stoffe zeigen, sondern auch weil die abwechselnd deutlichere
Herausarbeitung einzelner Motive uns dieselben besser ver-
stehen läßt.
So wird im Märchen von den sieben Raben (Grimm, Nr. 25)
einem Manne, der bereits sieben Söhne hat, endlich das sehnlichst
gewünschte Töchterlein geboren. »Die Freude war groß, aber das
Kind war schmächtig und klein, und sollte wegen seiner Schwach-
heit die Nottaufe haben. Der Vater schickte einen der Knaben
eilends zur Quelle, Taufwasser zu holen : die anderen sechs liefen
mit, und weil jeder der erste beim Schöpfen sein wollte, so fiel
ihnen der Krug in den Brunnen.« Der ungeduldige Vater, der
fürchtete, das Kind müßte ungetauft verscheiden, rief im Ärger
aus : »Ich woüte, daß die Jungen alle zu Raben würden«, was
sich auf der Stelle erfüllte.*) »Die Eltern konnten die Verwünschung
nicht mehr zurücknehmen, und so traurig sie über den Verlust
ihrer sieben Söhne waren, trösteten sie sich doch einigermaßen
durch ihr liebes Töchterchen, das bald zu Kräften kam, und mit
jedem Tage schöner ward. Es wußte lange Zeit nicht einmal, daß
es Geschwister gehabt hatte, denn die Eltern hüteten sich, ihrer zu
erwähnen, bis es eines Tags von ungefähr die Leute von sich
sprechen hörte, das Mädchen wäre wohl schön, aber doch eigent-
lich schuld an dem Unglück seiner sieben Brüder. Da ward es
ganz betrübt, ging zu Vater und Mutter und fragte, ob es
denn Brüder gehabt hätte, und wo sie hingeraten wären? Nun
durften die Eltern das Geheimnis nicht länger ver-
schweigen, sagten jedoch, es sei so des Himmels Verhängnis,
und seine Geburt nur der unschuldige Anlaß gewesen. Allein das
Mädchen machte sich täglich ein Gewissen daraus und glaubte, es
müßte seine Geschwister wieder erlösen.« Es macht sich also heim-
lich auf und befreit seine Brüder durch Besteigung des schwer zu-
gänglichen Glasberges aus ihrer Verwandlung.
*) Zum psychologischen Verständnis dieser seltsamen Motiveinkleidung
vgl. man meinen Beitrag: »Zum nachträglichen Gehorsam« im Zentralbl. f.
Psychoanalyse, I. Jhg., 1911, H. 12. — Nach einer Fassung aus der Main-
gegend (K. H. M., III, 51) werden die Kinder von der Mutter verwünscht.
80 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCIIICHTE.
Diese Fassung gibt uns das Verständnis für die im
Märchen von den sechs Schwänen unmotivierte Tatsache, daß
gerade die Schwester — in auffälliger Abweichung vom
Schwanritter — die Erlösung der verwandelten Brüder über-
nimmt. Hier ist sie Schuld an dem Unglück der Knaben,
oder fühlt sich wenigstens schuldig, und so wird auch ihr
Opfermut und ihre Erlösungstat verständlich. Anderseits er-
innert uns aber die Beseitigung der Geschwister bei Ankunft
eines neuen Kindes an die feindliche Gefühlseinstellung des
Kindes gegen den störende*n Neuankömmling, die sich nicht
selten offen äußert (vgl. S. 53).*) Hier erscheint das Motiv
in seiner Umkehrung, indem das letztgeborene Kind erst seine
Vordermänner, die es gleichsam nicht zur Welt kommen
lassen, wegschafft und die Erlösung erscheint dann wie die
Herstellung des normalen, wünschenswerten, von gegenseiti-
gem Haß freien Verhältnisses. Die Richtigkeit dieser Zusam-
menhänge zeigt uns ganz deutlich das Märchen von den
zwölf Brüdern (Nr. 9), deren Vater, der König, zu seiner
Frau sagt: »Wenn das dreizehnte Kind, das du zur Welt
bringst, ein Mädchen ist, so sollen die zwölf Buben sterben,
*) Es sei hier ein derartiger, besonders krasser Fall aus allerjüngster
Zeit nach einer Zeitungsnotiz vom 3. April 1911 (Arbeiter-Zeitung) mit-
geteilt :
»Eine Kindertragödie. Aus Rom wird uns geschrieben: In
Torchiarolo in der Provinz Lecce hat sich in dem Hause des dortigen
Bürgermeisters, eines Arztes, eine furchtbare Tragödie abgespielt. Dem Bür-
germeister war ein kleines Mädchen geboren worden, auf das der älteste
sechsjährige Sohn leidenschaftlich eifersüchtig war. Kein Mensch nahm die
Abneigung des kleinen Burschen ernst, bis dieser eines Morgens, als die
Hebamme das Neugeborene badete, mit dem Gewehr in der Hand heranschlich
und dicht vor dem Kinde die Waffe abdrückte. Dem Säugling wurde die
Schädeldecke zertrümmert, so daß der Tod auf der Stelle eintrat. Auch an-
gesichts der furchtbaren Verzweiflung der Eltern blieb der kleine Mörder
ruhig und ohne Reue und erklärte mit voller Bestimmtheit, daß er sein
Schwesterchen hätte töten wollen. Wir haben hier eine echte und rechte
Tragödie des Kinderlierzens vor uns, an der vielleicht die Fahrlässigkeit der
Erwachsenen Schuld trug, die die Gefühle des Knaben nicht beachtet und
berücksichtigt haben. Wie oft werden nicht Kinder aus Scherz auf ihre
jüngeren Geschwister eifersüchtig gemacht und in ihnen die Furcht erweckt,
sie würden durch diese um die Liebe der Eltern verkürzt!«
VERWANDTE MÄRCHEN. 81
damit sein Reichtum groß wird und das Königreich ihm allein
zufällt.« Er ließ auch zwölf Särge machen, die waren schon
mit Hobelspänen gefüllt und in jedem lag das Totenkißchen,
und ließ sie in eine verschlossene Stube bringen, dann gab
er der Königin den Schlüssel und gebot ihr, niemand etwas
davon zu sagen.« — Zeigt sich hier einerseits der Vater
direkt und nicht auf dem Umweg eines Fluches als der Tod-
feind der Kinder, so ist anderseits auch die Abneigung der
zwölf Brüder gegen das neuangekommene Schwesterlein, das
ihr Unglück verschuldet, offen ausgesprochen.
Der jüngste Sohn erfährt nämlich auf sein dringendes Bitten
von der betrübten Mutter den Plan des Vaters und flieht mit seinen
Brüdern in den Wald. Als sie dort durch ein Zeichen Nachricht
von der Geburt eines Mädchens bekamen »wurden sie zornig und
sprachen : sollten wir um eines Mädchens willen den Tod leiden !
wir schwören, daß wir uns rächen wollen : wo wir ein Mädchen
finden, soU sein rotes Blut fließen.« — Die Knaben leben nun zehn
Jahre in einem einsamen Häuschen im Walde, bis ihre Schwester
alles erfährt und mit den Hemdchen der Brüder auszieht, sie zu
suchen. Sie findet sie und »wül gern sterben, wenn ich damit
meine zwöh* Brüder erlösen kann«. Doch die Brüder verschonen
sie und sie lebt nun bei ihnen, bis sie eines Tages für ihre zwölf
Brüder zwölf Lilien pflückt, wodurch die Brüder in Raben ver-
wandelt werden. Es tritt also hier das Motiv der Schädigung der
Geschwister noch ein zweitesmal, und zwar jetzt in symbolischer
Einkleidung auf, während es zu Beginn der Erzählung rein mensch-
lich verwertet war. Es folgt nun als Bedingung der Erlösung wie
bei den sechs Schwänen sieben Jahre nicht sprechen und lachen.
Das Mädchen wird in ihrem hohlen Baume von einem jagenden
König gefunden, zur Frau genommen, aber von ihrer Schwieger-
mutter so lange verdächtigt, bis sie ihr Gemahl zum Tode verurteüt.
Als das Feuer eben schon an ihren Kleidern leckte, war der letzte
Augenblick von den sieben Jahren verflossen, die zwölf Raben
kamen herbeigeflogen, verwandelten sich in Menschen, befreien ihre
Schwester und bestrafen die böse Schwiegermutter.
Um den Kreis der Typen aus dieser Gruppe zu schließen,
sei noch eine Variante aus Deutschböhmen erwähnt (III, 87 fg.),
welche das Märchen von den sieben Raben (Nr. 25) mit dem der
sechs Schwäne (Nr. 49) verknüpft. Sie stimmt mit jenem bis da,
wo die Schwester in die Welt geht und ihre Brüder sucht.
Während aber die Erzählung von den sieben Raben den zweiten
Teil des Märchens mit der Prüfung der Stummheit und der Heirat
Rank, Die fjoheiurrinaage. G
82 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
des Königs nicht kennt, bringt ihn diese Fassung in vollkommen-
ster Ausführlichkeit. Die Schwester darf sieben Jahre nicht sprechen
und muß während der Zeit für jeden der Brüder ein Hemd und
ein Tuch nähen, sowie ein paar Strümpfe stricken. Nach drei
Jahren findet sie der König in dem hohlen Baume. Die Jäger
halten sie anfangs für ein Tier von menschlicher Gestalt und der
Fürst fragt sie in allen Sprachen, die er wußte, wer sie wäre
und wie sie dahin geraten s e i (Fragemotiv) ; doch sie
blieb auf alles stumm. Der König heiratet sie trotz der Ein-
sprache seiner Mutter, die in Abwesenheit des Gemahls das Kind
einem Knecht zur Tötung übergibt und ihren Sohn benachrichtigt,
seine Frau habe, wie zu erwarten stand, einen Hund zur Welt ge-
bracht, den man habe ersäufen lassen. Doch der Fürst antwortet,
man solle mit der Entscheidung warten, bis er heimkehre. Der
Diener wirft das Kindlein im Walde einer Löwin vor, die es jedoch
mitleidig mit der Zunge beleckt. Dasselbe wiederholt sich beim
zweiten Kind und erst beim dritten Male befiehlt der Fürst den
Feuertod seiner Gemahlin, die noch immer kein Wort zu ihrer
Verantwortung vorgebracht hat. Im letzten Augenblick kommen
ihre Brüder geflogen und alles löst sich in der bekannten
Weise.
Indem wir das Fragemotiv, das auch die anderen Mär-
chen dieser Gruppe andeuten, hier besonders hervorheben
und ebenso das Motiv der Stummheit, das uns bereits aus
der Lorinnensage bekannt ist und noch beschäftigen wird,
möchten wir der zutreffenden Deutung Müllers gedenken,
dessen Scharfblick unter den verschiedenen Einkleidungen
dieser Erzählungen der gleiche typische Inhalt nicht entgan-
gen ist, wenn er auch im Banne naturmythologischer Deutung
immer knapp vor dessen psychologischem Verständnis Halt
macht. So faßt er (S. 427) zusammen: »Als Symbole von
gleicher Bedeutung ergeben sich: 1. bei den Kindern die Ver-
wandlung in Schwäne oder andere Vögel, in Blumen; das
Aussetzen im Walde ; das Leben auf dem Glasberge, in einem
Schlosse, im Walde, in der Hütte des Einsiedlers, in einem
kleinen Häuschen, in dem hohlen Baume ; das Werfen in das
Wasser oder in die Schlangengrube; alle beziehen sich auf
Tod und Leben in der Unterwelt. 2. Bei der Mutter mit
derselben Bedeutung: Einkerkern oder Eingraben; die
Gefahr der Verbrennung (die mit der Verbrennung der Lei-
i
L
VERWANDTE MÄRCHEN. 83
chen zusammenhängt); das Leben im Walde in einer Hütte
oder in einem hohlen Baume, auf der grünen Wiese ; die Ver-
wandlung in eine Hirschkuh oder überhaupt in ein gejagtes
Tier.« Daß die Aussetzung der Kinder ins Wasser identisch
ist mit ihrer Verwandlung in Vögel, zeigt sich direkt in dem
schon erwähnten plattdeutschen Märchen :
De drei Vügelkens (Nr. 96), wo der König ein Hirten-
mädchen heiratet und ihre beiden älteren Schwestern Ministerfrauen
werden. Die beiden kinderlosen Schwestern sind auf den Kinder-
segen der auch sonst vom Schicksal begünstigten Jüngsten eifer-
süchtig und werfen die zwei Knaben, welche sie im Laufe von
zwei Jahren zur Welt bringt, ins Wasser, indem sie dem abwesen-
den König mitteilen, seine Frau hätte Hunde geboren. Der König
erträgt es als Schickung Gottes, aber beim dritten Kind, einem
Mädchen, dem es ebenso ergeht, wird der König böse und läßt die
Frau ins Gefängnis werfen, wo sie viele Jahre lang schmachten
muß. — Die ausgesetzten Kinder aber haben ein merkwürdiges
Schicksal. Wie sie ins Wasser geworfen werden, fliegt ein Vögel-
chen in die Höhe, welches durch seinen Gesang anzeigt, daß der
Geist des Lebens gerettet sei (Grimm K. H. M., III, 190). Die Kinder
aber schwimmen den Fluß (die Weser) hinab, werden von einem am
Ufer wohnenden Fischer herausgefischt und von seiner kinder-
losen Frau aufgezogen (der typische Familienroman i. e. Helden-
mythus ; vgl. Rank, Mythus). Als einst der herangewachsene älteste
Knabe von seinen Spielkameraden Findling gescholten wird, stellt
er den Fischer zur Rede, der ihm das typische Sexualmärchen
aufbindet, er habe ihn aus dem Wasser gezogen. Da zieht der
Junge aus, seinen Vater zu suchen, was aber weder ihm noch
seinem Bruder, sondern erst ihrer Schwester gelingt, die nach ver-
schiedenen Proben, unter anderen auch das Nichtsp rechen- und
Nichtlachendürfen, einen Prinzen erlöst und dabei einen seltsamen
Vogel sowie das Lebenswasser gewinnt. Einst auf der Jagd findet
der König seinen Sohn und der Wunder vogel erzählt den ganzen
Verrat. Die unschuldige Frau wird aus dem Gefängnis befreit und
mit Hilfe des Lebenswassers frisch und gesund gemacht, während
ihre bösen Schwestern verbrannt werden. Das Mädchen aber
heiratet den erlösten Prinzen.
Noch näher rückt dieses Märchen unserer Schwanritter-
sage in anderen, von Grimm (III, 189) angeführten Paral-
lelen, wo — wie bei Straparola (4, 3) — die böse Stiefmutter
oder gar wie im Ungarischen (bei Gaal, Nr. 16) die böse
Schwiegermutter alles Unheil bewirkt und die Kinder nicht
6*
84 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
in drei Jahren nacheinander, sondern auf einmal zur Welt
kommen. Deutlich ist aber auch hier, daß die Aussetzung
im Wasser gleichsinnig ist mit der Verwandlung in Vögel.
Nun hat bereits Müller mit jener Scharfsichtigkeit, die
nicht bloß Folge seiner einseitigen Betrachtungsweise war,
erkannt, daß im Chevalier au cygne die Verwandlung in
Schwäne nur ein mildernder Ausdruck für das Gestorbensein
darstelle und beruft sich dabei auf die Rolle des Schwanes
als Seelen- und Totenvogel (S. 421). Wenn auch, meint er,
der Mythus berichte, sie seien verschont worden, so sei das
ebenfalls nur als Milderung aufzufassen : »Gar häufig hat
man nämlich in Mythen, um den Zusammenhang des Ganzen
zu erkennen, dasjenige, was nur geschehen soll, aber ver-
hütet wird, als wirklich geschehen zu fassen.« Ja Müller
findet ganz folgerichtig in den angeführten Märchen (Nr. 25
und 9) die Tötung der Kinder mehrere Male symbolisch an-
gedeutet: 1. durch die Särge, welche der Vater machen läßt;
2. durch das Leben der Kinder im Walde; 3. durch die Ver-
wandlung in Lilien; 4. durch die Verwandlung in Raben. —
Dieses Töten der Kinder, sei es durch die Eltern, Großeltern
oder Geschwister, welches sich nicht nur auf Grund der
Unterwelts(Mutterleibs-)symbolik (siehe auch hohler Baum —
Totenbaum u. s. w.), sondern auch aus dem Zusammenhang
des Mythus mit Notwendigkeit ergibt, muß zunächst, wenn
man den Mythus vom psychologischen Gesichtspunkt, also
rein menschlich auffaßt, ziemlich befremdend und abstoßend
wirken, insbesondere wenn man wie Müller seinen Gegen-
sinn fast gänzlich unberücksichtigt läßt. Aber auf Grund
unserer psychoanalytischen Erfahrungen sind wir einerseits
genötigt, in unserem Seelenleben Regungen anzuerkennen,
welche dem einseitig verzerrten und kraß egoistischen Aus-
druck des Märchens nicht allzufern stehen, anderseits aber auch
den kontradiktorischen Gegenströmungen im Unbewußten,
welche sich gleichfalls im Mythus spiegeln, Rechnung zu
tragen. Die psychoanalytische Beobachtung alltäglicher und
pathologischer Phänomene hat uns gelehrt, daß es, wie im
wirklichen Leben keine einheitlichen Theatercharaktere, so
DIE FEINDSELIGKEIT GEGEN DAS NEUGEBORENE. 85
auch im Seelenleben keine einheitlichen, einsinnigen Regungen
gibt, sondern daß jede psychische Einstellung und Äußerung
die Resultante ist aus mindestens zwei einander widerstrebenden
Regungen, von denen sich die eine durchzusetzen weiß. So hat
sich auch ergeben, daß die Gefühle der Umgebung gegen einen
neuankommenden Erdenbürger, ebenso wie gegen einen
scheidenden nicht immer ganz reine und ungemischte der Freude
respektive Trauer seien, sondern daß sich oft genug in die
Freude über die Geburt eines Kindes die Enttäuschung der
Mutter, eine gewisse Abneigung des Vaters (vgl. das extreme
Gefühl in Hauptmanns »Griselda«) und der Neid der Geschwister
mengt, daß anderseits einen Todesfall Gefühle der Befriedi-
gung bei den Überlebenden begleiten können. Beispiele bietet
das tägliche Leben in Hülle und Fülle, besonders deutlich
dort, wo es sieh um pathologisch geheißene Durchbrüche
solcher sonst nur unbewußt mitschwingender Empfindungen
handelt (etwa beim Kindesmord oder Zwangslachen bei
Traueranlässen vgl. Freud, Jahrb., I, S. 384, Anmkg.). In
unserer Märchengruppe ist nun diese feindselige Reaktion der
allernächsten Umgebung gegen das Kind manchmal ganz
deutlich und offenkundig ausgesprochen, wie im Märchen von
den zwölf Brüdern, für die der Vater die Särge machen läßt,
andere Male, wie Müller gezeigt hat, weniger deutlich und
symbolisch eingekleidet. Da Müller jedoch hauptsächlich
die Feindseligkeit der Eltern, insbesondere der Mutter betont
hat, die er übrigens naturmythologisch zu rechtfertigen ver-
sucht (vgl. Rank, Mythus, S. 9 f.), anstatt sie psychologisch
zu verstehen, möchten wir nicht versäumen, nochmals nach-
drücklichst auch auf die feindliche Einstellung des Vaters,
insbesondere den neugeborenen Söhnen gegenüber, sowie auf
die Neid- und Haßregungen der Geschwister hinzuweisen.
Zur deutlicheren Illustrierung dieses Verhältnisses wählen wir
eine primitive Erzählung der Samojeden, wo wohl der Todeswunsch,
ähnlich wie in den drei Vügelkens, direkt zum Ausdruck kommt,'
dafür aber das offenbar zu supponierende Geschwisterverhältnis
verwischt ist. Wir führen die interessante Sage nach Baring-
Gould an :
86 DES SCHWANRITTERS KINDHEITSGESCHICHTE.
»In a Samojed story, a man, finding seven maidens swim-
ming on a lake, takes up from the bank the Swan's dress belon-
ging to one of them, and refuses to yield it up except on the
condition that she becomes his wife and gets for him the hearts
of seven brothers which are hung up by them every night on
their tent pegs. When she brings them, he dashes all
but one on the ground, and as each falls, the brother to
whom it belongs dies. When the eldest whose heart not been
broken awakes and begs to have it restored, the Samojed says that
he must first bring back to life his mother who had bcen
killed by him. The man then bids him go to the place where the
dead lie, and there he should find a purse in which is his mother' s
soul. »Shake the purse over the dead woman's bones, and she
will come to life.« The Samojed, having thus recovered his mother,
dashes the remaining heart on the ground, and the last of the
seven dies.«
So deutlich nun auch in den angeführten Fällen die
Todessymbolik spricht, so ist doch nicht zu übersehen, daß
die Tatsache der Geburt, welche ja der Tötung vorausgeht,
nicht selten in dem gleichen Symbol Ausdruck findet.*) Das
wird uns bei dem innigen Zusammenhang dieser beiden
Vorstellungen und den noch innigeren Beziehungen, welche
die Phantasie zwischen diesen gewaltigsten Gegensätzen unseres
Lebens herstellt, nicht wundernehmen und doch ist es für das
Verständnis der Sagen und Märchen, um deren Deutung wir
uns hier bemühen, von entscheidender Wichtigkeit. Müssen
wir doch z. B. auf Grund des Storchmärchens in der Schwan-
verwandlung ebenso ein Symbol der Geburt wie ein solches
des Todes sehen; das gleiche gilt von dem Aufenthalt im
hohlen Baume, der uns ja ebenso als Wohnort der unge-
borenen wie der verstorbenen Seelen bekannt ist; aber auch
das Wasser hat als Geburtswasser und Totenstrom den gleichen
Doppelsinn wie überhaupt alle von Müller aufgezeigten
Symbole der Unterwelt, aus der ja dem Volksglauben nach
auch alles Leben stammt. Doch dürfen wir uns nicht ver-
hehlen, daß wir mit der Aufdeckung dieser Geburts- und
Todessymbolik und den ihr zu Grunde liegenden Regungen
*) Man vgl. denselben Befund Stekels in der Traumsymbolik (Die
Sprache des Traumes, S. 283).
DIE BEFREIENDE RETTUNGSTAT. 87
von Liebe und Haß lediglich den menschlichen Gehalt des
Mythus aufgezeigt haben, nicht aber die Triebkraft für seine
Gestaltung, nicht seine Tendenz, die sich ja nicht völlig in
der symbolischen Darstellung der rätselhaften Lebensgeheim-
nisse erschöpft. Am ehesten würden wir wohl Aussicht haben,
diesem eigentlich schöpferischen Moment auf die Spur zu
kommen, wenn wir die jeweilig wechselnden Relationen der
einzelnen Personen zu erklären vermöchten, wenn wir also
aufzeigen könnten, warum in dem einen Märchen der Vater,
im anderen wieder die Mutter, in einem dritten die Ge-
schwister dem Neugeborenen nach dem Leben trachten und
ob dieses selbst nicht vielleicht je nach seinem Feinde ein
Knabe (wie im Schwanritter) oder ein Mädchen (wie in der
Märchengruppe) ist. Denn auch das können wir als ein wert-
volles Ergebnis der interessanten Arbeit von Müller (S. 421)
festhalten, daß jede der beiden Varianten, sowohl der Sohn
als auch die Tochter als Befreier der Mutter und der Ge-
schwister, für sich eine besondere Bedeutung habe und keine
etwa für eine Entstellung der anderen erklärt werden könne.
Welche Bedeutung dieser Geschlechtswechsel aber hat, wird
uns vermutlich eine Untersuchung der befreienden Rettungstat
selbst lehren, welche ja einmal dem Sohn, ein andermal der
Tochter zufällt.
VII.
In der zu Eingang des vorigen Kapitels wiedergegebe-
nen, breit geschilderten und phantastisch ausgeschmückten
Geburts-, Jugend- und Heldengeschichte /les Schwanritters
spielt die Befreiung einer unschuldig Angeklagten, welche
wir in der deutschen Sonderentwicklung als selbständige ab-
geschlossene Sage kennen gelernt haben, nur eine episodische
und untergeordnete Rolle. Die eigentliche Heldentat des
Schwanritters besteht hier in der Errettung seiner eigenen
schwerbeschuldigten Mutter aus einer Lebensgefahr und
die zweite Rettung der ihm völlig fremden und ferne-
stehenden Herzogin wird jeder mit der Mythenbildung Ver-
traute als einfache Wiederholung, als verblaßten Abklatsch
88
DIE RETTUNGSPHANTASIE.
der in der Geburts- und Kindheitsgeschichte begründeten
Mutterrettung ansehen. So sagt Golther (S. 107): »Die
Tat des Elias ist in beiden Teilen dieselbe, er wagt den
Gotteskampf für die hart bedrängte Unschuld, besteht ihn
siegreich und setzt dadurch die Frau, seine Mutter auf der
einen Seite, die Herzogin von Bouillon auf der anderen, in
ihre Rechte ein. Im einen Teile muß eine Nachahmung des
anderen vorliegen.« Und Golther meint, daß die Rettung-
mythologisch nur im ersten Teile berechtigt sei, von wo
sie dann in den zweiten Teil eindrang. Ähnlich meint
auch Wolf (S. 223) von der Beatrixfassung : »Sollte sie nicht
die ursprüngliche Gestalt der Sage sein? Jedenfalls ist sie
die vollständigste; nur möchte die Frage entstehen, ob nicht
die Fahrt nach Nymwegen auf dem vom Schwan gezogenen
Schifflein ein Einschiebsel sei?« — Nun ist es aber auffällig,
daß nicht nur die Rettung der Frau in der Beatrixfassung
verdoppelt erscheint, sondern noch eine Reihe anderer be-
deutsamer Motive, so daß es den Anschein gewinnt, als sähen
wir die Sage durch einen Doppelspat hindurch. Und zwar
betrifft diese Doublierung nicht nur — wie ja selbstverständ-
lich — die beiden Rettungsepisoden im einzelnen, sondern
ist auch im ersten Teile selbst auffällig. So wird die Mutter
zweimal angeklagt und zweimal vor der Todesstrafe bewahrt :
einmal durch die Gnade des Königs, das zweitemal durch die
Heldentat des Sohnes. Es werden aber auch die ausgesetzten
Kinder zweimal aus der ihnen drohenden Todesgefahr er-
rettet. Und schließlich besteht der Sohn zwei Kämpfe und
erringt zwei Siege über den falschen Ankläger seiner Mutter.
Lassen wir es zunächst bei der Hervorhebung dieser Eigen-
tümlichkeiten bewenden und gehen wir von der Rettungsszene
aus, so läßt sich ohne weiteres ein Grund für ihre Verdoppe-
lung erkennen. Der Schwanritter, der nicht nur in späteren
historischen Verwertungen der Sage, sondern sogar schon im
Skeafmythus als Ahnherr ruhmreicher Geschlechter auftritt,
hat als solcher vornehmlich die Aufgabe, im fremden Lande
ein Weib zu gewinnen und mit ihr Kinder zu zeugen. Daß
die Gewinnung dieses Weibes durch ihre Errettung aus einer
DOUBLIERUNGEN IN DER SCHWANRITTERSAGE. 89
großen Gefahr herbeigeführt wird, ist ein Kausalnexus, der
dem allgemeinen Empfinden voll entspricht. Da nun der Schwan-
ritter auf Grund seiner wundersamen Geburts- und Kindheits-
geschichte zum Retter seiner Mutter ausersehen ist, die er
jedoch im Sinne der natürlichen Ausgestaltung dieses Motivs
nicht heiraten kann, wenn er nicht dem Schicksal des Ödi-
pus verfallen will, so mußte an ihre Stelle eine zur Ehe ge-
eignetere Frau treten, die eben durch Einführung der zwei-
ten Rettung zu gewinnen war. Daß eine solche Motivierung
dabei maßgebend gewesen sei, glauben wir in einem Detail
der zweiten Episode noch zu erkennen. Es wird nämlich dort
— in allen französischen Versionen — auch eine Mutter, die
alte Herzogin, siegreich befreit, die dann ihre — interessanter-
weise gleichnamige — Tochter Clarissa dem Sieger vermählt.
Wir glauben darin einen Nachklang jener Empfindung zu
verspüren, welcher die Heirat mit der »Mutter«, auch in die-
ser übertragenen Form, anstößig ist. Im Zusammenhang mit
der Rettung und Heirat der bedrängten Frau scheint auch
die Wiederholung eines anderen Motivs eine Aufklärung
zuzulassen: nämlich die zweimalige Anklage der Mutter. Die
erste Anklage erfolgt bald nach der Geburt der Kinder und
kann darum nicht zur Todesstrafe führen, weil ja sonst die
Befreiungstat des Sohnes unmöglich wäre. Soll sie aber auch
wirklich erfolgen können, so ist natürlich eine zweite Anklage
und die neuerliche Todesgefahr der Mutter notwendig und die
Einschaltung eines entsprechend langen Zeitintervalls, um
die nötige Altersreifung des Helden herbeizuführen. Die
Mutter bleibt also sechszehn Jahre lang (Simrock : Volksb.,
Bd. 6, S. 232) gefangen ; aber trotz dieser ausgeklügelten Zeit-
bestimmung (18) wird es dem wenig phantasiebegabten Leser
schwer, zu glauben, dieser unerfahrene, kaum den Kinder-
schuhen entwachsene sechszehnjährige Junge hätte den geüb-
ten, erfahrenen und kräftigen Ritter, der als Ankläger auf-
tritt, überwunden. Das Volksbuch selbst hat dieses Bedenken
sehr wohl gehegt und darum hervorgehoben, daß er auch
völlig ungerüstet und waffenlos beim ersten Zusammentreffen
den Gegner bewältigt habe, »auf daß das Wunder, das Gott
90 DIE RETTUNGSPHANTASIE
an ihm wirkte, desto offenbarer werde«. Der zweite, in vol-
ler Rüstung und waffengerecht ausgefochtene Zweikampf
scheint dann wie zur Milderung dieser krassen Unwahrschein-
lichkeit eingeführt. Wir werden aber hier an das von Sim-
rock (Beow.) aufgeworfene Problem erinnert, daß der
neugeborene Skeaf einem mächtigen Feinde siegreich ent-
gegengetreten sei, was uns nicht minder unwahrscheinlich vor-
kommen muß, als die Heldentat des unbewaffneten Knaben
Helias, und mit Berufung auf Gottes Hilfe ist schließlich das
eine so gut wie das andere möglich. All diese Unwahrschein-,
lichkeiten sowie die bisher besprochenen Verdopplungen
sind nun alle einem einzigen Motiv zuliebe eingeführt, das
schon aus diesem Grunde bedeutsam genug sein müßte wie es
ja auch in der deutschen Sonderentwicklung, der Lohengrin-
sage, selbständig ausgestaltet worden war. Dieses Motiv ist
die Rettung der Frau aus großer Gefahr und die Heirat mit
ihr. Bezöge sich dieses Rettungsmotiv lediglich auf die fremde
Herzogin, so wäre die Herstellung all dieser künstlichen Be-
ziehungen, die ja auch die Lohengrinsage vermeidet, voll-
kommen überflüssig. Es scheint aber in der Natur der Sage
zu liegen und innig mit der Geburts- und Kindheitsgeschichte
des Schwanritters zusammenzuhängen, daß er gerade die
Mutter retten muß, die er allerdings nicht heiraten kann.
Um nun zu zeigen, inwieweit dieses Motiv im Wesen
der Sage begründet ist, müssen wir wieder auf die Schöpfer
und Ausgestalter dieser mythischen Erzählungen, also im letz-
ten Grunde auf das individuelle Seelenleben zurückgreifen.
Wir wenden uns aber diesmal nicht an die nächtlichen Träume,
die eine uns zunächst unbekannte und schwer übersetzbare
Sprache sprechen, sondern an die bei weitem verständliche-
ren und offenherzigeren Tagträume, die Phantasien der Men-
schen, die auch formal den Produkten der Völkerphantasie
näher stehen. Nun sind aber derartige Tagesphantasien jedem
nur aus seiner eigenen Erfahrung — da allerdings im reich-
sten Ausmaße — zugänglich, weil sie von den Menschen selt-
samerweise sorgsam gehütet und niemandem eingestanden
werden. Der Grund hievon ist leicht einzusehen. Diese
IN DEN TAGTRÄUMEN. 91
-
Phantasien, welche die unerfreuliche Wirklichkeit zu korri-
gieren bestimmt sind, dienen so unverhüllt den selbstsüch-
tigen und ehrgeizigen Interessen, daß sie fremden Personen
nicht nur lächerlich, sondern oft geradezu abstoßend erschei-
nen müßten. Nicht unschwer verrät sich aber hinter diesen
egoistischen Tendenzen das eigentlich treibende und wunsch-
erfüllende Moment der Erotik, die an irgend einer Stelle in
fast jeder derartigen Phantasie zum Durchbruch kommt. Wer-
den also diese Tagträume der unbefriedigten Phantasie mit
Recht so sehr gehütet, so fragt es sich, wie man zu ihrer Kennt-
nis gelangt. Nun gibt es Menschen, deren überreiche und mit
starken Affektaufwänden betriebene Phantasietätigkeit, sofern
sie nur gewisse Milderungen erfährt, die Tagträume nicht nur
mitteilbar, sondern ihre Mitteilung sogar zu einem lust vollen
Genießen zu machen weiß, nämlich die Dichter (Freud:
Kl. Sehr., II, 206). Andere Menschen mit ähnlicher Veran-
lagung zeigen jedoch das entgegengesetzte Verhalten, indem
sie nicht nur außer stände sind, ihre Phantasien anderen ge-
nießbar zu machen, sondern sie selbst so anstößig finden,
daß sie sich ihrer zu erwehren suchen, die sogenannten Psy-
choneurotiker. Auf einem komplizierten Wege gelangen sie
dazu, diese peinlich empfundenen Phantasieprodukte aus dem
Bewußtsein zu verdrängen, während die daran haftenden
großen Affektmaßen nunmehr als empfindliche Störer des
seelischen Gleichgewichtes zu wirken im stände sind. Diese
unbewußt gewordenen Phantasien müssen nun von neuem
wachgerufen und seelisch entwertet werden, wenn sich der
gemütskranke Neuro tiker dem psychoanalytischen Heilver-
fahren unterzieht. Bei dieser Gelegenheit erfährt man dann
nicht nur den Inhalt, sondern auch die Entstehung und Be-
deutung solcher Phantasien und vermag sich dann unschwer
zu überzeugen, daß sie sich nur durch eine gewisse Intensi-
tätssteigerung auf der einen, eine besondere Empfindlichkeit
für ihren Inhalt auf der anderen Seite von den; normalen und
künstlerischen Phantasien unterscheiden. Im Verlaufe seiner
psychoanalytischen Erfahrungen hatte nun Freud Gelegen-
heit, unter anderem auch eine Phantasie eingehend zu studie-
-
92 DIE RETTUNGSPHANTASIE
res, die sich nicht selten im realen Liebesleben der Menschen
durchzusetzen weiß. Es ist dies die bei einem gewissen Typus
liebender Männer »sich äußernde Tendenz, die Geliebte zu
retten«. Der Mann ist überzeugt, daß die Geliebte seiner
bedarf, daß sie ohne ihn jeden sittlichen Halt verlieren und
rasch auf ein bedauernswertes Niveau herabsinken würde.
Er rettet sie also, indem er nicht von ihr läßt (19). Die Ret-
tungsabsicht kann sich in einzelnen Fällen durch die Beru-
fung auf die sexuelle Unverläßlichkeit und die sozial gefähr-
dete Position der Geliebten rechtfertigen; sie tritt aber nicht
minder deutlich hervor, wo solche Anlehnungen an die Wirk-
lichkeit fehlen« (Freud, Jb., II, S. 392, 4). Nun findet sich
aber dieser merkwürdige Zug, der bei manchen Männern zur
Bedingung ihrer Liebesfähigkeit überhaupt wird, sehr häufig
bei demselben Individuum neben einigen anderen auffälligen
Zügen ihres Liebeslebens, die, so disparat sie auch scheinen,
doch eine überraschende, aber einfache psychoanalytische Auf-
klärung aus einer einzigen Quelle gefunden haben. Solche
Männer zeigen nach Freuds Feststellung (1. c.) außer der
Rettungstendenz zunächst eine andere geradezu spezifische
Liebesbedingung, die des »Geschädigten Dritten«, deren
Inhalt dahin geht, »daß der Betreffende niemals ein Weib
zum Liebesobjekt wählt, welches noch frei ist, also ein Mäd-
chen oder eine alleinstehende Frau, sondern nur ein solches
Weib, auf das ein anderer Mann als Ehegatte, Verlobter, Freund
Eigentumsrechte geltend machen kann« (Freudl.c.,S. 390, l).
Eine weitere minder konstante Bedingung, die man mit etwas
Vergröberung die der »Dirnenliebe« heißen kann, besagt,
daß »auf solche Männer das keusche und unverdächtige Weib
niemals den Reiz ausübt, der es zum Liebesobjekt erhebt, son-
dern nur das irgendwie sexuell anrüchige, an dessen Treue
und Verläßlichkeit ein Zweifel gestattet ist« (1. c. S. 390, 2).
Ebenso merkwürdig wie diese beiden Bedingungen, die vom
Sexualobjekt gefordert werden, sind zwei einander scheinbar
widersprechende Verhaltungsweisen des Liebenden gegen das
so gewählte Weib. Neben einer enorm hohen, durch den ge-
forderten Charakter der Anrüchigkeit noch unverständliche-
UND IHRE PSYCHOANALYTISCHE AUFKLÄRUNG. 93
ren Wertung der Einzigkeit des Liebesobjektes und der ge-
gen dasselbe geübten Treue, zeigt sich doch die Neigung,
»Leidenschaften dieser Art mit den gleichen Eigentümlich-
keiten — die eine das genaue Abbild der anderen — mehr-
mals im Leben« zu wiederholen, ja mitunter eine ganze Reihe
derselben zu bilden (1. c, S. 391 f., 3). Bei psychoanalytischer
Vertiefung in die Lebensgeschichte dieser Personen hat nun
Freud gefunden, daß diese eigentümlich bestimmte Objekt-
wahl und das so sonderbare Liebesverhalten der infantilen
Fixierung der Zärtlichkeit an die Mutter entspringt und
einen der Ausgänge einer besonders intensiven, bis in die
Zeit der Pubertät fortgesetzten Fixierung dieser erotischen
Neigung darstellen. Einige der angeführten Züge verraten
leicht ihren Charakter als Muttersurrogate. So erklärt sich
die Bedingung der Unfreiheit des Weibes ohne weiteres aus
der Tatsache, daß die Mutter dem Vater angehört und so
wird kein anderer als dieser selbst zum geschädigten Dritten.
»Ebenso ungezwungen fügt sich der überschätzende Zug, daß
die Geliebte die Einzige, Unersetzliche ist, in den infantilen
Zusammenhang ein«, wie anderseits die der geforderten Treue
direkt widersprechende Reihenbildung sich daraus erklärt,
daß jedes Surrogat doch die erstrebte Befriedigung vermissen
läßt (1. c, S. 393). Unverstanden bleibt in diesem Zusammen-
hange zunächt die Rettungstendenz, während die Bedingung
der Dirnenhaftigkeit der versuchten Ableitung direkt zu
widersprechen scheint. Zum Verständnis dieser auffälligen
Charaktere zieht Freud nun das Phantasieleben des Knaben
aus der Zeit der Vorpubertät heran.*) »Brutale Mitteilungen
von unverhüllt herabsetzender und aufrührerischer Tendenz
machen ihn da mit dem Geheimnis des Geschlechtslebens be-
kannt, zerstören die Autorität der Erwachsenen, die sich als
unvereinbar mit der Enthüllung ihrer Sexualbetätigung er-
weißt.« Zugleich »gewinnt der Knabe auch die Kenntnis von
der Existenz gewisser Frauen, die den geschlechtlichen
Akt erwerbsmäßig ausüben« . — »Wenn er dann den Zweifel
*) Die folgenden Ausführungen sind fast wörtlich der grundlegenden
Arbeit Freuds (Jb., II, S. 394 ff.) entnommen.
94 DIE RETTUNGSPHANTASIE
nicht mehr festhalten kann, der für seine Eltern eine Aus-
nahme von den häßlichen Normen der Geschlechts-
betätigung fordert, so sagt er sich mit zynischer Korrekt-
heit, daß der Unterschied zwischen der Mutter und der
Hure doch nicht so groß sei, daß sie im Grunde das näm-
liche tun. Die aufklärenden Mitteilungen haben nämlich
die Erinnerungsspuren seiner frühinfantilen Eindrücke und
Wünsche in ihm geweckt und von diesen aus gewisse
seelische Regungen bei ihm wieder zur Aktivität gebracht.
Er beginnt die Mutter selbst in dem neugewonnenen Sinne
zu begehren und den Vater als Nebenbuhler, der diesem
Wunsche im Wege steht, von neuem zu hassen; er gerät,
wie wir sagen, unter die Herrschaft des Ödipuskomplexes.
Er vergißt es der Mutter nicht und betrachtet es im Lichte
einer Untreue, daß sie die Gunst des sexuellen Verkehres
nicht ihm, sondern dem Vater geschenkt hat. Diese
Regungen haben, wenn sie nicht rasch vorüberziehen, keinen
andern Ausweg, als sich in Phantasien auszuleben, welche
die Sexualbetätigung der Mutter unter den mannigfachsten
Verhältnissen zum Inhalte haben . . . Infolge des beständigen
Zusammenwirkens der beiden treibenden Motive, der Be-
gehrlichkeit und der Rachsucht, sind Phantasien von
der Untreue der Mutter die bei weitem bevorzugten;
der Liebhaber, mit dem die Mutter die Untreue begeht,
trägt fast immer die Züge des eigenen Ichs, richtiger ge-
sagt, der eigenen, idealisierten, durch Altersreifung
auf das Niveau des Vaters gehobenen Persönlichkeit.«
Was Freud im »Mythus von der Geburt des Helden«
(S. 64 bis 68) als »Familienroman« geschildert hat, »umfaßt
die vielfältigen Ausbildungen dieser Phantasietätigkeit
und deren Verwebung mit verschiedenen egoistischen In-
teressen dieser Lebenszeit«. — Erklärt sich aus diesem
Stück seelischer Entwicklung auch die Bedingung der
Dirnenhaftigkeit aus dem Mutterkomplex und finden wir
hierin die so häufige und für das Verständnis der Mythen-
bildung überaus fruchtbar gewordene Erkenntnis wieder,
daß im Bewußten in zwei Gegensätze gespalten erscheint, was
UND IHRE PSYCHOANALYTISCHE AUFKLÄRUNG. 95
im Unbewußten in Eines zusammenfällt, so scheint mit diesen
Phantasien die Tendenz, die Geliebte zu retten, nur in
lockerer, oberflächlicher Beziehung zu stehen : »Die Ge-
liebte bringt sich durch ihre Neigung zur Unbeständigkeit
und Untreue in Gefahren, also ist es begreiflich, daß der
Liebende sich bemüht, sie vor diesen Gefahren zu behüten.«
Indes zeigt das Studium verwandter seelischer Er-
scheinungen, »daß hier eine vortrefflich gelungene „Ra-
tionalisierung" eines unbewußten Motivs vorliegt«, das
gleichfalls den Pubertätsphantasien des Knaben angehört
hat. »Wenn nämlich das Kind hört, daß es sein Leben
den Eltern verdankt, daß ihm die Mutter das »Leben
geschenkt« hat, so vereinen sich bei ihm zärtliche, mit
großmannssüchtigen, nach Selbständigkeit ringenden Re-
gungen, um den Wunsch entstehen zu lassen, den Eltern
dieses Geschenk zurückzuerstatten, es ihnen durch ein gleich-
wertiges zu vergelten. Es ist, wie wenn der Trotz des
Knaben sagen wollte: Ich brauche nichts vom Vater, ich
will ihm alles zurückgeben, was ich ihn gekostet habe.
Er bildet dann die Phantasie, den Vater aus einer
Lebensgefahr zu retten, wodurch er mit ihm quitt
wird, und diese Phantasie verschiebt sich häufig genug
auf den Kaiser, König oder sonst einen großen Herrn und
wird nach dieser Entstellung bewußtseinsfähig und selbst
für den Dichter verwertbar (Beispiele siehe bei Rank:
Zbl. f. Ps. A., Heft 7). In der Anwendung auf den Vater
überwiegt bei weitem der trotzige Sinn der Rettungs-
phantasie, der Mutter wendet sie meist ihre zärtliche Be-
deutung zu. Die Mutter hat dem Kinde das Leben ge-
schenkt, und es ist nicht leicht, dies eigenartige Geschenk
durch etwas Gleichwertiges zu ersetzen. Bei geringem Be-
deutungswandel, wie er im Unbewußten erleichtert ist,
gewinnt das Retten der Mutter die Bedeutung von: ihr ein
Kind schenken oder machen, natürlich ein Kind, wie man
selbst ist. Die Entfernung vom ursprünglichen Sinn der
Rettung ist keine allzu große, der Bedeutungswandel kein
willkürlicher. Die Mutter hat einem ein Leben geschenkt,
96 DIE RETTUNGSPHANTASIE
das eigene, und man schenkt ihr dafür ein anderes Leben,
das eines Kindes, das mit dem eigenen Selbst die größte
Ähnlichkeit hat. Der Sohn erweist sich dankbar, indem
er sich wünscht, von der Mutter einen Sohn zu haben, der
ihm selbst gleich ist, d. h. in der Rettungsphantasie iden-
tifiziert er sich völlig mit dem Vater. Alle Triebe, die
zärtlichen, dankbaren, lüsternen, trotzigen, selbstherrlichen,
sind durch den einen Wunsch befriedigt, sein eigener
Vater zu sein. Auch das Moment der Gefahr ist bei dem
Bedeutungswandel nicht verloren gegangen ; der Geburtsakt
selbst ist nämlich die Gefahr, aus der man durch die An-
strengung der Mutter gerettet wurde.« In diesem Sinne »kann
das »Retten« seine Bedeutung variieren, je nachdem es von
einer Frau oder von einem Manne phantasiert wird. Es kann
ebensowohl bedeuten : ein Kind machen = zur Geburt bringen
(für den Mann), wie : selbst ein Kind gebären (für die Frau).
Insbesondere in der Zusammensetzung mit dem Wasser lassen
sich diese verschiedenen Bedeutungen des Rettens in Träumen
und Phantasien deutlich erkennen. Wenn ein Mann im Traume
eine Frau aus dem Wasser rettet, so heißt das : er macht sie
zur Mutter, was nach den vorstehenden Erörterungen gleich-
sinnig ist dem Inhalte: er macht sie zu seiner Mutter. Wenn
eine Frau einen anderen (ein Kind) aus dem Wasser rettet,
so bekennt sie sich damit wie die Königstochter in der
Mosessage als seine Mutter, die ihn geboren hat.«
Halten wir diesen durch Freud aufgedeckten Inhalt
und Sinn des kindlichen und späteren Phantasielebens neben
das bewußtseinsfähige und ästhetisch befriedigende Phantasie-
produkt der Sage, so wird eine so weitgehende Überein-
stimmung zwischen beiden deutlich, daß man sich dem Ein-
druck nicht verschließen kann, wir hätten in den individuellen
Tagträumen des einzelnen die Quelle, ja geradezu die Vor-
stufe der Sagenbildung gefunden. Heben wir vorläufig nur
die auf die Mutter gerichtete Rettungsphantasie, den
die eroberte Frau betreffenden Verdacht der Untreue, den
geschädigten und im Zweikampf beseitigten Dritten, und
schließlich die schon besprochene Wassergeburt des Kindes
UND DIE HEIRAT MIT DER MUTTER.
hervor, so wird man schwerlich der Versuchung widerstreben
wollen, die uns vorliegende, nur etwas rationalisierte und
gemilderte Sage in ihrem Verhältnis zum Eltern komplex und
zum Phantasieleben des Kindes im Detail zu untersuchen.
Zunächst wird unsere Vermutung, daß die erste, die Mutter
betreffende Rettung die ursprüngliche sei, nicht nur durch
ihr selbständiges Vorkommen in anderen Sagen, wie z. B.
dem Volksbuch von Hirlanda (20) befestigt, sondern durch
einen tieferen Einblick in die Bedingungen der Phantasie-
bildung voll bestätigt. Wir erkennen nunmehr mit Sicherheit
in der zweiten Rettungsepisode nichts als eine durch die Er-
möglichung der Heirat gemilderte Mutterrettung; ja, wenn
man versuchen wollte, geistreich zu sein, könnte man auch
sagen, die Erzählung weise durch Voranstellung der ersten
Rettung mit deutlicher Anspielung auf die Reihenbildung
darauf hin, daß derartige Rettungsheiraten, wie sie die zweite
Episode zeigt, auf die ursprünglich der Mutter geltende
Rettungsphantasie zurückgehen. Hier erhält aber auch
das Frageverbot, das nur bei der zweiten Rettung gestellt
wird, einen neuen und tiefen Sinn. Während nämlich der
Schwanritter bei der zweiten Rettung Namen und Herkunft
verheimlicht und danach zu fragen oder zu forschen ver-
bietet, gibt er bei der ersten Rettung, welche die Mutter be-
trifft, seinen Namen, seine Herkunft und seine seltsame
Jugendgeschichte mit einer gewissen Aufdringlichkeit zum
Besten. Sehen wir in dieser Belehrung der Eltern über die
Herkunft des Sohnes einerseits eine an die Umkehrung des
Frageverbots gemahnende ironische Revanche für die seiner-
zeitige Vorenthaltung der sexuellen Aufklärung, so gibt
anderseits die auffällige Gegensätzlichkeit seines Verhaltens
bei der zweiten Rettung zu denken. Haben wir aber beide
Rettungsepisoden nur als verschieden deutliche Darstellungen
einer und derselben Phantasie, der Mutterrettung, verstehen
gelernt, so wird es uns nicht schwer, zu erkennen, daß auch
das Frageverbot eigentlich zur Mutterrettung gehört und
dort einen tiefen Sinn hat, während es bei der zweiten
Rettung völlig unverständlich bleibt. Rettet der Sohn die
Klink. Die Itohengrinaage. 7
98 DIE RETTUNGSPHANTASIE
Mutter — oder wie Ödipus die Mutterstadt — und soll er
sie heiraten können, so ist natürlich die erste Bedingung,
daß sie den Sohn nicht erkenne, daß der Inzest unbewußt voll-
zogen werde, wie bei Ödipus und allen seinen Parallelgestalten.
Im Augenblick, wo sie in dem Retter ihren Sohn erkennt,
ist die Heirat vereitelt. Darum verbietet der Schwanritter
die Frage nach Namen und Herkunft und darum ist das
Eheglück — wieder ganz wie bei Ödipus — zerstört, sobald
nach seinem Wesen gefragt wird. Ist aber die Ermög-
lichung der Mutterehe der Grund des Frageverbots, dann
verstehen wir auch, daß es keine Willkür ist, wenn in den
französischen Fassungen, welche die erste Mutterrettung noch
kennen, das Frageverbot nicht vor der Ehe, sondern ge-
legentlich einer neugierigen Frage der Frau gestellt wird.
Hier ist ja Mutterrettung und Mutterheirat in zwei Szenen
auseinandergefallen und bei der fremden Herzogin erscheint
ja das der Mutter geltende Verbot überflüssig. Daß er es
dann im Laufe der Ehe gelegentlich einer Frage dennoch
stellt, scheint dafür zu sprechen, daß diese Ehe im Grunde doch
als Inzest galt wie die des Ödipus, der sich auch im vollen
ehelichen Glück vor die Aufgabe gestellt sieht, seine Herkunft
zu enthüllen. In den deutschen Fassungen dagegen — also
im Lohengrin — , wo die beiden Rettungen, natürlich mit
Ignorierung der Mutter, in eine zusammenfallen resp. nur
die zweite erhalten ist, da wird das Frageverbot, ganz als
handelte es sich direkt um die Mutter, vor der Heirat gestellt.
Haben wir nun die Sage so weit auf ihre psycho-
logische Vorstufe zurückgeführt, daß wir die beiden Rettungen
in eine Szene zusammenschieben dürfen, so sehen wir, daß
bis auf die in die zweite Szene verlegte Heirat, eigentlich
sonst alle Bedingungen und Folgen der Ehe schon bei der
ersten Rettung zu finden sind. Durch die Verstoßung
von Seiten des erzürnten Gatten ist die Frau eigentlich
frei geworden und der zunächst unerkannte Sohn rettet sie
und gewinnt sie so für sich. Dürfen wir nun aus der zweiten
Szene die auf Grund des Frageverbotes vollzogene Heirat mit
der Geretteten herüberziehen, so folgt ganz konsequent und
IN DER BEDEUTUNG DER KINDERZEUGUNG. 99
psychologisch richtig nun die Abdankung des Vaters, der
dem Befreier die Herrschaft abtritt. Nun müßte folgerichtig,
wie es ja auch der zweite Teil zeigt, das Ehepaar Kinder
bekommen. Was geschieht nun statt dessen im ersten Teil?
Der Sohn, der der Mutter das Leben gerettet und ihr damit
das Geschenk seines Lebens vergolten hat, geht ganz im
Sinne der von Freud aufgedeckten Phantasien noch einen
Schritt weiter. Er sucht sich bei der Mutter, die ihm das
Leben geschenkt, und der er dafür das Leben gerettet hat,
noch dadurch zu revanchieren, daß er ihr nun Kinder schenkt,
und zwar seine eigenen Brüder, die er ja nach ihrer Schwanen-
verwandlung wieder zu Menschen macht, indem er ihnen die
Ketten umhängt und sie aus dem Wasser zieht. (Märchen-
motiv.) In dieser bedeutsamen Wendung, daß der Schwan-
ritter nicht wie seine Geschwister als Kind seiner Mutter
gelten will, sondern umgekehrt, ihr selbst Kinder schenkt,
finden wir ein interessantes Gegenstück und möglicherweise
ein Stück Erklärung jener Umkehrung, welche das Frage-
motiv betroffen hatte. Dürfen wir aber das Herausziehen
der in Schwäne verwandelten Kinder aus dem Wasser auf
Grund der Traumsymbolik als einen wegen der Beziehung
auf die Mutter asexuell dargestellten Zeugungsakt auffassen,
so erscheint es auffällig, daß die Geschwister gleich als Er-
wachsene, im Alter des Helias selbst, erscheinen. Nun er-
innert uns aber dieser seltsame Umstand an die ebenso frag-
liche Tatsache, daß das im Nachen angeschwommene Kind
der Skeafsage im zweiten Teil des »Schwanritters« ebenfalls
als Erwachsener, und damit als Retter der Mutter, auftritt.
Wird er da von der bedrängten Frau gewissermaßen ans
Land »gezogen« (durch Gebet herbeigerufen), die sich schon
damit als seine Mutter bekennt, so zieht er in der Ehe mit
derselben nun seinerseits die Geschwister aus dem Wasser,
die er also mit der eigenen Mutter zeugt. Wie die beiden
Rettungsheiraten dürfen wir auch diese beiden Geburten zu-
sammen fallen lassen und erkennen dann unschwer, daß
der Sohn tatsächlich, wie in der von Freud aufgedeckten
Phantasie, »sein eigener Vater« geworden ist, der sich,
7*
100 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
nicht unähnlich unserem Münchhausen, selbst aus dem
Wasser zieht.
Dieses eigentümliche Vater werden scheint auch darin
zum Ausdruck zu kommen, daß der Sohn gleichzeitig mit
dem Besitz der Mutter die Herrschaft des Vaters antritt.
Mit dieser Verdrängung des Vaters aus seinen Rechten haben
wir uns aber bereits von der zärtlichen, der Mutter zuge-
kehrten Seite der Rettungsphantasie ab- und der feindseligen,
dem Vater geltenden Komponente zugewendet. Wie jedoch
in der Beatrixfassung der anstößige Inzest in die Rettung
der Mutter und die Heirat der Herzogin gesondert erscheint,
so ist auch die verwerfliche Auflehnung gegen den Vater
von diesem auf den verräterischen Ankläger übergewälzt.
Damit erscheint aber auch die Gebundenheit des zu freienden
Weibes an einen Dritten, wie sie die Phantasie auf Grund
des Mutterkomplexes fordert, erfüllt zu sein. Wir können
daher die Figur des Anklägers ebensowenig als selbständige
Gestalt nehmen, wie die im zweiten Teile gerettete Herzogin,
sondern müssen sie auf Grund der Bedingung des »ge-
schädigten Dritten« auf den Vater reduzieren. Als solcher
erhebt er in manchen Versionen (z. B. als Telramund im
Lohengringedicht) mit Recht Anspruch auf die Frau und
wird vom Sohne im Zweikampf besiegt. Nun läge es ja in
der Natur dieses erbitterten Kampfes mit einem gefährlichen
Gegner, daß der Sieger dem verfallenen Leben des Unter-
legenen ein Ende macht, wie es z. B. in Konrad von
Würzburgs Gedicht der Fall ist. Statt dessen aber tötet in
den meisten Versionen der erbitterte Sieger, der im Volks-
buch (S. 244) sogar ausdrücklich sagt, er scheide nicht eher
aus dem Kampfe, bis er den Gegner tot sehe, denselben
nicht, sondern schenkt ihm zunächst das Leben, um ihn erst
später der verdienten Straf e zuzuführen. Scheint dieser auffällige
Zug zunächst dafür zu sprechen, daß der Sohn vor der Tötung
dieses Mannes wie vor einem unerlaubten Mord zurückschrecke,
so wird klar, daß er in dem bewältigten Gegner seinen
Vater sieht, wenn wir uns wieder an die aufrührerische Seite
der Rettungsphantasie erinnern, die sich beim Vater für das
DER KAMPF ZWISCHEN VATER UND SOHN.
101
Geschenk des Lebens durch seine Rettung aus einer Todes-
gefahr zu revanchieren sucht.
Wie wir nun die Errettung und Heirat der unschuldig
verdächtigten Herzogin aus der Vorgeschichte selbst auf die
Mutter beziehen konnten, so erhält die psychologisch ge-
forderte Zurückführung des besiegten Anklägers auf den riva-
lisierenden Vater eine über jedem Zweifel stehende Sicher-
heit aus den zahlreichen und weitverbreiteten Sagenüber-
lieferungen, als deren Typus das altdeutsche Hildebrandslied
gelten darf, Diese meist in die epische Form gekleideten
Sagen, deren psychologische Beleuchtung einem anderen Zu-
sammenhang vorbehalten bleiben mag, haben regelmäßig zum
Inhalt einen erbitterten Zweikampf auf Leben und Tod zwischen
zwei kühnen Helden, der meist unentschieden damit endet,
daß die beiden einander unbekannten Kämpfer sich schließ-
lich als Vater und Sohn erkennen. Zum Beweise des engen
Zusammenhangs der Zweikampfepisode in unserer Schwan-
rittersage mit dieser uralten und weitverbreiteten Über-
lieferung sei eine verwandte Sage vom Zweikampf zwischen
Vater und Sohn mitgeteilt, die dem Lais von »Milun«
(Marie de France) zu Grunde liegt, den Hertz (S. 256) als
den bretonischen Hildebrand bezeichnet.
Milun, ein tapferer Ritter, schwängert ein Mädchen, welches
die Folgen fürchtet und ihm rät, das Kind ihrer weit entfernt
wohnenden Schwester zum Aufziehen zu übergeben. Der Ring,
den sie von Milun erhalten hat, sowie ein den Namen des Vaters
enthaltender Brief werden dem Kinde mitgegeben, damit es der-
einst im stände sei, den Vater zu finden. Nach der Geburt und
Wegschaffung des Knaben zieht Milun auf Abenteuer, während
das Mädchen vermählt, aber von ihrem Manne als eine Ge-
fallene ins Gefängnis geworfen wird. Nun wird, um den Sohn
heranwachsen zu lassen, der unwahrscheinlich lange Intervall von
20 Jahren eingeschoben, während welcher Zeit Milun und seine
gefangene Geliebte mit Hilfe eines als Brieftaube verwendeten
Schwanes miteinander korrespondieren. Nach Ablauf dieser
zwanzig Jahre kommt der herangewachsene Jüngling auf der Suche
nach seinem Vater in die Bretagne, wo er sich als tapferer Ritter
bewährt und alle Gegner besiegt. Milun wird bange um seinen
Ruhm; nach langer Ruhezeit gedenkt er wieder auszuziehen, um
mit dem fremden Ritter zu kämpfen und dann seinen Sohn auf-
Berlin,
102 DIE RETTUNGSPHANTASIE
zusuchen. In dem harten Zweikampf stößt endlich der Junge den
Alten aus dem Sattel. Dabei verschiebt sich der Helm und wie er
das weiße Haar des Alten sieht, nützt er seinen Vorteil nicht aus,
sondern bringt ihm ein Pferd, damit er den Nachteil ausgleiche.
Da bemerkt der Alte den Ring an der Hand des Jungen und fragt
ihn nach seinen Eltern, mit der Motivierung, daß er noch keinen
so tapferen Helden bestanden habe. Der Jüngling erzählt aus-
führlich seine ganze Geburts- und Jugendgeschichte, wie der junge
Helias seinen Eltern und wie dieser vereint auch er den Vater
mit seiner Mutter :
»Der Sohn rief: »Ich vereine dich
Mit meiner Muster sicherlich.
Hingeh' ich, ihren Mann zu töten,
Und schaffe Frieden Euern Nöten.«
Aber auf dem Wege zum Schloß, in dem die Mutter gefangen ge-
halten wird, begegnet ihnen ein Bote mit der Nachricht, daß ihr
Mann eben gestorben und sie also frei und erlöst sei; der Sohn
führt sie nun dem Vater als Gemahlin zu (21).
Die Übereinstimmung dieser Zweikampf- und Erkennungs-
szene erstreckt sich aber weiter als auf die zwei zuletzt
hervorgehobenen Momente, daß nämlich in beiden Fällen der
Jüngling dem Vater seine Herkunft enthüllt und ihn mit der
aus der Gefangenschaft befreiten Mutter versöhnt. Es zeigt
sich, daß auch die anderen wesentlichen Züge des Zweikampfes
zwischen Vater und Sohn in der Schwanrittersage nach-
klingen, und zwar unter Umständen, die erkennen lassen,
daß diese Sagenzüge sich nicht bloß zufällig auch hier finden,
sondern nachdrücklich hervorgehoben, ja um jeden Preis
hineingebracht scheinen, da sie nicht immer mit den an sie
geknüpften Motiven der Sage zusammenstimmen. So findet sich
beispielsweise das wesentlichste Motiv dieses Kampfes, nämlich
die Unkenntlichkeit des Sohnes, beim Schwanritter wieder,
der ja auch unerkannt den Zweikampf wagt. Und wie im
Lais von Milun der besiegte Vater den Sohn nach seinen
Eltern fragt, so fragt auch im niederländischen Volksbuch
der besiegte Ritter Markus, dem Helias nach hartem Kampfe
den rechten Arm abgehauen hat, wer er sei und erhält die
Antwort : »Ich bin König Oriants und der getreuen Königin
Beatrix Sohn und muß Euch tot sehen, ehe ich die Schranken
IN IHRER FEINDSELIGEN BEDEUTUNG.
103
verlassen Doch sagt das Helias, nachdem er bereits vor
dem Zweikampf in Gegenwart des falschen Ritters Markus
sich seinen Eltern zu erkennen gegeben und dem Ritter
direkt gesagt hatte : »O, du falscher Verräter, ich bin froh,
daß ich gegen dich streiten kann, um meine Mutter zu
rächen und deren Ehre zu schirmen!« Wenn er sich dann
nach dem Zweikampf dem Ritter nochmals zu erkennen gibt,
so zeigt das deutlich, daß er ihn mit dem Vater identifiziert,
dem er vorher dasselbe sagte, verrät uns aber anderseits,
wie hier aus den Zweikampfsagen zwischen Vater und Sohn
ein unverstandenes Motiv völlig isoliert und unstimmig in
die rationalisierte Sage hineinragt. Aber noch in anderer
Hinsicht ist der Lais von »Milun« für das Verständnis des
Lohengrin-Zweikampfes wertvoll. Er zeigt uns nämlich das
Motiv für die Verschonung des besiegten Gegners, die nach
den Worten des Schwanritters (»ich muß Euch tot sehen,
ehe ich die Schranken verlasse«) ziemlich unmotiviert erfolgt,
in ihrer ursprünglichen, dem Vater geltenden Bedeutung;
denn der siegreiche Jüngling verschont den alten Milun, weil
er Nachsicht und Mitleid mit dessen Alter empfindet, das ihn
an seinen eigenen Vater, den er ja sucht, gemahnt. Ander-
seits ist aber der Lais naiv genug uns zu verraten, daß diese
dankschuldige Schonung nur dem alten, ehrwürdigen Erzeuger
gilt, nicht aber dem bösen, grausamen, hassenswerten (zweiten)
Gatten seiner Mutter, den der Sohn schonungslos zu töten
beabsichtigt. Aber auch diese Tat wird noch als zu an-
stößig, im Sinne eines Vatermordes, betrachtet und die Sage
deutet durch den natürlichen Tod des Mannes an, daß der
Sohn mit dieser gegensätzlichen Einstellung zum Vater ver-
söhnt ihm die Mutter zuführt, die er durch seinen Sieg und
ihre Befreiung eigentlich für sich errungen hatte. Wir sehen
also hier, daß der unerkannte Zweikampf zwischen Vater und
Sohn das feindliche Gegenstück bietet zur unerkannten Heirat
des Sohnes mit der Mutter (Frageverbot), wie ja auch die
Ödipussage psychologisch folgerichtig beide Motive neben-
einanderstellt und sie in den innigsten Zusammenhang bringt :
der Sohn muß den Vater töten, um von der Mutter Besitz er-
104 DIE RETTUNGSPHANTASIE
greifen zu können und der Umstand, daß beide Taten in Un-
kenntnis geschehen, spiegelt nur die psychologische Tatsache
der Verdrängung dieser verbotenen Kinderwünsche wieder.
In der Schwanrittersage wird zwar der Zweikampf nicht
gegen den Vater direkt geführt, sondern gegen eine stell-
vertretende Figur, die ja auch bald die Mutter für sich be-
gehrt, bald sie bloß der Untreue verdächtigt. Dieser Ersatz-
charakter gestattet es jedoch, deutlich zu machen, daß die
Schonung des besiegten Gegners, wie wir schon bei Milun
andeuten konnten, keine aufrichtige ist, da ja der verschonte
Ritter bald darauf der verdienten Strafe überantwortet wird.
Es stirbt also auch hier, ähnlich wie im Milun, der gehaßte
Mann, jedoch ohne von der Hand des jungen Ritters zu
fallen. Daraus ergibt sich, daß hier wie dort ein psycho-
logisches Bedürfnis besteht, dem besiegten Gegner das Leben
zu schenken und wir erkennen darin mit Leichtigkeit das
Motiv der Vaterrettung, wenn es auch insoweit feindselig be-
tont ist, als der Sohn selbst es ist, der den Vater in diese
Lebensgefahr bringt, aus der er ihn sogleich wieder errettet. Bei
einer solchen Auffassung wird auch das geringe Alter des
Siegers schon weniger anstößig, ja wir merken plötzlich,
daß sein Alter von 15 bis 16 Jahren weder zum Zweikampf,
noch zur Heirat, noch zur Kinderzeugung paßt, dagegen
vollkommen der Lebenszeit entspricht, in der diese Pubertäts-
phantasien gebildet werden. Von diesem Standpunkte aus
werden wir an der Zukunftsphantasie von Vatermord, Inzest
und Kinderzeugung des unreifen Jünglings ebensowenig An-
stoß nehmen wie an jener anderen in seine früheste Ver-
gangenheit verlegten Phantasie, daß er eigentlich auf die Welt
(aus dem Wasser ans Land) gekommen sei, um seine Mutter
aus der Gewalt des Vaters zu erretten und sie zu heiraten,
was er unmittelbar nach seiner Geburt (Ankunft) auch voll-
führt habe. Diese überkühne Phantasie, welche auf die
richtige Empfindung zurückgeht, daß der neugeborene Sohn
tatsächlich das Eheleben der Eltern in ähnlicher, wenn auch
kaum bewußt faßbarer Weise stört und beeinflußt, macht es
auch für den Skeafmythus überflüssig, mit Simrock auf
UND DER VORWURF DER UNTREUE. 106
die Göttersage zu rekurrieren, die ja auch nichts anderes
als ein Phantasieprodukt ist. Diese Phantasie von der An-
kunft des Kindes, das die Ehe der Eltern stört, kommt in
der Kampfepisode mit dem Ankläger zum vollen Durchbruch,
während sie im Verhältnis zum Vater in ihr Gegenteil ver-
kehrt ist: denn da erscheint ja der Sohn, um die Ehe der
Eltern aufs neue zu schließen. Gehen wir aber auf den
Kern dieser ins Edle gewendeten Phantasie zurück, so besagt
sie nichts anderes, als daß der Held unmittelbar vor der
(zweiten) Ehe der bedrängten Frau auftritt und diese ver-
hindert, indem er den Freier wegschafft und die Frau selbst
heiratet — ganz wie Odysseus, der seltsamerweise auch allein
in seinem Schiffe schlafend zur Heimat getrieben kommt
und dort unerkannt als Gatte auftritt (22).
Der überwundene und beseitigte Freier zeigt jedoch
nicht bloß die Züge des Vaters und wird als solcher ver-
schont, sondern er tritt ja in manchen Versionen ohne An-
spruch auf die Frau, lediglich als der von der bösen
Schwiegermutter bestochene Ankläger auf, der die Frau der
Untreue beschuldigt. Als solcher ist er aber keine willkür-
liche Variante der Sagenbildung, sondern spielt nur die Rolle,
die in der zu Grunde liegenden Phantasie dem Sohne zufällt,
der ja gegen die Mutter den Vorwurf der Untreue (mit dem
Vater) erheben muß. Hier erhält aber der rein boshafte Zug
der Sage, wonach die Mutter »fälschlich« beschuldigt wird,
eine tiefere Begründung aus dem Phantasieleben des Knaben,
für den eben schon der bloße Verkehr seiner Mutter mit dem
Vater diese zu einer Verworfenen und Verachteten macht. Ja,
wir erkennen, daß überhaupt das ganze außerordentlich be-
liebte und verbreitete Motiv der ungerechtfertigten Ver-
dächtigung einer Schwangeren (Genovefatypus), das in
anderen Sagen mehr oder minder selbständig und mit ver-
schiedenen Modifikationen auftritt (23), sein Vorbild in den
Pubertätsphantasien des Knaben findet, der die Mutter selbst
begehrt und der sie nun, teils aus Rache wegen der Uner-
füllbarkeit seines Wunsches, teils wieder um die Unrealisier-
barkeit seiner Phantasie doch zu verringern, in die Situation
■ '
106 DIE RETTUNGSPHANTASIE
bringen !
von allerlei geheimen Liebesverhältnissen und verwerflichen
Buhlschaften bringt.
Will man aber diese nunmehr auf die Jünglings-
phantasien zurückgeführten Verdächtigungen der mütterlichen
Treue ihrem vollen Sinn und Inhalt nach verstehen, so muß
man im Phantasieleben des Individuums noch weiter zurück-
greifen und sich an das Kind wenden. Ehe der Jüngling
zu der vorhin erwähnten Kenntnis der wirklichen Sexual-
vorgänge kommt, die sein Phantasieleben in so rege Tätigkeit
versetzen, hat er sich —meist schon in den ersten Kinderjahren,
sobald ihn die Ankunft eines neuen Geschwisterchens über-
rascht — intensiv mit der Frage beschäftigt, woher die
Kinder kommen und diese erste bedeutungsvolle Rätselfrage
des Lebens mit mehr oder minder großer Annäherung an
die dunkel geahnten Zusammenhänge zu lösen versucht. Wir
haben schon erwähnt, wie das Kind die in gewissem Sinne
richtige, nur unverstandene und darum meist überlegen ab-
gelehnte Storchfabel auf seine etwaige neugierige Frage zu
hören bekommt und wie diese symbolische Einkleidung des
Geburtsvorganges im Aussetzungsmythus wiederkehrt. Wir
möchten aber nicht versäumen, hier hervorzuheben, daß nicht
nur das Wasser, sondern auch der Storch, der das Kind
herauszieht, es gewissermaßen rettet, auf die wirklichen Vor-
gänge hindeutet. Insbesondere ist dies in jenen Sagen — zu
denen auch der Chevalier au cygne gehört — der Fall, wo
die Aussetzung im Kästchen und Wasser sei es gänzlich fehlt,
sei es bloß in einem Detail angedeutet ist oder an späterer
Stelle wiederkehrt (wie in unserer Sage) und durch die Aus-
setzung im Walde, der die wundersame Tiersäugung folgt,
ersetzt ist. Ist es doch gerade die Beobachtung der Tiere,
die ihr Sexualleben so wenig verhüllen und denen sich das
Kind so verwandt fühlt, die das Kind in seinem Unglauben an
der Auskunft der Eltern bestärken.*) Wie also die Aus-
setzung im Kästchen und Wasser den Geburts Vorgang gleichsam
*) So sagte ein 4 1 /ajäbriger, in der Stadt aufgewachsener Knabe nach
Kenntnisnahme der Storchfabel: »Aber eine Kuh kann er doch nicht
«.
UND DIE KINDLICHEN SEXUALSPEKULATIONEN. 107
asexualisiert, so berichtigt die Tierfabel diese Vorstellung
durch den Hinweis auf die Ähnlichkeit der menschlichen mit
der tierischen Geburt. Man wäre versucht zu sagen, die
Tierfabel bemühe sich mit dem Hinweis, der Mensch ist ein
Säugetier, die aufgeworfenen Probleme zu lösen. Dieses
Stück richtiger Erkenntnis verdankt das Kind außer der Tier-
beobachtung, seiner intensiven Aufmerksamkeit, die es seit
jenem ersten Mißtrauen den Eltern schenkt und die es bald
erkennen lassen, daß das Erscheinen des Kindes mit der auf-
fälligen Leibeszunahme der Mutter im Zusammenhang stehe
(vgl. Freud: Jb., I, S. 52, u. Jung, S. 48). Allerdings fehlt
ihm damit noch die Kenntnis, wie das Kind in den Leib der
Mutter hineingekommen ist, also der Beteiligung des Vaters,
und wo es diesen verläßt, ein Problem, welches das Kind nun
aufs intensivste beschäftigt und zu einer Reihe, wenn auch
falscher, so doch außerordentlich interessanter »infantiler
Sexualtheorien« führt (vgl. Freud, I.e.). Indem wir
diese typischen, primären Sexualtheorien der Kinder hier
übergehen, wenden wir uns den späteren, ebenso unrichtigen
und weniger konstanten Vorstellungen zu, die das in einzelnen
Punkten bereits wissend gewordene Kind (etwa um das 10.
oder 11. Lebensjahr) sich über die Entstehung und Herkunft
der Kinder macht. Freud ist diesen überaus mannigfaltigen
sekundären Sexualspekulationen nicht weiter nachgegangen
und führt nur einzelne solcher Irrtümer an. »So können
Mädchen zur Erwartung kommen, der Geschlechtsverkehr
finde nur ein einziges Mal statt, dauere aber da sehr lange,
24 Stunden, und von diesem einen Male kämen der Reihe
nach alle Kinder.« — »Andere Mädchen übersehen die Trag-
zeit, das Leben im Mutterleibe, und nehmen an, daß das
Kind unmittelbar nach der Nacht des ersten Verkehres zum
Vorschein komme. Marcell Prevost hat diesen Jung-
mädchen-Irrtum in einer der »Lettres de femmes« zu einer
lustigen Geschichte verarbeitet« (Freud: Kl. Sehr., II, S. 173).
Ich selbst habe durch Umfrage in meinem Bekanntenkreise
eine Reihe derartiger Irrtümer, über die man gern mit dem Ge-
fühl der jetzigen Überlegenheit spricht, gesammelt und will aus
108 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
diesem Material, das jeder an seiner eigenen Umgebung leicht
kontrollieren und beliebig vermehren kann, einige für unsere
Untersuchung interessante Vorstellungen mitteilen. Ein
Mädchen, das bis zum 15. Lebensjahr der Meinung war, man
bekomme ein Kind durch Küssen, glaubte, als sie von der
Tatsache des Geschlechtsverkehrs Kenntnis erhielt, dann durch
mehrere Jahre, daß durch jeden ehelichen Umgang ein Kind
erzeugt werde. Da ihr aber die Zahl der Kinder dazu doch
etwas zu gering vorkam, bequemte sie sich zu der Modifikation,
daß bei jedem Koitus ein Stück des Kindes gemacht werde,
eine Theorie, die ihr Gegenstück nicht nur in Balzac's
»drolliger Erzählung« findet, wo der neugierige Knabe vom
Vater die Aufklärung erhält, daß die Menschen aus einzelnen
Stücken zusammengeschmiedet werden, sondern auch in un-
zähligen mehr oder minder obszönen Witzen und in der
altertümlichen Redensart, die von einer Schwangeren sagt :
»Sie hat den Bauch voll Knochen« (Mannhardt: D. M., S. 305),
was doch wohl deren spätere Zusammenfügung voraussetzt.
Es wäre nicht unmöglich, daß eine ähnliche Idee den in
Mythus und Märchen zahlreichen Zerstückelungen und darauf
folgenden Wiederbelebungen zu Grunde läge. Ein Knabe
wiederum ließ nicht aus jedem Geschlechtsverkehr ein Kind
hervorgehen, sondern hatte die entgegengesetzte Vorstellung,
daß nämlich die Eltern nur ein einziges Mal verkehren und
daß die Frau dann fortwährend Kinder zur Welt bringe,
deren Zahl sie beliebig regulieren könne. Beide Irrtümer
scheinen in der Vorstellung einer anderen Frau vereinigt, die
fest überzeugt war, daß jede Ehefrau unbedingt in der Hochzeits-
nacht ein Kind empfange, wie es tatsächlich in allen Fassungen
des Chevalier au cygne geschieht. Ein anderes Mädchen hatte
in der Kindheit geglaubt, die Eltern bekämen schon durch das
bloße Beisammenschlafen ein Kind, eine Idee, die im Hinblick
auf die sprachliche Bezeichnung des Geschlechtsverkehres als
»Beischlaf« gar nicht so ungereimt erscheint, wenn sie auch
bloß eine der Bedingungen für die Sache selbst nimmt.
Wie nun diese Sexualspekulationen der Vorpubertätszeit
in den späteren Pubertätsphantasien des Jünglings noch ver-
'
DIE HUNDEGEBURT. 109
einzelt nachklingen, so zeigt auch unsere Sage eine ähnliche
Anlehnung und Verwertung dieser Irrtümer bei der Ver-
dächtigung der mütterlichen Treue. Haben wir schon hervor-
gehoben, daß die Schuld der Mutter, wenn auch objektiv
nicht gegeben, doch für die Empfindung des Sohnes in ihrem
Verkehr mit dem Vater besteht, so wird uns nun der Inhalt
der Verdächtigung auf Grund der infantilen Sexualtheorien
verständlich. Abgesehen davon, daß er sie in einzelnen
Fassungen mit einem Liebhaber, welcher zum Teil die eigenen
Züge, zum Teil die des Vaters trägt (der Ankläger), in un-
erlaubte Beziehungen bringt, wird sie in der Sage verdächtigt,
mit einem Hunde Umgang gehabt und demzufolge junge
Welpen zur Welt gebracht zu haben. Dieses Motiv, welches
seine Ergänzung in der Tiersäugung findet, scheint nur der
entwürdigenden Auffassung des Geschlechtsverkehres, wie
sie der Jüngling zur Zeit der ersten Aufklärung hegt, zu
entsprechen. Anderseits steckt auch hier wieder ein Körnchen
Wahrheit insofern, als neugeborene Kinder wirklich über-
raschend häßlich und mit ihrer Behaarung jungen unbeholfenen
Tieren nicht unähnlich sind, was wir auch in den Geburts-
träumen reichlich verwertet fanden. In diesem Sinne werden
in einer nordwestamerikanischen Sage (Frobenius, 349 fg.)
die Hunde, welche ein Mädchen von einem tagsüber in einen
Hund verwandelten Mann empfängt und zur Welt bringt
durch Abstreifung und Verbrennung der Hundefelle in
Menschen verwandelt. Aber auch hier wieder bietet sich das
Gegenstück darin, daß die Seelen Verstorbener häufig in Hunde-
gestalt gedacht werden (Mannhardt, S. 370, 301 ff.), was viel-
leicht noch in unserem Schimpfwort »Hundeseele«: nachklingt
und in zahlreichen Sagen Ausdruck gefunden hat. Nach der
bekanntesten (vgl. Mannhardt, S. 300) zieht Hackelberg-
Wotan unsichtbar durch die Luft und die ihn begleitenden
sieben kleinen Hunde sind seine sieben Söhne, die er als
Mensch grausam getötet hatte. Daß auch die Mutter in
unserer Sage die etwas ungewöhnliche Anzahl von sieben
Jungen zugleich zur Welt bringt, scheint zunächst aus der
Analogisierung mit der Hundegeburt zu stammen, wenn es
HO DIE RETTUNGSPHANTASIE.
anderseits auch auffällig an die Theorie gemahnt, daß die
Frau nach jedem Verkehr eine größere Anzahl von Kindern
zur Welt bringt. Daß aber tatsächlich die infantile Un-
kenntnis der Zeugungs- und Geburtsvorgänge an der Ge-
staltung der Sage ihren Anteil hat, verrät uns die Vorge-
schichte der Geburt in unserer Sage, wo die unerfahrene
aber bereits schwangere Frau bezweifelt, daß ein Weib zwei
Kinder zugleich von einem einzigenManne empfangen könne (vgl.
Reiffenberg, v. 208 ff.) und der Gatte sie damit tröstet, daß
sie durch Gottes Hilfe sogar sieben Kindern zugleich das
Leben schenken könnte. Dieses Motiv, das der infantilen Un-
kenntnis seine Entstehung verdankt, findet sich auch in
anderen Sagen wieder. So in der Erzählung vom »Ursprung
der Weifen« (Grimm: D. S., 233), wo Irmentrut, die Ge-
mahlin des Grafen Isenbart zu Altdorf, die es für unmöglich
hält, daß eine Frau ohne Ehebruch zu begehen, drei Kinder
von einem Mann zur Welt bringen könne, als sie selbst zwölf
Knaben gebiert, elf davon zu ersäufen befiehlt, um nicht als
Hure verdächtigt zu werden. Ihr Gemahl aber »rettet« die
Kinder, obwohl ihm die Dienerin sagt, es seien nur Weife
oder junge Hunde und läßt sie bei einem Müller aufziehen.
Nach sechs Jahren holt er sie und verzeiht der Frau »ihre
Einfalt und kindliche Unschuld«, aus der sie das Verbrechen
begangen hatten. Zum Gedächtnis daran hießen seine Nach-
kommen »Weifen«. Eine andere Sage (Grimm I.e., S. 366):
Die acht Brunos, schreibt die Zweifel an der Mög-
lichkeit einer mehrfachen Geburt dem Manne zu und verläuft
im übrigen ähnlich wie die Weifensage. In einer weiteren
Erzählung endlich, die den Titel führt: So viel Kinder
alsTag imJahr (Grimm, S. 375) wird diese Vorstellung ins
Unsinnige übertrieben, gewährt uns aber gerade dadurch einen
Einblick in das Motiv dieser und ähnlicher Sagengestaltungen.
Die Erzählung berichtet als wahre Begebenheit aus dem
Jahre 1270, daß einst eine Gräfin ein armes Bettelweib als
Ehebrecherin beschimpft habe, weil sie Zwillinge auf dem
Arme getragen habe. Die arme Frau verhängte nun über sie
den furchtbaren Fluch, so viele Kinder zu gebären, als das
VORSTELLUNGEN ÜBER MEHRFACHE KINDERGEBURTEN. 111
Jahr Tage habe ; die Gräfin soll auch wirklich in ihrem 42. Jahre
365 Kinder zur Welt gebracht haben, die jedoch alle samt der
Mutter am selben Tage starben. Aus dieser Reihe von Verwer-
tungen des Motivs seheinen sich zwanglos zwei Gesichtspunkte
zur Erklärung seiner Gestaltung zu ergeben. Vom Standpunkte
der Frau aus scheint es eine Rechtfertigung gegen die offenbar
primären Zweifel des eifersüchtigen Mannes, den die Frau aus
ihrer Erfahrung belehrt, daß dies sehr wohl möglich sei, ja die für
alle Fälle vorbaut und auch die Möglichkeit für drei, sieben, ja
365 Kinder offen läßt. Vom Standpunkte des Mannes jedoch klingt
die Annahme dieser Aufklärung wie Ironie auf den unleug-
baren Nachweis, daß zwei oder drei Kinder von einem Manne
empfangen werden können. Der Mann sträubt sich innerlich
doch gegen die Annahme, indem er in ironisierender Über-
treibung höhnt: Vielleicht wollt ihr Weiber gar behaupten,
daß man auch sieben oder 365 Kinder auf einmal zur Welt
bringen könne? — Nebenbei sei auch hier wieder hervor-
gehoben, wie sich diese scheinbar unsinnige Zahl im Hinblick
auf die infantile Vorstellung, daß jeder Geschlechtsverkehr
ein Kind mit sich bringe, aus der ebenfalls kindlichen Auf-
fassung erklärt, daß die Eltern jede Nacht geschlechtlichen
Umgang pflegen, woraus dann folgerichtig 365 Kinder im
Jahre resultieren müssen. — Mit diesem Motiv der mehrfachen
Geburt steht in unserer Sage ein anderes Motiv in innigem
Zusammenhang, von dem wir bereits wissen, daß es in der
Sexualforschung des Kindes eine bedeutsame Rolle spielt. Es
ist dies die Tatsache, daß der Leib der Mutter im Verlaufe
der Schwangerschaft an Umfang zunimmt, der sich offenbar
mit der Anzahl der Kinder vergrößern muß. In diesem Sinne
kann die Matabruna unserer Sage ankündigen, die Königin
werde vermutlich zwei bis drei Kinder zur Welt bringen, da
sie so überaus starken Leibes sei (Simrock: Volksb., Bd. 6,
S. 215). Noch deutlicher kommt dies im Niederländischen
Volksbuch (Wolf: N. S., S. 173— 194) zum Ausdruck, wo der
auffällige Leibesumfang der schwangeren Königin besonders
betont wird, wo aber die naive Frage der Königin nach der
Möglichkeit einer mehrfachen Geburt fehlt (24).
112 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Bei dieser Deutung unserer Sage wird sich wohl niemand
daran stoßen, daß die Verdächtigung der Untreue, die ja der
kindlichen Phantasie entspringt, bei der logischen Über-
arbeitung des egozentrischen Phantasiematerials zur sozial
ansprechenden Sage, nicht mehr dem Sohne selbst, sondern
seiner bösen Großmutter und in zweiter Linie dem von ihr
gedungenen Ankläger zugeschrieben wird. Liegt es doch in
der Tendenz der Sagenbildung die zugleich den ehrgeizigen
Bestrebungen dienende Rettungsphantasie durchzusetzen, in
der ja der Sohn als Gegner der böswilligen Ankläger er-
scheint. Und doch kann auch diese Verschiebung auf die
Mutter des Gatten als keine zufällige angesehen werden,
wie ja das Motiv des Zweifels an der mehrfachen Geburt
zeigt, das nicht in allen Versionen der Sage der Schwangeren
selbst zugeschrieben wird. In der von Gaston Paris (p. 321)
mitgeteilten Fassung, die nach der unschuldig angeklagten
Frau Isomberte genannt wird, rechtfertigt die Mutter des
Königs, Ginesa, ihr Vorgehen damit, daß sie nur bestrebt
gewesen sei, die Ehre ihres Sohnes zu schützen, »car une
femme qui a plus d'un enfant ä la fois est sürement adultere«.
Hier scheint das Motiv dem logischen Zusammenhange besser zu
entsprechen, da es ja zur Rechtfertigung der Anklage dienen
soll, während in unserer Beatrixfassung die Schwangere
durch ihre eigenen Zweifel den ersten Grund zur Ver-
dächtigung selbst gibt, was wieder den anderen Sagen dieser
Gruppe näher steht. Nun gibt es aber eine durch den
falschen Verdacht der Untreue mit unserem Thema verwandte
Sage, welche den Kreis der von diesem Zweifel befallenen
Personen schließt und uns damit ein tieferes Verständnis des
Motivs in unserem Sagenzusammenhang bietet. In der Sage
vom Kaiser Octavianus bekommt nach langer unfrucht-
barer Ehe die Kaiserin endlich Zwillinge. Aber die Mutter
des Kaisers sagt ihrem Sohne, seine Frau müßte mit zwei
Männern Umgang gehabt haben, was er sich nur auf ein —
natürlich fälschliches — Zeugnis zu glauben entschließen
kann. Hier sehen wir aber die irreführende Angabe in vollem
Einklang mit der kindlichen Auffassung direkt der Mutter
ZUR PSYCHOLOGIE DER BÖSEN SCHWIEGERMUTTER. 113
zugeschrieben, die den bereits erwachsenen und verheirate-
ten Sohn derart in seiner sexuellen Unwissenheit zu erhalten
und zu bestärken sucht. Wir verstehen nun auch ein wenig
besser die Rolle der bösen Matabruna in unserer Sage und
werden uns auf Grund einer weiteren Überlegung auch über
die Motive ihres Handelns klar zu werden suchen. In der
Sage handelt sie aus purer Bosheit, eine Begründung, die
wir auf dem Theater oder etwa noch im praktischen Leben
gelten lassen können, die wir aber psychologisch auf irgend
ein Motiv zurückführen müssen, wenn wir nicht in die Theorie
vom »geborenen Verbrecher« verfallen wollen. Nun spricht
aber schon die besondere Betonung und intensive Hervor-
kehrung dieser Böswilligkeit, die eigentlich das Agens der
ganzen Handlung ist, sehr dafür, daß dieser Charakter —
sei er nun angeboren oder erworben — von Affekten geheizt
wird, deren Quelle uns nicht unbekannt ist. Matabruna, die
Mutter des jungen Königs, haßt vom ersten Augenblicke an
die Verlobte ihres Sohnes und sucht die Ehe erst zu hinter-
treiben, dann zu stören. Das Motiv für dieses Verhalten, in
dem sie sich nur durch den Grad und die Ungebundenheit
ihrer Leidenschaft von den meisten Schwiegermüttern unter-
scheidet, lehrt uns der allgemein menschliche Zug verstehen,
daß die Mutter nicht gern den Sohn, der ihr bis dahin aus-
schließlich angehörte, mit einer anderen Frau teilen oder ihn
gar an diese ganz verlieren will. Dasselbe gilt, wie ich be-
reits an anderer Stelle (Mythus, S. 77) angedeutet habe, von
dem Vater, dem kein Freier seiner Tochter recht ist und der
im Mythus eine Reihe unerfüllbarer Bedingungen an die Er-
werbung der Tochter knüpft, weil er ihre zärtliche Neigung
nicht an ihren künftigen Mann verlieren will. Wie in dem
berühmten Märchen der Turandot oder in der Erzählung
von König Apollonius von Tyrus (die auch in dem
Shakespeare zugeschriebenen »Perikles« behandelt ist) be-
steht die dem Freier gestellte Aufgabe in der Lösung eines
schwierigen Rätsels — im Apollonius ist es das Rätsel dieser
Bedingung selbst — , das uns also auch hier in gewandelter
Bedeutung wieder entgegentritt. Liegt uns das Verständnis
Rank, Die Lohengrinsage. 8
114 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
für eine solche Empfindung bei der Mutter und dem ihr ja auch
körperlich enger zugehörigen Kinde näher, so verraten uns
anderseits die weniger anstößigen Sagen und Mythen, wo es
sich um das Verhältnis von Vater und Tochter handelt,
in unzweideutiger Weise den tiefsten Grund dieses Verhaltens,
und wir müssen darum unsere Aufmerksamkeit für eine Weile
dem Analogietypus des bösen Schwiegervaters schenken, der
uns die Handlungsweise der bösen Schwiegermutter in der
Schwanrittersage verstehen lehren soll.
Im » A p o 1 1 o n i u s« ist der Grund ganz deutlieh ausgesprochen
und wir erfahren damit auch ein ausreichendes Motiv für das
Verhalten des Vaters, das der Bosheit der Mutter in unserer Sage
voll entspricht. König Antiochus hat nach dem Tode seiner
Gemahlin seine eigene Tochter vergewaltigt. »Während er ihr aber
auf diese Weise zwischen seinen vier Pfählen heimlich einen Ge-
mahl verschafft hatte, sann er auf eine neue Bosheit, womit er die
Freier seiner Tochter vertreiben möchte, um selbst ihres unge-
störten Besitzes genießen zu können« (Simrock: Volksb., Bd. 3,
S. 212 f.). In andern Märchen, wie z. B. in »Allerleirauh«
(K. H. M., Nr. 65), kommt der Inzest nicht zu stände, weil sich die
Tochter weigert und nun dem Vater selbst schwer zu erfüllende
Aufgaben stellt, endlich aber doch vor dessen Gier flieht oder von
dem über ihre Weigerung erzürnten Vater ins Wasser ausgesetzt
wird (wie des Reußenkönigs Tochter). Geschieht das bereits in
ihrer Kindheit, wie im zweiten Teil des »Apollonius« oder in
Shakespeares: Wintermärchen, so haben wir das volle
weibliche Gegenstück des Lohengrin-Schemas vor uns, wie es uns
bereits in der Märchengruppe von den sechs Schwänen entgegen-
getreten ist. Es wird dann auch hier ein entsprechend langer
Zeitintervall (von 15 bis 16 Jahren) zur Heranreifung der Tochter
eingeschoben, nach dessen Ablauf der Vater sie endlieh wiederfindet
und erkennt, wodurch der Inzest, ganz wie in der Schwanritter-
sage verhindert wird. Wir verstehen nun auch das Schwanen-
märchen völlig und finden hier das Motiv für die Einführung
der Tochter an Stelle des Sohnes in die Heldenrolle. Wie es sich
im Schwanritter um die Ehe des Sohnes mit der Mutter handelt,
so läßt die genannte Märchengruppe als treibendes Motiv und
Tendenz die Ehe des Vaters mit der Tochter erkennen, die jedoch
in den Märchen so entstellt und verdunkelt zum Ausdruck kommt,
daß wir erst auf Grund anderer offenkundiger Parallelen zur An-
erkennung dieser Tatsache gebracht werden. Hätten wir die bei
den Märchen bereits angedeutete Reduktion der vervielfältigten
Personen und Motive konsequent weitergeführt, so wären wir auch
INZESTUÖSE WURZEL DES SCHWANENMÄRCHENS.
115
ohne Zuhilfenahme der durchsichtigen Parallelen zu dem deichen
Ergebnis gelangt. Wir hätten dann ohne weiteres erkannt, daß die
Teilung des Märchens in die Heirat des Königs und die Aus
setzung (Verwandlung) der Kinder im ersten Teile, sowie in die Heirat
des ausgesetzten Mädchens durch einen ebenfalls unbenannten
Konig im zweiten Teile nichts anderes bezweckt, als ähnlich wie in
der Schwanrittersage die Heirat der geretteten Mutter (Herzogin)
so hier die Heirat des Vaters mit der ausgesetzten Tochter zu er-
möglichen, ohne doch bewußterweise Anstoß zu erregen. Es wurde
schon darauf hingewiesen, daß sowohl der erste König das
Madchen, welches ihm die Schwankinder gebiert, wie auch der
andere König jenes ausgesetzte Mädchen auf der Jagd finden
wodurch ihre Identität bereits angedeutet ist. Aber die Märchen-
phantasie ist naiv genug, sich zur Vertuschung dieser durchsichtigen
Identität welche ja die bewußte Märehentendenz stört, keine be-
sondere Muhe zu geben Die zwei Teile, in welche charakteristischer
Weise a le Märchen dieser Gruppe zerfallen, werden gar nicht
als selbständige Partien behandelt und zu irgend einem Abschluß
gebracht, sondern sie werden im Sinne unserer Auffassung wie
ein Ganzes behandelt, als wäre der zweite Teil, obwohl er
scheinbar neue Personen einführt, doch eine direkte Fortsetzung
des ersten. Zur Verdeutlichung dieser Tatsache, die jedem
beim Lesen des Märchens ohne weiteres auffallen muß, sei
nochmals eine schematische Darstellung des Märchens von den
sechs Schwänen (Nr. 49) hier eingeschaltet, welches diese Be-
ziehungen besonders deutlich zeigt. Ein König verirrt sich auf
der Jagd und muß als Lohn für die Wegweisung die Tochter
einer alten Hexe heiraten, welche ihn empfängt, als ob sie ihn als
ihren Gemahl langst erwartet hätte, und die er nicht ohne heim-
hches Grausen ansehen konnte. Die Frau verwandelt dann die
Sr ZJl S r ° m f • ^2 r 1 MÜ . derun & nicht ^re eigenen, sondern die
der ersten Frau) in Schwäne; nur die Tochter wird verschont.
Dei Vater wm sie zu sich nehmen, sie flieht aber, angeblich vor dem
Haß der Stiefmutter, wie wir aber aus den Parallelen erschließen,
vor der geschlechtlichen Gier des Vaters, der sie jedoch nicht ent-
gehen kann. Hier scldießt der erste Teil ab. — Im zweiten Teile
erlost sie, in einem hohlen Baume sitzend, ohne zu sprechen oder zu
lachen und mit der Anfertigung von Hemden beschäftigt die ver-
wandelten Brüder. So findet sie der König des Landes, dessen Iden-
tität mit dem ersten König weder betont noch bestritten wird, uns
aber mythologisch wie psychologisch selbstverständlich erscheinen
muß und heiratet sie, obwohl sie auf seine Fragen, wer sie
sei und was sie da mache, nicht antwortet. Nun folgt
die Verdächtigung und Anklage durch die böse Mutter des Königs
8*
116 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
welche die Kinder ihrer Schwiegertochter aussetzt (identisch mit
den Kindern des ersten Teiles) und diese selbst, da sie sich nicht ver-
antwortet, zum Tode verurteilen läßt. Im letzten Moment erscheinen
die Schwanenbrüder und führen alles zum guten Ende: »Der
König aber und die Königin mit ihren sechs Brüdern lebten lange
Jahre in Glück und Frieden.« Von dem ersten König, dem Vater
der Schwanenkinder, und seiner Frau, zu denen doch folgerichtig
die erlösten Geschwister zurückkehren sollten, ist gar nicht mehr
die Rede, sondern das Märchen identifiziert am Schlüsse einfach
die beiden Könige und kann dabei so weit mit unseren Ver-
drängungen rechnen, daß uns gar nicht auffällt, wie wir die Inzest-
ehe zwischen Vater und Tochter unbemerkt sanktionieren. In
anderen Märchen, von denen Riklin (S. 79 f.) eine Anzahl mit-
geteilt hat, ist dieses Bestreben des Vaters offen ausgesprochen und
dementsprechend fällt dort auch die ganze komplizierte Verviel-
fältigungsarbeit, welche den Hörer über das Anstößige hinweg-
täuschen soll, fort. Auf Grund dieser Deutung verstehen wir auch
das Motiv der Stummheit der Tochter in völliger Analogie mit dem
Frageverbot der Schwanrittersage als Sicherung gegen die Ent-
hüllung des Inzests. Denn wenn der König unerkannt seine
Tochter heiraten soll, so darf sie ihm auf die Frage, wer sie sei,
nicht Rede stehen, da sonst die Verwandtschaft vor dem Vollzug
des Inzests entdeckt würde. Dem fremden König gegenüber hätte
sie gar keinen Grund ihre Herkunft zu verschweigen, so daß
auch das Motiv der Stummheit unsere Deutung einerseits stützt,
anderseits nur daraus verständlich wird. Endlieh verstehen wir
auch noch die merkwürdige Relation der Personen in den Märchen ;
wir begreifen, daß der Vater, den es nach seiner Tochter gelüstet,
vor ihrer Geburt schon alle Schwierigkeiten, welche dieser Ver-
bindung drohen könnten, beseitigt, indem er die Söhne als Feinde
des Neuankömmlings und als spätere Konkurrenten um ihre Neigung
aus dem Wege räumt (die zwölf Brüder) ; wir verstehen, warum er
sich angesichts der durch seinen Fluch in sieben Raben (Nr. 25) ver-
wandelten Söhne so rasch mit seinem Töchterchen zu trösten ver-
mag ; und merken endlich selbst noch in so unscheinbaren Details,
wie dem, daß der Vater, der zwei Söhne ruhig ertränken läßt, erst im
Moment, als auch der neugeborenen Tochter dasselbe widerfährt (drei
Vügelkens), die Frau strafen läßt, das Walten jener elementaren
Anziehung der Geschlechter, die selbst vor den Schranken der
Verwandtschaft nicht Halt macht und zu deren Durchsetzung diese
kolossale Verdrängung und Entstellung der ursprünglichen Sagen-
motive vorgenommen wird.
Noch deutlicher wird die Parallele des Vater-Tochter-Typus
mit unserer Sage in jenen Varianten, wo der Schwiegervater ganz
DER BÖSE SCHWIEGERVATER. 117
die Rolle unserer bösen Matabruna spielt und seine Tochter bei
ihrem Gemahl verdächtigt oder in dessen Abwesenheit zu ver-
derben sucht. So in einer Reihe von Märchen, die Riklin
(S. 79 fg.) mitgeteilt hat, wo ebenfalls die beiden Könige, derjenige, dei-
che Tochter begehrt und der andere, der sie dann heiratet, zu identi-
fizieren sind. Das Schema dieser Märchen, die im Original nachgelesen
werden mögen, ist folgendes : Ein König will nach dem Tode seiner
Frau nur seine Tochter heiraten, die sich aber seinen Nachstellungen
durch die Flucht zu entziehen weiß. Sie verrichtet dann niedrige
Dienste am Hofe eines Königs, der sie schließlich heiratet. Der
König nimmt nun gegen sein der Frau gegebenes Versprechen
ihren eigenen Vater als Wintergast auf, der ihre Kinder tötet und
den Mann durch List dazu bringt, daß "er seine Frau umbringen
lassen will. Sie wird dann durch Zauber wunderbar gerettet, ebenso
die Kinder, und später mit ihrem Gemahl vereint, während der
sie verfolgende Vater vernichtet wird. Spielt hier der böse Vater,
der seine Tochter keinem Manne gönnt, weil er sie selbst
heiraten möchte, dieselbe Rolle wie in der Schwanrittersage die böse
Mutter, die ihren Sohn keiner anderen Frau gönnt, so kommt dieser
Zug noch deutlicher zum Ausdruck in der anglischen Sage vom
König Offa (Müller, S. 431 ff.), der im Walde die Tochter eines
Königs von York findet, welche ausgesetzt worden war, weil sie
den unnatürlichen Nachstellungen ihres eigenen Vaters Widerstand
leistete. Offa heiratet die Verstoßene und sie gebiert ihm mehrere
Kinder. Einst als er sich auf der Heimkehr aus einem Feldzug
befindet, weiß es der böswillige Vater seiner Frau durch gefälschte
Briefe durchzusetzen, daß sie samt ihren Kindern in eine Wüste
ausgesetzt wird. Müller bemerkt dazu (S. 432): »Statt der
bösen Schwiegermutter, welche die Frau verfolgt, erscheint ihr
eigener Vater als ihr Feind, zugleich aber als ein Freier, dessen
Bewerbungen sie zurückweist, oder als ein Nebenbuhler ihres
Mannes. Als solcher nimmt er aber ganz die Stellung ein, wie in
dem zweiten Teil der Schwanensage der Feind von Lohengrins
Gemahlin.« Eine letzte Gruppe endlich, die den Schwiegervater-
Typus mit dem der Schwiegermutter verbindet, führt uns wieder
zu unserem Schwanritter zurück. Als Paradigma dieser Gruppe
wählen wir die gleichfalls bei Müller (S. 435) angeführte Sage
von Beaflor, die vor den Nachstellungen ihres Vaters in
einem kleinen festverschlossenen Schifflein flieht und an das Land
des Grafen Mai treibt, der sie gegen den Willen seiner
Mutter heiratet. Während seiner Abwesenheit gebiert sie einen
Knaben, aber die böse Schwiegermutter verdächtigt sie durch ge-
fälschte Briefe der Unzucht und gebietet, sie zu töten; sie wird
aber mit ihrem Knaben in demselben Fahrzeug, das sie brachte,
wieder ausgesetzt.
118
DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Glauben wir so an diesem Analogiebeispiel des Schwieger-
vatertypus gezeigt zu haben, daß die Böswilligkeit der
Schwiegermutter letzten Grundes darin motiviert ist, daß
sie in der Schwiegertochter eine Nebenbuhlerin um die Liebe
des Sohnes haßt 1 ), so fügt sich, wie wir meinen, diese Auf-
fassung in überraschender Weise unserer Deutung ein, die
ja in der erotischen Neigung des Sohnes zur Mutter eine
der Grundtriebkräfte dieser Phantasie- und Sagenbildung
aufzeigen konnte. Das Motiv der böswilligen Schwieger-
mutter, das am Anfang der Sage steht, würde damit gleich-
sam andeuten, daß im weiteren Verlaufe der Erzählung diese
Beziehung zwischen Mutter und Sohn eine bedeutungsvolle
Rolle spiele, was wir ja durch Aufklärung der Rettungs-
phantasie tatsächlich erweisen konnten. Die Sage würde
damit ausdrücken, daß dem Sohne, der die zärtliche Zu-
neigung seiner Mutter nicht in den böswilligen Haß der
Schwiegermutter verwandeb^i wolle, gleich der Tochter im
entsprechenden Vatertypus nichts anderes übrig bleibe, als
die Mutter selbst zu heiraten, was in der Schwanensage
unter dem Deckmantel der zweiten Rettung auch geschieht.
Damit identifiziert sich aber der Sohn mit dem Vater, was
die Sage dadurch zum Ausdruck bringt, daß König Oriant
nach dem Siege seines Sohnes diesem die Herrschaft abtritt,
ganz wie Ödipus zugleich mit der Hand der Mutter den
väterlichen Thron gewinnt. Diese Identifizierung von Vater
und Sohn 2 ) mahnt uns, daß wir schon nahe daran waren,
auch die beiden Mütter, die des Vaters und die des Sohnes
miteinander zu identifizieren, als wir uns darüber klar ge-
worden waren, daß es eigentlich die eifersüchtige alte Mutter
J ) Die böse Schwiegermutter benimmt sich ja tatsächlich -wie eine
eifersüchtige Gattin, ein Eindruck, dem auch G. Paris (326 1 ) Worte ver-
leiht : »On peut croit au contraire que, lä comme alleurs, la m(*chante belle-
mfrre de* l'heroine etait originairement la premiere femme du mari.«
2 ) Ähnliches deutet Leo (Vorlesungen I, 67) bei Besprechung der
Nibelungensage dort an, wo er anführt, daß an Stelle Siegmunds später dessen
Sohn Sigfrit zum Drachentöter geworden ist. >Man sieht wie hier die Sage
wuchs, aus ursprünglich einer Person das Leben von zweien, von Vater und
Sohn herauaspann.«
DIE MYTHENBILDENDE PHANTASIETÄTIGKEIT. 119
ist, welche dem Sohne die wichtigen Aufklärungen über das
Sexualleben (die Zwillingsgeburt) so lange vorenthält (Parzival),
weil sie ihn eben für sich behalten will. Gehen wir aber so
weit in der Deutung, dann bedarf es nur eines Schrittes noch,
um zu erkennen, daß die beiden Paare von Mutter und Sohn
tatsächlich in der Phantasie ursprünglich in eines zusammen
fielen und das König Oriant und seine Mutter Matabruna
nichts anderes darstellen, als das Verhältnis des späteren
Königs Helias zu seiner Mutter Beatrix, das damit auch
in die Vergangenheit zurückprojiziert wird, wie es in der
zweiten Rettungsszene in die Zukunft verlegt erscheint ; oder
wie Müller (S. 423) es ausdrückt, daß der Sohn und die
Tochter, welche die Versöhnung der Eltern bewirken, als
Wiedergeburten derselben aufzufassen sind. Damit stehen
wir aber wieder vor dem schwierigen Thema der Verdoppelung
und Auseinanderlegung einzelner Sagenepisoden und Figuren,
dessen Besprechung der Schluß dieses Abschnittes gewidmet sei.
Sind wir bisher zu einem vertiefteren Verständnis der
Mythenbildung gelangt, indem wir auf den Inhalt des indi-
viduellen Phantasielebens zurückgingen, so müssen wir, um
eine letzte Einsicht in das Wesen dieser psychologischen Vor-
gänge zu gewinnen, nunmehr auf die Mechanismen dieser
Phantasiebildung selbst näher eingehen. Wir sind bei unserer
Untersuchung mehrfach in die Lage gekommen, gewisse
äußerlich verschiedene und streng getrennte, ja mitunter
sogar konträre Gestalten und selbst Situationen der Sage in
ihrer Phantasievorstufe zusammenfallen zu lassen. Es er-
wächst uns damit die Verpflichtung, dieses Verfahren, dessen
Wert als heuristisches Prinzip wir hoffen aufgezeigt zu
haben, auch vom psychologischen Standpunkt zu recht-
fertigen und darzutun, inwieweit es in der Sagenbildung selbst
begründet erscheint. Im »Mythus von der Geburt des Helden«
hat sich als allgemeinster Charakter der mythenbildenden
Phantasie die Eigenschaft ergeben, nicht nur innere Vor-
gänge auf dem Wege der Projektion nach außen
zu werfen, sondern dabei auch auseinander zu legen,
was in der Phantasie innig versc hmolzen ist (S. 75).
120 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Besonders deutlich zeigt sich das an den kontrastierenden
Figuren, die wie schon Müller (S. 422 fg.) scharfsichtig er-
kannt hat, in der Regel nur zwei Seiten, verschiedene Ge-
fühlseinstellungen einer und derselben Person darstellen. Er
sagt: »In der mythologischen Denkweise hat jede Person
einen festen und unwandelbaren Charakter ; ändert sich dieser,
so schafft die Phantasie ein zweites, dem ersten gegenüber-
stehendes feindliches Wesen. Man wird diese mythische
Form Dualismus nennen können«. So zutreffend diese Be-
merkung auch ist, so 'trifft sie doch, wie schon der Name
sagt, nur eine spezielle Unterart jener mythologischen
»Spaltung« in mehrere selbständige Wesen, aus der
Hü sing (S. 173) das Recht ableitet, unzählige Gestalten auf
eine zurückzuführen.« — »Dieses Zerlegen mythischer Per-
sonen in ganze Geschlechtsfolgen ist eine so oft vorkommende
Erscheinung, daß dem Kundigen gegenüber darüber kein
Wort zu verlieren ist« (Leo, Vorl. I, 62. Anmkg.). Wenn
wir vom psychologischen Standpunkte den etwas schwer-
fälligen Namen »Auseinanderlegung« vorziehen, so geschieht
es darum mit einem gewissen Rechte, weil er uns mehr
als die bloße Tatsache, weil er uns ein Stück vom see-
lischen Mechanismus mit anzuzeigen vermag. Der »Dua-
lismus« und die Spaltung beziehen sich auf die mytho-
logische Person, die Auseinanderlegung betrifft den psychischen
Vorgang. Der Begriff und der ihn ausdrückende Name
sind mit beziehungsvoller Absicht als Gegensatz zu dem
psychischen Vorgange der »Verdichtung« gewählt, welcher
eine große Gruppe "seelischer Leistungen (vor allem den
Traum) beherrscht und uns auch in der Mythenbildung
entgegentritt. So erwies sich beispielsweise die Figur des
verräterischen Anklägers (Telramund-Gestalt) nicht bloß als
Abspaltung des feindlichen Vaters, sondern zugleich als
Verdichtungsprodukt aus dem die Mutter begehrenden und
ihre Treue verdächtigenden Sohn. Es ist hier nicht der
Ort im einzelnen auseinanderzusetzen, inwieweit diese Ver-
dichtung auf der einen, die Auseinanderlegung auf der anderen
Seite am Zustandekommen des mythischen Phantasieprodukts
■
SPALTUNG UND VERVIELFÄLTIGUNG VON PERSONEN. 121
beteiligt sind — inwieweit sie einander beeinflussen : hemmen,
neutralisieren, fördern, ergänzen und inwieweit ihr Ineinander-
arbeiten auch die dichterische Phantasietätigkeit beherrscht.
Zunächst wollen wir noch beim Begriff der Auseinanderlegung
bleiben und stellen fest, daß er besagen soll, wie Gestalten,
die in der Phantasie in eines verschmolzen waren, im Mythus
in mehrere Figuren auseinandergelegt erscheinen, oder wie
wir mit Beziehung auf den zu Grunde liegenden psychologischen
Vorgang sagen können : daß die im unbewußten Trieb- und
Seelenleben einheitliche Regung im Bewußtsein in zwei oder
mehrere Komponenten gesondert erscheint. Wie wir den
männlichen Ankläger zum Teil auf denVater, zum andern Teil auf
den Sohn reduzieren konnten, so mußten wir auch die weib-
liche Anklägerin — die Schwiegermutter — mit der Ange-
klagten selbst, der Mutter, identifizieren. So paradox das
logisch gefaßt klingen mag, so wenig nehmen wir Anstoß
daran, wenn es uns der Mythus selbst auf dem gefühlsmäßigen
Wege nahebringt. Die unschuldig verdächtigte Mutter soll
ja zur Strafe verbrannt werden, wenn sich kein
Kämpfer für ihr Recht finde. Der rettende Sohn bewahrt
nun zwar die Mutter selbst vor diesem Schicksal, läßt aber
dieselbe Strafe nachher an der Großmutter vollziehen, die er
zum Feuertode verurteilt. Durch solche Stellvertretung
der einen Person für die andere, für die Müller den
Namen: Substitution als einer Unterart des Dualismus
vorgeschlagen hat (S. 436 2 ), drückt der Mythus die ursprüng-
liche, also »phantasierte« Identität der beiden Personen aus,
die hier durch den äußerlichen, von uns bereits in einem
tieferen Sinne gewürdigten Umstand gegeben scheint, daß
jede dieser Personen in der Sage eine »Mutter« repräsentiert.
In diesem Sinne hat auch Müller, allerdings von ganz
andern Voraussetzungen und Erwartungen ausgehend, die
böse Schwiegermutter, der die gute Mutter gegenüber steht,
mythologisch nicht als ein besonderes Wesen, sondern nur
als die »Kehrseite« von dieser aufgefaßt (S. 422). Ein ähn-
liches überaus häufig verwertetes Mittel zur Andeutung der
psychologischen Identität mythisch selbständiger Gestalten
122 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
ist die auch von Hü sing (1. c, S. 130) betonte Gleichheit
oder Ähnlichkeit des Namens (andere Male des Alters, oder
der Gestalt und der Gesichtszüge, einzelner Eigenschaften,
Tätigkeiten oder des Kontrastes all dieser Merkmale), die auch
in unserer Sage hervortritt. Ist die Heirat der jungen Her-
zogin nach der zweiten Rettung nichts als eine ähnliche
Umgehung der Heirat der »Mutter«, wie es schon die Ein-
führung der zweiten Rettung überhaupt war, so zeigt sich
dieser Ersatzcharakter überaus deutlich darin, daß die junge
Herzogin ebenso wie ihre Mutter Clarissa heißt. Es wird
hier aber zugleich eine zweite Tendenz für die Einführung
dieser jungen Clarissa deutlich, welche der ersten Tendenz,
der Vermeidung des Inzest, zu widersprechen scheint, indem
sie gleichsam eine noch raffiniertere Inzestbefriedigung dar-
stellt. Es ist begreiflich, daß der Sohn den Kontrast zwischen
seiner zunehmenden Reifung und Geschlechtstüchtigkeit und
den abnehmenden Reizen und Geschlechtsfähigkeiten der
Mutter peinlich empfindet und diese Disharmonie in der
Phantasie einerseits durch Annäherung seiner Reife an die
des Vaters (Identifizierung), anderseits aber noch lieber durch
Verjüngung der Mutter, durch Festhalten an den Reizen, mit
denen sie seinerzeit dem Kinde geschmückt schien, auszu-
gleichen sucht. In dieser jungen Clarissa, der Tochter der
alten, dürfen wir also eine durch Abspaltung der anmutigen,
begehrenswerten und der Liebe des Sohnes zugänglichen
Seite der Mutter geschaffene selbständige Gestalt sehen.
Müller ist jedoch in dieser Reduktion der Personen in einer
andern Richtung noch weitergegangen, in der wir ihm un-
bedenklich folgen können. Er sagt (S. 243): »Die Mythen
pflegen, und dadurch wird ihre Deutung erschwert, um einen
Gedanken auszudrücken, nicht ein einzelnes Symbol anzu-
wenden; es findet vielmehr eine Häufung derselben statt.
Wie die Mutter, während die Kinder in der Unterwelt leben
[= in Schwäne verwandelt sind], tot [= gefangen] ist und
doch wieder als ihr feindliches Gegenbild, als die böse
Schwiegermutter fortlebt, die natürlich sterben muß, wenn
die Kinder zum Leben zurückkehren, so wird sie zugleich
t
DIE EINSTELLUNG GEGEN DIE MUTTER. 123
als Hirschkuh gedacht, welche die Kinder im Walde
ernährt. In dieser Gestalt wird sie vom Gatten gejagt. Da-
durch erklärt sich der Zug unserer Sage, daß der König seine
Gemahlin zuerst findet, als er eine Hirschkuh verfolgt«, ein
Zug, den manche Sagen und Märchen direkt dahin erklären, diese
Hirschkuh sei die verwandelte Frau selbst gewesen. Wir
können Müller hierin um so mehr beistimmen, als wir auf
Grund der Deutung des Aussetzungsmythus zur Auffassung
kamen, daß in dem die Kinder hilfreich säugenden Tier eine
im Sinne des Sexualwissens herabsetzende Anspielung auf die
Ammentätigkeit der Mutter enthalten sei, welche durch Aus-
einanderlegung ihrer mütterlichen Rolle in die Gebärerin und
die Ernährerin zu stände gekommen ist (Mythus, S. 88 fg.).
Wir finden also die Person der Mutter in unserer Sage sym-
bolisiert, auseinander gelegt, in mehrere Gestalten : 1. in die
Gebärerin, die einen als hilfloses Tier in die Welt gesetzt
hat (Hundegeburt); 2. in die Ernährerin, die einen wie ein
Säugetier ernährt (Tiersäugung) ; 3. als die ehrwürdige Frau, der
man sich für das Geschenk des Lebens dankbar erweisen
muß (Rettung der unschuldigen Beatrix) ; 4. als böse Feindin,
die einem nach dem Leben trachtet (nicht zur Welt kommen
lassen will), einem die sexuelle Aufklärung vorenthält
(Zwillingsgeburt) und einen an der Heirat hindert (als
Schwiegermutter Matabruna) ; 5. als Frau des Vaters, die man
begehrt, der Untreue (mit dem Vater) verdächtigt und an der
man sich dafür rächt (Verbrennung der Matabruna); 6. als
Liebesobjekt, die man heiratet und mit der man Kinder zeugt
(die junge Clarissa).
Eine ähnliche Vervielfältigung läßt die Person des Vaters
erkennen. Nicht nur ist er, wie wir bereits gezeigt haben,
mit dem falschen Ankläger identisch, den der Sohn seiner
Schuld überführt und tötet, sondern er entspricht auch dem
Kaiser der Lohengrinfassung, vor dem sich die zweite Rettungs-
und Zweikampfszene abspielt, wie die erste vor dem Vater.
Die Identität des Kaisers mit dem Vater und dem Ankläger
geht auch aus folgenden Zügen hervor. Im Volksbuch heißt
der Kaiser Otto I. und der Ankläger, der natürlich mit dem
124 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Ankläger bei der ersten Rettung identisch ist, ist der Graf
von Frankenburg. Dieser Graf von Frankenburg wird nun, ohne
daß früher sein Vorname genannt worden wäre, später einfach
Graf Otto genannt, was wir gleichfalls als Namensmarke für
die Identifizierung mit dem Kaiser Otto ansehen dürfen.
Denn die Sage, die sich an verschiedene historische Persön-
lichkeiten und Örtlichkeiten geknüpft hat, war durchaus nicht
an diese Namen gebunden, die gerade darum so beliebig
wechseln konnten, weil es sich um typische psychologische
Gestaltungen handelt, die ihrem Wesen nach unveränderlich
bleiben, wenn sie auch in ein anderes Milieu gestellt werden.
Andere Male, wie z. B. in Konrad von Würzburgs Gedicht
spielt die Begebenheit unter Karl dem Großen und der Gegner
des Schwanritters ist der Sachsenherzog Renier, oder sie spielt,
wie im Lohengringedicht unter Heinrich dem Ersten und der An-
kläger ist Graf Telramund. In dieser letztgenannten Fassung
tritt aber der Graf nicht bloß als Ankläger auf, sondern erhebt
zugleich Ansprüche auf die Hand der Jungfrau mit der Moti-
vierung, ihr Vater habe sie ihm auf dem Sterbebette anvertraut.
Er vertritt also bei ihr Vaterstelle und wirbt zugleich um sie
und diese inzestuöse Anspielung, die uns an die Flucht der
Tochter vor ihrem begehrlichen Vater erinnert, macht es
erst begreiflich, warum sie den Werber mit solcher Ent-
schiedenheit und Hartnäckigkeit zurückweist. Noch deut-
licher ist diese verwandtschaftliche Beziehung — wenn auch
natürlich mit Weglassung des Heiratsantrages — bei Konrad
von Würzburg, wo der Ankläger ein Bruder des verstorbenen
Herzogs ist. Diese enge Beziehung zum Vater -Tochter-
komplex hat schon Müller (S. 432) — wenngleich auf einem
anderen Wege — gefunden, wenn er sagt: »Statt der bösen
Schwiegermutter, welche die Frau verfolgt, erscheint (in den
Vatermythen) ihr eigener Vater als ihr Feind, zugleich aber
als ihr Freier, dessen Bewerbungen sie zurückweist, oder als
ein Nebenbuhler ihres Mannes. Als letzterer nimmt er ganz
die Stelle ein, wie in dem zweiten Teile der Schwanensage
der Feind von Lohengrins Gemahlin.« Der Schwanritter
muß diesem Ankläger die Frau abkämpfen, wie in den Vater-
DIE EINSTELLUNG GEGEN DEN VATER. 1-25
mythen dem lüsternen Vater und in diesem »Vatercharakter«
des Anklägers liegt wieder ein Stück Übereinstimmung mit
dem Vater des Schwanritters, vor dem im ersten Teile der
Zweikampf stattfindet, wie er im zweiten Teile vor dem Kaiser
ausgetragen wird. Die Identifizierung des Vaters mit dem Kaiser
liegt in unserer Sage auf der Hand und es ist kaum nötig,
darauf hinzuweisen, daß diese Gleichsetzung in unseren nächt-
lichen Träumen (Freud Tr., S. 200), in den unbewußten
Phantasien und in den Mythen durchgängig nachzuweisen
ist. Eine ähnliche Reduzierung auf die Person des Vaters
lassen auch andere Gestalten der Sage zu. So heißt im
deutschen Volksbuch der falsche Ankläger Macarius ; der
Diener aber, dem Matabruna die neugeborenen Kinder zur
Tötung übergibt, heißt Markus, worin wir deutlich den ver-
stümmelten Namen des Anklägers wieder erkennen, was ja auch
der logischen Voraussetzung entspräche. Die Identität dieser
beiden scheint nun wieder das niederländische Volksbuch zu
bestätigen, welches den Ankläger tatsächlich Markus nennt.
Da wir in diesem aber eine Personifikation des Vaters erkannt
haben, so müßte auch der mit der Aussetzung betraute Diener
eigentlich den Vater vertreten, was nicht nur vollkommen
dem Aussetzungsmythus entspricht, wo wirklich der Vater
es ist, der dem Neugeborenen nach dem Leben trachtet
(Rank : Mythus), sondern sich noch von anderer Seite her un-
gezwungen zu ergeben scheint. Müller hat darauf auf-
merksam gemacht, daß die Abwesenheit von Personen oft
nicht als solche zu nehmen sei und daß z. B. die gefangene
und der Welt gänzlich entzogene Mutter inzwischen als
böse Schwiegermutter ihre Kinder töte und sie als Hirsch-
kuh säuge. Ähnlich verhält es sich nun mit dem Vater, der
hier wie in der ganzen Genovefagruppe während der
Schwangerschaft und Geburt vom Hause abwesend ist und
meist durch einen frechen Zudringling, der die Liebe der
Frau erzwingen will, ersetzt wird. Hier ist der abwesende
Vater bloß in dem Diener vertreten, der dem weiblichen Ver-
leumder als Helfershelfer beigegeben ist. Daß hinter diesem
aber der leibliche Vater steckt, verrät sich in unbeholfener
126 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Weise darin, daß er es nicht übers Herz bringt, die Kinder
zu töten, sondern sich ihrer erbarmt, als sie ihn anlächeln
und die Ärmchen nach ihm ausstrecken. Wir möchten sagen,
daß der dieser Szene zu Grunde liegende Affekt sich ohne
weiters als väterliches Empfinden verrät. Ebenso, wenn
einige Jahre später dieser oder ein anderer identischer
Diener (im Volksbuch der Jäger Savitri) die Kinder im Walde
sieht, neuerlich den Befehl erhält sie zu töten und es wieder
nicht vermag. Daß in diesem zwiespältig empfindenden
Diener, der bald feindliche Impulse (»Befehle«) gegen die
Kinder hegt, ihnen aber dann doch nicht nachgeben kann,
die Regungen des Vaters gegen die das Eheglück störenden
Kinder mit psychologischer Echtheit dargestellt sind, klingt
etwa noch in einem Zuge der Schwanensage nach, wie sie in den
Altdeutschen Blättern nach einer Handschrift des XV. Jahr-
hunderts mitgeteilt ist und die sich in gewissem Sinne mit
der Erzählung der altfranzösischen Bearbeitung in den sieben
weisen Meistern durch Herbert von Paris deckt. Dort ist es
nämlich nicht der Diener, welcher die im. Walde herum-
streifenden Kinder sieht und es der bösen Schwiegermutter
meldet, sondern es ist ihr eigener Vater, worin wir den ur-
sprünglichen Zug sehen möchten. Aber auch der alte fromme
Einsiedler, der die Kinder im Walde findet und aufzieht,
ist nichts anderes als das Gegenstück dieses aussetzenden
Dieners, eine Personifikation des liebenden, gütigen, sorglichen
Vaters. Nicht nur, weil der Held der Sage von ihm seinen
Namen Helias empfängt, was doch direkt auf das Sohnes-
verhältnis hindeutet, sondern die eben herangezogene alt-
deutsche Fassung spricht diesen Gedanken direkt aus, indem
sie erzählt, daß Gott den ausgesetzten Knaben einen Vater
sandte, der sie als seine eigenen Kinder aufzog. Wir sehen
also auch die väterliche Gestalt in eine Reihe gesonderter
Personifikationen aufgelöst: 1. in den bösen, feindseligen
Vater, der sein Neugeborenes haßt und töten will (der Aus-
setzungsdiener) ; 2. in den guten, weisen und milden Vater,
der die Kinder »findet und rettet« (i. e. in die Welt
setzt) und sie in Sorgen aufzieht (der alte Einsiedler
DIE MYTHISCHE PROJEKTION. 127
Helias) 1 ) ; 3. in den mächtigen Vater, der über alle Dinge gebietet
und vor dessen Urteil man sich beugen muß (der Kaiser des
zweiten Teiles) ; 4. in den ehrwürdigen, guten Vater, dem man
für das Geschenk des Lebens dankt, indem man ihm die
Mutter rettet (Oriant); 5. in den als Nebenbuhler gehaßten
Vater, der die Mutter besitzt und dem man sie streitig macht,
dem man aber doch nach der Besiegung zuerst das Leben
schenkt (wie er es einem einst geschenkt hatte, als er einen vor
dem Aussetzungstod bewahrte), bevor man ihn wirklich tötet,
um nun die Mutter heiraten zu können (der böse Ankläger).
So sehen wir also, wie ich dies bereits an anderem
Material nachweisen konnte (Mythus, S. 86), den komplizierten
und mit einem reichlichen Personenaufgebot ausgestatteten
Mythus sich vereinfachen und auf drei Personen, den Helden
und seine Eltern, reduzieren. Wollen wir aber psychologisch
konsequent sein, so müssen wir diese Zurückführung und
Vereinfachung noch ein Stück weiter treiben. Diese ver
schiedenen Abspaltungen der Eltern sind ja nur in einem ge-
wissen engen Ausmaße dem Vater und der Mutter wirklich
zukommende Charaktere; zum größten Teile und insbesondere
in der übertriebenen Extremität der Darstellung sind es ja
eigentlich Anschauungsweisen des Helden oder unabhängig
vom Mythus gesprochen die verschiedenen psychischen Ein-
stellungen des Ich gegen seine Umgebung, welche aus dem
eigenen Innern hinausprojiziert werden auf die Objekte, denen
sie gelten (25). Der Grund dieser Projektion ist leicht ein-
zusehen: es handelt sich um die Rechtfertigung der eigenen meist
unbegründeten Einstellung durch Schaffung der sie bedingenden
objektiven Verhältnisse, was mittels der Phantasie geschieht
und in letzter Linie zur Befriedigung der diesen Einstellungen zu
Grunde liegenden erotisch-ehrgeizigen Wünsche und Triebe des
heranreifenden Individuums dient. Es erinnert diese Art der
') Interessante sprachliche Beziehungen hat Leo (Ferienschr. I, 106)
aufgezeigt. Danach würde Elias nach dem gälischen aladh nutrire, educare
bedeuten, der Name also den Charakter der sagenhaften Persönlichkeit aus-
drücken. Der Name hätte anderseits auch auf dem Wege von asadh = gaelisch
melken, Beziehungen zur säugenden Hirschkuh.
128 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
Rechtfertigung und Befriedigung unerlaubter Wünsche nicht
bloß äußerlich an die Projektionen und Halluzinationen ge-
wisser Geisteskranker, die auch ihre eigenen unbewußt ge-
wordenen seelischen Regungen und Impulse als selbständige
Personen agieren sehen oder sprechen hören ; vielmehr liegen
dieser Analogie tiefe psychologische Zusammenhänge zu Grunde,
denen wir hier nicht weiter nachgehen können. (Über den
parono'iden Charakter der Phantasietätigkeit vgl. Rank :
Mythus.) Erinnert sei nur an ähnliche Personenspaltungen
im Traume (Jb. II, S. 536) sowie an die Dissoziation der
Persönlichkeit bei der Dementia praecox (Jung, Zur Psycho-
logie der D. pr. Halle 1907).
Zur Auseinanderlegung der einzelnen Personen und see-
lischen Regungen bietet die Vervielfältigung — insbesondere
Doublierung — einzelner Sagenepisoden, ja ganzer Sagen,
kein bloß äußerliches Gegenstück. Vielmehr erfolgen gewisse
Auseinanderziehungen von Vorgängen in verschiedene Zeit-
räume unmittelbar auf Grund der Tatsache, daß auch der
Held selbst keine konstante Figur der Sage bleibt, sondern
daß seine einzelnen Entwicklungsstufen ebenso in selbständigen
Personifikationen festgehalten werden, wie die Abspaltungen
der Elterncharaktere. Stellt man sich vom egozentrischen
Standpunkt der Sage aus mit Müller (S. 422) und Leo
(S. 30) auf den Standpunkt, »daß auf die Anzahl der Kinder
kein Gewicht zu legen ist und daß für die Bedeutung des
Mythus nur ein Kind in Betracht kommt« (Müller), so wird
ohne weiteres klar, daß der Held zunächst als neugeborener
Knabe den Frieden der elterlichen Ehe stört, darum auf An-
stiften der enttäuschten Mutter vom Vater, der ihn aber
wieder rettet (= ins Leben setzt), ausgesetzt wird und nun
in doppelsinniger Unkenntnis seiner Herkunft bei einem
gütigen Manne aufwächst, der behauptet, die Kinder im Walde
gefunden zu haben. Die zweite Entwicklungsperiode des
kindlichen Lebens, wo das Kind sich mit dem Rätsel seiner
Herkunft zu beschäftigen beginnt, wird in der Sage durch
die Episode angedeutet, wo die Kinder in ihrem siebenten
Lebensjahr von der Existenz ihres Vaters erfahren
DIE SEXUALPHANTASIEN DER PUBERTÄTSJAHRE. 129
(er sieht sie im Walde, aber sie fliehen vor ihm),
der ihnen nun das Storchmärchen aufbindet, was die völlig
umgewertete und rationalisierte Sage dadurch andeutet, daß
die Kinder mit Abnahme der Ketten sich in Schwäne ver-
wandeln, die erst aus dem Wasser gezogen und zu Menschen
gemacht werden müssen. Diese Verwandlung in Schwäne ist,
wie wir bereits, gestützt auf Müllers Untersuchung, beim
Schwanenmärchen nachweisen konnten, identisch mit der Aus-
setzung und somit nur ein Ausdruck der Geburt. Die dritte
Entwicklungsstufe des individuellen Heldenlebens ist charak-
terisiert durch die Pubertätsphantasien des 15- bis 16jährigen
Knaben, wo ihm bereits das Rätsel seiner Herkunft und die
Rolle, die Vater und Mutter dabei spielen, bekannt ist 1 ) und
wo er beginnt, den geschlechtlichen Verkehr der Mutter mit
dem Vater im Sinne einer Untreue gegen die eigene Person
aufzufassen, anderseits aber seine Selbständigkeitsregungen
so weit erwacht sind, daß er es unternimmt, die Mutter aus
einer Lebensgefahr zu erretten und dem Vater das verfallene
Leben zu schenken, um sich bei beiden für das Geschenk
seines Lebens zu revanchieren. Hier ist es auch, wo er seine
*) Will man sich der vorgetragenen Auffassung verschließen, so wirkt
es nicht nur unwahrscheinlich, wie der 16 jährige Jüngling den kräftigen
Ankläger einfach niederschlägt, sondern geradezu komisch, wie der unreife
Knabe seine Eltern über das Rätsel seiner Geburt und Herkunft aufklärt, das
den Eltern unbekannt sein soll, ihm aber durch Gottes Ratschluß vermittelt
wurde. Eine ähnliche Umkehrung des Verhältnisses fanden wir auch beim
Frageverbot, das ja eigentlich dem ankommenden Kinde gilt, in der Sage
aber von diesem selbst, in ähnlich prahlerischer Überschätzung der neuge-
wonnenen Kenntnis, den Eltern gestellt wird. Beweisend für unsere Auf-
fassung des Dümmlingsmotivs im Sinne der sexuellen Unwissenheit (vgl. S. 59)
scheint es, wenn der Schwanritter zur Rettung seiner Mutter durchaus als
einfältiger Jüngling auftritt und nach dem Inhalt des Volksbuches in einem
solchen Aufzug erscheint, daß man ihn für einen Wahnsinnigen (Fou) hält.
Die im Zusammenhang unserer Sagendeutung versuchte psychoanalytische
Aufklärung dieses Verhaltens wird auf das schönste bestätigt durch den von
Jones (Simulated foolishness) mitgeteilten Fall eines 15jährigen Knaben,
der sich dumm und kindisch stellt, um frühere Liebkosungen von der Mutter
zu erlangen. Während er anfangs jede sexuelle Kenntnis leugnet, erweist
die Psychoanalyse, daß er — wie der junge Helias — über alles
orientiert ist.
Rank, Die Lohengrinsage. 9
130 DIE RETTUNGSPHANTASIE.
ursprüngliche Rolle als Störer des ehelichen Friedens durch
die gegenteilige Handlung, die neuerliche Stiftung der ehe-
lichen Gemeinschaft wieder gut zu machen sucht. Die nächste
Entwicklungsstufe seines Lebenslaufes ist charakterisiert
durch die männliche Vollreife, die das ganze bisherige Leben
in Auffrischung und deutlicher Erfassung der von Anfang
an treibenden Momente zu sexualisieren sucht, indem die
Tötung des Vaters und die Heirat der Mutter (Ödipus-
komplex) nicht bloß der späteren Altersstufe entsprechend
phantasiert, sondern in richtiger Auf fassung der ursprünglichen
Ehestörung in die früheste Kindheit, in die Zeit des Zurwelt-
kommens, verlegt wird. Der im Nachen vom Schwan ans
Land gebrachte Sohn dünkt sich sogleich erwachsen genug,
um des Ödipus Schicksal zu erfüllen, eine überkühne Phantasie,
deren tiefen psychologischen Wahrheitsgehalt jedoch die von
Freud aufgedeckten Tatsachen der kindlichen Psycho-
sexualität unzweifelhaft erwiesen haben. Die nächste Folge
dieser Entwicklungsstufe ist, daß er der Mutter nun ihre als
Schwäne im Wasser schwimmenden Kinder in Menschen ver-
wandelt, d. h. mit ihr Kinder zeugt in der Weise, wie es ihn
die Eltern von seiner eigenen Geburt gelehrt hatten. Die
letzte Stufe endlich, die wie alle vorhergehenden wieder durch
Einschaltung eines Zeitintervalls hervorgehoben ist, betrifft
die geheimnisvolle Abfahrt, die Reise ins Totenland, die
ebenso geheimnisvoll ist, wie es seinerzeit die Herkunft war,
und die darum auch auf Grund der verbotenen Frage er-
folgen muß. Es drückt sich darin eine innige Verknüpfung
der beiden großen Mysterien unseres Lebens aus, der Ge-
danke, daß wir über unser Schicksal nach dem Tode ebenso-
wenig wissen, wie über den Zustand vor dem Zurweltkommen.
Der Held stirbt in gleicher Weise wie er zur Welt gekommen
war, er kehrt an den Ausgangspunkt seiner Lebensreise, in
die Unterwelt, wie die Mythologen sagen, in den Mutterleib,
wie uns die Symbolik der Volksmeinung gelehrt hat, zurück,
von wo er einstens, vielleicht auch nach einem früheren Tode
ausgegangen war und nach seinem jetzigen Tode wieder aus-
gehen wird. So ist aber der Mythus, wie gleichfalls Müller
DER KERN DER LOHENGRINSAGE.
131
(S. 427) jedoch im naturmythologischen Sinne hervorhob, ein
zyklischer, was schon äußerlich darin angedeutet ist, daß er
mit den ins Gegenteil verkehrten (eifersüchtigen) inzestuösen
Regungen zwischen Mutter und Sohn (Matabruna und Oriant)
beginnt, die ja erst im Verlaufe der Sage (zwischen Beatrix
und Helias) zur Darstellung gelangen, aber bereits in die
Vorgeschichte verlegt erscheinen. Dieser Zug wird uns
psychologisch verständlich aus der Jünglingsphantasie, sein
eigener Vater zu sein, die eben in der zyklischen Form des
Mythus ihren »funktionalen Ausdruck« (Silberer) ge-
funden hat.
Nach dieser psychologischen Analyse des Mythus in
seine ursprünglichen Elemente erkennen wir in seinem Grund-
schema von der geheimnisvollen Ankunft, Heirat und Abfahrt
des Helden den primitiven, sexualsymbolischen Ausdruck des
ewigen Werdens, Zeugen s und Vergehens, vielleicht im
Universum oder in der organischen Natur, wie die Natur-
mythologen wollen, sicherlich aber zunächst im menschlichen
Leben, das in den unergründlichen Mysterien der Geburt,
der Zeugung und des Todes wurzelt. Die Sage gibt jedoch
den rein individuellen Phantasieausdruck dieser Beziehungen
innerhalb des Elternkomplexes wieder: das Rätsel der eigenen
Zeugung und Geburt, das sich mit der Vorstellung der
inzestuösen Weiterzeugung, also der eigenen Vaterschaft und
den daraus folgenden Todesgedanken verbindet.
VIII.
Nachdem wir so von Wagners Musikdrama ausgehend
die Motivgestaltung der Lohengrinsage in ihrem Entwicklungs-
gang verfolgt und den tiefsten psychologischen Gehalt der
Sage in eine einfache Formel zu bringen versucht haben, erübrigt
uns noch zu zeigen, wie sich die Individualität des Dichters
mit dem gegebenen Sagenmaterial und dem ihm zu Grunde
liegenden tiefen Gehalt der Sage abzufinden versteht. Waren
wir genötigt im Verlaufe unserer Analyse der zur Sagen-
bildung führenden Phantasietätigkeit das Personenaufgebot
und die Szenenfolge als Projektionen innerer seelischer In-
9*
132 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
halte und Entwicklungen aufzufassen und alle diese Vor-
gänge auf den Helden, das strebende Ich, zu reduzieren, so
dürfen wir ohne weiteres den Dichter, welcher die Sage mit
zwingender Notwendigkeit aufgreift, sie intuitiv nachschafft
und dabei wohl auch seiner Individualität entsprechend um-
modelt, mit dem wohl etwas mysteriösen Ich des Sagen-
schöpfers identifizieren. Und dies aus der Erkenntnis heraus,
daß sich der Dramatiker selbst in vollem Bewußtsein mit
seinem Helden identifiziert, dem wir ja jene egozentrische
Phantasietätigkeit zuschreiben mußten. Daß der Stoff von
Wagner nicht aus zufälliger Willkür, aber auch nicht aus
rein künstlerischen Interessen und Erwägungen gewählt
wurde, sondern ihn aus persönlichen Erlebnissen heraus an-
zog und seine Wahl »ein Müssen, ein Zwang« war, hat
der Meister in seiner künstlerischen Aufrichtigkeit selbst ein-
bekannt. In der diesbezüglich sehr aufschlußreichen »Mit-
teilung an meine Freunde« heißt es vom Lohengrinmythus :
»Nachdem ich ihn so als ein edles Gedicht des sehnsüchtig
menschlichen Verlangens ersehen hatte, das seinen Keim
keineswegs nur im christlichen Übernatürlichkeitshange,
sondern in der wahrhaftesten menschlichen Natur überhaupt
hat, ward diese Gestalt mir immer vertrauter und der Drang,
um der Kundgebung meines eigenen inneren Ver-
langens willen mich ihrer zu bemächtigen, immer
stärker, so daß er zur Zeit der Vollendung meines »Tann-
häuser« geradewegs zur heftig drängenden Not ward, die jeden
anderen Versuch, mich ihrer Gewalt zu entziehen, gebieterisch
von mir wies.« Gibt einem dieses Bekenntnis eine leise
Ahnung von der elementaren Gewalt des dichterischen Pro-
duktionstriebes, l ) so spricht es zugleich mit voller Deutlichkeit
J ) Über die Konzeption des Lohengrin-Dramas berichtet Wagner in
seiner Selbstbiographie (Mein Leben, S. 361): »Kaum war ich um die
Mittagszeit in mein Bad gestiegen, als ich von solcher Sehnsucht, den
.Lohengrin« aufzuschreiben, ergriffen ward, daß ich, unfähig die für das
Bad nötige Stunde abzuwarten, nach wenigen Minuten bereits ungeduldig
heraussprang, kaum die Zeit zum ordentlichen Wiederankleiden mir gönnte,
und wie ein Rasender in meine Wohnung lief, um das mich Bedrängende
zu Papier zu bringen.«
IDENTIFIZIERUNG MIT DEM HELDEN.
133
die Identifizierung des Dramatikers mit seinem Helden aus,
ja macht diese gewissermaßen zum Motiv der künstlerischen
Schöpfung, was Wagner an einer andern Stelle der »Mit-
teilung« offen ausspricht: >Der Künstler kann nur dann zur
Fähigkeit überzeugender Darstellung gelangen, wenn er mit
vollster Sympathie in das Wesen des Darzustellenden sich zu
versetzen vermag.« Und in einem Briefe an seinen unglück-
lichen Freund Röckel hat Wagner mit Bezug auf die Ge-
stalt des Siegfried diese Indentifizierung ganz im Sinne
unserer psychischen Projektion als allgemeines Darstellungs-
prinzip hingestellt und zugleich ihr Motiv bloßgelegt: »Der
Künstler sagt in dem von ihm dargestellten Gegenstande :
So bist du, so fühlst und denkst du und so würdest du
handeln, wenn du, frei von der zwingenden Willkür der
äußeren Lebenseindrücke, nach der Wahl deines
Wunsches handeln könntest.« Worin sah nun Wagner
die Übereinstimmung seiner Entwicklung und Persönlichkeit
mit der Lohengrins, auf Grund deren er die Identifizierung,
diese Grundvoraussetzung der dichterischen Produktion, vor-
nehmen konnte. Auch darüber hat er sich mit aller wünschens-
werten Deutlichkeit ausgesprochen. Er faßt das Lohengrin-
drama zunächst als die Tragödie des Genies, seines
Genius, der sich aus der künstlerischen Vereinsamung heraus
in die Niederungen wahrhafter Menschlichkeit sehnte. »Mit
seinen höchsten Sinnen, mit seinem wissendsten Bewußtsein
wollte Lohengrin nichts anderes werden und sein, als voller,
ganzer, warmempfindender Mensch, nicht Gott, d. h. absoluter
Künstler.« »Gerade diese selige Einsamkeit aber erweckte
mir, da sie kaum mich umfing, eine neue unsäglich be-
wältigende Sehnsucht, die Sehnsucht aus der Höhe nach der
Tiefe aus dem sonnigen Glänze der keuschesten Reine nach
dem trauten Schatten der menschlichsten Liebesumarmung.
Von dieser Höhe gewahrte mein verlangender Blick — das
Weib: das Weib, nach dem sich der »Fliegende Holländer«
aus der Meerestiefe seines Elends heraufsehnte, das Weib,
das dem »Tannhäuser« aus den Wollusthöhlen des Venus-
berges als Himmelsstern den Weg nach oben wies, und das
L34 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF
nun aus sonniger Höhe Lohengrin herab an die wärmende
Brust der Erde zog.« — >So ersehnte er sich das Weib, —
das menschliche Herz. Und so stieg er herab aus seiner
wonnig öden Einsamkeit, als er den Hilferuf dieses Weibes,
dieses Herzens, mitten aus der Menschheit da unten vernahm.
Aber an ihm haftet unabstreifbar der verräterische Heiligen-
schein der erhöhten Natur ; er kann nicht anders als wunder-
bar erscheinen : das Staunen der Gemeinheit, das Geifern des
Neides, wirft seine Schatten bis in das Herz des
liebenden Weibes; Zweifel und Eifersucht bezeugen ihm,
daß er nicht verstanden, sondern nur angebetet wurde,
und entreißen ihm das Geständnis seiner Göttlichkeit, mit
dem er vernichtet in seine Einsamkeit zurückkehrt« (Mitt.).
Läßt sich als die allgemeinste Auffassung Wagners vom
Lohengrinstoff die Tragödie des von der Menge unverstandenen
Genies erkennen, und spezialisiert Wagner selbst diese Auf-
fassung als das ewig unbefriedigte Sehnen des Künstlers nach
der menschlichsten Liebesumarmung, so zeigt die zuletzt an-
geführte Stelle jedem mit Wagners Biographie Vertrauten,
daß es die Enttäuschungen seiner unglücklichen ersten Ehe
waren, welche diese Unbefriedigung, jenes Sehnen, wachgerufen
hatten. Nun wissen wir aber aus der psychologischen Er-
forschung einer Reihe anderer Phänome, daß eine mächtige,
aber im aktuellen Leben gehemmte Wunschregung sich nach
innen zurückwendet und in der phantastischen und affektiven
Wiederbelebung ihrer früheren Befriedigungen Trost sucht.
Diesen Mechanismus der Rückwendung unbefriedigter Libido
auf frühere Befriedigungsstufen, den Freud unter dem
Namen der »Regression« auch in seiner Beziehung zum
künstlerischen Schaffen beschrieben hat (Fünf Vorlsg., S. 55
bis 56), finden wir mit tiefer Einsicht in die Bedingungen
der eigenen Produktion von Wagner selbst klargelegt. »Alle
unsere Wünsche und heißen Triebe, die in Wahrheit uns in
die Zukunft hinübertragen, suchen wir aus den Bildern
der Vergangenheit zu sinnlicher Erkennbarkeit zu ge-
stalten, um so für sie die Form zu gewinnen, die ihnen die
moderne Gegenwart nicht verschaffen kann« (Mitt.). Und in
UND ZUM UNBEWUSSTEN GEHALT DER SAGE. 135
einem Schreiben an seine geliebte Stiefschwester Cecilie
(v. 30. XII. 1852), deren Brief in ihm die selige Er-
innerung an die Kinderzeit heraufbeschwört, sagt er direkt :
»So mag's wohl auch bei dir gehen, und, wie man stets
die Jugend für die glücklichere Zeit hält, so sehnst du
dich wohlausdenWiderlichkeiten derGegenwart
auch nach dem, der dir damals der Nächste war«
(Familienbriefe) .
Dürfen wir nun für diese unbefriedigende Wirklichkeit
neben den künstlerischen und materiellen Kämpfen seines
Genies auch WagnErs eheliche Entäuschungen verantwortlich
machen und haben wir anderseits die volle Identifizierung
des Dichters mit seinen Helden nachgewiesen, so ist auf dem
Wege einer einfachen logischen Deduktion auch jene längst
vergessene Vergangenheit zu erschließen, die sich Wagner
in der sinnfälligen Symbolik des Sagenstoffes offenbarte. Mit
andern Worten: hat uns Wagner selbst die bewußten Mo-
tive der Identifizierung mit dem Schwanritter dargelegt, so
obliegt uns die Aufgabe, die unbewußten und eigentlich
treibenden Motive dafür aufzuzeigen. Und wie im individuellen
Leben die Regression als ein Zurückgreifen und Wieder-
beleben längst vergessener, unbewußter Phantasien und Trieb-
regungen erscheint, so müssen auch beim Dichter, der sich
voll und ganz in seinen Stoff versenkt, die aufgefrischten
unbewußten Komplexe dem analytisch aufgedeckten tiefsten
Gehalt des Sagenstoffes irgendwie entsprechen. Als treibendes
Motiv der Sagenbildung erkannten wir aber die Verwirk-
lichung jener weitausgesponnenen Jünglingsphantasien, welche
die Untreue und ein erotisches Verhältnis mit der Mutter
zum Inhalte haben, während sie den Vater in der Gestalt
des geschädigten Dritten als unerwünschten Nebenbuhler zu
beseitigen suchen. Nun läßt sich aus den Werken Wa gn er s
nicht nur diese Phantasie im weitesten Umfange und mit
affektivster Betonung nachweisen, sondern auch ihre reale
Begründung im Leben des Dichters aufzeigen. Wagner war
ungefähr ein halbes Jahr alt, als sein Vater starb und es ist
wohl kein allzu gewagter Schluß, daß die gattenlose Mutter
136 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
ihre volle Zärtlichkeit dem Jüngsten zuwandte (27). Bald darauf
aber heiratete sie in zweiter Ehe den Schauspieler Geyer,
was wohl auch ihr zärtliches Verhältnis zum Sohne alteriert
haben wird. Nun scheint aber Wagner, wie aus vereinzelten
brieflichen Äußerungen hervorgeht, im späteren Leben der
festen Überzeugung gewesen zu sein, daß Geyer sein leib-
licher Vater gewesen sei (vgl. Glasenapp), eine Überzeugung,
die wir ohne Rücksicht auf ihre reale Berechtigung oder Un-
richtigkeit, ja gerade mit Rücksicht auf die Unmöglichkeit
ihrer Verifizierung als gern gehegte Phantasie ansehen
müssen (vgl. Graf, S. 30/31). Das Motiv dieser Phantasie
wird ohne weiteres durchsichtig, wenn wir uns erinnern, daß
ja ihre unerbittliche Konsequenz eine Untreue der Mutter ist,
ein Gedanke, dessen typischen Charakter Freud aufgedeckt
hat. Fragen wir aber weiter auch nach dem Motiv dieser
Verdächtigung der mütterlichen Treue, so erkennen wir neben
einem bescheidenen Anteil rachsüchtiger Impulse darin die
Tendenz, die Liebe der Mutter durch ihre Annäherung an
den Dirnencharakter auch für den Sohn in mögliche Erreich-
barkeit zu bringen (28). Sind nun auch diese kurzlebigen und
zur baldigen Verdrängung bestimmten anstößigen Phantasien
ein Produkt der Pubertätsjahre, so wird doch gleichsam
der affektive Impuls zu ihrer späteren Ausgestaltung in viel
früherer, ja frühester Kinderzeit gelegt und wir dürfen auch
für den kleinen Richard annehmen, daß die Störung seiner
zärtlichen Beziehungen zu der verwitweten Mutter durch den
Stiefvater in ihm einen feindseligen Impuls als Revanche
für diese Störung geweckt haben wird. Darum wird nun der
Erwachsene in seinen künstlerisch durchgebildeten Phantasien
nicht müde, sich zu rächen, indem er, sich mit Geyer iden-
tifizierend (Graf, S. 31), in der Gestalt verschiedener sagen-
hafter Helden einem anderen Manne das Weib streitig macht,
die »Bedingung des geschädigten Dritten« (Freud) so mit
unheimlicher Intensität und Vielgestaltigkeit wiederholend.
Dieses Motiv bildet schon die Grundlage von Wagners
erstem dramatischen Entwurf, der den beziehungsvollen Titel
»Die Hochzeit« führt und im Alter von 20 Jahren entstand.
DER KAMPF UM DIE FRAU. 137
In seiner autobiographischen Skizze (Sehr., Bd. 1)
schreibt er über den Entwurf: »Ich weiß nicht mehr, woher
mir der mittelalterliche Stoff gekommen war (29) ; ein w a h n-
sinnigLiebender ersteigt dasFenster zum Schlaf-
gemach der Braut seines Freundes, worin diese
der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt
mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er
zerschmettert seinen Geist aufgibt. Bei der Totenfeier sinkt
die Braut mit einem Schrei entseelt über die Leiche hin.«
In ähnlicher Weise nimmt der Holländer dem Jäger Erik die
Geliebte weg (vgl. Graf, S. 37, 38), Manfred will sie dem
Nurredin entreißen, Tannhäuser schlägt Wolfram von Eschen-
bach aus dem Felde, Lohengrin erobert Elsa im Zweikampf
von Telramund, Tristan jagt die Geliebte zuerst ihrem Bräu-
tigam Morold ab und macht sie dann ihrem Gatten Marke
abwendig, Stolzing kehrt Hans Sachsen das Liebchen ab und
schlägt nebenbei noch dem Bewerber Beckmesser ein Schippchen,
Siegmund raubt seinem Feind Hundig das Weib, Siegfried
erkämpft sich die Walküre von Wotan und selbst Parsifal
befreit Kundry von Klingsors bösem Einfluß. — Aber
auch in Wagners Leben greift dieses Motiv der Neben-
buhlerschaft bedeutungsvoll über. Die heftigste und tiefste
Liebe seines Lebens gehört einer bereits gebundenen Frau,
der Gattin seines Freundes Wesendonck, und diese unaus-
löschliche, aus dem Mutterkomplex stammende Liebes-
bedingung scheint erst zu einer gewissen äußeren Befriedigung
zu gelangen, als der schon gereifte Mann schließlich durch
die Heirat mit der Frau seines Freundes Bülow den alten,
längst unbewußt gewordenen infantilen Wunsch nach der
Frau eines andern (des Vaters) zu realisieren vermag. Aber
auch das Urbild all seiner Frauengestalten läßt sich unschwer
in der Mutter erkennen. Vor allem in einer zweiten, dem
Lohengrinthema an Großartigkeit ebenbürtigen Rettungs-
phantasie im »Siegfried«, wo der unerschrockene Held die
vom Feuer umwogte Brünnhilde aus dem Todesschlaf erlöst
und sie dadurch zum Weibe gewinnt, während der »geschädigte
Dritte« diesmal in der Gestalt des böswilligen »Vaters« Wotan
138 "WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
erscheint, der die Gewinnung seiner geliebten Tochter an
eine unerfüllbare Bedingung knüpft. Diese aus den fesselnden
Banden der heißauflodernden Vaterliebe gerettete Frau hält
nun der unbefangene Jüngling für seine Mutter ; das Bild der
schlafenden Frau weckt in ihm die Erinnerung an die ge-
liebte Mutter, die er nie gesehen hatte :
»Mutter! Mutter!
Gedenke mein !«
»O Mutter! Mutter!
Dein mutiges Kind!«
»Im Schlafe liegt eine Frau;
Die hat ihn das Fürchten gelehrt ! — «
Und die Erwachte fragt er »leise und schüchtern« :
»So starb nicht meine Mutter?
Schlief die Minnige nur?«
(Siegfried, 3. Aufzug, 3. Sz.)
Daß sich aber der Dichter dieser erotischen Grundierung der
Neigung zur Mutter, welche uns die psychoanalytischen For-
schungen als allgemein menschliches Urphänomen verstehen
lehrten, zum Teil wenigstens bewußt war, zeigt ein Geburtstags-
schreiben des 21jährigen Jünglings an seine Mutter, worin es
heißt : »Ach, wie steht doch aber über alle dem die Liebe einer
Mutter! Ich gehöre wohl auch zu denen, die nicht immer
so sprechen können, wie es ihnen im Augenblick ums Herz
ist, sonst würdest Du mich wohl oft von einer viel weicheren
Seite kennen gelernt haben. Aber die Empfindungen bleiben
dieselben — und sieh Mutter, jetzt, — da ich von Dir fort
bin, überwältigen mich die Gefühle des Dankes für Deine
herrliche Liebe zu Deinem Kinde, die Du ihm zuletzt wieder
so innig und warm an den Tag legtest, so sehr, daß ich Dir
in dem zärtlichsten Tone eines Verliebten gegen
seine Geliebte davon schreiben und sagen möchte.
Ach, aber weit mehr — ist denn nicht die Liebe einer Mutter
weit mehr — , weit unbefleckter als jede andere ? — « (Familien-
briefe Nr. 4).
DIE UNBEWUSSTE »ANEIGNUNG«. 139
Glauben wir so gezeigt zu haben, daß die der Lohen-
grinsage zu Grunde liegende Jünglingsphantasie von der Besitz-
ergreifung der einer Untreue verdächtigten Frau eines andern
in Wagners Lohengrindrama nicht isoliert dasteht, sondern
sein gesamtes künstlerisches Schaffen durchsetzt und sich auch
in seinem Leben nachweisen läßt, so dürfen wir mit Recht
den gesamten unbewußten Gehalt des Mythus, wie wir ihn
aufdecken konnten, als mitschwingend in der Seele des
schaffenden Dichters und seines ergriffenen Zuhörers an-
nehmen. Wir verstehen dann in einem weit tieferen Sinne
als dem der bloßen Herübernahme vorgefundenen Materials,
daß sich der Dichter den Stoff auf Grund einer unbewußten
Identifizierung »angeeignet« hat (Freud: Tr., S. 107), und
werden so auch die Modifikationen, die er anbrachte, aus
seinen persönlichen Komplexen, soweit sie vom latenten Ge-
halt der Sage abweichen, verstehen lernen. Wir werden uns
aber nicht sträuben können, anzuerkennen, daß der Dichter
auch die gegebenen Figuren und Szenen nicht einfach kopiert
und bloß den technischen Forderungen der Bühne anpaßt,
sondern die dramatische Gestaltung der sogenannten frei er-
fundenen Stoffe muß uns darauf aufmerksam machen, daß
der Dramatiker auf Grund seiner eigenartigen Phantasie-
begabung den Prozeß der Sagenbildung so gut nachzuschaffen
wie selbständig zu üben vermag, das heißt, daß seine Phan-
tasie im Grunde nach denselben Gesetzen arbeitet, wie
das, was wir als mythologische Phantasietätigkeit beschrieben
haben.
In diesem Sinne müssen wir darauf vorbereitet sein und
es zu verstehen suchen, wenn uns in Wagners Lohengrin-
drama die bekannten Gestalten der Sage, nur ein wenig
plastischer herausgearbeitet, wieder begegnen, wie ja die
ganze vielgerühmte Charakterisierungskunst der Dramatiker
in nichts anderem als in der extremen Verwertung des ge-
schilderten Auseinanderlegungs- und Projektionsmechanismus
ihrer eigenen psychischen Einstellung besteht. So entstehen
alle bühnenwirksamen dramatischen Figuren von den Engeln
und Teufeln des bürgerlichen Trauerspiels bis zu den hoch-
140 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
komplizierten Kontrastfigureri des modernen Gesellschafts-
dramas. So erkennen wir in dem guten, milden, weisen König
(Heinrich I.), zu dem Elsa wie zu einem Vater emporblickt,
eine schon vom Dichter des Lohengrinepos eingeführte Ersatz-
figur des in der Sage völlig unbeteiligten Vaters Oriant, dem
als Gegenstück der böse, tückische Ankläger (Telramund)
gegenübersteht, der ja direkt Vaterstelle bei Elsa vertritt
und Ansprüche auf ihre Hand erhebt. Beide Figuren ent-
sprechen der typischen Einstellung des Sohnes, dem der
Vater bald als der gütige Erzieher und weise Lehrer, bald
als der störende Nebenbuhler um die Liebe der Mutter er-
scheint. In diesem Sinne hat Wagner auch die Vaterrettung
in der gleichen Form wie die Sage beibehalten. Nach Be-
siegung Telramunds, der auch hier sowohl den störenden
Gatten der Mutter wie ihren böswilligen Vater vertritt, sagt
Lohengrin »das Schwert auf Friedrichs Hals setzend«:
Durch Gottes Sieg ist jetzt dein Leben mein:
(von ihm ablassend).
Ich schenk' es dir, mög'st du der Reu' es weih'n! 1 )
Aber nicht nur, um diese Rettungsphantasie durchsetzen zu
können, behielt Wagner diesen großmütigen Zug bei, der in
der Sage mit dem vollen Sühnebedürfnis des Unterlegenen und
nicht mit der Großmut des Siegers motiviert ist, sondern
auch wegen der dramatisch erforderlichen und wirksameren
Tötung im Brautgemach (II. Akt), die mit einer kleinen
Rationalisierung deutlich zeigt, daß Lohengrin in Telramund
direkte den Mann tötet, den er aus dem Schlafgemach seiner
Frau verdrängt, um sich selbst an dessen Stelle zu setzen.
Daß auch diese Szene, wo der Schwanritter von den Ver-
wandten seiner Frau (Belaye) überfallen wird, in der Ent-
wicklung der Sage vorgebildet war (im Tirurel, vgl. Grimm
l ) Vgl. dieselbe Vaterrettung in Schillers Kabale und Liebe (11,6):
Ferdinand (indem, er den Degen nach dem Präsidenten zückt, den er aber
schnell wieder sinken läßt). Vater! Sie hatten einmal ein Leben ein mich
zu fordern. — Es ist bezahlt. (Den Degen einsteckend.) Der Schuldbrief der
kindlichen Pflicht liegt zerrissen da. — (Siehe auch Rank: Rettungs-
phantasie.)
J
INDIVIDUELLE MODIFIKATIONEN DES DICHTERS. 141
D. S. »Lohengrins Ende zu Lothringen«), ändert nichts an
der psychologischen Bedeutsamkeit der Tatsache, daß Wagner
sie beibehielt und in so bezeichnender Weise ins Hochzeits-
gemach verlegte. 1 ) Charakteristisch für die Bedeutung, welche
der Dichter ganz im Einklang mit unserer Auffassung der
Rettungsphantasie beimißt, ist, abgesehen von der mehrfach
direkten Apostrophierung Lohengrins als Retter, das in keiner
Version der Sage vorgebildete Gegenstück der Rettung Lohen-
grins durch Elsa, wie es in der Brautgemachszene dargestellt
ist. Denn nur dem schlechten Gewissen Elsas, die Telramunds
Eindringen jeden Moment fürchten muß (30), hat es Lohengrin
zu danken, daß er rechtzeitig von ihr mit dem Rufe : »Rette
dich!« gewarnt wird. Diese Revanche für die eigene Rettung
liegt nicht nur völlig im Sinne unserer Deutung, sondern
auch des Mythos, wo ja die »Rettung« (Geburt) des Helden
selbst natürlich seiner eigenen Rettungstat an der Mutter vor-
ausgeht. — Auch die feindliche Schwiegermutter Matabruna
ist im Drama nicht verschwunden, wenn sie auch an eine
andere Stelle versetzt erscheint. Es ist die böse Ortrud, die
noch ganz wie in der Sage die Kinder in Schwäne verwandelt
und dann den Ankläger vorschiebt, der ihre Tat vertreten
soll. Dagegen ist, wie im Lohengringedicht und bei Wolf-
ram, die ganze erste Mutterrettung übergangen und im
zweiten Teil, wie auch schon bei Wolfram, die alte Her-
zogin entfernt, so daß jede Spur verwischt erscheint, welche
an den ursprünglichen Sinn der Rettung erinnern könnte.
Elsa ist ein junges Mädchen und von allen verwandtschaft-
lichen Beziehungen zu den Personen des Dramas sorgfältig
gelöst. Allerdings scheint mitten in diese (unbewußte) Ver-
hüllungstendenz ein Stück der ursprünglichen Bedeutung
hineinzuragen, wenn Lohengrin sogleich bei seiner Ankunft
Elsas Namen weiß. 2 ) Und wie ein absichtlich gesteigerter
*) Auch in einem seiner ersten dichterischen Versuche: die Hochzeit
handelt es sich um das gleiche, offenbar infantil bedingte Motiv.
*) Vgl. im »Fliegenden Holländer« die erste Begegnung des Helden mit
Senta: »Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten spricht dieses Mädchens
Bild zu mir.«
142 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
Kontrast dazu nimmt es sich aus, wenn er selbst sogleich die
Frage nach seinem eigenen Namen aufs strengte verbietet.
Wir sehen aber in der dramatischen Gestaltung des Stoffes
nicht nur die Personen auf dem Wege der Auseinanderlegung
entstanden, sondern auch ganze Szenen und Szenenfolgen wie
in der Sage doubliert, respektive auseinandergelegt. So ist die
verschiedene Einstellung des Sohnes zum Vater auseinander- .
gelegt in die Kampfszene des ersten Aktes, wo der milde
König richtet und der Sohn dem besiegten Nebenbuhler das
Leben schenkt, und in die Brautgemachszene des dritten Aktes,
wo er ihn tötet (31). Aber auch der zweite Akt bringt dasselbe
Motiv der Rivalität zwischen Lohengrin und Telramund und
dessen neuerliches Unterliegen. Wenn wir dann näher zu-
sehen, so merken wir mit Erstaunen, daß eigentlich alle drei
Akte immer wieder das gleiche Thema nur in verschiedenen
Entwicklungsstadien behandeln. Der Inhalt des ersten Auf-
zuges besteht in der Ankunft des Helden, der Besiegung
Telramunds und der Verlobung mit Elsa, der das Frage-
verbot auferlegt wird. Der Inhalt des zweiten Aktes (zweite
Szene) besteht wieder darin, daß der Held durch sein plötz-
liches Dazwischentreten Elsa vor dem bösen Einflüsse rettet,
indem er Telramund beiseite schafft und seiner Braut frei-
stellt, ob sie die verbotene Frage tun will. Der dritte Akt
zeigt Telramund ein drittes Mal als Störer, der aber diesmal
endgültig besiegt wird im Moment, als Elsa an ihren Mann
die verbotene Frage stellt. Und auch die letzte Szene des
Stückes zeigt selbst noch den toten Telramund, an dessen
Leichnam Lohengrin seinem fürwitzigen Weib die verbotene
Frage beantwortet. Endlich zeigt diese letzte Szene auch noch
die Rettung, indem der junge Herzog Gottfried von seiner
Schwangestalt erlöst und aus dem Wasser gezogen wird.
So seltsam dieser eigenartige Aufbau des Dramas auch
scheinen mag, so wird er unserem Verständnis doch nahe
gebracht durch den gleichen Charakter gewisser Träume,
deren verschiedene Szenen auch meist das gleiche Thema
nur in steigender Deutlichkeit behandeln. Diese wach-
sende Verdeutlichung betrifft im Lohengrindrama Wagners
DIE INZEST VERHINDERUNG. 143
nun gerade jenes Motiv, das wir als Kernproblem der
ganzen Sage hervorgehoben haben. Sahen wir bisher,
daß der Dichter sich bei der dramatischen Gestaltung
ziemlich treu an die verschiedenen Versionen der Über-
lieferung hielt, ja sogar einzelne scheinbar gänzlich frei
eingefügte Details fertig übernahm und sie nachschöpferisch
adoptierte, so weicht er in einem, und zwar gerade im wesent-
lichsten Punkte von aller Überlieferung weit ab. Während
nämlich in sämtlichen sowohl französischen als auch deutschen
Fassungen der Schwanritter von seiner Frau mehrere Kinder
bekommt, ein Zug, welcher der Sage so eigentümlich ist, daß
er zu ihrer Verwertung als Stammessage Anlaß gegeben hat,
wird bei Wagner die Ehe zwar geschlossen, aber de facto
nicht vollzogen. Scheint es nun zunächst, als hätte der
Dichter mit dieser auf den tragischen Effekt berechneten
Änderung den ursprünglichen Inhalt der Sage willkürlich
verändert (32), so zeigt unsere Deutung, daß er unbewußter
Weise damit den tiefsten Sinn der Sage wieder hergestellt
und offen verraten hat. Was in den ersten Akten nur
schüchtern angedeutet wird und was wir aus der ganzen Ent-
wicklungsgeschichte der Sage mühsam eruieren mußten, daß
es sich nämlich um einen Inzest zwischen Mutter und
Sohn handle, das verrät Wagner in dieser scheinbar rein
persönlichen Modifikation der Sage, nach der die Ehe nicht
vollzogen werden kann und gerade an der Verheimlichung
des Namens, die sie wie bei Ödipus ermöglichen sollte, scheitert.
Mit der Offenbarung von des Sohnes Herkunft und Namen
wird die Ehe mit der Mutter unmöglich, ganz wie in der
Ödipussage und den anderen typischen Inzestmythen. Aber
selbst diese ganz spezielle und vermutlich vom Dichter selb-
ständig erfundene Verhinderung des Inzests, dadurch, daß die
eheliche Verbindung nicht vollzogen wird, hat ihre mytholo-
gische Parallele in der griechischen Sagengeschichte, wo das
gleiche Motiv unverhüllt als Inzestverhinderung auftritt. Es
handelt sich um die auch von attischen Tragikern wiederholt
behandelte Sage der Auge und ihres Sohnes T e 1 e p h o s, die
auch sonst in einzelnen Zügen der Schwanrittersage ähnelt,
144 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
da sie wie diese in die große Gruppe der Aussetzungssagen
gehört. Telephos, der spätere König von Mysien, war einer
heimlichen Verbindung des Herakles mit Auge, der Tochter
des arkadischen Königs Aleos, entsprossen. Der Vater hatte
ihr für den Fall, als sie einem Manne beiwohnen sollte, mit
dem Tode gedroht. Die Mutter hatte daher das Kind aus-
gesetzt und war nach Mysien geflüchtet, wo sie der kinder-
lose König Theutras an Kindes Statt annahm. Der Knabe
wurde von einer Hirschkuh gesäugt und dann von Hirten
gefunden, die ihn zum König Korythos brachten. Dieser ließ
den Knaben erziehen, der sich, zum Jüngling herangewachsen,
auf den Rat des delphischen Orakels nach Mysien begab, um
seine Mutter zu suchen. König Teuthras wurde damals gerade
von Feinden hart bedrängt. Telephos verjagte die
Feinde und erhielt zum Lohn dafür die Hand der
angeblichen Tochter des Königs, nämlich der
Auge, seiner eigenen Mutter. Als Geliebte des Herakles
hatte sie aber gelobt, sich keinem Sterblichen hinzugeben und
trug sich daher mit dem Gedanken, den Telephos im
Hochzeitsgemach mit dem Schwerte zu durch-
bohren. Aber eine von den Göttern geschickte Schlange
erhebt sich zwischen beiden und schreckt Auge ab ; sie wirft
das Schwert weg und gesteht ihr Vorhaben, worauf sie
Telephos mit derselben Waffe töten will. Da ruft sie in ihrer
Angst den Herakles an, dem sie ihre Jungfrauenschaft ge-
opfert hatte und Telephos erkennt sie daran als seine Mutter
(Roschers Lexikon d. griech. u. röm. Mythol.). Neben Zügen,
wie dem des eifersüchtigen Vaters, der seine Tochter keinem
Manne gönnen will, die uns in ihrer psychologischen Be-
deutung schon bekannt sind, verrät uns dieser Mythus offen
— ähnlich wie die verwandte Legende von Darab (Mythus,
S. 19 u. 75 Anmkg.) etwas verhüllter — , daß die bereits ge-
schlossene Ehe im letzten Moment nicht vollzogen wird, weil
die beiden Gatten einander als Mutter und Sohn erkennen.
Diese dem Inzest vorbeugende Enthüllung ist jedoch eine
sekundäre, die Kraßheit des ursprünglichen Mythus mildernde
Abschwächung, denn in der Ödipussage und allen ihren ver-
DER DOPPELSINN DES FRAGEVERBOTS. 145
wandten Gestaltungen erfolgt die Erkennung erst nach voll-
zogenem Inzest. Auch in der Lohengrinsage ist dies der Fall,
denn in allen ihren Varianten geht der neugierigen Erkundung
der Frau eine mehrjährige Ehe und reicher Kindersegen (wie
in der späteren ödipussage) voraus. Die Frage wird auch
gar nicht von vornherein verboten, weil das ja eine Art
Kenntnis der unerlaubten Beziehung voraussetzte, sondern sie
wird eines Tages gestellt mit der Motivierung, die Kinder
müßten doch wissen, wer ihr Vater sei. Hier klingt deutlich
das kindliche Ringen um das Verständnis des Rätsels der
Sexualvorgänge und der Herkunft der Kinder hinein in einer
Form, wie sie uns ja heute noch in dem pater semper incertus
est bekannt ist. Das Verbot bezieht sich also ursprünglich
wohl auf die Frage nach der Herkunft der Kinder und
der Rolle, die der Vater dabei spielt. Die vermutlich
sekundäre Verwendung der Frage im Munde der Frau jedoch
bezieht sich mit entsprechender Anlehnung an die ursprüngliche
Bedeutung auf den Namen des Mannes, den sie als ihren
Sohn nicht erkennen darf; jetzt darf sie also, gleichsam als
Revanche, nicht nach den Kindern fragen. Dieser doppelten
Bedeutung des Frageverbots wird in überaus deutlicher
Weise Wagners Fassung gerecht, die wir als Motto
unserer Untersuchung vorangestellt haben. Lohengrin ver-
bietet nämlich sowohl die Frage nach seiner Herkunft (Kinder-
zeugung), wie auch nach seinem Namen (Inzest). Wenn er
aber in der späteren Dichtung bei W a g n e r nach der Frage-
stellung seinen Namen und seine Herkunft enthüllt, so kann
er das nur, weil die Sage bereits so weit ihrer ursprünglichen
Bedeutung entfremdet ist, daß seine Namensnennung nicht
mehr als Aufdeckung des Inzestes wirkt, obwohl die
Namensverheimlichung keinen anderen Sinn haben kann als
die Inzestverhüllung. Dementsprechend wird auch in den
landläufigsten Versionen so wenig das Verbot a priori gestellt
wird, auch die Frage nicht beantwortet, sondern der Held
scheidet unerkannt, wie er gekommen war. Dadurch aber, daß
Wagner abweichend von jeder Überlieferung die Ehe über-
haupt nicht vollzogen werden läßt, gibt er dem Kundigen zu
Rank, Die Lohengrinsage. jq
146 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
verstehen, daß er intiutiv und aus seinem persönlichen Ge-
fühlslebens heraus diese Verbindung als eine verbotene, in-
zestuöse auffaßte, wie es unsere psychologische Untersuchung
des zu Grunde liegenden Sagenmaterials auch ergeben hat.
Daß er aber dabei — ebensowenig wie wir — einer rein sub-
jektiven und willkürlichen Neigung folgte, sondern gerade
damit den tiefsten und geheimsten Sinn der Sage erfaßte und
offenbarte, haben uns die ursprünglichen Versionen des Mythus
gezeigt, wo es sich tatsächlich um die Rettung der Mutter, die
Heirat und Kinderzeugung mit ihr handelt und wo der Inzest
eigentlich bis über den Tod (Abfahrt, vgl. bei Wagner : »diese
letzte, traurige Fahrt«) hinaus unerkannt bleibt, da ja
der Held seinen Namen nicht nennt. Dies alles allerdings
in der zweiten von jeder inzestuösen Spur befreiten Rettung,
deren Einführung es ermöglicht, daß er bei der ersten Rettung
sich in besonders aufdringlicher Weise seiner Mutter zu erkennen
geben kann. Trotzdem bei Wagner die Ehe nicht vollzogen
wird, scheint doch ein Nachklang des Kindersegens wie er
sexualsymbolisch im Schwanenmärchen ausgedrückt ist, darin
zu liegen, wenn Lohengrin beim Abschied verkündet, daß
nach einem Jahr ehelichen Zusammenlebens der totgeglaubte
kleine Gottfried zurückgekehrt wäre, und wenn er dann durch
die Kraft seines Gebetes in den Stand gesetzt wird, den
Schwan untertauchen zu lassen und an seiner Stelle den
Knaben aus dem Wasser zu ziehen und ihn Elsa zu über-
geben. Hier finden wir deutlich die infantile Vorstellung,
daß der Storch (Schwan) die Kinder aus dem Wasser bringe
illustriert, und wenn es sich auch mit leichter Verschiebung
der Verhältnisse um einen Bruder Elsas handelt, so wissen
wir doch aus den Märchen und aus unserer Sage, daß der
Schwanritter seine eigenen Geschwister aus dem Wasser zieht
und in Menschen verwandelt, um sie seiner Mutter wiederzu-
geben. Er schenkt gleichsam der Mutter, die ihm selbst das
Leben gab, ihre Kinder, und setzt sich so an die Stelle des
Vaters, wird gewissermaßen sein eigener Vater.
Zum Schlüsse wären nur noch ein paar Worte darüber
zu sagen, inwieweit diese bis auf die tiefsten Quellen der
DIE ERLÖSUNGSPHANTASIE. 147
dichterischen Produktion zurückgreifende Auffassung in der
sonstigen ziemlich scharf umrissenen literarischen und künst-
lerischen Persönlichkeit des Dichterkomponisten eine Stütze
findet. Es wäre doch zu unwahrscheinlich, daß derartig tief-
wurzelnde, bis in die früheste Kindheit zurückreichende
seelische Regungen nicht das gesamte Schaffen des Künstlers
durchsetzen, sondern bloß isoliert in Erscheinung treten
sollten. Nun kann es ja nicht unsere Aufgabe sein, den für
die Lohengrinsage aufgedeckten Beziehungen und Zusammen-
hängen im Detail der Wagner sehen Schöpfungen nachzugehen.
Es kann sich uns am Schluß dieser Untersuchung lediglich
darum handeln, den Punkt aufzuzeigen, an dem das Grund-
thema des Lohengrin sich in den großen Ideenzusammen-
hang einreiht, der das Schaffen jedes genialen Künstlers
durchzieht und verbindet. Richard Wagner nun gilt der
gebildeten Welt, die sich der Fülle der Erscheinungen gegen-
über notgedrungen mit Schlagworten behilft, gerne als der
Dichter der Erlösung. Und tatsächlich spielt das Motiv
der individuellen Erlösung in seinen Werken eine so be-
deutungsvolle Rolle, daß es auch dem naiven Genießer auf-
fallen muß. Der fliegende Holländer sucht ein treues Weib,
das ihn erlösen soll ; Tannhäuser sehnt sich nach Erlösung
aus den »Wollusthöhlen des Venusberges«, Tristan strebt
nach Erlösung von der Welt des Scheines und des Schmerzes,
und im »Ring des Nibelungen« wie im »Parzival« kommt die
Erlösungsidee mehrfach deutlich zum Ausdruck. Für das
Verständnis dieser Erlösungsidee sind insbesondere die ersten
Werke des Dichterkomponisten von Bedeutung, wo es sich
regelmäßig um die Erlösung des Helden, den wir wohl mit
dem Dichter identifizieren dürfen, und zwar um die Erlösung
aus Liebesnöten handelt, die durch ein reines, keusches,
treues, unberührtes Weib bewirkt werden soll. Nun kennen
wir aber bereits die eigenartigen Pubertätsphantasien des
Knaben, die ausgehend von der kindlich naiven Über-
schätzung der Mutter einerseits und von ihrer später über-
triebenen Geringschätzung als Geschlechtswesen anderseits
die Frauenwelt in zwei extreme und einander gegensätzliche
10*
148 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
Gruppen scheiden, die wir nicht nur im Tannhäuser als
Venus und heilige Elisabeth, sondern auch in den übrigen
Werken Wagners, ja in der gesamten Dichtung so häufig
und scharf ausgeprägt finden, daß wir uns der Erkenntnis
nicht verschließen können, der Dichter wisse diese Pubertäts-
phantasien auf dem Wege der poetischen Gestaltung in
plastischer und einschmeichelnder Form darzustellen. Haben
wir so in der idealen Erlöserin des Dichters ein verklärtes
Abbild der Mutter erkannt, so wird nur noch anzudeuten
sein, wovon der jugendliche Phantast erlöst werden will. Da
brauchen wir nun kaum auf die psychoanalytischen
Forschungen zurückzugreifen, um zu erkennen, daß es die
gewöhnlichen und banalen Schwierigkeiten unserer kulturellen
Sexualentwicklung sind, welche dieses Erlösungsbedürfnis
hervorrufen und unterhalten. Deutlicher als beispielsweise
im »Fliegenden Holländer«, wo »der bleiche Mann«, »aus der
Manneröde seines Daseins« (Wagner) durch ein treu liebendes
Weib erlöst werden will, kann es wohl kaum gesagt werden,
welcher Konflikt es ist, der dieses Erlösungsbedürfnis wach-
gerufen hat. Und selbst wenn uns die psychoanalytische
Forschung nicht darüber belehren würde, daß der Knabe sich
danach sehnt, von der Mutter in ganz konkretem Sinne vor
den Irrungen seines noch unsicheren Liebestriebes bewahrt
zu werden, so wüßten wir es längst schon von den Dichtern,
wenn wir sie nur besser zu lesen verstünden. Hat doch bei-
spielsweise der feinsinnige Lynkeus (Phantasien eines
Realisten) in seiner Novelle: Gärende Kraft eines Geheim-
nisses diese Knabenphantasie in der Form dargestellt, daß
eine Mutter, um ihr Kind vor den schlechten Einflüssen der
Welt zu bewahren, es am eigenen Leibe in die Geheimnisse
der Liebe einführt. Dieses primäre Bedürfnis, durch die
Mutter, die in einem weit harmloseren Sinne das erste Liebes-
objekt des Kindes war, von dem quälenden Zwange der
Selbstbefriedigung erlöst und der wahren Liebe zugeführt zu
werden, stellt sich folgerichtig auch bei den weiteren Schwie-
rigkeiten auf dem Wege zur normalen Psychosexualität ein.
So ist es ebensowenig zweifelhaft, aus welch sündhaften Fesseln
ERLÖSUNGS- UND RETTUNGSPHANTASIE. 149
Tannhäuser erlöst zu werden sucht, auch wenn wir Wagners
Bekenntnis darüber nicht besäßen. Er schreibt in der Mit-
teilung an seine Freunde: »Sinnlichheit und Lebensgenuß
stellten sich somit meinem Gefühle nur in der Gestalt dessen
dar, was unsere moderne Welt als Sinnlichkeit und Lebens-
genuß bietet. Wandte ich mich nun endlich hiervon mit
Widerwillen ab, . . . so äußerte sich die Kraft dieses Wider-
willens, menschlich und künstlerisch, notwendig als Sehnsucht
nach Befriedigung in einem höheren, edleren Elemente, das
. . .mir als ein reines, keusches, jungfräuliches, unnahbar
und ungreifbar liebendes erscheinen mußte.«
In diesen Zusammenhang der Erlösung des sexuell Un-
freien durch die liebende, hingebende Mutter reiht sich nun
der Lohengrin passend ein. Nur erkennen wir sogleich, daß
das Erlösungsbedürfnis hier die Frau betrifft, die durch den
Mann erlöst werden soll; und auch hier wieder handelt es
sich um Mutter und Sohn, also um eine Art Revanche-
gedanken, wie wir ihn schon in der Lebensrettung und
Lebensschenkung ausgedrückt fanden. Im Lohengrin wendet
sich die dichterische Phantasie Wagners zum ersten Male
direkt dem reinen, hohen, unnahbaren Sexualobjekt zu : »Von
dieser Höhe gewahrte mein verlangender Blick — das Weib :
das Weib, nach dem sich der »Fliegende Holländer« aus der
Meerestiefe seines Elends herauf sehnte, das Weib, daß dem
»Tannhäuser« aus den Wohllusthöhlen des Venusberges als
Himmelsstern den Weg nach oben wies, und das nun, aus
sonniger Höhe Lohengrin herab an die wärmende Brust der
Erde zog« (Mittg.). Aber diese Umkehrung des Problems,
wonach nun das Weib der Erlösung bedürftig sein soll, ist
lediglich durch das Motiv der Revanche gegeben und ändert
nichts am Inhalte der Phantasie, welche hier wie dort die
geschlechtliche Verbindung mit der Mutter anstrebt. So er-
kennen wir in der Rettungsphantasie im Lohengrin ein im
positiven Sinne konsequent herausgebildetes Gegenstück zu
der Erlösungsphantasie, welche sein ganzes dramatisches
Schaffen beherrscht. Die Rettungsphantasie geht darauf aus,
die Mutter zum Weib zu gewinnen, während die Erlösungs-
150 WAGNERS VERHÄLTNIS ZUM LOHENGRINSTOFF.
phantasie den Inhalt hat, von der Mutter zum Manne gemacht
zu werden.
Daß eine derartige Gegenüberstellung der beiden Motive
dem Wagner sehen Denken selbst nicht fern lag, mag
schließlich noch ein kurzer Vergleich des reifen künstlerischen
Bekenntnisses im Lohengrin mit dem ersten erhaltenen Opern-
versuch des 20jährigen Jünglings lehren. Aus dem Jahre
1833 ist uns Wagners erste bühnenfähige Arbeit, die Oper:
»Die Feen« erhalten. Den Stoff entnahm er mit einzelnen
Veränderungen G o z z i s tragikomischem Märchen : La Donna
Serpente (deutsch : Die Frau als Schlange von Volkmar
Müller, Dresden 1889). Der Inhalt ist die typische Lor innen -
sage, wie sie ja auch in die Schwanrittersage hineinspielt.
Arindal verfolgt auf der Jagd eine Hirschkuh. Das Tier
verschwindet in einem Flusse, aus dem alsdann eine be-
rückend schöne Stimme erschallt und Arindal so bezaubert,
daß er sich in den Fluß stürzt (Wassergeburt). Er gelangt
in ein Zauberschloß, wo ihn die Feenkönigin Ada zum Ge-
niahle nimmt, unter der Bedingung, daß er acht
Jahre lang nicht fragen dürfe, wer sie sei. Eine
Zeitlang hält er das Gebot, obwohl Ada ihre beiden Kinder
vor seinen Augen in einen feurigen Schlund wirft (ein ty-
pisches Lorinnenmotiv). Endlich aber tut er doch die ver-
botene Frage, wer und woher sie sei. Da verschwindet die
ganze Pracht mit einem Male (man denkt an Tannhäusers
Entzauberung aus dem Venusberg) und die unerlöste Ada
wird versteinert (bei Gozzi und der ursprünglichen Sage nach
[vgl. Melusine] wird sie in eine Schlange verwandelt). Die
Entzauberung aus dem Stein erfolgt nun, nach verschiedenen
Proben von Arindals Standhaftigkeit, nach dem Vorbild des
griechischen Orpheus durch die Macht des Gesanges. Es
wird aber bei Wagner nicht die Fee zur Sterblichen ge-
macht, sondern sie hebt ihren menschlichen Gatten mit sich
ins Feenreich empor (Koch, S. 408 f.). »Die Bedeutung der
Feen,« sagt Koch (1. c), »ist darin zu suchen, daß in dem,
dem Lohengrinmythus nah verwandten Mythus die mit
Wagners ganzer Dichtung so eng verbundene Erlösungs-
DIE »FEEN« ALS VORLÄUFER DES LOHENGRIN. 151
idee zum erstenmal im Mittelpunkt des Werkes steht.« Und
wir finden es im Sinne unserer Auffassung sehr begreiflich,
daß diese Dichtung, welche das Erlösungsmotiv so innig mit
der Rettungsphantasie und dem Frageverbot verknüpft, aus
einer den Pubertätsphantasien so nahe stehenden Zeit stammt,
und daß der nach dem adäquaten Ausdruck seines innersten
Gefühlslebens ringende Dichter sich eines verwandten Stoffes
bemächtigte, als er enttäuscht und abgestoßen von seinem
unbefriedigenden Eheleben in die selige Zeit der Pubertäts-
phantasien zurückflüchtete (33).
IX.
Nachweise und Anmerkungen.
(1) s ' » : Der erste von Str. 31—67, 2 reichende Abschnitt, der
sich durch dramatische Lebendigkeit und knappe Motivierung aus-
zeichnet, ist im thüringischen Dialekt geschrieben und hat nach
E Isters Vermutung einen fahrenden Sänger zum Verfasser. Der
zweite mit breiter Weitschweifigkeit und schleppender Ausführlichkeit
behandelte Teil von 67,3 bis zum Schluß des Gedichtes ist im
bayrischen Dialekt abgefaßt, nach Panzer wahrscheinlich von
einem hochstehenden bayrischen Ritter, vermutlich einem Ministerialen
Herzog Heinrichs III. von Niederbayern.
„Zweifelsohne", sagt Golther (S. 131), „wird das Werk des
ersten Dichters die ganze Lohengrinsage umfaßt haben; das Er-
haltene reicht jedoch nur bis zur Ankunft Lohengrins in Brabant."
Während er aber meint, der zweite Dichter habe das Werk des
ersten, dem er bis 67, 2 wörtlich folgt, auch von 67, 3 ab wenigstens
in den Hauptzügen des Inhalts gekannt, scheint Panzer richtiger
zu vermuten, daß dem zweiten Lohengrindichter die ältere Erzählung
nicht über Str. 67 hinaus bekannt gewesen sei, sondern daß er
das weitere zum Teil nach Wolfram und dem jüngeren Titurel
ergänzt habe.
Die Quelle des Lohengringedichtes selbst ist nicht ermittelt;
Rückert (S. 244) vermutet, daß dem Dichter eine deutsche pro-
saische Legende kurzen Umfanges etwa von der Beschaffenheit der
in den „Altdeutschen Blättern" publizierten Fassung vorgelegen habe.
(2) n : Im Lorengel finden sich Bruchstücke aus dem ver-
lorenen Teil der Thüringer Lohengrindichtung, so daß er als Fort-
setzung von deren erstem erhaltenen Teil erscheint. Mit dem Ver-
hältnis des Lorengel zum Lohengrin hat sich insbesonders Panzer
beschäftigt.
(3) 18 : „Auf einer völligen Verkennung des Wesens und der
Geschichte der Religion beruhen die Annahmen, daß die Ideen, welche
zum eisernen Bestand des Menschenherzens gehören, deren Keime
in dem Grunde des unbewußten Seelenlebens liegen,
von wo sie herauswachsen und über die Schwelle
des Bewußtseins treten, erst wie irgend eine Geschicklichkeit
oder Lehre von außen hereinkommen und angenommen werden
könnten (Spieß, S. 417).
„Wir haben jetzt wohl eine richtigere Einsicht in die mythen-
bildenden Vorgänge und wissen, daß die unwillkürlich und
ANMERKUNG 3. 4, 5. 153
unbewußt dichtende Phantasie es ist, welche die Einkleidung
der religiösen Ideen schafft, und daß die Lust zum Fabulieren, der
Trieb zur poetischen Darstellung der Idee, die epischen Fäden aus
dem eigenen Vermögen spinnt und webt und so die mythischen Ge-
stalten und Vorgänge erfindet und ausschmückt" (ebenda S. 368).
„Gleichwie die animalischen Embrionen verborgen und ver-
deckt im Mutterschoße sich bilden und ungesehen, unbeobachtet
bis zu ihrem Heraustreten ans Licht sich entwickeln, ebenso sprossen
und wachsen die psychischen Gebilde, die Vorstellungen und Ge-
danken in dem Dunkel des unbewußten Geisteslebens der vor-
geschichtlichen Zeiten. Sie treten eben in bestimmten Umrissen
und Gestaltungen hervor, und darum begegnen wir in den uns
erhaltenen schriftlichen Denkmalen meistens schon vollwüchsigen,
ganz entwickelten, oft sogar bereits wieder dahinsinkenden Ideen"
(Spieß, S. 235).
(4) 21 : Nach O st er wald (S. 45 f.) soll die keltische Vorstellung
einer unterirdischen Welt, die das Land der Jugend hieß, weil die
Zeit dort keine Macht hatte, ebenso wie die irische Vorstellung
von dem Wasserreich der Elfen (vgl. Grimm : Irische Elfenmärchen,
Leipzig 1826) sowie die deutschen Volkssagen von versunkenen
Städten, verzauberten Schlössern und unterirdischen Wundern mit
dem kindlichen Volksglauben zusammenhängen, daß die neuge-
borenen Kinder aus dem Wasser geholt werden. Es entspreche
dieser Glaube der uralten Vorstellung vom „Land der Jugend",
gleichwie in den Märchen vom Jungbrunnen noch eine Erinnerung
an den mit dem Lebensbaum eng verbundenen Lebensborn er-
halten ist.
(5) 31 : Diese Vorstellung ist auch völkergeschichtlich nach-
gewiesen. Nach Ehrenreich (Die Mythen und Legenden der süd-
amerikanischen Urvölker, 1905) erfolgt die Bevölkerung der Erde
auch hier aus dem Lande der Ahnen, dem Himmel oder der Unter-
welt, durch ein Loch, das zufällig entde ckt wird. In-
teressant ist, daß bei einigen südamerikanischen Stämmen die weit
verbreitete Auffassung wiederkehrt, daß diese Öffnung plötzlich ver-
schlossen wird, weil eine zu dicke Person oder eine schwangere
Frau stecken bleibt.
In welch typischer Art die gleiche symbolische Ausdrucks-
weise die Sprache des Traumes — wie die des Mythus — be-
herrscht, möge ein Bruchstück aus einem anderen Geburts-(Ab-
treibungs-)Traum desselben Mädchens zeigen. Sie kommt mit
ihrem Begleiter in ein Schloß, wo sie ein Herr — angeblich der
Scharfrichter — in einen großen Raum geleitet. „Dort bemerke
ich eine röhrenhafte Vertiefung, die einige Meter hinunterging.
Die Höhle war mit Stein ausgemauert. Der Scharfrichter sagte
154 ANMERKUNG 5, 6.
zu mir, die (T i e r -) F e 1 1 e, die hier herauskommen, ge-
hören mir; ich freute mich sehr, stellte mich ganz nahe an den
Rand der Vertiefung und schaue hinunter, was da herauskommen
wird. Ich war ganz überrascht, als ich an einer Kette einen
Kinder rümpf erblickte, da ich doch das versprochene Fell er-
wartete. Dann erfahre ich, daß alle Kinder, die eine infizierbare
Krankheit haben, wie z. B. Tuberkulose etc., hier in diese Höhle
hinunter gelassen werden ; unten ist eine Maschine, da wird ihnen
der Kopf abgetrennt und der Körper wird heraufgezogen. Richtig
kam auch ein Kind, das hustete und mich dabei anspuckte. Ich
war sehr erzürnt darüber, wendete mein Gesicht ab und dachte,
jetzt werde ich auch diese Krankheit bekommen.
Das Kind wurde auch hinuntergelassen. Die Höhle war so
eng, daß bloß ein Kind hindurchschlüpfen konnte." —
In einem späteren Teil des Traumes hegt sie mit ihrem Begleiter
im Ehebett, wo sie morgens geweckt wird und bemerkt, daß sie
beide blutig sind ; wie sie sich im Traume erklärt von der Menstruation.
Dem Traum hegt also der Wunsch nach der Menstruation zu Grunde
(Wunsch : nicht gravid zu sein) oder, wenn diese schon ausbleibe,
wenigstens verheiratet zu sein (Ehebetten), denn sonst bliebe ihr
nichts übrig, als ein eventuelles Kind zu töten (Totgeburt), ihm
den Kopf abzuschneiden (Blut — Scharfrichter). Die Brunnenhöhlung
als Symbol des Mutterleibes ist wieder deutlich. Dazu kommt die
gleichfalls typische Auffassung der Gravidität als infektiöse Krank-
heit; deswegen erklärt man auch den Kindern mit einem gewissen
Rechte die Gravidität der Mutter als Krankheit.
Ähnliche Geburtsträume, die den Mutterleib als Brunnen sym-
bolisieren, finden sich bei St ekel: Die Sprache des Traumes
(Wiesbaden 1911, Kap. XXVI, bes. Nr. 285 und 287 auf S 275),
eine Arbeit, die mir erst nach Abschluß dieses Manuskripts zuging
und von deren interessanten Beiträgen zur Traumsymbolik ich im
einzelnen nicht mehr Gebrauch machen konnte.
(6)33,37. Der von Hoffory (S. 431) für ursprünglich er-
klärten Version des Konrad von Würzburg, welche die Schwanritter-
sage zur Verherrlichung des Cleveschen Grafenhauses benützt, spricht
Bloete (Zsfda. 42, S. 44) jede mythologische Verwertbarkeit ab,
da die Clevische Tradition, wie sie auch Gert van der Schuren in
seiner Chronik berichtet, das Resultat einer Entwicklung sei, die
erst nach 1368 ihren Abschluß finden konnte und sich schon im
XIII. Jhd. an Wolfram anlehnte.
In einer anderen Arbeit leugnet Bloete (Zf. rom. Phil.) un-
geachtet des Mythus von Sceäf den mythologischen Gehalt der
Schwanrittersage, soweit wir sie bis jetzt kennen gelernt haben,
überhaupt und sucht die Sage als einfache Umbildung der Geschichte
ANMERKUNG 6, 7, 8. 155
Roger I. von Tocni zu erweisen, der sich von den anderen nor-
mannischen Baronen durch ein Schwanzeichen unterschied, sich
auch danach benennen ließ und in dessen Erlebnissen sich Züge
finden sollen, die mit dem Schwanritter übereinkommen.
Eine offenkundige geschichtliche Verwertung hat die Sage
dadurch gewonnen, daß der Chevalier an cygne zum Ahnherrn der
Helden der ersten Kreuzzüge, Gottfrieds von Bouillon, gemacht wurde,
wie in der von Reiffenberg edierten Fassung. Nach einer
geistreichen Vermutung von P. Paris (p. 184) dürfte dabei neben
dem begreiflichen Bedürfnis nach einem mythischen Ahnherrn des
wenig ahnenreichen Helden für die Wahl gerade des Schwanen-
ritters der äußerliche und zufällige Umstand maßgebend gewesen
sein, daß die beiden Wörter signe (signum) und cygne (cygnus),
letzteres in Aussprache und Schreibung häufig als eigne und signe
erscheinend, miteinander verwechselt wurden. Nach Golther
(S. 108) ist der wesentliche Inhalt der Schwanrittersage in ihrer
bestimmten und ausgebildeten Form, unbeschadet der mythischen
Grundlage vom Tivaz hohnijaz (dem altgermanischen Himmelsgott),
ein Erzeugnis aus der zweiten Hälfte des 12. Jhds., beruhend auf
der Anknüpfung zweier, ursprünglich getrennter Sagen an die Ge-
stalt des Gottfried von Bouillon.
(7) M : Diese Berichte finden sich (nach Göttg. gel. Anz. 1823)
bei Ethelwerd (rer. anglic. script. ed. Savüii, Lond. 1596, p. 479), Wilhelm
von Malmesbury (dass., p. 22) und Matthäus von Westmünster
(Flores historiar., p. 166), wo sich der Zusatz findet, der Helden-
jüngling sei schlafend auf einem Strohbündel ganz allein in einem
Schiffe liegend gelandet. Von der angelsächsischen Bezeichnung
für das Strohbund: sceaf (ahd. scoup) leiteten jene spätere
lateinischen Schriftsteller den Namen des Helden sc6f ab. — Der
Bericht selbst lautet nach Malmesbury: »Iste Sceafeus, ut dieunt,
sive quia fortuna commissus, sive aliud quid causa fuerit hujus rei,
ad insulam quondam Germaniae, Scandeam nomine, appulsus,
puerulus, in nave sine remige, inventus est ab hominibus dormiens,
posito ad caput ejus victu frumenti manipulo, exceptusque pro
miraculo, cognominatus ex rei eventu See äff, quod latine dicitur
manipulus frumenti.« (Nach Reiffenberg, p. XVII.)
(8) 85 > 3S : Dieses Heldenleben von Sceäfs Sohn Scyld wird im
Beowulflied, das von den Taten Beowulfs berichtet, nicht weiter er-
wähnt und es bleibt so unerfindlich, wieso der Bericht von Scyld
überhaupt an den Anfang des Gedichtes kommt, daß ein Forscher
wie Ettmüller (S. 6) die Verbindung des Sceaf-Mythus mit dem
Beowulf für rein zufällig und die Einleitung also für einen späteren
Zusatz halten konnte, während Simrock (Beow., S. 169) wenigstens
bemüht ist, historische Gründe für die Übertragung des Mythus
15G ANMERKUNG 8.
von Sceaf auf dessen Sohn ausfindig zu machen. Nun ist aber
zufällige Willkür, wie sie Ettmüller leichthin annimmt, in solchen
Dingen von vornherein unwahrscheinlich und schon darum der
scharfsinnigen Annahme von Müllenhoff beizupflichten, der
(Beow., S. 6 f.) die Einheit der mythischen Personen, von denen das
Gedicht erzählt, wahrscheinlich gemacht hat. So schlecht es zu-
sammenstimmt, daß von Scyld nur die Bestattung, von Sceaf nur
die Geburt und von Beowulf nur die Heldentaten in dem Gedicht
erzählt werden, so einfach und plausibel wird das Verhältnis, wenn
man sich zu der mythologisch nahegelegten Annahme entschließt,
daß alle diese Mythen ursprünglich von Sce"af erzählt worden
seien, wodurch man ein zusammenhängendes Ganzes erhält, wie es
der Heroenmythus verlangt. Scyld kann unmöglich von Anfang
an der Träger des Mythus gewesen sein, weü dieser nur dann
einen rechten Sinn hatte, wenn er von dem ersten Urheber und
Begründer des Geschlechts von unbekannter Herkunft und nicht
von einem späteren Glied desselben berichtet wird, dessen Vater
man bei Namen kannte. Das ganze wäre also nach Müllenhoff
ursprünglich von Sce"af erzählt worden, in dessen Mythus Schiff
und Garbe auf Seefahrt und Ackerbau, die Waffen und Kleinodien
auf Krieg und Königtum, alle vier Attribute also auf die Haupt-
elemente und Grundlagen des ältesten Kulturzustandes der seean-
wohnenden Germanen deuteten; und wenn der Träger dieser
Symbole der erste König des Landes geworden sei, so könne die
Meinung nur die sein, daß von seinem Erscheinen erst der Anfang
jenes ältesten Kulturzustandes datiere. Er wäre demnach eine
durchaus mythische Persönlichkeit — was auch sein singulärer
Name beweist — und ebenso seien notwendig seine drei Nach-
kommen mythische Fiktionen, die eigentlich nur das Wesen des
Sceäf deutlich exemplifizieren und im wesentlichen nichts anderes
ausdrücken, als was schon sein Mythus andeutet. Es hätte also
gar keine Übertragung von Sceäf auf einen Sohn Scyld stattge-
funden, denn dieser stelle nur eine Seite von Sceäfs Wesen dar:
er ist der »Schirmherr«, eigen tlich der mit dem Schilde deckende
was nach einer Vermutung Wa,ckernagels vielleicht darauf
zurückgehen mag, daß ursprünglich dem fremden Ankömmling
statt des Schiffes ein Schild als Fahrzeug gedient habe, wie jenen
kühnen Allemannen, die in Ermanglung eines Schiffes auf ihren
Schilden über den Rhein setzten.
Die schon gelegentlieh des Wassertraumes in der Kyrossage
gestreifte Beziehung des Aussetzungsmythus zu den Flutsagen wird
übrigens auch von der Sceäfmythe festgehalten, da nach dem
Saxon Chronicle (zit. nach Ettmüller, Beow., S. 4). Sceaf an die
Spitze der westsächsisehen Könige gestellt wird mit dem interes-
santen Zusätze: »se väs geboren in dhaere earce Noö«.
_^
ANMERKUNG 9, 10, 11, 12. 157
(9) 88 : Da die Mythe von Sceäf sich auch am Niederrhein
und an den Rhein- und Scheidemündungen von Nymwegen bis
Valenciennes (vallis cygnea) in vielfachen Gestaltungen festgesetzt
hatte, versuchte man (vgl. Simrock : Beow., S. 169) auf Grund einer
kurzen Notiz ihre Kenntnis dem T a c i t u s zuzuschreiben, der im
'6. cap. seiner Germania mit ziemlicher Zurückhaltung berichtet,
daß manche behaupten, Ulysses sei auf seiner langen Irrfahrt auch
den Rhein aufwärts gekommen und hätte dort Asciburgium ge-
gründet. Man wird diese Verknüpfung der Schwanrittersage mit
dem klassischen Altertum, die auch in der Sagenfassung: Carl
Ynach, Salvius Brabon und Frau Schwan versucht wird (Grimm :
D. S. II), für ein ziemlich spätes Produkt ansehen dürfen, wenn-
gleich nicht geleugnet werden kann, daß die Ähnlichkeit gewisser
mythologischer Motive, die zu dieser Verknüpfung führen mochten,
zu denken gibt. Es landet ja, worauf schon Hagen (S. 564) auf-
merksam machte, auch Odysseus nach einer fabelhaften Irrfahrt
allein im Schiffe schlafend wieder in seiner Heimat, die ihm
ganz fremd erscheint und auch er hat, indem er sich nicht zu er-
kennen geben darf, einen Kampf mit den unwillkommenen Freiern
der Penelope zu bestehen, die er aus dem Felde schlägt. Diese
Übereinstimmung der wesentlichen Züge wurzelt in einer tiefen
Bedeutung des Mythus, auf die ich hoffe in einem andern Zu-
sammenhang ein Licht werfen zu können.
(10) 38 : Simrock (Beow., S. 172f.) meint, daß auch der
neugeborene Sceäf ursprünglich unmittelbar nach seiner Landung
einen siegreichen Zweikampf gegen einen mächtigen Bedränger des
Landes werde gekämpft haben, ein Zug, der in der Göttersage
nichts seltenes sei, in der Heldensage natürlich Anstoß erregen
müßte.
(II) 39 : In dem hebräisch-chaldäischen Wörterbuch von
Fürst wird der Name Moses jedoch aus moi Sohn und esche =
Isis, d. h. Sohn der Isis, abgeleitet, nach Analogie von Thout-
mosis = Sohn des Thout. — Gerade danach würde aber der Name
doch nur Sohn bedeuten, was sich auch unserer Auffassung
besser fügt.
(12) 45 : Über die Vorstellung der Seelen Verstorbener als
Vögel siehe Müller (S. 421), wo auch auf die weitere Literatur
verwiesen ist. — Speziell über die Taube als Seelen- und Toten-
vogel vgl. Grimm (D. M., S. 690 f.).
Auch die Arier kennen den Seelenvogel. Das persische murgh
(zendisch meregha) bedeutet Vogel und Seele. Vgl. auch: Der
Seelenvogel im islamischen Volksglauben (Globus, Bd. LXXXIII
Nr. 19).
1
158 ANMERKUNG 13, 14, 15, IG.
(13) 46 : »Der Storch ist halb weiß und halb schwarz, weil
Frau Holle oder Frau Perchta, die Erdmutter und Himmelskönigin,
welcher er geheiligt ist, eine doppelte Seite hat, eine lichte und
eine dunkle, weil sie nicht bloß Lebensspenderin, sondern auch
Todesgöttin ist. Zudem wandert er im Herbst nach Süden in ein
fremdes Land, wie man dachte in das Land der Eiben und
Heimchen, wohin die Toten zurückkehren, und von wo er auch die
Kinder bringe. Er vermittelt also gleichsam zwischen Winter
und Sommer, Zeit und Ewigkeit, Tod und Leben« (Spieß, Anmkg.
S. 385).
(14) 58 : Daß die Frage indirekt auf das Rätsel der mensch-
lichen Geburt geht, scheint noch daran kenntlich, daß in dem in
der Überlieferung stark entstellten Texte das vierbeinige Wesen
als das aus dem Mutterleib (ix Xcrj-oviuv) zur Welt gekommene
Kind bezeichnet wird. Daß r, Xa-yu>v zugleich die Höhle bedeutet,
weist den Übergang zur symbolischen Darstellungsweise, die uns
bereits geläufig ist.
(15) 6+ : Über den Namen Lohen gr in vgl. noch Laistner
(Germania, Bd. 31, S. 423), der den Namen Loherangrin als mög-
liche Umdeutung aus Lowarinclin, einem Diminutiv von Lowäring,
Löring, auffassen möchte. Auch den Schwanritternamen der fran-
zösischen Fassungen Elias sucht Laistner (I, 254) in ähnlichem
Sinne zu deuten. »Elias, d. i. auf deutsch Else, und es ist klar,
daß sein Weib Elsa diesen ihren Namen (eine kosende Kürzung
aus Elistrud oder dgL) als Elsenbraut führt« — »Else und Lur
sind gleichbedeutend. In diesem Zusammenhang wird es interessant,
daß auch Rüekert (S. 245) aus rein sprachlichen Erwägungen
die im Lohengringedicht gelegentlich verwendete Namenform der
Gattin „Elsäny" als Umbildung aus einer älteren Form Elsam oder
Alsam erklärt, die zurückgehe auf den weiblichen Namen Elisam,
den Leo (Ferienschr., I, 106) als wurzelhaft verwandt mit dem
Schwanritternamen Elias erwiesen hat.
Aber nicht nur die Ehe wäre nach Laistner eine Laurings-
ehe, sondern auch der Schwan, der dabei eine so große Rolle
spielt, weise durch seinen alten (ahd. suano, altnord. svaur) mund-
artlich beglaubigten Namen albiz, elbiz auf den Alp oder die Eiben
hin (Laistner, I, 116; Hagen, S. 517).
(16) 64 : Schon Hagen scheint die Lohengrinsage als späteres
Gegenstück zu der ursprünglich weibliehen Sehwanensage anzu-
sehen. Ähnlich Schröder und Mannhardt (B. K.), die auch
den weiblichen Charakter des elbischen Wesens für ursprünglicher
erklären, was Laistner auf Grund seiner Deutung bestätigen zu
können glaubt (I, 193 oben). »Mahrtensagen,« führt er (S.2121) aus,
»gehen auf den Alptraum der Männer zurück, und aus der Häufigkeit
ANMERKUNG 17. 159
dieser Sagen ist zu schließen, daß Männer ihre Dichter waren.
Umgekehrt müßten Erzählungen, worin Lure als Liebhaber mensch-
licher Frauen auftreten, an die Erlebnisse des Weibertraumes an-
knüpfen ; doch mag es dahin gestellt bleiben, ob solche Sagen
nicht bloße Analogiebüdungen nach jenen seien.« — Die Traum-
erzählung Elsas in Wagners Lohengrin, die in ähnlichen Träumen
der Sehwanrittersage ihr Urbild hat, scheint die Selbständigkeit
dieses Weibertraumes anzudeuten, wofür auch die psychoanalytischen
Erfahrungen sprächen, die uns anderseits auf den unbestimmten
oder gemischtgeschlechtlichen Charakter mancher Traumfiguren
aufmerksam gemacht haben. Interessantes Material über Geschlechts-
verwandlung und Geschlechtswechsel der lurischen Wesen
findet man bei Benfey (I, S. 43 u. ff. u. S. 263).
(17) 6Ö : Die früheste schriftliche Notiz über die Schwanensage,
die zugleich zeigt, wie populär schon damals die Fabel war, findet
sich bei Wilhelm von Tyrus, dem Geschichtschreiber der Kreuzzüge
bis 1183; er erwähnt im 6. Kapitel des neunten Buches seines
Werkes gelegentlich einer Bemerkung über Gottfried von Bouillons
Mutter, daß er die von vielen für wahr gehaltene Schwanensage
mit Stillschweigen übergehe. Die Stelle lautet nach Reiffenberg
(p. III) : Praeterimus denique studiose, licet id verum fuisse pluri-
morum astruat narratio, cygni fabulam, unde vulgo dicitur semen-
tivam eis fuisse originem, eo quod a vero videatur deficere talis assertio.
Die Sage selbst war in zahlreichen Bearbeitungen in altfran-
zösischer Sprache erhalten. Eine Aufzählung der Handschriften findet
man bei P. Paris (Manuscr. VI. p. 168—200) und Reiffenberg
(p. CXL— CLIX; Literatur p. LXXXII, rem. 2). Gas ton Paris
(p. 315) unterscheidet mit Beiseitesetzung des von Reiffenberg
veröffentlichten Textes und aller fremdsprachigen Nachahmungen
vier nach ihrem Alter geordnete verschiedene Versionen: 1. Eine
gegen 1190 niedergeschriebene Erzählung aus der altfranz. Be-
arbeitung der „Sieben weisen Meister" durch Herbert von Paris,
nach einer griechischen Übersetzung „Dolopathos" genannt
[Reiffenberg Append. 4, p. 151]; 2. Ein von Henry Alfred Todd
1889 zuerst veröffentlichtes Gedicht aus dem XII. Jhd. „La naissance
du Chevalier au cygne, ou les enfants changes en cygnes", nach
der Mutter der Schwanenkinder „Elioxe" geheißen ; 3. ein vor dem
Ende des 13. Jhd. abgefaßtes verloren gegangenes Gedicht „de la
Gran Conquista de Ultramar"; 4. der von Hippeau veröffentlichte
Text aus der 2. Hälfte des 12. Jhd., die Beatrixfassung, die sich
in mehreren Hds. findet. Bisher wurden jedoch (nach Golther
S. 109) nur zwei Texte veröffentlicht ; eine ältere, bessere Redaktion
bei Hippeau und eine jüngere belgische des XIV. Jhds., in welcher
die Handlung an vielen Stellen verändert wurde. Der Schwanritter
160 ANMERKUNG 18, 19, 20.
des Konrad von Würzburg sehließt sich enge an eine französische
Vorlage an, welche eine Mittelstellung zwischen den beiden ver-
öffentlichten Fassungen einnimmt. Die Hauptpersonen der Handlung
sind der Schwanritter und sein Gegner (bei Konrad der Sachsenherzog
Renier, der Bruder des verstorbenen Herzogs, bei Reiffenberg der
Graf von Blankenburg), welcher schwere Anklage gegen die Her-
zogin und ihre Tochter erhebt (bei Reiffenberg die Anschuldigung
des Giftmordversuches an ihrem Mann und der Unehelichkeit ihrer
Tochter), sowie der Kaiser, vor dem die Sache ausgetragen wird.
Wesentlich einfacher war ein Bericht des Helinandus (chronic. 1. IV)
und des Vincentius Bellovacensis (speculum historiale), der sich bei
den Brüdern Grimm (Das Sehwanenschiff am Rhein) und bei Gör res
(p. LXXI squ.) findet und nur die Ankunft, Ehe, Kinderzeugung
und Abfahrt des Ritters mit dem Schwane berichtet und nicht die
geringste Motivierung (weder den Zweikampf, noch die Frage) an-
führt. Phantastischer und fast märchenhaft dagegen ist die in den
altdeutschen Blättern publizierte Fassung (vgl. S. 75).
(18) 89 : Wie unsicher sich der Erzähler selbst an dieser Stelle
fühlte, zeigt sich darin, daß unmittelbar nachdem die Zeit der Ge-
fangenschaft mit sechzehn Jahren angegeben wurde, es ohne Nötigung
zu einer besonderen Zeitangabe nochmals heißt, die Mutter sei f ü n f -
zehn Jahre im Gefängnis gelegen (Simrock, Volksb., Bd. 6, S. 233).
(19) 92 : Ähnliche Phantasien sind in der Romanüteratur an
der Tagesordnung. Es sei nur auf die Erzählung: Frauenmacht
des feinsinnigen Dichters Gejerstam hingewiesen, wo der Held
ein Mädchen vor der Attacke zweier Betrunkener „rettet" (S. 65 fg.)
und sie dann heiratet. Obwohl in der Ehe sehr unglücklich, ist er
doch außer stände, zu brechen. „Ich war an sie gebunden, weil sie
mein Mitleid geweckt hatte und weil ich mir einbildete, daß sie ohne
mich zugrunde gehen würde" (S. 71). Im Hinblick auf Freuds
Aufklärungen über den Ursprung solcher Rettungsphantasien und
Liebesbedingungen möchte es nicht zufälüg erscheinen, daß der-
selbe Dichter in seinem großartigen Seelengemälde : Nüs Tuf vesson
und seine Mutter, den bewußten Inzest zwischen Mutter und Sohn
behandelt hat. Weitere dichterische „Belege zur Rettungsphantasie"
bei Rank (1. c).
(20) 97 : Wir lassen hier unerörtert, ob das Volksbuch von
Hirlanda (Simroeks Ausg., Bd. 12) nicht eine Nachahmung der
Schwanrittersage ist, in der die Mutterrettung aus der ganzen Ge-
burts- und Jugendgesehichte mit psychologischer Notwendigkeit
folgt. Immerhin scheint aber doch die selbständige Verwertung
der Mutterrettung ohne die abgeschwächte Dublette für die Ur-
sprünglichkeit dieses Motivs zu sprechen, während die selbständige
Weiterentwicklung der von der Mutter abgelösten Rettungsphantasie
-'
ANMERKUNG 20. 161
in der Lohengrinsage insofern sekundär ist, als uns die Jugend-
geschichte des Schwanritters nur das ursprüngliche Vorbild im
Zusammenhang der Sage begründet zeigt.
Der Inhalt des Volksbuches ist kurz folgender : Herzog Artus
muß kurz nach seiner Vermählung mit Hirlanda ins Feld ziehen ;
sein Bruder Gerhard erbietet sich dem aussätzigen König von England
das zu erwartende Kind Hirlandas, dessen Blut er zur Heilung be-
darf, zu verschaffen. Das Kind soll zu Schiff zum König von
England gebracht werden, wird aber unterwegs von einem Abt ge-
fangen genommen, auferzogen und Bertrand getauft. Die entflohene
Hirlanda wird bei dem heimgekehrten Gemahl verdächtigt, die
Frucht eines Hundes geboren zu haben. Nach sieben Jahren wird
Hirlanda gefunden und wieder in ihre Rechte eingesetzt. Nach
sieben Jahren gebiert sie eine Tochter und Gerhard verdächtigt sie
neuerdings des Ehebruches. Sie soll verbrannt werden, wenn nicht
ein Kämpfer für sie auftrete. Ein Engel meldet ihre Not dem Abt
der nun den jungen Bertrand zur Rettung seiner Mutter,
aussendet. Im letzten Augenblick erscheint er, besiegt den Ankläger,
der alles gesteht, und gibt sich den Eltern zu erkennen.
Auf ähnliche Mutterrettungen in der französischen Dichtung
weist Gaston Paris (p. 323 2 ) hin: „Un fils delivre ainsi sa m&re
dans Doon de la Roche et dans les Enfances Doon de
Maien ce." Die Befreiung bedrängter Frauen und Jungfrauen
spielt in der ganzen Heldendichtung des Mittelalters, die überhaupt
von den üppigsten Phantasien erfüllt ist, eine große Rolle. So
wird in Hartmanns „Iwein" (nach Osterwald) die treue Lunete
ins Gefängnis geworfen, weil sie ihrer Herrin Laudine zur Heirat
mit dem treulosen Ritter Iwein geraten hatte, der Laudinens Gatten
erschlagen und sie selbst bald nach der Hochzeit verlassen hatte.
Da bemerkt sie von ihrem Gefängnis aus einen ihr unbekannten
Ritter, der sie nach dem Grunde ihrer Gefangenschaft fragt und
dem sie ihr Leid klagt. Sie solle nächsten Tag verbannt werden,
wenn sich nicht ein Retter in der Not fände. Ihre Feinde seien
der Truchseß und seine zwei Brüder, die sie von jeher um die
Gunst ihrer Herrin beneidet hätten. Sie habe sich im Gefühl ihrer
Unschuld anheischig gemacht, einen Ritter zu stellen, der gegen
die drei kämpfen und die Unschuld der Angeklagten erhärten würde.
Nun ist eben der Ritter, dem sie das aus ihrem Gefängnis erzählt,
ohne ihn zu erkennen, Iwein selbst, den sie einstmals aus Lebens-
gefahr errettet hatte und der sich nun zu Dank verpflichtet fühlt;
er verspricht nächsten Tag zur bestimmten Stunde zu erscheinen.
Durch einen anderen Befreiungskampf aber, in welchem er eine
Jungfrau aus der Gewalt eines Löwen rettet, verzögert sich seine
Ankunft und er erscheint, wie auch der Schwanritter, im letzten
Rank, Die Lohengrinsage. 11
162 ANMERKUNG 20, 21.
Augenblick, als Lunete bereits im Hemd vor dem Scheiterhaufen
kniet. Mit Hilfe seines treuen Löwen, der ihn wie ein Hund
begleitet, besiegt er seine drei Gegner. Hierauf wollte Iwein, den
niemand erkannte und dem Lunete geloben mußte, seinen
Namen nicht zu nennen, Abschied nehmen. Als ihn Frau
Laudine nach seinem Namen fragt, erwidert er, er werde seinen
rechten Namen so lange verschweigen, bis er die Huld seiner
Herrin wieder erlangt hätte; bis dahin wolle er nur „der Ritter
mit dem Löwen" heißen. Ganz ähnlich heißt ja auch der
anonyme Kämpfer in unserer Sage „der Ritter mit dem Schwan",
wie überhaupt in dem von einer Reihe von Rettungskämpfen er-
füllten Iwein die geschilderte Rettungsphantasie direkt einer ein-
gelegten Lohengrinepisode entspricht, womit natürlich über die Frage
der Entlehnung oder Eigenbildung nichts ausgesagt sein kann. Die
innere Verwandtschaft, die für selbständige Büdung jeder Sage
spräche, wächst noch, wenn man den harten Zweikampf in Betracht
zieht, den Iwein für das Erbe einer benachteiligten jüngeren Schwester
unerkannt gegen seinen besten Freund und treuesten Waffenbruder
Gawein führt, und der wie der Vater- Sohnes-Kampf, den wir auf
S. 101 besprechen, mit einer rührenden Erkennungsszene endet.
Im „Iwein" erscheint, wie in den meisten mittelalterlichen
Romanen und Heldendichtungen die Rettungsphantasie ins äußerste
Extrem verzerrt und bis zur Unsinnigkeit vervielfältigt, so daß das
Erretten bedrängter Damen, die dem Ritter völlig unbekannt sind
und ihn nicht das Geringste angehen, zur alleinigen Lebensaufgabe
und zum Beruf der Helden gemacht wird, was die einzelne be-
freiende Heldentat nicht selten in der lächerlichsten Weise ihres
Wertes und ihrer Würde beraubt.
(21) loa : In seinen Anmerkungen zu den Lais der Marie de
France verweist Köhler (p. XCVI squ.) auf eine interessante
Parallele :
„Mit dem letzten Teil des Lais von „Milun" hat ein anderer
französischer Lai große Ähnlichkeit, nämlich der „Lai de Doon"
der von G. Paris 1879 in der Romania (VIII, 61 bis 64) zum
erstenmal herausgegeben wurde und früher nur in der alt-
nordischen prosaischen Übersetzung der „Strengleikar" (Nr. IX,
Douns liod') bekannt war. 1 ) Doon, ein bretonischer Ritter, — so
erzählt der Lai — hat die Hand der Herrin von Edinburg nach
Bestehen gewisser von der Dame ihren Freiern aufgegebenen Proben
erhalten, aber schon am vierten Morgen nach der Hochzeit ver-
2 ) A. Geffroy hat in seinen Notices et Extraits des Manuscrits con-
cernant l'histoire et la litte'rature de la France qui sont conserves dans la
Bibliotheques de Suede, Danemark et Norvege, Paris 1885, p. 18—21 „Douns
hod" übersetzt.
ANMERKUNG 21, 22. 163
läßt er sie. Beim Abschied gibt er ihr seinen goldenen Ring und
sagt ihr, wenn sie einen Sohn von ihm zur "Welt bringen und
dieser herangewachsen sein werde, solle sie ihm den Ring geben
und ihn zum König von Frankreich schicken. Die Dame bekömmt
einen Sohn, und als er reiten kann, gibt sie ihm Doons Ring
und schickt ihn nach Frankreich. Dort wird er ein ausgezeichneter
Ritter. Auf einem Turnier zu Mont Saint-Michel in der Bretagne
kämpfen er und sein Vater, ohne einander zu kennen. Der Sohn
verwundet den Vater am Arm und haut ihn vom Roß herab.
Nach dem Turnier bittet Doon den Sieger, ihm die Hände zu zeigen,
entdeckt an dem einen Finger seinen Ring und gibt sich ihm als
Vater zu erkennen, worauf dann beide nach England ziehen und
der Sohn den Vater zu seiner Mutter bringt.
In beiden Gedichten also kämpft ein Sohn in einem Turnier
zu Mont Saint-Michel gegen seinen Vater und wirft ihn aus dem
Sattel, und in beiden erkennt der Vater den Sohn an dem Ring,
den letzterer trägt.
Schon G. Paris a. a. O. S. 60 hat auf die große Überein-
stimmung der beiden Lais hingewiesen : „Cette seconde partie (du
lai de Doon) ressemble de fort pres ä la seconde partie du lai de
Milon, de Marie de France : dans l'une et dans l'autre un fils combat
contre sou pere dans un tournoi et le de"sarc;onne ; dans l'une et
dans l'autre le pere reconnait son fils ä l'anneau qu'il porte;
enfin, ce qui est le plus frappant, dans l'une et dans l'autre l'aven-
ture a heu ä" un tournoi donn6 au Mont Saint-Michel. La ressem-
blance exacte du fonds et la diversite" de la forme de ces deux
reeits ne permettent pas assurement de les attribuer au meme auteur."
(22) 105 : Nach dem gleichen Schema und mit Verwendung des
Verbotmotivs nach Art der Lanvalsage (vgl. S. 60) verläuft das
Märchen: „Der König vom goldenen Berg" (Grimm Nr. 92).
Der Sohn soll hier ähnüch wie in der Lohengrinsage nicht un-
mittelbar nach seiner Geburt, sondern erst im 12 Lebensjahre vom
Vater in einem Schiffchen ausgesetzt werden, „das auf einem hinab-
wärts fließenden Wasser stände, und der Vater sollte es mit seinem
eigenen Fuß fortstoßen (feindliche Aussetzung), und dann sollte der
Sohn dem "Wasser überlassen bleiben. Da nahm er Abschied von
seinem Vater, setzte sich in ein Schiffchen und der Vater mußte es
mit seinem eigenen Fuße fortstoßen. Das Schiffchen schlug um,
so daß der unterste Teil oben war, die Decke aber im "Wasser;
und der Vater glaubte, sein Sohn wäre verloren, ging heim und
trauerte um ihn. Das Schiffchen aber versank nicht, sondern floß
ruhig fort, und der Jüngling saß sicher darin, und so floß es lange,
bis es endlich an einem unbekannten Ufer festsitzen blieb" (Grimm
K. H. M. II, 34). Dort erlöst der junge Held eine schöne Jungfrau,
164 ANMERKUNG 22, 23, 24.
die seit 12 Jahren, also seit seiner Geburt, auf ihn gewartet
hat. Bei den Proben, die er dabei bestehen muß, wird er auch ge-
tötet, aber die aus einer Schlange zu einer schönen Königstochter
verwandelte Jungfrau macht ihn mit Hilfe des Wassers des
Lebens wieder lebendig. Sie heiraten und bekommen einen Knaben.
Nach acht Jahren sehnt sich der Mann danach, seine Heimat und
seine Eltern wiederzusehen. Er erhält Urlaub von seiner Frau und
ganz wie Liombruno (vgl. S. 60) einen Wunschring, mit dem in der
Lanvalgruppe (Graelent u. s. w.) vorgebildeten Verbot, sie nicht zu den
Eltern herbeizuwünschen. Die Eltern wollen ihn jedoch anfangs
nicht anerkennen; er schafft gegen das Verbot seine Frau herbei,
die ihn mit Entziehung des Ringes bestraft, ohne den er den Weg
zum goldenen Berge nicht wieder findet. Als er ihn nach mannig-
fachen Schwierigkeiten doch wieder erreicht, ist seine Frau eben im
Begriffe einen anderen zu heiraten; er gibt sich zu erkennen und
tötet den Freier sowie alle Hochzeitsgäste. — Darf man auch hier
die nur etwas verspätete Aussetzung ins Wasser der noch späteren
Wiederbelebung durch das Lebenswasser gleichsetzen, die, wie so
oft, auch hier einfach die Belebung, d. i. die Geburt, ausdrückt, so
ist ohne weiters klar, daß der Held auch hier seine Mutter, die
ihm das Leben (wieder)gibt, indem er zur Welt kommt (die 12 Jahre
sind rückgängig zu machen) rettet oder erlöst, dadurch, daß er den
Vater (den zweiten Gatten) beseitigt und sich selbt an dessen Stelle setzt.
Eine ähnliche Beseitigung des unerwünschten Freiers im letzten
Moment zeigt ferner die Märchengruppe, die M annhardt (G. M.
S. 216 f.) von den zwei aus dem Wasser geborenen Zwillings-
brüdern (vgl. Grimm, Bd. III, S. 111) zusammengestellt und mit
einer indischen Sage in Parallele gebracht hat.
Überhaupt ist „die zweite Heirat", wo sie sich in Mythen,
Sagen und Märchen findet, immer auf geheimen Inzest sehr ver-
dächtig und insbesondere von der zweiten Ehe des Vaters läßt sich
unschwer nachweisen, daß sie fast immer die Heirat mit der
Tochter bezweckt (vgl. Allerleirauh, Grimm Nr. 65 u. v. a.).
(23) 105 : Dieses Motiv der fälschlich verdächtigten Treue findet
sich außer bei Genovefa, Wolf dietrich und Siegfried (vgl. Rank :
Mythus S. 54) noch in den Erzählungen von Crescentia, Euryanthe,
des Reußenkönigs Tochter, dann bei der Gattin des Kaisers Octavian,
der Königin von Frankreich, Osanna, des Aragonischen Königs
Dietrich Gemahlin, Berta, Karls des Großen Mutter u. s. w. (vgl. dazu
Hagen S. 565, wo weitere Hinweise). Eine ähnliche Erzählung
auch bei Alpenburg: Alpensagen, S. 199.
(24) m : Die Volksmeinung, daß Vielgeburten nicht ohne Ver-
letzung der ehelichen Treue statthaben könnten, spiegelt sich in
zahlreichen Sagen wieder und ist eines der verbreitetsten Motive
ANMERKUNG 24.
mittelalterlicher Volksdichtung, so daß Cassel (S. 25) meinen
konnte, die vielfachen Sagengestaltungen dienten der Belehrung
des Volkes über diesen Irrtum. Eine der schönsten derartigen
Volkssagen ist verwertet im Lai du Frene (altfranz. freisne, lat
frixinus die Esche) der Marie de France. Dort sagt die Frau ge-
legentlich der Zwillingsgeburt einer Nachbarin (nach Hertz' Über-
setzung, S. 58) :
»Wohl weiß ich das, ich muß gesteh'n,
Niemals geschah's, noch wird's gescheh'n,
Daß eine Frau aus eig'ner Kraft
Durch eine einz'ge Schwangerschaft
Zwei Kinder mag zumal empfahn,
Wenn nicht zwei Männer das getan.«
Bald danach bekommt sie selbst Zwillinge (Mädchen), von denen
sie, um nicht ihrem eigenen Urteilspruch zu verfallen, eines mit
kostbaren Gaben geschmückt, aussetzen läßt. Auf einem Eschen-
baum (daher ihr Name) findet es der Pförtner eines Klosters,
dessen Tochter eben einen Säugling an der Brust hat und nun
das Kind nährt und pflegt, welches dann die Äbtissin als ihre
Nichte aufzieht. Das Kind blüht zur schönsten Jungfrau heran,
gewinnt die Liebe eines Ritters und folgt ihm als Schwangere auf
sein Schloß. Ihr Glück wird jedoch bald gestört, da der Ritter zu
einer ebenbürtigen Ehe gezwungen, ein edles Fräulein heiratet,
welches jedoch vor dem leiblichen Vollzug der Ehe als die Zwillings-
schwester der Geliebten erkannt wird.
Rein hold Köhler hat in seinen gelehrten Anmerkungen
zuWarnkes Ausgabe der Lieder der Marie de France (p. LXIV squ.)
eine Reihe von parallelen und verwandten Sagen zusammengestellt,
die nicht nur das Interesse des Literarhistorikers, sondern auch
das des Psychoanalytikers verdienen.
»Zu dem Eingange des Lais von Le Fraisne, wonach die
Rittersfrau ihre Nachbarin der Zwillinge wegen des Ehebruchs
beschuldigt, bald darauf aber selbst Zwillinge bekömmt und einen
derselben heimlich aussetzen läßt, bilden Seitenstücke folgende
Sagen : die Stammsage der Weifen in der Brüder Grimm Deutschen
Sagen Nr. 515 = s Nr. 521, die Sage von der Gräfin Jutta von
Querfurt in W. J. A. von Tettaus und J. D. H. Temmes Volks-
sagen Ostpreußens, Litthauens und Westpreußens, Nr. 62, die von
den Hundt von Dorfheim in Pinzgau bei F. Panzer, Bayrische
Sagen und Bräuche, I, 8, die von den Hunden von Wenkheim bei
L. Bechstein, Der Sagenschatz des Thüringerlandes, neue Aufl.,
Hildburgh. 1862, IV, 199, und C. L. Wucke, Sagen der mittleren
Werra, I, 96, die von den Herrn von Trazegnies in J. W. Wolfs
Niederländ. Sagen, Nr. 128 und besonders die Variante S. 681,
166 ANMERKUNG 24.
die ungarische von den sieben Söhnen des Grafen Simon Mitzban,
über welche D. Cornides im Ungarischen Magazin, Bd. 2, Preß bürg
1782, S. 145—74, gehandelt hat (vgl. auch P. Cassel, Der Schwan
in Sage und Leben, Berlin 1861, S. XXIII), und die spanische,
welche dem Schauspiel »Los Porceles de Murcia« von Lope de
Vega zu Grunde liegt (Analyse desselben in M. Enks Studien über
Lope de Vega Carpio, Wien 1839, S. 183—94). Nach diesen Sagen
zeiht eine vornehme Frau eine Bettlerin, welche Zwillinge oder
Drillinge hat, deshalb des Ehebruchs, bekömmt dann selbst Sieben-
linge (Sage von den Hundt, den Söhnen des Grafen Mitzban und
den Porceles von Murcia) oder Neunlinge (Gräfin von Querfurt)
oder Zwölf linge (Weifen) oder Dreizehnlinge (Sage von den
Trazegnies = T r e i z e ne"s und von den Hunden zu Wenkheim),
behält aber nur eines der Kinder und läßt die übrigen forttragen,
um sie zu ertränken, welch letzteres jedoch durch den Vater ver-
hindert wird, der dazu kömmt, wie die Kinder als angebliche junge
Hunde ertränkt werden sollen.
Außer diesen gibt es noch manche andere parallele Sagen,
die aber zum Teil verändert oder entstellt oder unvollständig über-
liefert sind. So ist es Entstellung, wenn in der Sage von der
Gräfin auf Falkenstein im Inntale und von ihren Zwölflingen
(Sepp, Altbayr. Sagenschatz, S. 547) die Bettlerin nicht wegen
ihrer Zwillinge oder Drillinge, sondern ganz allgemein wegen ihrer
vielen Kinder, die nicht alle rechtmäßige sein könnten, gescholten
wird. Ebenso liegen Entstellungen vor, wenn in einer Fassung
der Sage der Gräfin von Querfui't (A. Kuhn u. W. Schwartz, Nord-
deutsche Sagen, Nr. 234) und in der von der Gräfin von Altdorf
im Sehussenthal und von ihren Zwölflingen (E. Meier, Deutsche
Sagen aus Schwaben, Nr. 371) der Bettlerin mit ihren vielen
Kindern nicht Ehebruch vorgeworfen, sondern sie nur gescholten
wird, daß sie so viele Kinder habe und doch nicht wisse, wovon
sie sie ernähren solle, und wenn in der von der Rittersfrau vom
Schloßberg oder Weißenberg bei Ursberg in Mittelfranken und von
ihren Siebenlingen (Panzer I, 134) die Rittersfrau der Bettlerin
mit ihren sieben Kindern zuruft: »Hättest du so viele Hunde ge-
boren, so zögen sie die Bauern!« — In andern parallelen Sagen
fehlt die Ehebruchsbeschuldigung der Bettlerin durch die vornehme
Frau, aber die Furcht der letzteren wegen Mehrgeburt in den Ver-
dacht des Ehebruches zu kommen, ist gebheben. Vgl. Grimm,
Deutsche Sagen, Nr. 571 = 2 577 (Variante der Sage von der
Gräfin von Querfurt), E. de la Fontaine, Luxemburger Sagen und
Legenden, Nr. 341 (Sage der Famiüe von Hondelingen), Panzer I,
30 (Sage von einer Gräfin auf dem Scbneckenbüchel). — In noch
andern sonst parallelen Sagen kommt, wenigstens in der Gestalt,
ANMERKUNG 24. W,
in der sie vorliegen, überhaupt nichts von dem Verdacht des Ehe-
bruches vor, und da sie demnach keinen Berührungspunkt mit
unserem Lai haben, übergehe ich sie hier.
Dagegen steht in gewisser Beziehung unserem Lai die Sage
von der Gräfin Margareta von Holland besonders nahe, wie sie
Hermann Korner in seiner Chronik (J. G. Eccard, Corpus historicum
medii aevi, II, 955 — 56) beim Jahr 1300, secundum Wilhelmum
erzählt hat: Als Katharina, die Frau des Ritters Simon im Haag,
eine allgemein geliebte und geehrte Dame, Zwillinge geboren hatte,
sagte die ihr übelwollende Gräfin Margareta, die Gemahlin des
Grafen Johann von Holland, öffentlich: »Nunc apparet in effectu
finis levitatis et dissolutae conversationis mulieris illius. Reputo
enim, tarn impossibile quamcumque mulierem posse ex unico patre
gemellos concipere, sicut me simul tot concipere foetus quot dies
sunt unius anni.« Infolge dieser Äußerung der Gräfin trennte
sich der Ritter von seiner Gemahlin und sie wurde in ein Kloster
gesperrt. Dort flehte sie zu Gott, ihre Unschuld offenbar zu
machen, und ihr Flehen wurde erhört. Denn nach einiger Zeit
brachte die Gräfin 364 Kinder auf einmal zur Welt, die vollkommen
menschlich gestaltet, aber klein wie Krabben waren, und nachdem
sie von den Hebammen in ein großes Becken gelegt und durch
Besprengen mit geweihtem Wasser getauft worden waren, starben.
Allgemein wurde angenommen, quod Deus ob injuriosam infamationem
nobilis mulieris Katharinae tantum prodigium ostendisset in ipsius
infamatrice. Der Ritter nahm seine Gemahlin wieder feierlich zu sich.
In dieser Erzählung Korners 1 ) ist also die des Ehebruchs
geziehene Mutter der, Zwillinge eine Edelfrau, wie im Lai del
Fraisne, keine Bettlerin, wie in den meisten der oben erwähnten
Sagen 2 ), und bei Korner wie bei Marie glaubt der Ritter die An-
schuldigung.
*) Die Erzählung im Chronicon Sclavicum, quod vulgo dicitur paroohi
Suselensis, niedersächsisch und lateinisch, hgg. von E. A. Th. Laspeyres,
S. 124, ist nur eine zum Teil wörtliche Abkürzung der Kornerschen Er-
zählung.
-) In jüngeren Überlieferungen der Sage (vgl. Brüder Grimm, Deutsche
Sagen, Nr. 678 = 2 Nr. 584, und J. W. Wolf, Niederländische Sagen, Nr. 45)
ist es eine arme Frau, die ihrer Zwillinge wegen von der Gräfin beschimpft
wird, und sie wünscht dafür der Gräfin so viele Kinder als Tage im Jahre.
In einer spanischen Romanze (G. B. Depping, Romancero Castellano, nueva
ediz., III, 74) ist Madama Margarita eine ,Prinzesa' von ,Irlanda* (statt
Olanda) geworden, und die beschimpfte Bettlerin wünscht ihr so viele Kinder
auf einmal zu bekommen,
que no puedas conocerlos
ni menor poder criar.
168 ANMERKUNG 24.
Außer diesen Sagen bilden ferner Seitenstücke zum Eingange
unseres Lais eine dänische Ballade und eine spanische Romanze.
In der dänischen Ballade (Sv. Grundtvig, Danmarks gamle Folke-
viser, V, 386, Nr. 285 E) schwört Frau Ellensborg in der Kirche —
es ist nicht gesagt, bei welcher besonderen Gelegenheit, etwa bei
einer Taufe von Zwillingen — , eine Ehefrau könne nicht recht-
mäßiger Weise Zwillinge bekommen, bekommt aber dann selbst
Zwillinge weiblichen Geschlechts und wirft eins der Mädchen ins
Wasser, das aber von den Wellen ans Land geworfen wird und
dessen fernere merkwürdige Schicksale den Hauptinhalt der Bal-
lade ausmachen. 1 ) In der spanischen Romanze (G. B. Depping,
Romancero Castellano, nueva ed., III, 72 ; F. Wolf und C. Hofmann,
Prima vera y Flor de Romances, II, 77, Nr. 152) führt eine Königin
von Frankreich das Gesetz ein, daß eine Frau, die Zwillinge ge-
bäre, als Ehebrecherin verbrannt oder ins Meer geworfen werde.
Als sie nun selbst zwei Knaben geboren hat, verschließt sie den
einen nebst Gold und Juwelen in einem Kasten und wirft ihn ins
Meer. Der Kasten wird von den Wogen ans Land unter einen
Weißdorn geschleudert und dort von Seeleuten gefunden und auf-
gemacht. Der Knabe, nach dem Weißdornstrauch (espino) ge-
nannt (Espinelo, also wie Le Fraisne von der Esche), wird zum
Sultan von Syrien gebracht und von diesem an Sohnes Statt an-
genommen.
Dem Eingang der spanischen Romanze ganz ähnlich ist der
des italienischen Gedichtes von dem Königssohn Gibello 2 ). Nach
diesem ließ König Tarsiano von Bravisse alle Mütter von Zwillingen
verbrennen. Als nun seine Gemahlin Zwillinge geboren hatte, wobei
niemand außer ihrer Hebamme gegenwärtig gewesen war, trug die
Sie bringt dann 370 Söhne, ckicos ratoucillos, zur Welt u. s. w. Die Tauf-
schüssel der 370 wurde in einer Kirche »unserm Kaiser Carlos« (Karl V.)
gezeigt. Vgl. über die Sage nach J. van Lennep und J. ter Gouw, Het Boek
der Opschriften, Amsterdam 1869, S. 157. — Nach Sepp a. a. O., S. 549
kommt die Sage auch in Tirol vor. Er sagt: »Am Thierberg bei Kufstein
kann man lesen wie die Gräfin Seiboldsdorf dieselbe Erfahrung (wie die
Gräfin von Holland) gemacht, und man sieht die 3G5 bei der Taufe abgebildet,
welche das Bettelweib ihr angewunschen.«
J ) Grundtvig, S. 379, verweist dazu auf unsern Lai, die Reali di
Francia, Grimm, Deutsche Sagen, Nr. 515, 517, 571, 578, Wolf, Niederl. Sagen,
Ni\ 128, Müllenhoff Sagen, Nr. 513, und auf die gleich zu erwähnende
spanische Romanze. Einige der angeführten Sagen gehören zu den von mir
absichtlich übergangenen (siehe oben).
2 ) Herausgegeben von F. Selmi u. d. T. „Gibello, novelle inedita in
ottava rima del buon secolo della lingua«, Bologna 1868 (Dispensa XXXV der
Scelta di curiosita letterarie inedite o rare dal secolo XIII al. XIX).
ANMERKUNG 24. 169
treue Hebamme das eine Knäblein heimlich ans Meer, um es
hineinzuwerfen, traf aber dort fremde Kaufleute, denen sie das
Kind gab. Von dem weitem Verlauf des Gedichtes interessiert uns
hier nur, daß es schließlich an den Tag kommt, daß Gibello, der
von den Kaufleuten mitgenommene Zwilling, nachdem er ein tap-
ferer Ritter geworden, der Zwillingssohn der Königin von Bravisse
ist, und daß der König seine Gemahlin deshalb verbrennen lassen
will, daß aber Gibello ihn davon abbringt, indem er ihm folgende
Vorstellung macht:
Come non fu 'mpossibile al Signore
Di fare Adamo primo uom che formoe,
Cosi no 'gli e 'mpossibile di fare
Duo figlino' in an' ora in generare.
Ferner gehören hierher aus bekannten mittelalterlichen Dich-
tungen die Geschichten der Königin Beatrix, der Gemahlin des
Oriante und der Königin Drugiolina oder Drusolina oder Dusolina
(Duxolina), der Gemahlin des Fioravante, von denen erstere mit
Siebenlingen, letztere mit Zwillingen niederkömmt, nachdem sie
vorher sich gegen die Möglichkeit der ehelichen Zeugung von
Zwillingen ausgesprochen haben, worüber im folgenden das Nähere.
Aus einer französischen Prosabearbeitung des »Chevalier au
cygne« (ed. Reiffenberg) sind die englische »History of the noble
Helyas, Knight of the Swanne« (Early English Prose Romances,
ed. by W. J. Thoms, sec. ed., Vol. III, London 1858) und das
niederländische Volksbuch von dem »Ridder met de Zwan« geflossen.
In letzterem sagt nach G. D. J. Schotel, Vaderlandsche Volksboeken
en Volkssprookjes, Haarlen 1874, I, 47 Beatrix zu ihrem Gemahl :
Mij dunkt dat eene vrouw niet en mag ontfangen twee kinderen,
zonder te hebben twee mannen«, worauf Oriant antwortet: Dit mag
wel geschien, want bij der natuure en bij Godes gratie zoo mag
eene vrouw van een man ontvangen t' eender dragt zeven kinderen.
In der englischen Bearbeitung sagt Beatrice (Toms III, 33) : »Me
semeth that it is difficile for a woman to conceive two children
without having the Company of two men«, und Oriant antwortet :
» Sweet love, yes right wel, put away the opinion fro your minde.
For by the wil of God and after nature a woman may conceive
of one man to the nombre of XII children at ones, naturally
fourmed, and parfite«.
In der von H i p p e a u herausgegebenen Version (V. 50 ff.) sehen
König Oriant und seine Gemahlin von einem Thurm herab, wie
eine arme Frau zwei Kinder trägt. Kaum hat der König sie gesehen,
so fängt er zu weinen an und beklagt sich über die Kinderlosig-
keit ihrer eigenen Ehe. In der folgenden Nacht empfängt die
Königin von ihrem Gemahle sieben Kinder.
170 ANMERKUNG 24.
Dies franzosische Gedieht ist die Quelle einer lateinischen
»Histona de milite de la Cygne« in Reiffenbergs Ausgabe
b. 181—205 und des zuerst 1820 von Utterson für den Roxburghe
Club und dann wieder 1868 von H. H. Gibbs für die Early
Eng hsh Text Society (Extra Series, VI) herausgegebenen »Romance
of the Chenelere Assigne«. Aus beiden möge es hier genügen
nur die Worte mitzuteilen, welche die Königin ihrem Gemahl
antwortet. In der lateinischen Erzählung (S. 182) sagt sie: »Non
est creatura sub celo que me posset ad credendum inducere, ut
uno concubitu vel generatione valeret ulla femina fetum duplicem
generare, nisi foret mullier meretricia que se supponeret duobis viris.«
In dem »Libro di Fioravante« wird erzählt, wie eine Frau
mit zwei Knaben den König Fioravante in Gegenwart seiner Ge-
mahlin, seiner Mutter und seiner Barone um ein Almosen bittet.
Nach einer Pariser Handschrift 1 ) sagt seine Gemahlin — hier
Duxolina (Dusohna) genannt — zu der Armen: »Como di tu che
de uno homo tu abia doy fioli a un portato?« Worauf Fioravante
zu seiner Gemahlin sagt: »Se non fosse chel me parareve male,
io te dareve tale per la boccha che te fareve cadere in terra ; chel
e segondo la voluntä de Dio che una femina po aver doy fioli, sey
e dexe e altersi eente, se a Dio gie plaxesse. Imperzoe pentete de
quello che tu ä ditto.« Nach einiger Zeit bringt Drugiolina Zwil-
lingsknaben zur Welt. Mit ihnen wird sie dann, nachdem ihre
Schwiegermutter einen Jungling gezwungen, sich neben die Schlafende
zu legen, und hierauf ihren Sohn herbeigerufen, als Ehebrecherin
von ihrem Gemahl verstoßen.
Die Geschichte der Drugiolina oder Drusolina und ihrer
Zwillingssöhne findet sich aber auch in den »Reali di Francia«,
und hier (Libro II, cap. 42) sagt Drusolina — ich gebe die Worte
so wie sie Rajna a. a. 0. S. 81 gibt 2 ) — : »E' non puö essere
che d'uno uomo solo a uno portato nasca due figliuoli' ; Fioravante
aber erwidert ihr: »O Drusolina, non dire cosi, imperö che a Dio
noun' e impossibile nulla, imperö che la femmina a uno portato
puö fare sette figliuoli, ma non piü«. 3 )
Endlich habe ich noch die Dichtung von der Gemahlin und
den Zwillingssöhnen des Kaisers Octavianus zu erwähnen, von
*) A. Darmesteter, De Floovauto, vetustiore gallico poemate, et de
Merovingo Cyclo, Lutetiae Parisiorum 1877, S. 179.
2 ) Pio Rajna : I Reali di Francia. Ricerche intorno ai Reali di Francia,
segnite del Libro delle storie di Fioravante e del Cantare di Bovo d' Anton a.
Vol. I, Bologna 1872.
8 ) Siebenlinge erseheinen also hier wie oben] in der Stelle aus dem
von Reiffenberg hgg. »Chevalier au cygne« als das Maximum.
ANMERKUNG 24.
171
welcher die Geschichte der Drugiolina, wie schon längst bemerkt,
nur eine Variante ist (Vgl. Rajna a. a. 0. S. 72). Auch in ihr
kömmt der Zweifel an der ehelichen Geburt von Zwillingen vor,
aber es spricht ihn die böse Schwiegermutter aus, nachdem die
Schwiegertochter Zwillinge zur Welt gebracht hat, und es erscheint
auch für den weiteren Verlauf der Geschichte (Verstoßung der
Königin mit ihren Zwillingen auf Anstiften der Schwiegermutter)
angemessener, daß jener Zweifel von der Schwiegermutter nach
der Geburt der Zwillinge, als von der Mutter selbst vorbei-, aus-
gesprochen wird. In unserem deutschen aus dem Französischen
übersetzten Volksbuch vom Kaiser Octavianus sagt die Mutter
Octavians zu ihm — nicht zu seiner Gemahlin — : »wie sollt' es
möglich sein, daß ein Weib zwei Kinder in einem Leibe trüge und
an die Welt brächte, wenn sie nicht mit zweien Männern zu tun
gehabt hätte?« (Simrock, Die deutschen Volksbücher, II, 244).
Über die Worte der Schwiegermutter in dem französischen Original
vergleiche man den 1884 zum erstenmal von K. Vollmöller hgg.
Roman »Octavian« (V. 118 ff.). Das englische Gedicht »Octavian
Imperator« (H. Weber, Metrical Romances, III, 157 ff) weicht
sowohl von dem altfranzösischen Gedieht als von dem deutschen
Volksbuch vielfach ab.
Der »Volkswahn«, wonach »Zwillinge und Drillinge Verdacht
ehebrecherischer Zeugung traf,« 1 ) kommt übrigens schon im
Altertum und noch in der Neuzeit bei verschiedenen nichteuropäischen
Völkern vor. Vgl. H. Ploss, Das Kind in Brauch und Sitte der
Völker, 2., neu durchges. u. verm. Aufl., Berlin 1882, I, 265 ff.
Auch Hertz hatte (in seiner Übersetzung der Lieder der Marie de
France, Stuttgart 1862, S. 252) aus dem Werk »L'Esprit des
Usages et des Contumes des diffßrents peuples, London 1785, I,
269, folgende Stelle mitgeteilt: »Une ne"gresse d'Ardra (Guinea),
qui accouche de deux jumeaux, est rßputee adultere; on n'imagine
pas que le mSme homme engendre deux enfants.« Diese Stelle its
dem von Ploss gesammelten nachzutragen.« (Bis hierher wörtliches
Zitat nach Köhler.)
Daß sich in diesem Volksglauben nicht so sehr eine infantile
Sexualtheorie als vielmehr ein soziales Sexualproblem der Er-
wachsenen spiegelt, geht nicht nur daraus hervor, daß der Irrtum
doch eine gewisse Kenntnis der Zeugungs- und Geburtsvorgänge
voraussetzt, sondern auch aus den sozialen Momenten, welche dabei
mitspielen. Außer den schon im Texte (S. 111) genannten Recht-
fertigungsversuchen der Frau und Ironisierungsbestrebungen des
Mannes ist es auffällig, daß die wegen der Mehrgeburt gescholtene
Frau meist als Bettlerin dargestellt wird, welche Schwierigkeiten
*) Die Worte sind von Jakob Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer, S. 456.
172 ANMERKUNG 25, 26.
mit der Ernährung der Kinder hat. Auf das Problem der Sexual-
aufklärung würde vielleicht der Umstand hindeuten, daß die vor-
nehmen Damen bezüglich ihrer Sexualunwissenheit in einen direkten
Gegensatz zu den Weibern aus dem Volke gestellt werden.
(25) m : Diesen Mechanismus hat Riklin (S. 47) am Märchen
vom Froschkönig (Grimm, Nr. 1) dargelegt. Silber er faßt
in seiner interessanten Arbeit diesen Mechanismus (S. 583) wie
auch die mythologische Spaltung und Personifikation als „funk-
tionales Phänomen" auf; d. h. er sieht darin neben dem Ausdruck
eines Gedanken i n h a 1 1 s auch die Darstellung des entsprechenden
psychischen Vorganges. Ein plastisches Beispiel für diese Auffassung
findet sich in unserer Sage an der Stelle, wo der siegreiche König
Oriant bei seiner Heimkehr die gegen seine Gemahlin erhobenen
Beschuldigungen hört. „Da befiel ihn tiefer Schmerz; er ver-
sammelte seinen Rat und fragte, was zu tun wäre? Und einige
rieten, die Königin zu verbrennen, andere aber, sie nur gefangen
einzuschließen. Dieses letztere gefiel dem König besser, weil er sie
noch immer hebte" (Grimms Wiedergabe. D. S.). Hier ist sehr hübsch
die Überlegung und das Schwanken des Königs vor der Ent-
schließung in dem „versammelten Rat" des Königs personifiziert,
in dem zunächst Uneinigkeit herrscht, wo aber doch schließlich die
Liebe des Königs zu seiner Gattin den Ausschlag für ihre Be-
gnadigung gibt. Vgl. dazu Silber er (S. 552): „Die ab-
strakte Handlung des Nachdenkens, des Erwägens verschiedener
Möglichkeiten des Denkens oder des Entschlusses wird durch eine
Diskussion mehrerer Menschen bildlich dargestellt."
(26) 129 : Mythologisch ist die Verwandlung der Kinder in
Schwäne bedingt durch den Mahrtencharakter der Mutter, die ur-
sprünglich offenbar selbst eine Schwanenjungfrau war (wie in der
Fassung der altdeutschen Blätter) und sich ja noch in unserer
Sage in eine Hirschkuh verwandelt. Der von uns supponierte
psychologische Zusammenhang der Schwanverwandlung mit dem
Geburtsvorgang scheint auch mythologisch nahegelegt durch eine
Bemerkung von Wolf (Beiträge, IL, 217), der von einer Fee
welche die Gabe hatte, sich in einen Schwan zu verwandeln, sagt:
»Sollte sie diese durch den Verlust der Jungfräulichkeit verloren
haben ? War das Wasser (durch das sie wieder in den Vogel ver-
wandelt wird) aus dem reinigenden Brunnen der Jugend und
Schönheit, der wohl auch die Jungfräulichkeit wieder herstellte,
wie das Bad in der Quelle Canatho der Juno die verlorene Virginität
wieder verlieh (Lysim. Alex. XIII).« — W u n d t (S. 1 58) meint, daß in
den Sagen der Schwanenjungfrau die alte Vorstellung von der Ehe
zwischen Mensch und Tier (Zeus-Leda) verschollen sei und daß darum
der Schwan ursprünglich schon eine menschliche Jungfrau gewesen sei,
ANMERKUNG 27, 28. 173
die sich erst in das Tier verwandelt habe. — In gewissem Sinne
mag dies zutreffen wie ja auch unsere Sage in der Phantasie von
der Hundegeburt noch einen Rest jener geschlechtlichen Verbindung
zwischen Mensch und Tier bewahrt hat. Daß aber speziell der
Hund eines der häufigsten »Sexualtiere«, d. h. Tiersymbol für
das Männlichsexuelle ist, hat Riklin (S. 55) hervorgehoben.
(27) 18e : Wenn auch Wagner in seiner Selbstbiographie (S. 19)
berichtet: »Ich entsinne mich kaum je von ihr geliebkost worden
zu sein, wie überhaupt zärtliche Ergießungen in unserer Familie
nicht stattfanden«, so widerlegt das unsere Vermutung keineswegs, um
so weniger, als gleich darauf das Geständnis einer Ausnahme folgt.
»Unter solchen Umständen ist es mir als epochemachend in der
Erinnerung geblieben, daß als ich eines Abends schläfrig zu Bett
gebracht wurde, und die Augen weinerlich nach ihr aufsehlug, die
Mutter mit Wohlgefallen auf mich bückte, und gegen einen an-
wesenden Besuch sich mit einer gewissen Zärtlichkeit über mich
äußerte.« — Wagner kann ja sehr wohl die anderen Zärtlich-
keiten der jungen Witwe, die, wie wir vermuteten, noch in das
erste Lebensjahr des Knaben faüen, vergessen, oder was bei seiner
Veranlagung wahrscheinlicher ist, verdrängt haben. Für diese Auf-
fassung spricht insbesondere die psychoanalytisch leicht verständliche
Tatsache, daß Wagner als Kind an ausgesprochenen Angstzu-
ständen litt, die wie wir wissen, auf die intensive Verdrängung psy-
chosexueller Regungen zurückgehen. Er schreibt darüber in der
Selbstbiographie (»Mein Leben«, S. 20) :
»Die Erregungen des Grausens und der Gespensterfurcht
bilden einen ganz besonderen Faktor in der Entwicklung meines
Gemütslebens. Von zartester Kindheit an übten gewisse unerklärliche
und unheimliche Vorgänge auf mich einen übermäßigen Eindruck
aus ; ich entsinne mich, vor leblosen Gegenständen, als Meublen,
wenn ich länger im Zimmer allein war, und meine Aufmerksamkeit
darauf heftete, plötzlich aus Furcht laut aufgeschrien zu haben,
weil sie mir belebt schienen. Keine Nacht verging, bis in meine
spätesten Knabenjahre, ohne daß ich aus irgend einem Gespenster-
traum mit fürchterlichem Geschrei erwachte, welches nie eher
endete, als bis mir eine Menschenstimme Ruhe gebot.«
(28) 13u : Wagner hat diese Phantasie einer Untreue nicht
nur in Betreff seiner Mutter gehegt, sondern auch auf die vorige
Generation übertragen, indem er seine Großmutter mütterlicherseits
in ähnlicher Weise verdächtigt. Von seiner Mutter heißt es in der
Selbstbiographie, S. 18:
Ȇber ihre Herkunft hat sie sich gegen keines ihrer Kinder
umständlich vernehmen lassen. Sie stammte aus Weißenfels, und
174 ANMERKUNG 28, 29, 30.
8Ä.f\*S ^ EItei ' n d0rt Bäcker ( nach neueren Erkundigungen
Muhlenbesitzer) gewesen seien. Schon in Betreff ihres Namens
äußerte sie sich aber mit einer sonderbaren Befangenheit indem
sie diesen als »Perthes« angab, während, wie wir wohl heraus-
bekamen, er in Wahrheit »Bertz« hieß. Auffallend war, daß sie
in einer gewählten Erziehungsanstalt zu Leipzig untergebracht war
und dort die Sorge eines von ihr sogenannten »hohen väterlichen
Freundes« genoß, als welchen sie uns später einen weimarischen
Prinzen nannte, der sieh um ihre Familie in Weißenfels Verdienste
erworben hatte. Ihre Erziehung scheint in jener Anstalt durch den
plötzlichen Tod dieses väterlichen Freundes unterbrochen worden
zu sein.« Neben dem Gedanken, daß der aus solchen Verhältnissen
stammenden Mutter vielleicht auch manches zuzumuten wäre, spricht
SwJLSZT Phan * a r *£ aUem die }*»% zum Familienroman
gehörige Idee einer hohen (fürstlichen) Abkunft aus, die auf Kosten
des persönlichen Ehrgeizes die Abstammung vom Vater leugnet
und die Treue der Mutter verdächtigt. - Dieselbe Phantasie be-
richtet Goethe in »Dichtung und Wahrheit«.
(29) 137 : Nach der Selbstbiographie (S. 85), entnahm Wagner
den Stoff »Büschings Buch über das Ritterwesen«. Dort wird eine
Edelfrau zur Nachtzeit von einem Manne, der sie liebt, überfallen
Wagner macht daraus eine Braut und beginnt mit der Familien-
temdschaft zweier großer Geschlechter, welches Motiv er auch in
seinem Trauerspiel »Leubald und Adelaide« ausgiebig verwertete.
(30) Hi. Auch dieser Zug in Wagners Lohengrin, daß
Telramund der zweifelnden Elsa rät, den geheimnisvollen Retter
durch einen Zauber an sich zu fesseln, zu dem er ihr seine Hilfe
anlnetet, findet si^ im .Titurel« angedeutet und wird danach sowie
nach Hoffstatter (11,174-182) von den Brüdern Grimm unter
dem Titel : Loherangnns Ende zu Lothringen erzählt. Als Lohen-
grin nach Stehung der verbotenen Frage aus Brabant fortgezogen
war, kam er nach Luxemburg und ward dort der schönen Belaye
Gemahl (zweite Ehe), die ihn so hebte, daß sie keine Stunde ohne
ihn sein konnte. Da wurde ihr geraten, wenn sie ihn fest an sich
bannen wolle, müsse sie ihm, wenn er schlafe, ein Stück Fleisch
vom Leibe schneiden und essen. Sie verwarf aber diesen Rat und
sagte: »Eh' woUt ich mich begraben lassen, als daß ihm nur ein
Ringer schwüre.« — Mit denselben Worten trägt Talramund bei
Wagner seinen Plan vor: »Laß mich das kleinste Glied ihm nur
entreißen, des Fingers Spitze...« Belayes neidische Verwandte
unternehmen es dennoch, dem schlafenden Helden ein Stück Fleisch
auszuschneiden; aber durch einen Traum gewarnt, erwacht Lohen-
grin rechtzeitig, tötet mit einer Hand eine Menge Angreifer, empfängt
aber schheßhch doch eine Todeswunde
ANMERKUNG 31, 32. 175
. >( V-,., Das ln Sage und DicIltu ng in vielfachen Varianten
und Modifikationen verwertete Motiv des Vatermordes hat auch
Wagners Phantasie frühzeitig aufs intensivste beschäftigt So be-
richtet er bereits aus der Schulzeit über seinen Versuch eine
Tragödie nach griechischem Muster zu konstruieren (Mein Leben, S.24) •
^ wählte hiezu als St0ff den Tod des Odysseus nach
einer Fabel des Hyginus, nach welcher der alte Held von seinem
mit Kalypso erzeugten Sohne erschlagen wird. Auch mit dieser
Arbeit blieb ich in den ersten Anfängen stehen.« Das gleiche Thema
hegt auch dem komplizierten Trauerspiel »Leubald und Adelaide«
zu Grunde, das der 15jährige Jüngling verfaßte. »Die Handlung
552S? 9 S k f g f f Ch aUf Gine Variati ™ des »Hamlet« : Die
Ir^Si ng c ^^ darm > daß mein H ^ d > durch die Erscheinung
und destn Anf?', ^ ahnUdien Umständen gemordeten Vaters,
und dessen Aufforderung zur Rache, zu so ungestümer Aktion
W a fn r I Sen T d V ^ ^ dUrCh eine Reihe von Mordtaten zum"
vlrZT 8 t ngt , [Er i ÖtGt den MÖrder ' seine Söhne ™ d «eine
Verwandten. Nur dessen Tochter ist vor seiner Rache gerettet worden.
Von den Feinden gefangen, entflieht er mit ihr und draußen in der
Wildnis erkennen sie einander als Todfeinde.] Der in Leubald
bereits merklich keimende Wahnsinn bricht nach dieser Entdeckung
immer stärker hervor; was zu dessen Steigerung beigetragen
werden kann, geschieht durch den Geist des Vaters, welcher sich
unaufhörlich zwischen die Annäherungen der Liebenden drängt
Endlich erstickt er sie in der Raserei, findet sich dann plötzlich
beruhigt, senkt sein Haupt auf ihren Schoß und läßt sich ihre
letzte Liebkosung gefallen, während ihr eigenes Blut über den
Sterbenden dahin strömt. (Mein Leben, S. 35.)
(32) »s Wäre diese Änderung wirklich der Bühnenwirkung
zuliebe vom Dichter eingeführt worden und rein willkürlich gewesen
so hatte er sich unmöglich so heftig dagegen sträuben können!
dem großen Publikum zuliebe die Handlung zu einem befriedigenden
Seh uß zu .fuhren. »Auch in den Mitteilungen an seine Freunde
schildert er, wie er vielfach wirklichen, tiefen, oft in heißen Tränen
ihm enströmenden Jammer litt, als er unabweislich die tragische
Notwendigkeit der Trennung, der Vernichtung der beiden Liebenden
empfand. Um em Haar hätten es einige seiner Freunde, die sich
noch nicht an eine Oper ohne befriedigenden Schluß gewöhnen
konnten, zuwege gebracht, daß Wagner den Schluß umänderte und
— zur Freude des Parketts wie der Galerie! - die beiden Liebenden
Elsa und Lohengrin beisammen ließ« (Chop, S. 18 f.).
In seiner Autobiographie ist (S. 388) davon die Rede, daß
Franck dem Meister eine Änderung des Schlusses nahelegte wo-
nach Lohengrin bleiben sollte. '
176 ANMERKUNG 32, 33.
»Da ich natürlich von all dem nichts wissen wollte, kam ich
doch darauf, mir zu überlegen, ob die grausame Trennung nicht
erspart, das unerläßliche Fortziehen in die Ferne aber doch erhalten
werden könnte. Ich suchte ein Mittel auf, Elsa mit Lohengrin
fortziehen zu lassen, zu irgend welcher Buße, welche sie ebenfalls
der Welt entrückte.« Frau von Lüttichau entschied jedoch für die
Beibehaltung der ursprünglichen Fassung. »Sonderbarerweise«,
schreibt Wagner (S. 389), »vermochte später eine ähnliche Er-
fahrung in Betreff desselben Gegenstandes mich noch einmal in eine
vorübergehende Unsicherheit zu bringen,« als nämlich Adolf Stahr
Einwände gegen den unbefriedigenden Schluß erhob, und wieder
vermochte Liszt es leicht, den schwankend gewordenen Meister von
der Richtigkeit der künstlerisch und menschlich, mythologisch wie
psychologisch einzig möglichen ursprünglichen Lösung zu überzeugen.
(33) 151 : Wie sehr die Beschäftigung mit dem Lohengrin an
Wagners Mutterkomplex rührte, offenbart sich in einer Notiz der
Selbstbiographie, (S. 426), die vom Tod und dem Leichenbegängnis
der Mutter handelt: »Auf meiner kurzen Zurückreise nach Dresden
kam zum erstenmal mit deutlichem Bewußtsein das Gefühl meiner
vollkommenen Vereinsamung über mich, da ich nicht umhin konnte,
mit dem Verluste der Mutter auch jedes natürliche Band des Zu-
sammenhanges mit meinen, in eigenen und besonderen Familien -
interessen befangenen Geschwistern als gelöst zu erkennen. So
machte ich mich dumpf und kalt an das einzige, was mich
erleuchten und wärmen konnte, die Ausarbeitung
meines »Lohengrin«, und meine altdeutschen Studien.«
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Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Eine Studie von
Dr. Franz Kiklin, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz).
Preis M 3.— = K 3.60.
Der Lihalt der Psychose. Von Dr. C. G. Jung, Privatdozent der
Psychiatrie in Zürich. Preis M 1.25 = K 1.50.
Traumund Mythus. Eine Studie zur Völkerpsychologie. Von Dr. Karl
Abraham, Arzt in Berlin. Preis M 2.50 = K 3.—.
Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psycho-
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Aus dem Liebcsleben Nikolaus Lenaus. Von Dr. J. Sadger!
Nervenarzt in Wien. Preis M 3.— = K 3.60.
Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. Von Prof
Dr. Sigm. Freud in Wien. Preis M 2.50 = K 3.—.
Die Frömmigkeit des Grafen Ludwig von Zi'nzendorf. Von
Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich. Preis M 4.50 == K 5.40
Puehard Wagner im „Fliegenden Holländer". Ein Beitrag zur
Psychologie künstlerischen Schaffens. Von Dr. Max Graf. Preis
M 1.80 ■= K 2.—.
Das Problem des Hamlet und der Ödipns-Komplex. Von Dr.
Ernest Jones, Toronto (Kanada). Übersetzt von Paul Tausig, Wien.
Preis M 2. — = K 2-40.
Giovanni Segaiitini. Ein psychoanalytischer Versuch von Dr. Karl
Abraham, Arzt in Berlin. Mit zwei Beilagen. Preis M 2.— = K 2.40.
Zur Sonderstellung des Vatermordes. Eine rechtsgeschichtliche
und völkerpsychologische Studie von A. J. Storfer, Zürich.
Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen.
Herausgegeben von Prof. Dr. E. Bleuler in Zürich u. Prof. Dr. S. Freud in Wien.
Redigiert von Dr. C. G. Jung,
Privatdozenten der Psychiatrie in Zürich.
I. Band: 1. und 2. Hälfte. Preis ä M 7.— = K 8.40.
IL Band: 1. und 2. Hälfte. Preis ä M 8.— = K 9.60.
III. Band: 1. Hälfte. Preis M 10.— == K 12.—.
Die Suggestion und ihre Heilwirkung.
Von Dr. H. Bernheim,
Professor an der Facultö de mädecine in Nancy.
Autorisierte deutsche Ausgabe von
Dr. Sigm. Freud,
Dozent fttr Nervenkrankheiten an der Universität i« Wien.
Zweite, umgearbeitete Auflage, besorgt von Dr. Max Kahane.
Preis M 5.— = K 6.—.
Poliklinische Vorträge
von Professor J. M. Charcot.
IL Band. Schuljahr 1888—1889.
Übersetzt von Dr. Max Kahane
in Wien.
I. Band. Schuljahr 1887—1888.
Übersetzt von Dr. Sigm. Freud,
Privatdozent an der Universität in Wien.
Preis pro Band M 12.— = K 14.40.
VERLAG VON FRANZ DEUTICKE IN LEIPZIG UND WIEN.
Die Psychanalyse Freuds.
Verteidigung und kritische Bemerkungen
von Prof. Dr. E. Bleuler.
Preis M 2.50 = K 3.—.
Introjektion und Übertragung.
Eine psychoanalytische Studie
von Dr. S. Ferenczi,
Nervenarzt, Sachverständiger des königl. Gerichtshofes in Budapest.
Preis M 1.— = K 1.20.
Freuds Neurosenlehre.
Nach ihrem gegenwärtigen Stande zusammenfassend dargestellt
von Dr. Eduard Hitschmann.
Preis M 4— ==■ K 4.80.
Die Bedeutung des Vaters
für das Schicksal des Einzelnen.
Von Dr. C. G. Jung,
Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich.
Preis M1-=K1 .20.
Über Konflikte der kindlichen Seele.
Von Dr. med. et jur. C. G. Jung,
Privatdozent der Psychiatrie an der Universität in Zürich.
Preis M 1— = K 1.20.
Analytische Untersuchungen über die
Psychologie des Hasses und der Versöhnung.
Von Dr. Oskar Pfister,
-A.L-
Pfarrer in Zürich.
Preis M 1.50 =-- K 1.80.
*' K. u- K. Hofbuchdruckerei Karl Prochaaka in Toächon. -/$