SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. Dr. SIGM. FREUD
NEUNTES HEFT
RICHARD WAGNER
IM „FLIEGENDEN HOLLÄNDER".
EIN BEITRAG ZUR PSYCHOLOGIE
KÜNSTLERISCHEN SCHAFFENS
VON
Dr. MAX GRAF.
LEIPZIG und WIEN 1911
KRAUS REPRINT
Nendeln/Lieditenstein
1970
{~*f\r\Ci\o> Original from
^ W Ö K UNIVERSITY" OF MICHIGAN
Reprinted by permission of
SIGMUND FREUD COPYRIGHTS LIMITED, London
KRAUS REPRINT
A Division of
KRAUS-THOMSON ORGANIZATION LIMITED
Nendeln/Liechtenstein
1970
Printed in Germany
Lessingdruckerei Wiesbaden
(~*r*nnl*> Original frorn
VjUU^K, UNIVERSITYOF MICHIGAN
Vorwort.
Mit dieser Arbeit möchte ich die Erinnerung daran festhalten, in
welchem Sinne von eitler kleinen Gesellschaft, die sich mehrere Jahre hin-
durch im gastfreundlichen Hause Professor Freuds allwöchentlich ver-
sammelte, psychologische Probleme behandelt -wurden. Vor diesem Freundes-
kreise, der mit gemeinsamer Arbeit den Versuch unternahm, die Freud -
sehen Ideen auf den verschiedensten Arbeitsgebieten zu erproben, habe ich
einen Vortrag über Richard Wagners „Fliegenden Holländer" gehalten,
der der Ausgangspunkt geworden ist, von wo aus ich zu der vorliegenden
Arbeit vorgedrungen bin. Denn die Gedanken, die ich hier entwickle, sind in
ununterbrochenem Meinungsaustausch mit Professor Freud und infolge
vielfacher Anregungen, die ich in den Diskussionen in seinem Hause er-
hielt, langsam gekeimt und die vorliegende Schrift ist die Frucht eines
mehrjährigen Gedankenaustausches. Unmöglich wäre es mir, zu sondern,
was die Arbeit an Ideen enthält, die spontan in mir aufgestiegen sind,
was ich der Führung durch Professor Freud, was der Kritik
einzelner Kollegen verdanke. So sei denn diese Studie dem alten Freundes-
kreise, dem sie ihre Entstehung verdankt, zur Erinnerung an lebendige
Stunden gemeinsamen geistigen Strebens gewidmet.
Wien, Oktober 1910.
Max Graf.
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^ uu ö lL UNIVERSITYOF MICHIGAN
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^ w ö lL UNIVERSITY" OF MICHIGAN
»Von großen Dichtern wissen wir,
daß sogleich ihre Jugendwerke das
Hauptthema ihres produktiven Lebens
mit großer Prägnanz aufzeigen.«
Richard Wagner.
Die Zeitgenossen Richard Wagners waren nicht wenig
verblüfft, als der Künstler nach dem »Rienzi« mit dem »Flie-
genden Holländer« hervortrat. Sie, denen noch der helle
Glanz der Rienzipartitur in die Augen stach, konnten sich
nur schwer an die trübe Dämmerung des »Fliegenden Hol-
länders« gewöhnen und fanden, von der jugendlichen Rhetorik
eines ehrgeizigen Musikers verführt, kein Verständnis
für den neuen knappen Stil, indem die alte Fabel vom Hol-
länder neu erzählt wurde. Richard Wagner selbst hat es
ausgesprochen, daß das Publikum »von dem Genre selbst ver-
drießlich berührt wurde, indem es durchaus etwas dem
»Rienzi« ähnliches erwartet und verlangt hatte, nicht aber
etwas ihm geradewegs Entgegengesetztes«.
In der Tat lassen sich keine schärferen Gegensätze
denken als zwischen dem »Rienzi«, dessen erste Aufführung un-
geheures Aufsehen erregt hatte und so sehr interessierte, daß
von allen Seiten die Dampfwagen neugierige Zuhörer nach
Dresden brachten, und dem »Fliegenden Holländer«, der bei
seinem ersten Erscheinen weder in Dresden, noch in Kassel,
wo er fünf Monate später gegeben wurde, Erfolg hatte, so daß
zehn Jahre vergingen, bevor sich eine dritte Bühne des
Werkes annahm. Rienzi war ein Werk der Jugend und des
Ehrgeizes gewesen. Richard Wagner wollte mit dieser histo-
rischen Oper dem genialen Opernbankier, der alle Theater
mit seinen kühnen Musikoperationen beherrschte, Meyerbeer,
den Rang streitig machen. »Die große Oper, mit all ihrer
szenischen und musikalischen Pracht, ihrer effektreichen,
Graf, Richard Wagner im »Fliegenden Holländer«. 1
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Original, fnorn
*rtrtrflf> Original from
jy VjUU^K, UNIVERSITY OF MICHIGAN
RICHARD WAGNER
musikalisch-massenhaften Leidenschaftlichkeit stand vor mir;
und sie nicht etwa bloß nachzuahmen, sondern mit rückhalt-
loser Verschwendung nach allen ihren bisherigen Erschei-
nungen sie zu überbieten, das wollte mein künstlerischer Ehr-
geiz«, gesteht Richard Wagner, der trotzdem nicht verhindern
konnte, daß auch viel von dem Edlen und Stolzen seiner Natur,
wodurch er Schiller so verwandt ist, in die Musik des »Rienzi*
überfloß. In sorgenvollen Tagen, in denen ihn das Elend
verhaßter Bühnenzustände, die Sorgen einer übergroß gewor-
denen Schuldenlast und eines zerrütteten Hausstandes be-
drängten, wurde dieses Werk entworfen und ausgeführt. Auf
diese Karte wollte Richard Wagner alles setzen; Ruhm,
Reichtum und Ehren hingen von diesem einen Werke ab, das
nach des Künstlers Absicht in der Pariser großen Oper, von
der Meyerbeers Ruhm ausstrahlte, aufgeführt werden sollte*
Selbst in dieser Verzerrung erkennt man schon den hohen
Glauben Richard Wagners an seine Mission, den zehrenden
Ehrgeiz, welcher den nach Riga verschlagenen Frovmzkapell-
meister durchflammte, das Phantastische seines Denkens.
Wenn die Gerichtsdiener Zahlungsaufträge brachten, fanden
sie den Kapellmeister mit einem französischen Sprachlehrer
am Tische sitzend und damit beschäftigt, den »Rienzi* ins Fran-
zösische zu übersetzen, und wenige Wochen später fanden sie die
Wohnung leer, da Richard Wagner mit seiner Frau, dem Neu-
fundländerhunde Robber und den Rienziskizzen geflüchtet war
und auf einem Segelschiffe nach London, von hier aus nach
Paris fuhr, der grenzenlosen Stadt des Glanzes und des
Elends«, in deren großen Oper in ihm »eine wollüstige,
schmeichlerische Warme* aufstieg, die ihn *zu dem Wunsche,
zu der Hoffnung, ja zu der Gewißheit erhitzte, hier noch
triumphieren zu können«. Zu der ehrgeizigen Massenhaftigkeit,
der glänzenden Pracht, der heroischen Keckheit des »Rienzi*,
welch ein Gegensatz im »Fliegenden Holländer« ! Der »Rienzi«
ist eine fünfaktige Oper, der »Fliegende Holländer« ist ur-
sprünglich als Einakter in drei Szenen — als »dramatische
Ballade« — gedacht gewesen und auch in seiner jetzigen
Form, als Oper in drei Akten, ungewöhnlich kurz und zusammen-
Pnnnl^ Original frann
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«.
gefaßt. Der »Rienzi« ist reich an handelnden Personen und
an Volksmassen, an bunten und bewegten geschichtlichen
Episoden; die Handlung des »Fliegenden Holländers« ist
ganz schlicht auf vier Personen verteilt. Dem »Rienzi« gibt
das bedeutende historische Moment, das sich in farbige
Bühnenbilder auseinanderlegt, eigentümliche Größe ; der »Flie-
gende Holländer« atmet in der Welt des Mythischen, der
Volkssage, die sich hier zum ersten Male dem Künstler auf-
geschlossen hat. Mit dem »Rienzi« wollte Richard Wagner
reiche Mittel mit ehrgeizigem Sinne aufbietend, die möglichst
stärkste äußere Wirkung erzielen; mit dem »Fliegenden Hol-
länder«, der an Kindheitseindrücke Richard Wagners an-
knüpfend, zur deutschen Opernromantik zurückkehrt, inner-
lich rühren. So sind beide Werke verschieden durch die Be-
handlung des Textes, durch musikalischen Stil, künstlerische
Absicht, Gefühls- und Stimmungsgehalt. Es ist als ob andere
Augen die Phantasiebilder beider Werke erschaut, andere
Ohren ihre Melodien und Klänge erlauscht hätten, und dennoch
hat Richard Wagner den »Fliegenden Holländer« entworfen,
während er am »Rienzi« arbeitete, so daß der Ursprung
beider Werke benachbart ist, wie der zweier Quellen, die ihre
Wasser nach zwei verschiedenen Richtungen ins Tal hinab-
senden.
Diesen Gegensatz beider Werke hat Richard Wagner
charakterisiert, indem er schrieb : »Das wirkungsvolle Theater-
stück liegt dem »Fliegenden Holländer« gewiß nicht weniger zu
Grunde, als dem letzten Tribunen. Nur fühlt wohl jeder, daß
mit dem Autor etwas Bedeutendes vorgegangen war ; vielleicht
eine tiefe Erschütterung, jedenfalls eine heftige Umkehr, zu
welcher Sehnsucht, wie Ekel gleichmäßig beitrugen.« Mit
diesen Worten, die hellsichtig sind, wie alles andere, was
Richard Wagner über die Art seines Schaffens niedergeschrie-
ben hat — denn Richard Wagner schaute stets mit dem Blicke
des Arztes auf das leidenschaftliche Wogen seiner Gefühlswelt
hinab — , deutet der Künstler an, daß starke innere Erlebnisse
den »Fliegenden Holländer« gestaltet hätten und daß dichte-
rischer Gehalt und musikalischer Stil dieses Werkes durch
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
RICHARD WAGNER
diese inneren Erlebnisse bestimmt worden seien. Was den
»Fliegenden Holländer« vorzugsweise vom »Rienzi« und allen
anderen Jugendwerken Richard Wagners unterscheidet, ist,
daß in diesem Werke zum ersten Male die Probleme der
Wagnerischen Seelenwelt, in künstlerische Bilder verwandelt,
ihre Lösung gefunden haben, daß hier des Künstlers persön-
lichste Leiden, Zweifel, Sorgen und Wünsche, nicht wie in
den bisherigen Werken nur zufällig gestreift, sondern in
ihrem Kern ergriffen und ans Licht gestellt werden, daß hier
— um es kurz und bündig herauszusagen — zum ersten-
mal Richard Wagner durchaus als Dichter vor seine Mitwelt
tritt. Auch darüber hat sich Richard Wagner selbst ver-
breitet : »Mit dem »Fliegenden Holländer« — sagt er in seiner
Mitteilung an seine Freunde — beginnt meine Laufbahn als
Dichter, mit der ich die des Verfassers von Operntexten ver-
ließ« und in den Briefen an Röckel : »Die Periode, seit der
ich aus meiner inneren Anschauung schuf, begann mit dem
»Fliegenden Holländer«.
Vom »Rienzi« bis zum »Fliegenden Holländer« führt also
nicht etwa wie später vom Holländer zum Tannhäuser und
von diesem zum Lohengrin der gerade Weg naturgemäßer
Entwicklung, vielmehr biegt hier der Weg von der bisher
eingeschlagenen Richtung plötzlich ab und die Entwick-
lungsgeschichte Richard Wagners zeigt in diesem Augen-
blicke die größte Ähnlichkeit mit jener Henrik Ibsens,
der nach der historischen Dichtung »Kaiser und Galiläer«
mit scharfer Wendung auf die »Stützen der Gesellschaft!
zuging.
»Leben heißt — dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sieh.
Dichten — Gerichtstag halten
Über das eigene Ich«
hatte Henrik Ibsen gesungen, und Gerichtstag halten über
das eigene Ich wollte Richard Wagner im »Fliegenden Hol-
länder«, dessen Dichtung ihn veranlaßte, »nach innen in die
Gegend seines Wesens zurückzuziehen, wo der sehnsüchtige
Drang den gewohnten Verhältnissen sich zu entreißen, seine
stachelnde Nahrung fand«. Erst von jenem Augenblick an,
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IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER
da der »Holländer« geboren wurde, datiert im Reiche der
Kunst ein neues Zeitalter: das Zeitalter Richard Wagners.
Im »Fliegenden Holländer« steckt also zum erstenmal
der ganze Wagner, nicht bloß eine einzelne Stimmung, wie etwa
im »Rienzi«, wo der stolze Idealismus des ehrgeizigen Musikers,
der Großes ersehnte, zu Tönen geworden ist. Das Innerste
seiner Seele, das Tiefste, Verborgenste, all das was ihn un-
selig machte, von Ort zu Ort trieb und seine Leidenschaften
stachelte, all das, was ihn in Stunden, wo sein Gemüt
sich beruhigte, mit überschwänglichem Glücksgefühl
erfüllte, die Phantome von Befreiung, Erlösung: leiden-
schaftliche Erregung und brünstiges Erschauern traten
in diesem Werke zu Tage, wurden zu Gestalt, zum Bild, zum
Klang. Die tiefsten Brunnen seiner Seele fingen auf ein-
mal an zu rauschen, in allen Winkeln und Abgründen summte'
und klang es. Zum erstenmal erschaute Wagners Blick
Gestalten, die ihm glichen, in denen er sich wiederfand, wie
Goethe im »Werther«, die ihm manch quälendes Geheim-
nis seines Wesens offenbarten und zum erstenmal muß es
Wagner auch erfahren haben, daß ihm ein Kunstwerk zur
Befreiung werden könne, wie Gebet und Beichte dem From-
men, wie ein ärztlicher Eingriff dem Kranken. Alle Werke,
die Richard Wagner dem Holländer folgen ließ, stehen mit
diesem Werke in innerer Verbindung. Die dichterischen Pro-
bleme, die im Holländer zum erstenmal berührt werden,
kehren in immer neuen Formen zurück. Die Gestalten dieses
Werkes verwandeln sich in neue Erscheinungen, poetische
und musikalische Motive, hier nur flüchtig angeschlagen,
tauchen erweitert, ausgebreitet, bereichert aufs neue empor.
Am »Fliegenden Holländer« dichtend, hatte Richard Wagner sich
selbst kennen und seine seelischen Konflikte verstehen gelernt.
Ist nicht die Figur des »Fliegenden Holländers« Richard Wagner
in Lebensgröße? In ihr hat der Künstler seine Lebenskämpfe,
seine Sehnsucht, sein Niederbrechen, sein Todesverlangen,
das noch den Fünfzigjährigen mit Verzweiflung erfüllen sollte,
verkörpert. Wie diesen bleichen Mann trieb es ihn von Stadt
zu Stadt, von Land zu Land, von Gefährten zu Gefährten,
{^r*nnl*> Original frorn
VjUU^K, UNIVERSITYOF MICHIGAN
RICHARD WAGNER
als jagte ihn ein teuflischer Fluch. Hatte sich ihm ein Bild
der Hoffnung und der Erlösung vor Augen gestellt, so schwand
es alsbald wieder, ihn mit der Unruhe und Qual seiner Natur
allein zurücklassend. Sehnsüchtig begehrte er der Liebe, allein
die Frau, die er gefreit, konnte ihm das Glück nicht geben, das
er erträumte und die aufopfernde Treue, von der er eingehüllt
werden wollte, und wiederum ersehnte er das Sterben, das Auf-
gehen im All, das Hinschwinden in der Umarmung des Todes,
denn Liebessehnsucht und Todessehnsucht fluteten stets durch-
einander. So hatte Richard Wagner den »Fliegenden Holländer«
gesehen und sich in ihm, und immer wieder war es diese
Gestalt, die in neuer Verkleidung vor seinem inneren Auge
emportauchte. Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische des
Holländers ist der Tannhäuser, von dem Richard Wagner
sagte, daß diese Gestalt aus seinem Inneren entsprungen. Die
leidenschaftlichen Ausbrüche, die krampfhaften Ekstasen, die
Sehnsucht nach Erlösung machen beide Gestalten zu Bluts-
und Leidensverwandten. Der Schrei der Unbefriedigung ent-
ringt sich beider Brust. Derselbe Dämon ist es, der den
Holländer von der Küste aufs Meer, vom Meere zur Küste
und den Tannhäuser aus der Wartburg in den Venusberg
und aus dem Venusberg in die Wälder Thüringens treibt.
Derselbe Dämon, der Richard Wagner von Ort zu Ort, übers
Meer, nach Paris jagt und dem Schiffbrüchigen tröstliche
Bilder von Ruhm und Glanz vor die Augen zaubert. Und wer
anderer ist Wotan, wie wir ihn in der Walküre sehen, als
der Holländer, dem man einen weiten blauen Mantel um-
getan und den Weltenspeer in die Hand gedrückt hat? Die-
selben Leidenszüge sind dem Antlitz des unseligen Meer-
fahrers und des Göttervaters eingegraben und wie der Hollän-
der ersehnt Wotan nur eines : »das Ende ! das Ende !« Wieder-
um ist es der Holländer, der wundensiech unter der Linde
seines Vaterschlosses fiebernd sich herumwirft, Tristan, der
den Tod, das Aufgehen im All sich erwünscht, und nicht sterben
kann. Und noch im letzten Werke Richard Wagners, worauf
schon der Glanz der scheidenden Alterssonne mild verklärend
ruht, erinnert die Gestalt des Amfortas an die des Hollän-
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«.
ders. Doch, was sagen wir erinnert. Ist es doch der Hol-
länder leibhaftig, der im Gralsschlosse in seelischer und
körperlicher Qual sich windend, nach dem Tode schreit. Ein
alter Mann hat diese Tragödie gedichtet und weder das Alter,
noch Erfolge, noch die Liebe einer starken Frau konnte die
Spannungen in der Natur dieses leidenschaftlichen Mannes
mildern und die vulkanischen Ausbrüche seines Temperaments
mäßigen. Der Sechsundzwanzigjährige, der im Bilde des
Holländer seine eigene Seele malen will und der Dreiund-
sechzigj ährige, der die Arbeit am Parsifal aufnimmt und die
Amfortasgestalt lebendig macht, wie nahe stehen sie sich, wie
sind sie sich gleich geblieben an Sturmgewalt des Innern.
Das Alter hat Richard Wagner nicht ausgekühlt und die
Flammen, die in ihm brannten, sanken niemals zusammen.
Wie Richard Wagner mit der Gestalt des Holländers
zum erstenmal eine Vision seiner Schmerzen gegeben, hat er
in der Gestalt Sentas zum erstenmal das Bild einer Frau ge-
zeichnet, wie sie in Träumen und Träumereien erschienen
sein mag, wenn die fieberhafte Erregung seines Innern ek-
statischer Glückstimmung wich. Solchen Stimmungswechseln
war Richard Wagner während seines ganzen Lebens unter-
worfen — »ich kann nur in Extremen leben« — und die Er-
fahrung, daß Stunden, in denen alle Wunden seiner Natur
heftiger brannten, mit solchen wechselten, in denen es wie
Balsam auf diese Wunden träufelte, hat Richard Wagner
immer aufs neue symbolisiert. Wir besitzen aus Richard
Wagners Feder eine Selbstanalyse dieser zwiespältigen Re-
gungen in seinem Seelenleben, die zwar aus der Zeit des
»Tannhäusers« stammt, allein auch für die des Holländers gilt,
wie sie auch für die des Parsifals zutreffend ist. In der
Mitteilung an seine Freunde schreibt Richard Wagner : »Durch
die günstige Veränderung meiner äußeren Lage . . . war ein
Verlangen in mir genährt, das mich auf Genuß hindrängte,
und um dieses Genusses willen mein inneres, unter leiden-
vollen Eindrücken der Vergangenheit und durch den Kampf
gegen sie, in mir gestaltetes Wesen von seiner eigentümlichen
Richtung ablenkte. Ein Trieb, der in jedem Menschen zum
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
RICHARD WAGNER
unmittelbaren Leben hindrängt, bestimmte mich in seinen be-
sonderen Verhältnissen als Künstler in einer Richtung, die
mich wiederum sehr bald und heftig anekeln mußte ....
Wandte ich mich hievon mit Widerwillen ab, und verdankte
ich die Kraft meines Widerwillens nur meiner bereits zur
Selbständigkeit entwickelten menschlich künstlerischen Natur,
so äußerte sie sich, menschlich und künstlerisch, notwendig
als Sehnsucht nach Befriedigung in einem höheren, edleren
Element, das mir .... als ein reines, keusches, jung-
fräuliches, unnahbar und ungreifbar liebendes erscheinen
mußte. Was endlich konnte diese Liebessehnsucht, das
Edelste, was ich meiner Natur nach zu empfinden ver-
mochte, wieder anders sein, als das Verlangen nach dem
Hinschwinden aus der Gegenwart, nach Ersterben in einem
Element unendlicher, irdisch unvorhandener Liebe, wie
es uns mit dem Tode erreichbar schien ... Es war eine
verzehrend üppige Erregtheit, die mir Blut und Nerven
in fiebernder Wallung erhielt, als ich die Musik des Tann-
häusers entwarf und ausführte. Meine wahre Natur, die
mir im Ekel vor der modernen Welt und im Drang nach
einem Edleren und Edelsten ganz wiedergekehrt war, um-
fing wie mit einer heftigen und brünstigen Umarmung die
äußersten Gegensätze meines Wesens, die beide in einem Strom:
höchstes Liebesverlangen mündeten . . .« Das »höhere edlere
Element«, welches dem zwischen solchen Gegensätzen des
Empfindungslebens herumgeworfenen Künstler als »ein reines,
keusches, jungfräuliches, unnahbar und ungreifbar liebendes«
erschien, symbolisierte er in Frauengestalten, deren Reihe
mit Senta beginnt und von hier zu Elisabeth, Elsa und immer
großartiger sich steigernd, zu Sieglinde und Isolde weiter-
führt. Versetzt man Senta in die bürgerliche Welt des Mittel-
alters, unter Meister und Zünfte, so wird aus der nordischen
Schifferstochter Meister Pogners Töchterlein, die ihren Junker
im Bilde Albrecht Dürors sieht, wie Senta den Holländer im
alten, vom Urahn vermachten Bilde. Gewiß hat Evchen
Pogner ihren Junker auch schon im Traume erschaut, wie
Elsa ihren Ritter, gewiß hat sie ihre Stunden des Phanta-
Pnnnb Original frorn
jy ijuugu, UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM ^FLIEGENDEN HOLLÄNDER-,
sierens, ihre Tagträume, ihre Absences, wie Senta. Alle diese
Frauen gleichen einander durch die sehnsüchtige Gefühls-
welt, die sich hinter ihrem Schweigen verbirgt, durch den
starr in die Weite gerichteten Blick, durch das Träumen von
Dingen, von denen ihre Umgebung nichts erfaßt und nichts
weiß, durch ein erhöhtes Seelenleben, das den Männern und
Frauen des Alltags phantastisch erscheint. Wie viele Frauen
haben nicht r seitdem Richard Wagner diese Gestalten ge-
zeichnet hat, versucht, das Leben dieser Mädchen und Frauen
nachzuleben, die der Phantasie des Künstlers als Erfüllung
sehnsüchtiger Wünsche erschienen! Ein ganz moderner
Frauentypus ist durch Richard Wagner erst geschaffen
worden.
Holländer und Senta — in diesen zwei Gestalten war
zum erstenmal zum Symbol, zum Bild, zur lebenden Erschei-
nung geworden, was Richard Wagners Seele an gegensätz-
lichen Regungen und Stimmungen erfüllte. Die Stunden des
unbefriedigten Verlangens, des wilden Genußtriebes, der
Sinnengier, die keine Sättigung finden konnte und trüber
Verzweiflung wich, und die Stunden seligsten Phantasieglückes
lösten einander ab, v ilde Dämonen und eine strahlende Engel-
schar kämpften um die Herrschaft dieser Seele, die voller
Klang war und alle Kämpfe in Klänge umwandelte* Haben
wir vor kurzem jene Beichte Wagners zitiert, die aus der
Zeit des Tannhäusers stammend, ?o beredt das Ringen zwischen
dem Triebe zum Genüsse und der Sehnsucht nach einem Ele-
mente keuscher, reiner Liebe schildert, so wollen wir hier
gleichsam die Fortsetzung aus der Zeit des Lohengrin an-
fügen: »Im Tannhäuser hatte ich mich aus der frivolen,
mich anwidernden Sinnlichkeit . . . herausgesehnt: auf die er-
sehnte Höhe des Reinen, Keuschen, Jungfräulichen hatte ich
mich durch die Kraft meines Verlangens nun geschwungen*
Ich fühlte mich außerhalb der modernen Welt in einem klaren
heiligen Ätherelement, das mich in der Verzückung meines Ein-
samkeit sgefühles mit den wollüstigen Schaudern erfüllt, die
wir auf den Spitzen der hohen Alpe empfinden, wenn wir,
vom blauen Luftmeere umgeben, hinab auf Gebirge und Täler
Original from
UNIVERSITYQF MICHIGAN
10 RICHARD WAGNER
blicken. Mich wärmte auf jener Höhe der Sonnenstrahl der
Liebe, deren wahrhaftigster Drang mich einzig aufwärts ge-
trieben hatte. Gerade diese selige Einsamkeit erweckte mir,
da sie mich kaum umfing, eine neue, unsäglich bewältigende
Sehnsucht: die Sehnsucht aus der Höhe nach der Tiefe, aus
dem sonnigen Glänze der keuschesten Reine nach dem trauten
Schatten der menschlichsten Liebesumarmung.« Nichts ist
menschlich interessanter, als die Vergleichung dieser beiden
Stellen. In Richard Wagners Seele war ein ewiges Auf und
Ab, ein Konflikt ohne Ende, ein krampfhafter Wechsel zwi-
schen leidenschaftlicher Aufregung und glückesvoller Be-
ruhigung. Gewiß ist es aber eine der Grundbedingungen
dramatischen Schaffens, daß sich, wie hier, zwei gleich starke,
gegensätzliche Triebe die Wage halten. Goethe bemühte
sich sein ganzes Leben lang, die Wertherleidenschaften
und Wertherstimmungen zu unterdrücken und alles Trübe
und Stürmische von sich fernzuhalten, den Werther las er,
wie Jean Paul sagte, zehn Jahre nicht, um sich der vor-
übergegangenen Affekte nicht zu erinnern und dem Tasso
ging er aus dem Wege. Mit Gewalt hielt er die leidenschaft-
lichen Triebe nieder und bemerkte zu Eckermann, daß
ihn schon der Versuch einer Tragödie zerstören würde.
Gleiche Furcht war Richard Wagner, wie jedem echten Tra-
giker fremd. Unerschrocken entfesselte er — seit dem »Flie-
genden Holländer« — alle Stürme seines Innern, deren Gewalt
einen Schwächeren vernichtet hätte.
Nicht nur die dramatischen Hauptmotive des Wagner-
schen Schaffens treten im »Fliegenden Holländer« aus der Tiefe
des Unbewußten heraus, sie reißen auch eine Unzahl kleiner
Nebenmotive mit sich, die man in den nachfolgenden Werken
wiederfindet. Im Tonfall, im Klang der Stimme erinnert
Daland zweifellos, wenn auch nur von fern, an die späteren
würdevollen Wagnerischen Väter, an den Landgrafen Hermann,
an Pogner. Die scharf charakteristischen Nebenfiguren (Steuer-
mann, Mary) gleichen ersten Entwürfen zum Steuermanne
in »Tristan und Isolde« und der Frau Magdalena in den
- Meistersingern von Nürnberg*. Ferner: erst vom »Fliegen-
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM FLIEGENDEN HOLLÄNDER*. 11
den Holländer« an läßt Wagner die Natur in seinen Werken
in großem Stile mitmusizieren und der junge Meister, der hier
den Nordlandssturm vorüberbrausen läßt, wird in seinem »Ring
des Nibelungen« als reifer Künstler allen Naturstimmungen
ihre tönende Seele geben. Vom Musikalischen soll hier nicht
geredet werden, sonst müßte gezeigt werden, daß die Art der
Motivbildung, die Art, wie der Künstler mit musikalischen
Einleitungen vor den Akten Stimmung erzeugt, den »Fliegen-
den Holländer« mit den folgenden Werken zu einer Einheit
zusammenschließt; es müßte auf einzelne Takte im »Fliegen-
den Holländer« hingewiesen werden, die in der »Walküre«
und in »Tristan und Isolde« wieder auftauchen; es müßte
erörtert werden, daß der »Fliegende Holländer«, »Tristan und
Isolde« und die »Götterdämmerung« in ähnlicher Weise ab-
geschlossen werden. Im großen und im kleinen, in den Haupt-
zügen und den Episoden wird immer wieder klar, daß der
»Fliegende Holländer« in der Entwicklung Richard Wagners
eine ganz besondere Stellung einnimmt. Der ganze Richard
Wagner tritt hier zum erstenmal auf die Bühne. Alle
künstlerischen Probleme, die den Künstler das ganze Leben
lang beschäftigen, werden hier erörtert. Hier blickt man in
die Seele Richard Wagners ganz hinein, und wenn man etwas
über den Künstler Richard Wagner erfahren will, muß man
dieses Werk genau analysieren.
Vor allem sollen die wichtigsten Momente der Ent-
stehungsgeschichte des »Fliegenden Holländers« zergliedert
werden. Wie hat Richard Wagner den Holländerstoff ge-
funden und wie hat er ihn sich angepaßt ? Was hat er über-
nommen, was neu gedichtet?
Die Holländersage war Richard Wagner, den schon als
Knabe vorzugsweise mythische Stoffe fesselten, lange
bekannt, bevor er die Holländerdichtung entwarf und
die Holländerstimmung war ihm, der von einer Bühne zur
anderen verschlagen wurde, der nirgendwo Rast und Ruhe
fand, bald in üppigen Hoffnungen sich berauschte, bald ver-
zweifelnd zusammenbrach, frühzeitig vertraut.
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
*^"
RICHARD WAGNER
Wenn er diese Gemütsstimmungen in einer Gestalt verkör-
pern wollte, so waren es ursprünglich die des Odysseus und des
Kolumbus, die seine Phantasie erwärmten, denen er sich ver-
wandt fühlte und denen er seine Sorgen anvertraute. Odysseus
und Kolumbus, sie beide waren Seefahrer, der eine von des
Gottes Haß verfolgt, mit der Sehnsucht nach Haus und Weib
im Herzen, im Meere herumirrend, der andere ein kühner
Schiffer, der einem Ideal nachfuhr, vom Zweifel und Spott
verfolgt und doch voll felsenfesten Vertrauens. Mit diesen
beiden Männern, denen Wagner sich in seinen Phantasien
verglich, war er schon von seiner Knabenzeit her befreundet.
Die Odyssee war des Gymnasiasten Lieblingsbuch gewesen
und Wagners Lieblingsschwester, Cäcilie, berichtet, wie gern
Richard von Odysseus und Kirken erzählte. Für Kolumbus
aber hatte jener Mann ein warmes, menschliches Interesse,
der auf den Knaben einen besonders starken Einfluß hatte,
sein Oheim Adolf Wagner, der auch die Spotornosche Bio-
graphie des Amerikafahrers ins Deutsche übersetzt hatte.
Richard Wagner war also mit diesen beiden Männern von
Jugend an aufgewachsen und hatte ihnen auch wohl ein
Seelenleben angedichtet, wie es ihm vertraut war, denn jener
Odysseus, der sich aus den Stürmen und Wogen nach dem
Weibe sehnt und Kolumbus, wie ihn die kurz vor dem Hol-
länder komponierte Kolumbus-Ouvertüre Richard Wagners
schildert, der bald entmutigt verzagt, bald stolz sich auf-
richtet, sind eigentlich Wagnerische Umbildungen jener zwei
Gestalten nach seinem eigenen Ebenbild. In keiner hat Richard
Wagner ein vollständiges Symbol seiner Natur wiedergefun-
den. Erst der Holländer, welcher Züge des Odysseus und solche
des Kolumbus vereinte, der Seefahrer war gleich ihnen, der
im Toben des Meeres nach dem Weibe sich sehnte wie
Odysseus, der »nach dem Neuen, Unbekannten, noch nicht
sichtbar Vorhandenen, aber im voraus Empfundenen« ver-
langte, wie Kolumbus: erst dieser bleiche Meerdämon konnte
ein treues Bild dessen werden, was Richard Wagner litt und
wünschte. Nicht übersehen mag werden, daß Richard Wagner,
bevor er den »Fliegenden Holländer« dichtete, dem Meeres-
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 13
ufer sich genähert hatte, den Seewind kennen lernte und
Kauffahrteischiffe sah. In Königsberg, Memel und Riga war
er ein Meeresanwohner geworden, nach Riga war er über-
dies zur See, auf einem Segelschiff, gekommen. Wenn der
Sturm blies und Schiffe mit den Wogen kämpften, wenn er
im Hafen von Riga den buntbewimpelten Mastenwald sah
und vor Kneipen vorüberging, wo Matrosen zechten, mag er
mit dem Meeresleben verwachsen sein, es war ihm ein ver-
trautes Element und im Tosen des Windes und dem Brausen
der Wellen mochte er schon frühzeitig ein Gleichnis seiner
Stimmungen gesehen haben, denn es war eine trostlose Zeit,
die er in Königsberg und Riga verbrachte.
In Riga, im Jahre 1838, lernte er die Sage des »Fliegen-
den Holländers« in einer neuen Fassung kennen, die Heinrich
Heine dem alten Stoffe gegeben hatte und von der Richard
Wagner in seiner damaligen Stimmung besonders gefesselt
wurde.
Diese Heinesche Fassung war im Jahre 1834 im ersten
Bande des »Salons« erschienen, wo sie den »Memoiren des
Herrn von Schnabelewopski« eingefügt war, ein Meisterstück
der Heineschen Erzählungskunst, das von Lichtern der
Ironie beglänzt wird und durch launische Unterbrechungen,
Seitensprünge und Einschiebsel das echt Heinesche Gepräge
erhält. Heinrich Heine erzählt den Inhalt eines Theater-
stückes, das er im Theater zu Amsterdam gesehen haben
will und das die Fabel des »Fliegenden Holländers« zum
Inhalte hat.
Erster Akt: »Es sind wieder sieben Jahr' verflossen,
der arme Holländer ist des endlosen Umherirrens müder als
jemals, steigt ans Land, schließt Freundschaft mit einem
schottischen Kaufmann, dem er begegnet, verkauft ihm Dia-
manten zu spottwohlfeilem Preise, und wie er hört, daß sein
Kunde eine schöne Tochter besitzt, verlangt er sie zur Ge-
mahlin. Auch dieser Handel wird abgeschlossen.«
Zweiter Akt: »Nun sehen wir das Haus des Schotten;
das Mädchen erwartet den Bräutigam, zagen Herzens. Sie
.. schaut oft mit Wehmut nach einem großen verwitterten Ge-
Original frorn
*fXrtrfl*> Original from
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
14 RICHARD WAGNER
mälde, welches in der Stube hängt und einen schönen Mann
in spanisch- nieder! indischer Tracht darstellt ; es ist ein altes
Erbstück, und nach der Aussage der Großmutter ist es ein
getreues Konterfei des »Fliegenden Holländers«, wie man ihn
vor hundert Jahr 1 tu Schottland gesehen, zur Zeit Konig
Wilhelms von Oranien. Auch ist mit diesem Gemälde eine
überlieferte Warnung verknüpft, daß die Frauen der Familie
sich vor dem Original hüten sollten. Eben deshalb hat das
Mädchen von Kind auf sich die Züge des gefährlichen Mannes
ins Herz geprägt. Wenn nun der wirkliche »Fliegende Hol-
lander« leibhaftig hereintritt, erschrickt das Mädchen; aber
nicht aus Furcht* Auch jener ist betroffen bei dem Anblick
des Porträts. Als man ihm bedeutet, wen es vorstelle, weiß er
jedoch jeden Argwohn von sich fernzuhalten ; er lacht über den
Aberglauben, er spöttelt selber über den »Fliegenden Hollän-
der«, den ewigen Juden des Ozeans; jedoch unwillkürlich in
einen wehmütigen Ton übergehend, schildert er, wie Mynheer
auf der unermeßlichen Wasserwüste die unerhörtesten Leiden
erdulden müsse, wie sein Leib nichts anderes sei, als ein Sarg
von Fleisch, worin seine Seele sich langweilt, wie das Leben
ihn von sich stößt und auch der Tod ihn abweist; gleich
einer leeren Tonne, die sich die Wellen einander zuwerfen
und sich spottend einander zurückwerfen, so werde der arme
Holländer zwischen Tod und Leben hin und her geschleudert,
keines von beiden wolle ihn behalten; sein Schmerz sei tief
wie das Meer, worauf er herumschwimmt, sein Schiff sei ohne
Anker und sein Herz ohne Hoffnung, Ich glaube, dies waren
ungefähr die Worte, womit der Bräutigam schließt . Die Braut
betrachtet ihn ernsthaft und wirft manchmal Seitenblicke
nach seinem Konterfei. Es ist, als ob sie sein Geheimnis er-
raten habe, und wenn er nachher fragt: Katharina, willst
du mir treu sein? antwortete sie entschlossen; Treu bis in
den Tod!«
Nun schaltet Heinrich Heine das Abenteuer mit der
reizenden, blonden Amsterdamerin ein t läßt alle schillernden
Reize gassenbübischer Laune sprühen und fährt re bene gesta
fort ;
Pnnnl^ Original f rann
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. iö
Dritter Akt: *— — Als ich ins Theater noch einmal
zurückkehrte, kam ich eben zur letzten Szene des Stückes»
wo auf einer hohen Klippe das Weib des »Fliegenden Hol-
länders«, die Frau fliegende Holländerin, verzweiflungsvoll die
Hände ringt, während auf dem Meere, auf dem Verdeck seines
unheimlichen Schiffes, ihr unglücklicher Gemahl zu schauen
ist. Er liebt sie und will sie verlassen, um sie nicht ins Ver-
derben zu ziehen, und er gesteht ihr sein grauenhaftes Schick-
sal und den schrecklichen Fluch, der auf ihm lastet. Sie aber
ruft mit lauter Stimme : Ich war dir treu bis zu dieser Stunde,
und ich weiß ein sicheres Mittel, wodurch ich dir meine Treue
erhalte bis in den Tod !
Bei diesen Worten stürzt sich das treue Weib ins Meer,
und nun ist auch die Verwünschung des »Fliegenden Holländers«
zu Ende, er ist erlöst, und wir sehen, wie das gespenstische
Schiff in den Abgrund des Meeres versinkt.«
»Die Moral des Stückes ist für die Frauen, daß sie sich
in acht nehmen müssen, keinen »Fliegenden Holländer« zu hei-
raten ; und wir Männer ersehen aus diesem Stücke, wie wir
durch die Weiber im günstigsten Falle zu Grunde gehen:« mit
diesem echt Heineschen Epilog, einem ironischen Fabula
docet, schließt die Erzählung.
Was Richard Wagner an dieser Erzählung so sehr fesselte,
daß er sie als Szenarium für seine Oper verwendete
und den tragischen Stamm seiner Dichtung aus dem kapriziös
angeordneten Heineschen Garten herauswachsen ließ, war
das von Heine neu der Sage hinzugefügte Motiv, daß der
Holländer durch die aufopfernde Treue eines Weibes erlöst
werden könne. Damit hatte er Richard Wagner das Stichwort
gebracht und dem Dichter die Zunge gelöst, denn gerade in
jener Zeit hatte dieses dichterische Motiv für Wagner eine
ganz besondere Bedeutung, Dem Holländer gleich war der
Dreiundzwanzig] ähr ige, um sich aus den Stürmen seines
Lebens und seiner Seele zu erretten, ans Land gegangen, um
ein Weib zu freien. In der Schauspielerin Wilhelmine
Planer glaubte er die hingebungsvolle Treue gefunden zu
haben, von der er sich die Beruhigung seiner friedlosen Natur
Original from
UNIVERSITV OF MICHIGAN
16 RICHARD WAGNER
erhoffte, allein schon nach den ersten sieben Monaten
der rasch geschlossenen Ehe verließ Minna Wagner das Haas
des Künstlers, der bei den Königsberger Gerichten die Klage
auf Ehescheidung einbrachte. In Riga war zwar wieder eine
Aussöhnung der beiden Gatten erfolgt, allein die Worte des
Holländers:
Nennst du des Weibes schönste Tagend
Nennst ew'ge Treue du nicht dein
haben doch ihren besonderen Sinn, und das weitere Zu-
sammenleben beider wurde, trotz der kindlichen Gutmütigkeit
Richard Wagners und dem ehrlichen Willen Minnas, böse
Tage zu ertragen, keine ganze Ehe mehr. Der Künstler und
seine Frau blieben von einander geschieden durch ein Phan-
tasiebild, eine Traumgestalt Richard Wagners : durch das Bild
eines aufopfernden, verstehenden, bis in den Tod anhänglichen
Weibes, dessen Liebe dem Umhergetriebenen eine Heimstätte
bereiten und dessen niemals wankende Treue das Krampfhafte
seines Seelenlebens mildern sollte. Das Bild Sentas, Elisabeths,
und später Brünhildens, Isoldens. So war es mit Wagner
bestellt, als er im »Salon« blätternd auf die Erzählung Heines stieß
und als durch die Schilderung des Opfertodes Sentas alle Phan-
tasiewünsche des Künstlers heraufbeschworen wurden. Dies war
der eigentliche Augenblick der Konzeption des »Fliegenden Hol-
länders« : dieses Zusammenwachsen von äußeren Anregungen
und inneren Bildern, wenngleich es noch einige Zeit dauerte,
bevor Richard Wagner an die Ausführung seines Werkes
schritt, da er zu dieser Zeit seinem Ehrgeiz die Zügel
schießen ließ und sich ausschließlich mit dem »Rienzi« be-
schäftigte. Von einem sensationellen Erfolge dieses Werkes
erhoffte er Rettung aus seiner bedrängten Lage. Die
Welt lockte ihn, die Verführungen des Ruhms, des Geldes,
der Ehre. Das übertönte mit rauschenden Fanfaren die Ver-
zweiflungsrufe des »Fliegenden Holländers«.
Indes auf die Dauer ließen sich die inneren Stimmen nicht
ersticken. Immer wieder ließen sie ihre Klagen vernehmen,
immer wieder erklang das Lied vom bleichen Manne, der durch
die treue Liebe eines nordischen Kindes erlöst worden.
Pnnnl^ Original frann
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 17
Als Wagner sich seinen Nöten durch eine phan-
tastische Flucht entzog und von Pillau aus auf einem Segel-
schiffe zunächst nach London fuhr, sah er gar das Holländerschiff
leibhaftig im Nebel auftauchen, so sehr waren seine Gedanken
mit diesem Dichtwerk beschäftigt. Richard Wagner hat, wie
Pecht erzählt, seinen Pariser Freunden oft geschildert, »wie
ihm das Pfeifen des Windes in dem gefrorenen Takelwerk
einen so seltsam dämonischen Eindruck gemacht habe, daß
ihm, als einmal im Sturme plötzlich ein Schiff vor ihm auf-
getaucht, aber ebenso rasch wieder im Dunkel der Nacht
verschwunden sei, alsbald der »Fliegende Holländer« ein-
gefallen wäre«. Drei und eine halbe Woche währte diese See-
fahrt, deren Stürme, welche das Schiff zwangen, an der norwe-
gischen Küste Schutz zu suchen, Richard Wagner immer in
Erinnerung geblieben sind, und während dieser Zeit nahmen
die Bilder vom »Fliegenden Holländer« die eigentümliche
Farbe an. Der »Fliegende Holländer« war bisher Sage, jetzt
wurde er Wirklichkeit. Die alten Matrosen sprachen von ihm
als einem Lebenden, der tosende Sturm blies auch ihm ins
Gesicht. So ist es nicht verwunderlich, daß Wagner das was
ihm damals an Klängen vom Meere, vom Sturme, vom Schiffe
und von den Felsenküsten Norwegens entgegenwehte, später
dem Werke wieder eingefügt hat. Das Holländermotiv ist ein
alter Matrosenruf, den man noch heute an den Nordlands-
küsten hören kann, die Steuermannslieder und Matrosen-
gesänge mögen manchen Takt von Volksweisen und Schiffer-
tänzen enthalten, die Richard Wagner auf jener Reise ver-
nommen, erlebt ist vor allem die großartige Musik der Natur-
stimmungen. Nur wer selbst einmal dem Winde und Wetter
auf dem Meere standgehalten hat, vermag die impressio-
nistische Meisterschaft zu würdigen, mit der Richard Wagner
im ersten Akte das Losbrechen des Sturmes, das Heulen der
Winde im Takelwerk, das Anschlagen der Wellen an das
Schiff, das Verebben des Meeres, das leichte Windgekräusel
malt. Wie ist das alles echt und charakteristisch, pris sur
le vif. Und die gemütliche Spinnstubenstimmung des zweiten
Aktes, die Neckereien und Tänze des dritten Aktes mögen im
Graf, Richard Wagner im »Fliegenden Holländer«. -
4 9 *
n- •■ ~wh Pnnnl^ Original frorn
by K^KJVglK. UNIVERSITY OF MICHIGAN
18 RICHARD WAGNER
Gemüt des Künstlers erklungen sein, wenn er der Stunden
sich erinnerte, wo das Schiff in einer norwegischen Bucht
ankerte und seine Insassen in einer alten Windmühle bei
Punsch und Matrosengesängen überstandener Gefahren sich
freuten. Sandwigen bei Galdesund war die Bucht und in
»Sandwike« ließ Wagner später des Holländers Schiff landen.
Dann während Heines Schauspiel in Schottland spielt, ver-
setzte Richard Wagner die Handlung an die norwegische
Küste. Erst im Oktober 1842, längere Zeit nach Fertigstel-
lung des ganzen Werkes, wurde diese charakteristische Än-
derung vorgenommen. Im ersten Entwurf (Mai 1840) spielte
die Handlung, wie im Heineschen Szenarium, an der schot-
tischen Küste und die Hauptpersonen hießen: Anna, Donald,
der Fremde und Georg. Als Richard Wagner am 13. Sep-
tember 1841 den Kompositionsentwurf beendet hatte, war noch
immer Schottland der Ort der Handlung, allein das Mädchen
trug schon den nordischen Namen Senta und im Oktober 1842
hatten alle Personen nordische Namen angenommen (Senta,
Daland, Erik) und das schwarze Schiff mit den blutroten
Segeln landete, wie einst dasjenige, das Richard Wagner trug,
an der norwegischen Küste. So drangen Richard Wagners
Erinnerungen in das Werk ein.
Im August 1839 ging Richard Wagner an der franzö-
sischen Küste ans Land. In Boulogne sur Mer suchte er
Meyerbeer auf, dem er die zwei ersten Akte des »Rienzi«
brachte und der ihm Empfehlungen an die Direktion der Pa-
riser großen Oper gab, wo der junge, unbekannte Künstler
Weltruhm sich holen wollte, wie einst Meyerbeer. Am 16. Septem-
ber fuhr er durch die Barriere von St. Denis in Paris ein, glän-
zende Bilder im Hirn. Schilderungen, wie Wagner vom Septem-
ber 1839 bis April 1842 in Paris kämpfte und litt, wie immer
neue Illusionen seine Phantasie entzündeten, um bald darauf
zu einem Häuflein Asche zusammenzusinken, wie er in dieser
glanzreichen, lebensvollen Stadt mit allen Mitteln ein Stück
Ruhmes sich erringen wollte und doch der Stadt immer fremd
blieb, wie er hungerte und weinte, französische Romanzen
komponierte, beliebte^ Opernarien für Flöte und Cornet
Pnnnl^ Original frorn
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IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER*. 19
ä piston arrangierte, Zeitungsartikel schrieb, während um ihn
herum der Eintagsruhm ausposaunt wurde, finden sich in
jener Wagner-Biographie jund wir möchten nur kurz darauf
hinweisen. Der »Fliegende Holländer« war eben wieder einmal
ans Land gegangen mit seinen sehnsüchtigen Phantasien im
Herzen und war wieder einmal enttäuscht worden. Schon
nach den ersten vier Monaten seines Pariser Aufenthalts
machte sich die damals noch unterdrückte und durch die
Hoffnung auf siegreiche Rienzierfolge in den Winkel ge-
schobene Holländerstimmung in einem Werke Luft. Ich meine
die »Faust«ouvertüre, der Wagner später das Motto voran-
stellte :
»Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen ;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach außen nichts bewegen;
Und so ist mir das Dasein eine Last,
Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt.«
Wie nahe stehen sich »Faust« Ouvertüre und die Ouvertüre
zum »Fliegenden Holländer durch das Düstere des Empfin-
dungslebens, durch die ganze musikalische Struktur, den
Gegensatz einer leidenschaftlich erregten und einer fromm
verklärten Themengruppe, durch die das Werk durchwaltende
Erlösungssehnsucht!*) Es vergingen nur vier Monate und die
Holländerbilder stiegen aufs neue im Künstler empor, um nicht
mehr im Unbewußten zu versinken, denn im Mai 1840 schrieb
Wagner die erste Skizze zum »Fliegenden Holländer« nieder
und eine Zeitlang begleitete die Holländermusik die Kom-
position des Rienzi, wie tiefe, summende Untertöne glän-
zende Akkorde. Im Jahre 1841 wurde nach Fertigstellung
des »Rienzi« der Holländertext in zehn Tagen versifiziert
(vom 18. bis 28. Mai) und der Text binnen sieben Wochen
•) »Der zweite Teil (der Faustsymphonie) — sollte die Erscheinung des
Weibes bringen. Schon hatte ich Thema und Stimmung hierzu — Da — gab
ich das Ganze auf und machte mich — meiner Natur getreu — an den -Flie-
genden Holländer«, womit ich mich aus allem Instrumentalmusik-Nebel zur
Bestimmtheit des Dramas erlöste.« Brief an Theodor Uhlig vom 27. No-
vember 1852.
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
SO RICHARD WAGNER
in Musik gesetzt, so sehr hatten Dichtung und Musik in
Richard Wagner schon Gestalt angenommen, bevor er die
Feder ansetzte. Je mehr die Illusionen zerrannen, mit denen
Richard Wagner jiach Paris gekommen war, desto mehr
mußte sich die Stimmung, die ihn dem Holländer verwandt
machte, verdichten, desto lauter in ihm erklingen, was sein
Schmerz, seine Hoffnung und sein Trost war. »Mein Gott,
warum sind wir nur so unerhört unglücklich«; diesen schnei-
denden Ruf vernimmt man zur selben Zeit, als er den »Flie-
genden Holländer« dichtete; Pecht erzählt von einem Briefe
aus Meudon, — wo die Musik zum »Fliegenden Holländer« ent-
stand — in dem Wagner daran denkt, seinem Leben gewaltsam
ein Ende zu machen und auf dem Titelblatt der Partitur des
»Fliegenden Holländers« steht von Richard Wagners Hand
geschrieben: »In Nacht und Elend. Per aspera ad astra. Gott
gebe es! R. W.« Das ist die Atmosphäre, in der Dichtung
und Musik des »Fliegenden Holländers« entstanden.
Wenn wir bisher Erlebnis und Dichtung in Richard
Wagners »Fliegendem Holländer« zu sondern versuchten,
haben wir einen wichtigen Zug übergangen, durch den sich
die Fassung, die Richard Wagner dem Werke gab, von dem
Entwurf unterscheidet, den Heinrich Heine in den »Memoiren
des Herrn von Schnabelewopski« dem Dichterkomponisten
dargeboten hatte, und doch ist es von großer Bedeutung
festzustellen, wo ein Künstler einen überkommenen Stoff un-
verändert übernimmt und wo seine eigene Phantasie ein
Werk ergänzt. Man kann annehmen, daß vornehmlich in
diesen ergänzenden Zutaten sich Probleme einem fremden Stoffe
eindrängen, die den Künstler ganz besonders heftig be-
schäftigen; sie sind gleichsam die Postskripta in einem Briefe,
also das scheinbar Nebensächliche, in Wirklichkeit aber
Wichtigste. Richard Wagner hat das Schauspiel vom »Flie-
genden Holländer«, so wie es Heinrich Heine gesehen haben
will und schildert, in derselben Akt- und Szeneneinteilung,
die ihm Heinrich Heine gegeben hatte, nachgedichtet, allein
eine wichtige Gestalt hat er dem Schauspiel eingefügt, die
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM ^FLIEGENDEN HOLLÄNDER^, «1
ganz sein Eigentum ist: den Jäger Erik, der in der ersten
Fassung Georg hieß.
Man könnte sagen, es sei das Bedürfnis de3 Drama-
tikers nach starken Kontrasten gewesen, das Richard
Wagner veranlaßt habe, jene Gestalt zu erdichten. Er habe
in der Figur des jungen Hochlandjägers einen Gegensatz
gesehen zu dem bleichen Seemann, habe die Neigung Sentas
zu dein dämonischen Fremden gesteigert durch ihre Ent-
fremdung gegen den einst geliebten Gespielen ihrer Jugend
und man wird mit Erwägungen solcher Art auch manches
Richtige getroffen haben. Musikhistorisch Gebildete könnten
darauf hinweisen — und es ist verwunderlich, daß es noch
niemals geschehen — , daß das Vorbild zu der Gestalt des
Jägers Georg oder Erik in jenen zwei Werken sich finde,
welche man als unmittelbare Vorläufer des »Fliegenden Hol-
I anders* bezeichnen muß: im *Hans Helling* und im *Vampyr*
Marschners* Hans Heiling und Lord Aubry, die bleichen
Dämonen, tauchen neben dem »Fliegenden Holländer« auf,
romantische Opernhelden gleich diesem* Sie suchen die Liebe
einfacher, schlichter Bürgermädchen, wie der Holländer die
Sentas, und diesen Mädchen steht ein junger Mann mr Seite,
wie Erik Senta. Im »Hans Heiling* wird Anna von Konrad
geliebt und es mag im Vorübergehen darauf aufmerksam ge-
macht werden, daß auch Senta ursprünglich den Namen Anna
trug ; im » Vampyr* sind Emmy, eines der Opfer Lord Aubrys,
und Georg verlobt und trug nicht Erik ursprünglich ebenfalls
den Namen Georg? Sowohl Konrad im »Hans Heiling« als
auch Georg im »Vampyr* sind Jäger, gleich Erik, und man
wird diese Ähnlichkeiten gewiß keinen Zufall nennen dürfen.
Erinnerungen an die beiden Opern Marschners haben auf
Wagner, als er den »Fliegenden Holländer * abfaßte^ tief ein-
gewirkt, und wenn man findet, daß sie auch die Einfügung
der Gestalt des Erik veranlaßt hätten, wird damit wieder
Richtiges getroffen sein.
Indes alle diese Erklärungen, so Richtiges in ihnen ent-
halten sein mag, tasten an der Oberfläche herum. Gewiß iät
Erik als dramatische Kontrastfigur dem Werke eingefügt,
IF MICHIGAN
RICHARD WAGNER
wie bei jedem echten Dichter sind jedoch bei Wagner drama-
turgische Effekte ein Nebengewinn bei der Verfolgung poeti-
scher Absichten. Echte Dichtergestalten sind Bilder, in denen sich
Stimmungen, Seelenkräfte, Seelenregungen zusammenfassen,
sie bedeuten auch etwas für sich, abgesehen vom dramatischen
Zusammenhang, in ihnen spricht sich des Dichters Seele
eigenartig aus. Und wenn das »Dreieck« ; Hollander, Senta,
Erik an ähnliche Gruppierungen in Werken erinnert, die für
Wagner zweifelsohne vorbildlich gewesen, so muß auch auf
wesentliche Unterschiede in der Auffassung dieser Gruppe
hingewiesen werden.
In den romantischen Opern vor Wagner ist das Ver-
hältnis dieser drei Hauptfiguren stets folgendes: Ein schlichtes,
gott vertrauendes Bürgermädchen liebt einen braven, tüch-
tigen, redlichen jungen Mann. In diesen bürgerlichen
Kreis tritt ein Dämon, eine unheimliche Natur, die über
überirdische Kräfte verfügt, deren Zauber das Mädchen
gegen ihren Willen bestrickt, Sie ist eine Hypnotisierte,
die einem Bann unterliegt, und, sobald dieser Bann gelöst ist,
ihrem Georg oder Konrad wieder glückselig in die Arme
sinkt, denn der Zauber des Dämons hat auf die Dauer keine
Macht, der Böse muß weichen, die Braven und Gottgläubigen
finden sich wieder im Glück. Von dieser bürgerlichen Auf-
fassung ist die heroische Richard Wagners durchaus und grund-
sätzlich verschieden und das gewaltige Naturell des Künstlers
wird nie deutlicher sichtbar, als in diesem bezeichnenden
Zuge, Bei Wagner ist das dramatische Problem folgender-
maßen gefaßt: Zwei Menschen der bürgerlichen Welt sind
durch Verlobung oder heilige Bande verbunden. Ein dämo-
nischer, unseliger, leidenschaftlicher Mann naht diesem Paar
und das Mädchen oder die Frau wirft sich ihm in die Arme,
denn sein Kommen hat sie in Träumen geahnt, ihm ist sie
durch den Himmel selbst als Retterin gesandt, sie kennt nur
eine einzige heilige Pflicht, ihm, der in ihr Geschick herein-
trat, ihre ganze Liebe zu schenken und für ihn ihr Leben
aufzuopfern» Wenn Erik Senta bittet, auch seiner Leiden zu ge-
denken, die sie ihm bereite, antwortet sie scharf und heftig:
IM .FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 23
>0 prahle nicht! Was kann dein Leiden sein?
Kennst jenes Unglücksergen Schicksal, du?
Fühlst du den Schmerz, den tiefen Gram,
Mit dem herab auf mich er sieht?
Ach, was die Ruh* ihm ewig nahm,
Wie schneidend Weh* durchs Herz mir zieht?«
So viele tausend Meilen weit wird Senta von Erik fort-
geschleudert, wenn der Holländer naht. Diese neue Orien-
tierung einer alten Bühnensituation ist ganz Wagners Werk,
hierin offenbart sich die reiche und originelle Gefühlswelt,
deren Schwingungen als neue Musik erklang. Mit Recht
konnten wir also sagen, es heiße die Oberfläche betasten,
wollte man sich begnügen, die Gestalt Eriks von romantischen
Ursprüngen abzuleiten. Das ganze dramatische Problem ist
neu gestellt ; so wie Senta, der Holländer, und Erik in Spiel
und Gegenspiel zueinander treten, hat Richard Wagner
Eigenstes, Persönlichstes zu sagen und zweifellos wurde vom
Künstler die Gestalt des Erik hinzugedichtet, weil er dieser
Gestalt zur künstlerischen Darstellung der Seelenprobleme,
die ihn bedrängten, bedurfte. Aus der Holländerfabel hat
Richard Wagner ein Musikdrama gestaltet, nicht nur weil er
im Holländer die Sehnsucht seiner schmerzgeschüttelten Seele
aussprechen konnte, weil Senta Träume seine Phantasie be-
friedigte, sondern auch weil ein seelischer Konflikt in dieser
Fabel sich aussprechen konnte, der Lösung erheischte, jedoch
der Konflikt war erst gegeben, wenn die Ankunft des Hol-
länders Bande zerstörte, die bis dahin Senta und Erik zu-
sammenhielten und es war dem Dramatiker etwas Wesent-
liches, daß Senta gebunden war.
Diese Situation, so können wir vorläufig sagen, ohne auf die
Frage genauer einzugehen, muß einer Lebenswirklichkoit
oder Phantasiewirklichkeit bei Richard Wagner entsprechen,
denn sie ist eine der typisch wiederkehrenden Themen
seiner Dichtung, und stets verraten diese typischen Motive
bei Künstlern, daß hier die Lösung eines Seelenproblems,
das den Künstler unaufhörlich beschäftigt, versucht wird.
Durch die so oft übersehene Tatsache, daß Richard Wagner
dem Heineschen Entwurf die Gestalt des Erik einfügte,
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
U RICHARD WAGNER
sind wir derart auf ein bedeutendes Motiv der Wagnerschen
Werke aufmerksam gemacht worden, ein Zentralmotiv seines
Schaffens und jetzt erst stehen wir wirklich an der geheim-
nisvollen Grenze in der Seele des Künstlers, wo die Gefühle
und Affekte bildsam werden und zu Gestalten sich wandeln.
Der Konflikt, der im »Fliegenden Holländer« zum ersten-
mal eine durchaus vollendete künstlerische Fassung gefunden
hat, wird Wagner in seinen späteren Werken oft und oft be-
schäftigen. Er hatte auch in überaus krasser und unreifer Weise
einem Jugendwerke des Künstlers, das dem »Fliegenden
Holländer« vorausgegangen ist, die dramatische Seele gegeben.
Es ist dies die Oper »Die Hochzeit«, die der zwanzigjährige
Wagner gedichtet und teilweise auch in Musik gesetzt hat.
Den Inhalt dieser Oper hat Wagner in folgender Weise
skizziert: »Ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster
zum Schlafgemach der Braut seines Freundes, worin diese
der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt mit dem
Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert
den Geist aufgibt. Bei der Totenfeier sinkt die Braut mit
einem Schrei entseelt über die Leiche hin.« Es war sehr
leicht zu erkennen, daß Richard Wagner bei der späteren
Wiedergabe der Handlung ein wichtiges Motiv vergessen
haben mußte, denn wenn die Braut bei der Totenfeier des
wahnsinnig Liebenden mit einem Schrei entseelt über die
Leiche hinsinkt, muß sie ihn wohl geliebt haben und tat-
sächlich ist diese Vermutung durch das, was von dem Text
der Oper jüngst bekannt geworden ist, bestätigt worden. Die
Braut heißt Ada, ihr Bräutigam Arindal, der »wahnsinnig
Liebende« Cadolt. Die Oper beginnt mit dem festlichen Hoch-
zeitszug*) Adas und Arindals und ihres Gefolges, die aus der
Burgkapelle in den Schloßhof treten, vom Volke begrüßt.
•) Die Situation erinnert an den zweiten Akt »Lohengrin«. Hochzeits-
züge und Szenen im Brautgemach beschäftigten Wagners Phantasie sehr leb*
halt. Das Eindringen Kadolts in das Brautgemach erinnert an das Herein-
stürzen Telramunds im dritten Akt »Lohengrin«.
rirwtlt* Original frorn
VjUU^K, UNIVERSITYOF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER*. 25
Plötzlich bemerkt Ada den düsteren Cadolt: »Mein Gatte,
sprich ! wer ist der fremde Mann ?« (Ähnlich fragt Senta beim
Erblicken des Holländers: »Mein Vater sprich, wer ist der
Fremde?«) Und in dem folgenden Sextett sagt sie mit Worten,
die ebenfalls an Senta gemahnen:
»Wie wunderbar und unbegreiflich
Erscheint mir seine Gegenwart;
Wie ahnungsvoll und, o, wie ängstlich
Erlaßt sein Wesen mich, sein Blick.c
Hier bricht der Text, soweit er uns bekannt ist, ab. Wen
aber würden nicht schon nach diesem Bruchstück Ada und
der düstere Cadolt an Senta und den »Fliegenden Holländer«
erinnern. Wer sieht nicht in dem Verhältnis Ada-Cadolt-
Arindal das für Wagner so charakteristische »Dreieck«, denn
wenn es Grillparzers typisches Motiv ist, einen Mann
zwischen zwei Frauen zu stellen, so ist es Wagners typisches
Motiv, eine Frau zwischen zwei Männer zu stellen.
Wir finden dieses Hauptthema des Wagnerschen pro-
duktiven Lebens nach dem »Fliegenden Holländer« sofort im
»Tannhäuser« wieder. Elisabeth, des Landgrafen Hermanns,
Tochter, wird von Wolfram, dem Sänger keuscher Minne, und
von Tannhäuser, dem dämonischen Liebeshelden, geliebt und
Wolfram tritt resigniert zurück, wenn Tannhäuser dem Fürsten -
kinde sich nähert. In zwei weiteren Werken faßt Richard
Wagner den Konflikt bedeutend schärfer, verstärkt er das
Tragische der Situation. Sobald Siegmund Sieglinden erscheint,
endet Hundings Gewalt über sein Weib, sobald Isolde Tristan ins
Auge sieht, ist Morold, der Bräutigam, vergessen und Marke,
der Gemahl, ein machtloser Mann, denn jene geheimnisvoll-
überirdischen Verbindungen wirken Naturgewalten gleich, wie
der Sturm und das Feuer. Das sittliche Urteil muß schweigen,
denn die Natur muß man ehren. Sind nicht auch Siegfried
und Brünnhilde durch die Überirdischen für einander bestimmt?
Wenn Siegfried zu Brünnhilden schreitet, zeigt ihm der
Waldvogel den Weg, der höchste Gott vermag ihm den Pfad
nicht zu sperren, der Speer wird zerschlagen, der Knabe
schreitet heil durch das Feuer. Die Ehe Brünnhildens mit
3y Google
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UNIVERSITYOF MICHIGAN
26 RICHARD WAONER
Günther ist nichtig, wie die Isoldens mit Marke, und Wagner
selbst hat darauf hingewiesen, daß der Siegfried der »Götterdäm-
merung« dieselbe Gestalt sei, wie der »Tristan« (Ges. Schriften,
VI, 378), und er vergleicht die Ähnlichkeit der dichterischen
Motive in der »Götterdämmerung« und im »Tristan« mit der
Lautverschiebung in der Sprache, wodurch aus dem gleichen
Worte oft ganz verschieden dünkende Worte sich bildeten.
Selbst in dem heiteren Bilde Nürnbergs fehlt jenes, diesmal
aus dem Tragischen ins humorvoll Rührende gewendete Motiv
nicht. Hans Sachs und die liebliche Tochter Meister Pogners
sind durch unsichtbare Bande verschwiegener zärtlichen Worte
verbunden und Hans Sachsens Ironie, wie Evas feinen Witz
schweben über der Tiefe herzlichster Gefühle, allein wenn
Walter von Stolzing naht, fliegt ihm Eva an den Hals. »Das
war ein Müssen, war ein Zwang, Euch selbst mein Meister
wurde bang«, sagt Evchen zu Sachs, der erschüttert ent-
gegnet: »Von Tristan und Isolde kenn* ich ein traurig' Stück;
Hans Sachs war klug und wollte nichts von Herrn Markes
Glück.«
So schlingt sich ein und dasselbe dramatische Motiv in
immer neuen Gestaltungen von Werk zu Werk und wohl mit
Recht kann es ein Zentralmotiv des Wagnerschen Schaffens
genannt werden. Noch bedeutsamer wird es, wenn man daran
denkt, daß es bei Richard Wagner nicht nur ein Motiv der Dich-
tung, sondern auch eins des Lebens gewesen ist. Von zwei Fällen
weiß die Welt, wo ein Band, das zwei Menschen bis dahin an-
einander gehalten hatte, riß, sobald Wagner wie der fliegende
Holländer, wie Tannhäuser, Siegmund oder Tristan nahte,
Mathilde Wesendonk weigerte sich dem Gatten, als sie Wagner
liebte und von ihm geliebt wurde : seine Isolde, und Kosima
von Bülow galt noch als Bülows Weib, als sie schon längst
Wagner angehörte : seine Brünnhilde. So verwirklichte Richard
Wagner Phantasien seines Innern im Kunstwerk und in der
Realität, denn so viel ist wohl klar, daß in Wagners Seele
etwas gelebt haben muß, was, sei es im Bilde, sei es im
Leben nach außen treten wollte, ein Phantom, eine Idee, ein
Traumbild, ein intensiver, hinreißender Wunsch, der nach
Pnnnl^ Original frorn
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IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER*. 87
Befriedigung verlangte und nach jeder Erfüllung, ob nun in
der Phantasie oder in der Wirklichkeit, wieder auftauchte.
Wie haben nun die Wagnerbiographen dieses typische
Motiv in Richard Wagners Dichtung und Leben erklärt und
welche Aufklärung haben sie gegeben? Ich gestehe mit einiger
Beschämung, daß in der ganzen großen Wagner-Literatur der
Versuch gar nicht gemacht wurde, zu diesem Mittelpunkte der
tragischen Konflikte in den Wagnerschen Werken vorzudrin-
gen, und doch hätte die literarhistorische Forschung ein Vor-
bild dafür geboten, daß die Analyse künstlerischer Werke
mit den typischen Motiven beginnen müsse. Daß zum Beispiel
in den Schillerschen Dramen das Verhältnis des Sohnes
zum Vater im Mittelpunkte steht, ist wohl keinem tiefer ein-
dringenden Historiker entgangen und die Antwort schien
natürlich, daß das Verhältnis des Knaben Schiller zu seinem
eigenen Vater die Bedeutung erkläre, welche dieses Motiv
für den Dichter während seines ganzen Lebens gehabt habe. Eben-
so dürfte der neueren Literaturforschung der Gedanke nicht
ferne liegen, daß man aus Ibsens Ehegeschichte die stete
Beschäftigung des nordischen Dichters mit dem Eheproblem
werde erklären müssen. Wenn man davor zurückschreckte,
das typische Motiv in den Wagnerschen Dramen aus der
Persönlichkeit des Künstlers heraus zu erklären oder besser
gesagt, wenn man es nicht sah, nicht sehen wollte, so war
es, weil man das unklare Gefühl hatte, daß hinter diesem
dichterischen Problem erotische Probleme lägen und man der
Beschäftigung mit erotischen Fragen aus mangelhaftem psy-
chologischen Interesse oder aus schlechtem Gewissen am
liebsten aus dem Wege geht. Man sieht diese Fragen nicht,
sieht die Probleme als minderwertig, das Genie entwürdigend,
ein frommer Katholik würde in seiner Sprache sagen: als
sündig an, obzwar es unverständlich ist, weshalb man sich
dann überhaupt mit Fragen der Kunst beschäftigt, die doch
eine Form der umgewandelten Sinnlichkeit ist, und speziell
mit der Musik, also jener Kunst, die den sinnlichen Nerv am
Original frorm
UNIVERSITYOF MICHIGAN
28 RICHARD WAGNER
stärksten berührt und am speziellsten mit Wagner, der nach
eigenem Ausspruch den Geist der Musik nicht anders fassen
konnte, als in der Liebe. Ich will also dreist sagen, daß
jene Phantasien, aus denen Wagners »Fliegender Holländer«
und andere große Werke Wagners hervorgegangen sind,
Phantasien erotischer Natur seien und werde die Aufklärung
des wichtigsten Motivs Wagnerscher Kunst ohne Zaudern
auf erotischem Gebiete suchen und ruhig abwarten, bis viel-
leicht eine bessere Erklärung vorgetragen wird. Bis dahin
haben meine Ausführungen, so anfechtbar sie manchem
erscheinen mögen, doch einen unbestreitbaren Vorzug: sie
sind zumindest der Versuch einer Erklärung eines wichtigen
Problems der Wagnerschen Persönlichkeit und der Wagner-
schen Werke.
Ein kurzer, scheinbarer Umweg wird uns rasch zu
unserem Problem führen.
Ein sehr sonderbarer Streit wird in der Wagner-Literatur
über die Frage geführt, wer der Vater Richard Wagners
gewesen sei, ob der Aktuarius Friedrich Wagner, der seiner
Frau und seinen sieben Kindern wegstarb, als Richard Wagner
sechs Monate alt war, oder der Maler und Schauspieler Lud-
wig Geyer, der sich nach dem Tode Friedrich Wagners
der Familie seines Freundes annahm und Richard Wagners
Mutter nach halbjährigem Witwenstand heiratete. Die erste
Andeutung, daß Ludwig Geyer der rechte Vater Richard
Wagners wäre, findet sich in einer scherzhaften Fassung*)
bei Nietzsche, der sie kaum niedergeschrieben hätte, wenn
er nicht durch Äußerungen Richard Wagners zu diesem Glauben
verleitet worden wäre. Verkehrte doch Nietzsche mit
Wagner besonders in jener Zeit sehr eng, als Wagner seine
jetzt in Bayreuth aufbewahrte Autobiographie diktierte; ihm
ist auch die Aufsicht über die Drucklegung dieses Werkes
anvertraut gewesen, von dessen künftiger Veröffentlichung
man sich eine wertvolle Bereicherung der Kenntnis der Werke
und der Persönlichkeit Richard Wagners erhoffen darf. Tat-
sächlich geht die sonderbare Version von der Vaterschaft
*) »Sein Vater war ein Geyer und ein Geyer ist fast ein Adler.«
f^rtnnlf* Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 29
Geyers auf Richard Wagner selbst zurück, der gern mit
dem Gedanken spielte, daß der von ihm geliebte Mann sein
Vater gewesen sein könnte und diesem Gedanken im ver-
trauten Freundeskreis oft Ausdruck gab, weshalb orthodoxe
Wagnerianer sich für verpflichtet halten, zu Geyer als dem
Vater des Meisters zu beten. Woher schöpfte Richard Wagner
diese Meinung, daß er Fleisch vom Fleische, Bein vom Beine
Ludwig Geyers sei? Es ist wahr, in dem Schülerverzeichnis
der Kreuzschule heißt es: Wilhelm Richard Geyer, Sohn des
verstorbenen Hof Schauspielers Geyer, allein, das ist doch kein
Beweis und er war es auch für Wagner nicht, der sich in
die Universitätsmatrikel eigenhändig als Wilhelm Richard
Wagner eintrug. Daß er in einem Briefe an seine Frau von
Geyer als »meinem Vater« spricht und seiner Schwester
Cäcilie aus Venedig schreibt, »Vater« Geyers Bild liege
stets vor ihm auf dem Schreibtische, ist ebensowenig ein
Beweis, um so mehr, als er bei anderen Gelegenheiten wieder
»Onkel« Geyer schrieb. Ernsthafter ist ein Brief an seine
Schwester Cäcilie zu nehmen, wo es heißt (14. Januar 1870) :
»Der Inhalt jener Briefe — es sind die Briefe Geyers —
hat mich jedoch nicht nur gerührt, sondern wahrhaft er-
schüttert. Das Beispiel vollständigster Selbstaufopferung für
einen edel erfaßten Zweck tritt uns im bürgerlichen Leben
wohl selten so deutlich vor das Auge, als es hier der Fall
ist. Ich kann sagen, daß ich über diese Selbstaufopferung
unseres Vaters Geyer fast untröstlich bin . . . Ganz besonders
ergreift mich auch der zarte, feinsinnige und hochgebildete
Ton in diesen Briefen, namentlich in den an unsere Mutter.
Ich begreife nicht, wie dieser Ton wahrer Bildung im späte-
ren Verkehre unserer Familie sich so sehr herabstimmen konnte.
Zugleich aber war es mir möglich, eben aus diesen Briefen
an die Mutter einen scharfen Einblick in das Verhältnis dieser
beiden in schwierigen Zeiten zu gewinnen. Ich glaube jetzt
vollkommen klar zu sehen, wenngleich ich es für äußerst
schwierig halten muß, darüber, wie ich dieses Verhältnis sehe,
mich auszudrücken. Mir ist es, als ob unser Vater Geyer
durch seine Aufopferung für die ganze Familie eine Schuld
?
n Prvnnlf» Original frorn
^^ UNIVERSITYOF MICHIGAN
30 RICHARD WAGNER
zu verbüßen glaubte.« Wer diesen Brief unbefangen liest,
wird nicht mehr darin finden, als daß Wagner bei der Lektüre
der Briefe Geyers auf den Gedanken geführt wurde, es
wäre möglich, daß Geyer sein Vater gewesen sei, allein die
bedingte Fassung seiner Sätze — »mir ist es, als ob« — zeigt,
daß es sich um eine Vermutung, eine subjektive Auffassung
handle und die Vermutung drängte sich vermutlich Richard
Wagner auf, weil es ihm willkommen war, in Geyer seinen
Vater zu sehen. Hatte er doch nur diesen Vater als Kind
gekannt. Geyer hatte mit dem Jüngsten oft gespielt, er
liebte den wilden Knaben und als Geyer dem Siebenjährigen
wegstarb, mag sich das verwaiste Kind oft nach dem »Vater«
gesehnt haben. An dem Andenken Geyers hing Richard
Wagner mit besonderer Zärtlichkeit. Als er in Zürich in der
Verbannung lebte, bat er einen Bekannten, der von Zürich
nach Leipzig reiste, ihm Geyers Porträt mitzubringen, und
wie in Zürich, lag das Bild Geyers auch in Venedig, wohin
Wagner aus der Villa Wesendonk geflohen war, stets auf dem
Tische des Künstlers. »Auf dem Tisch vor mir liegt ein klei-
nes Bild« - schreibt Wagner an Mathilden. — »Es ist das
Porträt meines Vaters, das ich Dir nicht mehr zeigen konnte,
als es ankam. Es zeigt ein edles, weiches, leidend sinnendes
Gesicht, das mich unendlich rührt. Mir ist es sehr wert ge-
worden.« Wer würde den Ton der Liebe, die Wagner für
Geyer hegte, in diesen Zeilen überhören können! Allein
trotz dieser Liebe bleibt es dennoch für jeden Unbefangenen
verwunderlich, daß Richard Wagner, ohne zureichenden Grund
Geyer zu seinem Vater ernannt und sich in diesen Gedan-
ken so hineingelebt hat, daß er in der Villa Wahnfried das
eigenhändig entworfene Familienwappen auf einem Glasfenster
anbringen ließ : einen Geyer und ein Siebengestirn.*) Es läßt
sich sogar ein indirekter Beweis liefern, daß Richard Wagner
Geyer zum Vater phantasiert und daß diese Phantasie ein
*) Das Siebengestirn ist der große Wagen (Anspielung auf den Namen
Wagner); die sieben Sterne bedeuten die sieben Geschwister. Daß Riebard
Wagner in dem Wappen nicht nur sich, sondern auch die sechs älteren Ge-
schwister dem » Vater t Geyer beiordnet, ist wohl die stärkste Überspannung
des Gedankens an eine Vaterschaft Geyers.
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER*. 31
besseres Wissen überdeckt habe. Unmöglich hätte es ein so
wichtiges Motiv in Wagnerschen Werken werden können, daß
seinen Helden die Väter, nachdem sie das Kind gezeugt, weg-
sterben (»da er mich zeugt und starb«), wenn Richard Wagner
nicht mit einem Teile seiner Seele an Friedrich Wagner als seinen
Vater geglaubt hätte. Siegfried, Tristan und Parsifal : sie alle
kennen ihre Väter nicht, denn diese starben vor der Geburt.
Wagner hat mit dem Gedanken, daß Ludwig Geyer sein
Vater gewesen sei, nur gespielt, dieser Gedanke gefiel ihm,
er wünschte, daß Geyer sein Vater gewesen wäre, kurz er
gab sich jenem phantastischen Träumen hin, das keinem
Menschen fremd und die Grundlage dichterischen Schaffens
ist, und da er ein Dichter war, war er gewöhnt, den Spielen
seiner Einbildungskraft Realität zu verleihen.
Auf eines möchte ich, bevor ich fortfahre, die Aufmerk-
samkeit lenken. Wenn es wahr gewesen wäre, was Richard
Wagner phantasierend kombinierte, daß Ludwig Geyer sein
Vater gewesen, wäre dann nicht Geyer in die Ehe der Eltern
Richard Wagners hineingetreten, wie die Wagnerschen Helden ?
Entspräche dann nicht die ganze Situation jener, die im
Mittelpunkte der Wagnerschen Werke steht und der Gegen-
stand unserer Analyse ist? Geyer wäre dann gekommen wie
der Holländer, wie Siegmund, wie Tristan. So ist es, als ob
sich hier bei einer Bergwanderung der Ausblick öffne auf
ein noch tiefliegendes Tal, wohin wir gern gelangen möchten,
aber beim nächsten Schritte verschwindet die Aussicht und
wir müssen wieder zwischen Felsen unseren Weg suchen. Der
Holländer, Siegmund und Tristan sind ja nicht die Bilder
Geyers, sondern die Richard Wagners, sie tragen seine Züge,
sie teilen sein Empfindungsleben, ein Zweifel ist gar nicht
möglich: Wagner spricht in diesen Werken von sich, nicht
von Geyer oder noch genauer, er setzt sich an dessen Stelle.
Er bringt sich, indem er als Holländer und in anderen Ge-
stalten auftritt, in dieselbe Situation, die er Geyer in seinen
Phantasien andichtete. Er ist jetzt der Mann, der einer Ver-
bindung oder Ehe sich naht, die bei seinem Kommen er-
schüttert wird. Er und Geyer sind eine Person.
2 *
C nnnlp Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
32 RICHARD WAGNER
Soweit in unserem Gedankengange angelangt, fällt uns
ein, daß Richard Wagner auch durch ein sehr interessantes
äußeres Zeichen verrät, wie gern er sich in Phantasien an
dessen Stelle setze. Noch als reifer Mann kleidet er sich
gern wie Geyer, er trägt dann das Seidenwams und das
Barett Geyers, dem diese Tracht — die der Maler — na-
türlich war. Sie ist die traditionelle Tracht seines Berufes.
Indem sich Richard Wagner kleidet wie Geyer, verrät er
ganz unbewußt, wie sehr er sich mit ihm identifiziere und wir
verstehen jetzt auch, warum Richard Wagner mit so zärtlicher
Liebe an Geyer hing, daß er dessen Bild stets um sich hatte,
während er seines leiblichen Vaters weder in Briefen noch im
Gespräche gedachte. Das Grab Geyers schmückte er mit
größter Treue, niemals hören wir, daß er gleiche Sorge dem
Grabe Friedrich Wagners angedeihen ließ. Mit Geyer war er
verbunden durch seine Liebe und durch seine Phantasien. Seine
Gedanken- und Empfindungswelt war mit Geyer verklammert
und daß er Geyer mit so merkwürdiger Zähigkeit und ohne
Schatten eines Grundes zu seinem Vater erhob, weist darauf
hin, daß ihn die Gedanken an eine Untreue der Mutter be-
sonders stark beschäftigten, denn nur unter dieser Bedingung
hätte er das Kind Geyers sein können. Es wäre möglich,
daß diese überzärtliehe Liebe zu Geyer, diese Ergriffenheit
bei den Gedanken an diesen Mann, der stete Wunsch, sein
Bild zu sehen, tieferliegende Phantasien von einer Untreue
der Mutter überdeckte und daß Richard Wagner in seinen
Gedanken und Empfindungen von Geyer nicht losgekommen
wäre, weil er von dem Gedanken an einen Ehebruch im
Elternhause nicht loskommen konnte und wollte.
In der Tat gehören die Phantasien von der Untreue der
Mutter*) zu den typischen Knabenphantasien und kein ge-
*) Ausführliche Analysen dieser infantilen Phantasien findet man in der
»Traumdeutung« von Prof. Dr. Siegm. Freud, 2. vermehrte Auflage, Leipzig
und Wien 1909, S. 181, und in den Ausführungen Prof. Freuds über dieses
Thema im fünften Hefte dieser Sammlung, S. 64. Erst durch diese tief ein-
dringenden psychologischen Forschungen ist eine Analyse der künstlerischen
Phantasien — dieser veredelten Kinderphantasien — möglich geworden.
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 33
ringerer als Goethe hat mit jenem unbeschreiblichen Wahr-
heitssinne, der seine sittliche Größe begründet, im zweiten
Buche von »Wahrheit und Dichtung« geschildert, wie er sich
des Zweifels freute, nicht seines ehelichen Vaters Sohn
zu sein und unter den Bildnissen gleichaltriger Prinzen
suchte, um eine Ähnlichkeit mit ihnen zu entdecken. Auch
von Beethoven ist ein kleiner, aber bezeichnender Zug
vorhanden, der verrät, daß er mit ähnlichen Phantasien ge-
spielt habe. Mit Behagen verweilte Beethoven bei zwei
Versen der Odyssee, welche von der Ungewißheit der Vater-
schaft sprechen, indem er sie sich notiert :
»Meine Mutter, die sagt es, es sei mein Vater, ich selber
Weiß es nicht! Denn von selbst weiß niemand, wer ihn gezeuget.«
(Odyssee, I., 451.)
Die Phantasie von der Untreue der Mutter nimmt alle mög-
lichen Formen an : man ist der Sohn eines vornehmeren
Mannes, ein Königskind, ein Göttersohn, und unzählbar sind
die Märchen und Mythen, welche von dieser Kinderphantasie
ihren Ausgang genommen haben.
Sind es doch zwei Motive von ewig menschlicher Be-
deutung, die dieser Phantasie ihre Nahrung geben: das
eine ist die Rivalität des Knaben mit dem Vater, der
der Größere, Mächtigere, Stärkere ist, dem der Knabe
gleichen möchte und dem er doch unterlegen ist, der ihm
im Wege steht und der doch sein Vorbild ist. Mit der
Phantasie von der Untreue der Mutter beseitigt der Knabe
den Vater, der sein Rivale ist, und erhöht ihn gleichzeitig,
denn der Gott, der König, der Fürst, den er zu seinem Vater
macht, ist eine Idealisierung der Eigenschaften, die das Kind
an seinem Vater bewundert. Der seelische Konflikt zwischen
der Liebe zum Vater und der Rivalität gegen den Vater wird
dadurch geschlichtet, daß der Rivale beseitigt, der geliebte
Mann in neuer Phantasiegestalt zum Vater gemacht wird.
Das andere Motiv, das die Phantasie von der Untreue der
Mutter belebt, ist die erste verliebte Regung, die vom Knaben
in der Regel der Mutter zugewendet wird. Eine natürliche
Graf, Riehard Wagner im »Fliegenden Hollander-. 3
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
W RICHARD WAGNER
Beziehung verbindet den Knaben mit der Mutter, den Vater
mit der Tochter, die feinsten Ausstrahlungen der Sinnlichkeit
umgeben jene Beziehungen mit einem feinen Schimmer. Was
Wunder, wenn sich diese frühen sensuellen Regungen und Be-
ziehungen des Knaben zu Phantasien verdichten. In denen die
Untreue der Mütter eine große Bolle spielt. Wird doch durch
diese Phantasien der kleine Ödipus vor sich selbst gerecht-
fertigt, denn der Ehrgeiz des Knaben, sein Größenwunsch,
dem Vater zu gleichen, bezieht sich auch auf das Verhältnis
zur Mutter, Auch hier ist der Vater Rivale, auch hier fühlt
sich der Knabe verdrängt, ausgeschlossen und deshalb wenden
sich die verliebten Phantasien des Knaben frühzeitig der
Mutter zu, bis sie bei weiterer Entwicklung der Inzest-
schranke gewahr werden, die ihnen Halt gebietet. In der nor-
malen Reifung wird ein Kind diese Phantasien ohne Schwie-
rigkeiten abstreifen, anders ist es, wenn durch natürliche
Veranlagung oder ein übermächtiges Zärtlichkeitsbedürfnis
der Mutter, die den Knaben mit Liebkosungen überschüttet,
die erotischen Ragungen des Kindes so stark werden, daß
jene Phantasien von Rivalität und Untreue zu sehr anwachsen,
um in der weiteren Entwicklung überwunden zn werden,
Wenn jene Phantasien, verdrangt und unterdrückt, immer
aufs neue wiederkehren und bei jeder erotischen Wallung, auch
des gereiften Mannes, wieder aufleben. Ich kenne ein ausgezeich-
netes Gedicht eines in Deutschland fast unbekannten französi-
schen Poeten, Auguste Dorchain, das sich *L J Habit ude des ca-
resses« betitelt und in unübertrefflicher Weise den Zn-
sammenhang der frühgeweckten Sexualität und der Neurose
schildert, Es beginnt:
»M£rt§, Tons aimez trop eee paovres petita hommea
Qu'en souriant tous apaisez :
A cea füs, qni aerünt faibles, comme noua sommes
Ne prodigue« pas tos bafaeri;
Car aar Totre ame ainsi tous moulex trop leur Arne;
IIa pou front un jonr en eouffrirj
Da vous devront un coeur aemblable aux coeura de femme,
Prompt ä saigner, lent ä guerir.
Voua leur f altes un nid ei chaud de tos caresaes,
p nnn L Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 35
Toujours vous oubliant pour eux,
Que le eher souvenir des anciennes tendresses
Lee rendra plus tard malheureux.
S'ils sentent, chacque soir, sur leur bouche ing&iue
Votre sonffle calme fre*mir,
Sans le parfum aime* d'une haieine oonnue
Ils ne pourront plus s'endormir.
Meres vous les pressez avec inquietude
En les ber^ant sur vos genoux ;
Ils se rapelleront cette douce habitude
Quand ils ne seront plus ä vous. . .
(In der Sammlung »La Jeunesse pensive«.)
Welche Harmonie der Form, aber auch welche psy-
chologische Erkenntnis! Kann doch die unbewußte Er-
innerung an solche in der Kindheit empfangene Küsse so
stark werden, daß die Rivalität des Knaben mit dem'
Vater zum Haß des Knaben gegen den Vater anwächst
und daß die Inzestphantasie den Mann davor zurückschrecken
läßt, das geliebte Weib zu umarmen. Beides war, um ein
charakteristisches Beispiel zu nennen, bei Grillparzer der
Fall, dem Sohne einer leidenschaftlichen Mutter, die in einer
Ehe, wo wenig Liebe zu Hause war, ihr Zärtlichkeitsbedürfnis
mit Küssen befriedigt hat, die sie an den Knaben ver-
schwendete.*)
Wenn wir dies alles zusammenfassen: Den Phantasie-
wunsch Richard Wagners, sich an Stelle seines Vaters zu
setzen, die Phantasien von der Untreue seiner Mutter und
die theoretischen Erwägungen, welche den allgemein mensch-
lichen Gehalt aus diesen Phantasien herausheben, so wird der
Schluß nicht gewagt sein, daß die Inzestphantasie auch bei
*) Für diesen nicht seltenen Muttertypus ist folgende Schilderung aus
den »Carnets de voyage« von Taine überaus charakteristisch : »Dans le wagon,
plusieurs types de femmes: une mere, amoureuse de son fils, peut-Stre parce
qu'elle n'a pas eu l'assouvissement de son coeur dans le mariage: eile le
gite, eile 1'appelle tout haut mon bijou, mon cheri, eile le careese de la main,
eile lui pose la main sur le genou, eUe le eouve encore et il a dix-huit ans !
EUe ne songe qu'ä un point: lui voir de bonnes manieres et le garder le plus
longtemps possible aupres d'elle.«
3*
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
36 RICHARD WAGNER
i
Wagner sehr stark und lebhaft gewesen sein müsse, wenn sie
auch nicht jene bedrohliche Stärke hatte, wie bei Grill-
parzer, dem sie die Liebesfähigkeit geraubt hat. Die Ver-
hältnisse, unter denen Richard Wagner seine Jugend ver-
bracht hat, erklären auch das lange Haften, die starke Nach-
wirkung dieser Phantasie. Richard Wagner war sechs Mo-
nate alt, als sein Vater starb. Ist es nicht natürlich, daß die
Mutter dem verwaisten, schwächlichen Knaben, dem Jüngsten,
besondere Zärtlichkeit angedeihen ließ, daß diese Zärtlichkeit
ihr Trost im Schmerze und in ihrer Verlassenheit gewesen
ist, und ist es verwunderlich, wenn die Kränklichkeit des
blassen und schmächtigen Kindes der Anlaß war, daß die
Mutter auch weiterhin besonders liebevoll mit dem Knaben
sich beschäftigte? Dieses große Maß von Liebe, das ihm
während seiner ersten Lebensjahre von seiner Mutter zu-
strömte und die Zärtlichkeit, der der Schmerz der Einsamen
erhöhte Innigkeit gab, waren eine Erinnerung, die Richard
Wagner nie mehr verließ. Wenn er, erwachsen und im Leben
stehend, niemals genug Liebe erhalten konnte, wenn alle
Aufopferung treuer Freunde und alle Verehrung der Frauen
diesen Zärtlichkeitshunger nicht zu stillen vermochten, wenn
der Künstler immer nach Liebesopfern schrie, was anders
könnte diese Gier nach aufopferungvoller Hingabe erklären,
wenn nicht die Gedanken an die Verwöhnung der Kinderjahre.
Wieviel Kritik haben nicht ferner jene seltsamen Verhältnisse
herausgefordert, wo Richard Wagner eine materielle Unter-
stützung oder eine anderweitige Leistung eines Freundes ge-
noß und gleichzeitig die Liebe der Frau; sie verlieren aber
viel von der Absonderlichkeit, wenn man bedenkt, daß Richard
Wagner in diesen Fällen eigentlich seine Kinderjahre wieder
heraufbeschwört, wo ihn der Vater erhielt und er sich der
Liebe der Mutter erfreute. Die Erinnerung an seine Kinder-
jahre ist in Wagner nie erloschen, seine Kinderseele hat er
auch als Mann unversehrt bewahrt, den Kinderhaß und das
Kinderlieben, das Leidenschaftliche und Ekstatische der Kinder-
neigungen. So stark und lebhaft lebten in ihm seine ersten Jahre
fort und mit ihnen die starke Liebe zu seiner Mutter, deren Lieb-
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM t FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 37
kosungen in dem frühgereiften*) Knaben auch die ersten ver-
liebten Regungen geweckt haben mochten, wie die Phantasien
von der Untreue der Mutter und die unbewußten Wünsche,
die auf die Mutter gerichtet waren, deutlich genug verraten.
»Sieh' Mutter jetzt« — schrieb der Einundzwanzigjährige aus
Karlsbad — , »da ich von Dir fort bin, überwältigen mich die
Gefühle des Dankes für Deine herrliche Liebe zu Deinem
Kinde, die Du ihm zuletzt wieder so innig und warm an den
Tag legtest so sehr, daß ich dir in dem zärtlichsten Tone
eines Verliebten gegen seine Geliebte davon schreiben und
sagen möchte.« Offener kann das Unbewußte nicht mehr
sprechen, als es hier der Fall ist, es kann sich überdies nur
noch in einzelnen charakteristischen Handlungen vernehmbar
machen, so in dem schönen Zuge, daß Richard Wagner nie-
mals Briefe aufhob, nur die seiner Mutter, von denen er sich
nicht trennen wollte. Noch am letzten Abend seines Lebens
erzählte der Siebzigjährige im Kreise der Seinen von seiner
Mutter, der ehrwürdigen Frau, die die Dichterkraft und die
Phantasie im Kinde wachgeküßt hatte.
Wir sind am Ziel.
Wenn wir die Frage gestellt haben, aus welchen
Quellen das Motiv sich herleite, das dem »Fliegenden
Holländer« und so vielen anderen großen Werken Richard
Wagners seinen dramatischen Gehalt gibt, so haben wir
die Antwort gefunden, aus einer Kinderphantasie Richard
Wagners, die dem Größenwunsch des Knaben entsprang, es
seinem Vater gleich zu tun, sich an Stelle seines Vaters zu
setzen, groß zu sein, wie er, ein Weib zu besitzen wie er und
später, als sich die ersten sensuellen Wünsche im verwöhnten
Knaben**) regten, auch seine erotische Betonung erhielt. Des-
halb mußte im »Fliegenden Holländer« Senta gebunden und
*) Von seiner Schwester wird erzählt, daß Richard Wagner (nebst an-
deren Phobien) Angstanfälle in der Nacht hatte. Die frühzeitige Weckung
seiner Kindererotik kann also vom Kundigen nicht bezweifelt werden.
**) »Ich bin doch ein recht verzogenes Kind, es tut mir jeden Augen-
blick wehe, wenn ich wieder von euch weg bin.« Brief vom 11. Dezember
1833.
Pnnnl^ Original frorn
jy V^UUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
38 RICHARD WAGNER
dem Jäger Erik versprochen sein, das ist der tiefste Grund,
daß Wagner diese Gestalt erdichtete. Allein, soll unsere
Behauptung sich als niet- und nagelfest erweisen, so bedarf
sie noch einer kleinen Ergänzung, gleichsam einer Gegen-
probe. Ist wirklich in dem analysierten Motiv jene der Mutter
zugewandte Knabenphantasie wirksam, so müßten die Bilder der
Wagnerschen Heldinnen Züge zeigen, die an Wagners Mutter
gemahnen, es müßte sich mindest in Andeutungen verraten,
daß die Bilder der Wagnerschen Frauengestalten aus einer
Idealisierung und Verklärung der Mutter im tiefsten Seelen-
grunde sich ableiten. Im »Fliegenden Holländer« läßt sich
allerdings ein solcher Zusammenhang nicht zeigen, wenn man
nicht etwa auf die ersten Worte, die der »Fliegende Holländer«
bei der ersten Begegnung mit Senta spricht, ein allzu großes
Gewicht legen wollte : »Wie aus der Ferne längst vergangener
Zeiten, steht dieses Mädchens Bild vor mir.« Allein die
Figuren der Wagnerschen Heldinnen bilden eine Reihe, es
sind Reinkarnationen einer und derselben Gestalt, was die
eine nicht sagt, verrät die andere und so finden wir vor
allem im »Siegfried« überaus interessantes psychologisches
Material. Ist doch die Siegfried-Dichtung recht eigentlich die
Reaktion des Künstlers auf den kurz vorher erfolgten Tod
der Mutter. Siegfried ist ein Phantasiebild des Knaben ; der
Schwächliche mag sich, um der Mutter zu gefallen, oft ge-
wünscht haben, der stärkste Held zu sein, der Furchtsame
wollte dem Knaben gleichen, der das Fürchten nicht kennt.
Wie rührend spricht sich die Sehnsucht nach der Mutter im
zweiten Akte aus, wenn Siegfried unter der Linde lagert.*)
»Aber — wie sah meine Mutter wohl aus?
Das kann ich nun gar nicht mir denken !
Der Rehhindin gleich
•) »Wie wenn ich aus dem Qualm der Stadt hinaus trete in ein schönes
belaubtes Tal, mich auf das Moos strecke, dem schlanken Wuchs der Bäume
zuschaue, einem lieben Waldvogel lausche, bis mir im traulichsten Behagen
eine gern ungetrocknete Träne entrinnt, so ist es mir, wenn ich durch allen
Wust von Wunderlichkeiten hindurch meine Hand nach Dir ausstrecke, um
Dir zuzurufen : Gott erhalte Dich, Du gute alte Mutter.« Geburtstagsbrief
Richard Wagners an seine Mutter vom 16. September 1846.
f^rtnnlf* Original fronn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 39
glänzten gewiß
ihr hell schimmernde Augen :
nur noch viel schöner!
Ach, möcht' ich Sohn meine Mutter sehn !
Meine Mutter! — ein Menschenweib!«
Die glänzenden Augen der Mutter haben oft liebevoll
auf den Knaben herabgeschaut und jedes Bild der Frau
Johanna Wagner zeigt diese wundervollen leuchtenden
Augen. Das mag an den »glänzenden Wurm« in Sieglindens
Augen erinnern und an die typische Situation in den Dich-
tungen, wo der Held und die Heldin einander minutenlang
in die Augen starren (»Fliegender Holländer«, »Tristan und
Isolde«, »Die Meistersinger von Nürnberg«) und Blick in
Blick tauchen . . . Wenn Siegfried die Lohe durchschreitet und
Brünhilde erweckt, sind es die Gedanken an seine Mutter,
die seine Liebe zu Brünhilden durchwirken:
»So starb nicht meine Mutter,
Schlief die M innige nur?«
Auch in »Tristan und Isolde« fehlen nicht die sinn-
vollen Spiele unbewußter Gedanken . . . Daß Isolde die Frau
des Oheims ist, an dessen Hof der durch den Tod' seiner
Eltern verwaiste Tristan aufgezogen wurde : dieses nahe Ver-
wandtschaftsverhältnis Tristans und Markes, ist es nicht eine
variierende Umschreibung des alten Kinderverhältnisses
Richard Wagners zu Geyer, den er zu Zeiten auch Onkel
Geyer nannte. Morold war im ersten Entwürfe ein Onkel
Isoldens, nicht ihr Bräutigam, wie später in Richard Wagners
Dichtung, in der Isolde des angelobten Irenhelden ebenso
vergißt, wie des später angetrauten Gemahls, wenn Tristan ihr
ins Auge blickt. Diese überaus interessante und bedeutungsvolle
Verdoppelung des Motivs, daß Isolde gebunden ist, während die
Liebe zu Tristan in ihr aufflammt, ist Richard Wagners eigenste
Idee, der zuliebe er den übernommenen Sagenstoff umdichtete
und vielleicht dadurch determiniert, da unbewußt Gedanken an
die zweimalige Ehe Johanna Wagners mitspielten. *) Nicht über-
*) In einer fesselnden Studie über Leonardo da Vinci (dem 7. Heft
dieser Sammlung) hat Professor Freud gezeigt, wie Leonardo aus den Ge-
danken an die zwei Mütter, die seine Kindheit beschützten, das Bild „Die
Pnnnl^ Original frorn
jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
40 RICHARD WAGNER
sehen darf werden, wie Gedanken an die tote Mutter zwei
Hauptszenen des Tristan durchziehen und eine der groß-
artigsten Szenen des Parsifals ist es, daß Kundry mit dem
Kuß der Mutter den reinen Toren zu verführen sucht:
„Als Muttersegens letzter Gruß
Der Liebe ersten Kuß«.
Richard Wagner hat uns jedoch selbst in die Lage vei>
setzt, auf alle diese Vermutungen, Deutungen und Konjekturen
zu verzichten, indem er den Gedanken, daß das Bild der
Geliebten von einer Umwandlung und Idealisierung des
mütterlichen Bildes sich herleite, so deutlich und unbezweifel-
bar ausgesprochen hat, daß dieses eine Dokument genügen
würde, um unsere Ausführungen zu festigen und dieses Do-
kument ist die Traumerzählung Walter Stolzings in der ersten
Druckausgabe der »Meistersinger von Nürnberg«, die Richard
Wagner erst später durch das bekannte Preislied ersetzt hat.
Ich setze diese Traumerzählung vollständig hieher und mache
schon jetzt darauf aufmerksam, wie bedeutungsvoll in allen
drei Versen des ersten Liedes das schöne Bild der Mutter
erscheint und wie die Phantasie bis zur Wiege zurückfliegt,
in der das Kind von der Mutterliebe behütet wurde:
Fern
Meiner Jugend gold'nen Toren
Zog ich einst aus,
In Betrachtung ganz verloren :
Väterlich Haus
Kindliche Wiege
Lebet wohl ! ich eil, ich fliege
Einer neuen Welt nun zu.
Stern
Meiner einsam trauten Nächte
Leuchte mir klar,
Daß mein Pfad zum Glück mich brächte.
Mütterlich wahr
Helle mein Auge,
Daß es treu zu finden tauge
Was mein Herz erfüll ' mit Ruh'.
heilige Anna selbstdritt« gestaltet hat. Wer meine Analyse des Doppelmotivs
in aTristan« wülkürlich finden sollte, wird nach der Lektüre der Studie
Professor Freuds vermutlich anders darüber denken.
3 y Google
Original from
UNIVERSITYOF MICHIGAN
IM FLIEGENDEN HOLLÄNDER^. 41
Abendlich
Sank die Sonne nieder:
Goldne Wogen
Auf den Bergen reihten sich :
Türme und Bogen
Häuser, Straßen breiten sich :
Durch die Tore zog ich ein,
Dünkte mich
Ich erkenn* sie wieder:
Auch der alte Flieder
Lud mich ein sein Gast zu sein
Auf die müden Lider
Labendlich
Goß er Schlaf mir aus —
Gleich wie im Vaterhaus.
Ob ich die Nacht
Dort wohl geträumt hab* ob gewacht?
Traum
Meiner törig goldnen Jugend
Wurdest du wach
Durch der Mutter zarte Tugend?
Winkt sie mir nach,
Folg' ich und fliege
Über Stadt und Länder heim zur Wiege
Wo mein' die Traute harrt.
Kaum
Daß ich nah zu sein ihr glaube
Blendend und weiß
Schwebt sie auf als zarte Taube
Pflückt dort ein Reis
Ob meinem Haupte
Hält sies's kreisend, daß ich 's raubte
In holder Gegenwart.
Morgen licht
Dämmerte da wieder :
Scherzend und spielend
Täubchen immer ferner wich ;
Fliegend und zielend
Zu den Türmen lockt es mich ;
Flattert über Häuser hin,
Setzte sich
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VjUU^IC UNIVERSITYOF MICHIGAN
48 RICHARD WAGNER
Auf dem Haus, dem Flieder
Gegenüber nieder,
Daß ich dort das Reis gewinn*
Und den Preis der Lieder.
Morgenlich
Hab' ich das geträumt.
Nun sagt mir ungesäumt
Was wohl am Tag
Der holde Traum bedeuten mag.
Tag,
Den ich kaum gewagt zu träumen,
Brachst du nun an
In der Freundschaft trauten Räumen?
Ist es kein Wahn?
Sie die ich liebe,
Die das Herz mir schwellt mit süßem Triebe
Sie steht von Glanz vor mir?
*
Sag'
Ist es nicht die weiße Taube
Lieblich und treu
Wie der Jugend holder Glaube?
Ihr ohne Reu*
Ganz mich zu geben
Ihr zu weihn mein Glück, mein Heil, mein Leben
Wie, Mutter, dankt* ich'» dir?
8onniglich will sie mir erglänzen :
Nächtliche Schleier
Decken mehr die Augen nicht ;
Heller und freier
Sah ich nie ein Angesicht:
Ob dem Haupt ihr schwebt ein Reis
Ob sie das bricht
Von dem Zweig des Lenzen
Huldvoll ohne Grenzen
Mir die Stirn' um Sanges Preis
Bald damit zu kränzen?
Wonniglich,
Schönster Lebenstraum!
Des Paradieses Baum
Reichst du dies Reis,
Wohl unversehrt ich blühen weiß !
C^f\f\ri\i> Original frorm
VjUU^K, UNIVERSITYOF MICHIGAN
IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 43
Kann es wohl poetischer und schöner ausgedrückt sein,
daß sich die Mutter in Eva, die Geliebte Walters, die dem
Poeten das Reis reicht, verwandelt habe?*) Vielleicht wird
man es — der letzte Einwand, dem ich die Tür vermauern
möchte, durch die er Zugang sucht — willkürlich finden,
daß ich einen erdichteten Traum benütze, um Schlüsse zu
ziehen, da doch alle Dichtung freies Phantasiespiel sei. So
falsch dieser Einwand ist, da es im Gebiete des Seelischen
keine Willkür gibt und auch die kühnste Phantasie nichts
erfinden kann, was nicht logisch mit anderen Vorstellungen
verknüpft wäre; dennoch will ich mich mit ihm befassen, da
zum Überfluß auch gezeigt werden kann, daß Elemente, aus
denen Richard Wagner diese Traumerzählung gedichtet hat,
Bestandteile eines wirklich geträumten Traumes des Künstlers
sind und vermutlich typische Bestandteile Wagnerscher Träume
gebildet haben.
Drei Jahre vor der Dichtung dieser Traumerzählung
berichtet Richard Wagner an Mathilde Wesendonck über
einen Traum, den er in Venedig geträumt (25. März 1859):
»Wenige Nächte vor meiner Abreise hatte ich aber in
Wahrheit noch einen wunderlieblichen Traum, so schön, daß
ich ihn Ihnen noch mitteilen muß, wie wohl er viel zu schön
war, um mitgeteilt werden zu können. Alles was ich davon
beschreiben kann, war ungefähr folgendes: Eine Szene, die
ich in Ihrem Garten (der aber mir auch wieder etwas anders
war) vorgehen sah. Zwei Tauben kamen über die Berge her ;
die hatte ich abgeschickt, um Ihnen meine Ankunft zu melden.
Es waren zwei Tauben : warum zwei ? Das weiß ich eben
*) Die Verwandlung der Mutter in eine Taube und die Rückverwand-
lung der Taube in die Geliebte mag an den starken Jugendeindruck des
»Freischütz« (Verwandlung der Agathe in eine Taube) anknüpfen, wird aber
durch diese Reminiszenz nicht ganz erklärt. Richard Wagner hielt sich für
den Sohn Geyers — ein Vogelkind, weshalb er in humoristischer Laune
unbewußt-sinnreich dichten konnte: »Im wunderschönen Monat Mai kroch
Richard Wagner aus dem Ei«. Tauben und Schwäne spielen in seinen
Dramen eine große Rolle. Einer Flugphantasie verdankt „Wieland der
Schmied« seine Entstehung. So reicht auch dieses Motiv in dunkle seelische
Tiefen hinab.
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jy ijUUglt UNIVERSITY OF MICHIGAN
44 RICKARD WAGNER
nicht. Sie flogen als Paar dicht nebeneinander. Wie Sie
sie erblickten, schwebten sie plötzlich in die Luft auf, Ihnen
entgegen, in der Hand schwangen Sie einen mächtigen, bu-
schigen Lorbeerkranz ; mit dem fingen Sie das Taubenpaar
und zogen das flatternde nach sich, den Kranz mit den Ge-
fangenen neckend hin und her schwenkend. Dazu fiel plötzlich
ungefähr wie bei Sonnendurchbruch beim Gewitter, ein so
blendender Lichtglanz auf Sie, daß ich davon erwachte.«
Wenn nun gleiche oder ähnliche Bestandteile im Traume von
1859 und in der Dichtung von 1862 sich finden, darf man
von einer Willkür reden oder muß man nicht vielmehr an-
nehmen, daß gleiche Regungen und gleiche Vorstellungen
einmal im Traume, das anderemal in der Dichtung sich bildlich
verkörpert haben ? Triumphphantasien liegen offenbar beiden
zu Grunde, sowohl dem Traume, wie dem Preislied, dieselbe
Triumphphantasie, aus der die Schlußszene der »Meister-
singer von Nürnberg« hervorgegangen ist, wo Eva den jungen
Dichterhelden mit dem Lorbeerreise krönt.
So treffen wir zutiefst, wenn wir Blatt nach Blatt vom
>Fliegenden Holländer« vorsichtig ablösen, auf eine unter den
Deckblättern verborgene Phantasie des Knaben, worin das Ver-
hältnis desKnaben zu seinem Vater und zu seiner Mutter zum Ge-
genstand unbewußter erotischer Träumereien geworden. Dieser
erste seelische Konflikt des Kindes ist der Ausgangspunkt,
von dem alle großen tragischen Konflikte der Wagnerschen
Werke herkommen. Was aber hat es bewirkt, daß diese
Kindesphantasie, die nach den Gesetzen menschlicher Ent-
wicklung die edelsten Gefühle der Pietät beleben und derart
in höherwertigen Elementen aufgehen muß, wirksam, tätig,
lebendig geblieben ist? Was hat die erotische Stimmung der
Kindheit, die sich in derartigen Phantasien wieder verdichtete,
aufgeweckt. Auch dies haben wir schon angedeutet, als aus-
geführt wurde, daß es der äußere und innere Zusammenbruch
von Richard Wagners Ehe gewesen sei, aus dessen Erschüt-
terungen die Bilder de? »Fliegenden Holländers« emporstiegen
und wenngleich der äußere Riß wiederum verdeckt wurde,
der innere blieb bestehen, der seelische Zwiespalt klaffte
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IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«. 45
zwischen den beiden Menschen. Dadurch geschah es, daß die
in der Ehe nicht mehr voll befriedigten Liebesregungen sich
von der Realität ablösten und zur Phantasie der Knaben-
jahre zurückkehrten. Mit ganz besonderer Schärfe hat Richard
Wagner in späteren Jahren dargestellt, wie all sein Schaffen
ein Ersatz an Stelle erlebten Glückes sei, die Erfüllung von
Phantasiewünschen, die das Leben nicht gestillt. So vor-
zugsweise in Züricher Briefen : »Nur so viel muß ich Dir
sagen, daß meine Kunst jetzt immer mehr das Lied der ge-
blendeten, sehnsüchtigen Nachtigall wird und daß diese Kunst
plötzlich allen Grund verlieren würde, wenn ich eben die
Wirklichkeit des Lebens umarmen dürfte. Ja, wo das Leben
aufhört, da fängt die Kunst an« (an Röckel, 8. Juni 1853).
Oder: »Vom wirklichen Genuß des Lebens kenne ich gar
nichts: für mich ist , Genuß des Lebens, der Liebe* nur ein"
Gegenstand der Einbildungskraft, nicht der Erfahrung. —
So mußte mir das Herz ins Hirn treten und mein Leben nur
noch ein künstliches werden: nur noch als »Künstler* kann
ich leben, in ihm ist mein ganzer ,Mensch' aufgegangen« (an
Liszt, 9. November 1852). »Mir kommen jetzt oft eigene
Gedanken über ,die Kunst* an und meist kann ich mich nicht
erwehren zu finden, daß hätten wir das Leben, wir keine
Kunst nötig hätten. Die Kunst fängt genau da an, wo das
Leben aufhört, wo nichts mehr gegenwärtig ist, da rufen wir
in der Kunst ,ich wünschte*. Ich begreife gar nicht, wie ein
wahrhaft glücklicher Mensch auf den Gedanken kommen soll,
, Kunst* zu machen: nur im Leben ,kann* man ja. — Ist
unsere , Kunst* somit nicht nur ein Geständnis der Impotenz ?
— Gewiß ! Besteht unsere Kunst in dieser und alle die Kunst,
die wir aus unserer gegenwärtigen Unbefriedigung im Leben
heraus uns vorzustellen vermögen ! Sie ist alle nur möglichst
deutlich ausgedrückter Wunsch« (an Liszt). *Mein im Leben
ungestilltes heftiges Liobesbedürfnis ergieße ich in meine
Kunst« (an seine Schwester Luise, 11. November 1852). Er-
füllung von Phantasiewünschen ist Richard Wagner also das
Kunstschaffen gewesen und da ist es selbstverständlich, daß
es eine Wiederbelebung der Stimmungen jener Zeit ist, die
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46 RICHARD WAGNER IM »FLIEGENDEN HOLLÄNDER«.
nur in der Phantasie lebte — der Kinderzeit. Aus den Ent-
täuschungen des Lebens und der Liebe, aus den Sorgen der
Existenz und des Schaffens, aus der tiefen Unbefriedigung
seiner Königsberger Zeit flüchtete sich Richard Wagner mit
dem Holländer in die selige Kinderzeit, zum Glück und der
Wonne des Phantasierens, des Tagträumens, der Gedanken-
wünsche und alle vergangenen Regungen wurden wieder
wach :
»Träume und Erinnerungen
Nahen aus der Kinderzeit
Flüstern mit den Geisterzungen
Von vergangner Seligkeit,
Und zu Jugendlust — Genossen
Kehren wir ins Vaterhaus;
Arme, die uns einst umschlossen,
Breiten neu sich nach uns aus.«
(Graf Schack, Abenddämmerung.)
An demselben Tage, an dem Richard Wagner den »Flie-
genden Holländer« vollendete, griff er nochmals zur Feder,
um seiner Mutter einen Brief zu schreiben. Jahrelang war
der schriftliche Verkehr unterbrochen worden. Jetzt aber
drängte ihn der Anstoß unbewußter Gedanken, denn mit dem
»Fliegenden Holländer« war der Musiker wieder in dem
Hause eingekehrt, wo er als Knabe gespielt hatte und wieder
hatte er die großen, hellen Augen der Mutter auf sich ruhen
gesehen . . .
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Von demselben Autor erschienen bisher folgende Publika-
tionen :
Deutsche Musik im neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1898. Ver-
lag Siegfried Cronbach.
Wagner-Probleme und andere Studien. Wien 1899. Zweites
Tausend. Wiener Verlag.
Die Musik im Zeitalter der Renaissance. Berlin. Bard, Marquardt
& Cie.
Die innere Werkstatt des Musikers. Stuttgart 1910. Verlag von
Ferdinand Enke.
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VjUU^K, UNIVERSITYOF MICHIGAN
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