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Full text of "Talleyrand Napoleon Stendhal Grabbe. Psychoanalytisch-Biographische Essays"

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INTERNATIONAL 




PSYCHOANALYTIC 




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UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 

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EDMUND BERGLER 

TALLEYRAND • NAPOLEON • STENDHAL • GRABBE 



TALLEYRAND NAPOLEON 
STENDHAL- GRABBE 

PSYCHOANALYTISCH-BIOGRAPHISCHE ESSAYS 



VON 



DR. EDMUND BERGLER 

ASSISTENT AM PSYCHOANALYTISCHEN AMBULATORIUM IN WIEN 



1935 

INTERNATIONALER 
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN 



MEINER FRAU MARIANNE 



Vorwort 

Freuds Werk — die Psychoanalyse — ermöglichte unter anderem den 
Versuch einer genetischen Biographik. Der Schöpfer der Psychoanalyse hat 
in seiner Leonardo-Arbeit ein erstmaliges und unerreichtes Vorbild einer 
biographischen Studie geschaffen. Die analytisch-biographischen Arbeiten um- 
fassen heute ein großes Gebiet, '•' die Publikationen zählen nach Dutzenden. 
Einige Arbeiten sind mir besonders lieb: Hitschmanns „Keller", Jekels 
„Napoleon", Jones „Morphy", Laforgues „Baudelaire", Reiks „Flaubert" 
und Sachs' „Caligula". Zwei dieser Autoren — die Herren Jekels und 
Hitschmann — waren meine „biographischen" Lehrer, die mich in letzten 
Jahren auch zu ihrem Mitarbeiter bei ihren klinischen Arbeiten machten. Ich 
danke ihnen für ihr Wohlwollen. 

Die Titelbezeichnung „psychoanalytisch-biographische Essays" bedarf einer 
Erklärung. Eine analytisch-biographische Studie hebt lediglich die für die be- 
treffende Persönlichkeit entscheidenden unbewußten Motive hervor 
und verzichtet darauf, mit der deskriptiven Biographik in Konkurrenz zu 
treten. Ihres fragmentarischen Charakters ist sie sich stets bewußt. Mög- 
licherweise wird sie später einmal mehr als Fragmentarisches bieten: Marie 
Bonapartes mustergültiges Werk über Poe weist in diese Richtung. 

Die hier vorliegenden Studien über Talleyrand, Napoleon, Stendhal und 
Grabbe sind im Anschluß an meine klinischen Arbeiten geschrieben worden. 

*) Es sei auf die bedeutendsten Arbeiten verwiesen: Abraham (Amenhotep, Segantini), 
H. Deutsch (G.Sand), Ferenczi (Cornelia), Flügel (Heinrich VIII.), Gomperz (So- 
krates, Parmenides), Hermann (B. Cellini, Pascal, Darwin, Fechner), Hitschmann 
(Swedenborg, Schopenhauer, Schubert, Dauthendey, Goethe, Brahms, Eckermann), Jones 
(Louis Bonaparte, Andrea del Sarto, Heinrich Kleist), Kohn (Lassalle), Kris (Messerschmidt), 
Laforgue (Rousseau), Landauer (Ludwig IL), Lorenz (Fouque), Neufeld (Dosto- 
jewski), Rank (das Sammelwerk „Inzestmotiv"), Reik (Friederike Brion), Sarasin 
(Mignon), Sperber (Dante), Winterstein (Dürer), Witt eis (Dante, Booth). 

Zählt man im erweiterten Sinne die analytische Bearbeitung einzelner Werke von Dichtern 
zu den analytischen biographischen Arbeiten, schwillt die Zahl der Publikationen ins Un- 
übersehbare an. Es seien deshalb bloß die vielbewunderten Studien von Jekels „Macbeth", 
Hanns Sachs „Schillers Geisterseher", Reiks Schnitzler-Buch, Kaisers „Kafka" und 
H. Deutschs „Don Quichote" erwähnt. 



Vorwort 



Immer wieder reizte es mich, jene Probleme, auf die klinische Erfahrungen 
mich hingelenkt hatten, an historischen Gestalten aufzusuchen. So entstanden 
als Ergänzung meiner Arbeiten über die Psychologie des Zynismus die Studien 
über Talleyrand und Napoleon, in Fortführung der Untersuchungen über die 
orale Phase der Libidoentwicklung, der Beitrag zur Psychologie Grabbes, und 
als Abschluß meiner Bemühungen um das Verständnis narzißtischer Phäno- 
mene — die Stendhal-Skizze. Diese Entstehungsgeschichte bewirkt, daß die 
Helden der folgenden Essays auch als klinische Typen gesehen sind mit einer 
gewissen Einseitigkeit, der sich Verfasser bewußt ist, ohne sie meiden zu wollen. 

Wien, November 1934. 

Der Verfasser. 



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Tallcyrand 

Ein Beitrag zur Psychologie des Zynikers. 

Die ersten Eindrücke, welche das Kind empfängt, üben ja fast 
immer einen nachhaltigen Einfluß auf das Gemüt und den Cha- 
rakter aus und werden oft dauernd für das ganze Leben. 

Memoiren des Fürsten Talleyrand, herausgegeben vom Herzog 
von Broglie, Bd. I, S. 5, entstanden 1816. 

Talleyrand äußerte gelegentlich, man werde noch 300 Jahre nach seinem 
Tode über ihn sprechen. Diese Prophezeiung ist, überblickt man das erste 
Drittel dieses Zeitraumes, teilweise in Erfüllung gegangen. Es liegt eine große 
Literatur über den Fürsten von Benevent vor, in welcher verschiedene Seiten 
seiner "Wirksamkeit genauest registriert werden: der Bischof von Autun, der 
eidbrüchige Priester, der Lebemann, der Minister des Direktoriums, der Helfer 
und spätere Verräter Napoleons, der Premier der ersten und zweiten Restau- 
ration, der Botschafter des Bürgerkönigs — kurz, der korrupte Diplomat, der 
sechs französische Regierungsformen verraten und deren Repräsentanten vier- 
zehn Eide geschworen hatte, der ausschweifende Frauenfreund und der be- 
rüchtigte Zyniker Talleyrand kommen zu Wort. Vergebens sucht man aber 
in diesen Büchern das Wesentliche: die psychologischen Ursachen eines sol- 
chen Tuns. Die Biographen und Kritiker begnügen sich mit der morali- 
sierenden, verurteilenden oder erstaunten Feststellung seiner Handlungen. Für 
sie ist Talleyrand ein imponierendes Monstrum, ein seltenes Exemplar der 
Amoralität, das lediglich des Staunens, der Bewunderung oder der Verachtung 
wert ist. 

Die Psychoanalyse kann nicht wertend, sie muß lediglich erklärend an 
einen Charakter herantreten. Geschieht dies im Falle Talleyrand, fällt vor 
allem auf, daß eine Seite des Problems den meisten Beobachtern völlig ent- 
gangen ist: die Tatsache, daß Talleyrand, trotz äußerem Erfolg und guter 
Gesundheit ein tief unglücklicher Mensch war. Und da ein unter solchen 
Umständen unglücklicher Mensch eine unglückliche (oder innerlich als un- 
glücklich empfundene) Jugend erlebt haben muß, tritt als erste Frage an uns 
heran: "Wie sah Talleyrands Jugend aus? 



jQ Edmund Bergler 



Über Talleyrands Kindheit ist nichts oder fast nichts bekannt. Soweit die 
Biographen vom hohen Kothurn ihres Allesbesserwissens sich überhaupt her- 
beiHeßen, derlei „analytische Überflüssigkeiten" zu erwähnen, gestehen sie, 
darüber nichts aussagen zu können. Aus Talleyrands Jugend wird meistens 
lediglich ein Faktum erwähnt: Als vierjähriger Bub ist Charles Maurice von 
der Kommode gestürzt und hat sich den Fuß gebrochen; da der Bruch nicht 
bemerkt und nicht behandeh wurde, akquirierte Talleyrand einen Klumpfuß 
und hinkte. Deshalb konnte er sich nicht der militärischen Laufbahn widmen 
und mußte - „malgr^ lui" bemerkt Sainte Beuve - Priester werden. Mit 
dieser Tatsache ist für die Biographen das Problem erledigt. 

Wir sind also auf die Angaben des Fürsten selbst angewiesen und diese sind 
— in einer ausgesprochen idealisierenden, d.h. verlogenen Selbstbiographie, 
wie sie Talleyrand verfaßte — nicht sehr aufschlußreich und bestätigen die 
Aussage eines seiner Biographen, Bernard de Lacombe, der von der „obscurite, 
qui enveloppe la jeunesse de Talleyrand" spricht. Immerhin erfahren wir aus 
Talleyrands Memoiren folgendes: 

Ich bin im Jahre 1754 geboren; meine Eltern waren nicht sehr vermögend aber sie 
hatten eine Stellung am Hofe und dadurch für sich und ihre Kinder ein standesgemäßes 
Auskommen... Mein Vater teilte die Grundsätze meiner Großmutter mütterlicherseits in 
bezug auf die Kindererziehung. So wurde denn auch die meinige sehr dem Zufall über- 
lassen, nicht aus Gleichgültigkeit oder Herzlosigkeit gegen mich, sondern einfach, weil meine 
Eltern sich sagten, man müsse auch hierin handeln und sein wie alle anderen. Nach den 
damaligen Ansichten würde man eine allzugroße Sorgfalt für Pedanterie gehalten und 
Zärtlichkeit gar lächerlich gefunden haben. Die Kinder jener Zeit waren nichts 
als die Erben des Wappens und Namens, und man meinte, genug für sie getan zu haben, 
wenn man ihre Zukunft durch eine Anstellung mit Aussicht auf ein Avancement, durch ein 
Amt, eine gute Pfründe gesichert hatte, indem man nebenbei noch suchte, sie gut zu ver- 
heiraten. Eine direkte elterUche Fürsorge war damals nicht Mode und ich verlebte die ersten 
Tahre meiner Kindheit in einer Vorstadt von Paris, wo man mich bei einer Bürgersfrau m 
Pension gegeben hatte. Als ich vier Jahre alt war, ließ mich diese Frau eines Tages von 
einer Kommode herabfallen, wodurch ich mir den Fuß verstauchte. Die Frau sagte nichts 
und die Meinigen bemerkten es erst einige Monate später, als sie mich aus jenem Hause 
fortnahmen, um mich zu meiner Großmutter väterlicherseits, der Fürstin Chalais zu 
bringen, die mich zu sehen und bei sich zu behalten wünschte. Eigentlich war es meine Ur- 
großmutter, aber ich nannte sie immer Großmutter, weil mir das herzhcher klang. 

Mein Fuß war infolge der Vernachlässigung jetzt nicht mehr zu kurieren und da ich in 
der ersten Zeit wegen der Schmerzen den anderen Fuß übermäßig anstrengen mußte, so 
blieb das Leiden und ich habe mein ganzes Leben etwas gehinkt. 

Dieser Unglücksfall hatte einen großen Einfluß auf meine Zukunft; denn meine Eltern 
sahen sofort ein, daß ich eine Militärlaufbahn, zu der ich anfangs bestimmt war nicht ein- 
schlagen konnte. Sie mußten deshalb an etwas anderes für mich denken und selbstverständ- 
lich an etwas, von dem sich die Familie Nutzen versprechen konnte. Denn in den großen 
Häusern kam immer nur die Familie als Gesamtheit in Betracht und weit weniger ein ein- 
zelnes Mitglied derselben, vollends nicht, wenn ein solches Mitglied noch ganz klein war. 



Talleyrand 



Ich verweile nicht gern bei diesem Gegenstand und breche daher 

' DirFüritin Chalais war eine äußerst distinguierte Dame; ihr Geist, ihre Ausdrucksweise, 
der Ton ihrer Stimme und ihre vornehmen Manieren hatten wirkUch etwas Bezauberndes. 
Sie fand sofort an mir Gefallen und behandelte mich mit einer Sanftmut, wie mir e.ne 
solche bis dahin nie zuteil geworden war. Sie (die Urgroßmutter) war die erste 
in meiner Familie, die mir eine herzliche Zuneigung erwies und auch 
die erste, die ich aufrichtig liebte... Wie oft habe ich in späteren Jahren weh- 
mütig an sie zurückgedacht, und das um so mehr, weil ich in meiner eigenen 
Familie derartige Gefühle für mich niemals gefunden! Hat man einen Men- 
schen, der uns liebt, noch um sich, so ist das ein großer Trost in allen Fährnissen und 
Leiden des Lebens; hat man ihn aber nicht mehr, so ist der Gedanke an ihn immer ein 
geheiligtes Asyl für Geist und Herz. 

Die Zeit, die ich im Schlosse zu Chalais verlebte, ist mir unvergeßhch ... Ich hatte dort 
(bis zum achten Jahr) so ziemlich das alles gelernt, was man von meinem Alter verlangen 
konnte: lesen, schreiben... und als ich in meinen „Studien" so weit gekommen war, mußte 
ich nach Paris zurück. Weinend nahm ich Abschied von meiner Großmutter und auch 
sie umarmte mich unter Tränen... Als ich am Morgen des siebzehnten Tages in Paris 
ankam, empfing mich ein alter Kammerdiener meiner Eltern. Er führte mich direkt in das 
College d'Harcourt ... Meine plötzliche Versetzung in das College, ohne vorher meine 
Eltern gesehen zu haben, hatte mich sehr peinlich berührt. Ich war da- 
mals schon acht Jahre alt und noch hatte kaum jemals das väterliche 
Auge auf. mir geruht. Man sagte es mir und ich glaube es auch, daß gebieterische 
Gründe dies verlangten und fügte mich. 

Einmal in der Woche brachte der Abbe (Hardy) mich zu meinen Eltern, wo ich 
zu Tische blieb und gleich darauf gingen wir wieder ins College zurück, nachdem ich jedes- 
mal regelmäßig ein und dieselben Worte hatte hören müssen: „Sei artig und fleißig, mein 
Sohn, damit der Herr Abbe mit dir zufrieden sein kann." 

Ich arbeitete übrigens recht gut, meine Kameraden hatten mich gern und ich fand mich 
auch bald mit Heiterkeit in meine Lage . . . 

Ich war zwölf Jahre alt geworden und dachte jetzt schon ernsthafter über meine Lage 
nach. Die geringe Teilnahme, die meine Familie mir während meiner Blattern- 
erkrankung (mit II Jahren) bewies, mein Eintritt ins College, ohne vorher meine Eltern 
gesehen zu haben, und auch noch sonstige Nebenumstände machten mich sehr betrübt. Ich 
fühlte mich vereinsamt, ungeliebt und ohne Stütze und so gut wie ganz 
auf mich selbst angewiesen, aber meine Urteilskraft wurde dadurch frühzeitig 
geschärft. Meiner freudlosen Kindheit — den kurzen Aufenthalt bei meiner Groß- 
mutter abgerechnet— verdanke ich wohl, daß ich ernster war, als andere Knaben meines 
Alters, was vermutlich nicht der Fall gewesen, wenn ich vergnügtere Tage verlebt hätte. 
Darin mag auch wohl der Grund liegen, daß ich später Schmerz und Mißgeschick leichter 
und resignierter ertragen konnte, weil ich stets in mir selbst den sichersten Halt fand. 

Es ist ein Gefühl wie wehmütiger Stolz, das mich nicht ohne eine gewisse Befriedigung 
auf jene Jahre meiner Kindheit zurückblicken läßt . . . 

In meinem Studium hätte ich wohl größere Fortschritte machen können, denn ich besaß 
gute Anlagen ... Ich fand aber von jeher so wenig Aufmunterung, und es schien mir, als 
wollte man mich geflissentlich verhindern, mich auszuzeichnen, daß ich schließHch als ein 
ganz gewöhnlicher Schüler das College verließ. Und auch jetzt noch schwieg mein Vater 
völlig über seine Pläne für meine Zukunft, und nur zufällige Bemerkungen gaben mir hie 



Edmund Bergler 



und da eine leise Andeutung. Um mich aber doch etwas mit diesen Plänen vertraut zu 
machen, schickte man mich in das vornehmste Erzbistum Frankreichs, nach Rheims, wo ein 
Bruder meines Vaters Koadjutor war (der spätere Erzbischof von Paris). 

Ich habe meine Eltern vor meiner Abreise nicht gesehen und ich sage es hier, um es 
niemals zu wiederholen, daß ich vielleicht der einzige Mensch von hoher 
Geburt bin, der einer zahlreichen und allgemein geachteten Familie 
angehörte, und der in seinem ganzen Leben nicht das Glück genossen 
hat, auch nur eine einzige Woche lang unter dem elterlichen Dache zu 
verweilen. 

Als ich ein volles Jahr in Rheims verlebt hatte und mehr und mehr einsah, daß ich dem 
über mich verhängten Schicksale nicht entgehen konnte, gab ich nach und trat in das 
Priesterseminar zu Saint- Sulpice ein. 

Mit ernsteren Gedanken, als man gewöhnlich in meinem Alter zu haben pflegt, macht- 
los gegen eine höhere Gewalt, innerlich ergrimmt, ohne es sagen zu 
dürfen, spielte ich im Seminar eine trübselige Rolle, wie sie wohl selten ein junger Mann 
von siebzehn Jahren gespielt hat. Ich schloß mich an niemand an und alles, was ich tat, 
geschah mit entschiedenem Widerwillen. Ich zeigte ihn gegen meine 
Oberen und gegen meine Eltern, gegen die Hausordnung und gegen die vorgeschrie- 
benen Regeln, vor allem aber gegen die hergebrachten äußerlichen Formen und Kon- 
venienzen und die gesellschaftlichen Zugeständnisse, denen ich mich unterordnen mußte. 

Ich habe drei volle Jahre im Seminar von Saint- Sulpice zugebracht und während der 
ganzen langen Zeit nur sehr wenig gesprochen; man hielt mich für stolz und machte 
mir oft deswegen Vorwürfe. Wenn ich nichts darauf erwiderte, sagte man, ich sei grenzen- 
los hochmütig. Ach, du lieber Gott, ich war weder das eine, noch das andere; ich war 
nur ein armer, sehr unglücklicher junger Mann mit tiefer Bitternis im 
Herzen... Wenn Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit den Menschen noch nicht 
ganz verbittert haben . . . usw. 

Bedenkt man, daß Talleyrands Memoiren ein Destillat rosaroter Schön- 
färbereien und faustdicker politischer Lügen darstellen, kann man die in den 
Memoiren bloß angedeutete unbändige Wut des Knaben über die ihm von den 
Eltern angetane Behandlung ermessen. Talleyrand wächst also ohne Liebe 
der Mutter und des Vaters auf, revoltiert erfolglos dagegen, muß infolge 
eines Unfalles, für den er ebenfalls die Lieblosigkeit der Eltern verantwort- 
lich macht, die ihm verhaßte Priesterlaufbahn einschlagen, und bei all diesem 
Unglück noch — Haltung bewahren. Daraus resultieren: 

1. Stärkste Ambivalenz gegen Vater und Mutter und den ihm aufgezwun- 
genen Priesterberuf mit konsekutivem Rachebedürfnis. 

2. Tiefe innere Enttäuschung etwa nach der Formel: Niemand liebt mich. 
Diese Enttäuschung war in Talleyrands Leben trotz ständiger Versuche, sie 
wettzumachen, irreparabel. 

3. Dieses Gefühl des erlittenen Unrechts und der Lieblosigkeit bedingt einen 
überstarken sekundären Narzißmus, der in der Folge Objektbeziehungen nur 
spurenweise aufkommen läßt, und gab Talleyrand jene starre, undurchsichtige 
Maske der scheinbaren Fühllosigkeit, auf welche Lannes Wort über Metternich 



Talleyrand 13 



anwendbar war: Man merke es seinem Gesicht nicht an, wenn man dem Manne 
rückwärts einen Fußtritt gebe. 

4. „Ich fand mich bald mit Heiterkeit in meine Lage", sagte Talleyrand 
über seine ersten Jugendenttäuschungen. Psychologisch ausgedrückt: Er fand 
in seinen Zynismen (auf einem noch näher zu beschreibenden Weg — siehe 
später) ein Mittel, seine Aggression lustvoll auszuleben und sein Strafbedürfnis 
unterzubringen. 

j. Die schweren Enttäuschungen seiner Kindheit ermöglichten Talleyrand, 
Dinge zu tun, gegen die das Über-Ichi sonst protestiert hätte. Er zog also 
aus seinem Gefühl des körperlichen und psychischen Benachteiligtseins 
(= Kastriertsein,^ wozu auch Mangel an Liebe gehörte) die „Erlaubnis" zu seinen 
Verbrechen, wobei er das Über-Ich mit der bereits erlittenen Strafe kaptivierte. 

6. Das Unglück seiner Jugend führt zu einem doppelten Agieren: er läßt 
sich selbst von Frauen managen („Talleyrand läßt die Weiber aufmarschieren" 
höhnt Barras). Andererseits hat er einige Male selbst Proteges, bei denen 
die „Magische Geste" des Protegierens zeigen soll, wie er selbst gerne in seiner 
Kindheit gefördert sein wollte. Ein Beispiel für das erste Agieren ist Frau von 
Stael, für das zweite seine Beziehung zu Napoleon in der ersten Zeit der Zu- 
sammenarbeit, und im späten Alter seine Beziehung zu Thiers. 

7. Da aber jede Spur einer Objektbeziehung bei Talleyrand voller Ambi- 
valenz ist und das Bedürfnis des Ausgleichs des Liebesmankos in der Kindheit 
ein unersättliches bleibt, wendet er sich gegen seine "Wohltäter nach einiger 
Zeit voller Haß und ist gar nicht dankbar (Verhalten zu Barras, Madame de 
Stael, Napoleon usw.). 

8. Neben dem mißlungenen Versuch, die Enttäuschungen der Kindheit wett- 
zumachen, ist Talleyrands Rachebedürfnis und Geldgier das treibende Motiv 
seines Handelns. Über die (analen) Determinanten seiner Geldgier fehlt das 
Material, sekundär erhielt das Geld auch deshalb eine solche überragende Be- 
deutung, weil es ein Mittel war, unabhängig zu sein und sich nicht mehr 
fügen zu müssen. Auch war bei Talleyrand ein Teil des Liebesbedürfnisses 
auf das Geld verschoben, wobei er seinen Mitmenschen aus Rache das ab- 

i) Für analytisch nicht vorgebildete Leser sei hinzugefügt, daß nach F reuds neueren 
Forschungen die metapsychologische Strukturierung der Pei'sönlichkeit sich schematisiert 
folgendermaßen darstellt: Nur ein kleiner Teil der der Außenwelt zugewendeten Persön- 
lichkeit — ein Teil des „I c h s" — ist bewußt, dagegen sind der andere Teil des Ichs, ebenso 
wie das „Es" — Reservoir des unbewußt Triebhaften — und das „Ober-Ich" — ; die 
unbewußte Gewissensinstanz — unbewußt und doch wirksam. Erst das Zusammen- 
spielen der „einzelnen Provinzen" des psychischen Apparates ergebe das Verständnis der 
Handlungen und Unterlassungen eines Menschen. 

2) Ein anderer Abkömmling seiner Kastrationsideen war z. B. die Tatsache, daß Talley- 
rand es war, der die Gleichstellung der Juden mit den Franzosen in der Nationalversamm- 
lung beantragte und durchsetzte. . 



14. Edmund Bergler 



nahm, was sie am meisten liebten: Gold. Also auch da ein unausgesprochener 
Vorwurf. 

9. Das Rachebedürfnis führt dazu, daß er der typische Verräter an der 
jeweiligen Vater- und Mutterimago wird. Sein Haß gegen den Vater wird 
an der Kirche, Barras, Napoleon, Ludwig XVIII. und Karl X. exekutiert, sein 
Ha"5 gegen die Mutter vorerst an ihr selbst (Verrat an der Kirche, aus- 
schweifendes Leben, Heirat mit einer Kokotte), dann an den unterschiedlichen 
Ersatzobjekten seiner Freundinnen. 

10. Die einzige glückliche Zeit seines Lebens war der Aufenthalt bei der Ur- 
großmutter im vierten bis achten Lebensjahr. Daher stammt seine Vorliebe 
für alte Frauen. „Nichts kaptiviert Talleyrand mehr als das Alter, alle seine 
Freundinnen sind veritable Antiquitäten", höhnte eine englische Besucherin. 
— Im hohen Alter liegt eine direkte Identifizierung mit der Urgroß- 
mutter vor. 

11. Über seine Beziehung zu seinen zwei Brüdern ist nichts bekannt. An- 
geblich soll er sie geliebt haben. Doch ist das Wort angeblich im Sinne der 
Ambivalenz zu betonen, wie aus Talleyrands Verhalten zu seinem Neffen 
hervorgeht. Er verschaffte ihm vorerst eine reiche Erbin (Tochter der Her- 
zogin von Kurland), hatte aber dann sowohl mit ihr als auch mit ihrer Mutter 
ein Verhältnis. 

12. Eines echten Gefühls ist Talleyrand (abgesehen vom Sichselbstbe- 
dauern und von seinen Racheaktionen) nur auf narzißtischer Basis fähig: so 
wenn er in Napoleon ein Spiegelbild seines eigenen Ich-Ideals findet 
(jung, Offizier, siegreich) oder ihm in Madame Grand, seiner späteren Frau, 
ein Teil seiner eigenen Persönlichkeit entgegentritt: 

Wenn Frau Grand das Lob der Schönheit vielleicht wegen großer und robuster Formen 
verdient, so habe ich meinerseits es ihr wegen des Gesichts nicht zuerkennen können: denn 
wie ich schon bei meinem ersten Zusammentreffen mit Talleyrand darauf aufmerksam 
gemacht habe, wie sehr er persönlich Robespierre glich, so läßt sich nur sagen, 
daß Frau Grand etwas von dem Aussehen Talleyrands hat.» Ihre Augen sind 
ziemlich groß, aber tot, die Nase aufgestülpt, die Lippen schmal, die Weiße der Gesichts- 
farbe bis zur Leichenfarbe gehend, und so kann ich nicht zugestehen, daß Frau Grand 
selbst für ihre vierzig Jahre so schön war, wie Talleyrand sie mir darstellen wollte, da das, 
was beide Ähnliches miteinander hatten, eine Art Abklatsch von Robes- 
pierre war. von dem doch gewiß niemand behaupten wird, daß er schön gewesen sei. 
(Barras, Memoiren, Bd. III, S. 168.) 

x) Es ist gewiß richtig, daß man Barras' Memoiren mit Vorsicht genießen muß Dem 
Direktor Barras erschien Robespierre in einer bestimmten Periode seines Lebens als der 
Feind und Barras hatte deshalb die Tendenz, seine späteren Feinde, z. B. Talleyrand mit 
seinem großen Feind Robespierre zu identifizieren. Berücksichtigt man diese Einstelung 
Barras', bleibt trotzdem die Tatsache der sonderbaren Beobachtung der Ähnlichkeit Talley- 
rands mit Madame Grand auffallend. 



Talleyrand 1 5 



Bei der Wahl der Madame Grand spielt bei Talleyrand auch der Haß gegen 
die Mutter eine Rolle (die unglücklich über diese Heirat ihres Sohnes ist 
und Tränen vergießt, was Lacombe ausdrücklich hervorhebt) und ferner die 
„Rettungsidee" der Dirne, wobei die Dirne mit der Mutter identifiziert wird. 
Ein anderer Beleg für diese Rettungsphantasie ist der für einen Priester höchst 
sonderbare Antrag Talleyrands in der Nationalversammlung: 

Auf einer Reise in die Bretagne hatte ich erfahren, daß dort eine Menge Frauen lebten, 
die weder Mädchen noch Gattinnen oder Witwen seien. Sie hatten närahch vor Jahren 
einen Matrosen geheiratet, der nicht zurückgekommen, dessen Tod aber auch nicht amthch 
festgestellt war. Das Gesetz verbot diesen Frauen, sich wieder zu verheiraten. Ich suchte 
nun aus allerlei theologischen Gründen, die sich, wenn man es versteht, sehr verschiedentlich 
auslegen lassen, zu beweisen, daß eine Abwesenheit des Ehemannes von soundso viel 
Jahren keine sozialen und moralischen Bedenken mehr hervorrufen könne, um die Gattin 
zu verhindern, eine zweite Ehe zu schließen. Ich verfaßte daraufhin ein Gutachten, das ich 
dem Herrn von Cartries zusandte, der es seinem Freunde, dem Bischof von Arras, zur 
Prüfung übergab. Dieser fand aber von seinem theologischen Standpunkte aus, daß ein 
solcher Vorschlag verwerflich sei und verurteilte ihn aufs strengste. (Talleyrand, 
Memoiren, Bd. I, S. 41.) 

Man vergleiche mit diesem Antrag die Tatsache, daß Talleyrands Vater als 
Offizier, der Feldzüge mitmachte und in oft entfernten Garnisonen weilte, 
seine Frau lange allein lassen mußte. Es dürfte sich bei Talleyrand unbewußt 
um die bekannte Kindheitsphantasie handeln, in welcher der Vater wegge- 
wünscht wird, um die Mutter allein für sich zu besitzen. Interessant ist die 
eigene legislatorische Über-Ich-Beschwichtigung im bretonischen Antrag. 

Das treibende Moment in Talleyrands Leben sind zwei parallel laufende un- 
bewußte Tendenzen: der unbewußte Versuch, die Kindheitsenttäuschun- 
gen wettzumachen* und die nach jeweiligem Mißlingen dieser Strebung 
zwanghaft einsetzende unbewußte Rachetendenz. Dies läßt sich am klar- 
sten aufzeigen bei Talleyrands Beziehung zu Frauen (Mutterimagines), 
den jeweils herrschenden Machthabern (Vaterimagines) und — 
last not least — der Kirche, die für Talleyrand unbewußt eine Institution 
darstellt, die Vater und Mutter zuzuzählen ist. 

4) Es ist wohl überflüssig, die Banalität zu betonen, daß Talleyrand sehr „ehrgeizig" war. 
Dabei spielt wieder eine Rachetendenz gegenüber den Eltern eine Rolle, wie folgende Stelle 
aus den Memoiren des Fürsten beweist, die sich auf die Pubertätsjahre bezieht: 

„Wie oft sagte ich zu mir im stillen: sie (wer diese „sie" sind, sagt Talleyrand nicht» 
gemeint sind offenbar auch die Eltern) meinen, du taugst zu nichts. Zu gär 
nichts! Aber wenn ich länger darüber nachdachte, ermannte ich mich, und mich überkam 
dann manchmal plötzlich ein Gefühl des inneren Selbstbewußtseins, das mir zuflüsterte: du 
taugst wohl zu etwas, ja vielleicht gar zu großen und hohen Dingen. Und wunderbare 
Bilder wie Vorahnungen tauchten in mir auf; aber sie kamen immer wieder und umgaukelten 
mich mit unwiderstehlichem Reiz." 



j6 Edmund Bergler 



I. Talleyrands Beziehung zu Frauen 
Schon die erste sexuelle Beziehung zu Frauen^ steht unter dem Einfluß der 
Kindheitsenttäuschung : 

Auch unklare Wünsche und Hoffnungen tauchten in mir auf (während des Aufenthaltes 
im Seminar). Sie sind dem jugendlichen Alter eigen, wenn die Leidenschaften erwachen und 
das Herz in verhüllte Fernen blickt. Da lernte ich zufällig ein Wesen kennen, das emen 
bedeutenden Einfluß auf meinen damaligen Seelenzustand ausübte. Schon mehrfach hatte 
ich in der Seitenkapelle der Saint-Sulpice-Kirche ein hübsches junges Mädchen bemerkt, das mn- 
durch ihr schlichtes und bescheidenes Benehmen sehr gefiel. Mit achtzehn Jahren und unver- 
dorben, wird man durch eine solche Erscheinung unwillkürlich angezogen, und ich besuchte 
von da an häufiger die Messe in jener Kapelle.« Eines Tages, als sie die Kirche verlassen 
wollte, regnete es heftig und ich wagte es, ihr meinen Regenschirm und zugleich meme 
Begleitung anzubieten, vorausgesetzt, daß ihre Wohnung nicht allzufern läge. Sie wohnte 
ganz in der Nähe und erlaubte mir auch, mit hinaufzugehen, und bat mich beim Abschied, 
ohne Verlegenheit, rein und unschuldig, wie sie war, wiederzukommen. Ich besuchte sie alle 
drei vier Tage und später noch häufiger. Ihre Eltern hatten sie gezwungen, 
Schauspielerin zu werden und ich war gegen meinen Willen ins Seminar 
gegangen. Bei ihr war also das Geldinteresse und bei mir der Familienehrgeiz ent- 
scheidend gewesen, und wir konnten uns nun gegenseitig unsere Leiden, unsere getauschten 
Hoffnungen und so manche Schmerzen, die uns erfüllten, anvertrauen ... Ihr verdanke ich 
es, daß ich im Seminar liebenswürdiger oder doch wenigstens erträglich wurde. 

Das weitere amouröse Schicksal Talleyrands weist eine Legion von Lieb- 
schaften auf. Nach einigen Jahren war er so weit, daß ein bekannter herzog- 
licher Wüstling die Befürchtung aussprach, „dieser Talleyrand" werde m 
eroticis alle überflügeln. Bezeichnend für diesen Lebensabschnitt Talleyrands 
ist ein Ausspruch des jungen Abb^ zur Maitresse Ludwig XV., Madame Du- 

barry: 

„Monsieur l'abbe, comme vous etes silencieux!" 

„Helas! Madame, je fais une reflexion bien triste." ... 

„Laquelle?" , r i ul << 

„Ah! Madame, c'est qu'ä Paris il est plus facile d'avoir des femmes que des abbayes. 

(Zitiert nach Lacombe.) 

Nach seiner Rückkehr aus Amerika - nach dem Sturm auf die Tuilenen 

verläßt Talleyrand mit einem Paß Dantons Frankreich, geht als Fuhrer emer 

Mission nach England, wird bald darauf ausgewiesen, wendet sich nach 

Amerika, darf aber nach dem 9. Thermidor nach Frankreich zurückkehren - 

schHeßt er sich wieder an Madame de Stael (die Tochter Neckers, des Mmi-. 

sters Ludwig XVL) an, der er es zu verdanken hat, daß er von der ommosen 

Emigrantenliste gestrichen wird. Sein Verhaken zu Madame de St ael ist sehr 

" 5) Ober die Kindheitssexualität Talleyrands sind - wie früher aufgezeigt - nur indirekte 
'TMa^St den Hohn des Expriester. über die »^i-Wichenlnstitutioneri^Di^ Kirche 
als Rendezvousort des künftigen Bischofs. Logisch ist dieser pathologische Haß nicht ver- 
ständlich: die Kirche überschüttete Talleyrand mit Gunstbezeugungen. 



Talleyrand 1 7 



bezeichnend für seine ambivalente Mutterbeziehung. Madame de Stael ver- 
schafft ihm durch ihre unerschöpfHche Logorrhoe und eine Serie hysterischer 
Anfälle beim Führer des Direktoriums Barras' das Ministerportefeuille des 
Äußeren^ Sie macht zu seinen Gunsten geltend, daß er „sämtliche Laster 
des alten und neuen Regimes in sich vereinige": 

„Wissen Sie, was er mir gesagt und was er mir soeben wiederholt hat?" 

„Wer denn, um was handelt es sich?" 

„Barras, mein Freund", wiederholte Madame de Stael, mir noch stärker die Hände 
drückend und wie eine Epileptische die Augen verdrehend, „o mein Gott, ich spreche Ihnen 
von meinem armen Freunde Talleyrand. Wissen Sie, was ihm soeben passiert ist?" 

„Was denn?" 

„Ich habe ihn soeben verlassen; vielleicht befindet er sich nicht mehr unter den Leben- 
den; er hat mir gesagt, er werde sich in die Seine stürzen, wenn Sie ihn nicht zum Minister 
des Auswärtigen machten. Er hat alles in allem nur noch zehn Louisdor . . . Talleyrand geht 
ins Wasser, es ist um ihn geschehen." 

Der Schaum stand ihr fast vor dem Munde, als Frau von Stael so zu mir sprach. Ich 
wurde von zwei ganz verschiedenen Gefühlen bewegt: Zunächst fast von dem des Mitleids und 
der Furcht, in diesem aufgeregten Zustande eine Frau zu sehen, die man so bei mir hätte 
finden können, ohne daß es mir möglich gewesen wäre, eine irgendwie wahrscheinlich klin- 
gende Erklärung dafür abzugeben. Wer würde wohl glauben, daß eine derartige Situation 
eine derartige Ursache gehabt habe? Anderseits hätte ich hellauf lachen und dabei doch 
etwas wie Schreck empfinden können. Eine Frau, die bei mir in epileptische Krämpfe^ ver- 
fällt, weil ich einen ihr befreundeten Mann nicht zum Minister machen kann, und dieser 
Freund, ein Abbe, ein ruinierter ehemaliger Bischof, droht, in das Wasser zu gehen, wenn 
er nicht Minister der Republik, Agent eines aus fünf Königsmördern zusammengesetzten 
Direktoriums wird; es lag in diesem Melodrama eine Mischung von finsterem Ernste und 
toller Spaßhaftigkeit. Wenn Frau von Stael ein wirklich sensibles Naturell besaß, dessen 
sämtliche Folgen sie auf sich nehmen mußte, so gab es jemand, der diese Sensibilität noch 
viel weniger teilte als ich. Es war das derjenige, der sie hervorgerufen hatte. Während 
Frau von Stael bei mir weinte, zitterte und mich mit der ganzen Gewalt ihrer Leidenschaft 
bestürmte, weiß ich, daß der phlegmatische Talleyrand auf sie in ihrem 
Wagen wartete, den sie vor meiner Haustür hatte stehen lassen . . . „Veranlassen Sie nur 
Ihren Freund, daß er nicht ins Wasser geht, denn alsdann würde es nicht mehr möglich 
sein, etwas für ihn zu tun." (Barras, Memoiren, Bd. II, S. 417.) 

Worin bestand nun Talleyrands Dankbarkeit? Als ihn drei Jahre später 
Napoleon unter dem Konsulat fragte, was das für eine Frau sei, diese Baronin 
Stael, antwortete der Minister: „Eine Intrigantin, und das so sehr, daß sie es 
ist, durch die ich mich auf dieser Stelle befinde." „Immerhin eine gute Freun- 
din?" — „Eine Freundin? Sie würfe ihre Freunde ins Wasser, um sie mit der 

7) Mitbestimmend für die Ernennung war beim Direktorium die Erwägung, daß Talley- 
rand sich gegen die immer stärker hervortretende Reaktion als Schreckmittel eignen könnte, 
da Talleyrand damals bei den Aristokraten Frankreichs der bestgehaßte Mann war: der 
„republikanische" Bischof, der König und Kirche verraten hatte, war das rote Tuch für die 
Anhänger Ludwigs XVIII. 

8) Die Vermutung liegt nahe, daß es sich um einen echten oder vielleicht simulierten 
hysterischen Anfall gehandelt hat. 

B e r g 1 e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 3 



i8 Edmund Bergler 



i 



Angel herauszufischen" (Blei, „Talleyrand", S. 202). Dieses boshafte Aper9u 
war nicht bloß ein Durchschauen des von Frau von Stael repräsentierten nar- 
zißtischen Freundschaftstypus, es war auch eine Methode der Über-Ich-Ent- 
lastung, etwa nach dem Motto: Ich bin zur Dankbarkeit nicht verpflichtet. 
Es kehrt also der alte Vorwurf gegen die Mutter wieder: „man liebt mich 
nicht", ein Vorwurf, der für Talleyrand durch keinen Gegenbeweis zu wider- 
legen ist. Tatsächlich hat Talleyrand Napoleon nicht gehindert, Frau von 
Stael zu verbannen, er soll sogar zu dieser Handlung beigetragen haben, was 
— bei der ambivalenten Einstellung Talleyrands zur Mutter — durchaus 
wahrscheinlich ist. Dabei ist es beweisend, daß Frau von Stael unbewußt ge- 
fühlt haben muß, was sie für Talleyrand bedeutete, wie folgende Stelle aus 
Barras' Memoiren (Bd. III, S. 417) beweist: 

Nach allem, was Frau von Stael mir persönlich erzählt hat, nachdem ich sie im Jahre 
18 14 wiedergesehen, unterlag es bei ihr keinem Zweifel, daß Talleyrand die Hauptveran- 
lassung zu der Verfolgung gewesen war, die sie erlitten: „Ich war ihm unerträglich", 
sagte sie mir lächelnd, „so wie Agrippina es Nero war; und doch war ich durchaus 
nicht seine Mutter, wenigstens den Jahren nach nicht." So sagte diese überlegene Frau zu 
mir, die aber immer das "Weib zum Vorschein kommen ließ und es sein wollte. „Ich habe 
ihm Brot gegeben, buchstäblich, mein lieber Barras, bevor Sie ihn auf meine Empfeh- 
lung hin zum Minister machten; was habe ich nicht alles für ihn getan? Erinnern Sie sich 
nur, wie lästig ich Ihnen gefallen bin. Und doch, wenn er mich hätte behandeln 
können, wie Nero Agrippina behandelt hat, wenn er mich in einem mit einer 
geheimen Klappe versehenen Boot, wie dem von Anicetus, hätte ertränken können, würde 
er es getan haben, und er würde es noch tun. Und warum? Weil ich ihm Brot 
gegeben und ihn zum Minister gemacht habe." 1 

Man kann ergänzen: Talleyrand benahm sich zu Frau von Stael deshalb so 
sonderbar, weil er an ihr den unbewußten, nicht erledigten Mutterkonflikt 
agierte. Und als Frau von Stael stirbt, sagt Talleyrand: „Phantastisch in ihrem 
Haß wie in ihrer Freundschaft, in ihren Geschmacksformen wie in ihren Wut- 
ausbrüchen, war viel in ihr von einer alten verpatzten Kokette." 

Ebenso zwiespältig war Talleyrands Haltung zu seiner späteren Gattin, 
Madame Grand, bei der eine andere Seite seiner Beziehung zur Frau auf- 
scheint: seine infantile „Rettungsphantasie" des zur Dirne gestempelten 
Weibes. Freud hat aufgezeigt, daß sich dahinter regelmäßig die Inzestphan- 
tasie des Knaben mit Wünschen auf die Mutter verbirgt. Madame Grand 
war eine Halbfranzösin, in Indien aufgewachsen, die ein Abenteuerleben 
führte, sich von verschiedenen Männern aushalten ließ und in Paris einen 
ebenso zweifelhaften — wenn nicht ärgeren — Ruf genoß wie Napoleons 
spätere Gattin, Josephine Beauharnais. Talleyrand lebte jahrelang mit dieser 
Frau zusammen, seine Achtung für sie ist gleich Null (er pflegte von ihr zu 
sagen, sie sei ebenso schön wie dumm) und heiratete sie unter dem Kaiserreich 



Talleyrand '9 



auf Napoleons Befehl. Die Heirat wurde Talleyrand dadurch akzeptabler, daß 
er damit einer anderen Macht, die er innerlich haßte, der Kirche, einen 
schweren Schlag versetzen und sie kompromittieren konnte: der Exbischof 
von Autun heiratet eine Kokotte. Nach der Restauration trennt sich Talley- 
rand von ihr (sie hat ihm übrigens unter anderem mit dem Oheim des spani- 
schen Königs Ferdinand VII. Hörner aufgesetzt) und sagt bei der Nachricht 
von ihrem Tode gutgelaunt: „Das erleichtert meine Lage." 

Bei Beginn der Beziehung zu Madame Grand steht die „Rettungsidee" im 
Vordergrund. Er exponiert sich sogar für sie: die Dame wird nämlich unter 
dem Verdacht, englische Spionin zu sein, verhaftet. Daraufhin wendet sich 
Talleyrand an Barras mit folgendem Brief: 

Bürger Direktor! 

Man hat soeben Frau Grand als Verschwörerin verhaftet. Es ist diejenige Persönlichkeit 
in Europa, die am weitesten davon entfernt und die am wenigsten imstande ist, sich in 
irgend eine geschäftliche Angelegenheit zu mischen; es ist eine Indierin, sehr hübsch, aber 
sehr träge," die weniger mit Arbeit sich befaßt, als irgend eine, der Frauen, die ich jemals ange- 
troffen habe. Ich bitte Sie, daß Sie derselben ihr Interesse zuwenden, und ich bin überzeugt 
davon, daß man auch nicht den geringsten Vorwand finden wird, diese unbedeutende An- 
gelegenheit weiter zu verfolgen, von der es mich verdrießen würde, wenn man viel Auf- 
hebens von ihr machte. Ich liebe sie und erkläre Ihnen Mann gegen Mann, daß sie sich in 
ihrem Leben noch nicht mit einem Geschäfte befaßt hat, und daß sie nicht imstande ist, 
das zu tun. Es ist eine wirkliche Indierin und Sie wissen, bis zu welchem Grade diese Sorte 
von Frauen jeder Intrigue fernsteht. 

Gruß und Ergebenheit 

j. Germinal, Jahr VI. Ch. Maur. Talleyrand. 

Das Einstehen für seine Geliebte war für Talleyrand nicht ganz ungefähr- 
lich, wie man aus den Protokollen des Direktoriums ersehen kann (Barras, 
Bd. III, S. i68 ff.). Der Direktor Rewbell beschuldigte Talleyrand direkt der 
Spionage und forderte strenge Untersuchung: 

Wer kann uns Gewähr dafür bieten, daß die augenblicklich galante Beziehung Talleyrands 
zu dieser geliebten Frau nicht ein politisches Verhältnis ist, für das die Liebe nur den 
offiziellen Deckmantel abgibt, und das die Sünden, deren wir Talleyrand mit Recht ver- 
dächtigen können, nichts anderes sind als ein Deckmantel für seine Politik? 

Talleyrand sei „ein von England gekaufter Mann", ein Krüppel mit „mehr 
oder minder physischem Vermögen", „ein Wüstling von einem Priester", von 
„zynischer Schlaffheit", der sich „prahlerisch mit dem Schein des "Wüstling- 
tums umgibt, um seine sinnliche Erregung im Skandal zu suchen". „Es gebe 
für Talleyrand kein Vergnügen, wenn nicht ein öffentlicher 
Skandal dabei sei." Auch der zweite Direktor, Larevelliere-Lepeaux, sagte: 
„Talleyrand verstecke seine Intrigen hinter seinem wüsten Leben oder sein 

9) Auch dies ist ein gemeinsamer Zug der Madame Grand mit Talleyrand, der den Spitz- 
namen „der Trägste aller Sterblichen" trug. 



20 Edmund Bergler 



wüstes Leben hinter seinen Intrigen." Barras selbst versuchte die Affäre Grand 
im Sand verlaufen zu lassen, meint aber, die Beziehung zu Frau Grand sei 
„eine sexuelle Ausschweifung, wie es wohl vorkommt und wie es zu den Be- 
dürfnissen eines Mannes gehören mochte, der daran gewöhnt war, seine Zu- 
flucht zu den Reizmitteln zu nehmen, die man gewöhnlich den Indierinnen 
zuschreibt". 

Man sieht: Verrat, Zynismus, Impotenz — diese Trias von Vor- 
würfen erhebt die Majorität des Direktoriums gegen den eigenen Minister. 
Vervollständigt wird das Bild noch durch ein Viertes: den Vorwurf des pro- 
vokanten psychischen Exhibitionismus. („Für was hält er uns, um öffent- 
lich seinen Zynismus zur Schau zu tragen und unserem Verlangen zu trotzen, 
ein anderes sittliches Verhalten einzuschlagen, als das des Talleyrandschen 
alten Regimes gewesen ist?" Und: „Es gibt für Talleyrand kein Vergnügen, 
wenn nicht ein öffentlicher Skandal dabei ist." Beides Äußerungen Rew- 
bells.) Von diesen vier Vorwürfen sind zwei schon berechtigt (Zynismus, 
provokanter psychischer Exhibitionismus), zwei noch nicht berechtigt (Im- 
potenz, Verrat). 

Barras' Einfluß war es zu danken, daß die Affäre Grand-Talleyrand damals 
glimpflich ausging. 

Als Talleyrand Madame Grand heiratete, wurde der frühere Gatte nach 
dem Kap der guten Hoffnung expediert, wo er einen einträglichen Posten be- 
kam. Neben dem praktischen Vorteil der Entfernung ergab sich daraus die 
Realisierung der Kindheitsphantasie: der Vater weit weg, die Mutter für sich 
allein besitzen. 

Als drittes Beispiel der Taleyrandschen Frauenbeziehung sei sein Verhalten 
zur Herzogin von Kurland und deren Tochter Dorothea angeführt. In Er- 
furt (1808) gelingt es Taleyrand, den Zaren zu bewegen, seinem Neffen Ed- 
mond eine russische Hochadelige zur Frau zu geben. Es ist dies der Lohn 
für seinen damals beginnenden Verrat an Napoleon, und die Herzogin von 
Kurland wird In den folgenden Jahren die Mittelsperson zum Zaren. Talley- 
rand beginnt nun erst mit der Mutter und dann mit der Tochter ein Ver- 
hältnis. Also wieder eine Rache an einer Mutter-Imago. Zugleich beweist sein 
Verhalten zum Neffen — dem er die Frau wegnimmt, mit der er ein Kind 
zeugt — sein ambivalentes Verhalten zu einer Bruder-Imago. Die Herzogin 
von Dino — so nennt sich Dorothea, einen Titel Talleyrands führend. In 
späteren Jahren — ist die Trösterin der letzten Jahre Talleyrands. 

In diesem Zusammenhang sei auf das sonderbare Verhalten Talleyrands zu 
älteren Frauen hingewiesen: „Nichts scheint Talleyrand mehr zu kaptivleren 
als das Alter, denn alle seine Lieben sind verkable Antiquitäten", 
spottete Lady Yarmouth. Talleyrand hatte die Gewohnheit, seine gewesenen 



Talleyrand 2i 

Freundinnen nicht zu verabschieden und sich eine Art weiblichen Serails zu 
halten, wobei er die einzelnen Damen dieses Serails bis zum hohen Alter zeit- 
weise „reaktivierte". 

In seinem Alter soll Talleyrand seine Nichte (in Wirklichkeit seine Tochter) 
Pauline geliebt haben. Soweit diese Angaben stimmen, hat man eher den Ein- 
druck, daß Talleyrand sich in seinen letzten Jahren mit seiner Urgroßmutter 
identifizierte, wieder in Form einer „magischen Geste" sich selbst in Pauline 
bejahte und somit die einzige glückliche Zeit seiner Kindheit wiederholte. 

II. Taileyrands Beziehung zu den jeweiligen männlichen Macht- 
habern 

Talleyrand gilt in der Geschichte als das klassische Beispiel des Ver- 
räters: er verriet Ludwig XVI., den Papst, die Konstituante, das Direkto- 
rium, Napoleon, Ludwig XVIII., Karl X. Talleyrand machte sich zeitweise 
selbst darüber lustig, zum Beispiel als er Ludwig XVIII. bei seinem Eide sagte: 
„Es ist mein dreizehnter, ich hoffe, es ist mein letzter" — um einige Jahre 
später Louis Philippe den vierzehnten Eid zu leisten. 

"Woher stammt nun dieses tolle, fast könnte man sagen, zwanghafte Ver- 
raten? Wieder ist diese Tendenz bei Talleyrand nur verständlich, wenn wir 
seine Kindheitsgeschichte heranziehen. 

Talleyrand war der ungeliebte Sohn, und zwar nicht nur von der 
Mutter, auch das vom Vater ungeUebte Kind. Immer wieder kehrt in der 
Schilderung seiner Jugendgeschichte das Wort von der „verdüsterten Jugend" 
wieder. Die Folgen charakterisiert am besten folgender Ausspruch des Fürsten 
im Alter über seine Pubertätsjahre: 

Je fus si malheureux, que je passais mes deux -premüres annees de seminaire Sans presque 
parier ä personne. Je vivais seul, en sihnce, retire pendant les recreations dans une biblioiheque 
oit je cherchais et devorais les livres les plus revolutionnaires, que je pouvois trouver, me 
nourissant de l'histoire des revoUes, des seditions et des bouleversements de tous les pays. J'etais 
indigne conire la societe, et je ne comprenais pas comment, parce que j'etats afflige d'une in- 
firmiie d'enfance, j'etais condamne ä ne pas occuper la place naturelle qui m'appartenait. 

(Aus einem unveröffentlichten Brief der Herzogin von Dino an den Abbe Dupanloup, 
vom lo. Mai 1839, zitiert nach Lalcombe). 

Diese „revolutionäre" Gesinnung war also bei Talleyrand zutiefst nichts 
anderes als Rache an der Vaterimago. Daher hat in Hinkunft Talleyrand zu 
den jeweiligen männlichen Machthabern eine höchst ambivalente Beziehung: 
vorerst eine positive des Geliebtwerdenwollens, die dann bei kleinsten, meist 
unbewußt selbst provozierten Enttäuschungen in eine haßvolle umschlägt, wo- 
bei der Haßanteil des Ambivalenzkonfliktes der tragfähigere ist. 

Talleyrand kommt vorerst als Vertreter des Klerus in die Nationalver- 
sammlung und läßt dem König durch dessen Bruder, den Grafen von Artois, 



22 Edmund Bergler 



vorschlagen, die Revolution mit Gewalt zu unterdrücken. Als dieser Vor- 
schlag abgelehnt wird, nähert er sich immer mehr der Linken. Talleyrand ist 
es auch, der eine der stärksten Stützen des Königtums untergräbt: die Kirche 
(siehe später). Er ist einer der ersten Priester, die den Eid auf die republi- 
kanische Verfassung schwören und das Schisma inaugurieren. Nach seiner 
Rückkehr aus Amerika wird er Minister des Direktoriums und biedert sich 
besonders an dessen Führer, Barras, an. Daß die Beziehung zu jeder Macht- 
person automatisch bei Talleyrand den ambivalenten Vaterkomplex weckt, 
beweisen zwei Stellen aus Barras' Memoiren: 

„Wenn ich das Glück hätte, ihr Kollege zu werden" — sagt Talleyrand zu Barras beim 
Feilschen um den Posten eines Direktors — „würde ich meinen Stolz darin 
suchen, Ihnen in allem zu gehorchen, wie ein Kind seinem Vater 
gehorcht." (Bd. III, S. 24.) 

Ein weiterer Beleg ist folgender: Als unter dem Direktorium die Angriffe 
gegen Talleyrand immer vehementer werden und die Oppositionellen die Ent- 
fernung „dieses ewigen Bischofs von Autun" verlangen, und sogar die Auf- 
hebung des Gesetzes, das Talleyrand von der Emigrantenliste streicht, erwogen 
wird, wendet sich Talleyrand an den erkrankten Barras: 

Ich (Barras) war seit einigen Tagen krank und lag zu Bett. Talleyrand schrieb mir, daß 
ich ihm erlauben möge, mich „in meinem Bett" aufzusuchen: 

„Da ich Sie nicht auf dem Direktorium sehe, möchte ich nur wissen, wie es Ihnen geht. 
Empfangen Sie mich auf einen Augenblick inIhremBett. 

In nie endender Ergebenheit 

Talleyrand. 

Es war das übrigens seine Gewohnheit, wenn ich krank war und er etwas von mir wollte; 
er sagte mir dann tags vorher: „Gestatten Sie mir, daß ich Sie im Bette aufsuche ..." — 
Er erklärte mir, in welcher Lage er sich auch befinde, als Minister oder als Bürger, „werde 
er mich mit seinem Leibe decken" . . . Man hätte ganz gut glauben können, der Zynismus 
des Exbischofs würde nicht davor zurückgeschreckt sein, die Verführungskünste des 
anderen Geschlechts zu versuchen, um dadurch zu einem Vorteil zu gelangen. 
Was mich anlangt, so ließ der tiefe Ekel, den mir das Katzenartige seiner trockenen 
Schmeicheleien und Liebkosungen einflößte, mich in der ganzen ernsten Haltung 
verharren, wie sie mir gewöhnlich eigen ist, und wehrte jede vertrauliche An- 
näherung ab... Wenn ich mich übrigens auch weiterhin für die ganze Belästigung nicht 
rächen will, die mir bei diesem Anlaß der zynische Höfling verursachte, als er mich in 
meinem Bette umarmen und sich von mir das Fieber holen wollte..." 

(III, S. 393 ff.) 

"Wenn auch Barras stark aufträgt, hat er im Gefühl, Talleyrand hätte eine 
nicht unbeträchtliche (unbewußte) homosexuelle Komponente, doch Recht. 
Dies zeigt sich dann bei Napoleon ebenfalls deutlich. 

Denselben Barras, dem er „wie ein Kind seinem Vater gehorchen" und den 
er „mit seinem Leib decken" wollte, verrät Talleyrand, indem er gemeinsam 



Talleyrand 23 



mit Napoleon den 18. Brumaire organisierte und durchführte. Ja, Talleyrand 
ist es gerade, der Barras zur Abdankung zu bewegen sucht. 

Talleyrands Beziehung zu Napoleon^" zerfällt in drei Phasen: in der ersten 
wittert er in dem um 15 Jahre jüngeren siegreichen General den kommenden 
Mann, schmeichelt ihm, borgt ihm sogar Geld (bei Talleyrands Geldgier etwas 
geradezu Phantastisches und einzig Dastehendes) und sagt in seinen Memoiren: 
„Ich liebte Napoleon." Dieses Gefühl (das in dieser Zeit unleugbar echt ist) 
ist eine Mischung von unbewußten homosexuellen Tendenzen auf der Basis 
der Umkehrung der Vater-Sohn-Beziehung im Sinne einer „magi- 
schen Geste". Talleyrand spielt den Vater und protegiert Napoleon, wobei 
Napoleon den jugendlichen Talleyrand selbst darstellt, der genau das, was 
Bonaparte erreichte, sein wollte: siegreicher General. (Talleyrands Vater war 
Offizier.) Diese Beziehung stellt ein Mittelding von unbewußten homosexu- 
ellen, narzißtischen (Talleyrand begegnet in Napoleon ein Teil seines 
eigenen Ich-Ideals), "Wiedergutmachungsversuchen der Situation: 
ungeliebtes Kind und — realen Vorteilen dar." 

In der zweiten Phase — Napoleon „enttäuscht" Talleyrand — kommt die 
aggressiv-ambivalente Einstellung zur Vaterimago stärker zum Vorschein 
(Talleyrand läßt Napoleon auf die falsche Fährte setzen, etwa: Rat zur Er- 
schießung d'Enghiens, spanischer Feldzug usw.) und in der dritten verrät 
Talleyrand Napoleon in der raffiniertesten Weise. Ich habe in einem 
längeren Aufsatz: „Unbewußte Motive im Verhalten Napoleons zu Talley- 
rand" diese Zusammenhänge aufgezeigt. (Siehe Kapitel II dieses Buches.) 

Talleyrand verriet nicht nur Napoleon seit 1808, sondern nahm sich auch 
die Freiheit heraus, Napoleon die bittersten Wahrheiten in der boshaft-anzüg- 
lichsten Form zu sagen.*^ Es ist eine Frage, aus welchen Quellen Talleyrands 

10) Bezüglich der Psychologie Napoleons sei auf Ludwig Je k eis' vorbildliche Arbeit 
„Der Wendepunkt im Leben Napoleons L", Imago 1914, verwiesen. 

11) Talleyrand verstand aus allem und jedem Geld zu machen. Diese Eigenschaft ver- 
führt seine Biographen, in Talleyrand lediglich den berechnenden, geldgierigen Verstandes- 
menschen zu sehen, was völlig verkehrt ist. 

12) Der Kaiser machte z. B. Talleyrand Vorwürfe, daß er seine Gäste zum „Souper" ein- 
geladen hatte, obwohl es richtig „Diner" hätte heißen sollen. Talleyrand antwortete: „Der 
gute Geschmack, Majestät, ist ihr persönlicher Feind. Könnten Sie sich seiner durch 
Kanonenschüsse entledigen, es gäbe ihn schon lange nicht mehr." (Blei, S. 146.) — Talley- 
rands Einstellung zur Autorität blieb auch unter der Restauration die gleiche. Er leistete 
sich sogar den Scherz, die Leute, gegen die er gerade konspirierte, zu warnen, was ein 
Kompromiß mit seiner Kastrationsangst darstellte und zu Talleyrands Methode des „Zwei- 
Eisen-im-Feuer-Habens" gehörte. So sagte er z. B. zu Vitrolles, dem Intimen Karls X.: 
„Geben Sie acht, der Herzog von Orleans tritt Ihnen auf die Absätze." Oder: Talleyrand 
macht zum König selber, der verärgert ausruft: „Ein König, den man bedroht, hat nur die 
Wahl zwischen Thron und Schafott" — die Bemerkung: „Sire, Sie vergessen die Post- 
kutsche." Und den König, der diese dritte Möglichkeit vergaß, brachte in der Tat einige 
Monate später die Postkutsche nach Cherbourg. (Blei, S. 311.) 



24. Edmund Bergler 

Kühnheit, die sich in diesen Aussprüchen offenbart, stammt. Es gibt da 
einige ErklärungsmögHchkeiten: Der hinkende, das heißt psychologisch 
kastrierte Talleyrand hatte seine Strafe vorweggenommen, und dieses Ge- 
fühl, bereits bestraft und ungeliebt zu sein, gab ihm ein Stück Hemmungs- 
losigkeit. Ferner: Talleyrand fühlte unbewußt, daß er für Napoleon ein Noli- 
me-tangere darstellte. Ferner sind unleugbar masochistische Strafwünsche m 
seinen Aggressionen enthalten. Endlich waren seine Aggressionen ein Gemisch 
waghalsigster Kühnheit und vorsichtigsten „Auf-zwei-Seiten-Spielens". Auch 
sonst ist in Talleyrands Leben beides zu konstatieren: Exzessiver Mut und vor- 
sichtiges Sich-vor-Konsequenzen-Schützen.i3 Als z. B. nach der Flucht der 
Kaiserin Marie Louise aus Paris (vor dem ersten Sturz Napoleons), einer Flucht, 
die Talleyrand widerraten, weil er wußte, daß man ihm mißtraute und das Ge- 
genteil tun werde, es noch ein wenig unsicher war, ob Napoleons Ende be- 
siegelt sei, da führte Talleyrand die Komödie der „verhinderten Abreise" auf: 
„Es hätte zu seinen Pflichten als Großwürdenträger und Mitglied des Regentschaftsrates 
gehört, daß Talleyrand sich im unmittelbaren Gefolge der Kaiserin nach Blois begebe... 
Die Kaiserin hatte am 29. März Paris verlassen. Am Nachmittag des 30. März begab sich 
Talleyrand mit seiner Freundin, der Frau von R^musat, zum Pariser Polizeipräfekten 
Pasquier (einem Beamten Napoleons), in der Maske eines Mannes, der abreisen will und den 
man mit Gewalt zu hindern sucht. In diesem Sinne führte Frau von R^musat das Wort 
und Talleyrand spielte das Opfer widerstreitender Pflichten. Wenn er abreist, sagt Frau 
von Remusat, ist niemand in Paris, der mit den Fremden verhandeln kann. Was das be- 
deutet, wissen Sie selber, mein lieber Kusin — Pasquier war mit ihr verwandt — und Sie 
übernähmen da eine große Verantwortung. Herr von Talleyrand will, er muß abreisen. Was 
für ein Malheur, wenn man ihn läßt. — ,Aber was kann ich da tun?' fragt Pasquier. Talleyrand 
wiederholte darauf etwas gewundener das, was seine Freundin gesagt hatte, die ihn unter- 
brach: der Polizeipräfekt müsse eben an dem Tor, durch das Talleyrand Paris verlassen 
wolle, einige verläßliche Polizisten aufstellen, die das Volk zu einer Emeute haranguieren 
und Krach machen, daß jetzt jene die Stadt verlassen, die eigentlich dableiben müßten, um 
die Stadt zu schützen und so. Auf die Bemerkung Pasquiers, daß es eher zu den Aufgaben 
eines Polizeipräfekten gehöre, das Volk in Ruhe zu halten, schien die Komödie vor dem 
letzten Akt ohne Pointe zu schließen. Da endlich begriff Pasquier und er gab den fehlenden 
Akt: Herr von Remusat befehligte als Kommandant der Nationalgarde sicher irgend eine Tor- 
wache, der er die Befehle geben könne, die man wünsche, und das Volk sei gar nicht nötig. 
Eine halbe Stunde später bepackten Diener in großer Eile einen Reisewagen vor dem Palais 
in der Rue Saint-Florentin mit Koffern. Gefolgt von seinem Sekretär zu Pferde fuhr Talley- 
rand gestreckten Galopps nach dem Tor, vor dem die Straße nach Rambouillet lag. Höflich 
forderte da der Torkommandant, Herr von Remusat, den Fürsten von Benevent, da er 
keinen Paß besitze, auf, umzukehren. Der Wagen fuhr nach der Rue Saint-Florentin zu- 
rück und Talleyrand empfing die Glückwünsche jener, die hier auf ihn 
gewartet hatten. (Blei, S. 223 ff.) 

13) Dieses Sichschützen hängt mit der Kastr^tionsangst zusammen: so schlief Talleyrand 
stets mit zwölf Nachtmützen bekleidet, als Präventivmaßnahme gegen einen eventuellen 
Sturz aus dem Bett. Man vergleiche dazu seinen realen Unfall im vierten Lebensjahr: Sturz 
von der Kommode. 






Talleyrand 25 

Nach dem Sturz Napoleons" avanciert Talleyrand zum Minister Lud- 
wig XVIII., wird aber nach der zweiten Restauration bald gestürzt und orga- 
nisiert später den Sturz der Bourbonen und das Aufsteigen der Orleans. Unter 
dem Bürgerkönig wird der Greis zum Dank dafür nochmals Botschafter in 
London. 

Als Illustration seines politischen Wirkens seien zwei Aussprüche Talleyrands 

zitiert: 

Ludwig XVIII. fragte 18 14 Talleyrand, wie es ihm gelungen sei, erst das Direktorium und 
kürzlich die riesige Macht Bonapartes zu stürzen. „Mein Gott, Sire", lautete die Antwort 
Talleyrands, „ich habe wirklich nichts dazugetan, es ist da etwas Unerklärliches, das ich in 
mir habe und das den Regierungen Unglück bringt, die mich vernachlässigen." (Blei, 
„Talleyrand", S. 243.) 

Das zweite, höchst bezeichnende Bekenntnis Talleyrands wurde zum jüngsten Protege des 
Fürsten, Thiers, gesprochen: „Sie müssen wissen. Teuerster, daß ich der moralisch 
diskreditierteste Mensch in Europa seit vierzig Jahren war, und ich war immer 
allmächtig, in der Macht oder den Abend vorher, wo ich sie errang." (Blei, S. 329.) 

in. Talleyrands Beziehung zur Kirche 
Talleyrand verfolgte die Kirche mit einem krankhaften Haß. Woher 
stammt dieser — logisch unverständliche — Haß? 

Talleyrand kam nicht freiwillig zu seinem Priesterberuf: er wurde von den 
Eltern gezwungen, ihn zu ergreifen. Sein Haß gegen die Kirche war deshalb 
so groß, daß zum Beispiel in seinen Memoiren der Tag überhaupt nicht er- 
wähnt ist, an welchem er die kirchlichen Weihen empfing. Das fiel sogar 
schon dem Monsieur de Bacourt auf, dem ersten Bearbeiter der Memoiren 
des Fürsten, den Talleyrand testamentarisch dazu bevollmächtigte: 

Es ist eigentümlich (bemerkt Bacourt), daß der Verfasser hier (in den Memoiren) gar 
nicht des Tages erwähnt, an welchem er zum Priester geweiht wurde. Sein Freund,'^ der 
Graf Choiseul-Gouffier, erzählt, daß er Talleyrand noch am Abend vor seiner Ordination 
besucht und ihn in einem sehr aufgeregten Zustande gefunden habe, mit Tränen der Ver- 
zweiflung. Choiseul habe darauf alles mögliche versucht, ihn von dem Schritte zurückzu- 
halten, aber Talleyrand habe von der Furcht vor den Eltern gesprochen und von dem Auf- 
sehen, das seine Weigerung in der letzten Stunde machen würde, und aus falscher Scham 
endlich mutlos ausgerufen: „Jetzt ist es zu spät, ich kann nicht mehr zurück." (Talleyrand, 
Memoiren, S. 19, Anm. 3.) 

14) Auf die in verschiedenen Biographien erwähnten angeblichen Entführungs- bzw. Er- 
mordungspläne gegen Napoleon durch Talleyrand-Subjekte (z. B. die sogenannte Maubreuil- 
Affäre) gehe ich nicht ein, da die Angaben zu unsicher sind. Sollten sie tatsächlich bestan- 
den haben, waren sie bloß Exazerbationen seiner ambivalenten Einstellung zur Vaterimago. 

15) Das Wort „Freund" ist bei Talleyrand bloß mit Nachsicht der Ambivalenz anwend- 
bar. In der ersten Pariser Zeit des Abbe war das Trifolium Talleyrand, Choiseul, Narbonne 
eine Zeitlang unzertrennlich und Talleyrand sagt in seinen Memoiren (Bd. I, S. 27): „Der 
Graf Choiseul ist der Mann, der wohl meinem Herzen am nächsten stand." Die homo- 
sexuellen Sublimierungen in Form von Freundschaft versuchte Talleyrand wiederholt, doch 
scheiterten sie zutiefst alle an seiner liebevoll-haßvollen Vaterbeziehung. So protegierte 



26 Edmund Bergler 



Talleyrands aufsehenerregende Affären verhinderten nicht seinen Aut- 
stieg in der kirchlichen Hierarchie. Dagegen sei das folgende bezeichnende 
Detail vermerkt: 

„. . . da kam Talleyrands Vater zum Sterben und wandte sich mit einem Briefe an den 
König, in dem er ihn bat, etwas Bischöfliches für seinen Sohn zu tun. Der König war 
bereit, seinem verdienten Offizier diese Sorge abzunehmen. Als aber davon die Mutter 
Talleyrands erfuhr, bat ihre Frömmigkeit die Majestät, dieses Ärgernis 
zu vet;meiden, ihren dessen ganz unwürdigen Sohn zum Bischof zu 
machen." (Blei, S. 36.) 2 

Talleyrand, der Bischof von Autun, war es, der am 10. Oktober 1789 den 
Antrag auf Verwendung der Kirchengüter zu Staatszwecken — d. h. Ent- t 

eignung der Kirche — einbrachte und durchsetzte. Er war es auch, der ^ 

den Eid auf die republikanische Verfassung ablegte und die neuen Bischöfe 
weihte. Diese entscheidende Phase seiner kirchlich-antikirchlichen Tätigkeit 
schildert Talleyrand in seinen Memoiren (Bd. I, S. 104) allerdings etwas 
idyllisch: 

Die Nationalversammlung hatte für den Klerus ein besonderes Zivilgesetzbuch erlassen, 
nach welchem alle funktionierenden Priester den Eid auf die Verfassung leisten 
oder ihr Amt niederlegen mußten. Fast sämtliche Bischöfe verweigerten 
diesen Eid und wurden deshalb abgesetzt. Die Wahlkollegien ernannten ihre Nach- 
folger, die sich leicht über die Nich tbestä tigung von Rom hinwegsetzten, 
aber doch von einem rechtmäßigen katholischen Bischof geweiht werden mußten. Hätte sich 
dazu niemand gefunden, so stand sehr zu befürchten, daß der gesamte Kultus, wenn er auch 
noch nicht gänzlich aufgehoben würde, was übrigens einige Jahre später geschah, doch den 
Doktrinen des Calvinismus" anheimgefallen wäre, der ohnehin der damaligen allgemeinen 
Geistesströmung sehr gut entsprach. Dadurch wäre Frankreich vielleicht für den Katholizis- 
mus verloren gegangen, der in seiner Hierarchie und in allen seinen kirchlichen Formen sich 
der monarchistischen Staatsordnung am besten anpaßt. 

Ich verstand mich also als rechtmäßiger Bischof von Autun dazu, einen der neu- 
gev/ählten Bischöfe zu weihen, der dann an den übrigen die heilige Handlung vollzog. 

Gleich darauf legte ich mein bischöfliches Amt nieder, um eine ganz andere 
Laufbahn einzuschlagen; ich stellte mich, wenn man so sagen darf, den Ereignissen 



z. B. Talleyrand seinen Jugendfreund Narbonne, dem es schlecht ging, nicht. — Wie wenig 
Freunde Talleyrand besaß, beweist auch die Tatsache, daß, als Talleyrand eine wichtige 
geheime Note an die in Aachen zum Kongreß versammelten Mächte gelangen lassen wollte, 
er 48 Stunden lang nach einem Freunde suchte, den er mit dieser Mission beauftragte. „Er 
fand keinen. Nur Tischgenossen, Whistgenossen, Parasiten. Als er dieses Betrübliche 
VitroUes, dem Verfasser der Note, mitteilte, glaubte der es nötig, dem Fürsten eine strenge 
Lektion zu erteilen, daß er unter allen den vielen, deren Glück er gemacht habe, nicht einen 
einzigen seinen Freund nennen könne. Und Talleyrands Schweigen gab ihm recht." (Blei, 
S. 287.) . 

16) Die nachträgliche Ausrede Talleyrands auf den Calvinismus ist Bluff. Man muß sich 
vor Augen halten, daß Talleyrands Memoiren unter der Restauration geschrieben wurden, 
und zwar — wie Blei hervorhebt — zu einem propagandistischen Zweck: um dem König, 
der Talleyrand soeben als Minister entlassen, seine Verdienste um die Krone zu beweisen. 
Daher auch der Hinweis auf die monarchistische Staatsordnung. 



I 



zur Verfügung (!), und mir war alles genehm, vorausgesetzt, daß ich Franzose bleiben 
konnte. 

Diese so idyllisch und harmlos geschilderten Ereignisse wurden in Rom 
als das eingeschätzt, was sie waren, als Krieg bis aufs Messer, und führten 
zur Exkommunikation Taleyrands. Wie haßerfüllt Talleyrand gegen 
die Kirche war, beweist folgende Soupereinladung an seinen Freund Lauzun 
am Tage der Bekanntgabe seiner Exkommunikation in Paris: 

„Sie wissen das Neueste, meine Exkommunikation. Kommen Sie, mich trösten und mit 
mir soupieren. Da alle Welt mir Wasser und Feuer verweigert, wird es nur kalten Braten 
und eisgekühlten Wein geben." 

Psychologisch gesehen war Talleyrands Haß gegen die Kirche nicht nur die 
Abwehr einer ihm unheimlichen Organisation: es war die personifizierte 
Elternmacht, die er in der Kirche bekämpfte, und zwar haßvollst bekämpfte. 

Eine der bösartigsten Verhöhnungen der Kirche und der mit ihr verbün- 
deten königlichen Gewalt leistete sich Talleyrand, als er Pouche (der ebenso 
wie er Halb- oder Ganzpriester gewesen war) dem König Ludwig XVIII. zum 
Minister vorschlug. Der Königsmörder Pouche als Minister des allerchrist- 
lichsten Königs, des Bruders Ludwig XVI. — dieser diabolische Scherz wurde 
1815 Realität. „Das Laster, gestützt am Arme des Verbrechens" — so defi- 
nierte der erzkatholische Chateaubriand das Paar Talleyrand-Pouche auf dem 
"Wege zum König. Neben der Brauchbarkeit Pouches als Ablenkungsmittel — 
es war Talleyrand angenehm, daß der Prügelknabe Pouche bei Hofe womög- 
lich noch verhaßter war als er selbst, obwohl Pouche als der „Talleyrand der 
Kanaille" und Talleyrand als der „Pouche des Adels" galt (Barras) — und der 
realen Bedeutung Pouches bei Beginn der zweiten Restauration (Pouche war 
der Herr von Paris), war wahrscheinlich die aufgezwungene Zumutung an die 
kirchliche und weltliche Autorität für Talleyrand das Entscheidende beim 
Lancieren Pouches. 

Man könnte einwenden, Talleyrands Beziehung zur Kirche hätte ja trotz 
alledem erfreulich geendet: er habe auf seinem Sterbebett Buße getan und sei 
als frommer Katholik nach seiner Konversion gestorben. Über diese rätsel- 
hafte Konversion Talleyrands gibt es eine ganze Literatur, die um die Gründe 
herumredet, ohne etwas zu erklären. Vor allem ist zu sagen, daß die Kon- 
version Talleyrands eine sehr sonderbare war: er ließ jahrelang sondieren, wie 
sich Rom dazu stellen würde. Also auch da machte Talleyrand ein Geschäft. 
Perner aggredierte er die Kirche bis zur letzten Stunde seines Lebens: er wei- 
gerte sich nämlich, die Konversion rechtzeitig zu unterschreiben und erklärte, 
dies erst am letzten Tage seines Erdendaseins tun zu wollen. Die Hinweise, 
daß dies etwas unsicher sei und er möglicherweise dazu nicht mehr die Kraft 
haben werde, verlachte er: tatsächlich sind der Widerruf und der Begleitbrief 



28 Edmund Bergler 



an den Papst einige Stunden vor seinem Tode, am 17. Mai 1838, unter- 
zeichnet. 

Bei diesem Widerruf spielt natürlich das Schuldgefühl gegen die 
Eltern eine wichtige Rolle: Der wirkliche Initiator der — sit venia verbo — 
Konversion ist sein Oheim, der Erzbischof von Paris, der Bruder seines 
Vaters.^'^ Aber genau so ambivalent wie seine Beziehung zu den Eltern ist 
sein Verhalten zur Religion. Noch bei der letzten Ölung macht Talleyrand 
eine seiner zynischesten Bemerkungen: Als ihm der Priester die Handflächen 
salben wollte, schloß Talleyrand die Hände und sagte: „Vergessen Sie nicht, 
Herr Abbe, daß ich Bischof bin." 

Wie ungläubig seine Zeitgenossen seine Reue auffaßten, beweisen folgende 
Ausspüche: Ein alter Emigrant sagte: „Apres avoir roule tout le monde, il a 
voulu finir pour rouler le bon Dien." Ein Kammerdeputierter: „Je ne crois 
plus ä aucune conversion, pas meme ä celle de la rente.'' Frau von Girardin: 
„Monsieur de Talleyrand est mort en komme qui sait vivre.'' Und Thiers: ,,Le 
prince de Talleyrand a gdte toute sa vie pour cette capucinade." (Zitiert nach 
Blei, S. 338.) 

IV. Talleyrands Zynismus 

Nun, nachdem wir Talleyrands Kindheitsgeschichte, seine Beziehung zu 
den Frauen, den jeweiligen männlichen Machthabern und zur Kirche aus- 
zugsweise kennengelernt haben, können wir an die Frage herantreten, welche 
Bewandtnis es mit Talleyrands Zynismus hatte. 

In der psychoanalytischen Literatur gibt es — mit Ausnahme einer Arbeit 
des Verfassers^^ — keine einzige publizierte Arbeit über die Psychologie des 
Zynikers. Die Ergebnisse des längeren Aufsatzes sind folgende: 

Es ist festzustellen, daß — so verschieden die einzelnen Nuancen des habituellen Zynis- 
mus auch sein mögen — '^ doch so ziemlich alle folgenden Gemeinsamkeiten aufweisen: 

1. Starke innere Ambivalenz. 

2. Starke aggressive Triebkonstellation mit konsekutivem unbewußtem Strafbedürfnis. 
(Starke Kastrationsangst.) 

3. Erledigung der Ambivalenz auf dem Wege der gedanklichen, verbalen oder Tat- 
aggression. 

17) Die Konversion ist den meisten Biographen so unverständlich, daß sie eine larmoyante 
Geschichte der Herzogin von Dino und ihrer Tochter heranziehen. Blei führt die Kon- 
version auf zwei Ursachen zurück: Talleyrand hätte den Skandal eines nicht kirchlichen 
Begräbnisses vermeiden wollen, ferner hätte eine Szene, die die Herzogin von Dino während 
des Wiener Kongresses aufführte, auf Talleyrand Eindruck gemacht: Als sie harmlos er- 
krankte, verlangte sie die letzte Ölung, mit der Begründung, das mache auf die Leute einen 
guten Eindruck. — Beides ist als Erklärung durchaus unzulänglich. 

18) Bergler, Zur Psychologie des Zynikers. Psychoanalytische Bewegung 1.933, Heft i 
und 2. 

19) In der Arbeit sind 64 Spezialformen des Zynismus aufgezählt. 



Talleyrand 29 



4. Ein spezifischer Vorgang am Ich: Beschwichtigung des Über-Ichs durch den „zynischen 
Mechanismus". (Siehe unten.) 

' Die Voraussetzung des Zynismus ist eine stärkere Ambivalenz, als sie dem Normalen 
eignet. Ferner ist innere Aggression Vorbedingung jedes Zynismus. Der Zyniker greift 
immer „das Große" an, wobei unter „das Große" die für ihn jeweils geltende Autorität ver- 
standen wird. Es ist nun irrelevant, ob die Autorität in persona oder in Form der von der 
Autorität (Gesellschaft) approbierten, jeweils herrschenden staatlichen, religiösen, moralischen, 
wissenschaftlichen, künstlerischen usw. Anschauungen angegriffen wird. 

Starke Ambivalenz und starke Aggression sind also Ingredienzien, die wir bei jedem 
Zyniker finden. Ambivalenz plus Aggression ergibt aber noch lange keinen Zyniker. Es 
kommt noch etwas hinzu, ein spezifischer Vorgang am Ich, den ich den „Zynischen 
Mechanismus" nennen möchte. Der Zyniker steht unter dem ständigen Druck seiner 
Ambivalenz und — so grotesk dies auch klingen mag — unter dem ebenso ständigen Druck 
seines strafenden Über-Ichs, das eben diese Ambivalenz verpönt, wobei der unbewußte „Ge- 
ständniszwang" (Reik) der Motor der Handlung wird. Das Ich des Zynikers ent- 
ledigt sich dieses Konfliktes — es ist ja im Kreuzfeuer einer Es-Strebung und eines 
Über-Ich- Verbots — auf dem Wege einer „Retourkutsche", indem es den 
übrigen Menschen beweist, daß sie ebenfalls die gleiche Ambivalenz in 
sich haben. 

Der Zyniker spekuliert immer unbewußt auf die Ambivalenz der Zuhörer. Jeder Zynis- 
mus enthält implicite die Aufforderung an den Zuhörer: Gestehe, du denkst 
innerlich genau so wie der Zyniker, über den du dich empörst. 

Die Zuhörer werden dabei als ein Stück des eigenen Über-Ichs aufgefaßt. Zu gleicher 
Zeit ist dieses Aufzeigen der Ambivalenz der anderen eine Vorwegnahme eines befürchteten 
Angriffs, wobei, wie bereits erwähnt, die Außenwelt als ein Teil des eigenen Über-Ichs 
empfunden wird. Es ist ein sonderbarer Zwei-Fronten-Krieg gegen das eigene 
Über-Ich, das doppelt auftritt: als inneres unbewußtes Gewissen und Außenwelt. Der 
Angriff des Zynikers gilt scheinbar diesem Außenweltanteil des Über-Ichs, in "Wirklich- 
keit wehrt sich der Zyniker gegen sein strenges, ihm unbewußtes, nur 
im Schuldgefühl wahrnehmbares inneres Über-Ich. Das Rabiate des Zynikers 
rührt nicht nur von seiner Aggression her, es ist zugleich der Ausdruck seines verzweifelten 
Abwehrkampfes gegen seinen „inneren Feind", das intrapsychische Über-Ich, wobei der 
Kampf „auf fremdem Boden" ausgetragen wird.^" Der Zyniker behandelt die Außen- 
welt mit der gleichen Aggression, mit welcher sein eigenes Über-Ich 
sein Ich behandelt. Zu gleicher Zeit greift der Zyniker sein eigenes Über-Ich in der 
Außenwelt etwa nach der Formel: „Die andern schlägt er, sich selber meint er." 

Eine weitere Beschwichtigung des Über-Ichs besteht darin, daß der Zyniker Unannehm- 
lichkeiten und Bestrafungen in der Außenwelt gerade wegen seines Zynismus in Kauf nimmt, 
ja dieselben geradezu provoziert. Dem Zynismus haftet in der Außenwelt immer etwas 
Anrüchiges an, die verhöhnte und entlarvte Außenwelt rächt sich, indem sie den Zyniker 
nicht ganz voll nimmt.^' Unleugbar büßt und erlebt der habituelle Zyniker ein Stück 

20) Wie sehr sich der Zyniker immer gegen sein eigenes Über-Ich wehrt, beweist auch 
folgendes: Jeder Zynismus ist eigentlich ein intrapsychischer Überbietungswitz. Es ist, als 
wollte der Zyniker durch Vergröberung und starkes Auftragen seinem eigenen Über-Ich 
beweisen, daß er unmöglich so „schlecht" sein könne. Er will durch den Mechanismus des 
ad-absurdum-Führens überzeugen. 

21) Das Verhalten der realen Außenwelt zum Zyniker ist ebenso zwiespältig, wie die 
Motive des Zynikers selbst. Sie bewundert und fürchtet ihn, lehnt ihn als feindlichen Ballast 
ab und nullifiziert ihn zeitweise. 



30 Edmund Bergler 



psychischen Masochismus bei seinem unbewußten Geständnis in seinem Zynismus ab, wobei 
man manchmal sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß diese Buße sexualisiert wird. 
Der „unermüdliche Lustsucher Mensch" (Freud zitiert dieses Wort eines unbekannten 
Autors) hat es aber verstanden, selbst aus einem so peinlichen Vorgang, wie dem der Er- 
ledigung eines inneren Ambivalenz- und Straf-Konfliktes ein Stück Lust zu schöpfen: 

1. Durch zeitweise Erledigung seines inneren Ambivalenzkonfliktes ist der Zyniker zeit- 
weise schuldgefühlsfrei. Dabei spielt eine masochistische Komponente eine Rolle. 

2. Dem habituellen Zyniker bereitet die Empörung, Verblüffung und Wut der 
„Entlarvten" Lust (Ausleben der Aggression in dosi refracta.) 

3. Voyeurtum und exhibitionistische Tendenzen kommen zur Geltung und 
werden lustvoll empfunden: Jeder Zynismus beginnt mit psychischer Ex- 
h i b i t i o n. 

4. Der Zynismus ist eine Distanzierung s- und Abwehr methode. 

5. Narzißtische Lust: Im Durchschnitt wird der Zyniker wegen seiner bösen Zunge 
ein wenig bewundert und gefürchtet. 

6. Soweit Zynismen in Witzform vorgebracht werden, addiert sich die von Freud be- 
schriebene Witzeslust hinzu. (Ersparung von Hemmungs- und Unterdrückungsaufwand.) 

7. Der Zyniker befriedigt eine Reihe infantiler Tendenzen im Zynismus: „Enfant 
terrible", infantiler Größenwahn, anale Tendenzen usw. 

Der beschriebene „zynische Mechanismus" schafft erst die Möglichkeit, 
die intrapsychische Ambivalenz auf dem Wege der Aggression auszu- 
leben. Anders ausgedrückt: Der zynische Mechanismus kaptiviert das Über-Ich. Daraus 
ergibt sich, daß die zynische Lust ziemlich teuer erkauft ist. Eme reine Freude ist der Zynis- 
mus gewiß nicht. 

Aus der Tatsache, daß die Ambivalenz die Grundlage jedes Zynismus darstellt, ergibt ",ich, 
daß Zynismen gelegentlich jedermann zu Gebote stehen; und daß es gerade Neuro tiker mit 
stärkster Ambivalenz sind, wie etwa Zwangsneurotiker, die oft zynisch sind, ist nicht weiter 
verwunderlich. Dies um so mehr, als weitere Bedingungen des Zynismus bei der Zwangs- 
neurose vorhanden sind: Aggression und sonstige Versuche, das überstrenge Über-Ich zu 
„bestechen" (Alexander). Der „zynische Mechanismus" ist ja auch nichts anderes als ein 
solcher Versuch. 

Die Frage, welche Voraussetzungen bei einer Spezialform des Zynismus: beim Menschen, 
der zynische Witze produziert, vorhanden sein müssen, ist analytisch nicht beantwortbar, 
weil sie eine Begabungsfrage darstellt. Die Analyse kann auch das Problem des Kunstwerks 
nicht lösen. Und der Witz ist in seiner Art ein Kunstwerk. 

In der Psychogenese des Knaben gibt es — wie Freud nachgewiesen hat — ein Stadium, 
in dem alle Knaben zynisch sind: das Stadium, in welchem der Knabe nach längerem Nicht- 
zur-Kenntnis-nehmen- Wollen einsehen muß, daß die geliebte Mutter mit dem Vater 
geschlechtlich verkehrt. Da identifiziert er die Mutter mit der Dirne. Es unterliegt also 
keinem Zweifel, daß der Zynismus in dieser Phase von jedem Knaben erlebt wird. 

Daß infantile Voyeurwünsche im Zynismus wiederholt werden, wurde bereits betont. 
(Identifizierung mit dem Zuhörer, z. T. auch mit ihrer Entrüstung, wobei wieder das Über- 
Ich beschwichtigt wird!) Zum typischen Zynismus gehört auch die Freude am Mitansehen 
oder Phantasieren der Verblüffung des Zuhörers. Gesichert sind auch die beim Zynismus 
wiederholten masochistischen Exhibitionstendenzen in Form des „Geständniszwanges". (Jeder 
Zynismus beginnt ja mit einer Selbstentblößung.) Es ist mir aufgefallen, daß männliche 
Zyniker manchmal körperlich besonders schamhaft sind. Die Verlegung von unten nach 



Talleyrand 3^ 

oben, vom Körperlichen ins Verbale, wäre dann unter dem Drucke der Kastrationsangsc 
zustande gekommen. 

Wie sehr der Zyniker am Infantilen hängt, beweist auch die Tatsache, daß er unbewußt 
immer „enfant terrible" spielt. Er will noch immer geistreiches Kind sein, dem alles ver- 
ziehen wird und das von allen (vor allem: von den Eltern) geliebt wird. Genau so, wie 
es Erwachsene gibt, die ihr Kinderparadies in sexualibus wiederherzustellen suchen, indem sie 
mit dem Sexualpartner eine eigene Kindersprache in Diminutiven sprechen. Endlich sei 
darauf aufmerksam gemacht, daß ein Stück kindlichen Größenwahns im Zynismus 
sich äußert. Der Zyniker kommt sich erhaben über alle Menschen vor. Zutiefst ist der 
Zyniker ein kindHcher Gernegroß, der aus Rache alle Menschen so von oben herab be- 
handeln möchte, wie er selbst häufig in seiner Kindheit das Gefühl hatte, von herzlosen 
Erwachsenen behandelt worden zu sein. Letzten Endes tragen die Zyniker im Zynismus ihre 
alten Ödipuskonflikte aus. Die Tatsache endlich, daß anale Tendenzen bei den zynischen 
Witzen vielfach vorherrschend sind, läßt vermuten, daß anale Momente von Bedeutung sein 
werden. 

Steckt in diesen Ausführungen auch nur ein Fünkchen richtiger Beobach- 
tung, dann gelangen wir sofort mit sämtlichen Biographen Talleyrands in 
Konflikt, die ihrem Helden alles konzedieren, nur das eine nicht: Gewissen. 
Nun ist aber nach der oben skizzierten Auffassung der Zynismus erst durch 
eine komplizierte Beschwichtigung des Über-Ichs, der unbewußten Gewissens- 
instanz, überhaupt ausdruckfähig. Der Widerspruch löst sich, wenn man sich 
vor Augen hält, daß die Biographen unter Gewissen den bewußten und nicht 
den unbewußten Anteil dieses intrapsychischen Faktors verstehen. 

Gehen wir von irgendeinem der Talleyrandschen Zynismen aus. Als Bei- 
spiel wähle ich eine Szene, die sich auf Talleyrands Bestechungsaffären — 
Barras rechnet Talleyrand in einer „Liste der Trinkgelder und Unter- 
schlagungen" die Summe von 117,600.000 Franken vor — bezieht und für 
den Fürsten charakteristisch war: 

Der amerikanische Bevollmächtigte ist in Paris, um die Vorverhandlungen über den 
Friedens- und Freundschaftspakt zu führen, der am 30. September 1800 geschlossen wird. 
Livinston besucht Talleyrand in der Rue du Bac. Nach den ersten Höflichkeiten fragt der 
Minister: „Haben Sie Geld?" — „Aber Bürger Minister..." — „Sprechen Sie 
ganz offen, haben Sie Geld?" — „Ja, aber ich verstehe nicht..." — „Nichts 
ist einfacher. Aber es ist nicht alles. Haben Sie viel Geld? Sehen Sie, in diesem Lande 
sind politische Affären sehr schwierig zu traktieren; man muß sehr viel Geld haben. Da 
gibt's dann keine Schwierigkeiten, die sich nicht applanieren lassen. Denken Sie gut darüber 
nach; es hegt nur an Ihnen, die Angelegenheit zur Zufriedenheit der beiden Kontrahenten 
zu arrangieren." Man sagt, der Vertrag hätte Talleyrand zwei MiUionen eingebracht. (Blei.) 
Was bedeutet dieser Zynismus? Der ehrbare Bürger Livinston wird durch 
Talleyrand in peinlichste Verlegenheit gebracht, wobei Talleyrand die Empö- 
rung und Verblüffung seines Visavis weidlich genossen haben mag. („Aus- 
leben der Aggression in dosi refracta.") Zugleich wird an den Betroffenen die 
peinliche Zumutung, die in jedem Zynismus steckt, gerichtet: Gestehe, ich 
spreche bloß aus, was du dir nur zu denken wagst; bist du denn selbst über 



«2 Edmund Bergler ____^ 

jeden pekuniären Vorteil erhaben? (Die früher beschriebene „Retourkutsche".) 
Zugleich ist im Ausspruch Talleyrands eine grandiose Verhöhnung und 
Aggression gegen das Direktorium, das Talleyrand in den Verhandlungen ver- 
tritt, enthalten. (Angriff gegen das „Große", die jeweilige Autorität, zutiefst 
die Vaterrepräsentanz.) Daß also im Ausspruch Talleyrands innere Ambi- 
valenz und Aggression zum Vorschein kommen, ist evident. Die maso- 
chistischen Exhibitionstendenzen sind ebenfalls durchsichtig: man 
denke an Rewbells Wort über Talleyrand, es gebe für ihn kein Vergnügen, 
wenn nicht ein öffentlicher Skandal dabei sei. Die narzißtische Lust — Über- 
legenheitsgefühl gegenüber dem verdatterten Spießer — ist nicht zu über- 
sehen. Ebenso die Manifestation des infantilen Größenwahns,^^ etwa nach der 
Formel: Ich kann mir ein solches Verhalten gestatten. j- 

Und nun zum Entscheidenden: Kaptivierung des Über-Ichs durch den 
„Zynischen Mechanismus". Im Konflikt zwischen der Es-Strebung und dem 
Über-Ich- Verbot, wählt das bedrängte Ich den Ausweg der „Retourkutsche", 
indem es im Zynismus den Menschen in der Außenwelt das Vorhandensein 
ihrer eigenen Ambivalenz beweist, wobei die Außenwelt nun als Prügelknabe 
des eigenen Über-Ichs aufgefaßt wird. Der intrapsychische Ambivalenzkon- 
flikt wird auf „fremdem Boden" ausgetragen, die Aggression ist verschoben: 
die Außenwelt wird mit der gleichen Aggression behandelt, wobei die Ver- 
achtung und Ablehnung der Außenwelt als Strafe provoziert 
und, innerlich erwünscht, einkassiert wird. 

Das Resultat ist also, daß ein strenges Über-Ich geradezu die Vor- 
aussetzung jedes Zynismus darstellt, und dies trifft in vollem Ausmaß 
auch bei Talleyrand zu. Man darf nämlich nicht übersehen, daß Talleyrands 
unbewußtes Strafbedürfnis in einer ganzen Reihe von Depots niedergelegt 
war: _ ^ 

a) Talleyrand war das ungeliebte Kind und litt sein ganzes Leben in der 
martervollsten Weise unter diesem Nichtgeliebtsein, wofür schon seine stän- 
digen Versuche, dieses Schicksal rückgängig zu machen, sprechen. 

b) Talleyrand war deshalb ein tief unglücklicher Mensch, dessen Stim- 
mungslage ständig depressiv war und nur von seinen kaustischen Zynismen 
unterbrochen wurde. 

c) Das Gefühl des Kastriertseins (Fußverkürzung) und die unglück- 
liche Berufswahl (Priester). 

d) Talleyrand war d e r Typus des verachteten und abgelehnte n Verräters. 
22) Eine and^e Äußerung von Talleyrands zitierten 7eaHtätsangepaßten Größenideeti ist 

sein Ausspruch zu Gagern, der ihn in Warschau immer Hoheit nannte: „Nennen S:e mich 
nicht Hoheit, sagen Sie bloß Herr von Talleyrand zu mir. Ich bm weniger als eine Hoheit 
und vielleicht etwas mehr." (Blei, S. 165.) 



Talleyrand 33 



Wenn auch Talleyrand sich zum Beispiel dessen rühmte, daß er beim Lesen 
eines gegen ihn gerichteten Pamphlets einschlief, so machte er — infolge seiner 
intrapsychischen Kräfteverteilung — aus der Not eine Tugend. Das Wort 
Talleyrands über Pouche, er verachte die Menschen bloß deshalb so sehr, weil 
er sich selbst genau kenne, ist wieder eine Retourkutsche und paßt auf Talley- 
rand selbst. Innerlich litt Talleyrand unter der Mißachtung, zutiefst wollte er 
ja bloß das „geliebte Kind" sein. Beweis: das ständige „enfant-terrible-Spielen" 
in seinen zwangsmäßigen Zynismen. 

Freilich addiert sich zum beschriebenen „zynischen Mechanismus" bei Tal- 
leyrand noch eine andere Über-Ich-Beschwichtigung hinzu: der Mechanis- 
mus des „Genuggelitten", etwa nach der Formel: „Ich darf mir, da 
ich kastriert, ungeliebt und verachtet bin, jede Aggression er- 
lauben." Man denke etwa an die Worte Glosters in Shakespeares 
„Richard III.": 

Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht, 

Noch um zu buhlen in verliebten Spiegeln, 

Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät 

Vor leicht sich drehnden Nymphen mich zu brüsten, 

Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt, 

Von der Natur um Bildung falsch betrogen, 

Entstellt, verwahrlost, vor der Zelt gesandt 

In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig 

Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend. 

Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei . . . 

. . . Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter 

Kann kürzen diese fein beredten Tage, 

Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden. 

Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage. 

Es ist also der von Freud beschriebene Charaktertypus der „Ausnahmen" 
(Ges. Sehr., Bd. X, S. 288 ff.), der sich in die Worte fassen läßt: „Ich darf 
selbst Unrecht tun, denn an mir ist Unrecht geschehen."^* 

Als weitere Komponente der Talleyrandschen Zynismen ist die früher 
schon hervorgehobene Verschiebung vom Körperlichen ins Verbale unter 

23) In der früher zitierten Arbeit des Verfassers „Zur Psychologie des Zynikers" ist dieser 
Typus unter der Spezialform „Zyniker aus (unbewußter) Rache" angeführt. 

In diesem Zusammenhange sei auf eine interessante Art des Plagiats bei Talleyrand 
aufmerksam gemacht. Es ist bekannt, daß nicht alle Aussprüche Talleyrands von ihm selbst 
stammen, sondern vielfach von anderen produziert, vom Fürsten belacht und dann von ihm 
„annektiert" wurden. Es ist so, als hätte man gesagt: Dieser Ausspruch ist so bissig, daß er 
von Talleyrand stammen könnte. Diese Form des Plagiats — man könnte von einem 
„Quasi- Plagiat" sprechen — ist in der Arbeit des Verfassers („Das Plagiat. Deskription 
und Versuch einer Psychogenese einiger Spezialformen." Psychoanalytische Bewegung 1932, 
H. 5) noch nicht erwähnt, was hiemit nachgetragen sei. 

B e r g 1 e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 3 



34 Edmund Bergler 




dem Druck der Kastrationsangst zu berücksichtigen. Somit wären die Zynis- 
men für Talleyrand sowohl eine Demonstration seiner Kastration (Über-Ich- 
Kaptivierung), als auch eine Wettmachung derselben. 



So reduziert sich der „Verräter" und „Schurke" Talleyrand auf einen 
unglücklichen Menschen,^* der zynische Kapriolen schlägt, um aus seiner 
Rache ein Stück Lust zu erhaschen, da ihm die normale Lust: die des geliebten 
und liebesfähigen Menschen versagt ward.^^ Es erweist sich ferner, daß der 
„kaltblütige Verstandesmensch" Talleyrand ständig mit seinem Über-Ich zu 
kämpfen hatte und daß Talleyrands Zynismen ein Kaptivierungsmittel seines 
Über-Ichs waren, um seine "Wort- und Tataggressionen ausleben zu können. 
Napoleon hatte gewiß unrecht, als er wegen der „Tatsache Talleyrand" an 
seiner ganzen „sittlichen "Weltordnung" verzweifelte: 

An einen rechnenden und belohnenden Gott kann ich nicht glauben, da ich die ehrlichen 
Leute unglücklich sehe, die Schelme glücklich. Talleyrand stirbt in seinem Bett. 
(Ludwig, „Napoleon", S. 594.) 

"Wohl Stirbt Talleyrand 84Jährig in seinem Bette, aber er stirbt nicht 
anders, als er gelebt: als unglücklicher Mensch. "Wie sehr es aber Talleyrand 
gelungen war, mit seinen Zynismen die Außenwelt zu täuschen, beweist ein 
Ausspruch Pozzo di Borgos bei der Nachricht vom Tode des Fürsten: 

„Der Fürst hat seinen triumphalen Einzug in die Hölle gehalten. Er wurde da sehr höf- 
lich empfangen. Satan selber erwies ihm alle Ehren, konnte aber doch die Bemerkung nicht 
unterdrücken : Fürst, Sie haben meine Instruktionen überschritten . . ." 

24) Wollte man bei Talleyrand eine Diagnose stellen, könnte man sagen: er war ein 
passiv-femininer, unbewußt homosexueller, sehr {larzißtischer Neurotiker mit den für diesen 
Typus charakteristischen lauernd-hinterlistig-rachsüchtig-boshaft-„zynischen"^ Attitüden, wo- 
bei hinter seiner zur Schau getragenen Aggression und Selbstsicherheit viel Kindheitsent- ' 
täuschung, -erbitterung und Kastrationsangst verborgen war. Atypisch wäre bloß seine 
Über-Ich-Beschwichtigung nach dem Mechanismus der „Ausnahmen", Dagegen würde 
Talleyrands Zynismus gut in diese Gruppe passen, da fast alle passiv-femininen, unbewußt 
homosexuellen Männer zu Zynismen neigen, so daß Verfasser schon in der Arbeit „Zur 
Psychologie des Zynikers" dies besonders betonen und unter den fünf zu Zynismen neigen- 
den Neurosegruppen aufzählen konnte. 

25) Man vergleiche etwa das düstere Fazit seines Lebens, das der dreiundachtzigjährige 
Talleyrand an seinem Geburtstage zieht: „Dreiundachtzig Jahre! Ich weiß nicht, ob 
ich zufrieden bin, wenn ich die vielen vergangenen Jahre rekapituliere und womit ich sie 
ausgefüllt habe. "Wieviel unnützes Tun! Unfruchtbare Versuche, verdrießliche Verrich- 
tungen, übertriebene Emotionen, verbrauchte Kräfte, vergeudete Fähigkeiten, verlorenes 
Gleichgewicht, zerstörte Illusionen, erschöpfte Neigungen! Und was am Ende? Eine mora- 
lische und physische Ermüdung, eine völlige Entmutigung und ein tiefer 
Ekel vor dem Vergangenen. Es gibt so viele Menschen, welche die Gabe oder <iie 
Unfähigkeit besitzen, sich ihrer je bewußt zu werden. Ich habe nur allzusehr das Unglück 
oder die Superiorität des Gegenteils." (Blei, S. 329.) 



Talleyrand 35 

Literatur 
Aretz, G.: Die Frauen um Napoleon. 
Barras, P.: Memoiren, 4 Bde. 
Blei, F.: Talleyrand. 
Dunoyer, A.: Fouquier-Tinville. 

Fleischmann, H.: Requisitoires de Fouquier-Tinville. 
Fouch^: Memoiren, übersetzt von P. Aretz. 
Jekels, L.: Der Wendepunkt im Leben Napoleons, Imago 1914. 
Kirch eisen, F. M.: Napoleon. 
Kircheisen, G.: Napoleon und die Seinen. 
Kircheisen, G.: Die Frauen um Napoleon. 
Kleinschmidt, A.: Die Eltern und Geschwister Napoleons. 
Ludwig, E.: Napoleon. 

de Lacombe, B.: La vie privee de Talleyrand. 
de Lacombe, B.: Talleyrand, eveque d' Au tun. 
Masson, F.: Napoleon. 

Propyläen-Weltgeschichte, Band Vn, Revolution und Restauration. 
Rößler, A.: Die Jugend Napoleons des Ersten. 
Sainte-Beuve: Monsieur de Talleyrand. 
Scott, W.: Napoleon. 

Talleyrand: Memoiren. Herausgegeben vom Herzog von Broglie, j Bde. 
Wallon, H.: Le tribunal R^volutionaire. 

Wencker-Wildberg (in Verbindung mit F. M. Kircheisen): Napoleon. Memoiren 
seines Lebens. 14 Bde. 
Wendel, H.: Danton. 

Wolff, Otto: Die Geschäfte des Herrn Ouvrand. 
Zweig, S.: Fouch^. 
Zweig, S.: Marie Antoinette. 



Napoleon und Talleyrand* 

Ein Beitrag zur weltgeschichtiiclien Wirkung des unbewußten Strafbedürfnisses 

Napoleons Märchen kommt mir gerade so vor wie die Offen- 
barung Johannis: es fühlt ein jeder, daß noch etwas drin- 
steckt, er weiß nur nicht was. 

Goethe. 

„ beträgt doch nach F. Kircheisen die Bibliographie des 

napoleonischen Zeitalters — die überdies keinen Anspruch auf 
Vollständigkeit erhebt — 80.000 Publikationen. Diese gigantische, 
kaum einer anderen Geschichtsepoche auch nur annähernd zu- 
kommende Ziffer weist ja darauf hin, daß hier Probleme und 
Motive in Frage kommen mögen, welche in abgründiger Tiefe ver- 
borgen liegen und deshalb den selbst mit so beispielloser Emsigkeit 
betriebenen gewöhnlichen Methoden der Geschichtsforschung 
entweder vollends widerstehen oder durch dieselben nur unzu- 
länglich und unbefriedigend aufgehellt werden, so, daß sich diese 
mit der wohl am tiefsten dringenden und aufschlußreichsten, der 
psychoanalytischen Methode kombinieren, ja stellenweise, an der 
Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, der 
Psychoanalyse sogar ganz das Terrain überlassen 
müssen." 
Jekels, „Der Wendepunkt im Leben Napoleons L", „Imago" 1914. 

Charles Maurice Graf Talleyrand-Perigord, Bischof von Autun, Fürst von 
Benevent, war Napoleons langjähriger Außenminister. Seine Konflikte mit 
dem Kaiser, die bei Napoleon ungewöhnliche Langmut, sich Wahrheiten offen 
sagen zu lassen, die einem andern Kopf und Stelle gekostet hätten, die Tat- 
sache, daß Napoleon jahrelang dieses Agieren des Grandseigneurtums und das 
provokante Zur-Schau-stellen des kaiserlichen Parvenütums durch Talleyrand 
sich gefallen ließ und endlich — und vor allem — die Untätigkeit, mit 
der Napoleon Talleyrands jahrelange Vorbereitungen zum Ver- 
rat und diesen selbst duldete, bilden ein Problem, das die Historiker 
und Biographen nicht gelöst haben und für das sie als Antwort kaum mehr 
als ein Fragezeichen auftischen. Es wird zu zeigen sein, daß Napoleons Be- 

*) Publiziert in „Psychoanalytische Bewegung" 1933, H. 4. In französischer Sprache in 
„Revue fran9aise de Psychoanalyse" 1933, H. 3/4. 



Napoleon und Talleyrand 37 



Ziehung zu Talleyrand komplizierter war als die des Kaisers zu einem brauch- 
baren und geschickten diplomatischen Handwerker, und — um es vorweg- 
zunehmen — ohne Berücksichtigung unbewußter Motive schlechthin unver- 
ständlich bleibt. 

Die Fragestellung, welche unbewußten Determinanten es Talleyrand ermög- 
lichten, diese sonderbare Stellung zu beziehen, sei ausgeschaltet.* Im folgenden 
werden die Motive untersucht, die Napoleons Motor in seinem Ver- 
halten zu Talleyrand waren. — 

Die historischen Tatsachen sind:^ Talleyrand, Sohn verarmter Edelleute aus 
ältestem französischem Adel, wird aus Opportunitätsgründen und gegen seinen 
Willen zum Priesterberuf bestimmt (als vierjähriger Knabe war er von einer 
Kommode gefallen, hatte den Fuß gebrochen und da der Bruch lange nicht 
diagnostiziert wurde, heilte er schlecht, Talleyrand behielt eine Fußverkürzung 
und hinkte). In jungen Jahren (als 34Jähriger) steigt er auf der kirchlichen 
Stufenleiter bis zum Bischof auf, und zwar sind es Frauen, die ihm den "Weg 
ebnen. Als Vertreter des Klerus kommt er in die Generalstaaten und wird 
später Vorsitzender der Nationalversammlung. Ein Geschäftemacher großen 
Stils, Korruptiönist aus Überzeugung, komme ä femmes aus Lust, am Spiel- 
tisch ein Hasardeur aus Leidenschaft, Zyniker aus unbewußten Triebschick- 
salen, setzt er ursprünglich auf die absolute Monarchie und läßt dem König 
durch dessen Bruder, den Grafen von Artois, vorschlagen, die Revolution mit 
Gewalt zu unterdrücken. Der Vorschlag wird abgelehnt, der König erklärt, 
lieber nachzugeben, als einen Tropfen Blut zu vergießen und der Graf von 
Artois beschließt: „Was mich betrifft, habe ich gewählt, ich verlasse morgen 
Frankreich." Darauf Talleyrand: „Wenn es so ist, Monseigneur, daß der 
König und die Prinzen ihr Interesse und das der Monarchie im Stiche lassen, 
bleibt jedem von uns nichts anderes übrig, als an seine eigenen Angelegen- 
heiten zu denken." Die monarchisch-konstitutionelle Lösung, deren Haupt- 
vertreter Mirabeau und sein Freund Talleyrand waren, wurde bald aufgegeben. 

i) Talleyrand: Ein Beitrag zur Psychologie des Zynikers. S. Abschnitt I dieses Buches. 

2) In der Darstellung der Lebensgeschichte Talleyrands halte ich mich im wesentlichen 
an die kürzlich erschienene Biographie Talleyrands von Franz Blei, gegen die — trotz 
blendender Darstellung und profunder historischer Kenntnis — das gleiche einzuwenden ist 
wie gegen die Biographie Pouches von Stefan Zweig: sie berücksichtigen überhaupt nicht 
die Kindheit und die daraus resultierenden unbewußten Vorgänge, wobei die Tatsache des 
Unbewußten im psychoanalytischen Sinn überhaupt übergangen wird. Ergänzt wurden die 
Angaben Bleis durch Werke, respektive Arbeiten von : Aretz, Chuquet, Jekels, F. M. 
Kircheisen, G. Kircheisen, Kleinschmidt, Ludwig, Lacombe, Martel, Mas- 
son, Roessler, Sainte Beuve, Scott, Stendhal, Wencker- Wildberg, Zweig, 
die Propyläenweltgeschichte, Bd. VII, und die Memoiren von Napoleon, Fouche und 
Talleyrand usw. usw. (Näheres siehe Literaturverzeichnis.) — Beweisende Sätze in den 
Zitaten hat Verf. gesperrt setzen lassen. . . t: ■ ■ ; ; 



q8 Edmund Bergler 



Von Talleyrand — dem Bischof von Autun — geht der Vorschlag der 
Säkularisation der französischen Kirche aus. Daraufhin wird Talleyrand vom 
Papst exkommuniziert, „macht", wie er sagt, selbst gesetzestreue Bischöfe und 
inauguriert damit das Schisma. Nach den Vorgängen des lo. August 1792 
bekam Talleyrand Angst und ging mit einem Paß Dantons als Führer einer 
Mission nach England. Das war, wie sich später erwies, ein Glücksfall ersten 
Ranges, dem Talleyrand sein Leben verdankte (er kam bald nach seiner Ab- 
reise auf die Liste der zu Guillotinierenden). Davon abgesehen, enthob die 
Auslandsreise Talleyrand der peinlichen Pflicht, für oder gegen die Enthaup- 
tung des Königs zu stimmen, was ihm in späteren Jahren, als er gegen Napoleon 
arbeitete, die Gloriole des Mannes, der das ancien regime und die Revolution 
(ohne Königsmörder zu sein) repräsentierte, erst ermöglichte. Aus England 
ausgewiesen, geht Talleyrand nach Amerika, verweilt dort bis zu seiner Rück- 
berufung nach dem Sturze Robespierres am 9. Thermidor und der Einsetzung 
des Direktoriums unter Barras. Auf Antrag Cheniers erhält er die Erlaubnis, 
nach Frankreich zurückzukehren und wird — wieder durch eine Frau: Madame 
de Stael, die schon bei seiner Rückberufung der Hauptakteur hinter den Ku- 
lissen war — vom Direktorium zum Minister des Äußeren ernannt.^ -H faut 
faire une immense fortune, une immense iortune-, sagt Talleyrand nach der Er- 
nennung. Der preußische Gesandte berichtet nach Berlin: „Der Minister des 
Auswärtigen liebt das Geld und sagt ganz laut, daß er, im Fall er seinen Posten 
aufgebe, nicht bei der Republik um ein Almosen betteln wolle." Talleyrands 
Absicht, sich ein Vermögen zu machen, sprach sich rasch herum: um den 
18. Brumaire schätzt man sein Vermögen auf dreißig Millionen, das zum 
größten Teil aus diplomatischen Bestechungen stammt. 

Während der zwei Jahre, welche Talleyrand als Minister in dem Palais 
Galiffet residierte, bestand seine politische Tätigkeit — nach einem Wort von 
Barras — darin. Bonaparte zu karessieren. Talleyrand hatte mit zielsicherem 
Instinkt den siegreichen Napoleon als kommenden Mann erkannt. Schon im 
ersten Brief, in welchem er Bonaparte seine Ernennung mitteilt (24. Juli 1797), 
steht der Satz, daß der Name Bonaparte ihm in seinen schwierigen diplomati- 
schen Geschäften eine Hilfe sein werde. („Le nom seul de Bonaparte est un 
auxiliaire qui doit tout aplanir.") Und Napoleon, den Wert Talleyrands für 
seine weiteren Pläne erkennend, anwortet: „Die Wahl, welche die Regierung 
getroffen hat, indem sie Sie zum Außenminister ernannte, macht ihrem Ur- 
teilsvermögen Ehre. Ich bin glücklich, es m it Ihnen zu tun zu haben und Sie 

3) „Drei Jahre später sollte Bonaparte den Anlaß finden, Talleyrand zu fragen, was das 
für eine Frau sei, diese Baronin Stael. Und Talleyrand wird antworten: ,Eine Intrigantin, 
und das so sehr, daß sie es ist, durch die ich mich auf dieser Stelle befinde.' — ,Immerhin 
eine gute Freundin?' — .Eine Freundin? Sie würfe ihre Freunde ins Wasser, um sie mit der 
Angel herauszufischen'" (Blei). 



Napoleon und Talleyrand 3g 



von meiner hohen Wertschätzung zu überzeugen." Nach dem Frieden vom 
Campo Formio, den Bonaparte mit Österreich schloß, schreibt ihm Talleyrand: 
„Herzlichen Dank, mein General; die Ausdrücke fehlen mir, um Ihnen alles 
zu sagen, was man in diesem Augenblicke möchte . . . Adieu, General des 
Friedens! Freundschaft, Bewunderung, Respekt, Anerkennung, man weiß 
nicht, wo aufhören in dieser Aufzählung." — Das erste Zusammentreffen Na- 
poleons mit Talleyrand spielte sich bei Talleyrand ab. Dem General fiel die 
Ähnlichkeit Talleyrands mit Robespierre auf: „dasselbe blasse, undurchdring- 
liche, maskenhaft starre Gesicht, in dem nur die Nasenflügel vibrierten, die 
beiden scharfen Falten von der frech gestülpten Nase zum Mund, dessen "Winkel 
sie hinabzogen, derselbe Blick der graugrünen Augen. Dieselbe wegen des 
Fußes übertrieben aufrechte Haltung, die des hohen Stockes nicht zu bedürfen 
schien, so geschickt kaschierte das der, der sich auf ihn stützte, beim Gehen. 
Der kleine, magere, nervöse General mußte den Kopf, von dem das schwarze 
Haar fast die Stirn und ganz die Ohren bedeckte und bis auf den hohen Kragen 
fiel, etwas heben, wenn er mit dem Minister sprach, der ihm das erträglich 
zu machen verstand, indem er sich etwas neigte, nicht herablassend, sondern 
als ob es ihm natürlich wäre. Er affektierte ein Aussehen, als ob er 
weit älter wäre als dreiundvierzig" (Talleyrand war 15 Jahre älter als 
Napoleon). Blei, S. 84. 

Talleyrand selbst schildert in seinen Memoiren (I., S. 202) diese Begegnung 
und man kann annehmen, daß die äußere Szenerie dieser Begegnung eine der 
wenigen ohne Vorbehalt zu genießenden Stellen in den 1720 Seiten der 
Memoiren des Fürsten darstellt: 

„Ich hatte ihn noch nie von AngesichiJ gesehen und schon am Tage seiner Ankunft 
schickte er mir gegen Abend einen Adjutanten mit der Anfrage, wann er mir seinen Besuch 
machen könne. Ich stellte mich ganz zu seiner Verfügung und er ließ sich für den nächsten 
Vormittag 1 1 Uhr anmelden. Ich hatte Frau von Stael eingeladen ... Als der General vor- 
fuhr, ging ich ihm bis an die Treppe entgegen und führte ihn dann in den Salon, wo ich 
ihm Frau von Stael vorstellte, die er aber nur flüchtig grüßte . . . Beim ersten Anblick hatte 
er mir sofort gefallen: eine gewinnende Erscheinung, lebhafte, geistreiche Augen, das 
Antlitz edel geformt und von einer matten Blässe und, was die Hauptsache war, zwanzig 
glorreich gewonnene Schlachten, und dabei noch so jung! — Er unterhieh 
sich mit mir sehr offenherzig und vertraulich und versicherte mir in der liebenswürdigsten 
Weise, wie er sich über meine Ernennung gefreut habe, weil er sofort aus meinen Briefen 
ersehen, daß ich doch ein ganz anderer Mensch sei als die Herren vom Direktorium. Dann 
sagte er plötzlich und ohne weiteren Obergang: ,Sie sind ein Neffe des Erzbischofs 
von Reims, der sich jetzt bei Ludwig XVIII. aufhält', und fügte nach einer 
Pause hmzu: ,ich habe auch einen Oheim, der Erzdiakon von Korsika ist 
und der mich erzogen hat. Sie wissen, ein dortiger Erzdiakon ist soviel 
wie ein Bischof von Frankreich'." 

Das Fest, das das Direktorium zu Ehren Napoleons gab, hatte Talleyrand 
im Auftrag des Direktoriums zu arrangieren, wobei Napoleon bejubelt und 



AQ Edmund Bergler 

das Direktorium ausgepfiffen wurde, was Talleyrand, der auch da schon ein 
Doppelspiel gegen das Direktorium spielte, nicht unangenehm war. 

In den Memoiren Napoleons ist über die Feier des 21. Jänner (Hinrichtung 
des Königs) folgendes zu lesen (Wencker-Wildberg, II. Bd., S. 279 ff.): 

„Die Regierung feierte den Jahrestag der Hinrichtung Ludwig XVI., und Direktoren und 
Minister stritten heftig darüber, ob Napoleon der Feierlichkeit beiwohnen sollte oder nicht. 
Man befürchtete einerseits, das Direktorium würde in der Volksgunst Schaden erleiden, 
wenn es ihn nicht hingehen ließe; anderseits, das Volk möchte das Direktorium ganz über- 
sehen und sich nur mit dem General beschäftigen. Endlich kam man doch zu dem Schluß, 
Napoleons Anwesenheit sei aus poUtischen Gründen erforderlich. Talleyrana, der 
Minister des Äußern, wurde mit dieser sozusagen diplomatischen Unterhandlung betraut. In 
seiner Eigenschaft als Außenminister war er anläßlich der Friedensverhandlungen von Campo 
Formio mit Napoleon in Korrespondenz getreten. Von dieser Zeit an bemühte sich 
Talleyrand, dem General zu gefallen und sich bei ihm einzuschmeicheln; er war auch der 
Mittelsmann, dessen sich das Direktorium bei seinen Auseinandersetzungen mit Napoleon 
bediente. Napoleon, der gern allen Veranstaltungen solcher Art ferngeblieben wäre, be- 
merkte folgendes: ,Ich bekleide kein öffentliches Amt. Ich habe persönlich mit diesem an- 
geblichen Fest nichts zu tun, das seiner ganzen Art nach nur recht wenig Leuten gefällt. Dies 
Fest ist im höchsten Grade unpolitisch, das Ereignis, das es in der Erinnerung 
zurückruft, war eine Katastrophe und ein nationales Unglück. Ich begreife sehr 
wohl, daß man den 14. Juli feiert, denn an diesem Tage hat das Volk seine Rechte erstritten. 
Aber es hätte diese Rechte erringen und eine Republik errichten können, ohne sich mit 
der Hinrichtung eines Fürsten zu beflecken, der von der Verfassung selbst für 
unverletzlich und unverantwortlich erklärt worden war. Ich will nicht erörtern, ob 
diese Hinrichtung nützlich oder schädlich war; aber ich behaupte, sie war 
ein unglückliches Ereignis. Nationale Feste feiert man zur Ehre von Siegen, die Opfer 
aber, die auf dem Schlachtfelde geblieben sind, beweint man^...' Talleyrand botseine 
ganze Beredsamkeit auf; er suchte zu beweisen, daß dieses Fest gerecht 
wäre, weil es politisch wäre. Politisch wäre es, denn alle Länder und- 
alle Republiken hätten stets den Sturz der despotischen Gewalt und den 
Tyrannenmord als einen Triumph gefeiert. So hätte Athen den Tod des 
Pisistratus, Rom den Sturz der Dezemvirn verherrlicht. Übrigens sei das 
Fest durch ein Gesetz geboten, dem das ganze Land unterworfen sei und dem 
jeder sich zu fügen und zu gehorchen habe... Nach langem Hin- und Herreden fand 
man endHch einen Mittelweg. Das Institut nahm an der Feierlichkeit teil; es wurde ab- 
gemacht, daß Napoleon als Mitglied des Instituts mit den Gelehrten seiner Sektion im Zug 
gehe; er erfüllte damit eine Pflicht als Angehöriger einer Körperschaft und vollzog keme 
freiwillige Handlung ..." 

Bald hierauf erfolgt Bonapartes Abreise nach Ägypten, wobei er mit Talley- 
rand vereinbarte, der Minister werde nach Konstantinopel gehen, um mit der 
Pforte zu unterhandeln, ein Versprechen, das Talleyrand nie einlöste. Da- 

4) Anfangs Jänner 18 10 schlug der Reichskanzler Combac^r^s dem Kaiser Napoleon einen 
Hofball auf den 21. Jänner vor. Kaum hatte Combac^r^s; jedoch diesen Tag m Verbmdung. 
mit einem Hofball genannt, als Napoleon empört aufsprang und den Kanzler anfuhr: „Was? 
auf den 21. Jänner schlagen Sie einen Hofball vor? Was denken Sie? Am Todestag emes 
Ehrenmannes tanze ich nicht" (Blei). 



Napoleon und Talleyrand 41 



gegen geschieht etwas völHg Unerwartetes: Der schwer erkrankte Talleyrand 
läßt Napoleon bei seiner Einschiffung nach Ägypten (Mai 1798) 100.000 Francs 
übergeben. Er bekam sie zwei Jahre darauf unter dem Konsulat zurück. „Der 
Kaiser wird ihn einmal fragen: „Was bewog Sie damals, mir das Geld zu 
geben?" Und Talleyrand wird erwidern: „Ich hatte keinen besonderen Grund. 
Es war möglich, daß ich Sie nie wieder sah. Sie waren jung und ich fühlte 
mich unwiderstehlich dazu gedrängt, Ihnen diesen Dienst zu leisten." Darauf 
fand Napoleon keine andere Antwort als „Votts faisiez un metier de dupe" 
(Blei). 

Talleyrand hatte als Minister des Direktoriums nur in Geldaffären Glück, 
außenpolitisch machte man ihn für das Zustandekommen der zweiten Koalition 
gegen Frankreich verantwortlich und zerrte Bestechungsaffären ans Tageslicht. 
Talleyrand kam der Absetzung zuvor und demissionierte. Vier Monate später 
kam der 18. Brumaire, Napoleons Staatsstreich, und Talleyrand wurde wieder 
Minister. Talleyrand spielte den Vermittlungsmann zwischen Sieyes und 
Napoleon. Bei den Vorbereitungen zum Staatsstreich ereignete sich folgende 
Szene, die Talleyrand in seinen Memoiren I., S. 212 beschreibt: 

„Einige Tage vor dem 18. Brumaire trug sich bei mir eine eigentümliche Szene zu. 
Bonaparte, der an der Rue Chautereine wohnte, kam eines Abends zu mir, um noch Ver- 
schiedenes mit mir zu besprechen. Ich wohnte ganz in seiner Nähe, an der Rue Taitbout, 
und zwar in einem Hinterhause, das von dem Hauptgebäude durch einen Hof getrennt 
war. Wir saßen in meinem Kabinett, wo nur einige Kerzen brannten, und unterhielten uns 
sehr lebhaft. Mitternacht war schon vorüber. Auf einmal hören wir von der Straße herein 
lauten Lärm und als wir genauer hinhorchen, auch Pferdegestampf wie von Kavallerie. 
Bonaparte springt erschrocken auf, er erbleicht und sieht mich fragend an. 
Ich glaube, daß ich gleichfalls die Farbe gewechselt habe, fasse mich aber, 
blase sofort die Kerzen aus, schleiche leise durch den Hof und sehe von einer oberen 
Galerie auf die Straße hinab. Zuerst konnte ich nicht erkennen, was unten vorging, endlich 
sah ich aber doch, was es war, und mußte an mich halten, um nicht aufzulachen. Die 
Straßen von Paris waren damals zur Nachtzeit nicht besonders sicher und wenn man um 
Mitternacht die Spielhäuser im Palais Royal geschlossen hatte, so fuhren die Bankhalter mit 
ihren Geldern in einigen Fiakern nach Hause, ich glaube nach der Rue Clichy, wo sie 
wohnten. Sie ließen sich dabei von reitenden Gendarmen begleiten, die der Polizeiminister 
ihnen gegen gute Bezahlung bewilligt hatte. Zufällig mußte nun gerade vor meinem Hause 
einer von den Fiakern ein Rad verlieren, was den Aufenthalt, den Lärm und die ganze 
Unruhe verursachte. Bonaparte und ich lachten herzlich darüber und auch über unseren 
panischen Schrecken, der indes erklärlich war, denn man konnte in jenen Tagen von 
Seiten des Direktoriums auf alles gefaßt sein." i-i': 

Talleyrand setzt nun seine Rolle, die er von Anfang an Napoleon gegen- 
über einnahm, fort: er stellte alle Gedanken, die der Konsul bloß 
bei sich zu denken wagte, als nächstliegende Staatsnotwendig- 
keit dar und präsentierte sich Napoleon als ein lebendes „Es- 



ist-erlaubt" 



4.2 Edmund Bergler 



Einige Beispiele: In Talleyrands Memoiren L, S. 21 j lesen wir: 

„Um dieser Autorität einen noch größeren Nachdruck zu geben, machte ich ihm 
(Napoleon) am Tage seiner feierlichen Installation (als Konsul) einen Vorschlag, den er mit 
Bereitwilligkeit annahm. Alle drei Konsuln hielten tägUch Sitzung, zu welcher die Mi- 
nister erschienen, um die Berichte ihres betreffenden Ressorts abzustatten. Das Porte- 
feuille des Äußeren ist aber in jedem wohlgeordneten Staat ein geheimes und 
darf nicht im offenen Ministerrate verhandelt werden; ich bat daher den General, mir zu 
erlauben, über die Angelegenheiten meines Ministeriums nur mit ihm allein zu verkehren. 
Bonaparte begriff sehr gut die Tragweite meines Vorschlages und traf sofort die nötigen 
Anordnungen. Ich arbeitete also immer nur mit ihm allein." 

Talleyrand gab Napoleon den Rat, das zweite Konsulat einem Juristen für 
die Justiz und das dritte einem geschickten Finanzmann für die Finanzen zu 
übertragen: „Das wird sie beschäftigen, wird sie amüsieren und Sie, General, 
haben alle lebendigen Teile der Regierung zur Verfügung." Selbst aber sollte 
Napoleon das in der Hand haben, was direkt mit der Politik zu tun hat: die 
Ministerien des Innern und der Polizei, das Außenministerium und die beiden 
großen Exekutivmittel Heer und Marine. Die Folge dieser Vorschläge war 
folgende Äußerung Napoleons zu seinem Sekretär Bourienne: 

„Dieser Talleyrand hat viel Verstand. Er ist sehr geschickt. Er hat mich durch- 
schaut. Was er mir geraten hat — Sie wissen, daß es meine Absicht ist. 
Er hat recht: man geht viel schneller, wenn man allein geht. Der Konsul Lebrun ist ein 
anständiger Mensch, aber er hat keine Politik im Kopf, nur Bücher, und der andere, 
CombacJr^s, viel zu viel revolutionäre Tradition. Meine Regierung muß eine ganz neue 
Regierung sein." 

Ein anderes Beispiel dieser Attitüde ist ein Brief Talleyrands an Napoleon 
nach Marengo, in welchem er suggestiv vom Imperium spricht. Talleyrand 
war freilich in dieser Zeit kaum mehr als ein Exekutivorgan Napoleons und 
Chateaubriand hat nicht unrecht, wenn er sagt: „Talleyrand signait les evene- 
ments, ü ne les faisait ^as." Anders ausgedrückt: „Bonaparte gab die Substanz, 
die für Talleyrand politisch zu traktieren war" (Blei), wobei Talleyrand an 
jeder Wendung der napoleonischen Politik durch Bestechungsgelder grob ver- 
diente. Napoleon wußte, daß sich Talleyrand bereicherte. „Wenn Napoleon 
sich nicht um seine treuesten Diener kümmert, müssen wir es selbst tun, 
nicht?" sagte Talleyrand zu Combaceres. Dieses „nicht kümmern" war sub 
specie von Millionen gedacht und Talleyrand konnte den Satz aussprechen: 
„Wenn man will, hat man immer Geld." Napoleon nahm ihm die Bereiche- 
rung nicht übel. Der erste Konsul und die ganze bonapartistische Sippe 
machten es nicht anders. „Wenn ich nichts mehr habe", sagte der Kaiser zu 
Talleyrand, „dann wende ich mich an Sie. Also Hand aufs Herz: wieviel 
haben Sie an mir verdient?" „Ich bin nicht reich, Sire, aber alles, was 
ich besitze, steht zu Ihrer Verfügung" (Ludwig, S. 579). 

Talleyrand brachte übrigens Teile des alten Adels dazu, sich mit Napoleon 



Napoleon und Talleyrand 43 



abzufinden. Eine Regierung, unter welcher die fünfprozentige Rente von 
7 auf 1 2''/o stieg, war vertrauenswürdig. „Und daß Namen und Herkunft einen 
politischen Wert bedeuteten, bekam Napoleon auf den Festen augenfällig zu 
merken, die der Minister ihm zu Ehren gab: fast der ganze Adel Frankreichs 
war da, und mehr als bereit, mit dem neuen Regime Frieden zu schließen. 
Daß neben dem politischen Kalkül Snobbismus mitlief, ist selbstverständlich, 
sowohl beim Minister, ihm Faubourg Saint-Germain zuzuführen, wie beim 
Chef, es zugeführt zu bekommen. Bonaparte liebte „dieses Parfüm des alten 
Adels". Als Kaiser wird er sich eine neue Aristokratie schaffen, „le vrai, le 
seid soutien d'une monarchie, son moderateur , son levier, son point resistent' ' 
(Blei). 

Dabei gab Talleyrand Napoleon wiederholt zu fühlen, daß der Kaiser der 
Parvenü und der Minister der Grandseigneur sei: „Denn diesem großen Namen 
entsprach genau die Geste, die Allüre und die Haltung des einzigen Gran d- 
seigneurs inBonapartes beamteter und militärischer Umgebung, 
die nach Stendhals "Wort ,aus kleinen Leuten' bestand. Der Chef 
kapitulierte vor den vollendeten Manieren des Grandseigneurs ebenso wie vor 
seiner Routine im Traktement der politischen Geschäfte, was beides ihm im- 
ponierte, weil er beides nicht besaß, weder Routine noch Manieren" (Blei). 
Als Talleyrand unter dem Kaisertum Oberkämmerer wurde, schrieb ihm zum 
Beispiel Napoleon: 

„Herr Talleyrand, mein Oberkämmerer, ich schicke Ihnen dieses, um Ihnen meine Un- 
zufriedenheit zu bezeigen darüber, daß die Freitag-Einladungen vom Souper sprachen, 
während sie für mein Diner bestimmte waren. Meine Intention ist, daß man in meinem 
Haushalt wie sonst auch den Gesetzen gehorche." 

„Der gute Geschmack, Majestät" — antwortete Talleyrand, „ist Ihr persönlicher Feind. 
Könnten Sie sich seiner durch Kanonenschüsse entledigen, es gäbe ihn schon lange nicht 
mehr." 

Oder: „Der Konsul erwartet ungeduldig den Kurier mit dem unterzeichneten 
Friedensvertrag von Amiens. Talleyrand hat ihn bekommen, steckt ihn in 
die Tasche und begibt sich, mit der Mappe unter dem Arm, nach den Tuilerien 
zur Erledigung der laufenden Geschäfte, er unterbreitet dem Konsul Rapporte 
zur Kritik und Unterschrift; kein Zug des Gesichtes verrät, daß er den 
Friedensvertrag in der Tasche hat. Der Minister lächelt: „Jetzt will ich Ihnen 
eine große Freude machen, — hier ist der unterschriebene Friedensvertrag mit 
England." — „Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?" fährt der erste 
Konsul seinen Minister an. „Weil Sie mich dann nicht zu allem anderen ge- 
hört hätten. Wenn Sie glücklich sind, sind Sie unzugänglich." Blei, dessen 
Buch diese Schilderung entnommen ist, meint dazu, „Talleyrands pädagogische 
Absicht streift an die Unverschämtheit". Dabei stammen diese Aus- 



44 Edmund Bergler 



Sprüche aus der Zelt der glücklichen Zusammenarbeit der beiden Giganten, in 
bösen Zeiten sagt Talleyrand dem Kaiser noch ganz andere Dinge. 

Talleyrands Anteil am Konkordat war ein beträchtlicher, Talleyrand selbst 
wurde dem weltlichen Leben wiedergegeben. Napoleon zwingt ihn, seine Ge- 
liebte, Madame Grand, eine hübsche, aber dumme Frau, zu heiraten. Auf 
Napoleons Wunsch kauft er das riesengroße Renaissanceschloß Valencay, „um 
würdig zu repräsentieren". Dasselbe Valencay, in das Napoleon später „die 
spanische Besatzung" der vertriebenen Bourbonen legen wird. 

In einer ganzen Reihe von Fällen überspielt Talleyrand den Kaiser. 
Mit Recht haben verschiedene Biographen darauf verwiesen, daß Talleyrands 
Macchiavellismus darin bestand, Bonaparte zu isolieren: gegen die Revolution 
hin durch die Erledigung der letzten Jakobiner,' gegen die Bourbons hin durch 
Erschießung des Herzogs d'Enghien. Es ist kein Zweifel, daß Talleyrand der 
Initiator der Ermordung des Herzogs war, ebenso wie Talleyrand ursprüng- 
lich den katastrophalen spanischen Feldzug unterstützte, weil er hoffte, daß 
Napoleon dabei unterliegen und damit stürzen werde. Natürlich hat Talley- 
rand seine Rolle im Falle d'Enghien* und Spanien abgeleugnet. 

Wo beginnt eigentlich der große Konflikt Talleyrands mit Na- 
poleon? Will man Talleyrand glauben, spielte sich dies so ab: Napoleon sei, 
durch seine Siege „förmlich berauscht", in seinem „unersättlichen Ehrgeiz" 
nicht geneigt gewesen, den „Weg der Mäßigung", den ihm Talleyrand empfahl, 
zu gehen und deshalb hätte der Minister seine Demission gegeben. Nach dem 
Frieden von Tilsit hätte Napoleon, der Talleyrand schon vorher zum Fürsten 
von Benevent^ ernannt hatte, für ihn die Stelle eines Vize-Großwahlherrn 
kreiert, „im Grunde nichts als eine hochangesehene und sehr einträgliche 
Sinekure" (Talleyrand, Memoiren, IL, 248). Vor allem sei Talleyrand über das 
Verhalten Napoleons in Spanien empört gewesen: 

„Napoleon residierte darauf (nach Jena und Auerstädt) einige Zeit in Berlin, und dort 
erhielt er die unvorsichtige Proklamation des Herzogs von Alcudia (des .Friedensfürsten'), 

j) Nach dem Höllenmaschinen-Attentat in der Rue Saint Nifaise wurden auf Talleyrands 
Rat durch einen Senatsbeschluß (!) 130 Jakobiner deportiert und 10 zum Tode verurteilt, 
und obwohl es sich später zeigte, daß Royalisten die Täter waren, wurde der Beschluß nicht 
rückgängig gemacht. 

6) „In jener Nacht des 21. März spielt Talleyrand Karten bei der Herzogin von Luynes. 
Um zwei Uhr sagt er: „Der letzte Conde hat zu existieren aufgehört." Sein chef de service 
Hauterive konnte, so gut sie sich miteinander standen, sein Entsetzen nicht verbergen. 
„Na, was verdrehen Sie die Augen? Was denn, was denn, sind Sie närrisch geworden? Ein 
Verschwörer wird an der Grenze abgefangen, man bringt ihn nach Paris, man füsiliert ihn, 
was ist da Besonderes dabei?" Die Anekdote hat eine kürzere Fassung im Satz: „Na, was 
denn? Das ist Politik, mein Lieber!" (Blei, S. 130.) 

7) „Daß der Kaiser Talleyrand gerade mit der päpstlichen Enklave Benevent belehnte, 
war ein boshafter Witz Napoleons auf den republikanischen Bischof, der die Säkularisation 
der kirchlichen Vermögen beantragt und durchgeführt hatte" (Blei, S. IJ7). 



Napoleon und Talleyrand 45 



die den Abfall Spaniens von Frankreich in nahe Aussicht stellte. Das gab wieder Ver- 
anlassung zu einer sehr heftigen Szene: der Kaiser schwur hoch und teuer, er werde die 
ganze Linie der spanischen Bourbons bis auf den letzten Mann vertilgen... 
und ich schwur mir in jenem Augenblick im Stillen, gleich nach unserer 
Rückkehr, es koste, was es wolle, meine Entlassung zu fordern. Ich 
konnte der Minister eines solchen Mannes nicht mehr sein. Bestärkt wurde 
ich in diesem Entschluß durch die barbarische Behandlung, die Preußen im Frieden von 
Tilsit erdulden mußte, wobei ich, gottlob ! nicht tätig war" (Talleyrands Memoiren, II, S. 240). 

Dies die Talleyrand-Legende. In Wirklichkeit begann Napoleon Talleyrand 
zu mißtrauen. Dazu kam, daß die Situation sich auch in folgendem geändert 
hatte: Talleyrand war früher der Mann, der Napoleons geheimste Gedanken 
als erster als Staatsnotwendigkeit aussprach, während er jetzt dem Kaiser Be- 
denken vorzutragen begann. (So war z. B. Talleyrand gegen eine harte Be- 
handlung Österreichs.) Diese Schwenkung Talleyrands, der als Real- 
politiker die unlösbaren Verwicklungen, in die sich Napoleon (aus unbewußten 
Motiven) hineinmanövrierte, sah und um seine eigene Karriere unter einem 
Nachfolger fürchtete, ist das Entscheidende im unbewußten Verhal- 
ten Napoleons zu Talleyrand. Anders ausgedrückt: es ist die 
Schwenkung von der Repräsentanz der erlaubenden zu der der 
verbietenden Tendenzen des Über-Ichs, worüber später ausführlicher 
zu sprechen sein wird. Talleyrand, der die unbewußten Motive Napoleons 
nicht verstehen konnte und in ihm bloß einen Größenwahnsinnigen sah, der 
sich und seine Anhänger ins Verderben bringen werde, rückte vom Kaiser ab. 
Das moralisierende Gerede Talleyrands in seinen Memoiren über seine Em- 
pörung, ist Maske, da ein Mann, der den Grundsatz prägte, „der beste Grund- 
satz in der Politik ist, keinen zu haben", dazu schon aus rein psychologischen 
Gründen gar nicht fähig war. 

Die Stelle als Vize-Großwahlherr* ermöglichte Talleyrand, weiter am Hofe 
eine große Rolle zu spielen und vor allem nicht ausgeschaltet zu sein. Als be- 
sondere Pikanterie dachte sich Napoleon folgende „Bosheit" (so nennt es 
Pouche in seinen Memoiren) aus: die beiden spanischen Prinzen und 
ihr Onkel wurden auf Talleyrands Schloß in Valencay einquar- 
tiert, Talleyrand also praktisch Kerkermeister' oder wie Napoleon 

8) Im „Moniteur" hieß es, daß sich seine Tätigkeit im Ministerium mit seiner neuen 
Würde nicht vertrüge. In Wirklichkeit war es eine halbe Kaltstellung, versüßt durch ein 
Gehalt von 500.000 Francs. Napoleon gab auf St. Helena als Ursache für Talleyrands Ent- 
lassung an: „Ein Mann von Talenten, aber man kann nichts mit ihm anfangen, wenn man ihn nicht 
bezahlt. Die Könige von Bayern und Würtemberg hatten sich so sehr über seine Habsucht 
beklagt, daß ich ihm das Portefeuille entzog." Eine glatte Augenauswischerei, da Napoleon 
von Talleyrands Bestechlichkeit schon vor der persönlichen Bekanntschaft genügend unter- 
richtet war und auch sonst derlei Skrupel nicht kannte. 

9) Der Beginn der spanischen Affairen Napoleons ist eine Kette phantastischer Be- 
trügereien (,,Perfidie-' nennt es der nachträglich moralische Talleyrand im Jahre 18 16). 



46 Edmund Bergler 



es ausdrückt: „Eine ziemlich ehrenwerte Mission, denn diese drei illustren Per- 
sonen zu empfangen und zu amüsieren liegt im Charakter unserer Nation und 
dem Ihres Ranges. Madame Talleyrand möge sich mit sieben, acht 
Damen ebenfalls nach dem Schloß begeben, das ein Theater habe, eine 
Kapelle, — vielleicht gibt es da auch eine hübsche Weibsperson, an 
die sich der Prinz von Asturien attachiert, man besäße in ihr ein 
Mittel mehr, ihn zu überwachen." Der Hinweis auf die „hübsche Weibs- 
person" bezieht sich auf Madame Talleyrand, mit der der Onkel des 
jungen Königs, Carlos, tatsächlich ein Verhältnis einging, was 
Napoleon Talleyrand später brutal vorhielt. Um die Bosheit gegen Talleyrand 
voll zu machen, zahlte Napoleon für den kostspieligen Unterhalt der Prinzen 
— 50.000 fr. jährlich, also einen Pappenstiel. Es war praktisch eine Kriegs- 
kontribution, die Napoleon Talleyrand auferlegte. 

Der „Verrat" Talleyrands an Napoleon hatte drei Etappen: in der 
ersten ließ Talleyrand Napoleon auf die falsche Fährte setzen (Hinein- 
locken auf das spanische Abenteuer, Erschießung d'Enghiens), in der zweiten 
arbeitet er als Napoleons Unterhändler mit dem Zaren in Erfurt (1808) 
direkt gegen den Kaiser, in der dritten und letzten Etappe (1814) wird 
Talleyrand Ministerpräsident der ersten Restauration unter Lud- 
wig XVIII. 

In Erfurt wird er von Napoleon nicht nur mit der Inszenierung der ganzen 
Aufmachung (man spielt „Oedipe" von Voltaire), sondern auch mit den Ver- 
handlungen mit dem Zaren Alexander betraut, wozu auch die Werbung um 
eine russische Prinzessin gehörte. Beim Tee im Salon der Fürstin Thurn und 
Taxis entledigt sich Talleyrand seines Auftrages wie folgt: 

„Was gedenken Sie hier zu tun, Sire? Bei Ihnen liegt die Rettung Europas, und das werden 
Sie nur erreichen, wenn Sie Napoleon die Stirne bieten. Das französische Volk ist 
zivilisiert, sein Souverän ist es nicht. Der russische Souverän ist zivilisiert, sein Volk ist 
es nicht. Also sollte der Herr Rußlands der Alliierte des französischen Volkes sein . . . Der 
Rhein, die Alpen, die Pyrenäen sind die Eroberung Frankreichs, das übrige ist die Er- 
oberung des Kaisers; Frankreich legt keinen Wert darauf..." „Eure Majestät 
sollten sich zu keiner drohenden Maßregel gegen Österreich verleiten lassen, 
sondern nur gleiche Verpflichtungen da eingehen wie mein Chef." 

Man sieht: Talleyrand hat Napoleon in Erfurt verraten; seinem Einfluß auf 
den Zaren war es u. a. zuzuschreiben, daß Napoleon Erfurt ohne jedes Ergebnis 
verließ. Dabei sind diese Aussprüche Talleyrands nicht nachträglich von ihm 
konstruiert worden wie viele andere. Es gibt eine Reihe von Bestätigungen 
zeitgenössischer Memoiren, die diese Angaben Talleyrands voll und ganz be- 
Napoleon zwang erst den Thronfolger, der durch einen früheren Thronverzicht seines 
Vaters, der später als erzwungen dargestellt wurde, eigentlich König war, indem er ihn 
nach Bayonne, also auf französischen Boden lockte, auf den Thron zugunsten seines Vaters, 
und dann den Vater zugunsten von Napoleons Bruder Joseph zu verzichten. 



Napoleon und Talleyrand 47 



glaubigen. So zum Beispiel ein Ausspruch Metternichs in einer Denkschrift 
vom 4. Dezember 1808: „Wir sind also endlich an einem Zeitpunkt angelangt, 
wo sich im Innern des französischen Kaiserreichs selbst Alliierte 
anzubieten scheinen, und nicht etwa niedrige Intriganten, sondern Män- 
ner, die imstande sind, die Nation zu vertreten, verlangen unsere Unter- 
stützung." 

In Paris machen Talleyrands boshafte Bemerkungen über die spanische Ex- 
pedition — der Kaiser hat selbst den Oberbefehl in Spanien übernommen — 
die Runde. Zum Beispiel: 

„Man bemächtigt sich der Kronen, aber man eskamotiert sie nicht." Oder: „Nichts ein- 
facher und nichts vielleicht notwendiger für das solide Etablissement der napoleonischen 
Dynastie, als das Haus Bourbon aus Spanien zu jagen. Aber wozu solcher Aufwand 
von Schläue, Perfidie und Kunststücken? Warum nicht einfach den Krieg er- 
klären, wofür es an Motiven nicht gefehlt hätte? In einem solchen Kriege wäre die spanische 
Nation bestimmt neutral geblieben. Ohne es im geringsten zu bedauern, eine abgenützte 
Dynastie fallen zu sehen, und berauscht vom Renommee Napoleons hätte sie nach schwachem 
Widerstand durch die reguläre Armee den freudigen Obergang zur napoleonischen Dynastie 
vollzogen..." Oder: „Der unglückliche Kaiser setzt seine ganze Situation in Frage 
durch dieses Unternehmen gegen einen nationalen Willen. Ein nie mehr zu reparierender 
Fehler." 

(Wie sehr Napoleon seine eigene Jugend verdrängt hatte, beweist die Tat- 
sache, daß er die nationale Bewegung in Spanien nicht verstand, obwohl er 
selbst an der korsischen teilgenommen hatte.) 

Die weiteren Schritte Talleyrands beim Verrat sind folgende: über Nessel- 
rode, den der russischen Gesandtschaft zur besonderen Verwendung für 
Talleyrand beigegebenen Agenten, informiert er den Zaren über die 
Absichten Napoleons.^" Nesselrode gesteht in seiner Autobiographie selbst ein, 
„daß er durch Talleyrand, der im Geheimen auf Napoleons Sturz 
hinarbeitete, am meisten erfuhr" (F. M. Kircheisen, S. 223). Die 
Decknamen für seine Berichte sind: Cousin Henry, Ta., Anna Iwanowna, 
unser Buchhändler, der schöne Leandre usw. Ein zweiter Weg zum Zaren 
führt seit Erfurt über die eigene Familie: der Zar gab dem Neffen Talley- 
rands die Tochter der Herzogin von Kurland, eine Verwandte 
des Zaren, zur Frau. (Talleyrand hatte übrigens mit Mutter und Tochter 
ein Verhältnis.) Über die Herzogin hat Talleyrand eine direkte Verbindung 
zum Zaren, eine Verbindung, die Napoleon kennt (er läßt die Sekretärin 
dieses Kreises, Vicomtesse Laval, zu Beginn des russischen Feldzuges aus Paris 
ausweisen), und — hier ist wieder das Rätselhafte — gegen die er nichts 
unternimmt. 

ig) Es ist bei Talleyrands Geldgier nicht verwunderlich, daß er auch diese Nachrichten 
zu kapitalisieren versuchte. Im russischen Hofarchiv findet sich ein Brief Talleyrands aus 
dem Jahre 18 10 an den Zaren mit der Bitte um iVj Millionen Francs. 



48 Edmund Bergler 



Talleyrand versöhnt sich während des spanischen Feldzuges mit seinem 
Gegner Pouche, das heißt, er schließt mit ihm einen Pakt für den Pall des 
Sturzes Napoleons, auf den beide offen spekulieren; beide zeigen sich Arm in 
Arm bei einem Fest. Madame Laetitia, die Mutter des Kaisers, verständigt 
Napoleon, der die Wichtigkeit des Ereignisses sofort einsieht und 
am 17. Jänner 1909 Valladolid verläßt, um am 23. frühmorgens in Versailles 
einzutreffen. Am 28. Jänner 1809 kommt es zur „großen Abrechnung" mit 
Talleyrand: 

„Mit Talleyrand abzurechnen, hatte der Kaiser einen großen Apparat aufgeboten, um 
die berühmte Szene des 28. Jänner vor einem Publikum zu agieren, das außer Talleyrand 
aus zwei Groß Würdenträgern des Reiches und zwei Ministern bestand, abgesehen von den freiwilli- 
gen und unfreiwilligen Zuhörern, denn der Kaiser schrie seine Szene oft so laut, daß man es 
in den anstoßenden Appartements hören konnte. Nicht, daß er schrie, erstaunte, denn das kannte 
man. Auch, was er schrie, fiel weiter nicht auf, denn man war unbeherrschtes Schimpfen 
beim Kaiser gewohnt. Aber, daß der Beschimpfte es an den Kaminsims gelehnt hinnahm, 
ohne mit der Wimper zu zucken, und nur ein einziges Mal das Wort ergriff, weil Na- 
poleon eine direkte Frage an ihn gerichtet hatte, solche kaltblütige Beherrschung bestaunte 
sogar ein so ausgekochter Mann wie Pouche. ,Die ich zu meinen Würdenträgern und 
Ministern gemacht habe, hören auf, frei zu sein in dem, was sie denken und ausdrücken. 
Sie können nichts anderes sein als Organe meines Denkens. Für sie beginnt Verrat schon 
dort, wo sie zweifeln, und der Verrat ist vollendet, wenn der Zweifel bis zur Nichtüber- 
einstimmung geht.' Nach diesen allgemeinen Worten springt der Kaiser Talleyrand an: 
,Sie sind ein Dieb, ein Feigling, ein Mensch ohne Glauben. Sie glauben 
nicht an Gott. Ihr ganzer Lebenslauf war eine fortwährende Pflichtver- 
letzung. Sie haben alle Welt verraten und betrogen. Ihnen ist nichts 
heilig. Sie würden Ihren eigenen Vater verkaufen. Ich habe Sie mit Wohl- 
taten überschüttet und es gibt nichts, dessen Sie nicht gegen mich fähig wären. Seit zehn 
Monaten treiben Sie die Schamlosigkeit, in der Meinung, meine spanischen Angelegenheiten 
stünden schlecht, wem immer zu sagen, daß Sie stets gegen mein Unternehmen in Spanien 
gewesen seien, während Sie es waren, der mir dazu die erste Idee gab und mich unaufhörlich 
drängte. Und dieser unglückliche Enghien, von wem habe ich seinen Aufenthaltsort er- 
fahren? Wer hat mich gegen ihn aufgehetzt? Was sind Ihre Absichten? Was wollen Sie? 
Was erhoffen Sie sich? Sie verdienten, daß ich Sie wie ein Glas zerbreche und 
ich habe die Macht dazu. Aber ich verachte Sie zu sehr, um mir diese Mühe 
zu nehmen. Warum habe ich Sie nicht am Gitter des Caroussel 
aufhängen lassen? Aber noch ist Zeit dazu, Sie Scheiße in pinem Seiden- 
strumpf!'" 

„Talleyrand wurde weder blasser, noch röter, sein Blick blieb auf den Kaiser gerichtet 
ohne Flackern, ohne Zucken. Was der General Lannes über Metternich gesagt hat, daß 
man seinem Gesicht nicht anmerke, wenn man dem Mann einen Tritt in den Hintern 
gebe, hätte er in diesem Augenblick auch von Talleyrand sagen können. Wütend über 
diese Ruhe, schlug Napoleon noch einmal zu: „Warum haben Sie mir nicht gesagt, 
daß der Herzog San Carlos der Liebhaber Ihrer Frau ist?" — Wie sehr er 
sich zu beherrschen verstand, zeigt Talleyrands Antwort: „En effet, Sire. Je n'avais pas 
pense, que ce rapport put inUresser la gloire de Votre Majeste et la mienne." Für den 
Abgang findet der Herzog von Benevent noch einmal ein Wort. Er sagt: „Wie schade, 
daß ein so großer Mann eine so schlechte Erziehung gehabt hat." Am 



Napoleon und Talleyrand ^.g 



Abend desselben Tages ist er bei seiner schönen Freundin, der Vicomtesse von Laval. Er 
erzählt ihr mit allen Details. „Was? Und Sie haben sich das alles sagen lassen, ohne sich 
mit einem Stuhl auf ihn zu stürzen?" — „Ich habe natürlich daran gedacht, aber ich bin 
für so was zu faul" (Blei). 

Der „Moniteur" vom 30. Jänner 1809 weiß zu melden, daß der Herzog von 
Benevent seiner Stelle als Grand-Chambellan enthoben sei, die er nur als In- 
terim innegehabt hätte. Auf Interventionen Hortenses (Josephines Tochter, 
mit der Napoleon nach Angabe Pouches in seinen Memoiren, S. 116, ein Ver- 
hältnis hatte), sagt der Kaiser: 

„Ich will ihm nichts Böses, nur wünsche ich nicht mehr, daß er sich in meine 
Angelegenheiten mischt." Und zu Roederer sagt Napoleon fünf Wochen später: „Ich will 
ihm nichts Böses, ich lasse ihm seine Stellen, ich habe selbst die Gefühle für 
ihn, die ich ehemals hatte; aber ich entzog ihm das Recht, zu jeder Zeit mein 
Kabinett zu betreten. Er soll und wird nie mehr eine besondere Unterredung mit uns haben, 
er soll nicht mehr sagen können, daß er mir irgend etwas geraten oder widerraten habe." 
Vier Jahre später sagt der Kaiser: „Er war überzeugt, daß die Kooperation Spaniens und 
Portugals gegen England und selbst die teilweise Besetzung dieser Staaten durch meine 
Truppen das einzige Mittel sei, das englische Kabinett zum Frieden zu zwingen. In diesem 
Sinne verhandelte er, trotzdem er nicht das Ministerportefeuille hatte. Als er dann später 
in seinen Hoffnungen und dem Einfluß, den er auf seine Verhandlungen setzte, sich enttäuscht 
sah und merkte, daß ich ihn entbehren konnte, glaubte er sich düpiert. Er suchte sich zu 
rechtfertigen und machte sich zum Sprecher der Unzufriedenen. Er hatte vergessen, daß er 
den Einfall gehabt hatte, die spanischen Bourbons abzusetzen, wie früher die neapolitani- 
schen." Ich bin weit davon entfernt, ihm einen Vorwurf zu machen. Er 
beurteilt die Dinge richtig. Er ist der fähigste Minister gewesen, den 
ich gehabt habe..." 

Freilich täuschte sich Napoleon, wenn er meinte, Talleyrand sei auf Gnade 
und Ungnade dem Kaiser ausgeliefert. Man denke etwa an den naiven Aus- 
spruch des Kaisers aus der gleichen Zeit: 

„Talleyrand als einer von denen, die am meisten dazu beigetragen haben, 
meine Dynastie zu etablieren, war zu sehr daran interessiert, sie zu erhalten, war 
zu geschickt, zu voraussichtig, um nicht alles zu raten, was im Interesse ihrer Erhaltung 
und der Ruhe Frankreichs lag . . . Er gehört zu den vielen Leuten, wo man immer Glück 
haben muß..." Die gleiche Naivität spricht aus einer Äußerung Napoleons zur Zeit des 
Konsulats, wo er zu Combacer^s sagte: „Er besitzt viel von dem, was man für die Negocen 
braucht: den esprit du monde, die Kenntnis der europäischen Höfe, Finesse, um da nicht 
etwas mehr noch zu sagen, die Unbeweglichkeit des Gesichts, an der nichts etwas zu ändern 
vermag, und schließlich einen großen Namen. Ich weiß, daß er der Revolution nur 
durch seine Inkonduite angehört; als Jakobiner und Deserteur aus 
seinem Stande bürgt uns sein Interesse." 

Nun war Napoleon sonst nicht allzu naiv; es sind, wie zu zeigen sein wird, 
unbewußteMotive, die ihnTalleyrand so schlecht durchschauen 
und so unsinnig behandeln ließen. 

II) Pasquier verzeichnet 1803 folgenden Ausspruch Talleyrands: „In Europa existieren 
bloß zw« große Familien, das Haus Bourbon und das Haus Habsburg. Das eine muß man 
heiraten, das andere vernichten." 

B er gier, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 



CO Edmund Bergler 



„Es gab" — sagt Blei — (nach der großen Szene) „immerhin so etwas, das wie Ver- 
söhnung aussah; daß es nur so aussah, blieb niemandem verborgen. 11 n'y aura jamais de 
raccomodement complet et sincere enire ces deux hommes, berichtet Nesselrode nach 
Petersburg. Zum Herzog von Cadore sagt der Kaiser: „Sie haben hundert Millionen In- 
demnitäten für Frankreich stipuliert und alles wird am Schatzamt abgeliefert, ich weiß. 
Zu Zeiten Talleyrands hätten wir nicht einmal sechzig gekriegt und davon wären noch zehn 
an ihn gegangen. Aber die Sache wäre in zwei Wochen erledigt gewesen. Schauen Sie doch 
dazu!" Im übrigen gratuliert Talleyrand nach wie vor dem Kaiser zu semen Siegen, be- 
dauert dessen Abwesenheit von Paris, ist entsetzt, als er von einer Verwundung des 
Kaisers bei Regensburg hört, und der Kaiser macht ihm Vorwürfe, daß Talleyrand seine 
alte Freundin, die Herzogin von Chevreuse, die in kaiserliche Ungnade gefallen, besuchte, 
aber läßt sich seinen derzeitigen Freundinnen, Frau von Laval und der Herzogin von Luynes, 
empfehlen, nicht zu vergessen die Herzogin von Kurland'^ und deren Tochter 
Dorothea, die 1808 Talleyrands Neffen Edmond geheiratet hatte. Und dann kauft er 
ihm das Palais in der Rue de Varennes für ein und eine halbe Million ab, 
aber erst im Jänner 18 12 und nach zwei für die Finanzen Talleyrands sehr kritischen Jahren 
voll ebenso riskanter, wie erfolgloser Versuche, der Schwierigkeiten Herr zu werden. Er 
hielt es in seinen großen Geldaffären,, wie beim Whist, den er jeden Abend, die Partie 
zu einem halben oder ganzen Louisdor spielte: wenn er andauernd verlor, fand er das 
,ungerecht' und mogelte. So behauptete man wenigstens in London. Er blieb ,als ein 
ruinierter Mann', wie er von sich sagte, noch zwei Jahre in dem Palais Rue de Varennes 
als kaiserlicher Mieter, der keine Miete zahlte..." (Blei). 

Durch seinen Nachrichtendienst — Nesselrode und Herzogin von Kurland 
— läßt Talleyrand den Zaren 1809 wissen, daß Napoleon an einen Krieg mit 
Rußland denkt, der etwa im April 18 12 ausbrechen werde (sogar das Datum 
stimmt!) und rät zur Verständigung Rußlands mit England, Österreich und 
der Türkei. Talleyrand umgab sich mit einem „Harem ältlicher Frauen" — 
„nichts scheint Talleyrand mehr zu kaptivieren als das Alter, denn alle seine 
Lieben sind veritable Antiquitäten", sagte Lady Yarmouth — aber diese Anti- 
quitäten hatten, wie Blei hervorhebt, wichtigere Funktionen als die bloß 
amourösen oder mondänen. „Sie bilden seine russische Off izin. Die Her- 
zogin von Kurland schrieb dem Zaren das, was Talleyrand für wichtig hielt, 
daß er erfahre, nicht ohne daß zuvor Nesselrode und Tschernytschew die 
Punkte auf die i's setzten. Außerdem hielt sie die Großherzogin von Weimar 
über die Beziehungen zwischen Talleyrand und dem Zaren auf dem Laufenden, 
also Preußen. Und die Vicomtesse Laval fertigte genaue Kopien der her- 
zoglichen Korrespondenz an. Talleyrand wußte zwei Jahre zuvor, daß und 
wann des Kaisers Zug nach Rußland beginnen würde, der, wie er sagte, der 
Anfang vom Ende sei. Er tat nichts, dieses Ende aufzuhalten, er tat einiges, 
es zu beschleunigen, und alles, sich darauf vorzubereiten. Seine russische 
Offizin war so gut eingearbeitet, daß es ihr nichts ausmachte, als zu Beginn des 

12) Hier finden wir wieder die sonderbare Naivität Napoleons: die Herzogin von Kur- 
land war Talleyrands Mittelsperson zum Zaren 1 






Napoleon und Talleyrand 51 



russischen Feldzuges ein Teil seines Serails Paris verließ ... Es ist sehr un- 
wahrscheinlich, daß Napoleon von seiner ausgezeichnet ar- 
beitenden Polizei nicht genau über die Art der Beziehungen 
Talleyrands zum Zaren unterrichtet wurde. Nicht nur, daß er Frau 
von Laval, die Sekretärin der Talleyrandschen Offizin, kurz vor dem Feldzug 
ausweisen ließ, spricht dafür, sondern auch die Überlegung, Talleyrand ver- 
haften zu lassen.^* Daß es nicht dazu kam, lag nicht an einem fehlenden 
legalen Anlaß; das wäre für Napoleon das geringste Hindernis gewesen" (Blei). 
Dies ist der Punkt, darauf hinzuweisen, daß die Frage, weshalb Napoleon 
Talleyrand nicht „unschädlich" machte, die Frage, weshalb Napoleon 
sich Talleyrands Vorbereitungen zum Verrat und diesen selbst 
gefallen ließ, einigen Biographen aufgefallen ist. Einige Beispiele: Emil Lud- 
wig („Napoleon", S. 3 14 ff.) nimmt an, daß die stark bezweifelte Stelle aus 
Talleyrands Memoiren wahr ist, derzufolge Talleyrand dem Kaiser nach 
Bayonne folgendes gesagt haben soll: 

„Ich glaube, Sire, Sie haben durch die Ereignisse von Bayonne mehr verloren, als ge- 
wonnen." 

„Wieso?" fragt Napoleon. 

„Das ist sehr einfach. Ich will es an einem Beispiel beweisen. Wenn ein Mann von 
Wert Dummheiten macht, Maitressen hält, seine Frau und Freunde schlecht behandelt, so 
wird man ihn tadeln, doch wird er durch Reichtum und Macht die Nachsicht der Gesell- 
schaft wieder erringen. Betrügt aber dieser Mann im Spiel, so ist er aus der guten Gesell- 
schaft ausgestoßen, das verzeiht man ihm nie." 

Der Kaiser erbleicht — so berichtet Talleyrand — und richtet an diesem Tage das 
Wort nicht mehr an ihn. Doch warum jagt er ihn nicht fort? Warum ver- 
bannt er ihn nicht nach Westindien? Er, Napoleon, von einem Altadeligen mo- 
ralisch gepeitscht — und behält ihn dennoch bei sich? Oder hat Talleyrand 
gelogen? 

„Er ist der Einzige, der mich versteht. Das hat der Kaiser oft von Talleyrand gesagt, 
und das ist viel" (Ludwig). 

Ein anderer Biograph, F. Wencker- Wildberg („Napoleon, die Memoiren 
seines Lebens", 14 Bände), sagt Bd. VI, S. 230 nach Schilderung der großen 
Szene von 1809 („Sie sind ein Dieb, ein Feigling usw."): 

„Und trotzdem ist der so unwürdig behandelte Mann bei Hofe geblieben, hat seinen 
Rang unter den höchsten kaiserlichen Würdenträgern behalten! Wenn er auch Napoleons 
Person etwas ferner stand als zuvor, so war er doch den Staatsgeschäften nicht ganz ent- 
fremdet, und es dauerte nicht lange, so wurde er bei einem Anlaß von höchster Wichtig- 
keit von neuem als Ratgeber seines Souveräns berufen. Napoleon mußte doch, als 
er ihn so schnöde behandelte, fühlen, daß er sich in Talleyrand einen 
unversöhnlichen Feind schuf; warum hat er ihn nicht vollends ver- 



13) Ein Kronrat beschäftigte sich vor dem russischen Feldzug mit dem Gedanken, 
Talleyrand und Fouchö zu verhaften. Dies ist durch verschiedene Angaben beglaubigt, auch 
Fouch^ erwähnt diese Episode in seinen Memoiren. 



4* 



ga Edmund Bergler 



n i c h t e t ? Eine derartige Inkonsequenz läßt sich nur durch die übertriebene Zuversicht 
Napoleons auf seine Kraft, auf sein Glück erklären, vielleicht auch durch seine Verachtung 
eines Geschöpfes, das er unter die Füße getreten hatte." 

Als drittes Beispiel einer Rationalisierung eines unbewußten Tat- 
bestandes sei die Ansicht des geschicktesten Talleyrand-Biographen, Franz 
Blei, genannt. Dieser meint, Napoleon habe Talleyrand deshalb nicht ver- 
haften lassen (vor seiner Abreise zur Großen Armee gegen Rußland), weil er 
irrtümlich „Talleyrands Haltung für den Effekt einer persönlichen Verärgert- 
heit nahm, die zu beseitigen es ebenso in seiner Macht stünde, wie sie hervor- 
gerufen zu haben". Aber warum irrte Napoleon? Darauf gibt Blei 
keine Antwort. Und wenn Napoleon irrtümlicherweise glaubte, durch einen 
Posten Talleyrand versöhnen zu können, warum wurde er nicht eines Besseren 
belehrt, als Talleyrand knapp vor Napoleons Abreise zur Armee den ange- 
botenen Posten eines Gesandten in Warschau (ein Posten von höchster Be- 
deutung im Falle des Sieges) ablehnte und in Paris blieb? Dabei — sagt Blei 
— „erfuhr der Kaiser, daß der vertraulich mitgeteilte Plan für Talleyrand kein 
Geheimnis war: er spekulierte bereits in "Wien auf eine Hausse in den öffent- 
lichen Anleihen, die beim Bekanntwerden der Integrität Galiziens einsetzen 
müßte; außerdem propagierte er da die Herzogin von Kurland als polnische 
Thronkandidatin." Ein Rätsel mehr: Napoleon weiß also, daß Talley- 
rand nicht mehr zu kaptivieren ist, Napoleon weiß um die Ver- 
rätereien Talleyrands, kennt seine Gefährlichkeit, warum tut er 
nichts dagegen? 

Eine weitere Frage: woher stammt die groteske Überschätzung 
Talleyrands durch den Kaiser, wofür viele Beispiele anzuführen sind? 
So sagte Napoleon zu Caulaincourt, daß ihm Talleyrand in "Warschau gefehlt 
habe. „Und daß er durch die Unfähigkeit des Abbe de Pradt, den ihm eine 
Intrige an Stelle Talleyrands aufgeschwätzt habe, sowohl den russischen Feld- 
zug wie Polen verloren habe, was ihm mit Talleyrand nicht passiert wäre" 
(Blei, S. 207). Dem Fürsten Talleyrand selbst ist dieses Attachement Na- 
poleons unverständlich. In seinen Memoiren, Bd. II, S. 91 f. sagt er aus- 
drücklich: 

„Dabei war es sehr sonderbar, daß Napoleon gerade zu der'Zeit, in 
weicher er mir am meisten mißtraute, mich immer wieder zu sich rufen 
ließ. So forderte er mich im Dezembeer 1813 auf, das Portefeuille der aus- 
wärtigen Angelegenheiten wieder zu übernehmen. Ich lehnte rundweg 
ab," in der festen Überzeugung, daß wir uns niemals über den richtigen Weg verständigen 



14) Talleyrand soll geantwortet haben: Je ne connais point vos affaires. Worauf der 
Kaiser ihn anschrie: „Sie kennen sie! Aber Sie wollen mich verraten" (Blei, S. 20?). 
In einem Briefe an die Herzogin von Kurland schreibt Talleyrand über eine ähnliche Be- 
mühung des Kaisers: „Ich komme von Saint-Cloud zurück. Immer die gleiche öffentliche. 



Napoleon und Talleyrand 53 



würden, um aus dem Labyrinth herauszukommen, in das seine Torheiten ihn eingeschlossen 
hatten... Einige Wochen später, im Jänner 18 14 vor seiner Abreise zur Armee... sagte er 
wiederholt nach Durchsicht der Depeschen Caulaincourts über den Fortgang der Verhand- 
lungen zu Chatillon: ,Ach, wenn Talleyrand dort wäre, der würde mich schon 
herauszuziehen wissen!'" 

Diese ambivalente Einstellung äußerte sich wieder einmal nach der Rück- 
kehr Napoleons nach der Schlacht bei Leipzig: 

„Was haben Sie hier zu suchen? Ich weiß schon, daß Sie sich, falls ich ver- 
sagt hätte, einbilden, der Chef eines Regentschaftsrates zu werden. 
Hüten Sie sich, Monsieur! Man gewinnt nichts gegen meine Macht beim 
Kaufe. Ich erkläre Ihnen, daß, wenn ich gefährlich erkrankt wäi-e, Sie 
vor mir sterben würden." Worauf sehr höflich und höfisch Talleyrand antwortete: 
„Sire, ich habe solche Warnungen nicht nötig, damit meine brennenden Wünsche vom 
Himmel die Erhaltung des Lebens Seiner Majestät erbitten" (Blei, S. 211). 

Talleyrand hatte sich 18 13 nach Hartwell an seinen Oheim, den Erzbischof 
von Reims gewendet, der bei Ludwig XVIII im Exil weilte, um die Be- 
ziehung zu den Bourbons wieder aufzunehmen. „Diese Korrespondenz 
wurde von der Kaiserlichen Polizei aufgefangen. Es kam also, wie 
schon oft, zu einem heftigen Auftritt: „Ich kenne Sie, ich weiß, wessen Sie 
fähig sind . . . Aber ich werde Sie bestrafen, wie Sie es verdienen . . ." Talley- 
rand wußte aus vieler Erfahrung, was er von solchen Wutausbrüchen des 
Kaisers zu halten habe. Als er das Kabinett verließ, sagte er zu denen, die ihn 
in der Antichambre erwarteten: „Der Kaiser ist charmant heute." Er wurde 
weder bestraft, noch auf seine Güter verbannt. Der Kaiser ließ sich 
durch Combaceres, Savary und Berthier beschwichtigen. Als der Großrichter 
Mole dem Kaiser sagte, man glaube, nur Talleyrand könne über den Frieden 
unterhandeln, unterbrach ihn der Kaiser: 

„Sein Ansehen verdankt er zum Teil dem Zufall, der mehr als sein Verdienst ihn einige 
Friedenstraktaten negozieren und zeichnen ließ. Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht mit 
Wahrhaftigkeit sagen könnte, ob ich daraus eine große Hilfe gehabt habe oder daß er mir durch 
seine Auskunftsmittel das gezeigt hätte, was einen wirklich erfinderischen Geist beweist 
und eine profunde Geschicklichkeit offenbart. Ich bin nicht einmal Ihrer Meinung, daß er 
ein Geist ist oder gar von großem Geist. Man braucht ja nur seine Lebensführung an- 
zuschauen. Er war durch Geburt und Stand eine der ersten Persönlichkeiten des Adels 
und der Geistlichkeit und er hat mit allen seinen Kräften sowohl zum Sturz des Adels 
wie dem der Geistlichkeit beigetragen. Nach dem Terror aus Amerika zurückgekommen, 
vollendete er seine Erniedrigung damit, daß er sich vor aller Augen an eine alte, 

ein bißchen kalte Höflichket. Als alle weg waren, holt man mich zurück. Die Konversation 
wird drängend. Meinerseits der gleiche Refus. Nicht annehmbare Bedingung. 
Cela a fini sans humeur! Man hat mich um Geheimhaltung gebeten." Die Bedingung Na- 
poleons war seltsam: Verzicht auf die Würde und Einkünfte des Vice-grand- 
electeurs. Talleyrand sagte dazu: „Wenn der Kaiser Vertrauen in mich hat, darf er mich 
nicht degradieren. Und w«nn er keines hat, wozu braucht er mich?"... Zu Savary sagte 
der Fürs«: .jEs ist nicht jedermanns Sache, sich unter Trümmern begraben zu lassen" 
(Blei, S. 216). 



CA Edmund Bergler 



geistlose Hure schloß. Ich wollte ihn gegen seinen Willen beim Konkordat aus dem 
Dreck herausziehen, indem ich beim Papst für ihn den Kardinalshut erbat, und ich war 
nahe daran, diese Bitte erfüllt zu bekommen. Aber er wollte mich ja nie tun lassen und 
hat zum Skandal Europas seine lächerliche Mätresse geheiratet, von der 
er nicht einmal Kinder erwarten konnte. Er ist bestimmt, und alle Welt weiß das, der 
Men'sch auf der Welt, der am meisten gestohlen hat und er besitzt 
keinen Sou und ich bin gezwungen, ihn aus meiner Kassette zu erhalten 
und wie eben jetzt seine Schulden zu bezahlen." Darauf sagte Mole: „Aber 
der Kaiser werden mir zumindest zugeben, daß Talleyrands Unterhaltung voller Anmut, 
Koketterie und Charme ist." Und Napoleon replizierte: „Ja, das ist sein Triumph und 
er weiß das genau" (Blei). 

„Bei aller Schärfe und Richtigkeit seines Urteils" — sagt Blei — „erlag der Kaiser dem, 
das er nicht besaß und deshalb um so mehr bewunderte: dem Charme Talleyrands, 
der zu einem großen Teil nichts anderes war als die Kultur des ancien regiime... 
Daß es diesem Charme Talleyrands unter allen Umständen auch gelingen müßte, am Ver- 
handlungstisch die Niederlagen seines Chefs in so etwas wie Siege zu verwandeln: solchem 
Aberglauben bei so großem Mißtrauen mochte Napoleon wohl manchmal 
erliegen, den er als ein Plus dem Glauben und, war er besser gelaunt, auch dem Wissen 
um Talleyrands große GeschickUchkeit hinzufügte." 

Talleyrand verwahrt sich in seinen Memoiren dagegen, Napoleon verraten 
oder gegen ihn konspiriert zu haben und spricht die richtige Behauptung aus: 
„Niemals ist ihm (Napoleon) ein Verschwörer gefährlicher gewesen als er 
selbst." Talleyrands Unschuldsmiene ist natürlich Bluff, nicht anzweifelbar ist 
seine Beweisführung, daß es bis zum letzten Moment In Napoleons 
Hand lag, sich die Krone zu retten. Das ohne Kenntnis unbewußter 
Motive vollkommen sinnlose Verhalten vor seinem Sturz (über das noch zu 
sprechen sein wird) hat es bewirkt, daß er die Möglichkeiten, den Frieden in 
Frankfurt, Prag, ja vielleicht noch in Chatillon zu erhalten, nicht ausnützte.!^ 

In letzter Minute erinnert sich Napoleon, daß Talleyrand ihm gefährlich 
werden könnte, warnt vor ihm, gibt sogar den unpräzisen Befehl, sich seiner 
zu versichern, und schreibt seinem Bruder Joseph, dem Vorsitzenden des 
Regentschaftsrates: 

15) Talleyrands Memoiren II, S. 93: „Ich sagte vorhin, daß Napoleon der einzige Ver- 
schwörer gegen sich selbst gewesen sei, und bin imstande, die vollkommene Richtigkeit 
dieser Tatsache zu beweisen; denn es steht fest, daß bis zum letzten Augenblick die 
Rettung vollständig in seinen Händen lag. Er konnte, wie gesagt, nicht allein im Jahre 18 12 
durch einen allgemeinen Friedensschluß seine Macht für die Dauer befestigen, sondern er 
hätte noch im Jahre 181 3 in Prag Bedingungen erlangt, die freilich nicht so glänzend ge- 
wesen wären wie die von 1812, doch immerhin noch erträglich genug erschienen. Sogar 
auf dem Kongreß zu Chatillon, wenn Napoleon es nur verstanden hätte, zur 
rechten Zeit nachzugeben, würde noch ein vorteilhafter Friedensschluß zu erreichen 
gewesen sein, nicht allein für das schwer heimgesuchte Frankreich, sondern auch für den 
Kaiser selbst, vielleicht gar mit Aussichten auf weiteren Ruhm. Der Schrecken, welcher 
sämtliche Kabinette fortwährend erfüllte, ließ sie noch immer mit dem Gewalthaber 
unterhandeln." 



1 



Napoleon und Talleyrand 55 



„Ist Talleyrand der Ansicht, die Kaiserin auf alle Fälle in Paris zu lassen, so ist das 
heimlicher Verrat. Trauen Sie ihm nicht! („Je vous repete, mefiez-vous de cet komme!") 
Seit sechzehn Jahren gehe ich mit ihm um, doch sicher ist er der größte Feind unsere» 
Hauses, seit es das Glück verließ. Beherzigen Sie meinen Rat! Ich verstehe mehr als die 
Jungen Leute . . ." 

Joseph läßt Talleyrand unbehelligt, was auch nicht weiter zu verwundern 
ist, da Joseph ein vollkommen energieloser Mann ist, der in Neapel und 
Spanien gründlich versagt hat, worüber Napoleon sich im klaren ist. Talley- 
rand wird bald darauf Chef der bourbonischen Regierung Ludwigs XVIII. 

Zu Calaincourt spricht der Kaiser seine letzten "Worte über Talleyrand: 

„Ich erliege dem Verrat. Talleyrand ist ein Brigant wie Marmont. Er hat die Religion 
verraten, Louis XVI, die Konstituante, das Direktorium. Warum habe ich ihn nicht 
füsilieren lassen? Trotzdem er ein Renegat der Revolution ist, ist er nicht weniger 
ein Revolutionär ... Im Grunde hat er mir sehr gut gedient, solange er mir gedient hat. 
Ich habe mich mit ihm vielleicht etwas leichtsinnig brouilliert; ich habe ihn danach miß- 
handelt. Vielleicht war er versucht, sich zu rächen. Ein so verschlagener Geist wie der 
seine konnte nicht verfehlen, das Kommen der Bourbons wahrzunehmen und daß sie 
allein seine Rache sichern konnten. So ist er vor ihnen hergegangen; sehr einfach und klar 
ist das. Ich habe einen groben Fehler begangen: da ich ihn an den Punkt der 
Unzufriedenheit geführt hatte, wo er hielt, hätte ich ihn entweder einsperren 
lassen oder immer an meiner Seite behalten müssen." 

Napoleon hat aber keine der drei Möglichkeiten: Füsilieren, Einsper- 
ren oder Kaptivieren angewendet. Aus Napoleons eigenem Munde hören 
wir hier die Frage, die unser Problem bildet: „Warum habe ich ihn nicht 
füsilieren lassen?" 

"Während der 100 Tage stand Talleyrands Name nicht auf der Liste der 
Amnestierten, die Napoleon in Lyon bekanntgegeben hatte. Sein gesamter 
Besitz in Frankreich wurde sequestriert. Zugleich sandte der Kaiser Montroud, 
den früheren Vertrauten Talleyrands, nach Wien zum Fürsten, um ihn auf 
seine Seite zu ziehen. Vergebens. Talleyrand wurde auch der erste Premier 
der zweiten Restauration. Nach "Waterloo schreibt Talleyrand einer Freundin: 

„Er ist in Cherbourg, wo er sich einschiffen will. Ich hoffe, die Engländer 
fangen ihn. Er nimmt sehr viel Geld mit. Man sagt, er ginge nach Amerika. 
Er endet, wie es sein Charakter verdiente. In einer Kloake von Blut 
schließt seine Laufbahn." 

Und als Napoleon stirbt und eine Freundin ausruft: „Ein Ereignis", korri- 
giert Talleyrand: „Eine Nachricht, Madame, kein Ereignis." Was ihn aber 
nicht hindert, einige Jahre später in seinen Memoiren zu schreiben: „Ich liebte 
Napoleon." Die Einstellung Talleyrands zu Napoleon war genau so ambi- 
valent wie die Napoleons zu Talleyrand. 



56 Edmund Bergler 



Die Frage, die Napoleon selbst aufwarf: Warum habe ich Talleyrand nicht 
füsilieren lassen? ist nur verständlich, wenn man die unbewußte Struktur Bona- 
partes verstanden hat. 

Ich beziehe mich dabei auf eine psychoanalytische Arbeit von Ludwig 
Jekels („Der Wendepunkt im Leben Napoleons des L", Imago 1914), eine 
der schönsten, inhaltsreichsten und überzeugendsten Arbeiten aus dem Ge- 
biete der Anwendung der Psychoanalyse auf die Biographik. Jekels be- 
schäftigt sich mit der „korsischen Periode" Napoleons. Es ist unmöglich, den 
ganzen Inhalt der 68 Seiten der Arbeit in kurzen Worten wiederzugeben, be- 
züglich der Einzelheiten muß auf das Original verwiesen werden. 

Der Hauptgedankengang ist folgender: Napoleon war in seiner 
Jugend ein begeisterter korsischer Patriot und ein ebenso er- 
bitterter Gegner der Franzosen. Den Führer der korsischen Freiheits- 
bewegung Paoli verehrte Napoleon wie ein höheres Wesen. Plötzlich wendet 
sich aber Napoleon von Paoli ab, bezeichnet ihn als Verräter, aus dem erbitter- 
ten Franzosenhasser wird ein begeisterter Franzose. Dabei war die Tatsache 
des Bruches mit Paoli keine belanglose Familienfeindschaft, sondern „derjenige 
psychologische Moment, in welchem der Napoleon geboren und geformt 
wurde, wie wir ihn aus der Geschichte kennen, der durch zwei Jahrzehnte die 
Welt in Atem hielt, sie in Unruhe und Schrecken versetzte". Die Frage, 
die Jekels stellt • — die zünftigen Biographen versagten bei dieser Fragestel- 
lung genau so wie bei unserer — lautet: Was waren die Motive dieses Um- 
schwungs? 

Schon der neunjährige Napoleon machte seinem Vater, der ursprünglich mit 
Paoli gegen Frankreich gekämpft, dann nach Paolis Niederlage sich der fran- 
zösischen Verwaltung unter dem Gouverneur Marbeuf angebiedert hatte, 
aus diesem Verhalten einen Vorwurf: „Paoli war ein großer Mann, er liebte 
sein Vaterland, und ich werde niemals meinem Vater, der sein Adjutant 
war, verzeihen, daß er behilflich war, Korsika mit Frankreich zu 
vereinigen. Er hätte seinem Schicksale folgen und mit jenem zusammen 
unterliegen sollen" (mitgeteilt bei Cos ton). Der Vorwurf „II a concouru ä la 
reunion" wird fünfzehn Jahre später an Paoli, der sich mit England gegen die 
französische Republik verbündet, in seiner konträren Bedeutung gerichtet: „H 
a soustrait ä la reunion." Seinem Geschichtslehrer de l'Eguille sagte der Konsul: 

„Von allen Ihren Lektionen war es die über die Revolution des Connetable de Bourbon, 
die mir den größten Eindruck gemacht hat. Aber Sie hatten unrecht, mir zu sagen, sein 
größtes Verbrechen sei es gewesen, daß er seinem König den Krieg gemacht hat, sein wirk- 
liches Verbrechen war, daß er herausgerückt ist, um das Vaterland mit Fremden 
anzugreifen (attaquer la patrie avec les etrangers)." 

Der Konflikt mit Paoli kann also auf zwei Formeln zurückgeführt werden: 



/ 



„attaquer la pafrie avec les dtrangers", 
,, il a concouru ä la reunion de la Corse ä la France". 
Mit anderen "Worten: "Was bedeutet in den obigen Aussprüchen patrie (re- 
spektive Korsika) und France (respektive les etrangers)} Ergebnisse von Ana- 
lysen führen zur Annahme, daß das "Vaterland eine vorgeschobene Vorstellung 
für die Mutter ist und die Liebe zum "Vaterlande eigentlich die Liebe zur 
Mutter bedeutet. Diese gegenseitige Valenz: Vaterland-Mutter war den Alten 
bekannt, denn wir lesen bei Herodot (übersetzt von Lange, IL Teil, VI. Buch, 
Erato 107): 

„Die Barbaren aber führte Hippias nach Marathon, nachdem er in der vergangenen 
Nacht folgendes Traumgesicht gehabt: Es deuchte dem Hippias, er schliefe bei seiner 
eigenen Mutter. Aus diesem Traum schloß er nun, er würde heimkommen nach Athen 
und seine Herrschaft wieder erlangen und in seinem Vaterlande sterben in seinen 
alten Tagen." 

"Weitere Belege für die Tatsache, daß die Vorstellung Vaterland die 
gleiche unbewußte Bedeutung und somit dieselbe affektive Quelle hat 
wie die Vorstellung Erde, deren Mutterbedeutung bereits ein psycho- 
analytischer Gemeinplatz ist, beweisen etwa folgende Stellen: Sueton er- 
zählt c. 7.: 

„Selbst wegen eines Traumes in der folgenden Nacht, der ihn (Julius Cäsar) beunruhigte 
— dennn er träumte, er habe seine Mutter beschlafen — machten die Traumdeuter 
ihm Mut zu den größten Hoffnungen, sie gaben nämlich die Auslegung, als sei es ein Vor- 
zeichen seiner Herrschaft über den Erdkreis, denn die Mutter, die er habe unter sich 
liegen sehen, sei niemand anders als die Erde, die Allmutter." Ferner spricht das 
bekannte Tarquinius-Orakel im selben Sinne. Bei Liviusl. LXI. heißt es: Demjenigen 
werde die Herrschaft Roms zufallen, der zuerst die Mutter küsse (osculum matri 
tulerit) v/is Brutus als Hinweis auf die Mutter Erde auffaßte (terram osculo contigit, 
scilicet quod ea communis mater otnnium mortalium esset). 

In Napoleons Pubertätsschriften (es gibt deren eine ganze Reihe) werden 
Vaterland und Mutter häufig gleichgesetzt. Zum Beispiel: „Athen sei ihm 
(dem Sohn Cimons) immer seine Mutter und sein Vaterland" (Sur 
l'amour de la patrie). Oder: „Das Gefühl sei dasjenige, was den Sohn mit 
der Mutter, den Bürger mit dem Vaterland vereinigt" (Discours de 
Lyon). In einem Briefe Napoleons an Buttafuoco heißt es: „"Wie denn, Sohn 
derselben Patrie, empfinden Sie nie etwas für sie? Blieb ihr Herz unbewegt 
beim Anblick der Felsen, der Bäume, der Häuser, der Gegenden — der Bühne 
Ihrer kindlichen Spiele. Als Sie zur "Welt kamen, trug sie Sie an ihrem 
Busen und nährte Sie von ihren Früchten, als Sie in das Alter der Vernunft 
traten, waren Sie ihre ganze Hoffnung, sie schenkte Ihnen ihr Vertrauen. Sie 
sagte Ihnen: mein Sohn, du siehst, in welch elendem Zustande..." 

Fünf Tage nach seinem ersten sexuellen Erlebnis, worüber Napoleon genau 



58 Edmund Bergler 



im „Rencontre au Palais Royal" berichtet (z. B. bis zur Naivität, die Dirne zu 
fragen, was beide im Zimmer Napoleons machen würden: 

Dirne: Kommen Sie, wir gehen zu Ihnen nach Hause, mein Herr. 

Napoleon: Und was wollen wir da machen? 

Dirne: Nun, wir wärmen uns und Sie . . .), verfaßte Napoleon einen Monolog 
über die Vaterlandsliebe, der an eine nicht genannte Dame gerichtet ist. „Sollte 
Napoleon" — fragt G. Kircheisen, also eine analytisch gewiß nicht infizierte 
Biographin — „naiv genug gewesen sein und mit der Anonymen die Schöne 
des Palais Royal im Auge gehabt haben? Möglich wäre es." — 

All das führt zu Napoleons starker Fixierung an seine Mutter. 
Im Bewußten spiegelt sich dies lediglich in einer Überzärtlichkeit. ,,Sa premiere 
pensde est pour eile", sagt der Napoleon-Biograph Masson. Um so deutHcher 
prägt sich der Einfluß der Mutterbindung im Liebesleben Napoleons aus: er 
kann nur lieben und heiraten in tunlichster Anlehnung an die 
Mutter. In Napoleons Liebesleben spielt die „Bedingung der älteren 
Frau" eine entscheidende Rolle. So macht er, nachdem seine Heiratspläne 
mit Desiree Eugenie Clary, seiner Schwägerin, wahrscheinlich aus eben diesem 
Grunde gescheitert sind, einigen älteren Frauen einen Heiratsantrag: der Frau 
Permon, einer "Witwe mit zwei Kindern und der Freundin seiner Mutter, dann 
der gleichfalls bedeutend älteren Madame de la Boucharderie, um sich ein Jahr 
später in Josephine de Beauharnais zu verlieben, die er trotz ihres schlechten 
Rufes, ihrer zwei Kinder, ihres Alters (Josephine war 9 Jahre älter) bedenken- 
los heiratet. 

Es kommt nun darauf an, für den Affektwert des Elementes „la France" 
respektive „Stranger" die ursprüngliche Quelle aufzudecken und diesen Affekt 
gleichfalls auf konkrete "Wurzeln zurückzuführen; mit anderen "Worten, es 
muß in Napoleons Jugend jemand „französischen" gegeben 
haben, von dem das Kind annahm, daß er sich unter Beihilfe des 
Vaters mit der Mutter vereinige, das heißt, von dem er meinte, daß 
er mit der Mutter sexuelle Beziehungen unterhalte. Dieser Mann war der 
Gouverneur von Korsika und Generalleutnant der französischen Okkupations- 
truppen, Graf Louis Charles Rene de Marbeuf. Der Gouverneur nahm sich 
der Familie Napoleons sehr an, verschaffte dem Vater eine Stellung, einige 
Brüder Napoleons und er selbst erhalten Freiplätze in königlichen Schulen, 
der Gouverneur verpflichtet seinen Bruder, den Bischof von Autun (später 
Erzbischof von Lyon) zur Hilfeleistung. Diese Protektion des Gouverneurs 
führte dazu, daß Laetitia in Ajaccio beschuldigt wurde, mit Marbeuf sexuelle 
Beziehungen unterhalten zu haben,^^ wobei es für den unbewußten Effekt bei 

16) Die moralisierend-empörte Bestreitung dieser Beziehung durch die Napoleon-Bio- 
graphen (z. B. Masson, Kircheisen usw.) spricht nicht dagegen; daß man auf Korsika 



Napoleon und Talleyrand 59 



Napoleon gleichgültig ist, ob diese Beziehungen wirklich bestanden haben. Als 
Tatsache kann angenommen werden, daß der kleine Napoleon ebenso wie 
seine Umgebung genügende Anhaltspunkte fand, um an ein von seinem 
Vater toleriertes oder gar unterstütztes Verhältnis seiner 
Mutter mit Marbeuf zu glauben, zumindestens aber, um eine Phantasie 
zu bilden, die für das Unbewußte vollen Realitätswert besitzt. Und daß dies 
tatsächlich der Fall war und daß dies der tiefere Sinn des gegen den Vater ge- 
richteten Vorwurfes war, „er habe dazu beigetragen, Korsika mit Frankreich 
zu vereinigen", wie für die Gleichsetzung Vater = Marbeuf, dafür spricht noch 
eine Äußerung Napoleons, als er nach achtjähriger Abwesenheit in Frankreich 
zu seinem ersten Urlaub nach Korsika zurückkehrt: „Meinem Glücke 
fehlten damals nur zwei teuere Menschen: mein Vater und der 
Graf Marbeuf, den wir am 20. September (fünf Tage vor der Ankunft 
Napoleons) verloren haben und den meine Famihe lange betrauerte." Durch 
die Zusammenstellung von Marbeuf mit dem Vater ergibt sich, daß der an den 
Connetable von Bourbon gerichtete Vorwurf sich vollinhaltlich mit dem Vor- 
wurf an den Vater deckt. Und so erklärt sich die bekannte Stelle in ,,Sur le 
suicide" (in dem Napoleon daran denkt, sich das Leben zu nehmen, „weil 
seine Kompatrioten in Ketten zitternd die sie bedrohende Hand küssen"), an 
welcher Napoleon ausruft: „Franzosen! Nicht zufrieden damit, daß ihr 
uns alles geraubt, was wir geliebt haben, habt ihr auch noch 
unsere Sitten verdorben..." 

Offenbar ist es eine Folge dieser Sexualphantasien Napoleons, daß in seinem 
Sexualleben die Vorstellung des Mißbrauches einer Ehe seitens Dritter mit 
einem so mächtigen Affektbetrag besetzt war, daß sie ihm als ein schweres 
Vergehen, als große Schuld gilt. Schließlich wird diese Phantasie geradezu 
bestimmend für Napoleons Einstellung zum "Weibe. Sie schafft die Liebes- 
bedingung der Untreue und Lasterhaftigkeit des Weibes; die geliebte 
Frau muß untreu sein, so wie die Mutter es war. Besonders deutlich 
ist dies in Napoleons Verhalten zu Josephine sichtbar. Kaum daß er mit der 
schönen Kreolin — in die er sich trotz (aber eigentlich wegen) all der 
Liebesbeziehungen, die man ihr in der ersten Ehe nachsagte und obwohl 
(das heißt weil) sie die Mätresse von Barras (dem Führer des Direktoriums) 
gewesen, heftig verliebte und sie bedenkenlos heiratete — getraut war, muß 
er sie verlassen, um als neuernannter Oberkommandant zur italienischen 
Armee zu stoßen. Von Mailand aus schreibt er stürmische Briefe, die Jose- 
phine gar nicht beantwortete, da sagt Napoleon zu Marmont: „Meine Frau 

daran glaubte, beweist eine Stelle aus der Achts-Erklärung der Bonapartes durch Paoli: 
„Die im Schmutze des Despotismus geborenen, unter den Augen und auf Kosten eines an 
Luxus gewöhnten Paschas (Marbeuf) . . . aufgewachsenen Bonapartes." 



[ 



6o Napoleon und Talleyrand 



ist entweder krank oder — untreu." Bald darauf kommt Josephine nach 
Mailand und betrügt ihn mit einem unbedeutenden Offizier namens Charles. 
Obwohl Napoleon über dieses Verhältnis genau unterrichtet war — als er 
z. B. als Sieger nach Mailand zurückkommt, weilt Josephine mit Charles in 
Genua, da ist er eine Nacht verstört, klammert sich aber an eine ganz un- 
zureichende Ausrede von ihr, um ihr schon am nächsten Tage zu verzeihen 
und schließt einen Brief an sie wie folgt: „Ich öffne noch einmal meinen Brief, 
um Dir einen Kuß zu geben ... oh Josephine, Josephine!" — begnügt er sich 
damit, seinen Nebenbuhler unter einem Vorwande aus der Offiziersliste 
streichen zu lassen. Einen Wandel in seinen Gefühlen hatte diese Untreue 
Josephines nicht zur Folge. Während des ägyptischen Feldzuges — zwei Jahre 
später — richtet sich Josephine mit ebendemselben Charles ein Idyll in Mal- 
maison ein, da klagt Napoleon darüber, läßt sich aber nach seiner Rückkehr 
durch Josephinens Kinder erweichen und verzeiht Josephine. Und daß er so- 
gar ganz kurz darauf dasselbe Malmaison, den Schauplatz des an ihm 
begangenen krassen Betruges, zu seinem Lieblingsaufenthalt 
wählt, mag darauf hindeuten, wie glatt er über dieses, für andere oft so tra- 
gische Erlebnis hinweggegangen ist. Auch an seinem ferneren Zusammen- 
leben mit Josephine bekundet gar nichts, daß die Untreue irgendwelchen 
tieferen Schatten auf sein Empfinden zu ihr geworfen hätte. Es ist wahr- 
scheinlich, daß die von Napoleon geprägte Ansicht: „l'adultire n'est pas un 
phenomene, mais une af faire de canape, il est tout commun" nichts anderes ist 
als ein Versuch, um die im Unbewußten lustbetonte und geradezu gesuchte 
Vorstellung durch Herabsetzung ihrer Tragweite und ihre Verallgemeinerung 
auch für das Bewußtsein, mit dem sie recht inkompatibel ist, erträglich zu 
machen und so einem Konflikt vorzubeugen. 

Die unbewußte Forderung der Untreue galt bei Napoleon bloß der Frau 
gegenüber, die er liebte; wo sein Herz nicht oder nur ein wenig engagiert war, 
verlangte er von der Frau unnachsichtig Treue und Makellosigkeit. So ver- 
weist er Marie Luise strenge, daß sie Combac^res im Bette liegend empfangen 
hatte. Er verschloß selbst der Geliebten eines seiner Intimsten, Berthier, der 
Madame Visconti, den Hof, ebensowenig durfte Talleyrands Frau bei Hofe 
erscheinen, nur weil sie vor ihrer Ehe die Geliebte ihres späteren Mannes war. 
Madame TalHen, seine frühere Protektorin, wird aus ähnlichen Gründen noch 
strenger behandelt. Und seinem Bruder Lucien verzeiht er nie, daß er eine 
Frau — Madame Jouberthou — geheiratet, die ihm vor der Ehe ein Kind ge- 
schenkt hat, und verlangt beharrlich die Trennung dieser Ehe. 

Aber auch ein von diesem Dirnen- (Untreue-) Komplex unzertrennlicher 
Bestandteil desselben, nämlich die Verachtung der geliebten, untreuen Frau 
findet sich bei Napoleon — und zwar gleichfalls verschoben — in starker Aus- 



Napoleon und Talleyrand Qi 



prägung. Napoleon hat ja auch als Frauenverächter eine gewisse Berühmtheit 
erlangt, und er war es nicht nur Frauen gegenüber, deren Leben nicht ein- 
wandfrei war, sondern auch solchen, deren Konduite eine tadellose war. „Nur 
gegen eine war er schwach", meint Kircheisen, „gegen Josephine". 

Dieser Einstellung zur Mutter entsprach Napoleons Vaterbeziehung. So 
finden sämtliche Biographen Napoleons Brief, den er anläßlich des Todes 
seines Vaters an seine Mutter und den Onkel Luzian schreibt und der wenig 
Zärtlichkeit verrät, auffallend. Und noch 17 Jahre später sehen wir Spuren 
dieser Einstellung, als im Jahre 1802 der erste Konsul das Ersuchen und den 
Beschluß des Munizipalrates von Montpellier zurückweist, seinem auf der 
Durchreise in dieser Stadt verstorbenen Vater Charles, „dem die Welt den 
großen Sohn verdankt", ein Denkmal stellen zu dürfen. Er tut es mit nach- 
folgender seichten Begründung: „Lassen wir das, stören wir nicht den Frieden 
der Toten, lassen wir ihre Asche in Ruhe. Ich verlor doch auch meinen Groß- 
vater, meinen Urgroßvater, warum tat man nichts für diese? Das führt zu 
weit." Derselbe Grund der Ablehnung des Vaters ist es offenbar auch, der 
Louis Bonaparte die Leiche des Vaters ohne Wissen des Kaisers exhumieren 
und nach St. Lien bringen läßt, wo er ihm ein Grabmal setzt. 

Indessen nicht minder groß wie die Ablehnung, ist auch seine 
Liebe für den Vater, sie ist so intensiv, daß sie ihn stellenweise dahinbringt, 
sein psychisches Ich aufzugeben, um sich ganz eins mit dem Vater zu fühlen, 
sich mit ihm zu identifizieren. Und wer sehen will, wie sehr Napoleon sich 
als Vater seiner Geschwister fühlt, der lese z.B. die Briefe, die der 15jährige 
in Angelegenheit seines älteren Bruders Joseph an Vater und Onkel schreibt. 
Er sorgt sich und befiehlt auch später seiner ganzen Familie wie ein tyranni- 
scher und doch, wenn auch ambivalent, liebender Vater. 

Die ganze Ambivalenz Napoleons finden wir auch in seinem Verhalten zu 
den Personen der Vaterreihe, in die außer Charles Bonaparte, Marbeuf," 
Paoli und — last not hast — der König gehören. 

„Es gibt nur äußerst wenige unter ihnen (den Königen), die es 
nicht verdient hätten, abgesetzt zu werden", notiert der revolutio- 
näre Republikaner Napoleon in seiner „Dissertation sur l'autoritd royale". 
Oder im „Discours de Lyon": „Man weiß zur Genüge, wie die Könige immer 

17) Napoleon ist Marbeuf gegenüber nicht bloß von dem analytisch erschlossenen Haß 
erfüllt. Es mangelt nicht an Anzeichen einer gewissen Anhänglichkeit. Der Ausspruch 
Napoleons „Meinem Glück fehlten damals nur zwei teuere Menschen: mein Vater und 
der Graf Marbeuf . . .", wurde bereits zitiert. Es sei ferner darauf verwiesen, daß Napoleon, 
der m seinen Jugendschriften so schonungslos gegen die Korsika vor der Autonomiever- 
leihung verwaltenden französischen Generäle ins Feld zieht, niemals unter denselben 
Marbeufs Erwähnung tat und sich mit der Nennung anderer begnügt, obwohl gerade 
Marbeuf auf einer öffentlichen Gedenktafel als „Tyrann des stöhnenden Korsika" bezeichnet 
wurde. 



62 Edmund Bergler 



egoistisch waren, sie glaubten, in ihnen wäre ihr Volk, ihre Nation" usw. — 
Einen noch deutlicheren Hinweis auf die Beschaffenheit dieses Königshasses 
findet man im Traktat ,,Sur l'amour de la fatrie", wo der Syrakusaner Dion 
als Muster einer wahren und echten Vaterlandsliebe angeführt wird: „Dion 
besaß ein großes Vermögen, war von vornehmem Geschlecht und genoß eine 
verdiente Hochachtung. Was fehlte ihm denn zu seinem Glücke? Ihr schwäch- 
lichen Seelen, ihr könnt nicht erraten und ihr wagt zu sprechen? Sein Vater- 
land ist Sklave eines Tyrannen, den er liebt und achtet, aber doch 
eines Tyrannen." Bezeichnenderweise ist dieser Passus, offenbar weil Na- 
poleon selbst die Analogie zu seiner eigenen erweiterten Vaterbeziehung zu 
deutlich war, im Manuskript ohne jede Nötigung gestrichen. 

Napoleon stellte sich zum König ebenso ambivalent wie zum Vater 
undMarbeuf, er war bloß mit halber Seele Revolutionär und Königsstürzer, 
mit der anderen aber der Revolution abhold und dem König geneigt. Es gibt 
eine Reihe von Aussprüchen Napoleons, in welchen er die Revolutionäre als 
Pöbel beschimpft und die Partei des Königs ergreift. Als am lo. August 1792 
Napoleon sieht, wie die Revolutionäre, die in die Tuilerien eingedrungen waren, 
dem Könige eine Jakobinermütze aufsetzten, sagt er zu Bourienne: „Wie 
konnte man diesen Vorstadtpöbel einlassen! Man hätte vierhundert bis fünf- 
hundert mit Kanonen wegfegen sollen und der Rest hätte das Weite gesucht." 
Noch deutlicher aber äußert er seine Stellungnahme für den König, als er am 
IG. August die niedergemetzelten Schweizer sieht.^^ Da erklärt Napoleon: 
„Ich fühle, daß, wenn man mich gerufen hätte, ich den König verteidigt haben 
würde." 

Trotzdem ist es unverkennbar, daß die Revolution die negative Kom- 
ponente seiner ambivalenten Einstellung zum Vater zur mächtig- 
sten Entfaltung gebracht hat. Steht doch während der Revolutionsjahre der 
König fortwährend im Verdachte, fremde Mächte zu Hilfe zu rufen und mit 
ihnen das Vaterland angreifen zu wollen. Somit will ja auch Ludwig XVI. — 
genau so wie in der Phantasie der Vater Bonaparte — die Mutter den Frem- 
den ausliefern. Das bestimmt zutiefst seine Haltung zu Paoli. Doch erst 
nachdem der König am 18. Jänner 1793 zum Tode verurteilt und 
am ZI. hingerichtet wurde, da erst äußert sich bei Napoleon der 
Anschluß an Frankreich in entschiedener, unzweideutiger und 
unwiderruflicher Weise. Nun erst, nachdem der Vater, der verhaßte 
Anstifter all des Unheils, der ihn am Besitze der Mutter gehindert, sie aber 
trotzdem mit Fremden geteilt hat, sein Verbrechen mit seinem Kopfe gesühnt 

1 8) Auf St. Helena sagte Napoleon, daß der Anblick der getöteten Schweizer ihn mehr 
erschüttert hätte als der Anblick aller seiner späteren — im Vergleich damit gigantischen — 
Schlachtfelder. 



Napoleon und Talleyrand 63 



hat, erst da sehen wir Napoleon sich entschieden Frankreich zuwenden. Denn 
durch die Tötung des Königs ist ja der wesentHche Teil seiner ödipusphantasie 
erfüllt worden und da ist es ja nur selbstverständlich, daß er — durch den 
Anschluß an Frankreich — die freigewordene Mutter in Besitz nimmt und so 
diese symbolische Realisierung zu einer vollständigen macht. Überdies ist 
aber diese Akzeptierung des vom Vater geschaffenen Sachverhalts auch die 
Identifizierung mit dem Vater, somit auch Ausdruck der Liebe. Sie erfolgt 
aber zugleich aus einem, nach Stillung des Hasses sich regenden Schuldgefühl^' 
und ist auch eine Sühne und Bußhandlung. Und schließlich dürfte auch die 
Identifikation Napoleons mit Marbeuf dieselbe mitbestimmt haben. Und so 
wird auch Frankreich — das bisnun für Napoleon Marbeuf und die Preis- 
gebung der Mutter an denselben bedeutet hat — zum Symbol der Mutter 
selbst, zur mere patrie, die er lieben und verteidigen wird. 

Die einzelnen Phasen der Beziehung Paoli-Napoleon müssen im Original 
nachgelesen werden; wichtig ist aber, daß Saliceti — dem sich Napoleon an- 
schloß — als einziger korsischer Abgeordneter für die Hinrichtung des Königs 
gestimmt hat, während Paoli den Königsmord ausdrückHch ablehnte. Nach 
Beseitigung des Vaters (Königs) hat sich Napoleon mit ihm identifiziert, sich 
selbst zum Vater gemacht, wofür wohl seine Akzeptierung des politischen 
Programms des Vaters (der mit Marbeuf verbundenen Mutter) spricht, und 
da ist es erklärlich, daß er auch die letzte Vater-Imago, Paoli beseitigen wollte. 
Überdies muß er, ebenso zufolge dieser Identifizierung, das Vorgehen des 
Vaters gegenüber Paoli wiederholen, denn Charles hatte ja, nachdem er durch 
viele Jahre an der Seite Paolis in treuer Anhängerschaft gestanden, denselben 
dann gegen Ende des Unabhängigkeitskrieges gleichfalls verlassen und sich den 
Franzosen zugewendet, so daß Napoleon seinen Vater darin geradezu imitiert. 

Auch die ganze wohl rationalisierte England-Politik Napoleons (die Eng- 
länder wurden ihm geradezu zum Schreckgespenst) erhält von hier aus eine 
affektive Fundierung. In seiner Jugend war Napoleon durchaus englandfreund- 
lich, hatte ja England den Flüchtling Paoli aufgenommen und ihm sogar eine 
Pension zugebilligt. In der „Nouvelle de Corse", in der alle Franzosen, nur 
deshalb, weil sie Franzosen sind, getötet werden, rettet sich ein Mann das 



19) In seinen Memoiren berichtet der Kanzler Pasquier: Bonaparte, anfangs ... an 

Paoli attachiert, zögerte nicht, sich von ihm zu trennen... Es war dies bei der Nach- 
richt von der Verurteilung Ludwigs XVI., daß er diese Partei nahm. Ich habe 
das Faktum von Herrn Semonville, der damals als Kommissar der französischen Regierung 
sich in Korsika aufhielt." Bonaparte weckte ihn bei Nacht. „Herr Kommissar", sprach er, 
„ich habe gut unsere Lage erwogen, man will hier eine Torheit begehen; der Konvent 
hat zweifellos ein großes Verbrechen begangen, und ich beklage es 
mehr denn jemand, aber Korsika muß, was auch kommen mag, mit Frankreich ver- 
einigt sein." 



Qa Edmund Bergler 



Leben, indem er sich als Engländer ausgibt. Als Paoli sich von Frankreich ab- 
wandte und mit England paktierte (dem er Korsika später tatsächlich aus- 
lieferte), ergab sich für Napoleon unbewußt die alte Konfliktssituation: 
gedenkt doch Paoli das große Verbrechen, das seinerzeit Charles Bonaparte 
begangen hatte und mit dem sich Napoleon kaum eben, und zwar um den 
Preis eines schweren Opfers abgefunden hatte, zu wiederholen. Durch diesen 
restlosen Zusammenbruch der Liebe zum Vater ergab sich für Napoleon die 
extremste Negation des Vaters, gegen den er von nun an einen unauf- 
hörlichen, schonungs- und erbarmungslosen Kampf führen sollte. 

Von nun ab soll in Napoleons Brust das unstillbare Verlangen 
nach dem Besitz der Mutter nie mehr zur Ruhe gelangen und der 
gewaltige Kampf um sie mit dem Vater bildet wohl das gewal- 
tigste Epos der Menschheitsgeschichte. Korsika wird völlig entwertet 
(er verbietet seiner Mutter, korsisch mit ihm zu sprechen) und nun beginnt eine 
nimmermüde und nimmersatte Suche nach Ersatz, auf der seine von Heiß- 
hunger gequälte Phantasie gierig ein Land nach dem anderen begehrt, derart 
eine schier endlose Reihe von Surrogaten bildend, die jedoch als 
solche seine Gier nie auch nur annähernd zu befriedigen vermögen. Er tränkt 
auf dieser Suche die Länder in Blut, versetzt die Welt in Schrecken, verändert 
das Antlitz Europas; umsonst, all das kann seinen Hunger nicht stillen . . . 
Und als Kaiser bescheidet er sich ebensowenig mit der „Mätresse", die ihm 
nach seinem eigenen Ausspruche Frankreich bedeutet, will „Herr des Uni- 
versums" sein — und dies alles getrieben von einer kaum dagewesenen Gewalt 
des inzestuösen Verlangens nach der Mutter und einem schrankenlosen Trotz 
gegen den Vater, wie er in der Menschheitsgeschichte ganz vereinzelt dasteht! 
Es hieße hier die ganze Geschichte des napoleonischen Zeitalters rekapitulieren-, 
wollte man den Haß und Trotz, den Napoleon, bei dieser nie rastenden Suche 
nach der Mutter, seiner Vater-Imago — den unterschiedlichsten Herr- 
schern Europas — entgegenbrachte, im Detail nachweisen. Nur summa- 
risch möge daran erinnert werden, wie er sich zu Kaiser Franz von Österreich, 
König Friedrich Wilhelm IIL von Preußen, zu den Königen von Spanien, Por- 
tugal, Neapel, zu den deutschen Königen und den Bundesfürsten und nicht 
zuletzt zum Papst PiusVIL gestellt, wie er sie provoziert und die Besiegten 
drangsaliert, gedemütigt, herabgesetzt und erniedrigt und die Abhängigkeit 
von ihm hat fühlen lassen. Aber keine Dynastie hat er auch nur annähernd 
mit dem gleichen Hasse behandelt wie die Bourbons, deren ahnungs- und 
schuldlosen Sprossen, den Prinzen d'Enghien, er zum Entsetzen aller Welt füsi- 
lieren läßt, um sich zwei Monate später die Kaiserkrone aufzusetzen. 



Napoleon und Talleyrand 



Nun, da wir durch Jekels meisterhafte analytische Schilderung der unbe- 
wußten Struktur Napoleons^» unterrichtet sind und aus dem ersten Abschnitt 
die historischen Tatsachen der Talleyrand-Epoche kennen, wollen wir an die 
Frage herangehen: Was bedeutete Talleyrand für das Unbewußte 
Napoleons ? Denn mit dieser einzigen Frage steht und fällt die einzige Mög- 
lichkeit, das so undurchsichtige Konvolut der Beziehung Talleyrand-Napoleon 
zu entwirren. 

In einer matten und sonst bedeutungslosen Arbeit über Talleyrand aus dem 
Jahre 1870 sagt Sainte-Beuve das erstaunliche Wort: ,, Monsieur de Talley- 
rand est un sujet des plus compliques, il y avait plusieurs hommes en lui" (S. 39). 
Dieses als Apercu ausgesprochene Wort ist richtig und ist vor allem in Talley- 
rands Beziehung zu Napoleon reversibel: für Napoleon waren in Talleyrand 
„plusieurs hommes". Und zwar: 

I. Talleyrand (= Marbeuf), der geliebte Gönner 

Talleyrand tritt Napoleon vorerst als Grandseigneur entgegen, der Napoleon 
imponiert.^^ Dieses Minderwertigkeitsgefühl versucht der General sofort zu 
kompensieren, indem er Talleyrand vorhält: „Sie sind ein Neffe des Erz- 
bischofs von Reims, der sich jetzt bei Ludwig XVIII. befindet. Ich habe auch 
einen Oheim, der Erzdiakon von Korsika ist und der mich erzogen hat. Sie 
wissen, ein dortiger Erzdiakon ist so viel wie ein Bischof von Frankreich" 
(Talleyrand, Memoiren I., S. 202). Der Ausspruch ist für das spätere ambi- 
valente Verhalten Napoleons typisch: im ersten Satz eine Aggression (der Vor- 
wurf des Zusammenhangs mit den verhaßten Emigranten), im zweiten eine 
Schmeichelei in der Form: wir sind beide große Herren. 

Talleyrand tritt also in die Reihe der Vater-Imagines ein (Charles 
Bonaparte, Marbeuf, Paoli, Ludwig XVI. usw.). Daß Talleyrand in dieser 
Schichte Napoleon vorerst unbewußt an Marbeuf erinnert haben mag, dafür 
spricht die Tatsache, daß Napoleon bis zu diesem Zeitpunkt niemals mit einem 
Altadeligen, außer mit Marbeuf, Umgang hatte. Auch war Talleyrand 1 5 Jahre 
älter und „protegierte" Napoleon. Dazu kommt noch folgendes sonderbare 
Detail: Der erste französische Ort, in welchem Napoleon als 9 V2 jähriger Knabe 
längere Zeit verweilte, war Au tun. Dasselbe Autun,^^ dessen Bischof 

20) Ich wüßte keinen einzigen Einwand gegen Jekels Arbeit vorzubringen, es sei 
denn das Detail, ob nicht Napoleons alter Haß gegen Frankreich auf einem Umwege über 
die Leiden, die er als Kaiser dem französischen Volke zufügte — Frankreich bezahlte die 
Gloire mit drei Millionen Toten — sich doch auslebte. Jekels Arbeit, vor 20 Jahren ent- 
standen, ist heute noch so jugendfrisch wie bei ihrem Entstehen. 

21) Es ist bekannt, daß gute Manieren Napoleon maßlos imponiert haben, obwohl er 
sie bewußt zeitweise verachtete. So nahm er z. B. beim Schauspieler Talma Lektionen. 
H. Bahr hat diese Episode lustig in seiner Komödie „Josephine" verulkt. 

22) Dieser Zusammenhang, der meines "Wissens bisher nirgends aufgezeigt wurde, hat zur 
Bergle"- Talleyrand -Napoleon -Stendhal - Grabbe 5 



gg Edmund Bergler 



Talleyrand war. Dasselbe Autun endlich, in welchem Marbeufs 
Bruder ebenfalls Bischof gewesen war. Da ist es nicht weiter verwunder- 
lich, daß diese unbewußte Identifizierung auch auf Grund dieser Äußerlich- 
keiten vorgenommen wurde. Die Identifizierungsreihe geht also über 
Archidiakon Lucian, die Brüder Marbeuf (den Gouverneur und den 
Bischof ),23 über Joseph zu Talleyrand. In Napoleons Familie gab es ja 
selbst zwei entlaufene Priester: Joseph und den Onkel Fesch (einen 
Bruder Laetitias), der nach der Flucht der Bonapartes aus Korsika m Marseille 
Kriegslieferant wird. („Der geistliche Onkel legt die Kutte ab und macht Ge- 
schäfte, man kommt in die Seidenbranche", Ludwig, 5.37-) Auch da also 
ein Verbindungsweg zu Talleyrand. 

Erleichtert wird diese günstige Beziehung endlich durch eine starke homo- 
sexuelle Bindung Talleyrands an Napoleon: Talleyrand wollte ursprünglich 
Offizier werden, konnte dies aber nicht wegen seines Klumpfußes und sah in 
der ersten Zeit in Napoleon einen Teil des eigenen Ichs, das das erreichte, was 
er immer unbewußt wollte: die siegreiche Offizierslaufbahn wie Talleyrands 

Väter. 

Für Napoleon wieder aktivierte die freundschaftliche Beziehung zu Talley- 
rand auch einen Teil der unbewußten homosexuellen Beziehung zu 
Joseph. Wie stark diese war, ersehen wir aus Briefen, die der enttäuschte 
Joseph als König von Neapel an Napoleon schrieb (13. August 1806, zitiert 
nach Kleinschmidt): 

„Niemals wird dieser glorreiche Kaiser für jenen Napoleon entschädigen können, welchen 
ich so sehr geliebt habe und welchen ich, wenn man sich auf den elysäischen Feldern 
wiederfindet, so wiederzufinden wünsche, wie ich ihn vor 20 Jahren gekannt habe." 

Napoleons Antwort lautete (23. August 1806): 

Voraussetzung, daß es in Frankreich nur ein Autun mit einem Bischofssitz gibt. Soweit 
ich dies feststellen konnte (Meyers Lexikon, Larousse: „Nouveau dicnonna.re encyclo- 
p^dique"), liegt eine Verwechslung nicht vor. Napoleon war 3V, Monate in Autun, und 
zwar als 9V,jähriger Knabe, 30. Dezember 1778 bis 21. Apnl i779. »wo er so ange ver- 
weilen sollte, bis er leidlich französisch gelernt hätte" (F. M. Kircheisen) - Es 
existiert ein Brief des ijjährigen Napoleon an seinen Onkel, m welchem sich Napoleon 
dagegen wehrt, daß sein Bruder Joseph, der ursprünglich Priester werden sollte 
und plötzlich seine Begeisterung für die Offizierslaufbahn entdeckte Soldat werde. In 
diesen! Briefe heißt es: „... Seine bischöfliche Gnaden von Autun hatte ihrn 
eine reichliche Pfründe gegeben und er war sicher, Bischof zu werden. 
Somit war Talleyrand der Nachfolger des Bischofs Marbeuf und der von 
Joseph, Napoleons Bruder, wenn er Priester geworden wäre. Der Brief ist abgedruckt 
bei ^3(^encker- Wildberg I, S.45ff- Ein Zusammenhang mit Talleyrand ist dort na- 
türlich nicht hergestellt. - Die Angaben der Biographen, ob der Bischof Marbeuf ein 
Bruder des Gouverneurs oder sein Neffe war, schwanken. Für den hier dargestellten Zu- 
sammenhang ist das belanglos. . , . . , • c 

23) Interessanterweise vereinigt Talleyrand beide Marbeufs in sich: er ist Staatsmann, 
wie der Gouverneur, und Bischof, wie Marbeufs Bruder, der Bischof. 



Napoleon und Talleyrand 67 



„Ich bin betrübt, daß Sie glauben, Ihren Bruder erst in den elysäischen Feldern wieder- 
finden zu können. Es ist ganz einfach, daß er mit 40 Jahrein nicht mehr die- 
selben Gefühle wie mit 12 hat..." 

Ferner ist ein Brief Napoleons an Joseph vom 24. Juni 1795 erhalten, der 
diese homosexuelle Bindung noch deutlicher zeigt: 

„Ich welche Verhältnisse auch das Leben dich stellen möge, du kannst, und du weißt dies, 
mein Freund, keinen besseren Freund als mich haben, keinen, dem du teurer wärest 
und der aufrichtiger dein Glück wünschte. Wenn du abreisest und denkst, es sei für 
einige Zeit, schicke mir dein Bild. Wir haben so viele Jahre zusammengelebt, so enge 
verbunden, daß unsere Herzen sich verschmolzen haben, und du weißt 
besser als jemand, wie das meine dir ganz angehört. Während ich diese Zeilen 
schreibe, fühle ich eine Bewegung, die ich selten in meinem Leben empfun- 
den habe. Ich fühle wohl, daß wir uns so bald nicht wiedersehen werden und kann 
nicht weiter schreiben."^* 

In der ersten Zeit war Talleyrand unleugbar der Protektor Napoleons, or- 
ganisierte mit ihm den iS.Brumaire, half mit Geld, Rat und Tat. Auf diese 
Zeit beziehen sich Talleyrands "Worte: „Ich liebte Napoleon" und Napoleons 
Ausspruch: „Talleyrand hat am meisten dazu beigetragen, unsere Dynastie zu 
etablieren." 



24) Man vergleiche mit diesen von echtem Gefühl erfüllten Zeilen etwa die eisige Kälte, 

mit der der sechzehnjährige Napoleon den Tod seines Vaters in einem Brief an seine Mutter 

behandelt: „ . , „ ,,. 

I^ans, den 28. März 178$. 

Heute, wo die Zeit meinen ersten Schmerzensausbruch etwas beruhigt hat, beeile ich 
mich, Ihnen zu danken für die Güte, die Sie stets für uns gehabt haben. Trösten Sie 
sich, liebe Mutter, die Umstände wollen es. Wir werden unsere Aufmerksamkeit 
und Dankbarkeit verdoppeln und glücklich sein, wenn wir durch unseren Gehorsam Sie ein 
wenig über den Verlust eines geliebten Gatten trösten können. Ich schließe, liebe Mutter. 
Mein Schmerz befiehlt mir, indem ich Sie bitte, sich zu beruhigen. Meine Gesundheit 
ist vorzüglich, und ich bitte alle Tage, daß Ihnen der Himmel ähnliches Wohlergehen 
schenke. Grüßen Sie Tante Gertrude, Großmutter Fesch . . . 

PS. Die Königin von Frankreich ist eines Prinzen genesen, mit Namen 
Herzog der Normandie, am 27. März, 7 Uhr abends. 

Napoleone di Buonaparte. 

Der sonderbare Kondolenzbrief — „Trösten Sie sich... meine Gesundheit ist 
vorzüglich" — ist selbst nicht analytisch Denkenden, z. B. einigen Napoleon-Biographen 
aufgefallen. Das Postskriptum des Briefes mit dem Hinweis auf den Sohn Marie Antoinettes 
enthält möglicherweise eine besonders bissige Anspielung. Bekanntlich galt Marie Antoinette 
als die lasterhafteste Frau Frankreichs. Und zwar auch bei Napoleon, wofür wir einen 
eindeutigen Beweis haben: Zweig berichtet in seinem kürzlich erschienenen Buch über 
Marie Antoinette (S. 333), Napoleon hätte, als Fersen, der Geliebte Marie Antoinettes, im 
Jahre sechs nach dem Tode der Königin die schwedische Regierung auf dem Kongreß von 
Rastatt vertreten sollte, diesen mit der Begründung brüsk abgelehnt, „er verhandle nicht 
mit Fersen, dessen royalistische Gesinnung er kenne und der überdies mit der 
Königin geschlafen habe." 

Möglicherweise ist auch das Postskriptum ein Beweis, daß Napoleon an der Treue der 
Mutter zweifelte, wofür auch die „legislatorische Projektion" (Je k eis) dieser Unsicherheit, 
der Grundsatz des Code Napoleon: ,La recherche de la paterniU est interdiie" sprechen 
würde. 



gg Edmund Bergler 

2. Talleyrand (= Marbeuf), die Vater-Imago, die den Vatermord 
billigt, inspiriert und organisiert 

Ich habe früher (S. 41) darauf hingewiesen, daß in der ersten Zeit Talley- 
rands Bedeutung für Napoleon auch darin bestand, daß er als lebendes 
„Es-ist-erlaubt" dem Konsul die geheimsten Gedanken, die er noch gar 
nicht auszusprechen wagte, als nächstliegende Staatsnotwendigkeit darstellte. 
Talleyrand repräsentiert also in dieser Zeit das gewährende, schuldgefuhls- 
ersparende Über-Ich. So spricht Talleyrand in seinen Briefen an den sieg- 
reichen General Bonaparte suggestiv vom Imperium. Talleyrand schiebt 
Napoleon die Allmacht zu: gibt dem Konsul den Rat, die auswärtigen Affaren 
nur mit ihm zu besprechen usw. Es ist kein Zweifel, daß dies für Napoleon 
eine große Schuldgefühlsentlastung war. Denn Napoleons immer 
waches Strafbedürfnis resultierte ja zutiefst aus dem Ödipuskomplex, 
tfhd da ergab sich folgende - geradezu diabolisch witzige - Situation: 
Napoleon woUte zur Zeit des Direktoriums am 21. Jänner, am Tage der Hin- 
richtung des Königs, dem offiziellen Gedenkfeste nicht beiwohnen (s. S. 40!.). 
Und nun sendet das Direktorium Talleyrand als Vermittler. Oder in Na- 
poleons eigenen Worten: 

„Talleyrand bot seine ganze Beredsamkeit auf, er suchte zu be.weisen, 
daß diesL Fest gerecht wäre, weil es politisch wäre. P»!;"-^ wäre es 
denn alle Länder und alle Republiken hätten stets den fturz der 
despotischen Gewalt und den Tyrannenmord als einen Triumph gefeiert. 
So hätte Athen den Tod des Pisistratus, Rom den Sturz der Dezemvirn 
verherrlicht, übrigens sei das Fest durch ein Gesetz geboten, dem das 
ganze Land unterworfen sei und sich jeder zu fügen und zu gehorchen 

Nun wissen wir aus Jekels Arbeit, welche entscheidende Bedeutung (trotz 
gelegentlicher Abwehr des Königsmordes) die Hinrichtung des Königs für 
Napoleon hatte, die er unbewußt auch vollkommen billigte. Daraus ergaben 
sich aber für Napoleon die stärksten unbewußten Strafwünsche. Ist es da 
nicht für Napoleon ein Glücksfall ohnegleichen, wenn der Vater 
selbst (repräsentiert durch die Vater-Imago Talleyrand) den Mord an sich 
selbst billigt, entschuldigt und für berechtigt erklärt, dense ben 
Mord, der die Quelle der stärksten Schuldgefühle für Napoleon 

Diese für Napoleons Schuldgefühlsentlastung und somit für die ganze Be- 
ziehung zu Talleyrand entscheidende Szene ist _ wie nicht anders zu 
erwarten - in keiner der bekannten Talleyrand- oder Napoleon- 
Biographien verwertet. Und doch enthält sie den Schlüssel zum 
Verständnis der Beziehung dieses außerordentlichen Menschen zu 
Talleyrand. 



übrigens ist — nach Ansicht Napoleons — Talleyrands ganzer Lebenslauf 
„eine einzige Verräterei". Er wirft ihm in der „großen Szene" alle Verbrechen 
an den Kopf, die er, Napoleon, selbst begangen hat, respektive unbewußt zu 
begehen wünschte. Und wieder setzt hier die Schuldgefühlsentlastung ein: er 
sieht einen Menschen, der „so viele Verbrechen" begangen hat, frei, höhnisch, 
zynisch,25 anscheinend ohne Schuldgefühle leben. Schon diese „Tatsache 
Talleyrand" war in einer bestimmten Schichte für Napoleon eine Ge- 
wissensentlastung. Das ist eine der Ursachen, die Napoleon immer wieder 
Talleyrands Gesellschaft suchen ließ. 

Talleyrand billigt somit für das Unbewußte Napoleons nicht nur den Vater- 
mord, er inspiriert ihn sogar zweimal: Talleyrand ist der Einbläser 
Napoleons bei der Ermordung Enghiens und der Thronentsetzung 
der spanischen Bourbonen. Und da die „spanischen Affären" eine 
der Ursachen des Konflikts zwischen Napoleon und Talleyrand darstellen, 
muß näher auf diese eingegangen werden. 

"Was hat sich eigentlich vor und in Bayonne zugetragen? Aus den Geschichts- 
büchern erfahren wir meistens bloß, daß Napoleon „durch unglaubliche In- 
trigen" erst den Sohn des Königs, dann den Vater, den König selbst, zum 
Thronverzicht zugunsten Josephs (Napoleons Bruder) bewogen hat. Was sind 
nun diese „unglaublichen Intrigen"? Wir besitzen in Talleyrands Memoiren 
eine minutiöse, durch die Augen des Hasses gesehene, klarsichtige Darstellung 
der spanischen Abenteuer Napoleons, die schon deshalb wahr ist, weil die 
Handlungweise Napoleons in Spanien so aufreizend war, daß der beste Angriff 
Talleyrands auf Napoleon in der wahrheitsgetreuen Wiedergabe seiner Hand- 
lungsweise lag. 

Die „spanischen Angelegenheiten" bilden ein eigenes Kapitel in Talleyrands 
Memoiren. Es beginnt mit einem Ausspruch Napoleons: „Wenn es darauf an- 
kommt, kann ich auch das Löwenfell ablegen und in den Fuchspelz kriechen." 
Dazu bemerkt Talleyrand: „Die Menschen hintergehen und hinters Licht 
führen, war nämlich nicht allein sein größtes Vergnügen, sondern es war ihm 
zur zweiten Natur, zu einem wahren Bedürfnis geworden." Auch da wieder 
ein Berührungspunkt mit Talleyrand. Man hat manchmal den karikaturisti- 
schen Eindruck, Talleyrand sei ein nach außen projizierter Anteil Napoleons 
und Napoleon einer Talleyrands gewesen. 

Spanien — so berichtet Talleyrand — war 1807, seit dem Frieden von Basel, 

25) Es besteht eine gewisse Berechtigung zu der Annahme, daß Napoleons Zynismen 
zum Teil auf der Identifizierung mit denen Talleyrands beruhen. Wir kennen keinen ein- 
zigen zynischen Ausspruch Napoleons aus seiner vortalleyrandischen Zeit. Bzgl. der Psy- 
chologie des Zynismus sei auf eine Arbeit des Verf. („Zur Psychologie des Zynikers" 
Psychoan. Bewegung 1933, H. i und 2) verwiesen. 



_„ Edmund Bergler 



also seit ii Jahren, ein treuer Bundesgenosse Frankreichs gewesen und hatte ihm 
alles gegeben und reichlich gegeben: Geld, Schiffe und Soldaten. 1807 — zu 
Beginn der „spanischen Affären" — standen 20.000 Spanier im Norden Europas 
unter den französischen Fahnen. Seitdem Napoleon selbst auf einem bour- 
bonischen Throne saß, betrachtete er die Fürsten, welche noch die zwei anderen 
inne hatten (Neapel, Spanien) als seine natürlichen Feinde, die er in seinem per- 
sönlichen Interesse stürzen mußte. Wie soUte er aber dem befreundeten 
Spanien den Krieg erklären, ohne seine ehrgeizigen dynastischen Interessen 
offen zu bekennen? Napoleon schlug folgenden Weg ein: unter der Maske 
der Freundschaft ließ er Spanien mit französischen Truppen überschwemmen, 
wozu ihm Portugal den Vorwand lieferte, das sich noch immer weigerte, mit 
England zu brechen. Diesen Umstand hatte der Kaiser in dem Tilsiter Ver- 
trag mit Rußland vorgesehen, und zwar durch einen Paragraphen, der dahin 
lautete, daß Portugal, wenn es mit England befreundet bliebe, als Feind be- 
trachtet werden solle. Anstatt einer Kriegserklärung schloß also Napoleon ein 
neues Bündnis, natürlich nur zum Schein, mit Spanien (Vertrag von Fontaine- 
bleau am 27. Oktober 1807). Die weiteren „wirklich abscheulichen und hinter- 
listigen Intriguen" waren: Im März 1807 schickte der Prinz von Asturien, 
der Thronfolger und älteste Sohn des Königs, seinem früheren Erzieher, dem 
Domherrn von Toledo, einen Brief, in welchem er von der gefahrdrohenden 
Situation des Reiches sprach: der „Friedensfürst" (dieser war Minister des 
schwachen Königs und Geliebter der Königin, und zwar, wie 
man allgemein wußte [einen „ängstlichen Zuhälter" nennt ihn Blei], 
unter Toleranz des Königs) solle — so erzähle ein Gerücht — die Re- 
gentschaft übernehmen. Der Kronprinz bat den Domherrn um Rat und Bei- 
stand. Der Domherr setzte nun ein Memorandum in diesem Sinne auf, das 
er dem Prinzen zusandte, um es seinem Vater zu überreichen. Dem Prinzen 
fehlte dazu der Mut, er verwahrte die Dokumente, die später gefunden wur- 
den und das Hauptmaterial bildeten, ihn des Hochverrats anzuklagen. Der 
Geliebte der Königin schöpfte Verdacht und wollte den Kronprinzen mit einer 
Nichte der Königin verheiraten. Der Kronprinz meinte aber, er täte besser, 
sich um eine Prinzessin aus der Familie Napoleons zu bewerben, worauf Na- 
poleon zum Schein in dunklen Andeutungen reagierte. Da der „Friedensfürst" 
immer offener für sich Propaganda machte - er ließ verbreiten, der Konig 
liege im Sterben, der Kronprinz sei ein Dummkopf, die einzige Rettung 
Spaniens sei er selbst, welches Argument er durch Geldverteilung an die Offi- 
ziere unterstützte - glaubten die Berater des Kronprinzen nicht länger zogern 
zu dürfen. Man veranlaßte einen angesehenen Granden und Freund des Kron- 
prinzen, den Herzog von Infantado, sich von diesem eine Proklamation geben 
zu lassen, die sofort nach dem Tode des Königs veröffenthcht werden sollte. 



Napoleon und Talleyrand 71 



Bald darauf rückten französische Truppen in Spanien ein, der Kronprinz wurde 
unter der Beschuldigung des Hochverrates vom König verhaftet; das Tribunal 
sprach ihn jedoch frei. Der Minister, der von Napoleon lange durch Ver- 
sprechungen hingehalten wurde, bekam Angst vor den immer stärkeren fran- 
zösischen Truppen, rief die spanischen Truppen aus dem Norden zurück und 
wollte die königliche Familie nach Cadix bringen. Darauf brach ein Aufstand 
gegen den Minister aus und der König rettete sich dadurch, daß er den 
Minister entließ. Dieser hielt sich versteckt; als er entdeckt wurde, flammte 
der Aufstand nochmals auf, der König sandte den Kronprinzen, dem er mehr 
Einfluß auf die Menge zutraute als sich selbst. Der Kronprinz erklärte den 
Minister für verhaftet. Der König faßte den Entschluß, freiwillig abzudanken 
und der Kronprinz wurde unter dem Namen Ferdinand VII. König. Murat 
(der Schwager Napoleons) und Beauharnais veranlaßten hierauf den neuen 
König, Napoleon, der selbst nach Spanien kommen wolle, entgegenzufahren, 
verlangten aber zugleich die Freilassung des „Friedensfürsten". Dadurch wurde 
die Lage zugespitzt, um so mehr, als der Kaiser befahl, den abgesetzten Minister 
in Murats Hände auszuliefern. Nun veranlaßte Napoleon, daß der Vater des 
Königs, der frühere Karl IV., seine Abdankung widerrief und als erzwungen 
darstellte, was dieser in einem Manifest, gezeichnet „Ich, der König", tat. Na- 
poleon lockte beide Könige nach Bayonne (also auf französischen Boden), wo 
die gegenseitigen Abdankungen gegeneinander ausgespielt wurden, die Könige 
einander mit heftigen Vorwürfen überschütteten, und das Resultat dieses „trost- 
losen Dramas" war, daß Joseph, Napoleons Bruder, König von Spanien 
wurde. 

Wir sehen also: die spanische Könisfamilie bietet eine klare 
Wiederholung der von Napoleon supponierten eigenen Kind- 
heitssituation seines Elternhauses: eine Mutter (Königin), die 
ein vom Vater (König) toleriertes Verhältnis mit dem Minister 
(Friedensfürst = Marbeuf) hatte.^^ Napoleon kassiert seine eigene Rache 
am zufälligen spanischen Objekt ein: er spielt alle gegeneinander aus und macht 
alle zu Gefangenen; wobei er Talleyrand zum Kerkermeister ernennt. Und 
hier beginnt die endlose, nie zu befriedigende kindliche Rachetendenz von 
vorne: der Oheim (nicht der Prinz, wie Napoleon es wünschte) beginnt ein 
Verhältnis mit Frau Talleyrand. Wieder ein betrogener Ehemann, der 

26) Hier ist die Wurzel des von Talleyrand unverstandenen Aufwands an „Schläue, Per- 
fidie und Kunststücken". Der Realpolitiker Talleyrand verstand nicht, zu welchem Zweck 
der blamable Aufwand an Betrug von Napoleon gemacht wurde, der ihn vor der Welt 
bündnisunfähig machte. Er verstand eben nicht, daß Napoleon eine Jugendphantasie, die 
Phantasie seines Lebens, agierte. Talleyrand sah lediglich ein zu erreichendes Ziel — die 
Eroberung Spaniens — und sah die Mittel, die dabei angewendet wurden, als verwerflich an, 
weil sie Napoleon schädlich waren. Dies war seine „moralische" Stellungnahme. 



«2 Edmund Bergler 



das Verhältnis tolerieren muß, wobei ein Stück der Inzestphantasie zum 
Durchbruch kommt: Napoleon identifiziert sich ja mit dem Kronprinzen, 
vereinigt sich also auf dem Umwege über ihn mit der Mutter, wobei die Be- 
strafung für diese Phantasie in der realen Bestrafung des Kronprinzen hegt. 
^5^ir sehen hier das typische, sich nie erschöpfende neurotische Reihen- und 
Abspaltungsphänomen. 

Nun mußte dieses Agieren seiner Jugendphantasien" auf spani- 
schem Boden bei Napoleon das stärkste Schuldgefühl wecken. Wir 
verstehen nun, weshalb Napoleon wie ein Besessener nach Paris eilt, als er er- 
fährt, daß Talleyrand gerade wegen der „spanischen Affairen" gegen 
ihn arbeitet. 

Talleyrand ist in diesem Teil der Beziehung zu Napoleon der nach außen 
projizierte Anteil seines verbietenden Über-Ichs, die personifi- 
zierte Nemesis. Was hilft es, Talleyrand anzubrüllen, gerade das Schuld- 
gefühl verhindert ja Napoleon, Ernstliches gegen Talleyrand 
zu unternehmen! Tatsächlich geschieht Talleyrand nichts. 

27) Es ist übrigens interessant, daß Pouche in seinen Memoiren an zwei Stellen ihm 
einen realen Inzest vorwirft: So behauptet er (S. 182 ff.), daß er ein Verhältnis mit 
seiner Lieblingsschwester Pauline hatte. Pouche sagt: „... Pauline faßte im 
Verein mit einer ihrer Prauen den Plan, Napoleon ganz in ihre Reize zu verstricken. Und 
sie ging dabei mit so großer Kunst und so großem Raffinement zu Werke, daß ihr Sieg 
vollkommen war . . . Niemals zeigte Pauline für ihren Bruder so viel Liebe und Bewuri- 
derung wie damals (vor der Scheidung von Josephine). An diesem Tage hörte ich sie 
sagen, denn sie brauchte vor mir keine Geheimnisse zu haben: Warum herrschen wir 
nicht in Ägyptein? Wir würden es wie Ptolemäus machen; ich würde 
mich scheiden lassen und heiratete meinen Bruder. Da ich wußte, daß sie 
viel zu unwissend war, um aus sich selbst heraus eine solche Anspielung zu machen, er- 
kannte ich darin den Ansporn ihres Bruders." 

Der zweite Inzestvorwurf — gleichfalls bei Pouche nachzulesen (S. n6) — lautet: 
„In ihrer Verzweiflung über ihre Unfruchtbarkeit kam sie (Josephine) auf den Gedanken, 
ihrer Tochter Hortense die Zärtlichkeit ihres Gatten zuzuwenden, den sie sinnheh nicht mehr 
reizte ... Sie gefiel und die gegenseitige Neigung vertiefte sich so, daß es Josephine 
genügte, sich mütterlich darein zu finden und die Augen zu schließen, um ihren häuslichen 
Triumph zu sichern. Mutter und Tochter regierten zu gleicher Zeit in dem Herzen dieses 
stolzen Menschen. Als nach dem Rat der Mutter der Baum seine Früchte trug, mußte man 
daran denken, durch eine schnelle Heirat eine Liebesintrige zu verhüllen, die bereits den 
Höflingen bekannt wurde . . . Napoleon wollte durch einen doppelten Inzest diese Liebes- 
angelegenheit, der er alle Reize der Vaterschaft verdankte, in seiner eigenen Pamilie zu 
Ende führen. Dabei entstand die Verbindung seines Bruders Louis mit Hortense, eine 
unglückliche Ehe, die schließlich alle Schleier zerriß." 

Ob nun Pouche Angaben richtig sind — bekanntlich ist die Echtheit der FoucW- 
Memoiren bezweifelt worden, während in neuerer Zeit sich Stimmen für ihre Authentizität 
erhoben — Tatsache ist, daß Napoleon Hortenses Kind adoptierte und erst als es starb, 
an die Ehe mit der österreichischen Erzherzogin dachte. Für die erste Behauptung Pouche 
spricht die Tatsache, daß Pauhne auf Marie Louise pathologisch eifersüchtig war und des- 
halb von Napoleon vom Hofe verbannt wurde. 



Napoleon und Talleyrand 73 



3. Talleyrand (= der gehaßte Vater = Marbeuf) als Objekt 
infantiler Rachetendenzen Napoleons 

Nach Gefangennahme der spanischen Prinzen wird Talleyrand gezwungen, 
sie in seinem Schlosse Valencay aufzunehmen. Napoleon wiederholt also auch 
hier die „Besetzung" Korsikas durch die Franzosen, deren Rolle Spanier über- 
nehmen, während Valencay ein Korsika en miniature darstellt. Ebenso wie 
Napoleons Mutter mit Marbeuf, wird Talleyrands Frau mit dem Prinzen „ver- 
kuppelt", wobei Talleyrand die Rolle des verhöhnten, alles zulassenden Vaters 
spielt. Der einfachste Beweis hiefür liegt in der zitierten Frage Napoleons 
während der „großen Szene": „Warum haben Sie mir nicht gesagt, daß der 
Prinz Carlos der Geliebte Ihrer Frau ist?" Die Einquartierung Ferdinands VII. 
in Talleyrands Schloß bedeutet also folgendes: wieder konstruiert Napoleon 
einen das Verhältnis der Frau tolerierenden Gatten. 

Ein weiterer Beweis Ist darin zu erblicken, daß Napoleon Talleyrand zwei^ 
mal als p OS tili on d'amour verwendet: erst beim Zaren in Erfurt, wo er den 
Brautwerber spielt, und später dann In Warschau, wo er die Affäre der Gräfin 
Walewska entrierte. „Er mußte auch anderes für den Kaiser tun: so die Gräfin 
Walewska fragen, ob sie den Blick gespürt hätte, den Seine Majestät geruht 
habe, auf sie zu werfen (Blei, S. 516). 

Und einmal befiehlt der Kaiser dem Herzog von Benevent In Warschau, 
ihm ein Glas Limonade zu bringen, „der langsam, mit einer Serviette unter 
dem Arm auf seinem Stock durch den Saal schlürfend, das Glas auf einem 
emaillierten Teller dem Kaiser überbrachte, demselben Monarchen, den er 
ä part als Parvenü behandelte, wie Gräfin Potocka zu diesem Anlaß bemerkt" 
(Blei, S. 516). Das ständige Auf und Ab von Gnade und Ungnade, von 
Schimpforgien und Belohnungen, die Tatsache, daß Napoleon Talleyrand 
gegenüber, einem Wort des Fürsten zufolge, „aller Inkonsequenzen fähig ist", 
zeigt die Zwiespältigkeit der Beziehung Napoleons zu seinem Vater, die er 
unter anderem bei Talleyrand auslebt. Dabei wiederholt Talleyrand wieder 
das Verbrechen des Vaters: er verbündet sich mit den Fremden gegen das Vater- 
land. Napoleon ist aber Talleyrand gegenüber machtlos, da er Ihn unbewußt 
bereits zum Rächer erwählt hat. 

4. Talleyrand (= Marbeuf), der Rächer 
Wir nähern uns dem Ende des napoleonischen Dramas, das im wesentlichen 
unter dem Aspekt des unbewußten Strafbedürfnisses steht.^^ Daß 

28) Dieser Gesichtspunkt ist in Jekels Arbeit aus zwei Gründen noch nicht enthalten. 
Der erste Ist ein zeitliches Moment: 1914 stand das Problem des unbewußten Straf bedürf- 
nisses noch nicht im Zentrum analytischer Diskussionen (war es ja von Freud noch gar 
nicht aufgestellt worden), zweitens behandelt Jekels Arbeit den Beginn der napoleoni- 
schen Karriere. . ■ . ■ 



74 Edmund Bergler 



dem tatsächlich so ist, beweist Napoleons Verhalten in diesen Monaten. Mit 
Recht hält ihm Talleyrand in seinen Memoiren vor, daß er seine Krone und 
seine Dynastie hätte retten können, wenn er zur richtigen Zeit nachgegeben 
hätte. Napoleon konnte aber nicht nachgeben, da er offenbar unter dem 
Druck dieses — aus dem jahrelangen Agieren seiner ödipus- 
phantasien^' stammenden — Strafbedürfnisses seinen Unter- 
gang selbst provozierte und herbeiführte. Dabei wird Talley- 
rand zum Exekutivorgan seines Strafwunsches, und zwar zum 
von Napoleon selbstgewählten Exekutor. Napoleon unternimmt 
nichts gegen Talleyrand, obwohl seine Vorbereitungen zum Verrat — wie 
früher gezeigt — ihm bekannt sein mußten. Er beschäftigt nicht einmal 

29) Ich will, obwohl das ödipusmaterial ein eindeutiges ist, noch einige Belege an- 
führen, die mir bei Durchsicht der Literatur aufgefallen sind. So erklärte Napoleon in 
einem Gespräch mit Pouche vor dem russischen Feldzug (Pouches Memoiren, S. 224): 
„Ich ziehe ganz Europa hinter mir her und Europa ist weiter nichts als eine alte 
verdorbene Hure, mit der ich mit Hilfe meiner 800.000 Mann machen kann, was ich 
will." Zu dieser Erniedrigung der Mutter paßt gut der Ausspruch Napoleons auf St. Helena : 
„Meine Mutter war eine sehr ordnungsliebende, tugendhafte Prau . . ." Weshalb das 
Attestieren der Tugend, wenn sie nicht innerlich bezweifelt würde? 

Ferner verweise ich auf eine Stelle aus Napoleons blutrünstigster Jugendschrift „Kor- 
sische Novelle", die der 20jährige Offizier in Auxone schrieb und die bereits zitiert wurde. 
Beweisend ist folgende Stelle aus der Schilderung der Greueltaten der Franzosen: 

,, . . . Ich verließ meine Leute, um meinem unglücklichen Vater zu Hilfe zu eilen. Ich 
fand ihn in seinem Blute liegen. Er hatte nur noch die Kraft, zu mir zu sagen: Räche 
mich, mein Sohn! Das ist das erste Naturgesetz. Stirb, wie ich, das schadet nichts, aber 
erkenne nie die Franzosen als Herren an. Ich setzte meinen Weg fort, um 
meine Mutter zu suchen, und fand ihren nackten, mit Wunden bedeckten 
Leib in der empörendsten Lage. Meine Prau, drei meiner Brüder, waren an eben 
diesem Platz aufgehängt, sieben meiner Söhne, von denen drei noch keine fünf Jahre 
alt waren, hatten dasselbe Schicksal erlitten." 

Also immer wieder: Marbeuf, der Mutterschänder, wobei die Über-Ich-Be- 
schwichtigung für die Rache durch einen Befehl des Vaters vor sich geht. Ähnliches ge- 
schieht dann bei Talleyrand, der Vater-Imago (Siehe Punkt 2. „Talleyrand, die Vater-Imago, 
die den Mord billigt . . ."). — Auf die Zahlen der Kinder und Geschwister will ich nicht 
näher eingehen, obwohl auch diese eine Deutung zulassen. — In diesem Zusammenhang sei 
auf die Arbeit von Ernest Jones „The case of Louis Bonaparte" (Journ. of abn. Psychol. 
VIII. 1913/14) verwiesen, die mir leider bloß in Form des Referates (Imago 1914, S. 303) 
zugänglich war. 

Endlich sei darauf verwiesen, daß Josephine Beauharnais erster Mann als Royalisi 
guillotiniert wurde, das heißt, daß der Vatermord vollzogen wurde, bevor Napoleon 
unbewußt die Mutter (= Josephine) besessen hatte, wobei wieder die Über-Ich-Entlastung 
für den gewünschten Vatermord in der Weise vor sich geht, daß jemand anderer (das Re 
volutionstribunal) die Verantwortung übernimmt. Damit mag auch vielleicht der erst» 
Eindruck Napoleons, den er von Talleyrand empfing, zusammenhängen: Talleyrand er- 
innert ihn an Robespierre, den Schreckensmann, mit dessen Bruder Napoleon übrigens be 
freundet war. 

Auf das Problem der fraglichen Epilepsie Napoleons kann wegen der Lückenhaftigkeit dci 
diesbezüglichen Materials nicht eingegangen werden. 



Napoleon und Talleyrand 75 



Talleyrand mit einer jener sinnlosen, nur zu Ablenkungszwecken aufgestellten 
Scheinaufgaben (so macht Napoleon z. B. Pouche 1 8 1 3 zum Generalgouver- 
neur von Illyrien und später von Rom in einem Zeitpunkt, in welchem beides 
für den Kaiser verloren ist, erzielt aber, daß Pouche zu Beginn der ersten 
Restauration in Paris nicht anwesend ist und machtlos bleibt), sondern begnügt 
sich mit den verschiedentlichen Absagen Talleyrands und stellt sogar einmal 
sinnlose Bedingungen beim Anbot des Ministeriums des Äußeren: Verzicht 
auf die Pension (siehe S. 52, Anm. 14), was bei Talleyrands Geiz einer Er- 
ledigung des Anbots gleichkommt. Napoleon unternimmt auch dann nichts 
gegen Talleyrand, als sich dieser indirekt an der Verschwörung Malets 18 12 
— nach der Niederlage in Rußland — beteiligt, worüber in Pouches 
Memoiren folgendes zu lesen ist (S. 241): 

„... diese Möglichkeit erklärt die Bildung einer eventuellen provisorischen 
Kegierung, die sich aus den Herren Mathieu de Montmorency, Alexis de Noailles, dem 
General Moreau, dem Grafen Frochet, Präfekten des Seine-Departements und einem 
fünften zusammengesetzt hätte, dessen Name nicht genannt wurde. Nun, 
dieser fünfte war Herr von Talleyrand, und ich selbst sollte..." 

Wenn auch Napoleon einmal von sich sagte: „Denn ich bin nicht ein 
Mensch wie ein anderer und die Gesetze der Moral und Sitte gel- 
ten nicht für mich" — so ist das einer jener Irrtümer, an denen der Kaiser 
gescheitert ist. Napoleons Untergang waren nicht die Armeen der 
Koalierten, sondern lediglich sein unbewußtes Strafbedürfnis, 
zu dessen Exekutoren er eben jene Koalierten und — Talleyrand wählte. Diesen 
Nachfolger Talleyrand hat Napoleon ebenso aufgepäppelt, und zwar auf 
eigene Kosten, wie Ludwig XVI. seinen Pensionär Napoleon. (Napoleon hatte 
bekanntlich einen von Marbeuf verschafften Preiplatz in den unterschiedlichen 
Offiziersschulen.) Daraus ergibt sich auch die erwähnte Überschätzung Talley- 
rands in den letzten Monaten, wobei aus den Aussprüchen des Kaisers hervor- 
geht, daß er annahm, Talleyrand könnte — wäre er auf seiner Seite — Wunder 
wirken. Auch das Unverständnis, das Napoleon der ganzen Weltlage ent- 
gegenbrachte, das Nichtbegreifen, daß die einzige aus der Revolution hervor- 
gegangene Regierung im reaktionären Europa nur um den Preis weitgehender 
Sicherungen und absoluter Nichteinmischung zu halten gewesen wäre, ist 
letzten Endes aus seinem unbewußten Agieren und dem unbewußten Straf- 
wunsch verständlich. Napoleon war überhaupt unfähig, in anderen Kate- 
gorien als in Menschen zu denken: eine sonderbare, offenbar auf seine Ver- 
strickung in der Vaterfigur zurückzuführende Denkhemmung bei einem so außer- 
gewöhnlichen Intellekt. So erklärt sich der Ausspruch Napoleons auf St.Helena, 
er säße noch auf seinem Throne, hätte er Talleyrand und Pouche zur richtigen 
Zeit hängen lassen. 



-g Edmund Bergler 

Diese Oszillationen zwischen den vier Einstellungen zu Talleyrand: als 
Gönner, als Vater-Imago, die den Vatermord billigt, als Rache- 
objekt und als Rächer, erklären, daß Napoleon niemals von Talleyrand 
loskam, geben einen Schlüssel zu seinem inkonsequentenVerhalten und bewahr- 
heiten Metternichs Wort, der Talleyrand Napoleons ersten Diener und 
Antagonisten nannte. 

Literatur: > . 

Aretz G., Die Frauen um Napoleon. ' . . 

Barras P., Memoiren, 4 Bde. 
Blei F., Talleyrand. 

Chuquet, La jeunesse de Napoleon i — 3. 
Dunoyer A., Fouquier — Tinville. 

Fleischmann H., Requisitoires de Fouquier— Tinville. 
Feucht, Memoiren. Übersetzt von P. Aretz. 
Goürgaud, Memoires pour servi ä l'histoire de France sous Napoleon (corrige de la 

main de Napoleon) 1823. 
Jekels L., Der Wendepunkt im Leben Napoleons, „Image", III, 1914- 
Jones E., The case of Louis Bonaparte, King of Holland. Jdurn. of abn. Psych. 1913/14. 

Referat von H. Sachs in „Imago", 1914, S. 303/304. . .■ •' 

Kircheisen F. M., Napoleon. 
Kircheisen G., Napoleon und die Seinen. 
Kircheisen G., Die Frauen um Napoleon. (Ursprüngliche Fassung der Arbeit von 

G. Aretz.) 
Kleinschmidt A., Die Eltern und Geschwister Napoleons. 
Ludwig E., Napoleon. 

De Lacombe B., La vie priv^e de Talleyrand. 
De Lacombe B., Talleyrand, evgque d'Autun. 
Martel T., Memoires et oevres de NapoUon. 

Masson F. et Biagi G., Napoleon inconnu. ■" ' 

Masson. Napoleon. 

Napoleon, Oeuvres 1—6. Panckoucke 1822. 

Propyläen-Weltgeschichte, Band VII, Revolution und Restauration. 
Ro essler. Die Jugend Napoleons des Ersten. 
Sainte-Beuve, Monsieur de Talleyrand. 
Scott W., Napoleon. 
Stendhal, Napoleon. 

Talleyrand, Memoiren, Herausgegeben vom Herzog von Broglie. 5 Bände. 
Wal Ion H., Le tribunal R^volutionnaire. 
Wencker-Wildberg (in Verbindung mit F. M. Kircheisen), Napoleon, Memoiren 

seines Lebens, 14 Bände. 
Wendel H., Danton. 

Wolff O., Die Geschäfte des Herrn Ouvrand. 
Zweig S., Fouchl. 
Zweig S., Marie Antoinette. 



Stendhal 

Ein Beitrag zur Psychologie des narzißtischen Voyeurs 

Es dreht sich in der Welt doch alles um das liebe Ich. 

Aus einem Brief Stendhals an Mareste, 21. März 18 18. 

Man genießt in der Liebe immer nur die eigene Illusion. 

Stendhal, „De l'amour", Kapitel 8, geschrieben 1820. 

Ma veritable passion est celle de connaiire et d'eprouver. Elle n'a 

' jamais ete satisfaite. _ ,, , __ .-„1 ,„ 

Stendhal, „Henri Brulard . 

Quoi n'est-ce que ga? 
Stendhals Lieblingswort: Zum erstenmal ausgesprochen bei der 
A^nkunft in Paris, wiederholt beim Übergang über den St. Bern- 
hard, nach der Feuertaufe, nach dem ersten Koitus usw. usw. 

In Stendhals! Selbstbiographie — La vie de Henri Brulard — , die Henri 
Beyle im Jahre 1835 im Alter von j2 Jahren in Rom und Civita Vecchia 
verfaßte, findet sich eine Schilderung der Beziehung des Knaben zur Mutter: 

Meine Mutter, Henriette Gagnon, war eine reizende Frau, und ich war verliebt in 
meine Mutter. Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß ich sie verlor, als ich sieben Jahre 
alt war. Als ich sie liebte, mit sechs Jahren vielleicht (1789), hatte ich ganz denselben 
Charakter, wie im Jahre 1828, als ich in Alberte de Rubempr6* rasend verliebt war. 
Meine Art, auf die Jagd nach dem Glück zu gehen, hatte sich im Grunde gar 
nicht geändert außer in einem einzigen Punkte. Ich war in dem, was das Körperliche der 
Liebe ausmacht, in derselben Lage wie Cäsar, wenn er wieder auf die Welt käme, hin- 
sichtlich des Gebrauchs der Kanonen und der Kleinfeuerwaffen sein würde. Ich hätte es 
sehr schnell erlernt und das hätte nichts an meiner Taktik geändert. Ich wollte meine 
Mutter mit Küssen bedecken und es sollten keine Kleider da sein. Sie 
liebte mich glühend und küßte mich oft. Ich gab ihr ihre Liebkosungen mit solchem 
Feuer iurück, daß sie oft genötigt war, wegzugehen. Ich verabscheute meinen 
Vater, wenn sein Kommen unsere Küsse unterbrach. Ich wollte sie ihr 
immer auf die Brust geben... Ich meinerseits war so verbrecherisch wie möglich, 
ich war toll verliebt in ihre Reize.^ 



i) „Stendhal" war eines der 200 Pseudonyme Beyles. Stendhal ist der Name eines preußi- 
schen Dorfes. 

2) Beyle nennt Alberte de Rubempre („Madame Azur") „eine Dirne ohne Erhabenheit 
wie die Dubarry". Somit identifiziert Stendhal seine Mutter mit einer Dirne. Siehe die 
später beschriebene Spaltung der zärtlichen und sinnlichen Komponente. 

3) Unterstreichungen stammen vom Verfasser. Ähnlich bei den übrigen Zitaten des 
Buches. 



^8 Edmund Bergler 



Dieser selbstgeschilderte intendierte Inzest hat begreiflicherweise den 
Stendhal-Biographen viel zu schaffen gemacht. Die meisten ziehen sich aus 
der Schlinge, indem sie die Angaben Stendhals als ein nachträgliches Hinein- 
projizieren erklären, sie als nicht ernst gemeinte Zynismen bagatelUsieren 
oder gar behaupten, der große Blagueur und Mystifikator Stendhal hätte die 
Nachwelt zum Narren halten wollen. Andere Biographen wieder, wie "Wei- 
gand. Zweig, v. Oppeln-Bronikowski, glauben Stendhal: „Den An- 
hängern der Freudschen Theorien kann man dieses Bekenntnis 
als Musterbeispiel empfehlen" ("Weigand, „Stendhal", S. 293). Und 
Zweig resümiert: „Kaum irgendwo findet die Psychoanalyse einen tadel- 
loseren Ödipuskomplex literarisch hingelegt, als in den ersten Seiten 
von Stendhals Selbstbiographie, im Henri Brulard" („Drei Dichter ihres 
Lebens", S. 169). Erfährt man, daß Stendhal über seinen Vater stets in den 
herabsetzendsten Ausdrücken sprach — Jesuit, Bastard waren noch höfliche 
Epitheta — , daß er zugegebenermaßen politisch radikal war, weil der Vater 
den Aristokraten und Bourbonenanhänger herauskehrte, daß er dem Vater 
während des Terrors Verhaftung, allerlei Ungemach, ja den Tod wünschte 
und dessen Hinscheiden mit den Worten: „Ich erfahre einen Wechsel" re- 
gistrierte, kurz, daß sein Vaterhaß so eminent war, daß er sogar in seinem 
Testament anordnete, daß er selbst als „Arrigo Beyle, Milanese" zu begraben 
sei, obwohl er in Wirklichkeit aus Grenoble stammte — berücksichtigt man 
dies alles, so ist man gewiß über die Intensität des positiven Anteils seines 
Ödipuskomplexes im klaren. 

Die von Weigand apostrophierten „Anhänger der Freudschen Theorien" 
könnten also die Existenz des Ödipuskomplexes bei Stendhal feststellen, jede 
weitere Diskussion mit dem Hinweis auf die eigene Aussage des Beteiligten 
ablehnen, den Biographenstreit, ob der Inzest erwogen oder bloß phantasiert 
wurde, mit dem Argument der Gleichwertigkeit der inneren und äußeren 
Realität im Unbewußten abschneiden, kurz den Fall Stendhal als Musterbei- 
spiel des Ödipuskomplexes befriedigt katalogisieren, rubrizieren, registrieren 
und als Paradigma den Ungläubigen vorhalten. Vielleicht könnte die Inzest- 
schilderung Stendhals sogar analytische Karriere machten und den gleichen 
Rekord an analytischen Zitierungen erreichen wie Diderots Ausspruch im 
„Neveu de Rameau": „Wenn der kleine Knabe sich selbst überlassen wäre, 
wenn er seine ganze Naivität behielte und zur geringen Vernunft des Kindes 
in der Wiege die Intensität der Leidenschaften eines Dreißigjährigen hinzu- 
träte, würde er seinen Vater erwürgen und mit seiner Mutter schlafen." 

Und doch beginnt hier erst das Problem. Es lautet: Wiekommtes, daß 
Stendhal seinen Ödipuskomplex nicht verdrängt, sondern be- 
wußt erhalten hatte? Wir stehen also vor der grotesken Situation, daß 



Napoleon und Talle>;rand 79 



uns das ohnehin Raritätswert besitzende Geständnis (richtiger: die Selbst- 
anklage) Stendhals gar nichts nützt und wir uns über seine unbewußten 
Motive, die dieses Perzipieren untergründiger Zusammenhänge bewirkten, vor- 
erst Klarheit schaffen müssen, um dann erst zu erkennen, „wie alles sich zum 
Ganzen webt". 

Anders formuliert: Welche Bedingungen müssen vorhanden sein, damit 
einem Menschen der eigene Ödipuskomplex an sich selbst bewußt wird und 
dauernd bewußt bleibt? (Auszuschließen ist das blitzartige Wissen mit kon- 
sekutivem raschem Verdrängen.) In unseren Tagen ist vorerst die Fehler- 
quelle auszuschalten, daß der Betreffende irgend etwas von der Großtat 
Freuds — der Psychoanalyse — gehört hat. Gerade deshalb ist das Beispiel 
Stendhals, der zwei Menschenalter vor Freud seinen individuellen Ödipus- 
komplex exakt freudisch formulierte (freilich ohne seine allgemeine Bedeutung 
und seine Konsequenzen auch nur zu ahnen), so wichtig, weil er aus zeitlichen 
Gründen unbeeinflußt war von aller Psychoanalyse. Soweit ich das Problem 
überschauen kann, gibt es folgende Bedingungen, unter welchen der Ödipus- 
komplex einem Erwachsenen in seiner ganzen Schärfe bewußt werden kann: 

1. Psychologisches Genie. 

2. Schizophrene Psychose. 

3. Moral insanity. 

4. Beobachtung am anderen, Ausbleiben der normal einsetzenden Ver- 
drängung aus schwerstem psychischem Masochismus und Verwendung der 
am anderen gewonnenen Eindrücke gegen die eigene Person zum Zwecke 
der Selbstbestrafung. 

Es gibt — außer einem gefühlsmäßigen Urteil — kein allgemeingültiges Maß 
für das Geniale. Die psychologische Genialität Stendhals als einzige Er- 
klärung seiner Psyche annehmen, heißt auf die Enträtselung seiner Persönlich- 
keit verzichten, da wir über die intrapsychische Arbeitsweise des Genies nichts 
wissen. Die wenigen psychologischen Genies der letzten 150 Jahre — man 
kann sie an den zehn Fingern abzählen — haben sich zu dieser Arbeit nicht 
gerade gedrängt. — Auch die übrigen drei Punkte sind auszuschließen, da 
Stendhal weder an einer Schizophrenie noch an einer Moral insanity litt, noch 
die Beobachtung des Ödipuskomplexes ursprünglich an jemand anderem ge- 
macht hatte. 

Wir sind also genau so klug als wie zuvor und werden höchstens ahnen, 
daß masochistische, selbstquälerische Motive bei dieser Introspektion eine Rolle 
spielen werden. Doch bringt uns dies bezüglich der Genese der Entdeckung 
des Ödipuskomplexes bei Stendhal nicht sehr weit. 

Es gibt offenbar noch eine fünfte Möglichkeit, die die Selbstentdeckung 
des positiven Ödipuskomplexes erklären könnte: wenn nämlich der nega- 



8o Edmund Bergler 



tive Anteil des Ödipuskomplexes von überragender Stärke wäre, 
bestünde in einer für den unbewußten Teil des Ich gefährdeten Situation die 
Kompromißtendenz, das weniger Unangenehme preiszugeben, um das 
"Wichtigere, bewußt aber noch Peinlichere festhalten zu können.* 
Somit müßte die unbewußt-homosexuelle Tendenz in Stendhals 
Psyche eine der entscheidenden Triebkräfte sein, die sein Ich mit 
allen Mitteln, auch um den Preis weitestgehender Verdrängungsverzichte, auf- 
rechtzuerhalten versuchte. 

Ich bekenne mich zu dieser Ansicht und will, an Hand des autobiographi- 
schen und literarischen Materials Stendhals, vorerst diese These begründen. 

I. Stendhals unbewußte Homosexualität 
Stendhal schildert seinen Vater als „häßlichen, knifflichen Menschen, dem 
jede Anmut fehlte". „Diesen Mann" — bei der Aufzählung der Familienmit- 
glieder nennt er den Vater an letzter Stelle und führt ihn mit den "Worten 
ein: „Zur Familie gehörte endlich mein Vater" — , behauptet Stendhal gehaßt 
und verachtet zu haben. Der Sohn kann sich gar nicht genug tun in ver- 
ächtlichen Ausdrücken, die dem Aussehen, dem advokatorischen Beruf, dem 
Eigennutz, dem Erziehungssystem, den politischen Ansichten des Vaters gelten. 
Immer wieder kehrt im „Henri Brulard" der Satz von der „freudlosen Kind- 
heit" wieder. Fragt man erstaunt, was denn dem Vater Meritorisches vorge- 
worfen werden kann, dann reduziert sich alles Geschimpfe auf die Tatsache, 
daß der Knabe in ziemlicher Abgeschiedenheit erzogen wurde. „Ich wurde 
finster, haßte alle Menschen. Mein Hauptunglück war, daß ich nicht mit 
anderen Jungen spielen durfte." Bedenkt man, daß Stendhals Jugend in die 
französische Revolutionszeit fällt (er wurde 1783 geboren), daß der Vater des 
Knaben wegen seiner aristokratischen, bourbonenfreundlichen Gesinnung als 
„notorisch verdächtig" unter Polizeiaufsicht stand, sich zeitweise verborgen 
halten mußte und unter dem Terror sehr ernstUch gefährdet war und mit 
Recht um sein Leben bangte, dann ist diese Isolierung nicht weiter ver- 
wunderlich. Daraus konstruiert aber Stendhal „eine Gefangenschaft", ein 



4) Da die Psyche auch nach derft Lustprinzip arbeitet, sind in psychischen _ Gefahren- 
situationen solche Preisgaben wichtiger, normalerweise verdrängter, Tendenzen nicht weiter 
erstaunlich und in der Analyse studierbar. Als harmlosestes Beispiel sei die typische, jedem 
Analytiker bekannte Situation herangezogen, in welcher der Patient zu Beginn der Ordina- 
tion mitteilt, er hätte zwei Träume in der vergangenen Nacht gehabt. Der erste sei noch 
erinnerHch, der zweite verdrängt. Fordert der Analytiker nach Anhören des ersten Traumes 
den Patienten auf, seine Assoziationen zum Traum mitzuteilen, dann passiert es häufig, daß 
der erste Einfall lautet: „Ah, jetzt fällt mir der zweite Traum ein." Offenbar war das 
Preisgeben verdrängter Einfälle für das Ich des Patienten noch peinlicher, als der zweite 
Traum. Ein Patient sprach bei solchen Gelegenheiten von „Greislergeschäften" des un- 
bewußten Anteils des Ichs. 



„armes, verfolgtes Bürschchen, das fortwährend gescholten wurde", das von 
einem verhaßten Erzieher (Abbe Raillane) erzogen wurde. „Ich haßte meinen 
Vater, von dem der Abbe seine Gewalt hatte und haßte noch mehr die 
Religion, in deren Namen er mich tyrannisierte." . . . „Ich verabscheute alles, 
was mein Vater oder der Abbe mich lehrten." Dabei muß Stendhal selbst zu- 
geben, daß er selbst in seinem berserkerischen Haß dem Vater unrecht tut 
(„Ich war sehr boshaft und ungerecht gegen meinen Vater"), der sich übrigens 
sehr viel um den frühverwaisten Knaben kümmerte: „Ich spazierte mit meinem 
Vater durch seine Felder und hörte ungnädig der Auseinandersetzung seiner 
Pläne zu." Die Liebe des Vaters eskamotiert Stendhal sehr einfach weg: „Er 
liebte mich nicht als Individuum, sondern nur als Sohn, der seine Familie 
fortpflanzen sollte." Das ganze Milieu führte nach Stendhals Angabe dazu, 
daß er „mit jedem Tage finsterer, tückischer und unglücklicher wurde". „Ich 
war also ein großer Duckmäuser und sehr boshaft" . . , und „alles, was niedrig 
und platt ist im bürgerlichen Stil, erinnert mich an Grenoble. Alles, was mich 
an Grenoble erinnert, erregt mir Abscheu; — Abscheu, das ist zu vornehm: 
Übelkeit. Grenoble ist für mich die Erinnerung an eine abscheuliche Ver- 
dauungsstörung." 

Nun war der Vater, Cherubin Beyle, gewiß besser als der Ruf, den ihm 
sein Sohn in der Weltliteratur verschaffte. Vor allem die Tatsache, daß er 
das Sterbezimmer seiner Frau abschloß und zehn Jahre niemanden hereinließ, 
zeigt, daß er keineswegs so gemütsroh war, wie Stendhal ihn schildert. Im 
gleichen Sinn spricht die Tatsache, daß er den Kindern keine Stiefmutter gab, 
in späteren Jahren dem Sohne den Aufenthalt in Paris ermöglichte und ihm 
immer wieder Geld sandte usw. Dabei machte es Stendhal dem armen Manne 
keineswegs leicht, in ihm sein Fleisch und Blut zu sehen: „Meine Familie ge- 
hörte zu den aristokratischesten der Stadt und das genügte, daß ich mich auf 
der Stelle als wütenden Republikaner fühlte." Und der Knabe hielt mit dieser 
Meinung keineswegs hinter dem Berge: Als zwei Priester von den Revolutio- 
nären wegen ihrer königstreuen Gesinnung öffentlich hingerichtet wurden, 
verteidigt Stendhal den politischen Mord. „Mein geringes Mitgefühl mit den 
beiden Hochverrätern war mir sicherlich an den Augen abzulesen . . . Man 
zankte mich erbärmlich aus. Mein Vater bekam einen der größten Wut- 
anfälle gegen mich, an die ich mich erinnere." Nicht anders verhielt sich der 
Knabe beim Prozeß Ludwig XVI.: 

„Da kam die Nachricht von der Verurteilung des Königs. Meine Angehörigen waren 
in kopfloser Verzweiflung. ,Nie wird man es wagen, dieses niederträchtige Urteil voll- 
strecken zu lassen' sagten sie. .Warum nicht?' dachte ich, .wenn er Verrat begangen hat' . . . 
.Ich muß doch hören, was die Ungeheuer getan haben', sagte mein Vater. .Hoffentlich 
haben sie den Verräter hingerichtet', dachte ich. Dann machte ich mir so meine Ge- 
danken über den außerordentlichen Unterschied zwischen meinen Empfindungen und 
B e r g 1 e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 6 



82 Edmund Bergler 



denen meines Vaters . . . Ich erwog den Fall zwischen meiner Familie und mir, als mein 
Vater zurückkam. ,Es ist geschehen', sagte er mit einem tiefen Seufzer, ,sie haben ihn 
ermordet'. Ich wurde von einer der freudigsten Regungen ergriffen, die ich 
in meinem Leben gespürt habe. Der Leser wird mich vielleicht für grausam halten, aber 
so war ich mit zehn Jahren, so bin ich noch heute mit zweiundfünfzig." 

Und als der Volksbeauftragte Amar den Namen von Stendhals Vater auf 
die Liste der Verdächtigen setzt mit der lieblichen Aussicht auf Verhaftung 
und Revolutionstribunal, spielt sich folgende Szene ab: 

„Meine Angehörigen drückten in feinen Worten den ganzen Abscheu aus, denen der 
Name Amar ihnen einflößte. ,Was willst du denn?' sagte ich zu meinem Vater, 
,Amar hat dich auf die Liste derer gesetzt, die dringend verdächtig sind, keine Anhänger 
der Republik zu sein. Mir scheint, es ist sicher, daß du keiner bist.' Über diese Worte 
errötete die ganze Familie vor Zorn. Man war drauf und dran, mich in Stubenarrest 
zu schicken, und beim Abendessen, das bald darauf gemeldet wurde, richtete keiner das 
Wort an mich. Ich versank in tiefes Nachdenken. Es ist die lautere Wahrheit, was ich 
gesagt habe! Mein Vater setzt seine Ehre darein, die neue Ordnung der Dinge, wie die 
Aristokraten damals sagten, zu verabscheuen. Welches Recht haben sie, sich zu erzürnen?" 

Man sieht, der Vater konnte tun und lassen, was er wollte, der Sohn war 
scheinbar sein erbitterter Feind. Jede "Wohltat und Güte wird sofort herab- 
gesetzt. Als z. B. der Vater beim Abschied des 1 6jährigen Sohnes bei seiner 
Reise ans Pariser Polytechnikum Abschiedstränen vergoß, registriert Stendhal: 
„Was ich zu berichten habe, ist nichts Schönes. Im letzten Augenblick vor 
det- Abreise, in Erwartung des Wagens, verabschiedete ich mich von meinem 
Vater . . . Der einzige Eindruck, den seine Tränen auf mich machten, war der, 
daß ich ihn sehr häßlich fand." 

Nun gab es nach Stendhals Worten außer dem Vater noch einen „zweiten 
Teufel, der gegen seine Kindheit losgelassen war: die Tante Seraphie". 
Diese Tante war die Schwester der verstorbenen Mutter Stendhals und über- 
nahm nach deren Tode die Führung des Haushaltes. Stendhal bezeichnet sie 
als bösartige, „sauertöpfische Betschwester", mit der Verbitterung des hüb- 
schen, unverheirateten Mädchens. Er bezichtigt seinen Vater und Seraphie 
sexueller Beziehungen, meint sogar, daß diese Tante ihn als „gesetzliches oder 
moralisches Hindernis" einer Ehe mit Cherubin Beyle auffaßte und den Kna- 
ben deshalb haßte. An anderer Stelle bezweifelt er wieder seine eigene An- 
gabe und meint, die Tante „hatte, ich weiß nicht warum, eine Pike auf mich 
und ließ mich von meinem Vater fortwährend ausschelten". Nun besteht gar 
keine Ursache zur Annahme, daß gerade Stendhal von Seraphie als Ehe- 
hindernis aufgefaßt wurde (Stendhal hatte ja noch zwei Schwestern), und wir 
kommen der Wahrheit viel näher, wenn wir folgendes annehmen: Der Knabe 
hatte seine Mutter leidenschaftlich geliebt und seinen Vater als Störer gehaßt, 
diese ödipuswünsche stießen auf die Schranke der Kastrationsangst vor dem 
Vater, es kam zu einem für den passiv-femininen-unbewußt-homo- 



Stendhal 83 



sexuellen-narzißtischen Typus charakteristischen psychologischen 
Penisverzicht (Selbstkastration) nach der Formel: „Jetzt bin ich Frau 
(= Mutter) und du, Vater, liebe mich, wie du die Mutter liebtest." Erleichtert 
■wurde diese feminine Einstellung durch die Schönheit der Mutter, mit der 
sich der häßliche Knabe identifizierte, bzw. durch die Liebe zu ihr. Er liebte 
also narzißtisch sich selbst in ihr. Nun hatte der Knabe das Unglück, 
knapp nach dem Höhepunkt des Ödipuskomplexes die Mutter zu verlieren, 
somit war die unbewußte Erwartungsvorstellung, vom Vater geliebt zu wer- 
den, scheinbar realisabel. In Wirklichkeit wandte sich der Vater der Tante 
Seraphie zu. So wurde diese zur sexuellen Konkurrentin, der Vater zum 
ungetreuen Liebhaber^ und beide mit dem infernalischen Haß des 
Enttäuschten belegt. Es gibt hiefür einen geradezu pathognomonischen 
Beweis in einer Äußerung Stendhals im „Henri Brulard". Nachdem Stendhal, 
wie früher zitiert, Pech und Schwefel auf den „bösen Vater" herabbeschworen 
hatte, heißt es: „Ich verabscheute meine jüngere Schwester Zenaide 
. . . weil mein Vater sie liebte, weil er sie jeden Abend auf seinen 
Knien einschlafen ließ..." Somit ist all der Haß, den Stendhal durch 
sechs Jahrzehnte gegen den Vater verspritzt, die Enttäuschung des homo- 
sexuell Ungeliebten und zugleich ein Schutzwall gegen das Be- 
wußtwerden dieses seines tiefsten, verdrängten, unbewußt homo- 
sexuellen "Wunsches. Das erklärt zum Teil auch die Unversiegbarkeit 
dieses Hasses: je stärker die unbewußt homosexuellen Wünsche an die Ober- 
fläche drängten, desto stärker mußte der Haß gegen den Vater in den Vorder- 
grund treten. So häuft er Schmähung, Herabsetzung, Vorwürfe der Nieder- 
tracht gegen den Mann, der nur eine Sünde beging: ihn nicht zum sexuellen 
Liebesobjekt genommen zu haben. Daher kommt es, daß Stendhal als 52 jähri- 
ger in der Postkutsche nach Rom, ganz gegen seine Gewohnheit, ein hübsches 
Mädchen ignoriert, weil dieses ihn an die Nase (!) des Abbe Raillane (= Vater) 
erinnert. 

Dieser Vaterhaß hat freilich nicht nur Stendhal selbst zur Unkenntlich- 
machung seiner unbewußten Homosexualität verholfen, er täuschte auch seine 
Biographen. Diese glauben ihm — von gelegentlichen Hinweisen auf Sten- 
dhalsche Übertreibungen abgesehen — die Situation seiner Kindheit, so wie er 
sie in „Henri Brulard" schildert. Und Sera, sein italienischer Bearbeiter, hat 
in einem ganz anderen Sinne recht, als er vermeinte, wenn er ausruft: „Das 
Hauptvergnügen Stendhals bestand darin, anders zu scheinen als er wirk- 
lich war . . . Die Anklagen seiner Feinde würden ihm aber die Befriedigung 
gewähren, daß man auch heute noch für bare Münze nimmt, was er bei 

5) Natürlich mobilisierte dieser Haß aus dem negativen Ödipuskomplex den älteren 
aus der Blütezeit des positiven. 

6» 



84 Edmund Bergler 



Lebzeiten über seine Person in Umlauf gebracht hat." Das Groteske liegt 
darin, daß der Vaterhaß nicht nur Stendhal selbst das so eifrig und emsig 
gesuchte innere Wesen seiner Psyche verdeckte — man denke daran, daß 
Stendhal seine Biographie zu dem Zwecke schreibt, um zu erfahren, was er 
eigentlich sei: „Ich werde fünfzig Jahre alt, es wäre wohl Zeit, mich kennen- 
zulernen. "Was bin ich gewesen? "Was bin ich? Wahrhaftig, ich wäre sehr 
in "Verlegenheit, wenn ich es sagen sollte" — , sondern daß dieser Haß auch 
den Biographen Scheuklappen lieferte und sie auf den ausgetretenen Spuren 
von Stendhals Verdrängungen wandeln ließ! — 

Ist man einmal auf die Tatsache der unbewußten Homosexualität auf- 
merksam geworden, dann ergibt sich eine Fülle von Bestätigungen. So ist 
etwa die bekannte Tatsache, daß Stendhal stets verliebt war (sein Freund 
Prosper Merimee sagt im bekannten Stendhal-Nekrolog: „Ich habe ihn nie 
anders als verliebt gesehen oder im Glauben, es zu sein), ähnlich zu werten 
wie der Vater haß: als subjektiven negativen Beweis der Homosexualität, 
etwa nach der primitiven unbewußten Formel: „Ich kann ja gar nicht den 
Mann lieben, da ich die Frau anbete." — Ebenfalls bei Merimee nachzulesen 
ist folgende Szene: 

Einmal erzählte mir B., er habe das Leben von ** zu einem Drama gestaltet. Er 
habe ihn als schlichte, gerade Natur dargestellt, empfindsam und gütig, aber nicht fähig, 
Menschen zu befehlen . . . „Spielt die Liebe eine Rolle in deinem Stück?" fragte ich. — 
„Eine große!" gab er zur Antwort: „Er liebte . . ., seinen Lieblingsschüler..." 
B. behauptete, alle großen Männer hätten seltsame Neigungen gehabt, und 
berief sich auf Alexander, Cäsar, ein Dutzend römischer Päpste usw. Und selbst Napoleon 
habe eine Schwäche für einen seiner Adjutanten gehabt. 

Und Stendhals Julien Sorel (in „Rouge et Noir") schreibt auf die Rück- 
seite eines Napoleonbildnisses Liebesergüsse, auf welche Mme. Renan, in 
der Meinung, es handle sich um eine Frau, eifersüchtig ist. 

In die gleiche Kerbe der passiv-homosexuellen Vergewaltigungsphantasien 
schlägt Stendhals Vorliebe für die Renaissance. Er verliebte sich, wie 
einer seiner Biographen sagt, in das italienische Mittelalter, in die Kraft und 
„Energie" ihrer Heroen. Dieser „theoretische Herrenmensch" (Weigand) 
bewunderte die „Energie" (d. h. ausgelebte Aggression), wo er sie im kraft- 
losen 19. Jahrhundert fand: bei Raubmördern (mit Recht macht Weigand 
darauf aufmerksam, mit welcher Begeisterung Stendhal in „Promenades 
dans Rome" vom Mörder Lassargue, der seine Geliebte umgebracht hatte, 
spricht) und bei Gesetzesbrechern jeder Art. Und in seinem letzten Roman 
„Amiele" identifiziert sich Stendhal mit der Heldin, einem jungen 
Mädchen, das dem Verbrecher Valbayre Helfershelferdienste leistet. 
(Wörtlich heißt es in Stendhals unvollendetem Szenarium: „In Valbayre 
bewundert Amiele den Tatmenschen, den Mörder.") Daß auch Amiele, wie. 



Stendhal 85 



alle Helden Stendhalscher Romane, mit dem Autor Stendhal identisch ist, 
haben Leon Blum und Blei gesehen: „II (Stendhal) se transportera meme — 
et c'est la singularite du roman de Lamiel — dans un autre sexe . . . Lamiel 
n'est autre chose que JuHen Sorel en jupons" (Blum). Und Blei nennt 
„Amiele" eine kuriose Autobiographie Stendhals in weiblicher Über- 
setzung. Man kann, wie ich hinzufügen möchte, diese Identifizierung 
Stendhals mit einem Mädchen aus folgendem beweisen: Amiele hat die 
gleiche Bewunderung für Verbrechen wie Stendhal, das Dorfmädchen inter- 
essiert sich als Dirne (Homosexualität!) plötzlich für Mathematik (!) wie 
der entlaufene Mathematikschüler Stendhal, will eine Herzogin „seelisch stu- 
dieren" und — das ist das Entscheidende — verhält sich bei ihrer Entjung- 
ferung wie der 18jährige Stendhal. Amiele „mietet" für drei Taler einen 
gleichgültigen „semmelblonden Dorftölpel" Berville, um sich von ihm ver- 
führen zu lassen; 

Am folgenden Tage traf sich Amiele mit Hans im Walde. Er hatte seinen Sonntags- 
anzug an. „Küsse mich", befahl sie. Hans küßte sie. Sie bemerkte, daß er sich ihrem 
Wunsche gemäß hatte rasieren lassen. Sie lobte ihn deswegen. „Das ist doch selbstverständ- 
lich!" meinte er lebhaft. „Sie sind meine Gebieterin! Fräulein, Sie zahlen gut und Sie sind 
so hübsch !" „Du hast recht!" sagte Amiele. „Ich will deine Liebste sein." „Das ist etwas 
anderes!" erklärte Hans pflichtschuldigst und ohne weiteres, ohne Zärtlichkeit, machte er, 
der junge Normanne, Amiele zu seiner Liebsten. „Ist das alles?" fragte sie. „Ja", 
erwiderte er. „Hast du schon viele Liebsten gehabt?" — „Drei!" — „Und es ist nichts 
weiter dabei?" — „Daß ich nicht wüßte!" bestätigte er. „Soll ich wiederkommen, 
Fräulein?"... „Was", wiederholte Amiele voll Erstaunen, „die Liebe ist weiter 
nichtsalsdas!?..." 

Stendhals erster Koitus in Mailand spielt sich bei einer Publica ab, die er 
— wie Amiele Berville — bezahlte. Die Reaktion war die gleiche, wie bei 
Amiele: „Quoi, Vamour n'est-ce que ga?" Es ist klar, daß der Tölpel Ber- 
ville auch Stendhal repräsentiert. Auf diese aus der starken Bisexualität, 
bzw. der weiblichen Identifizierung stammende Eigenschaft Stendhals, 
Mann und Frau zugleich in so ausgeprägtem Maße personifizieren zu 
können, wird im weiteren noch eingegangen werden. 

Somit reduziert sich Stendhals „Vergötterung der Energie" neben einer 
Kompensation seiner Timidität und Potenzstörung (siehe später) auf unbe- 
wußte Vergewaltigungsphantasien, wobei Stendhal wieder beide Rollen un- 
bewußt mimt: die des aggressiven Tatmenschen und vor allem die des ver- 
gewaltigten, passiv-masochistisch genießenden Opfers. 

Die Frage, weshalb Stendhal, der große Frauenkenner, so häufig, so aus- 
giebig und unter so plumpen Modalitäten von seinen jeweiligen Freun- 
dinnen sexuell hintergangen wurde, ohne es zu merken, wird von den' 
Biographen überlegen lächelnd mit der "Weltfremdheit des Dichters beant- 



86 Edmund Bergler 



wertet. Tritt man weniger naiv und überheblich an die Frage heran, ergibt 
sich freilich ein anderes Bild und die analytische Erfahrung, daß hinter 
einem solchen Übersehen häufig ein unbewußtes Nichtsehenwollen ver- 
borgen ist, ist auch im Falle Stendhals nicht abzuweisen. Als ihn Angiola 
Pietragrua, seine erste und stärkste Leidenschaft, betrog, verzieh er ihr nach 
einiger Zeit. Stendhal schilderte seine Gefühle Jahre später Merimee folgen- 
dermaßen: 

„Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich vermochte nicht zu denken. Eine un- 
erträgliche Last bedrückte mich, ohne daß ich mir klar ward, was es eigentlich war. 
Das ist das schlimmste Unglück: es raubt einem alle Willenskraft. Sowie ich mich ein 
bißchen von meiner Benommenheit erholt hatte, erfaßte mich eine seltsame Neugier, 
alle ihre Treubrüche zu erfahren. Ich ließ sie mir bis in die Einzel- 
heiten berichten. Das tat mir schrecklich weh, aber ich empfand dabei doch ein 
gewisses körperliches Vergnügen, sie mir in allen Lagen vorzustellen, die man 
mir schilderte." 

Diese Mischung von masochistischen und unbewußt homosexuellen Ge- 
nüssen ist uns aus Analysen von Neurotikern gut bekannt, wobei einerseits 
eine Identifizierung mit dem fremden Mann (unter gleichzeitigem Genuß 
von Voyeurlust — siehe Kapitel III), anderseits mit der koitierten Frau 
stattfindet.^ 

Ähnliches praktizierte Stendhal, wenn er in „Souvenirs d'egotisme" be- 
kennt: 

Ich habe die unglückliche Fähigkeit, meine Neigungen auf andere zu übertragen. Oft, 
wenn ich meinen Freunden von meiner Geliebten erzählte, habe ich sie ver- 
liebt gemacht oder, was noch schhmmer ist, meine Geliebte in meinen Freund, 
den ich wirklich liebte. 

"Wie weit diese unbewußte weibliche Identifizierung bei Stendhal ging, 
beweist die Gegenüberstellung folgender Aussprüche. Von seinem Alter ego 
Jules Sorel (in „Rouge et Noir") sagt er: 

Sein Teint war so hell, seine Augen so sanft, daß Frau von Renal ihn in ihrer etwas 
romantischen Neigung im ersten Augenblick für ein vefkleidetes junges Mäd- 
chen hielt. 

Und Über sich berichtet Stendhal im „Henri Brulard"; 

Ich habe eine viel zu zarte Haut, eine richtige Frauenhaut. Später bekam ich 
immer Blasen in der Hand, wenn ich meinen Säbel eine Stunde lang gehalten hatte. Um 
ein Nichts reiße ich mir die Haut von den Fingern, mit einem Wort, der Überzug meines 
Körpers ist der einer Frau. 

So kommt es, daß in seinen Werken so häufig verkleidete Frauen in 
Männerkleidern vorkommen (z. B. in „Vanina Vanino"), daß die Gym- 
nasiastenleidenschaft Stendhals, Mlle. Cubly, eine Hosenrolle als Glanzrolle 

6) Ich verweise auf den Abschnitt „Anonymer Koitus" meiner Arbeit „Über einige noch 
nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung". Int. Ztschr. f. Psa., 1934, H. 2. 



Stendhal 87 



hatte, daß Stendhal seine Freundin Angiola Pietragrua häufig in seinen Hiero- 
glyphen „Contessa Simonetta" nennt und sich selbst den gleichen Namen 
beilegt („Colonel Simonetta", Brief an seine Schwester Pauline, 8. Oktober 
1813). 

Last not least sei zur Stütze der homosexuellen Diagnose auf die para- 
noiden Züge Stendhals verwiesen. Merimee sagt darüber: 

Man behauptet, vor der Polizei des Kaiserreichs hätte kein Geheimnis bestanden. 
Feucht habe alles gewußt, was in den Pariser Salons geredet wurde. B. war überzeugt, daß 
diese Riesenspionage weiterbestehe. Infolgedessen tat er auch das Belangloseste nur unter 
allen möglichen Vorsichtsmaßregeln. Er unterschrieb seine Briefe zumeist mit erdichteten 
Namen, wie Cäsar Bombet, Catouet usw. Auch datierte er sie z. B. aus Abeille statt aus '-■* 
Und oft begann er mit einem Satze derart: „Die empfangene Rohseide habe ich bis zu 
ihrer Verfrachtung per Schiff gelagert . . ." Alle seine Bekannten hatten bei ihm einen 
Decknamen, nie nannte er sie anders, denn so. Kein Mensch hat genau gewußt, mit wem 
er verkehrte, welche Bücher er geschrieben und was für Reisen er gemacht hat. 

In Wirklichkeit gingen Stendhals Vorsichtsmaßregeln noch viel weiter, 
als dies Merimee angibt. Vor allem schafft sich Stendhal beim Schreiben 
ein französisch-italienisch-englisches Kauderwelsch und dieses — chiffriert 
er noch. Das Entziffern Stendhalscher Manuskripte ist — so grotesk dies auch 
klingen mag — noch heute undurchsichtiger und hoffnungsloser als das von 
ägyptischen Hieroglyphen. Vieles ist auch heute noch unentziffert und ver- 
modert in der Grenobler Stadtbibliothek. So war z. B. Stendhals schönster 
Roman „Lucien Leuven" lange unentzifferbar, ja ist es zum Teil heute 
noch, z. B. die Rückkehr Luciens nach Nancy. Von sachkundiger Seite 
wird die Vermutung ausgesprochen, daß der Roman nicht vollendet wurde, 
weil Stendhal seine Chiffren selbst nicht lesen konnte. Ein Beispiel: Im 
„Henri Brulard" berichtet Stendhal, er hätte an seinem fünfzigsten Geburts- 
tag innen auf seinen Gürtel geschrieben: „Ich werde 50 Jahre alt", so ab- 
gekürzt, um nicht verstanden zu werden: /. vaisa voir la 5." (!) 

IL Stendhals Ich-Ideal und die masochistischen Konsequenzen 
Stendhal bedient sich im „Henri Brulard" der Schwarzweißmalerei: dem 
bösen Trio: Vater- Abbe Raillane-Seraphine steht das strahlende Duo: Groß- 
vater-Tante Elisabeth (Schwester des Großvaters) gegenüber: 

„Die Quelle allen Ehrgefühls, aller erhabenen und stolzen Empfin- 
dungen der Familie war meine Tante Elisabeth. Diese Empfindungen herrschten 
despotisch in unserem Hause . . . Ich vergötterte diese Frau, die von einer seltenen Er- 
habenheit des Charakters war und damals fünfundsechzig Jahre sein mochte . . . Meine 
Tante Elisabeth hatte eine spanische Seele. Ihr Charakter war das zarteste Ehrgefühl. Sie 
übertrug auf mich ganz und gar ihre Art zu fühlen, daher die vielen lächer- 
lichen Streiche, die ich aus Zartgefühl und Seelengröße begangen habe . . . Heute noch 
sagt der treffliche di Fiori zu mir „Sie spannen Ihre Netze zu hoch" (Thukydides) . . . 



88 Edmund Bergler 



Tante Elisabeth pflegte zu sagen, wenn sie etwas außerordentlich bewunderte: ,Das ist 
schöner als der Cid' . . . Tante Elisabeth verdanke ich die abscheuKchen, adligen Narr- 
heiten im spanischen Geschmack,- deren Opfer ich während der ersten dreißig Jahre 
meines Lebens gewesen bin... Die spanische Empfindungsweise, die ich meiner Tante 
Elisabeth verdanke, entfernte mich vom wirklichen Leben. Ich dachte nur an Ehre, 
an Heldenmut. Ich verfüge nicht über die geringste Lebensgewandtheit, nicht über den 
unschuldigsten Kunstgriff, um mir zu helfen. Ich hatte gar keine Anlage zu süßtuerischer, 
jesuitischer Heuchelei. Das ist meiner Erfahrung, meiner Vernunft, meinen inneren Vor- 
würfen über zahllose Prellereien, deren Opfer ich infolge meines Spaniertums geworden 
bin, zum Trotz, meine Schwäche geblieben. Noch heute fehlt mir diese Lebensgewandtheit. 
Jeden Tag, wenn ich nur das Geringste kaufe, werde ich infolge meines Spaniertums um 
einen oder zwei Paolos geprellt." (Zitiert aus verschiedenen Abschnitten des „Henri Brulard".) 

Auch der Großvater mütterlicherseits war ein soignierter, gebildeter, vor- 
nehm denkender Mensch, den Stendhal seinen „wahren Vater und ver- 
trauten Freund" nennt. Der Großvater liebte den Knaben sehr und wurde 
wiedergeliebt. An anderer Stelle seiner Memoiren sagt Stendhal sogar, der 
Großvater Hebte nur ihn. Es ist durchsichtig, daß ein Teil der homo- 
sexuellen Liebe, die Stendhal zum Großvater empfand, eigentlich dem 
Vater galt. Es handelt sich um einen recht typischen Verschiebungsvor- 
gang, um eine Flucht vor der unbewußten Homosexualität, wobei neben 
liebenden auch herabsetzende Tendenzen (auf letztere hat Abraham auf- 
merksam gemacht) zum Ausdruck kommen. 

Immer wieder konstruiert Stendhal einen Gegensatz zwischen den Gag- 
nons (dies der Name der Familie des Großvaters) und den Beyles. Dieser 
Gegensatz wird noch durch die Abkunft der Gagnons verstärkt: diese 
stammten aus Italien und Stendhals Mutter soll noch Dante im Original 
gelesen haben. Der Großvater war ein kritischer, skeptisch-ironischer Arzt 
mit leiser Menschenverachtung, der jede andere als die ungekünstelte Aus- 
drucksweise verpönte. (Daher leitet sich zum Teil Stendhals Abwehr gegen 
die schwulstige Schreibweise her.) 

Die Identifizierung Stendhals mit dem Großvater und der Tante Elisa- 
beth ist tatsächlich unverkennbar und bildet denjenigen Teil seines Ich- 
Ideals, der durch Identifizierungen entstand. In einer klinischen Arbeit des 
Verfassers gemeinsam mit L. Jekels versuchten wir u. a., die häufig nicht 
differenzierten Inhalte des Über-Ichs genetisch und triebpsychologisch zu 
sondern.'' Das Über-Ich trägt nach Freud ein „Doppel an tlitz", das er 
in die Formeln „Du sollst" und „Du darfst nicht" gefaßt hat. Von 
der ursprünglichen Formulierung Freuds ausgehend, meinten wir, das 
Ich-Ideal (das „Du sollst") komme zustande als Kompromiß des ur- 
sprünglichen kindl ichen Narzißmus mit den Anforderungen der Außen- 

7) „Übertragung und Liebe." „Imago", 1934, H. i. 



Stendhal 89 



weit. Diesen gegenüber habe das Kind infolge seiner Hilflosigkeit nur die 
"Wahl, auf seinen infantilen Größenwahn zu verzichten und narzißtisch zu 
kapitulieren, oder die Gebote und Verbote der Repräsentanten der Außen- 
welt, d. h. der Eltern, zwar aufzunehmen, den unfreiwilligen Akt aber 
zwecks fiktiver Rettung der Allmacht als freiwilligen zu drapieren und die 
Introjekte mit dem eigenen Narzißmus zu bekleiden. Die Ich-Idealbildung 
geht also auf dem Wege der Identifizierung vor sich und mit dieser ist stets 
die Desexualisierung verbunden. Das Ich-Ideal ist demnach desexual i- 
sierter Eros und entspricht jener von Freud in „Das Ich und das Es" 
postulierten indifferenten narzißtischen Energie, die jeweils zu den beiden 
Grundtrieben Eros und Thanatos hinzutreten und die Gesamtbesetzung des 
einen oder anderen Triebes erhöhen kann. So wird das Ich-Ideal, einer neu- 
tralen Zone zwischen zwei kriegführenden Parteien vergleichbar, das eigent- 
liche Kampfziel der beiden Giganten. Der Repräsentant des Thanatos im 
Über-Ich, der dessen zweiten Anteil konstituiert, das „Du darfst nicht", 
wofür wir den Namen „Dämon" vorgeschlagen haben, verdankt seine Ent- 
stehung dem mißlungenen Versuch des Eros, die ursprünglich gegen das 
eigene Ich gerichtete Aggression des Thanatos mittels Projektion auf Ob- 
jekte abzuführen. Die Projektion mißlingt in quantitativ verschiedenem 
Ausmaß: Erstens infolge der Hilflosigkeit des Individuums, da das kleine 
Kind gegen die Umgebung machtlos ist und kaum größere Aggressionen 
setzen kann. Zweitens deshalb, weil die gleichen Objekte, denen die kind- 
liche Aggression zugewendet wird (Eltern und Elternimagines), bereits ins 
Ich-Ideal aufgenommen wurden und dies eine Ermäßigung der Aggression, 
bzw. Selbstaggression zur Folge hat. Beides führt zur Stauung und Rück- 
wendung der Aggression gegen das eigene Ich (Gellerprinzip), das so be- 
drohte Ich gerät in Angst und gibt das Signal der Gefahr. — Das Ich- 
Ideal — die Stätte des desexualisierten Eros — wird aber vom Dämon des 
Über-Ichs — dem Thanatos — seinen ichzerstörenden Tendenzen dienstbar 
gemacht. Durch ständiges Vorhalten des „stummen Modells" des Ich-Ideals 
und Aufzeigen der Diskrepanz zwischen Ich und Ich-Ideal verschafft der 
Dämon dem Ich Schuldgefühle. 

Das Ich-Ideal, das ursprünglich zur Aufrechterhaltung des bedrohten Nar- 
zißmus konstituiert wurde, wird somit zur gefährlichen Waffe des Thanatos 
gegen den Eros. Vergebens versucht nun das Ich seinen zur Plage gewor- 
denen, selbstaufgerichteten Quälgeist abzuschütteln. Es tut dies durch Ent- 
wertung der im Ich-Ideal aufgenommenen Autoritäten, durch Aufzeigen 
ihrer Heucheleien, Inkonsequenzen usw. 

Daraus erklärt sich, daß, je hochgespannter die Ich-Idealforderungen eines 
Menschen sind, desto größer der Prätext ist, den er dem Dämon zu fort- 



go Edmund Bergler 



währenden Quälereien gibt. Ist dazu noch die Menge der nach außen ab- 
geführten Aggression (Thanatos) eine geringe, dann resultiert durch Sexuali- 
sierung dieser rückgewendeten Destruktion ein masochistischesich. 

Wir verstehen jetzt die Impetuosität der Anklage Stendhals: „Ich durfte 
niemals mit Altersgenossen spielen." Die „Glasglocke", unter welcher Stendhal 
erzogen wurde, bewirkte eine Erschwerung der Aggressionsabfuhr mit kon- 
sekutivem Verbleiben der Aggression beim eigenen Ich, d.h. unbewußter 
Masochisierung der ganzen Persönlichkeit. 

Wir müssen uns die Aggression Stendhals, deren Abfuhr nach außen später 
mißlang, sehr groß vorstellen. Dafür sprechen einige Stellen aus „Henri Bru- 
lard". Etwa Stendhals erste Erinnerung, die einen Wangenbiß betrifft, den 
er seiner Kusine, einer 2 j jährigen Frau, als Dreijähriger applizierte, als sie 
ihn zu einem Kuß zwingen wollte. — Das Kind benutzte zum Schneiden der 
Binsen, die es am Balkon pflanzte, ein Messer; dieses fiel „zufällig" auf die 
Straße und hätte „das boshafteste Weib der ganzen Stadt", das gerade vorbei- 
ging, verletzen können. Seraphie erklärte Stendhal für ein „Ungeheuer mit 
verruchtem Charakter", das die Dame ermorden wollte. — Mit einem Stöck- 
chen, das mit einem Messer angespitzt war, quält Stendhal ein Maultier, das 
den Knaben dafür mit beiden Hufeisen vor die Brust stößt. — Einige Jahre 
später wirft der Knabe mit Steißen nach einigen Damen, die, statt mit ihm zu 
spielen, „mit einem Nebenbuhler von 20 oder 25 Jähren liebäugeln". Die 
Ermordung des Königs ruft sexuelle Gefühle hervor, er schreibt begeistert als 
Elfjähriger die Namen aller Fürstenmörder auf, legt sich eine „Mörderliste" 
an usw. 

Stendhal sagte einmal, er sei mit Verachtung gegen die Außenwelt gebeizt. 
Er hätte ergänzen können: mit Verachtung und Masochismus. Denn alles 
und jedes wird Stendhal zum Vorwand, die gegen die eigene Per- 
son gekehrte Aggression lustvoll zu genießen: das Vorwärtskommen 
in der Welt, die Liebe und die Dichtung. Alle seine Romanhelden sind aus- 
gesprochene masochistische Lustsucher. Präziser: psychische Masochisten und 
Strafbedürftige, die sich ansonsten nicht verbotene Genüsse nur unter der Be- 
dingung der Bestrafung gestatten. Stendhals Fabrice del Dongo („Certosa von 
Parma") wird erst im Gefängnis, angesichts des Todes, ein glücklicher Mensch, 
Julien Sorel („Rouge et Noir") begeht nach einem Wort des M. de Frilair 
„eine Art Selbstmord" bei seiner Verteidigung („Ich habe mit Vorbedacht ge- 
tötet", sagt der Angeklagte), tut alles, um guillotiniert zu werden (provoziert 
z. B. maßlos die Geschworenen), bleibt im Angesicht des Todes ruhig, und 
konstatiert humorvoll, daß man „guillotinieren" sonderbarerweise nicht durch 
alle Zeiten durchkonjugieren könne. Das masochistische Genießen von 
Angstlust ist überhaupt das Um und Auf der „Certosa": Fabrice spricht in 



Stendhal g i 



höchster Gefahr von einer „netten Angst", und angesichts des Todes 
„herrscht dank einer Bizarrerie, über die er nicht nachdachte, in den Tiefen 
seines Herzens himmlische Freude". Vielfach genießen Stendhals Helden 
die Liebe erst knapp vor dem Schafott. Ja, die Liebe selbst wird Stendhal 
zur größten genußvollen Selbstquälerei, und er prägt in „De I'amour" den 
Grundsatz: „Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut 
haben, sie am Rande eines Abgrundes zu pflücken." Und von 
„Amiele" sagt Stendhal: „Selbst im wildesten Genuß strebt ihre glühende 
Phantasie nach noch Maßloserem und vor allem nach Gefahr, denn "Wol- 
lust ohne Gefahr ist ihr keine Wollust." (Siehe Laforgues bekannte 
Aufstellungen über die „Erotisierung der Angst".) 

Diese masochistische Selbstquälerei und der selbstquälerische Genuß — eine 
der Triebfedern Stendhals — sind ihm freilich keineswegs klar bewußt. Im 
Gegenteil. Sein bewußtes Ich-Ideal ist das des draufgängerischen, frisch- 
fröhlichen Frauenverführers. Es ist seinem Onkel, Romain Gagnon, einem 
Provinz-Don- Juan, nachgebildet. Bewußt leidet Stendhal scheinbar ledig- 
lich darunter, daß er bei Frauen timid, schüchtern, ängstlich und potenzge- 
stört ist. Revera leidet Stendhal unter der Stauung seiner passiv- 
homosexuell-weiblichen Wünsche, die ihm unbewußt sind, wobei 
die Unlust durch die Diskrepanz zwischen dem „männlichen" 
und weiblichen Ich-Ideal verstärkt erscheint. Für den Dämon ist 
das Resultat das gleiche: selbstzerstörende Selbstquälerei. Der neurotische 
Vorgang spielt sich im Ich ab, das — der größte Triumph des Eros — die 
Strafen des Dämons masochistisch genießt. Das unbewußte Antlitz 
seines Ich-Ideals ist das des kastrierten, weiblichen Stendhals: 
Lucien Leuwen im gleichnamigen Roman Stendhals beginnt z. B. seine Liebes- 
werbung um Mme. de Chasteller durch zweimaliges Stürzen vom Pferde. 
Diese "Wünsche können aber, da sie inzestgebunden sind (Mutter, Vater), 
weder bewußt, noch ausgelebt werden. So verschiebt sich das Bild: das Vor- 
halten des „stummen Modells" des Ich-Ideals wird vom Dämon weiterprakti- 
ziert, wobei der Dämon aus der Differenz zwischen dem „alten" männlichen 
und dem „neuerworbenen" weiblichen Ich-Ideal zu Quälzwecken Vorteil 
zieht. Der ganze Vorgang ist eine nicht zu überbietende Groteske: unter dem 
Druck des Dämons wurde die Selbstkastration vollzogen und das weibliche 
Ich-Ideal aufgerichtet. Sekundär wird aber durch Vorhalten des männlichen 
Ich-Ideals und Vergleich mit dem weiblichen dem Ich Schuldgefühl zudiktiert. 

Man könnte die Frage aufwerfen, weshalb Stendhal die Aufrichtung des 
Ich-Ideals nach dem Vorbild des Vaters nicht gelang. Dann hätte er sich 
viele „spanische" Quälereien erspart. Stendhal selbst betont wiederholt, daß, 
wenn ihn sein Vater und Abbe Raillane „verständiger zurechtgewiesen" 



ga Edmund Bergler 



hätten, er „ein ebensolcher Schurke geworden wäre wie sie". Dies kann nicht 
der ganze Tatbestand sein: Stendhals Ich war in der Knabenzeit ständig in der 
intrapsychischen Gefahr der unbewußt passiv-homosexuellen Hingabe, er 
spielte unbewußt Weib, das vom Vater vergewaltigt werden wollte. Die 
einzig wirksame Abwehr war die der chronischen Entwertung des Vaters, 
etwa die intrapsychische Beweisführung: „Ich liebe den Vater nicht, ich ver- 
achte ihn." Deshalb wurde reaktiv das „spanische" (Tante Elisabeth) 
und donjuaneske (Onkel Gagnon) Ich-Ideal aufgerichtet. Dies die 
tiefere Ursache seines krampfhaften „Idealismus". Idealismus bedeutete für 
Stendhal: anders sein als der prosaische Vater. 

Es ist nun überaus reizvoll, zu verfolgen, wie die verschiedenen Anteile von 
Stendhals Ich-Ideal miteinander und vereint gegen den Dämon ankämpfen. 
So etwa, wenn er in seiner Beziehung zur Gräfin Daru (der Frau seines Ver- 
wandten und Gönners) die Lehrsätze seines Onkels („Nur durch die Frauen 
kommt man vorwärts") zu Ehren kommen und sich zum Auditor im Staats- 
rat und Kronmobilien Verwalter ernennen läßt. Anderseits schlägt er (1814) 
angeblich einen Antrag des Grafen Beugnot, die Generaldirektion der Ge- 
treideversorgung von Paris zu übernehmen, ab, um lieber bei bescheidener 
Rente „Schönheitsbummler" in Italien zu sein („Ich wäre also reich, aber ich 
wäre ein Hallunke, ich hätte nicht die bezaubernden Visionen des Schönen, 
die noch mit 52 Jahren meinen Geist erfüllen"). Dies und Stendhals Bour- 
bonenhaß dürften die Ursache dieses „spanischen" Entschlusses gewesen sein. 
Oder, wenn er seine Inzestphantasien — soweit ihm seine ramponierte Potenz* 

8) Stendhals Potenz war, wie dies bei den passiv-feminin-unbewußt-homosexuellen 
Männern typisch ist, sehr gering, bzw. launenhaft und stand in krassem Gegensatz zum 
ewigen Wollen. Kastrationsangst aus der ödipussituation und unbewußte Weiblichkeits- 
wünsche führten zu seinen wiederholt eingestandenen Fiaskos. Sein Biograph Zweig 
schildert dies folgendermaßen: „Höchst unzeitgemäß (ja sogar im Körperlichen) hemmt eine 
ärgerliche Timidität seinen schönsten Elan, er wird ,tiraide et sot', wenn seine Galanterie 
aktiv werden müßte, zynisch, wenn er zärtlich sein sollte, und sentimentalisch in der Sekunde 
der Attacke, kurzum er versäumt und verpaßt über Kalkulationen und Unfreiheiten die 
schönsten Gelegenheiten. Gerade das Übermaß, die Überfeinheit seiner Empfindung macht 
ihn plump und linkisch, und aus Verlegenheit wieder, aus der Angst, sentimental zu scheinen 
und ,d'etre dupe', verbirgt der unzeitgemäße Romantiker seine Zartheit ,sous le manteau 
de husard', unter dem Husarenmantel einer lauten, brüsken Grobheit und Kosakendeutlich- 
keit. Daher seine ,fiascos' bei Frauen, diese geheime und schließlich von Freun- 
den ausgeplauderte Verzweiflung seines Lebens." Es ist nicht uninteressant, 
daß Stendhals erster Roman „Armance" einen Impotenten („Babilan" nennt dies Stendhal) 
darstellt. Stendhal erläutert das „Faktum des Babilanisme" in einem Briefe an Merimee 
vom 23. Dezember 1826: „Es gibt viel mehr Impotente, als man glaubt... Ich 
legte aber mit 43 Jahren, 11 Monaten, ein schönes Geständnis ab..." Im weiteren spricht 
er von der Möglichkeit, daß die Frau des Helden „avec la main lui donne deux ou irois 
extases chaque nuif ; eine Möglichkeit, die Octave de Malivert (der Held des Romans) 
nicht ausnützte und sich aus Verzweiflung vergiftete. — Es ist wahrscheinlich, daß die 
Onanie, die Stendhal in seiner Jugendgeschichte erwähnt, auch später das typische Be- 



Stendhal 93 



dies gestattet — auslebt und einerseits dem Gönner Daru die Frau wegnimmt 
und zugleich die „Spaltung von zärtlich und sinnlich" durch eine „Freundin 
in doppelter Ausgabe", wie er es nennt, betätigt (Gräfin Daru-Bereyter, Minn- 
chen Griesheim-Knebelhuber usw.). Anderseits ist es unverkennbar, daß ein 
Teil der Vorsicht des alten Cherubin Beyle auch auf seinen Sohn — auf dem 
Umweg über die Identifizierung — kam: es wird kein Zufall sein, daß 
Stendhal nach Paris am Tage nach dem 18. Brumaire, nach Mailand am Tage 
nach Marengo kam. Diese — trotz allem — lebenskluge Vorsicht, diese 
Fähigkeit zum Schlachtenbummel sub specie von Verwaltungsarbeit (er geht 
z. B. im italienischen Feldzug nach Italien, um ein Pferd, das Martial Daru in 
Genf zurückließ, nach Mailand zu bringen), und zwar durch Jahrzehnte fest- 
gehalten, war eine anerkennenswerte Leistung des „melancholischen Epi- 
kuräers" (Bourget und Weigand). Dies alles führt zu Stendhals Narzißmus. 

III. Stendhals Narzißmus und narzißtisches Voyeurtum 

„Wenn man am Sonntag sein wöchentliches Tagebuch schreibt, muß man 
sich bei jeder einzelnen Handlung gewissenhaft und ohne falsche Scham be- 
fragen: Hat mir dies und jenes wirklich Vergnügen bereitet?", schreibt 
Stendhal an van Praet (4. September 1822). Es wäre jedoch verfehlt, das End- 
ergebnis eines langen Kampfes mit dem Ausgangspunkt zu verwechseln. Erst 

friedigungsmittel Stendhals war (er schmachtet z. B. jahrelang in völliger Abstinenz 
Mathilde Dembrowska an), woran sich Schuldgefühle schlössen, die durch die luetische 
Infektion noch verstärkt wurden, da sie möglicherweise unbewußt als Bestrafung auf- 
gefaßt wurde. Letzteres sind freilich bloß Vermutungen. — In die Kategorie von Stendhals 
Kompensationen seiner Potenzstörung gehört möglicherweise auch seine sonderbare Vor- 
liebe für Feuerwerke und Feuersbrunst. So berichtet er seiner Schwester Pauline, nachdem 
er die Musik als Liebe bezeichnet hat und ihren Genuß höher wertet als Frauengunst, 
folgendes: „Ich habe dir schon einmal ein ähnliches Gefühlserlebnis erzählt. Das war in 
Frascati, als sich Adele auf meinen Arm stützte, während der Betrachtung des 
Feuerwerks. Ich glaube, es war einer der glücklichsten Momente meines 
Lebens. Der Genuß muß überirdisch gewesen sein..." (29. Oktober 1808). Am 5. Mai 
1809 notiert Stendhal in Enns: „Bei der Ankunft wie beim Abmarsch bewunderte ich die 
Lage von Lambach. Ich sagte mir: das ist eines der eindrücklichsten Bilder, die ich in 
meinem Leben gesehen habe. Und beim Anblick von ein paar aufgeprotzten Geschützen 
neben dem Klostertor meinte ich zu Lacombe: Hier fehlt nur der Feind und eine 
Feuersbrunst." Und den Brand von Moskau registriert er: „Gegen ii Uhr nachts ver- 
ließen wir die Stadt, die durch die schönste Feuersbrunst der Welt beleuchtet 
wurde. Sie bildete eine ungeheure Pyramide, deren Basis — wie die Gebete der Gläubigen 
— auf der Erde ruhte und deren Spitze in den Himmel ragte. Das Mondlicht drang durch 
diese Atmosphäre von Flammen und Rauch. Es war ein gewaltiges Schauspiel . . ." Neben 
sadistischen Motiven ist aus Analyseerfahrungen die Annahme zulässig, daß die Feuers- 
brunst als urethral-sexuelles Symbol unbewußt perzipiert wird, wobei die Feuersäule als 
Riesenpenis, mit dem der Zuschauer sich identifiziert, aufgefaßt wird. Vielleicht 
würde Stendhal das gleiche gesagt haben, was er beim Lesen eines Ausspruches, den er 
plagiiert, ausruft: „Das ist der reine Stendhal und er wird sich das bei Gelegenheit an- 
eignen." 



sehr spät — Anfang der Vierzig — gelingt es Stendhal, aus seinem verachteten, 
unschönen Körper doch noch etwas — wenn auch auf psychischem Gebiet — 
herauszuwirtschaften. „Was ist denn mein Ich?", fragt Stendhal 1817. „Ich 
weiß es nicht. Eines Tages in dieser Welt aufgewacht, finde ich mich an einen 
Körper, einen Charakter, ein Schicksal gebunden . . ." Diese Frage: „"Was ist 
denn mein Ich?" in hunderten Variationen wird für Stendhal zum genuß- 
vollen, detaillierten Selbstbeobachten. 

Stendhals Narzißmus ist am besten an seinen Auswüchsen: seinen weniger 
oder mehr realitätsangepaßten Größenideen, studierbar. Stendhal, der unbe- 
kannte Auditor im Staatsrat, bestimmte in seinem „Letzten Willen", ausge- 
sprochen in einem Briefe vom i. September 18 10, die Zinsen seines damals 
35.000 Fr. betragenden Vermögens zu einem internationalen alljährlichen 
„Stendhal-Preis" im Gebiete der Seelenkunde. Der Preis sollte aus einer gol- 
denen Denkmünze (mit der Inschrift: Nosce te ipsumi und: Bonheur dans 
la monarchie temperee) sowie einer wertvollen Shakespeare-Ausgabe bestehen . . . 

Oder: der noch unbekanntere, noch erfolglosere französische Konsul im 
päpstlichen Bagno Civita Vecchia schreibt Memoiren, die nur psychologische 
Details seiner eigenen Entwicklung enthalten. Wohl soll „Henri Brulard" 
eigentlich nur für den Autor selbst bestimmt sein, aber ständig schielt dieser 
im Jahre 1835 nach „dem Leser von 1880, 1900, 193J". Welche Selbstsicher- 
heit, daß die Menschheit in psychologicis sich entwickeln werde, spricht aus 
seiner Prophezeiung, er werde um die Jahrhundertwende — freilich nur von 
„the happy few" — verstanden werden. Oder aus seinen Worten: „Ich setze 
auf ein Los in einer Lotterie, deren Hauptgewinn darin besteht, im Jahre 
1 9 3 j gelesen zu werden." 

Oder: Balzac vermutete, daß Graf Mosca in Stendhals „Certosa" Metternich 
zum Vorbild habe. Stendhal wies diese Vermutung verächtlich zurück: 

„... ich habe keineswegs H. v. Metternich kopiert, den ich nicht gesehen habe, seit 
er 1810 in Saint-Cloud ein Armband aus den Haaren der dazumal so schönen Caroline 
Murat trug. Ich glaube, daß ich vielleicht 1860 oder 1880 einigen Erfolg haben werde. 
Dann wird man recht wenig von H. v. Metternich sprechen. Wer war erster Minister 
Englands zur Zeit Malherbes? Wenn man nicht unglücklicherweise zufällig auf Crom well 
stößt, bin ich sicher, daß niemand Antwort wissen wird." 

Oder: Stendhal hat mit geradezu verblüffender Frechheit plagiiert.» So 
plagiierte er z. B. in seinem Buche über Haydn unter dem Pseudonym L. A. C. 
Bombet den Italiener Carpani und machte ihn, als Carpani erregt protestierte, 
mit dem Hinweis auf sein Mozartbuch mundtot, das er Barelli „entlehnte", 
wovon aber Carpani nichts wußte. Das Plagiat an Carpani war um so kühner, 
als er selbst Anekdoten und persönliche Erlebnisse Carpanis als die seinen aus- 

9) Siehe die Arbeit des Verfassers „Das Plagiat" (Psychoanalytische Bewegung 1932, H. y), 
wo einige Plagiate Stendhals besprochen sind. 



Stendhal 95 



gab. In meiner Arbeit über das Plagiat glaubte ich noch, Stendhal gehöre in 
die Gruppe der „zynischen Plagiatoren". Ich habe seither meine Meinung 
korrigieren müssen auf Grund folgender Briefstelle Stendhals an Mareste 
(datiert Mailand, 19. April 1820): 

Da finde ich in Nummer 63 der Edinburgh-Review einen Aufsatz über Crabbe, ein- 
geleitet durch eine Betrachtung über den Geist der Beobachtung, der sich unbewußt über 
alle Rangunterschiede hinwegsetzt. Das ist der reine Stendhal und er wird 
sich da»s bei Gelegenheit aneignen. Pauca intelligenti. Als Moliere den Cyrano 
von Bergerac plünderte, sagte er: „Ich nehme mir das Gute, wo ich es finde." Wenn meine 
Bücher im Jahre 1920 zur Geltung kommen, wer wird da bei einem Goldkorn daran 
denken, daß es im Mist gefunden ist? 

Das ist die Sprache eines Eklektikers. Ich kann mich da auf eine Aussage 
in der gleichen Arbeit über das Plagiat berufen. Als dreiundzwanzigste 
Plagiatform ist dort beschrieben: 

Der Eklektiker. Eine psychoanalytische Arbeit über diesen Typus gibt es nicht. 
Eine der Formen des Eklektikers (es gibt deren viele) ist ein exquisiter Plagiator mit 
einem an Größenwahn grenzenden Narzißmus, der sich wie ein Cäsar be- 
nimmt, dem ein Sklavenhalter hunderte Mädchen zur Auswahl vorführt. Die unbewußte Stimme 
des Gewissens wird damit befriedigt, daß der Eklektiker ja nicht ganz direkt plagiiert, sondern 
nur das „Beste aussucht" und ein wenig verändert. Innerlich halten diese Menschen alle 
Schaffenden für Idioten, deren Leistung erst durch den Eklektiker geadelt wird. (Nach 
einem Ausspruch eines Kollegen: ihr die „geistige Baronie" verliehen wird.) 

Auch eine Stelle des Tagebuches Stendhals („geschrieben bei Bautzen, 
21. Mai 1813, während der Schlacht" [?]) spricht im Sinne eines maßlosen 
Narzißmus: „Auf dem Rückzuge von Moskau habe ich Einblick in das Innere 
der Seelen getan, und das hat mir für immer den Geschmack an den Be- 
obachtungen genommen, die ich an groben Naturen machen kann, an diesen 
Säbelraßlern, aus denen die Armee besteht." Das klingt so, als sei die ganze 
Welt verpflichtet, sich Stendhal zu psychologischen Beobachtungen zur Ver- 
fügung zu stellen! 

Oder: In einem Brief an Felix Faure (Smolensk, 24. August 1812) heißt es: 
„Gegen 11 Uhr nachts verließen wir die Stadt (Moskau), die durch die 
schönste Feuersbrunst der "Welt beleuchtet wurde ... Es war ein gewaltiges 
Schauspiel, aber um es zu genießen, hätte ich einsam oder von geistvollen 
Menschen umgeben sein müssen. "Was mir den russischen Feldzug verleidet 
hat, ist der Umstand, daß ich ihn unter Leuten mitgemacht habe, die mir 
auch das Kolosseum und die Küste von Neapel geschändet hätten." "Wieder 
der gleiche Größenwahn: der psychologische Nero! 

Die Größe dieses Narzißmus ist unbekümmert und so überdimensioniert, 
daß man sich auch seine Kehrseiten vor Augen halten muß. Dieser Kehr- 
seiten gibt es nicht wenige. „Bis zu meinem 25. Jahre, was sage ich, heute 
noch (mit 52 Jahren. — Anm. d. "Verf.) muß ich mich oft mit beiden Händen 



gS Edmund Bergler 



festhalten, um nicht ganz der Empfindung zu erliegen, die die Gegenstände 
in mir hervorrufen, und um sie vernünftig mit meiner Erfahrung zu beur- 
teilen" („Henri Brulard"). „Was die anderen kaum berührt, verwun- 
detmich bis aufs Blut" (ebendort). „Ich halte mich für außerordentlich 
sensibel. Das ist der hervorstechendste Zug. Diese Sensibilität hat mich zu 
Übertreibungen geführt..." (Tagebuch, 4. Februar 18 13). „Ich fand, daß 
die Wirklichkeit weit hinter den tollen Bildern meiner Phan- 
tasie zurückblieb. Meine Kameraden waren nicht lustig, nicht verrucht 
genug und benahmen sich sehr unedel . . . Alles in dieser Freiheit, nach der 
ich mich so gesehnt hatte und zu der ich endlich kam, setzte mich in Er- 
staunen. Die Reize, die ich fand, waren nicht diejenigen, von denen ich ge- 
träumt hatte. Die so lustigen, so hebenswürdigen, so edlen Gefährten, die ich» 
mir vorgestellt hatte, fand ich nicht, sondern statt ihrer sehr selbstsüchtige 
Buben. Diese Enttäuschung habe ich fast während meines ganzen 
Lebens gehabt. Nur die Freuden des Ehrgeizes, als ich 18 10 Auditor im 
Staatsrat und vierzehn Tage später Inspektor der Kronmobilien war, machten 
eine Ausnahme . . ." („Henri Brulard"). 

Der von der Realität chronisch enttäuschte Träumer Stendhal, der 
„tödlich verletzt wird von den kleinsten Nuancen", will immer mit offenen 
Augen träumen und gibt zu, daß Träumen schöner sei als die Erfüllung: „Die 
Kunst, die uns bezaubert, indem sie uns Genüsse der Leidenschaft bloß vor- 
spiegelt, sozusagen reflektiv wie das Mondlicht, bereitet uns schließHch einen 
stärkeren Genuß als die Leidenschaft selber." Mit dem ewigen „Ist das 
alles?" auf den Lippen hat er sogar ein ganzes System, das er „Egotismus" 
oder „Beylismus" nennt, sich zurechtgelegt, das bei diesem „theoretischen 
Casanova" (Zweig) und „melancholischen Epikuräer" (Bourget und Wei- 
gand) ein wenig wie Hohn anmutet. Weigand hat in seinem Stendhalbuch 
die wichtigsten Punkte des BeyHsmus zusammengestellt: 

Stendhal pflegte seine Weltanschauung, nicht ohne eine gewisse Ironie, Beylismus zu 
nennen. Worin besteht nun, in einige Sätze zusammengedrängt, dieser Beylismus, der 
vielen, wie ich gleich vorausschicken möchte, als Ausbund herzlosen antisozialen Im- 
moralismus erscheinen mag. . . . Was ist ein überlegener Kopf, un Hre superieur ? Der 
Mensch, der sich in einer Welt, wo das Hobbessche Wort „homo homini lupus- gilt, durch- 
zusetzen weiß. Was ist der Tod? Der Eingang in das Nichts und als solcher eine un- 
schickliche (malseante) Funktion, die man als Mann von Geschmack am besten den Blicken 
der Neugierigen entzieht. Was ist die Seele? Die Gesamtheit der Triebe und Leiden- 
schaften. Was ist die Tugend? Die Summe der Genüsse. (Soll ich hier noch einmal daran erinnern, 
in welcher spöttisch-frechen Weise Stendhal das virtü ins Französische übertrug, indem er einfach 
vertu dafür setzte und ihm einen Sinn gab, der der bürgerlichen Sittlichkeit Hohn spricht? 
Soll ich ein anderes Geständnis anführen, das nicht minder bedeutsam ist? Es lautet: „Ich 
hebe die Kraft, und die Kraft, die ich meine, kann eine Ameise so gut zeigen, wie ein 
Elefant.") Was ist nun einer solchen Auffassung der Kraft zufolge die Keuschheit? Une 



Stendhal gy 



vertu comique . . . Was versteht man unter Charakter? Die jedem Menschen eingeborene 
Art, nach Wohlbefinden zu streben, oder im Sinne Don Juans gesprochen, die Art und 

Weise, Tag für Tag auf die Jagd nach dem Glück zu gehen. Was ist die Familie? Ein 
Hemmnis für freie Naturen, ihr Glück zu erreichen: Denn die Eltern sind nichts anderes 
als die geborenen Feinde ihrer Kinder . . . Was ist die Reue? Eine Dummheit. Und was 
die Pflicht? Der Vorsatz, niemals und unter keinen Umständen das aus dem Auge zu 
lassen, was man sich, je nach den Umständen, selber schuldet, um sich durchzusetzen und 
die eigene Würde in den Augen anderer zu bewahren. Einen ethischen Sinn hat das 
Wort Pflicht bei Stendhal nicht; es ist etwas Fließendes, ein negatives Prinzip, das seinen 
Wert von den Umständen erhält, und, auf alle Fälle, das Gegenteil des kategorischen 
Imperativs... Was ist eine Landschaft? Eine Gelegenheit zu zarten oder schwärmerischen 
Empfindungen, die auf der Seele wie auf einem zartgestimmten Instrument spielen und 
es in Traum und Sehnen tauchen; mit einem Wort: „eine Landschaft ist ein Seelen- 
zustand". Und was ist Natur? Die Gesundheit und Ungebrochenheit der Instinkte, als 
welche nur dann Bewunderung verdienen, wenn sie in ganzen Menschen frei und un- 
gebrochen walten, mögen diese nun, wie der Lazzarone, zu der Hefe des Volkes gehören 
oder als freie Schöpfer des Schönen und als Männer der Tat, als Künstler oder fürst- 
liche Banditen ihr eigenes Dasein verklären und lebend rechtfertigen. Was ist die Liebe? 
Das herrlichste Mittel, sich im waltenden Gefühl selbst kennenzulernen und genießend 
oder leidend die eigene Persönlichkeit zu steigern, ohne Rücksicht auf das, was andere in 
ihr sehen; oder psychologisch gesprochen, eine Krankheit, ohne die das Leben reizlos 
wäre ... Im übrigen darf man Stendhal wohl als eine der verwickeltsten Naturen des 
damahgen Frankreich, ja des Europa jener Zeit betrachten: Jakobiner aus Neigung und 
Talent, Dilettant und Epikureer aus Schönheitsbedürfnis, Dichter und Liebender aus innerer 
Not, Beobachter und Denker als Mann des i8. Jahrhunderts, Logiker und Anbeter der 
Schönheit, Romandichter mit realistischen Tendenzen; dabei schüchtern und verwegen, 
zynisch und übersensitiv, Spötter und Enthusiast . . . 

Dieses „theoretische Herren-Menschentum" hat Stendhal auf Grund von 
Mißverständnissen, bzw. Ernstnehmen bloßer Worte die Bewunderung Nietz- 
sches eingetragen, der ihn als den „letzten großen Psychologen" feiert, ihn 
den Mann, der die „gedankenreichsten Augen und Ohren unter allen Fran- 
zosen dieses Jahrhunderts gehabt hat", nennt, und Stendhal neben Dosto- 
jewski „zu seinen größten Glücksfällen" rechnet. Doch reduziert sich — wie 
früher aufgezeigt — dieses Herren-Menschentum bei Stendhal auf eine höchst 
primitive Kompensation seiner Timidität und eine höchst komplizierte Unter- 
bringung passiv-homosexueller Vergewaltigungsphantasien. Alles, was am 
Beylismus nicht narzißtisches Sichselbstgenießen ist, blieb bei Stendhal 
Wunsch und Theorie. Dieses Sichselbstgenießen wird allerdings in geradezu 
grandiosem Ausmaße betrieben und Liebe, Musik, Schriftstellerei, 
Malerei, Landschaft, kurz alles und jedes wird in den Dienst 
dieses Sichselbstbeschauens und -genießens gestellt. 

Das klingt im ersten Augenblick befremdlich, da doch die Subjekte und Ob- 
jekte sozusagen auch ein Eigenleben führen. Bei Stendhal begann aber ihre 
Existenzberechtigung erst dann, ja er nimmt sie überhaupt erst zur Kenntnis, 

B e r g 1 e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe -, 



gS Edmund Bergler 



wenn sie zur narzißtischen Selbstschau geeignet sind. Einige Beispiele: „Musik 
ist mir Liebe", sagt Stendhal in einem Briefe an seine Schwester Pauline vom 
29. Oktober 1808. „Keiner einzigen von den Frauen, die ich gehabt habe, 
verdanke ich einen wonnevollen, nicht im geringsten erkauften Augenblick 
wie der Melodie." Und einer seiner Biographen kommt mit Recht zum fol- 
genden Resultat: „Sein Verhältnis zur Musik, die doch, wie er behauptet, 
seine Hauptleidenschaft gewesen sei, ist rein dilettantenhaft: für die Instrumen- 
talmusik hat er überhaupt keinen Sinn, und im Grunde schätzt er die Musik 
nur als Erregerin und Begleiterin seiner Stimmungen, die auf dem epikurei- 
schen Genuß des Augenblicks beruhen und in erotischen Gefühlen gipfeln" 
(Weigand). Es wird später zu zeigen sein, daß diese erotischen Träumereien, 
die die Musik bei Stendhal anregte, rein narzißtisch waren. 

Schönheit ist nach Stendhal überhaupt nichts anderes als ein — Glücks- 
versprechen {,,Le beau est une promesse de bonheur"). Und Glück heißt ur- 
sprünglich: das Träumen von Frauen. Und später: „an seinen Gefühlen ar- 
beiten". Deshalb ist es nur konsequent, wenn Stendhal vom St. Petersdom 
aussagt, er habe ihn wie eine Frau betrachtet: „Erst gestern, am 18. Januar 
1836, dem Fest der Kathedrale von St. Peter, habe ich, als ich um -vier Uhr 
aus Sankt Peter kam und mich umdrehte, um den Dom zum ersten Male in 
meinem Leben zu betrachten, ihn angesehen, wie man ein anderes Gebäude 
ansieht. Ich bemerkte den eisernen Balkon des Tambours und sagte mir: Zum 
ersten Male sehe ich, was wirklich da ist. Bisher habe ich den Dom be- 
trachtet, wie eine Frau, die man liebt" („Henri Brulard").^" 

Dieses „wie eine Frau, die man liebt", bedarf eines Kommentars. "Was sah 
Stendhal in der Frau? 

Stendhals größte psychologische Entdeckung, die ihn in die erste 
Reihe der psychologischen Finder hätte stellen müssen — in Wirklichkeit hat 
„De l'amour" innerhalb der ersten zwanzig Jahre hundert Leser gefunden 
und der Verleger konnte Stendhal sarkastisch sagen, man könnte glauben, das 
Buch sei heilig, da es niemand anrühre — , die Entdeckung des narzißti- 
schen Charakters der Liebe, ist eine Großtat, deren Bedeutung noch 
heute keineswegs erkannt wird. Stendhal hat mit größter Präzision sieben 
Stadien bei jeder Verliebtheit unterschieden. In Stendhals "Worten: 

I. Bewunderung. — 2. Welche Freude, von ihr geküßt zu werden, sie zu küssen. — ■ 
3. Die Hoffnung. — 4. Die Liebe ist entstanden; den Genuß haben, ein liebenswertes, 

10) Es ist grotesk, was alles bei Stendhal auch narzißtisch determiniert ist: Ich greife 
zwei disparate Dinge heraus, etwa seine Beziehung zu seiner Schwester Pauhne und — 
sein Kosmopolitentum. Es ist ganz deutlich, daß Stendhal aus Pauhne wieder ein Alter ego 
zu modeln versucht. Stendhals Weltbürgertum ist durch den narzißtischen Satz charak- 
terisiert: ,jDas wahre Vaterland ist der Ort, wo man die meisten Menschen trifft, fdie 
einem gleichen." 



Stendhal 99 



liebendes Wesen mit allen Sinnen, so nahe wie möglich, zu sehen, zu berühren, zu 
fühlen. — 5. Die erste Kristallisation beginnt: Man gefällt sich darin, eine Frau, von der 
man sich geliebt weiß, mit tausend Vorzügen zu schmücken; mit endlosem Wohl- 
gefallen vergegenwärtigt man sich sein Glück bis in alle Einzelheiten. Dies führt zur Über- 
schätzung eines köstlichen Besitzes, der uns vom Himmel gefallen ist, und den man, ohne 
ihn zu kennen, mit Sicherheit zu besitzen meint. Laß den Kopf eines Liebenden vierund- 
zwanzig Stunden arbeiten und du wirst folgendes finden: In den Salzbergwerken von Salz- 
burg wirft man in die verlassenen Tiefen des Stollens einen winterlich kahlen Baumzweig; 
zwei oder drei Monate später zieht man ihn wieder heraus, bedeckt mit glitzernden Kri- 
stallen: die kleinsten Ästchen sind besetzt mit einer Unzahl beweglicher, blendender 
Diamanten; man kann den ursprünglichen Zweig nicht wiedererkennen. Was ich Kristalli- 
sation nenne, ist die geistige Tätigkeit, die art allem, was sich darbietet, die Entdeckung 
macht, daß das geliebte Wesen neue Vorzüge hat. — 6. Der Zweifel taucht auf. — 
7. Zweite Kristallisation. 

Alle diese sieben Stadien haben mit dem Objekt als solchem nichts zu tun: 
„In der Liebe genießt man nur die eigene Illusion." An anderer 
Stelle heißt es: 

„Vom Augenblick an, wo er liebt, sieht der besonnenste Mensch keinen Gegenstand 
so wie er ist. Er unterschätzt seine eigenen Vorzüge und überschätzt die geringste Huld 
des geliebten Wesens... Bei den anderen Leidenschaf»ten müssen sich die 
Wünsche den kalten Wirklichkeiten anpassen, hier sind es die Wirk- 
lichkeiten, die sich eiligst nach den Wünsc»hen formen..." Oder: „Diese 
zu heftig oder in plötzlichem Anfall glühenden Seelen verlieben sich auf Kredit, 
sozusagen, und werfen sich auf die Dinge, statt sie abzuwarten. Ehe der Eindruck, der 
sich aus der Natur der Dinge ergibt, bis zu ihnen gelangt, umhüllen sie diese von weitem, 
un^l ehe sie sie sehen, mit jenem eingebildeten Reize, von dem sie in sich selbst |einen 
unerschöpflichen Quell tragen. Dann kommen sie näher und sehen diese Dinge, nicht so 
wie sie sind, sondern so wie sie sie gemacht haben, und während sie unter dem An- 
schein des betreffenden Gegenstandes sich selbst genießen, glauben sie 
den Gegenstand zu genießen. Aber eines Tages wird man müde, alle Kosten allein 
zu tragen, man entdeckt, daß der eingebildete Gegenstand ,den Ball nicht zurück- 
wirft': die Voreingenommenheit fällt ab und die Schlappe, welche die Eigenliebe erleidet, 
macht ungerecht gegen den überschätzten Gegenstand." Oder: „Unbewußt hat es die Seele 
satt, zu leben, ohne zu lieben... und erschafft sich, ohne es zu merken, ein ideales 
Musterbild. Dann begegnet sie eines Tages einem Wesen, das diesem Bilde ähnlich 
.sieht; die Kristallisation erkennt ihren Gegenstand an der Verwirrung, die sie einflößt, 
und sie weiht für immer dem Meister ihres Schicksals, was sie seit langem träumte . . . 
Die wahre Liebe, die nur an sich selbst denkt." 

Freud hat seit Aufstellung des Narzißmusbegriffes mit größtem Nachdruck 
darauf hingewiesen, daß hinter jeder Objektbeziehung der ursprüngliche Nar- 
zißmus verborgen ist. L. Jekels und der Verfasser versuchten, ohne 
das Buch Stendhals über die Liebe zu kennen, in ihrer Arbeit „Übertragung 
und Liebe" (Imago 1934, H. i) den Vorgang bei der sogenannten Objektliebe 
schärfer herauszuarbeiten. Wir behaupten, daß jede Liebe in einer Projek- 
tion des eigenen Ich-Ideals auf das Objekt mit nachfolgender par- 



Edmund Bergler 



tieller Reintrojektion des Ich-Ideals besteht. Der ganze Vorgang ist demnach 
rein narzißtisch und hat den Zweck, dem Dämon das Quähnstrument, das 
Ich-Ideal, zu entwinden und dieses durch ein zu diesem Kampfe gegen den 
Dämon geeigneteres zu ersetzen. Daß das Ich sich von seinem Ich-Ideal geliebt 
weiß, somit ein Antidotum gegen das Schuldgefühl gefunden hat, 
stellt das hohe Glück der Liebe dar. Die geradezu wahnhafte Überschätzung 
des Objektes rühre daher, daß hinter dem geliebten Objekt das 
eigene Ich verborgen ist. Jedes Lieben reduziere sich zutiefst auf ein 
Geliebtwerdenwollen. Der jeder Liebe folgende Katzenjammer sei wieder ein 
Werk des Dämon. Die Einzelheiten müssen im Original nachgelesen werden, 
ebenso die Verquickung des oben geschilderten zärtlichen Anteils der Liebe 
mit dem sinnlichen, der psychologisch ebenfalls ein rein narzißtischer Vorgang 
ist: Reparation des Entwöhnungstraumes. 

Wir kommen also auf Grund analytischer Erwägungen zu ganz ähnlichen 
Resultaten wie Stendhal, vor dessen Durchschauen des narzißtischen Mecha- 
nismus der Liebe man bewundernde Hochachtung empfinden muß. 

Wie kommt aber Stendhal zu diesem Wissen? Er erzählt als alter Mann, 
daß nur seine Mißerfolge (wenige napoleonische Offiziere hätten noch ge- 
ringere Erfolge bei Frauen gehabt, bekennt er selbst) ihn psychologisch sehend 
gemacht hätten. „Hätte ich bei meinem ersten Aufenthalt in Mailand geliebt, 
so wäre mein Charakter sehr verschieden geworden. Ich wäre viel mehr ein 
homme a femmes und ich besäße nicht diesen Bodensatz von Sensibilität, der 
mir nun für die Kunst dient. Die zwei Jahre Seufzer, Tränen und amou- 
reusen Elan, die ich ohne Frauen und Vorurteile in Italien verbrachte, haben 
mir wahrscheinlich diese unerschöpfliche Quelle der Sensibilität gegeben, die 
mich heute alles und bis in das geringste Detail fühlen läßt . . . Wieviel ver- 
fehlte Erfolge! Wieviel Demütigungen! Aber wäre ich geschickt gewesen, so 
wäre ich heute von der Liebe angewidert. So genieße ich das Glück, was 
Frauen betrifft, ein Düpe zu sein, wie mit z$ Jahren. Nie werde ich mir aus 
Ekel eine Kugel in den Kopf schießen. Ich habe noch eine Menge zu tun und 
könnte zehn Leben damit beschäftigen." — Das heißt: Die ungeheuere 
Verbitterung," die aus der — unbewußt determinierten — Unmöglichkeit 
der Realisierung seiner narzißtischen Wünsche erwuchs, führte zu einer ver- 
stärkten Selbstschau. Doch war diese purifizierte Rückkehr zu sich 

n) Es ist ganz irrig, wenn einzelne Biographen, selbst vom Range Zweigs und Bleis, 
annehmen, Stendhal wäre nicht verbittert gewesen. Sie glauben offenbar Stendhal die 
spätere Rationalisierung, die er sich selbst zurechtlegte: Verachtung der Außenwelt und 
narzißtisches Selbstbeobachten im Bewußtsein des „etre superieur". Es handelt sich um 
das Resultat eines langen Trostversuches, dessen Zwischenstadien M^rimee schildert: „Er 
besaß nicht die geringste Gottesfurcht, oder wenn er welche gehabt hat, so war er voller 
Groll und Feindschaft gegen die Vorsehung." Es sei ferner an die Stelle aus „Henri 



Stendhal joi 



selbst — SO lustvoll sie für Stendhal und so fruchtbar sie für seine „happy 
few" auch war — keineswegs freiwillig und gewollt. 

Wie sahen Stendhals Beziehungen zu Frauen aus? Im „Henri Brulard" 
heißt es: 

Also vor zwei Monaten, im September 1835, als ich an diese Memoiren dachte, schrieb 
ich über dem Ufer des Albanersees, zweihundert Schritte vom Seespiegel, wie Voltaires 
Zadig diese Initialen in den Staub: 

V. Aa. Ad. M. Mi. AI. Aine. Apg. Mde. C. G. Ar. 
I 2 3 456 

Ich war ganz versunken in Träumereien über diese Namen und die erstaunlichen 
Streiche und Narrheiten, die sie mich haben begehen lassen... Ich habe in 'Wirklichkeit 
nur sechs Frauen besessen, die ich geliebt habe. 

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auf die genauen Details der 
Frauenbeziehungen Stendhals einzugehen. Es genüge zur Charakteristik, daß, 
wie Blei hervorhebt, von den sechs Frauen, die er liebte, drei ihn betrogen 
und so ziemlich alle sich nicht allzu stark verteidigt haben. 

Seine erste Leidenschaft gilt einer Schauspielerin, die er in Grenoble in einer 
Hosenrolle von weitem anschwärmt, ohne jemals mit ihr zu sprechen. In 
Mailand liebt er Angiola Pietragrua, an die er sich nicht herantraut, und ver- 
liert bei einer Publica seine Jungfernschaft, um dabei eine Lues zu akquirieren. 
In Paris verliebt er sich in Melanie Guilbert, und die Beziehung beginnt — 
nach einer köstlichen Rekonstruktion Bleis (in „Himmlische und irdische 
Liebe", S. 242 ff.) — wie folgt: 

... Bei einem Schauspieler, der Unterricht gibt, trifft Beyle ein kleines etwas moUiges 
Wesen mit Stupsnase und großen zärtlichen Augen und gerade soviel Kokettierie, als eine 
Frau braucht, die zwischen Theater und Galanterie schwankt. Melanie Guilbert heil?t sie, 
Mademoiselle Louazon nennt sie sich. Der Lehrer fordert Beyle auf, etwas zu rezitieren. 
„Welche Wärme!" ruft er als ein Lehrer, der an sein Honorar denkt. „Ja", bemerkt 
ironisch oder gleichgültig die junge Dame, „er hat sehr viel Wärme". Das genügt, um 
Beyle in Flammen zu setzen. Die ganze Nacht denkt er über die Möglichkeiten dieser 
Geliebten nach, die beim Wiedersehen am andern Tage ihn gar nicht anschaut — sie ist 
unwohl, erklärt es sich Beyle zu seinen Gunsten — und ihre Lektion beginnt. Mit großer 
Talentlosigkeit rezitiert sie ihre Alexandriner, betont falsch, holt mitten im Satz Atem, 
was ein alter Habitue der KuHsse hinter ihr zum Anlaß nimmt, zu zeigen, daß er Jdie 
junge Dame „gehabt" hat; bei jedem Fehler schlägt er sie leicht mit seiner Reitgerte auf 
das runde Hinterteil. Melanie kehrt sich wütend um. Herr Face aber sagt: „Du bist 
ja ein Engel." Da läßt sie ihn lächelnd weiter hauen, während sie ihre Rezitation zum 
Schluß bringt. Beyle ist sehr bewegt, aber er verbirgt es hinter studierter stolzer Kälte. 
Er, der Roue, für den, wie er sagt, in vierundzwanzig Häusern immer ein Kuvert gedeckt 



Brulard" erinnert, wo Stendhal ausruft: „Ich rufe wie Jules in Rouge et Noir: Gesindel, 
Gesindel, Gesindel!" Auch die empörte Feststellung in der „Certosa": „Zu allen Zeiten 
waren die elenden Sancho-Pansas schHeßHch doch Sieger über die erhabenen Don Quichottes", 
spricht im gleichen Sinne. 



I02 Edmund Bergler 



Beyle begleitet Melanie. Auf der Straße erzählt sie ihm, ihr Kleines sei gestern die 
Treppe heruntergefallen und sie hätte noch immer den Schreck in allen Gliedern. Beyle 
legt sich das so aus: „Wenn das nicht passiert wäre, dann hättest du mich auf der Stelle." 
Das genügt ihm. „Ich bete in ihr die Wollust selber an, alles -wirkliche Vergnügen der 
Liebe, frei von allem Tristen und Trüben dieser Leidenschaft." Er besucht sie, verplaudert 
eine Stunde. Beim Abschied zwinkert sie ihrer 2ofe: noch nicht so weit. Beyle deutet 
sich das so: „Wohl nur die Augen, die zur Lust erwacht sind, die noch nicht befriedigt 
ist. Morgen will ich ihr den Shakespeare bringen. Freitag hab ich sie, wenn ich wÜl." 
Als ob es eine vestalische Unschuld zu verführen gelte und nicht eine kleine Frau zu 
lieben, die auf nichts anderes wartet, als genommen zu werden, arbeitet der junge Lieb- 
haber, glücklich über den Vorwand für solche Exerzitien, eine Schritt um Schritt an- 
schleichende Strategie aus, notiert Terraingewinn und Terrainverlust, wo Melanie, die 
nichts von ihrem Bühnentalent hält, nur denkt, sich einem Mann hinzugeben, den sie sich 
als so etwas wie ihren brauchbaren Beschützer vorstellt. Er hält sie für eine große 
Schauspielerin und für eine leidenschaftliche Seele. Aber mit den Zweifeln des Jünghngs, 
^ie gleich ganz ins Grobe fallen, legt er sich die Frage vor, ob sie nicht eine Hure ist 
schließlich. Er wird nicht eifersüchtig, wenn sie ihm ihre bisherigen Liebhaber aufzählt, 
sondern stolz, und ist von der Delikatesse hingerissen, die er in ihrer Erklärung sieht, daß 
sie bis zu ihrem ersten Auftreten keine Liebhaber haben wolle, aus Angst geschwängert 
zu werden. 

Nach einem erfolglosen Debüt in Paris nimmt Melanie in Marseille ein Engagement an. 
Beyle fährt mit und wird, um das Geld für seine prinzipielle Liebesgeschichte zu be- 
schaffen, Kommis in einem Lebensmittelgeschäft. Es wird zum Absturz in die simpeln 
Realitäten der Liebe gekommen sein, wie sie auch ein junger Theoretiker wie Beyle nicht 
vermeiden kann und wahrscheinlich als das Triste und Trübe dieser Leidenschaft erlebte. 
Er folgt einer Aufforderung seines Cousins Daru, eine Stelle im Kriegsministerium an- 
zutreten, sofort, unbekümmert um Melanie, die ohne Geld, ohne Engagement sich seiner 
in einem Briefe erinnert, ihn an die Stunden ihrer Liebe erinnernd. Das wirft ihn sofort 
wieder in die Positur der Leidenschaft: er empfiehlt Melanie, dieses „himmlische Geschöpf", 
zusamt der Heftigkeit seiner Leidenschaft seiner Schwester Pauline. Aber Melanie verläßt 
sich Heber auf sich selber und heiratet. Beyle zieht das Resultat: „Die Liebe, wie ich sie 
kennengelernt habe, kann mich nicht glücklich machen. Ich beginne seit einiger 2eit den 
Ruhm zu lieben." 

Der Widerspruch zwischen den Fakten der Liebe, die sich realiter konsumiert, und dem, 
was er sich von ihr imaginiert, treibt ihn von einer Frau zur andern . . . und er macht 
der Frau Generalin Curial den Hof. Aber das Deshabille der ersten Tänzerin der Oper, 
zu der ihn Martial nach einer Vorstellung gebracht hat, läßt ihn Madame Curial ver- 
gessen. Es geht ihm mit ihr wie mit Angela Pietragrua: richtig mit seiner großen Liebe 
Höbt er sie erst zehn Jahre später. Der erste Blick entzündet nur seine Sinne. Für die 
Liebe braucht er Zeit und die Melancholie der Erinnerung. Und: ein leichtes Verhältnis, 
dessen nichts als fleischlicher Kontakt ihn davor bewahrt, diesen bei der mit der spanischen 
Leidenschaft geliebten GeHebten zu suchen und damit Sättigung, Langeweile, Selbstvorwürfe zu 
riskieren, bei ihr und bei sich. Nach dem Moskauer Rückzug (es Hegt ein Irrtum Bleis bezüglich 
des Zeitpunktes vor. Der Verf.) — Beyle ist jeden Morgen dieser wilden Flucht immer 
frisch rasiert — protegiert ihn die Gräfin Daru, Pierres etwas zum Embonpoint neigende, 
aber höchst aktive Frau, aus Gefälligkeit erst, dann aus Liebe, die Beyle mit jenem Pla- 
tonismus erwidert, der für ihn Dauer bedeutet, und den ihm Angela Bereyter, eine Schau- 
spielerin von der Opera Bouffe, erleichert, die jede Nacht bei ihm zubringt. So kann 



Stendhal 103 



er ohne Gefahr bei Tag für die Gräfin Daru schwärmen, die ihn zum kaiserlichen Do- 
mänen-Intendanten in Braunschweig macht, zum Auditor im Staatsrat befördert und zum 
Inspektor des Kronmöbels. Er muß ihr schließlich dafür danken und die platonischen 
"Wechsel einlösen, trotzdem er weiß, dies bedeute das Ende. Es wird ihm damit erleichtert, 
daß es der Gräfin nicht gelingt, ihn wie er wünscht, zum Maitre de requ6tes und Baron 
zu machen. Wahrscheinlich hat sie in wenig begeisternder Erinnerung an Beyles schließliche 
Quittung, die zu der vorher gegebenen platonischen Glut in abscheulichem Mißverhältnis 
stand, diese letzte Ernennung, die er wünschte, nur so beiläufig betrieben. Beyle findet 
nun die Gräfin als eine trockene, phantastische und unerträgliche Person und verzichtet 
darauf, dem Ruhm zu dienen, welcher Dienst ihn über Frauen und von der Liebe wegführte. 
Er nimmt seinen Abschied und geht nach Mailand, wo er Angela Pietragrua wußte, das 
Glück in der Leidenschaft, das er von ihr erhoffte. In jenem Herbst des Jahres 1801 hat er 
die Fingerspitze der schönen Angela berühren dürfen. Das ist jetzt Jahre her und man ist 
nicht mehr der kleine Leutnant. Man hat das brennende Moskau gesehen. Nicht nur ein 
Blumenmädchen, sondern sogar eine Gräfin besessen. Man ist nächstens zweiunddreißig Jahre 
alt. Ein Mann und kein Knabe mehr. Angelas Züge waren etwas strenger geworden, ihre 
Hüften etwas ausladender und von der Grazie von ehemals kam nur ein Rest zum Vor- 
schein, als sie ihn überrascht wiedererkannte, der sich vorstellte: „Ich bin Henry Beyle, der 
Freund von Martial Daru." Angela wandte sich lebhaft zu einem alten Herrn um, der mit 
ihr eingetreten war: „Was sagst du! Der Chinese, du weißt doch!" Beyle unterhält mit 
Geist und benützt einen Moment, wo der alte Herr sich abwendet, Angela zu sagen, daß er 
seit zehn Jahren keine andere als sie liebe. Angela macht große Augen: „Aber warum haben 
Sie mir das nicht schon früher gesagt!" Sie war ein naives Geschöpf und kannte Beyle nicht, 
der naiv auf einer ganz anderen Ebene war. 

Sehr zufrieden mit seinem Besuch, kauft sich Beyle einen eleganten Stock, um nicht 
immer wie ein Papa die Hände auf den Rücken zu knüpfen. Und erzählt am anderen Tage 
ausführlich Madame Angela die ganze Geschichte seiner zehnjährigen Liebe, was sie zu zärt- 
lichen Tränen rührt. Auch Beyle ist so überwältigt von dieser Erzählung, daß er Hut und 
Stock beiseitelegt und die Hände der schönen Frau küßt. Aber vor dem kühner Werden- 
den erhebt sie sich: „Empfangen Sie, aber nehmen Sie nicht!" Und schickt ihn fort: „Morgen 
werde ich nicht mehr den Mut aufbringen . . ." Beyle macht die Geste des Verzweifelnden. 
Angela aber: „Du hast die Gewißheit, geliebt zu werden." Sie erwartet nämlich einen 
andern und der muß in jedem Augenblick eintreffen; es ist höchste Zeit, daß dieser da 
geht. Anders als mit der Versicherung, daß sie ihn liebe, bekommt sie diesen Redner nicht 
aus dem Hause. 

Nun gibt es nichts als Heimlichkeiten, denn Angela sagt, er könne sie nur sehen und 
treffen, wenn niemand was merke. Er schleicht also ins Haus mit tausend Ängsten, seine 
Geliebte zu kompromittieren, trifft sich mit ihr in verborgenen Hinterstuben von Cafes, in 
Gassenwinkeln abgelegener Quartiere. Napoleons Ungelegenheiten, die Beyles Aufenthalt in 
Mailand unterbrechen, kommen Angela gelegen: ihre Sicherheit verlangt es, daß er in Turin 
bleibe und er gehorcht. Alle zehn Tage kommt er nach Mailand, und eine bestochene 
Jungfer gibt Nachricht, ob Angelas Gatte, jener alte Herr, da ist oder nicht, Beyle in das 
Haus kommen kann oder nicht. Die Jungfer hat mit der Herrin einen Streit gehabt und 
rächt sich: der Gatte, ein guter, alter Herr, sei ja nie da, aber andere Liebhaber. Da Beyle 
zweifelt, läßt sie ihn den Beweis durch ein Oberlichtfenster sehen, das in Madames Schlaf- 
zimmer geht. Hier ist man lebhaft beschäftigt. Beyle ist überrascht, so viele ihm unbe- 
kannte Schönheiten der Geliebten wahrzunehmen, von der Magie eines andern zum Leben 
beschworen, der, er muß es zugeben, Qualitäten besitzt, die ihm nicht so eignen. Um nicht 



104 Edmund Bergler 



seiner Lächerlichkeit zu unterliegen, folgt er dem Rat seines Onkels und macht sofort der 
Freundin seiner Freundin, der Generalin Methilde Dembowsky den Hof, deren patriotisches 
Herz Foscolo und den Carbonari und der Befreiung Italiens schlug und die ihre vielen Ver- 
ehrer an ihre Freundin Angela weitergab. Für Beyle war Methilde, deren Gesicht schon 
kleine Pölsterchen bekam, Inbegriff himmUscher Keuschheit und Reinheit. Sie duldete den 
kahlköpfigen Verehrer als Cicisbeo, aber nicht als mehr. „Sie sind zu indiskret", sagte sie 
zu ihm. Aber Angela dürfte ihr erzählt haben; Frauen sind gegen ihre früheren Liebhaber 
von einer barbarischen Indiskretion Freundinnen gegenüber. Und sehr boshaft gegen die 
Freundin, die sie ersetzen soll. 

. . . Noch bevor sich Beyle den einen Namen gab, unter dem er in die Unsterblichkeit ein- 
ging, gab er, der so viele Masken trug und Rollen spielte, daß er sich fragte: „Wer bin 
ich?", sich schon viele Namen, aber keinen besseren als den: Sir Fiasko Esqu. Als Stendhal 
war er den Verstrickungen, die ihn sich Sir Fiasko nennen ließen, dankbar. Ohne auch als 
Stendhal und im Alter von mehr als zweimal sechsundzwanzig Jahren diese gewisse soge- 
nannte Abgeklärtheit zu besitzen, die ihn immer noch ein Fiasko zu riskieren gehindert 
hätte. Nach der abgeschlagenen Attacke auf eine geistreiche Frau schrieb ihm diese: „Be- 
dauern Sie Ihren Tag nicht, er muß zu den besten Ihres Lebens und zu den gloriosesten 
des meinen zählen. Ich erlebe alle Freude eines großen Erfolges. Gut attackiert, gut ver- 
teidigt, kein Traktat, keine Niederlage, alles ist Ruhm in beiden Lagern. Beyle, nennen Sie 
mich eine dumme Kuh, ein kaltes Weibchen, eine blöde Angstliese, alles was Sie wollen, 
Ihre Beleidigungen werden nicht das Glück Ihrer göttlichen Unterhaltung auslöschen." Die 
Dame war übrigens sechsundvierzig und der Liebhaber, wie gesagt, dreiundfünfzig. Und 
hatte gerade eine höchst lebhafte Liebe zu Frau von Curial hinter sich. 

Auch diese etwas exaltierte Frau Curial gehört zu jenen Frauen, bei denen der unge- 
schickte Angriff der jungen Jahre abgeschlagen und ein Jahrzehnt später erneuert wurde. 
Wie gewisse Birnen werden sie für Beyle erst reif, nachdem sie einige Zeit auf Stroh gelegen 
haben. Diese Frauen müssen, so scheint es, um sein Glück zu machen, erst eine gewisse 
mütterliche Zärtlichkeit und Nachsicht bekommen und Fältchen um die Augen. Der sich 
eigenthch ganz wohl bei kleinen, anspruchslosen Mädchen fühlt, wo er halb Papa, halb Lieb- 
haber ist, nie ein Schwärmer, ihn lockt es immer wieder zu den sich verkannt glaubenden 
und daraus etwas pathetischeren älteren Frauen, vorausgesetzt, daß er sie in ihrer Jugend 
gekannt und vergebens umworben hat. Mit Frau Curial begibt er sich im Sommer auf 
deren Landsitz in der Umgebung von Paris, denn der Gatte ist abwesend. Aber der kommt 
nun unerwartet zurück, und der erschreckte Beyle muß sich drei Tage lang in einem 
Kellerloch verstecken. Madame bringt ihm das Essen und besorgt seinen Leibstuhl. Sie ist 
vielmehr eine sentimentale als eine sinnliche Frau, aber Beyle hat das Pathos der Gefühle 
vor zehn Jahren erledigt und ist jetzt wirklich der Dragoner, der er damals nur der Uniform 
nach war. Madame schreibt ihm: „Was die tours de force eines gewissen Genres betrifft, so 
profitiere ich davon, aber schätze sie nicht. Das kommt mir als eine zu vulgäre Manier vor, 
mir deine Zärtlichkeit zu beweisen." So war diese Liebe, die Beyle nicht wollte und arran- 
gierte, sondern erlitt, wieder ein Irrtum nach der anderen Seite. Und man trennte sich in 
Eifersucht, Streit und Haß... (Blei.) 

Und trotz dieser Details ist damit über das Wesentliche der Liebesbeziehun- 
gen Stendhals wenig, ja fast nichts ausgesagt: die Frau war für Stendhal ledig- 
lich der Katalysator, ein bisexuelles Gefühl bei sich selbst wahrzu- 
nehmen. Er hebt die rein narzißtische Emotion der Liebe, die er 
bei sich selbst beobachtet, das weibliche Überwältigtwerden, 



Stendhal 105 



durch ein dem bewußten Willen nicht unterworfenes dämonisches Gefühl. 
Liebe ist für Stendhal zutiefst: Sich selbst beschauen in sich und zum Teil 
in der Frau, d.h. Projektion seines Ich-Ideals auf die Frau. Dies ist bloß 
verständlich, wenn man die starken narzißtischen Voyeurwünsche 
Stendhals berücksichtigt. 

Ich verweise auf die Szene, in welcher Stendhal durch die Gunst des Stuben- 
mädchens heimlich zusehen durfte, wie ein anderer Mann mit Angiola 
Pietragrua koitierte, eine Szene, die Filicien Rops in einer Karikatur festhielt. 
Es packte ihn dabei eine — für den Leser paradoxe — unbändige Lach- 
lust. („Beyle sagte mir, die Sonderlichkeit der Sache und das Lächerliche der 
Situation hätten ihm zunächst eine tolle Lachlust verursacht und er habe sich 
richtige Mühe geben müssen, nicht herauszuplatzen und die beiden Sünder 
zu alarmieren. Erst nach geraumer Zeit sei ihm sein Unglück bewußt ge- 
worden." Merimee.) Nun wissen wir seit Freuds Arbeit über den "Witz, daß 
„das Lachen entstehe, wenn ein früher zur Besetzung gewisser psychischer 
"Wege verwendeter Betrag von psychischer Energie unverwendbar geworden 
ist, so daß er freie Abfuhr erhalten kann". Dieser „Besetzungsaufwand" muß 
also etwas Infantilem, vielleicht dem Schauen des elterlichen Koitus gegolten 
haben. Dafür spricht eine Stelle aus „Henri Brulard", in welchem Stendhal mit- 
teilt, er hätte, als er im Zimmer der verstorbenen Mutter als Pueriler arbeitete, 
das Bett der Mutter nicht angesehen. ^^ 

In „Rouge et Noir" will Jules, nachdem er sich unter größter Gefahr zu 
seiner Geliebten, Mme. Renan, geschlichen hat, unbedingt, trotz der Einwen- 
dungen der Geliebten, die Nachtlampe anzünden. „"Willst du denn", 
sagte er zu ihr, „daß mir keine Erinnerung an deinen Anblick bleibt? Soll der 
Schimmer der Liebe in deinen süßen Augen für mich ungesehen verglimmen? 
Ich soll diese schöne weiße Hand nicht sehen?" (Bd. I, S. 305.) 

In „Certosa von Parma" besteht das Liebesglück Fabrice del Dongos im 
Bohren eines Loches in die Holzverschalung des Fensters seiner Zelle, um die 
Tochter des Gouverneurs der Festung, Clelia Conti, in die er sich blitzartig 
verliebt, zu sehen; er will aber, wie Stendhal ausdrücklich hervorhebt, dabei 
auch selbst von Clelia gesehen werden. In Freiheit gesetzt, wiederholt Fabrice 
dieselbe Szene, indem er sich im Visavis-Hause Clelias einmietet. Clelia selbst 
leistet ein Gelübde, Fabrice niemals anzusehen und „empfängt ihn nur 
im Dunkeln", auf welchem Umwege auch ein Kind gezeugt wird. "Wir gehen 

12) Im „Henri Brulard" ist zu lesen: „Eines Abends, als man mich durch irgendeinen 
Zufall in ihrem (der Mutter) Zimmer auf der Erde auf einer Matratze schlafen gelegt 
hatte, sprang diese Frau munter und leicht wie eine Hindin über meine Matratze, um 
schneller in ihr Bett zu kommen." Es ist wahrscheinlich, daß der Knabe seine Voyeur-* 
lust befriedigte und die Verantwortung dafür der Mutter zuschiebt: nicht er schaute, 
sondern sie gab ihm durch Exhibition Gelegenheit zum Beschauen. 



io6 Edmund Bergler 



nicht fehl, wenn wir annehmen, daß CleHas Schaukonflikte Projektionen der 
infantilen Schauverbote Stendhals darstellen. 

Im „Henri Brulard" spricht Stendhal einige Male von seinen Voyeur- 
wünschen. So erzählt er, Onkel Romain (der Don Juan) „hatte seinen Spaß 
mit mir und erlaubte mir, dabei zu sein, wenn er abends um neun Uhr vor 
dem Abendessen seine schönen Kleider auszog und in seinen Schlafrock 
schlüpfte. Das war ein köstlicher Augenblick für mich." Und an 
anderer Stelle heißt es: „Später, um 1805 in Marseiile, hatte ich das liebliche 
Vergnügen, meine Geliebte, die hervorragend schön gewachsen war, in der 
Huveaune, die von hohen Bäumen überschattet ist, bei dem Landhäuschen 
der Frau Roy, baden zu sehen." In einem Briefe an Mathilde Dembrowska 
(Voltera, 7. Juni 18 19) spricht er von der „unheilvollen Sehnsucht", sie zu 
sehen, die ihn beherrsche und ganz außer sich bringe. Auch Stendhals 
Schwärmerei für den Ring der Angelika aus Ariosts „Rasendem Roland", der 
unsichtbar mache (Tagebuch, 8. September 181 1), gehört in diesen Zusammen- 
hang.** 

Man kann einwenden, daß all dies wohl von Voyeurlust zeuge, die sich auf 
Objekte beziehe. Wo sei aber das früher hervorgehobene Narzißtische 
des Vorgangs? 

Die Voyeurlust, von Freud in den „Drei Abhandlungen zur Sexual theorie" 
in die Psychoanalyse eingeführt, führt in dieser ein anerkanntes, aber wenig 
zitiertes und beachtetes Schattendasein. Auch ist die Beziehung zwischen 
Sich-selbst-Beschauen und den Anderen-Beschauen-Wollen (beides 
wird unter das Voyeurtum subsumiert), nicht klar differenziert. Die 

13) Voyeurtum und psychischer Masochismus haben enge Beziehungen zur Depersona- 
lisation, die eine spezifische Abwehrform des Ichs darstellt. Siehe die gemeinsame Arbeit 
des Verfassers mit L. Eideiberg über dieses Thema. (Vorläufige Mitteilung in der 
Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse 1934, H. 3.) Die Frage ist berechtigt, ob Stendhal 
zeitweise entfremdet war. Wohl kann man, wie Schilder in „Selbstbewußtsein 
und Persönlichkeitsbewußtsein" ausführt, introspektive Psychologie treiben, ohne ent- 
fremdet zu sein, aber das Obermaß des Affekts bei Stendhal macht doch stutzig. Ich habe 
in der zitierten Arbeit in der von mir stammenden Krankengeschichte (Fall II) den Ver- 
dacht ausgesprochen, daß ein chronisches Übermaß an Affekten häufig eine 
dahinter lauernde Depersonalisation verdeckt. Wir finden tatsächlich bei 
Stendhal einige Schilderungen von Depersonalisationszuständen. In „Souvenirs d'egotisme" 
heißt es bei der Erzählung der Flucht Stendhals nach Paris vor Mathilde Dembrowska: 
„Ich war wie verrückt, fing eine Unterhaltung mit den Postillonen an und ging ernst- 
haft auf die Betrachtung dieser Leute über den Weinpreis ein. Ich erwog mit ihnen die 
Gründe, warum er einen Soldo teurer sein sollte. Das Schauderhafteste war, daß 
ich mich selbst dabei beobachtete..." Und in „Armance" äußerst Vicomte 
de Malivert den Wunsch, Namen und Existenz eines Bedienten, den er zum Fenster 
hinausgeworfen hatte, anzunehmen: „Ich empfinde ein gebieterisches Bedürfnis, 
einen andern Vicomte de Malivert (d. h. sich selbst! — Anm. d. Verf.) 
handeln zu sehen..." 



Stendhal 107 



ursprüngliche Voyeurlust ist nach Freud autoerotisch, auf den eigenen Kör- 
per bezogen. Erst allmähHch nimmt das Kind durch Vergleich mit dem 
eigenen Körper Personen der Außenwelt zur Kenntnis, die es u. a. sexuell 
lustvoll beschaut. Die Identifizierungen mit diesen Personen werden vorge- 
nommen, um die bedrohte narzißtische Allmacht zu retten, und bilden einen 
Teil des Ich-Ideals, das also genetisch aus zwei Teilen aufgebaut ist: primärer 
Narzißmus des Ichs plus introjizierte Eltern, die mit dem eigenen Narzißmus 
bekleidet werden. "Wenn also später positive Objektbeziehungen zustande 
kommen, handelt es sich immer um Projektionen des eigenen Ich- 
Ideals auf Objekte. Wendet man diese in „Übertragung und Liebe" for- 
mulierte Auffassung auf das Voyeurtum an, so ergibt sich, daß das Be- 
schauen der Libidoobjekte ebenfalls nichts anderes ist als narziß- 
tisches Selbstbeschauen mittels Projektion. Freilich ist das Ich 
durch die introjizierten Kindheitspersonen ausgeweitet worden. Der Kern 
jedes Beschauens ist somit narzißtisch, da der Mensch nur ein wirkliches 
Libidoobjekt besitzt: das eigene Ich. Der Mensch hat sozusagen kein 
anderes Organ, um zum sogenannten Objekt zu gelangen, als über seinen 
eigenen Narzißmus. Nur soweit dieser sich in anderen spiegeln, d. h. das 
eigene Ich vom aufs „Objekt" projizierten Ich-Ideal geliebt werden kann, wird 
das Objekt positiv getönt psychisch zur Kenntnis genommen. 

Wenn also der achtjährige Henry Beyle z. B. das Bein der gehaßten Tante 
Seraphie sexuell erregt beschaut (wie er dies in „Flenri Brulard" gesteht), dann 
gibt es zwischen dem Knaben und der Schwester seiner Mutter keinen andern 
psychischen Verbindungsweg als diesen: die Mutter wurde seinerzeit ins Ich- 
Ideal des Knaben aufgenommen, d. h. mit dem ursprünglich dem eigenen Ich 
geltenden Narzißmus belegt und mit diesem verlötet. Die Einheit Mutter 
bestand u. a. aus einem zu beschauenden Körper. Das Gefallen, das der Knabe 
an Seraphie findet, entspricht einem blitzartigen Projektionsvorgang: 
Für Sekunden wird Seraphie zum Träger des projizierten Ich-Ideals des Kna- 
ben und auf dem Umweg über den eigenen Narzißmus des Knaben 
wird die sexuelle Erregung bei Seraphie erlebt. 

Dieser narzißtische Vorgang bei jedem Voyeurtum: jedes lustvolle Be- 
schauen des anderen ist Selbstbeschauen (Beschautwerden wollen), wurde bis- 
her ein wenig vernachlässigt, trotz der Freud sehen Mahnung. 

Ganz ähnlich — quoad Narzißmus — liegen die Verhältnisse bei der Ex- 
hibition. Bei jeder Exhibition handelt es sich vorerst darum, daß der 
Zuschauer zum Voyeur gemacht wird, mit dem der Exhibitionist sich 
identifiziert. Somit kommt es über das sogenannte Objekt wieder zum nar- 
zißtischen Selbstbeschauen. Das hat Freud in „Triebe und Triebschicksale" 
angedeutet, als er hervorhob, daß „Exhibition das Beschauen des eigenen Kör- 



lo8 Edmund Bergler 



pers mit einschließt" und „der Exhibitionist das Entblößen derselben (der 
eigenen Person) mitgenießt". 

Exhibition hat ein aktives, Voyeurtum ein passives Triebziel.** Zutiefst 
handelt es sich immer um ein Selbstbeschauen. Die Differenzen zwischen 
beiden smd ähnlich wie beim aktiven Liebenwollen und beim passiven Geliebt- 
werdenwollen. „Der aktiv Liebenwollende stellt im Objekt sein Ich dar, 
während er selbst das Ich-Ideal mimt. Beim passiv GeliebtwerdenwoUenden 
ist das Objekt das Ich-Ideal, der Liebende selbst das Ich" (zitiert aus „Über- 
tragung und Liebe"). 

Kehren wir zu Stendhal zurück. Daß sein Voyeurtum narzißtisch war, wird 
nun ebenso eindeutig, wie dies bei seiner Exhibition der Fall war. Das stän- 
dige Hinschielen nach dem Leser von 1880, 1900, 1935 bedeutet also ein 
Sichselbstbeschauen auf dem Umweg über die Identifizierung 
mit den Lesern von 1935. 

Die „voluptas psychologica" (Nietzsche), die wir bei Stendhal so ausgeprägt 
finden, entspricht offenbar einer Transponierung des körperlichen Sich- 
beschauens aufs Geistige. Warum diese Verlegung zustande kam, ist schwer 
zu bestimmen. Vielleicht hegt ihr zum Teil die relative Gefahrlosigkeit des 
geistigen und die Verpöntheit des körperlichen Sichbeschauens in der Vor- 
stellung der Erwachsenen zugrunde, die ja bloß eine Konsequenz der Voyeur- 
und Exhibitionsverbote in der Kindheit darstellt (Kastrationsangst). Ja, das 
„Gescheitsein", das „Denken", Philosophieren und Talmudisieren steht in ge- 
wissen Kreisen relativ hoch im Kurse. Vielleicht ist dieses Zurücktreten des 
Sexuellen vom Körperlichen aufs Geistige (Sexualisierung der Gedanken) ein 
Resultat der immer weiter um sich 'greifenden Zurückdrängung des direkten 
Auslebens der Aggression und sexuellen Impulse durch den sogenannten Kul- 
turmenschen, ein Mechanismus, der zum „Unbehagen in der Kultur" (Freud) 
führt. 

Wir kommen aber bei Stendhals „voluptas psychologica" ohne einen kon- 
stitutionellen Faktor nicht aus: offenbar muß ein spezifisches, psycho- 
logisch nicht mehr faßbares X, daß wir Begabung nennen, vorhanden sein. 
Der Patient, dessen „Anonymen Coitus" ich in der Arbeit „Über einige noch 
nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung" geschildert habe, 
wurde z. B. kein Psycholog. 

Man könnte den primitiven Einwand machen, es genüge, wenn der Mensch 
mit konstitutioneller Verstärkung der Voyeurlust — und als sol- 
chen müssen wir ja Stendhal bezeichnen — selbst häßhch, somit kein geeig- 
netes Schauobjekt sei und deshalb eher mit „Gescheit heit" glänzen könne. 

14) Näheres im Abschnitt „Aktivität und Passivität" der gemeinsamen Arbeit des Verf 
mit hidelberg „Der Mammakomplex des Mannes", Int. Zeitschr. f. Psychoan. 1933, H.4. 



Stendhal 109 



Tatsächlich war Stendhal häßlich: er sprach selbst von seinem „italienischen 
Fleischerkopf". Doch erklärt dieses Argument gar nichts. Erstens ist ja die 
narzißtisch bedingte Kritiklosigkeit bei der eigenen Person unerschöpflich. 
Zweitens wird ja das Ich-Ideal projiziert, also auch die introjizierte schöne 
Mutter und der schöne Onkel. Auch gelingt es gerade dem Dichter Stendhal 
immer wieder, „wunderschöne Jünglinge" zu schaffen: Jules Sorel, Lucien 
Leuwen, Fabrice del Dongo, woraus wir ersehen, wie Stendhal sich innerlich 
sah, wobei der Kompensationsmechanismus zugegeben sei. 

Endhch sei darauf verwiesen, daß das Sichselbstbeschauen eines Mannes in 
schönen Frauen sozusagen ein Umgehen und Harmlosmachen des eigenen 
narzißtischen Voyeurtums vor dem Dämon ist: wieder wird das sogenannte 
Objekt zur Entlastung von psychischen Verboten verwendet. 

IV. Stendhals dichterisch-psychologisches Werk 
Beim Lesen von Bruchstücken der immer mehr anschwellenden Stendhal- 
Literatur kommt man zum resignierten Ergebnis, daß die meisten dieser 
Bücher „Henri Brulard", „Souvenirs d'egotisme", Stendhals Tagebücher und 
Briefe variieren und als Novum hie und da ein Detail vorbringen, das be- 
weisen soll, daß diese oder jene Figur aus Stendhals Werken mit Stendhal 
selbst identisch sei. Es gilt heute als feststehend, daß jede Figur Stendhals 
autobiographische Züge trägt. Man kann also sagen, daß zu den 200 Pseudo- 
nymen Stendhals ein Vielfaches dieser 200, bestehend aus Roman- und No- 
vellenfiguren Stendhals, hinzukommen, und zwar beiderlei Geschlechts. 

Versucht man dieses Regiment Stendhal auf einen gemeinsamen Nenner 
zu bringen, so fällt vor allem auf, daß folgende Probleme immer wieder- 
kehren: Ein schöner Jüngling mit hochgespanntem Ich-Ideal tritt ohne 
Falsch und Heuchelei in die Welt, wo er die übelsten Erfahrungen mit der 
Schlechtigkeit, Niedertracht und Korruption der Menschen macht. Dies führt 
zu einer Entwertung der Autorität, zu einem ständigen Herunterreißen der 
Masken, zur Entlarvung der Heuchelei der Großen und zu einem Wandel 
des Ich-Ideals des Helden. Diese Jünglinge — mögen sie nun Jules Sorel 
(„Rouge et Noir"), Lucien Leuwen (im gleichnamigen Roman) oder Fabrice 
del Dongo („Certosa von Parma") hdßen, sind immer Stendhal selbst. Diesen 
jungen Männern stehen alte, abgebrühte, zynische Männer gegenüber: Mar- 
quis de la Mole, der Bankier Leuwen, Graf Mosca, die mit lächelnder Über- 
legenheit, auch ein wenig wehmütig und ungeduldig, den „Macchiavellismus 
des Fünfzigers" den Illusionen der Knaben entgegenhalten. Die Jünglinge 
und die Zyniker sind, wie dies Zweig hübsch herausgearbeitet hat, Stendhal 
selbst :^^ aber es sind — wie ich meine — nicht bloß der junge und der alte 
15) In Stendhals Tagebuch findet sich am 29. Oktober 1811 folgende „Randbemerkung": 



HO Edmund Bergler 



Stendhal einander gegenübergestellt, sondern sie stellen auch die narziß- 
tisch-homosexuelle Beziehung xar' f^ox^iV dar: der alte Mann 
liebt in der Mutteridentifizierung sich selbst in Jünglings- 
gestalt (man denke an den von Sa dg er aufgestellten Homosexuellentypus). 
In einem Fall wird dies direkt ohne Verkleidung dargestellt: in der „Certosa" 
übernimmt die Herzogin von Sanseverina die Rolle des Alten und führt den 
jungen Herzog von Parma in die Bösartigkeit der "Welt durch einen jener 
für Stendhal typischen Aufklärungsvorträge ein. 

Immer wieder kommt Stendhal auf diesen Gegensatz: Illusion des Sech- 
zehnjährigen — Macchiavellismus des Fünfzigers zurück, wobei er die Außen- 
welt mit wütendem Haß für die Diskrepanz zwischen seinen kindlichen Illu- 
sionen und ihrer realen Bösartigkeit verfolgt. Dabei gibt es einige Varianten: 
die bösartige Einführung in die Welt in „Rouge et Noir", die gütige in 
„Lucien Leuwen", in beiden Fällen durch Männer vollzogen, und die gütige 
durch die Herzogin in der „Certosa von Parma". In „Lucien Leuwen" 
schließen Vater und Sohn einen förmlichen Pakt, demzufolge der Sohn sich 
bei seinem Eintritt ins Büro des Innenministeriums verpflichtet, nicht schon 
bei kleinen Lumpereien davonzulaufen, und der Bankier fragt besorgt: 
„Wirst du ein zureichender Schurke sein für diesen Posten?"^^ Und 
die Herzogin von Sanseverina gibt dem Priesterzögling Fabrice folgende Rat- 
schläge für das Seminar: „Glaube oder glaube nicht, was man dich lehren 
wird: erhebe bloß nie einen Einwand. Nimm an, daß man dich Whistregeln 
lehrt; wird es dir einfallen, gegen Whistregeln Einwände zu erheben? . . . 
Vergiß nicht, daß es Leute gibt, die von deinen geringsten Einwänden getreu- 
lich Notiz nehmen; man wird dir eine kleine galante Intrige, wenn sie gut 
geführt wird, verzeihen, niemals aber einen Zweifel: mit den Jahren ver- 
gehen die Intrigen, aber es vermehren sich die Zweifel . . ." 

Selten hat sich ein Dichter so intensiv mit der Ich-Ideal-Bildung und Ich- 
Ideal-Änderung seiner Helden beschäftigt, wie Stendhal. Es ist dies sein 
Problem, das er immer wieder variiert: „Die ständige Diskussion Stendhals 
mit sich selbst entspringt seinem ,Espagnolisme', seinem Ehrbegriff. Nicht 
um sich kennenzulernen, seziert sich Beyle, sezieren sich seine Helden, son- 
dern um sich zu kontrollieren, um ihr Gewissen zu erforschen, um sich zu 
sichern, denn von dem Ergebnis ihrer Gewissenserforschung 

„In tiefster Demut dem 38jährigen Herrn Henri de Beyle, der vielleicht im Jahre 1821 leben 
wird, gewidmet von seinem sehr ergebenen Diener, der heiterer ist als er. Der Henri 
Beyle von 181 1." — Schreiben ist für Stendhal Selbstgenuß des Voyeurs und nicht nur 
eine Methode ,,pour se desennuyer" . 

16) Diese Szene und die Schilderung der einzelnen Etappen der „Eroberung" der 
Mme. Renan, vor allem die Handszene in „Rouge et Noir" sind das Schönste in Stendhals 
Werken. 



Stendhal 1 1 1 



hängt ihre Würde, ihre Ehre und ihr Glück ab. Daß diese Analyse 
nicht morbide Pedanterie, sondern vitale Notwendigkeit ist, hat sogar Zola 
gefunden, der die sautes d'analyse, die danses du personnage feststellt, das 
plötzliche Tun, das unerwartete Verhalten der Personen Stendhals, das In- 
tuitive." (Blei.) Diese richtige Feststellung ist aus vielen Details in Stendhals 
Werken beweisbar. Wenn z. B. Jules Sorel („Rouge et Noir") einen Liebes- 
brief von seiner GeHebten bekommt oder mit ihr sexuell beisammen ist, ist 
sein erster Gedanke: „Habe ich die Würde meiner Person zu wahren ge- 
wußt?" Die Eroberung von Mme. Renan wird vom Standpunkt eines Feld- 
zugsplanes geschildert, in welchem das Erreichen der einzelnen Etappen nar- 
zißtische Ehrensache ist: etwa der Entschluß, an einem bestimmten Tage bis 
zum Ergreifen, bzw. Küssen der Hand zu gelangen. Alle Helden Stendhals 
gleichen Jules, von dem Stendhal mit leiser Ironie aussagt: „Er trug schwer 
an seiner Verführerrolle." Die Frau wird vorerst als Feind empfunden, der 
den Narzißmus demütigen könnte. 

Die ständige „Gewissenserforschung" — wie sie Blei nennt — ist in Wirk- 
lichkeit das ständige Vorhalten des Ich-Ideals durch den Dämon. Dieses 
hochgespannte Ich-Ideal ist bei den Stendhalschen Helden in unterbrochenem 
Fluß, ein ständiges ndvra ^ei. Ständig wird die Heuchelei der Außenwelt 
entlarvt, weil die Änderung des strengen, hochgespannten Ich-Ideals die ein- 
zige Methode ist, dem Dämon nicht ganz zu erliegen. In einer längeren 
Arbeit über die Genese der Heuchelei^^ habe ich zu zeigen versucht, daß der 
Heuchler auf Grund eines spezifischen Mechanismus („Mechanismus 
der Heuchelei") ständig gegen sein Ich-Ideal rebelliert, wobei ihm 
die Inhomogenität desselben sehr zustatten kommt. Bezüglich des „Mecha- 
nismus der Heuchelei" muß infolge der Unmöglichkeit, ihn in wenigen 
Worten zu referieren, auf die bevorstehende Publikation verwiesen werden. 

Das Aufzeigen der Heuchelei der anderen wird für Stendhal und seine 
Helden ein modus vivendi und gibt ihnen erst die „Berechtigung" zu eigenen 
Aggressionen gegen die Autorität. Hier ist die Wurzel von Stendhals 
chronischen Lügen, Maskeraden, Mystifikationen. Stendhals 
Aggression, die eine sehr starke war, kann sich erst nach Beschwichtigung 
eines überstrengen Über-Ichs ausleben: er selbst und alle Helden sind, wie 
früher aufgezeigt, psychische Masochisten. Seiner Ambivalenz erwehrt 
er sich zum Teil mittels Zynismen.^^ 

17) Bergler, „2ur Psychologie des Heuchlers". Vortrag in der Wiener Psychoanalyti- 
schen Vereinigung, 9. Mai 1934. 

18) Auf den Mechanismus in Stendhals Zynismen kann aus Platzmangel nicht ein- 
gegangen werden. Ich verweise auf meine Arbeit „Zur Psychologie des Zynikers". Psycho- 
analytische Bewegung 1933, H. 1/2. 



112 Edmund Bergler 



Gewiß ist dies nicht die einzige Ursache seiner ironischen Mystifikationen. 
Ein gut Stück Scham, sich in die Seele schauen zu lassen, und Angst, aus- 
gelacht zu werden, spielen mit. Die Abwehr der Exhibition wird von 
Stendhal in „Souvenirs d'egotisme" zugestanden. Nach seiner Rückkehr nach 
Paris zur Zeit seines Schmachtens nach Mathilde Dembrowska sagt er sich: 
„Das ärgste Unglück wäre, wenn die nüchternen Menschen, meine Freunde, 
in deren Mitte ich nun leben werde, meine Leidenschaft zu einer Frau, die 
nie die meine war, errieten . . . Ich hegte nur einen einzigen Gedanken: nicht 
durchschaut zu werden." So kam Stendhal plötzlich in den Ruf, „Geist zu 
haben", d. h. er wurde ironisch-boshaft. Diese Scham Stendhals bezog sich 
auf die Liebe und auf — die Kunst: „Meine literarischen Arbeiten haben mir 
immer dasselbe Schamgefühl wie meine Liebschaften eingeflößt." — Zu- 
tiefst geht diese Angst auf die Inzestgebundenheit seiner narzißtischen 
Voyeur-Exhibitionswünsche zurück, wobei man sich des Eindrucks nicht er- 
wehren kann, daß sich Stendhal in der Liebe, wie jener Freiwillige des 
Witzes benahm, der eine Kanone kaufte und sich selbständig machte. Anders 
ausgedrückt: seine Bisexualität macht ihn vom sogenannten Objekt relativ 
unabhängig, er spielt in der Phantasie beide Rollen, die männliche und die 
weibliche, unter Bevorzugung des weiblichen Vergewaltigtwerdens. Schließ- 
lich läßt sich Stendhal von seinen chronisch unglücklichen Lieben in eigener 
Regie „vergewaltigen". 

Das dritte und vierte Lieblingsthema Stendhals — neben der Gegenüber- 
stellung seiner selbst in zwei Ausgaben, und dem Kampf um die Ermäßigung 
der Strenge des Ich-Ideals — ist die Schilderung des Beginns einer Liebe und 
die Aggression der jeweils herrschenden Oberschicht. 

Es ist erstaunlich wenig, was Stendhal über das Physische der Liebe zu sagen 
hat, was auch nicht weiter verwunderlich ist bei einem Mann, der in „De 
l'amour" den Grundsatz aufstellt: „Das größte Glück, das die Frau geben 
kann, ist der erste Händedruck einer Frau, die man liebt." Der Träumer und 
zugleich sezierende Beobachter — beide konstituieren das Phänomen Stendhal 

— ist ein unermüdlicher Barde seiner sieben Liebesstufen. Immer wieder in 
drei berühmten Romanen, seinen Novellen („Ernestine oder die Entstehung 
der Liebe") wird das hohe Lied des Liebes b e g i n n s gesungen, wobei die Groß- 
tat Stendhals — die Herausarbeitung des narzißtischen Charakters der Liebe 

— in unübertroffener naturalistischer Meisterschaft dargestellt wird. 

Die Aggression der jeweils herrschenden Oberschicht^* wird bei Stendhal 

,19) Es sei z. B. auf die höchst ambivalente Beziehung Stendhals zu Napoleon ver- 
wiesen: „Abwechselnd war er Frondeur wie Courier oder servil wie Las Casas" (Merimee). 
Stendhals offizielle Napoleonbegeisterung begann erst, als die St. Helena-Episode Stendhals 
eigene Kindheitserlebnisse wachrief. Innerlich war Stendhals Stellung zu Napoleon der 
zum eigenen Vater nachgebildet. Bezüglich der Einzelheiten über Napoleon verweise ich 



Stendhal uq 



mit grandioser Ironie, bitterböser Satire und berserkerischer Vehemenz durch- 
geführt. Sie erinnert — so verschieden die beiden Männer auch waren — an 
Grabbes grausige Satire.^« Und immer wieder sehen wir bei Stendhal, wie 
er sich die „Berechtigung" zu diesen Aggressionen erst durch Selbstbestrafun- 
gen erkauft, die immer mehr oder weniger durchsichtige Kastrationssymbole 
bedeuten: Lucien Leuwen fällt zweimal vor den Fenstern von Mme. de Cha- 
steller vom Pferde, Fabrice del Dongo verliebt sich in Clelia erst, als sie ihn 
in Ketten in der Festung sieht, Stendhal selbst beginnt seine Tätigkeit beim 
großen Daru mit einem Schreibfehler: er schreibt cela mit zwei 11,^1 was ihm 
eine verächtliche Zurechtweisung einträgt, usw. 

Strenge Stendhal-Kritiker — z.B. Sainte Beuve — haben eingewendet, 
Stendhal sei phantasielos gewesen, und selbst Zweig muß zugeben: „Offen 
gesagt, das bloße Melodramatische seiner Romane könnte von einem Herrn 
Irgendwer stammen." Tatsächlich Hegt Stendhals Stärke in minutiösem Be- 
obachten. Seine Vorliebe für die Schauerromantik und die „Energie", die 
einer unbewußten passiven Vergewaltigungsphantasie entspricht, macht das 
rein Inhaltliche zeitweise wenig schmackhaft. Sein Narzißmus bewirkt, daß 
er diese Beobachtungen {„Je suis observateur du coeur humain") so überwertet, 
daß er den Stoff ruhig von anderen für sich erarbeiten läßt und ihn dann — 
der echte Eklektiker — gnädigst mit psychologischer Patina zu überziehen 
geruht. 

Stendhals fünftes Lieblingsthema stellt alle vier früheren in seinen Dienst 
und schildert das Inzestproblem. Am klarsten ist dies in der „Certosa" 
der Fall, wobei sich Stendhal des beliebten Projektionsmechanismus bedient: 
nicht der Jüngling (Fabrice) liebt die ältere Frau (Herzogin von Sanseverina), 
die ältere Frau kämpft mit ihrer Liebe zum Jüngling. Die Inzestverhältnisse 
sind kaum verschleiert, an Stelle des Mutter-Sohn- Verhältnisses ist das von 
Tante und Neffen dargestellt. "Wie weitgehend Stendhal die Inzestwünsche 
bewußt sind, beweist folgende Meditation Fabrices: „Die Stellung, in die der 
Zufall mich bringt, ist unhaltbar. Ich bin ganz sicher, daß sie (die Herzogin) 
niemals von Liebe zu mir sprechen wird: sie hat Abscheu vor einem allzu- 
deuthchen Wort, als wäre es ein Inzest." Und die Herzogin bricht einige 
Seiten später in Tränen aus: „Sie fand etwas Abscheuliches in dem Gedanken, 



auf die bekannte Jekelssche Arbeit und auf meine zwei Napoleon-Arbeiten. S. Kapitel I und II 
dieses Buches. 

20) Grabbe und Stendhal — die Zusammenstellung klingt wie ein Witz. Und doch ist 
über alles Trennende in der Aggression eine Gemeinsamkeit vorhanden. Freilich war 
Grabbes Sadismus anderer Art: er war oral determiniert. Näheres in meiner Grabbe-Arbeit: 
„Zur Problematik des oralen Pessimisten". Kapitel IV dieses Buches. 

2i) Der sexualsymbolische Sinn ist durchsichtig: Protest gegen den Vater und gleich- 
zeitiger Bestrafungswunsch. 

B e r g 1 e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe g 



jl^ Edmund Bergler 



die Geliebte Fabrices zu sein, bei dessen Geburt sie zugegen gewesen war." 
Das Thema wird sogar doppelt abgewandelt: der junge Herzog von Parma er- 
zwingt mit der Erpressung, den geliebten Fabrice nicht zu begnadigen, einen 
einmaligen Koitus bei der Herzogin. Dieses Sichwinden unter Schuldge- 
fühlen^^ stellt ein seltsames Gegenbild dar zu Stendhals Auffassung der Reue 
als Unsinn. Das Inzestproblem ist schon in Stendhals erstem großen Roman 
„Rouge et Noir" in der Beziehung Jules— Mme. Renan dargestellt. 

Es wurde bereits früher hervorgehoben, welchem psychischen Entlastungs- 
vorgang das Bewußtwerden des positiven Ödipuskomplexes bei Stendhal seinen 
Ursprung verdankt. Dies erklärt auch die starke Verschleierung der Darstel- 
lung des negativen Ödipuskomplexes. 

Fassen wir Stendhals Lieblingsthemen zusammen: HomosexuelleGegen- 
überstellung seiner selbst in zwei Ausgaben, Kampf um die Er- 
mäßigung der Strenge des Ich-Ideals, Beginn der Liebe, Aggres- 
sion der jeweils herrschenden Oberschicht und das Inzestpro- 
blem, und vergleichen wir damit Stendhals Ausspruch, er hätte sich während 
des ganzen Lebens mit drei, vier Ideen beschäftigt, so ergibt sich die unbe- 
wußte Ergänzung dessen, was sich in Stendhals Ich infolge des Verdrängungs- 
aufwands nur undeutlich widerspiegelte.^* 

2z) Es klingt wie ein Witz, wenn die Biographen Stendhals Angabe, er habe täglich 
einige Seiten im Code Napoleon gelesen, um dessen klaren, präzisen Stil nachzuahmen, 
wörtlich nehmen. Es handelt sich offenbar um ein phantasiertes Abbüßen von Strafen. 
Es kann kein Zufall sein, wenn Stendhal Stilübungen gerade am — Gesetzbuch absolviert. 

23) Aus der Fülle feinster psychologischer Beobachtungen (Stendhals Werke sind eine 
Fundgrube in psychologicis) seien noch einige Beispiele herausgegriffen: In „Lucien 
Leuwen" sprechen Lucien und Madame de Chasteller auf "Wunsch der Frau nicht von der 
Liebe: „Sie plauderten über alles mit einer vollkommenen Aufrichtigkeit, die einem Un- 
berufenen zuweilen recht ungehörig und immer allzu naiv erschienen wäre. Sie brauchten 
diese grenzenlose Offenheit, um sich ein wenig das Opfer vergessen zu lassen, das sie 
sich brachten, indem sie nicht von Liebe sprachen." Es ist dies eine präzise Beobachtung 
des Verschiebungsmechanismus. Oder: in der „Certosa von Parma" läßt die Herzogin von 
Sanseverina den Fürsten einen Brief unterschreiben, in welchem dieser zugibt, daß das 
Gerichtsverfahren gegen Fabrice del Dongo, den geliebten Neffen der Herzogin, un- 
gerecht ist. Graf Mosca, der Minister des Fürsten und Liebhaber der Herzogin, läßt 
instinktmäßig das den Herzog kompromittierende "Wort „ungerecht" aus. Die Herzogin 
sagt einige Zeit darauf dem Minister: „Ich will Ihnen nicht vorwerfen, daß Sie die "Worte 
.ungerechtes Verfahren' in dem Billett, daß Sie schrieben und das der Fürst unter- 
zeichnete, ausließen: der Höflingsinstinkt, der packte Sie an der Kehle, ohne 
daß Sie sich darüber klar wurden... Die Auslassung des "Wortes .ungerecht' 
stürzt mich ins Verderben, aber es liegt mir fern, sie Ihnen in irgendeiner Art vorzuwerfen: 
es war ein Irrtum des Instinkts und kein solcher des "Willens." Oder: In 
„Lucien Leuwen" spricht er von einer Partei und einer „Gegenpartei der Liebe", womit die 
widerstreitenden Tendenzen' in der Psyche herausgearbeitet werden sollen. Ebendort heißt 
es von Mme. de Chasteller: „... sie betrachtete (in Gesellschaft) einen Stich, aber mit 
hochmütigem, fast zornigem Ausdruck. Die arme Frau hatte den Einfall gehabt, Luciens 
Hand, die er auf den Tisch aufstützte, zu ergreifen und an ihre Lippen zu führen. Diese 



1 



Stendhal nj 



V. Stendhals Ahnen unbewußter Zusammenhänge 

„II ya du Vinci dans Beyle" (Bourget), „Stendhal ist der größte Psycho- 
loge des Jahrhunderts" (Taine), „Stendhal ist ganz unschätzbar mit seinem 
vorwegnehmenden Psychologenauge, mit seinem Tatsachenbegriff, der an die 
Nähe des größten Tatsächlichen erinnert: ex ungue Napoleonem" 
(Nietzsche), „Stendhal zieht an, stößt ab, interessiert und ärgert, und so 
kann man ihn nicht loswerden; man liest das Buch immer wieder mit neuem 
Vergnügen und möchte es stellenweise auswendiglernen" (Goethe). — Diese 
Aussprüdhe zeigen, wie bewundernd Stendhal (mit Ausnahme von Goethe) 
erst Jahrzehnte nach seinem Tode von den endlich zusammengebrachten 
„Happy few" beurteilt wurde. Stendhals Schicksal war es, mißverstanden zu 
werden: schon Balzac, der die „Certosa" knapp vor Stendhals Tode begeistert 
lobte, lobte aus Mißverstehen. Und so klaubte sich auch in späteren Jahr- 
zehnten, ja bis heute, jeder der Bewunderer und Feinde aus Stendhals "Werken 
das heraus, was ihm paßte, wobei Liebe und Feindschaft auf den gleichen Nen- 
ner des Mißverstehens zu bringen sind. 

Uns interessiert in diesem Zusammenhange bloß Stendhals Ahnen unbe- 
wußter Zusammenhänge. Seiner psychologischen Großtat — Aufzeigen des 
narzißtischen Charakters der sogenannten Objektbeziehung — wurde bereits 
gedacht. Ebenso wurde sein "Wissen um den positiven Ödipuskomplex bereits 
besprochen. "Weiters: der freie Einfall wurde von Stendhal in seiner Be- 
deutung geahnt, nebelhaft vielleicht auch das "Walten der unbewußten Ge- 
wissensinstanz. Immer wieder betont Stendhal in seiner Selbstbiographie: 
„Ich schreibe blind drauflos", oder „Ich schreibe diese Bilder nieder, 
wie sie mirin die Feder kommen", und daß ihm erstaunlicherweise beim 
Schreiben so viel längst "Vergessenes einfalle. Im Szenarium zu „Amiele" sagt 
Stendhal von sich: „Meine Fähigkeit, wenn ich welche habe, ist die des Im- 
provisators. Ich vergesse alles Niedergeschriebene. Ich könnte vier Va- 
rianten über ein und dasselbe Romanmotiv schreiben, und keine bleibt mir 
im Gedächtnis." Tatsächlich machen viele Stellen aus „Henri Brulard" den 
typischen Eindruck des Durcheinanders, des vom Hundertsten ins Tausendste 
Kommens — wobei alles doch einen guten Sinn ergibt — , wie dies der Ana- 
lytiker nur allzugut von den Patienten kennt, die sich an die „Grundregel" 
halten. Man könnte fast behaupten, daß das so schwer zu schildernde „Sich- 
einfallenlassen" am „Henri Brulard" demonstrabel ist. 

Vorstellung hatte ihr Schauder erregt und sie in einen wahrhaften Zorn wider sich selbst 
versetzt..." In einem Briefe an seine Schwester Pauline (29. April 1805) schreibt 
Stendhal: „Das Glück kommt aus uns selbst. Die äußeren Umstände tun so gut 
wie nichts dazu . . ." Solche psychologische Diamanten findet man bei Stendhal häufig, 
diese Beispiele ließen sich verhundertfachen. 

8» 



Il5 Edmund Bergler 



„Stendhal, der Psychologe, erfindet da — erstmalig und vielleicht als einziger (ein Irrtum 
Zweigs. Der Verf.) — eine geniale Methode, von der Falschmünzerei der allzu gefäUigen 
Erinnerung sich nicht prellen zu lassen, die Unwahrhaftigkeit zu vermeiden: nämlich mit 
f hegender Feder zu schreiben, nicht nachzulesen, nicht nachzudenken {..je prends pour 
principe, de ne pas me gener et d'effacer jamais"), dem ersten Wurf als dem richtigen zu 
vertrauen, „pour ne mentir par vanite." Die Scham, die Bedenken also einfach überrennen; 
überraschend aus sich herausbrechen mit seinen Geständnissen, ehe der Zensor, der Selbst- 
richter innen aufwacht.^" Nicht Zeit lassen dem Künstler, das Gesagte zu stilisieren, zu illu- 
sionieren. Nicht malerisch arbeiten, sondern v/ie ein Momentphotograph! Immer also die 
urtümliche Wallung in ihrer charakteristischen Bewegung festhalten, ehe sie eine künstliche 
theatralische Pose annimmt und sich eitel zum Betrachten wendet ..." (Zwei g.) 

Man muß also Stendhal als Vierten den drei^^ Männern anreihen, die 
Freuds Technik des freien Einfalls vorausgeahnt haben, freilich ohne 
diesen Gedanken höher als ein Aper9u einzuschätzen: Garth-Wilkinson, 
Schiller und Börne. 

Stendhals minutiöses Zeitlupenschildern, seine Erkenntnis der psychi- 
schen Bedeutung der Details sind echt analytisch. Im „Henri Brulard" 
heißt es: „Anstatt zu erzählen, schreibe ich Betrachtungen über sehr gering- 
fügige Begebenheiten nieder, die aber gerade ihrer mikroskopischen 
Gestalt wegen sehr genau beschrieben werden müssen." Und den Bankier 
Leuwen läßt Stendhal sagen: ,Jl n'y a d'originalite et de veriie que dans les 
details." 

Auch Stendhals Wissen um die psychisch bedingte UnZuverlässigkeit des Ge- 
dächtnisses ist hervorzuheben, wenn es auch deskriptiv bleibt. So kommt es, 
daß er resigniert bekennt: „Ich erkläre noch einmal, daß ich keinen Anspruch 
darauf mache, die Dinge an sich zu schildern, sondern daß ich nur den Ein- 
druck schildern will, den sie auf mich gemacht haben." 

Immer wieder kehrt in seinen Werken das Wort instinktiv und unbe- 
wußt wieder. Der Narzißt Stendhal wehrt sich aber mit Händen und Füßen 
gegen dieses „Nicht-mehr-Herr-Sein im eigenen Hause" (Freud) und prägt den 
Grundsatz: „Man muß sich bei jedwedem Ding von der Lo-gik leiten lassen", 
wobei er die beiden Silben dieses Wortes gedehnt aussprach. (Merimee). An- 
dererseits heißt es z. B. von der Liebe: „Die Liebe ist wie das Fieber, sie ent- 
steht und erlischt, ohne daß der Wille daran den geringsten Anteil 
hat" („De l'amour"). Stendhal und alle seine Helden empfinden dieses Sich- 
beugenmüssen vor unbewußten Gesetzen, gegen welches sie erbittert anrennen, 

24) Es ist ein Irrtum Zweigs, wenn er übertreibend annimmt, die Methode des freien 
Einfalls gewährleiste ein völliges Ausschalten des inneren Zensors. Bezeichnend ist ja, 
daß Stendhal von seiner unbewußten Homosexuahtät nichts wußte. Bezüglich der Theorie 
des freien Einfalls s. H. Hart mann, „Die Grundlagen der Psychoanalyse", und I. Her- 
mann, „Die Psychoanalyse als Methode". 

25) Freud, „Zur Vorgeschichte der analytischen Technik", Ges. Sehr. Bd. VI, S. 148 
bis 151. 



Stendhal u^ 



als persönliche Beleidigung ihres Narzißmus, und so ergibt sich der groteske 
Tatbestand, daß derselbe Mann, der, wie keiner vor ihm, das Unbewußte auf- 
gespürt, es im gleichen Atemzug verleugnet. Dies erklärt, weshalb sein Wis- 
sen um unbewußte Es-Regungen sporadisch blieb, weshalb nebem Tiefstem 
bei Stendhal banalste Predigt der "Willensfreiheit zu finden ist. Keiner war 
— mit Ausnahme von Schopenhauer und Nietzsche — Freud- 
schem Wissen so nahe wie Stendhal. Und keiner hat dieses Wissen so 
energisch verleugnet, wie Stendhal. Diese Reversseite des Narzißmus hätte 
bei Stendhal geradezu jedes Erkennen des Es weggespült, wären nicht sein 
psychischer Masochismus und sein aufs Geistige transponiertes Voyeurtum das 
Gegengewicht gewesen. Und so bewahrheitet sich das Wort eines seiner Bio- 
graphen: „Wenige haben mehr gelogen und leidenschaftlicher die Welt mysti- 
fiziert als Stendhal, wenige besser und profunder die Wahrheit gesagt . . ." 

Literatur. 

Ar bei et, Paul: La jeunesse de Stendhal. Paris 19 19. Librairie Champion. 

Bettelheim, A.: Biographenwege. Abschnitt: Stendhal-Beyles Triester Konsulat. 
Berlin 1913. Paetel. 

Blei, F. und Weigand, W.: Stendhal. Gesammelte Werke, ij Bde. München. 
G. Müller. 

Blei, F.: Stendhals Frauen. In „Himmlische und irdische Liebe", S. 231 ff. Berlin 
1928. Rowohlt. 

Blei, F.: Stendhal. In „Männer und Masken", S. 61 ff. Berlin 1930. Rowohlt. 

Blum, Leon: Stendhal et le Beylisme. Paris. Librairie P. Ollendorf. 

Chuquet, Artur: Stendhal-Beyle. Paris 1902. Librairie Plön. 

Colomb, R.: Notice sur la vie et les ouvrages de Henri Beyle. Paris 1854. Michel 
Levy Freres. 

Cordier, A.: Comment a vecu Stendhal. Preface de Casimir Stryjenski. Paris 
1900. Villerelle. 

Goethe, J. W.: Brief an Zelter, 8. März 1818. (Abgedruckt im Briefwechsel mit 
Zelter, IL, 451.) — In Eckermanns „Gespräche mit Goethe" (S. 727, Verlag 
Kiepenhauer) eine Äußerung über „Rouge et Noir" am 17. Jänner 1831. 

Hazard, Paul: La vie de Stendhal. Paris 1927. Librairie Gallimard. 

Körver, C: Stendhal und der Ausdruck der Gemütsbewegungen in seinen 
Werken. Halle 191 1. Verlag Niemeyer. 

Martino, Pierre: Stendhal. Paris 19 14. Librairie Lecene, Oudin & Cie. 

Maurevert, G.: Le livre des Plagiats. S. i57ff. Paris. Artheme Fayard. 

Merimee, P.: Henri Beyle par un de quarante. Paris 1850. (Übersetzt von 
Schurig.) 

Nietzsche, F.: Viele Stellen in seinen Schriften, vor allem § 350 in „Erkenntnis- 
theorie" (Ausg. Naumann), XIV., S. 178 ff.; „Ecce homo", XV., S. 35, 113; „Jen- 
seits von Gut und Böse", VII., S. 226, 408 ff. 

Oppeln-Bronikowski v.: Eros als Schicksal bei Friedrich dem Großen und 
Stendhal. Psa. Bewegung, IL, 1930, S. 314 ff. 



Ii8 Edmund Bergler: Stendhal ^^^ 

Polizeiakten: Pariser Polizeibericht über H. Beyle ex 1814. — Wiener Geheim- 
bericht über H. Beyle ex 1830. Beide abgedruckt bei Schurig. 

Rod, Edouard: Stendhal. Paris 1892. Librairie Hachette & Cie. 

Sand, George: Histoire de ma vie, Livre III, Chap. 31. Paris 1855. 

Sc hur ig, A.: F. v. Stendhal (Henri Beyle): Das Leben eines Sonderlings. Leipzig 
1924. Insel-Verlag. 

Sera, Leo G.: Auf den Sturen des Lebens. Aus dem Italienischen übersetzt von 
R. Schöner. Berlin 1909. Oesterheld. 

Spach, L.: Zur Geschichte der modernen französischen Literatur. Straßburg 1877. 

Stendhal: Oeuvres completes. Paris 1854. Michel Levy Freres. 

Strombeck, F. K. v.: Darstellungen aus meinem Leben und meiner Zeit. Braun- 
schweig 1835. 

Valery, P.: Stendhal. Zürich. Verlag der Neuen Schweizer Rundschau. 

Weigand, W.: Stendhal. München 1923. Georg Müller. 

Zweig, S.: Drei Dichter ihres Lebens. Insel- Verlag, Leipzig 1928. 



Grabbc' 

Ein Beitrag zur Psychologie des oralen Pessimisten 

Drum Fluch der 'Welt, wo jeder Bauernlümmel 

Mit Hilfe einer Viehmagd 

Etwas Unsterbliches verfertigen kann. 

Gothland in Grabbes „Herzog Theodor von Gothland" 1820. 

Ich stehe erträglich, aber ich bin nicht glücklich, werde es wohl 
auch nie wieder. Ich glaube, hoffe, wünsche, liebe, achte, hasse 
nichts, sondern verachte nur noch immer das Gemeine; ich bin 
mir selbst so gleichgültig, wie es mir ein Dritter ist: ich lese 

tausend Bücher, aber keins zieht mich an Ruhm und Ehre 

sind Sterne, deren thalben ich nicht einmal aufblicke; ich bin über- 
zeugt, alles zu können, was ich will, aber auch der Wille scheint 
mir so erbärmlich, daß ich ihn nicht bemühe; ich glaube, ich habe 
so ziemlich die Tiefen des Lebens, der Wissenschaft und der Kunst 
genossen; ich bin satt von den Hefen; nur Musik wirkt noch 
magisch auf mich, weil ich sie nicht genug verstehe. Meine jahre- 
lange Operation, den Verstand als Scheidewasser auf mein Gefühl 
zu gießen, scheint ihrem Ende zu nahen: Der Verstand ist aus- 
gegossen und das Gefühl zertrümmert. 

Aus einem Brief Grabbes an Kettembeil am 4. Mai 1827. 
Thumelico: Mutter! 

Thusnelda: Was begehrst du, mein Junge? 

ThumeHco: Ein kleines Butterbrot, nicht größer als meine Hand. 
Thusnelda: Ein großes, ein ganz großes sollst du haben! Iß, trink 

und freue dich des Augenblicks, ehe die schweren Jahre 

kommen! 
Aus Grabbes letztem Drama „Die Hermannschlacht" 1836. 

I. Triebtendenzen des Pessimisten 
Ein Pessimist ist ein Mensch, der die Existenz der Sonne am Schatten er- 
kennt. Diese Definition, die mir ein geistvoller pessimistischer Patient gab, 
berücksichtigt, so scharf sie auch einen Zug des Pessimisten — den düsteren 
Aspekt der Welt — herausarbeitet, eine Reihe von Eigenschaften nicht. Vor 
allem die bekannte Tatsache, daß der Pessimismus eine narzißtische Schutz- 
maßnahme des Ichs darstellt: durch gedankliche Vorwegnähme künftigen Un- 

i) Publiziert in „Imago" 1934, H. 3. 



Edmund Bergler 



heils schützt sich der Pessimist vor seinem Schreckgespenst: der Düpierte zu 
sein. Es sieht manchmal so aus, als hätte sich der Pessimist mit der Tatsache, 
daß alles im Leben mißlingt, abgefunden, doch erträgt er diese Tragödie nur 
um den Preis eines narzißtischen Lustgewinns, den er aus der richtigen Vor- 
aussage schöpft. Dieses krampfhafte Sich-nicht-Düpieren-lassen-wol- 
len läßt vermuten, daß der infantile Allmachtswahn der Pessimisten be- 
sonders empfindliche Schläge in allerf rühester Kindheit er- 
litten haben muß, d.h. diese Menschen haben den Zusammenbruch der 
„autarki sehen Fiktion" nicht verwunden und begnügen sich nicht mit 
den üblichen Restitutionsversuchen der verlorenen narzißtischen Einheit.^ Ge- 
rade dieses Fixiertbleiben an die Enttäuschung macht das Krankhafte aus und 
bedingt die Unfähigkeit zur Objektbesetzung und Liebe, die die „normalen" 
narzißtischen Restitutionsversuche darstellen. All dies läßt die Erwartung auf- 
kommen, daß der Pessimist in seinen Unheilsprophezeiungen immer gegen 
einen Unsichtbaren polemisiert, etwa nach der Formel: Ich habe ja immer ge- 
wußt, daß du ein schlechter Kerl bist und mich nicht Hebst. Nun ist es im 
ersten Augenblick nicht ersichtlich, wie aus der Tatsache eines erwarteten un- 
heilvollen Ausgangs, der sich gegen die eigene Person richtet — wann er- 
wartete der Pessimist von der Welt Gutes? — , Lust geschöpft werden kann, 
es sei denn ein Stück masochistischer Befriedigung. Diese kommt beim oralen 
Pessimisten in ausgiebigem Maße zur Geltung, genau so wichtig ist aber das 
Ad-absurdum-Führen, resp. das Ins-Unrecht-Setzen der infantilen Machtperson 
— es handelt sich immer um die phallische Mutter — , die sich hinter dem, 
erst später vermännlichten, supponierten Schicksal, Fatum usw. verbirgt. 
Dieses Ins-Unrecht-Setzen dient doppeltem Zweck: es schafft ein Stück Lust 
aus dem schadenfrohen Ausleben der unbewußten Aggression (es ist bekannt, 
wie schadenfroh Pessimisten sind, wenn sie die „Harmlosen" durch Prophe- 
zeiungen schrecken), und nimmt ein Stück Über-Ich-Bestrafung vorweg, indem 
es die peinliche Vorstellung der Nichterfüllung verschafft.^ Der orale Pessimist 
leitet aus diesen ständigen Enttäuschungen die Berechtigung zu seinem Haß 
gegen die erhöhte Mutterimago ab, da — wie nachzuweisen sein wird — der 
orale Pessimist gar nicht der Erfüllung seiner Kinderwünsche, 
sondern der Kindheitsenttäuschung nachjagt. Wie jeder Neurotiker 
ist er einem Grammophonliebhaber vergleichbar, der aber nur für eine Platte 
Interesse hat, die er immer bei sich trägt: wo er ein Grammophon sieht, stürzt 
er sich mit Feuereifer darauf und läßt, nie ermüdend, seine einzige Platte ab- 



2) Siehe Jekels und Bergler „Übertragung und Liebe", Imago 1934. H. i. 

3) Bei Zwangsneurotikern hat der (anale) Pessimismus noch den Sinn, daß das „Günstige" 
nicht ausgesprochen werden darf, um das „Schicksal" nicht zu „provozieren", da ja in der 
Zwangsneurose Worte magische Bedeutung haben. 



Grabbe 12 1 

laufen. Der orale Pessimismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut: 
unbewußte Lust und unbewußte Bestrafungsmechanismen halten einander die 
Waage und das Ich schafft in seinem Versuch der Vereinheitlichung ein Kom- 
promiß.* ' 

II. Die analytische Literatur zum Problem des Pessimismus 

Der erste Analytiker, der die Grundzüge einer Philosophie des Pessimismus 
— es war die Schopenhauers — aus dem Unbewußten ihres Schöpfers ab- 
leitete, war Eduard Hitschmann, der bewies, daß die frühesten und zutiefst 
reichenden "Wurzeln des Pessimismus dieses Philosophen aus der eigenartigen 
Elternkonstellation entsprangen. Pessimismus sei keine Weltanschauung, son- 
dern eine krankhafte Verstimmung. Zur Rechtfertigung der primär subjektiv- 
pessimistischen Verstimmung werde sekundär die Verwerflichkeit und Schlech- 
tigkeit der Welt herangezogen, wobei ein großes Stück der Systembildung auf 
unbewußten Projektionen beruhe. Schopenhauer war einer aus jener Minorität 
von Tischgängern an des Herrgotts Tafel, denen es nicht schmeckt; ihr Kost- 
verachten beweist nicht, daß das Gebotene schlecht ist, sondern — ihre 
psycho-physische Konstitution. Hitschmann betont die Bedeutung des Nar- 
zißmus und vor allem des masochistischen Lustgewinns beim Pessimismus in 
Übereinstimmung mit Nietzsche. 

„Deutlich läßt sich die Freude am eigenen Leiden in der ganzen pessimistischen Dar- 
stellung und Auffassung des Lebens erkennen, da ja am Mißraten, Verkümmern, am Schmerz, 
am Unfall, am Häßlichen, an der willkürlichen Buße, an der Entstellung, Selbstgeißelung, 
Selbstopferung ein Wohlgefallen gefunden und gesucht wird. Dies ist alles im höchsten Grade 
paradox: wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst nicht zwiespältig will, 
welche sich selbst an diesen Leiden genießt" (Nietzsche). Das, was ein Philosoph für die 
objektive Wahrheit, für letzte Lösungen der Welträtsel ansieht, ist nach Hitschmann 
psychologisch individuellste Zwangsgedankenbildung und deren Projektion und es sind die 
ureigensten Affekte des Philosophen, die ihn in bestimmte Richtungen zwingen. 

Bedenkt man, daß diese geistreiche Arbeit aus der Frühzeit der Analyse 
stammt, ist man über die Treffsicherheit der Formulierungen — vor allem 
das Aufspüren des masochistischen Genusses beim Pessimisten ist staunens- 
wert — frappiert und versteht, weshalb Freud diese Arbeit in seinem Werk 
„Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung" zugleich mit dem philo- 

4) Man darf nicht vergessen, daß das ganze neurotische Gebäude des Pessimisten etwas 
Sekundäres darstellt und einem der vielen möglichen Ausgänge des realen oder ver- 
meintlichen Nicht- oder Zuwenig-Geliebtseins in der frühesten Kindheit entspricht. Nur darf 
man sich die „Enttäuschungen", an denen der Pessimist erkrankt, nicht allzu primitiv vor- 
stellen. So fragt etwa der Grabbe-Biograph Ziegler: „Was hatte denn die Welt dem jungen 
Grabbe groß zuleide getan?"' — Die Enttäuschungen liegen in der unwahrscheinlich frühen 
oralen Säuglingsperiode und gehen auf die Mutter-Kind-Beziehung zurück. 



122 Edmund Bergler 



sophisch-analytischen Aufsatz Wintersteins „Psychoanalytische Anmerkun- 
gen zur Geschichte der Philosophie" besonders hervorhebt. 

Und die Triebkonstituenten des Pessimismus? Wir wissen, daß es einen 
„analen" und einen „oralen" Pessimisten gibt. Der anale Pessimist hat eine 
glänzende Beschreibung in einer späteren Arbeit Eduard Hitschmanns ge- 
funden, der nichts hinzuzufügen ist. Hitschmann rekonstruiert in dieser Ar- 
beit den Charakter des zwangsneurotischen Misanthropen von Moliere: 

„Nehmen wir an, er sei ein der zärtlichen Mutter besonders ergebenes und ursprünglich 
verwöhntes Kind. Der Vater war aus derberem Holz, grob, von nicht der strengsten Sitten- 
strenge. Der Sohn, an die Mutter fixiert, dem Vater eifersüchtig und immer kritischer 
gegenüberstehend, würde sich, aus der zu überwindenden Feindseligkeit heraus, ein besonders 
strenges Über-Ich aufrichten. Inzestuöse Phantasien auf die Mutter ließen das Sexuelle 
doppelt ablehnungswert erscheinen; es fiele auch mit unter das viele Ekelhafte, das ein anal Ver- 
anlagter verwirft. Narzißmus plus Anahtät geben eine Disposition zur Homosexualität, die durch 
Identifizierung mit der Mutter verstärkt, aber nie manifest würde. Das Vorbild der Mutter müßte 
viel strenge Gesittung, etwa auch kritisch gegen den weniger gediegenen Vater ausgespielt, zur 
Nachlebung enthalten. Innerer Zwang zur Enthaltsamkeit, gesteigert durch ängstlich ein- 
schüchternde Erziehung der Mutter, welche die Forderung, ausschließUch ihn zu lieben, ent- 
täuschen mußte, ließe nichts übrig, als Unfähigkeit und Kränkung. Das Resultat ein 
nazarenischer, gar nicht hellenischer Mann, ein Enttäuschter, ein Weltverbesserer, ein Ethiker, 
aber ein polternder, ohne Liebe, über dem ein düsterer Schatten ruht." — Der Autor hebt 
in der Arbeit noch hervor: das gesteigerte Selbstgefühl des Alceste, sein Opponieren aus 
Prinzip, seine verbalen Übertreibungen, masochistische Züge des LeidenwoUens, sein para- 
noides Mißtrauen und die Tatsache, daß Haß, Verneinung, Pedanterie und Übermoral 
dominieren. 

Ansonsten berichtet die analytische Literatur wenig über den oralen 
Pessimisten. Die erste Äußerung finden wir bei Abraham, der in seinen 
„Beiträgen der Oralerotik zur Charakterbildung" darauf hinweist, daß der 
schwerblütige Ernst der analen Pessimisten nicht unmittelbarer analer Her- 
kunft ist, sondern aus der Enttäuschung der oralen Wünsche des frühesten 
Alters entstand. Abraham nimmt eine Unterteilung der oralen Stufe in zwei 
Teile vor, wobei in der ersten das Saugen, in der zweiten das Beißen die 
Hauptrolle spielt, und meint, daß eine geglückte Verarbeitung der oralen 
Erotik die erste und somit vielleicht wichtigste Voraussetzung eines späteren 
normalen Verhaltens in sozialer wie in sexueller Beziehung bildet. Ob nun 
das Kind in der SäugUngsperiode Lust entbehren mußte oder durch Übermaß 
an Lust verwöhnt wurde — die Wirkung sei die gleiche. Das Kind nimmt 
unter erschwerten Bedingungen Abschied vom Stadium des Saugens. Da sein 
Lustbedürfnis entweder nicht genügend gestillt wurde oder zu anspruchsvoll 
geworden ist, stürzt sich sein Begehren mit besonderer Intensität auf die Lust- 
möglichkeiten des nächsten Stadiums, wobei ständig die Gefahr der Regression 
lauert. Das heißt, die Lust am Beißen wird besonders hervortreten, ebenso 



V^"^ 



Grabbe 123 

die überstarke Ambivalenz. In manchen Fällen stehe die Charakterbildung 
unter oralem Einfluß: dem unerschütterlichen Optimismus, daß die Mutter- 
brust ewig fließen werde (eine Einstellung, die zu weltfremder Sorglosigkeit 
führen kann), stehe der Pessimist gegenüber, der dem Leben gegenüber eine 
sorgenvolle Einstellung habe und die Neigung „es sich sauer werden zu 
lassen" und sich selbst einfachste Vorgänge des Lebens über Gebühr erschwere. 
Abraham nennt ferner eine Reihe von Abkömmlingen dieser Einstellung: z. B. 
den Beamten, dem die Subsistenzmittel bis zum Tode garantiert werden 
müssen, den Ungeduldigen, Ehrgeizigen, Geizigen, oral Aggressiven, den Hast- 
und Ruhelosen usw. Die auf der oral-sadistischen Stufe Fixierten seien feind- 
selig und bissig (Neid, Mißgunst, Eifersucht), während die auf der ersten — 
saugenden — Stufe Zurückgebliebenen ein heiteres und umgängliches Wesen 
an den Tag legen. 

Freud hat in seinen letzten Arbeiten die präödipale Mutterbindung des 
Kindes hervorgehoben und gemeint, „daß die Gier des Kindes nach seiner 
ersten Nahrung überhaupt unstillbar ist, daß es den Verlust niemals ver- 
schmerzt", und sarkastisch hinzugefügt, er wäre nicht überrascht, wenn die 
Analyse eines Primitiven, der noch an der Mutterbrust saugen durfte, als er 
schon laufen und sprechen konnte, ebenfalls den Vorwurf, zu wenig Milch er- 
halten zu haben, zutage fördern würde. 

Ferenczi hat den Pessimismus im allgemeinen mit einer Störung des Wirk- 
lichkeitssinnes zu erklären versucht: 

„Alle Kinder leben im glücklichen Wahne der Allmacht, der sie irgend einmal — wenn 
auch nur im Mutterleibe — wirklich teilhaftig waren. Es hängt von ihrem „Daimon" und 
ihrer „Tyche" ab, ob sie die Allmachtsgefühle auch ins spätere Leben hinüberretten — und 
Optimisten werden können, oder ob sie die Zahl der Pessimisten vermehren werden, die 
sich mit der Versagung ihrer unbewußten irrationalen Wünsche nie versöhnen, sich durch 
die nichtigsten Anlässe beleidigt, zurückgesetzt fühlen und sich für Stiefkinder des Schicksals 
halten — weil sie nicht seine einzigen oder Lieblingskinder bleiben können." 

(„Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes", 19 13.) 

in. Aus Grabbes Kindheit 

Im folgenden wird der Versuch gemacht, an Hand eines Bruchstücks einer 
psychoanalytischen Dichterbiographie dem Problem des oralen Pessimisten 
näherzukommen. Daß gerade Christian Dietrich Grabbe als Testobjekt ge- 
wählt wird, hängt mit mehreren Gründen zusammen: mit der Bewunderung 
des Verfassers für Grabbes "Werke, mit der Tatsache, daß drei der hervor- 
stechendsten Eigenschaften Grabbes — seine Oralität,^ seine Allmachtsidee^ 

5) „Zur Problematik der Pseudodebilität." Int. Zeitschr. f. Psa., XVIII, 1932. — „Der Mamma- 
komplex des Mannes" gemeinsam mit L. Eidelberg. Int. Zeitschr. f. Psa., XIX, 1933. — 
„Übertragung und Liebe" gemeinsam mit L. Jekels, Imago, XX, 1934. — „Über einige 



124 Edmund Bergler 



und sein Zynismus'^ — zum engeren Arbeitsgebiet des Verfassers gehören, und 
endlich mit dem Reiz, ein von den wissenderen Biographen als unlösbar er- 
klärtes Problem zu lösen: „Einen Proteus in hundert Gestalten und nirgends 
zu fassen" nennt ihn z. B. Ziegler; „keine Formel deckt ihn ganz" resümiert 
Hillekamps. 

Über die Bedeutung Grabbes — dieses Buonarotti der Tragödie 
(Marggraff) — sei ein Urteil Heinrich Heines angeführt: 

„ . . . will hier nur bemerken, daß besagter Dietrich Grabbe einer der größten deutschen 
Dichter war und von allen unseren dramatischen Dichtern wohl als derjenige genannt werden 
darf, der die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat. Er mag weniger Saiten auf seiner 
Leier haben als andre, die dadurch ihn vielleicht überragen, aber die Saiten, die er besitzt, 
haben einen Klang, der nur bei dem großen Briten gefunden wird. Er hat dieselben Plötz- 
lichkeiten, dieselben Naturlaute, womit uns Shakespeare erschreckt, erschüttert, entzückt. 
Aber alle seine Vorzüge sind verdunkelt durch eine Geschmacklosigkeit, einen Zynismus und 
eine Ausgelassenheit, die das Tollste und Abscheulichste überbieten, das je ein Gehirn zutage 
gefördert. Es ist aber nicht Krankheit, etwa Fieber oder Blödsinn, was dergleichen hervor- 
brachte, sondern eine geistige Intoxikation des Genies. Wie Plato den Diogenes 
einen T/ahnsinnigen Sokrates nannte, so könnte man unseren Grabbe leider mit doppeltem 
Rechte einen betrunkenen Shakespeare nennen." 

„Ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter" — so nennt Freud im 
„Unbehagen in der Kultur" Grabbe — hatte eine ungewöhnliche Jugend: 
Grabbe wuchs im Zuchthaus zu Detmold auf. Sein Vater war Zuchtmeister, 
d. h. Gefangenenaufseher. „Die Wohnung der Eltern lag über und neben den 
Zellen, in welchen Verbrecher eingesperrt saßen und man gelangte zu ihnen 
nur, indem man an Schildwachen und Türen, die mit eisernen Stangen ver- 
riegelt waren, vorüberging" (Ziegler). Der Vater wird als gutmütiger, freund- 
lich-liebenswürdiger Pantoffelheld geschildert. Das Regiment im Hause führte 
Frau Grabbe — „der Zuchthauskommissarius" — , wie sie scherzweise genannt 
wurde. Da Grabbes Mutter für seine spätere Entwicklung die entscheidende 
Rolle spielte, seien die einander widersprechenden Äußerungen von beiden 
Biographen Grabbes, Duller und Ziegler, nebeneinandergestellt. Es sei im vor- 
hinein hervorgehoben, daß sowohl Dullers, wie Zieglers Objektivität wieder- 
holt angezweifelt wurde: Duller stand unter dem Einfluß von Grabbes Witwe, 
die mit der Mutter Grabbes in erbitterter Feindschaft lebte — „sie stiehlt, sie 
sauft", zeterte sie — und Ziegler wieder wird Voreingenommenheit gegen Frau 

noch nicht beschriebene Spezialformen der Ejakulationsstörung." Int. Zeitschr. f. Psa., XX, 
1934. — „Ober die Vorstadien der männlichen Schlagephantasie." Erscheint in Int. Zeitschr. 
f. Psa. 

6) „Das Unheimliche" (The Uncanny). International Journal of Psychoanalysis (London) 
1934, H. 2/3. — Eine Arbeit des Verf. über die Entwicklung der kindlichen Größenideen 
ist in Vorbereitung. 

7) „Zur Psychologie des Zynikers", Psa. Bewegung, V, 1933. — „Talleyrand. Ein Beitrag 
zur Psychologie des Zynikers." S. Abschnitt I dieses Buches. 



Grabbe 125 

Grabbe vorgeworfen und angedeutet, daß seine Informationen von seiner 
Frau, einem früheren Dienstmädchen der Frau Grabbe, stammen. 

Duller entwirft ein grausiges Bild der Mutter Grabbes, das offenbar haß- 
verzerrt ist und aus diesem scharfsichtigen Haß heraus — Duller ist ja ein 
Sprachrohr der Gemahlin Grabbes — sogar die Wichtigkeit der präödipalen 
Mutterbindung ahnt: 

„Grabbes Mutter lebt noch. An ihrer Brust begann sein Unglück. In jenem zarten Alter, 
da der Vater dem Kinde noch nichts sein kann, die Mutter ihm alles sein muß, fand er am 
Herzen der Mutter kein Weichtum, keinen Schutz, fand er darin fast sein Verderben. Die 
Kombinationen seiner frühesten Kindheit hatten efwas Dämonisches, dessen Einfluß, wiewohl 
durch Erziehung und Bildung geschwächt, und wie es schien, verwischt, doch in der Folge 
mit einem Male gebieterisch wieder zum Vorschein kam, und sich als feindseliges, vernich- 
tendes Element geltend machte. Denkt euch eine weibhche Natur, in welcher jede geistige 
Regung unter der starren, schmutzigen Rinde des Sinnenlebens erstickt bleibt, in welcher die 
Wahrheit nie zum Durchbruch gelangt, in welcher — statt des Bewußtseins — nur der In- 
stinkt, mit welcher — statt des Willens — nur dies oder jenes bizarre Verlangen, wie 
sinnliche Anregung eines gebar, schaltet und waltet, — eine solche bösartige, halbverrückte 
Natur, und — in eines solchen Wesens Schutz gegeben denkt euch ein Kind, das jeden 
Anblick, jedes Wort, jede Vorstellung wie Muttermilch einsaugt, dem die Mutter das 
lebendige Evangelium, dem sie erste und letzte, dem sie die heihgste Liebe, die es noch nicht 
zu fassen und später nie zu erwidern und zu vergelten vermag, das Organ sein soll, durch 
welches es das ganze Geheimnis seines Lebens wie einen Traum übersieht, auf den es viel- 
leicht erst auf dem Sterbebette sich wieder besinnt. Von allem diesen fand das Kind Grabbe 
das Gegenteil. Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahre an 
täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts beim Schlafengehen 
solche vor das Bette setzt. In tiefstem Schmerze erzählt Grabbe dies von der seinigen." 

Ziegler behauptet so ziemlich das Gegenteil: 

„Grabbes Mutter, eine starke, hochgebaute Frau, die in ihrer Jugend schön gewesen sein 
soll und deren noch jetzt ausdrucksvolle Züge und helle Augen noch jetzt sehr viel Energie 
und Willenskraft andeuten, stellt in ihrer weißen Pikeemütze und ihrem breitgesteckten 
Tuch eine repräsentable Bürgersfrau dar. Freilich ist ihr etwas Leidenschaftliches und 
Hastiges eigen, weswegen sie manchmal auf Erfüllung wunderlicher Einbildungen, die sie sich 
in den Kopf gesetzt hat, mit Beharrlichkeit bestehen kann . . . Wenn Duller in seiner Bio- 
graphie Grabbes von ihr erzählt, daß sie Letzteren in seiner Kindheit durch Roheit und 
Härte eingeschüchtert und ihm des Nachts beim Schlafengehen betäubende geistige Getränke 
vors Bett gesetzt habe, so lautet das freilich sehr romantisch . . . indessen ist dieser phan- 
tastische Aufputz lediglich in dem Gehirn der Witwe Grabbes entstanden. Die Eltern Hebten 
den Sohn mit der zärtlichsten Liebe, zumal sie sich einen Sohn gewünscht. (Grabbe war das 
einzige Kind.) Besonders scheint er der Augenstern der Mutter gewesen zu sein, in der 
Weise, daß sie wohl nicht ganz frei davon gewesen sein möchte, ihn in seiner Jugend ver- 
zärtelt und ihm viel zugute gehalten zu haben." 

Um die Unsicherheit voll zu machen, sei noch auf eine Stelle in Heines 
„Memoiren" verwiesen, in welcher Heine direkt hervorhebt, daß Grabbes 
Mutter ihm das Trinken abgeraten habe: 



J25 Edmund Bergler 



„Eine Geschichte will ich hier einweben, da sie die verunglimpfte Mutter eines meiner 
Kollegen in der öffentlichen Meinung rehabilitieren dürfte. Ich las nämlich einmal in der 
Biographie des armen Dietrich Grabbe, daß das Laster des Trunks, woran derselbe zugrunde 
gegangen, ihm durch seine eigene Mutter frühe eingepflanzt worden sei, indem sie dem 
Knaben, ja dem Kinde Branntwein zu trinken gegeben habe. Diese Anklage, dje der 
Herausgeber der Biographie aus dem Munde feindseliger Verwandter erfahren, scheint grund- 
falsch, wenn ich mich der "Worte erinnere, womit der selige Grabbe mehrmals von seiner 
Mutter sprach, die ihn oft gegen „dat Suppen" mit den nachdrücklichsten Worten ver- 
warnte. Sie war eine rohe Dame, die Frau eines Gefängniswärters, und wenn sie ihren 
Wolf-Dietrich karessierte, mag sie ihn wohl manchmal mit den Tatzen einer Wölfin auch 
ein bischen gekratzt haben. Aber sie hatte doch ein echtes Mutterherz." 

(Memoiren, Ausg. Bong, Bd. 1 5, S. 79.) 

Der ganze Streit um die Person der Mutter Grabbes ist dadurch provoziert 
worden, daß man annahm, Grabbe sei an seiner Trunksucht zugrunde ge- 
gangen, wobei die Tendenz bestand, die Schuld an dem AlkohoHsmus der 
Mutter zuzuschieben. In WirkHchkeit starb Grabbe im Alter von 3 jVg Jahren 
(ii.DezemberiSoi— 12. September 1836) an Tabes, der Spätfolge einer in 
der Studentenzeit akquirierten Lues.« Dieser Fehldiagnose ist es zu danken, 
daß wir von den Biographen einiges über die Mutter Grabbes erfahren. Nach- 
dem dieser Streit wegen der Schuld oder Unschuld der Mutter an Grabbes 
Trunksucht durch die Verifizierung der Diagnose gegenstandslos geworden ist, 
gewinnt er doch wieder eine ganz andere Bedeutung, und zwar vom analyti- 
schen Gesichtspunkt, von Grabbes überstarker Oralität her. Und wenn auch 
der primitive Vorwurf der „Anlernung" des Säuglings zum Potus ein der 
psychoanalytischen Deutung bedürftiges Märchen ist, das Grabbe selbst kolpor- 
tiert hat,» so ist natürlich immer wieder die Beziehung des Kindes zur Mutter 
der Ausgangspunkt und der Schlüssel zum Verständnis jeder Persönlichkeit. 
Jede Analyse zeigt immer wieder, in welchem Ausmaß die Bedeutung des 
Vaters für die psychische Entwicklung bisher überschätzt und die der Mutter 
unterschätzt wurde. Die letzten Arbeiten Freuds über die „präödipale Mutterbin- 
dung" sprechen im Sinne dieser Annahme." 

Nach dem von Duller, Ziegler und Heine Angeführten ist anzunehmen, daß 
die Erziehung der Mutter durchaus inkonsequent war: Überzärtlichkeit und 
unmotivierte Strenge wechselten ab, wobei das Rabiate der Mutter beim Kinde 
selbst bei Liebkosungen Angstbereitschaft hervorrief. Sehr treffend ist Heines 

8) Vgl. Erich Ebstein, „Grabbes Krankheit". 

9) „Aber es kam Grabbe auch nicht darauf an, wenn sich's gerade schickte, seme Romantik 
aus dem Milieu der Hintertreppe zu schöpfen. So entstanden denn Geschichten, wie die von 
dem begnadigten Mörder, den er als kleines Kind an einem Wollfaden im Gefangnishofe 
herumführte oder das gräßliche, von ihm selbst in die Welt gesetzte Gerücht, daß die 
eigene Mutter dem vierjährigen Kinde Branntwein vors Bett gesetzt habe." 

(W u k a d i n o w i c.) 

10) Vgl. E. Bergler und L. Eideiberg, a.a.O. 



v^ 



Grabbe 127 

Vergleich mit einer Wölfin, die mit ihren Tatzen auch liebend gekratzt haben 
mag. Dafür spricht auch folgende Szene zwischen Mutter und Knabe in der 
„Hermannsschlacht" („Eingang", 6.): 

Thusnelda: Einen Kuß, Junge! Noch einen und noch tausende — ich werde nicht satt. 
Thumelico: Deine Küsse tun weh. 
Thusnelda: Kind, ich bin zu froh. 

IV. Grabbes Oralität 

Es muß bei Grabbe eine offenbar konstitutionell bedingte Verstärkung 
der oral-sadistischen Komponente angenommen werden, die durch 
akzidentelle Erlebnisse" in die Höhe getrieben sein mag. Auf diese Stufe der 
Sexualentwicklung regredierte Grabbe, wobei man begreiflicherweise Zeitpunkt 
und akzidentellen Anlaß, dem bloß die Rolle des agent provocateur zufällt, 
nicht mehr feststellen kann. Das sadistische Aussaugen und Beißen anderer 
und die Rückwendung dieser Aggression gegen die eigene Person unter dem 
Drucke des unbewußten Schuldgefühls, das sich im Strafbedürfnis äußert, in 
Form der Angst vor dem Gefressenwerden, spielen bei Grabbe eine übergroße 
Rolle. Diese Einstellung kann man im realen Verhalten Grabbes finden und 
mit einer Unzahl von Zitaten aus seinen Werken belegen. 

So erzählt z.B. Gräfin Elisa v. Ahlefeld (die Freundin Immermanns), daß 
sie Grabbe mit ihrer schönen Hand nicht zu nahe kommen durfte, da er sonst 
sofort hineinbiß, „weil sie gar so appetitHch sei". „Er war wie ein Kind", sagte 
die Gräfin von ihm, „so gut, so unartig, so lenksam, aber auch so schmutzig". 

Eine ähnliche Szene — diesmal handelt es sich um einen Mann — erzählt 
Ziegler (S. 77): 

„Einst traf er auf einem Balle mit ein paar Berliner Studenten, die, ich weiß nicht von 
wem, eingeführt waren, zusammen, der eine von ihnen hieß Eichholz . . . Die jungen Leute 
hatten sich an ihn gedrängt, saßen mit ihm in einer Nebenstube, wo sie miteinander zechten, 
und flössen hier über in Lobeserhebungen über die Grabbeschen Werke, was allerdings nicht 
ohne Reiz für Grabbe blieb, der für Schmeicheleien zu Zeiten sehr empfänglich war. Das 
hatte eine Weile gedauert, da näherten sich mehrere von Grabbes älteren Bekannten und 
warfen spöttische Blicke auf diese seine Unterhaltung. Grabbe merkte das, schien sich 
darüber zu schämen, daß er sich mit den jungen Leuten in solche Vertraulichkeit eingelassen 
habe und brach nun auf höchst seltsame Art auf. Er sprang auf und während der Herr 
Eichholz noch vor ihm stand und fortfuhr zu demonstrieren, drückte er ihm die Hand mit 
den Worten: ,Ja, ja, Sie haben ganz recht', neigte sich zu ihm, als ob er ihn küssen wollte 
und biß ihn auf die Wange, indem er versetzte: ,hier haben Sie ein Zeichen meiner Hoch- 
achtung.' Dann drehte er sich um, verzog das Gesicht zu einer lächerlichen Miene und ging 
aus dem Zimmer." 



11) Wir wissen nichts über den Zeitpunkt der Mutterbrustentwöhnung Grabbes und kön- 
nen nur aus Indizien auf die Stärke dieses Traumas schließen. 



128 



Edmund Bergler 



Ein Studienkollege Grabbes erzählte folgende Szene, die Ebstein (S. 21) 

zitiert: 

„Daß Grabbe sich oftmals sehr herabwürdigte, ist ein bekanntes Ding... Grabbe war 
geradezu ein Schwein. Mehrere junge Juristen machten wir einen Spaziergang auf dem 
Detmolder Stadtbruche. Da es dämmerte, liefen Mäuse hin und her. Plötzlich warf sich 
Grabbe auf die Erde, haschte wie ein Kater nach den Tieren, erhaschte eines und nahm es 
zwischen die Zähne. Einer rief: ,Trägst du es so zur »Stadt Frankfurt« hin, gebe ich so 
und so viel aus.' — Grabbe gab sich auch hiezu her." 

„Nanette und Marie" stammt folgende Episode: 

Weh! 
Was ist? 

Die Nadel hier — sie stach 
Mir in den Finger — er blutet — 

Laß mich ihn 

Aussaugen! 

Ha, der Unbarmherzige! 
Ich fühl es, wie er mir die Seele wegsaugt! 

„Nanette und Marie": 
Oh, Nanette, holder Name! 
Sollt ich dereinst verzweifelt und verlassen 
Im fürchterlichsten Schmerz darniederliegen. 
So würde ich „Nanette" sagen und 
Wie Himmelsfrieden würd' es mich umwehen! 

Pah, 
Ich liebe meinen Namen nicht, er klingt 
Zu zimperlich! — Ein Wort wie Krokodil, 
Das war' ein Nam' gewesen, welcher zu 
Der grimmen Miene paßte, die ich dir 
So gerne zeigte und nicht zeigen kann. 
Nein, keine grimme Miene, auch nicht nur 
Zu scherzen! Deine Augenbrauen sind 
Zwei Raben in dem Schnee, und wenn du sie 
Zusammenzögst, so würd' ich denken, daß 
Sie ihre Flügel regten, um mir auf 
Den Busen loszufliegen und ihn aus- 
zuhacken! 

Pfui doch, du erschreckst mich vor 
Mir selbst, — kaum wage ich an meine Stirn 
Zu fassen, — meine Augenbrauen könnten 
Mir in den Finger beißen . . . 

Deine Finger 
Verdienten das um meinetwillen! Halb 
Geöffnet, gleich schlau ausgestellten Mäusefallen 
Erwischen sie mit einem Druck die Herzen 

Und lassen ihren Fang nicht eher — Ei, , 

Sieh da! Wie niedhch! 



Aus Grabbes 

Nanette : 
Pietro (Vater): 
Nanette: 

Leonardo (Liebhaber): 

Nanette: 

Ebenfalls aus 
Leonardo: 



Nanette: 



Leonardo: 



Nanette: 



Leonardo: 



Grabbe 129 

Besonders beweisend ist eine Szene aus dem Märchenspiel „Aschenbrödel". 
Dort stellt die Feenkönigin der Olympia eine sonderbare Dienerschaft zur 
Verfügung: der Kutscher ist eine verwandelte Ratte, die Kammerzofe eine 
verzauberte Katze. 

Königin der Feen: 

Doch müssen wir bei all den Feengaben 

2ur Freude auch den Scherz noch haben. 

Der Kutscher fehlt — 'ne Ratte naget dort. 

„Ratte sei Kutscher! Fahre du wild! Wild wie du bist!" 

Die Zofe fehlt — ei, will die Katz da fort? 

„Katze werd' 2ofe! Sanft und doch beißig! Katzennatur!" 

(Der Kutscher, eine verwandelte Ratte, tritt ein, graugekleidet, mit einem Zopf bis an 
die Fersen und einer großen Peitsche.) 

(Er will in das Loch kriechen.) Weh' mir, ich ward zu groß. 

Zofe (sieht den Kutscher, für sich murmelnd): Häh, die Ratte! Ich springe auf sie los! — 
Doch still — Ich habe keine Krallen mehr. 

Kutscher: Wie unbehaglich ist mir! Wie wohl war mir in meiner süßen Heimat — Wie 
schön war ich! Wie schändlich bin ich verwandelt! 

Zofe (sacht geschlichen): Fassen muß ich die Ratte, doch — 

Kutscher (erblickt die Zofe): Huh, was riech' ich? 

Königin der Feen: Kutscher, wirst du kindisch? 

Kutscher: Wenn man mir ans Leben will? 

Königin der Feen: An das Leben? 

Kutscher: Das Geschöpf da will mich fressen — aber kommt's mir, ich sterbe nicht 
umsonst, ich wehre mich. 

Königin der Feen: Das holde Mädchen erschreckt dich? Du nimmst sie einst noch zur 
Frau. 

Kutscher: Daß ich morgens nach der Hochzeitsnacht statt neben ihr in ihrem Magen 
läge ... 'S ist 'ne Katze. Der Hund hol ihre Schönheit. Damit betrügt sie die Mäuse. — 
Aber wir Ratten, — doch wir ersten Geschöpfe, wir ahnen gleich, was so 'ne St. Simonistin 
für eine auffresserische Tendenz unterm Fell hat. 

Königin der Feen: Sie sieht dich so mild, so traurig an. 

Kutscher: Mild? Ja, um mich heranzulocken! Traurig? Ja, weil ich nicht komme! Sie 
hat meinen Vater ermordet, den braven Greis, nun ist sie noch nicht satt,'* sie will noch 
den Sohn. 

Königin der Feen: Du rasest! 

Kutscher: Ich sollt' es, ich hab Ursach' über Ursach'. Denn auch meiner Geliebten biß 
sie neulich das vierte Bein aus — Gottlob, die hat noch drei behalten, mehr als du je 
gehabt. — Und ich — hab' ich nicht gestern mit ihr auf dem Kornboden gekämpft bis aufs 
Blut? Ich, meine Geliebte, einige gute Freunde und Freundinnen aßen ein bißchen Korn, 
klatschten ein wenig, hielten nachher einen kleinen Ball, der etwas Lärm machte. — Jene 
Kreatur hört das, schleicht heran, springt mir in den Nacken, krallt sich hinein, beißt mir 

12) Vgl einen Brief Grabbes an seine Mutter (21. Juli 1835): „Dein letzter Brief hat 
mich sehr krank gemacht. Wirst Du — , ich mags nicht sagen. Du willst hieher kommen? — 
mich nun ganz ausziehen, weil ich Dir vieles geschickt und schicken werde? Noch nicht satt?" 

Bergler, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 9 



130 Edmund Bergler 



den Kopf, ich ihr in meiner Angst das Ohr . . . schaut, da hat sie noch die Narbe — und nur 
ihr erster Schreck vor meinem verzweifelten Widerstand rettete uns. 

Zofe: Mein Lieber, du irrst dich in der Person — laß dich umarmen — komm', fern 
von Menschen laß uns tändeln und spielen auf grüner Au. 

Kutscher: Ei, Madmoiselle Miau! Er wird sich hüten! Spricht sie schon wieder von „Au"? 
Kann sie das „auen" und „miauen" auch jetzt nicht lassen? 

Zofe (zur Königin der Feen): Oh, laß mich mit dem guten Mann allein! 
Kutscher: Eh' soll der Gottseibeiuns bei mir sein. 
Zofe: Ich werde mich mit ihm verständigen! 
Kutscher: Zu fressen mich, will sie mich bändigen. 
Königin der Feen (zum Kutscher): 

Genug! zum Wagen stracks. 
Und zu des Königs Hofe 
Fahr du Olympia und ihre Zofe! 
Kutscher: Ich stuf dem Bock und das Tier hinter mir? Daß es jeden Augenblick mir ins 
Genick fällt? 

Königin der Feen: Ich werde dich vor ihr beschützen. 
Doch auf dem Bocke sollst du sitzen! 
Kutscher: Schon wieder soll. Ich fühl's, ich muß . . . 

In Grabbes „Napoleon" schreit Jouve: 

„Hacket dem verräterischen Schneider die Finger ab und steckt sie in den 
Mund als Zigarren der Nation." 

Einer der Grundsätze von Grabbes Faust („Don Juan und Faust", IV. 3.) 
lautet: 

Was ich wünsche, muß ich haben oder 

Ich schlag's zu Trümmern! Wenn ich schmachte 

(Sei's nach der Liebe oder nach dem Himmel), 

So werd ich nicht, wie manche Sehnsuchtsnarren, 

Vom Schmachten satt und freu' in süßlicher 

Melancholie und Selbstzufriedenheit daran mich — 

Nein, nein, da halt' ich's lieber mit dem Tiger, der 

So lange Hunger fühlt, bis er der Speise 

Genug hat und den Raub zerreißt. 

Auf den er lauert. — Muß man denn zerreißen, 

Um zu genießen? Glaub's fast, wegen der 

Verdauung. Ganze Stücke schmecken schlecht. 

Mir sagen's Seel' und Magen . . . 

In „Marius und Sulla" kommt diese kannibalische Tendenz noch deut- 
licher zum Ausdruck: 
Flavius (in der Senatsrede): 

Blut oder Brot! Wir hungern! Unten an 
Dem Tiber liegt der Marius und sperrt 
Die Zufuhr! Nicht ein Stäubchen Mehls gelangt 
Zur Stadt! Er läßt es in die Wellen schütten! 
Die Mütter wollen ihre Kinder schlachten, 
Pest, Seuchen, Jammer brechen jäh herein! 



Grabbe j„j 



In Grabbes Jugenddrama „Herzog Theodor von Gothland" wimmelt 
es von oral-sadistischen Anspielungen. Skiöld spricht von Menschenopfern, 
der alte Gothland drückt den Wunsch, seinen Sohn zu töten, folgendermaßen 
aus: „Nun wollen wir ihn schlachten wie ein Huhn", Berdoa höhnt des Helden 
Träume als Wiederkäuen des Brudermords: „Er kann kein Bruderfleisch ver- 
dauen", Herzog Theodor erzählt einen Traum, in welchem sein ermordeter 
Bruder in Gestalt einer ungeheuren Spinne ihm „die Brust aussog", Rolf zeigt 
seine selbstangenagten Fingerknochen und der Kanzler bricht in den Ver- 
zweiflungsschrei aus: 

Hier 
Ist meine nackte Brust! Durchbohr' sie, reiß 
Sie auf! Saug ihre Wunden! Bruderblut 
, Ist Nektartrank! Schlürf es! Hin strömt es dir! 

Mit Freuden geb' ich's, wenn es dich 
Beglückt! Berausche dich darin. 
Bis daß du dich davon erbrichst! . . . 
Ja, ja, Kettet's, kettet's an, 
Das Ungetüm, das seine Brüder frißt. 

Grabbe^ verließ die orale Entwicklungsphase mit einer schweren 
Läsion: die gütige und die fressende Mutter sollten von nun an ständig um 
die Herrschaft in seiner Brust ringen und seine Beziehung zum Leben be- 
stimmen. 

Es ist auffallend — und für die These der oralen Regression beweisend — , 
daß bei Grabbe Frauen und Männer als „Fressende" und „Gefressene" ohne 
Geschlechtsunterschied vorkommen. Das hängt damit zusammen, daß es für 
das Kind auf der oralen Stufe einen Geschlechtsunterschied noch nicht gibt: 
die Frauen sind ebenso phallische, d. h. Wesen mit einem Brustpenis, wie die 
Männer. 

Aus dieser nicht überwundenen oralen Phase ist Grabbes Alkoholismus, 
vieles an seiner Dichtung, seine Größenideen, sein Pessimismus, ja seine ganze 
Sexualität zu verstehen. 

V. Grabbes Alkoholismus 
Grabbes alkoholische Süchtigkeit erwächst auf dem Boden der oralen Trieb- 
konstitution und stellt ein sehr komplexes Phänomen dar. Alle bisherigen 
analytischen Versuche, das tiefste Agens der Süchtigkeit zu finden, haben keine 
Lösung gebracht. Die Arbeiten von Rado, Wulff, M. Klein, M. Schmide- 
berg, Glover, E.P. Hoffmann geben trotz höchst bedeutungsvollen Hin- 
w-eisen keine befriedigende Antwort. Daß die orale Triebkonstitution allein 
nicht genügt, ist anerkannt. Dazu muß neben einer offenbar konstitutionellen 
Gift-Affinität — eine Süchtigkeit zu einem speziellen Gift kann sich, wie eine 




Reihe von nichtanalytischen Autoren hervorhob, nur dort entwickeln, wo der 
Körper dieses Gift mit Lustreaktionen beantwortet: gibt es doch Individuen, 
die z. B. auf Morphium mit dysphorischen Reaktionen reagieren — , noch ein 
Etwas hinzukommen, das uns bisher nicht bekannt ist. Vielleicht ergeben 
die psychischen Reparationsversuche des Entwöhnungstraumas einen weiteren 
Zugang zum Problem. 

Mit diesen Vorbehalten — derzeitige Unlösbarkeit des Problems — können 
wir bei Grabbes Alkoholismus folgende Konstituenten finden: 

r. Der Potus ist vorerst eine Wiederholung der oralen Lust und ein 
Versuch einer Wiedergutmachung der oralen Enttäuschung. Der Alkoholiker 
bekommt soviel zu trinken, als er nur will, die infantile Sehnsucht scheint 
erfüllt, die dahinter lauernde, aus der Versagung resultierende Depression zeit- 
weise überwunden. 

2. Der Potus stellt zugleich eine „magische Geste" dar, die zeigt, wie 
der Potator in der Kindheit bezüglich der Milch hätte behandelt werden 
wollen. 

3. Das Animieren anderer zum Trinken (eine von Grabbe wiederholt be- 
richtete Attitüde) bedeutet die Identifizierung mit der gütigen, oral- 
spendenden Mutter. (Bei jedem Menschen besteht nach Freud die Tendenz, 
passiv Erlebtes aktiv zu wiederholen.) 

4. Auch die konsekutive Logorrhoe und das bombastische Bramarbasieren 
im Rausch sind einerseits Identifizierungsprodukte mit der gütigen Mutter, 
anderseits stellen sie durch Amovierung des verbietenden Über-Ichs jenen Zu- 
stand narzißtischer Glückseligkeit und das Zurückgleiten auf die Stufe der 
kindlichen Allmacht dar, die bei jeder Süchtigkeit zu konstatieren ist. Das 
schwache aktuelle Ich kann sich der unbewußten Triebtendenzen nicht er- 
wehren und erliegt immer wieder der narzißtischen „Versuchung". 

j. Ein weiterer Beweis der kindlichen Allmacht beim Alkoholiker ergibt 
sich aus der Urethralerotik. Ich konnte wiederholt in Analysen feststellen, 
daß Alkoholiker beim häufigen, durch Alkoholgenuß bedingten Urinieren 
infantil-sadistische Größenideen auslebten. Bezeichnend hiefür ist eine Störung 
des Zeitgefühls bei diesen Menschen, die, ohne betrunken zu sein, beim durch 
Saufen bedingten Urinieren das Gefühl einer unendlich langen Zeitspanne 
haben. Diese Größenideen kombinieren sich mit urethral-analen Herab- 
setzungstendenzen, für die gerade Grabbe ein Beispiel liefert. So erzählt 
Grabbes Biograph Ziegler folgende Szene: 

„ . . . Erinnere ich mich, als Hannibal gezwungen war, Itahen zu verlassen, hielt er einen 
Kriegsrat und während nun seine Generale weise beraten, stellt er sich bei Seite und schlägt 
sein Wasser ab. .Wartet erst einmal!' sagt er verächtlich zu seiner Umgebung, ,ich muß erst 
einmal p...' Als er wirklich abreist, verrichtet er erst seine Notdurft, indem er spricht: 



Grabbe iqo 

,Das ist mein Denkmal, welches ich hinterlasse'. Wenn man Grabbe fragte, ob er denn der- 
gleichen drucken lassen wolle, versetzte er: , Allerdings. Und keinen Buchstaben werde ich 
streichen.' " 

Wenn man die bei Grabbe klar nachweisbare Gleichsetzung von Mutter und 
Heimat in Rechnung stellt (siehe S. ijj), ergibt diese Miktion eine allerstärkste 
Aggression gegen die Mutter. (Italien war Hannibals „erweiterte" und er- 
oberte Wahlheimat.) 

6. ImPotus liegt zugleich eine Anklage gegen die die Milch verweigernde 
Mutter (der gegenüber der Potator ambivalent eingestellt ist) etwa nach der 
Formel: Schau, was du aus mir gemacht hast: einen Säufer. 

7. Anderseits ist in der Trunksucht eine Rachehandlung gegen die 
Mutter auf dem Umwege über die introjizierte Mutter unverkennbar." Der 
Potator ist dann psychologisch nicht er selbst, sondern die Mutter. Die Schä- 
digung gilt nicht dem Säufer, sondern der zu bestrafenden introjizierten 
Mutter. Es ist die Umkehrung der Situation: säugende Mutter — saugendes 
Kind, wobei die Mutter aus Rache mit Gift „angefüllt" wird. 

8. Zugleich ist eine Trotzhandlung gegen die Mutter, resp. die Autorität 
bemerkbar: 

„Eines Tages ist Grabbe in einem Konditorladen, dessen Besuch den Schülern verboten war, 
mit einigen seiner Altersgenossen anwesend, als einer der Lehrer hereintritt, vielleicht, um 
eine Erfrischung zu nehmen. Da wandelt ihn eine solche Verlegenheit und Keckheit an, daß 
er augenbHcklich sechs Liköre fordert und alle sechs in Gegenwart des Lehrers hinunter- 
«ürzt." (Ziegler.) 

9. Daß unbewußte homosexuelle und exhibitionistische Tenden- 
zen im Potus in männlicher Gesellschaft hervortreten, ist eine bekannte Kom- 
ponente. Das gilt nicht für den „stillen Suff", wo das früher hervorgehobene 
Hinabgleiten in frühe narzißtische Stufen und das Sich-Hingeben an solche 
Phantasien mehr hervortritt. 

Grabbe, der ursprünglich immer in Männergesellschaft trank, kam in letzten 
Jahren immer mehr davon ab. Aus seiner Düsseldorfer Zeit werden Szenen 
geschildert, in welchen er halbe Tage lang mit dem epileptischen Komponisten 
Burgmüller ohne zu sprechen trinkend „verdöste", d.h. sich schweigend 
seinen Phantasien hingab. Bezeichnend ist, daß er in dieser Zeit an der „Her- 
mannschlacht", also einem Mutterproblem arbeitete (siehe S. 156). Endlich sei 
auf die Zusammenhänge zwischen Oralität und Homosexualität verwiesen 
(siehe „Mammakomplex"). 



13) Dieser Mechanismus steht der Melancholie nahe und unterscheidet sich von ihr durch 
die partielle Einverleibung. M. Wulff nennt den Vorgang bei seinen Fällen von Freßsucht 
treffend „ein Mittelding zwischen Melancholie und Sucht". („Über einen interessanten oralen 
Symptomenkomplex und seine Beziehung zur Sucht." Int. Zschr. f. Psa, XVUI, 1932.) Eben- 
dort Hinweise auf die Differenzen zur Melancholie und Hervorheben der Triebentmischung. 



IQA, Edmund Bergler 



10. Die Schuldgefühlsentlastung erfolgt beim Potus auf verschiedenen 
"Wegen. Beim Trinken in Gesellschaft dadurch, daß auch andere sich be- 
rauschen, also durch deren Mitschuldigmachen. Ferner in der realen Selbst- 
schädigung durch den Potus, im folgenden Katzenjammer, den Selbstvor- 
würfen, dem Odium bei den Mitmenschen usw. usw. 

„Anfangs Elend und später häuslicher Gram trieben den unglücklichen Grabbe, im 
Rausche Erheiterung oder Vergessenheit zu suchen, und zuletzt mochte er wohl zur Flasche 
gegriffen haben, wie andere zur Pistole, um dem Jammertum ein Ende zu machen. .Glauben 
Sie mir', sagte mir einst ein naiver westfäUscher Landsmann Grabbes, ,der konnte viel ver- 
tragen und wäre nicht gestorben, weil er trank, sondern er trank, weil er sterben wollte'; 
er starb durch Selbsttrunk." (Heine, „Memoiren", S.79.) 

Erinnern wir uns, daß Grabbe selbst das Gerücht kolportierte, seine Mutter 
hätte ihn schon als Säugling und Knabe zum Trünke angehalten. Ich halte 
dieses Gerücht für eine nur psychoanalytisch erklärbare Rache an der die 
Brust entziehenden Mutter: Es ist ein phantasiertes Festhalten an der Mutter- 
brust, wobei der Mutter aus Rache für die Entwöhnung die Schuld am Potus 
aufgehalst wird. Die aggressive Triebenergie bezieht ihre Verstärkung aus der 
bei jeder Sucht stattfindenden Triebentmischung (Wulff). 

Daß im Trünke eine liebende und hassende Beziehung zur Mutter zutage 
tritt, beweist folgende Stelle aus „Kaiser Heinrich VI." (II. 3.): 

Otto: Meine Mutter, meine Mutter! 

Heinrich der Löwe: Ging 

Dahin, von woher niemand rückkehrt — weine 

Nicht länger — Hilft dir nichts — Ich rief schon oft 

Zu ihrem Grab — doch nicht einmal ein Echo 
' ■ Schallt draus hervor. — Das Gute schwindet, nur 

Erinnrung bleibt. — Darum, solang' du atmest, 

Erinnre dich an sie, — wenn dir im Römer 

Der Saft der Traube blinkt, so denk' an sie 

Und Götternektar wirst du schlürfen . . . 

Diese hebende Trunkintrojektion von Personen hat ihr haßvolles Gegen- 
stück. So sagt etwa Erzbischof Mathäus („Kaiser Heinrich VI.", II. i.) seinem 
zum Tode verurteilten kirchlichen Gegner („Verkehrt auf einem Esel mit dir 
zum Schafott!"): 

Ophamilla, heute abend noch, 

Wenn du in deinem Blute Hegst, trink' ich 

Den schönsten Syrakuser deiner Keller. 

Ein anderes Beispiel der Kombination beider Tendenzen ist die Tatsache, 
daß Berdoa („Herzog Theodor von Gothland") Schnaps in großen 
Mengen trinkt und das Glas (Brust) auffrißt. Von Marius („Marius und 
Sulla") heißt es: „Blut und Wein sind seine Losung." 



Grabbe 



135 



Noch klarer wird der Zusammenhang des Potus mit der milchspendenden 
Mutter, wenn wir folgende von Ziegler geschilderte Szene analytisch durch- 
denken: 

„1829/30 hatte sich Grabbe bei einer Schlittenpartie den Arm gebrochen und ließ sich 
in der "Wohnung seiner Eltern auf dem Zuchthofe, wohin er solange gezogen war, wieder 
heilen . . . Während wir so saßen, fiel es Grabbe ein, ob wir nicht eine Zigarre rauchen 
wollten und indem er ein Bund hervorzog, präsentierte er uns davon. Mein Bekannter neben 
mir dankte und versetzte, um Grabbe zu necken: ,Ach, ich weiß schon, du siehst es doch 
nicht gern, wenn wir eine nehmen; darum hast du solange gewartet'. Da nahm Grabbe das 
ganze Bund und zerrieb es so auf Tische, daß alle Zigarren verdorben waren. ,Sieh, wenn 
du das meinst!' ,Das wußte ich', sagte mein Nachbar und fing laut an zu lachen und darauf 
schämte sich Grabbe. — Als dies vorgegangen war, sprang die Katze der Madame Grabbe 
auf den Tisch und nahm sich die Freiheit, mit ihrem roten Züngelchen die Michkanne zu 
belecken. Kaum hatte Grabbe dies gesehen, so langte er in seiner Aufregung nach dem 
Tintenfasse, das auf dem Tische stand und schüttete es auf die Katze aus, sodaß diese einen 
ziemlichen Teil davon wirklich auf ihren Pelz bekam und nun ein großes Unglück anrichtete, 
denn sie hüpfte fort auf die Betten und machte auf denselben an mehreren Stellen große 
schwarze Flecken. Grabbes Mutter wurde im hohen Grade erzürnt, sprang herbei, ein 
noch größeres Unglück zu verhüten und konnte sich nicht enthalten, ihrem Unmut in 
einigen derben Ausdrücken gegen ihren Sohn Luft zu machen. ,^31 sint dat för Naren- 
streuche,' rief sie in ihrem plattdeutschen Dialekte, ,diu bist en ganz unkläugen Jungen.' Er 
ließ sich übrigens nicht verblüffen: ,Och, wat', sagte er, — ,lick..eck kann er nicht vor! 
Diu aule Katte, Katte, Katte, drink äust mol!' Hierbei rührte er seiner Mutter eine Tasse 
Tee mit Zucker und Rum zurecht und darauf mußte sie denn natürlich ihrem verzogenen 
Sohne wieder vergeben." 

Die Identifizierung zwischen Mutter und Katze ist klar, ebenso die ambi- 
valente Einstellung des Sohnes zu ihr. Bezeichnend die Aufregung Grabbes 
beim "Wegtrinken der Milch: alle oralen Menschen wollen ständig „etwas be- 
kommen" (zutiefst die ewig fließende Mutterbrust) und sind äußerst intolerant 
gegen das „Geben". Eine Ausnahme bildet die Situation, in welcher der oral 
Fixierte oder Regredierte sich mit der spendenden Mutter identifiziert. 

1 1 . Endlich sei darauf verwiesen, daß der Potus für die oral Regredierten 
eine Art von Sexualbefriedigungsersatz darstellt, da die normale Ab- 
fuhr der unbewußten prägenitalen Wünsche infolge ihrer Struktur auf der 
dafür nicht eingerichteten Genitalapparatur nicht befriedigbar erscheint. Unter 
dem Einfluß der analytischen Erkenntnisse haben auf diesen Tatbestand auch 
nicht analytische Sexualforscher hingewiesen. 

12. Das früher hervorgehobene Festhalten infantiler Allmachtsideen ver- 
bunden mit der Schwäche des Ichs bedingen die imperative Forderung des 
Potators nach dem „Sofort-Haben-Müssen" (Federn). Das insistierende, 
sich ansaugende im oralen Charakterzug hat Abraham hervorgehoben. Der 
Alkohol gibt die Möglichkeit der supponierten Erfüllung dieser Wünsche. 
Auch ist der Rausch eine Art „neurotischer Dauerlust" (Pfeifer), zumindest 



iq6 Edmund Bergler 



eine protrahierte, stundenlang dauernde Befriedigung, zum Unterschied von 
der normalen, im Orgasmus gipfelnden Sexualität. 

Resümierend sei nochmals hervorgehoben, daß Verfasser das Moment der 
verschiedenen Reparations- und Bewältigungsversuche des Ent- 
wöhnungstrauma s^* für eine der wichtigsten — vielleicht die wichtigste — 
Komponente im Orchester der unbewußten Motive bei der Süchtigkeit hält. 

VI. Grabbes infantile Allmachtsideen, ihr Zusammenbruch und 
konsekutiver Pessimismus 
Bei oralen Menschen setzt der Konflikt mit der supponierten eigenen All- 
macht an der gleichen Stelle wie bei jedem Kind ein: bei der Erkenntnis, daß 
die Mutterbrust kein Teil des eigenen Ichs ist und es vom Belieben der Mutter 
abhängt, ob, wann und wie lange sie dem Kinde gereicht wird. Es folgen Ab- 
leugnungs- resp. Restitutionsversuche dieses Traumas. Doch sei nochmals aus- 
drücklich hervorgehoben, daß diese Reparationsversuche zutiefst nicht der 
Mutter als Objekt gelten, sondern der Mutterbrust, wie sie noch als Teil des 
eigenen Ich perzipiert wurde. Das ganze stellt sich somit als rein narzißti- 
scher Restitutionsversuch dar."'' Es resultieren z. B. Menschen, die zum Essen 
eine sehr lose Beziehung haben und jede Enttäuschung mit Appetitlosigkeit 
quittieren, die sie häufig aggressiv gegen die Umgebung verwenden; oder aber 
Typen, die die Entziehung der Mutterbrust mit einem ewigen, stets erfolg- 
losen Suchen derselben beantworten. Häufig sind diese zwei Typen nicht 
scharf getrennt: 

Don Juan: Verwünscht ist der Gedanke: jedes Ziel 

Ist Tod. — Wohl dem, der ewig stirbt, ja Heil, 

Heil ihm, der ewig hungern könnte. 
Leporello: Danke! 

Ich merk's, ihr laßt mich hungern nach Prinzipien, — 

Wenn's nur mein Magen duldete, doch der 

Ruft immer dar: Heil ihm, der ewig frißt. 

(„Don Juan und Faust" I. i.) 

In Träumen oral fixierter oder regredierter Patienten findet man häufig den 
sogenannten „Mannatypus''.^^ Diese Träume sind immer nach dem Prinzip 
des alimentären Unabhängigkeitswunsches von der Mutter (später Vater) auf- 
gebaut.^* 

14) Vgl. E. Bergler und L. Eideiberg, a. a. O. 

14a) Vgl. dazu L. Jekels und E. Bergler, a.a.O., S. 2j. 

I j) Ein oral regredierter Patient, dessen Krankengeschichte ich publizierte („Zur Proble- 
matik der Pseudodebilität", Int. Zeitschr. f, Psa., 1932, H. 4) träumte in symbolischer Ver- 
kleidung häufig, daß er an seinem eigenen Penis Milch sauge und so von der Mutter unab- 
hängig sei. . L • L j- 

16) In der Arbeit „Zur Psychologie des Zynikers", Psa. Bewegung, V, 1933. "abe ich die 



Grabbe I37 

Eine weitere Wurzel der Allmachtsidee Grabbes liegt in seinem "Wunsche, 
das Lieblingskind der Mutter zu sein. Die analytische, von Freud in der 
„Traumdeutung" ausgesprochene Feststellung, daß der Lieblingssohn der 
Mutter Optimist wird, hat Grabbe vorausgeahnt, als er seinen Sulla, der nach 
seinen eigenen Worten ein Idealbild seiner selbst darstellen sollte,^'' sagen läßt: 

Ich merk' es an der mütterlichen Huld: 
Ich bin ein Sohn des Glücks! 

An einer anderen Stelle heißt es: 

Der Erdball liegt wie ein 

Gekrümmter Sklave unter seinem Fuß, 

Laut jauchzend, wie den Wetterstrahl der Donner, 

Begrüßt das Volk sein Lächeln. 

Und trotzdem verzichtet Sulla auf seine Machtstellung: 

Da zuckt es durch seinen Geist: Dies alles ist mir unnütz, ich bedarf 
es nicht, das Meinige hab' ich getan, fortan bin ich mir selbst genug. 

Ähnhch ist das im Motto erwähnte Zitat zu verstehen, in welchem Grabbe 
die Verfluchung der Eltern ausspricht, weil ein solches Genie nicht auf 
asexuellem Wege zur Welt kam.^^ Grabbe kolportierte übrigens zeitlebens 
einen „Familienroman nach oben" und deutete zeitweise seine Abkunft von 
einem Prinzen an. 

Die einzige neurotische Währung, die diese oralen Menschen kennen, ist 
Milch, resp. Milchäquivalente. So nennt z. B. Don Juan Gott einen Koch, der 
die „Speise" Donna Anna fabriziert hat („Don Juan und Faust", IIL i.): 

Vermutung ausgesprochen, ob nicht die immer rigorosere Bedürfnislosigkeit bezüglich des 
Essens, die Diogenes gepredigt hat, als später Versuch der infantilen alimentären Unabhängig- 
keit von Mutter und Vater zu deuten ist. 

17) „Sulla werde ... ein höchst kurioser Kerl. Er soll das Ideal, vergiß nicht das Ideal, 
denn sonst war' er sehr wenig, von mir werden." (Brief an Kettembeil.) 

18) Man erklärt nichts, wenn man, wie dies manche Biographen tun, den Anteil der be- 
wußten und prononcierten Allmachtsidee und Großsprechereien mit Sucht nach Effekt allein 
begründet. Das Problem bleibt bestehen, weshalb gerade diese „Effekthascherei" bei Grabbe so 
groß war. Daß zu allen Zeiten verkommene Genies modern waren, ist eine Banalität. — 
Wichtig ist, daß bei diesem Demonstrieren seiner Einstellungen ein großes Stück Exhibi- 
tionismus bei Grabbe zur Geltung kam. So pflegte er mit allergrößter Offenheit über 
sdne Ehemisere zu sprechen, anderseits war diese Exhibition wieder gehemmt, wie Grabbes 
mißlungene Versuche, Schauspieler zu werden, seine Schüchternheit und linkische Art be- 
weisen. — Es seien noch zwei Beispiele seiner Größenideen genannt: Als er als Gymnasiast 
beim Präparieren einer Cäsarstelle saß und ein Kollege ihn besuchte, klappte er rasch das 
Buch zu, da er den Anschein erwecken wollte, daß er alle Schwierigkeiten „vermöge seines 
angeborenen Genies überwinde" (Ziegler). — Ähnlich, wenn auch mit sexualsymbolischem 
Nebensinn, ist die Gewohnheit Grabbes zu deuten, lediglich unreifes Obst im elterlichen 
Garten zu essen und der Versuch, in diesem Stadium jeden andern am Essen der Früchte 
dieser Bäume zu verhindern, während er, wenn das Obst reif war, ruhig alle essen ließ. Er 
wiederholte damit also unter anderem seine infantile Ausnahmestellung. 



joS Edmund Bergler 



Gouverneur: ... Es lebt ein Gott! 

Don Juan: Meinethalben! 

Die Erde ist so allerliebst, daß mir 

Vor lauter Lust und Wonne Zeit fehlt, um 

An den zu denken, der sie schuf. Ist's Gott — 

Nun, um so größ'rer Ruhm für ihn — den Koch 

Lobt man mit dem Genuss seiner Speis' am besten. 

Leporello ruft in demselben Drama (IV. 4.) aus: 

O war' die Welt 
Doch ein gebratener Kapaun, und war' 
Ich 's doch, der ihn anfraß'. 

Und Don Juan legt das Bekenntnis ab (I. 2.): 

Die einz'ge Speise,'' deren man nicht satt 
Kann werden, ist der Kuß — wo man ihn nimmt 
In meiner Gegenwart, da raubt man mir 
Das Essen vor dem Munde. 

Nun merkte aber Grabbe an der Inkonsequenz „der mütterlichen Huld", 
daß er kein „Sohn des Glücks" sei und dies ist in Verbindung mit der dadurch 
bedingten Störung des infantilen Allmachtsgefühls die tiefste Ursache seines 
Pessimismus. Pessimisten sind Menschen, die schon im Stadium der präödipalen 
Mutterbindung scheitern. Unglückliche, deren Narzißmus, resp. dessen kon- 
sekutive Allmachtsideen den Stoß der Liebesentziehung durch die Mutter bei 
der Entwöhnung nicht ertragen. Dabei spielt es im Effekt keine Rolle, ob 
dieser „Liebesentzug" real durch Versagung oder Verwöhnung in der Sauge- 
periode zustande kam, das heißt, ob die Liebe, die dem Kind entgegengebracht 
wurde, zu gering oder die Liebesforderungen des Kindes unmäßige waren. 
Auf diesen Umstand hat — auf die Entwöhnung bezogen — Abraham mit 
aller Deutlichkeit hingewiesen und dies ist um so mehr zu unterstreichen, als 
die Brustentwöhnung ein allgemeines, jedes Kind treffendes Unglück ist. 

Auf die Brustentwöhnung muß Grabbe mit maßlosen aggressiven Freß- 
regungen reagiert haben, die der Mutter galten. Von der Unbändigkeit dieses 
Fressenwollens der Mutter können wir uns annähernd einen Begriff machen, 
wenn wir die früher zitierten grotesken Äußerungen der Angst Grabbes, ge- 

19) Wir wissen leider nichts über Grabbes Einstellung zum Essen. Aus der Tatsache, daß 
er in einem Briefe die gute lippesche Butter erwähnt und aus dem Refus, das er einem ein- 
flußreichen Mann (Rat Blümmer) gab, der ihm einen Posten verschaffen wollte — er schüttelte 
ihn mit dem Hinweis auf den Eierkuchen, den er gerade verzehrte, ab — , kann man keine 
Schlüsse ziehen. Heranzuziehen wäre lediglich die von Ziegler erwähnte Tatsache, daß Grabbe 
den Eindruck eines Menschen machte, der einen widerlichen Geschmack auf der Zunge hatte 
(schon in Zeiten v o r der Tabes) und daß er als Begründung seiner Depressionen „is' sauer" 
angab. Man muß sich also diesbezüglich an die zahlreichen Stellen aus Grabbes Dramen 
halten. 



Grabbe 139 

fressen zu werden, die später unter dem Druck des Über-Ichs zustandekam, 
heranziehen. Dabei ist es bezeichnend, daß sich Grabbe die Gewissensinstanz, 
das Über-Ich, ebenfalls in Gestalt fressender Tiere vorstellte: 

„Ein Palast der Stürme ist 

Mein Haupt; wie'n toUgeword'ner Hund 

Schlägt mein Gewissen seine 2ähne in 

Die Tiefen meiner Seele; meine 

Gedanken würgen, meine Glieder 

Bekriegen sich — (mit höchstem Schmerzgefühl) 

Ich bin ein Haufe von zusammen- 

Gesperrten Tigern, die einander 

Auffressen (HerzogTheodorvonGothlan d".) 

Thusnelda nennt in der „Hermannschlacht" das Gewissen „Nachkläffer im 
Busen". 

Zu den Restitutionsversuchen gehört auch die immer wieder wild und 
trotzig vorgebrachte Abwehr gegen die Knickung der infantilen Allmachts- 
ideen, wie etwa folgende Szene aus „Kaiser Heinrich VI" (V. i.) beweist: 

Konstanze: Sei nun zufrieden. 

Kaiser Heinrich: Nimmer — Hätt' ich auch 

Die ganze Welt — Schaut nicht der Himmel dort, 

So tief und sehnsuchtsvoll, ein blaues Auge 

Der Liebe, auf uns nieder, daß die Busen^") 

Hoch klopfen müssen, auch zu ihm zu stürmen, 

An ihm zu schlagen . . . 

Man vergleiche damit den Ausspruch Grabbes (in einem Brief an Kettem- 
beil, als Motto abgedruckt): „Ich bin überzeugt, alles zu können, was ich 
will." Hierher gehören viele seiner bombastischen Großsprechereien, etwa die 
Behauptung, in die fünf Akte seines „Kosciuszko" solle alles „was in "Wissen- 
schaft, Kunst und Leben bis dato passiert ist", gepreßt werden und „Don Juan 
und Faust" solle besser werden als Goethes „Faust". 

Und weil die stets wache Selbstkritik Grabbes diese Großsprechereien er- 
schwerte, flüchtete er in einen Zustand, in welchem die kritische Gewissens- 
instanz partiell amoviert war: in den Alkoholrausch. 

Immer wieder kommt Grabbe auf die Bedeutung der weibHchen Brust zu- 
rück. So etwa, wenn Faust klagt („Don Juan und Faust", I. 2.): 

Entriß ich dich dem Schwefelpfuhl, 

Daß ich in eines Mädchens Kreis mich bannen, 

Daß ich Stecknadeln lösen sollte statt 

Der Riegel, womit die Geheimnisse 

Des Alls verschlossen sind? 



20) In allen Dramen Grabbes wird „Busen" als Brustbezeichnung bei Frau und Mann 
verwendet. Vielleicht ist auch dies mehr als eine licentia poetica. 



140 Edmund Bergler 



Der Ritter (= Mephisto): Es kommt die Stunde, 

"Wo dir der Donna Anna Busennadel 

Weit mehr verschließt, als dir die Welt kann geben. 

Ähnliches wird im „Herzog Theodor von Gothland" gesagt, wo der Vater 
von Gothlands Frau in der Einöde jammert: 

Skiold (bitterlich weinend): Ach, 

Mich hungert sehr. (Sinkt auf die Erde.) 

Cäcilia (stürzt in die Knie und beugt sich jammernd über ihn): Es ist 
Doch grausam, daß ich hier nicht helfen kann! 
Hätt' ich nur Milch in dieser Brust, 
Doch statt der Milch brennt Fieberglut 
In ihren innern, qualdurchzuckten Räumen! 
Steh auf, mein Vater, steh auf! 

Nun gab es ja für Grabbe einen Weg, seine Größenideen zu sublimieren: in 
seiner Dichtung. Doch gerade die Tatsache, daß der neurotische Pessimist 
gar nicht mehr der Erfüllung seiner "Wünsche nachjagt, sondern aus Strafbe- 
dürfnis und sekundär erotisierter und rückgewendeter Aggression in seiner 
Technik des „Ins-Unrecht-Setzens" der Mutter an den winzigen Punkt der 
Enttäuschung gebannt ist, welche Enttäuschung er aus unbewußtem Wieder- 
holungszwang immer wieder abhaspelt, bedingte, daß sich Grabbe selbst um 
jede Anerkennung brachte: er zerstritt sich konsequent mit seinen Mäzenen, 
baute technisch seine Stücke derart auf, daß sie bühnenunfähig waren und 
die Ablehnung der Umwelt direkt provozierten, forderte die Maßgebenden 
durch Zynismen und Aggressionen heraus — kurz Grabbe war aus unbewußten 
Motiven ein genialer Organisator seiner Mißerfolge. Dem widersprechen 
keineswegs die krampfhaften manchmal mit grotesken Mitteln durchgeführten 
Versuche, sich literarisch und menschlich zur Geltung zu bringen („Reklamo- 
manie"). Auch da ist es für Grabbes Infantilismus bezeichnend, daß er seine 
Berüchtigtheit (von Berühmtheit konnte man zu seinen Lebzeiten kaum 
sprechen), lediglich dazu ausnützte, um prägenitale Tendenzen straffrei aus- 
zuleben: etwa wenn er in Gesellschaft „scherzweise" exhibierte, beim Vor- 
lesen sich auf das Corpus juris setzte, zwei Freunden den Militäreid in Unter- 
hosen und Frack abnahm. Bekannte in die Wange oder Hand biß, mit ihnen 
Pferd und Reiter spielte usw.^^ Trotzdem hatte Grabbe recht, wenn er ein- 
mal von sich sagte, „er sei trotz aller Tollheit ein gesetzter Mann". 

Eine andere Äußerungsform von Grabbes Größenideen bestand in seinem 

21) Eine ausgesprochene Schizophrenie lag ebensowenig vor, wie eine progressive Paralyse. 
Letzteres ist schon deshalb auszuschließen, weil Grabbes Benehmen und Schriften vor und 
nach der luetischen Infektion keine Änderung erfuhren. Grabbe war lediglich ein schizoider, 
sehr infantiler Mensch. Ähnliches behauptet Kretschmer. 



Grabbe i^j 



Verhalten zu einzelnen seiner literarischen Produkte. Es wird von verschiede- 
nen Seiten übereinstimmend berichtet, daß er nicht wenige seiner "Werke „zu 
Fidibus verbrannte" (etwa den „Ranuder" und „Brutus"), mit der Begründung, 
der „kleine englische Pferdedieb Shakespeare" hätte alles schon viel besser ge- 
sagt. Analyseerfahrungen bezeugen, daß es neben einer oralen eine „respira- 
torische Introjektion" (Fenichel) gibt, und es spricht einiges dafür, daß sie 
unter dem Druck der prägenitalen Kastrationsangst ins Pathologische hinüber- 
spielen kann, die orale Introjektion substituiert,^^ wenn auch Beziehungen zur 
analen Stufe vorhanden sind. In Grabbes „Napoleon oder die Hundert Tage" 
gibt es einen interessanten Hinweis. Dort gibt Blücher während der Schlacht 
einem Freiwilligen seine Pfeife zum Weiterrauchen, „damit er sie in Brand 
halte" und der Freiwillige sagt dann zu Blücher: 

Seit der Zeit, daß ich aus ihrer Pfeife rauchte, ist's mir, als hätt' ich mir an einem Vulkan 
vollgesogen wie ein unmündiges Kind und ich krepiere vor Schlachtwut. 

Die aufdringliche homosexuelle Komponente (der Freiwillige bittet z.B. 
Blücher um ein „Endchen von der Pfeife zum Andenken") ist, wie Eideiberg 
an einem Fall von Homosexualität nachwies,^^» bloß eine Verarbeitung der 
Suche nach der phallischen Mutter; auch die Ausdrucksweise („vollgesogen, 
wie ein unmündiges Kind") spricht für die orale, also Mutterbeziehung. 

Somit wäre das „Verrauchen" eigener Werke wieder ein aus infantilem All- 
machtswahn unternommener Versuch, sich unabhängig zu machen von der 
enttäuschenden Mutterbrust, und gehört in die gleiche Richtung wie die 
früher zitierten „Mannaträume". 

Ich will noch einige Beispiele aus Grabbes Poesie und Leben anführen, die 
beweisen, daß der neurotische Pessimist aus unbewußtem Strafbedürfnis bloß 
die Enttäuschung sucht. Im „Don Juan und Faust" wirbt Faust um die 
Liebe Donna Annas, die er mit Hilfe des Teufels auf ein Märchenschloß auf 
den Montblanc^ä entführt hat. Donna Anna liebt aber Faust nicht und 
zeigt sich abgeneigt, Faust droht mit der ihm vom Teufel leihweise verliehenen 
Allmacht: 

Faust: Nur eine Sylbe brauch' ich auszusprechen 

Und tot sinkst du zu meinem Fuß ! . . 



22) Siehe Arbeiten über das Asthma von Oberndorf und F e n i c h e 1, die die respiratorische 
Phase berücksichtigen. In einem Fall von Asthma bronchiale, den ich analysierte, wurde die 
respiratorische Erotik erst nach Scheitern der oralen Wünsche im Sinne der neurotischen 
Exazerbation aktiviert. 

22 a) B e r g 1 e r - E i d e 1 b e r g, a. a. O. 

23) Wieder ein infantiles sexualsymbolisches Moment: alles geschieht bei Grabbe in Super- 
lativen. Faust entführt Donna Anna auf den höchsten Berg Europas, Kaiser Heinrich stirbt 
beim Besteigen des Aetna usw. 



IA2 Edmund Bergler 



Willst du mein sein? 

Ich warne dich! — Der Tod, er zuckt schon längst 

Auf meinen Lippen, und du weißt, den Lippen 

Entfällt gar leicht das Unheil! 
Donna Anna (von Faust weggewandt, emporblickend): Du, 

Der Tugend gold'ne Blume, winde dich 

Um meine Scheitel, laß mich fallen als 

Dein Opfer! 
Faust: Was ich sagte, sagt' ich, es 

Vollführend, weil ich es gesagt! — Bedenk' das — 

Mir bebt der Mund. — Nicht die Minute mehr 

Seufz' ich um dich, die ich mit einem Wort 

Zertrümmern kann. — Nie seufzt' ich, ohne 

Daß ich mich rächte! Hassest du mich? 
Donna Anna: Ja! 

Faust: Stirb! 

Donna Anna: Weh mir — ich vergehe! (Sie stirbt.) 

Faust (erstarrt): Meine Macht 

Ist schneller fast als meine 2unge. — Tot! 

Dahin. — Was ist die Welt? — Viel ist — viel war 

Sie wert. — Man kann drin lieben! — Und was ist 

Die Liebe ohne Gegenstand? — Nichts, nichts. 

Das Mädchen, das ich Heb', ist alles, — an 

Der Liebe Donna Annas ahn' ich's: — 

Armselig ist der Mensch! Nichts Großes, sei's 

Religion, sei's Liebe, kommt unmittelbar 

Zu ihm. — Er muß 'ne Wetterleiter haben! 

Neben der magischen Wortmacht, dem Stigma der Infantilen (Donna 
Anna stirbt auf ein Machtwort Fausts), kommt hier wieder die bereits bei 
den „Mannaträumen" besprochene Abwehr der Mittelsperson — Mutter („Der 
Mensch muß 'ne "Wetterleiter haben") — zum Ausdruck. Vor allem aber muß 
die Frage aufgeworfen werden, warum der allmächtige Faust Donna Anna 
nicht zur Liebe zwingt? Der billige Einwand, daß Liebe nicht zur Kompetenz 
des Teufels gehört, er also die Fähigkeit, Liebe einzuflößen, auch nicht weiter- 
verborgen kann, ist in einem Phantasiedrama nicht zulässig. 

Es handelt sich also wieder nur darum, daß der orale neurotische Pessimist 
an die Enttäuschung gebunden ist und — grob ausgedrückt — bloß dem Fuß- 
tritt nachjagt. 

Eine ähnliche Szene wie im „Don Juan" berichtet Ziegler von Grabbe. 
In einer Gesellschaft von Volltrunkenen zog Grabbe seine „Hermann- 
sc hl acht" hervor, begann vorzulesen und war zutiefst erschüttert, daß die 
Zechkumpane vom „dummen Zeug" nichts hören wollten. Grabbe — so be- 
richtete ein Zimmernachbar — weinte in seiner Stube und wollte sich er- 
schießen. 



Grabbe 143 

In die gleiche Gruppe gehört Grabbes Ehemisere. Er heiratete ein um 
zehn Jahre älteres Mannweib, das vermögend und habgierig war. Eine der 
konsequentesten Handlungen Grabbes in der Ehe bestand im geschickten 
Untergraben seiner Staatsanstellung — Grabbe war Militärauditor — durch 
heillose Mißwirtschaft in seinen Amtsgeschäften. Er verstand es — trotzdem 
er genau wußte, wessen er sich zu versehen hatte, wenn er von seiner geizigen 
Frau materiell abhängig sein werde — sich „irrtümlicherweise" vorzeitig ohne 
Pension aus dem Amte drängen zu lassen. Dies führte zum erbitterten Kampfe 
seiner Frau um Aufhebung der Gütergemeinschaft, zur Flucht Grabbes nach 
Frankfurt und Düsseldorf, zu seiner beschämenden Rückkehr nach Detmold 
und zur pohzeilich erzwungenen "Wiederaufnahme des Schwerkranken im 
Hause seiner Frau. Der unbewußte Sinn dieser ganzen Aktionen bestand im 
Ins-Unrecht-Setzen der Frau (= Mutter) und dem masochistischen Jagen nach 
der Enttäuschung. Dabei war es keineswegs so, daß Grabbe lediglich das un- 
schuldige Opfer seiner Frau war.^* Er reizte sie in geschickter Weise, ver- 
höhnte sie, als sie um ihr Geld besorgt war und von „ihrem Recht" sprach, 
und trällerte: 

Jawohl, das fas! 's ist eigentlich ein nefas. 

Ich kenne nur ein Faß: Gib mir das Heidelberger Faß, 

Gefüllt mit edlem Naß, das ist mein Fas! 

Gäbst du mir das, — so hätt' ich was 

Das Recht ist ein Geschäft, von Schurken erdacht, 

Von Klugen gemieden, gescheut, verlacht, ' ' ' 

Vom Klügsten Gelder damit gemacht. 

Für die Frau Grabbes — die den unbewußten Zusammenhang nicht ver- 
stehen konnte — war Grabbe ein impotenter,^^ sie ausplündernder Tauge- 
nichts. 

Endlich sei auf die infantile Auffassung des Zeitgefühls bei Grabbe 
verwiesen. Kaum, daß ein Gedanke ausgesprochen wird, ist er schon erfüllt. 
Diese irreale Promptheit ist auf die kindlichen Allmachtsideen reduzierbar. 
Einige Beispiele: Im „Gothland" läßt der Held 5000 Gefangene niedermetzeln. 

24) Damit soll keine Ehrenrettung der Frau Grabbes versucht werden. Sie war eine herz- 
lose, böse Frau, die Grabbe noch auf dem Sterbebette quälte, beschimpfte und ihm mit 
Advokaten kam. Als Grabbe starb, rief sie: „Topp, das ist gut, daß der Unhold tot ist. 
Nun kommen Sie, nun wollen wir einen guten Kaffee machen." Die Bestialität dieser Frau 
ging so weit, daß sie Grabbes Mutter von seinem Sterbebette fernhalten wollte. — Auch 
aus anderen unbewußten Gründen war diese Ehe zum Scheitern verurteilt: es spielte bei 
Grabbe das Schuldgefühl wegen seines Vaters mit: Luise Klostermeyer (die spätere Frau 
Grabbes) war die Tochter des Vorgesetzten des alten Grabbe. Grabbe wurde mit seiner Be- 
werbung wiederholt abgewiesen und erst der Tod seines Vaters „ermöglichte" die Heirat. 

25) Grabbe war in den letzten Ehejahren impotent — eine Folge der Tabes. Das ist aus 
vielen Bemerkungen mit Sicherheit zu schließen. Zum gleichen Schluß kommen einige seiner 
Biographen. 



1^ Edmund Bergler 



Acht Zeilen nach jener, in der Gothland den Befehl gab, meldet Arboga: „Die 
Kriegsgefangenen sind tot . . ." In „Kaiser Heinrich VI." läßt Heinrich der 
Löwe am Domportal der zerstörten Stadt Bardewick die "Worte einmeißeln: 
„Vestigia leonis." Diesen Auftrag vollführt Graf Borgholt „nach dem Diktat" 
Heinrichs und das Einmeißeln geht so rasch vonstatten, wie etwa das Schrei- 
ben. Im gleichen Drama wird Caleb als Bote zum Kaiser gesandt. Der Weg 
hin und zurück dauert die Zeitspanne von 12 Verszeilen! In „Scherz, Satire, 
Ironie und tiefere Bedeutung" geht's noch blitzschneller: der Weg vom Schloß 
ins Dorf, vom Dorf zum Schloß wird vom Bedienten und dem Schmied in der 
Zeit dreier Prosazeilen zurückgelegt. — Diese Beispiele ließen sich vermehren. 
Bezeichnend ist, daß Grabbes Gothland ein Bekenntnis zur Allmacht und All- 
gegenwart der Zeit ablegt: 

„Ich glaube 

Die Allmacht und Allgegenwart der Zeit! 

Die 2eit erschafft, vollendet und zerstört 

Die Welt und alles, was darin ist: 

Doch einen Gott, der höher als die Zeit 

Steht, glaub' ich nicht ..." 
Auch die Zeit hat also für Grabbe zerstörend-fressende Bedeutung.^* 

VII. Grabbes prägenitale Sexualität 
Die bisherige Schilderung handelte von Grabbes Oralität und ihren Folgen 
für Charakter und Sucht. Die weiteren Entwicklungsstufen, die normaler- 
weise in die Genitalität münden, hat Grabbe nur andeutungsweise erreicht, 
resp. ist recht bald zum Prägenitalen regrediert. 

In seiner Studentenzeit — Grabbe studierte in Leipzig und Berlin — war 
er Stammgast in Bordellen, wie er denn überhaupt über die Gleichsetzung der 
Frau als Sexualwesen mit der Dirne innerlich niemals hinauskam, was auf das 
bekannte, von Freud beschriebene Ressentiment gegen die entwertete Mutter 
schließen läßt. Die typische Frauenverachtung dieses Typus ist bei Grabbe 
unverkennbar: 

Berdoa: Die Liebe 

Ist 'Wollust; wer verliebt ist, der ist geil, 

Ist Geck, ist schwach, ist geil, 

Ist Geck, ist schwach, ist Narr. 
Gustav: mein Leben würf ich weg 

Für einen Kuß auf ihre Lippen. 
Berdoa: Wenn sie nun aber aus dem Halse stänke? 

Gustav: Wie, Neger? 



26) Härnik und Winterstein haben auf den Zusammenhang zwischen Kronos 
und Chronos aufmerksam gemacht. Verfasser bereitet eine Arbeit über die Entwicklung des 
Zeitgefühls vor. 



Grabbe 



145 



Gustav: 
Berdoa: 



Gustav: 



Berdoa: 



Berdoa: O du Geck der Gecken, Narr 

Der Narren! Deine Göttin ist ein Mensch 
Wie du! Hat sie auf ihrem Kopf viel Haare, 
Was du so rühmst, so hat sie sicher auch 
Viel Ungeziefer drauf, und ihre Nas' 
Ist schleimig wie die Nase andrer Leute! 
Sie trinkt und ißt so gut wie du. 
Und so wie du gibt sie's auch wieder von sich. 
Schäme dich! 

Lüg' ich denn? — Schäme du dich, weil 
Du ohn' Erröten eingestanden, daß 
Du liebest. 

Mich der Liebe schämen, die 
Das Höchste auf der Erde ist? 

Das Höchste? 
Aufs Kindermachen läuft's hinaus! — Was liebt 
Ihr denn am Weib? Etwa den Geist? 
An einer Gans? Ich glaub' es kaum; und war' 
Es wahr — weshalb liebt ihr denn nie 'nen Mann? 
Ihr liebt das Fleisch! Sieht's Fleisch nur hübsch, so denkt 
Ihr euch die Seele schon hinzu! — Doch das 
Empört mich nicht; allein wenn ihr den Trieb, 
Den ihr mit Kröte, Katz' und Hund gemein habt. 
Zu einer Tugend macht und göttlich nennt. 

Pfui, das ist unerträglich 

Ein Schritt nur ist's, der von der Liebe zu 
Der Unzucht führt. 

(„Herzog Theodor von Gothland") 
Die analytische Erfahrung beweist, daß Frauenverächter meist Neurotiker 
sind, deren Libido vielfach prägenital fixiert ist. Beweisend ist bei Grabbe 
folgende Stelle aus „Herzog Theodor von Gothland", die in knappster, kon- 
zentriertester Form ein Bekenntnis zum Prägenitalen darstellt, wie es meines 
Wissens einzig in der "Weltliteratur dasteht: 
Berdoa : 



Irnak: 



Berdoa: 



Irnak: 



Berdoa: 



Wie geht 
Es deinem hübschen Nachtgeschirre? 

Nacht- 
Geschirre? 

Nun, ich mein' das wohlgebaute, 
Breithüft'ge Christenmädchen, welches du 
Vergangnes Jahr im Schwedenkrieg 
Erbeutet hast 

Ho! 
Da habt Ihr recht, sie ist ein Nachttopf! 
Sie sitzt in meinem Zelte; wenn 

Ii»r P wollt, so steht sie Euch zu Diensten. 

Was treibt sie denn? 



Bergler, TaUeyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 



146 



Edmund Bergler 



Irnak: 
Berdoa: 
Berdoa: 
Irnak: 



Berdoa: 
Irnak: 

Berdoa: 

Gustav: 

Berdoa: 



Sie melkt die Männer. 
Sie war damals recht üppig schon . . . 

Wenn sie nur fett ist. 
Ihr solltet ihren weißen, blühenden Nacken, 
Auf dem sie doch so häufig liegen muß, 
Und ihre vollen Arme sehen, auch ihr — 
Hat sie 'ne tüchtige — ? 

Man kann darin 

Die Stiefeln ausziehn 

Laß das nur sein, sie hat 'nen hübschen A 

Wie prachtvoll wölbt er sich! 

Fürwahr, da hast 
Du Recht. Ihr Steiß ist delikat . . . 
Sollt er nicht auch unsterblich sein? 



Zu diesem Sammelsurium oraler („Sie melkt die Männer", Penis = Brust), 
analer, urethraler, Voyeur-, exhibitionistischer und koprophemer Tendenzen 
paßt recht gut, daß Grabbes Liebesvorstellung mit sadistischen Elementen 
geradezu durchsetzt ist. So sagt etwa Don Juan über seine Liebe zu Donna 

Anna: 

„ wie göttlich, über solch 

Ein Weib zu triumphieren." 

Ein anderer Ausspruch Don Juans lautet: „Ehedem führte man zum Altar Kälber und 
Schafe, um sie zu schlachten, jetzt die Mädchen, um sie zu heiraten. Nichts Neues unter 
der Sonne." 

Und Faust spricht Donna Anna an: 
O, Abgottschlange! 
So schön geschmückt, als grausam und zerreißend. ' 

Donna Anna: Der Schreckliche! O rette, Gott! Sein Geist 

Schnaubt nach der Liebe, wie nach Blut der Tiger. 

Die Einleitung der Hochzeitsnacht in „Nanette und Marie" wird mit ausgesprochen sadisti- 
schen Motiven geschildert: 



Leonardo: 

Nanette: 

Leonardo: 



Nanette: 



Leonardo: 



Doch schau! Schon sinkt die Sonne! 

Freut dich das? 
Warum nicht? Geht mir dafür doch 
Die Doppelsonne deines Busens auf! 
Das wird 'ne helle Nacht! 

Weh' mir, der Wilde! 
Ich kann mich nicht wehren — 
Ich kann nur weinend fleh'n: verschone mich! 
Was bist du bang? Es ist nicht mit den Mädchen 
Wie mit den Schmetterlingen, welche beim 
Erhaschen abfärben! 



Grabbe j^y 

Nanette: Törin, die ich war! , 

Ich selbst gab mich ihm hin! Nun ist's, als ging' 
Ich in den Tod! — Mich friert, mich friert! 

Leonardo: Man merkt, 

Wie viel du zu verlieren hast. 

Auch in Grabbes realem Liebesleben spielen diese prägenitalen Wünsche 
eine dominierende Rolle. Grabbe war als Erwachsener bloß einmal in ein 
sozial tief unter ihm stehendes Mädchen verliebt (Henriette Meyer), das bei 
einem Krämer, dessen Verwandte sie war, die Kinder beaufsichtigte. 

„. . . und wenn nun zufällig das kleine Kind in harmloser Unschuld sich das Röckchen 
über den Kopf zusammenzog, da übergoß die Scham ihr ganzes Gesicht mit einem so schönen 
Rot und sie wehrte der Kleinen so besorgt und so bürgerlich sittlich, daß man fast gerührt 
davon werden möchte." (Ziegler.) 

Dieses Sich-Schämen-Können („in kaiserlich Gewand, in Purpur hüllt sie 
deine Wange" sagt Don Juan zu Donna Anna), das Grabbe durch zynische 
Gespräche immer wieder provozierte und genoß, scheint den Hauptreiz^*" 
Henriettes für den verliebten Grabbe gebildet zu haben. Als ihm Henriette 
den Laufpaß gab, da sie sein zynisches, ambivalentes Verhalten nicht vertrug, 
war Grabbe tief unglücklich. 

Bisher wurde hier nur von oralen, oral-sadistischen, analen, urethralen, 
Voyeur-, exhibitionistischen und koprophemen Tendenzen bei unserem 
Dichter gesprochen und des Ödipuskomplexes keine Erwähnung getan. Natür- 
lich hat Grabbe einen Ödipuskomplex entwickelt, natürlich waren seine prä- 
genitalen Ängste (vor allem die Angst vor dem Gefressenwerden) mit dem 
Kastrationskomplex liiert, natürlich bezogen sich seine Onanieängste auf das 
Genitale. Doch ist, wie immer bei den „Prägenitalen", das Genitale vorwiegend 
Exekutivorgan prägenitaler Wünsche und der genitale Ödipuskomplex fällt 
speziell bei den Oralen „blasser" aus, da die nicht gelöste präödipale Mutter- 
bindung das Feld beherrscht.^^ 



26 a) Wahrscheinlich liegen noch andere unbewußte Motive vor: etwa Identifizierung mit 
dem Kind, das Henriette mit Güte beaufsichtigte, ferner die niedere Herkunft (man denke 
an Grabbes Mutter). Zutiefst liebte Grabbe in Henriette sich selbst, bzw. einen Teil seiner 
kindlichen Persönlichkeit. 

27) Näheres bei E. B ergler- L. Eideiberg, a.a.O. — Grabbes grimmig-witzige 
Verhöhnungen der Autorität gehen zum Teil auf die nicht gelöste ödipussituation zurück. 
Besonders bezeichnend ist eine Szene aus „Gothland": „Ich kann Euch Erdenkön'ge nur be- 
dauern, Ihr sollt der Götter Rolle spielen und seid Menschen." Ferner ein zweiter Ausspruch 
Gothlands: „Wenn nicht einmal ein Königsohn oder ein König glücklich ist, ja dann gibt es 
kein Glück auf Erden." Man beachte endlich die Behauptung Grabbes, „das Große besteht 
meist aus ein paar Kniffen" und die berserkerische Ironie im „Hannibal" — der Siegesbote 
von Cannae wird in Karthago zurechtgewiesen: „Schrei nicht so!" und ähnliche Stellen mehr. 
— Grabbes Ödipuskomplex war aber prägenital stark unterbaut und viele Aggressionen die- 
ser Phase scheinen ursprünglich der phalHschen Mutter gegolten zu haben. 



1^8 Edmund Bergler 



Durch eine Bemerkung Zieglers sind wir über die Onanieängste Grab- 
bes informiert. 

„Wenn nun auch hiernach Geburtsort, Haus und Familie Grabbes als keine dämonischen 
Mächte an seiner Wiege gestanden haben, so mag es nichtsdestoweniger sein, daß eine andere 
unheimliche Macht schon in seine früheste Jugend eingegriffen hat und wir eben deshalb 
etwas Gespenstisches wie Samiels roten Mantel im Hintergrunde seines Lebens auf- und ab- 
wandeln sehen. Nur können wir uns hierüber nicht näher aussprechen." (S. 12.) 

Einige andere Biographen haben die Onaniefolgen maßlos übertrieben 
(Nieten, P.Friedrich, Hillekamps) und Grabbes Unglück vielfach darauf 
zurückgeführt. Vor allem hat Hillekamps in düsteren Folgen der Onanie 
Grabbes exzelliert: 

„Mehr noch als Vererbung mag aber ein Laster zur Stärkung dieser Minderwertigkeits- 
gefühle beigetragen haben: — das furchtbare Jugendlaster der Onanie. Wir wissen darüber 
nichts bestimmtes, aber eine Bemerkung Zieglers ist so deutlich, daß sie uns, namentlich des 
angehängten diskreten Schlußsatzes wegen, alles vermuten läßt. Auch Paul Friedrich berührt 
in seinem Nachwort zu den Werken diesen Punkt, sowie Nieten. Sicher ist, daß dieses Laster 
sowohl Grabbes Haltlosigkeit den Erscheinungen der Welt gegenüber, wie auch, selbst aus 
einer Willensschwäche entspringend, nun seinerseits den ohnehin schon schwachen Willen 
immer noch mehr zermürbt und widerstandslos gemacht hat. Es wirkte erkältend auf seine 
seelischen Kräfte und lähmte sein Erlebnisvermögen. Vgl. dazu Nieten (Biographie, S. 421): 
,Diese Selbstzerstörung raubte Grabbe nicht nur die MögUchkeit, ein glücklicher Mensch zu 
werden, worüber er später die bitterste Reue um das Unwiderbringliche empfand (vgl. Don 
Juan und Faust); sie bedeutet auch viel für die äußere Art und Erscheinung seiner Poesie, 
in der sich das Unfruchtbare einer zerstörten Natur, die einsame Abgeschlossenheit, die 
bizarre Kälte, das geringe Erleben ausdrückt.' Bei der Würdigung von Grabbes Verhältnis 
zur Frau, die ihm im Grunde nur Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse war, wird diese 
krankhafte Folge seines verheerenden Jugendlasters besonders zu erwähnen sein." (S. 20/21.) 

Alle diese Schlußfolgerungen sind nach Ergebnissen der Psychoanalyse, so- 
weit eine direkte Onanieschädigung angenommen wird, nicht stichhaltig, es 
sei denn, man rechnet die ungenügende Aggressionsabfuhr (Nunberg, Jekels 
und Bergler) bei der Onanie zu den direkten Schädigungen. Dagegen haben 
die Schuldgefühle, die sich als Reaktion auf die unbewußt die Onanie be- 
gleitenden Phantasien einstellten, bei Grabbe unleugbar eine Rolle gespielt, 
um so mehr, als er seine luetische Infektion, seine ständigen Krankheiten und 
endlich seine vielen Tabessymptome (vor allem die Impotenz) wahrscheinlich 
auf die Onanie zurückgeführt hat. Auch dürfte Grabbe ein Zwangsonanist 
gewesen sein. 

Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zu Grabbes Stellung zum Schuld- 
gefühl. Er erklärt es zwar als etwas „Überflüssiges", macht sich hohnlachend 
darüber lustig und läßt Gothlands Sohn schwören, daß er nie Reue fühlen 
will („So schwör', daß du nicht Reue fühlen willst", IV. i.). Auch Sulla, 



I 



Grabbe ,_jg 

Grabbes Idealgestalt, hat Gewissensbisse. So sagt Grabbe im unvollendeten 
Sulla-Szenarium : 

„Sulla selbst tritt auf. Er übersieht den weiten Aschenhaufen, aus eingestürzten Häusern 
und verbrannten Menschen bestehend. Momentan fällt ihm der Gedanke ein, daß es mög- 
lich sein könnte, über diese Verwüstung einstmals Reue zu fühlen, er bricht in den alle 
Umstehenden erschütternden Naturschrei aus: .Entsetzlich! Schrecklich! Ungeheuer!'— Doch 
schnell ist Sulla beruhigt und belächelt seinen menschlichen Ausruf, dessen Natur er richtig 
beurteilt..." An einer anderen Stelle heißt es von Sulla: „Ernstliche Gewissensbisse braucht 
er nicht zu fürchten, dazu ist er in sich selbst zu abgerundet." 

In die gleiche Kerbe schlagen Aussprüche, die das Unwiederbringliche be- 
trauern und die Bestrafung akzeptieren. Etwa ein Ausspruch Fausts: 

Verwünscht, der Mensch erkennt nur dann, 
Wann er's bereits getan hat, das, was er 
Getan, und Teufelshände 

Sind öfters unsichtbar im Spiel 

Aus Nichts schafft Gott, wir schaffen aus 
Ruinen. Erst zu Stücken müssen wir 
Uns schlagen, eh' wir wissen, was wir sind 
Und was wir können! — Schrecklich' Los! 

Ähnliches bedeutet es, wenn Grabbe sagt: „Der Mensch trägt Adler in dem 
Haupt, und steckt mit seinen Füßen in dem Kot." Den gleichen Gedanken 
spricht der Ritter — Mephisto — in „Don Juan und Faust" aus: 

Die Pflanze, die vom Boden sich empor 

Will schwingen, muß mit Kot gedüngt erst sein, 

Bevor sie frei kann wurzeln und aufschießen. 

Der Kot — ihr nennt ihn Leidenschaft, sei's Geiz, 

Sei's Ruhm, sei's Aberglaube, sei es Liebe. 

Anderseits sind wilde Anklagen gegen das Schicksal» bei Grabbe zu kon- 
statieren. Dies führt zum Problem seines dichterischen Schaffens. 



29) Grabbe war zutiefst ein sentimentaler Mensch und seine Zynismen sind vielfach nach 
dem Typus der „sentimental-pathetischen Zynismen" aufgebaut: „Es sind dies Pathetiker, 
d.e über die Ungerechtigkeiten der besten aller Welten empört sind, Sentimentale, die sich 
Ihres inneren Gefühls schämen und es umgemünzt in Form des Zynismus — als Distanzie- 
rungsmittel - vorbringen. Dieser Zynismus trägt aber das Zeichen ,mad.e in sentiments' in 
semer ganzen Art: er ist dem Weinen näher als dem Lachen." Näheres in der Arbeit „Zur 
Psychologie des Zynikers" a. a O. - Ziegler berichtet (S. /j), Grabbe habe eine „sonder- 
bare Abneigung gegen alles gehabt, was nach Sentimentalität aussah, wobei man aus der oft- 
maligen Äußerung: Um Gotteswillen, nur nicht sentimental, nur nicht süß!' mit Sicherheit 
abnehmen konnte, daß tief im Grunde sein Gemüt sehr zart und weich beschaffen war". - 
Wie bei allen Zynismen handelt es sich um ein Ausleben der unbewußten Aggression um den 
Preis der BescWhtigung des Ober-Ichs durch einen spezifischen Ich- Vorgang, den „zynischen 
Mechanismus . Wie groß Grabbes Aggression war, beweisen die berüchtigten Grabbeismen. 



ijo Edmund Bergler 



VIII. Der Einfluß der Prägenitalität Grabbes auf sein 
dichterisches Schaffen 

Grabbes unbewußte Angst war die des Gefressenwerdens vom "Weibe, eine 
Angst, die, wie früher ausgeführt, die Schuldgefühlsreaktion auf eigene (ur- 
sprünglich auf die Mutter bezogene) oral-aggressive Tendenzen darstellte. 
Grabbes ganze Dichtung ist für ihn ein Beweis, daß die Frau ungefährlich, 
dumm, bedeutungslos ist, dient also vorerst der unbewußten Selbstberuhigung, 
wobei es wohl überflüssig ist zu betonen, daß der ganze hier zu schildernde 
Vorgang Grabbe nicht bewußt war. Deshalb sind Grabbes Helden grausam, 
hinterlistig, blutgierig und vor allem — Männer. Einerseits färbt also die 
grausame Frau, gegen die Grabbe sich wehrt, auf seine Helden ab, in einer 
anderen Schicht identifiziert sich Grabbe selbst mit ihnen. Es ist, als würde 
jemand aus Angst vor einer Maffia selbst Mitglied dieser Maffia. Anderseits 
genügt dieser indirekte Beweis der Ungefährlichkeit der Frau nicht, es folgt 
ein zweiter: die Helden selbst sind keine Helden, Grabbe zeigt deren „Brüchig- 
keit" auf. Ich habe den Eindruck, als könnte man Grabbes unbewußte Argu- 
mentation wie folgt präzisieren: Erstens kann mir die Frau nichts antun, weil 
sie bedeutungslos und schwach ist, zweitens sind nur Männer grausam und ge- 
fährhch und drittens sind auch diese Männer letzten Endes doch nicht gefähr- 
lich, da sie innerlich schwach sind,"" ich kann also sicher sein. Die „Wieder- 
kehr des Verdrängten" bedingt aber, daß Grabbes dichterische Frauengestalten 
nur dann pulsierendes Leben fühlen lassen, wenn sie — Mannweiber sind. Die 
Herzogin von Angouleme („Der einzige bourbonische Sprößling, der ver- 
diente, Hosen zu tragen", sagte Napoleon), die Baronin im „Aschenbrödel" 
und Thusnelda in der ,Hermannschlacht" atmen wirkliches Leben, alle 
andern, übrigens recht seltenen Frauengestalten Grabbes („Man ist zu sehr 
unter Männern" warf ihm schon Ziegler vor) sind blutleer. An einer Stelle 
kommt Grabbe das beinahe zum Bewußtsein: 

Ingomar: Deine Frau ist kein Weib. 

Hermann: Alle "Wetter, was denn? 

Ingomar: Kann's nicht recht sagen. Doch gegen ihre Stirn tauscht' ich nicht die Sonne, 
nicht den Blitz gegen ihr Lächeln, und ihren Mut und "Verstand betreffend . . . 

(„D ie Hermannsschiach t", erster Tag.) 

Das, was die Biographen Grabbes „Nihilismus" und „Dämonologie" nennen, 
ist ein verzweifeltes unbewußtes Ringen mit der Frage: "Welchen Sinn hat eine 
Welt, in der das Kind von der Mutter nicht geliebt wird, ja von ihr gefressen 
werden kann? Begreiflicherweise kommt Grabbe diese Frage bloß auf dem 
Umweg einer „Verschiebung" zum Bewußtsein. Grabbes Antwort lautet: 

30) Gewiß kompliziert sich der "Vorgang durch die aus dem Ödipuskomplex stammende 
Aggression gegen den Helden = "Vater. ' ' ' 



Grabbe igi 

Diese Welt hat keinen Sinn. Bei einem innerlich so aggressiven*^ Menschen, 
wie Grabbe, löst diese Erkenntnis nicht Resignation, sondern titanenhafte An- 
klage aus. Schon im „Gothland" des zwanzigjährigen Grabbe heißt es: 

(Donnerschläge.) Horcht! Horcht! 

Das sind die Fußtritte des Schicksals! — Oh, 

Jetzt erst, jetzt erst begreif ich euch, 

Ihr himmelstürmenden Giganten! — 

Zerstörend, unerbittlich, Tod 

Und Leben, Glück und Unglück, an- 

Einander kettend, herrscht 

Mit alles niederdrückender Gewalt 

Das ungeheure Schicksal über unsern Häuptern! 

Aus den Orkanen flicht 

Es seine Geißeln sich zusammen 

Und peitscht damit die Rosse seines Wagens durch 

Die Zeit und schleppt, wie 

Der Reiter an des Pferdes Schweife den 

Gefangenen mit sich fortreißt. 

Das Weltall hinterdrein! 

Die Himmelsbogen sind gekrümmte Würmer, 

Und krampfhaft ringeln sie 

Sich unter seinen Füßen! 

Die Menschenherzen sind der Staub, 

Worauf es geht! — Oh, immer, immer mehr 

Begreif ich euch, Giganten! 

Was ist natürlicher als Himmelssturm? — 

Oh, der Glaube an 

Ein Schicksal ist nicht furchtbar — hold und tröstlich 

Ist dieser Kinderglaube aus der Zeit 

Der Griechen, welche noch nichts Schlimmes ahnten! Das 

Geschick ist grausam und entsetzlich. 

Doch planvoll, tückisch, listig ist es nicht! 

Allmächt'ge Bosheit also ist es, die 

Den Weltkreis lenkt und ihn zerstört! 

. . . weil es verderben soll, 

Ist das Erschaffene erschaffen! 

Deshalb ist unsres Leibes kleinster Nerv 

Empfänglich für den ungeheu'rsten Schmerz, 

Deshalb sind unsre Glieder so gebrechlich. 

Deshalb sind wir so fasernackt geboren! 

Daß die Verführung sicher uns 

Beliste, wurden wir 

31) Grabbes überstarke Aggression verführt noch den Schwerkranken zum Ausspruch: 
„Gäb's nur Krieg, gesund war ich. Doch nun muß ich ihn machen in Tragödien." Prinz 
Heinrich sagt in „Kaiser Friedrich Barbarossa" (I. 2): „Der Kampf auch, ob wir 
siegen oder fallen, ist Lust!" 



I 



152 Edmund Bergler 



Mit Dummheit reichlich ausgestattet, und 
Unsterblich sind wir für — die Höllenstrafen. 

— "Weil es verderben soll, ist das Erschaffene 
Erschaffen! Wie ein ries'ges Henkerrad 
Kreist dort der sogenannte Himmelsbogen; 
Die Tage und die Nächte, Sonne, Mond 

Und Sterne sind 

Wie arme Delinquenten draufgeflochten, und 

Mit ausgesparten Gnadenstößen 

Zerrädert und zermalmt er sie! 

Pfui, pfui! wie ekelt mich die Schöpfung an! 

Der Jahreszeiten wechselnde 

Erscheinungen, die immer wiederkehrenden 

Verwandlungen an dem 

Gestirnten Firmament — was sind sie anders als 

Ein ew'ges Fratzenschneiden der Natur? 

— Zwar habe ich gemordet. 
Doch Morden ist 

So schlimm nun grade nicht! 

Vom Morden lebt ja alles Leben, wenn 

Du atmest, mordest du! — Ein Ding, das nichts 

Ist, einen Menschen machte ich zu etwas, sei's 

Auch nur zu Mist! Bei einem Vieh 

Bedenk ich mich, eh' ich das Messer zücke! 

(Sein Dasein hat 'nen Zweck — es wird 

Gegessen.) Doch bei einem Menschen 

Bedenke ich mich nicht; sein Leben 

Nützt weder anderen, noch ihm . . . 

Vor wem sollt' ich erröten? 

Ei, mordet jene schwärende, gift- 

GeschwoUne, aufgebrochne, eiternde 

Pestbeule, die ihr Sonne nennt und als 

Das Ebenbild der Gottheit ehrt, nicht auch? 

Wie an der Amme Brust das Kind, so liegt 

An ihr das durst'ge All — und boshaft tränkt 

Sie es mit ihrer fieberheißen Milch; 

Daß sie zum Mord aufgären mögen, tropft 

Sie Feu'r in unsre Adern, 

Und zärtlich, wie 'ne Mutter brütet sie 

Die lieben Krokodile aus den Eiern! 

Ha, Sonne! Könnt' 

Ich dich einmal bei deinem Strahlenhaare packen — 

Am Felsen wollt ich dein Gehirn zerschmettern 

Und dich, was Schmerz heißt, fühlen lassen. 

In späteren "Werken wird immer wieder dieses Thema mit großer dichte- 
rischer Genialität abgewandelt, eine Orgie des Pessimismus und der "Welt- 
verneinung: 



Grabbe it-o 



„Ist nicht jedes seiner Stücke" — fragt Hillekamp — „gleichsam Illustration des Wortes: 
Wie klein ist der Mensch? Was bleibt vom mächtigen G o t h 1 a n d nach gewaltig rausch- 
haftem Dasein als die Erkenntnis, daß es nicht lohne, zu leben? Denn nur: 

Weil es verderben soll, 

Ist das Erschaffene erschaffen." (III, i.) 

„Faust gelangt weder an sein Ziel der Erkenntnis noch zur Beschränkung 
auf das Irdische durch die Liebe, und Don Juan versinkt mit einem „Nein" 
auf den Lippen. Auch die Idee der „Hohens tauf en" liegt ähnlich, obschon 
es zunächst anders scheinen mag. Zunächst Barbarossa: Hier liegt der Schwer- 
punkt des Dramas im Kampf der Weifen und Waibhnger, des Löwen und 
Barbarossas. Der Staufer siegt in diesem Kampf, aber es ist nur ein äußerlicher 
Sieg, denn in Wirklichkeit hat er mit seinem Sieg auch die innere Einheit 
Deutschlands getroffen und den Grund für die unselige Zukunft des Landes 
gelegt. Er triumphiert, aber seine Glorie ist Lüge. Wenn er stolz von sich 
sagt: „Mein Erdgeschäft ist aus" — so sagt er damit zugleich, daß er seinem 
Ideal, der Herrschaft über Italien, Deutschlands beste Kraft geopfert hat — , 
damit wird das selbstbewußte Wort fast zu einer Ironie. Er ist ein großer 
Mann, aber er hat den Keim zum Untergang seines Geschlechts und seiner 
Macht selbst gelegt: Tragische Ironie des Schicksals — die der pessimistische 
Dichter hier erspürt. Dieser Nihilismus wirkt sich noch stärker in „Hein- 
rich VI." aus. Das Ziel dieses Menschen ist ungeheuer groß: 

Ich, Kaiser, — 

Die Kaiserkrone erblich, — Deutschland, Neapel 

Unter meinem Fuß, — der Papst 

Zu meinem Bischof erniedrigt, — wert 

Ist das zahlloser Leichen. 

Ja, dieser Zweck erscheint ihm „groß genug, die Welt aufzuopfern" (I. 2.). 
Und was erreicht er? Seine Lebenskraft wird in der Blüte vernichtet, alles 
Errungene zerfällt wieder, sein Thronerbe ist ein schwaches Kind, und an 
seiner Stelle nimmt der Papst, des Kaisers schlimmster Feind, die Regierung 
an sich. Grabbe entläßt uns hier, fühlbarer noch als sonst, mit dem Bewußt- 
sein: Der Mensch beginne, was er will, es ist nichtig vor dem unerforschlichen 
Es, dem Schicksal, das ihm alles aus der Hand reißen kann, wenn es ihm paßt. 
Heinrich geht unter, aber der Hirte überlebt ihn. Die Großen verschwinden 
wie Meteore, aber die Kleinen, die Masse, das Volk überdauern sie. Auch 
Napoleon: Er vergeht nach dem Traum der Hundert Tage („Wir haben 
hundert Tage groß geträumt"), aber „statt eines großen Tyrannen kommen 
lauter kleine und statt der goldenen Zeit wird eine sehr irdene, zerbröckHche 
kommen" (V. 7.). — Auch hier hat das Kleine, Zähe, Beharrliche, die Masse, 
die Quantität, gesiegt. Und voll bitterer Ironie läßt Grabbe den kleinen 



X^j Edmund Bergler 



Schwätzer Prusias über den großen Hannibal triumphieren, seine Leiche mit 
dem roten Königsmantel decken: „Grad' so machte es Alexander mit Dareios." 
(Aus Hillekamps „Grabbe".) 

Grabbes Oralität hat noch eine andere "Wirkung auf die Gestaltung seiner 
Dramen :^^ Immer wieder geht der Held an einer von außen kommenden Ver- 
sagung zugrunde: Hannibal und Varus z.B. bekommen keine Hilfstruppen, 
Napoleon ist ein Opfer der Dummheit Grouchys („Grouchy hat viel daran 
verdorben — daß das Schicksal des großen Frankreichs von der Dummheit, 
Nachlässigkeit oder Schlechtigkeit eines einzigen Elenden abhängen kann" — 
„Napoleon", V. 5.), Heinrich VI. fällt dem blinden Zufall zum Opfer. Es 
wird also — eine im Drama unmögliche Prämisse — die Bösartigkeit der Um- 
welt an Stelle des inneren Konflikts gesetzt. Dies ist einigen Kritikern Grab- 
bes aufgefallen.^^'' 

"Was aber die Kritiker Grabbe bloß als dramatischen Fehler vorhalten, kann 
nun auf Grund der früher vorgebrachten Annahmen erklärt werden: da Grab- 
bes dramatische Produktion der Abreagierung des Traumas der Brustent- 
ziehung dient, muß der Schuldige die versagende Außenwelt, d.h. die erste 
Repräsentanz derselben, die Mutter sein! 

IX. Das „Positive" in Grabbes Weltbild: Freundschaft und 

Heimat 

Grabbes Biographen unterteilen vielfach in primitiver "Weise seine Eigen- 
schaften fein säuberlich in „positive" und „negative" und kommen betrübt 
zum Resultat, daß die zerstörenden (in ihrer Sprache: die negativen) Ten- 
denzen die Oberhand hatten. Diese Schwarzweißmalerei sei erwähnt, weil sie 
die ganze Hilf- und Sinnlosigkeit einer nicht analytisch fundierten Biographik 
aufzeigt. 

Nun hat — in der Terminologie der Biographen — Grabbes "Weltbild doch 
zwei Lichtseiten: seine Anerkennung der Freundschaft und das Lob der Heimat. 
Wie steht es damit? 

Die Liebe welkt dahin; 

Sie ist auf Irdisches gegründet, 



32) Es sei hervorgehoben, daß die hier vorgebrachten psychoanalytischen Deutungen der 
Triebtendenzen und ihre "Wirkungen auf Grabbes Dramatik die Frage der spezifischen Be- 
gabung Grabbes unberührt lassen, da es sich dabei nach Freud um ein konstitutionelles, 
psychologisch nicht weiter determinierbares Etwas handelt. 

3za) Ploch: Grabbes Helden gehen nicht an sich selber, an ihren sie zum tragischen 
Untergang prädestinierenden Charaktereigenschaften, sondern immer nur an äußeren Ver- 
hältnissen, Intriguen und puren Zufällen zugrunde. 

Zauner t: ...der Dichter Grabbe ringt sich fast nie zu einer wirklichen tragischen Idee 
durch, er hat nie den Schuldbegriff in seiner ganzen Tiefe erlebt; immer wieder werden 
äußere Ursachen herbeigeholt, um den Fall des Helden zu erklären. 



Grabbe 155 

Gemeines ist's, wofür sie flammt; 

Nur Freundschaft, die die Geister bindet, 

Ist ewig wie der Geist, aus dem sie stammt; 

Drum strahlt hoch auf des Himmels mächt'gem Feld 

Der Freundschaft Bild und leuchtet durch die Welt. 

— Doch wer am Busen seines Bruders liegt, 

Der fand die heil'ge Stätte auf, an der 

Er sicher ruhet im Gewühl des Lebens. („Gothland".) 

Es wurde früher betont, daß Grabbes Beziehung zum Mann stark homo- 
sexuell gefärbt war: man denke an den Potus in Männergesellschaft. Diese 
subUmierte Homosexualität war zugleich ein Stützpunkt gegen die „fressende" 
Frau, auch ein Beweis, daß sie ungefährlich ist. Die jahrelangen Bordellbesuche 
Grabbes in Männergesellschaft sind nicht nur von der homosexuellen Seite aus 
zu erklären, die Männergesellschaft war zugleich Schutzgarde und Beweis, daß 
die Dirne — da so viele Männer mit ihr verkehrten — ungefährlich sei. 

Ebenso ist Grabbes Lob der Heimat aus der Mutterbeziehung determinier- 
bar. Die Biographen zitieren bei dieser Gelegenheit einige Lobverse der Vater- 
landshebe in , JDon Juan und Faust" und führen als entscheidenden Beweis das 
Nationaldrama „Die Hermannschlacht" an. Vorerst: der gleiche Don Juan 
sagt höhnisch: 

Den gewinn' ich noch 

Mit patriotschen Phrasen, um so eher, 

Als ich sie ernstlich meine! 

Die analytische Erfahrung, daß Vaterland fürs Unbewußte die Valenz 
Mutter*^ besitzt, kann bei Grabbe mit vielen Stellen seiner Werke belegt wer- 
den. So sagt etwa Tankred in „Kaiser Heinrich VL" (L i.): 

Was wir Normannen einst hier waren, sind 

Hier jetzt die Deutschen. — Sie erwartet künftig 

Vielleicht das gleiche Los. — Wie sich der Held 

Die Braut erringt, errangen wir mit Kraft 

Und Stahl dies Land — bei Gott, es ist 'ne Braut — wo wäre 

Ein Mädchen in Europa, flammender 

Und bräutlicher als unser Reich? — Es ruht 

Ja unter Myrthen, unter Blumen, — zwei "Vulkane 

Sind seine Hochzeitsfackeln — Rebenketten, 

Festlich durchleuchtet von dem Gold der Trauben, schlingen 

Als Gürtel prangend sich um seine Küsten, 

Und an Siziliens Ufern schmachten Palmen, 

Mit ihren Blättern wie mit Zungen lechzend. 

Dem Liebenden entgegen! — Doch als der 

Aleide sich die Omphale gewonnen. 



33) Siehe z. B. Beispiele aus der Biographie Napoleons, bei L. Jekels, Imago II, 1914 und 
Abschnitt II dieses Buches. 



156 Edmund Bergler 



Entnervte er an ihres Busens Flaum 

Und der Normannen Stärke schmolz im Kuß 

Und in des Südens Sonne . . . 

Konstanze beklagt sich im gleichen Drama (I. 2.) über Heinrich: 

Ach, ich Unselige! — Er liebt mich nicht — 
Sein Blick irrt durch die Welt und übersieht mich — 
Anstatt nach einem Busen, streckt er seine Arme 
Nach ganzen Ländern, ganzen Völkern aus. — 

Noch klarer spricht sich Grabbe aus, wenn er Don Juan beim Anblick des 
Bildes Donna Annas sagen läßt: 

Ich blick' und blicke — zu 'nem Kinde werd' 
Ich wieder. — Eine Heimat, die ich nie geschaut. 
Umlächelt mich. — Gibt's andre Heimaten 
Als das Geburtsland? 

Und Heinrich der Löwe („Kaiser Heinrich VI.", II. 3.) ruft: 

O Heimat, Heimat, meiner Größe Land 
Und meines Falles! — Heil'ge Erde, sei 
■ ' Gegrüßt! — Kein Kind stürzt sehnender 

An seiner Mutter Brust, als ich an deinen Schoß! 

Brasidas nennt im „Hannibal" Karthago „die allgemeine Mutter", Turnu 
heißt Hannibal: 

„Herr, Fürst, Vater, Mutter, du mir 
Alles!" 

Es sei nochmals auf das ständige Durcheinandermischen und Gleichsetzen 
von Frau und Mann verwiesen, was aus der Tatsache erklärlich ist, daß es für 
das Kind auf der oralen Stufe nur ein Geschlecht gibt. So wird es verständlich, 
wenn Hannibal für Turnu „Vater und Mutter" ist. 

Grabbes letztes Drama „Die Hermannschlacht" beweist, daß auch für 
den Superlativ des Pessimisten das Leben nur unter Aufrechterhaltung von 
jeweils wechselnden libidinösen Besetzungen möglich ist. Der schwerkranke 
Dichter, der sein Ende herannahen sieht, flüchtet zur idealisierten Mutter: die 
Heimat wird verherrlicht. Es ist nicht bloß durch Krankheit bedingte Erschöp- 
fung, die Grabbe bei der Arbeit an seinem letzten Drama ausrufen läßt: „Der 
Hermannschlacht erlieg ich fast. Wer kann das Ungeheure, jeden Nerv auf- 
regende, vollenden ohne zu sterben? "War' ich tot!" Und das Resultat? 
Neben einem für Grabbe typischen, hinterlistigen, grausamen Helden („Die 
Fortsetzung des Blutbades folgt morgen" sagt Hermann) steht Grabbes Ideal- 
gestalt, das Mannweib Thusnelda, das aber hier meist in der Gestalt der 
Gebenden auftritt: Thusnelda bringt für 20.000 Kämpfer Lebensmittel, be- 



^ Grabbe i c^ 

handelt ihren Sohn Thumehco gütig (vergleiche unser Motto), ist überhaupt 
ständig besorgt, ob man genug zu essen hat: 

Varus: .... Ich bin satt. 

Thusnelda (zum Gesinde): Seid ihr es auch? 

Das Gesinde: Ja. 

Thusnelda (mißtrauisch): Lügt nicht. Eßt noch. 

Das Gesinde: Wir können nicht mehr. 

Dabei werden Hermanns Gefährten mit geradezu bösartigem, in einem 
National drama sonderbar anmutendem Hohn überschüttet: 

Hermann: Deutschland! 

Einige in seinem Heere: 

Er spricht oft davon. Wo liegt das Deutschland eigentlich? 

Einer: Bei Engern, wie ich glaube, oder irgendwo im kölnischen Sauerlande. 

Zweiter: Ach was, es ist chattisches Gebiet! 

Hermann: Und kennst du deinen Namen nicht, mein Volk? 

Stimmen: O ja, Herr, wir sind Marser; Cherusker wir — wir Bructerer, Teucterer. 

Hermann: Schlagen wir jetzt und immer nur gemeinsam zu, und die verschiedenen 
Namen schaden nicht. (Für sich:) Ich muß mit geringeren, aber näheren Mit- 
teln wirken. (Laut:) Grüttemeier, deine beiden schwarzen Ochsen — denkst 
du noch an sie? 

Grüttemeier (Tränen in den Augen): Jawohl, mein Vater empfahl sie mir im Sterben. 

Hermann: Eine Manipel stürmte in dein Haus, schlachtete, briet und fraß sie und gab 
dir nichts ab! 

Grüttemeier: Abgeben? Was von dem Fraß übrigblieb, traten sie mit den Füßen oder 
schmissen's an die Wand. Ich hätte auch nichts davon essen mögen. 

Viele Deutsche: Wie dem, ging's uns! 

Eggius (sehr laut): Rom! 

Hermann (noch lauter): Alle übrigen von den Römern gestohlenen und liederiich ver- 
schwelgten Gottesgaben: Linsen, Kohl, Erbsen und große Bohnen! Widersteht, 
auf daß ihre Fäuste nicht zum zweitenmal in eure Töpfe greifen! 

Vermerkt man noch, daß am Schluß Hermann ausruft: „Ach! wüßte das 
Palatium, daß diese sonst so tapferen Leute nur ein paar Meilen weit sehen 
und lieber in der Nähe äßen und tränken, so würd' es bei der Nachricht 
meines Sieges nicht so erbeben . . .", dann kann nicht bestritten werden, daß 
Grabbes Einstellung zu seiner idealisierten Mutterimago ebenso ambivalent war, 
wie zur realen Mutter. Und wenn diese Behauptung noch eines Beweises be- 
darf, so sprechen Gothlands Worte (IV. i.) eine nicht mißzuverstehende 
Sprache: 

Oh, laßt mich aus der düstren Gegenwart entfliehen. 

Und nur noch einmal laßt mich sie begrüßen. 

Die selige Vergangenheit! 

Dort taucht, umkränzt mit Regenbogen, 

Der Kindheit Insel aus den blauen Wogen! — , 



1-8 Edmund Bergler 



Wie sich's in mir hinübersehnt! 

Ich seh die Flur, wo ich als Knabe spielte, 

Wo ich mich kindlich glücklich fühlte. 

Ich seh das väterliche Haus! 

Allein vergebens 

Streck ich die Arme zu dir aus. 

Du Tempe meines Lebens! 

So steht der Wandrer an dem Felsgestade, 

An dem er Schiffbruch litt, — blickt voll Verlangen 

Zum fernen Eilande, wo goldne Gärten prangen! 

Er blickt und blickt — die Pfade sind verschlossen. 

Ein Meer ist zwischen ihm und jenseits ausgegossen! 

Wohlbekannte Worte hör ich klingen, 

Die, gleich verwehten Abendglockentönen, 

Aus weiter Fern' herüberschwimmen! 

Gott! Es sind der Mutter heil'ge Warnungsstimmen. 

Mutter, Mutter! 

Lebtest du, wie würdest du die Hände ringen 

Über mich, 

Den unglückseligsten von allen Söhnen! 

Als ich noch an deiner Seite 

Wallte durch des Lebens Weite, 

Fiel ich nicht, und brach der Sturm auch los — 

Ich flüchtete zum Mutterschoß! 

Hinweg, vorüber, zieh vorüber, 

Du Kindheitsland! Mein Aug' wird trüb und trüber! 

Vorbei ist ja vorbei! 

Kindheit und Lieb' zu ihr ist Kinderei! 

Wer schneidet wohl mehr Fratzen, 

Wen seh* ich mehr einander beißen und zerkratzen. 

Zanken und greinen, 

Als diese Kinder, die uns seHg scheinen! 

Wer kriegt mehr Prügel auf die Hinterbacken 

Als diese Kinder! 

Die frechste Lügnerin 

Ist die Erinnerung! Kindheit fahr hin 

Samt deinen Kindern, welche sich bekacken! 

X. Grabbes Ahnen unbewußter Zusammenhänge 

Jekels hat vor zwei Jahrzehnten als erster auf die bedeutsame, seither an- 
erkannte Tatsache aufmerksam gemacht, daß Dichter häufig eine Gestah nach 
den divergierenden Tendenzen im Psychischen aufteilen und wie im Traume 
die einzelnen Strebungen als Einzelpersonen repräsentieren. Erst deren Zu- 
sammenfassung ergibt das Mosaik der Gesamtpersönlichkeit. So sind etwa 
Lady und Lord Macbeth, Jago und Othello eine Person. 



Grabbe verwendet diese Aufspaltungstechnik in hohem Maße und ahnt die 
innere Zusammengehörigkeit der Teilpersonen.^* So sind z. B. Berdoa und 
Theodor von Gothland eine Einheit. Der Konflikt im „Herzog Theodor 
von Gothland" sieht im ersten Augenblick wie ein törichtes Mißverständ- 
nis aus: der Held schenkt den Einflüsterungen seines Feindes Berdoa Glauben, 
der ihm eingibt, sein jüngerer Bruder sei vom Kanzler, dem dritten Bruder, 
ermordet worden. Daraus ergibt sich nun der tragische Konflikt.^^ In "Wirk- 
lichkeit ahnte Grabbe offenbar die unbewußte Ursache dieses Irrtums, denn 
er läßt, nachdem Gothland ausruft: „Ich war nur das Beil, das Schicksal war 
der Mörder", Berdoa sagen: 

Tor! Eure Dummheit ist eu'r Schicksal. Eure 

Erbärmlichkeit ist eu'r Verhängnis! 

Wer hieß dich, als ich dich zum Brudermord 

Verführte, meinen "Worten glauben? Wußtest du 

Denn nicht, daß ich dein Todfeind war? 

Der blöd'ste Tölpel hätte da Verdacht 

Geschöpft, allein der Herzog Gothland 

Schöpfte keinen, weil 

Er keinen schöpfen wollte! 
Gothland: Weil ich keinen 

Schöpfen wollte? — Wenn das wäre, wenn ich den 

Geringsten Argwohn hätte fassen können. 

Ich aber hätt' ihn absichtlich 

Nicht fassen wollen. 

Ja, dann durchwühle unermeßliches 

Verderben meine Seele! 
Berdoa: Höre denn. 

Und unermeßliches Verderben wühle dir 

Durch deine Seele! — Manfred war 

Jählings am Schlagflusse verreckt. 

Wahrscheinhch hatte er beim Abendschmaus 

Zu viel gefressen und es nicht 

Verdauen können — ungeheuer war 

Dein Schmerz um ihn; — so traf ich dich, mit großer 

Bestürzung, aber mit noch größ'rer Freude 

Vernähmest du, daß er erschlagen sei: 

Die Rache für den toten Bruder 

War dir ein schmeichelnder, verlockender 

Gedanke! 



34) Es kommt in Grabbes Dramen wiederholt vor, daß sich zwei Gegner, nachdem sie 
einander im Zweikampf verwundet, schluchzend in die Arme fallen: so die Brüder Goth- 
land, so die beiden Männer in „Nannette und Marie". Auch dies beweist die Einheit 
der „aufgespaltenen" Personen. 

35) Dieser „Irrtum" wurde Grabbe übel angekreidet. So sagt z.B. Gottschall: „Eine 
tragische Dialektik von dem großen Wurf der griechischen Tragödie . . . nicht zu verkennen; 



i6o 



Edmund Bergler 



Gothland: Satan! Deute meine 

Gedanken nicht ins Schlimme! 
Berdoa: 2war war Friedrich, 

An welchem du die Rache nehmen mußtest, 

Dein Bruder auch; doch das hielt dich nicht ab. 

Denn er war ja der weniger geliebte! 

Du gingst vielmehr sorgfältig allem, was 

Dir Aufschluß geben konnte, aus 

Dem Wege ... 
Gothland: Wenn — ' ■ ' 

"Wenn unter diesen Lügen Wahres wäre — wenn — 

Wenn — wenn — 
Berdoa: • • • und schlugst 

Ihn mit Vergnügen tot! 

Nieten ist die Bedeutung dieser Szene aufgefallen und man kann als 
Analytiker seinen Worten nur beipflichten, wenn er sagt: 

„Die bösen Wünsche haben Gothland von Anfang an geleitet und alles andere 
Gebaren stellt sich als bewußt-unbewußter Selbstbetrug dar; in den labyrinthi- 
schen Irrgängen dieser Psychologie spielt Berdoa mehr und mehr die Rolle 
des Unterbewußtseins im Doppel-Ich Gothlands. Mir scheint diese Szene 
(V. 3.) eine geniale Vorwegnahme moderner Psychoanalyse, ein einleuchtendes 
Zeugnis für den dämonischen Tiefsinn des jungen Grabbe" („Grabbe und 
Schopenhauer"). 

Eine andere, nicht minder bedeutsame Szene ist in „Nannette und 
Marie" zu finden, die am Hochzeitstage von Nannette und Leonardo spielt: 

Nannette: Da liegt mein väterliches Haus! 

Leonardo: Weshalb 

Wirst du dabei so trübe? 
Nannette: Ich bin dort 

Nur eine Fremde! 
Leonardo: Traure nicht, daß du 

Des Lebens Blütenzeit betrittst! 
Nannette: Ach, daß 

Man mit der Kindheit sie bezahlen muß! 

Verzeih mir, wenn ich mich in deinen Armen 

So schmerzlich dran erinnere — Ich fürchte. 
Man fühlt sogar im Himmel Heimweh nach 
Der Erde. 
In der Sprache der Analyse ausgedrückt: die Frau muß auf ihre ödipus- 
beziehung zum Vater verzichten, um beim Manne glücklich zu sein. 

Häufig verwendet Grabbe "Wortanspielungen zur Andeutung unbewußter 
Vorgänge. So etwa, wenn er im „Aschenbrödel" die verwandelte Katze von 
schade nur, daß ein unentschuldbarer Irrtum, ein unleugbarer Schwachsinn hier das tragische 
Fatum herbeibeschwören." 



Grabbe i5i 

der Au sprechen läßt, wobei die ängstliche Ratte ein fressendes „Miau" heraus- 
hört (siehe 5.130). Oder wenn Grabbe in „Kaiser Heinrich VI." in einer 
Situation, in welcher die Stadt Bardewick die Rache des von ihr treulos ver- 
lassenen Heinrich des Löwen fürchtet, den Ratsherrn Hagener die unter- 
gehende Sonne mit einer Löwenmähne vergleichen und den Bürgermeister 
Rudiich erschreckt fragen läßt: „Wie kommt Ihr auf Löwenmähnen?" 

Ferner sei auf Grabbes Herausarbeitung des doppelten Sohn-Vater-Konflikts 
im „Gothland" und die Bedeutung der Vergeltung und des unbewußten 
Schuld- und Strafbedürfnisses des Helden verwiesen. 

Einmal nennt Grabbe das Wort unbewußt direkt: Im „Aschenbrödel" 
nimmt der König die Hand der Geliebten und läßt sie sein Herz fühlen. Dann 
heißt es bei Grabbe: „Olympia (läßt die Hand unbewußt da ruhen): Es klopft 
— ja — ja — sehr — stark." 

XL Der orale Pessimist und seine Varianten 
Setzt man sich mit einem oral fixierten oder regredierten Pessimisten in der 
Analyse auseinander, dann bekommt man regelmäßig die Schopenhauerschen 
Rationahsierungen^« zu hören. Etwa Modifikationen der bekannten Stelle aus 
„Die Welt als Wille und Vorstellung": 

Dieser Welt, dem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch 
bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Tier das lebendige Grab 
tausend anderer, und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit 
der Erkenntnis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden, wächst, welche daher im Menschen 
ihren höchsten Grad erreicht, und einen um so höheren, je intelligenter er ist, — dieser 
Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den 
möglichen andemonstrieren wollen. Die Absurdität ist schreiend. 

Die Frage der Patienten, ob sie bei ihrer düsteren Schilderung der realen 
Verhältnisse etwa übertreiben, kann man nicht ohneweiteres verneinen. Die 
Welt, in der wir leben, ist ein Gemengsei von „brutalster" Aggression und 
konzentriertestem Haß, welche beide Äußerungen des Thanatos vom Men- 
schen, gegen den sie gerichtet sind, subjektiv als „Niedertracht und Gemein- 
hek" empfunden werden, wobei lediglich die Quantität dieser einzelnen In- 
gredienzien — bei einem relativ konstanten Mischungsverhältnis — jeweils 
wechselt. Demgegenüber erscheint die Beimengung des Eros quantitativ ge- 
ring. Auch kann man etwa einem Menschen, der den Satz Bertrand Russeis 
als Realität darstellt: „Die Menschen tun das Gute, so weit man sie zwingt, 
es zu tun, und das Schlechte, soweit man nicht die Macht hat, sie daran zu 

36) Aus Platzmangel kann hier auf die psychologischen Parallelen zwischen Grabbe, 
Schopenhauer und Nietzsche nicht eingegangen werden. Grisebach nennt Grabbes Werke 
„Kunst gewordene Philosophie Schopenhauers". 

B e r g I e r, Talleyrand - Napoleon - Stendhal - Grabbe 



n 



i6a Edmund Bergler 



hindern" — die Richtigkeit seiner Beobachtung, mit der Einschränkung des 
Über-Ichs, nicht bestreiten. 

Die Lebenstechnik der praktisch Gesunden besteht also im Übersehen und 
Nicht-tragisch-Nehmen. Grabbes Satz: 

Der Mensch erklärt das Gute sich hinein, 

Wenn er die "Weltgeschichte liest, — weil er 

Zu feig ist, ihre grause Wahrheit kühn 
Sich selber zu gestehen — 

hat seine Richtigkeit. Somit kommt es auf den Standpunkt des Beschauers 
an. Grabbe sieht z. B. in der Sonne die Kraft, die die Krokodilseier ausbrütet 
(siehe S. 152), während einem andern an ihr die lebensspendende Wärme zu- 
erst auffällt. Auch ist die Fähigkeit, jeweils wechselnden Fiktionen" nach- 
zuhängen, wobei die jeweilige Fiktion libidinös überbesetzt wird, deren Zu- 
sammenklappen aber nach einiger Trauerarbeit das Aufrichten der nächsten, 
deren Schicksal wieder im voraus gewiß ist, nicht verhindern darf, ein Stigma 
der Normalität. Endlich — und das ist das Entscheidende — ist es eine bio- 
logisch fundierte Tendenz des Triebes, nach Befriedigung zu verlangen. Wir 
empfinden z. B. Hunger, Sexualwünsche und Schlafbedürfnis, unabhängig da- 
von, ob die Erfüllung dieser Triebe einen „Sinn" hat oder nicht. 

Der orale Pessimist ist also nicht ganz im Recht, wenn er sein subjektiv 
und psychologisch begründbares Sich-unglücklich-Fühlen mit realen Verhält- 
nissen begründet. Grob ausgedrückt, könnte man, ein altes Wort variierend, 
sagen, nicht er hat den Pessimismus, sondern der Pessimismus hat ihn. Mag 
nun Grabbe minutiös beobachten, wenn er die Welt „ein mittelmäßiges Lust- 
spiel" nennt, „welches ein unbärtiger, gelbschnäbeliger Engel, der noch in der 
Prima sitzt, während der Schulferien zusammengeschmiert hat", und an 
anderer Stelle das Herz „für eine in das unrechte Loch gelaufene Billard- 
kugel" halten — ; wer gesund, das heißt: arbeits-, liebes- und fiktionsfähig ist 
(ich halte das letzte Glied dieser Trias für unerläßlich), wird trotz allen 
Lebenstragödien bestehen können. Gerade die „Fiktionsfähigkeit" ist beim 
oralen Pessimisten herabgesetzt. 

„Arbeits-, liebes- und fiktionsfähig": das heißt aber relativ neurosefrei sein, 
also die Prägenitalität und den Ödipuskomplex in großen Zügen wenigstens 
überwunden haben. Das hat der orale Pessimist nicht zustande gebracht und 



37) Unter Fiktion ist die Fähigkeit des Gesunden gemeint, mit der Zeit wechselnde Ob- 
jekte (Personen, Dinge, Interessen, Ideen usw.) mit großen Libidoquantitäten zu besetzen, un- 
abhängig von der Wertschätzung der Anderen und trotz der wiederholt gemachten Er- 
fahrung, daß es sich nicht um ständige Libidopositionen handelt, daß also diese hoch- 
bewerteten Objekte mit der Zeit im subjektiven Empfinden verblassen. — Der Unterschied 
zwischen „Fiktionsfähigkeit" und SubHmierung bleibt einer eigenen Untersuchung vor- 



behalten 



Grabbe ^g^ 



hier ist der springende Punkt. Das Sonderbare ist nun, daß der orale Pessimis- 
mus sich mit keinem der bekannten Krankheitsbilder deckt, daß wir darunter 
schizoide, zykloide und auf den ersten Blick als hysteriform imponierende 
Menschen finden Bei allen diesen Pessimisten liegt ein Scheitern an der prä- 
odipalen Mutterbindung vor. Orales Mißtrauen, Haß, Neid, Eßstörungen, 
Sich-Beklagen, den anderen Ins-Unrecht-Setzen, Sich-unglücklich-Fühlen domi- 
nieren Die Angst vor dem Gefressenwerden kommt meist in der gemilderten 
i^orm der Angst vor dem Verhungern, resp. Fellatiowünschen zum Ausdruck 
wobei unbewußte Phantasien resp. Wünsche, betreffend das Abbeißen des 
Penis durch die Frau, zu konstatieren sind. Vielfach hat der Penis noch 
Brustbedeutung. Die unbewußte Technik dieser Menschen liegt darin, daß sie 
mit grandioser Geschicklichkeit ihre selbstgewoUten Niederlagen und Ent- 
täuschungen orgamsieren, wobei sie aus unbewußtem Strafbedürfnis gar nicht 
mehr der Erfüllung ihrer Wünsche nachjagen, sondern der Enttäuschung,«« 
an die sie masochistisch-genießend fixiert sind und die für sie die einzige Form 
des Auslebens ihrer prägenitalen Wünsche und - Aggressionen darstellt. Da- 
bei ergibt sich der typische Circulus vitiosus, da sie aus jeder Enttäuschung die 
unbewußte Berechtigung zu weiteren Aggressionen ableiten. Der orale Pessi- 
mismus ist wie ein neurotisches Symptom aufgebaut und stellt unter anderm 
einen narzißtischen Schutzmechanismus des Ichs dar, der dem schwer lädierten 
Allmachtswahn einen Unterschlupf bietet. 

Und der Ausweg für den oralen Pessimisten nach erfolgreicher Analyse'^f 
Die gütige, mütterliche Frau, von der der Patient geliebt wird, die - nach 
analytischer Lösung der Ängste - nicht auffressen und gefährden, sondern in 
überströmender, nie versagender Güte Liebe gibt, gibt und nochmals gibt. 
Und wenn auch der paradiesische Zustand, der Grabbes Olympia im „Aschen- 
brödel" vorschwebte: 

Mir wird, als kehrten alte Zeiten wieder 
Als hört' ich zaubervolle Wiegenlieder, 



EindLl th'nj^ »t".''" Unkenn „xs dieses Tatbestandes bei den oralen Pessimisten den 
Eindruck, es handle sich im Gegenteil um Optimisten, da sich diese Menschen von ihren 
unbewußten Wünschen durch keine üble Erfahrung abbringen lassen und ihnen immer 
wieder nachjagen. Es handelt sich, neben der zutiefst infolge der eigenen Allmacht "kh 

risänlÄe? T'' r"^'' ^" "^^'''="' ""^ *^ ■'^^P-^'^-^ Technik des pS 

niisten den Anderen ins Unrecht zu setzen. Würde sich der Pessimist durch die Realität 

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II* 



iQj Edmund Bergler 



Als lag' ich an der Mutter Brust 
Und atmete des Kindes Lust. 

nicht erreichbar ist (wie bei keinem Menschen), ein Stück Lust*" bleibt auch 
dem früheren oralen Pessimisten nicht versagt.*^ 

Literatur über Grabbe. 

1. Adams P., Grabbes Weltbild im „Herzog Theodor v. Gothland". Diss. Münster. In: 
Lit. bist. Jahrbuch der Görregesellsch. Freibg. 1927. 

2. A. B., Grabbe und Müllner. Im Grabbe-Buch. Detmold 1923. 

3. Bergmann A., Grabbe als Gestalt des Dramas. Im Grabbe-Buch. 

4. Bergmann A., Grabbe-Bibliographie. Im Grabbe-Buch. 

j. Duller E., Grabbes Leben. In „Die Hermannschlacht". Herausg?g. von Grabbes "Witwe. 
Schreiner 1838. 

6. Ebers F., Grabbes „Eulenspiegel". Im Grabbe-Buch. 

7. E b e r s F., Der Blücher der Poesie. Im Grabbe-Buch. 

8. Ebers F., Wie sah Grabbe aus? Im Grabbe-Buch. 

9. Ebstein E., Grabbes Krankheit. In: Grenzfragen der Lit. u. Med. 3. Heft, 1906. 

10. Eulenberg H., Der sterbende Grabbe. Im Grabbe-Buch. 

11. Friedrich P. und Ebers F., Das Grabbe-Buch. Detmold 1923. 

12. Friedrich P., Grabbes „Marius und Sulla". Im Grabbe-Buch. 

13. Friedrich P., Neues von Gh. D. Grabbe. Im Grabbe-Buch. 

14. Friedrich P., Einleitung zum Grabbe-Buch. 

15. Friedrich P., Grabbe-Mal. Im Grabbe-Buch. 

16. Friedrich P., Auferstehung. Im Grabbe-Buch. 

17. Friedrich P., Der Auditor. Im Grabbe-Buch. 

40) Auch kann erst die erfolgreiche, lange fortgesetzte Analyse die anderen oralen 
Störungen der oral Fixierten oder Regredierten beseitigen. - In emem Falle eines 
oralen Pessimisten (eines hochbegabten Lyrikers), der in einem bestimmten Zeitpunkt 
seiner Neurose an einer völligen Produktionshemmung litt - dem ,,Auf trieb von 
Sehnsucht" (ipsissima verba) stand ein infernalischer Mutterhaß entgegen, der alles unterband 
und höchstens zu literarischen Blasphemien und Koprolalien reichte -, entsprach die Vor- 
Hebe für obszöne Worte einer Herabsetzung der Worte der Mutter. Vgl. dazu E. B e r g 1 e r, ,,Uber 
obszöne Worte" (erscheint in „The psychoanalytic Quarterly", New York). -- In anderen Fallen 
sind es ganz unwahrscheinliche Störungen, die bei den Oralen in Betracht kommen, z ä. 
Ejakulationsunvermögen (siehe die Arbeit des Verf. „Über einige noch nicht beschriebene 
Spezialformen der Ejakulationsstörung") oder - Pseudodebilität (siehe des Verf. „Zur 
Problematik der Pseudodebilität". Int. Ztschr. f. Psa. 1932 resp. 1934). Natürlich ist nicht 
der „orale Pessimismus" an diesen Symptomen schuldtragend, ist er doch selbst nur eine 
Außerungsform der Neurose der oral fixierten oder regredierten Patienten. 

41) Nach Publikation dieser Arbeit in der „Imago" wurde ich mit zwei interessanten 
Studien unseres Berliner Kollegen Dr. Alexander Mette bekannt. Es sind dies der 
Imago- Aufsatz „Zur Psychologie des Dionysischen" und das soeben erschienene Buch ,,Uie 
tiefenpsychologischen Grundlagen des Tragischen, Apollonischen und Dionysischen" (Dion- 
Verlag). Der Autor führt zur Erklärung des dionysischen Typus des Künstlers die orale 
Bindung an die phallische Mutter der Präödipalzeit an, Ergebnisse, die sich mit den hier 
dargelegten weitgehend berühren. Ich behalte mir vor, auf diese besonders wertvollen 
Arbeiten, mit denen ich weitgehend übereinstimme, näher einzugehen. 



Grabbe 165 

i8. Geyer E., Grabbe. Eine dramatische Studie. Im Grabbe-Buch. 

19. Gottschall R. v. Gh. D., Grabbe. Leipzig, Reclam. 

20. Heine H., Verschiedene Stellen seiner Schriften. Z. B. in den „Memoiren". Ausg. 
Bong. Bd. ij, S. /Sff.; in den „Gedanken und Einfällen", in den Artikeln „Über die fran- 
zösische Bühne", in „Shakespeares Mädchen und Frauen", in den „Elementargeistern". 
(Näheres bei Ploch, S. 86 — 90.) 

21. Hillekamps C. H., C. D. Grabbes Briefe als biographische Quelle. Inaugural 
Dissertation 1929. Verlag Fahle, Münster. 

22. J a k i s c h H., Grabbe und Nietzsche. Im Grabbe-Buch. 

23. Kutscher A., Grabbe und Hebbel. Im Grabbe-Buch. 

24. Kruse G. R., Musik und Musiker in Grabbes Leben. Im Grabbe-Buch. 
2j. Kruse G. R., Grabbe und Lortzing. Im Grabbe-Buch. 

26. Lange F., Grabbe und wir. Im Grabbe-Buch. 

27. Lentwein P., Grabbe als politischer Dichter. Im Grabbe-Buch. 

28. Nieten O., Grabbe und Schopenhauer. Im Grabbe-Buch. 

29. Nieten O., Ch. D. Grabbe, sein Leben und seine Werke. Dortmund 1908. Verlag 
Ruchfuß. 

30. Nieten O., Grabbe und Immermann. Im Grabbe-Buch. 

31. Perger A., System der dramatischen Technik mit besonderer Untersuchung von 
Grabbes Drama. Berlin 1900. Duncker- Verlag. 

32. Piper C. A., Beiträge zum Studium Grabbes, München 1898. Haushalter- Verlag. 

33. Ploch A., Grabbes Stellung in der deutschen Literatur. Leipzig 190J. Verlag Scheffer. 

34. 'Wukadinowic S., Grabbes Lebensbild. In „Grabbes Werke". Verlag Bong Sc Co. 

35. Zaunert P., Grabbes Leben. In „Grabbes Werke". Ausg. d. Bibliograph. Instituts. 
Herausg. von Franz und Zaunert. 

36. Ziegler K., Grabbes Leben und Charakter. Verl. Hoff mann und Campe. Hamburg 
iSjj. 



Inhalt 

Seite 

Vorwort 7 

Talleyrand 9 

Napoleon und Talleyrand 36 

Stendhal 77 

Grabbe ■ 119 



Von Dr. Edmund Bergler — gemeinsam mit Dr. Eduard Hitschmann 
— erschien in Buchform die psychoanalytische Monographie 

DIE GESCHLECHTSKÄLTE 
DER FRAU 

Geheftet M 3.— 

Urteile der Fachpresse: 

Although a Short monograph, 87 pages, we venture to say that the authors teil more about 
sexual Irigidity in women, Its causes and development than most works ol many more words and 
much fewer ideas ... In recent years American workers have shown by generalized questionnaire 
methods that at least 50 per cent of all women are sexually Irigid . . . Drs. Hitschmann and Bergler 
teil some of the reasons, and they are valid and informative . . . The present monograph after a short 
literary introduction enumerates at least seventeen er eighteen different situations related to sexual 
frigidity which are formulated in psychoanalytic terms . . . The types formulated are as foUows: Oedipus 
fixation types, Oedipus fixation plus castration wishes, Oedipus fixation plus castration hatred, Vagi- 
nismus, chiefly of hysterlcal dyspareunia forms, Sadistic-anal (compulsion neurosis) frigidity, Prigidlty 
with Masochistic Mechanisms, Frigidity with Narcissistic Mechanisms, the Nymphomanie, Pregenital 
Fixation, Perversion Frigidity, Frigidity as part of a Neurosis, Homosexual Flight Frigidity, Neurotic 
Pregnancy Fear Types, Certain Specific Situation Frigidities, Frigidity of the Motherly Woman, Frigidity 
of the Asketlc sex hostile type, Pseudofrigidlty and Constitutional Frigidity. Each of these types is 
hastily sketched, illustrative cases given in some and proguostic indications by psychoanalytic therapy 
offered . . . (Journal of Nervous and Mental Disease, New York) 

In einer instruktiven naturwissenschaftlichen und vorwiegend an der Hand der Freudschen Lehre 
psychoanalytischen Einleitung schildern die Autoren die seelischen Ursachen und die körperlichen 
Folgen der unvollkommenen Befriedigung der Frau. Der normale Orgasmus hat die vaginale Empfind- 
lichkeit zur ersten und entscheidenden Voraussetzung . . . Die Klitorisonanie, eine mehr anale Onanie 
verhindert die Vorbereitung der Scheide auf die Friktionslust; eine Onanie des Mädchens in der 
Scheide ist relativ selten. Die Verfasser verstehen unter Frigidität die vaginale Orgasmusunfähigkeit 
der Frau, also Klitorisorgasmus mit vaginaler Hypästhesie, starke Erregung mit wiederholtem Ansteigen 
wird ^ wohl nicht völlig im Einklang mit anderen Autoren — mit zur Frigidität gerechnet. Achtzehn Typen 
werden aufgestellt, erst die achtzehnte ist die konstitutionelle Frigidität. Die häufigsten Formen der Frigi- 
dität gehören in die Gruppe der hysterischen Dispareunie . . . Auszüge aus Krankengeschichten und zwei 
ausführlich dargestellte Fälle illustrieren die Auffassung der Autoren. Für die Behandlung der Frigidität 
wird ... die Psychoanalyse als die Methode empfohlen. Die Prognose ist für die Mehrzahl günstig . . . Sicher 
ist das besprochene Gebiet eines der dankbarsten und erfolgreichsten im Wirkungsbereich des taktvollen 
Nervenarztes, zumal die anderen Disziplinen, auch der Frauenarzt, durchweg nicht den Weg finden. Das 
referierte Buch gibt gute und lehrreiche Hinweise. ^„ .„,,,. _ 

(Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie) 

Die beiden Autoren behandeln in ihrem Büchlein mit staunenswerter GründUchkeit ein Thema, das 
nicht nur für den Psychotherapeuten und Gynäkologen, sondern für jeden praktischen Arzt von be- 
sonderem Interesse ist. Das Buch soll „die neue Erkenntnis über die Heilbarkeit der Frigidität den 
Menschen näherbringen, die Frauen zu ganzen Frauen machen lehren. Die Einehe würde dadurch 
gefördert, höher gewertet werden". Die langjährigen Erfahrungen der beiden Autoren sprechen dafür, 
daß die Psychoanalyse die Frigidität in der Mehrzahl der Fälle hellen kann. Wer erkannt hat, wieviel 
Unheil auf die weibliche Fiigidität zurückzuführen Ist, wird die Bedeutung dieser Feststellung zweier 
angesehener und besonnener Psychotherapeuten ermessen. Es ist unmöglich, in einem kurzen Referat 
auf den theoretisch und praktisch so reichen Inhalt des Büchleins einzugehen. Es seien nur die Titel 
der einzelnen Kapitel augeführt: Entwicklung der weiblichen Sexualität. Die Eigenart des weiblichen 
Sexuallebens. Begriff, Symptomatologie und Grade der Frigidität. Spezlalformen der Frigidität mit 
Auszügen aus Krankengeschichten. AusführUche Darstellung zweier psychoanalytisch geheilter Fälle 
von Geschlechtskälte. Verhütung und Behandlung der Frigidität. — Auch der Fachmann fmdet hier 
eine Fülle neuer Gesichtspunkte und Beobachtungen. Das Buch Ist zweifellos eine der bedeutendsten 
Neuerscheinungen auf dem Gebiete der medizinischen Psychologie und Psychotherapie. Seine Lektüre 
sei jedem Arzte wärmstens empfohlen. (Wiener Medizinische Wochenschrift) 



VERLAG DER ARS MEDICI . WIEN IX 

SPITALGASSE la